Lukian »Rhetorum praeceptor«: Einleitung, Text und Kommentar 9783666252846, 9783525252840

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Lukian »Rhetorum praeceptor«: Einleitung, Text und Kommentar
 9783666252846, 9783525252840

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Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben

Herausgegeben von Albrecht Dihle, Siegmar Döpp, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Hugh Lloyd-Jones, Günther Patzig, Christoph Riedweg, Gisela Striker Band 176

Vandenhoeck & Ruprecht

Serena Zweimüller

Lukian »Rhetorum praeceptor« Einleitung, Text und Kommentar

Vandenhoeck & Ruprecht

Verantwortlicher Herausgeber: Christoph Riedweg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-525-25284-0 Hypomnemata ISSN 0085-1671 Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2007 auf Antrag von Prof. Dr. Manuel Baumbach und Prof. Dr. Christoph Riedweg als Dissertation angenommen. Umschlagabbildung: Rhetorik, Ausschnitt aus: Herrad von Landsperg, Die sieben freien Künste (um 1170). Umrisszeichnung nach fol. 32 der 1870 in der Bibliothek in Strassburg verbrannten Handschrift. Foto: © akg-images.

© 2008, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co.KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: n Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort.......................................................................................................9 1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor: Rhetorische und literarische Gestaltung, philosophische und komische Elemente, Sub- und Vergleichstexte ....................................................................11 1.1

Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse zu Rhetorum praeceptor ................................................................11 1.1.1 Rhetorische Grobgliederung......................................16 1.1.2 Ausführlichere Gliederung nach rhetorischen Gesichtspunkten........................................................18

1.2 1.3 1.4

Literarische Gestaltung und Intertextualität...............................29 Platonisch-philosophische Elemente .........................................34 Die Allegorie des Prodikos und die Tabula des Kebes ..............43

1.5

Wegmetaphorik in Lukians ›autobiographischen‹ Schriften und in Hermotimos ...................................................................47

1.6 1.7

Die Wegmetaphorik in Rh. Pr.: Nihilismus der Rhetorik?.........59 Lukians eigener sophistischer Auftritt: Die προλαλιαί.............67 1.7.1 Lukians allgemeines Selbstbild als Redner und das Verhältnis von Redner und Publikum..................70 1.7.2 μῦθοι und Lügen: Neuheit versus Tradition und die rhetorischen Errungenschaften Lukians ...............72 Aristophanes und die Alte Komödie .........................................79

1.8

2. Πεπαιδευμένος und ἀπαίδευτος: Zum Bildungsstand von Produzenten und Rezipienten in der Vortragskultur der Zweiten Sophistik..................................................89 2.1 2.2

Der sozio-kulturelle Hintergrund ..............................................89 Bildung und Unbildung in Lukians Rhetorum praeceptor, Soloecista und Adversus Indoctum............................................93

6

Inhalt

3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie: Parallelen in der lukianischen Spottmotivik....................................... 108 3.1

Lukians Demonax und die Figur des ernst-komischen Entlarvers ............................................................................... 110

3.2 3.3

Lukians Philosophenspott: Piscator und Fugitivi.................... 125 Das literarische Schaffen: Variationen desselben Themas und Typisierung des Scheingebildeten vor dem historischen Hintergrund des Autors ....................................... 142

4. Text und Übersetzung ....................................................................... 148 5. Kommentar ....................................................................................... 170 §§1–4:

Einleitung (Proömium [§§1–2]; Prothesis/Dihegesis I [§§3–4]).......................................................................... 172

§5:

Illustrierende Geschichte (Parekbasis) ............................ 198

§§6–8:

Wiederaufnahme der Darstellung der zwei Wege zur Rhetorik (Prothesis/Dihegesis II).................................... 210

§§9–10:

Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)......................................................................... 228 Der kurze Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 2: probatio)......................................................................... 255 Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe ........... 255 Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler (Proömium)........................................................ 274 Voraussetzungen in Charakter und Erscheinungsbild (Präliminarien/Prothesis) ................................................ 292 Vokabular und literarische Vorbilder .............................. 305 Der eigentliche Auftritt, die Stegreifrede (μελέτη) und die Tricks des Sophisten: Paradethemen, Showelemente, Stoffauffindung, Claque, Umgang mit Konkurrenz ..................................................................... 342 Hinweise zur Gestaltung und Illustration des Privatlebens eines Sophisten ........................................... 401 Schlusswort und Abschiedsgruss des Ratgebers (Epilog)........................................................................... 457

§§11–25: §§11–12: §§13–14: §15: §§16–17: §§18–22:

§§23–25: §26:

6. Zur Rezeption von Lukians Rhetorum praeceptor in der Renaissance: Pirckheimer und Erasmus ............................................ 478

Inhalt

7

7. Literaturverzeichnis .......................................................................... 484 7.1 Abkürzungen .......................................................................... 484 7.2 Standardwerke ........................................................................ 484 7.3

Textausgaben.......................................................................... 484

7.4

Sekundärliteratur .................................................................... 485

8. Register............................................................................................. 491 8.1

Stellenregister......................................................................... 491

8.2

Namen- und Sachregister........................................................ 495

Appendix: Abbildungen .......................................................................... 498

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner im Herbst 2007 von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich angenommenen Dissertation. Während meines gesamten Studiums und ganz besonders seit der Abfassung der Lizentiatsarbeit, die damals bereits dem Autor Lukian gewidmet war, durfte ich die hervorragende Betreuung von Prof. Dr. Christoph Riedweg erfahren; seine ansteckende Begeisterung und zahlreiche intensive Fachgespräche haben viel zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen, wofür ich ihm herzlich danke. Mein herzlicher Dank geht auch an Prof. Dr. Manuel Baumbach, der seit dem Sommersemester 2005 den Lehrstuhl für Gräzistik an der Universität Zürich innehat und meine Arbeit mit grossem Engagement durch unermüdliche Kritik, wertvolle Anregungen und neue Blickwinkel entscheidend weitergebracht hat. Danken möchte ich weiter Prof. Dr. Peter von Möllendorff, der mir mit seinem Fachwissen grosszügig zur Seite gestanden hat. Von Prof. Dr. Martin Korenjak erhielt ich hinsichtlich Fragen zur kaiserzeitlichen Rhetorik und zur Rhetoriktheorie wichtige Hinweise. Nicola Dümmler und Kaspar Howald haben die Arbeit in verschiedenen Stadien gelesen und so zu deren inhaltlichem und formalem Gelingen beigetragen. Lucius Hartmann hat mich in technischen Fragen tatkräftig unterstützt. Über die Aufnahme des Buches in die Reihe Hypomnemata freue ich mich sehr und danke den Herausgebern sowie dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, in erster Linie Dr. Ulrike Blech, für die gute Zusammenarbeit. Ein besonderer Dank geht an die Stiftung »Fonds für Altertumswissenschaft, Zürich«, die diese Publikation grosszügig unterstützt hat. Ein letzter, grosser Dank gebührt meinen Geschwistern und Freunden, ganz besonders aber meinen Eltern, die meine Arbeit während der gesamten Zeit durch ihr Interesse und ihren moralischen Beistand gefördert haben und denen dieses Buch gewidmet ist.

1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor: Rhetorische und literarische Gestaltung, philosophische und komische Elemente, Sub- und Vergleichstexte

1.1 Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse zu Rhetorum praeceptor Lukians1 Schrift Rhetorum praeceptor (im Folgenden Rh. Pr.) ist ein scheinbar ernsthafter Lehrgang für angehende Redner: Sie beginnt damit, dass sich der Sprecher an einen jungen Mann (μειράκιον, §1) wendet, der offenbar bei ihm für den Start seiner Sophistenkarriere Ratschläge erbeten hat. Sehr bald wird jedoch klar, dass man es nur vermeintlich mit einem Leitfaden zu tun hat, denn die Schrift entpuppt sich als eine satirischironische Auseinandersetzung mit der empfohlenen Ausbildung.2 Der Text bedient sich zweier zentraler Figuren: Der ›Ratgeber‹ ist diejenige Figur, die mit dem Schüler Kontakt aufnimmt und die den gesamten Lehrgang steuert. Dieser Ratgeber umreisst zwei Möglichkeiten der Ausbildung, einen langen, anstrengenden und einen kurzen, angenehmen Weg, wobei er gleich zu Beginn deutlich macht, dass er den kurzen Weg anzuraten gedenkt (§3). Durch das Motiv der Wahl zwischen zwei Wegen schliesst sich der Ratgeber in seiner Darstellungsweise einer verbreiteten Tradition an, die in der Allegorie des Prodikos von Herakles am Scheide1 Lukian von Samosata, dessen Lebenszeit ungefähr den Zeitraum von 120–180 n.Chr. umfasst, über dessen Leben uns allerdings ausserhalb seiner eigenen Schriften bis auf wenige kurze Bemerkungen (bei Galen, Laktanz, Eunap, Isidor Pelusius und in der Suda) nichts überliefert ist (vgl. zur Bewertung der ausser- und innerlukianischen Zeugnisse ausführlich Hall [1981] 1–44, ferner Nesselrath [2001a] 12–15 und Baumbach [2002] 19–21; mit biographistischer Tendenz Jones [1986] 6–23), gehört ins Umfeld der so genannten Zweiten Sophistik, derjenigen historischen und kulturellen Bewegung, die sich – gewöhnlich in der Zeit vom 1.–3. Jh. n.Chr. angesetzt – durch eine enorme Blüte der (epideiktischen) Rhetorik auszeichnet: Überall im Römischen Reich finden Auftritte professioneller Konzertredner statt, und eine im weiteren Sinn ›sophistische‹ Schriftstellerei entwickelt sich, zu deren Exponenten auch Lukian gezählt werden kann. Vgl. zum historisch-kulturellen Umfeld die Einleitung 2. unten, die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §§18–22 sowie die Studien von Bowersock [1969], Bowie [1970], Anderson [1993], Swain [1996], Schmitz [1997], Korenjak [2000] und Whitmarsh [2005]. 2 Vgl. dazu Jones [1986] 105, welcher bezüglich der Schrift von einer »satire of the practice it purports to recommend« spricht. Zur Definition der Begriffe Satire und Ironie bzw. zu ihrer Verwendung in der vorliegenden Arbeit vgl. unten die Einleitung 1.2, S. 29f.

12

1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

weg ihre wohl berühmteste Ausprägung gefunden hat; gegen die Konvention verstösst er allerdings insofern, als er die Wahl des kurzen Weges propagiert.3 Dazu lässt er je einen Exponenten des langen und des kurzen Weges die Details der jeweiligen Lehre formulieren und um den Schüler werben, wobei er die Ausbildung des Lehrers des langen Weges in indirekter Rede und auf zwei Kapitel beschränkt darstellt und durch entsprechende Kommentare auch gleich eine eigene (negative) Einschätzung des Präsentierten anhängt (§§9–10). Der Lehrer des kurzen Weges, der ›Rednerlehrer‹, ist die zweite zentrale Figur, nach welcher der Text benannt ist, wobei dies allerdings erst ex post deutlich wird.4 Er wird vom Ratgeber herangezogen, damit er als Verkörperung der Ausbildung des kurzen Weges seine Lehre selbst, in direkter Rede und sehr ausführlich vorstellen kann (§§11ff.). Angefangen bei der nötigen Grundausstattung geht der Rednerlehrer auf sämtliche Elemente ein, die – im Sinne einer rasch erworbenen ›Trickrhetorik‹ – den Schüler zu einem erfolgreichen Starsophisten machen werden. Wie es eine solche Scheinrhetorik erwarten lässt, verstossen dabei alle Ratschläge gegen die konventionelle Auffassung ›guter‹ Rhetorik, wodurch die ironische Brechung des Textes bedingt ist. Zum Schluss (§26) ergreift der Ratgeber nochmals das Wort und untergräbt seine bisherige Empfehlung, die der Rednerlehrer breit ausgeführt hat, indem er den kurzen Weg als unlautere Abkürzung zum Rednerberuf diskreditiert; so lässt er seine gesamte Beratung ambivalent ausklingen. Die Reden der beiden zentralen Figuren, des Ratgebers und des Rednerlehrers, geben eine erste grobe Zweiteilung des Textes vor und nehmen exakt denselben Raum ein (je 13 Kapitel von insgesamt 26; Ratgeber: §§1– 12/26; Rednerlehrer: §§13–25). Im Folgenden soll eine feinere Gliederung vorgenommen werden, wobei gemäss dem Thema der Redekunst besonderes Augenmerk auf die rhetorische Struktur gerichtet wird. Grundsätzlich liegt – durch meine Benennung der ersten Figur als ›Ratgeber‹ angedeutet – eine beratende Rede vor, die den kurzen Weg zur Rhetorik unter der Anleitung des Rednerlehrers empfiehlt.5 Eine Beratungsrede besteht gemäss Aristoteles’ Ausführungen darin, über die Zukunft Ratschläge zu erteilen, und zwar auf der Basis dessen, was nützlich bzw. schädlich sein wird (vgl. 3

Vgl. zur Wegmetaphorik und zu Vorläufertexten (Prodikos) die Einleitung 1.4. Vgl. Rh. Pr. 26, wo der Ratgeber mit dem Wort διδάσκαλος auf den Rednerlehrer zurückverweist. Für eine andere mögliche bzw. ergänzende Deutung des Werktitels siehe die Einleitung 1.8 zu Aristophanes sowie das Lemma zum Werktitel im Kommentarteil. Grundsätzlich dürfte der Rezipient den Titel »Rednerlehrer« im Lesefluss vorerst auf die Person des Ratgebers beziehen. 5 Die Einteilung der Reden in die drei Gattungen γένος συμβουλευτικόν / δικανικόν / ἐπιδεικτικόν (Beratungs-, Gerichts-, Festrede) findet sich seit Aristoteles: ἔστιν δὲ τῆς ῥητορικῆς εἴδη τρία τὸν ἀριθμόν· [...] ὥστ’ ἐξ ἀνάγκης ἂν εἴη τρία γένη τῶν λόγων τῶν ῥητορικῶν, συμβουλευτικόν, δικανικόν, ἐπιδεικτικόν (Rh. 1358a36–b8). Bei Anaximenes sind nur die ersten beiden Gattungen erwähnt, vgl. dazu Fuhrmann [41995] 81. 4

1.1 Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse

13

Arist. Rh. 1358b8–9 und 1358b21–22).6 Zu dieser rhetorischen Einordnung von Rh. Pr. sind zwei einschränkende Bemerkungen zu machen: Der ausführliche Auftritt des Rednerlehrers gibt der vorliegenden Beratungsrede eine Struktur, die im Corpus antiker Reden ohne Gegenstück zu sein scheint,7 und zudem entspricht Rh. Pr. nicht durchgehend einer oratio, sondern weist folgende weiteren Gattungselemente auf: Vor allem im Proömium und in den darauf folgenden Kapiteln (§§1–4)8 finden sich Elemente einer epistula, eines Briefes, der gewöhnlich (abgesehen von kürzeren Einschüben eines fictus interlocutor) über einen einzigen Sprecher verfügt (vgl. z.B. Lukians De mercede conductis9 und De historia conscribenda oder Epikurs Briefe an Herodotos, Pythokles, Menoikeus und Senecas Epistulae morales), während hier einem weiteren Sprecher breiter Raum zugestanden wird (vgl. auch Lukians Peregrinos und Alexandros). Ferner liegt eine inhaltliche Nähe zur platonisch-philosophischen Literatur vor, v.a. im Duktus von §§1–8 und §26, thematisch bedingt durch den Einbezug von Wegsowie Mysterienmetaphorik (vgl. dazu §14 und §16).10 Schliesslich weist der Text auch Elemente der (aristophanischen) Komödie auf: Die Gegenüberstellung der Lehrer des langen und des kurzen Weges (§§9–12) erinnert an das strukturelle Element des epirrhematischen Agons, speziell an die Figuren des κρείττων und des ἥττων λόγος in Aristophanes’ Wolken. Die Rede des Rednerlehrers wird zudem zu einem Komödienauftritt stilisiert, er selbst mit dem Tragödiendichter Agathon (vgl. Aristophanes’ Thesmophoriazusen) verglichen. Auch die Darstellung des Privatlebens (§§23–25) enthält mehrfach Anspielungen auf die Komödie.11 Damit zieht also der Text zusätzliche, über eine oratio hinausgehende Elemente literarischer Gattungen bei, und diese vielschichtige literarische Gestaltung lässt – abgesehen davon, dass der Redner immer die Möglichkeit einer freien Handhabe der

6 Da die vorliegende Beratungsrede neben den jeweiligen Wegen prominent über Lehrerfiguren handelt, erstaunt es nicht, dass auch Elemente der lobenden bzw. tadelnden Rede (ἔπαινος / ψόγος) einfliessen. Zur Nähe von Lob- und Beratungsrede vgl. Arist. Rh. 1367b37–1368a9. 7 Die ähnlichste Struktur weist vielleicht eine weitere lukianische Schrift auf: In Peregr. 4–30 (formal beginnt die Schrift als Brief, s. dazu gleich) gibt der Sprecher Lukian die Reden je eines Befürworters und eines Gegners des Peregrinos wieder. 8 Vgl. den Kommentar zu §§1–4. 9 Merc. Cond. liegt von der Thematik her zudem sehr nahe bei Rh. Pr.: Der Sprecher berät einen Freund, der beabsichtigt, als Hauslehrer reicher Leute Karriere zu machen, und weist ihn dringend an, davon Abstand zu nehmen. Trotz der fehlenden vorangestellten Grussformel in Merc. Cond., Hist. Conscr. und Rh. Pr. (vgl. dagegen Peregr. 1: Λουκιανὸς Κρονίῳ εὖ πράττειν) schliessen sich die Texte durch wiederholte Anreden an den Empfänger der Briefliteratur an (u.a. Merc. Cond. 1, 2, 13, 19, 42; Rh. Pr. 1, 14, 24; Hist. Conscr. 1, 3, 4, 5, 22). 10 Ausführlicher dazu vgl. unten die Einleitung 1.3. 11 Näheres zu diesen Elementen findet sich unten in Einleitung 1.8 sowie jeweils im Kommentarteil, vgl. v.a. die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §§9–10.

14

1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

schulmässigen Ordnung der Redeteile (partes orationis) hat und nutzt12 – keine in den engen Strukturen beispielsweise einer Gerichtsrede verlaufende oratio erwarten: Es liegen gängige Redeteile vor, aber in kreativer Ausund Umgestaltung. Das unten unter 1.1.1 dargestellte Gliederungsschema zu Rh. Pr. ist daher in seiner Grobeinteilung entlang der antiken Redeteile, wie sie in den antiken Handbüchern spezifisch für die Gerichtsrhetorik (zu deren Ausübung die Rhetorikschüler in erster Linie vorbereitet worden sind) vorliegen, als eine Möglichkeit oder ein Versuch aus moderner Sichtweise zu bewerten und beansprucht über die Gliederungsintention des antiken Autors und die Wirkung auf die antiken Rezipienten nur bedingte Aussagekraft. 13 Wie weit sich nämlich der antike Autor am untenstehenden Schema orientiert haben könnte, bleibt unsicher: Proömium und Schlusswort sind zwar so klar markiert, dass sie auch vom antiken Rezipienten als solche empfunden sein dürften, der Mittelteil aber ist in einer freien variatio gestaltet, die keine Trennlinien vorgibt, die den Kapitelzahlen auf nur eine Art zuzuordnen wären.14 Dennoch finden sich im Vokabular immer wieder Hinweise darauf, dass der Redner ein bestimmtes Vorhaben verfolgt und dieses beweisen will (und damit Hinweise auf Elemente einer Prothesis und Pistis), und im Detail werden entsprechend viele rhetorische (beweisende, anratende und ablehnende) Mittel angewandt, so dass der erhellende Wert einer solchen Analyse für den modernen Rezipienten evident sein dürfte. Die angesprochene Gattungsmischung in Rh. Pr. – oratio, epistula, philosophische Literatur, Alte Komödie – ist ein anschauliches Beispiel dessen, was Lukian als Charakteristik seines literarischen Schaffens in seinen Schriften immer wieder hervorhebt: Die Kreation literarischer Hippokentauren.15 Das vielseitige Gesamtwerk Lukians mit insgesamt 80 Schriften greift verschiedenste traditionelle Gattungen auf und verwebt sie miteinander. Eine grobe Zuordnung der Texte zu zwei Hauptbereichen ist zwar möglich, einerseits zu rhetorischen, andererseits zu dialogischen Darstellungsformen:16 Unter die erstgenannten fallen typische Produkte der Rhetorik der Zweiten Sophistik wie Deklamationen (Phalaris I und II, Tyrannicida, Abdicatus), Dialexeis (z.B. Luct., Sacr., Cal.), Ekphraseis (z.B. De 12

Vgl. z.B. HWRh 6 [2003] 667. Es ist also zu unterscheiden zwischen dem Status des Gliederungsschemas als a) dasjenige, an welchem sich der Autor beim Verfassen seines Textes orientiert hat, und b) dasjenige, welches aus moderner Sicht (unter Anwendung antiker Einteilungskriterien) die Orientierung im Text erleichtert. Für diesbezügliche Hinweise danke ich Martin Korenjak. 14 Vgl. daher auch die alternative Einteilung in Anm. 18. 15 Vgl. Zeuxis 3–7; Prom. Es 5; Bis Acc. 33. Siehe dazu ausführlicher unten 1.7.2, 1.8 (zur Vermengung von Komödie und philosophischem Dialog) und 3.1, S. 122f. sowie unten Anm. 87. 16 Diese Einteilung folgt Nesselrath [2001a]. 13

1.1 Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse

15

Domo), Vorreden (προλαλιαί, z.B. Scytha, Electr., Dips.) und Pamphlete (z.B. Pseudol., Alex., Peregr.), während die dialogischen Darstellungsformen einerseits den platonisch-sokratischen Dialog, andererseits die Alte Komödie aufnehmen (zu ersterem vgl. z.B. Hermot., Symp., Eun., Lex., Sol., zur zweiten z.B. Pisc., Vit. Auct.). Es sind aber stets Überlappungen vorhanden, ja sie sind gerade das Spezifikum von Lukians so genannten komischen Dialogen, die als mimetische ›Collagen‹ verschiedener klassischer Genera einmal den platonischen, ein andermal den komischen Anteil stärker gewichten. Als dritter Bereich sind Lukians so genannte Menippeischen Satiren zu nennen, deren formales Charakteristikum die Mischung von Prosa und Versen darstellt (z.B. Ikaromen., Nekyomant., J. Trag., J. Conf.).17 Die Schrift Rh. Pr., die aufgrund ihrer formalen Kernmerkmale (oratio, invektivisch-pamphletische Elemente) zu den rhetorischen Darstellungsformen gerechnet werden könnte, liefert bei genauerer Betrachtung struktureller und vor allem inhaltlicher Charakteristika ein gutes Beispiel für die Unmöglichkeit und Unzulänglichkeit einer einseitigen Einordnung und Gruppierung der lukianischen Schriften, da die Reflexion über bzw. die Verspottung von Rhetorik mit Elementen des platonisch-sokratischen Dialogs und der Alten Komödie gleichermassen durchsetzt ist. Eine detaillierte Darstellung des dichten Geflechts der intertextuellen Bezüge in Rh. Pr. findet sich unten in den Kapiteln 1.3–1.8. Wie die Gattungsmischung ein Charakteristikum des lukianischen Œuvres ist, so trifft dies nicht weniger auf den hohen Grad an Intertextualität zu, was nicht erstaunt, da das Rekurrieren auf bestehende ›klassische‹ Gattungen mit intertextuellen Verweisen einhergeht.

17

Zur vor allem hinsichtlich inhaltlicher Kriterien komplexen Gattungsdefinition der Menippeischen Satire vgl. die Studien von Riikonen [1987] und Relihan [1993] sowie speziell in Bezug auf Lukian Rütten [1997] 111–130 und Baumbach [2002] 22–25.

16

1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

1.1.1 Rhetorische Grobgliederung Proömium: (Vorwort)

Rh. Pr. 1–2

Prothesis/Dihegesis I: Rh. Pr. 3–4 (Darstellung des Sachverhaltes und beabsichtigte Vorgehensweise)

Parekbasis: (Exkurs)

Rh. Pr. 5

Prothesis/Dihegesis II: Rh. Pr. 6–8

Pistis: (Glaubhaftmachung) a) refutatio

Gegenstand der Rede, Person des Redners, Wohlwollen und Aufmerksamkeit des Publikums; Elemente der epistula (Briefbeginn: Ἐρωτᾷς, ὦ μειράκιον); platonisch-philosophischer Duktus

Gegenüberstellung der beiden Wege zur Rhetorik (platonisch-philosophischer Duktus) mit Positionierung des Ratgebers und διαβολή der Gegner; erster Beweis der vertretenen Position (argumentum a fortiori)18 beweisendes παράδειγμα des Händlers aus Sidon (mit poetologischer Funktion) Fortsetzung der Wegbeschreibung: Durch Bildbeschreibungen (εἰκόνες) erzeugte ἐνάργεια des kurzen Weges und der personifizierten Rhetorik

Rh. Pr. 9–25 Rh. Pr. 9–10

διαβολή des Lehrers des langen Weges; Elemente der aristophanischen Komödie (epirrhematischer Agon; Aristophanes Nub.: κρείττων und ἥττων λόγος)

18 Eine mögliche alternative Einteilung bestünde darin, ausgehend von Hinweisen im Vokabular (§4: μὴ ἀπιστήσῃς; §5: δι’ ἀπιστίαν; οὐκ ἐπίστευσεν; ἄπιστον) den Beginn der Pistis schon in §4 anzusetzen. Es ergäbe sich somit folgende Struktur: Proömium (Rh. Pr. 1–2), Dihegesis (Rh. Pr. 3), Pistis (Rh. Pr. 4–25) mit beweisender Ekphrasis (Rh. Pr. 5) und bildlicher ἐνάργεια (Rh. Pr. 6–7), dann Übergang in die eigentliche refutatio und probatio (ab Rh. Pr. 9). – Mir scheint diese Gliederung aus zwei Gründen weniger sinnvoll: Einerseits halte ich §3 und §§6–8 aufgrund der inhaltlichen Parallelen (Darstellung der Wege bzw. des Berges der Rhetorik) und der wiederholten Angaben zum Vorgehen (§3: οὐ γάρ σε [...] ἄξομεν κτλ.; §6: ἐθέλω δέ σοι [...] ἐπιδεῖξαι τὴν ὁδόν; §8: ἐγώ σοι φράσω) für eine Einheit, andererseits kann man, was das Vokabular betrifft, anführen, dass es die Kernfunktion einer Rede ist, den Zuhörer zu überzeugen, so dass dies selbstverständlich nicht nur in einer Pistis zum Thema gemacht werden darf (vgl. auch Anm. 27 unten). Rh. Pr. 4 und 5 sind m. E. als Beweis des in Rh. Pr. 3 vorgeführten Szenarios bzw. der Legitimation des Vorhabens des Ratgebers, den Schüler auf dem kurzen Weg zu führen, aufzufassen, bieten aber noch nicht die eigentliche ›Hauptbeweisführung‹ der inhaltlichen Priorität des kurzen Weges (diese folgt ab Rh. Pr. 9 bzw. 11).

1.1 Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse

b) probatio

17

Rh. Pr. 11–25 Rh. Pr. 11–12 αὔξησις des Lehrers des kurzen Weges  Rede des Rednerlehrers, Stilisierung zum Komödienauftritt Rh. Pr. 13–14 Selbstlob (αὔξησις) des Rednerlehrers, adhortatio an den Schüler [Proömium des Rednerlehrers] Rh. Pr. 15 Präliminarien der Lehre des kurzen Weges [Prothesis] Rh. Pr. 16–22 Ausführungen zu Vokabular, literarischen Vorbildern, Paradethemen, Redeaufbau, Showelementen, Claque und Konkurrenz Rh. Pr. 23–25 Privatleben: praecepta und illustrierender βίος des Rednerlehrers; Elemente der aristophanischen Komödie, Invektiventopik

Epilog: (Schlusswort)

Rh. Pr. 26

Bekräftigung der eigenen Position und Herabsetzung der Gegner (αὔξησις und ταπείνωσις); Zusammenfassung (ἀνάμνησις); platonischphilosophischer Duktus

18

1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

1.1.2 Ausführlichere Gliederung nach rhetorischen Gesichtspunkten Proömium (Vorwort): Rh. Pr. 1–2 Präsentiert wird der Gegenstand der Rede, vorgegeben durch den Wunsch des Schülers, ein berühmter Sophist zu werden und die Wege zu erfahren, die dahin führen (vgl. Arist. Rh. 1415a23f. zur Hauptaufgabe des Proömiums: δηλῶσαι τί ἐστιν τὸ τέλος οὗ ἕνεκα ὁ λόγος »aufzuzeigen, mit welchem Ziel die Rede gehalten wird«).19 Entsprechend den in der rhetorischen Theorie angegebenen zusätzlichen Funktionen eines Proömiums – das Wohlwollen und die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewinnen, die eigene Person in vorteilhaftem Licht erscheinen zu lassen (vgl. Arist. Rh. 1415a25ff.) – signalisiert der Ratgeber seine Kompetenz auf dem Gebiet der Rhetorik (τό γε ἐπ’ ἐμοὶ καὶ πάνυ θαρρῶν ὡς τάχιστα δεινὸς ἀνὴρ ἔσῃ κτλ.) sowie seine Hilfsbereitschaft, die er schon mehrfach unter Beweis gestellt zu haben scheint (ἀλλὰ οὐδεὶς φθόνος, ὦ παῖ, καὶ μάλιστα ὁπότε νέος τις [...] καθάπερ νῦν σύ, τοῦτο αἰτοίη προσελθών). Seine Kompetenz wird auch insofern, als sich der Schüler gerade an ihn wendet, untermauert. Die besonders betonte Kürze der Rede bzw. der Ausbildung weckt zusätzlich die Aufmerksamkeit des Publikums; demselben Zweck dient die Betonung der Grösse und Bedeutsamkeit des Zieles des Schülers. Diesem Punkt ist §2 gewidmet (τὸ μὲν οὖν θήραμα οὐ σμικρὸν κτλ.),20 der mit dem Verweis auf (anonyme) παραδείγματα21 unbekannter Menschen, die allein durch die Rhetorik reich und berühmt, ja Angehörige der Oberschicht geworden sind, schliesst.22

19

Vgl. ausführlich zur Funktion des προοίμιον auch Anaxim. 29. Vgl. zur Betonung der Grösse des Redegegenstandes gerade im Proömium Arist. Rh. 1415b1f.: προσεκτικοὶ δὲ τοῖς μεγάλοις, τοῖς ἰδίοις, τοῖς θαυμαστοῖς, τοῖς ἡδέσιν und Cic. Inv. 1,23: Attentos autem faciemus, si demonstrabimus ea, quae dicturi erimus, magna, nova, incredibilia esse (siehe allerdings über die geforderte Glaubwürdigkeit der ἀπαγγελία/διήγησις Anaxim. 30: τὰς ἀπαγγελίας [...] σαφεῖς καὶ βραχείας καὶ οὐκ ἀπίστους ποιήσομεν). 21 Zum Beispiel (παράδειγμα) als neben dem Enthymem (ἐνθύμημα) wichtigstes »technisches« Überzeugungsmittel einer Rede vgl. Arist. Rh. 2,20. Zur überzeugenden Wirkung des Berichtes eines ähnlichen Falles (so genanntes παράδειγμα κατὰ λόγον) vgl. auch Anaxim. 8,1–3. 22 Auch rhetorische Fachterminologie unterstreicht durchgängig die Kompetenz des Sprechers (vgl. z.B. den Kommentar zu §1: τὴν δύναμιν [...] ἐν τοῖς λόγοις; γνῶναί τε τὰ δέοντα καὶ ἑρμηνεῦσαι αὐτά). 20

1.1 Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse

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Prothesis/Dihegesis I:23 Rh. Pr. 3–4 Die angekündigte Kürze der Ausbildung und die Grösse des Zieles rufen geradezu nach einer Präzisierung des Sprechers dahingehend, wie er diese Ausbildung vorzunehmen gedenkt. Die beiden zur Verfügung stehenden Wege – der lange, anstrengende und der kurze, angenehme – werden ein erstes Mal in einer Gegenüberstellung ihrer Charakteristika vorgeführt,24 wobei der Lehrer sich als Verfechter des kurzen Weges positioniert und sich von Gegnern absetzt (οὐ γάρ σε τραχεῖάν τινα οὐδὲ ὄρθιον καὶ ἱδρῶτος μεστὴν ἡμεῖς γε ἄξομεν, [...] ἐπεὶ οὐδὲν ἂν διεφέρομεν τῶν ἄλλων ὅσοι κτλ.; ἀλλὰ τό γε παρ’ ἡμῶν ἐξαίρετόν σοι τῆς συμβουλῆς τοῦτό ἐστιν κτλ.)25. Die Absetzung von Gegnern bzw. die Diskreditierung der gegenteiligen Position, in der rhetorischen Terminologie διαβολή genannt,26 nimmt der Ratgeber in §8 und ausführlich in §§9–10 (indirekte Rede des Lehrers des langen Weges) wieder auf. Als ob dem Ratgeber – in der Idylle des kurzen Weges schwelgend – plötzlich bewusst wird, wie unglaublich seine Worte auf den Schüler wirken müssen (μὴ ἀπιστήσῃς27, εἰ ῥᾷστά τε ἅμα καὶ ἥδιστά σοι ταῦτα ἐπιδείξειν φαμέν), untermauert er seinen Ratschlag bzw. die von ihm beabsichtigte Vorgehensweise mit dem Beispiel Hesiods, dessen Karriere ein

23 Gemäss Arist. Rh. 1414a31–40 besteht eine Rede aus den beiden Hauptteilen Prothesis (Themenangabe) und Pistis (Beweis); eine Dihegesis (Erzählung) gebe es nur in der Gerichtsrede (vgl. auch 1417b12f.: ἐν δὲ δημηγορίᾳ ἥκιστα διήγησις ἔστιν, ὅτι περὶ τῶν μελλόντων οὐθεὶς διηγεῖται). Anders wird dies in Anaxim. 30–31 behandelt, wo die Apangelia (Dihegesis) auf alle drei Redegattungen appliziert wird, indem sie entweder über Geschehenes, Gegenwärtiges oder Zukünftiges berichtet, während der Redeteil der Prothesis im aristotelischen Sinne entfällt. In der römischen Rhetoriktheorie hat sich die Gliederung Exordium – Narratio – Partitio/Propositio (für alle Gattungen, auch die Beratungsrede) etabliert (vgl. Cic. Inv. 1,19–33; Quint. Inst. 4,1–5). Die vorliegende Passage von Rh. Pr. scheint mir am ehesten als Mischung von Erzählung und Darlegung der beabsichtigten Vorgehensweise (Dihegesis und Prothesis/Propositio) charakterisierbar, da die dihegetische Darstellung der beiden Wege v.a. dem Zweck dient, die Absicht des Ratgebers, die schnellstmögliche Ausbildung zu lehren, zu illustrieren, und er die von ihm verfolgte Vorgehensweise immer wieder kommentiert. 24 Zur stilistischen Gestaltung dieser Gegenüberstellung (Adjektivreihungen gemäss dem Gesetz der wachsenden Glieder; Oppositionen) vgl. die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §3. 25 »Denn nicht auf einem rauen, steilen und schweisstreibenden Weg werde ich dich führen, [...] denn dann unterschiede ich mich ja kein bisschen von all den anderen, die usw.«; »Nein, gerade dies ist das Herausragende an meinem Ratschlag, usw.« 26 Vgl. Arist. Rh. 3,15 und Anaxim. 29,10–28. 27 Zur Überzeugung als Kernfunktion jeder Rede vgl. Arist. Rh. 1355b25f. (ἔστω δὴ ἡ ῥητορικὴ δύναμις περὶ ἕκαστον τοῦ θεωρῆσαι τὸ ἐνδεχόμενον πιθανόν) und detailliert zu den Überzeugungsmitteln (πίστεις) 1356a1ff. Die Funktion des Überzeugens wird vom Ratgeber auch im folgenden Kapitel (§5) mit der häufigen Verwendung entsprechender Termini unterstrichen (δι’ ἀπιστίαν; οὐκ ἐπίστευσεν; ἄπιστον).

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

argumentum a fortiori des Typs a maiore in minus abgibt:28 Wenn Hesiod durch einige wenige Blätter vom Helikon (ὀλίγα φύλλα ἐκ τοῦ Ἑλικῶνος λαβὼν) sofort ein von den Musen ergriffener grosser Poet29 werden konnte, so muss dies für einen Redner doch ebenso möglich sein.30 Parekbasis (Exkurs): Rh. Pr. 5 Es folgt ein kurzer Exkurs, der insgesamt ein παράδειγμα darstellt: Die Herausforderung der politischen Organisation des Reiches Alexanders des Grossen, konkret die Botengänge zwischen Persien und Ägypten, die auf einem kurzen Weg zu absolvieren gewesen wären, hätte Alexander dem Versprechen (ὑπόσχεσις) eines Sidoniers Glauben geschenkt, bilden den Hintergrund, vor dem der Ratgeber seine eigene Versprechung (ὑπόσχεσις) argumentativ zu untermauern versucht.31 Neben der beweisenden hat dieser Exkurs auch eine wichtige poetologische Funktion: Dadurch, dass der Ratgeber seine eigene Person mit dem Sidonier vergleicht und dessen unglaubliche Versprechungen kommentiert, werden auch Anlage und Intention seiner eigenen Rede reflektiert.32 Prothesis/Dihegesis II: Rh. Pr. 6–8 Der Ratgeber nimmt in §6 seine Darstellung der zwei Wege zur Rhetorik wieder auf, wobei er eine Bildbeschreibung der auf einem Berggipfel thronenden Rhetorik an den Anfang stellt: Die Güter, die demjenigen, welcher sie heiratet, zufallen – in §3 angetönt: ἅπαντα [...] ὅσα ἐστὶν ἀγαθὰ παρὰ τῆς Ῥητορικῆς – werden konkretisiert (πλοῦτος, δόξα, ἰσχύς, ἔπαινοι). Die Verwendung eines Bildes (εἰκών) gilt in der rhetorischen Theorie als geistreiches, schmückendes Element (ἀστεῖον), das die Hörer durch den Lerneffekt des Erkennens der Ähnlichkeit des Bildes mit dem vorliegenden Thema erfreut.33 Solche Bilder bewirken zudem Anschaulichkeit, ἐνάργεια.34 Der Ratgeber integriert in das erste Bild durch den Verweis auf eine 28 Vgl. zu dieser Kategorie des Topos »aus dem Verhältnis von Mehr und Weniger« (ἐκ τοῦ μᾶλλον καὶ ἧττον) Arist. Rh. 1397b12f. 29 Verwendet wird der rhetorische Terminus μεγαληγορία (»Erhabenheit, Gehobenheit [des Stils]«); vgl. dazu den Kommentar zu §4: τῆς ποιητικῆς μεγαληγορίας. 30 Vernachlässigt wird bei diesem Argument das göttliche Zutun in Hesiods Fall, vgl. dazu den einleitenden Kommentar zu §4. Zur Anwendung von Trugschlüssen (φαινόμενα ἐνθυμήματα) vgl. Arist. Rh. 2,24. 31 Über die in eine narratio eingeschobene digressio und ihre verschiedenen Funktionen vgl. Cic. Inv. 1,27: digressio aliqua extra causam aut criminationis aut similitudinis aut delectationis non alienae ab eo negotio, quo de agitur, aut amplificationis causa interponitur. 32 Für eine detailliertere Analyse vgl. die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §5. 33 Vgl. Arist. Rh. 3,4 und 3,10–11. 34 Vgl. dazu Quint. Inst. 4,2,63: Als passendes Element in der Erzählung, narrationi aptum, wird die evidentia/ἐνάργεια angeführt.

1.1 Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse

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Abbildung des Nils gleich ein zweites zur Veranschaulichung der ἔπαινοι (εἴ που τὸν Νεῖλον εἶδες γραφῇ μεμιμημένον κτλ. »wenn du schon einmal den Nil auf einem Bild dargestellt gesehen hast usw.«). Zu Beginn von §7 an den Fuss des Berges zurückversetzt, wird dem Schüler dessen Schroffheit – besonders betont durch Alliteration: ἀπόξυρον αὐτὴν ἁπανταχόθεν – in einem weiteren vergleichenden Bild der Bergfestung Aornos vor Augen geführt, unterfüttert durch die Nennung der παραδείγματα Alexanders, Dionysos’ und Herakles’, in deren Reihe er sich als Bezwinger dieses Berges einreihen wird. Es folgt eine erneute Kurzdarstellung der Beschaffenheit der beiden Wege (vgl. bereits §3), die dem Ratgeber die Möglichkeit bietet, sich auf Hesiod als vorzüglichen Exponenten der Technik der Wegbeschreibung zu berufen und mit dem rhetorischen Element der ἀποσιώπησις (hier: rasch zum nächsten Punkt überleitende Abbruchsformel) zu enden (§7: καὶ ἔφθη γὰρ ἤδη Ἡσίοδος εὖ μάλα ὑποδείξας αὐτήν [sc. τὴν ὁδόν], ὥστε οὐδὲν ἐμοῦ δεήσει. [...] ἵνα μὴ πολλάκις τὰ αὐτὰ λέγων κτλ.).35 Schliesslich begründet der Ratgeber in einem Selbsterfahrungsbericht, der seine Glaubwürdigkeit durch Autopsie stärkt, warum er selbst den langen Weg beschritt, seinem Schüler aber den kurzen anrät (§8): Infolge seines jugendlichen Alters und im Glauben an die Richtigkeit von Hesiods Aussagen über den langen Weg beging er diesen Fehler, der dem Schüler nicht unterlaufen soll.36 Mit der Ankündigung der eigentlichen Lehre über die Umsetzung des kurzen Weges leitet der Ratgeber zum Hauptteil seiner Rede (Pistis) über (§8: ὡς οὖν ποιήσας ἤδη ῥᾷστα ἐπὶ τὸ ἀκρότατον ἀναβήσῃ [...] ἐγώ σοι φράσω).37 Pistis (Glaubhaftmachung): Rh. Pr. 9–25 Die Beweisführung ist nicht im engeren Sinne als solche gekennzeichnet; der vorliegende Hauptteil des Textes dient aber genau diesem Zweck, wobei anstelle gängiger Beweise, wie sie sich in der Gerichtsrede finden (πίστεις im Sinne von Enthymemen sowie Zeugen, Verträgen etc.), die 35 »Doch Hesiod hat ihn [sc. den Weg] ja längst sehr zutreffend beschrieben, so dass ich es nicht auch noch zu tun brauche. [...] damit ich nicht mehrfach dasselbe sage usw.« – Zur ἀποσιώπησις und ihren verschiedenen Funktionen vgl. HWRh 1 [1992] 828–830 (vgl. auch Alexander De figuris, Rhetores Graeci vol. 3, p. 22 Spengel). Die Verwendung von Abbruchsformeln ermöglicht die für eine gute Rede geforderte Qualität der Kürze (συντομία/brevitas). 36 Hier liegt eine rhetorische διαβολή Hesiods als Lügner vor (vgl. auch am Ende von §8: ἐξαπατηθῆναι), die in scharfem Kontrast steht zum vorangehenden Lob des Dichters in stilistischer Hinsicht (§7). Zum Topos der sich im Nachhinein als falsch zeigenden Entscheidung vgl. Arist. Rh. 1400a37–b4. 37 »Was du nun tun musst, um am leichtesten die Bergspitze zu erklimmen [...], will ich dir sagen.«

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

Darstellungen der Lehrer des langen und des kurzen Weges für sich selbst sprechen (bzw. je ein umfassendes παράδειγμα abgeben)38 und – angereichert durch den (negativen bzw. positiven) Kommentar des Ratgebers – den Schüler zur richtigen Entscheidung führen sollen. Der Lehrer des langen Weges kommt dabei nur in indirekter Rede zum Zug, so dass die negative Beurteilung durch den Ratgeber umso leichter einfliessen kann (z.B. §9: ἕπεσθαί σοι παρακελευόμενος; φήσει εὐδαίμονά σε ἔσεσθαι; σε κελεύσει ζηλοῦν; ὃ δὲ πάντων ἀνιαρότατον, ὅτι σοι καὶ τὸν χρόνον πάμπολυν ὑπογράψει τῆς ὁδοιπορίας; §10: ὁ μὲν ταῦτα φήσει, ἀλαζὼν καὶ ἀρχαῖος ὡς ἀληθῶς καὶ Κρονικὸς ἄνθρωπος). a) refutatio (Ablehnung des langen Weges):39 Rh. Pr. 9–10 Der Lehrer des langen Weges, ein Ausbund an Männlichkeit und Fleiss,40 empfiehlt, auf den Spuren Demosthenes’, Platons und anderer Klassiker wandelnd unter grosser Anstrengung deren Werke nachzuahmen, um – wenn auch erst nach Ablauf einiger Olympiaden – endlich das ersehnte Rednerglück (εὐδαιμονία) zu erreichen. Der Ratgeber kritisiert an dieser Ausbildung die in Aussicht gestellte lange Dauer und unterstellt dem Lehrer zudem, dass er für seinen Unterricht hohen Lohn fordere. Zu diesem Element der Geldgier gesellen sich am Beginn von §10 weitere Elemente der διαβολή, nämlich Prahlerei und unzeitgemässe Einstellung,41 letztere durch ein Enthymem illustriert: Die alte Rhetorik, welche (zumindest vielleicht) im Krieg Nutzen hat, kann heute, zu Friedenszeiten, keinen solchen mehr bringen. Hier wird die gängige Angabe der primären Funktion der symbuleutischen Rede im Argument einbezogen, nämlich gemäss dem Nützlichen bzw. Schädlichen zu raten, vgl. Arist. Rh. 1358b20f.: τέλος δὲ [...] τῷ μὲν συμβουλεύοντι τὸ συμφέρον καὶ βλαβερόν und Rhet. Her. 3,2,3: omnem orationem eorum qui sententiam dicent finem sibi conveniet utilitatis pro38 Zum παράδειγμα als geeignetste Form der πίστις in der Beratungsrede vgl. denn auch Arist. Rh. 1368a29f.: τὰ δὲ παραδείγματα τοῖς συμβουλευτικοῖς (ἐκ γὰρ τῶν προγεγονότων τὰ μέλλοντα καταμαντευόμενοι κρίνομεν). 39 Gemäss Aristoteles (Rh. 1418b7–9) erfolgen refutatio und probatio in der umgekehrten Reihenfolge: erst Darlegung der eigenen Position, dann Widerlegung des gegnerischen Standpunktes; er nennt allerdings auch Ausnahmen von dieser Vorgehensweise. Es ist naheliegend, dass in Rh. Pr. der im chronologischen Sinne ›ältere‹ und zudem konventionelle Weg, welchen der Ratgeber selbst absolviert hat, vorab besprochen wird, bevor der als ganz erstaunliche Neuheit charakterisierte zweite Weg vom Rednerlehrer detailliert und in entsprechender Breite präsentiert wird. 40 Zur stilistischen Gestaltung der Passage vgl. den Kommentar zu §9: ὑπόσκληρος sowie den einleitenden Kommentar zu §§11–12 (parallelisierende Wiederaufnahme in der äusserlichen Beschreibung des Rednerlehrers); vgl. auch den einleitenden Kommentar zu §§9–10 für die Anlehnung der Passage an den epirrhematischen Agon des κρείττων und des ἥττων λόγος in Aristophanes’ Wolken. 41 Die Reihung verächtlicher Ausdrücke wird stilistisch durch Alliteration verstärkt: ἀλαζὼν καὶ ἀρχαῖος ὡς ἀληθῶς καὶ Κρονικὸς ἄνθρωπος.

1.1 Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse

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ponere, ut omnis eorum ad eam totius orationis ratio conferatur. Es sind also Antiquiertheit und Unwissenheit des Lehrers, welche der Ratgeber besonders hervorhebt, damit der Schüler sich nicht von einer solchen Beratung überzeugen lasse: σὺ δὲ μήτε πείθεσθαι μήτε προσέχειν αὐτῷ κτλ. Am Ende von §10 folgt weiter die Kritik an Hypermaskulinität und Betrügerei (τῷ μὲν δασεῖ τούτῳ καὶ πέρα τοῦ μετρίου ἀνδρικῷ; ἐξαπατᾶν). b) probatio (Anraten des kurzen Weges): Rh. Pr. 11–25  Rede des Rednerlehrers Die folgende Unterweisung, die als probatio aus Sicht des Ratgebers charakterisiert werden könnte, erhält dadurch, dass sie vom Rezipienten in ihrer Übersteigerung als Ironie empfunden werden muss,42 letztlich ebenfalls einen abwertenden Duktus. Rh. Pr. 11–12: Empfehlung des Lehrers des kurzen Weges / Wortübergabe Der Lehrer des kurzen Weges, in Opposition zum Lehrer des langen Weges als effeminierter Schönling43 (als vergleichende παραδείγματα44 angeführt werden §11: Sardanapal, Kinyras, Agathon sowie §12: die Hetären Thaïs, Malthake und Glykera), ja als göttergleiche Gestalt beschrieben, garantiert dem Schüler das erstrebte Ziel (in der Formulierung durch das rhetorische Gesetz der wachsenden Glieder prägnant-klimaktisch): τούτῳ τοίνυν προσελθὼν καὶ παραδοὺς ἑαυτὸν αὐτίκα μάλα ῥήτωρ ἔσῃ καὶ περίβλεπτος καί, ὡς ὀνομάζει αὐτός, βασιλεὺς ἐν τοῖς λόγοις ἀπονητὶ καταστήσῃ τὰ τέθριππα ἐλαύνων τοῦ λόγου.45 An diese Figur des Rednerlehrers tritt der Ratgeber nun das Wort ab (μᾶλλον δὲ αὐτὸς εἰπάτω πρὸς σέ· γελοῖον γὰρ ὑπὲρ τοιούτου ῥήτορος ἐμὲ ποιεῖσθαι τοὺς λόγους κτλ.46) und greift es erst im Epilog wieder auf (§26: εἶεν· ὁ μὲν γεννάδας εἰπὼν ταῦτα πεπαύσεται). Aus rhetorischer Sicht liegt eine so genannte Prosopopoiie (προσωποποιία; manchmal auch: ἠθοποιία) vor, die darin besteht, in eine bestimmte Rolle zu schlüpfen und

42 Zur Ironie vgl. unten S. 29f. und S. 64f. Zur εἰρωνεία als rhetorisches Gestaltungsmittel vgl. z.B. Anaxim. 21. 43 Wiederum erfolgt die stilistische Hervorhebung durch Alliteration und Homoioteleuton: πάνσοφόν τινα καὶ πάγκαλον ἄνδρα (vgl. oben Anm. 41). 44 Zu vergleichenden παραδείγματα als Mittel der αὔξησις vgl. die folgenden Ausführungen zu Rh. Pr. 13–14. 45 »Wenn du also zu diesem gehst und dich in seine Obhut begibst, wirst du auf der Stelle ein Redner sein, sehr angesehen und – wie er selbst es nennt – als König der Redekunst dich mühelos etablieren, das Viergespann des Wortes lenkend.« 46 »Doch er soll besser selbst zu dir sprechen; denn es ist lächerlich, dass anstelle eines solchen Redners ich die Worte formuliere usw.«

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die gewählte Figur möglichst überzeugend darzustellen; dieses Rollenspiel gehörte zu den rhetorischen Schulübungen (προγυμνάσματα).47 Rh. Pr. 13–14: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler [Proömium] Die ironische Einleitung – φήσει δ’ οὖν πάνυ μετριάζων ὑπὲρ ἑαυτοῦ – gibt bereits einen Hinweis auf das überbordende Selbstlob, durch welches sich der Rednerlehrer in einem Vergleich mit Sokrates (weisester Mensch/ bester Redner) einführt. Er betont weiter seinen Ruhm und seine Expertise (κλέος; δαιμόνιον ἄνδρα) und benutzt den zusätzlichen Vergleich seiner exzellenten Rhetorik mit den Taten der riesenhaften Figuren Tityos, Otos und Ephialtes, um seine Selbstdarstellung mit übernatürlich-wunderbaren Zügen weiter zu verfolgen (τὸ πρᾶγμα ὑπερφυὲς καὶ τεράστιον) – mit ironischer Wirkung auf den Rezipienten insofern, als diese drei Figuren allesamt notorische Frevler sind. Doch damit nicht genug: In einer dritten Vergleichsreihe (Trompete/Zikade/Chor versus Flöte/Biene/Vorsänger) illustriert der Rednerlehrer, wie er alle anderen Sophisten übertönt. Hier wird, um mit einem rhetorischen Terminus zu sprechen, eine αὔξησις (Steigerung) angewendet, wie sie in der Lobrede (ἔπαινος) gängig ist, um die Einzigartigkeit dessen, was gelobt wird, zu unterstreichen; durch den Bezug auf den Sprecher selbst verkommt sie an vorliegender Stelle zu einem selbstherrlichen Eigenlob. Der Steigerung dienen nicht zuletzt Vergleiche, die – im Einklang mit der rhetorischen Theorie – mit bekannten Figuren gezogen werden, vgl. Arist. Rh. 1368a10f. und 1368a21f. (δεῖ δὲ πρὸς ἐνδόξους συγκρίνειν· αὐξητικὸν γὰρ καὶ καλόν, εἰ σπουδαίων βελτίων. »Vergleiche sind mit berühmten Personen anzustellen; es ist nämlich erhöhend und schön, wenn jemand [noch] besser ist als die geachteten Menschen.«), vgl. auch Anaxim. 3,1 (συλλήβδην μὲν οὖν ἐστιν ἐγκωμιαστικὸν εἶδος προαιρέσεων καὶ πράξεων καὶ λόγων ἐνδόξων αὔξησις. »Kurz gesagt ist das Wesen der Lobrede die Steigerung von Gesinnungen, Taten und ehrenvollen Worten.«).

47 Vgl. dazu Aelios Theon Progymnasmata, Rhetores Graeci vol. 2, p. 115 Spengel (προσωποποιία ἐστὶ προσώπου παρεισαγωγὴ διατιθεμένου λόγους οἰκείους ἑαυτῷ τε καὶ τοῖς ὑποκειμένοις πράγμασι); Hermogenes Progymnasmata 9, Rhetores Graeci vol. 6, p. 20 Rabe (ἠθοποιία ἐστὶ μίμησις ἤθους ὑποκειμένου προσώπου κτλ.); Alexander De Figuris, Rhetores Graeci vol. 3, p. 21 Spengel; Demetrios Περὶ ἑρμηνείας 265; teilweise mit Differenzierung zwischen Prosopopoiie (nicht personenhafte Dinge) und Ethopoiie (natürliche Personen), siehe dazu Lausberg [31990] §822 und §826. Dionysios von Halikarnass lobt sowohl Lysias als auch Isokrates für ihre Kunst der Ethopoiie (Lys. 19,4; Isoc. 11,4). Gemäss Cribiore [2001] 228f. machte die Ethopoiie (zusammen mit der Lobrede, ἐγκώμιον) den wichtigsten Teil der rhetorischen Schulübungen aus, was sie durch die Erfordernisse sophistischer Deklamationen – der Redner schlüpft immer in eine Rolle – erklärt.

1.1 Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse

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Mit dem Beginn einer zweiten Rede (derjenigen des Rednerlehrers) innerhalb der ersten (derjenigen des Ratgebers) liegt hier ein weiteres Proömium vor, welches wiederum die Kompetenz des Sprechers,48 die Bedeutsamkeit der (seiner) Rhetorik und damit indirekt auch des Zieles des jungen Mannes betont. So erfolgt in Form einer variatio ein Rückbezug auf das Proömium des Ratgebers, auf den Wunsch des Schülers nach Weltruhm und auf die versprochene Kürze der Ausbildung (vgl. §1)49 und zugleich eine Absetzung vom Lehrer des alten Weges (vgl. §§9–10) insofern, als auch hier Nachahmung – allerdings nicht der alten Klassiker, sondern dessen, was der Rednerlehrer an ›Gesetzen‹ vorbringen wird – empfohlen wird (ζήλου πάντα κτλ.). Rh. Pr. 15–25: Die Lehre des kurzen Weges  15: Präliminarien [Prothesis] Der Rednerlehrer formuliert das in seiner Unterweisung beabsichtigte Vorgehen, welches zwei Elemente umfasst (λέξω δὲ πρῶτον μὲν [...]. ἔπειτα κτλ.), einerseits die Angabe notwendiger Voraussetzungen des Schülers (physisch-charakterliche Eigenschaften und äussere Erscheinung; als Präliminarien in §15 kurz abgehandelt), andererseits die Ausbildung im engeren Sinn (§§16–22/23). Diese Art der Unterweisung, wird dem Schüler versichert, garantiert innert kürzester Frist (πρὶν ἥλιον δῦναι) das Dasein eines Starsophisten nach dem Vorbild des Rednerlehrers selbst (ῥήτορά σε ὑπὲρ τοὺς πάντας ἀποφανῶ, οἷος αὐτός εἰμι). Die geforderten charakterlichen Voraussetzungen – θράσος, τόλμα, ἀναισχυντία mit besonderer Betonung des absoluten Unwissens, ἀμαθία – brechen mit der Konvention genauso, wie die Ausführungen über stimmliche Eigenschaften und Äusserliches – βοή, μέλος, βάδισμα, ἐσθής, κρηπίς/ἐμβάς κτλ. – eine übermässig bedeutende Rolle spielen (vgl. ταῦτα δὲ πάνυ ἀναγκαῖα καὶ μόνα ἔστιν ὅτε ἱκανά. »Diese Dinge sind unabdingbar und manchmal allein schon ausreichend.«).  16–17: Beginn der Lehre im eigentlichen Sinn (καὶ δή σοι τοὺς νόμους δίειμι); Themenbereiche Vokabular (Attizismen, Archaismen und Neologismen) und literarische Vorbilder (sophistische μελέται von Rednern kurz vor der eigenen Zeit). Diese Ausführungen können unter den officia oratoris zum Bereich der λέξις (Diktion) gezählt werden; besonderes Augenmerk liegt dabei auf den 48 Durch das übersteigerte Selbstlob wird allerdings die positive Wirkung der Äusserungen als captatio benevolentiae unterwandert. 49 Untermalt wird die Aussage durch die Metaphorik einer Mysterieneinweihung und durch ein Sprichwort: ἀνίπτοις ποσὶν ἔμβαινε; vgl. zu letzterem Arist. Rh. 1413a17–20 (παροιμίαι neben μεταφοραί als Mittel des ἀστεῖον).

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

Stilqualitäten Sprachrichtigkeit (ἑλληνισμός), Deutlichkeit (σαφήνεια) und Angemessenheit (πρέπον).50  18–22: Paradethemen und Aufbau der Rede; Showelemente (Gesang, Geschrei, Gestik) und deren Wirkung auf die Zuhörer mit (weiteren) Bemerkungen über die Stoffauffindung; Unterstützung durch Claque und Umgang mit Konkurrenz. Diese Ausführungen betreffen v.a. die officia oratoris der εὕρεσις und τάξις (Stoffauffindung und -gliederung) sowie besonders der ὑπόκρισις (Vortrag). Auffällig ist die (ungewohnte) Reihenfolge der Behandlung (§18: τάξις und εὕρεσις – §19: ὑπόκρισις – §20: wieder εὕρεσις), wodurch der Rednerlehrer seine eigene Empfehlung, τάξις zu vernachlässigen, selbst umsetzt.51 Er wertet den Inhalt der Rede in seiner Wichtigkeit ab, indem er gleichzeitig der Show (ὑπόκρισις) einen dem Inhalt ebenbürtigen bzw. vorangestellten Platz einräumt. Zudem missachtet er den καιρός (als rhetorischer Terminus: passende Gelegenheit, passender Augenblick, etwas zu sagen bzw. ein rheorisches Mittel anzuwenden),52 was die inhaltlich-stilistischen Aspekte der Rede anbelangt (§18: λέγε ὅττι κεν ἐπ’ ἀκαιρίμαν γλῶτταν ἔλθῃ, μηδὲν ἐκείνων ἐπιμεληθείς, ὡς τὸ πρῶτον [...] ἐρεῖς ἐν καιρῷ προσήκοντι53), und gesteht ihm wiederum nur für die Showeffekte Bedeutung zu (§19: ἢν δέ ποτε καὶ ᾆσαι καιρὸς εἶναι δοκῇ κτλ.54). Insgesamt hat der Rednerlehrer mit seiner Abhandlung in §§16–22 von den fünf Arbeitsstadien des Redners diejenigen vier gestreift, die für eine Stegreifrede von Bedeutung sind (naturgemäss entfällt das officium des Memorierens, μνήμη).  23–25: Es folgen Ratschläge (praecepta) für das Leben ausserhalb der Rednerbühne, ergänzt durch eine (als παράδειγμα dem Beweis dienende) Schilderung des Lebenslaufes (βίος) des Rednerlehrers selbst, der seine ei50 Entsprechend der ironisch-satirischen Gestaltung (vgl. S. 29f. und S. 64f.) werden sämtliche officia oratoris in pervertierter Form abgehandelt, so dass beispielsweise σολοικισμός und βαρβαρισμός nicht strikt zu vermeiden sind, sondern mit der nötigen Unverschämtheit als korrekt verteidigt werden sollen. 51 Die gängige Reihenfolge der officia oratoris lautet: εὕρεσις, τάξις, λέξις, μνήμη, ὑπόκρισις (siehe z.B. Fuhrmann [41995] 78). 52 Vgl. ausführlich HWRh 4 [1998] 836–844; zentral ist Plat. Phdr. 272a: [...] ταῦτα δ’ ἤδη πάντα ἔχοντι, προσλαβόντι καιροὺς τοῦ πότε λεκτέον καὶ ἐπισχετέον, βραχυλογίας τε αὖ καὶ ἐλεινολογίας καὶ δεινώσεως ἑκάστων τε ὅσα ἂν εἴδη μάθῃ λόγων, τούτων τὴν εὐκαιρίαν τε καὶ ἀκαιρίαν διαγνόντι, καλῶς τε καὶ τελέως ἐστὶν ἡ τέχνη ἀπειργασμένη, πρότερον δ’ οὔ; vgl. auch die entsprechenden Formulierungen bei Aristoteles (z.B. Rh. 1415b12f. über die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit der Zuhörer konstant zu halten: ὥστε ὅπου ἂν ᾖ καιρός, λεκτέον »καί μοι προσέχετε τὸν νοῦν κτλ.«) und Anaximenes 1433b26. 53 »Sprich, was dir gerade auf der Zunge liegt, und kümmere dich nicht darum, dass du das Erste [...] zur angemessenen Zeit sagen wirst.« 54 »Wenn dir aber je auch der richtige Moment zum Singen gekommen zu sein scheint usw.«

1.1 Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse

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genen praecepta umgesetzt hat.55 Wiederum wird als sämtlichen Ratschlägen zugrunde liegendes Prinzip der Nutzenaspekt (χρήσιμον) angegeben.56 Empfohlen wird ein durchwegs amoralisches Benehmen, das v.a. im sexuellen Bereich ausführlich geschildert wird und effeminiert-kinädenhaftes Verhalten als Erfolgsstrategie propagiert.57 Stilistisch unterstreicht der Rednerlehrer seinen Rat zu Beginn von §23 durch die asyndetische Reihung diverser (aus konventioneller Sicht) unangemessener und unmoralischer Handlungsweisen (sog. »Anhäufung«, συναθροισμός/congeries:58 κυβεύειν μεθύσκεσθαι λαγνεύειν μοιχεύειν), am Ende von §23 durch die klimaktische Steigerung der verwerflichen Tätigkeiten der Zunge (γλῶττα) des Redners (ληρεῖν, ἐπιορκεῖν, λοιδορεῖσθαι, διαβάλλειν, ψεύδεσθαι, νύκτωρ τι ἄλλο ὑποτελεῖν). Ironie und Ambivalenz der gesamten Ausbildung des Rednerlehrers kulminieren in den vorliegenden Kapiteln, welche amoralische Lebensweise und Scheinerfolg – der nicht in der Bewunderung eines exzellenten Redners, sondern vielmehr in Ekel und Abscheu über dessen Schlechtigkeit besteht – zum Ziel erklären. Aus rhetorischer Sicht interessant ist dabei die Verwendung von Motiven, die ihrer Herkunft nach zur Gattung der Invektive gehören und üblicherweise zur Herabsetzung eines Gegners herangezogen werden.59 Insbesondere der βίος des Rednerlehrers ist gemäss denjenigen Teilen gestaltet, die in der antiken Rhetoriktheorie zu einem Tadel, ψόγος, gehören und in einem entsprechend schlechten Licht dargestellt werden sollen (schlechte Abstammung, Erziehung und Ausbildung, Charaktereigenschaften, Lebensumstände).60 Epilog (Schlusswort): Rh. Pr. 26 Gemäss der rhetorischen Theorie enthält der Epilog folgende vier Elemente (vgl. Arist. Rh. 3,19): Die Zuhörer für sich zu gewinnen bzw. gegen Widersacher aufzubringen, die Steigerung der eigenen bzw. die Abschwächung 55 Die Übereinstimmung zwischen Lehre (leichter Weg der ›κακία‹) und Leben (lasterhaftes, betrügerisches Dasein) des Rednerlehrers, also die Konstanz seines Charakters gerade in seiner Schlechtigkeit, nimmt – in ironischer Brechung – die Anforderungen der Rhetoriktheorie an den guten Redner auf, dessen charakterliche Glaubwürdigkeit eine der drei Voraussetzungen für das Gelingen der überzeugenden Rede ist (vgl. Arist. Rh. 1356a: διὰ μὲν οὖν τοῦ ἤθους, ὅταν οὕτω λεχθῇ ὁ λόγος ὥστε ἀξιόπιστον ποιῆσαι τὸν λέγοντα). 56 Vgl. dazu bereits die Bemerkungen oben unter a) refutatio: Rh. Pr. 9–10. 57 Erneut wird ein Enthymem zum Beweis dafür herangezogen, dass die Verweiblichung des Redners auch die weiblichen Vorteile bezüglich der der Rhetorik dienlichen Charaktereigenschaften des Lästerns und der Unverschämtheit bewirkt. 58 Vgl. Quint. Inst. 8,4,27 und Longin 23,1. 59 Vgl. zur rhetorischen διαβολή bereits die Bemerkungen oben zu Rh. Pr. 3–4 mit Anm. 26. 60 Vgl. dazu ausführlicher den einleitenden Kommentar zu §§23–25 und zu §24. Vgl. weiter Aphthonios 8, p. 22,1–11 Rabe; Rhet. Her. 3,6,10–15; Cic. Inv. 1,34–36 und 2,177–178; Quint. Inst. 3,7.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

der gegnerischen Position (αὔξειν/ταπεινοῦν), die Erregung der Emotionen (πάθη) des Zuhörers, die erinnernde Zusammenfassung (ἀνάμνησις).61 Diese Elemente sind im Schlusswort des Ratgebers allesamt vertreten, wenn sie auch, v.a. gegen Ende, in unerwarteter Weise angewandt werden: Um die Gunst des Publikums wird nicht mehr aktiv geworben, sondern sie wird als vorhanden vorausgesetzt und fliesst thematisch über den Schüler ein, welcher – vom Gesagten überzeugt und sich daran haltend – sein Ziel erreichen wird (ἢν πεισθῇς τοῖς εἰρημένοις, καὶ δὴ παρεῖναι νόμιζε οἷπερ ἐξ ἀρχῆς ἐπόθεις ἐλθεῖν). Der Ratgeber impliziert mit dieser Aussage gleichzeitig, die Lehre des kurzen Weges hinreichend bewiesen zu haben.62 Eine Absetzung bzw. Diskreditierung von Gegnern (hier: von den Verfechtern des langen Weges) erfolgt an dieser Stelle nicht (s. aber unten). Eine Steigerung (αὔξησις) wendet der Ratgeber insofern an, als das Ziel des Schülers in der Folge in einer polysyndetischen Häufung (συναθροισμός) ausgeführt wird (ἔν τε τοῖς δικαστηρίοις κρατεῖν καὶ ἐν τοῖς πλήθεσιν εὐδοκιμεῖν καὶ ἐπέραστον εἶναι καὶ γαμεῖν [...] καλλίστην γυναῖκα τὴν Ῥητορικήν), die zudem durch das παράδειγμα des Rednerlehrers (καθάπερ ὁ νομοθέτης καὶ διδάσκαλος) sowie den Vergleich (σύγκρισις) des platonischen geflügelten Zeuswagens ausgeschmückt ist.63 Eine (unerwartete) ταπείνωσις trifft hier den Rednerlehrer selbst in der Erwähnung von dessen Heirat mit einer ›komödienhaften Greisin‹. Diese Abgrenzung des Ratgebers vom Rednerlehrer beherrscht auch den antithetisch eingeführten Schlussabsatz (ἐγὼ δὲ κτλ.) durch die strikte Trennung des Ich und des Ihr (ἐκστήσομαι ὑμῖν τῆς ὁδοῦ; ἀσύμβολος ὢν [...] τὰ ὑμέτερα); er endet im Vorwurf des unlauteren Wettbewerbs und Sieges derer, die den kurzen Weg absolvieren. Die Diskreditierung der zuvor breit empfohlenen Lehre schürt – wenn auch nicht im gängigen Sinn – durchaus die Emotionen des Publikums: Der Auflösung des bisher Angeratenen folgt eine Ratlosigkeit, die der Neuorientierung bedarf. Die zusammenfassende Erinnerung (ἀνάμνησις) steht, entsprechend der Kehrtwende des Ratgebers, der zum Schluss den kurzen Weg kritisiert bzw. die durch ihn erlangte Rhetorik höchst am61

Auch andere Schemata sind vertreten: In der römischen Rhetoriktheorie beziehen sich die Ausführungen zur conclusio regelmässig auf die Gerichtsrede und deren Spezifika, so dass sie hier nicht weiter beigezogen werden (vgl. Rhet. Her. 2,47–50 und Cic. Inv. 1,97–109). Interessant ist allerdings für Rh. Pr., dass Quintilian der conclusio zwei Elemente zuweist, Rekapitulation und Gefühlswirkungen (wobei die Erregung von Gefühl, v.a. Mitleid, ebenfalls in den Kontext der Gerichtsrede gehört; Quint. Inst. 6,1). Diese Zweiteilung ist für Rh. Pr. insofern von Bedeutung, als eine solche strukturell vorliegt (zwei längere Perioden, eingeleitet durch σὺ δὲ / ἐγὼ δὲ), wobei der erste Teil eine rekapitulierende und steigernde Zusammenfassung darstellt. Zur Erregung der Emotionen des Zuhörers im zweiten Teil siehe die folgenden Ausführungen. 62 Vgl. Arist. Rh. 1419b31–33. 63 Zum Vergleich als wichtiges Mittel der αὔξησις vgl. bereits die Ausführungen oben zu Rh. Pr. 13–14.

1.1 Kurze Inhaltsangabe und strukturell-rhetorische Analyse

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bivalent beurteilt, in Kontrast zur gesamten bisherigen Empfehlung, wird aber dennoch als Zusammenfassung ausgewiesen (μόνον τοῦτο μεμνημένοι) und verleiht dem Schlusssatz die beabsichtigte Prägnanz. Dabei leistet die ἀνάμνησις – dem satirisch-ironischen Duktus der Schrift entsprechend – alles andere als eine Bekräftigung der vorangegangenen oratio, hebt vielmehr die πίστις des Ratgebers insofern auf, als seine probatio zunichte gemacht wird, gleichzeitig aber auch die refutatio neu zu überdenken ist, da die ›alten‹ Gegner nun in neue übergegangen sind (vgl. ὑμῖν; τὰ ὑμέτερα; κεκρατήκατε: der Rednerlehrer und seine Schüler). Über die alten Gegner und den langen Weg äussert sich der Ratgeber im Schlusswort nicht mehr explizit,64 so dass die Frage nach dem einzuschlagenden Weg zur Rhetorik unbeantwortet bleibt.65 Dies wird im letzten Wort der Rede – ὁδόν – unterstrichen, das den Kreis zur Ausgangsfrage des Schülers schliesst, dabei aber den optimistischen Duktus des Beginns und das Lob des kurzen Weges in Ambivalenz auflöst.

1.2 Literarische Gestaltung und Intertextualität Die Schrift Rh. Pr. ist in ihren Aussagemodi und Anspielungen komplex, einerseits durch die satirisch-ironische Färbung (gerade was vermeintlich positiv-affirmative Äusserungen anbelangt; vgl. bereits die vorangehende Inhaltübersicht oben 1.1), andererseits durch die Einbettung in ein Netz von Subtexten, was in den folgenden Kapiteln behandelt werden soll. Vorangestellt seien einige Bemerkungen zu den Begriffen ›Satire‹ und ›Ironie‹: In der Forschung wird im Zusammenhang mit Rh. Pr. meist von Satire gesprochen, zuweilen auch von Parodie, ohne dass über die Terminologie ausreichend reflektiert wird. Tendenziell ist Satire der angemessenere Begriff, vgl. dazu die Definition und Abgrenzung der beiden Termini bei Branham ([1989] 129f.):

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Erwähnt sei nur, dass zumindest hinsichtlich des Trainings seiner Absolventen (vgl. τῷ τάχει), also des höheren Bildungsniveaus, dem langen Weg eine Vorrangstellung eingeräumt wird, die allerdings unbestritten sein dürfte (man vergleiche die vom Rednerlehrer gemachten Konzessionen an die Erzeugung zumindest des Anscheins, δόξα, der klassisch-attizistischen Rhetorik; siehe Anm. 159 und Einleitung 2.2). 65 So liegt zum Schluss keine blosse Umkehrung von refutatio und probatio, und damit eine Kehrtwende, auch was die Beurteilung des langen Weges betrifft, vor. Als Begründung für die ausstehende Antwort insinuiert die Schrift den (in seiner extremen Ausprägung fingierten) Zeitgeschmack, der eine derart auftrittsorientierte Rhetorik begrüsst, dass die inhaltsschwere alte Rhetorik daneben nicht mehr mit gleichem Erfolg bestehen kann und entsprechend ein ambitionierter Redner, will er sich der Showrhetorik nicht hingeben, ohne einen Neuansatz nicht weiter kommen kann. Siehe dazu auch unten 1.6.c) und d) sowie den einleitenden Kommentar zu §26.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

»Parody differs from satire in its literary focus; it always makes the object of its critical attention part of its own aesthetic structure through those features taken over from its literary model. Satire may include literary codes as a target but commonly extends to social and moral ones as well. There may also be a characteristic difference in tone if satire is, as it is usually treated, essentially negative or critical.«

Grundsätzlich ist also der Fokus von Satire gegenüber demjenigen der Parodie weiter gefasst.66 Nicht ganz unproblematisch ist die Definition lukianischer Schriften als Satiren insofern, als die moralisierende Note und das (boshafte) Auslachen des Angriffszieles nicht durchwegs im Vordergrund stehen, während die weiteren Charakteristika einer Satire dennoch gegeben sind.67 Abhilfe schafft eine Annäherung der lukianischen Satire an die so genannte Menippeische Satire, welche sich durch das Fehlen von Belehrung sowie explizit formulierter positiver Normen auszeichnet.68 Der Begriff ›Ironie‹ soll im Folgenden im Sinn der bis heute nachwirkenden Definition der antiken rhetorischen Tradition (vgl. bereits Anaxim. 21 über εἰρωνεία) verstanden werden als eine »spöttische Redeweise [...], bei der das Gegenteil des Gemeinten zum Ausdruck gebracht wird«, wobei der spezifisch ironische Charakter dieser Redeweise darin besteht, »dass der Tenor des Sprechens, Betonung und Gebärde, die wahre Meinung für den Verständigen durchscheinen lassen« soll.69 Auch die Ironie im Sinne des Widerstreits von Stimmen, die in der Figur des weisen Narren vorgebracht werden und dessen Narrheit die bestehenden Wertverhältnisse umkehrt,70 ist für Rh. Pr. von Bedeutung.71

66 Auch die Feststellung »satiric humor often operates through the conceptually simple but rhetorically powerful use of binary contrasts: between past and present, role and reality, the ideal and the actual« (Branham [1989] 104f.) trifft auf Rh. Pr. zu (klassische Beredsamkeit gegenüber dem Ist-Zustand, Scheinwissen der neuen ›Moderedner‹). – Vgl. zur Parodie im antiken und modernen Sinn Koller [1956] und Glei [1992] und zur Differenzierung von Parodie und Satire mit besonderer Bezugnahme auf Lukians Verae Historiae Rütten [1997] 37–44. 67 Vgl. Rütten [1997] 42f.: »Die Satire braucht also ein Angriffsziel – es mag sich dabei um ein Individuum oder einen gesellschaftlichen oder politischen Missstand handeln –, das sie mit den Mitteln der Verzerrung und Übertreibung der Lächerlichkeit preisgibt, wobei in der Regel der moralische Anspruch sehr hoch ist. [...] Satire [ist] stets realistisch, ihre Gegenstände sind Gegenstände aus der Lebenswelt des Autors, in der Regel sogar solche von einer gewissen Relevanz und Wichtigkeit. Andererseits erscheinen diese Gegenstände eben in verzerrter und verfremdeter Form, wodurch erst eigentlich die Inkongruenzen entstehen können, die wiederum bei den Rezipienten Lachen hervorrufen.« 68 Siehe dazu und zur ihrerseits ebenfalls problematischen Gattungsdefinition der Menippea Rütten [1997] 111–130 mit weiterführender Literatur; vgl. auch meine Ausführungen über Lukian als Vertreter des σπουδογέλοιον unten in Einleitung 3.1. 69 Vgl. HWRh 4 [1998] 603f. 70 Vgl. HWRh 4 [1998] 607, über Autoren wie Rabelais und Erasmus. 71 Vgl. dazu unten S. 63f. Zu Ironie und Parodie in Lukians Werk siehe auch Bompaire [1958] 587–621.

1.2 Literarische Gestaltung und Intertextualität

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Die intertextuellen Verweise, die sich in Rh. Pr. finden, umfassen die ganze Bandbreite der klassisch-attischen/kanonischen Textgenera und ihrer Autoren,72 in besonderem Mass aber die drei Bereiche Philosophie, Rhetorik und Komödie und dabei v.a. platonische und aristophanische Schriften (vgl. unten 1.3–4; 1.8), wobei erstere als kontrastive Subtexte, die eine andere Konzeption von Rhetorik(ausbildung) zeigen, letztere als affirmative Subtexte, die den satirisch-komischen Gehalt von Rh. Pr. massgeblich mitformen, aufgerufen sind. Zusätzliche kontrastive Paralleltexte bieten weitere lukianische Schriften mit rhetorischer Thematik, die im Gegensatz zu Rh. Pr. Positives und Affirmatives in der Behandlung von Rhetorik(ausbildung) aufweisen (vgl. unten 1.5; 2.2). Um also die Schrift Rh. Pr. im literarischen Umfeld genauer fassen zu können, sollen diese vielfältigen intertextuellen Beziehungen erhellt werden. Ich möchte Intertextualität hier und im Folgenden mit Möllendorff ([2000b] 12) im hermeneutischen Sinn verstanden wissen, als »absichtlich vom Autorsubjekt für ein Lesersubjekt hinterlassene, teils klare, teils chiffrierte Steuerzeichen der Interpretation«.73 Damit gewinnen auch die (intendierten) Rezipienten Kontur: Gewiss können die lukianischen Schriften auch von weniger gebildeten Rezipienten genossen werden, sie richten sich aber vor allem an ein (attizistisch) gebildetes Publikum, das diese »Steuerzeichen« sehr wohl zu entschlüsseln weiss und – so legt es die Dichte der intertextuellen Bezüge in Rh. Pr., die eine wichtige tiefere Bedeutungsebene des Textes erst schaffen, nahe – entschlüsseln soll. Dieser gebildete Rezipientenkreis ist es denn auch, der im Folgenden, wo immer über Rezipienten gehandelt wird, gemeint ist (nur an einigen wenigen ausgewiesenen Stellen74 wird den Möglichkeiten und Mechanismen des Einbezugs gerade weniger gebildeter Rezipienten nachgegangen). Für die Schrift Rh. Pr., die Unbildung scheinbar plakativ propagiert, ergibt sich hieraus die besonders raffinierte Konstellation, dass nur durch Bildung eine Decodierung der intertextuellen »Steuerzeichen« erfolgen und eine umgekehrte Wirkungsintention erkannt werden kann. 72 U.a. Historiographie (Thuk., Hdt.) und Epos (Hom.), vgl. z.B. den Kommentar zu §1: γνῶναί τε τὰ δέοντα καὶ ἑρμηνεῦσαι αὐτά; §5: εἴκοσι μηκίστους ἀνδρὶ εὐζώνῳ σταθμοὺς; §15: ἐφόδια [...] ἐπισιτίσασθαι (Historiographie) sowie zu §3: ἱππήλατον [ὁδόν]; §8: σοὶ δὲ ἄσπορα καὶ ἀνήροτα πάντα φυέσθω καθάπερ ἐπὶ τοῦ Κρόνου; §11: ὀλίγας μὲν ἔτι, οὔλας δὲ καὶ ὑακινθίνας τὰς τρίχας εὐθετίζοντα (Epos). 73 Siehe allgemein zum Begriff der Intertextualität und zu ihrer Bedeutung im Werk Lukians (speziell in Verae Historiae) Möllendorff [2000b] 12–29; grundlegend ist Genette [1993]. Auf der Suche nach intertextuellen Verweisen ist der moderne Rezipient insofern eingeschränkt, als diese infolge der Überlieferungslage der antiken Texte nur bedingt erkennbar sind und somit nicht erschöpfend behandelt werden können. Auch können direkte Abhängigkeiten von Texten aufgrund eventuell fehlender Zwischenglieder nicht mit endgültiger Sicherheit festgestellt werden. 74 Vgl. v.a. Anmm. 301 und 398; zur Zusammensetzung der Hörerschaft sophistischer Vorträge siehe unten die Einleitung 2.1 mit Anm. 259.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

Neben der Bedeutung der Intertextualität spielt aber auch der sozio-kulturelle Hintergrund eine zentrale Rolle: In Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Phänomenen greift der Autor aktuelle Diskurse (v.a. betreffend Bildung, Rhetorik, Sprache, Geschmack, Stil und Verhalten der gebildeten Elite) aus verschiedenen Perspektiven auf bzw. in sie ein in Form einer stets unterhaltend-humoristischen Literatur, welche die gebildete Elite zum Hinterfragen und Überdenken eigener Haltungen anregt. Wenden wir uns nun der Funktion der kontrastiven Intertextualität in Rh. Pr. zu:75 Zur Darlegung des Inhalts der Schrift macht der Autor vom Bild der Wahl zwischen zwei (Ausbildungs-)Wegen, einem langen, anstrengenden und einem kurzen, leicht zu bewältigenden, Gebrauch und ruft durch diese Wegmetaphorik eine ganze Reihe von Subtexten auf. Es ist ein grundlegendes Charakteristikum dieser intertextuellen Bezüge, dass die von Anfang an präsenten ausserlukianischen Texte – es sind dies platonische und moralphilosophische Texte wie die Allegorie des Prodikos bei Xenophon und Kebes’ Tabula – durch ihre Inhalte und Normen (Vorzug des langen Weges und einer ›klassischen‹ Ausbildung) im Rezipienten eine Erwartungshaltung wecken, die enttäuscht wird, indem eine der Erwartung zuwiderlaufende (kurze) Ausbildung vorgestellt wird. Dieser Korrektur seiner Erwartung kann der Rezipient – sei es ernsthaft oder im Sinne eines Gedankenexperiments der momentanen Unterhaltung wegen – folgen, er kann sich aber auch vom Dargebotenen distanzieren: Es wird eine inhaltliche Spannung erzeugt, die ihn zur Auseinandersetzung mit den intertextuell aufgerufenen Schriften sowie mit seinem eigenen Erwartungs- und Erfahrungshorizont anregt. Die Wirkung der intertextuellen Bezüge in Rh. Pr. ist nicht auf die konkrete Auseinandersetzung mit Struktur und Inhalt eines Subtextes beschränkt, sondern geht darüber hinaus, indem ein dauerhafter, immer wieder in Erinnerung gerufener Platzhalter für das historisch-traditionelle Bild von Rhetorik geschaffen wird, der als Gegenstimme zum propagierten kurzen Weg erklingt. Intertextualität wird damit als Medium eingesetzt, um divergierende Konzepte anzusprechen. Abgesehen von diesen als Kontrastfolie wirkenden Subtexten ergibt sich bereits innerhalb von Rh. Pr. folgende inhaltliche Spannung: Die satirische Weise der Auseinandersetzung mit der empfohlenen Ausbildung und die (aus Sicht des Rezipienten) ironische Zeichnung des kurzen sowie die (aus der Figurenperspektive) karikierende Zeichnung des langen Weges bzw. Lehrers resultieren in einer Aporie des Rezipienten, was einen möglichen, gangbaren Weg be-

75 Ausgeklammert bleiben hier vorerst die aristophanischen Subtexte, die oben als affirmativ eingestuft worden sind und unten in 1.8 genauer behandelt werden.

1.2 Literarische Gestaltung und Intertextualität

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trifft.76 Während die ironische Wirkung der Darstellung des kurzen Weges hauptsächlich durch die Inhalte der Kontrasttexte sowie durch die im historischen Umfeld innerhalb des rhetorischen Lehrbetriebs verbreiteten Konventionen hervorgerufen wird,77 werden ebendiese infolge der Karikierung des langen Weges durch den Ratgeber wiederum selbst Objekt der Ironie, so dass die Aporie den höchstmöglichen Grad erreicht, da Konventionelles und Neues gleichermassen in Frage gestellt werden. Intertextuelle Bezüge und Ironisierung sind demnach zwei zentrale Gestaltungsmittel der Schrift Rh. Pr., welche den Rezipienten zu eigenen Gedanken über die vorgegebene Thematik animieren. Indem der gesamte Inhalt von Rh. Pr. aus der Perspektive zweier (karikierter) Figuren präsentiert wird78 und eine auktoriale Haltung, wie wir sie beispielsweise in Bis Acc. oder in den Schriften, wo Lukian die Maske des Lykinos oder Parrhesiades überstreift (Hermotimos, Lexiphanes, Piscator), finden, fehlt, so dass der Text keine der aufgezeigten Möglichkeiten autorisiert, muss sich der Rezipient auf sich selbst zurückbesinnen und mit sich selbst zu Rate gehen – vor allem was eine zukünftige Anwendbarkeit des langen, konventionellen Weges betrifft. Die Frage ist, wie und ob der Rezipient aus seiner Aporie herausfinden kann,79 und daran anschliessend mag sich – aufgrund der ambivalenten Darstellung des langen, schweissreichen Weges zur Rhetorik in Rh. Pr. (vgl. auch Somnium) – die Frage stellen, ob ein eingehendes Studium überhaupt lohnenswert ist. Diese Frage, in Rh. Pr. bis zum Schluss offen gelassen (die Erwartung einer Auflösung wird auch im abschliessenden §26 nicht geleistet),80 findet in einer Reihe von lukianischen Texten, die neben der Verspottung Ungebildeter das Ideal des Gebildeten (πεπαιδευμένος) hochhält, eine positive Antwort (Sol., Lex., Adv. Ind.; vgl. dazu unten die Einleitung 2.2).81 Wichtig zu 76 Vgl. zur Aporie Rh. Pr. 8: Επὶ δ’ οὖν τὴν ἀρχὴν ἀφικόμενος εὖ οἶδα ὅτι ἀπορήσεις, καὶ ἤδη ἀπορεῖς, ὁποτέραν [sc. ὁδὸν] τρεπτέον. 77 Zur Ironisierung siehe genauer S. 64f. 78 Zur Stilisierung der Figuren des Ratgebers und des Rednerlehrers vgl. auch die Einleitung 1.6, S. 62–65. 79 Die Thematik der Aporie ruft das strukturelle Ende der platonischen Frühdialoge (z.B. Laches, Charmides, Euthyphron) auf, wobei in Rh. Pr. ein durch die humoristische Gestaltung ›unernstes‹ Thema zu einem aporetischen Haltepunkt geführt wird. Darin könnte eine Parodie der platonischen Texte liegen oder aber – was m. E. wahrscheinlicher ist – die Karikatur des Ratgebers als falscher sokratischer Lehrer (mehr dazu s.u. 1.3), da er gegenüber dem Schüler das Konzept der Aporie erwähnt (vgl. oben Anm. 76), sich aber damit brüstet, diese für ihn zu lösen, und in der Folge einen fixfertigen Ausbildungsgang aufzeigt. – Eine mögliche Lösung der ›Aporie der Rhetorik‹ zeichnet sich in Lukians eigenem Verfahren ab, indem er die zwischen altem und neuem Stil hin- und hergerissene Rhetorik in eine neue Literaturform, den komischen Dialog, überführt (siehe dazu unten 1.5.a zu Bis Acc.). 80 Vgl. dazu bereits Anm. 65 sowie unten 1.6, S. 63f. und den einleitenden Kommentar zu §26. 81 Der lange (theoretische) Weg wird im Bereich der Philosophie in Hermotimos jedoch negiert (siehe unten 1.5.c: Zentral ist hier u.a. der geforderte Praxisbezug des Philosophen).

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

erwähnen ist, dass die in Rh. Pr. mittels kontrastiver Subtexte und Ironisierung aufgeworfenen Fragen durch die affirmativ eingeflochtenen Verweise auf die (alte und neue) Komödie, insbesondere auf Aristophanes, auf eine humoristische Ebene gebracht werden und ihre Dringlichkeit damit bis zu einem gewissen Mass entschärft, der Thematik jedoch ihre Relevanz durchaus belassen wird.82

1.3 Platonisch-philosophische Elemente Insbesondere die einleitenden und das abschliessende Kapitel der Schrift (Rh. Pr. 1–4 und 26) erinnern in Duktus, Vokabular und Bildsprache (Wegmetaphorik) an philosophisch-diatribische Literatur, speziell an den Anfang platonischer Dialoge, worin ein (meist jüngerer) Mann (vgl. §1: μειράκιον) sich ein (philosophisches) Gespräch erbittet, sei es mit Sokrates oder anderen ›Lehrern‹. Die daraufhin folgende Diskussion, meist dialektisch gehalten, wird allerdings in Rh. Pr. nicht entsprechend geführt (vgl. auch die Elemente der Briefform83), der sokratisch-platonische Beginn wird vielmehr in verschiedenen Punkten – mit entsprechendem Effekt auf Inhalt und Figurenzeichnung – unterwandert, wobei zwischen inhaltlichen und formalen zu unterscheiden ist: 1. Ziel des μειράκιον: Befriedigung seines Prestigestrebens, Ehre und Ruhm als Rhetor; die dazu dienende Ausbildung (ὁδός) wird kurz und mühelos sein. 2. ›Antidialog‹: Pfannenfertige Rezepte werden versprochen und monologisch vorgeführt. 82 Vgl. zur Komödie als »ernst-komische« Gattung (σπουδογέλοιον) die Ausführungen unten in 3.1, S. 120–123; ausführlicher zu den aristophanischen Subtexten vgl. unten 1.8. 83 Vgl. allgemein zur Briefform bei Lukian Pilhofer [2005]; interessant für die vorliegende Schrift ist folgende Feststellung (S. 5): »Lukian bedient sich dieser ›kommunikativen Alltagsgattung‹ [sc. des Briefes] als variatio zum gattungsverwandten Dialog, wobei sich in der satirischkritischen Ausrichtung der Schriften wie in ihren Themen keine Unterschiede feststellen lassen. Daher erscheint es auch nicht sinnvoll, eine durch die Briefform gekennzeichnete Gruppe von Schriften gesondert zu betrachten. Vielmehr erscheint der Brief als ›offene Form‹, die als Träger einer Abhandlung oder – wie im vorliegenden Fall [gemeint ist Peregrinos] – einer Invektive fungiert.« Der Beginn der Schrift Rh. Pr. bietet m. E. mit der Anlehnung an den platonischen Dialog (so dass Brief und Dialog sich in einer Schrift vereint finden), der allerdings durch die als ›falscher Sokrates‹ stilisierten Figuren von Ratgeber und Rednerlehrer und durch die dementsprechend monologisch vorgeführten Lehren gerade in seiner Dialogizität unterwandert wird, eine Erklärung dafür, warum der Text näher zur Gattung des Briefes gerückt wird: Diese Form unterstützt die inhaltlich vorgeführte satirisch-ironische Auseinandersetzung mit der ›Showrhetorik‹, da nur dem Schein nach sokratisch-platonische Lehrer auftreten, die dementsprechend nicht imstande sind, ihre Schüler auf dialektische Weise zu unterrichten. Anders gesagt: Der pervertierte Dialog gerät unweigerlich zu einer monologischen Unterweisung mit Nähe zur Briefform.

1.3 Platonisch-philosophische Elemente

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Was diese Punkte betrifft, beginnt die Unterwanderung gleich mit dem ersten Aufrufen von Platon bzw. platonischen Texten in §1. Bereits die Thematik der (uneingeschränkt lobenswerten) Rhetorik lässt einen inhaltlichen Graben zu den platonischen Dialogen entstehen, genauso wie ein erster Hinweis zur (antiplatonischen) Einstellung des Ratgebers bezüglich der (mühelosen) Inhalte der Ausbildung in τάχιστα δεινὸς ἀνὴρ ἔσῃ [...] aufscheint. Schliesslich wird auch das formale Element des Monologs eingeführt: ὥστε ἄκουε [...], ἢν τὸ μετὰ τοῦτο ἐθελήσῃς αὐτὸς ἐμμένειν, οἷς ἂν ἀκούσῃς παρ’ ἡμῶν [...]. Changiert die Schrift inhaltlich in §§1–2 noch zwischen ›platonischer Ernsthaftigkeit‹ und ersten satirischen Tönen (vgl. §2: θήραμα οὐ σμικρόν, andererseits wird der schnellste Ausbildungsgang angeraten und versprochen), so tritt ab §3 mit der klaren Stellungnahme für den kurzen Weg und vor allem ab §13, wo der Rednerlehrer selbst zu Wort kommt, das Satirenhafte immer stärker hervor, und ein weiteres, wohl das wichtigste Element der Unterwanderung wird deutlich: 3. Die Hauptperson, der ›Rednerlehrer‹, entpuppt sich als ›falscher Sokrates‹, der den kurzen Ausbildungsweg vertritt und verkörpert. Sein komödienhafter Auftritt degradiert Sokrates zum Komödienschauspieler (vgl. v.a. Rh. Pr. 11–12).84 Das Element der anstrengenden Ausbildung wird allerdings nicht eindeutig verworfen, sondern erhält einen ambivalenten Status (vgl. §2 und v.a. das Schlusswort §26), hervorgerufen durch widersprüchliche Aussagen des Ratgebers. Dieser stilisiert sich selbst als über seine eigene rhetorische Laufbahn frustriert und verleiht seinem Gespaltensein zwischen ›alter‹ und ›neuer‹ (momentan den grössten Erfolg versprechender) Rhetorik in entsprechenden Äusserungen Ausdruck, ja er zieht sich gar aus dem Rednerberuf zurück (vgl. §8 und §26). Diese Ambivalenz des Abgelehnten und Empfohlenen, insbesondere die Kehrtwende des Ratgebers, der zum Schluss den kurzen Weg kritisiert bzw. die durch ihn erlangte Rhetorik höchst ambivalent beurteilt und die alten Gegner in neue überführt (vgl. ὑμῖν; τὰ ὑμέτερα; κεκρατήκατε: der Rednerlehrer und seine Schüler), zwingt den Rezipienten zu eigenen Gedanken über Rhetorik, Rhetorikausbildung und zeitgenössische Auftrittskultur.85 Der Beginn im Stil eines sokratisch-platonischen Dialogs ist ein raffiniertes Mittel der Satire86 und des Spottes über (Möchtegern-)Sophisten, die 84 Zur Selbststilisierung des Rednerlehrers als Sokrates vgl. Rh. Pr. 13. – Zur Nähe der Figur des Rednerlehrers auch zum Kynismus, dessen Anhänger Vertreter des kurzen Weges sind, vgl. unten S. 41–43. 85 Zu widersprüchlichen Aussagen innerhalb der Schrift sowie zur Selbststilisierung der Figuren vgl. unten 1.6, S. 62–65. 86 Bisweilen wird Rh. Pr. neben Schriften wie Alexander, Peregrinos oder Adv. Ind. auch zur Gattung des Pamphlets (oder der Invektive; grch. ψόγος) gezählt, also als Angriff auf eine konkre-

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

in einem Schnellverfahren ausgebildet werden, da der Fall beider Sprecher – des Ratgebers und des Rednerlehrers, die beide als sokratisch-platonische Ratgeber eingeführt werden – dadurch umso tiefer ist. Die vermeintlich ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Wunsch eines jungen Mannes, ein berühmter Sophist zu werden, wird durch die gegebenen Instruktionen, die das Prestigedenken des jungen Mannes nicht etwa dämpfen oder in gemässigte Bahnen lenken, sondern im Sinn einer ›Showrhetorik‹ weiter schüren, in Komik überführt. Terminologie und Metaphorik aus dem Bereich der platonischen Dialoge verdeutlichen Witz und Spott über die gängige ›Modesophistik‹ und verstärken die satirische Note der Schrift.87 Die Anlehnung an Elemente der platonischen Dialoge erzeugt auch eine grundsätzliche Referenz an deren kritische Auseinandersetzung mit den Sophisten, die für Rh. Pr. ebenfalls eine kritische Haltung zum Sophistentum erwarten lässt, was tatsächlich – wenn auch nicht explizit, so doch satirischironisch – eingelöst wird: Die Darstellung des Rednerlehrers, die den kurzen Weg zur Rhetorik aufzeigt, wird durch die ironische Wirkung auf den Rezipienten abgewertet. Allerdings erfährt auch der lange Weg zur Rhetorik eine Abwertung, indem der Ratgeber ihn bzw. dessen Lehrer in einer karikierenden Weise präsentiert.88 Die Gründe dafür liegen einerseits in der Figur des Sprechers (der Ratgeber als ›frustrierter‹ Absolvent des langen Weges; die Plackerei hat ihm keine Vorteile eingebracht), welcher der rhetorischen Überzeugungstaktik mit den Elementen probatio (αὔξησις) und refutatio (ταπείνωσις) folgend in seiner Darstellung zweier Wege neben dem angeratenen, kurzen den abzulehnenden, langen diskreditiert. Andererseits spielt die Anlage des Inhalts von Rh. Pr. eine wichtige Rolle, weil gerade auch die Thematik des zwischen den Extremen liegenden, mass- und stilvollen Redners, verbunden mit der Frage nach dem Männlichkeitsideal, aufgegriffen wird.89 Dafür, dass Rh. Pr. letztendlich auch eine kritische Auseinandersetzung mit den platonischen Subtexten selbst, d.h. eine Kritik an der Figur des te Person interpretiert, da die Hauptfigur, der Rednerlehrer – der mit Pollux von Naukratis zu identifizieren versucht worden ist, siehe das Lemma zum Werktitel ΡΗΤΟΡΩΝ ΔΙΔΑΣΚΑΛΟΣ –, mit typischen Elementen der Invektive angegriffen wird, vgl. Bompaire [1958] 471–477 sowie den einleitenden Kommentar zu §§23–25. Siehe auch Hall [1981] 273. 87 Gleichzeitig wird umgekehrt der platonische Dialog durch das satirische Element ›entplatonisiert‹ und in seinem Unterhaltungswert gesteigert. Vgl. dazu die gattungstheoretische Stellungnahme Lukians in der Formulierung der Anklage des personifizierten philosophischen Dialogs in Bis Acc. 33: Der »Syrer« beraubte den ehemals ernsthaften, besonnenen Dialog seiner tragischen Maske und ersetzte diese durch eine komische, satyrhafte, ja lächerliche, indem er eine Vermischung mit Witz, Iambos und Kynismus, Eupolis, Aristophanes und mit dem bellenden Hund Menipp vornahm (vgl. zu dieser Textstelle schon oben 1.1, S. 14 und unten 3.1, S. 122). Zur Mischung von Philosophischem und Komischem in Rh. Pr. vgl. auch die Einleitung 1.8. 88 Vgl. dazu auch unten die Einleitung 1.6, S. 62f. und 1.5.c (zu Hermotimos). 89 Vgl. dazu unten die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §§9–10.

1.3 Platonisch-philosophische Elemente

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(dialektisch agierenden) Sokrates und am langen Weg zur Philosophie, intendierte, gibt der Text keine Hinweise. Vielmehr scheitern die auftretenden Lehrer an der von ihnen gewählten Vorbildfigur Sokrates bzw. an ihrer eigenen Anmassung, sich zu sokratischen Ratgebern zu stilisieren und geben dadurch eine komische Kontrastfolie ab.90 Zwei platonische Subtexte sind im Zusammenhang mit der in Rh. Pr. verwendeten Wegmetaphorik und mit dem allgemeinen setting der Ausbildung eines jungen, ehrgeizigen Mannes besonders hervorzuheben, einerseits Alkibiades I (bes. 105a–d), andererseits die so genannte ›Philosophenprobe‹ im Siebten Brief (340b–341a).91 Alkibiades ist ein Jüngling, der, wie Sokrates zu wissen meint, ein berühmter Staatsmann werden und Ehre und Macht erlangen will, nicht nur unter den Hellenen, sondern in der ganzen Welt. Und dieses Ziel zu erreichen sei ihm so wichtig, dass er, wenn es nicht gelinge, lieber nicht leben möchte.92 Um dahin zu gelangen bedarf Alkibiades des Sokrates als Lehrer (vgl. 105d: τούτων γάρ σοι ἁπάντων τῶν διανοημάτων τέλος ἐπιτεθῆναι ἄνευ ἐμοῦ ἀδύνατον), dessen ›Ausbildung‹ allerdings langwierig und anstrengend ist, es ist nämlich der Weg zur Philosophie – ganz im Gegensatz zu dem in Rh. Pr. dargestellten kurzen und mühelosen Lehrgang. Durch die Reminiszenz des Beginns von Rh. Pr. an das platonische Gespräch zwischen Sokrates und Alkibiades wird die Erwartungshaltung einer ernsthaften Abhandlung des Themas bzw. eines differenzierten Umgangs mit dem Wunsch des Schülers geschaffen, was durch 90 Mit der Anlehnung an Aristophanes’ Wolken orientiert sich Rh. Pr. zwar an einem Vorläufertext, der sich durchaus satirisch-kritisch mit (Platon und) Sokrates beschäftigt, aber der aristophanische Subtext und überhaupt das setting einer Komödie wird von Ratgeber und Rednerlehrer heraufbeschworen, die sich in diese Tradition stellen, um sich so vom langen Weg zu distanzieren und der neumodischen ›theatralischen‹ Rhetorik zuzuwenden: Und eben dadurch erweisen sie sich als ›unechte‹, komödienhafte Sokratesfiguren, was nicht den platonischen Sokrates, sondern vielmehr die Figuren von Ratgeber und Rednerlehrer selbst karikiert. Vgl. dazu auch unten 1.8 (v.a. zur Parallele zwischen Ratgeber und Sokrates in den Wolken). 91 Die Echtheit beider Texte ist in der heutigen Forschung umstritten, sie galten jedoch in der Antike als echt, so dass sich für meine Zwecke kein Problem ergibt (vgl. Denyer [2001] 14–26 zur Debatte um Alkibiades). Der Dialog Alkibiades I bildete in der antiken Tetralogien-Ordnung den Anfang der vierten, die Epistulae den Schluss der neunten Tetralogie. Vgl. Görgemanns [1994] 37–40 (mit einer tabellarischen Übersicht). 92 Vgl. Alc. 105a+c: Δοκεῖς γάρ μοι, εἴ τίς σοι εἴποι θεῶν· »Ὦ Ἀλκιβιάδη, πότερον βούλει ζῆν ἔχων ἃ νῦν ἔχεις ἢ αὐτίκα τεθνάναι, εἰ μὴ σοι ἐξέσται μείζω κτήσασθαι;« δοκεῖς ἄν μοι ἑλέσθαι τεθνάναι. [...] οὐκ ἂν αὖ μοι δοκεῖς ἐθέλειν οὐδ’ ἐπὶ τούτοις μόνοις ζῆν, εἰ μὴ ἐμπλήσεις τοῦ σοῦ ὀνόματος καὶ τῆς σῆς δυνάμεως πάντας [...] ἀνθρώπους. Vgl. dazu Rh. Pr. 1: Ἐρωτᾷς, ὦ μειράκιον, ὅπως ἂν ῥήτωρ γένοιο καὶ τὸ σεμνότατον τοῦτο καὶ πάντιμον ὄνομα σοφιστὴς εἶναι δόξεις· ἀβίωτα γὰρ εἶναί σοι φῄς, εἰ μὴ τοιαύτην τινὰ τὴν δύναμιν περιβάλοιο ἐν τοῖς λόγοις ὡς ἄμαχον εἶναι καὶ ἀνυπόστατον καὶ θαυμάζεσθαι πρὸς ἁπάντων καὶ ἀποβλέπεσθαι, περισπούδαστον ἄκουσμα τοῖς Ἕλλησι δοκοῦντα (vgl. weiter Alkibiades über die positive Wirkung von Sokrates’ Einfluss in Smp. 215e: Ἀλλ’ ὑπὸ τουτουῒ τοῦ Μαρσύου πολλάκις δὴ οὕτω διετέθην, ὥστε μοι δόξαι μὴ βιωτὸν εἶναι ἔχοντι ὡς ἔχω).

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

die (unsokratischen) Worte des Ratgebers gleich zu Beginn enttäuscht wird (vgl. bereits S. 34f.), so dass die neue Erwartung einer Misslenkung des jungen Mannes entsteht. Dass der ideale Staatsmann ein Philosoph sein soll bzw. die Philosophen den Staat lenken sollten, ist auch Thema des Siebten Briefes. Platon beschreibt (340b–341a) die Methode der Philosophenprobe, die der Klärung dienen soll, ob sich Dionysios von Syrakus tatsächlich ernsthaft der Philosophie widmen kann und wird. Diese Probe besteht darin, den Menschen alle Mühen und Erfordernisse des Weges zur Philosophie aufzuzeigen und ihre Reaktion darauf abzuwarten. Halten sie diesen Weg trotzdem für den einzig richtigen und wollen nur so leben, dann sind sie tatsächlich philosophisch veranlagt. Sie schliessen sich einem Führer auf diesem Weg an und lassen nicht von der Sache ab, bis sie zum Ziel gelangen.93 Philosophie (und ebenso Rhetorik) sind bei Platon mit einem langen Weg verbunden, den Rh. Pr. dem Rezipienten als Kontrastfolie stets in Erinnerung hält, während der Ratgeber (und ebenso später der Rednerlehrer) genau das Gegenteil, den kurzen Weg, empfiehlt. Wegmetaphorik ist nicht nur im Siebten Brief, sondern auch in anderen platonischen Dialogen ein zentrales Element der Darstellung: Immer wieder wird – meist von der Dialogfigur Sokrates – die Länge des von einem Philosophierenden zu absolvierenden Weges betont, des Weges nämlich, der zur Dialektik und letztendlich zu der sich daraus entwickelnden Erkenntnis der Idee des Guten führt. Und da echte Rhetorik nur durch die Philosophie erreicht wird, treffen solche Aussagen auch auf die Rhetorik zu. So tritt Rh. Pr. mit der Empfehlung eines derart kurzen Weges zur Rhetorik immer wieder in ein Spannungsverhältnis zu Passagen aus platonischen Dialogen über Rhetorik und ihre Exponenten, insbesondere aus Phaidros (s. gleich); Sophista (v.a. über die Sophisten als Vermittler von Scheinweisheit: 229a– 233d) und Gorgias (z.B. 458e–460c, 500b–505b, 513c–515b). Eine berühmte Stelle über Rhetorik findet sich in Phdr. 271d–272c: Sokrates legt dar, dass Rhetorik Seelenleitung (ψυχαγωγία) sei und ein angehender Redner daher zunächst versuchen müsse, Wissen über die Seele zu erlangen, um gut und vollendet (καλῶς τε καὶ τελέως) sprechen zu können – anders sei es nicht möglich. Phaidros kann Sokrates nur zustimmen (272b): ἀδύνατόν που, ὦ Σώκρατες, ἄλλως· καίτοι οὐ σμικρόν γε φαίνεται ἔργον. 93 Vgl. Ep. 7,340b–c: Δεικνύναι δὴ δεῖ τοῖς τοιούτοις ὅτι ἔστι πᾶν τὸ πράγμα οἷόν τε καὶ δι’ ὅσων πραγμάτων καὶ ὅσον πόνον ἔχει. Ὁ γὰρ ἀκούσας, ἐὰν μὲν ὄντως ᾖ φιλόσοφος οἰκεῖός τε καὶ ἄξιος τοῦ πράγματος θεῖος ὤν, ὁδόν τε ἡγεῖται θαυμαστὴν ἀκηκοέναι συντατέον τε εἶναι νῦν καὶ οὐ βιωτὸν ἄλλως ποιοῦντι· μετὰ τοῦτο δὴ συντείνας αὑτόν τε καὶ τὸν ἡγούμενον τὴν ὁδόν, οὐκ ἀνίησιν πρὶν ἂν ἢ τέλος ἐπιθῇ πᾶσιν, ἢ λάβῃ δύναμιν [...]. Vgl. dazu Rh. Pr. 1 (s.o., zusätzlich): φιλοπόνως μελετᾶν καὶ προθύμως ἀνύειν τὴν ὁδὸν ἔστ’ ἂν ἀφίκῃ πρὸς τὸ τέρμα; 2: πονῆσαι; 3: ἡμεῖς ἄξομεν, καματηρὰν [ὁδόν].

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Das bedingt, dass es keinen leichteren, kürzeren Weg zur Rhetorik zu geben scheint (ῥᾴων καὶ βραχυτέρα [...] ἐπ’ αὐτὴν ὁδός), sondern ein langer (πολλή) und beschwerlicher (τραχεία), weil philosophischer absolviert werden muss (was in der Folge von Phaidros nochmals kritisch überprüft werden soll). Auf diese Passage wird in Rh. Pr. 2 möglicherweise angespielt (τὸ μὲν οὖν θήραμα οὐ σμικρὸν οὐδὲ ὀλίγης τῆς σπουδῆς δεόμενον): Die Bemerkung des Ratgebers passt zu denjenigen sokratisch-platonischen Passagen, die den Weg zu Rhetorik und Philosophie als lang und anstrengend beschreiben; der Ratgeber löst seine eigenen Worte jedoch insofern gleich wieder in Ambivalenz auf, als er den kürzesten, angenehmsten Weg in Aussicht stellt (Rh. Pr. 3) und in der Folge breit ausführt bzw. vom Rednerlehrer ausführen lässt, wodurch der platonische Subtext unterwandert wird. Der Kontrast zwischen verschiedenen Arten der Rhetorikausbildung wird auch an weiteren Stellen deutlich: Beispielsweise erklärt Sokrates, ein echter Redner brauche drei Grundlagen zur ῥητορικὴ τέχνη, nämlich φύσις, ἐπιστήμη und μελέτη (Phdr. 269d),94 wohingegen in Rh. Pr. diese Elemente zwar aufgegriffen, aber in völlig pervertierter Form behandelt werden. Die natürliche Begabung für den Beruf (φύσις) kommt in Rh. Pr. 15 in Form von ›nützlichen‹ Charaktereigenschaften (θράσος; τόλμα; ἀναισχυντία) sowie Anforderungen an die Stimme (βοὴ ὅτι μεγίστη; μέλος ἀναίσχυντον) zur Sprache, wird dann aber von einer speziell geeigneten körperlichen Disposition rasch auf allgemein erwerbbare äussere Erscheinungsmerkmale (βάδισμα; ἐσθής; κρηπίς/ἐμβάς) gelenkt, wie sie den ›Scheintechniten‹ auszeichnen. Wissen (ἐπιστήμη) benötigt der Aspirant überhaupt keines – ja Unwissen, ἀμαθία, wird sogar explizit verlangt. Und Übung (μελέτη) wird dem jungen Mann nur halbherzig angeraten (§1); wie nämlich bereits wenig später (§3) deutlich wird, braucht es davon nicht viel, weil das Ziel rasch zu erreichen ist. Wenn der Ratgeber sagt, der Schüler brauche sich auf keinen Fall vorher abzumühen (προπονῆσαι), so widerspricht das all den Platonstellen, in welchen das Betreiben von Philosophie (und sinngemäss ebenso von Rhetorik, da echte Rhetorik die Hinwendung zur Philosophie verlangt) als eine stufenweise Einweihung in die Mysterien dargestellt ist (z.B. Smp. 209e–210a; Phdr. 250b–c, 261a, 269e; Men. 76e; Grg. 497c). Noch deutlicher wird dieser Bezug auf die Mysterien und dementsprechend auf die genannten platonischen Dialoge als Subtexte in 94 Vgl. auch später den für die Zweite Sophistik wichtigen Autor Dion. Hal. De imit., fr. 2 Us.: Τρία ταῦτα τὴν ἀρίστην ἡμῖν ἔν τε τοῖς πολιτικοῖς λόγοις ἕξιν καὶ ἐν πάσῃ τέχνῃ τε καὶ ἐπιστήμῃ χορηγήσει· φύσις δεξιά, μάθησις ἀκριβής, ἄσκησις ἐπίπονος· ἅ περ καὶ τὸν Παιανιέα τοιοῦτον ἀπειργάσατο. Mit dem »Paianieus« ist Demosthenes gemeint, der für Dionysios das grosse Vorbild attischer Sprache ist (vgl. die Bemerkungen S. 240 und Rh. Pr. 21: τί γὰρ ὁ Παιανιεὺς πρὸς ἐμέ;).

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

Rh. Pr. 14 und 16 (siehe den Kommentar zu §14: εἰ μὴ προετελέσθης ἐκεῖνα τὰ πρὸ τῆς ῥητορικῆς [...] προπαιδεία und §16: ἀτέλεστόν τινα καὶ κατάσκοπον τῶν ἀπορρήτων). Indem der Rednerlehrer dieses platonische Gedankengut negiert (§14) oder in seiner Adaptation pervertiert (§16), erfolgt eine komische Herabsetzung des ›sokratischen‹ Lehrers, und gleichzeitig wird mit dem Verweis auf die platonische Diskussion der Rhetorikausbildung ein (affirmativer) kontrastiver Hintergrund geschaffen. Da wir also mit Rh. Pr. eine Schrift über Rhetorik in philosophischem Gewand vor uns haben, sollen an dieser Stelle noch ein paar Worte zum andauernden Wetteifern der beiden Disziplinen gesagt werden.95 Welche Folgen haben die Gestaltungselemente des sokratisch-platonischen Duktus diesbezüglich für die Interpretation von Rh. Pr.? Dass es bei Platon die Philosophie ist, zu der man sich hinwenden muss (darauf läuft es auch in Alc. I hinaus), weil sonst das Leben nicht lebenswert ist (vgl. Ep. 7,340c und Smp. 211d; auch R. 407b, 445a–b und Grg. 492d, 500d), es in der lukianischen Satire aber um Ruhm durch Rhetorik geht, bedeutet nicht, dass im alten Streit zwischen Philosophie und Rhetorik für erstere Partei ergriffen wird und letztere ganz generell als der Philosophie weit unterlegen lächerlich gemacht wird. Vielmehr setzen die lukianischen Schriften Philosophie und Rhetorik parallel an: Für den guten Redner wird eine durchaus anstrengende und ebenfalls stufenweise fortschreitende Ausbildung vorausgesetzt, wie sie sich im Lernprogramm für Lexiphanes präsentiert.96 Und an anderen Orten werden Redner und Philosophen gleichermassen dem Spott preisgegeben (s. gleich). Die formale Anlehnung an platonische Dialoge zieht also keine inhaltliche Überlegenheit der Philosophie nach sich. Angesichts der Tatsache, dass gerade zu Lukians Zeit die beiden Disziplinen Philosophie und Rhetorik in gewissen Bereichen sehr stark ineinander flossen, erstaunt es nicht, dass der Autor eine philosophische Form für eine Satire über Rhetorik verwendet. Vor allem in der für die Zweite Sophistik typischen Situation des öffentlichen Vortrages rücken die Disziplinen nahe zusammen: Philosophische Vorträge richten sich beispielsweise nach den Regeln der Deklamation, um bei der Zuhörerschaft grösseren Erfolg zu erlangen.97 Und genau hier setzt Lukians Satire an: Er verspottet nicht nur Sophisten, sondern auch Philosophen, vor allem als Vertreter ei95

Vgl. dazu Hahn [1989] 61–66 und 86–99; Bowersock [2002]. Vgl. Lex. 22–25 und den Kommentar zu §17: ἀπ’ ἐκείνων ἐπισιτισάμενος. Zu den Schriften Sol. und Adv. Ind. siehe auch unten 2.2. Im Unterschied zu Platon, wo echte rhetorische τέχνη mit Philosophie zusammenfällt, sind bei Lukian Philosophen und Rhetoriker zwei verschiedene Gruppen von Bildungsvertretern (die zwei Hauptgruppen zeitgenössischer πεπαιδευμένοι). 97 Vgl. Hahn [1989] 86–99, Schmitz [1997] 86 und 89, Korenjak [2000] 189 und 192 und die Reden eines Maximus von Tyros oder eines Dion von Prusa, die sich zumindest selbst als Philosophen einstufen. 96

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ner Show- und Bühnenprofession, die trickreiche Scharlatane hervorbringt, welche durch ihre Theatralik den leichten Weg begehen. Daneben jedoch finden sich sowohl unter den Sophisten als auch unter den Philosophen Vertreter des langen Weges, der sich über die literarischen Klassiker bzw. die alten Philosophen wie Platon und Sokrates definiert.98 Abschliessend sei eine vom sokratisch-platonischen Hintergrund abweichende philosophische Richtung erwähnt, die im Zusammenhang mit der Wegmetaphorik für Rh. Pr. und besonders für die Zeichnung der Figur des Rednerlehrers von Bedeutung sein dürfte, wobei sich Parallelen zeigen lassen:99 Die Kyniker waren unter den Philosophen Vertreter des kurzen Weges, indem sie nicht die theoretische Betrachtung, sondern das Handeln und die direkte Umsetzung dessen, wofür man einsteht, als zentrale Aufgabe des Philosophen ansahen. So ist uns bei Diogenes Laertios eine entsprechende Beschreibung des Kynismus durch den Stoiker Apollodor überliefert (D. L. 7,121: εἶναι γὰρ τὸν κυνισμὸν σύντομον ἐπ’ ἀρετὴν ὁδόν, ὡς Ἀπολλόδωρος ἐν τῇ Ἠθικῇ).100 Damit einher geht auch die Tatsache, dass jedem die Möglichkeit des Philosophierens zugestanden wird; gerade in der Kaiserzeit wurde diese populäre Form des Kynismus zu einem Massenphänomen, wobei sich in der Rezeption des Kynismus dieser Zeit (z.B. bei Lukian, Dion von Prusa, Epiktet) eine Ambivalenz zeigt zwischen den bewunderten ›alten‹ Kynikern wie Diogenes und der kritisierten Masse der zeitgenössischen (Möchtegern-)Kyniker.101 Wie wir sehen werden (vgl. unten Kap. 3), erscheinen die Kyniker in Lukians Werk, was ihre Redefreiheit (παρρησία) anbelangt, in durchaus positivem Licht, ja der Autor streift sich in seinen Schriften immer wieder Masken über bzw. lässt personae auftreten, die diesbezüglich eine Nähe zum Kynismus aufweisen oder selbst Kyniker sind.102 In Überzeichnung ihrer typischen Verhaltensmuster wie Unver98

Vgl. zur Verwendung der Wegmetaphorik auch bei philosophischer Thematik die Einleitung 1.5.c zu Lukians Hermotimos und allgemein zur Parallelität der Darstellung von Philosophen und Sophisten die Einleitung 3.: Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie: Mechanismen der Typisierung und Variationen desselben Themas. Ausführlich über den Einfluss des sokratisch-platonischen Dialoges in Lukians Schriften siehe auch Bompaire [1958] 303–313. 99 Für wertvolle Hinweise danke ich Christoph Riedweg. 100 Vgl. DNP 6 s.v. Kynismus, Sp. 974: »Dieser einfache, ökonomische Weg steht dem traditionellen langen Weg der philos. Schulen mit Studium, Erwerb von Kenntnissen und theoretischer Spekulation gegenüber. Logik, Musik, Geometrie, Physik oder Metaphysik werden als ›nutzlos und unnötig‹ [vgl. D. L. 6,73] betrachtet, weil sie von dem ablenken, worum wir uns in erster Linie sorgen müssten, nämlich uns selbst, und uns nicht helfen, unser Leben zu lenken. Die Ethik umfasst bei den Kynikern alle Bereiche der Philos.« Siehe auch D. L. 6,11 und 70–71 (›Lehren‹ des Antisthenes und Diogenes); zur Auseinandersetzung der Kyniker mit dem Platonismus vgl. die zahlreichen anekdotenhaften Gespräche zwischen Diogenes und Platon (e.g. D. L. 6,24–26.53). 101 Vgl. Branham/Goulet-Cazé [1996] 15f. 102 Wichtig sind hierbei vor allem Diogenes und Menipp. Zu Lukians Lob des Kynikers Demonax, der ein zeitgenössisches Vorbild darstellt, siehe unten 3.1. Vgl. auch Branham/Goulet-Cazé

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

schämtheit, Lasterhaftigkeit, Unruhestiftung durch Gezeter jedoch sind die Kyniker Objekt des Spottes, wobei es sich, wie oben angedeutet, meist zugleich um den Typus des Scheinphilosophen handelt, der mit den ›alten‹ Vorbildern und der von Diogenes praktizierten Askese nur mehr wenig gemein hat, und vom gebildeten Vertreter dieser ›klassischen Tradition‹ mit Verärgerung entlarvt wird.103 Kynikerspott dieser Art findet sich vor allem in Lukians Peregrinos und Fugitivi; in Fug. 13–15 wettert die personifizierte Philosophie über die Armen und Sklaven, die sich ganz in kynischer Manier mit Mantel, Ranzen und Stock ausgerüstet auf die Strasse begeben und von Haus zu Haus ziehend Geld einfordern, wenn nötig mit üblen Beschimpfungen oder gar mit Schlägen. Ihre Kennzeichen sind Unbildung (ἀμαθία), Tollkühnheit (τόλμα), Unverschämtheit (ἀναισχυντία), Geschrei (βοᾶν) und Beschimpfungen (λοιδορίαι/λοιδορεῖν).104 Für dieselben Negativcharakteristika steht nun der Rednerlehrer in Rh. Pr., und er ist daher nicht nur (aufgrund der platonischen Kontrastfolie) mit Zügen eines ›falschen Sokrates‹, sondern auch (aufgrund der kynischen Tradition des kurzen Weges in ihrer negativen Ausprägung) mit Zügen eines Kynikers der übelsten Sorte ausgestattet, der seinen Schüler auf den entsprechenden Weg bringen will: Vgl. §15 (Unnötigkeit jeder Vorbildung; Forderung der ›Ausstattung‹ mit τόλμα, ἀναισχυντία, βοὴ ὅτι μεγίστη etc.; »jeder kann [1996] 16f.: »For Lucian, Cynic literature was a liberating example of innovation and subversion within the classical tradition. The Cynic classics (and Cynic ideology) gave him nothing less than a license to write satire on all things Greek, which now, of course, included Cynics and Cynicism itself. When he was attacked for his hilarious caricature Philosophers for Sale!, in which the founding fathers of Greek philosophy, including Diogenes, are auctioned off as slaves, it is a comicCynic mask (Parrhesiades) he dons to defend his literary principles. [...] In his Demonax, Lucian even shows a serious interest in constructing a contemporary ethical model from Cynic (and Socratic) traditions.« 103 So Branham/Goulet-Cazé [1996] 16; vgl. auch DNP 6 s.v. Kynismus, Sp. 972: »[Der kaiserzeitliche Kynismus] war in erster Linie eine populäre Philos., deren Anhänger, Arme und Sklaven, aus den unterprivilegierten Schichten der grossen Metropolen stammten [...]. Gruppen von Kynikern gingen in den Strassen von Rom und Alexandreia umher, bettelten an den Strassenkreuzungen und machten der Menge, die sie sehen und hören wollte, ihre Vorhaltungen. Darunter waren auch Scharlatane, die glaubten, das Kleid mache den Philosophen. Gegen sie richtet sich die Kritik des Epiktetos, Lukianos oder Iulianus.« Vgl. weiter Luk. Fug. 11f. (positive Nennung der ›alten‹ Kyniker, Kritik an den ›neuen‹); Billerbeck resümiert über den ›idealen‹ Kyniker bei Autoren wie Epiktet und Lukian (Branham/Goulet-Cazé [1996] 220): »After having traced the main lines of the idealized concept of Cynicism from Epictetus to Julian, we see that it was the qualities of independence (autarkeia) and freedom of speech (parrhesia) that commended the imitation of Diogenes. On the other hand, shamelessness (anaideia), which is a prominent feature of the anecdotes about Diogenes and which characterized the actual behaviour of the ancient Cynics, tends to be suppressed.« 104 Vgl. zu Fugitivi auch unten 3.2. Der allgemeine Philosophenspott und der Spott spezifisch über Kyniker geht in Lukians Schriften ineinander über, wie Vergleiche zwischen Fug., Pisc., Ikaromen., Bis Acc. zeigen (Ziel der Kritik in Fug. sind also nicht nur, aber vor allem die Kyniker, vgl. dazu Fug. 16).

