Lukian »Rhetorum praeceptor«: Einleitung, Text und Kommentar 9783666252846, 9783525252840

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Lukian »Rhetorum praeceptor«: Einleitung, Text und Kommentar
 9783666252846, 9783525252840

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Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben

Herausgegeben von Albrecht Dihle, Siegmar Döpp, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Hugh Lloyd-Jones, Günther Patzig, Christoph Riedweg, Gisela Striker Band 176

Vandenhoeck & Ruprecht

Serena Zweimüller

Lukian »Rhetorum praeceptor« Einleitung, Text und Kommentar

Vandenhoeck & Ruprecht

Verantwortlicher Herausgeber: Christoph Riedweg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-525-25284-0 Hypomnemata ISSN 0085-1671 Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2007 auf Antrag von Prof. Dr. Manuel Baumbach und Prof. Dr. Christoph Riedweg als Dissertation angenommen. Umschlagabbildung: Rhetorik, Ausschnitt aus: Herrad von Landsperg, Die sieben freien Künste (um 1170). Umrisszeichnung nach fol. 32 der 1870 in der Bibliothek in Strassburg verbrannten Handschrift. Foto: © akg-images.

© 2008, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co.KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: n Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort.......................................................................................................9 1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor: Rhetorische und literarische Gestaltung, philosophische und komische Elemente, Sub- und Vergleichstexte ....................................................................11 1.1

Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse zu Rhetorum praeceptor ................................................................11 1.1.1 Rhetorische Grobgliederung......................................16 1.1.2 Ausführlichere Gliederung nach rhetorischen Gesichtspunkten........................................................18

1.2 1.3 1.4

Literarische Gestaltung und Intertextualität...............................29 Platonisch-philosophische Elemente .........................................34 Die Allegorie des Prodikos und die Tabula des Kebes ..............43

1.5

Wegmetaphorik in Lukians ›autobiographischen‹ Schriften und in Hermotimos ...................................................................47

1.6 1.7

Die Wegmetaphorik in Rh. Pr.: Nihilismus der Rhetorik?.........59 Lukians eigener sophistischer Auftritt: Die προλαλιαί.............67 1.7.1 Lukians allgemeines Selbstbild als Redner und das Verhältnis von Redner und Publikum..................70 1.7.2 μῦθοι und Lügen: Neuheit versus Tradition und die rhetorischen Errungenschaften Lukians ...............72 Aristophanes und die Alte Komödie .........................................79

1.8

2. Πεπαιδευμένος und ἀπαίδευτος: Zum Bildungsstand von Produzenten und Rezipienten in der Vortragskultur der Zweiten Sophistik..................................................89 2.1 2.2

Der sozio-kulturelle Hintergrund ..............................................89 Bildung und Unbildung in Lukians Rhetorum praeceptor, Soloecista und Adversus Indoctum............................................93

6

Inhalt

3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie: Parallelen in der lukianischen Spottmotivik....................................... 108 3.1

Lukians Demonax und die Figur des ernst-komischen Entlarvers ............................................................................... 110

3.2 3.3

Lukians Philosophenspott: Piscator und Fugitivi.................... 125 Das literarische Schaffen: Variationen desselben Themas und Typisierung des Scheingebildeten vor dem historischen Hintergrund des Autors ....................................... 142

4. Text und Übersetzung ....................................................................... 148 5. Kommentar ....................................................................................... 170 §§1–4:

Einleitung (Proömium [§§1–2]; Prothesis/Dihegesis I [§§3–4]).......................................................................... 172

§5:

Illustrierende Geschichte (Parekbasis) ............................ 198

§§6–8:

Wiederaufnahme der Darstellung der zwei Wege zur Rhetorik (Prothesis/Dihegesis II).................................... 210

§§9–10:

Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)......................................................................... 228 Der kurze Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 2: probatio)......................................................................... 255 Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe ........... 255 Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler (Proömium)........................................................ 274 Voraussetzungen in Charakter und Erscheinungsbild (Präliminarien/Prothesis) ................................................ 292 Vokabular und literarische Vorbilder .............................. 305 Der eigentliche Auftritt, die Stegreifrede (μελέτη) und die Tricks des Sophisten: Paradethemen, Showelemente, Stoffauffindung, Claque, Umgang mit Konkurrenz ..................................................................... 342 Hinweise zur Gestaltung und Illustration des Privatlebens eines Sophisten ........................................... 401 Schlusswort und Abschiedsgruss des Ratgebers (Epilog)........................................................................... 457

§§11–25: §§11–12: §§13–14: §15: §§16–17: §§18–22:

§§23–25: §26:

6. Zur Rezeption von Lukians Rhetorum praeceptor in der Renaissance: Pirckheimer und Erasmus ............................................ 478

Inhalt

7

7. Literaturverzeichnis .......................................................................... 484 7.1 Abkürzungen .......................................................................... 484 7.2 Standardwerke ........................................................................ 484 7.3

Textausgaben.......................................................................... 484

7.4

Sekundärliteratur .................................................................... 485

8. Register............................................................................................. 491 8.1

Stellenregister......................................................................... 491

8.2

Namen- und Sachregister........................................................ 495

Appendix: Abbildungen .......................................................................... 498

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner im Herbst 2007 von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich angenommenen Dissertation. Während meines gesamten Studiums und ganz besonders seit der Abfassung der Lizentiatsarbeit, die damals bereits dem Autor Lukian gewidmet war, durfte ich die hervorragende Betreuung von Prof. Dr. Christoph Riedweg erfahren; seine ansteckende Begeisterung und zahlreiche intensive Fachgespräche haben viel zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen, wofür ich ihm herzlich danke. Mein herzlicher Dank geht auch an Prof. Dr. Manuel Baumbach, der seit dem Sommersemester 2005 den Lehrstuhl für Gräzistik an der Universität Zürich innehat und meine Arbeit mit grossem Engagement durch unermüdliche Kritik, wertvolle Anregungen und neue Blickwinkel entscheidend weitergebracht hat. Danken möchte ich weiter Prof. Dr. Peter von Möllendorff, der mir mit seinem Fachwissen grosszügig zur Seite gestanden hat. Von Prof. Dr. Martin Korenjak erhielt ich hinsichtlich Fragen zur kaiserzeitlichen Rhetorik und zur Rhetoriktheorie wichtige Hinweise. Nicola Dümmler und Kaspar Howald haben die Arbeit in verschiedenen Stadien gelesen und so zu deren inhaltlichem und formalem Gelingen beigetragen. Lucius Hartmann hat mich in technischen Fragen tatkräftig unterstützt. Über die Aufnahme des Buches in die Reihe Hypomnemata freue ich mich sehr und danke den Herausgebern sowie dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, in erster Linie Dr. Ulrike Blech, für die gute Zusammenarbeit. Ein besonderer Dank geht an die Stiftung »Fonds für Altertumswissenschaft, Zürich«, die diese Publikation grosszügig unterstützt hat. Ein letzter, grosser Dank gebührt meinen Geschwistern und Freunden, ganz besonders aber meinen Eltern, die meine Arbeit während der gesamten Zeit durch ihr Interesse und ihren moralischen Beistand gefördert haben und denen dieses Buch gewidmet ist.

1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor: Rhetorische und literarische Gestaltung, philosophische und komische Elemente, Sub- und Vergleichstexte

1.1 Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse zu Rhetorum praeceptor Lukians1 Schrift Rhetorum praeceptor (im Folgenden Rh. Pr.) ist ein scheinbar ernsthafter Lehrgang für angehende Redner: Sie beginnt damit, dass sich der Sprecher an einen jungen Mann (μειράκιον, §1) wendet, der offenbar bei ihm für den Start seiner Sophistenkarriere Ratschläge erbeten hat. Sehr bald wird jedoch klar, dass man es nur vermeintlich mit einem Leitfaden zu tun hat, denn die Schrift entpuppt sich als eine satirischironische Auseinandersetzung mit der empfohlenen Ausbildung.2 Der Text bedient sich zweier zentraler Figuren: Der ›Ratgeber‹ ist diejenige Figur, die mit dem Schüler Kontakt aufnimmt und die den gesamten Lehrgang steuert. Dieser Ratgeber umreisst zwei Möglichkeiten der Ausbildung, einen langen, anstrengenden und einen kurzen, angenehmen Weg, wobei er gleich zu Beginn deutlich macht, dass er den kurzen Weg anzuraten gedenkt (§3). Durch das Motiv der Wahl zwischen zwei Wegen schliesst sich der Ratgeber in seiner Darstellungsweise einer verbreiteten Tradition an, die in der Allegorie des Prodikos von Herakles am Scheide1 Lukian von Samosata, dessen Lebenszeit ungefähr den Zeitraum von 120–180 n.Chr. umfasst, über dessen Leben uns allerdings ausserhalb seiner eigenen Schriften bis auf wenige kurze Bemerkungen (bei Galen, Laktanz, Eunap, Isidor Pelusius und in der Suda) nichts überliefert ist (vgl. zur Bewertung der ausser- und innerlukianischen Zeugnisse ausführlich Hall [1981] 1–44, ferner Nesselrath [2001a] 12–15 und Baumbach [2002] 19–21; mit biographistischer Tendenz Jones [1986] 6–23), gehört ins Umfeld der so genannten Zweiten Sophistik, derjenigen historischen und kulturellen Bewegung, die sich – gewöhnlich in der Zeit vom 1.–3. Jh. n.Chr. angesetzt – durch eine enorme Blüte der (epideiktischen) Rhetorik auszeichnet: Überall im Römischen Reich finden Auftritte professioneller Konzertredner statt, und eine im weiteren Sinn ›sophistische‹ Schriftstellerei entwickelt sich, zu deren Exponenten auch Lukian gezählt werden kann. Vgl. zum historisch-kulturellen Umfeld die Einleitung 2. unten, die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §§18–22 sowie die Studien von Bowersock [1969], Bowie [1970], Anderson [1993], Swain [1996], Schmitz [1997], Korenjak [2000] und Whitmarsh [2005]. 2 Vgl. dazu Jones [1986] 105, welcher bezüglich der Schrift von einer »satire of the practice it purports to recommend« spricht. Zur Definition der Begriffe Satire und Ironie bzw. zu ihrer Verwendung in der vorliegenden Arbeit vgl. unten die Einleitung 1.2, S. 29f.

12

1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

weg ihre wohl berühmteste Ausprägung gefunden hat; gegen die Konvention verstösst er allerdings insofern, als er die Wahl des kurzen Weges propagiert.3 Dazu lässt er je einen Exponenten des langen und des kurzen Weges die Details der jeweiligen Lehre formulieren und um den Schüler werben, wobei er die Ausbildung des Lehrers des langen Weges in indirekter Rede und auf zwei Kapitel beschränkt darstellt und durch entsprechende Kommentare auch gleich eine eigene (negative) Einschätzung des Präsentierten anhängt (§§9–10). Der Lehrer des kurzen Weges, der ›Rednerlehrer‹, ist die zweite zentrale Figur, nach welcher der Text benannt ist, wobei dies allerdings erst ex post deutlich wird.4 Er wird vom Ratgeber herangezogen, damit er als Verkörperung der Ausbildung des kurzen Weges seine Lehre selbst, in direkter Rede und sehr ausführlich vorstellen kann (§§11ff.). Angefangen bei der nötigen Grundausstattung geht der Rednerlehrer auf sämtliche Elemente ein, die – im Sinne einer rasch erworbenen ›Trickrhetorik‹ – den Schüler zu einem erfolgreichen Starsophisten machen werden. Wie es eine solche Scheinrhetorik erwarten lässt, verstossen dabei alle Ratschläge gegen die konventionelle Auffassung ›guter‹ Rhetorik, wodurch die ironische Brechung des Textes bedingt ist. Zum Schluss (§26) ergreift der Ratgeber nochmals das Wort und untergräbt seine bisherige Empfehlung, die der Rednerlehrer breit ausgeführt hat, indem er den kurzen Weg als unlautere Abkürzung zum Rednerberuf diskreditiert; so lässt er seine gesamte Beratung ambivalent ausklingen. Die Reden der beiden zentralen Figuren, des Ratgebers und des Rednerlehrers, geben eine erste grobe Zweiteilung des Textes vor und nehmen exakt denselben Raum ein (je 13 Kapitel von insgesamt 26; Ratgeber: §§1– 12/26; Rednerlehrer: §§13–25). Im Folgenden soll eine feinere Gliederung vorgenommen werden, wobei gemäss dem Thema der Redekunst besonderes Augenmerk auf die rhetorische Struktur gerichtet wird. Grundsätzlich liegt – durch meine Benennung der ersten Figur als ›Ratgeber‹ angedeutet – eine beratende Rede vor, die den kurzen Weg zur Rhetorik unter der Anleitung des Rednerlehrers empfiehlt.5 Eine Beratungsrede besteht gemäss Aristoteles’ Ausführungen darin, über die Zukunft Ratschläge zu erteilen, und zwar auf der Basis dessen, was nützlich bzw. schädlich sein wird (vgl. 3

Vgl. zur Wegmetaphorik und zu Vorläufertexten (Prodikos) die Einleitung 1.4. Vgl. Rh. Pr. 26, wo der Ratgeber mit dem Wort διδάσκαλος auf den Rednerlehrer zurückverweist. Für eine andere mögliche bzw. ergänzende Deutung des Werktitels siehe die Einleitung 1.8 zu Aristophanes sowie das Lemma zum Werktitel im Kommentarteil. Grundsätzlich dürfte der Rezipient den Titel »Rednerlehrer« im Lesefluss vorerst auf die Person des Ratgebers beziehen. 5 Die Einteilung der Reden in die drei Gattungen γένος συμβουλευτικόν / δικανικόν / ἐπιδεικτικόν (Beratungs-, Gerichts-, Festrede) findet sich seit Aristoteles: ἔστιν δὲ τῆς ῥητορικῆς εἴδη τρία τὸν ἀριθμόν· [...] ὥστ’ ἐξ ἀνάγκης ἂν εἴη τρία γένη τῶν λόγων τῶν ῥητορικῶν, συμβουλευτικόν, δικανικόν, ἐπιδεικτικόν (Rh. 1358a36–b8). Bei Anaximenes sind nur die ersten beiden Gattungen erwähnt, vgl. dazu Fuhrmann [41995] 81. 4

1.1 Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse

13

Arist. Rh. 1358b8–9 und 1358b21–22).6 Zu dieser rhetorischen Einordnung von Rh. Pr. sind zwei einschränkende Bemerkungen zu machen: Der ausführliche Auftritt des Rednerlehrers gibt der vorliegenden Beratungsrede eine Struktur, die im Corpus antiker Reden ohne Gegenstück zu sein scheint,7 und zudem entspricht Rh. Pr. nicht durchgehend einer oratio, sondern weist folgende weiteren Gattungselemente auf: Vor allem im Proömium und in den darauf folgenden Kapiteln (§§1–4)8 finden sich Elemente einer epistula, eines Briefes, der gewöhnlich (abgesehen von kürzeren Einschüben eines fictus interlocutor) über einen einzigen Sprecher verfügt (vgl. z.B. Lukians De mercede conductis9 und De historia conscribenda oder Epikurs Briefe an Herodotos, Pythokles, Menoikeus und Senecas Epistulae morales), während hier einem weiteren Sprecher breiter Raum zugestanden wird (vgl. auch Lukians Peregrinos und Alexandros). Ferner liegt eine inhaltliche Nähe zur platonisch-philosophischen Literatur vor, v.a. im Duktus von §§1–8 und §26, thematisch bedingt durch den Einbezug von Wegsowie Mysterienmetaphorik (vgl. dazu §14 und §16).10 Schliesslich weist der Text auch Elemente der (aristophanischen) Komödie auf: Die Gegenüberstellung der Lehrer des langen und des kurzen Weges (§§9–12) erinnert an das strukturelle Element des epirrhematischen Agons, speziell an die Figuren des κρείττων und des ἥττων λόγος in Aristophanes’ Wolken. Die Rede des Rednerlehrers wird zudem zu einem Komödienauftritt stilisiert, er selbst mit dem Tragödiendichter Agathon (vgl. Aristophanes’ Thesmophoriazusen) verglichen. Auch die Darstellung des Privatlebens (§§23–25) enthält mehrfach Anspielungen auf die Komödie.11 Damit zieht also der Text zusätzliche, über eine oratio hinausgehende Elemente literarischer Gattungen bei, und diese vielschichtige literarische Gestaltung lässt – abgesehen davon, dass der Redner immer die Möglichkeit einer freien Handhabe der

6 Da die vorliegende Beratungsrede neben den jeweiligen Wegen prominent über Lehrerfiguren handelt, erstaunt es nicht, dass auch Elemente der lobenden bzw. tadelnden Rede (ἔπαινος / ψόγος) einfliessen. Zur Nähe von Lob- und Beratungsrede vgl. Arist. Rh. 1367b37–1368a9. 7 Die ähnlichste Struktur weist vielleicht eine weitere lukianische Schrift auf: In Peregr. 4–30 (formal beginnt die Schrift als Brief, s. dazu gleich) gibt der Sprecher Lukian die Reden je eines Befürworters und eines Gegners des Peregrinos wieder. 8 Vgl. den Kommentar zu §§1–4. 9 Merc. Cond. liegt von der Thematik her zudem sehr nahe bei Rh. Pr.: Der Sprecher berät einen Freund, der beabsichtigt, als Hauslehrer reicher Leute Karriere zu machen, und weist ihn dringend an, davon Abstand zu nehmen. Trotz der fehlenden vorangestellten Grussformel in Merc. Cond., Hist. Conscr. und Rh. Pr. (vgl. dagegen Peregr. 1: Λουκιανὸς Κρονίῳ εὖ πράττειν) schliessen sich die Texte durch wiederholte Anreden an den Empfänger der Briefliteratur an (u.a. Merc. Cond. 1, 2, 13, 19, 42; Rh. Pr. 1, 14, 24; Hist. Conscr. 1, 3, 4, 5, 22). 10 Ausführlicher dazu vgl. unten die Einleitung 1.3. 11 Näheres zu diesen Elementen findet sich unten in Einleitung 1.8 sowie jeweils im Kommentarteil, vgl. v.a. die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §§9–10.

14

1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

schulmässigen Ordnung der Redeteile (partes orationis) hat und nutzt12 – keine in den engen Strukturen beispielsweise einer Gerichtsrede verlaufende oratio erwarten: Es liegen gängige Redeteile vor, aber in kreativer Ausund Umgestaltung. Das unten unter 1.1.1 dargestellte Gliederungsschema zu Rh. Pr. ist daher in seiner Grobeinteilung entlang der antiken Redeteile, wie sie in den antiken Handbüchern spezifisch für die Gerichtsrhetorik (zu deren Ausübung die Rhetorikschüler in erster Linie vorbereitet worden sind) vorliegen, als eine Möglichkeit oder ein Versuch aus moderner Sichtweise zu bewerten und beansprucht über die Gliederungsintention des antiken Autors und die Wirkung auf die antiken Rezipienten nur bedingte Aussagekraft. 13 Wie weit sich nämlich der antike Autor am untenstehenden Schema orientiert haben könnte, bleibt unsicher: Proömium und Schlusswort sind zwar so klar markiert, dass sie auch vom antiken Rezipienten als solche empfunden sein dürften, der Mittelteil aber ist in einer freien variatio gestaltet, die keine Trennlinien vorgibt, die den Kapitelzahlen auf nur eine Art zuzuordnen wären.14 Dennoch finden sich im Vokabular immer wieder Hinweise darauf, dass der Redner ein bestimmtes Vorhaben verfolgt und dieses beweisen will (und damit Hinweise auf Elemente einer Prothesis und Pistis), und im Detail werden entsprechend viele rhetorische (beweisende, anratende und ablehnende) Mittel angewandt, so dass der erhellende Wert einer solchen Analyse für den modernen Rezipienten evident sein dürfte. Die angesprochene Gattungsmischung in Rh. Pr. – oratio, epistula, philosophische Literatur, Alte Komödie – ist ein anschauliches Beispiel dessen, was Lukian als Charakteristik seines literarischen Schaffens in seinen Schriften immer wieder hervorhebt: Die Kreation literarischer Hippokentauren.15 Das vielseitige Gesamtwerk Lukians mit insgesamt 80 Schriften greift verschiedenste traditionelle Gattungen auf und verwebt sie miteinander. Eine grobe Zuordnung der Texte zu zwei Hauptbereichen ist zwar möglich, einerseits zu rhetorischen, andererseits zu dialogischen Darstellungsformen:16 Unter die erstgenannten fallen typische Produkte der Rhetorik der Zweiten Sophistik wie Deklamationen (Phalaris I und II, Tyrannicida, Abdicatus), Dialexeis (z.B. Luct., Sacr., Cal.), Ekphraseis (z.B. De 12

Vgl. z.B. HWRh 6 [2003] 667. Es ist also zu unterscheiden zwischen dem Status des Gliederungsschemas als a) dasjenige, an welchem sich der Autor beim Verfassen seines Textes orientiert hat, und b) dasjenige, welches aus moderner Sicht (unter Anwendung antiker Einteilungskriterien) die Orientierung im Text erleichtert. Für diesbezügliche Hinweise danke ich Martin Korenjak. 14 Vgl. daher auch die alternative Einteilung in Anm. 18. 15 Vgl. Zeuxis 3–7; Prom. Es 5; Bis Acc. 33. Siehe dazu ausführlicher unten 1.7.2, 1.8 (zur Vermengung von Komödie und philosophischem Dialog) und 3.1, S. 122f. sowie unten Anm. 87. 16 Diese Einteilung folgt Nesselrath [2001a]. 13

1.1 Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse

15

Domo), Vorreden (προλαλιαί, z.B. Scytha, Electr., Dips.) und Pamphlete (z.B. Pseudol., Alex., Peregr.), während die dialogischen Darstellungsformen einerseits den platonisch-sokratischen Dialog, andererseits die Alte Komödie aufnehmen (zu ersterem vgl. z.B. Hermot., Symp., Eun., Lex., Sol., zur zweiten z.B. Pisc., Vit. Auct.). Es sind aber stets Überlappungen vorhanden, ja sie sind gerade das Spezifikum von Lukians so genannten komischen Dialogen, die als mimetische ›Collagen‹ verschiedener klassischer Genera einmal den platonischen, ein andermal den komischen Anteil stärker gewichten. Als dritter Bereich sind Lukians so genannte Menippeischen Satiren zu nennen, deren formales Charakteristikum die Mischung von Prosa und Versen darstellt (z.B. Ikaromen., Nekyomant., J. Trag., J. Conf.).17 Die Schrift Rh. Pr., die aufgrund ihrer formalen Kernmerkmale (oratio, invektivisch-pamphletische Elemente) zu den rhetorischen Darstellungsformen gerechnet werden könnte, liefert bei genauerer Betrachtung struktureller und vor allem inhaltlicher Charakteristika ein gutes Beispiel für die Unmöglichkeit und Unzulänglichkeit einer einseitigen Einordnung und Gruppierung der lukianischen Schriften, da die Reflexion über bzw. die Verspottung von Rhetorik mit Elementen des platonisch-sokratischen Dialogs und der Alten Komödie gleichermassen durchsetzt ist. Eine detaillierte Darstellung des dichten Geflechts der intertextuellen Bezüge in Rh. Pr. findet sich unten in den Kapiteln 1.3–1.8. Wie die Gattungsmischung ein Charakteristikum des lukianischen Œuvres ist, so trifft dies nicht weniger auf den hohen Grad an Intertextualität zu, was nicht erstaunt, da das Rekurrieren auf bestehende ›klassische‹ Gattungen mit intertextuellen Verweisen einhergeht.

17

Zur vor allem hinsichtlich inhaltlicher Kriterien komplexen Gattungsdefinition der Menippeischen Satire vgl. die Studien von Riikonen [1987] und Relihan [1993] sowie speziell in Bezug auf Lukian Rütten [1997] 111–130 und Baumbach [2002] 22–25.

16

1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

1.1.1 Rhetorische Grobgliederung Proömium: (Vorwort)

Rh. Pr. 1–2

Prothesis/Dihegesis I: Rh. Pr. 3–4 (Darstellung des Sachverhaltes und beabsichtigte Vorgehensweise)

Parekbasis: (Exkurs)

Rh. Pr. 5

Prothesis/Dihegesis II: Rh. Pr. 6–8

Pistis: (Glaubhaftmachung) a) refutatio

Gegenstand der Rede, Person des Redners, Wohlwollen und Aufmerksamkeit des Publikums; Elemente der epistula (Briefbeginn: Ἐρωτᾷς, ὦ μειράκιον); platonisch-philosophischer Duktus

Gegenüberstellung der beiden Wege zur Rhetorik (platonisch-philosophischer Duktus) mit Positionierung des Ratgebers und διαβολή der Gegner; erster Beweis der vertretenen Position (argumentum a fortiori)18 beweisendes παράδειγμα des Händlers aus Sidon (mit poetologischer Funktion) Fortsetzung der Wegbeschreibung: Durch Bildbeschreibungen (εἰκόνες) erzeugte ἐνάργεια des kurzen Weges und der personifizierten Rhetorik

Rh. Pr. 9–25 Rh. Pr. 9–10

διαβολή des Lehrers des langen Weges; Elemente der aristophanischen Komödie (epirrhematischer Agon; Aristophanes Nub.: κρείττων und ἥττων λόγος)

18 Eine mögliche alternative Einteilung bestünde darin, ausgehend von Hinweisen im Vokabular (§4: μὴ ἀπιστήσῃς; §5: δι’ ἀπιστίαν; οὐκ ἐπίστευσεν; ἄπιστον) den Beginn der Pistis schon in §4 anzusetzen. Es ergäbe sich somit folgende Struktur: Proömium (Rh. Pr. 1–2), Dihegesis (Rh. Pr. 3), Pistis (Rh. Pr. 4–25) mit beweisender Ekphrasis (Rh. Pr. 5) und bildlicher ἐνάργεια (Rh. Pr. 6–7), dann Übergang in die eigentliche refutatio und probatio (ab Rh. Pr. 9). – Mir scheint diese Gliederung aus zwei Gründen weniger sinnvoll: Einerseits halte ich §3 und §§6–8 aufgrund der inhaltlichen Parallelen (Darstellung der Wege bzw. des Berges der Rhetorik) und der wiederholten Angaben zum Vorgehen (§3: οὐ γάρ σε [...] ἄξομεν κτλ.; §6: ἐθέλω δέ σοι [...] ἐπιδεῖξαι τὴν ὁδόν; §8: ἐγώ σοι φράσω) für eine Einheit, andererseits kann man, was das Vokabular betrifft, anführen, dass es die Kernfunktion einer Rede ist, den Zuhörer zu überzeugen, so dass dies selbstverständlich nicht nur in einer Pistis zum Thema gemacht werden darf (vgl. auch Anm. 27 unten). Rh. Pr. 4 und 5 sind m. E. als Beweis des in Rh. Pr. 3 vorgeführten Szenarios bzw. der Legitimation des Vorhabens des Ratgebers, den Schüler auf dem kurzen Weg zu führen, aufzufassen, bieten aber noch nicht die eigentliche ›Hauptbeweisführung‹ der inhaltlichen Priorität des kurzen Weges (diese folgt ab Rh. Pr. 9 bzw. 11).

1.1 Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse

b) probatio

17

Rh. Pr. 11–25 Rh. Pr. 11–12 αὔξησις des Lehrers des kurzen Weges  Rede des Rednerlehrers, Stilisierung zum Komödienauftritt Rh. Pr. 13–14 Selbstlob (αὔξησις) des Rednerlehrers, adhortatio an den Schüler [Proömium des Rednerlehrers] Rh. Pr. 15 Präliminarien der Lehre des kurzen Weges [Prothesis] Rh. Pr. 16–22 Ausführungen zu Vokabular, literarischen Vorbildern, Paradethemen, Redeaufbau, Showelementen, Claque und Konkurrenz Rh. Pr. 23–25 Privatleben: praecepta und illustrierender βίος des Rednerlehrers; Elemente der aristophanischen Komödie, Invektiventopik

Epilog: (Schlusswort)

Rh. Pr. 26

Bekräftigung der eigenen Position und Herabsetzung der Gegner (αὔξησις und ταπείνωσις); Zusammenfassung (ἀνάμνησις); platonischphilosophischer Duktus

18

1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

1.1.2 Ausführlichere Gliederung nach rhetorischen Gesichtspunkten Proömium (Vorwort): Rh. Pr. 1–2 Präsentiert wird der Gegenstand der Rede, vorgegeben durch den Wunsch des Schülers, ein berühmter Sophist zu werden und die Wege zu erfahren, die dahin führen (vgl. Arist. Rh. 1415a23f. zur Hauptaufgabe des Proömiums: δηλῶσαι τί ἐστιν τὸ τέλος οὗ ἕνεκα ὁ λόγος »aufzuzeigen, mit welchem Ziel die Rede gehalten wird«).19 Entsprechend den in der rhetorischen Theorie angegebenen zusätzlichen Funktionen eines Proömiums – das Wohlwollen und die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewinnen, die eigene Person in vorteilhaftem Licht erscheinen zu lassen (vgl. Arist. Rh. 1415a25ff.) – signalisiert der Ratgeber seine Kompetenz auf dem Gebiet der Rhetorik (τό γε ἐπ’ ἐμοὶ καὶ πάνυ θαρρῶν ὡς τάχιστα δεινὸς ἀνὴρ ἔσῃ κτλ.) sowie seine Hilfsbereitschaft, die er schon mehrfach unter Beweis gestellt zu haben scheint (ἀλλὰ οὐδεὶς φθόνος, ὦ παῖ, καὶ μάλιστα ὁπότε νέος τις [...] καθάπερ νῦν σύ, τοῦτο αἰτοίη προσελθών). Seine Kompetenz wird auch insofern, als sich der Schüler gerade an ihn wendet, untermauert. Die besonders betonte Kürze der Rede bzw. der Ausbildung weckt zusätzlich die Aufmerksamkeit des Publikums; demselben Zweck dient die Betonung der Grösse und Bedeutsamkeit des Zieles des Schülers. Diesem Punkt ist §2 gewidmet (τὸ μὲν οὖν θήραμα οὐ σμικρὸν κτλ.),20 der mit dem Verweis auf (anonyme) παραδείγματα21 unbekannter Menschen, die allein durch die Rhetorik reich und berühmt, ja Angehörige der Oberschicht geworden sind, schliesst.22

19

Vgl. ausführlich zur Funktion des προοίμιον auch Anaxim. 29. Vgl. zur Betonung der Grösse des Redegegenstandes gerade im Proömium Arist. Rh. 1415b1f.: προσεκτικοὶ δὲ τοῖς μεγάλοις, τοῖς ἰδίοις, τοῖς θαυμαστοῖς, τοῖς ἡδέσιν und Cic. Inv. 1,23: Attentos autem faciemus, si demonstrabimus ea, quae dicturi erimus, magna, nova, incredibilia esse (siehe allerdings über die geforderte Glaubwürdigkeit der ἀπαγγελία/διήγησις Anaxim. 30: τὰς ἀπαγγελίας [...] σαφεῖς καὶ βραχείας καὶ οὐκ ἀπίστους ποιήσομεν). 21 Zum Beispiel (παράδειγμα) als neben dem Enthymem (ἐνθύμημα) wichtigstes »technisches« Überzeugungsmittel einer Rede vgl. Arist. Rh. 2,20. Zur überzeugenden Wirkung des Berichtes eines ähnlichen Falles (so genanntes παράδειγμα κατὰ λόγον) vgl. auch Anaxim. 8,1–3. 22 Auch rhetorische Fachterminologie unterstreicht durchgängig die Kompetenz des Sprechers (vgl. z.B. den Kommentar zu §1: τὴν δύναμιν [...] ἐν τοῖς λόγοις; γνῶναί τε τὰ δέοντα καὶ ἑρμηνεῦσαι αὐτά). 20

1.1 Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse

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Prothesis/Dihegesis I:23 Rh. Pr. 3–4 Die angekündigte Kürze der Ausbildung und die Grösse des Zieles rufen geradezu nach einer Präzisierung des Sprechers dahingehend, wie er diese Ausbildung vorzunehmen gedenkt. Die beiden zur Verfügung stehenden Wege – der lange, anstrengende und der kurze, angenehme – werden ein erstes Mal in einer Gegenüberstellung ihrer Charakteristika vorgeführt,24 wobei der Lehrer sich als Verfechter des kurzen Weges positioniert und sich von Gegnern absetzt (οὐ γάρ σε τραχεῖάν τινα οὐδὲ ὄρθιον καὶ ἱδρῶτος μεστὴν ἡμεῖς γε ἄξομεν, [...] ἐπεὶ οὐδὲν ἂν διεφέρομεν τῶν ἄλλων ὅσοι κτλ.; ἀλλὰ τό γε παρ’ ἡμῶν ἐξαίρετόν σοι τῆς συμβουλῆς τοῦτό ἐστιν κτλ.)25. Die Absetzung von Gegnern bzw. die Diskreditierung der gegenteiligen Position, in der rhetorischen Terminologie διαβολή genannt,26 nimmt der Ratgeber in §8 und ausführlich in §§9–10 (indirekte Rede des Lehrers des langen Weges) wieder auf. Als ob dem Ratgeber – in der Idylle des kurzen Weges schwelgend – plötzlich bewusst wird, wie unglaublich seine Worte auf den Schüler wirken müssen (μὴ ἀπιστήσῃς27, εἰ ῥᾷστά τε ἅμα καὶ ἥδιστά σοι ταῦτα ἐπιδείξειν φαμέν), untermauert er seinen Ratschlag bzw. die von ihm beabsichtigte Vorgehensweise mit dem Beispiel Hesiods, dessen Karriere ein

23 Gemäss Arist. Rh. 1414a31–40 besteht eine Rede aus den beiden Hauptteilen Prothesis (Themenangabe) und Pistis (Beweis); eine Dihegesis (Erzählung) gebe es nur in der Gerichtsrede (vgl. auch 1417b12f.: ἐν δὲ δημηγορίᾳ ἥκιστα διήγησις ἔστιν, ὅτι περὶ τῶν μελλόντων οὐθεὶς διηγεῖται). Anders wird dies in Anaxim. 30–31 behandelt, wo die Apangelia (Dihegesis) auf alle drei Redegattungen appliziert wird, indem sie entweder über Geschehenes, Gegenwärtiges oder Zukünftiges berichtet, während der Redeteil der Prothesis im aristotelischen Sinne entfällt. In der römischen Rhetoriktheorie hat sich die Gliederung Exordium – Narratio – Partitio/Propositio (für alle Gattungen, auch die Beratungsrede) etabliert (vgl. Cic. Inv. 1,19–33; Quint. Inst. 4,1–5). Die vorliegende Passage von Rh. Pr. scheint mir am ehesten als Mischung von Erzählung und Darlegung der beabsichtigten Vorgehensweise (Dihegesis und Prothesis/Propositio) charakterisierbar, da die dihegetische Darstellung der beiden Wege v.a. dem Zweck dient, die Absicht des Ratgebers, die schnellstmögliche Ausbildung zu lehren, zu illustrieren, und er die von ihm verfolgte Vorgehensweise immer wieder kommentiert. 24 Zur stilistischen Gestaltung dieser Gegenüberstellung (Adjektivreihungen gemäss dem Gesetz der wachsenden Glieder; Oppositionen) vgl. die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §3. 25 »Denn nicht auf einem rauen, steilen und schweisstreibenden Weg werde ich dich führen, [...] denn dann unterschiede ich mich ja kein bisschen von all den anderen, die usw.«; »Nein, gerade dies ist das Herausragende an meinem Ratschlag, usw.« 26 Vgl. Arist. Rh. 3,15 und Anaxim. 29,10–28. 27 Zur Überzeugung als Kernfunktion jeder Rede vgl. Arist. Rh. 1355b25f. (ἔστω δὴ ἡ ῥητορικὴ δύναμις περὶ ἕκαστον τοῦ θεωρῆσαι τὸ ἐνδεχόμενον πιθανόν) und detailliert zu den Überzeugungsmitteln (πίστεις) 1356a1ff. Die Funktion des Überzeugens wird vom Ratgeber auch im folgenden Kapitel (§5) mit der häufigen Verwendung entsprechender Termini unterstrichen (δι’ ἀπιστίαν; οὐκ ἐπίστευσεν; ἄπιστον).

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

argumentum a fortiori des Typs a maiore in minus abgibt:28 Wenn Hesiod durch einige wenige Blätter vom Helikon (ὀλίγα φύλλα ἐκ τοῦ Ἑλικῶνος λαβὼν) sofort ein von den Musen ergriffener grosser Poet29 werden konnte, so muss dies für einen Redner doch ebenso möglich sein.30 Parekbasis (Exkurs): Rh. Pr. 5 Es folgt ein kurzer Exkurs, der insgesamt ein παράδειγμα darstellt: Die Herausforderung der politischen Organisation des Reiches Alexanders des Grossen, konkret die Botengänge zwischen Persien und Ägypten, die auf einem kurzen Weg zu absolvieren gewesen wären, hätte Alexander dem Versprechen (ὑπόσχεσις) eines Sidoniers Glauben geschenkt, bilden den Hintergrund, vor dem der Ratgeber seine eigene Versprechung (ὑπόσχεσις) argumentativ zu untermauern versucht.31 Neben der beweisenden hat dieser Exkurs auch eine wichtige poetologische Funktion: Dadurch, dass der Ratgeber seine eigene Person mit dem Sidonier vergleicht und dessen unglaubliche Versprechungen kommentiert, werden auch Anlage und Intention seiner eigenen Rede reflektiert.32 Prothesis/Dihegesis II: Rh. Pr. 6–8 Der Ratgeber nimmt in §6 seine Darstellung der zwei Wege zur Rhetorik wieder auf, wobei er eine Bildbeschreibung der auf einem Berggipfel thronenden Rhetorik an den Anfang stellt: Die Güter, die demjenigen, welcher sie heiratet, zufallen – in §3 angetönt: ἅπαντα [...] ὅσα ἐστὶν ἀγαθὰ παρὰ τῆς Ῥητορικῆς – werden konkretisiert (πλοῦτος, δόξα, ἰσχύς, ἔπαινοι). Die Verwendung eines Bildes (εἰκών) gilt in der rhetorischen Theorie als geistreiches, schmückendes Element (ἀστεῖον), das die Hörer durch den Lerneffekt des Erkennens der Ähnlichkeit des Bildes mit dem vorliegenden Thema erfreut.33 Solche Bilder bewirken zudem Anschaulichkeit, ἐνάργεια.34 Der Ratgeber integriert in das erste Bild durch den Verweis auf eine 28 Vgl. zu dieser Kategorie des Topos »aus dem Verhältnis von Mehr und Weniger« (ἐκ τοῦ μᾶλλον καὶ ἧττον) Arist. Rh. 1397b12f. 29 Verwendet wird der rhetorische Terminus μεγαληγορία (»Erhabenheit, Gehobenheit [des Stils]«); vgl. dazu den Kommentar zu §4: τῆς ποιητικῆς μεγαληγορίας. 30 Vernachlässigt wird bei diesem Argument das göttliche Zutun in Hesiods Fall, vgl. dazu den einleitenden Kommentar zu §4. Zur Anwendung von Trugschlüssen (φαινόμενα ἐνθυμήματα) vgl. Arist. Rh. 2,24. 31 Über die in eine narratio eingeschobene digressio und ihre verschiedenen Funktionen vgl. Cic. Inv. 1,27: digressio aliqua extra causam aut criminationis aut similitudinis aut delectationis non alienae ab eo negotio, quo de agitur, aut amplificationis causa interponitur. 32 Für eine detailliertere Analyse vgl. die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §5. 33 Vgl. Arist. Rh. 3,4 und 3,10–11. 34 Vgl. dazu Quint. Inst. 4,2,63: Als passendes Element in der Erzählung, narrationi aptum, wird die evidentia/ἐνάργεια angeführt.

1.1 Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse

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Abbildung des Nils gleich ein zweites zur Veranschaulichung der ἔπαινοι (εἴ που τὸν Νεῖλον εἶδες γραφῇ μεμιμημένον κτλ. »wenn du schon einmal den Nil auf einem Bild dargestellt gesehen hast usw.«). Zu Beginn von §7 an den Fuss des Berges zurückversetzt, wird dem Schüler dessen Schroffheit – besonders betont durch Alliteration: ἀπόξυρον αὐτὴν ἁπανταχόθεν – in einem weiteren vergleichenden Bild der Bergfestung Aornos vor Augen geführt, unterfüttert durch die Nennung der παραδείγματα Alexanders, Dionysos’ und Herakles’, in deren Reihe er sich als Bezwinger dieses Berges einreihen wird. Es folgt eine erneute Kurzdarstellung der Beschaffenheit der beiden Wege (vgl. bereits §3), die dem Ratgeber die Möglichkeit bietet, sich auf Hesiod als vorzüglichen Exponenten der Technik der Wegbeschreibung zu berufen und mit dem rhetorischen Element der ἀποσιώπησις (hier: rasch zum nächsten Punkt überleitende Abbruchsformel) zu enden (§7: καὶ ἔφθη γὰρ ἤδη Ἡσίοδος εὖ μάλα ὑποδείξας αὐτήν [sc. τὴν ὁδόν], ὥστε οὐδὲν ἐμοῦ δεήσει. [...] ἵνα μὴ πολλάκις τὰ αὐτὰ λέγων κτλ.).35 Schliesslich begründet der Ratgeber in einem Selbsterfahrungsbericht, der seine Glaubwürdigkeit durch Autopsie stärkt, warum er selbst den langen Weg beschritt, seinem Schüler aber den kurzen anrät (§8): Infolge seines jugendlichen Alters und im Glauben an die Richtigkeit von Hesiods Aussagen über den langen Weg beging er diesen Fehler, der dem Schüler nicht unterlaufen soll.36 Mit der Ankündigung der eigentlichen Lehre über die Umsetzung des kurzen Weges leitet der Ratgeber zum Hauptteil seiner Rede (Pistis) über (§8: ὡς οὖν ποιήσας ἤδη ῥᾷστα ἐπὶ τὸ ἀκρότατον ἀναβήσῃ [...] ἐγώ σοι φράσω).37 Pistis (Glaubhaftmachung): Rh. Pr. 9–25 Die Beweisführung ist nicht im engeren Sinne als solche gekennzeichnet; der vorliegende Hauptteil des Textes dient aber genau diesem Zweck, wobei anstelle gängiger Beweise, wie sie sich in der Gerichtsrede finden (πίστεις im Sinne von Enthymemen sowie Zeugen, Verträgen etc.), die 35 »Doch Hesiod hat ihn [sc. den Weg] ja längst sehr zutreffend beschrieben, so dass ich es nicht auch noch zu tun brauche. [...] damit ich nicht mehrfach dasselbe sage usw.« – Zur ἀποσιώπησις und ihren verschiedenen Funktionen vgl. HWRh 1 [1992] 828–830 (vgl. auch Alexander De figuris, Rhetores Graeci vol. 3, p. 22 Spengel). Die Verwendung von Abbruchsformeln ermöglicht die für eine gute Rede geforderte Qualität der Kürze (συντομία/brevitas). 36 Hier liegt eine rhetorische διαβολή Hesiods als Lügner vor (vgl. auch am Ende von §8: ἐξαπατηθῆναι), die in scharfem Kontrast steht zum vorangehenden Lob des Dichters in stilistischer Hinsicht (§7). Zum Topos der sich im Nachhinein als falsch zeigenden Entscheidung vgl. Arist. Rh. 1400a37–b4. 37 »Was du nun tun musst, um am leichtesten die Bergspitze zu erklimmen [...], will ich dir sagen.«

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

Darstellungen der Lehrer des langen und des kurzen Weges für sich selbst sprechen (bzw. je ein umfassendes παράδειγμα abgeben)38 und – angereichert durch den (negativen bzw. positiven) Kommentar des Ratgebers – den Schüler zur richtigen Entscheidung führen sollen. Der Lehrer des langen Weges kommt dabei nur in indirekter Rede zum Zug, so dass die negative Beurteilung durch den Ratgeber umso leichter einfliessen kann (z.B. §9: ἕπεσθαί σοι παρακελευόμενος; φήσει εὐδαίμονά σε ἔσεσθαι; σε κελεύσει ζηλοῦν; ὃ δὲ πάντων ἀνιαρότατον, ὅτι σοι καὶ τὸν χρόνον πάμπολυν ὑπογράψει τῆς ὁδοιπορίας; §10: ὁ μὲν ταῦτα φήσει, ἀλαζὼν καὶ ἀρχαῖος ὡς ἀληθῶς καὶ Κρονικὸς ἄνθρωπος). a) refutatio (Ablehnung des langen Weges):39 Rh. Pr. 9–10 Der Lehrer des langen Weges, ein Ausbund an Männlichkeit und Fleiss,40 empfiehlt, auf den Spuren Demosthenes’, Platons und anderer Klassiker wandelnd unter grosser Anstrengung deren Werke nachzuahmen, um – wenn auch erst nach Ablauf einiger Olympiaden – endlich das ersehnte Rednerglück (εὐδαιμονία) zu erreichen. Der Ratgeber kritisiert an dieser Ausbildung die in Aussicht gestellte lange Dauer und unterstellt dem Lehrer zudem, dass er für seinen Unterricht hohen Lohn fordere. Zu diesem Element der Geldgier gesellen sich am Beginn von §10 weitere Elemente der διαβολή, nämlich Prahlerei und unzeitgemässe Einstellung,41 letztere durch ein Enthymem illustriert: Die alte Rhetorik, welche (zumindest vielleicht) im Krieg Nutzen hat, kann heute, zu Friedenszeiten, keinen solchen mehr bringen. Hier wird die gängige Angabe der primären Funktion der symbuleutischen Rede im Argument einbezogen, nämlich gemäss dem Nützlichen bzw. Schädlichen zu raten, vgl. Arist. Rh. 1358b20f.: τέλος δὲ [...] τῷ μὲν συμβουλεύοντι τὸ συμφέρον καὶ βλαβερόν und Rhet. Her. 3,2,3: omnem orationem eorum qui sententiam dicent finem sibi conveniet utilitatis pro38 Zum παράδειγμα als geeignetste Form der πίστις in der Beratungsrede vgl. denn auch Arist. Rh. 1368a29f.: τὰ δὲ παραδείγματα τοῖς συμβουλευτικοῖς (ἐκ γὰρ τῶν προγεγονότων τὰ μέλλοντα καταμαντευόμενοι κρίνομεν). 39 Gemäss Aristoteles (Rh. 1418b7–9) erfolgen refutatio und probatio in der umgekehrten Reihenfolge: erst Darlegung der eigenen Position, dann Widerlegung des gegnerischen Standpunktes; er nennt allerdings auch Ausnahmen von dieser Vorgehensweise. Es ist naheliegend, dass in Rh. Pr. der im chronologischen Sinne ›ältere‹ und zudem konventionelle Weg, welchen der Ratgeber selbst absolviert hat, vorab besprochen wird, bevor der als ganz erstaunliche Neuheit charakterisierte zweite Weg vom Rednerlehrer detailliert und in entsprechender Breite präsentiert wird. 40 Zur stilistischen Gestaltung der Passage vgl. den Kommentar zu §9: ὑπόσκληρος sowie den einleitenden Kommentar zu §§11–12 (parallelisierende Wiederaufnahme in der äusserlichen Beschreibung des Rednerlehrers); vgl. auch den einleitenden Kommentar zu §§9–10 für die Anlehnung der Passage an den epirrhematischen Agon des κρείττων und des ἥττων λόγος in Aristophanes’ Wolken. 41 Die Reihung verächtlicher Ausdrücke wird stilistisch durch Alliteration verstärkt: ἀλαζὼν καὶ ἀρχαῖος ὡς ἀληθῶς καὶ Κρονικὸς ἄνθρωπος.

1.1 Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse

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ponere, ut omnis eorum ad eam totius orationis ratio conferatur. Es sind also Antiquiertheit und Unwissenheit des Lehrers, welche der Ratgeber besonders hervorhebt, damit der Schüler sich nicht von einer solchen Beratung überzeugen lasse: σὺ δὲ μήτε πείθεσθαι μήτε προσέχειν αὐτῷ κτλ. Am Ende von §10 folgt weiter die Kritik an Hypermaskulinität und Betrügerei (τῷ μὲν δασεῖ τούτῳ καὶ πέρα τοῦ μετρίου ἀνδρικῷ; ἐξαπατᾶν). b) probatio (Anraten des kurzen Weges): Rh. Pr. 11–25  Rede des Rednerlehrers Die folgende Unterweisung, die als probatio aus Sicht des Ratgebers charakterisiert werden könnte, erhält dadurch, dass sie vom Rezipienten in ihrer Übersteigerung als Ironie empfunden werden muss,42 letztlich ebenfalls einen abwertenden Duktus. Rh. Pr. 11–12: Empfehlung des Lehrers des kurzen Weges / Wortübergabe Der Lehrer des kurzen Weges, in Opposition zum Lehrer des langen Weges als effeminierter Schönling43 (als vergleichende παραδείγματα44 angeführt werden §11: Sardanapal, Kinyras, Agathon sowie §12: die Hetären Thaïs, Malthake und Glykera), ja als göttergleiche Gestalt beschrieben, garantiert dem Schüler das erstrebte Ziel (in der Formulierung durch das rhetorische Gesetz der wachsenden Glieder prägnant-klimaktisch): τούτῳ τοίνυν προσελθὼν καὶ παραδοὺς ἑαυτὸν αὐτίκα μάλα ῥήτωρ ἔσῃ καὶ περίβλεπτος καί, ὡς ὀνομάζει αὐτός, βασιλεὺς ἐν τοῖς λόγοις ἀπονητὶ καταστήσῃ τὰ τέθριππα ἐλαύνων τοῦ λόγου.45 An diese Figur des Rednerlehrers tritt der Ratgeber nun das Wort ab (μᾶλλον δὲ αὐτὸς εἰπάτω πρὸς σέ· γελοῖον γὰρ ὑπὲρ τοιούτου ῥήτορος ἐμὲ ποιεῖσθαι τοὺς λόγους κτλ.46) und greift es erst im Epilog wieder auf (§26: εἶεν· ὁ μὲν γεννάδας εἰπὼν ταῦτα πεπαύσεται). Aus rhetorischer Sicht liegt eine so genannte Prosopopoiie (προσωποποιία; manchmal auch: ἠθοποιία) vor, die darin besteht, in eine bestimmte Rolle zu schlüpfen und

42 Zur Ironie vgl. unten S. 29f. und S. 64f. Zur εἰρωνεία als rhetorisches Gestaltungsmittel vgl. z.B. Anaxim. 21. 43 Wiederum erfolgt die stilistische Hervorhebung durch Alliteration und Homoioteleuton: πάνσοφόν τινα καὶ πάγκαλον ἄνδρα (vgl. oben Anm. 41). 44 Zu vergleichenden παραδείγματα als Mittel der αὔξησις vgl. die folgenden Ausführungen zu Rh. Pr. 13–14. 45 »Wenn du also zu diesem gehst und dich in seine Obhut begibst, wirst du auf der Stelle ein Redner sein, sehr angesehen und – wie er selbst es nennt – als König der Redekunst dich mühelos etablieren, das Viergespann des Wortes lenkend.« 46 »Doch er soll besser selbst zu dir sprechen; denn es ist lächerlich, dass anstelle eines solchen Redners ich die Worte formuliere usw.«

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die gewählte Figur möglichst überzeugend darzustellen; dieses Rollenspiel gehörte zu den rhetorischen Schulübungen (προγυμνάσματα).47 Rh. Pr. 13–14: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler [Proömium] Die ironische Einleitung – φήσει δ’ οὖν πάνυ μετριάζων ὑπὲρ ἑαυτοῦ – gibt bereits einen Hinweis auf das überbordende Selbstlob, durch welches sich der Rednerlehrer in einem Vergleich mit Sokrates (weisester Mensch/ bester Redner) einführt. Er betont weiter seinen Ruhm und seine Expertise (κλέος; δαιμόνιον ἄνδρα) und benutzt den zusätzlichen Vergleich seiner exzellenten Rhetorik mit den Taten der riesenhaften Figuren Tityos, Otos und Ephialtes, um seine Selbstdarstellung mit übernatürlich-wunderbaren Zügen weiter zu verfolgen (τὸ πρᾶγμα ὑπερφυὲς καὶ τεράστιον) – mit ironischer Wirkung auf den Rezipienten insofern, als diese drei Figuren allesamt notorische Frevler sind. Doch damit nicht genug: In einer dritten Vergleichsreihe (Trompete/Zikade/Chor versus Flöte/Biene/Vorsänger) illustriert der Rednerlehrer, wie er alle anderen Sophisten übertönt. Hier wird, um mit einem rhetorischen Terminus zu sprechen, eine αὔξησις (Steigerung) angewendet, wie sie in der Lobrede (ἔπαινος) gängig ist, um die Einzigartigkeit dessen, was gelobt wird, zu unterstreichen; durch den Bezug auf den Sprecher selbst verkommt sie an vorliegender Stelle zu einem selbstherrlichen Eigenlob. Der Steigerung dienen nicht zuletzt Vergleiche, die – im Einklang mit der rhetorischen Theorie – mit bekannten Figuren gezogen werden, vgl. Arist. Rh. 1368a10f. und 1368a21f. (δεῖ δὲ πρὸς ἐνδόξους συγκρίνειν· αὐξητικὸν γὰρ καὶ καλόν, εἰ σπουδαίων βελτίων. »Vergleiche sind mit berühmten Personen anzustellen; es ist nämlich erhöhend und schön, wenn jemand [noch] besser ist als die geachteten Menschen.«), vgl. auch Anaxim. 3,1 (συλλήβδην μὲν οὖν ἐστιν ἐγκωμιαστικὸν εἶδος προαιρέσεων καὶ πράξεων καὶ λόγων ἐνδόξων αὔξησις. »Kurz gesagt ist das Wesen der Lobrede die Steigerung von Gesinnungen, Taten und ehrenvollen Worten.«).

47 Vgl. dazu Aelios Theon Progymnasmata, Rhetores Graeci vol. 2, p. 115 Spengel (προσωποποιία ἐστὶ προσώπου παρεισαγωγὴ διατιθεμένου λόγους οἰκείους ἑαυτῷ τε καὶ τοῖς ὑποκειμένοις πράγμασι); Hermogenes Progymnasmata 9, Rhetores Graeci vol. 6, p. 20 Rabe (ἠθοποιία ἐστὶ μίμησις ἤθους ὑποκειμένου προσώπου κτλ.); Alexander De Figuris, Rhetores Graeci vol. 3, p. 21 Spengel; Demetrios Περὶ ἑρμηνείας 265; teilweise mit Differenzierung zwischen Prosopopoiie (nicht personenhafte Dinge) und Ethopoiie (natürliche Personen), siehe dazu Lausberg [31990] §822 und §826. Dionysios von Halikarnass lobt sowohl Lysias als auch Isokrates für ihre Kunst der Ethopoiie (Lys. 19,4; Isoc. 11,4). Gemäss Cribiore [2001] 228f. machte die Ethopoiie (zusammen mit der Lobrede, ἐγκώμιον) den wichtigsten Teil der rhetorischen Schulübungen aus, was sie durch die Erfordernisse sophistischer Deklamationen – der Redner schlüpft immer in eine Rolle – erklärt.

1.1 Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse

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Mit dem Beginn einer zweiten Rede (derjenigen des Rednerlehrers) innerhalb der ersten (derjenigen des Ratgebers) liegt hier ein weiteres Proömium vor, welches wiederum die Kompetenz des Sprechers,48 die Bedeutsamkeit der (seiner) Rhetorik und damit indirekt auch des Zieles des jungen Mannes betont. So erfolgt in Form einer variatio ein Rückbezug auf das Proömium des Ratgebers, auf den Wunsch des Schülers nach Weltruhm und auf die versprochene Kürze der Ausbildung (vgl. §1)49 und zugleich eine Absetzung vom Lehrer des alten Weges (vgl. §§9–10) insofern, als auch hier Nachahmung – allerdings nicht der alten Klassiker, sondern dessen, was der Rednerlehrer an ›Gesetzen‹ vorbringen wird – empfohlen wird (ζήλου πάντα κτλ.). Rh. Pr. 15–25: Die Lehre des kurzen Weges  15: Präliminarien [Prothesis] Der Rednerlehrer formuliert das in seiner Unterweisung beabsichtigte Vorgehen, welches zwei Elemente umfasst (λέξω δὲ πρῶτον μὲν [...]. ἔπειτα κτλ.), einerseits die Angabe notwendiger Voraussetzungen des Schülers (physisch-charakterliche Eigenschaften und äussere Erscheinung; als Präliminarien in §15 kurz abgehandelt), andererseits die Ausbildung im engeren Sinn (§§16–22/23). Diese Art der Unterweisung, wird dem Schüler versichert, garantiert innert kürzester Frist (πρὶν ἥλιον δῦναι) das Dasein eines Starsophisten nach dem Vorbild des Rednerlehrers selbst (ῥήτορά σε ὑπὲρ τοὺς πάντας ἀποφανῶ, οἷος αὐτός εἰμι). Die geforderten charakterlichen Voraussetzungen – θράσος, τόλμα, ἀναισχυντία mit besonderer Betonung des absoluten Unwissens, ἀμαθία – brechen mit der Konvention genauso, wie die Ausführungen über stimmliche Eigenschaften und Äusserliches – βοή, μέλος, βάδισμα, ἐσθής, κρηπίς/ἐμβάς κτλ. – eine übermässig bedeutende Rolle spielen (vgl. ταῦτα δὲ πάνυ ἀναγκαῖα καὶ μόνα ἔστιν ὅτε ἱκανά. »Diese Dinge sind unabdingbar und manchmal allein schon ausreichend.«).  16–17: Beginn der Lehre im eigentlichen Sinn (καὶ δή σοι τοὺς νόμους δίειμι); Themenbereiche Vokabular (Attizismen, Archaismen und Neologismen) und literarische Vorbilder (sophistische μελέται von Rednern kurz vor der eigenen Zeit). Diese Ausführungen können unter den officia oratoris zum Bereich der λέξις (Diktion) gezählt werden; besonderes Augenmerk liegt dabei auf den 48 Durch das übersteigerte Selbstlob wird allerdings die positive Wirkung der Äusserungen als captatio benevolentiae unterwandert. 49 Untermalt wird die Aussage durch die Metaphorik einer Mysterieneinweihung und durch ein Sprichwort: ἀνίπτοις ποσὶν ἔμβαινε; vgl. zu letzterem Arist. Rh. 1413a17–20 (παροιμίαι neben μεταφοραί als Mittel des ἀστεῖον).

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

Stilqualitäten Sprachrichtigkeit (ἑλληνισμός), Deutlichkeit (σαφήνεια) und Angemessenheit (πρέπον).50  18–22: Paradethemen und Aufbau der Rede; Showelemente (Gesang, Geschrei, Gestik) und deren Wirkung auf die Zuhörer mit (weiteren) Bemerkungen über die Stoffauffindung; Unterstützung durch Claque und Umgang mit Konkurrenz. Diese Ausführungen betreffen v.a. die officia oratoris der εὕρεσις und τάξις (Stoffauffindung und -gliederung) sowie besonders der ὑπόκρισις (Vortrag). Auffällig ist die (ungewohnte) Reihenfolge der Behandlung (§18: τάξις und εὕρεσις – §19: ὑπόκρισις – §20: wieder εὕρεσις), wodurch der Rednerlehrer seine eigene Empfehlung, τάξις zu vernachlässigen, selbst umsetzt.51 Er wertet den Inhalt der Rede in seiner Wichtigkeit ab, indem er gleichzeitig der Show (ὑπόκρισις) einen dem Inhalt ebenbürtigen bzw. vorangestellten Platz einräumt. Zudem missachtet er den καιρός (als rhetorischer Terminus: passende Gelegenheit, passender Augenblick, etwas zu sagen bzw. ein rheorisches Mittel anzuwenden),52 was die inhaltlich-stilistischen Aspekte der Rede anbelangt (§18: λέγε ὅττι κεν ἐπ’ ἀκαιρίμαν γλῶτταν ἔλθῃ, μηδὲν ἐκείνων ἐπιμεληθείς, ὡς τὸ πρῶτον [...] ἐρεῖς ἐν καιρῷ προσήκοντι53), und gesteht ihm wiederum nur für die Showeffekte Bedeutung zu (§19: ἢν δέ ποτε καὶ ᾆσαι καιρὸς εἶναι δοκῇ κτλ.54). Insgesamt hat der Rednerlehrer mit seiner Abhandlung in §§16–22 von den fünf Arbeitsstadien des Redners diejenigen vier gestreift, die für eine Stegreifrede von Bedeutung sind (naturgemäss entfällt das officium des Memorierens, μνήμη).  23–25: Es folgen Ratschläge (praecepta) für das Leben ausserhalb der Rednerbühne, ergänzt durch eine (als παράδειγμα dem Beweis dienende) Schilderung des Lebenslaufes (βίος) des Rednerlehrers selbst, der seine ei50 Entsprechend der ironisch-satirischen Gestaltung (vgl. S. 29f. und S. 64f.) werden sämtliche officia oratoris in pervertierter Form abgehandelt, so dass beispielsweise σολοικισμός und βαρβαρισμός nicht strikt zu vermeiden sind, sondern mit der nötigen Unverschämtheit als korrekt verteidigt werden sollen. 51 Die gängige Reihenfolge der officia oratoris lautet: εὕρεσις, τάξις, λέξις, μνήμη, ὑπόκρισις (siehe z.B. Fuhrmann [41995] 78). 52 Vgl. ausführlich HWRh 4 [1998] 836–844; zentral ist Plat. Phdr. 272a: [...] ταῦτα δ’ ἤδη πάντα ἔχοντι, προσλαβόντι καιροὺς τοῦ πότε λεκτέον καὶ ἐπισχετέον, βραχυλογίας τε αὖ καὶ ἐλεινολογίας καὶ δεινώσεως ἑκάστων τε ὅσα ἂν εἴδη μάθῃ λόγων, τούτων τὴν εὐκαιρίαν τε καὶ ἀκαιρίαν διαγνόντι, καλῶς τε καὶ τελέως ἐστὶν ἡ τέχνη ἀπειργασμένη, πρότερον δ’ οὔ; vgl. auch die entsprechenden Formulierungen bei Aristoteles (z.B. Rh. 1415b12f. über die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit der Zuhörer konstant zu halten: ὥστε ὅπου ἂν ᾖ καιρός, λεκτέον »καί μοι προσέχετε τὸν νοῦν κτλ.«) und Anaximenes 1433b26. 53 »Sprich, was dir gerade auf der Zunge liegt, und kümmere dich nicht darum, dass du das Erste [...] zur angemessenen Zeit sagen wirst.« 54 »Wenn dir aber je auch der richtige Moment zum Singen gekommen zu sein scheint usw.«

1.1 Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse

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genen praecepta umgesetzt hat.55 Wiederum wird als sämtlichen Ratschlägen zugrunde liegendes Prinzip der Nutzenaspekt (χρήσιμον) angegeben.56 Empfohlen wird ein durchwegs amoralisches Benehmen, das v.a. im sexuellen Bereich ausführlich geschildert wird und effeminiert-kinädenhaftes Verhalten als Erfolgsstrategie propagiert.57 Stilistisch unterstreicht der Rednerlehrer seinen Rat zu Beginn von §23 durch die asyndetische Reihung diverser (aus konventioneller Sicht) unangemessener und unmoralischer Handlungsweisen (sog. »Anhäufung«, συναθροισμός/congeries:58 κυβεύειν μεθύσκεσθαι λαγνεύειν μοιχεύειν), am Ende von §23 durch die klimaktische Steigerung der verwerflichen Tätigkeiten der Zunge (γλῶττα) des Redners (ληρεῖν, ἐπιορκεῖν, λοιδορεῖσθαι, διαβάλλειν, ψεύδεσθαι, νύκτωρ τι ἄλλο ὑποτελεῖν). Ironie und Ambivalenz der gesamten Ausbildung des Rednerlehrers kulminieren in den vorliegenden Kapiteln, welche amoralische Lebensweise und Scheinerfolg – der nicht in der Bewunderung eines exzellenten Redners, sondern vielmehr in Ekel und Abscheu über dessen Schlechtigkeit besteht – zum Ziel erklären. Aus rhetorischer Sicht interessant ist dabei die Verwendung von Motiven, die ihrer Herkunft nach zur Gattung der Invektive gehören und üblicherweise zur Herabsetzung eines Gegners herangezogen werden.59 Insbesondere der βίος des Rednerlehrers ist gemäss denjenigen Teilen gestaltet, die in der antiken Rhetoriktheorie zu einem Tadel, ψόγος, gehören und in einem entsprechend schlechten Licht dargestellt werden sollen (schlechte Abstammung, Erziehung und Ausbildung, Charaktereigenschaften, Lebensumstände).60 Epilog (Schlusswort): Rh. Pr. 26 Gemäss der rhetorischen Theorie enthält der Epilog folgende vier Elemente (vgl. Arist. Rh. 3,19): Die Zuhörer für sich zu gewinnen bzw. gegen Widersacher aufzubringen, die Steigerung der eigenen bzw. die Abschwächung 55 Die Übereinstimmung zwischen Lehre (leichter Weg der ›κακία‹) und Leben (lasterhaftes, betrügerisches Dasein) des Rednerlehrers, also die Konstanz seines Charakters gerade in seiner Schlechtigkeit, nimmt – in ironischer Brechung – die Anforderungen der Rhetoriktheorie an den guten Redner auf, dessen charakterliche Glaubwürdigkeit eine der drei Voraussetzungen für das Gelingen der überzeugenden Rede ist (vgl. Arist. Rh. 1356a: διὰ μὲν οὖν τοῦ ἤθους, ὅταν οὕτω λεχθῇ ὁ λόγος ὥστε ἀξιόπιστον ποιῆσαι τὸν λέγοντα). 56 Vgl. dazu bereits die Bemerkungen oben unter a) refutatio: Rh. Pr. 9–10. 57 Erneut wird ein Enthymem zum Beweis dafür herangezogen, dass die Verweiblichung des Redners auch die weiblichen Vorteile bezüglich der der Rhetorik dienlichen Charaktereigenschaften des Lästerns und der Unverschämtheit bewirkt. 58 Vgl. Quint. Inst. 8,4,27 und Longin 23,1. 59 Vgl. zur rhetorischen διαβολή bereits die Bemerkungen oben zu Rh. Pr. 3–4 mit Anm. 26. 60 Vgl. dazu ausführlicher den einleitenden Kommentar zu §§23–25 und zu §24. Vgl. weiter Aphthonios 8, p. 22,1–11 Rabe; Rhet. Her. 3,6,10–15; Cic. Inv. 1,34–36 und 2,177–178; Quint. Inst. 3,7.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

der gegnerischen Position (αὔξειν/ταπεινοῦν), die Erregung der Emotionen (πάθη) des Zuhörers, die erinnernde Zusammenfassung (ἀνάμνησις).61 Diese Elemente sind im Schlusswort des Ratgebers allesamt vertreten, wenn sie auch, v.a. gegen Ende, in unerwarteter Weise angewandt werden: Um die Gunst des Publikums wird nicht mehr aktiv geworben, sondern sie wird als vorhanden vorausgesetzt und fliesst thematisch über den Schüler ein, welcher – vom Gesagten überzeugt und sich daran haltend – sein Ziel erreichen wird (ἢν πεισθῇς τοῖς εἰρημένοις, καὶ δὴ παρεῖναι νόμιζε οἷπερ ἐξ ἀρχῆς ἐπόθεις ἐλθεῖν). Der Ratgeber impliziert mit dieser Aussage gleichzeitig, die Lehre des kurzen Weges hinreichend bewiesen zu haben.62 Eine Absetzung bzw. Diskreditierung von Gegnern (hier: von den Verfechtern des langen Weges) erfolgt an dieser Stelle nicht (s. aber unten). Eine Steigerung (αὔξησις) wendet der Ratgeber insofern an, als das Ziel des Schülers in der Folge in einer polysyndetischen Häufung (συναθροισμός) ausgeführt wird (ἔν τε τοῖς δικαστηρίοις κρατεῖν καὶ ἐν τοῖς πλήθεσιν εὐδοκιμεῖν καὶ ἐπέραστον εἶναι καὶ γαμεῖν [...] καλλίστην γυναῖκα τὴν Ῥητορικήν), die zudem durch das παράδειγμα des Rednerlehrers (καθάπερ ὁ νομοθέτης καὶ διδάσκαλος) sowie den Vergleich (σύγκρισις) des platonischen geflügelten Zeuswagens ausgeschmückt ist.63 Eine (unerwartete) ταπείνωσις trifft hier den Rednerlehrer selbst in der Erwähnung von dessen Heirat mit einer ›komödienhaften Greisin‹. Diese Abgrenzung des Ratgebers vom Rednerlehrer beherrscht auch den antithetisch eingeführten Schlussabsatz (ἐγὼ δὲ κτλ.) durch die strikte Trennung des Ich und des Ihr (ἐκστήσομαι ὑμῖν τῆς ὁδοῦ; ἀσύμβολος ὢν [...] τὰ ὑμέτερα); er endet im Vorwurf des unlauteren Wettbewerbs und Sieges derer, die den kurzen Weg absolvieren. Die Diskreditierung der zuvor breit empfohlenen Lehre schürt – wenn auch nicht im gängigen Sinn – durchaus die Emotionen des Publikums: Der Auflösung des bisher Angeratenen folgt eine Ratlosigkeit, die der Neuorientierung bedarf. Die zusammenfassende Erinnerung (ἀνάμνησις) steht, entsprechend der Kehrtwende des Ratgebers, der zum Schluss den kurzen Weg kritisiert bzw. die durch ihn erlangte Rhetorik höchst am61

Auch andere Schemata sind vertreten: In der römischen Rhetoriktheorie beziehen sich die Ausführungen zur conclusio regelmässig auf die Gerichtsrede und deren Spezifika, so dass sie hier nicht weiter beigezogen werden (vgl. Rhet. Her. 2,47–50 und Cic. Inv. 1,97–109). Interessant ist allerdings für Rh. Pr., dass Quintilian der conclusio zwei Elemente zuweist, Rekapitulation und Gefühlswirkungen (wobei die Erregung von Gefühl, v.a. Mitleid, ebenfalls in den Kontext der Gerichtsrede gehört; Quint. Inst. 6,1). Diese Zweiteilung ist für Rh. Pr. insofern von Bedeutung, als eine solche strukturell vorliegt (zwei längere Perioden, eingeleitet durch σὺ δὲ / ἐγὼ δὲ), wobei der erste Teil eine rekapitulierende und steigernde Zusammenfassung darstellt. Zur Erregung der Emotionen des Zuhörers im zweiten Teil siehe die folgenden Ausführungen. 62 Vgl. Arist. Rh. 1419b31–33. 63 Zum Vergleich als wichtiges Mittel der αὔξησις vgl. bereits die Ausführungen oben zu Rh. Pr. 13–14.

1.1 Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse

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bivalent beurteilt, in Kontrast zur gesamten bisherigen Empfehlung, wird aber dennoch als Zusammenfassung ausgewiesen (μόνον τοῦτο μεμνημένοι) und verleiht dem Schlusssatz die beabsichtigte Prägnanz. Dabei leistet die ἀνάμνησις – dem satirisch-ironischen Duktus der Schrift entsprechend – alles andere als eine Bekräftigung der vorangegangenen oratio, hebt vielmehr die πίστις des Ratgebers insofern auf, als seine probatio zunichte gemacht wird, gleichzeitig aber auch die refutatio neu zu überdenken ist, da die ›alten‹ Gegner nun in neue übergegangen sind (vgl. ὑμῖν; τὰ ὑμέτερα; κεκρατήκατε: der Rednerlehrer und seine Schüler). Über die alten Gegner und den langen Weg äussert sich der Ratgeber im Schlusswort nicht mehr explizit,64 so dass die Frage nach dem einzuschlagenden Weg zur Rhetorik unbeantwortet bleibt.65 Dies wird im letzten Wort der Rede – ὁδόν – unterstrichen, das den Kreis zur Ausgangsfrage des Schülers schliesst, dabei aber den optimistischen Duktus des Beginns und das Lob des kurzen Weges in Ambivalenz auflöst.

1.2 Literarische Gestaltung und Intertextualität Die Schrift Rh. Pr. ist in ihren Aussagemodi und Anspielungen komplex, einerseits durch die satirisch-ironische Färbung (gerade was vermeintlich positiv-affirmative Äusserungen anbelangt; vgl. bereits die vorangehende Inhaltübersicht oben 1.1), andererseits durch die Einbettung in ein Netz von Subtexten, was in den folgenden Kapiteln behandelt werden soll. Vorangestellt seien einige Bemerkungen zu den Begriffen ›Satire‹ und ›Ironie‹: In der Forschung wird im Zusammenhang mit Rh. Pr. meist von Satire gesprochen, zuweilen auch von Parodie, ohne dass über die Terminologie ausreichend reflektiert wird. Tendenziell ist Satire der angemessenere Begriff, vgl. dazu die Definition und Abgrenzung der beiden Termini bei Branham ([1989] 129f.):

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Erwähnt sei nur, dass zumindest hinsichtlich des Trainings seiner Absolventen (vgl. τῷ τάχει), also des höheren Bildungsniveaus, dem langen Weg eine Vorrangstellung eingeräumt wird, die allerdings unbestritten sein dürfte (man vergleiche die vom Rednerlehrer gemachten Konzessionen an die Erzeugung zumindest des Anscheins, δόξα, der klassisch-attizistischen Rhetorik; siehe Anm. 159 und Einleitung 2.2). 65 So liegt zum Schluss keine blosse Umkehrung von refutatio und probatio, und damit eine Kehrtwende, auch was die Beurteilung des langen Weges betrifft, vor. Als Begründung für die ausstehende Antwort insinuiert die Schrift den (in seiner extremen Ausprägung fingierten) Zeitgeschmack, der eine derart auftrittsorientierte Rhetorik begrüsst, dass die inhaltsschwere alte Rhetorik daneben nicht mehr mit gleichem Erfolg bestehen kann und entsprechend ein ambitionierter Redner, will er sich der Showrhetorik nicht hingeben, ohne einen Neuansatz nicht weiter kommen kann. Siehe dazu auch unten 1.6.c) und d) sowie den einleitenden Kommentar zu §26.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

»Parody differs from satire in its literary focus; it always makes the object of its critical attention part of its own aesthetic structure through those features taken over from its literary model. Satire may include literary codes as a target but commonly extends to social and moral ones as well. There may also be a characteristic difference in tone if satire is, as it is usually treated, essentially negative or critical.«

Grundsätzlich ist also der Fokus von Satire gegenüber demjenigen der Parodie weiter gefasst.66 Nicht ganz unproblematisch ist die Definition lukianischer Schriften als Satiren insofern, als die moralisierende Note und das (boshafte) Auslachen des Angriffszieles nicht durchwegs im Vordergrund stehen, während die weiteren Charakteristika einer Satire dennoch gegeben sind.67 Abhilfe schafft eine Annäherung der lukianischen Satire an die so genannte Menippeische Satire, welche sich durch das Fehlen von Belehrung sowie explizit formulierter positiver Normen auszeichnet.68 Der Begriff ›Ironie‹ soll im Folgenden im Sinn der bis heute nachwirkenden Definition der antiken rhetorischen Tradition (vgl. bereits Anaxim. 21 über εἰρωνεία) verstanden werden als eine »spöttische Redeweise [...], bei der das Gegenteil des Gemeinten zum Ausdruck gebracht wird«, wobei der spezifisch ironische Charakter dieser Redeweise darin besteht, »dass der Tenor des Sprechens, Betonung und Gebärde, die wahre Meinung für den Verständigen durchscheinen lassen« soll.69 Auch die Ironie im Sinne des Widerstreits von Stimmen, die in der Figur des weisen Narren vorgebracht werden und dessen Narrheit die bestehenden Wertverhältnisse umkehrt,70 ist für Rh. Pr. von Bedeutung.71

66 Auch die Feststellung »satiric humor often operates through the conceptually simple but rhetorically powerful use of binary contrasts: between past and present, role and reality, the ideal and the actual« (Branham [1989] 104f.) trifft auf Rh. Pr. zu (klassische Beredsamkeit gegenüber dem Ist-Zustand, Scheinwissen der neuen ›Moderedner‹). – Vgl. zur Parodie im antiken und modernen Sinn Koller [1956] und Glei [1992] und zur Differenzierung von Parodie und Satire mit besonderer Bezugnahme auf Lukians Verae Historiae Rütten [1997] 37–44. 67 Vgl. Rütten [1997] 42f.: »Die Satire braucht also ein Angriffsziel – es mag sich dabei um ein Individuum oder einen gesellschaftlichen oder politischen Missstand handeln –, das sie mit den Mitteln der Verzerrung und Übertreibung der Lächerlichkeit preisgibt, wobei in der Regel der moralische Anspruch sehr hoch ist. [...] Satire [ist] stets realistisch, ihre Gegenstände sind Gegenstände aus der Lebenswelt des Autors, in der Regel sogar solche von einer gewissen Relevanz und Wichtigkeit. Andererseits erscheinen diese Gegenstände eben in verzerrter und verfremdeter Form, wodurch erst eigentlich die Inkongruenzen entstehen können, die wiederum bei den Rezipienten Lachen hervorrufen.« 68 Siehe dazu und zur ihrerseits ebenfalls problematischen Gattungsdefinition der Menippea Rütten [1997] 111–130 mit weiterführender Literatur; vgl. auch meine Ausführungen über Lukian als Vertreter des σπουδογέλοιον unten in Einleitung 3.1. 69 Vgl. HWRh 4 [1998] 603f. 70 Vgl. HWRh 4 [1998] 607, über Autoren wie Rabelais und Erasmus. 71 Vgl. dazu unten S. 63f. Zu Ironie und Parodie in Lukians Werk siehe auch Bompaire [1958] 587–621.

1.2 Literarische Gestaltung und Intertextualität

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Die intertextuellen Verweise, die sich in Rh. Pr. finden, umfassen die ganze Bandbreite der klassisch-attischen/kanonischen Textgenera und ihrer Autoren,72 in besonderem Mass aber die drei Bereiche Philosophie, Rhetorik und Komödie und dabei v.a. platonische und aristophanische Schriften (vgl. unten 1.3–4; 1.8), wobei erstere als kontrastive Subtexte, die eine andere Konzeption von Rhetorik(ausbildung) zeigen, letztere als affirmative Subtexte, die den satirisch-komischen Gehalt von Rh. Pr. massgeblich mitformen, aufgerufen sind. Zusätzliche kontrastive Paralleltexte bieten weitere lukianische Schriften mit rhetorischer Thematik, die im Gegensatz zu Rh. Pr. Positives und Affirmatives in der Behandlung von Rhetorik(ausbildung) aufweisen (vgl. unten 1.5; 2.2). Um also die Schrift Rh. Pr. im literarischen Umfeld genauer fassen zu können, sollen diese vielfältigen intertextuellen Beziehungen erhellt werden. Ich möchte Intertextualität hier und im Folgenden mit Möllendorff ([2000b] 12) im hermeneutischen Sinn verstanden wissen, als »absichtlich vom Autorsubjekt für ein Lesersubjekt hinterlassene, teils klare, teils chiffrierte Steuerzeichen der Interpretation«.73 Damit gewinnen auch die (intendierten) Rezipienten Kontur: Gewiss können die lukianischen Schriften auch von weniger gebildeten Rezipienten genossen werden, sie richten sich aber vor allem an ein (attizistisch) gebildetes Publikum, das diese »Steuerzeichen« sehr wohl zu entschlüsseln weiss und – so legt es die Dichte der intertextuellen Bezüge in Rh. Pr., die eine wichtige tiefere Bedeutungsebene des Textes erst schaffen, nahe – entschlüsseln soll. Dieser gebildete Rezipientenkreis ist es denn auch, der im Folgenden, wo immer über Rezipienten gehandelt wird, gemeint ist (nur an einigen wenigen ausgewiesenen Stellen74 wird den Möglichkeiten und Mechanismen des Einbezugs gerade weniger gebildeter Rezipienten nachgegangen). Für die Schrift Rh. Pr., die Unbildung scheinbar plakativ propagiert, ergibt sich hieraus die besonders raffinierte Konstellation, dass nur durch Bildung eine Decodierung der intertextuellen »Steuerzeichen« erfolgen und eine umgekehrte Wirkungsintention erkannt werden kann. 72 U.a. Historiographie (Thuk., Hdt.) und Epos (Hom.), vgl. z.B. den Kommentar zu §1: γνῶναί τε τὰ δέοντα καὶ ἑρμηνεῦσαι αὐτά; §5: εἴκοσι μηκίστους ἀνδρὶ εὐζώνῳ σταθμοὺς; §15: ἐφόδια [...] ἐπισιτίσασθαι (Historiographie) sowie zu §3: ἱππήλατον [ὁδόν]; §8: σοὶ δὲ ἄσπορα καὶ ἀνήροτα πάντα φυέσθω καθάπερ ἐπὶ τοῦ Κρόνου; §11: ὀλίγας μὲν ἔτι, οὔλας δὲ καὶ ὑακινθίνας τὰς τρίχας εὐθετίζοντα (Epos). 73 Siehe allgemein zum Begriff der Intertextualität und zu ihrer Bedeutung im Werk Lukians (speziell in Verae Historiae) Möllendorff [2000b] 12–29; grundlegend ist Genette [1993]. Auf der Suche nach intertextuellen Verweisen ist der moderne Rezipient insofern eingeschränkt, als diese infolge der Überlieferungslage der antiken Texte nur bedingt erkennbar sind und somit nicht erschöpfend behandelt werden können. Auch können direkte Abhängigkeiten von Texten aufgrund eventuell fehlender Zwischenglieder nicht mit endgültiger Sicherheit festgestellt werden. 74 Vgl. v.a. Anmm. 301 und 398; zur Zusammensetzung der Hörerschaft sophistischer Vorträge siehe unten die Einleitung 2.1 mit Anm. 259.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

Neben der Bedeutung der Intertextualität spielt aber auch der sozio-kulturelle Hintergrund eine zentrale Rolle: In Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Phänomenen greift der Autor aktuelle Diskurse (v.a. betreffend Bildung, Rhetorik, Sprache, Geschmack, Stil und Verhalten der gebildeten Elite) aus verschiedenen Perspektiven auf bzw. in sie ein in Form einer stets unterhaltend-humoristischen Literatur, welche die gebildete Elite zum Hinterfragen und Überdenken eigener Haltungen anregt. Wenden wir uns nun der Funktion der kontrastiven Intertextualität in Rh. Pr. zu:75 Zur Darlegung des Inhalts der Schrift macht der Autor vom Bild der Wahl zwischen zwei (Ausbildungs-)Wegen, einem langen, anstrengenden und einem kurzen, leicht zu bewältigenden, Gebrauch und ruft durch diese Wegmetaphorik eine ganze Reihe von Subtexten auf. Es ist ein grundlegendes Charakteristikum dieser intertextuellen Bezüge, dass die von Anfang an präsenten ausserlukianischen Texte – es sind dies platonische und moralphilosophische Texte wie die Allegorie des Prodikos bei Xenophon und Kebes’ Tabula – durch ihre Inhalte und Normen (Vorzug des langen Weges und einer ›klassischen‹ Ausbildung) im Rezipienten eine Erwartungshaltung wecken, die enttäuscht wird, indem eine der Erwartung zuwiderlaufende (kurze) Ausbildung vorgestellt wird. Dieser Korrektur seiner Erwartung kann der Rezipient – sei es ernsthaft oder im Sinne eines Gedankenexperiments der momentanen Unterhaltung wegen – folgen, er kann sich aber auch vom Dargebotenen distanzieren: Es wird eine inhaltliche Spannung erzeugt, die ihn zur Auseinandersetzung mit den intertextuell aufgerufenen Schriften sowie mit seinem eigenen Erwartungs- und Erfahrungshorizont anregt. Die Wirkung der intertextuellen Bezüge in Rh. Pr. ist nicht auf die konkrete Auseinandersetzung mit Struktur und Inhalt eines Subtextes beschränkt, sondern geht darüber hinaus, indem ein dauerhafter, immer wieder in Erinnerung gerufener Platzhalter für das historisch-traditionelle Bild von Rhetorik geschaffen wird, der als Gegenstimme zum propagierten kurzen Weg erklingt. Intertextualität wird damit als Medium eingesetzt, um divergierende Konzepte anzusprechen. Abgesehen von diesen als Kontrastfolie wirkenden Subtexten ergibt sich bereits innerhalb von Rh. Pr. folgende inhaltliche Spannung: Die satirische Weise der Auseinandersetzung mit der empfohlenen Ausbildung und die (aus Sicht des Rezipienten) ironische Zeichnung des kurzen sowie die (aus der Figurenperspektive) karikierende Zeichnung des langen Weges bzw. Lehrers resultieren in einer Aporie des Rezipienten, was einen möglichen, gangbaren Weg be-

75 Ausgeklammert bleiben hier vorerst die aristophanischen Subtexte, die oben als affirmativ eingestuft worden sind und unten in 1.8 genauer behandelt werden.

1.2 Literarische Gestaltung und Intertextualität

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trifft.76 Während die ironische Wirkung der Darstellung des kurzen Weges hauptsächlich durch die Inhalte der Kontrasttexte sowie durch die im historischen Umfeld innerhalb des rhetorischen Lehrbetriebs verbreiteten Konventionen hervorgerufen wird,77 werden ebendiese infolge der Karikierung des langen Weges durch den Ratgeber wiederum selbst Objekt der Ironie, so dass die Aporie den höchstmöglichen Grad erreicht, da Konventionelles und Neues gleichermassen in Frage gestellt werden. Intertextuelle Bezüge und Ironisierung sind demnach zwei zentrale Gestaltungsmittel der Schrift Rh. Pr., welche den Rezipienten zu eigenen Gedanken über die vorgegebene Thematik animieren. Indem der gesamte Inhalt von Rh. Pr. aus der Perspektive zweier (karikierter) Figuren präsentiert wird78 und eine auktoriale Haltung, wie wir sie beispielsweise in Bis Acc. oder in den Schriften, wo Lukian die Maske des Lykinos oder Parrhesiades überstreift (Hermotimos, Lexiphanes, Piscator), finden, fehlt, so dass der Text keine der aufgezeigten Möglichkeiten autorisiert, muss sich der Rezipient auf sich selbst zurückbesinnen und mit sich selbst zu Rate gehen – vor allem was eine zukünftige Anwendbarkeit des langen, konventionellen Weges betrifft. Die Frage ist, wie und ob der Rezipient aus seiner Aporie herausfinden kann,79 und daran anschliessend mag sich – aufgrund der ambivalenten Darstellung des langen, schweissreichen Weges zur Rhetorik in Rh. Pr. (vgl. auch Somnium) – die Frage stellen, ob ein eingehendes Studium überhaupt lohnenswert ist. Diese Frage, in Rh. Pr. bis zum Schluss offen gelassen (die Erwartung einer Auflösung wird auch im abschliessenden §26 nicht geleistet),80 findet in einer Reihe von lukianischen Texten, die neben der Verspottung Ungebildeter das Ideal des Gebildeten (πεπαιδευμένος) hochhält, eine positive Antwort (Sol., Lex., Adv. Ind.; vgl. dazu unten die Einleitung 2.2).81 Wichtig zu 76 Vgl. zur Aporie Rh. Pr. 8: Επὶ δ’ οὖν τὴν ἀρχὴν ἀφικόμενος εὖ οἶδα ὅτι ἀπορήσεις, καὶ ἤδη ἀπορεῖς, ὁποτέραν [sc. ὁδὸν] τρεπτέον. 77 Zur Ironisierung siehe genauer S. 64f. 78 Zur Stilisierung der Figuren des Ratgebers und des Rednerlehrers vgl. auch die Einleitung 1.6, S. 62–65. 79 Die Thematik der Aporie ruft das strukturelle Ende der platonischen Frühdialoge (z.B. Laches, Charmides, Euthyphron) auf, wobei in Rh. Pr. ein durch die humoristische Gestaltung ›unernstes‹ Thema zu einem aporetischen Haltepunkt geführt wird. Darin könnte eine Parodie der platonischen Texte liegen oder aber – was m. E. wahrscheinlicher ist – die Karikatur des Ratgebers als falscher sokratischer Lehrer (mehr dazu s.u. 1.3), da er gegenüber dem Schüler das Konzept der Aporie erwähnt (vgl. oben Anm. 76), sich aber damit brüstet, diese für ihn zu lösen, und in der Folge einen fixfertigen Ausbildungsgang aufzeigt. – Eine mögliche Lösung der ›Aporie der Rhetorik‹ zeichnet sich in Lukians eigenem Verfahren ab, indem er die zwischen altem und neuem Stil hin- und hergerissene Rhetorik in eine neue Literaturform, den komischen Dialog, überführt (siehe dazu unten 1.5.a zu Bis Acc.). 80 Vgl. dazu bereits Anm. 65 sowie unten 1.6, S. 63f. und den einleitenden Kommentar zu §26. 81 Der lange (theoretische) Weg wird im Bereich der Philosophie in Hermotimos jedoch negiert (siehe unten 1.5.c: Zentral ist hier u.a. der geforderte Praxisbezug des Philosophen).

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

erwähnen ist, dass die in Rh. Pr. mittels kontrastiver Subtexte und Ironisierung aufgeworfenen Fragen durch die affirmativ eingeflochtenen Verweise auf die (alte und neue) Komödie, insbesondere auf Aristophanes, auf eine humoristische Ebene gebracht werden und ihre Dringlichkeit damit bis zu einem gewissen Mass entschärft, der Thematik jedoch ihre Relevanz durchaus belassen wird.82

1.3 Platonisch-philosophische Elemente Insbesondere die einleitenden und das abschliessende Kapitel der Schrift (Rh. Pr. 1–4 und 26) erinnern in Duktus, Vokabular und Bildsprache (Wegmetaphorik) an philosophisch-diatribische Literatur, speziell an den Anfang platonischer Dialoge, worin ein (meist jüngerer) Mann (vgl. §1: μειράκιον) sich ein (philosophisches) Gespräch erbittet, sei es mit Sokrates oder anderen ›Lehrern‹. Die daraufhin folgende Diskussion, meist dialektisch gehalten, wird allerdings in Rh. Pr. nicht entsprechend geführt (vgl. auch die Elemente der Briefform83), der sokratisch-platonische Beginn wird vielmehr in verschiedenen Punkten – mit entsprechendem Effekt auf Inhalt und Figurenzeichnung – unterwandert, wobei zwischen inhaltlichen und formalen zu unterscheiden ist: 1. Ziel des μειράκιον: Befriedigung seines Prestigestrebens, Ehre und Ruhm als Rhetor; die dazu dienende Ausbildung (ὁδός) wird kurz und mühelos sein. 2. ›Antidialog‹: Pfannenfertige Rezepte werden versprochen und monologisch vorgeführt. 82 Vgl. zur Komödie als »ernst-komische« Gattung (σπουδογέλοιον) die Ausführungen unten in 3.1, S. 120–123; ausführlicher zu den aristophanischen Subtexten vgl. unten 1.8. 83 Vgl. allgemein zur Briefform bei Lukian Pilhofer [2005]; interessant für die vorliegende Schrift ist folgende Feststellung (S. 5): »Lukian bedient sich dieser ›kommunikativen Alltagsgattung‹ [sc. des Briefes] als variatio zum gattungsverwandten Dialog, wobei sich in der satirischkritischen Ausrichtung der Schriften wie in ihren Themen keine Unterschiede feststellen lassen. Daher erscheint es auch nicht sinnvoll, eine durch die Briefform gekennzeichnete Gruppe von Schriften gesondert zu betrachten. Vielmehr erscheint der Brief als ›offene Form‹, die als Träger einer Abhandlung oder – wie im vorliegenden Fall [gemeint ist Peregrinos] – einer Invektive fungiert.« Der Beginn der Schrift Rh. Pr. bietet m. E. mit der Anlehnung an den platonischen Dialog (so dass Brief und Dialog sich in einer Schrift vereint finden), der allerdings durch die als ›falscher Sokrates‹ stilisierten Figuren von Ratgeber und Rednerlehrer und durch die dementsprechend monologisch vorgeführten Lehren gerade in seiner Dialogizität unterwandert wird, eine Erklärung dafür, warum der Text näher zur Gattung des Briefes gerückt wird: Diese Form unterstützt die inhaltlich vorgeführte satirisch-ironische Auseinandersetzung mit der ›Showrhetorik‹, da nur dem Schein nach sokratisch-platonische Lehrer auftreten, die dementsprechend nicht imstande sind, ihre Schüler auf dialektische Weise zu unterrichten. Anders gesagt: Der pervertierte Dialog gerät unweigerlich zu einer monologischen Unterweisung mit Nähe zur Briefform.

1.3 Platonisch-philosophische Elemente

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Was diese Punkte betrifft, beginnt die Unterwanderung gleich mit dem ersten Aufrufen von Platon bzw. platonischen Texten in §1. Bereits die Thematik der (uneingeschränkt lobenswerten) Rhetorik lässt einen inhaltlichen Graben zu den platonischen Dialogen entstehen, genauso wie ein erster Hinweis zur (antiplatonischen) Einstellung des Ratgebers bezüglich der (mühelosen) Inhalte der Ausbildung in τάχιστα δεινὸς ἀνὴρ ἔσῃ [...] aufscheint. Schliesslich wird auch das formale Element des Monologs eingeführt: ὥστε ἄκουε [...], ἢν τὸ μετὰ τοῦτο ἐθελήσῃς αὐτὸς ἐμμένειν, οἷς ἂν ἀκούσῃς παρ’ ἡμῶν [...]. Changiert die Schrift inhaltlich in §§1–2 noch zwischen ›platonischer Ernsthaftigkeit‹ und ersten satirischen Tönen (vgl. §2: θήραμα οὐ σμικρόν, andererseits wird der schnellste Ausbildungsgang angeraten und versprochen), so tritt ab §3 mit der klaren Stellungnahme für den kurzen Weg und vor allem ab §13, wo der Rednerlehrer selbst zu Wort kommt, das Satirenhafte immer stärker hervor, und ein weiteres, wohl das wichtigste Element der Unterwanderung wird deutlich: 3. Die Hauptperson, der ›Rednerlehrer‹, entpuppt sich als ›falscher Sokrates‹, der den kurzen Ausbildungsweg vertritt und verkörpert. Sein komödienhafter Auftritt degradiert Sokrates zum Komödienschauspieler (vgl. v.a. Rh. Pr. 11–12).84 Das Element der anstrengenden Ausbildung wird allerdings nicht eindeutig verworfen, sondern erhält einen ambivalenten Status (vgl. §2 und v.a. das Schlusswort §26), hervorgerufen durch widersprüchliche Aussagen des Ratgebers. Dieser stilisiert sich selbst als über seine eigene rhetorische Laufbahn frustriert und verleiht seinem Gespaltensein zwischen ›alter‹ und ›neuer‹ (momentan den grössten Erfolg versprechender) Rhetorik in entsprechenden Äusserungen Ausdruck, ja er zieht sich gar aus dem Rednerberuf zurück (vgl. §8 und §26). Diese Ambivalenz des Abgelehnten und Empfohlenen, insbesondere die Kehrtwende des Ratgebers, der zum Schluss den kurzen Weg kritisiert bzw. die durch ihn erlangte Rhetorik höchst ambivalent beurteilt und die alten Gegner in neue überführt (vgl. ὑμῖν; τὰ ὑμέτερα; κεκρατήκατε: der Rednerlehrer und seine Schüler), zwingt den Rezipienten zu eigenen Gedanken über Rhetorik, Rhetorikausbildung und zeitgenössische Auftrittskultur.85 Der Beginn im Stil eines sokratisch-platonischen Dialogs ist ein raffiniertes Mittel der Satire86 und des Spottes über (Möchtegern-)Sophisten, die 84 Zur Selbststilisierung des Rednerlehrers als Sokrates vgl. Rh. Pr. 13. – Zur Nähe der Figur des Rednerlehrers auch zum Kynismus, dessen Anhänger Vertreter des kurzen Weges sind, vgl. unten S. 41–43. 85 Zu widersprüchlichen Aussagen innerhalb der Schrift sowie zur Selbststilisierung der Figuren vgl. unten 1.6, S. 62–65. 86 Bisweilen wird Rh. Pr. neben Schriften wie Alexander, Peregrinos oder Adv. Ind. auch zur Gattung des Pamphlets (oder der Invektive; grch. ψόγος) gezählt, also als Angriff auf eine konkre-

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

in einem Schnellverfahren ausgebildet werden, da der Fall beider Sprecher – des Ratgebers und des Rednerlehrers, die beide als sokratisch-platonische Ratgeber eingeführt werden – dadurch umso tiefer ist. Die vermeintlich ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Wunsch eines jungen Mannes, ein berühmter Sophist zu werden, wird durch die gegebenen Instruktionen, die das Prestigedenken des jungen Mannes nicht etwa dämpfen oder in gemässigte Bahnen lenken, sondern im Sinn einer ›Showrhetorik‹ weiter schüren, in Komik überführt. Terminologie und Metaphorik aus dem Bereich der platonischen Dialoge verdeutlichen Witz und Spott über die gängige ›Modesophistik‹ und verstärken die satirische Note der Schrift.87 Die Anlehnung an Elemente der platonischen Dialoge erzeugt auch eine grundsätzliche Referenz an deren kritische Auseinandersetzung mit den Sophisten, die für Rh. Pr. ebenfalls eine kritische Haltung zum Sophistentum erwarten lässt, was tatsächlich – wenn auch nicht explizit, so doch satirischironisch – eingelöst wird: Die Darstellung des Rednerlehrers, die den kurzen Weg zur Rhetorik aufzeigt, wird durch die ironische Wirkung auf den Rezipienten abgewertet. Allerdings erfährt auch der lange Weg zur Rhetorik eine Abwertung, indem der Ratgeber ihn bzw. dessen Lehrer in einer karikierenden Weise präsentiert.88 Die Gründe dafür liegen einerseits in der Figur des Sprechers (der Ratgeber als ›frustrierter‹ Absolvent des langen Weges; die Plackerei hat ihm keine Vorteile eingebracht), welcher der rhetorischen Überzeugungstaktik mit den Elementen probatio (αὔξησις) und refutatio (ταπείνωσις) folgend in seiner Darstellung zweier Wege neben dem angeratenen, kurzen den abzulehnenden, langen diskreditiert. Andererseits spielt die Anlage des Inhalts von Rh. Pr. eine wichtige Rolle, weil gerade auch die Thematik des zwischen den Extremen liegenden, mass- und stilvollen Redners, verbunden mit der Frage nach dem Männlichkeitsideal, aufgegriffen wird.89 Dafür, dass Rh. Pr. letztendlich auch eine kritische Auseinandersetzung mit den platonischen Subtexten selbst, d.h. eine Kritik an der Figur des te Person interpretiert, da die Hauptfigur, der Rednerlehrer – der mit Pollux von Naukratis zu identifizieren versucht worden ist, siehe das Lemma zum Werktitel ΡΗΤΟΡΩΝ ΔΙΔΑΣΚΑΛΟΣ –, mit typischen Elementen der Invektive angegriffen wird, vgl. Bompaire [1958] 471–477 sowie den einleitenden Kommentar zu §§23–25. Siehe auch Hall [1981] 273. 87 Gleichzeitig wird umgekehrt der platonische Dialog durch das satirische Element ›entplatonisiert‹ und in seinem Unterhaltungswert gesteigert. Vgl. dazu die gattungstheoretische Stellungnahme Lukians in der Formulierung der Anklage des personifizierten philosophischen Dialogs in Bis Acc. 33: Der »Syrer« beraubte den ehemals ernsthaften, besonnenen Dialog seiner tragischen Maske und ersetzte diese durch eine komische, satyrhafte, ja lächerliche, indem er eine Vermischung mit Witz, Iambos und Kynismus, Eupolis, Aristophanes und mit dem bellenden Hund Menipp vornahm (vgl. zu dieser Textstelle schon oben 1.1, S. 14 und unten 3.1, S. 122). Zur Mischung von Philosophischem und Komischem in Rh. Pr. vgl. auch die Einleitung 1.8. 88 Vgl. dazu auch unten die Einleitung 1.6, S. 62f. und 1.5.c (zu Hermotimos). 89 Vgl. dazu unten die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §§9–10.

1.3 Platonisch-philosophische Elemente

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(dialektisch agierenden) Sokrates und am langen Weg zur Philosophie, intendierte, gibt der Text keine Hinweise. Vielmehr scheitern die auftretenden Lehrer an der von ihnen gewählten Vorbildfigur Sokrates bzw. an ihrer eigenen Anmassung, sich zu sokratischen Ratgebern zu stilisieren und geben dadurch eine komische Kontrastfolie ab.90 Zwei platonische Subtexte sind im Zusammenhang mit der in Rh. Pr. verwendeten Wegmetaphorik und mit dem allgemeinen setting der Ausbildung eines jungen, ehrgeizigen Mannes besonders hervorzuheben, einerseits Alkibiades I (bes. 105a–d), andererseits die so genannte ›Philosophenprobe‹ im Siebten Brief (340b–341a).91 Alkibiades ist ein Jüngling, der, wie Sokrates zu wissen meint, ein berühmter Staatsmann werden und Ehre und Macht erlangen will, nicht nur unter den Hellenen, sondern in der ganzen Welt. Und dieses Ziel zu erreichen sei ihm so wichtig, dass er, wenn es nicht gelinge, lieber nicht leben möchte.92 Um dahin zu gelangen bedarf Alkibiades des Sokrates als Lehrer (vgl. 105d: τούτων γάρ σοι ἁπάντων τῶν διανοημάτων τέλος ἐπιτεθῆναι ἄνευ ἐμοῦ ἀδύνατον), dessen ›Ausbildung‹ allerdings langwierig und anstrengend ist, es ist nämlich der Weg zur Philosophie – ganz im Gegensatz zu dem in Rh. Pr. dargestellten kurzen und mühelosen Lehrgang. Durch die Reminiszenz des Beginns von Rh. Pr. an das platonische Gespräch zwischen Sokrates und Alkibiades wird die Erwartungshaltung einer ernsthaften Abhandlung des Themas bzw. eines differenzierten Umgangs mit dem Wunsch des Schülers geschaffen, was durch 90 Mit der Anlehnung an Aristophanes’ Wolken orientiert sich Rh. Pr. zwar an einem Vorläufertext, der sich durchaus satirisch-kritisch mit (Platon und) Sokrates beschäftigt, aber der aristophanische Subtext und überhaupt das setting einer Komödie wird von Ratgeber und Rednerlehrer heraufbeschworen, die sich in diese Tradition stellen, um sich so vom langen Weg zu distanzieren und der neumodischen ›theatralischen‹ Rhetorik zuzuwenden: Und eben dadurch erweisen sie sich als ›unechte‹, komödienhafte Sokratesfiguren, was nicht den platonischen Sokrates, sondern vielmehr die Figuren von Ratgeber und Rednerlehrer selbst karikiert. Vgl. dazu auch unten 1.8 (v.a. zur Parallele zwischen Ratgeber und Sokrates in den Wolken). 91 Die Echtheit beider Texte ist in der heutigen Forschung umstritten, sie galten jedoch in der Antike als echt, so dass sich für meine Zwecke kein Problem ergibt (vgl. Denyer [2001] 14–26 zur Debatte um Alkibiades). Der Dialog Alkibiades I bildete in der antiken Tetralogien-Ordnung den Anfang der vierten, die Epistulae den Schluss der neunten Tetralogie. Vgl. Görgemanns [1994] 37–40 (mit einer tabellarischen Übersicht). 92 Vgl. Alc. 105a+c: Δοκεῖς γάρ μοι, εἴ τίς σοι εἴποι θεῶν· »Ὦ Ἀλκιβιάδη, πότερον βούλει ζῆν ἔχων ἃ νῦν ἔχεις ἢ αὐτίκα τεθνάναι, εἰ μὴ σοι ἐξέσται μείζω κτήσασθαι;« δοκεῖς ἄν μοι ἑλέσθαι τεθνάναι. [...] οὐκ ἂν αὖ μοι δοκεῖς ἐθέλειν οὐδ’ ἐπὶ τούτοις μόνοις ζῆν, εἰ μὴ ἐμπλήσεις τοῦ σοῦ ὀνόματος καὶ τῆς σῆς δυνάμεως πάντας [...] ἀνθρώπους. Vgl. dazu Rh. Pr. 1: Ἐρωτᾷς, ὦ μειράκιον, ὅπως ἂν ῥήτωρ γένοιο καὶ τὸ σεμνότατον τοῦτο καὶ πάντιμον ὄνομα σοφιστὴς εἶναι δόξεις· ἀβίωτα γὰρ εἶναί σοι φῄς, εἰ μὴ τοιαύτην τινὰ τὴν δύναμιν περιβάλοιο ἐν τοῖς λόγοις ὡς ἄμαχον εἶναι καὶ ἀνυπόστατον καὶ θαυμάζεσθαι πρὸς ἁπάντων καὶ ἀποβλέπεσθαι, περισπούδαστον ἄκουσμα τοῖς Ἕλλησι δοκοῦντα (vgl. weiter Alkibiades über die positive Wirkung von Sokrates’ Einfluss in Smp. 215e: Ἀλλ’ ὑπὸ τουτουῒ τοῦ Μαρσύου πολλάκις δὴ οὕτω διετέθην, ὥστε μοι δόξαι μὴ βιωτὸν εἶναι ἔχοντι ὡς ἔχω).

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

die (unsokratischen) Worte des Ratgebers gleich zu Beginn enttäuscht wird (vgl. bereits S. 34f.), so dass die neue Erwartung einer Misslenkung des jungen Mannes entsteht. Dass der ideale Staatsmann ein Philosoph sein soll bzw. die Philosophen den Staat lenken sollten, ist auch Thema des Siebten Briefes. Platon beschreibt (340b–341a) die Methode der Philosophenprobe, die der Klärung dienen soll, ob sich Dionysios von Syrakus tatsächlich ernsthaft der Philosophie widmen kann und wird. Diese Probe besteht darin, den Menschen alle Mühen und Erfordernisse des Weges zur Philosophie aufzuzeigen und ihre Reaktion darauf abzuwarten. Halten sie diesen Weg trotzdem für den einzig richtigen und wollen nur so leben, dann sind sie tatsächlich philosophisch veranlagt. Sie schliessen sich einem Führer auf diesem Weg an und lassen nicht von der Sache ab, bis sie zum Ziel gelangen.93 Philosophie (und ebenso Rhetorik) sind bei Platon mit einem langen Weg verbunden, den Rh. Pr. dem Rezipienten als Kontrastfolie stets in Erinnerung hält, während der Ratgeber (und ebenso später der Rednerlehrer) genau das Gegenteil, den kurzen Weg, empfiehlt. Wegmetaphorik ist nicht nur im Siebten Brief, sondern auch in anderen platonischen Dialogen ein zentrales Element der Darstellung: Immer wieder wird – meist von der Dialogfigur Sokrates – die Länge des von einem Philosophierenden zu absolvierenden Weges betont, des Weges nämlich, der zur Dialektik und letztendlich zu der sich daraus entwickelnden Erkenntnis der Idee des Guten führt. Und da echte Rhetorik nur durch die Philosophie erreicht wird, treffen solche Aussagen auch auf die Rhetorik zu. So tritt Rh. Pr. mit der Empfehlung eines derart kurzen Weges zur Rhetorik immer wieder in ein Spannungsverhältnis zu Passagen aus platonischen Dialogen über Rhetorik und ihre Exponenten, insbesondere aus Phaidros (s. gleich); Sophista (v.a. über die Sophisten als Vermittler von Scheinweisheit: 229a– 233d) und Gorgias (z.B. 458e–460c, 500b–505b, 513c–515b). Eine berühmte Stelle über Rhetorik findet sich in Phdr. 271d–272c: Sokrates legt dar, dass Rhetorik Seelenleitung (ψυχαγωγία) sei und ein angehender Redner daher zunächst versuchen müsse, Wissen über die Seele zu erlangen, um gut und vollendet (καλῶς τε καὶ τελέως) sprechen zu können – anders sei es nicht möglich. Phaidros kann Sokrates nur zustimmen (272b): ἀδύνατόν που, ὦ Σώκρατες, ἄλλως· καίτοι οὐ σμικρόν γε φαίνεται ἔργον. 93 Vgl. Ep. 7,340b–c: Δεικνύναι δὴ δεῖ τοῖς τοιούτοις ὅτι ἔστι πᾶν τὸ πράγμα οἷόν τε καὶ δι’ ὅσων πραγμάτων καὶ ὅσον πόνον ἔχει. Ὁ γὰρ ἀκούσας, ἐὰν μὲν ὄντως ᾖ φιλόσοφος οἰκεῖός τε καὶ ἄξιος τοῦ πράγματος θεῖος ὤν, ὁδόν τε ἡγεῖται θαυμαστὴν ἀκηκοέναι συντατέον τε εἶναι νῦν καὶ οὐ βιωτὸν ἄλλως ποιοῦντι· μετὰ τοῦτο δὴ συντείνας αὑτόν τε καὶ τὸν ἡγούμενον τὴν ὁδόν, οὐκ ἀνίησιν πρὶν ἂν ἢ τέλος ἐπιθῇ πᾶσιν, ἢ λάβῃ δύναμιν [...]. Vgl. dazu Rh. Pr. 1 (s.o., zusätzlich): φιλοπόνως μελετᾶν καὶ προθύμως ἀνύειν τὴν ὁδὸν ἔστ’ ἂν ἀφίκῃ πρὸς τὸ τέρμα; 2: πονῆσαι; 3: ἡμεῖς ἄξομεν, καματηρὰν [ὁδόν].

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Das bedingt, dass es keinen leichteren, kürzeren Weg zur Rhetorik zu geben scheint (ῥᾴων καὶ βραχυτέρα [...] ἐπ’ αὐτὴν ὁδός), sondern ein langer (πολλή) und beschwerlicher (τραχεία), weil philosophischer absolviert werden muss (was in der Folge von Phaidros nochmals kritisch überprüft werden soll). Auf diese Passage wird in Rh. Pr. 2 möglicherweise angespielt (τὸ μὲν οὖν θήραμα οὐ σμικρὸν οὐδὲ ὀλίγης τῆς σπουδῆς δεόμενον): Die Bemerkung des Ratgebers passt zu denjenigen sokratisch-platonischen Passagen, die den Weg zu Rhetorik und Philosophie als lang und anstrengend beschreiben; der Ratgeber löst seine eigenen Worte jedoch insofern gleich wieder in Ambivalenz auf, als er den kürzesten, angenehmsten Weg in Aussicht stellt (Rh. Pr. 3) und in der Folge breit ausführt bzw. vom Rednerlehrer ausführen lässt, wodurch der platonische Subtext unterwandert wird. Der Kontrast zwischen verschiedenen Arten der Rhetorikausbildung wird auch an weiteren Stellen deutlich: Beispielsweise erklärt Sokrates, ein echter Redner brauche drei Grundlagen zur ῥητορικὴ τέχνη, nämlich φύσις, ἐπιστήμη und μελέτη (Phdr. 269d),94 wohingegen in Rh. Pr. diese Elemente zwar aufgegriffen, aber in völlig pervertierter Form behandelt werden. Die natürliche Begabung für den Beruf (φύσις) kommt in Rh. Pr. 15 in Form von ›nützlichen‹ Charaktereigenschaften (θράσος; τόλμα; ἀναισχυντία) sowie Anforderungen an die Stimme (βοὴ ὅτι μεγίστη; μέλος ἀναίσχυντον) zur Sprache, wird dann aber von einer speziell geeigneten körperlichen Disposition rasch auf allgemein erwerbbare äussere Erscheinungsmerkmale (βάδισμα; ἐσθής; κρηπίς/ἐμβάς) gelenkt, wie sie den ›Scheintechniten‹ auszeichnen. Wissen (ἐπιστήμη) benötigt der Aspirant überhaupt keines – ja Unwissen, ἀμαθία, wird sogar explizit verlangt. Und Übung (μελέτη) wird dem jungen Mann nur halbherzig angeraten (§1); wie nämlich bereits wenig später (§3) deutlich wird, braucht es davon nicht viel, weil das Ziel rasch zu erreichen ist. Wenn der Ratgeber sagt, der Schüler brauche sich auf keinen Fall vorher abzumühen (προπονῆσαι), so widerspricht das all den Platonstellen, in welchen das Betreiben von Philosophie (und sinngemäss ebenso von Rhetorik, da echte Rhetorik die Hinwendung zur Philosophie verlangt) als eine stufenweise Einweihung in die Mysterien dargestellt ist (z.B. Smp. 209e–210a; Phdr. 250b–c, 261a, 269e; Men. 76e; Grg. 497c). Noch deutlicher wird dieser Bezug auf die Mysterien und dementsprechend auf die genannten platonischen Dialoge als Subtexte in 94 Vgl. auch später den für die Zweite Sophistik wichtigen Autor Dion. Hal. De imit., fr. 2 Us.: Τρία ταῦτα τὴν ἀρίστην ἡμῖν ἔν τε τοῖς πολιτικοῖς λόγοις ἕξιν καὶ ἐν πάσῃ τέχνῃ τε καὶ ἐπιστήμῃ χορηγήσει· φύσις δεξιά, μάθησις ἀκριβής, ἄσκησις ἐπίπονος· ἅ περ καὶ τὸν Παιανιέα τοιοῦτον ἀπειργάσατο. Mit dem »Paianieus« ist Demosthenes gemeint, der für Dionysios das grosse Vorbild attischer Sprache ist (vgl. die Bemerkungen S. 240 und Rh. Pr. 21: τί γὰρ ὁ Παιανιεὺς πρὸς ἐμέ;).

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

Rh. Pr. 14 und 16 (siehe den Kommentar zu §14: εἰ μὴ προετελέσθης ἐκεῖνα τὰ πρὸ τῆς ῥητορικῆς [...] προπαιδεία und §16: ἀτέλεστόν τινα καὶ κατάσκοπον τῶν ἀπορρήτων). Indem der Rednerlehrer dieses platonische Gedankengut negiert (§14) oder in seiner Adaptation pervertiert (§16), erfolgt eine komische Herabsetzung des ›sokratischen‹ Lehrers, und gleichzeitig wird mit dem Verweis auf die platonische Diskussion der Rhetorikausbildung ein (affirmativer) kontrastiver Hintergrund geschaffen. Da wir also mit Rh. Pr. eine Schrift über Rhetorik in philosophischem Gewand vor uns haben, sollen an dieser Stelle noch ein paar Worte zum andauernden Wetteifern der beiden Disziplinen gesagt werden.95 Welche Folgen haben die Gestaltungselemente des sokratisch-platonischen Duktus diesbezüglich für die Interpretation von Rh. Pr.? Dass es bei Platon die Philosophie ist, zu der man sich hinwenden muss (darauf läuft es auch in Alc. I hinaus), weil sonst das Leben nicht lebenswert ist (vgl. Ep. 7,340c und Smp. 211d; auch R. 407b, 445a–b und Grg. 492d, 500d), es in der lukianischen Satire aber um Ruhm durch Rhetorik geht, bedeutet nicht, dass im alten Streit zwischen Philosophie und Rhetorik für erstere Partei ergriffen wird und letztere ganz generell als der Philosophie weit unterlegen lächerlich gemacht wird. Vielmehr setzen die lukianischen Schriften Philosophie und Rhetorik parallel an: Für den guten Redner wird eine durchaus anstrengende und ebenfalls stufenweise fortschreitende Ausbildung vorausgesetzt, wie sie sich im Lernprogramm für Lexiphanes präsentiert.96 Und an anderen Orten werden Redner und Philosophen gleichermassen dem Spott preisgegeben (s. gleich). Die formale Anlehnung an platonische Dialoge zieht also keine inhaltliche Überlegenheit der Philosophie nach sich. Angesichts der Tatsache, dass gerade zu Lukians Zeit die beiden Disziplinen Philosophie und Rhetorik in gewissen Bereichen sehr stark ineinander flossen, erstaunt es nicht, dass der Autor eine philosophische Form für eine Satire über Rhetorik verwendet. Vor allem in der für die Zweite Sophistik typischen Situation des öffentlichen Vortrages rücken die Disziplinen nahe zusammen: Philosophische Vorträge richten sich beispielsweise nach den Regeln der Deklamation, um bei der Zuhörerschaft grösseren Erfolg zu erlangen.97 Und genau hier setzt Lukians Satire an: Er verspottet nicht nur Sophisten, sondern auch Philosophen, vor allem als Vertreter ei95

Vgl. dazu Hahn [1989] 61–66 und 86–99; Bowersock [2002]. Vgl. Lex. 22–25 und den Kommentar zu §17: ἀπ’ ἐκείνων ἐπισιτισάμενος. Zu den Schriften Sol. und Adv. Ind. siehe auch unten 2.2. Im Unterschied zu Platon, wo echte rhetorische τέχνη mit Philosophie zusammenfällt, sind bei Lukian Philosophen und Rhetoriker zwei verschiedene Gruppen von Bildungsvertretern (die zwei Hauptgruppen zeitgenössischer πεπαιδευμένοι). 97 Vgl. Hahn [1989] 86–99, Schmitz [1997] 86 und 89, Korenjak [2000] 189 und 192 und die Reden eines Maximus von Tyros oder eines Dion von Prusa, die sich zumindest selbst als Philosophen einstufen. 96

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ner Show- und Bühnenprofession, die trickreiche Scharlatane hervorbringt, welche durch ihre Theatralik den leichten Weg begehen. Daneben jedoch finden sich sowohl unter den Sophisten als auch unter den Philosophen Vertreter des langen Weges, der sich über die literarischen Klassiker bzw. die alten Philosophen wie Platon und Sokrates definiert.98 Abschliessend sei eine vom sokratisch-platonischen Hintergrund abweichende philosophische Richtung erwähnt, die im Zusammenhang mit der Wegmetaphorik für Rh. Pr. und besonders für die Zeichnung der Figur des Rednerlehrers von Bedeutung sein dürfte, wobei sich Parallelen zeigen lassen:99 Die Kyniker waren unter den Philosophen Vertreter des kurzen Weges, indem sie nicht die theoretische Betrachtung, sondern das Handeln und die direkte Umsetzung dessen, wofür man einsteht, als zentrale Aufgabe des Philosophen ansahen. So ist uns bei Diogenes Laertios eine entsprechende Beschreibung des Kynismus durch den Stoiker Apollodor überliefert (D. L. 7,121: εἶναι γὰρ τὸν κυνισμὸν σύντομον ἐπ’ ἀρετὴν ὁδόν, ὡς Ἀπολλόδωρος ἐν τῇ Ἠθικῇ).100 Damit einher geht auch die Tatsache, dass jedem die Möglichkeit des Philosophierens zugestanden wird; gerade in der Kaiserzeit wurde diese populäre Form des Kynismus zu einem Massenphänomen, wobei sich in der Rezeption des Kynismus dieser Zeit (z.B. bei Lukian, Dion von Prusa, Epiktet) eine Ambivalenz zeigt zwischen den bewunderten ›alten‹ Kynikern wie Diogenes und der kritisierten Masse der zeitgenössischen (Möchtegern-)Kyniker.101 Wie wir sehen werden (vgl. unten Kap. 3), erscheinen die Kyniker in Lukians Werk, was ihre Redefreiheit (παρρησία) anbelangt, in durchaus positivem Licht, ja der Autor streift sich in seinen Schriften immer wieder Masken über bzw. lässt personae auftreten, die diesbezüglich eine Nähe zum Kynismus aufweisen oder selbst Kyniker sind.102 In Überzeichnung ihrer typischen Verhaltensmuster wie Unver98

Vgl. zur Verwendung der Wegmetaphorik auch bei philosophischer Thematik die Einleitung 1.5.c zu Lukians Hermotimos und allgemein zur Parallelität der Darstellung von Philosophen und Sophisten die Einleitung 3.: Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie: Mechanismen der Typisierung und Variationen desselben Themas. Ausführlich über den Einfluss des sokratisch-platonischen Dialoges in Lukians Schriften siehe auch Bompaire [1958] 303–313. 99 Für wertvolle Hinweise danke ich Christoph Riedweg. 100 Vgl. DNP 6 s.v. Kynismus, Sp. 974: »Dieser einfache, ökonomische Weg steht dem traditionellen langen Weg der philos. Schulen mit Studium, Erwerb von Kenntnissen und theoretischer Spekulation gegenüber. Logik, Musik, Geometrie, Physik oder Metaphysik werden als ›nutzlos und unnötig‹ [vgl. D. L. 6,73] betrachtet, weil sie von dem ablenken, worum wir uns in erster Linie sorgen müssten, nämlich uns selbst, und uns nicht helfen, unser Leben zu lenken. Die Ethik umfasst bei den Kynikern alle Bereiche der Philos.« Siehe auch D. L. 6,11 und 70–71 (›Lehren‹ des Antisthenes und Diogenes); zur Auseinandersetzung der Kyniker mit dem Platonismus vgl. die zahlreichen anekdotenhaften Gespräche zwischen Diogenes und Platon (e.g. D. L. 6,24–26.53). 101 Vgl. Branham/Goulet-Cazé [1996] 15f. 102 Wichtig sind hierbei vor allem Diogenes und Menipp. Zu Lukians Lob des Kynikers Demonax, der ein zeitgenössisches Vorbild darstellt, siehe unten 3.1. Vgl. auch Branham/Goulet-Cazé

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

schämtheit, Lasterhaftigkeit, Unruhestiftung durch Gezeter jedoch sind die Kyniker Objekt des Spottes, wobei es sich, wie oben angedeutet, meist zugleich um den Typus des Scheinphilosophen handelt, der mit den ›alten‹ Vorbildern und der von Diogenes praktizierten Askese nur mehr wenig gemein hat, und vom gebildeten Vertreter dieser ›klassischen Tradition‹ mit Verärgerung entlarvt wird.103 Kynikerspott dieser Art findet sich vor allem in Lukians Peregrinos und Fugitivi; in Fug. 13–15 wettert die personifizierte Philosophie über die Armen und Sklaven, die sich ganz in kynischer Manier mit Mantel, Ranzen und Stock ausgerüstet auf die Strasse begeben und von Haus zu Haus ziehend Geld einfordern, wenn nötig mit üblen Beschimpfungen oder gar mit Schlägen. Ihre Kennzeichen sind Unbildung (ἀμαθία), Tollkühnheit (τόλμα), Unverschämtheit (ἀναισχυντία), Geschrei (βοᾶν) und Beschimpfungen (λοιδορίαι/λοιδορεῖν).104 Für dieselben Negativcharakteristika steht nun der Rednerlehrer in Rh. Pr., und er ist daher nicht nur (aufgrund der platonischen Kontrastfolie) mit Zügen eines ›falschen Sokrates‹, sondern auch (aufgrund der kynischen Tradition des kurzen Weges in ihrer negativen Ausprägung) mit Zügen eines Kynikers der übelsten Sorte ausgestattet, der seinen Schüler auf den entsprechenden Weg bringen will: Vgl. §15 (Unnötigkeit jeder Vorbildung; Forderung der ›Ausstattung‹ mit τόλμα, ἀναισχυντία, βοὴ ὅτι μεγίστη etc.; »jeder kann [1996] 16f.: »For Lucian, Cynic literature was a liberating example of innovation and subversion within the classical tradition. The Cynic classics (and Cynic ideology) gave him nothing less than a license to write satire on all things Greek, which now, of course, included Cynics and Cynicism itself. When he was attacked for his hilarious caricature Philosophers for Sale!, in which the founding fathers of Greek philosophy, including Diogenes, are auctioned off as slaves, it is a comicCynic mask (Parrhesiades) he dons to defend his literary principles. [...] In his Demonax, Lucian even shows a serious interest in constructing a contemporary ethical model from Cynic (and Socratic) traditions.« 103 So Branham/Goulet-Cazé [1996] 16; vgl. auch DNP 6 s.v. Kynismus, Sp. 972: »[Der kaiserzeitliche Kynismus] war in erster Linie eine populäre Philos., deren Anhänger, Arme und Sklaven, aus den unterprivilegierten Schichten der grossen Metropolen stammten [...]. Gruppen von Kynikern gingen in den Strassen von Rom und Alexandreia umher, bettelten an den Strassenkreuzungen und machten der Menge, die sie sehen und hören wollte, ihre Vorhaltungen. Darunter waren auch Scharlatane, die glaubten, das Kleid mache den Philosophen. Gegen sie richtet sich die Kritik des Epiktetos, Lukianos oder Iulianus.« Vgl. weiter Luk. Fug. 11f. (positive Nennung der ›alten‹ Kyniker, Kritik an den ›neuen‹); Billerbeck resümiert über den ›idealen‹ Kyniker bei Autoren wie Epiktet und Lukian (Branham/Goulet-Cazé [1996] 220): »After having traced the main lines of the idealized concept of Cynicism from Epictetus to Julian, we see that it was the qualities of independence (autarkeia) and freedom of speech (parrhesia) that commended the imitation of Diogenes. On the other hand, shamelessness (anaideia), which is a prominent feature of the anecdotes about Diogenes and which characterized the actual behaviour of the ancient Cynics, tends to be suppressed.« 104 Vgl. zu Fugitivi auch unten 3.2. Der allgemeine Philosophenspott und der Spott spezifisch über Kyniker geht in Lukians Schriften ineinander über, wie Vergleiche zwischen Fug., Pisc., Ikaromen., Bis Acc. zeigen (Ziel der Kritik in Fug. sind also nicht nur, aber vor allem die Kyniker, vgl. dazu Fug. 16).

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Rhetorik betreiben«); §19 (Beschimpfung [des Publikums] und Geschrei); §§22, 23, 24 (unverschämtes, dreistes Verhalten; Beschimpfungen); §§23– 25 (allgemein lasterhaftes Privatleben).105 Hört man schliesslich dem Kyniker Diogenes zu, der in Vit. Auct. 10f. Empfehlungen über die richtige Ausrüstung eines Kynikers abgibt, so unterscheiden sich seine Äusserungen praktisch nicht von denen des Rednerlehrers (womit zugleich deutlich wird, dass die Grenzen zwischen ›mildem‹ und ›boshaftem‹ Spott in den Satiren fliessend sind, da, wie oben gesagt, Diogenes in Lukians Werk auch Vorbildfunktion übernimmt): ἰταμὸν χρὴ εἶναι καὶ θρασὺν καὶ λοιδορεῖσθαι πᾶσιν ἐξ ἴσης καὶ βασιλεῦσι καὶ ἰδιώταις· οὕτω γὰρ ἀποβλέψονταί σε καὶ ἀνδρεῖον ὑπολήψονται. [...] οὐδέν σοι κωλύσει θαυμαστὸν εἶναι, ἢν μόνον ἡ ἀναίδεια καὶ τὸ θράσος παρῇ καὶ λοιδορεῖσθαι καλῶς ἐκμάθῃς.106

1.4 Die Allegorie des Prodikos und die Tabula des Kebes Die in Rh. Pr. verwendete Szenerie, die Wahl zwischen zwei möglichen (Lebens-)Wegen, findet neben dem eben diskutierten platonischen Hintergrund ihre klassische Darstellung in moral- bzw. populärphilosophischen Texten, allen voran in der berühmten Allegorie des Prodikos von Herakles am Scheideweg (Xen. Mem. 2,1,21–33), die eine grosse Nachwirkung bis in die Spätantike hinein gehabt hat, vgl. die Tabula des Kebes; Philon De sacr. Abel. et Cain. 20–44; Clem. Alex. Paed. 2,10,110; Max. Tyr. Or. 14 und 39; Dion von Prusa Or. 1,64–84; Themistios Or. 22,280–282; im lateinischen Bereich Cic. Off. 1,118f.; Quint. Inst. 9,2,36.107 An dieser Stelle sei daran erinnert, dass das älteste Zeugnis zweier in ihrer Beschaffenheit gegensätzlicher Wege zur Tugend und zur Schlechtigkeit Hesiod Erga 287–291 darstellt: 105 Weitere Parallelen zwischen Rh. Pr., Fugitivi und Peregrinos sind jeweils im Kommentar angegeben (zu Peregrinos vgl. v.a. Rh. Pr. 23–25). 106 »Du solltest unverschämt und kühn sein und alle ohne Ausnahme beschimpfen, sowohl Könige als auch einfache Leute. Denn so wird man dich bewundern und für männlich halten. [...] nichts wird dich daran hindern, ein Objekt der Bewunderung zu sein, wenn du nur Schamlosigkeit und Kühnheit pflegst und ganz genau lernst, wie man beschimpft.« Vgl. Rh. Pr. 17: οὕτω γάρ σε ὁ λεὼς ὁ πολὺς ἀποβλέψονται καὶ θαυμαστὸν ὑπολήψονται [...]; 24: ἢν ταῦτα, ὦ παῖ, καλῶς ἐκμάθῃς [...]; ἐπεὶ δὲ τὴν ὁδὸν ταύτην ῥᾴστην οὖσαν κατεῖδον [...] ὑπῆρχεν γάρ μοι, ὦ φίλη Ἀδράστεια, πάντα ἐκεῖνα ἃ προεῖπον ἐφόδια, τὸ θράσος, ἡ ἀμαθία, ἡ ἀναισχυντία [...]; vgl. auch den Ratgeber in Rh. Pr. 26: καὶ οὐδέν σε κωλύσει [ebenso §6] ἑπόμενον τῷ νόμῳ ἔν τε τοῖς δικαστηρίοις κρατεῖν καὶ ἐν τοῖς πλήθεσιν εὐδοκιμεῖν καὶ ἐπέραστον εἶναι κτλ. Vgl. zum beschimpfenden Geschrei des Redners Rh. Pr. 19 und 23. 107 Für weitere Belege siehe Fitzgerald/White [1983] 37 Anm. 62 und Hirsch-Luipold [2005] 24–26.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

τὴν μέν τοι κακότητα καὶ ἰλαδὸν ἔστι ἑλέσθαι / ῥηιδίως· λείη μὲν ὁδός, μάλα δ’ ἐγγύθι ναίει· / τῆς δ’ ἀρετῆς ἱδρῶτα θεοὶ προπάροιθεν ἔθηκαν / ἀθάνατοι· μακρὸς δὲ καὶ ὄρθιος οἶμος ἐς αὐτὴν / καὶ τρηχὺς τὸ πρῶτον· [...]108

Angesichts der Verbreitung des Themas ist es nicht erstaunlich, dass es auch von Lukian aufgenommen wird,109 in Rh. Pr. in der Form, dass den Aspiranten jeweils ein gestandener Redner, der den entsprechenden Weg absolviert hat, in Empfang nehmen, ihm den Weg weisen und ihn ausbilden wird. Auf die Tabula des Kebes, die wohl ins 1. Jh. n.Chr. zu datieren ist,110 wird in Rh. Pr. 6 explizit verwiesen, und der Hintergrund dieses Textes ist neben der Allegorie des Prodikos grundlegend für das Verständnis der Satire. Denn das Aufrufen der Tabula, die den langen Weg propagiert und echte von falscher Bildung scheidet, dient, ähnlich den platonischen Dialogen, als Kontrastfolie im Sinn eines Subtextes, der hintergründig-affirmativ eingesetzt wird oder aber zumindest aufgrund der Kontraste Fragen aufwirft. An dieser Stelle sei eine kurze Zusammenfassung dieser Schrift gegeben, um Parallelen und Unterschiede zum lukianischen Text aufzuzeigen: Die Tabula des Kebes ist die erklärende Beschreibung eines allegorischen Gemäldes, welches den Lebensweg abbildet. Das Gemälde zeigt den Eintritt ins Leben durch ein Tor und danach ein fortschreitendes Weiterleben in mehreren Stufen, die jeweils mit neuen Toren gekennzeichnet sind. In Form einer Stadtanlage, die einen Berg in mehreren Kreisen umzieht, werden Stadt- und Wegmetaphorik kombiniert. Der Betrachter soll dazu ermuntert werden, den richtigen Weg zur Erkenntnis einzuschlagen, um zum Ziel des βίος εὐδαίμων zu gelangen. Genau genommen beschreibt die Tabula nur einen Weg, alle anderen sind Irrwege und Sackgassen, auf die man geraten und in denen man steckenbleiben kann.111 Drei Lebensstufen, durch weibliche Personifikationen versinnbildlicht, sind vorhanden: Κακοδαιμονία, Ψευδοπαιδεία und schliesslich Παιδεία / Εὐδαιμονία. Eine wichtige 108 »Die Schlechtigkeit kann man gewiss gleich haufenweise leicht erlangen: Eben ist der Weg, ganz nahe wohnt sie. Vor die Tugend aber haben die unsterblichen Götter Schweiss gesetzt: Lang und steil ist der Pfad zu ihr und steinig zuerst [...]«; Lukian erwähnt Hesiod mit Bezugnahme auf diese Passage ausdrücklich in Rh. Pr. 7. – Zu nennen sind weiter auch die Fragmente des parmenideischen Lehrgedichtes, in welchen der Weg zur Erkenntnis ein zentrales Thema ist und damit auch das entsprechende Vokabular prominent vorkommt (ὁδός, κέλευθος, ἀταρπός). Vgl. insbesondere fr. 2 DK: εἰ δ’ ἄγ’ ἐγὼν ἐρέω, κόμισαι δὲ σὺ μῦθον ἀκούσας, / αἵπερ ὁδοὶ μοῦναι διζήσιός εἰσι νοῆσαι· / ἡ μὲν ὅπως ἔστιν τε καὶ ὡς οὐκ ἔστι μὴ εἶναι, / Πειθοῦς ἐστι κέλευθος (Ἀληθείῃ γὰρ ὀπηδεῖ), / ἡ δ’ ὡς οὐκ ἔστιν τε καὶ ὡς χρεών ἐστι μὴ εἶναι, / τὴν δή τοι φράζω παναπευθέα ἔμμεν ἀταρπόν; sowie fr. 6 und 8 DK. – Generell zur Wegmetaphorik in der archaischen und klassischen Gräzität vgl. Becker [1937] (siehe insbesondere zur Hesiodstelle, zum Weg der ἀρετή und dessen Verbreitung v.a. auch bei Pindar S. 57–61). 109 Neben Rh. Pr. v.a. in Hermotimos, vgl. dazu den Kommentar von Möllendorff [2000a] 205–210; weiter in Somnium (passim) und in Bis Acc. 21. Zu diesen Schriften siehe unten 1.5. 110 So Fitzgerald/White [1983] 4; sich anschliessend Hirsch-Luipold [2005] 19. 111 Vgl. Hirsch-Luipold [2005] 18–22.

1.4 Die Allegorie des Prodikos und die Tabula des Kebes

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Entscheidung der Menschen, falls sie nicht ein durchwegs niedriges, der τύχη und den damit verbundenen Begierden ergebenes Leben führen wollen (Ergebnis: κακοδαιμονία), muss über das Fortschreiten von ψευδοπαιδεία zur ἀληθινὴ παιδεία gefällt werden. Die meisten Menschen verbringen ihr Leben im Gebiet der Scheinbildung, ohne ihre falschen δόξαι und Werthaltungen je ablegen zu können. Nur wer den letzten Abschnitt, den steilen, selten begangenen, anstrengenden Pfad einschlägt, gelangt zur Παιδεία, die sich im innersten – und zugleich obersten – Kreis befindet und einen geläutert zu den Ἀρεταί und zur Εὐδαιμονία bringt, einer Frau, die zur lukianischen Rhetorik zwar Parallelen aufweist, aber dennoch ganz andere Werte verkörpert: Sie ist schön anzusehen, sitzt elegant, aber einfach gekleidet auf einem Thron und krönt den, der bei ihr angelangt ist, zwar ebenfalls, allerdings nicht zum ruhmvollen, reichen Redner, der von allerlei äusseren Gütern abhängig ist, sondern zu einem sich selbst genügenden, glücklichen Menschen (vgl. Tab. 21,3: γυνὴ καθεστηκυῖα εὐειδής τις κάθηται ἐπὶ θρόνου ὑψηλοῦ κεκοσμημένη ἐλευθέρως καὶ ἀπεριέργως; 23,4: ὁ γὰρ στεφανωθεὶς ταύτῃ τῇ δυνάμει εὐδαίμων γίνεται καὶ μακάριος καὶ οὐκ ἔχει ἐν ἑτέροις τὰς ἐλπίδας τῆς εὐδαιμονίας, ἀλλ’ ἐν αὑτῷ; Rh. Pr. 6: καὶ δῆτα ἡ μὲν ἐφ’ ὑψηλοῦ καθήσθω πάνυ καλὴ καὶ εὐπρόσωπος, τὸ τῆς Ἀμαλθείας κέρας ἔχουσα ἐν τῇ δεξιᾷ παντοίοις καρποῖς ὑπερβρύον; 3: σὺ δὲ πρὸ πολλοῦ ἄνω ἐστεφανωμένος εὐδαιμονέστατος ἔσῃ, ἅπαντα ἐν βραχεῖ ὅσα ἐστὶν ἀγαθὰ παρὰ τῆς Ῥητορικῆς μονονουχὶ καθεύδων λαβών). Vergleicht man die in der Tabula und in Rh. Pr. erwähnten Wege und Personifikationen, so nähern sich die beiden Werke durch Kebes’ Personifikation zweier Figuren, der Παιδεία und der Ψευδοπαιδεία (vgl. Tab. 11– 21), einander zwar an, denn in Rh. Pr. ist der empfohlene, kurze Lehrgang ganz offensichtlich eine Pseudo-Ausbildung, die Bildung (παιδεία) ausdrücklich nicht verlangt (vgl. Rh. Pr. 15), während der lange Weg für das klassische Training steht (Rh. Pr. 9–10).112 Doch stellen bei Kebes diese beiden Frauenfiguren nur einen Zwischenschritt auf dem Weg zur Eudaimonie dar, was mit dem Verhältnis der Menschen zu den »(falschen) Meinungen«, δόξαι, zusammenhängt – im einen Fall können diese überwunden werden, im anderen Fall (»Scheinbildung«) wird weiter in falschen δόξαι und in entsprechendem Unwissen (ἄγνοια) verharrt (vgl. Tab. 14,3). Ziel ist also ein glückliches Leben, wie es in der Moralphilosophie gängig ist. Ein markanter Unterschied liegt weiter in der Anzahl der aufgezeigten Zielpunkte der Wege und somit auch der dargestellten Frauenfiguren. Sowohl Prodikos’ Allegorie als auch Kebes’ Tabula weisen Wege (bzw. Weg112 Vgl. weiter zur Prominenz der Begriffe ›Bildung‹ und ›Unbildung‹ in Lukians Œuvre auch unten die Einleitung 2.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

Abzweigungen) mit verschiedenen Zielpunkten und dementsprechenden Frauengestalten auf: Leichter Weg – Κακία, anstrengender Weg – Ἀρετή (Prodikos) / dreiteilig: Κακοδαιμονία, Ψευδοπαιδεία, Εὐδαιμονία (Kebes). Dabei ist die Frauenfigur am Ende des anstrengenden Weges jeweils uneingeschränkt positiv konnotiert, nur schon aufgrund dessen, was sie symbolisiert (Tugend, Eudaimonie). Anders gestaltet ist hingegen der Zielpunkt der beiden Wege in Rh. Pr.: Beide führen, ob man den leichten oder den anstrengenden Weg beschreitet, zu einem Gipfel, auf dem die personifizierte Rhetorik thront. Es hat keinen Sinn, den alten, verstaubten Weg zu nehmen, da ein neuer, bergab(!) führender, schneller Weg zur Rhetorik vorhanden ist, der einem die Heirat mit ein und derselben Rhetorik erlaubt.113 Der Zusammenfall des Zielpunktes beider Wege bedeutet nun aber, dass die Frau an deren Ende, die Rhetorik, – wenn sie auch von den Sprechern absolut positiv dargestellt ist –, für den Rezipienten eine negative Konnotation erhält, da sie ein leicht zu habendes, niederes Ziel darstellt, indem sie gleichermassen auf dem kurzen wie auf dem langen Weg erreichbar ist.114 Aufgrund dieser entscheidenden Abweichung von der gängigen Verwendung der Metaphorik zweier (oder mehr) Wege und Zielpunkte115 gesellt sich zur Ambivalenz der Beurteilung des langen und kurzen Weges und zur daraus folgenden Aporie des Rezipienten (vgl. oben 1.2) ein Bild, in dessen Ausdeutung man den Inhalt der Schrift als absolut abwertend bezüglich Rhetorik einstufen und die Darstellung des Autors – dessen Œuvre selbst wohlgemerkt durchwegs mit Elementen der zeitgenössischen Rhetorik ausgestaltet ist – als völlig nihilistisch auffassen könnte. Dies ist in der Lukianforschung auch immer wieder der Fall gewesen.116 Damit sind wir nun an einer für das Verständnis von Rh. Pr., aber auch von Lukians weiteren Schriften über Rhetorik zu klärenden Kernfrage angelangt: Muss man Rhetorik tatsächlich als negativ und verkommen betrachten? Sind dann aber Rh. Pr., andere Schriften mit affirmativem Duktus, die auch ›gute‹ Rhetorik thematisieren (Sol., Lex., Adv. Ind.) und die eigene Tätigkeit Lukians als Redner und Autor vereinbar? Wichtig ist das Bewusstsein für die immer wieder anders gestaltete Anlage der Texte: Aus den vorangegangenen Ausführungen dürfte für Rh. Pr. die Bedeutung der 113

Vgl. §3: ἡδίστην τε ἅμα καὶ ἐπιτομωτάτην καὶ ἱππήλατον καὶ κατάντη [sc. ὁδόν]; §10: [...] ὁποία νῦν κεκαινοτόμηται ταχεῖα καὶ ἀπράγμων καὶ εἰς τὸ εὐθὺ τῆς Ῥητορικῆς ὁδός. 114 Zur Hetärenhaftigkeit der neuen Rhetorik siehe unten 1.5.a zu Bis Acc. Zum Vergleich des Rednerlehrers (als Exponent der neuen Rhetorik) mit den berühmten Hetären Thaïs, Malthake und Glykera siehe Rh. Pr. 12. 115 Enger an der ›klassischen‹ Darstellungsweise orientiert sich Somnium, vgl. dazu unten 1.5.a. 116 Allgemein zum Vorwurf des Nihilismus, der Lukian bis tief ins 20. Jh. anhaftete, vgl. den Forschungsüberblick bei Jones [1986] 1–5 sowie ausführlich Baumbach [2002] 201–243. Siehe auch unten 1.6.