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Rhetorik betreiben«); §19 (Beschimpfung [des Publikums] und Geschrei); §§22, 23, 24 (unverschämtes, dreistes Verhalten; Beschimpfungen); §§23– 25 (allgemein lasterhaftes Privatleben).105 Hört man schliesslich dem Kyniker Diogenes zu, der in Vit. Auct. 10f. Empfehlungen über die richtige Ausrüstung eines Kynikers abgibt, so unterscheiden sich seine Äusserungen praktisch nicht von denen des Rednerlehrers (womit zugleich deutlich wird, dass die Grenzen zwischen ›mildem‹ und ›boshaftem‹ Spott in den Satiren fliessend sind, da, wie oben gesagt, Diogenes in Lukians Werk auch Vorbildfunktion übernimmt): ἰταμὸν χρὴ εἶναι καὶ θρασὺν καὶ λοιδορεῖσθαι πᾶσιν ἐξ ἴσης καὶ βασιλεῦσι καὶ ἰδιώταις· οὕτω γὰρ ἀποβλέψονταί σε καὶ ἀνδρεῖον ὑπολήψονται. [...] οὐδέν σοι κωλύσει θαυμαστὸν εἶναι, ἢν μόνον ἡ ἀναίδεια καὶ τὸ θράσος παρῇ καὶ λοιδορεῖσθαι καλῶς ἐκμάθῃς.106

1.4 Die Allegorie des Prodikos und die Tabula des Kebes Die in Rh. Pr. verwendete Szenerie, die Wahl zwischen zwei möglichen (Lebens-)Wegen, findet neben dem eben diskutierten platonischen Hintergrund ihre klassische Darstellung in moral- bzw. populärphilosophischen Texten, allen voran in der berühmten Allegorie des Prodikos von Herakles am Scheideweg (Xen. Mem. 2,1,21–33), die eine grosse Nachwirkung bis in die Spätantike hinein gehabt hat, vgl. die Tabula des Kebes; Philon De sacr. Abel. et Cain. 20–44; Clem. Alex. Paed. 2,10,110; Max. Tyr. Or. 14 und 39; Dion von Prusa Or. 1,64–84; Themistios Or. 22,280–282; im lateinischen Bereich Cic. Off. 1,118f.; Quint. Inst. 9,2,36.107 An dieser Stelle sei daran erinnert, dass das älteste Zeugnis zweier in ihrer Beschaffenheit gegensätzlicher Wege zur Tugend und zur Schlechtigkeit Hesiod Erga 287–291 darstellt: 105 Weitere Parallelen zwischen Rh. Pr., Fugitivi und Peregrinos sind jeweils im Kommentar angegeben (zu Peregrinos vgl. v.a. Rh. Pr. 23–25). 106 »Du solltest unverschämt und kühn sein und alle ohne Ausnahme beschimpfen, sowohl Könige als auch einfache Leute. Denn so wird man dich bewundern und für männlich halten. [...] nichts wird dich daran hindern, ein Objekt der Bewunderung zu sein, wenn du nur Schamlosigkeit und Kühnheit pflegst und ganz genau lernst, wie man beschimpft.« Vgl. Rh. Pr. 17: οὕτω γάρ σε ὁ λεὼς ὁ πολὺς ἀποβλέψονται καὶ θαυμαστὸν ὑπολήψονται [...]; 24: ἢν ταῦτα, ὦ παῖ, καλῶς ἐκμάθῃς [...]; ἐπεὶ δὲ τὴν ὁδὸν ταύτην ῥᾴστην οὖσαν κατεῖδον [...] ὑπῆρχεν γάρ μοι, ὦ φίλη Ἀδράστεια, πάντα ἐκεῖνα ἃ προεῖπον ἐφόδια, τὸ θράσος, ἡ ἀμαθία, ἡ ἀναισχυντία [...]; vgl. auch den Ratgeber in Rh. Pr. 26: καὶ οὐδέν σε κωλύσει [ebenso §6] ἑπόμενον τῷ νόμῳ ἔν τε τοῖς δικαστηρίοις κρατεῖν καὶ ἐν τοῖς πλήθεσιν εὐδοκιμεῖν καὶ ἐπέραστον εἶναι κτλ. Vgl. zum beschimpfenden Geschrei des Redners Rh. Pr. 19 und 23. 107 Für weitere Belege siehe Fitzgerald/White [1983] 37 Anm. 62 und Hirsch-Luipold [2005] 24–26.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

τὴν μέν τοι κακότητα καὶ ἰλαδὸν ἔστι ἑλέσθαι / ῥηιδίως· λείη μὲν ὁδός, μάλα δ’ ἐγγύθι ναίει· / τῆς δ’ ἀρετῆς ἱδρῶτα θεοὶ προπάροιθεν ἔθηκαν / ἀθάνατοι· μακρὸς δὲ καὶ ὄρθιος οἶμος ἐς αὐτὴν / καὶ τρηχὺς τὸ πρῶτον· [...]108

Angesichts der Verbreitung des Themas ist es nicht erstaunlich, dass es auch von Lukian aufgenommen wird,109 in Rh. Pr. in der Form, dass den Aspiranten jeweils ein gestandener Redner, der den entsprechenden Weg absolviert hat, in Empfang nehmen, ihm den Weg weisen und ihn ausbilden wird. Auf die Tabula des Kebes, die wohl ins 1. Jh. n.Chr. zu datieren ist,110 wird in Rh. Pr. 6 explizit verwiesen, und der Hintergrund dieses Textes ist neben der Allegorie des Prodikos grundlegend für das Verständnis der Satire. Denn das Aufrufen der Tabula, die den langen Weg propagiert und echte von falscher Bildung scheidet, dient, ähnlich den platonischen Dialogen, als Kontrastfolie im Sinn eines Subtextes, der hintergründig-affirmativ eingesetzt wird oder aber zumindest aufgrund der Kontraste Fragen aufwirft. An dieser Stelle sei eine kurze Zusammenfassung dieser Schrift gegeben, um Parallelen und Unterschiede zum lukianischen Text aufzuzeigen: Die Tabula des Kebes ist die erklärende Beschreibung eines allegorischen Gemäldes, welches den Lebensweg abbildet. Das Gemälde zeigt den Eintritt ins Leben durch ein Tor und danach ein fortschreitendes Weiterleben in mehreren Stufen, die jeweils mit neuen Toren gekennzeichnet sind. In Form einer Stadtanlage, die einen Berg in mehreren Kreisen umzieht, werden Stadt- und Wegmetaphorik kombiniert. Der Betrachter soll dazu ermuntert werden, den richtigen Weg zur Erkenntnis einzuschlagen, um zum Ziel des βίος εὐδαίμων zu gelangen. Genau genommen beschreibt die Tabula nur einen Weg, alle anderen sind Irrwege und Sackgassen, auf die man geraten und in denen man steckenbleiben kann.111 Drei Lebensstufen, durch weibliche Personifikationen versinnbildlicht, sind vorhanden: Κακοδαιμονία, Ψευδοπαιδεία und schliesslich Παιδεία / Εὐδαιμονία. Eine wichtige 108 »Die Schlechtigkeit kann man gewiss gleich haufenweise leicht erlangen: Eben ist der Weg, ganz nahe wohnt sie. Vor die Tugend aber haben die unsterblichen Götter Schweiss gesetzt: Lang und steil ist der Pfad zu ihr und steinig zuerst [...]«; Lukian erwähnt Hesiod mit Bezugnahme auf diese Passage ausdrücklich in Rh. Pr. 7. – Zu nennen sind weiter auch die Fragmente des parmenideischen Lehrgedichtes, in welchen der Weg zur Erkenntnis ein zentrales Thema ist und damit auch das entsprechende Vokabular prominent vorkommt (ὁδός, κέλευθος, ἀταρπός). Vgl. insbesondere fr. 2 DK: εἰ δ’ ἄγ’ ἐγὼν ἐρέω, κόμισαι δὲ σὺ μῦθον ἀκούσας, / αἵπερ ὁδοὶ μοῦναι διζήσιός εἰσι νοῆσαι· / ἡ μὲν ὅπως ἔστιν τε καὶ ὡς οὐκ ἔστι μὴ εἶναι, / Πειθοῦς ἐστι κέλευθος (Ἀληθείῃ γὰρ ὀπηδεῖ), / ἡ δ’ ὡς οὐκ ἔστιν τε καὶ ὡς χρεών ἐστι μὴ εἶναι, / τὴν δή τοι φράζω παναπευθέα ἔμμεν ἀταρπόν; sowie fr. 6 und 8 DK. – Generell zur Wegmetaphorik in der archaischen und klassischen Gräzität vgl. Becker [1937] (siehe insbesondere zur Hesiodstelle, zum Weg der ἀρετή und dessen Verbreitung v.a. auch bei Pindar S. 57–61). 109 Neben Rh. Pr. v.a. in Hermotimos, vgl. dazu den Kommentar von Möllendorff [2000a] 205–210; weiter in Somnium (passim) und in Bis Acc. 21. Zu diesen Schriften siehe unten 1.5. 110 So Fitzgerald/White [1983] 4; sich anschliessend Hirsch-Luipold [2005] 19. 111 Vgl. Hirsch-Luipold [2005] 18–22.

1.4 Die Allegorie des Prodikos und die Tabula des Kebes

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Entscheidung der Menschen, falls sie nicht ein durchwegs niedriges, der τύχη und den damit verbundenen Begierden ergebenes Leben führen wollen (Ergebnis: κακοδαιμονία), muss über das Fortschreiten von ψευδοπαιδεία zur ἀληθινὴ παιδεία gefällt werden. Die meisten Menschen verbringen ihr Leben im Gebiet der Scheinbildung, ohne ihre falschen δόξαι und Werthaltungen je ablegen zu können. Nur wer den letzten Abschnitt, den steilen, selten begangenen, anstrengenden Pfad einschlägt, gelangt zur Παιδεία, die sich im innersten – und zugleich obersten – Kreis befindet und einen geläutert zu den Ἀρεταί und zur Εὐδαιμονία bringt, einer Frau, die zur lukianischen Rhetorik zwar Parallelen aufweist, aber dennoch ganz andere Werte verkörpert: Sie ist schön anzusehen, sitzt elegant, aber einfach gekleidet auf einem Thron und krönt den, der bei ihr angelangt ist, zwar ebenfalls, allerdings nicht zum ruhmvollen, reichen Redner, der von allerlei äusseren Gütern abhängig ist, sondern zu einem sich selbst genügenden, glücklichen Menschen (vgl. Tab. 21,3: γυνὴ καθεστηκυῖα εὐειδής τις κάθηται ἐπὶ θρόνου ὑψηλοῦ κεκοσμημένη ἐλευθέρως καὶ ἀπεριέργως; 23,4: ὁ γὰρ στεφανωθεὶς ταύτῃ τῇ δυνάμει εὐδαίμων γίνεται καὶ μακάριος καὶ οὐκ ἔχει ἐν ἑτέροις τὰς ἐλπίδας τῆς εὐδαιμονίας, ἀλλ’ ἐν αὑτῷ; Rh. Pr. 6: καὶ δῆτα ἡ μὲν ἐφ’ ὑψηλοῦ καθήσθω πάνυ καλὴ καὶ εὐπρόσωπος, τὸ τῆς Ἀμαλθείας κέρας ἔχουσα ἐν τῇ δεξιᾷ παντοίοις καρποῖς ὑπερβρύον; 3: σὺ δὲ πρὸ πολλοῦ ἄνω ἐστεφανωμένος εὐδαιμονέστατος ἔσῃ, ἅπαντα ἐν βραχεῖ ὅσα ἐστὶν ἀγαθὰ παρὰ τῆς Ῥητορικῆς μονονουχὶ καθεύδων λαβών). Vergleicht man die in der Tabula und in Rh. Pr. erwähnten Wege und Personifikationen, so nähern sich die beiden Werke durch Kebes’ Personifikation zweier Figuren, der Παιδεία und der Ψευδοπαιδεία (vgl. Tab. 11– 21), einander zwar an, denn in Rh. Pr. ist der empfohlene, kurze Lehrgang ganz offensichtlich eine Pseudo-Ausbildung, die Bildung (παιδεία) ausdrücklich nicht verlangt (vgl. Rh. Pr. 15), während der lange Weg für das klassische Training steht (Rh. Pr. 9–10).112 Doch stellen bei Kebes diese beiden Frauenfiguren nur einen Zwischenschritt auf dem Weg zur Eudaimonie dar, was mit dem Verhältnis der Menschen zu den »(falschen) Meinungen«, δόξαι, zusammenhängt – im einen Fall können diese überwunden werden, im anderen Fall (»Scheinbildung«) wird weiter in falschen δόξαι und in entsprechendem Unwissen (ἄγνοια) verharrt (vgl. Tab. 14,3). Ziel ist also ein glückliches Leben, wie es in der Moralphilosophie gängig ist. Ein markanter Unterschied liegt weiter in der Anzahl der aufgezeigten Zielpunkte der Wege und somit auch der dargestellten Frauenfiguren. Sowohl Prodikos’ Allegorie als auch Kebes’ Tabula weisen Wege (bzw. Weg112 Vgl. weiter zur Prominenz der Begriffe ›Bildung‹ und ›Unbildung‹ in Lukians Œuvre auch unten die Einleitung 2.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

Abzweigungen) mit verschiedenen Zielpunkten und dementsprechenden Frauengestalten auf: Leichter Weg – Κακία, anstrengender Weg – Ἀρετή (Prodikos) / dreiteilig: Κακοδαιμονία, Ψευδοπαιδεία, Εὐδαιμονία (Kebes). Dabei ist die Frauenfigur am Ende des anstrengenden Weges jeweils uneingeschränkt positiv konnotiert, nur schon aufgrund dessen, was sie symbolisiert (Tugend, Eudaimonie). Anders gestaltet ist hingegen der Zielpunkt der beiden Wege in Rh. Pr.: Beide führen, ob man den leichten oder den anstrengenden Weg beschreitet, zu einem Gipfel, auf dem die personifizierte Rhetorik thront. Es hat keinen Sinn, den alten, verstaubten Weg zu nehmen, da ein neuer, bergab(!) führender, schneller Weg zur Rhetorik vorhanden ist, der einem die Heirat mit ein und derselben Rhetorik erlaubt.113 Der Zusammenfall des Zielpunktes beider Wege bedeutet nun aber, dass die Frau an deren Ende, die Rhetorik, – wenn sie auch von den Sprechern absolut positiv dargestellt ist –, für den Rezipienten eine negative Konnotation erhält, da sie ein leicht zu habendes, niederes Ziel darstellt, indem sie gleichermassen auf dem kurzen wie auf dem langen Weg erreichbar ist.114 Aufgrund dieser entscheidenden Abweichung von der gängigen Verwendung der Metaphorik zweier (oder mehr) Wege und Zielpunkte115 gesellt sich zur Ambivalenz der Beurteilung des langen und kurzen Weges und zur daraus folgenden Aporie des Rezipienten (vgl. oben 1.2) ein Bild, in dessen Ausdeutung man den Inhalt der Schrift als absolut abwertend bezüglich Rhetorik einstufen und die Darstellung des Autors – dessen Œuvre selbst wohlgemerkt durchwegs mit Elementen der zeitgenössischen Rhetorik ausgestaltet ist – als völlig nihilistisch auffassen könnte. Dies ist in der Lukianforschung auch immer wieder der Fall gewesen.116 Damit sind wir nun an einer für das Verständnis von Rh. Pr., aber auch von Lukians weiteren Schriften über Rhetorik zu klärenden Kernfrage angelangt: Muss man Rhetorik tatsächlich als negativ und verkommen betrachten? Sind dann aber Rh. Pr., andere Schriften mit affirmativem Duktus, die auch ›gute‹ Rhetorik thematisieren (Sol., Lex., Adv. Ind.) und die eigene Tätigkeit Lukians als Redner und Autor vereinbar? Wichtig ist das Bewusstsein für die immer wieder anders gestaltete Anlage der Texte: Aus den vorangegangenen Ausführungen dürfte für Rh. Pr. die Bedeutung der 113

Vgl. §3: ἡδίστην τε ἅμα καὶ ἐπιτομωτάτην καὶ ἱππήλατον καὶ κατάντη [sc. ὁδόν]; §10: [...] ὁποία νῦν κεκαινοτόμηται ταχεῖα καὶ ἀπράγμων καὶ εἰς τὸ εὐθὺ τῆς Ῥητορικῆς ὁδός. 114 Zur Hetärenhaftigkeit der neuen Rhetorik siehe unten 1.5.a zu Bis Acc. Zum Vergleich des Rednerlehrers (als Exponent der neuen Rhetorik) mit den berühmten Hetären Thaïs, Malthake und Glykera siehe Rh. Pr. 12. 115 Enger an der ›klassischen‹ Darstellungsweise orientiert sich Somnium, vgl. dazu unten 1.5.a. 116 Allgemein zum Vorwurf des Nihilismus, der Lukian bis tief ins 20. Jh. anhaftete, vgl. den Forschungsüberblick bei Jones [1986] 1–5 sowie ausführlich Baumbach [2002] 201–243. Siehe auch unten 1.6.

1.4 Die Allegorie des Prodikos und die Tabula des Kebes

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Intertextualität, und damit kontrastiver (affirmativer) Texte, welche die satirisch-ironische Schrift ergänzend aufruft, bereits evident geworden sein. Wenden wir uns nun den innerlukianischen Paralleltexten zu, die sich der Thematik von Ausbildung und Rhetorik in ihrer je eigenen Gestaltung widmen, um danach mögliche Entgegnungen auf den ›Nihilismus‹ von Rh. Pr. zusammenzustellen (siehe unten 1.6).

1.5 Wegmetaphorik in Lukians ›autobiographischen‹ Schriften und in Hermotimos Zwei Elemente der Schrift Rh. Pr., die Abschiednahme des Ratgebers von der Rhetorik und die Wahl eines Weges im Zusammenhang mit Rhetorik, haben enge Parallelen in den beiden als autobiographisch stilisierten Schriften Lukians, Bis Accusatus und Somnium. Sie sollen im folgenden Kapitel untersucht werden, um Lukians variantenreichen Umgang mit dieser Motivik aufzuzeigen. Vorauszuschicken ist dabei folgende Bemerkung zur Methodik: Da sowohl die relative als auch die absolute Chronologie der Schriften Lukians ein Problem darstellt,117 so dass nur die wenigsten genauer datiert werden können, möchte ich betonen, dass bei Vergleichen sich wiederholender, ergänzender oder kontrastierender Elemente in verschiedenen lukianischen Schriften keinerlei Abhängigkeiten der einen von der anderen Schrift postuliert, sondern die Inhalte gleichwertig nebeneinander betrachtet werden. a. In Bis Acc. ergeht es dem »Syrer« ganz ähnlich wie dem Ratgeber am Ende von Rh. Pr.:118 Auch er hat der Rhetorik den Rücken gekehrt,119 was ihm prompt eine Anklage derselben einträgt. Sie beschwert sich, dass er sie, die ihn gross gemacht habe, verlassen habe (§§26–29). Im Unterschied zum Ratgeber, der sich scheinbar frustriert-resigniert aus dem Beruf zurückzieht, 117

Vgl. die Abhandlung bei Hall [1981] 16–63. Diese Parallelisierung zeigt klar die schillernde, selbstironische Stilisierung der lukianischen Figuren in den verschiedenen Texten: Der Autor bringt die von ihm gewählte Maske des »Syrers« in nahe Verbindung zum Ratgeber von Rh. Pr. und damit letztendlich auch zum lächerlichen, effeminierten Rednerlehrer selbst (vgl. dazu auch die Bemerkungen unten zu Somnium). Ein ähnliches Phänomen zeigt sich auf der grösseren textuellen Ebene, indem z.B. in Pisc. die falschen Philosophen als schlechte Theaterschauspieler gebrandmarkt werden, während die formale Gestaltung des Textes selbst einem Theaterstück gleicht bzw. durch die aristophanische Gestaltung ein theatralisches Genus aufruft und die Kläger Parrhesiades als jemanden anschwärzen, der nur auf spektakuläre Theatralik aus sei (Pisc. 25f.); vgl. dazu Whitmarsh [2001] 257–265, bes. 263 (über die Gestaltung von Pisc.): »Yet, as ever with Lucian, there is a self-ironizing twist. Is there not also something theatrical about Lucian’s role in all this?« und 264f.: »Lucian ironically advertises his own complicity in the mimetic identity-crisis of his age.« Siehe dazu auch unten 3.2. 119 Vgl. zum Abtreten des Ratgebers Rh. Pr. 26: ἐγὼ δὲ [...] ἐκστήσομαι τῆς ὁδοῦ ὑμῖν καὶ παύσομαι τῇ Ῥητορικῇ ἐπιπολάζων [...]. 118

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

hat aber der Syrer etwas Neues in Angriff genommen, das Metier gewechselt und verfasst nun philosophisch-satirische Dialoge. Für unseren Zusammenhang ist die Verteidigung des Syrers aufschlussreich, der mit seiner Rede den Gerichtsprozess ausgerechnet gegen die Rhetorik, die im Fall eines Plädoyers ungeschlagen sein sollte, gewinnt (§§30–32). Doch die Tatsache, dass sie unterliegt, bezeugt den qualitativen Wandel, den der Syrer ihr ankreidet, und betont denselben Niedergang der Rhetorik wie Rh. Pr.: Der Syrer merkt zu seiner Verteidigung in Bis Acc. 31 nämlich an, dass die Rhetorik nicht mehr dieselbe Vernunft und anständige Erscheinung aufweise wie damals, als Demosthenes (und in der Folge er selbst) sie heiratete. Jetzt sei sie einer Kurtisane gleich (genau wie die ›leicht zu habende‹ Rhetorik auf dem Gipfel in Rh. Pr. 3 und 6 sowie ihr mit Hetären verglichener Exponent, der Rednerlehrer, in Rh. Pr. 12), kleide und schminke sich übertrieben und ergötze sich an all den Freiern, die auf der Strasse stehen und nach ihr verlangen.120 Auch hier wird also die zeitgenössische Rhetorik (im Gegensatz zur ironischen Darstellung in Rh. Pr. explizit) angeschwärzt, ein positives Rhetorikbild ist jedoch im Vergleich zu Rh. Pr. vorhanden, in der Form der ›alten‹ Rhetorik, die der Syrer einst geheiratet hat und damit in Demosthenes’ Fussstapfen getreten ist (man vergleiche zu affirmativen Aussagen über die ›alte‹, von Demosthenes geprägte Rhetorik auch Lex. 22 und Somn. 12, negativ hingegen Rh. Pr. 9, 10, 17; siehe auch den Kommentar dazu). Eine Parallelität liegt in der Haltung, dass sich der Beruf des Redners unter diesen zeitgenössischen Umständen eigentlich nicht mehr eigne – doch Bis Acc. zeigt hier eine neue Möglichkeit auf: Der Syrer bleibt zumindest rhetorisch-literarisch tätig, er tritt zwar nicht mehr vor Gericht oder zur allgemeinen Unterhaltung öffentlich auf, trägt aber weiterhin zur literarischen Produktion seiner Zeit bei. Auch der Autor Lukian mag zu einer gewissen Zeit seines Lebens das öffentliche Deklamieren aufgegeben haben (aus welchen Gründen auch immer),121 setzt sich aber dennoch immer wieder mit der zeitgenössischen Rhetorik auseinander, und nicht nur mittels vernichtender Tiraden, sondern auch mit Texten über Detail- und Geschmacksfragen des Attizismus, wie beispielsweise in Lexiphanes oder Soloecista. Dadurch, 120 Die Illustration des Niedergangs der Rhetorik durch den Vergleich mit ehrbaren gegenüber hetärenhaften Frauen findet sich bereits bei Dion. Hal. Orat. Vett. 1. Zum hetärenhaften Bild der Scheinphilosophie vgl. Pisc. 12. 121 Vgl. zu den Diskussionen über die mangels ausserlukianischer Belege letztlich nicht zu gewinnende Biographie Lukians Jones [1986] 13–14 (mit der verbreiteten Mutmassung »it is reasonable to infer that he gave up an oratorical career, which he had pursued both as a forensic speaker and as a sophist, and at the age of forty or so devoted himself to literature and especially to the comic dialogue« [14]); ausführlich zur ›Karriere‹ Lukians als Schrifsteller und seiner Tätigkeit innerhalb verschiedener literarischer Genera vgl. Hall [1981] Kap. 1, v.a. 1–16; 35–41; 61f.

1.5 Wegmetaphorik in Lukians ›autobiographischen‹ Schriften

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dass in Bis Acc. die Möglichkeit des Wiederherstellens der ›alten‹ Rhetorik und einer Rückkehr des Syrers zu derselben nicht in Betracht gezogen wird, wird die gegenwärtige historische Situation unterstrichen, die es nicht erlaubt, starr am Alten, Unzeitgemässen festzuhalten, sondern das Kreieren des Neuen, wie der Syrer es tut, fordert;122 hierbei wird ein möglicher zukunftsträchtiger Weg aufgezeigt, wie er auch aus der in Rh. Pr. erzeugten Aporie123 herausführen könnte. b. In Somnium wird über das Thema der Weg-Wahl aus dem Leben des Lukian selbst berichtet.124 Gleich zu Beginn sei vermerkt, dass diese Schrift das sich bis anhin in einer relativ klaren Dichotomie darstellende Bild, das wir aus Lukians Textcorpus – in Verbindung mit den aufgerufenen Subtexten – von ›guter‹ (alter) und ›schlechter‹ (neuer) Rhetorik, langem und kurzem Weg, gewinnen konnten, durcheinander bringt bzw. mit neuen Facetten versieht, so dass Parallelen nur bis zu einem gewissen Grad vorhanden sind. Dies liegt zu einem guten Teil daran, dass in Somnium ein anderer Fokus gewählt ist, indem nicht zwei Varianten derselben τέχνη (der Rhetorik), sondern die höhere Bildung (παιδεία; mit dem Berufsziel des Redners) und das Handwerk der Bildhauerei (ἑρμογλυφικὴ τέχνη) einander gegenübergestellt werden, erstere als Ziel eines kurzen, angenehmen, sauberen Weges, der sich nur mit schönen Gegenständen auseinandersetzt, letztere als Ziel eines langen, mühevollen, schmutzigen Weges körperlicher Arbeit. Der Weg zur Bildung/Rhetorik stellt sich im Vergleich zu Rh. Pr. folgendermassen dar: Die Verwandten des jungen Lukian, der aus bescheidenem Haus stammt, diskutieren zu Beginn der Schrift dessen Möglichkeiten für seinen weiteren Werdegang (§1). Dabei wird der Weg der Bildung verworfen, weil er lange dauere, viel Mühe und auch beträchtlichen finanziellen Aufwand fordere. Bildung wird hier also mit dem langen Weg und seinen typischen Attributen verbunden.125 Ein Handwerk zu erlernen sei nützlicher, und Lukian könne so die Familie bald auch finanziell unterstützen. Nachdem aber Lukian gleich am ersten Arbeitstag als Skulpteur in der Werkstatt seines Onkels kläglich scheitert, hat er nachts einen Traum, worin er vor eine Weg-Wahl gestellt wird: Die Bildhauerkunst und die Bildung präsentieren Lukian je ihre Vorzüge, und er entscheidet sich ohne zu zögern für den einfacheren, rascheren Weg der Bildung, die nämlich damit wirbt, dass er sich bei ihr nicht ununterbrochen abmühen müsse und dabei den122 Darin liegt eine Parallele zu meiner Interpretation von Rh. Pr. 26 (Schlusskapitel), vgl. bereits die Einleitung 1.1.2, Anm. 65 und unten 1.6. 123 Siehe dazu oben die Einleitung 1.2 mit Anm. 76 und 79. 124 Im Folgenden wird, wenn von der literarischen Figur Lukian und nicht vom Autor die Rede ist, der Name kursiv gedruckt. 125 Zumindest aus der Perspektive der ungebildeten Verwandten Lukians; in ›Wahrheit‹ (bzw. im Traum!) wird sich die Sache anders darstellen.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

noch immer einer aus dem gemeinen Volk bleibe, den niemand bewundere oder beneide,126 sondern dass er durch sie – wie wir danach sehen, in einem geflügelten Wagen die Welt überfliegend127 – überall bekannt und bewundert werde, eine prachtvolle Erscheinung, Ehre, Ansehen, Lob, Macht erlange, und dies alles in kurzer Zeit.128 Lukians Entscheidung für den einfacheren Weg bricht mit der Tradition, mit der Wahl des Herakles, und es ergibt sich eine Parallele zu Rh. Pr., zum Vorschlag des Ratgebers und dem detailliert beschriebenen kurzen Weg, was den gewählten Weg ambivalent erscheinen lässt und ihn der rasch erworbenen (Pseudo-)Rhetorik des Rednerlehrers bis zu einem gewissen Grad annähert. Bei genauer Analyse zeigen jedoch folgende zwei Faktoren, dass und wie Lukian die Wegmetaphorik in immer wieder neuen Formen verwendet: Die Parallelen zum (kurzen) Rhetoriklehrgang in Rh. Pr. sind unvollständig (1), und sie müssen im neuen Kontext von Somnium eine andere, zumindest weiter gefasste Bedeutung haben (2). Langer und kurzer Weg sowie alte und moderne Rhetorikausbildung variieren in ihrer Verteilung, und die Texte enthalten immer auch ironische und karikierend-komische Gestaltungsmittel, so dass sich bezüglich Bildung und Rhetorik nicht ein Inhalt als geltender Inhalt herauskristallisiert. Vielmehr wird durch diese auch kontrastiven Darstellungsweisen das Nachdenken der Rezipienten über Bildung (παιδεία) und über ›echte‹ Rhetorik bzw. über den Zustand der zeitgenössischen Rhetorik (vgl. Bis Acc.) gefördert sowie das Nachdenken über den Status der Rhetorik im Vergleich zu handwerklichen Berufen (vgl. Somnium). 126 So wie in Rh. Pr. der lange Weg ausschliesslich aus der Sicht des (parteiischen) Ratgebers dargestellt ist (Rh. Pr. 9–10), erfahren wir auch hier das meiste über den Weg der Bildhauerei aus dem Mund ihrer Konkurrentin (Somn. 9 und 13), die das von der Bildhauerei vorgebrachte Argument, der junge Mann könne in die Fussstapfen von Phidias, Polykleitos, Myron und Praxiteles treten, verächtlich mit der Aussage kommentiert, dass er trotzdem immer ein blosser Handwerker bleibe, vgl. §9: βάναυσος καὶ χειρῶναξ und §13 über das Verharren in sklavischem, niederem Denken: οὐδὲ ἀνδρῶδες οὐδὲ ἐλεύθερον οὐδὲν ἐπινοῶν [...] ὅπως δὲ αὐτὸς εὔρυθμός τε καὶ κόσμιος ἔσῃ, ἥκιστα πεφροντικώς. 127 Hier liegt ein weiteres in Rh. Pr. parallel verwendetes Motiv vor, vgl. §26: τὸ τοῦ Πλάτωνος ἐκεῖνο »πτηνὸν ἅρμα ἐλαύνοντα« φέρεσθαι (der Platonverweis bezieht sich auf Phdr. 246e). 128 Vgl. §§10–13 und §§15–16. Zur Kürze der Ausbildung vgl. §10: οὐκ εἰς μακράν σε διδάξομαι (dieselbe Ausdrucksweise in Rh. Pr. 24) und §11: μετ’ ὀλίγον [sc. χρόνον], beide Formulierungen in Absetzung zum Irrglauben von Lukians Verwandten in §1: χρόνου μακροῦ [...] δεῖσθαι. Illustriert wird diese Kürze und Mühelosigkeit auch durch die Fahrt Lukians im geflügelten Wagen (§§15–16), die gleichzeitig und übergangslos Ausbildung des Neulings und Welttournee eines berühmten Starredners ist. – Die Rede der Paideia steht in Duktus und Vokabular in Bezug zum Wunsch des Schülers nach Weltruhm in Rh. Pr. 1 sowie zur Aufzählung der durch die Rhetorik gewonnenen Güter in Rh. Pr. 3 und 6. Vgl. die wörtlichen Parallelen in Somn. 11: τοιαῦτά σοι περιθήσω τὰ γνωρίσματα ὥστε τῶν ὁρώντων ἕκαστος τὸν πλησίον κινήσας δείξει σε τῷ δακτύλῳ, Οὗτος ἐκεῖνος, λέγων und Rh. Pr. 25: καὶ τὸ δείκνυσθαι τῷ δακτύλῳ τοῦτον ἐκεῖνον τὸν ἀκρότατον ἐν πάσῃ κακίᾳ λεγόμενον [...].

1.5 Wegmetaphorik in Lukians ›autobiographischen‹ Schriften

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Zu (1): Die personifizierte Bildung in Somnium spricht – und dies ist der erste ›Widerspruch‹ zum kurzen Weg in Rh. Pr. – auch über die Inhalte ihrer Ausbildung: Diese werden dem ›alten‹ Weg entsprechen (§10), demjenigen, der Demosthenes und Aischines gross machte (§12), und die Kenntnis aller alten Dichter und Berühmtheiten sowie die Vermittlung eines ›gebildeten‹ Benehmens bis hin zu den Kardinaltugenden bieten. Der vorgeführte Bildungsweg beruht also auf den ›alten‹ Inhalten, ist aber kurz, was ihn uns – vor dem konventionellen Hintergrund – bereits verdächtig bzw. unrealistisch erscheinen lassen muss. Es stellt sich die Frage, wie auf kurzem Weg derartige Bildungsergebnisse erzielt werden können. Hier lässt sich auch erwähnen, dass die vom Rednerlehrer geforderten Charakterzüge (Rh. Pr. 15) in krassem Gegensatz zu denjenigen stehen, mit denen Lukians Ausbildnerin Paideia seine Seele (ψυχή) nach absolvierter Ausbildung schmücken will (§10). Es sind dies Besonnenheit (σωφροσύνη), Gerechtigkeit (δικαιοσύνη), Frömmigkeit (εὐσέβεια), Sanftmut (πραότης), Anstand (ἐπιείκεια), Einsicht (σύνεσις), Ausdauer (καρτερία), die Liebe zum Schönen (τὸ τῶν καλῶν ἔρως) und das Streben nach Erhabenem (ἡ πρὸς τὰ σεμνότατα ὁρμή). Diese Eigenschaften sind es, die Lukian unter den Gebildeten (πεπαιδευμένοι) zu einem berühmten und bewunderten Redner machen werden (§§11–12). Beide Lehrpersonen garantieren ihren Schülern, sie auf einem raschen Weg zu berühmten Sophisten zu machen, verlangen als Voraussetzung (Rh. Pr.) bzw. verkünden als Ergebnis (Somn.) jedoch äusserst unterschiedliche Kenntnisse und Charakterzüge. Wem soll man sich anvertrauen? Zwar sollte Paideia – die Bildung höchstpersönlich – die bestmögliche Ausbildnerin sein, während der Rednerlehrer in seiner schmutzigen Kinädenhaftigkeit eine höchst dubiose Figur ist – und dennoch: Wie lassen sich in kürzester Zeit die alte, klassische Bildung und die platonische Charakterzeichnung verwirklichen?129 Lukians Somnium enthält bezüglich Ausbildungsinhalten eine Gegendarstellung zu Rh. Pr., die ihrerseits stark literarisch durchgestaltet ist, um die gewünschte Absetzung von der ›niederen‹, staubigen, mühevollen Arbeit des Handwerkers zu erreichen, und die Thematik weiter in der Schwebe lässt bzw. sogar weiter verkompliziert, da die gängige Zweiteilung kurzer Weg/moderne (leichte) Ausbildung und langer Weg/alte (anstrengende) Ausbildung aufgebrochen wird (zu ambivalenten Zügen der Hauptfigur Paideia s. gleich). Festgehalten werden kann, dass der Rezipient mit den Inhalten von Rh. Pr. unweigerlich die gegenteilige inhaltliche Ausbildung der Paideia in Somnium kontrastiert und umgekehrt. 129 Gera ([1995] 248f.) weist in einer detaillierten Analyse des Wegwahl-Motivs in Somnium auf ebendiese Differenzen zwischen der Ausbildung der Paideia und derjenigen des Rednerlehrers hin. Sie bemerkt zur Liste der Charaktertugenden (249): »As such the list is impressive, perhaps a little too impressive. Paideia rattles all these virtues off in one breath and seems to be paying lipservice to these ideals.«

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

Zu (2): Hier geht es um die Charakterisierung der Figuren der Bildhauerkunst und der Bildung sowie der Figur des Wählenden selbst: Lukian. Die Bildhauerei ist als schmutzige Handwerkerin mit barbarischer Sprache, die Bildung hingegen als herausgeputzte, in ihrer Geringschätzung des Handwerks elitäre Dame stilisiert,130 und aus Lukians Darstellung der beiden, was das Äussere und das Element der mühevollen Arbeit betrifft, lassen sich die Parallelen Paideia/effeminierter Lehrer in Rh. Pr./Κακία in Prodikos’ Allegorie versus Bildhauerei/Lehrer des langen Weges/Ἀρετή bei Prodikos ziehen.131 Saïd ([1993] 270) betont daher bezüglich des Vergleiches von Rh. Pr. und Somnium: Lucien met donc en œuvre le même cadre, les mêmes références, voire les mêmes expressions que celle où il se livre à une satire impitoyable d’un sophiste, qu’il faut sans doute identifier avec Pollux de Naucratis.132 Si les mêmes clichés peuvent ainsi successivement servir à représenter le même et l’autre, c’est bien la meilleure preuve de la distance ironique que Lucien sait garder à l’égard de lui-même et des autres. 130 Vgl. über die Bildhauerei §6 und §14: ἦν δὲ ἡ μὲν ἐργατικὴ καὶ ἀνδρικὴ καὶ αὐχμηρὰ τὴν κόμην / τὴν ἄμορφον ἐκείνην καὶ ἐργατικὴν ἀπολιπὼν [...]; über die Bildung §6: ἡ ἑτέρα δὲ μάλα εὐπρόσωπος καὶ τὸ σχῆμα εὐπρεπὴς καὶ κόσμιος τὴν ἀναβολήν (wiederkehrende Betonung der kostbaren Kleidung auch in §11 und §16). Vgl. hierzu die Beschreibung der Lehrer in Rh. Pr. 9–11 sowie die Betonung der Wichtigkeit der äusserlichen Ausstattung eines Redners in Rh. Pr. 15–16: ἡ ἐσθὴς δὲ ἔστω εὐανθὴς ἢ λευκή, [...] / σχήματος μὲν τὸ πρῶτον ἐπιμεληθῆναι χρὴ μάλιστα καὶ εὐμόρφου τῆς ἀναβολῆς. 131 Für eine detaillierte Analyse vgl. Saïd [1993] 269f. und Gera [1995] 241–246 mit besonderer Betonung des Umstandes, dass die Ἀρετή bei Prodikos (Xen. Mem. 2,1,22) sowie in späteren Verarbeitungen des Themas (z.B. Philon De sacr. Abel. et Cain. 26) moderat gekleidet und von natürlicher Schönheit ist, während die Κακία im Übermass herausgeputzt, geschminkt und hetärenhaft erscheint, so dass Lukian hier das moderate Äussere überspitzt ins Negative (Hässlichkeit) wendet. Solche Beispiele einer schmutzig-rohen, ja männlichen Darstellung der Ἀρετή (von Lukian benutzt für die Bildhauerei) sind zwar seltener, aber auch vorhanden (Gera verweist auf Silius Italicus Pun. 15,23–31; Justin Apol. 2,11; Philostrat VA 6,10). Vgl. auch Saïd 269: »[...] la Sculpture n’est jamais vue que par les yeux de sa rivale Paideia ou, ce qui revient au même, par les yeux du Lucien d’aujourd’hui, l’intellectuel qui méprise les travaux manuels, l’atticiste qui se moque des fautes de langue et des barbarismes [...] et l’on aperçoit, quand on y regarde de plus près, que l’ironie de Lucien n’épargne pas plus Paideia que sa rivale.« – In einigen Details trägt aber auch die Bildhauerei Züge des Rednerlehrers bzw. seiner Lehre, und zwar in ihrer mangelnden Beherrschung des Attischen und in ihrer raschen Sprechweise (Somn. 8: διαπταίουσα καὶ βαρβαρίζουσα / μάλα δὴ σπουδῇ συνείρουσα; vgl. Rh. Pr. 17: ἂν σολοικίσῃς δὲ ἢ βαρβαρίσῃς und 18: ἔπειγε καὶ σύνειρε καὶ μὴ σιώπα μόνον). 132 Diese Identifikation muss eine Vermutung bleiben, vgl. die Diskussionen bei Hall [1981] 273–278 und Jones [1986] 107f. Zweifelsohne weist der Rednerlehrer allgemeine Züge einer ganzen Gruppe auf, so dass Baldwin ([1973] 71) ihn als »epitome of a Philostratean sophist« bezeichnet. Dass trotzdem eine Einzelperson dahintersteht, ist möglich, aber mangels Hinweisen und Anspielungen unbeweisbar. Seinen Ursprung nimmt der Versuch der Identifikation mit Pollux von Naukratis in den Scholien, welche zu Rh. Pr. 24, wo der Rednerlehrer sich selbst als τοῖς Διὸς καὶ Λήδας παισὶν ὁμώνυμος (»ein Namensvetter von Zeus’ und Ledas Kindern«) bezeichnet, vermerken, dass damit nur Pollux gemeint sein könne (siehe ausführlicher unten den Lemmakommentar zum Werktitel und zu Rh. Pr. 24).

1.5 Wegmetaphorik in Lukians ›autobiographischen‹ Schriften

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Dass Lukian sich einer Person anschliesst, die Ähnlichkeiten mit dem Rednerlehrer und mit der Κακία des Prodikos aufweist, zeigt zweifellos die oben genannte ironische Distanz, die der Autor Lukian gegenüber seinen Texten, selbst wenn er darin als Lukian agiert, einnimmt. Doch darf die Parallelisierung nicht zu weit getrieben werden, denn einschränkend ist zu sagen, dass den Begriffen, die zur Beschreibung der Paideia und der Früchte ihrer – wundersam mühelosen – Ausbildung verwendet werden, noch nichts per se Negatives anhaftet (vgl. §6: εὐπρόσωπος; εὐπρεπής; κόσμιος; §13: τιμή; δόξα; ἔπαινος κτλ.) und die – wenn auch starke – Herausstreichung ihres prunkvollen, sauberen Äusseren im Kontext durch die Kontrastierung mit der schmutzigen, staubigen Handwerkerin bedingt ist. Charakterlich ist dennoch ein gewisser Mangel an dignitas als karikierendes Element auszumachen, indem beide Figuren, auch die Paideia, in ihrem Gerangel um den Schüler zu harten Massnahmen greifen.133 Weiter ist bezüglich der Tatsache, dass Lukian in Somnium einen kurzen, mühelosen Weg mit einem dementsprechend luxuriösen Ambiente vorgestellt bekommt und wählt, die Einbettung der Erzählung nicht zu unterschätzen: Ein Jugendlicher weint sich, nach einer bitteren Enttäuschung am ersten Arbeitstag als Bildhauer, in den Schlaf und träumt von einem anderen Beruf, einem leichteren, angenehmeren, sauberen, der ihn berühmt macht und zu dem ihn eine elegante Dame führt. Und ein grundsätzliches Charakteristikum des Traums ist, dass darin vieles leicht geht, so dass man beispielsweise im Flug die Kenntnisse erhält, die zur Rhetorik nötig sind. Aber eben: Es ist ein Traum.134 Darauf weist Lukian selbst ausdrücklich hin,135 ja er geht sogar davon aus, dass die Zuhörer seine Darlegung genau 133

Vgl. §6: Δύο γυναῖκες λαβόμεναι ταῖν χεροῖν εἷλκόν με πρὸς ἑαυτὴν ἑκατέρα μάλα βιαίως καὶ καρτερῶς· μικροῦ γοῦν με διεσπάσαντο πρὸς ἀλλήλας φιλοτιμούμεναι· [...] ἐβόων δὲ πρὸς ἀλλήλας ἑκατέρα κτλ. 134 Vgl. Saïd [1993] 268. Gera ([1995] 238) weist auf die mögliche Karikierung der zu Lukians Zeit verbreiteten (ernsthaften) Darstellung einer Lebenswahl, die durch einen Traum motiviert worden ist, hin. 135 Vgl. §5: μέχρι μὲν δὴ τούτων γελάσιμα καὶ μειρακιώδη τὰ εἰρημένα· τὰ μετὰ ταῦτα δὲ οὐκέτι εὐκαταφρόνητα, ὦ ἄνδρες, ἀκούσεσθε, ἀλλὰ καὶ πάνυ φιληκόων ἀκροατῶν δεόμενα· ἵνα καθ’ Ὅμηρον εἴπω, θεῖός μοι ἐνύπνιον ἦλθεν ὄνειρος ἀμβροσίην διὰ νύκτα, [...]. Die Hörerschaft wird zu verstärkter Aufmerksamkeit aufgerufen und der Traum bzw. die Nacht in homerischem Sinn als göttlich und ambrosisch bezeichnet. Man könnte darin für die folgende Erzählung eine Anlehnung an die dichterische Gestaltungsfreiheit und daher eine Absetzung von ›Tatsachenberichten‹ sehen. Vgl. auch Lukians kommentierenden Worte über seinen Bericht, dass die Bildhauerkunst, nachdem er sich von ihr abwandte, aus Ärger wie Niobe zu Stein erstarrte (§14): εἰ δὲ παράδοξα ἔπαθε, μὴ ἀπιστήσητε· θαυματοποιοὶ γὰρ οἱ ὄνειροι (»Wenn ihr auch Unglaubliches geschah, seid nicht ungläubig; denn Wundertäter sind die Träume«). Dieser Einschub gilt auch für die folgende Beschreibung der wunderbaren Luftreise, die er mit Paideia unternimmt. Vgl. weiter §18, wo der Traum als μῦθος bezeichnet ist: ἐπιρρωσθήσεται εὖ οἶδ’ ὅτι κἀκεῖνος ἀκούσας τοῦ μύθου [...].

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

deshalb als »Geplapper« einstufen könnten.136 Der Duktus des Textes legt dabei weniger eine Absetzung von der Paideia nahe, wie es bei Prodikos’ Κακία und in der boshaften, durch zahlreiche Invektivenelemente gestalteten Zeichnung des Rednerlehrers (v.a. Rh. Pr. 23–25) der Fall ist; die Darstellungsweise in Somnium intendiert wohl vielmehr die Auseinandersetzung mit Traum und Wirklichkeit: Die gebildete Hörer- bzw. Leserschaft dürfte den Erwerb ihres eigenen Wissens anstrengender erlebt haben,137 bekommt hier allerdings eine hübsche Alternative aus der Sicht eines jungen Mannes vorgestellt, der damals selbst wohlgemerkt noch nicht viel über ›echte‹ Rhetorik wusste.138 Der Sprecher lobt und glorifiziert die Rhetorik und gleichzeitig seinen eigenen Erfolg als Redner, wobei er als Begründung für seine Darstellung die Absicht anführt, junge Leute aus ärmeren Verhältnissen dazu zu ermuntern, den Weg der Bildung einzuschlagen (§18: ὅπως οἱ νέοι πρὸς τὰ βελτίω τρέπωνται καὶ παιδείας ἔχωνται) – auch wenn dieser in den Augen vieler Geld und Zeitaufwand erfordert (vgl. §1). Da Lukian aber nicht in erster Linie Junge, noch Ungebildete anspricht, scheint mir hier das Lob der Bildung und die Gestaltung der wunderbaren Reise zum Erwerb derselben besonders im Vordergrund zu stehen und damit die zwischen Publikum und Redner ablaufende gemeinsame Versicherung des Besitzes des einzig Wichtigen – wobei zu dessen Erwerb grosszügig auch andere ermuntert werden. Will man dennoch Paideias ›Schattenseiten‹ nachgehen, die durch die Parallelisierung mit dem Rednerlehrer und der Κακία des Prodikos angedeutet sind, können folgende Überlegungen von Nutzen sein: Gera ([1995] 250) argumentiert dafür, dass diejenige Rhetorik, die wir vom bereits ›älteren‹ Lukian in Bis Acc. als aufgetakelte Kurtisane vorgeführt bekommen und die sich von der tugendhaften Ἀρετή zur Κακία gewandelt hat, bereits in Somnium unterschwellig in der Figur der Paideia, die den ›jungen‹ Lukian unter ihre Fittiche nimmt, angelegt ist.139 Diese Interpretation könnte 136

Vgl. §17: τί δ’ οὖν ἐπῆλθεν αὐτῷ ληρῆσαι ταῦτα πρὸς ἡμᾶς [...]. Dass das aus der Figurenperspektive Dargestellte sich möglicherweise anders verhalten könnte, ist auch für die Figuren von Rh. Pr. zentral; vgl. zur ›Narrenfigur‹ des Ratgebers unten 1.6, S. 63f. Traum und Narretei kommen einander diesbezüglich recht nahe. 138 Zudem ist die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die Schrift aufgrund ihrer Kürze als Vorrede im Stil von Bacchus oder Prometheus es in verbis gedient haben und dass sich daran eine längere Deklamation angeschlossen haben könnte (vgl. Harmon [1925] 213; dagegen allerdings Nesselrath [1990] 115 Anm. 9), die wiederum, wüssten wir um ihren Inhalt, denjenigen von Somnium beträchtlich erhellen bzw. in ein anderes Licht rücken könnte. Zumindest hätte eine solche nachfolgende Deklamation den attraktiven Effekt, die eigene rhetorische Bildung – angeblich auf dem leichten, mühelosen Weg erworben – vorzuführen. 139 Umgekehrt wird auch die abgewiesene Figur der Bildhauerei in Bis Acc. in der Figur des philosophischen Dialogs (ihrerseits vergleichbar mit dem allzu männlichen Lehrer des langen Weges in Rh. Pr. 9–10) aufgegriffen und vom Syrer zum komischen Dialog transformiert, so dass ihre 137

1.5 Wegmetaphorik in Lukians ›autobiographischen‹ Schriften

55

man weiterführen in dem Sinn, dass die lukianischen Texte das zeitgenössische Umfeld, konkret die moderne rhetorische Auftrittskultur mit ihrer Theatralik, einmal hintergründiger, einmal offener und mit Involvierung des Autors, der selbst – ob als aktiver Sophist oder als Literat – innerhalb dieser Kultur tätig ist, immer mitproblematisieren.140 Doch ist bei Geras Ansatz in zweierlei Hinsicht Vorsicht geboten: Erstens muss bei Formulierungen wie ›älter‹ und ›jünger‹ insofern Klarheit geschaffen werden, als die Autorin scheinbar, wie auch andere Forscher (z.B. Jones [1986] 8–10), die ›biographischen‹ Angaben in Bis Acc. und Somnium auf die tatsächliche Chronologie der lukianischen Schriften und seine reale Biographie ummünzt. Da Somnium aber keine textinternen Möglichkeiten der Datierung bietet, ist davon abzusehen, diese Schrift zeitlich vor Bis Acc. anzusetzen. Was diese Texte dem Rezipienten bieten, ist eine fiktive Biographie, wobei in Somnium ein junger Mann den Beruf des Redners ergreift, den er in Bis Acc. in älteren Jahren wieder aufgibt. Zweitens ist der Versuch der Harmonisierung des Inhalts und damit auch der Suche nach einem ›Programm‹ der lukianischen Schriften ein heikles Feld: Gibt es ein übergeordnetes, in den groben Zügen einheitliches Bild von Rhetorik? Ist also die Negativcharakterisierung durch Show und Theatralik auch in Somnium angelegt? Der grössere Kontext der entsprechenden Schriften als Auslöser für inhaltliche Differenzen darf nicht vernachlässigt werden – in Somnium die Dichotomie des harten Handwerkeralltags gegenüber den Früchten der höheren Bildung sowie die Traumszenerie. Was die besprochenen Texte aber auf jeden Fall zeigen, ist, dass nicht nur durch Intertextualität, sondern auch durch parallele Motivik innerhalb von Lukians Œuvre, die in verschiedenen (ironischen) Brechungen vorliegt, die Thematik Rhetorik und Bildung vielschichtig angegangen und damit vom Publikum eine dauernde Auseinandersetzung mit den Inhalten gefordert wird. c. Abschliessend soll die Schrift Hermotimos, die in ihrer Verwendung der Wegmetaphorik und durch die Bezugnahme auf Kebes’ Tabula die engsten Parallelen zu Rh. Pr. aufweist, untersucht werden. Es handelt sich um ein sokratisch-platonisches Gespräch zwischen dem Stoiker Hermotimos und dem ›Skeptiker‹ Lykinos, der den stoischen Weg zur virtus, der ewig lange dauert und niemals zu Ende gebracht werden kann, verspottet und seinen Gesprächspartner Hermotimos von diesem Weg abbringen will. Hermotimos selbst bezeichnet sich denn auch tatsächlich als einen Stoiker, der immer noch ganz am Anfang, am Fuss des Berges, steht, und bestätigt Rohheit und Hypermaskulinität in gemässigte bzw. der Unterhaltung dienende Bahnen gelenkt wird und daraus die literarische Beschäftigung des Syrers als Kompromiss hervorgehen kann. 140 So schliesst sich der Kreis zu den Forschungen von Whitmarsh, vgl. dazu die Anmm. 118 und 177 sowie unten Einleitung 3.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

damit Lykinos’ kritische Haltung. Wir erinnern uns hier an die Darstellung des Ratgebers in Rh. Pr. bezüglich der Unabsolvierbarkeit des langen Weges.141 Verschiedene Elemente, die in Rh. Pr. von Ratgeber und Rednerlehrer zur positiven Illustration des kurzen Weges herangezogen werden, treten auch in Hermot. wieder auf, werden aber von Lykinos trotz seiner kritischen Einstellung zum langen Weg ihrerseits ebenfalls verworfen: Das Bild des Aornos-Gebirges sowie des Hinunterschauens auf die anderen wird negativ ausgelegt, denn erstens ist der Berg der Tugend tatsächlich unbesteigbar und zweitens ist es hochnäsig, auf die ›Laien‹ wie auf Ameisen hinunterzuschauen – und unangebracht, weil man selbst ebenfalls nie am Ziel angelangen wird (Hermot. 4–5, 21, 76–77; Rh. Pr. 3, 7).142 Das hohe Ziel einer wunderbaren Frau, die einen auf einem Gipfel thronend erwartet, wird von Lykinos im Lauf des Gesprächs als Illusion entlarvt, als schöner Traum (vgl. Somn.), der aber nichts mit dem eigentlichen Leben zu tun hat: Und gerade dieses müsste ein Philosoph vorbildlich führen, das heisst auch, sich um andere bemühen und in der Gemeinschaft etwas bewirken.143 Somit verwirft Lykinos generell das Bild des Gipfelstürmers – sei es in kurzer oder in langer Zeit (§§71–73). Wichtig ist zudem die Haltung des Lykinos gegenüber der Tatsache, dass viele verschiedene Wege gemäss ihren Führern alle in ein und dieselbe Stadt der virtus führen (parallel zu Rh. Pr.): Das ist unmöglich, denn nur ein Weg kann wirklich an den Ort führen, so dass die Wahl ein grosses Unsicherheitsmoment beinhaltet und alle Lehrer deshalb ihren Weg anpreisen und die andern schlecht machen (§§25–27). Dies ist ein Gedankenmodell, das man auch auf Rh. Pr. anwenden könnte, woraus folgende Schlüsse zu ziehen wären: 1. Es könnte am Ende des langen Weges doch eine andere, ›echte‹ Rhetorik vorhanden sein. 2. Genau wie die Philosophen einer Lehre alle andern, ohne sie wirklich zu kennen, schlecht machen, so werden in Rh. Pr. die Lehrer des langen und des kur-

141

Vgl. Rh. Pr. 3. Zum Bild der Ameisen im Zusammenhang mit dem philosophischen ›Blick von oben‹ vgl. Hadot [1991] 131 (stoisch geprägt z.B. bei Seneca NQ praef. 7–10). 143 Vgl. zu den Dogmatikern und Theoretikern, deren Lebensführung durch ihre Lehre aber nicht besser wird, auch Symp. 34. Kernpunkt all dieser negativ dargestellten Elemente ist, dass es hier um die Thematik Philosophie geht, wo Praxis und Theorie immer wieder miteinander in Konflikt geraten können, so dass Lykinos den (theoretischen) Weg zur Philosophie/Eudaimonie für unabsolvierbar hält, da sozusagen ›der Weg das Ziel‹ ist. Er spricht dies in Hermot. 79 deutlich aus: Die Vollkommenheit (ἀρετή) liegt in der Tat, dass man nämlich gerecht, weise und tapfer handle. Man kann sich also nicht auf abgelegene Bergeshöhen begeben, sondern muss sich mit der Umwelt auseinandersetzen. Die Philosophen sollen demnach auch das richtige Handeln vorleben und weitergeben und nicht bloss reine Theorie, wie es der Professor des Hermotimos tut (vgl. dazu Möllendorff [2000a] 205ff. und Hall [1981] 173). – Dass Tugend in den Handlungen der Menschen zu verwirklichen ist und somit kein langer (theoretischer) Weg als Vorspann zum Philosophieren nötig ist, wird auch im Kynismus vertreten; vgl. dazu die Einleitung 1.3, S. 41f. 142

1.5 Wegmetaphorik in Lukians ›autobiographischen‹ Schriften

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zen Weges in einer überzeichneten Version ihrer Charakteristika (Hypermaskulinität / Effeminiertheit) karikiert.144 Sowohl Hermot. als auch Rh. Pr. weisen nach der Destruktion der Wegperspektive kein positives Gegenbild auf. In Hermot. wird deutlich, dass kein sicheres Wissen über den richtigen Weg möglich ist und die Plackerei im Sinn der Dogmatiker keinen Nutzen hat. Die Wegmetaphorik wird angewendet, um sie als unbrauchbar abzutun. Ähnlich wie es beim Scheinliteraten Lexiphanes der Fall ist (Lex. 21f.), wird Hermotimos empfohlen, umzulernen und zuallererst einmal seinen Dünkel des Theoretikers abzulegen (Hermot. 84). Es erfolgt allerdings nur der Hinweis auf eine andere Art des Philosophierens, auf die Vorbildfunktion des βίος eines Idealphilosophen, eine konkrete Belehrung des Lykinos fehlt. Parallel dazu wird in Rh. Pr. zwar ein Weg empfohlen, der allerdings über die Ironisierung der Aussagen derart ins Lächerliche gezogen wird, dass er ebenfalls unbrauchbar wird. Und die Tauglichkeit der Alternative des langen Weges wird aus der Figurenperspektive in der Schwebe belassen.145 In anderen, thematisch verwandten Schriften Lukians wird zwar nirgends eine zusammenhängende Lehre entworfen, doch finden sich Passagen, in welchen sich die Sprecherfiguren im engeren Sinn belehrend verhalten und konkrete Perspektiven aufzeigen: Lykinos skizziert Lexiphanes’ Heilung durch ›Umlernen‹ exakt, so dass dessen Chancen, weiterhin beim gleichen Beruf zu bleiben, besser stehen, als es bei Hermotimos der Fall ist.146 Die Lykinos-Figur äussert sich auf dem Gebiet der Rhetorik und Literatur also teilweise mit Ansätzen einer Lehre, während das praxisorientierte Philosophenbild (wohl nicht von ungefähr, da es sich als ›Lebenshaltung‹ nicht gut theoretisch darstellen lässt) in Lukians Schriften mit einem βίος des Idealphilosophen Demonax (und Nigrinos) illustriert wird. Da die Figur bzw. Maske des Lykinos sowohl in Hermotimos als auch in Lexiphanes zentral ist, soll hier ein kurzer Exkurs angehängt werden, der auch im Zusammenhang mit dem unter 2.2 Behandelten (Bildung und Unbildung in Lukians Rhetorum praeceptor und weiteren Schriften) von Bedeutung sein wird. Lykinos agiert in insgesamt 11 Dialogen Lukians,147 die

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Solche Extreme werden von Lukian in Salt. 82 thematisiert, nämlich das Zustandekommen von effeminierter oder aber männlich-roher, ja tierischer Darstellungsweise sowohl in Reden als auch in der Pantomime. 145 Vgl. dazu unten die Einleitung 1.6.c) und d). 146 Siehe zum ›Lernprogramm‹ des Lexiphanes den Kommentar zu §17: ἀπ’ ἐκείνων ἐπισιτισάμενος. Vgl. zu den Schriften Sol. und Adv. Ind. auch unten 2.2. 147 Neben Hermotimos in Lex., Hes., Kyn., Salt., Nav., Im., Pr. Im., Symp., Eun., Am. Zur unsicheren Namenszuweisung in Hes. und Kyn., weil nicht im Text selbst vorhanden, siehe Möllendorff [2000b] 556 Anm. 134. Die Echtheit der Schrift Amores ist umstritten, und auf ihren Inhalt wird im Folgenden nicht weiter eingegangen; die Züge der Lykinosfigur – sie leitet das platonisch-

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

in Ton, Thematik und Position der Gesprächspartner differieren. Dennoch lassen sich zwei Grundmuster festmachen, einerseits das Gespräch zwischen Gebildeten ›gleicher Stufe‹, die sich gemeinsam über etwas lustig machen (Eun., Symp.) bzw. ihre (v.a. sprachlich-literarische) Bildung zur Schau stellen (Im., Pr. Im.), andererseits das Gespräch zwischen Lykinos und anderen Gebildeten ›niedererer Stufe‹ (bzw. mit abweichenden Ansichten), die Lykinos bezüglich eines Themas herausfordert oder von denen er herausgefordert wird (Lex., Hermot., Salt., Hes., Kyn.).148 Lykinos wird sowohl in Hermot. als auch in Lex. und Eun. als Sokrates stilisiert; speziell als ›sokratische‹ Gespräche mit dem Ziel der Entlarvung unethischen oder unangemessenen Verhaltens charakterisiert sind die Schriften Hermot., Lex., Symp. und Nav.149 Eine Grundcharakterisierung der Lykinosfigur findet sich in Salt. 2, wo der Gesprächspartner, der Philosoph Kraton, welcher Pantomime für eine üble τέχνη hält, Lykinos’ Begeisterung dafür tadelt, da sie nicht zu einem ἀνὴρ [...] παιδείᾳ σύντροφος καὶ φιλοσοφίᾳ τὰ μέτρια ὡμιληκώς, ja überhaupt zu einem ἀνὴρ ἐλεύθερος passe. Wir können uns Lykinos als einen im Bereich Literatur und Rhetorik gut gebildeten Mann vorstellen (dies zeigen v.a. Lex., Im., Pr. Im., Salt., Hes.), der ebenfalls eine Ahnung von Philosophie hat, diese aber nicht professionell betreibt (und daher auch keine konkreten Lehren verficht). Lykinos geht im Gespräch des zweiten Grundmusters mit Ausnahme des Dialogs Kyn. immer mit der stärkeren Position oder mit dem letzten Wort aus der Auseinandersetzung heraus,150 wobei manchmal eine Karikierung angedeutet ist, z.B. indem er den dem Tanz abgeneigten Philosophen fast zu leicht vom Gegenteil überzeugt oder in Nav. zwar das letzte Wort hat, aber als Spielverderber, der für gedankliche Luftschlösser überhaupt nicht offen ist, lächerlich wirkt und mit seiner Stimme der Vernunft hier für einmal fast zu weit geht.151 Allein in der Schrift Kynikos übernimmt der Kyniker bald nach Gesprächsbeginn vollends die Führung im sokratischen Dialog und lässt Lykinos keine stichsokratisch angehauchte Streitgespräch über die hetero- und homosexuelle Liebe – stimmen allerdings mit denjenigen in den anderen Dialogen überein. 148 Etwas aus der Reihe fällt Nav., wo Lykinos zwar anderer Meinung ist als die übrigen Gesprächspartner, diese aber nicht als direkt ›Unterlegene‹ charakterisiert sind (s. dazu auch unten). 149 Dass nicht nur die Handlungs- und Sprechweise des Lykinos auf Sokrates verweist, sondern auch ganz konkret die Wahl seines Namens, erklärt Möllendorff [2000b] 556: »Es steht ausser Zweifel, dass Lukian [...] auf die Genealogie des Amphitheos in Aristophanes’ Acharnern [47–50] anspielt, der sich als Enkel der Phainarete und Sohn des Lykinos bezeichnet. Schon van Leeuwen [1901] ad Ar. Ach. 46 hat gesehen, dass Lykinos als Sohn der Phainarete mit Sokrates gleichzusetzen ist [...].« Siehe zu dieser Stelle (bes. zur umstrittenen Identifikation des Amphitheos mit dem Sokratesschüler Hermogenes) auch die Kommentare von Starkie [1909] 21 und Olson [2002] 83f. 150 Deshalb spreche ich in dieser Kategorie von Gebildeten ›niedererer Stufe‹: Sie werden jeweils von Lykinos belehrt bzw. müssen dessen bessere Argumente hinnehmen. 151 Vgl. dazu auch Robinson [1979] 28f. und 31f.

1.5 Wegmetaphorik in Lukians ›autobiographischen‹ Schriften

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haltigen Argumente übrig, wobei er sich ähnlicher Argumentationen bedient, wie sie sonst Lykinos bei seinen Gegnern anwendet. Dadurch erlebt Lykinos am eigenen Leib, was die Dialogpartner durch seine sokratische Befragung jeweils erdulden müssen.152 Damit ist angedeutet, dass auch Lykinos nicht immer allwissend auftritt und seine Figur nicht immer nur ernsthaft aufzufassen ist, dennoch bringt er grundsätzlich aufgrund seiner Bildung meist überlegenswerte Argumente vor, die ein Gebildeter, wenn er sie liest oder im Gespräch hört, selbst beurteilen mag, wobei das Urteil jedoch aufgrund der Anlage der Dialoge (Miteinbezug-Strategien) oft zugunsten der Position des Lykinos ausfallen dürfte (z.B. in Lex., Symp., Sol.; in letzterem ist die Figur allerdings in der latinisierten Form Lukianos genannt). Auf Lukian umgedeutet, der sich diese Maske überstreift, heisst das, dass er unter Gebildeten gleichen Ranges durchaus herausforderbar ist, auch einmal den Kürzeren ziehen könnte, meist jedoch Scheingebildete und Lebenslügen entlarvt und seine ›Freunde‹ damit bestens unterhält.153

1.6 Die Wegmetaphorik in Rh. Pr.: Nihilismus der Rhetorik? Der Vorwurf des Nihilismus haftet Lukian seit Ende des 19. Jahrhunderts an, als ihm durch Jacob Bernays im Rahmen einer Abhandlung zur Schrift Peregrinos jegliche philosophische Tiefe abgesprochen worden ist.154 Es ist vor allem Lukians Spott über Philosophisches, wie er auch in Peregrinos zutage tritt, welcher insofern die Kritik der Forscher provoziert hat, als der Autor selbst nichts Besseres wisse, nichts Eigenes formuliere.155 Diese Kritik geht mit der Geringschätzung der literarischen Produkte aus der Epoche der Zweiten Sophistik und mit der Einstufung der Satire als »nihilistisches Spottvehikel«156 Hand in Hand und erstreckt sich somit über Lukians gesamtes Werk, so dass auch sein Rhetorikspott dem Verdikt des Nihilismus anheim fällt. 152 Diese Niederlage des Lykinos in Kyn. hat dazu geführt, dass die Schrift als pseudolukianisch eingestuft worden ist, was allerdings einer schlüssigen Argumentation entbehrt. Lykinos ist hier – sei es von Lukian selbst (zur allerdings unsicheren Namenszuweisung s.o. Anm. 147) oder tatsächlich von einem Nachahmer – wohl bewusst für einmal die andere, unterlegene Rolle zugedacht worden. 153 Vgl. zur ›Maskierung‹ Lukians auch unten 3.3, S. 143. 154 Die im Jahr 1879 erschienene Abhandlung trägt den Titel Lucian und die Kyniker; neben dem Vorwurf des (philosophischen) Nihilismus hatte Bernays’ Studie aber auch den positiven Effekt, dass Lukians Peregrinos durch die Deutung als nicht gegen das Christentum, sondern gegen den Kynismus verfasste Satire wieder in den Schulkanon aufgenommen wurde; vgl. Baumbach [2002] 188–194. Zur Verschiebung der kritischen Debatte um Lukians Schriften von den theologischen zu den altertumswissenschaftlichen Kreisen hin vgl. Baumbach [2002] 200. 155 Vgl. zu entsprechenden Forschungsmeinungen (u.a. Wilamowitz, Hirzel, Helm) die Zusammenstellung und Auswertung von Zitaten bei Baumbach [2002] 201–206. 156 Vgl. Baumbach [2002] 216.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

Wie aus dem vorangehenden Kapitel deutlich geworden ist, sind Lukians Schriften über Rhetorik in ihrer Gestaltung vielfältig und im Rahmen einer breiteren Auseinandersetzung des Autors mit den in seinem zeitgenössischen Umfeld agierenden Sophisten und Gebildeten, ja auch der eigenen Tätigkeit (vgl. unten 1.7), zu sehen. Für die Satire Rh. Pr. ist bisher festgestellt worden, dass sie ein pessimistisch-abwertendes Bild der Rhetorik zeichnet (Niedergang der Rhetorik, Lächerlichkeit der ›neuen‹ und Untauglichkeit der ›alten‹ Rhetorik), das stark von Ambivalenz getragen ist, und den Rezipienten in eine Aporie führt, die er selbst zu bewältigen hat (vgl. 1.2). Diese durch die Anlage der Schrift erzeugte Offenheit ist jedoch nicht mit Nihilismus gleichzusetzen: Über die Bedeutung der intertextuellen Bezüge als Kontrastpunkte in Rh. Pr. ist bereits gesprochen worden (vgl. 1.2– 1.4). Für die textinterne Gestaltung von Rh. Pr. und für die in der Schrift agierenden Figuren sind zudem folgende vier Punkte zentral, die alle gleichermassen einen Einfluss auf den – vermeintlich ›nihilistischen‹ – Inhalt haben: a) Der gebildete, vielleicht selbst rhetorisch tätige Rezipient weiss, dass neben der in Rh. Pr. beschriebenen Rhetorik eine andere ausser Acht gelassen wird, die ebenfalls existiert, die aber durch die konstant verwendeten Elemente der Karikatur und Ironisierung des Rhetorischen nicht – oder zumindest nicht positiv – thematisiert wird. Denn die Rhetorik, die man sich auf dem schnellen Weg ergattert,157 reicht keinesfalls aus, dem einen, speziellen Charakteristikum der Unterhaltung der Zweiten Sophistik mit seinen hohen Anforderungen zu genügen: der Stegreifrede.158 Wer sich also als Kenner der Branche die Empfehlungen in Rh. Pr. zu Gemüte führt, muss davon ausgehen, dass ein so ausgebildeter Jungredner auf der Bühne kläglich scheitert, wenn ihm das Publikum ein Thema vorgibt und er zu deklamieren beginnt. Eine andere, gewichtigere und ›echte‹ Rhetorik ist daher im Hintergrund des Textes immer auch präsent, nicht zuletzt in der Aufzählung all jener Tricks, die es dem Sophisten erlauben sollen, den Anschein einer echten Stegreifrede (und damit einer im konventionellen Sinn ›guten‹ Rhetorik) zu wahren;159 vgl. zum Vokabulargebrauch Rh. Pr. 16–17 und zum

157

Und diese Rhetorik kann auf dem langen Weg ebenfalls angestrebt werden, denn auch ein gut ausgebildeter Redner könnte, wenn er wollte, um des Ruhmes wegen eine reine Show auf niederem Niveau bieten. 158 Wie schwierig es tatsächlich war, eine Stegreifrede zu halten, ist nicht leicht zu bestimmen. Angemerkt sei hier, dass auf jeden Fall vieles eine Sache des Trainings war und alle erforderlichen Elemente in den Rhetorikschulen tagaus, tagein eingeübt wurden, dass aber gerade mangelndes Training den Kernpunkt der Ausbildung des Rednerlehrers ausmacht, da der leichte Weg derart schnell ans Ziel führt. 159 Vgl. zur auffällig häufigen Verwendung des Verbs δοκεῖν und des Substantives δόξα bereits Rh. Pr. 1: Ἐρωτᾷς, ὦ μειράκιον, ὅπως ἂν ῥήτωρ γένοιο καὶ τὸ σεμνότατον τοῦτο καὶ πάν-

1.6 Die Wegmetaphorik in Rh. Pr.: Nihilismus der Rhetorik?

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Inhalt Rh. Pr. 18 und 20. Ein grosser Teil der Tricks zielt allerdings vor allem auf äusserliche Showelemente ab, zu deren Erwerb es keines grossen Aufwandes bedarf und womit ein Ersatz für die konventionellerweise geforderten v.a. sprachlich-attizistischen Elemente geschaffen werden soll, um auf diese Weise die Beeindruckung hauptsächlich des breiten, ungebildeteren Publikums zu garantieren. Dadurch, dass die Karikaturen der Lehrer des langen und des kurzen Weges beide zu einer ›falschen‹ Rhetorik gelangen, wird Raum geschaffen für eine – allerdings unbehandelt bleibende – dritte Art von Rhetorik, die sich irgendwo zwischen Tradition, Konvention und Modernität positioniert. Ein wichtiges, bereits besprochenes Argument für diese hintergründig vorhandene ›gute‹ Rhetorik liegt in Lukians Verwendung von Subtexten, v.a. denjenigen platonischen Dialogen, die Wegmetaphorik und/oder Rhetorik betreffen, sowie Kebes’ Tabula. Wie bereits dargelegt dienen die Verweise auf diese Texte, die eine andere Rhetorik bzw. einen anderen Weg kennen und fordern, als (affirmative) Kontrastfolien, wobei das Nachdenken über eine Rhetorik, die Zeitgemässes (neuer Weg) und Traditionelles (alter Weg) vereinen kann,160 dem gebildeten Rezipienten überlassen wird. Dieser Umstand mag dadurch bedingt sein, dass der Text Fragen des Publikumsgeschmacks und des Erwartungshorizontes des Publikums kritisch aufwirft: Die Rezipienten bestimmen letztlich selbst, welche Rhetorik publikumswirksam ist und damit die Bezeichnung ›gute‹ Rhetorik verdient.161 b) Das beabsichtigte Ziel des μειράκιον, Befriedigung seines Prestigestrebens, hat einen Einfluss auf die gesamte Gestaltung der Schrift und lenkt die Aussagen über die Ausbildung des jungen Mannes. Wäre die Eingangsfrage an den Ratgeber anders gestellt (z.B. »Was ist die wahre Rhetorik?«), so könnten parallel zu Prodikos’ und Kebes’ Darstellung zwei Wege präsentiert werden, deren Ziel ein verschiedenes ist, nämlich eine Pseudound eine echte Rhetorik. Damit wäre ein affirmatives Gegenbild zur verspotteten Pseudorhetorik vorhanden, welches auf dem langen Weg zu erreichen ist. Doch die Frage des jungen Mannes weist in eine andere Richtung: Er will weltberühmt werden und dies (was ihm zumindest der Ratgeber unterstellt) so rasch als möglich und mit möglichst grossem Profit (vgl. §6). Der Ratgeber, dessen Charakterisierung wir uns gleich näher ansehen werden, kommt diesem Wunsch (scheinbar) bereitwillig nach und äussert sich nie explizit, sondern nur in der Ambivalenz seiner Darlegung (vgl. v.a. §26) τιμον ὄνομα σοφιστὴς εἶναι δόξεις· [...] περισπούδαστον ἄκουσμα τοῖς Ἕλλησι δοκοῦντα. Vgl. auch Rh. Pr. 3, 6, 8, 22–26. 160 Mit genau dieser Thematik von Neuheit und Tradition und deren Vereinung im Rahmen der rhetorischen Tätigkeit befassen sich auch Lukians προλαλιαί (v.a. Prom. Es und Zeuxis). Vgl. dazu Möllendorff [2006b] und unten 1.7. 161 Siehe dazu unten d).

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

kritisch über die neue ›Moderhetorik‹. Er hilft, soweit er kann, und empfiehlt den jungen Mann an die Karikatur eines typischen Vertreters des kurzen Weges. Natürlich bewirkt der als Komödie gestaltete Auftritt des Rednerlehrers eine konstante Hinterfragung der präsentierten Pseudorhetorik, ein affirmatives Gegenbild wird aber im Text selbst – passend zum Genre der Satire – nicht erstellt. c) Der wohl wichtigste Punkt, was Gestaltung und Inhalt von Rh. Pr. anbelangt, liegt in der Stilisierung der Figuren, die den Inhalt vermitteln; sie wirkt auf diesen zurück: Der Ratgeber, der vom jungen Mann offenbar als kompetenter Rhetoriker angegangen worden ist, lässt (vorerst) kein gutes Haar am langen Weg, den er selbst einst gegangen ist (§8), empfiehlt, sich nur dem kurzen zuzuwenden und rasch zum Ziel zu kommen (§3 und §8), wendet sich schliesslich gegen das ganze Business und verabschiedet sich vom Beruf des Rhetorikers (vgl. §26; zuvor schon dadurch angedeutet, dass er den Schüler nicht mehr selbst ausbildet, sondern an den Rednerlehrer überweist). Die Figur gibt trotz ihrer Eitelkeit und Unbescheidenheit162 eine grosse Resignation und Frustration über den Beruf und ihren eigenen Erfolg in der Branche vor, sieht angeblich keinen Sinn mehr darin und stellt ihr eigenes Licht unter den Scheffel,163 da es nur noch von Pseudovertretern der Rhetorik wimmle, die es aber offensichtlich viel weiter bringen (§26).164 Dahinter steht die Anprangerung eines Niedergangs,165 die allerdings durchwegs humoristisch gehalten und in eine komplexe satirische Schrift mit teilweise widersprüchlichen Passagen verpackt ist. Die zentralen, aber immer nur ganz kurz aufscheinenden Widersprüche aus dem Mund des Ratgebers sind erstens die uneinheitlichen Aussagen über die nötige Anstrengung, um auf den Berggipfel zu gelangen (§2: πονῆσαι πολλὰ καὶ ἀγρυπνῆσαι; §3: προπονῆσαι ist unnötig, οὐ καμών), und zweitens die Unklarheit darüber, inwieweit der lange Weg noch immer beschritten wird (§3: Die andern führen ihre Zöglinge auf den steilen Weg, man kann sie von oben herab hinaufkraxeln sehen; §8: Es gibt nur noch alte, verblasste Spuren auf dem steilen Weg; vgl. auch §§9–10). Man kann solche Unstimmigkeiten und Ambiva162

Vgl. §3 (Absetzung von anderen Rhetorikern): ἐπεὶ οὐδὲν ἂν διεφέρομεν τῶν ἄλλων; τό γε παρ’ ἡμῶν ἐξαίρετόν σοι τῆς συμβουλῆς τοῦτό ἐστιν [...]. Siehe auch den Kommentar zu §1: οὐκ εἰδὼς ὅθεν ἂν ταῦτα ἐκπορίσαιτο. 163 Vgl. §26: ἀγεννὴς γὰρ καὶ δειλός εἰμι. 164 Vgl. bereits §8: εὐμοιρίᾳ τῆς αἱρέσεως τῶν λόγων καὶ ὁδῶν. – Weiterführend und hinsichtlich des historischen Hintergrundes interessant ist die Studie von Cribiore [2007] über Libanios mit einem Kapitel über den langen und den kurzen Weg zur Rhetorik in der Spätantike, das Lukians Rh. Pr. zum Ausgangspunkt nimmt. Vgl. über die Verhältnisse zu Libanios’ Zeit S. 182: »The short road to rhetoric was well trodden. It was a fairly efficient way to obtain the degree of knowledge that enabled people to acquire the reputation of being educated and the ability to function in the curial administration, advocacy, and provincial government.« 165 Vgl. zum thematisierten Niedergang der Rhetorik in Lukians Bis Acc. auch oben 1.5.a.

1.6 Die Wegmetaphorik in Rh. Pr.: Nihilismus der Rhetorik?

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lenzen noch in diversen anderen Details, vor allem im Vokabulargebrauch finden (Beispiele siehe unten). Die ambivalente Sprechweise des Ratgebers gipfelt im Schlusskapitel §26: Statt dass der Ratgeber seinen widersprüchlichen Worten zum Schluss eine Auflösung folgen liesse, wird hier zwar durch die Distanznahme zum Rednerlehrer und die Abwertung des Sieges der neuen ›Moderhetorik‹ der kurze Weg in immer stärkerer Deutlichkeit verworfen, der lange Weg jedoch im Gegenzug trotzdem nicht explizit empfohlen; lediglich hinsichtlich seines Bildungsniveaus wird ihm eine Vorrangstellung eingeräumt. Die im Rezipienten infolge der Konvention geweckte positive Erwartung an den langen Weg, welche der Ratgeber erschüttert hat, wird also auch hier nicht mehr vollständig eingelöst. Vielmehr wird die Suche nach einer neuen, erfolgversprechenden Lösung in den Vordergrund gerückt.166 Der Ratgeber beugt sich, trotz seines abschliessenden Seitenhiebes gegen den kurzen Weg, der Entwicklung der neuen Pseudorhetorik zur Befriedigung des Prestigestrebens junger Männer und hat nicht die Stärke eines Sokrates, seinem Zögling das Beste – unabhängig davon, ob es das Schnellste und Lukrativste, auch das von der Masse Geschätzteste, ist – zu empfehlen. Diese Haltung macht ihn zu einem karikierten ›philosophischen Dialogpartner‹.167 Die illustrierende Geschichte mit dem Händler aus Sidon (§5) gibt durch die Parallelisierung der Figuren Ratgeber/Händler bzw. Schüler/Alexander einen zusätzlichen wichtigen Hinweis zur Charakterisierung des Ratgebers, wodurch die oben gemachten Bemerkungen nur eingeschränkt gelten würden, da der Ratgeber weniger als karikierte Figur, sondern als Narrenfigur, der mit seinem Schüler, aber auch mit den Rezipienten sein Spiel treibt, interpretierbar ist, wobei seine widersprüchlichen Aussagen dann als typisches Element seiner Narrenhaftigkeit erklärbar sind. Sidon galt nämlich in der Antike neben Abdera und Kyme als Hochburg der Narren.168 Narren können paradoxe und unglaubliche Dinge aussprechen, die – was niemand so genau weiss – wahr oder falsch sein können, denen aber in der Regel eher kein Glauben geschenkt wird, genau wie es bei Alexander und dem Händler aus Sidon der Fall ist. Indem sich der Ratgeber mit einem Sidonier vergleicht, müssen wir als Leser in Betracht ziehen, dass der Wahrheitsstatus seiner Aussagen zumindest höchst umstritten ist und dass er und der Rednerlehrer mit der unglaublichen Darstellung des kurzen Weges ein Spiel treiben, den Schüler und uns auf die Probe stellen, uns zum Nachdenken bewegen – inbesondere über die Diskrepanz von ›altem‹, langem Weg und 166

Vgl. dazu auch die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §26. Vgl. zur Karikatur des Sokrates bereits oben 1.3. 168 Vgl. Thierfelder [1968] 16. Siehe dazu den Kommentar zu §5, auch zu etwaigen Schwierigkeiten der Interpretation des Sidoniers als Narren. 167

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

modernem (in seiner extremen Ausprägung natürlich überzeichnetem) Zeitgeschmack. So wäre der Ratgeber eine narrenhafte Maske Lukians, schillernd und unstet auch dadurch, dass er neue und alte Rhetorik gleichermassen ambivalent erscheinen lässt und sich selbst einerseits unbescheiden und eingebildet gibt, zugleich aber auch mit frustrierten und resignierten Zügen ausgestattet ist. Unterstützt wird diese Deutung durch zahlreiche Ambivalenzen im Vokabular des Ratgebers (vgl. z.B. die zur Illustration der [hyper-]maskulinen Figur des Lehrers des langen Weges verwendeten Begriffe ὑπόσκληρος, ἀνδρώδης, ἐγρηγορώς in §9; das einmal positiv, einmal negativ aufgerufene Kronoszeitalter in §8 und §10; die Bezeichnung des Rednerlehrers als γεννάδας und seiner selbst als ἀγεννὴς καὶ δειλός in §26; nähere Angaben jeweils im Kommentar). Für die Figur des Rednerlehrers, an die der Ratgeber das Wort abtritt bzw. in deren Rolle er schlüpft,169 gilt im Punkt des Narrenhaften dasselbe, was bereits über den Ratgeber gesagt worden ist.170 Ihre Karikatur ergibt sich zudem aus folgenden Faktoren: Da der Rednerlehrer grundsätzlich absolut konventionswidrig spricht und alles empfiehlt, was entweder der attizistischen Sophistik und der παιδεία ihrer Exponenten widerspricht171 oder aber auch in jeglicher Form menschlichem Anstand und Verhaltensregeln zuwiderläuft,172 erzeugen seine praecepta eine ununterbrochen komische und vor der Kontrastfolie der Konvention ironische Wirkung, denn genau das Gegenteil des Empfohlenen ist man sonst über Rhetorik zu hören gewohnt und wird von den Gebildeten (πεπαιδευμένοι) vertreten.173 Zur Ironisierung der Aussagen des Rednerlehrers ist folgende Präzisierung wichtig: Auf der Oberfläche des Textes vertritt der Rednerlehrer seine Lehre mit voller Überzeugung,174 spricht also nicht selbst ironisch, sondern der (anti169

Vgl. die Bescheidenheitsfloskel des Ratgebers in §12, die aber gleichzeitig impliziert, dass er auch weiterhin – in einer neuen Rolle – präsent ist: γελοῖον γὰρ ὑπὲρ τοιούτου ῥήτορος ἐμὲ ποιεῖσθαι τοὺς λόγους, φαῦλον ὑποκριτὴν ἴσως τῶν τοιούτων καὶ τηλικούτων, μὴ καὶ συντρίψω που πεσὼν τὸν ἥρωα ὃν ὑποκρίνομαι (vgl. auch den Kommentar zu §12: ἐμὲ ποιεῖσθαι τοὺς λόγους). 170 Vgl. ausserdem zum Ratgeber und Rednerlehrer als komische Figuren, denen ganz allgemein eine gewisse Narrenhaftigkeit inhärent ist und deren Aussagen zumindest nicht für bare Münze genommen werden dürfen, die Einleitung 1.8 zu Aristophanes. 171 Vgl. dazu v.a. den Kommentar zu §§9–10 und §17. 172 Vgl. dazu v.a. den Kommentar zu §15 und §§23–25. 173 Vgl. allgemein zur Ironie in Lukians Schriften Bompaire [1958] 588–593. Zur Komik bzw. zum komischen Lachen als »Wahrnehmung der Abweichung von einer Norm« vgl. Möllendorff [2002] 2. 174 Diese Überzeugung, wie der Rednerlehrer freimütig zugibt, kommt aus einem ganz pragmatischen Beweggrund, den er parallel zum Ratgeber formuliert (vgl. §§3, 8, 10, 14–15, 17, 20): Heutzutage ist das der rascheste, angenehmste und erfolgreichste Weg zum Stardasein – mehr Anstrengung ist nicht nötig, warum sollte man dann mehr investieren?

1.6 Die Wegmetaphorik in Rh. Pr.: Nihilismus der Rhetorik?

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ke) Rezipient empfindet die Darlegung als Ironie angesichts seines eigenen kulturhistorischen und literarischen Umfeldes. Wenn im Kommentar von ironischen Empfehlungen des Rednerlehrers die Rede ist, dann ist diese Art der Ironisierung gemeint. An verschiedenen Stellen im Text wird diese Ironie auch durchbrochen, indem die tatsächliche Negativwirkung solcher Art von Sophistik auf das Publikum zur Darstellung kommt,175 wodurch wiederum die ironische Wirkung des umliegenden Textes weiter gesteigert wird. Akzeptiert man die Deutung von Ratgeber und Rednerlehrer als närrische Figuren, so können deren Aussagen auch als direkte Ironie der Sprecher verstanden werden, welche die Rezipierenden durch ihre absurd-überzeichnete Darstellung zum Lachen bringen. Da das Element des Närrischen, das von der Figur des Sidoniers ausgeht, letztlich eine Theorie bleiben muss176 und der Inhalt der Ironie – die moderne Rhetorik im Kontrast zur alten – in beiden Formen der Ironisierung derselbe bleibt, ist vor allem die zuerst genannte Form der Ironie zentral. d) Eng verknüpft mit der oben beschriebenen Resignation des Ratgebers und des Niedergangs der Rhetorik ist als weiterer Faktor zu erwähnen, dass beides im Geschmack des Publikums begründet liegt, welches genau diese neue Art von Vorträgen hören will, so dass der weniger showorientierten Rhetorik nicht derselbe Erfolg beschieden ist.177 Ginge es allein um höchste Qualität und würde diese auch vom Publikum gefordert, dann verhielte sich die Sache anders. Das wird im moralisierenden Schlusssatz des Ratgebers mit der Metaphorik eines Wettlaufs deutlich (§26): Er empfiehlt den kurzen Lehrgang nämlich nicht wegen dessen Qualität bezüglich Rhetorik (und damit klingt implizit auch eine andere, positive Rhetorik an; ja eine bessere inhaltliche Ausbildung wird dem langen Weg durchaus attestiert), weiss aber um dessen Eignung bezüglich Ruhm und Erfolg. Die jungen Emporkömmlinge der Rhetorik haben die ›Altvertreter‹ nicht etwa dadurch besiegt, dass sie schneller gerannt sind, das heisst, besser (trainiert) gewesen sind, sondern, weil sie den leichtesten und abwärts führenden Weg genommen haben. Das Spezifikum des kurzen Weges, dass man auf ihm schnell ist, wird hinsichtlich der daraus hervorgehenden Redner abgewertet, da es kein qualitatives Bessersein enthält, sondern bloss eine Art Trick ist, früher als die anderen am Ziel anzukommen. Das Ziel, grossen Ruhm einzuheim175 Vgl. den Kommentar zu §19: ἢν δὲ ὀρθοὶ ἑστήκωσιν ὑπὸ τῆς αἰσχύνης; §21: θαυμάσια περὶ σαυτοῦ λέγε καὶ ὑπερεπαίνει καὶ ἐπαχθὴς γίγνου αὐτῷ; §22: ἐνοχλήσοντα. 176 Siehe dazu den ausführlichen Kommentar zu §5. 177 Man vergleiche die treffende Interpretation Whitmarshs [2001] 254–257 über die Verwendung des Motivs der Welt bzw. Roms als Theater und der (alten) paideia als (neue) theatralische Show in Lukians Satiren, v.a. S. 257: »The theatricalization of Greek paideia – the requirement that it be subsumed into the competitive and patronal structures of display required by Rome’s power-pyramid – is one of the most enduring objects of his [sc. Lucian’s] vituperation.«

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

sen, erreichen diejenigen, die sich für den kurzen Weg entscheiden, zwar rascher, erringen damit aber einen unlauteren Sieg. Am Ende der Schrift steht ein Redner, den der Niedergang der Rhetorik zumindest von der öffentlichen rhetorischen Vortragstätigkeit Abschied nehmen lässt. Dies muss nicht bedeuten, dass es ›gute‹ Rhetorik an sich nicht geben kann, der lange Weg zur Rhetorik ist jedoch aus Sicht des ›falschen Sokrates‹ nicht (mehr) zu empfehlen – wegen des momentanen Zeitgeists, aufgrund dessen die alte Rhetorik einer schnellen Pseudorhetorik weichen musste, deren Spielregeln durch den Geschmack des Publikums festgelegt sind, und wegen der ehrgeizigen Zielsetzung, die der junge Mann hat. Die Geschmacksfrage fordert den (antiken) Rezipienten auch auf, sich auf sich selbst zu besinnen: Da er selbst Teilnehmer an den rhetorischen Vorträgen ist, sei es im Publikum, sei es möglicherweise sogar auf der Bühne, definiert er den Zeitgeschmack mit.178 So entwirft die Schrift Rh. Pr. ein humoristisches Bild eines Niedergangs, weshalb auch die Wege allesamt zu einem Ziel, zur neuen, hetärenhaften Rhetorik, führen. Wie wir gesehen haben, ist aber durch intertextuelle Bezüge (1.3–4) sowie im weiteren Œuvre Lukians (1.5.a) zumindest die Möglichkeit einer Dichotomie im Sinne des Kebes, einer Pseudo- neben einer ›echten‹ Rhetorik, aufgezeigt. Um zusammenfassend auf die Frage nach dem ›Nihilismus‹ von Rh. Pr. zurückzukommen: Die Anlage der Schrift lässt auf den ersten Blick nichts Affirmatives zu bzw. übrig, was aber nicht durch Nihilismus seitens des Autors, sondern durch die Mittel der Ironisierung und Karikierung, speziell der ambivalenten Figurenzeichnung (Narrenhaftigkeit; Komödiencharaktere), bedingt ist. Die Gestaltung der Schrift illustriert die Ausbreitung einer Pseudorhetorik, deren ›Lehre‹ sich, wer rasch den grössten Erfolg haben will, nicht mehr entziehen kann; dadurch wird gleichzeitig das Phänomen des Zeitgeschmacks kritisch hinterfragt. Die Frage nach ›guter‹ Rhetorik wird durch Intertextualität implizit gestellt und mit möglichen Antworten versehen. Geht man von der Narrenhaftigkeit der Figuren des Ratgebers und des Rednerlehrers aus, ist es unmöglich, aus deren Mund etwas Eindeutiges, Sicheres zu erfahren; vielmehr liegt es dann in ihrem Wesen, uns im Unklaren zu lassen, was richtig und was falsch ist, und durch sprachliche 178 Die Lösung dürfte nicht darin liegen, das Rad der Zeit einfach zurückzudrehen, vgl. bereits Anm. 65 und die Ausführungen im einleitenden Kommentar zu §26. Eine solche Annahme liesse die sorgfältige Stilisierung beider Lehrer zu extremen Vertretern der Rhetorik (Effeminiertheit vs. Altmodisches, Strenges, Pedantisches; siehe die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §§9–10) als blosses Unterhaltungselement ohne weitere, tiefere Motivation im Text erscheinen. M. E. liegt der Sinn dieser Antithese des Altmodischen und Modernen auch darin, neben Pseudosophistik Fragen des Geschmacks, Masses und Stils in humorvollem Ton aufzugreifen; mit der Hypermaskulinität des Lehrers des langen Weges könnte so ein realer Diskurs der Zeit in überzeichneter Weise aufgegriffen sein.

1.6 Die Wegmetaphorik in Rh. Pr.: Nihilismus der Rhetorik?

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Ambivalenz alles derart in die Schwebe zu bringen, dass der Rezipient selbst über das Wesen guter Rhetorik zu reflektieren aufgefordert ist: Diese Reflexion wird durch die Subtexte unterstützt, über deren Gültigkeit zu entscheiden den Rezipierenden allein überlassen wird. Als Hinweis bezüglich des ›Nihilismus‹ sei nochmals angeführt, dass im weiteren Œuvre Lukians ›gute‹ Rhetorik durchaus explizit thematisiert und gelehrt wird: In Lexiphanes beispielsweise scheut Lykinos keinen Aufwand, seinen Gesprächspartner auf den besseren (langdauernden) Weg zur Rhetorik zu führen und von der falschen Rhetorik zu heilen. Wenn man sich die ganz anders geartete Figur des Lykinos vor Augen hält, wird auch klar, wie wichtig es ist, ob man an einen echten oder falschen Sokrates gelangt (vgl. dazu auch unten Kap. 2).179 Lukian zieht zudem die Zweiteilung in echte und falsche Vertreter in den Philosophenschriften häufig heran (vgl. dazu die Einleitung 3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie: Parallelen in der lukianischen Spottmotivik): Schein und Sein sind Kernthemen, die ihm ein Feld eröffnen, sich als fähiger (witziger) Entlarver der Scharlatanerie zu beweisen und damit als Gebildeter aufzutreten, mit dem zusammen der ebenfalls gebildete Rezipient lachen kann. Da nun Motivik und Metaphorik in diesen Philosophenschriften zahlreiche Übereinstimmungen mit den Rhetorikschriften, insbesondere auch mit Rh. Pr. aufweisen (vgl. unten 3.2–3), kann Rh. Pr. im Rahmen dieser Schein-Sein-Thematik als Text verstanden werden, in welchem für einmal nur dem Pseudobereich eigentliche Aufmerksamkeit geschenkt wird.

1.7 Lukians eigener sophistischer Auftritt: Die προλαλιαί Ein Textgenus aus Lukians Werk ist bisher noch nicht erwähnt worden, obwohl es mit der Sophistik in engstem Zusammenhang steht und für konstruktive Aussagen zur Rhetorik bzw. für Lukians (Selbst-)Bild eines Sophisten von Bedeutung ist. Es sind die so genannten προλαλιαί, Vorreden, die den an sophistischen Vorträgen gehaltenen μελέται, Deklamationen oder Stegreifreden, jeweils vorangegangen sind.180 Von Lukian sind uns neun solcher Vorreden erhalten; es sind dies Herodotus sive Aëtion, Harmonides, Scytha, Dipsades, Electrum, Zeuxis sive Antiochus, Prometheus 179 Zu subversiv-ironischen Zügen selbst der Gestalt des ›Sokrates‹ Lykinos vgl. Möllendorff [2000a] 210–218. 180 Über die Entwicklung der für jede Rede unerlässlichen einleitenden Worte, die zu einem grossen Teil der captatio benevolentiae dienen, hin zu einer selbständigen kurzen Vorrede vgl. Nesselrath [1990] 111–112.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

es in verbis, Hercules und Bacchus.181 Dieses Schriftcorpus beleuchtet Lukians Auffassung des Berufs des Konzertredners näher, desjenigen Berufes also, den auch der Rednerlehrer ausübt. Generell sind den Vorreden typische formale Merkmale gemeinsam, wie eine Anrede und Reverenz an das Publikum und dessen Heimatstadt sowie eine Bezugnahme auf den folgenden längeren Vortrag. Eine προλαλιά thematisiert inhaltlich meist auf irgendeine Weise das Verhältnis zwischen dem Redner und seinen Hörern und dient dazu, das Publikum gegenüber der folgenden Darbietung wohlgesinnt zu stimmen.182 In den Vorreden Lukians finden wir zudem wiederholt Aussagen des Redners über sein (bereits bekanntes) Werk. Diese werden jeweils nach einem ähnlichen Muster angebracht: Ins Zentrum seiner Vorreden stellt der Autor Geschichten (διηγήματα/μῦθοι)183 und Bilder, die vor allem die rhetorische Kunst der ἔκφρασις mehrfach brillant vorführen und die schliesslich immer in einen Zusammenhang zur momentanen Situation des Redners Lukian gebracht werden, sei es zu Beginn, in der Mitte oder am Ende der Vorrede. Billault ([1997] 193) resümiert über Lukian, die Sophistik und die προλαλιαί: Lucien oppose le mauvais et le bon usage que l’on peut faire de la circonstance où l’on prend la parole. Le mauvais orateur veut en imposer sur le moment à l’auditoire et l’empêcher de réfléchir. Le bon orateur adapte sa parole à la circonstance et traite ses auditeurs avec respect et franchise. Lucien donne lui-même ce bon exemple dans ses prolalies.

Natürlich ist ein Grossteil dieses guten Beispiels, das Lukian gibt, durch den Zweck der προλαλιά, d.h. durch die captatio benevolentiae bedingt, doch ist das insofern irrelevant, als der Sprecher dennoch eine spezifische (selbst gewählte) Haltung gegenüber seinem Publikum und seinem Beruf einnimmt und damit ein Selbstbild von sich präsentieren will, das ihm für die folgende Deklamation das Wohlwollen der Hörerschaft zusichert. Dabei wird ein erster Kontakt zum jeweiligen Publikum geknüpft. Dieses Selbstbild Lukians als Konzertredner nimmt, wie wir sehen werden, uns bereits

181 So bereits Schmid [1887] 1,221. Unklar ist die Einordnung des Stückes Prometheus es in verbis; gegen die Bezeichnung als προλαλιά argumentiert Nesselrath [1990] 115 Anm. 9. Ich beziehe die in dieser Schrift gemachten Aussagen hier dennoch mit ein (vgl. S. 76f.), da die Einordnung bei der Frage nach einem allgemeinen Sophistenbild des Autors sekundär ist. – Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass uns von Lukian auch vier typische μελέται erhalten sind: Phalaris I, Phalaris II, Tyrannicida und Abdicatus. 182 Vgl. Korenjak [2000] 36. 183 Solche Geschichten gehören zu den in den Rhetorikschulen trainierten προγυμνάσματα; vgl. Gibson [2004] 109f.

1.7 Lukians eigener sophistischer Auftritt: Die προλαλιαί

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bekannte Probleme des sophistischen Vortragsbetriebs auf – wenn auch aus einer ganz anderen Perspektive als die Spottschriften.184 Der Vollständigkeit halber muss darauf hingewiesen werden, dass nicht mit Sicherheit entschieden werden kann, ob Lukians Vorreden einer realen Vortragssituation angehörende Texte darstellen oder ob sie rein fiktive Nachahmungen genau dieser Textsorte sind, wobei eine Selbstdarstellung und/oder eine Kritik an dieser Form impliziert sein können.185 Bisher konnten für die Vorreden weder genaue Umstände (Datierungen) noch die nachfolgenden dazugehörigen Vorträge ausgemacht werden.186 Für meine Belange ist dies relativ unwichtig oder zumindest vernachlässigbar, da ganz generell untersucht werden soll, wie sich Lukian hier als Redner – fiktiv oder real – dem Publikum vorstellt. Und diese Vorstellungssituation ist – sei sie auch fingiert – auf jeden Fall immer Thema der lukianischen προλαλιαί, vgl. z.B. Herc. 7: ἐμοὶ δὲ ἡνίκα περὶ τῆς δεῦρο παρόδου ταύτης ἐσκοπούμην πρὸς ἐμαυτόν, εἴ μοι καλῶς ἔχει τηλικῷδε ὄντι καὶ πάλαι τῶν ἐπιδείξεων πεπαυομένῳ αὖθις ὑπὲρ ἐμαυτοῦ ψῆφον διδόναι τοσούτοις δικασταῖς, [...].187

Die neun Vorreden Lukians bilden ein Textcorpus, das in sich – allein schon wegen der oben genannten gemeinsamen inhaltlich-formalen Kriterien – relativ geschlossen ist, wobei jedoch die einzelnen charakteristischen Elemente immer wieder anders und in anderer Gewichtung präsentiert werden: In Herodotus sive Aëtion, Harmonides und Scytha beispielsweise wird vor allem der Wunsch des Redners nach Ruhm thematisiert, so dass die Vorreden praktisch ganz in einer captatio benevolentiae aufgehen. In den übrigen προλαλιαί wird den mythologischen oder skurrilen Geschichten breiter Raum gegeben (z.B. Dipsades, Bacchus); für die vorliegende Fragestellung sind darunter Electrum, Bacchus, Zeuxis sive Antiochus und Prometheus es in verbis besonders aufschlussreich, weil die spezifischen Qualitäten von Lukians Werk – Neuheit und Seltsamkeit versus Tradition – in 184 Vgl. Rh. Pr. passim, sowie auch eingehend (bezügl. Spottschriften) die Ausführungen zur Thematik von Bildung und Unbildung in 2.2. 185 Siehe dazu unten S. 76. 186 Grundsätzlich sind die lukianischen Vorreden in der Forschung recht stiefmütterlich behandelt worden und wenn, dann ohne Diskussion der Frage der Fiktion, sondern im Allgemeinen mit der Zuweisung zu einer realen Vortragssituation. So auch Nesselrath [1990] passim, immerhin mit dem Verweis auf die mögliche mehrfache Verwendbarkeit der lukianischen Vorreden über den eigentlichen Anlass hinaus (114). Er erstellt (unter Betonung der nötigen Vorbehalte) mittels struktureller und inhaltlicher Merkmale eine relative Chronologie der Vorreden (116f.), welcher ich hier nicht folge, da ich eine rein auf inhaltlichen Kriterien basierende Zusammenstellung vornehmen möchte. Nützlich ist der kurze Forschungsüberblick (111). 187 »Als ich mir aber über meinen Auftritt hier Gedanken machte, ob es richtig sei, dass ich in meinem Alter, und nachdem ich die epideiktischen Vorträge schon lange aufgegeben habe, noch einmal eine Beurteilung über mich anstellen lasse durch so bedeutende Richter, [...].«

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

Auseinandersetzung mit dem Publikum, dessen Erwartungen und dessen Urteil thematisiert werden und damit verwoben eine theoretische Diskussion über ›gute‹ Rhetorik vorliegt. 1.7.1 Lukians allgemeines Selbstbild als Redner und das Verhältnis von Redner und Publikum Bevor Lukians Selbstbild aus den προλαλιαί entwickelt werden soll, möchte ich drei Hauptpunkte der uns von ihm präsentierten schlechten Rhetorik zusammenfassend vorausschicken: 1. Arroganz und Unverschämtheit führen gemäss Lukian überhaupt erst dazu, dass die schlechten Redner es wagen, vor Publikum aufzutreten. Es sind diese Attribute, welche den Rednerlehrer, den Betrüger in Pseudologista sowie Lexiphanes gleichermassen (wenn auch verschieden stark ausgeprägt) kennzeichnen.188 Die mangelhafte Vorbereitung bzw. Vorbildung dieser Redner soll durch ihr unverschämtes Auftreten kaschiert werden, doch ein Gebildeter, wie der Autor es ist, schaut hinter die Fassade des äusseren Scheins.189 Und er überführt alle – den Rednerlehrer (wenn auch nur indirekt-ironisch), Lexiphanes und das Opfer in Pseudologista – ihrer Fehler, wobei er geschickt sein eigenes Fachwissen einbringt. 2. Mit Hilfe verschiedener Mittel (Wortfülle und -exotik, Tempo, Showeffekte, prunkvolles Auftreten) verhindern die schlechten Redner im Extremfall jede Reflexion der Zuhörer. Denn eine Beurteilung von Inhalt und Zusammenstellung der Rede muss möglichst vermieden werden, damit Bil188 Vgl. dazu Billault [1997] 195: »L’arrogance des mauvais rhéteurs n’est donc pas un travers superficiel. Elle est une contrainte exercée sur le public dont elle arrache l’adhésion. Elle monopolise l’attention des auditeurs en la detournant vers les apparences de la prestation oratoire, loin du discours prononcé. Au moyen d’artifices qui affectent aussi la teneur des discours, elle dissimule les insuffisances des orateurs.« Vgl. weiter Rh. Pr. 13–15, 24 u.ö.; Pseudol. 6, 7, 30; Lex. 24; genauso auch in Zusammenhang mit ›falschen‹ Philosophen: Fug. 13 und 15. Vgl. zu Bildung und Unbildung allgemein auch unten 2.2. 189 In den lukianischen Schriften, welche eine ›Entlarverrolle‹ enthalten, positioniert sich die Hauptfigur jeweils als hervorragender Vertreter der παιδεία, welcher durch seine Entlarvertätigkeit die gebildeten Hörer bzw. Leser bestens unterhält, genauso aber auch Ungebildetere, welchen er durch seine (glaubwürdige) Entlarvung die wahren Qualitäten des Gebildeten vor Augen führt. Oft sind in Lukians Schriften die Auftritte vermeintlicher Redner oder Philosophen derart unglaubwürdig gestaltet, dass sie nicht einmal mehr den Schein dessen, was sie zu sein vorgeben, wahren können und dass wohl jeder halbwegs Vernünftige den Betrug durchschauen dürfte – ein Mittel, um die Satire noch beissender zu gestalten. Vgl. dazu auch Whitmarsh [2001] 262f. (über die Entlarvung falscher Philosophen in Lukians Pisc.): »[...] these imitative philosophers are superficially convincing, but they do not fool Parrhesiades’ trained eye. [...] Parrhesiades sees and reveals the mismatch between appearance and reality, and for him the false philosophers are definitely not ›plausible‹. Parrhesiades is the possessor of a penetrating insight that is superior to the superficial gaze of society as a whole.«

1.7 Lukians eigener sophistischer Auftritt: Die προλαλιαί

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dungsmängel nicht aufgedeckt werden. Das bedingt eine Vereinnahmung und Lenkung des Publikums, die in Lukians Augen einem rhetorischen Betrug nahekommt.190 3. Das Verhältnis zwischen schlechtem Redner und Publikum ist von einem Machtgefälle geprägt: Der Redner versucht, die Situation trotz unzulänglicher Kompetenz rein egoistisch zu seinem Vorteil zu nutzen, zwingt das Publikum zum Lob seines Vortrages und geht von einer leicht täuschbaren, ungebildeten Zuhörermenge aus.191 Lukians Selbstdarstellung als Konzertredner entspricht nun in sämtlichen Punkten dem Gegenteil: Grundlegend ist die immer wiederkehrende Einschätzung des Publikums als ebendieser παιδεία teilhaftig, die der Redner vorzuführen gedenkt. So bezeichnet Lukian die Zuhörer, vor denen er an einem Grossanlass in der Provinz Makedonien zum ersten Mal spricht,192 als ὄφελος ἐξ ἑκάστης πόλεως (»Elite jeder Stadt [sc. in Makedonien]«) und als ῥητόρων τε καὶ συγγραφέων καὶ σοφιστῶν οἱ δοκιμώτατοι (»die angesehensten Redner, Literaten und Sophisten«), macht einem bereits mit ihm vertrauten Hörerkreis Komplimente als bestes Publikum, das er überhaupt haben könne (Dips. 9) und verkündet am Ende von Zeuxis (§12) voller Zuversicht: ὑμεῖς μετὰ τέχνης ἕκαστα ὁρᾶτε (»ihr betrachtet193 alles mit Sachverstand«). Die Hörer werden von Lukian also als Kenner des Faches angesprochen bzw. zu solchen stilisiert, so dass in dieser Konstellation ein ›Betrug‹ von vornherein undenkbar ist. Vielmehr spricht aus den Worten Lukians das Bewusstsein bzw. die intendierte und gegenüber dem Publikum aufgebaute Haltung, dass die Beurteilung seines Vortrags allein von dessen sprachlichen und inhaltlichen Qualitäten, nicht von Äusserlichkeiten abhängt bzw. abhängen soll.194 Lukian baut somit als Konzertredner keinerlei Machtgefälle auf, sondern bezeichnet seine Zuhörer als Freunde 190

Vgl. Lukians Verwendung des Begriffes der ἀπάτη sowie seine Selbststilisierung als μισαλαζών, μισογόης und μισοψευδής (gegenüber φιλαλήθης, φιλόκαλος und φιλαπλοϊκός) in Pisc. 20 und 29; siehe dazu ausführlicher S. 133f. Vgl. zu den rhetorischen ›Tricks‹ sämtliche Empfehlungen in Rh. Pr. 15–20. Selbstverständlich ist hier auch zu bedenken, dass gerade die Thematik der Showeffekte eine vielschichtige ist und diese zum tatsächlichen Repertoire der Zweiten Sophistik gehörten. Man könnte sagen, dass insofern, als eine solche Trickrhetorik offenbar erfolgreich war und im Trend lag (wie es auch in Rh. Pr. deutlich wird), das Publikum zumindest teilweise ›betrogen‹ werden will. Einmal mehr spielt hier wohl die Frage des Masses hinein. 191 Vgl. Rh. Pr. 19–20, v.a. den Kommentar zu §19: τυραννὶς. Zum (implizierten) Bildungsstand der Hörerschaft bzw. zum Umgang mit gebildeten und ungebildeten Hörern gleichermassen vgl. auch die Einleitung 2.2, S. 93f. 192 Vgl. Herodotus sive Aëtion 7 und 8; Nesselrath [1990] 117. 193 Von »betrachten« (anstelle von »hören« oder Ähnlichem) ist wegen des in dieser Vorrede gezogenen Vergleichs mit den Betrachtern der Werke des Malers Zeuxis die Rede. 194 Dieses Thema macht einen wichtigen Aspekt der προλαλιά Hercules aus, v.a. §§4–8. Damit lobt der Redner natürlich auch seine eigenen Vorreden, da sie allen Qualitätsansprüchen genügen.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

(φίλοι, Zeux. 1) oder Kollegen (ἑταῖροι, Herc. 8); dabei grenzen die Worte in unseren Ohren bisweilen an Schmeichelei. Es ist offensichtlich, dass im Sophistenbusiness bzw. im Rahmen einer sophistischen Deklamation, wo der Redner weder eine symbuleutische Rede hält, die einen bestimmten politischen Kurs verfolgt, noch eine Gerichtsrede, die ein bestimmtes Urteil anstrebt, sondern eine epideiktische Rede um des privaten Erfolges als Deklamator willen vorträgt, vom ersten Moment an alles davon abhängt, eine perfekte Demonstration der eigenen Bildung und Eloquenz zu liefern.195 Genau dies tut Lukian, wobei er nicht von einem leicht beeindruckbaren Publikum ausgeht, sondern von Kennern des Faches, die er während seines Auftritts mit tatsächlicher Bildung, mit innovativen Darstellungen klassischer Mythen und Geschichten, mit der Erwähnung vorbildhafter historischer Personen, mit Bezugnahmen auf und Zitaten aus klassischer Prosa und Poesie für sich einzunehmen versucht.196 1.7.2 μῦθοι und Lügen: Neuheit versus Tradition und die rhetorischen Errungenschaften Lukians In Electrum thematisiert und kritisiert Lukian die (von den Dichtern stammenden) Lügengeschichten, mit denen andere Sophisten ihre Zuhörerschaft häufig ›einzuwickeln‹ versuchen. Er weist – in stilisierter Bescheidenheit – seine Zuhörer darauf hin, dass seine folgende Rede einfach (ἁπλοϊκός)197 gestaltet sein werde und mythenlos (ἄμυθος), d.h. ohne solche beeindruckenden Märchenerzählungen, wie sie in Darbietungen anderer Sophisten zuhauf vorkämen (§6). Damit gelangen wir zu einen Kernpunkt der Selbstdarstellung Lukians bzw. der Darlegung der Spezifika seiner Reden: Denn zweifellos verwendet auch Lukian in seinen Reden mythische Geschichten (und ist alles andere als ἄμυθος, worauf ich gleich näher eingehe), doch zeigt seine ironische Darstellung in Electrum, dass er bezüglich des Glau195 Vgl. zum Zweck der Deklamation auch Whitmarsh [2005] 3: »In ancient terms, this was not dikanic (i.e. legal) or symbuleutic (political) oratory, but ›epideictic‹: the speeches, that is, were delivered for the occasion alone, to solicit the pleasure, admiration, and respect of the audience.« 196 Hercules ist mit all den Zitaten aus Ilias und Odyssee, aus Herodot, Euripides und Anakreon sowie den zum Thema Alter und Eloquenz passenden (altbekannten) Anspielungen auf Nestor, die zudem durch eine (neuartige) allegorische Darstellung eines Heraklesbildes ergänzt sind, ein gutes Beispiel der geschickten Verpackung literarischer Bildung in eine Vorrede. Zur Betrachtung weiterer Vorreden auf diesen Aspekt hin vgl. Nesselrath [1990]. Mit der Anrede des Publikums als gebildete Hörerschaft produziert der Redner ein doppeltes Lob durch die Wechselwirkung zwischen seiner gebildeten Rede und dem gebildeten Publikum, welches diese schätzen wird; die Aussagen über den Bildungsstand des Publikums spiegeln also auch die Selbsteinschätzung des Redners. 197 Man vergleiche das Profil des Parrhesiades als φιλαπλοϊκός in Pisc. 20 (zum grösseren Kontext auch Anm. 190 oben).

1.7 Lukians eigener sophistischer Auftritt: Die προλαλιαί

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bens an solche Geschichten den Hörer nicht irreführen will. Damit wird einmal mehr jede Form von Betrug abgelehnt. Das in Electr. 6 beabsichtigte Vorbeugen gegen falsche Erwartungen des Publikums ist einerseits ein Bescheidenheitstopos, gibt dem Redner aber zugleich die Möglichkeit, sich von anderen, unbescheidenen Sophisten abzusetzen. Mit einer unglaublichen Geschichte aufzuwarten und so das Publikum beeindrucken zu wollen, reicht nicht aus. Und tatsächlich fügen sich die skurrilen Geschichten Lukians in einen anderen Kontext ein als die seiner Kontrahenten: Beispielsweise werden sowohl in Dipsades als auch in Bacchus und Hercules die Geschichten und ihre Unglaublichkeit als solche thematisiert, reflektiert oder in ihrer Bedeutung bewusst ambivalent belassen.198 Ein zweiter wichtiger Aspekt des in den προλαλιαί entwickelten Selbstbildes des Redners Lukian, welcher eng mit den eben angesprochenen skurrilen Geschichten zusammenhängt, betrifft seine Einstellung gegenüber Neuheit und Tradition. Denn immer wieder wird – v.a. in Zeuxis sive Antiochus, Bacchus und auch in Prometheus es in verbis – aus Lukians Aussagen deutlich, dass offenbar (bzw. aus seiner eigenen Sichtweise) zwei Qualitäten seiner Reden vom Publikum als seine Spezialität wahrgenommen und gelobt werden: Seine καινότης (»Neuheit«) und seine παραδοξολογία (»Darstellung von paradoxa«). Tatsächlich fällt auf, dass Lukian gerade in den Vorreden seltene Geschichten und eigenartige Kreaturen präsentiert. Nesselrath ([1990] 116) bemerkt dazu: Quite a number of these things [sc. die Inhalte der Vorreden] cannot be read about in any other ancient Greek or Latin text; [...] one gets the impression that he [sc. Lucian] took more pains in finding, selecting, and arranging subject-matter for presentation to his listeners than did the greater part of his fellow sophists who mostly confined themselves to declaiming over and over again themes taken out of the classical reaches of Greek history and myth.199 Lucian, obviously, enjoyed fascinating his audience with exotic and unusual themes.

Wie nimmt Lukian selbst dazu Stellung? In Zeuxis 1f. berichtet er, wie er nach einem Vortrag auf dem Heimweg von einer Menge Zuhörer umringt wurde, die ihn für seine Darbietung lobten, und zwar in der Hauptsache da-

198 Thematisiert werden Unglaublichkeit sowie Lukians fehlende Autopsie in Dipsades; Reflexion über und Allegorie eines (märchenhaften) Bildes von Herakles finden sich in der gleichnamigen Vorrede; in Bacchus wiederum liefert die erste der beiden skurrilen Geschichten über den Einmarsch des Gottes in Indien den Aufhänger zur Diskussion seltsamer und neuer Erscheinungen (auch in der Literatur), während die zweite Geschichte, eine Inspirationserzählung über eine seltsame Dionysosgrotte, durch die Schlusspointe des Sprechers ambivalent und offen ausklingt. Ausführlicher zu Bacchus vgl. unten S. 124. 199 Vgl. die Anmerkungen zu Rh. Pr. 18 (Paradethemen), S. 354f.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

für, dass sie fremdartige Gedanken aufwies und viel unerwartet Neues.200 Dies nun, eröffnet er seinem Publikum (und verweist damit darauf, wie er seine nachfolgende μελέτη beurteilt wissen möchte), habe ihn keineswegs froh gestimmt, denn vom Lob ausgenommen gewesen und damit unbeachtet geblieben seien alle konventionellen Qualitäten einer Rede:201 Passendes Vokabular (ὀνόματα καλά), das mit den kanonischen Vorbildern konform ist (πρὸς τὸν ἀρχαῖον κανόνα συγκείμενα), inhaltliche Schärfe (νοῦς ὀξύς, περίνοια), attische Grazie (χάρις Ἀττική)202, harmonische Zusammenstellung (ἁρμονία) und genereller Sachverstand (τέχνη). Genau diese Qualitäten aber sind es, die ein Lob hauptsächlich ausmachen müssen; καινότης kann nur Beischmuck einer Rede sein (συν-επι-κοσμεῖν).203 Damit macht sich Lukian, obwohl er immer wieder neue Wege beschreitet, auch für die traditionellen Qualitäten der Rhetorik stark:204 Lexis, Heuresis und Taxis sind die Oberbegriffe, denen man die aufgezählten Qualitäten zuordnen kann,205 Qualitäten, welche durchwegs mit seinen an Sophisten gestellten Forderungen sowie mit dem Geschmack seiner Zeit übereinstimmen.206 Nur die Mitberücksichtigung der kanonischen Autoren und der konventionellen Qualitäten der rhetorischen τέχνη führt zur richtigen attizistischen Sprach- und Literaturkompetenz, deren Merkmale immer im richtigen Mass angewendet und auf eine subtile Weise mit dem Neuen verbunden werden müssen, so dass der Effekt von χάρις erzeugt werden kann.207 Genau wie 200 Die verwendeten Termini sind τὸ καινόν/καινότης, νεωτερισμός, παραδοξολογία, γνώμη ξένη/τὸ ξενίζον. 201 Das Entzücken des Publikums basiert allein auf der Neuheit (vgl. §2: οὐκοῦν τοῦτο μόνον χάριεν τοῖς ἐμοῖς ἔνεστιν, ὅτι μὴ συνήθη μηδὲ κατὰ τὸ κοινὸν βαδίζει τοῖς ἄλλοις). Zur Wichtigkeit der Erzeugung von (echter) χάρις vgl. die folgende Diskussion zu Prom. Es und allgemein Möllendorff [2006b]. 202 Vgl. zu diesem Begriff Möllendorff [2006b] 73 (in Absetzung zu κάλλος): »χάρις [...] is the lustre, splendour, or allure that emanates from something in a certain moment and which produces in the recipient a delightful (< χαρά) reflex of sudden pleasure.« 203 Man vergleiche auch die Wiederaufnahme dieses Gedankenganges am Ende der Vorrede mit Lukians (impliziter) Aufforderung an die Hörer, seine Reden künftig umfassender und sachverständiger zu beurteilen (Zeux. 12). 204 Man könnte es so formulieren, dass er sich mit (inhaltlichen) ›Showeffekten‹, z.B. mit der Darstellung von παράδοξα, nicht zufrieden gibt, weil sie für ihn noch keinen guten Redner ausmachen. Deshalb mahnt Lukian sein Publikum, sich nicht blenden zu lassen und immer auch auf die traditionellen Qualitäten zu achten. 205 Zur Lexis gehören kanonisches Vokabular und attische Grazie (χάρις beinhaltet allerdings weit mehr, nämlich die entzückte Reaktion der Rezipierenden auf das literarische Erzeugnis, vgl. oben Anm. 202), zur Heuresis kann man die inhaltliche Schärfe, zu Lexis und Taxis die harmonische Zusammenstellung rechnen. 206 Vgl. v.a. Kritik und Forderungen in Lexiphanes: §§17–18 (Lexis), 20, 22 (Lektürekanon), 24 (Heuresis); zur Taxis die Erläuterungen von Weissenberger [1996] 151–155; weiter auch Adv. Ind. 2, 17, 28. 207 Weiterführend zu χάρις als grösster Herausforderung des Literaten der Kaiserzeit vgl. Möllendorff [2006b] 74 (mit Bezugnahme auf Im. 9): »χάρις can not be accomplished by means

1.7 Lukians eigener sophistischer Auftritt: Die προλαλιαί

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z.B. im sprachlichen Bereich fremdes, seltenes und neugebildetes Vokabular von Lukian nur teilweise gutgeheissen wird und die Kompetenz im Bereich des klassisch attischen Vokabulars grosse Bedeutung hat,208 sind auch die Kriterien der inhaltlichen Neu- und Fremdheit nicht ausreichend, um eine Rede auszuzeichnen. Es sind die für die Oberschicht des zweiten Jahrhunderts grundlegenden Charakteristika der Bildung, des dauernden Bezugs auf die Klassiker und die gemeinsame griechische Tradition, welche Lukian auch für seine eigene sophistische Tätigkeit in Anspruch nehmen will und sein Publikum deshalb darauf aufmerksam macht. So kann eine erste Interpretation des vorgeführten Abschnitts lauten; allerdings ist damit in keiner Weise erklärt, warum gerade Lukian so viele, grossen Raum einnehmende Neuheiten und skurrile Geschichten oder Figuren in seine Reden einfügt, ja sogar neue Gattungsmischungen vornimmt. Bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass Lukian als seine spezifische Errungenschaft tatsächlich die Neuheit seiner Reden betrachtet, sie allerdings vorerst einmal (durch den rhetorischen ›Kniff‹ des Tadels seines Publikums, durch die vorgeschobenen Bedenken, dass sein Publikum die klassische Form seiner Reden nicht wahrnehmen könnte) kritisch beleuchtet, um sie nachher als besondere Neuheit wieder hervorzustreichen, nämlich eine mit Tradition und Konvention kunstvoll-harmonisch verbundene καινότης, welche noch nie dagewesene Inhalte (und Genera) verbunden mit Rückgriffen auf traditionelle Formen und attizistische Sprache zu präsentieren weiss und so in den Rezipierenden eine positiv-überraschte Reaktion weckt. Letztlich hat das in Zeuxis angesprochene Publikum Lukians καινότης zu Recht gelobt – der Redner nimmt dieses Szenario allerdings zum Anlass, über seine perfekte Verbindung von Konventionellem und Neuem zu sprechen. Die Bezeichnung der καινότης als »Beischmuck« einer Rede (vgl. συν-επι-κοσμεῖν) erhält so eine positive Konnotation als »zusätzlicher Schmuck«, indem Lukians Vorreden im Vergleich zu den Erzeugnissen anderer Sophisten Neues in alter Form oder zumindest mit einer immer aufrecht erhaltenen Verbindung zum Alten darzustellen vermögen und dadurch eine harmonische Verbindung schaffen, die sowohl das Konventionelle allein als auch das Neue allein (vgl. Electrum und die Kritik gegenüber reinen ›Wundergeschichten‹) übertrifft.209 Die Aussagen Lukians über seine Neuof mere imitation, and it is therefore precisely χάρις and the achievement of it which poses the greatest problem for the authors of the Imperial period, bound as they are to the dictates of mimesis.« 208 Vgl. Lex. passim. 209 Vgl. zu Verbindungen mit der Mimesistheorie des Dionysios von Halikarnass auch Whitmarsh [2001] 72–78, zusammenfassend zu Lukian insbesondere S. 78: »Lucian’s works, then, articulate their artful innovations in Dionysian terms, as a new, non-natural form created by means of artful mimesis; at the same time, however, Lucian is capable of subtle variation in his treatment

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schaffungen beziehen sich v.a. auch auf die Erfindung des komischen Dialogs, vgl. dazu unten zu Prom. Es 5. Die (realen oder fingierten) Vorreden Lukians dienen also zur Selbstdarstellung und Thematisierung des eigenen Schaffens und damit verbunden gleichzeitig zur Auseinandersetzung mit der Konkurrenz bzw. zur Absetzung von derselben durch den speziellen Umgang Lukians mit Neuheit, der sowohl praktisch vorgeführt als auch theoretisch besprochen wird.210 Eine Kritik an der Gattung der προλαλιά als solche scheint mir nicht vorzuliegen, sicher jedoch am missbräuchlichen Umgang mit diesen Kurzreden zur Darbietung plumper ›Schwindlergeschichten‹. Generell gelten die kritischen Gedanken nicht nur für Inhalt und Form von προλαλιαί, sondern allgemein für jede rhetorische Darbietung. Auch in Prometheus es in verbis geht Lukian auf die Wahrnehmung seines Werkes als von besonderer Neuartigkeit geprägt ein und erläutert das Konzept der harmonischen Zusammenfügung weiter:211 Ausgangspunkt bildet die Aussage eines nicht näher präzisierten Gegenübers, das Lukian einen »Prometheus in Worten« genannt hat (§1). Lukian diskutiert daraufhin die möglichen Auslegungen dieser Bezeichung, am ausführlichsten folgende (§3): Der Vergleich könnte ein Lob sein für sein Talent als Schöpfer von Neuheiten, ohne dabei etwas Bestehendes nachzuahmen, genau wie Prometheus aus seiner Imagination heraus, ohne auf ein Vorbild Bezug nehmen zu können, die ersten Menschen formte.212 Doch Lukian macht (wie in Zeuxis) of this theme, now appearing to celebrate novelty, and now foregrounding the elements of his texts that cohere to traditional, archaizing canons. This oscillation, however, does not disguise his characteristic awareness of the ›strange‹, ›alien‹, ›out-of-place‹ qualities of his own writing.« Vgl. zu Lukians Adaptation des Traditionellen auch Baldwin ([1973] 64): »Lucian is concerned to show that he has adapted and improved the old, rather than invented something new and disparate like a centaur.« 210 Sehr aufschlussreich für die Thematik des ›Neuen‹, wie sie uns in Texten der Zweiten Sophistik entgegentritt, und über erfolgreiche Innovatoren sind die allgemeinen Angaben von Whitmarsh [2005] 35–37. Er erwähnt Philostrats lobende Äusserungen über Aspasios von Ravenna (VS 627): Dieser Sophist sei gegenüber Neuerungen (τὸ καινοπρεπές) positiv eingestellt gewesen, jedoch nie schlechtem Geschmack (ἀπειροκαλία; vgl. zum Terminus auch unten, S. 93) verfallen, indem er in seinen Neuheiten Mass (καιρός) gehalten habe. Weiter thematisiert Whitmarsh die Figur des Favorinus, der trotz seiner Defizite (hauptsächlich im Bereich der geforderten Männlichkeit der Redner) dennoch höchst erfolgreich war (vgl. die Bemerkungen zu §9 mit Anm. 621 und §11), und schliesslich verweist er auf Lukian (speziell dessen Vorrede Zeuxis) und kommentiert (S. 37): »Like Favorinus, Lucian was an exotic figure, at the levels of both literature and personal identity (he was a native Syrian). What the two share, besides their exoticism, is a concurrently strong sense of the importance of tradition. It is the combination of the two that is crucial.« [meine Hervorhebung] 211 Vgl. auch die Analyse dieser Schrift (unter Einbezug von Dial. Mar. 1 und 15) bei Möllendorff [2006b] 64–72. 212 τὸ καινουργὸν τοῦτο ἐπαινῶν καὶ μὴ πρός τι ἄλλο ἀρχέτυπον μεμιμημένον, ὥσπερ ἐκεῖνος οὐκ ὄντων ἀνθρώπων τέως ἐννοήσας αὐτοὺς ἀνέπλασεν [...].

1.7 Lukians eigener sophistischer Auftritt: Die προλαλιαί

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deutlich, dass er, falls dies mit dem Vergleich gemeint sei, darüber nicht durchwegs erfreut wäre, weil er es als absolut nicht ausreichend betrachte, bloss etwas noch nie Dagewesenes zu schaffen, wenn es nicht auch eine Verhaftung in der Tradition und vor allem die Anmut der Prometheus’schen Menschen aufweise (§3): ἐμοὶ δὲ οὐ πάνυ ἱκανόν, εἰ καινοποιεῖν δοκοίην, μηδὲ ἔχοι τις λέγειν ἀρχαιότερόν τι τοῦ πλάσματος οὗ τοῦτο ἀπόγονόν ἐστιν. ἀλλὰ εἰ μὴ καὶ χάριεν φαίνοιτο, αἰσχυνοίμην ἂν [...]. Es ist nicht erstrebenswert, etwas zu schaffen, das gänzlich ohne Vorbild ist und demnach ohne jede μίμησις erstellt wird. Einmal mehr betont damit Lukian die Wichtigkeit der Tradition bzw. der Verknüpfung von Altem und Neuem.213 Weiter bemerkt er, dass einem neu gestalteten Erzeugnis, falls es ἄμορφος (»formlos, missgestaltet«) und ohne Grazie (χάρις) sei, auch die Prädikate καινότης und ξένος nichts nützten, es vielmehr noch weiter verschlechterten. Aus diesem Grund fordert der Autor bezüglich seiner Spezialität der Verbindung von Komödie und Dialog, des komischen Dialogs also, dessen Originalität er selbst hervorstreicht (Bis Acc. 34), eine Qualität, die unbedingt gegeben sein muss, damit die Verbindung als geglückt gelten kann: Es ist εὐμορφία (»Wohlgestalt«), aus der ein harmonisches, symmetrisches Ganzes hervorgeht.214 Als illustrierendes Negativbeispiel wird der Hippokentaur herangezogen (§5).215 Die neuen Texte, von denen Lukian hier spricht, sind als Gattungshybriden charakterisiert, die aus zwei traditionellen Gattungen ästhetisch erfolgreich zusammengesetzt sind. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich Lukians Selbstbild als Konzertredner gut in seinen allgemeinen Sophistenspott mit der Selbstpositionierung als πεπαιδευμένος, als Entlarver von Unbildung und als Identitäts213

Die Tradition muss hier allerdings als v.a. auf sprachlich-formalen Parametern, d.h. den Erfordernissen der klassischen Rhetorik, basierend angesehen werden, da bezüglich der Themen Lukian gerade oft völlig neue Wege geht, die keine Vorbilder erlauben, so dass inhaltliche μίμησις im engeren Sinne nicht möglich ist, sprachlich-formale jedoch sehr wohl. Man denke an Lukians Vorrede Dipsades, das wohl eingängigste Beispiel einer skurrilen, sonst nirgends bekannten Geschichte über eine eigenartige Schlangenart, deren Biss unendlichen Durst verursacht (vgl. auch Nesselrath [1990] 116). 214 Vgl. zur Thematik der Menippeischen Satire und zum komischen Dialog als Lukians Eigenerfindung auch Baumbach [2002] 22–25 und Hall [1981] 65–73. – Vgl. generell zur harmonischen, wohlproportionierten Zusammenstellung einer Rede bereits Plat. Phdr. 264c und den Kommentar zu §18: περὶ τῷ μετώπῳ μὲν ἡ κνημίς, περὶ τῇ κνήμῃ δὲ ἡ κόρυς. Zu nennen ist auch Horaz’ Forderung nach einem harmonischen Ganzen in AP 23 (zu dieser Parallele siehe bereits Möllendorff [2000b] 21). 215 Dass eine positive künstlerische Darstellung von Hippokentauren möglich ist, zeigt aber die lobende Erwähnung eines Gemäldes von Zeuxis mit ebendiesem Sujet (vgl. Zeux. 3–7). Vgl. dazu auch Möllendorff [2006b] 65–69 und 72 (eine misslungene Neugestaltung trägt Züge von Unnatürlichkeit, Exzess, abrupten Kontrasten, fehlender Ästhetik [entsprechende Beispiele bieten Prom. Es 4 und Dial. Mar. 15]) und 75–78 (Zeuxis’ Gemälde vermeidet genau diese potentiellen Negativaspekte durch perfekte harmonische Verbindungen).

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

stifter einer traditionsbezogenen Elite einpasst.216 Auch als Konzertredner spricht sich Lukian klar für die gängigen Regeln der Kunst, die auf dem eingehenden Studium der rhetorischen τέχνη beruhen, für die Orientierung an klassischen Vorbildern und an klassisch-attischer Sprache aus. Grundpfeiler jeder Rede muss die klassische Bildung sein. Durch zahlreiche gebildete Anspielungen innerhalb seiner Vorreden wird die geforderte Traditionsbezogenheit exemplifiziert. Damit führt Lukian die in den kritischspöttischen Werken vorgenommene Bildungsdiskussion in seinen Vorreden mit einem direkten Bezug zu den Rezipierenden weiter. Andererseits erhellen die Bemerkungen in Zeuxis und Prometheus es in verbis seinen eigenen Umgang mit dieser Tradition und zeigen uns einen selbstbewussten Neuerer, der seinem Publikum vor Augen führt, welche speziellen Errungenschaften er zu verzeichnen hat: Tradition und Innovation schliessen sich nicht aus; jede Neuheit ist jedoch eine schwierige Gratwanderung (die Lukian selbstverständlich problemlos zu meistern versteht), welche nur durch den zumindest teilweisen Verbleib im Rahmen der Tradition erfolgreich absolviert werden kann. Jede Umgestaltung klassischen Stoffs oder klassischer Genera muss auf eine Weise geschehen, die noch immer mit den konventionellen rhetorischen Qualitäten in Einklang ist und niemals gegen die Ästhetik (χάρις) verstösst. Mit dieser wiederkehrenden Betonung der Konvention und der Tradition passt Lukian in das Bild der Elite seiner Zeit, doch setzt er sich – einerseits mittels seiner παιδεία, andererseits auch durch ungewöhnliche Themenwahl und neue Textgenera, durch Ausweitung der literarisch-rhetorischen Tätigkeit weg von der Deklamation – vom durchschnittlichen Vortragsbetrieb (dessen μελέται in Form und Thematik offenbar doch sehr beschränkt gewesen sind)217 und damit vom durchschnittlichen Sophisten ab. Somit ist er zwar ein Sophist unter Sophisten, gleichzeitig aber ein kritischer Beobachter dieses Phänomens der Kaiserzeit, der durch vielfältige, innovative Umsetzung des gemeinsamen griechischen Erbes seinen Teil zur Selbstwahrnehmung der zeitgenössischen Elite beiträgt.

216

Vgl. dazu v.a. die Einleitung 2. unten. Vgl. den Kommentar zu §18: ὁ Μαραθὼν καὶ ὁ Κυνέγειρος [...] ὁ Λεωνίδας θαυμαζέσθω. 217

1.8 Aristophanes und die Alte Komödie

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1.8 Aristophanes und die Alte Komödie218 Abschliessend soll ein letzter Bereich der Intertextualität von Rh. Pr. untersucht werden, den ich oben (vgl. 1.2) als affirmativ bezeichnet habe, da – im Gegensatz zur Unterwanderung des platonisch-philosophischen ›Programms‹ des langen Weges – eine direkte, bejahende Übernahme durch die Sprecher erfolgt: Der ambivalent-karikierte Status der Figuren und praecepta in Rh. Pr. wird zu einem entscheidenden Teil durch Anlehnungen an die Gattung der Komödie, speziell an Aristophanes erzeugt. Diese Anlehnungen sind einerseits inhaltlicher (Aristophanes’ Wolken, Thesmophoriazusen), andererseits struktureller Natur (komischer Agon) und umfassen drittens den Bereich des verwendeten Vokabulars. Damit tritt neben die platonisch-philosophischen Reminiszenzen die (Alte)219 Komödie als weiteres Subgenus, und die Mischung dieser beiden Referenzgattungen korreliert mit Lukians Bemerkungen über die Schaffung eines komischen Dialogs, einer Literaturgattung, die ernsthafte (philosophische) Themen in der eingängigen Weise einer Komödie präsentiert.220 Für die Interpretation von Rh. Pr. ist daher nicht nur die Karikatur und Unterwanderung philosophischer Themen und Konzeptionen (Wegmetaphorik), sondern auch der Einbezug von Elementen vornehmlich der aristophanischen Komödie von Bedeutung.221 An dieser Stelle ist nochmals darauf hinzuweisen, dass das Zielpublikum der Schrift sicherlich ein gebildetes ist, welches über Kenntnisse der jeweiligen Subtexte verfügt und somit die durch intertextuelle Verweise erzeugte Tiefenstruktur des Textes zu decodieren versteht.222 Die drei oben genannten Bereiche der intertextuellen Bezugnahme auf die Komödie sollen im Folgenden kurz illustriert werden: Die Kernthematik von Rh. Pr., die Auseinandersetzung mit den zwei möglichen Rhetoriklehrern, dem maskulinen, tugendhaften Vertreter des langen und dem effeminierten, lasterhaften Vertreter des kurzen Weges, hat in Aristophanes’ Wolken mit dem Agon zwischen dem κρείττων und ἥττων λόγος eine – 218

Für wertvolle Hinweise zu diesem Kapitel danke ich Peter von Möllendorff. Vor allem im Bereich des Vokabulars liegen auch Anlehnungen an die Mittlere und Neue Komödie vor (bes. Menander). 220 Vgl. Bis Acc. 33–34. Zu Lukian als Vertreter des ernsthaften Spassens und zur Intention seiner Texte siehe auch die Einleitung 3.1, S. 120–125. 221 Der zentrale Subtext, Aristophanes’ Wolken, ist durch die Thematik der Sophistik, die im Rahmen einer Komödie verhandelt wird, gleich auch ein Prototyp der Verbindung von Philosophischem und Komischem; zwar differieren (historisch gesehen) die philosophische und die rhetorische (zweite) Sophistik, doch ist die Karikatur des Sokrates als Sophist in Nu. und Rh. Pr. sehr ähnlich angelegt. 222 Siehe dazu bereits oben 1.2, S. 31. 219

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

gleichzeitig inhaltliche und strukturelle – Vorlage, was in der LukianForschung schon seit längerer Zeit festgestellt worden ist (vgl. Bompaire [1958] 255f.):223 Die beiden λόγοι verkünden nacheinander ihre Lehre und versuchen, den angehenden Sophisten Pheidippides auf ihre Seite zu ziehen bzw. als Schüler zu gewinnen.224 Der κρείττων λόγος vertritt dabei die althergebrachte Erziehung (V. 961: ἀρχαία παιδεία) und fordert Selbstbeherrschung, Gehorsam, körperliches Training und Abhärtung, während sein Kontrahent ἥττων λόγος die neumodische Erziehung (Vv. 936f.: καινὴ παίδευσις) propagiert und für eine triebgesteuert-lockere Lebensführung – auch im sexuellen Bereich – einsteht. Vieles davon stimmt mit der alten und neuen Rhetorik überein, die Rh. Pr. uns vorführt: Es ist eine Wahl zwischen einem harten, anstrengenden oder einem lustvollen, einfachen Weg und zwischen den entsprechenden Lehrern. Dass der Ratgeber den Lehrer des langen Weges abfällig als ἀρχαῖος καὶ Κρονικὸς ἄνθρωπος (»altmodischer alter Trottel«) bezeichnet (§10), darf in diesem Kontext als direkte Imitation225 der wiederkehrenden Beschimpfungen des ἥττων λόγος, der seinen Gegner ebenfalls als alten Trottel bezeichnet, gewertet werden (vgl. V. 929: οὐχὶ διδάξεις τοῦτον Κρόνος ὤν und V. 1070: σὺ δ’ εἶ Κρόνιππος).226 Der ἥττων λόγος wird vom κρείττων λόγος im Gegenzug als frech (θρασύς, Vv. 890 und 915), schamlos und geil (ἀναίσχυντος, καταπύγων; V. 909) beschimpft,227 was diesen freilich wenig bekümmert, ja sogar erfreut (Vv. 910ff.). Er vergleicht seine neue Redetechnik mit einem Pfeil223 Vgl. zur Gestaltung des Agons in Rh. Pr. und zur Bedeutung der Gegenüberstellung von Männlichkeit und Effeminiertheit vor dem zeitgenössischen Hintergrund auch den einleitenden Kommentar zu §§9–10. – Es können an dieser Stelle nur die wichtigsten Reminiszenzen aufgezeigt werden; weitere Hinweise finden sich im Kommentarteil. 224 Vgl. zu Ähnlichkeiten in der Formulierung Nu. 990: [...] θαρρῶν ἐμὲ τὸν κρείττων λόγον αἱροῦ und Rh. Pr. 1: [...] θαρρῶν ὡς τάχιστα δεινὸς ἀνὴρ ἔσῃ κτλ.; Nu. 1009–11 (der κρείττων λόγος preist abschliessend seine Lehre und die daraus zu erlangenden Güter an): ἢν ταῦτα ποῇς ἁγὼ φράζω, / καὶ πρὸς τούτοισιν ἔχῃς τὸν νοῦν / ἕξεις ἀεὶ κτλ. und Rh. Pr. 26: ἢν πεισθῇς τοῖς εἰρημένοις κτλ. sowie Rh. Pr. 1: ἢν τὸ μετὰ τοῦτο ἐθελήσῃς αὐτὸς ἐμμένειν οἷς ἂν ἀκούσῃς παρ’ ἡμῶν κτλ. 225 Zu diesem Begriff sowie generell zur Problematik der methodisch nur schwer unterscheidbaren bewussten und unbewussten Anspielungen siehe Möllendorff [2000b] 12–17, bes. 16: »Unter direkter Imitation ist die Form der Nachahmung zu verstehen, deren Analyse ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen zwei Texten nachweisen oder wenigstens plausibel machen kann.« Von indirekter Imitation hingegen ist zu sprechen, wenn dieser Nachweis nicht geführt werden kann, da z.B. allgemeine topische Motive verarbeitet sind. 226 Vgl. zu denselben Aristophanes-Reminiszenzen in Hermot. Möllendorff [2000a] 212–215 (auch 150 Anm. 3; 177f. Anm. 131). 227 Vgl. dazu Rh. Pr. 15: Κόμιζε τοίνυν τὸ μέγιστον μὲν τὴν ἀμαθίαν, εἶτα θράσος ἐπὶ τούτῳ καὶ τόλμαν καὶ ἀναισχυντίαν. αἰδῶ δὲ ἢ ἐπιείκειαν ἢ μετριότητα ἢ ἐρύθημα οἴκοι ἀπόλιπε und Rh. Pr. 19: βάδιζε μεταφέρων τὴν πυγὴν (mit dem Kommentar zur Stelle). Eine Parallele zu Rh. Pr. (§§8, 20, 26) weist auch die Begründung des κρείττων λόγος auf, warum die neumodische Rhetorik überhaupt florieren kann: Es ist der Zeitgeschmack der Ungebildeten (Vv. 897f.: ταῦτα γὰρ ἀνθεῖ διὰ τουτουσὶ τοὺς ἀνοήτους).

1.8 Aristophanes und die Alte Komödie

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hagel, der den Gegner zu Boden streckt (ῥηματίοισιν καινοῖς αὐτὸν / καὶ διανοίαις κατατοξεύσω, Vv. 943f.)228 und rät seinem Zögling ganz klar zu einer schamlosen Lebensweise, die sich nicht um einen guten Ruf schert.229 Gerade auch für den Lehrer des langen Weges, dem in Rh. Pr. sehr wenig Raum gewidmet ist, bietet uns die Anlehnung an den aristophanischen κρείττων λόγος weitere mögliche Charakterisierungsansätze, denn dieser wird (genauso wie der offensichtlich schamlose ἥττων λόγος) mit seiner Unfähigkeit, die althergebrachte Erziehung zu verteidigen, und mit seinen immer wieder durchscheinenden päderastischen Phantasien lächerlich gemacht (Vv. 977–980).230 Eine wertende Benennung der Figuren (κρείττων / ἥττων bzw. δίκαιος / ἄδικος) ist in Rh. Pr. weggelassen, was insofern mit dem Gesamtduktus der Schrift in Einklang steht, als es dem Rezipienten überlassen bleibt, über sie ein Urteil zu fällen.231 Was die formalen Parallelitäten zwischen Rh. Pr. und dem Agon der Wolken anbelangt, so stuft Bompaire ([1958] 255) sie zu Recht als »rapprochement très superficiel« ein, weil die Konstruktion der beiden Werke und der entsprechenden Passagen doch sehr unterschiedlich sei. Es fehlen beispielsweise in Rh. Pr. die strukturellen Charakteristika des komischen Agons, ein rascher Schlagabtausch zwischen den beiden Parteien (bisweilen in Form einer Stichomythie)232 und das Unterbrechen des Plädoyers der einen Partei durch einen Einwurf der anderen. Die Reden sind klar voneinander getrennt und nehmen nicht exakt aufeinander Bezug. Bompaire kommt zu folgendem Schluss (S. 256): On ne saurait en tout cas parler d’agon dans le Maître de Rhétorique, et malgré l’absence de construction nette dans les deux discours, le déséquilibre qui existe entre

228 Vgl. Rh. Pr. 17: μέτει δὲ ἀπόρρητα καὶ ξένα ῥήματα [...] καὶ ταῦτα συμφορήσας ἀποτόξευε προχειριζόμενος ἐς τοὺς προσομιλοῦντας. 229 Nu. 1071–1078: σκέψαι γάρ, ὦ μειράκιον, ἐν τῷ σωφρονεῖν ἅπαντα / ἅνεστιν, ἡδονῶν θ’ ὅσων μέλλεις ἀποστερεῖσθαι· / παίδων, γυναικῶν, κοττάβων, ὄψων, πότων, καχασμῶν. / καίτοι τί σοι ζῆν ἄξιον, τούτων ἐὰν στερηθῇς; / εἶεν. πάρειμ’ ἐντεῦθεν εἰς τὰς τῆς φύσεως ἀνάγκας. / ἥμαρτες, ἠράσθης, ἐμοίχευσάς τι, κᾆτ’ ἐλήφθης. / ἀπόλωλας· ἀδύνατος γὰρ εἶ λέγειν. ἐμοὶ δ’ ὁμιλῶν / χρῶ τῇ φύσει, σκίρτα, γέλα, νόμιζε μηδὲν αἰσχρόν. Vgl. Rh. Pr. 23 passim. 230 Genau das Element, wie man die alte Lehre auch in moderner Zeit noch überzeugend vertreten und einbeziehen kann, ist auch ein von Lukian in seinen Vorreden diskutiertes Thema (vgl. die Einleitung 1.7). 231 Vgl. dazu bereits oben 1.2 und 1.6, S. 66f. Auch die desaströsen Folgen der Lehre des ἥττων λόγος sind in Rh. Pr. ausgespart, siehe dazu gleich. 232 Eine sowohl inhaltliche als auch strukturelle Anlehnung an die Alte Komödie bietet z.B. der Beginn von Lukians Piscator, der die Parodosszene von Aristophanes’ Acharnern aufnimmt (siehe dazu auch Anm. 400).

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

eux et le défaut de convention judiciaire, la composition appartient au genre δικανικός, déformé précisément pour les besoins du pamphlet.233

Dem ersten Teil dieser Aussage ist sicher zuzustimmen, der Agon allerdings nicht dem γένος δικανικόν, sondern dem γένος συμβουλευτικόν zuzuordnen.234 Die Situation des Agons in Rh. Pr. entspricht nämlich weniger derjenigen vor Gericht, wo Ankläger und Verteidiger um die Gunst des Richters buhlen und der Verlierer mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen hat, als derjenigen in der Volksversammlung, wo zwei Vertreter verschiedener politischer Positionen den Bürger von ihren Plänen überzeugen und sich eine grosse Anhängerschaft verschaffen wollen, die ihrem Weg folgt.235 Zwischen den Vorträgen der Sophisten und der Volksversammlung (als Ort symbuleutischer Reden) besteht insofern auch eine räumliche und situative Parallele, als die Theater sowohl Versammlungsort als auch Vortragsort für Showredner waren und das Publikum dieser Redner wie die Teilnehmenden der Volksversammlung durch entsprechende Reaktionen über Ge- oder Misslingen der Rede entschied.236 Über die Agonszene hinaus bieten die Wolken auch von der Gesamtanlage her weitere Parallelen zu Rh. Pr., die sich vor allem auf das Verständnis der Figurenzeichnung auswirken: Die Denkerstätte (φροντιστήριον), in der Strepsiades und später sein Sohn das Metier des sophistischen Redners erlernen wollen, ist diejenige des Sokrates. Er ist es, der Strepsiades als Schüler in Empfang nimmt und ihm – unterstützt vom Wolkenchor – eine glorreiche Zukunft aufzeigt, wie es der Ratgeber gegenüber seinem Schüler tut.237 Die Parallele zwischen dem Ratgeber und Sokrates (nicht mehr nur in seiner platonischen – s.o. 1.3 –, sondern auch in der aristophanischen Prä233

Zur Differenzierung der Elemente des komischen Agons und der Gerichtsdebatte, die Lukian beide immer wieder verwendet, vgl. Bompaire [1958] 252. Vgl. auch die Bemerkungen zur Struktur der Schrift Piscator in Anmm. 400 und 402. 234 Vgl. dazu bereits die Einleitung 1.1, S. 12. Bompaire ([1958] 264) selbst betont in seiner Abhandlung über den Einfluss der symbuleutischen Rede in Lukians Œuvre die (kompositionellargumentative) Nähe des γένος δικανικόν und συμβουλευτικόν. 235 Man vergleiche zu den verschiedenen Genera Arist. Rh. 1,3: Das γένος δικανικόν besteht aus Anklage und Verteidigung, dreht sich um Gerechtes und Ungerechtes, und der Richter urteilt über Vergangenes. Das γένος συμβουλευτικόν hingegen besteht aus dem An- oder Abraten einer bestimmten Sache, welche die Zukunft betrifft und dreht sich um Nützliches und Schädliches, Gutes und Schlechtes. Das zweite Genus trifft viel eher auf die Situation in Rh. Pr. zu, wo ein junger Mann für seine Zukunft zwei Wege aufgezeigt bekommt, von denen er den für ihn nützlicheren auswählen soll. 236 Diese Parallele gestaltet sich enger oder loser, je nachdem, ob man das ›Volk‹ (οἱ πολλοί) als Hauptbestandteil der Zuhörerschaft sophistischer Vorträge annimmt oder nicht (vgl. dazu Anm. 259). 237 Vgl. Nu. 413 (Chor): ὡς εὐδαίμων ἐν Ἀθηναίοις καὶ τοῖς Ἕλλησι γενήσει; 429f. (Strepsiades’ Wunsch): ὦ δέσποιναι, δέομαι τοίνυν ὑμῶν τουτὶ πάνυ μικρόν, / τῶν Ἑλλήνων εἶναί με λέγειν ἑκατὸν σταδίοισιν ἄριστον; auch 460ff. Vgl. dazu Rh. Pr. 1, 3, 8.

1.8 Aristophanes und die Alte Komödie

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gung) wird weiter dadurch gestärkt, dass die beiden λόγοι, die um den Schüler Peidippides buhlen, aus Sokrates’ Haus stammen und er sie auftreten lässt, wie der Ratgeber die Lehrer des langen und des kurzen Weges heranzieht und präsentiert.238 Dazu ist anzumerken, dass der Werktitel ῥητόρων διδάσκαλος nicht eindeutig deutlich macht, auf welche Figur er zu beziehen ist: Wohl wird der Lehrer des kurzen Weges am Ende der Schrift als διδάσκαλος bezeichnet,239 doch wäre es auch möglich, den Titel auf den Ratgeber selbst anzuwenden, und nicht nur im Sinn eines Lehrers, sondern auch im Sinn eines »Inszenierers von Rednern«, also desjenigen, welcher die Figuren auf die Bühne bringt und anleitet.240 Die doppelte Applikation des Titels sowohl auf den Ratgeber als auch auf den Rednerlehrer stellt insofern kein Problem dar, als diese Figuren in der Schrift eng miteinander verwoben sind, indem der Ratgeber die Prosopopoiie des Rednerlehrers vornimmt und sich erst ganz am Schluss (§26) von ihm distanziert. Der aristophanische Sokrates erinnert denn auch in seiner Überheblichkeit und Geziertheit an den Rednerlehrer.241 Das in Rh. Pr. besonders hervorgehobene Element der Effeminiertheit und Lüsternheit fehlt zwar in der aristophanischen Sokratesfigur, findet sich aber ein Stück weit in der (vom κρείττων λόγος kritisierten) Geilheit des ἥττων λόγος, welcher ja wiederum im Agon der Lehrerfiguren mit dem Rednerlehrer korrespondiert (s.o.).242 Die Schrift Rh. Pr. nimmt bezüglich der Verweise auf die Sokratesfigur eine doppelt verstärkte Platonrezeption vor, indem die Sprecher einerseits direkt auf den 238 Vgl. Nu. 886f. (Σω. αὐτὸς μαθήσεται παρ’ αὐτοῖν τοῖν λόγοιν· ἐγὼ δ’ ἀπέσομαι.) und Rh. Pr. 9–12. 239 Vgl. dazu oben 1.1, S. 12f. und meine Benennung dieser Figur als ›Rednerlehrer‹. 240 Auch wenn im Fall des ersten Lehrers eine Art ›imaginierter‹ Auftritt vorliegt (indirekte Wiedergabe durch den Ratgeber), so werden doch die spezifischen Charakteristika eines Auftritts – äussere Erscheinung, Verhalten – ausführlich beschrieben; die Passage wird zudem formal in engen Zusammenhang mit dem nachfolgenden ›direkten‹ Auftritt des Rednerlehrers gesetzt (vgl. §9: εὐθὺς οὖν πρόσεισί σοι καρτερός τις ἀνήρ, ὑπόσκληρος, ἀνδρώδης τὸ βάδισμα, [...] ἕπεσθαί σοι παρακελευόμενος / §11: πρὸς δὲ τὴν ἑτέραν ἐλθὼν εὑρήσεις [...] πάνσοφόν τινα καὶ πάγκαλον ἄνδρα, διασεσαλευμένον τὸ βάδισμα, [...]. Τούτῳ τοίνυν προσελθὼν καὶ παραδοὺς ἑαυτὸν κτλ.). – Belege für den Begriff διδάσκαλος als »Inszenierer« bieten z.B. Kratinos PCG 4, fr. 276 (ἴτω δὲ καὶ τραγῳδίας ὁ Κλεομάχου διδάσκαλος); Aristophanes Ach. 628 (ἐξ οὗ γε χοροῖσιν ἐφέστηκεν τρυγικοῖς ὁ διδάσκαλος ἡμῶν) und Av. 912; Antiphon Or. 6,13; D. L. 6,35 (χοροδιδάσκαλος). Vgl. auch LSJ s.v. II: trainer of a dithyrambic or dramatic chorus, producer of a play. 241 Vgl. z.B. Nu. 223ff., 361–363 und Rh. Pr. 13. 242 Zur Nähe der Figuren Ratgeber/Rednerlehrer/Sokrates/ἥττων λόγος ist anzumerken, dass auch in Aristophanes’ Wolken stellenweise beinahe eine Gleichsetzung des Sokrates mit dem ἥττων λόγος insinuiert wird, obwohl beide λόγοι in Sokrates’ Denkerstätte wohnen, vgl. z.B. Vv. 1145–1151: [...] Σω. Στρεψιάδην ἀσπάζομαι. / Στ. κἄγωγέ σ’. ἀλλὰ τουτονὶ πρῶτον λαβέ. / χρὴ γὰρ ἐπιθαυμάζειν τι τὸν διδάσκαλον. / καί μοι τὸν υἱόν, εἰ μεμάθηκε τὸν λόγον / ἐκεῖνον, εἴφ’, ὃν ἀρτίως εἰσήγαγες. / Σω. μεμάθηκεν. Στ. εὖ γ’, ὦ παμβασίλει’ Ἀπαιόλη. / Σω. ὥστ’ ἀποφύγοις ἂν ἥντιν’ ἂν βούλῃ δίκην.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

platonischen Sokrates anspielen und dessen Figur unterwandern (vgl. §13 und oben 1.3), andererseits über Anspielungen auf Aristophanes’ Wolken die komische Karikatur des Sokrates bejahend adaptieren. Das Schlusswort des Ratgebers mit der deutlichen Abwertung der neuen Rhetorik stellt eine abgeschwächte Form der wutentbrannten Zerstörung der Denkerstätte durch Strepsiades dar, so dass auch eine zusätzliche Parallele von Strepsiades zum Ratgeber gezogen werden kann. Strepsiades’ anfängliche Begeisterung für die neuartige Sophistik, die sich in Hass wandelt, findet sich in der Beurteilung des Lehrers des kurzen Weges durch den Ratgeber (Zustimmung und Lob / Ablehnung) in abgewandelter Form wieder.243 Der Ratgeber vereint so in seiner ambivalenten persona Züge des platonischen und aristophanischen Sokrates sowie des Strepsiades. Möglicherweise soll auch das Verhältnis des Ratgebers zum jungen Mann (μειράκιον) an dasjenige des Strepsiades zu seinem Sohn Pheidippides erinnern: Der Vater weist dem Sohn den Weg, ist ihm eine Art ›Ratgeber‹. Denkt man diese Parallele weiter, so ist die nicht agierende Figur des Schülers in Rh. Pr. an den aristophanischen Text ausgelagert, der die (verheerenden) Konsequenzen aufzeigt, welche die Verwirklichung der Lehre des kurzen Weges für den Charakter des Schülers und für sein Umfeld haben könnte.244 Was die Figurenzeichnung des Rednerlehrers angeht, so ist seine Prosopopoiie ganz generell als Komödienauftritt markiert,245 er trägt aber zudem folgende konkrete Züge aristophanischer Charaktere, wobei zwischen direkter Parallele und analogischer Figurengestaltung zu unterscheiden ist: Als erster ist Agathon in Aristophanes’ Thesmophoriazusen (Vv. 101–265) zu nennen, der Prototyp des Effeminierten, den der Ratgeber denn auch als illustrierendes exemplum zur Beschreibung des Rednerlehrers einführt, wodurch eine direkte Parallele gezogen wird (vgl. §11).246 Zweitens erinnert die Zeichnung des Rednerlehrers als ›hybride‹ oder ›multiple‹ Figur – schwankend zwischen Mann und Frau, aber auch zwischen verschiedenen aufgerufenen Persönlichkeiten wie Sokrates (vgl. §13)247, Agathon, diversen berühmten Sophisten, und letztlich schwer greifbar, ja anonymisiert (vgl. seinen βίος §§24–25) – an die aristophanische komische Technik, wie wir sie bei komplexen personae wie Dikaiopolis in den Acharnern oder dem 243

Man vgl. auch die Betonung von Strepsiades’ bäurischem Wesen (Nu. 43–48, 628), ein Attribut, das in Rh. Pr. auf den Lehrer des langen Weges angewendet ist (§12: ἄγροικον γὰρ τὸ ἀρρενωπὸν), aber letztlich auch auf alle Absolventen der langdauernden Ausbildung – und damit auf den Ratgeber – übertragen werden darf. 244 Vgl. die Schlussszene Nu. 1321ff. 245 Vgl. §§11–12, v.a. die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §12. 246 Zu den Parallelen zwischen Rednerlehrer und Agathon im Detail siehe den Kommentar zu §11: πάναβρόν τινα Σαρδανάπαλλον ἢ Κινύραν ἢ αὐτὸν Ἀγάθωνα. 247 In seinem Verfechten des kurzen Weges als ›philosophische‹ Figur trägt er auch Züge eines Kynikers, vgl. dazu die Einleitung 1.3, S. 41–43.

1.8 Aristophanes und die Alte Komödie

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»Verwandten« (κηδεστής) in den Thesmophoriazusen angewandt sehen.248 Zu den Thesmophoriazusen weisen auch weitere Details in Rh. Pr. eine Nähe auf.249 Zur Wirkung einer ›Verstellung‹ im Rollenspiel äussert sich Dikaiopolis selbst (Ach. 440–444): Δεῖ γάρ με δόξαι πτωχὸν εἶναι τήμερον, / εἶναι μὲν ὅσπερ εἰμί, φαίνεσθαι δὲ μή· / τοὺς μὲν θεατὰς εἰδέναι μ’ ὅς εἰμ’ ἐγώ, / τοὺς δ’ αὖ χορευτὰς ἠλιθίους παρεστάναι, / ὅπως ἂν αὐτοὺς ῥηματίοις σκιμαλίσω.250

Der effeminierte Rednerlehrer spielt zwar nicht in diesem Sinn eine Rolle (oder höchstens insofern er als Narr agiert251), sondern tritt als er selbst auf, doch kann Dikaiopolis’ Aussage über Schein, Täuschung, Veralberung einen Hinweis auf die beabsichtigte Publikumswirkung einer solchen von Lukian konstruierten komplexen persona des Rednerlehrers geben.252 Hinzu kommt nun drittens, dass sowohl Ratgeber als auch Rednerlehrer in ihren Äusserungen Komikervokabular benutzen, das vor allem mit dem komödienhaften Auftritt des Rednerlehrers verstärkt zur Anwendung kommt. Die gesamte Einleitung des Ratgebers (§§1–8: Proömium; Prothesis/Dihegesis) ist entsprechend dem platonisch-philosophischen Duktus des Beginns hauptsächlich von solchem Vokabular geprägt; eine erste sowohl platonische als auch aristophanische Nuance bietet die Junktur διὰ λειμώνων εὐανθῶν in §3: Bei beiden Autoren werden blumenreiche Wiesen im Zusammenhang mit Unterweltsdarstellungen (Asphodeloswiese) genannt.253 Möglicherweise ist dieses auch auf die Komödie verweisende Vokabular als bewusster Anzeiger einer Schnittstelle zwischen ›Ernst‹ und ›Komik‹ zu interpretieren, der dort zum Einsatz kommt, wo die Alternative des wunder248 Dikaiopolis spielt im Stück diverse Rollen: Athenischer Bürger – Verkleidung zum tragischen Helden Telephos – Sprachrohr von Aristophanes (Eupolis?) – Orestes; vgl. dazu Fisher [1993]. Der »Verwandte« (κηδεστής) schleust sich, von Agathon als Frau ausgestattet, ins Thesmophorienfest ein (vgl. zu seiner effeminierten Figur Th. 266–268: Εὐ. Ἀνὴρ μὲν ἡμῖν οὑτοσὶ καὶ δὴ γυνὴ / τό γ’ εἶδος. Ἢν λαλῇς δ’, ὅπως τῷ φθέγματι / γυναικιεῖς εὖ καὶ πιθανῶς). Als sein Betrug aufgedeckt wird, nimmt auch er Züge des tragischen Helden Telephos an, später der Helena und der Andromeda (Th. 688ff., 850ff., 1010ff.). 249 Vgl. den Kommentar zu Rh. Pr. 12: ἄγροικον γὰρ τὸ ἀρρενωπὸν καὶ οὐ τοῦ ἁβροῦ καὶ ἐρασμίου ῥήτορος; 16: ἀτέλεστόν τινα καὶ κατάσκοπον τῶν ἀπορρήτων; 23: σοὶ καὶ ἄχρι τῆς γυναικωνίτιδος εὐδοκιμοῦντι; 24: μητρὸς δὲ ἀκεστρίας. 250 »Denn ich muss heute den Anschein machen, ein Bettler zu sein, und zwar der bleiben, der ich bin, [so] scheinen aber nicht. Das Publikum darf wissen, wer ich bin, die Choreuten aber sollen einfältig daneben stehen, damit ich sie veralbern [kann].« 251 Siehe dazu die Bemerkungen in der Einleitung 1.6, S. 63f. 252 Zur Möglichkeit der Interpretation dieser aristophanischen Figuren – und damit auch der in Rh. Pr. aufgenommenen Züge – als grotesk-karnevalesk im Sinne Michail Bachtins siehe die Bemerkungen im Kommetar zu §10: ἀλαζὼν καὶ ἀρχαῖος ὡς ἀληθῶς καὶ Κρονικὸς ἄνθρωπος (am Ende). 253 Vgl. dazu und zu den im Folgenden aufgeführten platonischen und komischen Vokabeln jeweils den Lemmakommentar zur Stelle.

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

samen, kurzen und bergab führenden Weges zum ersten Mal beschrieben wird. Inhaltlich verweisen in diesen Kapiteln v.a. §5 und §8 (je eine Sinneinheit abschliessend) auf die mögliche Komödienhaftigkeit des Dargestellten: Da ist einerseits die Geschichte des Sidoniers (§5)254 mit Doppeldeutigkeit im Vokabular (ἀνόνητον) bzw. dem Hinweis auf Unglaubliches (τὸ παράδοξον), andererseits die deutliche Bezugnahme auf die Aporie des Rezipienten angesichts des Ratschlags (§8: εὖ οἶδα ὅτι ἀπορήσεις κτλ.). Die Ablehnung des Lehrers des langen Weges (§§9–10: refutatio) enthält die erste klare Bezugnahme auf Aristophanes’ Wolken (§10: Κρονικὸς ἄνθρωπος), die oben bereits diskutiert worden ist. In der Fortsetzung (§§11–13: Auftritt und erste Wortmeldung des Rednerlehrers) ergibt sich nun eine Juxtaposition von platonischen und aristophanischen Vokabeln, und damit von Anspielungen auf entsprechende Konzepte255, welche die Schrift bis zum Schluss durchzieht, wobei die Komödie stellenweise deutlich überhand nimmt. Platonisches (πάνσοφόν τινα καὶ πάγκαλον; παραδοὺς ἑαυτὸν; ὥσπερ ὁ Χαιρεφῶν κτλ.) und Komisches (Ἀγάθωνα; δρόσῳ; φαῦλον ὑποκριτὴν κτλ.; Αὐτοθαΐδα τὴν κωμικὴν [...] μιμησάμενος; ἄγροικον) vermischen sich in der Figur des Rednerlehrers, welcher in seinem Schauspiel – als effeminierter Agathon, als Hetäre – die Figur des (platonischen) Sokrates für seine eigene Sache verwendet und so gleichzeitig für den Rezipienten satirisch als ›falscher Sokrates‹ karikiert wird. Im folgenden ersten Teil der konkreten Lehre (§§14–17) werden platonische Konzepte, die im Vokabular enthalten sind (konventionell positive Charaktereigenschaften: αἰδῶ δὲ ἢ ἐπιείκειαν κτλ.; Einweihung: εἰ μὴ προετελέσθης κτλ.), vom Rednerlehrer einerseits negiert, andererseits im Sinne seiner Komödie pervertiert (καθάπερ ἀτέλεστόν τινα καὶ κατάσκοπον τῶν ἀπορρήτων; ἀποτόξευε; νομοθέτει). Und ein komödienhafter Auftritt ist letztlich auch das, was der Schüler in Nachahmung seines Lehrers anstreben soll (ἕπου μόνον, ὦ μέλημα, οἷς ἂν εἴπω, καὶ ζήλου πάντα κτλ.; βοὴν ὅτι μεγίστην; μέλος ἀναίσχυντον; κρηπίς; ἐμβάς; σκορακιεῖ; σισύρα). Mit den weiteren Ausführungen des Rednerlehrers, die insbesondere die Vortragsweise (ὑπόκρισις) abhandeln (§§18–22), tritt das Komödienhaft-Theatralische immer stärker in den Vordergrund (vgl. zum Vokabular z.B. οἴμοι τῶν κακῶν; βάδιζε μεταφέρων τὴν πυγὴν). Platonisches bleibt dabei im Hintergrund insofern durchgängig vorhanden, als sich sämtliche Empfehlungen auf den Wunsch des Schülers, in ganz Hellas Berühmtheit zu erlangen, zurückbeziehen (vgl. Rh. Pr. 1) und dieser Wunsch in seiner Formulierung Ähnlich254 Vgl. zur Deutung des Sidoniers als Narrenfigur die Einleitung 1.6, S. 63 und den Kommentar zu §5: Σιδωνίου τινὸς ἐμπόρου. 255 Gemeint sind: Ernsthaftigkeit der Ausbildung, sokratische Lehre vs. dramatisch-komischer Kontext, Agieren auf der Bühne; bedingt durch die inhaltlichen Elemente der Wegmetaphorik, der Lehrerwahl und des Schauspielerauftritts.

1.8 Aristophanes und die Alte Komödie

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keiten zu Platons Alkibiades I aufweist.256 Der bei Platon skizzierte Weg zu Erfolg und Berühmtheit wird vom Rednerlehrer allerdings für seine Zwecke erwartungsgemäss völlig anders ausgelegt (beispielsweise pervertiert die Formulierung τὸν ἱδρῶτα ὁρῶντες in §20 echtes Schwitzen auf dem langen Weg). Die abschliessenden Kapitel über das Privatleben des Sophisten, illustriert durch den Lebenslauf des Lehrers selbst (§§23–25), bilden den Höhepunkt des komödienhaften Auftritts und gleichzeitig der Pervertierung platonisch-philosophischer Konzepte, mit dem Schwerpunkt der charakterlichen Verkommenheit. Das Vokabular ist dementsprechend stark an die Komödie angelehnt (κυβεύειν; μοιχεύειν; γυναικωνίτιδος; τὸ δεῖνα; φαλακρός; λαλίστεραι; γονιμώτερα; ἀκεστρίας; γλίσχρῳ; γραΐ; ἐγαστριζόμην; τῆς σοροῦ; κατάρατος); erst ganz am Ende von §25, vor dem Schlusswort des (platonisch-philosophischen) Ratgebers, erfolgt wieder ein klarer Verweis auf Platon (νὴ τὴν πάνδημον). Im Schlusswort (§26) vollführt der Ratgeber eine Kehrtwende, indem er den kurzen Weg nun negativ beurteilt und seine Identifikation mit dem Rednerlehrer durch scharfe Abgrenzung widerruft. Dies wird auch auf der Ebene des Vokabulars abgebildet, indem dem Rednerlehrer der Bereich der Komödie und des komödienhaften Beraters zugewiesen wird (vgl. γραῦν τινα τῶν κωμικῶν; ironisch: νομοθέτης καὶ διδάσκαλος). Daneben wird weiterhin die Ambivalenz der Äusserungen des Ratgebers und seiner persona deutlich, weil er sowohl mehrdeutige, gleichzeitig aristophanische und platonische Ausdrücke (vgl. v.a. γεννάδας) als auch generell ein aus beiden Bereichen gemischtes Vokabular (τὸ τοῦ Πλάτωνος κτλ.; ἀγεννής; ἀσύμβολος; τῷ ῥᾴστην καὶ πρανῆ τραπέσθαι τὴν ὁδόν) benutzt. Ein interessantes Ergebnis der Vokabularanalyse257 ist nun vor allem die Juxtaposition von platonisch-philosophischem und komischem Vokabularbereich, die sich ab §11 zeigt: Durch diese Mischung und durch den Auftritt einer komischen Figur wird das Konzept des platonisch-philosophischen Dialogs mit einem entsprechenden komödienhaften Element versehen, das letztlich eine Karikatur ebendieser Figur bewirkt, welche die platonischphilosophischen Konzepte auch aktiv pervertiert. So wird die Schrift gesamthaft, d.h. auch auf der sprachlich-stilistischen und damit ästhetischen 256

Vgl. dazu die Einleitung 1.3, S. 37f. Diese Auswertung des in Rh. Pr. verwendeten Vokabulars hinsichtlich einer Amalgamierung von philosophischem und komischem Vokabular ist angeregt durch folgende Bemerkung Möllendorffs ([2006b] 84) über Lukians ästhetische Technik (bezogen auf seine Neuschaffung der Gattung des komischen Dialogs): »In particular, a close analysis of his style and language would be highly desirable, as it would enable us to gain an insight in the process of the amalgamation of the different stylistic qualities of dialogue (αὐστηρόν, σεμνότης) and comedy (witty, colloquial language, ἰδιωτικόν, ἀνθηρόν) on the semantic and syntactic level.« Zu einer derartigen Analyse könnten meine Beobachtungen einen ersten Beitrag darstellen, der selbstverständlich noch um viele Aspekte – v.a. im stilistischen Bereich – zu erweitern wäre. 257

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1. Einleitung zur Schrift Rhetorum praeceptor

Ebene, zu einer ambivalenten, im Sinn des lukianischen komischen Dialogs gestalteten Darstellung eines ernsthaften Kernthemas – des Weges zur Rhetorik – geformt.

2. Πεπαιδευμένος und ἀπαίδευτος: Zum Bildungsstand von Produzenten und Rezipienten in der Vortragskultur der Zweiten Sophistik

Wie bereits mehrfach angesprochen nehmen Bildung (παιδεία) und Unbzw. Scheinbildung (ἀπαιδευσία) in Lukians Satiren über Sophisten und auch Philosophen einen prominenten Platz ein.258 Zwar ist die entsprechende Terminologie in Rh. Pr. nicht derart präsent wie in anderen Schriften, dennoch ist aber die Klärung dieser Begriffe auch für das Verständnis des vorliegenden Textes wichtig. Oft wird in der Sekundärliteratur ohne nähere Erklärung von πεπαιδευμένοι (»Gebildeten«) und ἀπαίδευτοι (»Ungebildeten«) gesprochen, so dass im Folgenden eine Definition dessen, was Bildung in der Zweiten Sophistik beinhaltet, zu geben versucht wird, um daran anschliessend die lukianischen Satiren in diesem Bildungsdiskurs zu verorten.

2.1 Der sozio-kulturelle Hintergrund Zur Beantwortung der Frage nach Bildung und Unbildung ist es hilfreich, im Zentrum anzusetzen, dort, wo παιδεία in Auftritten von Rednern, Philosophen und anderen Gelehrten öffentlich zur Schau getragen worden ist, wo sie gemeinsam beklatscht, bewundert oder aber auch heftig über sie diskutiert worden ist. Der Besucher solcher Vorträge musste sich unweigerlich immer auch mit seiner eigenen Bildung auseinandersetzen, sei es im Rahmen einer Bestätigung derselben, der Bewunderung der Bildung anderer oder aber der elitären Absetzung vom jeweils Dargebotenen. Klar ist, dass in der sophistischen Vortragskultur sowohl Produzenten als auch Rezipienten eine tragende Rolle im Prozess des Kreierens und Etablierens ›ihrer‹ παιδεία spielten. Wie man sich allerdings Quantität und Zusammensetzung der Hörerschaft der Vorträge der Zweiten Sophistik genau vorzustellen hat, ist umstritten,259 genauso wie der tatsächliche Bildungsstand dieser Hörer258 Siehe dazu die Einleitung 1.5.c (bes. zur Figur des Lykinos) und 1.6, S. 65–67; 1.7 (zu Lukians Selbstdarstellung seiner παιδεία); 3. (v.a. auch zum Bild der Scheinphilosophen). 259 Die ausführlichsten neueren Arbeiten zu diesem Thema stammen von Korenjak [2000] (mit Betonung der Interaktion von Publikum und Redner) und Schmitz [1997] (mit weiterem Fokus auf

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2. Πεπαιδευμένος und ἀπαίδευτος

schaft nicht einfach auszumachen ist. Worüber wir allerdings verfügen, sind Bemerkungen von Produzenten der Zweiten Sophistik bezüglich dem Bildungsstand ihrer Zuhörerschaft, d.h. wir haben Aussagen über den von den Rednern selbst intendierten Bildungsstand ihrer Rezipienten. Daneben gewinnen wir wichtige Hinweise aus verschiedenen Textgenera, die allgemeine Äusserungen literarisch tätiger Personen über ihre Sichtweise von Bildung und Unbildung im zeitgenössischen Umfeld enthalten. Grundsätzlich weisen solche Texte die folgende Zweiteilung auf:260 Auf der einen Seite stehen die ungebildeten Hörer/Rezipienten, die ›Masse‹, als οἱ πολλοί, ἰδιῶται, ἀμαθεῖς, τὸ πλῆθος bezeichnet, auf der anderen Seite die Gebildeten, οἱ πεπαιδευμένοι.261 Im grossen Ganzen können wir davon ausgehen, dass diese Zweiteilung gleichzeitig der Dichotomie der Gesellschaft in Unter- und Oberschicht entsprach, wie wir sie in den griechischen Städten des römischen Imperiums fassen können, obwohl Durchlässigkeiten sicher bestanden haben.262 Sehr deutlich ist in der Kaiserzeit auf jeden Fall die Andie politische Bedeutung des Phänomens der Zweiten Sophistik). Schmitz (160ff.) geht von einer gewaltigen Hörerzahl mit einem Übermass an Angehörigen der Unterschicht aus. Korenjaks Untersuchung, die grösstmögliche Vorsicht gegenüber den (tendenziösen bzw. zu Übertreibung neigenden) Textzeugnissen walten lässt, zeigt aber Unzulänglichkeiten in Schmitz’ Argumentation auf; einbezogen werden insbesondere die Einwohnerzahl auch von Städten durchschnittlicher Grösse und das Fassungsvermögen nicht von Theatern, sondern von geschlossenen Gebäuden. Korenjak kommt zu folgendem Ergebnis (45f.): »Somit liegt es nahe, die Publikumsgrösse bei einem durchschnittlichen sophistischen Vortrag irgendwo zwischen fünfzig und fünfhundert Personen zu situieren. Die Vorstellung, die Sophisten zögen mit ihren Auftritten regelmässig ein Massenpublikum im heutigen Sinne an und die gesamte Stadtbevölkerung ströme zu ihren Vorträgen, erweist sich somit als nicht haltbar. Bei besonderen Anlässen, beispielsweise wenn der Sophist im Auftrag einer Polis im Theater spricht, um einen kaiserlichen Beamten zu begrüssen oder zu loben, mag derartiges vielleicht tatsächlich der Fall sein. Doch bei seinen Auftritten in eigener Sache dürfte es eine grosse Ausnahme darstellen. In der Regel sollten wir uns bei solchen Gelegenheiten ein eher kleines Publikum vorstellen, in dem die gebildete Oberschicht deutlich überrepräsentiert ist.« Vgl. zusammenfassend zur Diskussion auch Whitmarsh [2005] 19f., der sich Korenjaks Meinung anschliesst. 260 Korenjak ([2000] 52) gewinnt aus derartigen Aussagen eine »Typologie des Publikums«, die ich an dieser Stelle in ihren Stufen übernehme. 261 Vgl. Aristeid. Or. 34,38–42; Luk. Apol. 3; Philostr. VS 492f. und die Grammatiker Phryn. PS 53,6; 54,1; 67,16f.; Pollux 6,99; 2,139. Da unsere Zeugnisse allesamt die Sicht von Gebildeten wiedergeben, ist erstens kein unparteiisches Bild und zweitens eine wohl schärfere Dichotomie, als sie in der Realität vorhanden war, zu erwarten, vgl. dazu Korenjak [2000] 52f.: »Es ist klar, dass man ein derartiges Modell nicht unbesehen für bare Münze nehmen darf. Es postuliert scharfe Grenzen, wo in Wirklichkeit ein Kontinuum der Kompetenzen und Haltungen herrschen dürfte, und reflektiert zudem in Form einer Reihe gesellschaftlicher Vorurteile die soziale Stellung seiner Schöpfer, die selber sämtlich der Oberschicht angehören. Dennoch hat es insofern einen wahren Kern, als es treffend eine Reihe von Möglichkeiten beschreibt, mit kaiserzeitlicher Rhetorik umzugehen und auf sie zu reagieren, die uns [...] immer wieder begegnen werden.« 262 Vgl. Korenjak [2000] 52f. und Schmitz [1997] 39–41. Zuweilen finden sich auch die römischen Begriffe honestiores und humiliores zur Bezeichnung der herrschenden, wohlhabenden und der an der Macht nicht beteiligten, ärmeren Schicht.

2.1 Der sozio-kulturelle Hintergrund

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forderung, dass Angehörige der Oberschicht gebildet zu sein hatten, d.h. ihr Status mit παιδεία unlösbar verknüpft ist bzw. sein sollte (vgl. dazu Schmitz [1997] 45ff.). Die Ungebildeten sind grundsätzlich dadurch zu charakterisieren, dass sie keinerlei Rhetorikunterricht genossen haben. Somit drängt sich die Frage auf, inwiefern sie sich dennoch von einem sophistischen Vortrag unterhalten lassen konnten. Die Untersuchungen von Swain ([1996] 65) und Schmitz ([1997] 160ff.) zeigen auf, dass solche Leute sehr wohl über ein gewisses kulturell-historisches Grundwissen verfügt haben, das sie durch wiederholten Besuch entsprechender Vorträge sowie an Festen und Zeremonien ihrer Stadt erlangt hatten. Das heisst, auch ihnen sind Paradethemen und Paradepassagen klassischer Autoren, mythologische und historische Persönlichkeiten der Griechen vertraut, sie erkennen die bekanntesten attizistischen Wörter oder den Klang des Attischen.263 Daneben stehen die Gebildeten. Um sie genauer zu definieren, muss erst geklärt werden, was παιδεία in der Zeit der Zweiten Sophistik bedeutet. Die Textzeugnisse machen deutlich, dass Bildung in der Kaiserzeit insbesondere rhetorische Bildung meint und dabei ganz spezifisch die korrekte Handhabung der attizistischen Kunstsprache; der Einfluss der Philosophie auf den ›Bildungskanon‹264 bleibt in dieser Zeit gering, wenn auch eine gewisse philosophische Basis im Rahmen des Studiums klassischer Texte wie v.a. Platon aufgebaut wird. Inschriften zeigen, dass die Begriffe παιδεία und λόγοι austauschbar sind, Bildung entspricht (attizistischer) Beredsamkeit.265 263

Vgl. auch Möllendorff [2000b] 4. Zum rhetorisch-literarischen Bildungskanon gehören die archaischen und klassischen griechischen Autoren v.a. der Epik, des Dramas, der Historiographie, der Philosophie (Platon) und der Rhetorik; sie bilden seit alexandrinischer Zeit die Reihe ausgewählter Autoren, die in der Schule massgeblich waren und daher den Bildungsstandard setzten. Für den attizistischen Sprachgebrauch der Zweiten Sophistik sind die klassischen Prosaiker richtungsweisend – allen voran Platon und die Redner Demosthenes, Aischines, Hypereides, Lysias und Isokrates, weiter sind zu erwähnen Thukydides und Xenophon –, inhaltlich ist jedoch auch das Rekurrieren auf Homer, Hesiod, die Lyriker (Pindar), die drei grossen Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides sowie die Komiker Aristophanes und Menander wichtig. Vgl. zu den kanonischen Autoren Quint. Inst. 10,1,45ff. sowie Dion. Hal. Orat. Vett. 4,2 (u.ö.) und den ›lukianischen‹ Kanon in Lex. 22. Vgl. weiter Anderson [1993] 86–94, Schmitz [1997] 67–83 und Cribiore [2007] 157–165; letztere beweist unter Heranziehung verschiedener Textzeugnisse, dass gerade Poesie nicht nur beim Grammatiker, sondern auch in der höheren Ausbildung beim Rhetoriker ihren Platz hatte (vgl. auch Cribiore [2001] 194–204 zum Lektüreprogramm beim Grammatiker und 226–230 zur Poesie im Rhetorikunterricht). 265 Vgl. Schmitz [1997] 83ff. Textzeugnisse: Pollux 1,1: σοφία ≈ χρεία τῆς φωνῆς (attizistische Sprache); Luk. Scyth. 10: δύο δὲ μάλιστά ἐστον ἡμῖν ἄνδρε ἀρίστω, γένει μὲν καὶ ἀξιώματι πολὺ προὔχοντε ἁπάντων, παιδείᾳ δὲ καὶ λόγων δυνάμει τῇ Ἀττικῇ δεκάδι παραβάλλοις ἄν und Dion Or. 18,1ff.8.11 (Dion präsentiert ein Lektüreprogramm für einen reichen älteren Mann, der sich παιδεία [ganz selbstverständlich im Sinn von Redekunst, λόγων ἐμπειρία/δύνα264

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2. Πεπαιδευμένος und ἀπαίδευτος

Innerhalb der Gruppe der πεπαιδευμένοι gibt es nun allerdings graduelle Unterschiede, die mir – gerade für das Verständnis von Lukians satirischem Œuvre – bedeutsam erscheinen. Die Gebildeten gliedern sich einerseits in rhetorisch gebildete Hörer, man könnte sagen durchschnittliche Angehörige der Oberschicht, andererseits in rhetorische Profis, Experten der Sophistik, seien es die auftretenden Redner selbst, seien es im Publikum anwesende Sophisten sowie deren Schüler. Letztere Gruppe hat also das, was den Kern des Bildungsanspruchs bildet, die attizistische Sprache, zu ihrer Profession gemacht. Korenjak ([2000] 58) charakterisiert die Gruppe der rhetorisch Gebildeten gegenüber dem Redner wie folgt: Für sie ist er [sc. der Redner] nicht ein fremdes Wesen, dessen Hauptreiz in seiner Prachtentfaltung und seiner Exotik besteht. Vielmehr stammt er aus ihrer eigenen sozialen Schicht und verkörpert in vollkommener Art und Weise diejenigen Werte, welche ihrer Meinung nach auch sie selbst auszeichnen: die Kenntnis ihrer als klassisch empfundenen Vergangenheit, die Fähigkeit, diese Kenntnis in der dazu passenden, ebenfalls klassischen Sprachform auszudrücken, und somit ein geistig-kulturelles Griechentum [...].

Die Gruppe der Gebildeten kann sich also einerseits relativ homogen gegenüber der Masse der Ungebildeten formieren, andererseits ist aber in den Texten sehr häufig eine Absetzung dieser Gebildeten untereinander bzw. ein Wetteifern um den höchsten Grad an Bildung festzustellen.266 Immer wieder treffen wir auf Passagen, welche zeigen, dass schon ein kleiner Sprachschnitzer ausreichen konnte, jemanden als ἀπαίδευτος abzustempeln oder zu verlachen, obwohl dabei nicht im eigentlichen Sinn von Unbildung gesprochen werden kann.267 Weiter gibt es eine Konkurrenz verschiedener attizistischer Schulen, diverse Lehrmeinungen und ausufernde Debatten über den richtigen Sprachgebrauch.268 Es ist naheliegend, dass im Bereich der Sprache vieles eine Frage des Geschmacks ist, und genau dieses Eleμις, verwendet] aneignen will. Man vergleiche auch die austauschbaren Formeln auf inschriftlichen Ehrungen (Charakter und Bildung): ἤθει καὶ παιδείᾳ διαφέρων (Dittenberger, SIG 836) / ἤθεσί τε καὶ λόγοις πρωτεύοντος (ISelge 17). – Für weitere Literaturangaben zum Attizismus siehe Anm. 793. 266 Diese Absetzung vollzieht sich auf der Ebene der Individuen (Bildung wird inschriftlich oft als Gegenstand des πρωτεύειν hervorgehoben), der einzelnen Sophisten, sowie auch auf der Ebene der Städte mit ihren Agonen, vgl. Schmitz [1997] 101ff. mit Belegen. 267 Vgl. Aristeid. Or. 34,62: κἂν μὲν ῥήματι πταίσῃ τις, ἀμαθὴς εὐθέως; Luk. Sol. 1: ἀπαίδευτος γὰρ ἂν εἴην, εἰ σολοικίζοιμι τηλικοῦτος ὤν; dazu auch Schmitz [1997] 84. In der Verwendung des Terminus ἀπαίδευτος ist demnach zu unterscheiden zwischen der ›objektiven‹ Beschreibung Ungebildeter und polemischen Zwecken, der Diffamierung von Konkurrenz. 268 Vgl. Pollux 10,20; Schmitz [1997] 123. Ein Beispiel einer attizistischen Strömung ist der Kreis der so genannten ulpianischen Sophisten, die als Archaisten gelten, vgl. Athen. Deipn. 97cff. und 124e sowie Hall [1981] 288.

2.1 Der sozio-kulturelle Hintergrund

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ment ist in den Texten ebenfalls stark vertreten. Einerseits setzen sich die Gebildeten durch die attizistische Kunstsprache, die sich von der Alltagssprache abhebt, von Ungebildeten ab, andererseits wird dabei betont, dass das allzu Gesuchte, Seltene oder Prätentiöse einem echten πεπαιδευμένος, der Geschmack hat, ebenso wenig entspricht. Ihn zeichnet es vielmehr aus, das rechte Mass und den rechten Zeitpunkt (καιρός) für die jeweilige rhetorische Feinheit in seinen Reden zu kennen.269 Die negativen Gegenbilder werden mit den Begriffen ἀπειροκαλία/ἀπειρόκαλος (»Unkenntnis des Schönen«  »Mangel an Geschmack, Geschmacklosigkeit«) und ὀψιμαθία/ὀψιμαθής (»spät lernend«, aber daneben auch »pedantisch«, vgl. LSJ s.v. II.: vain of late-gotten learning, pedantic) bezeichnet. Daraus wird deutlich, dass ein echter πεπαιδευμένος über ein natürliches Geschmacksurteil verfügt, und zwar nicht zuletzt daher, weil er Bildung schon von Kindheit an in sich aufgenommen hat, denn er wird kontrastiert mit demjenigen, welcher sich erst spät bilden lässt (so genannter ὀψιμαθής). Es spielt mit hinein, dass letzterer wohl einen sozialen Aufstieg hinter sich hat und nicht von Anfang an Teil der wohlhabenden Schicht ist. Dazu gehören auch die Rhetoriklehrer, die sich Bildung aneignen, um durch Unterrichtstätigkeit Geld zu verdienen, von denen sich die ›echten‹ Sophisten abzusetzen bemüht sind (z.B. Aristeid. Or. 3,98f.).270 Wie sich nun Lukians Rh. Pr. und sein weiteres Œuvre in diesen Raster einordnen, soll im Folgenden besprochen werden.

2.2 Bildung und Unbildung in Lukians Rhetorum praeceptor, Soloecista und Adversus Indoctum Aus Sicht des Rednerlehrers und der von ihm formulierten ›Ausbildung‹ ist die grosse Menge des Publikums ungebildet und daher leicht täuschbar, so dass es auf Äusserlichkeiten achtet und mit allerlei Tricks zu beeindrucken ist. Der Redner bedarf daher lediglich diverser Showelemente, und völlige ἀμαθία reicht für seinen Bildungsstand aus (vgl. §§14–22). Durch diese provokative Haltung drängen sich aber andere Bildungsmuster geradezu auf: Die gebildeten Rezipienten von Rh. Pr., die sich nicht zu diesem πλῆθος zählen, dürften anderer Meinung sein; ferner ist zu beachten, dass der Schüler sich nicht zum empfohlenen Lehrgang äussert, darüber, ob er diesen Weg sogleich eifrig einschlagen möchte oder ob er allenfalls Einwände 269 Vgl. dazu Schmitz [1997] 146ff. mit Hinweis auf Textstellen: Ps.-Dionys. Ars 365,15ff.; Philostr. VS 503; Luk. Lex. passim. 270 Zum ὀψιμαθής vgl. Thpr. Char. 27; Luk. Salt. 33 (Lykinos betont, er werde nicht alle εἴδη τῆς ὀρχήσεως aufzählen, weil er das für ἀπειρόκαλος und ὀψιμαθής hält); Schmitz [1997] 150f.

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2. Πεπαιδευμένος und ἀπαίδευτος

oder Bedenken hätte. Die Bewertung wird offen gelassen, so dass die antiken Leser und wir als heutige Rezipienten aufgefordert sind, über das Dargebotene selbst nachzudenken. Würde nicht offensichtlich eine solche Trickrhetorik ausreichen – zumindest um als berühmter Sophist zu gelten und Geld zu scheffeln? Diese Frage soll die gebildeten Leser bzw. die selbst im Vortragswesen tätigen Sophisten dazu anhalten, ihre eigene Vortragsweise und die eigentliche Bestimmung der sophistischen Rhetorik zu überdenken.271 Die vom Lehrer präsentierte Trick- oder Scheinrhetorik nimmt auf sämtliche tatsächlichen Aufführungsmodalitäten Bezug und greift die Grundpfeiler, die attizistische Sprache und die Anspielungen auf berühmte Textpassagen, auf (wenn auch in pervertierter Weise; vgl. den Kommentar zu §§16–22). Das heisst, die andere, weit anspruchsvollere, ›reale‹ Sophistik, soweit wir sie aus Textzeugnissen, z.B. aus Philostrats Vitae Sophistarum (VS), fassen können, – man könnte sie auch die ›alte‹ Rhetorik nennen – kommt auf diese Weise in die Darstellung des Rednerlehrers hinein. Für ein ungebildetes Publikum reicht offenbar der oberflächliche Anschein einer solchen Rhetorik – was aber, wenn Gebildete und Experten zuhören? Müssen diese nicht auch überzeugt werden bzw. ist ein Vortrag nicht vielleicht per se möglichst gut zu gestalten? Interessant dazu ist Aristeides’ 34. Rede, die eine ernsthafte (wenn auch ziemlich gehässige) Auseinandersetzung mit guter und schlechter, echter und trickreicher Rhetorik beinhaltet, wobei die Trickrhetorik genau dem entspricht, was der Rednerlehrer empfiehlt (im Vordergrund stehen Unterhaltungselemente wie Gesang, Tanz, effeminiertes Benehmen, vgl. Or. 34,23.47.52). Was Aristeides eindringlich formuliert, dass nur die beste Rede die überzeugendste sein kann (was ja das Ziel jeder Rede sein muss), ganz egal, welcher Art von Zuhörern man gegenübersteht (vgl. §§26–34), ist ein wohl gängiges Denkmuster, das durch die satirische Darstellung in Rh. Pr. kontrastiert wird.272 Wichtig ist insbesondere auch das von Aristeides vorgebrachte zusätzliche Argument, dass die Meinung der Menge vom Urteil der Experten abhängt, die es deshalb zu begeistern gilt (§§38f.; vgl. dazu auch unten S. 106). Die satirisch-komische Bezugnahme auf den zeitgenössischen Bildungsdiskurs in Rh. Pr. provoziert im gebildeten Rezipienten ein Lachen auf drei Ebenen: einerseits das destruktive Verlachen des effeminierten Sophisten 271 An einigen Stellen wird in Rh. Pr. zumindest eine Negativbeurteilung der Showrhetorik impliziert, indem der Rednerlehrer selbst zugibt, dass seine Art des Auftritts Ressentiments – wohl durchaus auch der ungebildeteren Zuhörer – hervorrufen kann, vgl. den Kommentar zu §19: ἢν δὲ ὀρθοὶ ἑστήκωσιν ὑπὸ τῆς αἰσχύνης. 272 Aristeides bietet also, wie die oben besprochenen Subtexte (vgl. die Einleitung 1.2–1.4), durch seine Kritik an der Trickrhetorik und durch sein Verfechten der ›alten‹ Rhetorik eine weitere mögliche Kontrastfolie, vor der die ironische Brechung von Rh. Pr. gelesen werden kann. Zur Ironisierung vgl. S. 64f.

2.2 Bildung und Unbildung in Rh. Pr., Sol. und Adv. Ind.

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(und auch des übertrieben bäurischen Lehrers des langen Weges, denn auch dessen Erscheinung weist in seiner Zeichnung durch den Ratgeber Mängel in Mass und Geschmack auf), andererseits das konstruktive Lachen, welches zu Selbstreflexion und -kritik anregt, sowie das rein positive Lachen des Überlegenen, welches zur Selbstbestätigung und zur Identifikation einer Gruppe von Gebildeten gegenüber Ungebildeten dient. Weitere Schriften Lukians – praktisch alle, die sich mit (selbsternannten) Sophisten, Literaten und πεπαιδευμένοι beschäftigen – arbeiten stark mit der oben beschriebenen Absetzung Gebildeter untereinander, die so weit geht, dass der Autor vermeintliche Bildung als Scheinbildung entlarvt. Dies geschieht entweder durch Pamphlete (Pseudol., Adv. Ind.) oder durch dialogische Texte, wobei Figuren, die dem Rednerlehrer ähnlich sind, Testsituationen unterzogen werden, in denen sie kläglich scheitern, und dadurch in die Riege der Ungebildeten absteigen müssen (Sol., Lex.). Charakteristisch für Lukians Satire ist dabei das Element des Lächerlichmachens von und gleichzeitig der Selbstreflexion über Scheinbildung bzw. die Bestärkung der eigenen Bildung, da der Autor häufig mit einem ›wir‹ arbeitet, das seine Leser- bzw. Hörerschaft als Gebildete (aber auch Nichtgebildete, die sich von ihm überzeugen und über echte Bildung aufklären lassen) auf seine Seite zieht. Zur Illustration sollen an dieser Stelle zwei der genannten Schriften, Soloecista273 und Adversus Indoctum, näher beleuchtet werden. Die Schrift Pseudologista, worin ausgehend von einer Sprachdebatte zudem das Gesamtbild eines πεπαιδευμένος, das auch charakterliche Qualität mit sich bringt bzw. bringen muss, ausgestaltet wird, ist v.a. im Zusammenhang mit den Anforderungen des Geschmacks und mit den letzten Kapiteln von 273

Die Autorschaft der Schrift ist zwar umstritten, doch sind die Argumente für ihre Unechtheit nicht schlagend, weil sie vor allem auf (scheinbaren) Unvereinbarkeiten der Aussagen der Dialogfigur ΛΟΥΚΙΑΝΟΣ mit dem Inhalt sonstiger Werke Lukians beruhen. Doch kann man, wie sich zeigen wird, gute Gründe innerhalb der Schrift und des Verhältnisses der Dialogpartner finden, warum Autor und gleichnamige Dialogfigur einander ›widersprechen‹. Für die Echtheit der Schrift plädieren Weissenberger [1996] 59–67, Baldwin [1973] 53–56 und Bompaire [1958] 141f. und [1998] 233–237, deren Ansicht ich mich anschliesse. Grosse Zweifel äussert Hall [1981] 298– 307, v.a. wegen der eingefügten Passage über Sokrates von Mopsos, die in ihrem lobenden Duktus nicht mit der Einstufung der Schrift als Pedantismus-Kritik zu vereinen sei (s. dazu aber unten), und wegen der Uneinheitlichkeit der von Loukianos als Solözismen bezeichneten Äusserungen – teils sind sie korrektes Attisch (die Kritik also pedantisch), teils tatsächlich falsch. Das scheint mir aber zu spitzfindig, da wohl die Tatsache, dass der Sophist auch ›echte‹ Fehler überhört, seine Unwissenheit umso stärker hervorstreichen soll (vgl. auch Weissenberger [1996] 66f.). Die Interpretationen der Befürworter der Echtheit stimmen mit einem Scholieneintrag zur Schrift überein (siehe dazu S. 100). Selbst wenn man die Echtheit der Schrift anzweifelte, handelt sie dennoch das Thema Scheinbildung (hier am Beispiel eines nur scheinbar seinem sprachlichen Pedantismus gewachsenen Sophisten) auf eine Art ab, die eng an diejenige Lukians in anderen Schriften (Lex., Pseudol.) anschliesst und daher für die Sprachdiskussionen der Zweiten Sophistik allemal aufschlussreich ist.

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2. Πεπαιδευμένος und ἀπαίδευτος

Rh. Pr. über das Privatleben aufschlussreich und wird im Kommentar zu §§23–25 mehrfach herangezogen. Zur Schrift Lexiphanes, worin am sprachlichen Phänomen des Archaismus und Hyperattizismus Kritik geübt wird, finden sich Ausführungen im Kommentar zu §§16–17.274 Der Dialog mit dem Doppeltitel Ψευδοσοφιστὴς ἢ Σολοικιστής (Sol.) spielt sich zwischen den Gesprächspartnern Lukian (ΛΟΥΚΙΑΝΟΣ) und Sophist (ΣΟΦΙΣΤΗΣ) ab. In einem platonisch angehauchten Kreuzverhör legt Lukian mit dem Einverständnis des Sophisten fest, dass einer, der selbst keine Solözismen275 begeht, diese auch bei anderen bemerkt und umgekehrt. Da sich nun der Sophist selbstverständlich als einen ansieht, der solözismenfrei spricht, muss er notwendigerweise zustimmen, diese Fehler bei anderen zu erkennen. Nachdem die Rahmenbedingungen gegeben sind, unterzieht Lukian seinen Gesprächspartner einem Test, indem er in fast jede seiner nun folgenden Äusserungen einen Solözismus einstreut, wovon der Sophist aber nicht das Geringste bemerkt und deshalb seinem selbst erhobenen Anspruch nicht gerecht wird. Lukian ruft dementsprechend oft triumphierend »du aber hast es nicht gemerkt« (σὺ δ’ οὐκ ἔγνως),276 bis sich der Sophist schliesslich geschlagen gibt und Lukian darin Recht geben muss, dass er das Anfangsvotum über seine Fähigkeiten, Solözismen bei anderen zu erkennen und selbst zu vermeiden, zurücknehmen sollte. Er hat ein Wissen vorgegeben, worüber er offensichtlich gar nicht verfügt (§§1–4). Der Anklang an die Grundsituation sokratisch-platonischer Dialoge ist deutlich:277 Es wird ein Wissensanspruch erhoben, der im Gespräch nicht verteidigt werden kann. Im Detail stellen sich die ›Läuterung‹ des Sophisten und das Herausarbeiten seiner Unbildung und Unwissenheit wie folgt dar: Er hält sich selbst ganz eindeutig für einen Gebildeten, während Solözismen mit Unbildung verknüpft sind, so dass er auf Lukians Frage, ob er von sich sagen würde, er sei kein Solözist, empört ausruft (§1): Ἀπαίδευτος γὰρ ἂν εἴην, εἰ σολοι274 Zu Kritikpunkten dieser Schriften und ihrer Nähe zu Lukians Philosophenspott siehe auch die Einleitung 3.2. 275 Normalerweise bezeichnet der Terminus σολοικισμός (Solözismus) Fehler in der Syntax, während der Terminus βαρβαρισμός (Barbarismus) Fehler im Gebrauch eines Einzelwortes meint (so S. E. M. 1,210; Quint. Inst. 1,5,6 und 1,5,34; Lausberg [31990] 257, §470). In diesem Dialog ist jedoch der Terminus Solözismus breiter aufzufassen: Auch Barbarismen, z.B. Verwechslungen von Wörtern, sind miteingeschlossen. 276 Da Lukian ja die Rolle eines Sprachpedanten übernimmt, bemerkt Bompaire ([1998] 234) zu Recht, dass nicht nur der Sophist, sondern auch der Pedant eine karikierte Figur sei, was sich beispielsweise darin äussert, dass er seinem Gegenüber einen falschen Satz nach dem anderen an den Kopf wirft und ihm keine Atempause lässt, sondern immer gleich triumphiert, dass dem anderen der Fehler entgangen ist. 277 Bompaire ([1958] 608–612) ordnet Soloecista denn auch als Parodie bzw. Pastiche (mit im Gegensatz zur Parodie konstruktiver Anlehnung an das Vorbild) des sokratischen Dialoges ein; ebenso die Dialoge Lexiphanes (vgl. Plat. Smp.) und Parasita (vgl. Plat. Grg., Phdr., Smp.).

2.2 Bildung und Unbildung in Rh. Pr., Sol. und Adv. Ind.

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κίζοιμι τηλικοῦτος ὤν.278 An dieser Meinung hält er vorerst beharrlich fest und empört sich, nachdem ihn Lukian bereits mehrfach der Unwissenheit überführt hat (§§1f.): Θαυμαστὰ λέγεις, εἰ μὴ δυνήσομαι καταμαθεῖν σολοικισμόν. [...] Ἐγὼ μὲν σὲ παίζειν δοκῶ.279 Doch Lukian kontert: Ἐγὼ δὲ σὲ ἀγονεῖν τὸν ἁμαρτάνοντα ἐν τοῖς λόγοις.280 Trotzig versucht der Sophist seine Behauptung aufrecht zu erhalten (§§3f.): σὺ δ’ οὐδὲν εἶπας ὧν ἄνθρωποι σολοικίζοντες λέγουσιν. [...] Ἐγὼ δὲ πολλοὺς ἤδη σολοικίζοντας κατενόησα.281 Lukian lässt jedoch nicht locker, um zu erreichen, dass der Sophist die Diskrepanz zwischen seiner Behauptung und der Tatsache, dass er diese nicht erfüllen kann, selbst eingesteht, und hält ihm seine Unbildung282 bisweilen sehr sarkastisch vor (§3: σὺ δὲ ὑπὸ τῆς ἄγαν παιδείας διέφθορας283). Als eine Art variatio folgt eine längere Passage über einen gewissen Sokrates von Mopsos284 und dessen mild-humoristische Methode, Solözisten im Gespräch zu korrigieren (§§5–7). Danach testet Lukian seinen Gesprächspartner mit einer weiteren Reihe von Solözismen, wobei er diesmal Hinweise auf die Fehler gibt (§§8–9). Doch der Sophist begreift noch immer nichts davon, so dass er schliesslich verzweifelt darum bitten muss, diesen Test endlich zu beenden. Lukian solle ihm stattdessen Fall für Fall erklären, wo die Fehler lagen. Das lehnt jener zwar ab, weil es viel zu lange dauern würde, gibt ihm dann aber doch – ganz in der Lehrerrolle – eine Kurzlektion über einige Eigen- und Feinheiten des attischen Sprachgebrauchs (§§10–11). Lukian hat sein Ziel erreicht: Der Sophist gibt sich insofern geschlagen, als er einsieht, dass er Belehrung nötig hat, und sein 278

»Ich wäre ja ungebildet, wenn ich in meinem Alter Solözismen beginge!« »Du sprichst sonderbares Zeug, wenn [du behauptest,] ich könne einen Solözismus nicht erkennen. [...] Ich glaube, du machst Scherze.« 280 »Und ich [glaube], dass du denjenigen, der Fehler begeht beim Sprechen, nicht erkennst.« 281 »Du hast nichts von den Dingen gesagt, die Solözisten zu sagen pflegen. [...] Ich habe schon viele Solözisten ertappt.« 282 Den an sich gängigen Terminus für »ungebildet«, ἀπαίδευτος, verwendet Lukian nur einmal (§9), viel häufiger ist von ἀγνοεῖν (»nicht wissen«, 6x) oder γιγνώσκειν bzw. οὐ γιγνώσκειν (»erkennen« bzw. »nicht erkennen«, 10x) die Rede. Es ist auffällig, dass Lukian in den anderen Schriften, die sich mit Sophisten auseinandersetzen, stärker mit den Begriffen παιδεία, ἀπαιδευσία, πεπαιδευμένος, ἀπαίδευτος arbeitet, doch liegt eine mögliche Erklärung für die Andersartigkeit der Begriffe in Sol. darin, dass die Termini ἀγνοεῖν und γιγνώσκειν zum typisch platonischen Vokabular gehören, Lukian also nicht nur formal, sondern auch sprachlich an den platonischen Dialog anknüpft, obwohl es inhaltlich nicht um Erkenntnisfragen, sondern um Grammatikalisches und um Bildung geht. 283 »Du bist von einem Übermass an Bildung zugrunde gerichtet worden.« 284 Lukian sagt, dass er mit Sokrates von Mopsos in Ägypten zusammengetroffen sei; über dessen Identität ist jedoch nichts zu ermitteln (vgl. Weissenberger [1996] 64 Anm. 157). Bompaire ([1998] 342 Anm. 15) meint, Mopsos könnte am ehesten mit Μόψου ἑστία in Kilikien zu identifizieren sein. Ich denke, dass die Möglichkeit einer fingierten Person unbedingt in Betracht gezogen werden sollte, wobei es nahe läge, den Namen so zu interpretieren, dass er – passend zum Gesamtsetting des Dialogs – in bewusster Anlehnung an den platonischen Sokrates gewählt worden ist. 279

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2. Πεπαιδευμένος und ἀπαίδευτος

Gegenüber als Lehrer (διδάσκαλος) akzeptiert (vgl. §12: προδιδάσκειν). Das Ende des Gesprächs bildet die Feststellung, dass der Sophist zwar noch viel zu lernen habe, man für den Moment jedoch die Lektion abbrechen und ein andermal wieder aufnehmen wolle (§12). Diese Offenheit des Schlusses und die Möglichkeit eines weiteren Treffens zur Fortführung des Gesprächs muten ebenfalls sokratisch-platonisch an. Nach beendetem Gespräch zeigt sich der Sophist verwandelt und viel bescheidener; Belehrung und Entlarvung des Sprachpedanten sind also in sokratisch-platonischem Sinn erfolgreich verlaufen, indem der Unwissende sein Unwissen erkannt und eingestanden hat, was die unabdingbare Voraussetzung zum Erwerb echten Wissens ist. Doch zuvor bedurfte es harter Worte, welche Schein und Sein schonungslos aufdeckten. Vor allem zwei Stellen sind prägnant (§4): Καὶ μὴν εἰ ταῦτα ἀγνοήσομεν, οὐδὲν γνωσόμεθα τῶν ἑαυτῶν, ἐπεὶ καὶ τόδε σολοικισθὲν ἀπέφυγέ σε. μὴ τοίνυν ἔτι λέγειν, ὡς ἱκανὸς εἶ κατιδεῖν τὸν σολοικίζοντα καὶ αὐτὸς μὴ σολοικίζειν.285

Und in Kürze auf den Punkt gebracht sagt Lukian über den Sophisten (§9): ἀγνοεῖ ὁ φάσκων εἰδέναι.286 Aufgrund der Eigenaussage des Sophisten, er habe schon viele Solözisten ertappt, kann man davon ausgehen, dass er selbst ein schonungsloser Kritiker ist, und gerade deshalb ist in den Äusserungen Lukians auch ein Aufruf zur Rückbesinnung auf das eigene (lückenhafte) Wissen und zu mehr Bescheidenheit und Zurückhaltung im Kritisieren enthalten. Die Bestätigung dafür, dass das ein Kernthema dieser Schrift ist, kann man in der Passage über Sokrates von Mopsos sehen, die mit einem Lob auf seine Art und Weise der Kritik eingeleitet wird. Wie aus der Inhaltszusammenfassung deutlich wird, setzt sich der Dialog, in Anlehnung an platonische Schriften, mit der Diskrepanz zwischen angeblichem und tatsächlich vorhandenem Wissen, d.h. mit Anspruch und Wirklichkeit, auseinander, welche im Bereich des korrekten Sprechens – im Sinn eines attizistischen Puristen – aufgezeigt wird. Kritisiert wird einer, 285 »Und wenn wir diese [gemeint sind die Solözismen anderer] schon nicht bemerken, werden wir nichts von unseren eigenen erkennen, da auch der eben begangene Solözismus dir entging. Sag deshalb nicht mehr, du seiest imstande, einen Solözisten wahrzunehmen und selbst keine Solözismen zu begehen!« Mit dem »eben begangenen Solözismus« ist die Form ἑαυτῶν anstelle von ἡμῶν αὐτῶν in der 1.P.Pl. des Reflexivpronomens gemeint. Die hier vertretene Ansicht ist allerdings sehr puristisch-pedantisch (wie wir es aber von Lukian erwarten), da das Reflexivpronomen der 3. Person im Plural auch für das der 1. und 2. Person eintreten kann; so häufig bei Polybios, aber auch bei den Tragikern, bei Herodot und Isokrates (K.-G. I 2,599 Anm. 2). 286 »Derjenige, der Wissen vorgibt, ist in Unkenntnis.« Dieser Satz ist wohl eine bewusste Variation der sokratischen Darstellung in Apol. 21d: Ἀλλ’ οὗτος μὲν οἴεταί τι εἰδέναι οὐκ εἰδώς· ἐγὼ δέ, ὥσπερ οὖν οὐκ οἶδα, οὐδὲ οἴομαι. [...], ὅτι ἂ μὴ οἶδα οὐδὲ οἴομαι εἰδέναι. Durch diese Anspielung vergleicht Lukian den Sophisten konkret mit den nichtwissenden Gesprächspartnern des Sokrates, sich selbst stilisiert er zu einem – über Sprachfragen sehr wohl Bescheid wissenden – ›Sokrates‹.

2.2 Bildung und Unbildung in Rh. Pr., Sol. und Adv. Ind.

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der nicht einmal auf dem (an sich schon lächerlichen) Gebiet des Pedantismus richtig Bescheid weiss, obschon er dies behauptet und andere an entsprechenden sprachlichen Maximen misst.287 Mit dem gewählten Thema von Solözismus und Barbarismus bewegt sich Lukian einmal mehr exakt im Bereich der in der Zweiten Sophistik grundlegenden Kennzeichen von Bildung und Unbildung. Denn zahlreiche Textpassagen aus dieser Zeit belegen »wie tief die Forderung nach Sprachrichtigkeit im Denken jedes Angehörigen der Oberschicht verwurzelt war«288. Dass ein Sophist, dessen Beruf es ist, die korrekte Sprache vorzuführen bzw. zu reflektieren, hierin derartige Defizite hat, ist umso gravierender, und damit treibt der Autor sein Spiel.289 Die Fragen, warum in Soloecista die Dialogfigur Lukian sprachliche Erscheinungen für falsch erklärt, die der Autor Lukian selbst in seinen Werken gebraucht, und warum Lukian einen puristisch-pedantischen Attizismus290 vertritt, den Lukian anderswo lächerlich macht, haben die Forschung immer wieder beschäftigt. Doch ich glaube, dass eine sinnvolle und relativ

287 Lukians Kritik der ›Alten‹ bzw. des Umgangs mit ihnen ist von zweierlei Art: übertriebene Autoritätsgläubigkeit (Pedantismus, vgl. Sol.) und übertriebenes Archaisieren (vgl. Lex.). Vgl. dazu Bompaire [1958] 133f.: »On ne trouve pas chez Lucien de critique véritable des Anciens. [...] Par contre la critique de Lucien s’exerce aux dépens des excès du principe d’autorité et des absurdités de l’archaïsme.« 288 Schmitz [1997] 81. Man vergleiche folgende Aussage des Sextus Empiricus (M. 1,176): ὅ τε ἑκάστοτε βαρβαρίζων καὶ σολοικίζων ὡς ἀπαίδευτος χλευάζεται (»denn wer konstant Barbarismen und Solözismen begeht, wird als Ungebildeter verspottet«). Selbst der gegenüber Attizisten durchaus skeptische Philosoph anerkennt die Wichtigkeit der Vermeidung von Sprachfehlern. Vgl. auch oben S. 92f. 289 Es ist anzumerken, dass der Sophist selbst im Dialog keine Sprachfehler begeht, ihm also diesbezüglich kein Defizit angelastet werden kann. Doch dadurch, dass er unfähig ist, Solözismen zu erkennen, fehlt ihm offensichtlich das nötige Sprachgefühl, welches man für Debatten innerhalb der Sophistik braucht. Wer sich da einmischt (was der Sophist offenbar tut), muss sehr genau Bescheid wissen. Dem Sophisten jedoch mangelt es an Wendigkeit, er ist schwer von Begriff und hinkt im Gespräch immer einen Schritt hinterher, so dass Lukian ihm weit überlegen ist. Die Darstellung des Sophisten kann als Verspottung der ganzen Gruppe derjenigen Berufsvertreter gelesen werden, die durch fehlende Spontaneität zwar an ihrem Schreibtisch eine akzeptable Rede konzipieren können, im spontanen Vortrag oder Fachgespräch jedoch scheitern. 290 Dieser ist an der Art dessen, was von Lukian als Fehler bezeichnet wird, gut ersichtlich (vgl. die Kommentierung von Harmon [1925] und Bompaire [1998]) und wird verdeutlicht durch den Umstand, dass rund 20 Prozent der Wörter oder Konstruktionen, welche von Lukian und Sokrates als falsch kritisiert werden, mit denen übereinstimmen, die vom als strenger Attizist geltenden Phrynichos in seiner Ekloge ebenfalls als unattisch abgelehnt werden (vgl. Weissenberger [1996] 59); Swain ([1996] 45) betitelt Phrynichos als »exceptionally strict atticist«. Die Übereinstimmungen sind: ἄρτι mit Fut. (Sol. 1 / Phryn. 11 Fischer), διέφθορας (Sol. 3 / Phryn. 131 F), πηνίκα (Sol. 5 / Phryn. 30 F), κορυφαιότατος (Sol. 5 / Phryn. 213 F), ἐξ ἐπιπολῆς (Sol. 5 / Phryn. 98 F), συνεκρίνετο (Sol. 5 / Phryn. 243 F), καρῆναι (Sol. 6 / Phryn. 291 F), ἔκτοτε (Sol. 7 / Phryn. 29 F), βράδιον (Sol. 7 / Phryn. 71 F), ἵπτασθαι (Sol. 7 / Phryn. 297 F), ἀνέῳγε (Sol. 8 / Phryn. 128 F), καθέσθητι (Sol. 11 / Phryn. 233 F). Mitrechnen kann man auch συντάττομαι σοι (Sol. 5), weil Phrynichos (14 F) über ἀποτάσσομαι σοι Ähnliches aussagt.

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2. Πεπαιδευμένος und ἀπαίδευτος

simple Erklärung für die Gestaltung der Figur Lukian möglich ist.291 Bereits die Scholien zu Sol. erklären (p. 36 Rabe): Σοφιστήν τινα εἰσάγει ἀπαίδευτον μεγάλα φρονοῦντα καὶ ἐπαγγελλόμενον ἅπαντα εἰδέναι τὰ σόλοικα. ὁ οὖν Λουκιανὸς βουλόμενος αὐτὸν ἐλέγξαι μηδὲν εἰδότα ἑαυτὸν εἰσήγαγε σολοικίζοντα καὶ διὰ τοῦτο ψευδοσοφιστὴν αὑτὸν ὠνόμασεν.292

Das von Lukian angewandte Prinzip ist also, seinen Gegner, einen angeblich allwissenden Sprachpedanten, mit dessen eigenen Waffen zu schlagen. Lukians Verhalten und Aussagen dienen der Blossstellung des Gegenübers und nicht der Propagierung eines eigenen, puristischen Sprachgebrauchs. Der gebildete Leser oder Hörer unterzieht sich automatisch demselben Test wie der Sophist und kann sich besonders über die gesuchten und pedantischen Fehler amüsieren, welche der Sophist nicht bemerken wird. Der Autor in der Rolle des Entlarvers und Lehrers präsentiert sich selbst als weit überlegen und gibt damit ein Beispiel, welcher Bildungsstandard im Kreis der wahrhaft Gebildeten (πεπαιδευμένοι) erforderlich ist und zu Spott und Kritik an anderen überhaupt erst befähigen kann.293 Humoristisch-kritisch hinterfragt wird hier zu einem Teil sicher eine puristisch-pedantische Sprache,294 zu einem anderen, grossen Teil aber das Phänomen der Überschätzung der eigenen Bildung und die damit einhergehende Überheblichkeit.295 Der Autor setzt sich damit von Möchtegern-Pedanten und -Gebildeten ab, indem er demonstriert, dass er im Bereich des attizistischen Pedantismus durchaus bewandert ist,296 und Leute, die sich auf ihre vermeintlich korrekte Sprachverwendung viel einbilden, mit Leichtigkeit eines Besseren belehren kann. Zur Kritik an der Überheblichkeit des Sophisten hebt Weissenberger ([1996] 65f.) hervor, dass damit ein vermeintlicher Meister seines Faches 291

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Weissenberger [1996] 59–67. »Er lässt einen Sophisten auftreten, der ungebildet ist, aber viel von sich hält und verkündet, er kenne sich mit allen Solözismen aus. Loukianos nun hat in der Absicht, jenen der Unwissenheit zu überführen, sich selbst auftreten lassen als einen, der Solözismen begeht, und sich (oder: ihn) deshalb Pseudosophist genannt.« – Die alternative Übersetzung, hängt davon ab, ob man mit Rabe αὑτόν oder mit den codd. αὐτόν in den Text setzt (dazu Rabe »i.e. διάλογον; vix recte«, wobei Weissenbergers ([1996] 63) Interpretation, dass sich αὐτόν auf den Sophisten beziehen würde, sicher genauso gut möglich ist). 293 Auch die originelle Gestaltung der Schrift als Pastiche des sokratisch-platonischen Dialogs (vgl. bereits Anm. 277) erweist den Autor als gebildet. 294 So Baldwin [1973] 57, der »the Phrynichus school of pedantry and purism« als »the most logical target of the Soloecistes« angibt. Zur Sprachkritik in Lexiphanes (Archaismus) siehe die Ausführungen im Kommentar zu §§16–17. 295 Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass Überheblichkeit und Prahlerei einen wichtigen Zug des Rednerlehrers und seines Unterrichtes ausmachen, wobei in Rh. Pr. überhebliches Verhalten nicht auf einer Fehleinschätzung des eigenen Könnens beruht, sondern bewusst zum Kaschieren mangelnder Bildung eingesetzt wird. 296 Weissenberger ([1996] 66) bemerkt, Lukian zeige in Sol. seine »Vertrautheit mit einer bestimmten attizistischen Observanz«. 292

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davon abgebracht werden soll, andere zu tadeln, und dazu angehalten, seine eigenen Kenntnisse zu verbessern. Erst wer in Fragen der Sprache so bewandert ist wie der Autor, kann sich eine Einmischung in die entsprechenden Debatten erlauben.297 Dies ist im Kern sicher richtig, allerdings zu stark aus der Warte des Kritikers mit Mahnfinger gelesen; Lukian benutzt gerade nicht den Mahnfinger, sondern eine humorvolle Darstellung dessen, was den Rezipienten vielleicht tatsächlich nicht nur zum Lachen, sondern auch zur Selbstreflexion anregt. Die zweite Schrift, die hier besprochen werden soll, befasst sich nicht mit sprachlichen Fragen im engeren Sinn, sondern mit dem oben bereits beschriebenen Phänomen, dass παιδεία in der Kaiserzeit fester Bestandteil des ›Tugendkatalogs‹ reicher und hochgestellter Persönlichkeiten ist. Der Titel lautet Πρὸς τὸν ἀπαίδευτον καὶ πολλὰ βιβλία ὠνούμενον (Adv. Ind.), deutsch etwa Gegen den ungebildeten Büchernarren, worin bereits angedeutet wird, dass Hauptperson und Zielscheibe der Satire ein ungebildeter Mensch ist, der im Widerspruch zu seiner Unbildung eine ausserordentliche Bücher-Sammelwut an den Tag legt. Genau dieser Widerspruch wird im Text entwickelt: Der Büchernarr, der (wie wir nicht aus dem Titel, aber sogleich aus dem Text erfahren) zudem ein reiches (πλούσιος) Mitglied der Oberschicht ist (vgl. §§4, 6, 9f., 19, 24–26),298 versucht, seine Unbildung durch unentwegtes Anschaffen teurer Bücher zu kaschieren, als ob der blosse Besitz der alten Klassiker ihm automatisch die klassische Bildung verleihe. Ein Kernthema ist auch hier die Differenz zwischen Sein und Schein.299 Auf den ersten Blick mag der Ungebildete gebildet erscheinen, da er immer ein Buch mit sich herumträgt und sich sehr belesen gibt.300 Bei näherem Hinsehen jedoch entpuppt sich die Belesenheit als Schein, denn er ist 297 Weissenberger ([1996] 67) bemerkt dazu: »Lukian gibt sich im Sol. – jedenfalls theoretisch – als Gegner und Kritiker des besserwisserischen und beleidigenden Herummäkelns, wie es nicht nur in seinen Tagen unter Gebildeten gerade in Fragen des Sprachgebrauchs nicht ganz selten war – was allerdings nicht heissen muss, dass er sich in der Auseinandersetzung mit persönlichen Gegnern immer konsequent an diese löbliche Maxime gehalten hätte.« 298 Bezüglich seines Status wird allerdings nicht absolut klar, ob er ein Emporkömmling ist, oder aber als Angehöriger der Aristokratie geboren. Ausserdem wird sein Reichtum dadurch geschmälert, dass mehrfach seine Schulden betont werden, die neben dem ewigen Bücherkauf auch wegen seiner Vorliebe für teure junge Sklaven entstehen (zum invektivischen Topos sexueller Zügellosigkeit vgl. die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §24). 299 Grosse Teile der Schrift weisen, wie es in Pseudol. der Fall ist, auch andere Angriffspunkte auf, die nur bedingt mit dem Bereich Bildung zu tun haben – z.B. ausschweifendes Privatleben und durch Betrug erworbenen Reichtum –, aber dennoch mit in Lukians (invektivisches) Bild des Ungebildeten (ἀπαίδευτος) gehören. Vgl. dazu den Kommentar zu Rh. Pr. 23–25. 300 Auf genau diese Wirkung des Anscheins von Bildung setzt auch der Rednerlehrer, der seinem Schüler empfiehlt, immer ein Buch mit sich zu tragen (§15). Das Bild des Studierenden bzw. Gebildeten mit einem Buch in der Hand ist verbreitet, vgl. z.B. Libanios über seine eigene Studienzeit Or. 1,8 (ἐν χεροῖν τε ἡ βίβλος).

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nicht einmal imstande, die Texte in korrekter Aussprache vorzutragen, geschweige denn, ihren Inhalt zu erfassen, zu beurteilen, gelehrte Diskussionen darüber zu führen und einen Nutzen aus ihnen zu ziehen. Der IchSprecher arbeitet in dieser Schrift stark mit dem Kontrast zu wirklichen Gebildeten und Literaturkundigen und ihrem Umgang mit Literatur. Als dritte Partei, die auf seiner Seite steht, bezieht er nämlich die πεπαιδευμένοι in sein Pamphlet ein, indem er immer wieder betont, dass alle Gebildeten den Büchernarren verspotten und durchschauen (§§7, 19, 28).301 So schart er eine Gruppe Gebildeter um sich, die sich vom reichen Ungebildeten absetzt und sich über ihn amüsiert, sich mittels der Verspottung eines Ungebildeten gleichzeitig der eigenen Bildung versichern und vergewissern kann.302 Die Lächerlichkeit des Bücherkaufs des Ungebildeten und damit die Legitimität der Verspottung beweist der Sprecher immer wieder durch (seine eigene Bildung und Belesenheit in den Vordergrund rückende) Vergleiche und passende Sprichwörter (§§5, 6, 7, 15, 18, 25, 27–28).303 Was dem Büchernarren wirklich entgeht und weshalb ihm all seine Literatur nichts nützt, wird schon ganz zu Beginn der Schrift kurz thematisiert (§1): Mangels Bildung fehlen dem Mann jegliche Beurteilungskriterien, ob ein Buch gut und alt oder schlecht und unbrauchbar ist.304 Es entgehen ihm demnach auch Schönheit, Nutzen, Vortrefflichkeit oder Minderwertigkeit des Aufgeschriebenen und der Gesamtgehalt des Textes, schliesslich auch die Taxis und Lexis der Wörter (§2). Kurz gesagt liest der Ungebildete zwar, versteht aber nichts (§4).305 Wie gravierend das ist, zeigen Passagen, aus denen deutlich wird, wozu den Gebildeten Bücher dienen: Sie schöpfen 301 Teilweise gibt der Sprecher auch die (negative) Meinung einer nicht weiter spezifizierten Partei, die alle umfasst, die den Büchernarren kennen, wieder (vgl. §19 und §22: οἱ σε εἰδότες; ἅπαντες). Dies ist ein geschickter Mechanismus des Einbezugs auch der weniger gebildeten Hörer. 302 In Adv. Ind. 3–4 vollzieht der Ich-Sprecher mehrmals eine klare Trennung zwischen ἡμεῖς (»wir«), den Gebildeten, zu denen er sich selbst natürlich zählt, und σύ (»du«), dem Ungebildeten, der zwar eingesteht, dass er nicht dieselbe Bildung genossen hat, aber glaubt, dies durch seine Bücherkäufe wettmachen zu können, als ob es reichte, einen Thukydides und Demosthenes im Büchergestell stehen zu haben, ohne Sprache und Inhalt dieser Werke studiert zu haben. Vgl. Schmitz [1997] 174f. zur Taktik des gemeinsamen Lachens über einen Ungebildeten, wobei der ἀπαίδευτος als Kontrastfolie dient. Siehe auch Lukians Schrift Pseudologista. 303 Die Vergleiche, welche auf Werke, Figuren und Passagen der klassischen Literatur verweisen, enthalten teilweise Anspielungen auf die bekanntesten Klassiker (Homer, z.B. §7), aber auch auf Selteneres (Eupolis’ Baptai und Euripides’ Hippolytos, §§27f.). Auf diese Vergleiche (aber auch allgemein auf Lukians Sophistensatiren) trifft folgende Feststellung Andersons im Rahmen seiner Erörterung, wie unterschiedlich sophistische Autoren ihre παιδεία demonstrieren, zu ([1989] 111): »Lucian can manipulate paideia as a weapon of invective.« 304 Sarkastisch meint der Ich-Sprecher, nur etwaige Mottenlöcher könnten dem Büchernarren über das Alter eines Buches Auskunft geben. 305 σὺ τοίνυν βιβλίον μὲν ἔχεις ἐν τῇ χειρὶ καὶ ἀναγιγνώσκεις ἀεί, τῶν δὲ ἀναγιγνωσκομένων οἶσθα οὐδέν.

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sowohl aus der Sprache als auch aus dem Gedankengang eines Werkes (bzw. des Protagonisten eines Werkes) Nützliches und lernen sowohl richtiges Sprechen als auch angemessenes Handeln (§17 und §28). Denn ein Gebildeter setzt seine Hoffnungen nicht auf Bücherverkäufer, sondern auf sich selbst und sein eigenes tägliches Leben (§24). So nützt es eben nichts, sich die besten Bücher anzuschaffen, ohne über eine gewisse Grundbildung zu verfügen, welche eine korrekte Sprache umfasst und ein Verständnis des Inhaltes gewährleistet. Bereits auf einer höheren Bildungsstufe könnte man die Fähigkeit ansetzen, ein Werk durch Einsicht und Geschmack beurteilen zu können und für sich einen Nutzen daraus zu ziehen. Aus der Beschäftigung mit den Klassikern folgt also die Fähigkeit zur gelehrten Diskussion über Literatur, zur Beherrschung der attizistischen Sprache und gleichzeitig zu einer moralisch einwandfreien Lebensweise.306 Die Verknüpfung von Bildung – insbesondere rhetorischer Ausbildung – und Moral findet sich explizit bereits in Plat. Grg. 504d–e, später in Ciceros Konzept des orator perfectus, schliesslich bei Quintilian und – zu Lukians Zeit – bei Aristeides.307 Der Einkauf von Bildung (παιδεία), der hier in einem Einzelfall verspottet wird, tritt in Lukians Satire auch in einen grösseren Kontext eingebettet auf: Diese Kommerzialisierung geht mit der Dekadenz der Zeit einher und dient nur dem eigentlichen Ziel von Ruhm, Einfluss und Macht.308 Aus den dargestellten Sophistensatiren ist bezüglich des Selbstbildes des Autors, seiner stets von Humor durchsetzten Stellungnahme im Bildungsdiskurs und seiner Absetzung von Scheingebildeten Folgendes deutlich geworden: Der Ich-Sprecher bzw. die dominante, starke Figur des Dialoges, welcher der Autor seine Stimme leiht, trägt jeweils die Züge eines Entlarvers, der gemeinsam mit dem Publikum diejenigen Vertreter der Sophistik, welche bloss über ein falsches, ein oberflächliches oder gar kein Wissen verfügen (die Spanne reicht vom hyperattizistischen Lexiphanes309 bis zum völlig ungebildeten Büchernarren), obwohl sie sich als Gebildete (πεπαι306 Dass mimesis bzw. die Lektüre mimetischer Literatur auch einen Gewinn bezüglich der ethischen Verbesserung der rezipierenden Person bringt, wird auch in anderen Texten der Zweiten Sophistik deutlich, vgl. dazu Whitmarsh [2001] 47–57. Er zeigt dies v.a. am Beispiel von Plutarch, dessen Interesse beim Verfassen der Doppelviten »in the construction of an ethical subjectivity that is designed to improve and educate the reader« lag (S. 54; mit dem Hinweis auf Plutarchs Aussagen im Vorwort zu Aem. Paul. 1,2–4). Vgl. generell zum Umstand, dass mimesis in der Zeit der Zweiten Sophistik nicht nur Sprache und Stil, sondern die ganze Person umfasst, die sich nach klassischen Paradigmata ausrichten soll, Whitmarsh [2001] 90–93 und zusammenfassend 299. 307 Vgl. Cic. De or. 2,85; Quint. Inst. 2,17,31 und 2,20,4; Aristeid. Or. 2,235–236.270.429. 308 Siehe dazu Whitmarsh [2001] 258f. und 269f.: Lukians Vitarum Auctio beispielsweise, wo die Philosophen als Sklaven, und damit als käuflich erwerbbares Wissen, auftreten, thematisiert diese Dekadenz genauso wie Nigrinus (§§24–25), wo schmeichlerische Scheinphilosophen sich ins Gefolge reicher Leute begeben und die Philosophie damit wie eine Ware feilbieten. 309 Siehe zu diesem Dialog den Kommentar zu Rh. Pr. 16–17.

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δευμένοι) ausgeben310 – sei es ganz bewusst wie der Rednerlehrer in Rh. Pr., sei es unbewusst wie der Patient Lexiphanes und auch der Sophist in Sol. –, aufspürt und verlacht. Wichtig ist dabei, dass der Entlarver seinerseits über den erforderlichen Bildungsstandard der Zweiten Sophistik verfügt – und den mit ihm Lachenden das Gefühl gibt, dass dies auch für sie zutrifft –, und dass er dies auch demonstriert, seine Bildung also zur Kreation des Humors und zur Herabsetzung des Gegners einsetzt. Auch wenn Bildung und attizistischer Sprachgebrauch letztlich eine Frage des Geschmacks darstellen, so kann doch ohne grundlegende Kenntnisse auf deren Diskussion gar nicht erst eingetreten werden. Die Scheingelehrten311 sind sozusagen ›Nestbeschmutzer‹, welche hinter den Bildungsstandards der echten Sophisten zurückbleiben und ein schlechtes Licht auf die Berufsgattung werfen.312 Der Vorwurf der Unbildung (ἀπαιδευσία) steht immer wieder im Raum: Lexiphanes beispielsweise wird in Aussicht gestellt, durch Umlernen seine ἀπαιδευσία hinter sich zu lassen.313 Allerdings braucht es vorab die Einsicht, dass man un- oder nicht genug gebildet ist. Deshalb äussert sich der Ich-Sprecher in Pseudol. 3 bezüglich seines Gegners gehässig, dass dieser, weil es ihm genau an dieser Einsicht mangle, nie ein gebildeter und ein besserer Mensch würde: Καίτοι μάταιον ἴσως καὶ περιττὸν ἐν παιδείας νόμῳ παρρησιάζεσθαι πρὸς σέ. οὔτε γὰρ ἂν αὐτός ποτε βελτίων γένοιο πρὸς τὴν ἐπιτίμησιν, οὐ μᾶλλον ἢ κάνθα-

310 So wird der in Pseudologista Attackierte als »selbsternannter Sophist« bezeichnet (§5: ὁ γὰρ σοφιστὴς οὗτος εἶναι λέγων) und seine eigene Zunge verrät (§25): »Ich habe dafür gesorgt, dass du, der du diese fremden Reden vorträgst, ein Sophist zu sein scheinst« (τοὺς ἀλλοτρίους τούτους λόγους ὑποκρινόμενον σοφιστὴν εἶναι δοκεῖν ἐποίησα). Dass er in Wahrheit absolut ungebildet ist, macht der Ich-Sprecher dem Publikum immer wieder deutlich. Auch der Rednerlehrer gibt sich als grosser Sophist und Redner und gilt als ein solcher (§§11–13), obwohl ihm durchaus bewusst ist, dass er sich diesen Rang und die Bewunderung der Leute nicht mittels Bildung, sondern durch seine Tricks und sein Scheinwissen »erarbeitet« hat (§17). Der ungelehrte Büchernarr schliesslich, dessen Bildungsgrad im Vergleich mit den vorher genannten sicher am tiefsten anzusetzen ist, hat sich von Schmeichlern überzeugen lassen, er sei ein Intellektueller, Rhetor und Literat wie kein anderer (§20: σοφὸς καὶ ῥήτωρ καὶ συγγραφεὺς οἷος οὐδ’ ἕτερος), so dass er immer bestrebt ist, sich den Gebildeten anzugleichen (§22: τοῖς πεπαιδευμένοις ἐξομοιοῦσθαι ἐθέλεις). 311 Ein Ausdruck dafür, dass sie Scheingelehrte sind, ist auch ihre Ignoranz dessen, worauf es wirklich ankommt: Sie befassen sich mit sprachlichem Archaisieren (Lex.), Pedantismus (Sol.) oder – noch schlimmer – exzessivem Bücherkauf (Adv. Ind.) anstelle wirklicher Bemühung um sprachliche Klarheit, Form und Inhalt und den Nutzen von Reden oder Literatur im Allgemeinen. 312 Vgl. Jones [1986] 101 und Halls Terminus »charlatan sophist« ([1981] Kap. 4 passim). 313 §23: »Wenn du dies tust und eine Weile dem Vorwurf der Unbildung (ἀπαιδευσία) standhältst und dich nicht scheust umzulernen (μεταμανθάνειν), dann kannst du zuversichtlich in der Öffentlichkeit verkehren und wirst nicht ausgelacht werden wie jetzt [...].«

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ρος μεταπεισθείη ἂν μηκέτι τοιαῦτα κυλινδεῖν, ἅπαξ αὐτοῖς συνήθης γενόμενος.314

Immer wieder gibt sich der Autor als besonders verärgert über Unbildung in Kombination mit falscher Selbsteinschätzung, sei es beim Sprachpedanten (Sol.), beim Platonnacheiferer (Lex.) oder beim ungebildeten Büchernarren (Adv. Ind.). Die Diskrepanz von Scheinwissen und echtem Wissen sowie die Frage nach echter Kompetenz steht in vielen Schriften Lukians im Vordergrund. Und gleichzeitig ist für seine Zeit Platon eines der wichtigsten Vorbilder der Literatur und des intellektuellen Diskurses allgemein. Da erstaunt es nicht, dass Lukian in Dialogen wie Lex. und Sol. gerade auf Sokrates und die spezifisch sokratische Frageweise anspielt, denn dieser ist die Paradefigur desjenigen, der Scheinwissen entlarvt und seinen Gesprächspartnern ihre Inkompetenz in Bereichen, für die sie sich als kompetent ansehen, aufzeigt.315 Wir erfahren auch einiges über das Publikum dieser Scheinsophisten, über dessen Bildungsstand und über die Wirkung von Scheinrednern auf das Publikum. Charakteristisch und ein Anzeiger des eigenen niedrigen Bildungsstandes ist die Reaktion derer, mit denen der Autor seine ›Opfer‹ im Rahmen ihrer Tätigkeit als Sophisten zusammentreffen lässt: Gemäss Lukians Darstellung reagieren die Gebildeten (πεπαιδευμένοι) mit Mitleid oder (öfter) mit Hohngelächter, die Ungebildeten (ἀπαίδευτοι, ἀνόητοι; zuweilen auch ›Menge‹, οἱ πολλοί/τὸ πλῆθος, genannt) mit Staunen und Lob.316 Dass also gemäss Lukian dem Urteil der Masse für die qualitative Beurtei314 »Und doch ist es wohl vergebliche Mühe und überflüssig, mit dir nach dem Brauch der Gebildeten offen zu reden. Denn du dürftest wohl niemals besser werden als Reaktion auf meinen Tadel – genauso wenig wie ein Mistkäfer umgestimmt werden könnte, nicht mehr solche [Dreckklösse] umherzuwälzen, wenn er sich einmal daran gewöhnt hat.« Zur Tätigkeit des Mistkäfers vergleiche man den Beginn von Aristophanes’ Frieden, bes. V. 7 (περικυλίσας). 315 Einzig darin, was echtes Wissen ist, rücken die Positionen des Sokrates bzw. Platons auf der einen und Lukians auf der anderen Seite auseinander: Für Lukian ist es Bildung, παιδεία, auf der alles beruht. Für Sokrates hingegen geht es nicht um Bildung im attizistischen Sinn, nicht um Kenntnis alter Schriften, sondern um Dialektik und die unablässige Bemühung um Erkenntnis. 316 Mitleid der Gebildeten: Lex. 17; Hohngelächter: Lex. 23f.; Adv. Ind. 28 und 7 (wo sogar die Schmeichler, welche den Büchernarren vordergründig loben, hinter seinem Rücken ebenfalls in Gelächter ausbrechen); Pseudol. 6f.; Staunen und Lob der Ungebildeten: Lex. 17 und 24; Rh. Pr. 17, 20, 26. Bezeichnenderweise meint der Rednerlehrer hinsichtlich der Kenner abwiegelnd, dass sie sich aus Gutmütigkeit meist ruhig verhielten (Rh. Pr. 20), schliesslich darf er seinen Schützling nicht entmutigen. Dass die Umgangsformen wohl eher rauer waren und vor allem Sprachschnitzer unter Gebildeten scharf kritisiert werden konnten, zeigen nicht nur die Lukianpassagen aus Lex., Adv. Ind., Pseudol., sondern zahlreiche weitere Aussagen seiner Zeitgenossen, zusammengestellt von Schmitz [1997] 83–91 im Kapitel ›Sprache als Kennzeichen von Bildung‹. Diese Belege sind wichtig, weil sie zeigen, dass Lukians Äusserungen – trotz aller gattungsbedingten Übertreibungen – mit den allgemeinen Wertungen und Haltungen der zeitgenössischen gebildeten Oberschicht übereinstimmen. Er gliedert sich deutlich in sein Umfeld ein und setzt elitäres Kritisieren von Fehlern auf humorvolle Weise um.

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lung eines Vortrags keine grosse Bedeutung beigemessen werden darf, bringt eine Ambivalenz ans Licht, der er selbst sicher auch ausgesetzt war und die im Zusammenhang mit der Schrift Rh. Pr. deutlich wird: Um als Sophist richtig berühmt und wohlhabend zu werden, braucht man den Erfolg beim breiten Publikum, das gleichzeitig aber auch auf Tricks der Redner hereinfallen kann und sich durchaus blenden lässt.317 Weissenberger ([1996] 148f.) analysiert, dass eine solche Einschätzung und eine Zweiteilung der Publikumsreaktionen, wie wir sie gesehen haben, bedeuten könnte, »dass schlechte, aber publikumswirksam aufgemachte Literatur die Missbilligung der wenigen Gebildeten, aber den Beifall der Masse finde, während man mit wirklich Gutem zwar jene Wenigen für sich einnehmen könne, von den Vielen aber abgelehnt werde.« Er fügt jedoch an, dass dies nicht zwingend so sein müsse, denn es gebe einen anderen Grundsatz, der in der Formulierung des Lykinos in Lex. 22 anklinge: [...] εἴπερ ἄρ’ ἐθέλεις ὡς ἀληθῶς ἐπαινεῖσθαι ἐπὶ λόγοις κἀν τοῖς πλήθεσιν εὐδοκιμεῖν [...].318 Somit besteht die Möglichkeit, dass der Redner mit einem wirklich guten Vortrag beiden Gruppen, Gebildeten und Ungebildeten gleichermassen gefallen kann, wobei auch der Faktor eine Rolle spielen mag, dass die Laien das Urteil derer, die sich besser auskennen, übernehmen. Man kann sich leicht vorstellen, dass die Masse sich dem Lob oder Tadel eines Experten im Publikum (z.B. eines berühmten Sophisten) anzuschliessen pflegte. Bezeugt wird uns das in der bereits erwähnten Rede von Aristeides (Or. 34,38f.), wo argumentiert wird, dass, da die Meinung der Vielen von den Experten abhänge, man sich ganz auf letztere konzentrieren müsse, um auf diese Weise bei beiden Parteien gleichermassen Bewunderung zu finden319 – was wiederum eine gute Rhetorik erfordert, die frei von Tricks und Täu-

317

Der Grosserfolg bei einem Massenpublikum ist nicht frei von Topik und Übertreibung; zur vorsichtigen Beurteilung der tatsächlichen historischen Gegebenheiten der Hörerschaft sophistischer Vorträge vgl. bereits Anm. 259. 318 »[...] wenn du wirklich gelobt werden willst für deine Reden und Erfolg haben willst vor dem breiten Publikum [...].« 319 ἐκείνως μὲν γὰρ ὑπ’ ἀμφοτέρων κριθησόμεθα καὶ θαυμασθησόμεθα. Weissenberger ([1996] 149 Anm. 382) weist darauf hin, dass auch Lukians Vorrede Harmonides von der Annahme ausgeht, dass durch Überzeugung weniger Experten bei allen Griechen Berühmtheit erlangt werden kann (§§2f.: Timotheos’ Rat an den Auleten Harmonides, den Lukian jedoch als generell gültig auch auf sich bezieht): εἰ γὰρ ἐπιλεξάμενος τῶν ἐν τῇ Ἑλλάδι τοὺς ἀρίστους καὶ ὀλίγους αὐτῶν ὅσοι κορυφαῖοι [...], εἰ τούτοις, φημί, ἐπιδείξαιο τὰ αὐλήματα καὶ οὗτοι ἐπαινέσονταί σε, ἅπασιν Ἕλλησιν νόμιζε ἤδη γεγενῆσθαι γνώριμος ἐν οὕτω βραχεῖ. [...] εἰ γὰρ οὓς ἅπαντες ἴσασι καὶ οὓς θαυμάζουσιν, οὗτοι δὲ εἴσονταί σε αὐλητὴν εὐδόκιμον ὄντα, τί σοι δεῖ τῶν πολλῶν, οἵ γε πάντως ἀκολουθήσουσι τοῖς ἄμεινον κρῖναι δυναμένοις; [...] Ὁ μέντοι τοῦ Τιμοθέου λόγος οὐκ αὐληταῖς οὐδὲ Ἁρμονίδῃ μόνον εἰρῆσθαί μοι δοκεῖ, ἀλλὰ πᾶσιν ὅσοι δόξης ὀρέγονται δημόσιόν τι ἐπιδεικνύμενοι, τοῦ παρὰ τῶν πολλῶν ἐπαίνου δεόμενοι. ἔγωγ’ οὖν [...] τῷ Τιμοθέου λόγῳ ἑπόμενος [...].

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schungen ist und die aufgrund ihres Inhalts überzeugt.320 Dieser Vorgang würde in seiner Bedeutung mit den Thesen übereinstimmen, welche Schmitz ([1997] 44ff., 83ff., 91ff.) für Bildung und Sprache der herrschenden Schicht gegenüber der »schweigenden Masse« aufgestellt hat: Die herrschende Schicht legitimiert ihre Macht durch überlegene Bildung, ein Phänomen, welches sich literarisch und epigraphisch niederschlägt. Umgekehrt findet sich aber auch die feste Erwartung, dass Reiche und Hochgestellte gebildet sind. Bildung, Macht und Reichtum sind somit eng verknüpft und werden so demonstriert, dass die ungebildete Masse die Überlegenheit der Oberschicht, gerade im sprachlichen Bereich, anerkennt.321 Der Attizismus, dessen Regeln die Bildungselite erlässt, und die Fähigkeit, nach den attizistischen Regeln sprechen zu können, bilden einen der Faktoren, der eine Trennlinie zwischen den Gebildeten und der Masse der Ungebildeten etabliert. Letztere verfügen nicht über die ökonomischen Mittel, sich die entsprechende Kommunikationskompetenz anzueignen und sind dadurch sozusagen zum Schweigen verurteilt – ein Schweigen, das ihnen gerechtfertigt erscheinen muss, solange sie die Regeln nicht in Frage stellen und sooft sie die Bildungselite in Aktion sehen, deren artifizielle Sprache hören und deren gelehrte Diskussionen an öffentlichen Deklamationen erleben.

320

Es bleibt dennoch zu bemerken, dass die Ungebildeten auf jeden Fall schon während des Auftritts durch Inhalt und Vortragsweise unterhalten werden müssen; Verständlichkeit und Identifikationsmöglichkeiten auch für Ungebildetere sind daher erforderlich. Wohlwollende und begeisterte Äusserungen oder Gestik der Gebildeten im Publikum werden dabei zusätzlich den guten Eindruck unterstützen sowie im Nachhinein das Bewusstsein hervorrufen, eine ›Koryphäe‹ gehört zu haben. 321 Die lukianischen Schriften greifen aber nicht zuletzt auch Mitglieder der Oberschicht als ungebildet an, so dass durch die Entlarvung von (oft mit Arroganz gepaarter) Scheinbildung eine Absetzung einer Elite innerhalb der Elite stattfindet, welche die παιδεία der ›echten‹ Gebildeten in den Augen der Ungebildeten noch höher ansetzt, sie zur imponierenden Leistung werden lässt (vgl. Schmitz [1997] 112). Demselben Effekt dienen m. E. die für die reale Vortragssituation gut bezeugten fachlich-kritischen Auseinandersetzungen im Anschluss an eine oder sogar während einer Darbietung, die den agonalen Charakter dieser Veranstaltungen verdeutlichen, wie auch die grossen Rivalitäten unter einigen ›Sophistenstars‹. Siehe dazu Schmitz [1997] 110ff.; Bowersock [1969] 89–100; Anderson [1993] 35–39; Plut. Tuend. san. 16,131; Luk. Rh. Pr. 22; Phryn. Ecl. 140 Fischer (sprachliche Fehler der Rednerstars Favorinus und Polemon); Athen. Deipn. 398b–c (Vermeidung kritischer Situationen).

3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie: Parallelen in der lukianischen Spottmotivik

Ein Aspekt dessen, was in den vorangegangenen Kapiteln zur Sprache gekommen ist (vgl. v.a. 2.1 und 2.2), nämlich dass im Bereich der literarisch Tätigen, insbesondere der Sophisten, die Diskrepanz zwischen echter Bildung und Scheinbildung, zwischen echten πεπαιδευμένοι und solchen, die sich dafür ausgeben, aber in Wahrheit ἀπαίδευτοι sind, Lukians Vorwürfe und bisweilen bittere Pamphlete hervorruft, tritt in seiner Darstellung positiver und negativer Vertreter der Philosophie ebenfalls stark in den Vordergrund. Die Thematik von Schein und Sein dehnt sich also über verschiedene angegriffene Gruppen von Bildungsvertretern aus,322 was insofern bedeutsam ist, als damit Kernelemente der Sophistenkritik im Werk des Autors nicht für sich allein stehen, sondern offenbar in einen grösseren Zusammenhang eingegliedert sind. Mittels einer Untersuchung, wie sich diese Thematik von Schein und Sein in den lukianischen Schriften über Philosophen entfaltet (allgemeines setting, Agieren der Entlarverfiguren), welche konkreten Motive der Autor verwendet und wo genau die Verbindung zu den Sophistenschriften liegt (vgl. 3.1 und 3.2), soll die Frage beantwortet werden, warum der Spott über Philosophen und Sophisten derart stark ineinander fliesst (vgl. 3.3).323 Die Scheinphilosophen sind vor allem an der heuchlerischen Diskrepanz zwischen Leben und Lehre zu erkennen. Dabei steht nicht eine Befürwortung oder Ablehnung einzelner Philosophenschulen im Vordergrund, sondern die Beurteilung der Ethik einzelner Vertreter. Daher stellt es auch kein 322 Das für jede Gruppe geforderte Idealverhalten entwickelt sich dabei aus der idealen παιδεία, wobei im Bereich der Philosophie kein bestimmtes Bildungsgut im Vordergrund steht, wie es für die Rhetorik immerhin ansatzweise aus Lex. herausgearbeitet werden kann (vgl. den Kommentar zu Rh. Pr. 16–17), sondern die Ethik, die richtige Lebensweise (βίος) gemäss den philosophischen Lehren, und damit ein Umsetzen dessen, was man als Philosoph auch andere lehrt. Historisch gesehen überschneiden sich Ausbildung eines Sophisten und eines Philosophen insofern, als der Besuch der Rhetorikschule Grundlage jeder höheren Bildung war (zur rhetorisch-literarischen Bildung des Philosophen Demonax vgl. S. 112). Ferner ist wohl auf Seiten der Sophisten philosophisches Bildungsgut – und sei es noch so oberflächlich – verbreitet, nur schon aufgrund der Beschäftigung mit den platonischen Dialogen (vgl. dazu Schmitz [1997] 89; Hahn [1989] 15; Hall [1981] 170). 323 Zur Nähe der Disziplinen Rhetorik und Philosophie vgl. bereits die Einleitung 1.3, S. 40f. Als »sophist-philosophers« (Bowersock [2002] 164) können beispielsweise Dion von Prusa, Maximus von Tyros oder Favorinus gelten.

3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

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Problem dar, dass der Kyniker Peregrinus von Lukian aufs Schärfste angegriffen wird, während er den ebenfalls zumindest teilweise mit kynischen Zügen ausgestatteten Demonax324 positiv als Paradigma für junge aufstrebende Philosophen heraushebt oder während den Kynikern Menipp und Diogenes in Ikaromen., Nekyomant. und Dial. Mort. durch die Entlarvung menschlicher Eitelkeiten eine überlegene Rolle zukommt.325 Im Bereich der Sophistik führt uns der Autor aussschliesslich negative Vertreter vor (Pseudol.; Lex.; Sol.) oder erreicht durch karikierende, ironisierende und komische Figurendarstellung denselben Effekt (Rh. Pr.). Im Gegenzug bringt er die jeweils gewählten Sprecherfiguren/Gesprächsführer (Lukian, Lykinos) durch ihre Positionierung in Fragen der Ausbildung, des Sprachgebrauchs und der Literaturproduktion als positiven Kontrast ein bzw. verweist auf Kontrasttexte, die eine andere, bessere Rhetorik illustrieren (Rh. Pr.). Die Sprecherfiguren setzen sich zusammen mit der angesprochenen (gebildeten) Leser- und Hörerschaft von Scharlatanerie und Dilettantismus der gänzlich ungebildeten oder der falschen Position zuneigenden Redner ab. Im Bereich der Philosophen hingegen werden auch positive Vertreter dargestellt, ein Idealbild also auf diese Weise präsentiert, wobei Lukian hauptsächlich als Vermittler involviert ist, der uns an einen vorbildlichen Philosophen weiterverweist, wie es in Demonax der Fall ist.326 Dem Rezipienten werden Ausbildung, Denken und Handeln des Idealphilosophen vor Augen geführt, wobei theoretisch-fachbezogene Äusserungen, wie sie im Bereich der Sophistik und Literatur allgemein aus Lex. und Hist. Conscr. gewonnen werden können, und ein möglicher Ausbildungsgang, nach dem man sich richten kann, im Bereich der Philosophie weitgehend fehlen, weil wie gesagt die ideale Lebensführung, die Ethik als Ergebnis 324 Zumindest durch seine Art, sich zu kleiden und seine typisch humoristisch-pointierte Redeweise, die geprägt ist von Redefreiheit (παρρησία), gehört Demonax den Kynikern an, während er in seiner Lehre von Lukian als Eklektiker beschrieben wird (vgl. S. 112). 325 Dazu und über Lukians Philosophenspott allgemein vgl. Nesselrath [2001b]. 326 Ob Nigrinus als positive Darstellung zu werten ist, ist in der Forschung umstritten; die in der Schrift vorhandenen Parodie- und Ironiesignale sprechen dagegen, vgl. Schirren [2005] 146– 150, bes. 147: »Diese Eingangssequenz lässt in ihrem etwas überspannten Lob der Philosophie kaum einen Zweifel daran, dass das Lob nicht ernst gemeint sein kann. Ganz im Gegenteil: die Schärfung des Blickes, die die Unterweisung des Nigrinus bewirkt, ist eine Parodie des Höhlengleichnisses aus der Platonischen Politeia [...].« Hall [1981] 157–164 liefert eine ausführliche Darstellung der kontroversen Forschungsmeinungen; sie stuft ihrerseits das übertriebene Lob des Nigrinus und seiner Wirkung auf den Schüler, was v.a. durch die platonischen Reminiszenzen bedingt sei, nicht als Parodie auch des Vorbildphilosophen selbst ein. Doch eine solche dürfte letztlich vorliegen, wenn das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler so gezeichnet wird, »dass die Bekehrung zur Philosophie die Gefahr birgt, statt sich zum eigenen Selbst zu befreien, nur eine neue Abhängigkeit vom erwählten Vorbild zu erzeugen« (Schirren [2005] 149f.). – Selbst in der positiven Bewertung des Demonax sind bisweilen parodistische Momente festgestellt worden, vgl. Schirren [2005] 154–156.

110

3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

richtigen Philosophierens, im Zentrum steht.327 Der Ich-Sprecher identifiziert sich stark mit Demonax, was wiederum viel über seine Selbsteinschätzung als πεπαιδευμένος aussagt: Im folgenden Kapitel soll gezeigt werden, dass Demonax als Verbündeter aus dem – mit der Sophistik verwandten – Bereich der Philosophie interpretiert werden kann; auch er ist ein Entlarver, der weiss, wodurch sich ein echter Gebildeter von einem Scharlatan unterscheidet.