1.4 Die Allegorie des Prodikos und die Tabula des Kebes

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Intertextualität, und damit kontrastiver (affirmativer) Texte, welche die satirisch-ironische Schrift ergänzend aufruft, bereits evident geworden sein. Wenden wir uns nun den innerlukianischen Paralleltexten zu, die sich der Thematik von Ausbildung und Rhetorik in ihrer je eigenen Gestaltung widmen, um danach mögliche Entgegnungen auf den ›Nihilismus‹ von Rh. Pr. zusammenzustellen (siehe unten 1.6).

1.5 Wegmetaphorik in Lukians ›autobiographischen‹ Schriften und in Hermotimos Zwei Elemente der Schrift Rh. Pr., die Abschiednahme des Ratgebers von der Rhetorik und die Wahl eines Weges im Zusammenhang mit Rhetorik, haben enge Parallelen in den beiden als autobiographisch stilisierten Schriften Lukians, Bis Accusatus und Somnium. Sie sollen im folgenden Kapitel untersucht werden, um Lukians variantenreichen Umgang mit dieser Motivik aufzuzeigen. Vorauszuschicken ist dabei folgende Bemerkung zur Methodik: Da sowohl die relative als auch die absolute Chronologie der Schriften Lukians ein Problem darstellt,117 so dass nur die wenigsten genauer datiert werden können, möchte ich betonen, dass bei Vergleichen sich wiederholender, ergänzender oder kontrastierender Elemente in verschiedenen lukianischen Schriften keinerlei Abhängigkeiten der einen von der anderen Schrift postuliert, sondern die Inhalte gleichwertig nebeneinander betrachtet werden. a. In Bis Acc. ergeht es dem »Syrer« ganz ähnlich wie dem Ratgeber am Ende von Rh. Pr.:118 Auch er hat der Rhetorik den Rücken gekehrt,119 was ihm prompt eine Anklage derselben einträgt. Sie beschwert sich, dass er sie, die ihn gross gemacht habe, verlassen habe (§§26–29). Im Unterschied zum Ratgeber, der sich scheinbar frustriert-resigniert aus dem Beruf zurückzieht, 117

Vgl. die Abhandlung bei Hall [1981] 16–63. Diese Parallelisierung zeigt klar die schillernde, selbstironische Stilisierung der lukianischen Figuren in den verschiedenen Texten: Der Autor bringt die von ihm gewählte Maske des »Syrers« in nahe Verbindung zum Ratgeber von Rh. Pr. und damit letztendlich auch zum lächerlichen, effeminierten Rednerlehrer selbst (vgl. dazu auch die Bemerkungen unten zu Somnium). Ein ähnliches Phänomen zeigt sich auf der grösseren textuellen Ebene, indem z.B. in Pisc. die falschen Philosophen als schlechte Theaterschauspieler gebrandmarkt werden, während die formale Gestaltung des Textes selbst einem Theaterstück gleicht bzw. durch die aristophanische Gestaltung ein theatralisches Genus aufruft und die Kläger Parrhesiades als jemanden anschwärzen, der nur auf spektakuläre Theatralik aus sei (Pisc. 25f.); vgl. dazu Whitmarsh [2001] 257–265, bes. 263 (über die Gestaltung von Pisc.): »Yet, as ever with Lucian, there is a self-ironizing twist. Is there not also something theatrical about Lucian’s role in all this?« und 264f.: »Lucian ironically advertises his own complicity in the mimetic identity-crisis of his age.« Siehe dazu auch unten 3.2. 119 Vgl. zum Abtreten des Ratgebers Rh. Pr. 26: ἐγὼ δὲ [...] ἐκστήσομαι τῆς ὁδοῦ ὑμῖν καὶ παύσομαι τῇ Ῥητορικῇ ἐπιπολάζων [...]. 118

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

hat aber der Syrer etwas Neues in Angriff genommen, das Metier gewechselt und verfasst nun philosophisch-satirische Dialoge. Für unseren Zusammenhang ist die Verteidigung des Syrers aufschlussreich, der mit seiner Rede den Gerichtsprozess ausgerechnet gegen die Rhetorik, die im Fall eines Plädoyers ungeschlagen sein sollte, gewinnt (§§30–32). Doch die Tatsache, dass sie unterliegt, bezeugt den qualitativen Wandel, den der Syrer ihr ankreidet, und betont denselben Niedergang der Rhetorik wie Rh. Pr.: Der Syrer merkt zu seiner Verteidigung in Bis Acc. 31 nämlich an, dass die Rhetorik nicht mehr dieselbe Vernunft und anständige Erscheinung aufweise wie damals, als Demosthenes (und in der Folge er selbst) sie heiratete. Jetzt sei sie einer Kurtisane gleich (genau wie die ›leicht zu habende‹ Rhetorik auf dem Gipfel in Rh. Pr. 3 und 6 sowie ihr mit Hetären verglichener Exponent, der Rednerlehrer, in Rh. Pr. 12), kleide und schminke sich übertrieben und ergötze sich an all den Freiern, die auf der Strasse stehen und nach ihr verlangen.120 Auch hier wird also die zeitgenössische Rhetorik (im Gegensatz zur ironischen Darstellung in Rh. Pr. explizit) angeschwärzt, ein positives Rhetorikbild ist jedoch im Vergleich zu Rh. Pr. vorhanden, in der Form der ›alten‹ Rhetorik, die der Syrer einst geheiratet hat und damit in Demosthenes’ Fussstapfen getreten ist (man vergleiche zu affirmativen Aussagen über die ›alte‹, von Demosthenes geprägte Rhetorik auch Lex. 22 und Somn. 12, negativ hingegen Rh. Pr. 9, 10, 17; siehe auch den Kommentar dazu). Eine Parallelität liegt in der Haltung, dass sich der Beruf des Redners unter diesen zeitgenössischen Umständen eigentlich nicht mehr eigne – doch Bis Acc. zeigt hier eine neue Möglichkeit auf: Der Syrer bleibt zumindest rhetorisch-literarisch tätig, er tritt zwar nicht mehr vor Gericht oder zur allgemeinen Unterhaltung öffentlich auf, trägt aber weiterhin zur literarischen Produktion seiner Zeit bei. Auch der Autor Lukian mag zu einer gewissen Zeit seines Lebens das öffentliche Deklamieren aufgegeben haben (aus welchen Gründen auch immer),121 setzt sich aber dennoch immer wieder mit der zeitgenössischen Rhetorik auseinander, und nicht nur mittels vernichtender Tiraden, sondern auch mit Texten über Detail- und Geschmacksfragen des Attizismus, wie beispielsweise in Lexiphanes oder Soloecista. Dadurch, 120 Die Illustration des Niedergangs der Rhetorik durch den Vergleich mit ehrbaren gegenüber hetärenhaften Frauen findet sich bereits bei Dion. Hal. Orat. Vett. 1. Zum hetärenhaften Bild der Scheinphilosophie vgl. Pisc. 12. 121 Vgl. zu den Diskussionen über die mangels ausserlukianischer Belege letztlich nicht zu gewinnende Biographie Lukians Jones [1986] 13–14 (mit der verbreiteten Mutmassung »it is reasonable to infer that he gave up an oratorical career, which he had pursued both as a forensic speaker and as a sophist, and at the age of forty or so devoted himself to literature and especially to the comic dialogue« [14]); ausführlich zur ›Karriere‹ Lukians als Schrifsteller und seiner Tätigkeit innerhalb verschiedener literarischer Genera vgl. Hall [1981] Kap. 1, v.a. 1–16; 35–41; 61f.

1.5 Wegmetaphorik in Lukians ›autobiographischen‹ Schriften

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dass in Bis Acc. die Möglichkeit des Wiederherstellens der ›alten‹ Rhetorik und einer Rückkehr des Syrers zu derselben nicht in Betracht gezogen wird, wird die gegenwärtige historische Situation unterstrichen, die es nicht erlaubt, starr am Alten, Unzeitgemässen festzuhalten, sondern das Kreieren des Neuen, wie der Syrer es tut, fordert;122 hierbei wird ein möglicher zukunftsträchtiger Weg aufgezeigt, wie er auch aus der in Rh. Pr. erzeugten Aporie123 herausführen könnte. b. In Somnium wird über das Thema der Weg-Wahl aus dem Leben des Lukian selbst berichtet.124 Gleich zu Beginn sei vermerkt, dass diese Schrift das sich bis anhin in einer relativ klaren Dichotomie darstellende Bild, das wir aus Lukians Textcorpus – in Verbindung mit den aufgerufenen Subtexten – von ›guter‹ (alter) und ›schlechter‹ (neuer) Rhetorik, langem und kurzem Weg, gewinnen konnten, durcheinander bringt bzw. mit neuen Facetten versieht, so dass Parallelen nur bis zu einem gewissen Grad vorhanden sind. Dies liegt zu einem guten Teil daran, dass in Somnium ein anderer Fokus gewählt ist, indem nicht zwei Varianten derselben τέχνη (der Rhetorik), sondern die höhere Bildung (παιδεία; mit dem Berufsziel des Redners) und das Handwerk der Bildhauerei (ἑρμογλυφικὴ τέχνη) einander gegenübergestellt werden, erstere als Ziel eines kurzen, angenehmen, sauberen Weges, der sich nur mit schönen Gegenständen auseinandersetzt, letztere als Ziel eines langen, mühevollen, schmutzigen Weges körperlicher Arbeit. Der Weg zur Bildung/Rhetorik stellt sich im Vergleich zu Rh. Pr. folgendermassen dar: Die Verwandten des jungen Lukian, der aus bescheidenem Haus stammt, diskutieren zu Beginn der Schrift dessen Möglichkeiten für seinen weiteren Werdegang (§1). Dabei wird der Weg der Bildung verworfen, weil er lange dauere, viel Mühe und auch beträchtlichen finanziellen Aufwand fordere. Bildung wird hier also mit dem langen Weg und seinen typischen Attributen verbunden.125 Ein Handwerk zu erlernen sei nützlicher, und Lukian könne so die Familie bald auch finanziell unterstützen. Nachdem aber Lukian gleich am ersten Arbeitstag als Skulpteur in der Werkstatt seines Onkels kläglich scheitert, hat er nachts einen Traum, worin er vor eine Weg-Wahl gestellt wird: Die Bildhauerkunst und die Bildung präsentieren Lukian je ihre Vorzüge, und er entscheidet sich ohne zu zögern für den einfacheren, rascheren Weg der Bildung, die nämlich damit wirbt, dass er sich bei ihr nicht ununterbrochen abmühen müsse und dabei den122 Darin liegt eine Parallele zu meiner Interpretation von Rh. Pr. 26 (Schlusskapitel), vgl. bereits die Einleitung 1.1.2, Anm. 65 und unten 1.6. 123 Siehe dazu oben die Einleitung 1.2 mit Anm. 76 und 79. 124 Im Folgenden wird, wenn von der literarischen Figur Lukian und nicht vom Autor die Rede ist, der Name kursiv gedruckt. 125 Zumindest aus der Perspektive der ungebildeten Verwandten Lukians; in ›Wahrheit‹ (bzw. im Traum!) wird sich die Sache anders darstellen.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

noch immer einer aus dem gemeinen Volk bleibe, den niemand bewundere oder beneide,126 sondern dass er durch sie – wie wir danach sehen, in einem geflügelten Wagen die Welt überfliegend127 – überall bekannt und bewundert werde, eine prachtvolle Erscheinung, Ehre, Ansehen, Lob, Macht erlange, und dies alles in kurzer Zeit.128 Lukians Entscheidung für den einfacheren Weg bricht mit der Tradition, mit der Wahl des Herakles, und es ergibt sich eine Parallele zu Rh. Pr., zum Vorschlag des Ratgebers und dem detailliert beschriebenen kurzen Weg, was den gewählten Weg ambivalent erscheinen lässt und ihn der rasch erworbenen (Pseudo-)Rhetorik des Rednerlehrers bis zu einem gewissen Grad annähert. Bei genauer Analyse zeigen jedoch folgende zwei Faktoren, dass und wie Lukian die Wegmetaphorik in immer wieder neuen Formen verwendet: Die Parallelen zum (kurzen) Rhetoriklehrgang in Rh. Pr. sind unvollständig (1), und sie müssen im neuen Kontext von Somnium eine andere, zumindest weiter gefasste Bedeutung haben (2). Langer und kurzer Weg sowie alte und moderne Rhetorikausbildung variieren in ihrer Verteilung, und die Texte enthalten immer auch ironische und karikierend-komische Gestaltungsmittel, so dass sich bezüglich Bildung und Rhetorik nicht ein Inhalt als geltender Inhalt herauskristallisiert. Vielmehr wird durch diese auch kontrastiven Darstellungsweisen das Nachdenken der Rezipienten über Bildung (παιδεία) und über ›echte‹ Rhetorik bzw. über den Zustand der zeitgenössischen Rhetorik (vgl. Bis Acc.) gefördert sowie das Nachdenken über den Status der Rhetorik im Vergleich zu handwerklichen Berufen (vgl. Somnium). 126 So wie in Rh. Pr. der lange Weg ausschliesslich aus der Sicht des (parteiischen) Ratgebers dargestellt ist (Rh. Pr. 9–10), erfahren wir auch hier das meiste über den Weg der Bildhauerei aus dem Mund ihrer Konkurrentin (Somn. 9 und 13), die das von der Bildhauerei vorgebrachte Argument, der junge Mann könne in die Fussstapfen von Phidias, Polykleitos, Myron und Praxiteles treten, verächtlich mit der Aussage kommentiert, dass er trotzdem immer ein blosser Handwerker bleibe, vgl. §9: βάναυσος καὶ χειρῶναξ und §13 über das Verharren in sklavischem, niederem Denken: οὐδὲ ἀνδρῶδες οὐδὲ ἐλεύθερον οὐδὲν ἐπινοῶν [...] ὅπως δὲ αὐτὸς εὔρυθμός τε καὶ κόσμιος ἔσῃ, ἥκιστα πεφροντικώς. 127 Hier liegt ein weiteres in Rh. Pr. parallel verwendetes Motiv vor, vgl. §26: τὸ τοῦ Πλάτωνος ἐκεῖνο »πτηνὸν ἅρμα ἐλαύνοντα« φέρεσθαι (der Platonverweis bezieht sich auf Phdr. 246e). 128 Vgl. §§10–13 und §§15–16. Zur Kürze der Ausbildung vgl. §10: οὐκ εἰς μακράν σε διδάξομαι (dieselbe Ausdrucksweise in Rh. Pr. 24) und §11: μετ’ ὀλίγον [sc. χρόνον], beide Formulierungen in Absetzung zum Irrglauben von Lukians Verwandten in §1: χρόνου μακροῦ [...] δεῖσθαι. Illustriert wird diese Kürze und Mühelosigkeit auch durch die Fahrt Lukians im geflügelten Wagen (§§15–16), die gleichzeitig und übergangslos Ausbildung des Neulings und Welttournee eines berühmten Starredners ist. – Die Rede der Paideia steht in Duktus und Vokabular in Bezug zum Wunsch des Schülers nach Weltruhm in Rh. Pr. 1 sowie zur Aufzählung der durch die Rhetorik gewonnenen Güter in Rh. Pr. 3 und 6. Vgl. die wörtlichen Parallelen in Somn. 11: τοιαῦτά σοι περιθήσω τὰ γνωρίσματα ὥστε τῶν ὁρώντων ἕκαστος τὸν πλησίον κινήσας δείξει σε τῷ δακτύλῳ, Οὗτος ἐκεῖνος, λέγων und Rh. Pr. 25: καὶ τὸ δείκνυσθαι τῷ δακτύλῳ τοῦτον ἐκεῖνον τὸν ἀκρότατον ἐν πάσῃ κακίᾳ λεγόμενον [...].

1.5 Wegmetaphorik in Lukians ›autobiographischen‹ Schriften

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Zu (1): Die personifizierte Bildung in Somnium spricht – und dies ist der erste ›Widerspruch‹ zum kurzen Weg in Rh. Pr. – auch über die Inhalte ihrer Ausbildung: Diese werden dem ›alten‹ Weg entsprechen (§10), demjenigen, der Demosthenes und Aischines gross machte (§12), und die Kenntnis aller alten Dichter und Berühmtheiten sowie die Vermittlung eines ›gebildeten‹ Benehmens bis hin zu den Kardinaltugenden bieten. Der vorgeführte Bildungsweg beruht also auf den ›alten‹ Inhalten, ist aber kurz, was ihn uns – vor dem konventionellen Hintergrund – bereits verdächtig bzw. unrealistisch erscheinen lassen muss. Es stellt sich die Frage, wie auf kurzem Weg derartige Bildungsergebnisse erzielt werden können. Hier lässt sich auch erwähnen, dass die vom Rednerlehrer geforderten Charakterzüge (Rh. Pr. 15) in krassem Gegensatz zu denjenigen stehen, mit denen Lukians Ausbildnerin Paideia seine Seele (ψυχή) nach absolvierter Ausbildung schmücken will (§10). Es sind dies Besonnenheit (σωφροσύνη), Gerechtigkeit (δικαιοσύνη), Frömmigkeit (εὐσέβεια), Sanftmut (πραότης), Anstand (ἐπιείκεια), Einsicht (σύνεσις), Ausdauer (καρτερία), die Liebe zum Schönen (τὸ τῶν καλῶν ἔρως) und das Streben nach Erhabenem (ἡ πρὸς τὰ σεμνότατα ὁρμή). Diese Eigenschaften sind es, die Lukian unter den Gebildeten (πεπαιδευμένοι) zu einem berühmten und bewunderten Redner machen werden (§§11–12). Beide Lehrpersonen garantieren ihren Schülern, sie auf einem raschen Weg zu berühmten Sophisten zu machen, verlangen als Voraussetzung (Rh. Pr.) bzw. verkünden als Ergebnis (Somn.) jedoch äusserst unterschiedliche Kenntnisse und Charakterzüge. Wem soll man sich anvertrauen? Zwar sollte Paideia – die Bildung höchstpersönlich – die bestmögliche Ausbildnerin sein, während der Rednerlehrer in seiner schmutzigen Kinädenhaftigkeit eine höchst dubiose Figur ist – und dennoch: Wie lassen sich in kürzester Zeit die alte, klassische Bildung und die platonische Charakterzeichnung verwirklichen?129 Lukians Somnium enthält bezüglich Ausbildungsinhalten eine Gegendarstellung zu Rh. Pr., die ihrerseits stark literarisch durchgestaltet ist, um die gewünschte Absetzung von der ›niederen‹, staubigen, mühevollen Arbeit des Handwerkers zu erreichen, und die Thematik weiter in der Schwebe lässt bzw. sogar weiter verkompliziert, da die gängige Zweiteilung kurzer Weg/moderne (leichte) Ausbildung und langer Weg/alte (anstrengende) Ausbildung aufgebrochen wird (zu ambivalenten Zügen der Hauptfigur Paideia s. gleich). Festgehalten werden kann, dass der Rezipient mit den Inhalten von Rh. Pr. unweigerlich die gegenteilige inhaltliche Ausbildung der Paideia in Somnium kontrastiert und umgekehrt. 129 Gera ([1995] 248f.) weist in einer detaillierten Analyse des Wegwahl-Motivs in Somnium auf ebendiese Differenzen zwischen der Ausbildung der Paideia und derjenigen des Rednerlehrers hin. Sie bemerkt zur Liste der Charaktertugenden (249): »As such the list is impressive, perhaps a little too impressive. Paideia rattles all these virtues off in one breath and seems to be paying lipservice to these ideals.«

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

Zu (2): Hier geht es um die Charakterisierung der Figuren der Bildhauerkunst und der Bildung sowie der Figur des Wählenden selbst: Lukian. Die Bildhauerei ist als schmutzige Handwerkerin mit barbarischer Sprache, die Bildung hingegen als herausgeputzte, in ihrer Geringschätzung des Handwerks elitäre Dame stilisiert,130 und aus Lukians Darstellung der beiden, was das Äussere und das Element der mühevollen Arbeit betrifft, lassen sich die Parallelen Paideia/effeminierter Lehrer in Rh. Pr./Κακία in Prodikos’ Allegorie versus Bildhauerei/Lehrer des langen Weges/Ἀρετή bei Prodikos ziehen.131 Saïd ([1993] 270) betont daher bezüglich des Vergleiches von Rh. Pr. und Somnium: Lucien met donc en œuvre le même cadre, les mêmes références, voire les mêmes expressions que celle où il se livre à une satire impitoyable d’un sophiste, qu’il faut sans doute identifier avec Pollux de Naucratis.132 Si les mêmes clichés peuvent ainsi successivement servir à représenter le même et l’autre, c’est bien la meilleure preuve de la distance ironique que Lucien sait garder à l’égard de lui-même et des autres. 130 Vgl. über die Bildhauerei §6 und §14: ἦν δὲ ἡ μὲν ἐργατικὴ καὶ ἀνδρικὴ καὶ αὐχμηρὰ τὴν κόμην / τὴν ἄμορφον ἐκείνην καὶ ἐργατικὴν ἀπολιπὼν [...]; über die Bildung §6: ἡ ἑτέρα δὲ μάλα εὐπρόσωπος καὶ τὸ σχῆμα εὐπρεπὴς καὶ κόσμιος τὴν ἀναβολήν (wiederkehrende Betonung der kostbaren Kleidung auch in §11 und §16). Vgl. hierzu die Beschreibung der Lehrer in Rh. Pr. 9–11 sowie die Betonung der Wichtigkeit der äusserlichen Ausstattung eines Redners in Rh. Pr. 15–16: ἡ ἐσθὴς δὲ ἔστω εὐανθὴς ἢ λευκή, [...] / σχήματος μὲν τὸ πρῶτον ἐπιμεληθῆναι χρὴ μάλιστα καὶ εὐμόρφου τῆς ἀναβολῆς. 131 Für eine detaillierte Analyse vgl. Saïd [1993] 269f. und Gera [1995] 241–246 mit besonderer Betonung des Umstandes, dass die Ἀρετή bei Prodikos (Xen. Mem. 2,1,22) sowie in späteren Verarbeitungen des Themas (z.B. Philon De sacr. Abel. et Cain. 26) moderat gekleidet und von natürlicher Schönheit ist, während die Κακία im Übermass herausgeputzt, geschminkt und hetärenhaft erscheint, so dass Lukian hier das moderate Äussere überspitzt ins Negative (Hässlichkeit) wendet. Solche Beispiele einer schmutzig-rohen, ja männlichen Darstellung der Ἀρετή (von Lukian benutzt für die Bildhauerei) sind zwar seltener, aber auch vorhanden (Gera verweist auf Silius Italicus Pun. 15,23–31; Justin Apol. 2,11; Philostrat VA 6,10). Vgl. auch Saïd 269: »[...] la Sculpture n’est jamais vue que par les yeux de sa rivale Paideia ou, ce qui revient au même, par les yeux du Lucien d’aujourd’hui, l’intellectuel qui méprise les travaux manuels, l’atticiste qui se moque des fautes de langue et des barbarismes [...] et l’on aperçoit, quand on y regarde de plus près, que l’ironie de Lucien n’épargne pas plus Paideia que sa rivale.« – In einigen Details trägt aber auch die Bildhauerei Züge des Rednerlehrers bzw. seiner Lehre, und zwar in ihrer mangelnden Beherrschung des Attischen und in ihrer raschen Sprechweise (Somn. 8: διαπταίουσα καὶ βαρβαρίζουσα / μάλα δὴ σπουδῇ συνείρουσα; vgl. Rh. Pr. 17: ἂν σολοικίσῃς δὲ ἢ βαρβαρίσῃς und 18: ἔπειγε καὶ σύνειρε καὶ μὴ σιώπα μόνον). 132 Diese Identifikation muss eine Vermutung bleiben, vgl. die Diskussionen bei Hall [1981] 273–278 und Jones [1986] 107f. Zweifelsohne weist der Rednerlehrer allgemeine Züge einer ganzen Gruppe auf, so dass Baldwin ([1973] 71) ihn als »epitome of a Philostratean sophist« bezeichnet. Dass trotzdem eine Einzelperson dahintersteht, ist möglich, aber mangels Hinweisen und Anspielungen unbeweisbar. Seinen Ursprung nimmt der Versuch der Identifikation mit Pollux von Naukratis in den Scholien, welche zu Rh. Pr. 24, wo der Rednerlehrer sich selbst als τοῖς Διὸς καὶ Λήδας παισὶν ὁμώνυμος (»ein Namensvetter von Zeus’ und Ledas Kindern«) bezeichnet, vermerken, dass damit nur Pollux gemeint sein könne (siehe ausführlicher unten den Lemmakommentar zum Werktitel und zu Rh. Pr. 24).

1.5 Wegmetaphorik in Lukians ›autobiographischen‹ Schriften

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Dass Lukian sich einer Person anschliesst, die Ähnlichkeiten mit dem Rednerlehrer und mit der Κακία des Prodikos aufweist, zeigt zweifellos die oben genannte ironische Distanz, die der Autor Lukian gegenüber seinen Texten, selbst wenn er darin als Lukian agiert, einnimmt. Doch darf die Parallelisierung nicht zu weit getrieben werden, denn einschränkend ist zu sagen, dass den Begriffen, die zur Beschreibung der Paideia und der Früchte ihrer – wundersam mühelosen – Ausbildung verwendet werden, noch nichts per se Negatives anhaftet (vgl. §6: εὐπρόσωπος; εὐπρεπής; κόσμιος; §13: τιμή; δόξα; ἔπαινος κτλ.) und die – wenn auch starke – Herausstreichung ihres prunkvollen, sauberen Äusseren im Kontext durch die Kontrastierung mit der schmutzigen, staubigen Handwerkerin bedingt ist. Charakterlich ist dennoch ein gewisser Mangel an dignitas als karikierendes Element auszumachen, indem beide Figuren, auch die Paideia, in ihrem Gerangel um den Schüler zu harten Massnahmen greifen.133 Weiter ist bezüglich der Tatsache, dass Lukian in Somnium einen kurzen, mühelosen Weg mit einem dementsprechend luxuriösen Ambiente vorgestellt bekommt und wählt, die Einbettung der Erzählung nicht zu unterschätzen: Ein Jugendlicher weint sich, nach einer bitteren Enttäuschung am ersten Arbeitstag als Bildhauer, in den Schlaf und träumt von einem anderen Beruf, einem leichteren, angenehmeren, sauberen, der ihn berühmt macht und zu dem ihn eine elegante Dame führt. Und ein grundsätzliches Charakteristikum des Traums ist, dass darin vieles leicht geht, so dass man beispielsweise im Flug die Kenntnisse erhält, die zur Rhetorik nötig sind. Aber eben: Es ist ein Traum.134 Darauf weist Lukian selbst ausdrücklich hin,135 ja er geht sogar davon aus, dass die Zuhörer seine Darlegung genau 133

Vgl. §6: Δύο γυναῖκες λαβόμεναι ταῖν χεροῖν εἷλκόν με πρὸς ἑαυτὴν ἑκατέρα μάλα βιαίως καὶ καρτερῶς· μικροῦ γοῦν με διεσπάσαντο πρὸς ἀλλήλας φιλοτιμούμεναι· [...] ἐβόων δὲ πρὸς ἀλλήλας ἑκατέρα κτλ. 134 Vgl. Saïd [1993] 268. Gera ([1995] 238) weist auf die mögliche Karikierung der zu Lukians Zeit verbreiteten (ernsthaften) Darstellung einer Lebenswahl, die durch einen Traum motiviert worden ist, hin. 135 Vgl. §5: μέχρι μὲν δὴ τούτων γελάσιμα καὶ μειρακιώδη τὰ εἰρημένα· τὰ μετὰ ταῦτα δὲ οὐκέτι εὐκαταφρόνητα, ὦ ἄνδρες, ἀκούσεσθε, ἀλλὰ καὶ πάνυ φιληκόων ἀκροατῶν δεόμενα· ἵνα καθ’ Ὅμηρον εἴπω, θεῖός μοι ἐνύπνιον ἦλθεν ὄνειρος ἀμβροσίην διὰ νύκτα, [...]. Die Hörerschaft wird zu verstärkter Aufmerksamkeit aufgerufen und der Traum bzw. die Nacht in homerischem Sinn als göttlich und ambrosisch bezeichnet. Man könnte darin für die folgende Erzählung eine Anlehnung an die dichterische Gestaltungsfreiheit und daher eine Absetzung von ›Tatsachenberichten‹ sehen. Vgl. auch Lukians kommentierenden Worte über seinen Bericht, dass die Bildhauerkunst, nachdem er sich von ihr abwandte, aus Ärger wie Niobe zu Stein erstarrte (§14): εἰ δὲ παράδοξα ἔπαθε, μὴ ἀπιστήσητε· θαυματοποιοὶ γὰρ οἱ ὄνειροι (»Wenn ihr auch Unglaubliches geschah, seid nicht ungläubig; denn Wundertäter sind die Träume«). Dieser Einschub gilt auch für die folgende Beschreibung der wunderbaren Luftreise, die er mit Paideia unternimmt. Vgl. weiter §18, wo der Traum als μῦθος bezeichnet ist: ἐπιρρωσθήσεται εὖ οἶδ’ ὅτι κἀκεῖνος ἀκούσας τοῦ μύθου [...].

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

deshalb als »Geplapper« einstufen könnten.136 Der Duktus des Textes legt dabei weniger eine Absetzung von der Paideia nahe, wie es bei Prodikos’ Κακία und in der boshaften, durch zahlreiche Invektivenelemente gestalteten Zeichnung des Rednerlehrers (v.a. Rh. Pr. 23–25) der Fall ist; die Darstellungsweise in Somnium intendiert wohl vielmehr die Auseinandersetzung mit Traum und Wirklichkeit: Die gebildete Hörer- bzw. Leserschaft dürfte den Erwerb ihres eigenen Wissens anstrengender erlebt haben,137 bekommt hier allerdings eine hübsche Alternative aus der Sicht eines jungen Mannes vorgestellt, der damals selbst wohlgemerkt noch nicht viel über ›echte‹ Rhetorik wusste.138 Der Sprecher lobt und glorifiziert die Rhetorik und gleichzeitig seinen eigenen Erfolg als Redner, wobei er als Begründung für seine Darstellung die Absicht anführt, junge Leute aus ärmeren Verhältnissen dazu zu ermuntern, den Weg der Bildung einzuschlagen (§18: ὅπως οἱ νέοι πρὸς τὰ βελτίω τρέπωνται καὶ παιδείας ἔχωνται) – auch wenn dieser in den Augen vieler Geld und Zeitaufwand erfordert (vgl. §1). Da Lukian aber nicht in erster Linie Junge, noch Ungebildete anspricht, scheint mir hier das Lob der Bildung und die Gestaltung der wunderbaren Reise zum Erwerb derselben besonders im Vordergrund zu stehen und damit die zwischen Publikum und Redner ablaufende gemeinsame Versicherung des Besitzes des einzig Wichtigen – wobei zu dessen Erwerb grosszügig auch andere ermuntert werden. Will man dennoch Paideias ›Schattenseiten‹ nachgehen, die durch die Parallelisierung mit dem Rednerlehrer und der Κακία des Prodikos angedeutet sind, können folgende Überlegungen von Nutzen sein: Gera ([1995] 250) argumentiert dafür, dass diejenige Rhetorik, die wir vom bereits ›älteren‹ Lukian in Bis Acc. als aufgetakelte Kurtisane vorgeführt bekommen und die sich von der tugendhaften Ἀρετή zur Κακία gewandelt hat, bereits in Somnium unterschwellig in der Figur der Paideia, die den ›jungen‹ Lukian unter ihre Fittiche nimmt, angelegt ist.139 Diese Interpretation könnte 136

Vgl. §17: τί δ’ οὖν ἐπῆλθεν αὐτῷ ληρῆσαι ταῦτα πρὸς ἡμᾶς [...]. Dass das aus der Figurenperspektive Dargestellte sich möglicherweise anders verhalten könnte, ist auch für die Figuren von Rh. Pr. zentral; vgl. zur ›Narrenfigur‹ des Ratgebers unten 1.6, S. 63f. Traum und Narretei kommen einander diesbezüglich recht nahe. 138 Zudem ist die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die Schrift aufgrund ihrer Kürze als Vorrede im Stil von Bacchus oder Prometheus es in verbis gedient haben und dass sich daran eine längere Deklamation angeschlossen haben könnte (vgl. Harmon [1925] 213; dagegen allerdings Nesselrath [1990] 115 Anm. 9), die wiederum, wüssten wir um ihren Inhalt, denjenigen von Somnium beträchtlich erhellen bzw. in ein anderes Licht rücken könnte. Zumindest hätte eine solche nachfolgende Deklamation den attraktiven Effekt, die eigene rhetorische Bildung – angeblich auf dem leichten, mühelosen Weg erworben – vorzuführen. 139 Umgekehrt wird auch die abgewiesene Figur der Bildhauerei in Bis Acc. in der Figur des philosophischen Dialogs (ihrerseits vergleichbar mit dem allzu männlichen Lehrer des langen Weges in Rh. Pr. 9–10) aufgegriffen und vom Syrer zum komischen Dialog transformiert, so dass ihre 137

1.5 Wegmetaphorik in Lukians ›autobiographischen‹ Schriften

55

man weiterführen in dem Sinn, dass die lukianischen Texte das zeitgenössische Umfeld, konkret die moderne rhetorische Auftrittskultur mit ihrer Theatralik, einmal hintergründiger, einmal offener und mit Involvierung des Autors, der selbst – ob als aktiver Sophist oder als Literat – innerhalb dieser Kultur tätig ist, immer mitproblematisieren.140 Doch ist bei Geras Ansatz in zweierlei Hinsicht Vorsicht geboten: Erstens muss bei Formulierungen wie ›älter‹ und ›jünger‹ insofern Klarheit geschaffen werden, als die Autorin scheinbar, wie auch andere Forscher (z.B. Jones [1986] 8–10), die ›biographischen‹ Angaben in Bis Acc. und Somnium auf die tatsächliche Chronologie der lukianischen Schriften und seine reale Biographie ummünzt. Da Somnium aber keine textinternen Möglichkeiten der Datierung bietet, ist davon abzusehen, diese Schrift zeitlich vor Bis Acc. anzusetzen. Was diese Texte dem Rezipienten bieten, ist eine fiktive Biographie, wobei in Somnium ein junger Mann den Beruf des Redners ergreift, den er in Bis Acc. in älteren Jahren wieder aufgibt. Zweitens ist der Versuch der Harmonisierung des Inhalts und damit auch der Suche nach einem ›Programm‹ der lukianischen Schriften ein heikles Feld: Gibt es ein übergeordnetes, in den groben Zügen einheitliches Bild von Rhetorik? Ist also die Negativcharakterisierung durch Show und Theatralik auch in Somnium angelegt? Der grössere Kontext der entsprechenden Schriften als Auslöser für inhaltliche Differenzen darf nicht vernachlässigt werden – in Somnium die Dichotomie des harten Handwerkeralltags gegenüber den Früchten der höheren Bildung sowie die Traumszenerie. Was die besprochenen Texte aber auf jeden Fall zeigen, ist, dass nicht nur durch Intertextualität, sondern auch durch parallele Motivik innerhalb von Lukians Œuvre, die in verschiedenen (ironischen) Brechungen vorliegt, die Thematik Rhetorik und Bildung vielschichtig angegangen und damit vom Publikum eine dauernde Auseinandersetzung mit den Inhalten gefordert wird. c. Abschliessend soll die Schrift Hermotimos, die in ihrer Verwendung der Wegmetaphorik und durch die Bezugnahme auf Kebes’ Tabula die engsten Parallelen zu Rh. Pr. aufweist, untersucht werden. Es handelt sich um ein sokratisch-platonisches Gespräch zwischen dem Stoiker Hermotimos und dem ›Skeptiker‹ Lykinos, der den stoischen Weg zur virtus, der ewig lange dauert und niemals zu Ende gebracht werden kann, verspottet und seinen Gesprächspartner Hermotimos von diesem Weg abbringen will. Hermotimos selbst bezeichnet sich denn auch tatsächlich als einen Stoiker, der immer noch ganz am Anfang, am Fuss des Berges, steht, und bestätigt Rohheit und Hypermaskulinität in gemässigte bzw. der Unterhaltung dienende Bahnen gelenkt wird und daraus die literarische Beschäftigung des Syrers als Kompromiss hervorgehen kann. 140 So schliesst sich der Kreis zu den Forschungen von Whitmarsh, vgl. dazu die Anmm. 118 und 177 sowie unten Einleitung 3.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

damit Lykinos’ kritische Haltung. Wir erinnern uns hier an die Darstellung des Ratgebers in Rh. Pr. bezüglich der Unabsolvierbarkeit des langen Weges.141 Verschiedene Elemente, die in Rh. Pr. von Ratgeber und Rednerlehrer zur positiven Illustration des kurzen Weges herangezogen werden, treten auch in Hermot. wieder auf, werden aber von Lykinos trotz seiner kritischen Einstellung zum langen Weg ihrerseits ebenfalls verworfen: Das Bild des Aornos-Gebirges sowie des Hinunterschauens auf die anderen wird negativ ausgelegt, denn erstens ist der Berg der Tugend tatsächlich unbesteigbar und zweitens ist es hochnäsig, auf die ›Laien‹ wie auf Ameisen hinunterzuschauen – und unangebracht, weil man selbst ebenfalls nie am Ziel angelangen wird (Hermot. 4–5, 21, 76–77; Rh. Pr. 3, 7).142 Das hohe Ziel einer wunderbaren Frau, die einen auf einem Gipfel thronend erwartet, wird von Lykinos im Lauf des Gesprächs als Illusion entlarvt, als schöner Traum (vgl. Somn.), der aber nichts mit dem eigentlichen Leben zu tun hat: Und gerade dieses müsste ein Philosoph vorbildlich führen, das heisst auch, sich um andere bemühen und in der Gemeinschaft etwas bewirken.143 Somit verwirft Lykinos generell das Bild des Gipfelstürmers – sei es in kurzer oder in langer Zeit (§§71–73). Wichtig ist zudem die Haltung des Lykinos gegenüber der Tatsache, dass viele verschiedene Wege gemäss ihren Führern alle in ein und dieselbe Stadt der virtus führen (parallel zu Rh. Pr.): Das ist unmöglich, denn nur ein Weg kann wirklich an den Ort führen, so dass die Wahl ein grosses Unsicherheitsmoment beinhaltet und alle Lehrer deshalb ihren Weg anpreisen und die andern schlecht machen (§§25–27). Dies ist ein Gedankenmodell, das man auch auf Rh. Pr. anwenden könnte, woraus folgende Schlüsse zu ziehen wären: 1. Es könnte am Ende des langen Weges doch eine andere, ›echte‹ Rhetorik vorhanden sein. 2. Genau wie die Philosophen einer Lehre alle andern, ohne sie wirklich zu kennen, schlecht machen, so werden in Rh. Pr. die Lehrer des langen und des kur-

141

Vgl. Rh. Pr. 3. Zum Bild der Ameisen im Zusammenhang mit dem philosophischen ›Blick von oben‹ vgl. Hadot [1991] 131 (stoisch geprägt z.B. bei Seneca NQ praef. 7–10). 143 Vgl. zu den Dogmatikern und Theoretikern, deren Lebensführung durch ihre Lehre aber nicht besser wird, auch Symp. 34. Kernpunkt all dieser negativ dargestellten Elemente ist, dass es hier um die Thematik Philosophie geht, wo Praxis und Theorie immer wieder miteinander in Konflikt geraten können, so dass Lykinos den (theoretischen) Weg zur Philosophie/Eudaimonie für unabsolvierbar hält, da sozusagen ›der Weg das Ziel‹ ist. Er spricht dies in Hermot. 79 deutlich aus: Die Vollkommenheit (ἀρετή) liegt in der Tat, dass man nämlich gerecht, weise und tapfer handle. Man kann sich also nicht auf abgelegene Bergeshöhen begeben, sondern muss sich mit der Umwelt auseinandersetzen. Die Philosophen sollen demnach auch das richtige Handeln vorleben und weitergeben und nicht bloss reine Theorie, wie es der Professor des Hermotimos tut (vgl. dazu Möllendorff [2000a] 205ff. und Hall [1981] 173). – Dass Tugend in den Handlungen der Menschen zu verwirklichen ist und somit kein langer (theoretischer) Weg als Vorspann zum Philosophieren nötig ist, wird auch im Kynismus vertreten; vgl. dazu die Einleitung 1.3, S. 41f. 142

1.5 Wegmetaphorik in Lukians ›autobiographischen‹ Schriften

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zen Weges in einer überzeichneten Version ihrer Charakteristika (Hypermaskulinität / Effeminiertheit) karikiert.144 Sowohl Hermot. als auch Rh. Pr. weisen nach der Destruktion der Wegperspektive kein positives Gegenbild auf. In Hermot. wird deutlich, dass kein sicheres Wissen über den richtigen Weg möglich ist und die Plackerei im Sinn der Dogmatiker keinen Nutzen hat. Die Wegmetaphorik wird angewendet, um sie als unbrauchbar abzutun. Ähnlich wie es beim Scheinliteraten Lexiphanes der Fall ist (Lex. 21f.), wird Hermotimos empfohlen, umzulernen und zuallererst einmal seinen Dünkel des Theoretikers abzulegen (Hermot. 84). Es erfolgt allerdings nur der Hinweis auf eine andere Art des Philosophierens, auf die Vorbildfunktion des βίος eines Idealphilosophen, eine konkrete Belehrung des Lykinos fehlt. Parallel dazu wird in Rh. Pr. zwar ein Weg empfohlen, der allerdings über die Ironisierung der Aussagen derart ins Lächerliche gezogen wird, dass er ebenfalls unbrauchbar wird. Und die Tauglichkeit der Alternative des langen Weges wird aus der Figurenperspektive in der Schwebe belassen.145 In anderen, thematisch verwandten Schriften Lukians wird zwar nirgends eine zusammenhängende Lehre entworfen, doch finden sich Passagen, in welchen sich die Sprecherfiguren im engeren Sinn belehrend verhalten und konkrete Perspektiven aufzeigen: Lykinos skizziert Lexiphanes’ Heilung durch ›Umlernen‹ exakt, so dass dessen Chancen, weiterhin beim gleichen Beruf zu bleiben, besser stehen, als es bei Hermotimos der Fall ist.146 Die Lykinos-Figur äussert sich auf dem Gebiet der Rhetorik und Literatur also teilweise mit Ansätzen einer Lehre, während das praxisorientierte Philosophenbild (wohl nicht von ungefähr, da es sich als ›Lebenshaltung‹ nicht gut theoretisch darstellen lässt) in Lukians Schriften mit einem βίος des Idealphilosophen Demonax (und Nigrinos) illustriert wird. Da die Figur bzw. Maske des Lykinos sowohl in Hermotimos als auch in Lexiphanes zentral ist, soll hier ein kurzer Exkurs angehängt werden, der auch im Zusammenhang mit dem unter 2.2 Behandelten (Bildung und Unbildung in Lukians Rhetorum praeceptor und weiteren Schriften) von Bedeutung sein wird. Lykinos agiert in insgesamt 11 Dialogen Lukians,147 die

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Solche Extreme werden von Lukian in Salt. 82 thematisiert, nämlich das Zustandekommen von effeminierter oder aber männlich-roher, ja tierischer Darstellungsweise sowohl in Reden als auch in der Pantomime. 145 Vgl. dazu unten die Einleitung 1.6.c) und d). 146 Siehe zum ›Lernprogramm‹ des Lexiphanes den Kommentar zu §17: ἀπ’ ἐκείνων ἐπισιτισάμενος. Vgl. zu den Schriften Sol. und Adv. Ind. auch unten 2.2. 147 Neben Hermotimos in Lex., Hes., Kyn., Salt., Nav., Im., Pr. Im., Symp., Eun., Am. Zur unsicheren Namenszuweisung in Hes. und Kyn., weil nicht im Text selbst vorhanden, siehe Möllendorff [2000b] 556 Anm. 134. Die Echtheit der Schrift Amores ist umstritten, und auf ihren Inhalt wird im Folgenden nicht weiter eingegangen; die Züge der Lykinosfigur – sie leitet das platonisch-

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

in Ton, Thematik und Position der Gesprächspartner differieren. Dennoch lassen sich zwei Grundmuster festmachen, einerseits das Gespräch zwischen Gebildeten ›gleicher Stufe‹, die sich gemeinsam über etwas lustig machen (Eun., Symp.) bzw. ihre (v.a. sprachlich-literarische) Bildung zur Schau stellen (Im., Pr. Im.), andererseits das Gespräch zwischen Lykinos und anderen Gebildeten ›niedererer Stufe‹ (bzw. mit abweichenden Ansichten), die Lykinos bezüglich eines Themas herausfordert oder von denen er herausgefordert wird (Lex., Hermot., Salt., Hes., Kyn.).148 Lykinos wird sowohl in Hermot. als auch in Lex. und Eun. als Sokrates stilisiert; speziell als ›sokratische‹ Gespräche mit dem Ziel der Entlarvung unethischen oder unangemessenen Verhaltens charakterisiert sind die Schriften Hermot., Lex., Symp. und Nav.149 Eine Grundcharakterisierung der Lykinosfigur findet sich in Salt. 2, wo der Gesprächspartner, der Philosoph Kraton, welcher Pantomime für eine üble τέχνη hält, Lykinos’ Begeisterung dafür tadelt, da sie nicht zu einem ἀνὴρ [...] παιδείᾳ σύντροφος καὶ φιλοσοφίᾳ τὰ μέτρια ὡμιληκώς, ja überhaupt zu einem ἀνὴρ ἐλεύθερος passe. Wir können uns Lykinos als einen im Bereich Literatur und Rhetorik gut gebildeten Mann vorstellen (dies zeigen v.a. Lex., Im., Pr. Im., Salt., Hes.), der ebenfalls eine Ahnung von Philosophie hat, diese aber nicht professionell betreibt (und daher auch keine konkreten Lehren verficht). Lykinos geht im Gespräch des zweiten Grundmusters mit Ausnahme des Dialogs Kyn. immer mit der stärkeren Position oder mit dem letzten Wort aus der Auseinandersetzung heraus,150 wobei manchmal eine Karikierung angedeutet ist, z.B. indem er den dem Tanz abgeneigten Philosophen fast zu leicht vom Gegenteil überzeugt oder in Nav. zwar das letzte Wort hat, aber als Spielverderber, der für gedankliche Luftschlösser überhaupt nicht offen ist, lächerlich wirkt und mit seiner Stimme der Vernunft hier für einmal fast zu weit geht.151 Allein in der Schrift Kynikos übernimmt der Kyniker bald nach Gesprächsbeginn vollends die Führung im sokratischen Dialog und lässt Lykinos keine stichsokratisch angehauchte Streitgespräch über die hetero- und homosexuelle Liebe – stimmen allerdings mit denjenigen in den anderen Dialogen überein. 148 Etwas aus der Reihe fällt Nav., wo Lykinos zwar anderer Meinung ist als die übrigen Gesprächspartner, diese aber nicht als direkt ›Unterlegene‹ charakterisiert sind (s. dazu auch unten). 149 Dass nicht nur die Handlungs- und Sprechweise des Lykinos auf Sokrates verweist, sondern auch ganz konkret die Wahl seines Namens, erklärt Möllendorff [2000b] 556: »Es steht ausser Zweifel, dass Lukian [...] auf die Genealogie des Amphitheos in Aristophanes’ Acharnern [47–50] anspielt, der sich als Enkel der Phainarete und Sohn des Lykinos bezeichnet. Schon van Leeuwen [1901] ad Ar. Ach. 46 hat gesehen, dass Lykinos als Sohn der Phainarete mit Sokrates gleichzusetzen ist [...].« Siehe zu dieser Stelle (bes. zur umstrittenen Identifikation des Amphitheos mit dem Sokratesschüler Hermogenes) auch die Kommentare von Starkie [1909] 21 und Olson [2002] 83f. 150 Deshalb spreche ich in dieser Kategorie von Gebildeten ›niedererer Stufe‹: Sie werden jeweils von Lykinos belehrt bzw. müssen dessen bessere Argumente hinnehmen. 151 Vgl. dazu auch Robinson [1979] 28f. und 31f.

1.5 Wegmetaphorik in Lukians ›autobiographischen‹ Schriften

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haltigen Argumente übrig, wobei er sich ähnlicher Argumentationen bedient, wie sie sonst Lykinos bei seinen Gegnern anwendet. Dadurch erlebt Lykinos am eigenen Leib, was die Dialogpartner durch seine sokratische Befragung jeweils erdulden müssen.152 Damit ist angedeutet, dass auch Lykinos nicht immer allwissend auftritt und seine Figur nicht immer nur ernsthaft aufzufassen ist, dennoch bringt er grundsätzlich aufgrund seiner Bildung meist überlegenswerte Argumente vor, die ein Gebildeter, wenn er sie liest oder im Gespräch hört, selbst beurteilen mag, wobei das Urteil jedoch aufgrund der Anlage der Dialoge (Miteinbezug-Strategien) oft zugunsten der Position des Lykinos ausfallen dürfte (z.B. in Lex., Symp., Sol.; in letzterem ist die Figur allerdings in der latinisierten Form Lukianos genannt). Auf Lukian umgedeutet, der sich diese Maske überstreift, heisst das, dass er unter Gebildeten gleichen Ranges durchaus herausforderbar ist, auch einmal den Kürzeren ziehen könnte, meist jedoch Scheingebildete und Lebenslügen entlarvt und seine ›Freunde‹ damit bestens unterhält.153

1.6 Die Wegmetaphorik in Rh. Pr.: Nihilismus der Rhetorik? Der Vorwurf des Nihilismus haftet Lukian seit Ende des 19. Jahrhunderts an, als ihm durch Jacob Bernays im Rahmen einer Abhandlung zur Schrift Peregrinos jegliche philosophische Tiefe abgesprochen worden ist.154 Es ist vor allem Lukians Spott über Philosophisches, wie er auch in Peregrinos zutage tritt, welcher insofern die Kritik der Forscher provoziert hat, als der Autor selbst nichts Besseres wisse, nichts Eigenes formuliere.155 Diese Kritik geht mit der Geringschätzung der literarischen Produkte aus der Epoche der Zweiten Sophistik und mit der Einstufung der Satire als »nihilistisches Spottvehikel«156 Hand in Hand und erstreckt sich somit über Lukians gesamtes Werk, so dass auch sein Rhetorikspott dem Verdikt des Nihilismus anheim fällt. 152 Diese Niederlage des Lykinos in Kyn. hat dazu geführt, dass die Schrift als pseudolukianisch eingestuft worden ist, was allerdings einer schlüssigen Argumentation entbehrt. Lykinos ist hier – sei es von Lukian selbst (zur allerdings unsicheren Namenszuweisung s.o. Anm. 147) oder tatsächlich von einem Nachahmer – wohl bewusst für einmal die andere, unterlegene Rolle zugedacht worden. 153 Vgl. zur ›Maskierung‹ Lukians auch unten 3.3, S. 143. 154 Die im Jahr 1879 erschienene Abhandlung trägt den Titel Lucian und die Kyniker; neben dem Vorwurf des (philosophischen) Nihilismus hatte Bernays’ Studie aber auch den positiven Effekt, dass Lukians Peregrinos durch die Deutung als nicht gegen das Christentum, sondern gegen den Kynismus verfasste Satire wieder in den Schulkanon aufgenommen wurde; vgl. Baumbach [2002] 188–194. Zur Verschiebung der kritischen Debatte um Lukians Schriften von den theologischen zu den altertumswissenschaftlichen Kreisen hin vgl. Baumbach [2002] 200. 155 Vgl. zu entsprechenden Forschungsmeinungen (u.a. Wilamowitz, Hirzel, Helm) die Zusammenstellung und Auswertung von Zitaten bei Baumbach [2002] 201–206. 156 Vgl. Baumbach [2002] 216.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

Wie aus dem vorangehenden Kapitel deutlich geworden ist, sind Lukians Schriften über Rhetorik in ihrer Gestaltung vielfältig und im Rahmen einer breiteren Auseinandersetzung des Autors mit den in seinem zeitgenössischen Umfeld agierenden Sophisten und Gebildeten, ja auch der eigenen Tätigkeit (vgl. unten 1.7), zu sehen. Für die Satire Rh. Pr. ist bisher festgestellt worden, dass sie ein pessimistisch-abwertendes Bild der Rhetorik zeichnet (Niedergang der Rhetorik, Lächerlichkeit der ›neuen‹ und Untauglichkeit der ›alten‹ Rhetorik), das stark von Ambivalenz getragen ist, und den Rezipienten in eine Aporie führt, die er selbst zu bewältigen hat (vgl. 1.2). Diese durch die Anlage der Schrift erzeugte Offenheit ist jedoch nicht mit Nihilismus gleichzusetzen: Über die Bedeutung der intertextuellen Bezüge als Kontrastpunkte in Rh. Pr. ist bereits gesprochen worden (vgl. 1.2– 1.4). Für die textinterne Gestaltung von Rh. Pr. und für die in der Schrift agierenden Figuren sind zudem folgende vier Punkte zentral, die alle gleichermassen einen Einfluss auf den – vermeintlich ›nihilistischen‹ – Inhalt haben: a) Der gebildete, vielleicht selbst rhetorisch tätige Rezipient weiss, dass neben der in Rh. Pr. beschriebenen Rhetorik eine andere ausser Acht gelassen wird, die ebenfalls existiert, die aber durch die konstant verwendeten Elemente der Karikatur und Ironisierung des Rhetorischen nicht – oder zumindest nicht positiv – thematisiert wird. Denn die Rhetorik, die man sich auf dem schnellen Weg ergattert,157 reicht keinesfalls aus, dem einen, speziellen Charakteristikum der Unterhaltung der Zweiten Sophistik mit seinen hohen Anforderungen zu genügen: der Stegreifrede.158 Wer sich also als Kenner der Branche die Empfehlungen in Rh. Pr. zu Gemüte führt, muss davon ausgehen, dass ein so ausgebildeter Jungredner auf der Bühne kläglich scheitert, wenn ihm das Publikum ein Thema vorgibt und er zu deklamieren beginnt. Eine andere, gewichtigere und ›echte‹ Rhetorik ist daher im Hintergrund des Textes immer auch präsent, nicht zuletzt in der Aufzählung all jener Tricks, die es dem Sophisten erlauben sollen, den Anschein einer echten Stegreifrede (und damit einer im konventionellen Sinn ›guten‹ Rhetorik) zu wahren;159 vgl. zum Vokabulargebrauch Rh. Pr. 16–17 und zum

157

Und diese Rhetorik kann auf dem langen Weg ebenfalls angestrebt werden, denn auch ein gut ausgebildeter Redner könnte, wenn er wollte, um des Ruhmes wegen eine reine Show auf niederem Niveau bieten. 158 Wie schwierig es tatsächlich war, eine Stegreifrede zu halten, ist nicht leicht zu bestimmen. Angemerkt sei hier, dass auf jeden Fall vieles eine Sache des Trainings war und alle erforderlichen Elemente in den Rhetorikschulen tagaus, tagein eingeübt wurden, dass aber gerade mangelndes Training den Kernpunkt der Ausbildung des Rednerlehrers ausmacht, da der leichte Weg derart schnell ans Ziel führt. 159 Vgl. zur auffällig häufigen Verwendung des Verbs δοκεῖν und des Substantives δόξα bereits Rh. Pr. 1: Ἐρωτᾷς, ὦ μειράκιον, ὅπως ἂν ῥήτωρ γένοιο καὶ τὸ σεμνότατον τοῦτο καὶ πάν-

1.6 Die Wegmetaphorik in Rh. Pr.: Nihilismus der Rhetorik?

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Inhalt Rh. Pr. 18 und 20. Ein grosser Teil der Tricks zielt allerdings vor allem auf äusserliche Showelemente ab, zu deren Erwerb es keines grossen Aufwandes bedarf und womit ein Ersatz für die konventionellerweise geforderten v.a. sprachlich-attizistischen Elemente geschaffen werden soll, um auf diese Weise die Beeindruckung hauptsächlich des breiten, ungebildeteren Publikums zu garantieren. Dadurch, dass die Karikaturen der Lehrer des langen und des kurzen Weges beide zu einer ›falschen‹ Rhetorik gelangen, wird Raum geschaffen für eine – allerdings unbehandelt bleibende – dritte Art von Rhetorik, die sich irgendwo zwischen Tradition, Konvention und Modernität positioniert. Ein wichtiges, bereits besprochenes Argument für diese hintergründig vorhandene ›gute‹ Rhetorik liegt in Lukians Verwendung von Subtexten, v.a. denjenigen platonischen Dialogen, die Wegmetaphorik und/oder Rhetorik betreffen, sowie Kebes’ Tabula. Wie bereits dargelegt dienen die Verweise auf diese Texte, die eine andere Rhetorik bzw. einen anderen Weg kennen und fordern, als (affirmative) Kontrastfolien, wobei das Nachdenken über eine Rhetorik, die Zeitgemässes (neuer Weg) und Traditionelles (alter Weg) vereinen kann,160 dem gebildeten Rezipienten überlassen wird. Dieser Umstand mag dadurch bedingt sein, dass der Text Fragen des Publikumsgeschmacks und des Erwartungshorizontes des Publikums kritisch aufwirft: Die Rezipienten bestimmen letztlich selbst, welche Rhetorik publikumswirksam ist und damit die Bezeichnung ›gute‹ Rhetorik verdient.161 b) Das beabsichtigte Ziel des μειράκιον, Befriedigung seines Prestigestrebens, hat einen Einfluss auf die gesamte Gestaltung der Schrift und lenkt die Aussagen über die Ausbildung des jungen Mannes. Wäre die Eingangsfrage an den Ratgeber anders gestellt (z.B. »Was ist die wahre Rhetorik?«), so könnten parallel zu Prodikos’ und Kebes’ Darstellung zwei Wege präsentiert werden, deren Ziel ein verschiedenes ist, nämlich eine Pseudound eine echte Rhetorik. Damit wäre ein affirmatives Gegenbild zur verspotteten Pseudorhetorik vorhanden, welches auf dem langen Weg zu erreichen ist. Doch die Frage des jungen Mannes weist in eine andere Richtung: Er will weltberühmt werden und dies (was ihm zumindest der Ratgeber unterstellt) so rasch als möglich und mit möglichst grossem Profit (vgl. §6). Der Ratgeber, dessen Charakterisierung wir uns gleich näher ansehen werden, kommt diesem Wunsch (scheinbar) bereitwillig nach und äussert sich nie explizit, sondern nur in der Ambivalenz seiner Darlegung (vgl. v.a. §26) τιμον ὄνομα σοφιστὴς εἶναι δόξεις· [...] περισπούδαστον ἄκουσμα τοῖς Ἕλλησι δοκοῦντα. Vgl. auch Rh. Pr. 3, 6, 8, 22–26. 160 Mit genau dieser Thematik von Neuheit und Tradition und deren Vereinung im Rahmen der rhetorischen Tätigkeit befassen sich auch Lukians προλαλιαί (v.a. Prom. Es und Zeuxis). Vgl. dazu Möllendorff [2006b] und unten 1.7. 161 Siehe dazu unten d).

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

kritisch über die neue ›Moderhetorik‹. Er hilft, soweit er kann, und empfiehlt den jungen Mann an die Karikatur eines typischen Vertreters des kurzen Weges. Natürlich bewirkt der als Komödie gestaltete Auftritt des Rednerlehrers eine konstante Hinterfragung der präsentierten Pseudorhetorik, ein affirmatives Gegenbild wird aber im Text selbst – passend zum Genre der Satire – nicht erstellt. c) Der wohl wichtigste Punkt, was Gestaltung und Inhalt von Rh. Pr. anbelangt, liegt in der Stilisierung der Figuren, die den Inhalt vermitteln; sie wirkt auf diesen zurück: Der Ratgeber, der vom jungen Mann offenbar als kompetenter Rhetoriker angegangen worden ist, lässt (vorerst) kein gutes Haar am langen Weg, den er selbst einst gegangen ist (§8), empfiehlt, sich nur dem kurzen zuzuwenden und rasch zum Ziel zu kommen (§3 und §8), wendet sich schliesslich gegen das ganze Business und verabschiedet sich vom Beruf des Rhetorikers (vgl. §26; zuvor schon dadurch angedeutet, dass er den Schüler nicht mehr selbst ausbildet, sondern an den Rednerlehrer überweist). Die Figur gibt trotz ihrer Eitelkeit und Unbescheidenheit162 eine grosse Resignation und Frustration über den Beruf und ihren eigenen Erfolg in der Branche vor, sieht angeblich keinen Sinn mehr darin und stellt ihr eigenes Licht unter den Scheffel,163 da es nur noch von Pseudovertretern der Rhetorik wimmle, die es aber offensichtlich viel weiter bringen (§26).164 Dahinter steht die Anprangerung eines Niedergangs,165 die allerdings durchwegs humoristisch gehalten und in eine komplexe satirische Schrift mit teilweise widersprüchlichen Passagen verpackt ist. Die zentralen, aber immer nur ganz kurz aufscheinenden Widersprüche aus dem Mund des Ratgebers sind erstens die uneinheitlichen Aussagen über die nötige Anstrengung, um auf den Berggipfel zu gelangen (§2: πονῆσαι πολλὰ καὶ ἀγρυπνῆσαι; §3: προπονῆσαι ist unnötig, οὐ καμών), und zweitens die Unklarheit darüber, inwieweit der lange Weg noch immer beschritten wird (§3: Die andern führen ihre Zöglinge auf den steilen Weg, man kann sie von oben herab hinaufkraxeln sehen; §8: Es gibt nur noch alte, verblasste Spuren auf dem steilen Weg; vgl. auch §§9–10). Man kann solche Unstimmigkeiten und Ambiva162

Vgl. §3 (Absetzung von anderen Rhetorikern): ἐπεὶ οὐδὲν ἂν διεφέρομεν τῶν ἄλλων; τό γε παρ’ ἡμῶν ἐξαίρετόν σοι τῆς συμβουλῆς τοῦτό ἐστιν [...]. Siehe auch den Kommentar zu §1: οὐκ εἰδὼς ὅθεν ἂν ταῦτα ἐκπορίσαιτο. 163 Vgl. §26: ἀγεννὴς γὰρ καὶ δειλός εἰμι. 164 Vgl. bereits §8: εὐμοιρίᾳ τῆς αἱρέσεως τῶν λόγων καὶ ὁδῶν. – Weiterführend und hinsichtlich des historischen Hintergrundes interessant ist die Studie von Cribiore [2007] über Libanios mit einem Kapitel über den langen und den kurzen Weg zur Rhetorik in der Spätantike, das Lukians Rh. Pr. zum Ausgangspunkt nimmt. Vgl. über die Verhältnisse zu Libanios’ Zeit S. 182: »The short road to rhetoric was well trodden. It was a fairly efficient way to obtain the degree of knowledge that enabled people to acquire the reputation of being educated and the ability to function in the curial administration, advocacy, and provincial government.« 165 Vgl. zum thematisierten Niedergang der Rhetorik in Lukians Bis Acc. auch oben 1.5.a.

1.6 Die Wegmetaphorik in Rh. Pr.: Nihilismus der Rhetorik?

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lenzen noch in diversen anderen Details, vor allem im Vokabulargebrauch finden (Beispiele siehe unten). Die ambivalente Sprechweise des Ratgebers gipfelt im Schlusskapitel §26: Statt dass der Ratgeber seinen widersprüchlichen Worten zum Schluss eine Auflösung folgen liesse, wird hier zwar durch die Distanznahme zum Rednerlehrer und die Abwertung des Sieges der neuen ›Moderhetorik‹ der kurze Weg in immer stärkerer Deutlichkeit verworfen, der lange Weg jedoch im Gegenzug trotzdem nicht explizit empfohlen; lediglich hinsichtlich seines Bildungsniveaus wird ihm eine Vorrangstellung eingeräumt. Die im Rezipienten infolge der Konvention geweckte positive Erwartung an den langen Weg, welche der Ratgeber erschüttert hat, wird also auch hier nicht mehr vollständig eingelöst. Vielmehr wird die Suche nach einer neuen, erfolgversprechenden Lösung in den Vordergrund gerückt.166 Der Ratgeber beugt sich, trotz seines abschliessenden Seitenhiebes gegen den kurzen Weg, der Entwicklung der neuen Pseudorhetorik zur Befriedigung des Prestigestrebens junger Männer und hat nicht die Stärke eines Sokrates, seinem Zögling das Beste – unabhängig davon, ob es das Schnellste und Lukrativste, auch das von der Masse Geschätzteste, ist – zu empfehlen. Diese Haltung macht ihn zu einem karikierten ›philosophischen Dialogpartner‹.167 Die illustrierende Geschichte mit dem Händler aus Sidon (§5) gibt durch die Parallelisierung der Figuren Ratgeber/Händler bzw. Schüler/Alexander einen zusätzlichen wichtigen Hinweis zur Charakterisierung des Ratgebers, wodurch die oben gemachten Bemerkungen nur eingeschränkt gelten würden, da der Ratgeber weniger als karikierte Figur, sondern als Narrenfigur, der mit seinem Schüler, aber auch mit den Rezipienten sein Spiel treibt, interpretierbar ist, wobei seine widersprüchlichen Aussagen dann als typisches Element seiner Narrenhaftigkeit erklärbar sind. Sidon galt nämlich in der Antike neben Abdera und Kyme als Hochburg der Narren.168 Narren können paradoxe und unglaubliche Dinge aussprechen, die – was niemand so genau weiss – wahr oder falsch sein können, denen aber in der Regel eher kein Glauben geschenkt wird, genau wie es bei Alexander und dem Händler aus Sidon der Fall ist. Indem sich der Ratgeber mit einem Sidonier vergleicht, müssen wir als Leser in Betracht ziehen, dass der Wahrheitsstatus seiner Aussagen zumindest höchst umstritten ist und dass er und der Rednerlehrer mit der unglaublichen Darstellung des kurzen Weges ein Spiel treiben, den Schüler und uns auf die Probe stellen, uns zum Nachdenken bewegen – inbesondere über die Diskrepanz von ›altem‹, langem Weg und 166

Vgl. dazu auch die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §26. Vgl. zur Karikatur des Sokrates bereits oben 1.3. 168 Vgl. Thierfelder [1968] 16. Siehe dazu den Kommentar zu §5, auch zu etwaigen Schwierigkeiten der Interpretation des Sidoniers als Narren. 167

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

modernem (in seiner extremen Ausprägung natürlich überzeichnetem) Zeitgeschmack. So wäre der Ratgeber eine narrenhafte Maske Lukians, schillernd und unstet auch dadurch, dass er neue und alte Rhetorik gleichermassen ambivalent erscheinen lässt und sich selbst einerseits unbescheiden und eingebildet gibt, zugleich aber auch mit frustrierten und resignierten Zügen ausgestattet ist. Unterstützt wird diese Deutung durch zahlreiche Ambivalenzen im Vokabular des Ratgebers (vgl. z.B. die zur Illustration der [hyper-]maskulinen Figur des Lehrers des langen Weges verwendeten Begriffe ὑπόσκληρος, ἀνδρώδης, ἐγρηγορώς in §9; das einmal positiv, einmal negativ aufgerufene Kronoszeitalter in §8 und §10; die Bezeichnung des Rednerlehrers als γεννάδας und seiner selbst als ἀγεννὴς καὶ δειλός in §26; nähere Angaben jeweils im Kommentar). Für die Figur des Rednerlehrers, an die der Ratgeber das Wort abtritt bzw. in deren Rolle er schlüpft,169 gilt im Punkt des Narrenhaften dasselbe, was bereits über den Ratgeber gesagt worden ist.170 Ihre Karikatur ergibt sich zudem aus folgenden Faktoren: Da der Rednerlehrer grundsätzlich absolut konventionswidrig spricht und alles empfiehlt, was entweder der attizistischen Sophistik und der παιδεία ihrer Exponenten widerspricht171 oder aber auch in jeglicher Form menschlichem Anstand und Verhaltensregeln zuwiderläuft,172 erzeugen seine praecepta eine ununterbrochen komische und vor der Kontrastfolie der Konvention ironische Wirkung, denn genau das Gegenteil des Empfohlenen ist man sonst über Rhetorik zu hören gewohnt und wird von den Gebildeten (πεπαιδευμένοι) vertreten.173 Zur Ironisierung der Aussagen des Rednerlehrers ist folgende Präzisierung wichtig: Auf der Oberfläche des Textes vertritt der Rednerlehrer seine Lehre mit voller Überzeugung,174 spricht also nicht selbst ironisch, sondern der (anti169

Vgl. die Bescheidenheitsfloskel des Ratgebers in §12, die aber gleichzeitig impliziert, dass er auch weiterhin – in einer neuen Rolle – präsent ist: γελοῖον γὰρ ὑπὲρ τοιούτου ῥήτορος ἐμὲ ποιεῖσθαι τοὺς λόγους, φαῦλον ὑποκριτὴν ἴσως τῶν τοιούτων καὶ τηλικούτων, μὴ καὶ συντρίψω που πεσὼν τὸν ἥρωα ὃν ὑποκρίνομαι (vgl. auch den Kommentar zu §12: ἐμὲ ποιεῖσθαι τοὺς λόγους). 170 Vgl. ausserdem zum Ratgeber und Rednerlehrer als komische Figuren, denen ganz allgemein eine gewisse Narrenhaftigkeit inhärent ist und deren Aussagen zumindest nicht für bare Münze genommen werden dürfen, die Einleitung 1.8 zu Aristophanes. 171 Vgl. dazu v.a. den Kommentar zu §§9–10 und §17. 172 Vgl. dazu v.a. den Kommentar zu §15 und §§23–25. 173 Vgl. allgemein zur Ironie in Lukians Schriften Bompaire [1958] 588–593. Zur Komik bzw. zum komischen Lachen als »Wahrnehmung der Abweichung von einer Norm« vgl. Möllendorff [2002] 2. 174 Diese Überzeugung, wie der Rednerlehrer freimütig zugibt, kommt aus einem ganz pragmatischen Beweggrund, den er parallel zum Ratgeber formuliert (vgl. §§3, 8, 10, 14–15, 17, 20): Heutzutage ist das der rascheste, angenehmste und erfolgreichste Weg zum Stardasein – mehr Anstrengung ist nicht nötig, warum sollte man dann mehr investieren?

1.6 Die Wegmetaphorik in Rh. Pr.: Nihilismus der Rhetorik?

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ke) Rezipient empfindet die Darlegung als Ironie angesichts seines eigenen kulturhistorischen und literarischen Umfeldes. Wenn im Kommentar von ironischen Empfehlungen des Rednerlehrers die Rede ist, dann ist diese Art der Ironisierung gemeint. An verschiedenen Stellen im Text wird diese Ironie auch durchbrochen, indem die tatsächliche Negativwirkung solcher Art von Sophistik auf das Publikum zur Darstellung kommt,175 wodurch wiederum die ironische Wirkung des umliegenden Textes weiter gesteigert wird. Akzeptiert man die Deutung von Ratgeber und Rednerlehrer als närrische Figuren, so können deren Aussagen auch als direkte Ironie der Sprecher verstanden werden, welche die Rezipierenden durch ihre absurd-überzeichnete Darstellung zum Lachen bringen. Da das Element des Närrischen, das von der Figur des Sidoniers ausgeht, letztlich eine Theorie bleiben muss176 und der Inhalt der Ironie – die moderne Rhetorik im Kontrast zur alten – in beiden Formen der Ironisierung derselbe bleibt, ist vor allem die zuerst genannte Form der Ironie zentral. d) Eng verknüpft mit der oben beschriebenen Resignation des Ratgebers und des Niedergangs der Rhetorik ist als weiterer Faktor zu erwähnen, dass beides im Geschmack des Publikums begründet liegt, welches genau diese neue Art von Vorträgen hören will, so dass der weniger showorientierten Rhetorik nicht derselbe Erfolg beschieden ist.177 Ginge es allein um höchste Qualität und würde diese auch vom Publikum gefordert, dann verhielte sich die Sache anders. Das wird im moralisierenden Schlusssatz des Ratgebers mit der Metaphorik eines Wettlaufs deutlich (§26): Er empfiehlt den kurzen Lehrgang nämlich nicht wegen dessen Qualität bezüglich Rhetorik (und damit klingt implizit auch eine andere, positive Rhetorik an; ja eine bessere inhaltliche Ausbildung wird dem langen Weg durchaus attestiert), weiss aber um dessen Eignung bezüglich Ruhm und Erfolg. Die jungen Emporkömmlinge der Rhetorik haben die ›Altvertreter‹ nicht etwa dadurch besiegt, dass sie schneller gerannt sind, das heisst, besser (trainiert) gewesen sind, sondern, weil sie den leichtesten und abwärts führenden Weg genommen haben. Das Spezifikum des kurzen Weges, dass man auf ihm schnell ist, wird hinsichtlich der daraus hervorgehenden Redner abgewertet, da es kein qualitatives Bessersein enthält, sondern bloss eine Art Trick ist, früher als die anderen am Ziel anzukommen. Das Ziel, grossen Ruhm einzuheim175 Vgl. den Kommentar zu §19: ἢν δὲ ὀρθοὶ ἑστήκωσιν ὑπὸ τῆς αἰσχύνης; §21: θαυμάσια περὶ σαυτοῦ λέγε καὶ ὑπερεπαίνει καὶ ἐπαχθὴς γίγνου αὐτῷ; §22: ἐνοχλήσοντα. 176 Siehe dazu den ausführlichen Kommentar zu §5. 177 Man vergleiche die treffende Interpretation Whitmarshs [2001] 254–257 über die Verwendung des Motivs der Welt bzw. Roms als Theater und der (alten) paideia als (neue) theatralische Show in Lukians Satiren, v.a. S. 257: »The theatricalization of Greek paideia – the requirement that it be subsumed into the competitive and patronal structures of display required by Rome’s power-pyramid – is one of the most enduring objects of his [sc. Lucian’s] vituperation.«

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

sen, erreichen diejenigen, die sich für den kurzen Weg entscheiden, zwar rascher, erringen damit aber einen unlauteren Sieg. Am Ende der Schrift steht ein Redner, den der Niedergang der Rhetorik zumindest von der öffentlichen rhetorischen Vortragstätigkeit Abschied nehmen lässt. Dies muss nicht bedeuten, dass es ›gute‹ Rhetorik an sich nicht geben kann, der lange Weg zur Rhetorik ist jedoch aus Sicht des ›falschen Sokrates‹ nicht (mehr) zu empfehlen – wegen des momentanen Zeitgeists, aufgrund dessen die alte Rhetorik einer schnellen Pseudorhetorik weichen musste, deren Spielregeln durch den Geschmack des Publikums festgelegt sind, und wegen der ehrgeizigen Zielsetzung, die der junge Mann hat. Die Geschmacksfrage fordert den (antiken) Rezipienten auch auf, sich auf sich selbst zu besinnen: Da er selbst Teilnehmer an den rhetorischen Vorträgen ist, sei es im Publikum, sei es möglicherweise sogar auf der Bühne, definiert er den Zeitgeschmack mit.178 So entwirft die Schrift Rh. Pr. ein humoristisches Bild eines Niedergangs, weshalb auch die Wege allesamt zu einem Ziel, zur neuen, hetärenhaften Rhetorik, führen. Wie wir gesehen haben, ist aber durch intertextuelle Bezüge (1.3–4) sowie im weiteren Œuvre Lukians (1.5.a) zumindest die Möglichkeit einer Dichotomie im Sinne des Kebes, einer Pseudo- neben einer ›echten‹ Rhetorik, aufgezeigt. Um zusammenfassend auf die Frage nach dem ›Nihilismus‹ von Rh. Pr. zurückzukommen: Die Anlage der Schrift lässt auf den ersten Blick nichts Affirmatives zu bzw. übrig, was aber nicht durch Nihilismus seitens des Autors, sondern durch die Mittel der Ironisierung und Karikierung, speziell der ambivalenten Figurenzeichnung (Narrenhaftigkeit; Komödiencharaktere), bedingt ist. Die Gestaltung der Schrift illustriert die Ausbreitung einer Pseudorhetorik, deren ›Lehre‹ sich, wer rasch den grössten Erfolg haben will, nicht mehr entziehen kann; dadurch wird gleichzeitig das Phänomen des Zeitgeschmacks kritisch hinterfragt. Die Frage nach ›guter‹ Rhetorik wird durch Intertextualität implizit gestellt und mit möglichen Antworten versehen. Geht man von der Narrenhaftigkeit der Figuren des Ratgebers und des Rednerlehrers aus, ist es unmöglich, aus deren Mund etwas Eindeutiges, Sicheres zu erfahren; vielmehr liegt es dann in ihrem Wesen, uns im Unklaren zu lassen, was richtig und was falsch ist, und durch sprachliche 178 Die Lösung dürfte nicht darin liegen, das Rad der Zeit einfach zurückzudrehen, vgl. bereits Anm. 65 und die Ausführungen im einleitenden Kommentar zu §26. Eine solche Annahme liesse die sorgfältige Stilisierung beider Lehrer zu extremen Vertretern der Rhetorik (Effeminiertheit vs. Altmodisches, Strenges, Pedantisches; siehe die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §§9–10) als blosses Unterhaltungselement ohne weitere, tiefere Motivation im Text erscheinen. M. E. liegt der Sinn dieser Antithese des Altmodischen und Modernen auch darin, neben Pseudosophistik Fragen des Geschmacks, Masses und Stils in humorvollem Ton aufzugreifen; mit der Hypermaskulinität des Lehrers des langen Weges könnte so ein realer Diskurs der Zeit in überzeichneter Weise aufgegriffen sein.

1.6 Die Wegmetaphorik in Rh. Pr.: Nihilismus der Rhetorik?

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Ambivalenz alles derart in die Schwebe zu bringen, dass der Rezipient selbst über das Wesen guter Rhetorik zu reflektieren aufgefordert ist: Diese Reflexion wird durch die Subtexte unterstützt, über deren Gültigkeit zu entscheiden den Rezipierenden allein überlassen wird. Als Hinweis bezüglich des ›Nihilismus‹ sei nochmals angeführt, dass im weiteren Œuvre Lukians ›gute‹ Rhetorik durchaus explizit thematisiert und gelehrt wird: In Lexiphanes beispielsweise scheut Lykinos keinen Aufwand, seinen Gesprächspartner auf den besseren (langdauernden) Weg zur Rhetorik zu führen und von der falschen Rhetorik zu heilen. Wenn man sich die ganz anders geartete Figur des Lykinos vor Augen hält, wird auch klar, wie wichtig es ist, ob man an einen echten oder falschen Sokrates gelangt (vgl. dazu auch unten Kap. 2).179 Lukian zieht zudem die Zweiteilung in echte und falsche Vertreter in den Philosophenschriften häufig heran (vgl. dazu die Einleitung 3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie: Parallelen in der lukianischen Spottmotivik): Schein und Sein sind Kernthemen, die ihm ein Feld eröffnen, sich als fähiger (witziger) Entlarver der Scharlatanerie zu beweisen und damit als Gebildeter aufzutreten, mit dem zusammen der ebenfalls gebildete Rezipient lachen kann. Da nun Motivik und Metaphorik in diesen Philosophenschriften zahlreiche Übereinstimmungen mit den Rhetorikschriften, insbesondere auch mit Rh. Pr. aufweisen (vgl. unten 3.2–3), kann Rh. Pr. im Rahmen dieser Schein-Sein-Thematik als Text verstanden werden, in welchem für einmal nur dem Pseudobereich eigentliche Aufmerksamkeit geschenkt wird.

1.7 Lukians eigener sophistischer Auftritt: Die προλαλιαί Ein Textgenus aus Lukians Werk ist bisher noch nicht erwähnt worden, obwohl es mit der Sophistik in engstem Zusammenhang steht und für konstruktive Aussagen zur Rhetorik bzw. für Lukians (Selbst-)Bild eines Sophisten von Bedeutung ist. Es sind die so genannten προλαλιαί, Vorreden, die den an sophistischen Vorträgen gehaltenen μελέται, Deklamationen oder Stegreifreden, jeweils vorangegangen sind.180 Von Lukian sind uns neun solcher Vorreden erhalten; es sind dies Herodotus sive Aëtion, Harmonides, Scytha, Dipsades, Electrum, Zeuxis sive Antiochus, Prometheus 179 Zu subversiv-ironischen Zügen selbst der Gestalt des ›Sokrates‹ Lykinos vgl. Möllendorff [2000a] 210–218. 180 Über die Entwicklung der für jede Rede unerlässlichen einleitenden Worte, die zu einem grossen Teil der captatio benevolentiae dienen, hin zu einer selbständigen kurzen Vorrede vgl. Nesselrath [1990] 111–112.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

es in verbis, Hercules und Bacchus.181 Dieses Schriftcorpus beleuchtet Lukians Auffassung des Berufs des Konzertredners näher, desjenigen Berufes also, den auch der Rednerlehrer ausübt. Generell sind den Vorreden typische formale Merkmale gemeinsam, wie eine Anrede und Reverenz an das Publikum und dessen Heimatstadt sowie eine Bezugnahme auf den folgenden längeren Vortrag. Eine προλαλιά thematisiert inhaltlich meist auf irgendeine Weise das Verhältnis zwischen dem Redner und seinen Hörern und dient dazu, das Publikum gegenüber der folgenden Darbietung wohlgesinnt zu stimmen.182 In den Vorreden Lukians finden wir zudem wiederholt Aussagen des Redners über sein (bereits bekanntes) Werk. Diese werden jeweils nach einem ähnlichen Muster angebracht: Ins Zentrum seiner Vorreden stellt der Autor Geschichten (διηγήματα/μῦθοι)183 und Bilder, die vor allem die rhetorische Kunst der ἔκφρασις mehrfach brillant vorführen und die schliesslich immer in einen Zusammenhang zur momentanen Situation des Redners Lukian gebracht werden, sei es zu Beginn, in der Mitte oder am Ende der Vorrede. Billault ([1997] 193) resümiert über Lukian, die Sophistik und die προλαλιαί: Lucien oppose le mauvais et le bon usage que l’on peut faire de la circonstance où l’on prend la parole. Le mauvais orateur veut en imposer sur le moment à l’auditoire et l’empêcher de réfléchir. Le bon orateur adapte sa parole à la circonstance et traite ses auditeurs avec respect et franchise. Lucien donne lui-même ce bon exemple dans ses prolalies.

Natürlich ist ein Grossteil dieses guten Beispiels, das Lukian gibt, durch den Zweck der προλαλιά, d.h. durch die captatio benevolentiae bedingt, doch ist das insofern irrelevant, als der Sprecher dennoch eine spezifische (selbst gewählte) Haltung gegenüber seinem Publikum und seinem Beruf einnimmt und damit ein Selbstbild von sich präsentieren will, das ihm für die folgende Deklamation das Wohlwollen der Hörerschaft zusichert. Dabei wird ein erster Kontakt zum jeweiligen Publikum geknüpft. Dieses Selbstbild Lukians als Konzertredner nimmt, wie wir sehen werden, uns bereits

181 So bereits Schmid [1887] 1,221. Unklar ist die Einordnung des Stückes Prometheus es in verbis; gegen die Bezeichnung als προλαλιά argumentiert Nesselrath [1990] 115 Anm. 9. Ich beziehe die in dieser Schrift gemachten Aussagen hier dennoch mit ein (vgl. S. 76f.), da die Einordnung bei der Frage nach einem allgemeinen Sophistenbild des Autors sekundär ist. – Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass uns von Lukian auch vier typische μελέται erhalten sind: Phalaris I, Phalaris II, Tyrannicida und Abdicatus. 182 Vgl. Korenjak [2000] 36. 183 Solche Geschichten gehören zu den in den Rhetorikschulen trainierten προγυμνάσματα; vgl. Gibson [2004] 109f.

1.7 Lukians eigener sophistischer Auftritt: Die προλαλιαί

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bekannte Probleme des sophistischen Vortragsbetriebs auf – wenn auch aus einer ganz anderen Perspektive als die Spottschriften.184 Der Vollständigkeit halber muss darauf hingewiesen werden, dass nicht mit Sicherheit entschieden werden kann, ob Lukians Vorreden einer realen Vortragssituation angehörende Texte darstellen oder ob sie rein fiktive Nachahmungen genau dieser Textsorte sind, wobei eine Selbstdarstellung und/oder eine Kritik an dieser Form impliziert sein können.185 Bisher konnten für die Vorreden weder genaue Umstände (Datierungen) noch die nachfolgenden dazugehörigen Vorträge ausgemacht werden.186 Für meine Belange ist dies relativ unwichtig oder zumindest vernachlässigbar, da ganz generell untersucht werden soll, wie sich Lukian hier als Redner – fiktiv oder real – dem Publikum vorstellt. Und diese Vorstellungssituation ist – sei sie auch fingiert – auf jeden Fall immer Thema der lukianischen προλαλιαί, vgl. z.B. Herc. 7: ἐμοὶ δὲ ἡνίκα περὶ τῆς δεῦρο παρόδου ταύτης ἐσκοπούμην πρὸς ἐμαυτόν, εἴ μοι καλῶς ἔχει τηλικῷδε ὄντι καὶ πάλαι τῶν ἐπιδείξεων πεπαυομένῳ αὖθις ὑπὲρ ἐμαυτοῦ ψῆφον διδόναι τοσούτοις δικασταῖς, [...].187

Die neun Vorreden Lukians bilden ein Textcorpus, das in sich – allein schon wegen der oben genannten gemeinsamen inhaltlich-formalen Kriterien – relativ geschlossen ist, wobei jedoch die einzelnen charakteristischen Elemente immer wieder anders und in anderer Gewichtung präsentiert werden: In Herodotus sive Aëtion, Harmonides und Scytha beispielsweise wird vor allem der Wunsch des Redners nach Ruhm thematisiert, so dass die Vorreden praktisch ganz in einer captatio benevolentiae aufgehen. In den übrigen προλαλιαί wird den mythologischen oder skurrilen Geschichten breiter Raum gegeben (z.B. Dipsades, Bacchus); für die vorliegende Fragestellung sind darunter Electrum, Bacchus, Zeuxis sive Antiochus und Prometheus es in verbis besonders aufschlussreich, weil die spezifischen Qualitäten von Lukians Werk – Neuheit und Seltsamkeit versus Tradition – in 184 Vgl. Rh. Pr. passim, sowie auch eingehend (bezügl. Spottschriften) die Ausführungen zur Thematik von Bildung und Unbildung in 2.2. 185 Siehe dazu unten S. 76. 186 Grundsätzlich sind die lukianischen Vorreden in der Forschung recht stiefmütterlich behandelt worden und wenn, dann ohne Diskussion der Frage der Fiktion, sondern im Allgemeinen mit der Zuweisung zu einer realen Vortragssituation. So auch Nesselrath [1990] passim, immerhin mit dem Verweis auf die mögliche mehrfache Verwendbarkeit der lukianischen Vorreden über den eigentlichen Anlass hinaus (114). Er erstellt (unter Betonung der nötigen Vorbehalte) mittels struktureller und inhaltlicher Merkmale eine relative Chronologie der Vorreden (116f.), welcher ich hier nicht folge, da ich eine rein auf inhaltlichen Kriterien basierende Zusammenstellung vornehmen möchte. Nützlich ist der kurze Forschungsüberblick (111). 187 »Als ich mir aber über meinen Auftritt hier Gedanken machte, ob es richtig sei, dass ich in meinem Alter, und nachdem ich die epideiktischen Vorträge schon lange aufgegeben habe, noch einmal eine Beurteilung über mich anstellen lasse durch so bedeutende Richter, [...].«

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

Auseinandersetzung mit dem Publikum, dessen Erwartungen und dessen Urteil thematisiert werden und damit verwoben eine theoretische Diskussion über ›gute‹ Rhetorik vorliegt. 1.7.1 Lukians allgemeines Selbstbild als Redner und das Verhältnis von Redner und Publikum Bevor Lukians Selbstbild aus den προλαλιαί entwickelt werden soll, möchte ich drei Hauptpunkte der uns von ihm präsentierten schlechten Rhetorik zusammenfassend vorausschicken: 1. Arroganz und Unverschämtheit führen gemäss Lukian überhaupt erst dazu, dass die schlechten Redner es wagen, vor Publikum aufzutreten. Es sind diese Attribute, welche den Rednerlehrer, den Betrüger in Pseudologista sowie Lexiphanes gleichermassen (wenn auch verschieden stark ausgeprägt) kennzeichnen.188 Die mangelhafte Vorbereitung bzw. Vorbildung dieser Redner soll durch ihr unverschämtes Auftreten kaschiert werden, doch ein Gebildeter, wie der Autor es ist, schaut hinter die Fassade des äusseren Scheins.189 Und er überführt alle – den Rednerlehrer (wenn auch nur indirekt-ironisch), Lexiphanes und das Opfer in Pseudologista – ihrer Fehler, wobei er geschickt sein eigenes Fachwissen einbringt. 2. Mit Hilfe verschiedener Mittel (Wortfülle und -exotik, Tempo, Showeffekte, prunkvolles Auftreten) verhindern die schlechten Redner im Extremfall jede Reflexion der Zuhörer. Denn eine Beurteilung von Inhalt und Zusammenstellung der Rede muss möglichst vermieden werden, damit Bil188 Vgl. dazu Billault [1997] 195: »L’arrogance des mauvais rhéteurs n’est donc pas un travers superficiel. Elle est une contrainte exercée sur le public dont elle arrache l’adhésion. Elle monopolise l’attention des auditeurs en la detournant vers les apparences de la prestation oratoire, loin du discours prononcé. Au moyen d’artifices qui affectent aussi la teneur des discours, elle dissimule les insuffisances des orateurs.« Vgl. weiter Rh. Pr. 13–15, 24 u.ö.; Pseudol. 6, 7, 30; Lex. 24; genauso auch in Zusammenhang mit ›falschen‹ Philosophen: Fug. 13 und 15. Vgl. zu Bildung und Unbildung allgemein auch unten 2.2. 189 In den lukianischen Schriften, welche eine ›Entlarverrolle‹ enthalten, positioniert sich die Hauptfigur jeweils als hervorragender Vertreter der παιδεία, welcher durch seine Entlarvertätigkeit die gebildeten Hörer bzw. Leser bestens unterhält, genauso aber auch Ungebildetere, welchen er durch seine (glaubwürdige) Entlarvung die wahren Qualitäten des Gebildeten vor Augen führt. Oft sind in Lukians Schriften die Auftritte vermeintlicher Redner oder Philosophen derart unglaubwürdig gestaltet, dass sie nicht einmal mehr den Schein dessen, was sie zu sein vorgeben, wahren können und dass wohl jeder halbwegs Vernünftige den Betrug durchschauen dürfte – ein Mittel, um die Satire noch beissender zu gestalten. Vgl. dazu auch Whitmarsh [2001] 262f. (über die Entlarvung falscher Philosophen in Lukians Pisc.): »[...] these imitative philosophers are superficially convincing, but they do not fool Parrhesiades’ trained eye. [...] Parrhesiades sees and reveals the mismatch between appearance and reality, and for him the false philosophers are definitely not ›plausible‹. Parrhesiades is the possessor of a penetrating insight that is superior to the superficial gaze of society as a whole.«

1.7 Lukians eigener sophistischer Auftritt: Die προλαλιαί

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dungsmängel nicht aufgedeckt werden. Das bedingt eine Vereinnahmung und Lenkung des Publikums, die in Lukians Augen einem rhetorischen Betrug nahekommt.190 3. Das Verhältnis zwischen schlechtem Redner und Publikum ist von einem Machtgefälle geprägt: Der Redner versucht, die Situation trotz unzulänglicher Kompetenz rein egoistisch zu seinem Vorteil zu nutzen, zwingt das Publikum zum Lob seines Vortrages und geht von einer leicht täuschbaren, ungebildeten Zuhörermenge aus.191 Lukians Selbstdarstellung als Konzertredner entspricht nun in sämtlichen Punkten dem Gegenteil: Grundlegend ist die immer wiederkehrende Einschätzung des Publikums als ebendieser παιδεία teilhaftig, die der Redner vorzuführen gedenkt. So bezeichnet Lukian die Zuhörer, vor denen er an einem Grossanlass in der Provinz Makedonien zum ersten Mal spricht,192 als ὄφελος ἐξ ἑκάστης πόλεως (»Elite jeder Stadt [sc. in Makedonien]«) und als ῥητόρων τε καὶ συγγραφέων καὶ σοφιστῶν οἱ δοκιμώτατοι (»die angesehensten Redner, Literaten und Sophisten«), macht einem bereits mit ihm vertrauten Hörerkreis Komplimente als bestes Publikum, das er überhaupt haben könne (Dips. 9) und verkündet am Ende von Zeuxis (§12) voller Zuversicht: ὑμεῖς μετὰ τέχνης ἕκαστα ὁρᾶτε (»ihr betrachtet193 alles mit Sachverstand«). Die Hörer werden von Lukian also als Kenner des Faches angesprochen bzw. zu solchen stilisiert, so dass in dieser Konstellation ein ›Betrug‹ von vornherein undenkbar ist. Vielmehr spricht aus den Worten Lukians das Bewusstsein bzw. die intendierte und gegenüber dem Publikum aufgebaute Haltung, dass die Beurteilung seines Vortrags allein von dessen sprachlichen und inhaltlichen Qualitäten, nicht von Äusserlichkeiten abhängt bzw. abhängen soll.194 Lukian baut somit als Konzertredner keinerlei Machtgefälle auf, sondern bezeichnet seine Zuhörer als Freunde 190

Vgl. Lukians Verwendung des Begriffes der ἀπάτη sowie seine Selbststilisierung als μισαλαζών, μισογόης und μισοψευδής (gegenüber φιλαλήθης, φιλόκαλος und φιλαπλοϊκός) in Pisc. 20 und 29; siehe dazu ausführlicher S. 133f. Vgl. zu den rhetorischen ›Tricks‹ sämtliche Empfehlungen in Rh. Pr. 15–20. Selbstverständlich ist hier auch zu bedenken, dass gerade die Thematik der Showeffekte eine vielschichtige ist und diese zum tatsächlichen Repertoire der Zweiten Sophistik gehörten. Man könnte sagen, dass insofern, als eine solche Trickrhetorik offenbar erfolgreich war und im Trend lag (wie es auch in Rh. Pr. deutlich wird), das Publikum zumindest teilweise ›betrogen‹ werden will. Einmal mehr spielt hier wohl die Frage des Masses hinein. 191 Vgl. Rh. Pr. 19–20, v.a. den Kommentar zu §19: τυραννὶς. Zum (implizierten) Bildungsstand der Hörerschaft bzw. zum Umgang mit gebildeten und ungebildeten Hörern gleichermassen vgl. auch die Einleitung 2.2, S. 93f. 192 Vgl. Herodotus sive Aëtion 7 und 8; Nesselrath [1990] 117. 193 Von »betrachten« (anstelle von »hören« oder Ähnlichem) ist wegen des in dieser Vorrede gezogenen Vergleichs mit den Betrachtern der Werke des Malers Zeuxis die Rede. 194 Dieses Thema macht einen wichtigen Aspekt der προλαλιά Hercules aus, v.a. §§4–8. Damit lobt der Redner natürlich auch seine eigenen Vorreden, da sie allen Qualitätsansprüchen genügen.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

(φίλοι, Zeux. 1) oder Kollegen (ἑταῖροι, Herc. 8); dabei grenzen die Worte in unseren Ohren bisweilen an Schmeichelei. Es ist offensichtlich, dass im Sophistenbusiness bzw. im Rahmen einer sophistischen Deklamation, wo der Redner weder eine symbuleutische Rede hält, die einen bestimmten politischen Kurs verfolgt, noch eine Gerichtsrede, die ein bestimmtes Urteil anstrebt, sondern eine epideiktische Rede um des privaten Erfolges als Deklamator willen vorträgt, vom ersten Moment an alles davon abhängt, eine perfekte Demonstration der eigenen Bildung und Eloquenz zu liefern.195 Genau dies tut Lukian, wobei er nicht von einem leicht beeindruckbaren Publikum ausgeht, sondern von Kennern des Faches, die er während seines Auftritts mit tatsächlicher Bildung, mit innovativen Darstellungen klassischer Mythen und Geschichten, mit der Erwähnung vorbildhafter historischer Personen, mit Bezugnahmen auf und Zitaten aus klassischer Prosa und Poesie für sich einzunehmen versucht.196 1.7.2 μῦθοι und Lügen: Neuheit versus Tradition und die rhetorischen Errungenschaften Lukians In Electrum thematisiert und kritisiert Lukian die (von den Dichtern stammenden) Lügengeschichten, mit denen andere Sophisten ihre Zuhörerschaft häufig ›einzuwickeln‹ versuchen. Er weist – in stilisierter Bescheidenheit – seine Zuhörer darauf hin, dass seine folgende Rede einfach (ἁπλοϊκός)197 gestaltet sein werde und mythenlos (ἄμυθος), d.h. ohne solche beeindruckenden Märchenerzählungen, wie sie in Darbietungen anderer Sophisten zuhauf vorkämen (§6). Damit gelangen wir zu einen Kernpunkt der Selbstdarstellung Lukians bzw. der Darlegung der Spezifika seiner Reden: Denn zweifellos verwendet auch Lukian in seinen Reden mythische Geschichten (und ist alles andere als ἄμυθος, worauf ich gleich näher eingehe), doch zeigt seine ironische Darstellung in Electrum, dass er bezüglich des Glau195 Vgl. zum Zweck der Deklamation auch Whitmarsh [2005] 3: »In ancient terms, this was not dikanic (i.e. legal) or symbuleutic (political) oratory, but ›epideictic‹: the speeches, that is, were delivered for the occasion alone, to solicit the pleasure, admiration, and respect of the audience.« 196 Hercules ist mit all den Zitaten aus Ilias und Odyssee, aus Herodot, Euripides und Anakreon sowie den zum Thema Alter und Eloquenz passenden (altbekannten) Anspielungen auf Nestor, die zudem durch eine (neuartige) allegorische Darstellung eines Heraklesbildes ergänzt sind, ein gutes Beispiel der geschickten Verpackung literarischer Bildung in eine Vorrede. Zur Betrachtung weiterer Vorreden auf diesen Aspekt hin vgl. Nesselrath [1990]. Mit der Anrede des Publikums als gebildete Hörerschaft produziert der Redner ein doppeltes Lob durch die Wechselwirkung zwischen seiner gebildeten Rede und dem gebildeten Publikum, welches diese schätzen wird; die Aussagen über den Bildungsstand des Publikums spiegeln also auch die Selbsteinschätzung des Redners. 197 Man vergleiche das Profil des Parrhesiades als φιλαπλοϊκός in Pisc. 20 (zum grösseren Kontext auch Anm. 190 oben).

1.7 Lukians eigener sophistischer Auftritt: Die προλαλιαί

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bens an solche Geschichten den Hörer nicht irreführen will. Damit wird einmal mehr jede Form von Betrug abgelehnt. Das in Electr. 6 beabsichtigte Vorbeugen gegen falsche Erwartungen des Publikums ist einerseits ein Bescheidenheitstopos, gibt dem Redner aber zugleich die Möglichkeit, sich von anderen, unbescheidenen Sophisten abzusetzen. Mit einer unglaublichen Geschichte aufzuwarten und so das Publikum beeindrucken zu wollen, reicht nicht aus. Und tatsächlich fügen sich die skurrilen Geschichten Lukians in einen anderen Kontext ein als die seiner Kontrahenten: Beispielsweise werden sowohl in Dipsades als auch in Bacchus und Hercules die Geschichten und ihre Unglaublichkeit als solche thematisiert, reflektiert oder in ihrer Bedeutung bewusst ambivalent belassen.198 Ein zweiter wichtiger Aspekt des in den προλαλιαί entwickelten Selbstbildes des Redners Lukian, welcher eng mit den eben angesprochenen skurrilen Geschichten zusammenhängt, betrifft seine Einstellung gegenüber Neuheit und Tradition. Denn immer wieder wird – v.a. in Zeuxis sive Antiochus, Bacchus und auch in Prometheus es in verbis – aus Lukians Aussagen deutlich, dass offenbar (bzw. aus seiner eigenen Sichtweise) zwei Qualitäten seiner Reden vom Publikum als seine Spezialität wahrgenommen und gelobt werden: Seine καινότης (»Neuheit«) und seine παραδοξολογία (»Darstellung von paradoxa«). Tatsächlich fällt auf, dass Lukian gerade in den Vorreden seltene Geschichten und eigenartige Kreaturen präsentiert. Nesselrath ([1990] 116) bemerkt dazu: Quite a number of these things [sc. die Inhalte der Vorreden] cannot be read about in any other ancient Greek or Latin text; [...] one gets the impression that he [sc. Lucian] took more pains in finding, selecting, and arranging subject-matter for presentation to his listeners than did the greater part of his fellow sophists who mostly confined themselves to declaiming over and over again themes taken out of the classical reaches of Greek history and myth.199 Lucian, obviously, enjoyed fascinating his audience with exotic and unusual themes.

Wie nimmt Lukian selbst dazu Stellung? In Zeuxis 1f. berichtet er, wie er nach einem Vortrag auf dem Heimweg von einer Menge Zuhörer umringt wurde, die ihn für seine Darbietung lobten, und zwar in der Hauptsache da-

198 Thematisiert werden Unglaublichkeit sowie Lukians fehlende Autopsie in Dipsades; Reflexion über und Allegorie eines (märchenhaften) Bildes von Herakles finden sich in der gleichnamigen Vorrede; in Bacchus wiederum liefert die erste der beiden skurrilen Geschichten über den Einmarsch des Gottes in Indien den Aufhänger zur Diskussion seltsamer und neuer Erscheinungen (auch in der Literatur), während die zweite Geschichte, eine Inspirationserzählung über eine seltsame Dionysosgrotte, durch die Schlusspointe des Sprechers ambivalent und offen ausklingt. Ausführlicher zu Bacchus vgl. unten S. 124. 199 Vgl. die Anmerkungen zu Rh. Pr. 18 (Paradethemen), S. 354f.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

für, dass sie fremdartige Gedanken aufwies und viel unerwartet Neues.200 Dies nun, eröffnet er seinem Publikum (und verweist damit darauf, wie er seine nachfolgende μελέτη beurteilt wissen möchte), habe ihn keineswegs froh gestimmt, denn vom Lob ausgenommen gewesen und damit unbeachtet geblieben seien alle konventionellen Qualitäten einer Rede:201 Passendes Vokabular (ὀνόματα καλά), das mit den kanonischen Vorbildern konform ist (πρὸς τὸν ἀρχαῖον κανόνα συγκείμενα), inhaltliche Schärfe (νοῦς ὀξύς, περίνοια), attische Grazie (χάρις Ἀττική)202, harmonische Zusammenstellung (ἁρμονία) und genereller Sachverstand (τέχνη). Genau diese Qualitäten aber sind es, die ein Lob hauptsächlich ausmachen müssen; καινότης kann nur Beischmuck einer Rede sein (συν-επι-κοσμεῖν).203 Damit macht sich Lukian, obwohl er immer wieder neue Wege beschreitet, auch für die traditionellen Qualitäten der Rhetorik stark:204 Lexis, Heuresis und Taxis sind die Oberbegriffe, denen man die aufgezählten Qualitäten zuordnen kann,205 Qualitäten, welche durchwegs mit seinen an Sophisten gestellten Forderungen sowie mit dem Geschmack seiner Zeit übereinstimmen.206 Nur die Mitberücksichtigung der kanonischen Autoren und der konventionellen Qualitäten der rhetorischen τέχνη führt zur richtigen attizistischen Sprach- und Literaturkompetenz, deren Merkmale immer im richtigen Mass angewendet und auf eine subtile Weise mit dem Neuen verbunden werden müssen, so dass der Effekt von χάρις erzeugt werden kann.207 Genau wie 200 Die verwendeten Termini sind τὸ καινόν/καινότης, νεωτερισμός, παραδοξολογία, γνώμη ξένη/τὸ ξενίζον. 201 Das Entzücken des Publikums basiert allein auf der Neuheit (vgl. §2: οὐκοῦν τοῦτο μόνον χάριεν τοῖς ἐμοῖς ἔνεστιν, ὅτι μὴ συνήθη μηδὲ κατὰ τὸ κοινὸν βαδίζει τοῖς ἄλλοις). Zur Wichtigkeit der Erzeugung von (echter) χάρις vgl. die folgende Diskussion zu Prom. Es und allgemein Möllendorff [2006b]. 202 Vgl. zu diesem Begriff Möllendorff [2006b] 73 (in Absetzung zu κάλλος): »χάρις [...] is the lustre, splendour, or allure that emanates from something in a certain moment and which produces in the recipient a delightful (< χαρά) reflex of sudden pleasure.« 203 Man vergleiche auch die Wiederaufnahme dieses Gedankenganges am Ende der Vorrede mit Lukians (impliziter) Aufforderung an die Hörer, seine Reden künftig umfassender und sachverständiger zu beurteilen (Zeux. 12). 204 Man könnte es so formulieren, dass er sich mit (inhaltlichen) ›Showeffekten‹, z.B. mit der Darstellung von παράδοξα, nicht zufrieden gibt, weil sie für ihn noch keinen guten Redner ausmachen. Deshalb mahnt Lukian sein Publikum, sich nicht blenden zu lassen und immer auch auf die traditionellen Qualitäten zu achten. 205 Zur Lexis gehören kanonisches Vokabular und attische Grazie (χάρις beinhaltet allerdings weit mehr, nämlich die entzückte Reaktion der Rezipierenden auf das literarische Erzeugnis, vgl. oben Anm. 202), zur Heuresis kann man die inhaltliche Schärfe, zu Lexis und Taxis die harmonische Zusammenstellung rechnen. 206 Vgl. v.a. Kritik und Forderungen in Lexiphanes: §§17–18 (Lexis), 20, 22 (Lektürekanon), 24 (Heuresis); zur Taxis die Erläuterungen von Weissenberger [1996] 151–155; weiter auch Adv. Ind. 2, 17, 28. 207 Weiterführend zu χάρις als grösster Herausforderung des Literaten der Kaiserzeit vgl. Möllendorff [2006b] 74 (mit Bezugnahme auf Im. 9): »χάρις can not be accomplished by means

1.7 Lukians eigener sophistischer Auftritt: Die προλαλιαί

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z.B. im sprachlichen Bereich fremdes, seltenes und neugebildetes Vokabular von Lukian nur teilweise gutgeheissen wird und die Kompetenz im Bereich des klassisch attischen Vokabulars grosse Bedeutung hat,208 sind auch die Kriterien der inhaltlichen Neu- und Fremdheit nicht ausreichend, um eine Rede auszuzeichnen. Es sind die für die Oberschicht des zweiten Jahrhunderts grundlegenden Charakteristika der Bildung, des dauernden Bezugs auf die Klassiker und die gemeinsame griechische Tradition, welche Lukian auch für seine eigene sophistische Tätigkeit in Anspruch nehmen will und sein Publikum deshalb darauf aufmerksam macht. So kann eine erste Interpretation des vorgeführten Abschnitts lauten; allerdings ist damit in keiner Weise erklärt, warum gerade Lukian so viele, grossen Raum einnehmende Neuheiten und skurrile Geschichten oder Figuren in seine Reden einfügt, ja sogar neue Gattungsmischungen vornimmt. Bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass Lukian als seine spezifische Errungenschaft tatsächlich die Neuheit seiner Reden betrachtet, sie allerdings vorerst einmal (durch den rhetorischen ›Kniff‹ des Tadels seines Publikums, durch die vorgeschobenen Bedenken, dass sein Publikum die klassische Form seiner Reden nicht wahrnehmen könnte) kritisch beleuchtet, um sie nachher als besondere Neuheit wieder hervorzustreichen, nämlich eine mit Tradition und Konvention kunstvoll-harmonisch verbundene καινότης, welche noch nie dagewesene Inhalte (und Genera) verbunden mit Rückgriffen auf traditionelle Formen und attizistische Sprache zu präsentieren weiss und so in den Rezipierenden eine positiv-überraschte Reaktion weckt. Letztlich hat das in Zeuxis angesprochene Publikum Lukians καινότης zu Recht gelobt – der Redner nimmt dieses Szenario allerdings zum Anlass, über seine perfekte Verbindung von Konventionellem und Neuem zu sprechen. Die Bezeichnung der καινότης als »Beischmuck« einer Rede (vgl. συν-επι-κοσμεῖν) erhält so eine positive Konnotation als »zusätzlicher Schmuck«, indem Lukians Vorreden im Vergleich zu den Erzeugnissen anderer Sophisten Neues in alter Form oder zumindest mit einer immer aufrecht erhaltenen Verbindung zum Alten darzustellen vermögen und dadurch eine harmonische Verbindung schaffen, die sowohl das Konventionelle allein als auch das Neue allein (vgl. Electrum und die Kritik gegenüber reinen ›Wundergeschichten‹) übertrifft.209 Die Aussagen Lukians über seine Neuof mere imitation, and it is therefore precisely χάρις and the achievement of it which poses the greatest problem for the authors of the Imperial period, bound as they are to the dictates of mimesis.« 208 Vgl. Lex. passim. 209 Vgl. zu Verbindungen mit der Mimesistheorie des Dionysios von Halikarnass auch Whitmarsh [2001] 72–78, zusammenfassend zu Lukian insbesondere S. 78: »Lucian’s works, then, articulate their artful innovations in Dionysian terms, as a new, non-natural form created by means of artful mimesis; at the same time, however, Lucian is capable of subtle variation in his treatment

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schaffungen beziehen sich v.a. auch auf die Erfindung des komischen Dialogs, vgl. dazu unten zu Prom. Es 5. Die (realen oder fingierten) Vorreden Lukians dienen also zur Selbstdarstellung und Thematisierung des eigenen Schaffens und damit verbunden gleichzeitig zur Auseinandersetzung mit der Konkurrenz bzw. zur Absetzung von derselben durch den speziellen Umgang Lukians mit Neuheit, der sowohl praktisch vorgeführt als auch theoretisch besprochen wird.210 Eine Kritik an der Gattung der προλαλιά als solche scheint mir nicht vorzuliegen, sicher jedoch am missbräuchlichen Umgang mit diesen Kurzreden zur Darbietung plumper ›Schwindlergeschichten‹. Generell gelten die kritischen Gedanken nicht nur für Inhalt und Form von προλαλιαί, sondern allgemein für jede rhetorische Darbietung. Auch in Prometheus es in verbis geht Lukian auf die Wahrnehmung seines Werkes als von besonderer Neuartigkeit geprägt ein und erläutert das Konzept der harmonischen Zusammenfügung weiter:211 Ausgangspunkt bildet die Aussage eines nicht näher präzisierten Gegenübers, das Lukian einen »Prometheus in Worten« genannt hat (§1). Lukian diskutiert daraufhin die möglichen Auslegungen dieser Bezeichung, am ausführlichsten folgende (§3): Der Vergleich könnte ein Lob sein für sein Talent als Schöpfer von Neuheiten, ohne dabei etwas Bestehendes nachzuahmen, genau wie Prometheus aus seiner Imagination heraus, ohne auf ein Vorbild Bezug nehmen zu können, die ersten Menschen formte.212 Doch Lukian macht (wie in Zeuxis) of this theme, now appearing to celebrate novelty, and now foregrounding the elements of his texts that cohere to traditional, archaizing canons. This oscillation, however, does not disguise his characteristic awareness of the ›strange‹, ›alien‹, ›out-of-place‹ qualities of his own writing.« Vgl. zu Lukians Adaptation des Traditionellen auch Baldwin ([1973] 64): »Lucian is concerned to show that he has adapted and improved the old, rather than invented something new and disparate like a centaur.« 210 Sehr aufschlussreich für die Thematik des ›Neuen‹, wie sie uns in Texten der Zweiten Sophistik entgegentritt, und über erfolgreiche Innovatoren sind die allgemeinen Angaben von Whitmarsh [2005] 35–37. Er erwähnt Philostrats lobende Äusserungen über Aspasios von Ravenna (VS 627): Dieser Sophist sei gegenüber Neuerungen (τὸ καινοπρεπές) positiv eingestellt gewesen, jedoch nie schlechtem Geschmack (ἀπειροκαλία; vgl. zum Terminus auch unten, S. 93) verfallen, indem er in seinen Neuheiten Mass (καιρός) gehalten habe. Weiter thematisiert Whitmarsh die Figur des Favorinus, der trotz seiner Defizite (hauptsächlich im Bereich der geforderten Männlichkeit der Redner) dennoch höchst erfolgreich war (vgl. die Bemerkungen zu §9 mit Anm. 621 und §11), und schliesslich verweist er auf Lukian (speziell dessen Vorrede Zeuxis) und kommentiert (S. 37): »Like Favorinus, Lucian was an exotic figure, at the levels of both literature and personal identity (he was a native Syrian). What the two share, besides their exoticism, is a concurrently strong sense of the importance of tradition. It is the combination of the two that is crucial.« [meine Hervorhebung] 211 Vgl. auch die Analyse dieser Schrift (unter Einbezug von Dial. Mar. 1 und 15) bei Möllendorff [2006b] 64–72. 212 τὸ καινουργὸν τοῦτο ἐπαινῶν καὶ μὴ πρός τι ἄλλο ἀρχέτυπον μεμιμημένον, ὥσπερ ἐκεῖνος οὐκ ὄντων ἀνθρώπων τέως ἐννοήσας αὐτοὺς ἀνέπλασεν [...].

1.7 Lukians eigener sophistischer Auftritt: Die προλαλιαί

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deutlich, dass er, falls dies mit dem Vergleich gemeint sei, darüber nicht durchwegs erfreut wäre, weil er es als absolut nicht ausreichend betrachte, bloss etwas noch nie Dagewesenes zu schaffen, wenn es nicht auch eine Verhaftung in der Tradition und vor allem die Anmut der Prometheus’schen Menschen aufweise (§3): ἐμοὶ δὲ οὐ πάνυ ἱκανόν, εἰ καινοποιεῖν δοκοίην, μηδὲ ἔχοι τις λέγειν ἀρχαιότερόν τι τοῦ πλάσματος οὗ τοῦτο ἀπόγονόν ἐστιν. ἀλλὰ εἰ μὴ καὶ χάριεν φαίνοιτο, αἰσχυνοίμην ἂν [...]. Es ist nicht erstrebenswert, etwas zu schaffen, das gänzlich ohne Vorbild ist und demnach ohne jede μίμησις erstellt wird. Einmal mehr betont damit Lukian die Wichtigkeit der Tradition bzw. der Verknüpfung von Altem und Neuem.213 Weiter bemerkt er, dass einem neu gestalteten Erzeugnis, falls es ἄμορφος (»formlos, missgestaltet«) und ohne Grazie (χάρις) sei, auch die Prädikate καινότης und ξένος nichts nützten, es vielmehr noch weiter verschlechterten. Aus diesem Grund fordert der Autor bezüglich seiner Spezialität der Verbindung von Komödie und Dialog, des komischen Dialogs also, dessen Originalität er selbst hervorstreicht (Bis Acc. 34), eine Qualität, die unbedingt gegeben sein muss, damit die Verbindung als geglückt gelten kann: Es ist εὐμορφία (»Wohlgestalt«), aus der ein harmonisches, symmetrisches Ganzes hervorgeht.214 Als illustrierendes Negativbeispiel wird der Hippokentaur herangezogen (§5).215 Die neuen Texte, von denen Lukian hier spricht, sind als Gattungshybriden charakterisiert, die aus zwei traditionellen Gattungen ästhetisch erfolgreich zusammengesetzt sind. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich Lukians Selbstbild als Konzertredner gut in seinen allgemeinen Sophistenspott mit der Selbstpositionierung als πεπαιδευμένος, als Entlarver von Unbildung und als Identitäts213

Die Tradition muss hier allerdings als v.a. auf sprachlich-formalen Parametern, d.h. den Erfordernissen der klassischen Rhetorik, basierend angesehen werden, da bezüglich der Themen Lukian gerade oft völlig neue Wege geht, die keine Vorbilder erlauben, so dass inhaltliche μίμησις im engeren Sinne nicht möglich ist, sprachlich-formale jedoch sehr wohl. Man denke an Lukians Vorrede Dipsades, das wohl eingängigste Beispiel einer skurrilen, sonst nirgends bekannten Geschichte über eine eigenartige Schlangenart, deren Biss unendlichen Durst verursacht (vgl. auch Nesselrath [1990] 116). 214 Vgl. zur Thematik der Menippeischen Satire und zum komischen Dialog als Lukians Eigenerfindung auch Baumbach [2002] 22–25 und Hall [1981] 65–73. – Vgl. generell zur harmonischen, wohlproportionierten Zusammenstellung einer Rede bereits Plat. Phdr. 264c und den Kommentar zu §18: περὶ τῷ μετώπῳ μὲν ἡ κνημίς, περὶ τῇ κνήμῃ δὲ ἡ κόρυς. Zu nennen ist auch Horaz’ Forderung nach einem harmonischen Ganzen in AP 23 (zu dieser Parallele siehe bereits Möllendorff [2000b] 21). 215 Dass eine positive künstlerische Darstellung von Hippokentauren möglich ist, zeigt aber die lobende Erwähnung eines Gemäldes von Zeuxis mit ebendiesem Sujet (vgl. Zeux. 3–7). Vgl. dazu auch Möllendorff [2006b] 65–69 und 72 (eine misslungene Neugestaltung trägt Züge von Unnatürlichkeit, Exzess, abrupten Kontrasten, fehlender Ästhetik [entsprechende Beispiele bieten Prom. Es 4 und Dial. Mar. 15]) und 75–78 (Zeuxis’ Gemälde vermeidet genau diese potentiellen Negativaspekte durch perfekte harmonische Verbindungen).

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

stifter einer traditionsbezogenen Elite einpasst.216 Auch als Konzertredner spricht sich Lukian klar für die gängigen Regeln der Kunst, die auf dem eingehenden Studium der rhetorischen τέχνη beruhen, für die Orientierung an klassischen Vorbildern und an klassisch-attischer Sprache aus. Grundpfeiler jeder Rede muss die klassische Bildung sein. Durch zahlreiche gebildete Anspielungen innerhalb seiner Vorreden wird die geforderte Traditionsbezogenheit exemplifiziert. Damit führt Lukian die in den kritischspöttischen Werken vorgenommene Bildungsdiskussion in seinen Vorreden mit einem direkten Bezug zu den Rezipierenden weiter. Andererseits erhellen die Bemerkungen in Zeuxis und Prometheus es in verbis seinen eigenen Umgang mit dieser Tradition und zeigen uns einen selbstbewussten Neuerer, der seinem Publikum vor Augen führt, welche speziellen Errungenschaften er zu verzeichnen hat: Tradition und Innovation schliessen sich nicht aus; jede Neuheit ist jedoch eine schwierige Gratwanderung (die Lukian selbstverständlich problemlos zu meistern versteht), welche nur durch den zumindest teilweisen Verbleib im Rahmen der Tradition erfolgreich absolviert werden kann. Jede Umgestaltung klassischen Stoffs oder klassischer Genera muss auf eine Weise geschehen, die noch immer mit den konventionellen rhetorischen Qualitäten in Einklang ist und niemals gegen die Ästhetik (χάρις) verstösst. Mit dieser wiederkehrenden Betonung der Konvention und der Tradition passt Lukian in das Bild der Elite seiner Zeit, doch setzt er sich – einerseits mittels seiner παιδεία, andererseits auch durch ungewöhnliche Themenwahl und neue Textgenera, durch Ausweitung der literarisch-rhetorischen Tätigkeit weg von der Deklamation – vom durchschnittlichen Vortragsbetrieb (dessen μελέται in Form und Thematik offenbar doch sehr beschränkt gewesen sind)217 und damit vom durchschnittlichen Sophisten ab. Somit ist er zwar ein Sophist unter Sophisten, gleichzeitig aber ein kritischer Beobachter dieses Phänomens der Kaiserzeit, der durch vielfältige, innovative Umsetzung des gemeinsamen griechischen Erbes seinen Teil zur Selbstwahrnehmung der zeitgenössischen Elite beiträgt.

216

Vgl. dazu v.a. die Einleitung 2. unten. Vgl. den Kommentar zu §18: ὁ Μαραθὼν καὶ ὁ Κυνέγειρος [...] ὁ Λεωνίδας θαυμαζέσθω. 217

1.8 Aristophanes und die Alte Komödie

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1.8 Aristophanes und die Alte Komödie218 Abschliessend soll ein letzter Bereich der Intertextualität von Rh. Pr. untersucht werden, den ich oben (vgl. 1.2) als affirmativ bezeichnet habe, da – im Gegensatz zur Unterwanderung des platonisch-philosophischen ›Programms‹ des langen Weges – eine direkte, bejahende Übernahme durch die Sprecher erfolgt: Der ambivalent-karikierte Status der Figuren und praecepta in Rh. Pr. wird zu einem entscheidenden Teil durch Anlehnungen an die Gattung der Komödie, speziell an Aristophanes erzeugt. Diese Anlehnungen sind einerseits inhaltlicher (Aristophanes’ Wolken, Thesmophoriazusen), andererseits struktureller Natur (komischer Agon) und umfassen drittens den Bereich des verwendeten Vokabulars. Damit tritt neben die platonisch-philosophischen Reminiszenzen die (Alte)219 Komödie als weiteres Subgenus, und die Mischung dieser beiden Referenzgattungen korreliert mit Lukians Bemerkungen über die Schaffung eines komischen Dialogs, einer Literaturgattung, die ernsthafte (philosophische) Themen in der eingängigen Weise einer Komödie präsentiert.220 Für die Interpretation von Rh. Pr. ist daher nicht nur die Karikatur und Unterwanderung philosophischer Themen und Konzeptionen (Wegmetaphorik), sondern auch der Einbezug von Elementen vornehmlich der aristophanischen Komödie von Bedeutung.221 An dieser Stelle ist nochmals darauf hinzuweisen, dass das Zielpublikum der Schrift sicherlich ein gebildetes ist, welches über Kenntnisse der jeweiligen Subtexte verfügt und somit die durch intertextuelle Verweise erzeugte Tiefenstruktur des Textes zu decodieren versteht.222 Die drei oben genannten Bereiche der intertextuellen Bezugnahme auf die Komödie sollen im Folgenden kurz illustriert werden: Die Kernthematik von Rh. Pr., die Auseinandersetzung mit den zwei möglichen Rhetoriklehrern, dem maskulinen, tugendhaften Vertreter des langen und dem effeminierten, lasterhaften Vertreter des kurzen Weges, hat in Aristophanes’ Wolken mit dem Agon zwischen dem κρείττων und ἥττων λόγος eine – 218

Für wertvolle Hinweise zu diesem Kapitel danke ich Peter von Möllendorff. Vor allem im Bereich des Vokabulars liegen auch Anlehnungen an die Mittlere und Neue Komödie vor (bes. Menander). 220 Vgl. Bis Acc. 33–34. Zu Lukian als Vertreter des ernsthaften Spassens und zur Intention seiner Texte siehe auch die Einleitung 3.1, S. 120–125. 221 Der zentrale Subtext, Aristophanes’ Wolken, ist durch die Thematik der Sophistik, die im Rahmen einer Komödie verhandelt wird, gleich auch ein Prototyp der Verbindung von Philosophischem und Komischem; zwar differieren (historisch gesehen) die philosophische und die rhetorische (zweite) Sophistik, doch ist die Karikatur des Sokrates als Sophist in Nu. und Rh. Pr. sehr ähnlich angelegt. 222 Siehe dazu bereits oben 1.2, S. 31. 219

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

gleichzeitig inhaltliche und strukturelle – Vorlage, was in der LukianForschung schon seit längerer Zeit festgestellt worden ist (vgl. Bompaire [1958] 255f.):223 Die beiden λόγοι verkünden nacheinander ihre Lehre und versuchen, den angehenden Sophisten Pheidippides auf ihre Seite zu ziehen bzw. als Schüler zu gewinnen.224 Der κρείττων λόγος vertritt dabei die althergebrachte Erziehung (V. 961: ἀρχαία παιδεία) und fordert Selbstbeherrschung, Gehorsam, körperliches Training und Abhärtung, während sein Kontrahent ἥττων λόγος die neumodische Erziehung (Vv. 936f.: καινὴ παίδευσις) propagiert und für eine triebgesteuert-lockere Lebensführung – auch im sexuellen Bereich – einsteht. Vieles davon stimmt mit der alten und neuen Rhetorik überein, die Rh. Pr. uns vorführt: Es ist eine Wahl zwischen einem harten, anstrengenden oder einem lustvollen, einfachen Weg und zwischen den entsprechenden Lehrern. Dass der Ratgeber den Lehrer des langen Weges abfällig als ἀρχαῖος καὶ Κρονικὸς ἄνθρωπος (»altmodischer alter Trottel«) bezeichnet (§10), darf in diesem Kontext als direkte Imitation225 der wiederkehrenden Beschimpfungen des ἥττων λόγος, der seinen Gegner ebenfalls als alten Trottel bezeichnet, gewertet werden (vgl. V. 929: οὐχὶ διδάξεις τοῦτον Κρόνος ὤν und V. 1070: σὺ δ’ εἶ Κρόνιππος).226 Der ἥττων λόγος wird vom κρείττων λόγος im Gegenzug als frech (θρασύς, Vv. 890 und 915), schamlos und geil (ἀναίσχυντος, καταπύγων; V. 909) beschimpft,227 was diesen freilich wenig bekümmert, ja sogar erfreut (Vv. 910ff.). Er vergleicht seine neue Redetechnik mit einem Pfeil223 Vgl. zur Gestaltung des Agons in Rh. Pr. und zur Bedeutung der Gegenüberstellung von Männlichkeit und Effeminiertheit vor dem zeitgenössischen Hintergrund auch den einleitenden Kommentar zu §§9–10. – Es können an dieser Stelle nur die wichtigsten Reminiszenzen aufgezeigt werden; weitere Hinweise finden sich im Kommentarteil. 224 Vgl. zu Ähnlichkeiten in der Formulierung Nu. 990: [...] θαρρῶν ἐμὲ τὸν κρείττων λόγον αἱροῦ und Rh. Pr. 1: [...] θαρρῶν ὡς τάχιστα δεινὸς ἀνὴρ ἔσῃ κτλ.; Nu. 1009–11 (der κρείττων λόγος preist abschliessend seine Lehre und die daraus zu erlangenden Güter an): ἢν ταῦτα ποῇς ἁγὼ φράζω, / καὶ πρὸς τούτοισιν ἔχῃς τὸν νοῦν / ἕξεις ἀεὶ κτλ. und Rh. Pr. 26: ἢν πεισθῇς τοῖς εἰρημένοις κτλ. sowie Rh. Pr. 1: ἢν τὸ μετὰ τοῦτο ἐθελήσῃς αὐτὸς ἐμμένειν οἷς ἂν ἀκούσῃς παρ’ ἡμῶν κτλ. 225 Zu diesem Begriff sowie generell zur Problematik der methodisch nur schwer unterscheidbaren bewussten und unbewussten Anspielungen siehe Möllendorff [2000b] 12–17, bes. 16: »Unter direkter Imitation ist die Form der Nachahmung zu verstehen, deren Analyse ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen zwei Texten nachweisen oder wenigstens plausibel machen kann.« Von indirekter Imitation hingegen ist zu sprechen, wenn dieser Nachweis nicht geführt werden kann, da z.B. allgemeine topische Motive verarbeitet sind. 226 Vgl. zu denselben Aristophanes-Reminiszenzen in Hermot. Möllendorff [2000a] 212–215 (auch 150 Anm. 3; 177f. Anm. 131). 227 Vgl. dazu Rh. Pr. 15: Κόμιζε τοίνυν τὸ μέγιστον μὲν τὴν ἀμαθίαν, εἶτα θράσος ἐπὶ τούτῳ καὶ τόλμαν καὶ ἀναισχυντίαν. αἰδῶ δὲ ἢ ἐπιείκειαν ἢ μετριότητα ἢ ἐρύθημα οἴκοι ἀπόλιπε und Rh. Pr. 19: βάδιζε μεταφέρων τὴν πυγὴν (mit dem Kommentar zur Stelle). Eine Parallele zu Rh. Pr. (§§8, 20, 26) weist auch die Begründung des κρείττων λόγος auf, warum die neumodische Rhetorik überhaupt florieren kann: Es ist der Zeitgeschmack der Ungebildeten (Vv. 897f.: ταῦτα γὰρ ἀνθεῖ διὰ τουτουσὶ τοὺς ἀνοήτους).

1.8 Aristophanes und die Alte Komödie

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hagel, der den Gegner zu Boden streckt (ῥηματίοισιν καινοῖς αὐτὸν / καὶ διανοίαις κατατοξεύσω, Vv. 943f.)228 und rät seinem Zögling ganz klar zu einer schamlosen Lebensweise, die sich nicht um einen guten Ruf schert.229 Gerade auch für den Lehrer des langen Weges, dem in Rh. Pr. sehr wenig Raum gewidmet ist, bietet uns die Anlehnung an den aristophanischen κρείττων λόγος weitere mögliche Charakterisierungsansätze, denn dieser wird (genauso wie der offensichtlich schamlose ἥττων λόγος) mit seiner Unfähigkeit, die althergebrachte Erziehung zu verteidigen, und mit seinen immer wieder durchscheinenden päderastischen Phantasien lächerlich gemacht (Vv. 977–980).230 Eine wertende Benennung der Figuren (κρείττων / ἥττων bzw. δίκαιος / ἄδικος) ist in Rh. Pr. weggelassen, was insofern mit dem Gesamtduktus der Schrift in Einklang steht, als es dem Rezipienten überlassen bleibt, über sie ein Urteil zu fällen.231 Was die formalen Parallelitäten zwischen Rh. Pr. und dem Agon der Wolken anbelangt, so stuft Bompaire ([1958] 255) sie zu Recht als »rapprochement très superficiel« ein, weil die Konstruktion der beiden Werke und der entsprechenden Passagen doch sehr unterschiedlich sei. Es fehlen beispielsweise in Rh. Pr. die strukturellen Charakteristika des komischen Agons, ein rascher Schlagabtausch zwischen den beiden Parteien (bisweilen in Form einer Stichomythie)232 und das Unterbrechen des Plädoyers der einen Partei durch einen Einwurf der anderen. Die Reden sind klar voneinander getrennt und nehmen nicht exakt aufeinander Bezug. Bompaire kommt zu folgendem Schluss (S. 256): On ne saurait en tout cas parler d’agon dans le Maître de Rhétorique, et malgré l’absence de construction nette dans les deux discours, le déséquilibre qui existe entre

228 Vgl. Rh. Pr. 17: μέτει δὲ ἀπόρρητα καὶ ξένα ῥήματα [...] καὶ ταῦτα συμφορήσας ἀποτόξευε προχειριζόμενος ἐς τοὺς προσομιλοῦντας. 229 Nu. 1071–1078: σκέψαι γάρ, ὦ μειράκιον, ἐν τῷ σωφρονεῖν ἅπαντα / ἅνεστιν, ἡδονῶν θ’ ὅσων μέλλεις ἀποστερεῖσθαι· / παίδων, γυναικῶν, κοττάβων, ὄψων, πότων, καχασμῶν. / καίτοι τί σοι ζῆν ἄξιον, τούτων ἐὰν στερηθῇς; / εἶεν. πάρειμ’ ἐντεῦθεν εἰς τὰς τῆς φύσεως ἀνάγκας. / ἥμαρτες, ἠράσθης, ἐμοίχευσάς τι, κᾆτ’ ἐλήφθης. / ἀπόλωλας· ἀδύνατος γὰρ εἶ λέγειν. ἐμοὶ δ’ ὁμιλῶν / χρῶ τῇ φύσει, σκίρτα, γέλα, νόμιζε μηδὲν αἰσχρόν. Vgl. Rh. Pr. 23 passim. 230 Genau das Element, wie man die alte Lehre auch in moderner Zeit noch überzeugend vertreten und einbeziehen kann, ist auch ein von Lukian in seinen Vorreden diskutiertes Thema (vgl. die Einleitung 1.7). 231 Vgl. dazu bereits oben 1.2 und 1.6, S. 66f. Auch die desaströsen Folgen der Lehre des ἥττων λόγος sind in Rh. Pr. ausgespart, siehe dazu gleich. 232 Eine sowohl inhaltliche als auch strukturelle Anlehnung an die Alte Komödie bietet z.B. der Beginn von Lukians Piscator, der die Parodosszene von Aristophanes’ Acharnern aufnimmt (siehe dazu auch Anm. 400).

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

eux et le défaut de convention judiciaire, la composition appartient au genre δικανικός, déformé précisément pour les besoins du pamphlet.233

Dem ersten Teil dieser Aussage ist sicher zuzustimmen, der Agon allerdings nicht dem γένος δικανικόν, sondern dem γένος συμβουλευτικόν zuzuordnen.234 Die Situation des Agons in Rh. Pr. entspricht nämlich weniger derjenigen vor Gericht, wo Ankläger und Verteidiger um die Gunst des Richters buhlen und der Verlierer mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen hat, als derjenigen in der Volksversammlung, wo zwei Vertreter verschiedener politischer Positionen den Bürger von ihren Plänen überzeugen und sich eine grosse Anhängerschaft verschaffen wollen, die ihrem Weg folgt.235 Zwischen den Vorträgen der Sophisten und der Volksversammlung (als Ort symbuleutischer Reden) besteht insofern auch eine räumliche und situative Parallele, als die Theater sowohl Versammlungsort als auch Vortragsort für Showredner waren und das Publikum dieser Redner wie die Teilnehmenden der Volksversammlung durch entsprechende Reaktionen über Ge- oder Misslingen der Rede entschied.236 Über die Agonszene hinaus bieten die Wolken auch von der Gesamtanlage her weitere Parallelen zu Rh. Pr., die sich vor allem auf das Verständnis der Figurenzeichnung auswirken: Die Denkerstätte (φροντιστήριον), in der Strepsiades und später sein Sohn das Metier des sophistischen Redners erlernen wollen, ist diejenige des Sokrates. Er ist es, der Strepsiades als Schüler in Empfang nimmt und ihm – unterstützt vom Wolkenchor – eine glorreiche Zukunft aufzeigt, wie es der Ratgeber gegenüber seinem Schüler tut.237 Die Parallele zwischen dem Ratgeber und Sokrates (nicht mehr nur in seiner platonischen – s.o. 1.3 –, sondern auch in der aristophanischen Prä233

Zur Differenzierung der Elemente des komischen Agons und der Gerichtsdebatte, die Lukian beide immer wieder verwendet, vgl. Bompaire [1958] 252. Vgl. auch die Bemerkungen zur Struktur der Schrift Piscator in Anmm. 400 und 402. 234 Vgl. dazu bereits die Einleitung 1.1, S. 12. Bompaire ([1958] 264) selbst betont in seiner Abhandlung über den Einfluss der symbuleutischen Rede in Lukians Œuvre die (kompositionellargumentative) Nähe des γένος δικανικόν und συμβουλευτικόν. 235 Man vergleiche zu den verschiedenen Genera Arist. Rh. 1,3: Das γένος δικανικόν besteht aus Anklage und Verteidigung, dreht sich um Gerechtes und Ungerechtes, und der Richter urteilt über Vergangenes. Das γένος συμβουλευτικόν hingegen besteht aus dem An- oder Abraten einer bestimmten Sache, welche die Zukunft betrifft und dreht sich um Nützliches und Schädliches, Gutes und Schlechtes. Das zweite Genus trifft viel eher auf die Situation in Rh. Pr. zu, wo ein junger Mann für seine Zukunft zwei Wege aufgezeigt bekommt, von denen er den für ihn nützlicheren auswählen soll. 236 Diese Parallele gestaltet sich enger oder loser, je nachdem, ob man das ›Volk‹ (οἱ πολλοί) als Hauptbestandteil der Zuhörerschaft sophistischer Vorträge annimmt oder nicht (vgl. dazu Anm. 259). 237 Vgl. Nu. 413 (Chor): ὡς εὐδαίμων ἐν Ἀθηναίοις καὶ τοῖς Ἕλλησι γενήσει; 429f. (Strepsiades’ Wunsch): ὦ δέσποιναι, δέομαι τοίνυν ὑμῶν τουτὶ πάνυ μικρόν, / τῶν Ἑλλήνων εἶναί με λέγειν ἑκατὸν σταδίοισιν ἄριστον; auch 460ff. Vgl. dazu Rh. Pr. 1, 3, 8.

1.8 Aristophanes und die Alte Komödie

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gung) wird weiter dadurch gestärkt, dass die beiden λόγοι, die um den Schüler Peidippides buhlen, aus Sokrates’ Haus stammen und er sie auftreten lässt, wie der Ratgeber die Lehrer des langen und des kurzen Weges heranzieht und präsentiert.238 Dazu ist anzumerken, dass der Werktitel ῥητόρων διδάσκαλος nicht eindeutig deutlich macht, auf welche Figur er zu beziehen ist: Wohl wird der Lehrer des kurzen Weges am Ende der Schrift als διδάσκαλος bezeichnet,239 doch wäre es auch möglich, den Titel auf den Ratgeber selbst anzuwenden, und nicht nur im Sinn eines Lehrers, sondern auch im Sinn eines »Inszenierers von Rednern«, also desjenigen, welcher die Figuren auf die Bühne bringt und anleitet.240 Die doppelte Applikation des Titels sowohl auf den Ratgeber als auch auf den Rednerlehrer stellt insofern kein Problem dar, als diese Figuren in der Schrift eng miteinander verwoben sind, indem der Ratgeber die Prosopopoiie des Rednerlehrers vornimmt und sich erst ganz am Schluss (§26) von ihm distanziert. Der aristophanische Sokrates erinnert denn auch in seiner Überheblichkeit und Geziertheit an den Rednerlehrer.241 Das in Rh. Pr. besonders hervorgehobene Element der Effeminiertheit und Lüsternheit fehlt zwar in der aristophanischen Sokratesfigur, findet sich aber ein Stück weit in der (vom κρείττων λόγος kritisierten) Geilheit des ἥττων λόγος, welcher ja wiederum im Agon der Lehrerfiguren mit dem Rednerlehrer korrespondiert (s.o.).242 Die Schrift Rh. Pr. nimmt bezüglich der Verweise auf die Sokratesfigur eine doppelt verstärkte Platonrezeption vor, indem die Sprecher einerseits direkt auf den 238 Vgl. Nu. 886f. (Σω. αὐτὸς μαθήσεται παρ’ αὐτοῖν τοῖν λόγοιν· ἐγὼ δ’ ἀπέσομαι.) und Rh. Pr. 9–12. 239 Vgl. dazu oben 1.1, S. 12f. und meine Benennung dieser Figur als ›Rednerlehrer‹. 240 Auch wenn im Fall des ersten Lehrers eine Art ›imaginierter‹ Auftritt vorliegt (indirekte Wiedergabe durch den Ratgeber), so werden doch die spezifischen Charakteristika eines Auftritts – äussere Erscheinung, Verhalten – ausführlich beschrieben; die Passage wird zudem formal in engen Zusammenhang mit dem nachfolgenden ›direkten‹ Auftritt des Rednerlehrers gesetzt (vgl. §9: εὐθὺς οὖν πρόσεισί σοι καρτερός τις ἀνήρ, ὑπόσκληρος, ἀνδρώδης τὸ βάδισμα, [...] ἕπεσθαί σοι παρακελευόμενος / §11: πρὸς δὲ τὴν ἑτέραν ἐλθὼν εὑρήσεις [...] πάνσοφόν τινα καὶ πάγκαλον ἄνδρα, διασεσαλευμένον τὸ βάδισμα, [...]. Τούτῳ τοίνυν προσελθὼν καὶ παραδοὺς ἑαυτὸν κτλ.). – Belege für den Begriff διδάσκαλος als »Inszenierer« bieten z.B. Kratinos PCG 4, fr. 276 (ἴτω δὲ καὶ τραγῳδίας ὁ Κλεομάχου διδάσκαλος); Aristophanes Ach. 628 (ἐξ οὗ γε χοροῖσιν ἐφέστηκεν τρυγικοῖς ὁ διδάσκαλος ἡμῶν) und Av. 912; Antiphon Or. 6,13; D. L. 6,35 (χοροδιδάσκαλος). Vgl. auch LSJ s.v. II: trainer of a dithyrambic or dramatic chorus, producer of a play. 241 Vgl. z.B. Nu. 223ff., 361–363 und Rh. Pr. 13. 242 Zur Nähe der Figuren Ratgeber/Rednerlehrer/Sokrates/ἥττων λόγος ist anzumerken, dass auch in Aristophanes’ Wolken stellenweise beinahe eine Gleichsetzung des Sokrates mit dem ἥττων λόγος insinuiert wird, obwohl beide λόγοι in Sokrates’ Denkerstätte wohnen, vgl. z.B. Vv. 1145–1151: [...] Σω. Στρεψιάδην ἀσπάζομαι. / Στ. κἄγωγέ σ’. ἀλλὰ τουτονὶ πρῶτον λαβέ. / χρὴ γὰρ ἐπιθαυμάζειν τι τὸν διδάσκαλον. / καί μοι τὸν υἱόν, εἰ μεμάθηκε τὸν λόγον / ἐκεῖνον, εἴφ’, ὃν ἀρτίως εἰσήγαγες. / Σω. μεμάθηκεν. Στ. εὖ γ’, ὦ παμβασίλει’ Ἀπαιόλη. / Σω. ὥστ’ ἀποφύγοις ἂν ἥντιν’ ἂν βούλῃ δίκην.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

platonischen Sokrates anspielen und dessen Figur unterwandern (vgl. §13 und oben 1.3), andererseits über Anspielungen auf Aristophanes’ Wolken die komische Karikatur des Sokrates bejahend adaptieren. Das Schlusswort des Ratgebers mit der deutlichen Abwertung der neuen Rhetorik stellt eine abgeschwächte Form der wutentbrannten Zerstörung der Denkerstätte durch Strepsiades dar, so dass auch eine zusätzliche Parallele von Strepsiades zum Ratgeber gezogen werden kann. Strepsiades’ anfängliche Begeisterung für die neuartige Sophistik, die sich in Hass wandelt, findet sich in der Beurteilung des Lehrers des kurzen Weges durch den Ratgeber (Zustimmung und Lob / Ablehnung) in abgewandelter Form wieder.243 Der Ratgeber vereint so in seiner ambivalenten persona Züge des platonischen und aristophanischen Sokrates sowie des Strepsiades. Möglicherweise soll auch das Verhältnis des Ratgebers zum jungen Mann (μειράκιον) an dasjenige des Strepsiades zu seinem Sohn Pheidippides erinnern: Der Vater weist dem Sohn den Weg, ist ihm eine Art ›Ratgeber‹. Denkt man diese Parallele weiter, so ist die nicht agierende Figur des Schülers in Rh. Pr. an den aristophanischen Text ausgelagert, der die (verheerenden) Konsequenzen aufzeigt, welche die Verwirklichung der Lehre des kurzen Weges für den Charakter des Schülers und für sein Umfeld haben könnte.244 Was die Figurenzeichnung des Rednerlehrers angeht, so ist seine Prosopopoiie ganz generell als Komödienauftritt markiert,245 er trägt aber zudem folgende konkrete Züge aristophanischer Charaktere, wobei zwischen direkter Parallele und analogischer Figurengestaltung zu unterscheiden ist: Als erster ist Agathon in Aristophanes’ Thesmophoriazusen (Vv. 101–265) zu nennen, der Prototyp des Effeminierten, den der Ratgeber denn auch als illustrierendes exemplum zur Beschreibung des Rednerlehrers einführt, wodurch eine direkte Parallele gezogen wird (vgl. §11).246 Zweitens erinnert die Zeichnung des Rednerlehrers als ›hybride‹ oder ›multiple‹ Figur – schwankend zwischen Mann und Frau, aber auch zwischen verschiedenen aufgerufenen Persönlichkeiten wie Sokrates (vgl. §13)247, Agathon, diversen berühmten Sophisten, und letztlich schwer greifbar, ja anonymisiert (vgl. seinen βίος §§24–25) – an die aristophanische komische Technik, wie wir sie bei komplexen personae wie Dikaiopolis in den Acharnern oder dem 243

Man vgl. auch die Betonung von Strepsiades’ bäurischem Wesen (Nu. 43–48, 628), ein Attribut, das in Rh. Pr. auf den Lehrer des langen Weges angewendet ist (§12: ἄγροικον γὰρ τὸ ἀρρενωπὸν), aber letztlich auch auf alle Absolventen der langdauernden Ausbildung – und damit auf den Ratgeber – übertragen werden darf. 244 Vgl. die Schlussszene Nu. 1321ff. 245 Vgl. §§11–12, v.a. die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §12. 246 Zu den Parallelen zwischen Rednerlehrer und Agathon im Detail siehe den Kommentar zu §11: πάναβρόν τινα Σαρδανάπαλλον ἢ Κινύραν ἢ αὐτὸν Ἀγάθωνα. 247 In seinem Verfechten des kurzen Weges als ›philosophische‹ Figur trägt er auch Züge eines Kynikers, vgl. dazu die Einleitung 1.3, S. 41–43.

1.8 Aristophanes und die Alte Komödie

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»Verwandten« (κηδεστής) in den Thesmophoriazusen angewandt sehen.248 Zu den Thesmophoriazusen weisen auch weitere Details in Rh. Pr. eine Nähe auf.249 Zur Wirkung einer ›Verstellung‹ im Rollenspiel äussert sich Dikaiopolis selbst (Ach. 440–444): Δεῖ γάρ με δόξαι πτωχὸν εἶναι τήμερον, / εἶναι μὲν ὅσπερ εἰμί, φαίνεσθαι δὲ μή· / τοὺς μὲν θεατὰς εἰδέναι μ’ ὅς εἰμ’ ἐγώ, / τοὺς δ’ αὖ χορευτὰς ἠλιθίους παρεστάναι, / ὅπως ἂν αὐτοὺς ῥηματίοις σκιμαλίσω.250

Der effeminierte Rednerlehrer spielt zwar nicht in diesem Sinn eine Rolle (oder höchstens insofern er als Narr agiert251), sondern tritt als er selbst auf, doch kann Dikaiopolis’ Aussage über Schein, Täuschung, Veralberung einen Hinweis auf die beabsichtigte Publikumswirkung einer solchen von Lukian konstruierten komplexen persona des Rednerlehrers geben.252 Hinzu kommt nun drittens, dass sowohl Ratgeber als auch Rednerlehrer in ihren Äusserungen Komikervokabular benutzen, das vor allem mit dem komödienhaften Auftritt des Rednerlehrers verstärkt zur Anwendung kommt. Die gesamte Einleitung des Ratgebers (§§1–8: Proömium; Prothesis/Dihegesis) ist entsprechend dem platonisch-philosophischen Duktus des Beginns hauptsächlich von solchem Vokabular geprägt; eine erste sowohl platonische als auch aristophanische Nuance bietet die Junktur διὰ λειμώνων εὐανθῶν in §3: Bei beiden Autoren werden blumenreiche Wiesen im Zusammenhang mit Unterweltsdarstellungen (Asphodeloswiese) genannt.253 Möglicherweise ist dieses auch auf die Komödie verweisende Vokabular als bewusster Anzeiger einer Schnittstelle zwischen ›Ernst‹ und ›Komik‹ zu interpretieren, der dort zum Einsatz kommt, wo die Alternative des wunder248 Dikaiopolis spielt im Stück diverse Rollen: Athenischer Bürger – Verkleidung zum tragischen Helden Telephos – Sprachrohr von Aristophanes (Eupolis?) – Orestes; vgl. dazu Fisher [1993]. Der »Verwandte« (κηδεστής) schleust sich, von Agathon als Frau ausgestattet, ins Thesmophorienfest ein (vgl. zu seiner effeminierten Figur Th. 266–268: Εὐ. Ἀνὴρ μὲν ἡμῖν οὑτοσὶ καὶ δὴ γυνὴ / τό γ’ εἶδος. Ἢν λαλῇς δ’, ὅπως τῷ φθέγματι / γυναικιεῖς εὖ καὶ πιθανῶς). Als sein Betrug aufgedeckt wird, nimmt auch er Züge des tragischen Helden Telephos an, später der Helena und der Andromeda (Th. 688ff., 850ff., 1010ff.). 249 Vgl. den Kommentar zu Rh. Pr. 12: ἄγροικον γὰρ τὸ ἀρρενωπὸν καὶ οὐ τοῦ ἁβροῦ καὶ ἐρασμίου ῥήτορος; 16: ἀτέλεστόν τινα καὶ κατάσκοπον τῶν ἀπορρήτων; 23: σοὶ καὶ ἄχρι τῆς γυναικωνίτιδος εὐδοκιμοῦντι; 24: μητρὸς δὲ ἀκεστρίας. 250 »Denn ich muss heute den Anschein machen, ein Bettler zu sein, und zwar der bleiben, der ich bin, [so] scheinen aber nicht. Das Publikum darf wissen, wer ich bin, die Choreuten aber sollen einfältig daneben stehen, damit ich sie veralbern [kann].« 251 Siehe dazu die Bemerkungen in der Einleitung 1.6, S. 63f. 252 Zur Möglichkeit der Interpretation dieser aristophanischen Figuren – und damit auch der in Rh. Pr. aufgenommenen Züge – als grotesk-karnevalesk im Sinne Michail Bachtins siehe die Bemerkungen im Kommetar zu §10: ἀλαζὼν καὶ ἀρχαῖος ὡς ἀληθῶς καὶ Κρονικὸς ἄνθρωπος (am Ende). 253 Vgl. dazu und zu den im Folgenden aufgeführten platonischen und komischen Vokabeln jeweils den Lemmakommentar zur Stelle.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

samen, kurzen und bergab führenden Weges zum ersten Mal beschrieben wird. Inhaltlich verweisen in diesen Kapiteln v.a. §5 und §8 (je eine Sinneinheit abschliessend) auf die mögliche Komödienhaftigkeit des Dargestellten: Da ist einerseits die Geschichte des Sidoniers (§5)254 mit Doppeldeutigkeit im Vokabular (ἀνόνητον) bzw. dem Hinweis auf Unglaubliches (τὸ παράδοξον), andererseits die deutliche Bezugnahme auf die Aporie des Rezipienten angesichts des Ratschlags (§8: εὖ οἶδα ὅτι ἀπορήσεις κτλ.). Die Ablehnung des Lehrers des langen Weges (§§9–10: refutatio) enthält die erste klare Bezugnahme auf Aristophanes’ Wolken (§10: Κρονικὸς ἄνθρωπος), die oben bereits diskutiert worden ist. In der Fortsetzung (§§11–13: Auftritt und erste Wortmeldung des Rednerlehrers) ergibt sich nun eine Juxtaposition von platonischen und aristophanischen Vokabeln, und damit von Anspielungen auf entsprechende Konzepte255, welche die Schrift bis zum Schluss durchzieht, wobei die Komödie stellenweise deutlich überhand nimmt. Platonisches (πάνσοφόν τινα καὶ πάγκαλον; παραδοὺς ἑαυτὸν; ὥσπερ ὁ Χαιρεφῶν κτλ.) und Komisches (Ἀγάθωνα; δρόσῳ; φαῦλον ὑποκριτὴν κτλ.; Αὐτοθαΐδα τὴν κωμικὴν [...] μιμησάμενος; ἄγροικον) vermischen sich in der Figur des Rednerlehrers, welcher in seinem Schauspiel – als effeminierter Agathon, als Hetäre – die Figur des (platonischen) Sokrates für seine eigene Sache verwendet und so gleichzeitig für den Rezipienten satirisch als ›falscher Sokrates‹ karikiert wird. Im folgenden ersten Teil der konkreten Lehre (§§14–17) werden platonische Konzepte, die im Vokabular enthalten sind (konventionell positive Charaktereigenschaften: αἰδῶ δὲ ἢ ἐπιείκειαν κτλ.; Einweihung: εἰ μὴ προετελέσθης κτλ.), vom Rednerlehrer einerseits negiert, andererseits im Sinne seiner Komödie pervertiert (καθάπερ ἀτέλεστόν τινα καὶ κατάσκοπον τῶν ἀπορρήτων; ἀποτόξευε; νομοθέτει). Und ein komödienhafter Auftritt ist letztlich auch das, was der Schüler in Nachahmung seines Lehrers anstreben soll (ἕπου μόνον, ὦ μέλημα, οἷς ἂν εἴπω, καὶ ζήλου πάντα κτλ.; βοὴν ὅτι μεγίστην; μέλος ἀναίσχυντον; κρηπίς; ἐμβάς; σκορακιεῖ; σισύρα). Mit den weiteren Ausführungen des Rednerlehrers, die insbesondere die Vortragsweise (ὑπόκρισις) abhandeln (§§18–22), tritt das Komödienhaft-Theatralische immer stärker in den Vordergrund (vgl. zum Vokabular z.B. οἴμοι τῶν κακῶν; βάδιζε μεταφέρων τὴν πυγὴν). Platonisches bleibt dabei im Hintergrund insofern durchgängig vorhanden, als sich sämtliche Empfehlungen auf den Wunsch des Schülers, in ganz Hellas Berühmtheit zu erlangen, zurückbeziehen (vgl. Rh. Pr. 1) und dieser Wunsch in seiner Formulierung Ähnlich254 Vgl. zur Deutung des Sidoniers als Narrenfigur die Einleitung 1.6, S. 63 und den Kommentar zu §5: Σιδωνίου τινὸς ἐμπόρου. 255 Gemeint sind: Ernsthaftigkeit der Ausbildung, sokratische Lehre vs. dramatisch-komischer Kontext, Agieren auf der Bühne; bedingt durch die inhaltlichen Elemente der Wegmetaphorik, der Lehrerwahl und des Schauspielerauftritts.

1.8 Aristophanes und die Alte Komödie

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keiten zu Platons Alkibiades I aufweist.256 Der bei Platon skizzierte Weg zu Erfolg und Berühmtheit wird vom Rednerlehrer allerdings für seine Zwecke erwartungsgemäss völlig anders ausgelegt (beispielsweise pervertiert die Formulierung τὸν ἱδρῶτα ὁρῶντες in §20 echtes Schwitzen auf dem langen Weg). Die abschliessenden Kapitel über das Privatleben des Sophisten, illustriert durch den Lebenslauf des Lehrers selbst (§§23–25), bilden den Höhepunkt des komödienhaften Auftritts und gleichzeitig der Pervertierung platonisch-philosophischer Konzepte, mit dem Schwerpunkt der charakterlichen Verkommenheit. Das Vokabular ist dementsprechend stark an die Komödie angelehnt (κυβεύειν; μοιχεύειν; γυναικωνίτιδος; τὸ δεῖνα; φαλακρός; λαλίστεραι; γονιμώτερα; ἀκεστρίας; γλίσχρῳ; γραΐ; ἐγαστριζόμην; τῆς σοροῦ; κατάρατος); erst ganz am Ende von §25, vor dem Schlusswort des (platonisch-philosophischen) Ratgebers, erfolgt wieder ein klarer Verweis auf Platon (νὴ τὴν πάνδημον). Im Schlusswort (§26) vollführt der Ratgeber eine Kehrtwende, indem er den kurzen Weg nun negativ beurteilt und seine Identifikation mit dem Rednerlehrer durch scharfe Abgrenzung widerruft. Dies wird auch auf der Ebene des Vokabulars abgebildet, indem dem Rednerlehrer der Bereich der Komödie und des komödienhaften Beraters zugewiesen wird (vgl. γραῦν τινα τῶν κωμικῶν; ironisch: νομοθέτης καὶ διδάσκαλος). Daneben wird weiterhin die Ambivalenz der Äusserungen des Ratgebers und seiner persona deutlich, weil er sowohl mehrdeutige, gleichzeitig aristophanische und platonische Ausdrücke (vgl. v.a. γεννάδας) als auch generell ein aus beiden Bereichen gemischtes Vokabular (τὸ τοῦ Πλάτωνος κτλ.; ἀγεννής; ἀσύμβολος; τῷ ῥᾴστην καὶ πρανῆ τραπέσθαι τὴν ὁδόν) benutzt. Ein interessantes Ergebnis der Vokabularanalyse257 ist nun vor allem die Juxtaposition von platonisch-philosophischem und komischem Vokabularbereich, die sich ab §11 zeigt: Durch diese Mischung und durch den Auftritt einer komischen Figur wird das Konzept des platonisch-philosophischen Dialogs mit einem entsprechenden komödienhaften Element versehen, das letztlich eine Karikatur ebendieser Figur bewirkt, welche die platonischphilosophischen Konzepte auch aktiv pervertiert. So wird die Schrift gesamthaft, d.h. auch auf der sprachlich-stilistischen und damit ästhetischen 256

Vgl. dazu die Einleitung 1.3, S. 37f. Diese Auswertung des in Rh. Pr. verwendeten Vokabulars hinsichtlich einer Amalgamierung von philosophischem und komischem Vokabular ist angeregt durch folgende Bemerkung Möllendorffs ([2006b] 84) über Lukians ästhetische Technik (bezogen auf seine Neuschaffung der Gattung des komischen Dialogs): »In particular, a close analysis of his style and language would be highly desirable, as it would enable us to gain an insight in the process of the amalgamation of the different stylistic qualities of dialogue (αὐστηρόν, σεμνότης) and comedy (witty, colloquial language, ἰδιωτικόν, ἀνθηρόν) on the semantic and syntactic level.« Zu einer derartigen Analyse könnten meine Beobachtungen einen ersten Beitrag darstellen, der selbstverständlich noch um viele Aspekte – v.a. im stilistischen Bereich – zu erweitern wäre. 257

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

Ebene, zu einer ambivalenten, im Sinn des lukianischen komischen Dialogs gestalteten Darstellung eines ernsthaften Kernthemas – des Weges zur Rhetorik – geformt.

2. Πεπαιδευμένος und ἀπαίδευτος: Zum Bildungsstand von Produzenten und Rezipienten in der Vortragskultur der Zweiten Sophistik

Wie bereits mehrfach angesprochen nehmen Bildung (παιδεία) und Unbzw. Scheinbildung (ἀπαιδευσία) in Lukians Satiren über Sophisten und auch Philosophen einen prominenten Platz ein.258 Zwar ist die entsprechende Terminologie in Rh. Pr. nicht derart präsent wie in anderen Schriften, dennoch ist aber die Klärung dieser Begriffe auch für das Verständnis des vorliegenden Textes wichtig. Oft wird in der Sekundärliteratur ohne nähere Erklärung von πεπαιδευμένοι (»Gebildeten«) und ἀπαίδευτοι (»Ungebildeten«) gesprochen, so dass im Folgenden eine Definition dessen, was Bildung in der Zweiten Sophistik beinhaltet, zu geben versucht wird, um daran anschliessend die lukianischen Satiren in diesem Bildungsdiskurs zu verorten.

2.1 Der sozio-kulturelle Hintergrund Zur Beantwortung der Frage nach Bildung und Unbildung ist es hilfreich, im Zentrum anzusetzen, dort, wo παιδεία in Auftritten von Rednern, Philosophen und anderen Gelehrten öffentlich zur Schau getragen worden ist, wo sie gemeinsam beklatscht, bewundert oder aber auch heftig über sie diskutiert worden ist. Der Besucher solcher Vorträge musste sich unweigerlich immer auch mit seiner eigenen Bildung auseinandersetzen, sei es im Rahmen einer Bestätigung derselben, der Bewunderung der Bildung anderer oder aber der elitären Absetzung vom jeweils Dargebotenen. Klar ist, dass in der sophistischen Vortragskultur sowohl Produzenten als auch Rezipienten eine tragende Rolle im Prozess des Kreierens und Etablierens ›ihrer‹ παιδεία spielten. Wie man sich allerdings Quantität und Zusammensetzung der Hörerschaft der Vorträge der Zweiten Sophistik genau vorzustellen hat, ist umstritten,259 genauso wie der tatsächliche Bildungsstand dieser Hörer258 Siehe dazu die Einleitung 1.5.c (bes. zur Figur des Lykinos) und 1.6, S. 65–67; 1.7 (zu Lukians Selbstdarstellung seiner παιδεία); 3. (v.a. auch zum Bild der Scheinphilosophen). 259 Die ausführlichsten neueren Arbeiten zu diesem Thema stammen von Korenjak [2000] (mit Betonung der Interaktion von Publikum und Redner) und Schmitz [1997] (mit weiterem Fokus auf

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2. Πεπαιδευμένος und ἀπαίδευτος

schaft nicht einfach auszumachen ist. Worüber wir allerdings verfügen, sind Bemerkungen von Produzenten der Zweiten Sophistik bezüglich dem Bildungsstand ihrer Zuhörerschaft, d.h. wir haben Aussagen über den von den Rednern selbst intendierten Bildungsstand ihrer Rezipienten. Daneben gewinnen wir wichtige Hinweise aus verschiedenen Textgenera, die allgemeine Äusserungen literarisch tätiger Personen über ihre Sichtweise von Bildung und Unbildung im zeitgenössischen Umfeld enthalten. Grundsätzlich weisen solche Texte die folgende Zweiteilung auf:260 Auf der einen Seite stehen die ungebildeten Hörer/Rezipienten, die ›Masse‹, als οἱ πολλοί, ἰδιῶται, ἀμαθεῖς, τὸ πλῆθος bezeichnet, auf der anderen Seite die Gebildeten, οἱ πεπαιδευμένοι.261 Im grossen Ganzen können wir davon ausgehen, dass diese Zweiteilung gleichzeitig der Dichotomie der Gesellschaft in Unter- und Oberschicht entsprach, wie wir sie in den griechischen Städten des römischen Imperiums fassen können, obwohl Durchlässigkeiten sicher bestanden haben.262 Sehr deutlich ist in der Kaiserzeit auf jeden Fall die Andie politische Bedeutung des Phänomens der Zweiten Sophistik). Schmitz (160ff.) geht von einer gewaltigen Hörerzahl mit einem Übermass an Angehörigen der Unterschicht aus. Korenjaks Untersuchung, die grösstmögliche Vorsicht gegenüber den (tendenziösen bzw. zu Übertreibung neigenden) Textzeugnissen walten lässt, zeigt aber Unzulänglichkeiten in Schmitz’ Argumentation auf; einbezogen werden insbesondere die Einwohnerzahl auch von Städten durchschnittlicher Grösse und das Fassungsvermögen nicht von Theatern, sondern von geschlossenen Gebäuden. Korenjak kommt zu folgendem Ergebnis (45f.): »Somit liegt es nahe, die Publikumsgrösse bei einem durchschnittlichen sophistischen Vortrag irgendwo zwischen fünfzig und fünfhundert Personen zu situieren. Die Vorstellung, die Sophisten zögen mit ihren Auftritten regelmässig ein Massenpublikum im heutigen Sinne an und die gesamte Stadtbevölkerung ströme zu ihren Vorträgen, erweist sich somit als nicht haltbar. Bei besonderen Anlässen, beispielsweise wenn der Sophist im Auftrag einer Polis im Theater spricht, um einen kaiserlichen Beamten zu begrüssen oder zu loben, mag derartiges vielleicht tatsächlich der Fall sein. Doch bei seinen Auftritten in eigener Sache dürfte es eine grosse Ausnahme darstellen. In der Regel sollten wir uns bei solchen Gelegenheiten ein eher kleines Publikum vorstellen, in dem die gebildete Oberschicht deutlich überrepräsentiert ist.« Vgl. zusammenfassend zur Diskussion auch Whitmarsh [2005] 19f., der sich Korenjaks Meinung anschliesst. 260 Korenjak ([2000] 52) gewinnt aus derartigen Aussagen eine »Typologie des Publikums«, die ich an dieser Stelle in ihren Stufen übernehme. 261 Vgl. Aristeid. Or. 34,38–42; Luk. Apol. 3; Philostr. VS 492f. und die Grammatiker Phryn. PS 53,6; 54,1; 67,16f.; Pollux 6,99; 2,139. Da unsere Zeugnisse allesamt die Sicht von Gebildeten wiedergeben, ist erstens kein unparteiisches Bild und zweitens eine wohl schärfere Dichotomie, als sie in der Realität vorhanden war, zu erwarten, vgl. dazu Korenjak [2000] 52f.: »Es ist klar, dass man ein derartiges Modell nicht unbesehen für bare Münze nehmen darf. Es postuliert scharfe Grenzen, wo in Wirklichkeit ein Kontinuum der Kompetenzen und Haltungen herrschen dürfte, und reflektiert zudem in Form einer Reihe gesellschaftlicher Vorurteile die soziale Stellung seiner Schöpfer, die selber sämtlich der Oberschicht angehören. Dennoch hat es insofern einen wahren Kern, als es treffend eine Reihe von Möglichkeiten beschreibt, mit kaiserzeitlicher Rhetorik umzugehen und auf sie zu reagieren, die uns [...] immer wieder begegnen werden.« 262 Vgl. Korenjak [2000] 52f. und Schmitz [1997] 39–41. Zuweilen finden sich auch die römischen Begriffe honestiores und humiliores zur Bezeichnung der herrschenden, wohlhabenden und der an der Macht nicht beteiligten, ärmeren Schicht.

2.1 Der sozio-kulturelle Hintergrund

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forderung, dass Angehörige der Oberschicht gebildet zu sein hatten, d.h. ihr Status mit παιδεία unlösbar verknüpft ist bzw. sein sollte (vgl. dazu Schmitz [1997] 45ff.). Die Ungebildeten sind grundsätzlich dadurch zu charakterisieren, dass sie keinerlei Rhetorikunterricht genossen haben. Somit drängt sich die Frage auf, inwiefern sie sich dennoch von einem sophistischen Vortrag unterhalten lassen konnten. Die Untersuchungen von Swain ([1996] 65) und Schmitz ([1997] 160ff.) zeigen auf, dass solche Leute sehr wohl über ein gewisses kulturell-historisches Grundwissen verfügt haben, das sie durch wiederholten Besuch entsprechender Vorträge sowie an Festen und Zeremonien ihrer Stadt erlangt hatten. Das heisst, auch ihnen sind Paradethemen und Paradepassagen klassischer Autoren, mythologische und historische Persönlichkeiten der Griechen vertraut, sie erkennen die bekanntesten attizistischen Wörter oder den Klang des Attischen.263 Daneben stehen die Gebildeten. Um sie genauer zu definieren, muss erst geklärt werden, was παιδεία in der Zeit der Zweiten Sophistik bedeutet. Die Textzeugnisse machen deutlich, dass Bildung in der Kaiserzeit insbesondere rhetorische Bildung meint und dabei ganz spezifisch die korrekte Handhabung der attizistischen Kunstsprache; der Einfluss der Philosophie auf den ›Bildungskanon‹264 bleibt in dieser Zeit gering, wenn auch eine gewisse philosophische Basis im Rahmen des Studiums klassischer Texte wie v.a. Platon aufgebaut wird. Inschriften zeigen, dass die Begriffe παιδεία und λόγοι austauschbar sind, Bildung entspricht (attizistischer) Beredsamkeit.265 263

Vgl. auch Möllendorff [2000b] 4. Zum rhetorisch-literarischen Bildungskanon gehören die archaischen und klassischen griechischen Autoren v.a. der Epik, des Dramas, der Historiographie, der Philosophie (Platon) und der Rhetorik; sie bilden seit alexandrinischer Zeit die Reihe ausgewählter Autoren, die in der Schule massgeblich waren und daher den Bildungsstandard setzten. Für den attizistischen Sprachgebrauch der Zweiten Sophistik sind die klassischen Prosaiker richtungsweisend – allen voran Platon und die Redner Demosthenes, Aischines, Hypereides, Lysias und Isokrates, weiter sind zu erwähnen Thukydides und Xenophon –, inhaltlich ist jedoch auch das Rekurrieren auf Homer, Hesiod, die Lyriker (Pindar), die drei grossen Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides sowie die Komiker Aristophanes und Menander wichtig. Vgl. zu den kanonischen Autoren Quint. Inst. 10,1,45ff. sowie Dion. Hal. Orat. Vett. 4,2 (u.ö.) und den ›lukianischen‹ Kanon in Lex. 22. Vgl. weiter Anderson [1993] 86–94, Schmitz [1997] 67–83 und Cribiore [2007] 157–165; letztere beweist unter Heranziehung verschiedener Textzeugnisse, dass gerade Poesie nicht nur beim Grammatiker, sondern auch in der höheren Ausbildung beim Rhetoriker ihren Platz hatte (vgl. auch Cribiore [2001] 194–204 zum Lektüreprogramm beim Grammatiker und 226–230 zur Poesie im Rhetorikunterricht). 265 Vgl. Schmitz [1997] 83ff. Textzeugnisse: Pollux 1,1: σοφία ≈ χρεία τῆς φωνῆς (attizistische Sprache); Luk. Scyth. 10: δύο δὲ μάλιστά ἐστον ἡμῖν ἄνδρε ἀρίστω, γένει μὲν καὶ ἀξιώματι πολὺ προὔχοντε ἁπάντων, παιδείᾳ δὲ καὶ λόγων δυνάμει τῇ Ἀττικῇ δεκάδι παραβάλλοις ἄν und Dion Or. 18,1ff.8.11 (Dion präsentiert ein Lektüreprogramm für einen reichen älteren Mann, der sich παιδεία [ganz selbstverständlich im Sinn von Redekunst, λόγων ἐμπειρία/δύνα264

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2. Πεπαιδευμένος und ἀπαίδευτος

Innerhalb der Gruppe der πεπαιδευμένοι gibt es nun allerdings graduelle Unterschiede, die mir – gerade für das Verständnis von Lukians satirischem Œuvre – bedeutsam erscheinen. Die Gebildeten gliedern sich einerseits in rhetorisch gebildete Hörer, man könnte sagen durchschnittliche Angehörige der Oberschicht, andererseits in rhetorische Profis, Experten der Sophistik, seien es die auftretenden Redner selbst, seien es im Publikum anwesende Sophisten sowie deren Schüler. Letztere Gruppe hat also das, was den Kern des Bildungsanspruchs bildet, die attizistische Sprache, zu ihrer Profession gemacht. Korenjak ([2000] 58) charakterisiert die Gruppe der rhetorisch Gebildeten gegenüber dem Redner wie folgt: Für sie ist er [sc. der Redner] nicht ein fremdes Wesen, dessen Hauptreiz in seiner Prachtentfaltung und seiner Exotik besteht. Vielmehr stammt er aus ihrer eigenen sozialen Schicht und verkörpert in vollkommener Art und Weise diejenigen Werte, welche ihrer Meinung nach auch sie selbst auszeichnen: die Kenntnis ihrer als klassisch empfundenen Vergangenheit, die Fähigkeit, diese Kenntnis in der dazu passenden, ebenfalls klassischen Sprachform auszudrücken, und somit ein geistig-kulturelles Griechentum [...].

Die Gruppe der Gebildeten kann sich also einerseits relativ homogen gegenüber der Masse der Ungebildeten formieren, andererseits ist aber in den Texten sehr häufig eine Absetzung dieser Gebildeten untereinander bzw. ein Wetteifern um den höchsten Grad an Bildung festzustellen.266 Immer wieder treffen wir auf Passagen, welche zeigen, dass schon ein kleiner Sprachschnitzer ausreichen konnte, jemanden als ἀπαίδευτος abzustempeln oder zu verlachen, obwohl dabei nicht im eigentlichen Sinn von Unbildung gesprochen werden kann.267 Weiter gibt es eine Konkurrenz verschiedener attizistischer Schulen, diverse Lehrmeinungen und ausufernde Debatten über den richtigen Sprachgebrauch.268 Es ist naheliegend, dass im Bereich der Sprache vieles eine Frage des Geschmacks ist, und genau dieses Eleμις, verwendet] aneignen will. Man vergleiche auch die austauschbaren Formeln auf inschriftlichen Ehrungen (Charakter und Bildung): ἤθει καὶ παιδείᾳ διαφέρων (Dittenberger, SIG 836) / ἤθεσί τε καὶ λόγοις πρωτεύοντος (ISelge 17). – Für weitere Literaturangaben zum Attizismus siehe Anm. 793. 266 Diese Absetzung vollzieht sich auf der Ebene der Individuen (Bildung wird inschriftlich oft als Gegenstand des πρωτεύειν hervorgehoben), der einzelnen Sophisten, sowie auch auf der Ebene der Städte mit ihren Agonen, vgl. Schmitz [1997] 101ff. mit Belegen. 267 Vgl. Aristeid. Or. 34,62: κἂν μὲν ῥήματι πταίσῃ τις, ἀμαθὴς εὐθέως; Luk. Sol. 1: ἀπαίδευτος γὰρ ἂν εἴην, εἰ σολοικίζοιμι τηλικοῦτος ὤν; dazu auch Schmitz [1997] 84. In der Verwendung des Terminus ἀπαίδευτος ist demnach zu unterscheiden zwischen der ›objektiven‹ Beschreibung Ungebildeter und polemischen Zwecken, der Diffamierung von Konkurrenz. 268 Vgl. Pollux 10,20; Schmitz [1997] 123. Ein Beispiel einer attizistischen Strömung ist der Kreis der so genannten ulpianischen Sophisten, die als Archaisten gelten, vgl. Athen. Deipn. 97cff. und 124e sowie Hall [1981] 288.

2.1 Der sozio-kulturelle Hintergrund

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ment ist in den Texten ebenfalls stark vertreten. Einerseits setzen sich die Gebildeten durch die attizistische Kunstsprache, die sich von der Alltagssprache abhebt, von Ungebildeten ab, andererseits wird dabei betont, dass das allzu Gesuchte, Seltene oder Prätentiöse einem echten πεπαιδευμένος, der Geschmack hat, ebenso wenig entspricht. Ihn zeichnet es vielmehr aus, das rechte Mass und den rechten Zeitpunkt (καιρός) für die jeweilige rhetorische Feinheit in seinen Reden zu kennen.269 Die negativen Gegenbilder werden mit den Begriffen ἀπειροκαλία/ἀπειρόκαλος (»Unkenntnis des Schönen«  »Mangel an Geschmack, Geschmacklosigkeit«) und ὀψιμαθία/ὀψιμαθής (»spät lernend«, aber daneben auch »pedantisch«, vgl. LSJ s.v. II.: vain of late-gotten learning, pedantic) bezeichnet. Daraus wird deutlich, dass ein echter πεπαιδευμένος über ein natürliches Geschmacksurteil verfügt, und zwar nicht zuletzt daher, weil er Bildung schon von Kindheit an in sich aufgenommen hat, denn er wird kontrastiert mit demjenigen, welcher sich erst spät bilden lässt (so genannter ὀψιμαθής). Es spielt mit hinein, dass letzterer wohl einen sozialen Aufstieg hinter sich hat und nicht von Anfang an Teil der wohlhabenden Schicht ist. Dazu gehören auch die Rhetoriklehrer, die sich Bildung aneignen, um durch Unterrichtstätigkeit Geld zu verdienen, von denen sich die ›echten‹ Sophisten abzusetzen bemüht sind (z.B. Aristeid. Or. 3,98f.).270 Wie sich nun Lukians Rh. Pr. und sein weiteres Œuvre in diesen Raster einordnen, soll im Folgenden besprochen werden.

2.2 Bildung und Unbildung in Lukians Rhetorum praeceptor, Soloecista und Adversus Indoctum Aus Sicht des Rednerlehrers und der von ihm formulierten ›Ausbildung‹ ist die grosse Menge des Publikums ungebildet und daher leicht täuschbar, so dass es auf Äusserlichkeiten achtet und mit allerlei Tricks zu beeindrucken ist. Der Redner bedarf daher lediglich diverser Showelemente, und völlige ἀμαθία reicht für seinen Bildungsstand aus (vgl. §§14–22). Durch diese provokative Haltung drängen sich aber andere Bildungsmuster geradezu auf: Die gebildeten Rezipienten von Rh. Pr., die sich nicht zu diesem πλῆθος zählen, dürften anderer Meinung sein; ferner ist zu beachten, dass der Schüler sich nicht zum empfohlenen Lehrgang äussert, darüber, ob er diesen Weg sogleich eifrig einschlagen möchte oder ob er allenfalls Einwände 269 Vgl. dazu Schmitz [1997] 146ff. mit Hinweis auf Textstellen: Ps.-Dionys. Ars 365,15ff.; Philostr. VS 503; Luk. Lex. passim. 270 Zum ὀψιμαθής vgl. Thpr. Char. 27; Luk. Salt. 33 (Lykinos betont, er werde nicht alle εἴδη τῆς ὀρχήσεως aufzählen, weil er das für ἀπειρόκαλος und ὀψιμαθής hält); Schmitz [1997] 150f.

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2. Πεπαιδευμένος und ἀπαίδευτος

oder Bedenken hätte. Die Bewertung wird offen gelassen, so dass die antiken Leser und wir als heutige Rezipienten aufgefordert sind, über das Dargebotene selbst nachzudenken. Würde nicht offensichtlich eine solche Trickrhetorik ausreichen – zumindest um als berühmter Sophist zu gelten und Geld zu scheffeln? Diese Frage soll die gebildeten Leser bzw. die selbst im Vortragswesen tätigen Sophisten dazu anhalten, ihre eigene Vortragsweise und die eigentliche Bestimmung der sophistischen Rhetorik zu überdenken.271 Die vom Lehrer präsentierte Trick- oder Scheinrhetorik nimmt auf sämtliche tatsächlichen Aufführungsmodalitäten Bezug und greift die Grundpfeiler, die attizistische Sprache und die Anspielungen auf berühmte Textpassagen, auf (wenn auch in pervertierter Weise; vgl. den Kommentar zu §§16–22). Das heisst, die andere, weit anspruchsvollere, ›reale‹ Sophistik, soweit wir sie aus Textzeugnissen, z.B. aus Philostrats Vitae Sophistarum (VS), fassen können, – man könnte sie auch die ›alte‹ Rhetorik nennen – kommt auf diese Weise in die Darstellung des Rednerlehrers hinein. Für ein ungebildetes Publikum reicht offenbar der oberflächliche Anschein einer solchen Rhetorik – was aber, wenn Gebildete und Experten zuhören? Müssen diese nicht auch überzeugt werden bzw. ist ein Vortrag nicht vielleicht per se möglichst gut zu gestalten? Interessant dazu ist Aristeides’ 34. Rede, die eine ernsthafte (wenn auch ziemlich gehässige) Auseinandersetzung mit guter und schlechter, echter und trickreicher Rhetorik beinhaltet, wobei die Trickrhetorik genau dem entspricht, was der Rednerlehrer empfiehlt (im Vordergrund stehen Unterhaltungselemente wie Gesang, Tanz, effeminiertes Benehmen, vgl. Or. 34,23.47.52). Was Aristeides eindringlich formuliert, dass nur die beste Rede die überzeugendste sein kann (was ja das Ziel jeder Rede sein muss), ganz egal, welcher Art von Zuhörern man gegenübersteht (vgl. §§26–34), ist ein wohl gängiges Denkmuster, das durch die satirische Darstellung in Rh. Pr. kontrastiert wird.272 Wichtig ist insbesondere auch das von Aristeides vorgebrachte zusätzliche Argument, dass die Meinung der Menge vom Urteil der Experten abhängt, die es deshalb zu begeistern gilt (§§38f.; vgl. dazu auch unten S. 106). Die satirisch-komische Bezugnahme auf den zeitgenössischen Bildungsdiskurs in Rh. Pr. provoziert im gebildeten Rezipienten ein Lachen auf drei Ebenen: einerseits das destruktive Verlachen des effeminierten Sophisten 271 An einigen Stellen wird in Rh. Pr. zumindest eine Negativbeurteilung der Showrhetorik impliziert, indem der Rednerlehrer selbst zugibt, dass seine Art des Auftritts Ressentiments – wohl durchaus auch der ungebildeteren Zuhörer – hervorrufen kann, vgl. den Kommentar zu §19: ἢν δὲ ὀρθοὶ ἑστήκωσιν ὑπὸ τῆς αἰσχύνης. 272 Aristeides bietet also, wie die oben besprochenen Subtexte (vgl. die Einleitung 1.2–1.4), durch seine Kritik an der Trickrhetorik und durch sein Verfechten der ›alten‹ Rhetorik eine weitere mögliche Kontrastfolie, vor der die ironische Brechung von Rh. Pr. gelesen werden kann. Zur Ironisierung vgl. S. 64f.

2.2 Bildung und Unbildung in Rh. Pr., Sol. und Adv. Ind.

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(und auch des übertrieben bäurischen Lehrers des langen Weges, denn auch dessen Erscheinung weist in seiner Zeichnung durch den Ratgeber Mängel in Mass und Geschmack auf), andererseits das konstruktive Lachen, welches zu Selbstreflexion und -kritik anregt, sowie das rein positive Lachen des Überlegenen, welches zur Selbstbestätigung und zur Identifikation einer Gruppe von Gebildeten gegenüber Ungebildeten dient. Weitere Schriften Lukians – praktisch alle, die sich mit (selbsternannten) Sophisten, Literaten und πεπαιδευμένοι beschäftigen – arbeiten stark mit der oben beschriebenen Absetzung Gebildeter untereinander, die so weit geht, dass der Autor vermeintliche Bildung als Scheinbildung entlarvt. Dies geschieht entweder durch Pamphlete (Pseudol., Adv. Ind.) oder durch dialogische Texte, wobei Figuren, die dem Rednerlehrer ähnlich sind, Testsituationen unterzogen werden, in denen sie kläglich scheitern, und dadurch in die Riege der Ungebildeten absteigen müssen (Sol., Lex.). Charakteristisch für Lukians Satire ist dabei das Element des Lächerlichmachens von und gleichzeitig der Selbstreflexion über Scheinbildung bzw. die Bestärkung der eigenen Bildung, da der Autor häufig mit einem ›wir‹ arbeitet, das seine Leser- bzw. Hörerschaft als Gebildete (aber auch Nichtgebildete, die sich von ihm überzeugen und über echte Bildung aufklären lassen) auf seine Seite zieht. Zur Illustration sollen an dieser Stelle zwei der genannten Schriften, Soloecista273 und Adversus Indoctum, näher beleuchtet werden. Die Schrift Pseudologista, worin ausgehend von einer Sprachdebatte zudem das Gesamtbild eines πεπαιδευμένος, das auch charakterliche Qualität mit sich bringt bzw. bringen muss, ausgestaltet wird, ist v.a. im Zusammenhang mit den Anforderungen des Geschmacks und mit den letzten Kapiteln von 273

Die Autorschaft der Schrift ist zwar umstritten, doch sind die Argumente für ihre Unechtheit nicht schlagend, weil sie vor allem auf (scheinbaren) Unvereinbarkeiten der Aussagen der Dialogfigur ΛΟΥΚΙΑΝΟΣ mit dem Inhalt sonstiger Werke Lukians beruhen. Doch kann man, wie sich zeigen wird, gute Gründe innerhalb der Schrift und des Verhältnisses der Dialogpartner finden, warum Autor und gleichnamige Dialogfigur einander ›widersprechen‹. Für die Echtheit der Schrift plädieren Weissenberger [1996] 59–67, Baldwin [1973] 53–56 und Bompaire [1958] 141f. und [1998] 233–237, deren Ansicht ich mich anschliesse. Grosse Zweifel äussert Hall [1981] 298– 307, v.a. wegen der eingefügten Passage über Sokrates von Mopsos, die in ihrem lobenden Duktus nicht mit der Einstufung der Schrift als Pedantismus-Kritik zu vereinen sei (s. dazu aber unten), und wegen der Uneinheitlichkeit der von Loukianos als Solözismen bezeichneten Äusserungen – teils sind sie korrektes Attisch (die Kritik also pedantisch), teils tatsächlich falsch. Das scheint mir aber zu spitzfindig, da wohl die Tatsache, dass der Sophist auch ›echte‹ Fehler überhört, seine Unwissenheit umso stärker hervorstreichen soll (vgl. auch Weissenberger [1996] 66f.). Die Interpretationen der Befürworter der Echtheit stimmen mit einem Scholieneintrag zur Schrift überein (siehe dazu S. 100). Selbst wenn man die Echtheit der Schrift anzweifelte, handelt sie dennoch das Thema Scheinbildung (hier am Beispiel eines nur scheinbar seinem sprachlichen Pedantismus gewachsenen Sophisten) auf eine Art ab, die eng an diejenige Lukians in anderen Schriften (Lex., Pseudol.) anschliesst und daher für die Sprachdiskussionen der Zweiten Sophistik allemal aufschlussreich ist.

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2. Πεπαιδευμένος und ἀπαίδευτος

Rh. Pr. über das Privatleben aufschlussreich und wird im Kommentar zu §§23–25 mehrfach herangezogen. Zur Schrift Lexiphanes, worin am sprachlichen Phänomen des Archaismus und Hyperattizismus Kritik geübt wird, finden sich Ausführungen im Kommentar zu §§16–17.274 Der Dialog mit dem Doppeltitel Ψευδοσοφιστὴς ἢ Σολοικιστής (Sol.) spielt sich zwischen den Gesprächspartnern Lukian (ΛΟΥΚΙΑΝΟΣ) und Sophist (ΣΟΦΙΣΤΗΣ) ab. In einem platonisch angehauchten Kreuzverhör legt Lukian mit dem Einverständnis des Sophisten fest, dass einer, der selbst keine Solözismen275 begeht, diese auch bei anderen bemerkt und umgekehrt. Da sich nun der Sophist selbstverständlich als einen ansieht, der solözismenfrei spricht, muss er notwendigerweise zustimmen, diese Fehler bei anderen zu erkennen. Nachdem die Rahmenbedingungen gegeben sind, unterzieht Lukian seinen Gesprächspartner einem Test, indem er in fast jede seiner nun folgenden Äusserungen einen Solözismus einstreut, wovon der Sophist aber nicht das Geringste bemerkt und deshalb seinem selbst erhobenen Anspruch nicht gerecht wird. Lukian ruft dementsprechend oft triumphierend »du aber hast es nicht gemerkt« (σὺ δ’ οὐκ ἔγνως),276 bis sich der Sophist schliesslich geschlagen gibt und Lukian darin Recht geben muss, dass er das Anfangsvotum über seine Fähigkeiten, Solözismen bei anderen zu erkennen und selbst zu vermeiden, zurücknehmen sollte. Er hat ein Wissen vorgegeben, worüber er offensichtlich gar nicht verfügt (§§1–4). Der Anklang an die Grundsituation sokratisch-platonischer Dialoge ist deutlich:277 Es wird ein Wissensanspruch erhoben, der im Gespräch nicht verteidigt werden kann. Im Detail stellen sich die ›Läuterung‹ des Sophisten und das Herausarbeiten seiner Unbildung und Unwissenheit wie folgt dar: Er hält sich selbst ganz eindeutig für einen Gebildeten, während Solözismen mit Unbildung verknüpft sind, so dass er auf Lukians Frage, ob er von sich sagen würde, er sei kein Solözist, empört ausruft (§1): Ἀπαίδευτος γὰρ ἂν εἴην, εἰ σολοι274 Zu Kritikpunkten dieser Schriften und ihrer Nähe zu Lukians Philosophenspott siehe auch die Einleitung 3.2. 275 Normalerweise bezeichnet der Terminus σολοικισμός (Solözismus) Fehler in der Syntax, während der Terminus βαρβαρισμός (Barbarismus) Fehler im Gebrauch eines Einzelwortes meint (so S. E. M. 1,210; Quint. Inst. 1,5,6 und 1,5,34; Lausberg [31990] 257, §470). In diesem Dialog ist jedoch der Terminus Solözismus breiter aufzufassen: Auch Barbarismen, z.B. Verwechslungen von Wörtern, sind miteingeschlossen. 276 Da Lukian ja die Rolle eines Sprachpedanten übernimmt, bemerkt Bompaire ([1998] 234) zu Recht, dass nicht nur der Sophist, sondern auch der Pedant eine karikierte Figur sei, was sich beispielsweise darin äussert, dass er seinem Gegenüber einen falschen Satz nach dem anderen an den Kopf wirft und ihm keine Atempause lässt, sondern immer gleich triumphiert, dass dem anderen der Fehler entgangen ist. 277 Bompaire ([1958] 608–612) ordnet Soloecista denn auch als Parodie bzw. Pastiche (mit im Gegensatz zur Parodie konstruktiver Anlehnung an das Vorbild) des sokratischen Dialoges ein; ebenso die Dialoge Lexiphanes (vgl. Plat. Smp.) und Parasita (vgl. Plat. Grg., Phdr., Smp.).

2.2 Bildung und Unbildung in Rh. Pr., Sol. und Adv. Ind.

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κίζοιμι τηλικοῦτος ὤν.278 An dieser Meinung hält er vorerst beharrlich fest und empört sich, nachdem ihn Lukian bereits mehrfach der Unwissenheit überführt hat (§§1f.): Θαυμαστὰ λέγεις, εἰ μὴ δυνήσομαι καταμαθεῖν σολοικισμόν. [...] Ἐγὼ μὲν σὲ παίζειν δοκῶ.279 Doch Lukian kontert: Ἐγὼ δὲ σὲ ἀγονεῖν τὸν ἁμαρτάνοντα ἐν τοῖς λόγοις.280 Trotzig versucht der Sophist seine Behauptung aufrecht zu erhalten (§§3f.): σὺ δ’ οὐδὲν εἶπας ὧν ἄνθρωποι σολοικίζοντες λέγουσιν. [...] Ἐγὼ δὲ πολλοὺς ἤδη σολοικίζοντας κατενόησα.281 Lukian lässt jedoch nicht locker, um zu erreichen, dass der Sophist die Diskrepanz zwischen seiner Behauptung und der Tatsache, dass er diese nicht erfüllen kann, selbst eingesteht, und hält ihm seine Unbildung282 bisweilen sehr sarkastisch vor (§3: σὺ δὲ ὑπὸ τῆς ἄγαν παιδείας διέφθορας283). Als eine Art variatio folgt eine längere Passage über einen gewissen Sokrates von Mopsos284 und dessen mild-humoristische Methode, Solözisten im Gespräch zu korrigieren (§§5–7). Danach testet Lukian seinen Gesprächspartner mit einer weiteren Reihe von Solözismen, wobei er diesmal Hinweise auf die Fehler gibt (§§8–9). Doch der Sophist begreift noch immer nichts davon, so dass er schliesslich verzweifelt darum bitten muss, diesen Test endlich zu beenden. Lukian solle ihm stattdessen Fall für Fall erklären, wo die Fehler lagen. Das lehnt jener zwar ab, weil es viel zu lange dauern würde, gibt ihm dann aber doch – ganz in der Lehrerrolle – eine Kurzlektion über einige Eigen- und Feinheiten des attischen Sprachgebrauchs (§§10–11). Lukian hat sein Ziel erreicht: Der Sophist gibt sich insofern geschlagen, als er einsieht, dass er Belehrung nötig hat, und sein 278

»Ich wäre ja ungebildet, wenn ich in meinem Alter Solözismen beginge!« »Du sprichst sonderbares Zeug, wenn [du behauptest,] ich könne einen Solözismus nicht erkennen. [...] Ich glaube, du machst Scherze.« 280 »Und ich [glaube], dass du denjenigen, der Fehler begeht beim Sprechen, nicht erkennst.« 281 »Du hast nichts von den Dingen gesagt, die Solözisten zu sagen pflegen. [...] Ich habe schon viele Solözisten ertappt.« 282 Den an sich gängigen Terminus für »ungebildet«, ἀπαίδευτος, verwendet Lukian nur einmal (§9), viel häufiger ist von ἀγνοεῖν (»nicht wissen«, 6x) oder γιγνώσκειν bzw. οὐ γιγνώσκειν (»erkennen« bzw. »nicht erkennen«, 10x) die Rede. Es ist auffällig, dass Lukian in den anderen Schriften, die sich mit Sophisten auseinandersetzen, stärker mit den Begriffen παιδεία, ἀπαιδευσία, πεπαιδευμένος, ἀπαίδευτος arbeitet, doch liegt eine mögliche Erklärung für die Andersartigkeit der Begriffe in Sol. darin, dass die Termini ἀγνοεῖν und γιγνώσκειν zum typisch platonischen Vokabular gehören, Lukian also nicht nur formal, sondern auch sprachlich an den platonischen Dialog anknüpft, obwohl es inhaltlich nicht um Erkenntnisfragen, sondern um Grammatikalisches und um Bildung geht. 283 »Du bist von einem Übermass an Bildung zugrunde gerichtet worden.« 284 Lukian sagt, dass er mit Sokrates von Mopsos in Ägypten zusammengetroffen sei; über dessen Identität ist jedoch nichts zu ermitteln (vgl. Weissenberger [1996] 64 Anm. 157). Bompaire ([1998] 342 Anm. 15) meint, Mopsos könnte am ehesten mit Μόψου ἑστία in Kilikien zu identifizieren sein. Ich denke, dass die Möglichkeit einer fingierten Person unbedingt in Betracht gezogen werden sollte, wobei es nahe läge, den Namen so zu interpretieren, dass er – passend zum Gesamtsetting des Dialogs – in bewusster Anlehnung an den platonischen Sokrates gewählt worden ist. 279

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2. Πεπαιδευμένος und ἀπαίδευτος

Gegenüber als Lehrer (διδάσκαλος) akzeptiert (vgl. §12: προδιδάσκειν). Das Ende des Gesprächs bildet die Feststellung, dass der Sophist zwar noch viel zu lernen habe, man für den Moment jedoch die Lektion abbrechen und ein andermal wieder aufnehmen wolle (§12). Diese Offenheit des Schlusses und die Möglichkeit eines weiteren Treffens zur Fortführung des Gesprächs muten ebenfalls sokratisch-platonisch an. Nach beendetem Gespräch zeigt sich der Sophist verwandelt und viel bescheidener; Belehrung und Entlarvung des Sprachpedanten sind also in sokratisch-platonischem Sinn erfolgreich verlaufen, indem der Unwissende sein Unwissen erkannt und eingestanden hat, was die unabdingbare Voraussetzung zum Erwerb echten Wissens ist. Doch zuvor bedurfte es harter Worte, welche Schein und Sein schonungslos aufdeckten. Vor allem zwei Stellen sind prägnant (§4): Καὶ μὴν εἰ ταῦτα ἀγνοήσομεν, οὐδὲν γνωσόμεθα τῶν ἑαυτῶν, ἐπεὶ καὶ τόδε σολοικισθὲν ἀπέφυγέ σε. μὴ τοίνυν ἔτι λέγειν, ὡς ἱκανὸς εἶ κατιδεῖν τὸν σολοικίζοντα καὶ αὐτὸς μὴ σολοικίζειν.285

Und in Kürze auf den Punkt gebracht sagt Lukian über den Sophisten (§9): ἀγνοεῖ ὁ φάσκων εἰδέναι.286 Aufgrund der Eigenaussage des Sophisten, er habe schon viele Solözisten ertappt, kann man davon ausgehen, dass er selbst ein schonungsloser Kritiker ist, und gerade deshalb ist in den Äusserungen Lukians auch ein Aufruf zur Rückbesinnung auf das eigene (lückenhafte) Wissen und zu mehr Bescheidenheit und Zurückhaltung im Kritisieren enthalten. Die Bestätigung dafür, dass das ein Kernthema dieser Schrift ist, kann man in der Passage über Sokrates von Mopsos sehen, die mit einem Lob auf seine Art und Weise der Kritik eingeleitet wird. Wie aus der Inhaltszusammenfassung deutlich wird, setzt sich der Dialog, in Anlehnung an platonische Schriften, mit der Diskrepanz zwischen angeblichem und tatsächlich vorhandenem Wissen, d.h. mit Anspruch und Wirklichkeit, auseinander, welche im Bereich des korrekten Sprechens – im Sinn eines attizistischen Puristen – aufgezeigt wird. Kritisiert wird einer, 285 »Und wenn wir diese [gemeint sind die Solözismen anderer] schon nicht bemerken, werden wir nichts von unseren eigenen erkennen, da auch der eben begangene Solözismus dir entging. Sag deshalb nicht mehr, du seiest imstande, einen Solözisten wahrzunehmen und selbst keine Solözismen zu begehen!« Mit dem »eben begangenen Solözismus« ist die Form ἑαυτῶν anstelle von ἡμῶν αὐτῶν in der 1.P.Pl. des Reflexivpronomens gemeint. Die hier vertretene Ansicht ist allerdings sehr puristisch-pedantisch (wie wir es aber von Lukian erwarten), da das Reflexivpronomen der 3. Person im Plural auch für das der 1. und 2. Person eintreten kann; so häufig bei Polybios, aber auch bei den Tragikern, bei Herodot und Isokrates (K.-G. I 2,599 Anm. 2). 286 »Derjenige, der Wissen vorgibt, ist in Unkenntnis.« Dieser Satz ist wohl eine bewusste Variation der sokratischen Darstellung in Apol. 21d: Ἀλλ’ οὗτος μὲν οἴεταί τι εἰδέναι οὐκ εἰδώς· ἐγὼ δέ, ὥσπερ οὖν οὐκ οἶδα, οὐδὲ οἴομαι. [...], ὅτι ἂ μὴ οἶδα οὐδὲ οἴομαι εἰδέναι. Durch diese Anspielung vergleicht Lukian den Sophisten konkret mit den nichtwissenden Gesprächspartnern des Sokrates, sich selbst stilisiert er zu einem – über Sprachfragen sehr wohl Bescheid wissenden – ›Sokrates‹.

2.2 Bildung und Unbildung in Rh. Pr., Sol. und Adv. Ind.

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der nicht einmal auf dem (an sich schon lächerlichen) Gebiet des Pedantismus richtig Bescheid weiss, obschon er dies behauptet und andere an entsprechenden sprachlichen Maximen misst.287 Mit dem gewählten Thema von Solözismus und Barbarismus bewegt sich Lukian einmal mehr exakt im Bereich der in der Zweiten Sophistik grundlegenden Kennzeichen von Bildung und Unbildung. Denn zahlreiche Textpassagen aus dieser Zeit belegen »wie tief die Forderung nach Sprachrichtigkeit im Denken jedes Angehörigen der Oberschicht verwurzelt war«288. Dass ein Sophist, dessen Beruf es ist, die korrekte Sprache vorzuführen bzw. zu reflektieren, hierin derartige Defizite hat, ist umso gravierender, und damit treibt der Autor sein Spiel.289 Die Fragen, warum in Soloecista die Dialogfigur Lukian sprachliche Erscheinungen für falsch erklärt, die der Autor Lukian selbst in seinen Werken gebraucht, und warum Lukian einen puristisch-pedantischen Attizismus290 vertritt, den Lukian anderswo lächerlich macht, haben die Forschung immer wieder beschäftigt. Doch ich glaube, dass eine sinnvolle und relativ

287 Lukians Kritik der ›Alten‹ bzw. des Umgangs mit ihnen ist von zweierlei Art: übertriebene Autoritätsgläubigkeit (Pedantismus, vgl. Sol.) und übertriebenes Archaisieren (vgl. Lex.). Vgl. dazu Bompaire [1958] 133f.: »On ne trouve pas chez Lucien de critique véritable des Anciens. [...] Par contre la critique de Lucien s’exerce aux dépens des excès du principe d’autorité et des absurdités de l’archaïsme.« 288 Schmitz [1997] 81. Man vergleiche folgende Aussage des Sextus Empiricus (M. 1,176): ὅ τε ἑκάστοτε βαρβαρίζων καὶ σολοικίζων ὡς ἀπαίδευτος χλευάζεται (»denn wer konstant Barbarismen und Solözismen begeht, wird als Ungebildeter verspottet«). Selbst der gegenüber Attizisten durchaus skeptische Philosoph anerkennt die Wichtigkeit der Vermeidung von Sprachfehlern. Vgl. auch oben S. 92f. 289 Es ist anzumerken, dass der Sophist selbst im Dialog keine Sprachfehler begeht, ihm also diesbezüglich kein Defizit angelastet werden kann. Doch dadurch, dass er unfähig ist, Solözismen zu erkennen, fehlt ihm offensichtlich das nötige Sprachgefühl, welches man für Debatten innerhalb der Sophistik braucht. Wer sich da einmischt (was der Sophist offenbar tut), muss sehr genau Bescheid wissen. Dem Sophisten jedoch mangelt es an Wendigkeit, er ist schwer von Begriff und hinkt im Gespräch immer einen Schritt hinterher, so dass Lukian ihm weit überlegen ist. Die Darstellung des Sophisten kann als Verspottung der ganzen Gruppe derjenigen Berufsvertreter gelesen werden, die durch fehlende Spontaneität zwar an ihrem Schreibtisch eine akzeptable Rede konzipieren können, im spontanen Vortrag oder Fachgespräch jedoch scheitern. 290 Dieser ist an der Art dessen, was von Lukian als Fehler bezeichnet wird, gut ersichtlich (vgl. die Kommentierung von Harmon [1925] und Bompaire [1998]) und wird verdeutlicht durch den Umstand, dass rund 20 Prozent der Wörter oder Konstruktionen, welche von Lukian und Sokrates als falsch kritisiert werden, mit denen übereinstimmen, die vom als strenger Attizist geltenden Phrynichos in seiner Ekloge ebenfalls als unattisch abgelehnt werden (vgl. Weissenberger [1996] 59); Swain ([1996] 45) betitelt Phrynichos als »exceptionally strict atticist«. Die Übereinstimmungen sind: ἄρτι mit Fut. (Sol. 1 / Phryn. 11 Fischer), διέφθορας (Sol. 3 / Phryn. 131 F), πηνίκα (Sol. 5 / Phryn. 30 F), κορυφαιότατος (Sol. 5 / Phryn. 213 F), ἐξ ἐπιπολῆς (Sol. 5 / Phryn. 98 F), συνεκρίνετο (Sol. 5 / Phryn. 243 F), καρῆναι (Sol. 6 / Phryn. 291 F), ἔκτοτε (Sol. 7 / Phryn. 29 F), βράδιον (Sol. 7 / Phryn. 71 F), ἵπτασθαι (Sol. 7 / Phryn. 297 F), ἀνέῳγε (Sol. 8 / Phryn. 128 F), καθέσθητι (Sol. 11 / Phryn. 233 F). Mitrechnen kann man auch συντάττομαι σοι (Sol. 5), weil Phrynichos (14 F) über ἀποτάσσομαι σοι Ähnliches aussagt.

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2. Πεπαιδευμένος und ἀπαίδευτος

simple Erklärung für die Gestaltung der Figur Lukian möglich ist.291 Bereits die Scholien zu Sol. erklären (p. 36 Rabe): Σοφιστήν τινα εἰσάγει ἀπαίδευτον μεγάλα φρονοῦντα καὶ ἐπαγγελλόμενον ἅπαντα εἰδέναι τὰ σόλοικα. ὁ οὖν Λουκιανὸς βουλόμενος αὐτὸν ἐλέγξαι μηδὲν εἰδότα ἑαυτὸν εἰσήγαγε σολοικίζοντα καὶ διὰ τοῦτο ψευδοσοφιστὴν αὑτὸν ὠνόμασεν.292

Das von Lukian angewandte Prinzip ist also, seinen Gegner, einen angeblich allwissenden Sprachpedanten, mit dessen eigenen Waffen zu schlagen. Lukians Verhalten und Aussagen dienen der Blossstellung des Gegenübers und nicht der Propagierung eines eigenen, puristischen Sprachgebrauchs. Der gebildete Leser oder Hörer unterzieht sich automatisch demselben Test wie der Sophist und kann sich besonders über die gesuchten und pedantischen Fehler amüsieren, welche der Sophist nicht bemerken wird. Der Autor in der Rolle des Entlarvers und Lehrers präsentiert sich selbst als weit überlegen und gibt damit ein Beispiel, welcher Bildungsstandard im Kreis der wahrhaft Gebildeten (πεπαιδευμένοι) erforderlich ist und zu Spott und Kritik an anderen überhaupt erst befähigen kann.293 Humoristisch-kritisch hinterfragt wird hier zu einem Teil sicher eine puristisch-pedantische Sprache,294 zu einem anderen, grossen Teil aber das Phänomen der Überschätzung der eigenen Bildung und die damit einhergehende Überheblichkeit.295 Der Autor setzt sich damit von Möchtegern-Pedanten und -Gebildeten ab, indem er demonstriert, dass er im Bereich des attizistischen Pedantismus durchaus bewandert ist,296 und Leute, die sich auf ihre vermeintlich korrekte Sprachverwendung viel einbilden, mit Leichtigkeit eines Besseren belehren kann. Zur Kritik an der Überheblichkeit des Sophisten hebt Weissenberger ([1996] 65f.) hervor, dass damit ein vermeintlicher Meister seines Faches 291

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Weissenberger [1996] 59–67. »Er lässt einen Sophisten auftreten, der ungebildet ist, aber viel von sich hält und verkündet, er kenne sich mit allen Solözismen aus. Loukianos nun hat in der Absicht, jenen der Unwissenheit zu überführen, sich selbst auftreten lassen als einen, der Solözismen begeht, und sich (oder: ihn) deshalb Pseudosophist genannt.« – Die alternative Übersetzung, hängt davon ab, ob man mit Rabe αὑτόν oder mit den codd. αὐτόν in den Text setzt (dazu Rabe »i.e. διάλογον; vix recte«, wobei Weissenbergers ([1996] 63) Interpretation, dass sich αὐτόν auf den Sophisten beziehen würde, sicher genauso gut möglich ist). 293 Auch die originelle Gestaltung der Schrift als Pastiche des sokratisch-platonischen Dialogs (vgl. bereits Anm. 277) erweist den Autor als gebildet. 294 So Baldwin [1973] 57, der »the Phrynichus school of pedantry and purism« als »the most logical target of the Soloecistes« angibt. Zur Sprachkritik in Lexiphanes (Archaismus) siehe die Ausführungen im Kommentar zu §§16–17. 295 Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass Überheblichkeit und Prahlerei einen wichtigen Zug des Rednerlehrers und seines Unterrichtes ausmachen, wobei in Rh. Pr. überhebliches Verhalten nicht auf einer Fehleinschätzung des eigenen Könnens beruht, sondern bewusst zum Kaschieren mangelnder Bildung eingesetzt wird. 296 Weissenberger ([1996] 66) bemerkt, Lukian zeige in Sol. seine »Vertrautheit mit einer bestimmten attizistischen Observanz«. 292

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davon abgebracht werden soll, andere zu tadeln, und dazu angehalten, seine eigenen Kenntnisse zu verbessern. Erst wer in Fragen der Sprache so bewandert ist wie der Autor, kann sich eine Einmischung in die entsprechenden Debatten erlauben.297 Dies ist im Kern sicher richtig, allerdings zu stark aus der Warte des Kritikers mit Mahnfinger gelesen; Lukian benutzt gerade nicht den Mahnfinger, sondern eine humorvolle Darstellung dessen, was den Rezipienten vielleicht tatsächlich nicht nur zum Lachen, sondern auch zur Selbstreflexion anregt. Die zweite Schrift, die hier besprochen werden soll, befasst sich nicht mit sprachlichen Fragen im engeren Sinn, sondern mit dem oben bereits beschriebenen Phänomen, dass παιδεία in der Kaiserzeit fester Bestandteil des ›Tugendkatalogs‹ reicher und hochgestellter Persönlichkeiten ist. Der Titel lautet Πρὸς τὸν ἀπαίδευτον καὶ πολλὰ βιβλία ὠνούμενον (Adv. Ind.), deutsch etwa Gegen den ungebildeten Büchernarren, worin bereits angedeutet wird, dass Hauptperson und Zielscheibe der Satire ein ungebildeter Mensch ist, der im Widerspruch zu seiner Unbildung eine ausserordentliche Bücher-Sammelwut an den Tag legt. Genau dieser Widerspruch wird im Text entwickelt: Der Büchernarr, der (wie wir nicht aus dem Titel, aber sogleich aus dem Text erfahren) zudem ein reiches (πλούσιος) Mitglied der Oberschicht ist (vgl. §§4, 6, 9f., 19, 24–26),298 versucht, seine Unbildung durch unentwegtes Anschaffen teurer Bücher zu kaschieren, als ob der blosse Besitz der alten Klassiker ihm automatisch die klassische Bildung verleihe. Ein Kernthema ist auch hier die Differenz zwischen Sein und Schein.299 Auf den ersten Blick mag der Ungebildete gebildet erscheinen, da er immer ein Buch mit sich herumträgt und sich sehr belesen gibt.300 Bei näherem Hinsehen jedoch entpuppt sich die Belesenheit als Schein, denn er ist 297 Weissenberger ([1996] 67) bemerkt dazu: »Lukian gibt sich im Sol. – jedenfalls theoretisch – als Gegner und Kritiker des besserwisserischen und beleidigenden Herummäkelns, wie es nicht nur in seinen Tagen unter Gebildeten gerade in Fragen des Sprachgebrauchs nicht ganz selten war – was allerdings nicht heissen muss, dass er sich in der Auseinandersetzung mit persönlichen Gegnern immer konsequent an diese löbliche Maxime gehalten hätte.« 298 Bezüglich seines Status wird allerdings nicht absolut klar, ob er ein Emporkömmling ist, oder aber als Angehöriger der Aristokratie geboren. Ausserdem wird sein Reichtum dadurch geschmälert, dass mehrfach seine Schulden betont werden, die neben dem ewigen Bücherkauf auch wegen seiner Vorliebe für teure junge Sklaven entstehen (zum invektivischen Topos sexueller Zügellosigkeit vgl. die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §24). 299 Grosse Teile der Schrift weisen, wie es in Pseudol. der Fall ist, auch andere Angriffspunkte auf, die nur bedingt mit dem Bereich Bildung zu tun haben – z.B. ausschweifendes Privatleben und durch Betrug erworbenen Reichtum –, aber dennoch mit in Lukians (invektivisches) Bild des Ungebildeten (ἀπαίδευτος) gehören. Vgl. dazu den Kommentar zu Rh. Pr. 23–25. 300 Auf genau diese Wirkung des Anscheins von Bildung setzt auch der Rednerlehrer, der seinem Schüler empfiehlt, immer ein Buch mit sich zu tragen (§15). Das Bild des Studierenden bzw. Gebildeten mit einem Buch in der Hand ist verbreitet, vgl. z.B. Libanios über seine eigene Studienzeit Or. 1,8 (ἐν χεροῖν τε ἡ βίβλος).

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nicht einmal imstande, die Texte in korrekter Aussprache vorzutragen, geschweige denn, ihren Inhalt zu erfassen, zu beurteilen, gelehrte Diskussionen darüber zu führen und einen Nutzen aus ihnen zu ziehen. Der IchSprecher arbeitet in dieser Schrift stark mit dem Kontrast zu wirklichen Gebildeten und Literaturkundigen und ihrem Umgang mit Literatur. Als dritte Partei, die auf seiner Seite steht, bezieht er nämlich die πεπαιδευμένοι in sein Pamphlet ein, indem er immer wieder betont, dass alle Gebildeten den Büchernarren verspotten und durchschauen (§§7, 19, 28).301 So schart er eine Gruppe Gebildeter um sich, die sich vom reichen Ungebildeten absetzt und sich über ihn amüsiert, sich mittels der Verspottung eines Ungebildeten gleichzeitig der eigenen Bildung versichern und vergewissern kann.302 Die Lächerlichkeit des Bücherkaufs des Ungebildeten und damit die Legitimität der Verspottung beweist der Sprecher immer wieder durch (seine eigene Bildung und Belesenheit in den Vordergrund rückende) Vergleiche und passende Sprichwörter (§§5, 6, 7, 15, 18, 25, 27–28).303 Was dem Büchernarren wirklich entgeht und weshalb ihm all seine Literatur nichts nützt, wird schon ganz zu Beginn der Schrift kurz thematisiert (§1): Mangels Bildung fehlen dem Mann jegliche Beurteilungskriterien, ob ein Buch gut und alt oder schlecht und unbrauchbar ist.304 Es entgehen ihm demnach auch Schönheit, Nutzen, Vortrefflichkeit oder Minderwertigkeit des Aufgeschriebenen und der Gesamtgehalt des Textes, schliesslich auch die Taxis und Lexis der Wörter (§2). Kurz gesagt liest der Ungebildete zwar, versteht aber nichts (§4).305 Wie gravierend das ist, zeigen Passagen, aus denen deutlich wird, wozu den Gebildeten Bücher dienen: Sie schöpfen 301 Teilweise gibt der Sprecher auch die (negative) Meinung einer nicht weiter spezifizierten Partei, die alle umfasst, die den Büchernarren kennen, wieder (vgl. §19 und §22: οἱ σε εἰδότες; ἅπαντες). Dies ist ein geschickter Mechanismus des Einbezugs auch der weniger gebildeten Hörer. 302 In Adv. Ind. 3–4 vollzieht der Ich-Sprecher mehrmals eine klare Trennung zwischen ἡμεῖς (»wir«), den Gebildeten, zu denen er sich selbst natürlich zählt, und σύ (»du«), dem Ungebildeten, der zwar eingesteht, dass er nicht dieselbe Bildung genossen hat, aber glaubt, dies durch seine Bücherkäufe wettmachen zu können, als ob es reichte, einen Thukydides und Demosthenes im Büchergestell stehen zu haben, ohne Sprache und Inhalt dieser Werke studiert zu haben. Vgl. Schmitz [1997] 174f. zur Taktik des gemeinsamen Lachens über einen Ungebildeten, wobei der ἀπαίδευτος als Kontrastfolie dient. Siehe auch Lukians Schrift Pseudologista. 303 Die Vergleiche, welche auf Werke, Figuren und Passagen der klassischen Literatur verweisen, enthalten teilweise Anspielungen auf die bekanntesten Klassiker (Homer, z.B. §7), aber auch auf Selteneres (Eupolis’ Baptai und Euripides’ Hippolytos, §§27f.). Auf diese Vergleiche (aber auch allgemein auf Lukians Sophistensatiren) trifft folgende Feststellung Andersons im Rahmen seiner Erörterung, wie unterschiedlich sophistische Autoren ihre παιδεία demonstrieren, zu ([1989] 111): »Lucian can manipulate paideia as a weapon of invective.« 304 Sarkastisch meint der Ich-Sprecher, nur etwaige Mottenlöcher könnten dem Büchernarren über das Alter eines Buches Auskunft geben. 305 σὺ τοίνυν βιβλίον μὲν ἔχεις ἐν τῇ χειρὶ καὶ ἀναγιγνώσκεις ἀεί, τῶν δὲ ἀναγιγνωσκομένων οἶσθα οὐδέν.

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sowohl aus der Sprache als auch aus dem Gedankengang eines Werkes (bzw. des Protagonisten eines Werkes) Nützliches und lernen sowohl richtiges Sprechen als auch angemessenes Handeln (§17 und §28). Denn ein Gebildeter setzt seine Hoffnungen nicht auf Bücherverkäufer, sondern auf sich selbst und sein eigenes tägliches Leben (§24). So nützt es eben nichts, sich die besten Bücher anzuschaffen, ohne über eine gewisse Grundbildung zu verfügen, welche eine korrekte Sprache umfasst und ein Verständnis des Inhaltes gewährleistet. Bereits auf einer höheren Bildungsstufe könnte man die Fähigkeit ansetzen, ein Werk durch Einsicht und Geschmack beurteilen zu können und für sich einen Nutzen daraus zu ziehen. Aus der Beschäftigung mit den Klassikern folgt also die Fähigkeit zur gelehrten Diskussion über Literatur, zur Beherrschung der attizistischen Sprache und gleichzeitig zu einer moralisch einwandfreien Lebensweise.306 Die Verknüpfung von Bildung – insbesondere rhetorischer Ausbildung – und Moral findet sich explizit bereits in Plat. Grg. 504d–e, später in Ciceros Konzept des orator perfectus, schliesslich bei Quintilian und – zu Lukians Zeit – bei Aristeides.307 Der Einkauf von Bildung (παιδεία), der hier in einem Einzelfall verspottet wird, tritt in Lukians Satire auch in einen grösseren Kontext eingebettet auf: Diese Kommerzialisierung geht mit der Dekadenz der Zeit einher und dient nur dem eigentlichen Ziel von Ruhm, Einfluss und Macht.308 Aus den dargestellten Sophistensatiren ist bezüglich des Selbstbildes des Autors, seiner stets von Humor durchsetzten Stellungnahme im Bildungsdiskurs und seiner Absetzung von Scheingebildeten Folgendes deutlich geworden: Der Ich-Sprecher bzw. die dominante, starke Figur des Dialoges, welcher der Autor seine Stimme leiht, trägt jeweils die Züge eines Entlarvers, der gemeinsam mit dem Publikum diejenigen Vertreter der Sophistik, welche bloss über ein falsches, ein oberflächliches oder gar kein Wissen verfügen (die Spanne reicht vom hyperattizistischen Lexiphanes309 bis zum völlig ungebildeten Büchernarren), obwohl sie sich als Gebildete (πεπαι306 Dass mimesis bzw. die Lektüre mimetischer Literatur auch einen Gewinn bezüglich der ethischen Verbesserung der rezipierenden Person bringt, wird auch in anderen Texten der Zweiten Sophistik deutlich, vgl. dazu Whitmarsh [2001] 47–57. Er zeigt dies v.a. am Beispiel von Plutarch, dessen Interesse beim Verfassen der Doppelviten »in the construction of an ethical subjectivity that is designed to improve and educate the reader« lag (S. 54; mit dem Hinweis auf Plutarchs Aussagen im Vorwort zu Aem. Paul. 1,2–4). Vgl. generell zum Umstand, dass mimesis in der Zeit der Zweiten Sophistik nicht nur Sprache und Stil, sondern die ganze Person umfasst, die sich nach klassischen Paradigmata ausrichten soll, Whitmarsh [2001] 90–93 und zusammenfassend 299. 307 Vgl. Cic. De or. 2,85; Quint. Inst. 2,17,31 und 2,20,4; Aristeid. Or. 2,235–236.270.429. 308 Siehe dazu Whitmarsh [2001] 258f. und 269f.: Lukians Vitarum Auctio beispielsweise, wo die Philosophen als Sklaven, und damit als käuflich erwerbbares Wissen, auftreten, thematisiert diese Dekadenz genauso wie Nigrinus (§§24–25), wo schmeichlerische Scheinphilosophen sich ins Gefolge reicher Leute begeben und die Philosophie damit wie eine Ware feilbieten. 309 Siehe zu diesem Dialog den Kommentar zu Rh. Pr. 16–17.

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δευμένοι) ausgeben310 – sei es ganz bewusst wie der Rednerlehrer in Rh. Pr., sei es unbewusst wie der Patient Lexiphanes und auch der Sophist in Sol. –, aufspürt und verlacht. Wichtig ist dabei, dass der Entlarver seinerseits über den erforderlichen Bildungsstandard der Zweiten Sophistik verfügt – und den mit ihm Lachenden das Gefühl gibt, dass dies auch für sie zutrifft –, und dass er dies auch demonstriert, seine Bildung also zur Kreation des Humors und zur Herabsetzung des Gegners einsetzt. Auch wenn Bildung und attizistischer Sprachgebrauch letztlich eine Frage des Geschmacks darstellen, so kann doch ohne grundlegende Kenntnisse auf deren Diskussion gar nicht erst eingetreten werden. Die Scheingelehrten311 sind sozusagen ›Nestbeschmutzer‹, welche hinter den Bildungsstandards der echten Sophisten zurückbleiben und ein schlechtes Licht auf die Berufsgattung werfen.312 Der Vorwurf der Unbildung (ἀπαιδευσία) steht immer wieder im Raum: Lexiphanes beispielsweise wird in Aussicht gestellt, durch Umlernen seine ἀπαιδευσία hinter sich zu lassen.313 Allerdings braucht es vorab die Einsicht, dass man un- oder nicht genug gebildet ist. Deshalb äussert sich der Ich-Sprecher in Pseudol. 3 bezüglich seines Gegners gehässig, dass dieser, weil es ihm genau an dieser Einsicht mangle, nie ein gebildeter und ein besserer Mensch würde: Καίτοι μάταιον ἴσως καὶ περιττὸν ἐν παιδείας νόμῳ παρρησιάζεσθαι πρὸς σέ. οὔτε γὰρ ἂν αὐτός ποτε βελτίων γένοιο πρὸς τὴν ἐπιτίμησιν, οὐ μᾶλλον ἢ κάνθα-

310 So wird der in Pseudologista Attackierte als »selbsternannter Sophist« bezeichnet (§5: ὁ γὰρ σοφιστὴς οὗτος εἶναι λέγων) und seine eigene Zunge verrät (§25): »Ich habe dafür gesorgt, dass du, der du diese fremden Reden vorträgst, ein Sophist zu sein scheinst« (τοὺς ἀλλοτρίους τούτους λόγους ὑποκρινόμενον σοφιστὴν εἶναι δοκεῖν ἐποίησα). Dass er in Wahrheit absolut ungebildet ist, macht der Ich-Sprecher dem Publikum immer wieder deutlich. Auch der Rednerlehrer gibt sich als grosser Sophist und Redner und gilt als ein solcher (§§11–13), obwohl ihm durchaus bewusst ist, dass er sich diesen Rang und die Bewunderung der Leute nicht mittels Bildung, sondern durch seine Tricks und sein Scheinwissen »erarbeitet« hat (§17). Der ungelehrte Büchernarr schliesslich, dessen Bildungsgrad im Vergleich mit den vorher genannten sicher am tiefsten anzusetzen ist, hat sich von Schmeichlern überzeugen lassen, er sei ein Intellektueller, Rhetor und Literat wie kein anderer (§20: σοφὸς καὶ ῥήτωρ καὶ συγγραφεὺς οἷος οὐδ’ ἕτερος), so dass er immer bestrebt ist, sich den Gebildeten anzugleichen (§22: τοῖς πεπαιδευμένοις ἐξομοιοῦσθαι ἐθέλεις). 311 Ein Ausdruck dafür, dass sie Scheingelehrte sind, ist auch ihre Ignoranz dessen, worauf es wirklich ankommt: Sie befassen sich mit sprachlichem Archaisieren (Lex.), Pedantismus (Sol.) oder – noch schlimmer – exzessivem Bücherkauf (Adv. Ind.) anstelle wirklicher Bemühung um sprachliche Klarheit, Form und Inhalt und den Nutzen von Reden oder Literatur im Allgemeinen. 312 Vgl. Jones [1986] 101 und Halls Terminus »charlatan sophist« ([1981] Kap. 4 passim). 313 §23: »Wenn du dies tust und eine Weile dem Vorwurf der Unbildung (ἀπαιδευσία) standhältst und dich nicht scheust umzulernen (μεταμανθάνειν), dann kannst du zuversichtlich in der Öffentlichkeit verkehren und wirst nicht ausgelacht werden wie jetzt [...].«

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ρος μεταπεισθείη ἂν μηκέτι τοιαῦτα κυλινδεῖν, ἅπαξ αὐτοῖς συνήθης γενόμενος.314

Immer wieder gibt sich der Autor als besonders verärgert über Unbildung in Kombination mit falscher Selbsteinschätzung, sei es beim Sprachpedanten (Sol.), beim Platonnacheiferer (Lex.) oder beim ungebildeten Büchernarren (Adv. Ind.). Die Diskrepanz von Scheinwissen und echtem Wissen sowie die Frage nach echter Kompetenz steht in vielen Schriften Lukians im Vordergrund. Und gleichzeitig ist für seine Zeit Platon eines der wichtigsten Vorbilder der Literatur und des intellektuellen Diskurses allgemein. Da erstaunt es nicht, dass Lukian in Dialogen wie Lex. und Sol. gerade auf Sokrates und die spezifisch sokratische Frageweise anspielt, denn dieser ist die Paradefigur desjenigen, der Scheinwissen entlarvt und seinen Gesprächspartnern ihre Inkompetenz in Bereichen, für die sie sich als kompetent ansehen, aufzeigt.315 Wir erfahren auch einiges über das Publikum dieser Scheinsophisten, über dessen Bildungsstand und über die Wirkung von Scheinrednern auf das Publikum. Charakteristisch und ein Anzeiger des eigenen niedrigen Bildungsstandes ist die Reaktion derer, mit denen der Autor seine ›Opfer‹ im Rahmen ihrer Tätigkeit als Sophisten zusammentreffen lässt: Gemäss Lukians Darstellung reagieren die Gebildeten (πεπαιδευμένοι) mit Mitleid oder (öfter) mit Hohngelächter, die Ungebildeten (ἀπαίδευτοι, ἀνόητοι; zuweilen auch ›Menge‹, οἱ πολλοί/τὸ πλῆθος, genannt) mit Staunen und Lob.316 Dass also gemäss Lukian dem Urteil der Masse für die qualitative Beurtei314 »Und doch ist es wohl vergebliche Mühe und überflüssig, mit dir nach dem Brauch der Gebildeten offen zu reden. Denn du dürftest wohl niemals besser werden als Reaktion auf meinen Tadel – genauso wenig wie ein Mistkäfer umgestimmt werden könnte, nicht mehr solche [Dreckklösse] umherzuwälzen, wenn er sich einmal daran gewöhnt hat.« Zur Tätigkeit des Mistkäfers vergleiche man den Beginn von Aristophanes’ Frieden, bes. V. 7 (περικυλίσας). 315 Einzig darin, was echtes Wissen ist, rücken die Positionen des Sokrates bzw. Platons auf der einen und Lukians auf der anderen Seite auseinander: Für Lukian ist es Bildung, παιδεία, auf der alles beruht. Für Sokrates hingegen geht es nicht um Bildung im attizistischen Sinn, nicht um Kenntnis alter Schriften, sondern um Dialektik und die unablässige Bemühung um Erkenntnis. 316 Mitleid der Gebildeten: Lex. 17; Hohngelächter: Lex. 23f.; Adv. Ind. 28 und 7 (wo sogar die Schmeichler, welche den Büchernarren vordergründig loben, hinter seinem Rücken ebenfalls in Gelächter ausbrechen); Pseudol. 6f.; Staunen und Lob der Ungebildeten: Lex. 17 und 24; Rh. Pr. 17, 20, 26. Bezeichnenderweise meint der Rednerlehrer hinsichtlich der Kenner abwiegelnd, dass sie sich aus Gutmütigkeit meist ruhig verhielten (Rh. Pr. 20), schliesslich darf er seinen Schützling nicht entmutigen. Dass die Umgangsformen wohl eher rauer waren und vor allem Sprachschnitzer unter Gebildeten scharf kritisiert werden konnten, zeigen nicht nur die Lukianpassagen aus Lex., Adv. Ind., Pseudol., sondern zahlreiche weitere Aussagen seiner Zeitgenossen, zusammengestellt von Schmitz [1997] 83–91 im Kapitel ›Sprache als Kennzeichen von Bildung‹. Diese Belege sind wichtig, weil sie zeigen, dass Lukians Äusserungen – trotz aller gattungsbedingten Übertreibungen – mit den allgemeinen Wertungen und Haltungen der zeitgenössischen gebildeten Oberschicht übereinstimmen. Er gliedert sich deutlich in sein Umfeld ein und setzt elitäres Kritisieren von Fehlern auf humorvolle Weise um.

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lung eines Vortrags keine grosse Bedeutung beigemessen werden darf, bringt eine Ambivalenz ans Licht, der er selbst sicher auch ausgesetzt war und die im Zusammenhang mit der Schrift Rh. Pr. deutlich wird: Um als Sophist richtig berühmt und wohlhabend zu werden, braucht man den Erfolg beim breiten Publikum, das gleichzeitig aber auch auf Tricks der Redner hereinfallen kann und sich durchaus blenden lässt.317 Weissenberger ([1996] 148f.) analysiert, dass eine solche Einschätzung und eine Zweiteilung der Publikumsreaktionen, wie wir sie gesehen haben, bedeuten könnte, »dass schlechte, aber publikumswirksam aufgemachte Literatur die Missbilligung der wenigen Gebildeten, aber den Beifall der Masse finde, während man mit wirklich Gutem zwar jene Wenigen für sich einnehmen könne, von den Vielen aber abgelehnt werde.« Er fügt jedoch an, dass dies nicht zwingend so sein müsse, denn es gebe einen anderen Grundsatz, der in der Formulierung des Lykinos in Lex. 22 anklinge: [...] εἴπερ ἄρ’ ἐθέλεις ὡς ἀληθῶς ἐπαινεῖσθαι ἐπὶ λόγοις κἀν τοῖς πλήθεσιν εὐδοκιμεῖν [...].318 Somit besteht die Möglichkeit, dass der Redner mit einem wirklich guten Vortrag beiden Gruppen, Gebildeten und Ungebildeten gleichermassen gefallen kann, wobei auch der Faktor eine Rolle spielen mag, dass die Laien das Urteil derer, die sich besser auskennen, übernehmen. Man kann sich leicht vorstellen, dass die Masse sich dem Lob oder Tadel eines Experten im Publikum (z.B. eines berühmten Sophisten) anzuschliessen pflegte. Bezeugt wird uns das in der bereits erwähnten Rede von Aristeides (Or. 34,38f.), wo argumentiert wird, dass, da die Meinung der Vielen von den Experten abhänge, man sich ganz auf letztere konzentrieren müsse, um auf diese Weise bei beiden Parteien gleichermassen Bewunderung zu finden319 – was wiederum eine gute Rhetorik erfordert, die frei von Tricks und Täu-

317

Der Grosserfolg bei einem Massenpublikum ist nicht frei von Topik und Übertreibung; zur vorsichtigen Beurteilung der tatsächlichen historischen Gegebenheiten der Hörerschaft sophistischer Vorträge vgl. bereits Anm. 259. 318 »[...] wenn du wirklich gelobt werden willst für deine Reden und Erfolg haben willst vor dem breiten Publikum [...].« 319 ἐκείνως μὲν γὰρ ὑπ’ ἀμφοτέρων κριθησόμεθα καὶ θαυμασθησόμεθα. Weissenberger ([1996] 149 Anm. 382) weist darauf hin, dass auch Lukians Vorrede Harmonides von der Annahme ausgeht, dass durch Überzeugung weniger Experten bei allen Griechen Berühmtheit erlangt werden kann (§§2f.: Timotheos’ Rat an den Auleten Harmonides, den Lukian jedoch als generell gültig auch auf sich bezieht): εἰ γὰρ ἐπιλεξάμενος τῶν ἐν τῇ Ἑλλάδι τοὺς ἀρίστους καὶ ὀλίγους αὐτῶν ὅσοι κορυφαῖοι [...], εἰ τούτοις, φημί, ἐπιδείξαιο τὰ αὐλήματα καὶ οὗτοι ἐπαινέσονταί σε, ἅπασιν Ἕλλησιν νόμιζε ἤδη γεγενῆσθαι γνώριμος ἐν οὕτω βραχεῖ. [...] εἰ γὰρ οὓς ἅπαντες ἴσασι καὶ οὓς θαυμάζουσιν, οὗτοι δὲ εἴσονταί σε αὐλητὴν εὐδόκιμον ὄντα, τί σοι δεῖ τῶν πολλῶν, οἵ γε πάντως ἀκολουθήσουσι τοῖς ἄμεινον κρῖναι δυναμένοις; [...] Ὁ μέντοι τοῦ Τιμοθέου λόγος οὐκ αὐληταῖς οὐδὲ Ἁρμονίδῃ μόνον εἰρῆσθαί μοι δοκεῖ, ἀλλὰ πᾶσιν ὅσοι δόξης ὀρέγονται δημόσιόν τι ἐπιδεικνύμενοι, τοῦ παρὰ τῶν πολλῶν ἐπαίνου δεόμενοι. ἔγωγ’ οὖν [...] τῷ Τιμοθέου λόγῳ ἑπόμενος [...].

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schungen ist und die aufgrund ihres Inhalts überzeugt.320 Dieser Vorgang würde in seiner Bedeutung mit den Thesen übereinstimmen, welche Schmitz ([1997] 44ff., 83ff., 91ff.) für Bildung und Sprache der herrschenden Schicht gegenüber der »schweigenden Masse« aufgestellt hat: Die herrschende Schicht legitimiert ihre Macht durch überlegene Bildung, ein Phänomen, welches sich literarisch und epigraphisch niederschlägt. Umgekehrt findet sich aber auch die feste Erwartung, dass Reiche und Hochgestellte gebildet sind. Bildung, Macht und Reichtum sind somit eng verknüpft und werden so demonstriert, dass die ungebildete Masse die Überlegenheit der Oberschicht, gerade im sprachlichen Bereich, anerkennt.321 Der Attizismus, dessen Regeln die Bildungselite erlässt, und die Fähigkeit, nach den attizistischen Regeln sprechen zu können, bilden einen der Faktoren, der eine Trennlinie zwischen den Gebildeten und der Masse der Ungebildeten etabliert. Letztere verfügen nicht über die ökonomischen Mittel, sich die entsprechende Kommunikationskompetenz anzueignen und sind dadurch sozusagen zum Schweigen verurteilt – ein Schweigen, das ihnen gerechtfertigt erscheinen muss, solange sie die Regeln nicht in Frage stellen und sooft sie die Bildungselite in Aktion sehen, deren artifizielle Sprache hören und deren gelehrte Diskussionen an öffentlichen Deklamationen erleben.

320

Es bleibt dennoch zu bemerken, dass die Ungebildeten auf jeden Fall schon während des Auftritts durch Inhalt und Vortragsweise unterhalten werden müssen; Verständlichkeit und Identifikationsmöglichkeiten auch für Ungebildetere sind daher erforderlich. Wohlwollende und begeisterte Äusserungen oder Gestik der Gebildeten im Publikum werden dabei zusätzlich den guten Eindruck unterstützen sowie im Nachhinein das Bewusstsein hervorrufen, eine ›Koryphäe‹ gehört zu haben. 321 Die lukianischen Schriften greifen aber nicht zuletzt auch Mitglieder der Oberschicht als ungebildet an, so dass durch die Entlarvung von (oft mit Arroganz gepaarter) Scheinbildung eine Absetzung einer Elite innerhalb der Elite stattfindet, welche die παιδεία der ›echten‹ Gebildeten in den Augen der Ungebildeten noch höher ansetzt, sie zur imponierenden Leistung werden lässt (vgl. Schmitz [1997] 112). Demselben Effekt dienen m. E. die für die reale Vortragssituation gut bezeugten fachlich-kritischen Auseinandersetzungen im Anschluss an eine oder sogar während einer Darbietung, die den agonalen Charakter dieser Veranstaltungen verdeutlichen, wie auch die grossen Rivalitäten unter einigen ›Sophistenstars‹. Siehe dazu Schmitz [1997] 110ff.; Bowersock [1969] 89–100; Anderson [1993] 35–39; Plut. Tuend. san. 16,131; Luk. Rh. Pr. 22; Phryn. Ecl. 140 Fischer (sprachliche Fehler der Rednerstars Favorinus und Polemon); Athen. Deipn. 398b–c (Vermeidung kritischer Situationen).

3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie: Parallelen in der lukianischen Spottmotivik

Ein Aspekt dessen, was in den vorangegangenen Kapiteln zur Sprache gekommen ist (vgl. v.a. 2.1 und 2.2), nämlich dass im Bereich der literarisch Tätigen, insbesondere der Sophisten, die Diskrepanz zwischen echter Bildung und Scheinbildung, zwischen echten πεπαιδευμένοι und solchen, die sich dafür ausgeben, aber in Wahrheit ἀπαίδευτοι sind, Lukians Vorwürfe und bisweilen bittere Pamphlete hervorruft, tritt in seiner Darstellung positiver und negativer Vertreter der Philosophie ebenfalls stark in den Vordergrund. Die Thematik von Schein und Sein dehnt sich also über verschiedene angegriffene Gruppen von Bildungsvertretern aus,322 was insofern bedeutsam ist, als damit Kernelemente der Sophistenkritik im Werk des Autors nicht für sich allein stehen, sondern offenbar in einen grösseren Zusammenhang eingegliedert sind. Mittels einer Untersuchung, wie sich diese Thematik von Schein und Sein in den lukianischen Schriften über Philosophen entfaltet (allgemeines setting, Agieren der Entlarverfiguren), welche konkreten Motive der Autor verwendet und wo genau die Verbindung zu den Sophistenschriften liegt (vgl. 3.1 und 3.2), soll die Frage beantwortet werden, warum der Spott über Philosophen und Sophisten derart stark ineinander fliesst (vgl. 3.3).323 Die Scheinphilosophen sind vor allem an der heuchlerischen Diskrepanz zwischen Leben und Lehre zu erkennen. Dabei steht nicht eine Befürwortung oder Ablehnung einzelner Philosophenschulen im Vordergrund, sondern die Beurteilung der Ethik einzelner Vertreter. Daher stellt es auch kein 322 Das für jede Gruppe geforderte Idealverhalten entwickelt sich dabei aus der idealen παιδεία, wobei im Bereich der Philosophie kein bestimmtes Bildungsgut im Vordergrund steht, wie es für die Rhetorik immerhin ansatzweise aus Lex. herausgearbeitet werden kann (vgl. den Kommentar zu Rh. Pr. 16–17), sondern die Ethik, die richtige Lebensweise (βίος) gemäss den philosophischen Lehren, und damit ein Umsetzen dessen, was man als Philosoph auch andere lehrt. Historisch gesehen überschneiden sich Ausbildung eines Sophisten und eines Philosophen insofern, als der Besuch der Rhetorikschule Grundlage jeder höheren Bildung war (zur rhetorisch-literarischen Bildung des Philosophen Demonax vgl. S. 112). Ferner ist wohl auf Seiten der Sophisten philosophisches Bildungsgut – und sei es noch so oberflächlich – verbreitet, nur schon aufgrund der Beschäftigung mit den platonischen Dialogen (vgl. dazu Schmitz [1997] 89; Hahn [1989] 15; Hall [1981] 170). 323 Zur Nähe der Disziplinen Rhetorik und Philosophie vgl. bereits die Einleitung 1.3, S. 40f. Als »sophist-philosophers« (Bowersock [2002] 164) können beispielsweise Dion von Prusa, Maximus von Tyros oder Favorinus gelten.

3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

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Problem dar, dass der Kyniker Peregrinus von Lukian aufs Schärfste angegriffen wird, während er den ebenfalls zumindest teilweise mit kynischen Zügen ausgestatteten Demonax324 positiv als Paradigma für junge aufstrebende Philosophen heraushebt oder während den Kynikern Menipp und Diogenes in Ikaromen., Nekyomant. und Dial. Mort. durch die Entlarvung menschlicher Eitelkeiten eine überlegene Rolle zukommt.325 Im Bereich der Sophistik führt uns der Autor aussschliesslich negative Vertreter vor (Pseudol.; Lex.; Sol.) oder erreicht durch karikierende, ironisierende und komische Figurendarstellung denselben Effekt (Rh. Pr.). Im Gegenzug bringt er die jeweils gewählten Sprecherfiguren/Gesprächsführer (Lukian, Lykinos) durch ihre Positionierung in Fragen der Ausbildung, des Sprachgebrauchs und der Literaturproduktion als positiven Kontrast ein bzw. verweist auf Kontrasttexte, die eine andere, bessere Rhetorik illustrieren (Rh. Pr.). Die Sprecherfiguren setzen sich zusammen mit der angesprochenen (gebildeten) Leser- und Hörerschaft von Scharlatanerie und Dilettantismus der gänzlich ungebildeten oder der falschen Position zuneigenden Redner ab. Im Bereich der Philosophen hingegen werden auch positive Vertreter dargestellt, ein Idealbild also auf diese Weise präsentiert, wobei Lukian hauptsächlich als Vermittler involviert ist, der uns an einen vorbildlichen Philosophen weiterverweist, wie es in Demonax der Fall ist.326 Dem Rezipienten werden Ausbildung, Denken und Handeln des Idealphilosophen vor Augen geführt, wobei theoretisch-fachbezogene Äusserungen, wie sie im Bereich der Sophistik und Literatur allgemein aus Lex. und Hist. Conscr. gewonnen werden können, und ein möglicher Ausbildungsgang, nach dem man sich richten kann, im Bereich der Philosophie weitgehend fehlen, weil wie gesagt die ideale Lebensführung, die Ethik als Ergebnis 324 Zumindest durch seine Art, sich zu kleiden und seine typisch humoristisch-pointierte Redeweise, die geprägt ist von Redefreiheit (παρρησία), gehört Demonax den Kynikern an, während er in seiner Lehre von Lukian als Eklektiker beschrieben wird (vgl. S. 112). 325 Dazu und über Lukians Philosophenspott allgemein vgl. Nesselrath [2001b]. 326 Ob Nigrinus als positive Darstellung zu werten ist, ist in der Forschung umstritten; die in der Schrift vorhandenen Parodie- und Ironiesignale sprechen dagegen, vgl. Schirren [2005] 146– 150, bes. 147: »Diese Eingangssequenz lässt in ihrem etwas überspannten Lob der Philosophie kaum einen Zweifel daran, dass das Lob nicht ernst gemeint sein kann. Ganz im Gegenteil: die Schärfung des Blickes, die die Unterweisung des Nigrinus bewirkt, ist eine Parodie des Höhlengleichnisses aus der Platonischen Politeia [...].« Hall [1981] 157–164 liefert eine ausführliche Darstellung der kontroversen Forschungsmeinungen; sie stuft ihrerseits das übertriebene Lob des Nigrinus und seiner Wirkung auf den Schüler, was v.a. durch die platonischen Reminiszenzen bedingt sei, nicht als Parodie auch des Vorbildphilosophen selbst ein. Doch eine solche dürfte letztlich vorliegen, wenn das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler so gezeichnet wird, »dass die Bekehrung zur Philosophie die Gefahr birgt, statt sich zum eigenen Selbst zu befreien, nur eine neue Abhängigkeit vom erwählten Vorbild zu erzeugen« (Schirren [2005] 149f.). – Selbst in der positiven Bewertung des Demonax sind bisweilen parodistische Momente festgestellt worden, vgl. Schirren [2005] 154–156.

110

3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

richtigen Philosophierens, im Zentrum steht.327 Der Ich-Sprecher identifiziert sich stark mit Demonax, was wiederum viel über seine Selbsteinschätzung als πεπαιδευμένος aussagt: Im folgenden Kapitel soll gezeigt werden, dass Demonax als Verbündeter aus dem – mit der Sophistik verwandten – Bereich der Philosophie interpretiert werden kann; auch er ist ein Entlarver, der weiss, wodurch sich ein echter Gebildeter von einem Scharlatan unterscheidet.

3.1 Lukians Demonax und die Figur des ernst-komischen Entlarvers Die Schrift Δημώνακτος βίος beschreibt das Leben des athenischen Philosophen Demonax, über den uns ausserhalb Lukians keine sicheren Nachrichten vorliegen, so dass er möglicherweise eine Fiktion des Autors und keine historische Person ist. Eunapios erwähnt Demonax zwar in seinen Philosophenviten (VS 454), kennt ihn aber ganz eindeutig aus Lukians Lebensbeschreibung. Immerhin scheint Eunapios keinerlei Zweifel an der Historizität des Demonax gehabt zu haben. Nun findet man den Namen Demonax an etwa 30 Stellen in der Florilegienliteratur (v.a. Stobaios), und die entsprechenden Zitate (wovon einige unecht sind) haben eine kynische Färbung. So ist eine Mehrheit der Forscher davon überzeugt, dass es sich hier um denselben Philosophen handelt und Lukians Demonax demnach eine historische Person ist.328 Selbst wenn diese Einschätzung korrekt sein sollte, bedeutet das freilich noch nicht, dass Lukians βίος inhaltlich über alle historischen Zweifel erhaben wäre, denn die Historizität der Person garantiert nicht die Historizität dessen, was über diese Person berichtet wird. Vielmehr ist gerade dadurch, dass die Selbstdarstellung des Autors den Zügen des Demonax stark ähnelt, ein hoher Grad an Stilisierung anzunehmen (s.u. S. 118–125).329 Lukians βίος des Demonax weist nur in den Anfangs- und Schlusskapiteln (§§1–11/63–67) einen biographisch-chronologisch erzählenden Stil auf. Den umfangmässig weit grösseren Mittelteil (§§12–62) bildet eine Zusammenstellung von bon mots des Demonax, die Lukian selbst »treffende 327

Vgl. dazu bereits Anm. 322. Grundlegend noch immer Funk [1907]; seiner Meinung angeschlossen haben sich Jones [1986] 91 und Bompaire [1993] 121f.; man vergleiche auch den Lexikoneintrag in Ueberweg 1,510f. sowie Branham/Goulet-Cazé [1996] 14–17 und 215f. 329 Einschätzungen zur Stilisierung finden sich bei Clay [1992] 3409f., 3425f. und 3447, der soweit geht, Demonax gegen Funk als »literary invention« zu sehen; ebenso Schirren [2005] 154. Folgende Äusserung Branhams ([1989] 236 Anm. 84) gilt auch für meine Untersuchung: »I am not concerned here with the truth of Lucian’s portrait, but with the qualities of the character whom he presents as his teacher and exemplar.« 328

3.1 Lukians Demonax und die Figur des ernst-komischen Entlarvers

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und witzig-geistreiche Aussprüche« (§12: εὐστόχως τε ἅμα καὶ ἀστείως ὑπ’ αὐτοῦ λελεγμένα) nennt.330 Diese Art der Darstellung ist für die Antike typisch; zahlreiche antike Biographien, seien es solche von Philosophen, Dichtern, Staatsmännern oder Feldherren, weisen als gemeinsames Merkmal auf, »dass ihnen eine durchgehende Erzählung des Lebensablaufes fehlt, dass sie vielmehr ein im wesentlichen statisches Bild der Persönlichkeit und ihrer Lebensweise (bios) zu vermitteln suchen.«331 Besonderes Gewicht erlangt die Darstellung der Lebensweise und des Charakters in Philosophenviten: Die Episoden, welche hier der Charakterisierung zu dienen haben und darum in der Regel thematisch, nicht chronologisch angeordnet sind, werden gerne anekdotisch abgerundet und dabei auf einen prägnanten Ausspruch, ein Apophthegma, ausgerichtet.332

Lukians Demonax knüpft insbesondere an die Tradition kynischer Philosophenviten an, wie wir sie bei Diogenes Laertios finden; ich werde später auf mögliche Gründe zurückkommen, warum der Autor diese Darstellungsform gewählt hat.333 Wenden wir uns zuerst dem Inhalt des βίος zu: Als Begründung für das Verfassen der Schrift gibt Lukian im Proömium die hochphilosophische Einstellung334 seines Zeitgenossen und Lehrers335 Demonax an, deretwegen er den Leuten in Erinnerung bleiben solle und vor allem den jungen aufstrebenden Philosophen – neben den grossen alten Philosophen – als zeitgenössisches Beispiel, als κανών, dienen könne, nach dem sie sich

330 In der Rhetorik werden solche Anekdoten als χρείαι oder ἀποφθέγματα bezeichnet, vgl. Jones [1986] 91, Bompaire [1993] 121 und Russell [1967] 140. 331 Wehrli [1973] 193. Dabei finden sich Lebensabschnitte wie Jugend und Erziehung oder auch Alter und Tod durchaus als geschlossene Teile behandelt, die Darstellung des Kernstückes, der Lebensmitte, fokussiert aber v.a. auf ausgewählte Episoden, die Lebensweise und -haltung der betreffenden Persönlichkeit illustrieren sollen. Vorhanden sind auch Verbindungen von chronologischer und thematischer Vorgehensweise, gerade im Zusammenhang mit der Reisetätigkeit der betreffenden Person, so z.B. in Iamblichs und Porphyrs Vita Pythagorica. Dazu und allgemein zur Tradition der Biographie siehe auch Dillon/Hershbell [1991] 6–14; ferner Schirren [2005]. 332 Wehrli [1973] 193. 333 Vgl. zu Diogenes Laertios unten Anmm. 373 und 376. 334 Er nennt ihn sogar am Ende von §2 »den besten der Philosophen, die ich kenne« (ἄριστον ὧν ἐγὼ οἶδα φιλόσοφον). 335 Lukian sagt, er sei lange Zeit mit ihm zusammengewesen (§1: τῷ Δημώνακτι ἐπὶ μήκιστον συνεγενόμην), gemeint ist wohl als Student (so Branham [1989] 58). Natürlich beinhaltet diese Bemerkung eine Beteuerung des Sprechers, Demonax gut zu kennen, und daher eine Wahrheitsgarantie für die erzählten Anekdoten; sie ist Teil des ›Beglaubigungsapparates‹ (Saïd [1993] 255– 259 zeigt auf, wie solche ›autobiographischen‹ Bemerkungen des Autors den Wahrheitsgehalt des Erzählten stützen). Vergleichbar ist die Relation zwischen Sokrates und Xenophon und die Memorabilia des letzteren (siehe Clay [1992] 3428). συγγίγνεσθαι als Terminus zur Bezeichnung des Zusammenseins von Schüler und Lehrer wird auch von Platon verwendet, vgl. z.B. Tht. 143d und 150d/151a (Sokrates selbst spricht von seinen Schülern als οἱ δ’ ἐμοὶ συγγιγνόμενοι).

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

richten und dem sie nacheifern sollen.336 Es folgen Bemerkungen zu Herkunft, Ausbildung und Lehre des Demonax, wovon hier die zur Charakterisierung des vorbildlichen Philosophen wichtigen Punkte paraphrasiert werden sollen: Ein ganz persönlicher Impuls zum Schönen (οἰκεία πρὸς τὰ καλὰ ὁρμή) und eine angeborene Liebe zur Philosophie (ἔμφυτος πρὸς φιλοσοφίαν ἔρως) machten sich schon in Demonax’ Jugend bemerkbar, und aus diesem Drang heraus wandte er sich schliesslich der Philosophie und damit auch der Freiheit, freimütiger Rede und Wahrheit (ἐλευθερία, παρρησία und ἀλήθεια) zu und verbrachte ein immer geradliniges, vernunftgemässes, tadelloses Leben (§3). Bereits hier wird klar, dass es dabei nicht etwa um eine Berufswahl des Demonax geht, sondern um eine Lebenshaltung, die sich aus seinem Wesen und Charakter heraus ergibt.337 Seine Veranlagung war also hervorragend, doch auch seine Ausbildung war umfassend und beinhaltete das Studium und Auswendiglernen der Texte der klassischen Dichter und Training in Rhetorik, eingehende Kenntnisse über die verschiedenen philosophischen Schulen und körperliche Ertüchtigung (§4).338 Er war an keine einzelne Lehre gebunden, sondern kombinierte in einer Art Synkretismus verschiedene Inhalte, wies die meisten Gemeinsamkeiten mit Sokrates und Diogenes von Sinope auf und hielt materielle Güter für unwichtig (§§3, 5, 8, 62).339 Auch zeigte er keinerlei Hochmut, sondern nahm am sozialen und politischen Leben teil, war ein ruhiger, ausgeglichener Charakter und tadelte die Fehler der Menschen auf konstruktive Art 336 Die verwendeten Termini sind ῥυθμίζειν und ζηλοῦν, man vergleiche die Parallelität zu der für rhetorisch-literarische Produktionen geforderten Vorgehensweise des μιμεῖσθαι und ζηλοῦν im Kommentar zu Rh. Pr. 9: ζηλοῦν [...] μιμεῖσθαι. 337 Zur grundlegenden Konzeption der antiken Philosophie als Lebensform, die über theoretische Diskurse hinausgehend alle Bereiche des Daseins erfasst, siehe Hadot [1991], bes. 13–47 und 164–176. 338 Dies ist die einzige Stelle, in der Lukian konkret auf die Ausbildung eines Philosophen eingeht. Ein Kernpunkt dürfte hier v.a. die Betonung des eingehenden und umfassenden Studiums sein, das in Kontrast steht zur oberflächlichen Aneignung des Allernötigsten, wie es z.B. der Rednerlehrer in Rh. Pr. empfiehlt. Der erste Teil entspricht der rhetorischen Grundausbildung und ähnelt derjenigen, die beispielsweise auch Lexiphanes empfohlen wird (vgl. Lex. 22); Demonax wird daher, abgesehen von seiner philosophischen Fachbildung, recht allgemein als πεπαιδευμένος charakterisiert (vgl. Hall [1981] 174). Zur Allgemeinbildung eines πεπαιδευμένος vgl. auch Lukians Symposion (z.B. §12 und §25): Alle Anwesenden (Philosophen, Redner, Grammatiker) kennen sich gleichermassen mit Klassikern wie Homer aus und bringen Zitate aus ihnen an. 339 Zu Recht vermerkt Jones ([1986] 98), Demonax sei – ähnlich wie Lukian sich selbst darstellt – »educated but not doctrinaire«, was sich unter anderem darin äussert, dass er sich keiner dogmatischen philosophischen Schule angeschlossen hat. Dass Lukian für die Rhetorik speziell im Bereich Vokabular und Attizismus doktrinäre Ansichten verwirft, zeigen die Schriften Lexiphanes (Hyperattizismus; vgl. den Kommentar zu Rh. Pr. 10: ἀνορύττειν [...] λόγους [...] und 17: κατορωρυγμένους ἀπόρρητα καὶ ξένα ῥήματα καὶ σπανιάκις ὑπὸ τῶν πάλαι εἰρημένα) und Soloecista (Solözismen-Jagd, Pedanterie; vgl. die Einleitung 2.2). Zum Thema ›unabhängiger Philosoph bzw. Satiriker‹ vgl. auch Hor. Ep. 1,1,14: nullius addictus iurare in verba magistri [...].

3.1 Lukians Demonax und die Figur des ernst-komischen Entlarvers

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(§§5–7).340 In grosser Selbstlosigkeit lag ihm vor allem echte Freundschaft am Herzen (§§8–10). Das wichtigste Element, welches auch in den Apophthegmata zum Ausdruck kommt, ist die absolut richtige Haltung, die Demonax gegenüber allen Lebenssituationen und dem menschlichen Leben als solchem einnimmt,341 eine Haltung, welche eine grosse Abgeklärtheit verrät, einiges mit gesundem Menschenverstand zu tun hat und sich unter anderem darin äussert, wie er sich als Gebildeter mit kynischem Witz von seinen (unwissenden oder verblendeten) Gesprächspartnern absetzt, ihr Handeln aber auch in aufklärend-hilfsbereiter Absicht kommentiert. In Kapitel 3.2 werden wir sehen, dass die im lukianischen Œuvre getadelten Scheinphilosophen dem Beispiel des Demonax in praktisch allen Punkten nachstehen: Es mangelt ihnen an echter Liebe zur Philosophie und somit auch an der Ausbildung. Sie predigen Enthaltsamkeit, sind aber in Wirklichkeit hinter Reichtum her, so dass sie sich auch ihre Freunde nach materiellen Kriterien aussuchen. Prahlerei und übermässige Affekte prägen ihren Charakter. Damit sind sie weit entfernt von der selbstverständlichen Umsetzung eines vorbildlichen Philosophenlebens, wie Demonax es führt. Demonax’ bon mots – 51 an der Zahl – richten sich inhaltlich zu einem grossen Teil an Philosophen, daneben auch an Redner und sonstige Vertreter der gebildeten Schicht sowie an reiche Griechen und Römer. Weitere karikierte Figuren sind Athleten, Zauberer und Wahrsager, ein Naturkundler und einige andere, teils namentlich genannt, teils nicht.342 Die Personen, die in diesen Anekdoten eine Rolle spielen, sind also bunt gemischt – bei den meisten sticht allerdings als Charakteristikum heraus, dass sie zu den (angeblichen) Gebildeten und/oder zum Adel, d.h. zur Elite gehören. Innerhalb dieser Gruppen nämlich kristallisieren sich diejenigen Verhaltensweisen heraus, die Demonax auf humorvolle Weise kritisiert. Die Themen, denen er sich widmet, beziehen sich oft auf die Qualität von öffentlichen Auftritten (Philosophen, Redner): Hier finden sich Show, Schein, Betrug und Lügen, daneben Aufgeblasenheit und Prahlerei. Auch Sprache und Literatur sowie Unbildung sind behandelte Gebiete. Und schliesslich wird Effeminiertheit in verschiedenen Anekdoten lächerlich gemacht. Wichtig ist der für verschiedene Gruppen von Bildungsvertretern gültige Charakter der Kritikpunkte. 340 Man vergleiche die Kritik am Sophisten in Soloecista und das Lob über die rücksichtsvollwitzigen Korrekturen des Sokrates von Mopsos gegenüber Solözisten (Einleitung 2.2). 341 Vgl. §§19f., 24f., 35, 37, 45, 60, 66. 342 Philosophen und Redner sind auch hier wieder nicht immer exakt zu trennen (z.B. die Anekdoten über Favorinus in §§12f. oder über einen σοφιστής, der über Philosophisches spricht, in §14). Philosophen: §§19, 21, 28, 29, 31, 48, 54, 55, 56 / Redner: §§24, 33, 36 / Reiche, Adlige, Politiker: §§15, 18, 30, 38, 41, 50, 51 / Athleten: §16 und §49 / Zauberer und Wahrsager: §23 und §37 / Naturkundler: §22.

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

Schon bei dieser allgemeinen Zusammenfassung fällt auf, dass uns sämtliche Themen auch in Lukians Angriffen auf Sophisten und Scheingebildete begegnen, so beispielsweise Prahlerei und Show des Rednerlehrers, die falschen sprachlichen Maximen des Lexiphanes, die Unbildung des Büchernarren und effeminiertes Aussehen oder effeminierte Verhaltensweise der Protagonisten in Rh. Pr., Adv. Ind. und Pseudol.343 Die gravierendsten Betrügereien und Lügen werden dem in Pseudologista Attackierten angelastet (vgl. §§2, 16f., 21, 25, 30). Demonax setzt sich also gegenüber seinen Gesprächspartnern in genau denselben Punkten ab wie Lukian als Ich-Sprecher in seinen Schriften (bzw. die von ihm eingeführten Sprecherfiguren wie Lykinos) und entlarvt Scheingebildete und Angeber unter seinen Mitmenschen auf ähnliche Weise. Dass Demonax seinerseits über eine umfassende Bildung verfügt, wird vor allem aus solchen Anekdoten deutlich, die zu verstehen geben, in wie vielen Gebieten er bewandert ist: Er ist ein Kenner von Poesie (vgl. §4: ποιηταῖς σύντροφος), so dass er seine Äusserungen mit Anspielungen auf Homer ausschmücken kann (§§60f.) und schlechte Dichter sofort erkennt (§44). Auch auf dem Gebiet der Rhetorik kennt er sich aus (vgl. §4: λέγειν ἤσκητο) und erlaubt sich daher, einen Redner für seine miserablen μελέται zu tadeln (§36). Selbst Sprachkritik liegt ihm am Herzen, denn er übt an einem Hyperattizisten auf ähnliche Weise Kritik wie Lykinos an Lexiphanes (§26; vgl. Lex. 17 und 20). Ganz allgemeine Anspielungen auf das Milieu der Sophisten enthalten je zwei Anekdoten über Favorinus und Herodes Atticus (§§12f., 24, 33). Demonax’ breite Bildung erlaubt ihm also, auf vielen Gebieten sein Urteil abzugeben. Gleichzeitig wird sein Geschmack illustriert, welcher demjenigen des Autors, wie er sich uns präsentiert, so nahe kommt, dass dessen Lob uns nicht erstaunt. Im Folgenden sollen einige Beispiele von ἀποφθέγματα Demonax’ Kritik näher beleuchten, wobei die Kritik an Philosophen – speziell an ihren betrügerischen Auftritten – den Schwerpunkt bildet, da sich hier eine enge Verbindung zur Sophistik und zu Rh. Pr. zeigt und zudem die grundlegenden Charakteristika der im Anschluss zu behandelnden lukianischen Kritik an Scheinphilosophen auftreten. In §12 heisst es: Ἐπεὶ γὰρ ὁ Φαβωρῖνος ἀκούσας τινὸς ὡς ἐν γέλωτι ποιοῖτο τὰς ὁμιλίας αὐτοῦ καὶ μάλιστα τῶν ἐν αὐταῖς μελῶν τὸ ἐπικεκλασμένον σφόδρα ὡς ἀγεννὲς καὶ γυναι-

343

Zur Unbildung des Büchernarren vgl. ausführlich die Einleitung 2.2; zum Thema Effeminiertheit vgl. die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu Rh. Pr. 9–10 sowie den Kommentar zu Rh. Pr. 11 und 23. Vgl. auch Adv. Ind. 3 und 22–25; Pseudol. 17f., 20f., 27, 31.

3.1 Lukians Demonax und die Figur des ernst-komischen Entlarvers

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κεῖον καὶ φιλοσοφίᾳ ἥκιστα πρέπον, προσελθὼν ἠρώτα τὸν Δημώνακτα, τίς ὢν χλευάζοι τὰ αὐτοῦ· ›Ἄνθρωπος‹, ἔφη, ›οὐκ εὐαπάτητα ἔχων τὰ ὦτα.‹344

Demonax kritisiert Favorinus’ Verhalten auf der Bühne, insbesondere seinen effeminierten Gesang und zwar speziell darum, weil ein solcher für einen philosophischen Vortrag nicht angebracht ist. Ein weiterer Punkt wird aber aus Demonax’ Hinweis, er lasse sich nicht täuschen, klar: Favorinus verwendet – genau wie der Rednerlehrer – einen Showeffekt, der ein leicht zu beeindruckendes Publikum bereits für die Rede einnehmen kann oder soll, ganz abgesehen vom Inhalt, obwohl dieser doch – gerade im Bereich der Philosophie – das einzig Wichtige sein sollte.345 Das Verb für »täuschen« (ἀπατᾶν) begegnet uns im Zusammenhang mit der lukianischen Kritik an Scheinphilosophen wieder (vgl. Kap. 3.2). Noch stärker in die Richtung von Betrug geht folgende Anekdote (§48): Μάλιστα δὲ ἐπολέμει τοῖς οὐ πρὸς ἀλήθειαν ἀλλὰ πρὸς ἐπίδειξιν φιλοσοφοῦσιν· ἕνα γοῦν ἰδὼν Κυνικὸν τρίβωνα μὲν καὶ πήραν ἔχοντα, ἀντὶ δὲ τῆς βακτηρίας ὕπερον, καὶ κεκραγότα καὶ λέγοντα ὅτι Ἀντισθένους καὶ Κράτητος καὶ Διογένους ἐστὶ ζηλωτής, ›Μὴ ψεύδου‹, ἔφη, ›σὺ γὰρ Ὑπερείδου μαθητὴς ὢν τυγχάνεις.‹346

Was hier mit dem Verb »Krieg führen« (πολεμεῖν) als von Demonax heftig gegeisselt dargestellt wird, ist ein Vernachlässigen der Wahrheit (ἀλήθεια), bloss um sich selbst zur Schau zu stellen (ἐπίδειξις). Auf das lautstarke Gebaren des (Möchtegern-)Kynikers reagiert Demonax mit einer harschen Zurechtweisung (»lüge nicht«) und einem Wortspiel: ὕπερος »Knüppel« und Ὑπερείδης »der sich auf den Knüppel stützt« (zu gr. ἐρείδειν). Der Name ist uns bekannt als derjenige des attischen Redners; vielleicht bezeichnet er hier aber einen uns unbekannten Kyniker oder ist ohne Referenz auf eine bestimmte Person verwendet.

344 »Als nämlich Favorinus von jemandem gehört hatte, dass er [sc. Demonax] sich über seine Vorträge lustig mache, besonders über die allzu verweichlichte Art von deren Singpartien, weil das unwürdig und weibisch und der Philosophie nicht im Geringsten angemessen sei, ging er zu Demonax hin und fragte ihn, wer er sei, dass er seine Vorträge verspotte. ›Ein Mensch‹, antwortete er [sc. Demonax], ›der keine leicht zu betrügenden Ohren hat.‹« 345 Vgl. zu Favorinus’ Gesang auch den Kommentar zu Rh. Pr. 19: ἢν δέ ποτε καὶ ᾆσαι καιρὸς εἶναι δοκῇ, πάντα σοι ᾀδέσθω καὶ μέλος γιγνέσθω. An beiden Stellen stellt Lukian eine Verbindung zwischen Gesang und Verweichlichung her. Zusätzlich ist zu beachten, dass Favorinus als Eunuch gilt und daher sowieso als effeminiert angesehen wird (vgl. den Kommentar zu Rh. Pr. 11: ὀλίγας μὲν ἔτι, οὔλας δὲ καὶ ὑακινθίνας τὰς τρίχας εὐθετίζοντα). 346 »Vor allen Dingen zog er [sc. Demonax] gegen jene ins Feld, welche nicht im Bemühen um Wahrheit, sondern aus Lust an der Zurschaustellung philosophierten. Als er beispielsweise einen Kyniker sah mit Mantel und Ranzen, der anstelle eines Stockes aber einen Knüppel (ὕπερος) [trug] und mit lautem Geschrei verkündete, er sei ein Nacheiferer des Antisthenes, Krates und Diogenes, sagte er: ›Lüge nicht, denn du bist in Wirklichkeit ein Schüler des Hypereides!‹«

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

Mit Showeffekten verbinden sich leicht auch Prahlerei (ἀλαζονεία) und Aufgeblasenheit (τῦφος347, μέγα φρονεῖν). So wird der Peripatetiker Agathokles, der sich für den ersten und einzigen Dialektiker hält, von Demonax zurechtgewiesen (§29). Nicht anders ergeht es dem Sophisten Sidonios, der sich anlässlich seines Vortrags brüstete, er kenne sich in jeder philosophischen Lehre aus (§14). Die Prahlerei des Sophisten, die hier an einem philosophischen Thema exemplifiziert wird, kann leicht durch die prahlerischen Sprüche des Rednerlehrers, eines klassischen Deklamatoren, ersetzt werden, ohne dass sich an der Kritik viel änderte. Prahlerei und Aufgeblasenheit sind ebenfalls prominente Themen in Lukians Kritik der Scheinphilosophen (vgl. Kap. 3.2). Schliesslich treffen wir auch bei Demonax’ Vorwürfen an die Philosophen auf die Thematik von Schein und Sein (vgl. schon oben §48: ἀλήθεια vs. ἐπίδειξις), am explizitesten wohl in §56: Καὶ μὴν τὸ πρὸς Ἑρμῖνον τὸν Ἀριστοτελικὸν ἄξιον ἀπομνημονεῦσαι· εἰδὼς γὰρ αὐτὸν παγκάκιστον μὲν ὄντα καὶ μυρία κακὰ ἐργαζόμενον τὸν Ἀριστοτέλη, καὶ διὰ στόματος αὐτοῦ τὰς δέκα κατηγορίας ἔχοντα, ›Ἑρμῖνε‹, ἔφη, ›ἀληθῶς ἄξιος εἶ δέκα κατηγοριῶν.‹348

Wiederum mit Hilfe eines Wortspiels, einer Äquivokation (κατηγορία im technischen aristotelischen und im juristischen Gebrauch als »gerichtliche Anklage«), spottet Demonax über Herminos, der sich als grosser Aristoteliker ausgibt, was aber nur vordergründiger Schein ist: Er »malträtiert« durch seine Lebensweise, aufgrund derer er eigentlich bereits zahlreiche Klagen verdient hätte, die aristotelische Philosophie.349 Wir werden sehen, dass hier, in der Diskrepanz von Lebensweise und nach aussen vertretener Lehre, der Kern des lukianischen Spottes über die zeitgenössischen Philosophen liegt und nicht in ihrer Weltfremdheit, wie es bei Aristophanes der Fall ist, oder in bestimmten einzelnen Doktrinen.350 Die Unbildung zweier Philosophen verspottet Demonax in einer Weise, die stark an Lukians Angriff auf den ungebildeten Büchernarren erinnert.

347 Hier ist daran zu erinnern, dass Demonax selbst vom Autor als »nicht im Geringsten von Aufgeblasenheit erfasst« gerühmt wird (§5: οὐδ’ ἐπ’ ὀλίγον τύφῳ κάτοχος) und Lykinos Lexiphanes eindringlich rät, sich von Aufgeblasenheit (τῦφος), Prahlerei (μεγαλαυχία) und Böswilligkeit (κακοήθεια) fernzuhalten (Lex. 24). 348 »Auch was [Demonax] zum Aristoteliker Herminos [sagte], ist erwähnenswert: Er wusste nämlich, dass jener durch und durch ein Schurke war, Aristoteles tausendfach misshandelt hatte und die zehn Kategorien immer im Munde führte, und sprach: ›Herminus, du bist tatsächlich zehn Anklagen (κατηγορίαι) wert!‹« 349 Man vergleiche hierzu die vorbildliche Lebensweise des Demonax selbst, v.a. §3. 350 Zur Schein-Sein-Thematik und zu nicht umgesetzten ethischen Forderungen als Kernelement der Unterhaltung in Pisc. und Fug. vgl. unten 3.2.

3.1 Lukians Demonax und die Figur des ernst-komischen Entlarvers

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Der Hauptpunkt liegt darin, wie lächerlich sich solche Möchtegern-Gebildete machen und wie unsinnig und nutzlos ihre Tätigkeit ist (§28): Ἰδὼν δέ ποτε δύο τινὰς φιλοσόφους κομιδῇ ἀπαιδεύτως ἐν ζητήσει ἐρίζοντας καὶ τὸν μὲν ἄτοπα ἐρωτῶντα, τὸν δὲ οὐδὲν πρὸς λόγον ἀποκρινόμενον, ›Οὐ δοκεῖ ὑμῖν‹, ἔφη, ›ὦ φίλοι, ὁ μὲν ἕτερος τούτων τράγον ἀμέλγειν, ὁ δὲ αὐτῷ κόσκινον ὑποτιθέναι;‹351

Das von Demonax zum Vergleich herangezogene Bild gibt einerseits die sinnlosen Fragen des ersten dadurch wieder, dass er einen Bock melken will, und illustriert andererseits die unpassenden Antworten des zweiten dadurch, dass er die Milch mit einem Sieb auffangen will – beides unmögliche Vorhaben.352 Was Demonax an den zeitgenössischen Philosophen verspottet und kritisiert, dehnt sich auf weitere ›Berufsgattungen‹ aus:353 Show, Betrug und Scharlatanerie sind beispielsweise Vorwürfe, die er auch gegen Zauberer und Wahrsager richtet (§23 und §37). Der Unbildung bezichtigt er auch einen Redner (§36), der Effeminiertheit einen Athleten (§16), der eine bestimmte Art von Kleidung trägt, die stark an diejenige erinnert, die in Rh. Pr. 15 empfohlen wird. Und immer wieder ist Kritik an Aufgeblasenheit, Prahlerei oder Verweichlichung auch an Adlige gerichtet (§§41, 38, 18). Demonax kritisiert ferner häufig Personen, die sich selbst zu wichtig nehmen, propagiert im Gegenzug eine gewisse Gelassenheit gegenüber dem Leben und dem natürlichen Lauf der Dinge, eine Bescheidenheit des Menschen gegenüber dem Universum (§§24, 25, 33, 35, 45, 66) und lehnt Spekulationen über Dinge jenseits des menschlichen Lebens ab (§§20, 32, 43). Sowohl für Demonax’ Haltung als auch für Lukian und seine Philosophenkritik darf gelten, dass allein die Ethik in Leben und Lehre des Philosophen im Zentrum stehen soll; eine Bevorzugung beispielsweise der Metaphysik, vor allem wenn sie geradezu zur Vernachlässigung der Ethik führt, wird mit Spott bedacht.354 Insofern erweist sich das positive Urteil des Autors über Demonax auch im grösseren Kontext seiner philosophenkritischen Werke 351 »Als er [sc. Demonax] einst zwei absolut ungebildete Philosophen über einen (philosophischen) Untersuchungsgegenstand debattieren sah, wobei der eine absurde Fragen stellte, der andere aber Antworten gab, die nichts zur Sache taten, sagte er: ›Scheint es euch nicht, meine Freunde, dass der eine der beiden einen Bock melkt und der andere ihm ein Sieb darunter hält?‹« 352 Ein bekanntes Bild eines Siebes im Zusammenhang mit Unwissenheit findet sich bereits in Plat. Grg. 493a–c; dort wird die Seele der Unwissenden (ἀνόητοι) bzw. der Uninitiierten (ἀμύητοι) aufgrund ihrer Unersättlichkeit, Ungewissheit und Vergesslichkeit mit einem Sieb verglichen. 353 Die breite Fächerung der Kritisierten in Demonax zeigt innerhalb einer Schrift das, was Lukian über mehrere Werke verteilt als wichtiges Element der Unterhaltung anwendet, den Spott über Scheinvertreter in verschiedenen Sparten. 354 Vgl. z.B. Vit. Auct. 18 (Platonische Ideen) sowie natürlich der in Philopseud. von Tychiades verspottete Glaube der übrigen Protagonisten an Zaubereien und Dämonenerscheinungen (bes. §§16, 24, 27, 29, 32).

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

betrachtet als kohärent: Er schätzt ihn deshalb, weil seine Philosophie sich nicht in metaphysische Höhen versteigt, sondern vor allem im ethischen und zwischenmenschlichen Bereich zum Tragen kommt.355 Welche Assoziationen nun die Lebensdarstellung des Demonax in der Tradition einer kynischen Philosophenvita weckt und inwiefern die Figur des Demonax Parallelitäten zur Selbstdarstellung des Autors Lukian aufweist, soll im Folgenden konkret aufgezeigt werden: Demonax wird von Lukian als ein Mann bewundert, der aufgrund seiner Disposition nicht anders kann, als nach Freiheit (ἐλευθερία), freimütiger Rede (παρρησία) und Wahrheit (ἀλήθεια) zu streben (§3 und §11), Charakteristika, welche seine Apophthegmata deutlich illustrieren. Dieselben Begriffe zieht Lukian für seine Selbstdarstellung als Autor und zur Einordnung seiner Werke heran: Besonders betont wird das Konzept des freimütigen Sprechens (παρρησιάζειν) in Piscator, wo Lukians Maske »Pharrhesiades« geradezu die Verkörperung356 der παρρησία darstellt. Auf die Frage der (personifizierten) Philosophie, was sein Name sei, antwortet Parrhesiades (§19): Παρρησιάδης Ἀληθίωνος τοῦ Ἐλεγξικλέους.357 Dass die Rolle des Parrhesiades stark auktorial aufgeladen ist, zeigen erstens die Aussagen über seine Herkunft, dass er »ein Syrer« sei »von denen, die am Euphrat wohnen«358 (§19), und zweitens der Inhalt der Schrift, weil sich Parrhesiades vor den alten Philosophen für ein früheres lukianisches Werk (Vitarum Auctio) verteidigen muss.359 Parrhesiades ist vom Autor klug als »personnage inattaquable«360 355 Ähnlich Nesselrath [2001b] 145 über Stoiker, Platoniker, Pythagoreer und Peripatetiker in Lukians Schriften: »Diese vier Schulen werden von Lukian wohl vor allem deswegen oft zwiespältig (meist sogar eindeutig negativ) beurteilt, weil sie alle einen sehr ausgedehnten ›metaphysischen Überbau‹ vertreten, der sie – jedenfalls in Lukians Augen – dafür anfällig macht, an Dinge zu glauben (und diesen Glauben auch dogmatisch zu vertreten), die sich einfach nicht beweisen lassen.« Allerdings gehe ich mit Nesselrath nicht ganz einig, dass deswegen (aufgrund dogmatischerer neben ›diesseitiger‹ und pragmatischer ausgerichteten Lehren) in Lukians Werk bestimmte philosophische Richtungen positiver bewertet würden und so zwischen verschiedenen Philosophenschulen differenziert würde (vgl. Nesselrath [2001b] 143). Setzt man die Ethik ins Zentrum lukianischer Philosophenkritik (so auch Schirren [2005] 166), wird leicht verständlich, dass entsprechend Dogmatiker, die sich mit terminologischen Spitzfindigkeiten und metaphysischen Spekulationen befassen, besonders zur Verspottung reizen, eine positive oder negative Bewertung aber unabhängig von der Schulzugehörigkeit immer eine Frage der Lebensführung einzelner Vertreter bleibt. 356 Das Suffix -(ι)άδης gibt die Abstammung an und ist als Patronymikonsuffix v.a. bei Homer zu finden (vgl. Πηληιάδης, Λαερτιάδης). Παρρησιάδης bezeichnet demnach genau genommen den »Sohn der παρρησία«. Vgl. dazu Schwyzer [1939] 1,509 und Risch, Wortbildung der homerischen Sprache, Berlin/New York 21974, 147–149. 357 »Freisprecherkind, Sohn des Wahrhaftigen, des Sohnes des durch Widerlegung Berühmten.« Im Griechischen sind die Elemente der Freimütigkeit, Wahrheit und Widerlegung in Namen verpackt, wie sie im Deutschen nur schwer wiederzugeben sind. 358 Eine Beschreibung, die auf Lukians Heimatstadt Samosata zutrifft. 359 Ausführlicher zu Inhalt und Philosophenspott von Pisc. siehe unten 3.2. 360 Dubel [1994] 22f.

3.1 Lukians Demonax und die Figur des ernst-komischen Entlarvers

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konstruiert, denn er ist sozusagen »l’incarnation d’une qualité philosophique qui interdit une telle dissonance« – gemeint ist die Dissonanz zwischen Handlung und Rede, die sowohl Demonax als auch Parrhesiades bei anderen aufdecken.361 Dass es gerade in invektivenartiger Literatur ein geeignetes Verteidigungsmittel ist, sich auf παρρησία und ἀλήθεια zu berufen, lässt der Autor in Merc. Cond. 4362 und (weniger explizit) Adv. Ind. 30 durchblicken. Die Figur des Ἔλεγχος (»Widerlegung«, »Überführung«), auf die in oben zitierter Stelle (Pisc. 19) verwiesen worden ist, erhält in Pseudol. 4–9 eine prominente Rolle: Der Autor stellt sein Pamphlet einerseits in die Tradition des Iambendichters Archilochos, eines Mannes, der »gänzlich frei (ἐλεύθερος) und der freimütigen Rede (παρρησία) zugetan war« (§1),363 und ruft andererseits den (wie er sagt) der Ἀλήθεια und Παρρησία treu ergebenen menandrischen Prolog364 Ἔλεγχος zu Hilfe, um den gesamten Plot der Schrift vorzustellen (§4). Im Folgenden, kündet der Autor an, werde er die Exposition des Ἔλεγχος auf dieselbe Art und Weise – mittels παρρησία und ἀλήθεια – weiterführen.365 Diese Beispiele366 zeigen, dass Lukian als Autor für seine Werke die Anwendung von freiem, unbeschönigtem und wahrheitsgemässem Sprechen in Anspruch nimmt und darin Demonax, wie er ihn darstellt, nahesteht. Neben invektivischer Literatur (Archilochos) rufen die Konzepte von παρρησία und ἐλευθερία auch Werte der klassischen athenischen Demokratie sowie der Alten Komödie auf (vgl. E. Hipp. 421–423; Plat. R. 557b; Isoc. Or. 8,14; Ar. Th. 541); 361 Parrhesiades ist damit das ideale Gegenbild dessen, was er anzuklagen gedenkt, denn »il n’y a chez lui d’hiatus possible entre ce qu’il est et ce pour quoi il se donne« (Dubel [1994] 23). Treffend auch Saïd ([1993] 266): »Parrhésiadès [...] est celui qui ne change pas [im Gegensatz zu den falschen Philosophen]. Les mêmes raisons expliquent qu’il se soit jadis détaché de la rhétorique et qu’il attaque aujourd’hui les philosophes de son temps. Et il affirme hautement qu’il ne changera pas et ne cessera pas d’attaquer les imposteurs.« (vgl. dazu auch unten 3.2). 362 »Mir kann nichts zur Last gelegt werden, es sei denn, es wäre etwas Strafbares an Wahrheit (ἀλήθεια) und freimütiger Rede (παρρησία).« 363 Über die Definition des eigenen literarischen Schaffens und der Autorisation gegenüber dem Publikum, die mit dieser Einreihung in die Tradition verbunden sind, vgl. Branham [1989] 29–32. 364 Das Stück, worin Menander gemäss Lukians Anspielung im Prolog die Figur des Elenchos auftreten liess, ist uns nicht überliefert und wird auch sonst in der antiken Literatur nirgends erwähnt. 365 Vgl. zur Verwendung von Invektiventopik in Rh. Pr. und zu inhaltlichen Parallelen zwischen Rh. Pr. und Pseudol. die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §§23–25 mit Anm. 1086. 366 Anfügen könnte man auch folgende Bemerkung des Lykinos (Lex. 17): Angesichts der Sprachkrankheit des Lexiphanes meint er, es habe diesem wohl noch nie ein freier und der freimütigen Rede zugetaner Mann die Wahrheit über sein literarisches Schaffen gesagt. Man kann Lykinos als einen solchen ansehen, weil er sich als erster der Fehler des Lexiphanes annimmt und sie ihm offen und deutlich vor Augen führt. Über echte Freunde als Kritiker, welche den Verfasser eines literarischen Werkes vor öffentlicher Blamage bewahren können, vgl. auch Horaz AP 419– 452.

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

zudem ist παρρησία ein wesentliches Charakteristikum der Kyniker wie Diogenes von Sinope (vgl. D. L. 6,69)367 – dies alles spielt eine zentrale Rolle in Lukians Selbstdarstellung, was auf folgende Weise in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden kann: In neuerer Zeit hat Branham überzeugend gezeigt, dass es zur Charakterisierung der lukianischen Texte bzw. der (auktorialen) Sprecher am ergiebigsten ist, das Konzept des ernsthaften Spassens (σπουδογέλοιον) beizuziehen,368 denn auch dieser Begriff schafft eine Verbindung zwischen Lukian (bzw. den auktorialen Sprechern), Demonax, den Kynikern (Diogenes, Menipp) und der Alten Komödie. Der Terminus σπουδογέλοιος vereint zwei gegenteilige Qualitäten, Ernsthaftigkeit und Witz, und verweist auf eine »paradoxical quality in the seriocomic figure himself, who, while comic and amusing on the surface, frequently emerges as, in some sense, earnest, with a claim to our serious attention«.369 Dieses Konzept des ernsthaften Spassens wird oft mit den Kynikern verbunden, die eine Art humoristische Philosophie entwickelt haben:370 Einer der seltenen Belege für σπουδογέλοιος aus der Antike findet sich bei Strabon (16,2,29) zur Charakterisierung des Kynikers Menipp bzw. dessen Schriften, die uns leider (bis auf ein paar Fragmente und einige Werktitel) verloren sind.371 Das Porträt des wohl berühmtesten Kynikers, Diogenes von Sinope (D. L. 6,20–81), stellt einen Mann dar, der auf witzige Weise lehrt, mit einem provokativen Humor, der zum Nachdenken anregt und deshalb auch eine zielbewusste, ernsthafte Natur beinhaltet.372 Unser Bild von 367 Vgl. dazu Branham [1989] 54f. und 229 Anm. 47. Zur Art und Weise, wie sich Lukian darauf speziell in Piscator beruft, indem er sich sowohl mit einer kynischen Maske ausstattet, die ihn mit den alten Philosophen verbindet, als auch als Erbe der Alten Komödie auftritt, deren Struktur Pisc. aufnimmt, vgl. Branham [1989] 32–34. – Zu Lob und Kritik des Kynismus in Lukians Schriften und zum Kynismus im Zusammenhang mit Wegmetaphorik vgl. die Einleitung 1.3, S. 41–43. 368 Vgl. Branham [1989] 11–63. Sein Ansatz ist aufgenommen worden von Angeli Bernardini [1994]. Schon Michail Bachtin hat die lukianischen Schriften mit dem Element des σπουδογέλοιον verknüpft, vgl. dazu Bachtin, Rabelais 10; 26–30; 119–123 sowie Anm. 645 unten. Erwähnt sei zudem, dass bereits Erasmus von Rotterdam im Vorwort zu seiner Übersetzung von Gallus Lukian als einen Verknüpfer von Nützlichem (utile) und Angenehmem (dulce) im Sinne des Horaz qualifizierte (vgl. Branham [1989] 26). Dass das Angenehme in Horaz’ Ars Poetica auch eine witzige Note beinhaltet, ist im Kontext implizit angesprochen: Weil die vornehmen jungen Ritter austera poemata, also ernste, strenge Dichtung, ablehnen, ist einer Verbindung von utile und dulce grösserer Erfolg beschieden (Vv. 342–344). 369 Branham [1989] 27. 370 Zur Bedeutung des Konzepts des σπουδογέλοιον in der Alten Komödie siehe unten S. 123 sowie Rösler [1986]. 371 Genau diese Verbindung von Ernstem und Heiterem nimmt Lukian als Charakteristikum des Menipp in denjenigen Dialogen auf, in denen er ihn zur Hauptfigur macht, d.h. in seinen so genannten Menippeischen Satiren (Menipp. und Ikaromen.). Vgl. auch die Rollen des Menipp und Diogenes und ihr Wirken in der Unterwelt in Dial. Mort. 1–11; 13; 20–22; 29–30. 372 So Branham [1989] 52f.