3.1 Lukians Demonax und die Figur des ernst-komischen Entlarvers Die Schrift Δημώνακτος βίος beschreibt das Leben des athenischen Philosophen Demonax, über den uns ausserhalb Lukians keine sicheren Nachrichten vorliegen, so dass er möglicherweise eine Fiktion des Autors und keine historische Person ist. Eunapios erwähnt Demonax zwar in seinen Philosophenviten (VS 454), kennt ihn aber ganz eindeutig aus Lukians Lebensbeschreibung. Immerhin scheint Eunapios keinerlei Zweifel an der Historizität des Demonax gehabt zu haben. Nun findet man den Namen Demonax an etwa 30 Stellen in der Florilegienliteratur (v.a. Stobaios), und die entsprechenden Zitate (wovon einige unecht sind) haben eine kynische Färbung. So ist eine Mehrheit der Forscher davon überzeugt, dass es sich hier um denselben Philosophen handelt und Lukians Demonax demnach eine historische Person ist.328 Selbst wenn diese Einschätzung korrekt sein sollte, bedeutet das freilich noch nicht, dass Lukians βίος inhaltlich über alle historischen Zweifel erhaben wäre, denn die Historizität der Person garantiert nicht die Historizität dessen, was über diese Person berichtet wird. Vielmehr ist gerade dadurch, dass die Selbstdarstellung des Autors den Zügen des Demonax stark ähnelt, ein hoher Grad an Stilisierung anzunehmen (s.u. S. 118–125).329 Lukians βίος des Demonax weist nur in den Anfangs- und Schlusskapiteln (§§1–11/63–67) einen biographisch-chronologisch erzählenden Stil auf. Den umfangmässig weit grösseren Mittelteil (§§12–62) bildet eine Zusammenstellung von bon mots des Demonax, die Lukian selbst »treffende 327

Vgl. dazu bereits Anm. 322. Grundlegend noch immer Funk [1907]; seiner Meinung angeschlossen haben sich Jones [1986] 91 und Bompaire [1993] 121f.; man vergleiche auch den Lexikoneintrag in Ueberweg 1,510f. sowie Branham/Goulet-Cazé [1996] 14–17 und 215f. 329 Einschätzungen zur Stilisierung finden sich bei Clay [1992] 3409f., 3425f. und 3447, der soweit geht, Demonax gegen Funk als »literary invention« zu sehen; ebenso Schirren [2005] 154. Folgende Äusserung Branhams ([1989] 236 Anm. 84) gilt auch für meine Untersuchung: »I am not concerned here with the truth of Lucian’s portrait, but with the qualities of the character whom he presents as his teacher and exemplar.« 328

3.1 Lukians Demonax und die Figur des ernst-komischen Entlarvers

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und witzig-geistreiche Aussprüche« (§12: εὐστόχως τε ἅμα καὶ ἀστείως ὑπ’ αὐτοῦ λελεγμένα) nennt.330 Diese Art der Darstellung ist für die Antike typisch; zahlreiche antike Biographien, seien es solche von Philosophen, Dichtern, Staatsmännern oder Feldherren, weisen als gemeinsames Merkmal auf, »dass ihnen eine durchgehende Erzählung des Lebensablaufes fehlt, dass sie vielmehr ein im wesentlichen statisches Bild der Persönlichkeit und ihrer Lebensweise (bios) zu vermitteln suchen.«331 Besonderes Gewicht erlangt die Darstellung der Lebensweise und des Charakters in Philosophenviten: Die Episoden, welche hier der Charakterisierung zu dienen haben und darum in der Regel thematisch, nicht chronologisch angeordnet sind, werden gerne anekdotisch abgerundet und dabei auf einen prägnanten Ausspruch, ein Apophthegma, ausgerichtet.332

Lukians Demonax knüpft insbesondere an die Tradition kynischer Philosophenviten an, wie wir sie bei Diogenes Laertios finden; ich werde später auf mögliche Gründe zurückkommen, warum der Autor diese Darstellungsform gewählt hat.333 Wenden wir uns zuerst dem Inhalt des βίος zu: Als Begründung für das Verfassen der Schrift gibt Lukian im Proömium die hochphilosophische Einstellung334 seines Zeitgenossen und Lehrers335 Demonax an, deretwegen er den Leuten in Erinnerung bleiben solle und vor allem den jungen aufstrebenden Philosophen – neben den grossen alten Philosophen – als zeitgenössisches Beispiel, als κανών, dienen könne, nach dem sie sich

330 In der Rhetorik werden solche Anekdoten als χρείαι oder ἀποφθέγματα bezeichnet, vgl. Jones [1986] 91, Bompaire [1993] 121 und Russell [1967] 140. 331 Wehrli [1973] 193. Dabei finden sich Lebensabschnitte wie Jugend und Erziehung oder auch Alter und Tod durchaus als geschlossene Teile behandelt, die Darstellung des Kernstückes, der Lebensmitte, fokussiert aber v.a. auf ausgewählte Episoden, die Lebensweise und -haltung der betreffenden Persönlichkeit illustrieren sollen. Vorhanden sind auch Verbindungen von chronologischer und thematischer Vorgehensweise, gerade im Zusammenhang mit der Reisetätigkeit der betreffenden Person, so z.B. in Iamblichs und Porphyrs Vita Pythagorica. Dazu und allgemein zur Tradition der Biographie siehe auch Dillon/Hershbell [1991] 6–14; ferner Schirren [2005]. 332 Wehrli [1973] 193. 333 Vgl. zu Diogenes Laertios unten Anmm. 373 und 376. 334 Er nennt ihn sogar am Ende von §2 »den besten der Philosophen, die ich kenne« (ἄριστον ὧν ἐγὼ οἶδα φιλόσοφον). 335 Lukian sagt, er sei lange Zeit mit ihm zusammengewesen (§1: τῷ Δημώνακτι ἐπὶ μήκιστον συνεγενόμην), gemeint ist wohl als Student (so Branham [1989] 58). Natürlich beinhaltet diese Bemerkung eine Beteuerung des Sprechers, Demonax gut zu kennen, und daher eine Wahrheitsgarantie für die erzählten Anekdoten; sie ist Teil des ›Beglaubigungsapparates‹ (Saïd [1993] 255– 259 zeigt auf, wie solche ›autobiographischen‹ Bemerkungen des Autors den Wahrheitsgehalt des Erzählten stützen). Vergleichbar ist die Relation zwischen Sokrates und Xenophon und die Memorabilia des letzteren (siehe Clay [1992] 3428). συγγίγνεσθαι als Terminus zur Bezeichnung des Zusammenseins von Schüler und Lehrer wird auch von Platon verwendet, vgl. z.B. Tht. 143d und 150d/151a (Sokrates selbst spricht von seinen Schülern als οἱ δ’ ἐμοὶ συγγιγνόμενοι).

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

richten und dem sie nacheifern sollen.336 Es folgen Bemerkungen zu Herkunft, Ausbildung und Lehre des Demonax, wovon hier die zur Charakterisierung des vorbildlichen Philosophen wichtigen Punkte paraphrasiert werden sollen: Ein ganz persönlicher Impuls zum Schönen (οἰκεία πρὸς τὰ καλὰ ὁρμή) und eine angeborene Liebe zur Philosophie (ἔμφυτος πρὸς φιλοσοφίαν ἔρως) machten sich schon in Demonax’ Jugend bemerkbar, und aus diesem Drang heraus wandte er sich schliesslich der Philosophie und damit auch der Freiheit, freimütiger Rede und Wahrheit (ἐλευθερία, παρρησία und ἀλήθεια) zu und verbrachte ein immer geradliniges, vernunftgemässes, tadelloses Leben (§3). Bereits hier wird klar, dass es dabei nicht etwa um eine Berufswahl des Demonax geht, sondern um eine Lebenshaltung, die sich aus seinem Wesen und Charakter heraus ergibt.337 Seine Veranlagung war also hervorragend, doch auch seine Ausbildung war umfassend und beinhaltete das Studium und Auswendiglernen der Texte der klassischen Dichter und Training in Rhetorik, eingehende Kenntnisse über die verschiedenen philosophischen Schulen und körperliche Ertüchtigung (§4).338 Er war an keine einzelne Lehre gebunden, sondern kombinierte in einer Art Synkretismus verschiedene Inhalte, wies die meisten Gemeinsamkeiten mit Sokrates und Diogenes von Sinope auf und hielt materielle Güter für unwichtig (§§3, 5, 8, 62).339 Auch zeigte er keinerlei Hochmut, sondern nahm am sozialen und politischen Leben teil, war ein ruhiger, ausgeglichener Charakter und tadelte die Fehler der Menschen auf konstruktive Art 336 Die verwendeten Termini sind ῥυθμίζειν und ζηλοῦν, man vergleiche die Parallelität zu der für rhetorisch-literarische Produktionen geforderten Vorgehensweise des μιμεῖσθαι und ζηλοῦν im Kommentar zu Rh. Pr. 9: ζηλοῦν [...] μιμεῖσθαι. 337 Zur grundlegenden Konzeption der antiken Philosophie als Lebensform, die über theoretische Diskurse hinausgehend alle Bereiche des Daseins erfasst, siehe Hadot [1991], bes. 13–47 und 164–176. 338 Dies ist die einzige Stelle, in der Lukian konkret auf die Ausbildung eines Philosophen eingeht. Ein Kernpunkt dürfte hier v.a. die Betonung des eingehenden und umfassenden Studiums sein, das in Kontrast steht zur oberflächlichen Aneignung des Allernötigsten, wie es z.B. der Rednerlehrer in Rh. Pr. empfiehlt. Der erste Teil entspricht der rhetorischen Grundausbildung und ähnelt derjenigen, die beispielsweise auch Lexiphanes empfohlen wird (vgl. Lex. 22); Demonax wird daher, abgesehen von seiner philosophischen Fachbildung, recht allgemein als πεπαιδευμένος charakterisiert (vgl. Hall [1981] 174). Zur Allgemeinbildung eines πεπαιδευμένος vgl. auch Lukians Symposion (z.B. §12 und §25): Alle Anwesenden (Philosophen, Redner, Grammatiker) kennen sich gleichermassen mit Klassikern wie Homer aus und bringen Zitate aus ihnen an. 339 Zu Recht vermerkt Jones ([1986] 98), Demonax sei – ähnlich wie Lukian sich selbst darstellt – »educated but not doctrinaire«, was sich unter anderem darin äussert, dass er sich keiner dogmatischen philosophischen Schule angeschlossen hat. Dass Lukian für die Rhetorik speziell im Bereich Vokabular und Attizismus doktrinäre Ansichten verwirft, zeigen die Schriften Lexiphanes (Hyperattizismus; vgl. den Kommentar zu Rh. Pr. 10: ἀνορύττειν [...] λόγους [...] und 17: κατορωρυγμένους ἀπόρρητα καὶ ξένα ῥήματα καὶ σπανιάκις ὑπὸ τῶν πάλαι εἰρημένα) und Soloecista (Solözismen-Jagd, Pedanterie; vgl. die Einleitung 2.2). Zum Thema ›unabhängiger Philosoph bzw. Satiriker‹ vgl. auch Hor. Ep. 1,1,14: nullius addictus iurare in verba magistri [...].

3.1 Lukians Demonax und die Figur des ernst-komischen Entlarvers

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(§§5–7).340 In grosser Selbstlosigkeit lag ihm vor allem echte Freundschaft am Herzen (§§8–10). Das wichtigste Element, welches auch in den Apophthegmata zum Ausdruck kommt, ist die absolut richtige Haltung, die Demonax gegenüber allen Lebenssituationen und dem menschlichen Leben als solchem einnimmt,341 eine Haltung, welche eine grosse Abgeklärtheit verrät, einiges mit gesundem Menschenverstand zu tun hat und sich unter anderem darin äussert, wie er sich als Gebildeter mit kynischem Witz von seinen (unwissenden oder verblendeten) Gesprächspartnern absetzt, ihr Handeln aber auch in aufklärend-hilfsbereiter Absicht kommentiert. In Kapitel 3.2 werden wir sehen, dass die im lukianischen Œuvre getadelten Scheinphilosophen dem Beispiel des Demonax in praktisch allen Punkten nachstehen: Es mangelt ihnen an echter Liebe zur Philosophie und somit auch an der Ausbildung. Sie predigen Enthaltsamkeit, sind aber in Wirklichkeit hinter Reichtum her, so dass sie sich auch ihre Freunde nach materiellen Kriterien aussuchen. Prahlerei und übermässige Affekte prägen ihren Charakter. Damit sind sie weit entfernt von der selbstverständlichen Umsetzung eines vorbildlichen Philosophenlebens, wie Demonax es führt. Demonax’ bon mots – 51 an der Zahl – richten sich inhaltlich zu einem grossen Teil an Philosophen, daneben auch an Redner und sonstige Vertreter der gebildeten Schicht sowie an reiche Griechen und Römer. Weitere karikierte Figuren sind Athleten, Zauberer und Wahrsager, ein Naturkundler und einige andere, teils namentlich genannt, teils nicht.342 Die Personen, die in diesen Anekdoten eine Rolle spielen, sind also bunt gemischt – bei den meisten sticht allerdings als Charakteristikum heraus, dass sie zu den (angeblichen) Gebildeten und/oder zum Adel, d.h. zur Elite gehören. Innerhalb dieser Gruppen nämlich kristallisieren sich diejenigen Verhaltensweisen heraus, die Demonax auf humorvolle Weise kritisiert. Die Themen, denen er sich widmet, beziehen sich oft auf die Qualität von öffentlichen Auftritten (Philosophen, Redner): Hier finden sich Show, Schein, Betrug und Lügen, daneben Aufgeblasenheit und Prahlerei. Auch Sprache und Literatur sowie Unbildung sind behandelte Gebiete. Und schliesslich wird Effeminiertheit in verschiedenen Anekdoten lächerlich gemacht. Wichtig ist der für verschiedene Gruppen von Bildungsvertretern gültige Charakter der Kritikpunkte. 340 Man vergleiche die Kritik am Sophisten in Soloecista und das Lob über die rücksichtsvollwitzigen Korrekturen des Sokrates von Mopsos gegenüber Solözisten (Einleitung 2.2). 341 Vgl. §§19f., 24f., 35, 37, 45, 60, 66. 342 Philosophen und Redner sind auch hier wieder nicht immer exakt zu trennen (z.B. die Anekdoten über Favorinus in §§12f. oder über einen σοφιστής, der über Philosophisches spricht, in §14). Philosophen: §§19, 21, 28, 29, 31, 48, 54, 55, 56 / Redner: §§24, 33, 36 / Reiche, Adlige, Politiker: §§15, 18, 30, 38, 41, 50, 51 / Athleten: §16 und §49 / Zauberer und Wahrsager: §23 und §37 / Naturkundler: §22.

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

Schon bei dieser allgemeinen Zusammenfassung fällt auf, dass uns sämtliche Themen auch in Lukians Angriffen auf Sophisten und Scheingebildete begegnen, so beispielsweise Prahlerei und Show des Rednerlehrers, die falschen sprachlichen Maximen des Lexiphanes, die Unbildung des Büchernarren und effeminiertes Aussehen oder effeminierte Verhaltensweise der Protagonisten in Rh. Pr., Adv. Ind. und Pseudol.343 Die gravierendsten Betrügereien und Lügen werden dem in Pseudologista Attackierten angelastet (vgl. §§2, 16f., 21, 25, 30). Demonax setzt sich also gegenüber seinen Gesprächspartnern in genau denselben Punkten ab wie Lukian als Ich-Sprecher in seinen Schriften (bzw. die von ihm eingeführten Sprecherfiguren wie Lykinos) und entlarvt Scheingebildete und Angeber unter seinen Mitmenschen auf ähnliche Weise. Dass Demonax seinerseits über eine umfassende Bildung verfügt, wird vor allem aus solchen Anekdoten deutlich, die zu verstehen geben, in wie vielen Gebieten er bewandert ist: Er ist ein Kenner von Poesie (vgl. §4: ποιηταῖς σύντροφος), so dass er seine Äusserungen mit Anspielungen auf Homer ausschmücken kann (§§60f.) und schlechte Dichter sofort erkennt (§44). Auch auf dem Gebiet der Rhetorik kennt er sich aus (vgl. §4: λέγειν ἤσκητο) und erlaubt sich daher, einen Redner für seine miserablen μελέται zu tadeln (§36). Selbst Sprachkritik liegt ihm am Herzen, denn er übt an einem Hyperattizisten auf ähnliche Weise Kritik wie Lykinos an Lexiphanes (§26; vgl. Lex. 17 und 20). Ganz allgemeine Anspielungen auf das Milieu der Sophisten enthalten je zwei Anekdoten über Favorinus und Herodes Atticus (§§12f., 24, 33). Demonax’ breite Bildung erlaubt ihm also, auf vielen Gebieten sein Urteil abzugeben. Gleichzeitig wird sein Geschmack illustriert, welcher demjenigen des Autors, wie er sich uns präsentiert, so nahe kommt, dass dessen Lob uns nicht erstaunt. Im Folgenden sollen einige Beispiele von ἀποφθέγματα Demonax’ Kritik näher beleuchten, wobei die Kritik an Philosophen – speziell an ihren betrügerischen Auftritten – den Schwerpunkt bildet, da sich hier eine enge Verbindung zur Sophistik und zu Rh. Pr. zeigt und zudem die grundlegenden Charakteristika der im Anschluss zu behandelnden lukianischen Kritik an Scheinphilosophen auftreten. In §12 heisst es: Ἐπεὶ γὰρ ὁ Φαβωρῖνος ἀκούσας τινὸς ὡς ἐν γέλωτι ποιοῖτο τὰς ὁμιλίας αὐτοῦ καὶ μάλιστα τῶν ἐν αὐταῖς μελῶν τὸ ἐπικεκλασμένον σφόδρα ὡς ἀγεννὲς καὶ γυναι-

343

Zur Unbildung des Büchernarren vgl. ausführlich die Einleitung 2.2; zum Thema Effeminiertheit vgl. die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu Rh. Pr. 9–10 sowie den Kommentar zu Rh. Pr. 11 und 23. Vgl. auch Adv. Ind. 3 und 22–25; Pseudol. 17f., 20f., 27, 31.

3.1 Lukians Demonax und die Figur des ernst-komischen Entlarvers

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κεῖον καὶ φιλοσοφίᾳ ἥκιστα πρέπον, προσελθὼν ἠρώτα τὸν Δημώνακτα, τίς ὢν χλευάζοι τὰ αὐτοῦ· ›Ἄνθρωπος‹, ἔφη, ›οὐκ εὐαπάτητα ἔχων τὰ ὦτα.‹344

Demonax kritisiert Favorinus’ Verhalten auf der Bühne, insbesondere seinen effeminierten Gesang und zwar speziell darum, weil ein solcher für einen philosophischen Vortrag nicht angebracht ist. Ein weiterer Punkt wird aber aus Demonax’ Hinweis, er lasse sich nicht täuschen, klar: Favorinus verwendet – genau wie der Rednerlehrer – einen Showeffekt, der ein leicht zu beeindruckendes Publikum bereits für die Rede einnehmen kann oder soll, ganz abgesehen vom Inhalt, obwohl dieser doch – gerade im Bereich der Philosophie – das einzig Wichtige sein sollte.345 Das Verb für »täuschen« (ἀπατᾶν) begegnet uns im Zusammenhang mit der lukianischen Kritik an Scheinphilosophen wieder (vgl. Kap. 3.2). Noch stärker in die Richtung von Betrug geht folgende Anekdote (§48): Μάλιστα δὲ ἐπολέμει τοῖς οὐ πρὸς ἀλήθειαν ἀλλὰ πρὸς ἐπίδειξιν φιλοσοφοῦσιν· ἕνα γοῦν ἰδὼν Κυνικὸν τρίβωνα μὲν καὶ πήραν ἔχοντα, ἀντὶ δὲ τῆς βακτηρίας ὕπερον, καὶ κεκραγότα καὶ λέγοντα ὅτι Ἀντισθένους καὶ Κράτητος καὶ Διογένους ἐστὶ ζηλωτής, ›Μὴ ψεύδου‹, ἔφη, ›σὺ γὰρ Ὑπερείδου μαθητὴς ὢν τυγχάνεις.‹346

Was hier mit dem Verb »Krieg führen« (πολεμεῖν) als von Demonax heftig gegeisselt dargestellt wird, ist ein Vernachlässigen der Wahrheit (ἀλήθεια), bloss um sich selbst zur Schau zu stellen (ἐπίδειξις). Auf das lautstarke Gebaren des (Möchtegern-)Kynikers reagiert Demonax mit einer harschen Zurechtweisung (»lüge nicht«) und einem Wortspiel: ὕπερος »Knüppel« und Ὑπερείδης »der sich auf den Knüppel stützt« (zu gr. ἐρείδειν). Der Name ist uns bekannt als derjenige des attischen Redners; vielleicht bezeichnet er hier aber einen uns unbekannten Kyniker oder ist ohne Referenz auf eine bestimmte Person verwendet.

344 »Als nämlich Favorinus von jemandem gehört hatte, dass er [sc. Demonax] sich über seine Vorträge lustig mache, besonders über die allzu verweichlichte Art von deren Singpartien, weil das unwürdig und weibisch und der Philosophie nicht im Geringsten angemessen sei, ging er zu Demonax hin und fragte ihn, wer er sei, dass er seine Vorträge verspotte. ›Ein Mensch‹, antwortete er [sc. Demonax], ›der keine leicht zu betrügenden Ohren hat.‹« 345 Vgl. zu Favorinus’ Gesang auch den Kommentar zu Rh. Pr. 19: ἢν δέ ποτε καὶ ᾆσαι καιρὸς εἶναι δοκῇ, πάντα σοι ᾀδέσθω καὶ μέλος γιγνέσθω. An beiden Stellen stellt Lukian eine Verbindung zwischen Gesang und Verweichlichung her. Zusätzlich ist zu beachten, dass Favorinus als Eunuch gilt und daher sowieso als effeminiert angesehen wird (vgl. den Kommentar zu Rh. Pr. 11: ὀλίγας μὲν ἔτι, οὔλας δὲ καὶ ὑακινθίνας τὰς τρίχας εὐθετίζοντα). 346 »Vor allen Dingen zog er [sc. Demonax] gegen jene ins Feld, welche nicht im Bemühen um Wahrheit, sondern aus Lust an der Zurschaustellung philosophierten. Als er beispielsweise einen Kyniker sah mit Mantel und Ranzen, der anstelle eines Stockes aber einen Knüppel (ὕπερος) [trug] und mit lautem Geschrei verkündete, er sei ein Nacheiferer des Antisthenes, Krates und Diogenes, sagte er: ›Lüge nicht, denn du bist in Wirklichkeit ein Schüler des Hypereides!‹«

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

Mit Showeffekten verbinden sich leicht auch Prahlerei (ἀλαζονεία) und Aufgeblasenheit (τῦφος347, μέγα φρονεῖν). So wird der Peripatetiker Agathokles, der sich für den ersten und einzigen Dialektiker hält, von Demonax zurechtgewiesen (§29). Nicht anders ergeht es dem Sophisten Sidonios, der sich anlässlich seines Vortrags brüstete, er kenne sich in jeder philosophischen Lehre aus (§14). Die Prahlerei des Sophisten, die hier an einem philosophischen Thema exemplifiziert wird, kann leicht durch die prahlerischen Sprüche des Rednerlehrers, eines klassischen Deklamatoren, ersetzt werden, ohne dass sich an der Kritik viel änderte. Prahlerei und Aufgeblasenheit sind ebenfalls prominente Themen in Lukians Kritik der Scheinphilosophen (vgl. Kap. 3.2). Schliesslich treffen wir auch bei Demonax’ Vorwürfen an die Philosophen auf die Thematik von Schein und Sein (vgl. schon oben §48: ἀλήθεια vs. ἐπίδειξις), am explizitesten wohl in §56: Καὶ μὴν τὸ πρὸς Ἑρμῖνον τὸν Ἀριστοτελικὸν ἄξιον ἀπομνημονεῦσαι· εἰδὼς γὰρ αὐτὸν παγκάκιστον μὲν ὄντα καὶ μυρία κακὰ ἐργαζόμενον τὸν Ἀριστοτέλη, καὶ διὰ στόματος αὐτοῦ τὰς δέκα κατηγορίας ἔχοντα, ›Ἑρμῖνε‹, ἔφη, ›ἀληθῶς ἄξιος εἶ δέκα κατηγοριῶν.‹348

Wiederum mit Hilfe eines Wortspiels, einer Äquivokation (κατηγορία im technischen aristotelischen und im juristischen Gebrauch als »gerichtliche Anklage«), spottet Demonax über Herminos, der sich als grosser Aristoteliker ausgibt, was aber nur vordergründiger Schein ist: Er »malträtiert« durch seine Lebensweise, aufgrund derer er eigentlich bereits zahlreiche Klagen verdient hätte, die aristotelische Philosophie.349 Wir werden sehen, dass hier, in der Diskrepanz von Lebensweise und nach aussen vertretener Lehre, der Kern des lukianischen Spottes über die zeitgenössischen Philosophen liegt und nicht in ihrer Weltfremdheit, wie es bei Aristophanes der Fall ist, oder in bestimmten einzelnen Doktrinen.350 Die Unbildung zweier Philosophen verspottet Demonax in einer Weise, die stark an Lukians Angriff auf den ungebildeten Büchernarren erinnert.

347 Hier ist daran zu erinnern, dass Demonax selbst vom Autor als »nicht im Geringsten von Aufgeblasenheit erfasst« gerühmt wird (§5: οὐδ’ ἐπ’ ὀλίγον τύφῳ κάτοχος) und Lykinos Lexiphanes eindringlich rät, sich von Aufgeblasenheit (τῦφος), Prahlerei (μεγαλαυχία) und Böswilligkeit (κακοήθεια) fernzuhalten (Lex. 24). 348 »Auch was [Demonax] zum Aristoteliker Herminos [sagte], ist erwähnenswert: Er wusste nämlich, dass jener durch und durch ein Schurke war, Aristoteles tausendfach misshandelt hatte und die zehn Kategorien immer im Munde führte, und sprach: ›Herminus, du bist tatsächlich zehn Anklagen (κατηγορίαι) wert!‹« 349 Man vergleiche hierzu die vorbildliche Lebensweise des Demonax selbst, v.a. §3. 350 Zur Schein-Sein-Thematik und zu nicht umgesetzten ethischen Forderungen als Kernelement der Unterhaltung in Pisc. und Fug. vgl. unten 3.2.

3.1 Lukians Demonax und die Figur des ernst-komischen Entlarvers

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Der Hauptpunkt liegt darin, wie lächerlich sich solche Möchtegern-Gebildete machen und wie unsinnig und nutzlos ihre Tätigkeit ist (§28): Ἰδὼν δέ ποτε δύο τινὰς φιλοσόφους κομιδῇ ἀπαιδεύτως ἐν ζητήσει ἐρίζοντας καὶ τὸν μὲν ἄτοπα ἐρωτῶντα, τὸν δὲ οὐδὲν πρὸς λόγον ἀποκρινόμενον, ›Οὐ δοκεῖ ὑμῖν‹, ἔφη, ›ὦ φίλοι, ὁ μὲν ἕτερος τούτων τράγον ἀμέλγειν, ὁ δὲ αὐτῷ κόσκινον ὑποτιθέναι;‹351

Das von Demonax zum Vergleich herangezogene Bild gibt einerseits die sinnlosen Fragen des ersten dadurch wieder, dass er einen Bock melken will, und illustriert andererseits die unpassenden Antworten des zweiten dadurch, dass er die Milch mit einem Sieb auffangen will – beides unmögliche Vorhaben.352 Was Demonax an den zeitgenössischen Philosophen verspottet und kritisiert, dehnt sich auf weitere ›Berufsgattungen‹ aus:353 Show, Betrug und Scharlatanerie sind beispielsweise Vorwürfe, die er auch gegen Zauberer und Wahrsager richtet (§23 und §37). Der Unbildung bezichtigt er auch einen Redner (§36), der Effeminiertheit einen Athleten (§16), der eine bestimmte Art von Kleidung trägt, die stark an diejenige erinnert, die in Rh. Pr. 15 empfohlen wird. Und immer wieder ist Kritik an Aufgeblasenheit, Prahlerei oder Verweichlichung auch an Adlige gerichtet (§§41, 38, 18). Demonax kritisiert ferner häufig Personen, die sich selbst zu wichtig nehmen, propagiert im Gegenzug eine gewisse Gelassenheit gegenüber dem Leben und dem natürlichen Lauf der Dinge, eine Bescheidenheit des Menschen gegenüber dem Universum (§§24, 25, 33, 35, 45, 66) und lehnt Spekulationen über Dinge jenseits des menschlichen Lebens ab (§§20, 32, 43). Sowohl für Demonax’ Haltung als auch für Lukian und seine Philosophenkritik darf gelten, dass allein die Ethik in Leben und Lehre des Philosophen im Zentrum stehen soll; eine Bevorzugung beispielsweise der Metaphysik, vor allem wenn sie geradezu zur Vernachlässigung der Ethik führt, wird mit Spott bedacht.354 Insofern erweist sich das positive Urteil des Autors über Demonax auch im grösseren Kontext seiner philosophenkritischen Werke 351 »Als er [sc. Demonax] einst zwei absolut ungebildete Philosophen über einen (philosophischen) Untersuchungsgegenstand debattieren sah, wobei der eine absurde Fragen stellte, der andere aber Antworten gab, die nichts zur Sache taten, sagte er: ›Scheint es euch nicht, meine Freunde, dass der eine der beiden einen Bock melkt und der andere ihm ein Sieb darunter hält?‹« 352 Ein bekanntes Bild eines Siebes im Zusammenhang mit Unwissenheit findet sich bereits in Plat. Grg. 493a–c; dort wird die Seele der Unwissenden (ἀνόητοι) bzw. der Uninitiierten (ἀμύητοι) aufgrund ihrer Unersättlichkeit, Ungewissheit und Vergesslichkeit mit einem Sieb verglichen. 353 Die breite Fächerung der Kritisierten in Demonax zeigt innerhalb einer Schrift das, was Lukian über mehrere Werke verteilt als wichtiges Element der Unterhaltung anwendet, den Spott über Scheinvertreter in verschiedenen Sparten. 354 Vgl. z.B. Vit. Auct. 18 (Platonische Ideen) sowie natürlich der in Philopseud. von Tychiades verspottete Glaube der übrigen Protagonisten an Zaubereien und Dämonenerscheinungen (bes. §§16, 24, 27, 29, 32).

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

betrachtet als kohärent: Er schätzt ihn deshalb, weil seine Philosophie sich nicht in metaphysische Höhen versteigt, sondern vor allem im ethischen und zwischenmenschlichen Bereich zum Tragen kommt.355 Welche Assoziationen nun die Lebensdarstellung des Demonax in der Tradition einer kynischen Philosophenvita weckt und inwiefern die Figur des Demonax Parallelitäten zur Selbstdarstellung des Autors Lukian aufweist, soll im Folgenden konkret aufgezeigt werden: Demonax wird von Lukian als ein Mann bewundert, der aufgrund seiner Disposition nicht anders kann, als nach Freiheit (ἐλευθερία), freimütiger Rede (παρρησία) und Wahrheit (ἀλήθεια) zu streben (§3 und §11), Charakteristika, welche seine Apophthegmata deutlich illustrieren. Dieselben Begriffe zieht Lukian für seine Selbstdarstellung als Autor und zur Einordnung seiner Werke heran: Besonders betont wird das Konzept des freimütigen Sprechens (παρρησιάζειν) in Piscator, wo Lukians Maske »Pharrhesiades« geradezu die Verkörperung356 der παρρησία darstellt. Auf die Frage der (personifizierten) Philosophie, was sein Name sei, antwortet Parrhesiades (§19): Παρρησιάδης Ἀληθίωνος τοῦ Ἐλεγξικλέους.357 Dass die Rolle des Parrhesiades stark auktorial aufgeladen ist, zeigen erstens die Aussagen über seine Herkunft, dass er »ein Syrer« sei »von denen, die am Euphrat wohnen«358 (§19), und zweitens der Inhalt der Schrift, weil sich Parrhesiades vor den alten Philosophen für ein früheres lukianisches Werk (Vitarum Auctio) verteidigen muss.359 Parrhesiades ist vom Autor klug als »personnage inattaquable«360 355 Ähnlich Nesselrath [2001b] 145 über Stoiker, Platoniker, Pythagoreer und Peripatetiker in Lukians Schriften: »Diese vier Schulen werden von Lukian wohl vor allem deswegen oft zwiespältig (meist sogar eindeutig negativ) beurteilt, weil sie alle einen sehr ausgedehnten ›metaphysischen Überbau‹ vertreten, der sie – jedenfalls in Lukians Augen – dafür anfällig macht, an Dinge zu glauben (und diesen Glauben auch dogmatisch zu vertreten), die sich einfach nicht beweisen lassen.« Allerdings gehe ich mit Nesselrath nicht ganz einig, dass deswegen (aufgrund dogmatischerer neben ›diesseitiger‹ und pragmatischer ausgerichteten Lehren) in Lukians Werk bestimmte philosophische Richtungen positiver bewertet würden und so zwischen verschiedenen Philosophenschulen differenziert würde (vgl. Nesselrath [2001b] 143). Setzt man die Ethik ins Zentrum lukianischer Philosophenkritik (so auch Schirren [2005] 166), wird leicht verständlich, dass entsprechend Dogmatiker, die sich mit terminologischen Spitzfindigkeiten und metaphysischen Spekulationen befassen, besonders zur Verspottung reizen, eine positive oder negative Bewertung aber unabhängig von der Schulzugehörigkeit immer eine Frage der Lebensführung einzelner Vertreter bleibt. 356 Das Suffix -(ι)άδης gibt die Abstammung an und ist als Patronymikonsuffix v.a. bei Homer zu finden (vgl. Πηληιάδης, Λαερτιάδης). Παρρησιάδης bezeichnet demnach genau genommen den »Sohn der παρρησία«. Vgl. dazu Schwyzer [1939] 1,509 und Risch, Wortbildung der homerischen Sprache, Berlin/New York 21974, 147–149. 357 »Freisprecherkind, Sohn des Wahrhaftigen, des Sohnes des durch Widerlegung Berühmten.« Im Griechischen sind die Elemente der Freimütigkeit, Wahrheit und Widerlegung in Namen verpackt, wie sie im Deutschen nur schwer wiederzugeben sind. 358 Eine Beschreibung, die auf Lukians Heimatstadt Samosata zutrifft. 359 Ausführlicher zu Inhalt und Philosophenspott von Pisc. siehe unten 3.2. 360 Dubel [1994] 22f.

3.1 Lukians Demonax und die Figur des ernst-komischen Entlarvers

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konstruiert, denn er ist sozusagen »l’incarnation d’une qualité philosophique qui interdit une telle dissonance« – gemeint ist die Dissonanz zwischen Handlung und Rede, die sowohl Demonax als auch Parrhesiades bei anderen aufdecken.361 Dass es gerade in invektivenartiger Literatur ein geeignetes Verteidigungsmittel ist, sich auf παρρησία und ἀλήθεια zu berufen, lässt der Autor in Merc. Cond. 4362 und (weniger explizit) Adv. Ind. 30 durchblicken. Die Figur des Ἔλεγχος (»Widerlegung«, »Überführung«), auf die in oben zitierter Stelle (Pisc. 19) verwiesen worden ist, erhält in Pseudol. 4–9 eine prominente Rolle: Der Autor stellt sein Pamphlet einerseits in die Tradition des Iambendichters Archilochos, eines Mannes, der »gänzlich frei (ἐλεύθερος) und der freimütigen Rede (παρρησία) zugetan war« (§1),363 und ruft andererseits den (wie er sagt) der Ἀλήθεια und Παρρησία treu ergebenen menandrischen Prolog364 Ἔλεγχος zu Hilfe, um den gesamten Plot der Schrift vorzustellen (§4). Im Folgenden, kündet der Autor an, werde er die Exposition des Ἔλεγχος auf dieselbe Art und Weise – mittels παρρησία und ἀλήθεια – weiterführen.365 Diese Beispiele366 zeigen, dass Lukian als Autor für seine Werke die Anwendung von freiem, unbeschönigtem und wahrheitsgemässem Sprechen in Anspruch nimmt und darin Demonax, wie er ihn darstellt, nahesteht. Neben invektivischer Literatur (Archilochos) rufen die Konzepte von παρρησία und ἐλευθερία auch Werte der klassischen athenischen Demokratie sowie der Alten Komödie auf (vgl. E. Hipp. 421–423; Plat. R. 557b; Isoc. Or. 8,14; Ar. Th. 541); 361 Parrhesiades ist damit das ideale Gegenbild dessen, was er anzuklagen gedenkt, denn »il n’y a chez lui d’hiatus possible entre ce qu’il est et ce pour quoi il se donne« (Dubel [1994] 23). Treffend auch Saïd ([1993] 266): »Parrhésiadès [...] est celui qui ne change pas [im Gegensatz zu den falschen Philosophen]. Les mêmes raisons expliquent qu’il se soit jadis détaché de la rhétorique et qu’il attaque aujourd’hui les philosophes de son temps. Et il affirme hautement qu’il ne changera pas et ne cessera pas d’attaquer les imposteurs.« (vgl. dazu auch unten 3.2). 362 »Mir kann nichts zur Last gelegt werden, es sei denn, es wäre etwas Strafbares an Wahrheit (ἀλήθεια) und freimütiger Rede (παρρησία).« 363 Über die Definition des eigenen literarischen Schaffens und der Autorisation gegenüber dem Publikum, die mit dieser Einreihung in die Tradition verbunden sind, vgl. Branham [1989] 29–32. 364 Das Stück, worin Menander gemäss Lukians Anspielung im Prolog die Figur des Elenchos auftreten liess, ist uns nicht überliefert und wird auch sonst in der antiken Literatur nirgends erwähnt. 365 Vgl. zur Verwendung von Invektiventopik in Rh. Pr. und zu inhaltlichen Parallelen zwischen Rh. Pr. und Pseudol. die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §§23–25 mit Anm. 1086. 366 Anfügen könnte man auch folgende Bemerkung des Lykinos (Lex. 17): Angesichts der Sprachkrankheit des Lexiphanes meint er, es habe diesem wohl noch nie ein freier und der freimütigen Rede zugetaner Mann die Wahrheit über sein literarisches Schaffen gesagt. Man kann Lykinos als einen solchen ansehen, weil er sich als erster der Fehler des Lexiphanes annimmt und sie ihm offen und deutlich vor Augen führt. Über echte Freunde als Kritiker, welche den Verfasser eines literarischen Werkes vor öffentlicher Blamage bewahren können, vgl. auch Horaz AP 419– 452.

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

zudem ist παρρησία ein wesentliches Charakteristikum der Kyniker wie Diogenes von Sinope (vgl. D. L. 6,69)367 – dies alles spielt eine zentrale Rolle in Lukians Selbstdarstellung, was auf folgende Weise in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden kann: In neuerer Zeit hat Branham überzeugend gezeigt, dass es zur Charakterisierung der lukianischen Texte bzw. der (auktorialen) Sprecher am ergiebigsten ist, das Konzept des ernsthaften Spassens (σπουδογέλοιον) beizuziehen,368 denn auch dieser Begriff schafft eine Verbindung zwischen Lukian (bzw. den auktorialen Sprechern), Demonax, den Kynikern (Diogenes, Menipp) und der Alten Komödie. Der Terminus σπουδογέλοιος vereint zwei gegenteilige Qualitäten, Ernsthaftigkeit und Witz, und verweist auf eine »paradoxical quality in the seriocomic figure himself, who, while comic and amusing on the surface, frequently emerges as, in some sense, earnest, with a claim to our serious attention«.369 Dieses Konzept des ernsthaften Spassens wird oft mit den Kynikern verbunden, die eine Art humoristische Philosophie entwickelt haben:370 Einer der seltenen Belege für σπουδογέλοιος aus der Antike findet sich bei Strabon (16,2,29) zur Charakterisierung des Kynikers Menipp bzw. dessen Schriften, die uns leider (bis auf ein paar Fragmente und einige Werktitel) verloren sind.371 Das Porträt des wohl berühmtesten Kynikers, Diogenes von Sinope (D. L. 6,20–81), stellt einen Mann dar, der auf witzige Weise lehrt, mit einem provokativen Humor, der zum Nachdenken anregt und deshalb auch eine zielbewusste, ernsthafte Natur beinhaltet.372 Unser Bild von 367 Vgl. dazu Branham [1989] 54f. und 229 Anm. 47. Zur Art und Weise, wie sich Lukian darauf speziell in Piscator beruft, indem er sich sowohl mit einer kynischen Maske ausstattet, die ihn mit den alten Philosophen verbindet, als auch als Erbe der Alten Komödie auftritt, deren Struktur Pisc. aufnimmt, vgl. Branham [1989] 32–34. – Zu Lob und Kritik des Kynismus in Lukians Schriften und zum Kynismus im Zusammenhang mit Wegmetaphorik vgl. die Einleitung 1.3, S. 41–43. 368 Vgl. Branham [1989] 11–63. Sein Ansatz ist aufgenommen worden von Angeli Bernardini [1994]. Schon Michail Bachtin hat die lukianischen Schriften mit dem Element des σπουδογέλοιον verknüpft, vgl. dazu Bachtin, Rabelais 10; 26–30; 119–123 sowie Anm. 645 unten. Erwähnt sei zudem, dass bereits Erasmus von Rotterdam im Vorwort zu seiner Übersetzung von Gallus Lukian als einen Verknüpfer von Nützlichem (utile) und Angenehmem (dulce) im Sinne des Horaz qualifizierte (vgl. Branham [1989] 26). Dass das Angenehme in Horaz’ Ars Poetica auch eine witzige Note beinhaltet, ist im Kontext implizit angesprochen: Weil die vornehmen jungen Ritter austera poemata, also ernste, strenge Dichtung, ablehnen, ist einer Verbindung von utile und dulce grösserer Erfolg beschieden (Vv. 342–344). 369 Branham [1989] 27. 370 Zur Bedeutung des Konzepts des σπουδογέλοιον in der Alten Komödie siehe unten S. 123 sowie Rösler [1986]. 371 Genau diese Verbindung von Ernstem und Heiterem nimmt Lukian als Charakteristikum des Menipp in denjenigen Dialogen auf, in denen er ihn zur Hauptfigur macht, d.h. in seinen so genannten Menippeischen Satiren (Menipp. und Ikaromen.). Vgl. auch die Rollen des Menipp und Diogenes und ihr Wirken in der Unterwelt in Dial. Mort. 1–11; 13; 20–22; 29–30. 372 So Branham [1989] 52f.

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Leben und Lehre der Kyniker Diogenes und Krates von Theben (eines Schülers des ersteren, vgl. D. L. 6,85–93) setzt sich denn auch hauptsächlich aus zahlreichen Anekdoten zusammen.373 Eine auf Apophthegmata konzentrierte Darstellung weisen im Werk des Diogenes Laertios zudem die Viten des Sokratesschülers Aristipp (2,65–104) und des Kynikers Antisthenes (6,1–19) auf;374 dabei ist zu beachten, dass Demonax sich auf zwei dieser Philosophen, Diogenes und Aristipp, beruft (§62), drittens auf Sokrates, den man in diesem Zusammenhang als ›Urkyniker‹ sehen kann und der wiederum auf die Philosophenviten als Modell grossen Einfluss hatte.375 Genau dieses Element des Anekdotenhaften setzt nun auch der Autor Lukian für seine Beschreibung des Lebens des Demonax ein, knüpft somit an eine Tradition376 an und verbindet die von παρρησία geprägte Redeweise seines Protagonisten mit derjenigen berühmter kynischer Vorgänger und mit der philosophischen Praxis ernsthaften Spassens, da insbesondere Sokrates durch seine sprichwörtliche Ironie in den Rahmen des σπουδογέλοιον gehört.377 Diese Tradition der Lebensbeschreibung mit ihrer speziell engen Verbindung von βίος und δόξα ermöglicht zudem eben diejenige Konzentration auf die Ethik, die mir für Lukians Philosophenlob und -spott grundlegend scheint.378 Zur Person des Demonax kann man zusammenfas373

Dass das ἀπόφθεγμα und die χρεία speziell mit Kynikern und deren Art zu philosophieren verbunden worden sind, zeigt z.B. D. L. 5,18 (über Diogenes, der jede Gelegenheit nutzt, einen solchen Spruch anzubringen). Die Anekdoten können als Strukturmerkmal insbesondere der kynischen Philosophenbioi bei Diogenes Laertios bezeichnet werden (vgl. Schirren [2005] 153). 374 Vgl. Leo [1901] 50 und Wehrli [1973] 204f. mit Begründung dieser Form (»weil der wesentliche Gehalt ihrer theoretisch einfachen Lebensweisheit dabei tatsächlich Ausdruck fand«). 375 Vgl. Wehrli [1973] 194; Funk [1907] 634 verweist auf Cic. Off. 1,29, wo bestätigt wird, dass die Lebensbeschreibungen der Sokratiker eine Fülle von Apophthegmata enthielten. 376 Vgl. Leo [1901] 83, welcher Demonax als eine Philosophenvita einstuft, welche »zwar mit dem Anspruch auf eigene literarische Existenz, aber in der Form abgefasst ist, die bei Diogenes überall durch die Zerstückelung durchscheint«. Genauso auch Cancik [1984] 118: »Der Demonax ist das einzige vollständig erhaltene Exemplar eines Typus von Biographie, die wir lange vor Lukian ansetzen können, und dessen Trümmer in den Excerpten des Diogenes Laertios zu bewundern sind. [...] Damit wird Lukians ›Demonax‹ zu einem wichtigen Zeugnis für einen Zweig der hellenistischen Biographie, den βίος κυνικός.« 377 Vgl. Branham [1989] 50–52. Zur Ironie des Sokrates vgl. R. 337a4: ἡ εἰωθυῖα εἰρωνεία τοῦ Σωκράτους (siehe z.B. auch Grg. 481b–c und 489e) und Angeli Bernardini [1994] 114: »L’ironia, che si serve del paradosso e del ridicolo per affermare la propria verità in oppositione ad una verità altrui, è uno degli strumenti principali del serio-comico.« Vgl. auch Cic. De Or. 2,270: Socratem opinor in hac ironia dissimulantiaque longe lepore et humanitate omnibus praestitisse. Ciceros nachfolgende Definition der ironia als genus perelegans et cum gravitate salsum weist dieselbe Vermengung von Ernst und Witz auf, wie sie für das σπουδογέλοιον charakteristisch ist. Im Hinblick auf Lukians Verwendung von Ironie ist auf die ironische Wirkung der Figurenäusserungen in Rh. Pr. hinzuweisen (vgl. dazu die Einleitung 1.6, S. 64f.). 378 S.o. S. 108–110. Vgl. dazu auch Schirren [2005] 113–137 (über die Gestaltung der Viten des D. L.) sowie 166 (über die lukianischen Philosophen): »Das ursprüngliche Bedürfnis nach einer Richte im Leben, das der Philosoph paradigmatisch bietet, wird nun von Lukian dergestalt beantwortet, dass es die Philosophen sind, bzw. diejenigen, die als solche angesehen werden möch-

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

send festhalten, dass er Humor als sanftes Mittel benutzt, um seine Gesprächspartner auf Selbsttäuschungen und Fehlhaltungen aufmerksam zu machen. Diogenes und Sokrates zieht er als Vorbild dafür heran, wie man philosophische Perspektiven in komischem Stil wiedergeben kann, weniger für ihre Lehren.379 Lukian nun ordnet sich selbst als Autor durch die beiden Charakteristika Freimütigkeit im Sprechen und ernsthaftes Spassen in dieselbe Tradition ein, in der Demonax steht. Über παρρησία, ἐλευθερία und ἀλήθεια ist bereits oben gesprochen worden; dass Lukian sich auch als Erbe der Tradition des σπουδογέλοιον verstanden wissen will, erweist sich vor allem aus Bis Accusatus, Prometheus es in verbis und den προλαλιαί Zeuxis und Bacchus.380 Die προλαλιαί sind darum besonders aussagekräftig, weil der Autor mit ihnen als Vorreden das Publikum auf den nachfolgenden längeren Vortrag einstimmt und konkret darauf vorbereitet, wie dieser aufgefasst werden soll und was er als Autor mit seiner Rede beabsichtigt.381 In Bis Acc. 33 klagt der personifizierte philosophische Dialog Lukian an, er habe ihn seiner tragischen, besonnenen Maske beraubt und diese durch eine komische, satyrhafte und beinahe lächerliche ersetzt. Darüber hinaus habe er ihn gewaltsam mit Witz, Iambos und Kynismus, mit Eupolis, Aristophanes und mit dem bellenden Hund Menipp verbunden, der ganz unerwartet zuschnappt, weil er lacht, während er beisst.382 Damit wird einerseits Lukians Spezialität der Verknüpfung von philosophischem Dialog mit humoristischen Elementen, also der komische Dialog beschrieben, andererseits auf seine Übernahme der Menipp von Gadara zugeschriebenen Satireform hingewiesen, die so genannte Menippeische Satire.383 Lukian verteidigt sich erten, die sich selbst nur als solche Paradeigmata inszenieren, ohne es wirklich leben zu wollen. Damit einher geht der Wandel der Perspektive vom Philosophen und seiner Lebensform auf die Art und Weise, wie seine Zeloten ihn sehen und sich an ihm orientieren. Wesentlicher Motor dieses Wandels ist der Philosophiebegriff, der sich ganz auf das Ethisch-Praktische beschränkt und hier allgemeinste Tugenden wie Wahrhaftigkeit, Offenheit, Hilfsbereitschaft und Affektlosigkeit impliziert.« 379 Vgl. Branham [1989] 59. 380 Vgl. Branham [1989] 34–46. 381 Vgl. zu den Vorreden bereits ausführlich die Einleitung 1.7. 382 [...] τὸ μὲν τραγικὸν ἐκεῖνο καὶ σωφρονικὸν προσωπεῖον ἀφεῖλέ μου, κωμικὸν δὲ καὶ σατυρικὸν ἄλλο ἐπέθηκέ μοι καὶ μικροῦ δεῖν γελοῖον. εἶτά μοι εἰς τὸ αὐτὸ φέρων συγκαθεῖρξεν τὸ σκῶμμα καὶ τὸν ἴαμβον καὶ κυνισμὸν [...]. τελευταῖον δὲ καὶ Μένιππόν τινα τῶν παλαιῶν κυνῶν μάλα ὑλακτικὸν ὡς δοκεῖ καὶ κάρχαρον ἀνορύξας, καὶ τοῦτον ἐπεισήγαγεν μοι φοβερόν τινα ὡς ἀληθῶς κύνα καὶ τὸ δῆγμα λαθραῖον, ὅσῳ καὶ γελῶν ἅμα ἔδακνεν. Die Formulierung γελῶν ἅμα ἔδακνεν umschreibt die Charakterisierung Menipps als σπουδογέλοιος wie wir sie bei Strabon finden (s.o.). 383 Lukian hat die Spezialitäten der Menippeischen Satire mit seinem komischen Dialog verknüpft. Dass letzterer Lukians Eigenerfindung ist, muss nicht bestritten werden; dass bereits Menipp komische Dialoge verfasst hat, lässt sich nicht beweisen. Vgl. dazu Baumbach [2002] 22–25 und Hall [1981] 71. Siehe dazu auch bereits die Einleitung 1.1, S. 14f.

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folgreich damit, dass er für sich beansprucht, durch das Vereinen von philosophischem Dialog und Komödie dem ehemals mürrischen, verwilderten Dialog eine angenehme (ἡδύς) Note verliehen zu haben, die ihm ein viel breiteres Publikum verschafft (§34). Wichtig ist neben der Bezugnahme auf Menipp und den Kynismus die mit Eupolis und Aristophanes angesprochene Einreihung in die Tradition der Alten Komödie. Aristophanes proklamiert die Funktion seiner Dichtung als komisch mit ernsthaften (didaktischen) Intentionen in Passagen wie Ra. 389f.384 und 686f.385 sowie Ach. 655–658386. Indirekt bestätigen uns auch thematisch mit Philosophischem und Philosophen befasste Dialoge wie Pisc. und Fug., die in der formalen Gestaltung aristophanische Muster aufweisen, die Absicht des ernsthaften Spassens. Nicht zuletzt wird in der Deutung der Schriften als Selbstpositionierung des Autors innerhalb der πεπαιδευμένοι, die unter Einbezug der eigenen Bildung zur witzigen Absetzung von Ungebildeten erreicht wird,387 von einer durchaus ernsthaften Funktion ausgegangen. Auch die Schrift Rh. Pr. passt in dieses Konzept des ernsthaften Spassens: Obwohl sie weder im engeren Sinn als komischer Dialog noch als Menippeische Satire bezeichnet werden kann (als gängige Beispiele gelten z.B. Piscator und Ikaromenipp), werden philosophische und komische Konzepte und Subtexte in Inhalt, Form und Vokabular einbezogen und miteinander verbunden: Die zu Beginn stark sokratisch-platonisch geprägte Schrift mutiert durch den schauspielerischen Auftritt des Rednerlehrers immer stärker zu einer Komödie, so dass Rh. Pr., auch wenn es sich formal nicht um einen Dialog handelt, in die Nähe eines komischen Dialoges gerückt wird.388 Über die Anlehnung an die Alte Komödie hinaus besteht die Möglichkeit, bestimmte, v.a. durch Ambivalenz gekennzeichnete Passagen von Rh. Pr. mit Bachtins Konzept der karnevalisierten Literatur zu verbinden, die in ihrer Entwicklung wiederum bis auf die antike Menippeische Satire und den Sokratischen Dialog (in enger Verknüpfung mit dem ErnsthaftKomischen, σπουδογέλοιον) zurückgeführt wird.389

384

Καὶ πολλὰ μὲν γελοῖά μ’ εἰπεῖν, πολλὰ δὲ σπουδαῖα [...]. Τὸν ἱερὸν χορὸν δίκαιόν ἐστι χρηστὰ τῇ πόλει / ξυμπαραινεῖν καὶ διδάσκειν. 386 Ἀλλ’ ὑμεῖς τοι μή ποτ’ ἀφῆσθ’· ὡς κωμῳδήσει τὰ δίκαια. / Φησὶν δ’ ὑμᾶς πολλὰ διδάξειν ἀγάθ’, ὥστ’ εὐδαίμονας εἶναι, / οὐ θωπεύων οὐδ’ ὑποτείνων μισθοὺς οὐδ’ ἐξαπατύλλων, / οὐδὲ πανουργῶν οὐδὲ κατάρδων, ἀλλὰ τὰ βέλτιστα διδάσκων. 387 Vgl. dazu bereits oben Kap. 2.2 und im Folgenden Kap. 3.2–3.3. 388 Zu philosophischen Elementen in Rh. Pr. vgl. bereits die Einleitung 1.2–1.4 und den Kommentar zu §§1–4, zur Figur des Sokrates Rh. Pr. 13; zur Anlehnung an Aristophanes und die Komödie sowie zur lukianischen Gattungsmischung vgl. die Einleitung 1.8, zur Darstellung der Lehrer in einem aristophanischen Agon auch den Kommentar zu §§9–10. 389 Vgl. dazu den Kommentar zu §10: ἀλαζὼν καὶ ἀρχαῖος ὡς ἀληθῶς καὶ Κρονικὸς ἄνθρωπος. 385

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

Lukians Prometheus es in verbis stellt genau wie Bis Acc. eine Apologie für seine literarische Spezialität, den komischen Dialog, dar und rückt als spezielle Qualität seines Schaffens »the curious amalgam of serious and comic tendencies«390 in den Vordergrund. Immer wieder vergleicht Lukian die Art seiner Werke mit Wunderkreaturen, die aus zwei Elementen zusammengesetzt sind, wie zum Beispiel der Hippokentaur (Prom. Es 5) oder die Kentaurin des Malers Zeuxis, die halb Tier, halb Mensch ist (Zeux. 3f.). Dabei betont er aber, dass er nicht nur für eigenartige, neue Zusammensetzungen gelobt werden möchte, sondern auch für die Art und Weise, wie er aus zwei divergierenden Elementen ein harmonisches Ganzes zu schaffen vermag (Prom. Es 5f.), und dafür, dass er dies innerhalb der gängigen Kriterien – Berücksichtigung des attischen Kanons, angemessenes Vokabular, harmonische Komposition – tut (Zeux. 2). Seine ›Kreaturen‹ sollen also in ihrem literarisch-stilistischen Gehalt durchaus ernst genommen werden.391 Lukians προλαλιά Bacchus schliesslich enthält die wohl klarsten Ausführungen dazu, dass das Publikum seine Werke nicht als blosse Amüsierstücke beurteilen, sondern auch die Ernsthaftigkeit dahinter wahrnehmen solle, ohne die dem Zuhörer etwas entgeht: Lukian beschreibt, wie lächerlich es auf die Inder wirkte, als der Gott Dionysos seine Streitmacht, bestehend aus Mänaden, Satyrn, einem Silen und Pan, zum ersten Mal in den Osten führte. Genau wie die Inder nimmt auch Lukians Publikum die Mänaden und Satyrn zuerst als lächerlich wahr und realisiert erst danach, dass sie ernstzunehmende KämpferInnen sind, die entsprechenden Schaden anrichten können. Die Bedeutung der Geschichte, die Lukian selbst für das Verhältnis seines Werkes gegenüber dem Publikum darlegt (§5), fasst Branham folgendermassen zusammen ([1989] 46): Like Dionysus in India, he [sc. Lucian] may appear satyrlike and comic, but his thyrsus too has a point. [...] Thus Lucian uses the story to admonish his audience against dismissing him as ›merely comic‹. The tale of Dionysus’ invasion is the perfect vehicle for this admonition, for in telling and interpreting it the speaker gives a demonstration of his seriocomic art on a small scale.

Der Autor Lukian äussert sich also selbst über die Verknüpfung von Ernsthaftem und Witzigem in seinem Werk. Genauso übt Demonax auf humorvolle Weise ernstgemeinte Kritik an seinen Zeitgenossen, verfolgt mit seinen Witzen zumindest ernsthafte (entlarvende) Absichten. Dem Lob des Demonax kommt insofern eine tiefere Bedeutung zu, als der Autor sich in seiner Selbstdarstellung eng mit dem Philosophen verbindet, wobei als Hauptelemente die (kynische) παρρησία und die Tradition des σπουδο390 391

So Branham [1989] 42. Zu Prometheus es in verbis und Zeuxis siehe ausführlicher die Einleitung 1.7.2 oben.

3.1 Lukians Demonax und die Figur des ernst-komischen Entlarvers

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γέλοιον festgestellt worden sind. Man kann den Satiriker als literarisches Pendant zum Kyniker sehen; beide vermitteln einen Inhalt unter dem Gesichtspunkt des ernsthaften Spassens und geben sich als Beobachter der Gesellschaft.392 Es ist daher auch nicht erstaunlich, dass sich zwischen Demonax’ kritisierenden Anekdoten und dem lukianischen Spott über Scheinphilosophen, der im folgenden Kapitel dargestellt wird, enge Verbindungen ziehen lassen.

3.2 Lukians Philosophenspott: Piscator und Fugitivi Innerhalb von Lukians Œuvre finden sich zahlreiche Schriften, die sich kritisch-humoristisch mit den verschiedenen philosophischen Richtungen auseinandersetzen.393 Für mein Anliegen, Lukians Konzept von scheinbaren und echten Vertretern auch im Bereich der Philosophen aufzuzeigen und zu analysieren, sind v.a. folgende zwei Schriften aufschlussreich, welche die Philosophen in zwei Gruppen, in gute und schlechte Vertreter, einteilen:394 Ἀναβιοῦντες ἢ Ἁλιεύς (Pisc.), deutsch etwa Die Wiederauferstandenen oder der Fischer, und Δραπέται (Fug.), Die entlaufenen [Sklaven]. Aus diesen Texten soll herausgearbeitet werden, welche Kritik an den Scharlatanen unter den Philosophen geübt wird bzw. wie sich diese Scharlatane geben und woran man sie erkennt. Was die Sprecher der Dialoge anbelangt, so schlüpft Lukian in Pisc. in die Rolle mit dem programmatischen Namen Parrhesiades (s.o. S. 118), während die Kritikerin der falschen Philosophen in Fug. die personifizierte Philosophie selbst ist, die dem Göttervater Zeus ihr Leid klagt. Da die Kritik des Parrhesiades und der personifizierten Philosophie sehr ähnlich ausfällt und die Schriften in Thematik und Struktur Übereinstimmungen aufweisen (Feststellung, dass es Scharlatane gibt; Erwägung und teilweise Vollzug einer Lösung und Bestrafung), sollen sie gemeinsam behandelt werden unter dem Gesichtspunkt der Auseinandersetzung und Satire des Autors Lukian, in welcher die Diskrepanz von 392

Vgl. Horaz sat. 1,1,23–25: praeterea, ne sic, ut qui iocularia, ridens / percurram – quamquam ridentem dicere verum / quid vetat? und sat. 1,10,14f.: ridiculum acri / fortius et melius magnas plerumque secat res. 393 Eine Gesamtschau und -interpretation dieser Schriften findet sich bei Nesselrath [2001b]. 394 Schriften, die sich allzu spezifisch mit einer Schule und/oder einem Problem auseinandersetzen (z.B. Gallus, J. Trag., J. Conf., Hermotimos), werden an dieser Stelle beiseite gelassen, ebenso diejenigen Texte, welche die gesamte Philosophenschar schlecht machen oder verspotten (Ikaromenipp, Nekyomanteia, Symposion und Vitarum Auctio; wo es nützlich scheint, werden sie zur Ergänzung und Erklärung herangezogen, da die Kritik an der gesamten Philosophenschar oft eng an diejenige an den schlechten Philosophen in Pisc. und Fug. anschliesst). Hermotimos ist als Vergleichstext zu Rh. Pr. wegen der verwendeten Wegmetaphorik wichtig, vgl. dazu bereits die Einleitung 1.5.c.

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

Schein und Sein und deren Entlarvung in immer wieder neuen Varianten als amüsante, unterhaltsame Kernelemente verarbeitet werden. Im Gegensatz zum Sophistenspott, der teilweise von theoretisch-konstruktiven Aussagen zur Rhetorik begleitet wird und in die Form sokratischplatonischer Dialoge eingekleidet ist, die Scheinwissen in ›ernsthaftem‹ Gespräch entlarven,395 treten die auktorialen Figuren in den genannten philosophenkritischen Texten als spezifisch komödienhafte Entlarver auf, die Scheinwissen und Scharlatanerie in einem (aristophanischen) Schauspiel blossstellen. Witzige Unterhaltung dürfte denn auch eine Hauptfunktion dieser aristophanisch geprägten Texte sein, und dies stärker und mit einem tendenziell weniger intellektuellen Anspruch als es in den Schriften zu rhetorischen Themen, die teilweise attizistische Spezialprobleme behandeln, der Fall ist (vgl. v.a. Lex. und Sol.). Die Betonung liegt auf dem Amüsement, das durch die gemeinsame Jagd auf Scharlatane zustande kommt. Aufschluss über intendierte Funktion und Rezipienten des komischen Dialoges geben auch folgende Punkte, welche aus der Anklage, die Lukian dem personifizierten Dialog in Bis Acc. 33 in den Mund legt, erschlossen werden können:396 Die Dialoge Lukians sind für einen anderen Rezipientenkreis geschrieben als die klassischen philosophischen (platonischen) Dialoge, sie richten sich an ein breites Publikum (οἱ πολλοί) und sind daher in ihrem Inhalt nicht abgehoben, sondern behandeln alltägliche Themen. Einen grossen Teil der Publikumstauglichkeit macht die durch diese Art von Dialogen gewährleistete angenehme Unterhaltung aus, die durch Elemente der Komödie und durch Satirisches nach dem Vorbild des Menipp erreicht wird. Der neue komische Dialog setzt sich also Unterhaltung zu einem wichtigen Ziel und will damit für eine möglichst breite Leserschaft attraktiv sein.397 Das stereotype Bild des Scheinphilosophen, dessen Leben und Lehre, dessen äussere Erscheinung und innere Disposition in krassem Gegensatz stehen, und die immer wiederkehrende Thematik von Schein und Sein lassen sich aus eben dieser beabsichtigten Unterhaltung eines gemischten Publikums erklären, denn Stereotype und Paradespott dienen zum Einbezug auch ungebildeterer Hörer: Alle kennen das Standardaussehen eines Philosophen und die Standardanforderungen, die an ein Philosophenleben gestellt werden.398 395 Dies trifft v.a. auf Lex. und Sol. zu; in Rh. Pr. sind neben den sokratisch-platonischen auch wichtige aristophanische Muster erkennbar (s.o. S. 123). 396 Zu dieser Textstelle vgl. bereits oben 3.1, S. 122f. mit Anm. 382. 397 Vgl. Baumbach [2002] 23. – Zu komödiantischen Elementen in Lukians Werk allgemein vgl. Bompaire [1958] 320–330. 398 Man vgl. hierzu auch Schmitz’ ([1997] 168–175) Analyse verschiedener sophistischer Reden, die mit zahlreichen überdeutlichen Anspielungen auf Tradition und Klassiker geradezu auf die richtige Auflösung und Einordnung drängen und mit dem Publikum über die gemeinsame Ak-

3.2 Lukians Philosophenspott: Piscator und Fugitivi

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Folgende Szene bildet den Anfang der Schrift Piscator: Eine Reihe berühmter griechischer Philosophen399 – aus dem Hades beurlaubt, deshalb auch im Doppeltitel: Die Wiederauferstandenen – verfolgt wutentbrannt den Syrer Parrhesiades, weil er an ihnen Hybris begangen und über sie blasphemisch gesprochen habe und deshalb bestraft werden müsse.400 Auf Parrhesiades’ Frage, womit er die Philosophen denn derart verärgert haben soll, geben sie als Gründe einerseits all seine Dialoge an, in denen er sich verächtlich über die Philosophie selbst geäussert habe, andererseits sein Stück Vitarum Auctio, worin er sie, freigeborene Denker, wie auf einem Sklavenmarkt feilgeboten und verkauft habe (§§1–4). Nur mit Mühe erwirkt Parrhesiades für sich schliesslich einen Prozess, in dem er sich verteidigen darf, nachdem er Platon, der gegenüber Rednern und Anwälten äusserst misstrauisch ist, davon überzeugt hat, dass er keine Tricks anwenden werde und könne, weil die Philosophie selbst nebst den Philosophen die tivierung von Bildungskenntnissen in Kontakt treten, wobei das Niveau oftmals so elementar ist, dass daraus ein bewusster Einbezug auch derjenigen abgeleitet werden kann, deren Anteil am gemeinsamen Bildungsgut gering ist. Zur Schwierigkeit eines solchen Schlusses vom Inhalt eines Textes auf den Bildungsstand seiner Rezipienten unter Vernachlässigung der Aufführungsbedingungen der betreffenden Reden siehe aber Korenjaks Kritik im Falle der Beispiele aus Maximus von Tyros, dessen Reden »einen Philosophiekurs für jugendliche Angehörige der Oberschicht bilden« ([2000 42]), so dass deren Trivialität nicht auf ein Massenpublikum hinweisen kann. – Rütten [1997] vermutet hinter eingängiger, mehrfach wiederholter Motivik eine Steigerung der komischen Wirkung durchaus auch auf gebildete Rezipienten: »So wäre es sicherlich interessant, die Stellen, an denen Lukian seine Motive wiederholt, miteinander über die jeweiligen Werkgrenzen hinaus unter dem Lachaspekt zu vergleichen. Möglicherweise wird das Zuhören gerade bei solchen Passagen für einen Kenner Lukians noch vergnüglicher und unterhaltsamer.« (132 Anm. 7); diese Vermutung erscheint mir aufgrund des vorliegenden Vergleichs von Lukians Philosophenund Sophistenspott mit seiner wiederkehrenden Motivik sehr plausibel (vgl. dazu auch unten 3.3). 399 Genannt werden Sokrates, Platon, Chrysipp, Diogenes, Epikur, Aristipp, Aristoteles, Empedokles (§1) und Pythagoras (§4). 400 Eine Studie zur Struktur der Schrift sowie Angaben über die Quellen, die Lukian in Pisc. verwendet hat, bietet Anderson [1976] 141–145. Die Eröffnungsszene trägt eindeutig Züge der Alten Komödie: Einerseits kann man die Parodosszene der Acharner des Aristophanes anführen, wo Dikaiopolis von den aufgebrachten acharnischen Köhlern gesteinigt werden soll (Vv. 203–343, v.a. 280ff.), andererseits hat das Motiv der wiederauferstandenen alten Philosophen Ähnlichkeit mit den grossen Staatsmännern aus Athens Glanzzeit (Solon, Miltiades, Perikles etc.), die in Eupolis’ Demen als Gesandtschaft aus dem Hades nach Athen hinaufgeschickt werden, wo sie zum Rechten schauen sollen. An dieser Stelle sei bereits angemerkt, dass auch die Schlussszene von Pisc. (§§40–52), das zuerst misslungene Herbeirufen und schliesslich das Fischen und Brandmarken der Scharlatane, komische Züge trägt (Whitmarsh [2001] 260 zieht den Vergleich zur Zerstörung von Sokrates’ φροντιστήριον am Ende von Aristophanes’ Fröschen), so dass das Stück sozusagen einen komischen Rahmen aufweist, der um einen Gerichtsprozess herum angelegt ist. Die Komik der Eröffnungsszene liegt auch darin, dass ausgerechnet Sokrates zum Angriff bläst und dass die Philosophen derart erzürnt sind, was allen Erwartungen, die man bezüglich Affektbeherrschung an Philosophen stellt, entgegensteht (vgl. dazu Pisc. 8). Vgl. zu weiteren verwerteten Charakteristika der Alten Komödie (Gestaltung der Rolle des Chors und des Protagonisten, inhaltlicher Duktus) und zur Kombination mit Elementen des philosophischen Dialogs Möllendorff [2006b] 81–83.

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

Richterin sein solle (§§5–10). Zu diesem Zweck wird die Philosophie aufgesucht, und gemeinsam401 begibt man sich auf die Athener Akropolis, um den Prozess abzuhalten (§§11–20).402 Die formelle Anklage – als Kläger wird Diogenes bestimmt – lautet folgendermassen (§§25–27): Der syrische Redner habe sein angestammtes Betätigungsfeld, die Gerichte, verlassen und seine ganze rhetorische Gewandtheit gegen die Philosophen gerichtet, sie Schwindler (γόητες) und Betrüger (ἀπατεῶνες) genannt und so vor dem Publikum als lächerlich und verachtenswert dargestellt. Er habe weiter die Lehren selbst, und damit die Philosophie persönlich, als Geschwätz verspottet. Und trotzdem unternehme er das alles im Namen der Philosophie, des Dialogs und des Menipp. Noch einmal führt Diogenes als jüngsten Frevel den Verkauf der Philosophen in Vitarum Auctio an. Die alten Philosophen, die in Vit. Auct. tatsächlich versteigert werden, werden zwar – entgegen dem Vorwurf des Diogenes an Parrhesiades – in diesem Stück nie γόητες oder ἀπατεῶνες genannt, doch übernimmt Parrhesiades diesen Anklagepunkt und eröffnet seine Verteidigung mit den Worten, er werde präzisieren, welche Leute er zum Verkauf angeboten und als Prahler (ἀλαζόνες) und Schwindler (γόητες) beschimpft habe.403 Dabei läuft die gesamte Verteidigung in eine unerwartete Richtung: Parrhesiades hat schon in Vit. Auct. »gar nicht die wahren und guten Philosophen der Vergangenheit verspottet, sondern die falschen, die Betrüger und Scharlatane der Gegenwart« (Nesselrath [2001b] 142).404 Damit ist eine Zweiteilung von echten und falschen Philosophen vorgegeben, die Parrhesiades in seiner Verteidigungsrede erläutert: Gleich zu Beginn der Verteidigung treffen wir auf ein Motiv, welches uns bereits aus Rh. Pr. und aus Bis Acc. bekannt ist; es ist der Rückzug des syrischen Redners aus seinem angestammten Beruf, weil er mit der (neuen Art von) Rhetorik nichts mehr zu tun haben will (§29): Ἐγὼ γὰρ ἐπειδὴ τάχιστα συνεῖδον ὁπόσα τοῖς ῥητορεύουσιν ἀναγκαῖον τὰ δυσχερῆ προσεῖναι, ἀπάτην καὶ ψεῦδος καὶ θρασύτητα καὶ βοὴν καὶ ὠθισμοὺς καὶ

401 Im Gefolge der Philosophie befinden sich auch Arete, Dikaiosyne, Sophrosyne, Paideia, Aletheia, Eleutheria, Parrhesia, Elenchos und Apodeixis. 402 Die zentrale Debatte zwischen Diogenes und Parrhesiades (§§25–37) gehört zum Genus der Gerichtsrede (γένος δικανικόν) mit den Elementen von Anklage und Verteidigung, die in den rhetorischen προγυμνάσματα einen wichtigen Platz einnehmen. Zur Verbreitung von Gerichtsreden in Lukians Œuvre siehe Bompaire [1958] 242–251. Anderson, der auch §§4–10 und §§13–20 als Debatten zählt, bemerkt zur Mischung von Komik und Gerichtsrede ([1976] 144): »The outside frame contains the purely comic and fantastic material, while the three debates thus enclosed supply the element of spoudaion.« 403 §29: [...] οὕστινας ἀπεκήρυττον καὶ κακῶς ἠγόρευον ἀλαζόνας καὶ γόητας ἀποκαλῶν. 404 So auch Hall [1981] 156.

3.2 Lukians Philosophenspott: Piscator und Fugitivi

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μυρία ἄλλα, ταῦτα μέν, ὥσπερ εἰκὸς ἦν, ἀπέφυγον, ἐπὶ δὲ τὰ σά, ὦ Φιλοσοφία, καλὰ ὁρμήσας [...].405

Unter den Rednern herrschten also Betrügerei, Lüge, Dreistigkeit, Geschrei und Ellbogeneinsatz vor, und all dem versuchte Parrhesiades den Rücken zu kehren, indem er sich der Philosophie und den alten Philosophen zuwandte, deren Lehre er bewundert, weil sie darin äusserst Schönes und Nützliches empfehlen, was man als Richtschnur (κανών) für ein gutes Leben nehmen soll (§30). Somit positioniert sich Parrhesiades als der Philosophie und den alten Philosophen, die ihn vor Gericht gebracht haben, durchaus wohlgesinnt.406 Das ist einerseits natürlich als captatio benevolentiae in Form einer Beschwichtigung zu sehen, macht andererseits dennoch das Bestreben deutlich, unter den Philosophen eine Zweiteilung in gute und schlechte Vertreter vorzunehmen, denn während seiner Beschäftigung mit der Philosophie wird Parrhesiades klar, dass es sehr viele Scharlatane auch unter denjenigen gibt, die sich Philosophen nennen (§31): Ὁρῶν δὲ πολλοὺς οὐκ ἔρωτι φιλοσοφίας ἐχομένους ἀλλὰ δόξης μόνον τῆς ἀπὸ τοῦ πράγματος ἐφιεμένους, καὶ τὰ μὲν πρόχειρα ταῦτα καὶ δημόσια καὶ ὁπόσα παντὶ μιμεῖσθαι ῥᾴδιον εὖ μάλα ἐοικότας ἀγαθοῖς ἀνδράσι, τὸ γένειον λέγω καὶ τὸ βάδισμα καὶ τὴν ἀναβολήν, ἐπὶ δὲ τοῦ βίου καὶ τῶν πραγμάτων ἀντιφθεγγομένους τῷ σχήματι καὶ τἀναντία ὑμῖν ἐπιτηδεύοντας καὶ διαφθείροντας τὸ ἀξίωμα τῆς ὑποσχέσεως, ἠγανάκτουν.407

Parrhesiades scheint mit seinem Wechsel von der Rhetorik zur Philosophie vom Regen in die Traufe gekommen zu sein: Von Ruhmstreben angetrieben legen sich solche Scheinphilosophen die passende äussere Erscheinung 405 »Sobald ich erkannte, wieviele unangenehme [Eigenschaften] man als Rhetor gezwungen ist sich anzueignen, Betrügerei, Lüge, Dreistigkeit, Geschrei, Ellbogeneinsatz und unzähliges anderes, floh ich, wie es nur folgerichtig war, davor und machte mich eilends auf den Weg zu deinen schönen [Lehren], Philosophie, [...].« 406 Deutlich wird das auch in §32 und in §37, wo Parrhesiades zur Philosophie spricht: [...] περὶ ὑμῶν δὲ ἢ τῶν ὑμῖν παραπλησίων μὴ οὕτως μανείην ἔγωγε ὠς βλάσφημον εἰπεῖν τι ἢ σκαιόν (»[...] ich wäre niemals so unbesonnen, über euch oder die euch Ähnlichen etwas Beschimpfendes oder Unfreundliches zu sagen«). Die alten Philosophen und ihre Schriften sind konventionellerweise ebenso Vorbilder für den Philosophen wie es die Werke der klassischen Autoren für den Sophisten sind (vgl. dazu Rh. Pr. 9 und 17 sowie zum Bildungskanon Anm. 264). Hall ([1981] 155–170) zeigt auf, dass aufgrund solcher Aussagen natürlich keineswegs von einer Konversion Lukians zur Philosophie die Rede sein kann. »They [sc. the humorous references] show that Lucian had received a general education in the subject but are far from indicating a deep study of philosophy on his part or a serious attitude towards it!« (170). 407 »Sowie ich aber sah, dass viele nicht von Liebe zur Philosophie ergriffen waren, sondern nur den Ruhm, der aus dieser Sache folgt, begehrten und dass sie zwar in Bezug auf diese gewöhnlichen und allgemeinen Merkmale, die jeder leicht nachahmen kann – ich meine den Bart, den Gang und das Gewand –, den guten Männern sehr wohl glichen, in ihrer Lebensführung aber und in ihren Taten ihrer äusseren Erscheinung widersprachen, gegenteilig zu euch handelten und die Würde der Profession zerstörten, da war ich empört.«

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

(σχῆμα) zu, was sie auf den ersten Blick den echten Philosophen (ἀγαθοὶ ἄνδρες) gleichmacht, doch ihre Lebensweise (βίος καὶ πράγματα) entspricht überhaupt nicht dem, was sie äusserlich zu sein vorgeben. Gegen diese Scharlatane nun habe sich seine gesamte Kritik gerichtet, sie habe er überführen und der Lächerlichkeit preisgeben wollen – nicht zuletzt auch deshalb, weil sie mit diesem Benehmen die Philosophie und die echten Philosophen in den Dreck zögen (§§32, 33, 37). Es sei ihm ein Anliegen gewesen, die echten und falschen Vertreter voneinander zu scheiden (§33).408 An dieser Stelle prägt der Autor durch die auktorial aufgeladene Stimme des Parrhesiades deutlich sein Selbstbild als Entlarver. Die in Pisc. vorgenommene Charakterisierung der Scheinphilosophen als Betrüger (ἀπατεῶνες)409, Schwindler (γόητες)410 und Prahler (ἀλαζόνες)411 erinnert an die Anekdoten in Demon. 12, 14 und 29 (vgl. S. 114–116), welche Betrug und Prahlerei kritisieren. Auch die angeprangerte Diskrepanz zwischen Leben und Lehre weist in Demon. 56 (vgl. S. 116) eine Parallele auf. Diese Diskrepanz, und wie die Scharlatane dadurch konkret die Ehre der Philosophie und derjenigen Philosophen, auf die sie sich berufen, in den Schmutz ziehen, beschreibt Parrhesiades in §§34–36 ausführlich: Es geht darum, dass die Scheinphilosophen einerseits die Lehren der Bücher der Alten wohl zu kennen scheinen und diese auch gegen aussen vertreten (z.B. Verachtung von Reichtum und Ruhm; allein das Schöne ist gut; Freisein von Zorn), andererseits aber ihr Leben nicht danach ausrichten. Das beginnt schon damit, dass sie nur gegen Bezahlung unterrichten und sich aus Geldgier vor allem um die Reichen bemühen. Weiter sind sie geprägt von schlechten Charakterzügen wie Jähzorn, Feigheit, Schmeichelei, Zügellosigkeit, Raffgier und Streitsucht. Zu echten Freundschaften sind sie nicht fähig. Ihr Leben ist demnach keinerlei Vorbild und entlarvt sie als betrügerische Philosophen.412 An dieser Stelle sei daran erinnert, wie uns der Autor 408 Bezeichnet werden die echten und falschen Vertreter häufig als »die wahrhaft bzw. richtig Philosophie Betreibenden« (οἱ ἀληθῶς/ὀρθῶς φιλοσοφοῦντες; diese Terminologie ist bereits bei Platon Phd. 67d+e, 82c; Ep. 7,326b vorhanden; sehr ähnlich auch Phd. 64b+e; R. 376b, 485e) gegenüber den Betrügern, Schwindlern, Prahlern (ἀπατεῶνες; γόητες; ἀλαζόνες), daneben auch als »die Guten« und »die Schlechten« (οἱ χρηστοί und οἱ φαῦλοι), prägnant v.a. in §§42, 44, 45, 46. 409 Neben dem oben erwähnten §25 vergleiche man auch Parrhesiades’ Bezeichnung der Scheinphilosophen in §8 als οἱ ἐξαπατήσαντες ὑμᾶς (»die, welche euch [gemeint ist die φιλοσοφία] betrügen«). 410 Vgl. neben §25 und §29 (s.o.) auch §42, wo Parrhesiades die γόητες den echten Philosophen, οἱ ἀληθῶς φιλοσοφοῦντες, entgegensetzt, und §15 und §44, wo die Philosophie selbst die gleiche Terminologie anwendet und die falschen Philosophen als γόητες (ἄνδρες) und ἀλαζόνες betitelt. 411 Neben §29 und §44 findet sich diese Bezeichnung auch in §§17, 21, 37. 412 Das schlechte Leben der Scheinphilosophen wird auch in §21 und §32 illustriert. Lukian gebraucht häufig die drei Begriffe Reichtum, Ruhm und Wollust (χρήματα/χρυσίον/πλοῦτος;

3.2 Lukians Philosophenspott: Piscator und Fugitivi

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Lukian den Philosophen Demonax vorführt: Sein Leben ist – geprägt von der Liebe zur Philosophie – tatsächlich ein Vorbild, er ist ein ausgeglichener Charakter, der Freundschaft hochhält und materielle Güter für gleichgültig erklärt und, was das Wichtigste ist, dies auch in seiner Art zu leben demonstriert (vgl. Demon. 3, 7–10). Parrhesiades charakterisiert gegenüber seinen Richtern die Scheinphilosophen derart klar und legt die Gefahren für die (ernsthafte) Philosophie durch das Sich-Verstellen und die Maskerade der Scharlatane so eindringlich dar, dass er einstimmig freigesprochen und ein neuer Prozess, diesmal gegen die falschen Philosophen, beschlossen wird (§§38f.). Die standardisierten äusserlichen Merkmale eines Philosophen werden in Pisc. immer wieder vorgeführt (§§11, 31, 37, 41, 42): Es sind in erster Linie ein abgetragener Mantel (τρίβων) und ein Bart (πώγων, seltener γένειον), weiter ein finster-ernster Blick (σκυθρωπός) und bisweilen auch ein Ranzen und ein Stock413, wie beispielsweise in §42, wo der Autor, nachdem man alle Philosophen zum Prozess auf die Akropolis gerufen hat, die Philosophie in pointierter Weise und mit Verknüpfung der inneren und äusseren Kriterien ausdrücken lässt, was sie vor sich sieht: [...] πανταχοῦ πήρα κολακεία πώγων ἀναισχυντία βακτηρία λιχνεία συλλογισμὸς φιλαργυρία.414 Die äussere Erscheinung, das σχῆμα, weist jemanden zwar für die breite Masse vielleicht als Philosophen aus, aber nicht für denjenigen, der genauer hinsieht und die Lebensweise des betreffenden Menschen beobachtet. Eng mit dieser stark betonten Maskerade sind Schauspielmetaphern verknüpft, welche Parrhesiades in seiner gesamten Verteidigungsrede immer wieder vorbringt; er vergleicht die Scheinphilosophen mit schlechten Schauspielern. Diese Schauspielmetaphorik soll demonstrieren, wie man durch eine Maske und ein bestimmtes Gewand in eine Rolle schlüpfen, diese aber deshalb noch lange nicht angemessen spielen kann. So erinnern Parrhesiades die Scheinphilosophen beispielsweise an einen verweichlichten und weibischen Tragödienschauspieler, der für die Rolle des Achill, Theseus oder gar des Herakles absolut unangemessen ist (§31), und er spricht deshalb auch von der Schande ihrer Schauspielerei (§32: αἰσχύνη τῆς ὑποδόξα; ἡδονή) zur Darlegung derjenigen Bereiche, worin Lehre und Lebensführung der Philosophen in unvorbildlicher Weise auseinanderklaffen, z.B. Pisc. 46; Nec. 5; Hermot. 22; Fug. 19f.; Ikaromen. 30. Überhaupt sind unkontrollierte Affekte häufig ein Angriffspunkt (neben Lust auch Zorn, Reizbarkeit oder Trauer, vgl. z.B. Fug. 19; Pisc. 34; Hermot. 9 und 80). 413 Ranzen und Stock sind typische Merkmale der Kyniker (z.B. Vit. Auct. 9), die hier aber auf die gesamte Philosophenschar angewendet werden. 414 »[...] überall [sind] Ranzen, Schmeichelei, Bart, Unverschämtheit, Stock, Gefrässigkeit, Syllogismus, Geldgier.« – Zur langen Tradition solchen Philosophenspotts vgl. unten Anm. 444 und Kapitel 3.3.

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

κρίσεως). Ein von Lukian häufig zur Illustration herangezogenes Beispiel ist die Geschichte Äsops415 vom Esel, der sich für einen Löwen ausgab, indem er ein Löwenfell überstreifte und laut zu brüllen begann, und so die Einwohner von Kyme täuschte, bis ein Fremder – ein wissender Entlarver eben – ihn schliesslich demaskierte (§32; auch in Fug. 13 und 33; Pseudol. 3; leicht abgewandelt in Philopseud. 5). Weitere Schauspielmetaphern verwendet Parrhesiades in §§33, 36, 37 und 46. Diese Metaphorik zieht weite Kreise in Lukians Werk über (angebliche) Philosophen sowie Scheingebildete aller Art.416 Besonders deutlich wird der Vergleich des Lebens eines falschen Philosophen (bzw. Orakelpriesters) mit einem misslungenen Schauspiel in den beiden Pamphleten gegen Peregrinus und Alexander.417 Dies lässt sich dadurch erklären, dass die beiden sehr stark in die Nähe der umherziehenden Showredner – der eigentlichen Sophisten also – zu rücken sind, die vor dem Publikum eine Art Theaterproduktion abliefern.418 Clay ([1992] 3418) bemerkt dazu: Lucian’s Peregrinus Proteus and Alexander are very much at home in this theatrical culture. They are always on stage and always histrionic; their success was the success of the actor – it hung on their ability to convince their audience.

Durch die Art der Darstellung, durch bestimmte Formulierungen wird deutlich, dass es sich auch bei den Philosophen, welche Lukian in den von mir untersuchten Schriften angreift, zumindest teilweise um solche handelt, die vor grossem, eher laienhaftem Publikum auftreten und sich der breiten Öffentlichkeit als Philosophen präsentieren, die also innerhalb der Vortragskultur – und damit in einem vergleichbaren Rahmen wie die Sophisten – wirken und nicht im kleineren (geschlosseneren) Kreis der Schulen. Oft weisen sie auch Züge von Kynikern auf, die sich ohnehin ausserhalb des traditionellen institutionellen Rahmens der Schulen bewegen und die Menschen auf der Strasse ansprechen.419 Auch in Ikaromen. 30 werden die Auf415

Vgl. fab. 199 Hausrath. Vgl. dazu allgemein Bompaire [1958] 436–439. 417 Vgl. Peregr. 15f. (τραγικῶς), 21, 36 (τραγῳδία); Alex. 5, 12, 60 (τραγῳδία). Clay ([1992] 3415) zeigt auf, wie Lukian die gesamte Karriere des Peregrinus als »stage production« stilisiert: »In Lucian’s eyes, Peregrinus is a mountebank, whose philosophy is nothing more than a gaudy theatrical performance to impose on the credulous.« 418 Man vgl. zur Nähe von Rhetorik und Theater auch das in der rhetorischen Theorie als fünftes officium oratoris fungierende Element des »Vortrags« im Sinne von »Performanz« (ὑπόκρισις); siehe z.B. Arist. Rh. 1403b22–36 und Ciceros Bezeichnung der Redner als veritatis actores in De or. 3,214; vgl. hierzu auch Fuhrmann [41995] 79f. Ebenso ist zu erwähnen, dass Theater und ὠδεῖα (überdachte Kleintheater) sehr häufig Vortragsort sophistischer Reden waren, vgl. Korenjak [2000] 27–31. 419 Relevante Textstellen sind z.B. Fug. 12 (Bewunderung der πολλοί für jede Sorte von Philosophen); Fug. 14–16 (öffentliches ›kynisches‹ Auftreten; siehe dazu auch die Einleitung 1.3, S. 41–43); Fug. 19f. (Wirkung auf die Zuschauerschaft); Bis Acc. 11 (die Vorträge der Scheinphilo416

3.2 Lukians Philosophenspott: Piscator und Fugitivi

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tritte schlechter Philosophen mit trügerischer Schauspielerei in Zusammenhang gebracht.420 Zeus legt die Situation folgendermassen dar: Συνάγοντες εὐεξαπάτητα μειράκια τήν τε πολυθρύλητον ἀρετὴν τραγῳδοῦσι καὶ τὰς τῶν λόγων ἀπορίας ἐκδιδάσκουσι, καὶ πρὸς μὲν τοὺς μαθητὰς καρτερίαν ἀεὶ καὶ σωφροσύνην καὶ τὸ αὐταρκὲς ἐπαινοῦσι καὶ πλούτου καὶ ἡδονῆς καταπτύουσι, μόνοι δὲ καὶ καθ’ ἑαυτοὺς γενόμενοι τί ἂν λέγοι τις ὅσα μὲν ἐσθίουσιν, ὅσα δὲ ἀφροδισιάζουσιν, ὅπως δὲ περιλείχουσι τῶν ὀβολῶν τὸν ῥύπον;421

Dass Scheinbildung und Auftritte Scheingebildeter von Lukian häufig in den Kontext von Theatralisierung und Spektakularisierung gesetzt werden, lässt sich als Darstellung einer Gesellschaft lesen, in welcher Zurschaustellung und Performanz mehr zählen als die innere Disposition. Und tatsächlich erreichte der Unterhaltungsbetrieb speziell im kaiserzeitlichen Rom422 eine einmalige Dichte, wobei neben allen Arten von spectacula spezifisch die Auftritte umherziehender Sophisten und Philosophen einen Höchstgrad an Theatralisierung erlebten.423 Was nun die Satiren Lukians komplex macht, ist, dass sie nicht nur Entlarvung von Theatralik sind und ihren Spott damit aus einer übergeordneten Warte auf ein Objekt ausgiessen, sondern durch ihre literarische Form (Komödienstruktur) sowie die Maskerade des Autors in den auftretenden Figuren (z.B. Parrhesiades)424 ebenfalls als ein sophen finden nicht in einem kleinen, eher gebildeten Kreis, sondern im grossen öffentlichen Rahmen, vor dem Volk, λεώς, statt). Ausführlicher zu den so genannten Konzertphilosophen des 2. Jhs. siehe S. 146f. In Pisc. steht das Bild des geldgierigen Philosophen, der als Hauslehrer tätig ist, sich bei den Reichen einschmeichelt und an deren Symposien teilnimmt, stärker im Vordergrund. 420 Hier könnte man sich als setting durchaus einen kleineren Rahmen vorstellen; eine Schülerschaft ist erwähnt, die sich allerdings nicht von sich aus in eine angesehene Schule begeben hat (was der normale Ablauf innerhalb der Philosophieausbildung wäre), sondern von den Scheinphilosophen zusammengetrommelt worden ist. 421 »Sie versammeln leicht täuschbare junge Männer und verkünden wie ein Tragödienschauspieler die vielbesprochene arete, lehren die argumentativen Aporien, loben gegenüber ihren Schülern immer Enthaltsamkeit, Besonnenheit und Selbstgenügsamkeit und spucken auf Reichtum und Lust, doch wenn sie allein und ganz unter sich sind – wie könnte da einer beschreiben, wieviel sie essen, wie sehr sie ihrem Sexualtrieb nachgeben und wie sie den Schmutz von den Geldstücken lecken?« 422 Vgl. zu Rom als Objekt der Kritik Lukians Nigrinus. Neben dem historischen Hintergrund ebenfalls zu beachten ist die literarische Tradition, in der das Lob Athens und der Tadel Roms verankert sind, vgl. Hall [1981] 243–249. 423 Siehe dazu ausführlich Whitmarsh [2001] 254–265, der den politischen Aspekt dieser Art von Satire über den zeitgenössischen Literatur- und Kulturbetrieb betont, so z.B. S. 256f.: »In the competitive, hierarchical structure of elite Rome, the display of literary ›taste‹ was a disguised transvaluation of socio-political power and economic status.« und S. 259: »Lucian’s satire is directed against [...] the commercial/patronal system that treats paideia as a form of commercial exchange.« 424 In Pisc. 25f. wird Parrhesiades von Diogenes explizit als Schauspieler bezeichnet, der bloss auf den Applaus des Publikums erpicht sei und den Dialog sowie Menipp zu seinen Genossen gemacht habe (συναγωνιστῇ καὶ ὑποκριτῇ χρῆται; Μένιππον ἀναπείσας συγκωμῳδεῖν αὐτῷ). Vgl. dazu Whitmarsh [2001] 259–264.

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

Produkt dieser Theatralisierung erscheinen, der Autor sich selbst aus dieser Gesellschaft also nicht ausnimmt. Damit ist seinen Schriften immer auch eine Selbstironie inhärent, welche zur narrenhaften Sprechweise passt, wie ich sie für Rh. Pr. postuliere,425 da sowohl Kritiker als auch Kritisierte zur Maskerade greifen und in ein Schauspiel involviert sind.426 Und das ist bei genauer Betrachtung der Schauspielmetapher nicht erstaunlich: Das Gegenstück zum schlechten Schauspieler, wie es der Scheinphilosoph ist, ist bestenfalls ein guter Schauspieler, der seine Rolle (im Bildungsbetrieb) überzeugend spielt. Eine klare ›Rollendefinition‹ bzw. Selbstpositionierung, wie wir sie in Pisc. 20 finden, trägt zur Glaubwürdigkeit bei (Parrhesiades zeichnet sein eigenes Profil und legt seine τέχνη dar): Μισαλαζών εἰμι καὶ μισογόης καὶ μισοψευδὴς καὶ μισότυφος καὶ μισῶ πᾶν τὸ τοιουτῶδες εἶδος τῶν μιαρῶν ἀνθρώπων. [...] ἀλλὰ καὶ τὴν ἐναντίαν αὐτῇ [sc. τέχνῃ] πάνυ ἀκριβῶς οἶδα, λέγω δὲ τὴν ἀπὸ τοῦ ›φιλο‹ τὴν ἀρχὴν ἔχουσαν· φιλαλήθης τε γὰρ καὶ φιλόκαλος καὶ φιλαπλοϊκὸς καὶ ὅσα τῷ φιλεῖσθαι συγγενῆ.427

Wichtig scheint mir im Zusammenhang mit dieser Selbstdarstellung des Sprechers und seiner Beziehung zu Sein und Schein die sehr allgemein gehaltene Formulierung: Prahlerei, Lügen und Ähnliches finden sich nicht nur unter Philosophen, sondern überall, und tatsächlich kann man dieses ›Programm‹ der lukianischen Maske des Parrhesiades auf diverse andere Schriften – weit über die in dieser Arbeit behandelten hinaus – anwenden und zur Interpretation fruchtbar machen, nämlich insofern, als im oben zitierten Abschnitt die Rolle beschrieben wird, die der Autor in seinen satirischen Texten (und im ›Theater‹ des zeitgenössischen Bildungsbetriebs) immer wieder einnimmt: diejenige des witzigen Entlarvers ›falscher‹ Bildungsexponenten.428 425

Vgl. die Einleitung 1.6, S. 63f. Vgl. beispielsweise auch Whitmarsh [2001] 272–279 über die komplizierte Maskerade der Sprecher in Nigrinus. 427 »Ich bin ein Hasser von Prahlerei, ein Hasser von Schwindel, ein Hasser von Lügen, ein Hasser von Aufgeblasenheit und ich hasse all die niederträchtigen Menschen von solcher Art. [...] aber ich bin auch durchaus bewandert im entgegengesetzten Beruf, ich meine den, welcher ›Lieb-‹ als Basis hat; denn ich bin ein Liebhaber der Wahrheit, ein Liebhaber des Schönen, ein Liebhaber des Einfachen und von allem, was sonst mit Lieben verwandt ist.« In ähnlich klarer Weise stellt sich der Erzähler in Alex. 53f. als hartnäckiger Entlarver von Betrügereien und Scharlatanerie dar (vgl. Clay [1992] 3408). 428 Vgl. dazu auch Korus ([1984] 299), der innerhalb seiner Erörterung einer Theorie des Humors bei Lukian der Textstelle Pisc. 20 grosse Bedeutung beimisst: »[...] everything that does not agree with truth, harmonious beauty and simple common sense [Korus’ Interpretation von φιλαπλοϊκός] can be the subject of ridicule.« Man vergleiche auch Korus’ allgemeine Kategorie »comedy against the background of revealing someone’s apparent prestige. The laughing audience, in a way, takes revenge on those who prided themselves on their beauty or superiority of their social status« (312). 426

3.2 Lukians Philosophenspott: Piscator und Fugitivi

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An dieser Stelle soll ein erstes Fazit zum Thema Schein und Sein unter den Philosophen gezogen werden: Im Gegensatz zu den Sophisten werden die Scharlatane in der Philosophie fast ausschliesslich durch ihr einem Philosophen unangemessenes Leben definiert und mangelnde Bildung nur am Rande thematisiert (beispielsweise in Demon. 28; Pisc. 45; Fug. 4, 13, 21). Dass ein guter Philosoph sich durch seinen Lebenswandel, nicht etwa durch eine bestimmte Doktrin oder Schulzugehörigkeit auszeichnet, liegt, wie bereits dargelegt, in der antiken Auffassung der Philosophie als einer Lebensform begründet,429 bei Lukian besonders deutlich in der positiven Darstellung in Demonax: Dieser Philosoph steht für eine einfache, vernünftige, ideale Lebensweise.430 Was Bildung betrifft, so kann man jedoch, ohne dass Lukian es explizit ausspricht, annehmen, dass sie auch für einen Philosophen Voraussetzung ist, um richtig zu leben. Sowohl der Redner als auch der Philosoph lesen die Klassiker,431 wenn auch teilweise unter verschiedenen Aspekten, daran anschliessend folgen spezifische (sprachliche bzw. philosophische) Studien. Im Kern dürfte es darum gehen, über das richtige Grundwissen zu verfügen, welches Gebildete hervorbringt, die richtig leben. Insofern ist der Unterschied zur Rhetorik nicht so gross, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. Dass letztlich auch in der Philosophie doch einiges von παιδεία abhängt, ist durch die stark betonte Unbildung der nach Ruhm und Reichtum strebenden Handwerker und Sklaven in Fugitivi impliziert (s. gleich). Auch aus einem anderen Blickwinkel stimmen die Kriterien für gute bzw. schlechte Vertreter in Rhetorik und Philosophie überein: Vergleicht man die Elemente des Betrugs bzw. die Tricks der Scheinvertreter, so besteht in der Rhetorik die Hohlheit darin, dass die Redner ein bestimmtes Sprachideal (z.B. Attizismus) predigen, über dieses aber nicht oder nur sehr mangelhaft Bescheid wissen, während sie entsprechend in der Philosophie darin besteht, dass die Philosophen Lehren predigen, nach denen sie ihr eigenes Leben nicht ausrichten.432 Tendenziell enthält 429

Siehe dazu oben Anmm. 337 und 378. So Clay [1992] 3412: »The philosophy of Demonax is not a matter of doctrine, dogma, or dialectic [...]. His philosophy is his mode of life.« (vgl. auch S. 3414). Lukians Darstellung steht im Einklang mit der historischen Situation, dass nämlich seit den im Hellenismus entstandenen Philosophenschulen, aber auch grundsätzlich (vgl. Hadot [1991]), die Philosophie vor allem als ars vitae und der Philosoph als Vertreter einer Lebenskunst gilt. Bezeichnend ist, dass Lebensweise und öffentliche Rolle des Philosophen nicht in der Aneignung eines bestimmten (dogmatischen) Wissens oder einer einfachen ›Berufswahl‹ bestehen, es bedarf vielmehr eines grundsätzlichen Wandels der Persönlichkeit, was oft mit dem Motiv der Konversion verbunden ist (schon Diogenes Laertios referiert zahlreiche Konversionserlebnisse), vgl. Hahn [1989] 58. 431 Zum ›Spezialfall‹ des Kynikers, der sich ganz auf die praktische Umsetzung von ἀρετή konzentriert, vgl. die Einleitung 1.3, S. 41f. 432 Man vgl. dazu die Forderung des Lykinos in Hermot. 79: ἡ μὲν ἀρετὴ ἐν ἔργοις δήπου ἐστίν, οἷον ἐν τῷ δίκαια πράττειν καὶ σοφὰ καὶ ἀνδρεῖα (»Die arete liegt in den Taten, z.B. darin, gerecht, weise und tapfer zu handeln«). 430

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vielleicht die Hohlheit in der Philosophie einen grösseren moralischen Aspekt, doch sei daran erinnert, dass schon in Adv. Ind. die Rede davon war, dass ein echter Gebildeter – Redner eingeschlossen – aus den klassischen Texten richtiges Handeln lernt (vgl. S. 102f.). Wie bereits angedeutet, schliessen sich die Vorwürfe der personifizierten Philosophie in Fug. eng an diejenigen des Parrhesiades in Pisc. an, so dass hier eine kürzere Zusammenfassung darüber ausreicht, wie die Philosophie Zeus die Scharlatane unter ihren Anhängern beschreibt (§§3–21). Sie klagt, ihr sei von denen, die sich als ihre Anhänger bezeichnen, viel Unrecht angetan worden, und zwar seien das Leute, die zwischen der Menge (οἱ πολλοί) und den (echten) Philosophen (οἱ φιλοσοφοῦντες) einzuordnen seien (§4). Sie lässt einen kurzen ›historischen Abriss‹ folgen, worin sie die Sophisten der klassischen Zeit als erste Vertreter dieser Scheinphilosophie brandmarkt (§§10f.). Den grossen Haufen der gegenwärtigen Scheinphilosophen beschreibt sie dann als ursprünglich einfache Leute, Tagelöhner oder gar Sklaven, die sich ohne jedes Vorwissen433 zur Philosophie wenden, weil sie sehen, dass Philosophen grossen Respekt geniessen, dass auf sie gehört wird und vor allem, dass sie viel Geld eintreiben können. Aus all diesen Gründen beschliessen sie, Philosophen zu werden, um ein besseres, ja sogar ein luxuriöses Leben führen zu können (§12 und §14).434 Äusserlich sind diese Scharlatane435 ununterscheidbar von echten Philosophen (§15), sie sind ihnen, was die Erscheinung, den Blick und den Gang angeht, gleich (§4: σχῆμα, βλέμμα436 καὶ βάδισμα ὅμοιοι). Sie rüsten sich mit Mantel (τριβώνιον), Ranzen (πήρα) und Stock (ξύλον), und weil sie sich aufgrund ihres niedrigen Bildungsstandes die echten Erfordernisse eines Philosophendaseins niemals innerhalb nützlicher Frist aneignen können, verlassen sie sich auf Unbildung (ἀμαθία), Tollkühnheit (τόλμα), Unverschämtheit (ἀναισχυντία) und Beschimpfungen (λοιδορίαι), auf die sie jedesmal zurückgreifen können, wenn einer sie in ein gelehrtes Gespräch verwickeln will (§13 und §15).437 Innerlich haben die Scharlatane aber nicht das Ge433 Vgl. den Kommentar zu Rh. Pr. 14: εἰ μὴ προετελέσθης ἐκεῖνα τὰ πρὸ τῆς ῥητορικῆς [...] προπαιδεία. 434 Ähnliches findet sich über die Scheinphilosophen in Bis Acc. 6, wo Zeus seinem Ärger darüber, dass heutzutage alle Welt philosophiert, dass so viele sich mit Mantel, Stock, Ranzen und Buch ausrüsten, um als Philosophen aufzutreten, Luft macht. Spott darüber, dass ein armer Bettler mit der richtigen Ausrüstung rasch als Philosoph gelten und Geld verdienen kann, findet sich bereits in AP 11,154. 435 Zu den spezifisch kynischen Charakteristika der Scheinphilosophen in Fug. vgl. die Einleitung 1.3, S. 42. 436 Gemeint ist der finstere Philosophenblick (vgl. §18: σκυθρωπός und oben S. 131). 437 Was es mit den Beschimpfungen auf sich hat, zeigt auch Ikaromen. 30 auf: Zeus beschreibt, wie die Scheinphilosophen alle anderen anklagen und tadeln, giftige Reden sammeln und die neusten Schimpfwörter (λοιδορίαι) auswendig lernen, um sie gegen ihre Mitmenschen anzuwenden, und wie derjenige, welcher am lautesten, unverschämtesten und blasphemischsten schreit, den

3.2 Lukians Philosophenspott: Piscator und Fugitivi

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ringste mit der Philosophie zu tun, sondern freveln gegen sie, denn sie sind voller Unbildung (ἀμαθία), Verwegenheit (θράσος) und Zügellosigkeit (ἀσέλγεια) (§4). Weiter ist ihr Charakter geprägt von unkontrollierten Affekten und von der Gier nach Reichtum, ihre Lebensführung (βίος) von Trinkerei, Ehebruch, Lüge, Wollust und – wo nützlich – Schmeichelei. Besonders schlimm daran ist, dass dies alles in absolutem Gegensatz zu der von ihnen verkündeten Lehre geschieht (Verachtung von Schmeichelei, Lust, Lüge) (§§18–20). Den Kern der Anklage an die Scheinphilosophen macht also auch in Fug. die Diskrepanz zwischen Lebensführung und vertretenen Lehren aus; mit den Worten der Philosophie ausgedrückt (§19): οὐδὲν γοῦν οὕτως εὕροις ἂν ἄλλο ἄλλῳ ἐναντίον ὡς τοὺς λόγους αὐτῶν καὶ τὰ ἔργα.438 Vergleicht man Kritik und Darstellung der Scheinphilosophen in Pisc. und Fug. mit derjenigen der Scheinsophisten (und der Scheingebildeten allgemein), so zeigen sich in sämtlichen Punkten Parallelen, insbesondere zu Passagen in Rh. Pr.439 Es sind immer dieselben Charakteristika, die den Scharlatan auszeichnen: So bildet der Rednerlehrer seinen Schüler aus, indem dieser einer bestimmten äusseren Erscheinung (σχῆμα) genügen muss und dazu Unbildung sowie einen schlechten bzw. rücksichtslosen Charakter gesellen soll (§15), der sich in seiner frevlerischen Lebensführung widerspiegelt (§§23–25). Dass man sich dem Rednerberuf aus Ruhmstreben und Geldgier heraus widmet, wird in Rh. Pr. ebenfalls vorausgesetzt (§1 und §6). Die Diskrepanz von Schein und Sein äussert sich besonders in der Vortragssituation und wird mit schlechten Schauspielerauftritten verglichen; dieses Element findet in Rh. Pr. seine Entsprechung einerseits darin, dass der Auftritt des Rednerlehrers als Schauspiel – ja als Komödie – gestaltet und durch entsprechende Metaphern markiert ist (§§11–13), andererseits darin, dass gemäss der ›neuen‹ Lehre die gesamte Show des modernen Sophisten von Theatralik durchsetzt sein soll (§§15, 19–20). Im Folgenden wird eine kurze Zusammenstellung der wichtigsten parallelen Motive in Lukians Philosophen- und Sophistenspott gegeben (mit Einbezug weiterer rhetorikkritischer Schriften neben Rh. Pr.). Sieg davonträgt. Dasselbe Phänomen beschreibt Pan nicht ohne Befremden in Bis Acc. 11: Die Scheinphilosophen schreien und schimpfen in ihren Vorträgen, bis sie sich den Schweiss von der Stirn wischen müssen, und der lauteste Schreihals gewinnt. Sonderbarerweise werden sie von der Menge gerade wegen ihrer Verwegenheit und ihres Geschreis bewundert. 438 »Du könntest keine zwei Dinge finden, die einander derart entgegengesetzt sind wie deren [sc. der Scheinphilosophen] Reden und Taten.« Vgl. zu den Zügen des ἀλαζὼν φιλόσοφος bei Lukian auch die Zusammenfassung von Hall [1981] 186f. 439 Die Verbindungslinien lassen sich einerseits anhand konkreter Schlagwörter, andererseits anhand von Ähnlichkeiten in Metaphorik und Duktus der Formulierungen aufzeigen. Sämtliche Parallelstellen sind in den entsprechenden Kommentarpassagen zu Rh. Pr. aufgeführt und werden deshalb hier ohne ausführliche Zitate in Paraphrase zusammengestellt.

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

Polemisches Vokabular zur Bezeichnung des Scharlatans: Die Scheinvertreter innerhalb der Philosophie werden hauptsächlich als Betrüger (ἀπατεῶνες), Schwindler (γόητες) und Prahler (ἀλαζόνες) bezeichnet (vgl. S. 128) und zwar parallel zu dem, was Parrhesiades in Pisc. 20 zu hassen angibt (μισαλαζών, μισογόης, auch μισοψευδής und μισότυφος). Diese Terminologie findet sich auch gegen die Sophisten gerichtet, wobei die Häufigkeit solcher Ausdrücke davon abhängig zu sein scheint, wie stark die jeweilige Schrift in Richtung Pamphlet tendiert. Je heftiger die Schmähungen, desto zahlreicher sind auch diese Bezeichnungen, weshalb sie vor allem in Pseudol. zu finden sind: Lukian beschimpft sein Opfer als ἀπατεών, γόης und ἀλαζών (§8 und §17). Das Motiv von Betrug und Prahlerei taucht aber auch in Rh. Pr. auf, vorerst allerdings nicht etwa auf den Rednerlehrer, sondern auf den Lehrer des langen Weges bezogen, der seine Schüler dadurch, dass er sie auf den beschwerlichen Weg schickt, auf die falsche Bahn lenkt. Der Sprecher warnt den jungen Mann davor, sich nicht von diesem prahlerischen Lehrer täuschen zu lassen (§8 und §10: ἐξαπατηθῆναι; ἀλαζών).440 Wenn auch nicht explizit als solche bezeichnet, machen Prahlerei und Betrug gleichzeitig einen wichtigen Charakterzug des Rednerlehrers aus (vgl. Rh. Pr. 13, 21f., 23–25). In Lex. 24 rät Lykinos hingegen seinem Gesprächspartner Lexiphanes von einer solchen Wesensart eindringlich ab. Nicht vertreten ist diese Terminologie in Sol. und Adv. Ind. Äussere Erscheinung, Charakter, Tricks für einen erfolgreichen Auftritt: Ein bestimmtes Erscheinungsbild (σχῆμα) macht die Philosophen für die Menge als solche erkennbar: Genannt werden charakteristische Kleidungsstücke und Accessoires, der Gang, der Blick und selbstverständlich der Bart. Dies erinnert stark an die Unterweisungen des Rednerlehrers, was das Äussere seines Schülers angeht (§15): Grundsätzlich gilt, dass das σχῆμα als erster Schritt auf dem Weg zum Sophisten von grösster Bedeutung ist. Die genannten Elemente sind auch hier die Kleidung und der Gang.441 Eine weitere Parallele bildet die Notwendigkeit einer lauten Stimme, um – wo nötig – in Geschrei ausbrechen zu können (vgl. Fug. 14f. und Anm. 437; Rh. Pr. 15 und 19). Parallelität zeigt sich auch in der Art und Weise, wie man auf schnellem, leichtem Weg zum Philosophen oder Sophisten wird, auch oder gerade wenn man über keinerlei Bildung verfügt. Schlechte Charakterzüge (ἀναισχυντία; τόλμα; θράσος) und jederzeit abrufbare Standardweisheiten 440 Der Begriff γόης findet sich in §5 implizit auf Ratgeber und Rednerlehrer angewendet, vgl. den Kommentar zu: γόητα. 441 Man vergleiche auch Rh. Pr. 11 über die Erscheinung des Rednerlehrers, wo unter anderem ebenfalls Gang und Blick (βάδισμα, βλέμμα) betont werden.

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(Schimpftiraden: λοιδορίαι; Syllogismen; Attizismen) helfen, sich trotz mangelndem Wissen als das behaupten zu können, wofür man sich ausgibt. Nicht nur inhaltlich, sondern bis ins Detail der Formulierungen hinein weisen die Textstellen Ähnlichkeiten auf: Vgl. Fug. 13; Rh. Pr. 15f.; Pisc. 41 und die ausführlichen Zitate im Kommentar zu Rh. Pr. 15: ἐφόδια [...] ἐπισιτίσασθαι / θράσος ἐπὶ τούτῳ καὶ τόλμαν καὶ ἀναισχυντίαν / ἀχρεῖα γὰρ καὶ ὑπεναντία τῷ πράγματι und 16: πεντεκαίδεκα ἢ οὐ πλείω γε τῶν εἴκοσιν Ἀττικὰ ὀνόματα.442 Eine weitere übereinstimmende Beschreibung ergibt sich in Bezug auf die Präsentation auf der Bühne und die Reaktion des Publikums: Die Showeffekte, z.B. ein Anheben der Stimme bis hin zu regelrechtem Geschrei, bringen Redner bzw. Philosophen gleichermassen ins Schwitzen, was ihnen eine nur umso grössere Bewunderung der breiten Masse sichert (vgl. Bis Acc. 11 und Rh. Pr. 20 sowie den Kommentar zu Rh. Pr. 19: λαρύγγιζε und 23: λοιδορεῖσθαι). Streben nach Ruhm und Reichtum: Mit der Bewunderung der Masse verbunden ist wiederum die Gier nach Ruhm (δόξα) und Reichtum (πλοῦτος; χρήματα), welche bei Scharlatanen sowohl unter den Sophisten als auch unter den Philosophen als einziges, verwerfliches Motiv für ihre Tätigkeit grassiert. Sowohl den Scheinphilosophen (Fug. 12, 14, 17, 20; Pisc. 31, 34, 41–43, 46) als auch dem jungen Mann in Rh. Pr. liegen allein Ruhm und Reichtum am Herzen,443 genauso wird der Ruhm des in Pseudol. Attackierten sarkastisch thematisiert (§§18, 22, 25). Vgl. weiter zu Ruhm und Reichtum Adv. Ind. 19, 28f.; Peregr. 1, 34; Alex. 8, 14. Dass das Prestigestreben der Philosophen verspottet wird, liegt auf der Hand: Philosophie muss aus einem Streben nach Wahrheit heraus betrieben werden und um ein besseres Leben zu führen, nicht, um von den Leuten bestaunt zu werden. Im Bereich der Sophistik ist die Ablehnung eines Prestigestrebens vielleicht weniger offensichtlich, doch lässt sich aus dem, was über die Einstellung des Autors zu sophistischen Vorträgen, zu Sprache und Literatur erarbeitet worden ist (vgl. die Einleitung 1.7), schliessen, dass ein Redner aus dem Bestreben heraus, etwas formal und inhaltlich Hochstehendes vorzutragen, seine Profession wählen sollte. Be-

442 Das Phänomen eines bestimmten Jargons, bestehend aus einer Handvoll beeindruckender Wörter, wie es in Rh. Pr. 16 geschildert ist, wird auch in Gall. 11, Tim. 9 und Pisc. 35 angesprochen, wobei es sich bei den Philosophen um das ›Geschwätz‹ über die Tugend (ἀρετή), das Schöne (τὸ καλόν) und weiteres technisches Vokabular handelt. 443 Vgl. Rh. Pr. 1 mit dem Kommentar zu: ἄμαχον [...] καὶ ἀνυπόστατον καὶ θαυμάζεσθαι [...] καὶ ἀποβλέπεσθαι; dieses Ruhmstreben wird von Ratgeber und Rednerlehrer eifrig geschürt, zudem wird dem Schüler auch ein Streben nach Reichtum unterstellt, vgl. §6 und §13.

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rühmtheit kann nur ein (willkommenes) Nebenprodukt seiner Tätigkeit sein. Bildungsexponenten und ihre Lebensweise: Dass die Scharlatane den Anforderungen derjenigen Disziplin, als deren Exponenten sie sich geben, nur scheinbar genügen, wird durch die Metaphorik der Maskerade verdeutlicht (vgl. bereits S. 131f.). Die Auftritte der Philosophen werden vor allem dann als schlechtes Schauspiel entlarvt, wenn man ihre Lebensweise in Betracht zieht und dabei feststellt, dass sie keinesfalls ihrer Lehre entspricht (vgl. Fug. 18–20).444 Die Verknüpfung der Vorwürfe, blosse Scheinvertreter einer Disziplin zu sein und ein schlechtes Leben zu führen, geschieht auch im Bereich der Sophisten445 sowie allgemein Gebildeter (Adv. Ind.): Die Philosophie klagt in Fug. 4 und 12 die Scheinphilosophen wegen ihres abscheulichen Lebens voller Lüsternheit als scheussliche Menschensorte an (ὁ βίος παμμίαρος [...] ἀσελγείας ἀναπλέως bzw. μιαρὸν φῦλον ἀνθρώπων), Parrhesiades erklärt in Pisc. 20 die μιαροὶ ἄνθρωποι zu seinem Hassobjekt, genau wie Lukian in Pseudol. 8 von der ἀσέλγεια und der μιαρία des Lebens seines Kontrahenten spricht. Noch häufiger werden in Pseudol. und Adv. Ind. zur Bezeichnung eines ekelhaften, abscheulichen Menschen die Termini βδελυρός und βδελυρία verwendet. Oft werden als Motive zur Beschreibung des schlechten Lebenswandels verpönte sexuelle Praktiken und Ehebruch eingesetzt – sowohl bei Sophisten als auch bei Philosophen (vgl. Rh. Pr. 23f. mit dem ausführlichen Kommentar; Fug. 16, 18f.; Peregr. 9; Pseudol. 17, 18, 27, 28; Adv. Ind. 25; Alex. 5f.). Was die Bildung der Scharlatane angeht, so rückt der Autor den Mangel an tiefgehender Auseinandersetzung mit der entsprechenden Materie in den Vordergrund: Die gesamte Schrift Rh. Pr. ist von dieser Thematik 444

Leben vs. Lehre als Angriffspunkt gegen Philosophen hat eine lange Tradition, z.B. AP 11,153.155.158; Juv. sat. 2,1ff.; Quint. Inst. 12,3,12; Mart. 1,24 (Stoiker als Kinäde) und 9,27 (effeminierter Philosoph); Dion Or. 70; Athen. 4,162a. Spott über die äussere Erscheinung, über den Bart als primäres Merkmal der Philosophen, dazu Stock und Ranzen und Ernsthaftigkeit findet sich z.B. in AP 11,156.157.430; Hor. sat. 2,3,35; Quint. Inst. 11,1,33f. und 12,3,12; Mart. 4,53; Plut. mor. 52c, 81c und 352c. Auch in den durch Arrian überlieferten Lehrgesprächen (διατριβαί) des Epiktet ist die absurde Tatsache, dass man nach festen Merkmalen der äusseren Erscheinung als Philosoph gelten kann, ein Thema, dem ein ganzes Kapitel mit dem Titel Πρὸς τοὺς ταχέως ἐπὶ τὸ σχῆμα τῶν φιλοσόφων ἐπιπηδῶντας gewidmet ist (siehe besonders 4,8,4–5.11–12.15). Epiktets Feststellung, dass die Leute einem schlecht handelnden Philosophen nicht (wie es angemessen wäre) die Anrede Philosoph verweigern, sondern vielmehr die Philosophie als etwas Schlechtes ansehen (4,8,9), findet sich genauso in Pisc. 32, 34 und Fug. 21: Indirekt bringen die Scheinphilosophen wegen dieser Reaktion der Leute also die Philosophie und ihre echten Vertreter in Verruf. Zur Tradition des Philosophenspotts und neuen, zeitgenössischen Nuancen in der lukianischen Satire siehe Kap. 3.3 unten. 445 Dies wieder am prägnantesten in der stark pamphletisch ausgerichteten Schrift Pseudologista.

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geprägt, sie kommt aber auch andernorts vor (Fug. 10 und 13 sowie Adv. Ind. 3). Die mangelhafte Beschäftigung mit Philosophie bewirkt bei den Scheinvertretern, dass sie, weil sie die Lehren nicht verinnerlicht haben, schlecht leben.446 Oder umgekehrt gesagt: Ein echter Philosoph kann gar nicht schlecht leben, sondern weiss, wie er sich verhalten muss.447 Lukian scheint allerdings auch für rhetorisch-literarisch Tätige eine solche Verknüpfung von beruflicher Kompetenz und Lebensweise anzunehmen, denn in Adv. Ind. 16 meint er sarkastisch: Τίνα γὰρ ἐλπίδα καὶ αὐτὸς ἔχων εἰς τὰ βιβλία καὶ ἀνατυλίττεις ἀεὶ καὶ διακολλᾷς καὶ περικόπτεις καὶ ἀλείφεις τῷ κρόκῳ καὶ τῇ κέδρῳ καὶ διφθέρας περιβάλλεις καὶ ὀμφαλοὺς ἐντίθης, ὡς δή τι ἀπολαύσων αὐτῶν; πάνυ γοῦν ἤδη βελτίων γεγένησαι διὰ τὴν ὠνήν, ὃς τοιαῦτα μὲν φθέγγῃ – μᾶλλον δὲ τῶν ἰχθύων ἀφωνότερος εἶ – βιοῖς δὲ ὡς οὐδ’ εἰπεῖν καλόν, μῖσος δὲ ἄγριον, φασί, παρὰ πάντων ἔχεις ἐπὶ τῇ βδελυρίᾳ.448

Auf spöttische Weise werden die zwei Bereiche, Sprache und Charakter, unter die Lupe genommen, die – wie schon oben (vgl. S. 102f.) bemerkt worden ist – als diejenigen gelten, welche durch die Lektüre der Klassiker verbessert werden können. Auch hier kann man umgekehrt formulieren, dass jeder tatsächlich gebildete Redner, der diese Texte eingehend studiert und begriffen hat, hinsichtlich Sprache und Lebensführung ausgerüstet ist und keine gravierenden Fehler oder Geschmacklosigkeiten begeht. Ein wahrer πεπαιδευμένος kann kein solches Leben führen, wie es die in Adv. Ind., Rh. Pr. und Pseudol. attackierten Scheinwissenden tun.449

446 Die mangelhafte Bildung bewirkt auch, dass mit Lügen und Tricks gearbeitet werden muss: In Pisc. 45 wird beschrieben, wie die schlechten Philosophen die guten nachahmen, was als Lüge (ψεῦδος) betitelt wird. Genauso ist das Lügen eine häufig angewandte Taktik sowohl des in Pseudol. Angegriffenen als auch des Rednerlehrers (Pseudol. 25; Rh. Pr. 22). 447 Man vergleiche das Porträt des Demonax, dessen Ausbildung tiefgehend und dessen Lebenswandel vorbildlich ist (S. 112). 448 »Welche Hoffnung setzt du denn in deine Bücher, dass du sie immerzu auf- und zusammenrollst, klebst, zurechtstutzt, mit Safran und Zedernöl einreibst, ihnen Schutzhüllen überziehst und sie mit Knöpfen versiehst, als ob du aus ihnen irgendeinen Nutzen zögest? O ja, du bist schon weit besser geworden durch den Bücherkauf, wenn man hört, wie du sprichst – du bist ja stummer als ein Fisch – und du lebst so, dass man es gar nicht sagen darf, du ziehst dir, sagt man, den wilden Hass aller zu aufgrund deines ekelhaften Wesens.« – Dass der Büchernarr Literatur nicht nur rezipiert, sondern auch produziert (als Schriftsteller und als Redner) wird in Adv. Ind. 20 deutlich. 449 Zur Tatsache, dass Leben und Lehre auch im Schlechten kongruent sind (wie sich dies besonders in Lukians ψόγοι auf Peregrinos und Alexander zeigt), siehe auch Schirren [2005] 319.

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

3.3 Das literarische Schaffen: Variationen desselben Themas und Typisierung des Scheingebildeten vor dem historischen Hintergrund des Autors Die Ähnlichkeit der Darstellung von Sophisten und Philosophen soll in diesem Kapitel einerseits in Bezug auf das literarische Schaffen des Autors ausgewertet, andererseits mit dem historischen Hintergrund in Verbindung gebracht werden. Den Ausgangspunkt bildet dabei die Frage, warum die satirische Kritik an diesen beiden Personengruppen so stark ineinander fliesst und hauptsächlich durch die Entlarvung von echten, wissenden und falschen, unwissenden Vertretern geprägt ist. Bei der Beantwortung dieser Frage können Charakteristika von Lukians literarischem Schaffen, v.a. die stete Variation eines bestimmten Themenkreises, herausgearbeitet werden;450 zusätzlich wird sich zeigen, dass die Verschmelzung von Philosophen und Sophisten im Satirebereich auch die historische Situation zu Lukians Zeit widerspiegelt und aufnimmt.451 Lukians Philosophenspott ist in sämtlichen Bereichen – äussere Erscheinung, Kontrast zwischen Leben und Lehre, Lasterhaftigkeit – fest in der literarischen Tradition verankert:452 Der Philosophenspott nimmt seinen Anfang bereits in der Alten Komödie – ein prominentes Beispiel sind Aristophanes’ Wolken mit der Darstellung der hungerleidenden, bleichgesichtigen Denker, ihrer absurden naturwissenschaftlichen Studien und zwecklosen Grübeleien sowie ihrer eigenartigen Gottesanschauungen. Zentrale Figuren sind dabei natürlich Sokrates und ganz allgemein die Sophisten. Mit dem Aufkommen von Stoa und Epikureismus werden auch diese Schulen in den Komödien karikiert; genauso die Kyniker. Zahlreiche Elemente dieser Karikaturen werden von Lukian aufgenommen.453 Immer wiederkehrende Angriffspunkte sind beispielsweise Trunkenheit, Schlemmerei und Geldgier.454 Zusammenfassend macht Helm ([1906] 386) zwei Kernelemente des Philosophenspottes in der Komödie fest:

450 Vgl. hierzu die Monographie von Anderson, Lucian. Theme and Variation in the Second Sophistic, Leiden 1976. 451 Für das historische Umfeld im Bereich der Philosophen zu Lukians Zeit stütze ich mich vor allem auf Hahn [1989] und Bowersock [2002]. 452 Vgl. Anm. 444 und die Aufarbeitung bei Bompaire [1958] 485–489. 453 Zur Darstellung der Philosophen in der Komödie und zur Aufnahme dieses Spottes durch Lukian vgl. Helm [1906] 371–386. 454 Vgl. dazu Alexis PCG 2, fr. 37; Baton PCG 4, fr. 5; Phoinikides PCG 7, fr. 4,16–21.

3.3 Das literarische Schaffen: Variationen und Typisierung

143

Bei der Wandlung zur Charakterkomödie, die die attische Komödie durchgemacht hat, hat auch der Philosoph in dem Repertoire seine feste Stelle erhalten, hauptsächlich als Vertreter unpraktischen Spekulierens und unwahrer Tugendprediger.