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Leben und Lehre der Kyniker Diogenes und Krates von Theben (eines Schülers des ersteren, vgl. D. L. 6,85–93) setzt sich denn auch hauptsächlich aus zahlreichen Anekdoten zusammen.373 Eine auf Apophthegmata konzentrierte Darstellung weisen im Werk des Diogenes Laertios zudem die Viten des Sokratesschülers Aristipp (2,65–104) und des Kynikers Antisthenes (6,1–19) auf;374 dabei ist zu beachten, dass Demonax sich auf zwei dieser Philosophen, Diogenes und Aristipp, beruft (§62), drittens auf Sokrates, den man in diesem Zusammenhang als ›Urkyniker‹ sehen kann und der wiederum auf die Philosophenviten als Modell grossen Einfluss hatte.375 Genau dieses Element des Anekdotenhaften setzt nun auch der Autor Lukian für seine Beschreibung des Lebens des Demonax ein, knüpft somit an eine Tradition376 an und verbindet die von παρρησία geprägte Redeweise seines Protagonisten mit derjenigen berühmter kynischer Vorgänger und mit der philosophischen Praxis ernsthaften Spassens, da insbesondere Sokrates durch seine sprichwörtliche Ironie in den Rahmen des σπουδογέλοιον gehört.377 Diese Tradition der Lebensbeschreibung mit ihrer speziell engen Verbindung von βίος und δόξα ermöglicht zudem eben diejenige Konzentration auf die Ethik, die mir für Lukians Philosophenlob und -spott grundlegend scheint.378 Zur Person des Demonax kann man zusammenfas373

Dass das ἀπόφθεγμα und die χρεία speziell mit Kynikern und deren Art zu philosophieren verbunden worden sind, zeigt z.B. D. L. 5,18 (über Diogenes, der jede Gelegenheit nutzt, einen solchen Spruch anzubringen). Die Anekdoten können als Strukturmerkmal insbesondere der kynischen Philosophenbioi bei Diogenes Laertios bezeichnet werden (vgl. Schirren [2005] 153). 374 Vgl. Leo [1901] 50 und Wehrli [1973] 204f. mit Begründung dieser Form (»weil der wesentliche Gehalt ihrer theoretisch einfachen Lebensweisheit dabei tatsächlich Ausdruck fand«). 375 Vgl. Wehrli [1973] 194; Funk [1907] 634 verweist auf Cic. Off. 1,29, wo bestätigt wird, dass die Lebensbeschreibungen der Sokratiker eine Fülle von Apophthegmata enthielten. 376 Vgl. Leo [1901] 83, welcher Demonax als eine Philosophenvita einstuft, welche »zwar mit dem Anspruch auf eigene literarische Existenz, aber in der Form abgefasst ist, die bei Diogenes überall durch die Zerstückelung durchscheint«. Genauso auch Cancik [1984] 118: »Der Demonax ist das einzige vollständig erhaltene Exemplar eines Typus von Biographie, die wir lange vor Lukian ansetzen können, und dessen Trümmer in den Excerpten des Diogenes Laertios zu bewundern sind. [...] Damit wird Lukians ›Demonax‹ zu einem wichtigen Zeugnis für einen Zweig der hellenistischen Biographie, den βίος κυνικός.« 377 Vgl. Branham [1989] 50–52. Zur Ironie des Sokrates vgl. R. 337a4: ἡ εἰωθυῖα εἰρωνεία τοῦ Σωκράτους (siehe z.B. auch Grg. 481b–c und 489e) und Angeli Bernardini [1994] 114: »L’ironia, che si serve del paradosso e del ridicolo per affermare la propria verità in oppositione ad una verità altrui, è uno degli strumenti principali del serio-comico.« Vgl. auch Cic. De Or. 2,270: Socratem opinor in hac ironia dissimulantiaque longe lepore et humanitate omnibus praestitisse. Ciceros nachfolgende Definition der ironia als genus perelegans et cum gravitate salsum weist dieselbe Vermengung von Ernst und Witz auf, wie sie für das σπουδογέλοιον charakteristisch ist. Im Hinblick auf Lukians Verwendung von Ironie ist auf die ironische Wirkung der Figurenäusserungen in Rh. Pr. hinzuweisen (vgl. dazu die Einleitung 1.6, S. 64f.). 378 S.o. S. 108–110. Vgl. dazu auch Schirren [2005] 113–137 (über die Gestaltung der Viten des D. L.) sowie 166 (über die lukianischen Philosophen): »Das ursprüngliche Bedürfnis nach einer Richte im Leben, das der Philosoph paradigmatisch bietet, wird nun von Lukian dergestalt beantwortet, dass es die Philosophen sind, bzw. diejenigen, die als solche angesehen werden möch-

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

send festhalten, dass er Humor als sanftes Mittel benutzt, um seine Gesprächspartner auf Selbsttäuschungen und Fehlhaltungen aufmerksam zu machen. Diogenes und Sokrates zieht er als Vorbild dafür heran, wie man philosophische Perspektiven in komischem Stil wiedergeben kann, weniger für ihre Lehren.379 Lukian nun ordnet sich selbst als Autor durch die beiden Charakteristika Freimütigkeit im Sprechen und ernsthaftes Spassen in dieselbe Tradition ein, in der Demonax steht. Über παρρησία, ἐλευθερία und ἀλήθεια ist bereits oben gesprochen worden; dass Lukian sich auch als Erbe der Tradition des σπουδογέλοιον verstanden wissen will, erweist sich vor allem aus Bis Accusatus, Prometheus es in verbis und den προλαλιαί Zeuxis und Bacchus.380 Die προλαλιαί sind darum besonders aussagekräftig, weil der Autor mit ihnen als Vorreden das Publikum auf den nachfolgenden längeren Vortrag einstimmt und konkret darauf vorbereitet, wie dieser aufgefasst werden soll und was er als Autor mit seiner Rede beabsichtigt.381 In Bis Acc. 33 klagt der personifizierte philosophische Dialog Lukian an, er habe ihn seiner tragischen, besonnenen Maske beraubt und diese durch eine komische, satyrhafte und beinahe lächerliche ersetzt. Darüber hinaus habe er ihn gewaltsam mit Witz, Iambos und Kynismus, mit Eupolis, Aristophanes und mit dem bellenden Hund Menipp verbunden, der ganz unerwartet zuschnappt, weil er lacht, während er beisst.382 Damit wird einerseits Lukians Spezialität der Verknüpfung von philosophischem Dialog mit humoristischen Elementen, also der komische Dialog beschrieben, andererseits auf seine Übernahme der Menipp von Gadara zugeschriebenen Satireform hingewiesen, die so genannte Menippeische Satire.383 Lukian verteidigt sich erten, die sich selbst nur als solche Paradeigmata inszenieren, ohne es wirklich leben zu wollen. Damit einher geht der Wandel der Perspektive vom Philosophen und seiner Lebensform auf die Art und Weise, wie seine Zeloten ihn sehen und sich an ihm orientieren. Wesentlicher Motor dieses Wandels ist der Philosophiebegriff, der sich ganz auf das Ethisch-Praktische beschränkt und hier allgemeinste Tugenden wie Wahrhaftigkeit, Offenheit, Hilfsbereitschaft und Affektlosigkeit impliziert.« 379 Vgl. Branham [1989] 59. 380 Vgl. Branham [1989] 34–46. 381 Vgl. zu den Vorreden bereits ausführlich die Einleitung 1.7. 382 [...] τὸ μὲν τραγικὸν ἐκεῖνο καὶ σωφρονικὸν προσωπεῖον ἀφεῖλέ μου, κωμικὸν δὲ καὶ σατυρικὸν ἄλλο ἐπέθηκέ μοι καὶ μικροῦ δεῖν γελοῖον. εἶτά μοι εἰς τὸ αὐτὸ φέρων συγκαθεῖρξεν τὸ σκῶμμα καὶ τὸν ἴαμβον καὶ κυνισμὸν [...]. τελευταῖον δὲ καὶ Μένιππόν τινα τῶν παλαιῶν κυνῶν μάλα ὑλακτικὸν ὡς δοκεῖ καὶ κάρχαρον ἀνορύξας, καὶ τοῦτον ἐπεισήγαγεν μοι φοβερόν τινα ὡς ἀληθῶς κύνα καὶ τὸ δῆγμα λαθραῖον, ὅσῳ καὶ γελῶν ἅμα ἔδακνεν. Die Formulierung γελῶν ἅμα ἔδακνεν umschreibt die Charakterisierung Menipps als σπουδογέλοιος wie wir sie bei Strabon finden (s.o.). 383 Lukian hat die Spezialitäten der Menippeischen Satire mit seinem komischen Dialog verknüpft. Dass letzterer Lukians Eigenerfindung ist, muss nicht bestritten werden; dass bereits Menipp komische Dialoge verfasst hat, lässt sich nicht beweisen. Vgl. dazu Baumbach [2002] 22–25 und Hall [1981] 71. Siehe dazu auch bereits die Einleitung 1.1, S. 14f.

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folgreich damit, dass er für sich beansprucht, durch das Vereinen von philosophischem Dialog und Komödie dem ehemals mürrischen, verwilderten Dialog eine angenehme (ἡδύς) Note verliehen zu haben, die ihm ein viel breiteres Publikum verschafft (§34). Wichtig ist neben der Bezugnahme auf Menipp und den Kynismus die mit Eupolis und Aristophanes angesprochene Einreihung in die Tradition der Alten Komödie. Aristophanes proklamiert die Funktion seiner Dichtung als komisch mit ernsthaften (didaktischen) Intentionen in Passagen wie Ra. 389f.384 und 686f.385 sowie Ach. 655–658386. Indirekt bestätigen uns auch thematisch mit Philosophischem und Philosophen befasste Dialoge wie Pisc. und Fug., die in der formalen Gestaltung aristophanische Muster aufweisen, die Absicht des ernsthaften Spassens. Nicht zuletzt wird in der Deutung der Schriften als Selbstpositionierung des Autors innerhalb der πεπαιδευμένοι, die unter Einbezug der eigenen Bildung zur witzigen Absetzung von Ungebildeten erreicht wird,387 von einer durchaus ernsthaften Funktion ausgegangen. Auch die Schrift Rh. Pr. passt in dieses Konzept des ernsthaften Spassens: Obwohl sie weder im engeren Sinn als komischer Dialog noch als Menippeische Satire bezeichnet werden kann (als gängige Beispiele gelten z.B. Piscator und Ikaromenipp), werden philosophische und komische Konzepte und Subtexte in Inhalt, Form und Vokabular einbezogen und miteinander verbunden: Die zu Beginn stark sokratisch-platonisch geprägte Schrift mutiert durch den schauspielerischen Auftritt des Rednerlehrers immer stärker zu einer Komödie, so dass Rh. Pr., auch wenn es sich formal nicht um einen Dialog handelt, in die Nähe eines komischen Dialoges gerückt wird.388 Über die Anlehnung an die Alte Komödie hinaus besteht die Möglichkeit, bestimmte, v.a. durch Ambivalenz gekennzeichnete Passagen von Rh. Pr. mit Bachtins Konzept der karnevalisierten Literatur zu verbinden, die in ihrer Entwicklung wiederum bis auf die antike Menippeische Satire und den Sokratischen Dialog (in enger Verknüpfung mit dem ErnsthaftKomischen, σπουδογέλοιον) zurückgeführt wird.389

384

Καὶ πολλὰ μὲν γελοῖά μ’ εἰπεῖν, πολλὰ δὲ σπουδαῖα [...]. Τὸν ἱερὸν χορὸν δίκαιόν ἐστι χρηστὰ τῇ πόλει / ξυμπαραινεῖν καὶ διδάσκειν. 386 Ἀλλ’ ὑμεῖς τοι μή ποτ’ ἀφῆσθ’· ὡς κωμῳδήσει τὰ δίκαια. / Φησὶν δ’ ὑμᾶς πολλὰ διδάξειν ἀγάθ’, ὥστ’ εὐδαίμονας εἶναι, / οὐ θωπεύων οὐδ’ ὑποτείνων μισθοὺς οὐδ’ ἐξαπατύλλων, / οὐδὲ πανουργῶν οὐδὲ κατάρδων, ἀλλὰ τὰ βέλτιστα διδάσκων. 387 Vgl. dazu bereits oben Kap. 2.2 und im Folgenden Kap. 3.2–3.3. 388 Zu philosophischen Elementen in Rh. Pr. vgl. bereits die Einleitung 1.2–1.4 und den Kommentar zu §§1–4, zur Figur des Sokrates Rh. Pr. 13; zur Anlehnung an Aristophanes und die Komödie sowie zur lukianischen Gattungsmischung vgl. die Einleitung 1.8, zur Darstellung der Lehrer in einem aristophanischen Agon auch den Kommentar zu §§9–10. 389 Vgl. dazu den Kommentar zu §10: ἀλαζὼν καὶ ἀρχαῖος ὡς ἀληθῶς καὶ Κρονικὸς ἄνθρωπος. 385

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

Lukians Prometheus es in verbis stellt genau wie Bis Acc. eine Apologie für seine literarische Spezialität, den komischen Dialog, dar und rückt als spezielle Qualität seines Schaffens »the curious amalgam of serious and comic tendencies«390 in den Vordergrund. Immer wieder vergleicht Lukian die Art seiner Werke mit Wunderkreaturen, die aus zwei Elementen zusammengesetzt sind, wie zum Beispiel der Hippokentaur (Prom. Es 5) oder die Kentaurin des Malers Zeuxis, die halb Tier, halb Mensch ist (Zeux. 3f.). Dabei betont er aber, dass er nicht nur für eigenartige, neue Zusammensetzungen gelobt werden möchte, sondern auch für die Art und Weise, wie er aus zwei divergierenden Elementen ein harmonisches Ganzes zu schaffen vermag (Prom. Es 5f.), und dafür, dass er dies innerhalb der gängigen Kriterien – Berücksichtigung des attischen Kanons, angemessenes Vokabular, harmonische Komposition – tut (Zeux. 2). Seine ›Kreaturen‹ sollen also in ihrem literarisch-stilistischen Gehalt durchaus ernst genommen werden.391 Lukians προλαλιά Bacchus schliesslich enthält die wohl klarsten Ausführungen dazu, dass das Publikum seine Werke nicht als blosse Amüsierstücke beurteilen, sondern auch die Ernsthaftigkeit dahinter wahrnehmen solle, ohne die dem Zuhörer etwas entgeht: Lukian beschreibt, wie lächerlich es auf die Inder wirkte, als der Gott Dionysos seine Streitmacht, bestehend aus Mänaden, Satyrn, einem Silen und Pan, zum ersten Mal in den Osten führte. Genau wie die Inder nimmt auch Lukians Publikum die Mänaden und Satyrn zuerst als lächerlich wahr und realisiert erst danach, dass sie ernstzunehmende KämpferInnen sind, die entsprechenden Schaden anrichten können. Die Bedeutung der Geschichte, die Lukian selbst für das Verhältnis seines Werkes gegenüber dem Publikum darlegt (§5), fasst Branham folgendermassen zusammen ([1989] 46): Like Dionysus in India, he [sc. Lucian] may appear satyrlike and comic, but his thyrsus too has a point. [...] Thus Lucian uses the story to admonish his audience against dismissing him as ›merely comic‹. The tale of Dionysus’ invasion is the perfect vehicle for this admonition, for in telling and interpreting it the speaker gives a demonstration of his seriocomic art on a small scale.

Der Autor Lukian äussert sich also selbst über die Verknüpfung von Ernsthaftem und Witzigem in seinem Werk. Genauso übt Demonax auf humorvolle Weise ernstgemeinte Kritik an seinen Zeitgenossen, verfolgt mit seinen Witzen zumindest ernsthafte (entlarvende) Absichten. Dem Lob des Demonax kommt insofern eine tiefere Bedeutung zu, als der Autor sich in seiner Selbstdarstellung eng mit dem Philosophen verbindet, wobei als Hauptelemente die (kynische) παρρησία und die Tradition des σπουδο390 391

So Branham [1989] 42. Zu Prometheus es in verbis und Zeuxis siehe ausführlicher die Einleitung 1.7.2 oben.

3.1 Lukians Demonax und die Figur des ernst-komischen Entlarvers

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γέλοιον festgestellt worden sind. Man kann den Satiriker als literarisches Pendant zum Kyniker sehen; beide vermitteln einen Inhalt unter dem Gesichtspunkt des ernsthaften Spassens und geben sich als Beobachter der Gesellschaft.392 Es ist daher auch nicht erstaunlich, dass sich zwischen Demonax’ kritisierenden Anekdoten und dem lukianischen Spott über Scheinphilosophen, der im folgenden Kapitel dargestellt wird, enge Verbindungen ziehen lassen.

3.2 Lukians Philosophenspott: Piscator und Fugitivi Innerhalb von Lukians Œuvre finden sich zahlreiche Schriften, die sich kritisch-humoristisch mit den verschiedenen philosophischen Richtungen auseinandersetzen.393 Für mein Anliegen, Lukians Konzept von scheinbaren und echten Vertretern auch im Bereich der Philosophen aufzuzeigen und zu analysieren, sind v.a. folgende zwei Schriften aufschlussreich, welche die Philosophen in zwei Gruppen, in gute und schlechte Vertreter, einteilen:394 Ἀναβιοῦντες ἢ Ἁλιεύς (Pisc.), deutsch etwa Die Wiederauferstandenen oder der Fischer, und Δραπέται (Fug.), Die entlaufenen [Sklaven]. Aus diesen Texten soll herausgearbeitet werden, welche Kritik an den Scharlatanen unter den Philosophen geübt wird bzw. wie sich diese Scharlatane geben und woran man sie erkennt. Was die Sprecher der Dialoge anbelangt, so schlüpft Lukian in Pisc. in die Rolle mit dem programmatischen Namen Parrhesiades (s.o. S. 118), während die Kritikerin der falschen Philosophen in Fug. die personifizierte Philosophie selbst ist, die dem Göttervater Zeus ihr Leid klagt. Da die Kritik des Parrhesiades und der personifizierten Philosophie sehr ähnlich ausfällt und die Schriften in Thematik und Struktur Übereinstimmungen aufweisen (Feststellung, dass es Scharlatane gibt; Erwägung und teilweise Vollzug einer Lösung und Bestrafung), sollen sie gemeinsam behandelt werden unter dem Gesichtspunkt der Auseinandersetzung und Satire des Autors Lukian, in welcher die Diskrepanz von 392

Vgl. Horaz sat. 1,1,23–25: praeterea, ne sic, ut qui iocularia, ridens / percurram – quamquam ridentem dicere verum / quid vetat? und sat. 1,10,14f.: ridiculum acri / fortius et melius magnas plerumque secat res. 393 Eine Gesamtschau und -interpretation dieser Schriften findet sich bei Nesselrath [2001b]. 394 Schriften, die sich allzu spezifisch mit einer Schule und/oder einem Problem auseinandersetzen (z.B. Gallus, J. Trag., J. Conf., Hermotimos), werden an dieser Stelle beiseite gelassen, ebenso diejenigen Texte, welche die gesamte Philosophenschar schlecht machen oder verspotten (Ikaromenipp, Nekyomanteia, Symposion und Vitarum Auctio; wo es nützlich scheint, werden sie zur Ergänzung und Erklärung herangezogen, da die Kritik an der gesamten Philosophenschar oft eng an diejenige an den schlechten Philosophen in Pisc. und Fug. anschliesst). Hermotimos ist als Vergleichstext zu Rh. Pr. wegen der verwendeten Wegmetaphorik wichtig, vgl. dazu bereits die Einleitung 1.5.c.

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

Schein und Sein und deren Entlarvung in immer wieder neuen Varianten als amüsante, unterhaltsame Kernelemente verarbeitet werden. Im Gegensatz zum Sophistenspott, der teilweise von theoretisch-konstruktiven Aussagen zur Rhetorik begleitet wird und in die Form sokratischplatonischer Dialoge eingekleidet ist, die Scheinwissen in ›ernsthaftem‹ Gespräch entlarven,395 treten die auktorialen Figuren in den genannten philosophenkritischen Texten als spezifisch komödienhafte Entlarver auf, die Scheinwissen und Scharlatanerie in einem (aristophanischen) Schauspiel blossstellen. Witzige Unterhaltung dürfte denn auch eine Hauptfunktion dieser aristophanisch geprägten Texte sein, und dies stärker und mit einem tendenziell weniger intellektuellen Anspruch als es in den Schriften zu rhetorischen Themen, die teilweise attizistische Spezialprobleme behandeln, der Fall ist (vgl. v.a. Lex. und Sol.). Die Betonung liegt auf dem Amüsement, das durch die gemeinsame Jagd auf Scharlatane zustande kommt. Aufschluss über intendierte Funktion und Rezipienten des komischen Dialoges geben auch folgende Punkte, welche aus der Anklage, die Lukian dem personifizierten Dialog in Bis Acc. 33 in den Mund legt, erschlossen werden können:396 Die Dialoge Lukians sind für einen anderen Rezipientenkreis geschrieben als die klassischen philosophischen (platonischen) Dialoge, sie richten sich an ein breites Publikum (οἱ πολλοί) und sind daher in ihrem Inhalt nicht abgehoben, sondern behandeln alltägliche Themen. Einen grossen Teil der Publikumstauglichkeit macht die durch diese Art von Dialogen gewährleistete angenehme Unterhaltung aus, die durch Elemente der Komödie und durch Satirisches nach dem Vorbild des Menipp erreicht wird. Der neue komische Dialog setzt sich also Unterhaltung zu einem wichtigen Ziel und will damit für eine möglichst breite Leserschaft attraktiv sein.397 Das stereotype Bild des Scheinphilosophen, dessen Leben und Lehre, dessen äussere Erscheinung und innere Disposition in krassem Gegensatz stehen, und die immer wiederkehrende Thematik von Schein und Sein lassen sich aus eben dieser beabsichtigten Unterhaltung eines gemischten Publikums erklären, denn Stereotype und Paradespott dienen zum Einbezug auch ungebildeterer Hörer: Alle kennen das Standardaussehen eines Philosophen und die Standardanforderungen, die an ein Philosophenleben gestellt werden.398 395 Dies trifft v.a. auf Lex. und Sol. zu; in Rh. Pr. sind neben den sokratisch-platonischen auch wichtige aristophanische Muster erkennbar (s.o. S. 123). 396 Zu dieser Textstelle vgl. bereits oben 3.1, S. 122f. mit Anm. 382. 397 Vgl. Baumbach [2002] 23. – Zu komödiantischen Elementen in Lukians Werk allgemein vgl. Bompaire [1958] 320–330. 398 Man vgl. hierzu auch Schmitz’ ([1997] 168–175) Analyse verschiedener sophistischer Reden, die mit zahlreichen überdeutlichen Anspielungen auf Tradition und Klassiker geradezu auf die richtige Auflösung und Einordnung drängen und mit dem Publikum über die gemeinsame Ak-

3.2 Lukians Philosophenspott: Piscator und Fugitivi

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Folgende Szene bildet den Anfang der Schrift Piscator: Eine Reihe berühmter griechischer Philosophen399 – aus dem Hades beurlaubt, deshalb auch im Doppeltitel: Die Wiederauferstandenen – verfolgt wutentbrannt den Syrer Parrhesiades, weil er an ihnen Hybris begangen und über sie blasphemisch gesprochen habe und deshalb bestraft werden müsse.400 Auf Parrhesiades’ Frage, womit er die Philosophen denn derart verärgert haben soll, geben sie als Gründe einerseits all seine Dialoge an, in denen er sich verächtlich über die Philosophie selbst geäussert habe, andererseits sein Stück Vitarum Auctio, worin er sie, freigeborene Denker, wie auf einem Sklavenmarkt feilgeboten und verkauft habe (§§1–4). Nur mit Mühe erwirkt Parrhesiades für sich schliesslich einen Prozess, in dem er sich verteidigen darf, nachdem er Platon, der gegenüber Rednern und Anwälten äusserst misstrauisch ist, davon überzeugt hat, dass er keine Tricks anwenden werde und könne, weil die Philosophie selbst nebst den Philosophen die tivierung von Bildungskenntnissen in Kontakt treten, wobei das Niveau oftmals so elementar ist, dass daraus ein bewusster Einbezug auch derjenigen abgeleitet werden kann, deren Anteil am gemeinsamen Bildungsgut gering ist. Zur Schwierigkeit eines solchen Schlusses vom Inhalt eines Textes auf den Bildungsstand seiner Rezipienten unter Vernachlässigung der Aufführungsbedingungen der betreffenden Reden siehe aber Korenjaks Kritik im Falle der Beispiele aus Maximus von Tyros, dessen Reden »einen Philosophiekurs für jugendliche Angehörige der Oberschicht bilden« ([2000 42]), so dass deren Trivialität nicht auf ein Massenpublikum hinweisen kann. – Rütten [1997] vermutet hinter eingängiger, mehrfach wiederholter Motivik eine Steigerung der komischen Wirkung durchaus auch auf gebildete Rezipienten: »So wäre es sicherlich interessant, die Stellen, an denen Lukian seine Motive wiederholt, miteinander über die jeweiligen Werkgrenzen hinaus unter dem Lachaspekt zu vergleichen. Möglicherweise wird das Zuhören gerade bei solchen Passagen für einen Kenner Lukians noch vergnüglicher und unterhaltsamer.« (132 Anm. 7); diese Vermutung erscheint mir aufgrund des vorliegenden Vergleichs von Lukians Philosophenund Sophistenspott mit seiner wiederkehrenden Motivik sehr plausibel (vgl. dazu auch unten 3.3). 399 Genannt werden Sokrates, Platon, Chrysipp, Diogenes, Epikur, Aristipp, Aristoteles, Empedokles (§1) und Pythagoras (§4). 400 Eine Studie zur Struktur der Schrift sowie Angaben über die Quellen, die Lukian in Pisc. verwendet hat, bietet Anderson [1976] 141–145. Die Eröffnungsszene trägt eindeutig Züge der Alten Komödie: Einerseits kann man die Parodosszene der Acharner des Aristophanes anführen, wo Dikaiopolis von den aufgebrachten acharnischen Köhlern gesteinigt werden soll (Vv. 203–343, v.a. 280ff.), andererseits hat das Motiv der wiederauferstandenen alten Philosophen Ähnlichkeit mit den grossen Staatsmännern aus Athens Glanzzeit (Solon, Miltiades, Perikles etc.), die in Eupolis’ Demen als Gesandtschaft aus dem Hades nach Athen hinaufgeschickt werden, wo sie zum Rechten schauen sollen. An dieser Stelle sei bereits angemerkt, dass auch die Schlussszene von Pisc. (§§40–52), das zuerst misslungene Herbeirufen und schliesslich das Fischen und Brandmarken der Scharlatane, komische Züge trägt (Whitmarsh [2001] 260 zieht den Vergleich zur Zerstörung von Sokrates’ φροντιστήριον am Ende von Aristophanes’ Fröschen), so dass das Stück sozusagen einen komischen Rahmen aufweist, der um einen Gerichtsprozess herum angelegt ist. Die Komik der Eröffnungsszene liegt auch darin, dass ausgerechnet Sokrates zum Angriff bläst und dass die Philosophen derart erzürnt sind, was allen Erwartungen, die man bezüglich Affektbeherrschung an Philosophen stellt, entgegensteht (vgl. dazu Pisc. 8). Vgl. zu weiteren verwerteten Charakteristika der Alten Komödie (Gestaltung der Rolle des Chors und des Protagonisten, inhaltlicher Duktus) und zur Kombination mit Elementen des philosophischen Dialogs Möllendorff [2006b] 81–83.

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

Richterin sein solle (§§5–10). Zu diesem Zweck wird die Philosophie aufgesucht, und gemeinsam401 begibt man sich auf die Athener Akropolis, um den Prozess abzuhalten (§§11–20).402 Die formelle Anklage – als Kläger wird Diogenes bestimmt – lautet folgendermassen (§§25–27): Der syrische Redner habe sein angestammtes Betätigungsfeld, die Gerichte, verlassen und seine ganze rhetorische Gewandtheit gegen die Philosophen gerichtet, sie Schwindler (γόητες) und Betrüger (ἀπατεῶνες) genannt und so vor dem Publikum als lächerlich und verachtenswert dargestellt. Er habe weiter die Lehren selbst, und damit die Philosophie persönlich, als Geschwätz verspottet. Und trotzdem unternehme er das alles im Namen der Philosophie, des Dialogs und des Menipp. Noch einmal führt Diogenes als jüngsten Frevel den Verkauf der Philosophen in Vitarum Auctio an. Die alten Philosophen, die in Vit. Auct. tatsächlich versteigert werden, werden zwar – entgegen dem Vorwurf des Diogenes an Parrhesiades – in diesem Stück nie γόητες oder ἀπατεῶνες genannt, doch übernimmt Parrhesiades diesen Anklagepunkt und eröffnet seine Verteidigung mit den Worten, er werde präzisieren, welche Leute er zum Verkauf angeboten und als Prahler (ἀλαζόνες) und Schwindler (γόητες) beschimpft habe.403 Dabei läuft die gesamte Verteidigung in eine unerwartete Richtung: Parrhesiades hat schon in Vit. Auct. »gar nicht die wahren und guten Philosophen der Vergangenheit verspottet, sondern die falschen, die Betrüger und Scharlatane der Gegenwart« (Nesselrath [2001b] 142).404 Damit ist eine Zweiteilung von echten und falschen Philosophen vorgegeben, die Parrhesiades in seiner Verteidigungsrede erläutert: Gleich zu Beginn der Verteidigung treffen wir auf ein Motiv, welches uns bereits aus Rh. Pr. und aus Bis Acc. bekannt ist; es ist der Rückzug des syrischen Redners aus seinem angestammten Beruf, weil er mit der (neuen Art von) Rhetorik nichts mehr zu tun haben will (§29): Ἐγὼ γὰρ ἐπειδὴ τάχιστα συνεῖδον ὁπόσα τοῖς ῥητορεύουσιν ἀναγκαῖον τὰ δυσχερῆ προσεῖναι, ἀπάτην καὶ ψεῦδος καὶ θρασύτητα καὶ βοὴν καὶ ὠθισμοὺς καὶ

401 Im Gefolge der Philosophie befinden sich auch Arete, Dikaiosyne, Sophrosyne, Paideia, Aletheia, Eleutheria, Parrhesia, Elenchos und Apodeixis. 402 Die zentrale Debatte zwischen Diogenes und Parrhesiades (§§25–37) gehört zum Genus der Gerichtsrede (γένος δικανικόν) mit den Elementen von Anklage und Verteidigung, die in den rhetorischen προγυμνάσματα einen wichtigen Platz einnehmen. Zur Verbreitung von Gerichtsreden in Lukians Œuvre siehe Bompaire [1958] 242–251. Anderson, der auch §§4–10 und §§13–20 als Debatten zählt, bemerkt zur Mischung von Komik und Gerichtsrede ([1976] 144): »The outside frame contains the purely comic and fantastic material, while the three debates thus enclosed supply the element of spoudaion.« 403 §29: [...] οὕστινας ἀπεκήρυττον καὶ κακῶς ἠγόρευον ἀλαζόνας καὶ γόητας ἀποκαλῶν. 404 So auch Hall [1981] 156.

3.2 Lukians Philosophenspott: Piscator und Fugitivi

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μυρία ἄλλα, ταῦτα μέν, ὥσπερ εἰκὸς ἦν, ἀπέφυγον, ἐπὶ δὲ τὰ σά, ὦ Φιλοσοφία, καλὰ ὁρμήσας [...].405

Unter den Rednern herrschten also Betrügerei, Lüge, Dreistigkeit, Geschrei und Ellbogeneinsatz vor, und all dem versuchte Parrhesiades den Rücken zu kehren, indem er sich der Philosophie und den alten Philosophen zuwandte, deren Lehre er bewundert, weil sie darin äusserst Schönes und Nützliches empfehlen, was man als Richtschnur (κανών) für ein gutes Leben nehmen soll (§30). Somit positioniert sich Parrhesiades als der Philosophie und den alten Philosophen, die ihn vor Gericht gebracht haben, durchaus wohlgesinnt.406 Das ist einerseits natürlich als captatio benevolentiae in Form einer Beschwichtigung zu sehen, macht andererseits dennoch das Bestreben deutlich, unter den Philosophen eine Zweiteilung in gute und schlechte Vertreter vorzunehmen, denn während seiner Beschäftigung mit der Philosophie wird Parrhesiades klar, dass es sehr viele Scharlatane auch unter denjenigen gibt, die sich Philosophen nennen (§31): Ὁρῶν δὲ πολλοὺς οὐκ ἔρωτι φιλοσοφίας ἐχομένους ἀλλὰ δόξης μόνον τῆς ἀπὸ τοῦ πράγματος ἐφιεμένους, καὶ τὰ μὲν πρόχειρα ταῦτα καὶ δημόσια καὶ ὁπόσα παντὶ μιμεῖσθαι ῥᾴδιον εὖ μάλα ἐοικότας ἀγαθοῖς ἀνδράσι, τὸ γένειον λέγω καὶ τὸ βάδισμα καὶ τὴν ἀναβολήν, ἐπὶ δὲ τοῦ βίου καὶ τῶν πραγμάτων ἀντιφθεγγομένους τῷ σχήματι καὶ τἀναντία ὑμῖν ἐπιτηδεύοντας καὶ διαφθείροντας τὸ ἀξίωμα τῆς ὑποσχέσεως, ἠγανάκτουν.407

Parrhesiades scheint mit seinem Wechsel von der Rhetorik zur Philosophie vom Regen in die Traufe gekommen zu sein: Von Ruhmstreben angetrieben legen sich solche Scheinphilosophen die passende äussere Erscheinung 405 »Sobald ich erkannte, wieviele unangenehme [Eigenschaften] man als Rhetor gezwungen ist sich anzueignen, Betrügerei, Lüge, Dreistigkeit, Geschrei, Ellbogeneinsatz und unzähliges anderes, floh ich, wie es nur folgerichtig war, davor und machte mich eilends auf den Weg zu deinen schönen [Lehren], Philosophie, [...].« 406 Deutlich wird das auch in §32 und in §37, wo Parrhesiades zur Philosophie spricht: [...] περὶ ὑμῶν δὲ ἢ τῶν ὑμῖν παραπλησίων μὴ οὕτως μανείην ἔγωγε ὠς βλάσφημον εἰπεῖν τι ἢ σκαιόν (»[...] ich wäre niemals so unbesonnen, über euch oder die euch Ähnlichen etwas Beschimpfendes oder Unfreundliches zu sagen«). Die alten Philosophen und ihre Schriften sind konventionellerweise ebenso Vorbilder für den Philosophen wie es die Werke der klassischen Autoren für den Sophisten sind (vgl. dazu Rh. Pr. 9 und 17 sowie zum Bildungskanon Anm. 264). Hall ([1981] 155–170) zeigt auf, dass aufgrund solcher Aussagen natürlich keineswegs von einer Konversion Lukians zur Philosophie die Rede sein kann. »They [sc. the humorous references] show that Lucian had received a general education in the subject but are far from indicating a deep study of philosophy on his part or a serious attitude towards it!« (170). 407 »Sowie ich aber sah, dass viele nicht von Liebe zur Philosophie ergriffen waren, sondern nur den Ruhm, der aus dieser Sache folgt, begehrten und dass sie zwar in Bezug auf diese gewöhnlichen und allgemeinen Merkmale, die jeder leicht nachahmen kann – ich meine den Bart, den Gang und das Gewand –, den guten Männern sehr wohl glichen, in ihrer Lebensführung aber und in ihren Taten ihrer äusseren Erscheinung widersprachen, gegenteilig zu euch handelten und die Würde der Profession zerstörten, da war ich empört.«

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

(σχῆμα) zu, was sie auf den ersten Blick den echten Philosophen (ἀγαθοὶ ἄνδρες) gleichmacht, doch ihre Lebensweise (βίος καὶ πράγματα) entspricht überhaupt nicht dem, was sie äusserlich zu sein vorgeben. Gegen diese Scharlatane nun habe sich seine gesamte Kritik gerichtet, sie habe er überführen und der Lächerlichkeit preisgeben wollen – nicht zuletzt auch deshalb, weil sie mit diesem Benehmen die Philosophie und die echten Philosophen in den Dreck zögen (§§32, 33, 37). Es sei ihm ein Anliegen gewesen, die echten und falschen Vertreter voneinander zu scheiden (§33).408 An dieser Stelle prägt der Autor durch die auktorial aufgeladene Stimme des Parrhesiades deutlich sein Selbstbild als Entlarver. Die in Pisc. vorgenommene Charakterisierung der Scheinphilosophen als Betrüger (ἀπατεῶνες)409, Schwindler (γόητες)410 und Prahler (ἀλαζόνες)411 erinnert an die Anekdoten in Demon. 12, 14 und 29 (vgl. S. 114–116), welche Betrug und Prahlerei kritisieren. Auch die angeprangerte Diskrepanz zwischen Leben und Lehre weist in Demon. 56 (vgl. S. 116) eine Parallele auf. Diese Diskrepanz, und wie die Scharlatane dadurch konkret die Ehre der Philosophie und derjenigen Philosophen, auf die sie sich berufen, in den Schmutz ziehen, beschreibt Parrhesiades in §§34–36 ausführlich: Es geht darum, dass die Scheinphilosophen einerseits die Lehren der Bücher der Alten wohl zu kennen scheinen und diese auch gegen aussen vertreten (z.B. Verachtung von Reichtum und Ruhm; allein das Schöne ist gut; Freisein von Zorn), andererseits aber ihr Leben nicht danach ausrichten. Das beginnt schon damit, dass sie nur gegen Bezahlung unterrichten und sich aus Geldgier vor allem um die Reichen bemühen. Weiter sind sie geprägt von schlechten Charakterzügen wie Jähzorn, Feigheit, Schmeichelei, Zügellosigkeit, Raffgier und Streitsucht. Zu echten Freundschaften sind sie nicht fähig. Ihr Leben ist demnach keinerlei Vorbild und entlarvt sie als betrügerische Philosophen.412 An dieser Stelle sei daran erinnert, wie uns der Autor 408 Bezeichnet werden die echten und falschen Vertreter häufig als »die wahrhaft bzw. richtig Philosophie Betreibenden« (οἱ ἀληθῶς/ὀρθῶς φιλοσοφοῦντες; diese Terminologie ist bereits bei Platon Phd. 67d+e, 82c; Ep. 7,326b vorhanden; sehr ähnlich auch Phd. 64b+e; R. 376b, 485e) gegenüber den Betrügern, Schwindlern, Prahlern (ἀπατεῶνες; γόητες; ἀλαζόνες), daneben auch als »die Guten« und »die Schlechten« (οἱ χρηστοί und οἱ φαῦλοι), prägnant v.a. in §§42, 44, 45, 46. 409 Neben dem oben erwähnten §25 vergleiche man auch Parrhesiades’ Bezeichnung der Scheinphilosophen in §8 als οἱ ἐξαπατήσαντες ὑμᾶς (»die, welche euch [gemeint ist die φιλοσοφία] betrügen«). 410 Vgl. neben §25 und §29 (s.o.) auch §42, wo Parrhesiades die γόητες den echten Philosophen, οἱ ἀληθῶς φιλοσοφοῦντες, entgegensetzt, und §15 und §44, wo die Philosophie selbst die gleiche Terminologie anwendet und die falschen Philosophen als γόητες (ἄνδρες) und ἀλαζόνες betitelt. 411 Neben §29 und §44 findet sich diese Bezeichnung auch in §§17, 21, 37. 412 Das schlechte Leben der Scheinphilosophen wird auch in §21 und §32 illustriert. Lukian gebraucht häufig die drei Begriffe Reichtum, Ruhm und Wollust (χρήματα/χρυσίον/πλοῦτος;

3.2 Lukians Philosophenspott: Piscator und Fugitivi

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Lukian den Philosophen Demonax vorführt: Sein Leben ist – geprägt von der Liebe zur Philosophie – tatsächlich ein Vorbild, er ist ein ausgeglichener Charakter, der Freundschaft hochhält und materielle Güter für gleichgültig erklärt und, was das Wichtigste ist, dies auch in seiner Art zu leben demonstriert (vgl. Demon. 3, 7–10). Parrhesiades charakterisiert gegenüber seinen Richtern die Scheinphilosophen derart klar und legt die Gefahren für die (ernsthafte) Philosophie durch das Sich-Verstellen und die Maskerade der Scharlatane so eindringlich dar, dass er einstimmig freigesprochen und ein neuer Prozess, diesmal gegen die falschen Philosophen, beschlossen wird (§§38f.). Die standardisierten äusserlichen Merkmale eines Philosophen werden in Pisc. immer wieder vorgeführt (§§11, 31, 37, 41, 42): Es sind in erster Linie ein abgetragener Mantel (τρίβων) und ein Bart (πώγων, seltener γένειον), weiter ein finster-ernster Blick (σκυθρωπός) und bisweilen auch ein Ranzen und ein Stock413, wie beispielsweise in §42, wo der Autor, nachdem man alle Philosophen zum Prozess auf die Akropolis gerufen hat, die Philosophie in pointierter Weise und mit Verknüpfung der inneren und äusseren Kriterien ausdrücken lässt, was sie vor sich sieht: [...] πανταχοῦ πήρα κολακεία πώγων ἀναισχυντία βακτηρία λιχνεία συλλογισμὸς φιλαργυρία.414 Die äussere Erscheinung, das σχῆμα, weist jemanden zwar für die breite Masse vielleicht als Philosophen aus, aber nicht für denjenigen, der genauer hinsieht und die Lebensweise des betreffenden Menschen beobachtet. Eng mit dieser stark betonten Maskerade sind Schauspielmetaphern verknüpft, welche Parrhesiades in seiner gesamten Verteidigungsrede immer wieder vorbringt; er vergleicht die Scheinphilosophen mit schlechten Schauspielern. Diese Schauspielmetaphorik soll demonstrieren, wie man durch eine Maske und ein bestimmtes Gewand in eine Rolle schlüpfen, diese aber deshalb noch lange nicht angemessen spielen kann. So erinnern Parrhesiades die Scheinphilosophen beispielsweise an einen verweichlichten und weibischen Tragödienschauspieler, der für die Rolle des Achill, Theseus oder gar des Herakles absolut unangemessen ist (§31), und er spricht deshalb auch von der Schande ihrer Schauspielerei (§32: αἰσχύνη τῆς ὑποδόξα; ἡδονή) zur Darlegung derjenigen Bereiche, worin Lehre und Lebensführung der Philosophen in unvorbildlicher Weise auseinanderklaffen, z.B. Pisc. 46; Nec. 5; Hermot. 22; Fug. 19f.; Ikaromen. 30. Überhaupt sind unkontrollierte Affekte häufig ein Angriffspunkt (neben Lust auch Zorn, Reizbarkeit oder Trauer, vgl. z.B. Fug. 19; Pisc. 34; Hermot. 9 und 80). 413 Ranzen und Stock sind typische Merkmale der Kyniker (z.B. Vit. Auct. 9), die hier aber auf die gesamte Philosophenschar angewendet werden. 414 »[...] überall [sind] Ranzen, Schmeichelei, Bart, Unverschämtheit, Stock, Gefrässigkeit, Syllogismus, Geldgier.« – Zur langen Tradition solchen Philosophenspotts vgl. unten Anm. 444 und Kapitel 3.3.

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

κρίσεως). Ein von Lukian häufig zur Illustration herangezogenes Beispiel ist die Geschichte Äsops415 vom Esel, der sich für einen Löwen ausgab, indem er ein Löwenfell überstreifte und laut zu brüllen begann, und so die Einwohner von Kyme täuschte, bis ein Fremder – ein wissender Entlarver eben – ihn schliesslich demaskierte (§32; auch in Fug. 13 und 33; Pseudol. 3; leicht abgewandelt in Philopseud. 5). Weitere Schauspielmetaphern verwendet Parrhesiades in §§33, 36, 37 und 46. Diese Metaphorik zieht weite Kreise in Lukians Werk über (angebliche) Philosophen sowie Scheingebildete aller Art.416 Besonders deutlich wird der Vergleich des Lebens eines falschen Philosophen (bzw. Orakelpriesters) mit einem misslungenen Schauspiel in den beiden Pamphleten gegen Peregrinus und Alexander.417 Dies lässt sich dadurch erklären, dass die beiden sehr stark in die Nähe der umherziehenden Showredner – der eigentlichen Sophisten also – zu rücken sind, die vor dem Publikum eine Art Theaterproduktion abliefern.418 Clay ([1992] 3418) bemerkt dazu: Lucian’s Peregrinus Proteus and Alexander are very much at home in this theatrical culture. They are always on stage and always histrionic; their success was the success of the actor – it hung on their ability to convince their audience.

Durch die Art der Darstellung, durch bestimmte Formulierungen wird deutlich, dass es sich auch bei den Philosophen, welche Lukian in den von mir untersuchten Schriften angreift, zumindest teilweise um solche handelt, die vor grossem, eher laienhaftem Publikum auftreten und sich der breiten Öffentlichkeit als Philosophen präsentieren, die also innerhalb der Vortragskultur – und damit in einem vergleichbaren Rahmen wie die Sophisten – wirken und nicht im kleineren (geschlosseneren) Kreis der Schulen. Oft weisen sie auch Züge von Kynikern auf, die sich ohnehin ausserhalb des traditionellen institutionellen Rahmens der Schulen bewegen und die Menschen auf der Strasse ansprechen.419 Auch in Ikaromen. 30 werden die Auf415

Vgl. fab. 199 Hausrath. Vgl. dazu allgemein Bompaire [1958] 436–439. 417 Vgl. Peregr. 15f. (τραγικῶς), 21, 36 (τραγῳδία); Alex. 5, 12, 60 (τραγῳδία). Clay ([1992] 3415) zeigt auf, wie Lukian die gesamte Karriere des Peregrinus als »stage production« stilisiert: »In Lucian’s eyes, Peregrinus is a mountebank, whose philosophy is nothing more than a gaudy theatrical performance to impose on the credulous.« 418 Man vgl. zur Nähe von Rhetorik und Theater auch das in der rhetorischen Theorie als fünftes officium oratoris fungierende Element des »Vortrags« im Sinne von »Performanz« (ὑπόκρισις); siehe z.B. Arist. Rh. 1403b22–36 und Ciceros Bezeichnung der Redner als veritatis actores in De or. 3,214; vgl. hierzu auch Fuhrmann [41995] 79f. Ebenso ist zu erwähnen, dass Theater und ὠδεῖα (überdachte Kleintheater) sehr häufig Vortragsort sophistischer Reden waren, vgl. Korenjak [2000] 27–31. 419 Relevante Textstellen sind z.B. Fug. 12 (Bewunderung der πολλοί für jede Sorte von Philosophen); Fug. 14–16 (öffentliches ›kynisches‹ Auftreten; siehe dazu auch die Einleitung 1.3, S. 41–43); Fug. 19f. (Wirkung auf die Zuschauerschaft); Bis Acc. 11 (die Vorträge der Scheinphilo416

3.2 Lukians Philosophenspott: Piscator und Fugitivi

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tritte schlechter Philosophen mit trügerischer Schauspielerei in Zusammenhang gebracht.420 Zeus legt die Situation folgendermassen dar: Συνάγοντες εὐεξαπάτητα μειράκια τήν τε πολυθρύλητον ἀρετὴν τραγῳδοῦσι καὶ τὰς τῶν λόγων ἀπορίας ἐκδιδάσκουσι, καὶ πρὸς μὲν τοὺς μαθητὰς καρτερίαν ἀεὶ καὶ σωφροσύνην καὶ τὸ αὐταρκὲς ἐπαινοῦσι καὶ πλούτου καὶ ἡδονῆς καταπτύουσι, μόνοι δὲ καὶ καθ’ ἑαυτοὺς γενόμενοι τί ἂν λέγοι τις ὅσα μὲν ἐσθίουσιν, ὅσα δὲ ἀφροδισιάζουσιν, ὅπως δὲ περιλείχουσι τῶν ὀβολῶν τὸν ῥύπον;421

Dass Scheinbildung und Auftritte Scheingebildeter von Lukian häufig in den Kontext von Theatralisierung und Spektakularisierung gesetzt werden, lässt sich als Darstellung einer Gesellschaft lesen, in welcher Zurschaustellung und Performanz mehr zählen als die innere Disposition. Und tatsächlich erreichte der Unterhaltungsbetrieb speziell im kaiserzeitlichen Rom422 eine einmalige Dichte, wobei neben allen Arten von spectacula spezifisch die Auftritte umherziehender Sophisten und Philosophen einen Höchstgrad an Theatralisierung erlebten.423 Was nun die Satiren Lukians komplex macht, ist, dass sie nicht nur Entlarvung von Theatralik sind und ihren Spott damit aus einer übergeordneten Warte auf ein Objekt ausgiessen, sondern durch ihre literarische Form (Komödienstruktur) sowie die Maskerade des Autors in den auftretenden Figuren (z.B. Parrhesiades)424 ebenfalls als ein sophen finden nicht in einem kleinen, eher gebildeten Kreis, sondern im grossen öffentlichen Rahmen, vor dem Volk, λεώς, statt). Ausführlicher zu den so genannten Konzertphilosophen des 2. Jhs. siehe S. 146f. In Pisc. steht das Bild des geldgierigen Philosophen, der als Hauslehrer tätig ist, sich bei den Reichen einschmeichelt und an deren Symposien teilnimmt, stärker im Vordergrund. 420 Hier könnte man sich als setting durchaus einen kleineren Rahmen vorstellen; eine Schülerschaft ist erwähnt, die sich allerdings nicht von sich aus in eine angesehene Schule begeben hat (was der normale Ablauf innerhalb der Philosophieausbildung wäre), sondern von den Scheinphilosophen zusammengetrommelt worden ist. 421 »Sie versammeln leicht täuschbare junge Männer und verkünden wie ein Tragödienschauspieler die vielbesprochene arete, lehren die argumentativen Aporien, loben gegenüber ihren Schülern immer Enthaltsamkeit, Besonnenheit und Selbstgenügsamkeit und spucken auf Reichtum und Lust, doch wenn sie allein und ganz unter sich sind – wie könnte da einer beschreiben, wieviel sie essen, wie sehr sie ihrem Sexualtrieb nachgeben und wie sie den Schmutz von den Geldstücken lecken?« 422 Vgl. zu Rom als Objekt der Kritik Lukians Nigrinus. Neben dem historischen Hintergrund ebenfalls zu beachten ist die literarische Tradition, in der das Lob Athens und der Tadel Roms verankert sind, vgl. Hall [1981] 243–249. 423 Siehe dazu ausführlich Whitmarsh [2001] 254–265, der den politischen Aspekt dieser Art von Satire über den zeitgenössischen Literatur- und Kulturbetrieb betont, so z.B. S. 256f.: »In the competitive, hierarchical structure of elite Rome, the display of literary ›taste‹ was a disguised transvaluation of socio-political power and economic status.« und S. 259: »Lucian’s satire is directed against [...] the commercial/patronal system that treats paideia as a form of commercial exchange.« 424 In Pisc. 25f. wird Parrhesiades von Diogenes explizit als Schauspieler bezeichnet, der bloss auf den Applaus des Publikums erpicht sei und den Dialog sowie Menipp zu seinen Genossen gemacht habe (συναγωνιστῇ καὶ ὑποκριτῇ χρῆται; Μένιππον ἀναπείσας συγκωμῳδεῖν αὐτῷ). Vgl. dazu Whitmarsh [2001] 259–264.

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

Produkt dieser Theatralisierung erscheinen, der Autor sich selbst aus dieser Gesellschaft also nicht ausnimmt. Damit ist seinen Schriften immer auch eine Selbstironie inhärent, welche zur narrenhaften Sprechweise passt, wie ich sie für Rh. Pr. postuliere,425 da sowohl Kritiker als auch Kritisierte zur Maskerade greifen und in ein Schauspiel involviert sind.426 Und das ist bei genauer Betrachtung der Schauspielmetapher nicht erstaunlich: Das Gegenstück zum schlechten Schauspieler, wie es der Scheinphilosoph ist, ist bestenfalls ein guter Schauspieler, der seine Rolle (im Bildungsbetrieb) überzeugend spielt. Eine klare ›Rollendefinition‹ bzw. Selbstpositionierung, wie wir sie in Pisc. 20 finden, trägt zur Glaubwürdigkeit bei (Parrhesiades zeichnet sein eigenes Profil und legt seine τέχνη dar): Μισαλαζών εἰμι καὶ μισογόης καὶ μισοψευδὴς καὶ μισότυφος καὶ μισῶ πᾶν τὸ τοιουτῶδες εἶδος τῶν μιαρῶν ἀνθρώπων. [...] ἀλλὰ καὶ τὴν ἐναντίαν αὐτῇ [sc. τέχνῃ] πάνυ ἀκριβῶς οἶδα, λέγω δὲ τὴν ἀπὸ τοῦ ›φιλο‹ τὴν ἀρχὴν ἔχουσαν· φιλαλήθης τε γὰρ καὶ φιλόκαλος καὶ φιλαπλοϊκὸς καὶ ὅσα τῷ φιλεῖσθαι συγγενῆ.427

Wichtig scheint mir im Zusammenhang mit dieser Selbstdarstellung des Sprechers und seiner Beziehung zu Sein und Schein die sehr allgemein gehaltene Formulierung: Prahlerei, Lügen und Ähnliches finden sich nicht nur unter Philosophen, sondern überall, und tatsächlich kann man dieses ›Programm‹ der lukianischen Maske des Parrhesiades auf diverse andere Schriften – weit über die in dieser Arbeit behandelten hinaus – anwenden und zur Interpretation fruchtbar machen, nämlich insofern, als im oben zitierten Abschnitt die Rolle beschrieben wird, die der Autor in seinen satirischen Texten (und im ›Theater‹ des zeitgenössischen Bildungsbetriebs) immer wieder einnimmt: diejenige des witzigen Entlarvers ›falscher‹ Bildungsexponenten.428 425

Vgl. die Einleitung 1.6, S. 63f. Vgl. beispielsweise auch Whitmarsh [2001] 272–279 über die komplizierte Maskerade der Sprecher in Nigrinus. 427 »Ich bin ein Hasser von Prahlerei, ein Hasser von Schwindel, ein Hasser von Lügen, ein Hasser von Aufgeblasenheit und ich hasse all die niederträchtigen Menschen von solcher Art. [...] aber ich bin auch durchaus bewandert im entgegengesetzten Beruf, ich meine den, welcher ›Lieb-‹ als Basis hat; denn ich bin ein Liebhaber der Wahrheit, ein Liebhaber des Schönen, ein Liebhaber des Einfachen und von allem, was sonst mit Lieben verwandt ist.« In ähnlich klarer Weise stellt sich der Erzähler in Alex. 53f. als hartnäckiger Entlarver von Betrügereien und Scharlatanerie dar (vgl. Clay [1992] 3408). 428 Vgl. dazu auch Korus ([1984] 299), der innerhalb seiner Erörterung einer Theorie des Humors bei Lukian der Textstelle Pisc. 20 grosse Bedeutung beimisst: »[...] everything that does not agree with truth, harmonious beauty and simple common sense [Korus’ Interpretation von φιλαπλοϊκός] can be the subject of ridicule.« Man vergleiche auch Korus’ allgemeine Kategorie »comedy against the background of revealing someone’s apparent prestige. The laughing audience, in a way, takes revenge on those who prided themselves on their beauty or superiority of their social status« (312). 426

3.2 Lukians Philosophenspott: Piscator und Fugitivi

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An dieser Stelle soll ein erstes Fazit zum Thema Schein und Sein unter den Philosophen gezogen werden: Im Gegensatz zu den Sophisten werden die Scharlatane in der Philosophie fast ausschliesslich durch ihr einem Philosophen unangemessenes Leben definiert und mangelnde Bildung nur am Rande thematisiert (beispielsweise in Demon. 28; Pisc. 45; Fug. 4, 13, 21). Dass ein guter Philosoph sich durch seinen Lebenswandel, nicht etwa durch eine bestimmte Doktrin oder Schulzugehörigkeit auszeichnet, liegt, wie bereits dargelegt, in der antiken Auffassung der Philosophie als einer Lebensform begründet,429 bei Lukian besonders deutlich in der positiven Darstellung in Demonax: Dieser Philosoph steht für eine einfache, vernünftige, ideale Lebensweise.430 Was Bildung betrifft, so kann man jedoch, ohne dass Lukian es explizit ausspricht, annehmen, dass sie auch für einen Philosophen Voraussetzung ist, um richtig zu leben. Sowohl der Redner als auch der Philosoph lesen die Klassiker,431 wenn auch teilweise unter verschiedenen Aspekten, daran anschliessend folgen spezifische (sprachliche bzw. philosophische) Studien. Im Kern dürfte es darum gehen, über das richtige Grundwissen zu verfügen, welches Gebildete hervorbringt, die richtig leben. Insofern ist der Unterschied zur Rhetorik nicht so gross, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. Dass letztlich auch in der Philosophie doch einiges von παιδεία abhängt, ist durch die stark betonte Unbildung der nach Ruhm und Reichtum strebenden Handwerker und Sklaven in Fugitivi impliziert (s. gleich). Auch aus einem anderen Blickwinkel stimmen die Kriterien für gute bzw. schlechte Vertreter in Rhetorik und Philosophie überein: Vergleicht man die Elemente des Betrugs bzw. die Tricks der Scheinvertreter, so besteht in der Rhetorik die Hohlheit darin, dass die Redner ein bestimmtes Sprachideal (z.B. Attizismus) predigen, über dieses aber nicht oder nur sehr mangelhaft Bescheid wissen, während sie entsprechend in der Philosophie darin besteht, dass die Philosophen Lehren predigen, nach denen sie ihr eigenes Leben nicht ausrichten.432 Tendenziell enthält 429

Siehe dazu oben Anmm. 337 und 378. So Clay [1992] 3412: »The philosophy of Demonax is not a matter of doctrine, dogma, or dialectic [...]. His philosophy is his mode of life.« (vgl. auch S. 3414). Lukians Darstellung steht im Einklang mit der historischen Situation, dass nämlich seit den im Hellenismus entstandenen Philosophenschulen, aber auch grundsätzlich (vgl. Hadot [1991]), die Philosophie vor allem als ars vitae und der Philosoph als Vertreter einer Lebenskunst gilt. Bezeichnend ist, dass Lebensweise und öffentliche Rolle des Philosophen nicht in der Aneignung eines bestimmten (dogmatischen) Wissens oder einer einfachen ›Berufswahl‹ bestehen, es bedarf vielmehr eines grundsätzlichen Wandels der Persönlichkeit, was oft mit dem Motiv der Konversion verbunden ist (schon Diogenes Laertios referiert zahlreiche Konversionserlebnisse), vgl. Hahn [1989] 58. 431 Zum ›Spezialfall‹ des Kynikers, der sich ganz auf die praktische Umsetzung von ἀρετή konzentriert, vgl. die Einleitung 1.3, S. 41f. 432 Man vgl. dazu die Forderung des Lykinos in Hermot. 79: ἡ μὲν ἀρετὴ ἐν ἔργοις δήπου ἐστίν, οἷον ἐν τῷ δίκαια πράττειν καὶ σοφὰ καὶ ἀνδρεῖα (»Die arete liegt in den Taten, z.B. darin, gerecht, weise und tapfer zu handeln«). 430

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vielleicht die Hohlheit in der Philosophie einen grösseren moralischen Aspekt, doch sei daran erinnert, dass schon in Adv. Ind. die Rede davon war, dass ein echter Gebildeter – Redner eingeschlossen – aus den klassischen Texten richtiges Handeln lernt (vgl. S. 102f.). Wie bereits angedeutet, schliessen sich die Vorwürfe der personifizierten Philosophie in Fug. eng an diejenigen des Parrhesiades in Pisc. an, so dass hier eine kürzere Zusammenfassung darüber ausreicht, wie die Philosophie Zeus die Scharlatane unter ihren Anhängern beschreibt (§§3–21). Sie klagt, ihr sei von denen, die sich als ihre Anhänger bezeichnen, viel Unrecht angetan worden, und zwar seien das Leute, die zwischen der Menge (οἱ πολλοί) und den (echten) Philosophen (οἱ φιλοσοφοῦντες) einzuordnen seien (§4). Sie lässt einen kurzen ›historischen Abriss‹ folgen, worin sie die Sophisten der klassischen Zeit als erste Vertreter dieser Scheinphilosophie brandmarkt (§§10f.). Den grossen Haufen der gegenwärtigen Scheinphilosophen beschreibt sie dann als ursprünglich einfache Leute, Tagelöhner oder gar Sklaven, die sich ohne jedes Vorwissen433 zur Philosophie wenden, weil sie sehen, dass Philosophen grossen Respekt geniessen, dass auf sie gehört wird und vor allem, dass sie viel Geld eintreiben können. Aus all diesen Gründen beschliessen sie, Philosophen zu werden, um ein besseres, ja sogar ein luxuriöses Leben führen zu können (§12 und §14).434 Äusserlich sind diese Scharlatane435 ununterscheidbar von echten Philosophen (§15), sie sind ihnen, was die Erscheinung, den Blick und den Gang angeht, gleich (§4: σχῆμα, βλέμμα436 καὶ βάδισμα ὅμοιοι). Sie rüsten sich mit Mantel (τριβώνιον), Ranzen (πήρα) und Stock (ξύλον), und weil sie sich aufgrund ihres niedrigen Bildungsstandes die echten Erfordernisse eines Philosophendaseins niemals innerhalb nützlicher Frist aneignen können, verlassen sie sich auf Unbildung (ἀμαθία), Tollkühnheit (τόλμα), Unverschämtheit (ἀναισχυντία) und Beschimpfungen (λοιδορίαι), auf die sie jedesmal zurückgreifen können, wenn einer sie in ein gelehrtes Gespräch verwickeln will (§13 und §15).437 Innerlich haben die Scharlatane aber nicht das Ge433 Vgl. den Kommentar zu Rh. Pr. 14: εἰ μὴ προετελέσθης ἐκεῖνα τὰ πρὸ τῆς ῥητορικῆς [...] προπαιδεία. 434 Ähnliches findet sich über die Scheinphilosophen in Bis Acc. 6, wo Zeus seinem Ärger darüber, dass heutzutage alle Welt philosophiert, dass so viele sich mit Mantel, Stock, Ranzen und Buch ausrüsten, um als Philosophen aufzutreten, Luft macht. Spott darüber, dass ein armer Bettler mit der richtigen Ausrüstung rasch als Philosoph gelten und Geld verdienen kann, findet sich bereits in AP 11,154. 435 Zu den spezifisch kynischen Charakteristika der Scheinphilosophen in Fug. vgl. die Einleitung 1.3, S. 42. 436 Gemeint ist der finstere Philosophenblick (vgl. §18: σκυθρωπός und oben S. 131). 437 Was es mit den Beschimpfungen auf sich hat, zeigt auch Ikaromen. 30 auf: Zeus beschreibt, wie die Scheinphilosophen alle anderen anklagen und tadeln, giftige Reden sammeln und die neusten Schimpfwörter (λοιδορίαι) auswendig lernen, um sie gegen ihre Mitmenschen anzuwenden, und wie derjenige, welcher am lautesten, unverschämtesten und blasphemischsten schreit, den

3.2 Lukians Philosophenspott: Piscator und Fugitivi

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ringste mit der Philosophie zu tun, sondern freveln gegen sie, denn sie sind voller Unbildung (ἀμαθία), Verwegenheit (θράσος) und Zügellosigkeit (ἀσέλγεια) (§4). Weiter ist ihr Charakter geprägt von unkontrollierten Affekten und von der Gier nach Reichtum, ihre Lebensführung (βίος) von Trinkerei, Ehebruch, Lüge, Wollust und – wo nützlich – Schmeichelei. Besonders schlimm daran ist, dass dies alles in absolutem Gegensatz zu der von ihnen verkündeten Lehre geschieht (Verachtung von Schmeichelei, Lust, Lüge) (§§18–20). Den Kern der Anklage an die Scheinphilosophen macht also auch in Fug. die Diskrepanz zwischen Lebensführung und vertretenen Lehren aus; mit den Worten der Philosophie ausgedrückt (§19): οὐδὲν γοῦν οὕτως εὕροις ἂν ἄλλο ἄλλῳ ἐναντίον ὡς τοὺς λόγους αὐτῶν καὶ τὰ ἔργα.438 Vergleicht man Kritik und Darstellung der Scheinphilosophen in Pisc. und Fug. mit derjenigen der Scheinsophisten (und der Scheingebildeten allgemein), so zeigen sich in sämtlichen Punkten Parallelen, insbesondere zu Passagen in Rh. Pr.439 Es sind immer dieselben Charakteristika, die den Scharlatan auszeichnen: So bildet der Rednerlehrer seinen Schüler aus, indem dieser einer bestimmten äusseren Erscheinung (σχῆμα) genügen muss und dazu Unbildung sowie einen schlechten bzw. rücksichtslosen Charakter gesellen soll (§15), der sich in seiner frevlerischen Lebensführung widerspiegelt (§§23–25). Dass man sich dem Rednerberuf aus Ruhmstreben und Geldgier heraus widmet, wird in Rh. Pr. ebenfalls vorausgesetzt (§1 und §6). Die Diskrepanz von Schein und Sein äussert sich besonders in der Vortragssituation und wird mit schlechten Schauspielerauftritten verglichen; dieses Element findet in Rh. Pr. seine Entsprechung einerseits darin, dass der Auftritt des Rednerlehrers als Schauspiel – ja als Komödie – gestaltet und durch entsprechende Metaphern markiert ist (§§11–13), andererseits darin, dass gemäss der ›neuen‹ Lehre die gesamte Show des modernen Sophisten von Theatralik durchsetzt sein soll (§§15, 19–20). Im Folgenden wird eine kurze Zusammenstellung der wichtigsten parallelen Motive in Lukians Philosophen- und Sophistenspott gegeben (mit Einbezug weiterer rhetorikkritischer Schriften neben Rh. Pr.). Sieg davonträgt. Dasselbe Phänomen beschreibt Pan nicht ohne Befremden in Bis Acc. 11: Die Scheinphilosophen schreien und schimpfen in ihren Vorträgen, bis sie sich den Schweiss von der Stirn wischen müssen, und der lauteste Schreihals gewinnt. Sonderbarerweise werden sie von der Menge gerade wegen ihrer Verwegenheit und ihres Geschreis bewundert. 438 »Du könntest keine zwei Dinge finden, die einander derart entgegengesetzt sind wie deren [sc. der Scheinphilosophen] Reden und Taten.« Vgl. zu den Zügen des ἀλαζὼν φιλόσοφος bei Lukian auch die Zusammenfassung von Hall [1981] 186f. 439 Die Verbindungslinien lassen sich einerseits anhand konkreter Schlagwörter, andererseits anhand von Ähnlichkeiten in Metaphorik und Duktus der Formulierungen aufzeigen. Sämtliche Parallelstellen sind in den entsprechenden Kommentarpassagen zu Rh. Pr. aufgeführt und werden deshalb hier ohne ausführliche Zitate in Paraphrase zusammengestellt.

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

Polemisches Vokabular zur Bezeichnung des Scharlatans: Die Scheinvertreter innerhalb der Philosophie werden hauptsächlich als Betrüger (ἀπατεῶνες), Schwindler (γόητες) und Prahler (ἀλαζόνες) bezeichnet (vgl. S. 128) und zwar parallel zu dem, was Parrhesiades in Pisc. 20 zu hassen angibt (μισαλαζών, μισογόης, auch μισοψευδής und μισότυφος). Diese Terminologie findet sich auch gegen die Sophisten gerichtet, wobei die Häufigkeit solcher Ausdrücke davon abhängig zu sein scheint, wie stark die jeweilige Schrift in Richtung Pamphlet tendiert. Je heftiger die Schmähungen, desto zahlreicher sind auch diese Bezeichnungen, weshalb sie vor allem in Pseudol. zu finden sind: Lukian beschimpft sein Opfer als ἀπατεών, γόης und ἀλαζών (§8 und §17). Das Motiv von Betrug und Prahlerei taucht aber auch in Rh. Pr. auf, vorerst allerdings nicht etwa auf den Rednerlehrer, sondern auf den Lehrer des langen Weges bezogen, der seine Schüler dadurch, dass er sie auf den beschwerlichen Weg schickt, auf die falsche Bahn lenkt. Der Sprecher warnt den jungen Mann davor, sich nicht von diesem prahlerischen Lehrer täuschen zu lassen (§8 und §10: ἐξαπατηθῆναι; ἀλαζών).440 Wenn auch nicht explizit als solche bezeichnet, machen Prahlerei und Betrug gleichzeitig einen wichtigen Charakterzug des Rednerlehrers aus (vgl. Rh. Pr. 13, 21f., 23–25). In Lex. 24 rät Lykinos hingegen seinem Gesprächspartner Lexiphanes von einer solchen Wesensart eindringlich ab. Nicht vertreten ist diese Terminologie in Sol. und Adv. Ind. Äussere Erscheinung, Charakter, Tricks für einen erfolgreichen Auftritt: Ein bestimmtes Erscheinungsbild (σχῆμα) macht die Philosophen für die Menge als solche erkennbar: Genannt werden charakteristische Kleidungsstücke und Accessoires, der Gang, der Blick und selbstverständlich der Bart. Dies erinnert stark an die Unterweisungen des Rednerlehrers, was das Äussere seines Schülers angeht (§15): Grundsätzlich gilt, dass das σχῆμα als erster Schritt auf dem Weg zum Sophisten von grösster Bedeutung ist. Die genannten Elemente sind auch hier die Kleidung und der Gang.441 Eine weitere Parallele bildet die Notwendigkeit einer lauten Stimme, um – wo nötig – in Geschrei ausbrechen zu können (vgl. Fug. 14f. und Anm. 437; Rh. Pr. 15 und 19). Parallelität zeigt sich auch in der Art und Weise, wie man auf schnellem, leichtem Weg zum Philosophen oder Sophisten wird, auch oder gerade wenn man über keinerlei Bildung verfügt. Schlechte Charakterzüge (ἀναισχυντία; τόλμα; θράσος) und jederzeit abrufbare Standardweisheiten 440 Der Begriff γόης findet sich in §5 implizit auf Ratgeber und Rednerlehrer angewendet, vgl. den Kommentar zu: γόητα. 441 Man vergleiche auch Rh. Pr. 11 über die Erscheinung des Rednerlehrers, wo unter anderem ebenfalls Gang und Blick (βάδισμα, βλέμμα) betont werden.

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(Schimpftiraden: λοιδορίαι; Syllogismen; Attizismen) helfen, sich trotz mangelndem Wissen als das behaupten zu können, wofür man sich ausgibt. Nicht nur inhaltlich, sondern bis ins Detail der Formulierungen hinein weisen die Textstellen Ähnlichkeiten auf: Vgl. Fug. 13; Rh. Pr. 15f.; Pisc. 41 und die ausführlichen Zitate im Kommentar zu Rh. Pr. 15: ἐφόδια [...] ἐπισιτίσασθαι / θράσος ἐπὶ τούτῳ καὶ τόλμαν καὶ ἀναισχυντίαν / ἀχρεῖα γὰρ καὶ ὑπεναντία τῷ πράγματι und 16: πεντεκαίδεκα ἢ οὐ πλείω γε τῶν εἴκοσιν Ἀττικὰ ὀνόματα.442 Eine weitere übereinstimmende Beschreibung ergibt sich in Bezug auf die Präsentation auf der Bühne und die Reaktion des Publikums: Die Showeffekte, z.B. ein Anheben der Stimme bis hin zu regelrechtem Geschrei, bringen Redner bzw. Philosophen gleichermassen ins Schwitzen, was ihnen eine nur umso grössere Bewunderung der breiten Masse sichert (vgl. Bis Acc. 11 und Rh. Pr. 20 sowie den Kommentar zu Rh. Pr. 19: λαρύγγιζε und 23: λοιδορεῖσθαι). Streben nach Ruhm und Reichtum: Mit der Bewunderung der Masse verbunden ist wiederum die Gier nach Ruhm (δόξα) und Reichtum (πλοῦτος; χρήματα), welche bei Scharlatanen sowohl unter den Sophisten als auch unter den Philosophen als einziges, verwerfliches Motiv für ihre Tätigkeit grassiert. Sowohl den Scheinphilosophen (Fug. 12, 14, 17, 20; Pisc. 31, 34, 41–43, 46) als auch dem jungen Mann in Rh. Pr. liegen allein Ruhm und Reichtum am Herzen,443 genauso wird der Ruhm des in Pseudol. Attackierten sarkastisch thematisiert (§§18, 22, 25). Vgl. weiter zu Ruhm und Reichtum Adv. Ind. 19, 28f.; Peregr. 1, 34; Alex. 8, 14. Dass das Prestigestreben der Philosophen verspottet wird, liegt auf der Hand: Philosophie muss aus einem Streben nach Wahrheit heraus betrieben werden und um ein besseres Leben zu führen, nicht, um von den Leuten bestaunt zu werden. Im Bereich der Sophistik ist die Ablehnung eines Prestigestrebens vielleicht weniger offensichtlich, doch lässt sich aus dem, was über die Einstellung des Autors zu sophistischen Vorträgen, zu Sprache und Literatur erarbeitet worden ist (vgl. die Einleitung 1.7), schliessen, dass ein Redner aus dem Bestreben heraus, etwas formal und inhaltlich Hochstehendes vorzutragen, seine Profession wählen sollte. Be-

442 Das Phänomen eines bestimmten Jargons, bestehend aus einer Handvoll beeindruckender Wörter, wie es in Rh. Pr. 16 geschildert ist, wird auch in Gall. 11, Tim. 9 und Pisc. 35 angesprochen, wobei es sich bei den Philosophen um das ›Geschwätz‹ über die Tugend (ἀρετή), das Schöne (τὸ καλόν) und weiteres technisches Vokabular handelt. 443 Vgl. Rh. Pr. 1 mit dem Kommentar zu: ἄμαχον [...] καὶ ἀνυπόστατον καὶ θαυμάζεσθαι [...] καὶ ἀποβλέπεσθαι; dieses Ruhmstreben wird von Ratgeber und Rednerlehrer eifrig geschürt, zudem wird dem Schüler auch ein Streben nach Reichtum unterstellt, vgl. §6 und §13.

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rühmtheit kann nur ein (willkommenes) Nebenprodukt seiner Tätigkeit sein. Bildungsexponenten und ihre Lebensweise: Dass die Scharlatane den Anforderungen derjenigen Disziplin, als deren Exponenten sie sich geben, nur scheinbar genügen, wird durch die Metaphorik der Maskerade verdeutlicht (vgl. bereits S. 131f.). Die Auftritte der Philosophen werden vor allem dann als schlechtes Schauspiel entlarvt, wenn man ihre Lebensweise in Betracht zieht und dabei feststellt, dass sie keinesfalls ihrer Lehre entspricht (vgl. Fug. 18–20).444 Die Verknüpfung der Vorwürfe, blosse Scheinvertreter einer Disziplin zu sein und ein schlechtes Leben zu führen, geschieht auch im Bereich der Sophisten445 sowie allgemein Gebildeter (Adv. Ind.): Die Philosophie klagt in Fug. 4 und 12 die Scheinphilosophen wegen ihres abscheulichen Lebens voller Lüsternheit als scheussliche Menschensorte an (ὁ βίος παμμίαρος [...] ἀσελγείας ἀναπλέως bzw. μιαρὸν φῦλον ἀνθρώπων), Parrhesiades erklärt in Pisc. 20 die μιαροὶ ἄνθρωποι zu seinem Hassobjekt, genau wie Lukian in Pseudol. 8 von der ἀσέλγεια und der μιαρία des Lebens seines Kontrahenten spricht. Noch häufiger werden in Pseudol. und Adv. Ind. zur Bezeichnung eines ekelhaften, abscheulichen Menschen die Termini βδελυρός und βδελυρία verwendet. Oft werden als Motive zur Beschreibung des schlechten Lebenswandels verpönte sexuelle Praktiken und Ehebruch eingesetzt – sowohl bei Sophisten als auch bei Philosophen (vgl. Rh. Pr. 23f. mit dem ausführlichen Kommentar; Fug. 16, 18f.; Peregr. 9; Pseudol. 17, 18, 27, 28; Adv. Ind. 25; Alex. 5f.). Was die Bildung der Scharlatane angeht, so rückt der Autor den Mangel an tiefgehender Auseinandersetzung mit der entsprechenden Materie in den Vordergrund: Die gesamte Schrift Rh. Pr. ist von dieser Thematik 444

Leben vs. Lehre als Angriffspunkt gegen Philosophen hat eine lange Tradition, z.B. AP 11,153.155.158; Juv. sat. 2,1ff.; Quint. Inst. 12,3,12; Mart. 1,24 (Stoiker als Kinäde) und 9,27 (effeminierter Philosoph); Dion Or. 70; Athen. 4,162a. Spott über die äussere Erscheinung, über den Bart als primäres Merkmal der Philosophen, dazu Stock und Ranzen und Ernsthaftigkeit findet sich z.B. in AP 11,156.157.430; Hor. sat. 2,3,35; Quint. Inst. 11,1,33f. und 12,3,12; Mart. 4,53; Plut. mor. 52c, 81c und 352c. Auch in den durch Arrian überlieferten Lehrgesprächen (διατριβαί) des Epiktet ist die absurde Tatsache, dass man nach festen Merkmalen der äusseren Erscheinung als Philosoph gelten kann, ein Thema, dem ein ganzes Kapitel mit dem Titel Πρὸς τοὺς ταχέως ἐπὶ τὸ σχῆμα τῶν φιλοσόφων ἐπιπηδῶντας gewidmet ist (siehe besonders 4,8,4–5.11–12.15). Epiktets Feststellung, dass die Leute einem schlecht handelnden Philosophen nicht (wie es angemessen wäre) die Anrede Philosoph verweigern, sondern vielmehr die Philosophie als etwas Schlechtes ansehen (4,8,9), findet sich genauso in Pisc. 32, 34 und Fug. 21: Indirekt bringen die Scheinphilosophen wegen dieser Reaktion der Leute also die Philosophie und ihre echten Vertreter in Verruf. Zur Tradition des Philosophenspotts und neuen, zeitgenössischen Nuancen in der lukianischen Satire siehe Kap. 3.3 unten. 445 Dies wieder am prägnantesten in der stark pamphletisch ausgerichteten Schrift Pseudologista.

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geprägt, sie kommt aber auch andernorts vor (Fug. 10 und 13 sowie Adv. Ind. 3). Die mangelhafte Beschäftigung mit Philosophie bewirkt bei den Scheinvertretern, dass sie, weil sie die Lehren nicht verinnerlicht haben, schlecht leben.446 Oder umgekehrt gesagt: Ein echter Philosoph kann gar nicht schlecht leben, sondern weiss, wie er sich verhalten muss.447 Lukian scheint allerdings auch für rhetorisch-literarisch Tätige eine solche Verknüpfung von beruflicher Kompetenz und Lebensweise anzunehmen, denn in Adv. Ind. 16 meint er sarkastisch: Τίνα γὰρ ἐλπίδα καὶ αὐτὸς ἔχων εἰς τὰ βιβλία καὶ ἀνατυλίττεις ἀεὶ καὶ διακολλᾷς καὶ περικόπτεις καὶ ἀλείφεις τῷ κρόκῳ καὶ τῇ κέδρῳ καὶ διφθέρας περιβάλλεις καὶ ὀμφαλοὺς ἐντίθης, ὡς δή τι ἀπολαύσων αὐτῶν; πάνυ γοῦν ἤδη βελτίων γεγένησαι διὰ τὴν ὠνήν, ὃς τοιαῦτα μὲν φθέγγῃ – μᾶλλον δὲ τῶν ἰχθύων ἀφωνότερος εἶ – βιοῖς δὲ ὡς οὐδ’ εἰπεῖν καλόν, μῖσος δὲ ἄγριον, φασί, παρὰ πάντων ἔχεις ἐπὶ τῇ βδελυρίᾳ.448

Auf spöttische Weise werden die zwei Bereiche, Sprache und Charakter, unter die Lupe genommen, die – wie schon oben (vgl. S. 102f.) bemerkt worden ist – als diejenigen gelten, welche durch die Lektüre der Klassiker verbessert werden können. Auch hier kann man umgekehrt formulieren, dass jeder tatsächlich gebildete Redner, der diese Texte eingehend studiert und begriffen hat, hinsichtlich Sprache und Lebensführung ausgerüstet ist und keine gravierenden Fehler oder Geschmacklosigkeiten begeht. Ein wahrer πεπαιδευμένος kann kein solches Leben führen, wie es die in Adv. Ind., Rh. Pr. und Pseudol. attackierten Scheinwissenden tun.449

446 Die mangelhafte Bildung bewirkt auch, dass mit Lügen und Tricks gearbeitet werden muss: In Pisc. 45 wird beschrieben, wie die schlechten Philosophen die guten nachahmen, was als Lüge (ψεῦδος) betitelt wird. Genauso ist das Lügen eine häufig angewandte Taktik sowohl des in Pseudol. Angegriffenen als auch des Rednerlehrers (Pseudol. 25; Rh. Pr. 22). 447 Man vergleiche das Porträt des Demonax, dessen Ausbildung tiefgehend und dessen Lebenswandel vorbildlich ist (S. 112). 448 »Welche Hoffnung setzt du denn in deine Bücher, dass du sie immerzu auf- und zusammenrollst, klebst, zurechtstutzt, mit Safran und Zedernöl einreibst, ihnen Schutzhüllen überziehst und sie mit Knöpfen versiehst, als ob du aus ihnen irgendeinen Nutzen zögest? O ja, du bist schon weit besser geworden durch den Bücherkauf, wenn man hört, wie du sprichst – du bist ja stummer als ein Fisch – und du lebst so, dass man es gar nicht sagen darf, du ziehst dir, sagt man, den wilden Hass aller zu aufgrund deines ekelhaften Wesens.« – Dass der Büchernarr Literatur nicht nur rezipiert, sondern auch produziert (als Schriftsteller und als Redner) wird in Adv. Ind. 20 deutlich. 449 Zur Tatsache, dass Leben und Lehre auch im Schlechten kongruent sind (wie sich dies besonders in Lukians ψόγοι auf Peregrinos und Alexander zeigt), siehe auch Schirren [2005] 319.

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

3.3 Das literarische Schaffen: Variationen desselben Themas und Typisierung des Scheingebildeten vor dem historischen Hintergrund des Autors Die Ähnlichkeit der Darstellung von Sophisten und Philosophen soll in diesem Kapitel einerseits in Bezug auf das literarische Schaffen des Autors ausgewertet, andererseits mit dem historischen Hintergrund in Verbindung gebracht werden. Den Ausgangspunkt bildet dabei die Frage, warum die satirische Kritik an diesen beiden Personengruppen so stark ineinander fliesst und hauptsächlich durch die Entlarvung von echten, wissenden und falschen, unwissenden Vertretern geprägt ist. Bei der Beantwortung dieser Frage können Charakteristika von Lukians literarischem Schaffen, v.a. die stete Variation eines bestimmten Themenkreises, herausgearbeitet werden;450 zusätzlich wird sich zeigen, dass die Verschmelzung von Philosophen und Sophisten im Satirebereich auch die historische Situation zu Lukians Zeit widerspiegelt und aufnimmt.451 Lukians Philosophenspott ist in sämtlichen Bereichen – äussere Erscheinung, Kontrast zwischen Leben und Lehre, Lasterhaftigkeit – fest in der literarischen Tradition verankert:452 Der Philosophenspott nimmt seinen Anfang bereits in der Alten Komödie – ein prominentes Beispiel sind Aristophanes’ Wolken mit der Darstellung der hungerleidenden, bleichgesichtigen Denker, ihrer absurden naturwissenschaftlichen Studien und zwecklosen Grübeleien sowie ihrer eigenartigen Gottesanschauungen. Zentrale Figuren sind dabei natürlich Sokrates und ganz allgemein die Sophisten. Mit dem Aufkommen von Stoa und Epikureismus werden auch diese Schulen in den Komödien karikiert; genauso die Kyniker. Zahlreiche Elemente dieser Karikaturen werden von Lukian aufgenommen.453 Immer wiederkehrende Angriffspunkte sind beispielsweise Trunkenheit, Schlemmerei und Geldgier.454 Zusammenfassend macht Helm ([1906] 386) zwei Kernelemente des Philosophenspottes in der Komödie fest:

450 Vgl. hierzu die Monographie von Anderson, Lucian. Theme and Variation in the Second Sophistic, Leiden 1976. 451 Für das historische Umfeld im Bereich der Philosophen zu Lukians Zeit stütze ich mich vor allem auf Hahn [1989] und Bowersock [2002]. 452 Vgl. Anm. 444 und die Aufarbeitung bei Bompaire [1958] 485–489. 453 Zur Darstellung der Philosophen in der Komödie und zur Aufnahme dieses Spottes durch Lukian vgl. Helm [1906] 371–386. 454 Vgl. dazu Alexis PCG 2, fr. 37; Baton PCG 4, fr. 5; Phoinikides PCG 7, fr. 4,16–21.

3.3 Das literarische Schaffen: Variationen und Typisierung

143

Bei der Wandlung zur Charakterkomödie, die die attische Komödie durchgemacht hat, hat auch der Philosoph in dem Repertoire seine feste Stelle erhalten, hauptsächlich als Vertreter unpraktischen Spekulierens und unwahrer Tugendprediger.

Beide Elemente finden sich in Lukians Satiren wieder; in der Darstellungsweise schliesst sich Lukians oft nicht gegen bestimmte Philosophenschulen, sondern gegen den Typus des Philosophen ganz allgemein gerichteter Spott tendenziell enger an die Mittlere und Neue Komödie an.455 Die unnützen Spekulationen und Grübeleien und damit die Nutzlosigkeit des Philosophierens, die in der Alten Komödie vor allem thematisiert wird, steht in den hier untersuchten Philosophensatiren Lukians nicht im Vordergrund.456 Vielmehr geht es um die vorbildliche gegenüber der nur scheinbaren Umsetzung eines Philosophenlebens bzw. um die Absetzung derjenigen Philosophen, die ihre ›Rolle‹ im Bildungsbetrieb überzeugend spielen, von denjenigen, die dies nur schlecht tun (s. dazu gleich), wobei sich die Scharlatane von den echten Philosophen auf den ersten Blick nicht unterscheiden. Wir haben gesehen, dass in Lukians Darstellungsweise die Thematik der Maskerade von grosser Wichtigkeit ist;457 dazu finden sich die engsten Parallelen nicht im Bereich der Komödie, sondern im Epigramm, in den Satiren des Horaz, Martials und Juvenals sowie unter Zeitgenossen Lukians, immer nach dem Schema, dass der äussere Aufzug, vor allem ein Bart, ein ernstes Gesicht und abgetragene Kleidung, (innerlich) noch keinen Philosophen macht (vgl. bereits Anm. 444). Charakteristisch für Lukians Gestaltung ist, dass er in seinem Portrait des zeitgenössischen, von Theatralik geprägten Bildungsbetriebs, in welchem das Publikum und die Wirkung der ›Schauspieler‹ auf das Publikum zentral sind, durchgängig in der Schauspielmetaphorik verbleibt, wie es seine eigene Übernahme der Entlarverrolle – als Parrhesiades, als Lykinos usw. – zeigt: Auch der gute Philosoph oder Redner (bzw. jeder πεπαιδευμένος) übernimmt genau genommen eine Rolle; dem schlechten Philosophen- bzw. Sophistenauftritt wird der gelungene gegenübergestellt. Doch damit greife ich vor; denn dass die Philosophen im historischen Kontext tatsächlich besonders als öffentlich auftretende πεπαιδευμένοι gesehen werden können, soll erst im Folgenden genauer erklärt werden. Der kurze Abriss über die literarische Tradition macht vorerst einmal klar, dass es ein Topos des Philosophenspotts ist, Scheinvertreter vor allem durch die Diskrepanz von Leben und Lehre blosszustellen. Zu welchen Schlüssen ist nun die Lukianforschung aufgrund dieser Traditionsbezogenheit gelangt? Bompaire ([1958] 487–489) hält dieser Sachlage wegen den 455 Komödiendichter, aus deren Fragmenten Spott über den Typen des Philosophen deutlich wird, sind z.B. Antiphanes, Baton, Phoinikides und Anaxipp; siehe Helm [1906] 385. 456 Siehe aber z.B. Nekyomant. 21. 457 S.o. S. 131–133.

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

Aspekt der Kritik an Zeitgenössischem in Lukians Philosophenspott für praktisch inexistent. Demgegenüber veranschlagt er diesen Aspekt im Bereich der Rhetorik höher, weil sich in Lukians Angriffen spezifische Elemente der Zweiten Sophistik finden.458 Dadurch trennt er Lukians Satiren gegen Philosophen und gegen Sophisten deutlich voneinander, was aber m. E. aufgrund der vom Autor gewählten Darstellungsweise nicht gerechtfertigt ist und wogegen ich im Folgenden argumentieren möchte, da Lukian die Topik des Philosophenspotts nicht nur aufgenommen, sondern auch in eine bestimmte Richtung weiterentwickelt hat, die zur historischen Situation der Vortragskultur passt. Und tatsächlich ordnet, obwohl die Verwurzelung der Philosophensatiren in der Tradition unbestritten ist, eine ganze Reihe von Forschern die Werke anders ein und hebt im Gegensatz zu Bompaire das Element einer Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit stärker hervor. Hall fasst zusammen ([1981] 192): Although this theme459 has such a long literary tradition behind it, the vast quantity of references to false philosophers [...] in the writers of this period indicates that there must have been some fire to make so much smoke.

Ebenso äussert sich Jones ([1986] 31f.): It does not follow, however, that because his typical philosopher has a long beard and knitted eyebrows, he ist cut out of paper: that would only be likely if Lucian’s picture differed greatly from that drawn by contemporaries, which is not the case.460

Solche Positionen haben eine Tücke, weil die ähnliche oder identische Philosophendarstellung verschiedener Zeitgenossen Lukians noch nicht beweist, dass hier zeitgenössische Beobachtungen vorliegen; es wäre möglich, dass diese Darstellungen allesamt ohne Gegenwartsbezug auf Traditionelles zurückgehen. Doch Jones fügt einen weiteren Punkt an ([1986] 32): »The prominence of philosophy in his [sc. Lucian’s] work is due [...] to the fact that the society and the culture of the day swarmed with philosophers as much as with sophists.«461 So ist ein Gegenwartsbezug sehr wahrscheinlich, denn die immer wiederkehrenden Themen bezüglich Philosophen deuten einen zu dieser Zeit wichtigen Diskurs an, den ich im Folgenden genauer zu fassen versuchen und damit das Zeitgenössische solcher Texte exakter herausarbeiten möchte, als es bisher geschehen ist. Hilfreich sind dabei die 458 Zum Einfluss kynisch-menippeischer Literatur sowie v.a. der Invektive und des Epigramms auf Lukians Rhetorikspott vgl. Hall [1981] 256–264 (siehe auch Bompaire [1958] 489–491). Zum Aktualitätsbezug von Lukians Satiren gegen Sophisten vgl. Hall [1981] 266f. 459 Gemeint ist das Thema des falschen Philosophen, dessen lasterhafte Lebensweise seiner Lehre entgegensteht. 460 Es wird auf die Ähnlichkeiten mit Aristeides Or. 3,663–676 verwiesen. 461 Genauer dazu siehe unten S. 146f.

3.3 Das literarische Schaffen: Variationen und Typisierung

145

Beobachtungen von Anderson und Hahn:462 Obwohl die Sophistensatire zeitgenössischer daherzukommen scheint, während die Philosophensatire traditionell bleibt, verschmelzen Lukians Angriffe auf beide Disziplinen und ihre Exponenten stark (s.o. 3.2). Als Beispiele seien hier nochmals die Anwendung von Tricks (ein bestimmtes Vokabular, Beschimpfungen, Showeffekte), die Maskerade und auch die Verachtung für die Tradition genannt.463 Die Opfer werden einander angeglichen, ihre Eigenschaften überlappen sich sogar, so dass insgesamt eine Typisierung erreicht wird: Es ist die Typisierung dessen, der vor Publikum etwas vorträgt, wofür er nicht qualifiziert ist, sei es nun ein Philosoph oder ein Sophist. Anderson bemerkt zu Lukians Angriffen auf Peregrinos: His [sc. Peregrinus’] type of ostentation was a natural symptom of the second century with its love of theatricality: but this is the charge that Lucian was perhaps most readily inclined to supply, regardless of his victim.464

Das Charakteristikum des Zweiten Jahrhunderts, die Vortragskultur, in die sowohl Sophisten als auch Philosophen eingebunden sind, findet also einen deutlichen Niederschlag in Lukians Satire, der wohl doch als zeitgenössischer Reflex bezeichnet werden sollte. Weitere Typisierungen zeigen sich auch in den Angaben über die Identität der Angegriffenen; es sind standardisierte Merkmale von Emporkömmlingen, beispielsweise eine obskure Herkunft und/oder ein Namenswechsel:465 Um seine Opfer blosszustellen, verwendet Lukian also ein immer wiederkehrendes Repertoire, das durchaus auch invektivisch geprägt ist. Die variierende Ausgestaltung desselben Themas erweist sich als literarische Taktik Lukians, wobei die Typisierung und Applikation auf verschiedene Gruppen von Bildungsvertretern einen Hauptbestandteil ausmacht. 462 Anderson [1976] rückt durch eine literarische Untersuchung Philosophen und Sophisten in Lukians Œuvre nahe zusammen, Hahn [1989] zeigt die Verschmelzung der beiden Disziplinen historisch auf. 463 Anderson ([1976] 70) zeigt diese Verschmelzung am Beispiel des Kantharos, eines der entlaufenen Sklaven in Fugitivi (§§28–33), im Vergleich zu den Attacken in Pseudol. 29: »This éminence grise [gemeint ist Kantharos] appears to have written τραγικοὶ διάλογοι (§33), and is a notorious plagiarist. He elopes with his host’s wife; and Lucian finds room at his expense for a pun on Theopompus’ Trikaranos (§32), as he does in his attack on the pseudologist (§29). Cantharus, then, could easily be another in the series of upstart sophists; but this time we know that he is a philosopher from Paphlagonia instead.« 464 Anderson [1976] 75. Vgl. über Schauspielmetaphorik und ihre Verbreitung in den verschiedenste Bereiche betreffenden Satiren Lukians bereits S. 131f., speziell im Vergleich mit Peregrinus auch Pseudol. 19 und Ikaromen. 29f. 465 Vgl. Anderson [1976] 70: obskure Herkunft des Alexander (Alex. 11) und des Kantharos (Fug. 27f.); Namenswechsel in Alex. 58; Peregr. 27; Gall. 14; Tim. 22; obskure Herkunft und Namenswechsel kombiniert in Rh. Pr. 24. Vgl. den Kommentar zu Rh. Pr. 24: πατρὸς μὲν ἀφανοῦς und τοῖς Διὸς καὶ Λήδας παισὶν ὁμώνυμος, auch zur Bedeutung solcher Merkmale als typisches Invektivenmaterial (Vorbild ist Demosthenes’ Kranzrede).

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

Diese Typisierung wird thematisch oft über die Vortragskultur vorgenommen, so dass ich glaube, dass das als der Punkt angesehen werden kann, in welchem die Satire – sei sie auch noch so stark von traditionellen Motiven durchsetzt – für Lukians Zeitgenossen aktuell und unterhaltend ist sowie in einen zeitgenössischen Diskurs eingreift: Die inhaltliche Verschmelzung der satirischen Angriffe auf verschiedene Gelehrten-Gruppen stimmt nämlich mit den historischen Gegebenheiten und Entwicklungen überein, auf die hier abschliessend näher eingegangen werden soll: In der Öffentlichkeit, im Rahmen der Vortragskultur des 2. Jhs. wirkende Philosophen weisen Züge von Rednern und Deklamatoren auf, die philosophischen Vorträge haben sich offensichtlich sowohl formal (rhetorische Gestaltung) als auch im Ablauf an die Regeln des Sophistenbusiness angelehnt, vor allem wohl, um konkurrenzfähig zu bleiben, das heisst, um dem breiten Publikumsgeschmack entgegenzukommen.466 So wissen wir, dass auch an philosophischen Vorträgen Themenvorschläge gemacht wurden, dass das Publikum während des Vortrages seine Meinung darüber kundtat und Diskussionen und Fragen im Anschluss dazugehörten. Eine wichtige Quelle ist Plutarchs Schrift De Audiendo, welche Verhaltensregeln für den Besuch einer philosophischen Vorlesung aufstellt und damit gleichermassen Wunschvorstellung und Realität solcher Veranstaltungen illustriert.467 Kurz gesagt rücken Rhetorik und Philosophie im Vortragsbetrieb so nahe zueinander, dass man nicht nur vom Konzertredner, sondern auch vom Konzertphilosophen spre466 Typische Genera sophistischer Rhetorik wie die διαλέξεις oder λαλιαί hat z.B. Maximus von Tyros verwendet, der als Populärphilosoph gelten kann (vgl. zur öffentlichen Vortragstätigkeit und zu möglichen Aufführungsbedingungen der Reden des Maximus die Untersuchungen von Trapp [1997] xli–xliv; siehe auch Korenjak [2000] 23 und Hahn [1989] 92–96). Die Streitereien zwischen verschiedenen Sophisten, die sich sozusagen als ›konstitutives Element‹ dieses Berufes erwiesen haben (vgl. Bowersock [1969] 89–100), sind auch für Philosophen bezeugt. Es wurden richtige Schaukämpfe zwischen Philosophen verschiedener Schulzugehörigkeit abgehalten – als nette Unterhaltung für das Publikum (vgl. Hahn [1989] 98 und 109–111). Vgl. allgemein dazu Bowersock [2002] 160: »The sophists were part [...] of a vast and complex cultural fabric that is only now becoming clear. Philosophy, like Galen’s medicine, was obviously an essential component of that fabric.« 467 Ausgewertet ist die Schrift bei Korenjak [2000] 170–194 und Hahn [1989] 90–92. Vgl. auch Bowersock [2002] 166f.: »Not surprisingly many philosophers of the time disapproved of what the likes of Maximus were doing. Although a philosopher must naturally be a master of language to convey his thoughts, entertaining the public was not part of the contemplative search for truth. Plutarch expressed himself unambiguously on this matter and doing so documented the world of the concert philosophers: ›In a philosophic discussion we must set aside the repute (δόξα) of the speaker and examine what he says on its own. For in lectures, as in war, much of what goes on is without substance (πολλὰ τὰ κενά).‹« – Zur Themenwahl an sophistischen Deklamationen vgl. den Kommentar zu Rh. Pr. 18: τινας ὑποθέσεις καὶ ἀφορμὰς τῶν λόγων; zu Diskussionen zwischen Publikum und Redner (bzw. Reflexen davon) vgl. den Kommentar zu Rh. Pr. 17: ἂν σολοικίσῃς δὲ ἢ βαρβαρίσῃς; 19: ἢν μέν σε μὴ ἐπαινῶσιν, ἀγανάκτει καὶ λοιδοροῦ αὐτοῖς; 21 und 22 (passim).

3.3 Das literarische Schaffen: Variationen und Typisierung

147

chen kann, wie Hahn ([1989] 92) es tut. Er bemerkt zur Entwicklung (S. 96f.): Die Bedeutung solcher philosophischer Vorträge in der Öffentlichkeit kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie muss, neben der Unterrichtung von Schülern, als zweiter wesentlicher Aspekt der Tätigkeit eines Philosophen verstanden werden. Dion spricht – allerdings in einem eher stilisierten Zusammenhang – von einem wahren Überangebot philosophischer Vorträge zu jedem beliebigen Thema in griechischen Städten (or. 36,24): In Rom dürfte sich die Situation kaum anders dargestellt haben.

Genauso spricht Bowersock ([2002] 163) von einer »surprising emergence of certain philosophers as performance artists«. Als aussagekräftigste Beispiele für »sophist-philosophers«, die nicht mehr in einer geschlossenen Schulumgebung, sondern an öffentlichen Grossanlässen auftraten, nennt er Apuleius, Dion von Prusa und Favorinus (S. 164): Philosophy and sophistic were by no means separate compartments or separate evolutionary phases in the cases of the three major crossover figures. The two activities were inextricably meshed because public performance was integral to both.468

Vor diesem historischen Hintergrund ist es nur einleuchtend, dass Lukian sich neben den Sophisten gerade die Philosophen aussucht, um an diesen beiden Polen der zeitgenössischen παιδεία469 mittels sehr ähnlicher Vorwürfe seinen (angeblichen) Ärger über ungebildete Scheinvertreter, die vor dem breiten Publikum Erfolge einheimsen, obwohl sie von ihrer Wissenschaft nur wenig Ahnung haben, auszulassen. Philosophen und Sophisten prägen durch ihr Wirken in der Öffentlichkeit das Bild des πεπαιδευμένος in den Augen der (ungebildeteren) Zuschauermassen. Und genau hier setzt die lukianische Satire an: Sie entlarvt, mahnt und warnt davor, dass nicht jeder, der in einem entsprechenden Gewand eine Bühne betritt, automatisch das ist, was er zu verkörpern scheint, wobei aber Lukian sich selbst ebenfalls ein Gewand – dasjenige des Entlarvers – anlegt und seine Texte durch oft aristophanische settings in ebendieser ›Schauspielkultur‹ verankert. So setzt der Autor sich mitsamt den Rezipierenden, die er (als mit ihm Lachende) auf seine Seite zu ziehen und gegebenenfalls auch zu einer gedanklichen Auseinandersetzung über die zeitgenössischen Auftrittsbedingungen anzuregen wünscht, einerseits von Scharlatanen und Fehlgebildeten ab, entwirft andererseits gleichzeitig das Bild des idealen πεπαιδευμένος – der allerdings als guter, überzeugender ›Schauspieler‹ letztlich auch immer in der theatralisierten Gesellschaft verhaftet bleibt. 468 Vgl. auch Hall [1981] 151f. über die Wechselwirkung von Rhetorik und Philosophie, v.a. über philosophische Themen in rhetorischen Vorträgen. 469 Vgl. zu Sophisten und Philosophen als Hauptexponenten der παιδεία die Darstellung bei Möllendorff [2000b] 2–11.

4. Text und Übersetzung

Der hier abgedruckte griechische Text entspricht mit wenigen Ausnahmen470 der neueren Ausgabe von M.D. Macleod [1974, repr. 1993] mit Berücksichtigung der Änderungsvorschläge von Nesselrath [1984].471 Überliefert ist die Schrift Ῥητόρων διδάσκαλος (Nr. 41) in den beiden Überlieferungsstämmen der γ-HSS und der β-HSS.472 Macleod weist als von ihm verwendete Handschriften die folgenden aus: Ω/L (γ-HSS; Γ fehlt) und B/U/recc. (β-HSS). Im Kommentar wird Textkritisches an denjenigen Stellen diskutiert, wo von der Ausgabe Macleods abgewichen wird oder wo man eine andere Lesart ernsthaft in Betracht ziehen könnte. Oft finden sich kleinere Unterschiede in den Überlieferungssträngen γ und β, wobei jeweils beide Varianten inhaltlich einen befriedigenden Sinn ergeben. Macleod scheint in diesem Fall tendenziell etwas häufiger γ zu folgen, allerdings nicht durchgängig, obwohl dieser Überlieferungsstrang vielfach zu bevorzugen ist.473 Aufgrund dieses Befundes wird an einigen Stellen gegen Macleod die Lesart von γ in den Text gefügt.474 Einschränkend ist es allerdings wichtig zu bemerken,

470

Für Abweichungen vgl. die tabellarische Aufstellung am Ende des griechischen Textes. Die ältere, noch immer weitverbreitete Textausgabe der Loeb Classical Library mit der Übersetzung von Harmon [1925; repr. zuletzt 1999] weist relativ häufig kleine, den Inhalt nur geringfügig tangierende Abweichungen zu Macleod auf. Diese sind in den meisten Fällen nicht vorzuziehen, da sie der Handschriftengruppe β folgen, die oft vereinfachend-attischere Formen oder Konstruktionen aufweist (siehe dazu auch die übernächste Anm.; zu positiven Aspekten der βHSS bezüglich Rh. Pr. s.u.). 472 Zur Darstellung der Überlieferung Lukians noch immer grundlegend ist Mras [1911]; zur zweistämmigen Überlieferung der Schriften S. 13–54 vgl. insbes. S. 64–114. Zu Problemen der Mras’schen Darstellung, die von Macleod nicht thematisiert werden, siehe Nesselrath [1984] 578f.; für die vorliegende Schrift Nr. 41 dürften Mras’ Beobachtungen zur zweistämmigen Überlieferung allerdings korrekt sein. 473 Daher bemerkt Nesselrath zu Recht ([1984] 596): »Bei der Entscheidung [sc. Macleods] zwischen β und γ werden Präferenzen nicht völlig klar. An nicht wenigen Stellen hätte M. eher γ oder (bei einsträngiger Überlieferung) Γ folgen sollen, denn es gibt Anzeichen dafür, dass der Text von β häufig – und, wie es aussieht, bewusst – zum attischeren oder preziöseren Ausdruck hin geschönt ist [...]. Andererseits gibt es aber auch genügend Fälle, wo ohne die β-Lesart einfach nicht durchzukommen ist.« Vor allem die späteren Codices der β-Klasse sind minderwertig, vgl. Mras [1911] 218: »Bei den lectiones speciosae der späteren Codd. dieser Klasse ist besondere Vorsicht geboten.« 474 Vgl. auch Ebner [2001] 61 (zur Textgestaltung der Ausgabe der Lügenfreunde): »Insgesamt wurde versucht, den Lesarten der Handschriftengruppe γ, die für die Textüberlieferung der ›Lü471

4. Text und Übersetzung

149

dass die Bewertung der γ- und β-Handschriften für jedes Stück Lukians neu erfolgen muss, und zwar unter Berücksichtigung derjenigen Codices, in denen es jeweils überliefert ist. Da für Rh. Pr. der beste Codex der γ-Klasse (Γ) fehlt, das Stück allerdings in der wichtigsten Handschrift der β-Klasse (B) vorhanden ist, bietet dieser Überlieferungsstrang im Fall von Rh. Pr. ebenfalls gute Lesarten.475 Die von Mras erarbeitete Reihenfolge der Stücke in den Handschriften (sog. Schriften-Akoluthien)476 ergibt in der γ-Klasse für Rh. Pr. (Nr. 41) eine Positionierung zwischen De Luctu (Nr. 40) und Alexander (Nr. 42),477 in der β-Klasse eine Positionierung zwischen Vitarum Auctio (Nr. 27) und Piscator (Nr. 28; es folgt auch hier Alexander, Nr. 42). Dieser Befund ist insofern interessant, als er die vorangegangenen Kapitel über die Einbettung der Schrift Rh. Pr. in ihr textuelles Umfeld, insbesondere über die Nähe des lukianischen Sophisten- und Philosophenspotts (s.o. Einleitung 3.) unterstützt: Alexander als Pamphlet gegen den gleichnamigen Lügenpropheten ist für Rh. Pr. an diversen Stellen, v.a. für die Schlusskapitel 23–25 (Invektiventopik) ein wichtiger Paralleltext.478 Dass nun tatsächlich im Lesefluss an den abstossenden βίος des Rednerlehrers mit der (Selbst-)Darstellung seines abscheulichen Charakters derjenige des Lügenpropheten anschliesst (γ-HSS), stärkt die Parallelen als vom antiken Leser durchaus entsprechend wahrgenommene. Dasselbe kann für die Einbettung von Rh. Pr. zwischen den Schriften Vit. Auct. und Pisc. (β-HSS) gelten; die Parallelen innerhalb dieser Schriften sind oben aufgezeigt worden (vgl. die Einleitung 3.2).479

genfreunde‹ nicht nur die älteren Textzeugen enthält, sondern generell auch als zuverlässiger gilt als die Handschriftengruppe β, den Vorzug zu geben.« 475 Siehe Mras [1911] 169 zur Beurteilung der Überlieferung von Rh. Pr.: »Die B-Rezension ist hier der Rezension der andern Klasse mindestens gleichwertig.« Zur Bewertung der einzelnen Codices siehe Mras [1911] 222–224. Sowohl Macleod als auch Harmon übernehmen immer wieder (unstrittige) Lesarten der β-HSS, z.B. Rh. Pr. 1,11: ὡς τάχιστα δεινὸς ἀνὴρ (γ· ὡς μάλιστα, om. ἀνὴρ); Rh. Pr. 3,7: ἀνιὼν (γ· προσιὼν); Rh. Pr. 3,28: κομίζοντας (γ· κομίσοντας). 476 Siehe Mras [1911] 5f.; 18f.; 23 (unten). 477 Davon abweichend Codex L mit der Abfolge De Luct. (40), Rh. Pr. (41), De Astr. (48); siehe Macleod xiv und Mras [1911] 15. 478 Siehe dazu u.a. den Kommentar zu §13: τεράστιον; §23: ψεύδεσθαι; §24: πατρὸς μὲν ἀφανοῦς / γλίσχρῳ ἐραστῇ. 479 Vgl. auch den Kommentar zu §15: ἀχρεῖα γὰρ καὶ ὑπεναντία τῷ πράγματι; §16: σχήματος [...] εὐμόρφου τῆς ἀναβολῆς; §23: λοιδορεῖσθαι.

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4. Text und Übersetzung

ΡΗΤΟΡΩΝ ΔΙΔΑΣΚΑΛΟΣ 1

2

3

Ἐρωτᾷς, ὦ μειράκιον, ὅπως ἂν ῥήτωρ γένοιο καὶ τὸ σεμνότατον τοῦτο καὶ πάντιμον ὄνομα σοφιστὴς εἶναι δόξεις· ἀβίωτα γὰρ εἶναί σοι φῄς, εἰ μὴ τοιαύτην τινὰ τὴν δύναμιν περιβάλοιο ἐν τοῖς λόγοις ὡς ἄμαχον εἶναι καὶ ἀνυπόστατον καὶ θαυμάζεσθαι πρὸς ἁπάντων καὶ ἀποβλέπεσθαι, περισπούδαστον ἄκουσμα τοῖς Ἕλλησι δοκοῦντα· καὶ δὴ τὰς ἐπὶ τοῦτο ἀγούσας ὁδοὺς αἵτινές ποτέ εἰσιν ἐθελήσεις ἐκμαθεῖν. ἀλλὰ οὐδεὶς φθόνος, ὦ παῖ, καὶ μάλιστα ὁπότε νέος τις αὐτὸς ὤν, ὀρεγόμενος τῶν ἀρίστων, οὐκ εἰδὼς ὅθεν ἂν ταῦτα ἐκπορίσαιτο, »ἱερόν τι χρῆμα τὴν συμβουλὴν οὖσαν«, καθάπερ νῦν σύ, τοῦτο αἰτοίη προσελθών. ὥστε ἄκουε, τό γε ἐπ’ ἐμοὶ καὶ πάνυ θαρρῶν ὡς τάχιστα δεινὸς ἀνὴρ ἔσῃ γνῶναί τε τὰ δέοντα καὶ ἑρμηνεῦσαι αὐτά, ἢν τὸ μετὰ τοῦτο ἐθελήσῃς αὐτὸς ἐμμένειν οἷς ἂν ἀκούσῃς παρ’ ἡμῶν καὶ φιλοπόνως αὐτὰ μελετᾶν καὶ προθύμως ἀνύειν τὴν ὁδὸν ἔστ’ ἂν ἀφίκῃ πρὸς τὸ τέρμα. Τὸ μὲν οὖν θήραμα οὐ σμικρὸν οὐδὲ ὀλίγης τῆς σπουδῆς δεόμενον, ἀλλὰ ἐφ’ ὅτῳ καὶ πονῆσαι πολλὰ καὶ ἀγρυπνῆσαι καὶ πᾶν ὁτιοῦν ὑπομεῖναι ἄξιον. σκόπει γοῦν ὁπόσοι τέως μηδὲν ὄντες ἔνδοξοι καὶ πλούσιοι καὶ νὴ Δί’ εὐγενέστατοι ἔδοξαν ἀπὸ τῶν λόγων. Ὅμως δὲ μὴ δέδιθι, μηδὲ πρὸς τὸ μέγεθος τῶν ἐλπιζομένων ἀποδυσπετήσῃς, μυρίους τινὰς τοὺς πόνους προπονήσειν οἰηθείς. οὐ γάρ σε τραχεῖάν τινα οὐδὲ ὄρθιον καὶ ἱδρῶτος μεστὴν ἡμεῖς γε ἄξομεν, ὡς ἐκ μέσης αὐτῆς ἀναστρέψαι καμόντα, ἐπεὶ οὐδὲν ἂν διεφέρομεν τῶν ἄλλων ὅσοι τὴν συνήθη ἐκείνην ἡγοῦνται, μακρὰν καὶ ἀνάντη καὶ καματηρὰν καὶ ὡς τὸ πολὺ ἀπεγνωσμένην. ἀλλὰ τό γε παρ’ ἡμῶν ἐξαίρετόν σοι τῆς συμβουλῆς τοῦτό ἐστιν, ὅτι ἡδίστην τε ἅμα καὶ ἐπιτομωτάτην καὶ ἱππήλατον καὶ κατάντη σὺν πολλῇ τῇ θυμηδίᾳ καὶ τρυφῇ διὰ λειμώνων εὐανθῶν καὶ σκιᾶς ἀκριβοῦς σχολῇ καὶ βάδην ἀνιὼν ἀνιδρωτὶ ἐπιστήσῃ τῇ ἄκρᾳ καὶ ἀγρεύσεις οὐ καμὼν καὶ νὴ Δί’ εὐωχήσῃ κατακείμενος, ἐκείνους ὁπόσοι τὴν ἑτέραν ἐτράποντο ἀπὸ τοῦ ὑψηλοῦ ἐπισκοπῶν ἐν τῇ ὑπωρείᾳ τῆς ἀνόδου ἔτι κατὰ δυσβάτων καὶ ὀλισθηρῶν τῶν κρημνῶν μόλις ἀνέρποντας, ἀποκυλιομένους ἐπὶ κεφαλὴν ἐνίοτε καὶ πολλὰ τραύματα λαμβάνοντας περὶ τραχείαις ταῖς πέτραις· σὺ δὲ πρὸ πολλοῦ ἄνω ἐστεφανωμένος εὐδαιμονέστατος ἔσῃ, ἅπαντα ἐν βραχεῖ ὅσα ἐστὶν ἀγαθὰ παρὰ τῆς Ῥητορικῆς μονονουχὶ καθεύδων λαβών.

4. Text und Übersetzung

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Der Rednerlehrer Du fragst, mein Junge, wie du ein Rhetor werden könnest und im Ruf stehen werdest, ein ›Sophist‹ zu sein – eine Bezeichnung, so erhaben und allgeehrt wie keine. [Das Leben] sei dir nämlich nicht lebenswert, sagst du, wenn du dir nicht eine solche Überzeugungskraft im Umgang mit Worten zulegen könnest, dass du unbesiegbar seist und unwiderstehlich und bewundert würdest von allen und angestaunt, als ein Hörerlebnis geltend, um das sich die Griechen eifrig bemühen. Und insbesondere welche Wege denn zu diesem Ziel führen, wirst du erfahren wollen. Nun, das wird dir nicht missgönnt, mein Junge, schon gar nicht, wenn einer, der selbst noch jung ist und nach dem Höchsten strebt, aber nicht weiss, woher er sich dies wohl verschaffen kann und daher wie du jetzt auf mich zukommt und, da ja »ein Ratschlag eine heilige Sache ist«, um einen solchen bittet. So höre und sei, was mich betrifft, auch voller Zuversicht, dass du in kürzester Zeit ein Mann sein wirst, der sowohl die Fähigkeit hat zu wissen, was [gesagt werden] muss, als auch es in Worte zu fassen, vorausgesetzt, du willst fortan von dir aus bei dem bleiben, was du von mir hörst, dich eifrig darin üben und entschlossen den Weg weiterverfolgen, bis du ans Ziel gelangst. Das, wonach du jagst, ist nicht klein und bedarf auch keiner geringen Anstrengung, sondern es ist wert, dafür hart zu arbeiten, schlaflose Nächte durchzustehen und alles mögliche zu ertragen. Bedenke nur wieviele, die bis dahin nichts waren, als berühmt, reich und – bei Zeus! – sogar als äusserst vornehm Geltung erlangt haben infolge ihrer Beredsamkeit. Sei dennoch ohne Bedenken und lass dich nicht von der Grösse des Erhofften abschrecken in der Annahme, du werdest zuerst unzählige Mühen auf dich nehmen müssen. Denn nicht auf einem rauen, steilen und schweisstreibenden Weg werde ich dich führen, so dass du auf halbem Weg aus Erschöpfung umkehrtest, denn dann unterschiede ich mich ja kein bisschen von all den anderen, die einen auf jenem gewöhnlichen Weg führen, dem langen, der bergauf geht, ermüdend ist und meist aus Verzweiflung aufgegeben wird. Nein, gerade dies ist das Herausragende an meinem Ratschlag, dass du auf dem angenehmsten und zugleich kürzesten Weg, der mit einem Wagen befahrbar ist und bergab geht, mit viel Ergötzung und Komfort durch blumige Wiesen und perfekten Schatten gemütlich Schritt für Schritt hinaufgehen und ohne Schweiss zu vergiessen auf den Gipfel gelangen wirst, [deine Beute] ohne Anstrengung erjagt haben und – bei Zeus! – bequem liegend ein Picknick halten wirst. Dabei wirst du aus der Höhe auf all jene hinunterschauen, die sich dem andern Weg zugewandt haben und noch am Fuss des Berges über schlecht gangbare und schlüpfrige Abhänge nur mit Mühe hinaufkraxeln, manchmal kopfüber hinabpurzeln und sich viele Wunden zuziehen wegen der Schroffheit der Steine. Doch du, schon lange vorher oben angekommen und bekränzt, wirst der Allerglück lichste sein, weil du in kurzer Zeit, alles, was gut ist, von der Redekunst her fast im Schlaf erlangt hast.

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4. Text und Übersetzung

Ἡ μὲν δὴ ὑπόσχεσις οὕτω μεγάλη· ἀλλὰ πρὸς Φιλίου μὴ ἀπιστήσῃς, εἰ ῥᾷστά τε ἅμα καὶ ἥδιστά σοι ταῦτα ἐπιδείξειν φαμέν. ἢ γὰρ Ἡσίοδος μὲν ὀλίγα φύλλα ἐκ τοῦ Ἑλικῶνος λαβὼν αὐτίκα μάλα ποιητὴς ἐκ ποιμένος κατέστη καὶ ᾖδε θεῶν καὶ ἡρώων γένη κάτοχος ἐκ Μουσῶν γενόμενος, ῥήτορα δέ, ὃ πολὺ ἔνερθε τῆς ποιητικῆς μεγαληγορίας ἐστίν, ἐν βραχεῖ καταστῆναι ἀδύνατον, εἴ τις ἐκμάθοι τὴν ταχίστην ὁδόν; Ὡς ἔγωγε καὶ διηγήσασθαί σοι βούλομαι Σιδωνίου τινὸς ἐμπόρου ἐπίνοιαν δι’ ἀπιστίαν ἀτελῆ γενομένην καὶ τῷ ἀκούσαντι ἀνόνητον. ἦρχε μὲν γὰρ ἤδη Ἀλέξανδρος Περσῶν, μετὰ τὴν ἐν Ἀρβήλοις μάχην Δαρεῖον καθῃρηκώς· ἔδει δὲ πανταχόσε τῆς ἀρχῆς διαθεῖν τοὺς γραμματηφόρους τὰ ἐπιτάγματα τοῦ Ἀλεξάνδρου κομίζοντας. ἐκ Περσῶν δὲ πολλὴ εἰς Αἴγυπτον ἐγίγνετο ἡ ὁδός· ἐκπεριιέναι γὰρ ἔδει τὰ ὄρη, εἶτα διὰ τῆς Βαβυλωνίας εἰς τὴν Ἀραβίαν ἐλθεῖν, εἶτα ἐρήμην πολλὴν περάσαντας ἀφικέσθαι ποτὲ μόλις εἰς Αἴγυπτον, εἴκοσι μηκίστους ἀνδρὶ εὐζώνῳ σταθμοὺς τούτους διανύσαντας. ἤχθετο οὖν ὁ Ἀλέξανδρος ἐπὶ τούτῳ, διότι Αἰγυπτίους τι παρακινεῖν ἀκούων οὐκ εἶχε διὰ ταχέων ἐκπέμπειν τοῖς σατράπαις τὰ δοκοῦντά οἱ περὶ αὐτῶν. τότε δὴ ὁ Σιδώνιος ἔμπορος »Ἐγώ σοι«, ἔφη, »ὦ βασιλεῦ, ὑπισχνοῦμαι δείξειν ὁδὸν οὐ πολλὴν ἐκ Περσῶν εἰς Αἴγυπτον. εἰ γάρ τις ὑπερβαίη τὰ ὄρη ταῦτα – ὑπερβαίη δ’ ἂν τριταῖος – αὐτίκα μάλα ἐν Αἰγύπτῳ οὗτός ἐστιν.« καὶ εἶχεν οὕτως. πλὴν ὅ γε Ἀλέξανδρος οὐκ ἐπίστευσεν, ἀλλὰ γόητα ᾤετο εἶναι τὸν ἔμπορον. οὕτω τὸ παράδοξον τῆς ὑποσχέσεως ἄπιστον δοκεῖ τοῖς πολλοῖς. ἀλλὰ μὴ σύ γε πάθῃς τὸ αὐτό· εἴσῃ γὰρ πειρώμενος ὡς οὐδέν σε κωλύσει ἤδη ῥήτορα δοκεῖν μιᾶς οὐδὲ ὅλης ἡμέρας ὑπερπετασθέντα τὸ ὄρος ἐκ Περσῶν εἰς Αἴγυπτον. Ἐθέλω δέ σοι πρῶτον ὥσπερ ὁ Κέβης ἐκεῖνος εἰκόνα γραψάμενος τῷ λόγῳ ἑκατέραν ἐπιδεῖξαι τὴν ὁδόν· δύο γάρ ἐστον, αἳ πρὸς τὴν Ῥητορικὴν ἄγετον, ἧς ἐρᾶν οὐ μετρίως μοι δοκεῖς. καὶ δῆτα ἡ μὲν ἐφ’ ὑψηλοῦ καθήσθω πάνυ καλὴ καὶ εὐπρόσωπος, τὸ τῆς Ἀμαλθείας κέρας ἔχουσα ἐν τῇ δεξιᾷ παντοίοις καρποῖς ὑπερβρύον· ἐπὶ θάτερα δέ μοι δόκει τὸν Πλοῦτον παρεστῶτα ὁρᾶν, χρυσοῦν ὅλον ὄντα καὶ ἐπέραστον. καὶ ἡ Δόξα δὲ καὶ ἡ Ἰσχὺς παρέστωσαν, καὶ οἱ Ἔπαινοι περὶ πᾶσαν αὐτὴν Ἔρωσι μικροῖς ἐοικότες πολλοὶ ἁπανταχόθεν περιπλεκέσθωσαν ἐκπετόμενοι. εἴ που τὸν Νεῖλον εἶδες γραφῇ μεμιμημένον, αὐτὸν μὲν κείμενον ἐπὶ κροκοδείλου τινὸς ἢ ἵππου τοῦ ποταμίου, οἷοι πολλοὶ ἐν αὐτῷ, μικρὰ δέ τινα παιδία περὶ αὐτὸν παίζοντα – πήχεις δὲ αὐτοὺς οἱ Αἰγύπτιοι καλοῦσι –, τοιοῦτοι καὶ περὶ τὴν Ῥητορικὴν οἱ ἔπαινοι.

4. Text und Übersetzung

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Ja, so gross ist mein Versprechen! Doch misstraue mir – bei [Zeus] Philios! – nicht, wenn ich sage, dass ich dir dies als absolut mühelos und zugleich äusserst angenehm aufzeigen werde. Wurde denn nicht Hesiod, indem er nur wenige Blätter vom Helikon pflückte, auf der Stelle von einem Hirten zu einem Dichter und besang, von den Musen ergriffen, die Geschlechter der Götter und Heroen – jemanden aber innert kürzester Zeit zu einem Redner zu machen, was ja weit unter dem erhabenen Stil der Poesie anzusetzen ist, soll unmöglich sein, wenn nur einer den schnellsten Weg herausfindet? Ich möchte dir daher auch noch die Idee eines Händlers aus Sidon erzählen, die aus Unglauben heraus unvollendet blieb und dem, der sie hörte, keinen Nutzen brachte. Alexander war zu der Zeit Herrscher über die Perser, nachdem er Dareios nach der Schlacht bei Arbela entthront hatte, und es war nötig, in jeden Winkel des Reiches Briefboten zu schicken, welche die Befehle Alexanders überbrachten. Allerdings war der Weg von Persien nach Ägypten lang, denn sie mussten die Berge umrunden, dann durch Babylonien nach Arabien gehen und schliesslich eine grosse Wüste durchziehen, bevor sie endlich einmal nach Ägypten gelangten, nachdem sie zwanzig selbst für einen guten Läufer sehr lange Tagereisen vollendet hatten. Alexander ärgerte sich darüber, weil er hörte, dass die Ägypter Anstalten zu Aufständen machten, er aber den Satrapen nicht schnell genug seine Beschlüsse darüber zuschicken konnte. Da sagte der sidonische Händler: »Ich verspreche, mein König, dir einen kurzen Weg von Persien nach Ägypten zu zeigen. Wenn nämlich einer diese Berge hier übersteigt – er dürfte sie in drei Tagen überstiegen haben – dann ist der Betreffende auf der Stelle in Ägypten.« Und so verhielt es sich. Doch Alexander glaubte ihm nicht, sondern hielt den Händler für einen Schwindler. So scheint das Unglaubliche im Versprechen den meisten Leuten unglaubwürdig. Doch dir soll das nicht passieren; du wirst nämlich, sobald du es versuchst, merken, dass dich nichts hindern wird, nach nicht einmal einem ganzen Tag schon als Redner zu gelten, indem du das Gebirge von Persien aus nach Ägypten überfliegst. Ich möchte dir aber zuerst wie jener bekannte Kebes ein Bild mit Worten malen und jeden der beiden Wege zeigen. Es sind nämlich zwei, die zur Rhetorik führen, welche du mir überaus heftig zu lieben scheinst. Sie nun soll auf einem hohen Gipfel sitzen, sehr attraktiv und von schönem Antlitz, in der Rechten das Horn der Amaltheia, welches überquillt von Früchten aller Art. Auf der anderen Seite neben ihr stehend stelle dir den Reichtum vor, ganz in Gold und reizend. Daneben sollen auch der Ruhm und die Stärke stehen, und die Komplimente, die kleinen Eroten ähneln, sollen die Rhetorik in grosser Zahl und von überall her rings umschwärmen im Flug. Wenn du schon einmal den Nil auf einem Bild dargestellt gesehen hast, wie er auf einem Krokodil liegt oder auf einem Flusspferd, deren es viele gibt in ihm, während kleine Kinder um ihn herum spielen – Ellen nennen sie die Ägypter –: solcher Art sind auch die Komplimente rings um die Rhetorik.

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4. Text und Übersetzung

Πρόσει δὴ σὺ ὁ ἐραστὴς ἐπιθυμῶν δηλαδὴ ὅτι τάχιστα γενέσθαι ἐπὶ τῆς ἄκρας, ὡς γαμήσειάς τε αὐτὴν ἀνελθὼν καὶ πάντα ἐκεῖνα ἔχοις, τὸν πλοῦτον τὴν δόξαν τοὺς ἐπαίνους· νόμῳ γὰρ ἅπαντα γίγνεται τοῦ γεγαμηκότος. Εἶτα ἐπειδὰν πλησιάσῃς τῷ ὄρει, τὸ μὲν πρῶτον ἀπογιγνώσκεις τὴν ἄνοδον, καὶ τὸ πρᾶγμα ὅμοιον εἶναί σοι δοκεῖ οἵα ἡ Ἄορνος ἐφάνη τοῖς Μακεδόσιν ἀπόξυρον αὐτὴν ἁπανταχόθεν ἰδοῦσιν, ἀτεχνῶς οὐδὲ ὀρνέοις ὑπερπτῆναι ῥᾳδίαν, Διονύσου τινὸς ἢ Ἡρακλέους, εἰ μέλλοι καθαιρεθήσεσθαι, δεομένην. Ταῦτά σοι δοκεῖ τὸ πρῶτον· εἶτα μετ’ ὀλίγον ὁρᾷς δύο τινὰς ὁδούς. μᾶλλον δὲ ἡ μὲν ἀτραπός ἐστι στενὴ καὶ ἀκανθώδης καὶ τραχεῖα, πολὺ τὸ δίψος ἐμφαίνουσα καὶ ἱδρῶτα· καὶ ἔφθη γὰρ ἤδη Ἡσίοδος εὖ μάλα ὑποδείξας αὐτήν, ὥστε οὐδὲν ἐμοῦ δεήσει. ἡ ἑτέρα δὲ πλατεῖα καὶ ἀνθηρὰ καὶ εὔυδρος, τοιαύτη οἵαν μικρῷ πρόσθεν εἶπον, ἵνα μὴ πολλάκις τὰ αὐτὰ λέγων ἐπέχω σε ἤδη ῥήτορα εἶναι δυνάμενον. Πλὴν τό γε τοσοῦτον προσθήσειν μοι δοκῶ, διότι ἡ μὲν τραχεῖα ἐκείνη καὶ ἀνάντης οὐ πολλὰ ἴχνη τῶν ὁδοιπόρων εἶχεν, εἰ δέ τινα, πάνυ παλαιά. καὶ ἔγωγε κατ’ ἐκείνην ἄθλιος ἀνῆλθον τοσαῦτα καμὼν οὐδὲν δέον· ἡ ἑτέρα δὲ ἅτε ὁμαλὴ οὖσα καὶ ἀγκύλον οὐδὲν ἔχουσα πόρρωθέν μοι ἐφάνη οἵα ἐστὶν οὐχ ὁδεύσαντι αὐτήν. οὐ γὰρ ἑώρων νέος ἔτι ὢν τὸ βέλτιον, ἀλλὰ τὸν ποιητὴν ἐκεῖνον ἀληθεύειν ᾤμην λέγοντα ἐκ τῶν πόνων φύεσθαι τὰ ἀγαθά. τὸ δ’ οὐκ εἶχεν οὕτως· ἀπονητὶ γοῦν ὁρῶ τοὺς πολλοὺς μειζόνων ἀξιουμένους εὐμοιρίᾳ τῆς αἱρέσεως τῶν λόγων καὶ ὁδῶν. Ἐπὶ δ’ οὖν τὴν ἀρχὴν ἀφικόμενος εὖ οἶδα ὅτι ἀπορήσεις, καὶ ἤδη ἀπορεῖς, ὁποτέραν τρεπτέον. ὡς οὖν ποιήσας ἤδη ῥᾷστα ἐπὶ τὸ ἀκρότατον ἀναβήσῃ καὶ εὐδαιμονήσεις καὶ γαμήσεις καὶ θαυμαστὸς πᾶσι δόξεις, ἐγώ σοι φράσω· ἱκανὸν γὰρ τὸ αὐτὸν ἐξαπατηθῆναι καὶ πονῆσαι. σοὶ δὲ ἄσπορα καὶ ἀνήροτα πάντα φυέσθω καθάπερ ἐπὶ τοῦ Κρόνου. Εὐθὺς οὖν πρόσεισί σοι καρτερός τις ἀνήρ, ὑπόσκληρος, ἀνδρώδης τὸ βάδισμα, πολὺν τὸν ἥλιον ἐπὶ τῷ σώματι δεικνύων, ἀρρενωπὸς τὸ βλέμμα, ἐγρηγορώς, τῆς τραχείας ἐκείνης ὁδοῦ ἡγεμών, λήρους τινὰς πρὸς σὲ ὁ μάταιος διεξιών, ἕπεσθαί σοι παρακελευόμενος, ὑποδεικνὺς τὰ Δημοσθένους ἴχνη καὶ Πλάτωνος καὶ ἄλλων τινῶν, μεγάλα μὲν καὶ ὑπὲρ τοὺς νῦν, ἀμαυρὰ δὲ ἤδη καὶ ἀσαφῆ τὰ πολλὰ ὑπὸ τοῦ χρόνου, καὶ φήσει εὐδαίμονά σε ἔσεσθαι καὶ νόμῳ γαμήσειν τὴν Ῥητορικήν, εἰ κατὰ τούτων ὁδεύσειας ὥσπερ οἱ ἐπὶ τῶν κάλων βαίνοντες· εἰ δὲ κἂν μικρόν τι παραβαίης ἢ ἔξω

4. Text und Übersetzung

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Geh zu ihr hin, du Liebhaber, der du ganz offensichtlich schnellstens auf den Gipfel zu gelangen strebst, um sie, sobald du oben angekommen bist, zu heiraten und all jenes zu erhalten: Reichtum, Ruhm, Komplimente. Gemäss Gesetz fällt nämlich alles dem Ehemann zu. Und doch: Sobald du dich dem Berg näherst, sinkt dir zwar zuerst angesichts des Anstiegs der Mut, und die Sache scheint dir ähnlich wie der Berg Aornos den Makedonen erschien, als sie sahen, wie jäh abfallend er an allen Seiten war, schlichtweg nicht einmal für Vögel leicht zu überfliegen, so dass es einen Dionysos oder Herakles bräuchte, um ihn zu erobern. So scheint es dir zuerst. Dann siehst du nach kurzer Zeit zwei Wege: Der eine ist eher nur ein Pfad, schmal, dornig und rau, der viel Durst und Schweiss erahnen lässt. Doch Hesiod hat ihn ja längst sehr zutreffend beschrieben, so dass ich es nicht auch noch zu tun brauche. Der andere Weg ist breit, blumig und wasserreich, genau so, wie ich ihn kurz vorher beschrieben habe – damit ich nicht mehrfach dasselbe sage und dich aufhalte, der du bereits ein Redner sein könntest. Nur soviel, scheint mir, muss ich hinzufügen, dass jener raue und bergaufführende Weg nicht viele Fussspuren von Wanderern aufwies, und wenn es welche gab, dann sehr alte. Auch ich Unglücklicher stieg jenen Pfad hinauf und mühte mich so sehr ab, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Die Beschaffenheit des anderen Weges aber konnte ich, weil er eben und ohne Biegungen war, schon von weitem sehen, ohne ihn beschritten zu haben. Ich sah nämlich infolge meines noch jugendlichen Alters das Bessere nicht, sondern glaubte, dass jener Dichter die Wahrheit spreche, wenn er sagt, dass aus Mühen das Gute hervorgehe. Das verhielt sich jedoch nicht so. Mühelos jedenfalls werden, wie ich sehe, die meisten grösserer Dinge für würdig erachtet wegen einer glücklichen Wahl von Worten und Wegen. Wenn du nun also am Fuss des Berges angekommen bist, wirst du – ich weiss es genau – ratlos sein, und bist es schon jetzt, welchem Weg du dich zuwenden sollst. Was du nun tun musst, um am leichtesten die Bergspitze zu erklimmen, glücklich zu sein, zu heiraten und allen bewundernswert zu erscheinen, das will ich dir sagen: Denn es reicht, dass ich selbst getäuscht wurde und mich abmühte. Dir aber soll alles ungesät und ungepflügt wachsen wie im Zeitalter des Kronos. Sogleich wird dir ein starker Mann entgegenkommen, mit sehnigem Körper, männlichem Gang, braun gebrannt von der vielen Sonne, mit maskulinem Blick, energisch, als Führer auf jenem rauen Pfad, und allerlei leeres Geschwätz wird dieser Nichtsnutz an dich richten, er wird dir zureden, ihm zu folgen, wobei er dich auf die Fussstapfen des Demosthenes und Platons und einiger anderer aufmerksam macht – gross und über das Mass der heutigen hinaus, meistenteils aber schon verblasst und undeutlich infolge der verstrichenen Zeit –, und er wird sagen, dass du glücklich sein und eine rechtmässige Ehe mit der Rhetorik eingehen werdest, wenn du auf diesen Spuren wandertest, wie solche, die auf dem Seil gehen. Doch wenn du auch nur ein wenig daneben

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4. Text und Übersetzung

πατήσειας ἢ ἐπὶ θάτερα μᾶλλον κλιθείης τῇ ῥοπῇ, ἐκπεσεῖσθαί σε τῆς ὀρθῆς ὁδοῦ καὶ ἀγούσης ἐπὶ τὸν γάμον. εἶτά σε κελεύσει ζηλοῦν ἐκείνους τοὺς ἀρχαίους ἄνδρας ἕωλα παραδείγματα παρατιθεὶς λόγων οὐ ῥᾴδια μιμεῖσθαι, οἷα τὰ τῆς παλαιᾶς ἐργασίας ἐστίν, Ἡγησίου καὶ τῶν ἀμφὶ Κρίτιον καὶ Νησιώτην, ἀπεσφιγμένα καὶ νευρώδη καὶ σκληρὰ καὶ ἀκριβῶς ἀποτεταμένα ταῖς γραμμαῖς. πόνον δὲ καὶ ἀγρυπνίαν καὶ ὑδατοποσίαν καὶ τὸ λιπαρὲς ἀναγκαῖα ταῦτα καὶ ἀπαραίτητα φήσει· ἀδύνατον γὰρ εἶναι ἄνευ τούτων διανύσαι τὴν ὁδόν. ὃ δὲ πάντων ἀνιαρότατον, ὅτι σοι καὶ τὸν χρόνον πάμπολυν ὑπογράψει τῆς ὁδοιπορίας, ἔτη πολλά, οὐ κατὰ ἡμέρας καὶ τριακάδας, ἀλλὰ κατὰ ὀλυμπιάδας ὅλας ἀριθμῶν, ὡς καὶ προαποκαμεῖν ἀκούοντα καὶ ἀπαγορεῦσαι, πολλὰ χαίρειν φράσαντα τῇ ἐλπιζομένῃ ἐκείνῃ εὐδαιμονίᾳ. πρὸς δὲ τούτοις οὐδὲ μισθοὺς ὀλίγους ἀπαιτεῖ τῶν τοσούτων κακῶν, ἀλλὰ οὐκ ἂν ἡγήσαιτό σοι, εἰ μὴ μεγάλα πρότερον λάβοι. Ὁ μὲν ταῦτα φήσει, ἀλαζὼν καὶ ἀρχαῖος ὡς ἀληθῶς καὶ Κρονικὸς ἄνθρωπος, νεκροὺς εἰς μίμησιν παλαιοὺς προτιθεὶς καὶ ἀνορύττειν ἀξιῶν λόγους πάλαι κατορωρυγμένους ὥς τι μέγιστον ἀγαθόν, μαχαιροποιοῦ υἱὸν καὶ ἄλλον Ἀτρομήτου τινὸς γραμματιστοῦ ζηλοῦν ἀξιῶν, καὶ ταῦτα ἐν εἰρήνῃ μήτε Φιλίππου ἐπιόντος μήτε Ἀλεξάνδρου ἐπιτάττοντος, ὅπου τὰ ἐκείνων ἴσως ἐδόκει χρήσιμα, οὐκ εἰδὼς ὁποία νῦν κεκαινοτόμηται ταχεῖα καὶ ἀπράγμων καὶ εἰς τὸ εὐθὺ τῆς Ῥητορικῆς ὁδός. σὺ δὲ μήτε πείθεσθαι μήτε προσέχειν αὐτῷ, μή σε ἐκτραχηλίσῃ που παραλαβὼν ἢ τὸ τελευταῖον προγηρᾶσαι τοῖς πόνοις παρασκευάσῃ. ἀλλὰ εἰ πάντως ἐρᾷς καὶ τάχιστα ἐθέλεις τῇ Ῥητορικῇ συνεῖναι ἀκμάζων ἔτι, ὡς καὶ σπουδάζοιο πρὸς αὐτῆς, ἴθι, τῷ μὲν δασεῖ τούτῳ καὶ πέρα τοῦ μετρίου ἀνδρικῷ μακρὰ χαίρειν λέγε, ἀναβαίνειν αὐτὸν καὶ ἄλλους ὁπόσους ἂν ἐξαπατᾶν δύνηται ἀνάγειν καταλιπὼν ἀσθμαίνοντα καὶ ἱδρῶτι πολλῷ συνόντα. Πρὸς δὲ τὴν ἑτέραν ἐλθὼν εὑρήσεις πολλοὺς μὲν καὶ ἄλλους, ἐν τούτοις δὲ καὶ πάνσοφόν τινα καὶ πάγκαλον ἄνδρα, διασεσαλευμένον τὸ βάδισμα, ἐπικεκλασμένον τὸν αὐχένα, γυναικεῖον τὸ βλέμμα, μελιχρὸν τὸ φώνημα, μύρων ἀποπνέοντα, τῷ δακτύλῳ ἄκρῳ τὴν κεφαλὴν κνώμενον, ὀλίγας μὲν ἔτι, οὔλας δὲ καὶ ὑακινθίνας τὰς τρίχας εὐθετίζοντα, πάναβρόν τινα Σαρδανάπαλλον ἢ Κινύραν ἢ αὐτὸν Ἀγάθωνα, τὸν τῆς τραγῳδίας ἐπέραστον ἐκεῖνον ποιητήν. λέγω δὲ ὡς ἀπὸ τούτων γνωρίζοις αὐτόν, μηδέ σε οὕτω θεσπέσιον χρῆμα καὶ φίλον Ἀφροδίτῃ καὶ Χάρισι διαλάθοι. καίτοι τί φημί; κἂν εἰ μύοντι γάρ σοι προσελθὼν εἴποι τι, τὸ Ὑμήττι-

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trätest oder ausserhalb des Weges schrittest oder dich auf eine Seite etwas mehr neigtest durch dein Gewicht, dann werdest du vom rechten Weg abkommen, der zur Heirat führe. Weiter wird er dir befehlen, jenen alten Männern nachzueifern, und dir abgedroschene Beispiele von Reden vorlegen, die nicht leicht nachzuahmen sind, in der Beschaffenheit wie die [Skulpturen] von alter Herstellung, von Hegesias und den Leuten um Kritios und Nesiotes – gedrungen, sehnig, hart, mit peinlich genau gezeichneten Konturen. Und Mühe, Schlaflosigkeit, Wassertrinken und Beharrlichkeit – sie seien notwendig und unabdingbar, wird er sagen. Denn es sei unmöglich, ohne sie den Weg zu vollenden. Von all dem ist aber das Unangenehmste, dass er dir auch eine sehr lange Zeit für die Reise aufskizzieren wird, viele Jahre, wobei er nicht in Tagen und Monaten, sondern in ganzen Olympiaden rechnet, so dass du allein schon beim Zuhören ermüdest und verzagst und dich von jener erhofften Glückseligkeit vielmals verabschiedest. Obendrein fordert er nicht wenig Lohn für all diese Plagen, ja er wird dich wohl gar nicht erst zu führen beginnen, wenn er nicht im Voraus viel Geld einsteckt. Er wird also solches sagen, der Prahler und wirklich altmodische alte Knacker, der alte Leichen zur Nachahmung vorsetzt und es für wert hält, längst verscharrte Wörter wieder auszugraben wie ein allerhöchstes Gut und dem Sohn eines Waffenschmieds und einem andern, Sohn irgendeines Grundschullehrers namens Atrometos, nachzueifern – und dies zu Friedenszeiten, wo weder Philipp anrückt noch Alexander Befehle erteilt, Umstände, unter welchen deren Reden vielleicht noch nützlich schienen –, ohne Wissen darum, welch schneller, müheloser und direkter Weg zur Rhetorik heutzutage neu fabriziert ist. Du aber lass dich von ihm weder überzeugen noch schenke ihm Aufmerksamkeit, dass er dich nicht, sobald er dich unter seine Fittiche genommen hat, irgendwo hinunterstürzt oder dich durch die Plackerei am Ende vorzeitig altern lässt. Sondern wenn du gänzlich in Liebe entflammt bist und dich schnellstmöglich mit der Rhetorik vereinen willst, solange du noch im besten Alter bist, damit du auch von ihr begehrt wirst, dann auf!, verabschiede dich ein für allemal von diesem haarigen und übermässig maskulinen Mann und lass ihn zurück, auf dass er selbst keuchend und schweissüberstömt hinaufsteige und alle anderen, die er zu täuschen vermag, hinaufführe. Wenn du dich aber dem zweiten Weg zuwendest, wirst du viele andere antreffen, unter diesen aber auch einen äusserst klugen und schönen Mann mit schlenkerndem Gang, seitlich gebogenem Hals, weiblichem Blick, honigsüsser Stimme, der nach Parfum duftet, sich mit der Fingerspitze am Kopf kratzt und seine zwar nur noch wenigen, doch lockigen und hyazinthfarbenen Haare zurechtstreicht – einen gänzlich weichlichen Sardanapal oder Kinyras oder Agathon höchstpersönlich, jenen liebreizenden Tragödiendichter. Ich sage das, damit du ihn an diesen Merkmalen erkennst und dir eine so göttliche Erscheinung, Liebling der Aphrodite und der Chariten, nicht entgehe. Doch was sage ich? Selbst wenn er zu dir, während du die Augen geschlossen hältst, heran-

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ον ἐκεῖνο ἀνοίξας στόμα, καὶ τὴν συνήθη φωνὴν ἀφείη, μάθοις ἂν ὡς οὐχὶ τῶν καθ’ ἡμᾶς ἐστιν, οἳ ἀρούρης καρπὸν ἔδομεν, ἀλλά τι ξένον φάσμα δρόσῳ ἢ ἀμβροσίᾳ τρεφόμενον. Τούτῳ τοίνυν προσελθὼν καὶ παραδοὺς ἑαυτὸν αὐτίκα μάλα ῥήτωρ ἔσῃ καὶ περίβλεπτος καί, ὡς ὀνομάζει αὐτός, βασιλεὺς ἐν τοῖς λόγοις ἀπονητὶ καταστήσῃ τὰ τέθριππα ἐλαύνων τοῦ λόγου. διδάξεται γάρ σε παραλαβὼν τὰ πρῶτα μὲν ἐκεῖνα – μᾶλλον δὲ αὐτὸς εἰπάτω πρὸς σέ· γελοῖον γὰρ ὑπὲρ τοιούτου ῥήτορος ἐμὲ ποιεῖσθαι τοὺς λόγους, φαῦλον ὑποκριτὴν ἴσως τῶν τοιούτων καὶ τηλικούτων, μὴ καὶ συντρίψω που πεσὼν τὸν ἥρωα ὃν ὑποκρίνομαι. Φαίη τοιγαροῦν ἂν πρὸς σὲ ὧδέ πως ἐπισπασάμενος ὁπόσον ἔτι λοιπὸν τῆς κόμης καὶ ὑπομειδιάσας τὸ γλαφυρὸν ἐκεῖνο καὶ ἁπαλὸν οἷον εἴωθεν, Αὐτοθαΐδα τὴν κωμικὴν ἢ Μαλθάκην ἢ Γλυκέραν τινὰ μιμησάμενος τῷ προσηνεῖ τοῦ φθέγματος· ἄγροικον γὰρ τὸ ἀρρενωπὸν καὶ οὐ τοῦ ἁβροῦ καὶ ἐρασμίου ῥήτορος. Φήσει δ’ οὖν πάνυ μετριάζων ὑπὲρ ἑαυτοῦ· »Μῶν σέ, ὦ ἀγαθέ, ὁ Πύθιος ἔπεμψε πρός με ῥητόρων τὸν ἄριστον προσειπών, ὥσπερ ὅτε Χαιρεφῶν ἤρετο αὐτόν, ἔδειξεν ὅστις ἦν ὁ σοφώτατος ἐν τοῖς τότε; εἰ δὲ μὴ τοῦτο, ἀλλὰ κατὰ κλέος αὐτὸς ἥκεις ἀκούων ἁπάντων ὑπερεκπεπληγμένων τὰ ἡμέτερα καὶ ὑμνούντων καὶ τεθηπότων καὶ ὑπεπτηχότων, αὐτίκα μάλα εἴσῃ πρὸς οἷόν τινα δαιμόνιον ἄνδρα ἥκεις. προσδοκήσῃς δὲ μηδὲν τοιοῦτον ὄψεσθαι οἷον τῷδε ἢ τῷδε παραβαλεῖν, ἀλλ’ εἴ τις ἢ Τιτυὸς ἢ Ὦτος ἢ Ἐφιάλτης, ὑπὲρ ἐκείνους πολὺ φανεῖταί σοι τὸ πρᾶγμα ὑπερφυὲς καὶ τεράστιον· ἐπεὶ τούς γε ἄλλους τοσοῦτον ὑπερφωνοῦντα εὑρήσεις ὁπόσον ἡ σάλπιγξ τοὺς αὐλοὺς καὶ οἱ τέττιγες τὰς μελίττας καὶ οἱ χοροὶ τοὺς ἐνδιδόντας. Ἐπεὶ δὲ καὶ ῥήτωρ αὐτὸς ἐθέλεις γενέσθαι καὶ τοῦτο οὐκ ἂν παρ’ ἄλλου ῥᾷον μάθοις, ἕπου μόνον, ὦ μέλημα, οἷς ἂν εἴπω, καὶ ζήλου πάντα, καὶ τοὺς νόμους, οἷς ἂν ἐπιτάξω χρῆσθαι, ἀκριβῶς μοι παραφύλαττε. μᾶλλον δὲ ἤδη προχώρει μηδὲν ὀκνήσας μηδὲ πτοηθείς, εἰ μὴ προετελέσθης ἐκεῖνα τὰ πρὸ τῆς ῥητορικῆς, ὁπόσα ἡ ἄλλη προπαιδεία τοῖς ἀνοήτοις καὶ ματαίοις μετὰ πολλοῦ καμάτου ὁδοποιεῖ· οὐδὲν γὰρ αὐτῶν δεήσει. ἀλλ’ »ἀνίπτοις ποσίν« – ἡ παροιμία φησίν – ἔμβαινε, οὐ μεῖον ἕξων διὰ τοῦτο, οὐδ’ ἄν, τὸ κοινότατον, μηδὲ γράφειν τὰ γράμματα εἰδῇς· ἄλλο γάρ τι παρὰ ταῦτα ὁ ῥήτωρ.

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käme, etwas sagte und dabei jenen hymettischen Mund öffnete und seine gewohnte Stimme ertönen liesse, würdest du wohl erkennen, dass er keiner von uns ist, die Ackerfrüchte essen, sondern eine fremdartige Erscheinung, die sich von Tau oder Ambrosia nährt. Wenn du also zu diesem gehst und dich in seine Obhut begibst, wirst du auf der Stelle ein Redner sein, sehr angesehen und – wie er selbst es nennt – als König der Redekunst dich mühelos etablieren, das Viergespann des Wortes lenkend. Er wird dich nämlich, sobald er sich deiner angenommen hat, zuerst Folgendes lehren – doch er soll besser selbst zu dir sprechen; denn es ist lächerlich, dass anstelle eines solchen Redners ich die Worte formuliere, ein wahrscheinlich schlechter Darsteller einer derart grossen und bedeutenden Rolle. Ich könnte fallen und den Heros, den ich spiele, zerschmettern. Er dürfte nun also etwa folgendermassen zu dir sprechen, wobei er, was von seinem Haar noch übrig ist, zurechtzupft, auf die gewohnte Art elegant und sanft lächelt und mit der leibhaftigen Thaïs in der Komödie, mit einer Malthake oder Glykera konkurriert durch das Verführerische seiner Stimme. Denn Männlichkeit ist bäurisch und gehört nicht zu einem eleganten und liebreizenden Redner. Er wird also in grösster Selbstbescheidenheit sagen: »Hat dich, mein Lieber, etwa der pythische Gott zu mir geschickt, indem er mich zum besten Redner ernannte, genau wie er damals, als Chairephon ihn fragte, anzeigte, wer der weiseste unter den damaligen Menschen war? Wenn dies nicht der Grund ist, sondern du von selbst infolge meines Ruhms gekommen bist, weil du hörst, wie alle von meinem Können überaus beeindruckt sind, es rühmen und anstaunen und sich davor verneigen, dann sollst du sogleich erkennen, zu was für einem göttlichen Mann du gekommen bist. Erwarte aber nichts von solcher Art zu sehen, dass du es mit diesem oder jenem vergleichen könntest, sondern eine Sache, die dir selbst im Vergleich mit einem Tityos, Otos oder Ephialtes weit über jene hinausragend und ungeheuerlich erscheinen wird. Denn du wirst sehen, dass ich die anderen so laut übertöne wie die Trompete die Flöten, die Grillen die Bienen und die Chöre die Vorsänger. Da du nun auch selbst Redner werden willst und dies wohl von keinem anderen leichter lernen dürftest, so folge nur, mein lieber Junge, allem, was ich sage, und ahme es nach und halte dich sorgfältig an die Gesetze, die ich dir anzuwenden auferlegen werde. Oder vielmehr rücke schon weiter vor, ohne zu zögern oder dich zu ängstigen, wenn du nicht vorher eingeweiht bist in all jenes, was vor der Rhetorik kommt, durch das hindurch der sonst übliche Vorunterricht den Unwissenden und Nichtsnutzen einen sehr mühevollen Weg bahnt. Denn du wirst nichts von alledem benötigen. Nein, geh nur »mit ungewaschenen Füssen« – wie es das Sprichwort sagt – drauflos, denn du wirst deswegen keinen Nachteil haben, auch nicht wenn du, was das Gewöhnlichste ist, nicht einmal die Buchstaben schreiben kannst. Denn der Redner ist etwas anderes, jenseits von diesen Dingen.

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Λέξω δὲ πρῶτον μὲν ὁπόσα χρὴ αὐτόν σε οἴκοθεν ἔχοντα ἥκειν ἐφόδια πρὸς τὴν πορείαν καὶ ὅπως ἐπισιτίσασθαι, ὡς ἂν τάχιστα διανύσαι δυνηθείης. ἔπειτα καὶ αὐτὸς ἃ μὲν προϊόντι ἐπιδεικνὺς κατὰ τὴν ὁδόν, ἃ δὲ καὶ παραινῶν, πρὶν ἥλιον δῦναι ῥήτορά σε ὑπὲρ τοὺς πάντας ἀποφανῶ, οἷος αὐτός εἰμι, ἀναμφιλέκτως τὰ πρῶτα καὶ μέσα καὶ τελευταῖα τῶν λέγειν ἐπιχειρούντων. Κόμιζε τοίνυν τὸ μέγιστον μὲν τὴν ἀμαθίαν, εἶτα θράσος ἐπὶ τούτῳ καὶ τόλμαν καὶ ἀναισχυντίαν. αἰδῶ δὲ ἢ ἐπιείκειαν ἢ μετριότητα ἢ ἐρύθημα οἴκοι ἀπόλιπε· ἀχρεῖα γὰρ καὶ ὑπεναντία τῷ πράγματι. ἀλλὰ καὶ βοὴν ὅτι μεγίστην καὶ μέλος ἀναίσχυντον καὶ βάδισμα οἷον τὸ ἐμόν. ταῦτα δὲ πάνυ ἀναγκαῖα καὶ μόνα ἔστιν ὅτε ἱκανά. καὶ ἡ ἐσθὴς δὲ ἔστω εὐανθὴς ἢ λευκή, ἔργα τῆς Ταραντίνης ἐργασίας, ὡς διαφαίνεσθαι τὸ σῶμα, καὶ ἡ κρηπὶς Ἀττικὴ γυναικεία, τὸ πολυσχιδές, ἢ ἐμβὰς Σικυωνία πίλοις τοῖς λευκοῖς ἐπιπρέπουσα, καὶ ἀκόλουθοι πολλοὶ καὶ βιβλίον ἀεί. Ταῦτα μὲν αὐτὸν χρὴ συντελεῖν· τὰ δ’ ἄλλα καθ’ ὁδὸν ἤδη προϊὼν ὅρα καὶ ἄκουε. καὶ δή σοι τοὺς νόμους δίειμι, οἷς χρώμενόν σε ἡ Ῥητορικὴ γνωριεῖ καὶ προσήσεται, οὐδὲ ἀποστραφήσεται καὶ σκορακιεῖ καθάπερ ἀτέλεστόν τινα καὶ κατάσκοπον τῶν ἀπορρήτων. σχήματος μὲν τὸ πρῶτον ἐπιμεληθῆναι χρὴ μάλιστα καὶ εὐμόρφου τῆς ἀναβολῆς, ἔπειτα πεντεκαίδεκα ἢ οὐ πλείω γε τῶν εἴκοσιν Ἀττικὰ ὀνόματα ἐκλέξας ποθὲν ἀκριβῶς ἐκμελετήσας, πρόχειρα ἐπ’ ἄκρας τῆς γλώττης ἔχε – τὸ ἄττα καὶ κᾆτα καὶ μῶν καὶ ἁμηγέπῃ καὶ λῷστε καὶ τὰ τοιαῦτα – καὶ ἐν ἅπαντι λόγῳ καθάπερ τι ἥδυσμα ἐπίπαττε αὐτῶν. μελέτω δὲ μηδὲν τῶν ἄλλων, εἰ ἀνόμοια τούτοις καὶ ἀσύμφυλα καὶ ἀπῳδά. ἡ πορφύρα μόνον ἔστω καλὴ καὶ εὐανθής, κἂν σισύρα τῶν παχειῶν τὸ ἱμάτιον ᾖ. Μέτει δὲ ἀπόρρητα καὶ ξένα ῥήματα καὶ σπανιάκις ὑπὸ τῶν πάλαι εἰρημένα, καὶ ταῦτα συμφορήσας ἀποτόξευε προχειριζόμενος ἐς τοὺς προσομιλοῦντας. οὕτω γάρ σε ὁ λεὼς ὁ πολὺς ἀποβλέψονται καὶ θαυμαστὸν ὑπολήψονται καὶ τὴν παιδείαν ὑπὲρ αὑτούς, εἰ »ἀποστλεγγίσασθαι« μὲν τὸ ἀποξύσασθαι λέγοις, τὸ δὲ ἡλίῳ θέρεσθαι »εἱληθερεῖσθαι«, τὸν ἀρραβῶνα δὲ »προνόμιον«, τὸν ὄρθρον δὲ »ἀκροκνεφές«. Ἐνίοτε δὲ καὶ αὐτὸς ποίει καινὰ καὶ ἀλλόκοτα ὀνόματα καὶ νομοθέτει τὸν μὲν ἑρμηνεῦσαι δεινὸν »εὔλεξιν« καλεῖν, τὸν συνετὸν »σοφόνουν«, τὸν ὀρχηστὴν δὲ »χειρίσοφον«. ἂν σολοικίσῃς δὲ ἢ βαρβαρίσῃς, ἓν ἔστω φάρμακον ἡ ἀναισχυντία, καὶ πρόχειρον εὐθὺς ὄνομα οὔτε ὄντος τινὸς οὔτε γενομένου ποτέ, ἢ ποιητοῦ ἢ

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Ich will dir zuerst sagen, wieviel Proviant du selbst von zu Hause mitbringen sollst für die Reise und wie du dich versorgen musst, um sie möglichst rasch vollenden zu können. Dann werde ich dir auch persönlich, während du bereits auf dem Weg fortschreitet, einiges zeigen, anderes anraten, und dich vor Sonnenuntergang zu einem Redner machen, der alle anderen übertrifft, genau wie ich selbst: unbestreitbar Anfang, Mitte und Ende aller, die sich im Reden versuchen. Bring du nun als Wichtigstes die Unbildung mit, dann Verwegenheit dazu und Tollkühnheit und Unverschämtheit. Rücksichtnahme, Anstand, Masshaltung oder Schamgefühl aber lasse zu Hause. Denn das ist unnütz und der Sache bloss hinderlich. Aber bringe auch eine möglichst laute Stimme mit, einen unverschämten Gesang und einen Gang, wie ich ihn habe. Diese Dinge sind unabdingbar und manchmal allein schon ausreichend. Dein Kleid soll bunt geblümt sein oder weiss, fabriziert in Tarent, so dass der Körper durchscheint, und dein Schuh eine attische Sandale, die so genannte ›vielgeschlitzte‹, wie die Frauen sie tragen, oder ein sikyonischer Stiefel, ausstaffiert mit weissem Filz. Viele Begleiter musst du haben und immer ein Buch in der Hand. Das musst du selbst beitragen. Alles andere sieh und höre, während du bereits auf dem Weg fortschreitest. Und nun will ich für dich die Gesetze durchgehen, an die du dich halten musst, damit dich die Rhetorik zur Kenntnis nehmen und zu sich heranlassen wird und sich nicht abwenden und dich wegjagen wird wie einen Uneingeweihten und Spion ihrer Mysterien. Um deine äusserliche Erscheinung musst du dich erstens am meisten kümmern und um ein attraktives Gewand. Wähle dir dann von irgendwoher fünfzehn oder höchstens zwanzig attische Wörter aus, lerne sie sorgfältig auswendig und trage sie stets abrufbereit auf deiner Zungenspitze – ἄττα, κᾆτα, μῶν, ἁμηγέπῃ, λῷστε und Ähnliches – und streue bei jeder Rede von diesen Wörtern etwas ein wie ein Gewürz. Kümmere dich jedoch nicht um den Rest, wenn er diesen unähnlich und unverwandt und unharmonisch ist. Allein dein Purpurstreifen sei schön und leuchtend, wenn auch das Gewand aus dickem Fell besteht. Jage ferner ungebräuchliche und fremde Wörter, solche, die von den Alten selten verwendet werden, und wenn du dir diese Sammlung angelegt hast, hole etwas daraus hervor und schiesse es ab in Richtung deiner Zuhörer. Denn so wird dich die grosse Masse anstaunen und für bewundernswert halten und deine Bildung für der ihrigen weit überlegen, wenn du das Abschaben »abstriegeln« nennst, sich von der Sonne wärmen zu lassen »sonnenwärmen«, das Depot »Vorgesetzliches« und den Tagesanbruch schliesslich »Enddunkel«. Erfinde ab und zu auch selbst neue ungewöhnliche Ausdrücke und mache es zum Gesetz, denjenigen, welcher fähig ist etwas in Worte umzusetzen, »mit Wohldiktion ausgestattet« zu nennen, den Intelligenten »Weisgeist«, den Tänzer »handweise«. Wenn du Solözismen oder Barbarismen begehst, dann sei dein einziges Heilmittel die Unverschämtheit: Lass dir sogleich den Namen von jemandem einfallen, der weder jetzt lebt noch je gelebt hat, sei es eines

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συγγραφέως, ὃς οὕτω λέγειν ἐδοκίμαζε σοφὸς ἀνὴρ καὶ τὴν φωνὴν εἰς τὸ ἀκρότατον ἀπηκριβωμένος. ἀλλὰ καὶ ἀναγίγνωσκε τὰ παλαιὰ μὲν μὴ σύ γε, μηδὲ εἴ τι ὁ λῆρος Ἰσοκράτης ἢ ὁ χαρίτων ἄμοιρος Δημοσθένης ἢ ὁ ψυχρὸς Πλάτων, ἀλλὰ τοὺς τῶν ὀλίγον πρὸ ἡμῶν λόγους καὶ ἅς φασι ταύτας μελέτας, ὡς ἔχῃς ἀπ’ ἐκείνων ἐπισιτισάμενος ἐν καιρῷ καταχρῆσθαι καθάπερ ἐκ ταμιείου προαιρῶν. Ἐπειδὰν δὲ καὶ δέῃ λέγειν καὶ οἱ παρόντες ὑποβάλωσί τινας ὑποθέσεις καὶ ἀφορμὰς τῶν λόγων, ἅπαντα μὲν ὁπόσα ἂν ᾖ δυσχερῆ, ψεγέσθω καὶ ἐκφαυλιζέσθω ὡς οὐδὲν ὅλως ἀνδρῶδες αὐτῶν. ἑλομένων δέ, μηδὲν ἔτι μελλήσας λέγε ὅττι κεν ἐπ’ ἀκαιρίμαν γλῶτταν ἔλθῃ, μηδὲν ἐκείνων ἐπιμεληθείς, ὡς τὸ πρῶτον, ὥσπερ οὖν καὶ ἔστι πρῶτον, ἐρεῖς ἐν καιρῷ προσήκοντι καὶ τὸ δεύτερον μετὰ τοῦτο καὶ τὸ τρίτον μετ’ ἐκεῖνο, ἀλλὰ τὸ πρῶτον ἐμπεσὸν πρῶτον λεγέσθω, καὶ ἢν οὕτω τύχῃ, περὶ τῷ μετώπῳ μὲν ἡ κνημίς, περὶ τῇ κνήμῃ δὲ ἡ κόρυς. πλὴν ἀλλ’ ἔπειγε καὶ σύνειρε καὶ μὴ σιώπα μόνον. κἂν περὶ ὑβριστοῦ τινος ἢ μοιχοῦ λέγῃς Ἀθήνησι, τὰ ἐν Ἰνδοῖς καὶ τὰ ἐν Ἐκβατάνοις λεγέσθω. ἐπὶ πᾶσι δὲ ὁ Μαραθὼν καὶ ὁ Κυνέγειρος, ὧν οὐκ ἄν τι ἄνευ γένοιτο. καὶ ἀεὶ ὁ Ἄθως πλείσθω καὶ ὁ Ἑλλήσποντος πεζευέσθω καὶ ὁ ἥλιος ὑπὸ τῶν Μηδικῶν βελῶν σκεπέσθω καὶ Ξέρξης φευγέτω καὶ ὁ Λεωνίδας θαυμαζέσθω καὶ τὰ Ὀθρυάδου γράμματα ἀναγιγνωσκέσθω, καὶ ἡ Σαλαμὶς καὶ τὸ Ἀρτεμίσιον καὶ αἱ Πλαταιαὶ πολλὰ ταῦτα καὶ πυκνά. καὶ ἐπὶ πᾶσι τὰ ὀλίγα ἐκεῖνα ὀνόματα ἐπιπολαζέτω καὶ ἐπανθείτω, καὶ συνεχὲς τὸ ἄττα καὶ τὸ δήπουθεν, κἂν μηδὲν αὐτῶν δέῃ· καλὰ γάρ ἐστι καὶ εἰκῆ λεγόμενα. Ἢν δέ ποτε καὶ ᾆσαι καιρὸς εἶναι δοκῇ, πάντα σοι ᾀδέσθω καὶ μέλος γιγνέσθω. κἄν ποτε ἀπορήσῃς πράγματος ᾠδικοῦ, τοὺς ἄνδρας τοὺς δικαστὰς ὀνομάσας ἐμμελῶς πεπληρωκέναι οἴου τὴν ἁρμονίαν. τὸ δὲ »οἴμοι τῶν κακῶν« πολλάκις, καὶ ὁ μηρὸς πατασσέσθω, καὶ λαρύγγιζε καὶ ἐπιχρέμπτου τοῖς λεγομένοις καὶ βάδιζε μεταφέρων τὴν πυγήν. καὶ ἢν μέν σε μὴ ἐπαινῶσιν, ἀγανάκτει καὶ λοιδοροῦ αὐτοῖς· ἢν δὲ ὀρθοὶ ἑστήκωσιν ὑπὸ τῆς αἰσχύνης ἤδη πρὸς τὴν ἔξοδον ἕτοιμοι, καθέζεσθαι κέλευε, καὶ ὅλως τυραννὶς τὸ πρᾶγμα ἔστω. Ὅπως δὲ καὶ τὸ πλῆθος τῶν λόγων θαυμάζωσιν, ἀπὸ τῶν Ἰλιακῶν ἀρξάμενος ἢ καὶ νὴ Δία ἀπὸ τῶν Δευκαλίωνος καὶ Πύρρας γάμων, ἢν δοκῇ, καταβίβαζε τὸν λόγον ἐπὶ τὰ νῦν καθεστῶτα. οἱ μὲν γὰρ συνιέντες ὀλίγοι, οἳ μάλιστα μὲν σιωπήσονται ὑπ’ εὐγνωμοσύνης· ἢν δὲ καὶ λέγωσί τι, ὑπὸ φθόνου αὐτὸ δόξουσι δρᾶν. οἱ πολλοὶ δὲ

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Dichters oder eines Prosaschriftstellers, der es guthiess, so zu sprechen, ein weiser Mann mit bis zum Äussersten perfektionierter Sprache. Aber die Alten sollst du auf keinen Fall lesen – auch nicht etwa den Schwätzer Isokrates oder den eleganzlosen Demosthenes oder den frostigen Platon –, sondern die Reden derer, die kurz vor unserer Zeit lebten, und diejenigen Schriften, die sie ›Deklamationen‹ nennen, damit du von ihnen, weil du dir daraus einen Vorrat angelegt hast, bei Gelegenheit Gebrauch machen kannst, indem du sie hervorholst wie aus einer Speisekammer. Wenn du dann wirklich öffentlich sprechen musst und die Anwesenden dir Themen und Ausgangspunkte für die Rede vorschlagen, kritisiere alles, was schwierig ist, und mache es schlecht, als ob nichts davon zu einem echten Mann passe. Sobald sie aber gewählt haben, sprich ohne weiteres Zögern, was dir gerade auf der Zunge liegt, und kümmere dich nicht darum, dass du das Erste, da es ja nun einmal ein Erstes gibt, zur angemessenen Zeit sagen wirst, das Zweite danach und das Dritte nach jenem, sondern sage als Erstes, was dir zuerst einfällt, und wenn es sich halt so treffen sollte, dann liegt um die Stirn die Beinschiene, um den Unterschenkel der Helm. Halte das Tempo indessen immer hoch, reihe Wort an Wort und schweige bloss nicht! Wenn du beispielsweise über einen Frevler oder Ehebrecher in Athen sprichst, erwähne die Vorfälle in Indien und Ekbatana. Füge zu jedem Thema Marathon und Kynegeiros hinzu, ohne die überhaupt nichts geht. Auch soll jedes Mal der Athos durchsegelt, der Hellespont zu Fuss überschritten werden, die Sonne sich wegen der Medergeschosse verfinstern, Xerxes fliehen und Leonidas bewundert werden, die Inschrift von Othryadas vorgelesen werden, und auf Salamis, Artemision, Plataiai musst du oft und in dichter Abfolge anspielen. Und auf allem sollen jene paar attischen Wörter wie Blüten schwimmen, immer wieder ein ἄττα und ein δήπουθεν, auch wenn es gar nichts davon braucht; sie sind nämlich auch aufs Geratewohl gesprochen schön. Wenn dir aber je auch der richtige Moment zum Singen gekommen zu sein scheint, dann gib alles in Gesang und Melodie wieder. Und solltest du je über kein gut singbares Thema verfügen, so rufe melodiös »meine Herren Richter« und achte dabei auf eine vollendete Satzmelodie. »O weh, welch Übel«, [jammere] oft, schlage dir auf den Schenkel, schrei aus vollen Hals, spucke bisweilen aus während dem Reden und geh mit dem Hintern wackelnd hin und her. Und sollten die Zuhörer dich nicht loben, sei ärgerlich und beschimpfe sie. Wenn sie sich aber aufrichten und vor lauter Scham schon hinauszulaufen im Begriff sind, befiehl ihnen, sich hinzusetzen. Und die Sache soll insgesamt wie eine Tyrannis sein. Damit sie auch die Fülle deiner Rede bewundern, beginne bei den Vorfällen um Troja oder – bei Zeus! – auch bei der Heirat von Deukalion und Pyrrha, wenn es dir passend scheint, und führe deine Darstellung bis zur Gegenwart weiter. Denn die Verständigen sind wenige, und sie werden zum grössten Teil aus Gutmütigkeit schweigen. Falls sie dennoch etwas sagen sollten, werden sie

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τὸ σχῆμα καὶ φωνὴν καὶ βάδισμα καὶ περίπατον καὶ μέλος καὶ κρηπῖδα καὶ τὸ ἄττα σου ἐκεῖνο θαυμάσονται, καὶ τὸν ἱδρῶτα ὁρῶντες καὶ τὸ ἆσθμα οὐκ ἕξουσιν ὅπως ἀπιστήσουσι μὴ οὐχὶ πάνδεινόν τινα ἐν τοῖς λόγοις ἀγωνιστὴν εἶναί σε. ἄλλως τε καὶ τὸ ταχὺ τοῦτο οὐ σμικρὰν ἔχει τὴν ἀπολογίαν καὶ θαῦμα παρὰ τοῖς πολλοῖς· ὥστε ὅρα μή ποτε γράψῃς ἢ σκεψάμενος παρέλθῃς, ἔλεγχος γὰρ σαφὴς ταῦτά γε. Οἱ φίλοι δὲ πηδάτωσαν ἀεὶ καὶ μισθὸν τῶν δείπνων ἀποτινέτωσαν, εἴ ποτε αἴσθοιντό σε καταπεσούμενον, χεῖρα ὀρέγοντες καὶ παρέχοντες εὑρεῖν τὸ λεχθησόμενον ἐν τοῖς μεταξὺ τῶν ἐπαίνων διαλείμμασιν· καὶ γὰρ αὖ καὶ τοῦδε μελέτω σοι τὸν χορὸν ἔχειν οἰκεῖον καὶ συνᾴδοντα. Ταῦτα μέν σοι τὰ ἐν τοῖς λόγοις. μετὰ ταῦτα δὲ προϊόντα σε δορυφορείτωσαν ἐγκεκαλυμμένον αὐτὸν καὶ περὶ ὧν ἔφης μεταξὺ διαλαμβάνοντα. καὶ ἤν τις ἐντύχῃ, θαυμάσια περὶ σαυτοῦ λέγε καὶ ὑπερεπαίνει καὶ ἐπαχθὴς γίγνου αὐτῷ. »Τί γὰρ ὁ Παιανιεὺς πρὸς ἐμέ;« καί »Πρὸς ἕνα ἴσως μοι τῶν παλαιῶν ὁ ἀγών«, καὶ τὰ τοιαῦτα. Ὃ δὲ μέγιστον καὶ πρὸς τὸ εὐδοκιμεῖν ἀναγκαιότατον ὀλίγου δεῖν παρέλιπον, ἁπάντων καταγέλα τῶν λεγόντων. καὶ ἢν μέν τις καλῶς εἴπῃ, ἀλλότρια καὶ οὐχ ἑαυτοῦ δεικνύειν δοκείτω· ἢν δὲ μετρίως ἐλεγχθῇ, πάντα ἔστω ἐπιλήψιμα. καὶ ἐν ταῖς ἀκροάσεσι μετὰ πάντας εἰσιέναι χρή, ἐπίσημον γάρ· καὶ σιωπησάντων ἁπάντων ξένον τινὰ ἔπαινον ἐπειπεῖν τὰς ἀκοὰς τῶν παρόντων ἐπιστρέψοντα καὶ ἐνοχλήσοντα, ὡς ναυτιᾶν ἅπαντας ἐπὶ τῷ φορτικῷ τῶν ὀνομάτων καὶ ἐπιφράττεσθαι τὰ ὦτα. καὶ ἐπισείσῃς δὲ μὴ πολλάκις τὴν χεῖρα, εὐτελὲς γάρ, μηδ’ ἀναστῇς, πλὴν ἅπαξ γε ἢ δὶς τὸ πλεῖστον. ὑπομειδία δὲ τὰ πολλὰ καὶ δῆλος γίγνου μὴ ἀρεσκόμενος τοῖς λεγομένοις. ἀμφιλαφεῖς δὲ αἱ ἀφορμαὶ τῶν μέμψεων τοῖς συκοφαντικοῖς τὰ ὦτα. Τὰ δ’ ἄλλα χρὴ θαρρεῖν· ἡ τόλμα γὰρ καὶ ἡ ἀναισχυντία καὶ τὸ ψεῦσμα πρόχειρον καὶ ὅρκος ἐπ’ ἄκροις ἀεὶ τοῖς χείλεσι καὶ φθόνος πρὸς ἅπαντας καὶ μῖσος καὶ βλασφημία καὶ διαβολαὶ πιθαναί – ταῦτά σε ἀοίδιμον ἐν βραχεῖ καὶ περίβλεπτον ἀποφανεῖ. Τοιαῦτα μὲν τὰ φανερὰ καὶ τὰ ἔξω. ἰδίᾳ δὲ πάντα πράγματα ποιεῖν σοι δεδόχθω, κυβεύειν μεθύσκεσθαι λαγνεύειν μοιχεύειν, ἢ αὐχεῖν γε, κἂν μὴ ποιῇς, καὶ πρὸς ἅπαντας λέγειν καὶ γραμματεῖα ὑποδεικνύναι ὑπὸ γυναικῶν δῆθεν γραφέντα. καλὸς γὰρ εἶναι θέλε καὶ σοὶ μελέτω ὑπὸ τῶν γυναικῶν σπουδάζεσθαι δοκεῖν· εἰς

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den Anschein machen, dies aus Neid zu tun. Die grosse Menge aber wird dein Äusseres, deine Stimme, deinen Gang, dein Hin- und Herschreiten, den Gesang, das Schuhwerk und jenes ἄττα von dir bewundern, und wenn sie dann noch sehen, wie du schwitzt und keuchst, werden sie nicht umhin können, dich für einen äusserst gewaltigen Wettkämpfer im Reden zu halten. Überdies bewirkt eine solche in hohem Tempo [gehaltene Stegreifrede] jederzeit Verteidigung und Bewunderung bei der Menge. Sieh daher zu, dass du niemals eine Rede aufschreibst oder mit einer vorbereiteten auftrittst, denn das wird dich sicherlich überführen. Deine Freunde sollen ständig aufspringen und so die Kosten für ihre Mahlzeiten bezahlen, indem sie dir, wann immer sie merken, dass du fallen wirst, die Hand entgegen strecken und in den Pausen während ihres Applauses Zeit verschaffen, das zu finden, was als nächstes gesagt werden soll. Denn auch dafür musst du unbedingt Sorge tragen, dass du einen Chor hast, der mit dir vertraut ist und gut mit dir zusammensingt. Soweit einmal was deine Rede angeht; danach aber sollen sie dich auf dem Heimweg wie eine Leibwache begleiten, wobei du selbst von ihnen umringt alles, was du vorgetragen hast, beim Gehen nochmals erörterst. Und wenn dir jemand begegnet, verkündige Wunderdinge über dich, lobe dich übermässig und werde ihm lästig: »Was ist denn der Paianier im Vergleich zu mir?« und »Vielleicht kann es einer der Alten mit mir aufnehmen«, und solcherlei. Das Wichtigste und Notwendigste für deinen Ruhm hätte ich beinahe vergessen: Lache alle anderen Redner aus. Und wenn einer gut gesprochen hat, verbreite das Gerücht, dass er Fremdes, was nicht von ihm stammt, vortrage. Wenn aber einer massvoll kritisiert wird, dann lass kein gutes Haar an ihm. Ferner musst du bei den Vorlesungen nach allen anderen hineingehen, denn das fällt auf. Und wenn alle schweigen, rufe du irgendein abwegiges Lob dazwischen, um die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf dich zu lenken und ihnen lästig zu fallen, so dass alle Ekel empfinden über die Derbheit deiner Worte und sich die Ohren zuhalten. Und schüttle weder zu häufig die Hand, denn das ist billig, noch stehe auf, ausser ein- oder höchstens zweimal. [Mache es dir zur Gewohnheit,] immer ein leises Lächeln auf den Lippen zu haben und zeige klar, dass dir das Gesagte nicht gefällt. Für sykophantische Ohren gibt es reichlich Gelegenheit zur Kritik. Im Übrigen sei nur zuversichtlich: Denn die Tollkühnheit, die Unverschämtheit, promptes Lügen, immer ein Schwur zuvorderst auf den Lippen, Neid gegenüber allen, Hass, Beschimpfung und glaubwürdige Verleumdungen – das wird dich in Kürze zu einem berühmten und hochangesehenen Mann machen. All dies betrifft dein Leben in der Öffentlichkeit. Im Privaten jedoch sei zu allem enschlossen: Glücksspiel zu treiben, zu saufen, zu huren, Ehe zu brechen, oder dich wenigstens all dessen zu rühmen, auch wenn du es nicht tust, und allen davon zu erzählen und Brieflein vorzuzeigen, von Frauen geschriebene, versteht sich! Du musst ein Schönling sein wollen und dich darum kümmern, dass du den Anschein erweckst, von den Frauen umschwärmt zu wer-

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τὴν ῥητορικὴν γὰρ καὶ τοῦτο ἀνοίσουσιν οἱ πολλοί, ὡς διὰ τοῦτο σοὶ καὶ ἄχρι τῆς γυναικωνίτιδος εὐδοκιμοῦντι. καὶ τὸ δεῖνα δέ, μὴ αἰδεσθῇς, εἰ καὶ πρὸς ἀνδρῶν ἐπὶ τῷ ἑτέρῳ ἐρᾶσθαι δοκοίης, καὶ ταῦτα γενειήτης ἢ καὶ νὴ Δία φαλακρὸς ἤδη ὤν. ἀλλ’ ἔστωσαν οἱ καὶ ἐπὶ τούτῳ συνόντες· ἢν δὲ μὴ ὦσιν, οἱ οἰκέται ἱκανοί. πολλὰ γὰρ καὶ ἐκ τοῦ τοιούτου πρὸς τὴν ῥητορικὴν χρήσιμα παραγίγνεται· πλείων ἡ ἀναισχυντία καὶ θράσος. ὁρᾷς ὡς λαλίστεραι αἱ γυναῖκες καὶ λοιδοροῦνται περιττῶς καὶ ὑπὲρ τοὺς ἄνδρας; εἰ δὴ τὰ ὅμοια πάσχοις, καὶ ταύτῃ διοίσεις τῶν ἄλλων. καὶ μὴν καὶ πιττοῦσθαι χρή, μάλιστα μὲν τὰ πάντα, εἰ δὲ μή, πάντως ἐκεῖνα. καὶ αὐτὸ δέ σοι τὸ στόμα πρὸς ἅπαντα ὁμοίως κεχηνέτω, καὶ ἡ γλῶττα ὑπηρετείτω καὶ πρὸς τοὺς λόγους καὶ πρὸς τὰ ἄλλα ὁπόσα ἂν δύνηται. δύναται δὲ οὐ σολοικίζειν μόνον οὐδὲ βαρβαρίζειν οὐδὲ ληρεῖν ἢ ἐπιορκεῖν ἢ λοιδορεῖσθαι ἢ διαβάλλειν καὶ ψεύδεσθαι, ἀλλὰ καὶ νύκτωρ τι ἄλλο ὑποτελεῖν, καὶ μάλιστα ἢν πρὸς οὕτω πολλοὺς τοὺς ἔρωτας μὴ διαρκέσῃς. πάντα αὐτή γε ἐπιστάσθω καὶ γονιμωτέρα γιγνέσθω καὶ μηδὲν ἀποστρεφέσθω. Ἢν ταῦτα, ὦ παῖ, καλῶς ἐκμάθῃς – δύνασαι δέ· οὐδὲν γὰρ ἐν αὐτοῖς βαρύ – θαρρῶν ἐπαγγέλλομαι οὐκ εἰς μακράν σε ἄριστον ῥήτορα καὶ ἡμῖν ὅμοιον ἀποτελεσθήσεσθαι. τὸ μετὰ τοῦτο δὲ οὐκ ἐμὲ χρὴ λέγειν, ὅσα ἐν βραχεῖ παρέσται σοι τὰ ἀγαθὰ παρὰ τῆς Ῥητορικῆς. ὁρᾷς ἐμέ, ὃς πατρὸς μὲν ἀφανοῦς καὶ οὐδὲ καθαρῶς ἐλευθέρου ἐγενόμην ὑπὲρ Ξόϊν καὶ Θμοῦιν δεδουλευκότος, μητρὸς δὲ ἀκεστρίας ἐπ’ ἀμφοδίου τινός. αὐτὸς δὲ τὴν ὥραν οὐ παντάπασιν ἀδόκιμος εἶναι δόξας τὸ μὲν πρῶτον ἐπὶ ψιλῷ τῷ τρέφεσθαι συνῆν τινι κακοδαίμονι καὶ γλίσχρῳ ἐραστῇ. ἐπεὶ δὲ τὴν ὁδὸν ταύτην ῥᾴστην οὖσαν κατεῖδον καὶ διεκπαίσας ἐπὶ τῷ ἄκρῳ ἐγενόμην – ὑπῆρχεν γάρ μοι, ὦ φίλη Ἀδράστεια, πάντα ἐκεῖνα ἃ προεῖπον ἐφόδια, τὸ θράσος, ἡ ἀμαθία, ἡ ἀναισχυντία – πρῶτον μὲν οὐκέτι Ποθεινὸς ὀνομάζομαι, ἀλλ’ ἤδη τοῖς Διὸς καὶ Λήδας παισὶν ὁμώνυμος γεγένημαι. ἔπειτα δὲ γραῒ συνοικήσας τὸ πρῶτον μὲν ἐγαστριζόμην πρὸς αὐτῆς ἐρᾶν προσποιούμενος γυναικὸς ἑβδομηκοντούτιδος τέτταρας ἔτι λοιποὺς ὀδόντας ἐχούσης, χρυσίῳ καὶ τούτους ἐνδεδεμένους. πλὴν ἀλλά γε διὰ τὴν πενίαν ὑφιστάμην τὸν ἆθλον καὶ τὰ ψυχρὰ ἐκεῖνα τὰ ἐκ τῆς σοροῦ φιλήματα ὑπερήδιστά μοι ἐποίει ὁ λιμός. εἶτα ὀλίγου δεῖν κληρονόμος ὧν εἶχεν ἁπάντων κατέστην, εἰ μὴ κατάρατός τις οἰκέτης ἐμήνυσεν ὡς φάρμακον εἴην ἐπ’ αὐτὴν ἐωνημένος.

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den. Denn auch das wird der Grossteil der Leute auf deine Redekunst zurückführen, im Glauben, du seist deswegen sogar bis in die Frauengemächer berühmt. Und noch etwas: Schäme dich nicht, wenn man von dir sagt, du werdest auf der anderen Seite auch von Männern geliebt, und das, obwohl du bereits bärtig bist oder – bei Zeus! – sogar kahlköpfig. Vielmehr soll es welche geben, die genau dazu mit dir zusammen sind. Und wenn nicht, reichen deine Sklaven dafür aus. Denn auch aus solchem Verhalten stellt sich viel Nützliches für die Rhetorik ein: Die Unverschämtheit und Verwegenheit werden grösser. Siehst du, wie die Frauen geschwätziger sind und übermässig lästern, weit mehr als die Männer? Wenn du nun dasselbe [wie die Frauen] mit dir machen lässt, wirst du die andern auch in diesem Bereich übertreffen. Und natürlich musst du dich auch enthaaren, am besten den ganzen Körper, sonst aber sicher jene bestimmten Teile. Und auch dein Mund selbst stehe für alles gleichermassen offen, deine Zunge diene sowohl zur Rede als auch zu allem anderen, wozu sie nur dienen kann. Sie kann aber nicht nur Solözismen oder Barbarismen von sich geben, nicht nur schwatzen oder Meineide schwören, schmähen oder verleumden und lügen, sondern sie kann auch des Nachts einen anderen Dienst verrichten, vor allem dann, wenn du der grossen Zahl deiner Liebschaften nicht mehr gewachsen bist. Auf alles soll sich deine Zunge verstehen, immer potenter werden und sich vor nichts abwenden. Wenn du dies, mein Junge, gründlich lernst – und du kannst das, denn es ist nichts Schwieriges dabei –, dann verspreche ich dir voller Zuversicht, dass du schon bald zum besten Redner, ein Ebenbild von mir, gemacht werden wirst. Im Bezug auf das, was danach kommt, brauche ich dir nicht darzulegen, wieviele Vorteile dir in Kürze von der Rhetorik her zukommen werden. Du siehst ja mich, der ich von einem unbedeutenden und nicht einmal absolut freigeborenen Vater abstamme, da er Sklave war jenseits von Xois und Thmuis, und von einer Mutter, die Näherin war in irgendeinem kleinen Quartier. Ich selbst aber, in meiner Jugendblüte scheinbar nicht ganz unakzeptabel, war zuerst um des blossen Überlebens willen mit einem armseligen und geizigen Liebhaber zusammen. Nachdem ich aber diesen Weg, der so absolut leicht ist, entdeckt hatte und mich durchgeschlagen hatte bis auf den Gipfel – denn ich verfügte, meine liebe Adrasteia, über all jenen Proviant, den ich vorher nannte: Verwegenheit, Unbildung, Unverschämtheit –, heisse ich erstens nicht mehr Potheinos, sondern bin sogar ein Namensvetter von Zeus’ und Ledas Kindern geworden. Sodann lebte ich mit einer Alten zusammen und schlug mir zuerst auf ihre Kosten den Bauch voll, indem ich vorgab, sie zu begehren, eine siebzigjährige Frau, die nur noch vier Zähne hatte, und auch diese mit Gold eingefasst. Trotzdem unterzog ich mich aus Armut dieser Tortur, und jene kalten Küsse aus dem Sarg machte mir der Hunger mehr als süss. Anschliessend wäre ich beinahe Erbe ihres gesamten Vermögens geworden, hätte nicht irgendein verfluchter Sklave verraten, dass ich Gift gekauft hatte, um es an ihr [anzuwenden].

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4. Text und Übersetzung Ἐξωσθεὶς δὲ ἐπὶ κεφαλὴν ὅμως οὐδὲ τότε ἠπόρησα τῶν ἀναγκαίων, ἀλλὰ καὶ ῥήτωρ δοκῶ κἀν ταῖς δίκαις ἐξετάζομαι προδιδοὺς τὰ πολλὰ καὶ τοὺς δικαστὰς τοῖς ἀνοήτοις καθυπισχνούμενος, καὶ ἡττῶμαι μὲν τὰ πλεῖστα, οἱ φοίνικες δὲ ἐπὶ τῇ θύρᾳ χλωροὶ καὶ ἐστεφανωμένοι· τούτοις γὰρ ἐπὶ τοὺς δυστυχεῖς χρῶμαι τοῖς δελέασιν. ἀλλὰ καὶ τὸ μισεῖσθαι πρὸς ἁπάντων καὶ ἐπίσημον εἶναί με ἐπὶ τῇ μοχθηρίᾳ τοῦ τρόπου καὶ πολὺ πρότερον τῶν λόγων καὶ τὸ δείκνυσθαι τῷ δακτύλῳ τοῦτον ἐκεῖνον τὸν ἀκρότατον ἐν πάσῃ κακίᾳ λεγόμενον, οὐ μικρὸν ἐμοί γε δοκεῖ. Ταῦτά σοι παραινῶ, νὴ τὴν πάνδημον, πολὺ πρότερον ἐμαυτῷ παραινέσας καὶ χάριν ἐμαυτῷ οὐ μικρὰν ἐπιστάμενος.« Εἶεν· ὁ μὲν γεννάδας εἰπὼν ταῦτα πεπαύσεται· σὺ δὲ ἢν πεισθῇς τοῖς εἰρημένοις, καὶ δὴ παρεῖναι νόμιζε οἷπερ ἐξ ἀρχῆς ἐπόθεις ἐλθεῖν, καὶ οὐδέν σε κωλύσει ἑπόμενον τῷ νόμῳ ἔν τε τοῖς δικαστηρίοις κρατεῖν καὶ ἐν τοῖς πλήθεσιν εὐδοκιμεῖν καὶ ἐπέραστον εἶναι καὶ γαμεῖν οὐ γραῦν τινα τῶν κωμικῶν, καθάπερ ὁ νομοθέτης καὶ διδάσκαλος, ἀλλὰ καλλίστην γυναῖκα τὴν Ῥητορικήν, ὡς τὸ τοῦ Πλάτωνος ἐκεῖνο »πτηνὸν ἅρμα ἐλαύνοντα« φέρεσθαι σοὶ μᾶλλον πρέπειν περὶ σεαυτοῦ εἰπεῖν ἢ ἐκείνῳ περὶ τοῦ Διός· ἐγὼ δὲ – ἀγεννὴς γὰρ καὶ δειλός εἰμι – ἐκστήσομαι ὑμῖν τῆς ὁδοῦ καὶ παύσομαι τῇ Ῥητορικῇ ἐπιπολάζων, ἀσύμβολος ὢν πρὸς αὐτὴν τὰ ὑμέτερα· μᾶλλον δὲ ἤδη πέπαυμαι, ὥστε ἀκονιτὶ ἀνακηρύττεσθε καὶ θαυμάζεσθε, μόνον τοῦτο μεμνημένοι, ὅτι μὴ τῷ τάχει ἡμῶν κεκρατήκατε ὠκύτεροι φανέντες, ἀλλὰ τῷ ῥᾴστην καὶ πρανῆ τραπέσθαι τὴν ὁδόν.

Abweichungen des vorliegenden Textes von der Ausgabe Macleods: Stelle

Text Macleod

vorliegender Text

§3 §5 §8 §10 §17

ἔκπνους ὁπόσοι (β) ἐπελάσαντας (β) ὃ οὖν ποιήσας (β) τέως ἐδόκει χρήσιμα (β) τὸν ὀρχηστὴν δὲ »χειρόσοφον« (corr. recc.) ἐπίπαστα ὀλίγα ἐκεῖνα ὀνόματα (β) μεταστρέφων τὴν πυγήν (corr. Borthwick)

ἐκείνους ὁπόσοι (γ; = Harmon) περάσαντας (Bekker; Harmon: περάσαντα) ὡς οὖν ποιήσας (γ; = Harmon) ἴσως ἐδόκει χρήσιμα (γ; = Harmon) τὸν ὀρχηστὴν δὲ »χειρίσοφον« (γβ; = Harmon)

§18 §19

ἐπὶ πᾶσι τὰ ὀλίγα ἐκεῖνα ὀνόματα (γ; = Harmon) μεταφέρων τὴν πυγήν (codd.; = Harmon)

4. Text und Übersetzung

169

Kopfvoran hinausgeworfen war ich trotzdem auch dann um meinen Lebensunterhalt nicht verlegen, im Gegenteil, ich gelte als Redner und agiere als solcher vor Gericht, wobei ich [meine Klienten] meist betrüge und den Unwissenden verspreche, die Richter [auf unsere Seite zu bringen]. Und ich unterliege zwar meist, doch die Palmzweige an meiner Tür sind grün und mit Kränzen umwunden. Diese gebrauche ich nämlich als Köder für die armen Kerle. Aber auch dass ich von allen gehasst werde und berüchtigt bin für die Schlechtigkeit meines Charakters und vielmehr noch meiner Reden, dass man mit dem Finger auf mich zeigt – »Das ist jener, von dem man sagt, er übertreffe alle an jeglichen Schandtaten!« – scheint mir keine kleine Errungenschaft zu sein. Dies rate ich dir – bei Aphrodite Pandemos! – und habe es vor langer Zeit mir selbst geraten, wofür ich mir sehr dankbar bin.« Nun denn, unser Gentleman wird mit diesen Worten zum Ende gekommen sein. Du aber, wenn du dem Gesagten Folge leistest, glaube nur, dass du so gut wie schon dahin gelangt bist, wohin du von Anfang an zu gehen begehrtest, und nichts wird dich, wenn du dem Gesetz folgst, davon abhalten, vor Gericht zu gewinnen, von der Menge bewundert zu werden, begehrt zu sein und zu heiraten, und zwar nicht eine Alte aus der Komödie, wie dein Gesetzgeber und Lehrer, sondern die schönste Frau, die Redekunst, so dass es eher dir ansteht, über dich selbst zu sagen, auf jenem berühmten geflügelten Wagen Platons rasch dahinzufliegen, als jenem (Platon), [dies] über Zeus [zu sagen]. Ich aber – denn niedrig und feige bin ich – werde für euch den Weg räumen und meine Beschäftigung mit der Rhetorik beenden, weil ich ihr nichts von euren [Spezialitäten] bieten kann. Oder vielmehr habe ich bereits aufgehört, so dass ihr kampflos als Sieger ausgerufen und bewundert werdet; doch behaltet nur das eine in Erinnerung, dass ihr uns nicht wegen der Geschwindigkeit besiegt habt, indem ihr euch als schneller erwiesen habt, sondern wegen der Wahl des raschesten und abwärts führenden Weges.

5. Kommentar

ΡΗΤΟΡΩΝ ΔΙΔΑΣΚΑΛΟΣ Der Werktitel »Der Rednerlehrer« wirft zwei Fragen auf, einerseits, auf welche Figur des Textes er sich bezieht, andererseits, ob dahinter eine historische Figur steckt. Zum ersten Punkt ist zu sagen, dass ein Rezipient vorerst grundsätzlich den ersten Sprecher des Textes (der im vorliegenden Kommentar ›Ratgeber‹ genannt wird) mit dem Lehrer identifizieren dürfte. Erst in §26, wo der erste Sprecher mit dem Wort διδάσκαλος auf den von ihm als weiteren Sprecher eingeführten ›Rednerlehrer‹ verweist, zeigt sich, dass der Werktitel eigentlich auf diese zweite Figur abzielt.480 Da allerdings der Begriff διδάσκαλος auch einen »Inszenierer« bezeichnen kann, jemanden, welcher tragische und komische Aufführungen einstudiert, Chöre und Schauspieler anleitet, bleibt er letztlich in seinem Bezug – in dieser Bedeutung wiederum stärker auf die erste Figur, den ›Ratgeber‹ verweisend – ambivalent, eine Ambivalenz, die insofern unproblematisch ist, als die beiden Figuren miteinander verschmelzen, ja der Auftritt des Rednerlehrers als Prosopopoiie gedeutet werden kann.481 Die Frage nach dem eventuellen historischen Angriffsziel der Schrift und damit nach der Identität des Rednerlehrers findet bereits in den Scholien eine mögliche Antwort (p. 174–5 Rabe): Τινές φασιν ὡς εἰς Πολυδεύκη τὸν ὀνοματολόγον ἀποτεινόμενον Λουκιανὸν τοῦτον γράψαι τὸν λόγον τέχνην μὲν οὐδ’ ἥντινα λόγων παραδιδόντα, σωρὸν δὲ λέξεων ἀδιάκριτον ὑφιστάντα. καὶ ἴσως οὐκ ἀπὸ σκοποῦ ταῦτα τοῖς φήσασιν εἴρηται, ἐπεὶ καὶ σύγχρονοι ἄμφω, Λουκιανὸς καὶ Πολυδεύκης· ἐπὶ γὰρ Μάρκου τοῦ αὐτοκράτορος (VMSΩ) / ὁ γὰρ Πολυδεύκης ἐπαγωγότερος ἦν τοῦ αὐχμηροῦ καὶ κατακόρου διαναπαύων τὸν λόγον· ἐχρῆτο γὰρ διηγήμασιν, οὐ μέντοι καὶ τέχνην παρεδίδου λόγου, ὅπως ἡ διήγησις διαχέῃ τὴν αἴσθησιν καὶ τὸ τῶν λέξεων καινότερον, ὡς ἐν ταύταις μόναις τοῦ παντὸς ἔργου κειμένου τοῖς λόγοις (Vat. 86).482 480

Siehe dazu bereits die Einleitung 1.1, S. 12. Siehe dazu bereits die Einleitung 1.8, S. 82f. 482 »Einige sagen, dass Lukian auf den Lexikographen Pollux abzielend diese Schrift verfasst habe, der keine echte Rhetoriktheorie weitergegeben, sondern einen unkritischen Haufen von Lexemen aufgestellt habe. Und vielleicht ist dies keine ziellose Behauptung von denjenigen, die es sagen, da ja die beiden, Lukian und Pollux, Zeitgenossen waren; und zwar zur Zeit des Kaisers Markus.« Gemeint ist damit Marc Aurel, welcher von 161–169 n.Chr. gemeinsam mit Lucius Verus und nach dessen Tod bis 180 n.Chr. allein regierte; die Lebenszeit des Pollux wird in der 481

§1: Einleitung (Proömium)

171

Die Vermutung, dass der Sophist Pollux aus Naukratis Ziel der vorliegenden Satire gewesen sein könnte, steht in einem weiteren Zusammenhang mit einer Passage in Rh. Pr. 24, wo der Rednerlehrer über seine ägyptische Herkunft und seinen Namen spricht: Er heisse nun nicht mehr ›Potheinos‹, sondern sei zu einem Namensvetter von Zeus’ und Ledas Kindern geworden (τοῖς Διὸς καὶ Λήδας παισὶν ὁμώνυμος γεγένημαι). Die Scholiasten (p. 180 Rabe) erklären auch an dieser Stelle, dass, wenn man die Söhne von Zeus und Leda mit Kastor und Pollux identifiziere,483 wohl nur der Sophist Pollux aus Naukratis gemeint sein könne.484 Dies ist in der Forschung jedoch höchst umstritten; nur schon die Formulierung im Plural (παισὶν ὁμώνυμος) würde zumindest eher an einen Namen wie Διοσκο(υ)ρίδης o.ä. denken lassen. Das Herkunftsland ist für eine Identifikation mit Pollux ebenfalls nicht ausschlaggebend, da weitere Sophisten (Apollonios, Proklos, Ptolemaios) aus Ägypten, und zwar allesamt aus Naukratis, stammten.485 Wäre Pollux tatsächlich das Angriffsziel, so hätte Lukian pikanterweise dessen philologische Tätigkeit, die sich im lexikographischen Werk Onomastikon niedergeschlagen hat, missachtet bzw. in der Darstellung des unwissenden Modesophisten pervertiert.486 Von den Befürwortern einer Identifikation mit Pollux wird angeführt, dass Lukian den Rednerlehrer mit einigen Zügen ausstattet, die von Philostrat in Bezug auf diesen Sophisten betont werden, einerseits die honigsüsse Stimme (μελιχρᾷ τῇ φωνῇ, VS 593; vgl. Rh. Pr. 11), andererseits die zweifelhafte Bildung (οὐκ οἶδα, εἴτε ἀπαίδευτον δεῖ καλεῖν εἴτε πεπαιδευμένον, VS 592). Die Frage der Identifikation mit Pollux muss letztlich offen gelassen werden;487 Diskussionen finden sich bei Baldwin [1973] 34–36; Hall [1981] 39–41 und 273–278; Jones [1986] 107f. zweiten Hälfte des 2. Jhdts. angesetzt, diejenige Lukians etwas früher, siehe Nesselrath [2001a] 12–15. / »Pollux nämlich kümmerte sich mehr um das Trockene und Übertriebene und liess die Rede links liegen. Denn er verwendete Erzählungen (διηγήματα), fügte aber der Rede keinerlei Kunst bei, damit die Erzählung Sinn und Neuheit der Lexeme vermenge, als ob allein in diesen [Lexemen] die einzige Anforderung für die Rhetorik liege.« 483 Vgl. zur Abkunft der Dioskuren von Zeus und Leda h. Hom. 17,1–3 und 33,1–2. 484 Λήδας* κτλ.] ἐντεῦθεν ἀναντίρρητον ἤδ⌞η⌟, ὡς Πολυδεύκη διασύρει ὁ π⌞αρὼν⌟ λόγος, εἴ γε Κάστορος ἀδελφὸς Π⌞ο⌟λυδεύκης ὁ Λήδας, ᾧ οὗτος ὁμώνυμος ὁ διασυρόμενος ῥητόρων διδάσκαλος. 485 Vgl. Philostrat VS 592–593 (Pollux), 599–600 (Apollonios), 602–604 (Proklos), 595–596 (Ptolemaios). 486 Hall ([1981] 277) führt dazu aber die Bemerkung Philostrats an, dass Pollux trotz seiner lexikographischen Tätigkeit in seinen Auftritten kein besserer Attizist als jeder andere gewesen sei (VS 592). Siehe zu Erklärungsversuchen, worin die Kritik Lukians an Pollux bestanden hat, auch den Scholienkommentar zum Werktitel oben. 487 Sie ist nicht zu beweisen; trotzdem findet sich eine entsprechende Bemerkung in DNP 6 s.v. I[ulius] Pollux, Sp. 52: »[...] auch Lukianos machte sich über ihn lustig, v.a. in Rhetorum praeceptor 24.«

172

5. Kommentar (§§1–4)

Alternative Deutungsansätze der verschleierten Namensangabe werden im Kommentar zu §24: τοῖς Διὸς καὶ Λήδας παισὶν ὁμώνυμος diskutiert.

§§1–4: Einleitung (Proömium [§§1–2]; Prothesis/Dihegesis I [§§3–4]) Zu Form und Inhalt des Beginns der Schrift vgl. die Einleitung 1.1–1.3 über die Elemente der epistula und die für das Verständnis der einleitenden Kapitel und für deren satirisches Potenzial wichtigen Reminiszenzen an platonische Dialoge. Auf die platonischen Anklänge wird deshalb auch im folgenden Kommentar besonderer Wert gelegt. Der Ratgeber gibt mit seinen Eingangsworten die Thematik der Darlegung an, wie es in einem Proömium gängig ist, und bereitet in §§3–4 durch eine erste Gegenüberstellung des langen und des kurzen Weges zur Rhetorik und durch eine erste persönliche Stellungnahme das Terrain, um nach einem kurzen Exkurs (§5) mit der ausführlichen Beschreibung der Rednerausbildung fortzufahren (ab §6). §1 ἐρωτᾷς, ὦ μειράκιον Obwohl in dieser Zusammenfügung bei Platon nicht belegt, sind doch die einzelnen Elemente dieses – auch an eine epistula erinnernden – Einstiegs bei ihm häufig vertreten: Immer wieder wird zwischen den Gesprächspartnern auf Fragen des einen an den anderen Bezug genommen; so z.B. Sokrates in Cra. 406b: μεγάλα, ὦ παῖ Ἱππονίκου, ἐρωτᾷς. Genauso passt in den sokratisch-philosophischen Rahmen die Nennung eines μειράκιον, sind es doch oft jüngere Männer, die bei Sokrates als ihrem Lehrer Auskünfte suchen oder aber mit in eine die Diskussion verfolgende Gruppe gehören (z.B. Laches, Charmides, Alkibiades I, Euthydemos). Zur Einleitung eines Briefes, der auf eine bestimmte Frage oder Bitte hin abgefasst worden ist, vgl. Epikur Ep. ad Pythocl. 84: ἐδέου τε σεαυτῷ περὶ τῶν μετεώρων σύντομον καὶ εὐπερίγραφον διαλογισμὸν ἀποστεῖλαι, ἵνα ῥᾳδίως μνημονεύῃς [...] sowie Seneca Ep. mor. 1,7,1: Quid tibi vitandum praecipue existimem quaeris und 1,9,1: An merito reprehendat in quadam epistula Epicurus eos, qui [...], desideras scire. ῥήτωρ [...] σοφιστὴς Die beiden hier verwendeten Begriffe »Redner« und »Sophist« sind in ihrer Differenzierung viel diskutiert worden (vgl. zusammenfassend mit weiterführenden Literaturangaben Schmitz [1997] 12 Anm. 11, Rothe [1989] 11f.

§1: Einleitung (Proömium)

173

und die informative Kurzdiskussion bei Whitmarsh [2005] 15–19). Grundsätzlich zeigt der Grossteil der Untersuchungen auf, dass eine eindeutige Unterscheidung in ihrer Verwendung im Sprachgebrauch des 2. Jh.s n.Chr. nicht möglich ist (wofür auch die hier vorliegende Stelle – zumindest teilweise, s.u. – spricht; man vergleiche weiter die parallele Verwendung beider Bezeichnungen für eine einzige Person z.B. in IEph 3047). Wichtig ist, dass der Terminus »Sophist« in der Kaiserzeit keinesfalls negativ konnotiert sein muss (s.u. zu Platon); schlagender Beweis hierfür ist die Verwendung des Begriffs in Ehreninschriften488 sowie Philostrats489 Verwendung desselben in VS. Allerdings kann auch in der Kaiserzeit ein Philosoph oder Redner seine Gegner durchaus negativ als »Sophisten« bezeichnen (Dion von Prusa, Aristeides, letzterer wohl infolge platonischen Einflusses).490 Will man dennoch Tendenzen festmachen, so scheint bei Philostrat »Redner« vor allem für einen in Politik und am Gericht Tätigen zu stehen, während »Sophist« den brillanten Schauredner und Deklamator bezeichnet, der zudem als Lehrer wirkt (vgl. Jones [1986] 12; dies bietet auch eine Erklärung für die Absenz des Demosthenes in Philostrats VS). Je nach Autor sind also leichte Bedeutungsunterschiede möglich. Lukian formuliert den Wunsch des jungen Mannes so, dass dieser zuerst die allgemeine Begrifflichkeit ῥήτωρ verwendet, sie aber gleich weiter präzisiert, indem er klarmacht, dass er nicht nur Gerichtsredner o.ä. werden will, sondern Beruf und damit verbundene Ehre und Berühmtheit eines σοφιστής anstrebt (zur Ironie des Beginns siehe das nächste Lemma). In den Augen des μειράκιον verkörpert der Sophist eine spezielle und besonders hochgestellte Sorte von ῥήτορες. Der Ratgeber verwendet allerdings ῥήτωρ durchaus im präzisen Sinn von »Sophist« (vgl. neben §1 auch §4 und §6). Der Autor Lukian unterscheidet also die beiden Termini nicht bzw. verwendet sie bloss je nach Blickwinkel seiner Figuren distinkt (im Sinn von Ober- und Untergattungen) oder synonym. Zudem sind, wo immer in seinen weiteren Schriften ῥήτορες karikiert werden, damit »Showredner« gemeint. Dies passt gut in den Rahmen der Begriffsverwendung durch zahl488

Vgl. Schmitz [1997] 15 mit Belegen: IEph 826; 984; 1548. Zur Verwirrung um die mindestens drei Autoren mit dem Namen Philostrat und ihren Werken siehe Anderson [1986] 3–7 und 291–96, Rothe [1989] 1–5, Bowersock [1969] 2–4 und noch immer grundlegend Muenscher [1907]. Der grösste Teil der in vorliegendem Kommentar zitierten Textzeugnisse stammt von Flavius Philostratus, dem Verfasser von VS und VA, der in der Suda Philostrat II. genannt ist (s.v. Φιλόστρατος [Einträge 421–423]). Oft werden demselben Philostrat auch die Werke De gymnastica, Imagines (2 Bücher) und Heroicus zugeschrieben, was aber weiterhin höchst umstritten bleibt; ich verwende mangels klarer Unterscheidungsmöglichkeiten zur Angabe von deren Verfasser ebenfalls die allgemeine Angabe Philostrat (Philostr.). 490 Vgl. z.B. Dion Or. 4,28; 6,21; 8,9; Aristeid. Or. 33,29; 34,47; 50,95; 51,39 (Belege diskutiert bei Festugière [1969] 148); vgl. allgemein zur Unterscheidung Philosoph/Redner/Sophist bei verschiedenen Autoren der Zweiten Sophistik Jones in Bowersock [1974] 12–14. 489

174

5. Kommentar (§§1–4)

reiche andere Autoren der Zweiten Sophistik: σοφιστής und ῥήτωρ können beide gleichermassen den Showredner im Philostrat’schen Sinn bezeichnen. Denn wie aus dem weiteren Inhalt von Rh. Pr. klar wird, handelt es sich bei der hier verwendeten Bezeichnung σοφιστής um die Art Showredner der Periode der Zweiten Sophistik, welche mit ihren Deklamationen (μελέται) öffentlich auftraten, von Philostrat »Sophisten« genannt und von Bowersock ([1969] 13) als virtuoso rhetor with a big public reputation definiert. Hintergründig rufen diese Termini zu Beginn der Schrift Rh. Pr. die platonischen Dialoge und deren kritische Behandlung der Sophistik auf, vgl. dazu die Einleitung 1.2–1.3. Zum Begriff »Sophist« in klassischer Zeit vgl. grundlegend Kerferd, The sophistic movement, Cambridge 1981 und die informative Kurzdarstellung in Manuwald [1999] zu Plat. Prot. 311e4 (S. 111): »Mit σοφιστής konnte ausgehend von einem ursprünglichen Begriff von σοφία im Sinn von ›Weisheit‹ ohne pejorativen Sinn benannt werden, wer ein Experte auf seinem Gebiet oder ganz allgemein ein weiser Mann ist.« So können Musiker, Dichter etc. Sophisten sein; Herodot bezeichnet die Sieben Weisen und auch Pythagoras so (Hdt. 1,29,1; 4,95,2). Seit Platon nimmt dann aber die pejorative Färbung dieses Begriffs zur Bezeichnung der Wanderlehrer überhand, die gegen Bezahlung Unterricht in verschiedensten Gebieten, v.a. im Bereich der Redetechnik, anbieten. Die Thematik der Bezahlung wird von Lukian aufgegriffen, vgl. Rh. Pr. 9 (allerdings über den Lehrer des langen Weges!): οὐδὲ μισθοὺς ὀλίγους ἀπαιτεῖ (implizit vgl. auch Rh. Pr. 12). Insgesamt bestätigt auch der Scholienkommentar zu vorliegender Stelle die Bedeutungsnuancen bzw. -entwicklung des Begriffs; drei Bedeutungen – »Weiser«, »Rhetoriklehrer« und pejorativ »Wahrheitsschwindler« – werden differenziert (p. 175 Rabe): τὸ τοῦ σοφιστοῦ ὄνομα τριχῶς παρὰ τοῖς παλαιοῖς διανενόηται. πρῶτον σοφὸν καλοῦσιν αὐτὸ τὸ ἀληθὲς καὶ τὸ φρόνιμον καὶ τὸ καλόν· ὅθεν καὶ Πλάτων φιλόσοφον καλεῖ τὸ πρῶτον αἴτιον καὶ ἄνθρωπος ὁ μετιὼν τὴν φιλοσοφίαν ἐκ τούτου παρωνόμασται, καθὰ καὶ αὐτὸς μιμεῖται θεὸν κατὰ τὸ δυνατόν. καὶ πάλιν σοφιστὴν καλοῦσιν αὐτὸν τὸν ῥήτορα τὸν διδάσκοντα ῥητορικοὺς λόγους, περὶ οὗ διεξέρχεται νῦν. σοφιστὴν δὲ καὶ τὸν σοφιζόμενον τὴν ἀλήθειαν. τὸ σεμνότατον τοῦτο καὶ πάντιμον ὄνομα σοφιστὴς εἶναι δόξεις Die wortreiche, in der Satzstellung vorgezogene Apposition zum Begriff σοφιστής, die besonders durch die superlativischen (als Attribute zu ὄνομα gehörigen) Adjektive σεμνότατον und πάντιμον hervorsticht, wirkt durch die gleich von Beginn weg erfolgte Anlehnung an den Duktus platonischer Dialoge höchst ironisch und bildet durch die Unmöglichkeit eines derartigen Lobes der Sophistik vor dem platonischen Hintergrund eine Art Oxy-

§1: Einleitung (Proömium)

175

moron.491 Das wird unterstützt durch die Wahl des Verbalbegriffs (εἶναι δόξεις), da nur der »Ruf« oder der »Anschein« eines solchen Sophisten erzeugt werden kann oder soll. Und genau die Thematik des Scheins ruft den (platonischen) Entlarver auf den Plan, der in Rh. Pr. zwar nicht auftritt, durch den platonischen Subtext jedoch implizit vorhanden ist, und der in anderen lukianischen Schriften, welche Rhetorikspott enthalten, prominent ist (Sol., Pseudol., Lex.). Man vergleiche auch die Anklage gegen die verkleideten Philosophen in Pisc. 31 (Lukian präsentiert sich hier in der Rolle des Parrhesiades): ὁρῶν δὲ πολλοὺς οὐκ ἔρωτι φιλοσοφίας ἐχομένους ἀλλὰ δόξης μόνον τῆς ἀπὸ τοῦ πράγματος ἐφιεμένους, καὶ τὰ μὲν πρόχειρα ταῦτα καὶ δημόσια καὶ ὁπόσα παντὶ μιμήσασθαι ῥᾴδιον εὖ μάλα ἐοικότας ἀγαθοῖς ἀνδράσιν, τὸ γένειον λέγω καὶ τὸ βάδισμα καὶ τὴν ἀναβολήν, [...].492 τὴν δύναμιν [...] ἐν τοῖς λόγοις δύναμις ist ein in der Rhetoriktheorie gängiges Merkmal einer Rede: Einerseits bezeichnet sie deren »Zweck; Bestimmung; Wirkung« (vgl. Anaxim. 1,2,6; 4,2,2 u.ö. sowie Arist. Rh. 1403b21), letztlich immer darin bestehend, Überzeugung zu erreichen (vgl. Arist. Rh. 1355b25 und die Definition in Rhetorica Anonyma Prolegomena in artem rhetoricam = Rhetores Graeci vol. 14, p. 30 Rabe: ῥητορική ἐστι δύναμις τεχνικὴ πιθανοῦ λόγου ἐν πράγματι πολιτικῷ, τέλος ἔχουσα τὸ εὖ λέγειν), andererseits bezeichnet sie die künstlerische Qualität, infolge deren die Rede schliesslich überzeugend wirkt, oft in Kombination mit λόγος/λέγειν und wiedergegeben als »Redevermögen, Redegewalt« (vgl. Anaxim. praef. 2,4: δύναμις λόγων sowie Arist. Rh. 1355b3: δύναμις τῶν λόγων, 1362b22: δύναμις τοῦ λέγειν). Siehe auch Lausberg [31990] §33 und §239. Gleich zu Beginn wird also klar, dass der junge Mann sich nur mit dem allerbesten Resultat zufrieden gibt: Der wortgewaltigste Sophist, dem keiner das Wasser reichen kann (vgl. ἄμαχον) und der von ganz Hellas be491 Bompaire ([1958] 124f.) bemerkt im Zusammenhang mit der Frage nach der eigenen Involviertheit Lukians in die Sophistik, dass dieser erste Satz von Rh. Pr. nicht ironisch aufzufassen, Sophistik also grundsätzlich positiv zu sehen sei und bei Lukian erst dann zu einem ironisch-negativen Begriff werde, wenn er sie auf deren schlechte Vertreter, die sie beschmutzen, anwende (z.B. auf den Rednerlehrer oder den Angegriffenen in Pseudologista). Das ist richtig, allerdings vernachlässigt Bompaire m. E. an dieser Stelle den sokratisch-platonischen Rahmen, in den das Wort »Sophist« eingebettet ist, und der die ›Negativvertreter‹ impliziert. 492 »Als ich sah, dass viele nicht von Liebe zur Philosophie erfasst waren, sondern allein nach dem Ruhm, [der] aus der Sache [hervorgeht], strebten, und dass sie in den offensichtlichen, allgemeinen Merkmalen, die für jeden leicht nachzuahmen sind, ehrenwerten Männern absolut gleich waren – den Bart meine ich und den Gang und das Gewand, [...].« – Vgl. zum lukianischen Phänomen der durch μίμησις der echten Philosophen agierenden Scheinphilosophen auch Whitmarsh [2001] 257–265 (bes. 261–263).

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5. Kommentar (§§1–4)

wundert wird (vgl. θαυμάζεσθαι πρὸς ἁπάντων καὶ ἀποβλέπεσθαι), will er werden. ἄμαχον [...] καὶ ἀνυπόστατον καὶ θαυμάζεσθαι [...] καὶ ἀποβλέπεσθαι Ganz unbescheiden verlangt der junge Mann gleich einen ganzen Katalog von Effekten, die aus seinem Sophistendasein hervorgehen sollen: Ruhm, Ehre und Bewunderung in der gesamten griechischen Welt, basierend auf seinem grossen rhetorischen Können. Diesen Katalog nimmt der Ratgeber auf bzw. führt ihn weiter (vgl. §2: ἔνδοξοι καὶ πλούσιοι καὶ νὴ Δία εὐγενέστατοι), wobei er Reichtum und sozialen Aufstieg als weitere Effekte anführt bzw. dem Schüler dadurch noch weitere Ziele ›unterstellt‹.493 περισπούδαστον ἄκουσμα τοῖς Ἕλλησιν δοκοῦντα Die Junktur περισπούδαστον ἄκουσμα ist nur hier bei Lukian belegt (einzeln sind jedoch beide Begriffe häufig494) und betont das Hörvergnügen, welches so gross und unwiderstehlich ist, dass es das Publikum in Scharen anzieht. Bezeichnet ist die Hörerschaft mit dem Substantiv Ἕλληνες, was den historischen Gegebenheiten insofern nicht entspricht als selbstverständlich – je nach Ort – auch zahlreiche Römer zu den Vorträgen erschienen sind; die Betonung liegt hier allerdings auf griechischsprachigen Zuhörern und auf solchen, die sich mit einem geistig-kulturellen Griechentum identifizieren wollen: In der Verwendung des Wortes »Griechen« für »alle«, »das Publikum« bzw. kurz »die ganze Welt« steckt ein Rückgriff auf die klassische Zeit, auf berühmte Redner wie Demosthenes und Isokrates oder auf Sophisten wie Hippias und Gorgias, man vergleiche Plat. Alc. I 105b495 (Sokrates über Alkibiades: ἐὰν δ’ ἐνθάδε [sc. bei den Athenern] μέγιστος ᾖς, καὶ ἐν τοῖς ἄλλοις Ἕλλησι, καὶ οὐ μόνον ἐν Ἕλλησιν, ἀλλὰ καὶ ἐν τοῖς βαρβάροις [...]) und 124b; zudem Hippias maior 291a (über Hippias: εὐδοκιμοῦντι δὲ ἐπὶ σοφίᾳ ἐν πᾶσι τοῖς Ἕλλησιν); Menon 70a (über die 493 Neben Prestigestreben macht auch Geldgier jeweils einen typischen Zug der Scheinphilosophen und -sophisten bei Lukian aus, vgl. Paras. 52 und Hall [1981] 255. Die Geldgier von Sophisten wird auch bei Philostrat in zwei Episoden über Polemon und in einer über Hadrian behandelt (VS 535, 538, 590), ein Thema, das sich angesichts der hohen Bezahlung und ihrer prunkvollen Auftritte geradezu aufdrängt (vgl. auch Anm. 781). 494 Vgl. e.g. zu περισπούδαστος Chamaeleon fr. 3 (Wehrli, Schule des Aristoteles, vol. 9, p. 49; im Zusammenhang mit Musik): ἔμελεν δὲ τοῖς πάλαι πᾶσιν Ἕλλησι μουσικῆς· διόπερ καὶ ἡ αὐλητικὴ περισπούδαστος ἦν; Luk. Tim. 38 (Plutos zu Timon): ἀοίδιμος δι’ ἐμὲ ἦσθα καὶ περισπούδαστος (vgl. zu ἀοίδιμος Rh. Pr. 22); Peregr. 39. – Zu ἄκουσμα im Sinne des performativen Auftritts vgl. Luk. Salt. 2, 6 und 68; Max. Tyr. Or. 4,6: ὁ μὲν γὰρ φιλόσοφος βαρὺ καὶ πρόσαντες τοῖς πολλοῖς ἄκουσμα [...] ὁ δὲ ποιητὴς ἄκουσμα ἁβρὸν καὶ δήμῳ φίλον. 495 Auf die Ähnlichkeit des settings dieser Schrift mit Rh. Pr. ist bereits hingewiesen worden (vgl. die Einleitung 1.3, S. 37).

§1: Einleitung (Proömium)

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Thessalier: εὐδόκιμοι ἦσαν ἐν τοῖς Ἕλλησιν καὶ ἐθαυμάζοντο); Protagoras 335a; vgl. auch Isoc. Hel. 52; Panathen. passim. Vgl. weiter Lukian Pseudol. 14 (Griechisch als Kommunikationssprache unter Gebildeten); Herodot. 1; Zeux. 2 (καὶ ἐκινδύνευον πιστεύειν αὐτοῖς ἕνα καὶ μόνον ἐν τοῖς Ἕλλησιν εἶναι λέγουσι καὶ τὰ τοιαῦτα). Auch Dion von Prusa (Or. 50,2) bezeichnet seine Zuhörerschaft als Ἕλληνες. Im Wunsch des Schülers, Berühmtheit bei allen Hellenen zu erlangen, wird implizit einer der Zwecke sophistischer Deklamationen verdeutlicht: Durch ihre im Griechenland des 5. und 4. Jh. angesiedelten Themen und die attizistische Sprache verweisen sie auf das klassische Griechentum zurück und bestärken die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Tradition, wobei der Sophist zusammen mit seinem Publikum für die Dauer des Vortrags die Illusion einer Situation aus weit zurückliegender Zeit erzeugt.496 Anzumerken ist auch, dass die Kurzbezeichnung »Griechen« oft für die Sophisten selbst und für ihre Schüler verwendet wird (häufig in Philostrats VS); Griechen bzw. Griechenland werden somit zur Chiffre für Bildung und Gebildete (παιδεία, πεπαιδευμένοι).497 τὰς [...] ὁδοὺς αἵτινές ποτέ εἰσιν Der Schüler fragt nach einer Auswahl von Wegen, die ihn zur Rhetorik führen können. Es wird in dieser ersten Darstellung also weder spezifisch von zwei Wegen noch vom Bedürfnis nach dem leichtesten Weg ausgegangen. Genau wie bei der Nennung finanziellen Gewinns aus dem Sophistenberuf schlägt der Ratgeber auch hier eine eigene Richtung ein, die mindestens so stark zu seiner Selbstinszenierung dient, wie zur Beantwortung der an ihn gerichteten Frage, indem er davon ausgeht, der Schüler wolle auf jeden Fall den kürzesten Weg beschreiten (vgl. §1: τάχιστα und §3 passim). οὐδεὶς φθόνος Exakt dieser Ausdruck »kein Neid« findet sich bereits in Aischylos Pr. 628, er ist weiter sowohl bei Platon (8x) als auch bei Lukian (5x) mehrfach be-

496 Vgl. ausführlich Schmitz [1997] 175–181 und 220–231; weiter Russell [1983] 107f.; Korenjak [2000] 57–61. 497 Vgl. VS 531, 564, 571 und Whitmarsh [2005] 14 (mit weiteren Stellenangaben): »It is not simply in an ethnic sense that these students are Greek: in studying under great intellectuals, they are learning how to become Greeks in the full, cultural meaning of the word.« [Hervorhebung des Autors]. Der Sophist Aristeides nennt sich selbst (Or. 33,32) bzw. lässt sich von anderen (Or. 33,24; 50,87) »erster der Griechen«, πρῶτος/ἄκρος τῶν Ἑλλήνων, nennen, was neben der Gleichsetzung der Sophisten (und ihrer Zuhörer) mit den Griechen auch die Bedeutung im Sinne eines geistig-kulturellen Griechentums zeigt – gerade angesichts der Tatsache, dass Aristeides das römische Bürgerrecht besass. Vgl. auch Dion von Prusa Or. 37,25–27 mit spezieller Betonung der kulturellen, nicht genetischen Basis dieses Griechentums (so Korenjak [2000] 58 Anm. 62).

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5. Kommentar (§§1–4)

legt (z.B. Vit. Auct. 21; Dial. Deor. 22,1, mit der identischen Fortführung καὶ μάλιστα). Hier liegt die elliptische Minimalform ohne Infinitiv oder sonstige Ergänzung vor (»kein Neid«; so auch Plat. Ti. 23d4), während man in Phd. 61d10 oder Sph. 217a9 die Ergänzungen λέγειν (»zu sagen«) oder διελθεῖν (»durchzugehen«) findet. In Phaidon übernimmt Sokrates die Rolle des philosophischen Ratgebers, der »ohne Missgunst«, d.h. bereitwillig, Auskunft geben will, parallel zum Ratgeber des jungen Mannes in Rh. Pr. Allgemein findet sich die Formel meist zu Beginn eines (philosophischen) Gesprächs, wenn ein Gesprächspartner an den anderen eine Frage richtet bzw. etwas erörtert haben möchte und der andere daraufhin seine Bereitschaft erklärt, dies zu tun. Die engsten Parallelen zur hier vorliegenden Stelle sind generell in (populär-)philosophischer bzw. rhetorisch-philosophischer Literatur zu finden, so die bereits angegebenen Stellen bei Platon, weiter auch Keb. 3,1,4 und 33,1,3 (zwei Fremde betrachten im Tempel ein Bild mit der Darstellung des Lebensweges, den so genannten πίναξ, welchen ein alter Mann ihnen bereitwillig erklären will; auf Kebes’ Tabula wird in Rh. Pr. mehrfach angespielt, siehe dazu §6: ὁ Κέβης ἐκεῖνος); Plut. De fato 573c (mit Bezug auf eine viel kommentierte Stelle in Plat. Ti. 29e); Lib. Decl. 10,36,6. Keine inhaltlich parallelen Belege finden sich bei den attischen Rednern. Aufgrund solcher Ausdrücke klingt Rh. Pr. an philosophische Schriften, insbesondere philosophische Dialoge an, wobei der einem solchen Dialog eigene Ernst satirisch unterwandert wird. Man vergleiche auch das sprichwörtlich gewordene Platonzitat (Phdr. 247a): φθόνος [γὰρ] ἔξω θείου χοροῦ ἵσταται (auf den Umkreis der Akademie, den Austauch von Wissen und freundschaftlichen Umgang bezogen, vgl. Philon Quod omnis probus liber sit 13; Plutarch mor. 679e). ὁπότε [...] αἰτοίη Temporalsätze dieser Art, auf die Zukunft weisend oder etwas Allgemeingültiges darstellend, werden normalerweise mit ὁπόταν und prospektivem Konjunktiv konstruiert,498 jedoch kann mit einer leichten Modifikation des Sinnes anstelle des Konjunktivs Optativ stehen, indem die Handlung weniger als erwartet, denn als bloss vorgestellt erscheint (vgl. K.-G. II 1,252f.; bei Lukian scheint allerdings die Trennung zwischen blosser Vorstellung und Erwartung nicht mehr zentral, sondern allgemein die zunehmende Ver-

498 So auch bei Lukian, vgl. z.B. Hist. Conscr. 8: [...] φθόνος οὐδείς· οὐδὲ ὁπόταν ὁ Ζεὺς [...] αἰωρῇ [...].

§1: Einleitung (Proömium)

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breitung des Optativs, vgl. auch Luk. J. Trag. 27499 und den Kommentar zu §6: ὡς γαμήσειάς [...] ἔχοις). Allenfalls wäre in Betracht zu ziehen, dass sich die Aussage auch auf die in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen des Ratgebers bezieht (und daher entsprechend betont: καθάπερ νῦν συ): Bei einem wiederholten Geschehen in der Vergangenheit (HS mit Imperfekt; zu ergänzen wäre: »es gab keinen Neid«) steht der Nebensatz dann regulär im iterativen Optativ (»wann immer mich ein junger Mann um Rat fragte«).500 Mit Blick auf die platonischen Reminiszenzen ist der Satzbeginn ἀλλ’ οὐδεὶς φθόνος sicher vorerst präsentisch (auf die momentane Anfrage bezogen) aufzufassen, erst sekundär kann die Konstruktion auch aus der Vergangenheit heraus verstanden werden. οὐκ εἰδὼς ὅθεν ἂν ταῦτα ἐκπορίσαιτο Wie im Verlauf des Textes noch mehrfach deutlich werden wird, sind Unbescheidenheit und Eigenlob Merkmale des Ratgebers sowie später des von ihm empfohlenen Rednerlehrers (vgl. die einleitenden Bemerkungen zu §§13–14). Aus dem vorliegenden Nebensatz spricht eine gönnerhafte Pose, die impliziert, dass der junge Mann sich an niemanden sonst wenden kann, um seine Ziele zu erreichen, der Ratgeber sich aber um ihn kümmern will, da nur bei ihm die richtige Lehre zu bekommen ist. ἱερόν τι χρῆμα τὴν συμβουλὴν οὖσαν Sprichwörtlich, vgl. Ps.-Plat. Theag. 122b: λέγεταί γε συμβουλὴ ἱερὸν χρῆμα εἶναι und Ep. 5,321c: δίκαιος δ’ εἰμὶ σοὶ ξενικὴν καὶ ἱερὰν συμβουλὴν λεγομένην συμβουλεύειν sowie Menander Sententiae 356 (Jaekel): ἱερὸν ἀληθῶς ἐστι ἡ συμβουλία. Ferner Epicharm PCG 1, fr. 238 und Iambl. VP 85. Informativ (zur wahrscheinlichen Herkunft als pythagoreisches ἄκουσμα) und mit weiteren Stellenangaben versehen sind die Kommentare zu Theages von Joyal [2000] 212 und Bailly [2004] 131–134. Zwei inhaltliche Deutungen dieses Sprichworts sind besonders aufschlussreich: Die Scholien zu Theages einerseits erklären, dass ein Ratschlag heilig genannt werde, weil er ohne Berücksichtigung eigener Interessen, also selbstlos, einem Ratsuchenden ehrlich und so gut wie möglich erteilt werden solle; genau wie Heiliges generell ein Gemeingut sei, so sei es auch ein Ratschlag, auf den jeder Mensch Anspruch habe. Die Verwendung des Sprichwortes in Ps.499 Bompaire [2003] 49 Anm. 96 vermerkt zur Stelle: »L’optatif de répétition après un temps principal est attesté chez Lucien.« 500 Weitere Beispiele bei Lukian mit eindeutigem Bezug zur Vergangenheit: Demon. 67; Symp. 19; Zeux. 2; Somn. 6 (οἷος ἦν ὁ θεῖος ὁπότε ξέοι τοὺς λίθους).

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5. Kommentar (§§1–4)

Plat. Ep. 5,321c bedeutet andererseits, dass ein Ratschlag ähnlich wie die ξενία, die Gastfreundschaft, aufgrund seines Schutzes durch die Götter heilig ist. Wenn nun der Ratgeber dieses Sprichwort aufgreift, unterstreicht er damit erstens seine freundschaftliche Haltung dem jungen Mann gegenüber, zweitens aber auch gleich die Haltung gegenüber sich selbst, da er seiner Person besondere Wichtigkeit beimisst. Drittens, und das halte ich für zentral, dürfte Theages als Kontrasttext eine tragende Rolle spielen: Einmal mehr ist das setting ähnlich, denn Sokrates, der um einen Rat für die Ausbildung eines jungen Mannes, der sich unbedingt in die Hände der Sophisten begeben will, gefragt wird, antwortet, dass er selbstverständlich helfen werde, da jeder Ratschlag heilig sei, derjenige im vorliegenden Fall aber ganz besonders, da es um παιδεία gehe.501 Die angesprochene Bildung steht – als Weisheit und Philosophie – in Kontrast zu der im vorliegenden Text lächerlich gemachten bzw. als unnötig erachteten (rhetorischen) Bildung, so dass der Ratgeber (als ›falscher Sokrates‹) dieses (sokratische) Sprichwort in unangemessener Weise verwendet, wodurch er es parodiert. Diese Verzerrung des Sprichworts wirft wiederum ein schiefes Licht auf den Sprecher selbst.502 Natürlich erweist auch die konkrete inhaltliche Darlegung des Ratschlages im Laufe von Rh. Pr., v.a. die Ausführungen des Rednerlehrers, das ἱερόν χρῆμα im Nachhinein als höchst ironisch. In ebenfalls ironischer Verwendung gebraucht Lukian das Sprichwort nochmals in Adv. Ind. 25.503 τάχιστα Der Beruf der Sophisten ist im 2. Jh. n.Chr. mit sehr hohen Bildungsanforderungen verbunden, so dass die Aussage des Ratgebers über die rasche Ausbildungsmöglichkeit absolut unkonventionell ist.504 Interessant ist ein Vergleich von Rh. Pr. mit Platons Sophista, wo sich immer wieder Parallelen, gerade zur Profession und zur Ausbildung von Rednern, finden lassen. So wird der Sophist aufgrund der Tatsache, dass er andere in allem streitbar macht, in 233c–234a als Alles- bzw. Scheinwisser definiert (weil alles zu wissen für Menschen unmöglich ist), der noch dazu anderen dieses Scheinwissen in kurzer Zeit, ὀλίγῳ χρόνῳ (234a), vermit501

εἴπερ οὖν καὶ ἄλλη ἡτισοῦν ἐστιν ἱερά, καὶ αὕτη ἂν εἴη περὶ ἧς σὺ νῦν συμβουλεύει· οὐ γὰρ ἔστι περὶ ὅτου θειοτέρου ἂν ἄνθρωπος βουλεύσαιτο ἢ περὶ παιδείας [...]. 502 Der Ratgeber bedient sich auch an anderen Orten ›sokratischer‹ Sprache, gerade was Religions- und Mysterienterminologie angeht (vgl. Rh. Pr. 14). Vgl. auch Joyal [2000] 212f.: »Socrates’ use of religious language in connection with the topic of education [...] is not at all out of character; elsewhere he speaks of instruction – philosophy in particular – as initiation into mysteries [...].« 503 Allgemein zur Verwendung von Sprichwörtern bei Lukian vgl. Bompaire [1958] 405–424 (zu weiteren platonischen Sprichwörtern 411 Anm. 5). 504 Vgl. ausführlicher dazu den Kommentar zu §§9–10 und §17.

§1: Einleitung (Proömium)

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telt. Vor diesem Hintergrund mutet es den Rezipierenden der lukianischen Schrift verdächtig an, wenn der Briefschreiber seinem Zögling ausgerechnet eine solche Blitzkarriere in Sophistik aufzeigt, wissen wir doch seit Platon um die kritischen Punkte dieser Tätigkeit bzw. des von ihren Vertretern vermittelten Wissens. γνῶναί τε τὰ δέοντα καὶ ἑρμηνεῦσαι αὐτά Abgesehen von einer kleinen Alternation am Ende liegt eine wörtliche Wiederaufnahme von Thuk. Hist. 2,60,5 vor, wo Perikles den Athenern sagt, er halte sich für keinem unterlegen, was γνῶναί τε τὰ δέοντα καὶ ἑρμηνεῦσαι ταῦτα angehe. Auf dieselbe Passage verweist Lukian in Salt. 36 mit expliziter Nennung des Thukydides (auch für einen Tänzer sei das, was Perikles bei Thukydides sage, die höchste Auszeichnung, wobei ἑρμηνεῦσαι in diesem Fall nicht rednerische, sondern pantomimische Fähigkeiten, die Klarheit der tänzerischen Bewegungen, meine). Indem Lukian seinem Sprecher diese berühmten Thukydides-Worte in den Mund legt, verspricht dieser, dem jungen Mann die höchste, klassische Kompetenz eines Redners zu vermitteln, ja sogar die Kompetenz des Perikles selbst, und dies in kürzester Zeit – ein ambitioniertes Unterfangen, das wiederum ein Eigenlob des Ratgebers beinhaltet, das gleichzeitig den Schüler in die Ränge der besten Redner emporhebt. Perikles gilt bereits in klassischer Zeit, und in der Zweiten Sophistik umso mehr, als vorbildlicher Redner und Politiker (vgl. z.B. Plat. Phdr. 269e; kritisch allerdings Gorgias 515c–516d), der wohl sehr oft als fiktiver Sprecher einer μελέτη gewählt wurde, was aus der Tatsache geschlossen werden kann, dass die Perserkriege und speziell die von Thukydides behandelten historischen Ereignisse, der Peloponnesische Krieg, zu den Kernthemen der Deklamationen der Zweiten Sophistik gehören. Vgl. dazu Russell [1983] 106f., speziell zu Thukydides’ Methodik bezüglich seiner Reden 112; zu Perikles 111: »Speeches of Pericles were in circulation, but widely known to be false, for he left no written work behind« (vgl. dazu Plut. Pericl. 8,5: ἔγγραφον μὲν οὖν οὐδὲν ἀπολέλοιπε πλὴν τῶν ψηφισμάτων). ἑρμηνεύειν/ἑρμηνεία ist schon bei Anaximenes (Kap. 23–28) als Terminus für »sprachlichen Ausdruck; Stil« verwendet, was allerdings sonst v.a. als λέξις geläufig ist (vgl. Aristoteles und die verlorene Schrift des Theophrast mit dem Titel Περὶ λέξεως).505 Zur Zeit des Thukydides dürfte ἑρμηνεύειν noch nicht in dem Mass rhetorisch aufgeladen sein, wie es später der Fall ist: Zentral für die Verwendung des Terminus ist Demetr. Περὶ ἑρμη505 In Aristoteles’ Rhetorik ist der Begriff ἑρμηνεία nicht belegt. Vgl. zum Ersatz des Terminus λέξις durch ἑρμηνεία Chiron [1993] XXVI.

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5. Kommentar (§§1–4)

νείας, eine Schrift, deren Autorschaft und Datierung unsicher sind.506 Was das Thukydideszitat anbelangt, so weist Gondos [1996], wenn auch nicht konkret für den Begriff der ἑρμηνεία, rhetorische Reflexion in Vokabular und Konzepten bereits des thukydideischen Werkes nach; somit kann ἑρμηνεύειν, selbst wenn Thukydides es noch nicht als spezifischen Fachterminus verwendet haben sollte, vom kaiserzeitlichen Rezipienten leicht in rhetoriktheoretischem Sinn verstanden werden. Die Kürze des zu absolvierenden Lehrganges, gepaart mit der Exzellenz (vgl. die Superlative §1: τὸ σεμνότατον ὄνομα; §2: εὐγενέστατοι) des daraus hervorgehenden Redners (eine a priori und speziell für Platon-Kenner unmögliche Kombination), wird in diesen Anfangsparagraphen immer wieder betont: §1 oben: τάχιστα; §3: ἐπιτομωτάτην (ὁδόν), ἐν βραχεῖ; §4: ἐν βραχεῖ, τὴν ταχίστην ὁδόν. μελετᾶν Sowohl Verb als auch Substantiv sind bei Platon über 60x belegt, zur Bezeichnung des Sich-Übens in einer bestimmten Kunst (z.B. im engeren Sinn bezüglich Rhetorik Gorgias 511b–c), aber auch in einem viel weiter gefassten Kontext zur Bezeichnung des Bemühens um die Lösung eines philosophischen Problems bzw. um Erkenntnis. Auch hier wird also ein typisch philosophischer Terminus herangezogen, dessen Inhalt, das unablässige Sich-Üben, wenig später bereits wieder karikiert erscheint (vgl. §3, speziell die Darstellung derer, die sich auf dem langen Weg abmühen).507 τὸ τέρμα Das Substantiv τέρμα, sowohl in Poesie als auch Prosa verbreitet, beinhaltet folgende Bedeutungsnuancen: »Zielpunkt, Endpunkt, Lebensende«, sowie »Ziel- bzw. Wendemarke« in einem Wettlauf (so immer in Homers Ilias, z.B. 22,162). Die Metaphorik eines Rennens dürfte bei der hier gewählten Formulierung ἔστ’ ἂν ἀφίκῃ πρὸς τὸ τέρμα hineinspielen; vgl. auch die wiederholte Darstellung des raschen Ersteigens des Berges der Rhetorik, so dass der neue Redner sie im besten Alter ›heiraten‹ kann, wobei er Konkurrenten auf dem langen Weg weit hinter sich lässt (§§3, 6, 10: ἀκμάζων ἔτι; auch §26).

Vgl. Fuhrmann [41995] 143f. und die Einleitung in der Ausgabe von Chiron [1993] XIII– XL mit einer Diskussion sämtlicher Datierungsvorschläge (sie reichen von ca. 270 v.Chr. – mit Zuweisung des Werkes an Demetrios von Phaleron – bis ins 1./2. Jh. n.Chr.). Chiron selbst tendiert zu einer Datierung Ende 2./Anfang1. Jh. v.Chr. (Demetrios von Syrien?). 507 Vgl. dazu auch die Einleitung 1.3. 506

§2: Einleitung (Proömium)

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§2 θήραμα οὐ σμικρὸν Zur verwendeten Jagdmetaphorik vgl. auch §3: ἀγρεύσεις. Mit ähnlichen Formulierungen wird bei Platon mehrfach die Schwierigkeit der Erörterung philosophischer Fragen ganz allgemein betont, so z.B. Sph. 217b (über die Definition von Sophist, Staatsmann, Philosoph): οὐ σμικρὸν οὐδὲ ῥᾴδιον ἔργον. Speziell auf Rhetorik bezogen vgl. Phdr. 271c–272b: Sokrates legt dar, dass Rhetorik Seelenleitung, ψυχαγωγία, sei, und darum der Redner Kenntnis der Arten der Seele haben müsse, um gut sprechen zu können, anders sei es nicht möglich; Phaidros kann nur zustimmen (272b): ἀδύνατόν που, ὦ Σώκρατες, ἄλλως· καίτοι οὐ σμικρόν γε φαίνεται ἔργον.508 Konkrete Jagdbilder, und damit das Vokabular θηρεύειν, θήρα, θηρευτής, für die fortschreitende dialektische Suche nach Wahrheit finden sich z.B. in Lysis 218c (καὶ δὴ καὶ αὐτὸς ἐγὼ πάνυ ἔχαιρον, ὥσπερ θηρευτής τις, ἔχων ἀγαπητῶς ὃ ἐθηρευόμην); Phaidon 66a+c (ἕκαστον [...] θηρεύειν τῶν ὄντων; ἡ τοῦ ὄντος θήρα).509 Die hier vom Ratgeber gemachte Bemerkung passt oberflächlich zu denjenigen sokratisch-platonischen Stellen, die den Weg zur (Rhetorik-)Philosophie als lang beschreiben. Dennoch wird gleich im nächsten Kapitel (§3) der kürzeste, angenehmste Weg in Aussicht gestellt und die durch den platonischen Subtext erzeugte Erwartung enttäuscht. Der Weg des Ratgebers steht damit in Kontrast zu dem, was Sokrates z.B. seinem Zögling Alkibiades vor Augen zu führen versucht: seine Unwissenheit und den langen Weg, der ihm bevorsteht (vgl. auch die Einleitung 1.3).510 ἀγρυπνῆσαι Der Begriff ruft das hellenistische Dichterideal auf. In Verbindung mit dem Ideal der λεπτότης vgl. Kallimachos Epigr. 27,4 (Pfeiffer) über die Phainomena des Arat: χαίρετε λεπταὶ ῥήσιες, Ἀρήτου σύμβολον ἀγρυπνίης. 508

Siehe bereits die Einleitung 1.3, S. 38f. Zur Jagdmetaphorik bei Platon siehe Classen [1960], bes. 30–52. An vorliegender Stelle ist wohl zusätzlich von Bedeutung, dass Platon in Sophista Jagdmetaphorik auch durchgängig zur Kritik der Sophisten einsetzt, indem er sie als Jäger nach Ruhm und Reichtum darstellt (vgl. das θήραμα des Schülers in Rh. Pr.). Die ›Entlarvung‹ der Sophisten durch die Dialogpartner ist dabei ebenfalls als Jagd charakterisiert (die Gattung des Sophisten ist schwierig zu definieren, vgl. Sph. 218d: χαλεπὸν καὶ δυσθήρευτον τὸ τοῦ σοφιστοῦ γένος), so dass »Suchender und Gesuchter [...] im gleichen Bild [erscheinen]« (Classen [1960] 47). Zu Sokrates selbst als »Jäger von Worten« im Sinne exakter Definitionen vgl. Grg. 489b und 490a. 510 Zur Bedeutung des Inhalts von §2 im Rahmen des Proömiums vgl. die Einleitung 1.1.2, bes. Anm. 20. 509

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5. Kommentar (§§1–4)

Damit doppelt der Autor nach: Zur Terminologie des ernsthaften, anstrengenden und langwierigen Philosophierens gesellt sich, passend zum Thema Rhetorik, diejenige des sprachlichen ›Feilens‹ der Alexandriner.511 Vgl. auch §9: ἀγρυπνίαν καὶ ὑδατοποσίαν, dort allerdings als eine der lächerlichen Forderungen des Lehrers des langen Weges aufgeführt, hier nur kurz ernsthaft im Ton und sogleich wieder spöttisch unterwandert (vgl. §3). ὁπόσοι τέως μηδὲν ὄντες ἔνδοξοι καὶ πλούσιοι καὶ νὴ Δί’ εὐγενέστατοι κτλ. Schmitz ([1997] 56) weist darauf hin, dass neben der gebildeten Aristokratie, aus der sich ein Grossteil der Sophisten rekrutierte, aufgrund der Quellen auch eine sozial niederere Schicht, die dennoch durch ihre Bildung als Lehrer oder Redner zu einem gewissen Vermögen kommen konnte, existiert haben muss (vgl. dazu auch Luk. Somn. und Merc. Cond.). Der Ratgeber malt seinem Schüler hier aus, dass durch Berühmtheit und Reichtum sich automatisch auch die soziale Stellung verbessere und der Redner als εὐγενής, als Aristokrat, Geltung erlangen könne. Vgl. dazu auch Sommerbrodt ([21878] 59): Die Formulierung νὴ Δί’ εὐγενέστατοι sei eine »ironische Verstärkung, um die Uebertreibung hervorzuheben, dass selbst das γένος durch den Ruhm der Beredsamkeit an Adel gewinnt«. Dies ist wohl ganz im Sinn des ruhmgierigen Schülers, obwohl er das Streben nach Reichtum und Aristokratie nicht selbst als Ziele angibt, sie ihm vielmehr vom Ratgeber unterstellt werden (vgl. den Kommentar zu §1: ἄμαχον κτλ.).

§3 Nun schreitet der Ratgeber zu einer konkreteren Darlegung dessen, was den Schüler erwarten wird. Die zwei Wege, die man wählen kann, um zur Rhetorik zu gelangen – der mühevolle, langdauernde und der kurze, einfache – werden ein erstes Mal beschrieben, wobei der Ratgeber gleich deutlich verkündet, dass er seinen Schüler ohne jede Mühe und Anstrengung auf den Gipfel des Berges der Rhetorik bringen wird (obwohl der Schüler sich in keiner Weise über die erwartete Dauer seiner Ausbildung geäussert bzw. Kürze nicht explizit gefordert hat, vgl. den Kommentar zu §1: τὰς [...] ὁδοὺς κτλ.). Der Ratgeber inszeniert hier den Beginn des Agons zwischen sich (bzw. später dem Rednerlehrer) und den Lehrern des langen Weges, von denen er 511 Zu diesem Epigramm und dem kallimacheischen Kunstverständnis vgl. Riedweg [1994a] 126–133.

§3: Einleitung (Prothesis/Dihegesis I)

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sich absetzt (vgl. aber die ›Kehrtwende‹ in §26).512 Dass die bereitwilligen Auskünfte an den jungen Mann nicht zuletzt auch der Befriedigung eigener Eitelkeit dienen, wird in einzelnen konkreten Formulierungen besonders deutlich, aber auch generell in seinem Stolz über die Möglichkeit des neuen, kurzen Weges, den er anzubieten vermag (ἐπεὶ οὐδὲν ἂν διεφέρομεν τῶν ἄλλων, s.u.; τό γε παρ’ ἡμῶν ἐξαίρετόν σοι τῆς συμβουλῆς τοῦτό ἐστιν). Die Charakterisierung der beiden zueinander in Opposition stehenden Wege erfolgt in sorgfältiger stilistischer Gestaltung, indem die dem langen Weg zugeordneten Adjektive, welche nach dem Gesetz der wachsenden Glieder aufgezählt sind (τραχεῖάν – ὄρθιον – ἱδρῶτος μεστὴν / μακρὰν – ἀνάντη – καματηρὰν – ὡς τὸ πολὺ ἀπεγνωσμένην), in der Darstellung des kurzen Weges allesamt kontrastiert werden; der kurze Weg wird dabei in seiner Idylle ausführlicher beschrieben: μακρὰν – ἀνάντη – καματηρὰν, ὡς τὸ πολὺ ἀπεγνωσμένην || ἡδίστην – ἐπιτομωτάτην – ἱππήλατον – κατάντη – διὰ λειμώνων εὐανθῶν καὶ σκιᾶς ἀκριβοῦς κτλ. μὴ δέδιθι Imperativ 2. Sg. zur Perfektform δέδια, in klassischem Griechisch nur einmal belegt (Ar. V. 373: μηδὲν ὦ τᾶν δέδιθι), hingegen finden sich knapp 80 Belege in nachklassischem Griechisch: In der Zweiten Sophistik neben Lukian (vgl. Bis Acc. 8; Dear. Iud. 7 u.ö.) bei Libanios Decl. 43,74,5; bei Philostrat VA 5,36,16 und Heroicus 45,1 (Teubner; Olearius p. 729,12; vgl. die Belege bei Schmid [1896] 4,34), später vor allem bei Kirchenvätern wie Johannes Chrysostomos (z.B. In Genesim PG 54,509,44; In Matthaeum PG 58,553,50f. Migne); Basilios (De vit. et mirac. sanct. Thecl. 1,23,25); dann auch Eustathios (z.B. Comm. ad. Hom. Od. vol. 1, p. 224,35 und vol. 2, p. 191,45).513 Man könnte diese nachklassische Form zusammen mit dem ebenso seltenen Wort ἀποδυσπετήσῃς (s.u.) dahingehend deuten, dass der Ratgeber seinen inhaltlich neuen Weg zur Rhetorik (und damit die Absetzung von klassischer Rhetorik und endlosem Einüben des attizistischen Ideals) auch sprachlich untermauert.

512

Zum rhetorischen Mittel der διαβολή vgl. die Einleitung 1.1.2. Häufig ist die Verwendung des »fürchte [dich] nicht« bei Johannes Chrysostomos in seinen Predigten über verschiedene Bibelstellen, wobei diese Verbform in der Bibel selbst nicht belegt ist (hier wird das Verb φοβέομαι verwendet, z.B. in der berühmten Stelle der Verkündigung von Christi Geburt durch den Engel des Herrn: Lukas 2,10; siehe dazu Blass/Debrunner, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, 161984, §96.2, S. 70). 513

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5. Kommentar (§§1–4)

ἀποδυσπετήσῃς Das Verb ist klassisch nur bei Aristoteles Topik 163b19 belegt. Dem Attizisten Pollux (3,131) ist zumindest das Adjektiv geläufig, er verzeichnet unter verschiedenen Begriffen für »schwierig, mühselig« δυσπετής (»schwerfallend«, vgl. πίπτειν) zusammen mit dem gegenteiligen Begriff εὐπετής (3,133). Zur inhaltlichen Deutung dieser seltenen Vokabel s.o. zu: μὴ δέδιθι. Bei Lukian findet sich das Verb nochmals in sehr ähnlichem Kontext in Hermot. 5: Hermotimos beschreibt den Weg auf den Berg der virtus: Viele geben, sobald sie die erforderlichen Mühen sehen, auf (ἀποδυσπετοῦσι) und kehren um (ἀναστρέφουσιν), ausser Atem und schweisstriefend (ἱδρῶτι ῥεόμενοι), der Anstrengung (κάματος) nicht gewachsen. Wer aber den Gipfel erklimmt, kann die andern von oben herab wie Ameisen betrachten. Die wörtlichen Parallelen zu Rh. Pr. 3 sind zahlreich: ὡς [...] ἀναστρέψαι; ἱδρῶτος μεστὴν [ὁδόν]; καματηρὰν [ὁδόν]; ἐκείνους [...] ἀπὸ τοῦ ὑψηλοῦ ἐπισκοπῶν; vgl. auch §8 über den langen Weg: ἔγωγε κατ’ ἐκείνην ἄθλιος ἀνῆλθον τοσαῦτα καμὼν und §9 passim.514 ἱδρῶτος μεστὴν Es ist ein immer wieder erwähntes Charakteristikum des langen Weges, dass er viel Schweiss fordert (vgl. auch §7 und §10). Dazu gibt es zahlreiche Parallelen bei Lukian, wobei der ›lange Weg‹ nicht immer dasselbe enthält (meist stoische Lehre wie Hermot.; Rh. Pr. ist mit dem Thema der Rhetorikausbildung eher die Ausnahme, vgl. aber Plat. Phaidros: der lange Weg zur Rhetorik = der Weg zur Philosophie). Seinen Anfang nimmt das Bild des schweissreichen Weges beim klassischen Zeugnis des Hesiod (Erga 289) – dieser wird namentlich erwähnt in Rh. Pr. 7 (siehe dort) –, denn von ihm stammt die berühmte Aussage, der Weg zur Tugend sei schweissreich (vgl. die Einleitung 1.4). Lukian spielt immer wieder auf diesen Vers an, mit wörtlicher Nennung des Hesiod z.B. Menipp. 4 und Hermot. 2. Auch in klassischer Zeit ist dieses Hesiodzitat weit verbreitet, z.B. Plat. R. 364d; Lg. 718e; Prt. 340d. Entfernter, jedoch auch auf Hesiod abzielend (vgl. die Formulierung mit προ, bei Hes. προπάροιθεν) z.B. Demosth. Exordium 45,3,6: οὐ γὰρ ἴσος πόνος καὶ ἱδρὼς πρό τε τοῦ λέγειν καὶ πρὸ τοῦ πράττειν ἐστιν. Die Zeugnisse beinhalten teils eine allgemeine Erwähnung des steilen Berges (der ἀρετή), dessen Erklimmung viel Schweiss fordert, meist wird aber das Hesiodzitat adaptiert bzw. beansprucht im Bereich stoischer Lehre, nach welcher ἀρετή das höchste Gut ist. So beispielsweise in Bis Acc. 21: Epikur verteidigt vor Gericht seine Lehre gegenüber diesem steilen, an514

Zur Wegmetaphorik in Lukians Hermotimos vgl. die Einleitung 1.5.c.

§3: Einleitung (Prothesis/Dihegesis I)

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strengenden Tugend-Weg der Stoiker. Ein Vorwurf, der hier und anderswo anklingt, ist, dass man ja schon tot ist oder sein könnte, bevor man endlich auf dem Berg ankommt, vgl. Hermot. 6: οὐ γὰρ δὴ σέ γε εἰκὸς ἐπὶ τῷ ἀδήλῳ, εἰ βιώσῃ μέχρι πρὸς τὴν ἀρετὴν, τοσούτους πόνους ἀνέχεσθαι καὶ ταλαιπωρεῖν νύκτωρ καὶ μεθ’ ἡμέραν [...]515 und Rh. Pr. 9: κατὰ ὀλυμπιάδας [...] ἀριθμῶν; 10: εἰ τάχιστα ἐθέλεις τῇ Ῥητορικῇ συνεῖναι ἀκμάζων ἔτι. Weiter Hermot. 5 (vgl. schon oben unter ἀποδυσπετήσῃς).516 Vor diesem Hintergrund könnte an vorliegender Stelle durchaus ein stoisches Bild mitgezeichnet sein, das Bild eines entbehrungsreichen, strengen Trainings, das einen altern und dennoch nie zum Ziel kommen lässt, während der leichte Weg zur Rhetorik mit der Bezeichnung als ἡδίστη [ὁδός] sozusagen das epikureische Gegengewicht verkörpert.517 ἐπεὶ οὐδὲν ἂν διεφέρομεν τῶν ἄλλων Der Ratgeber übernimmt mit diesen Worten sozusagen das Programm des Schülers (welcher sich ja zu einem ausserordentlich guten Sophisten ausbilden lassen will), indem er sich von allen anderen Rhetorikern absetzt und sich damit zum besten Rhetoriklehrer stilisiert. ἀνάντη [ὁδόν] ἀνάντης (»steil«) weist bei Platon nur vage Parallelen auf (Phdr. 247b1: der »Aufstieg« der Seelen; vgl. allerdings auch R. 364d3: das Hesiodzitat Erga 287–9 mit der Ergänzung, der Weg zur ἀρετή sei lang und steil: καί τινα ὁδὸν μακράν τε καὶ τραχεῖαν καὶ ἀνάντη). Lukian selbst verwendet das Adjektiv in Merc. Cond. 42 in sehr ähnlichem Kontext: Der Sprecher zeichnet in Anlehnung an die Tabula des Kebes ein Bild des Lebens derjenigen, die in den reichen Haushalten dienen: Alle wollen auf den Berg des Reichtums (Πλοῦτος) gelangen, der Aufstieg ist jedoch lang, steil (ἀνάντης) und schlüpfrig-glatt (ὄλισθος; vgl. Rh. Pr. 3: ὀλισθηρός weiter unten), so dass man sich dabei leicht den Hals brechen kann durch einen Fehltritt (ἐκτραχηλισθῆναι διαμαρτάνοντος τοῦ ποδός). Zum Verb ἐκτραχηλίζειν ([vom Pferd:] »über den Nacken hinunter-

515 »Denn es ist ja nicht wahrscheinlich, dass du ohne Klarheit darüber, ob du leben wirst bis zum Erreichen der Tugend, so grosse Anstrengungen auf dich genommen hast und Tag und Nacht dich plagst [...].« 516 Eine witzige Einlage desselben Inhaltes bietet Lukian auch in Ver. Hist. 2,18: Die Stoiker befinden sich nicht auf den Inseln der Seligen, da sie noch immer den Berg der Tugend zu erklimmen versuchen (τῶν δὲ Στωϊκῶν οὐδεὶς παρῆν· ἔτι γὰρ ἐλέγοντο ἀναβαίνειν τὸν τῆς ἀρετῆς ὄρθιον λόφον). 517 Vgl. ferner die Anmerkungen zur Kombination der Begriffe ἱδρώς und ᾆσθμα im Kommentar zu §20: οἱ πολλοὶ δὲ τὸ σχῆμα καὶ φωνὴν [...] καὶ τὸ ἆσθμα.

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werfen«, »jmd. stürzen«, pass. »herabstürzen«) vgl. Rh. Pr. 10: σὺ δὲ μήτε πείθεσθαι μήτε προσέχειν αὐτῷ, μή σε ἐκτραχηλίσῃ [...]. καματηρὰν [ὁδόν] καματηρός (»ermüdend, mühselig«) ist klassisch selten belegt; Platon, bei dem andere Adjektive zur Beschreibung steiler, anstrengender Wege zu finden sind,518 verwendet es nicht. Vgl. aber mit ähnlichem Kontext A. R. 2,87: ἱδρῶ καματηρόν; Hom. h.Ven. 246; Hdt. 4,135,1. ἱππήλατον [ὁδόν] Dieser Begriff gehört in den homerischen Kontext; besonders häufig findet sich das Substantiv ἱππηλάτης »Rossetreiber«, meist mit vorausgehendem γέρων (δ’ / θ’). Das Adjektiv ist in der Odyssee zweimal belegt, bezogen auf die Insel Ithaka, welche nicht ἱππήλατος sei (4,607 und 13,242). Dass ἱππήλατος (»für Pferde betretbar«) auch die Konnotation »mit einem Wagen befahrbar« hat, sieht man in Od. 4,590ff. an den Geschenken, die Menelaos Telemachos mitgeben will: nicht nur Pferde, sondern einen Wagen dazu, vgl. LfgrE s.v. Zudem beinhaltet schon das Substantiv ἱππηλάτης die doppelte Konnotation, da es denjenigen bezeichnet, der auf dem von einem Pferd gezogenen Kampfwagen steht. Klassische Belege sind selten, z.B. Aischylos Persae 126 und Aristophanes Aves 1443, letzterer wiederum mit der Doppeldeutigkeit des Reitens auf Pferden sowie des Fahrens auf (von Pferden gezogenen) Wagen (die Rede ist von der kostspieligen Freizeitbeschäftigung junger Männer als Wagenlenker, vgl. auch Nu. 68–70 und 119f.). Auch wenn das Adjektiv ἱππήλατος in der vorliegenden Darstellung in erster Linie die Breite und Bequemlichkeit des Weges veranschaulichen soll, ist wohl die luxuriöse Konnotation eines Wagens mitbedacht.519 Denn Lukian verwendet das Adjektiv zwar kein zweites Mal, zeichnet aber das Bild des Starredners, der in einem Wagen einherfährt, sowohl in Rh. Pr. 11 und 26 (τὰ τέθριππα ἐλαύνων τοῦ λόγου / πτηνὸν ἅρμα ἐλαύνοντα; s. dort) als auch in Somn. 15 (ὄχημα ὑποπτέρων ἵππων). Zudem finden wir in Philostrat VS 587 die Beschreibung, wie der extravagante Sophist Hadrian von Tyros in einem prunkvollen Wagen zu seinen Auftritten zu fahren pflegte (ἐπ’ ἀργυροχαλίου ὀχήματος). Pollux (9,19,6; 9,38,1) und Strabon (6,3,7; 17,1,8) erwähnen später neben ἱππήλατος den Begriff ἁμαξήλατος in der Bedeutung »für Wagen 518 Phdr. 272c: πολλὴ καὶ τραχεία [ὁδός]; R. 364d: μακρά τε καὶ ἀνάντης [ὁδός]; Ep. 7,340e: χαλεπόν (neutr.). 519 Daher habe ich entsprechend übersetzt: »[...] dass du auf dem angenehmsten und zugleich kürzesten [Weg], der mit einem Wagen befahrbar ist [...].«

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fahrbar«, so dass die Fortbewegung zu Pferd und mit Wagen durch je ein verschiedenes Adjektiv ausgedrückt werden kann (bei Lukian ist ἁμαξήλατος nicht belegt). κατάντη [ὁδόν] Die Nennung der Begriffe ἀνάντης und κατάντης bildet die wohl auffälligste Opposition in der Gegenüberstellung der beiden Wege und ihrer Charakteristika, vor allem deshalb, weil die Darstellung des kurzen Weges als abwärts führend (κατ-άντης), wobei man aber dennoch gemächlich hinaufgeht (ἀν-ιών) und schliesslich auf einer Bergspitze (ἄκρα) anlangt, ein Paradoxon darstellt.520 Auf diese ›illusionistische‹ Szenerie und Wanderung (die wenig später auch mit dem Schlaf, und so implizit mit einem Traum, verglichen wird521) soll sich nun der Rhetorikaspirant einlassen, wobei der Ratgeber dieser unwirklich anmutenden ersten Darstellung durch nachgelieferte ›Beweise‹ Rechnung trägt (vgl. §4 und zur Paradoxität der Darstellung §5 mit dem Kommentar zu: τὸ παράδοξον). διὰ λειμώνων εὐανθῶν Speziell nahe an dieser Formulierung in Rh. Pr. ist einmal mehr Hermot., wo dargelegt wird, dass viele verschiedene, einander ganz unähnliche Wege zur virtus bzw. zur Stadt führen (die stoische virtus wird mit einer Stadt verglichen, in der alle glücklich sind). Lykinos spricht das Problem an, dass man nicht weiss, wohin man sich wenden soll, und schildert die zwei von der geforderten Anstrengung her gegensätzlichen Wege, genau wie das der Ratgeber thematisiert (§25): ἡ μὲν διὰ λειμώνων καὶ φυτῶν καὶ σκιᾶς εὔυδρος καὶ ἡδεῖα οὐδὲν ἀντίτυπον ἢ δύσβατον ἔχουσα, ἡ δὲ πετρώδης καὶ τραχεῖα πολὺν ἥλιον καὶ δίψος καὶ κάματον προφαίνουσα. Vgl. Rh. Pr. 3: τραχεῖαν; ἱδρῶτος μεστὴν; καμόντα; καματηράν; διὰ λειμώνων εὐανθῶν καὶ σκιᾶς ἀκριβοῦς und §7: ἡ μὲν τραχεῖα, πολὺ τὸ δίψος ἐμφαίνουσα καὶ ἱδρῶτα, ἡ δὲ ἑτέρα εὔυδρος [...]. Die Beschreibung des schnellen, einfachen Weges beinhaltet ein idyllisches Element, das auch bei Homer und Platon im Zusammenhang mit »Wiesen« vorkommt. So findet sich eine idyllische Wiesenlandschaft auf der Insel der Kalypso, auf der Hermes staunend landet (Od. 5,72) und die idyllische Insel Atlantis mit ihren Seen, Flüssen und Wiesen (Kritias 118b). Speziell häufig ist das Wort λειμών bei Homer, Platon und auch Aristophanes aber im Zusammenhang mit Unterweltsdarstellungen (Asphodeloswie520 Vgl. bereits Wieland [1789] in seinen Anmerkungen zum Text (Bd. 6, S. 6 Anm. 5): »Freilich ist das eben das Wunderbare, dass man durch beständiges Absteigen auf die Spitze eines hohen Berges kommen soll!« 521 Vgl. §3 Ende: μονονουχὶ καθεύδων und zur Berufswahl im Traum allgemein Luk. Somnium.

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5. Kommentar (§§1–4)

se: Od. 11–12 passim und Od. 24,13; Grg. 524a; Mythos des Er: R. 614e und 616b), was für den vorliegenden Text eine mögliche Kontrastfolie bietet (vgl. den abwärts führenden kurzen Weg), siehe bes. Aristophanes Ra. 374 (εὐανθεῖς κόλπους λειμώνων) und 449 (ἀνθεμώδεις λειμῶνας). Das in Rh. Pr. verwendete Attribut εὐανθής ist nur bei Aristophanes ebenso vorhanden, Homer benutzt zur Beschreibung »blumiger Wiesen« das Adjektiv ἀνθεμόεις (Il. 2,467; Od. 12,159). Auch Lukian selbst beschreibt die Unterwelt, insbesondere die Insel der Seligen neben anderen Charakteristika durch zahlreiche Blumenwiesen (Ver. Hist. 2,5–6 und 2,14); zudem ist das Abhalten von Symposien ein zentraler Bestandteil des Lebens auf dieser Insel (Ver. Hist. 2,14), man vergleiche die Fortsetzung in Rh. Pr. 3, wo der Aspirant sich, nachdem er durch herrliche Wiesenlandschaften auf den Berg (hinab)gestiegen ist, als Symposiast lagern kann (εὐωχήσῃ κατακείμενος [...] ἐστεφανωμένος). Aus attizistischer Sicht wird Lukians Wortverwendung durch Pollux’ Vermerk bestätigt, bei positiver Konnotation nenne man Wiesen λειμῶνες εὐανθεῖς (1,229,2; 1,230,4; v.a. 1,239,5; hier werden auch positive Eigenschaften wie »schattig« und »wohlbewässert« erwähnt, vgl. Rh. Pr. 3: σκιᾶς ἀκριβοῦς und 7: εὔυδρος). Lukian selbst verwendet die Kombination λειμὼν εὐανθής neben Ver. Hist. 2,6 (s.o.) noch in De Domo 9. [διὰ] σκιᾶς ἀκριβοῦς Die Junktur ist so nur an vorliegender Stelle bei Lukian belegt, ähnlich einzig noch Alex. Aphr. In Mete. p. 120, 25 (Hayduck), im Zusammenhang mit einer Mondfinsternis vom Erdschatten: δι’ ἐγγύτητα τοῦ ἀκριβοῦς σκιάσματος ἀπομαραίνηται. ἀκριβής ist hier im Sinne von »genau passend, richtig, vollkommen« bzw. »im eigentlichen Sinne des Wortes« (vgl. LSJ s.v.) aufzufassen (also: »vollkommener, echter Schatten«), vgl. in einer ähnlichen Verwendung Pollux 1,105 (über die Bezeichnung günstiger Wetterverhältnisse in der Schifffahrt): δι’ ἀκριβοῦς αἰθρίας, δι’ ἀνεφέλου τοῦ ἀέρος (»vollkommen heiterer Himmel«) und Plat. R. 341c: ὁ τῷ ἀκριβεῖ λόγῳ ἰατρός sowie 342d: ὁ ἀκριβὴς ἰατρός (»der wahrhaftige Arzt«).522 ἀγρεύσεις Zur Jagdmetaphorik vgl. den Kommentar zu §2: θήραμα οὐ σμικρὸν.

522 Vgl. auch Luk. Tox. 15: λύττα ἦν ἀκριβὴς τὸ πρᾶγμα; Nav. 9: νυκτὸς οὔσης καὶ ζόφου ἀκριβοῦς.

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ἐκείνους ὁπόσοι Überliefert ist ἔκπνους (β) neben ἐκείνους (γ); ich folge hier gegen Macleod der Überlieferung von γ (so auch Harmon). Vgl. dazu Nesselrath [1984] 597: »Eine preziöse Konjektur [...] scheint ἔκπνους β zu sein: Das Adjektiv ist sonst bei Lukian nicht zu finden und stellt an dieser Stelle eine verkehrte Vorwegnahme dar [...]. ἐκείνους γ bietet dagegen einen völlig unanstössigen Text.« Zwar bin ich der Meinung, dass die Atemlosigkeit derer, die noch am Fuss des Berges der Rhetorik stehen, inhaltlich zur Illustration der Tatsache, dass der steile Weg schon von Beginn weg riesige Anstrengungen erfordert, durchaus seine Berechtigung hätte, schliesse mich aber Nesselraths Beurteilung der Lesart als preziöse Konjektur an.523 κατὰ [...] ἀνέρποντας Die Grundbedeutung von κατά mit Genitiv ist »von-herab«, »unter«, (seltener) »auf einen Punkt hin« (vgl. §9), »gegen«. Keine dieser Bedeutungen passt hier genau. Es gibt zwar auch weitere Belege, in denen die Grundbedeutung »hinunter« weniger deutlich ist (z.B. S. El. 1433; vgl. K.-G. II 1,476) doch könnte man sich ein weiteres, bewusstes Wortspiel zusammen mit ἀν-έρπειν denken: »von Abhängen herab ... hinaufkriechen« illustriert das dauernde Hinuntergleiten derer, die sich am steilen Berg abmühen und bereitet sprachlich das kopfüber Hinunterfallen (ἀποκυλιομένους ἐπὶ κεφαλὴν) vor. ὀλισθηρῶν Das Adjektiv ist bei Lukian mehrfach belegt (6 Belege neben Rh. Pr.) und bezieht sich grösstenteils auf schlüpfriges, glattes Terrain/Untergrund (so Charon 5; Hermot. 3; Dial. Mar. 14,3). Hermotimos enthält einmal mehr die engste Parallele, denn der Stoiker beschreibt, wie er sich noch ganz am Anfang des Weges zur ἀρετή befindet – ein Weg, der schlüpfrig und rau ist, auf dem man einen Helfer braucht (vgl. auch die Bemerkungen oben unter §3: ἀποδυσπετήσῃς).524 παρὰ τῆς Ῥητορικῆς Was der Schüler in der Bilddarstellung von der personifizierten Rhetorik erhalten wird, wird ihm in der Realität der Ratgeber (bzw. dessen Stellvertreter, der Rednerlehrer) vermitteln, so dass dieser sich die Stilisierung als 523 Anders die Bewertung vom Mras [1911] 168, der die Überlieferung ἔκπνους (Codex B – über dessen Wichtigkeit für Rh. Pr. siehe Anm. 475) als richtig einstuft. 524 Pollux (1,187,2; 6,119,5; 6,146,5; 8,81,2) erwähnt das Adjektiv ὀλισθηρός in zwei Kontexten: Erstens könne eine χωρία so genannt werden, zweitens aber auch die γλῶττα eines Menschen, und zwar im Sinn von »Schwätzer«, der nie aufhört zu reden, sowie im Sinn von einem, der Schlechtes sagt, gleichbedeutend mit βλασφημός.

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5. Kommentar (§§1–4)

ῥητορικὴ τέχνη höchstpersönlich anmasst.525 Inhaltlich werden die genannten ἀγαθά in §6 in der Bildbeschreibung nach Art des Kebes weiter ausgeführt: Das Horn der Amaltheia (allgemeiner Überfluss materieller Güter), Reichtum, Ruhm, Stärke und Komplimente sind es, die dem Redner durch die Heirat mit der Rhetorik zufallen werden. Vgl. auch die Wiederaufnahme der Thematik in §24: ὅσα ἐν βραχεῖ παρέσται σοι τὰ ἀγαθὰ παρὰ τῆς Ῥητορικῆς.

§4 Es folgt die Untermauerung des Ratschlags, sich dem kurzen Weg zuzuwenden, durch ein argumentum a maiore in minus, welches allerdings auf wackligem Fundament steht:526 Der Ratgeber unterschlägt die Tatsache, dass Hesiod, der als Parallele und παράδειγμα herangezogen wird, seine dichterische Kunst nur aufgrund göttlichen Zutuns so leicht erlangen konnte, was im Fall des Schülers schwerlich geschehen wird – obwohl der Ratgeber, indem er sich bzw. den Rednerlehrer zur Muse stilisiert, genau dies impliziert (s.u. κάτοχος ἐκ Μουσῶν). ὑπόσχεσις ὑπόσχεσις ist weit verbreiteter Begriff, sowohl in Poesie als auch v.a. in Prosa. Auffällig sind die zahlreichen Belege bei Demosthenes, was mit den von ihm behandelten Themen zusammenhängt: Der Grossteil der Belege konzentriert sich auf die Philippika und auf De falsa legatione, das Wort bedeutet jeweils »falsche Versprechungen«, sei es Philipps oder seiner Unterstützer, besonders Aischines’. Die vorliegende Stelle ist ein Zitat von Demosth. Phil. 1,15 (Demosthenes über sein eigenes Vorhaben, hier im neutralen Sinn): ἡ μὲν ὑπόσχεσις οὕτω μεγάλη [...]. Gerade weil Demosthenes für die Attizisten ein eminent wichtiger Autor ist, kann an dieser Stelle bei Lukian durchaus die Konnotation einer »falschen Versprechung« oder »Täuschung« mitschwingen, und sei es nur in dem Sinn, dass sowohl der Ratgeber als auch der später denselben Lehrgang im Detail darlegende Rednerlehrer ihre Versprechung zwar einlösen, der daraus resultierende Sophist aber seinen Erfolg nur anhand von Täuschungen und Tricks einheimsen kann.527 525 Zudem schlüpft er damit in die Rolle einer Frauenfigur, vgl. dazu die in §12 genannten Hetärenfiguren der Menander’schen Komödie. 526 Siehe dazu auch die rhetorische Analyse in Einleitung 1.1.2. 527 Erwähnt sei aus attizistischer Sicht, dass Pollux (5,105) sowohl ὑποσχέσθαι als auch ὑπόσχεσις unter ἐπαγγέλλεσθαι mit diversen anderen Ausdrücken für (neutral) »versprechen« einordnet.