Beide Elemente finden sich in Lukians Satiren wieder; in der Darstellungsweise schliesst sich Lukians oft nicht gegen bestimmte Philosophenschulen, sondern gegen den Typus des Philosophen ganz allgemein gerichteter Spott tendenziell enger an die Mittlere und Neue Komödie an.455 Die unnützen Spekulationen und Grübeleien und damit die Nutzlosigkeit des Philosophierens, die in der Alten Komödie vor allem thematisiert wird, steht in den hier untersuchten Philosophensatiren Lukians nicht im Vordergrund.456 Vielmehr geht es um die vorbildliche gegenüber der nur scheinbaren Umsetzung eines Philosophenlebens bzw. um die Absetzung derjenigen Philosophen, die ihre ›Rolle‹ im Bildungsbetrieb überzeugend spielen, von denjenigen, die dies nur schlecht tun (s. dazu gleich), wobei sich die Scharlatane von den echten Philosophen auf den ersten Blick nicht unterscheiden. Wir haben gesehen, dass in Lukians Darstellungsweise die Thematik der Maskerade von grosser Wichtigkeit ist;457 dazu finden sich die engsten Parallelen nicht im Bereich der Komödie, sondern im Epigramm, in den Satiren des Horaz, Martials und Juvenals sowie unter Zeitgenossen Lukians, immer nach dem Schema, dass der äussere Aufzug, vor allem ein Bart, ein ernstes Gesicht und abgetragene Kleidung, (innerlich) noch keinen Philosophen macht (vgl. bereits Anm. 444). Charakteristisch für Lukians Gestaltung ist, dass er in seinem Portrait des zeitgenössischen, von Theatralik geprägten Bildungsbetriebs, in welchem das Publikum und die Wirkung der ›Schauspieler‹ auf das Publikum zentral sind, durchgängig in der Schauspielmetaphorik verbleibt, wie es seine eigene Übernahme der Entlarverrolle – als Parrhesiades, als Lykinos usw. – zeigt: Auch der gute Philosoph oder Redner (bzw. jeder πεπαιδευμένος) übernimmt genau genommen eine Rolle; dem schlechten Philosophen- bzw. Sophistenauftritt wird der gelungene gegenübergestellt. Doch damit greife ich vor; denn dass die Philosophen im historischen Kontext tatsächlich besonders als öffentlich auftretende πεπαιδευμένοι gesehen werden können, soll erst im Folgenden genauer erklärt werden. Der kurze Abriss über die literarische Tradition macht vorerst einmal klar, dass es ein Topos des Philosophenspotts ist, Scheinvertreter vor allem durch die Diskrepanz von Leben und Lehre blosszustellen. Zu welchen Schlüssen ist nun die Lukianforschung aufgrund dieser Traditionsbezogenheit gelangt? Bompaire ([1958] 487–489) hält dieser Sachlage wegen den 455 Komödiendichter, aus deren Fragmenten Spott über den Typen des Philosophen deutlich wird, sind z.B. Antiphanes, Baton, Phoinikides und Anaxipp; siehe Helm [1906] 385. 456 Siehe aber z.B. Nekyomant. 21. 457 S.o. S. 131–133.

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

Aspekt der Kritik an Zeitgenössischem in Lukians Philosophenspott für praktisch inexistent. Demgegenüber veranschlagt er diesen Aspekt im Bereich der Rhetorik höher, weil sich in Lukians Angriffen spezifische Elemente der Zweiten Sophistik finden.458 Dadurch trennt er Lukians Satiren gegen Philosophen und gegen Sophisten deutlich voneinander, was aber m. E. aufgrund der vom Autor gewählten Darstellungsweise nicht gerechtfertigt ist und wogegen ich im Folgenden argumentieren möchte, da Lukian die Topik des Philosophenspotts nicht nur aufgenommen, sondern auch in eine bestimmte Richtung weiterentwickelt hat, die zur historischen Situation der Vortragskultur passt. Und tatsächlich ordnet, obwohl die Verwurzelung der Philosophensatiren in der Tradition unbestritten ist, eine ganze Reihe von Forschern die Werke anders ein und hebt im Gegensatz zu Bompaire das Element einer Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit stärker hervor. Hall fasst zusammen ([1981] 192): Although this theme459 has such a long literary tradition behind it, the vast quantity of references to false philosophers [...] in the writers of this period indicates that there must have been some fire to make so much smoke.

Ebenso äussert sich Jones ([1986] 31f.): It does not follow, however, that because his typical philosopher has a long beard and knitted eyebrows, he ist cut out of paper: that would only be likely if Lucian’s picture differed greatly from that drawn by contemporaries, which is not the case.460

Solche Positionen haben eine Tücke, weil die ähnliche oder identische Philosophendarstellung verschiedener Zeitgenossen Lukians noch nicht beweist, dass hier zeitgenössische Beobachtungen vorliegen; es wäre möglich, dass diese Darstellungen allesamt ohne Gegenwartsbezug auf Traditionelles zurückgehen. Doch Jones fügt einen weiteren Punkt an ([1986] 32): »The prominence of philosophy in his [sc. Lucian’s] work is due [...] to the fact that the society and the culture of the day swarmed with philosophers as much as with sophists.«461 So ist ein Gegenwartsbezug sehr wahrscheinlich, denn die immer wiederkehrenden Themen bezüglich Philosophen deuten einen zu dieser Zeit wichtigen Diskurs an, den ich im Folgenden genauer zu fassen versuchen und damit das Zeitgenössische solcher Texte exakter herausarbeiten möchte, als es bisher geschehen ist. Hilfreich sind dabei die 458 Zum Einfluss kynisch-menippeischer Literatur sowie v.a. der Invektive und des Epigramms auf Lukians Rhetorikspott vgl. Hall [1981] 256–264 (siehe auch Bompaire [1958] 489–491). Zum Aktualitätsbezug von Lukians Satiren gegen Sophisten vgl. Hall [1981] 266f. 459 Gemeint ist das Thema des falschen Philosophen, dessen lasterhafte Lebensweise seiner Lehre entgegensteht. 460 Es wird auf die Ähnlichkeiten mit Aristeides Or. 3,663–676 verwiesen. 461 Genauer dazu siehe unten S. 146f.

3.3 Das literarische Schaffen: Variationen und Typisierung

145

Beobachtungen von Anderson und Hahn:462 Obwohl die Sophistensatire zeitgenössischer daherzukommen scheint, während die Philosophensatire traditionell bleibt, verschmelzen Lukians Angriffe auf beide Disziplinen und ihre Exponenten stark (s.o. 3.2). Als Beispiele seien hier nochmals die Anwendung von Tricks (ein bestimmtes Vokabular, Beschimpfungen, Showeffekte), die Maskerade und auch die Verachtung für die Tradition genannt.463 Die Opfer werden einander angeglichen, ihre Eigenschaften überlappen sich sogar, so dass insgesamt eine Typisierung erreicht wird: Es ist die Typisierung dessen, der vor Publikum etwas vorträgt, wofür er nicht qualifiziert ist, sei es nun ein Philosoph oder ein Sophist. Anderson bemerkt zu Lukians Angriffen auf Peregrinos: His [sc. Peregrinus’] type of ostentation was a natural symptom of the second century with its love of theatricality: but this is the charge that Lucian was perhaps most readily inclined to supply, regardless of his victim.464

Das Charakteristikum des Zweiten Jahrhunderts, die Vortragskultur, in die sowohl Sophisten als auch Philosophen eingebunden sind, findet also einen deutlichen Niederschlag in Lukians Satire, der wohl doch als zeitgenössischer Reflex bezeichnet werden sollte. Weitere Typisierungen zeigen sich auch in den Angaben über die Identität der Angegriffenen; es sind standardisierte Merkmale von Emporkömmlingen, beispielsweise eine obskure Herkunft und/oder ein Namenswechsel:465 Um seine Opfer blosszustellen, verwendet Lukian also ein immer wiederkehrendes Repertoire, das durchaus auch invektivisch geprägt ist. Die variierende Ausgestaltung desselben Themas erweist sich als literarische Taktik Lukians, wobei die Typisierung und Applikation auf verschiedene Gruppen von Bildungsvertretern einen Hauptbestandteil ausmacht. 462 Anderson [1976] rückt durch eine literarische Untersuchung Philosophen und Sophisten in Lukians Œuvre nahe zusammen, Hahn [1989] zeigt die Verschmelzung der beiden Disziplinen historisch auf. 463 Anderson ([1976] 70) zeigt diese Verschmelzung am Beispiel des Kantharos, eines der entlaufenen Sklaven in Fugitivi (§§28–33), im Vergleich zu den Attacken in Pseudol. 29: »This éminence grise [gemeint ist Kantharos] appears to have written τραγικοὶ διάλογοι (§33), and is a notorious plagiarist. He elopes with his host’s wife; and Lucian finds room at his expense for a pun on Theopompus’ Trikaranos (§32), as he does in his attack on the pseudologist (§29). Cantharus, then, could easily be another in the series of upstart sophists; but this time we know that he is a philosopher from Paphlagonia instead.« 464 Anderson [1976] 75. Vgl. über Schauspielmetaphorik und ihre Verbreitung in den verschiedenste Bereiche betreffenden Satiren Lukians bereits S. 131f., speziell im Vergleich mit Peregrinus auch Pseudol. 19 und Ikaromen. 29f. 465 Vgl. Anderson [1976] 70: obskure Herkunft des Alexander (Alex. 11) und des Kantharos (Fug. 27f.); Namenswechsel in Alex. 58; Peregr. 27; Gall. 14; Tim. 22; obskure Herkunft und Namenswechsel kombiniert in Rh. Pr. 24. Vgl. den Kommentar zu Rh. Pr. 24: πατρὸς μὲν ἀφανοῦς und τοῖς Διὸς καὶ Λήδας παισὶν ὁμώνυμος, auch zur Bedeutung solcher Merkmale als typisches Invektivenmaterial (Vorbild ist Demosthenes’ Kranzrede).

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3. Scheinphilosophen und ideale Vertreter der Philosophie

Diese Typisierung wird thematisch oft über die Vortragskultur vorgenommen, so dass ich glaube, dass das als der Punkt angesehen werden kann, in welchem die Satire – sei sie auch noch so stark von traditionellen Motiven durchsetzt – für Lukians Zeitgenossen aktuell und unterhaltend ist sowie in einen zeitgenössischen Diskurs eingreift: Die inhaltliche Verschmelzung der satirischen Angriffe auf verschiedene Gelehrten-Gruppen stimmt nämlich mit den historischen Gegebenheiten und Entwicklungen überein, auf die hier abschliessend näher eingegangen werden soll: In der Öffentlichkeit, im Rahmen der Vortragskultur des 2. Jhs. wirkende Philosophen weisen Züge von Rednern und Deklamatoren auf, die philosophischen Vorträge haben sich offensichtlich sowohl formal (rhetorische Gestaltung) als auch im Ablauf an die Regeln des Sophistenbusiness angelehnt, vor allem wohl, um konkurrenzfähig zu bleiben, das heisst, um dem breiten Publikumsgeschmack entgegenzukommen.466 So wissen wir, dass auch an philosophischen Vorträgen Themenvorschläge gemacht wurden, dass das Publikum während des Vortrages seine Meinung darüber kundtat und Diskussionen und Fragen im Anschluss dazugehörten. Eine wichtige Quelle ist Plutarchs Schrift De Audiendo, welche Verhaltensregeln für den Besuch einer philosophischen Vorlesung aufstellt und damit gleichermassen Wunschvorstellung und Realität solcher Veranstaltungen illustriert.467 Kurz gesagt rücken Rhetorik und Philosophie im Vortragsbetrieb so nahe zueinander, dass man nicht nur vom Konzertredner, sondern auch vom Konzertphilosophen spre466 Typische Genera sophistischer Rhetorik wie die διαλέξεις oder λαλιαί hat z.B. Maximus von Tyros verwendet, der als Populärphilosoph gelten kann (vgl. zur öffentlichen Vortragstätigkeit und zu möglichen Aufführungsbedingungen der Reden des Maximus die Untersuchungen von Trapp [1997] xli–xliv; siehe auch Korenjak [2000] 23 und Hahn [1989] 92–96). Die Streitereien zwischen verschiedenen Sophisten, die sich sozusagen als ›konstitutives Element‹ dieses Berufes erwiesen haben (vgl. Bowersock [1969] 89–100), sind auch für Philosophen bezeugt. Es wurden richtige Schaukämpfe zwischen Philosophen verschiedener Schulzugehörigkeit abgehalten – als nette Unterhaltung für das Publikum (vgl. Hahn [1989] 98 und 109–111). Vgl. allgemein dazu Bowersock [2002] 160: »The sophists were part [...] of a vast and complex cultural fabric that is only now becoming clear. Philosophy, like Galen’s medicine, was obviously an essential component of that fabric.« 467 Ausgewertet ist die Schrift bei Korenjak [2000] 170–194 und Hahn [1989] 90–92. Vgl. auch Bowersock [2002] 166f.: »Not surprisingly many philosophers of the time disapproved of what the likes of Maximus were doing. Although a philosopher must naturally be a master of language to convey his thoughts, entertaining the public was not part of the contemplative search for truth. Plutarch expressed himself unambiguously on this matter and doing so documented the world of the concert philosophers: ›In a philosophic discussion we must set aside the repute (δόξα) of the speaker and examine what he says on its own. For in lectures, as in war, much of what goes on is without substance (πολλὰ τὰ κενά).‹« – Zur Themenwahl an sophistischen Deklamationen vgl. den Kommentar zu Rh. Pr. 18: τινας ὑποθέσεις καὶ ἀφορμὰς τῶν λόγων; zu Diskussionen zwischen Publikum und Redner (bzw. Reflexen davon) vgl. den Kommentar zu Rh. Pr. 17: ἂν σολοικίσῃς δὲ ἢ βαρβαρίσῃς; 19: ἢν μέν σε μὴ ἐπαινῶσιν, ἀγανάκτει καὶ λοιδοροῦ αὐτοῖς; 21 und 22 (passim).

3.3 Das literarische Schaffen: Variationen und Typisierung

147

chen kann, wie Hahn ([1989] 92) es tut. Er bemerkt zur Entwicklung (S. 96f.): Die Bedeutung solcher philosophischer Vorträge in der Öffentlichkeit kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie muss, neben der Unterrichtung von Schülern, als zweiter wesentlicher Aspekt der Tätigkeit eines Philosophen verstanden werden. Dion spricht – allerdings in einem eher stilisierten Zusammenhang – von einem wahren Überangebot philosophischer Vorträge zu jedem beliebigen Thema in griechischen Städten (or. 36,24): In Rom dürfte sich die Situation kaum anders dargestellt haben.

Genauso spricht Bowersock ([2002] 163) von einer »surprising emergence of certain philosophers as performance artists«. Als aussagekräftigste Beispiele für »sophist-philosophers«, die nicht mehr in einer geschlossenen Schulumgebung, sondern an öffentlichen Grossanlässen auftraten, nennt er Apuleius, Dion von Prusa und Favorinus (S. 164): Philosophy and sophistic were by no means separate compartments or separate evolutionary phases in the cases of the three major crossover figures. The two activities were inextricably meshed because public performance was integral to both.468

Vor diesem historischen Hintergrund ist es nur einleuchtend, dass Lukian sich neben den Sophisten gerade die Philosophen aussucht, um an diesen beiden Polen der zeitgenössischen παιδεία469 mittels sehr ähnlicher Vorwürfe seinen (angeblichen) Ärger über ungebildete Scheinvertreter, die vor dem breiten Publikum Erfolge einheimsen, obwohl sie von ihrer Wissenschaft nur wenig Ahnung haben, auszulassen. Philosophen und Sophisten prägen durch ihr Wirken in der Öffentlichkeit das Bild des πεπαιδευμένος in den Augen der (ungebildeteren) Zuschauermassen. Und genau hier setzt die lukianische Satire an: Sie entlarvt, mahnt und warnt davor, dass nicht jeder, der in einem entsprechenden Gewand eine Bühne betritt, automatisch das ist, was er zu verkörpern scheint, wobei aber Lukian sich selbst ebenfalls ein Gewand – dasjenige des Entlarvers – anlegt und seine Texte durch oft aristophanische settings in ebendieser ›Schauspielkultur‹ verankert. So setzt der Autor sich mitsamt den Rezipierenden, die er (als mit ihm Lachende) auf seine Seite zu ziehen und gegebenenfalls auch zu einer gedanklichen Auseinandersetzung über die zeitgenössischen Auftrittsbedingungen anzuregen wünscht, einerseits von Scharlatanen und Fehlgebildeten ab, entwirft andererseits gleichzeitig das Bild des idealen πεπαιδευμένος – der allerdings als guter, überzeugender ›Schauspieler‹ letztlich auch immer in der theatralisierten Gesellschaft verhaftet bleibt. 468 Vgl. auch Hall [1981] 151f. über die Wechselwirkung von Rhetorik und Philosophie, v.a. über philosophische Themen in rhetorischen Vorträgen. 469 Vgl. zu Sophisten und Philosophen als Hauptexponenten der παιδεία die Darstellung bei Möllendorff [2000b] 2–11.

4. Text und Übersetzung

Der hier abgedruckte griechische Text entspricht mit wenigen Ausnahmen470 der neueren Ausgabe von M.D. Macleod [1974, repr. 1993] mit Berücksichtigung der Änderungsvorschläge von Nesselrath [1984].471 Überliefert ist die Schrift Ῥητόρων διδάσκαλος (Nr. 41) in den beiden Überlieferungsstämmen der γ-HSS und der β-HSS.472 Macleod weist als von ihm verwendete Handschriften die folgenden aus: Ω/L (γ-HSS; Γ fehlt) und B/U/recc. (β-HSS). Im Kommentar wird Textkritisches an denjenigen Stellen diskutiert, wo von der Ausgabe Macleods abgewichen wird oder wo man eine andere Lesart ernsthaft in Betracht ziehen könnte. Oft finden sich kleinere Unterschiede in den Überlieferungssträngen γ und β, wobei jeweils beide Varianten inhaltlich einen befriedigenden Sinn ergeben. Macleod scheint in diesem Fall tendenziell etwas häufiger γ zu folgen, allerdings nicht durchgängig, obwohl dieser Überlieferungsstrang vielfach zu bevorzugen ist.473 Aufgrund dieses Befundes wird an einigen Stellen gegen Macleod die Lesart von γ in den Text gefügt.474 Einschränkend ist es allerdings wichtig zu bemerken,

470

Für Abweichungen vgl. die tabellarische Aufstellung am Ende des griechischen Textes. Die ältere, noch immer weitverbreitete Textausgabe der Loeb Classical Library mit der Übersetzung von Harmon [1925; repr. zuletzt 1999] weist relativ häufig kleine, den Inhalt nur geringfügig tangierende Abweichungen zu Macleod auf. Diese sind in den meisten Fällen nicht vorzuziehen, da sie der Handschriftengruppe β folgen, die oft vereinfachend-attischere Formen oder Konstruktionen aufweist (siehe dazu auch die übernächste Anm.; zu positiven Aspekten der βHSS bezüglich Rh. Pr. s.u.). 472 Zur Darstellung der Überlieferung Lukians noch immer grundlegend ist Mras [1911]; zur zweistämmigen Überlieferung der Schriften S. 13–54 vgl. insbes. S. 64–114. Zu Problemen der Mras’schen Darstellung, die von Macleod nicht thematisiert werden, siehe Nesselrath [1984] 578f.; für die vorliegende Schrift Nr. 41 dürften Mras’ Beobachtungen zur zweistämmigen Überlieferung allerdings korrekt sein. 473 Daher bemerkt Nesselrath zu Recht ([1984] 596): »Bei der Entscheidung [sc. Macleods] zwischen β und γ werden Präferenzen nicht völlig klar. An nicht wenigen Stellen hätte M. eher γ oder (bei einsträngiger Überlieferung) Γ folgen sollen, denn es gibt Anzeichen dafür, dass der Text von β häufig – und, wie es aussieht, bewusst – zum attischeren oder preziöseren Ausdruck hin geschönt ist [...]. Andererseits gibt es aber auch genügend Fälle, wo ohne die β-Lesart einfach nicht durchzukommen ist.« Vor allem die späteren Codices der β-Klasse sind minderwertig, vgl. Mras [1911] 218: »Bei den lectiones speciosae der späteren Codd. dieser Klasse ist besondere Vorsicht geboten.« 474 Vgl. auch Ebner [2001] 61 (zur Textgestaltung der Ausgabe der Lügenfreunde): »Insgesamt wurde versucht, den Lesarten der Handschriftengruppe γ, die für die Textüberlieferung der ›Lü471

4. Text und Übersetzung

149

dass die Bewertung der γ- und β-Handschriften für jedes Stück Lukians neu erfolgen muss, und zwar unter Berücksichtigung derjenigen Codices, in denen es jeweils überliefert ist. Da für Rh. Pr. der beste Codex der γ-Klasse (Γ) fehlt, das Stück allerdings in der wichtigsten Handschrift der β-Klasse (B) vorhanden ist, bietet dieser Überlieferungsstrang im Fall von Rh. Pr. ebenfalls gute Lesarten.475 Die von Mras erarbeitete Reihenfolge der Stücke in den Handschriften (sog. Schriften-Akoluthien)476 ergibt in der γ-Klasse für Rh. Pr. (Nr. 41) eine Positionierung zwischen De Luctu (Nr. 40) und Alexander (Nr. 42),477 in der β-Klasse eine Positionierung zwischen Vitarum Auctio (Nr. 27) und Piscator (Nr. 28; es folgt auch hier Alexander, Nr. 42). Dieser Befund ist insofern interessant, als er die vorangegangenen Kapitel über die Einbettung der Schrift Rh. Pr. in ihr textuelles Umfeld, insbesondere über die Nähe des lukianischen Sophisten- und Philosophenspotts (s.o. Einleitung 3.) unterstützt: Alexander als Pamphlet gegen den gleichnamigen Lügenpropheten ist für Rh. Pr. an diversen Stellen, v.a. für die Schlusskapitel 23–25 (Invektiventopik) ein wichtiger Paralleltext.478 Dass nun tatsächlich im Lesefluss an den abstossenden βίος des Rednerlehrers mit der (Selbst-)Darstellung seines abscheulichen Charakters derjenige des Lügenpropheten anschliesst (γ-HSS), stärkt die Parallelen als vom antiken Leser durchaus entsprechend wahrgenommene. Dasselbe kann für die Einbettung von Rh. Pr. zwischen den Schriften Vit. Auct. und Pisc. (β-HSS) gelten; die Parallelen innerhalb dieser Schriften sind oben aufgezeigt worden (vgl. die Einleitung 3.2).479

genfreunde‹ nicht nur die älteren Textzeugen enthält, sondern generell auch als zuverlässiger gilt als die Handschriftengruppe β, den Vorzug zu geben.« 475 Siehe Mras [1911] 169 zur Beurteilung der Überlieferung von Rh. Pr.: »Die B-Rezension ist hier der Rezension der andern Klasse mindestens gleichwertig.« Zur Bewertung der einzelnen Codices siehe Mras [1911] 222–224. Sowohl Macleod als auch Harmon übernehmen immer wieder (unstrittige) Lesarten der β-HSS, z.B. Rh. Pr. 1,11: ὡς τάχιστα δεινὸς ἀνὴρ (γ· ὡς μάλιστα, om. ἀνὴρ); Rh. Pr. 3,7: ἀνιὼν (γ· προσιὼν); Rh. Pr. 3,28: κομίζοντας (γ· κομίσοντας). 476 Siehe Mras [1911] 5f.; 18f.; 23 (unten). 477 Davon abweichend Codex L mit der Abfolge De Luct. (40), Rh. Pr. (41), De Astr. (48); siehe Macleod xiv und Mras [1911] 15. 478 Siehe dazu u.a. den Kommentar zu §13: τεράστιον; §23: ψεύδεσθαι; §24: πατρὸς μὲν ἀφανοῦς / γλίσχρῳ ἐραστῇ. 479 Vgl. auch den Kommentar zu §15: ἀχρεῖα γὰρ καὶ ὑπεναντία τῷ πράγματι; §16: σχήματος [...] εὐμόρφου τῆς ἀναβολῆς; §23: λοιδορεῖσθαι.

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4. Text und Übersetzung

ΡΗΤΟΡΩΝ ΔΙΔΑΣΚΑΛΟΣ 1

2

3

Ἐρωτᾷς, ὦ μειράκιον, ὅπως ἂν ῥήτωρ γένοιο καὶ τὸ σεμνότατον τοῦτο καὶ πάντιμον ὄνομα σοφιστὴς εἶναι δόξεις· ἀβίωτα γὰρ εἶναί σοι φῄς, εἰ μὴ τοιαύτην τινὰ τὴν δύναμιν περιβάλοιο ἐν τοῖς λόγοις ὡς ἄμαχον εἶναι καὶ ἀνυπόστατον καὶ θαυμάζεσθαι πρὸς ἁπάντων καὶ ἀποβλέπεσθαι, περισπούδαστον ἄκουσμα τοῖς Ἕλλησι δοκοῦντα· καὶ δὴ τὰς ἐπὶ τοῦτο ἀγούσας ὁδοὺς αἵτινές ποτέ εἰσιν ἐθελήσεις ἐκμαθεῖν. ἀλλὰ οὐδεὶς φθόνος, ὦ παῖ, καὶ μάλιστα ὁπότε νέος τις αὐτὸς ὤν, ὀρεγόμενος τῶν ἀρίστων, οὐκ εἰδὼς ὅθεν ἂν ταῦτα ἐκπορίσαιτο, »ἱερόν τι χρῆμα τὴν συμβουλὴν οὖσαν«, καθάπερ νῦν σύ, τοῦτο αἰτοίη προσελθών. ὥστε ἄκουε, τό γε ἐπ’ ἐμοὶ καὶ πάνυ θαρρῶν ὡς τάχιστα δεινὸς ἀνὴρ ἔσῃ γνῶναί τε τὰ δέοντα καὶ ἑρμηνεῦσαι αὐτά, ἢν τὸ μετὰ τοῦτο ἐθελήσῃς αὐτὸς ἐμμένειν οἷς ἂν ἀκούσῃς παρ’ ἡμῶν καὶ φιλοπόνως αὐτὰ μελετᾶν καὶ προθύμως ἀνύειν τὴν ὁδὸν ἔστ’ ἂν ἀφίκῃ πρὸς τὸ τέρμα. Τὸ μὲν οὖν θήραμα οὐ σμικρὸν οὐδὲ ὀλίγης τῆς σπουδῆς δεόμενον, ἀλλὰ ἐφ’ ὅτῳ καὶ πονῆσαι πολλὰ καὶ ἀγρυπνῆσαι καὶ πᾶν ὁτιοῦν ὑπομεῖναι ἄξιον. σκόπει γοῦν ὁπόσοι τέως μηδὲν ὄντες ἔνδοξοι καὶ πλούσιοι καὶ νὴ Δί’ εὐγενέστατοι ἔδοξαν ἀπὸ τῶν λόγων. Ὅμως δὲ μὴ δέδιθι, μηδὲ πρὸς τὸ μέγεθος τῶν ἐλπιζομένων ἀποδυσπετήσῃς, μυρίους τινὰς τοὺς πόνους προπονήσειν οἰηθείς. οὐ γάρ σε τραχεῖάν τινα οὐδὲ ὄρθιον καὶ ἱδρῶτος μεστὴν ἡμεῖς γε ἄξομεν, ὡς ἐκ μέσης αὐτῆς ἀναστρέψαι καμόντα, ἐπεὶ οὐδὲν ἂν διεφέρομεν τῶν ἄλλων ὅσοι τὴν συνήθη ἐκείνην ἡγοῦνται, μακρὰν καὶ ἀνάντη καὶ καματηρὰν καὶ ὡς τὸ πολὺ ἀπεγνωσμένην. ἀλλὰ τό γε παρ’ ἡμῶν ἐξαίρετόν σοι τῆς συμβουλῆς τοῦτό ἐστιν, ὅτι ἡδίστην τε ἅμα καὶ ἐπιτομωτάτην καὶ ἱππήλατον καὶ κατάντη σὺν πολλῇ τῇ θυμηδίᾳ καὶ τρυφῇ διὰ λειμώνων εὐανθῶν καὶ σκιᾶς ἀκριβοῦς σχολῇ καὶ βάδην ἀνιὼν ἀνιδρωτὶ ἐπιστήσῃ τῇ ἄκρᾳ καὶ ἀγρεύσεις οὐ καμὼν καὶ νὴ Δί’ εὐωχήσῃ κατακείμενος, ἐκείνους ὁπόσοι τὴν ἑτέραν ἐτράποντο ἀπὸ τοῦ ὑψηλοῦ ἐπισκοπῶν ἐν τῇ ὑπωρείᾳ τῆς ἀνόδου ἔτι κατὰ δυσβάτων καὶ ὀλισθηρῶν τῶν κρημνῶν μόλις ἀνέρποντας, ἀποκυλιομένους ἐπὶ κεφαλὴν ἐνίοτε καὶ πολλὰ τραύματα λαμβάνοντας περὶ τραχείαις ταῖς πέτραις· σὺ δὲ πρὸ πολλοῦ ἄνω ἐστεφανωμένος εὐδαιμονέστατος ἔσῃ, ἅπαντα ἐν βραχεῖ ὅσα ἐστὶν ἀγαθὰ παρὰ τῆς Ῥητορικῆς μονονουχὶ καθεύδων λαβών.

4. Text und Übersetzung

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Der Rednerlehrer Du fragst, mein Junge, wie du ein Rhetor werden könnest und im Ruf stehen werdest, ein ›Sophist‹ zu sein – eine Bezeichnung, so erhaben und allgeehrt wie keine. [Das Leben] sei dir nämlich nicht lebenswert, sagst du, wenn du dir nicht eine solche Überzeugungskraft im Umgang mit Worten zulegen könnest, dass du unbesiegbar seist und unwiderstehlich und bewundert würdest von allen und angestaunt, als ein Hörerlebnis geltend, um das sich die Griechen eifrig bemühen. Und insbesondere welche Wege denn zu diesem Ziel führen, wirst du erfahren wollen. Nun, das wird dir nicht missgönnt, mein Junge, schon gar nicht, wenn einer, der selbst noch jung ist und nach dem Höchsten strebt, aber nicht weiss, woher er sich dies wohl verschaffen kann und daher wie du jetzt auf mich zukommt und, da ja »ein Ratschlag eine heilige Sache ist«, um einen solchen bittet. So höre und sei, was mich betrifft, auch voller Zuversicht, dass du in kürzester Zeit ein Mann sein wirst, der sowohl die Fähigkeit hat zu wissen, was [gesagt werden] muss, als auch es in Worte zu fassen, vorausgesetzt, du willst fortan von dir aus bei dem bleiben, was du von mir hörst, dich eifrig darin üben und entschlossen den Weg weiterverfolgen, bis du ans Ziel gelangst. Das, wonach du jagst, ist nicht klein und bedarf auch keiner geringen Anstrengung, sondern es ist wert, dafür hart zu arbeiten, schlaflose Nächte durchzustehen und alles mögliche zu ertragen. Bedenke nur wieviele, die bis dahin nichts waren, als berühmt, reich und – bei Zeus! – sogar als äusserst vornehm Geltung erlangt haben infolge ihrer Beredsamkeit. Sei dennoch ohne Bedenken und lass dich nicht von der Grösse des Erhofften abschrecken in der Annahme, du werdest zuerst unzählige Mühen auf dich nehmen müssen. Denn nicht auf einem rauen, steilen und schweisstreibenden Weg werde ich dich führen, so dass du auf halbem Weg aus Erschöpfung umkehrtest, denn dann unterschiede ich mich ja kein bisschen von all den anderen, die einen auf jenem gewöhnlichen Weg führen, dem langen, der bergauf geht, ermüdend ist und meist aus Verzweiflung aufgegeben wird. Nein, gerade dies ist das Herausragende an meinem Ratschlag, dass du auf dem angenehmsten und zugleich kürzesten Weg, der mit einem Wagen befahrbar ist und bergab geht, mit viel Ergötzung und Komfort durch blumige Wiesen und perfekten Schatten gemütlich Schritt für Schritt hinaufgehen und ohne Schweiss zu vergiessen auf den Gipfel gelangen wirst, [deine Beute] ohne Anstrengung erjagt haben und – bei Zeus! – bequem liegend ein Picknick halten wirst. Dabei wirst du aus der Höhe auf all jene hinunterschauen, die sich dem andern Weg zugewandt haben und noch am Fuss des Berges über schlecht gangbare und schlüpfrige Abhänge nur mit Mühe hinaufkraxeln, manchmal kopfüber hinabpurzeln und sich viele Wunden zuziehen wegen der Schroffheit der Steine. Doch du, schon lange vorher oben angekommen und bekränzt, wirst der Allerglück lichste sein, weil du in kurzer Zeit, alles, was gut ist, von der Redekunst her fast im Schlaf erlangt hast.

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4. Text und Übersetzung

Ἡ μὲν δὴ ὑπόσχεσις οὕτω μεγάλη· ἀλλὰ πρὸς Φιλίου μὴ ἀπιστήσῃς, εἰ ῥᾷστά τε ἅμα καὶ ἥδιστά σοι ταῦτα ἐπιδείξειν φαμέν. ἢ γὰρ Ἡσίοδος μὲν ὀλίγα φύλλα ἐκ τοῦ Ἑλικῶνος λαβὼν αὐτίκα μάλα ποιητὴς ἐκ ποιμένος κατέστη καὶ ᾖδε θεῶν καὶ ἡρώων γένη κάτοχος ἐκ Μουσῶν γενόμενος, ῥήτορα δέ, ὃ πολὺ ἔνερθε τῆς ποιητικῆς μεγαληγορίας ἐστίν, ἐν βραχεῖ καταστῆναι ἀδύνατον, εἴ τις ἐκμάθοι τὴν ταχίστην ὁδόν; Ὡς ἔγωγε καὶ διηγήσασθαί σοι βούλομαι Σιδωνίου τινὸς ἐμπόρου ἐπίνοιαν δι’ ἀπιστίαν ἀτελῆ γενομένην καὶ τῷ ἀκούσαντι ἀνόνητον. ἦρχε μὲν γὰρ ἤδη Ἀλέξανδρος Περσῶν, μετὰ τὴν ἐν Ἀρβήλοις μάχην Δαρεῖον καθῃρηκώς· ἔδει δὲ πανταχόσε τῆς ἀρχῆς διαθεῖν τοὺς γραμματηφόρους τὰ ἐπιτάγματα τοῦ Ἀλεξάνδρου κομίζοντας. ἐκ Περσῶν δὲ πολλὴ εἰς Αἴγυπτον ἐγίγνετο ἡ ὁδός· ἐκπεριιέναι γὰρ ἔδει τὰ ὄρη, εἶτα διὰ τῆς Βαβυλωνίας εἰς τὴν Ἀραβίαν ἐλθεῖν, εἶτα ἐρήμην πολλὴν περάσαντας ἀφικέσθαι ποτὲ μόλις εἰς Αἴγυπτον, εἴκοσι μηκίστους ἀνδρὶ εὐζώνῳ σταθμοὺς τούτους διανύσαντας. ἤχθετο οὖν ὁ Ἀλέξανδρος ἐπὶ τούτῳ, διότι Αἰγυπτίους τι παρακινεῖν ἀκούων οὐκ εἶχε διὰ ταχέων ἐκπέμπειν τοῖς σατράπαις τὰ δοκοῦντά οἱ περὶ αὐτῶν. τότε δὴ ὁ Σιδώνιος ἔμπορος »Ἐγώ σοι«, ἔφη, »ὦ βασιλεῦ, ὑπισχνοῦμαι δείξειν ὁδὸν οὐ πολλὴν ἐκ Περσῶν εἰς Αἴγυπτον. εἰ γάρ τις ὑπερβαίη τὰ ὄρη ταῦτα – ὑπερβαίη δ’ ἂν τριταῖος – αὐτίκα μάλα ἐν Αἰγύπτῳ οὗτός ἐστιν.« καὶ εἶχεν οὕτως. πλὴν ὅ γε Ἀλέξανδρος οὐκ ἐπίστευσεν, ἀλλὰ γόητα ᾤετο εἶναι τὸν ἔμπορον. οὕτω τὸ παράδοξον τῆς ὑποσχέσεως ἄπιστον δοκεῖ τοῖς πολλοῖς. ἀλλὰ μὴ σύ γε πάθῃς τὸ αὐτό· εἴσῃ γὰρ πειρώμενος ὡς οὐδέν σε κωλύσει ἤδη ῥήτορα δοκεῖν μιᾶς οὐδὲ ὅλης ἡμέρας ὑπερπετασθέντα τὸ ὄρος ἐκ Περσῶν εἰς Αἴγυπτον. Ἐθέλω δέ σοι πρῶτον ὥσπερ ὁ Κέβης ἐκεῖνος εἰκόνα γραψάμενος τῷ λόγῳ ἑκατέραν ἐπιδεῖξαι τὴν ὁδόν· δύο γάρ ἐστον, αἳ πρὸς τὴν Ῥητορικὴν ἄγετον, ἧς ἐρᾶν οὐ μετρίως μοι δοκεῖς. καὶ δῆτα ἡ μὲν ἐφ’ ὑψηλοῦ καθήσθω πάνυ καλὴ καὶ εὐπρόσωπος, τὸ τῆς Ἀμαλθείας κέρας ἔχουσα ἐν τῇ δεξιᾷ παντοίοις καρποῖς ὑπερβρύον· ἐπὶ θάτερα δέ μοι δόκει τὸν Πλοῦτον παρεστῶτα ὁρᾶν, χρυσοῦν ὅλον ὄντα καὶ ἐπέραστον. καὶ ἡ Δόξα δὲ καὶ ἡ Ἰσχὺς παρέστωσαν, καὶ οἱ Ἔπαινοι περὶ πᾶσαν αὐτὴν Ἔρωσι μικροῖς ἐοικότες πολλοὶ ἁπανταχόθεν περιπλεκέσθωσαν ἐκπετόμενοι. εἴ που τὸν Νεῖλον εἶδες γραφῇ μεμιμημένον, αὐτὸν μὲν κείμενον ἐπὶ κροκοδείλου τινὸς ἢ ἵππου τοῦ ποταμίου, οἷοι πολλοὶ ἐν αὐτῷ, μικρὰ δέ τινα παιδία περὶ αὐτὸν παίζοντα – πήχεις δὲ αὐτοὺς οἱ Αἰγύπτιοι καλοῦσι –, τοιοῦτοι καὶ περὶ τὴν Ῥητορικὴν οἱ ἔπαινοι.

4. Text und Übersetzung

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Ja, so gross ist mein Versprechen! Doch misstraue mir – bei [Zeus] Philios! – nicht, wenn ich sage, dass ich dir dies als absolut mühelos und zugleich äusserst angenehm aufzeigen werde. Wurde denn nicht Hesiod, indem er nur wenige Blätter vom Helikon pflückte, auf der Stelle von einem Hirten zu einem Dichter und besang, von den Musen ergriffen, die Geschlechter der Götter und Heroen – jemanden aber innert kürzester Zeit zu einem Redner zu machen, was ja weit unter dem erhabenen Stil der Poesie anzusetzen ist, soll unmöglich sein, wenn nur einer den schnellsten Weg herausfindet? Ich möchte dir daher auch noch die Idee eines Händlers aus Sidon erzählen, die aus Unglauben heraus unvollendet blieb und dem, der sie hörte, keinen Nutzen brachte. Alexander war zu der Zeit Herrscher über die Perser, nachdem er Dareios nach der Schlacht bei Arbela entthront hatte, und es war nötig, in jeden Winkel des Reiches Briefboten zu schicken, welche die Befehle Alexanders überbrachten. Allerdings war der Weg von Persien nach Ägypten lang, denn sie mussten die Berge umrunden, dann durch Babylonien nach Arabien gehen und schliesslich eine grosse Wüste durchziehen, bevor sie endlich einmal nach Ägypten gelangten, nachdem sie zwanzig selbst für einen guten Läufer sehr lange Tagereisen vollendet hatten. Alexander ärgerte sich darüber, weil er hörte, dass die Ägypter Anstalten zu Aufständen machten, er aber den Satrapen nicht schnell genug seine Beschlüsse darüber zuschicken konnte. Da sagte der sidonische Händler: »Ich verspreche, mein König, dir einen kurzen Weg von Persien nach Ägypten zu zeigen. Wenn nämlich einer diese Berge hier übersteigt – er dürfte sie in drei Tagen überstiegen haben – dann ist der Betreffende auf der Stelle in Ägypten.« Und so verhielt es sich. Doch Alexander glaubte ihm nicht, sondern hielt den Händler für einen Schwindler. So scheint das Unglaubliche im Versprechen den meisten Leuten unglaubwürdig. Doch dir soll das nicht passieren; du wirst nämlich, sobald du es versuchst, merken, dass dich nichts hindern wird, nach nicht einmal einem ganzen Tag schon als Redner zu gelten, indem du das Gebirge von Persien aus nach Ägypten überfliegst. Ich möchte dir aber zuerst wie jener bekannte Kebes ein Bild mit Worten malen und jeden der beiden Wege zeigen. Es sind nämlich zwei, die zur Rhetorik führen, welche du mir überaus heftig zu lieben scheinst. Sie nun soll auf einem hohen Gipfel sitzen, sehr attraktiv und von schönem Antlitz, in der Rechten das Horn der Amaltheia, welches überquillt von Früchten aller Art. Auf der anderen Seite neben ihr stehend stelle dir den Reichtum vor, ganz in Gold und reizend. Daneben sollen auch der Ruhm und die Stärke stehen, und die Komplimente, die kleinen Eroten ähneln, sollen die Rhetorik in grosser Zahl und von überall her rings umschwärmen im Flug. Wenn du schon einmal den Nil auf einem Bild dargestellt gesehen hast, wie er auf einem Krokodil liegt oder auf einem Flusspferd, deren es viele gibt in ihm, während kleine Kinder um ihn herum spielen – Ellen nennen sie die Ägypter –: solcher Art sind auch die Komplimente rings um die Rhetorik.

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4. Text und Übersetzung

Πρόσει δὴ σὺ ὁ ἐραστὴς ἐπιθυμῶν δηλαδὴ ὅτι τάχιστα γενέσθαι ἐπὶ τῆς ἄκρας, ὡς γαμήσειάς τε αὐτὴν ἀνελθὼν καὶ πάντα ἐκεῖνα ἔχοις, τὸν πλοῦτον τὴν δόξαν τοὺς ἐπαίνους· νόμῳ γὰρ ἅπαντα γίγνεται τοῦ γεγαμηκότος. Εἶτα ἐπειδὰν πλησιάσῃς τῷ ὄρει, τὸ μὲν πρῶτον ἀπογιγνώσκεις τὴν ἄνοδον, καὶ τὸ πρᾶγμα ὅμοιον εἶναί σοι δοκεῖ οἵα ἡ Ἄορνος ἐφάνη τοῖς Μακεδόσιν ἀπόξυρον αὐτὴν ἁπανταχόθεν ἰδοῦσιν, ἀτεχνῶς οὐδὲ ὀρνέοις ὑπερπτῆναι ῥᾳδίαν, Διονύσου τινὸς ἢ Ἡρακλέους, εἰ μέλλοι καθαιρεθήσεσθαι, δεομένην. Ταῦτά σοι δοκεῖ τὸ πρῶτον· εἶτα μετ’ ὀλίγον ὁρᾷς δύο τινὰς ὁδούς. μᾶλλον δὲ ἡ μὲν ἀτραπός ἐστι στενὴ καὶ ἀκανθώδης καὶ τραχεῖα, πολὺ τὸ δίψος ἐμφαίνουσα καὶ ἱδρῶτα· καὶ ἔφθη γὰρ ἤδη Ἡσίοδος εὖ μάλα ὑποδείξας αὐτήν, ὥστε οὐδὲν ἐμοῦ δεήσει. ἡ ἑτέρα δὲ πλατεῖα καὶ ἀνθηρὰ καὶ εὔυδρος, τοιαύτη οἵαν μικρῷ πρόσθεν εἶπον, ἵνα μὴ πολλάκις τὰ αὐτὰ λέγων ἐπέχω σε ἤδη ῥήτορα εἶναι δυνάμενον. Πλὴν τό γε τοσοῦτον προσθήσειν μοι δοκῶ, διότι ἡ μὲν τραχεῖα ἐκείνη καὶ ἀνάντης οὐ πολλὰ ἴχνη τῶν ὁδοιπόρων εἶχεν, εἰ δέ τινα, πάνυ παλαιά. καὶ ἔγωγε κατ’ ἐκείνην ἄθλιος ἀνῆλθον τοσαῦτα καμὼν οὐδὲν δέον· ἡ ἑτέρα δὲ ἅτε ὁμαλὴ οὖσα καὶ ἀγκύλον οὐδὲν ἔχουσα πόρρωθέν μοι ἐφάνη οἵα ἐστὶν οὐχ ὁδεύσαντι αὐτήν. οὐ γὰρ ἑώρων νέος ἔτι ὢν τὸ βέλτιον, ἀλλὰ τὸν ποιητὴν ἐκεῖνον ἀληθεύειν ᾤμην λέγοντα ἐκ τῶν πόνων φύεσθαι τὰ ἀγαθά. τὸ δ’ οὐκ εἶχεν οὕτως· ἀπονητὶ γοῦν ὁρῶ τοὺς πολλοὺς μειζόνων ἀξιουμένους εὐμοιρίᾳ τῆς αἱρέσεως τῶν λόγων καὶ ὁδῶν. Ἐπὶ δ’ οὖν τὴν ἀρχὴν ἀφικόμενος εὖ οἶδα ὅτι ἀπορήσεις, καὶ ἤδη ἀπορεῖς, ὁποτέραν τρεπτέον. ὡς οὖν ποιήσας ἤδη ῥᾷστα ἐπὶ τὸ ἀκρότατον ἀναβήσῃ καὶ εὐδαιμονήσεις καὶ γαμήσεις καὶ θαυμαστὸς πᾶσι δόξεις, ἐγώ σοι φράσω· ἱκανὸν γὰρ τὸ αὐτὸν ἐξαπατηθῆναι καὶ πονῆσαι. σοὶ δὲ ἄσπορα καὶ ἀνήροτα πάντα φυέσθω καθάπερ ἐπὶ τοῦ Κρόνου. Εὐθὺς οὖν πρόσεισί σοι καρτερός τις ἀνήρ, ὑπόσκληρος, ἀνδρώδης τὸ βάδισμα, πολὺν τὸν ἥλιον ἐπὶ τῷ σώματι δεικνύων, ἀρρενωπὸς τὸ βλέμμα, ἐγρηγορώς, τῆς τραχείας ἐκείνης ὁδοῦ ἡγεμών, λήρους τινὰς πρὸς σὲ ὁ μάταιος διεξιών, ἕπεσθαί σοι παρακελευόμενος, ὑποδεικνὺς τὰ Δημοσθένους ἴχνη καὶ Πλάτωνος καὶ ἄλλων τινῶν, μεγάλα μὲν καὶ ὑπὲρ τοὺς νῦν, ἀμαυρὰ δὲ ἤδη καὶ ἀσαφῆ τὰ πολλὰ ὑπὸ τοῦ χρόνου, καὶ φήσει εὐδαίμονά σε ἔσεσθαι καὶ νόμῳ γαμήσειν τὴν Ῥητορικήν, εἰ κατὰ τούτων ὁδεύσειας ὥσπερ οἱ ἐπὶ τῶν κάλων βαίνοντες· εἰ δὲ κἂν μικρόν τι παραβαίης ἢ ἔξω

4. Text und Übersetzung

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Geh zu ihr hin, du Liebhaber, der du ganz offensichtlich schnellstens auf den Gipfel zu gelangen strebst, um sie, sobald du oben angekommen bist, zu heiraten und all jenes zu erhalten: Reichtum, Ruhm, Komplimente. Gemäss Gesetz fällt nämlich alles dem Ehemann zu. Und doch: Sobald du dich dem Berg näherst, sinkt dir zwar zuerst angesichts des Anstiegs der Mut, und die Sache scheint dir ähnlich wie der Berg Aornos den Makedonen erschien, als sie sahen, wie jäh abfallend er an allen Seiten war, schlichtweg nicht einmal für Vögel leicht zu überfliegen, so dass es einen Dionysos oder Herakles bräuchte, um ihn zu erobern. So scheint es dir zuerst. Dann siehst du nach kurzer Zeit zwei Wege: Der eine ist eher nur ein Pfad, schmal, dornig und rau, der viel Durst und Schweiss erahnen lässt. Doch Hesiod hat ihn ja längst sehr zutreffend beschrieben, so dass ich es nicht auch noch zu tun brauche. Der andere Weg ist breit, blumig und wasserreich, genau so, wie ich ihn kurz vorher beschrieben habe – damit ich nicht mehrfach dasselbe sage und dich aufhalte, der du bereits ein Redner sein könntest. Nur soviel, scheint mir, muss ich hinzufügen, dass jener raue und bergaufführende Weg nicht viele Fussspuren von Wanderern aufwies, und wenn es welche gab, dann sehr alte. Auch ich Unglücklicher stieg jenen Pfad hinauf und mühte mich so sehr ab, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Die Beschaffenheit des anderen Weges aber konnte ich, weil er eben und ohne Biegungen war, schon von weitem sehen, ohne ihn beschritten zu haben. Ich sah nämlich infolge meines noch jugendlichen Alters das Bessere nicht, sondern glaubte, dass jener Dichter die Wahrheit spreche, wenn er sagt, dass aus Mühen das Gute hervorgehe. Das verhielt sich jedoch nicht so. Mühelos jedenfalls werden, wie ich sehe, die meisten grösserer Dinge für würdig erachtet wegen einer glücklichen Wahl von Worten und Wegen. Wenn du nun also am Fuss des Berges angekommen bist, wirst du – ich weiss es genau – ratlos sein, und bist es schon jetzt, welchem Weg du dich zuwenden sollst. Was du nun tun musst, um am leichtesten die Bergspitze zu erklimmen, glücklich zu sein, zu heiraten und allen bewundernswert zu erscheinen, das will ich dir sagen: Denn es reicht, dass ich selbst getäuscht wurde und mich abmühte. Dir aber soll alles ungesät und ungepflügt wachsen wie im Zeitalter des Kronos. Sogleich wird dir ein starker Mann entgegenkommen, mit sehnigem Körper, männlichem Gang, braun gebrannt von der vielen Sonne, mit maskulinem Blick, energisch, als Führer auf jenem rauen Pfad, und allerlei leeres Geschwätz wird dieser Nichtsnutz an dich richten, er wird dir zureden, ihm zu folgen, wobei er dich auf die Fussstapfen des Demosthenes und Platons und einiger anderer aufmerksam macht – gross und über das Mass der heutigen hinaus, meistenteils aber schon verblasst und undeutlich infolge der verstrichenen Zeit –, und er wird sagen, dass du glücklich sein und eine rechtmässige Ehe mit der Rhetorik eingehen werdest, wenn du auf diesen Spuren wandertest, wie solche, die auf dem Seil gehen. Doch wenn du auch nur ein wenig daneben

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4. Text und Übersetzung

πατήσειας ἢ ἐπὶ θάτερα μᾶλλον κλιθείης τῇ ῥοπῇ, ἐκπεσεῖσθαί σε τῆς ὀρθῆς ὁδοῦ καὶ ἀγούσης ἐπὶ τὸν γάμον. εἶτά σε κελεύσει ζηλοῦν ἐκείνους τοὺς ἀρχαίους ἄνδρας ἕωλα παραδείγματα παρατιθεὶς λόγων οὐ ῥᾴδια μιμεῖσθαι, οἷα τὰ τῆς παλαιᾶς ἐργασίας ἐστίν, Ἡγησίου καὶ τῶν ἀμφὶ Κρίτιον καὶ Νησιώτην, ἀπεσφιγμένα καὶ νευρώδη καὶ σκληρὰ καὶ ἀκριβῶς ἀποτεταμένα ταῖς γραμμαῖς. πόνον δὲ καὶ ἀγρυπνίαν καὶ ὑδατοποσίαν καὶ τὸ λιπαρὲς ἀναγκαῖα ταῦτα καὶ ἀπαραίτητα φήσει· ἀδύνατον γὰρ εἶναι ἄνευ τούτων διανύσαι τὴν ὁδόν. ὃ δὲ πάντων ἀνιαρότατον, ὅτι σοι καὶ τὸν χρόνον πάμπολυν ὑπογράψει τῆς ὁδοιπορίας, ἔτη πολλά, οὐ κατὰ ἡμέρας καὶ τριακάδας, ἀλλὰ κατὰ ὀλυμπιάδας ὅλας ἀριθμῶν, ὡς καὶ προαποκαμεῖν ἀκούοντα καὶ ἀπαγορεῦσαι, πολλὰ χαίρειν φράσαντα τῇ ἐλπιζομένῃ ἐκείνῃ εὐδαιμονίᾳ. πρὸς δὲ τούτοις οὐδὲ μισθοὺς ὀλίγους ἀπαιτεῖ τῶν τοσούτων κακῶν, ἀλλὰ οὐκ ἂν ἡγήσαιτό σοι, εἰ μὴ μεγάλα πρότερον λάβοι. Ὁ μὲν ταῦτα φήσει, ἀλαζὼν καὶ ἀρχαῖος ὡς ἀληθῶς καὶ Κρονικὸς ἄνθρωπος, νεκροὺς εἰς μίμησιν παλαιοὺς προτιθεὶς καὶ ἀνορύττειν ἀξιῶν λόγους πάλαι κατορωρυγμένους ὥς τι μέγιστον ἀγαθόν, μαχαιροποιοῦ υἱὸν καὶ ἄλλον Ἀτρομήτου τινὸς γραμματιστοῦ ζηλοῦν ἀξιῶν, καὶ ταῦτα ἐν εἰρήνῃ μήτε Φιλίππου ἐπιόντος μήτε Ἀλεξάνδρου ἐπιτάττοντος, ὅπου τὰ ἐκείνων ἴσως ἐδόκει χρήσιμα, οὐκ εἰδὼς ὁποία νῦν κεκαινοτόμηται ταχεῖα καὶ ἀπράγμων καὶ εἰς τὸ εὐθὺ τῆς Ῥητορικῆς ὁδός. σὺ δὲ μήτε πείθεσθαι μήτε προσέχειν αὐτῷ, μή σε ἐκτραχηλίσῃ που παραλαβὼν ἢ τὸ τελευταῖον προγηρᾶσαι τοῖς πόνοις παρασκευάσῃ. ἀλλὰ εἰ πάντως ἐρᾷς καὶ τάχιστα ἐθέλεις τῇ Ῥητορικῇ συνεῖναι ἀκμάζων ἔτι, ὡς καὶ σπουδάζοιο πρὸς αὐτῆς, ἴθι, τῷ μὲν δασεῖ τούτῳ καὶ πέρα τοῦ μετρίου ἀνδρικῷ μακρὰ χαίρειν λέγε, ἀναβαίνειν αὐτὸν καὶ ἄλλους ὁπόσους ἂν ἐξαπατᾶν δύνηται ἀνάγειν καταλιπὼν ἀσθμαίνοντα καὶ ἱδρῶτι πολλῷ συνόντα. Πρὸς δὲ τὴν ἑτέραν ἐλθὼν εὑρήσεις πολλοὺς μὲν καὶ ἄλλους, ἐν τούτοις δὲ καὶ πάνσοφόν τινα καὶ πάγκαλον ἄνδρα, διασεσαλευμένον τὸ βάδισμα, ἐπικεκλασμένον τὸν αὐχένα, γυναικεῖον τὸ βλέμμα, μελιχρὸν τὸ φώνημα, μύρων ἀποπνέοντα, τῷ δακτύλῳ ἄκρῳ τὴν κεφαλὴν κνώμενον, ὀλίγας μὲν ἔτι, οὔλας δὲ καὶ ὑακινθίνας τὰς τρίχας εὐθετίζοντα, πάναβρόν τινα Σαρδανάπαλλον ἢ Κινύραν ἢ αὐτὸν Ἀγάθωνα, τὸν τῆς τραγῳδίας ἐπέραστον ἐκεῖνον ποιητήν. λέγω δὲ ὡς ἀπὸ τούτων γνωρίζοις αὐτόν, μηδέ σε οὕτω θεσπέσιον χρῆμα καὶ φίλον Ἀφροδίτῃ καὶ Χάρισι διαλάθοι. καίτοι τί φημί; κἂν εἰ μύοντι γάρ σοι προσελθὼν εἴποι τι, τὸ Ὑμήττι-

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trätest oder ausserhalb des Weges schrittest oder dich auf eine Seite etwas mehr neigtest durch dein Gewicht, dann werdest du vom rechten Weg abkommen, der zur Heirat führe. Weiter wird er dir befehlen, jenen alten Männern nachzueifern, und dir abgedroschene Beispiele von Reden vorlegen, die nicht leicht nachzuahmen sind, in der Beschaffenheit wie die [Skulpturen] von alter Herstellung, von Hegesias und den Leuten um Kritios und Nesiotes – gedrungen, sehnig, hart, mit peinlich genau gezeichneten Konturen. Und Mühe, Schlaflosigkeit, Wassertrinken und Beharrlichkeit – sie seien notwendig und unabdingbar, wird er sagen. Denn es sei unmöglich, ohne sie den Weg zu vollenden. Von all dem ist aber das Unangenehmste, dass er dir auch eine sehr lange Zeit für die Reise aufskizzieren wird, viele Jahre, wobei er nicht in Tagen und Monaten, sondern in ganzen Olympiaden rechnet, so dass du allein schon beim Zuhören ermüdest und verzagst und dich von jener erhofften Glückseligkeit vielmals verabschiedest. Obendrein fordert er nicht wenig Lohn für all diese Plagen, ja er wird dich wohl gar nicht erst zu führen beginnen, wenn er nicht im Voraus viel Geld einsteckt. Er wird also solches sagen, der Prahler und wirklich altmodische alte Knacker, der alte Leichen zur Nachahmung vorsetzt und es für wert hält, längst verscharrte Wörter wieder auszugraben wie ein allerhöchstes Gut und dem Sohn eines Waffenschmieds und einem andern, Sohn irgendeines Grundschullehrers namens Atrometos, nachzueifern – und dies zu Friedenszeiten, wo weder Philipp anrückt noch Alexander Befehle erteilt, Umstände, unter welchen deren Reden vielleicht noch nützlich schienen –, ohne Wissen darum, welch schneller, müheloser und direkter Weg zur Rhetorik heutzutage neu fabriziert ist. Du aber lass dich von ihm weder überzeugen noch schenke ihm Aufmerksamkeit, dass er dich nicht, sobald er dich unter seine Fittiche genommen hat, irgendwo hinunterstürzt oder dich durch die Plackerei am Ende vorzeitig altern lässt. Sondern wenn du gänzlich in Liebe entflammt bist und dich schnellstmöglich mit der Rhetorik vereinen willst, solange du noch im besten Alter bist, damit du auch von ihr begehrt wirst, dann auf!, verabschiede dich ein für allemal von diesem haarigen und übermässig maskulinen Mann und lass ihn zurück, auf dass er selbst keuchend und schweissüberstömt hinaufsteige und alle anderen, die er zu täuschen vermag, hinaufführe. Wenn du dich aber dem zweiten Weg zuwendest, wirst du viele andere antreffen, unter diesen aber auch einen äusserst klugen und schönen Mann mit schlenkerndem Gang, seitlich gebogenem Hals, weiblichem Blick, honigsüsser Stimme, der nach Parfum duftet, sich mit der Fingerspitze am Kopf kratzt und seine zwar nur noch wenigen, doch lockigen und hyazinthfarbenen Haare zurechtstreicht – einen gänzlich weichlichen Sardanapal oder Kinyras oder Agathon höchstpersönlich, jenen liebreizenden Tragödiendichter. Ich sage das, damit du ihn an diesen Merkmalen erkennst und dir eine so göttliche Erscheinung, Liebling der Aphrodite und der Chariten, nicht entgehe. Doch was sage ich? Selbst wenn er zu dir, während du die Augen geschlossen hältst, heran-

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ον ἐκεῖνο ἀνοίξας στόμα, καὶ τὴν συνήθη φωνὴν ἀφείη, μάθοις ἂν ὡς οὐχὶ τῶν καθ’ ἡμᾶς ἐστιν, οἳ ἀρούρης καρπὸν ἔδομεν, ἀλλά τι ξένον φάσμα δρόσῳ ἢ ἀμβροσίᾳ τρεφόμενον. Τούτῳ τοίνυν προσελθὼν καὶ παραδοὺς ἑαυτὸν αὐτίκα μάλα ῥήτωρ ἔσῃ καὶ περίβλεπτος καί, ὡς ὀνομάζει αὐτός, βασιλεὺς ἐν τοῖς λόγοις ἀπονητὶ καταστήσῃ τὰ τέθριππα ἐλαύνων τοῦ λόγου. διδάξεται γάρ σε παραλαβὼν τὰ πρῶτα μὲν ἐκεῖνα – μᾶλλον δὲ αὐτὸς εἰπάτω πρὸς σέ· γελοῖον γὰρ ὑπὲρ τοιούτου ῥήτορος ἐμὲ ποιεῖσθαι τοὺς λόγους, φαῦλον ὑποκριτὴν ἴσως τῶν τοιούτων καὶ τηλικούτων, μὴ καὶ συντρίψω που πεσὼν τὸν ἥρωα ὃν ὑποκρίνομαι. Φαίη τοιγαροῦν ἂν πρὸς σὲ ὧδέ πως ἐπισπασάμενος ὁπόσον ἔτι λοιπὸν τῆς κόμης καὶ ὑπομειδιάσας τὸ γλαφυρὸν ἐκεῖνο καὶ ἁπαλὸν οἷον εἴωθεν, Αὐτοθαΐδα τὴν κωμικὴν ἢ Μαλθάκην ἢ Γλυκέραν τινὰ μιμησάμενος τῷ προσηνεῖ τοῦ φθέγματος· ἄγροικον γὰρ τὸ ἀρρενωπὸν καὶ οὐ τοῦ ἁβροῦ καὶ ἐρασμίου ῥήτορος. Φήσει δ’ οὖν πάνυ μετριάζων ὑπὲρ ἑαυτοῦ· »Μῶν σέ, ὦ ἀγαθέ, ὁ Πύθιος ἔπεμψε πρός με ῥητόρων τὸν ἄριστον προσειπών, ὥσπερ ὅτε Χαιρεφῶν ἤρετο αὐτόν, ἔδειξεν ὅστις ἦν ὁ σοφώτατος ἐν τοῖς τότε; εἰ δὲ μὴ τοῦτο, ἀλλὰ κατὰ κλέος αὐτὸς ἥκεις ἀκούων ἁπάντων ὑπερεκπεπληγμένων τὰ ἡμέτερα καὶ ὑμνούντων καὶ τεθηπότων καὶ ὑπεπτηχότων, αὐτίκα μάλα εἴσῃ πρὸς οἷόν τινα δαιμόνιον ἄνδρα ἥκεις. προσδοκήσῃς δὲ μηδὲν τοιοῦτον ὄψεσθαι οἷον τῷδε ἢ τῷδε παραβαλεῖν, ἀλλ’ εἴ τις ἢ Τιτυὸς ἢ Ὦτος ἢ Ἐφιάλτης, ὑπὲρ ἐκείνους πολὺ φανεῖταί σοι τὸ πρᾶγμα ὑπερφυὲς καὶ τεράστιον· ἐπεὶ τούς γε ἄλλους τοσοῦτον ὑπερφωνοῦντα εὑρήσεις ὁπόσον ἡ σάλπιγξ τοὺς αὐλοὺς καὶ οἱ τέττιγες τὰς μελίττας καὶ οἱ χοροὶ τοὺς ἐνδιδόντας. Ἐπεὶ δὲ καὶ ῥήτωρ αὐτὸς ἐθέλεις γενέσθαι καὶ τοῦτο οὐκ ἂν παρ’ ἄλλου ῥᾷον μάθοις, ἕπου μόνον, ὦ μέλημα, οἷς ἂν εἴπω, καὶ ζήλου πάντα, καὶ τοὺς νόμους, οἷς ἂν ἐπιτάξω χρῆσθαι, ἀκριβῶς μοι παραφύλαττε. μᾶλλον δὲ ἤδη προχώρει μηδὲν ὀκνήσας μηδὲ πτοηθείς, εἰ μὴ προετελέσθης ἐκεῖνα τὰ πρὸ τῆς ῥητορικῆς, ὁπόσα ἡ ἄλλη προπαιδεία τοῖς ἀνοήτοις καὶ ματαίοις μετὰ πολλοῦ καμάτου ὁδοποιεῖ· οὐδὲν γὰρ αὐτῶν δεήσει. ἀλλ’ »ἀνίπτοις ποσίν« – ἡ παροιμία φησίν – ἔμβαινε, οὐ μεῖον ἕξων διὰ τοῦτο, οὐδ’ ἄν, τὸ κοινότατον, μηδὲ γράφειν τὰ γράμματα εἰδῇς· ἄλλο γάρ τι παρὰ ταῦτα ὁ ῥήτωρ.

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käme, etwas sagte und dabei jenen hymettischen Mund öffnete und seine gewohnte Stimme ertönen liesse, würdest du wohl erkennen, dass er keiner von uns ist, die Ackerfrüchte essen, sondern eine fremdartige Erscheinung, die sich von Tau oder Ambrosia nährt. Wenn du also zu diesem gehst und dich in seine Obhut begibst, wirst du auf der Stelle ein Redner sein, sehr angesehen und – wie er selbst es nennt – als König der Redekunst dich mühelos etablieren, das Viergespann des Wortes lenkend. Er wird dich nämlich, sobald er sich deiner angenommen hat, zuerst Folgendes lehren – doch er soll besser selbst zu dir sprechen; denn es ist lächerlich, dass anstelle eines solchen Redners ich die Worte formuliere, ein wahrscheinlich schlechter Darsteller einer derart grossen und bedeutenden Rolle. Ich könnte fallen und den Heros, den ich spiele, zerschmettern. Er dürfte nun also etwa folgendermassen zu dir sprechen, wobei er, was von seinem Haar noch übrig ist, zurechtzupft, auf die gewohnte Art elegant und sanft lächelt und mit der leibhaftigen Thaïs in der Komödie, mit einer Malthake oder Glykera konkurriert durch das Verführerische seiner Stimme. Denn Männlichkeit ist bäurisch und gehört nicht zu einem eleganten und liebreizenden Redner. Er wird also in grösster Selbstbescheidenheit sagen: »Hat dich, mein Lieber, etwa der pythische Gott zu mir geschickt, indem er mich zum besten Redner ernannte, genau wie er damals, als Chairephon ihn fragte, anzeigte, wer der weiseste unter den damaligen Menschen war? Wenn dies nicht der Grund ist, sondern du von selbst infolge meines Ruhms gekommen bist, weil du hörst, wie alle von meinem Können überaus beeindruckt sind, es rühmen und anstaunen und sich davor verneigen, dann sollst du sogleich erkennen, zu was für einem göttlichen Mann du gekommen bist. Erwarte aber nichts von solcher Art zu sehen, dass du es mit diesem oder jenem vergleichen könntest, sondern eine Sache, die dir selbst im Vergleich mit einem Tityos, Otos oder Ephialtes weit über jene hinausragend und ungeheuerlich erscheinen wird. Denn du wirst sehen, dass ich die anderen so laut übertöne wie die Trompete die Flöten, die Grillen die Bienen und die Chöre die Vorsänger. Da du nun auch selbst Redner werden willst und dies wohl von keinem anderen leichter lernen dürftest, so folge nur, mein lieber Junge, allem, was ich sage, und ahme es nach und halte dich sorgfältig an die Gesetze, die ich dir anzuwenden auferlegen werde. Oder vielmehr rücke schon weiter vor, ohne zu zögern oder dich zu ängstigen, wenn du nicht vorher eingeweiht bist in all jenes, was vor der Rhetorik kommt, durch das hindurch der sonst übliche Vorunterricht den Unwissenden und Nichtsnutzen einen sehr mühevollen Weg bahnt. Denn du wirst nichts von alledem benötigen. Nein, geh nur »mit ungewaschenen Füssen« – wie es das Sprichwort sagt – drauflos, denn du wirst deswegen keinen Nachteil haben, auch nicht wenn du, was das Gewöhnlichste ist, nicht einmal die Buchstaben schreiben kannst. Denn der Redner ist etwas anderes, jenseits von diesen Dingen.

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Λέξω δὲ πρῶτον μὲν ὁπόσα χρὴ αὐτόν σε οἴκοθεν ἔχοντα ἥκειν ἐφόδια πρὸς τὴν πορείαν καὶ ὅπως ἐπισιτίσασθαι, ὡς ἂν τάχιστα διανύσαι δυνηθείης. ἔπειτα καὶ αὐτὸς ἃ μὲν προϊόντι ἐπιδεικνὺς κατὰ τὴν ὁδόν, ἃ δὲ καὶ παραινῶν, πρὶν ἥλιον δῦναι ῥήτορά σε ὑπὲρ τοὺς πάντας ἀποφανῶ, οἷος αὐτός εἰμι, ἀναμφιλέκτως τὰ πρῶτα καὶ μέσα καὶ τελευταῖα τῶν λέγειν ἐπιχειρούντων. Κόμιζε τοίνυν τὸ μέγιστον μὲν τὴν ἀμαθίαν, εἶτα θράσος ἐπὶ τούτῳ καὶ τόλμαν καὶ ἀναισχυντίαν. αἰδῶ δὲ ἢ ἐπιείκειαν ἢ μετριότητα ἢ ἐρύθημα οἴκοι ἀπόλιπε· ἀχρεῖα γὰρ καὶ ὑπεναντία τῷ πράγματι. ἀλλὰ καὶ βοὴν ὅτι μεγίστην καὶ μέλος ἀναίσχυντον καὶ βάδισμα οἷον τὸ ἐμόν. ταῦτα δὲ πάνυ ἀναγκαῖα καὶ μόνα ἔστιν ὅτε ἱκανά. καὶ ἡ ἐσθὴς δὲ ἔστω εὐανθὴς ἢ λευκή, ἔργα τῆς Ταραντίνης ἐργασίας, ὡς διαφαίνεσθαι τὸ σῶμα, καὶ ἡ κρηπὶς Ἀττικὴ γυναικεία, τὸ πολυσχιδές, ἢ ἐμβὰς Σικυωνία πίλοις τοῖς λευκοῖς ἐπιπρέπουσα, καὶ ἀκόλουθοι πολλοὶ καὶ βιβλίον ἀεί. Ταῦτα μὲν αὐτὸν χρὴ συντελεῖν· τὰ δ’ ἄλλα καθ’ ὁδὸν ἤδη προϊὼν ὅρα καὶ ἄκουε. καὶ δή σοι τοὺς νόμους δίειμι, οἷς χρώμενόν σε ἡ Ῥητορικὴ γνωριεῖ καὶ προσήσεται, οὐδὲ ἀποστραφήσεται καὶ σκορακιεῖ καθάπερ ἀτέλεστόν τινα καὶ κατάσκοπον τῶν ἀπορρήτων. σχήματος μὲν τὸ πρῶτον ἐπιμεληθῆναι χρὴ μάλιστα καὶ εὐμόρφου τῆς ἀναβολῆς, ἔπειτα πεντεκαίδεκα ἢ οὐ πλείω γε τῶν εἴκοσιν Ἀττικὰ ὀνόματα ἐκλέξας ποθὲν ἀκριβῶς ἐκμελετήσας, πρόχειρα ἐπ’ ἄκρας τῆς γλώττης ἔχε – τὸ ἄττα καὶ κᾆτα καὶ μῶν καὶ ἁμηγέπῃ καὶ λῷστε καὶ τὰ τοιαῦτα – καὶ ἐν ἅπαντι λόγῳ καθάπερ τι ἥδυσμα ἐπίπαττε αὐτῶν. μελέτω δὲ μηδὲν τῶν ἄλλων, εἰ ἀνόμοια τούτοις καὶ ἀσύμφυλα καὶ ἀπῳδά. ἡ πορφύρα μόνον ἔστω καλὴ καὶ εὐανθής, κἂν σισύρα τῶν παχειῶν τὸ ἱμάτιον ᾖ. Μέτει δὲ ἀπόρρητα καὶ ξένα ῥήματα καὶ σπανιάκις ὑπὸ τῶν πάλαι εἰρημένα, καὶ ταῦτα συμφορήσας ἀποτόξευε προχειριζόμενος ἐς τοὺς προσομιλοῦντας. οὕτω γάρ σε ὁ λεὼς ὁ πολὺς ἀποβλέψονται καὶ θαυμαστὸν ὑπολήψονται καὶ τὴν παιδείαν ὑπὲρ αὑτούς, εἰ »ἀποστλεγγίσασθαι« μὲν τὸ ἀποξύσασθαι λέγοις, τὸ δὲ ἡλίῳ θέρεσθαι »εἱληθερεῖσθαι«, τὸν ἀρραβῶνα δὲ »προνόμιον«, τὸν ὄρθρον δὲ »ἀκροκνεφές«. Ἐνίοτε δὲ καὶ αὐτὸς ποίει καινὰ καὶ ἀλλόκοτα ὀνόματα καὶ νομοθέτει τὸν μὲν ἑρμηνεῦσαι δεινὸν »εὔλεξιν« καλεῖν, τὸν συνετὸν »σοφόνουν«, τὸν ὀρχηστὴν δὲ »χειρίσοφον«. ἂν σολοικίσῃς δὲ ἢ βαρβαρίσῃς, ἓν ἔστω φάρμακον ἡ ἀναισχυντία, καὶ πρόχειρον εὐθὺς ὄνομα οὔτε ὄντος τινὸς οὔτε γενομένου ποτέ, ἢ ποιητοῦ ἢ

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Ich will dir zuerst sagen, wieviel Proviant du selbst von zu Hause mitbringen sollst für die Reise und wie du dich versorgen musst, um sie möglichst rasch vollenden zu können. Dann werde ich dir auch persönlich, während du bereits auf dem Weg fortschreitet, einiges zeigen, anderes anraten, und dich vor Sonnenuntergang zu einem Redner machen, der alle anderen übertrifft, genau wie ich selbst: unbestreitbar Anfang, Mitte und Ende aller, die sich im Reden versuchen. Bring du nun als Wichtigstes die Unbildung mit, dann Verwegenheit dazu und Tollkühnheit und Unverschämtheit. Rücksichtnahme, Anstand, Masshaltung oder Schamgefühl aber lasse zu Hause. Denn das ist unnütz und der Sache bloss hinderlich. Aber bringe auch eine möglichst laute Stimme mit, einen unverschämten Gesang und einen Gang, wie ich ihn habe. Diese Dinge sind unabdingbar und manchmal allein schon ausreichend. Dein Kleid soll bunt geblümt sein oder weiss, fabriziert in Tarent, so dass der Körper durchscheint, und dein Schuh eine attische Sandale, die so genannte ›vielgeschlitzte‹, wie die Frauen sie tragen, oder ein sikyonischer Stiefel, ausstaffiert mit weissem Filz. Viele Begleiter musst du haben und immer ein Buch in der Hand. Das musst du selbst beitragen. Alles andere sieh und höre, während du bereits auf dem Weg fortschreitest. Und nun will ich für dich die Gesetze durchgehen, an die du dich halten musst, damit dich die Rhetorik zur Kenntnis nehmen und zu sich heranlassen wird und sich nicht abwenden und dich wegjagen wird wie einen Uneingeweihten und Spion ihrer Mysterien. Um deine äusserliche Erscheinung musst du dich erstens am meisten kümmern und um ein attraktives Gewand. Wähle dir dann von irgendwoher fünfzehn oder höchstens zwanzig attische Wörter aus, lerne sie sorgfältig auswendig und trage sie stets abrufbereit auf deiner Zungenspitze – ἄττα, κᾆτα, μῶν, ἁμηγέπῃ, λῷστε und Ähnliches – und streue bei jeder Rede von diesen Wörtern etwas ein wie ein Gewürz. Kümmere dich jedoch nicht um den Rest, wenn er diesen unähnlich und unverwandt und unharmonisch ist. Allein dein Purpurstreifen sei schön und leuchtend, wenn auch das Gewand aus dickem Fell besteht. Jage ferner ungebräuchliche und fremde Wörter, solche, die von den Alten selten verwendet werden, und wenn du dir diese Sammlung angelegt hast, hole etwas daraus hervor und schiesse es ab in Richtung deiner Zuhörer. Denn so wird dich die grosse Masse anstaunen und für bewundernswert halten und deine Bildung für der ihrigen weit überlegen, wenn du das Abschaben »abstriegeln« nennst, sich von der Sonne wärmen zu lassen »sonnenwärmen«, das Depot »Vorgesetzliches« und den Tagesanbruch schliesslich »Enddunkel«. Erfinde ab und zu auch selbst neue ungewöhnliche Ausdrücke und mache es zum Gesetz, denjenigen, welcher fähig ist etwas in Worte umzusetzen, »mit Wohldiktion ausgestattet« zu nennen, den Intelligenten »Weisgeist«, den Tänzer »handweise«. Wenn du Solözismen oder Barbarismen begehst, dann sei dein einziges Heilmittel die Unverschämtheit: Lass dir sogleich den Namen von jemandem einfallen, der weder jetzt lebt noch je gelebt hat, sei es eines

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συγγραφέως, ὃς οὕτω λέγειν ἐδοκίμαζε σοφὸς ἀνὴρ καὶ τὴν φωνὴν εἰς τὸ ἀκρότατον ἀπηκριβωμένος. ἀλλὰ καὶ ἀναγίγνωσκε τὰ παλαιὰ μὲν μὴ σύ γε, μηδὲ εἴ τι ὁ λῆρος Ἰσοκράτης ἢ ὁ χαρίτων ἄμοιρος Δημοσθένης ἢ ὁ ψυχρὸς Πλάτων, ἀλλὰ τοὺς τῶν ὀλίγον πρὸ ἡμῶν λόγους καὶ ἅς φασι ταύτας μελέτας, ὡς ἔχῃς ἀπ’ ἐκείνων ἐπισιτισάμενος ἐν καιρῷ καταχρῆσθαι καθάπερ ἐκ ταμιείου προαιρῶν. Ἐπειδὰν δὲ καὶ δέῃ λέγειν καὶ οἱ παρόντες ὑποβάλωσί τινας ὑποθέσεις καὶ ἀφορμὰς τῶν λόγων, ἅπαντα μὲν ὁπόσα ἂν ᾖ δυσχερῆ, ψεγέσθω καὶ ἐκφαυλιζέσθω ὡς οὐδὲν ὅλως ἀνδρῶδες αὐτῶν. ἑλομένων δέ, μηδὲν ἔτι μελλήσας λέγε ὅττι κεν ἐπ’ ἀκαιρίμαν γλῶτταν ἔλθῃ, μηδὲν ἐκείνων ἐπιμεληθείς, ὡς τὸ πρῶτον, ὥσπερ οὖν καὶ ἔστι πρῶτον, ἐρεῖς ἐν καιρῷ προσήκοντι καὶ τὸ δεύτερον μετὰ τοῦτο καὶ τὸ τρίτον μετ’ ἐκεῖνο, ἀλλὰ τὸ πρῶτον ἐμπεσὸν πρῶτον λεγέσθω, καὶ ἢν οὕτω τύχῃ, περὶ τῷ μετώπῳ μὲν ἡ κνημίς, περὶ τῇ κνήμῃ δὲ ἡ κόρυς. πλὴν ἀλλ’ ἔπειγε καὶ σύνειρε καὶ μὴ σιώπα μόνον. κἂν περὶ ὑβριστοῦ τινος ἢ μοιχοῦ λέγῃς Ἀθήνησι, τὰ ἐν Ἰνδοῖς καὶ τὰ ἐν Ἐκβατάνοις λεγέσθω. ἐπὶ πᾶσι δὲ ὁ Μαραθὼν καὶ ὁ Κυνέγειρος, ὧν οὐκ ἄν τι ἄνευ γένοιτο. καὶ ἀεὶ ὁ Ἄθως πλείσθω καὶ ὁ Ἑλλήσποντος πεζευέσθω καὶ ὁ ἥλιος ὑπὸ τῶν Μηδικῶν βελῶν σκεπέσθω καὶ Ξέρξης φευγέτω καὶ ὁ Λεωνίδας θαυμαζέσθω καὶ τὰ Ὀθρυάδου γράμματα ἀναγιγνωσκέσθω, καὶ ἡ Σαλαμὶς καὶ τὸ Ἀρτεμίσιον καὶ αἱ Πλαταιαὶ πολλὰ ταῦτα καὶ πυκνά. καὶ ἐπὶ πᾶσι τὰ ὀλίγα ἐκεῖνα ὀνόματα ἐπιπολαζέτω καὶ ἐπανθείτω, καὶ συνεχὲς τὸ ἄττα καὶ τὸ δήπουθεν, κἂν μηδὲν αὐτῶν δέῃ· καλὰ γάρ ἐστι καὶ εἰκῆ λεγόμενα. Ἢν δέ ποτε καὶ ᾆσαι καιρὸς εἶναι δοκῇ, πάντα σοι ᾀδέσθω καὶ μέλος γιγνέσθω. κἄν ποτε ἀπορήσῃς πράγματος ᾠδικοῦ, τοὺς ἄνδρας τοὺς δικαστὰς ὀνομάσας ἐμμελῶς πεπληρωκέναι οἴου τὴν ἁρμονίαν. τὸ δὲ »οἴμοι τῶν κακῶν« πολλάκις, καὶ ὁ μηρὸς πατασσέσθω, καὶ λαρύγγιζε καὶ ἐπιχρέμπτου τοῖς λεγομένοις καὶ βάδιζε μεταφέρων τὴν πυγήν. καὶ ἢν μέν σε μὴ ἐπαινῶσιν, ἀγανάκτει καὶ λοιδοροῦ αὐτοῖς· ἢν δὲ ὀρθοὶ ἑστήκωσιν ὑπὸ τῆς αἰσχύνης ἤδη πρὸς τὴν ἔξοδον ἕτοιμοι, καθέζεσθαι κέλευε, καὶ ὅλως τυραννὶς τὸ πρᾶγμα ἔστω. Ὅπως δὲ καὶ τὸ πλῆθος τῶν λόγων θαυμάζωσιν, ἀπὸ τῶν Ἰλιακῶν ἀρξάμενος ἢ καὶ νὴ Δία ἀπὸ τῶν Δευκαλίωνος καὶ Πύρρας γάμων, ἢν δοκῇ, καταβίβαζε τὸν λόγον ἐπὶ τὰ νῦν καθεστῶτα. οἱ μὲν γὰρ συνιέντες ὀλίγοι, οἳ μάλιστα μὲν σιωπήσονται ὑπ’ εὐγνωμοσύνης· ἢν δὲ καὶ λέγωσί τι, ὑπὸ φθόνου αὐτὸ δόξουσι δρᾶν. οἱ πολλοὶ δὲ

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Dichters oder eines Prosaschriftstellers, der es guthiess, so zu sprechen, ein weiser Mann mit bis zum Äussersten perfektionierter Sprache. Aber die Alten sollst du auf keinen Fall lesen – auch nicht etwa den Schwätzer Isokrates oder den eleganzlosen Demosthenes oder den frostigen Platon –, sondern die Reden derer, die kurz vor unserer Zeit lebten, und diejenigen Schriften, die sie ›Deklamationen‹ nennen, damit du von ihnen, weil du dir daraus einen Vorrat angelegt hast, bei Gelegenheit Gebrauch machen kannst, indem du sie hervorholst wie aus einer Speisekammer. Wenn du dann wirklich öffentlich sprechen musst und die Anwesenden dir Themen und Ausgangspunkte für die Rede vorschlagen, kritisiere alles, was schwierig ist, und mache es schlecht, als ob nichts davon zu einem echten Mann passe. Sobald sie aber gewählt haben, sprich ohne weiteres Zögern, was dir gerade auf der Zunge liegt, und kümmere dich nicht darum, dass du das Erste, da es ja nun einmal ein Erstes gibt, zur angemessenen Zeit sagen wirst, das Zweite danach und das Dritte nach jenem, sondern sage als Erstes, was dir zuerst einfällt, und wenn es sich halt so treffen sollte, dann liegt um die Stirn die Beinschiene, um den Unterschenkel der Helm. Halte das Tempo indessen immer hoch, reihe Wort an Wort und schweige bloss nicht! Wenn du beispielsweise über einen Frevler oder Ehebrecher in Athen sprichst, erwähne die Vorfälle in Indien und Ekbatana. Füge zu jedem Thema Marathon und Kynegeiros hinzu, ohne die überhaupt nichts geht. Auch soll jedes Mal der Athos durchsegelt, der Hellespont zu Fuss überschritten werden, die Sonne sich wegen der Medergeschosse verfinstern, Xerxes fliehen und Leonidas bewundert werden, die Inschrift von Othryadas vorgelesen werden, und auf Salamis, Artemision, Plataiai musst du oft und in dichter Abfolge anspielen. Und auf allem sollen jene paar attischen Wörter wie Blüten schwimmen, immer wieder ein ἄττα und ein δήπουθεν, auch wenn es gar nichts davon braucht; sie sind nämlich auch aufs Geratewohl gesprochen schön. Wenn dir aber je auch der richtige Moment zum Singen gekommen zu sein scheint, dann gib alles in Gesang und Melodie wieder. Und solltest du je über kein gut singbares Thema verfügen, so rufe melodiös »meine Herren Richter« und achte dabei auf eine vollendete Satzmelodie. »O weh, welch Übel«, [jammere] oft, schlage dir auf den Schenkel, schrei aus vollen Hals, spucke bisweilen aus während dem Reden und geh mit dem Hintern wackelnd hin und her. Und sollten die Zuhörer dich nicht loben, sei ärgerlich und beschimpfe sie. Wenn sie sich aber aufrichten und vor lauter Scham schon hinauszulaufen im Begriff sind, befiehl ihnen, sich hinzusetzen. Und die Sache soll insgesamt wie eine Tyrannis sein. Damit sie auch die Fülle deiner Rede bewundern, beginne bei den Vorfällen um Troja oder – bei Zeus! – auch bei der Heirat von Deukalion und Pyrrha, wenn es dir passend scheint, und führe deine Darstellung bis zur Gegenwart weiter. Denn die Verständigen sind wenige, und sie werden zum grössten Teil aus Gutmütigkeit schweigen. Falls sie dennoch etwas sagen sollten, werden sie

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τὸ σχῆμα καὶ φωνὴν καὶ βάδισμα καὶ περίπατον καὶ μέλος καὶ κρηπῖδα καὶ τὸ ἄττα σου ἐκεῖνο θαυμάσονται, καὶ τὸν ἱδρῶτα ὁρῶντες καὶ τὸ ἆσθμα οὐκ ἕξουσιν ὅπως ἀπιστήσουσι μὴ οὐχὶ πάνδεινόν τινα ἐν τοῖς λόγοις ἀγωνιστὴν εἶναί σε. ἄλλως τε καὶ τὸ ταχὺ τοῦτο οὐ σμικρὰν ἔχει τὴν ἀπολογίαν καὶ θαῦμα παρὰ τοῖς πολλοῖς· ὥστε ὅρα μή ποτε γράψῃς ἢ σκεψάμενος παρέλθῃς, ἔλεγχος γὰρ σαφὴς ταῦτά γε. Οἱ φίλοι δὲ πηδάτωσαν ἀεὶ καὶ μισθὸν τῶν δείπνων ἀποτινέτωσαν, εἴ ποτε αἴσθοιντό σε καταπεσούμενον, χεῖρα ὀρέγοντες καὶ παρέχοντες εὑρεῖν τὸ λεχθησόμενον ἐν τοῖς μεταξὺ τῶν ἐπαίνων διαλείμμασιν· καὶ γὰρ αὖ καὶ τοῦδε μελέτω σοι τὸν χορὸν ἔχειν οἰκεῖον καὶ συνᾴδοντα. Ταῦτα μέν σοι τὰ ἐν τοῖς λόγοις. μετὰ ταῦτα δὲ προϊόντα σε δορυφορείτωσαν ἐγκεκαλυμμένον αὐτὸν καὶ περὶ ὧν ἔφης μεταξὺ διαλαμβάνοντα. καὶ ἤν τις ἐντύχῃ, θαυμάσια περὶ σαυτοῦ λέγε καὶ ὑπερεπαίνει καὶ ἐπαχθὴς γίγνου αὐτῷ. »Τί γὰρ ὁ Παιανιεὺς πρὸς ἐμέ;« καί »Πρὸς ἕνα ἴσως μοι τῶν παλαιῶν ὁ ἀγών«, καὶ τὰ τοιαῦτα. Ὃ δὲ μέγιστον καὶ πρὸς τὸ εὐδοκιμεῖν ἀναγκαιότατον ὀλίγου δεῖν παρέλιπον, ἁπάντων καταγέλα τῶν λεγόντων. καὶ ἢν μέν τις καλῶς εἴπῃ, ἀλλότρια καὶ οὐχ ἑαυτοῦ δεικνύειν δοκείτω· ἢν δὲ μετρίως ἐλεγχθῇ, πάντα ἔστω ἐπιλήψιμα. καὶ ἐν ταῖς ἀκροάσεσι μετὰ πάντας εἰσιέναι χρή, ἐπίσημον γάρ· καὶ σιωπησάντων ἁπάντων ξένον τινὰ ἔπαινον ἐπειπεῖν τὰς ἀκοὰς τῶν παρόντων ἐπιστρέψοντα καὶ ἐνοχλήσοντα, ὡς ναυτιᾶν ἅπαντας ἐπὶ τῷ φορτικῷ τῶν ὀνομάτων καὶ ἐπιφράττεσθαι τὰ ὦτα. καὶ ἐπισείσῃς δὲ μὴ πολλάκις τὴν χεῖρα, εὐτελὲς γάρ, μηδ’ ἀναστῇς, πλὴν ἅπαξ γε ἢ δὶς τὸ πλεῖστον. ὑπομειδία δὲ τὰ πολλὰ καὶ δῆλος γίγνου μὴ ἀρεσκόμενος τοῖς λεγομένοις. ἀμφιλαφεῖς δὲ αἱ ἀφορμαὶ τῶν μέμψεων τοῖς συκοφαντικοῖς τὰ ὦτα. Τὰ δ’ ἄλλα χρὴ θαρρεῖν· ἡ τόλμα γὰρ καὶ ἡ ἀναισχυντία καὶ τὸ ψεῦσμα πρόχειρον καὶ ὅρκος ἐπ’ ἄκροις ἀεὶ τοῖς χείλεσι καὶ φθόνος πρὸς ἅπαντας καὶ μῖσος καὶ βλασφημία καὶ διαβολαὶ πιθαναί – ταῦτά σε ἀοίδιμον ἐν βραχεῖ καὶ περίβλεπτον ἀποφανεῖ. Τοιαῦτα μὲν τὰ φανερὰ καὶ τὰ ἔξω. ἰδίᾳ δὲ πάντα πράγματα ποιεῖν σοι δεδόχθω, κυβεύειν μεθύσκεσθαι λαγνεύειν μοιχεύειν, ἢ αὐχεῖν γε, κἂν μὴ ποιῇς, καὶ πρὸς ἅπαντας λέγειν καὶ γραμματεῖα ὑποδεικνύναι ὑπὸ γυναικῶν δῆθεν γραφέντα. καλὸς γὰρ εἶναι θέλε καὶ σοὶ μελέτω ὑπὸ τῶν γυναικῶν σπουδάζεσθαι δοκεῖν· εἰς

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den Anschein machen, dies aus Neid zu tun. Die grosse Menge aber wird dein Äusseres, deine Stimme, deinen Gang, dein Hin- und Herschreiten, den Gesang, das Schuhwerk und jenes ἄττα von dir bewundern, und wenn sie dann noch sehen, wie du schwitzt und keuchst, werden sie nicht umhin können, dich für einen äusserst gewaltigen Wettkämpfer im Reden zu halten. Überdies bewirkt eine solche in hohem Tempo [gehaltene Stegreifrede] jederzeit Verteidigung und Bewunderung bei der Menge. Sieh daher zu, dass du niemals eine Rede aufschreibst oder mit einer vorbereiteten auftrittst, denn das wird dich sicherlich überführen. Deine Freunde sollen ständig aufspringen und so die Kosten für ihre Mahlzeiten bezahlen, indem sie dir, wann immer sie merken, dass du fallen wirst, die Hand entgegen strecken und in den Pausen während ihres Applauses Zeit verschaffen, das zu finden, was als nächstes gesagt werden soll. Denn auch dafür musst du unbedingt Sorge tragen, dass du einen Chor hast, der mit dir vertraut ist und gut mit dir zusammensingt. Soweit einmal was deine Rede angeht; danach aber sollen sie dich auf dem Heimweg wie eine Leibwache begleiten, wobei du selbst von ihnen umringt alles, was du vorgetragen hast, beim Gehen nochmals erörterst. Und wenn dir jemand begegnet, verkündige Wunderdinge über dich, lobe dich übermässig und werde ihm lästig: »Was ist denn der Paianier im Vergleich zu mir?« und »Vielleicht kann es einer der Alten mit mir aufnehmen«, und solcherlei. Das Wichtigste und Notwendigste für deinen Ruhm hätte ich beinahe vergessen: Lache alle anderen Redner aus. Und wenn einer gut gesprochen hat, verbreite das Gerücht, dass er Fremdes, was nicht von ihm stammt, vortrage. Wenn aber einer massvoll kritisiert wird, dann lass kein gutes Haar an ihm. Ferner musst du bei den Vorlesungen nach allen anderen hineingehen, denn das fällt auf. Und wenn alle schweigen, rufe du irgendein abwegiges Lob dazwischen, um die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf dich zu lenken und ihnen lästig zu fallen, so dass alle Ekel empfinden über die Derbheit deiner Worte und sich die Ohren zuhalten. Und schüttle weder zu häufig die Hand, denn das ist billig, noch stehe auf, ausser ein- oder höchstens zweimal. [Mache es dir zur Gewohnheit,] immer ein leises Lächeln auf den Lippen zu haben und zeige klar, dass dir das Gesagte nicht gefällt. Für sykophantische Ohren gibt es reichlich Gelegenheit zur Kritik. Im Übrigen sei nur zuversichtlich: Denn die Tollkühnheit, die Unverschämtheit, promptes Lügen, immer ein Schwur zuvorderst auf den Lippen, Neid gegenüber allen, Hass, Beschimpfung und glaubwürdige Verleumdungen – das wird dich in Kürze zu einem berühmten und hochangesehenen Mann machen. All dies betrifft dein Leben in der Öffentlichkeit. Im Privaten jedoch sei zu allem enschlossen: Glücksspiel zu treiben, zu saufen, zu huren, Ehe zu brechen, oder dich wenigstens all dessen zu rühmen, auch wenn du es nicht tust, und allen davon zu erzählen und Brieflein vorzuzeigen, von Frauen geschriebene, versteht sich! Du musst ein Schönling sein wollen und dich darum kümmern, dass du den Anschein erweckst, von den Frauen umschwärmt zu wer-

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τὴν ῥητορικὴν γὰρ καὶ τοῦτο ἀνοίσουσιν οἱ πολλοί, ὡς διὰ τοῦτο σοὶ καὶ ἄχρι τῆς γυναικωνίτιδος εὐδοκιμοῦντι. καὶ τὸ δεῖνα δέ, μὴ αἰδεσθῇς, εἰ καὶ πρὸς ἀνδρῶν ἐπὶ τῷ ἑτέρῳ ἐρᾶσθαι δοκοίης, καὶ ταῦτα γενειήτης ἢ καὶ νὴ Δία φαλακρὸς ἤδη ὤν. ἀλλ’ ἔστωσαν οἱ καὶ ἐπὶ τούτῳ συνόντες· ἢν δὲ μὴ ὦσιν, οἱ οἰκέται ἱκανοί. πολλὰ γὰρ καὶ ἐκ τοῦ τοιούτου πρὸς τὴν ῥητορικὴν χρήσιμα παραγίγνεται· πλείων ἡ ἀναισχυντία καὶ θράσος. ὁρᾷς ὡς λαλίστεραι αἱ γυναῖκες καὶ λοιδοροῦνται περιττῶς καὶ ὑπὲρ τοὺς ἄνδρας; εἰ δὴ τὰ ὅμοια πάσχοις, καὶ ταύτῃ διοίσεις τῶν ἄλλων. καὶ μὴν καὶ πιττοῦσθαι χρή, μάλιστα μὲν τὰ πάντα, εἰ δὲ μή, πάντως ἐκεῖνα. καὶ αὐτὸ δέ σοι τὸ στόμα πρὸς ἅπαντα ὁμοίως κεχηνέτω, καὶ ἡ γλῶττα ὑπηρετείτω καὶ πρὸς τοὺς λόγους καὶ πρὸς τὰ ἄλλα ὁπόσα ἂν δύνηται. δύναται δὲ οὐ σολοικίζειν μόνον οὐδὲ βαρβαρίζειν οὐδὲ ληρεῖν ἢ ἐπιορκεῖν ἢ λοιδορεῖσθαι ἢ διαβάλλειν καὶ ψεύδεσθαι, ἀλλὰ καὶ νύκτωρ τι ἄλλο ὑποτελεῖν, καὶ μάλιστα ἢν πρὸς οὕτω πολλοὺς τοὺς ἔρωτας μὴ διαρκέσῃς. πάντα αὐτή γε ἐπιστάσθω καὶ γονιμωτέρα γιγνέσθω καὶ μηδὲν ἀποστρεφέσθω. Ἢν ταῦτα, ὦ παῖ, καλῶς ἐκμάθῃς – δύνασαι δέ· οὐδὲν γὰρ ἐν αὐτοῖς βαρύ – θαρρῶν ἐπαγγέλλομαι οὐκ εἰς μακράν σε ἄριστον ῥήτορα καὶ ἡμῖν ὅμοιον ἀποτελεσθήσεσθαι. τὸ μετὰ τοῦτο δὲ οὐκ ἐμὲ χρὴ λέγειν, ὅσα ἐν βραχεῖ παρέσται σοι τὰ ἀγαθὰ παρὰ τῆς Ῥητορικῆς. ὁρᾷς ἐμέ, ὃς πατρὸς μὲν ἀφανοῦς καὶ οὐδὲ καθαρῶς ἐλευθέρου ἐγενόμην ὑπὲρ Ξόϊν καὶ Θμοῦιν δεδουλευκότος, μητρὸς δὲ ἀκεστρίας ἐπ’ ἀμφοδίου τινός. αὐτὸς δὲ τὴν ὥραν οὐ παντάπασιν ἀδόκιμος εἶναι δόξας τὸ μὲν πρῶτον ἐπὶ ψιλῷ τῷ τρέφεσθαι συνῆν τινι κακοδαίμονι καὶ γλίσχρῳ ἐραστῇ. ἐπεὶ δὲ τὴν ὁδὸν ταύτην ῥᾴστην οὖσαν κατεῖδον καὶ διεκπαίσας ἐπὶ τῷ ἄκρῳ ἐγενόμην – ὑπῆρχεν γάρ μοι, ὦ φίλη Ἀδράστεια, πάντα ἐκεῖνα ἃ προεῖπον ἐφόδια, τὸ θράσος, ἡ ἀμαθία, ἡ ἀναισχυντία – πρῶτον μὲν οὐκέτι Ποθεινὸς ὀνομάζομαι, ἀλλ’ ἤδη τοῖς Διὸς καὶ Λήδας παισὶν ὁμώνυμος γεγένημαι. ἔπειτα δὲ γραῒ συνοικήσας τὸ πρῶτον μὲν ἐγαστριζόμην πρὸς αὐτῆς ἐρᾶν προσποιούμενος γυναικὸς ἑβδομηκοντούτιδος τέτταρας ἔτι λοιποὺς ὀδόντας ἐχούσης, χρυσίῳ καὶ τούτους ἐνδεδεμένους. πλὴν ἀλλά γε διὰ τὴν πενίαν ὑφιστάμην τὸν ἆθλον καὶ τὰ ψυχρὰ ἐκεῖνα τὰ ἐκ τῆς σοροῦ φιλήματα ὑπερήδιστά μοι ἐποίει ὁ λιμός. εἶτα ὀλίγου δεῖν κληρονόμος ὧν εἶχεν ἁπάντων κατέστην, εἰ μὴ κατάρατός τις οἰκέτης ἐμήνυσεν ὡς φάρμακον εἴην ἐπ’ αὐτὴν ἐωνημένος.

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den. Denn auch das wird der Grossteil der Leute auf deine Redekunst zurückführen, im Glauben, du seist deswegen sogar bis in die Frauengemächer berühmt. Und noch etwas: Schäme dich nicht, wenn man von dir sagt, du werdest auf der anderen Seite auch von Männern geliebt, und das, obwohl du bereits bärtig bist oder – bei Zeus! – sogar kahlköpfig. Vielmehr soll es welche geben, die genau dazu mit dir zusammen sind. Und wenn nicht, reichen deine Sklaven dafür aus. Denn auch aus solchem Verhalten stellt sich viel Nützliches für die Rhetorik ein: Die Unverschämtheit und Verwegenheit werden grösser. Siehst du, wie die Frauen geschwätziger sind und übermässig lästern, weit mehr als die Männer? Wenn du nun dasselbe [wie die Frauen] mit dir machen lässt, wirst du die andern auch in diesem Bereich übertreffen. Und natürlich musst du dich auch enthaaren, am besten den ganzen Körper, sonst aber sicher jene bestimmten Teile. Und auch dein Mund selbst stehe für alles gleichermassen offen, deine Zunge diene sowohl zur Rede als auch zu allem anderen, wozu sie nur dienen kann. Sie kann aber nicht nur Solözismen oder Barbarismen von sich geben, nicht nur schwatzen oder Meineide schwören, schmähen oder verleumden und lügen, sondern sie kann auch des Nachts einen anderen Dienst verrichten, vor allem dann, wenn du der grossen Zahl deiner Liebschaften nicht mehr gewachsen bist. Auf alles soll sich deine Zunge verstehen, immer potenter werden und sich vor nichts abwenden. Wenn du dies, mein Junge, gründlich lernst – und du kannst das, denn es ist nichts Schwieriges dabei –, dann verspreche ich dir voller Zuversicht, dass du schon bald zum besten Redner, ein Ebenbild von mir, gemacht werden wirst. Im Bezug auf das, was danach kommt, brauche ich dir nicht darzulegen, wieviele Vorteile dir in Kürze von der Rhetorik her zukommen werden. Du siehst ja mich, der ich von einem unbedeutenden und nicht einmal absolut freigeborenen Vater abstamme, da er Sklave war jenseits von Xois und Thmuis, und von einer Mutter, die Näherin war in irgendeinem kleinen Quartier. Ich selbst aber, in meiner Jugendblüte scheinbar nicht ganz unakzeptabel, war zuerst um des blossen Überlebens willen mit einem armseligen und geizigen Liebhaber zusammen. Nachdem ich aber diesen Weg, der so absolut leicht ist, entdeckt hatte und mich durchgeschlagen hatte bis auf den Gipfel – denn ich verfügte, meine liebe Adrasteia, über all jenen Proviant, den ich vorher nannte: Verwegenheit, Unbildung, Unverschämtheit –, heisse ich erstens nicht mehr Potheinos, sondern bin sogar ein Namensvetter von Zeus’ und Ledas Kindern geworden. Sodann lebte ich mit einer Alten zusammen und schlug mir zuerst auf ihre Kosten den Bauch voll, indem ich vorgab, sie zu begehren, eine siebzigjährige Frau, die nur noch vier Zähne hatte, und auch diese mit Gold eingefasst. Trotzdem unterzog ich mich aus Armut dieser Tortur, und jene kalten Küsse aus dem Sarg machte mir der Hunger mehr als süss. Anschliessend wäre ich beinahe Erbe ihres gesamten Vermögens geworden, hätte nicht irgendein verfluchter Sklave verraten, dass ich Gift gekauft hatte, um es an ihr [anzuwenden].

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4. Text und Übersetzung Ἐξωσθεὶς δὲ ἐπὶ κεφαλὴν ὅμως οὐδὲ τότε ἠπόρησα τῶν ἀναγκαίων, ἀλλὰ καὶ ῥήτωρ δοκῶ κἀν ταῖς δίκαις ἐξετάζομαι προδιδοὺς τὰ πολλὰ καὶ τοὺς δικαστὰς τοῖς ἀνοήτοις καθυπισχνούμενος, καὶ ἡττῶμαι μὲν τὰ πλεῖστα, οἱ φοίνικες δὲ ἐπὶ τῇ θύρᾳ χλωροὶ καὶ ἐστεφανωμένοι· τούτοις γὰρ ἐπὶ τοὺς δυστυχεῖς χρῶμαι τοῖς δελέασιν. ἀλλὰ καὶ τὸ μισεῖσθαι πρὸς ἁπάντων καὶ ἐπίσημον εἶναί με ἐπὶ τῇ μοχθηρίᾳ τοῦ τρόπου καὶ πολὺ πρότερον τῶν λόγων καὶ τὸ δείκνυσθαι τῷ δακτύλῳ τοῦτον ἐκεῖνον τὸν ἀκρότατον ἐν πάσῃ κακίᾳ λεγόμενον, οὐ μικρὸν ἐμοί γε δοκεῖ. Ταῦτά σοι παραινῶ, νὴ τὴν πάνδημον, πολὺ πρότερον ἐμαυτῷ παραινέσας καὶ χάριν ἐμαυτῷ οὐ μικρὰν ἐπιστάμενος.« Εἶεν· ὁ μὲν γεννάδας εἰπὼν ταῦτα πεπαύσεται· σὺ δὲ ἢν πεισθῇς τοῖς εἰρημένοις, καὶ δὴ παρεῖναι νόμιζε οἷπερ ἐξ ἀρχῆς ἐπόθεις ἐλθεῖν, καὶ οὐδέν σε κωλύσει ἑπόμενον τῷ νόμῳ ἔν τε τοῖς δικαστηρίοις κρατεῖν καὶ ἐν τοῖς πλήθεσιν εὐδοκιμεῖν καὶ ἐπέραστον εἶναι καὶ γαμεῖν οὐ γραῦν τινα τῶν κωμικῶν, καθάπερ ὁ νομοθέτης καὶ διδάσκαλος, ἀλλὰ καλλίστην γυναῖκα τὴν Ῥητορικήν, ὡς τὸ τοῦ Πλάτωνος ἐκεῖνο »πτηνὸν ἅρμα ἐλαύνοντα« φέρεσθαι σοὶ μᾶλλον πρέπειν περὶ σεαυτοῦ εἰπεῖν ἢ ἐκείνῳ περὶ τοῦ Διός· ἐγὼ δὲ – ἀγεννὴς γὰρ καὶ δειλός εἰμι – ἐκστήσομαι ὑμῖν τῆς ὁδοῦ καὶ παύσομαι τῇ Ῥητορικῇ ἐπιπολάζων, ἀσύμβολος ὢν πρὸς αὐτὴν τὰ ὑμέτερα· μᾶλλον δὲ ἤδη πέπαυμαι, ὥστε ἀκονιτὶ ἀνακηρύττεσθε καὶ θαυμάζεσθε, μόνον τοῦτο μεμνημένοι, ὅτι μὴ τῷ τάχει ἡμῶν κεκρατήκατε ὠκύτεροι φανέντες, ἀλλὰ τῷ ῥᾴστην καὶ πρανῆ τραπέσθαι τὴν ὁδόν.

Abweichungen des vorliegenden Textes von der Ausgabe Macleods: Stelle

Text Macleod

vorliegender Text

§3 §5 §8 §10 §17

ἔκπνους ὁπόσοι (β) ἐπελάσαντας (β) ὃ οὖν ποιήσας (β) τέως ἐδόκει χρήσιμα (β) τὸν ὀρχηστὴν δὲ »χειρόσοφον« (corr. recc.) ἐπίπαστα ὀλίγα ἐκεῖνα ὀνόματα (β) μεταστρέφων τὴν πυγήν (corr. Borthwick)

ἐκείνους ὁπόσοι (γ; = Harmon) περάσαντας (Bekker; Harmon: περάσαντα) ὡς οὖν ποιήσας (γ; = Harmon) ἴσως ἐδόκει χρήσιμα (γ; = Harmon) τὸν ὀρχηστὴν δὲ »χειρίσοφον« (γβ; = Harmon)

§18 §19

ἐπὶ πᾶσι τὰ ὀλίγα ἐκεῖνα ὀνόματα (γ; = Harmon) μεταφέρων τὴν πυγήν (codd.; = Harmon)

4. Text und Übersetzung

169

Kopfvoran hinausgeworfen war ich trotzdem auch dann um meinen Lebensunterhalt nicht verlegen, im Gegenteil, ich gelte als Redner und agiere als solcher vor Gericht, wobei ich [meine Klienten] meist betrüge und den Unwissenden verspreche, die Richter [auf unsere Seite zu bringen]. Und ich unterliege zwar meist, doch die Palmzweige an meiner Tür sind grün und mit Kränzen umwunden. Diese gebrauche ich nämlich als Köder für die armen Kerle. Aber auch dass ich von allen gehasst werde und berüchtigt bin für die Schlechtigkeit meines Charakters und vielmehr noch meiner Reden, dass man mit dem Finger auf mich zeigt – »Das ist jener, von dem man sagt, er übertreffe alle an jeglichen Schandtaten!« – scheint mir keine kleine Errungenschaft zu sein. Dies rate ich dir – bei Aphrodite Pandemos! – und habe es vor langer Zeit mir selbst geraten, wofür ich mir sehr dankbar bin.« Nun denn, unser Gentleman wird mit diesen Worten zum Ende gekommen sein. Du aber, wenn du dem Gesagten Folge leistest, glaube nur, dass du so gut wie schon dahin gelangt bist, wohin du von Anfang an zu gehen begehrtest, und nichts wird dich, wenn du dem Gesetz folgst, davon abhalten, vor Gericht zu gewinnen, von der Menge bewundert zu werden, begehrt zu sein und zu heiraten, und zwar nicht eine Alte aus der Komödie, wie dein Gesetzgeber und Lehrer, sondern die schönste Frau, die Redekunst, so dass es eher dir ansteht, über dich selbst zu sagen, auf jenem berühmten geflügelten Wagen Platons rasch dahinzufliegen, als jenem (Platon), [dies] über Zeus [zu sagen]. Ich aber – denn niedrig und feige bin ich – werde für euch den Weg räumen und meine Beschäftigung mit der Rhetorik beenden, weil ich ihr nichts von euren [Spezialitäten] bieten kann. Oder vielmehr habe ich bereits aufgehört, so dass ihr kampflos als Sieger ausgerufen und bewundert werdet; doch behaltet nur das eine in Erinnerung, dass ihr uns nicht wegen der Geschwindigkeit besiegt habt, indem ihr euch als schneller erwiesen habt, sondern wegen der Wahl des raschesten und abwärts führenden Weges.

5. Kommentar

ΡΗΤΟΡΩΝ ΔΙΔΑΣΚΑΛΟΣ Der Werktitel »Der Rednerlehrer« wirft zwei Fragen auf, einerseits, auf welche Figur des Textes er sich bezieht, andererseits, ob dahinter eine historische Figur steckt. Zum ersten Punkt ist zu sagen, dass ein Rezipient vorerst grundsätzlich den ersten Sprecher des Textes (der im vorliegenden Kommentar ›Ratgeber‹ genannt wird) mit dem Lehrer identifizieren dürfte. Erst in §26, wo der erste Sprecher mit dem Wort διδάσκαλος auf den von ihm als weiteren Sprecher eingeführten ›Rednerlehrer‹ verweist, zeigt sich, dass der Werktitel eigentlich auf diese zweite Figur abzielt.480 Da allerdings der Begriff διδάσκαλος auch einen »Inszenierer« bezeichnen kann, jemanden, welcher tragische und komische Aufführungen einstudiert, Chöre und Schauspieler anleitet, bleibt er letztlich in seinem Bezug – in dieser Bedeutung wiederum stärker auf die erste Figur, den ›Ratgeber‹ verweisend – ambivalent, eine Ambivalenz, die insofern unproblematisch ist, als die beiden Figuren miteinander verschmelzen, ja der Auftritt des Rednerlehrers als Prosopopoiie gedeutet werden kann.481 Die Frage nach dem eventuellen historischen Angriffsziel der Schrift und damit nach der Identität des Rednerlehrers findet bereits in den Scholien eine mögliche Antwort (p. 174–5 Rabe): Τινές φασιν ὡς εἰς Πολυδεύκη τὸν ὀνοματολόγον ἀποτεινόμενον Λουκιανὸν τοῦτον γράψαι τὸν λόγον τέχνην μὲν οὐδ’ ἥντινα λόγων παραδιδόντα, σωρὸν δὲ λέξεων ἀδιάκριτον ὑφιστάντα. καὶ ἴσως οὐκ ἀπὸ σκοποῦ ταῦτα τοῖς φήσασιν εἴρηται, ἐπεὶ καὶ σύγχρονοι ἄμφω, Λουκιανὸς καὶ Πολυδεύκης· ἐπὶ γὰρ Μάρκου τοῦ αὐτοκράτορος (VMSΩ) / ὁ γὰρ Πολυδεύκης ἐπαγωγότερος ἦν τοῦ αὐχμηροῦ καὶ κατακόρου διαναπαύων τὸν λόγον· ἐχρῆτο γὰρ διηγήμασιν, οὐ μέντοι καὶ τέχνην παρεδίδου λόγου, ὅπως ἡ διήγησις διαχέῃ τὴν αἴσθησιν καὶ τὸ τῶν λέξεων καινότερον, ὡς ἐν ταύταις μόναις τοῦ παντὸς ἔργου κειμένου τοῖς λόγοις (Vat. 86).482 480

Siehe dazu bereits die Einleitung 1.1, S. 12. Siehe dazu bereits die Einleitung 1.8, S. 82f. 482 »Einige sagen, dass Lukian auf den Lexikographen Pollux abzielend diese Schrift verfasst habe, der keine echte Rhetoriktheorie weitergegeben, sondern einen unkritischen Haufen von Lexemen aufgestellt habe. Und vielleicht ist dies keine ziellose Behauptung von denjenigen, die es sagen, da ja die beiden, Lukian und Pollux, Zeitgenossen waren; und zwar zur Zeit des Kaisers Markus.« Gemeint ist damit Marc Aurel, welcher von 161–169 n.Chr. gemeinsam mit Lucius Verus und nach dessen Tod bis 180 n.Chr. allein regierte; die Lebenszeit des Pollux wird in der 481

§1: Einleitung (Proömium)

171

Die Vermutung, dass der Sophist Pollux aus Naukratis Ziel der vorliegenden Satire gewesen sein könnte, steht in einem weiteren Zusammenhang mit einer Passage in Rh. Pr. 24, wo der Rednerlehrer über seine ägyptische Herkunft und seinen Namen spricht: Er heisse nun nicht mehr ›Potheinos‹, sondern sei zu einem Namensvetter von Zeus’ und Ledas Kindern geworden (τοῖς Διὸς καὶ Λήδας παισὶν ὁμώνυμος γεγένημαι). Die Scholiasten (p. 180 Rabe) erklären auch an dieser Stelle, dass, wenn man die Söhne von Zeus und Leda mit Kastor und Pollux identifiziere,483 wohl nur der Sophist Pollux aus Naukratis gemeint sein könne.484 Dies ist in der Forschung jedoch höchst umstritten; nur schon die Formulierung im Plural (παισὶν ὁμώνυμος) würde zumindest eher an einen Namen wie Διοσκο(υ)ρίδης o.ä. denken lassen. Das Herkunftsland ist für eine Identifikation mit Pollux ebenfalls nicht ausschlaggebend, da weitere Sophisten (Apollonios, Proklos, Ptolemaios) aus Ägypten, und zwar allesamt aus Naukratis, stammten.485 Wäre Pollux tatsächlich das Angriffsziel, so hätte Lukian pikanterweise dessen philologische Tätigkeit, die sich im lexikographischen Werk Onomastikon niedergeschlagen hat, missachtet bzw. in der Darstellung des unwissenden Modesophisten pervertiert.486 Von den Befürwortern einer Identifikation mit Pollux wird angeführt, dass Lukian den Rednerlehrer mit einigen Zügen ausstattet, die von Philostrat in Bezug auf diesen Sophisten betont werden, einerseits die honigsüsse Stimme (μελιχρᾷ τῇ φωνῇ, VS 593; vgl. Rh. Pr. 11), andererseits die zweifelhafte Bildung (οὐκ οἶδα, εἴτε ἀπαίδευτον δεῖ καλεῖν εἴτε πεπαιδευμένον, VS 592). Die Frage der Identifikation mit Pollux muss letztlich offen gelassen werden;487 Diskussionen finden sich bei Baldwin [1973] 34–36; Hall [1981] 39–41 und 273–278; Jones [1986] 107f. zweiten Hälfte des 2. Jhdts. angesetzt, diejenige Lukians etwas früher, siehe Nesselrath [2001a] 12–15. / »Pollux nämlich kümmerte sich mehr um das Trockene und Übertriebene und liess die Rede links liegen. Denn er verwendete Erzählungen (διηγήματα), fügte aber der Rede keinerlei Kunst bei, damit die Erzählung Sinn und Neuheit der Lexeme vermenge, als ob allein in diesen [Lexemen] die einzige Anforderung für die Rhetorik liege.« 483 Vgl. zur Abkunft der Dioskuren von Zeus und Leda h. Hom. 17,1–3 und 33,1–2. 484 Λήδας* κτλ.] ἐντεῦθεν ἀναντίρρητον ἤδ⌞η⌟, ὡς Πολυδεύκη διασύρει ὁ π⌞αρὼν⌟ λόγος, εἴ γε Κάστορος ἀδελφὸς Π⌞ο⌟λυδεύκης ὁ Λήδας, ᾧ οὗτος ὁμώνυμος ὁ διασυρόμενος ῥητόρων διδάσκαλος. 485 Vgl. Philostrat VS 592–593 (Pollux), 599–600 (Apollonios), 602–604 (Proklos), 595–596 (Ptolemaios). 486 Hall ([1981] 277) führt dazu aber die Bemerkung Philostrats an, dass Pollux trotz seiner lexikographischen Tätigkeit in seinen Auftritten kein besserer Attizist als jeder andere gewesen sei (VS 592). Siehe zu Erklärungsversuchen, worin die Kritik Lukians an Pollux bestanden hat, auch den Scholienkommentar zum Werktitel oben. 487 Sie ist nicht zu beweisen; trotzdem findet sich eine entsprechende Bemerkung in DNP 6 s.v. I[ulius] Pollux, Sp. 52: »[...] auch Lukianos machte sich über ihn lustig, v.a. in Rhetorum praeceptor 24.«

172

5. Kommentar (§§1–4)

Alternative Deutungsansätze der verschleierten Namensangabe werden im Kommentar zu §24: τοῖς Διὸς καὶ Λήδας παισὶν ὁμώνυμος diskutiert.

§§1–4: Einleitung (Proömium [§§1–2]; Prothesis/Dihegesis I [§§3–4]) Zu Form und Inhalt des Beginns der Schrift vgl. die Einleitung 1.1–1.3 über die Elemente der epistula und die für das Verständnis der einleitenden Kapitel und für deren satirisches Potenzial wichtigen Reminiszenzen an platonische Dialoge. Auf die platonischen Anklänge wird deshalb auch im folgenden Kommentar besonderer Wert gelegt. Der Ratgeber gibt mit seinen Eingangsworten die Thematik der Darlegung an, wie es in einem Proömium gängig ist, und bereitet in §§3–4 durch eine erste Gegenüberstellung des langen und des kurzen Weges zur Rhetorik und durch eine erste persönliche Stellungnahme das Terrain, um nach einem kurzen Exkurs (§5) mit der ausführlichen Beschreibung der Rednerausbildung fortzufahren (ab §6). §1 ἐρωτᾷς, ὦ μειράκιον Obwohl in dieser Zusammenfügung bei Platon nicht belegt, sind doch die einzelnen Elemente dieses – auch an eine epistula erinnernden – Einstiegs bei ihm häufig vertreten: Immer wieder wird zwischen den Gesprächspartnern auf Fragen des einen an den anderen Bezug genommen; so z.B. Sokrates in Cra. 406b: μεγάλα, ὦ παῖ Ἱππονίκου, ἐρωτᾷς. Genauso passt in den sokratisch-philosophischen Rahmen die Nennung eines μειράκιον, sind es doch oft jüngere Männer, die bei Sokrates als ihrem Lehrer Auskünfte suchen oder aber mit in eine die Diskussion verfolgende Gruppe gehören (z.B. Laches, Charmides, Alkibiades I, Euthydemos). Zur Einleitung eines Briefes, der auf eine bestimmte Frage oder Bitte hin abgefasst worden ist, vgl. Epikur Ep. ad Pythocl. 84: ἐδέου τε σεαυτῷ περὶ τῶν μετεώρων σύντομον καὶ εὐπερίγραφον διαλογισμὸν ἀποστεῖλαι, ἵνα ῥᾳδίως μνημονεύῃς [...] sowie Seneca Ep. mor. 1,7,1: Quid tibi vitandum praecipue existimem quaeris und 1,9,1: An merito reprehendat in quadam epistula Epicurus eos, qui [...], desideras scire. ῥήτωρ [...] σοφιστὴς Die beiden hier verwendeten Begriffe »Redner« und »Sophist« sind in ihrer Differenzierung viel diskutiert worden (vgl. zusammenfassend mit weiterführenden Literaturangaben Schmitz [1997] 12 Anm. 11, Rothe [1989] 11f.

§1: Einleitung (Proömium)

173

und die informative Kurzdiskussion bei Whitmarsh [2005] 15–19). Grundsätzlich zeigt der Grossteil der Untersuchungen auf, dass eine eindeutige Unterscheidung in ihrer Verwendung im Sprachgebrauch des 2. Jh.s n.Chr. nicht möglich ist (wofür auch die hier vorliegende Stelle – zumindest teilweise, s.u. – spricht; man vergleiche weiter die parallele Verwendung beider Bezeichnungen für eine einzige Person z.B. in IEph 3047). Wichtig ist, dass der Terminus »Sophist« in der Kaiserzeit keinesfalls negativ konnotiert sein muss (s.u. zu Platon); schlagender Beweis hierfür ist die Verwendung des Begriffs in Ehreninschriften488 sowie Philostrats489 Verwendung desselben in VS. Allerdings kann auch in der Kaiserzeit ein Philosoph oder Redner seine Gegner durchaus negativ als »Sophisten« bezeichnen (Dion von Prusa, Aristeides, letzterer wohl infolge platonischen Einflusses).490 Will man dennoch Tendenzen festmachen, so scheint bei Philostrat »Redner« vor allem für einen in Politik und am Gericht Tätigen zu stehen, während »Sophist« den brillanten Schauredner und Deklamator bezeichnet, der zudem als Lehrer wirkt (vgl. Jones [1986] 12; dies bietet auch eine Erklärung für die Absenz des Demosthenes in Philostrats VS). Je nach Autor sind also leichte Bedeutungsunterschiede möglich. Lukian formuliert den Wunsch des jungen Mannes so, dass dieser zuerst die allgemeine Begrifflichkeit ῥήτωρ verwendet, sie aber gleich weiter präzisiert, indem er klarmacht, dass er nicht nur Gerichtsredner o.ä. werden will, sondern Beruf und damit verbundene Ehre und Berühmtheit eines σοφιστής anstrebt (zur Ironie des Beginns siehe das nächste Lemma). In den Augen des μειράκιον verkörpert der Sophist eine spezielle und besonders hochgestellte Sorte von ῥήτορες. Der Ratgeber verwendet allerdings ῥήτωρ durchaus im präzisen Sinn von »Sophist« (vgl. neben §1 auch §4 und §6). Der Autor Lukian unterscheidet also die beiden Termini nicht bzw. verwendet sie bloss je nach Blickwinkel seiner Figuren distinkt (im Sinn von Ober- und Untergattungen) oder synonym. Zudem sind, wo immer in seinen weiteren Schriften ῥήτορες karikiert werden, damit »Showredner« gemeint. Dies passt gut in den Rahmen der Begriffsverwendung durch zahl488

Vgl. Schmitz [1997] 15 mit Belegen: IEph 826; 984; 1548. Zur Verwirrung um die mindestens drei Autoren mit dem Namen Philostrat und ihren Werken siehe Anderson [1986] 3–7 und 291–96, Rothe [1989] 1–5, Bowersock [1969] 2–4 und noch immer grundlegend Muenscher [1907]. Der grösste Teil der in vorliegendem Kommentar zitierten Textzeugnisse stammt von Flavius Philostratus, dem Verfasser von VS und VA, der in der Suda Philostrat II. genannt ist (s.v. Φιλόστρατος [Einträge 421–423]). Oft werden demselben Philostrat auch die Werke De gymnastica, Imagines (2 Bücher) und Heroicus zugeschrieben, was aber weiterhin höchst umstritten bleibt; ich verwende mangels klarer Unterscheidungsmöglichkeiten zur Angabe von deren Verfasser ebenfalls die allgemeine Angabe Philostrat (Philostr.). 490 Vgl. z.B. Dion Or. 4,28; 6,21; 8,9; Aristeid. Or. 33,29; 34,47; 50,95; 51,39 (Belege diskutiert bei Festugière [1969] 148); vgl. allgemein zur Unterscheidung Philosoph/Redner/Sophist bei verschiedenen Autoren der Zweiten Sophistik Jones in Bowersock [1974] 12–14. 489

174

5. Kommentar (§§1–4)

reiche andere Autoren der Zweiten Sophistik: σοφιστής und ῥήτωρ können beide gleichermassen den Showredner im Philostrat’schen Sinn bezeichnen. Denn wie aus dem weiteren Inhalt von Rh. Pr. klar wird, handelt es sich bei der hier verwendeten Bezeichnung σοφιστής um die Art Showredner der Periode der Zweiten Sophistik, welche mit ihren Deklamationen (μελέται) öffentlich auftraten, von Philostrat »Sophisten« genannt und von Bowersock ([1969] 13) als virtuoso rhetor with a big public reputation definiert. Hintergründig rufen diese Termini zu Beginn der Schrift Rh. Pr. die platonischen Dialoge und deren kritische Behandlung der Sophistik auf, vgl. dazu die Einleitung 1.2–1.3. Zum Begriff »Sophist« in klassischer Zeit vgl. grundlegend Kerferd, The sophistic movement, Cambridge 1981 und die informative Kurzdarstellung in Manuwald [1999] zu Plat. Prot. 311e4 (S. 111): »Mit σοφιστής konnte ausgehend von einem ursprünglichen Begriff von σοφία im Sinn von ›Weisheit‹ ohne pejorativen Sinn benannt werden, wer ein Experte auf seinem Gebiet oder ganz allgemein ein weiser Mann ist.« So können Musiker, Dichter etc. Sophisten sein; Herodot bezeichnet die Sieben Weisen und auch Pythagoras so (Hdt. 1,29,1; 4,95,2). Seit Platon nimmt dann aber die pejorative Färbung dieses Begriffs zur Bezeichnung der Wanderlehrer überhand, die gegen Bezahlung Unterricht in verschiedensten Gebieten, v.a. im Bereich der Redetechnik, anbieten. Die Thematik der Bezahlung wird von Lukian aufgegriffen, vgl. Rh. Pr. 9 (allerdings über den Lehrer des langen Weges!): οὐδὲ μισθοὺς ὀλίγους ἀπαιτεῖ (implizit vgl. auch Rh. Pr. 12). Insgesamt bestätigt auch der Scholienkommentar zu vorliegender Stelle die Bedeutungsnuancen bzw. -entwicklung des Begriffs; drei Bedeutungen – »Weiser«, »Rhetoriklehrer« und pejorativ »Wahrheitsschwindler« – werden differenziert (p. 175 Rabe): τὸ τοῦ σοφιστοῦ ὄνομα τριχῶς παρὰ τοῖς παλαιοῖς διανενόηται. πρῶτον σοφὸν καλοῦσιν αὐτὸ τὸ ἀληθὲς καὶ τὸ φρόνιμον καὶ τὸ καλόν· ὅθεν καὶ Πλάτων φιλόσοφον καλεῖ τὸ πρῶτον αἴτιον καὶ ἄνθρωπος ὁ μετιὼν τὴν φιλοσοφίαν ἐκ τούτου παρωνόμασται, καθὰ καὶ αὐτὸς μιμεῖται θεὸν κατὰ τὸ δυνατόν. καὶ πάλιν σοφιστὴν καλοῦσιν αὐτὸν τὸν ῥήτορα τὸν διδάσκοντα ῥητορικοὺς λόγους, περὶ οὗ διεξέρχεται νῦν. σοφιστὴν δὲ καὶ τὸν σοφιζόμενον τὴν ἀλήθειαν. τὸ σεμνότατον τοῦτο καὶ πάντιμον ὄνομα σοφιστὴς εἶναι δόξεις Die wortreiche, in der Satzstellung vorgezogene Apposition zum Begriff σοφιστής, die besonders durch die superlativischen (als Attribute zu ὄνομα gehörigen) Adjektive σεμνότατον und πάντιμον hervorsticht, wirkt durch die gleich von Beginn weg erfolgte Anlehnung an den Duktus platonischer Dialoge höchst ironisch und bildet durch die Unmöglichkeit eines derartigen Lobes der Sophistik vor dem platonischen Hintergrund eine Art Oxy-

§1: Einleitung (Proömium)

175

moron.491 Das wird unterstützt durch die Wahl des Verbalbegriffs (εἶναι δόξεις), da nur der »Ruf« oder der »Anschein« eines solchen Sophisten erzeugt werden kann oder soll. Und genau die Thematik des Scheins ruft den (platonischen) Entlarver auf den Plan, der in Rh. Pr. zwar nicht auftritt, durch den platonischen Subtext jedoch implizit vorhanden ist, und der in anderen lukianischen Schriften, welche Rhetorikspott enthalten, prominent ist (Sol., Pseudol., Lex.). Man vergleiche auch die Anklage gegen die verkleideten Philosophen in Pisc. 31 (Lukian präsentiert sich hier in der Rolle des Parrhesiades): ὁρῶν δὲ πολλοὺς οὐκ ἔρωτι φιλοσοφίας ἐχομένους ἀλλὰ δόξης μόνον τῆς ἀπὸ τοῦ πράγματος ἐφιεμένους, καὶ τὰ μὲν πρόχειρα ταῦτα καὶ δημόσια καὶ ὁπόσα παντὶ μιμήσασθαι ῥᾴδιον εὖ μάλα ἐοικότας ἀγαθοῖς ἀνδράσιν, τὸ γένειον λέγω καὶ τὸ βάδισμα καὶ τὴν ἀναβολήν, [...].492 τὴν δύναμιν [...] ἐν τοῖς λόγοις δύναμις ist ein in der Rhetoriktheorie gängiges Merkmal einer Rede: Einerseits bezeichnet sie deren »Zweck; Bestimmung; Wirkung« (vgl. Anaxim. 1,2,6; 4,2,2 u.ö. sowie Arist. Rh. 1403b21), letztlich immer darin bestehend, Überzeugung zu erreichen (vgl. Arist. Rh. 1355b25 und die Definition in Rhetorica Anonyma Prolegomena in artem rhetoricam = Rhetores Graeci vol. 14, p. 30 Rabe: ῥητορική ἐστι δύναμις τεχνικὴ πιθανοῦ λόγου ἐν πράγματι πολιτικῷ, τέλος ἔχουσα τὸ εὖ λέγειν), andererseits bezeichnet sie die künstlerische Qualität, infolge deren die Rede schliesslich überzeugend wirkt, oft in Kombination mit λόγος/λέγειν und wiedergegeben als »Redevermögen, Redegewalt« (vgl. Anaxim. praef. 2,4: δύναμις λόγων sowie Arist. Rh. 1355b3: δύναμις τῶν λόγων, 1362b22: δύναμις τοῦ λέγειν). Siehe auch Lausberg [31990] §33 und §239. Gleich zu Beginn wird also klar, dass der junge Mann sich nur mit dem allerbesten Resultat zufrieden gibt: Der wortgewaltigste Sophist, dem keiner das Wasser reichen kann (vgl. ἄμαχον) und der von ganz Hellas be491 Bompaire ([1958] 124f.) bemerkt im Zusammenhang mit der Frage nach der eigenen Involviertheit Lukians in die Sophistik, dass dieser erste Satz von Rh. Pr. nicht ironisch aufzufassen, Sophistik also grundsätzlich positiv zu sehen sei und bei Lukian erst dann zu einem ironisch-negativen Begriff werde, wenn er sie auf deren schlechte Vertreter, die sie beschmutzen, anwende (z.B. auf den Rednerlehrer oder den Angegriffenen in Pseudologista). Das ist richtig, allerdings vernachlässigt Bompaire m. E. an dieser Stelle den sokratisch-platonischen Rahmen, in den das Wort »Sophist« eingebettet ist, und der die ›Negativvertreter‹ impliziert. 492 »Als ich sah, dass viele nicht von Liebe zur Philosophie erfasst waren, sondern allein nach dem Ruhm, [der] aus der Sache [hervorgeht], strebten, und dass sie in den offensichtlichen, allgemeinen Merkmalen, die für jeden leicht nachzuahmen sind, ehrenwerten Männern absolut gleich waren – den Bart meine ich und den Gang und das Gewand, [...].« – Vgl. zum lukianischen Phänomen der durch μίμησις der echten Philosophen agierenden Scheinphilosophen auch Whitmarsh [2001] 257–265 (bes. 261–263).