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πρὸς Φιλίου Dies ist eine bekannte (elliptische) Junktur, die schon bei Platon belegt ist (Phdr. 234e2; Grg. 500b6 und 519e3; Minos 321c4) und bei Lukian noch dreimal vorkommt (Ikaromen. 3,17; Dips. 9,7; Herodot. 7,5). Dass Zeus Philios, Zeus der Freundschaft, gemeint ist, wird an Stellen deutlich, wo Διός steht, z.B. Phdr. und Minos sowie Aristeides Or. 4,8 (vgl. auch Or. 3,396). Die Grundsituation ist in all den erwähnten Stellen ein Gespräch zwischen zwei Freunden (Philosophen), wo der eine den andern »bei der Freundschaft« um Zustimmung oder Wohlwollen bittet, etwas bekräftigen will oder um eine Aussage, einen Neuansatz bittet (εἰπὲ πρὸς Διὸς Φιλίου / φέρε δὴ πρὸς Διὸς Φιλίου). Bei Lukian sind die Stellen alle in der Form eines Prohibitivs gehalten: »tu(t) das – bei unserer Freundschaft – bitte nicht!«; die Passagen aus den προλαλιαί Dips. und Herodot. sind einander und der hier vorliegenden Stelle im Stil ähnlich (an die Zuhörer/Adressaten gerichtet mit der Bitte um Wohlwollen gegenüber dem Sprecher: captatio benevolentiae). ἢ γὰρ Dies ist eine Konjektur Sommerbrodts, die Macleod übernimmt (überliefert ist εἰ γὰρ, von der Satzstruktur her schwierig). Sommerbrodt ([21878] 60) verweist auf parallele Konstruktionen im Lateinischen, vgl. Cic. Tusc. 5,32,90: An Scythes Anacharsis potuit pro nihilo pecuniam facere: nostrates philosophi facere non potuerunt?528 Vgl. über vorliegende Bedeutung von ἤ auch K.-G. II 2,532. Ἡσίοδος μὲν ὀλίγα φύλλα [...] λαβὼν Vgl. grundsätzlich zum Inhalt Hesiod Theogonie 22–34. Allerdings wird der dort genannte Lorbeerzweig (δάφνης ἐριθηλέος ὄζος; V. 30) spöttisch auf »einige Blätter« reduziert. In Rh. Pr. wird mehrfach auf Hesiod angespielt, vgl. §3 (der schweissreiche Weg); §7 (Hesiods treffende Beschreibung des langen Weges); §8 (Hesiod als Lügner / das Kronoszeitalter). Die Beurteilung des Dichters fällt ambivalent aus, in §3 erscheint er implizit negativ, da der schweissreiche Weg abgelehnt wird, an der vorliegenden Stelle §4 wird er positiv zur Untermauerung des Arguments herangezogen, jedoch sein Dichterdasein auch ironisierend-spöttisch zum Vergleich benutzt (s.u.), die Erwähnung in §7 ist positiv und lobt Hesiods präzise Darstellung des schweissreichen Weges – der aber trotzdem nicht beschritten werden soll, da Hesiod ein Lügner ist 528 »Konnte zwar der Skythe Anacharsis Geld für nichts erachten, unsere Philosophen dagegen nicht?«

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5. Kommentar (§§1–4)

(§8),529 wodurch sich der Kreis wiederum mit einer negativen Aussage schliesst. Eine letzte positive Nennung Hesiods erfolgt in §8 in der Anspielung auf das Kronoszeitalter.530 ᾖδε θεῶν καὶ ἡρώων γένη Die Junktur θεῶν καὶ ἡρώων γένη ist exakt so nur bei Lukian belegt.531 Inhaltlich könnte die Aussage bezüglich des aufgerufenen Werkes, Hesiods Theogonie, erstaunen, da diese sich um Götter-, nicht aber Heroengeschlechter dreht (vgl. Hes. Th. 21: ἄλλων τ’ ἀθανάτων ἱερὸν γένος αἰὲν ἐόντων [ebenso: 105]; 43f.: [...] αἱ δ’ ἄμβροτον ὄσσαν ἱεῖσαι / θεῶν γένος αἰδοῖον πρῶτον κλείουσιν ἀοιδῇ). Auch in Hesiods Erga werden Heroen nur kurz thematisiert, im Rahmen der Abhandlung der verschiedenen Weltalter (vgl. Vv. 156–160: Αὐτὰρ ἐπεὶ καὶ τοῦτο γένος κατὰ γαῖα κάλυψεν, / αὖτις ἔτ’ ἄλλο τέταρτον ἐπὶ χθονὶ πουλυβοτείρῃ / Ζεὺς Κρονίδης ποίησε, δικαιότερον καὶ ἄρειον, / ἀνδρῶν ἡρώων θεῖον γένος, οἳ καλέονται / ἡμίθεοι [...]). Prominent vertreten sind Heroen allerdings in Hesiods Frauenkatalog, der die Heroengeschlechter beschreibt, die aus Verbindungen von Göttern und sterblichen Frauen hervorgegangen sind. Dass der Frauenkatalog wiederum mit der Theogonie in enger Verbindung steht, wird daraus ersichtlich, dass die Anfangsverse des Frauenkatalogs am Ende der Theogonie ebenfalls auftauchen (Vv. 1021f.: νῦν δὲ γυναικῶν φῦλον ἀείσατε, ἡδυέπειαι / Μοῦσαι Ὀλυμπιάδες, κοῦραι Διὸς αἰγιόχοιο), so dass die beiden Texte eine Werkeinheit bilden.532 Zudem leitet ein zweiter Musenanruf in Th. 965–968533 einen Katalog von aus der Verbindung von Göttinnen und sterblichen Männern hervorgegangenen Halbgöttern ein, so dass damit die andere Hälfte mütterlicherseits göttlicher Heroen abgedeckt ist, und dieser Katalog mündet, wie gesagt, in den Frauenkatalog. 529

Zu Hesiod als Lügner vgl. den Kommentar zu §8: τὸν ποιητὴν ἐκεῖνον ἀληθεύειν [...]. Zur ebenfalls ambivalenten Beurteilung einer weiteren prominenten Vergleichsfigur im Text, Alexander dem Grossen, vgl. die einleitenden Bemerkungen zu §5. 531 Häufig ist die Junktur θεῶν γένος, vgl. z.B. Hesiod Th. 44; Euripides fr. 318,3–4 Kannicht und Hipp. 7; Sophokles Aj. 397; Aristophanes Th. 312; Platon Phd. 82b8 und Phdr. 246d7; relativ nahe an vorliegender Formulierung auch Ion 531c8–9: γενέσεις καὶ θεῶν καὶ ἡρώων. Vgl. nachlukianisch Euseb. PE 4,5,1: μεθ’ ὃν γένος τὸ θεῶν ὑπάρχειν δεύτερον, ἑπόμενον δὲ τὸ δαιμόνων, τὸ δὲ ἡρώων τέταρτον und Comm. in Is. 1,75: θεῶν καὶ ἡρώων καὶ νεκύων γένη. 532 Vgl. DNP 5 s.v. Hesiod, Sp. 508: »Theogonie und Frauenkatalog wurden offensichtlich als ein Ganzes betrachtet.« Diese Sichtweise wird durch die vorliegende Formulierung Lukians bestätigt. 533 Νῦν δὲ θεάων φῦλον ἀείσατε, ἡδυέπειαι / Μοῦσαι Ὀλυμπιάδες, κοῦραι Διὸς αἰγιόχοιο, / ὅσσαι δὴ θνητοῖσι παρ’ ἀνδράσιν εὐνηθεῖσαι / ἀθάναται γείναντο θεοῖς ἐπιείκελα τέκνα. 530

§4: Einleitung (Prothesis/Dihegesis I)

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Ein wichtiges Zeugnis der Verbindung von »Göttern und Heroen« als zusammenfassende Wiedergabe der Inhalte von Hesiods Dichtung bietet folgendes Testimonum über Simonides (test. 47k Campbell; App. Vat. 217 Sternbach): Σιμωνίδης τὸν Ἡσίοδον κηπουρὸν ἔλεγε, τὸν δὲ Ὅμηρον στεφανηπλόκον, τὸν μὲν ὡς φυτεύσαντα τὰς περὶ θεῶν καὶ ἡρώων μυθολογίας, τὸν δὲ ὡς ἐξ αὐτῶν συμπλέξαντα τὸν Ἰλιάδος καὶ Ὀδυσσείας στέφανον.534 Zum Gedanken, dass Poesie generell über Götter und Heroen berichtet, vgl. Aelios Theon Progymnasmata, Rhetores Graeci vol. 2, p. 95,4 Spengel: οἱ δ’ αὐτοὶ οὗτοι [sc. τόποι] ἁρμόττουσιν καὶ πρὸς τὰς μυθικὰς διηγήσεις τάς τε ὑπὸ τῶν ποιητῶν καὶ τὰς ὑπὸ τῶν ἱστορικῶν λεγομένας περί τε θεῶν καὶ ἡρώων [...].535 κάτοχος ἐκ Μουσῶν Als Beispiel herangezogen wird hier das Bild des Dichters, der von den Göttern, konkret von den Musen inspiriert ist. Der Ratgeber zieht gemäss dem argumentum a maiore in minus den Schluss, dass doch, wenn Hesiod in kürzester Zeit zu einem so grossen Dichter werden konnte, dies für einen Redner ebenfalls zu schaffen sein müsste, wenn er die entsprechenden Hilfsmittel (parallel zum Lorbeer, zu den Musen) kenne. Genau diese liefert dann der Rednerlehrer (vgl. §§13ff.), der somit, wie es das Enthymem insinuiert, zur Muse wird. Die Bezugnahme auf Hesiod ist häufig, vgl. im Umfeld der Zweiten Sophistik Aristeides, der auf die Geschichte von Hesiods Dichterweihe auf dem Helikon anspielt in Or. 2,100. Lukians Œuvre weist insgesamt 7 Belege für κάτοχος (κατόχιμος, δυσκάτοχος, κατεχόμενος) auf,536 wovon zwei (Demon. 5, Timon 29) nichts direkt mit der Begeisterung von Dichtern zu tun haben. Unserer Stelle am nächsten kommt Hist. Conscr. 8, wo die entscheidende Differenz zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung dargelegt wird: Dem Dichter steht es, von den Musen begeistert (κάτοχος ἐκ Μουσῶν), frei, jegliche Themen – besonders Erfundenes und Phantastisches – zu behandeln, weil das zum Genus der Poesie gehört, während der Historiker bei den Tatsachen bleiben muss. Der Vergleich der zeitgenössischen Historiker mit den am Anfang von Hist. Conscr. (§1) beschriebenen Abderiten, die von einer enthusiastischen Krankheit befallen waren, eröffnet dem Autor das Feld für eine ge534 »Simonides sagte, Hesiod sei ein Gärtner, Homer aber ein Kranzflechter, weil der eine die mythologischen Geschichten über Götter und Heroen gepflanzt und der andere aus ihnen den Kranz von Ilias und Odyssee gewunden habe.« 535 »Ebendieselben [sc. Topoi] passen auch zu den mythischen Darstellungen der Dichter und Historiker über die Götter und Heroen [...].« 536 Dem. 5; J. Conf. 2; J. Trag. 30; Tim. 29; Adv. Ind. 15; Rh. Pr. 4; Hist. Conscr. 8.

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5. Kommentar (§§1–4)

nerelle Enthusiasmus-Parodie (vgl. das Vokabular §1: παρεκίνουν; §2: κατεσχημένοι; weiter §45; vgl. auch Anm. 550), die implizit auch hier in Rh. Pr. mitschwingt, da – selbst wenn für die Erzeugung von Poesie Enthusiasmus noch vertretbar sein könnte – die (prosaische) ῥητορικὴ τέχνη bestimmt nicht durch göttliche Eingebung zustande kommt.537 Lukianischen Witz birgt die Stelle in Adv. Ind. 15, wo dem ungebildeten Büchernarren auseinandergesetzt wird, dass Bücher zu besitzen noch nicht heisst, auch ihren Inhalt adäquat erfasst zu haben und daher gebildet zu sein. Es werden Beispiele angeführt, unter anderem der syrakusische Tyrann Dionysios, der glaubte, wenn er das Schreibtäfelchen des Aischylos besitze, dann werde er durch dessen Kraft ein grosser Dichter, κάτοχος ἐκ τοῦ πυξίου. Das Täfelchen des berühmten Tragikers soll die Rolle der Musen übernehmen und Inspiration bringen. Als gängiges Adjektiv erwähnt auch Pollux κάτοχος und Verwandtes an diversen Stellen (wichtig v.a. 1,15; 1,16; 1,19; 4,52), unter anderem mit Verweis auf die Dichtung und den Dichter, der nicht von irgendeinem Gott begeistert ist, sondern eben κάτοχος ἐκ Μουσῶν. Vgl. allgemein zur weitverbreiteten Metapher von Dichtung bzw. Literaturerschaffung aus göttlicher Inspiration heraus Whitmarsh [2001] 57–59 (mit Verweis auf Longin 13,2; Plat. Phdr. 245a; Ion 533c–e; Men. 99c–d). Das platonische Vokabular umfasst neben den Verbalbegriffen κατέχεσθαι und ἐνθουσιάζειν auch das häufige Adjektiv ἔνθεος. τῆς ποιητικῆς μεγαληγορίας Grundsätzlich bedeutet μεγαληγορία »Grossrednerei« und kann verschieden – positiv oder negativ – aufgefasst werden. Bei Pollux wird der Begriff mehrfach erwähnt, sowohl das Verb als auch das Substantiv (und weitere Bildungen), jedoch nicht spezifisch im Zusammenhang mit Dichtung oder hohem Stil, sondern neutral (z.B. 2,126) oder als »Grosstuerei, Prahlerei«, als Synonym zu αὐχεῖν, κόμπος etc. (9,145–147). Lukian verwendet das Wort sonst noch viermal, davon dreimal wie hier verbunden mit einem hohen Redestil, der in Epik (Charon 23,20) oder dichtungsnaher Textsorte (Hist. Conscr. 45) verwendet wird; gekoppelt mit der (Stil-)Höhe, also Bildsprache (ἄνω) in Sacr. 9: πρέπει γάρ, οἶμαι, ἄνω ὄντα μεγαληγορεῖν. Wichtig ist in unserem Kontext vor allem die Bedeutung in den rhetorischen Schriften und in der Rhetoriktheorie: Dionysios von Halikarnass be537 Zu Lukians kritisch-ambivalenter Diskussion über Enthusiasmus vgl. auch die kurze Schrift Hesiodus, worin sich Hesiod gegen den Vorwurf des Lügens dadurch verteidigt, dass er den Inhalt seiner Dichtung nicht selbst zu verantworten habe, sie ihm vielmehr vollständig von den Musen her eingegeben sei – was seine eigene dichterische Tätigkeit wiederum abwertet. Zu Hesiod als Lügner vgl. auch den Kommentar zu §8: τὸν ποιητὴν ἐκεῖνον ἀληθεύειν [...].

§4: Einleitung (Prothesis/Dihegesis I)

197

nutzt das Wort in der Diskussion des Stils des Demosthenes (Dem. 4,19 und 45,39) und des Thukydides (Thuk. 27,3) – beide werden in Bezug darauf positiv beurteilt. Demosthenes hat die μεγαληγορία von Thukydides und Gorgias übernommen und verwendet sie korrekt in politischen Reden (nicht überall ist sie angebracht). Übersetzen kann man den Terminus mit »Erhabenheit, Gehobenheit (im Stil)« (vgl. LSJ s.v.: elevation, sublimity of diction). Auch Longin538 handelt den Terminus mehrfach ab (8,4; 15,1; 16,1; 39,2). Grundsätzlich kann diese Stilqualität Prosa- und Poesieautoren zukommen, sie wird hier durch die Hinzufügung des Adjektivs ποιητικός als poetisches Merkmal charakterisiert. Gleichzeitig wird der an sich positive rhetorische Terminus μεγαληγορία (vgl. Dion. Hal. oben), dem allerdings die Gefahr des Übertreibens inhärent ist, durch die Hinzufügung des ironisierenden Begriffs des Dichterischen (hinter dem der ambivalent gezeichnete Dichter Hesiod steht) negativ eingefärbt.539 Der gesamte Vergleich ist also deutlich ironisiert, denn einerseits gibt sich der Ratgeber bezüglich der von ihm vertretenen Rhetorik bescheiden – er steht weit unter Hesiods Dichtung (πολὺ ἔνερθε ποιητικῆς μεγαληγορίας), Hesiod ist auf der Stelle (αὐτίκα μάλα) zum Dichter geworden, der Redner wird es bloss rasch (ἐν βραχεῖ) werden –, andererseits aber liegt in der Wortwahl (φύλλα, κάτοχος [Enthusiasmus-Parodie], ποιητικὴ μεγαληγορία) ein ironischer Ton, der klar macht, dass die Rhetorik kaum unter der Poesie angesetzt werden bzw. sich ihr bescheiden unterordnen soll.

538

Ich verwende hier und im Folgenden trotz der umstrittenen Autorschaft die Bezeichnung »Longin«, da »Ps.-Longin« (ebenfalls häufig anzutreffen) den Anschein erweckt, dass die Schrift Περὶ ὕψους einem Longin fälschlich zugeschrieben sei, während der Streitpunkt vielmehr in der nicht zu sichernden Existenz des Longin als historische Person liegt. Vgl. auch Whitmarsh [2001] 57 Anm. 69. 539 Zu Hesiod als ambivalenter Figur siehe den Kommentar oben zu: Ἡσίοδος μὲν ὀλίγα φύλλα [...] λαβὼν. – An dieser Stelle ist es wichtig anzumerken, dass die Kombination der Begriffe ποιητής und μεγαληγορία nicht negativ sein muss, der gehobene Stil ist vielmehr für Dichtung unabdingbar, man vergleiche Philostr. Heroicus 55,6 (Teubner): ὁ Ἡρακλῆς [...] μεγαληγορίαν ἐπαινῶν, παρ’ ἧς δεῖ δήπου τὸν ποιητὴν φθέγγεσθαι. Doch hängt die Beurteilung der dichterischen Sprache davon ab, wie der Dichter selbst beurteilt wird. Eine ambivalente Verwendung der beiden Begriffe findet sich auch bei Plut. mor. 331a4.

198

5. Kommentar (§5)

§5: Illustrierende Geschichte (Parekbasis) Der im Stil eines Exkurses (παρέκβασις) gehaltene Einschub einer Geschichte illustriert die vom Ratgeber verfochtene Meinung, dass jeder, wenn er der richtigen Empfehlung – und sei sie auch noch so unglaublich – Glauben schenkt und ihr folgt, Nutzen daraus ziehen kann.540 Der Ratgeber ist von Anfang an darum bemüht, seinem Zögling vertrauenswürdig und kompetent zu erscheinen (er soll auf ihn hören, seine Anleitungen befolgen, vgl. §1: ἐμμένειν οἷς ἂν ἀκούσῃς), was er unter anderem durch eine Absetzung von anderen Vertretern des Berufs erreicht (er kennt beide Wege, und damit auch den richtigen für den Zögling, vgl. §3: οὐ γάρ σε τραχεῖάν τινα οὐδὲ ὄρθιον [...] ἄξομεν) und was er auch argumentativ untermauert (vgl. Hesiod und Dichtkunst §4).541 Die Geschichte des Händlers aus Sidon soll nun seinen Ratschlag durch die Parallelität der Situation unterstützen: Auch Alexander bzw. dessen Briefboten hätten einen raschen Weg nach Ägypten finden können, hätten sie nur dem sidonischen Händler Glauben geschenkt, auch wenn dessen Ratschlag unglaublich klang (vgl. bereits §4: ἡ ὑπόσχεσις οὕτω μεγάλη; §5: τὸ παράδοξον τῆς ὑποσχέσεως). Den Rat des Händlers kommentiert der Ratgeber mit den Worten καὶ εἶχεν οὕτως (siehe dazu genauer unten unter dem entsprechenden Lemma). Die Kernbegriffe in diesem ›Beglaubigungsapparat‹ des kurzen Weges stammen aus dem semantischen Bereich »Glaubwürdigkeit, Glauben, Vertrauen« bzw. dessen Gegenteil, was bereits in §4 anklingt (μὴ ἀπιστήσῃς) und in §5 verstärkt auftaucht (δι’ ἀπιστίαν; ὁ Ἀλέξανδρος οὐκ ἐπίστευσεν; ἄπιστον; vgl. weiter im Schlusswort §26: σὺ δὲ ἢν πεισθῇς τοῖς εἰρημένοις [...]). Im rhetorischen Sinn thematisiert der Ratgeber hier das Ziel jeder Rede, das darin besteht, die Hörer zu überzeugen.542 Er macht später klar (§10), dass ihm (bzw. dem von ihm empfohlenen Rednerlehrer) Vertrauen zu schenken gleichzeitig heisst, dem Lehrer des langen Weges nicht zu vertrauen (σὺ δὲ μήτε πείθεσθαι [...]). 540

Die Geschichte des sidonischen Händlers hat in der antiken Literatur sonst keine Parallele, sondern scheint hier von Lukian frei erfunden zu sein. Damit beruht das Hauptargument des Ratgebers auf einer ihm vom Autor in den Mund gelegten Episode, die unglaublich klingt. 541 Er gibt damit eine Scheinobjektivität vor; in dasselbe rhetorische Repertoire gehört die Betonung seiner Autopsie in §8. Zur Schwäche und zur Ironisierung des Hesiod-Arguments s.o. §4. 542 Vgl. zur rhetorischen Theorie Arist. Rh. 1355b25f. Der Ratgeber selbst erscheint durch das Fehlen von ablehnenden Äusserungen seines Schülers auf der Oberfläche des Textes überzeugend (s. gleich), und auch der Rednerlehrer gibt vor, dass sein Ausbildungsgang dieses Element der Rhetorik problemlos leiste, da der Schüler schliesslich selbst glaubwürdig und überzeugend werden wird (vgl. §20: οὐκ ἔχουσιν ὅπως ἀπιστήσουσιν; §22: διαβολαὶ πιθαναί).

§5: Illustrierende Geschichte (Parekbasis)

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Zur Parallelität der Redeweise des Händlers und des Ratgebers vgl. auch die direkt wiedergegebene Rede des Händlers »ἐγώ σοι, ὦ βασιλεῦ, ὑπισχνοῦμαι δείξειν ὁδὸν οὐ πολλὴν [...]« – genau diese Äusserung wäre auch zu Beginn der Schrift als Antwort auf das Begehren des jungen Mannes denkbar gewesen: Man vergleiche die inhaltlich identische, allerdings anders und ausführlicher formulierte Antwort in §3 mit Betonung der Kürze des in Aussicht gestellten Weges sowie den Begriff ὑπόσχεσις am Anfang von §4 und am Ende von §5. Die Verwendung desselben Terminus ›umschliesst‹ und vereint die Versprechung an den Rhetorikanwärter sowie diejenige an Alexander und stärkt so den Vergleich. Der Redestil des Händlers ist allerdings kürzer und prägnanter als derjenige des Ratgebers, was zum anekdotenhaften Einschub passt; seine zwei Sätze umfassende Empfehlung an Alexander wird vom Ratgeber ebenso prägnant bejaht, denn beide, Händler und Ratgeber, stehen für den kurzen Weg ein, so dass die logische Konsequenz für den Ratgeber darin liegt, dem Händler zuzustimmen. Zu den verglichenen Personen und den damit verbundenen Implikationen für die Schrift ist Folgendes zu beachten: Der Vergleich parallelisiert die Figuren Sidonischer Händler/Ratgeber und Alexander/Schüler sowie die Reaktion letzterer auf das unglaubliche Angebot des Händlers aus Sidon bzw. des Ratgebers. Die Reaktion des Schülers soll allerdings anders ausfallen, indem er dem Ratschlag Glauben schenkt: Dies wird im Text sogleich dadurch umgesetzt, dass der Schüler, da er ja nicht zu Wort kommt, den Rat auch nicht als unglaublich zurückweist, so dass der Ratgeber den Händler in der rhetorisch-überzeugenden Kraft übertrifft, was der Autor durch den formalen Trick der monologischen Gestaltung erreicht. Die Bedeutung ausgerechnet eines sidonischen Händlers als Vergleichsfigur könnte m. E. in der Geltung der Sidonier als Narren liegen, was auf die Figurenstilisierung des Ratgebers entscheidende Auswirkungen hätte.543 Diese illustrative Geschichte ist ein Angelpunkt der ganzen Darstellung in Rh. Pr.: Hier wird den Rezipierenden durch den Vergleichsstatus der Anekdote im Sinne ›poetologischer‹ Äusserungen einiges über die mögliche Deutung der nachfolgenden Rhetorikdarstellung aufgezeigt – und daher hängt von der Person des Händlers viel ab, weswegen seine Nationalität keine Zufälligkeit darstellen dürfte, er von Lukian vielmehr bewusst als Sidonier im Sinn eines Narren markiert sein könnte. Die Stilisierung des Ratgebers als Händler und des Schülers als Alexander ist eine Art Bescheidenheitstopos, der gleichzeitig dem Schüler durch die ihm zugewiesene Herrscherrolle schmeichelt. Die Alexanderfigur ist in diesem Vergleich jedoch ambivalent gezeichnet, denn in den Augen des Ratgebers erscheint sie negativ durch ihren Unglauben und die daraus fol543

Vgl. unten den Kommentar zu: Σιδωνίου τινὸς ἐμπόρου sowie die Einleitung 1.6, S. 63f.

200

5. Kommentar (§5)

gende falsche Entscheidung.544 Im grösseren Textzusammenhang betrachtet und falls man den Sidonier als Narrenfigur interpretiert, deren Aussagen beim Rezipienten eine gewisse Vorsicht gegenüber dem Inhalt hervorrufen sollen, steht Alexander wiederum positiv da, weil er den Narren entlarvt. Er bekommt dadurch eine Vorbildfunktion für die mögliche Reaktion von Schüler und Rezipient auf die Figuren des Ratgebers und Rednerlehrers. Die Figur Alexanders ist also genauso ambivalent als exemplum herangezogen wie es mit Hesiod geschieht (vgl. den Kommentar zu §4: Ἡσίοδος μὲν ὀλίγα φύλλα [...] λαβὼν sowie §7 und §8).545 Das Element der Alexander-Anekdote erfreut sich im Umfeld der Zweiten Sophistik grosser Beliebtheit, was mit dem zu dieser Zeit gängigen Schulrepertoire zusammenhängt:546 Sehr ähnlich, wenn auch auf viel breiterem Raum, führt Dion von Prusa (Or. 2 und 4) Alexander als Partner in einem Gespräch mit seinem Vater Philipp resp. dem Kyniker Diogenes ein, wobei ebenfalls eine allegorische Deutung auf die gegenwärtige Situation impliziert ist (Alexander = Kaiser Trajan / Philipp resp. Diogenes = Dion als Ratgeber). Auch Dion zeichnet Alexander als ambivalente Figur, die ratbedürftig ist und deren Charakter geformt werden muss.547 Weiter ist auf Plutarchs Schrift De Alexandri magni fortuna aut virtute libri ii (mor. 326d–345b) und seine Alexandervita hinzuweisen, sowie auf Arrian An. und Ind. Alexander der Grosse findet auch in den theoretischen Angaben über Progymnasmata und ihre historischen Themen Erwähnung, insbesondere im Zusammenhang mit dem Progymnasma χρεία (Anekdote): Aelios Theon, Rhetores Graeci vol. 2, p. 98–100 und 110 Spengel sowie Nikolaos, Rhetores Graeci vol. 11, p. 21 Felten.548 Σιδωνίου τινὸς ἐμπόρου Es stellt sich die Frage nach der Bedeutung der geographischen Herkunft des Händlers als »Sidonier«. In der Witzsammlung des Philogelos sind drei 544 Man vergleiche die Verwendung des negativen Ausdrucks οἱ πολλοί in der abschliessenden, generalisierenden Bemerkung des Ratgebers: οὕτω τὸ παράδοξον τῆς ὑποσχέσεως ἄπιστον δοκεῖ τοῖς πολλοῖς. Alexander verhält sich damit nicht anders als jeder beliebige, unbedeutende Mensch. 545 Ebenfalls ambivalent ist Alexander wiederum in §7 impliziert, negativ erscheint er in Dial. Mort. 12 (siehe §7 unter den Lemmata οἵα ἡ Ἄορνος ἐφάνη [...] sowie Διονύσου τινὸς ἢ Ἡρακλέους). 546 Vgl. Zeitlin in Goldhill [2001] 202; Anderson [1976] 171–2; Bompaire [1958] 163–165 und spezifisch zu Lukians Verwendung von Anekdoten sowie zu den Quellen 443–460. 547 Siehe dazu Whitmarsh [2005] 68 und ausführlicher Whitmarsh [2001] Kap. 4, bes. 200– 206. 548 Siehe dazu Gibson [2004] 110 und 128 sowie Bompaire [1958] 164: »Il [sc. Alexandre] est par excellence un héros de chrie et suasoires et controverses; pas d’éloge de roi ou de général sans syncrisis avec Alexandre, pas de ›discours pour fêter un retour‹ sans rappel de ses exploits.«

§5: Illustrierende Geschichte (Parekbasis)

201

Nationalitäten prominent als dumm oder närrisch vertreten, es sind die Abderiten, die Kymäer und die Sidonier.549 Daraus könnte man den Schluss ziehen, dass Lukian den sidonischen Händler als Vergleichsfigur des Ratgebers darum einführt, um dem Rezipienten durch dieses Detail zu signalisieren, dass hier etwas Närrisches vor sich geht, dass der Ratgeber und seine Lehre – nicht nur, weil er ein ›falscher Sokrates‹ ist, sondern auch, weil er ein Narr ist – mit Vorsicht zu beurteilen sind.550 Auch die auf der syntaktisch-stilistischen Ebene erfolgende Verbindung des Sidoniers und seiner Sprechweise mit Unglaubwürdigkeit bzw. sein Erwecken von Misstrauen würde das Konzept der närrischen Figur unterstützen, vgl. Σιδωνίου τινὸς ἐμπόρου ἐπίνοιαν δι’ ἀπιστίαν ἀτελῆ γενομένην. Vor dem Hintergrund der Witzsammlung des Philogelos gewänne zudem die – ansonsten nicht recht motivierte – Anonymität des sidonischen Händlers Kontur, indem sie markierte, dass es hier um den (als Narr wohlbekannten) Typ des Sidoniers geht. Thierfelder ([1968] 16) weist jedoch darauf hin, dass im Falle Sidons – anders als bei Abdera und Kyme – keinerlei Nachrichten über die Dummheit der Bewohner ausserhalb des Philogelos vorhanden sind.551 So bleibt die hier vorgeschlagene Deutung unbeweisbar, scheint aber nicht unmöglich, denn dass solche Witze, wie sie Philogelos’ Sammlung über die Sidonier enthält, schon vor seiner Zeit kursierten, ist wahrscheinlich,552 und die einzige Stelle, in der Lukian einen Sidonier in ähnlichem Kontext erwähnt, bietet tatsächlich einen Witz auf dessen Kosten, genauer auf Kosten eines sidonischen Sophisten (Demon. 14). Die Witze des Philogelos über Sidonier (Nr. 128–139) sind in der Sammlung zu einem grossen Teil auch unter den Witzen über/mit σχολαστικοί enthalten, also doppelt vorhanden. Oft liegt das Komische in der Unmöglichkeit dessen, was der »Sidonier« (bzw. der »Gelehrte«) aussagt oder tut, so dass Paradoxes und schiefe Logik einen wichtigen Aspekt ausmachen.553 549 Abdera liegt an der thrakischen Küste, Kyme gehört zu den ionischen Küstenstädten Kleinasiens und Sidon liegt an der phönizischen Küste. 550 Man vergleiche Lukians Einführung der Abderiten in Hist. Conscr. 1–2, um sie mit den von ihm getadelten ›närrischen‹ zeitgenössischen Historikern in Verbindung zu bringen. Zur weiteren Bedeutung dieses Vergleichs und der Thematik der Parodie des ἐνθουσιασμός in Hist. Conscr. vgl. Möllendorff [2001] sowie die Bemerkungen oben zu §4: κάτοχος ἐκ Μουσῶν. 551 Vgl. daher Baldwin [1983] 84 mit dem Hinweis der Charakterisierung der Sidonier als Barbaren (was für vorliegende Stelle keine grosse Bedeutung hat): »Although its inhabitants did not have the reputation for stupidity enjoyed by Abdera and Kyme, Sidonians are classified with Thracians as examples of barbarians by Philostratus, Letters 42.« [meine Hervorhebung] 552 Die Sammlung gehört in der Form, wie sie uns überliefert ist, in die byzantinische Zeit (vgl. Thierfelder [1968] 13); die genaue Entstehung in früherer Zeit ist nicht festzumachen. 553 Vgl. Thierfelder [1968] 20f.: »Die Kalmäuserwitze, ebenso wie die übrigen Dummheitswitze unserer Sammlung, funktionieren meistens nach dem Prinzip der falschen Analogie. Auf andere Personen, Gegenstände, Verhältnisse oder Zeiten angewandt, wäre das Gesagte oder Getane

202

5. Kommentar (§5)

Und gerade das Element paradoxer Darstellung ist in den ersten Äusserungen des (mit dem Sidonier zu einer Person verschmelzenden) Ratgebers über den kurzen Weg prominent (vgl. den Kommentar zu §3: κατάντη und weiter zum Element der παραδοξολογία in Lukians Vorreden S. 73). Zudem zählt der Ratgeber selbst die berichtete Geschichte unter die Kategorie des »Unerwarteten« bzw. der »unerwarteten Ratschläge«, obwohl sie nicht im modernen Sinn paradoxe Elemente aufweist (vgl. οὕτω τὸ παράδοξον τῆς ὑποσχέσεως κτλ.).554 ἀνόνητον Das Adjektiv ἀνόνητος umfasst die beiden Bedeutungsfelder »nutzlos, unnütz« sowie »ungenutzt, (aus einem Hinderungsgrund, aus gewissen Umständen heraus) unnutzbar«; hier wird es im letzteren verwendet; es ist bei Lukian noch dreimal belegt, zweimal genauso (vgl. Nigr. 23,10; Dial. Mort. 29,3,1). Das sich nochmals differenzierende Bedeutungsfeld »ungenutzt / unnutzbar« eröffnet ein Wortspiel, welches aus dem »ungenutzten Ratschlag« auch einen »unnutzbaren« machen kann, so dass sich im lexikalischen Bereich die inhaltliche Ambivalenz widerspiegelt: Der Weg des Narren wäre in dieser impliziten Deutung unnutzbar, weil rein fiktiv, und daher unrealisierbar. Dasselbe würde gemäss dem Vergleichsstatus für die Reden von Ratgeber und Rednerlehrer gelten. Der einzige Hinterungsgrund, warum hier der Einfall des Händlers für den Zuhörer Alexander nicht nutzbar gemacht werden konnte, ist allerdings gemäss dem Ratgeber dessen Ungläubigkeit, ἀπιστία, die zwar aufgrund des erstaunlichen Vorschlags (und ggf. der ›närrischen‹ Persönlichkeit des Händlers) eine durchaus verständliche menschliche Reaktion ist, jedoch nicht die richtige, wie der Ratgeber betont: Er weist darauf hin, dass sich die Sache tatsächlich so verhielt, wie der Händler es darlegte,555 was natürrichtig. Aber das Denkschema, wie es einmal entworfen ist, wird dahin übertragen, wo es nicht passt, so dass sich absurde Konsequenzen ergeben: der Dumme übersieht irgendeinen Umstand, der die Sachlage entscheidend verändert, wie gesundem Menschenverstand ohne weiteres klar ist.« 554 Vgl. zur Thematik des ›Närrischen‹ auch die Bemerkungen zu §10: Κρονικὸς und zu Ägypten im Kontext einer seltsam unwirklichen Darstellung §24: ὑπὲρ Ξόϊν καὶ Θμοῦιν. 555 Vgl. gegen Ende des Kapitels: καὶ εἶχεν οὕτως. Diese klare Stellungnahme der Figur bleibt, gerade wenn der Ratgeber einer dem sidonischen Händler entsprechenden närrisch-schillernden Gestalt entspricht, letztlich ambivalent: Es wird in der Schwebe belassen, ob die Sache sich tatsächlich so verhalten könnte oder auch nicht. Zur Ambivalenz der Figur Alexanders und ihres Verhaltens siehe die einleitenden Bemerkungen zu §5. Mit dem verhältnismässig unwichtigen Hinderungsgrund vgl. man die Verwendung des Begriffes »ungenutzt, unnutzbar« in den drei Demosthenesbelegen mit dem Kontext einer äusserst gravierenden politischen Situation (Phil. 3,40,5; De coron. 141,9; De fals. leg. 315,6): Es ist jeweils diese politische Situation, die für ganze Poleis (die Athener) oder für Einzelpersonen die Unmöglichkeit einer Nutzung von Ressourcen hervorruft. – Aus sprachlich-attizistischer Sicht kann angemerkt werden, dass auch Pollux das Adjektiv

§5: Illustrierende Geschichte (Parekbasis)

203

lich auch für seinen Ratschlag gelten soll und damit die Wichtigkeit des Vertrauens in ihn hervorstreicht. Dies beinhaltet ein – wenn auch nur leicht angedeutetes – sektiererisches Element: Schliesse dich deinem Lehrer an, glaube fest an dessen Lehre und an deinen Erfolg, und es wird – selbst innert kürzester Zeit – zu einer grossen Rednerkarriere kommen!556 ἦρχε μὲν γὰρ [...] καθῃρηκώς Als Datum des Herrschaftsantritts Alexanders in Persien wird hier die entscheidende Schlacht genannt, die am 1. Oktober 331 v.Chr. in der Nähe der assyrischen Stadt Arbela (genauer bei Gaugamela) zwischen Alexanders und Dareios’ Streitmacht stattfand: Dareios wurde zur Flucht nach Medien (Ekbatana) gezwungen und gab dadurch die wichtigen Herrschaftsstädte Babylon, Susa und Persepolis mit all ihren Schätzen preis, wodurch Alexander die Herrschaft über Persien ›antreten‹ konnte. Vgl. CAH vol. 6, bes. 810–818 und Arrian Anabasis 3,8ff. Nach der Einführung der – möglicherweise aufgrund ihrer Narrenhaftigkeit – als Typ nicht weiter konkretisierten Figur des Sidoniers verlegt der Ratgeber seine Darstelllung nun stärker in einen historiographischen Duktus und errichtet durch die detaillierten Angaben über Alexanders Herrschaft und Verwaltungsapparat eine Beglaubigungsstrategie für die folgende Geschichte. γραμματηφόρους Textkritisches: Überliefert ist an dieser Stelle sowohl γραμματηφόρους (γ) als auch γραμματοφόρους (β) in der Bedeutung »Brief-Überbringer«; für beide Formen liegen weitere Belege vor (grundsätzlich spät), deren Verteilung einigermassen ausgeglichen zu sein scheint und die von demselben Autor auch wechselweise benutzt werden – z.B. mit ο: Plut. Pelopidas 10,8; Polyb. 2,61,4; mit η: Plut. Galba 8; Polyb. 29,25,2; nur mit η: Dion. Hal. Ant. Rom. 20,4. Da Lukian das Wort nur hier verwendet, muss die Entscheidung für die eine oder andere Form allein aufgrund der sonstigen Priorität der betroffenen Handschriftengruppen erfolgen; ich schliesse mich dabei Macleod (γ) an (vgl. die Vorbemerkungen zur Textgestaltung).

unter diversen Wörtern, die in den semantischen Bereich von »Schaden« und »Nutzen« gehören, verzeichnet (5,136): so verwende man für »nutzlos« unter anderem ἀνωφελές oder ἀνόνητον. 556 Man vergleiche das (als Negativum) dargestellte felsenfeste Vertrauen des naiven Hermotimos in seinen Lehrer (einen Stoiker), das Lykinos durch seine Enthüllungen über die Lebensweise desselben schliesslich zu brechen versteht (v.a. Hermot. 1–3, 7–12).

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5. Kommentar (§5)

πολλὴ εἰς Αἴγυπτον ἐγίγνετο ἡ ὁδός Hier erfolgt eine Wiederaufnahme der vom Beginn der Schrift her wohlbekannten Wegmetaphorik. Der sidonische Händler setzt der konventionellen bzw. durch die gängige Reisepraxis bestätigten Annahme über die Länge des Weges nach Ägypten einen kurzen Weg entgegen (vgl. seine Worte: Ἐγώ σοι [...] ὑπισχνοῦμαι δείξειν ὁδὸν οὐ πολλὴν).557 In dieser ›Lehre des kurzen Weges‹ entspricht er dem Ratgeber und dem später auftretenden Rednerlehrer. Siehe dazu auch unten unter dem Lemma: καὶ εἶχεν οὕτως. Die Tatsache, dass Ägypten in vorliegender Passage und auch in der Bilddarstellung der Rhetorik im Stil des Flussgottes Nil (§6) prominent erwähnt wird, könnte man so deuten, dass Ägypten hier gemäss der klassischen Vorstellung558 als Ort der Weisheit (bzw. in der Zweiten Sophistik als Ort der παιδεία) erscheint. So wäre mit dem Weg der Perser nach Ägypten der Weg des (noch) nicht Gebildeten zu Kultiviertheit und Bildung impliziert und dieser Weg schliesslich durch den Vergleich zwischen Alexanders Briefboten und dem jungen Rhetorikaspiranten auch eng mit dem zu Beginn der Schrift illustrierten Weg auf den Berg der Rhetorik verknüpft, der sich – je nachdem, wem man sich anschliesst – lang oder kurz gestalten kann. τὰ ὄρη [...] ἐρήμην πολλὴν Die angegebene Route von Persien nach Ägypten führt entlang dem persischen Bergland durch Babylonien nach Arabien, von dort aus nach Durchquerung einer grossen Wüste nach Ägypten. Mit dieser Wüste ist hier wohl die Syrische Wüste gemeint. Einiges an der angegebenen Route stimmt mit dem überein, was wir aus antiken Quellen über die Feldzüge des Dareios oder auch Alexanders selbst wissen, die gewöhnliche Route dürfte allerdings die Syrische Wüste ausgespart haben und der Richtung der alten persischen Königsstrasse ab Susa bis nach Mesopotamien hinauf gefolgt sein 557

566.

Vgl. den Kommentar unten zu: τὰ ὄρη [...] ἐρήμην πολλὴν und zum kurzen Weg Anm.

558 Zu nennen ist Herodots ägyptischer Logos, der als längster seiner Exkurse das gesamte zweite Buch der Historien umfasst und in der Ausführlichkeit der Beschreibung von Land und Leuten sicher dem Status Ägyptens als ältester Hochkultur Rechnung trägt (vgl. dazu R. Bichler, Herodots Welt, Berlin 2001, 145); vgl. konkret Hdt. 2,2–4 (das Alter Ägyptens, die gelehrten Priester von Heliopolis, die Erfindungen der Ägypter wie Zeitrechnung in Jahren und Monaten, Benennung der zwölf Götter); 2,160 (die Ägypter als weiseste [σοφώτατοι] der Menschen). Weiter ist Platon zu nennen, bei dem Alter und Wissen der Ägypter bzw. besonders der ägyptischen Priester ebenfalls mehrfach zur Sprache kommen: Berühmt ist die Passage in Phdr. 274c–275b, die Sage vom ägyptischen Gott Theuth als Erfinder inbesondere der Schrift, an die sich allerdings die Schriftkritik anschliesst; vgl. weiter Ti. 21a–25d, Kritias’ Bericht von Solons Erzählung über die Beziehungen zwischen Ur-Athen und Ägypten und über den Kampf mit Atlantis, was Solon wiederum von ägyptischen Priestern erfuhr (vgl. auch Kritias 113a). Vgl. weiter Plut. De Iside et Osiride 10.

§5: Illustrierende Geschichte (Parekbasis)

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(vgl. Hdt. 5,52), dann durch Syrien bis nach Gaza geführt haben, wo tatsächlich ein Wüstenabschnitt zu durchqueren war, um zum östlichen Nildelta zu gelangen (vgl. die Angaben zu Kambyses’ Feldzug nach Ägypten in CAH vol. 4,48 und auch zu Alexander CAH vol. 6,376). Lukian benutzt hier also tatsächlich vorhandene geographische Elemente wie Gebirge und Wüstenlandschaft, allerdings in einer Weise, welche den Weg als ganz besonders anstrengend markieren. περάσαντας Textkritisches: Überliefert sind an dieser Stelle ἐπελάσαντας (β) und ἐλάσαντας (γ). Die Lesart von γ hat kein Herausgeber in den Text gesetzt, Macleod gibt die Lesart von β, das Part. Aor. Akk. Pl. von ἐπελαύνω. Das Verb hat grundsätzlich die Bedeutung »darübertreiben« oder »anrücken«, erfordert hier allerdings den Sinn »darüber hinziehen, durchziehen«. Trotz der semantischen Schwierigkeit hält Macleod an der Überlieferung fest, ändert aber das weiter unten überlieferte διανύσαντα entsprechend in eine Pluralform (bezogen auf die Briefboten). Das Problem liegt in der Konstruktion von ἐπελαύνειν, da der Akkusativ jeweils das Objekt angibt, das man »darübertreibt« bzw. an einen Ort führt (vgl. Hdt. 4,28: τὰς ἁμάξας ἐπελαύνουσι [...] ἐς τοὺς Σίνδους und 1,164,1: Ἅρπαγος [...] ἐπήλασε τὴν στρατιήν), und nicht das durchzogene Gebiet (hier: ἐρήμην πολλὴν); der Zielpunkt ist jeweils mit einem Präpositionalausdruck ausgedrückt. Das Kompositum ist mit einem Acc. loci sonst nicht belegt, was Anlass zu Konjekturen gegeben hat: Ich folge Bekkers περάσαντας und übernehme entsprechend die Pluralform διανύσαντας (wie auch Macleod).559 Trotzdem möchte ich anmerken, dass der überlieferte Text möglicherweise korrekt ist, da immerhin das Simplex ἐλαύνειν in der Konstruktion mit Acc. loci und in ähnlichem Kontext (»das stille Meer durchfahren«) belegt ist, vgl. Hom. Od. 7,319f.: οἱ δ’ ἐλόωσι γαλήνην, ὄφρ’ ἂν ἵκηαι / πατρίδα σὴν καὶ δῶμα [...] (mit der Parallele des damit in Verbindung stehenden Verbs [ἀφ]ικνεῖσθαι). εἴκοσι μηκίστους ἀνδρὶ εὐζώνῳ σταθμοὺς Hier liegt eine Entfernungsangabe im Stil der klassischen Historiker vor; vgl. zu ἀνδρὶ εὐζώνῳ z.B. Hdt. 1,104 oder Thuk. 2,97. Witzig adaptiert auf den Flug des mit Adler- und Geierschwingen ausgestatteten Ikaromenipp 559 Im Anschluss an Bekker, jedoch mit Aufrechterhaltung der Singularform διανύσαντα, druckt Harmon περάσαντα. Damit wird kein expliziter Bezug auf die Briefboten gemacht, sondern mit einem allgemeinen »man« gearbeitet; der überlieferte Singular διανύσαντα könnte im Text durch den Vergleich mit dem ἀνὴρ εὔζωνος entstanden sein, mir scheint jedoch eine Angleichung des ersten Partizips nicht sinnvoll, vielmehr sollte der Plural περάσαντας, der im überlieferten ἐπελάσαντας vorgegeben ist (man vgl. auch weiter oben κομίζοντας), beibehalten werden.

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5. Kommentar (§5)

verwendet Lukian diese Ausdrucksweise auch in Ikaromen. 1: [...] ἄνοδος καὶ ταῦτα γένοιτο εὐζώνῳ ἀετῷ μιᾶς ἡμέρας. Zum Begriff σταθμός vgl. z.B. Hdt. 5,52 und Xen. An. 1,2,5; σταθμός bedeutet grundsätzlich »Standort, Halteplatz, Nachtquartier« und bezeichnet die Plätze, die einem Reisenden an der Strasse zum Übernachten dienten. Daraus leitet sich die weitere Bedeutung »Tagesmarsch bzw. -reise« ab. Welcher Distanz eine solche Tagesreise entsprach, hing stark von der Route und ihrem Terrain ab, so dass Entfernungsangaben in Tagesreisen oft durch solche in Parasangen oder Stadien ergänzt sind,560 wie es in der obengenannten Passage bei Herodot (5,52) der Fall ist (siehe auch RE II.3 s.v. Σταθμός, Sp. 2177). Im Allgemeinen legte ein Reisender zu Fuss etwa 30–40 km pro Tag zurück (vgl. DNP 10 s.v. Reisen, Sp. 858), so dass die hier angegebene Distanz zwischen 600 und 800 km liegt.561 Deutet man die Reminiszenz an die klassische Angabe der Dauer einer Reise in Tagesmärschen aus, markiert sie im Vokabular das Alte bzw. Altmodische, das durch die neue Möglichkeit des kürzeren Weges überwunden ist.562 παρακινεῖν Drei Belege dieses Verbs sind bei Lukian vorhanden; neben Rh. Pr. (relativ wörtlich gebraucht, »verrücken, sich [von einer Bahn] wegbewegen«) noch Hist. Conscr. 1,9 und 45,12 (bezogen auf Poesie: »weggerissen werden in Richtung poetische Korybantie, Raserei«). Ähnlich auch das Bild des Verliebten in Plat. Phdr. 249d2, wo παρακινῶν ohne erklärenden Zusatz (übertragen) für »verwirrt sein« u.ä. steht. Für ein rationales »von einer Linie Abweichen« (auch in politischem Sinn) vgl. Plat. R. 591e (auch 540a) sowie Demosth. Or. 15,12. Bei Aristeides finden sich insgesamt 6 Belege des Verbs (Or. 11,56; 12,50; 26,65; 7,31; 16,39; 48,74), davon die ersten fünf in (im weiteren Sinn) politischem Zusammenhang, d.h. in der Bedeutung »eine Vereinbarung verletzen, einen Aufstand machen«. Dies entspricht dem hier vorliegenden Sinn bei Lukian, wobei sich exakt die Junktur τι παρακινεῖν in den ersten drei Aristeides-Belegen findet.563 560

Eine Parasange entspricht 30 Stadien (5,5 km); ein Stadion wiederum entpricht 600 Fuss und differiert je nach zugrunde liegendem Fussmass in der Länge zwischen 160–210 Metern. Das attische Stadion beträgt 186 m, das olympische hingegen 192 m (siehe DNP 11 s.v. Stadion). 561 Der oben (τὰ ὄρη [...] ἐρήμην πολλὴν) skizzierte gängige Weg von Persien nach Ägypten umfasste wohl mindestens doppelt so viele Kilometer. 562 Sowohl der Sidonier als auch der Ratgeber und der Rednerlehrer lehnen das Klassische, Althergebrachte, und damit auch explizit die klassischen Autoren, ab, vgl. Rh. Pr. 10 und 17. 563 Pollux (4,35) ordnet das Verb unter dem Oberbegriff ψόγος ein, wo diverse Begriffe für Verrat, vor allem aber im politischen Sinn Landesverrat, aufgezählt werden; als Umschreibung zu παρακινῶν nennt Pollux ἀνατρέπων τὴν πολιτεῖαν.

§5: Illustrierende Geschichte (Parekbasis)

207

Mit dem hier vorliegenden Text kann kein historisch konkret belegter Aufstand der Ägypter verbunden werden;564 die Ägypter empfanden Alexanders Herrschaftsübernahme sogar in gewissem Mass als Befreiung von der persischen Herrschaft. Die Stelle kann einzig einen vagen Verweis darstellen auf die überall im Herrschaftsgebiet entstehenden Unruhen in späterer Zeit, als Alexander im Zuge seiner Eroberungen lange im Fernen Osten weilte.565 τοῖς σατράπαις Aus historischer Sicht ist die Nennung von Satrapen hier ein Anachronismus und wiederspiegelt noch die Zeit der persischen Herrschaft, denn Alexander behielt zwar das Verwaltungssystem der Satrapien in verschiedenen Regionen, vor allem im persischen Kernland, bei, änderte jedoch die Verwaltungsform in Ägypten zugunsten der einheimischen Beamten und setzte für Ober- und Unterägypten je einen einheimischen Gouverneur ein, um die Bevölkerung vor Ausbeutung zu bewahren. Der oberste Finanzbeamte, Kleomenes aus Naukratis, nutzte allerdings seinen Einfluss dennoch aus. Siehe detaillierter CAH vol. 6,378 und 426. καὶ εἶχεν οὕτως Mit diesem bestätigenden Kommentar zum Ratschlag des Sidoniers schliesst sich der Ratgeber der (närrischen) Figur des Händlers an bzw. verschmilzt mit ihr, so dass an diesem Punkt die Aufmerksamkeit des Rezipienten für den ambivalenten Status der nachfolgenden und der schon erfolgten Empfehlungen nochmals geschärft wird: Die Aussagen von Ratgeber und Rednerlehrer sind mit Vorsicht zu geniessen bzw. unterliegen denselben Vorbehalten, die Alexander gegenüber dem unglaublichen Ratschlag des Händlers hatte. Vgl. dazu bereits die Einleitung 1.6, S. 63 und oben unter dem Lemma Σιδωνίου τινὸς ἐμπόρου. Liest man im Text weiter bis zum Anfang von §6, so wird deutlich, dass die Rhetorik des Ratgebers diejenige des Händlers noch übertrifft: Dauerte der alte, empirische Weg nach Ägypten lang, so ist der fiktive Weg des Sidoniers in drei Tagen zu bewältigen566 – der kurze Weg des Ratgebers bzw. Rednerlehrers allerdings entspricht einem Flug von nicht einmal einem Tag: vgl. [...] εἰ γάρ τις ὑπερβαίη τὰ ὄρη ταῦτα – ὑπερβαίη δ’ ἂν τριταῖος [...] und: εἴσῃ γὰρ πειρώμενος ὡς οὐδέν σε κωλύσει ἤδη ῥήτορα δοκεῖν μιᾶς 564 Es liegt wohl eher eine weitere Erfindung des Ratgebers bzw. Autors vor, vgl. zur Fiktionalität der gesamten Geschichte bereits Anm. 540. 565 Vgl. dazu CAH vol. 6,376f. und 416. 566 Die Angaben des Sidoniers sind absolut fiktiv, da zwischen Persien/Babylonien und Ägypten nicht etwa nur Gebirgszüge, sondern auch vor allem die Syrische Wüste liegt, die, wenn überhaupt, bestimmt nicht in drei Tagen bewältigbar wäre.

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5. Kommentar (§5)

οὐδὲ ὅλης ἡμέρας ὑπερπετασθέντα τὸ ὄρος ἐκ Περσῶν εἰς Αἴγυπτον. So präsentiert schliesslich der Ratgeber einen noch unglaublicheren (oder: närrischeren) Weg als derjenige seines alter ego es ist, indem er dessen Zeitspanne weiter verkürzt. γόητα γόης kann – ähnlich wie σοφιστής (vgl. §1) – in vielen Beudeutungsnuancen, von neutral bis negativ und für verschiedene Tätigkeiten verwendet werden. Drei Hauptbereiche sind festzustellen: Magier oder Zauberer können so bezeichnet werden, ferner (nicht weiter spezifizierte) Lügner und Betrüger und drittens Heuchler und Scharlatane in bestimmten Berufssparten, vor allem Sophisten/Redner und Philosophen. Dabei können diese Bedeutungsfelder selbstverständlich auch Überlappungen aufweisen.567 Phrynichos verzeichnet das Wort (PS 56,8) als ἀττικώτερον τοῦ μάγος. καὶ γοητεία. Der Kontext hier sind also Magie und Zauberei. Pollux wiederum bespricht in 4,47–51 die Terminologie zum Thema ὅστις δὲ βούλοιτο κακίζειν σοφιστήν, und bringt dabei an erster Stelle, man müsse den Terminus γόης verwenden (auch ἀπατεών, ein bei Lukian ebenfalls häufiger Begriff568), bzw. γοητευτικός (ἀπατητικός) mit dem Verb γοητεύειν (ἀπατᾶν), der Tätigkeitsbezeichnung γοητεία (ἀπάτη), dem Adverb γοητευτικῶς. Genau diese Verwendung findet sich in Lukians Satiren gegen Rhetoren und Philosophen, ebenso auch bei Demosthenes. Bereits in dessen Reden wird der Terminus (parallel zu den Grammatikerangaben) oft verbunden mit σοφιστής zur Diskreditierung der Gegner herangezogen. So soll Demosthenes selbst von Aischines als γόητα καὶ σοφιστήν bezeichnet worden sein (De corona 276,4), vgl. auch Stellen wie De falsa legatione 109,7 oder Contra Aphobum 3,32,2. Pollux erwähnt jedoch auch die (neutrale) Verwendung im religiös-mystischen Bereich, vgl. 7,188,10 neben μάγοι oder οἰωνισταί, ὀρνιθόσκοποι. Lukian verwendet das Substantiv γόης und seine Ableitungen häufig: An der hier vorliegenden Stelle bedeutet γόης ganz allgemein »Lügner, Betrüger«, sehr oft ist der Terminus aber bezogen auf einen Heuchler in einer bestimmten Berufs- oder Gelehrtensparte (eben einen »Sophisten«), meist Redner oder Philosophen (»Scheinphilosophen«; so auch schon Plat. Politikos 291c). Dies sieht man deutlich und an mehreren Stellen in der Schrift Pisc. (z.B. §§15,15; 25,13; 29,9; 42,21; 44,8), ebenso in Fugitivi (§17) und

567 Zur Herkunft des Wortes, seiner ursprünglichen Bedeutung zur Bezeichnung einer Person, die »kraft besonderer Begabung zum Mittelpunkt der rituell-kultischen Begehungen« wird, wie es bei Medizinmännern, Schamanen und Zauberpriestern der Fall ist, und zu seiner weiteren Bedeutungsentwicklung siehe Burkert [2006] 173–190 (Zitat 179). 568 E.g. Electr. 3; Pisc. 25 und 29; Pseudol. 17; Ikaromen. 30 (gegen Redner und Philosophen).

§5: Illustrierende Geschichte (Parekbasis)

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Pseudol. (§17).569 Alexanders Beurteilung des Händlers als γόης hat damit Implikationen für die Gestalt des Ratgebers: Auch er könnte bloss ein Scheinsophist sein. Zusammenfassend interessant zum Typ des Scheinphilosophen ist auch Dial. Mort. 20,8, wo verschiedene Personen ihren ›Ballast‹ abwerfen sollen, bevor sie Charons Boot besteigen, darunter ein falscher Philosoph (γόης), der allerlei Schlechtes (u.a. ἀναισχυντία, τρυφή, μαλακία) unter seiner Aufmachung (gestrenge, nachdenkliche Miene, Bart) verbirgt.570 Lukian gebraucht γόης auch im dritten Bedeutungsfeld zur Bezeichnung einer Art Magier im schlechten Sinne, von Scharlatanen im religiös-mystischen Bereich (z.B. Vit. Auct. 2,13).571 Die Überlappung von ›Showeffekten‹, einem bloss scheinbaren Fachwissen und dem Bereich der Zauberei/Magie wird in Alex. deutlich (z.B. §25, und vgl. zur Nähe dieser Bedeutungsfelder auch schon Platon Smp. 203d über die Beschaffenheit des Eros und seines Vaters Poros, die unter anderem mit den Attributen des Jägers, γόης, φαρμακεύς und σοφιστής versehen werden; weiter kombiniert σοφιστής und γοητεύειν in Euthyd. 288b8 über die Wandelbarkeit des Proteus, zum Stichwort Proteus in diesem Zusammenhang vgl. auch Lukian Dial. Mar. 4,1).572 569 Verwandte Begriffe wie ἀλαζών finden sich auch in Rh. Pr., allerdings nicht bezogen auf den ›Scheinsophisten‹, den Rednerlehrer, sondern zur Verunglimpfung des Lehrers des langen Weges (§10). 570 Hier finden sich zahlreiche inhaltliche, aber auch wörtliche Parallelen mit der Charakterisierung des Rednerlehrers in Rh. Pr. 11 und mit seiner Lehre in §§14–15. 571 Informativ zur Gestalt des Scharlatans bei Lukian und ihren Bezeichnungen ist Gerlach [2005], vgl. 151f.: »Der Scharlatan als literarische Figur des auf öffentliche Wirksamkeit und Eigengewinn zielenden Betrügers und Verstellungskünstlers bildet [...] keinen klar umrissenen Typus mit konstanten Merkmalen, sondern kann je nach Textsorte, Thema und Darstellungsziel des Autors Lukian seine Gestalt wechseln. In den Dialogen und menippeischen Satiren Lukians treiben zahlreiche Pseudophilosophen ihr Unwesen [...], während in den Schriften Pseudologista, Pseudosophista und Rhetorum Praeceptor rhetorische Scharlatane auftreten, deren angemasstes Spezialwissen als oberflächlich oder inexistent entlarvt wird. Doch muss sich der Betrug des Scharlatans nicht darin erschöpfen, in die Rolle eines Rhetors, Sophisten oder Philosophen zu schlüpfen und trickreich eine Paideia vorzuspiegeln, sondern kann sich ausweiten auf die Anmassung geheimen und übernatürlichen Wissens. Hieraus erwachsen dem Scharlatan neue Professionen, er erscheint als Wunderarzt, Magier, Beschwörer oder Zauberer. [...] Erst hier, könnte man sagen, kommt die lukianische Figur des Scharlatans als γόης zu ihrer Vollendung [...].« Vgl. weiter die treffende Charakterisierung des lukianischen Scharlatans als »›Mittelwesen‹, der Schein und Sein auf raffinierte Weise zu einem charismatischen Selbstauftritt amalgamiert« (Gerlach [2005] 167). 572 Gerade die Verwendung von γόης zur Bezeichnung von Sophisten wirft natürlich die Frage auf, wie dieses Wort bei Platon erscheint: Interessant ist für uns vor allem der Dialog Sophista (v.a. 234c, 235a), worin die Tätigkeit eines Sophisten, da er eine mimetische τέχνη, ein Trug(bild) mit Worten herstellend, betreibt, als τοῖς λόγοις γοητεύειν bezeichnet wird. Er selbst wird definiert als τῶν γοήτων ἐστί τις, μιμητὴς ὢν τῶν ὄντων [...], vgl. zur Thematik von ἀπάτη und ψεῦδος auch 264d. Grundsätzlich sind alle drei Bedeutungen, »Zauberer«, »(beruflicher) Scharlatan«, »Betrüger/Lügner« schon bei Platon angelegt, doch scheint mir die Verwendung des Terminus γόης bei Lukian kritischer und polemischer zu sein, bei Platon teilweise neutral bzw. in einem ab-

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5. Kommentar (§5)

τὸ παράδοξον Das der Erwartung oder der menschlichen Erfahrung Zuwiderlaufende einer ὑπόσχεσις ist es, das den Zuhörer ungläubig werden lässt. Doch man sollte sich, wie der Ratgeber betont, davon nicht abschrecken lassen. Und genau das Element des παράδοξον, man könnte auch sagen ὀξύμορον, findet sich bereits in den einleitenden Worten des Ratgebers auf der Textebene (siehe §3: κατάντη – ἀνιών). Zum Ausdruck vgl. bereits Plat. R. 472a: παράδοξον λόγον λέγειν (insg. 3 Belege, auch Politikos 281a und Lg. 821a).

§§6–8: Wiederaufnahme der Darstellung der zwei Wege zur Rhetorik (Prothesis/Dihegesis II) §6 Entgegen seiner Ankündigung, nun die zwei Wege zur Rhetorik mit einer in Worte gefassten Bilddarstellung im Stil des Kebes zu illustrieren, beschreibt der Ratgeber im folgenden Bild direkt das Ziel der Ausbildung, nämlich den Berggipfel, auf dem die personifizierte Rhetorik, umgeben von Reichtum, Ruhm, Stärke und Komplimenten, thront (vgl. bereits §3).573 Damit adaptiert er gleich den Höhepunkt der Tabula des Kebes (21,3: die Eudaimonia auf dem Berggipfel) und kommt erst später (§7) zur Wegbeschreibung, die in Kebes’ Werk vorangeht.574 So ist §6 ganz dem Thema der Heirat zwischen der Rhetorik und ihrem Liebhaber gewidmet. Diese Art von Abschweifung bzw. eine nicht ganz exakte Einlösung dessen, was angekündigt wird, wird in §8 fortgesetzt, wo der Ratgeber – nach einer Abbruchsformel in §7 – dazu übergeht, von seiner eigenen Person und Ausbildung zu sprechen.

strakteren Sinn, v.a. das Verb »täuschen«, z.B. in R. 412–413 (bezüglich der Wahl der Wächter, die immer nur gut handeln sollen, nicht bezauberbar sein dürfen, wobei »bezaubern« als durch Lust oder Furcht abgelenkt definiert wird); vgl. weiter R. 380d. 573 Über Bildbeschreibungen (εἰκόνες) als rhetorische Elemente zur Stärkung der ἐνάργεια (»Anschaulichkeit«) vgl. die Einleitung 1.1.2. 574 Es ist jedoch zu bemerken, dass die Tabula von Anfang an, in jeder Stufe ihrer Darstellung, sehr viele allegorische Figuren enthält, deren Aussehen und Wirken genau beschrieben sind (vgl. z.B.: 5,2: Ἀπάτη; 6,2: Δόξαι, Ἐπιθυμίαι, Ἡδοναί; 7,1: Τύχη; 9,1: Ἀκρασία, Ἀσωτία, Ἀπληστία, Κολακεία; 12,1: Ψευδοπαιδεία; 16,2: Ἐγκράτεια, Καρτερία; 18,1: Παιδεία, Ἀλήθεια, Πειθώ; 21,1: Εὐδαιμονία). Daher weist das vorliegende Bild des Ratgebers zumindest im Stil durchaus Anklänge auch an die Anfangspassagen der Tabula des Kebes auf.

§6: Wiederaufnahme der Wegdarstellung (Prothesis/Dihegesis II)

211

ὑπερπετασθέντα Die vorliegende Verbform ist in LSJ s.v. ὑπερπετάννυμι verzeichnet, allerdings vermerkt als Aorist von ὑπερπέτομαι bzw. poet. ὑπερπέταμαι (z.B. AP 5,259 und 7,546). Eigentlich gehörte das Aoristpartizip πετασθείς zu πετάννυμι (ἐπετάσθην) »strecken, ausbreiten«, doch muss hier rein von der Bedeutung her »fliegen« gemeint sein, also das Verb πέτομαι/πέταμαι zugrunde liegen, dessen Aoristpartizip gewöhnlich πτόμενος/πτάμενος (zu ἐπτό/άμην; auch ἔπτην) lautet, vgl. Hom. Il. 5,282; Ar. Av. 788ff. Diese Form findet sich später in Rh. Pr. 7: ὑπερπτῆναι, wo Form und Kontext eindeutig auf die vorangegangenen Kapitel 5 und 6 Bezug nehmen. Eine parallele Verwendung der Aoristform ὑπερ-επετάσθην findet sich bei Diodor 4,51,4, wo das Verb »überfliegen« bedeuten muss (der Kontext ist die Geschichte von Medea und Pelias; Medea erklärt den Kolchern, dass Artemis, nachdem sie diverse Orte überflog, ihre Stadt als Kultort erkoren habe): Ἄρτεμιν [...] ὑπερπετασθῆναι πολλὰ μέρη τῆς οἰκουμένης [...]. In LSJ wird unter ἐπετάσθην als Aoristform zum Simplex πέτομαι weiter Diodor 4,77,8 verzeichnet, wo von Dädalus und Ikarus und ihrem Flug die Rede ist (m. E. kann hier aber ἐκπετασθῆναι auch »ausbreiten [zum Flug]« bedeuten, also zu πετάννυμι gehören). Eindeutige Belege des Aorists πετασθῆναι in der Bedeutung »fliegen« sind Arist. HA 624b6 (im Zusammenhang mit der Sammeltaktik und dem Flug der Bienen), LXX Hosea 9,11; unsicherer in der Bedeutung, aber in LSJ vermerkt, Psalm 17. ὁ Κέβης ἐκεῖνος εἰκόνα γραψάμενος τῷ λόγῳ Gemeint ist Kebes aus Theben, Freund des Sokrates, Gesprächspartner in Phaidon (erwähnt auch in Plat. Kriton 45b und Xen. Mem. 1,2,48; 3,11,17). Zu Kebes als Mitglied bzw. Besucher des Kreises um Sokrates vgl. weiter Plut. mor. 11e, 580e, 590a; siehe weiter die Zusammenstellung der Zeugnisse zu Cebes Thebanus in SSR I C 27, 411, 412; I D 2; I E 2; I G 63; I H 1, 7, 12; III A 3, 7; VI A 102. Ausführlich zu Kebes vgl. Nesselrath [2005] 38–61. Diesem Kebes werden drei nicht erhaltene Dialoge mit den Titeln Pinax, Hebdome und Phrynichos zugeschrieben, vgl. D. L. 2,125: Κέβης ὁ Θηβαῖος· καὶ τούτου φέρονται διάλογοι τρεῖς· Πίναξ, Ἑβδόμη, Φρύνιχος. Es handelt sich allerdings bei dem unter dem Namen des Kebes überlieferten Dialog mit dem Titel πίναξ (»Tafel, Gemälde, Bild«; im Folgenden lat. Tabula), auf den hier mit εἰκών (»Bild«) angespielt wird, um eine pseudepigraphe, d.h. unter falschem Namen bekannte Schrift, deren Datierung umstritten ist (wahrscheinlich 1. Jh. n.Chr.575). Frühester Zeuge ist Lukian (neben dieser Stelle auch Merc. Cond. 42; vgl. auch Pollux 3,95 und Tert. 575

So Fitzgerald/White [1983] 4; sich anschliessend Hirsch-Luipold [2005] 29.

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5. Kommentar (§§6–8)

De Praescr. Haeret. 39), dessen Schriften einen terminus ante quem für die Entstehungszeit der Tabula liefern. Die Pseudepigraphie der Schrift wird seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr bestritten.576 Die Tabula nimmt einerseits Elemente des sokratischen Dialogs auf sowie eine Art von Frage-Antwort-Gespräch, welches als ἐρωταπόκρισις bezeichnet wird und dessen Spezifikum darin besteht, dass der fragende Gesprächspartner in seinem Wissen unterlegen ist, während der antwortende Gesprächspartner weitaus länger spricht (dies ist in Rh. Pr. genauso der Fall), andererseits ist auch die literarische Form der Ekphrasis wichtig, der Bildbeschreibung, die gerade in der Zweiten Sophistik verbreitet ist (bei Lukian prominent in Navigium, Toxaris, Eikones; vgl. auch Philostrats Imagines). Genau dieses Genus der Ekphrasis ruft der Sprecher an dieser Stelle in Rh. Pr. auf, wenn er »ein Bild mit Worten malend« die beiden Wege zu illustrieren gedenkt.577 Vgl. zum rhetorischen Begriff des Bildes (εἰκών) Arist. Rh. 3,4 und 3,10. Zum Inhalt der Tabula sowie zu einem Vergleich mit Rh. Pr. siehe die Einleitung 1.4. τὴν Ῥητορικὴν [...], ἧς ἐρᾶν [...] Hier liegt zugleich eine Personifikation des Berufs der Rhetorik und die Metapher ihrer Heirat als Braut vor. Zur Brautmetaphorik vgl. weiter die Beschreibung der schönen Ῥητορική (πάνυ καλὴ, εὐπρόσωπος), sowie weiter unten ἐραστής, γαμήσειας, γεγαμηκότος. Dieselbe Metapher erscheint ausserdem in Rh. Pr. an zahlreichen weiteren Stellen: In §9 erklärt der Lehrer des langen Weges, der junge Mann werde, wenn er in den Fussstapfen der klassischen Vorbilder wandle und nicht vom Weg abkomme, rechtmässiger Ehemann der Rhetorik werden (νόμῳ γαμήσειν τὴν Ῥητορικήν); in §10 wird jedoch vom Weg der ›Alten‹ abgeraten, weil er viel zu lange dauere, man aber doch die Rhetorik heiraten wolle, solange man in voller Blüte stehe (εἰ πάντως ἐρᾷς καὶ τάχιστα ἐθέλεις τῇ Ῥητορικῇ συνεῖναι ἀκμάζων ἔτι, ὡς καὶ σπουδάζοιο πρὸς αὐτῆς [...]); vgl. auch §16 und §26. Die Personifikation einer Karriere findet sich bei Lukian auch in anderen Schriften (Somnium 6ff.: personifizierte Bildhauerei und Bildung; Bis Acc. 28: Rhetorik als sitzen gelassene Ehefrau).578 576 Ausschlaggebend sind v.a. Anachronismen; vgl. den Forschungsüberblick und Hinweise zur Begründung der (antiken) Zuschreibung an Kebes aus Theben bei Nesselrath [2005] 48–61. 577 Derselbe Verweis auf die Bilddarstellung in der Tabula des Kebes findet sich auch in Merc. Cond. 42: Βούλομαι [...] ὥσπερ ὁ Κέβης ἐκεῖνος εἰκόνα τινὰ τοῦ τοιούτου βίου σοι γράψαι [...]. 578 Vgl. zu diesen Schriften auch die Einleitung 1.5.a–b.

§6: Wiederaufnahme der Wegdarstellung (Prothesis/Dihegesis II)

213

Der Redner Aelios Aristeides, ein Zeitgenosse Lukians, stellt in Or. 33,19f. sein Verhältnis zur Rhetorik ebenfalls als Liebesbeziehung dar: Er sei ein wahrer ἐραστής der λόγοι, die ihm alles bedeuteten, so dass er ständig vor ihrer Türe herumstreife (τούτων [sc. τῶν λόγων] φοιτῶ θύρας). Überhaupt ist die Brautmetaphorik in der Zeit der Zweiten Sophistik verbreitet, vgl. z.B. Libanios’ Aussage, dass er sich für die Rhetorik als seine Braut entschieden habe (Or. 1,54), sowie generell die Junkturen λόγων ἐραστής / λόγων ἐρᾶν (z.B. Lib. Ep. 601, 685, 858).579 Die Personifikation der Rhetorik weist im vorliegenden Kontext der Wegmetaphorik v.a. Parallelen zu (moral-)philosophischen Texten auf (vgl. den expliziten Verweis auf Kebes’ Tabula; siehe zu dieser Schrift auch bereits die Einleitung 1.4). Vergleichbar sind aber auch die (hetärenhaften) Personifikationen der Εἰρήνη, Ὀπώρα und Θεωρία in Aristophanes’ Frieden, insbesondere Ὀπώρα als Braut des Trygaios und Stifterin von Erntesegen (vgl. unten: τὸ τῆς Ἀμαλθείας κέρας).580 τὸ τῆς Ἀμαλθείας κέρας Amaltheia ist eine kretische Nymphe, die Tochter des Haimonios, von deren Ziege Zeus nach seiner Geburt gesäugt wurde (vgl. Call. Jov. 1,49; Plut. Paroimiai hais Alexandreis echron, Centuria 2,27 mit dem Eintrag Ἀμαλθείας κέρας und Scholia in Homeri Iliadem 1,202; allgemein DNP 1 s.v. Amaltheia). Gemäss Plutarch machte Zeus diese Ziege zu einem Stern und gab eines ihrer Hörner zum Dank der Amaltheia mit der Eigenschaft, dass alles, was man sich wünscht (Plut.) bzw. jegliche τροφή (Schol. in Hom. Il.), aus dem Horn komme, vgl. lat. cornu copiae und (in komischer Adaptation) Ar. PCG 3.2, fr. 685a. Plutarch erklärt nicht nur den Ursprung dieses Ausdrucks, sondern auch dessen spätere allgemeine Verwendung: ὅθεν τοὺς εὐδαίμονάς φασιν Ἀμαλθείας κέρας ἔχειν.581 Eine andere Überlieferung findet sich in Schol. in Hom. Il. 21,194, dass nämlich Herakles, als er um Deianeira warb, dem Flussgott Acheloos ein Horn abbrach, ihm dieses aber wieder zurückgab, als er dafür von Acheloos das Horn der Amaltheia bekam.582 Der Ausdruck »Horn der Amaltheia« wurde auf jeden Fall sprich579 Siehe dazu Cribiore [2007] 155f. – Untersucht man etwaige platonische Anklänge der hier vorliegenden Metaphorik, sich mit einer τέχνη oder Wissenschaft zu verheiraten, wird man nicht fündig. Das Verb γαμεῖν ist bei Platon relativ selten belegt, das Substantiv γάμος häufiger; »Heirat« ist allerdings immer im wörtlichen Sinn verwendet, und weitaus die meisten Belege stammen denn auch aus Nomoi und Staat (e.g. Lg. 721a–d; R. 423e). 580 Vgl. Aristophanes Pax 520–538, 706–708, (zur Hetärenhaftigkeit) 849, 868, 1316–1357. 581 Vgl. genauso auch die Lukianscholien zur Stelle (p. 175 Rabe): Ἀμαλθείας* κέρας] ⌞τὸν Δία⌟ αἶγά φασι θρέψαι ⌞Ἀμάλθ⌟ειαν λεγομένην, ⌞ταύτης δὲ⌟ τὸ δεξιὸν κέρας βρύ⌞ειν τῆς π⌟αγκαρπίας ἤτοι ⌞πᾶν αἰ⌟σθητὸν ἀγαθὸν ἄ⌞φθονον⌟ ἔχειν. ἀπὸ τούτου πάντα ⌞τὰ εὐδαι⌟μόνως διάγοντα τὸ ⌞τῆς Ἀμα⌟λθείας ἔχειν κέρας ⌞φ⌟ασίν. 582 Für eine Bilddarstellung dieser Szene vgl. z.B. LIMC I.2, Acheloos 218.

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5. Kommentar (§§6–8)

wörtlich (vgl. Paroemiographi Graeci vol. 2, p. 54, Nr. 8: Gregorius Cyprius; sowie die oben genannte Stelle in vol. 1, p. 341, Nr. 27: Plutarch). Der Redneraspirant wird eine Frau ehelichen, die das Horn der Amaltheia – und damit nie endenden Reichtum und Überfluss sowie Glück (vgl. oben Plutarch τοὺς εὐδαίμονάς) – besitzt. Die Darstellung der zu erjagenden Braut auf einem Berggipfel, die, wie der Ratgeber sagt, an Kebes’ Tabula angelehnt ist, karikiert einmal mehr philosophisch-ernsthafte Literatur: Keine Anstrengung, eine kurze Zeitspanne und ein grosser Gewinn an Ansehen und materiellen Gütern – so lauten die Kernversprechungen des Ratgebers und seiner Bilddarstellung, wohingegen Kebes’ Schrift, genau wie Platon, einen anstrengenden, langen Weg zu echtem Wissen (ἐπιστήμη) und zum glücklichen Leben (εὐδαιμονία) ohne jegliche materiellen Interessen aufzeichnet (vgl. zum Begriff der εὐδαιμονία auch den Kommentar zu §8: εὐδαιμονήσεις). Das Bild der Rhetorik mit Füllhorn wird vom Ratgeber durch ein zweites – dasjenige des Nils – weiter illustriert, welches in den erhaltenen Nilstatuen, die den Gott jeweils mit einem Füllhorn zur Linken (anders hier: in der Rechten) zeigen, seine Bestätigung findet.583 ὑπερβρύον Das Verb ὑπερβρύω ist ein lukianisches hapax legomenon (so auch LSJ, mit der Übersetzung to be full to overflowing) und anderswo mit der Erweiterung ὑπερ- nicht belegt. Es ist jedoch häufig im Simplex βρύω (bei Hom. nur 1x Il. 17,56; ansonsten 3x τὸ ἔμβρυον Od. 9), Belege des Partizips βρύον z.B. bei Ar. Ra. 329; Plat. R. 383b6; Aischylos fr. 350 Radt; Soph. El. 422; Plut. mor. 1106c5. ἐπὶ θάτερα Textkritisches: Überliefert ist ἐπὶ θάτερα (γ); ἐν θατέρᾳ (β). Aufgrund der Wiederholung des Ausdrucks ἐπὶ θάτερα in §9 druckt Macleod das Syntagma auch hier; wohl in der Meinung, es sei zu wenig verständlich, entscheidet sich Harmon für ἐπὶ θατέρᾳ. Macleods Variante beinhaltet eine richtungsangebende Nuance »auf die eine/andere Seite [hin]« (so sicher in §9); da jedoch die Ausdrücke für Seitenangaben in der Form von Adjektiven im Akk. Pl. n. zwischen Richtung und Ort schwanken, vgl. ἐπ’ ἀριστερά (z.B. Il. 2,526), ἐπὶ δεξιά (»zur Linken, zur Rechten [hin]«), ist der Akkusativ hier m. E. unproblematisch und kann beibehalten werden. Damit kann zudem der tendenziell zuverlässigeren Handschriftengruppe γ gefolgt werden.584 583 584

Vgl. dazu im Appendix Abb. 1 und 2. Vgl. die einleitenden Bemerkungen zum griechischen Text, bes. Anmm. 473 und 474.

§6: Wiederaufnahme der Wegdarstellung (Prothesis/Dihegesis II)

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δόκει [...] ὁρᾶν Eine ähnliche Verwendung von δοκέω in Kombination mit ὁρᾶν in der Bedeutung »stell dir vor [...] zu sehen« auch in Luk. Ikaromen. 12 (Menipp nimmt seinen Gesprächspartner in Gedanken mit auf den Mond und beschreibt ihm die Aussicht, die er sich vorstellen soll: καὶ πρῶτόν γέ μοι πάνυ μικρὰν δόκει τινὰ τὴν γῆν ὁρᾶν [...]). Vgl. zur Bedeutung »glauben, sich vorstellen« LSJ unter I.: expect (iterat. of δέκομαι; hence think, suppose, imagine), mit der Bemerkung, dass diese Bedeutung oft in Verbindung mit Träumen oder Visionen belegt sei (was hier annähernd der Fall ist). Ähnlich auch Euripides IT 44f.: ἔδοξ’ ἐν ὕπνῳ τῆσδ’ ἀπαλλαχθεῖσα γῆς / οἰκεῖν ἐν Ἄργει [...]. παρέστωσαν [...] περιπλεκέσθωσαν Zu diesen Imperativendungen 3. P. Pl. aktiv -τωσαν und medium -σθωσαν siehe K.-G. I 1,39 (Übersicht). Das -ν (vgl. -των, -σθων) der 3. Person wird ersetzt (›verdeutlicht‹) durch die Endung -σαν (vgl. die Personalendung der Nebentempora aktiv, v.a. sigmatischer Aorist), weiter dazu Schwyzer [1939] 1,665 zur Ausbreitung von -σαν statt -ν zuerst in Aorist und Imperfekt, dann in Optativ und Imperativen. Erwartet würde regelmässig als Imperativ von παρ-εἶναι παρ-ἔστων (»sie sollen anwesend sein, dabei sein«), sowie περιπλεκέσθων (»sie sollen sich winden/schlingen um, sollen umarmen«) anstelle des erweiterten περιπλεκέσθωσαν. Zum verbreiteten Gebrauch dieser speziellen Imperativendungen im Attizismus vgl. Schmid [1887] 1,229.585 Vgl. auch unten zu Rh. Pr. 21: οἱ φίλοι ἀναπηδάτωσαν ἀεὶ καὶ [...] ἀποτινέτωσαν, [...] δορυφορείτωσαν; Rh. Pr. 23: ἔστωσαν. ἐκπετόμενοι Hier liegt das ›regelmässige‹ Partizip zu πέτομαι »fliegen« vor, vgl. den ›regelmässigen‹ Infinitiv in §7 und die Angaben zu §6: ὑπερπετασθέντα. τὸν Νεῖλον Zur Bedeutung der Erwähnung des Nils und Ägyptens vgl. den Kommentar zu §5: πολλὴ εἰς Αἴγυπτον ἐγίγνετο ἡ ὁδός.

585 Bei Dionysios von Halikarnass (Ant. Rom.) und bei Cassius Dio ist -έτωσαν die gängige Endung gegenüber dem früheren -όντων; genauso verhält es sich bei Lukian (22 Belege), z.B. Catapl. 5: ἐμβαινέτωσαν »sie sollen an Bord steigen«; Char. 10: ἐχέτωσαν »sie sollen haben«; Pisc. 24: καθιζέτωσαν »sie sollen sich setzen«.

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5. Kommentar (§§6–8)

πήχεις Philostrat der Ältere beschreibt in seinen Imagines (1,5,1) ein Bild mit dem Titel »Ellen« (πήχεις) in folgenden Worten: »Rings um den Nil spielen die Ellen, Bübchen so gross wie ihr Name es sagt, und der Nil freut sich über die Massen an ihnen, vor allem, weil sie über ihn verkünden, mit welcher Kraft er sich über Ägypten ergoss.« Hier wird ein ähnlicher Bildtyp beschrieben, wie der Sprecher in Rh. Pr. ihn uns vorstellen lässt. Die Ellen hiessen demnach so, weil sie eine Elle gross sind;586 doch ein weiteres Element wird von Philostrat ebenfalls genannt, nämlich, dass die Ägypter die Überschwemmungen des Nils – für die Fruchtbarkeit der Region höchst willkommen – in Ellen massen. Darüber gibt es diverse Textzeugnisse, vgl. Himer. Or. 14,1 (= Phot. Bibl. 371b28f.: Πήχεις οἱ Αἰγύπτιοι τὴν αὔξησιν τοῦ Νείλου προσαγορεύουσι καὶ μετροῦσι τὰ νάματα [...]); Nicephoros Gregoras Historia Romana 1,331,16; schliesslich auch die Elle als stehendes Beiwort des Nils in Paulus Silentiarius Descriptio sanctae sophiae 625 (εὐπήχει Νείλῳ) und in Heron Geometrica 4,10,15 neben anderen der Ellentypus Νειλῷος πῆχυς. Für eine Darstellung des Nils und der Ellen vgl. den Appendix, Abb. 1. πρόσει Imperativ zu προσ-εἶμι, in Komposition -ει neben -ιθι, vgl. Ar. Nu. 633: ἔξει (die Form kann als Präsens/Futur oder als Imperativ gedeutet werden, der Scholienkommentar dazu lautet: ἔξει· ἔξιθι); sprachhistorisch gesehen liegt hier der ursprüngliche Imperativ 2. P. Sg. mit Nullendung vor, vgl. thematisch λέγε-Ø; lat. i!, ama! etc. und Schwyzer [1939] 1,798, bes. Anm. 8, mit Hinweis auf den erstarrten homerischen Ausdruck εἰ δ’ ἄγε (wörtl. »geh und führe!«). Vgl. auch unten §17: μέτει. ὡς γαμήσειάς [...] ἔχοις Es liegt ein Finalsatz vor, wo nach dem Haupttempus im übergeordneten Satz der Konjunktiv (und nicht der oblique Optativ) erwartet würde; hier könnte allenfalls der Optativ als potentialer erklärt werden, da auf ein Haupttempus der Optativ folgen kann, »wenn die Handlung des Finalsatzes, ohne Rücksicht auf ihre Verwirklichung, als bloss gedacht, als reine Vorstellung erscheinen soll« (so Hom. Il. 7,339f.; Xen. An. 2,4,4). Häufiger jedoch weist dann auch der Hauptsatz einen Optativ auf und es tritt Modusassimilation ein, vgl. K.-G. II 2,382f. (mit Beispielen). Daher ist die vorliegende Optativverwendung wohl eher im Rahmen des ausgeweiteten Gebrauchs dieses Modus im Attizismus zu sehen, vgl. Schmid [1887] 1,50: 586 Eine Elle beträgt ca. 45 cm, gemessen wird der Unterarm bis zur Spitze des Mittelfingers (siehe DNP 7 s.v. Masse, Sp. 988).

§6: Wiederaufnahme der Wegdarstellung (Prothesis/Dihegesis II)

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Die Verwendung des Optativs in Finalsätzen mit ὡς (ἄν), obwohl im Hauptsatz ein historisches Tempus fehlt, ist in dieser Zeit gängig. Die Partikelverbindung ὡς ἄν (vgl. Rh. Pr. 15) ist beispielsweise bei Aelian häufig (z.B. VH 1,31 und 2,5; in klassischer Literatur noch selten, bei den Rednern und Platon gar nicht vertreten, und bei Haupttempus immer mit Konjunktiv verbunden), und die zusätzliche Konstruktion mit Optativ statt Konjunktiv tritt seit hadrianischer Zeit auf (vgl. Schmid [1893] 3,86; im Zusammenhang mit Aelian). Die Finalpartikel ὡς mit Opt. ist bei Philostrat gängig und auch bei Lukian häufig (vgl. Schmid [1896] 4,88; zu Philostrat), bei dem jedoch daneben zahlreiche Belege der Finalpartikel ἵνα zu finden sind (73 Belege). Vgl. zu diesem Optativgebrauch auch Rh. Pr. 10, 11 und 15: ὡς [...] σπουδάζοιο / ὡς [...] γνωρίζοις [...], μηδέ σε [...] διαλάθοι / ὡς ἂν [...] δυνηθείης. νόμῳ [...] τοῦ γεγαμηκότος Durch die Heirat mit der Rhetorik fällt also dem Redner all ihr Besitz zu, so dass sie völlig hinter ihm zurückgestuft wird bzw. ganz klar nur als Mittel zum Zweck, nämlich zu Reichtum und Ruhm, dient. Sie entspricht der kurtisanenhaften, niederen Rhetorik, wie wir sie auch in Bis Acc. treffen (vgl. die Einleitung 1.5.a). Die Ausbildung beider Wege wird durch das Endziel einer Heirat mit der Rhetorik markiert, vgl. §9: φήσει εὐδαίμονά σε ἔσεσθαι καὶ νόμῳ γαμήσειν τὴν Ῥητορικήν. Jedoch geschieht die Einfügung der Bezeichnung des »Rechtmässigen« (νόμῳ) auf unterschiedliche Weise: Der Lehrer des langen Weges betont die Rechtmässigkeit der Ehe mit der Rhetorik, die dann gegeben ist, wenn der Schüler den Spuren der klassischen Vorbilder wie Demosthenes und Platon folgt, während der Ratgeber das schamlose Ausbeuten und An-sich-Raffen jeglichen Gewinns aus der Rhetorik als rechtmässig hinstellt. Auffällig an der vorliegenden Bilddarstellung ist auch, dass kein Wort über das Wesen der Rhetorik gesagt wird, sondern nur ihr Äusseres sowie ihr Besitz beschrieben werden. Das erstaunt jedoch wenig, denn im propagierten Lehrgang ist nur das Endziel wichtig, welches nicht aus der Rhetorik im Sinn rhetorischer Kunst, sondern darin besteht, welche Güter sie zu vermitteln imstande ist. So gibt es bei der Kürze und Inhaltslosigkeit des leichten Weges über das Wesen der Rhetorik tatsächlich nichts zu sagen (vgl. den Lehrgang §§14ff., dessen Grundstein die »Unwissenheit«, ἀμαθία, bildet).

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5. Kommentar (§§6–8)

§7 εἶτα ἐπειδὰν πλησιάσῃς [...] ἀπογιγνώσκεις τὴν ἄνοδον Das einleitende εἶτα ist in diesem Zusammenhang in der Bedeutung »und doch, dennoch« zu verstehen, wie es neben (häufig temporalen) Partizipien587 zur Einleitung des Hauptsatzes auftritt, um Überraschung oder Inkongruenz auszudrücken (vgl. LSJ s.v. I.2; z.B. Aischylos Pr. 777 oder Sophokles Aj. 1092). Anschliessend an das Ende von §6 mit der Beschreibung des Endpunktes, des Erreichens aller Güter der Rhetorik, wird der Schritt zurück an den Anfangspunkt gemacht: Und doch wird der Schüler, wenn er sich dem Fuss des Berges nähert, erst einmal verzagen. Eigentlich bräuchte sich der Schüler beim Anblick des riesigen Berges keine Sorgen zu machen, weil er ja bereits mehrfach der Kürze und Leichtigkeit des Weges auf den Gipfel versichert worden ist (vgl. §§1–3). Trotzdem rollt der Ratgeber die (vermeintliche) Schwierigkeit der Wegwahl nochmals auf, indem er die Ekphrasis von §6 sogleich mit dem Bild der Bergfestung Aornos, die sich riesenhaft vor dem Schüler auftürmt, und der makedonischen Armee des Alexander, die sie überwindet, weiterführt.588 Danach schreitet der Ratgeber schliesslich zur angekündigten Darstellung der zwei Wege (εἶτα μετ’ ὀλίγον ὁρᾷς δύο τινὰς ὁδούς), die jedoch erstens eine inhaltliche Wiederholung von §3 bietet und zweitens noch dazu viel knapper ausfällt, so dass der Schüler über die Beschaffenheit der Wege nichts Neues erfährt. Warum also diese Wiederholung? Eine mögliche Erklärung scheint mir im Einschnitt der illustrierenden Geschichte von §5 zu liegen: Sie stellt einen Haltepunkt dar, an dem durch den Vergleich des Ratgebers wichtige Bemerkungen zur Thematik von Lehrer und Schüler, von Ratendem und Beratenem – ja von Narr und Genarrtem589 – und zur Glaubhaftigkeit eines Ratschlages fallen, die den Rezipienten zu einem vorsichtigen Umgang mit dem (unglaublichen) Inhalt des Dargebotenen aufrufen. Daher kann man die Rede des ›sidonischen‹ Ratgebers ab §6 als durch einen Neueinsatz markiert verstehen: Mit sozusagen geschärftem Verstand sollen die beiden Wege und ihre Beschaffenheit nochmals betrachtet werden. Aus Sicht des Ratgebers, der den Exkurs (§5) zum Beweis des kurzen Weges einsetzt – wenn dieser auch infolge der Unglaublichkeit der Geschichte nicht geleistet wird –, braucht die Möglichkeit der beiden Wege 587

Hier bei temporalem Nebensatz. Vgl. zur unerwartet ängstlich-verzagenden Darstellung des Schülers auch unten §8: εὖ οἶδα ὅτι ἀπορήσεις, καὶ ἤδη ἀπορεῖς, ὁποτέραν τρεπτέον. 589 Vgl. zum Ratgeber als Narrenfigur die Ausführungen auf S. 63f. 588

§7: Wiederaufnahme der Wegdarstellung (Prothesis/Dihegesis II)

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aber nur knapp nochmals aufgegriffen zu werden; er macht durch die Verwendung einer Abbruchsformel (καὶ ἔφθη γὰρ ἤδη Ἡσίοδος εὖ μάλα ὑποδείξας αὐτήν, ὥστε οὐδὲν ἐμοῦ δεήσει) klar, dass er sich der Wiederholung bewusst ist: Es bedarf nun diesbezüglich keiner weiteren Worte mehr (ἵνα μὴ πολλάκις τὰ αὐτὰ λέγων ἐπέχω σε ἤδη ῥήτορα εἶναι δυνάμενον). οἵα ἡ Ἄορνος ἐφάνη τοῖς Μακεδόσιν ἀπόξυρον [...] ἀτεχνῶς οὐδὲ ὀρνέοις ὑπερπτῆναι ῥᾳδίαν Gemeint ist hier die Bergfestung Aornos nahe dem Indus (heute wohl das pakistanische Gebirge Pir-Sar, vgl. zur geographischen Lage DNP 1 s.v. Aornos [2]), welche die Makedonen unter Alexander im Jahr 328 v.Chr. eroberten (vgl. Arrian An. 4,28,1–2 und Ind. 5,10). Sie galt als beinahe unmöglich einzunehmen, und aus der Annahme, dass sogar Vögel die Festung nicht oder kaum überfliegen konnten, geht die (volks-)etymologische Deutung ihres Namens hervor: A-ornos (»vogel-los«), vgl. dazu Hist. Alex. Magn. 3,4,8–9: Ἀόρνην λεγομένην διὰ τὸ μηδὲ ὀρνέοις ἐπιβατὴν εἶναι. Das Adjektiv ἀπόξυρος (»abgeschnitten, steil, schroff«) ist in der ganzen Gräzität sehr selten und erst kurz vor Lukian erstmals belegt;590 hervorgehoben wird es zudem durch die Alliteration von a-Lauten: ἀπόξυρον αὐτὴν ἁπανταχόθεν. Lukian verwendet das Wort noch in Prom. 1 (zur Beschreibung des Felsengebirges par excellence, des Kaukasus, an den Prometheus gefesselt wird); Ver. Hist. 2,30 (vgl. zu dieser Passage auch unten ἀκανθώδης); Nav. 8. ἀτεχνῶς ist das Adverb zum Adjektiv ἀτεχνής (anders als ἀτέχνως zu ἄτεχνος), mit der Bedeutung »ohne weiteres, ganz und gar« (vgl. LSJ s.v.: really, absolutely, simply). Διονύσου τινὸς ἢ Ἡρακλέους Die Erwähnung dieser (Halb-)götter als παραδείγματα spielt auf deren Reisen in den Fernen Osten an.591 Schon Alexander der Grosse verglich sich und seine Eroberungen mit ihnen, wobei er Herakles’ Reisen für unwesent590 Vgl. Erot. Vocum Hippocr. coll. 42,14 (Klein) und Periplus Maris Erythraei 40,18 (beide werden ins 1. Jh. n.Chr. datiert). – Häufiger belegt ist das Verb ἀποξυράω bzw. -έω, »abscheren, rasieren« (vor allem bei Medizinern, bereits Hippokrates, später Galen, Oreibasios, Aëtios, Paulos Aeg.), zu dem ἀπόξυρος eine Rückbildung ist (zugrunde liegt τὸ ξυρόν »Rasiermesser«); genauso auch ὑποξυράω/ὑπόξυρος, καταξυράω/κατάξυρος. 591 In Verbindung mit dem westlichsten Punkt der Oikumene, wo sich die Säulen des Herakles befinden, wird das Paar auch in Luk. Ver. Hist. 1,5–7 erwähnt: Der Ich-Erzähler beginnt seine Reise an der Strasse von Gibraltar in Richtung Westen auf den Atlantik hinaus, wo auf einer Insel eine bronzene Stele und zwei Fussabdrücke vom Besuch des Dionysos und Herakles Zeugnis ablegen. Zu Fussspuren als Zeugen vgl. auch den Kommentar zu §9: ὑποδεικνὺς τὰ Δημοσθένους ἴχνη κτλ.

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5. Kommentar (§§6–8)

lich hielt, während Dionysos Indien immerhin einnahm und dort seinen Kult verbreitete – jedoch gelang es gemäss Alexander weder Herakles noch Dionysos, Aornos einzunehmen (vgl. Arr. An. 4, 28,1; 5,26,5; Ind. 5,8–10; allerdings mit dem kritischen Kommentar des Autors, dass Alexander sich mit der Verbreitung dieser Geschichte von der bisherigen Uneinnehmbarkeit der Festung bloss brüsten wolle; vgl. weiter Diod. 17,85,2 und Hist. Alex. Magn. 3,4,9–10). Lukian lässt den prahlerischen Alexander bezüglich der Bergfestung Aornos in Dial. Mort. 12,6 – in Arrian vergleichbarem Stil – zu Wort kommen, in einem Gespräch mit seinem Vater Philipp. An der vorliegenden Stelle bietet Alexander zwar ein positives Beispiel, da er sich von der Höhe und Steilheit der Festung Aornos nicht abschrecken liess – ambivalent ist seine Unternehmung jedoch dadurch, dass gemäss dem Ratgeber gar kein mühsames Übersteigen des Berges nötig ist, so dass sich der Schüler im Vergleich mit Alexander einmal mehr nicht an dessen Vorbild halten soll. Abgesehen von den sie verbindenden Reisen in den Osten können die Vergleichsfiguren Herakles und Dionysos auch – in kontrastierender Gegenüberstellung – als Exponenten der zwei Wege interpretiert werden, die gleich im Anschluss erneut thematisiert sind (vgl. εἶτα μετ’ ὀλίγον ὁρᾷς δύο τινὰς ὁδοὺς [...]): Herakles ist das Paradebeispiel des Absolventen des mühevollen Weges (vgl. Xen. Mem. 2,1,21–33 und oben Einleitung 1.4); ihm entspricht der braungebrannte, kräftige, bäurische Lehrer des langen Weges.592 Der leichte, mit Schwelgerei verbundene Weg kann mit Dionysos in Zusammenhang gebracht werden, einerseits wegen dessen literarisch und ikonographisch bezeugter Schönheit, Eleganz und ›Weichheit‹,593 andererseits v.a. über den Exponenten des kurzen Weges, den Rednerlehrer, welcher dieselben äusserlichen Merkmale trägt und zudem durch den Vergleich mit einem Tragödienschauspieler in den Dramenkontext gesetzt wird (vgl. §11: Agathon; §12: ὑποκριτής). Insofern ist bereits hier das dionysische, d.h. maskenhafte Element eingeführt, welches die Sprechweise der Hauptfiguren – Ratgeber und Rednerlehrer – im Verlauf von Rh. Pr. immer stärker prägt. ἡ μὲν ἀτραπός Das Substantiv ἀτραπός wird sowohl in Prosa als auch in Poesie verwendet, bereits bei Homer (5 Belege insgesamt: Il. 17,743; 18,565; Od. 13,195; 14,1; 17,234, v.a. in der Form ἀταρπός bzw. ἀταρπιτός; vgl. zur Lautent592

Vgl. Rh. Pr. 9–10 und den Kommentar zu §12: ἄγροικον γὰρ τὸ ἀρρενωπὸν [...]. Vgl. dazu bereits den homerischen Hymnus an Dionysos, worin der Gott als junger, schöner Mann mit langem, schwarzem Haar beschrieben ist (Vv.1–6); siehe zur äusserlichen Effeminierung des Dionysos weiter DNP 3 s.v. Dionysos, Sp. 653 und Hamdorf [1986] 9–11 und 57. 593

§7: Wiederaufnahme der Wegdarstellung (Prothesis/Dihegesis II)

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wicklung von silbischem ρ als ρα und αρ Schwyzer [1939] 1,342), sowie bei Aristophanes (Nu. 76; Ra. 123) und Parmenides fr. 2 DK. Aus den Scholieneinträgen zu Homer und Aristophanes wird ersichtlich, dass als Charakteristikum eines ἀτραπός dessen Enge und Schmalheit (vgl. hier Rh. Pr. mit dem Attribut στενή) gelten, dass eine Person bereits die ganze Breite ausfüllt (μονο-πάτιον) und es keine Ausweich- oder Abbiegemöglichkeiten gibt (z.B. Schol. in Hom. Il. 17,743; Schol. in Hom. Od. 13,195; Schol. in Aristoph. Nub. 75a). Dazu passt auch die antike Etymologie aus alpha privativum und τρέπειν. Moderne Interpretationen weichen davon ab (alpha copulativum und τραπεῖν »trampeln« als »Trampelpfad«, vgl. LfgrE s.v. ἀταρπός).594 Dieses Substantiv zur Bezeichnung des anstrengenden Weges, der mehr ein Pfad ist als ein gut gangbarer Weg, verwendet Lukian in Rh. Pr. nur hier. Während der leichte Weg immer als ὁδός bezeichnet wird, ergänzt mit diversen positiven Attributen wie κατάντης (§3: »bergabführend«), ταχίστη (§4: »sehr schnell«), ῥᾴστη (§24 und §26: »sehr leicht«), benutzt Lukian in Verbindung mit dem anstrengenden Weg neben ὁδός auch Substantive, die dessen Abschüssigkeit, Schmal- und Steilheit betonen wie hier ἀτραπός, ferner κρημνός (§3: »Abhang«) und ἄνοδος (§3 und §7: »zu einer Anhöhe führender Weg, Aufstieg«). Vgl. auch Hermot. 26: ἀνὴρ κατὰ τὴν ἀρχὴν τῆς ἀτραποῦ ἑκάστης ἐφεστὼς [...]. In Kombination mit dem Adjektiv ἀκανθώδης (»dornig«) erscheint ἀτραπός auch in Ver. Hist. 2,30 (Landung der Schiffsmannschaft in einer rauen Insellandschaft, nämlich auf den Inseln der Verdammten, νῆσοι τῶν ἀσεβῶν): ἀνερπύσαντες [...] κατὰ τοὺς κρημνοὺς προῄειμεν διά τινος ἀκανθώδους καὶ σκολόπων μεστῆς ἀτραποῦ; vgl. zum Verb ἀνέρπειν und zum Substantiv κρημνός auch Rh. Pr. 3. Lukian verwendet also in Rh. Pr. und Ver. Hist. parallel für das Positive (kurzer Weg/Inseln der Seligen) das Motiv der idyllischen, schattigen Blumenwiese (vgl. §3: διὰ λειμώνων εὐανθῶν), für das Negative (langer Weg/Inseln der Verdammten) das Steinige, Abschüssige, Raue.595 ἀκανθώδης Ein den Attizisten geläufiges Adjektiv mit der Bedeutung »dornenreich«, vgl. Pollux 1,246,7 und Phryn. PS 14,8, sehr häufig in Verbindung mit

594 Zu ἀταρπός bei Homer als Bezeichnung eines holprigen, felsigen Pfades vgl. auch Becker [1937] 35. 595 Positiv konnotiert (nämlich als kurz und anstrengungslos) findet sich ἀτραπός in Menipp. 22: ταχεῖαν γάρ σοι καὶ ἀπράγμονα ὑποδείξω ἀτραπόν (wobei allerdings Menipp selbst seine Heimkehr aus dem Hades durch diesen Pfad als durchaus anstrengend beschreibt: χαλεπῶς μάλα διὰ τοῦ στομίου ἀνερπύσας).

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5. Kommentar (§§6–8)

Pflanzen (ἀκανθώδες φυτόν, so Schol. in Aristoph. Lysistr. 576; Schol. in Hom. Od. 14,10). Neben der bereits erwähnten Stelle in Ver. Hist. 2,30 (s.o. zu: ἡ μὲν ἀτραπός) findet sich das Adjektiv bei Lukian noch dreimal, immer zur Verspottung von Philosophen: Einerseits werden die Stoiker als eine »stachlige Fischsorte« beschrieben (Pisc. 51,2; 51,29), andererseits die Reden der Philosophen allgemein als »dornige Argumentationen« getadelt (Dial. Mort. 20,8). ἔφθη γὰρ ἤδη Ἡσίοδος εὖ μάλα ὑποδείξας αὐτήν Zur Konstruktion bestimmter Verben wie τυγχάνω, διάγω, λανθάνω, φθάνω mit Partizip vgl. K.-G. II 2,63. Im Deutschen wird das Verhältnis von Hauptverb und Partizip insofern umgekehrt, als das Partizip, auf dem der gedankliche Nachdruck liegt, zum Verbum finitum gemacht, dieses hingegen zu einem Adverb abgeschwächt wird (»Hesiod hat bereits beschrieben«). Angespielt wird hier auf Hesiod Erga 289–291: τῆς δ’ ἀρετῆς ἱδρῶτα θεοὶ προπάροιθεν ἔθηκαν / ἀθάνατοι· μακρὸς δὲ καὶ ὄρθιος οἶμος ἐς αὐτὴν / καὶ τρηχὺς τὸ πρῶτον· [...].596 Die in Rh. Pr. unmittelbar vorher aufgezählten Attribute στενή, ἀκανθώδης, τραχεῖα, πολὺ τὸ δίψος ἐμφαίνουσα καὶ ἱδρῶτα geben eine leicht erweiterte variatio von Hesiods Palette (ἱδρώς, μακρός, ὄρθιος, τρηχύς), welche in §3 (τραχεῖαν, ὄρθιον, ἱδρῶτος μεστὴν [ὁδόν], wenig später μακράν) wörtlich aufgenommen ist. Das Lob Hesiods an vorliegender Stelle betrifft vor allem seine Technik der Wegbeschreibung, die der Ratgeber, da er sie für gelungen hält, übernimmt. Was allerdings stillschweigend übergangen wird, ist die Tatsache, dass Hesiod nicht den langen Weg zur Rhetorik, sondern denjenigen zur Tugend (ἀρετή) beschrieben hat. Zur ansonsten vor allem negativ gezeichneten Hesiodfigur vgl. den Kommentar zu §4: Ἡσίοδος μὲν ὀλίγα φύλλα [...] λαβὼν. ἡ ἑτέρα δὲ πλατεῖα καὶ ἀνθηρὰ καὶ εὔυδρος [...] μικρῷ πρόσθεν εἶπον Vgl. die Attribute der ausführlicheren Beschreibung dieses Weges in §3: ἀνθηρὰ stellt eine variatio des Ausdrucks διὰ λειμώνων εὐανθῶν dar; πλατύς und εὔυδρος werden nur an dieser Stelle zur Charakterisierung verwendet, wobei ersteres im Gegensatz zum vorher erwähnten, speziell schmalen Weg steht und in der Aussage mit ἱππήλατος (§3) vergleichbar ist (vgl. Poll. 1,220: ἁμαξήλατοι, πλατεῖαι, εὐρυχώρια), zweiteres mit dem dargestellten Wasserreichtum ebenso einen Kontrapunkt zum obigen 596

Vgl. bereits die Einleitung 1.4 und den Kommentar zu §3: ἱδρῶτος μεστὴν.

§8: Wiederaufnahme der Wegdarstellung (Prothesis/Dihegesis II)

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Ausdruck πολὺ τὸ δίψος ἐμφαίνουσα bildet, genauso wie schliesslich ἀνθηρός als Gegenbild zu ἀκανθώδης aufgefasst werden kann (nur auf gepflegtem, dornenlosem Boden können Blumen gedeihen, vgl. dazu Pollux 1,246: ἐπὶ ἠμελημένου χωρίου ἄσπορον, ἄσκαφον [...] ἀκανθώδες). Sowohl ἀνθηρός als auch εὔυδρος sind gemäss Pollux die idealen positiven Attribute einer Gegend, χωρίον (vgl. Poll. 1,239 sowie die Angaben zu §3: διὰ λειμώνων εὐανθῶν).

§8 Nachdem der Ratgeber die Beschreibung der beiden Wege in §7 mehr angetippt als detailliert ausgeführt und mit einer Abbruchsformel beendet hat, nimmt er einen Perspektivenwechsel vor: Aus der Vergangenheit (man beachte den Tempuswechsel: εἶχεν) gibt er einen Selbsterfahrungsbericht, der letztlich zur Erklärung des Umstandes dient, weshalb er – selbst ein Absolvent des langen Weges – jetzt den kurzen empfiehlt. Seine Ausbildung und die damaligen Strapazen werden von ihm rückblickend als unnötig und hinsichtlich des Erfolgs enttäuschend eingestuft (vgl. dazu ausführlicher die Einleitung 1.6, S. 62f.). Der Ratgeber erreicht durch das Element der Autopsie, das in der Beschreibung seiner eigenen Wegwahl und in der Betonung, die Beschaffenheit des kurzen Weges ebenfalls gesehen zu haben, vorliegt, eine Scheinobjektivität, die den Schüler darin bestärken soll, ihm, der seinen Zögling nicht dieselben Fehler machen lassen will, zu vertrauen. οὐ πολλὰ ἴχνη τῶν ὁδοιπόρων εἶχεν, εἰ δέ τινα, πάνυ παλαιά Zum Widerspruch dieser Stelle im Vergleich mit §3 siehe die Einleitung 1.6, S. 62. ἔγωγε κατ’ ἐκείνην ἄθλιος ἀνῆλθον τοσαῦτα καμὼν οὐδὲν δέον Die Selbstaussage des Ratgebers wirkt auf den Rezipienten ironisch, und zwar aus zwei Gründen: Erstens zeigen das historische Umfeld und die in ihm für uns fassbaren Diskurse, dass ein wirklich guter Redner eine umfassende, lang dauernde Ausbildung zu absolvieren hat, die in der vom Attizismus geprägten Zeit Lukians selbstverständlich ein eingehendes Studium der kanonischen klassischen Autoren erfordert (vgl. dazu §9 und §10) und hohe Ansprüche an die Sprachfähigkeit der Redner stellt (vgl. dazu Schmitz [1997] 67–75 und 214–216; Anderson [1993] 86–94 sowie Aristeides Or. 1,322.325–330; Athenaios Deipn. 3,100). Zweitens ist es in den berühmten Vorgängertexten, die das Motiv der Wahl zwischen zwei Wegen verarbeiten (Hesiod, Prodikos-Allegorie, Tabula des Kebes), Konvention, dass der beschwerlichere Weg jeweils der

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5. Kommentar (§§6–8)

richtige ist, wobei aber dieser Tatsache für Rh. Pr. nur eingeschränkte Bedeutung beizumessen ist, da in dieser Schrift – schon dadurch fällt sie aus dem Rahmen – das Ziel beider Wege dasselbe ist (Heirat der Rhetorik). Als weitere Verkehrung könnte man auch die Angabe des Grundes für die angeblich falsche Wahl des Weges erwähnen, das jugendliche Alter. Denn erkennt man die Ironie der Passage an, dann ist richtig gewählt worden, und der junge Mann, der tendenziell eher den einfacheren Weg einschlagen würde, hat damals den beschwerlicheren genommen. Ein traditionelles Element, die mangelnde Einsicht der Jugend, wird hier paradox verwendet. αὐτήν Textkritisches: Macleod druckt αὐτήν (β), bezogen auf den Weg (ὁδός), überliefert ist weiter αὐτῷ (γ), womit kein Objekt ausgedrückt wäre, sondern eine Ergänzung zum Dativ μοι [...] οὐχ ὁδεύσαντι mit der Bedeutung »obwohl ich selbst [ihn] nicht beschritt«. Beide Möglichkeiten ergeben einen vertretbaren Sinn (zur Konstruktion mit so genanntem Acc. loci vgl. LSJ s.v. ὁδεύω 2., z.B. Plut. Eum. 15). Ich schliesse mich Macleod an,597 wenn man auch durchaus auch in Erwägung ziehen könnte, dem Dativ im Sinn einer lectio difficilior den Vorzug zu geben. τὸν ποιητὴν ἐκεῖνον ἀληθεύειν ᾤμην λέγοντα ἐκ τῶν πόνων φύεσθαι τὰ ἀγαθά Einmal mehr wird wohl mit ἐκεῖνος auf Hesiod und die Passage in Erga 289–291 angespielt (vgl. Rh. Pr. 7 oben); zudem verweist aber Harmon (144 Anm. 1) auf Xen. Mem. 2,1,20, wo sowohl die Stelle aus Hesiod als auch ein Zitat von Epicharm (vgl. PCG 1, fr. 271) wiedergegeben wird, welches näher am Wortlaut von Rh. Pr. ist: Τῶν πόνων πωλοῦσιν ἡμῖν πάντα τἀγαθ’ οἱ θεοί (»Um den Preis der Mühe verkaufen uns die Götter alles Gute«). Man vgl. auch die Ähnlichkeit zu Euripides fr. 364 Kannicht: ἐκ τῶν πόνων τοι τἀγάθ’ αὔξεται βροτοῖς (»Aus Mühen vermehrt sich den Sterblichen das Gute«). Dass Hesiod hier dennoch den zentralen Subtext bietet, kann man daran sehen, dass mit der Verwendung des Verbs φύεσθαι die Erwähnung des Kronoszeitalters (und damit ein Themenbereich der Erga) bereits vorbereitet wird (s.u.). Der Ratgeber durch die Formulierung ἀληθεύειν ᾤμην auf den Wahrheitsgehalt von Dichtung an und spricht ihr diesen durch den nachfolgenden Kommentar τὸ δ’ οὐκ εἶχεν οὕτως ab.598 Speziell die Dichtung Hesiods und So bereits Sommerbrodt [21878] 63. Vgl. zur Thematik der Wahrheit auch die eigene Darstellung des Dichters, welcher das berichtet, was ihm Zeus und die Musen verkündet haben, Erga 10: ἐτήτυμα μυθησαίμην; 661f.: ἀλλὰ καὶ ὣς ἐρέω Ζηνὸς νόον αἰγιόχοιο· / Μοῦσαι γὰρ μ’ ἐδίδαξαν ἀθέσφατον ὕμνον ἀείδειν. 597 598

§8: Wiederaufnahme der Wegdarstellung (Prothesis/Dihegesis II)

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ihren Wahrheitsgehalt thematisiert Lukian in der Schrift Hesiodus (mit dem vollen Titel Διάλογος πρὸς Ἡσίοδον), wo Lykinos seinem Gesprächspartner Hesiod Lügnerei vorwirft in Bezug darauf, dass er behaupte, die Musen hätten ihm die Fähigkeit verliehen, auch die Zukunft vorauszusagen. Denn nirgendwo in seinen Dichtungen finde sich solche Prophetie (§§1–2). Hesiods Verteidigung fällt mager aus, und Lykinos geht mit dem letzten Wort aus der Auseinandersetzung hinaus, die Hesiod, Dichtung und vor allem Dichterinspiration einmal mehr in einem ambivalenten Licht zurücklässt. Zur ambivalenten Figur Hesiods in Rh. Pr. insgesamt vgl. §4: Ἡσίοδος μὲν ὀλίγα φύλλα [...] λαβὼν. τὸ δ’ οὐκ εἶχεν οὕτως Vgl. die ähnliche Formulierung (allerdings positiv) im Zusammenhang mit dem leichten Weg, den der Händler aus Sidon Alexander für dessen Boten nach Ägypten schmackhaft machen will (Rh. Pr. 5 Ende): καὶ εἶχεν οὕτως. Der Ratgeber kommentiert mit demselben Ausdruck (»es verhält sich so / nicht so«) den kurzen Weg des Händlers bejahend und den langen Weg Hesiods ablehnend, wobei so die Alexandergeschichte (§5) und die Wegdarstellung des Ratgebers auf der lexikalischen Ebene einmal mehr verbunden werden.599 Eine weitere Parallele hat die Formulierung (ebenfalls positiv) in Luk. Hes. 1: Was Lykinos seinem Gesprächspartner Hesiod zu Beginn der Konversation zugesteht, ist, dass man seine Erzählung der Dichterweihe auf dem Helikon angesichts der Qualität seiner Werke glaubt: Ἀλλὰ ποιητὴν μὲν ἄριστον εἶναί σε, ὦ Ἡσίοδε, καὶ τοῦτο παρὰ Μουσῶν λαβεῖν μετὰ τῆς δάφνης αὐτός τε δεικνύεις ἐν οἷς ποιεῖς – ἔνθεα γὰρ καὶ σεμνὰ πάντα – καὶ ἡμεῖς πιστεύομεν οὕτως ἔχειν (vgl. aber zur ambivalenten Darstellung oben).600 Die Ablehnung von Hesiods Aussage, dass aus Mühen das Gute komme, man also auf dem langen, anstrengenden Weg zur Rhetorik gelange, ist von ihrer Logik her nicht ganz gerechtfertigt: Auch der lange Weg wird nach wie vor benutzt und führt angeblich zum selben Berggipfel wie sein kurzes Gegenstück. Aus dem Folgenden wird aber klar, dass der Ratgeber in erster Linie einen graduellen Unterschied betont: Die Absolventen des kurzen Weges werden berühmter und reicher als ihre Berufskollegen mit langwieriger Ausbildung. Vgl. dazu die Einleitung 1.6, S. 62f. und S. 65.

599 Vgl. dazu bereits §5 (die einleitenden Bemerkungen S. 198–200 und den Kommentar zu: καὶ εἶχεν οὕτως) sowie den Kommentar zu §13: τεράστιον. 600 »Dass du der beste Dichter bist, Hesiod, und dieses Können von den Musen erhalten hast zusammen mit dem Lorbeer, das beweist du selbst in deiner Dichtung – denn inspiriert und erhaben [kommt] alles [daher] –, und auch wir glauben, dass es sich so verhält.«

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5. Kommentar (§§6–8)

εὖ οἶδα ὅτι ἀπορήσεις, καὶ ἤδη ἀπορεῖς, ὁποτέραν τρεπτέον Die Frage der Wegwahl wird nochmals aufgerollt, obwohl dem Schüler von Beginn an versichert worden ist, dass es einen schnellen Weg zur Rhetorik gibt und ihn der Ratgeber auch auf diesen führen wird (siehe zu §1: τάχιστα sowie generell §§1–3). Die Aporie des Schülers macht also auf den ersten Blick keinen Sinn, es sei denn, die Formulierung bezöge sich auf die Eingangsfrage des Schülers, wie man denn ein berühmter Redner werden könne (§1). Denn aus Unsicherheit heraus hat er sich ja Rat gesucht. Zudem wird hier wohl auf das Eingangsszenario von §7 zurückverwiesen, auf die Beschreibung der Ratlosigkeit der Makedonen angesichts der Steilheit und Höhe der Festung Aornos, was bereits dort mit der Mutlosigkeit des Schülers verglichen worden ist. Drittens – und dies ist vielleicht am wichtigsten – könnte damit ein Ironiesignal gegeben sein: Der Schüler zögert angesichts dessen, was ihm bisher empfohlen worden ist und was so fernab liegt vom Üblichen, Konventionellen (vgl. auch den Kommentar zu §7: εἶτα ἐπειδὰν πλησιάσῃς [...] ἀπογιγνώσκεις τὴν ἄνοδον). Indem der Ratgeber die Unsicherheit seines Schülers nochmals betont, kann er sich einmal mehr zum grosszügigen Helfer stilisieren, der sein Insiderwissen preisgibt (vgl. Ende §8: ἐγώ σοι φράσω). ὡς Textkritisches: Überliefert ist ὃ (β); ὡς (γ). Beides ergibt Sinn: »was« bzw. »wie (tuend)«. Da ich keinen Grund sehe, der tendenziell zuverlässigeren Überlieferung von γ601 hier nicht zu folgen, habe ich gegen Macleod die Lesart ὡς (so Harmon) in den Text gesetzt. Vgl. zur Konstruktion Luk. Harmonides 2: ὡς δὲ ποιήσας γνωσθήσῃ αὐτοῖς καὶ ἐπὶ τὸ πέρας ἀφίξῃ τῆς εὐχῆς, ἐγὼ καὶ τοῦτο ὑποθήσομαί σοι. Die Situation ist derjenigen von Rh. Pr. sehr ähnlich; der Aulet Harmonides will von seinem Lehrer Timotheos nicht nur im Flötenspiel unterrichtet werden, sondern auch wissen, wie man damit Ruhm in aller Welt erlangt. Dieser beginnt seine Instruktionen zum Thema mit obiger Einleitung. Die Konstruktion ist auch platonisch, also aus Sicht der Zweiten Sophistik gut attizistisch, vgl. Phdr. 237a: Οἶσθ’ οὖν ὡς ποιήσω; (ähnlich Prt. 338a). εὐδαιμονήσεις Verb, Substantiv und Adjektiv – εὐδαιμονεῖν, εὐδαιμονία, εὐδαίμων – kommen im Text insgesamt viermal vor, je zweimal in Zusammenhang mit dem kurzen und mit dem langen Weg (§3, §8, 2x §9). Daraus wird bereits deutlich, dass Glück eben nicht gleich Glück ist bzw. sein kann, da beide 601

Vgl. die einleitenden Bemerkungen zum griechischen Text, bes. Anmm. 473 und 474.

§8: Wiederaufnahme der Wegdarstellung (Prothesis/Dihegesis II)

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Lehrer gleichermassen Eudaimonie und die Heirat mit der Rhetorik versprechen – was je nachdem mehr oder weniger Einsatz erfordert. Während die Eudaimonie des kurzen Weges immer materiellen Reichtum und Ruhm beinhaltet (seelisches Glück kann sich dabei einstellen, wird aber nicht diskutiert), verlangt der lange Weg viel Mühe und Anstrengung, um ein immaterielles ›Gut‹ zu erlangen, hier zwar konkretisiert im Bereich der sprachlich-literarischen Bildung (vgl. unten §9), jedoch durch die philosophischen Subtexte (Platon, Kebes, Prodikos, Hesiod) auch auf die Ebene eines moralischen Gut-Seins gehoben. σοὶ δὲ ἄσπορα καὶ ἀνήροτα πάντα φυέσθω καθάπερ ἐπὶ τοῦ Κρόνου Es liegt die Kombination zweier Subtexte vor, einerseits nimmt die Passage wörtlich die Schilderung von Lebensweise und Sitten der Kyklopen in Hom. Od. 9,107–109 auf ([...] οἱ [sc. Κύκλωπες] ῥα θεοῖσι πεποιθότες ἀθανάτοισιν / οὔτε φυτεύουσιν χερσὶν φυτὸν οὔτ’ ἀρόωσιν, / ἀλλὰ τά γ’ ἄσπαρτα καὶ ἀνήροτα πάντα φύονται602), andererseits wird mit der Nennung des goldenen Zeitalters des Kronos eine berühmte Hesiodpassage aufgerufen (Erga 117–118: καρπὸν ἔφερε ζείδωρος ἄρουρα / αὐτομάτη πολλόν τε καὶ ἄφθονον603, vgl. auch einleitend V. 111: οἳ μὲν ἐπὶ Κρόνου ἦσαν).604 Zu Hesiod und zur alternierenden Bewertung dieses Dichters, der hier wiederum positiv aufgerufen wird, während er kurz vorher noch als täuschend kritisiert worden ist, vgl. den Kommentar zu §4: Ἡσίοδος μὲν ὀλίγα φύλλα [...] λαβὼν. Ganz im Sinn der variatio wird nicht nur an mehrere Texte angeknüpft, Lukian ersetzt auch das homerische Adjektiv ἄ-σπαρ-τος »ungesät; unbesät« (nullstufige Bildung zur Wurzel von grch. σπείρω, mit dem Suffix -το) durch das gleichbedeutende und weitaus gängigere (attizistisch-prosaische) ἄ-σπορ-ος (vollstufige Bildung o-stufig; vgl. dazu Pollux 1,227 [eine Aufzählung diverser Attribute von γῆ]). ἄσπορος ist wie gesagt weitaus häufiger belegt als ἄσπαρτος, welches fast ausschliesslich in Anspielungen auf die Homerstelle bzw. bei Homerkommentatoren oder Grammatikern erscheint (vgl. Lukian Phal. 2,8; Paras. 24; Diodor Bibliotheca historica 5,2,4; Libanios Progymnasma 3,3,27; Eustathios Comm. ad Hom. Od. vol. 1, p. 325,36; Hesych s.v. ἄσπαρτον [Ein602 »[...] die im Vertrauen auf die unsterblichen Götter weder Gewächs pflanzen mit den Händen noch pflügen, sondern das wächst alles ungesät und ungepflügt.« 603 »Frucht brachte die nahrungsspendende Erde von selbst, vielfältig und reichlich.« 604 Vgl. den Scholienkommentar (p. 175 Rabe): σοὶ δὲ ἄσπορα καὶ ἀνήροτα πάντα φυέσθω καθάπερ ἐπὶ τοῦ Κρόνου] ⌞ὡς Ἡσί⌟οδός φησι [Op. 118]. ἐφ’ οὗ Κρόνου ⌞τὸ χρ⌟υσοῦν καὶ πρῶτον γένος ⌞ἦν⌟ καὶ ⌞ ⌟ τὸ ἀργυροῦν καὶ χαλκοῦν, ⌞μετ’ ἐκ⌟εῖνο τὸ σιδηροῦν.

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5. Kommentar (§§9–10)

trag 7756]), daneben auch bei christlichen Autoren adaptiert wird (Eusebios PE 12,13,1: Leben der Menschen im Paradies). Zu ἄσπορος mit eindeutigem Verweis auf die Zeit des Kronos vgl. auch Luk. Sat. 7 und 20. Der Verweis auf das Kronoszeitalter findet sich bei Lukian auch angewandt auf Scheinphilosophen in Fug. 17: Die personifizierte Philosophie beklagt sich, dass die Scheinphilosophen – und dadurch letztlich ihre eigene Domäne – bei den Handwerkern auf Neid und Ablehnung stossen, weil sie sich bereichern, tyrannisch aufführen und dafür noch gelobt werden, ja in den Augen der Handwerker (ungerechtfertigterweise) ein Leben wie zu Zeiten des Kronos führen (ταῦτα ὁ ἐπὶ Κρόνου βίος δοκεῖ αὐτοῖς). Eine ironische Adaptation der Homerpassage erfolgt in Merc. Cond. 3: Man könnte meinen, dass die Hausgelehrten ein wunderbares Leben führen, wo alles Gute sich anstrengungslos einstellt, der Sprecher warnt aber vor dem trügerischen Schein – in Wahrheit ist das Dasein als Hausgelehrter aufreibend und schäbig.605

§§9–10: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio) Der Ratgeber hat, wie in den letzten Kapiteln deutlich wurde, seinen Zögling auf eine Art fiktive Reise auf den Gipfel der Rhetorik mitgenommen, ihm die beiden Wege gezeigt und führt ihm in den folgenden Kapiteln nun die beiden potentiellen Ausbilder, den Lehrer des langen und des kurzen Weges, in einer Art Agon606 vor, der spätestens mit der Übergabe des Wortes an den Rednerlehrer die bisher fiktiv entwickelte Ausbildung zu einer tatsächlichen werden lässt.607 Wiederum fügt der Ratgeber dabei ein retardierendes Moment ein (vgl. §6), indem er – trotz seines Versprechens am Ende von §8, dem Schüler jetzt gleich zu sagen, wie er am leichtesten auf den Gipfel gelange, die Rhetorik heirate und Ruhm erwerbe – erst einmal den abzulehnenden Weg und Lehrer vorführt. Denn derjenige Lehrer, an den der Schüler sich wenden soll, wird erst in §11 vorgestellt (πρὸς δὲ τὴν 605 ἐπῄνεσέ τις τῶν παρόντων τὴν τοιαύτην μισθοφοράν, τρισευδαίμονας εἶναι λέγων [...] ἀτεχνῶς γὰρ ἄσπορα καὶ ἀνήροτα τοῖς τοιούτοις τὰ πάντα φύεσθαι. 606 Es ist allerdings wichtig zu bemerken, dass der Agon insofern kein gleichberechtigter und objektiver ist, als der Lehrer des langen Weges nicht selber zu Wort kommt und seiner Person und Lehre nur wenig Raum gewidmet ist. Dies lässt sich dadurch erklären, dass der zu wählende Ausbilder schon längst feststeht (vgl. §3) und diese Entscheidung durch die viel längere ›Redezeit‹, die dem Lehrer des kurzen Weges, der in persona auftritt, zugestanden wird, bekräftigt wird. Siehe dazu und zu den rhetorischen Elementen der refutatio und probatio bereits die Einleitung 1.1.2. 607 Der Ratgeber öffnet in §12 den ›Vorhang‹ für ein (komisches) Schauspiel, nämlich den Auftritt des Rednerlehrers, das durch die Nennung berühmter Hetären aus der Komödie als solches gekennzeichnet ist und damit wiederum die Ambivalenz des propagierten Lehrgangs unterstreicht.

§§9–10: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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ἑτέραν ἐλθὼν εὑρήσεις πολλοὺς καὶ ἄλλους, ἐν τούτοις δὲ καὶ πάνσοφόν τινα καὶ πάγκαλον ἄνδρα [...]). Dass es sich allerdings bei der zu Beginn von §9 vorgestellten Lehrerfigur um den Lehrer des langen, abzulehnenden Weges handelt, ist nicht von vornherein klar: Der Abschluss von §8 (καθάπερ ἐπὶ τοῦ Κρόνου) weckt die Erwartung an das Folgende als etwas Positives, genau wie das prominent an den Beginn von §9 gesetzte »sogleich« (εὐθὺς) den kurzen Weg andeuten könnte. Die Beschreibung des Äusseren des Lehrers führt denn auch vorerst das absolut gängige und ideale Bild eines griechischen Mannes vor Augen, der kräftig, gesund, energisch und sonnengebräunt daherkommt.608 Erst in den Worten τῆς τραχείας ἐκείνης ὁδοῦ ἡγεμών, λήρους τινὰς πρὸς σὲ ὁ μάταιος διεξιών zeigt sich, dass der Lehrer, von dem hier die Rede ist, nicht der empfohlene sein wird.609 Zudem wird in der Retrospektive aus §10 auch deutlich, dass die gesamte Männlichkeitsdarstellung eine karikierte ist: In den Augen des Ratgebers ist der Mann hypermaskulin, allzu streng und rigide in seiner Lehre (vgl. §10: πέρα τοῦ μετρίου ἀνδρικῷ). Weiter ist er altmodisch, ein Lügner und Betrüger, und seine παραδείγματα werden boshaft als »alte Leichen« bezeichnet.610 Der positive Beginn von §9 wird also Schritt für Schritt ins Negative gewendet. Wegen der sich daraus ergebenden Ambivalenz der in §9 gezeichneten Figur werden die ihr zugeteilten Attribute im Kommentar jeweils einerseits in der unvoreingenommenen Leseweise, andererseits in der Retrospektive aus §10 erläutert. Die Figur des Lehrers des langen Weges, welche sowohl im Äusseren als auch in ihrer Lehre in weiten Teilen dem Konventionellen entspricht, bewirkt eine Emanzipation des Rezipienten vom Ratgeber bzw. von dessen Darstellungsweise, die gerade durch ihre Ambivalenz ebendiese Distanz ermöglicht: Der Ratgeber destabilisiert sich in seinem (ambivalenten) Gebrauch der Sprache selbst – was im Einklang mit seiner ›närrischen‹ Figur steht, die den Rezipienten dazu anregt, hinter

608 Vgl. den Kommentar zu §9: ἀνδρώδης τὸ βάδισμα; πολὺν τὸν ἥλιον ἐπὶ τῷ σώματι δεικνύων; ἀρρενωπὸς τὸ βλέμμα κτλ. 609 Weitere Details der Beschreibung machen wegen ambivalenter oder negativer Wortwahl die Ablehnung deutlich: Die »verblassten, undeutlichen Fussspuren« (ἀμαυρά, ἀσαφῆ ἴχνη) auf dem Weg, die noch von Demosthenes und Platon her stammen; die »abgestandenen Beispiele« (ἕωλα παραδείγματα) von Reden, an denen sich der Schüler mimetisch versuchen soll. Vgl. zur Beschimpfung als ὁ μάταιος auch dieselbe Bezeichnung für die Schüler, welche sich der ›alten‹ Ausbildung zuwenden, aus dem Mund des Rednerlehrers (§14). 610 Mit den Begriffen ἀλαζών und ἐξαπατᾶν wird der Betrug, den der Ratgeber auf dem langen Weg am eigenen Leib erfahren musste (§8), wieder aufgenommen und zudem gleichzeitig auch auf die Geschichte in §5 zurückverwiesen, die den Händler, also denjenigen, welcher den kurzen Weg empfiehlt, zumindest aus Alexanders Sicht als Betrüger (γόης) markiert (vgl. ausführlicher die einleitenden Bemerkungen zu §5). Damit wird die Frage, welcher Weg tatsächlich der betrügerische ist, offen gelassen.

230

5. Kommentar (§§9–10)

die Fassade zu blicken: Wer dies tut, kann durch das Erkennen des Närrischen den Witz des Textes auf sich wirken lassen und mitlachen.611 Der Agon der beiden Lehrerfiguren in Rh. Pr. verweist auf einen Subtext; er trägt nämlich Züge des epirrhematischen Agons der Alten Komödie, hier insbesondere Züge des Agons zwischen dem κρείττων und dem ἥττων λόγος in den aristophanischen Wolken (Vv. 889–1114).612 Als Parallele zeigt sich, dass in Rh. Pr. sowohl der Lehrer des langen Weges (durch die Darstellungsweise des Ratgebers) als auch derjenige des kurzen Weges (durch Ironisierung infolge der Konventionswidrigkeit seiner Figur) karikiert sind und als alter, gestrenger Trottel bzw. als effeminierter Kinäde erscheinen, ebenso wie auch die aristophanische Darstellung der beiden λόγοι eine karikierende ist. Und obwohl der Lehrer des langen Weges in Rh. Pr. in vielen Bereichen einem Männlichkeitsideal zu entsprechen und der klassischen, guten Ausbildung zu folgen scheint, ja die Rezipienten an seiner Gestalt und Lehre vorerst nichts Falsches finden dürften, werden Zweifel an seiner Person geschürt, einerseits durch den Verweis auf Aristophanes, andererseits durch das Element des Altmodischen, welches der Ratgeber besonders hervorstreicht (vgl. auch die Parallelisierung mit der Bildhauerei in Somn., Einleitung 1.5.b mit Anm. 139):613 So wird dem Lehrer des langen Weges die (extreme) Gegenposition zum Effeminierten zugewiesen, was Fragen des Masses und Geschmacks aufkommen lässt: Die Ausbildung auf dem langen, beschwerlichen Weg wird als eine jahrelange Schinderei und Plackerei voller Gefahren geschildert, die offenbar kein Mass kennt. Die alte Rhetorik bekommt den Anstrich des allzu starren Regelwerks. Das Wissen, wieviel Altes gegenüber wieviel Modernem, dem Publikumsgeschmack Angepasstem, es verträgt, erfordert Geschmack.614 Die doppelte Karikierung geht einher mit der ambivalenten Sprechweise des Ratgebers, welche die Grenzen dessen, was gut/richtig und schlecht/falsch ist, verwischt, so dass sich der angehende Redner auf sich selbst zurückbesinnen muss und soll: In dieser Konsequenz liegt ein elitäres Moment, dass näm611 Zur möglichen Deutung des Ratgebers als Narrenfigur vgl. die Ausführungen auf S. 63f. sowie den Kommentar zu §5: Σιδωνίου τινὸς ἐμπόρου und §10: ἀλαζὼν καὶ ἀρχαῖος ὡς ἀληθῶς καὶ Κρονικὸς ἄνθρωπος. 612 Vgl. zu diesem Agon den Kommentar von Dover [1968] 209–230. 613 Es ist ein zentraler Unterschied zum aristophanischen Text, dass der Lehrer des langen Weges nicht selbst zu Wort kommt (und daher auch kein echter Agon zustande kommt), sich daher nicht selbst durch sein Sprechen karikiert, sondern dass dies aus der Sicht des Ratgebers geschieht. Die Anlage des lukianischen Textes scheint auf ebendiese unsichere Beurteilung des langen Weges und der Möglichkeiten der alten Rhetorik abzuzielen, die der Rezipient selbst überdenken soll. Vgl. zu Aristophanes’ Wolken und zu weiteren aristophanischen Elementen in Rh. Pr. auch die Einleitung 1.8. 614 Vgl. zu diesen Fragen bereits S. 92f. und 94f. sowie unten 232f. und 314; zu Lukians Kritik an der ›alten‹ Rhetorik siehe Anm. 287.

§§9–10: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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lich der wahre πεπαιδευμένος weiss, welches die ideale Mischung einer klassischen, aber doch zeitgemässen Rhetorik ist, darüber aber nicht spricht (sondern sich lieber über alles Abwegige amüsiert), da Geschmack nicht lehrbar ist.615 Inhaltlich dreht sich der Agon, kurz gesagt, um zwei Arten der Rhetorik: die effeminierte und die allzu maskuline, bäurische.616 Neben die Dichotomie von ›alt‹ und ›neu‹ tritt also in der Darstellung der beiden völlig gegensätzlichen Lehrer als zweites zentrales Thema die Verbindung von gender-Auffassungen und Auftritts- bzw. Vortragsstil von Rednern, was gerade in der Zeit der Zweiten Sophistik, wie die Quellen zeigen, hochaktuell gewesen ist.617 Männlichkeitsideale sowie die Diskussion dessen, was als männlich und weiblich galt,618 nehmen in der antiken Rhetorik und in der Beurteilung von guten (männlichen) und schlechten (effeminierten) Rednern generell einen prominenten Platz ein. Gerade die Redner, die sich in ihrem Beruf vor einer grossen Zuschauermenge zur Schau stellen, sind strengen Kriterien unterworfen. So widmen römische Autoren wie Cicero, Quintilian, der ältere und der jüngere Seneca verschiedene Partien ihrer rhetoriktheoretischen Werke der Beschreibung von männlichen (erstrebenswerten) und effeminierten (unerwünschten) Aussehens- und Verhaltensweisen. Besprochen werden unter anderem der Gang, der Blick, die Stimme (v.a. der Gesang), aber auch Kleidung, Haar und Depilation im Hinblick darauf, was für einen Redner angebracht ist und was nicht.619 In der griechischen Rhetoriktheorie sind diese Themen nicht vertreten. Dass der Diskurs aber dennoch vorhanden ist, zeigt sich in spöttisch-kritischen Schriften wie denjenigen Lukians oder Aristeides’. In der Männerdomäne der antiken Rhetorik wird zur Markierung schlechter Redner immer wieder der Vorwurf der Weiblichkeit und Verweichlichung herangezogen. Vergleicht man die Vorwürfe, die Aristeides in seiner 33. Rede gegen die schlechten, dem 615

Vgl. bereits die Einleitung 1.2. Zur bäurischen Figur des Lehrers des langen Weges, der nicht nur in den Fussstapfen von Demosthenes und Platon, sondern auch in denen der Bauernfigur des Sprechers der hesiodeischen Erga wandelt, vgl. den Kommentar zu §12: ἄγροικον γὰρ τὸ ἀρρενωπὸν [...]. 617 Diese Verbindung von gender und Rhetorik hat Gleason in einer Monographie 1995 ausführlich untersucht. 618 Diese Ideale und Diskussionen sind mitsamt dem theoretisch-wissenschaftlichen Hintergrund in den physiognomischen Schriften fassbar. Erhalten ist die pseudoaristotelische Schrift Physiognomonika (wohl 3. Jh. v.Chr.), weiter können wir uns zumindest einen recht guten Eindruck vom Werk Polemons (2. Jh. v.Chr.) verschaffen, das durch die Existenz einer arabischen Übersetzung, einer griechischen Epitome und einer anonymen lateinischen Schrift des 4. Jh.s, welche Polemon als ihre Hauptquelle nennt (Anon. Lat. 80), rekonstruierbar ist (vgl. Gleason [1995] 30). Diese Schriften benutzen Variablen wie Gang, Haltung, Blick, Stimme und Haar, um daraus die jeweilige gender-Konformität oder -Abweichung eines Mannes zu bestimmen, und ihre Kategorien haben sich auf den Bereich der Rhetorik ausgewirkt (vgl. Gleason [1995] 29–81). 619 Vgl. Gleason [1995] 103–130. 616

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5. Kommentar (§§9–10)

Publikum schmeichelnden Redner vorbringt mit den (lächerlichen) Tricks, die Lukian seinen Rednerlehrer formulieren lässt, so finden sich sehr ähnliche gender-Stereotypen, wenn auch der Stil der Schriften ein völlig verschiedener ist (ernsthafte Auseinandersetzung / ironische Satire): Der schlechte Redner (bzw. die ironisierte620 Figur der Rednerlehrers) zeichnet sich durch eine bestimmte Auftrittspraxis aus, die (tänzerische) Bewegungen, Gesang und effeminiertes Benehmen ganz allgemein beinhaltet (vgl. Aristeid. Or. 34,23.47–48.60–63). Ein wichtiger Unterschied zwischen Aristeides’ und Lukians Schriften ist aber anzumerken: Während Aristeides das ›strenge Männlichkeitsideal‹ ohne Einschränkungen hochhält, zeigt sich in gerade in Lukians Rh. Pr. eine komplexere – vielleicht näher an den tatsächlichen historischen Gegebenheiten orientierte – Verarbeitung des Themas, da die Eckpole des schwarz-weissen Bildes gleichermassen kritisch betrachtet werden: Übertriebene Männlichkeit (Hypermaskulinität) sowie showorientierte Effeminiertheit. Showelemente gehören auf jeden Fall in die Vortragskultur der Zweiten Sophistik, und – was beide, Aristeides und Lukian, zugestehen – die ›depilierten‹ Vertreter der Sophistik scheinen generell erfolgreicher zu sein. Wie soll man also als Sophist damit umgehen? Die Trennlinie zwischen Männlichkeit und Effeminiertheit ist sicher keine unwiderruflich gezogene gewesen: Ein bisschen Parfum, etwas auffälligere Kleidung, ein wenig Gesang – eine Zwischenstufe also, die als elegant gelten konnte, muss offenbar möglich gewesen sein.621 Hier spielt die Frage des richtigen Masses und Geschmacks hinein, was von Lukian in Rh. Pr. durch die ambivalent behandelte bäurische Figur des strengen Lehrers angedeutet ist.622 Man vergleiche dazu eine Stelle aus dem 114. Brief Senecas, welcher der corrupti generis oratio und der Verbindung von Sprachstil und 620

Vgl. zur Ironisierung die Einleitung 1.6, S. 64f. Vgl. Gleason [1995] 74: »If depilation, dainty grooming, and singsong speech were universally ridiculed as explicit signposts of sexual passivity, we must wonder why any man would court censure by adopting such practices unless he wished explicitly to advertise himself a pathic.« und 129: »Are refinement and manliness fundamentally incompatible?« mit dem Hinweis auf Favorinus’ Erfolg und Ansehen im Sophistenbusiness. So auch Whitmarsh [2005] 26f. (mit dem Hinweis auf zwei Stellen in Philostrat – VS 536 und 570f. –, welche der Darstellung der äusseren Erscheinung der Redner in Rh. Pr. ähnlich sind) und 35–37 (über Favorinus). Aus den Textpassagen wird klar, dass Styling durchaus mit zum Auftritt der Sophisten gehörte, ja erwartet wurde. Denn allzu ›rustikes‹ Aussehen gewisser Sophisten führte wiederum dazu, dass man ihnen, bevor man sie zu hören bekam, ihr rhetorisch-sophistisches Können gar nicht zutraute (vgl. VS 528f. und 599). Siehe allgemein zur Wechselwirkung von paideia und gender auch Whitmarsh [2001] 109–116. 622 Explizit negativ (als hypermaskulin) erscheint der strenge Lehrer am Ende von §10: τῷ μὲν δασεῖ τούτῳ καὶ πέρα τοῦ μετρίου ἀνδρικῷ μακρὰ χαίρειν λέγε [...]. Die entsprechenden Fragen werden in Rh. Pr. allerdings nur aufgeworfen, nicht aber diskutiert oder beantwortet, da der richtige Geschmack bei den gebildeten Rezipienten vorausgesetzt wird, ja gar die Grundvoraussetzung bildet, um über das Dargelegte lachen zu können und die Verspotteten und Kritisierten ihrerseits aus dem Kreis der πεπαιδευμένοι auszuschliessen. 621

§§9–10: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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seelischer Verfassung gewidmet ist und diverse physiognomische Gedanken enthält: Eine zu abgedroschene, gewöhnliche sowie eine übertrieben gesuchte Redeweise bringt Seneca ganz selbstverständlich mit dem Thema Depilation in Zusammenhang (§14). Die beiden Stilarten entsprechen einem, der sich nicht einmal die Haare unter den Achseln, und einem, der sich sogar die Haare an den Beinen entfernt, also einem zu ungepflegten und einem zu effeminierten Redner. Genau wie der richtige Stil eine Frage des Masses und Geschmacks ist, erachtet Seneca also offenbar die Enthaarung der Achselhöhlen als wünschenswert, empfindet diejenige der Beine hingegen als abstossend.623 Zusammenfassend kann man feststellen, dass von einem Sophisten Masshaltung sowohl in Sprachfragen (vgl. dazu S. 92f.) als auch im Auftreten und in der äusserlichen Erscheinung gefordert ist.624 Was die äussere Erscheinung angeht, so fällt auf, dass der Ratgeber beide Lehrer zuerst über das Aussehen beschreibt, welches dadurch besondere Wichtigkeit erlangt: Der Kern der Rhetorik, die Sprache und ihre Gestaltung, wird zweitrangig. In der Ausbildung des Rednerlehrers wird Rhetorik geradezu völlig inhaltsleer, da in der neuen Lehre bereits die äusserliche Ausstattung (σχῆμα) die Kopie eines Sophisten ermöglicht, und zusätzlich im sprachlich-inhaltlichen Bereich einige oberflächliche Elemente (Paradeattizismen und -themen) die klassische Rhetorik zu kopieren erlauben. Vgl. auch die Darstellung der personifizierten Rhetorik mit hetärenhaften Zügen, die gänzlich auf ihr Äusseres beschränkt bleibt, in §6 mit dem Kommentar zu: νόμῳ [...] τοῦ γεγαμηκότος.

§9 εὐθὺς Zu dieser Überleitung mit Anklang an den kurzen Weg, um den es in der Fortsetzung aber gerade nicht geht, vgl. die einleitenden Bemerkungen oben zu §§9–10, S. 229. ὑπόσκληρος Das Adjektiv ὑπόσκληρος ist relativ selten (insgesamt 38 Belege, davon fast alle bei Medizinern, beispielsweise zur Bezeichnung von Verhärtungen des Körpers in Gal. De diff. vol. 7, p. 951: κοιλίη ὑπόσκληρος). 623 In Übereinstimmung damit auch Ps.-Arist. Phgn. 812b: Bezüglich Behaarung ist ein Mittelmass am besten. 624 Der Lehrer des langen Weges verzichtet auf alles Künstliche, ist als absolutes ›Naturkind‹ dargestellt, und kann dadurch als zu wenig elegant belächelt werden – sein Problem ist es nicht, im Styling Mass zu halten, sondern dass er dessen gänzlich entbehrt (vgl. dazu bereits Anm. 621).

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5. Kommentar (§§9–10)

In attizistischen Lexika fehlt das Wort; neben Rh. Pr. verwendet Lukian es noch in Merc. Cond. 26 als Attribut einer trockenen, fleischlosen Taube, die dem Hauslehrer bei Tisch vorgesetzt wird. Ansonsten findet es sich bei Psellos Poemata 9,706 (ein Gedicht mit dem Titel De medicina, also in Anlehnung an die obigen Medizinertexte) und bei Eustathios (Comm. ad Hom. Il. vol. 4, p. 5; einer der wenigen Belege mit nicht-medizinischem Kontext neben Lukian): Ὅτι δὲ ὁ Μενέλαος οὐχ’ ὑπόσκληρος ἦν τὰ εἰς ἦθος, δηλώσει καὶ Ἀπόλλων ἐν τοῖς ἑξῆς, μαλθακὸν αὐτὸν σκώψας αἰχμητήν (vgl. dazu Il. 17,588).625 Genau wie bei Lukian wird das Wort also auf einen Menschen bezogen, hier jedoch sogar über die rein äusserliche Erscheinung hinausgehend auf seinen Charakter (ἦθος). Eustathios diskutiert an vorliegender Stelle den Beginn von Il. 17, wo Menelaos ganz entgegen seinem sonstigen Ruf als Feigling (vgl. μαλθακός) tapfer die Leiche des Patroklos beschützt, so dass er für einmal als ὑπόσκληρος erscheint, was für Eustathios offenbar ein positives Attribut von Männlichkeit und Heldenhaftigkeit ist. An vorliegender Stelle in Rh. Pr. wird das Adjektiv ambivalent benutzt (etwa »sehnig« im Sinn von »ausgemergelt«), da der Lehrer am Schluss von §10 als »über das Mass hinaus männlich« bezeichnet wird. Zudem wird die Lehrerfigur durch die Verwendung eines offenbar seltenen, unattischen Wortes, welches sie selbst als Verfechterin der klassisch-attizistischen Rhetorik nie verwenden würde, bereits auf der sprachlichen Ebene abgewertet. In Somn. 6 findet sich das Simplex σκληρός ebenfalls mit negativer Konnotation (aus dem Blickwinkel der personifizierten Paideia) zur Beschreibung der Bildhauerei, die ein männliches, schmutziges, spröde-hartes Äusseres hat. Stilistisch betrachtet beginnt hier eine Aufzählung von Attributen, die durch ihre asyndetische Gestaltung eine ›einhämmernde‹ Wirkung erzielt; die einzelnen Glieder sind in ihrer Länge sorgfältig angeordnet, werden erst spiegelbildlich gesteigert bzw. vermindert (ὑπόσκληρος, ἀνδρώδης τὸ βάδισμα, πολὺν τὸν ἥλιον ἐπὶ τῷ σώματι δεικνύων, ἀρρενωπὸς τὸ βλέμμα, ἐγρηγορώς) und gehen nach der äusserlichen Beschreibung des Lehrers in eine längere Periode über, welche auch seine Aussagen und damit seine Lehre vorführt. Zudem werden die durch einen Accusativus respectus gebildeten Begriffe in §11 gehäuft wieder aufgenommen und kontrastiert (διασεσαλευμένον τὸ βάδισμα, ἐπικεκλασμένον τὸν αὐχένα, γυναικεῖον τὸ βλέμμα κτλ.), was die beiden Lehrerfiguren nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich in einen Agon miteinander treten lässt.

625 »Dass aber Menelaos in seinem Charakter [gewöhnlich] nicht sehr hart war, wird auch Apollon im Folgenden zeigen, wo er ihn als weichlichen Krieger verspottet.«

§9: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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ἀνδρώδης τὸ βάδισμα Das Adjektiv ἀνδρώδης verwendet Lukian 19x, interessant ist vor allem der zweite Beleg innerhalb von Rh. Pr. (§18), wo es eine positive Männlichkeit beinhaltet, was bei Lukian meist der Fall ist, vgl. Hist. Conscr. 10 und 12; Anach. 25; Dial. Meretr. 5,3; Dial. Deor. 15,1.626 Dass aber die Grenzen fliessend sind, zeigen die Texte immer wieder – je nach Blickwinkel und Geschmack gilt etwas als männlich oder aber bereits als bäurisch-roh, vgl. Salt. 82; Dial. Mar. 1,1.627 Der hier vorliegende, an der neuen, modernen Showrhetorik orientierte Blickwinkel des Ratgebers stellt uns – vor allem rückwirkend aus §10 – eine durch ihr bäurisches Auftreten negative Erscheinung vor Augen (vgl. auch §12: ἄγροικον γὰρ τὸ ἀρρενωπὸν sowie unten zu ἀρρενωπὸς τὸ βλέμμα). πολὺν τὸν ἥλιον ἐπὶ τῷ σώματι δεικνύων Die braungebrannte Erscheinung des Lehrers signalisiert, dass er sich selbst am Berg der Rhetorik abgemüht hat, und zwar auf dem steilen, schweisstreibenden, Durst verursachenden und daher wohl auch der Sonne ausgesetzten Weg (vgl. §3 und §8: im Gegensatz dazu auch die Betonung des Schattens auf dem schnellen Weg). Im gender-Vergleich zwischen männlichen und weiblichen Attributen, derer sich die Gegenüberstellung von altmodischem und effeminiertem Lehrer bedient, ist Sonnenbräune für den antiken Mann, eine weisse Haut hingegen für die Frau, die sich im Haus aufhielt, ideal, vgl. dazu Ar. Ec. 62–64 (wo sich die Frauen, um in der Versammlung als Männer auftreten zu können, an der Sonne bräunen) und Theokrit 10,27; 11,19f. mit dem Kommentar von Dover [1971] 169. Genau wie bei den anderen aufgezählten Attributen entspricht der Lehrer also auch bezüglich seiner Hautfarbe durchaus dem Idealbild des Mannes, nicht aber aus Sicht des Ratgebers, der den effeminierten (und daher wohl als weisshäutig vorzustellenden) Rednerlehrer empfiehlt. Betrachtet man die Attribute von Bleichheit und Sonnenbräune innerhalb der antiken Männerwelt, so markieren sie den Standesunterschied des Reichen, ›Untätigen‹ gegenüber dem einfachen Bauern oder Handwerker, vgl. dazu Men. Dysk. 754f. (der Bauer Knemon über den jungen, reichen Sostratos, der seine Tochter heiraten möchte und sich deshalb als Landarbeiter ›getarnt‹ hat): Κν. ἐπικέκαυται μέν. γεωργός ἐστι; Γο. καὶ μάλ’, ὦ πάτερ. οὐ τρυφῶν οὐδ’ οἷος ἀργὸς περιπατεῖν τὴν ἡμέραν.628 Hinzu kommt also, dass der Lehrer des langen 626 Vgl. weiter Plutarch, dessen Schriften über ein Dutzend positiv konnotierte Belege zu ἀνδρώδης aufweisen, e.g. Alex. 17,7. 627 Eine ambivalente Verwendung von ἀνδρικός/ἀνδρώδης innerhalb derselben Schrift (d.h. einmal negativ, einmal positiv) findet sich auch in Somn. 6 und 13. 628 »Knemon: ›Er ist so schön braun, ist er Bauer?‹ Gorgias: ›Ja gewiss, Vater, kein Verweichlichter, der den ganzen Tag untätig herumflaniert.‹«

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5. Kommentar (§§9–10)

Weges in den Augen des Ratgebers eine bäurische Figur darstellt, die sich Tag für Tag unter freiem Himmel abmüht und der nichts vom Glamour einer Sophistenkarriere anhaftet.629 Das ebenfalls gängige Bild der Bleichheit und Ausgezehrt des Wissenschafters bzw. des Rhetorikers, der ununterbrochen studiert, wird hier nicht beigezogen (angedeutet wird es allerdings später durch Elemente wie ἀγρυπνία und ὑδατοποσία).630 ἀρρενωπὸς τὸ βλέμμα Die Formulierung entspricht den von Pollux aufgezählten (positiven) Merkmalen eines βλέμμα (2,59: ἀρρενωπόν neben σεμνόν, σῶφρον, ἀνδρῶδες; vgl. oben zu ἀνδρώδης). Die gegenteiligen (negativen) Attribute, die Pollux vermerkt (ἄνανδρον, θῆλυ, γυναικεῖον), werden in Rh. Pr. 11 zur Beschreibung des zweiten, effeminierten Lehrers aufgenommen (γυναικεῖον τὸ βλέμμα). Zur positiven Konnotation des Adjektivs ἀρρενωπός vgl. Plat. Lg. 802e sowie Plutarch Antonius 4,1 und De Alexandri magni fortuna aut virtute 335b. Da die vorliegende Stelle in Rh. Pr. aus Sicht des Ratgebers formuliert ist, der den effeminierten Lehrer propagiert, erhält das Adjektiv zumindest rückwirkend aus §10 und §12 eine negative Konnotation. ἐγρηγορώς Das Partizip ist bei Lukian in verschiedenen Kasus sonst noch 4x belegt, meist in der wörtlichen Bedeutung »wach sein, wach liegen« (oft in Antithese zu »schlafen«, e.g. Philopseud. 25). Übertragen gebraucht wird es in Hermot. 1,20: Wer den Weg zur Philosophie beschreiten bzw. vollenden will, muss immer wach und agil sein. So bezieht sich wohl die vorliegende Aussage einerseits auf die Gesamterscheinung des Lehrers, der energiegeladen auftritt, dürfte andererseits aber auch speziell in Bezug zum oben erwähnten Begriff ἀρρενωπὸς τὸ βλέμμα zu setzen sein: sein Blick ist männlich und wach(sam). Zusätzlich mag auch das nächtliche Wachsein des sich abmühenden Grüblers hineinspielen (vgl. Rh. Pr. 9: ἀγρυπνία weiter unten; Hermotimos’ Einstellung passt exakt zur Präsentation des Lehrers des langen Weges).

629 Dies spricht der Ratgeber in §12 aus: ἄγροικον γὰρ τὸ ἀρρενωπὸν καὶ οὐ τοῦ ἁβροῦ καὶ ἐρασμίου ῥήτορος (vgl. den Kommentar zur Stelle). Vgl. auch §3 über den kurzen Weg: [...] σὺν πολλῇ τῇ θυμηδίᾳ καὶ τρυφῇ. 630 Vgl. zu diesem Topos Libanios, der mit einer rhetorischen Laufbahn den Verzicht auf Essen, Schlafen, Aufenthalt im Freien (mit den entsprechenden Folgen) verbindet, vgl. Ep. 131 und 462; Or. 23,20 und 64,99.106.

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Aufschlussreich sind die semantischen Felder, innerhalb derer Pollux ἐγρηγορώς erwähnt: Einerseits bildet es zusammen mit Adjektiven wie σπουδαῖος und ἐνεργός das Gegenteil zu βραδύς (1,43), andererseits gehört es zu einer Reihe von Adjektiven, die Handlungsfähigkeit sowie das (richtige) Verhalten eines freien Mannes bezeichnen (3,120: πρόθυμος, φίλεργος, γενναῖος, ἐλευθερουργός, ἀνδρεῖος, ἀνδρώδης, ἐθελουργός, ἐγρηγορώς, ἄγρυπνος). Auch hieraus wird ersichtlich, dass das Wort generell positiv konnotiert ist, in Rh. Pr. rückblickend aus §10 allerdings im Sinn einer übertrieben ›strammen‹ Agilität negativ verwendet wird. λήρους τινὰς πρὸς σὲ ὁ μάταιος διεξιών Nachdem die äusserliche Beschreibung vorerst – sieht man von der aus §10 rückwirkenden Negativtendenz ab – ein durchaus positives Bild des Lehrers gezeichnet hat, sind es jetzt seine Worte, welche ihn negativ charakterisieren, genauso wie später sein zwielichtiges Agieren (s.u.). Zum »Geschwätz« (λήρους) des Lehrers vgl. auch den Kommentar zu §17: ὁ ληρὸς Ἰσοκράτης [...]. Zum Gebrauch des Verbs ληρεῖν bei der Verspottung von Scheinsophisten in den lukianischen Satiren vgl. den Kommentar zu §23: ληρεῖν. ὑποδεικνὺς τὰ Δημοσθένους ἴχνη καὶ Πλάτωνος καὶ ἄλλων τινῶν [...] ἀμαυρὰ Vgl. §3 zum langen Weg, der dort als – wenn auch wider besseres Wissen – häufig begangen dargestellt wird und §8, wo er völlig verlassen daliegt. Zu widersprüchlichen Aussagen des Ratgebers siehe die Einleitung 1.6, S. 62. Der Bezug wird hier allerdings nicht zu den Fussspuren der Schüler, die momentan auf diesem Weg wandeln, gemacht, sondern zu den Fussspuren der alten, klassischen Autoren, die den Weg ja tatsächlich schon vor langer Zeit gegangen sind, so dass ihre Spuren verblasst sein müssen und die Aussagen des Ratgebers nichts direkt Falsches enthalten, der Weg aber viel verlassener erscheint, als er in §3 gezeigt worden ist.631 Zudem karikiert das Heranziehen von Fussspuren, die keiner Person mit Sicherheit zuzuordnen sind und daher keine verlässlichen Beweise abgeben, den Lehrer, ja verweist ihn beinahe schon in die Kategorie eines Lügners, wie es in §10 der Fall sein wird (ἀλαζὼν; ἐξαπατᾶν).632

631 Darauf, dass es durchaus immer noch Vertreter des Stils der ›alten‹ Rhetorik gibt, weist im Text möglicherweise auch eine der Formulierungen über die Konkurrenz hin, vgl. §22: ἢν μέν τις καλῶς εἴπῃ. 632 Vgl. zur Thematik der Beweiskraft von Fussspuren auch Luk. Ver. Hist. 1,7 sowie Euripides El. 518–546 in intertextueller Auseinandersetzung mit der Anagnorisis-Szene bei Aischylos Ch. 167–234.

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5. Kommentar (§§9–10)

Zu Demosthenes und Platon als (lächerlich gemachte) Vorbilder vgl. §§10, 17 und 26. Zu den kanonischen Autoren allgemein vgl. Anm. 264 und den Kommentar zu §17: ἀπ’ ἐκείνων ἐπισιτισάμενος. Das Adjektiv ἀμαυρός ist bereits bei Homer Od. 4,824 und 835 in folgender Formel belegt (Athena schickt ein Luftbild der Iphthime zu Penelope): τὴν δ’ ἀπαμειβόμενον προσέφη εἴδωλον ἀμαυρόν. Gewöhnlich wird ἀμαυρός hier mit »dunkel, undeutlich, nebelhaft, verschwommen« wiedergegeben. Die Etymologie des Adjektivs ist ungeklärt, vgl. LfgrE s.v.; möglich wäre eine Anknüpfung an ἀμυδρός »dunkel, schwer erkennbar«. In Verbindung mit Toten – und damit der Substanzlosigkeit eines εἴδωλον ähnlich – findet sich das Adjektiv bei Sappho fr. 55,4 Voigt: ἀλλ’ ἀφάνης κἀν Ἀίδα δόμῳ φοιτάσῃς πεδ’ ἀμαύρων νεκύων ἐκπεποταμένα und bei Aischylos Ch. 158 (bezogen auf den toten Agamemnon): ἐξ ἀμαυρᾶς φρενός. Die Verwendung von ἀμαυρός zur Charakterisierung von Erscheinungen und Toten ist für vorliegende Stelle in Rh. Pr. aufschlussreich, da in §10 von den »alten Leichen« die Rede ist, welche zur μίμησις ausgegraben werden sollen, so dass eine Verbindung zwischen den Passagen hergestellt ist, bzw. das »Leichenhafte« bereits vorweg anklingt (vgl. den Kommentar zu §10: νεκροὺς εἰς μίμησιν παλαιοὺς προτιθείς). Die Junktur ἴχνος ἀμαυρόν, die Lukian hier verwendet, hat Vorläufer, vgl. Euripides HF 125 (von den »schwachen Fussspuren« alter Männer [weil sie nur noch schwach auf dem Boden auftreten]): ποδὸς ἀμαυρὸν ἴχνος und Xen. Cyn. 6,21 (im Zusammenhang mit Tierspuren). Lukian selbst verwendet das Adjektiv insgesamt 8x, davon noch zweimal im Zusammenhang mit Erscheinungen oder Toten, vgl. Menipp. 15 (über die Leichen auf der Acherusischen Ebene): ἔκειντο δ’ ἐπ’ ἀλλήλοις ἀμαυροὶ καὶ ἄσημοι [...] und Philopseud. 16 (scherzhaft über Platons Ideen): ἀμαυρὸν τι θέαμα. Eine gegenüber den klassischen Vorbildern neue, gehäuft auftretende Verwendung ist diejenige für ein schwaches, dämmriges Licht, vgl. Gall. 29; Tim. 14; Menipp. 22.633 φήσει [...] σε ἔσεσθαι καὶ [...] γαμήσειν, εἰ [...] ὁδεύσειας [...]· εἰ [...] παραβαίης κτλ. Konditionalsätze mit dem Optativ der subjektiven Annahme oder Vorstellung in der Protasis weisen in der Apodosis häufig ebenfalls potentialen Optativ auf, jedoch kann auch der Indikativ eines Haupttempus stehen (hier Futur), »wenn der ungewissen und unentschiedenen Bedingung die Folge als bestimmte Behauptung entgegengesetzt wird« (vgl. K.-G. II 2,478; hier 633

4,5.

Das Verb ἀμαυρόω im Zusammenhang mit Fussspuren verwendet Lukian in Dial. Meretr.

§9: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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in der Struktur zusätzlich verdichtet durch den Umstand, dass die Behauptung des Lehrers vom Ratgeber in indirekter Rede wiedergegeben ist: »er wird sagen, dass du sein wirst / heiraten wirst, falls du [...]«). Die Ausdrucksweise verwundert nicht, denn die Folge muss hier tatsächlich eine bestimmte, festgelegte und sicher eintreffende sein, da genau das die jeweilige Überzeugung der Lehrer ist, dass ihre Ausbildung so, wie sie ist, zum Ziel führt. Vgl. genauso den Rat des sidonischen Händlers in Rh. Pr. 5: εἰ γάρ τις ὑπερβαίη τὰ ὄρη ταῦτα, αὐτίκα μάλα ἐν Αἰγύπτῳ οὗτός ἐστιν. νόμῳ γαμήσειν Vgl. den Kommentar zu §6: νόμῳ [...] τοῦ γεγαμηκότος und §14: ἕπου μόνον, ὦ μέλημα, οἷς ἂν εἴπω, καὶ ζήλου πάντα, καὶ τοὺς νόμους, [...]. ὥσπερ οἱ ἐπὶ τῶν κάλων βαίνοντες ὁ κάλως ist das Rahentau oder allgemein ein Schiffstau; hier wird also ein nautischer Vergleich herangezogen, vgl. Luk. Nav. 4: [...] θαυμάζοντες ἀνιόντα τὸν ναύτην διὰ τῶν κάλων [...]: Die Freunde, welche ein Schiff betrachten, das in Piräus angelegt hat, bewundern den Matrosen, der an den Tauen hinauf auf die Segelstange klettert. Ein ähnlicher ursprünglich nautischer Ausdruck wurde übertragen und sprichwörtlich gebraucht z.B. bei Ar. Eq. 756: πάντα δεῖ κάλων ἐξιέναι (vgl. Schol. in Aristoph. Eq. 756d, p. 179 Koster: ἔστι δὲ παροιμιακόν) und Luk. Skyth. 11: πάντα μεν κάλων κινεῖν (»alle Segel loslassen bzw. setzen«, d.h. alles daran setzen, etwas zu erreichen). Illustriert wird mit diesem Vergleich, wie nach Meinung des Ratgebers (die dem Lehrer in den Mund gelegt wird) in der alten Tradition auf einem schmalen, genau definierten Weg, der keine Abweichungen erlaubt, vorangegangen werden muss – eine parallel zur Beschreibung der Person des Lehrers zu strikte, altmodische Vorgehensweise. Sie erlaubt nämlich keinen Fehltritt und birgt die Gefahr des Hinunterfallens in sich (vgl. bereits §3: ἀποκυλιομένους ἐπὶ κεφαλὴν ἐνίοτε καὶ πολλὰ τραύματα λαμβάνοντας περὶ τραχείαις ταῖς πέτραις). Könnte also der unvoreingenommene Rezipient die Metaphorik eines durch ein Seil vorgegebenen, direkten und klaren Weges als positiv, weil zielgerichtet und sinnvoll, empfinden,634 so rückt der Ratgeber die Nachteile in den Vordergrund, die dem durch Schiffstau634 Die Formulierung enthält eventuell als weitere positive Konnotation auch eine Anlehnung an die Kunst des Seiltanzes, und damit an eine τέχνη. Diese Auffassung findet sich schon bei Bompaire ([1958] 442), der dieses Bild des Seiltänzers als lukianische »nouvelle des comparaisons« einstuft, und bei Cribiore [2001] 222. Später treffen wir die die Formulierung bei Libanios über Studenten, die nur trödelnd zur Vorlesung erscheinen, wobei das Gehen auf dem Seil die Langsamkeit illustrieren soll, Or. 3,11: κατὰ τοὺς ἐπὶ τῶν κάλων ἰόντας.

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5. Kommentar (§§9–10)

Metapher und (trügerische) Fussstapfen symbolisierten alten klassischen Erbe anhaften.635 ζηλοῦν [...] μιμεῖσθαι Die hauptsächliche Aufgabe des Rednerschülers besteht darin, die klassischen Vorbilder (παραδείγματα), allen voran Demosthenes und Platon, die namentlich erwähnt sind, zu studieren, ihnen nachzueifern (ζηλοῦν) und ihre Redeweise, also Sprache und Stil, nachzuahmen (μιμεῖσθαι). Die vom Lehrer geforderte Vorgehensweise bei der μίμησις der klassischen Autoren des 5. und 4. Jh.s entspricht dem Prinzip des Dionysios von Halikarnass, dessen attizistisch-klassizistische μίμησις-Theorie in der gesamten späteren Zeit massgebend blieb (vgl. Hidber [1996] bes. 56–75, mit einem kurzen Abriss zur Geschichte des Terminus μίμησις; vgl. auch ausführlich Bompaire [1958] 13–154): Gemäss Dionysios ist μίμησις ein eklektisches Verfahren, welches die besten Qualitäten verschiedener Autoren vereint und ihre Schwächen zu vermeiden sucht, wodurch die Möglichkeit besteht, mit den einzelnen Autoren zu konkurrieren und sie sogar zu übertreffen (ζήλωσις). Vgl. Dion. Hal. Thuk. 1,1–2 (Beschreibung der Auswahlmethode); Orat. Vett. 4,2: ἔστι δὲ ἥδε [sc. ἡ ὑπόθεσις], τίνες εἰσὶν ἀξιολογώτατοι τῶν ἀρχαίων ῥητόρων τε καὶ συγγραφέων καὶ τίνες αὐτῶν ἐγένοντο προαιρέσεις τοῦ τε βίου καὶ τῶν λόγων καὶ τί παρ’ ἑκάστου δεῖ λαμβάνειν ἢ φυλάττεσθαι [...]636; Dem. 8,2 (Demosthenes’ Stil verfügt über derart viele Qualitäten, weil er selbst das Prinzip der eklektischen μίμησις meisterhaft angewendet hat); De imit., fr. 3 Us. (Definition von μίμησις und ζῆλος); weiter auch Longin 13,2: Wer Erhabenes schaffen will, muss als Ziel (σκόπος) die Nachahmung (μίμησις) der grossen Schriftsteller und Dichter von einst und den Wetteifer (ζήλωσις) mit ihnen vor Augen haben. Das hier Empfohlene wird später – zwar nicht dem Verfahren nach, doch bezüglich der Inhalte der μίμησις – von Ratgeber (§10) und Rednerlehrer (§17) rundweg abgelehnt und damit ein Bruch mit der Konvention erzeugt.637 Häufiger wird allerdings auf Seiten der Hauptakteure in Lukians 635

Auch hier wird letztlich eine Geschmacksfrage, wie nämlich gute μίμησις gelingen soll, gestreift; vgl. für eine mögliche Interpretation Bompaire [1958] 139: »Il [sc. Lucien] conçoit l’imitation comme une lutte ouverte (ἅμιλλα), d’où la servilité soit exclue. On ne doit pas ›imiter avec la précision d’un danseur de corde‹, l’Art supposant la liberté.« Cribiore [2007] 148 mit Anm. 60 vergleicht zur vorliegenden Stelle eine Passage bei Libanios über das rigide Curriculum der Rhetorikschule (Lib. Or. 35,21: ἢ οὐ τοῖς αὐτοῖς ἅπαντες ἐπαιδεύεσθε νόμοις, ἐν ταὐτῷ γυμνασίῳ, τὴν αὐτὴν ὁδὸν ἰόντες, τῆς αὐτῆς φωνῆς ἀκούοντες, τῶν αὐτῶν ἰχνῶν ἐχόμενοι;). 636 »[Mein Thema] ist aber dies, welche die wichtigsten der alten Redner und Historiker sind und welche Lebensart sowie welchen Schreibstil sie hatten und was man von jedem nachahmen, was vermeiden soll [...].« 637 Der vom Ratgeber wohl als Kritik hinzugefügte Kommentar οὐ ῥάδια μιμεῖσθαι (weil diese Art der Nachahmung nicht mit der angestrebten Kürze der Ausbildung vereinbar ist), kann

§9: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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Schriften die traditionelle Bildung verfochten und Demosthenes als Vorbild dargestellt (Somn. 12; Bis Acc. 31; Merc. Cond. 5 und 25; vgl. dazu die Einleitung 1.5.a–b und den Kommentar zu §10 und §17, sowie zum eklektischen Verfahren mit der Metaphorik des Pflückens von Blüten auch Pisc. 6). Ἡγησίου καὶ τῶν ἀμφὶ Κρίτιον καὶ Νησιώτην [...] ἀκριβῶς ἀποτεταμένα ταῖς γραμμαῖς Die klassischen Texte, deren Nachahmung gemäss dem Kommentar des Ratgebers mühselig ist, werden mit Skulpturen (männlicher Körper) von Künstlern aus dem frühen 5. Jh. v.Chr. verglichen, die hier als gedrungen (ἀπεσφιγμένος), sehnig (νευρώδης), hart (σκληρός) und streng konturiert (ἀκριβῶς ἀποτεταμένα ταῖς γραμμαῖς; wörtlich: »mit sorgfältig gezogenen Linien, sorgfältig gezeichnet in den Umrissen«638) beschrieben werden. Es wird also aus Sicht des modernen, neuen Modegeschmacks ein Negativbild gezeichnet, das Bild eines gedrungenen, harten Stils, dessen grosse Sorgfalt als pedantischer Zug interpretiert wird.639 Dass allerdings die Erzeugnisse des 5. und 4. Jh.s genau wie im literarischen so auch im Bereich der bildenden Künste zu Lukians Zeit Vorbildfunktion haben und auf einen Kanon der Vertreter Bezug genommen wird, zeigt sich anderswo in seinem Werk, z.B. Im. 3ff.; Salt. 35; vgl. weiter Bompaire [1994] 72; Gleason [1995] 127; Gelzer [1979] 23 mit Anm. 2 zur verbreiteten Parallelisierung der Entwicklung der Redekunst mit den darstellenden Künsten (mit weiterführender Literatur).640 Zudem stehen die genannten Skulpturen und Künstler im Einklang mit den zuvor angeführten klassischen Autoren und mit der sie präsentierenden Figur: Dies sind die Skulpturen, wie sie ein in klassischer Zeit lebender Mensch kennt und schätzt. Der bekannte Bildhauer Hegias gilt als Lehrer des Pheidias (Dion von Prusa Or. 55,1; vgl. auch IG 1,373; 259 p. 203 und Sommerbrodt [21878] vom unvoreingenommenen Rezipienten als Lob dieser Art der Sophistik aufgefasst werden: Die Exzellenz der klassischen Texte wird in einer guten μίμησις derselben gleich noch einmal gesteigert (vgl. auch die Bemerkungen am Ende des folgenden Lemmas). Der Rednerlehrer hingegen begnügt sich auch in diesem Bereich mit dem blossen Anschein einer μίμησις der Klassiker, indem taugliche Texte von Sophistenkollegen, die solche μίμησις enthalten mögen, wiederverwendet werden sollen (vgl. §17). 638 Vgl. zur Bedeutung von ἀποτείνω »anspannen, zusammenziehen, straffen« LSJ s.v. 3.: strain, tighten; mit Bezug auf vorliegende Stelle pass.: severely drawn. 639 Man vergleiche die Ausbildung des Rednerlehrers, in der dadurch, dass alles auf schnellen Erfolg angelegt ist, kein Platz für Sorgfalt (ἀκρίβεια) bleibt. Vgl. auch oben Anm. 637 über die aus demselben Grund erfolgende Ablehnung der μίμησις klassischer Autoren. 640 Zum Zusammenspiel von bildender Kunst und Literatur im Umfeld der Zweiten Sophistik vgl. ausführlich Zeitlin in Goldhill [2001] 211–233 (u.a. zu Lukians Imagines und Pro Imaginibus); spezifisch zur verbreiteten Anwendung technischen Vokabulars aus dem Bereich der Kunst auf Rhetorik S. 218 und 230.

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5. Kommentar (§§9–10)

65 Anm. 4 sowie RE 7 s.v. Hegias, Sp. 2615–2620); die Namensform Hegesias dürfte statt des Kurznamens Hegias verwendet worden sein. Sie ist nur hier bei Lukian sowie Quint. Inst. 12,10,7 belegt, es besteht jedoch kein Anlass, die Identität von Hegesias und Hegias zu bezweifeln (zur Trias der Skulpteure Hegias/Hegesias, Kritios, Nesiotes vgl. auch Plin. n. h. 34,49 und RE 7, Sp. 2616). Quintilian zieht für den Bereich der Stilgattungen einen parallelen Vergleich der Rede zur Malerei und Bildhauerei, wobei er Hegesias’ Statuen als »ziemlich steif« (duriora; vgl. oben σκληρός) im Vergleich zu den späteren bezeichnet. Dies deutet darauf hin, dass der Stil dieser Skulpturen tatsächlich als archaisch-streng galt (was in Rh. Pr. negativ konnotiert wird), die Vertreter dieses Stils jedoch bei späteren Generationen durchaus Anerkennung fanden. Der Erzgiesser Kritios (inschriftlich) bzw. Kritias (sonst, z.B. Paus. 1,23,9) wird immer zusammen mit Nesiotes erwähnt, die beiden gelten als Erschaffer der Skulpturen der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton (vgl. Luk. Philopseud. 18; Paus. 1,8,5; IG 12,530–533; RE 11 s.v. Kritios, Sp. 1915f. und RE 17 s.v. Nesiotes, Sp. 77). Sommerbrodt ([21878] 65) versteht den Vergleich wörtlich im Sinne einer Gegenüberstellung von Texten und Statuen. Der Stil der Literaten und Künstler der klassischen Zeit erhält in der Darstellung des Ratgebers durch die gewählten Adjektive einen negativen Beigeschmack, ähnlich wie die – negativ gefärbte – Beschreibung der Erscheinung des altmodischen Lehrers mit Adjektiven, deren Konnotation an anderen Orten durchaus eine positive ist (vgl. ἀνδρώδης, ἀρρενωπός und zum Stil die Ideale der Prägnanz/Kürze [συντομία] sowie der Deutlichkeit [σαφήνεια]). Der Vergleich ist aber wohl mehrschichtig zu verstehen, so dass die Skulpturen der klassischen Zeit auch direkt die äussere Erscheinung des Lehrers des langen Weges widerspiegeln (vgl. die auffällige Wiederholung: ὑπόσκληρος – σκληρός). Damit werden der Lehrer und die Statuen zu (lächerlichen) Vorbildern für den Auftritt eines angehenden Redners, der selbstverständlich alles andere als steife Unbeweglichkeit an den Tag legen sollte. Die Verknüpfung von bildender Kunst und Textinhalten geschieht implizit schliesslich über die Statuen von Harmodios und Aristogeiton, für die Kritias und Nesiotes berühmt waren,641 denn die beiden Tyrannenmörder erinnern an klassische Texte und damit auch wieder an die »alten Männer« mit ihren Schriften.642 Dass diese nicht leicht nachzuahmen sind (οὐ ῥάδια 641

Vgl. Luk. Philopseud. 18. Vgl. hauptsächlich die Berichte bei Thukydides (1,20; 6,53–57) und Herodot (5,55; 6,109.123), die Tyrannenmörder finden aber z.B. auch Erwähnung bei Demosthenes und Aischi642

§9: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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μιμεῖσθαι), wird hier implizit und in §10 explizit als Nachteil angesehen, da diese μίμησις zu viel Zeit und Anstrengung erfordert. Vor dem konventionellen Hintergrund allerdings ist es genau dieses Element, das der attizistischen παιδεία so grosses Ansehen verleiht. ὑδατοποσίαν Der Begriff ὑδατοποσία ruft ein einfaches Leben frei von Luxus und die Naturverbundenheit auf, welche der Lehrer des langen Weges verkörpert. ὑδατοποσία ist zudem ein Kernterminus im (literaturkritischen) Streit der Wein- und Wassertrinker: Der Diskurs, ob man Wein oder nur Wasser trinken solle, um als Dichter oder generell Technit in irgendeiner Art etwas Gutes schaffen zu können, und die (häufigere) Verlachung der Wassertrinker sind für uns relativ gut fassbar. Vgl. Athen. Deipn. 2,44d; häufig Komikertexte: Eubulos PCG 5, fr. 133; Amphis PCG 2, fr. 41; Phrynichos PCG 7, fr. 74; berühmt Kratinos PCG 4, fr. 203 und 319 sowie Hor. Ep. 1,19,1– 11; weiter AP 11,20 und 13,29. Ausserhalb dieses engeren Kreises sind auch Mediziner wie Hippokrates (De diaeta acutorum 10,4) und Galen (In Hipp. de victu acut. comm. 4, vol. 15, p. 828) zu erwähnen, welche beispielsweise die heilsame Wirkung von Wassertrinken bei Fieber besprechen. An der vorliegenden Stelle in Rh. Pr. wird das Wassertrinken in Verbindung mit Mühe und Schlaflosigkeit erwähnt, ist daher negativ konnotiert, und der damit verbundene Lehrgang wird in §10 deutlich abgelehnt. Der Ratgeber distanziert sich also von den ›Wassertrinkern‹ und klärt seinen Schüler darüber auf, dass diese sich unnötigerweise zu viel Mühe machen (in einem anderen Ton gehalten und im Nachhinein ironisch ist die Bemerkung in §2: ἀγρυπνῆσαι). Die Debatte der Dichterinspiration durch Wasser bzw. Wein ist v.a. in Bezug auf die Alexandriner von Bedeutung, deren Stilideal des mühevollen Feilens dazu führte, dass die – in Epigrammen kritisierten – Wassertrinker normalerweise mit ihnen identifiziert werden, wenn auch in den Texten keine namentlichen Nennungen vorliegen (vgl. AP 11,20: φεύγεθ’ ὅσοι λόκκας ἢ λοφνίδας ἢ καμασῆνας / ᾄδετε, ποιητῶν φῦλον ἀκανθολόγων, / οἵ τ’ ἐπέων κόσμον λελυγισμένον ἀσκήσαντες / κρήνης ἐξ ἱερῆς πίνετε λιτὸν ὕδωρ; vgl. auch AP 11,24). Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die betreffenden Epigramme Leute wie Kallimachos aufs Korn nahmen (vgl. in Absetzung von Kallimachos und seinem Umfeld, aber ohne die Kritik des nes (Or. 20,19.29.70 bzw. Or. 1,132). Das Motiv des Tyrannenmörders geht als Übungsstück auch in den rhetorischen Schulunterricht ein und ist somit in der Zweiten Sophistik verbreitet, vgl. dazu z.B. Lukians Tyrannicida sowie Aelios Theon Progymnasmata, Rhetores Graeci vol. 2, p. 106,10 Spengel und Dion Or. 32,48.

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5. Kommentar (§§9–10)

Wassertrinkens AP 11,321.322.347). Im Werk des Kallimachos selbst wird zwar auf verschiedene Gewässer verwiesen (die Quellen Hippokrene und Aganippe; vgl. fr. 2 und 696 Pfeiffer) bzw. der schmutzige Euphratfluss dem reinen Quell seiner eigenen Dichtung gegenübergestellt (Ap. 108–112), doch fehlen eindeutige Aussagen über das Trinken von Wasser als Inspiration des Dichters.643 Vgl. für eine Analyse der relevanten Texte Crowther [1979] 1–11. τὸ λιπαρὲς Textkritisches: Überliefert ist λιπαρὲς (β); ἀλιπαρὲς (γ). Macleod druckt ersteres, Harmon zweites, mit Verweis auf Hermot. 24 und Soph. El. 451, wobei die sophokleische Stelle (τὴνδ’ †ἀλιπαρῆ† τρίχα) problematisch ist und in den Textausgaben inter cruces gesetzt (Teubner) oder aber den Scholien folgend als λιπαρῆ wiedergegeben wird (OCT). Verstanden wurde der Begriff ἀλιπαρῆ als Synonym zu αὐχμηρός »schmutzig«, gebildet mit alpha privativum zu λιπαρός »fett«, also »ungesalbt«, oder aber, da die Form offenbar schon in der Antike erklärungs- bzw. emendationsbedürftig war, man setzte in den Text λιπαρῆ im Sinn von »zu einem/r Bittflehenden gehörig« zu λιπαρέω, λιπαρής »beharren, ausdauern, inständig bitten; beharrlich, ausdauernd, ernsthaft« (vgl. Hesych s.v. ἀλιπαρῆ [Eintrag 3029]; Scholia in Sophoclem, V. 451; vgl. auch den ausführlichen Kommentar von Kaibel [1896] 143; abgesehen von drei späten Ausnahmen, die wohl letztlich auch vom Text der Elektra beeinflusst sind, nehmen die spärlichen sonstigen Belege von ἀλιπαρής alle explizit auf El. 451 Bezug). Die Bedeutung τὸ ἀλιπαρές »Schmutz« wäre hier nicht völlig undenkbar, ist aber unbelegt, zudem macht die Substantivierung τὸ λιπαρές im Sinn von »Ausdauer, Beharrlichkeit« angesichts der aufgezählten vorangehenden Substantive »Mühe, Schlaflosigkeit, Wassertrinken« eindeutig mehr Sinn (zu dieser Verwendung von τὸ λιπαρές vgl. Plut. Lucull. 16,2; Ar. Lys. 673; Plat. Cra. 413a2; Hp. Mi. 369d8 und 372b1). Vgl. ausserdem die enge Parallele in Hermot. 24: ἀποχρῆν δ’ ἑκάστῳ πρὸς τὸ πολίτην γενέσθαι σύνεσιν καὶ ἐπιθυμίαν τῶν καλῶν καὶ πόνον καὶ τὸ λιπαρὲς καὶ τὸ μὴ ἐνδοῦναι μηδὲ μαλακισθῆναι πολλοῖς τοῖς δυσχερέσι κατὰ τὴν ὁδὸν ἐντυγχάνοντα κτλ. (λιπαρὲς drucken sowohl Macleod als auch Kilburn, der Lucian vol. VI in der Loeb Classical Library besorgt hat, überliefert ist daneben wiederum ἀλιπαρὲς).

643 Eine Ausnahme ist Epigr. 28 (Pfeiffer), wo allerdings das Trinken von gewöhnlichem Leitungswasser als Metapher für die abgelehnte Art von Dichtung steht: Ἐχθαίρω τὸ ποίημα τὸ κυκλικόν, οὐδὲ κελεύθῳ / χαίρω, τίς πολλοὺς ὧδε καὶ ὧδε φέρει· / μισέω καὶ περίφοιτον ἐρώμενον, οὐδ’ ἀπὸ κρήνης / πίνω· σικχαίνω πάντα τὰ δημόσια. [...] (vgl. dazu Riedweg [1994a] 137–139).

§9: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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Mit τὸ λιπαρές schliesst sich ein neutral-positives Wort (»Ausdauer«) an die negative Trias (»Mühe, Schlaflosigkeit, Wassertrinken«) an, so dass der Ratgeber seine eigene Darstellung ›entschärft‹. Dies passt freilich zum Duktus der Passage, welche die Charakterisierung des Lehrers und der Ausbildung ambivalent hält, indem entweder Begriffe verwendet werden, die positiv konnotiert sind (z.B. ἀνδρώδης, ἀρρενωπός, νευρώδης), jedoch durch Übermass ins Negative kippen können, oder indem positive und negative Begriffe wie hier nebeneinander aufgeführt sind. κατὰ ὀλυμπιάδας Vgl. Hermot. 4–6: Hermotimos, der auf dem anstrengenden Weg zur ἀρετή wandelt und dies offenbar bereits seit knapp 20 Jahren (vgl. §2), will den verbleibenden Teil seiner Reise keineswegs in Olympiaden beziffert haben, sondern schätzt ihn nach mehrmaligem Nachfragen des Lykinos schliesslich auf nochmals ungefähr 20 Jahre. Die endlos lange Dauer des steilen Weges und eine damit einhergehende Verbissenheit derer, die ihn bewältigen wollen, sind Karikaturmerkmale, die in Hermot. noch viel stärker als in Rh. Pr. hervortreten. Der Ratgeber karikiert den Lehrer bzw. dessen indirekt wiedergegebene Lehre insofern, als diese Aussage über die Länge des Weges von vornherein abschreckend und daher einer symbuleutischen Rede völlig unangemessen ist. Die Zeitrechnung in Olympiaden – die Olympischen Spiele wurden jedes fünfte Jahr abgehalten644 – stammt aus der Historiographie, wo sie grosse Verbreitung fand, sich jedoch im öffentlichen Urkundenwesen nie durchsetzte (vgl. Eratosthenes FGrHist 241 fr. 1, wo Epochenjahre der griechischen Geschichte angegeben werden, unter anderem die erste Olympiade, welche aus diesem Fragment auf das Jahr 776 v.Chr. datiert werden kann; vgl. weiter DNP 12.2 s.v. Zeitrechnung, Sp. 723). Vgl. auch den Scholienkommentar [p. 176 Rabe]: καὶ δὴ καὶ τοῖς ⌞πα⌟λαιοῖς εἰς δήλωσιν χρόνων ⌞ἦν, Ὀλ⌟υμπιάδος ποσταία· [...] καὶ ἦν τοῦτο ⌞ἀκρι⌟βὴς χρόνων ἐπίγνωσις, ὥσπερ καὶ ⌞παρ’⌟ Ἀθηναίοις μὲν ἡ τῶν Ἀθήνησιν ⌞ἀρχόν⌟των ἐνιαυσία προστασία, κα⌞θ’ ἣν ἀν⌟αγράφεται »ἐπὶ ἄρχοντος Ἀθή⌞νησι⌟ τοῦ ⌞δεῖνα⌟ τόδε ἐπράχθη« κτλ.). Diese ›alte‹ Art der Zählung passt zum alten Weg und der damit verbundenen altmodischen Lehre, die es zu überwinden gilt. Der Rückgriff auf das alte griechische System von Datierungen 644 Die Scholien bieten ausführliche Erklärungen dazu (p. 175–6 Rabe): Ὀλυμπιάδας] πόλις ἦν ἐν Ἤλιδι Ὀλυμπία καλουμένη ἱερὸν ἔχουσα ἐπιφανέστατον Ὀλυμπίου Διός. ἐν ταύτῃ ἀγὼν ἐπετελεῖτο παγκόσμιος τὰ Ὀλύμπια κατὰ πέντε ἔτη συγκροτούμενος· διὸ καὶ πενταετηρικὸς ἐκαλεῖτο ὃς καὶ ἀνεγράφετο τοῖς δημοσίοις ἀεὶ εἰς δήλωσιν τῶν ἐνιαυτῶν καὶ ἦν τοῦτο ἀκριβὴς τῶν χρόνων ἐπίγνωσις· τεσσάρων γὰρ ἐτῶν μεταξὺ διαρρεόντων τῷ πέμπτῳ συνετελεῖτο. καὶ διήρκεσεν ἀρξάμενος ἀπὸ τῶν καθ’ Ἑβραίους κριτῶν μέχρι τοῦ μικροῦ Θεοδοσίου· ἐμπρησθέντος γὰρ τοῦ ἐν Ὀλυμπίᾳ ναοῦ ἐξέλιπε καὶ ἡ τῶν Ἠλείων πανήγυρις.

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5. Kommentar (§§9–10)

(Olympiaden) und Masseinheiten (z.B. Plethren, Stadien, Parasangen; vgl. Rh. Pr. 5) ist in der Literatur des 2. Jh.s verbreitet, vgl. dazu Bowie [1970] 33–34. οὐδὲ μισθοὺς ὀλίγους ἀπαιτεῖ Dass der Lehrer des langen Weges sich für seinen Unterricht bezahlen lässt, ist ein weiteres Karikaturmerkmal. Die Thematik der Bezahlung benutzt Lukian auch in Ikaromen. 5 und Menipp. 5, wo beide Male über die Philosophen gelästert wird, die ihren Unterricht teuer bezahlt haben wollen, jedoch ihre Schüler keineswegs weiser machen, sondern nur in grössere Verwirrung stürzen. Besonders in Bezug auf Philosophen illustriert das Thema Bezahlung den Aspekt der Geldgier, was umso gravierender ist, als die Philosophen in den gegen aussen vertretenen Lehren Reichtum nicht als Gut einstufen, so dass ihre Handlungen und ihre Lehre inkongruent sind (vgl. dazu Nigr. 25; der ›Vorbildphilosoph‹ kreidet denjenigen, die sich bezahlen lassen, Geldgier an). Im Hintergrund steht immer auch die platonische Kritik an den bezahlten Wanderlehrern, den Sophisten, wohingegen Sokrates für seine (Lehr-)Gespräche kein Geld entgegennahm (vgl. zu den Sophisten: Prt. 310d, 349a und Manuwald [1999] 103f. mit weiteren Verweisen auf Tht. 167c; Cra. 391b–c; Hp. Ma. 282b–e; zu Sokrates: Ap. 19d–20c [kein Sophist im engeren Sinn] und 33a–b; Xen. Mem. 1,6,13). Ein zusätzliches humoristisches Element liegt hier darin, dass der Ratgeber diese platonische Kritik gegen den Platon-freundlichen Lehrer anwendet und damit beide – Platon und den Lehrer – dem Spott preisgibt: Den einen dadurch, dass nicht einmal seine Verehrer sich an seine Lehren halten, den anderen durch seine Geldgier. Zur impliziten Forderung einer Bezahlung auch auf Seiten des Rednerlehrers und damit einer weiteren Ambivalenz vgl. den Kommentar zu §12: Αὐτοθαΐδα τὴν κωμικὴν κτλ. Zum hohen Honorar der Sophisten vgl. z.B. Philostrat VS 527, 535, 538. §10 ἀλαζὼν καὶ ἀρχαῖος ὡς ἀληθῶς καὶ Κρονικὸς ἄνθρωπος Die Reihung verächtlicher Ausdrücke wird durch Alliteration verstärkt. Zum Adjektiv Κρονικὸς vgl. Ar. Nu. 929 und 1070 sowie generell die Bemerkungen zu Parallelen zwischen dem aristophanischen κρείττων λόγος und dem Lehrer des langen Weges S. 80f. Wichtig und erhellend für vorliegende Stelle sowie insgesamt für die Gestaltung der Schrift ist der Kontext, in welchem Kronos in Rh. Pr. 8 (Ende) bereits erwähnt worden ist: σοὶ δὲ

§10: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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ἄσπορα καὶ ἀνήροτα πάντα φυέσθω καθάπερ ἐπὶ τοῦ Κρόνου. Der Ratgeber versichert dort dem Schüler, ihn auf den kurzen Weg zu schicken, den er mit dem Zeitalter des Kronos, dem goldenen Zeitalter, vergleicht. Hier wird nun aber der Lehrer des langen Weges durch Kronos charakterisiert. Das bedeutet, dass derselbe Begriff einmal mit positiver, einmal mit negativer Konnotation erscheint bzw. die Bedeutung eines Begriffs in ihr Gegenteil verkehrt oder zumindest ambivalent wird. Dieses im vorliegenden Text immer wieder auftauchende Phänomen kann mit Michail Bachtins Begriff und Konzept des Karnevalesken bzw. karnevalisierter Literatur gefasst bzw. bezeichnet werden.645 Auf der inhaltlichen bzw. rezeptionsästhetischen Ebene wird damit eine Komik erzeugt, welche sowohl der Unterhaltung der Rezipierenden als auch deren Selbstreflexion dient, der Reflexion über ihr Verhalten als πεπαιδευμένοι und über ihr gesamtes Umfeld im Rahmen der Vortragskultur der Zweiten Sophistik. Zur Verbindung von Karneval, Auflösung sozialer Hierarchien und Sprache erklärt Branham [2005] 17: »[...] altering the social controls of cognition changes what can be known and expressed, at least temporarily – and thereby changes the nature of the word releasing the comic potential that ordinary social logic and the constraints of official culture occlude. A good way to understand the concept of carnival, therefore, is by analogy with the function of joking in traditional societies. The violation of the countless rules both tacit and explicit that govern our behavior, beginning with our use of language, is basic to any form of humor.«646 Die karnevaleske Interpretation kann ergänzend neben diejenige 645 Eine hervorragende Einleitung dazu gibt R. Lachmann im Vorwort zu M. Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt 1995, 7–46 (zur karnevalisierten Literatur und zur Ambivalenz des Wortes speziell 28–33); vgl. zur Ambivalenz auch Bachtin, Rabelais 466 (im Zusammenhang mit der einen Kategorie karnevalisierter Literatur, dem ›Familiären‹): »Je inoffizieller aber die Rede, um so familiärer ist sie, und um so häufiger und grundsätzlicher mischen sich die beiden Tonlagen [gemeint sind diejenigen von Lob und Beschimpfung in Rabelais’ Sprache]. Sie beginnen, derselben Person und derselben Sache zu gelten, und diese verkörpern die ganze werdende Welt. Die festen offiziellen Grenzen zwischen Dingen und Werten beginnen sich aufzulösen, und es erwacht die alte Ambivalenz des Worts [...].« – Vgl. grundlegend zum Konzept des Karnevals auch M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, übersetzt von A. Schramm, Frankfurt 1985 und ders., Zur Romantheorie und Lachkultur, aus dem Russ. übersetzt und mit einem Nachwort von A. Kaempfe, München 1969. – Wichtig ist in diesem Zusammenhang anzumerken, dass für Bachtin bereits verschiedene antike Textgenera als Repräsentanten karnevalisierter Literatur gelten, vor allem die so genannte Menippeische Satire (und damit auch das Element des σπουδογέλοιον, vgl. darüber ausführlich die Einleitung 3.1), als deren Vertreter lukianische Schriften wie Ikaromenipp und Nekyomanteia gelten; vgl. dazu Bachtin, Rabelais 10, 26–30 und 119–123. Die Bachtin’sche Theorie findet sich angewandt auf die antike Komödie in Möllendorff [1995]. Vgl. auch Branham [2002], Rösler [1986] sowie speziell zur Verbindung von karnevalisierter Literatur, Menippeischer Satire, Sokratischem Dialog und σπουδογέλοιον Branham [2005] 3–31. 646 Siehe zu den zahlreichen Konventionsbrüchen im Inhalt der Schrift Rh. Pr. den Kommentar zu §§9–10 und §17.

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5. Kommentar (§§9–10)

einer generell komödienhaften Anlage des Auftritts der Lehrer in Rh. Pr. treten (vgl. dazu die Einleitung 1.1, 1.8 und 3.1).647 Die vorliegende Stelle ist nun wie gesagt nicht die einzige, die mit dem Begriff der Karnevalisierung erläuterbar ist; bereits die Passage des Sidonischen Händlers (§5) hat Anlass dazu gegeben, ihn und seine Aussagen als narrenhaft-karnevalesk anzusehen. Auch wenn die Deutung einer Konnotation von »Sidonier« als Narr unsicher bleiben muss, erhöht die vorliegende ›karnevaleske‹ Anspielung auf Kronos ihre Plausibilität. Zudem erhalten wir damit auch aus dem Mund des Ratgebers – den wir bisher nur mit Bezug auf die Figur des Sidoniers überhaupt als Narren ansehen konnten – eine narrenhafte Darstellung (vgl. zum Sidonier die einleitenden Bemerkungen zu §5 und zum Lemma Σιδωνίου τινὸς ἐμπόρου). Zur Ambivalenz des Wortes vgl. auch die Verwendung einzelner Begriffe wie ὑπόσκληρος, ἀνδρώδης, ἐγρηγορώς (alle §9 mit Kommentar). Zur Figurenzeichnung von Ratgeber und Rednerlehrer in Anlehnung an aristophanische Akteure aus Wolken, Acharnern, Thesmophoriazusen und zu deren grotesk-karnevaleskem Charakter vgl. die Einleitung 1.8 sowie Möllendorff [1995] 153– 164 (Dikaiopolis in den Acharnern), 192–204 (Wolken), 222–266 (zur Polyphonie der aristophanischen Komödie und zur Unmöglichkeit der Deu647 Zum Problem der weitgehenden Ausklammerung des antiken Dramas, insbesondere der Alten Komödie, im Bachtin’schen Konzept der Karnevalisierung der Literatur sowie der Dialogizität von Literatur siehe Rösler [1986] und Möllendorff [1995] 65–73; 82–87; 96–109 (beide mit Argumenten für den Miteinbezug der Alten Komödie); kritisch zu diesen Positionen und mit einem Neuansatz, der die seines Erachtens vernachlässigte politische, antiautoritäre und generell gegen die Mächtigen gerichtete Dimension des Karnevals betont, die mit den Rahmenbedingungen und politischen Stellungnahmen der aristophanischen Komödie nicht übereinstimme, äussert sich Edwards [2002], vgl. S. 32: »[...] it is indeed a puzzle why Bakhtin himself – in his discussion in Rabelais and His World at any rate – is at best only lukewarm toward Aristophanic comedy as exemplary of the grotesque tradition. [...] I believe that Bakhtin’s ambivalence toward Aristophanes results from the political dimension of the popular grotesque as it is presented in Rabelais.« sowie über die Dichter der Komödien S. 38f.: »These poets wrote political comedy in my sense not by virtue of mocking the powerful [...], but because they attacked the demos and democracy through its leaders and criticized their policies while suggesting alternative policies. The plays of these poets, furthermore, consistently support more conservative positions against the prevailing democratic policies. [...] These poets exploit the implicitly antiauthoritarian character of the grotesque in order to convey undisguised political messages opposed in intent and origin to the selfsame popular class in which the grotesque finds its roots.« – Diese komplexen Fragen – u.a. stark von der Interpretation der ›Stimmen‹ der aristophanischen Komödie abhängig – können an dieser Stelle nicht weiter untersucht werden. Unbestritten bleibt – und das ist für die Interpretation von Rh. Pr. zentral –, dass Aristophanes’ Komödien im stilistisch-formalen Bereich eine Verwandtschaft zur »popular grotesque« aufweisen, zu nennen sind ambivalenter Sprachgebrauch, Juxtaposition an sich unvereinbarer Elemente (z.B. innen/aussen, Nähe/Ferne, man vgl. v.a. die Darstellung des kurzen Weges und den Rat des Sidoniers in Rh. Pr. 3 und 5); siehe dazu Möllendorff [1995] 112–150. Die stilistisch-formale Verwandtschaft der Alten Komödie zur karnevalesken Literatur erklärt auch die Verbindungen zum Ernst-Komischen (σπουδογέλοιον) und zur Menippea, die für vorliegende Arbeit wichtig sind (vgl. die Einleitung 1.8 und 3.1).

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tung des Inhalts/der Figurenäusserungen in eine Richtung im Sinne einer auktorialen Steuerung). νεκροὺς εἰς μίμησιν παλαιοὺς προτιθεὶς Mit der (durch Hyperbaton hervorgehobenen) Bezeichnung der nachzuahmenden Klassiker als »alte Leichen«648 wirft der Ratgeber auf freche Weise attizistische Prinzipien über den Haufen, die für die gebildete Oberschicht der Zeit der Zweiten Sophistik selbstverständlich sind. Humor wird hier also einmal mehr durch einen Bruch mit der Konvention erzeugt. Vgl. zur μίμησις die Bemerkungen zu §9: ζηλοῦν [...] μιμεῖσθαι.649 Speziell Demosthenes gilt als wichtigstes Vorbild für Redner zu Lukians Zeit, s.u. den Kommentar zu: μαχαιροποιοῦ υἱὸν καὶ ἄλλον Ἀτρομήτου τινὸς γραμματιστοῦ sowie §17. ἀνορύττειν [...] λόγους [...] κατορωρυγμένους Der Ratgeber stellt die Nachahmung der Diktion der klassischen Autoren als Ausgraben von uraltem Vokabular dar und fügt sarkastisch an, die Leute meinten, es sei, als ob man damit einen Schatz – oder gar das höchste Gut – ausgrabe (ὥς τι μέγιστον ἀγαθόν). Das Partizip κατορωρυγμένος begegnet uns bei Lukian auch in Lexiphanes 17, wo das »vergrabene Vokabular« allerdings ein anderes bezeichnet, als es hier der Fall ist. Lykinos reagiert auf Lexiphanes’ Diktion mit den Worten: Ζητῶ οὖν πρὸς ἐμαυτὸν ὁπόθεν τὰ τοσαῦτα κακὰ συνελέξω καὶ ἐν ὁπόσῳ χρόνῳ καὶ ὅπου κατακλείσας εἶχες τοσοῦτον ἑσμὸν ἀτόπων καὶ διαστρόφων ὀνομάτων, ὧν τὰ μὲν αὐτὸς ἐποίησας, τὰ δὲ κατορωρυγμένα ποθὲν ἀνασπῶν κατὰ τὸ ἰαμβεῖον »ὄλοιο θνητῶν ἐκλέγων τὰς συμφοράς«· τοσοῦτον βόρβορον συνερανίσας κατήντλησάς μου μηδέν σε δεινὸν εἰργασμένου.650 Er stellt folgende Diagnose auf: Lexiphanes leidet unter einer Sprachkrankheit (§18), denn er ist ein Hyperattizist, der unangebrachte (ἄτοπος), verdrehte (διάστροφος) Wörter verwendet, die er bei 648 Die Formulierung ist zweideutig, gemeint sein können entweder die Menschen (Demosthenes, Platon etc.) selbst, die damit neben dem Statuenvergleich (§9) einem weiteren, spöttischen Vergleich unterzogen werden, oder aber ihre literarischen Erzeugnisse. Dass wohl ersteres der Fall ist, zeigt die Fortsetzung des Satzes, indem zusammen mit den »alten Leichen« ihre Werke (λόγοι) ausgegraben werden. 649 Bestätigt wird die Tendenz, dass die neumodischen Sophisten sich von der klassischen Tradition (ἀρχαία ἰδέα) lossagten, durch den entsprechenden Vorwurf bei Aristeid. Or. 34,11. 650 »Ich frage mich also, woher du dir soviel Ekelhaftes zusammengesammelt hast und in wie langer Zeit und wo eingeschlossen du einen solchen Schwarm von unpassenden und verdrehten Wörtern aufbewahrt hast, von denen du einen Teil selbst erfunden, den andern, der tief vergraben lag, irgendwoher hervorgezogen hast, [ganz] wie der Iambus [es sagt]: ›Zugrunde gehe, wer der Sterblichen Unglück sammelt.‹ Einen solchen Schlamm hast du zusammengebracht und auf mich geschüttet, der ich dir doch nichts Schlimmes getan habe.«

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5. Kommentar (§§9–10)

entlegenen Autoren zusammengesucht hat (§17, vgl. §25). Seine Sprache wird dadurch so altertümelnd, dass man sie nicht mehr verstehen kann (§20). Daher ist ein Umlernen nötig, welches dem Patienten einen massvollen Umgang mit den klassischen Vorbildern, die hier keinesfalls in Frage gestellt werden, sowie die korrekte Art der Nachahmung beibringen soll (§§22–23). Während die Metaphorik des Vokabular-Ausgrabens in Lex. also die (beinahe krankhafte) Suche nach den ungebräuchlichsten Wörtern bezeichnet, wird sie in Rh. Pr. zur Abwertung der (üblichen) Verwendung gängigen attizistischen Vokabulars herangezogen. μαχαιροποιοῦ υἱὸν καὶ ἄλλον Ἀτρομήτου τινὸς γραμματιστοῦ Gemeint sind Demosthenes und Aischines. Die Formulierung schliesst sich eng an jene in den Reden De falsa legatione aus dem Jahr 343 v.Chr. an, die uns von diesen beiden berühmten Rednern und Politikern überliefert sind, und wo die Abkunft des jeweiligen Kontrahenten in invektivischem Kontext zur Diskreditierung vor den Richtern zur Sprache gebracht wird. Der Ratgeber benennt die beiden also verächtlich mit ihren eigenen Worten (bzw. mit denen ihrer damaligen Gegner), wobei der abwertende Ton durch die Einfügung von τινὸς (γραμματιστοῦ) noch gesteigert ist (vgl. auch die boshafte Äusserung des Rednerlehrers in §17: ὁ χαρίτων ἄμοιρος Δημοσθένης). In Aeschin. De falsa legatione 93 wird Demosthenes niedriger Herkunft bezichtigt wird mit einem Waffenschmied als Vater. Zudem sei er ein Bastard (seine Mutter soll aus Skythien gewesen sein): Καὶ σεμνολογεῖς, ὡς οὐκ εἰδόσι τούτοις ὅτι Δημοσθένους υἱὸς εἶ νόθος τοῦ μαχαιροποιοῦ;651 In Demosth. De falsa legatione 281 wird der Freispruch eines solchen Abkömmlings, wie Aischines es ist, als absolut unangebracht dargestellt wird: τὸν δ’ Ἀτρομήτου τοῦ γραμματιστοῦ καὶ Γλαυκοθέας τῆς τοὺς θιάσους συναγούσης, ἐφ’ οἷς ἑτέρα τέθνηκεν ἱέρεια, τοῦτον ὑμεῖς λαβόντες, τὸν τῶν τοιούτων, τὸν οὐδὲ καθ’ ἓν χρήσιμον τῇ πόλει, οὐκ αὐτόν, οὐ πατέρα [...] ἀφήσετε; Die niedere Wertschätzung, die Demosthenes und Aischines vom Ratgeber entgegengebracht wird, ist ein Konventionsbruch, der einer Provokation gleichkommt, denn vor allem Demosthenes ist das grosse Vorbild für Redner zu Lukians Zeit. Deutlich machen dies diverse Textstellen, in denen Demosthenes lobend erwähnt wird, z.B. Philostr. VS 539 und 542;652 Aristeid. 651 Plutarch (Demosth. 4,1) berichtigt später mit Bezug auf den Historiker Theopomp (FGrHist 115 fr. 325), dass Demosthenes’ Vater von guter Herkunft gewesen sei und den Beinamen ›Waffenschmied‹ nur darum erhalten habe, weil er der Besitzer einer Waffenfabrik gewesen sei. 652 Gemäss Swains ([1996] 96) Berechnungen haben 37 Prozent der historischen Deklamationsthemen, die für uns in VS fassbar sind, ein Demosthenes-Thema.

§10: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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Or. 28,75 (die Kranzrede des Demosthenes zu kennen, ist ein Muss für jeden Gebildeten); Phryn. Ecl. 357 Fischer (aufgrund seiner exzellenten Beherrschung des Attischen, wie Demosthenes es sprach, wurde der Adressat in das Amt ab epistulis gewählt); S. E. M. 1,98 (als grösste Vorbilder für korrektes Griechisch werden Thukydides, Platon und Demosthenes genannt). Die dauernde Bezugnahme des Hermogenes auf Demosthenes (besonders in Περὶ ἰδεῶν und Περὶ εὑρέσεως) bezeugt die Vorrangstellung des letzteren auch im Bereich der Rhetoriktheorie zur Zeit der Zweiten Sophistik, dazu Kennedy [1983] 94: »[...] the treatise [sc. On Invention] is unusually specific in how to work out the composition of declamations and rich in examples, especially from Demosthenes, whose works have clearly become the student’s bible.«653 Die Provokation lässt den gebildeten Rezipienten gegenüber dem Ratgeber skeptisch werden (aus einem narrenhaften Standpunkt heraus formuliert können derartige Äusserungen allerdings vom Rezipienten als reines Spiel begriffen werden). καὶ ταῦτα ἐν εἰρήνῃ [...] ἴσως ἐδόκει χρήσιμα Textkritisches: Überliefert ist ἴσως (γ); τέως (β). Ich habe gegen Macleod die Lesart ἴσως (so Harmon) in den Text gesetzt. Obwohl sich inhaltlich beide Varianten vertreten liessen (»Umstände, unter denen deren Reden vielleicht / einstweilen nützlich schienen«), schlägt ἴσως den verächtlicheren Ton an, was mir zum provokativen Duktus der Passage besser zu passen scheint.654 Die Anspielung auf den Makedonenkönig Philipp II. sowie dessen Nachfolger Alexander den Grossen evoziert das Umfeld genau derjenigen Zeit, in der Aischines und Demosthenes ihre politischen Reden hielten; man denke an Demosthenes’ Philippika oder an den Anlass der beiden Reden De falsa legatione: Demosthenes klagte Aischines an, er habe sich bei der Aushandlung des so genannten Philokrates-Friedens mittels einer Gesandtschaft im Jahr 346 (welcher Demosthenes ebenfalls angehörte) von Philipp bestechen lassen. Auch die Wahl der auf die beiden Makedonenkönige bezogenen Partizipien ἐπιόντος und ἐπιτάττοντος lässt sich vor dem historischen Hintergrund näher erläutern: Philipp war derjenige, der Griechenland angegriffen und eingenommen hat, er etablierte seine Macht nach bzw. trotz des Philo653 Siehe auch den ausführlichen Kommentar zu §17: ὁ λῆρος Ἰσοκράτης ἢ ὁ χαρίτων ἄμοιρος Δημοσθένης ἢ ὁ ψυχρὸς Πλάτων mit Angaben zu positiven Zeugnissen bzw. Aussagen bei Lukian. Vgl. ferner Baldwin [1973] 69: »Lucian was well within the critical conventions in giving priority to Demosthenes.« [meine Hervorhebung] 654 Zur tendenziell zuverlässigeren Handschriftengruppe γ siehe die einleitenden Bemerkungen zum griechischen Text, bes. Anmm. 473 und 474.

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5. Kommentar (§§9–10)

krates-Friedens in Mittelgriechenland, und spätestens nach der Schlacht bei Chaironeia 338 v.Chr. war makedonisches Vordringen auch in den athenischen Raum nicht mehr zu verhindern. Athen musste dem korinthischen Bund beitreten; das dennoch relativ zuvorkommende makedonische Vorgehen – eine direkte militärische Konfrontation blieb aus – lag vor allem in der angestrebten Kooperation Athens wegen seiner grossen Flotte begründet. Mit Alexanders Amtsantritt 336 v.Chr. stand also Griechenland bereits unter makedonischer Führung, und zwar in dem Sinn, dass die Makedonen dem korinthischen Bund zwar nicht offiziell angehörten, ihr König ihn jedoch als Hegemon leitete. Daher ist Alexander derjenige, welcher zur genannten Zeit in Athen die »Befehle erteilte«. Die Kriegsthematik ist durch die Erwähnung der Herkunft des Demosthenes als Sohn eines Waffenschmiedes (μαχαιροποιοῦ) vorbereitet und wird hier als Gegenpol zur gegenwärtigen, friedlichen Welt herangezogen: In Friedenszeiten braucht es keine Rhetorik, wie sie Demosthenes oder Aischines boten. Damit wird also der klassischen Rhetorik ihre Relevanz für die Gegenwart abgesprochen. Um dies zu erreichen, nimmt der Ratgeber allerdings eine enorme thematische Einengung der Inhalte der klassischen Texte vor. Zudem unterwandert er seine eigenen rhetorischen Mittel, da er an dieser Stelle Alexanders Taten eine Relevanz für die Gegenwart abspricht, dessen militärische Aktionen jedoch zuvor als wichtigen Referenzpunkt genutzt hat (vgl. §5 und §7). Einschränkend ist festzuhalten, dass der alten Rhetorik ein Nutzen nicht generell, sondern nur unter den neuen Umständen abgesprochen wird. Implizit ist durch das positive Adjektiv χρήσιμα auch ein Lob ausgesprochen.655 Der Lehrer des langen Weges wird insofern in seinem Verhalten etwas gerechtfertigt, als er in Unkenntnis der neuen Situation (οὐκ εἰδὼς κτλ.) noch immer dasselbe empfiehlt, was früher nützlich war.656 Zum im Gegenzug propagierten Nutzen eines amoralischen Privatlebens für die Rhetorik vgl. den Kommentar zu §23: εἰς τὴν ῥητορικὴν [...] ἀνοίσουσιν; πρὸς τὴν ῥητορικὴν χρήσιμα. εἰς τὸ εὐθὺ τῆς Ῥητορικῆς ὁδός Sommerbrodt verweist auf dieselbe Verwendung von εὐθύ in Bis. Acc. 12: πρὸς τὸ ἄναντες εὐθὺ τοῦ Ἀρείου πάγου und Fug. 24: εὐθὺ τῆς Θρᾴκης ἀπιτέον. Vgl. weiter Menipp. 6: ἔτεινον εὐθὺ Βαβυλῶνος.

655 Ein ähnliches Phänomen begegnet uns in den Tricks des Rednerlehrers, die jeweils stark darauf basieren, den Anschein der klassischen Rhetorik zu erlangen: Sie ist sowohl in ihrem Stil (vgl. §16 zu den Attizismen) als auch in ihren Inhalten (vgl. §18 zu den Paradethemen) zweifellos noch immer vorbildhaft. 656 Es folgt allerdings gleich der nächste, schwerwiegende Vorwurf; s.u. zu: ἐκτραχηλίσῃ.

§10: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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ἐκτραχηλίσῃ Wörtlich bedeutet ἐκτραχηλίζειν »(vom Pferd:) über den Nacken hinunterwerfen«. Dasselbe Verb verwendet Lukian noch in Toxaris 14 und – in sehr ähnlichem Kontext – in Merc. Cond. 42 (Beschreibung der Karriere eines Hausgelehrten im Stil von Kebes’ Tabula): [...] ἡ ἄνοδος ἐπὶ πολὺ καὶ ἀνάντης καὶ ὄλισθον ἔχουσα, ὡς πολλάκις ἤδη πρὸς τῷ ἄκρῳ ἔσεσθαι ἐλπίσαντες ἐκτραχηλισθῆναι διαμαρτόντος τοῦ ποδός.657 Zum Bild der vom steilen, schlüpfrigen Pfad Herabstürzenden vgl. auch Rh. Pr. 3: ἀνάντη [ὁδόν]; ἀποκυλιομένους ἐπὶ κεφαλὴν und 9: εἰ δὲ κἂν μικρόν τι παραβαίης [...] ἐκπεσεῖσθαί σε τῆς ὀρθῆς ὁδοῦ. Die vorliegende Formulierung des Ratgebers ist mehrdeutig, je nachdem, ob man das Verb ἐκτραχηλίζειν wörtlich (»hinabstürzen«) oder in einem übertragenen Sinn (»ruinieren«) versteht.658 Das Element einer ›Handgreiflichkeit‹ dürfte zumindest mitschwingen, so dass der Ratgeber insofern zu einem letzten, vernichtenden Schlag gegen den Lehrer des langen Weges ausholt, als er ihm – nachdem er ihn durch den Verweis auf verblasste Fussspuren, durch die Ankündigung einer ewig langen Ausbildung und durch eine hohe Geldforderung bereits höchst unglaubwürdig gezeichnet hat – unterstellt, dass er seine Schüler vom steilen Weg eigenhändig herabstürze (wohl nicht ohne zuvor seine Bezahlung erhalten zu haben). Der alte Weg zur Rhetorik scheint somit ein Gefahrenpotential zu bergen, angesichts dessen sich jeder vernünftige Anwärter dem kurzen Weg zuwenden sollte. παραλαβὼν παραλαμβάνω zur Bezeichnung eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses und damit der Übernahme in den Unterricht bzw. allgemeiner eines Verhältnisses, bei dem einer dem anderen den Weg weist oder ihn in seine Obhut nimmt, verwendet Lukian oft (vgl. die Parallele in der Darstellung des Rednerlehrers unten §11: σε παραλαβὼν), häufig auch im Zusammenhang mit allegorischen Figuren; vgl. z.B. Menipp. 7 (der Chaldäer Mithrobarzanes erklärt sich nach langem Bitten einverstanden, Menipp den Weg in den Hades zu zeigen): παραλαβὼν δέ με ὁ ἀνὴρ [...]; Lex. 18 und 21; Vit. Auct. 9; Pseudol. 25; Ikaromen. 27; Merc. Cond. 42; Catapl. 21 und 23; Timon 32; Bis Acc. 8, 17, 27, 34. Vgl. auch bereits Plat. Alc. I 121e; Phd. 83a; R. 541a. 657 »[...] der Aufstieg ist lang, steil und schlüpfrig, so dass diejenigen, die gehofft haben, dem Gipfel schon nahe zu sein, oft noch abstürzen, weil sie einen Fehltritt tun.« 658 Übertragen verstanden wird vorliegende Stelle bei LSJ s.v. ἐκτραχηλίζω 2.: metaph. ruin, pervert; siehe auch Möllendorff [2006a] 173 (intransitiv): »Du aber lass dich nicht überreden und achte gar nicht auf ihn, damit du dir unter seinem Einfluss nicht den Hals brichst oder vor lauter Arbeit am Ende noch vorzeitig alterst.« Wörtlich und transitiv hingegen z.B. Ar. Lys. 705 (Κοὐχὶ μὴ παύσησθε τῶν ψηφισμάτων τούτων, πρὶν ἂν τοῦ σκέλους ὑμᾶς λαβών τις ἐκτραχηλίσῃ φέρων).

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5. Kommentar (§§9–10)

προγηρᾶσαι τοῖς πόνοις Vgl. zum Bild des sich auf dem steilen Weg Abmühenden und dabei Alternden, ja gar vor Erreichen des Gipfels Sterbenden Hermot. 6 sowie den Kommentar zu §3: ἱδρῶτος μεστὴν (mit Text und Übersetzung von Hermot. 6) und zu §9: κατὰ ὀλυμπιάδας. ὡς καὶ σπουδάζοιο πρὸς αὐτῆς Zum Optativgebrauch vgl. die Angaben zu §6: ὡς γαμήσειάς [...] ἔχοις. ἴθι, [...] μακρὰ χαίρειν λέγε, [...] καταλιπὼν Imperativisch erfolgt an dieser Stelle, nachdem die unüberzeugende, in indirekter Rede referierte Präsentation des Lehrers des langen Weges (§9) vom Ratgeber in allem abgelehnt worden ist (§10), endlich der zu erwartende ›überzeugende‹ Ratschlag: Sich nicht dem beschwerlichen, sondern dem anderen, leichten Weg zuzuwenden. Der Ausdruck μακρὰ χαίρειν λέγειν/φράζειν τινί ist – v.a. bei kaiserzeitlichen Autoren – häufig; das Neutrum μακρά erscheint dabei in adverbieller Verwendung: »sich auf lange Zeit/für immer von jmd./etwas verabschieden«, »sich für immer von etwas lossagen«. Vgl. z.B. Luk. Bis Acc. 21 (Epikur über die Stoiker: εἰ γοῦν τις αὐτοῖς τὸν τοῦ Γύγου δακτύλιον ἔδωκεν, ὡς περιθεμένους μὴ ὁρᾶσθαι [...] εὖ οἶδ’ ὅτι μακρὰ χαίρειν τοῖς πόνοις φράσαντες ἐπὶ τὴν Ἡδονὴν ὠθοῦντο ἂν [...]); Fug. 20 (die personifizierte Philosophie über die Scheinphilosophen: εἶτ’ ἐπειδὰν ἱκανῶς συλλέξωνται καὶ ἐπισιτίσωνται [...] μακρὰ χαίρειν φράσαντες τῇ πήρᾳ τῇ Κράτητος [...]); Nav. 2; Gall. 2; Peregr. 32 u.ö.; weiter Plut. Ag. et Cleom. 48,8 ([...] ἀπῆλθε μακρὰ χαίρειν φράσας Ἀχαιοῖς); Gal. San. tuend. vol. 6, p. 391 ([...] μακρὰ χαίρειν εἰπόντας ἐκείνοις τῶν φιλοσόφων, ὅσοι [...]); Cass. Dio 46,3,2 und 58,18,2. Siehe auch bereits oben Rh. Pr. 9: [...] πολλὰ χαίρειν φράσαντα τῇ ἐλπιζομένῃ ἐκείνῃ εὐδαιμονίᾳ. τῷ μὲν δασεῖ τούτῳ καὶ πέρα τοῦ μετρίου ἀνδρικῷ Vgl. dazu bereits S. 232 mit Anm. 622. ἄλλους ὁπόσους ἂν ἐξαπατᾶν δύνηται In Kontrast zu dieser Aussage steht der verlassen daliegende steile Weg in §8 (vgl. den Kommentar zu: οὐ πολλὰ ἴχνη τῶν ὁδοιπόρων εἶχεν und zu Widersprüchen innerhalb der Schrift die Einleitung 1.6, S. 62). In der vorliegenden Einstufung der erwähnten Schüler als Getäuschte liegt eine Abwertung der bestehenden Konvention (und der nach wie vor betriebenen ›klassischen‹ Lehre) mit provozierender (bzw. aus narrenhafter Perspektive heraus humoristischer) Wirkung.

§11: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe (Pistis Teil 2)

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§§11–25: Der kurze Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 2: probatio) §§11–12: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe Präsentiert wird nun das Gegenbild zum strengen, hypermaskulinen, bäurischen Lehrer – der durch und durch effeminierte Rednerlehrer. Inhaltlich und stilistisch lehnen sich die beschreibenden Ausdrücke eng an §9 an bzw. führen die gegenteiligen Begriffe auf (ἀνδρώδης τὸ βάδισμα / διασεσαλευμένον τὸ βάδισμα; ἀρρενωπὸς τὸ βλέμμα / γυναικεῖον τὸ βλέμμα). Die asyndetische Reihung der Attribute dehnt sich von einzelnen Adjektiven (πάνσοφος, πάγκαλος) über einen vierfachen Parallelismus mit der Verwendung des Accusativus respectus (διασεσαλευμένον τὸ βάδισμα, ἐπικεκλασμένον τὸν αὐχένα, γυναικεῖον τὸ βλέμμα, μελιχρὸν τὸ φώνημα) in längere Kola aus, die in der Feststellung der absoluten Verweichlichung des Dargestellten (πάναβρος), die mit exempla illustriert wird, gipfelt (s.u. zum Lemma). Insgesamt wird das Aussehen der Hauptperson der Schrift gegenüber derjenigen in §9 ausführlicher dargestellt und ihre Weiblichkeit in allen Details ausgekostet. Die effeminierte Erscheinung des Rednerlehrers wird derart überzeichnet, dass die überschwänglichen Empfehlungen des Ratgebers, sich diesem Mann anzuvertrauen, weil er ein grosser, bedeutender Redner sei, sich selbst aushebeln, da das hochachtungsvolle659 Sprechen über einen derart effeminierten Menschen von Ironie durchsetzt ist und der rhetorischen Forderung nach angemessener Übereinstimmung von Ausdrucksweise und Inhalt (πρέπον) zuwiderläuft.660 Lukian präpariert dadurch, bevor er seine Hauptperson endlich auftreten661 lässt (§13; genau in der Hälfte der Schrift), das Terrain so, dass jeder aufmerksame Leser oder Hörer sich bereits auf einen dem Rednerlehrer entsprechenden schlechten Ausbildungsgang gefasst macht und mit Spannung auf dessen Vortrag wartet. Diese Spannung entsteht nicht zuletzt auch dadurch, dass der Rednerlehrer vergöttlicht wird (θεσπέσιον χρῆμα; ξένον φάσμα δρό659 Man vergleiche §26, wo der Rednerlehrer am Ende des Werks, gleich nachdem er für das Privatleben die abscheulichsten Dinge empfohlen hat, vom Ratgeber als »der Edle« (ὁ γεννάδας) bezeichnet wird. 660 Vgl. dazu Arist. Rh. 3,7, bes. 1408a10f.: τὸ δὲ πρέπον ἕξει ἡ λέξις, ἐὰν ᾖ παθητική τε καὶ ἠθικὴ καὶ τοῖς ὑποκειμένοις πράγμασιν ἀνάλογον und 1408a19f.: πιθανοῖ δὲ τὸ πρᾶγμα καὶ ἡ οἰκεία λέξις. Aufschlussreich für die vorliegende Einführung des Rednerlehrers durch den Ratgeber ist Aristoteles’ Bemerkung bezüglich der komischen Wirkung von nicht eingehaltenem πρέπον in 1408a14: εἰ δὲ μή, κωμῳδία φαίνεται. 661 Der Vergleich mit dem Tragödiendichter Agathon (§11) und mit den Hetären aus den Komödien Menanders (§12) sowie Schauspielmetaphorik (§12: τὸν ἥρωα ὃν ὑποκρίνομαι) markieren den Auftritt als denjenigen auf einer Schauspielbühne.

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5. Kommentar (§§11–12)

σῳ ἢ ἀμβροσίᾳ τρεφόμενον), man also mit einem absolut atemraubenden Auftritt zu rechnen hat. §11 πάνσοφόν τινα καὶ πάγκαλον ἄνδρα Die Erwähnung aussergewöhnlicher Klug- und Schönheit, stilistisch durch π-Alliteration und Homoioteleuton herausgehoben, könnte grundsätzlich positiv aufgefasst werden, ist jedoch – ähnlich dem Aufbau und der inhaltlichen Ambivalenz von §9, vgl. dazu S. 229f. – durch die folgenden Ausdrücke (die allesamt eine verweichlichte Konnotation aufweisen, v.a. πάναβρος, s.u. zum Lemma) und aus der Retrospektive der gesamten nachfolgenden ›Lehre‹ stark ironisch eingefärbt: Seinem Unterricht nach zu schliessen ist der Rednerlehrer nämlich σοφός im negativen Sinne blosser sophistischer Tricks und καλός im Sinne dessen, der (zu) grossen Aufwand zur Schönheitspflege, wie sie eigentlich Frauen vorbehalten ist, betreibt (reichlich Parfum, ständige Sorge um die Haartracht).662 Das Adjektiv πάνσοφος ist zum ersten Mal belegt bei Aischylos fr. 181a Radt, danach bei Euripides fr. 588 Nauck, jeweils bezogen auf Palamedes663, den Erfinder schlechthin, bzw. auf seine Erfindungen.664 Als Spitze gegen die Sophisten an sich durchaus denkbar, findet sich das Adjektiv bei Platon nicht; die ersten Belege in Prosa treten in der Septuaginta (e.g. 1,12,4) und in grosser Zahl bei Philon von Alexandria (e.g. De Cherubim 18,2) auf, jeweils in positivem Sinn »allwissend« über Gott, Propheten etc. Lukian selbst gebraucht das Adjektiv in ironischem Ton bezogen auf die Philosophen Kleodemos und Deinomachos und den Rhapsoden Ion in Philopseud. 6: ὁρᾷς οἵους ἄνδρας σοί φημι, πανσόφους καὶ παναρέτους und bezogen auf Hermotimos in Hermot. 60 (Lykinos kritisch über Hermoti-

662

Zur darüber hinaus nur halbwegs vollständigen Schönheit vgl. auch unten §11: ὀλίγας μὲν ἔτι, [...] τρίχας; §12: ἐπισπασάμενος ὁπόσον ἔτι λοιπὸν τῆς κόμης. – Die grundsätzlich positive Konnotation der Adjektive πάνσοφος und πάγκαλος zeigen die im Folgenden aufgeführten ausserlukianischen Belege; die lukianischen Texte weisen eine ambivalente Verwendung auf. 663 Palamedes ist eine in der Literatur der Zweiten Sophistik – und bereits in der klassischen Sophistik (Gorgias) – häufig thematisierte Figur, die durch ihren Erfindungsgeist und ihre Weisheit ein Exempel für die Sophisten selbst abgibt, vgl. Zeitlin in Goldhill [2001] 250f. sowie Philostrat Heroicus 33,1–34,7 (Teubner). Zu Palamedes als Vergleichsfigur des gewieften Redners vgl. auch Plat. Phdr. 261d (siehe zu Phdr. als wichtigem Konstrasttext zu Rh. Pr. bereits die Einleitung 1.3, S. 39). 664 Weitere Belege finden sich bei Aischylos Supp. 320 (πάνσοφον ὄνομα), Sophokles fr. 913 Radt (πάνσοφον κρότημα) und Euripides HF 188 (πάνσοφον εὕρημα).

§11: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe (Pistis Teil 2)

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mos’ Haltung zur Philosophie): σὺ δὲ οἴει τὸ τοιοῦτον αὐτὸ εἶναι, ὡς εἰ μόνον γεύσαιο [...], αὐτίκα σε πάνσοφον γενησόμενον [...]. Eine rein positive Verwendung findet sich bei Pollux (4,20), welcher als Attribute eines guten Redners neben δεινὸς εἰπεῖν auch σοφὸς εἰπεῖν und πάνσοφος vermerkt. πάγκαλος ist bei Platon häufig belegt (vor ihm lediglich Euripides fr. 285 Nauck und Sophokles fr. 212 Radt), jedoch vor allem auf Dinge/Taten (χρῆμα, πρᾶγμα, ἔργον) und Worte (λόγοι), nur selten auf Menschen bezogen (nie mit Beigeschmack der Verweichlichung; vgl. R. 540c; Lg. 859d; Kritias 121b). Lukian verwendet das Adjektiv spöttisch in Pisc. 50 (über die speziell auffällige Kleidung eines Scheinphilosophen, wiedergegeben mit dem Bild eines farbig-schillernden Fisches). Allerdings gebraucht er πάγκαλος bezogen auf Menschen durchaus auch in neutral-positivem Sinn, so z.B. in Dial. Deor. 3,1 (Eros ist πάγκαλος, Hermaphroditos dagegen θῆλυς und ἡμίανδρος). Dass der sich mit Sokrates vergleichende (§13) Rednerlehrer neben seiner Weisheit auch mit grosser Schönheit ausgestattet ist und daher eine gänzlich anti-sokratische Physiognomie665 aufweist, in welcher Weisheit und Schönheit zusammengehen, kann dahingehend gedeutet werden, dass die Figur des Rednerlehrers in der vorliegenden (närrischen) Darstellung des Ratgebers so angelegt ist, dass sie Sokrates sogar übertrifft. Sein Metier, das mit der Schauspielerei verglichen wird, ist zudem eines, in welchem von der Gesamterscheinung viel, gemäss den Worten des Rednerlehrers sogar fast alles (§15), abhängt (zur letztlich mangelhaften Schönheit s.o. Anm. 662). διασεσαλευμένον τὸ βάδισμα Vgl. den Gebrauch derselben Partizipialform nicht für den Gang, sondern für den unstet schweifenden Blick eines Effeminierten in Luk. Merc. Cond. 33: διασεσαλευμένον τὸ βλέμμα. Grundsätzlich bedeutet διασαλεύω »schütteln, aufwühlen, durcheinanderbringen«. Vgl. auf die Körperhaltung bezogen bereits Ps.-Arist. Phgn. 809b (Beschreibung des Löwen als Paradebeispiel des männlichen Tieres; sein Gang ist langsam, weit ausgreifend und wiegend in den Schultern): βαδίζον [sc. ζῷον, gemeint ist der Löwe] δὲ βραδέως, καὶ μεγάλα διαβαῖνον, καὶ διασαλεῦον ἐν τοῖς ὤμοις; die bei Aristoteles positiv konnotierte Bewegung ist in Rh. Pr. ironisch eingefärbt, so dass ich für διασεσαλευμέ665

Zur silenhaften Physiognomie des Sokrates (eingedrückte Nase, wulstige Lippen, Halbglatze, Bart) vgl. Plat. Smp. 215a–b; Tht. 143e; Xen. Smp. 4,19; 5,5–7 und DNP 11 s.v. Sokrates [2], Sp. 676.

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5. Kommentar (§§11–12)

νον τὸ βάδισμα die Übersetzung »mit schlenkerndem Gang« verwendet habe. Überhaupt ist jede Art auffälliger und häufiger Bewegungen von Rhetoren während ihrer Auftritte verpönt und wird als unmännlich eingestuft, vgl. dazu Cicero Or. 59 (vgl. auch den Kommentar zu §19: βάδιζε μεταφέρων τὴν πυγήν): Idemque motu sic utetur, nihil ut supersit: in gestu status erectus et celsus; rarus incessus nec ita longus; excursio moderata eaque rara; nulla mollitia cervicum, nullae argutiae digitorum, non ad numerum articulus cadens; trunco magis toto se ipse moderans et virili laterum flexione, brachii proiectione in contentionibus, contractione in remissis.666 Diese Textstelle bezieht durch die Erwähnung des Nackens (cervix) und der Finger (digiti) Elemente mit ein, die auch in vorliegender Passage von Rh. Pr. entscheidend sind (s.u.: αὐχένα, δακτύλῳ), und setzt die genannte »Schwäche« oder »Weichheit« des Nackens dem männlichen Oberkörper (truncus) entgegen, der als gesamter nur leicht bewegt werden soll.667 ἐπικεκλασμένον τὸν αὐχένα Vgl. die sehr ähnliche Beschreibung eines Effeminierten in Merc. Cond. 33: τὸν τράχηλον ἐπικεκλασμένον sowie die Entlarvung der Effeminierten in Adv. Ind. 23 (wie sie auch ge- bzw. verkleidet sein mögen – Gang, Blick, Stimme, wacklig-dünner Hals und Schminke im Gesicht verraten sie immer): μυρία γάρ ἐστι τὰ ἀντιμαρτυροῦντα τῷ σχήματι, βάδισμα καὶ βλέμμα καὶ φωνὴ καὶ τράχηλος ἐπικεκλασμένος καὶ ψιμύθιον καὶ μαστίχη καὶ φῦκος, οἷς ὑμεῖς κοσμεῖσθε [...]. Wie in der Einleitung zu §9 bereits dargelegt worden ist, sind es genau diese Variablen von Gang, Blick, Stimme und Haltung, die auch in den physiognomischen Schriften abgehandelt werden. Was hier beschrieben 666

»Er [sc. der Redner] wird auch Bewegung einsetzen, aber so, dass nichts daran übertrieben ist: In seiner Stellung wird er eine aufrechte, gerade Haltung einnehmen, selten umhergehen und nicht weit, nur kontrolliert auf das Publikum zueilen und auch das selten. Kein Biegen des Nackens, keine Spielerei mit den Fingern, kein Taktschlagen mit den Knöcheln, sondern er gibt sich seinen Rhythmus mit dem ganzen Oberkörper und männlicher Neigung der Seiten, den Arm ausgestreckt bei leidenschaftlichen, gesenkt bei ruhigeren Passagen.« Diese Cicerostelle wird bestätigend erwähnt bei Quint. Inst. 11,3,122. 667 Vgl. auch Cic. Off. 1,128f. mit zusätzlicher Betonung der zwei – im Agon der Lehrer in Rh. Pr. genauso hervorgehobenen – Extreme von Effeminiertheit und Hypermaskulinität: status, incessus, sessio accubitio, vultus, oculi, manuum motus teneat illud decorum. Quibus in rebus duo maxime sunt fugienda, ne quid effeminatum aut molle et ne quid durum aut rusticum sit. (»Haltung, Einherschreiten, Sitzen, Hinlegen, Miene, Augen, Bewegung der Hände sollen jenes Angemessene bewahren. Bei diesen Dingen muss man zweierlei besonders vermeiden, dass nichts effeminiert oder weichlich und nichts hart oder bäurisch wirkt.« Unterstrichen sind in Rh. Pr. 11–12 ebenfalls genannte Aspekte). Zu graduellen Unterschieden in verschiedenen rhetorischen Kontexten (forensisch, symbuleutisch, epideiktisch) siehe den Kommentar zu §19: βάδιζε μεταφέρων τὴν πυγήν.

§11: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe (Pistis Teil 2)

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wird, ist ein Hals oder Nacken, der im Gegensatz zum männlichen (breit und stark) so dünn und fragil (und damit weiblich) ist, dass er ›einzuknicken‹ scheint.668 Dass das Verb eine effeminierte Konnotation aufweist, wird in Demon. 12 explizit gesagt (Demonax macht sich über die Vorlesungen des Philosophen Favorinus lustig, besonders über deren rhythmisch-sprachliche Form): [...] μάλιστα τῶν ἐν αὐταῖς μέλων τὸ ἐπικεκλασμένον σφόδρα ὡς ἀγεννὲς καὶ γυναικεῖον καὶ φιλοσοφίᾳ ἥκιστα πρέπον. γυναικεῖον τὸ βλέμμα Vgl. die Anmerkungen zu §9: ἀρρενωπὸς τὸ βλέμμα. μύρων ἀποπνέοντα Dieselbe Junktur findet sich bezüglich eines weichlichen Schönlings, des Verführers der Zofe der Kallirhoe, bei Chariton 1,4,9: κόμην εἶχε λιπαρὰν καὶ βοστρύχους μύρων ἀποπνέοντας, ὀφθαλμοὺς ὑπογεγραμμένους, ἱμάτιον μαλακόν, ὑπόδημα λεπτόν. Zu Kleidung und Schuhwerk vgl. später Rh. Pr. 15. Den Duft nach Parfum als Merkmal eines Mannes verwendet Lukian spöttisch auch in Vit. Auct. 12, Dial. Mort. 6,5 sowie (in einem Verwirrspiel zwischen Mann und Frau) Dial. Meretr. 12,4; vgl. ebenso Dion von Prusa Or. 4,110 (effeminierte Erscheinung eines Mannes) und bereits Aristophanes Pax 525f. (über die hetärenhafte Gestalt der Θεωρία), ferner Philon De sacr. Abel. et Cain. 21 (über die Gestalt der ἡδονή).669 Im Hinblick auf die äussere Erscheinung der Sophisten im historischen Kontext ist folgende Anekdote über den Sophisten Alexander Peloplaton illustrativ (Philostrat VS 571): [...] ὁ Ἀλέξανδρος »πρόσεχέ μοι«, ἔφη, »Καῖσαρ.« καὶ ὁ αὐτοκράτωρ παροξυνθεὶς πρὸς αὐτὸν ὡς θρασυτέρᾳ τῇ ἐπιστροφῇ χρησάμενον »προσέχω«, ἔφη, »καὶ ξυνίημί σου· σὺ γὰρ«, ἔφη, »ὁ τὴν κόμην ἀσκῶν καὶ τοὺς ὀδόντας λαμπρύνων καὶ τοὺς ὄνυχας ξέων καὶ τοῦ μύρου ἀεὶ πνέων.«670 668 Vgl. zur gender-Einordnung Ps.-Arist. Phgn. 811a11–13, allerdings ohne Verwendung des Verbs ἐπικλάω; dieses findet sich beispielsweise in Verbindung mit der Körperhaltung in Ps.Polemon Physiognomonika 42, wo es heisst, dass in Richtung Brustkorb eingefallene Schultern den boshaften und verleumderischen Menschen anzeigen. Vgl. in der römischen Rhetoriktheorie Quint. Inst. 11,3,82: cervicem rectam oportet esse (»der Nacken muss gerade sein«). 669 Die Belege mit personifizierten Frauenfiguren erinnern an die in Rh. Pr. personifizierte Ῥητορική; speziell der letzte Beleg verweist zudem wieder zurück auf die in Rh. Pr. adaptierte Allegorie einer Wegwahl zwischen ἀρετή und ἡδονή, als deren Vertreter ja der Lehrer des langen Weges und der Rednerlehrer aufgefasst werden können. Vgl. dazu bereits Anm. 131. 670 »Alexander sagte: ›Achte auf mich, Kaiser!‹ Und der Herrscher, irritiert über seine ziemlich kühne Anrede, antwortete: ›Ich achte auf dich und ich kenne dich gut. Denn du‹, sagte er, ›bist derjenige, der dauernd sein Haar ordnet, die Zähne putzt, die Nägel poliert und immer nach Parfüm riecht.‹«

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5. Kommentar (§§11–12)

τῷ δακτύλῳ ἄκρῳ τὴν κεφαλὴν κνώμενον Dies ist ebenfalls ein Zeichen des Verweichlichten bzw. Kinädenhaften, man vgl. den jüngeren Seneca (Ep. mor. 52,12), der seinen Freund Lucilius belehrt, dass man an einem Vortrag auch aus kleinsten Anzeichen einen Rückschluss auf den Charakter des Redners ziehen könne, z.B dass ein impudicus sich durch einen bestimmten Gang und – für uns besonders wichtig – durch einen zum Kopf geführten Finger und ein Verdrehen der Augen verrate (relatus ad caput digitus et flexus oculorum). Der Terminus impudicus bildet im Lateinischen neben pathicus und cinaedus ein weiteres Etikett für den penetrierten Mann und den durch die Zerstörung seiner pudicitia verursachten Männlichkeitsverlust (vgl. Williams [1999] 172f.; vgl. auch Juv. sat. 9,133, wo von pathici die Rede ist: qui digito scalpunt uno caput). ὀλίγας μὲν ἔτι, οὔλας δὲ καὶ ὑακινθίνας τὰς τρίχας εὐθετίζοντα Die Adjektive, die lockiges und hyazinthfarbenes Haar beschreiben, rufen die folgende Homerstelle Od. 6,229–231 (Erstbeleg, vgl. Od. 23,158) in Erinnerung: τὸν μὲν Ἀθηναίη θῆκεν, Διὸς ἐκγεγαυῖα, / μείζονα τ’ εἰσιδέειν καὶ πάσσονα, κὰδ δὲ κάρητος / οὔλας ἧκε κόμας, ὑακινθίνῳ ἄνθει ὁμοίας. Langes, schwarz-violettes, lockiges Haar muss per se nichts Verweichlichtes beinhalten, wie man diesen Stellen, wo Odysseus von Athene mit besonderer Schönheit ausgestattet wird, entnehmen kann (vgl. Dion. Hal. Comp. Verb. 4,12; Eustath. Comm. ad. Hom. Od. vol. 1, p. 251; zur Verbreitung des Merkmals hyazinthfarbenen Haares in Bezug auf Odysseus vgl. Philostr. Heroicus 25,13 [Teubner; Olearius p. 694,30]; als Merkmal der Inder und Aithioper bei Eustath. Comm. in Dionys. Perieg. 1107,12 [in: Müller, Geographi Graeci minores, vol. 2, p. 399]; zur Farbe vgl. Suda s.v. ὑακίνθινον· ὑπομελανίζον, πορφυρίζον). Doch in Rh. Pr. liegt eine künstlich erzeugte Schönheit vor, noch dazu ist das vielleicht sogar gefärbte671 Haar nur spärlich (ὀλίγος) vorhanden, und der implizite Vergleich des effeminierten Rednerlehrers mit dem starken, tapferen Helden Odysseus erweist sich als höchst ironisch.672

671

Dies ist bei dem auf ähnliche Weise effeminiert gezeichneten, kritisierten Sophisten in Pseudol. 31 der Fall: Lobenswert ist einzig, dass der Mann seine Haare nun endlich nicht mehr färbt (ἐκεῖνό σοι μόνον σοφόν, αἱ πολιαὶ καὶ τὸ μηκέτι μελαίνεσθαι). 672 Die durch Intertextualität aufgerufene Odysseusfigur leistet auch noch etwas zweites: Odysseus’ Ruf als Lügenerzähler und listiger Held (vgl. z.B. Od. 9,282–299.364–367; 13,253–299) impliziert durch den Vergleich Entsprechendes für den Rednerlehrer, dessen Lehre daher möglicherweise lügnerisch und listig ist. Vgl. zur Ambivalenz der Figur des Rednerlehrers auch den Kommentar zu §11: πάνσοφόν τινα καὶ πάγκαλον ἄνδρα und §13: Τιτυὸς ἢ Ὦτος ἢ Ἐφιάλτης; τεράστιον sowie generell zu ambivalenter Sprache und Figurenzeichnung §10: ἀλαζὼν καὶ ἀρχαῖος ὡς ἀληθῶς καὶ Κρονικὸς ἄνθρωπος.

§11: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe (Pistis Teil 2)

261

Zu weiblichen Konnotationen vgl. Lukian Pr. Im. 5, wo dieselben Adjektive als lobenswerte Eigenschaften des Haars einer Frau erwähnt sind (ebenso [Ps.]-Lukian Am. 26).673 Mit der Beschreibung des – vielleicht aufgrund fortgeschrittenen Alters674 – langsam ausdünnenden Haares wird die anfangs genannte Schönheit (πάγκαλος) des Lehrers ironisch abgewertet und seine Göttlichkeit (s.u.: τι ξένον φάσμα δρόσῳ ἢ ἀμβροσίᾳ τρεφόμενον) im Bild einer ›kahlköpfigen Gottheit‹ karikiert.675 Aufschlussreich, was die aufgezählten Attribute des Rednerlehrers angeht, ist Polemons Beschreibung des Sophisten Favorinus, der unter seinen Zeitgenossen als Hermaphrodit oder Eunuch gegolten zu haben scheint (vgl. Luk. Demon. 12f.). Favorin ist durch und durch verweichlicht in seiner Erscheinung, und besonders eng an Rh. Pr. 11 schliessen folgende Attribute an (vgl. die lat.-arab. Ausgabe Script. Physiognom. Graeci vol. 1, p. 160– 162 Foerster): Er hat einen langen, dünnen Hals (cervix longa tenuis), hält sich nicht aufrecht, sondern hat schlaffe (laxus) Glieder und verwendet grosse Sorgfalt auf sein Haar (crines). Polemon zählt zudem ganz allgemein zu den Zeichen des Weiblichen weiches, schwarzes Haar, einen schmalen Nacken, schlaffe oder schlenkernde Glieder und Gang (p. 194). Siehe dazu weiter Gleason [1995] 7f. und 46f., wo erklärt wird, dass der springende Punkt übertriebener Schönheitspflege, gerade bezogen auf das Haar, darin liegt, dass solche Gewohnheiten als passiv und feminin gelten, »because they are designed to inspire others with lust« (46). πάναβρόν τινα Σαρδανάπαλλον ἢ Κινύραν ἢ αὐτὸν Ἀγάθωνα Das Adjektiv πάναβρος ist bei Lukian zum ersten Mal belegt.676 Es dürfte in bewusster Anlehnung an die den vorliegenden Abschnitt eröffnenden Adjektive πάνσοφος und πάγκαλος neu gebildet worden sein und damit die All-Weisheit und besonders die All-Schönheit des Lehrers als übertriebene ›All-Verweichlichung‹ entlarven: Hier werden die zuvor positiven oder zumindest ambivalenten Begriffe eindeutig negativ gekennzeichnet. 673

Dass Haare bei Homer als Schönheitsmerkmal von Männern und nicht von Frauen genannt werden, scheint Dion von Prusa auch speziell erwähnenswert (Encom. comae 43–45): καὶ πρέπειν γε μᾶλλον τοῖς ἀνδράσιν φαίνεται καθ’ Ὅμηρον ὁ κόσμος ὁ τῶν τριχῶν ἢ ταῖς γυναιξί. γυναικῶν γοῦν περὶ κάλλους διεξιὼν οὐ τοσαυτάκις φαίνεται κόμης μεμνημένος. 674 So Harmons Übersetzung (149): »[...] and carefully dresses his hair, which is scanty now, but curly and raven-black [...].« 675 Vgl. zum Merkmal der wenigen Haare auch den Kommentar zu §12: ἐπισπασάμενος ὁπόσον ἔτι λοιπὸν τῆς κόμης. 676 Er verwendet es auch nur hier; die einzigen weiteren Belege sind: Tzetzes Chiliades 10,356 und M. Apostol. Collectio Paroemiarum 13,89, wo exakt die von Lukian verwendeten Worte als sprichwörtlich wiedergegeben und in ihrem Sinn erklärt werden: Πάναβρος Σαρδανάπαλος· ἐπὶ τῶν τρυφώντων καὶ πολυόλβων.

262

5. Kommentar (§§11–12)

Schon vorlukianisch belegt ist das Simplex ἁβρός, welches unter anderem als typisches Epitheton der Asiaten und ihres Luxus dient (vgl. bereits Hdt. 1,71).677 Beides ist hier von Bedeutung, denn neben der Charakterisierung des Rednerlehrers als ›Lebemann‹ könnte in dem spezifisch mit dem Osten verbundenen Wort eine Anspielung nicht nur auf Asiaten wie Sardanapal, sondern auch auf den asianischen Redestil liegen, der sich später in den Empfehlungen des Rednerlehrers bezüglich Gesang manifestiert (vgl. Rh. Pr. 19; zum Asianismus siehe Whitmarsh [2005] 50–52; vgl. auch den Kommentar zu §12: ἄγροικον γὰρ τὸ ἀρρενωπὸν καὶ οὐ τοῦ ἁβροῦ καὶ ἐρασμίου ῥήτορος). Alle drei Namen, die zum Vergleich herangezogen werden, stehen für verweichlichte Männer und weisen zudem eine immer stärker werdende Assoziation mit Sexualität und Erotik auf, mit demjenigen Bereich also, welcher den verweichlichten bzw. kinädenhaften Mann besonders markiert: Der zuerst genannte assyrische König Sardanapal gilt als griechischer Stereotyp des Effeminierten, und zwar seit Diodor (2,23), der über dessen »Frauenleben« (βίος γυναικός) berichtet, welches er in Frauenkleidern mit Weben und Schminken verbrachte, dazu mit viel Luxus (allg. östliches Merkmal) und Erotik; ebenso Aristeides Or. 34,61; bei Lukian erscheint er in spöttischem Kontext als Verweichlichter, Prassender und Reicher noch in J. Conf. 16 (Σαρδανάπαλλος [...] θῆλυς ὤν); J. Trag. 48 (Καλλίας καὶ Μειδίας καὶ Σαρδανάπαλλος, ὑπερτρυφῶντες); Menipp. 18 (πολυτελής). König Kinyras, der als mythischer Gründer des Kultes der Aphrodite von Paphos auf Zypern galt, wird hier wohl grundsätzlich wegen seiner Tätigkeit als Priester der Liebesgöttin genannt (vgl. Tac. Hist. 2,3; zu Aphrodite s. gleich). Erhellend ist allerdings auch die am ausführlichsten bei Ovid Met. 10,243–541 dargestellte Geschichte seines Geschlechts, das in unnatürliche und verbotene Liebschaften verstrickt ist, wobei Aphrodite (Venus) immer wieder eine Rolle spielt: Bereits Kinyras’ Grossvater, Pygmalion, verliebt sich in eine von ihm geschaffene elfenbeinerne Frauenstatue, die Venus auf seine Bitte hin schliesslich beseelt. Kinyras wiederum geht mit seiner Tochter Myrrha unwissentlich ein inzestuöses Verhältnis ein, aus dem Adonis hervorgeht, der seinerseits die Liebe der Venus entfacht.678

677 Vgl. zu ἁβρός im Zusammenhang mit weiblichen Figuren, Schönheit und Liebreiz auch Sappho fr. 44,7 Voigt (ἄβραν Ἀνδρομάχαν); fr. 128 (ἄβραι Χάριτες); fr. 140 (ἄβρος Ἄδωνις; zu Adonis s. auch unten). 678 Eine Anspielung auf den mythischen Kinyras findet sich auch in Luk. Ver. Hist. 2,25f. Dort wird ein νεανίσκος namens Kinyras als Sohn des Skintharos aus Zypern eingeführt, der sich in Helena verliebte und sie raubte. Die Gestalt vereinigt in sich, wie Möllendorff ([2000b] 403–411, bes. 407–409) gezeigt hat, neben Zügen des Helena-Entführers Paris auch solche des mythischen Kinyras und des Adonis.

§11: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe (Pistis Teil 2)

263

Was den Tragödiendichter Agathon angeht, so erklären die Scholien zu dieser Stelle (p. 178 Rabe): Ἀγάθων τραγῳδίας ποιητὴς εἰς μαλακίαν σκωπτόμενος. ἦν δὲ Τισαμενοῦ υἱὸς Ἀθηναίου, παιδικὰ γεγονὼς Παυσανίου τοῦ τραγικοῦ, μεθ’ οὗ πρὸς Ἀρχέλαον τὸν βασιλέα ᾤχετο, ὡς Μαρσύας ὁ νεώτερος. ἐμιμεῖτο δὲ τὴν κομψότητα τῆς λέξεως Γοργίου τοῦ ῥήτορος, ὡς Πλάτων ὁ φιλόσοφος Συμποσίῳ.679 Vgl. dazu auch die Karikatur des Agathon bei Ar. Th. 30–35 und 95–265 (Charakterisierung als Kinäde, der sich extravagant und feminin gibt)680 sowie PCG 3.2, fr. 178 und TrGF vol. 1, 39 T 12 und 20. Ähnlich wie bei Sardanapal wird in diesen Stellen der Spott über den Verweichlichten gepaart mit dem allgemeinen Bild eines Lebemannes, der Luxus und Erotik nicht abgeneigt ist. Durch die Nennung Agathons, an dessen Rede über Eros in Platons Symposion 194e–197e sich der gebildete Rezipient an vorliegender Stelle durchaus auch erinnern könnte, und durch die später folgende explizite Erwähnung der Aphrodite und der Chariten wird die erotische Komponente immer stärker ins Spiel gebracht, die einerseits auf die dargestellte Person des Rednerlehrers als Effeminierten zurückverweist, andererseits in den Empfehlungen bzw. Schilderungen über das lasterhafte Privat- bzw. Sexualleben in §§23–25 wieder aufgegriffen wird. Agathons eigene Weichlichkeit betreffend mag der Umstand von Bedeutung sein, dass und vor allem wie er im Symposion seine Rede über Eros hält: Ein grosser Abschnitt ist der Zartheit des Gottes (ἁπαλότης) gewidmet; er ist nicht nur der jüngste sondern auch der zarteste Gott, da er in den weichsten Teilen der Menschen (ἐν τοῖς μαλακωτάτοις) wohnt. Schliesslich dürfte bei der Auswahl ausgerechnet dieses Tragödiendichters als exemplum auch im Hintergrund stehen, dass damit im weiteren Sinn auf Schauspiel und Schauspieler referiert wird, ein Motiv, das Lukian andernorts gerne verwendet, um Scheingebildete zu demaskieren (v.a. Scheinphilosophen, z.B. Pisc. 31–33 und Ikaromen. 29), so dass die Nennung Agathons als Chiffre für den Rednerlehrer als ›verkleideten Rhetoriker‹ steht. Man beachte zudem die Schauspielmetaphorik am Beginn von §12.

679 »Agathon war ein Tragödiendichter, der wegen Weichlichkeit verspottet wurde. [...] Er war der Sohn des Atheners Tisamenos und wurde Geliebter des Tragikers Pausanias, mit welchem er zum König Archelaos ging, wie der jüngere Marsyas. Er ahmte das Wortgeklingel des Redners Gorgias nach, wie der Philosoph Platon im Symposion [zeigte].« 680 Folgende Parallelen zur Figur des Rednerlehrers sind speziell zu erwähnen: Agathons weibliche Weisshäutigkeit (V. 191: λευκός; vgl. dazu die Betonung der Sonnenbräune des Lehrers des langen Weges und den Kommentar zu §10: πολὺν τὸν ἥλιον ἐπὶ τῷ σώματι δεικνύων), seine weibliche Stimme (V. 192: γυναικόφωνος; vgl. dazu Rh. Pr. 12), seine weibliche Kleidung, mit der er Euripides’ »Verwandten« (κηδεστής) ausstattet, damit dieser zum Thesmophorienfest gehen kann (Vv. 249–265; vgl. dazu Rh. Pr. 15), sein Gesangsvortrag (V. 99: μελῳδεῖν; vgl. Rh. Pr. 19), die ausdrückliche Nennung von passiver Sexualität (Vv. 35, 50, 200f.; vgl. Rh. Pr. 23).

264

5. Kommentar (§§11–12)

ἐπέραστον ἐκεῖνον ποιητήν Das Adjektiv ἐπέραστος ist erst seit dem 1. Jh. v.Chr. häufiger belegt681 und bezeichnet grundsätzlich auf einen Menschen bezogen die Attraktivität desselben, welche die Liebe (ἔρως) anderer bewirkt. Mögliche deutsche Entsprechungen sind »lieblich, schön, hübsch« sowie »liebenswert, reizend«. Lukian verwendet das Adjektiv insgesamt 16x; dabei einerseits mit Bezug auf die äusserliche Attraktivität einer Person682 (vgl. über den personifizierten Reichtum Merc. Cond. 42: πάνυ εὔμορφος καὶ ἐπέραστος, sehr ähnlich Rh. Pr. 6: τὸν πλοῦτον δόκει παρεστῶτα ὁρᾶν, χρυσοῦν ὅλον καὶ ἐπέραστον; Prom. Es 5; Nav. 45; Dial. Mar. 1,5; 11,2), andererseits mit deutlicher Konnotation des Sexuellen, bei Männern zusätzlich des Effeminierten und Luxuriösen, genau wie es m. E. an vorliegender Stelle über Agathon der Fall ist (vgl. auch oben zum Scholieneintrag, welcher die Liebschaften Agathons nennt). In Rh. Pr. 13 wird der Rednerlehrer nach dem Vergleich mit berühmten attischen Hetären mit dem Adjektiv ἐράσμιος betitelt, was die erotische Komponente noch zusätzlich unterstreicht. Man vergleiche dazu folgende Textstellen: Dial. Mort. 20,3 (über Charmoleos, einen effeminierten Lustknaben): Χαρμόλεως ὁ Μεγαρικὸς ἐπέραστος, οὗ τὸ φίλημα διτάλαντον ἦν; Dial. Mar. 1,5 (Doris im Gespräch mit Galatea): ἐραστὴς μὲν οὐδεὶς ἔστι μοι οὐδὲ σεμνύνομαι ἐπέραστος εἶναι; Dial. Deor. 6,2 (Eros empfiehlt Zeus ein effeminiert-luxuriöses Aussehen anzunehmen, um sterbliche Frauen in Scharen anzuziehen, was dieser allerdings empört ablehnt): Εἰ δ’ ἐθέλεις ἐπέραστος εἶναι, [...] ὡς ἥδιστον ποίει σεαυτόν, ἁπαλὸν ὀφθῆναι, καθειμένος βοστρύχους [...] / Ἄπαγε· οὐκ ἂν δεξαίμην ἐπέραστος εἶναι τοιοῦτος γενόμενος; Dial. Deor. 19,1 (Eros hat Persephone in Adonis verliebt gemacht, der wie bereits gesagt auch in Rh. Pr. 11 durch die Nennung seines Vaters Kinyras aufgerufen ist, s.o.): τὸ Ἀσσύριον ἐκεῖνο μειράκιον, ὃ καὶ τῇ Φερσεφάττῃ ἐπέραστον ποιήσας [...]. Das Adjektiv ἐπέραστος wird in Rh. Pr. 26 ein weiteres Mal in Bezug auf den Schüler verwendet, so dass er auf sprachlicher Ebene mit seinem Lehrer, den der Vergleich mit Agathon charakterisiert, verbunden wird. ὡς [...] γνωρίζοις [...], μηδέ σε [...] διαλάθοι Zum Optativgebrauch vgl. die Angaben zu §6: ὡς γαμήσειάς [...] ἔχοις. 681 Vgl. klassisch lediglich Kratinos PCG 4, p. 140 (Papyrusfragment des Διονυσαλέξανδρος) im Zusammenhang mit dem Parisurteil: Aphrodite verspricht, Paris zum schönsten (κάλλιστον) und liebreizendsten (ἐπέραστον) zu machen. Danach erst wieder bei Diodor 4,7,4 und Philon De Somn. 2,97. 682 Bei Pollux (3,71) findet sich ἐπέραστος genauso in einer Reihe von Bezeichnungen äusserer Attraktivität: καλὸς ὑπέρκαλος πάγκαλος ἐπέραστος (vgl. zu πάγκαλος den Beginn von Rh. Pr. 11).

§11: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe (Pistis Teil 2)

265

Inhaltlich untergräbt der Ratgeber mit diesem Verweis, den Rednerlehrer derart ausführlich beschrieben zu haben, damit er dem Schüler keinesfalls entgehe, seine eigenen Aussage, nach denen der Lehrer eine absolute Ausnahmeerscheinung, ja göttergleich, sein müsste (πάγκαλον; θεσπέσιον χρῆμα). Und tatsächlich thematisiert der Ratgeber diese Inkonsistenz gleich selbst (καίτοι τί φημί;), um danach zu bekräftigen: Der Schüler würde den Lehrer auch mit geschlossenen Augen allein an dessen Stimme erkennen. τὸ Ὑμήττιον [...] στόμα Die Junktur findet sich nur hier bei Lukian und noch einmal spät bei Arethas Scr. min. 14,141,11. Der »hymettische Mund« stellt eine Metonymie für den honigsüssen Mund (dieser wiederum eine Metapher für die angenehme Sprache) des Rednerlehrers dar: Hymettos, ein Gebirge in Attika, steht stellvertretend für den Honig, für den es berühmt war, vgl. Hor. carm. 2,6,15; Plin. n.h. 11,32; Strab. 9,1,23. Vgl. allgemein zur Metaphorik der Süsse der Rede bereits Hesiod Th. 96f. ([...] ὃ δ’ ὄλβιος, ὅντινα Μοῦσαι / φίλωνται· γλυκερή οἱ ἀπὸ στόματος ῥέει αὐδή) und Homer Il. 1,249; weiter Kallimachos Epigr. 27 und fr. 1,11.16 Pfeiffer. Lukian verwendet die Metonymie – ebenfalls spöttisch – nochmals in Merc. Cond. 35 bezogen auf die hohe Meinung der Reichen bezüglich ihres rhetorisch-sophistischen Könnens, das, wenn auch ungerechtfertigterweise, sogar zum generell gültigen Standard erhoben werden muss: χρὴ δὲ καὶ σοφοὺς καὶ ῥήτορας εἶναι αὐτούς, κἂν εἴ τι σολοικίσαντες τύχωσιν, αὐτὸ τοῦτο τῆς Ἀττικῆς καὶ τοῦ Ὑμηττοῦ μεστοῦς δοκεῖν τοὺς λόγους καὶ νόμον εἶναι τὸ λοιπὸν οὕτω λέγειν.683 οἳ ἀρούρης καρπὸν ἔδομεν Hier liegt die variatio eines homerischen Teilverses vor, vgl. Il. 6,141f. (Diomedes zu Glaukos): οὐδ’ ἂν ἐγὼ μακάρεσσι θεοῖς ἐθέλοιμι μάχεσθαι. / εἰ δέ τίς ἐσσι βροτῶν, οἳ ἀρούρης καρπὸν ἔδουσιν, / [...] (ein zweites Mal noch Il. 21,465): Es wird jeweils eine Dichotomie zwischen den unsterblichen Göttern und den »Feldfrüchte essenden« Sterblichen aufgebaut. In einer entsprechenden Dichotomie klingt in Rh. Pr., wenn auch mit spöttischem Unterton, einmal mehr der besondere, ja göttliche Status an, den der Rednerlehrer hat, und damit auch sein müheloser Weg (vgl. zu §8: σοὶ δὲ ἄσπορα καὶ ἀνήροτα πάντα φυέσθω). Vgl. auch das wörtliche, humoristische Zitat des Teilverses in Peregr. 29 (ebenfalls mit Kontrastierung der

683

»Sie müssen auch weise und grosse Redner sein, und sollte ihnen ein Solözismus unterlaufen, so muss gerade darum ihre Sprache voll [vom Flair] Attikas und Hymettos’ scheinen und es zukünftig Gesetz sein, so zu sprechen.«

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5. Kommentar (§§11–12)

menschlichen und der göttlichen Sphäre, zu der sich Peregrinos unverschämterweise zählt). τι ξένον φάσμα δρόσῳ ἢ ἀμβροσίᾳ τρεφόμενον Die Bedeutungsvielfalt des Wortes φάσμα ist gross ([göttliche] Erscheinung, Phantom, Vision, Monster, Vorzeichen usw., vgl. LSJ s.v.). Die hier erwähnten Spezifika rücken es in die Sphäre einer göttlichen oder götternahen Gestalt (Ambrosia als Nahrung; statt Nektar wird hier Tau als Getränk genannt, siehe dazu gleich; vgl. auch die Bezeichnung des Rednerlehrers als »göttliche Gestalt«, θεσπέσιον χρῆμα, oben). Die Junktur ξένον φάσμα ist bei anderen Autoren selten, vgl. Polyaenus Strat. 6,18,1 (von Soldaten, die sich mit weissem Kalk einrieben und so dem Gegner nachts bei Vollmond wie eine Totengestalt erschienen) und Heliodor 10,28,2 (von einem Stier). Das Substantiv φάσμα ist bereits bei Platon belegt, sowohl für Totenschatten (Eurydikes’ Schatten in Smp. 179d) als auch für Überirdisches (Phdr. 250c). Häufig ist es ansonsten v.a. in Poesie (Aischylos, Euripides, Sophokles). Lukian verwendet die Junktur ξένον φάσμα noch in Bis Acc. 33: Die Anklage des philosophischen Dialogs endet mit der Aussage, dass der Syrer aus ihm eine eigenartige Mischung, eine Art Hippokentauren, kurz: eine seltsame Erscheinung gemacht habe. Ansonsten findet sich φάσμα naturgemäss häufig in Philopseud. (14, 15, 16, 29, 31), einmal auch in Menipp. 7: Der durchgängig verwendete Plural φάσματα bezeichnet immer eine Gespenstererscheinung, Totengeister oder Totenschatten (σκιαί). Obwohl bei Lukian also meist eine Erscheinung der Unterwelt, bezeichnet die tau- oder ambrosiagenährte Gestalt an vorliegender Stelle wie gesagt eine ›überirdische‹ Erscheinung mit Nähe zu den Göttern. Taugenährt zeigt sich bei Lukian auch Empedokles, der nach seinem Sprung in den Ätna nun auf dem Mond lebt (Ikaromen. 13). Überhaupt ist Tau eng mit dem Mond verbunden, so dass die Seleniten in Ver. Hist. 1,20 den Friedensvertrag mit den Sonnenbewohnern durch eine Abgabe von Tau besiegeln (vgl. dazu den Kommentar von Möllendorff [2000b]); ferner trinken die Seleniten eine Art Tau (Ver. Hist. 1,23), und die Bewohner der Inseln der Seligen baden in ihm (Ver. Hist. 2,12). Möllendorff spricht bezüglich der Seleniten von einem »göttlichen Ernährungsmodus« (159), dass man nämlich bei der Schilderung der zu einer Art Tau ausgepressten Luft in den Bechern durchaus an Nektar denken dürfe (161). Dies trifft ebenso auf die vorliegende Stelle zu, die die Herkunft des Rednerlehrers ironisierend in überirdische Gefilde versetzt. Es liegt hier wohl zudem eine Anspielung auf die Bezeichnung des Wolkenchores in Ar. Nu. 277 und 338 als »taugestaltig« (δροσερός) vor (vgl.

§11: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe (Pistis Teil 2)

267

auch Nu. 330) und darauf, dass die Wolken die Sophisten ernähren (Nu. 331: οὐ γὰρ μὰ Δί’ οἶσθ’ ὁτιὴ πλείστους αὗται βόσκουσι σοφιστάς). Damit wird diejenige Komödie aufgerufen, in deren Kontext einerseits der Lehreragon gestellt ist (vgl. S. 230f.), und wo andererseits im Sinne eines Vorläufertextes Sokrates, der die Wolken zu den Göttinnen seiner sophistischen Lehre macht, als Lehrerfigur karikiert wird (Nu. 252f.).684 Der gesamte Kontext, an dessen Ende vorliegendes Lemma steht, enthält eine Inkonsistenz, indem der Schüler mit geschlossenen Augen die Gestalt des Lehrers erkennen soll, was sich aber inhaltlich recht gut erklären lässt: Die Gestalt des Rednerlehrers wird vorerst über ihre Stimme erläutert, denn begonnen wird der Satz mit Verweis auf seine wunderbare Stimme (τὸ Ὑμήττιον στόμα; φωνή), so dass die Erwartungshaltung entsteht, dass der Schüler ihn an dieser und damit an seiner Rhetorik erkennt. Da das Vorhaben, die Rhetorik weiter zu thematisieren, aufgrund ihrer Inhaltsleere allerdings in eine Sackgasse führen dürfte,685 kehrt der Ratgeber wieder zur Gestalt des Rednerlehrers zurück, die trotz geschlossener Augen als göttlich erkannt wird (μάθοις ἂν [...] τι ξένον φάσμα). Die äusserliche Erscheinung ist gemäss der Ausbildung des Rednerlehrers selbst denn auch das wichtigste Merkmal des Starsophisten (vgl. §§15–16). Die geschilderte Über- bzw. Unnatürlichkeit des Rednerlehrers kann mit einer Schauspielerverkleidung gleichgesetzt werden: Vorliegende Passage wird vom Agathonvergleich (s.o.) und von der Metaphorik des Aufsetzens einer Heroenmaske (s.u.) eingerahmt. Schauspielerverkleidung dient Lukian häufig zur Darstellung von Scheingebildeten, seien es Redner oder Philosophen.686 ἑαυτὸν Textkritisches: So Macleod, dem ich mich anschliesse; überliefert ist daneben die Form σεαυτόν, so Harmon (β). Generell finden sich bei Lukian beide Formen, so dass eine Auswahl nur aufgrund der Qualität der Codices getroffen werden kann (die Überlieferung der Handschriftengruppe γ ist häufig zuverlässiger). Zum Reflexivum ἑαυτόν vgl. z.B. Demon. 17 (ohne alternative Lesart): Ἄπιθι, ἔφη, ὦ παῖ, καὶ τὸν ἑαυτοῦ δακτύλιον φύλατ684

Ausführlich zu den Bedeutungen des Wortes »Tau« vgl. Boedeker [1984] 60–64; insbesondere ist dem Tau neben der Konnotation des Göttlichen auch eine Konnotation der Reinheit, Unschuld und der Distanz von irdischem Schmutz eigen, die angesichts der später folgenden Schilderungen über das Privatleben (§§24f.) dieses Attribut des Rednerlehrers (δρόσῳ [...] τρεφόμενον) höchst ironisch werden lässt. 685 Ein weiterer Grund für diese Gestaltung mag darin liegen, dass dieser inhaltsleere RhetorikSchnellgang für den Auftritt des Rednerlehrers selbst aufgespart und aus dessen Mund präsentiert werden soll (vgl. die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §12 sowie die ausführlich präsentierte Lehre in §§13–25). 686 Vgl. dazu die Einleitung 3.2.

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5. Kommentar (§§11–12)

τε [...]. Vgl. dazu K.-G. II 1,571: »Die Reflexivpronomen der dritten Person vertreten nicht selten die Stelle der Reflexiva der ersten und zweiten Person. [...] In der Alexandrinischen Mundart griff dieser Gebrauch immer mehr um sich [...]; [...] ἑαυτοῦ u.s.w. st. ἐμαυτοῦ, σεαυτοῦ u.s.w. war ungleich häufiger als in der klassischen Sprache.« Vgl. auch Schmid [1887] 1,228 mit weiteren Beispielen bei Lukian (ἑαυτόν statt σεαυτόν in Apol. 2; Hermot. 78; Pseudol. 3 und 31). Vorliegende Stelle zeigt auf, wie der Wechsel zwischen σεαυτόν und ἑαυτόν verursacht wird: Wenn das vorangehende Wort auf Sigma endet, kann es zur Tilgung des zweiten Sigmas kommen: ΠΑΡΑΔΟΥΣ (Σ)ΕΑΥΤΟΝ. βασιλεὺς ἐν τοῖς λόγοις Zu ähnlichen Formulierungen der Berühmtheit bzw. hohen Stellung von Sophisten vgl. Rh. Pr. 1 (passim) sowie Lex. 22: ἐπαινεῖσθαι ἐπὶ λόγοις; vgl. auch den Kommentar zu §20: πάνδεινόν τινα ἐν τοῖς λόγοις ἀγωνιστὴν; in dieser Prägnanz und Junktur allerdings nur hier. Die Wahl des Bildes eines Königs hängt eng mit der folgenden Triumphmetaphorik (Darstellung des Herrschers auf dem Triumphwagen) zusammen. Zu erwähnen ist auch, dass die Junktur an Philostrats Formulierung über Herodes Atticus anklingt, der für ihn als unangefochtener Redekönig der Zweiten Sophistik gilt, vgl. VS 586: Ἡρώδην δὲ τὸν βασιλέα τῶν λόγων und 598: λόγων βασιλέα. Die Anlehnung an Rh. Pr. 1 (v.a.: τοιαύτην τινὰ τὴν δύναμιν περιβάλοιο ἐν τοῖς λόγοις; τάχιστα δεινὸς ἀνὴρ ἔσῃ γνῶναί τε τὰ δέοντα κτλ.) ist ein Rückgriff auf den dort als Anfrage formulierten Wunsch des Schülers, ein Starsophist zu werden, der jetzt durch die konkrete Überweisung an den passenden Lehrer endlich seine Antwort findet bzw. in Erfüllung gehen dürfte. So besehen ist das bisher Gesagte als eine Art riesiger Exkurs bzw. als retardierendes Moment einstufbar; zu ähnlichen retardierenden Momenten und Wiederholungen vgl. die einleitenden Bemerkungen zu §6 und §7. τὰ τέθριππα ἐλαύνων τοῦ λόγου τὸ τέθριππον ἅρμα (ζεῦγος, ὄχος) bzw. mit Weglassung des Substantivs τὸ τέθριππον/τὰ τέθριππα bezeichnet den von vier Pferden gezogenen Wagen (τέτταρα + ἵππος).687 Hier liegt die Metaphorik eines Triumphzuges vor, vgl. dazu die (auch in symposiastischem Kontext stehende) Bekränzung in §3: σὺ δὲ πρὸ πολλοῦ 687

Die Belege sind zahlreich, zuerst bei Ibykos fr. S223a, col. 2, 10f. Page und Pindar O. 2,50; P. 1,59 (mit dem Plural τέθριππα für einen einzelnen Wagen); I. 1,14. Vgl. weiter z.B. Aischylos fr. 346 Radt und Euripides Hipp. 1212 sowie in Prosa Hdt. 6,103 und Xen. An. 3,2,24.

§12: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe (Pistis Teil 2)

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ἄνω ἐστεφανωμένος εὐδαιμονέστατος ἔσῃ [...] und die Bemerkungen im Kommentar zu §3: ἱππήλατον [ὁδόν]. Vgl. weiter die Fahrt des Redners auf einem geflügelten Wagen (πτηνὸν ἅρμα) in §26. §12 Das folgende Kapitel, dessen erster Satz nahtlos an das Vorangehende anschliesst (μᾶλλον δὲ αὐτὸς εἰπάτω πρὸς σέ; γελοῖον γὰρ κτλ.), schafft durch die Verwendung von Schauspielmetaphorik und durch den Hetärenvergleich, der die Komödien insbesondere Menanders aufruft, die weiteren Voraussetzungen für das bevorstehende Schauspiel des Rednerlehrers; seine Figur entpuppt sich jetzt – im Kontrast zur vergleichsweise relativ nüchternen Aufzählung seiner Charakteristika zu Beginn von §11 – passend zu Menander zunehmend als komödienhaft: Der Rednerlehrer verliert immer mehr von seiner überwältigenden Schönheit, die ihm zu Beginn attestiert worden ist (πάγκαλος), und wird zu einer Art Witzfigur, da nur noch die karikierenden Elemente, seine Effeminiertheit und sein schütteres Haar, betont werden. So ist mittlerweile aus dem vermeintlich schönen Mann eine aufgetakelte Frau, eine Hetäre eben, geworden, die noch dazu nur einige wenige Haare auf dem Kopf hat.688 Während in §11 wie bereits gesehen die Stimme des Rednerlehrers zwar sehr gelobt, seine Rhetorik jedoch nicht weiter ausgeführt worden ist, der Ratgeber sich vielmehr wieder der äusseren Erscheinung des Lehrers zugewandt hat (vgl. den Kommentar zu: τι ξένον φάσμα δρόσῳ ἢ ἀμβροσίᾳ τρεφόμενον), wird hier die äussere Gestalt nur kurz (in karikierender Weise) gestreift und der Fokus dann erneut auf die Stimme (φθέγμα) bzw. das Sprechen des Lehrers (φαίη τοιγαροῦν ἂν πρὸς σὲ; §13: φήσει δ’ οὖν) gelegt – diesmal, um darauf vorzubereiten, dass nun die Lehre des Starsophisten auch wirklich bis zum Ende und in allen Details aus dessen eigenem Mund zu hören sein wird (vgl. §§13–25). Dabei dient §12, worin der Rednerlehrer bereits auf der Bühne agiert, allerdings noch nicht selbst spricht, neben der Erzeugung von Komik auch der Erzeugung eines retardierenden Moments, bevor endlich die ›grosse Lehre‹ kommt (vgl. die ähnlich verzögernden Passagen in §7 und §8).

688 Zieht man zudem die theoretischen Betrachtungen des Aristoteles über Tragödien- und Komödiencharaktere bei, wobei erstere als »bessere«, σπουδαῖοι, letztere als »schlechtere«, φαῦλοι, bezeichnet sind (vgl. Po. 1448a2 und 1448b24–1449a6), wird die ironisch-sarkastische Verwandlung des Rednerlehrers seit dem Beginn von §11 noch deutlicher.

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5. Kommentar (§§11–12)

ἐμὲ ποιεῖσθαι τοὺς λόγους Gegenüber den vorherigen hochgegriffenen Bildern im Zusammenhang mit Rhetorik, die den Rednerlehrer charakterisieren (§11: βασιλεὺς ἐν τοῖς λόγοις; τὰ τέθριππα ἐλαύνων τοῦ λόγου), nimmt der Ratgeber durch die betont schlichte Junktur λόγους ποιεῖσθαι eine Bescheidenheitspose ein: 689 Das Abtreten des Ratgebers und der folgende Schauspielvergleich erhöhen die Illusion eines Auftritts des ›Starsophisten‹. Da der Ratgeber allerdings ebenso gut als derjenige verstanden werden kann, der in die Rolle des Rednerlehrers schlüpfen und sozusagen zu einer neuen Episode seiner eigenen Ein-Mann-Show den Vorhang lüften wird (§13), ist die Aussage über seine Unfähigkeit, für den Lehrer zu sprechen und dessen Maske anzulegen, selbstironisch.690 φαῦλον ὑποκριτὴν [...] ὑποκρίνομαι Zur Illustration wird eine Schauspielmetaphorik herangezogen: Die schlechten Schauspieler vermögen der heroischen Rolle, die sie zu spielen haben, nicht beizukommen. Im Verb συντρίβειν steckt eine Anspielung auf die Maske, die beim Fallen zerbrechen könnte (vgl. bereits Sommerbrodt [21878] 68). Sehr ähnlich und ausführlicher benutzt Lukian diese Metaphorik in Nigrinos: Der Ich-Erzähler nimmt von Anfang an auf Schauspielerei bzw. die Benutzung von Schauspielsprache Bezug (§1: ἀπὸ τῆς σκηνῆς ὄνομα) und äussert Bedenken, den glänzenden Vortrag des Philosophen Nigrinos gegenüber seinem Freund zu wiederholen, da er wie die schlechten Schauspieler dessen Inhalt verderben könnte, vgl. §8: φαύλους ὑποκριτάς und §11: [...] ἵνα μὴ συγκατασπάσω που πεσὼν τὸν ἥρωα ὃν ὑποκρίνομαι; der Teilsatz ist mit Ausnahme des Beginns (μὴ συγκατασπάσω / μὴ καὶ συντρίψω) identisch mit vorliegender Stelle in Rh. Pr.691 689

Die Junktur findet sich bereits bei Thukydides (in der Bedeutung »[politisch] verhandeln«: 2,101,1; 4,118,13) und bei Herodot (λόγους ποιεῖσθαι πρός τινα »sprechen mit«: 2,121γ2; λόγους ποιεῖσθαι περί τινος »sprechen über«: 3,34,2). 690 Erhellend ist im Zusammenhang mit Schauspielmetaphorik die Tatsache, dass Sophistenauftritte generell als Theater bzw. als Theatralisierung einer vergangenen Geschichte mit schauspielerischer Darstellung klassischer Persönlichkeiten aufgefasst werden können, vgl. dazu Baldwin [1989] 3: »A sophist’s act, as described by Philostratus, [...] was acutely conscious of itself as theater« und Zeitlin in Goldhill [2001] 207f.: »For convenience’s sake, what I have been calling visual culture might be classified into three major categories. [...] The first consists of role-playing and a heightened sense of theatre, whether manifested in actual dramatic performances, elaborate processions, tableaux vivants, skenographic effects, or, for example, through the later histrionics of sophists before enthusiastic audiences.« Im vorliegenden Fall in Rh. Pr. handelt es sich natürlich nicht um die Mimesis eines klassischen Helden, sondern um diejenige eines zeitgenössischen Starsophisten. 691 Vgl. zum Zerbrechen der Maske auch Gall. 26. Zum Schauspielervergleich bei Lukian siehe Helm [1906] 45–53 mit zusätzlichen Stellenangaben (Pisc. 31; Ikaromen. 29) und mit dem Verweis darauf, dass die Metaphorik schlechter Schauspieler bereits in Plat. Chrm. 162d vorhanden

§12: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe (Pistis Teil 2)

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ἐπισπασάμενος ὁπόσον ἔτι λοιπὸν τῆς κόμης Die Bedeutungsnuancen des Verbs ἐπισπᾶν sind zahlreich; bereits klassisch ist es häufig belegt, oft in der grundsätzlichen Bedeutung »heranziehen; fortziehen, fortzerren (an)« (mit Gen.).692 Lukian verwendet es insgesamt 15x (immer medial), davon 9x im Sinn von »etwas zu sich heranziehen« bzw. »jmd. anziehen« mit Akkusativobjekt (einmal vom Wasser: »schlürfen, trinken«).693 Der vorliegenden Konstruktion am ähnlichsten sind zwei Stellen, wo die langen Bärte der Philosophen mit der Formulierung »den eigenen Bart herab-/in die Länge ziehen« verspottet werden (J. Trag. 16 und Ikaromen. 29).694 Der Rednerlehrer wird sein Haar wohl »herabziehen« im Sinn von »glattstreichen, ordnen«.695 Zur Ironie seiner spärlichen Haartracht vgl. bereits oben §11: ὀλίγας μὲν ἔτι, οὔλας δὲ καὶ ὑακινθίνας τὰς τρίχας εὐθετίζοντα sowie den Kommentar zu §11: πάνσοφόν τινα καὶ πάγκαλον ἄνδρα. τὸ γλαφυρὸν Das Adjektiv hat zahlreiche Bedeutungsnuancen: »hohl« (was bei Lukian nie vorkommt696), daneben »hübsch, zierlich, elegant«, auch »subtil«. Diese letzteren Bedeutungen sind wohl hier allesamt angedeutet (zur Subtilität vgl. das benutzte Verb ὑπο-μειδιάσας).697 Αὐτοθαΐδα τὴν κωμικὴν ἢ Μαλθάκην ἢ Γλυκέραν τινὰ μιμησάμενος Zur Effeminiertheit des Rednerlehrers, die hier durch den Frauen- bzw. Hetärenvergleich ganz offen als solche entlarvt wird, siehe die einleitenden ist: [...] μοι ἔδοξεν ὀργισθῆναι αὐτῷ ὥσπερ ποιητὴς ὑποκριτῇ κακῶς διατιθέντι τὰ ἑαυτοῦ ποιήματα. Allgemeiner zur von Lukian mit Vorliebe verwendeten Sichtweise der Welt als Theater bzw. des Menschenlebens als (tragische) Rolle siehe Whitmarsh [2001] 254 Anm. 28 (mit weiteren lukianischen Textstellen [z.B. Menipp. 16; Nigr. 20] und Angaben zum kynischen Hintergrund des Motivs). 692 So bei Euripides Andr. 710: ἐπισπάσας κόμης; Troad. 882; Hel. 116; vgl. auch Thuk. 4,130 und – in übertragenem Sinn: »anziehen« – Plat. Cra. 420a. 693 Catapl. 12; Ikaromen. 21; Lis Cons. 7; Abd. 32; Tox. 13; Hist. Conscr. 9; Dial. Mort. 13,6; Dial. Mar. 15,3; Dial. Deor. 8,4. 694 Zeus verkleidet sich selbst als Philosoph: σχηματίσας ἐμαυτὸν εἰς τὸν ἐκείνων τρόπον καὶ τὸν πώγωνα ἐπισπασάμενος εὖ μάλα ἐῴκειν φιλοσόφῳ. / Zeus legt die Laster der Philosophen dar: [...] τὰ μέτωπα ῥυτιώσαντες καὶ τοὺς πώγωνας ἐπισπασάμενοι περιέρχονται [...]. 695 Die verbleibenden drei Stellen weisen einmal die Bedeutung »(gewaltsam) heranzerren« auf (Herodot. 5), zweimal die Konstruktion ἐπισπᾶσθαι ἐς/εἰς »heranführen zu, bringen zu« (Gallus 18; De Domo 12). 696 Vgl. aber sehr häufig bei Homer, e.g. Od. 1,15: ἐν σπέεσι γλαφυροῖσι. 697 Für weitere Belege bei Lukian vgl. (sehr ähnlich in der Formulierung) Dear. Iud. 11: ἥδε δὲ ὁρᾷ ἡδὺ τι καὶ γλαφυρόν, καὶ προσαγωγὸν ἐμειδίασεν [...]; Harmonid. 1 (»Eleganz«); Dial. Deor. 11,4 (»Subtilität«).