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5. Kommentar (§§1–4)

wundert wird (vgl. θαυμάζεσθαι πρὸς ἁπάντων καὶ ἀποβλέπεσθαι), will er werden. ἄμαχον [...] καὶ ἀνυπόστατον καὶ θαυμάζεσθαι [...] καὶ ἀποβλέπεσθαι Ganz unbescheiden verlangt der junge Mann gleich einen ganzen Katalog von Effekten, die aus seinem Sophistendasein hervorgehen sollen: Ruhm, Ehre und Bewunderung in der gesamten griechischen Welt, basierend auf seinem grossen rhetorischen Können. Diesen Katalog nimmt der Ratgeber auf bzw. führt ihn weiter (vgl. §2: ἔνδοξοι καὶ πλούσιοι καὶ νὴ Δία εὐγενέστατοι), wobei er Reichtum und sozialen Aufstieg als weitere Effekte anführt bzw. dem Schüler dadurch noch weitere Ziele ›unterstellt‹.493 περισπούδαστον ἄκουσμα τοῖς Ἕλλησιν δοκοῦντα Die Junktur περισπούδαστον ἄκουσμα ist nur hier bei Lukian belegt (einzeln sind jedoch beide Begriffe häufig494) und betont das Hörvergnügen, welches so gross und unwiderstehlich ist, dass es das Publikum in Scharen anzieht. Bezeichnet ist die Hörerschaft mit dem Substantiv Ἕλληνες, was den historischen Gegebenheiten insofern nicht entspricht als selbstverständlich – je nach Ort – auch zahlreiche Römer zu den Vorträgen erschienen sind; die Betonung liegt hier allerdings auf griechischsprachigen Zuhörern und auf solchen, die sich mit einem geistig-kulturellen Griechentum identifizieren wollen: In der Verwendung des Wortes »Griechen« für »alle«, »das Publikum« bzw. kurz »die ganze Welt« steckt ein Rückgriff auf die klassische Zeit, auf berühmte Redner wie Demosthenes und Isokrates oder auf Sophisten wie Hippias und Gorgias, man vergleiche Plat. Alc. I 105b495 (Sokrates über Alkibiades: ἐὰν δ’ ἐνθάδε [sc. bei den Athenern] μέγιστος ᾖς, καὶ ἐν τοῖς ἄλλοις Ἕλλησι, καὶ οὐ μόνον ἐν Ἕλλησιν, ἀλλὰ καὶ ἐν τοῖς βαρβάροις [...]) und 124b; zudem Hippias maior 291a (über Hippias: εὐδοκιμοῦντι δὲ ἐπὶ σοφίᾳ ἐν πᾶσι τοῖς Ἕλλησιν); Menon 70a (über die 493 Neben Prestigestreben macht auch Geldgier jeweils einen typischen Zug der Scheinphilosophen und -sophisten bei Lukian aus, vgl. Paras. 52 und Hall [1981] 255. Die Geldgier von Sophisten wird auch bei Philostrat in zwei Episoden über Polemon und in einer über Hadrian behandelt (VS 535, 538, 590), ein Thema, das sich angesichts der hohen Bezahlung und ihrer prunkvollen Auftritte geradezu aufdrängt (vgl. auch Anm. 781). 494 Vgl. e.g. zu περισπούδαστος Chamaeleon fr. 3 (Wehrli, Schule des Aristoteles, vol. 9, p. 49; im Zusammenhang mit Musik): ἔμελεν δὲ τοῖς πάλαι πᾶσιν Ἕλλησι μουσικῆς· διόπερ καὶ ἡ αὐλητικὴ περισπούδαστος ἦν; Luk. Tim. 38 (Plutos zu Timon): ἀοίδιμος δι’ ἐμὲ ἦσθα καὶ περισπούδαστος (vgl. zu ἀοίδιμος Rh. Pr. 22); Peregr. 39. – Zu ἄκουσμα im Sinne des performativen Auftritts vgl. Luk. Salt. 2, 6 und 68; Max. Tyr. Or. 4,6: ὁ μὲν γὰρ φιλόσοφος βαρὺ καὶ πρόσαντες τοῖς πολλοῖς ἄκουσμα [...] ὁ δὲ ποιητὴς ἄκουσμα ἁβρὸν καὶ δήμῳ φίλον. 495 Auf die Ähnlichkeit des settings dieser Schrift mit Rh. Pr. ist bereits hingewiesen worden (vgl. die Einleitung 1.3, S. 37).

§1: Einleitung (Proömium)

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Thessalier: εὐδόκιμοι ἦσαν ἐν τοῖς Ἕλλησιν καὶ ἐθαυμάζοντο); Protagoras 335a; vgl. auch Isoc. Hel. 52; Panathen. passim. Vgl. weiter Lukian Pseudol. 14 (Griechisch als Kommunikationssprache unter Gebildeten); Herodot. 1; Zeux. 2 (καὶ ἐκινδύνευον πιστεύειν αὐτοῖς ἕνα καὶ μόνον ἐν τοῖς Ἕλλησιν εἶναι λέγουσι καὶ τὰ τοιαῦτα). Auch Dion von Prusa (Or. 50,2) bezeichnet seine Zuhörerschaft als Ἕλληνες. Im Wunsch des Schülers, Berühmtheit bei allen Hellenen zu erlangen, wird implizit einer der Zwecke sophistischer Deklamationen verdeutlicht: Durch ihre im Griechenland des 5. und 4. Jh. angesiedelten Themen und die attizistische Sprache verweisen sie auf das klassische Griechentum zurück und bestärken die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Tradition, wobei der Sophist zusammen mit seinem Publikum für die Dauer des Vortrags die Illusion einer Situation aus weit zurückliegender Zeit erzeugt.496 Anzumerken ist auch, dass die Kurzbezeichnung »Griechen« oft für die Sophisten selbst und für ihre Schüler verwendet wird (häufig in Philostrats VS); Griechen bzw. Griechenland werden somit zur Chiffre für Bildung und Gebildete (παιδεία, πεπαιδευμένοι).497 τὰς [...] ὁδοὺς αἵτινές ποτέ εἰσιν Der Schüler fragt nach einer Auswahl von Wegen, die ihn zur Rhetorik führen können. Es wird in dieser ersten Darstellung also weder spezifisch von zwei Wegen noch vom Bedürfnis nach dem leichtesten Weg ausgegangen. Genau wie bei der Nennung finanziellen Gewinns aus dem Sophistenberuf schlägt der Ratgeber auch hier eine eigene Richtung ein, die mindestens so stark zu seiner Selbstinszenierung dient, wie zur Beantwortung der an ihn gerichteten Frage, indem er davon ausgeht, der Schüler wolle auf jeden Fall den kürzesten Weg beschreiten (vgl. §1: τάχιστα und §3 passim). οὐδεὶς φθόνος Exakt dieser Ausdruck »kein Neid« findet sich bereits in Aischylos Pr. 628, er ist weiter sowohl bei Platon (8x) als auch bei Lukian (5x) mehrfach be-

496 Vgl. ausführlich Schmitz [1997] 175–181 und 220–231; weiter Russell [1983] 107f.; Korenjak [2000] 57–61. 497 Vgl. VS 531, 564, 571 und Whitmarsh [2005] 14 (mit weiteren Stellenangaben): »It is not simply in an ethnic sense that these students are Greek: in studying under great intellectuals, they are learning how to become Greeks in the full, cultural meaning of the word.« [Hervorhebung des Autors]. Der Sophist Aristeides nennt sich selbst (Or. 33,32) bzw. lässt sich von anderen (Or. 33,24; 50,87) »erster der Griechen«, πρῶτος/ἄκρος τῶν Ἑλλήνων, nennen, was neben der Gleichsetzung der Sophisten (und ihrer Zuhörer) mit den Griechen auch die Bedeutung im Sinne eines geistig-kulturellen Griechentums zeigt – gerade angesichts der Tatsache, dass Aristeides das römische Bürgerrecht besass. Vgl. auch Dion von Prusa Or. 37,25–27 mit spezieller Betonung der kulturellen, nicht genetischen Basis dieses Griechentums (so Korenjak [2000] 58 Anm. 62).

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5. Kommentar (§§1–4)

legt (z.B. Vit. Auct. 21; Dial. Deor. 22,1, mit der identischen Fortführung καὶ μάλιστα). Hier liegt die elliptische Minimalform ohne Infinitiv oder sonstige Ergänzung vor (»kein Neid«; so auch Plat. Ti. 23d4), während man in Phd. 61d10 oder Sph. 217a9 die Ergänzungen λέγειν (»zu sagen«) oder διελθεῖν (»durchzugehen«) findet. In Phaidon übernimmt Sokrates die Rolle des philosophischen Ratgebers, der »ohne Missgunst«, d.h. bereitwillig, Auskunft geben will, parallel zum Ratgeber des jungen Mannes in Rh. Pr. Allgemein findet sich die Formel meist zu Beginn eines (philosophischen) Gesprächs, wenn ein Gesprächspartner an den anderen eine Frage richtet bzw. etwas erörtert haben möchte und der andere daraufhin seine Bereitschaft erklärt, dies zu tun. Die engsten Parallelen zur hier vorliegenden Stelle sind generell in (populär-)philosophischer bzw. rhetorisch-philosophischer Literatur zu finden, so die bereits angegebenen Stellen bei Platon, weiter auch Keb. 3,1,4 und 33,1,3 (zwei Fremde betrachten im Tempel ein Bild mit der Darstellung des Lebensweges, den so genannten πίναξ, welchen ein alter Mann ihnen bereitwillig erklären will; auf Kebes’ Tabula wird in Rh. Pr. mehrfach angespielt, siehe dazu §6: ὁ Κέβης ἐκεῖνος); Plut. De fato 573c (mit Bezug auf eine viel kommentierte Stelle in Plat. Ti. 29e); Lib. Decl. 10,36,6. Keine inhaltlich parallelen Belege finden sich bei den attischen Rednern. Aufgrund solcher Ausdrücke klingt Rh. Pr. an philosophische Schriften, insbesondere philosophische Dialoge an, wobei der einem solchen Dialog eigene Ernst satirisch unterwandert wird. Man vergleiche auch das sprichwörtlich gewordene Platonzitat (Phdr. 247a): φθόνος [γὰρ] ἔξω θείου χοροῦ ἵσταται (auf den Umkreis der Akademie, den Austauch von Wissen und freundschaftlichen Umgang bezogen, vgl. Philon Quod omnis probus liber sit 13; Plutarch mor. 679e). ὁπότε [...] αἰτοίη Temporalsätze dieser Art, auf die Zukunft weisend oder etwas Allgemeingültiges darstellend, werden normalerweise mit ὁπόταν und prospektivem Konjunktiv konstruiert,498 jedoch kann mit einer leichten Modifikation des Sinnes anstelle des Konjunktivs Optativ stehen, indem die Handlung weniger als erwartet, denn als bloss vorgestellt erscheint (vgl. K.-G. II 1,252f.; bei Lukian scheint allerdings die Trennung zwischen blosser Vorstellung und Erwartung nicht mehr zentral, sondern allgemein die zunehmende Ver-

498 So auch bei Lukian, vgl. z.B. Hist. Conscr. 8: [...] φθόνος οὐδείς· οὐδὲ ὁπόταν ὁ Ζεὺς [...] αἰωρῇ [...].

§1: Einleitung (Proömium)

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breitung des Optativs, vgl. auch Luk. J. Trag. 27499 und den Kommentar zu §6: ὡς γαμήσειάς [...] ἔχοις). Allenfalls wäre in Betracht zu ziehen, dass sich die Aussage auch auf die in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen des Ratgebers bezieht (und daher entsprechend betont: καθάπερ νῦν συ): Bei einem wiederholten Geschehen in der Vergangenheit (HS mit Imperfekt; zu ergänzen wäre: »es gab keinen Neid«) steht der Nebensatz dann regulär im iterativen Optativ (»wann immer mich ein junger Mann um Rat fragte«).500 Mit Blick auf die platonischen Reminiszenzen ist der Satzbeginn ἀλλ’ οὐδεὶς φθόνος sicher vorerst präsentisch (auf die momentane Anfrage bezogen) aufzufassen, erst sekundär kann die Konstruktion auch aus der Vergangenheit heraus verstanden werden. οὐκ εἰδὼς ὅθεν ἂν ταῦτα ἐκπορίσαιτο Wie im Verlauf des Textes noch mehrfach deutlich werden wird, sind Unbescheidenheit und Eigenlob Merkmale des Ratgebers sowie später des von ihm empfohlenen Rednerlehrers (vgl. die einleitenden Bemerkungen zu §§13–14). Aus dem vorliegenden Nebensatz spricht eine gönnerhafte Pose, die impliziert, dass der junge Mann sich an niemanden sonst wenden kann, um seine Ziele zu erreichen, der Ratgeber sich aber um ihn kümmern will, da nur bei ihm die richtige Lehre zu bekommen ist. ἱερόν τι χρῆμα τὴν συμβουλὴν οὖσαν Sprichwörtlich, vgl. Ps.-Plat. Theag. 122b: λέγεταί γε συμβουλὴ ἱερὸν χρῆμα εἶναι und Ep. 5,321c: δίκαιος δ’ εἰμὶ σοὶ ξενικὴν καὶ ἱερὰν συμβουλὴν λεγομένην συμβουλεύειν sowie Menander Sententiae 356 (Jaekel): ἱερὸν ἀληθῶς ἐστι ἡ συμβουλία. Ferner Epicharm PCG 1, fr. 238 und Iambl. VP 85. Informativ (zur wahrscheinlichen Herkunft als pythagoreisches ἄκουσμα) und mit weiteren Stellenangaben versehen sind die Kommentare zu Theages von Joyal [2000] 212 und Bailly [2004] 131–134. Zwei inhaltliche Deutungen dieses Sprichworts sind besonders aufschlussreich: Die Scholien zu Theages einerseits erklären, dass ein Ratschlag heilig genannt werde, weil er ohne Berücksichtigung eigener Interessen, also selbstlos, einem Ratsuchenden ehrlich und so gut wie möglich erteilt werden solle; genau wie Heiliges generell ein Gemeingut sei, so sei es auch ein Ratschlag, auf den jeder Mensch Anspruch habe. Die Verwendung des Sprichwortes in Ps.499 Bompaire [2003] 49 Anm. 96 vermerkt zur Stelle: »L’optatif de répétition après un temps principal est attesté chez Lucien.« 500 Weitere Beispiele bei Lukian mit eindeutigem Bezug zur Vergangenheit: Demon. 67; Symp. 19; Zeux. 2; Somn. 6 (οἷος ἦν ὁ θεῖος ὁπότε ξέοι τοὺς λίθους).

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5. Kommentar (§§1–4)

Plat. Ep. 5,321c bedeutet andererseits, dass ein Ratschlag ähnlich wie die ξενία, die Gastfreundschaft, aufgrund seines Schutzes durch die Götter heilig ist. Wenn nun der Ratgeber dieses Sprichwort aufgreift, unterstreicht er damit erstens seine freundschaftliche Haltung dem jungen Mann gegenüber, zweitens aber auch gleich die Haltung gegenüber sich selbst, da er seiner Person besondere Wichtigkeit beimisst. Drittens, und das halte ich für zentral, dürfte Theages als Kontrasttext eine tragende Rolle spielen: Einmal mehr ist das setting ähnlich, denn Sokrates, der um einen Rat für die Ausbildung eines jungen Mannes, der sich unbedingt in die Hände der Sophisten begeben will, gefragt wird, antwortet, dass er selbstverständlich helfen werde, da jeder Ratschlag heilig sei, derjenige im vorliegenden Fall aber ganz besonders, da es um παιδεία gehe.501 Die angesprochene Bildung steht – als Weisheit und Philosophie – in Kontrast zu der im vorliegenden Text lächerlich gemachten bzw. als unnötig erachteten (rhetorischen) Bildung, so dass der Ratgeber (als ›falscher Sokrates‹) dieses (sokratische) Sprichwort in unangemessener Weise verwendet, wodurch er es parodiert. Diese Verzerrung des Sprichworts wirft wiederum ein schiefes Licht auf den Sprecher selbst.502 Natürlich erweist auch die konkrete inhaltliche Darlegung des Ratschlages im Laufe von Rh. Pr., v.a. die Ausführungen des Rednerlehrers, das ἱερόν χρῆμα im Nachhinein als höchst ironisch. In ebenfalls ironischer Verwendung gebraucht Lukian das Sprichwort nochmals in Adv. Ind. 25.503 τάχιστα Der Beruf der Sophisten ist im 2. Jh. n.Chr. mit sehr hohen Bildungsanforderungen verbunden, so dass die Aussage des Ratgebers über die rasche Ausbildungsmöglichkeit absolut unkonventionell ist.504 Interessant ist ein Vergleich von Rh. Pr. mit Platons Sophista, wo sich immer wieder Parallelen, gerade zur Profession und zur Ausbildung von Rednern, finden lassen. So wird der Sophist aufgrund der Tatsache, dass er andere in allem streitbar macht, in 233c–234a als Alles- bzw. Scheinwisser definiert (weil alles zu wissen für Menschen unmöglich ist), der noch dazu anderen dieses Scheinwissen in kurzer Zeit, ὀλίγῳ χρόνῳ (234a), vermit501

εἴπερ οὖν καὶ ἄλλη ἡτισοῦν ἐστιν ἱερά, καὶ αὕτη ἂν εἴη περὶ ἧς σὺ νῦν συμβουλεύει· οὐ γὰρ ἔστι περὶ ὅτου θειοτέρου ἂν ἄνθρωπος βουλεύσαιτο ἢ περὶ παιδείας [...]. 502 Der Ratgeber bedient sich auch an anderen Orten ›sokratischer‹ Sprache, gerade was Religions- und Mysterienterminologie angeht (vgl. Rh. Pr. 14). Vgl. auch Joyal [2000] 212f.: »Socrates’ use of religious language in connection with the topic of education [...] is not at all out of character; elsewhere he speaks of instruction – philosophy in particular – as initiation into mysteries [...].« 503 Allgemein zur Verwendung von Sprichwörtern bei Lukian vgl. Bompaire [1958] 405–424 (zu weiteren platonischen Sprichwörtern 411 Anm. 5). 504 Vgl. ausführlicher dazu den Kommentar zu §§9–10 und §17.

§1: Einleitung (Proömium)

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telt. Vor diesem Hintergrund mutet es den Rezipierenden der lukianischen Schrift verdächtig an, wenn der Briefschreiber seinem Zögling ausgerechnet eine solche Blitzkarriere in Sophistik aufzeigt, wissen wir doch seit Platon um die kritischen Punkte dieser Tätigkeit bzw. des von ihren Vertretern vermittelten Wissens. γνῶναί τε τὰ δέοντα καὶ ἑρμηνεῦσαι αὐτά Abgesehen von einer kleinen Alternation am Ende liegt eine wörtliche Wiederaufnahme von Thuk. Hist. 2,60,5 vor, wo Perikles den Athenern sagt, er halte sich für keinem unterlegen, was γνῶναί τε τὰ δέοντα καὶ ἑρμηνεῦσαι ταῦτα angehe. Auf dieselbe Passage verweist Lukian in Salt. 36 mit expliziter Nennung des Thukydides (auch für einen Tänzer sei das, was Perikles bei Thukydides sage, die höchste Auszeichnung, wobei ἑρμηνεῦσαι in diesem Fall nicht rednerische, sondern pantomimische Fähigkeiten, die Klarheit der tänzerischen Bewegungen, meine). Indem Lukian seinem Sprecher diese berühmten Thukydides-Worte in den Mund legt, verspricht dieser, dem jungen Mann die höchste, klassische Kompetenz eines Redners zu vermitteln, ja sogar die Kompetenz des Perikles selbst, und dies in kürzester Zeit – ein ambitioniertes Unterfangen, das wiederum ein Eigenlob des Ratgebers beinhaltet, das gleichzeitig den Schüler in die Ränge der besten Redner emporhebt. Perikles gilt bereits in klassischer Zeit, und in der Zweiten Sophistik umso mehr, als vorbildlicher Redner und Politiker (vgl. z.B. Plat. Phdr. 269e; kritisch allerdings Gorgias 515c–516d), der wohl sehr oft als fiktiver Sprecher einer μελέτη gewählt wurde, was aus der Tatsache geschlossen werden kann, dass die Perserkriege und speziell die von Thukydides behandelten historischen Ereignisse, der Peloponnesische Krieg, zu den Kernthemen der Deklamationen der Zweiten Sophistik gehören. Vgl. dazu Russell [1983] 106f., speziell zu Thukydides’ Methodik bezüglich seiner Reden 112; zu Perikles 111: »Speeches of Pericles were in circulation, but widely known to be false, for he left no written work behind« (vgl. dazu Plut. Pericl. 8,5: ἔγγραφον μὲν οὖν οὐδὲν ἀπολέλοιπε πλὴν τῶν ψηφισμάτων). ἑρμηνεύειν/ἑρμηνεία ist schon bei Anaximenes (Kap. 23–28) als Terminus für »sprachlichen Ausdruck; Stil« verwendet, was allerdings sonst v.a. als λέξις geläufig ist (vgl. Aristoteles und die verlorene Schrift des Theophrast mit dem Titel Περὶ λέξεως).505 Zur Zeit des Thukydides dürfte ἑρμηνεύειν noch nicht in dem Mass rhetorisch aufgeladen sein, wie es später der Fall ist: Zentral für die Verwendung des Terminus ist Demetr. Περὶ ἑρμη505 In Aristoteles’ Rhetorik ist der Begriff ἑρμηνεία nicht belegt. Vgl. zum Ersatz des Terminus λέξις durch ἑρμηνεία Chiron [1993] XXVI.

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5. Kommentar (§§1–4)

νείας, eine Schrift, deren Autorschaft und Datierung unsicher sind.506 Was das Thukydideszitat anbelangt, so weist Gondos [1996], wenn auch nicht konkret für den Begriff der ἑρμηνεία, rhetorische Reflexion in Vokabular und Konzepten bereits des thukydideischen Werkes nach; somit kann ἑρμηνεύειν, selbst wenn Thukydides es noch nicht als spezifischen Fachterminus verwendet haben sollte, vom kaiserzeitlichen Rezipienten leicht in rhetoriktheoretischem Sinn verstanden werden. Die Kürze des zu absolvierenden Lehrganges, gepaart mit der Exzellenz (vgl. die Superlative §1: τὸ σεμνότατον ὄνομα; §2: εὐγενέστατοι) des daraus hervorgehenden Redners (eine a priori und speziell für Platon-Kenner unmögliche Kombination), wird in diesen Anfangsparagraphen immer wieder betont: §1 oben: τάχιστα; §3: ἐπιτομωτάτην (ὁδόν), ἐν βραχεῖ; §4: ἐν βραχεῖ, τὴν ταχίστην ὁδόν. μελετᾶν Sowohl Verb als auch Substantiv sind bei Platon über 60x belegt, zur Bezeichnung des Sich-Übens in einer bestimmten Kunst (z.B. im engeren Sinn bezüglich Rhetorik Gorgias 511b–c), aber auch in einem viel weiter gefassten Kontext zur Bezeichnung des Bemühens um die Lösung eines philosophischen Problems bzw. um Erkenntnis. Auch hier wird also ein typisch philosophischer Terminus herangezogen, dessen Inhalt, das unablässige Sich-Üben, wenig später bereits wieder karikiert erscheint (vgl. §3, speziell die Darstellung derer, die sich auf dem langen Weg abmühen).507 τὸ τέρμα Das Substantiv τέρμα, sowohl in Poesie als auch Prosa verbreitet, beinhaltet folgende Bedeutungsnuancen: »Zielpunkt, Endpunkt, Lebensende«, sowie »Ziel- bzw. Wendemarke« in einem Wettlauf (so immer in Homers Ilias, z.B. 22,162). Die Metaphorik eines Rennens dürfte bei der hier gewählten Formulierung ἔστ’ ἂν ἀφίκῃ πρὸς τὸ τέρμα hineinspielen; vgl. auch die wiederholte Darstellung des raschen Ersteigens des Berges der Rhetorik, so dass der neue Redner sie im besten Alter ›heiraten‹ kann, wobei er Konkurrenten auf dem langen Weg weit hinter sich lässt (§§3, 6, 10: ἀκμάζων ἔτι; auch §26).

Vgl. Fuhrmann [41995] 143f. und die Einleitung in der Ausgabe von Chiron [1993] XIII– XL mit einer Diskussion sämtlicher Datierungsvorschläge (sie reichen von ca. 270 v.Chr. – mit Zuweisung des Werkes an Demetrios von Phaleron – bis ins 1./2. Jh. n.Chr.). Chiron selbst tendiert zu einer Datierung Ende 2./Anfang1. Jh. v.Chr. (Demetrios von Syrien?). 507 Vgl. dazu auch die Einleitung 1.3. 506

§2: Einleitung (Proömium)

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§2 θήραμα οὐ σμικρὸν Zur verwendeten Jagdmetaphorik vgl. auch §3: ἀγρεύσεις. Mit ähnlichen Formulierungen wird bei Platon mehrfach die Schwierigkeit der Erörterung philosophischer Fragen ganz allgemein betont, so z.B. Sph. 217b (über die Definition von Sophist, Staatsmann, Philosoph): οὐ σμικρὸν οὐδὲ ῥᾴδιον ἔργον. Speziell auf Rhetorik bezogen vgl. Phdr. 271c–272b: Sokrates legt dar, dass Rhetorik Seelenleitung, ψυχαγωγία, sei, und darum der Redner Kenntnis der Arten der Seele haben müsse, um gut sprechen zu können, anders sei es nicht möglich; Phaidros kann nur zustimmen (272b): ἀδύνατόν που, ὦ Σώκρατες, ἄλλως· καίτοι οὐ σμικρόν γε φαίνεται ἔργον.508 Konkrete Jagdbilder, und damit das Vokabular θηρεύειν, θήρα, θηρευτής, für die fortschreitende dialektische Suche nach Wahrheit finden sich z.B. in Lysis 218c (καὶ δὴ καὶ αὐτὸς ἐγὼ πάνυ ἔχαιρον, ὥσπερ θηρευτής τις, ἔχων ἀγαπητῶς ὃ ἐθηρευόμην); Phaidon 66a+c (ἕκαστον [...] θηρεύειν τῶν ὄντων; ἡ τοῦ ὄντος θήρα).509 Die hier vom Ratgeber gemachte Bemerkung passt oberflächlich zu denjenigen sokratisch-platonischen Stellen, die den Weg zur (Rhetorik-)Philosophie als lang beschreiben. Dennoch wird gleich im nächsten Kapitel (§3) der kürzeste, angenehmste Weg in Aussicht gestellt und die durch den platonischen Subtext erzeugte Erwartung enttäuscht. Der Weg des Ratgebers steht damit in Kontrast zu dem, was Sokrates z.B. seinem Zögling Alkibiades vor Augen zu führen versucht: seine Unwissenheit und den langen Weg, der ihm bevorsteht (vgl. auch die Einleitung 1.3).510 ἀγρυπνῆσαι Der Begriff ruft das hellenistische Dichterideal auf. In Verbindung mit dem Ideal der λεπτότης vgl. Kallimachos Epigr. 27,4 (Pfeiffer) über die Phainomena des Arat: χαίρετε λεπταὶ ῥήσιες, Ἀρήτου σύμβολον ἀγρυπνίης. 508

Siehe bereits die Einleitung 1.3, S. 38f. Zur Jagdmetaphorik bei Platon siehe Classen [1960], bes. 30–52. An vorliegender Stelle ist wohl zusätzlich von Bedeutung, dass Platon in Sophista Jagdmetaphorik auch durchgängig zur Kritik der Sophisten einsetzt, indem er sie als Jäger nach Ruhm und Reichtum darstellt (vgl. das θήραμα des Schülers in Rh. Pr.). Die ›Entlarvung‹ der Sophisten durch die Dialogpartner ist dabei ebenfalls als Jagd charakterisiert (die Gattung des Sophisten ist schwierig zu definieren, vgl. Sph. 218d: χαλεπὸν καὶ δυσθήρευτον τὸ τοῦ σοφιστοῦ γένος), so dass »Suchender und Gesuchter [...] im gleichen Bild [erscheinen]« (Classen [1960] 47). Zu Sokrates selbst als »Jäger von Worten« im Sinne exakter Definitionen vgl. Grg. 489b und 490a. 510 Zur Bedeutung des Inhalts von §2 im Rahmen des Proömiums vgl. die Einleitung 1.1.2, bes. Anm. 20. 509

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5. Kommentar (§§1–4)

Damit doppelt der Autor nach: Zur Terminologie des ernsthaften, anstrengenden und langwierigen Philosophierens gesellt sich, passend zum Thema Rhetorik, diejenige des sprachlichen ›Feilens‹ der Alexandriner.511 Vgl. auch §9: ἀγρυπνίαν καὶ ὑδατοποσίαν, dort allerdings als eine der lächerlichen Forderungen des Lehrers des langen Weges aufgeführt, hier nur kurz ernsthaft im Ton und sogleich wieder spöttisch unterwandert (vgl. §3). ὁπόσοι τέως μηδὲν ὄντες ἔνδοξοι καὶ πλούσιοι καὶ νὴ Δί’ εὐγενέστατοι κτλ. Schmitz ([1997] 56) weist darauf hin, dass neben der gebildeten Aristokratie, aus der sich ein Grossteil der Sophisten rekrutierte, aufgrund der Quellen auch eine sozial niederere Schicht, die dennoch durch ihre Bildung als Lehrer oder Redner zu einem gewissen Vermögen kommen konnte, existiert haben muss (vgl. dazu auch Luk. Somn. und Merc. Cond.). Der Ratgeber malt seinem Schüler hier aus, dass durch Berühmtheit und Reichtum sich automatisch auch die soziale Stellung verbessere und der Redner als εὐγενής, als Aristokrat, Geltung erlangen könne. Vgl. dazu auch Sommerbrodt ([21878] 59): Die Formulierung νὴ Δί’ εὐγενέστατοι sei eine »ironische Verstärkung, um die Uebertreibung hervorzuheben, dass selbst das γένος durch den Ruhm der Beredsamkeit an Adel gewinnt«. Dies ist wohl ganz im Sinn des ruhmgierigen Schülers, obwohl er das Streben nach Reichtum und Aristokratie nicht selbst als Ziele angibt, sie ihm vielmehr vom Ratgeber unterstellt werden (vgl. den Kommentar zu §1: ἄμαχον κτλ.).

§3 Nun schreitet der Ratgeber zu einer konkreteren Darlegung dessen, was den Schüler erwarten wird. Die zwei Wege, die man wählen kann, um zur Rhetorik zu gelangen – der mühevolle, langdauernde und der kurze, einfache – werden ein erstes Mal beschrieben, wobei der Ratgeber gleich deutlich verkündet, dass er seinen Schüler ohne jede Mühe und Anstrengung auf den Gipfel des Berges der Rhetorik bringen wird (obwohl der Schüler sich in keiner Weise über die erwartete Dauer seiner Ausbildung geäussert bzw. Kürze nicht explizit gefordert hat, vgl. den Kommentar zu §1: τὰς [...] ὁδοὺς κτλ.). Der Ratgeber inszeniert hier den Beginn des Agons zwischen sich (bzw. später dem Rednerlehrer) und den Lehrern des langen Weges, von denen er 511 Zu diesem Epigramm und dem kallimacheischen Kunstverständnis vgl. Riedweg [1994a] 126–133.

§3: Einleitung (Prothesis/Dihegesis I)

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sich absetzt (vgl. aber die ›Kehrtwende‹ in §26).512 Dass die bereitwilligen Auskünfte an den jungen Mann nicht zuletzt auch der Befriedigung eigener Eitelkeit dienen, wird in einzelnen konkreten Formulierungen besonders deutlich, aber auch generell in seinem Stolz über die Möglichkeit des neuen, kurzen Weges, den er anzubieten vermag (ἐπεὶ οὐδὲν ἂν διεφέρομεν τῶν ἄλλων, s.u.; τό γε παρ’ ἡμῶν ἐξαίρετόν σοι τῆς συμβουλῆς τοῦτό ἐστιν). Die Charakterisierung der beiden zueinander in Opposition stehenden Wege erfolgt in sorgfältiger stilistischer Gestaltung, indem die dem langen Weg zugeordneten Adjektive, welche nach dem Gesetz der wachsenden Glieder aufgezählt sind (τραχεῖάν – ὄρθιον – ἱδρῶτος μεστὴν / μακρὰν – ἀνάντη – καματηρὰν – ὡς τὸ πολὺ ἀπεγνωσμένην), in der Darstellung des kurzen Weges allesamt kontrastiert werden; der kurze Weg wird dabei in seiner Idylle ausführlicher beschrieben: μακρὰν – ἀνάντη – καματηρὰν, ὡς τὸ πολὺ ἀπεγνωσμένην || ἡδίστην – ἐπιτομωτάτην – ἱππήλατον – κατάντη – διὰ λειμώνων εὐανθῶν καὶ σκιᾶς ἀκριβοῦς κτλ. μὴ δέδιθι Imperativ 2. Sg. zur Perfektform δέδια, in klassischem Griechisch nur einmal belegt (Ar. V. 373: μηδὲν ὦ τᾶν δέδιθι), hingegen finden sich knapp 80 Belege in nachklassischem Griechisch: In der Zweiten Sophistik neben Lukian (vgl. Bis Acc. 8; Dear. Iud. 7 u.ö.) bei Libanios Decl. 43,74,5; bei Philostrat VA 5,36,16 und Heroicus 45,1 (Teubner; Olearius p. 729,12; vgl. die Belege bei Schmid [1896] 4,34), später vor allem bei Kirchenvätern wie Johannes Chrysostomos (z.B. In Genesim PG 54,509,44; In Matthaeum PG 58,553,50f. Migne); Basilios (De vit. et mirac. sanct. Thecl. 1,23,25); dann auch Eustathios (z.B. Comm. ad. Hom. Od. vol. 1, p. 224,35 und vol. 2, p. 191,45).513 Man könnte diese nachklassische Form zusammen mit dem ebenso seltenen Wort ἀποδυσπετήσῃς (s.u.) dahingehend deuten, dass der Ratgeber seinen inhaltlich neuen Weg zur Rhetorik (und damit die Absetzung von klassischer Rhetorik und endlosem Einüben des attizistischen Ideals) auch sprachlich untermauert.

512

Zum rhetorischen Mittel der διαβολή vgl. die Einleitung 1.1.2. Häufig ist die Verwendung des »fürchte [dich] nicht« bei Johannes Chrysostomos in seinen Predigten über verschiedene Bibelstellen, wobei diese Verbform in der Bibel selbst nicht belegt ist (hier wird das Verb φοβέομαι verwendet, z.B. in der berühmten Stelle der Verkündigung von Christi Geburt durch den Engel des Herrn: Lukas 2,10; siehe dazu Blass/Debrunner, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, 161984, §96.2, S. 70). 513

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5. Kommentar (§§1–4)

ἀποδυσπετήσῃς Das Verb ist klassisch nur bei Aristoteles Topik 163b19 belegt. Dem Attizisten Pollux (3,131) ist zumindest das Adjektiv geläufig, er verzeichnet unter verschiedenen Begriffen für »schwierig, mühselig« δυσπετής (»schwerfallend«, vgl. πίπτειν) zusammen mit dem gegenteiligen Begriff εὐπετής (3,133). Zur inhaltlichen Deutung dieser seltenen Vokabel s.o. zu: μὴ δέδιθι. Bei Lukian findet sich das Verb nochmals in sehr ähnlichem Kontext in Hermot. 5: Hermotimos beschreibt den Weg auf den Berg der virtus: Viele geben, sobald sie die erforderlichen Mühen sehen, auf (ἀποδυσπετοῦσι) und kehren um (ἀναστρέφουσιν), ausser Atem und schweisstriefend (ἱδρῶτι ῥεόμενοι), der Anstrengung (κάματος) nicht gewachsen. Wer aber den Gipfel erklimmt, kann die andern von oben herab wie Ameisen betrachten. Die wörtlichen Parallelen zu Rh. Pr. 3 sind zahlreich: ὡς [...] ἀναστρέψαι; ἱδρῶτος μεστὴν [ὁδόν]; καματηρὰν [ὁδόν]; ἐκείνους [...] ἀπὸ τοῦ ὑψηλοῦ ἐπισκοπῶν; vgl. auch §8 über den langen Weg: ἔγωγε κατ’ ἐκείνην ἄθλιος ἀνῆλθον τοσαῦτα καμὼν und §9 passim.514 ἱδρῶτος μεστὴν Es ist ein immer wieder erwähntes Charakteristikum des langen Weges, dass er viel Schweiss fordert (vgl. auch §7 und §10). Dazu gibt es zahlreiche Parallelen bei Lukian, wobei der ›lange Weg‹ nicht immer dasselbe enthält (meist stoische Lehre wie Hermot.; Rh. Pr. ist mit dem Thema der Rhetorikausbildung eher die Ausnahme, vgl. aber Plat. Phaidros: der lange Weg zur Rhetorik = der Weg zur Philosophie). Seinen Anfang nimmt das Bild des schweissreichen Weges beim klassischen Zeugnis des Hesiod (Erga 289) – dieser wird namentlich erwähnt in Rh. Pr. 7 (siehe dort) –, denn von ihm stammt die berühmte Aussage, der Weg zur Tugend sei schweissreich (vgl. die Einleitung 1.4). Lukian spielt immer wieder auf diesen Vers an, mit wörtlicher Nennung des Hesiod z.B. Menipp. 4 und Hermot. 2. Auch in klassischer Zeit ist dieses Hesiodzitat weit verbreitet, z.B. Plat. R. 364d; Lg. 718e; Prt. 340d. Entfernter, jedoch auch auf Hesiod abzielend (vgl. die Formulierung mit προ, bei Hes. προπάροιθεν) z.B. Demosth. Exordium 45,3,6: οὐ γὰρ ἴσος πόνος καὶ ἱδρὼς πρό τε τοῦ λέγειν καὶ πρὸ τοῦ πράττειν ἐστιν. Die Zeugnisse beinhalten teils eine allgemeine Erwähnung des steilen Berges (der ἀρετή), dessen Erklimmung viel Schweiss fordert, meist wird aber das Hesiodzitat adaptiert bzw. beansprucht im Bereich stoischer Lehre, nach welcher ἀρετή das höchste Gut ist. So beispielsweise in Bis Acc. 21: Epikur verteidigt vor Gericht seine Lehre gegenüber diesem steilen, an514

Zur Wegmetaphorik in Lukians Hermotimos vgl. die Einleitung 1.5.c.

§3: Einleitung (Prothesis/Dihegesis I)

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strengenden Tugend-Weg der Stoiker. Ein Vorwurf, der hier und anderswo anklingt, ist, dass man ja schon tot ist oder sein könnte, bevor man endlich auf dem Berg ankommt, vgl. Hermot. 6: οὐ γὰρ δὴ σέ γε εἰκὸς ἐπὶ τῷ ἀδήλῳ, εἰ βιώσῃ μέχρι πρὸς τὴν ἀρετὴν, τοσούτους πόνους ἀνέχεσθαι καὶ ταλαιπωρεῖν νύκτωρ καὶ μεθ’ ἡμέραν [...]515 und Rh. Pr. 9: κατὰ ὀλυμπιάδας [...] ἀριθμῶν; 10: εἰ τάχιστα ἐθέλεις τῇ Ῥητορικῇ συνεῖναι ἀκμάζων ἔτι. Weiter Hermot. 5 (vgl. schon oben unter ἀποδυσπετήσῃς).516 Vor diesem Hintergrund könnte an vorliegender Stelle durchaus ein stoisches Bild mitgezeichnet sein, das Bild eines entbehrungsreichen, strengen Trainings, das einen altern und dennoch nie zum Ziel kommen lässt, während der leichte Weg zur Rhetorik mit der Bezeichnung als ἡδίστη [ὁδός] sozusagen das epikureische Gegengewicht verkörpert.517 ἐπεὶ οὐδὲν ἂν διεφέρομεν τῶν ἄλλων Der Ratgeber übernimmt mit diesen Worten sozusagen das Programm des Schülers (welcher sich ja zu einem ausserordentlich guten Sophisten ausbilden lassen will), indem er sich von allen anderen Rhetorikern absetzt und sich damit zum besten Rhetoriklehrer stilisiert. ἀνάντη [ὁδόν] ἀνάντης (»steil«) weist bei Platon nur vage Parallelen auf (Phdr. 247b1: der »Aufstieg« der Seelen; vgl. allerdings auch R. 364d3: das Hesiodzitat Erga 287–9 mit der Ergänzung, der Weg zur ἀρετή sei lang und steil: καί τινα ὁδὸν μακράν τε καὶ τραχεῖαν καὶ ἀνάντη). Lukian selbst verwendet das Adjektiv in Merc. Cond. 42 in sehr ähnlichem Kontext: Der Sprecher zeichnet in Anlehnung an die Tabula des Kebes ein Bild des Lebens derjenigen, die in den reichen Haushalten dienen: Alle wollen auf den Berg des Reichtums (Πλοῦτος) gelangen, der Aufstieg ist jedoch lang, steil (ἀνάντης) und schlüpfrig-glatt (ὄλισθος; vgl. Rh. Pr. 3: ὀλισθηρός weiter unten), so dass man sich dabei leicht den Hals brechen kann durch einen Fehltritt (ἐκτραχηλισθῆναι διαμαρτάνοντος τοῦ ποδός). Zum Verb ἐκτραχηλίζειν ([vom Pferd:] »über den Nacken hinunter-

515 »Denn es ist ja nicht wahrscheinlich, dass du ohne Klarheit darüber, ob du leben wirst bis zum Erreichen der Tugend, so grosse Anstrengungen auf dich genommen hast und Tag und Nacht dich plagst [...].« 516 Eine witzige Einlage desselben Inhaltes bietet Lukian auch in Ver. Hist. 2,18: Die Stoiker befinden sich nicht auf den Inseln der Seligen, da sie noch immer den Berg der Tugend zu erklimmen versuchen (τῶν δὲ Στωϊκῶν οὐδεὶς παρῆν· ἔτι γὰρ ἐλέγοντο ἀναβαίνειν τὸν τῆς ἀρετῆς ὄρθιον λόφον). 517 Vgl. ferner die Anmerkungen zur Kombination der Begriffe ἱδρώς und ᾆσθμα im Kommentar zu §20: οἱ πολλοὶ δὲ τὸ σχῆμα καὶ φωνὴν [...] καὶ τὸ ἆσθμα.

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werfen«, »jmd. stürzen«, pass. »herabstürzen«) vgl. Rh. Pr. 10: σὺ δὲ μήτε πείθεσθαι μήτε προσέχειν αὐτῷ, μή σε ἐκτραχηλίσῃ [...]. καματηρὰν [ὁδόν] καματηρός (»ermüdend, mühselig«) ist klassisch selten belegt; Platon, bei dem andere Adjektive zur Beschreibung steiler, anstrengender Wege zu finden sind,518 verwendet es nicht. Vgl. aber mit ähnlichem Kontext A. R. 2,87: ἱδρῶ καματηρόν; Hom. h.Ven. 246; Hdt. 4,135,1. ἱππήλατον [ὁδόν] Dieser Begriff gehört in den homerischen Kontext; besonders häufig findet sich das Substantiv ἱππηλάτης »Rossetreiber«, meist mit vorausgehendem γέρων (δ’ / θ’). Das Adjektiv ist in der Odyssee zweimal belegt, bezogen auf die Insel Ithaka, welche nicht ἱππήλατος sei (4,607 und 13,242). Dass ἱππήλατος (»für Pferde betretbar«) auch die Konnotation »mit einem Wagen befahrbar« hat, sieht man in Od. 4,590ff. an den Geschenken, die Menelaos Telemachos mitgeben will: nicht nur Pferde, sondern einen Wagen dazu, vgl. LfgrE s.v. Zudem beinhaltet schon das Substantiv ἱππηλάτης die doppelte Konnotation, da es denjenigen bezeichnet, der auf dem von einem Pferd gezogenen Kampfwagen steht. Klassische Belege sind selten, z.B. Aischylos Persae 126 und Aristophanes Aves 1443, letzterer wiederum mit der Doppeldeutigkeit des Reitens auf Pferden sowie des Fahrens auf (von Pferden gezogenen) Wagen (die Rede ist von der kostspieligen Freizeitbeschäftigung junger Männer als Wagenlenker, vgl. auch Nu. 68–70 und 119f.). Auch wenn das Adjektiv ἱππήλατος in der vorliegenden Darstellung in erster Linie die Breite und Bequemlichkeit des Weges veranschaulichen soll, ist wohl die luxuriöse Konnotation eines Wagens mitbedacht.519 Denn Lukian verwendet das Adjektiv zwar kein zweites Mal, zeichnet aber das Bild des Starredners, der in einem Wagen einherfährt, sowohl in Rh. Pr. 11 und 26 (τὰ τέθριππα ἐλαύνων τοῦ λόγου / πτηνὸν ἅρμα ἐλαύνοντα; s. dort) als auch in Somn. 15 (ὄχημα ὑποπτέρων ἵππων). Zudem finden wir in Philostrat VS 587 die Beschreibung, wie der extravagante Sophist Hadrian von Tyros in einem prunkvollen Wagen zu seinen Auftritten zu fahren pflegte (ἐπ’ ἀργυροχαλίου ὀχήματος). Pollux (9,19,6; 9,38,1) und Strabon (6,3,7; 17,1,8) erwähnen später neben ἱππήλατος den Begriff ἁμαξήλατος in der Bedeutung »für Wagen 518 Phdr. 272c: πολλὴ καὶ τραχεία [ὁδός]; R. 364d: μακρά τε καὶ ἀνάντης [ὁδός]; Ep. 7,340e: χαλεπόν (neutr.). 519 Daher habe ich entsprechend übersetzt: »[...] dass du auf dem angenehmsten und zugleich kürzesten [Weg], der mit einem Wagen befahrbar ist [...].«

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fahrbar«, so dass die Fortbewegung zu Pferd und mit Wagen durch je ein verschiedenes Adjektiv ausgedrückt werden kann (bei Lukian ist ἁμαξήλατος nicht belegt). κατάντη [ὁδόν] Die Nennung der Begriffe ἀνάντης und κατάντης bildet die wohl auffälligste Opposition in der Gegenüberstellung der beiden Wege und ihrer Charakteristika, vor allem deshalb, weil die Darstellung des kurzen Weges als abwärts führend (κατ-άντης), wobei man aber dennoch gemächlich hinaufgeht (ἀν-ιών) und schliesslich auf einer Bergspitze (ἄκρα) anlangt, ein Paradoxon darstellt.520 Auf diese ›illusionistische‹ Szenerie und Wanderung (die wenig später auch mit dem Schlaf, und so implizit mit einem Traum, verglichen wird521) soll sich nun der Rhetorikaspirant einlassen, wobei der Ratgeber dieser unwirklich anmutenden ersten Darstellung durch nachgelieferte ›Beweise‹ Rechnung trägt (vgl. §4 und zur Paradoxität der Darstellung §5 mit dem Kommentar zu: τὸ παράδοξον). διὰ λειμώνων εὐανθῶν Speziell nahe an dieser Formulierung in Rh. Pr. ist einmal mehr Hermot., wo dargelegt wird, dass viele verschiedene, einander ganz unähnliche Wege zur virtus bzw. zur Stadt führen (die stoische virtus wird mit einer Stadt verglichen, in der alle glücklich sind). Lykinos spricht das Problem an, dass man nicht weiss, wohin man sich wenden soll, und schildert die zwei von der geforderten Anstrengung her gegensätzlichen Wege, genau wie das der Ratgeber thematisiert (§25): ἡ μὲν διὰ λειμώνων καὶ φυτῶν καὶ σκιᾶς εὔυδρος καὶ ἡδεῖα οὐδὲν ἀντίτυπον ἢ δύσβατον ἔχουσα, ἡ δὲ πετρώδης καὶ τραχεῖα πολὺν ἥλιον καὶ δίψος καὶ κάματον προφαίνουσα. Vgl. Rh. Pr. 3: τραχεῖαν; ἱδρῶτος μεστὴν; καμόντα; καματηράν; διὰ λειμώνων εὐανθῶν καὶ σκιᾶς ἀκριβοῦς und §7: ἡ μὲν τραχεῖα, πολὺ τὸ δίψος ἐμφαίνουσα καὶ ἱδρῶτα, ἡ δὲ ἑτέρα εὔυδρος [...]. Die Beschreibung des schnellen, einfachen Weges beinhaltet ein idyllisches Element, das auch bei Homer und Platon im Zusammenhang mit »Wiesen« vorkommt. So findet sich eine idyllische Wiesenlandschaft auf der Insel der Kalypso, auf der Hermes staunend landet (Od. 5,72) und die idyllische Insel Atlantis mit ihren Seen, Flüssen und Wiesen (Kritias 118b). Speziell häufig ist das Wort λειμών bei Homer, Platon und auch Aristophanes aber im Zusammenhang mit Unterweltsdarstellungen (Asphodeloswie520 Vgl. bereits Wieland [1789] in seinen Anmerkungen zum Text (Bd. 6, S. 6 Anm. 5): »Freilich ist das eben das Wunderbare, dass man durch beständiges Absteigen auf die Spitze eines hohen Berges kommen soll!« 521 Vgl. §3 Ende: μονονουχὶ καθεύδων und zur Berufswahl im Traum allgemein Luk. Somnium.

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5. Kommentar (§§1–4)

se: Od. 11–12 passim und Od. 24,13; Grg. 524a; Mythos des Er: R. 614e und 616b), was für den vorliegenden Text eine mögliche Kontrastfolie bietet (vgl. den abwärts führenden kurzen Weg), siehe bes. Aristophanes Ra. 374 (εὐανθεῖς κόλπους λειμώνων) und 449 (ἀνθεμώδεις λειμῶνας). Das in Rh. Pr. verwendete Attribut εὐανθής ist nur bei Aristophanes ebenso vorhanden, Homer benutzt zur Beschreibung »blumiger Wiesen« das Adjektiv ἀνθεμόεις (Il. 2,467; Od. 12,159). Auch Lukian selbst beschreibt die Unterwelt, insbesondere die Insel der Seligen neben anderen Charakteristika durch zahlreiche Blumenwiesen (Ver. Hist. 2,5–6 und 2,14); zudem ist das Abhalten von Symposien ein zentraler Bestandteil des Lebens auf dieser Insel (Ver. Hist. 2,14), man vergleiche die Fortsetzung in Rh. Pr. 3, wo der Aspirant sich, nachdem er durch herrliche Wiesenlandschaften auf den Berg (hinab)gestiegen ist, als Symposiast lagern kann (εὐωχήσῃ κατακείμενος [...] ἐστεφανωμένος). Aus attizistischer Sicht wird Lukians Wortverwendung durch Pollux’ Vermerk bestätigt, bei positiver Konnotation nenne man Wiesen λειμῶνες εὐανθεῖς (1,229,2; 1,230,4; v.a. 1,239,5; hier werden auch positive Eigenschaften wie »schattig« und »wohlbewässert« erwähnt, vgl. Rh. Pr. 3: σκιᾶς ἀκριβοῦς und 7: εὔυδρος). Lukian selbst verwendet die Kombination λειμὼν εὐανθής neben Ver. Hist. 2,6 (s.o.) noch in De Domo 9. [διὰ] σκιᾶς ἀκριβοῦς Die Junktur ist so nur an vorliegender Stelle bei Lukian belegt, ähnlich einzig noch Alex. Aphr. In Mete. p. 120, 25 (Hayduck), im Zusammenhang mit einer Mondfinsternis vom Erdschatten: δι’ ἐγγύτητα τοῦ ἀκριβοῦς σκιάσματος ἀπομαραίνηται. ἀκριβής ist hier im Sinne von »genau passend, richtig, vollkommen« bzw. »im eigentlichen Sinne des Wortes« (vgl. LSJ s.v.) aufzufassen (also: »vollkommener, echter Schatten«), vgl. in einer ähnlichen Verwendung Pollux 1,105 (über die Bezeichnung günstiger Wetterverhältnisse in der Schifffahrt): δι’ ἀκριβοῦς αἰθρίας, δι’ ἀνεφέλου τοῦ ἀέρος (»vollkommen heiterer Himmel«) und Plat. R. 341c: ὁ τῷ ἀκριβεῖ λόγῳ ἰατρός sowie 342d: ὁ ἀκριβὴς ἰατρός (»der wahrhaftige Arzt«).522 ἀγρεύσεις Zur Jagdmetaphorik vgl. den Kommentar zu §2: θήραμα οὐ σμικρὸν.

522 Vgl. auch Luk. Tox. 15: λύττα ἦν ἀκριβὴς τὸ πρᾶγμα; Nav. 9: νυκτὸς οὔσης καὶ ζόφου ἀκριβοῦς.

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ἐκείνους ὁπόσοι Überliefert ist ἔκπνους (β) neben ἐκείνους (γ); ich folge hier gegen Macleod der Überlieferung von γ (so auch Harmon). Vgl. dazu Nesselrath [1984] 597: »Eine preziöse Konjektur [...] scheint ἔκπνους β zu sein: Das Adjektiv ist sonst bei Lukian nicht zu finden und stellt an dieser Stelle eine verkehrte Vorwegnahme dar [...]. ἐκείνους γ bietet dagegen einen völlig unanstössigen Text.« Zwar bin ich der Meinung, dass die Atemlosigkeit derer, die noch am Fuss des Berges der Rhetorik stehen, inhaltlich zur Illustration der Tatsache, dass der steile Weg schon von Beginn weg riesige Anstrengungen erfordert, durchaus seine Berechtigung hätte, schliesse mich aber Nesselraths Beurteilung der Lesart als preziöse Konjektur an.523 κατὰ [...] ἀνέρποντας Die Grundbedeutung von κατά mit Genitiv ist »von-herab«, »unter«, (seltener) »auf einen Punkt hin« (vgl. §9), »gegen«. Keine dieser Bedeutungen passt hier genau. Es gibt zwar auch weitere Belege, in denen die Grundbedeutung »hinunter« weniger deutlich ist (z.B. S. El. 1433; vgl. K.-G. II 1,476) doch könnte man sich ein weiteres, bewusstes Wortspiel zusammen mit ἀν-έρπειν denken: »von Abhängen herab ... hinaufkriechen« illustriert das dauernde Hinuntergleiten derer, die sich am steilen Berg abmühen und bereitet sprachlich das kopfüber Hinunterfallen (ἀποκυλιομένους ἐπὶ κεφαλὴν) vor. ὀλισθηρῶν Das Adjektiv ist bei Lukian mehrfach belegt (6 Belege neben Rh. Pr.) und bezieht sich grösstenteils auf schlüpfriges, glattes Terrain/Untergrund (so Charon 5; Hermot. 3; Dial. Mar. 14,3). Hermotimos enthält einmal mehr die engste Parallele, denn der Stoiker beschreibt, wie er sich noch ganz am Anfang des Weges zur ἀρετή befindet – ein Weg, der schlüpfrig und rau ist, auf dem man einen Helfer braucht (vgl. auch die Bemerkungen oben unter §3: ἀποδυσπετήσῃς).524 παρὰ τῆς Ῥητορικῆς Was der Schüler in der Bilddarstellung von der personifizierten Rhetorik erhalten wird, wird ihm in der Realität der Ratgeber (bzw. dessen Stellvertreter, der Rednerlehrer) vermitteln, so dass dieser sich die Stilisierung als 523 Anders die Bewertung vom Mras [1911] 168, der die Überlieferung ἔκπνους (Codex B – über dessen Wichtigkeit für Rh. Pr. siehe Anm. 475) als richtig einstuft. 524 Pollux (1,187,2; 6,119,5; 6,146,5; 8,81,2) erwähnt das Adjektiv ὀλισθηρός in zwei Kontexten: Erstens könne eine χωρία so genannt werden, zweitens aber auch die γλῶττα eines Menschen, und zwar im Sinn von »Schwätzer«, der nie aufhört zu reden, sowie im Sinn von einem, der Schlechtes sagt, gleichbedeutend mit βλασφημός.

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5. Kommentar (§§1–4)

ῥητορικὴ τέχνη höchstpersönlich anmasst.525 Inhaltlich werden die genannten ἀγαθά in §6 in der Bildbeschreibung nach Art des Kebes weiter ausgeführt: Das Horn der Amaltheia (allgemeiner Überfluss materieller Güter), Reichtum, Ruhm, Stärke und Komplimente sind es, die dem Redner durch die Heirat mit der Rhetorik zufallen werden. Vgl. auch die Wiederaufnahme der Thematik in §24: ὅσα ἐν βραχεῖ παρέσται σοι τὰ ἀγαθὰ παρὰ τῆς Ῥητορικῆς.

§4 Es folgt die Untermauerung des Ratschlags, sich dem kurzen Weg zuzuwenden, durch ein argumentum a maiore in minus, welches allerdings auf wackligem Fundament steht:526 Der Ratgeber unterschlägt die Tatsache, dass Hesiod, der als Parallele und παράδειγμα herangezogen wird, seine dichterische Kunst nur aufgrund göttlichen Zutuns so leicht erlangen konnte, was im Fall des Schülers schwerlich geschehen wird – obwohl der Ratgeber, indem er sich bzw. den Rednerlehrer zur Muse stilisiert, genau dies impliziert (s.u. κάτοχος ἐκ Μουσῶν). ὑπόσχεσις ὑπόσχεσις ist weit verbreiteter Begriff, sowohl in Poesie als auch v.a. in Prosa. Auffällig sind die zahlreichen Belege bei Demosthenes, was mit den von ihm behandelten Themen zusammenhängt: Der Grossteil der Belege konzentriert sich auf die Philippika und auf De falsa legatione, das Wort bedeutet jeweils »falsche Versprechungen«, sei es Philipps oder seiner Unterstützer, besonders Aischines’. Die vorliegende Stelle ist ein Zitat von Demosth. Phil. 1,15 (Demosthenes über sein eigenes Vorhaben, hier im neutralen Sinn): ἡ μὲν ὑπόσχεσις οὕτω μεγάλη [...]. Gerade weil Demosthenes für die Attizisten ein eminent wichtiger Autor ist, kann an dieser Stelle bei Lukian durchaus die Konnotation einer »falschen Versprechung« oder »Täuschung« mitschwingen, und sei es nur in dem Sinn, dass sowohl der Ratgeber als auch der später denselben Lehrgang im Detail darlegende Rednerlehrer ihre Versprechung zwar einlösen, der daraus resultierende Sophist aber seinen Erfolg nur anhand von Täuschungen und Tricks einheimsen kann.527 525 Zudem schlüpft er damit in die Rolle einer Frauenfigur, vgl. dazu die in §12 genannten Hetärenfiguren der Menander’schen Komödie. 526 Siehe dazu auch die rhetorische Analyse in Einleitung 1.1.2. 527 Erwähnt sei aus attizistischer Sicht, dass Pollux (5,105) sowohl ὑποσχέσθαι als auch ὑπόσχεσις unter ἐπαγγέλλεσθαι mit diversen anderen Ausdrücken für (neutral) »versprechen« einordnet.

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πρὸς Φιλίου Dies ist eine bekannte (elliptische) Junktur, die schon bei Platon belegt ist (Phdr. 234e2; Grg. 500b6 und 519e3; Minos 321c4) und bei Lukian noch dreimal vorkommt (Ikaromen. 3,17; Dips. 9,7; Herodot. 7,5). Dass Zeus Philios, Zeus der Freundschaft, gemeint ist, wird an Stellen deutlich, wo Διός steht, z.B. Phdr. und Minos sowie Aristeides Or. 4,8 (vgl. auch Or. 3,396). Die Grundsituation ist in all den erwähnten Stellen ein Gespräch zwischen zwei Freunden (Philosophen), wo der eine den andern »bei der Freundschaft« um Zustimmung oder Wohlwollen bittet, etwas bekräftigen will oder um eine Aussage, einen Neuansatz bittet (εἰπὲ πρὸς Διὸς Φιλίου / φέρε δὴ πρὸς Διὸς Φιλίου). Bei Lukian sind die Stellen alle in der Form eines Prohibitivs gehalten: »tu(t) das – bei unserer Freundschaft – bitte nicht!«; die Passagen aus den προλαλιαί Dips. und Herodot. sind einander und der hier vorliegenden Stelle im Stil ähnlich (an die Zuhörer/Adressaten gerichtet mit der Bitte um Wohlwollen gegenüber dem Sprecher: captatio benevolentiae). ἢ γὰρ Dies ist eine Konjektur Sommerbrodts, die Macleod übernimmt (überliefert ist εἰ γὰρ, von der Satzstruktur her schwierig). Sommerbrodt ([21878] 60) verweist auf parallele Konstruktionen im Lateinischen, vgl. Cic. Tusc. 5,32,90: An Scythes Anacharsis potuit pro nihilo pecuniam facere: nostrates philosophi facere non potuerunt?528 Vgl. über vorliegende Bedeutung von ἤ auch K.-G. II 2,532. Ἡσίοδος μὲν ὀλίγα φύλλα [...] λαβὼν Vgl. grundsätzlich zum Inhalt Hesiod Theogonie 22–34. Allerdings wird der dort genannte Lorbeerzweig (δάφνης ἐριθηλέος ὄζος; V. 30) spöttisch auf »einige Blätter« reduziert. In Rh. Pr. wird mehrfach auf Hesiod angespielt, vgl. §3 (der schweissreiche Weg); §7 (Hesiods treffende Beschreibung des langen Weges); §8 (Hesiod als Lügner / das Kronoszeitalter). Die Beurteilung des Dichters fällt ambivalent aus, in §3 erscheint er implizit negativ, da der schweissreiche Weg abgelehnt wird, an der vorliegenden Stelle §4 wird er positiv zur Untermauerung des Arguments herangezogen, jedoch sein Dichterdasein auch ironisierend-spöttisch zum Vergleich benutzt (s.u.), die Erwähnung in §7 ist positiv und lobt Hesiods präzise Darstellung des schweissreichen Weges – der aber trotzdem nicht beschritten werden soll, da Hesiod ein Lügner ist 528 »Konnte zwar der Skythe Anacharsis Geld für nichts erachten, unsere Philosophen dagegen nicht?«

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5. Kommentar (§§1–4)

(§8),529 wodurch sich der Kreis wiederum mit einer negativen Aussage schliesst. Eine letzte positive Nennung Hesiods erfolgt in §8 in der Anspielung auf das Kronoszeitalter.530 ᾖδε θεῶν καὶ ἡρώων γένη Die Junktur θεῶν καὶ ἡρώων γένη ist exakt so nur bei Lukian belegt.531 Inhaltlich könnte die Aussage bezüglich des aufgerufenen Werkes, Hesiods Theogonie, erstaunen, da diese sich um Götter-, nicht aber Heroengeschlechter dreht (vgl. Hes. Th. 21: ἄλλων τ’ ἀθανάτων ἱερὸν γένος αἰὲν ἐόντων [ebenso: 105]; 43f.: [...] αἱ δ’ ἄμβροτον ὄσσαν ἱεῖσαι / θεῶν γένος αἰδοῖον πρῶτον κλείουσιν ἀοιδῇ). Auch in Hesiods Erga werden Heroen nur kurz thematisiert, im Rahmen der Abhandlung der verschiedenen Weltalter (vgl. Vv. 156–160: Αὐτὰρ ἐπεὶ καὶ τοῦτο γένος κατὰ γαῖα κάλυψεν, / αὖτις ἔτ’ ἄλλο τέταρτον ἐπὶ χθονὶ πουλυβοτείρῃ / Ζεὺς Κρονίδης ποίησε, δικαιότερον καὶ ἄρειον, / ἀνδρῶν ἡρώων θεῖον γένος, οἳ καλέονται / ἡμίθεοι [...]). Prominent vertreten sind Heroen allerdings in Hesiods Frauenkatalog, der die Heroengeschlechter beschreibt, die aus Verbindungen von Göttern und sterblichen Frauen hervorgegangen sind. Dass der Frauenkatalog wiederum mit der Theogonie in enger Verbindung steht, wird daraus ersichtlich, dass die Anfangsverse des Frauenkatalogs am Ende der Theogonie ebenfalls auftauchen (Vv. 1021f.: νῦν δὲ γυναικῶν φῦλον ἀείσατε, ἡδυέπειαι / Μοῦσαι Ὀλυμπιάδες, κοῦραι Διὸς αἰγιόχοιο), so dass die beiden Texte eine Werkeinheit bilden.532 Zudem leitet ein zweiter Musenanruf in Th. 965–968533 einen Katalog von aus der Verbindung von Göttinnen und sterblichen Männern hervorgegangenen Halbgöttern ein, so dass damit die andere Hälfte mütterlicherseits göttlicher Heroen abgedeckt ist, und dieser Katalog mündet, wie gesagt, in den Frauenkatalog. 529

Zu Hesiod als Lügner vgl. den Kommentar zu §8: τὸν ποιητὴν ἐκεῖνον ἀληθεύειν [...]. Zur ebenfalls ambivalenten Beurteilung einer weiteren prominenten Vergleichsfigur im Text, Alexander dem Grossen, vgl. die einleitenden Bemerkungen zu §5. 531 Häufig ist die Junktur θεῶν γένος, vgl. z.B. Hesiod Th. 44; Euripides fr. 318,3–4 Kannicht und Hipp. 7; Sophokles Aj. 397; Aristophanes Th. 312; Platon Phd. 82b8 und Phdr. 246d7; relativ nahe an vorliegender Formulierung auch Ion 531c8–9: γενέσεις καὶ θεῶν καὶ ἡρώων. Vgl. nachlukianisch Euseb. PE 4,5,1: μεθ’ ὃν γένος τὸ θεῶν ὑπάρχειν δεύτερον, ἑπόμενον δὲ τὸ δαιμόνων, τὸ δὲ ἡρώων τέταρτον und Comm. in Is. 1,75: θεῶν καὶ ἡρώων καὶ νεκύων γένη. 532 Vgl. DNP 5 s.v. Hesiod, Sp. 508: »Theogonie und Frauenkatalog wurden offensichtlich als ein Ganzes betrachtet.« Diese Sichtweise wird durch die vorliegende Formulierung Lukians bestätigt. 533 Νῦν δὲ θεάων φῦλον ἀείσατε, ἡδυέπειαι / Μοῦσαι Ὀλυμπιάδες, κοῦραι Διὸς αἰγιόχοιο, / ὅσσαι δὴ θνητοῖσι παρ’ ἀνδράσιν εὐνηθεῖσαι / ἀθάναται γείναντο θεοῖς ἐπιείκελα τέκνα. 530

§4: Einleitung (Prothesis/Dihegesis I)

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Ein wichtiges Zeugnis der Verbindung von »Göttern und Heroen« als zusammenfassende Wiedergabe der Inhalte von Hesiods Dichtung bietet folgendes Testimonum über Simonides (test. 47k Campbell; App. Vat. 217 Sternbach): Σιμωνίδης τὸν Ἡσίοδον κηπουρὸν ἔλεγε, τὸν δὲ Ὅμηρον στεφανηπλόκον, τὸν μὲν ὡς φυτεύσαντα τὰς περὶ θεῶν καὶ ἡρώων μυθολογίας, τὸν δὲ ὡς ἐξ αὐτῶν συμπλέξαντα τὸν Ἰλιάδος καὶ Ὀδυσσείας στέφανον.534 Zum Gedanken, dass Poesie generell über Götter und Heroen berichtet, vgl. Aelios Theon Progymnasmata, Rhetores Graeci vol. 2, p. 95,4 Spengel: οἱ δ’ αὐτοὶ οὗτοι [sc. τόποι] ἁρμόττουσιν καὶ πρὸς τὰς μυθικὰς διηγήσεις τάς τε ὑπὸ τῶν ποιητῶν καὶ τὰς ὑπὸ τῶν ἱστορικῶν λεγομένας περί τε θεῶν καὶ ἡρώων [...].535 κάτοχος ἐκ Μουσῶν Als Beispiel herangezogen wird hier das Bild des Dichters, der von den Göttern, konkret von den Musen inspiriert ist. Der Ratgeber zieht gemäss dem argumentum a maiore in minus den Schluss, dass doch, wenn Hesiod in kürzester Zeit zu einem so grossen Dichter werden konnte, dies für einen Redner ebenfalls zu schaffen sein müsste, wenn er die entsprechenden Hilfsmittel (parallel zum Lorbeer, zu den Musen) kenne. Genau diese liefert dann der Rednerlehrer (vgl. §§13ff.), der somit, wie es das Enthymem insinuiert, zur Muse wird. Die Bezugnahme auf Hesiod ist häufig, vgl. im Umfeld der Zweiten Sophistik Aristeides, der auf die Geschichte von Hesiods Dichterweihe auf dem Helikon anspielt in Or. 2,100. Lukians Œuvre weist insgesamt 7 Belege für κάτοχος (κατόχιμος, δυσκάτοχος, κατεχόμενος) auf,536 wovon zwei (Demon. 5, Timon 29) nichts direkt mit der Begeisterung von Dichtern zu tun haben. Unserer Stelle am nächsten kommt Hist. Conscr. 8, wo die entscheidende Differenz zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung dargelegt wird: Dem Dichter steht es, von den Musen begeistert (κάτοχος ἐκ Μουσῶν), frei, jegliche Themen – besonders Erfundenes und Phantastisches – zu behandeln, weil das zum Genus der Poesie gehört, während der Historiker bei den Tatsachen bleiben muss. Der Vergleich der zeitgenössischen Historiker mit den am Anfang von Hist. Conscr. (§1) beschriebenen Abderiten, die von einer enthusiastischen Krankheit befallen waren, eröffnet dem Autor das Feld für eine ge534 »Simonides sagte, Hesiod sei ein Gärtner, Homer aber ein Kranzflechter, weil der eine die mythologischen Geschichten über Götter und Heroen gepflanzt und der andere aus ihnen den Kranz von Ilias und Odyssee gewunden habe.« 535 »Ebendieselben [sc. Topoi] passen auch zu den mythischen Darstellungen der Dichter und Historiker über die Götter und Heroen [...].« 536 Dem. 5; J. Conf. 2; J. Trag. 30; Tim. 29; Adv. Ind. 15; Rh. Pr. 4; Hist. Conscr. 8.

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5. Kommentar (§§1–4)

nerelle Enthusiasmus-Parodie (vgl. das Vokabular §1: παρεκίνουν; §2: κατεσχημένοι; weiter §45; vgl. auch Anm. 550), die implizit auch hier in Rh. Pr. mitschwingt, da – selbst wenn für die Erzeugung von Poesie Enthusiasmus noch vertretbar sein könnte – die (prosaische) ῥητορικὴ τέχνη bestimmt nicht durch göttliche Eingebung zustande kommt.537 Lukianischen Witz birgt die Stelle in Adv. Ind. 15, wo dem ungebildeten Büchernarren auseinandergesetzt wird, dass Bücher zu besitzen noch nicht heisst, auch ihren Inhalt adäquat erfasst zu haben und daher gebildet zu sein. Es werden Beispiele angeführt, unter anderem der syrakusische Tyrann Dionysios, der glaubte, wenn er das Schreibtäfelchen des Aischylos besitze, dann werde er durch dessen Kraft ein grosser Dichter, κάτοχος ἐκ τοῦ πυξίου. Das Täfelchen des berühmten Tragikers soll die Rolle der Musen übernehmen und Inspiration bringen. Als gängiges Adjektiv erwähnt auch Pollux κάτοχος und Verwandtes an diversen Stellen (wichtig v.a. 1,15; 1,16; 1,19; 4,52), unter anderem mit Verweis auf die Dichtung und den Dichter, der nicht von irgendeinem Gott begeistert ist, sondern eben κάτοχος ἐκ Μουσῶν. Vgl. allgemein zur weitverbreiteten Metapher von Dichtung bzw. Literaturerschaffung aus göttlicher Inspiration heraus Whitmarsh [2001] 57–59 (mit Verweis auf Longin 13,2; Plat. Phdr. 245a; Ion 533c–e; Men. 99c–d). Das platonische Vokabular umfasst neben den Verbalbegriffen κατέχεσθαι und ἐνθουσιάζειν auch das häufige Adjektiv ἔνθεος. τῆς ποιητικῆς μεγαληγορίας Grundsätzlich bedeutet μεγαληγορία »Grossrednerei« und kann verschieden – positiv oder negativ – aufgefasst werden. Bei Pollux wird der Begriff mehrfach erwähnt, sowohl das Verb als auch das Substantiv (und weitere Bildungen), jedoch nicht spezifisch im Zusammenhang mit Dichtung oder hohem Stil, sondern neutral (z.B. 2,126) oder als »Grosstuerei, Prahlerei«, als Synonym zu αὐχεῖν, κόμπος etc. (9,145–147). Lukian verwendet das Wort sonst noch viermal, davon dreimal wie hier verbunden mit einem hohen Redestil, der in Epik (Charon 23,20) oder dichtungsnaher Textsorte (Hist. Conscr. 45) verwendet wird; gekoppelt mit der (Stil-)Höhe, also Bildsprache (ἄνω) in Sacr. 9: πρέπει γάρ, οἶμαι, ἄνω ὄντα μεγαληγορεῖν. Wichtig ist in unserem Kontext vor allem die Bedeutung in den rhetorischen Schriften und in der Rhetoriktheorie: Dionysios von Halikarnass be537 Zu Lukians kritisch-ambivalenter Diskussion über Enthusiasmus vgl. auch die kurze Schrift Hesiodus, worin sich Hesiod gegen den Vorwurf des Lügens dadurch verteidigt, dass er den Inhalt seiner Dichtung nicht selbst zu verantworten habe, sie ihm vielmehr vollständig von den Musen her eingegeben sei – was seine eigene dichterische Tätigkeit wiederum abwertet. Zu Hesiod als Lügner vgl. auch den Kommentar zu §8: τὸν ποιητὴν ἐκεῖνον ἀληθεύειν [...].

§4: Einleitung (Prothesis/Dihegesis I)

197

nutzt das Wort in der Diskussion des Stils des Demosthenes (Dem. 4,19 und 45,39) und des Thukydides (Thuk. 27,3) – beide werden in Bezug darauf positiv beurteilt. Demosthenes hat die μεγαληγορία von Thukydides und Gorgias übernommen und verwendet sie korrekt in politischen Reden (nicht überall ist sie angebracht). Übersetzen kann man den Terminus mit »Erhabenheit, Gehobenheit (im Stil)« (vgl. LSJ s.v.: elevation, sublimity of diction). Auch Longin538 handelt den Terminus mehrfach ab (8,4; 15,1; 16,1; 39,2). Grundsätzlich kann diese Stilqualität Prosa- und Poesieautoren zukommen, sie wird hier durch die Hinzufügung des Adjektivs ποιητικός als poetisches Merkmal charakterisiert. Gleichzeitig wird der an sich positive rhetorische Terminus μεγαληγορία (vgl. Dion. Hal. oben), dem allerdings die Gefahr des Übertreibens inhärent ist, durch die Hinzufügung des ironisierenden Begriffs des Dichterischen (hinter dem der ambivalent gezeichnete Dichter Hesiod steht) negativ eingefärbt.539 Der gesamte Vergleich ist also deutlich ironisiert, denn einerseits gibt sich der Ratgeber bezüglich der von ihm vertretenen Rhetorik bescheiden – er steht weit unter Hesiods Dichtung (πολὺ ἔνερθε ποιητικῆς μεγαληγορίας), Hesiod ist auf der Stelle (αὐτίκα μάλα) zum Dichter geworden, der Redner wird es bloss rasch (ἐν βραχεῖ) werden –, andererseits aber liegt in der Wortwahl (φύλλα, κάτοχος [Enthusiasmus-Parodie], ποιητικὴ μεγαληγορία) ein ironischer Ton, der klar macht, dass die Rhetorik kaum unter der Poesie angesetzt werden bzw. sich ihr bescheiden unterordnen soll.

538

Ich verwende hier und im Folgenden trotz der umstrittenen Autorschaft die Bezeichnung »Longin«, da »Ps.-Longin« (ebenfalls häufig anzutreffen) den Anschein erweckt, dass die Schrift Περὶ ὕψους einem Longin fälschlich zugeschrieben sei, während der Streitpunkt vielmehr in der nicht zu sichernden Existenz des Longin als historische Person liegt. Vgl. auch Whitmarsh [2001] 57 Anm. 69. 539 Zu Hesiod als ambivalenter Figur siehe den Kommentar oben zu: Ἡσίοδος μὲν ὀλίγα φύλλα [...] λαβὼν. – An dieser Stelle ist es wichtig anzumerken, dass die Kombination der Begriffe ποιητής und μεγαληγορία nicht negativ sein muss, der gehobene Stil ist vielmehr für Dichtung unabdingbar, man vergleiche Philostr. Heroicus 55,6 (Teubner): ὁ Ἡρακλῆς [...] μεγαληγορίαν ἐπαινῶν, παρ’ ἧς δεῖ δήπου τὸν ποιητὴν φθέγγεσθαι. Doch hängt die Beurteilung der dichterischen Sprache davon ab, wie der Dichter selbst beurteilt wird. Eine ambivalente Verwendung der beiden Begriffe findet sich auch bei Plut. mor. 331a4.

198

5. Kommentar (§5)

§5: Illustrierende Geschichte (Parekbasis) Der im Stil eines Exkurses (παρέκβασις) gehaltene Einschub einer Geschichte illustriert die vom Ratgeber verfochtene Meinung, dass jeder, wenn er der richtigen Empfehlung – und sei sie auch noch so unglaublich – Glauben schenkt und ihr folgt, Nutzen daraus ziehen kann.540 Der Ratgeber ist von Anfang an darum bemüht, seinem Zögling vertrauenswürdig und kompetent zu erscheinen (er soll auf ihn hören, seine Anleitungen befolgen, vgl. §1: ἐμμένειν οἷς ἂν ἀκούσῃς), was er unter anderem durch eine Absetzung von anderen Vertretern des Berufs erreicht (er kennt beide Wege, und damit auch den richtigen für den Zögling, vgl. §3: οὐ γάρ σε τραχεῖάν τινα οὐδὲ ὄρθιον [...] ἄξομεν) und was er auch argumentativ untermauert (vgl. Hesiod und Dichtkunst §4).541 Die Geschichte des Händlers aus Sidon soll nun seinen Ratschlag durch die Parallelität der Situation unterstützen: Auch Alexander bzw. dessen Briefboten hätten einen raschen Weg nach Ägypten finden können, hätten sie nur dem sidonischen Händler Glauben geschenkt, auch wenn dessen Ratschlag unglaublich klang (vgl. bereits §4: ἡ ὑπόσχεσις οὕτω μεγάλη; §5: τὸ παράδοξον τῆς ὑποσχέσεως). Den Rat des Händlers kommentiert der Ratgeber mit den Worten καὶ εἶχεν οὕτως (siehe dazu genauer unten unter dem entsprechenden Lemma). Die Kernbegriffe in diesem ›Beglaubigungsapparat‹ des kurzen Weges stammen aus dem semantischen Bereich »Glaubwürdigkeit, Glauben, Vertrauen« bzw. dessen Gegenteil, was bereits in §4 anklingt (μὴ ἀπιστήσῃς) und in §5 verstärkt auftaucht (δι’ ἀπιστίαν; ὁ Ἀλέξανδρος οὐκ ἐπίστευσεν; ἄπιστον; vgl. weiter im Schlusswort §26: σὺ δὲ ἢν πεισθῇς τοῖς εἰρημένοις [...]). Im rhetorischen Sinn thematisiert der Ratgeber hier das Ziel jeder Rede, das darin besteht, die Hörer zu überzeugen.542 Er macht später klar (§10), dass ihm (bzw. dem von ihm empfohlenen Rednerlehrer) Vertrauen zu schenken gleichzeitig heisst, dem Lehrer des langen Weges nicht zu vertrauen (σὺ δὲ μήτε πείθεσθαι [...]). 540

Die Geschichte des sidonischen Händlers hat in der antiken Literatur sonst keine Parallele, sondern scheint hier von Lukian frei erfunden zu sein. Damit beruht das Hauptargument des Ratgebers auf einer ihm vom Autor in den Mund gelegten Episode, die unglaublich klingt. 541 Er gibt damit eine Scheinobjektivität vor; in dasselbe rhetorische Repertoire gehört die Betonung seiner Autopsie in §8. Zur Schwäche und zur Ironisierung des Hesiod-Arguments s.o. §4. 542 Vgl. zur rhetorischen Theorie Arist. Rh. 1355b25f. Der Ratgeber selbst erscheint durch das Fehlen von ablehnenden Äusserungen seines Schülers auf der Oberfläche des Textes überzeugend (s. gleich), und auch der Rednerlehrer gibt vor, dass sein Ausbildungsgang dieses Element der Rhetorik problemlos leiste, da der Schüler schliesslich selbst glaubwürdig und überzeugend werden wird (vgl. §20: οὐκ ἔχουσιν ὅπως ἀπιστήσουσιν; §22: διαβολαὶ πιθαναί).

§5: Illustrierende Geschichte (Parekbasis)

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Zur Parallelität der Redeweise des Händlers und des Ratgebers vgl. auch die direkt wiedergegebene Rede des Händlers »ἐγώ σοι, ὦ βασιλεῦ, ὑπισχνοῦμαι δείξειν ὁδὸν οὐ πολλὴν [...]« – genau diese Äusserung wäre auch zu Beginn der Schrift als Antwort auf das Begehren des jungen Mannes denkbar gewesen: Man vergleiche die inhaltlich identische, allerdings anders und ausführlicher formulierte Antwort in §3 mit Betonung der Kürze des in Aussicht gestellten Weges sowie den Begriff ὑπόσχεσις am Anfang von §4 und am Ende von §5. Die Verwendung desselben Terminus ›umschliesst‹ und vereint die Versprechung an den Rhetorikanwärter sowie diejenige an Alexander und stärkt so den Vergleich. Der Redestil des Händlers ist allerdings kürzer und prägnanter als derjenige des Ratgebers, was zum anekdotenhaften Einschub passt; seine zwei Sätze umfassende Empfehlung an Alexander wird vom Ratgeber ebenso prägnant bejaht, denn beide, Händler und Ratgeber, stehen für den kurzen Weg ein, so dass die logische Konsequenz für den Ratgeber darin liegt, dem Händler zuzustimmen. Zu den verglichenen Personen und den damit verbundenen Implikationen für die Schrift ist Folgendes zu beachten: Der Vergleich parallelisiert die Figuren Sidonischer Händler/Ratgeber und Alexander/Schüler sowie die Reaktion letzterer auf das unglaubliche Angebot des Händlers aus Sidon bzw. des Ratgebers. Die Reaktion des Schülers soll allerdings anders ausfallen, indem er dem Ratschlag Glauben schenkt: Dies wird im Text sogleich dadurch umgesetzt, dass der Schüler, da er ja nicht zu Wort kommt, den Rat auch nicht als unglaublich zurückweist, so dass der Ratgeber den Händler in der rhetorisch-überzeugenden Kraft übertrifft, was der Autor durch den formalen Trick der monologischen Gestaltung erreicht. Die Bedeutung ausgerechnet eines sidonischen Händlers als Vergleichsfigur könnte m. E. in der Geltung der Sidonier als Narren liegen, was auf die Figurenstilisierung des Ratgebers entscheidende Auswirkungen hätte.543 Diese illustrative Geschichte ist ein Angelpunkt der ganzen Darstellung in Rh. Pr.: Hier wird den Rezipierenden durch den Vergleichsstatus der Anekdote im Sinne ›poetologischer‹ Äusserungen einiges über die mögliche Deutung der nachfolgenden Rhetorikdarstellung aufgezeigt – und daher hängt von der Person des Händlers viel ab, weswegen seine Nationalität keine Zufälligkeit darstellen dürfte, er von Lukian vielmehr bewusst als Sidonier im Sinn eines Narren markiert sein könnte. Die Stilisierung des Ratgebers als Händler und des Schülers als Alexander ist eine Art Bescheidenheitstopos, der gleichzeitig dem Schüler durch die ihm zugewiesene Herrscherrolle schmeichelt. Die Alexanderfigur ist in diesem Vergleich jedoch ambivalent gezeichnet, denn in den Augen des Ratgebers erscheint sie negativ durch ihren Unglauben und die daraus fol543

Vgl. unten den Kommentar zu: Σιδωνίου τινὸς ἐμπόρου sowie die Einleitung 1.6, S. 63f.

200

5. Kommentar (§5)

gende falsche Entscheidung.544 Im grösseren Textzusammenhang betrachtet und falls man den Sidonier als Narrenfigur interpretiert, deren Aussagen beim Rezipienten eine gewisse Vorsicht gegenüber dem Inhalt hervorrufen sollen, steht Alexander wiederum positiv da, weil er den Narren entlarvt. Er bekommt dadurch eine Vorbildfunktion für die mögliche Reaktion von Schüler und Rezipient auf die Figuren des Ratgebers und Rednerlehrers. Die Figur Alexanders ist also genauso ambivalent als exemplum herangezogen wie es mit Hesiod geschieht (vgl. den Kommentar zu §4: Ἡσίοδος μὲν ὀλίγα φύλλα [...] λαβὼν sowie §7 und §8).545 Das Element der Alexander-Anekdote erfreut sich im Umfeld der Zweiten Sophistik grosser Beliebtheit, was mit dem zu dieser Zeit gängigen Schulrepertoire zusammenhängt:546 Sehr ähnlich, wenn auch auf viel breiterem Raum, führt Dion von Prusa (Or. 2 und 4) Alexander als Partner in einem Gespräch mit seinem Vater Philipp resp. dem Kyniker Diogenes ein, wobei ebenfalls eine allegorische Deutung auf die gegenwärtige Situation impliziert ist (Alexander = Kaiser Trajan / Philipp resp. Diogenes = Dion als Ratgeber). Auch Dion zeichnet Alexander als ambivalente Figur, die ratbedürftig ist und deren Charakter geformt werden muss.547 Weiter ist auf Plutarchs Schrift De Alexandri magni fortuna aut virtute libri ii (mor. 326d–345b) und seine Alexandervita hinzuweisen, sowie auf Arrian An. und Ind. Alexander der Grosse findet auch in den theoretischen Angaben über Progymnasmata und ihre historischen Themen Erwähnung, insbesondere im Zusammenhang mit dem Progymnasma χρεία (Anekdote): Aelios Theon, Rhetores Graeci vol. 2, p. 98–100 und 110 Spengel sowie Nikolaos, Rhetores Graeci vol. 11, p. 21 Felten.548 Σιδωνίου τινὸς ἐμπόρου Es stellt sich die Frage nach der Bedeutung der geographischen Herkunft des Händlers als »Sidonier«. In der Witzsammlung des Philogelos sind drei 544 Man vergleiche die Verwendung des negativen Ausdrucks οἱ πολλοί in der abschliessenden, generalisierenden Bemerkung des Ratgebers: οὕτω τὸ παράδοξον τῆς ὑποσχέσεως ἄπιστον δοκεῖ τοῖς πολλοῖς. Alexander verhält sich damit nicht anders als jeder beliebige, unbedeutende Mensch. 545 Ebenfalls ambivalent ist Alexander wiederum in §7 impliziert, negativ erscheint er in Dial. Mort. 12 (siehe §7 unter den Lemmata οἵα ἡ Ἄορνος ἐφάνη [...] sowie Διονύσου τινὸς ἢ Ἡρακλέους). 546 Vgl. Zeitlin in Goldhill [2001] 202; Anderson [1976] 171–2; Bompaire [1958] 163–165 und spezifisch zu Lukians Verwendung von Anekdoten sowie zu den Quellen 443–460. 547 Siehe dazu Whitmarsh [2005] 68 und ausführlicher Whitmarsh [2001] Kap. 4, bes. 200– 206. 548 Siehe dazu Gibson [2004] 110 und 128 sowie Bompaire [1958] 164: »Il [sc. Alexandre] est par excellence un héros de chrie et suasoires et controverses; pas d’éloge de roi ou de général sans syncrisis avec Alexandre, pas de ›discours pour fêter un retour‹ sans rappel de ses exploits.«

§5: Illustrierende Geschichte (Parekbasis)

201

Nationalitäten prominent als dumm oder närrisch vertreten, es sind die Abderiten, die Kymäer und die Sidonier.549 Daraus könnte man den Schluss ziehen, dass Lukian den sidonischen Händler als Vergleichsfigur des Ratgebers darum einführt, um dem Rezipienten durch dieses Detail zu signalisieren, dass hier etwas Närrisches vor sich geht, dass der Ratgeber und seine Lehre – nicht nur, weil er ein ›falscher Sokrates‹ ist, sondern auch, weil er ein Narr ist – mit Vorsicht zu beurteilen sind.550 Auch die auf der syntaktisch-stilistischen Ebene erfolgende Verbindung des Sidoniers und seiner Sprechweise mit Unglaubwürdigkeit bzw. sein Erwecken von Misstrauen würde das Konzept der närrischen Figur unterstützen, vgl. Σιδωνίου τινὸς ἐμπόρου ἐπίνοιαν δι’ ἀπιστίαν ἀτελῆ γενομένην. Vor dem Hintergrund der Witzsammlung des Philogelos gewänne zudem die – ansonsten nicht recht motivierte – Anonymität des sidonischen Händlers Kontur, indem sie markierte, dass es hier um den (als Narr wohlbekannten) Typ des Sidoniers geht. Thierfelder ([1968] 16) weist jedoch darauf hin, dass im Falle Sidons – anders als bei Abdera und Kyme – keinerlei Nachrichten über die Dummheit der Bewohner ausserhalb des Philogelos vorhanden sind.551 So bleibt die hier vorgeschlagene Deutung unbeweisbar, scheint aber nicht unmöglich, denn dass solche Witze, wie sie Philogelos’ Sammlung über die Sidonier enthält, schon vor seiner Zeit kursierten, ist wahrscheinlich,552 und die einzige Stelle, in der Lukian einen Sidonier in ähnlichem Kontext erwähnt, bietet tatsächlich einen Witz auf dessen Kosten, genauer auf Kosten eines sidonischen Sophisten (Demon. 14). Die Witze des Philogelos über Sidonier (Nr. 128–139) sind in der Sammlung zu einem grossen Teil auch unter den Witzen über/mit σχολαστικοί enthalten, also doppelt vorhanden. Oft liegt das Komische in der Unmöglichkeit dessen, was der »Sidonier« (bzw. der »Gelehrte«) aussagt oder tut, so dass Paradoxes und schiefe Logik einen wichtigen Aspekt ausmachen.553 549 Abdera liegt an der thrakischen Küste, Kyme gehört zu den ionischen Küstenstädten Kleinasiens und Sidon liegt an der phönizischen Küste. 550 Man vergleiche Lukians Einführung der Abderiten in Hist. Conscr. 1–2, um sie mit den von ihm getadelten ›närrischen‹ zeitgenössischen Historikern in Verbindung zu bringen. Zur weiteren Bedeutung dieses Vergleichs und der Thematik der Parodie des ἐνθουσιασμός in Hist. Conscr. vgl. Möllendorff [2001] sowie die Bemerkungen oben zu §4: κάτοχος ἐκ Μουσῶν. 551 Vgl. daher Baldwin [1983] 84 mit dem Hinweis der Charakterisierung der Sidonier als Barbaren (was für vorliegende Stelle keine grosse Bedeutung hat): »Although its inhabitants did not have the reputation for stupidity enjoyed by Abdera and Kyme, Sidonians are classified with Thracians as examples of barbarians by Philostratus, Letters 42.« [meine Hervorhebung] 552 Die Sammlung gehört in der Form, wie sie uns überliefert ist, in die byzantinische Zeit (vgl. Thierfelder [1968] 13); die genaue Entstehung in früherer Zeit ist nicht festzumachen. 553 Vgl. Thierfelder [1968] 20f.: »Die Kalmäuserwitze, ebenso wie die übrigen Dummheitswitze unserer Sammlung, funktionieren meistens nach dem Prinzip der falschen Analogie. Auf andere Personen, Gegenstände, Verhältnisse oder Zeiten angewandt, wäre das Gesagte oder Getane

202

5. Kommentar (§5)

Und gerade das Element paradoxer Darstellung ist in den ersten Äusserungen des (mit dem Sidonier zu einer Person verschmelzenden) Ratgebers über den kurzen Weg prominent (vgl. den Kommentar zu §3: κατάντη und weiter zum Element der παραδοξολογία in Lukians Vorreden S. 73). Zudem zählt der Ratgeber selbst die berichtete Geschichte unter die Kategorie des »Unerwarteten« bzw. der »unerwarteten Ratschläge«, obwohl sie nicht im modernen Sinn paradoxe Elemente aufweist (vgl. οὕτω τὸ παράδοξον τῆς ὑποσχέσεως κτλ.).554 ἀνόνητον Das Adjektiv ἀνόνητος umfasst die beiden Bedeutungsfelder »nutzlos, unnütz« sowie »ungenutzt, (aus einem Hinderungsgrund, aus gewissen Umständen heraus) unnutzbar«; hier wird es im letzteren verwendet; es ist bei Lukian noch dreimal belegt, zweimal genauso (vgl. Nigr. 23,10; Dial. Mort. 29,3,1). Das sich nochmals differenzierende Bedeutungsfeld »ungenutzt / unnutzbar« eröffnet ein Wortspiel, welches aus dem »ungenutzten Ratschlag« auch einen »unnutzbaren« machen kann, so dass sich im lexikalischen Bereich die inhaltliche Ambivalenz widerspiegelt: Der Weg des Narren wäre in dieser impliziten Deutung unnutzbar, weil rein fiktiv, und daher unrealisierbar. Dasselbe würde gemäss dem Vergleichsstatus für die Reden von Ratgeber und Rednerlehrer gelten. Der einzige Hinterungsgrund, warum hier der Einfall des Händlers für den Zuhörer Alexander nicht nutzbar gemacht werden konnte, ist allerdings gemäss dem Ratgeber dessen Ungläubigkeit, ἀπιστία, die zwar aufgrund des erstaunlichen Vorschlags (und ggf. der ›närrischen‹ Persönlichkeit des Händlers) eine durchaus verständliche menschliche Reaktion ist, jedoch nicht die richtige, wie der Ratgeber betont: Er weist darauf hin, dass sich die Sache tatsächlich so verhielt, wie der Händler es darlegte,555 was natürrichtig. Aber das Denkschema, wie es einmal entworfen ist, wird dahin übertragen, wo es nicht passt, so dass sich absurde Konsequenzen ergeben: der Dumme übersieht irgendeinen Umstand, der die Sachlage entscheidend verändert, wie gesundem Menschenverstand ohne weiteres klar ist.« 554 Vgl. zur Thematik des ›Närrischen‹ auch die Bemerkungen zu §10: Κρονικὸς und zu Ägypten im Kontext einer seltsam unwirklichen Darstellung §24: ὑπὲρ Ξόϊν καὶ Θμοῦιν. 555 Vgl. gegen Ende des Kapitels: καὶ εἶχεν οὕτως. Diese klare Stellungnahme der Figur bleibt, gerade wenn der Ratgeber einer dem sidonischen Händler entsprechenden närrisch-schillernden Gestalt entspricht, letztlich ambivalent: Es wird in der Schwebe belassen, ob die Sache sich tatsächlich so verhalten könnte oder auch nicht. Zur Ambivalenz der Figur Alexanders und ihres Verhaltens siehe die einleitenden Bemerkungen zu §5. Mit dem verhältnismässig unwichtigen Hinderungsgrund vgl. man die Verwendung des Begriffes »ungenutzt, unnutzbar« in den drei Demosthenesbelegen mit dem Kontext einer äusserst gravierenden politischen Situation (Phil. 3,40,5; De coron. 141,9; De fals. leg. 315,6): Es ist jeweils diese politische Situation, die für ganze Poleis (die Athener) oder für Einzelpersonen die Unmöglichkeit einer Nutzung von Ressourcen hervorruft. – Aus sprachlich-attizistischer Sicht kann angemerkt werden, dass auch Pollux das Adjektiv

§5: Illustrierende Geschichte (Parekbasis)

203

lich auch für seinen Ratschlag gelten soll und damit die Wichtigkeit des Vertrauens in ihn hervorstreicht. Dies beinhaltet ein – wenn auch nur leicht angedeutetes – sektiererisches Element: Schliesse dich deinem Lehrer an, glaube fest an dessen Lehre und an deinen Erfolg, und es wird – selbst innert kürzester Zeit – zu einer grossen Rednerkarriere kommen!556 ἦρχε μὲν γὰρ [...] καθῃρηκώς Als Datum des Herrschaftsantritts Alexanders in Persien wird hier die entscheidende Schlacht genannt, die am 1. Oktober 331 v.Chr. in der Nähe der assyrischen Stadt Arbela (genauer bei Gaugamela) zwischen Alexanders und Dareios’ Streitmacht stattfand: Dareios wurde zur Flucht nach Medien (Ekbatana) gezwungen und gab dadurch die wichtigen Herrschaftsstädte Babylon, Susa und Persepolis mit all ihren Schätzen preis, wodurch Alexander die Herrschaft über Persien ›antreten‹ konnte. Vgl. CAH vol. 6, bes. 810–818 und Arrian Anabasis 3,8ff. Nach der Einführung der – möglicherweise aufgrund ihrer Narrenhaftigkeit – als Typ nicht weiter konkretisierten Figur des Sidoniers verlegt der Ratgeber seine Darstelllung nun stärker in einen historiographischen Duktus und errichtet durch die detaillierten Angaben über Alexanders Herrschaft und Verwaltungsapparat eine Beglaubigungsstrategie für die folgende Geschichte. γραμματηφόρους Textkritisches: Überliefert ist an dieser Stelle sowohl γραμματηφόρους (γ) als auch γραμματοφόρους (β) in der Bedeutung »Brief-Überbringer«; für beide Formen liegen weitere Belege vor (grundsätzlich spät), deren Verteilung einigermassen ausgeglichen zu sein scheint und die von demselben Autor auch wechselweise benutzt werden – z.B. mit ο: Plut. Pelopidas 10,8; Polyb. 2,61,4; mit η: Plut. Galba 8; Polyb. 29,25,2; nur mit η: Dion. Hal. Ant. Rom. 20,4. Da Lukian das Wort nur hier verwendet, muss die Entscheidung für die eine oder andere Form allein aufgrund der sonstigen Priorität der betroffenen Handschriftengruppen erfolgen; ich schliesse mich dabei Macleod (γ) an (vgl. die Vorbemerkungen zur Textgestaltung).

unter diversen Wörtern, die in den semantischen Bereich von »Schaden« und »Nutzen« gehören, verzeichnet (5,136): so verwende man für »nutzlos« unter anderem ἀνωφελές oder ἀνόνητον. 556 Man vergleiche das (als Negativum) dargestellte felsenfeste Vertrauen des naiven Hermotimos in seinen Lehrer (einen Stoiker), das Lykinos durch seine Enthüllungen über die Lebensweise desselben schliesslich zu brechen versteht (v.a. Hermot. 1–3, 7–12).

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5. Kommentar (§5)

πολλὴ εἰς Αἴγυπτον ἐγίγνετο ἡ ὁδός Hier erfolgt eine Wiederaufnahme der vom Beginn der Schrift her wohlbekannten Wegmetaphorik. Der sidonische Händler setzt der konventionellen bzw. durch die gängige Reisepraxis bestätigten Annahme über die Länge des Weges nach Ägypten einen kurzen Weg entgegen (vgl. seine Worte: Ἐγώ σοι [...] ὑπισχνοῦμαι δείξειν ὁδὸν οὐ πολλὴν).557 In dieser ›Lehre des kurzen Weges‹ entspricht er dem Ratgeber und dem später auftretenden Rednerlehrer. Siehe dazu auch unten unter dem Lemma: καὶ εἶχεν οὕτως. Die Tatsache, dass Ägypten in vorliegender Passage und auch in der Bilddarstellung der Rhetorik im Stil des Flussgottes Nil (§6) prominent erwähnt wird, könnte man so deuten, dass Ägypten hier gemäss der klassischen Vorstellung558 als Ort der Weisheit (bzw. in der Zweiten Sophistik als Ort der παιδεία) erscheint. So wäre mit dem Weg der Perser nach Ägypten der Weg des (noch) nicht Gebildeten zu Kultiviertheit und Bildung impliziert und dieser Weg schliesslich durch den Vergleich zwischen Alexanders Briefboten und dem jungen Rhetorikaspiranten auch eng mit dem zu Beginn der Schrift illustrierten Weg auf den Berg der Rhetorik verknüpft, der sich – je nachdem, wem man sich anschliesst – lang oder kurz gestalten kann. τὰ ὄρη [...] ἐρήμην πολλὴν Die angegebene Route von Persien nach Ägypten führt entlang dem persischen Bergland durch Babylonien nach Arabien, von dort aus nach Durchquerung einer grossen Wüste nach Ägypten. Mit dieser Wüste ist hier wohl die Syrische Wüste gemeint. Einiges an der angegebenen Route stimmt mit dem überein, was wir aus antiken Quellen über die Feldzüge des Dareios oder auch Alexanders selbst wissen, die gewöhnliche Route dürfte allerdings die Syrische Wüste ausgespart haben und der Richtung der alten persischen Königsstrasse ab Susa bis nach Mesopotamien hinauf gefolgt sein 557

566.

Vgl. den Kommentar unten zu: τὰ ὄρη [...] ἐρήμην πολλὴν und zum kurzen Weg Anm.

558 Zu nennen ist Herodots ägyptischer Logos, der als längster seiner Exkurse das gesamte zweite Buch der Historien umfasst und in der Ausführlichkeit der Beschreibung von Land und Leuten sicher dem Status Ägyptens als ältester Hochkultur Rechnung trägt (vgl. dazu R. Bichler, Herodots Welt, Berlin 2001, 145); vgl. konkret Hdt. 2,2–4 (das Alter Ägyptens, die gelehrten Priester von Heliopolis, die Erfindungen der Ägypter wie Zeitrechnung in Jahren und Monaten, Benennung der zwölf Götter); 2,160 (die Ägypter als weiseste [σοφώτατοι] der Menschen). Weiter ist Platon zu nennen, bei dem Alter und Wissen der Ägypter bzw. besonders der ägyptischen Priester ebenfalls mehrfach zur Sprache kommen: Berühmt ist die Passage in Phdr. 274c–275b, die Sage vom ägyptischen Gott Theuth als Erfinder inbesondere der Schrift, an die sich allerdings die Schriftkritik anschliesst; vgl. weiter Ti. 21a–25d, Kritias’ Bericht von Solons Erzählung über die Beziehungen zwischen Ur-Athen und Ägypten und über den Kampf mit Atlantis, was Solon wiederum von ägyptischen Priestern erfuhr (vgl. auch Kritias 113a). Vgl. weiter Plut. De Iside et Osiride 10.

§5: Illustrierende Geschichte (Parekbasis)

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(vgl. Hdt. 5,52), dann durch Syrien bis nach Gaza geführt haben, wo tatsächlich ein Wüstenabschnitt zu durchqueren war, um zum östlichen Nildelta zu gelangen (vgl. die Angaben zu Kambyses’ Feldzug nach Ägypten in CAH vol. 4,48 und auch zu Alexander CAH vol. 6,376). Lukian benutzt hier also tatsächlich vorhandene geographische Elemente wie Gebirge und Wüstenlandschaft, allerdings in einer Weise, welche den Weg als ganz besonders anstrengend markieren. περάσαντας Textkritisches: Überliefert sind an dieser Stelle ἐπελάσαντας (β) und ἐλάσαντας (γ). Die Lesart von γ hat kein Herausgeber in den Text gesetzt, Macleod gibt die Lesart von β, das Part. Aor. Akk. Pl. von ἐπελαύνω. Das Verb hat grundsätzlich die Bedeutung »darübertreiben« oder »anrücken«, erfordert hier allerdings den Sinn »darüber hinziehen, durchziehen«. Trotz der semantischen Schwierigkeit hält Macleod an der Überlieferung fest, ändert aber das weiter unten überlieferte διανύσαντα entsprechend in eine Pluralform (bezogen auf die Briefboten). Das Problem liegt in der Konstruktion von ἐπελαύνειν, da der Akkusativ jeweils das Objekt angibt, das man »darübertreibt« bzw. an einen Ort führt (vgl. Hdt. 4,28: τὰς ἁμάξας ἐπελαύνουσι [...] ἐς τοὺς Σίνδους und 1,164,1: Ἅρπαγος [...] ἐπήλασε τὴν στρατιήν), und nicht das durchzogene Gebiet (hier: ἐρήμην πολλὴν); der Zielpunkt ist jeweils mit einem Präpositionalausdruck ausgedrückt. Das Kompositum ist mit einem Acc. loci sonst nicht belegt, was Anlass zu Konjekturen gegeben hat: Ich folge Bekkers περάσαντας und übernehme entsprechend die Pluralform διανύσαντας (wie auch Macleod).559 Trotzdem möchte ich anmerken, dass der überlieferte Text möglicherweise korrekt ist, da immerhin das Simplex ἐλαύνειν in der Konstruktion mit Acc. loci und in ähnlichem Kontext (»das stille Meer durchfahren«) belegt ist, vgl. Hom. Od. 7,319f.: οἱ δ’ ἐλόωσι γαλήνην, ὄφρ’ ἂν ἵκηαι / πατρίδα σὴν καὶ δῶμα [...] (mit der Parallele des damit in Verbindung stehenden Verbs [ἀφ]ικνεῖσθαι). εἴκοσι μηκίστους ἀνδρὶ εὐζώνῳ σταθμοὺς Hier liegt eine Entfernungsangabe im Stil der klassischen Historiker vor; vgl. zu ἀνδρὶ εὐζώνῳ z.B. Hdt. 1,104 oder Thuk. 2,97. Witzig adaptiert auf den Flug des mit Adler- und Geierschwingen ausgestatteten Ikaromenipp 559 Im Anschluss an Bekker, jedoch mit Aufrechterhaltung der Singularform διανύσαντα, druckt Harmon περάσαντα. Damit wird kein expliziter Bezug auf die Briefboten gemacht, sondern mit einem allgemeinen »man« gearbeitet; der überlieferte Singular διανύσαντα könnte im Text durch den Vergleich mit dem ἀνὴρ εὔζωνος entstanden sein, mir scheint jedoch eine Angleichung des ersten Partizips nicht sinnvoll, vielmehr sollte der Plural περάσαντας, der im überlieferten ἐπελάσαντας vorgegeben ist (man vgl. auch weiter oben κομίζοντας), beibehalten werden.

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5. Kommentar (§5)

verwendet Lukian diese Ausdrucksweise auch in Ikaromen. 1: [...] ἄνοδος καὶ ταῦτα γένοιτο εὐζώνῳ ἀετῷ μιᾶς ἡμέρας. Zum Begriff σταθμός vgl. z.B. Hdt. 5,52 und Xen. An. 1,2,5; σταθμός bedeutet grundsätzlich »Standort, Halteplatz, Nachtquartier« und bezeichnet die Plätze, die einem Reisenden an der Strasse zum Übernachten dienten. Daraus leitet sich die weitere Bedeutung »Tagesmarsch bzw. -reise« ab. Welcher Distanz eine solche Tagesreise entsprach, hing stark von der Route und ihrem Terrain ab, so dass Entfernungsangaben in Tagesreisen oft durch solche in Parasangen oder Stadien ergänzt sind,560 wie es in der obengenannten Passage bei Herodot (5,52) der Fall ist (siehe auch RE II.3 s.v. Σταθμός, Sp. 2177). Im Allgemeinen legte ein Reisender zu Fuss etwa 30–40 km pro Tag zurück (vgl. DNP 10 s.v. Reisen, Sp. 858), so dass die hier angegebene Distanz zwischen 600 und 800 km liegt.561 Deutet man die Reminiszenz an die klassische Angabe der Dauer einer Reise in Tagesmärschen aus, markiert sie im Vokabular das Alte bzw. Altmodische, das durch die neue Möglichkeit des kürzeren Weges überwunden ist.562 παρακινεῖν Drei Belege dieses Verbs sind bei Lukian vorhanden; neben Rh. Pr. (relativ wörtlich gebraucht, »verrücken, sich [von einer Bahn] wegbewegen«) noch Hist. Conscr. 1,9 und 45,12 (bezogen auf Poesie: »weggerissen werden in Richtung poetische Korybantie, Raserei«). Ähnlich auch das Bild des Verliebten in Plat. Phdr. 249d2, wo παρακινῶν ohne erklärenden Zusatz (übertragen) für »verwirrt sein« u.ä. steht. Für ein rationales »von einer Linie Abweichen« (auch in politischem Sinn) vgl. Plat. R. 591e (auch 540a) sowie Demosth. Or. 15,12. Bei Aristeides finden sich insgesamt 6 Belege des Verbs (Or. 11,56; 12,50; 26,65; 7,31; 16,39; 48,74), davon die ersten fünf in (im weiteren Sinn) politischem Zusammenhang, d.h. in der Bedeutung »eine Vereinbarung verletzen, einen Aufstand machen«. Dies entspricht dem hier vorliegenden Sinn bei Lukian, wobei sich exakt die Junktur τι παρακινεῖν in den ersten drei Aristeides-Belegen findet.563 560

Eine Parasange entspricht 30 Stadien (5,5 km); ein Stadion wiederum entpricht 600 Fuss und differiert je nach zugrunde liegendem Fussmass in der Länge zwischen 160–210 Metern. Das attische Stadion beträgt 186 m, das olympische hingegen 192 m (siehe DNP 11 s.v. Stadion). 561 Der oben (τὰ ὄρη [...] ἐρήμην πολλὴν) skizzierte gängige Weg von Persien nach Ägypten umfasste wohl mindestens doppelt so viele Kilometer. 562 Sowohl der Sidonier als auch der Ratgeber und der Rednerlehrer lehnen das Klassische, Althergebrachte, und damit auch explizit die klassischen Autoren, ab, vgl. Rh. Pr. 10 und 17. 563 Pollux (4,35) ordnet das Verb unter dem Oberbegriff ψόγος ein, wo diverse Begriffe für Verrat, vor allem aber im politischen Sinn Landesverrat, aufgezählt werden; als Umschreibung zu παρακινῶν nennt Pollux ἀνατρέπων τὴν πολιτεῖαν.

§5: Illustrierende Geschichte (Parekbasis)

207

Mit dem hier vorliegenden Text kann kein historisch konkret belegter Aufstand der Ägypter verbunden werden;564 die Ägypter empfanden Alexanders Herrschaftsübernahme sogar in gewissem Mass als Befreiung von der persischen Herrschaft. Die Stelle kann einzig einen vagen Verweis darstellen auf die überall im Herrschaftsgebiet entstehenden Unruhen in späterer Zeit, als Alexander im Zuge seiner Eroberungen lange im Fernen Osten weilte.565 τοῖς σατράπαις Aus historischer Sicht ist die Nennung von Satrapen hier ein Anachronismus und wiederspiegelt noch die Zeit der persischen Herrschaft, denn Alexander behielt zwar das Verwaltungssystem der Satrapien in verschiedenen Regionen, vor allem im persischen Kernland, bei, änderte jedoch die Verwaltungsform in Ägypten zugunsten der einheimischen Beamten und setzte für Ober- und Unterägypten je einen einheimischen Gouverneur ein, um die Bevölkerung vor Ausbeutung zu bewahren. Der oberste Finanzbeamte, Kleomenes aus Naukratis, nutzte allerdings seinen Einfluss dennoch aus. Siehe detaillierter CAH vol. 6,378 und 426. καὶ εἶχεν οὕτως Mit diesem bestätigenden Kommentar zum Ratschlag des Sidoniers schliesst sich der Ratgeber der (närrischen) Figur des Händlers an bzw. verschmilzt mit ihr, so dass an diesem Punkt die Aufmerksamkeit des Rezipienten für den ambivalenten Status der nachfolgenden und der schon erfolgten Empfehlungen nochmals geschärft wird: Die Aussagen von Ratgeber und Rednerlehrer sind mit Vorsicht zu geniessen bzw. unterliegen denselben Vorbehalten, die Alexander gegenüber dem unglaublichen Ratschlag des Händlers hatte. Vgl. dazu bereits die Einleitung 1.6, S. 63 und oben unter dem Lemma Σιδωνίου τινὸς ἐμπόρου. Liest man im Text weiter bis zum Anfang von §6, so wird deutlich, dass die Rhetorik des Ratgebers diejenige des Händlers noch übertrifft: Dauerte der alte, empirische Weg nach Ägypten lang, so ist der fiktive Weg des Sidoniers in drei Tagen zu bewältigen566 – der kurze Weg des Ratgebers bzw. Rednerlehrers allerdings entspricht einem Flug von nicht einmal einem Tag: vgl. [...] εἰ γάρ τις ὑπερβαίη τὰ ὄρη ταῦτα – ὑπερβαίη δ’ ἂν τριταῖος [...] und: εἴσῃ γὰρ πειρώμενος ὡς οὐδέν σε κωλύσει ἤδη ῥήτορα δοκεῖν μιᾶς 564 Es liegt wohl eher eine weitere Erfindung des Ratgebers bzw. Autors vor, vgl. zur Fiktionalität der gesamten Geschichte bereits Anm. 540. 565 Vgl. dazu CAH vol. 6,376f. und 416. 566 Die Angaben des Sidoniers sind absolut fiktiv, da zwischen Persien/Babylonien und Ägypten nicht etwa nur Gebirgszüge, sondern auch vor allem die Syrische Wüste liegt, die, wenn überhaupt, bestimmt nicht in drei Tagen bewältigbar wäre.

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5. Kommentar (§5)

οὐδὲ ὅλης ἡμέρας ὑπερπετασθέντα τὸ ὄρος ἐκ Περσῶν εἰς Αἴγυπτον. So präsentiert schliesslich der Ratgeber einen noch unglaublicheren (oder: närrischeren) Weg als derjenige seines alter ego es ist, indem er dessen Zeitspanne weiter verkürzt. γόητα γόης kann – ähnlich wie σοφιστής (vgl. §1) – in vielen Beudeutungsnuancen, von neutral bis negativ und für verschiedene Tätigkeiten verwendet werden. Drei Hauptbereiche sind festzustellen: Magier oder Zauberer können so bezeichnet werden, ferner (nicht weiter spezifizierte) Lügner und Betrüger und drittens Heuchler und Scharlatane in bestimmten Berufssparten, vor allem Sophisten/Redner und Philosophen. Dabei können diese Bedeutungsfelder selbstverständlich auch Überlappungen aufweisen.567 Phrynichos verzeichnet das Wort (PS 56,8) als ἀττικώτερον τοῦ μάγος. καὶ γοητεία. Der Kontext hier sind also Magie und Zauberei. Pollux wiederum bespricht in 4,47–51 die Terminologie zum Thema ὅστις δὲ βούλοιτο κακίζειν σοφιστήν, und bringt dabei an erster Stelle, man müsse den Terminus γόης verwenden (auch ἀπατεών, ein bei Lukian ebenfalls häufiger Begriff568), bzw. γοητευτικός (ἀπατητικός) mit dem Verb γοητεύειν (ἀπατᾶν), der Tätigkeitsbezeichnung γοητεία (ἀπάτη), dem Adverb γοητευτικῶς. Genau diese Verwendung findet sich in Lukians Satiren gegen Rhetoren und Philosophen, ebenso auch bei Demosthenes. Bereits in dessen Reden wird der Terminus (parallel zu den Grammatikerangaben) oft verbunden mit σοφιστής zur Diskreditierung der Gegner herangezogen. So soll Demosthenes selbst von Aischines als γόητα καὶ σοφιστήν bezeichnet worden sein (De corona 276,4), vgl. auch Stellen wie De falsa legatione 109,7 oder Contra Aphobum 3,32,2. Pollux erwähnt jedoch auch die (neutrale) Verwendung im religiös-mystischen Bereich, vgl. 7,188,10 neben μάγοι oder οἰωνισταί, ὀρνιθόσκοποι. Lukian verwendet das Substantiv γόης und seine Ableitungen häufig: An der hier vorliegenden Stelle bedeutet γόης ganz allgemein »Lügner, Betrüger«, sehr oft ist der Terminus aber bezogen auf einen Heuchler in einer bestimmten Berufs- oder Gelehrtensparte (eben einen »Sophisten«), meist Redner oder Philosophen (»Scheinphilosophen«; so auch schon Plat. Politikos 291c). Dies sieht man deutlich und an mehreren Stellen in der Schrift Pisc. (z.B. §§15,15; 25,13; 29,9; 42,21; 44,8), ebenso in Fugitivi (§17) und

567 Zur Herkunft des Wortes, seiner ursprünglichen Bedeutung zur Bezeichnung einer Person, die »kraft besonderer Begabung zum Mittelpunkt der rituell-kultischen Begehungen« wird, wie es bei Medizinmännern, Schamanen und Zauberpriestern der Fall ist, und zu seiner weiteren Bedeutungsentwicklung siehe Burkert [2006] 173–190 (Zitat 179). 568 E.g. Electr. 3; Pisc. 25 und 29; Pseudol. 17; Ikaromen. 30 (gegen Redner und Philosophen).

§5: Illustrierende Geschichte (Parekbasis)

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Pseudol. (§17).569 Alexanders Beurteilung des Händlers als γόης hat damit Implikationen für die Gestalt des Ratgebers: Auch er könnte bloss ein Scheinsophist sein. Zusammenfassend interessant zum Typ des Scheinphilosophen ist auch Dial. Mort. 20,8, wo verschiedene Personen ihren ›Ballast‹ abwerfen sollen, bevor sie Charons Boot besteigen, darunter ein falscher Philosoph (γόης), der allerlei Schlechtes (u.a. ἀναισχυντία, τρυφή, μαλακία) unter seiner Aufmachung (gestrenge, nachdenkliche Miene, Bart) verbirgt.570 Lukian gebraucht γόης auch im dritten Bedeutungsfeld zur Bezeichnung einer Art Magier im schlechten Sinne, von Scharlatanen im religiös-mystischen Bereich (z.B. Vit. Auct. 2,13).571 Die Überlappung von ›Showeffekten‹, einem bloss scheinbaren Fachwissen und dem Bereich der Zauberei/Magie wird in Alex. deutlich (z.B. §25, und vgl. zur Nähe dieser Bedeutungsfelder auch schon Platon Smp. 203d über die Beschaffenheit des Eros und seines Vaters Poros, die unter anderem mit den Attributen des Jägers, γόης, φαρμακεύς und σοφιστής versehen werden; weiter kombiniert σοφιστής und γοητεύειν in Euthyd. 288b8 über die Wandelbarkeit des Proteus, zum Stichwort Proteus in diesem Zusammenhang vgl. auch Lukian Dial. Mar. 4,1).572 569 Verwandte Begriffe wie ἀλαζών finden sich auch in Rh. Pr., allerdings nicht bezogen auf den ›Scheinsophisten‹, den Rednerlehrer, sondern zur Verunglimpfung des Lehrers des langen Weges (§10). 570 Hier finden sich zahlreiche inhaltliche, aber auch wörtliche Parallelen mit der Charakterisierung des Rednerlehrers in Rh. Pr. 11 und mit seiner Lehre in §§14–15. 571 Informativ zur Gestalt des Scharlatans bei Lukian und ihren Bezeichnungen ist Gerlach [2005], vgl. 151f.: »Der Scharlatan als literarische Figur des auf öffentliche Wirksamkeit und Eigengewinn zielenden Betrügers und Verstellungskünstlers bildet [...] keinen klar umrissenen Typus mit konstanten Merkmalen, sondern kann je nach Textsorte, Thema und Darstellungsziel des Autors Lukian seine Gestalt wechseln. In den Dialogen und menippeischen Satiren Lukians treiben zahlreiche Pseudophilosophen ihr Unwesen [...], während in den Schriften Pseudologista, Pseudosophista und Rhetorum Praeceptor rhetorische Scharlatane auftreten, deren angemasstes Spezialwissen als oberflächlich oder inexistent entlarvt wird. Doch muss sich der Betrug des Scharlatans nicht darin erschöpfen, in die Rolle eines Rhetors, Sophisten oder Philosophen zu schlüpfen und trickreich eine Paideia vorzuspiegeln, sondern kann sich ausweiten auf die Anmassung geheimen und übernatürlichen Wissens. Hieraus erwachsen dem Scharlatan neue Professionen, er erscheint als Wunderarzt, Magier, Beschwörer oder Zauberer. [...] Erst hier, könnte man sagen, kommt die lukianische Figur des Scharlatans als γόης zu ihrer Vollendung [...].« Vgl. weiter die treffende Charakterisierung des lukianischen Scharlatans als »›Mittelwesen‹, der Schein und Sein auf raffinierte Weise zu einem charismatischen Selbstauftritt amalgamiert« (Gerlach [2005] 167). 572 Gerade die Verwendung von γόης zur Bezeichnung von Sophisten wirft natürlich die Frage auf, wie dieses Wort bei Platon erscheint: Interessant ist für uns vor allem der Dialog Sophista (v.a. 234c, 235a), worin die Tätigkeit eines Sophisten, da er eine mimetische τέχνη, ein Trug(bild) mit Worten herstellend, betreibt, als τοῖς λόγοις γοητεύειν bezeichnet wird. Er selbst wird definiert als τῶν γοήτων ἐστί τις, μιμητὴς ὢν τῶν ὄντων [...], vgl. zur Thematik von ἀπάτη und ψεῦδος auch 264d. Grundsätzlich sind alle drei Bedeutungen, »Zauberer«, »(beruflicher) Scharlatan«, »Betrüger/Lügner« schon bei Platon angelegt, doch scheint mir die Verwendung des Terminus γόης bei Lukian kritischer und polemischer zu sein, bei Platon teilweise neutral bzw. in einem ab-

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5. Kommentar (§5)

τὸ παράδοξον Das der Erwartung oder der menschlichen Erfahrung Zuwiderlaufende einer ὑπόσχεσις ist es, das den Zuhörer ungläubig werden lässt. Doch man sollte sich, wie der Ratgeber betont, davon nicht abschrecken lassen. Und genau das Element des παράδοξον, man könnte auch sagen ὀξύμορον, findet sich bereits in den einleitenden Worten des Ratgebers auf der Textebene (siehe §3: κατάντη – ἀνιών). Zum Ausdruck vgl. bereits Plat. R. 472a: παράδοξον λόγον λέγειν (insg. 3 Belege, auch Politikos 281a und Lg. 821a).

§§6–8: Wiederaufnahme der Darstellung der zwei Wege zur Rhetorik (Prothesis/Dihegesis II) §6 Entgegen seiner Ankündigung, nun die zwei Wege zur Rhetorik mit einer in Worte gefassten Bilddarstellung im Stil des Kebes zu illustrieren, beschreibt der Ratgeber im folgenden Bild direkt das Ziel der Ausbildung, nämlich den Berggipfel, auf dem die personifizierte Rhetorik, umgeben von Reichtum, Ruhm, Stärke und Komplimenten, thront (vgl. bereits §3).573 Damit adaptiert er gleich den Höhepunkt der Tabula des Kebes (21,3: die Eudaimonia auf dem Berggipfel) und kommt erst später (§7) zur Wegbeschreibung, die in Kebes’ Werk vorangeht.574 So ist §6 ganz dem Thema der Heirat zwischen der Rhetorik und ihrem Liebhaber gewidmet. Diese Art von Abschweifung bzw. eine nicht ganz exakte Einlösung dessen, was angekündigt wird, wird in §8 fortgesetzt, wo der Ratgeber – nach einer Abbruchsformel in §7 – dazu übergeht, von seiner eigenen Person und Ausbildung zu sprechen.

strakteren Sinn, v.a. das Verb »täuschen«, z.B. in R. 412–413 (bezüglich der Wahl der Wächter, die immer nur gut handeln sollen, nicht bezauberbar sein dürfen, wobei »bezaubern« als durch Lust oder Furcht abgelenkt definiert wird); vgl. weiter R. 380d. 573 Über Bildbeschreibungen (εἰκόνες) als rhetorische Elemente zur Stärkung der ἐνάργεια (»Anschaulichkeit«) vgl. die Einleitung 1.1.2. 574 Es ist jedoch zu bemerken, dass die Tabula von Anfang an, in jeder Stufe ihrer Darstellung, sehr viele allegorische Figuren enthält, deren Aussehen und Wirken genau beschrieben sind (vgl. z.B.: 5,2: Ἀπάτη; 6,2: Δόξαι, Ἐπιθυμίαι, Ἡδοναί; 7,1: Τύχη; 9,1: Ἀκρασία, Ἀσωτία, Ἀπληστία, Κολακεία; 12,1: Ψευδοπαιδεία; 16,2: Ἐγκράτεια, Καρτερία; 18,1: Παιδεία, Ἀλήθεια, Πειθώ; 21,1: Εὐδαιμονία). Daher weist das vorliegende Bild des Ratgebers zumindest im Stil durchaus Anklänge auch an die Anfangspassagen der Tabula des Kebes auf.

§6: Wiederaufnahme der Wegdarstellung (Prothesis/Dihegesis II)

211

ὑπερπετασθέντα Die vorliegende Verbform ist in LSJ s.v. ὑπερπετάννυμι verzeichnet, allerdings vermerkt als Aorist von ὑπερπέτομαι bzw. poet. ὑπερπέταμαι (z.B. AP 5,259 und 7,546). Eigentlich gehörte das Aoristpartizip πετασθείς zu πετάννυμι (ἐπετάσθην) »strecken, ausbreiten«, doch muss hier rein von der Bedeutung her »fliegen« gemeint sein, also das Verb πέτομαι/πέταμαι zugrunde liegen, dessen Aoristpartizip gewöhnlich πτόμενος/πτάμενος (zu ἐπτό/άμην; auch ἔπτην) lautet, vgl. Hom. Il. 5,282; Ar. Av. 788ff. Diese Form findet sich später in Rh. Pr. 7: ὑπερπτῆναι, wo Form und Kontext eindeutig auf die vorangegangenen Kapitel 5 und 6 Bezug nehmen. Eine parallele Verwendung der Aoristform ὑπερ-επετάσθην findet sich bei Diodor 4,51,4, wo das Verb »überfliegen« bedeuten muss (der Kontext ist die Geschichte von Medea und Pelias; Medea erklärt den Kolchern, dass Artemis, nachdem sie diverse Orte überflog, ihre Stadt als Kultort erkoren habe): Ἄρτεμιν [...] ὑπερπετασθῆναι πολλὰ μέρη τῆς οἰκουμένης [...]. In LSJ wird unter ἐπετάσθην als Aoristform zum Simplex πέτομαι weiter Diodor 4,77,8 verzeichnet, wo von Dädalus und Ikarus und ihrem Flug die Rede ist (m. E. kann hier aber ἐκπετασθῆναι auch »ausbreiten [zum Flug]« bedeuten, also zu πετάννυμι gehören). Eindeutige Belege des Aorists πετασθῆναι in der Bedeutung »fliegen« sind Arist. HA 624b6 (im Zusammenhang mit der Sammeltaktik und dem Flug der Bienen), LXX Hosea 9,11; unsicherer in der Bedeutung, aber in LSJ vermerkt, Psalm 17. ὁ Κέβης ἐκεῖνος εἰκόνα γραψάμενος τῷ λόγῳ Gemeint ist Kebes aus Theben, Freund des Sokrates, Gesprächspartner in Phaidon (erwähnt auch in Plat. Kriton 45b und Xen. Mem. 1,2,48; 3,11,17). Zu Kebes als Mitglied bzw. Besucher des Kreises um Sokrates vgl. weiter Plut. mor. 11e, 580e, 590a; siehe weiter die Zusammenstellung der Zeugnisse zu Cebes Thebanus in SSR I C 27, 411, 412; I D 2; I E 2; I G 63; I H 1, 7, 12; III A 3, 7; VI A 102. Ausführlich zu Kebes vgl. Nesselrath [2005] 38–61. Diesem Kebes werden drei nicht erhaltene Dialoge mit den Titeln Pinax, Hebdome und Phrynichos zugeschrieben, vgl. D. L. 2,125: Κέβης ὁ Θηβαῖος· καὶ τούτου φέρονται διάλογοι τρεῖς· Πίναξ, Ἑβδόμη, Φρύνιχος. Es handelt sich allerdings bei dem unter dem Namen des Kebes überlieferten Dialog mit dem Titel πίναξ (»Tafel, Gemälde, Bild«; im Folgenden lat. Tabula), auf den hier mit εἰκών (»Bild«) angespielt wird, um eine pseudepigraphe, d.h. unter falschem Namen bekannte Schrift, deren Datierung umstritten ist (wahrscheinlich 1. Jh. n.Chr.575). Frühester Zeuge ist Lukian (neben dieser Stelle auch Merc. Cond. 42; vgl. auch Pollux 3,95 und Tert. 575

So Fitzgerald/White [1983] 4; sich anschliessend Hirsch-Luipold [2005] 29.

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5. Kommentar (§§6–8)

De Praescr. Haeret. 39), dessen Schriften einen terminus ante quem für die Entstehungszeit der Tabula liefern. Die Pseudepigraphie der Schrift wird seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr bestritten.576 Die Tabula nimmt einerseits Elemente des sokratischen Dialogs auf sowie eine Art von Frage-Antwort-Gespräch, welches als ἐρωταπόκρισις bezeichnet wird und dessen Spezifikum darin besteht, dass der fragende Gesprächspartner in seinem Wissen unterlegen ist, während der antwortende Gesprächspartner weitaus länger spricht (dies ist in Rh. Pr. genauso der Fall), andererseits ist auch die literarische Form der Ekphrasis wichtig, der Bildbeschreibung, die gerade in der Zweiten Sophistik verbreitet ist (bei Lukian prominent in Navigium, Toxaris, Eikones; vgl. auch Philostrats Imagines). Genau dieses Genus der Ekphrasis ruft der Sprecher an dieser Stelle in Rh. Pr. auf, wenn er »ein Bild mit Worten malend« die beiden Wege zu illustrieren gedenkt.577 Vgl. zum rhetorischen Begriff des Bildes (εἰκών) Arist. Rh. 3,4 und 3,10. Zum Inhalt der Tabula sowie zu einem Vergleich mit Rh. Pr. siehe die Einleitung 1.4. τὴν Ῥητορικὴν [...], ἧς ἐρᾶν [...] Hier liegt zugleich eine Personifikation des Berufs der Rhetorik und die Metapher ihrer Heirat als Braut vor. Zur Brautmetaphorik vgl. weiter die Beschreibung der schönen Ῥητορική (πάνυ καλὴ, εὐπρόσωπος), sowie weiter unten ἐραστής, γαμήσειας, γεγαμηκότος. Dieselbe Metapher erscheint ausserdem in Rh. Pr. an zahlreichen weiteren Stellen: In §9 erklärt der Lehrer des langen Weges, der junge Mann werde, wenn er in den Fussstapfen der klassischen Vorbilder wandle und nicht vom Weg abkomme, rechtmässiger Ehemann der Rhetorik werden (νόμῳ γαμήσειν τὴν Ῥητορικήν); in §10 wird jedoch vom Weg der ›Alten‹ abgeraten, weil er viel zu lange dauere, man aber doch die Rhetorik heiraten wolle, solange man in voller Blüte stehe (εἰ πάντως ἐρᾷς καὶ τάχιστα ἐθέλεις τῇ Ῥητορικῇ συνεῖναι ἀκμάζων ἔτι, ὡς καὶ σπουδάζοιο πρὸς αὐτῆς [...]); vgl. auch §16 und §26. Die Personifikation einer Karriere findet sich bei Lukian auch in anderen Schriften (Somnium 6ff.: personifizierte Bildhauerei und Bildung; Bis Acc. 28: Rhetorik als sitzen gelassene Ehefrau).578 576 Ausschlaggebend sind v.a. Anachronismen; vgl. den Forschungsüberblick und Hinweise zur Begründung der (antiken) Zuschreibung an Kebes aus Theben bei Nesselrath [2005] 48–61. 577 Derselbe Verweis auf die Bilddarstellung in der Tabula des Kebes findet sich auch in Merc. Cond. 42: Βούλομαι [...] ὥσπερ ὁ Κέβης ἐκεῖνος εἰκόνα τινὰ τοῦ τοιούτου βίου σοι γράψαι [...]. 578 Vgl. zu diesen Schriften auch die Einleitung 1.5.a–b.

§6: Wiederaufnahme der Wegdarstellung (Prothesis/Dihegesis II)

213

Der Redner Aelios Aristeides, ein Zeitgenosse Lukians, stellt in Or. 33,19f. sein Verhältnis zur Rhetorik ebenfalls als Liebesbeziehung dar: Er sei ein wahrer ἐραστής der λόγοι, die ihm alles bedeuteten, so dass er ständig vor ihrer Türe herumstreife (τούτων [sc. τῶν λόγων] φοιτῶ θύρας). Überhaupt ist die Brautmetaphorik in der Zeit der Zweiten Sophistik verbreitet, vgl. z.B. Libanios’ Aussage, dass er sich für die Rhetorik als seine Braut entschieden habe (Or. 1,54), sowie generell die Junkturen λόγων ἐραστής / λόγων ἐρᾶν (z.B. Lib. Ep. 601, 685, 858).579 Die Personifikation der Rhetorik weist im vorliegenden Kontext der Wegmetaphorik v.a. Parallelen zu (moral-)philosophischen Texten auf (vgl. den expliziten Verweis auf Kebes’ Tabula; siehe zu dieser Schrift auch bereits die Einleitung 1.4). Vergleichbar sind aber auch die (hetärenhaften) Personifikationen der Εἰρήνη, Ὀπώρα und Θεωρία in Aristophanes’ Frieden, insbesondere Ὀπώρα als Braut des Trygaios und Stifterin von Erntesegen (vgl. unten: τὸ τῆς Ἀμαλθείας κέρας).580 τὸ τῆς Ἀμαλθείας κέρας Amaltheia ist eine kretische Nymphe, die Tochter des Haimonios, von deren Ziege Zeus nach seiner Geburt gesäugt wurde (vgl. Call. Jov. 1,49; Plut. Paroimiai hais Alexandreis echron, Centuria 2,27 mit dem Eintrag Ἀμαλθείας κέρας und Scholia in Homeri Iliadem 1,202; allgemein DNP 1 s.v. Amaltheia). Gemäss Plutarch machte Zeus diese Ziege zu einem Stern und gab eines ihrer Hörner zum Dank der Amaltheia mit der Eigenschaft, dass alles, was man sich wünscht (Plut.) bzw. jegliche τροφή (Schol. in Hom. Il.), aus dem Horn komme, vgl. lat. cornu copiae und (in komischer Adaptation) Ar. PCG 3.2, fr. 685a. Plutarch erklärt nicht nur den Ursprung dieses Ausdrucks, sondern auch dessen spätere allgemeine Verwendung: ὅθεν τοὺς εὐδαίμονάς φασιν Ἀμαλθείας κέρας ἔχειν.581 Eine andere Überlieferung findet sich in Schol. in Hom. Il. 21,194, dass nämlich Herakles, als er um Deianeira warb, dem Flussgott Acheloos ein Horn abbrach, ihm dieses aber wieder zurückgab, als er dafür von Acheloos das Horn der Amaltheia bekam.582 Der Ausdruck »Horn der Amaltheia« wurde auf jeden Fall sprich579 Siehe dazu Cribiore [2007] 155f. – Untersucht man etwaige platonische Anklänge der hier vorliegenden Metaphorik, sich mit einer τέχνη oder Wissenschaft zu verheiraten, wird man nicht fündig. Das Verb γαμεῖν ist bei Platon relativ selten belegt, das Substantiv γάμος häufiger; »Heirat« ist allerdings immer im wörtlichen Sinn verwendet, und weitaus die meisten Belege stammen denn auch aus Nomoi und Staat (e.g. Lg. 721a–d; R. 423e). 580 Vgl. Aristophanes Pax 520–538, 706–708, (zur Hetärenhaftigkeit) 849, 868, 1316–1357. 581 Vgl. genauso auch die Lukianscholien zur Stelle (p. 175 Rabe): Ἀμαλθείας* κέρας] ⌞τὸν Δία⌟ αἶγά φασι θρέψαι ⌞Ἀμάλθ⌟ειαν λεγομένην, ⌞ταύτης δὲ⌟ τὸ δεξιὸν κέρας βρύ⌞ειν τῆς π⌟αγκαρπίας ἤτοι ⌞πᾶν αἰ⌟σθητὸν ἀγαθὸν ἄ⌞φθονον⌟ ἔχειν. ἀπὸ τούτου πάντα ⌞τὰ εὐδαι⌟μόνως διάγοντα τὸ ⌞τῆς Ἀμα⌟λθείας ἔχειν κέρας ⌞φ⌟ασίν. 582 Für eine Bilddarstellung dieser Szene vgl. z.B. LIMC I.2, Acheloos 218.

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5. Kommentar (§§6–8)

wörtlich (vgl. Paroemiographi Graeci vol. 2, p. 54, Nr. 8: Gregorius Cyprius; sowie die oben genannte Stelle in vol. 1, p. 341, Nr. 27: Plutarch). Der Redneraspirant wird eine Frau ehelichen, die das Horn der Amaltheia – und damit nie endenden Reichtum und Überfluss sowie Glück (vgl. oben Plutarch τοὺς εὐδαίμονάς) – besitzt. Die Darstellung der zu erjagenden Braut auf einem Berggipfel, die, wie der Ratgeber sagt, an Kebes’ Tabula angelehnt ist, karikiert einmal mehr philosophisch-ernsthafte Literatur: Keine Anstrengung, eine kurze Zeitspanne und ein grosser Gewinn an Ansehen und materiellen Gütern – so lauten die Kernversprechungen des Ratgebers und seiner Bilddarstellung, wohingegen Kebes’ Schrift, genau wie Platon, einen anstrengenden, langen Weg zu echtem Wissen (ἐπιστήμη) und zum glücklichen Leben (εὐδαιμονία) ohne jegliche materiellen Interessen aufzeichnet (vgl. zum Begriff der εὐδαιμονία auch den Kommentar zu §8: εὐδαιμονήσεις). Das Bild der Rhetorik mit Füllhorn wird vom Ratgeber durch ein zweites – dasjenige des Nils – weiter illustriert, welches in den erhaltenen Nilstatuen, die den Gott jeweils mit einem Füllhorn zur Linken (anders hier: in der Rechten) zeigen, seine Bestätigung findet.583 ὑπερβρύον Das Verb ὑπερβρύω ist ein lukianisches hapax legomenon (so auch LSJ, mit der Übersetzung to be full to overflowing) und anderswo mit der Erweiterung ὑπερ- nicht belegt. Es ist jedoch häufig im Simplex βρύω (bei Hom. nur 1x Il. 17,56; ansonsten 3x τὸ ἔμβρυον Od. 9), Belege des Partizips βρύον z.B. bei Ar. Ra. 329; Plat. R. 383b6; Aischylos fr. 350 Radt; Soph. El. 422; Plut. mor. 1106c5. ἐπὶ θάτερα Textkritisches: Überliefert ist ἐπὶ θάτερα (γ); ἐν θατέρᾳ (β). Aufgrund der Wiederholung des Ausdrucks ἐπὶ θάτερα in §9 druckt Macleod das Syntagma auch hier; wohl in der Meinung, es sei zu wenig verständlich, entscheidet sich Harmon für ἐπὶ θατέρᾳ. Macleods Variante beinhaltet eine richtungsangebende Nuance »auf die eine/andere Seite [hin]« (so sicher in §9); da jedoch die Ausdrücke für Seitenangaben in der Form von Adjektiven im Akk. Pl. n. zwischen Richtung und Ort schwanken, vgl. ἐπ’ ἀριστερά (z.B. Il. 2,526), ἐπὶ δεξιά (»zur Linken, zur Rechten [hin]«), ist der Akkusativ hier m. E. unproblematisch und kann beibehalten werden. Damit kann zudem der tendenziell zuverlässigeren Handschriftengruppe γ gefolgt werden.584 583 584

Vgl. dazu im Appendix Abb. 1 und 2. Vgl. die einleitenden Bemerkungen zum griechischen Text, bes. Anmm. 473 und 474.

§6: Wiederaufnahme der Wegdarstellung (Prothesis/Dihegesis II)

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δόκει [...] ὁρᾶν Eine ähnliche Verwendung von δοκέω in Kombination mit ὁρᾶν in der Bedeutung »stell dir vor [...] zu sehen« auch in Luk. Ikaromen. 12 (Menipp nimmt seinen Gesprächspartner in Gedanken mit auf den Mond und beschreibt ihm die Aussicht, die er sich vorstellen soll: καὶ πρῶτόν γέ μοι πάνυ μικρὰν δόκει τινὰ τὴν γῆν ὁρᾶν [...]). Vgl. zur Bedeutung »glauben, sich vorstellen« LSJ unter I.: expect (iterat. of δέκομαι; hence think, suppose, imagine), mit der Bemerkung, dass diese Bedeutung oft in Verbindung mit Träumen oder Visionen belegt sei (was hier annähernd der Fall ist). Ähnlich auch Euripides IT 44f.: ἔδοξ’ ἐν ὕπνῳ τῆσδ’ ἀπαλλαχθεῖσα γῆς / οἰκεῖν ἐν Ἄργει [...]. παρέστωσαν [...] περιπλεκέσθωσαν Zu diesen Imperativendungen 3. P. Pl. aktiv -τωσαν und medium -σθωσαν siehe K.-G. I 1,39 (Übersicht). Das -ν (vgl. -των, -σθων) der 3. Person wird ersetzt (›verdeutlicht‹) durch die Endung -σαν (vgl. die Personalendung der Nebentempora aktiv, v.a. sigmatischer Aorist), weiter dazu Schwyzer [1939] 1,665 zur Ausbreitung von -σαν statt -ν zuerst in Aorist und Imperfekt, dann in Optativ und Imperativen. Erwartet würde regelmässig als Imperativ von παρ-εἶναι παρ-ἔστων (»sie sollen anwesend sein, dabei sein«), sowie περιπλεκέσθων (»sie sollen sich winden/schlingen um, sollen umarmen«) anstelle des erweiterten περιπλεκέσθωσαν. Zum verbreiteten Gebrauch dieser speziellen Imperativendungen im Attizismus vgl. Schmid [1887] 1,229.585 Vgl. auch unten zu Rh. Pr. 21: οἱ φίλοι ἀναπηδάτωσαν ἀεὶ καὶ [...] ἀποτινέτωσαν, [...] δορυφορείτωσαν; Rh. Pr. 23: ἔστωσαν. ἐκπετόμενοι Hier liegt das ›regelmässige‹ Partizip zu πέτομαι »fliegen« vor, vgl. den ›regelmässigen‹ Infinitiv in §7 und die Angaben zu §6: ὑπερπετασθέντα. τὸν Νεῖλον Zur Bedeutung der Erwähnung des Nils und Ägyptens vgl. den Kommentar zu §5: πολλὴ εἰς Αἴγυπτον ἐγίγνετο ἡ ὁδός.

585 Bei Dionysios von Halikarnass (Ant. Rom.) und bei Cassius Dio ist -έτωσαν die gängige Endung gegenüber dem früheren -όντων; genauso verhält es sich bei Lukian (22 Belege), z.B. Catapl. 5: ἐμβαινέτωσαν »sie sollen an Bord steigen«; Char. 10: ἐχέτωσαν »sie sollen haben«; Pisc. 24: καθιζέτωσαν »sie sollen sich setzen«.

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5. Kommentar (§§6–8)

πήχεις Philostrat der Ältere beschreibt in seinen Imagines (1,5,1) ein Bild mit dem Titel »Ellen« (πήχεις) in folgenden Worten: »Rings um den Nil spielen die Ellen, Bübchen so gross wie ihr Name es sagt, und der Nil freut sich über die Massen an ihnen, vor allem, weil sie über ihn verkünden, mit welcher Kraft er sich über Ägypten ergoss.« Hier wird ein ähnlicher Bildtyp beschrieben, wie der Sprecher in Rh. Pr. ihn uns vorstellen lässt. Die Ellen hiessen demnach so, weil sie eine Elle gross sind;586 doch ein weiteres Element wird von Philostrat ebenfalls genannt, nämlich, dass die Ägypter die Überschwemmungen des Nils – für die Fruchtbarkeit der Region höchst willkommen – in Ellen massen. Darüber gibt es diverse Textzeugnisse, vgl. Himer. Or. 14,1 (= Phot. Bibl. 371b28f.: Πήχεις οἱ Αἰγύπτιοι τὴν αὔξησιν τοῦ Νείλου προσαγορεύουσι καὶ μετροῦσι τὰ νάματα [...]); Nicephoros Gregoras Historia Romana 1,331,16; schliesslich auch die Elle als stehendes Beiwort des Nils in Paulus Silentiarius Descriptio sanctae sophiae 625 (εὐπήχει Νείλῳ) und in Heron Geometrica 4,10,15 neben anderen der Ellentypus Νειλῷος πῆχυς. Für eine Darstellung des Nils und der Ellen vgl. den Appendix, Abb. 1. πρόσει Imperativ zu προσ-εἶμι, in Komposition -ει neben -ιθι, vgl. Ar. Nu. 633: ἔξει (die Form kann als Präsens/Futur oder als Imperativ gedeutet werden, der Scholienkommentar dazu lautet: ἔξει· ἔξιθι); sprachhistorisch gesehen liegt hier der ursprüngliche Imperativ 2. P. Sg. mit Nullendung vor, vgl. thematisch λέγε-Ø; lat. i!, ama! etc. und Schwyzer [1939] 1,798, bes. Anm. 8, mit Hinweis auf den erstarrten homerischen Ausdruck εἰ δ’ ἄγε (wörtl. »geh und führe!«). Vgl. auch unten §17: μέτει. ὡς γαμήσειάς [...] ἔχοις Es liegt ein Finalsatz vor, wo nach dem Haupttempus im übergeordneten Satz der Konjunktiv (und nicht der oblique Optativ) erwartet würde; hier könnte allenfalls der Optativ als potentialer erklärt werden, da auf ein Haupttempus der Optativ folgen kann, »wenn die Handlung des Finalsatzes, ohne Rücksicht auf ihre Verwirklichung, als bloss gedacht, als reine Vorstellung erscheinen soll« (so Hom. Il. 7,339f.; Xen. An. 2,4,4). Häufiger jedoch weist dann auch der Hauptsatz einen Optativ auf und es tritt Modusassimilation ein, vgl. K.-G. II 2,382f. (mit Beispielen). Daher ist die vorliegende Optativverwendung wohl eher im Rahmen des ausgeweiteten Gebrauchs dieses Modus im Attizismus zu sehen, vgl. Schmid [1887] 1,50: 586 Eine Elle beträgt ca. 45 cm, gemessen wird der Unterarm bis zur Spitze des Mittelfingers (siehe DNP 7 s.v. Masse, Sp. 988).

§6: Wiederaufnahme der Wegdarstellung (Prothesis/Dihegesis II)

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Die Verwendung des Optativs in Finalsätzen mit ὡς (ἄν), obwohl im Hauptsatz ein historisches Tempus fehlt, ist in dieser Zeit gängig. Die Partikelverbindung ὡς ἄν (vgl. Rh. Pr. 15) ist beispielsweise bei Aelian häufig (z.B. VH 1,31 und 2,5; in klassischer Literatur noch selten, bei den Rednern und Platon gar nicht vertreten, und bei Haupttempus immer mit Konjunktiv verbunden), und die zusätzliche Konstruktion mit Optativ statt Konjunktiv tritt seit hadrianischer Zeit auf (vgl. Schmid [1893] 3,86; im Zusammenhang mit Aelian). Die Finalpartikel ὡς mit Opt. ist bei Philostrat gängig und auch bei Lukian häufig (vgl. Schmid [1896] 4,88; zu Philostrat), bei dem jedoch daneben zahlreiche Belege der Finalpartikel ἵνα zu finden sind (73 Belege). Vgl. zu diesem Optativgebrauch auch Rh. Pr. 10, 11 und 15: ὡς [...] σπουδάζοιο / ὡς [...] γνωρίζοις [...], μηδέ σε [...] διαλάθοι / ὡς ἂν [...] δυνηθείης. νόμῳ [...] τοῦ γεγαμηκότος Durch die Heirat mit der Rhetorik fällt also dem Redner all ihr Besitz zu, so dass sie völlig hinter ihm zurückgestuft wird bzw. ganz klar nur als Mittel zum Zweck, nämlich zu Reichtum und Ruhm, dient. Sie entspricht der kurtisanenhaften, niederen Rhetorik, wie wir sie auch in Bis Acc. treffen (vgl. die Einleitung 1.5.a). Die Ausbildung beider Wege wird durch das Endziel einer Heirat mit der Rhetorik markiert, vgl. §9: φήσει εὐδαίμονά σε ἔσεσθαι καὶ νόμῳ γαμήσειν τὴν Ῥητορικήν. Jedoch geschieht die Einfügung der Bezeichnung des »Rechtmässigen« (νόμῳ) auf unterschiedliche Weise: Der Lehrer des langen Weges betont die Rechtmässigkeit der Ehe mit der Rhetorik, die dann gegeben ist, wenn der Schüler den Spuren der klassischen Vorbilder wie Demosthenes und Platon folgt, während der Ratgeber das schamlose Ausbeuten und An-sich-Raffen jeglichen Gewinns aus der Rhetorik als rechtmässig hinstellt. Auffällig an der vorliegenden Bilddarstellung ist auch, dass kein Wort über das Wesen der Rhetorik gesagt wird, sondern nur ihr Äusseres sowie ihr Besitz beschrieben werden. Das erstaunt jedoch wenig, denn im propagierten Lehrgang ist nur das Endziel wichtig, welches nicht aus der Rhetorik im Sinn rhetorischer Kunst, sondern darin besteht, welche Güter sie zu vermitteln imstande ist. So gibt es bei der Kürze und Inhaltslosigkeit des leichten Weges über das Wesen der Rhetorik tatsächlich nichts zu sagen (vgl. den Lehrgang §§14ff., dessen Grundstein die »Unwissenheit«, ἀμαθία, bildet).

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5. Kommentar (§§6–8)

§7 εἶτα ἐπειδὰν πλησιάσῃς [...] ἀπογιγνώσκεις τὴν ἄνοδον Das einleitende εἶτα ist in diesem Zusammenhang in der Bedeutung »und doch, dennoch« zu verstehen, wie es neben (häufig temporalen) Partizipien587 zur Einleitung des Hauptsatzes auftritt, um Überraschung oder Inkongruenz auszudrücken (vgl. LSJ s.v. I.2; z.B. Aischylos Pr. 777 oder Sophokles Aj. 1092). Anschliessend an das Ende von §6 mit der Beschreibung des Endpunktes, des Erreichens aller Güter der Rhetorik, wird der Schritt zurück an den Anfangspunkt gemacht: Und doch wird der Schüler, wenn er sich dem Fuss des Berges nähert, erst einmal verzagen. Eigentlich bräuchte sich der Schüler beim Anblick des riesigen Berges keine Sorgen zu machen, weil er ja bereits mehrfach der Kürze und Leichtigkeit des Weges auf den Gipfel versichert worden ist (vgl. §§1–3). Trotzdem rollt der Ratgeber die (vermeintliche) Schwierigkeit der Wegwahl nochmals auf, indem er die Ekphrasis von §6 sogleich mit dem Bild der Bergfestung Aornos, die sich riesenhaft vor dem Schüler auftürmt, und der makedonischen Armee des Alexander, die sie überwindet, weiterführt.588 Danach schreitet der Ratgeber schliesslich zur angekündigten Darstellung der zwei Wege (εἶτα μετ’ ὀλίγον ὁρᾷς δύο τινὰς ὁδούς), die jedoch erstens eine inhaltliche Wiederholung von §3 bietet und zweitens noch dazu viel knapper ausfällt, so dass der Schüler über die Beschaffenheit der Wege nichts Neues erfährt. Warum also diese Wiederholung? Eine mögliche Erklärung scheint mir im Einschnitt der illustrierenden Geschichte von §5 zu liegen: Sie stellt einen Haltepunkt dar, an dem durch den Vergleich des Ratgebers wichtige Bemerkungen zur Thematik von Lehrer und Schüler, von Ratendem und Beratenem – ja von Narr und Genarrtem589 – und zur Glaubhaftigkeit eines Ratschlages fallen, die den Rezipienten zu einem vorsichtigen Umgang mit dem (unglaublichen) Inhalt des Dargebotenen aufrufen. Daher kann man die Rede des ›sidonischen‹ Ratgebers ab §6 als durch einen Neueinsatz markiert verstehen: Mit sozusagen geschärftem Verstand sollen die beiden Wege und ihre Beschaffenheit nochmals betrachtet werden. Aus Sicht des Ratgebers, der den Exkurs (§5) zum Beweis des kurzen Weges einsetzt – wenn dieser auch infolge der Unglaublichkeit der Geschichte nicht geleistet wird –, braucht die Möglichkeit der beiden Wege 587

Hier bei temporalem Nebensatz. Vgl. zur unerwartet ängstlich-verzagenden Darstellung des Schülers auch unten §8: εὖ οἶδα ὅτι ἀπορήσεις, καὶ ἤδη ἀπορεῖς, ὁποτέραν τρεπτέον. 589 Vgl. zum Ratgeber als Narrenfigur die Ausführungen auf S. 63f. 588

§7: Wiederaufnahme der Wegdarstellung (Prothesis/Dihegesis II)

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aber nur knapp nochmals aufgegriffen zu werden; er macht durch die Verwendung einer Abbruchsformel (καὶ ἔφθη γὰρ ἤδη Ἡσίοδος εὖ μάλα ὑποδείξας αὐτήν, ὥστε οὐδὲν ἐμοῦ δεήσει) klar, dass er sich der Wiederholung bewusst ist: Es bedarf nun diesbezüglich keiner weiteren Worte mehr (ἵνα μὴ πολλάκις τὰ αὐτὰ λέγων ἐπέχω σε ἤδη ῥήτορα εἶναι δυνάμενον). οἵα ἡ Ἄορνος ἐφάνη τοῖς Μακεδόσιν ἀπόξυρον [...] ἀτεχνῶς οὐδὲ ὀρνέοις ὑπερπτῆναι ῥᾳδίαν Gemeint ist hier die Bergfestung Aornos nahe dem Indus (heute wohl das pakistanische Gebirge Pir-Sar, vgl. zur geographischen Lage DNP 1 s.v. Aornos [2]), welche die Makedonen unter Alexander im Jahr 328 v.Chr. eroberten (vgl. Arrian An. 4,28,1–2 und Ind. 5,10). Sie galt als beinahe unmöglich einzunehmen, und aus der Annahme, dass sogar Vögel die Festung nicht oder kaum überfliegen konnten, geht die (volks-)etymologische Deutung ihres Namens hervor: A-ornos (»vogel-los«), vgl. dazu Hist. Alex. Magn. 3,4,8–9: Ἀόρνην λεγομένην διὰ τὸ μηδὲ ὀρνέοις ἐπιβατὴν εἶναι. Das Adjektiv ἀπόξυρος (»abgeschnitten, steil, schroff«) ist in der ganzen Gräzität sehr selten und erst kurz vor Lukian erstmals belegt;590 hervorgehoben wird es zudem durch die Alliteration von a-Lauten: ἀπόξυρον αὐτὴν ἁπανταχόθεν. Lukian verwendet das Wort noch in Prom. 1 (zur Beschreibung des Felsengebirges par excellence, des Kaukasus, an den Prometheus gefesselt wird); Ver. Hist. 2,30 (vgl. zu dieser Passage auch unten ἀκανθώδης); Nav. 8. ἀτεχνῶς ist das Adverb zum Adjektiv ἀτεχνής (anders als ἀτέχνως zu ἄτεχνος), mit der Bedeutung »ohne weiteres, ganz und gar« (vgl. LSJ s.v.: really, absolutely, simply). Διονύσου τινὸς ἢ Ἡρακλέους Die Erwähnung dieser (Halb-)götter als παραδείγματα spielt auf deren Reisen in den Fernen Osten an.591 Schon Alexander der Grosse verglich sich und seine Eroberungen mit ihnen, wobei er Herakles’ Reisen für unwesent590 Vgl. Erot. Vocum Hippocr. coll. 42,14 (Klein) und Periplus Maris Erythraei 40,18 (beide werden ins 1. Jh. n.Chr. datiert). – Häufiger belegt ist das Verb ἀποξυράω bzw. -έω, »abscheren, rasieren« (vor allem bei Medizinern, bereits Hippokrates, später Galen, Oreibasios, Aëtios, Paulos Aeg.), zu dem ἀπόξυρος eine Rückbildung ist (zugrunde liegt τὸ ξυρόν »Rasiermesser«); genauso auch ὑποξυράω/ὑπόξυρος, καταξυράω/κατάξυρος. 591 In Verbindung mit dem westlichsten Punkt der Oikumene, wo sich die Säulen des Herakles befinden, wird das Paar auch in Luk. Ver. Hist. 1,5–7 erwähnt: Der Ich-Erzähler beginnt seine Reise an der Strasse von Gibraltar in Richtung Westen auf den Atlantik hinaus, wo auf einer Insel eine bronzene Stele und zwei Fussabdrücke vom Besuch des Dionysos und Herakles Zeugnis ablegen. Zu Fussspuren als Zeugen vgl. auch den Kommentar zu §9: ὑποδεικνὺς τὰ Δημοσθένους ἴχνη κτλ.

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5. Kommentar (§§6–8)

lich hielt, während Dionysos Indien immerhin einnahm und dort seinen Kult verbreitete – jedoch gelang es gemäss Alexander weder Herakles noch Dionysos, Aornos einzunehmen (vgl. Arr. An. 4, 28,1; 5,26,5; Ind. 5,8–10; allerdings mit dem kritischen Kommentar des Autors, dass Alexander sich mit der Verbreitung dieser Geschichte von der bisherigen Uneinnehmbarkeit der Festung bloss brüsten wolle; vgl. weiter Diod. 17,85,2 und Hist. Alex. Magn. 3,4,9–10). Lukian lässt den prahlerischen Alexander bezüglich der Bergfestung Aornos in Dial. Mort. 12,6 – in Arrian vergleichbarem Stil – zu Wort kommen, in einem Gespräch mit seinem Vater Philipp. An der vorliegenden Stelle bietet Alexander zwar ein positives Beispiel, da er sich von der Höhe und Steilheit der Festung Aornos nicht abschrecken liess – ambivalent ist seine Unternehmung jedoch dadurch, dass gemäss dem Ratgeber gar kein mühsames Übersteigen des Berges nötig ist, so dass sich der Schüler im Vergleich mit Alexander einmal mehr nicht an dessen Vorbild halten soll. Abgesehen von den sie verbindenden Reisen in den Osten können die Vergleichsfiguren Herakles und Dionysos auch – in kontrastierender Gegenüberstellung – als Exponenten der zwei Wege interpretiert werden, die gleich im Anschluss erneut thematisiert sind (vgl. εἶτα μετ’ ὀλίγον ὁρᾷς δύο τινὰς ὁδοὺς [...]): Herakles ist das Paradebeispiel des Absolventen des mühevollen Weges (vgl. Xen. Mem. 2,1,21–33 und oben Einleitung 1.4); ihm entspricht der braungebrannte, kräftige, bäurische Lehrer des langen Weges.592 Der leichte, mit Schwelgerei verbundene Weg kann mit Dionysos in Zusammenhang gebracht werden, einerseits wegen dessen literarisch und ikonographisch bezeugter Schönheit, Eleganz und ›Weichheit‹,593 andererseits v.a. über den Exponenten des kurzen Weges, den Rednerlehrer, welcher dieselben äusserlichen Merkmale trägt und zudem durch den Vergleich mit einem Tragödienschauspieler in den Dramenkontext gesetzt wird (vgl. §11: Agathon; §12: ὑποκριτής). Insofern ist bereits hier das dionysische, d.h. maskenhafte Element eingeführt, welches die Sprechweise der Hauptfiguren – Ratgeber und Rednerlehrer – im Verlauf von Rh. Pr. immer stärker prägt. ἡ μὲν ἀτραπός Das Substantiv ἀτραπός wird sowohl in Prosa als auch in Poesie verwendet, bereits bei Homer (5 Belege insgesamt: Il. 17,743; 18,565; Od. 13,195; 14,1; 17,234, v.a. in der Form ἀταρπός bzw. ἀταρπιτός; vgl. zur Lautent592

Vgl. Rh. Pr. 9–10 und den Kommentar zu §12: ἄγροικον γὰρ τὸ ἀρρενωπὸν [...]. Vgl. dazu bereits den homerischen Hymnus an Dionysos, worin der Gott als junger, schöner Mann mit langem, schwarzem Haar beschrieben ist (Vv.1–6); siehe zur äusserlichen Effeminierung des Dionysos weiter DNP 3 s.v. Dionysos, Sp. 653 und Hamdorf [1986] 9–11 und 57. 593

§7: Wiederaufnahme der Wegdarstellung (Prothesis/Dihegesis II)

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wicklung von silbischem ρ als ρα und αρ Schwyzer [1939] 1,342), sowie bei Aristophanes (Nu. 76; Ra. 123) und Parmenides fr. 2 DK. Aus den Scholieneinträgen zu Homer und Aristophanes wird ersichtlich, dass als Charakteristikum eines ἀτραπός dessen Enge und Schmalheit (vgl. hier Rh. Pr. mit dem Attribut στενή) gelten, dass eine Person bereits die ganze Breite ausfüllt (μονο-πάτιον) und es keine Ausweich- oder Abbiegemöglichkeiten gibt (z.B. Schol. in Hom. Il. 17,743; Schol. in Hom. Od. 13,195; Schol. in Aristoph. Nub. 75a). Dazu passt auch die antike Etymologie aus alpha privativum und τρέπειν. Moderne Interpretationen weichen davon ab (alpha copulativum und τραπεῖν »trampeln« als »Trampelpfad«, vgl. LfgrE s.v. ἀταρπός).594 Dieses Substantiv zur Bezeichnung des anstrengenden Weges, der mehr ein Pfad ist als ein gut gangbarer Weg, verwendet Lukian in Rh. Pr. nur hier. Während der leichte Weg immer als ὁδός bezeichnet wird, ergänzt mit diversen positiven Attributen wie κατάντης (§3: »bergabführend«), ταχίστη (§4: »sehr schnell«), ῥᾴστη (§24 und §26: »sehr leicht«), benutzt Lukian in Verbindung mit dem anstrengenden Weg neben ὁδός auch Substantive, die dessen Abschüssigkeit, Schmal- und Steilheit betonen wie hier ἀτραπός, ferner κρημνός (§3: »Abhang«) und ἄνοδος (§3 und §7: »zu einer Anhöhe führender Weg, Aufstieg«). Vgl. auch Hermot. 26: ἀνὴρ κατὰ τὴν ἀρχὴν τῆς ἀτραποῦ ἑκάστης ἐφεστὼς [...]. In Kombination mit dem Adjektiv ἀκανθώδης (»dornig«) erscheint ἀτραπός auch in Ver. Hist. 2,30 (Landung der Schiffsmannschaft in einer rauen Insellandschaft, nämlich auf den Inseln der Verdammten, νῆσοι τῶν ἀσεβῶν): ἀνερπύσαντες [...] κατὰ τοὺς κρημνοὺς προῄειμεν διά τινος ἀκανθώδους καὶ σκολόπων μεστῆς ἀτραποῦ; vgl. zum Verb ἀνέρπειν und zum Substantiv κρημνός auch Rh. Pr. 3. Lukian verwendet also in Rh. Pr. und Ver. Hist. parallel für das Positive (kurzer Weg/Inseln der Seligen) das Motiv der idyllischen, schattigen Blumenwiese (vgl. §3: διὰ λειμώνων εὐανθῶν), für das Negative (langer Weg/Inseln der Verdammten) das Steinige, Abschüssige, Raue.595 ἀκανθώδης Ein den Attizisten geläufiges Adjektiv mit der Bedeutung »dornenreich«, vgl. Pollux 1,246,7 und Phryn. PS 14,8, sehr häufig in Verbindung mit

594 Zu ἀταρπός bei Homer als Bezeichnung eines holprigen, felsigen Pfades vgl. auch Becker [1937] 35. 595 Positiv konnotiert (nämlich als kurz und anstrengungslos) findet sich ἀτραπός in Menipp. 22: ταχεῖαν γάρ σοι καὶ ἀπράγμονα ὑποδείξω ἀτραπόν (wobei allerdings Menipp selbst seine Heimkehr aus dem Hades durch diesen Pfad als durchaus anstrengend beschreibt: χαλεπῶς μάλα διὰ τοῦ στομίου ἀνερπύσας).

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5. Kommentar (§§6–8)

Pflanzen (ἀκανθώδες φυτόν, so Schol. in Aristoph. Lysistr. 576; Schol. in Hom. Od. 14,10). Neben der bereits erwähnten Stelle in Ver. Hist. 2,30 (s.o. zu: ἡ μὲν ἀτραπός) findet sich das Adjektiv bei Lukian noch dreimal, immer zur Verspottung von Philosophen: Einerseits werden die Stoiker als eine »stachlige Fischsorte« beschrieben (Pisc. 51,2; 51,29), andererseits die Reden der Philosophen allgemein als »dornige Argumentationen« getadelt (Dial. Mort. 20,8). ἔφθη γὰρ ἤδη Ἡσίοδος εὖ μάλα ὑποδείξας αὐτήν Zur Konstruktion bestimmter Verben wie τυγχάνω, διάγω, λανθάνω, φθάνω mit Partizip vgl. K.-G. II 2,63. Im Deutschen wird das Verhältnis von Hauptverb und Partizip insofern umgekehrt, als das Partizip, auf dem der gedankliche Nachdruck liegt, zum Verbum finitum gemacht, dieses hingegen zu einem Adverb abgeschwächt wird (»Hesiod hat bereits beschrieben«). Angespielt wird hier auf Hesiod Erga 289–291: τῆς δ’ ἀρετῆς ἱδρῶτα θεοὶ προπάροιθεν ἔθηκαν / ἀθάνατοι· μακρὸς δὲ καὶ ὄρθιος οἶμος ἐς αὐτὴν / καὶ τρηχὺς τὸ πρῶτον· [...].596 Die in Rh. Pr. unmittelbar vorher aufgezählten Attribute στενή, ἀκανθώδης, τραχεῖα, πολὺ τὸ δίψος ἐμφαίνουσα καὶ ἱδρῶτα geben eine leicht erweiterte variatio von Hesiods Palette (ἱδρώς, μακρός, ὄρθιος, τρηχύς), welche in §3 (τραχεῖαν, ὄρθιον, ἱδρῶτος μεστὴν [ὁδόν], wenig später μακράν) wörtlich aufgenommen ist. Das Lob Hesiods an vorliegender Stelle betrifft vor allem seine Technik der Wegbeschreibung, die der Ratgeber, da er sie für gelungen hält, übernimmt. Was allerdings stillschweigend übergangen wird, ist die Tatsache, dass Hesiod nicht den langen Weg zur Rhetorik, sondern denjenigen zur Tugend (ἀρετή) beschrieben hat. Zur ansonsten vor allem negativ gezeichneten Hesiodfigur vgl. den Kommentar zu §4: Ἡσίοδος μὲν ὀλίγα φύλλα [...] λαβὼν. ἡ ἑτέρα δὲ πλατεῖα καὶ ἀνθηρὰ καὶ εὔυδρος [...] μικρῷ πρόσθεν εἶπον Vgl. die Attribute der ausführlicheren Beschreibung dieses Weges in §3: ἀνθηρὰ stellt eine variatio des Ausdrucks διὰ λειμώνων εὐανθῶν dar; πλατύς und εὔυδρος werden nur an dieser Stelle zur Charakterisierung verwendet, wobei ersteres im Gegensatz zum vorher erwähnten, speziell schmalen Weg steht und in der Aussage mit ἱππήλατος (§3) vergleichbar ist (vgl. Poll. 1,220: ἁμαξήλατοι, πλατεῖαι, εὐρυχώρια), zweiteres mit dem dargestellten Wasserreichtum ebenso einen Kontrapunkt zum obigen 596

Vgl. bereits die Einleitung 1.4 und den Kommentar zu §3: ἱδρῶτος μεστὴν.

§8: Wiederaufnahme der Wegdarstellung (Prothesis/Dihegesis II)

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Ausdruck πολὺ τὸ δίψος ἐμφαίνουσα bildet, genauso wie schliesslich ἀνθηρός als Gegenbild zu ἀκανθώδης aufgefasst werden kann (nur auf gepflegtem, dornenlosem Boden können Blumen gedeihen, vgl. dazu Pollux 1,246: ἐπὶ ἠμελημένου χωρίου ἄσπορον, ἄσκαφον [...] ἀκανθώδες). Sowohl ἀνθηρός als auch εὔυδρος sind gemäss Pollux die idealen positiven Attribute einer Gegend, χωρίον (vgl. Poll. 1,239 sowie die Angaben zu §3: διὰ λειμώνων εὐανθῶν).

§8 Nachdem der Ratgeber die Beschreibung der beiden Wege in §7 mehr angetippt als detailliert ausgeführt und mit einer Abbruchsformel beendet hat, nimmt er einen Perspektivenwechsel vor: Aus der Vergangenheit (man beachte den Tempuswechsel: εἶχεν) gibt er einen Selbsterfahrungsbericht, der letztlich zur Erklärung des Umstandes dient, weshalb er – selbst ein Absolvent des langen Weges – jetzt den kurzen empfiehlt. Seine Ausbildung und die damaligen Strapazen werden von ihm rückblickend als unnötig und hinsichtlich des Erfolgs enttäuschend eingestuft (vgl. dazu ausführlicher die Einleitung 1.6, S. 62f.). Der Ratgeber erreicht durch das Element der Autopsie, das in der Beschreibung seiner eigenen Wegwahl und in der Betonung, die Beschaffenheit des kurzen Weges ebenfalls gesehen zu haben, vorliegt, eine Scheinobjektivität, die den Schüler darin bestärken soll, ihm, der seinen Zögling nicht dieselben Fehler machen lassen will, zu vertrauen. οὐ πολλὰ ἴχνη τῶν ὁδοιπόρων εἶχεν, εἰ δέ τινα, πάνυ παλαιά Zum Widerspruch dieser Stelle im Vergleich mit §3 siehe die Einleitung 1.6, S. 62. ἔγωγε κατ’ ἐκείνην ἄθλιος ἀνῆλθον τοσαῦτα καμὼν οὐδὲν δέον Die Selbstaussage des Ratgebers wirkt auf den Rezipienten ironisch, und zwar aus zwei Gründen: Erstens zeigen das historische Umfeld und die in ihm für uns fassbaren Diskurse, dass ein wirklich guter Redner eine umfassende, lang dauernde Ausbildung zu absolvieren hat, die in der vom Attizismus geprägten Zeit Lukians selbstverständlich ein eingehendes Studium der kanonischen klassischen Autoren erfordert (vgl. dazu §9 und §10) und hohe Ansprüche an die Sprachfähigkeit der Redner stellt (vgl. dazu Schmitz [1997] 67–75 und 214–216; Anderson [1993] 86–94 sowie Aristeides Or. 1,322.325–330; Athenaios Deipn. 3,100). Zweitens ist es in den berühmten Vorgängertexten, die das Motiv der Wahl zwischen zwei Wegen verarbeiten (Hesiod, Prodikos-Allegorie, Tabula des Kebes), Konvention, dass der beschwerlichere Weg jeweils der

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5. Kommentar (§§6–8)

richtige ist, wobei aber dieser Tatsache für Rh. Pr. nur eingeschränkte Bedeutung beizumessen ist, da in dieser Schrift – schon dadurch fällt sie aus dem Rahmen – das Ziel beider Wege dasselbe ist (Heirat der Rhetorik). Als weitere Verkehrung könnte man auch die Angabe des Grundes für die angeblich falsche Wahl des Weges erwähnen, das jugendliche Alter. Denn erkennt man die Ironie der Passage an, dann ist richtig gewählt worden, und der junge Mann, der tendenziell eher den einfacheren Weg einschlagen würde, hat damals den beschwerlicheren genommen. Ein traditionelles Element, die mangelnde Einsicht der Jugend, wird hier paradox verwendet. αὐτήν Textkritisches: Macleod druckt αὐτήν (β), bezogen auf den Weg (ὁδός), überliefert ist weiter αὐτῷ (γ), womit kein Objekt ausgedrückt wäre, sondern eine Ergänzung zum Dativ μοι [...] οὐχ ὁδεύσαντι mit der Bedeutung »obwohl ich selbst [ihn] nicht beschritt«. Beide Möglichkeiten ergeben einen vertretbaren Sinn (zur Konstruktion mit so genanntem Acc. loci vgl. LSJ s.v. ὁδεύω 2., z.B. Plut. Eum. 15). Ich schliesse mich Macleod an,597 wenn man auch durchaus auch in Erwägung ziehen könnte, dem Dativ im Sinn einer lectio difficilior den Vorzug zu geben. τὸν ποιητὴν ἐκεῖνον ἀληθεύειν ᾤμην λέγοντα ἐκ τῶν πόνων φύεσθαι τὰ ἀγαθά Einmal mehr wird wohl mit ἐκεῖνος auf Hesiod und die Passage in Erga 289–291 angespielt (vgl. Rh. Pr. 7 oben); zudem verweist aber Harmon (144 Anm. 1) auf Xen. Mem. 2,1,20, wo sowohl die Stelle aus Hesiod als auch ein Zitat von Epicharm (vgl. PCG 1, fr. 271) wiedergegeben wird, welches näher am Wortlaut von Rh. Pr. ist: Τῶν πόνων πωλοῦσιν ἡμῖν πάντα τἀγαθ’ οἱ θεοί (»Um den Preis der Mühe verkaufen uns die Götter alles Gute«). Man vgl. auch die Ähnlichkeit zu Euripides fr. 364 Kannicht: ἐκ τῶν πόνων τοι τἀγάθ’ αὔξεται βροτοῖς (»Aus Mühen vermehrt sich den Sterblichen das Gute«). Dass Hesiod hier dennoch den zentralen Subtext bietet, kann man daran sehen, dass mit der Verwendung des Verbs φύεσθαι die Erwähnung des Kronoszeitalters (und damit ein Themenbereich der Erga) bereits vorbereitet wird (s.u.). Der Ratgeber durch die Formulierung ἀληθεύειν ᾤμην auf den Wahrheitsgehalt von Dichtung an und spricht ihr diesen durch den nachfolgenden Kommentar τὸ δ’ οὐκ εἶχεν οὕτως ab.598 Speziell die Dichtung Hesiods und So bereits Sommerbrodt [21878] 63. Vgl. zur Thematik der Wahrheit auch die eigene Darstellung des Dichters, welcher das berichtet, was ihm Zeus und die Musen verkündet haben, Erga 10: ἐτήτυμα μυθησαίμην; 661f.: ἀλλὰ καὶ ὣς ἐρέω Ζηνὸς νόον αἰγιόχοιο· / Μοῦσαι γὰρ μ’ ἐδίδαξαν ἀθέσφατον ὕμνον ἀείδειν. 597 598

§8: Wiederaufnahme der Wegdarstellung (Prothesis/Dihegesis II)

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ihren Wahrheitsgehalt thematisiert Lukian in der Schrift Hesiodus (mit dem vollen Titel Διάλογος πρὸς Ἡσίοδον), wo Lykinos seinem Gesprächspartner Hesiod Lügnerei vorwirft in Bezug darauf, dass er behaupte, die Musen hätten ihm die Fähigkeit verliehen, auch die Zukunft vorauszusagen. Denn nirgendwo in seinen Dichtungen finde sich solche Prophetie (§§1–2). Hesiods Verteidigung fällt mager aus, und Lykinos geht mit dem letzten Wort aus der Auseinandersetzung hinaus, die Hesiod, Dichtung und vor allem Dichterinspiration einmal mehr in einem ambivalenten Licht zurücklässt. Zur ambivalenten Figur Hesiods in Rh. Pr. insgesamt vgl. §4: Ἡσίοδος μὲν ὀλίγα φύλλα [...] λαβὼν. τὸ δ’ οὐκ εἶχεν οὕτως Vgl. die ähnliche Formulierung (allerdings positiv) im Zusammenhang mit dem leichten Weg, den der Händler aus Sidon Alexander für dessen Boten nach Ägypten schmackhaft machen will (Rh. Pr. 5 Ende): καὶ εἶχεν οὕτως. Der Ratgeber kommentiert mit demselben Ausdruck (»es verhält sich so / nicht so«) den kurzen Weg des Händlers bejahend und den langen Weg Hesiods ablehnend, wobei so die Alexandergeschichte (§5) und die Wegdarstellung des Ratgebers auf der lexikalischen Ebene einmal mehr verbunden werden.599 Eine weitere Parallele hat die Formulierung (ebenfalls positiv) in Luk. Hes. 1: Was Lykinos seinem Gesprächspartner Hesiod zu Beginn der Konversation zugesteht, ist, dass man seine Erzählung der Dichterweihe auf dem Helikon angesichts der Qualität seiner Werke glaubt: Ἀλλὰ ποιητὴν μὲν ἄριστον εἶναί σε, ὦ Ἡσίοδε, καὶ τοῦτο παρὰ Μουσῶν λαβεῖν μετὰ τῆς δάφνης αὐτός τε δεικνύεις ἐν οἷς ποιεῖς – ἔνθεα γὰρ καὶ σεμνὰ πάντα – καὶ ἡμεῖς πιστεύομεν οὕτως ἔχειν (vgl. aber zur ambivalenten Darstellung oben).600 Die Ablehnung von Hesiods Aussage, dass aus Mühen das Gute komme, man also auf dem langen, anstrengenden Weg zur Rhetorik gelange, ist von ihrer Logik her nicht ganz gerechtfertigt: Auch der lange Weg wird nach wie vor benutzt und führt angeblich zum selben Berggipfel wie sein kurzes Gegenstück. Aus dem Folgenden wird aber klar, dass der Ratgeber in erster Linie einen graduellen Unterschied betont: Die Absolventen des kurzen Weges werden berühmter und reicher als ihre Berufskollegen mit langwieriger Ausbildung. Vgl. dazu die Einleitung 1.6, S. 62f. und S. 65.

599 Vgl. dazu bereits §5 (die einleitenden Bemerkungen S. 198–200 und den Kommentar zu: καὶ εἶχεν οὕτως) sowie den Kommentar zu §13: τεράστιον. 600 »Dass du der beste Dichter bist, Hesiod, und dieses Können von den Musen erhalten hast zusammen mit dem Lorbeer, das beweist du selbst in deiner Dichtung – denn inspiriert und erhaben [kommt] alles [daher] –, und auch wir glauben, dass es sich so verhält.«

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5. Kommentar (§§6–8)

εὖ οἶδα ὅτι ἀπορήσεις, καὶ ἤδη ἀπορεῖς, ὁποτέραν τρεπτέον Die Frage der Wegwahl wird nochmals aufgerollt, obwohl dem Schüler von Beginn an versichert worden ist, dass es einen schnellen Weg zur Rhetorik gibt und ihn der Ratgeber auch auf diesen führen wird (siehe zu §1: τάχιστα sowie generell §§1–3). Die Aporie des Schülers macht also auf den ersten Blick keinen Sinn, es sei denn, die Formulierung bezöge sich auf die Eingangsfrage des Schülers, wie man denn ein berühmter Redner werden könne (§1). Denn aus Unsicherheit heraus hat er sich ja Rat gesucht. Zudem wird hier wohl auf das Eingangsszenario von §7 zurückverwiesen, auf die Beschreibung der Ratlosigkeit der Makedonen angesichts der Steilheit und Höhe der Festung Aornos, was bereits dort mit der Mutlosigkeit des Schülers verglichen worden ist. Drittens – und dies ist vielleicht am wichtigsten – könnte damit ein Ironiesignal gegeben sein: Der Schüler zögert angesichts dessen, was ihm bisher empfohlen worden ist und was so fernab liegt vom Üblichen, Konventionellen (vgl. auch den Kommentar zu §7: εἶτα ἐπειδὰν πλησιάσῃς [...] ἀπογιγνώσκεις τὴν ἄνοδον). Indem der Ratgeber die Unsicherheit seines Schülers nochmals betont, kann er sich einmal mehr zum grosszügigen Helfer stilisieren, der sein Insiderwissen preisgibt (vgl. Ende §8: ἐγώ σοι φράσω). ὡς Textkritisches: Überliefert ist ὃ (β); ὡς (γ). Beides ergibt Sinn: »was« bzw. »wie (tuend)«. Da ich keinen Grund sehe, der tendenziell zuverlässigeren Überlieferung von γ601 hier nicht zu folgen, habe ich gegen Macleod die Lesart ὡς (so Harmon) in den Text gesetzt. Vgl. zur Konstruktion Luk. Harmonides 2: ὡς δὲ ποιήσας γνωσθήσῃ αὐτοῖς καὶ ἐπὶ τὸ πέρας ἀφίξῃ τῆς εὐχῆς, ἐγὼ καὶ τοῦτο ὑποθήσομαί σοι. Die Situation ist derjenigen von Rh. Pr. sehr ähnlich; der Aulet Harmonides will von seinem Lehrer Timotheos nicht nur im Flötenspiel unterrichtet werden, sondern auch wissen, wie man damit Ruhm in aller Welt erlangt. Dieser beginnt seine Instruktionen zum Thema mit obiger Einleitung. Die Konstruktion ist auch platonisch, also aus Sicht der Zweiten Sophistik gut attizistisch, vgl. Phdr. 237a: Οἶσθ’ οὖν ὡς ποιήσω; (ähnlich Prt. 338a). εὐδαιμονήσεις Verb, Substantiv und Adjektiv – εὐδαιμονεῖν, εὐδαιμονία, εὐδαίμων – kommen im Text insgesamt viermal vor, je zweimal in Zusammenhang mit dem kurzen und mit dem langen Weg (§3, §8, 2x §9). Daraus wird bereits deutlich, dass Glück eben nicht gleich Glück ist bzw. sein kann, da beide 601

Vgl. die einleitenden Bemerkungen zum griechischen Text, bes. Anmm. 473 und 474.

§8: Wiederaufnahme der Wegdarstellung (Prothesis/Dihegesis II)

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Lehrer gleichermassen Eudaimonie und die Heirat mit der Rhetorik versprechen – was je nachdem mehr oder weniger Einsatz erfordert. Während die Eudaimonie des kurzen Weges immer materiellen Reichtum und Ruhm beinhaltet (seelisches Glück kann sich dabei einstellen, wird aber nicht diskutiert), verlangt der lange Weg viel Mühe und Anstrengung, um ein immaterielles ›Gut‹ zu erlangen, hier zwar konkretisiert im Bereich der sprachlich-literarischen Bildung (vgl. unten §9), jedoch durch die philosophischen Subtexte (Platon, Kebes, Prodikos, Hesiod) auch auf die Ebene eines moralischen Gut-Seins gehoben. σοὶ δὲ ἄσπορα καὶ ἀνήροτα πάντα φυέσθω καθάπερ ἐπὶ τοῦ Κρόνου Es liegt die Kombination zweier Subtexte vor, einerseits nimmt die Passage wörtlich die Schilderung von Lebensweise und Sitten der Kyklopen in Hom. Od. 9,107–109 auf ([...] οἱ [sc. Κύκλωπες] ῥα θεοῖσι πεποιθότες ἀθανάτοισιν / οὔτε φυτεύουσιν χερσὶν φυτὸν οὔτ’ ἀρόωσιν, / ἀλλὰ τά γ’ ἄσπαρτα καὶ ἀνήροτα πάντα φύονται602), andererseits wird mit der Nennung des goldenen Zeitalters des Kronos eine berühmte Hesiodpassage aufgerufen (Erga 117–118: καρπὸν ἔφερε ζείδωρος ἄρουρα / αὐτομάτη πολλόν τε καὶ ἄφθονον603, vgl. auch einleitend V. 111: οἳ μὲν ἐπὶ Κρόνου ἦσαν).604 Zu Hesiod und zur alternierenden Bewertung dieses Dichters, der hier wiederum positiv aufgerufen wird, während er kurz vorher noch als täuschend kritisiert worden ist, vgl. den Kommentar zu §4: Ἡσίοδος μὲν ὀλίγα φύλλα [...] λαβὼν. Ganz im Sinn der variatio wird nicht nur an mehrere Texte angeknüpft, Lukian ersetzt auch das homerische Adjektiv ἄ-σπαρ-τος »ungesät; unbesät« (nullstufige Bildung zur Wurzel von grch. σπείρω, mit dem Suffix -το) durch das gleichbedeutende und weitaus gängigere (attizistisch-prosaische) ἄ-σπορ-ος (vollstufige Bildung o-stufig; vgl. dazu Pollux 1,227 [eine Aufzählung diverser Attribute von γῆ]). ἄσπορος ist wie gesagt weitaus häufiger belegt als ἄσπαρτος, welches fast ausschliesslich in Anspielungen auf die Homerstelle bzw. bei Homerkommentatoren oder Grammatikern erscheint (vgl. Lukian Phal. 2,8; Paras. 24; Diodor Bibliotheca historica 5,2,4; Libanios Progymnasma 3,3,27; Eustathios Comm. ad Hom. Od. vol. 1, p. 325,36; Hesych s.v. ἄσπαρτον [Ein602 »[...] die im Vertrauen auf die unsterblichen Götter weder Gewächs pflanzen mit den Händen noch pflügen, sondern das wächst alles ungesät und ungepflügt.« 603 »Frucht brachte die nahrungsspendende Erde von selbst, vielfältig und reichlich.« 604 Vgl. den Scholienkommentar (p. 175 Rabe): σοὶ δὲ ἄσπορα καὶ ἀνήροτα πάντα φυέσθω καθάπερ ἐπὶ τοῦ Κρόνου] ⌞ὡς Ἡσί⌟οδός φησι [Op. 118]. ἐφ’ οὗ Κρόνου ⌞τὸ χρ⌟υσοῦν καὶ πρῶτον γένος ⌞ἦν⌟ καὶ ⌞ ⌟ τὸ ἀργυροῦν καὶ χαλκοῦν, ⌞μετ’ ἐκ⌟εῖνο τὸ σιδηροῦν.

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5. Kommentar (§§9–10)

trag 7756]), daneben auch bei christlichen Autoren adaptiert wird (Eusebios PE 12,13,1: Leben der Menschen im Paradies). Zu ἄσπορος mit eindeutigem Verweis auf die Zeit des Kronos vgl. auch Luk. Sat. 7 und 20. Der Verweis auf das Kronoszeitalter findet sich bei Lukian auch angewandt auf Scheinphilosophen in Fug. 17: Die personifizierte Philosophie beklagt sich, dass die Scheinphilosophen – und dadurch letztlich ihre eigene Domäne – bei den Handwerkern auf Neid und Ablehnung stossen, weil sie sich bereichern, tyrannisch aufführen und dafür noch gelobt werden, ja in den Augen der Handwerker (ungerechtfertigterweise) ein Leben wie zu Zeiten des Kronos führen (ταῦτα ὁ ἐπὶ Κρόνου βίος δοκεῖ αὐτοῖς). Eine ironische Adaptation der Homerpassage erfolgt in Merc. Cond. 3: Man könnte meinen, dass die Hausgelehrten ein wunderbares Leben führen, wo alles Gute sich anstrengungslos einstellt, der Sprecher warnt aber vor dem trügerischen Schein – in Wahrheit ist das Dasein als Hausgelehrter aufreibend und schäbig.605

§§9–10: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio) Der Ratgeber hat, wie in den letzten Kapiteln deutlich wurde, seinen Zögling auf eine Art fiktive Reise auf den Gipfel der Rhetorik mitgenommen, ihm die beiden Wege gezeigt und führt ihm in den folgenden Kapiteln nun die beiden potentiellen Ausbilder, den Lehrer des langen und des kurzen Weges, in einer Art Agon606 vor, der spätestens mit der Übergabe des Wortes an den Rednerlehrer die bisher fiktiv entwickelte Ausbildung zu einer tatsächlichen werden lässt.607 Wiederum fügt der Ratgeber dabei ein retardierendes Moment ein (vgl. §6), indem er – trotz seines Versprechens am Ende von §8, dem Schüler jetzt gleich zu sagen, wie er am leichtesten auf den Gipfel gelange, die Rhetorik heirate und Ruhm erwerbe – erst einmal den abzulehnenden Weg und Lehrer vorführt. Denn derjenige Lehrer, an den der Schüler sich wenden soll, wird erst in §11 vorgestellt (πρὸς δὲ τὴν 605 ἐπῄνεσέ τις τῶν παρόντων τὴν τοιαύτην μισθοφοράν, τρισευδαίμονας εἶναι λέγων [...] ἀτεχνῶς γὰρ ἄσπορα καὶ ἀνήροτα τοῖς τοιούτοις τὰ πάντα φύεσθαι. 606 Es ist allerdings wichtig zu bemerken, dass der Agon insofern kein gleichberechtigter und objektiver ist, als der Lehrer des langen Weges nicht selber zu Wort kommt und seiner Person und Lehre nur wenig Raum gewidmet ist. Dies lässt sich dadurch erklären, dass der zu wählende Ausbilder schon längst feststeht (vgl. §3) und diese Entscheidung durch die viel längere ›Redezeit‹, die dem Lehrer des kurzen Weges, der in persona auftritt, zugestanden wird, bekräftigt wird. Siehe dazu und zu den rhetorischen Elementen der refutatio und probatio bereits die Einleitung 1.1.2. 607 Der Ratgeber öffnet in §12 den ›Vorhang‹ für ein (komisches) Schauspiel, nämlich den Auftritt des Rednerlehrers, das durch die Nennung berühmter Hetären aus der Komödie als solches gekennzeichnet ist und damit wiederum die Ambivalenz des propagierten Lehrgangs unterstreicht.

§§9–10: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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ἑτέραν ἐλθὼν εὑρήσεις πολλοὺς καὶ ἄλλους, ἐν τούτοις δὲ καὶ πάνσοφόν τινα καὶ πάγκαλον ἄνδρα [...]). Dass es sich allerdings bei der zu Beginn von §9 vorgestellten Lehrerfigur um den Lehrer des langen, abzulehnenden Weges handelt, ist nicht von vornherein klar: Der Abschluss von §8 (καθάπερ ἐπὶ τοῦ Κρόνου) weckt die Erwartung an das Folgende als etwas Positives, genau wie das prominent an den Beginn von §9 gesetzte »sogleich« (εὐθὺς) den kurzen Weg andeuten könnte. Die Beschreibung des Äusseren des Lehrers führt denn auch vorerst das absolut gängige und ideale Bild eines griechischen Mannes vor Augen, der kräftig, gesund, energisch und sonnengebräunt daherkommt.608 Erst in den Worten τῆς τραχείας ἐκείνης ὁδοῦ ἡγεμών, λήρους τινὰς πρὸς σὲ ὁ μάταιος διεξιών zeigt sich, dass der Lehrer, von dem hier die Rede ist, nicht der empfohlene sein wird.609 Zudem wird in der Retrospektive aus §10 auch deutlich, dass die gesamte Männlichkeitsdarstellung eine karikierte ist: In den Augen des Ratgebers ist der Mann hypermaskulin, allzu streng und rigide in seiner Lehre (vgl. §10: πέρα τοῦ μετρίου ἀνδρικῷ). Weiter ist er altmodisch, ein Lügner und Betrüger, und seine παραδείγματα werden boshaft als »alte Leichen« bezeichnet.610 Der positive Beginn von §9 wird also Schritt für Schritt ins Negative gewendet. Wegen der sich daraus ergebenden Ambivalenz der in §9 gezeichneten Figur werden die ihr zugeteilten Attribute im Kommentar jeweils einerseits in der unvoreingenommenen Leseweise, andererseits in der Retrospektive aus §10 erläutert. Die Figur des Lehrers des langen Weges, welche sowohl im Äusseren als auch in ihrer Lehre in weiten Teilen dem Konventionellen entspricht, bewirkt eine Emanzipation des Rezipienten vom Ratgeber bzw. von dessen Darstellungsweise, die gerade durch ihre Ambivalenz ebendiese Distanz ermöglicht: Der Ratgeber destabilisiert sich in seinem (ambivalenten) Gebrauch der Sprache selbst – was im Einklang mit seiner ›närrischen‹ Figur steht, die den Rezipienten dazu anregt, hinter

608 Vgl. den Kommentar zu §9: ἀνδρώδης τὸ βάδισμα; πολὺν τὸν ἥλιον ἐπὶ τῷ σώματι δεικνύων; ἀρρενωπὸς τὸ βλέμμα κτλ. 609 Weitere Details der Beschreibung machen wegen ambivalenter oder negativer Wortwahl die Ablehnung deutlich: Die »verblassten, undeutlichen Fussspuren« (ἀμαυρά, ἀσαφῆ ἴχνη) auf dem Weg, die noch von Demosthenes und Platon her stammen; die »abgestandenen Beispiele« (ἕωλα παραδείγματα) von Reden, an denen sich der Schüler mimetisch versuchen soll. Vgl. zur Beschimpfung als ὁ μάταιος auch dieselbe Bezeichnung für die Schüler, welche sich der ›alten‹ Ausbildung zuwenden, aus dem Mund des Rednerlehrers (§14). 610 Mit den Begriffen ἀλαζών und ἐξαπατᾶν wird der Betrug, den der Ratgeber auf dem langen Weg am eigenen Leib erfahren musste (§8), wieder aufgenommen und zudem gleichzeitig auch auf die Geschichte in §5 zurückverwiesen, die den Händler, also denjenigen, welcher den kurzen Weg empfiehlt, zumindest aus Alexanders Sicht als Betrüger (γόης) markiert (vgl. ausführlicher die einleitenden Bemerkungen zu §5). Damit wird die Frage, welcher Weg tatsächlich der betrügerische ist, offen gelassen.

230

5. Kommentar (§§9–10)

die Fassade zu blicken: Wer dies tut, kann durch das Erkennen des Närrischen den Witz des Textes auf sich wirken lassen und mitlachen.611 Der Agon der beiden Lehrerfiguren in Rh. Pr. verweist auf einen Subtext; er trägt nämlich Züge des epirrhematischen Agons der Alten Komödie, hier insbesondere Züge des Agons zwischen dem κρείττων und dem ἥττων λόγος in den aristophanischen Wolken (Vv. 889–1114).612 Als Parallele zeigt sich, dass in Rh. Pr. sowohl der Lehrer des langen Weges (durch die Darstellungsweise des Ratgebers) als auch derjenige des kurzen Weges (durch Ironisierung infolge der Konventionswidrigkeit seiner Figur) karikiert sind und als alter, gestrenger Trottel bzw. als effeminierter Kinäde erscheinen, ebenso wie auch die aristophanische Darstellung der beiden λόγοι eine karikierende ist. Und obwohl der Lehrer des langen Weges in Rh. Pr. in vielen Bereichen einem Männlichkeitsideal zu entsprechen und der klassischen, guten Ausbildung zu folgen scheint, ja die Rezipienten an seiner Gestalt und Lehre vorerst nichts Falsches finden dürften, werden Zweifel an seiner Person geschürt, einerseits durch den Verweis auf Aristophanes, andererseits durch das Element des Altmodischen, welches der Ratgeber besonders hervorstreicht (vgl. auch die Parallelisierung mit der Bildhauerei in Somn., Einleitung 1.5.b mit Anm. 139):613 So wird dem Lehrer des langen Weges die (extreme) Gegenposition zum Effeminierten zugewiesen, was Fragen des Masses und Geschmacks aufkommen lässt: Die Ausbildung auf dem langen, beschwerlichen Weg wird als eine jahrelange Schinderei und Plackerei voller Gefahren geschildert, die offenbar kein Mass kennt. Die alte Rhetorik bekommt den Anstrich des allzu starren Regelwerks. Das Wissen, wieviel Altes gegenüber wieviel Modernem, dem Publikumsgeschmack Angepasstem, es verträgt, erfordert Geschmack.614 Die doppelte Karikierung geht einher mit der ambivalenten Sprechweise des Ratgebers, welche die Grenzen dessen, was gut/richtig und schlecht/falsch ist, verwischt, so dass sich der angehende Redner auf sich selbst zurückbesinnen muss und soll: In dieser Konsequenz liegt ein elitäres Moment, dass näm611 Zur möglichen Deutung des Ratgebers als Narrenfigur vgl. die Ausführungen auf S. 63f. sowie den Kommentar zu §5: Σιδωνίου τινὸς ἐμπόρου und §10: ἀλαζὼν καὶ ἀρχαῖος ὡς ἀληθῶς καὶ Κρονικὸς ἄνθρωπος. 612 Vgl. zu diesem Agon den Kommentar von Dover [1968] 209–230. 613 Es ist ein zentraler Unterschied zum aristophanischen Text, dass der Lehrer des langen Weges nicht selbst zu Wort kommt (und daher auch kein echter Agon zustande kommt), sich daher nicht selbst durch sein Sprechen karikiert, sondern dass dies aus der Sicht des Ratgebers geschieht. Die Anlage des lukianischen Textes scheint auf ebendiese unsichere Beurteilung des langen Weges und der Möglichkeiten der alten Rhetorik abzuzielen, die der Rezipient selbst überdenken soll. Vgl. zu Aristophanes’ Wolken und zu weiteren aristophanischen Elementen in Rh. Pr. auch die Einleitung 1.8. 614 Vgl. zu diesen Fragen bereits S. 92f. und 94f. sowie unten 232f. und 314; zu Lukians Kritik an der ›alten‹ Rhetorik siehe Anm. 287.

§§9–10: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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lich der wahre πεπαιδευμένος weiss, welches die ideale Mischung einer klassischen, aber doch zeitgemässen Rhetorik ist, darüber aber nicht spricht (sondern sich lieber über alles Abwegige amüsiert), da Geschmack nicht lehrbar ist.615 Inhaltlich dreht sich der Agon, kurz gesagt, um zwei Arten der Rhetorik: die effeminierte und die allzu maskuline, bäurische.616 Neben die Dichotomie von ›alt‹ und ›neu‹ tritt also in der Darstellung der beiden völlig gegensätzlichen Lehrer als zweites zentrales Thema die Verbindung von gender-Auffassungen und Auftritts- bzw. Vortragsstil von Rednern, was gerade in der Zeit der Zweiten Sophistik, wie die Quellen zeigen, hochaktuell gewesen ist.617 Männlichkeitsideale sowie die Diskussion dessen, was als männlich und weiblich galt,618 nehmen in der antiken Rhetorik und in der Beurteilung von guten (männlichen) und schlechten (effeminierten) Rednern generell einen prominenten Platz ein. Gerade die Redner, die sich in ihrem Beruf vor einer grossen Zuschauermenge zur Schau stellen, sind strengen Kriterien unterworfen. So widmen römische Autoren wie Cicero, Quintilian, der ältere und der jüngere Seneca verschiedene Partien ihrer rhetoriktheoretischen Werke der Beschreibung von männlichen (erstrebenswerten) und effeminierten (unerwünschten) Aussehens- und Verhaltensweisen. Besprochen werden unter anderem der Gang, der Blick, die Stimme (v.a. der Gesang), aber auch Kleidung, Haar und Depilation im Hinblick darauf, was für einen Redner angebracht ist und was nicht.619 In der griechischen Rhetoriktheorie sind diese Themen nicht vertreten. Dass der Diskurs aber dennoch vorhanden ist, zeigt sich in spöttisch-kritischen Schriften wie denjenigen Lukians oder Aristeides’. In der Männerdomäne der antiken Rhetorik wird zur Markierung schlechter Redner immer wieder der Vorwurf der Weiblichkeit und Verweichlichung herangezogen. Vergleicht man die Vorwürfe, die Aristeides in seiner 33. Rede gegen die schlechten, dem 615

Vgl. bereits die Einleitung 1.2. Zur bäurischen Figur des Lehrers des langen Weges, der nicht nur in den Fussstapfen von Demosthenes und Platon, sondern auch in denen der Bauernfigur des Sprechers der hesiodeischen Erga wandelt, vgl. den Kommentar zu §12: ἄγροικον γὰρ τὸ ἀρρενωπὸν [...]. 617 Diese Verbindung von gender und Rhetorik hat Gleason in einer Monographie 1995 ausführlich untersucht. 618 Diese Ideale und Diskussionen sind mitsamt dem theoretisch-wissenschaftlichen Hintergrund in den physiognomischen Schriften fassbar. Erhalten ist die pseudoaristotelische Schrift Physiognomonika (wohl 3. Jh. v.Chr.), weiter können wir uns zumindest einen recht guten Eindruck vom Werk Polemons (2. Jh. v.Chr.) verschaffen, das durch die Existenz einer arabischen Übersetzung, einer griechischen Epitome und einer anonymen lateinischen Schrift des 4. Jh.s, welche Polemon als ihre Hauptquelle nennt (Anon. Lat. 80), rekonstruierbar ist (vgl. Gleason [1995] 30). Diese Schriften benutzen Variablen wie Gang, Haltung, Blick, Stimme und Haar, um daraus die jeweilige gender-Konformität oder -Abweichung eines Mannes zu bestimmen, und ihre Kategorien haben sich auf den Bereich der Rhetorik ausgewirkt (vgl. Gleason [1995] 29–81). 619 Vgl. Gleason [1995] 103–130. 616

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5. Kommentar (§§9–10)

Publikum schmeichelnden Redner vorbringt mit den (lächerlichen) Tricks, die Lukian seinen Rednerlehrer formulieren lässt, so finden sich sehr ähnliche gender-Stereotypen, wenn auch der Stil der Schriften ein völlig verschiedener ist (ernsthafte Auseinandersetzung / ironische Satire): Der schlechte Redner (bzw. die ironisierte620 Figur der Rednerlehrers) zeichnet sich durch eine bestimmte Auftrittspraxis aus, die (tänzerische) Bewegungen, Gesang und effeminiertes Benehmen ganz allgemein beinhaltet (vgl. Aristeid. Or. 34,23.47–48.60–63). Ein wichtiger Unterschied zwischen Aristeides’ und Lukians Schriften ist aber anzumerken: Während Aristeides das ›strenge Männlichkeitsideal‹ ohne Einschränkungen hochhält, zeigt sich in gerade in Lukians Rh. Pr. eine komplexere – vielleicht näher an den tatsächlichen historischen Gegebenheiten orientierte – Verarbeitung des Themas, da die Eckpole des schwarz-weissen Bildes gleichermassen kritisch betrachtet werden: Übertriebene Männlichkeit (Hypermaskulinität) sowie showorientierte Effeminiertheit. Showelemente gehören auf jeden Fall in die Vortragskultur der Zweiten Sophistik, und – was beide, Aristeides und Lukian, zugestehen – die ›depilierten‹ Vertreter der Sophistik scheinen generell erfolgreicher zu sein. Wie soll man also als Sophist damit umgehen? Die Trennlinie zwischen Männlichkeit und Effeminiertheit ist sicher keine unwiderruflich gezogene gewesen: Ein bisschen Parfum, etwas auffälligere Kleidung, ein wenig Gesang – eine Zwischenstufe also, die als elegant gelten konnte, muss offenbar möglich gewesen sein.621 Hier spielt die Frage des richtigen Masses und Geschmacks hinein, was von Lukian in Rh. Pr. durch die ambivalent behandelte bäurische Figur des strengen Lehrers angedeutet ist.622 Man vergleiche dazu eine Stelle aus dem 114. Brief Senecas, welcher der corrupti generis oratio und der Verbindung von Sprachstil und 620

Vgl. zur Ironisierung die Einleitung 1.6, S. 64f. Vgl. Gleason [1995] 74: »If depilation, dainty grooming, and singsong speech were universally ridiculed as explicit signposts of sexual passivity, we must wonder why any man would court censure by adopting such practices unless he wished explicitly to advertise himself a pathic.« und 129: »Are refinement and manliness fundamentally incompatible?« mit dem Hinweis auf Favorinus’ Erfolg und Ansehen im Sophistenbusiness. So auch Whitmarsh [2005] 26f. (mit dem Hinweis auf zwei Stellen in Philostrat – VS 536 und 570f. –, welche der Darstellung der äusseren Erscheinung der Redner in Rh. Pr. ähnlich sind) und 35–37 (über Favorinus). Aus den Textpassagen wird klar, dass Styling durchaus mit zum Auftritt der Sophisten gehörte, ja erwartet wurde. Denn allzu ›rustikes‹ Aussehen gewisser Sophisten führte wiederum dazu, dass man ihnen, bevor man sie zu hören bekam, ihr rhetorisch-sophistisches Können gar nicht zutraute (vgl. VS 528f. und 599). Siehe allgemein zur Wechselwirkung von paideia und gender auch Whitmarsh [2001] 109–116. 622 Explizit negativ (als hypermaskulin) erscheint der strenge Lehrer am Ende von §10: τῷ μὲν δασεῖ τούτῳ καὶ πέρα τοῦ μετρίου ἀνδρικῷ μακρὰ χαίρειν λέγε [...]. Die entsprechenden Fragen werden in Rh. Pr. allerdings nur aufgeworfen, nicht aber diskutiert oder beantwortet, da der richtige Geschmack bei den gebildeten Rezipienten vorausgesetzt wird, ja gar die Grundvoraussetzung bildet, um über das Dargelegte lachen zu können und die Verspotteten und Kritisierten ihrerseits aus dem Kreis der πεπαιδευμένοι auszuschliessen. 621

§§9–10: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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seelischer Verfassung gewidmet ist und diverse physiognomische Gedanken enthält: Eine zu abgedroschene, gewöhnliche sowie eine übertrieben gesuchte Redeweise bringt Seneca ganz selbstverständlich mit dem Thema Depilation in Zusammenhang (§14). Die beiden Stilarten entsprechen einem, der sich nicht einmal die Haare unter den Achseln, und einem, der sich sogar die Haare an den Beinen entfernt, also einem zu ungepflegten und einem zu effeminierten Redner. Genau wie der richtige Stil eine Frage des Masses und Geschmacks ist, erachtet Seneca also offenbar die Enthaarung der Achselhöhlen als wünschenswert, empfindet diejenige der Beine hingegen als abstossend.623 Zusammenfassend kann man feststellen, dass von einem Sophisten Masshaltung sowohl in Sprachfragen (vgl. dazu S. 92f.) als auch im Auftreten und in der äusserlichen Erscheinung gefordert ist.624 Was die äussere Erscheinung angeht, so fällt auf, dass der Ratgeber beide Lehrer zuerst über das Aussehen beschreibt, welches dadurch besondere Wichtigkeit erlangt: Der Kern der Rhetorik, die Sprache und ihre Gestaltung, wird zweitrangig. In der Ausbildung des Rednerlehrers wird Rhetorik geradezu völlig inhaltsleer, da in der neuen Lehre bereits die äusserliche Ausstattung (σχῆμα) die Kopie eines Sophisten ermöglicht, und zusätzlich im sprachlich-inhaltlichen Bereich einige oberflächliche Elemente (Paradeattizismen und -themen) die klassische Rhetorik zu kopieren erlauben. Vgl. auch die Darstellung der personifizierten Rhetorik mit hetärenhaften Zügen, die gänzlich auf ihr Äusseres beschränkt bleibt, in §6 mit dem Kommentar zu: νόμῳ [...] τοῦ γεγαμηκότος.

§9 εὐθὺς Zu dieser Überleitung mit Anklang an den kurzen Weg, um den es in der Fortsetzung aber gerade nicht geht, vgl. die einleitenden Bemerkungen oben zu §§9–10, S. 229. ὑπόσκληρος Das Adjektiv ὑπόσκληρος ist relativ selten (insgesamt 38 Belege, davon fast alle bei Medizinern, beispielsweise zur Bezeichnung von Verhärtungen des Körpers in Gal. De diff. vol. 7, p. 951: κοιλίη ὑπόσκληρος). 623 In Übereinstimmung damit auch Ps.-Arist. Phgn. 812b: Bezüglich Behaarung ist ein Mittelmass am besten. 624 Der Lehrer des langen Weges verzichtet auf alles Künstliche, ist als absolutes ›Naturkind‹ dargestellt, und kann dadurch als zu wenig elegant belächelt werden – sein Problem ist es nicht, im Styling Mass zu halten, sondern dass er dessen gänzlich entbehrt (vgl. dazu bereits Anm. 621).

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5. Kommentar (§§9–10)

In attizistischen Lexika fehlt das Wort; neben Rh. Pr. verwendet Lukian es noch in Merc. Cond. 26 als Attribut einer trockenen, fleischlosen Taube, die dem Hauslehrer bei Tisch vorgesetzt wird. Ansonsten findet es sich bei Psellos Poemata 9,706 (ein Gedicht mit dem Titel De medicina, also in Anlehnung an die obigen Medizinertexte) und bei Eustathios (Comm. ad Hom. Il. vol. 4, p. 5; einer der wenigen Belege mit nicht-medizinischem Kontext neben Lukian): Ὅτι δὲ ὁ Μενέλαος οὐχ’ ὑπόσκληρος ἦν τὰ εἰς ἦθος, δηλώσει καὶ Ἀπόλλων ἐν τοῖς ἑξῆς, μαλθακὸν αὐτὸν σκώψας αἰχμητήν (vgl. dazu Il. 17,588).625 Genau wie bei Lukian wird das Wort also auf einen Menschen bezogen, hier jedoch sogar über die rein äusserliche Erscheinung hinausgehend auf seinen Charakter (ἦθος). Eustathios diskutiert an vorliegender Stelle den Beginn von Il. 17, wo Menelaos ganz entgegen seinem sonstigen Ruf als Feigling (vgl. μαλθακός) tapfer die Leiche des Patroklos beschützt, so dass er für einmal als ὑπόσκληρος erscheint, was für Eustathios offenbar ein positives Attribut von Männlichkeit und Heldenhaftigkeit ist. An vorliegender Stelle in Rh. Pr. wird das Adjektiv ambivalent benutzt (etwa »sehnig« im Sinn von »ausgemergelt«), da der Lehrer am Schluss von §10 als »über das Mass hinaus männlich« bezeichnet wird. Zudem wird die Lehrerfigur durch die Verwendung eines offenbar seltenen, unattischen Wortes, welches sie selbst als Verfechterin der klassisch-attizistischen Rhetorik nie verwenden würde, bereits auf der sprachlichen Ebene abgewertet. In Somn. 6 findet sich das Simplex σκληρός ebenfalls mit negativer Konnotation (aus dem Blickwinkel der personifizierten Paideia) zur Beschreibung der Bildhauerei, die ein männliches, schmutziges, spröde-hartes Äusseres hat. Stilistisch betrachtet beginnt hier eine Aufzählung von Attributen, die durch ihre asyndetische Gestaltung eine ›einhämmernde‹ Wirkung erzielt; die einzelnen Glieder sind in ihrer Länge sorgfältig angeordnet, werden erst spiegelbildlich gesteigert bzw. vermindert (ὑπόσκληρος, ἀνδρώδης τὸ βάδισμα, πολὺν τὸν ἥλιον ἐπὶ τῷ σώματι δεικνύων, ἀρρενωπὸς τὸ βλέμμα, ἐγρηγορώς) und gehen nach der äusserlichen Beschreibung des Lehrers in eine längere Periode über, welche auch seine Aussagen und damit seine Lehre vorführt. Zudem werden die durch einen Accusativus respectus gebildeten Begriffe in §11 gehäuft wieder aufgenommen und kontrastiert (διασεσαλευμένον τὸ βάδισμα, ἐπικεκλασμένον τὸν αὐχένα, γυναικεῖον τὸ βλέμμα κτλ.), was die beiden Lehrerfiguren nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich in einen Agon miteinander treten lässt.

625 »Dass aber Menelaos in seinem Charakter [gewöhnlich] nicht sehr hart war, wird auch Apollon im Folgenden zeigen, wo er ihn als weichlichen Krieger verspottet.«

§9: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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ἀνδρώδης τὸ βάδισμα Das Adjektiv ἀνδρώδης verwendet Lukian 19x, interessant ist vor allem der zweite Beleg innerhalb von Rh. Pr. (§18), wo es eine positive Männlichkeit beinhaltet, was bei Lukian meist der Fall ist, vgl. Hist. Conscr. 10 und 12; Anach. 25; Dial. Meretr. 5,3; Dial. Deor. 15,1.626 Dass aber die Grenzen fliessend sind, zeigen die Texte immer wieder – je nach Blickwinkel und Geschmack gilt etwas als männlich oder aber bereits als bäurisch-roh, vgl. Salt. 82; Dial. Mar. 1,1.627 Der hier vorliegende, an der neuen, modernen Showrhetorik orientierte Blickwinkel des Ratgebers stellt uns – vor allem rückwirkend aus §10 – eine durch ihr bäurisches Auftreten negative Erscheinung vor Augen (vgl. auch §12: ἄγροικον γὰρ τὸ ἀρρενωπὸν sowie unten zu ἀρρενωπὸς τὸ βλέμμα). πολὺν τὸν ἥλιον ἐπὶ τῷ σώματι δεικνύων Die braungebrannte Erscheinung des Lehrers signalisiert, dass er sich selbst am Berg der Rhetorik abgemüht hat, und zwar auf dem steilen, schweisstreibenden, Durst verursachenden und daher wohl auch der Sonne ausgesetzten Weg (vgl. §3 und §8: im Gegensatz dazu auch die Betonung des Schattens auf dem schnellen Weg). Im gender-Vergleich zwischen männlichen und weiblichen Attributen, derer sich die Gegenüberstellung von altmodischem und effeminiertem Lehrer bedient, ist Sonnenbräune für den antiken Mann, eine weisse Haut hingegen für die Frau, die sich im Haus aufhielt, ideal, vgl. dazu Ar. Ec. 62–64 (wo sich die Frauen, um in der Versammlung als Männer auftreten zu können, an der Sonne bräunen) und Theokrit 10,27; 11,19f. mit dem Kommentar von Dover [1971] 169. Genau wie bei den anderen aufgezählten Attributen entspricht der Lehrer also auch bezüglich seiner Hautfarbe durchaus dem Idealbild des Mannes, nicht aber aus Sicht des Ratgebers, der den effeminierten (und daher wohl als weisshäutig vorzustellenden) Rednerlehrer empfiehlt. Betrachtet man die Attribute von Bleichheit und Sonnenbräune innerhalb der antiken Männerwelt, so markieren sie den Standesunterschied des Reichen, ›Untätigen‹ gegenüber dem einfachen Bauern oder Handwerker, vgl. dazu Men. Dysk. 754f. (der Bauer Knemon über den jungen, reichen Sostratos, der seine Tochter heiraten möchte und sich deshalb als Landarbeiter ›getarnt‹ hat): Κν. ἐπικέκαυται μέν. γεωργός ἐστι; Γο. καὶ μάλ’, ὦ πάτερ. οὐ τρυφῶν οὐδ’ οἷος ἀργὸς περιπατεῖν τὴν ἡμέραν.628 Hinzu kommt also, dass der Lehrer des langen 626 Vgl. weiter Plutarch, dessen Schriften über ein Dutzend positiv konnotierte Belege zu ἀνδρώδης aufweisen, e.g. Alex. 17,7. 627 Eine ambivalente Verwendung von ἀνδρικός/ἀνδρώδης innerhalb derselben Schrift (d.h. einmal negativ, einmal positiv) findet sich auch in Somn. 6 und 13. 628 »Knemon: ›Er ist so schön braun, ist er Bauer?‹ Gorgias: ›Ja gewiss, Vater, kein Verweichlichter, der den ganzen Tag untätig herumflaniert.‹«

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5. Kommentar (§§9–10)

Weges in den Augen des Ratgebers eine bäurische Figur darstellt, die sich Tag für Tag unter freiem Himmel abmüht und der nichts vom Glamour einer Sophistenkarriere anhaftet.629 Das ebenfalls gängige Bild der Bleichheit und Ausgezehrt des Wissenschafters bzw. des Rhetorikers, der ununterbrochen studiert, wird hier nicht beigezogen (angedeutet wird es allerdings später durch Elemente wie ἀγρυπνία und ὑδατοποσία).630 ἀρρενωπὸς τὸ βλέμμα Die Formulierung entspricht den von Pollux aufgezählten (positiven) Merkmalen eines βλέμμα (2,59: ἀρρενωπόν neben σεμνόν, σῶφρον, ἀνδρῶδες; vgl. oben zu ἀνδρώδης). Die gegenteiligen (negativen) Attribute, die Pollux vermerkt (ἄνανδρον, θῆλυ, γυναικεῖον), werden in Rh. Pr. 11 zur Beschreibung des zweiten, effeminierten Lehrers aufgenommen (γυναικεῖον τὸ βλέμμα). Zur positiven Konnotation des Adjektivs ἀρρενωπός vgl. Plat. Lg. 802e sowie Plutarch Antonius 4,1 und De Alexandri magni fortuna aut virtute 335b. Da die vorliegende Stelle in Rh. Pr. aus Sicht des Ratgebers formuliert ist, der den effeminierten Lehrer propagiert, erhält das Adjektiv zumindest rückwirkend aus §10 und §12 eine negative Konnotation. ἐγρηγορώς Das Partizip ist bei Lukian in verschiedenen Kasus sonst noch 4x belegt, meist in der wörtlichen Bedeutung »wach sein, wach liegen« (oft in Antithese zu »schlafen«, e.g. Philopseud. 25). Übertragen gebraucht wird es in Hermot. 1,20: Wer den Weg zur Philosophie beschreiten bzw. vollenden will, muss immer wach und agil sein. So bezieht sich wohl die vorliegende Aussage einerseits auf die Gesamterscheinung des Lehrers, der energiegeladen auftritt, dürfte andererseits aber auch speziell in Bezug zum oben erwähnten Begriff ἀρρενωπὸς τὸ βλέμμα zu setzen sein: sein Blick ist männlich und wach(sam). Zusätzlich mag auch das nächtliche Wachsein des sich abmühenden Grüblers hineinspielen (vgl. Rh. Pr. 9: ἀγρυπνία weiter unten; Hermotimos’ Einstellung passt exakt zur Präsentation des Lehrers des langen Weges).

629 Dies spricht der Ratgeber in §12 aus: ἄγροικον γὰρ τὸ ἀρρενωπὸν καὶ οὐ τοῦ ἁβροῦ καὶ ἐρασμίου ῥήτορος (vgl. den Kommentar zur Stelle). Vgl. auch §3 über den kurzen Weg: [...] σὺν πολλῇ τῇ θυμηδίᾳ καὶ τρυφῇ. 630 Vgl. zu diesem Topos Libanios, der mit einer rhetorischen Laufbahn den Verzicht auf Essen, Schlafen, Aufenthalt im Freien (mit den entsprechenden Folgen) verbindet, vgl. Ep. 131 und 462; Or. 23,20 und 64,99.106.

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Aufschlussreich sind die semantischen Felder, innerhalb derer Pollux ἐγρηγορώς erwähnt: Einerseits bildet es zusammen mit Adjektiven wie σπουδαῖος und ἐνεργός das Gegenteil zu βραδύς (1,43), andererseits gehört es zu einer Reihe von Adjektiven, die Handlungsfähigkeit sowie das (richtige) Verhalten eines freien Mannes bezeichnen (3,120: πρόθυμος, φίλεργος, γενναῖος, ἐλευθερουργός, ἀνδρεῖος, ἀνδρώδης, ἐθελουργός, ἐγρηγορώς, ἄγρυπνος). Auch hieraus wird ersichtlich, dass das Wort generell positiv konnotiert ist, in Rh. Pr. rückblickend aus §10 allerdings im Sinn einer übertrieben ›strammen‹ Agilität negativ verwendet wird. λήρους τινὰς πρὸς σὲ ὁ μάταιος διεξιών Nachdem die äusserliche Beschreibung vorerst – sieht man von der aus §10 rückwirkenden Negativtendenz ab – ein durchaus positives Bild des Lehrers gezeichnet hat, sind es jetzt seine Worte, welche ihn negativ charakterisieren, genauso wie später sein zwielichtiges Agieren (s.u.). Zum »Geschwätz« (λήρους) des Lehrers vgl. auch den Kommentar zu §17: ὁ ληρὸς Ἰσοκράτης [...]. Zum Gebrauch des Verbs ληρεῖν bei der Verspottung von Scheinsophisten in den lukianischen Satiren vgl. den Kommentar zu §23: ληρεῖν. ὑποδεικνὺς τὰ Δημοσθένους ἴχνη καὶ Πλάτωνος καὶ ἄλλων τινῶν [...] ἀμαυρὰ Vgl. §3 zum langen Weg, der dort als – wenn auch wider besseres Wissen – häufig begangen dargestellt wird und §8, wo er völlig verlassen daliegt. Zu widersprüchlichen Aussagen des Ratgebers siehe die Einleitung 1.6, S. 62. Der Bezug wird hier allerdings nicht zu den Fussspuren der Schüler, die momentan auf diesem Weg wandeln, gemacht, sondern zu den Fussspuren der alten, klassischen Autoren, die den Weg ja tatsächlich schon vor langer Zeit gegangen sind, so dass ihre Spuren verblasst sein müssen und die Aussagen des Ratgebers nichts direkt Falsches enthalten, der Weg aber viel verlassener erscheint, als er in §3 gezeigt worden ist.631 Zudem karikiert das Heranziehen von Fussspuren, die keiner Person mit Sicherheit zuzuordnen sind und daher keine verlässlichen Beweise abgeben, den Lehrer, ja verweist ihn beinahe schon in die Kategorie eines Lügners, wie es in §10 der Fall sein wird (ἀλαζὼν; ἐξαπατᾶν).632

631 Darauf, dass es durchaus immer noch Vertreter des Stils der ›alten‹ Rhetorik gibt, weist im Text möglicherweise auch eine der Formulierungen über die Konkurrenz hin, vgl. §22: ἢν μέν τις καλῶς εἴπῃ. 632 Vgl. zur Thematik der Beweiskraft von Fussspuren auch Luk. Ver. Hist. 1,7 sowie Euripides El. 518–546 in intertextueller Auseinandersetzung mit der Anagnorisis-Szene bei Aischylos Ch. 167–234.

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5. Kommentar (§§9–10)

Zu Demosthenes und Platon als (lächerlich gemachte) Vorbilder vgl. §§10, 17 und 26. Zu den kanonischen Autoren allgemein vgl. Anm. 264 und den Kommentar zu §17: ἀπ’ ἐκείνων ἐπισιτισάμενος. Das Adjektiv ἀμαυρός ist bereits bei Homer Od. 4,824 und 835 in folgender Formel belegt (Athena schickt ein Luftbild der Iphthime zu Penelope): τὴν δ’ ἀπαμειβόμενον προσέφη εἴδωλον ἀμαυρόν. Gewöhnlich wird ἀμαυρός hier mit »dunkel, undeutlich, nebelhaft, verschwommen« wiedergegeben. Die Etymologie des Adjektivs ist ungeklärt, vgl. LfgrE s.v.; möglich wäre eine Anknüpfung an ἀμυδρός »dunkel, schwer erkennbar«. In Verbindung mit Toten – und damit der Substanzlosigkeit eines εἴδωλον ähnlich – findet sich das Adjektiv bei Sappho fr. 55,4 Voigt: ἀλλ’ ἀφάνης κἀν Ἀίδα δόμῳ φοιτάσῃς πεδ’ ἀμαύρων νεκύων ἐκπεποταμένα und bei Aischylos Ch. 158 (bezogen auf den toten Agamemnon): ἐξ ἀμαυρᾶς φρενός. Die Verwendung von ἀμαυρός zur Charakterisierung von Erscheinungen und Toten ist für vorliegende Stelle in Rh. Pr. aufschlussreich, da in §10 von den »alten Leichen« die Rede ist, welche zur μίμησις ausgegraben werden sollen, so dass eine Verbindung zwischen den Passagen hergestellt ist, bzw. das »Leichenhafte« bereits vorweg anklingt (vgl. den Kommentar zu §10: νεκροὺς εἰς μίμησιν παλαιοὺς προτιθείς). Die Junktur ἴχνος ἀμαυρόν, die Lukian hier verwendet, hat Vorläufer, vgl. Euripides HF 125 (von den »schwachen Fussspuren« alter Männer [weil sie nur noch schwach auf dem Boden auftreten]): ποδὸς ἀμαυρὸν ἴχνος und Xen. Cyn. 6,21 (im Zusammenhang mit Tierspuren). Lukian selbst verwendet das Adjektiv insgesamt 8x, davon noch zweimal im Zusammenhang mit Erscheinungen oder Toten, vgl. Menipp. 15 (über die Leichen auf der Acherusischen Ebene): ἔκειντο δ’ ἐπ’ ἀλλήλοις ἀμαυροὶ καὶ ἄσημοι [...] und Philopseud. 16 (scherzhaft über Platons Ideen): ἀμαυρὸν τι θέαμα. Eine gegenüber den klassischen Vorbildern neue, gehäuft auftretende Verwendung ist diejenige für ein schwaches, dämmriges Licht, vgl. Gall. 29; Tim. 14; Menipp. 22.633 φήσει [...] σε ἔσεσθαι καὶ [...] γαμήσειν, εἰ [...] ὁδεύσειας [...]· εἰ [...] παραβαίης κτλ. Konditionalsätze mit dem Optativ der subjektiven Annahme oder Vorstellung in der Protasis weisen in der Apodosis häufig ebenfalls potentialen Optativ auf, jedoch kann auch der Indikativ eines Haupttempus stehen (hier Futur), »wenn der ungewissen und unentschiedenen Bedingung die Folge als bestimmte Behauptung entgegengesetzt wird« (vgl. K.-G. II 2,478; hier 633

4,5.

Das Verb ἀμαυρόω im Zusammenhang mit Fussspuren verwendet Lukian in Dial. Meretr.

§9: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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in der Struktur zusätzlich verdichtet durch den Umstand, dass die Behauptung des Lehrers vom Ratgeber in indirekter Rede wiedergegeben ist: »er wird sagen, dass du sein wirst / heiraten wirst, falls du [...]«). Die Ausdrucksweise verwundert nicht, denn die Folge muss hier tatsächlich eine bestimmte, festgelegte und sicher eintreffende sein, da genau das die jeweilige Überzeugung der Lehrer ist, dass ihre Ausbildung so, wie sie ist, zum Ziel führt. Vgl. genauso den Rat des sidonischen Händlers in Rh. Pr. 5: εἰ γάρ τις ὑπερβαίη τὰ ὄρη ταῦτα, αὐτίκα μάλα ἐν Αἰγύπτῳ οὗτός ἐστιν. νόμῳ γαμήσειν Vgl. den Kommentar zu §6: νόμῳ [...] τοῦ γεγαμηκότος und §14: ἕπου μόνον, ὦ μέλημα, οἷς ἂν εἴπω, καὶ ζήλου πάντα, καὶ τοὺς νόμους, [...]. ὥσπερ οἱ ἐπὶ τῶν κάλων βαίνοντες ὁ κάλως ist das Rahentau oder allgemein ein Schiffstau; hier wird also ein nautischer Vergleich herangezogen, vgl. Luk. Nav. 4: [...] θαυμάζοντες ἀνιόντα τὸν ναύτην διὰ τῶν κάλων [...]: Die Freunde, welche ein Schiff betrachten, das in Piräus angelegt hat, bewundern den Matrosen, der an den Tauen hinauf auf die Segelstange klettert. Ein ähnlicher ursprünglich nautischer Ausdruck wurde übertragen und sprichwörtlich gebraucht z.B. bei Ar. Eq. 756: πάντα δεῖ κάλων ἐξιέναι (vgl. Schol. in Aristoph. Eq. 756d, p. 179 Koster: ἔστι δὲ παροιμιακόν) und Luk. Skyth. 11: πάντα μεν κάλων κινεῖν (»alle Segel loslassen bzw. setzen«, d.h. alles daran setzen, etwas zu erreichen). Illustriert wird mit diesem Vergleich, wie nach Meinung des Ratgebers (die dem Lehrer in den Mund gelegt wird) in der alten Tradition auf einem schmalen, genau definierten Weg, der keine Abweichungen erlaubt, vorangegangen werden muss – eine parallel zur Beschreibung der Person des Lehrers zu strikte, altmodische Vorgehensweise. Sie erlaubt nämlich keinen Fehltritt und birgt die Gefahr des Hinunterfallens in sich (vgl. bereits §3: ἀποκυλιομένους ἐπὶ κεφαλὴν ἐνίοτε καὶ πολλὰ τραύματα λαμβάνοντας περὶ τραχείαις ταῖς πέτραις). Könnte also der unvoreingenommene Rezipient die Metaphorik eines durch ein Seil vorgegebenen, direkten und klaren Weges als positiv, weil zielgerichtet und sinnvoll, empfinden,634 so rückt der Ratgeber die Nachteile in den Vordergrund, die dem durch Schiffstau634 Die Formulierung enthält eventuell als weitere positive Konnotation auch eine Anlehnung an die Kunst des Seiltanzes, und damit an eine τέχνη. Diese Auffassung findet sich schon bei Bompaire ([1958] 442), der dieses Bild des Seiltänzers als lukianische »nouvelle des comparaisons« einstuft, und bei Cribiore [2001] 222. Später treffen wir die die Formulierung bei Libanios über Studenten, die nur trödelnd zur Vorlesung erscheinen, wobei das Gehen auf dem Seil die Langsamkeit illustrieren soll, Or. 3,11: κατὰ τοὺς ἐπὶ τῶν κάλων ἰόντας.

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5. Kommentar (§§9–10)

Metapher und (trügerische) Fussstapfen symbolisierten alten klassischen Erbe anhaften.635 ζηλοῦν [...] μιμεῖσθαι Die hauptsächliche Aufgabe des Rednerschülers besteht darin, die klassischen Vorbilder (παραδείγματα), allen voran Demosthenes und Platon, die namentlich erwähnt sind, zu studieren, ihnen nachzueifern (ζηλοῦν) und ihre Redeweise, also Sprache und Stil, nachzuahmen (μιμεῖσθαι). Die vom Lehrer geforderte Vorgehensweise bei der μίμησις der klassischen Autoren des 5. und 4. Jh.s entspricht dem Prinzip des Dionysios von Halikarnass, dessen attizistisch-klassizistische μίμησις-Theorie in der gesamten späteren Zeit massgebend blieb (vgl. Hidber [1996] bes. 56–75, mit einem kurzen Abriss zur Geschichte des Terminus μίμησις; vgl. auch ausführlich Bompaire [1958] 13–154): Gemäss Dionysios ist μίμησις ein eklektisches Verfahren, welches die besten Qualitäten verschiedener Autoren vereint und ihre Schwächen zu vermeiden sucht, wodurch die Möglichkeit besteht, mit den einzelnen Autoren zu konkurrieren und sie sogar zu übertreffen (ζήλωσις). Vgl. Dion. Hal. Thuk. 1,1–2 (Beschreibung der Auswahlmethode); Orat. Vett. 4,2: ἔστι δὲ ἥδε [sc. ἡ ὑπόθεσις], τίνες εἰσὶν ἀξιολογώτατοι τῶν ἀρχαίων ῥητόρων τε καὶ συγγραφέων καὶ τίνες αὐτῶν ἐγένοντο προαιρέσεις τοῦ τε βίου καὶ τῶν λόγων καὶ τί παρ’ ἑκάστου δεῖ λαμβάνειν ἢ φυλάττεσθαι [...]636; Dem. 8,2 (Demosthenes’ Stil verfügt über derart viele Qualitäten, weil er selbst das Prinzip der eklektischen μίμησις meisterhaft angewendet hat); De imit., fr. 3 Us. (Definition von μίμησις und ζῆλος); weiter auch Longin 13,2: Wer Erhabenes schaffen will, muss als Ziel (σκόπος) die Nachahmung (μίμησις) der grossen Schriftsteller und Dichter von einst und den Wetteifer (ζήλωσις) mit ihnen vor Augen haben. Das hier Empfohlene wird später – zwar nicht dem Verfahren nach, doch bezüglich der Inhalte der μίμησις – von Ratgeber (§10) und Rednerlehrer (§17) rundweg abgelehnt und damit ein Bruch mit der Konvention erzeugt.637 Häufiger wird allerdings auf Seiten der Hauptakteure in Lukians 635

Auch hier wird letztlich eine Geschmacksfrage, wie nämlich gute μίμησις gelingen soll, gestreift; vgl. für eine mögliche Interpretation Bompaire [1958] 139: »Il [sc. Lucien] conçoit l’imitation comme une lutte ouverte (ἅμιλλα), d’où la servilité soit exclue. On ne doit pas ›imiter avec la précision d’un danseur de corde‹, l’Art supposant la liberté.« Cribiore [2007] 148 mit Anm. 60 vergleicht zur vorliegenden Stelle eine Passage bei Libanios über das rigide Curriculum der Rhetorikschule (Lib. Or. 35,21: ἢ οὐ τοῖς αὐτοῖς ἅπαντες ἐπαιδεύεσθε νόμοις, ἐν ταὐτῷ γυμνασίῳ, τὴν αὐτὴν ὁδὸν ἰόντες, τῆς αὐτῆς φωνῆς ἀκούοντες, τῶν αὐτῶν ἰχνῶν ἐχόμενοι;). 636 »[Mein Thema] ist aber dies, welche die wichtigsten der alten Redner und Historiker sind und welche Lebensart sowie welchen Schreibstil sie hatten und was man von jedem nachahmen, was vermeiden soll [...].« 637 Der vom Ratgeber wohl als Kritik hinzugefügte Kommentar οὐ ῥάδια μιμεῖσθαι (weil diese Art der Nachahmung nicht mit der angestrebten Kürze der Ausbildung vereinbar ist), kann

§9: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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Schriften die traditionelle Bildung verfochten und Demosthenes als Vorbild dargestellt (Somn. 12; Bis Acc. 31; Merc. Cond. 5 und 25; vgl. dazu die Einleitung 1.5.a–b und den Kommentar zu §10 und §17, sowie zum eklektischen Verfahren mit der Metaphorik des Pflückens von Blüten auch Pisc. 6). Ἡγησίου καὶ τῶν ἀμφὶ Κρίτιον καὶ Νησιώτην [...] ἀκριβῶς ἀποτεταμένα ταῖς γραμμαῖς Die klassischen Texte, deren Nachahmung gemäss dem Kommentar des Ratgebers mühselig ist, werden mit Skulpturen (männlicher Körper) von Künstlern aus dem frühen 5. Jh. v.Chr. verglichen, die hier als gedrungen (ἀπεσφιγμένος), sehnig (νευρώδης), hart (σκληρός) und streng konturiert (ἀκριβῶς ἀποτεταμένα ταῖς γραμμαῖς; wörtlich: »mit sorgfältig gezogenen Linien, sorgfältig gezeichnet in den Umrissen«638) beschrieben werden. Es wird also aus Sicht des modernen, neuen Modegeschmacks ein Negativbild gezeichnet, das Bild eines gedrungenen, harten Stils, dessen grosse Sorgfalt als pedantischer Zug interpretiert wird.639 Dass allerdings die Erzeugnisse des 5. und 4. Jh.s genau wie im literarischen so auch im Bereich der bildenden Künste zu Lukians Zeit Vorbildfunktion haben und auf einen Kanon der Vertreter Bezug genommen wird, zeigt sich anderswo in seinem Werk, z.B. Im. 3ff.; Salt. 35; vgl. weiter Bompaire [1994] 72; Gleason [1995] 127; Gelzer [1979] 23 mit Anm. 2 zur verbreiteten Parallelisierung der Entwicklung der Redekunst mit den darstellenden Künsten (mit weiterführender Literatur).640 Zudem stehen die genannten Skulpturen und Künstler im Einklang mit den zuvor angeführten klassischen Autoren und mit der sie präsentierenden Figur: Dies sind die Skulpturen, wie sie ein in klassischer Zeit lebender Mensch kennt und schätzt. Der bekannte Bildhauer Hegias gilt als Lehrer des Pheidias (Dion von Prusa Or. 55,1; vgl. auch IG 1,373; 259 p. 203 und Sommerbrodt [21878] vom unvoreingenommenen Rezipienten als Lob dieser Art der Sophistik aufgefasst werden: Die Exzellenz der klassischen Texte wird in einer guten μίμησις derselben gleich noch einmal gesteigert (vgl. auch die Bemerkungen am Ende des folgenden Lemmas). Der Rednerlehrer hingegen begnügt sich auch in diesem Bereich mit dem blossen Anschein einer μίμησις der Klassiker, indem taugliche Texte von Sophistenkollegen, die solche μίμησις enthalten mögen, wiederverwendet werden sollen (vgl. §17). 638 Vgl. zur Bedeutung von ἀποτείνω »anspannen, zusammenziehen, straffen« LSJ s.v. 3.: strain, tighten; mit Bezug auf vorliegende Stelle pass.: severely drawn. 639 Man vergleiche die Ausbildung des Rednerlehrers, in der dadurch, dass alles auf schnellen Erfolg angelegt ist, kein Platz für Sorgfalt (ἀκρίβεια) bleibt. Vgl. auch oben Anm. 637 über die aus demselben Grund erfolgende Ablehnung der μίμησις klassischer Autoren. 640 Zum Zusammenspiel von bildender Kunst und Literatur im Umfeld der Zweiten Sophistik vgl. ausführlich Zeitlin in Goldhill [2001] 211–233 (u.a. zu Lukians Imagines und Pro Imaginibus); spezifisch zur verbreiteten Anwendung technischen Vokabulars aus dem Bereich der Kunst auf Rhetorik S. 218 und 230.

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5. Kommentar (§§9–10)

65 Anm. 4 sowie RE 7 s.v. Hegias, Sp. 2615–2620); die Namensform Hegesias dürfte statt des Kurznamens Hegias verwendet worden sein. Sie ist nur hier bei Lukian sowie Quint. Inst. 12,10,7 belegt, es besteht jedoch kein Anlass, die Identität von Hegesias und Hegias zu bezweifeln (zur Trias der Skulpteure Hegias/Hegesias, Kritios, Nesiotes vgl. auch Plin. n. h. 34,49 und RE 7, Sp. 2616). Quintilian zieht für den Bereich der Stilgattungen einen parallelen Vergleich der Rede zur Malerei und Bildhauerei, wobei er Hegesias’ Statuen als »ziemlich steif« (duriora; vgl. oben σκληρός) im Vergleich zu den späteren bezeichnet. Dies deutet darauf hin, dass der Stil dieser Skulpturen tatsächlich als archaisch-streng galt (was in Rh. Pr. negativ konnotiert wird), die Vertreter dieses Stils jedoch bei späteren Generationen durchaus Anerkennung fanden. Der Erzgiesser Kritios (inschriftlich) bzw. Kritias (sonst, z.B. Paus. 1,23,9) wird immer zusammen mit Nesiotes erwähnt, die beiden gelten als Erschaffer der Skulpturen der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton (vgl. Luk. Philopseud. 18; Paus. 1,8,5; IG 12,530–533; RE 11 s.v. Kritios, Sp. 1915f. und RE 17 s.v. Nesiotes, Sp. 77). Sommerbrodt ([21878] 65) versteht den Vergleich wörtlich im Sinne einer Gegenüberstellung von Texten und Statuen. Der Stil der Literaten und Künstler der klassischen Zeit erhält in der Darstellung des Ratgebers durch die gewählten Adjektive einen negativen Beigeschmack, ähnlich wie die – negativ gefärbte – Beschreibung der Erscheinung des altmodischen Lehrers mit Adjektiven, deren Konnotation an anderen Orten durchaus eine positive ist (vgl. ἀνδρώδης, ἀρρενωπός und zum Stil die Ideale der Prägnanz/Kürze [συντομία] sowie der Deutlichkeit [σαφήνεια]). Der Vergleich ist aber wohl mehrschichtig zu verstehen, so dass die Skulpturen der klassischen Zeit auch direkt die äussere Erscheinung des Lehrers des langen Weges widerspiegeln (vgl. die auffällige Wiederholung: ὑπόσκληρος – σκληρός). Damit werden der Lehrer und die Statuen zu (lächerlichen) Vorbildern für den Auftritt eines angehenden Redners, der selbstverständlich alles andere als steife Unbeweglichkeit an den Tag legen sollte. Die Verknüpfung von bildender Kunst und Textinhalten geschieht implizit schliesslich über die Statuen von Harmodios und Aristogeiton, für die Kritias und Nesiotes berühmt waren,641 denn die beiden Tyrannenmörder erinnern an klassische Texte und damit auch wieder an die »alten Männer« mit ihren Schriften.642 Dass diese nicht leicht nachzuahmen sind (οὐ ῥάδια 641

Vgl. Luk. Philopseud. 18. Vgl. hauptsächlich die Berichte bei Thukydides (1,20; 6,53–57) und Herodot (5,55; 6,109.123), die Tyrannenmörder finden aber z.B. auch Erwähnung bei Demosthenes und Aischi642

§9: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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μιμεῖσθαι), wird hier implizit und in §10 explizit als Nachteil angesehen, da diese μίμησις zu viel Zeit und Anstrengung erfordert. Vor dem konventionellen Hintergrund allerdings ist es genau dieses Element, das der attizistischen παιδεία so grosses Ansehen verleiht. ὑδατοποσίαν Der Begriff ὑδατοποσία ruft ein einfaches Leben frei von Luxus und die Naturverbundenheit auf, welche der Lehrer des langen Weges verkörpert. ὑδατοποσία ist zudem ein Kernterminus im (literaturkritischen) Streit der Wein- und Wassertrinker: Der Diskurs, ob man Wein oder nur Wasser trinken solle, um als Dichter oder generell Technit in irgendeiner Art etwas Gutes schaffen zu können, und die (häufigere) Verlachung der Wassertrinker sind für uns relativ gut fassbar. Vgl. Athen. Deipn. 2,44d; häufig Komikertexte: Eubulos PCG 5, fr. 133; Amphis PCG 2, fr. 41; Phrynichos PCG 7, fr. 74; berühmt Kratinos PCG 4, fr. 203 und 319 sowie Hor. Ep. 1,19,1– 11; weiter AP 11,20 und 13,29. Ausserhalb dieses engeren Kreises sind auch Mediziner wie Hippokrates (De diaeta acutorum 10,4) und Galen (In Hipp. de victu acut. comm. 4, vol. 15, p. 828) zu erwähnen, welche beispielsweise die heilsame Wirkung von Wassertrinken bei Fieber besprechen. An der vorliegenden Stelle in Rh. Pr. wird das Wassertrinken in Verbindung mit Mühe und Schlaflosigkeit erwähnt, ist daher negativ konnotiert, und der damit verbundene Lehrgang wird in §10 deutlich abgelehnt. Der Ratgeber distanziert sich also von den ›Wassertrinkern‹ und klärt seinen Schüler darüber auf, dass diese sich unnötigerweise zu viel Mühe machen (in einem anderen Ton gehalten und im Nachhinein ironisch ist die Bemerkung in §2: ἀγρυπνῆσαι). Die Debatte der Dichterinspiration durch Wasser bzw. Wein ist v.a. in Bezug auf die Alexandriner von Bedeutung, deren Stilideal des mühevollen Feilens dazu führte, dass die – in Epigrammen kritisierten – Wassertrinker normalerweise mit ihnen identifiziert werden, wenn auch in den Texten keine namentlichen Nennungen vorliegen (vgl. AP 11,20: φεύγεθ’ ὅσοι λόκκας ἢ λοφνίδας ἢ καμασῆνας / ᾄδετε, ποιητῶν φῦλον ἀκανθολόγων, / οἵ τ’ ἐπέων κόσμον λελυγισμένον ἀσκήσαντες / κρήνης ἐξ ἱερῆς πίνετε λιτὸν ὕδωρ; vgl. auch AP 11,24). Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die betreffenden Epigramme Leute wie Kallimachos aufs Korn nahmen (vgl. in Absetzung von Kallimachos und seinem Umfeld, aber ohne die Kritik des nes (Or. 20,19.29.70 bzw. Or. 1,132). Das Motiv des Tyrannenmörders geht als Übungsstück auch in den rhetorischen Schulunterricht ein und ist somit in der Zweiten Sophistik verbreitet, vgl. dazu z.B. Lukians Tyrannicida sowie Aelios Theon Progymnasmata, Rhetores Graeci vol. 2, p. 106,10 Spengel und Dion Or. 32,48.

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5. Kommentar (§§9–10)

Wassertrinkens AP 11,321.322.347). Im Werk des Kallimachos selbst wird zwar auf verschiedene Gewässer verwiesen (die Quellen Hippokrene und Aganippe; vgl. fr. 2 und 696 Pfeiffer) bzw. der schmutzige Euphratfluss dem reinen Quell seiner eigenen Dichtung gegenübergestellt (Ap. 108–112), doch fehlen eindeutige Aussagen über das Trinken von Wasser als Inspiration des Dichters.643 Vgl. für eine Analyse der relevanten Texte Crowther [1979] 1–11. τὸ λιπαρὲς Textkritisches: Überliefert ist λιπαρὲς (β); ἀλιπαρὲς (γ). Macleod druckt ersteres, Harmon zweites, mit Verweis auf Hermot. 24 und Soph. El. 451, wobei die sophokleische Stelle (τὴνδ’ †ἀλιπαρῆ† τρίχα) problematisch ist und in den Textausgaben inter cruces gesetzt (Teubner) oder aber den Scholien folgend als λιπαρῆ wiedergegeben wird (OCT). Verstanden wurde der Begriff ἀλιπαρῆ als Synonym zu αὐχμηρός »schmutzig«, gebildet mit alpha privativum zu λιπαρός »fett«, also »ungesalbt«, oder aber, da die Form offenbar schon in der Antike erklärungs- bzw. emendationsbedürftig war, man setzte in den Text λιπαρῆ im Sinn von »zu einem/r Bittflehenden gehörig« zu λιπαρέω, λιπαρής »beharren, ausdauern, inständig bitten; beharrlich, ausdauernd, ernsthaft« (vgl. Hesych s.v. ἀλιπαρῆ [Eintrag 3029]; Scholia in Sophoclem, V. 451; vgl. auch den ausführlichen Kommentar von Kaibel [1896] 143; abgesehen von drei späten Ausnahmen, die wohl letztlich auch vom Text der Elektra beeinflusst sind, nehmen die spärlichen sonstigen Belege von ἀλιπαρής alle explizit auf El. 451 Bezug). Die Bedeutung τὸ ἀλιπαρές »Schmutz« wäre hier nicht völlig undenkbar, ist aber unbelegt, zudem macht die Substantivierung τὸ λιπαρές im Sinn von »Ausdauer, Beharrlichkeit« angesichts der aufgezählten vorangehenden Substantive »Mühe, Schlaflosigkeit, Wassertrinken« eindeutig mehr Sinn (zu dieser Verwendung von τὸ λιπαρές vgl. Plut. Lucull. 16,2; Ar. Lys. 673; Plat. Cra. 413a2; Hp. Mi. 369d8 und 372b1). Vgl. ausserdem die enge Parallele in Hermot. 24: ἀποχρῆν δ’ ἑκάστῳ πρὸς τὸ πολίτην γενέσθαι σύνεσιν καὶ ἐπιθυμίαν τῶν καλῶν καὶ πόνον καὶ τὸ λιπαρὲς καὶ τὸ μὴ ἐνδοῦναι μηδὲ μαλακισθῆναι πολλοῖς τοῖς δυσχερέσι κατὰ τὴν ὁδὸν ἐντυγχάνοντα κτλ. (λιπαρὲς drucken sowohl Macleod als auch Kilburn, der Lucian vol. VI in der Loeb Classical Library besorgt hat, überliefert ist daneben wiederum ἀλιπαρὲς).

643 Eine Ausnahme ist Epigr. 28 (Pfeiffer), wo allerdings das Trinken von gewöhnlichem Leitungswasser als Metapher für die abgelehnte Art von Dichtung steht: Ἐχθαίρω τὸ ποίημα τὸ κυκλικόν, οὐδὲ κελεύθῳ / χαίρω, τίς πολλοὺς ὧδε καὶ ὧδε φέρει· / μισέω καὶ περίφοιτον ἐρώμενον, οὐδ’ ἀπὸ κρήνης / πίνω· σικχαίνω πάντα τὰ δημόσια. [...] (vgl. dazu Riedweg [1994a] 137–139).

§9: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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Mit τὸ λιπαρές schliesst sich ein neutral-positives Wort (»Ausdauer«) an die negative Trias (»Mühe, Schlaflosigkeit, Wassertrinken«) an, so dass der Ratgeber seine eigene Darstellung ›entschärft‹. Dies passt freilich zum Duktus der Passage, welche die Charakterisierung des Lehrers und der Ausbildung ambivalent hält, indem entweder Begriffe verwendet werden, die positiv konnotiert sind (z.B. ἀνδρώδης, ἀρρενωπός, νευρώδης), jedoch durch Übermass ins Negative kippen können, oder indem positive und negative Begriffe wie hier nebeneinander aufgeführt sind. κατὰ ὀλυμπιάδας Vgl. Hermot. 4–6: Hermotimos, der auf dem anstrengenden Weg zur ἀρετή wandelt und dies offenbar bereits seit knapp 20 Jahren (vgl. §2), will den verbleibenden Teil seiner Reise keineswegs in Olympiaden beziffert haben, sondern schätzt ihn nach mehrmaligem Nachfragen des Lykinos schliesslich auf nochmals ungefähr 20 Jahre. Die endlos lange Dauer des steilen Weges und eine damit einhergehende Verbissenheit derer, die ihn bewältigen wollen, sind Karikaturmerkmale, die in Hermot. noch viel stärker als in Rh. Pr. hervortreten. Der Ratgeber karikiert den Lehrer bzw. dessen indirekt wiedergegebene Lehre insofern, als diese Aussage über die Länge des Weges von vornherein abschreckend und daher einer symbuleutischen Rede völlig unangemessen ist. Die Zeitrechnung in Olympiaden – die Olympischen Spiele wurden jedes fünfte Jahr abgehalten644 – stammt aus der Historiographie, wo sie grosse Verbreitung fand, sich jedoch im öffentlichen Urkundenwesen nie durchsetzte (vgl. Eratosthenes FGrHist 241 fr. 1, wo Epochenjahre der griechischen Geschichte angegeben werden, unter anderem die erste Olympiade, welche aus diesem Fragment auf das Jahr 776 v.Chr. datiert werden kann; vgl. weiter DNP 12.2 s.v. Zeitrechnung, Sp. 723). Vgl. auch den Scholienkommentar [p. 176 Rabe]: καὶ δὴ καὶ τοῖς ⌞πα⌟λαιοῖς εἰς δήλωσιν χρόνων ⌞ἦν, Ὀλ⌟υμπιάδος ποσταία· [...] καὶ ἦν τοῦτο ⌞ἀκρι⌟βὴς χρόνων ἐπίγνωσις, ὥσπερ καὶ ⌞παρ’⌟ Ἀθηναίοις μὲν ἡ τῶν Ἀθήνησιν ⌞ἀρχόν⌟των ἐνιαυσία προστασία, κα⌞θ’ ἣν ἀν⌟αγράφεται »ἐπὶ ἄρχοντος Ἀθή⌞νησι⌟ τοῦ ⌞δεῖνα⌟ τόδε ἐπράχθη« κτλ.). Diese ›alte‹ Art der Zählung passt zum alten Weg und der damit verbundenen altmodischen Lehre, die es zu überwinden gilt. Der Rückgriff auf das alte griechische System von Datierungen 644 Die Scholien bieten ausführliche Erklärungen dazu (p. 175–6 Rabe): Ὀλυμπιάδας] πόλις ἦν ἐν Ἤλιδι Ὀλυμπία καλουμένη ἱερὸν ἔχουσα ἐπιφανέστατον Ὀλυμπίου Διός. ἐν ταύτῃ ἀγὼν ἐπετελεῖτο παγκόσμιος τὰ Ὀλύμπια κατὰ πέντε ἔτη συγκροτούμενος· διὸ καὶ πενταετηρικὸς ἐκαλεῖτο ὃς καὶ ἀνεγράφετο τοῖς δημοσίοις ἀεὶ εἰς δήλωσιν τῶν ἐνιαυτῶν καὶ ἦν τοῦτο ἀκριβὴς τῶν χρόνων ἐπίγνωσις· τεσσάρων γὰρ ἐτῶν μεταξὺ διαρρεόντων τῷ πέμπτῳ συνετελεῖτο. καὶ διήρκεσεν ἀρξάμενος ἀπὸ τῶν καθ’ Ἑβραίους κριτῶν μέχρι τοῦ μικροῦ Θεοδοσίου· ἐμπρησθέντος γὰρ τοῦ ἐν Ὀλυμπίᾳ ναοῦ ἐξέλιπε καὶ ἡ τῶν Ἠλείων πανήγυρις.