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5. Kommentar (§§11–12)

Bemerkungen zu §§9–10 und §§11–12. Zur Überführung seines Auftritts in eine Komödie siehe die einleitenden Bemerkungen zu §12. An vorliegender Stelle sind die Vergleichsobjekte, wie der Text selbst deutlich macht, einerseits aus der Komödie entlehnt (τὴν κωμικὴν), andererseits verbindet diese drei Frauen ihre Berühmtheit als athenische Hetären, was den Vergleich umso pikanter macht und auf die Passagen über das Privatleben des Lehrers vorverweist (vgl. §§23–25). Zu Thaïs698 als Titelheldin des Menander vgl. PCG 6.2, fr.122–127; zu Malthake vgl. Antiphanes PCG 2, fr. 146 und Theophilos PCG 7, fr. 11,5 sowie Menander Sicyon. 145 und 386 (und für die Bezeichnung ἑταίρα 409)699; zu Glykera vgl. Menander Periceirom. 506f., 708, 752 etc.700 Athenaios gibt im 13. Buch seiner Deipnosophistai zahlreiche Informationen zu den Hetären der klassischen und hellenistischen Zeit; zu Thaïs vgl. 576d–e (sie soll angeblich Mätresse Alexanders des Grossen und später Ptolemaios’ I. gewesen sein), zu Glykera vgl. 584a, 585c, 586c–d, 594d (der Dichter Menander soll Glykera geliebt haben), 595d (Harpalos soll sie nach Tarsos gerufen haben). Lukian selbst schliesslich lässt zwei dieser berühmten Hetären in seinen Hetärendialogen auftreten: Im ersten Dialog beschwert sich die Hetäre Glykera bei ihrer Kollegin Thaïs, dass eine andere ihr einen ihrer Freier, einen Soldaten, weggeschnappt habe. Im dritten Dialog wird Thaïs als Objekt der Eifersucht von Philinna genannt (Dial. Meretr. 3,2). Die Parallelisierung des Rednerlehrers mit Hetären wirft implizit auch die Thematik der Bezahlung auf, die der Ratgeber als Negativpunkt des Lehrers des langen Weges genannt hatte (vgl. §9: οὐδὲ μισθοὺς ὀλίγους ἀπαιτεῖ): So wird die Trennlinie zwischen dem ›guten‹ und ›schlechten‹ Lehrer verwischt.

698 Zur Formulierung Αὐτοθαΐδα im Sinn von »Thaïs höchstpersönlich« oder »die berühmte Thaïs« vgl. Luk. Timon 54: [...] τιτανῶδες βλέπων, ἀνασεσοβημένος τὴν ἐπὶ τῷ μετώπῳ κόμην, Αὐτοβορέας τις ἢ Τρίτων, οἵους ὁ Ζεῦξις ἔγραψεν. 699 Der Status dieser Malthake bei Menander ist unklar; siehe die Bemerkungen in der Ausgabe von Loeb (W.G. Arnott) 209: »Theron also wishes to marry Malthake [...]. This requires Malthake also to have been free and Athenian, and the name was borne by many such girls in Menander’s Athens. In comedy, however, this name is associated only with hetairai, but if that was her role in Menander’s Sikyonioi, no sexual relationship with Theron or any other character in the play can be identified.« [meine Hervorhebung] 700 Aus den etwas besser erhaltenen Stücken ergibt sich ein jeweils ähnliches Muster: Eine Liebschaft, die sich zwischen einem heimgekehrten Soldaten und einem Mädchen abspielt und scheinbar unglücklich ist, bis die wahren Identitäten der Leute aufgedeckt werden und eine Heirat vollzogen wird. Das Element des Soldaten nimmt Lukian in Dial. Meretr. 1 auf, s.u.

§12: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe (Pistis Teil 2)

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ἄγροικον γὰρ τὸ ἀρρενωπὸν καὶ οὐ τοῦ ἁβροῦ καὶ ἐρασμίου ῥήτορος Mit dieser Äusserung widerspricht der Ratgeber einmal mehr der Konvention, denn gute Redner – ja überhaupt richtige Männer – müssen männlich sein.701 Natürlich verwendet Lukian hier in erster Linie rhetorisch-literarische Strategien, durch die er dem Ratgeber Aussagen in den Mund legt, die ihn selbst und den Rednerlehrer zu diskreditieren scheinen. Interessant daran ist aber, dass es offensichtlich weit verbreitet war, einen Redner und die Qualität seines Vortrags in den Kategorien männlich (gut) oder weiblich (schlecht) zu beurteilen, und diese Quellen, vor allem der Streit zwischen Polemon und Favorinus, bekräftigen die Existenz und die Wichtigkeit einer Diskussion über Männlich- bzw. Weiblichkeit der Redner und ihrer Auftritte.702 Dem Rednerlehrer wird hier ein bewusst weiblicher (konventionell schlechter bzw. unangemessener) Auftritt verpasst. Im Sinne der Leserlenkung bedeutet dies, dass eine negative Erwartungshaltung für die gesamte folgende Rede aufgebaut wird. Damit wird dem vom Ratgeber explizit negativ beurteilten Lehrer des langen Weges (vgl. §10) eine implizit negativ gezeichnete Figur des kurzen Weges gegenübergestellt, was eine Lücke erzeugt, die auf einen sich dazwischen befindlichen, angemessenen Weg zur Rhetorik hinweist, wenn sie auch nicht gefüllt wird (vgl. dazu bereits die Einleitung 1.2 und 1.6, S. 61 sowie S. 230–232 mit Anm. 622). Zum Adjektiv ἁβρός vgl. bereits den Kommentar zu §11: πάναβρόν τινα Σαρδανάπαλλον. Das Adjektiv ἐράσμιος ist in der Bedeutungsvielfalt ähnlich dem Adjektiv ἐπέραστος, vgl. dazu bereits den Kommentar zu §11: ἐπέραστον ἐκεῖνον ποιητήν. Im Unterschied zu letzterem ist ἐράσμιος aber schon klassisch gebräuchlich, vgl. Plat. Phdr. 250e und R. 402d in enger Verbindung des »lieblichen« mit »Schönheit« (κάλλος) und einer Diskussion der Doppeldeutigkeit des »Liebreizes« auf sexueller oder höherer/geistiger Ebene.703 Lukian verwendet das Adjektiv ἐράσμιος insgesamt 14x, häufig im Zusammenhang mit herausgeputzten Figuren, die ihre Attraktivität und damit ihre Wirkung auf andere durch luxuriöse Accessoires (oft Goldschmuck) steigern wollen: De Dom. 7 (über Hetären); Gall. 13; Tim. 27; vgl. auch

701 Vgl. die einleitenden Bemerkungen und den Kommentar zu §§9–10 (zu ἀρρενωπός vgl. bereits den Kommentar S. 236). 702 Vgl. dazu Gleason [1995] 103–130. Lukians Darstellung widerspiegelt v.a. auch verschiedene Texte aus dem Bereich der römischen Rhetorik; siehe dazu den Kommentar zu §11: διασεσαλευμένον τὸ βάδισμα und §19: βάδιζε μεταφέρων τὴν πυγήν. 703 Hingegen bezogen auf charakterliche oder seelische Stärken vgl. Xen. Mem. 3,10,3 und Smp. 8,36. Diese Verwendung findet sich bei Lukian einmal in Im. 22,3 bezogen auf die Seele der Panthea.

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5. Kommentar (§§11–12)

Nav. 43 und im Zusammenhang mit sexueller Attraktivität Dial. Meretr. 4,1 und 13,5. Die vorliegende Äusserung des Ratgebers klingt an Agathons Verteidigung in Ar. Th. 159f. an, wo dieser seinen – in den Augen des κηδεστής effeminierten – Auftritt mit folgenden Worten verteidigt: Ἄλλως τ’ ἄμουσόν ἐστι ποιητὴν ἰδεῖν ἀγρεῖον ὄντα καὶ δασύν.704 Damit ist ein Bogen zurück zum Agathon-Vergleich in §11 geschlagen (vgl. den Kommentar zu: πάναβρόν τινα Σαρδανάπαλλον ἢ Κινύραν ἢ αὐτὸν Ἀγάθωνα). Dass das allzu Männliche aus dem Mund des Ratgebers abgelehnt (vgl. §10) bzw. hier als bäurisch (ἄγροικος) eingestuft wird, verweist auch auf Hesiod zurück, der in seinen Erga (was der Ratgeber §8 eine Lüge schilt) den schweissreichen Weg in der Figur eines Bauern empfiehlt und im zweiten Teil des Textes den an seinen Bruder Perses gerichteten Aufruf zur Arbeit mit detaillierten Ausführungen zum Bauernberuf, mit einem ›Bauernkalender‹ ergänzt. Es verwundert also nicht, dass der Lehrer des langen Weges, den Hesiod beschrieben hat (§7), männlich-bäurisch erscheint und der Verfechter des kurzen Weges an vorliegender Stelle genau das Bäurische zum Spott heranzieht.

§§13–14: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler (Proömium) Der Ratgeber macht nun seine bereits in §11 gemachte Ankündigung wahr (μᾶλλον δὲ αὐτὸς εἰπάτω πρὸς σέ) und lässt nach langem, spannungssteigerndem Hinauszögern den Rednerlehrer selbst auftreten und sprechen. Dieser effeminierte Sophist übertrifft den Ratgeber, was Arroganz und Eigenlob angeht, bei weitem.705 Seine ersten Worte (§13) bestehen praktisch ausschliesslich aus Vergleichen, die ihn überhöhend als absoluten Starsophisten darstellen, dem niemand das Wasser reichen kann.706 Die Vergleiche sind zudem in der Form einer rhetorischen Frage, die über den Grund der Lehrerwahl des Schülers spekuliert, und deren Antwort gleich selbst gegeben wird, aufgegleist, wodurch signalisiert wird, dass der Lehrer von der Deckungsgleichheit der Meinung des Schülers über seinen Starstatus ausgeht.707 Obwohl die strukturelle Ähnlichkeit des die einleitende Frage ent704 »Und überhaupt ist es unästhetisch, einen Poeten zu Gesicht zu bekommen, der bäurisch und haarig daherkommt.« Vgl. zum Adjektiv δασύς §10 und Anm. 622. 705 Zur Unbescheidenheit des Ratgebers vgl. den Kommentar zu §1: οὐκ εἰδὼς ὅθεν ἂν ταῦτα ἐκπορίσαιτο. 706 Zu Vergleichen als Mittel der αὔξησις (Steigerung) in der rhetorischen Theorie vgl. die Einleitung 1.1.2. 707 Vgl. dazu den Kommentar zu §13: μῶν σέ κτλ.

§13: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler

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haltenden §1 und der vorliegenden §§13–14 gross ist (dazu s.u.), unterscheiden sie sich dadurch, dass der Ratgeber dem Schüler zwar Auskünfte und schnelles Erreichen seiner Ziele verspricht, ihn aber weiterverweist, während der Rednerlehrer seine eigenen Fragen gleich selbst beantwortet und sofort mit dem Unterricht beginnt (§14).708 Der Rednerlehrer vergleicht sich erstens durch seine Anspielung auf Chairephon mit Sokrates und stellt sich somit in die Tradition dieses Mannes, der seine Schüler durch unentwegtes dialektisches Gespräch dem Wissen und der Wahrheit näher bringen will. Zweitens erhebt er sich über die mythologischen riesenhaften Figuren Tityos, Otos und Ephialtes und schliesst seine Einleitung drittens mit einem Klangvergleich, der veranschaulichen soll, wie er als Redner alle anderen übertönt. Der eröffnende Vergleich ist ein raffiniertes Spiel mit platonischen Subtexten und Sokrates als idealer Lehrerfigur. Diese Figur und die platonischen Texte werden konsequent unterwandert: Im weiteren Verlauf der Rede (§14) zeigt sich nämlich, dass der Rednerlehrer alles andere als sokratische Methoden anwendet, da er den Schüler zur blossen Nachahmung auffordert und ihm leicht umzusetzende Rezepte verspricht, die er zudem monologisch darlegt. Zweitens betont er, dass keinerlei Vorwissen, keine ›Voreinweihung‹, wie er es in Anlehnung an platonische Passagen nennt, gefordert sei (in Kürze auf den Punkt gebracht fordert er vom Schüler in §15, vielmehr das Gegenteil, ἀμαθία, mitzubringen). Daher entpuppt sich der Rednerlehrer als ›falscher Sokrates‹, der neben seiner zu hoch gegriffenen Vergleichsfigur lächerlich erscheint.709 Wie bereits erwähnt führt der Rednerlehrer in §14 Inhalte weiter, die der Ratgeber bereits vorgebracht hat, so dass die Kontinuität ihrer Lehren bestätigt bzw. der Rezipient daran erinnert wird, dass der Rednerlehrer nach den Vorstellungen des Ratgebers inszeniert ist. Einerseits wird dem Schüler versichert, dass er sich an den (einzig) richtigen Helfer gewandt habe (vgl. §14: τοῦτο οὐκ ἂν παρ’ ἄλλου ῥᾷον μάθοις / §1: οὐκ εἰδὼς ὅθεν ἂν ταῦτα ἐκπορίσαιτο) und diesem nur immer schön folgen solle (vgl. §14: ἕπου μόνον, ὦ μέλημα, οἷς ἂν εἴπω / §1: ἢν τὸ μετὰ τοῦτο ἐθελήσῃς αὐτὸς ἐμμένειν οἷς ἂν ἀκούσῃς παρ’ ἡμῶν), andererseits wird er in seinem Wunsch, ein berühmter Redner zu werden, bestätigt – unter Betonung, dass

708 Der Unterschied wird allerdings insofern wieder verwischt, als der Ratgeber auch als Schauspieler gesehen werden kann, der in die Rolle des Rednerlehrers geschlüpft ist (vgl. dazu den Kommentar zu §12: ἐμὲ ποιεῖσθαι τοὺς λόγους). 709 Gleichzeitig definiert sich der Lehrer durch sein unerschütterliches Selbstbewusstsein aber auch als neuen Sokrates, der mit der Philosophie als Disziplin und mit der philosophischen Sicht auf die Rhetorik wetteifert. Vgl. zu den platonischen Reminiszenzen und der Sokratesfigur die Einleitung 1.3, zur Reminiszenz an die Figur des Sokrates in Aristophanes’ Wolken die Einleitung 1.8.

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5. Kommentar (§§13–14)

dies ohne grosse Mühe möglich sei (vgl. §14: μηδὲν ὀκνήσας μηδὲ πτοηθείς [...], οὐδὲν γὰρ αὐτῶν δεήσει [...] / §1: τάχιστα, vgl. auch §§3–4). §13 πάνυ μετριάζων Die Bemerkung erweist sich aus den gleich darauf folgenden selbstüberhöhenden Aussagen als höchst ironisch. Einmal mehr untergräbt der Ratgeber somit durch Ironie den von ihm empfohlenen Lehrer und Lehrgang. μῶν σέ κτλ. Die Frage des Rednerlehrers ist eingeleitet mit dem eine verneinende Antwort implizierenden μῶν,710 was vorerst doch immerhin eine gewisse bescheidene Zurückhaltung des Rednerlehrers gegenüber dem Vergleich zu sein scheint (der Schüler wird ihn wohl nicht aufgrund eines Orakelbesuchs und -spruchs als Lehrer ausgesucht haben), die aber weggewischt wird durch die zweite Feststellung des Lehrers, dass, wenn ersteres nicht der Fall war, der Schüler nur aufgrund seines unermesslichen Ruhms zu ihm gekommen sein könne. Hermot. 15 weist eine parallele Formulierung bezüglich der ›Lehrerwahl‹ eines Philosophen auf: Lykinos fragt nämlich seinen Dialogpartner Hermotimos, ob er wie Chairephon das delphische Orakel befragt habe und so zum Entscheid gekommen sei, sich ausgerechnet der stoischen Schule anzuschliessen: ἆρα καὶ σὲ ὥσπερ τὸν Χαιρεφῶντα ὁ Πύθιος ἐξέπεμψεν ἐπὶ τὰ Στωϊκῶν ἀρίστους ἐξ ἁπάντων προσειπών; ὁ Πύθιος Gemeint ist der pythische Apollon bzw. das Apollonheiligtum mit dem Orakel in Delphi. Der Gott erhielt den Beinamen »Pythier«, abgeleitet vom alten Namen für Delphi, Πυθώ(ν) (vgl. Hom. Il. 2,519 und Od. 8,80; h.Ap. 183), und vom Drachenkampf, in welchem Apollon den Drachen Python, der den Ort beherrschte, tötete (vgl. die älteste Version der Geschichte in h.Ap. 300–374).711

710 Vgl. zu dieser Vokabel auch den Kommentar zu §16: τὸ ἄττα καὶ κᾆτα καὶ μῶν καὶ ἁμηγέπῃ καὶ λῷστε καὶ τὰ τοιαῦτα mit Anm. 826. 711 Im homerischen Apollonhymnos wird der Name Pytho(n) für Delphi vom griechischen Verb für »verfaulen« (πύθεσθαι) abgeleitet, da Apollon den toten Drachen in der Sonne verfaulen liess. Erst sekundär erhalten dort also der Ort und der Gott den Beinamen Pytho(n) bzw. Pythios, in der späteren Überlieferung ist dies dann auch der Name des Drachens selbst (Strab. 9,3,12; Plut. Pelop. 16,4).

§13: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler

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Χαιρεφῶν ἤρετο [...] ὁ σοφώτατος ἐν τοῖς τότε Die Anspielung zielt auf Plat. Ap. 21a: Sokrates erzählt, dass sein Jugendfreund Chairephon712 vom delphischen Orakel auf die Frage, ob jemand weiser sei als Sokrates, die Anwort erhalten habe, dass keiner weiser sei.713 Worin die Weisheit des Sokrates besteht, ist im Folgenden Kernthema der Apologie, was hier in Rh. Pr. allerdings ausgeblendet wird. Vielmehr zieht der Rednerlehrer den nur oberflächlichen und ganz unbescheidenen Vergleich zwischen sich selbst als ῥήτωρ ἄριστος und Sokrates als (ἀνὴρ) σοφώτατος, wobei die zwischen Rhetorik und Philosophie stehenden Differenzen ebenfalls vernachlässigt sind. Der Rednerlehrer pervertiert später in §14 die Weisheit des Sokrates, welche im Bewusstsein über das menschliche Nicht-Wissen bzw. im Aufdecken desselben besteht, insofern, als er seinem Schüler exakt das NichtWissen als beste Basis für eine grosse Karriere empfiehlt. ἁπάντων [...] τεθηπότων καὶ ὑπεπτηχότων Es liegt eine variatio der Worte vor, mit denen der Ratgeber in §1 die vom Schüler erwünschten Effekte seines Rufes als Sophist beschrieben hat: Ἐρωτᾷς [...], ὅπως ἂν ῥήτωρ γένοιο καὶ τὸ σεμνότατον τοῦτο καὶ πάντιμον ὄνομα σοφιστὴς εἶναι δόξεις· ἀβίωτα γὰρ εἶναί σοι φῄς, εἰ μὴ τοιαύτην τινὰ τὴν δύναμιν περιβάλοιο ἐν τοῖς λόγοις ὡς ἄμαχον εἶναι καὶ ἀνυπόστατον καὶ θαυμάζεσθαι πρὸς ἁπάντων καὶ ἀποβλέπεσθαι, περισπούδαστον ἄκουσμα τοῖς Ἕλλησι δοκοῦντα. Die vom Rednerlehrer gewählten Verbalbegriffe sind allesamt neu, d.h. der neue Sprecher wird durch seinen eigenen Redestil markiert und seine Authentizität dadurch bekräftigt;714 inhaltlich jedoch werden genau wie in §1 Bewunderung, Lob und Staunen des Publikums hervorgehoben. Durch das Element des devoten Verneigens (ὑποπτήσσω) steigert der Lehrer das staunende Verhalten des Publikums sogar noch und knüpft damit an die Metaphorik des Sophisten als König an (vgl. §11: βασιλεὺς ἐν τοῖς λόγοις). Der Rednerlehrer ›bestätigt‹ die Worte des Ratgebers in Rh. Pr. 1 und verkörpert gleichzeitig in seinen Auftritten genau das, was der Schüler für sich erträumt; er ist daher der ›ideale‹ Lehrer. Der im Text genannte Ruhm (κλέος) der modernen Sophisten und der Starkult, der um sie entsteht, ist ein bisher mehrfach aufgegriffenes Thema

712 Chairephon ist Gesprächsteilnehmer in Platons Charmides und Gorgias. Er war von Jugend an ein eifriger Anhänger des Sokrates (vgl. Xen. Mem. 1,2,48 und karikierend Ar. Nu. 144–147, 156–158, 503f., 1465f., 1497–1509; V. 1388–1414; Av. 1562–1564). 713 Vgl. die Wiedergabe derselben Episode bei Xen. Ap. 14. 714 An anderen Orten verwendet der Rednerlehrer durchaus auch Vokabular des Ratgebers, vgl. z.B. θαυμάζειν in §20.

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5. Kommentar (§§13–14)

gewesen (vgl. §2: ἔνδοξοι; §6: δόξα, ἔπαινοι; §8: ἀξιούμενος, θαυμαστός; §11: περίβλεπτος). δαιμόνιον ἄνδρα In diesem Ausdruck könnte man eine Bestätigung der Aussagen des Ratgebers sehen, der den Rednerlehrer zuvor vergöttlicht hat (vgl. §11: τι ξένον φάσμα δρόσῳ ἢ ἀμβροσίᾳ τρεφόμενον; vgl. auch den abschliessenden Vergleich des Starsophisten mit Zeus in §26).715 Tatsächlich in einen übermenschlichen Bereich führt der darauffolgende Vergleich des Rednerlehrers mit den Riesen Tityos, Otos und Ephialtes und das Lob seines πρᾶγμα als ὑπερφυές und τεράστιον. Allerdings ist, wie du Toit [1997] aufgrund einer ausführlichen Prüfung kaiserzeitlicher Quellen gezeigt hat, bei einem Verständnis des Ausdrucks δαιμόνιος ἀνήρ/ἄνθρωπος als »Gottmensch« Vorsicht geboten: Werden die Adjektive δαιμόνιος und θεῖος auf Menschen referierenden Nomina beigelegt, so bezeichnen sie normalerweise nicht eine Göttlichkeit, d.h. eine ontologische Zwischenstellung zwischen Gott und Mensch, und stehen auch nicht primär in einem religiösen Kontext, sondern treten als Qualitätsadjektive mit titularer Funktion auf und markieren die betreffenden Personen (die Belege beziehen sich v.a. auf einige wenige grosse Dichter, Philosophen, Rhetoren, Historiographen u.ä.) als Archegeten und/oder Garanten einer Erkenntnistradition oder aber stehen für eine besonders hervorragende ethische Qualität.716 So findet sich der Ausdruck δαιμόνιος ἀνήρ einerseits allgemein als Bezeichnung für aussergewöhnliche Männer, z.B. Politiker (vgl. Appian Bell. civ. 2,21,149 [über Caesar]; Plut. Sert. 20,5 [über Sertorius]), andererseits appliziert Dionysios von Halikarnass δαιμόνιος bzw. δαιμονιώτατος ἀνήρ sowohl auf Demosthenes als auch auf Platon (Dem. 46,11; Dem. 23,8; Comp. Verb. 18,76), um sie als normative Figuren in der stilistisch-rhetorischen Tradition zu kennzeichnen, wobei ersterem als absolut bestem Stilist der Vorrang gegeben wird.717 Hinter dem vorliegenden Selbstlob des Rednerlehrers als δαιμόνιος ἀνήρ steckt also weniger die Anmassung einer Göttlichkeit als primär die Überheblichkeit, sich selbst an 715 Dieselben überhöhenden Vergleiche zieht Lukian in negativer Ausdeutung in Peregrinos heran: Peregrinos Proteus wird sarkastisch unterstellt, er vergleiche sich nicht mit Sokrates, sondern gar mit Zeus selbst und strebe Vergöttlichung an (§§5f.; vgl. auch §12). Die Invektive Peregrinos weist v.a. zu den Schlusskapiteln von Rh. Pr. weitere Parallelen auf; vgl. die einleitenden Bemerkungen zu §§23–25. 716 Siehe du Toit [1997] 109f.; 261–265; 400–402. Vgl. zum Gebrauch als religiös-ethische Qualitätsadjektive (im Sinn von ὄσιος oder εὐσεβής) Plat. Cra. 398c und du Toit [1997] 111. – Die Verwendung als so genannte Klassenadjektive in der Bedeutung »göttlich« erfolgt normalerweise nicht mit Bezug auf Menschen (siehe speziell zur Verwendung bei Lukian du Toit [1997] 193–218). 717 Vgl. du Toit [1997] 115–124.

§13: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler

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die Stelle der alten Garanten der rhetorischen Tradition zu setzen.718 Eine enge Verknüpfung mit dem Sokratesvergleich zu Beginn des Kapitels liegt insofern vor, als die Begriffe σοφὸς ἀνήρ/ἄνθρωπος und δαιμόνιος ἀνήρ/ ἄνθρωπος sinnverwandt sind und die Weisheit/Expertise der betreffenden Person ausdrücken.719 Gerade den Archegeten, insbesondere den Gründern philosophischer Schulen, kam aber im Laufe der Zeit häufig auch eine religiös-kultische Verehrung zu, so dass – zumindest sekundär – die Vergöttlichung des Rednerlehrers (vgl. §11 und §26) hier doch eine gewisse Rolle spielen mag.720 Zum Bild der Starsophisten als götterähnliche Wesen sind zwei Passagen bei Philostrat aufschlussreich, einerseits die Erwähnung, dass Polemons Arroganz (ὑπερφρονία) soweit ging, dass er sich für den Göttern (θεοί) ebenbürtig hielt (VS 535), andererseits die Beschreibung der gottgleichen Schönheit (θεοειδής) des Alexander Peloplaton (VS 570).721 Korenjak ([2000] 96–100) hat gezeigt, dass man aus den Zeugnissen722 eine Art Starkult feststellen kann, bei dem die Begeisterung des Publikums als quasireligiöser Zustand begriffen wird, so dass auf den Redner Züge einer göttlichen Instanz projiziert werden (wichtig sind dabei Termini wie ἐνθουσιασμός und βακχεία). Τιτυὸς ἢ Ὦτος ἢ Ἐφιάλτης Die Gemeinsamkeit dieser drei mythologischen Gestalten liegt in ihrer Riesenhaftigkeit723 und in ihrer Rolle als Büsser in der Unterwelt, wo sie, getötet von Apoll und Artemis, ihre Taten vergelten müssen.724 Tityos (vgl. Od. 11,576–580 und 1,324), der »Erdgeborene«, wird vom Geschwisterpaar erschossen, als er sich an Leto vergreifen will. Die Brüder Otos und Ephialtes (vgl. Od. 11,308–320 und Il. 5,385) türmten die Berge Ossa und Pelion auf den Olymp, um den Himmel zu stürmen, wobei Otos Artemis und Ephialtes Hera begehrte, so dass Apoll sie tötete. 718 Vgl. zur vorliegenden Lukianstelle du Toit [1997] 188f. sowie unten den Kommentar zu §17: ὁ λῆρος Ἰσοκράτης ἢ ὁ χαρίτων ἄμοιρος Δημοσθένης ἢ ὁ ψυχρὸς Πλάτων. 719 Genauer dazu du Toit [1997] 265f. – Die Bedeutung der göttlich-dämonischen Stimme (τὸ δαιμόνιον), die Sokrates hört, wird bei du Toit [1997] 98–103 erläutert. 720 Vgl. dazu Runia [1999] 124 mit Anm. 37 (in Auseinandersetzung mit du Toit) sowie die Rezension zu du Toit von Zeller [1998], in der – neben dem grundsätzlich positiven Urteil – dieser Punkt ebenfalls betont ist. 721 Vgl. Baldwin [1973] 71. 722 Ausführlich v.a. Eunap. 489. 723 Vgl. zu dieser Gemeinsamkeit Eustath. Comm. ad Hom. Od. vol. 1, p. 332,7f. (über den Kyklopen und andere riesenhafte Gestalten): ἦν δὲ ἄλλως καὶ Τιτυὸς ὑπερμεγέθης καθ’ Ὅμηρον, οὐκ ἀπεοίκασι δὲ τούτων οὐδὲ Ὦτος καὶ ᾿Εφιάλτης οἱ τοῦ Ἀλωέως. 724 Vgl. zu Tityos als Büsser in der Unterwelt Plat. Grg. 525e (genannt zusammen mit Tantalos und Sisyphos). Zu Otos und Ephialtes vgl. Plat. Smp. 190b.

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5. Kommentar (§§13–14)

Der Vergleich Lukians stützt sich vor allem auf die Riesenhaftigkeit (vgl. ὑπερφυές) der Gestalten, die von der vorliegenden Sache (πρᾶγμα) – der Exzellenz des Rednerlehrers und seines Könnens – übertroffen werden wird. Zudem rückt sich der Rednerlehrer mit dieser Aussage in eine götternahe Sphäre bzw. dringt in die Sphäre der Götter ein, was ihm gemäss seinen Aussagen gelingt, da er Otos und Ephialtes übertrifft. Der Vergleich gestaltet sich aber sehr ambivalent, denn erstens liegt in der körperlichen Erscheinung der drei Riesen gegenüber dem weichlichen Rednerlehrer ein krasser und lächerlich wirkender Gegensatz vor, zweitens steigert der Lehrer seine Überheblichkeit (vgl. μῶν σέ κτλ. und die Aussagen des Ratgebers über die göttliche Erscheinung in §11) durch die Anlehnung an die hybrisbeladenen Taten der Riesen zu einem Vergehen (gegen die Götter) und drittens ist durch das Schicksal, welches die drei Riesen getroffen hat, ein mögliches Scheitern des Lehrers angedeutet. Die Nennung der drei Figuren nebeneinander findet sich noch nicht bei Homer, vgl. allerdings Pindar P. 4,89–90 und Nonnos 20,64.77.80–82, wobei das Vergleichsmoment beide Male in ihrem Tod durch Apoll und Artemis liegt. Lukian selbst erwähnt vor allem Tityos oft zur Illustration der Büsser in der Unterwelt (J. Conf. 17; Philopseud. 25; Menipp. 14; Hist. Conscr. 57; Dial. Mort. 24,1), Otos und Ephialtes neben vorliegender Stelle noch einmal in Ikaromen. 23. Auch Zeitgenossen Lukians bedienten sich dieser Figuren, vgl. Libanios Progymnasmata 2,38 (Otos und Ephialtes) sowie Favorin De ex., fr. 96,29 (alle drei Figuren).725 τεράστιον Das Adjektiv bezeichnet grundsätzlich etwas Wunderbares oder Übernatürliches, was positiv (»grossartig, erstaunlich«) oder negativ (»monströs, absurd, missgestaltet«) gedeutet werden kann (vgl. die zwei Bedeutungen in LSJ s.v.: monstrous, prodigious; nennenswert ist im Zusammenhang mit der positiven Bedeutung »wunderbar« oder »übernatürlich« der Beiname des Zeus als τεράστιος726). Lukian verwendet dieses Adjektiv häufig (22 Belege); zwei Hauptbedeutungsfelder lassen sich ausmachen: Einerseits wird es zur Bezeichnung von Wunder-, Zauber- oder Lügengeschichten bzw. -taten herangezogen, die manchmal neutral, manchmal ambivalent, oft aber ganz klar in negativem Licht als Betrügereien und Schwindeleien dargestellt werden (neutral: Dial. 725 Vgl. zudem in christlichem Kontext Philon De conf. ling. 2,4 (Vergleich des Auftürmens der Berge durch Otos und Ephialtes mit dem Turmbau zu Babel) und Ps.-Justin Ad Graecos 2,4 (Homerzitat) und 28,5 mit dem Kommentar von Riedweg [1994b]. 726 So z.B. in Luk. Gall. 2; Tim. 41; Dear. Iud. 11 (jeweils im Anruf: ὦ Ζεῦ τεράστιε).

§13: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler

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Deor. 7,1; Dial. Mort. 7,1; ambivalent: Dial. Mar. 4,3 [ebenfalls die Junktur πρᾶγμα τεράστιον]; negativ: Philopseud. 2, 5, 29; Alex. 16 [ebenfalls die Junktur πρᾶγμα τεράστιον], 20, 31). Andererseits dient τεράστιος zur Bezeichnung von ungewöhnlichen und wundersamen Mischwesen bzw. erscheint in Vergleichen mit diesen, oft kombiniert mit dem Adjektiv ἀλλόκοτος (vgl. Bacch. 2: Pan; Ver. Hist. 1,8: Weinstockfrauen; Philopseud. 2: Pegasus, Chimaira, Gorgo, u.a.; Im. 2: Vergleich mit Gorgo und Medusa; Deor. Conc. 5: Pan, Satyrn, u.a.; Zeux. 12: Hippokentaur). Besonders interessant ist für uns die letztgenannte Textstelle Zeux. 12, der auf seine eigene Rhetorik umgemünzte Vergleich des Lukian mit der Abbildung einer Hippokentaurenfamilie des Malers Zeuxis:727 Beide Künstler ernten durch ihre Darbietungen beim Publikum grosses Lob wegen ihrer Innovation (wiederholt bezeichnet durch καινότης, παραδοξολογία, νεωτερισμός; auch durch die Adjektive ξένος, ἀλλόκοτος, καινός), ohne dass die kunstvolle, harmonische Verbindung mit dem Traditionellen Beachtung fände, worin jedoch die spezielle Exzellenz der Reden Lukians und der Bilder Zeuxis’ besteht. Aus dem Neuen und dem Klassischen eine perfekte Einheit zu schaffen, darin besteht das wirklich grosse Können.728 Der Rednerlehrer bezeichnet seine eigene Kunst als πρᾶγμα τεράστιον, was vor dem Hintergrund der dargelegten lukianischen Kontexte, in denen das Adjektiv fungiert, folgende Implikationen haben kann: Das Adjektiv τεράστιος ist zwar per se nicht negativ konnotiert, reicht aber als alleinige Qualitätsbezeichnung von Literatur oder Rhetorik (im Sinn eines billigen Unterhaltungsmittels) nicht aus. Dies wirft – neben dem höchst ambivalenten Vergleich mit den sich der Hybris hingebenden und scheiternden Riesen (s.o.) – zusätzlich ein negatives Licht auf vorliegende Passage sowie auf die folgende propagierte Trickrhetorik des Rednerlehrers 727 Zum Kontext: Lukian spricht über seine eigenen Erwartungen und die Reaktion seines Publikums: οἷς δὲ ἐγὼ ἐπεποίθειν, οὐ πάνυ ταῦτα ἐν λόγῳ παρ’ αὐτοῖς ἐστιν, ἀλλ’ ὅτι μὲν θήλεια Ἱπποκένταυρος γεγραμμένη, τοῦτο μόνον ἐκπλήττονται καὶ ὥσπερ ἐστί, καινὸν καὶ τεράστιον δοκεῖ αὐτοῖς. τὰ δὲ ἄλλα μάτην ἄρα τῷ Ζεύξιδι πεποίηται; (»Worauf ich mein Vertrauen gesetzt hatte, das hat bei ihnen keine Bedeutung, sondern nur weil ein weiblicher Hippokentaur gemalt worden ist, bewundern sie das und es scheint ihnen – was es tatsächlich ist – etwas Neues und Ungeheures. Alles andere aber hat Zeuxis vergeblich gemacht?«) – Vgl. bereits die Einleitung 1.7 zu Lukians Vorreden (προλαλιαί). 728 Wer nur reine Wunderwesen schafft, ist ein θαυματοποιός (Zeux. 12). Bereits Dionysios von Halikarnass zieht in seiner Mimesistheorie die Metaphorik von ›hybriden‹ Körpern heran, welche durch neue Zusammenfügungen, die ausserhalb des Natürlichen im Artifiziellen liegen, die Natur übertreffen (vgl. De imit., fr. 6,1 Us.): Ein Beispiel ist dasjenige des Malers Zeuxis, der ein Porträt von Helena aus den schönsten Zügen verschiedener Mädchen zusammenstellte (vgl. auch Luk. Im.). Genau so soll neue Literatur aus der Imitation der besten Stile verschiedener klassischer Autoren erzeugt werden. Siehe dazu Whitmarsh [2001] 72–75 (zu Dion. Hal.) und 75–78 (zu Luk., insbesondere auch zur Schaffung neuer Literaturgenera [Bis Acc. 33; Prom. Es 5]).

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5. Kommentar (§§13–14)

(§§15ff.).729 Zudem haftet bei Lukian demjenigen, dessen Taten oder Sprache mit dem Adjektiv τεράστιος beschrieben sind, der Ruf des Zauberers, Schwindlers und Betrügers an, was v.a. in der Schrift über den Lügenpropheten Alexander deutlich wird: Er ist mehrfach als γόης bezeichnet (Alex. 1, 5, 6, 25) und sein Orakel bzw. seine πράγματα τεράστια betrügen die Kundschaft (Alex. 16, 20, 31). Daher enthält vorliegende Stelle in Rh. Pr. zusätzlich einen Rückbezug auf die Einstufung des sidonischen Händlers (der ja mit dem Ratgeber und auch mit dem Rednerlehrer in Verbindung gebracht werden soll) durch Alexander den Grossen als einen γόης, dessen Rede man nicht vertrauen kann.730 Es wird über die Figur des sidonischen Händlers eine Kontinuität zwischen dem Rednerlehrer und seinem Vorgänger, dem Ratgeber, hergestellt, sowie gleichzeitig (implizit) deren Lehre auch mit Lukians eigener Darstellung von gelungener Rhetorik konfrontiert (Zeux. 12, s.o.). Der Rednerlehrer verfolgt, indem er das Wundersame und Übermenschliche (τεράστιον, ὑπερφυές) seiner Rhetorik betont, die Strategie seiner Eigendarstellung mit übernatürlichen Zügen weiter.731 Die Kontinuität zum sidonischen Händler als γόης lässt ihn allerdings dem Rezipienten ambivalent erscheinen, er wird ihm durch die Betonung der wundersamen Züge in Rhetorik und Persönlichkeit verdächtig. ἡ σάλπιγξ τοὺς αὐλοὺς [...] οἱ χοροὶ τοὺς ἐνδιδόντας Der Rednerlehrer betont seine Exzellenz durch einen dreigliedrigen Vergleich: Er übertönt die anderen Sophisten wie die Trompete die Flöten, die Zikaden die Bienen und die Chöre die Vorsänger übertönen. Die verglichenen Elemente stammen pro Paar jeweils aus demselben Bereich – Musikinstrumente, Tiergeräusche, Dramenkontext –, wobei eines 729

Als Subtext im Hintergrund steht möglicherweise auch Ar. Nu. 75–77, wo die Tricksophistik des Sokrates, von der sich Strepsiades Rettung aus seiner finanziellen Not verspricht, als ganz wunderbarer Pfad charakterisiert ist: νῦν οὖν ὅλην τὴν νύκτα φροντίζων ὁδοῦ / μίαν ηὗρον ἀτραπὸν δαιμονίως ὑπερφυᾶ, / ἣν ἢν ἀναπείσω τουτονί, σωθήσομαι. (vgl. Rh. Pr. 7: ἡ μὲν ἀτραπός ἐστι στενὴ). 730 τεράστιος findet sich verknüpft mit einer Diskussion über das Glaubhafte auch in Luk. Ver. Hist. 1,13; Charon 4. Vgl. zudem Ezechiel Trag. Exagoge 90–95 Snell (Moses spricht): ἔα· τί μοι σημεῖον ἐκ βάτου τόδε; / τεράστιόν τε καὶ βροτοῖς ἀπιστία; [...] προελθὼν ὄψομαι τεράστιον μέγιστον· οὐ γὰρ πίστιν ἀνθρώποις φέρει. (Ezechiel ist wohl im 3., spätestens Ende 2. Jh. v.Chr. anzusetzen; die Tragödie hat den biblischen Kontext des Auszugs der Israeliten aus Ägypten; siehe zum biblisch-christlichen Kontext auch die nächste Anm.); vgl. weiter Flav. Jos. Ant. Iud. 10,28. 731 Die Kombination τεράστια φάσματα, die sich in Plut. mor. 165f3 (im Zusammenhang mit schlimmen Traumerscheinungen) findet, erinnert an die Darstellung der Figur des Rednerlehrers als ξένον φάσμα, als fremartige, übernatürliche, taugenährte Gestalt aus dem Mund des Ratgebers (§11). Plut. mor. 507c5 enthält als einziger vorlukianischer Beleg den Ausdruck πρᾶγμα τεράστιον, der später auch bei christlichen Autoren zur Bezeichnung von Wundertaten auftritt, e.g. Euseb. Comm. in Psalm. 23,777.

§13: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler

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das andere jeweils (vorerst rein auf die Lautstärke bezogen) überflügelt. Der Vergleich von Flöte und Trompete sowie von Zikade und Biene wird auch von Diogenian diskutiert.732 Es stellt sich die Frage nach der Bedeutung des jeweils überlegenen und unterlegenen Teils pro Bereich: Sowohl Chor als auch Vorsänger passen in den Kontext des Auftritts und der Schauspielmetaphorik (vgl. §12). Dabei ist der Chor, der den Vorsänger übertönt, ambivalent einzustufen, da dieses Szenario eine Unordnung impliziert, in welcher der Chor nicht mehr auf seinen Anführer hört. Man könnte dabei an die Ablehnung des Studiums der ›Klassiker‹ und insgesamt des Traditionellen und Konventionellen denken (§10). Die Nennung von Biene und Zikade ist poetologisch lesbar: Grundsätzlich werden beide mit den Musen verknüpft und damit im weitesten Sinn mit literarisch-rhetorischen Erzeugnissen. Während dabei aber die Biene für Fleiss und Kunstfertigkeit steht und über den von ihr produzierten süssen Honig auch mit Dichtung und Dichtern assoziiert wird, steht die Zikade vor allem für meisterhaften Gesang.733 Diese Betonung des Gesangs könnte nun als Hervorhebung eines der zentralen Showelemente der zeitgenössischen Sophistik interpretiert werden (vgl. Rh. Pr. 15: μέλος ἀναίσχυντον; 19: ᾆσαι / ᾀδέσθω), welches zur reinen, schnörkellosen ›Dichtung‹ der Biene in Kontrast gesetzt wird. Zudem könnte die Biene auch für die konventionelle Art der μίμησις, des Pflückens von Blüten, stehen (vgl. Pisc. 6), welche gerade nicht in den Bereich der neuen Sophistik gehören soll (vgl. Rh. Pr. 9: ζηλοῦν [...] μιμεῖσθαι). Interessant für die Parallelisierung des Rednerlehrers mit einer Zikade ist zudem, dass sie als taugenährt gilt (vgl. Hesiod Sc. 395; Theokrit 4,16 mit dem Kommentar von Hunter [1999] 134f.), was über den Lehrer entsprechend ausgesagt wird (vgl. Rh. Pr. 11: τι ξένον φάσμα δρόσῳ ἢ ἀμβροσία τρεφόμενον). Gemäss dieser Deutung setzt also der Rednerlehrer in seinem Vergleich Flöte, Vorsänger und Biene für die ›alte‹ Rhetorik an, während Trompete, Chor und Zikade die ›neue‹, laute, showorientierte Rhetorik vertreten.

732

Paroemiographi Graeci vol. 1, p. 183, Nr. 15: Αὐλὸν σάλπιγγι συγκρίνεις· ἐπὶ τῶν τὰ ἐλάττω τοῖς μείζοσι συγκρινόντων. Τέττιγι μέλιτταν συγκρίνεις, κατὰ φωνήν. Überhaupt ist der Tiervergleich in diversen Varianten häufig, vgl. Theokrit 5,29 und 136f. sowie den Kommentar von Dover [1971] 132. 733 Vgl. zu Fleiss und Kunstfertigkeit der Biene Seneca Ep. mor. 121,22; zu Dichtern als Bienen: Platon Ion. 534b; Horaz carm. 4,2,17. Die Grille als Sängerin par excellence begegnet bei Platon Phdr. 259a–d; Kallimachos fr. 1,29f. Pfeiffer; Theokrit 1,148 und 5,29 (ihr Zirpen wird auch meist mit ᾆδειν bezeichnet). Keine Rolle scheint mir hier die später topische Bezeichnung nicht nur der auffällig showorientierten, sondern überhaupt aller Redner als Zikaden zu spielen (vgl. z.B. Lib. Ep. 301,1 und Him. Or. 59,1 sowie unten Anm. 967).

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5. Kommentar (§§13–14)

§14 ἕπου μόνον, ὦ μέλημα, οἷς ἂν εἴπω, καὶ ζήλου πάντα, καὶ τοὺς νόμους, [...] Die hier verwendete Anrede ὦ μέλημα gehört im Gegensatz zu ὦ μειράκιον und ὦ παῖ (vgl. §1) nicht in das platonische Vokabular, so dass der vor allem zu Beginn der Schrift sprachlich stark vertretene platonische Duktus an vorliegender Stelle nicht wiederholt wird. Lukians Textcorpus weist keine weiteren Belege dieser Anrede auf. Der Begriff μέλημα gehört ins Umfeld der poetischen, die klassisch seltene Anrede ὦ μέλημα insbesondere ins Umfeld der dramatischen Texte, vgl. A. Ch. 235 und Ar. Ec. 973.734 Die Wortwahl des Rednerlehrers an dieser Stelle impliziert dadurch folgende zwei Punkte: Die an den ἥττων λόγος der aristophanischen Wolken angelehnte, karikierte Figur spricht einerseits in Aristophanes’ Sprache,735 andererseits wird hier mit der Anspielung auf das Drama das Theatralische präsent gemacht, das Parallelen zum Auftritt des Rednerlehrers (und der Sophisten allgemein) hat. Der fehlende philosophische Duktus im Vokabular passt also zum weniger ernsten, sondern stärker komisch-theatralischen Auftreten und Sprechen des Rednerlehrers (vgl. die Schauspielmetaphorik und die Nennung des Tragödiendichters Agathon und der Komödienfiguren in §§11–12). Letztlich passt die besonders vertraute Anrede auch zur sich kollegial-einschmeichelnd verhaltenden Gestalt des Lehrers.736 Wie bereits in den einleitenden Bemerkungen zu §§13–14 angetönt, führt der Rednerlehrer mit den Aufforderungen ἕπου κτλ. den Duktus des Ratgebers weiter (vgl. §1: ἢν τὸ μετὰ τοῦτο ἐθελήσῃς αὐτὸς ἐμμένειν οἷς ἂν ἀκούσῃς παρ’ ἡμῶν).737 Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass er tatsächlich in einem Agon mit dem Lehrer des langen Weges steht, denn dieser verlangt vom Schüler genauso vertrauensvolle Gefolgschaft (vgl. den Bericht des Ratgebers §9: ἕπεσθαί σοι παρακελευόμενος ὑποδεικνὺς τὰ Δημοσθένους ἴχνη καὶ Πλάτωνος καὶ ἄλλων τινῶν) und die Nachahmung 734 Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass auch die Anreden ὦ μειράκιον und ὦ παῖ in dramatischen Texten Verwendung finden, dass allerdings in Rh. Pr. 1 aufgrund des Kontextes die platonischen Belege wohl stärker zu gewichten sind. 735 Zur Nähe solcher ›werbender‹ Passagen zum Agon der λόγοι in Aristophanes’ Wolken vgl. die Einleitung 1.8, Anm. 224. 736 Die Scholiasten kommentieren diese Anrede inhaltlich als »dasjenige, was einem besonders am Herzen liegt« (p. 178 Rabe): μέλημα*] ⌞ἀντὶ τοῦ φρ⌟όντισμα, ⌞οἱονεὶ ὑπ⌟ὲρ οὗ πολλή ⌞μοι φρον⌟τίς ἐστι. 737 Der Ratgeber bekräftigt zum Schluss umgekehrt nochmals die Rede des Rednerlehrers (§26): καὶ οὐδέν σε κωλύσει ἑπόμενον τοῖς νόμοις ἔν τε τοῖς δικαστηρίοις κρατεῖν καὶ ἐν τοῖς πλήθεσιν εὐδοκιμεῖν καὶ ἐπέραστον εἶναι καὶ γαμεῖν [...] τὴν Ῥητορικήν.

§14: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler

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dessen, was er seinem Schüler als exempla vorgibt (§9: εἶτά σε κελεύσει ζηλοῦν ἐκείνους τοὺς ἀρχαίους ἄνδρας; §10: μαχαιροποιοῦ υἱὸν καὶ ἄλλον Ἀτρομήτου τινὸς γραμματιστοῦ ζηλοῦν ἀξιῶν; hier bezogen auf das klassisch-attizistische Sprach- und Stilideal, während der Rednerlehrer mit dem undefinierten Objekt πάντα seine nachher ausgeführten Tipps und Tricks meint). Beide Lehrer verwenden zudem den Terminus νόμος – der eine zur Bezeichnung der Rechtmässigkeit der Heirat mit der Rhetorik nach Absolvierung des langen Weges (§9: νόμῳ γαμήσειν τὴν Ῥητορικήν), der andere, der Rednerlehrer, hingegen zur Bezeichnung der »Gesetze«, die er im Sinn einer einfachen, weil durch klare Regeln definierten Ausbildung vorlegt (§16: τοὺς νόμους δίειμι; §26: ἑπόμενον τῷ νόμῳ), und die dergestalt sind, dass sie sich nicht an der alten Rhetorik orientieren, sondern sogar bei Bedarf vom Schüler in der Funktion eines νομοθέτης direkt neu geschaffen werden können (§17: ἐνίοτε δὲ καὶ αὐτὸς ποίει καινὰ καὶ ἀλλόκοτα ὀνόματα καὶ νομοθέτει τὸν μὲν ἑρμηνεῦσαι δεινὸν εὔλεξιν [...]); zum Rednerlehrer als νομοθέτης vgl. §26. εἰ μὴ προετελέσθης ἐκεῖνα τὰ πρὸ τῆς ῥητορικῆς [...] προπαιδεία Mit dem Verb προ-τελεῖν (»vorher einweihen, instruieren«) wird ein zentraler Begriff der Mysterienterminologie metaphorisch herangezogen. Allgemein ist Mysterienmetaphorik in Texten der Zweiten Sophistik und speziell in sophistischer Rhetorik verbreitet.738 Der Ursprung dieser Metaphorik liegt allerdings in der klassischen Zeit: Schon Platon bezieht sich in Smp. 209e–210a (Rede der Diotima) und in Phdr. 250b–c (Palinodie des Sokrates) auf die Vorgänge bei den Mysterien von Eleusis, wobei durch diese Terminologie der Aufstieg zur Idee des Schönen metaphorisch verdeutlicht wird;739 vgl. auch (als Sokrates-Parodie) Ar. Nu. 143, 254–262; in späterer Zeit z.B. Plut. mor. 47a; Dion von Prusa Or. 36,33–35.740 Dass in der Zeit der Zweiten Sophistik »die Idee der Vulgarisierung rhetorischer Mysterien«741 zu einem Topos geworden ist, zeigt der elliptische Titel der 34. Re-

738

Vgl. dazu (mit ausführlichem Belegmaterial) Korenjak [2000] 214–219. Vgl. Kirchner [2005] 165f. und ausführlich Riedweg [1987] 1–69. Ein wichtiger Referenztext ist auch Platon Grg. 497c mit Sokrates’ spöttischer Bemerkung gegenüber Kallikles: Εὐδαίμων εἶ, ὦ Καλλίκλεις, ὅτι τὰ μεγάλα μεμύησαι πρὶν τὰ σμικρά (siehe auch bereits die Einleitung 1.3, S. 39f.). 740 Vgl. Korenjak [2000] 214 mit Anm. 58 (Belege). Im lateinischen Bereich tritt die Metaphorik zum ersten Mal bei Cicero auf (De Or. 1,206: mysteria dicendi), in der Folge bei Quint. Inst. 5,13,59ff. und 12,10,14 (vgl. Kirchner [2005] 166–173). 741 So Korenjak [2000] 216. Die tatsächlichen Bedingungen des Unterrichts beim Rhetoriklehrer, wo sich die Schüler durch verschiedene Progymnasmata mit steigendem Schwierigkeitsgrad arbeiten mussten, korrespondieren mit den Stufen einer Einweihung (vgl. dazu Burkert [31994] 45–46 [Mithraskult]; 58f. und 78–80 [Eleusis]). 739

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5. Kommentar (§§13–14)

de des Aristeides: κατὰ τῶν ἐξορχουμένων [sc. τὰ μυστήρια τῆς ῥητορικῆς].742 An dieser Stelle muss etwas weiter ausgeholt werden um aufzuzeigen, wie sich diese Metaphorik in den Texten der Zweiten Sophistik darstellt. Zwei Hauptbereiche sollen hier exemplarisch zur Sprache kommen: Erstens findet sich oft die Metaphorik einer »Weihe« (τελέτη) der bzw. in die Rhetorik (so z.B. Him. Or. 10,4 und 35,1; Lib. Or. 58,4; auch schon Dion. Hal. Comp. Verb. 25,5–6) und die Wiedergabe der Lehrtätigkeit der Rhetoriker als ein »Einweihen« (τελεῖν; z.B. Him. Or. 35,1; Lib. Ep. 285,2). Zweitens wird das Erlernen der Rhetorik als stufenweiser Vorgang beschrieben, vom »Uneingeweihten«, ἀμύητος, über Zwischenstufen zum »Eingeweihten«, τελούμενος.743 Ebenfalls erwähnenswert ist in unserem Zusammenhang, dass der Redner während seines Auftritts als von Raserei und Enthusiasmus erfüllt beschrieben wird (z.B. Philostrat VS 588; Aristeid. Or. 28,114), was eine Verbindung zur Dichterweihe in Rh. Pr. 4 (vgl. zum Lemma κάτοχος ἐκ Μουσῶν) schafft. Zur Funktion dieser Metaphorik in der Rhetorik der Zweiten Sophistik bemerkt Korenjak ([2000] 214) sie sei »eine Sprechweise, die insofern auch eine soziale Relevanz besitzt, als sie die gebildete Oberschicht als eine ausgezeichnete Gruppe von ihrer ignoranten Umgebung absondert.«744 Genau diesem Effekt entzieht sich der Rednerlehrer durch seine Betonung, dass keinerlei (Vor-)Einweihung und Wissen – auch wenn das einige Unwissende und Alberne glauben mögen – nötig ist, um ein berühmter Sophist, und damit ein Exponent der Bildung (παιδεία) zu werden. Die Mysterienmetaphorik wird in §16 wieder aufgegriffen, und diesmal im positiven Sinn einer ›Weihe‹, da die Rhetorik den Schüler als Eingeweihten aufnimmt.745 Aber wird er auch eingeweiht, so sind die Mysterieninhalte hier pervertiert und lächerlich gemacht – nur die im Vokabular gegebene ›Hülle‹ bleibt erhalten, während inhaltlich keinerlei Parallelität zum wirklichen Mysteriengeschehen herrscht: Die ›Weihe‹ gleicht einem Schnellverfahren, das so gar keine Ähnlichkeit mit den Initiationsriten und dem stufenweisen Ablauf hat, der hier vielmehr (zusammen mit den platonischen Subtexten zur ›Einweihung‹ in die Philosophie/Rhetorik) karikiert wird.746 In der Darstellung des 742

Vgl. Aristeid. Or. 28,113: ἐξορχοῦμαι δεικνὺς ἀμυήτῳ τὰ ἱερά. Vgl. z.B. Aristeid. Or. 41,2; Chor. Or. 8,5; Korenjak [2000] 215. 744 Zur weiteren Begründung der Blüte dieser Metaphorik vgl. auch Korenjak [2000] 217f.: Der sophistische Auftritt kann als quasireligiöser Akt verstanden werden, in dem eine (dem Publikum und Redner) gemeinsame Kulthandlung vollzogen wird und der als Gegenpol zum ebenfalls stark vertretenen Wettkampfdenken dient. 745 Vgl. den Kommentar zu §16: ἀτέλεστόν τινα καὶ κατάσκοπον τῶν ἀπορρήτων. 746 Vgl. über die Mysterien allgemein W. Burkert, Antike Mysterien. Funktionen und Gehalt, München 31994. 743

§14: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler

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Rednerlehrers überspringt der Schüler sozusagen alle Stufen und wird vom absolut Uneingeweihten direkt – in einem Tag (vgl. §15: πρὶν ἥλιον δῦναι) – zum Eingeweihten. Dies erinnert an die Beschreibung des Weges in §6, die vom Zielpunkt her (Berggipfel der Rhetorik) aufgerollt worden ist, so dass der Weg zur Nebensache wird, weil man das Ziel so rasch erreicht (vgl. dazu die Bemerkungen zu §6: νόμῳ [...] τοῦ γεγαμηκότος). Worin besteht nun der abgelehnte Vorunterricht, die προπαιδεία? Der Erstbeleg und gleichzeitig einzige Platonbeleg747 für das Substantiv προπαιδεία findet sich R. 536d: τὰ μὲν τοίνυν λογισμῶν τε καὶ γεωμετριῶν καὶ πάσης τῆς προπαιδείας, ἣν τῆς διαλεκτικῆς δεῖ προπαιδευθῆναι [...]. Erwähnt wird hier als Vorübung zur Dialektik der Elementarunterricht in Rechnen und Geometrie. Die Stelle scheint mir im vorliegenden Kontext wegen Ähnlichkeiten in der Formulierung bedeutsam zu sein, wobei die (abgelehnte) Vorübung (προπαιδεία) in Rh. Pr. ihren Platz nicht vor der Dialektik, sondern vor der Rhetorik (τὰ πρὸ τῆς ῥητορικῆς) hat. Der Rednerlehrer pervertiert einmal mehr platonische Aussagen, um den langen Weg zur Dialektik/Rhetorik abzulehnen, wodurch für die Rezipierenden gleichsam das andere (gängige) Paradigma des Subtextes aufscheint.748 Zum Inhalt und zur Betonung der Wichtigkeit der προπαιδεία im Bildungssystem (und als Grundausbildung des Philosophen) sind neben platonischen Texten auch zwei Passagen aus jüdisch-christlichen Autoren erhellend, die der Mysterienterminologie folgen, und damit wieder einen Bogen zurück zur vorliegenden Verbform προετελέσθης schlagen: Philon von Alexandria (De congr. erud. grat. 5) benutzt die Heiratsmetapher τὰ προτέλεια τῶν γάμων im Zusammenhang mit dem Erwerb von Weisheit und Tugend, mit denen man vorerst nur die »Vorriten« einer Hochzeit vollziehen kann, solange man das nötige Vorwissen nicht besitzt. Dieses ist – als Voraussetzung für das Betreiben von Philosophie – als μέση παιδεία umschrieben, bestehend aus den ἐγκύκλιοι ἐπιστῆμαι, die im Folgenden ausgeführt werden (§§14–18: Grammatik, Musik, Geometrie, Rhetorik, Dialektik).749

747 Auch Lukian verwendet das Substantiv nur an vorliegender Stelle. Zu erwähnen ist allerdings, dass Mysterien- und Einweihungsmetaphorik auch in Merc. Cond. eine Rolle spielt, der Schrift, die ja bereits bezüglich Wegmetaphorik und Kebes-Tabula Parallelen zu Rh. Pr. aufgewiesen hat (vgl. §6 unter dem Lemma ὁ Κέβης ἐκεῖνος). So wird das erste Essen, an dem der neue Hauslehrer teilnimmt, mit den »Vorriten« verglichen, bevor er richtig in die Hausgemeinschaft aufgenommen wird (§14: τὰ προτέλεια τῆς μελλούσης συνουσίας). 748 Vgl. zur Formulierung τὰ πρὸ τῆς ῥητορικῆς auch Plat. Phdr. 269b (τὰ πρὸ τῆς τέχνης). 749 Man vgl. auch Philon Quod deus sit immutabilis 148: τὰ προτέλεια τῆς σοφίας. Sehr häufig ist auch die (mit dem Begriff προπαιδεία verwandte) Bezeichnung dieses »Vorwissens« als τὰ ἐγκύκλια προπαιδεύματα (Philon De congr. erud. grat. 35; De fug. et inv. 184; De sacr. Abel. et Cain. 38).

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5. Kommentar (§§13–14)

Synesios (Dion 5,5) betont die Wichtigkeit der zum Philosophieren vorbereitenden Studien mit den Worten: [...] καὶ οὕτω μειονεκτεῖν ἀνάγκη τὸν ἄνδρα ἐκεῖνον, ὃς οὐ προετελέσθη τῷ κύκλῳ, καὶ τὰ Μουσῶν οὐκ ὠργίακε.750 τοῖς ἀνοήτοις καὶ ματαίοις Beide Adjektive sind häufig (Lukian: ἀνόητος 35 Belege, μάταιος 28 Belege), in Kombination erscheinen sie bei Lukian nur hier und vorlukianisch in einem Zusammenhang überhaupt nur einmal bei Platon (Lg. 967d): [...] καὶ δὴ καὶ λοιδορήσεις γε ἐπῆλθον ποιηταῖς, τοὺς φιλοσοφοῦντας κυσὶ ματαίαις ἀπεικάζοντας χρωμέναισιν ὑλακαῖς, ἄλλα τε αὖ ἀνόητ’ εἰπεῖν. Der Beleg ist interessant, weil es ebenfalls um die Diskreditierung von Gegnern – hier Philosophen – geht, deren Theorie über die vernunftbegabten Himmelskörper von den Dichtern als unnützes Gekläff und ihre Lehren überhaupt als unsinniges Geschwätz kritisiert werden. Gemäss dem »Athener« (im Gespräch mit Kleinias) sind die Philosophen allerdings im Recht: Hier wird deutlich, dass einer, der als ἀνόητος bezeichnet wird, dies je nach Kontext und Blickwinkel in Wahrheit nicht zu sein braucht. Ein Grossteil der lukianischen Belege für ἀνόητος kann grob in zwei Untergruppen geteilt werden: Entweder bezeichnet das Adjektiv die ungebildete, unverständige Menge (≈ οἱ πολλοί)751 oder einen vermeintlich Gebildeten, der aber in seinem Verhalten oder in dem, was er vermittelt, von einem anderen Gebildeten als ἀνόητος entlarvt wird.752 Diese Verwendungen entsprechen dem oben in Einleitung 2. dargelegten Prinzip der Dichotomie zwischen πεπαιδευμένοι und ἀπαίδευτοι bzw. der unter den πεπαιδευμένοι betriebenen Herabsetzung von Gegnern als ἀπαίδευτοι. Nicht selten wird die »unverständige Menge« dabei als von einem Scharlatan getäuschte herangezogen (während Gebildete wie der Autor sich nicht täuschen lassen, so z.B. wiederholt in Alex. 42 und 50; Peregr. 28 und 33; Lex. 17; weiter auch in Bis Acc. 23; Deor. Conc. 13). Der Rednerlehrer vollzieht an vorliegender Stelle eine Absetzung von anderen Rhetoriktheorien, also von gegnerischen Positionen, da er die anderen Rhetorikschüler, die sich auf den langen, mühevollen Weg begeben – und damit letztlich auch ihren Lehrer – durch diese Adjektive töricht

750 »[...] auch so ist jener Mann gezwungenermassen unterlegen, der nicht voreingeweiht ist in den allgemeinen Lehrgegenständen und der die [Mysterien] der Musen nicht gefeiert hat.« Vgl. hingegen die genau gegenteilige Aussage des Rednerlehrers (§14): ἀλλ’ ἀνίπτοις ποσίν – ἡ παροιμία φησίν – ἔμβαινε, οὐ μεῖον ἕξων διὰ τοῦτο. 751 Z.B. J. Trag. 20; Tim. 43; Alex. 42 und 50; Peregr. 28 und 33; Lex. 17. 752 So Alex. 54; Hermot. 53; Adv. Ind. 21: ἀνόητος καὶ ἀπαίδευτος ἄνθρωπος.

§14: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler

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schilt.753 Da aber das dem Schüler empfohlene und vom Lehrer vertretene Profil der absoluten Unbildung (§15: κόμιζε τοίνυν τὸ μέγιστον μὲν τὴν ἀμαθίαν) viel eher einen ἀνόητος oder μάταιος charakterisieren würde, ein Mitglied der ungebildeten, und daher oft auch vernunftlos handelnden Menge, bleibt die Aussage für den Rezipienten ambivalent.754 Die Aussage des Rednerlehrers enthält auch einen Rückbezug auf seine Selbststilisierung als Sokrates, der weiser ist als alle anderen, die daher als töricht gelten können.755 μετὰ πολλοῦ καμάτου Der mühselige Weg voller κάματος, auf dem die ἀνόητοι und μάταιοι wandeln, greift – da es sich ja auch hier um einen langen Weg zur Rhetorik handelt – verschiedene Formulierungen auf, die bisher die Anstrengung der langen Ausbildung symbolisiert haben (prominent sind vor allem die Verben πονεῖν und κάμνειν mit ihren Ableigungen): §2: πονῆσαι πολλὰ καὶ ἀγρυπνῆσαι; §3: πόνους προπονήσειν; καμόντα; [ὁδὸν] μακρὰν καὶ ἀνάντη καὶ καματηρὰν; §8: τοσαῦτα καμὼν οὐδὲν δέον; λέγοντα ἐκ τῶν πόνων φύεσθαι τὰ ἀγαθά; ἀπονητὶ γοῦν ὁρῶ; vgl. auch §7 und §9. ὁπόσα [...] ὁδοποιεῖ Das Verb ὁδοποιεῖν verwendet Lukian noch zweimal, Demon. 1 und Dial. Mar. 15,3; zur Konstruktion mit Akkusativ vgl. Demon. 1: ὁδοποιῶν τὰ ἄβατα (wörtl.: »Wege schaffend in bisher unbegangenem Gelände«), hier in Rh. Pr. auf alle diejenigen Disziplinen (ὁπόσα) bezogen, worin man sich in der Grundausbildung das nötige Vorwissen (προπαιδεία) erwirbt. ἀνίπτοις ποσίν Sprichwörtlich, wie an vorliegender Stelle explizit gesagt (ἡ παροιμία φησίν), von Lukian ebenfalls im Zusammenhang mit Bildung noch einmal (allerdings verneint) verwendet in Demon. 4 über das vorbildliche Leben des Philosophen Demonax, der »nicht mit ungewaschenen Füssen« (οὐ μὴν ἀνίπτοις γε ποσίν) zu seiner Weisheit und seinem bewundernswerten Charakter kam, sondern durch eine lange Ausbildung, und vgl. auch Pseudol. 4 753 Entsprechend äussert sich auch – auf den Lehrer des langen Weges bezogen – der Ratgeber in §9 (λήρους τινὰς ὁ μάταιος διεξιὼν πρὸς σέ). 754 Der Rednerlehrer verwendet das Adjektiv ἀνόητος noch ein weiteres Mal in der Schilderung seiner Karriere als Gerichtsredner (§25), wo er sich über seine »dummen Kunden« lustig macht, die sich von seinem vermeintlichen Können täuschen liessen und ihn zum Verteidiger nahmen, obwohl er die Prozesse meist verlor. 755 Mit diesem Hintergrund spielt auch Hermot. 53, wo Lykinos als Sokrates stilisiert ist (Hermotimos beschwert sich bei Lykinos): Μόνος δὲ σὺ τἀληθὲς κατεῖδες, οἱ δὲ ἄλλοι ἀνόητοι ἅπαντες ὅσοι φιλοσοφοῦσιν.

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5. Kommentar (§§13–14)

(ebenfalls verneint): οὐδὲ φιλαπεχθημόνως οὐδ’ ἀνίπτοις ποσὶ κατὰ τὴν παροιμίαν ἐπὶ τὸνδε τὸν λόγον ἀπηντήκαμεν [...]. Das Sprichwort lautet vollständig: Ἀνίπτοις ποσὶν ἀναβαίνων ἐπὶ τὸ στέγος (»mit ungewaschenen Füssen auf das Dach steigend«) und wird in seiner (übertragenen) Bedeutung erklärt als Bezeichnung für Leute, die unwissend und unvorbereitet zu gewissen Taten schreiten (ἐπὶ τῶν ἀμαθῶς ἐπί τινα ἔργα καὶ πράξεις ἀφικνουμένων).756 An vorliegender Stelle in Rh. Pr. steht der Kurzausdruck zusammenfassend für die davor besprochene Ablehnung jeglicher προπαιδεία (vgl. unten §15: κόμιζε τοίνυν τὸ μέγιστον μὲν τὴν ἀμαθίαν). Harmon weist im Kommentar zur Textstelle Pseudol. 4 (Loeb vol. 5, p. 379) zu Recht darauf hin, dass die Paroemiographen sowie die Suda zwar die übertragene Bedeutung erklären, nicht aber, was es eigentlich heisse, mit ungewaschenen Füssen auf das Dach zu steigen, und gibt als generelle Möglichkeit »it must have to do with the use of the roof as a sleepingplace«. Wir kommen auf die mögliche Herkunft des Sprichworts zurück; zuerst jedoch sollen zwei weitere Beispiele seiner übertragenen Verwendung angeführt werden, welche in platonischem Kontext stehen: Beide ziehen im Gegensatz zur hier vorliegenden Verwendung das Sprichwort in dem Sinn heran, dass gerade ein unvorbereitetes Vorgehen nicht ans Ziel führt, wobei sowohl Weg- als auch Mysterienmetaphorik ebenfalls erscheinen: Methodios von Olympos, in dessen (in Anlehnung an Platon benanntem) Werk Symposion die Jungfräulichkeit als Antizipation des Himmels gerühmt wird, formuliert die erste Lobrede aus dem Mund der Markella wie folgt (Symp. 1,1,22–26): ἧς δὴ ἐφιέμενοι καὶ πρὸς μόνον τὸ τέλος αὐτῆς ἀφορῶντές τινες, ἀνίπτοις ποσὶν ἀτελεῖς ὑπὸ βαναυσίας προσελθόντες, ἐκ μέσης ἀνέκαμψαν τῆς ὁδοῦ οὐδὲν ἄξιον φρόνημα τοῦ ἐπιτηδεύματος ἐπανῃρημένοι.757 Parallelen zu Rh. Pr. finden sich in der alleinigen Fixierung auf das Ziel hin (vgl. die einleitenden Bemerkungen zu §6), in der Mysterienmetaphorik bzw. der vernachlässigten stufenweisen Einweihung (vgl. oben), im Abbruch des Marsches, da für den Weg nicht die nötige innere Einstellung 756 Vgl. Paroemiographi Graeci vol. 1, p. 31, Nr. 95: Zenobios; vol. 1, p. 383, Nr. 29: Appendix; vgl. mit einer zusätzlichen Vorbemerkung zur Bedeutung »mangelnde Vorbereitung« auch Suda s.v. ἀνίπτοις ποσίν: ἀντὶ τοῦ ἀνετοίμοις, καὶ χωρίς τινος παρασκευῆς. καὶ παροιμία· Ἀνίπτοις ποσὶν ἀναβαίνων ἐπὶ τὸ στέγος, ἐπὶ τῶν ἀμαθῶς ἐπί τινα ἔργα καὶ πράξεις ἀφικνουμένων. 757 »Diejenigen, welche nach ihr [sc. der Jungfräulichkeit] streben und nur auf ihr Ziel hinsehen und mit ungewaschenen Füssen aufgrund ihrer Unbedarftheit uneingeweiht hingehen, kehren mitten auf dem Weg wieder um, weil sie keine dieser Lebensweise würdige Einstellung angenommen haben.«

§14: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler

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vorhanden ist (bzw. weil dieser zu anstrengend ist; vgl. über den steilen Weg §3 und §10). Im Zusammenhang mit Philosophie, Dialektik und Wahrheitssuche ist der zweite Text zu verorten, Proklos In Parmenid. 990: Der Aufstieg (ἄνοδος) zu Wissen und Wahrheit, den man als junger Mann (νέος) in Angriff nimmt, und zwar mit grossen Mühen (μεγάλοι πόνοι), muss in einer bestimmten Ordnung (τάξις) Stufe für Stufe fortschreiten. Wird er aber ungeordnet und mit »uneingeweihten Mündern« (ἀμυήτοις στόμασιν) und »ungewaschenen Füssen« (ἀνίπτοις ποσίν) begangen, so gleicht das einem unerfüllten Vorangehen, einem leeren Verlangen und blinden Pfad. Der Aufstieg zu etwas Hohem kann daher nur stufenweise durch Unteres und Mittleres hindurch erfolgen.758 Dieser Text weist zusätzlich Parallelen in Bezug auf das Lebensalter des Marschierenden und die Beschaffenheit des Weges (Anstrengung) auf. Wie bereits die platonischen Subtexte mit der Mysterienmetaphorik (vgl. oben) zeigen auch diese beiden Beispiele die gängige Art der Verwendung der Metaphorik und des vorliegenden Sprichwortes, dass nämlich ein unvorbereitetes und ohne Einweihung vor sich gehendes Fortschreiten auf dem (Lebens-)Weg nicht den entsprechenden Erfolg bringt – einen Inhalt, den der Rednerlehrer in seiner Darstellung in genau umgekehrter Weise propagiert und diesen Bruch mit der Tradition zudem durch den Zusatz ἡ παροιμία φησίν heraushebt.759 Aufgrund der Vermischung mit Mysterienmetaphorik scheint mir aber nicht zuletzt auch die religiöse Komponente des Ausdrucks ἀνίπτοις ποσίν (und parallel dazu: ἀνίπτοις χερσίν) bedeutsam zu sein und vielleicht sogar den eigentlichen Ursprung des Sprichwortes zu bilden: Die Rede ist vom Verbot des Betretens eines Heiligtums mit ungewaschenen Füssen bzw. des Verrichtens sakraler Handlungen mit ungewaschenen Händen, weil darin eine Befleckung liegt.760 Auch die Übertragung des Betretens heiliger Orte mit »ungewaschenen Füssen« auf die (intellektuell) unvorbereitete Herangehensweise an Religiöses (religiöse Texte) lässt sich nachzeichnen.761 Ein758

Vgl. In Parmenid. 991: διὸ καὶ τῷ Πλάτωνι καὶ τοῖς Λογίοις πειθόμενον διὰ τῶν ἡμῖν προσεχεστέρων ἀεὶ ποιητέον ἐπὶ τὰ κρείττω καὶ ἀπὸ τῶν χαμαιζηλοτέρων διὰ τῶν μέσων ἐπὶ τὰ ὑψηλότερα τὰς ἀνόδους. 759 Abgesehen von dieser Deutung, die mir hier am passendsten scheint, könnte der erklärende Zusatz auch als reine rhetorische Gelehrsamkeit oder aber als indirekte Charakterisierung des Schülers, dem man als unwissendem Neuling alles sagen muss, verstanden werden. 760 Die Belege sind zahlreich, vgl. z.B. Kyrill In XII prophetas vol. 1, p. 248,2 Pusey (καὶ ἀνίπτοις ἰόντες ποσὶν εἰς τὸν θεῖον οἶκον οὐκ ἐρυθριᾶτε); Euseb. HE 10,4,39; Philon De spec. leg. 2,6,7; Paroemiographi Graeci vol. 1, p. 187, Nr. 43 (Diogenian): Ἀνίπτοις χερσίν· ἐπὶ τῶν βεβήλοις χερσὶ τοῖς ἱεροῖς ἐγχειρούντων. 761 Vgl. dazu Basilios Ascet. magn. PG 31,944,42 Migne: Οὐ μὴν οὐδὲ ἀνίπτοις ποσὶν ἐπιτρέπειν χρὴ τῆς σεμνότητος ἐπιβαίνειν τῶν διδαγμάτων und Aineias von Gaza Ep. 21,1–5: Οἱ μὲν

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5. Kommentar (§§13–14)

zig die Bewegung des ἀναβαίνειν ἐπὶ τὸ στέγος bereitet Probleme, da im religiösen Kontext im Zusammenhang mit dem Sprichwort weder das Hinaufgehen (ἀναβαίνειν) noch στέγος im Sinne eines Heiligtums o.ä. belegt ist,762 so dass in der längeren Version letztlich vielleicht doch die weltliche Komponente des Besteigens eines Hausdaches gemeint ist (s.o.); allerdings erwähnt Lukian die Fortsetzung des Sprichwortes gerade nicht, so dass der religiöse Hintergrund auf jeden Fall enthalten sein kann. τὸ κοινότατον Zwei mögliche Bedeutungen dieses Einschubs liegen vor: a) »das Gängigste« im Sinne dessen, was im Moment allgemein in Mode ist, daher Harmons Übersetzung (153) »even if you are quite in the prevailing fashion and do not know how to write«,763 oder b) »das Gängigste, Allgemeinste« im Sinne dessen, was jeder kann oder weiss.764 Beide Möglichkeiten haben etwas für sich, da sie den absolut unbeleckten Einstieg als Redner (ἀνίπτοις ποσίν) weiter hervorheben: Normalerweise begann man die Schulausbildung (vgl. oben προπαιδεία) mit dem Unterricht beim Grammatiker, um Lesen und Schreiben zu erlernen (vgl. oben Philon De congr. erud. grat. 5,14). Die erste Übersetzungsvariante erzeugt durch das Propagieren einer neuartigen ›Ausbildung‹ einen Traditionsbruch – der Konvention widersprechend wäre es nun das Gängigste, nicht schreiben zu können –, wie es in Rh. Pr. so oft der Fall ist (vgl. z.B. §9 und §17). So besehen könnte diese Variante im Sinne des Selbstverständnisses und der Sprechweise des Rednerlehrers vorzuziehen sein.

§15: Voraussetzungen in Charakter und Erscheinungsbild (Präliminarien/Prothesis) Die hier gegebenen Instruktionen zu Charakter und Erscheinungsbild eines Starsophisten stehen in direktem Bezug zu seiner Haupttätigkeit im Rahmen der öffentlichen Auftritte und zum engen Kontakt mit dem Publikum. πολλοί, τὸ δὴ λεγόμενον, ἀνίπτοις ποσὶν ἐπιπηδῶσι τοῖς ἱεροῖς, καθάπερ ὁ τοῦ Πλάτωνος χαλκεὺς ἐκεῖνος ὁ φαλακρός, ὃς ἔτι καπνοῦ καὶ δυσωδίας ὄζων ἐπανέστη τῇ δεσποίνῃ. σὺ δὲ ἐξ ἱεροῦ διαβαίνεις εἰς ἱερόν, ἐκ φιλοσοφίας εἰς ἱερωσύνην. 762 Es finden sich nur Ausdrücke wie ἰέναι ἐπὶ τὴν εἴσω σκηνήν (Kircheninneres; Kyrill PG 77,580,14 Migne) oder εἰσθέων εἰς τὴν τοῦ μαρτυρίου σκηνήν (tabernaculum Mosis; Kyrill PG 68,781,39 Migne). 763 Vgl. auch Möllendorff [2006a] 175: »[...] auch wenn du, wie es heutzutage ganz normal ist, noch nicht einmal schreiben kannst.« 764 Vgl. Wieland [1974] Bd. 3,224: »[...] wenn du auch, was jedermann kann, nicht einmal deinen Namen schreiben könntest.«

§15: Voraussetzungen des Redners (Präliminarien/Prothesis)

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Jede Performance muss gemäss dem Rednerlehrer – um rasch Erfolg zu bringen – ohne jede Scham und Rücksichtnahme mit allerlei Tricks angegangen werden. Die Rhetorik wird so zur reinen Show pervertiert und zur Schauspielerei, denn der äusserlichen Erscheinung, insbesondere der Kleidung, wird – im Sinne einer ›Verkleidung‹ – höchste Priorität eingeräumt. Die Beschreibung eines solchen trügerischen Rednerdaseins weist bei Lukian Parallelen in der Darstellung von Scheinphilosophen auf, die zur Zeit der Zweiten Sophistik ebenfalls im Rahmen der öffentlichen Vortragstätigkeit agierten. Zu diesen Parallelen in der Symbolik der Scheingelehrten und Betrüger vgl. ausführlich die Einleitung 3. Auf die auffälligsten Paralleltexte wird im folgenden Kommentar jeweils hingewiesen. Der Rednerlehrer unterteilt seine Unterweisung von Anfang an in zwei Bereiche, einerseits in das, was der Schüler »von zu Hause« (οἴκοθεν) selbst mitbringen muss,765 und andererseits in die Lehre im engeren Sinn, die er ihm auf dem Weg zum Gipfel der Rhetorik vermitteln will (καὐτὸς ἃ μὲν ἐπιδεικνὺς κατὰ τὴν ὁδόν, ἃ δὲ καὶ παραινῶν) und die erst ab §16 im Detail vorgetragen wird. ἐφόδια [...] ἐπισιτίσασθαι Die Begriffe knüpfen als typisches Reisevokabular an die Wegmetaphorik und als häufig auch militärisches Vokabular an den historiographischen Duktus an (vgl. die Diktion des Ratgebers in §5); in beiden Bereichen hält sich der Rednerlehrer damit wiederum eng an die Sprechweise seines Vorgängers (vgl. die einleitenden Bemerkungen zu §§13–14). Das Substantiv ἐφόδιον, meist im Plural ἐφόδια, bezeichnet wörtlich »das, was für oder auf einer Reise [nötig bzw. dienlich] ist«, wobei damit Versorgungsmittel aller Art gemeint sein können, v.a. Geld zur Deckung der Reisekosten und Nahrungsmittel (vgl. LSJ s.v.: supplies for travelling, money and provisions, esp. of an army). Vgl. Thuk. 6,31,5 (Reisekosten); 6,34,5 (Lebensmittel); Hdt. 4,203,3 (Reiseausrüstung allgemein); 6,70,1 (Lebensmittel; jeweils in der ion. Form ἐπόδια); Xen. An. 7,8,2 (Reisekosten). Lukian verwendet den Begriff insgesamt 8x, im oben genannten Sinn Peregr. 16; Pseudol. 21; öfter aber übertragen zur Bezeichnung der (bloss scheinbaren, falschen) Ausrüstung oder Qualifikation hauptsächlich von Philosophen und Sophisten: Demon. 12; Rh. Pr. 15 und 24; Pisc. 45; Fug. 13; vgl. auch Abd. 24. Die engsten Parallelen – generell zum vorliegenden 765 Damit scheint sich der Lehrer auf den ersten Blick zum Bereich der φύσις, der angeborenen Eigenschaften zu äussern, die den von Natur aus zur Rhetorik Begabten auszeichnen. Doch solche condiciones sine quibus non werden sofort konterkariert, da hauptsächlich Eigenschaften genannt werden, die jeder mitbringen kann: Unwissenheit, Verwegenheit, Unverschämtheit etc. Vgl. zum Konventionsbruch dieser Passage bereits die Einleitung 1.3, S. 39.

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5. Kommentar (§15)

Abschnitt Rh. Pr. 15766 – weist dabei folgende Stelle in Fugitivi auf, worin sich die personifizierte Philosophie bitter über die Scheinphilosophen beklagt, die sich ihr bloss zuwenden, um sich ein finanziell angenehmeres Leben zu verschaffen (§13): [...] τόλμαν καὶ ἀμαθίαν καὶ ἀναισχυντίαν προσπαρακαλέσαντες, αἵπερ αὐτοῖς μάλιστα συναγωνίζονται, καὶ λοιδορίας καινὰς ἐκμελετήσαντες, ὡς πρόχειροι εἶεν καὶ ἀνὰ στόμα, ταύτας μόνας ξυμβολὰς ἔχοντες – ὁρᾷς ὁποῖα πρὸς φιλοσοφίαν ἐφόδια; – σχηματίζουσιν καὶ μετακοσμοῦσιν αὑτοὺς εὖ μάλα εἰκότως καὶ πρὸς ἐμέ [...].767 Die Parallelität zeigt sich in der Art und Weise, wie man auf schnellem, leichtem Weg zum Philosophen oder Sophisten wird, auch oder gerade wenn man über keinerlei Bildung verfügt, wobei sich die Textstellen nicht nur inhaltlich, sondern bis ins Detail der Formulierungen hinein ähnlich sind. Bestimmte Charakterzüge wie Tollkühnheit und Unverschämtheit und einige Standardweisheiten helfen, sich trotz mangelndem Wissen als das behaupten zu können, wofür man sich ausgibt. Und betont wird vor allem auch die Wirksamkeit des Anpassens der äusseren Erscheinung. All dies wird zusammenfassend und spöttisch als »Proviant, Ausrüstung« für das Agieren als Sophist oder Philosoph (ἐφόδια πρὸς τὴν πορείαν [sc. zur Rhetorik] / πρὸς φιλοσοφίαν) bezeichnet. Zum Verb ἐπισιτίζεσθαι »sich Lebensmittel verschaffen, sich verproviantieren« vgl. Thuk. 6,94,3; 8,95,4; Hdt. 7,176,5; 9,50,1; Xen. An. 2,5,38; 6,2,4. Lukian verwendet das Verb insgesamt 7x, davon 3x im Zusammenhang mit Essensvorräten (Ver. Hist. 2,53; Ikaromen. 11; Tox. 58 – jeweils ebenfalls in einem Reisekontext), ansonsten aber auch übertragen in Bezug auf einen Geldvorrat (Gall. 16; Fug. 20) und in Rh. Pr. 15 und 17 (s. auch dort) in Bezug auf die »Rhetorikvorräte«, die ein angehender Sophist braucht. Auch hier weist die Stelle in Fugitivi die engsten Parallelen zu Rh. Pr. auf (s. bereits oben zu Fug. 13): Das Verb »sich verproviantieren« erscheint jeweils im Kontext der Handlungen von Scharlatanen und Scheingelehrten, die einen kurzen Weg begehen und einen oberflächlich-theatralischen Auftritt liefern. Die Scheinphilosophen in Fug. agieren nur so lange, bis sie sich genügend bereichert haben (ἐπειδὰν ἱκανῶς συλλέξωνται καὶ ἐπισιτίσωνται) an all dem Geld, das sie von ihren Schülern fordern; dann

766 Vgl. auch §16: σχήματος μὲν τὸ πρῶτον ἐπιμεληθῆναι χρὴ μάλιστα καὶ εὐμόρφου τῆς ἀναβολῆς, ἔπειτα πεντεκαίδεκα ἢ οὐ πλείω γε τῶν εἴκοσιν Ἀττικὰ ὀνόματα ἐκλέξας ποθὲν ἀκριβῶς ἐκμελετήσας, πρόχειρα ἐπ’ ἄκρας τῆς γλώττης ἔχε [...]. 767 »[...] sie rufen Tollkühnheit, Unbildung und Unverschämtheit zu sich, die ihnen ganz besonders kämpfen helfen, und lernen neue Schimpftiraden auswendig, damit sie sie jederzeit zur Hand und auf der Zunge haben. Allein mit diesen Mitteln – siehst du, welche Art von Proviant sie zum Philosophieren haben? – staffieren sie sich aus und geben sich selbst eine sehr glaubwürdige andere Gestalt, die meine nachahmt.«

§15: Voraussetzungen des Redners (Präliminarien/Prothesis)

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werfen sie ihre Philosophen-Verkleidung weg und führen ein luxuriöses Leben.768 ὡς ἂν τάχιστα διανύσαι δυνηθείης ὡς leitet hier einen Finalsatz ein, ist daher nicht auf τάχιστα (wie häufig in der Wendung ὡς/ὅτι τάχιστα »möglichst schnell«) zu beziehen (vgl. auch §1: πάνυ θαρρῶν ὡς τάχιστα δεινὸς ἀνὴρ ἔσῃ γνῶναί τε τὰ δέοντα [...]). Zum Optativgebrauch im Finalsatz vgl. die Angaben zu §6: ὡς γαμήσειάς [...] ἔχοις. ἔπειτα καὶ αὐτὸς ἃ μὲν προϊόντι ἐπιδεικνὺς κατὰ τὴν ὁδόν, ἃ δὲ καὶ παραινῶν Die beiden Partizipien, welche einerseits ein praxisbezogenes »Vorzeigen« (ἐπιδεικνύναι) der Lehre, andererseits deren theoriebezogeneres »Anraten« (παραινεῖν) beinhalten, können auf der Ebene der Rhetoriktheorie ausgedeutet werden: Der Rednerlehrer nimmt für sich die epideiktische neben der paränetisch-symbuleutischen Sprechweise in Anspruch und liefert so die Stichworte für das Genre der folgenden Rede, welches in beiden Bereichen völlig parodiert wird: Die Ratschläge entsprechen den platten Regeln und Tricks, die der Lehrer im Folgenden für den Schüler durchgeht und exemplifiziert. Die ἐπίδειξις, wiewohl ein Zurschaustellen bzw. das Halten einer Prunkrede, bezieht sich ursprünglich auf den Inhalt ebendieser Rede,769 während hier, aufgrund des dürftigen Inhalts, fast nur auf die äusserliche Show des Sophisten und damit auf Schauspielerei Bezug genommen wird. In Platons Sophistenkritik erhält der Begriff ἐπίδειξις schon früh eine negative Konnotation (vgl. z.B. Plat. Cra. 384b; Grg. 447c). Zum Element der Vorzeigens und der damit verbundenen Optik vgl. auch den Kommentar zu §16: ὅρα καὶ ἄκουε. Zum Verb παραινεῖν vgl. auch die Wiederaufnahme in §25: ταῦτά σοι παραινῶ. πρὶν ἥλιον δῦναι Zur Kürze des Weges, der in weniger als einem Tag absolvierbar ist, vgl. bereits allgemein formuliert §1: τάχιστα; §3: ἐπιτομωτάτην [ὁδόν], ἐν βραχεῖ; §4: ἐν βραχεῖ, τὴν ταχίστην ὁδόν; und spezifisch die Dauer von knapp einem Tag angebend §6: μιᾶς οὐδὲ ὅλης ἡμέρας. Auch hier bezie768 Auch Plutarch verwendet das Verb übertragen und spöttisch im Sinn von »sich ausstaffieren zur Sophisterei« (mor. 78f: εὐθὺς ἐπισιτίζονται πρὸς σοφιστείαν). 769 Vgl. zu den drei Genera der Rhetorik Aristoteles Rh. 1358a–b: Der Hörer (ἀκροατής) der epideiktischen Rede ist ein »Zuschauer« (θεωρός), der über die Redefähigkeit des Vortragenden urteilt (κρίνων [...] περὶ δυνάμεως). Vgl. auch die Verwendung des Begriffs ἐπίδειξις in neutralem bzw. positivem Sinn als gängige Bezeichnung eines Rednervortrags Luk. Herc. 7 und Prom. Es 2.

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5. Kommentar (§15)

hen sich die Äusserungen des Rednerlehrers bestätigend zurück auf diejenigen des Ratgebers (s.o. zu: ἐφόδια [...] ἐπισιτίσασθαι). ῥήτορά σε ὑπὲρ τοὺς πάντας ἀποφανῶ, οἷος αὐτός εἰμι Der Schüler wird alle Konkurrenten überflügeln, vgl. dazu bereits §13 über die Person bzw. das Können des Rednerlehrers, welches sogar die Riesen Tityos, Otos und Ephialtes übertrifft: ὑπὲρ ἐκεῖνους πολὺ φανεῖταί σοι τὸ πρᾶγμα ὑπερφυὲς καὶ τεράστιον. Bereits auf der lexikalischen Ebene wird so die Verbindung zwischen Lehrer und Schüler ausgedrückt – der Schüler wird nach absolvierter Ausbildung ein Ebenbild des Lehrers sein –, was dann nachdoppelnd noch explizit gesagt wird (οἷος αὐτός εἰμι, vgl. genauso unten: βάδισμα οἷον τὸ ἐμόν). Der Zusatz macht auch insofern Sinn, als ohne diese Aussage im Übertreffen aller der Lehrer selbst eingeschlossen wäre. ἀναμφιλέκτως Das Adjektiv ἀναμφίλεκτος ist klassisch ungebräuchlich,770 entspricht in seiner Bedeutung »unbestritten, zweifellos« dem etwas häufigeren und seit Xenophon belegten ἀναμφίλογος (o-stufig; vgl. Xen. Mem. 4,2,34; Oec. 4,8; Smp. 3,4; auch Lukian Harmonid. 2; Hermot. 36).771 Dass ἀναμφίλεκτος zur Zeit der Zweiten Sophistik in Gebrauch war, belegt Pollux 5,151, wo ἀναμφίλεκτον neben Begriffen wie ἀναμφίλογον, βέβαιον und ἀναντίλεκτον772 aufgeführt ist; vgl. weiter Longin 7,4 (πίστιν ἰσχυρὰν καὶ ἀναμφίλεκτον); Galen In Hipp. de victu acut. comm. 4, vol. 15, p. 440 (τοὺς ἐναργῶς τι καὶ ἀναμφιλέκτως δείξαντας). Der Rednerlehrer streicht also sein Eigenlob durch diese markante, seltene Vokabel noch stärker hervor. τὰ πρῶτα καὶ μέσα καὶ τελευταῖα τῶν λέγειν ἐπιχειρούντων Diesen Ausdruck mit der Dreiergruppe τὰ πρῶτα καὶ μέσα καὶ τελευταῖα verwendet Lukian nur hier, vgl. aber zur Verwendung des Neutrums τὰ πρῶτα im Sinn von »der erste [sein]« bzw. »den Anfang [bilden]« Luk.

770 Die frühesten zwei Belege stammen aus dem Hellenismus (Epikur, Chrysipp), danach ist der grösste Teil vorlukianischer Belege aus dem 1. Jh. v.Chr. bei Dionysios von Halikarnass zu finden (6 Belege: Ant. Rom. 4,47,6; 5,48,3; 5,55,2; 5,55,3; 9,44,7; 12,1,13). Lukian selbst verwendet das Adjektiv nur an vorliegender Stelle. 771 Ebenfalls selten sind die entsprechenden Verben ἀμφιλέγειν resp. ἀμφιλογεῖσθαι; klassisch häufig belegt ist einzig die positive Form des Adjektivs, ἀμφίλογος, vgl. A. Pers. 905; Thuk. Hist. 4,118,9; E. Med. 638; Soph. Ant. 111; Xen. Hell. 5,2,10. 772 Auch dieses Adjektiv verwendet Lukian (Cal. 6; Eun. 13).

§15: Voraussetzungen des Redners (Präliminarien/Prothesis)

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Hipp. 3; Tim. 35 und 55.773 Syntaktisch kann dieser Nachsatz als abhängig von ἀποφανῶ aufgefasst werden: »auf unbestrittene Weise zu Anfang, Mitte und Ende machen«. Es scheint mir eine Anspielung auf Demosth. In Aristogeit. 1,8f. vorzuliegen, wo Demosthenes seinen Gegner als zwielichtige Rednerfigur mit äusserst schlechtem Charakter beschimpft. Seine Anhängerschaft benehme sich wie Tiere, bringe Schande über Athen, und er sei das allererste von ihnen, eben ihr Anführer und Drahtzieher (hervorgehoben sind auch weitere Begriffe, die Rh. Pr. 15 aufgreift): βουλοίμην δ’ ἂν [...] σπουδάσαντας ὑμᾶς ἐξετάσαι διὰ βραχέων εἰς ὅσην αἰσχύνην καὶ ἀδοξίαν προῆχε τὴν πόλιν δημοσίᾳ πάντα τὰ τοιαῦτα θηρία, ὧν μέσος καὶ τελευταῖος καὶ πρῶτός ἐστιν οὗτος. [...] εἰς τὰς ἐκκλησίας ἀναβαίνουσιν, ἐν αἷς ὑμεῖς γνώμης ἀπόδειξιν, οὐ πονηρίας τοῖς λέγουσιν προτίθετε, τόλμαν καὶ κραυγὴν καὶ ψευδεῖς αἰτίας καὶ συκοφαντίαν καὶ ἀναισχυντίαν καὶ πάντα τὰ τοιαῦτα συνεσκευασμένοι, ὧν οὐκ ἂν εὕροι τις ἐναντιώτερα τῷ βουλεύεσθαι, [...]. Das von Demosthenes zur Beschimpfung seines Gegners herangezogene Vokabular dient gemäss dem Mittel der ironischen Umkehrung in Rh. Pr. als positives und erstrebenswertes Ziel eines Redners, der damit so sein will, wie der widerwärtige Aristogeiton in Demosthenes’ Schilderung. Die Demosthenesrede bietet also einen Subtext, der die Ironie des vorgetragenen Lehrgangs deutlich herausstreicht und die gängige negative Konnotation von Charakterzügen wie τόλμα und ἀναισχυντία betont (s.u.).774 κόμιζε Dieser Imperativ »bringe mit« eröffnet die erste aufzählende Passage darüber, was man als Rhetorikaspirant wirklich braucht, und bildet so das positive Gegenstück zur vorangegangenen Passage über das Abzulehnende (§14: ἄλλο γάρ τι παρὰ ταῦτα ὁ ῥήτωρ). Die folgenden, dem Schüler in dicht gedrängter Zahl präsentierten Begriffe sind in ihrer Anwendung auf die »Naturanlage« (φύσις) des angehenden Redners höchst ironisch, da sie einmal mehr mit der Konvention brechen: ἀμαθία, θράσος, τόλμα, ἀναισχυντία (s.u.).775

773 Vgl. zur Form (Akk. Pl. n.) auch den Ausdruck τὰ πρῶτα φέρεσθαι, »[im Wettkampf] den ersten Preis gewinnen« oder übertragen »das höchste Ansehen geniessen« etc. (z.B. Luk. Ver. Hist. 2,18). 774 Zur Überheblichkeit der Aussage der allumfassenden Priorität des Redners vgl. den religiösen Kontext in Plat. Lg. 715e (= OF 21 Kern): ὁ μὲν δὴ θεός, ὥσπερ καὶ ὁ παλαιὸς λόγος, ἀρχήν τε καὶ τελευτὴν καὶ μέσα τῶν ὄντων ἁπάντων ἔχων [...]. 775 Zur Ironisierung aufgrund der Konventionsbrüche vgl. die Einleitung 1.6, S. 64f. Zur Pervertierung der idealen φύσις eines Redners vgl. auch die Einleitung 1.3, S. 39.

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5. Kommentar (§15)

τὴν ἀμαθίαν Nicht etwa παιδεία, Bildung, die ein Exponent der Zweiten Sophistik wohl für jede rhetorische Tätigkeit als Kernvoraussetzung nennen würde, stellt der Rednerlehrer an den Beginn seines Anforderungsprofils, sondern er macht sogleich klar, dass keinerlei Vorbildung, ja nicht einmal der gewöhnlichste Elementarunterricht nötig sei. Ein angehender Redner bedarf vielmehr ganz anderer Dinge (vgl. schon §14). Unbildung, ἀμαθία, wird so umgekehrt geradezu zur Voraussetzung einer erfolgreichen rhetorischen Laufbahn. Damit wird der unter allen Beispielen in Rh. Pr. wohl offensichtlichste und provokativste Bruch mit der Konvention vollzogen und die zeitgenössische Rhetorik stark pervertiert, denn Bildung ist eine wesentliche, ja unabdingbare Eigenschaft für die kaiserzeitlichen Aristokraten und insbesondere für alle, die sich derart öffentlich exponieren wie die Sophisten.776 So macht denn auch in Lukians Satiren gegen Sophisten Unbildung einen Hauptkritikpunkt aus (vgl. Pseudol. 2, 9, 13, 15; Sol. 3 und 9; Lex. 23). Auch der Kontrast zu der vom Schüler angestrebten Bezeichnung als σοφιστής ist zu beachten, wird doch der Begriff in erster Linie verbunden mit Kenntnis und Klugheit (σοφία) und dient zur Bezeichnung dessen, der sich in einem bestimmten Gebiet auskennt, eines Experten oder Gelehrten in weit zu fassendem Sinn, von dem das jeweils entsprechende Wissen gefordert wird.777 θράσος ἐπὶ τούτῳ καὶ τόλμαν καὶ ἀναισχυντίαν Siehe dazu bereits die Bemerkungen oben unter τὰ πρῶτα καὶ μέσα καὶ τελευταῖα τῶν λέγειν ἐπιχειρούντων. Solche negativen Charaktereigenschaften zieht Lukian andernorts zur Verspottung von Scheinphilosophen heran. Beispielsweise bezeichnet die personifizierte Philosophie gegenüber Zeus die Aneignung des entsprechenden Charakters als ersten und wichtigsten Schritt im Vorgehen der Sklaven und Handwerker, die sich als Philosophen ausgeben wollen (Fug. 13): τόλμαν καὶ ἀμαθίαν καὶ ἀναισχυντίαν προσπαρακαλέσαντες, αἵπερ αὐτοῖς μάλιστα συναγωνίζονται, [...]; (vgl. dazu auch bereits oben unter ἐφόδια [...] ἐπισιτίσασθαι). Vgl. auch Fug. 4: ὁ βίος δὲ παμμίαρος αὐτῶν [sc. der Scheinphilosophen], ἀμαθίας καὶ θράσους καὶ ἀσέλγειας ἀνάπλεως. 776 Vgl. dazu Schmitz [1997] 44–50 und 136–146. Inschriftenmaterial zeigt, dass es zu Lukians Zeit »eine weitverbreitete Gewohnheit war, die παιδεία des Geehrten als Aspekt seiner Gesamtpersönlichkeit aufzufassen« (Schmitz [1997] 136) und in einem Zug mit Charaktereigenschaften wie μεγαλοφροσύνη (»Grossmut«) oder δικαιοσύνη (»Gerechtigkeit«) zu nennen. 777 Neben den häufigen Belegen in der enger gefassten Bedeutung »Redner« benutzt Lukian σοφιστής durchaus auch in diesem allgemeinen Sinn als Kenner irgendeiner τέχνη (z.B. Vit. Auct. 12; Philopseud. 16; Luct. 20). Vgl. auch die Angaben im Kommentar zu §1: ῥήτωρ [...] σοφιστὴς.

§15: Voraussetzungen des Redners (Präliminarien/Prothesis)

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Im strukturellen Aufbau der Passage wird Parallelität erzeugt, indem den vier genannten ›Tugenden‹ – ἀμαθία, θράσος, τόλμα, ἀναισχυντία – in der Fortsetzung vier ›Untugenden‹ – αἰδώς, ἐπιείκεια, μετριότης, ἐρύθημα – entgegengehalten werden, wobei die Werte der gängigen Vorstellung entgegengesetzt festgelegt sind (die Konventionalität der letztgenannten Charakterzüge scheint in der Formulierung οἴκοι ἀπόλιπε durch, da sie dem Schüler offenbar durchaus zur Verfügung stünden; siehe zur Konvention auch die Bemerkungen zum folgenden Lemma). ἀχρεῖα γὰρ καὶ ὑπεναντία τῷ πράγματι Die abgelehnten, grundsätzlich allerdings positiven Charakterzüge (Rücksichtnahme, Anstand, Masshaltung, Schamgefühl) werden als dem zukünftigen Beruf geradezu abträglich gebrandmarkt: Alles, was einen schamlosen Auftritt behindern könnte, muss aus dem Charakter des angehenden Starredners verbannt werden. Vgl. im Gegenteil dazu die kommentierende Aussage des Rednerlehrers zu Stimme, Gesang und Gang: ταῦτα δὲ πάνυ ἀναγκαῖα καὶ μόνα ἔστιν ὅτε ἱκανά. Mit ganz entgegengesetzten Charakterzügen, die aus platonisch-philosophischem Hintergrund stammen, wird der junge Redner Lukian in Somnium 10 von seiner Lehrerin Paideia versehen (σωφροσύνη, δικαιοσύνη, εὐσέβεια, πραότης, ἐπιείκεια, σύνεσις, καρτερία: genauer dazu siehe Einleitung 1.5.b), und in Bis Acc. 17 kehrt ein ›geläuterter Philosoph‹ bei den Akademikern zu Besonnenheit (σωφροσύνη) und Schamgefühl (αἰδώς, ἐρύθημα) zurück und legt sein lautes Geschrei, seinen Gesang sowie seine Verkleidung ab – genau diejenigen Elemente, die den betrügerischen Scheingelehrten und seinen Auftritt kennzeichnen (zur Kleidung s.u. §15, zu Gesang und Geschrei §19). Auch die Briefe des Libanios, in welchen er die Väter oder andere männliche Verwandte über Entwicklung und Fortschritte der betreffenden Schüler informiert, geben Aufschluss über das gängige Konzept einer erfolgreichen Ausbildung, die sowohl Charakterqualitäten und gutes Benehmen als auch fachliche Resultate umfasst; vgl. z.B. Ep. 601: Ὁ τῆς παιδός σου παῖς τοιοῦτός ἐστιν, οἷον εὔξαιτο ἂν ὁ πάππος, λόγων ἐραστής, σωμάτων οὐκ ἐραστής, θράσους ἀφεστηκώς, ἐπιεικείᾳ φίλος [...].778 Dem vorliegenden Kontext ähnlich in der Formulierung ist der spöttische Aufruf des Parrhesiades an die Scheinphilosophen, sich zur Verteilung von Geschenken auf der Akropolis einzufinden (Pisc. 41): κομίζειν δ’ ἕκαστον σωφροσύνην μὲν ἢ δικαιοσύνην ἢ ἐγκράτειαν μηδαμῶς· οὐκ ἀναγκαῖα 778

Siehe dazu auch Cribiore [2007] 127f. Zum Erröten (ἐρύθημα) als Zeichen der Bescheidenheit eines Redners vgl. Lib. Or. 18,30: ὁ δὲ λέγων τε ἦν ὁμοίως θαυμαστὸς καὶ αἰδούμενος, οὐ γὰρ ἦν ὅ τι χωρὶς ἐρυθήματος ἐφθέγγετο. τῆς μὲν οὖν πρᾳότητος ἅπαντες ἀπέλαυον, [...].

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5. Kommentar (§15)

γὰρ ταῦτά γε, ἢν μὴ παρῇ· πέντε δὲ συλλογισμοὺς ἐξ ἅπαντος· οὐ γὰρ θέμις ἄνευ τούτων εἶναι σοφόν. Gute und für einen Philosophen herkömmliche Charaktereigenschaften sind unnötig, unabdingbar hingegen als Ausrüstung sind fünf Syllogismen – diese finden beim Beruf des Redners ihre Parallele in den attizistischen Standardvokabeln (vgl. Rh. Pr. 16: πεντεκαίδεκα ἢ οὐ πλείω γε τῶν εἴκοσιν Ἀττικὰ ὀνόματα ἐκλέξας κτλ.). βοὴν ὅτι μεγίστην καὶ μέλος ἀναίσχυντον Neben der Unbildung und bestimmten Charakterzügen benennt der Rednerlehrer nun mit der Erwähnung einer möglichst lauten Stimme und einem hemmungslosen Singsang konkrete Elemente, die der Sophist für einen effektvollen Auftritt benötigt. Das μέλος ἀναίσχυντον bezeichnet, wie später (§§19–20) deutlich wird, eine typische, bei Philostrat gut bezeugte melodiöse Vortragsweise der Sophisten, welche vor allem zur Untermalung wichtiger Passagen der Rede oder in der peroratio angewandt wurde und höchst umstritten war. Vgl. dazu ausführlicher den Kommentar zu §§19–20, v.a. zu §19: ἢν δέ ποτε καὶ ᾆσαι καιρὸς εἶναι δοκῇ κτλ. Lautes Geschrei und Gesang verweisen auch auf das Ende von §13 zurück, wo der Rednerlehrer seinen Triumph über alle anderen durch das Mittel der grösseren Lautstärke begründet (τοσοῦτον ὑπερφωνοῦντα [...] ὁπόσον ἡ σάλπιγξ τοὺς αὐλοὺς καὶ οἱ τέττιγες τὰς μελίττας καὶ οἱ χοροὶ τοὺς ἐνδιδόντας). Die vorliegende Forderung und Selbstdarstellung des Rednerlehrers steht im Gegensatz zu den Aussagen des Ratgebers über dessen göttliche, honigsüsse, verführerische (und daher wohl auch eher leise) Stimme, vgl. §11: μελιχρὸν τὸ φώνημα / εἰ μύοντι γάρ σοι [...] εἴποι τι [...] μάθοις ἂν ὡς οὐχὶ τῶν καθ’ ἡμᾶς ἐστιν und §12: τῷ προσηνεῖ τοῦ φθέγματος. Das Bild des Vergöttlichten sowie des eleganten Effeminierten bröckelt immer mehr (vgl. bereits die einleitenden Bemerkungen zu §12): Der Rezipient ahnt, dass dieser Sophist nicht davor zurückschreckt, seine Beiträge dem Publikum auch ›zwangsweise‹ mit lautem Geschrei ›schmackhaft‹ zu machen (vgl. §19: ὅλως τυραννὶς τὸ πρᾶγμα ἔστω). βάδισμα οἷον τὸ ἐμόν Vgl. zum schlenkernden Gang des Rednerlehrers den Kommentar zu §11: διασεσαλευμένον τὸ βάδισμα (sowie zum männlichen Gang seines Konkurrenten §9: ἀνδρώδης τὸ βάδισμα). Der beeindruckende Effekt bestimmter Bewegungen sowie des Hin- und Herlaufens auf der Bühne wird (neben anderen hier aufgezählten Elementen wie der lauten Stimme, dem Gesang und der Kleidung) in Rh. Pr. 20 nochmals erwähnt: οἱ πολλοὶ δὲ τὸ σχῆμα καὶ φωνὴν καὶ βάδισμα καὶ περίπατον καὶ μέλος καὶ κρηπῖδα καὶ τὸ ἄττα σου ἐκεῖνο θαυμάσονται, [...].

§15: Voraussetzungen des Redners (Präliminarien/Prothesis)

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ταῦτα δὲ πάνυ ἀναγκαῖα καὶ μόνα ἔστιν ὅτε ἱκανά Die Aussage bildet das positive Gegenstück zur Formulierung ἀχρεῖα γὰρ καὶ ὑπεναντία τῷ πράγματι oben, wo traditionell gute Charaktereigenschaften, weil sie mit einer gewissen Zurückhaltung verbunden sind, abgelehnt werden, und unterstreicht ironisch, wie leicht die Verwandlung in einen Starsophisten sein kann. Lukian spottet an anderen Stellen über die leicht zu bewerkstelligende äusserliche Verwandlung in einen πεπαιδευμένος (meist in einen Philosophen), der danach von vielen als das wahrgenommen wird, was er zu sein vorgibt, obwohl er den Anforderungen (bei den Philosophen neben Bildung und Charakter v.a. hinsichtlich der mit ihrer Lehre in Einklang stehenden Lebensführung) keinesfalls genügt; vgl. z.B. Fug. 4 (die Philosophie beklagt sich über die Scheinphilosophen): εἰσίν τινες [...] τὸ μὲν σχῆμα καὶ βλέμμα καὶ βάδισμα ἡμῖν ὅμοιοι καὶ κατὰ τὰ αὐτὰ ἐσταλμένοι· [...] ὁ βίος δὲ παμμίαρος αὐτῶν, ἀμαθίας καὶ θράσους καὶ ἀσελγείας ἀνάπλεως, ὕβρις οὐ μικρὰ καθ’ ἡμῶν und Fug. 14 (zur Problematik der Einfachheit der Nachahmung einer Philosophengestalt mit Mantel, Ranzen, Stock und viel Geschrei – im Sinne eines Kynikers): τὰ δ’ ἡμέτερα πάνυ ῥᾷστα, ὡς οἶσθα, καὶ ἐς μίμησιν πρόχειρα – τὰ προφανῆ λέγω – καὶ οὐ πολλῆς τῆς πραγματείας δεῖ τριβώνιον περιβαλέσθαι καὶ πήραν ἐξαρτήσασθαι καὶ ξύλον ἐν τῇ χειρὶ ἔχειν καὶ βοᾶν [...].779 ἡ ἐσθὴς δὲ ἔστω εὐανθὴς ἢ λευκή, ἔργα τῆς Ταραντίνης ἐργασίας Damit ein Redner erfolgreich auftreten kann, bedarf er auch passender Kleidung und Accessoires (zu letzteren s.u.). Der Ratgeber hat sich in §§11–12 nicht über die Kleidung des Rednerlehrers geäussert, sondern nur generell über dessen effeminierte Gesamterscheinung; die nun folgende inhaltliche Differenzierung dieses σχῆμα passt zur hier vorliegenden detaillierteren Instruktion, wobei dem Schüler eine Art Einkaufsliste für Kleid und Schuhe mit jeweiligen Varianten ›diktiert‹ wird (ἡ ἐσθὴς δὲ ἔστω εὐανθὴς ἢ λευκή / ἡ κρηπὶς Ἀττικὴ γυναικεία [...] ἢ ἐμβὰς Σικυωνία). Doch auch der Rednerlehrer geht nach diesem Einschub sogleich wieder zur Wirkung des σχῆμα als Gesamterscheinung über (vgl. §16: σχήματος μὲν τὸ πρῶτον ἐπιμεληθῆναι χρὴ μάλιστα καὶ εὐμόρφου τῆς ἀναβολῆς).

779 »Es gibt welche [...], die in Gestalt, Blick und Gang gleich sind wie ich und ähnlich ausstaffiert. [...] Ihr abscheuliches Leben aber, voll von Unwissenheit, Verwegenheit und Zügellosigkeit, ist kein kleines Vergehen gegen mich.« / »Meine Charakteristika sind sehr leicht verfügbar, wie du weisst, und zur Nachahmung bereit – was das Äussere angeht, meine ich –, und es bedarf keines grossen Aufwandes, sich einen Mantel anzuziehen, einen Ranzen umzuhängen, einen Stock in der Hand zu halten und zu schreien [...].«

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5. Kommentar (§15)

Den richtigen Eindruck macht also vorab ein spezielles, durchsichtiges Kleid aus teurem Stoff, das entweder bunt geblümt oder weiss ist.780 Die Herkunft des Kleides aus Tarent spielt auf den Status dieser griechischen Kolonie der Magna Graecia als wichtige Handelsstadt an, aus der v.a. auch Kunsthandwerk wie Keramik, Goldschmiedekunst und Toreutik stammte, und impliziert wohl ein teures Gewand.781 Dass Tarent tatsächlich speziell mit effeminierter und durchsichtiger Kleidung verbunden worden ist, zeigen folgende Texte: Pollux 7,76 beschreibt das so genannte ταραντινίδιον als durchsichtiges Kleidungsstück und erklärt auch gleich, dass der Name daher komme, dass man dieses in Tarent trage, was er mit Weichlichkeit assoziiert (καὶ μὴν τό γε ταραντινίδιον διαφανές ἐστιν ἔσθημα, ὠνομασμένον ἀπὸ τῆς Ταραντίνων χρήσεως καὶ τρυφῆς; zum ταραντινίδιον als effeminiert bzw. von Frauen getragen vgl. auch Luk. Cal. 16 und Dial. Meretr. 7,2).782 Generell zu durchsichtiger Kleidung siehe das folgende Lemma. ὡς διαφαίνεσθαι τὸ σῶμα Dass der dünne Stoff des Kleides den Körper durchscheinen lassen soll, charakterisiert eine effeminierte Erscheinung (siehe dazu bereits oben). Zudem existiert auch ein Konnex zu luxuriöser Lebensweise, vgl. Diod. 37,2– 4 (Beschreibung des moralischen Niedergangs v.a. unter Roms Jugend durch teure Luxusprodukte): ἐτράπησαν γὰρ οἱ νέοι εἰς τρυφὴν καὶ ἀκο780 Beide Varianten sind offensichtlich mit Effeminiertheit konnotiert; für die weisse Farbe ist uns dies auch belegt, vgl. dazu Anm. 786. Vgl. auch den Scholienkommentar (p. 179 Rabe): εἶδος ἐνδύματος λεπτοῦ. 781 Zu Tarent vgl. DNP 12.1 s.v. Taras [2], Sp. 20–22. Luk. Adv. Ind. 8 führt uns Euangelos, einen Mann aus Tarent, bei einem Auftritt (musikalischer Agon) in extravagant-luxuriöser Kleidung vor. Dass die äussere Erscheinung der Sophisten ganz allgemein wichtig war, zeigen die Berichte bei Philostrat, z.B. über die Bewunderung der Athener für die Eleganz (τὸ εὔσχημον) des Alexander, dessen Kleidung und stattliche Erscheinung ein Gemurmel durch die Reihen gehen liess, noch bevor er zu sprechen begonnen hatte (VS 572) und über Hadrians Vorliebe für teure Kleidung und Edelsteine (VS 587). Ein weiteres Paradebeispiel für Luxus und Zurschaustellung von Reichtum ist Polemon (VS 532). Schmitz ([1997] 198) weist darauf hin, dass die Tatsache, dass Philostrat ohne weitere Erläuterung von einem δημηγορικὸν ἱμάτιον (»Mantel für Volksreden«, VS 619) spricht, zeige, dass »die Erwartungen des Publikums« bezüglich der Kleidung der auftretenden Sophisten »recht fest gewesen sein müssen«. Lukian spielt hier also mit Elementen, die zum Sophistenberuf gehören, er überzeichnet sie allerdings so stark, dass sie lächerlich werden. Der Rednerlehrer überschreitet mit seinen Empfehlungen eindeutig das Mass des guten Geschmacks, ganz abgesehen davon, dass durchsichtige Kleidung und Frauenschuhe nur zu einem Effeminierten passen (siehe dazu auch Anm. 786). Höchst ironisch ist auch, dass die Erscheinung – genau wie (schlechter) Charakter und (aufdringliche) Verhaltensweisen – an erster Stelle zu stehen kommt und so das mangelhafte Können ersetzt. 782 Vgl. weiter Socrat. Epist. 9,1, im Rahmen einer allgemeinen Darstellung von Luxus, Üppigkeit und Weichlichkeit: Κακοδαιμονοῦμεν, ὦ Ἀντίσθενες, οὐ μετρίως. πῶς γὰρ οὐ μέλλομεν κακοδαιμονεῖν, ὄντες παρὰ τυράννῳ καὶ ὁσημέραι ἐσθίοντες καὶ πίνοντες πολυτελέα καὶ ἀλειφόμενοί τινι τῶν εὐωδεστάτων μύρων καὶ σύροντες ἐσθῆτας μαλακὰς ἐκ Τάραντος;

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λασίαν [...]. [...] κατὰ τὴν ἀγορὰν ἐφόρουν ἐσθῆτας διαφόρους μὲν ταῖς μαλακότησι, διαφανεῖς δὲ κατὰ τὴν λεπτότητα, ταῖς γυναικείαις παρεμφερεῖς. Seneca verbindet in seinem von gender-Thematik durchdrungenen 114. Brief über schlechte Rhetorik die schlechten (= effeminierten) Redner mit dem Tragen einer toga perlucens (§21; vgl. zu diesem Brief bereits die einleitenden Bemerkungen zu §§9–10). Nicht zuletzt erinnert das Tragen eines durchsichtigen Kleides auch an die im Hellenismus und in der Kaiserzeit typischen Frauenstatuen, deren eng am Körper anliegende, hauchdünne Gewänder diesen durchscheinen lassen:783 Der Rednerlehrer empfiehlt demnach erotisierende Kleidung, welche auf den Hetärenvergleich (§12) und auf die nachfolgenden Instruktionen zum Privatleben (§23) zurück- bzw. vorverweist. ἡ κρηπὶς Ἀττικὴ γυναικεία, τὸ πολυσχιδές Die κρηπίς, lat. crepida, ae f., ist ein Lederschuh, der von Männern und Frauen getragen wurde, und in einfacher bis hin zu höchst luxuriöser Ausführung zu haben war;784 er glich einer Sandale, die allerdings bis über den Knöchel hochreichte und geschnürt wurde. Damit ist dieser Schuh eine Zwischenform von Sandale und Halbschuh, an dessen Sohlen sich Ösen befanden, durch welche die Riemen zur Verschnürung gezogen wurden (vgl. die Anekdote von Apelles und dem Schuster bei Plin. n.h. 35,85: feruntque reprehensum a sutore, quod in crepidis una pauciores intus fecisset ansas). Vorliegende Textstelle wird in RE 11 s.v. Krepis 2., Sp. 1712 erläutert: »Da das reiche Riemenwerk mit seinen Laschen und Schnürungen viele schmale Öffnungen zwischen sich frei liess, hiess die K. πολυσχιδές.« (vgl. auch den Scholienkommentar p. 179 Rabe: πολυσχιδὲς τὸ νῦν στρικτόν »das Vielgeschlitzte [ist heute] das Zusammengeschnürte«; wohl zu lat. stringere »anziehen, zusammenziehen, -schnüren«785). Durch die Attribute »weiblich« und »vielgeschlitzt« weist der Rednerlehrer das von Männern und Frauen getragene Schuhwerk dem Bereich der letzteren zu und illustriert damit zum effeminierten Sophisten passende, extravagante Schuhe.786

783

Zur Illustration vgl. im Appendix Abb. 3 sowie z.B. LIMC VIII.2, Venus 66 und 67. Vgl. dazu und zum Folgenden den Artikel in RE 11 s.v. Krepis 2., Sp. 1711f. 785 Vgl. LSJ s.v. στρικτός, ή, όν, = strigosus, Gloss.; 2. στρικτόν, τό, a narrow kind of shoe, Sch. Luc. Rh. Pr. 15; Latin word acc. to Suid. 786 Auch Pollux (7,85) erwähnt »geschlitztes« (σχιστός) Schuhwerk als teuer (πολυτελής) und weichlich (θρυπτικός); solches werde bisweilen auch λεπτοσχιδής genannt. Λευκαὶ κρηπῖδες als luxuriös-effeminiertes Schuhwerk erwähnt z.B. Athenaios Deipn. 12,522a (= Timaios FGrHist 566 fr. 44). In Anlehnung daran kann wohl auch die oben empfohlene weisse Farbe des Gewandes als effeminiert und extravagant gedeutet werden. 784

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5. Kommentar (§15)

In §20 werden die Schuhe genau wie die Empfehlungen bezüglich Stimme, Gang und Gesang nochmals aufgegriffen: οἱ πολλοὶ δὲ τὸ σχῆμα καὶ φωνὴν καὶ βάδισμα καὶ περίπατον καὶ μέλος καὶ κρηπῖδα καὶ τὸ ἄττα σου ἐκεῖνο θαυμάσονται, [...]. ἐμβὰς Σικυωνία πίλοις τοῖς λευκοῖς ἐπιπρέπουσα Die ἐμβάς ist ein weicher Filz-Stiefel, der ebenfalls geschnürt wurde und wohl aus dem Osten stammte,787 in Athen v.a. im Zusammenhang mit alten Männern oder Armen erwähnt (Ar. Pl. 759; Ec. 850).788 Doch genau wie die κρηπίς muss es auch die ἐμβάς in verschieden luxuriösen Ausführungen gegeben haben, und gerade die auf der Bühne getragenen ἐμβάδες waren wohl, falls sie nicht eine arme Figur ausstaffierten, kostbar in der Ausstattung.789 Lukian lässt den Rednerlehrer zusätzlich das offenbar auffällige Material nennen (vgl. ἐπιπρέπουσα »herausstechend, bemerkenswert durch etwas«), aus dem der Schuh gefertigt sein soll: weisser Filz (so Sommerbrodt [21878] 71; RE 5, Sp. 2482 fasst die Formulierung hingegen als Bezeichnung eines Filzfutters auf).790 Zur weissen Farbe vgl. bereits Anm. 786. Sikyon791 findet in verschiedenen Texten Erwähnung im Zusammenhang mit Schuhen allgemein, mehrfach allerdings wird explizit von Frauenschuhen gesprochen, so Luk. Dial. Meretr. 14,2 (Dorio listet seiner Hetäre Myrtale alle Geschenke auf, die er ihr gebracht hat, als erstes ein Paar Schuhe aus Sikyon, ὑποδήματα ἐκ Σικυῶνος) und Cic. De Orat. 1,231 (mit negativer Konnotation im Sinn von ›effeminiert‹: [...] si mihi calceos Sicyonios attulisses, non uterer, quamvis essent habiles atque apti ad pedem, quia non essent viriles [...]). Vgl. weiter Hesych s.v. σικυώνια· ὑποδήματα γυναικεῖα [Eintrag 627] und Athen. Deipn. 4,155c (mit Implikation des Ex787

Man vgl. Hdt. 1,195, wo die Schuhe der Babylonier mit den den Griechen bekannten boiotischen ἐμβάδες verglichen werden. 788 Siehe dazu und zum Folgenden ausführlich RE 5 s.v. Ἐμβάς, Sp. 2482–2485. 789 Vgl. RE 5, Sp. 2484. Zur ἐμβάς im Zusammenhang mit Schauspielerkleidung, insbesondere mit dem gewöhnlich als Kothurn bezeichneten Schuhwerk vgl. Pollux 4,115 und 7,85 mit expliziter Erwähnung der Ähnlichkeit zwischen den beiden Schuhtypen. Vgl. zur ἐμβάς als Schauspielerschuh auch Luk. Pseudol. 19 und AP 7,51. Vgl. weiter zur vorliegenden Stelle in Rh. Pr. Korenjak [2000] 54 Anm. 47: »[Es ist] nicht auszuschliessen, dass die Sophisten ähnlich wie die Schauspieler eine Art Kothurn tragen, um grösser und eindrucksvoller zu erscheinen.« 790 Die Scholiasten identifizieren den beschriebenen Schuh aufgrund dieser zusätzlichen Angabe als καλίγιον (Diminutivform zu lat. caliga »Stiefel, Halbstiefel«): ἐμβάδες δὲ τὰ ὑφ’ ἡμῶν καλίγια, καὶ δῆλον ἀφ’ ὧν πίλοις αὐτὴν ἐπιπρέπειν τοῖς λευκοῖς, ὃ οὐκ ἂν ἐπὶ ἄλλου γένοιτ’ ἂν ὑποδήματος (p. 179 Rabe). 791 Handelsstadt am korinthischen Golf, 26 km westlich von Korinth. Sikyon als geographischen (besonders fruchtbaren) Ort erwähnt Lukian noch in Ikaromen. 18 und Nav. 20 (τὸ Σικυώνιον πεδίον γεωργεῖν); im Zusammenhang mit Korinth in Tox. 22; weitere Erwähnungen in Dial. Mort. 15,1 und 20,12.

§15: Voraussetzungen des Redners (Präliminarien/Prothesis)

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travaganten); ohne zusätzliche Angabe Pollux 7,93 »sikyonische Schuhe« (τὰ δὲ Σικυώνια [sc. ὑποδήματα]), ebenso Stephan. Ethnica 569 (ὑποδήματα Σικυώνια). Was der Rednerlehrer in vorliegender Behandlung der äusserlichen Ausstaffierung im Gegensatz zum Ratgeber nicht erwähnt, sind Merkmale wie besondere Sorgfalt bezüglich der Haare oder Parfumgebrauch (vgl. §§11– 12): So treten die beiden Figuren in einen Dialog, in welchem die karikierenden Aussagen der ersten Figur792 über die zweite von dieser nicht so übernommen werden können und sollen: Sie selbst betont allein die positive Eleganz ihrer Effeminiertheit. ἀκόλουθοι πολλοὶ Zu den zahlreichen Begleitern, die der Sophist zu seinem Auftritt mitbringen soll, damit sie ihm applaudieren und die Stimmung in seinem Interesse anheizen (im Fachjargon werden sie ›Claque‹ genannt), vgl. den Kommentar zu §21. Da solche Begleiter auf der Basis einer gewissen Gegenleistung angeworben werden (vgl. §21: sie sind Parasiten), müssen wir uns den Schüler wohl als jungen Vertreter der Oberschicht vorstellen, der über ein gewisses finanzielles Polster verfügt (vgl. dazu Luk. Adv. Ind.). βιβλίον Das Buch als ständiger Begleiter dient dazu, Bildung und Wissbegierde zu demonstrieren, und damit gleichzeitig die ἀμαθία (s.o.) zu übertünchen. Zur Ausstaffierung der Scheingebildeten mit einem Buch vgl. Adv. Ind. (eine Schrift, die ihren Spott hauptsächlich daraus gewinnt; vgl. auch die Einleitung 2.2) und den eröffnenden Satz des Lexiphanes (der ›Entlarver‹ Lykinos spricht): Λεξιφάνης ὁ καλὸς μετὰ βιβλίου; Ein Buch kann aber auch als Kennzeichen echter Gebildeter (πεπαιδευμένοι) erscheinen, z.B. in Im. 9 (über Panthea): βιβλίον ἐν ταῖν χεροῖν εἶχεν [...].

§§16–17: Vokabular und literarische Vorbilder Die Grundausstattung (§15) im Gepäck, beginnt nun die eigentliche Unterweisung bei einem Kernthema der zeitgenössischen Sophistik, dem attizistischen Sprachgebrauch (§16) bzw. der generell möglichst beeindruckenden Verwendung von Vokabular (§17: archaisierendes Vokabular und unge792 Vgl. beispielsweise das schüttere Haar des Rednerlehrers; siehe dazu den einleitenden Kommentar zu §§11–12 und §12 sowie §11: πάνσοφόν τινα καὶ πάγκαλον ἄνδρα.

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5. Kommentar (§§16–17)

wöhnliche Neubildungen). Vgl. dazu, insbesondere zum historischen Umfeld, die Einleitung 2.1 und 2.2 (zu Rh. Pr. bes. am Anfang). Die Konzentration auf das Vokabular – und damit auch auf ›erlaubte‹ und ›unerlaubte‹ Ausdrücke – greift einen zeitgenössischen Diskurs der verschiedenen attizistischen Richtungen auf, der sich exakt um das Thema der richtigen Wortwahl drehte. Dies wird uns in den im zweiten Jahrhundert florierenden attizistischen Wörterbüchern bezeugt, die sich v.a. mit den Möglichkeiten und Grenzen der Repristinisierung des Vokabulars, also dem Attizisieren der Sprache, befassen.793 Jeder Sophist, der etwas auf sich hält, muss in diesem Diskurs Position beziehen; der Rednerlehrer bietet dazu möglichst einfach handhabbare Tricks an. Der Diskurs bewirkt einerseits, dass sich die Gebildeten und insbesondere die Sophisten im Rahmen ihrer Auftritte voneinander abzugrenzen bzw. einander in ihrem Detailwissen über attizistisches Vokabular zu übertreffen suchen, andererseits aber auch, dass sich die Gebildeten einen gemeinsamen Sprachcode schaffen, der auf kanonischer Literatur794 beruht und durch den sie sich als Gruppe von den Ungebildeten absetzen.795 Lukian thematisiert in der Schrift Lexiphanes auf humorvolle Weise den archaisierenden Hyperattizismus des Protagonisten Lexiphanes, eines Scheinliteraten, und kommt dabei auch auf Standardattizismen zu sprechen, so dass die Schrift eine interessante und erhellende Parallele zur Lehre über den Vokabulargebrauch in Rh. Pr. 16–17 darstellt.796 Aus den im Kommentar angegebenen Parallelstellen wird deutlich, dass auch die wohl theoretischste von Lukians Schriften zum Thema Sprach- und Literaturkritik, Πῶς δεῖ ἱστορίαν συγγράφειν (Hist. Conscr.), für den vorliegenden Text erhellend ist – gerade was die Thematik der Lexis von Prosatexten angeht. Auch wenn Hist. Conscr. sich primär mit der Gattung der Historiographie befasst, was der Autor selbst betont,797 sind dennoch viele Bemerkungen über die Historiographie hinaus gültig, sei es aufgrund des allgemeinen Charakters

793 Vgl. Schmitz [1997] 72–75. Zum Attizismus allgemein vgl. Dihle [1992] und [1977]; Gelzer [1979]; Erbse [1950]. Weiter noch immer grundlegend Schmid [1887–1897]. Der sprachliche Attizismus ist im grösseren Rahmen des Wiederauflebenlassens der klassischen Zeit zu sehen, welches sich auch inhaltlich niederschlägt (vgl. zu den Paradethemen §18 sowie Swain [1996] 65 und Bompaire [1994] 70–75). 794 Vgl. zum ›Bildungskanon‹ Anm. 264. 795 Vgl. zu diesem ›Doppelmechanismus‹ von Bildung bereits die Einleitung 2.2, bes. S. 91– 93. 796 Vgl. bes. den Kommentar zu §16: τὸ ἄττα καὶ κᾆτα καὶ μῶν κτλ. Zur Schrift Lexiphanes siehe auch Weissenberger [1996] und Hall [1981] 279–285. 797 So setzt er beispielsweise in §6 die Literaturgattungen Enkomion und Historiographie klar voneinander ab und diskutiert in §§43–45 Sprachstil und Wortwahl des Historikers in Abgrenzung zum Rhetoriker und zum Poeten.

§16: Attizistisches Vokabular

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der Aussagen, sei es, indem sie sich per analogiam auf andere Gattungen übertragen lassen.798 Eng verbunden mit der Thematik des Vokabulars sind die literarischen Vorbilder, war es doch der gängige Weg zum attizistischen Sprechen, sich durch das Studium der klassischen Autoren die ›alte‹ Sprachform anzueignen, und genauso lag eine Möglichkeit der gegenseitigen Diskreditierung darin, das Vokabular eines Konkurrenten als klassisch nicht belegt anzugreifen.799 Auf diese Abläufe nimmt der Rednerlehrer Bezug und bietet eine Lösung an, die das (anstrengende) Studium der klassischen Autoren umgeht (vgl. §17: πρόχειρον εὐθὺς ὄνομα οὔτε ὄντος τινὸς οὔτε γενομένου ποτέ, ἢ ποιητοῦ ἢ συγγραφέως, ὃς οὕτω λέγειν ἐδοκίμαζε σοφὸς ἀνὴρ καὶ τὴν φωνὴν εἰς τὸ ἀκρότατον ἀπηκριβωμένος).

§16 Ταῦτα μὲν αὐτὸν χρὴ συντελεῖν Der sprachliche Rückbezug auf den Beginn von §15 (Λέξω δὲ πρῶτον μὲν ὁπόσα χρὴ αὐτὸν σε οἴκοθεν ἔχοντα ἥκειν ἐφόδια [...]) bildet eine kleine Ringkonstruktion. ὅρα καὶ ἄκουε Obwohl alles, was folgt, auf das Hören (ἀκούειν), nicht auf das Sehen (ὁρᾶν) konzentriert ist, lässt sich die Wortwahl des Lehrers an vorliegender Stelle aus dem Vorangegangenen erklären: Einerseits wird seine ganze Darlegung als Theaterstück inszeniert, das optisch mitverfolgt wird (vgl. §§11– 12), andererseits wird in §15 mit dem Partizip ἐπιδεικνύς auf ein aktives »Vorzeigen« der Lehre Bezug genommen, was bei Themen wie Gebrauch der Stimme, Gehweise und Kleidungsstil durchaus Sinn macht; die Anga-

798 Vgl. Weissenberger [1996] 32–34. Beispielsweise ist man sich in der Forschung darüber einig, dass Lukians Darlegung zum Bereich der ἀρεταὶ τῆς λέξεως über die Historiographie hinaus gültig ist, denn diese Forderungen werden überall dort verwirklicht, wo Literarisches (v.a. Prosa) nach den Gesetzen der Rhetorik verfasst wird (vgl. Weissenberger [1996] 32 Anm. 78). 799 Vgl. zur Widerspiegelung einer solchen Sprachdebatte (über die Vokabel ἀποφράς) Lukians Pseudologista und die an einem Sprachschnitzer aufgehängte Abhandlung über die möglichen Begrüssungsformeln mit χαίρειν, ὑγιαίνειν, εὖ πράττειν in Pro Lapsu inter salutandum. Vgl. weiter zum historischen Hintergrund Schmitz [1997] 112–127. Zu Lukians Auseinandersetzung mit den Anforderungen der attizistischen Sprache vgl. Swain [1996] 45–49 und Whitmarsh [2005] 45–47; zwei Arten von Schriften können unterschieden werden: Einerseits Attacken gegen den Sprachgebrauch anderer, wodurch sich der Autor in die Diskussion einbringt und positioniert (dazu gehören: Lex., Rh. Pr., Adv. Ind., Sol.), andererseits Verteidigungen gegen (tatsächliche oder fiktive) Angriffe auf seine eigene Sprache (Pro Lapsu, Pseudol.).

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5. Kommentar (§§16–17)

ben über die äusserliche Erscheinung in §15 betonen ganz generell stark die Optik. τοὺς νόμους Vgl. die Bemerkungen zu §14: ἕπου μόνον, ὦ μέλημα, οἷς ἂν εἴπω, καὶ ζήλου πάντα, καὶ τοὺς νόμους [...]. ἡ Ῥητορικὴ [...] σκορακιεῖ Wiederaufnahme der Bildes der personifizierten Rhetorik, die zum letzten Mal in §10 namentlich erwähnt worden ist (εἰ [...] τάχιστα ἐθέλεις τῇ Ῥητορικῇ συνεῖναι). Folgt der Schüler den Gesetzen des Rednerlehrers, ist ihm eine wohlwollende Aufnahme durch die Rhetorik gewiss, eine Aufnahme, die durch die Wahl des Vokabulars einer Mysterieninitiation angenähert wird (s.u.). Das Verb σκορακίζειν bedeutet wörtlich »zu den Raben [jagen]«, übertragen »schmähen«, und ist klassisch nur bei Ps.-Demosth. In epist. Philippi 11 belegt (vgl. dieselbe Stelle bei Anaximenes FGrHist 72 fr. 11b,62).800 Erklärt wird es von den Grammatikern folgendermassen: Die Wortbildung wird im Zusammenhang mit Kompositionen wie zum Beispiel ἐπουράνιος, ἀποθύμιος erwähnt bei [Ps.]-Herodian De Fig., Gr. Gr. vol. 3,2, p. 847 Lentz: σκορακίζειν· ἐς κόρακας, ἐσκορακίζειν καὶ ἀποβολῇ τῆς ἀρχῆς σκορακίζειν.801 Zur Bedeutung vgl. Zenob. (Paroemiographi Graeci vol. 1, p. 157, Nr. 90): σκορακίζειν· ἀντὶ τοῦ εἰς κόρακας πέμπειν, ἐκφαυλίζειν.802 Klassisch verbreitet ist jedoch der Schimpfausdruck ἐς κόρακας (»[scher dich] zu den Raben«), v.a. in der Alten Komödie, vgl. u.a. Ar. V. 458 (οὐχὶ σοῦσθ’; οὐκ ἐς κόρακας; οὐκ ἄπιτε;) und 835 (βάλλ’ ἐς κόρακας); Pax 500 (Ἄνδρες Μεγαρῆς, οὐκ ἐς κόρακας ἐρρήσετε;); Av. 990 (Οὐκ εἶ θύραζ’; Ἐς κόρακας); Th. 1079; Pl. 604 und 782. Die Verwendung eines klassisch ungebräuchlichen Verbs markiert die Sprechweise des Rednerlehrers als unklassisch, was angesichts seiner Lehre, die nur den oberflächlichsten Anschein der Klassik zu erzeugen empfiehlt, nicht erstaunt (s.u.: πεντεκαίδεκα ἢ οὐ πλείω γε τῶν εἴκοσιν Ἀττικὰ ὀνόματα). 800 Beinahe alle weiteren vorlukianischen Belege gehören in den Kontext jüdisch-christlicher Literatur, so häufig bei Philon von Alexandria (Vertreibung durch Gott [oft aus dem Paradies]), z.B. Leg. allegor. 1,96; De cherub. 2; De Abraham. 127. 801 »skorakizein: zu den Raben, eskorakizein und mit Schwund des Anfangs[buchstabens] skorakizein.« Fast identisch auch in Περὶ παθῶν, Gr. Gr. vol. 3,2, p. 185 Lentz. 802 »skorakizein: Anstelle von zu den Raben schicken, schmähen.« Vgl. auch die erweiterte Bedeutungsangabe bei Hesych s.v. σκορακίζει· εἰς ἔρημον πέμπει, καὶ ἀρᾶται,