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5. Kommentar (§§9–10)

(Olympiaden) und Masseinheiten (z.B. Plethren, Stadien, Parasangen; vgl. Rh. Pr. 5) ist in der Literatur des 2. Jh.s verbreitet, vgl. dazu Bowie [1970] 33–34. οὐδὲ μισθοὺς ὀλίγους ἀπαιτεῖ Dass der Lehrer des langen Weges sich für seinen Unterricht bezahlen lässt, ist ein weiteres Karikaturmerkmal. Die Thematik der Bezahlung benutzt Lukian auch in Ikaromen. 5 und Menipp. 5, wo beide Male über die Philosophen gelästert wird, die ihren Unterricht teuer bezahlt haben wollen, jedoch ihre Schüler keineswegs weiser machen, sondern nur in grössere Verwirrung stürzen. Besonders in Bezug auf Philosophen illustriert das Thema Bezahlung den Aspekt der Geldgier, was umso gravierender ist, als die Philosophen in den gegen aussen vertretenen Lehren Reichtum nicht als Gut einstufen, so dass ihre Handlungen und ihre Lehre inkongruent sind (vgl. dazu Nigr. 25; der ›Vorbildphilosoph‹ kreidet denjenigen, die sich bezahlen lassen, Geldgier an). Im Hintergrund steht immer auch die platonische Kritik an den bezahlten Wanderlehrern, den Sophisten, wohingegen Sokrates für seine (Lehr-)Gespräche kein Geld entgegennahm (vgl. zu den Sophisten: Prt. 310d, 349a und Manuwald [1999] 103f. mit weiteren Verweisen auf Tht. 167c; Cra. 391b–c; Hp. Ma. 282b–e; zu Sokrates: Ap. 19d–20c [kein Sophist im engeren Sinn] und 33a–b; Xen. Mem. 1,6,13). Ein zusätzliches humoristisches Element liegt hier darin, dass der Ratgeber diese platonische Kritik gegen den Platon-freundlichen Lehrer anwendet und damit beide – Platon und den Lehrer – dem Spott preisgibt: Den einen dadurch, dass nicht einmal seine Verehrer sich an seine Lehren halten, den anderen durch seine Geldgier. Zur impliziten Forderung einer Bezahlung auch auf Seiten des Rednerlehrers und damit einer weiteren Ambivalenz vgl. den Kommentar zu §12: Αὐτοθαΐδα τὴν κωμικὴν κτλ. Zum hohen Honorar der Sophisten vgl. z.B. Philostrat VS 527, 535, 538. §10 ἀλαζὼν καὶ ἀρχαῖος ὡς ἀληθῶς καὶ Κρονικὸς ἄνθρωπος Die Reihung verächtlicher Ausdrücke wird durch Alliteration verstärkt. Zum Adjektiv Κρονικὸς vgl. Ar. Nu. 929 und 1070 sowie generell die Bemerkungen zu Parallelen zwischen dem aristophanischen κρείττων λόγος und dem Lehrer des langen Weges S. 80f. Wichtig und erhellend für vorliegende Stelle sowie insgesamt für die Gestaltung der Schrift ist der Kontext, in welchem Kronos in Rh. Pr. 8 (Ende) bereits erwähnt worden ist: σοὶ δὲ

§10: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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ἄσπορα καὶ ἀνήροτα πάντα φυέσθω καθάπερ ἐπὶ τοῦ Κρόνου. Der Ratgeber versichert dort dem Schüler, ihn auf den kurzen Weg zu schicken, den er mit dem Zeitalter des Kronos, dem goldenen Zeitalter, vergleicht. Hier wird nun aber der Lehrer des langen Weges durch Kronos charakterisiert. Das bedeutet, dass derselbe Begriff einmal mit positiver, einmal mit negativer Konnotation erscheint bzw. die Bedeutung eines Begriffs in ihr Gegenteil verkehrt oder zumindest ambivalent wird. Dieses im vorliegenden Text immer wieder auftauchende Phänomen kann mit Michail Bachtins Begriff und Konzept des Karnevalesken bzw. karnevalisierter Literatur gefasst bzw. bezeichnet werden.645 Auf der inhaltlichen bzw. rezeptionsästhetischen Ebene wird damit eine Komik erzeugt, welche sowohl der Unterhaltung der Rezipierenden als auch deren Selbstreflexion dient, der Reflexion über ihr Verhalten als πεπαιδευμένοι und über ihr gesamtes Umfeld im Rahmen der Vortragskultur der Zweiten Sophistik. Zur Verbindung von Karneval, Auflösung sozialer Hierarchien und Sprache erklärt Branham [2005] 17: »[...] altering the social controls of cognition changes what can be known and expressed, at least temporarily – and thereby changes the nature of the word releasing the comic potential that ordinary social logic and the constraints of official culture occlude. A good way to understand the concept of carnival, therefore, is by analogy with the function of joking in traditional societies. The violation of the countless rules both tacit and explicit that govern our behavior, beginning with our use of language, is basic to any form of humor.«646 Die karnevaleske Interpretation kann ergänzend neben diejenige 645 Eine hervorragende Einleitung dazu gibt R. Lachmann im Vorwort zu M. Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt 1995, 7–46 (zur karnevalisierten Literatur und zur Ambivalenz des Wortes speziell 28–33); vgl. zur Ambivalenz auch Bachtin, Rabelais 466 (im Zusammenhang mit der einen Kategorie karnevalisierter Literatur, dem ›Familiären‹): »Je inoffizieller aber die Rede, um so familiärer ist sie, und um so häufiger und grundsätzlicher mischen sich die beiden Tonlagen [gemeint sind diejenigen von Lob und Beschimpfung in Rabelais’ Sprache]. Sie beginnen, derselben Person und derselben Sache zu gelten, und diese verkörpern die ganze werdende Welt. Die festen offiziellen Grenzen zwischen Dingen und Werten beginnen sich aufzulösen, und es erwacht die alte Ambivalenz des Worts [...].« – Vgl. grundlegend zum Konzept des Karnevals auch M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, übersetzt von A. Schramm, Frankfurt 1985 und ders., Zur Romantheorie und Lachkultur, aus dem Russ. übersetzt und mit einem Nachwort von A. Kaempfe, München 1969. – Wichtig ist in diesem Zusammenhang anzumerken, dass für Bachtin bereits verschiedene antike Textgenera als Repräsentanten karnevalisierter Literatur gelten, vor allem die so genannte Menippeische Satire (und damit auch das Element des σπουδογέλοιον, vgl. darüber ausführlich die Einleitung 3.1), als deren Vertreter lukianische Schriften wie Ikaromenipp und Nekyomanteia gelten; vgl. dazu Bachtin, Rabelais 10, 26–30 und 119–123. Die Bachtin’sche Theorie findet sich angewandt auf die antike Komödie in Möllendorff [1995]. Vgl. auch Branham [2002], Rösler [1986] sowie speziell zur Verbindung von karnevalisierter Literatur, Menippeischer Satire, Sokratischem Dialog und σπουδογέλοιον Branham [2005] 3–31. 646 Siehe zu den zahlreichen Konventionsbrüchen im Inhalt der Schrift Rh. Pr. den Kommentar zu §§9–10 und §17.

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5. Kommentar (§§9–10)

einer generell komödienhaften Anlage des Auftritts der Lehrer in Rh. Pr. treten (vgl. dazu die Einleitung 1.1, 1.8 und 3.1).647 Die vorliegende Stelle ist nun wie gesagt nicht die einzige, die mit dem Begriff der Karnevalisierung erläuterbar ist; bereits die Passage des Sidonischen Händlers (§5) hat Anlass dazu gegeben, ihn und seine Aussagen als narrenhaft-karnevalesk anzusehen. Auch wenn die Deutung einer Konnotation von »Sidonier« als Narr unsicher bleiben muss, erhöht die vorliegende ›karnevaleske‹ Anspielung auf Kronos ihre Plausibilität. Zudem erhalten wir damit auch aus dem Mund des Ratgebers – den wir bisher nur mit Bezug auf die Figur des Sidoniers überhaupt als Narren ansehen konnten – eine narrenhafte Darstellung (vgl. zum Sidonier die einleitenden Bemerkungen zu §5 und zum Lemma Σιδωνίου τινὸς ἐμπόρου). Zur Ambivalenz des Wortes vgl. auch die Verwendung einzelner Begriffe wie ὑπόσκληρος, ἀνδρώδης, ἐγρηγορώς (alle §9 mit Kommentar). Zur Figurenzeichnung von Ratgeber und Rednerlehrer in Anlehnung an aristophanische Akteure aus Wolken, Acharnern, Thesmophoriazusen und zu deren grotesk-karnevaleskem Charakter vgl. die Einleitung 1.8 sowie Möllendorff [1995] 153– 164 (Dikaiopolis in den Acharnern), 192–204 (Wolken), 222–266 (zur Polyphonie der aristophanischen Komödie und zur Unmöglichkeit der Deu647 Zum Problem der weitgehenden Ausklammerung des antiken Dramas, insbesondere der Alten Komödie, im Bachtin’schen Konzept der Karnevalisierung der Literatur sowie der Dialogizität von Literatur siehe Rösler [1986] und Möllendorff [1995] 65–73; 82–87; 96–109 (beide mit Argumenten für den Miteinbezug der Alten Komödie); kritisch zu diesen Positionen und mit einem Neuansatz, der die seines Erachtens vernachlässigte politische, antiautoritäre und generell gegen die Mächtigen gerichtete Dimension des Karnevals betont, die mit den Rahmenbedingungen und politischen Stellungnahmen der aristophanischen Komödie nicht übereinstimme, äussert sich Edwards [2002], vgl. S. 32: »[...] it is indeed a puzzle why Bakhtin himself – in his discussion in Rabelais and His World at any rate – is at best only lukewarm toward Aristophanic comedy as exemplary of the grotesque tradition. [...] I believe that Bakhtin’s ambivalence toward Aristophanes results from the political dimension of the popular grotesque as it is presented in Rabelais.« sowie über die Dichter der Komödien S. 38f.: »These poets wrote political comedy in my sense not by virtue of mocking the powerful [...], but because they attacked the demos and democracy through its leaders and criticized their policies while suggesting alternative policies. The plays of these poets, furthermore, consistently support more conservative positions against the prevailing democratic policies. [...] These poets exploit the implicitly antiauthoritarian character of the grotesque in order to convey undisguised political messages opposed in intent and origin to the selfsame popular class in which the grotesque finds its roots.« – Diese komplexen Fragen – u.a. stark von der Interpretation der ›Stimmen‹ der aristophanischen Komödie abhängig – können an dieser Stelle nicht weiter untersucht werden. Unbestritten bleibt – und das ist für die Interpretation von Rh. Pr. zentral –, dass Aristophanes’ Komödien im stilistisch-formalen Bereich eine Verwandtschaft zur »popular grotesque« aufweisen, zu nennen sind ambivalenter Sprachgebrauch, Juxtaposition an sich unvereinbarer Elemente (z.B. innen/aussen, Nähe/Ferne, man vgl. v.a. die Darstellung des kurzen Weges und den Rat des Sidoniers in Rh. Pr. 3 und 5); siehe dazu Möllendorff [1995] 112–150. Die stilistisch-formale Verwandtschaft der Alten Komödie zur karnevalesken Literatur erklärt auch die Verbindungen zum Ernst-Komischen (σπουδογέλοιον) und zur Menippea, die für vorliegende Arbeit wichtig sind (vgl. die Einleitung 1.8 und 3.1).

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tung des Inhalts/der Figurenäusserungen in eine Richtung im Sinne einer auktorialen Steuerung). νεκροὺς εἰς μίμησιν παλαιοὺς προτιθεὶς Mit der (durch Hyperbaton hervorgehobenen) Bezeichnung der nachzuahmenden Klassiker als »alte Leichen«648 wirft der Ratgeber auf freche Weise attizistische Prinzipien über den Haufen, die für die gebildete Oberschicht der Zeit der Zweiten Sophistik selbstverständlich sind. Humor wird hier also einmal mehr durch einen Bruch mit der Konvention erzeugt. Vgl. zur μίμησις die Bemerkungen zu §9: ζηλοῦν [...] μιμεῖσθαι.649 Speziell Demosthenes gilt als wichtigstes Vorbild für Redner zu Lukians Zeit, s.u. den Kommentar zu: μαχαιροποιοῦ υἱὸν καὶ ἄλλον Ἀτρομήτου τινὸς γραμματιστοῦ sowie §17. ἀνορύττειν [...] λόγους [...] κατορωρυγμένους Der Ratgeber stellt die Nachahmung der Diktion der klassischen Autoren als Ausgraben von uraltem Vokabular dar und fügt sarkastisch an, die Leute meinten, es sei, als ob man damit einen Schatz – oder gar das höchste Gut – ausgrabe (ὥς τι μέγιστον ἀγαθόν). Das Partizip κατορωρυγμένος begegnet uns bei Lukian auch in Lexiphanes 17, wo das »vergrabene Vokabular« allerdings ein anderes bezeichnet, als es hier der Fall ist. Lykinos reagiert auf Lexiphanes’ Diktion mit den Worten: Ζητῶ οὖν πρὸς ἐμαυτὸν ὁπόθεν τὰ τοσαῦτα κακὰ συνελέξω καὶ ἐν ὁπόσῳ χρόνῳ καὶ ὅπου κατακλείσας εἶχες τοσοῦτον ἑσμὸν ἀτόπων καὶ διαστρόφων ὀνομάτων, ὧν τὰ μὲν αὐτὸς ἐποίησας, τὰ δὲ κατορωρυγμένα ποθὲν ἀνασπῶν κατὰ τὸ ἰαμβεῖον »ὄλοιο θνητῶν ἐκλέγων τὰς συμφοράς«· τοσοῦτον βόρβορον συνερανίσας κατήντλησάς μου μηδέν σε δεινὸν εἰργασμένου.650 Er stellt folgende Diagnose auf: Lexiphanes leidet unter einer Sprachkrankheit (§18), denn er ist ein Hyperattizist, der unangebrachte (ἄτοπος), verdrehte (διάστροφος) Wörter verwendet, die er bei 648 Die Formulierung ist zweideutig, gemeint sein können entweder die Menschen (Demosthenes, Platon etc.) selbst, die damit neben dem Statuenvergleich (§9) einem weiteren, spöttischen Vergleich unterzogen werden, oder aber ihre literarischen Erzeugnisse. Dass wohl ersteres der Fall ist, zeigt die Fortsetzung des Satzes, indem zusammen mit den »alten Leichen« ihre Werke (λόγοι) ausgegraben werden. 649 Bestätigt wird die Tendenz, dass die neumodischen Sophisten sich von der klassischen Tradition (ἀρχαία ἰδέα) lossagten, durch den entsprechenden Vorwurf bei Aristeid. Or. 34,11. 650 »Ich frage mich also, woher du dir soviel Ekelhaftes zusammengesammelt hast und in wie langer Zeit und wo eingeschlossen du einen solchen Schwarm von unpassenden und verdrehten Wörtern aufbewahrt hast, von denen du einen Teil selbst erfunden, den andern, der tief vergraben lag, irgendwoher hervorgezogen hast, [ganz] wie der Iambus [es sagt]: ›Zugrunde gehe, wer der Sterblichen Unglück sammelt.‹ Einen solchen Schlamm hast du zusammengebracht und auf mich geschüttet, der ich dir doch nichts Schlimmes getan habe.«

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5. Kommentar (§§9–10)

entlegenen Autoren zusammengesucht hat (§17, vgl. §25). Seine Sprache wird dadurch so altertümelnd, dass man sie nicht mehr verstehen kann (§20). Daher ist ein Umlernen nötig, welches dem Patienten einen massvollen Umgang mit den klassischen Vorbildern, die hier keinesfalls in Frage gestellt werden, sowie die korrekte Art der Nachahmung beibringen soll (§§22–23). Während die Metaphorik des Vokabular-Ausgrabens in Lex. also die (beinahe krankhafte) Suche nach den ungebräuchlichsten Wörtern bezeichnet, wird sie in Rh. Pr. zur Abwertung der (üblichen) Verwendung gängigen attizistischen Vokabulars herangezogen. μαχαιροποιοῦ υἱὸν καὶ ἄλλον Ἀτρομήτου τινὸς γραμματιστοῦ Gemeint sind Demosthenes und Aischines. Die Formulierung schliesst sich eng an jene in den Reden De falsa legatione aus dem Jahr 343 v.Chr. an, die uns von diesen beiden berühmten Rednern und Politikern überliefert sind, und wo die Abkunft des jeweiligen Kontrahenten in invektivischem Kontext zur Diskreditierung vor den Richtern zur Sprache gebracht wird. Der Ratgeber benennt die beiden also verächtlich mit ihren eigenen Worten (bzw. mit denen ihrer damaligen Gegner), wobei der abwertende Ton durch die Einfügung von τινὸς (γραμματιστοῦ) noch gesteigert ist (vgl. auch die boshafte Äusserung des Rednerlehrers in §17: ὁ χαρίτων ἄμοιρος Δημοσθένης). In Aeschin. De falsa legatione 93 wird Demosthenes niedriger Herkunft bezichtigt wird mit einem Waffenschmied als Vater. Zudem sei er ein Bastard (seine Mutter soll aus Skythien gewesen sein): Καὶ σεμνολογεῖς, ὡς οὐκ εἰδόσι τούτοις ὅτι Δημοσθένους υἱὸς εἶ νόθος τοῦ μαχαιροποιοῦ;651 In Demosth. De falsa legatione 281 wird der Freispruch eines solchen Abkömmlings, wie Aischines es ist, als absolut unangebracht dargestellt wird: τὸν δ’ Ἀτρομήτου τοῦ γραμματιστοῦ καὶ Γλαυκοθέας τῆς τοὺς θιάσους συναγούσης, ἐφ’ οἷς ἑτέρα τέθνηκεν ἱέρεια, τοῦτον ὑμεῖς λαβόντες, τὸν τῶν τοιούτων, τὸν οὐδὲ καθ’ ἓν χρήσιμον τῇ πόλει, οὐκ αὐτόν, οὐ πατέρα [...] ἀφήσετε; Die niedere Wertschätzung, die Demosthenes und Aischines vom Ratgeber entgegengebracht wird, ist ein Konventionsbruch, der einer Provokation gleichkommt, denn vor allem Demosthenes ist das grosse Vorbild für Redner zu Lukians Zeit. Deutlich machen dies diverse Textstellen, in denen Demosthenes lobend erwähnt wird, z.B. Philostr. VS 539 und 542;652 Aristeid. 651 Plutarch (Demosth. 4,1) berichtigt später mit Bezug auf den Historiker Theopomp (FGrHist 115 fr. 325), dass Demosthenes’ Vater von guter Herkunft gewesen sei und den Beinamen ›Waffenschmied‹ nur darum erhalten habe, weil er der Besitzer einer Waffenfabrik gewesen sei. 652 Gemäss Swains ([1996] 96) Berechnungen haben 37 Prozent der historischen Deklamationsthemen, die für uns in VS fassbar sind, ein Demosthenes-Thema.

§10: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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Or. 28,75 (die Kranzrede des Demosthenes zu kennen, ist ein Muss für jeden Gebildeten); Phryn. Ecl. 357 Fischer (aufgrund seiner exzellenten Beherrschung des Attischen, wie Demosthenes es sprach, wurde der Adressat in das Amt ab epistulis gewählt); S. E. M. 1,98 (als grösste Vorbilder für korrektes Griechisch werden Thukydides, Platon und Demosthenes genannt). Die dauernde Bezugnahme des Hermogenes auf Demosthenes (besonders in Περὶ ἰδεῶν und Περὶ εὑρέσεως) bezeugt die Vorrangstellung des letzteren auch im Bereich der Rhetoriktheorie zur Zeit der Zweiten Sophistik, dazu Kennedy [1983] 94: »[...] the treatise [sc. On Invention] is unusually specific in how to work out the composition of declamations and rich in examples, especially from Demosthenes, whose works have clearly become the student’s bible.«653 Die Provokation lässt den gebildeten Rezipienten gegenüber dem Ratgeber skeptisch werden (aus einem narrenhaften Standpunkt heraus formuliert können derartige Äusserungen allerdings vom Rezipienten als reines Spiel begriffen werden). καὶ ταῦτα ἐν εἰρήνῃ [...] ἴσως ἐδόκει χρήσιμα Textkritisches: Überliefert ist ἴσως (γ); τέως (β). Ich habe gegen Macleod die Lesart ἴσως (so Harmon) in den Text gesetzt. Obwohl sich inhaltlich beide Varianten vertreten liessen (»Umstände, unter denen deren Reden vielleicht / einstweilen nützlich schienen«), schlägt ἴσως den verächtlicheren Ton an, was mir zum provokativen Duktus der Passage besser zu passen scheint.654 Die Anspielung auf den Makedonenkönig Philipp II. sowie dessen Nachfolger Alexander den Grossen evoziert das Umfeld genau derjenigen Zeit, in der Aischines und Demosthenes ihre politischen Reden hielten; man denke an Demosthenes’ Philippika oder an den Anlass der beiden Reden De falsa legatione: Demosthenes klagte Aischines an, er habe sich bei der Aushandlung des so genannten Philokrates-Friedens mittels einer Gesandtschaft im Jahr 346 (welcher Demosthenes ebenfalls angehörte) von Philipp bestechen lassen. Auch die Wahl der auf die beiden Makedonenkönige bezogenen Partizipien ἐπιόντος und ἐπιτάττοντος lässt sich vor dem historischen Hintergrund näher erläutern: Philipp war derjenige, der Griechenland angegriffen und eingenommen hat, er etablierte seine Macht nach bzw. trotz des Philo653 Siehe auch den ausführlichen Kommentar zu §17: ὁ λῆρος Ἰσοκράτης ἢ ὁ χαρίτων ἄμοιρος Δημοσθένης ἢ ὁ ψυχρὸς Πλάτων mit Angaben zu positiven Zeugnissen bzw. Aussagen bei Lukian. Vgl. ferner Baldwin [1973] 69: »Lucian was well within the critical conventions in giving priority to Demosthenes.« [meine Hervorhebung] 654 Zur tendenziell zuverlässigeren Handschriftengruppe γ siehe die einleitenden Bemerkungen zum griechischen Text, bes. Anmm. 473 und 474.

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5. Kommentar (§§9–10)

krates-Friedens in Mittelgriechenland, und spätestens nach der Schlacht bei Chaironeia 338 v.Chr. war makedonisches Vordringen auch in den athenischen Raum nicht mehr zu verhindern. Athen musste dem korinthischen Bund beitreten; das dennoch relativ zuvorkommende makedonische Vorgehen – eine direkte militärische Konfrontation blieb aus – lag vor allem in der angestrebten Kooperation Athens wegen seiner grossen Flotte begründet. Mit Alexanders Amtsantritt 336 v.Chr. stand also Griechenland bereits unter makedonischer Führung, und zwar in dem Sinn, dass die Makedonen dem korinthischen Bund zwar nicht offiziell angehörten, ihr König ihn jedoch als Hegemon leitete. Daher ist Alexander derjenige, welcher zur genannten Zeit in Athen die »Befehle erteilte«. Die Kriegsthematik ist durch die Erwähnung der Herkunft des Demosthenes als Sohn eines Waffenschmiedes (μαχαιροποιοῦ) vorbereitet und wird hier als Gegenpol zur gegenwärtigen, friedlichen Welt herangezogen: In Friedenszeiten braucht es keine Rhetorik, wie sie Demosthenes oder Aischines boten. Damit wird also der klassischen Rhetorik ihre Relevanz für die Gegenwart abgesprochen. Um dies zu erreichen, nimmt der Ratgeber allerdings eine enorme thematische Einengung der Inhalte der klassischen Texte vor. Zudem unterwandert er seine eigenen rhetorischen Mittel, da er an dieser Stelle Alexanders Taten eine Relevanz für die Gegenwart abspricht, dessen militärische Aktionen jedoch zuvor als wichtigen Referenzpunkt genutzt hat (vgl. §5 und §7). Einschränkend ist festzuhalten, dass der alten Rhetorik ein Nutzen nicht generell, sondern nur unter den neuen Umständen abgesprochen wird. Implizit ist durch das positive Adjektiv χρήσιμα auch ein Lob ausgesprochen.655 Der Lehrer des langen Weges wird insofern in seinem Verhalten etwas gerechtfertigt, als er in Unkenntnis der neuen Situation (οὐκ εἰδὼς κτλ.) noch immer dasselbe empfiehlt, was früher nützlich war.656 Zum im Gegenzug propagierten Nutzen eines amoralischen Privatlebens für die Rhetorik vgl. den Kommentar zu §23: εἰς τὴν ῥητορικὴν [...] ἀνοίσουσιν; πρὸς τὴν ῥητορικὴν χρήσιμα. εἰς τὸ εὐθὺ τῆς Ῥητορικῆς ὁδός Sommerbrodt verweist auf dieselbe Verwendung von εὐθύ in Bis. Acc. 12: πρὸς τὸ ἄναντες εὐθὺ τοῦ Ἀρείου πάγου und Fug. 24: εὐθὺ τῆς Θρᾴκης ἀπιτέον. Vgl. weiter Menipp. 6: ἔτεινον εὐθὺ Βαβυλῶνος.

655 Ein ähnliches Phänomen begegnet uns in den Tricks des Rednerlehrers, die jeweils stark darauf basieren, den Anschein der klassischen Rhetorik zu erlangen: Sie ist sowohl in ihrem Stil (vgl. §16 zu den Attizismen) als auch in ihren Inhalten (vgl. §18 zu den Paradethemen) zweifellos noch immer vorbildhaft. 656 Es folgt allerdings gleich der nächste, schwerwiegende Vorwurf; s.u. zu: ἐκτραχηλίσῃ.

§10: Der lange Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 1: refutatio)

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ἐκτραχηλίσῃ Wörtlich bedeutet ἐκτραχηλίζειν »(vom Pferd:) über den Nacken hinunterwerfen«. Dasselbe Verb verwendet Lukian noch in Toxaris 14 und – in sehr ähnlichem Kontext – in Merc. Cond. 42 (Beschreibung der Karriere eines Hausgelehrten im Stil von Kebes’ Tabula): [...] ἡ ἄνοδος ἐπὶ πολὺ καὶ ἀνάντης καὶ ὄλισθον ἔχουσα, ὡς πολλάκις ἤδη πρὸς τῷ ἄκρῳ ἔσεσθαι ἐλπίσαντες ἐκτραχηλισθῆναι διαμαρτόντος τοῦ ποδός.657 Zum Bild der vom steilen, schlüpfrigen Pfad Herabstürzenden vgl. auch Rh. Pr. 3: ἀνάντη [ὁδόν]; ἀποκυλιομένους ἐπὶ κεφαλὴν und 9: εἰ δὲ κἂν μικρόν τι παραβαίης [...] ἐκπεσεῖσθαί σε τῆς ὀρθῆς ὁδοῦ. Die vorliegende Formulierung des Ratgebers ist mehrdeutig, je nachdem, ob man das Verb ἐκτραχηλίζειν wörtlich (»hinabstürzen«) oder in einem übertragenen Sinn (»ruinieren«) versteht.658 Das Element einer ›Handgreiflichkeit‹ dürfte zumindest mitschwingen, so dass der Ratgeber insofern zu einem letzten, vernichtenden Schlag gegen den Lehrer des langen Weges ausholt, als er ihm – nachdem er ihn durch den Verweis auf verblasste Fussspuren, durch die Ankündigung einer ewig langen Ausbildung und durch eine hohe Geldforderung bereits höchst unglaubwürdig gezeichnet hat – unterstellt, dass er seine Schüler vom steilen Weg eigenhändig herabstürze (wohl nicht ohne zuvor seine Bezahlung erhalten zu haben). Der alte Weg zur Rhetorik scheint somit ein Gefahrenpotential zu bergen, angesichts dessen sich jeder vernünftige Anwärter dem kurzen Weg zuwenden sollte. παραλαβὼν παραλαμβάνω zur Bezeichnung eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses und damit der Übernahme in den Unterricht bzw. allgemeiner eines Verhältnisses, bei dem einer dem anderen den Weg weist oder ihn in seine Obhut nimmt, verwendet Lukian oft (vgl. die Parallele in der Darstellung des Rednerlehrers unten §11: σε παραλαβὼν), häufig auch im Zusammenhang mit allegorischen Figuren; vgl. z.B. Menipp. 7 (der Chaldäer Mithrobarzanes erklärt sich nach langem Bitten einverstanden, Menipp den Weg in den Hades zu zeigen): παραλαβὼν δέ με ὁ ἀνὴρ [...]; Lex. 18 und 21; Vit. Auct. 9; Pseudol. 25; Ikaromen. 27; Merc. Cond. 42; Catapl. 21 und 23; Timon 32; Bis Acc. 8, 17, 27, 34. Vgl. auch bereits Plat. Alc. I 121e; Phd. 83a; R. 541a. 657 »[...] der Aufstieg ist lang, steil und schlüpfrig, so dass diejenigen, die gehofft haben, dem Gipfel schon nahe zu sein, oft noch abstürzen, weil sie einen Fehltritt tun.« 658 Übertragen verstanden wird vorliegende Stelle bei LSJ s.v. ἐκτραχηλίζω 2.: metaph. ruin, pervert; siehe auch Möllendorff [2006a] 173 (intransitiv): »Du aber lass dich nicht überreden und achte gar nicht auf ihn, damit du dir unter seinem Einfluss nicht den Hals brichst oder vor lauter Arbeit am Ende noch vorzeitig alterst.« Wörtlich und transitiv hingegen z.B. Ar. Lys. 705 (Κοὐχὶ μὴ παύσησθε τῶν ψηφισμάτων τούτων, πρὶν ἂν τοῦ σκέλους ὑμᾶς λαβών τις ἐκτραχηλίσῃ φέρων).

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5. Kommentar (§§9–10)

προγηρᾶσαι τοῖς πόνοις Vgl. zum Bild des sich auf dem steilen Weg Abmühenden und dabei Alternden, ja gar vor Erreichen des Gipfels Sterbenden Hermot. 6 sowie den Kommentar zu §3: ἱδρῶτος μεστὴν (mit Text und Übersetzung von Hermot. 6) und zu §9: κατὰ ὀλυμπιάδας. ὡς καὶ σπουδάζοιο πρὸς αὐτῆς Zum Optativgebrauch vgl. die Angaben zu §6: ὡς γαμήσειάς [...] ἔχοις. ἴθι, [...] μακρὰ χαίρειν λέγε, [...] καταλιπὼν Imperativisch erfolgt an dieser Stelle, nachdem die unüberzeugende, in indirekter Rede referierte Präsentation des Lehrers des langen Weges (§9) vom Ratgeber in allem abgelehnt worden ist (§10), endlich der zu erwartende ›überzeugende‹ Ratschlag: Sich nicht dem beschwerlichen, sondern dem anderen, leichten Weg zuzuwenden. Der Ausdruck μακρὰ χαίρειν λέγειν/φράζειν τινί ist – v.a. bei kaiserzeitlichen Autoren – häufig; das Neutrum μακρά erscheint dabei in adverbieller Verwendung: »sich auf lange Zeit/für immer von jmd./etwas verabschieden«, »sich für immer von etwas lossagen«. Vgl. z.B. Luk. Bis Acc. 21 (Epikur über die Stoiker: εἰ γοῦν τις αὐτοῖς τὸν τοῦ Γύγου δακτύλιον ἔδωκεν, ὡς περιθεμένους μὴ ὁρᾶσθαι [...] εὖ οἶδ’ ὅτι μακρὰ χαίρειν τοῖς πόνοις φράσαντες ἐπὶ τὴν Ἡδονὴν ὠθοῦντο ἂν [...]); Fug. 20 (die personifizierte Philosophie über die Scheinphilosophen: εἶτ’ ἐπειδὰν ἱκανῶς συλλέξωνται καὶ ἐπισιτίσωνται [...] μακρὰ χαίρειν φράσαντες τῇ πήρᾳ τῇ Κράτητος [...]); Nav. 2; Gall. 2; Peregr. 32 u.ö.; weiter Plut. Ag. et Cleom. 48,8 ([...] ἀπῆλθε μακρὰ χαίρειν φράσας Ἀχαιοῖς); Gal. San. tuend. vol. 6, p. 391 ([...] μακρὰ χαίρειν εἰπόντας ἐκείνοις τῶν φιλοσόφων, ὅσοι [...]); Cass. Dio 46,3,2 und 58,18,2. Siehe auch bereits oben Rh. Pr. 9: [...] πολλὰ χαίρειν φράσαντα τῇ ἐλπιζομένῃ ἐκείνῃ εὐδαιμονίᾳ. τῷ μὲν δασεῖ τούτῳ καὶ πέρα τοῦ μετρίου ἀνδρικῷ Vgl. dazu bereits S. 232 mit Anm. 622. ἄλλους ὁπόσους ἂν ἐξαπατᾶν δύνηται In Kontrast zu dieser Aussage steht der verlassen daliegende steile Weg in §8 (vgl. den Kommentar zu: οὐ πολλὰ ἴχνη τῶν ὁδοιπόρων εἶχεν und zu Widersprüchen innerhalb der Schrift die Einleitung 1.6, S. 62). In der vorliegenden Einstufung der erwähnten Schüler als Getäuschte liegt eine Abwertung der bestehenden Konvention (und der nach wie vor betriebenen ›klassischen‹ Lehre) mit provozierender (bzw. aus narrenhafter Perspektive heraus humoristischer) Wirkung.

§11: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe (Pistis Teil 2)

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§§11–25: Der kurze Weg und sein Lehrer (Pistis Teil 2: probatio) §§11–12: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe Präsentiert wird nun das Gegenbild zum strengen, hypermaskulinen, bäurischen Lehrer – der durch und durch effeminierte Rednerlehrer. Inhaltlich und stilistisch lehnen sich die beschreibenden Ausdrücke eng an §9 an bzw. führen die gegenteiligen Begriffe auf (ἀνδρώδης τὸ βάδισμα / διασεσαλευμένον τὸ βάδισμα; ἀρρενωπὸς τὸ βλέμμα / γυναικεῖον τὸ βλέμμα). Die asyndetische Reihung der Attribute dehnt sich von einzelnen Adjektiven (πάνσοφος, πάγκαλος) über einen vierfachen Parallelismus mit der Verwendung des Accusativus respectus (διασεσαλευμένον τὸ βάδισμα, ἐπικεκλασμένον τὸν αὐχένα, γυναικεῖον τὸ βλέμμα, μελιχρὸν τὸ φώνημα) in längere Kola aus, die in der Feststellung der absoluten Verweichlichung des Dargestellten (πάναβρος), die mit exempla illustriert wird, gipfelt (s.u. zum Lemma). Insgesamt wird das Aussehen der Hauptperson der Schrift gegenüber derjenigen in §9 ausführlicher dargestellt und ihre Weiblichkeit in allen Details ausgekostet. Die effeminierte Erscheinung des Rednerlehrers wird derart überzeichnet, dass die überschwänglichen Empfehlungen des Ratgebers, sich diesem Mann anzuvertrauen, weil er ein grosser, bedeutender Redner sei, sich selbst aushebeln, da das hochachtungsvolle659 Sprechen über einen derart effeminierten Menschen von Ironie durchsetzt ist und der rhetorischen Forderung nach angemessener Übereinstimmung von Ausdrucksweise und Inhalt (πρέπον) zuwiderläuft.660 Lukian präpariert dadurch, bevor er seine Hauptperson endlich auftreten661 lässt (§13; genau in der Hälfte der Schrift), das Terrain so, dass jeder aufmerksame Leser oder Hörer sich bereits auf einen dem Rednerlehrer entsprechenden schlechten Ausbildungsgang gefasst macht und mit Spannung auf dessen Vortrag wartet. Diese Spannung entsteht nicht zuletzt auch dadurch, dass der Rednerlehrer vergöttlicht wird (θεσπέσιον χρῆμα; ξένον φάσμα δρό659 Man vergleiche §26, wo der Rednerlehrer am Ende des Werks, gleich nachdem er für das Privatleben die abscheulichsten Dinge empfohlen hat, vom Ratgeber als »der Edle« (ὁ γεννάδας) bezeichnet wird. 660 Vgl. dazu Arist. Rh. 3,7, bes. 1408a10f.: τὸ δὲ πρέπον ἕξει ἡ λέξις, ἐὰν ᾖ παθητική τε καὶ ἠθικὴ καὶ τοῖς ὑποκειμένοις πράγμασιν ἀνάλογον und 1408a19f.: πιθανοῖ δὲ τὸ πρᾶγμα καὶ ἡ οἰκεία λέξις. Aufschlussreich für die vorliegende Einführung des Rednerlehrers durch den Ratgeber ist Aristoteles’ Bemerkung bezüglich der komischen Wirkung von nicht eingehaltenem πρέπον in 1408a14: εἰ δὲ μή, κωμῳδία φαίνεται. 661 Der Vergleich mit dem Tragödiendichter Agathon (§11) und mit den Hetären aus den Komödien Menanders (§12) sowie Schauspielmetaphorik (§12: τὸν ἥρωα ὃν ὑποκρίνομαι) markieren den Auftritt als denjenigen auf einer Schauspielbühne.

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5. Kommentar (§§11–12)

σῳ ἢ ἀμβροσίᾳ τρεφόμενον), man also mit einem absolut atemraubenden Auftritt zu rechnen hat. §11 πάνσοφόν τινα καὶ πάγκαλον ἄνδρα Die Erwähnung aussergewöhnlicher Klug- und Schönheit, stilistisch durch π-Alliteration und Homoioteleuton herausgehoben, könnte grundsätzlich positiv aufgefasst werden, ist jedoch – ähnlich dem Aufbau und der inhaltlichen Ambivalenz von §9, vgl. dazu S. 229f. – durch die folgenden Ausdrücke (die allesamt eine verweichlichte Konnotation aufweisen, v.a. πάναβρος, s.u. zum Lemma) und aus der Retrospektive der gesamten nachfolgenden ›Lehre‹ stark ironisch eingefärbt: Seinem Unterricht nach zu schliessen ist der Rednerlehrer nämlich σοφός im negativen Sinne blosser sophistischer Tricks und καλός im Sinne dessen, der (zu) grossen Aufwand zur Schönheitspflege, wie sie eigentlich Frauen vorbehalten ist, betreibt (reichlich Parfum, ständige Sorge um die Haartracht).662 Das Adjektiv πάνσοφος ist zum ersten Mal belegt bei Aischylos fr. 181a Radt, danach bei Euripides fr. 588 Nauck, jeweils bezogen auf Palamedes663, den Erfinder schlechthin, bzw. auf seine Erfindungen.664 Als Spitze gegen die Sophisten an sich durchaus denkbar, findet sich das Adjektiv bei Platon nicht; die ersten Belege in Prosa treten in der Septuaginta (e.g. 1,12,4) und in grosser Zahl bei Philon von Alexandria (e.g. De Cherubim 18,2) auf, jeweils in positivem Sinn »allwissend« über Gott, Propheten etc. Lukian selbst gebraucht das Adjektiv in ironischem Ton bezogen auf die Philosophen Kleodemos und Deinomachos und den Rhapsoden Ion in Philopseud. 6: ὁρᾷς οἵους ἄνδρας σοί φημι, πανσόφους καὶ παναρέτους und bezogen auf Hermotimos in Hermot. 60 (Lykinos kritisch über Hermoti-

662

Zur darüber hinaus nur halbwegs vollständigen Schönheit vgl. auch unten §11: ὀλίγας μὲν ἔτι, [...] τρίχας; §12: ἐπισπασάμενος ὁπόσον ἔτι λοιπὸν τῆς κόμης. – Die grundsätzlich positive Konnotation der Adjektive πάνσοφος und πάγκαλος zeigen die im Folgenden aufgeführten ausserlukianischen Belege; die lukianischen Texte weisen eine ambivalente Verwendung auf. 663 Palamedes ist eine in der Literatur der Zweiten Sophistik – und bereits in der klassischen Sophistik (Gorgias) – häufig thematisierte Figur, die durch ihren Erfindungsgeist und ihre Weisheit ein Exempel für die Sophisten selbst abgibt, vgl. Zeitlin in Goldhill [2001] 250f. sowie Philostrat Heroicus 33,1–34,7 (Teubner). Zu Palamedes als Vergleichsfigur des gewieften Redners vgl. auch Plat. Phdr. 261d (siehe zu Phdr. als wichtigem Konstrasttext zu Rh. Pr. bereits die Einleitung 1.3, S. 39). 664 Weitere Belege finden sich bei Aischylos Supp. 320 (πάνσοφον ὄνομα), Sophokles fr. 913 Radt (πάνσοφον κρότημα) und Euripides HF 188 (πάνσοφον εὕρημα).

§11: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe (Pistis Teil 2)

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mos’ Haltung zur Philosophie): σὺ δὲ οἴει τὸ τοιοῦτον αὐτὸ εἶναι, ὡς εἰ μόνον γεύσαιο [...], αὐτίκα σε πάνσοφον γενησόμενον [...]. Eine rein positive Verwendung findet sich bei Pollux (4,20), welcher als Attribute eines guten Redners neben δεινὸς εἰπεῖν auch σοφὸς εἰπεῖν und πάνσοφος vermerkt. πάγκαλος ist bei Platon häufig belegt (vor ihm lediglich Euripides fr. 285 Nauck und Sophokles fr. 212 Radt), jedoch vor allem auf Dinge/Taten (χρῆμα, πρᾶγμα, ἔργον) und Worte (λόγοι), nur selten auf Menschen bezogen (nie mit Beigeschmack der Verweichlichung; vgl. R. 540c; Lg. 859d; Kritias 121b). Lukian verwendet das Adjektiv spöttisch in Pisc. 50 (über die speziell auffällige Kleidung eines Scheinphilosophen, wiedergegeben mit dem Bild eines farbig-schillernden Fisches). Allerdings gebraucht er πάγκαλος bezogen auf Menschen durchaus auch in neutral-positivem Sinn, so z.B. in Dial. Deor. 3,1 (Eros ist πάγκαλος, Hermaphroditos dagegen θῆλυς und ἡμίανδρος). Dass der sich mit Sokrates vergleichende (§13) Rednerlehrer neben seiner Weisheit auch mit grosser Schönheit ausgestattet ist und daher eine gänzlich anti-sokratische Physiognomie665 aufweist, in welcher Weisheit und Schönheit zusammengehen, kann dahingehend gedeutet werden, dass die Figur des Rednerlehrers in der vorliegenden (närrischen) Darstellung des Ratgebers so angelegt ist, dass sie Sokrates sogar übertrifft. Sein Metier, das mit der Schauspielerei verglichen wird, ist zudem eines, in welchem von der Gesamterscheinung viel, gemäss den Worten des Rednerlehrers sogar fast alles (§15), abhängt (zur letztlich mangelhaften Schönheit s.o. Anm. 662). διασεσαλευμένον τὸ βάδισμα Vgl. den Gebrauch derselben Partizipialform nicht für den Gang, sondern für den unstet schweifenden Blick eines Effeminierten in Luk. Merc. Cond. 33: διασεσαλευμένον τὸ βλέμμα. Grundsätzlich bedeutet διασαλεύω »schütteln, aufwühlen, durcheinanderbringen«. Vgl. auf die Körperhaltung bezogen bereits Ps.-Arist. Phgn. 809b (Beschreibung des Löwen als Paradebeispiel des männlichen Tieres; sein Gang ist langsam, weit ausgreifend und wiegend in den Schultern): βαδίζον [sc. ζῷον, gemeint ist der Löwe] δὲ βραδέως, καὶ μεγάλα διαβαῖνον, καὶ διασαλεῦον ἐν τοῖς ὤμοις; die bei Aristoteles positiv konnotierte Bewegung ist in Rh. Pr. ironisch eingefärbt, so dass ich für διασεσαλευμέ665

Zur silenhaften Physiognomie des Sokrates (eingedrückte Nase, wulstige Lippen, Halbglatze, Bart) vgl. Plat. Smp. 215a–b; Tht. 143e; Xen. Smp. 4,19; 5,5–7 und DNP 11 s.v. Sokrates [2], Sp. 676.

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5. Kommentar (§§11–12)

νον τὸ βάδισμα die Übersetzung »mit schlenkerndem Gang« verwendet habe. Überhaupt ist jede Art auffälliger und häufiger Bewegungen von Rhetoren während ihrer Auftritte verpönt und wird als unmännlich eingestuft, vgl. dazu Cicero Or. 59 (vgl. auch den Kommentar zu §19: βάδιζε μεταφέρων τὴν πυγήν): Idemque motu sic utetur, nihil ut supersit: in gestu status erectus et celsus; rarus incessus nec ita longus; excursio moderata eaque rara; nulla mollitia cervicum, nullae argutiae digitorum, non ad numerum articulus cadens; trunco magis toto se ipse moderans et virili laterum flexione, brachii proiectione in contentionibus, contractione in remissis.666 Diese Textstelle bezieht durch die Erwähnung des Nackens (cervix) und der Finger (digiti) Elemente mit ein, die auch in vorliegender Passage von Rh. Pr. entscheidend sind (s.u.: αὐχένα, δακτύλῳ), und setzt die genannte »Schwäche« oder »Weichheit« des Nackens dem männlichen Oberkörper (truncus) entgegen, der als gesamter nur leicht bewegt werden soll.667 ἐπικεκλασμένον τὸν αὐχένα Vgl. die sehr ähnliche Beschreibung eines Effeminierten in Merc. Cond. 33: τὸν τράχηλον ἐπικεκλασμένον sowie die Entlarvung der Effeminierten in Adv. Ind. 23 (wie sie auch ge- bzw. verkleidet sein mögen – Gang, Blick, Stimme, wacklig-dünner Hals und Schminke im Gesicht verraten sie immer): μυρία γάρ ἐστι τὰ ἀντιμαρτυροῦντα τῷ σχήματι, βάδισμα καὶ βλέμμα καὶ φωνὴ καὶ τράχηλος ἐπικεκλασμένος καὶ ψιμύθιον καὶ μαστίχη καὶ φῦκος, οἷς ὑμεῖς κοσμεῖσθε [...]. Wie in der Einleitung zu §9 bereits dargelegt worden ist, sind es genau diese Variablen von Gang, Blick, Stimme und Haltung, die auch in den physiognomischen Schriften abgehandelt werden. Was hier beschrieben 666

»Er [sc. der Redner] wird auch Bewegung einsetzen, aber so, dass nichts daran übertrieben ist: In seiner Stellung wird er eine aufrechte, gerade Haltung einnehmen, selten umhergehen und nicht weit, nur kontrolliert auf das Publikum zueilen und auch das selten. Kein Biegen des Nackens, keine Spielerei mit den Fingern, kein Taktschlagen mit den Knöcheln, sondern er gibt sich seinen Rhythmus mit dem ganzen Oberkörper und männlicher Neigung der Seiten, den Arm ausgestreckt bei leidenschaftlichen, gesenkt bei ruhigeren Passagen.« Diese Cicerostelle wird bestätigend erwähnt bei Quint. Inst. 11,3,122. 667 Vgl. auch Cic. Off. 1,128f. mit zusätzlicher Betonung der zwei – im Agon der Lehrer in Rh. Pr. genauso hervorgehobenen – Extreme von Effeminiertheit und Hypermaskulinität: status, incessus, sessio accubitio, vultus, oculi, manuum motus teneat illud decorum. Quibus in rebus duo maxime sunt fugienda, ne quid effeminatum aut molle et ne quid durum aut rusticum sit. (»Haltung, Einherschreiten, Sitzen, Hinlegen, Miene, Augen, Bewegung der Hände sollen jenes Angemessene bewahren. Bei diesen Dingen muss man zweierlei besonders vermeiden, dass nichts effeminiert oder weichlich und nichts hart oder bäurisch wirkt.« Unterstrichen sind in Rh. Pr. 11–12 ebenfalls genannte Aspekte). Zu graduellen Unterschieden in verschiedenen rhetorischen Kontexten (forensisch, symbuleutisch, epideiktisch) siehe den Kommentar zu §19: βάδιζε μεταφέρων τὴν πυγήν.

§11: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe (Pistis Teil 2)

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wird, ist ein Hals oder Nacken, der im Gegensatz zum männlichen (breit und stark) so dünn und fragil (und damit weiblich) ist, dass er ›einzuknicken‹ scheint.668 Dass das Verb eine effeminierte Konnotation aufweist, wird in Demon. 12 explizit gesagt (Demonax macht sich über die Vorlesungen des Philosophen Favorinus lustig, besonders über deren rhythmisch-sprachliche Form): [...] μάλιστα τῶν ἐν αὐταῖς μέλων τὸ ἐπικεκλασμένον σφόδρα ὡς ἀγεννὲς καὶ γυναικεῖον καὶ φιλοσοφίᾳ ἥκιστα πρέπον. γυναικεῖον τὸ βλέμμα Vgl. die Anmerkungen zu §9: ἀρρενωπὸς τὸ βλέμμα. μύρων ἀποπνέοντα Dieselbe Junktur findet sich bezüglich eines weichlichen Schönlings, des Verführers der Zofe der Kallirhoe, bei Chariton 1,4,9: κόμην εἶχε λιπαρὰν καὶ βοστρύχους μύρων ἀποπνέοντας, ὀφθαλμοὺς ὑπογεγραμμένους, ἱμάτιον μαλακόν, ὑπόδημα λεπτόν. Zu Kleidung und Schuhwerk vgl. später Rh. Pr. 15. Den Duft nach Parfum als Merkmal eines Mannes verwendet Lukian spöttisch auch in Vit. Auct. 12, Dial. Mort. 6,5 sowie (in einem Verwirrspiel zwischen Mann und Frau) Dial. Meretr. 12,4; vgl. ebenso Dion von Prusa Or. 4,110 (effeminierte Erscheinung eines Mannes) und bereits Aristophanes Pax 525f. (über die hetärenhafte Gestalt der Θεωρία), ferner Philon De sacr. Abel. et Cain. 21 (über die Gestalt der ἡδονή).669 Im Hinblick auf die äussere Erscheinung der Sophisten im historischen Kontext ist folgende Anekdote über den Sophisten Alexander Peloplaton illustrativ (Philostrat VS 571): [...] ὁ Ἀλέξανδρος »πρόσεχέ μοι«, ἔφη, »Καῖσαρ.« καὶ ὁ αὐτοκράτωρ παροξυνθεὶς πρὸς αὐτὸν ὡς θρασυτέρᾳ τῇ ἐπιστροφῇ χρησάμενον »προσέχω«, ἔφη, »καὶ ξυνίημί σου· σὺ γὰρ«, ἔφη, »ὁ τὴν κόμην ἀσκῶν καὶ τοὺς ὀδόντας λαμπρύνων καὶ τοὺς ὄνυχας ξέων καὶ τοῦ μύρου ἀεὶ πνέων.«670 668 Vgl. zur gender-Einordnung Ps.-Arist. Phgn. 811a11–13, allerdings ohne Verwendung des Verbs ἐπικλάω; dieses findet sich beispielsweise in Verbindung mit der Körperhaltung in Ps.Polemon Physiognomonika 42, wo es heisst, dass in Richtung Brustkorb eingefallene Schultern den boshaften und verleumderischen Menschen anzeigen. Vgl. in der römischen Rhetoriktheorie Quint. Inst. 11,3,82: cervicem rectam oportet esse (»der Nacken muss gerade sein«). 669 Die Belege mit personifizierten Frauenfiguren erinnern an die in Rh. Pr. personifizierte Ῥητορική; speziell der letzte Beleg verweist zudem wieder zurück auf die in Rh. Pr. adaptierte Allegorie einer Wegwahl zwischen ἀρετή und ἡδονή, als deren Vertreter ja der Lehrer des langen Weges und der Rednerlehrer aufgefasst werden können. Vgl. dazu bereits Anm. 131. 670 »Alexander sagte: ›Achte auf mich, Kaiser!‹ Und der Herrscher, irritiert über seine ziemlich kühne Anrede, antwortete: ›Ich achte auf dich und ich kenne dich gut. Denn du‹, sagte er, ›bist derjenige, der dauernd sein Haar ordnet, die Zähne putzt, die Nägel poliert und immer nach Parfüm riecht.‹«

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5. Kommentar (§§11–12)

τῷ δακτύλῳ ἄκρῳ τὴν κεφαλὴν κνώμενον Dies ist ebenfalls ein Zeichen des Verweichlichten bzw. Kinädenhaften, man vgl. den jüngeren Seneca (Ep. mor. 52,12), der seinen Freund Lucilius belehrt, dass man an einem Vortrag auch aus kleinsten Anzeichen einen Rückschluss auf den Charakter des Redners ziehen könne, z.B dass ein impudicus sich durch einen bestimmten Gang und – für uns besonders wichtig – durch einen zum Kopf geführten Finger und ein Verdrehen der Augen verrate (relatus ad caput digitus et flexus oculorum). Der Terminus impudicus bildet im Lateinischen neben pathicus und cinaedus ein weiteres Etikett für den penetrierten Mann und den durch die Zerstörung seiner pudicitia verursachten Männlichkeitsverlust (vgl. Williams [1999] 172f.; vgl. auch Juv. sat. 9,133, wo von pathici die Rede ist: qui digito scalpunt uno caput). ὀλίγας μὲν ἔτι, οὔλας δὲ καὶ ὑακινθίνας τὰς τρίχας εὐθετίζοντα Die Adjektive, die lockiges und hyazinthfarbenes Haar beschreiben, rufen die folgende Homerstelle Od. 6,229–231 (Erstbeleg, vgl. Od. 23,158) in Erinnerung: τὸν μὲν Ἀθηναίη θῆκεν, Διὸς ἐκγεγαυῖα, / μείζονα τ’ εἰσιδέειν καὶ πάσσονα, κὰδ δὲ κάρητος / οὔλας ἧκε κόμας, ὑακινθίνῳ ἄνθει ὁμοίας. Langes, schwarz-violettes, lockiges Haar muss per se nichts Verweichlichtes beinhalten, wie man diesen Stellen, wo Odysseus von Athene mit besonderer Schönheit ausgestattet wird, entnehmen kann (vgl. Dion. Hal. Comp. Verb. 4,12; Eustath. Comm. ad. Hom. Od. vol. 1, p. 251; zur Verbreitung des Merkmals hyazinthfarbenen Haares in Bezug auf Odysseus vgl. Philostr. Heroicus 25,13 [Teubner; Olearius p. 694,30]; als Merkmal der Inder und Aithioper bei Eustath. Comm. in Dionys. Perieg. 1107,12 [in: Müller, Geographi Graeci minores, vol. 2, p. 399]; zur Farbe vgl. Suda s.v. ὑακίνθινον· ὑπομελανίζον, πορφυρίζον). Doch in Rh. Pr. liegt eine künstlich erzeugte Schönheit vor, noch dazu ist das vielleicht sogar gefärbte671 Haar nur spärlich (ὀλίγος) vorhanden, und der implizite Vergleich des effeminierten Rednerlehrers mit dem starken, tapferen Helden Odysseus erweist sich als höchst ironisch.672

671

Dies ist bei dem auf ähnliche Weise effeminiert gezeichneten, kritisierten Sophisten in Pseudol. 31 der Fall: Lobenswert ist einzig, dass der Mann seine Haare nun endlich nicht mehr färbt (ἐκεῖνό σοι μόνον σοφόν, αἱ πολιαὶ καὶ τὸ μηκέτι μελαίνεσθαι). 672 Die durch Intertextualität aufgerufene Odysseusfigur leistet auch noch etwas zweites: Odysseus’ Ruf als Lügenerzähler und listiger Held (vgl. z.B. Od. 9,282–299.364–367; 13,253–299) impliziert durch den Vergleich Entsprechendes für den Rednerlehrer, dessen Lehre daher möglicherweise lügnerisch und listig ist. Vgl. zur Ambivalenz der Figur des Rednerlehrers auch den Kommentar zu §11: πάνσοφόν τινα καὶ πάγκαλον ἄνδρα und §13: Τιτυὸς ἢ Ὦτος ἢ Ἐφιάλτης; τεράστιον sowie generell zu ambivalenter Sprache und Figurenzeichnung §10: ἀλαζὼν καὶ ἀρχαῖος ὡς ἀληθῶς καὶ Κρονικὸς ἄνθρωπος.

§11: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe (Pistis Teil 2)

261

Zu weiblichen Konnotationen vgl. Lukian Pr. Im. 5, wo dieselben Adjektive als lobenswerte Eigenschaften des Haars einer Frau erwähnt sind (ebenso [Ps.]-Lukian Am. 26).673 Mit der Beschreibung des – vielleicht aufgrund fortgeschrittenen Alters674 – langsam ausdünnenden Haares wird die anfangs genannte Schönheit (πάγκαλος) des Lehrers ironisch abgewertet und seine Göttlichkeit (s.u.: τι ξένον φάσμα δρόσῳ ἢ ἀμβροσίᾳ τρεφόμενον) im Bild einer ›kahlköpfigen Gottheit‹ karikiert.675 Aufschlussreich, was die aufgezählten Attribute des Rednerlehrers angeht, ist Polemons Beschreibung des Sophisten Favorinus, der unter seinen Zeitgenossen als Hermaphrodit oder Eunuch gegolten zu haben scheint (vgl. Luk. Demon. 12f.). Favorin ist durch und durch verweichlicht in seiner Erscheinung, und besonders eng an Rh. Pr. 11 schliessen folgende Attribute an (vgl. die lat.-arab. Ausgabe Script. Physiognom. Graeci vol. 1, p. 160– 162 Foerster): Er hat einen langen, dünnen Hals (cervix longa tenuis), hält sich nicht aufrecht, sondern hat schlaffe (laxus) Glieder und verwendet grosse Sorgfalt auf sein Haar (crines). Polemon zählt zudem ganz allgemein zu den Zeichen des Weiblichen weiches, schwarzes Haar, einen schmalen Nacken, schlaffe oder schlenkernde Glieder und Gang (p. 194). Siehe dazu weiter Gleason [1995] 7f. und 46f., wo erklärt wird, dass der springende Punkt übertriebener Schönheitspflege, gerade bezogen auf das Haar, darin liegt, dass solche Gewohnheiten als passiv und feminin gelten, »because they are designed to inspire others with lust« (46). πάναβρόν τινα Σαρδανάπαλλον ἢ Κινύραν ἢ αὐτὸν Ἀγάθωνα Das Adjektiv πάναβρος ist bei Lukian zum ersten Mal belegt.676 Es dürfte in bewusster Anlehnung an die den vorliegenden Abschnitt eröffnenden Adjektive πάνσοφος und πάγκαλος neu gebildet worden sein und damit die All-Weisheit und besonders die All-Schönheit des Lehrers als übertriebene ›All-Verweichlichung‹ entlarven: Hier werden die zuvor positiven oder zumindest ambivalenten Begriffe eindeutig negativ gekennzeichnet. 673

Dass Haare bei Homer als Schönheitsmerkmal von Männern und nicht von Frauen genannt werden, scheint Dion von Prusa auch speziell erwähnenswert (Encom. comae 43–45): καὶ πρέπειν γε μᾶλλον τοῖς ἀνδράσιν φαίνεται καθ’ Ὅμηρον ὁ κόσμος ὁ τῶν τριχῶν ἢ ταῖς γυναιξί. γυναικῶν γοῦν περὶ κάλλους διεξιὼν οὐ τοσαυτάκις φαίνεται κόμης μεμνημένος. 674 So Harmons Übersetzung (149): »[...] and carefully dresses his hair, which is scanty now, but curly and raven-black [...].« 675 Vgl. zum Merkmal der wenigen Haare auch den Kommentar zu §12: ἐπισπασάμενος ὁπόσον ἔτι λοιπὸν τῆς κόμης. 676 Er verwendet es auch nur hier; die einzigen weiteren Belege sind: Tzetzes Chiliades 10,356 und M. Apostol. Collectio Paroemiarum 13,89, wo exakt die von Lukian verwendeten Worte als sprichwörtlich wiedergegeben und in ihrem Sinn erklärt werden: Πάναβρος Σαρδανάπαλος· ἐπὶ τῶν τρυφώντων καὶ πολυόλβων.

262

5. Kommentar (§§11–12)

Schon vorlukianisch belegt ist das Simplex ἁβρός, welches unter anderem als typisches Epitheton der Asiaten und ihres Luxus dient (vgl. bereits Hdt. 1,71).677 Beides ist hier von Bedeutung, denn neben der Charakterisierung des Rednerlehrers als ›Lebemann‹ könnte in dem spezifisch mit dem Osten verbundenen Wort eine Anspielung nicht nur auf Asiaten wie Sardanapal, sondern auch auf den asianischen Redestil liegen, der sich später in den Empfehlungen des Rednerlehrers bezüglich Gesang manifestiert (vgl. Rh. Pr. 19; zum Asianismus siehe Whitmarsh [2005] 50–52; vgl. auch den Kommentar zu §12: ἄγροικον γὰρ τὸ ἀρρενωπὸν καὶ οὐ τοῦ ἁβροῦ καὶ ἐρασμίου ῥήτορος). Alle drei Namen, die zum Vergleich herangezogen werden, stehen für verweichlichte Männer und weisen zudem eine immer stärker werdende Assoziation mit Sexualität und Erotik auf, mit demjenigen Bereich also, welcher den verweichlichten bzw. kinädenhaften Mann besonders markiert: Der zuerst genannte assyrische König Sardanapal gilt als griechischer Stereotyp des Effeminierten, und zwar seit Diodor (2,23), der über dessen »Frauenleben« (βίος γυναικός) berichtet, welches er in Frauenkleidern mit Weben und Schminken verbrachte, dazu mit viel Luxus (allg. östliches Merkmal) und Erotik; ebenso Aristeides Or. 34,61; bei Lukian erscheint er in spöttischem Kontext als Verweichlichter, Prassender und Reicher noch in J. Conf. 16 (Σαρδανάπαλλος [...] θῆλυς ὤν); J. Trag. 48 (Καλλίας καὶ Μειδίας καὶ Σαρδανάπαλλος, ὑπερτρυφῶντες); Menipp. 18 (πολυτελής). König Kinyras, der als mythischer Gründer des Kultes der Aphrodite von Paphos auf Zypern galt, wird hier wohl grundsätzlich wegen seiner Tätigkeit als Priester der Liebesgöttin genannt (vgl. Tac. Hist. 2,3; zu Aphrodite s. gleich). Erhellend ist allerdings auch die am ausführlichsten bei Ovid Met. 10,243–541 dargestellte Geschichte seines Geschlechts, das in unnatürliche und verbotene Liebschaften verstrickt ist, wobei Aphrodite (Venus) immer wieder eine Rolle spielt: Bereits Kinyras’ Grossvater, Pygmalion, verliebt sich in eine von ihm geschaffene elfenbeinerne Frauenstatue, die Venus auf seine Bitte hin schliesslich beseelt. Kinyras wiederum geht mit seiner Tochter Myrrha unwissentlich ein inzestuöses Verhältnis ein, aus dem Adonis hervorgeht, der seinerseits die Liebe der Venus entfacht.678

677 Vgl. zu ἁβρός im Zusammenhang mit weiblichen Figuren, Schönheit und Liebreiz auch Sappho fr. 44,7 Voigt (ἄβραν Ἀνδρομάχαν); fr. 128 (ἄβραι Χάριτες); fr. 140 (ἄβρος Ἄδωνις; zu Adonis s. auch unten). 678 Eine Anspielung auf den mythischen Kinyras findet sich auch in Luk. Ver. Hist. 2,25f. Dort wird ein νεανίσκος namens Kinyras als Sohn des Skintharos aus Zypern eingeführt, der sich in Helena verliebte und sie raubte. Die Gestalt vereinigt in sich, wie Möllendorff ([2000b] 403–411, bes. 407–409) gezeigt hat, neben Zügen des Helena-Entführers Paris auch solche des mythischen Kinyras und des Adonis.

§11: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe (Pistis Teil 2)

263

Was den Tragödiendichter Agathon angeht, so erklären die Scholien zu dieser Stelle (p. 178 Rabe): Ἀγάθων τραγῳδίας ποιητὴς εἰς μαλακίαν σκωπτόμενος. ἦν δὲ Τισαμενοῦ υἱὸς Ἀθηναίου, παιδικὰ γεγονὼς Παυσανίου τοῦ τραγικοῦ, μεθ’ οὗ πρὸς Ἀρχέλαον τὸν βασιλέα ᾤχετο, ὡς Μαρσύας ὁ νεώτερος. ἐμιμεῖτο δὲ τὴν κομψότητα τῆς λέξεως Γοργίου τοῦ ῥήτορος, ὡς Πλάτων ὁ φιλόσοφος Συμποσίῳ.679 Vgl. dazu auch die Karikatur des Agathon bei Ar. Th. 30–35 und 95–265 (Charakterisierung als Kinäde, der sich extravagant und feminin gibt)680 sowie PCG 3.2, fr. 178 und TrGF vol. 1, 39 T 12 und 20. Ähnlich wie bei Sardanapal wird in diesen Stellen der Spott über den Verweichlichten gepaart mit dem allgemeinen Bild eines Lebemannes, der Luxus und Erotik nicht abgeneigt ist. Durch die Nennung Agathons, an dessen Rede über Eros in Platons Symposion 194e–197e sich der gebildete Rezipient an vorliegender Stelle durchaus auch erinnern könnte, und durch die später folgende explizite Erwähnung der Aphrodite und der Chariten wird die erotische Komponente immer stärker ins Spiel gebracht, die einerseits auf die dargestellte Person des Rednerlehrers als Effeminierten zurückverweist, andererseits in den Empfehlungen bzw. Schilderungen über das lasterhafte Privat- bzw. Sexualleben in §§23–25 wieder aufgegriffen wird. Agathons eigene Weichlichkeit betreffend mag der Umstand von Bedeutung sein, dass und vor allem wie er im Symposion seine Rede über Eros hält: Ein grosser Abschnitt ist der Zartheit des Gottes (ἁπαλότης) gewidmet; er ist nicht nur der jüngste sondern auch der zarteste Gott, da er in den weichsten Teilen der Menschen (ἐν τοῖς μαλακωτάτοις) wohnt. Schliesslich dürfte bei der Auswahl ausgerechnet dieses Tragödiendichters als exemplum auch im Hintergrund stehen, dass damit im weiteren Sinn auf Schauspiel und Schauspieler referiert wird, ein Motiv, das Lukian andernorts gerne verwendet, um Scheingebildete zu demaskieren (v.a. Scheinphilosophen, z.B. Pisc. 31–33 und Ikaromen. 29), so dass die Nennung Agathons als Chiffre für den Rednerlehrer als ›verkleideten Rhetoriker‹ steht. Man beachte zudem die Schauspielmetaphorik am Beginn von §12.

679 »Agathon war ein Tragödiendichter, der wegen Weichlichkeit verspottet wurde. [...] Er war der Sohn des Atheners Tisamenos und wurde Geliebter des Tragikers Pausanias, mit welchem er zum König Archelaos ging, wie der jüngere Marsyas. Er ahmte das Wortgeklingel des Redners Gorgias nach, wie der Philosoph Platon im Symposion [zeigte].« 680 Folgende Parallelen zur Figur des Rednerlehrers sind speziell zu erwähnen: Agathons weibliche Weisshäutigkeit (V. 191: λευκός; vgl. dazu die Betonung der Sonnenbräune des Lehrers des langen Weges und den Kommentar zu §10: πολὺν τὸν ἥλιον ἐπὶ τῷ σώματι δεικνύων), seine weibliche Stimme (V. 192: γυναικόφωνος; vgl. dazu Rh. Pr. 12), seine weibliche Kleidung, mit der er Euripides’ »Verwandten« (κηδεστής) ausstattet, damit dieser zum Thesmophorienfest gehen kann (Vv. 249–265; vgl. dazu Rh. Pr. 15), sein Gesangsvortrag (V. 99: μελῳδεῖν; vgl. Rh. Pr. 19), die ausdrückliche Nennung von passiver Sexualität (Vv. 35, 50, 200f.; vgl. Rh. Pr. 23).

264

5. Kommentar (§§11–12)

ἐπέραστον ἐκεῖνον ποιητήν Das Adjektiv ἐπέραστος ist erst seit dem 1. Jh. v.Chr. häufiger belegt681 und bezeichnet grundsätzlich auf einen Menschen bezogen die Attraktivität desselben, welche die Liebe (ἔρως) anderer bewirkt. Mögliche deutsche Entsprechungen sind »lieblich, schön, hübsch« sowie »liebenswert, reizend«. Lukian verwendet das Adjektiv insgesamt 16x; dabei einerseits mit Bezug auf die äusserliche Attraktivität einer Person682 (vgl. über den personifizierten Reichtum Merc. Cond. 42: πάνυ εὔμορφος καὶ ἐπέραστος, sehr ähnlich Rh. Pr. 6: τὸν πλοῦτον δόκει παρεστῶτα ὁρᾶν, χρυσοῦν ὅλον καὶ ἐπέραστον; Prom. Es 5; Nav. 45; Dial. Mar. 1,5; 11,2), andererseits mit deutlicher Konnotation des Sexuellen, bei Männern zusätzlich des Effeminierten und Luxuriösen, genau wie es m. E. an vorliegender Stelle über Agathon der Fall ist (vgl. auch oben zum Scholieneintrag, welcher die Liebschaften Agathons nennt). In Rh. Pr. 13 wird der Rednerlehrer nach dem Vergleich mit berühmten attischen Hetären mit dem Adjektiv ἐράσμιος betitelt, was die erotische Komponente noch zusätzlich unterstreicht. Man vergleiche dazu folgende Textstellen: Dial. Mort. 20,3 (über Charmoleos, einen effeminierten Lustknaben): Χαρμόλεως ὁ Μεγαρικὸς ἐπέραστος, οὗ τὸ φίλημα διτάλαντον ἦν; Dial. Mar. 1,5 (Doris im Gespräch mit Galatea): ἐραστὴς μὲν οὐδεὶς ἔστι μοι οὐδὲ σεμνύνομαι ἐπέραστος εἶναι; Dial. Deor. 6,2 (Eros empfiehlt Zeus ein effeminiert-luxuriöses Aussehen anzunehmen, um sterbliche Frauen in Scharen anzuziehen, was dieser allerdings empört ablehnt): Εἰ δ’ ἐθέλεις ἐπέραστος εἶναι, [...] ὡς ἥδιστον ποίει σεαυτόν, ἁπαλὸν ὀφθῆναι, καθειμένος βοστρύχους [...] / Ἄπαγε· οὐκ ἂν δεξαίμην ἐπέραστος εἶναι τοιοῦτος γενόμενος; Dial. Deor. 19,1 (Eros hat Persephone in Adonis verliebt gemacht, der wie bereits gesagt auch in Rh. Pr. 11 durch die Nennung seines Vaters Kinyras aufgerufen ist, s.o.): τὸ Ἀσσύριον ἐκεῖνο μειράκιον, ὃ καὶ τῇ Φερσεφάττῃ ἐπέραστον ποιήσας [...]. Das Adjektiv ἐπέραστος wird in Rh. Pr. 26 ein weiteres Mal in Bezug auf den Schüler verwendet, so dass er auf sprachlicher Ebene mit seinem Lehrer, den der Vergleich mit Agathon charakterisiert, verbunden wird. ὡς [...] γνωρίζοις [...], μηδέ σε [...] διαλάθοι Zum Optativgebrauch vgl. die Angaben zu §6: ὡς γαμήσειάς [...] ἔχοις. 681 Vgl. klassisch lediglich Kratinos PCG 4, p. 140 (Papyrusfragment des Διονυσαλέξανδρος) im Zusammenhang mit dem Parisurteil: Aphrodite verspricht, Paris zum schönsten (κάλλιστον) und liebreizendsten (ἐπέραστον) zu machen. Danach erst wieder bei Diodor 4,7,4 und Philon De Somn. 2,97. 682 Bei Pollux (3,71) findet sich ἐπέραστος genauso in einer Reihe von Bezeichnungen äusserer Attraktivität: καλὸς ὑπέρκαλος πάγκαλος ἐπέραστος (vgl. zu πάγκαλος den Beginn von Rh. Pr. 11).

§11: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe (Pistis Teil 2)

265

Inhaltlich untergräbt der Ratgeber mit diesem Verweis, den Rednerlehrer derart ausführlich beschrieben zu haben, damit er dem Schüler keinesfalls entgehe, seine eigenen Aussage, nach denen der Lehrer eine absolute Ausnahmeerscheinung, ja göttergleich, sein müsste (πάγκαλον; θεσπέσιον χρῆμα). Und tatsächlich thematisiert der Ratgeber diese Inkonsistenz gleich selbst (καίτοι τί φημί;), um danach zu bekräftigen: Der Schüler würde den Lehrer auch mit geschlossenen Augen allein an dessen Stimme erkennen. τὸ Ὑμήττιον [...] στόμα Die Junktur findet sich nur hier bei Lukian und noch einmal spät bei Arethas Scr. min. 14,141,11. Der »hymettische Mund« stellt eine Metonymie für den honigsüssen Mund (dieser wiederum eine Metapher für die angenehme Sprache) des Rednerlehrers dar: Hymettos, ein Gebirge in Attika, steht stellvertretend für den Honig, für den es berühmt war, vgl. Hor. carm. 2,6,15; Plin. n.h. 11,32; Strab. 9,1,23. Vgl. allgemein zur Metaphorik der Süsse der Rede bereits Hesiod Th. 96f. ([...] ὃ δ’ ὄλβιος, ὅντινα Μοῦσαι / φίλωνται· γλυκερή οἱ ἀπὸ στόματος ῥέει αὐδή) und Homer Il. 1,249; weiter Kallimachos Epigr. 27 und fr. 1,11.16 Pfeiffer. Lukian verwendet die Metonymie – ebenfalls spöttisch – nochmals in Merc. Cond. 35 bezogen auf die hohe Meinung der Reichen bezüglich ihres rhetorisch-sophistischen Könnens, das, wenn auch ungerechtfertigterweise, sogar zum generell gültigen Standard erhoben werden muss: χρὴ δὲ καὶ σοφοὺς καὶ ῥήτορας εἶναι αὐτούς, κἂν εἴ τι σολοικίσαντες τύχωσιν, αὐτὸ τοῦτο τῆς Ἀττικῆς καὶ τοῦ Ὑμηττοῦ μεστοῦς δοκεῖν τοὺς λόγους καὶ νόμον εἶναι τὸ λοιπὸν οὕτω λέγειν.683 οἳ ἀρούρης καρπὸν ἔδομεν Hier liegt die variatio eines homerischen Teilverses vor, vgl. Il. 6,141f. (Diomedes zu Glaukos): οὐδ’ ἂν ἐγὼ μακάρεσσι θεοῖς ἐθέλοιμι μάχεσθαι. / εἰ δέ τίς ἐσσι βροτῶν, οἳ ἀρούρης καρπὸν ἔδουσιν, / [...] (ein zweites Mal noch Il. 21,465): Es wird jeweils eine Dichotomie zwischen den unsterblichen Göttern und den »Feldfrüchte essenden« Sterblichen aufgebaut. In einer entsprechenden Dichotomie klingt in Rh. Pr., wenn auch mit spöttischem Unterton, einmal mehr der besondere, ja göttliche Status an, den der Rednerlehrer hat, und damit auch sein müheloser Weg (vgl. zu §8: σοὶ δὲ ἄσπορα καὶ ἀνήροτα πάντα φυέσθω). Vgl. auch das wörtliche, humoristische Zitat des Teilverses in Peregr. 29 (ebenfalls mit Kontrastierung der

683

»Sie müssen auch weise und grosse Redner sein, und sollte ihnen ein Solözismus unterlaufen, so muss gerade darum ihre Sprache voll [vom Flair] Attikas und Hymettos’ scheinen und es zukünftig Gesetz sein, so zu sprechen.«

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5. Kommentar (§§11–12)

menschlichen und der göttlichen Sphäre, zu der sich Peregrinos unverschämterweise zählt). τι ξένον φάσμα δρόσῳ ἢ ἀμβροσίᾳ τρεφόμενον Die Bedeutungsvielfalt des Wortes φάσμα ist gross ([göttliche] Erscheinung, Phantom, Vision, Monster, Vorzeichen usw., vgl. LSJ s.v.). Die hier erwähnten Spezifika rücken es in die Sphäre einer göttlichen oder götternahen Gestalt (Ambrosia als Nahrung; statt Nektar wird hier Tau als Getränk genannt, siehe dazu gleich; vgl. auch die Bezeichnung des Rednerlehrers als »göttliche Gestalt«, θεσπέσιον χρῆμα, oben). Die Junktur ξένον φάσμα ist bei anderen Autoren selten, vgl. Polyaenus Strat. 6,18,1 (von Soldaten, die sich mit weissem Kalk einrieben und so dem Gegner nachts bei Vollmond wie eine Totengestalt erschienen) und Heliodor 10,28,2 (von einem Stier). Das Substantiv φάσμα ist bereits bei Platon belegt, sowohl für Totenschatten (Eurydikes’ Schatten in Smp. 179d) als auch für Überirdisches (Phdr. 250c). Häufig ist es ansonsten v.a. in Poesie (Aischylos, Euripides, Sophokles). Lukian verwendet die Junktur ξένον φάσμα noch in Bis Acc. 33: Die Anklage des philosophischen Dialogs endet mit der Aussage, dass der Syrer aus ihm eine eigenartige Mischung, eine Art Hippokentauren, kurz: eine seltsame Erscheinung gemacht habe. Ansonsten findet sich φάσμα naturgemäss häufig in Philopseud. (14, 15, 16, 29, 31), einmal auch in Menipp. 7: Der durchgängig verwendete Plural φάσματα bezeichnet immer eine Gespenstererscheinung, Totengeister oder Totenschatten (σκιαί). Obwohl bei Lukian also meist eine Erscheinung der Unterwelt, bezeichnet die tau- oder ambrosiagenährte Gestalt an vorliegender Stelle wie gesagt eine ›überirdische‹ Erscheinung mit Nähe zu den Göttern. Taugenährt zeigt sich bei Lukian auch Empedokles, der nach seinem Sprung in den Ätna nun auf dem Mond lebt (Ikaromen. 13). Überhaupt ist Tau eng mit dem Mond verbunden, so dass die Seleniten in Ver. Hist. 1,20 den Friedensvertrag mit den Sonnenbewohnern durch eine Abgabe von Tau besiegeln (vgl. dazu den Kommentar von Möllendorff [2000b]); ferner trinken die Seleniten eine Art Tau (Ver. Hist. 1,23), und die Bewohner der Inseln der Seligen baden in ihm (Ver. Hist. 2,12). Möllendorff spricht bezüglich der Seleniten von einem »göttlichen Ernährungsmodus« (159), dass man nämlich bei der Schilderung der zu einer Art Tau ausgepressten Luft in den Bechern durchaus an Nektar denken dürfe (161). Dies trifft ebenso auf die vorliegende Stelle zu, die die Herkunft des Rednerlehrers ironisierend in überirdische Gefilde versetzt. Es liegt hier wohl zudem eine Anspielung auf die Bezeichnung des Wolkenchores in Ar. Nu. 277 und 338 als »taugestaltig« (δροσερός) vor (vgl.

§11: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe (Pistis Teil 2)

267

auch Nu. 330) und darauf, dass die Wolken die Sophisten ernähren (Nu. 331: οὐ γὰρ μὰ Δί’ οἶσθ’ ὁτιὴ πλείστους αὗται βόσκουσι σοφιστάς). Damit wird diejenige Komödie aufgerufen, in deren Kontext einerseits der Lehreragon gestellt ist (vgl. S. 230f.), und wo andererseits im Sinne eines Vorläufertextes Sokrates, der die Wolken zu den Göttinnen seiner sophistischen Lehre macht, als Lehrerfigur karikiert wird (Nu. 252f.).684 Der gesamte Kontext, an dessen Ende vorliegendes Lemma steht, enthält eine Inkonsistenz, indem der Schüler mit geschlossenen Augen die Gestalt des Lehrers erkennen soll, was sich aber inhaltlich recht gut erklären lässt: Die Gestalt des Rednerlehrers wird vorerst über ihre Stimme erläutert, denn begonnen wird der Satz mit Verweis auf seine wunderbare Stimme (τὸ Ὑμήττιον στόμα; φωνή), so dass die Erwartungshaltung entsteht, dass der Schüler ihn an dieser und damit an seiner Rhetorik erkennt. Da das Vorhaben, die Rhetorik weiter zu thematisieren, aufgrund ihrer Inhaltsleere allerdings in eine Sackgasse führen dürfte,685 kehrt der Ratgeber wieder zur Gestalt des Rednerlehrers zurück, die trotz geschlossener Augen als göttlich erkannt wird (μάθοις ἂν [...] τι ξένον φάσμα). Die äusserliche Erscheinung ist gemäss der Ausbildung des Rednerlehrers selbst denn auch das wichtigste Merkmal des Starsophisten (vgl. §§15–16). Die geschilderte Über- bzw. Unnatürlichkeit des Rednerlehrers kann mit einer Schauspielerverkleidung gleichgesetzt werden: Vorliegende Passage wird vom Agathonvergleich (s.o.) und von der Metaphorik des Aufsetzens einer Heroenmaske (s.u.) eingerahmt. Schauspielerverkleidung dient Lukian häufig zur Darstellung von Scheingebildeten, seien es Redner oder Philosophen.686 ἑαυτὸν Textkritisches: So Macleod, dem ich mich anschliesse; überliefert ist daneben die Form σεαυτόν, so Harmon (β). Generell finden sich bei Lukian beide Formen, so dass eine Auswahl nur aufgrund der Qualität der Codices getroffen werden kann (die Überlieferung der Handschriftengruppe γ ist häufig zuverlässiger). Zum Reflexivum ἑαυτόν vgl. z.B. Demon. 17 (ohne alternative Lesart): Ἄπιθι, ἔφη, ὦ παῖ, καὶ τὸν ἑαυτοῦ δακτύλιον φύλατ684

Ausführlich zu den Bedeutungen des Wortes »Tau« vgl. Boedeker [1984] 60–64; insbesondere ist dem Tau neben der Konnotation des Göttlichen auch eine Konnotation der Reinheit, Unschuld und der Distanz von irdischem Schmutz eigen, die angesichts der später folgenden Schilderungen über das Privatleben (§§24f.) dieses Attribut des Rednerlehrers (δρόσῳ [...] τρεφόμενον) höchst ironisch werden lässt. 685 Ein weiterer Grund für diese Gestaltung mag darin liegen, dass dieser inhaltsleere RhetorikSchnellgang für den Auftritt des Rednerlehrers selbst aufgespart und aus dessen Mund präsentiert werden soll (vgl. die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §12 sowie die ausführlich präsentierte Lehre in §§13–25). 686 Vgl. dazu die Einleitung 3.2.

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5. Kommentar (§§11–12)

τε [...]. Vgl. dazu K.-G. II 1,571: »Die Reflexivpronomen der dritten Person vertreten nicht selten die Stelle der Reflexiva der ersten und zweiten Person. [...] In der Alexandrinischen Mundart griff dieser Gebrauch immer mehr um sich [...]; [...] ἑαυτοῦ u.s.w. st. ἐμαυτοῦ, σεαυτοῦ u.s.w. war ungleich häufiger als in der klassischen Sprache.« Vgl. auch Schmid [1887] 1,228 mit weiteren Beispielen bei Lukian (ἑαυτόν statt σεαυτόν in Apol. 2; Hermot. 78; Pseudol. 3 und 31). Vorliegende Stelle zeigt auf, wie der Wechsel zwischen σεαυτόν und ἑαυτόν verursacht wird: Wenn das vorangehende Wort auf Sigma endet, kann es zur Tilgung des zweiten Sigmas kommen: ΠΑΡΑΔΟΥΣ (Σ)ΕΑΥΤΟΝ. βασιλεὺς ἐν τοῖς λόγοις Zu ähnlichen Formulierungen der Berühmtheit bzw. hohen Stellung von Sophisten vgl. Rh. Pr. 1 (passim) sowie Lex. 22: ἐπαινεῖσθαι ἐπὶ λόγοις; vgl. auch den Kommentar zu §20: πάνδεινόν τινα ἐν τοῖς λόγοις ἀγωνιστὴν; in dieser Prägnanz und Junktur allerdings nur hier. Die Wahl des Bildes eines Königs hängt eng mit der folgenden Triumphmetaphorik (Darstellung des Herrschers auf dem Triumphwagen) zusammen. Zu erwähnen ist auch, dass die Junktur an Philostrats Formulierung über Herodes Atticus anklingt, der für ihn als unangefochtener Redekönig der Zweiten Sophistik gilt, vgl. VS 586: Ἡρώδην δὲ τὸν βασιλέα τῶν λόγων und 598: λόγων βασιλέα. Die Anlehnung an Rh. Pr. 1 (v.a.: τοιαύτην τινὰ τὴν δύναμιν περιβάλοιο ἐν τοῖς λόγοις; τάχιστα δεινὸς ἀνὴρ ἔσῃ γνῶναί τε τὰ δέοντα κτλ.) ist ein Rückgriff auf den dort als Anfrage formulierten Wunsch des Schülers, ein Starsophist zu werden, der jetzt durch die konkrete Überweisung an den passenden Lehrer endlich seine Antwort findet bzw. in Erfüllung gehen dürfte. So besehen ist das bisher Gesagte als eine Art riesiger Exkurs bzw. als retardierendes Moment einstufbar; zu ähnlichen retardierenden Momenten und Wiederholungen vgl. die einleitenden Bemerkungen zu §6 und §7. τὰ τέθριππα ἐλαύνων τοῦ λόγου τὸ τέθριππον ἅρμα (ζεῦγος, ὄχος) bzw. mit Weglassung des Substantivs τὸ τέθριππον/τὰ τέθριππα bezeichnet den von vier Pferden gezogenen Wagen (τέτταρα + ἵππος).687 Hier liegt die Metaphorik eines Triumphzuges vor, vgl. dazu die (auch in symposiastischem Kontext stehende) Bekränzung in §3: σὺ δὲ πρὸ πολλοῦ 687

Die Belege sind zahlreich, zuerst bei Ibykos fr. S223a, col. 2, 10f. Page und Pindar O. 2,50; P. 1,59 (mit dem Plural τέθριππα für einen einzelnen Wagen); I. 1,14. Vgl. weiter z.B. Aischylos fr. 346 Radt und Euripides Hipp. 1212 sowie in Prosa Hdt. 6,103 und Xen. An. 3,2,24.

§12: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe (Pistis Teil 2)

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ἄνω ἐστεφανωμένος εὐδαιμονέστατος ἔσῃ [...] und die Bemerkungen im Kommentar zu §3: ἱππήλατον [ὁδόν]. Vgl. weiter die Fahrt des Redners auf einem geflügelten Wagen (πτηνὸν ἅρμα) in §26. §12 Das folgende Kapitel, dessen erster Satz nahtlos an das Vorangehende anschliesst (μᾶλλον δὲ αὐτὸς εἰπάτω πρὸς σέ; γελοῖον γὰρ κτλ.), schafft durch die Verwendung von Schauspielmetaphorik und durch den Hetärenvergleich, der die Komödien insbesondere Menanders aufruft, die weiteren Voraussetzungen für das bevorstehende Schauspiel des Rednerlehrers; seine Figur entpuppt sich jetzt – im Kontrast zur vergleichsweise relativ nüchternen Aufzählung seiner Charakteristika zu Beginn von §11 – passend zu Menander zunehmend als komödienhaft: Der Rednerlehrer verliert immer mehr von seiner überwältigenden Schönheit, die ihm zu Beginn attestiert worden ist (πάγκαλος), und wird zu einer Art Witzfigur, da nur noch die karikierenden Elemente, seine Effeminiertheit und sein schütteres Haar, betont werden. So ist mittlerweile aus dem vermeintlich schönen Mann eine aufgetakelte Frau, eine Hetäre eben, geworden, die noch dazu nur einige wenige Haare auf dem Kopf hat.688 Während in §11 wie bereits gesehen die Stimme des Rednerlehrers zwar sehr gelobt, seine Rhetorik jedoch nicht weiter ausgeführt worden ist, der Ratgeber sich vielmehr wieder der äusseren Erscheinung des Lehrers zugewandt hat (vgl. den Kommentar zu: τι ξένον φάσμα δρόσῳ ἢ ἀμβροσίᾳ τρεφόμενον), wird hier die äussere Gestalt nur kurz (in karikierender Weise) gestreift und der Fokus dann erneut auf die Stimme (φθέγμα) bzw. das Sprechen des Lehrers (φαίη τοιγαροῦν ἂν πρὸς σὲ; §13: φήσει δ’ οὖν) gelegt – diesmal, um darauf vorzubereiten, dass nun die Lehre des Starsophisten auch wirklich bis zum Ende und in allen Details aus dessen eigenem Mund zu hören sein wird (vgl. §§13–25). Dabei dient §12, worin der Rednerlehrer bereits auf der Bühne agiert, allerdings noch nicht selbst spricht, neben der Erzeugung von Komik auch der Erzeugung eines retardierenden Moments, bevor endlich die ›grosse Lehre‹ kommt (vgl. die ähnlich verzögernden Passagen in §7 und §8).

688 Zieht man zudem die theoretischen Betrachtungen des Aristoteles über Tragödien- und Komödiencharaktere bei, wobei erstere als »bessere«, σπουδαῖοι, letztere als »schlechtere«, φαῦλοι, bezeichnet sind (vgl. Po. 1448a2 und 1448b24–1449a6), wird die ironisch-sarkastische Verwandlung des Rednerlehrers seit dem Beginn von §11 noch deutlicher.

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5. Kommentar (§§11–12)

ἐμὲ ποιεῖσθαι τοὺς λόγους Gegenüber den vorherigen hochgegriffenen Bildern im Zusammenhang mit Rhetorik, die den Rednerlehrer charakterisieren (§11: βασιλεὺς ἐν τοῖς λόγοις; τὰ τέθριππα ἐλαύνων τοῦ λόγου), nimmt der Ratgeber durch die betont schlichte Junktur λόγους ποιεῖσθαι eine Bescheidenheitspose ein: 689 Das Abtreten des Ratgebers und der folgende Schauspielvergleich erhöhen die Illusion eines Auftritts des ›Starsophisten‹. Da der Ratgeber allerdings ebenso gut als derjenige verstanden werden kann, der in die Rolle des Rednerlehrers schlüpfen und sozusagen zu einer neuen Episode seiner eigenen Ein-Mann-Show den Vorhang lüften wird (§13), ist die Aussage über seine Unfähigkeit, für den Lehrer zu sprechen und dessen Maske anzulegen, selbstironisch.690 φαῦλον ὑποκριτὴν [...] ὑποκρίνομαι Zur Illustration wird eine Schauspielmetaphorik herangezogen: Die schlechten Schauspieler vermögen der heroischen Rolle, die sie zu spielen haben, nicht beizukommen. Im Verb συντρίβειν steckt eine Anspielung auf die Maske, die beim Fallen zerbrechen könnte (vgl. bereits Sommerbrodt [21878] 68). Sehr ähnlich und ausführlicher benutzt Lukian diese Metaphorik in Nigrinos: Der Ich-Erzähler nimmt von Anfang an auf Schauspielerei bzw. die Benutzung von Schauspielsprache Bezug (§1: ἀπὸ τῆς σκηνῆς ὄνομα) und äussert Bedenken, den glänzenden Vortrag des Philosophen Nigrinos gegenüber seinem Freund zu wiederholen, da er wie die schlechten Schauspieler dessen Inhalt verderben könnte, vgl. §8: φαύλους ὑποκριτάς und §11: [...] ἵνα μὴ συγκατασπάσω που πεσὼν τὸν ἥρωα ὃν ὑποκρίνομαι; der Teilsatz ist mit Ausnahme des Beginns (μὴ συγκατασπάσω / μὴ καὶ συντρίψω) identisch mit vorliegender Stelle in Rh. Pr.691 689

Die Junktur findet sich bereits bei Thukydides (in der Bedeutung »[politisch] verhandeln«: 2,101,1; 4,118,13) und bei Herodot (λόγους ποιεῖσθαι πρός τινα »sprechen mit«: 2,121γ2; λόγους ποιεῖσθαι περί τινος »sprechen über«: 3,34,2). 690 Erhellend ist im Zusammenhang mit Schauspielmetaphorik die Tatsache, dass Sophistenauftritte generell als Theater bzw. als Theatralisierung einer vergangenen Geschichte mit schauspielerischer Darstellung klassischer Persönlichkeiten aufgefasst werden können, vgl. dazu Baldwin [1989] 3: »A sophist’s act, as described by Philostratus, [...] was acutely conscious of itself as theater« und Zeitlin in Goldhill [2001] 207f.: »For convenience’s sake, what I have been calling visual culture might be classified into three major categories. [...] The first consists of role-playing and a heightened sense of theatre, whether manifested in actual dramatic performances, elaborate processions, tableaux vivants, skenographic effects, or, for example, through the later histrionics of sophists before enthusiastic audiences.« Im vorliegenden Fall in Rh. Pr. handelt es sich natürlich nicht um die Mimesis eines klassischen Helden, sondern um diejenige eines zeitgenössischen Starsophisten. 691 Vgl. zum Zerbrechen der Maske auch Gall. 26. Zum Schauspielervergleich bei Lukian siehe Helm [1906] 45–53 mit zusätzlichen Stellenangaben (Pisc. 31; Ikaromen. 29) und mit dem Verweis darauf, dass die Metaphorik schlechter Schauspieler bereits in Plat. Chrm. 162d vorhanden

§12: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe (Pistis Teil 2)

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ἐπισπασάμενος ὁπόσον ἔτι λοιπὸν τῆς κόμης Die Bedeutungsnuancen des Verbs ἐπισπᾶν sind zahlreich; bereits klassisch ist es häufig belegt, oft in der grundsätzlichen Bedeutung »heranziehen; fortziehen, fortzerren (an)« (mit Gen.).692 Lukian verwendet es insgesamt 15x (immer medial), davon 9x im Sinn von »etwas zu sich heranziehen« bzw. »jmd. anziehen« mit Akkusativobjekt (einmal vom Wasser: »schlürfen, trinken«).693 Der vorliegenden Konstruktion am ähnlichsten sind zwei Stellen, wo die langen Bärte der Philosophen mit der Formulierung »den eigenen Bart herab-/in die Länge ziehen« verspottet werden (J. Trag. 16 und Ikaromen. 29).694 Der Rednerlehrer wird sein Haar wohl »herabziehen« im Sinn von »glattstreichen, ordnen«.695 Zur Ironie seiner spärlichen Haartracht vgl. bereits oben §11: ὀλίγας μὲν ἔτι, οὔλας δὲ καὶ ὑακινθίνας τὰς τρίχας εὐθετίζοντα sowie den Kommentar zu §11: πάνσοφόν τινα καὶ πάγκαλον ἄνδρα. τὸ γλαφυρὸν Das Adjektiv hat zahlreiche Bedeutungsnuancen: »hohl« (was bei Lukian nie vorkommt696), daneben »hübsch, zierlich, elegant«, auch »subtil«. Diese letzteren Bedeutungen sind wohl hier allesamt angedeutet (zur Subtilität vgl. das benutzte Verb ὑπο-μειδιάσας).697 Αὐτοθαΐδα τὴν κωμικὴν ἢ Μαλθάκην ἢ Γλυκέραν τινὰ μιμησάμενος Zur Effeminiertheit des Rednerlehrers, die hier durch den Frauen- bzw. Hetärenvergleich ganz offen als solche entlarvt wird, siehe die einleitenden ist: [...] μοι ἔδοξεν ὀργισθῆναι αὐτῷ ὥσπερ ποιητὴς ὑποκριτῇ κακῶς διατιθέντι τὰ ἑαυτοῦ ποιήματα. Allgemeiner zur von Lukian mit Vorliebe verwendeten Sichtweise der Welt als Theater bzw. des Menschenlebens als (tragische) Rolle siehe Whitmarsh [2001] 254 Anm. 28 (mit weiteren lukianischen Textstellen [z.B. Menipp. 16; Nigr. 20] und Angaben zum kynischen Hintergrund des Motivs). 692 So bei Euripides Andr. 710: ἐπισπάσας κόμης; Troad. 882; Hel. 116; vgl. auch Thuk. 4,130 und – in übertragenem Sinn: »anziehen« – Plat. Cra. 420a. 693 Catapl. 12; Ikaromen. 21; Lis Cons. 7; Abd. 32; Tox. 13; Hist. Conscr. 9; Dial. Mort. 13,6; Dial. Mar. 15,3; Dial. Deor. 8,4. 694 Zeus verkleidet sich selbst als Philosoph: σχηματίσας ἐμαυτὸν εἰς τὸν ἐκείνων τρόπον καὶ τὸν πώγωνα ἐπισπασάμενος εὖ μάλα ἐῴκειν φιλοσόφῳ. / Zeus legt die Laster der Philosophen dar: [...] τὰ μέτωπα ῥυτιώσαντες καὶ τοὺς πώγωνας ἐπισπασάμενοι περιέρχονται [...]. 695 Die verbleibenden drei Stellen weisen einmal die Bedeutung »(gewaltsam) heranzerren« auf (Herodot. 5), zweimal die Konstruktion ἐπισπᾶσθαι ἐς/εἰς »heranführen zu, bringen zu« (Gallus 18; De Domo 12). 696 Vgl. aber sehr häufig bei Homer, e.g. Od. 1,15: ἐν σπέεσι γλαφυροῖσι. 697 Für weitere Belege bei Lukian vgl. (sehr ähnlich in der Formulierung) Dear. Iud. 11: ἥδε δὲ ὁρᾷ ἡδὺ τι καὶ γλαφυρόν, καὶ προσαγωγὸν ἐμειδίασεν [...]; Harmonid. 1 (»Eleganz«); Dial. Deor. 11,4 (»Subtilität«).

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5. Kommentar (§§11–12)

Bemerkungen zu §§9–10 und §§11–12. Zur Überführung seines Auftritts in eine Komödie siehe die einleitenden Bemerkungen zu §12. An vorliegender Stelle sind die Vergleichsobjekte, wie der Text selbst deutlich macht, einerseits aus der Komödie entlehnt (τὴν κωμικὴν), andererseits verbindet diese drei Frauen ihre Berühmtheit als athenische Hetären, was den Vergleich umso pikanter macht und auf die Passagen über das Privatleben des Lehrers vorverweist (vgl. §§23–25). Zu Thaïs698 als Titelheldin des Menander vgl. PCG 6.2, fr.122–127; zu Malthake vgl. Antiphanes PCG 2, fr. 146 und Theophilos PCG 7, fr. 11,5 sowie Menander Sicyon. 145 und 386 (und für die Bezeichnung ἑταίρα 409)699; zu Glykera vgl. Menander Periceirom. 506f., 708, 752 etc.700 Athenaios gibt im 13. Buch seiner Deipnosophistai zahlreiche Informationen zu den Hetären der klassischen und hellenistischen Zeit; zu Thaïs vgl. 576d–e (sie soll angeblich Mätresse Alexanders des Grossen und später Ptolemaios’ I. gewesen sein), zu Glykera vgl. 584a, 585c, 586c–d, 594d (der Dichter Menander soll Glykera geliebt haben), 595d (Harpalos soll sie nach Tarsos gerufen haben). Lukian selbst schliesslich lässt zwei dieser berühmten Hetären in seinen Hetärendialogen auftreten: Im ersten Dialog beschwert sich die Hetäre Glykera bei ihrer Kollegin Thaïs, dass eine andere ihr einen ihrer Freier, einen Soldaten, weggeschnappt habe. Im dritten Dialog wird Thaïs als Objekt der Eifersucht von Philinna genannt (Dial. Meretr. 3,2). Die Parallelisierung des Rednerlehrers mit Hetären wirft implizit auch die Thematik der Bezahlung auf, die der Ratgeber als Negativpunkt des Lehrers des langen Weges genannt hatte (vgl. §9: οὐδὲ μισθοὺς ὀλίγους ἀπαιτεῖ): So wird die Trennlinie zwischen dem ›guten‹ und ›schlechten‹ Lehrer verwischt.

698 Zur Formulierung Αὐτοθαΐδα im Sinn von »Thaïs höchstpersönlich« oder »die berühmte Thaïs« vgl. Luk. Timon 54: [...] τιτανῶδες βλέπων, ἀνασεσοβημένος τὴν ἐπὶ τῷ μετώπῳ κόμην, Αὐτοβορέας τις ἢ Τρίτων, οἵους ὁ Ζεῦξις ἔγραψεν. 699 Der Status dieser Malthake bei Menander ist unklar; siehe die Bemerkungen in der Ausgabe von Loeb (W.G. Arnott) 209: »Theron also wishes to marry Malthake [...]. This requires Malthake also to have been free and Athenian, and the name was borne by many such girls in Menander’s Athens. In comedy, however, this name is associated only with hetairai, but if that was her role in Menander’s Sikyonioi, no sexual relationship with Theron or any other character in the play can be identified.« [meine Hervorhebung] 700 Aus den etwas besser erhaltenen Stücken ergibt sich ein jeweils ähnliches Muster: Eine Liebschaft, die sich zwischen einem heimgekehrten Soldaten und einem Mädchen abspielt und scheinbar unglücklich ist, bis die wahren Identitäten der Leute aufgedeckt werden und eine Heirat vollzogen wird. Das Element des Soldaten nimmt Lukian in Dial. Meretr. 1 auf, s.u.

§12: Einführung des Rednerlehrers und Wortübergabe (Pistis Teil 2)

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ἄγροικον γὰρ τὸ ἀρρενωπὸν καὶ οὐ τοῦ ἁβροῦ καὶ ἐρασμίου ῥήτορος Mit dieser Äusserung widerspricht der Ratgeber einmal mehr der Konvention, denn gute Redner – ja überhaupt richtige Männer – müssen männlich sein.701 Natürlich verwendet Lukian hier in erster Linie rhetorisch-literarische Strategien, durch die er dem Ratgeber Aussagen in den Mund legt, die ihn selbst und den Rednerlehrer zu diskreditieren scheinen. Interessant daran ist aber, dass es offensichtlich weit verbreitet war, einen Redner und die Qualität seines Vortrags in den Kategorien männlich (gut) oder weiblich (schlecht) zu beurteilen, und diese Quellen, vor allem der Streit zwischen Polemon und Favorinus, bekräftigen die Existenz und die Wichtigkeit einer Diskussion über Männlich- bzw. Weiblichkeit der Redner und ihrer Auftritte.702 Dem Rednerlehrer wird hier ein bewusst weiblicher (konventionell schlechter bzw. unangemessener) Auftritt verpasst. Im Sinne der Leserlenkung bedeutet dies, dass eine negative Erwartungshaltung für die gesamte folgende Rede aufgebaut wird. Damit wird dem vom Ratgeber explizit negativ beurteilten Lehrer des langen Weges (vgl. §10) eine implizit negativ gezeichnete Figur des kurzen Weges gegenübergestellt, was eine Lücke erzeugt, die auf einen sich dazwischen befindlichen, angemessenen Weg zur Rhetorik hinweist, wenn sie auch nicht gefüllt wird (vgl. dazu bereits die Einleitung 1.2 und 1.6, S. 61 sowie S. 230–232 mit Anm. 622). Zum Adjektiv ἁβρός vgl. bereits den Kommentar zu §11: πάναβρόν τινα Σαρδανάπαλλον. Das Adjektiv ἐράσμιος ist in der Bedeutungsvielfalt ähnlich dem Adjektiv ἐπέραστος, vgl. dazu bereits den Kommentar zu §11: ἐπέραστον ἐκεῖνον ποιητήν. Im Unterschied zu letzterem ist ἐράσμιος aber schon klassisch gebräuchlich, vgl. Plat. Phdr. 250e und R. 402d in enger Verbindung des »lieblichen« mit »Schönheit« (κάλλος) und einer Diskussion der Doppeldeutigkeit des »Liebreizes« auf sexueller oder höherer/geistiger Ebene.703 Lukian verwendet das Adjektiv ἐράσμιος insgesamt 14x, häufig im Zusammenhang mit herausgeputzten Figuren, die ihre Attraktivität und damit ihre Wirkung auf andere durch luxuriöse Accessoires (oft Goldschmuck) steigern wollen: De Dom. 7 (über Hetären); Gall. 13; Tim. 27; vgl. auch

701 Vgl. die einleitenden Bemerkungen und den Kommentar zu §§9–10 (zu ἀρρενωπός vgl. bereits den Kommentar S. 236). 702 Vgl. dazu Gleason [1995] 103–130. Lukians Darstellung widerspiegelt v.a. auch verschiedene Texte aus dem Bereich der römischen Rhetorik; siehe dazu den Kommentar zu §11: διασεσαλευμένον τὸ βάδισμα und §19: βάδιζε μεταφέρων τὴν πυγήν. 703 Hingegen bezogen auf charakterliche oder seelische Stärken vgl. Xen. Mem. 3,10,3 und Smp. 8,36. Diese Verwendung findet sich bei Lukian einmal in Im. 22,3 bezogen auf die Seele der Panthea.

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5. Kommentar (§§11–12)

Nav. 43 und im Zusammenhang mit sexueller Attraktivität Dial. Meretr. 4,1 und 13,5. Die vorliegende Äusserung des Ratgebers klingt an Agathons Verteidigung in Ar. Th. 159f. an, wo dieser seinen – in den Augen des κηδεστής effeminierten – Auftritt mit folgenden Worten verteidigt: Ἄλλως τ’ ἄμουσόν ἐστι ποιητὴν ἰδεῖν ἀγρεῖον ὄντα καὶ δασύν.704 Damit ist ein Bogen zurück zum Agathon-Vergleich in §11 geschlagen (vgl. den Kommentar zu: πάναβρόν τινα Σαρδανάπαλλον ἢ Κινύραν ἢ αὐτὸν Ἀγάθωνα). Dass das allzu Männliche aus dem Mund des Ratgebers abgelehnt (vgl. §10) bzw. hier als bäurisch (ἄγροικος) eingestuft wird, verweist auch auf Hesiod zurück, der in seinen Erga (was der Ratgeber §8 eine Lüge schilt) den schweissreichen Weg in der Figur eines Bauern empfiehlt und im zweiten Teil des Textes den an seinen Bruder Perses gerichteten Aufruf zur Arbeit mit detaillierten Ausführungen zum Bauernberuf, mit einem ›Bauernkalender‹ ergänzt. Es verwundert also nicht, dass der Lehrer des langen Weges, den Hesiod beschrieben hat (§7), männlich-bäurisch erscheint und der Verfechter des kurzen Weges an vorliegender Stelle genau das Bäurische zum Spott heranzieht.

§§13–14: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler (Proömium) Der Ratgeber macht nun seine bereits in §11 gemachte Ankündigung wahr (μᾶλλον δὲ αὐτὸς εἰπάτω πρὸς σέ) und lässt nach langem, spannungssteigerndem Hinauszögern den Rednerlehrer selbst auftreten und sprechen. Dieser effeminierte Sophist übertrifft den Ratgeber, was Arroganz und Eigenlob angeht, bei weitem.705 Seine ersten Worte (§13) bestehen praktisch ausschliesslich aus Vergleichen, die ihn überhöhend als absoluten Starsophisten darstellen, dem niemand das Wasser reichen kann.706 Die Vergleiche sind zudem in der Form einer rhetorischen Frage, die über den Grund der Lehrerwahl des Schülers spekuliert, und deren Antwort gleich selbst gegeben wird, aufgegleist, wodurch signalisiert wird, dass der Lehrer von der Deckungsgleichheit der Meinung des Schülers über seinen Starstatus ausgeht.707 Obwohl die strukturelle Ähnlichkeit des die einleitende Frage ent704 »Und überhaupt ist es unästhetisch, einen Poeten zu Gesicht zu bekommen, der bäurisch und haarig daherkommt.« Vgl. zum Adjektiv δασύς §10 und Anm. 622. 705 Zur Unbescheidenheit des Ratgebers vgl. den Kommentar zu §1: οὐκ εἰδὼς ὅθεν ἂν ταῦτα ἐκπορίσαιτο. 706 Zu Vergleichen als Mittel der αὔξησις (Steigerung) in der rhetorischen Theorie vgl. die Einleitung 1.1.2. 707 Vgl. dazu den Kommentar zu §13: μῶν σέ κτλ.

§13: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler

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haltenden §1 und der vorliegenden §§13–14 gross ist (dazu s.u.), unterscheiden sie sich dadurch, dass der Ratgeber dem Schüler zwar Auskünfte und schnelles Erreichen seiner Ziele verspricht, ihn aber weiterverweist, während der Rednerlehrer seine eigenen Fragen gleich selbst beantwortet und sofort mit dem Unterricht beginnt (§14).708 Der Rednerlehrer vergleicht sich erstens durch seine Anspielung auf Chairephon mit Sokrates und stellt sich somit in die Tradition dieses Mannes, der seine Schüler durch unentwegtes dialektisches Gespräch dem Wissen und der Wahrheit näher bringen will. Zweitens erhebt er sich über die mythologischen riesenhaften Figuren Tityos, Otos und Ephialtes und schliesst seine Einleitung drittens mit einem Klangvergleich, der veranschaulichen soll, wie er als Redner alle anderen übertönt. Der eröffnende Vergleich ist ein raffiniertes Spiel mit platonischen Subtexten und Sokrates als idealer Lehrerfigur. Diese Figur und die platonischen Texte werden konsequent unterwandert: Im weiteren Verlauf der Rede (§14) zeigt sich nämlich, dass der Rednerlehrer alles andere als sokratische Methoden anwendet, da er den Schüler zur blossen Nachahmung auffordert und ihm leicht umzusetzende Rezepte verspricht, die er zudem monologisch darlegt. Zweitens betont er, dass keinerlei Vorwissen, keine ›Voreinweihung‹, wie er es in Anlehnung an platonische Passagen nennt, gefordert sei (in Kürze auf den Punkt gebracht fordert er vom Schüler in §15, vielmehr das Gegenteil, ἀμαθία, mitzubringen). Daher entpuppt sich der Rednerlehrer als ›falscher Sokrates‹, der neben seiner zu hoch gegriffenen Vergleichsfigur lächerlich erscheint.709 Wie bereits erwähnt führt der Rednerlehrer in §14 Inhalte weiter, die der Ratgeber bereits vorgebracht hat, so dass die Kontinuität ihrer Lehren bestätigt bzw. der Rezipient daran erinnert wird, dass der Rednerlehrer nach den Vorstellungen des Ratgebers inszeniert ist. Einerseits wird dem Schüler versichert, dass er sich an den (einzig) richtigen Helfer gewandt habe (vgl. §14: τοῦτο οὐκ ἂν παρ’ ἄλλου ῥᾷον μάθοις / §1: οὐκ εἰδὼς ὅθεν ἂν ταῦτα ἐκπορίσαιτο) und diesem nur immer schön folgen solle (vgl. §14: ἕπου μόνον, ὦ μέλημα, οἷς ἂν εἴπω / §1: ἢν τὸ μετὰ τοῦτο ἐθελήσῃς αὐτὸς ἐμμένειν οἷς ἂν ἀκούσῃς παρ’ ἡμῶν), andererseits wird er in seinem Wunsch, ein berühmter Redner zu werden, bestätigt – unter Betonung, dass

708 Der Unterschied wird allerdings insofern wieder verwischt, als der Ratgeber auch als Schauspieler gesehen werden kann, der in die Rolle des Rednerlehrers geschlüpft ist (vgl. dazu den Kommentar zu §12: ἐμὲ ποιεῖσθαι τοὺς λόγους). 709 Gleichzeitig definiert sich der Lehrer durch sein unerschütterliches Selbstbewusstsein aber auch als neuen Sokrates, der mit der Philosophie als Disziplin und mit der philosophischen Sicht auf die Rhetorik wetteifert. Vgl. zu den platonischen Reminiszenzen und der Sokratesfigur die Einleitung 1.3, zur Reminiszenz an die Figur des Sokrates in Aristophanes’ Wolken die Einleitung 1.8.

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5. Kommentar (§§13–14)

dies ohne grosse Mühe möglich sei (vgl. §14: μηδὲν ὀκνήσας μηδὲ πτοηθείς [...], οὐδὲν γὰρ αὐτῶν δεήσει [...] / §1: τάχιστα, vgl. auch §§3–4). §13 πάνυ μετριάζων Die Bemerkung erweist sich aus den gleich darauf folgenden selbstüberhöhenden Aussagen als höchst ironisch. Einmal mehr untergräbt der Ratgeber somit durch Ironie den von ihm empfohlenen Lehrer und Lehrgang. μῶν σέ κτλ. Die Frage des Rednerlehrers ist eingeleitet mit dem eine verneinende Antwort implizierenden μῶν,710 was vorerst doch immerhin eine gewisse bescheidene Zurückhaltung des Rednerlehrers gegenüber dem Vergleich zu sein scheint (der Schüler wird ihn wohl nicht aufgrund eines Orakelbesuchs und -spruchs als Lehrer ausgesucht haben), die aber weggewischt wird durch die zweite Feststellung des Lehrers, dass, wenn ersteres nicht der Fall war, der Schüler nur aufgrund seines unermesslichen Ruhms zu ihm gekommen sein könne. Hermot. 15 weist eine parallele Formulierung bezüglich der ›Lehrerwahl‹ eines Philosophen auf: Lykinos fragt nämlich seinen Dialogpartner Hermotimos, ob er wie Chairephon das delphische Orakel befragt habe und so zum Entscheid gekommen sei, sich ausgerechnet der stoischen Schule anzuschliessen: ἆρα καὶ σὲ ὥσπερ τὸν Χαιρεφῶντα ὁ Πύθιος ἐξέπεμψεν ἐπὶ τὰ Στωϊκῶν ἀρίστους ἐξ ἁπάντων προσειπών; ὁ Πύθιος Gemeint ist der pythische Apollon bzw. das Apollonheiligtum mit dem Orakel in Delphi. Der Gott erhielt den Beinamen »Pythier«, abgeleitet vom alten Namen für Delphi, Πυθώ(ν) (vgl. Hom. Il. 2,519 und Od. 8,80; h.Ap. 183), und vom Drachenkampf, in welchem Apollon den Drachen Python, der den Ort beherrschte, tötete (vgl. die älteste Version der Geschichte in h.Ap. 300–374).711

710 Vgl. zu dieser Vokabel auch den Kommentar zu §16: τὸ ἄττα καὶ κᾆτα καὶ μῶν καὶ ἁμηγέπῃ καὶ λῷστε καὶ τὰ τοιαῦτα mit Anm. 826. 711 Im homerischen Apollonhymnos wird der Name Pytho(n) für Delphi vom griechischen Verb für »verfaulen« (πύθεσθαι) abgeleitet, da Apollon den toten Drachen in der Sonne verfaulen liess. Erst sekundär erhalten dort also der Ort und der Gott den Beinamen Pytho(n) bzw. Pythios, in der späteren Überlieferung ist dies dann auch der Name des Drachens selbst (Strab. 9,3,12; Plut. Pelop. 16,4).

§13: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler

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Χαιρεφῶν ἤρετο [...] ὁ σοφώτατος ἐν τοῖς τότε Die Anspielung zielt auf Plat. Ap. 21a: Sokrates erzählt, dass sein Jugendfreund Chairephon712 vom delphischen Orakel auf die Frage, ob jemand weiser sei als Sokrates, die Anwort erhalten habe, dass keiner weiser sei.713 Worin die Weisheit des Sokrates besteht, ist im Folgenden Kernthema der Apologie, was hier in Rh. Pr. allerdings ausgeblendet wird. Vielmehr zieht der Rednerlehrer den nur oberflächlichen und ganz unbescheidenen Vergleich zwischen sich selbst als ῥήτωρ ἄριστος und Sokrates als (ἀνὴρ) σοφώτατος, wobei die zwischen Rhetorik und Philosophie stehenden Differenzen ebenfalls vernachlässigt sind. Der Rednerlehrer pervertiert später in §14 die Weisheit des Sokrates, welche im Bewusstsein über das menschliche Nicht-Wissen bzw. im Aufdecken desselben besteht, insofern, als er seinem Schüler exakt das NichtWissen als beste Basis für eine grosse Karriere empfiehlt. ἁπάντων [...] τεθηπότων καὶ ὑπεπτηχότων Es liegt eine variatio der Worte vor, mit denen der Ratgeber in §1 die vom Schüler erwünschten Effekte seines Rufes als Sophist beschrieben hat: Ἐρωτᾷς [...], ὅπως ἂν ῥήτωρ γένοιο καὶ τὸ σεμνότατον τοῦτο καὶ πάντιμον ὄνομα σοφιστὴς εἶναι δόξεις· ἀβίωτα γὰρ εἶναί σοι φῄς, εἰ μὴ τοιαύτην τινὰ τὴν δύναμιν περιβάλοιο ἐν τοῖς λόγοις ὡς ἄμαχον εἶναι καὶ ἀνυπόστατον καὶ θαυμάζεσθαι πρὸς ἁπάντων καὶ ἀποβλέπεσθαι, περισπούδαστον ἄκουσμα τοῖς Ἕλλησι δοκοῦντα. Die vom Rednerlehrer gewählten Verbalbegriffe sind allesamt neu, d.h. der neue Sprecher wird durch seinen eigenen Redestil markiert und seine Authentizität dadurch bekräftigt;714 inhaltlich jedoch werden genau wie in §1 Bewunderung, Lob und Staunen des Publikums hervorgehoben. Durch das Element des devoten Verneigens (ὑποπτήσσω) steigert der Lehrer das staunende Verhalten des Publikums sogar noch und knüpft damit an die Metaphorik des Sophisten als König an (vgl. §11: βασιλεὺς ἐν τοῖς λόγοις). Der Rednerlehrer ›bestätigt‹ die Worte des Ratgebers in Rh. Pr. 1 und verkörpert gleichzeitig in seinen Auftritten genau das, was der Schüler für sich erträumt; er ist daher der ›ideale‹ Lehrer. Der im Text genannte Ruhm (κλέος) der modernen Sophisten und der Starkult, der um sie entsteht, ist ein bisher mehrfach aufgegriffenes Thema

712 Chairephon ist Gesprächsteilnehmer in Platons Charmides und Gorgias. Er war von Jugend an ein eifriger Anhänger des Sokrates (vgl. Xen. Mem. 1,2,48 und karikierend Ar. Nu. 144–147, 156–158, 503f., 1465f., 1497–1509; V. 1388–1414; Av. 1562–1564). 713 Vgl. die Wiedergabe derselben Episode bei Xen. Ap. 14. 714 An anderen Orten verwendet der Rednerlehrer durchaus auch Vokabular des Ratgebers, vgl. z.B. θαυμάζειν in §20.

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5. Kommentar (§§13–14)

gewesen (vgl. §2: ἔνδοξοι; §6: δόξα, ἔπαινοι; §8: ἀξιούμενος, θαυμαστός; §11: περίβλεπτος). δαιμόνιον ἄνδρα In diesem Ausdruck könnte man eine Bestätigung der Aussagen des Ratgebers sehen, der den Rednerlehrer zuvor vergöttlicht hat (vgl. §11: τι ξένον φάσμα δρόσῳ ἢ ἀμβροσίᾳ τρεφόμενον; vgl. auch den abschliessenden Vergleich des Starsophisten mit Zeus in §26).715 Tatsächlich in einen übermenschlichen Bereich führt der darauffolgende Vergleich des Rednerlehrers mit den Riesen Tityos, Otos und Ephialtes und das Lob seines πρᾶγμα als ὑπερφυές und τεράστιον. Allerdings ist, wie du Toit [1997] aufgrund einer ausführlichen Prüfung kaiserzeitlicher Quellen gezeigt hat, bei einem Verständnis des Ausdrucks δαιμόνιος ἀνήρ/ἄνθρωπος als »Gottmensch« Vorsicht geboten: Werden die Adjektive δαιμόνιος und θεῖος auf Menschen referierenden Nomina beigelegt, so bezeichnen sie normalerweise nicht eine Göttlichkeit, d.h. eine ontologische Zwischenstellung zwischen Gott und Mensch, und stehen auch nicht primär in einem religiösen Kontext, sondern treten als Qualitätsadjektive mit titularer Funktion auf und markieren die betreffenden Personen (die Belege beziehen sich v.a. auf einige wenige grosse Dichter, Philosophen, Rhetoren, Historiographen u.ä.) als Archegeten und/oder Garanten einer Erkenntnistradition oder aber stehen für eine besonders hervorragende ethische Qualität.716 So findet sich der Ausdruck δαιμόνιος ἀνήρ einerseits allgemein als Bezeichnung für aussergewöhnliche Männer, z.B. Politiker (vgl. Appian Bell. civ. 2,21,149 [über Caesar]; Plut. Sert. 20,5 [über Sertorius]), andererseits appliziert Dionysios von Halikarnass δαιμόνιος bzw. δαιμονιώτατος ἀνήρ sowohl auf Demosthenes als auch auf Platon (Dem. 46,11; Dem. 23,8; Comp. Verb. 18,76), um sie als normative Figuren in der stilistisch-rhetorischen Tradition zu kennzeichnen, wobei ersterem als absolut bestem Stilist der Vorrang gegeben wird.717 Hinter dem vorliegenden Selbstlob des Rednerlehrers als δαιμόνιος ἀνήρ steckt also weniger die Anmassung einer Göttlichkeit als primär die Überheblichkeit, sich selbst an 715 Dieselben überhöhenden Vergleiche zieht Lukian in negativer Ausdeutung in Peregrinos heran: Peregrinos Proteus wird sarkastisch unterstellt, er vergleiche sich nicht mit Sokrates, sondern gar mit Zeus selbst und strebe Vergöttlichung an (§§5f.; vgl. auch §12). Die Invektive Peregrinos weist v.a. zu den Schlusskapiteln von Rh. Pr. weitere Parallelen auf; vgl. die einleitenden Bemerkungen zu §§23–25. 716 Siehe du Toit [1997] 109f.; 261–265; 400–402. Vgl. zum Gebrauch als religiös-ethische Qualitätsadjektive (im Sinn von ὄσιος oder εὐσεβής) Plat. Cra. 398c und du Toit [1997] 111. – Die Verwendung als so genannte Klassenadjektive in der Bedeutung »göttlich« erfolgt normalerweise nicht mit Bezug auf Menschen (siehe speziell zur Verwendung bei Lukian du Toit [1997] 193–218). 717 Vgl. du Toit [1997] 115–124.

§13: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler

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die Stelle der alten Garanten der rhetorischen Tradition zu setzen.718 Eine enge Verknüpfung mit dem Sokratesvergleich zu Beginn des Kapitels liegt insofern vor, als die Begriffe σοφὸς ἀνήρ/ἄνθρωπος und δαιμόνιος ἀνήρ/ ἄνθρωπος sinnverwandt sind und die Weisheit/Expertise der betreffenden Person ausdrücken.719 Gerade den Archegeten, insbesondere den Gründern philosophischer Schulen, kam aber im Laufe der Zeit häufig auch eine religiös-kultische Verehrung zu, so dass – zumindest sekundär – die Vergöttlichung des Rednerlehrers (vgl. §11 und §26) hier doch eine gewisse Rolle spielen mag.720 Zum Bild der Starsophisten als götterähnliche Wesen sind zwei Passagen bei Philostrat aufschlussreich, einerseits die Erwähnung, dass Polemons Arroganz (ὑπερφρονία) soweit ging, dass er sich für den Göttern (θεοί) ebenbürtig hielt (VS 535), andererseits die Beschreibung der gottgleichen Schönheit (θεοειδής) des Alexander Peloplaton (VS 570).721 Korenjak ([2000] 96–100) hat gezeigt, dass man aus den Zeugnissen722 eine Art Starkult feststellen kann, bei dem die Begeisterung des Publikums als quasireligiöser Zustand begriffen wird, so dass auf den Redner Züge einer göttlichen Instanz projiziert werden (wichtig sind dabei Termini wie ἐνθουσιασμός und βακχεία). Τιτυὸς ἢ Ὦτος ἢ Ἐφιάλτης Die Gemeinsamkeit dieser drei mythologischen Gestalten liegt in ihrer Riesenhaftigkeit723 und in ihrer Rolle als Büsser in der Unterwelt, wo sie, getötet von Apoll und Artemis, ihre Taten vergelten müssen.724 Tityos (vgl. Od. 11,576–580 und 1,324), der »Erdgeborene«, wird vom Geschwisterpaar erschossen, als er sich an Leto vergreifen will. Die Brüder Otos und Ephialtes (vgl. Od. 11,308–320 und Il. 5,385) türmten die Berge Ossa und Pelion auf den Olymp, um den Himmel zu stürmen, wobei Otos Artemis und Ephialtes Hera begehrte, so dass Apoll sie tötete. 718 Vgl. zur vorliegenden Lukianstelle du Toit [1997] 188f. sowie unten den Kommentar zu §17: ὁ λῆρος Ἰσοκράτης ἢ ὁ χαρίτων ἄμοιρος Δημοσθένης ἢ ὁ ψυχρὸς Πλάτων. 719 Genauer dazu du Toit [1997] 265f. – Die Bedeutung der göttlich-dämonischen Stimme (τὸ δαιμόνιον), die Sokrates hört, wird bei du Toit [1997] 98–103 erläutert. 720 Vgl. dazu Runia [1999] 124 mit Anm. 37 (in Auseinandersetzung mit du Toit) sowie die Rezension zu du Toit von Zeller [1998], in der – neben dem grundsätzlich positiven Urteil – dieser Punkt ebenfalls betont ist. 721 Vgl. Baldwin [1973] 71. 722 Ausführlich v.a. Eunap. 489. 723 Vgl. zu dieser Gemeinsamkeit Eustath. Comm. ad Hom. Od. vol. 1, p. 332,7f. (über den Kyklopen und andere riesenhafte Gestalten): ἦν δὲ ἄλλως καὶ Τιτυὸς ὑπερμεγέθης καθ’ Ὅμηρον, οὐκ ἀπεοίκασι δὲ τούτων οὐδὲ Ὦτος καὶ ᾿Εφιάλτης οἱ τοῦ Ἀλωέως. 724 Vgl. zu Tityos als Büsser in der Unterwelt Plat. Grg. 525e (genannt zusammen mit Tantalos und Sisyphos). Zu Otos und Ephialtes vgl. Plat. Smp. 190b.

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5. Kommentar (§§13–14)

Der Vergleich Lukians stützt sich vor allem auf die Riesenhaftigkeit (vgl. ὑπερφυές) der Gestalten, die von der vorliegenden Sache (πρᾶγμα) – der Exzellenz des Rednerlehrers und seines Könnens – übertroffen werden wird. Zudem rückt sich der Rednerlehrer mit dieser Aussage in eine götternahe Sphäre bzw. dringt in die Sphäre der Götter ein, was ihm gemäss seinen Aussagen gelingt, da er Otos und Ephialtes übertrifft. Der Vergleich gestaltet sich aber sehr ambivalent, denn erstens liegt in der körperlichen Erscheinung der drei Riesen gegenüber dem weichlichen Rednerlehrer ein krasser und lächerlich wirkender Gegensatz vor, zweitens steigert der Lehrer seine Überheblichkeit (vgl. μῶν σέ κτλ. und die Aussagen des Ratgebers über die göttliche Erscheinung in §11) durch die Anlehnung an die hybrisbeladenen Taten der Riesen zu einem Vergehen (gegen die Götter) und drittens ist durch das Schicksal, welches die drei Riesen getroffen hat, ein mögliches Scheitern des Lehrers angedeutet. Die Nennung der drei Figuren nebeneinander findet sich noch nicht bei Homer, vgl. allerdings Pindar P. 4,89–90 und Nonnos 20,64.77.80–82, wobei das Vergleichsmoment beide Male in ihrem Tod durch Apoll und Artemis liegt. Lukian selbst erwähnt vor allem Tityos oft zur Illustration der Büsser in der Unterwelt (J. Conf. 17; Philopseud. 25; Menipp. 14; Hist. Conscr. 57; Dial. Mort. 24,1), Otos und Ephialtes neben vorliegender Stelle noch einmal in Ikaromen. 23. Auch Zeitgenossen Lukians bedienten sich dieser Figuren, vgl. Libanios Progymnasmata 2,38 (Otos und Ephialtes) sowie Favorin De ex., fr. 96,29 (alle drei Figuren).725 τεράστιον Das Adjektiv bezeichnet grundsätzlich etwas Wunderbares oder Übernatürliches, was positiv (»grossartig, erstaunlich«) oder negativ (»monströs, absurd, missgestaltet«) gedeutet werden kann (vgl. die zwei Bedeutungen in LSJ s.v.: monstrous, prodigious; nennenswert ist im Zusammenhang mit der positiven Bedeutung »wunderbar« oder »übernatürlich« der Beiname des Zeus als τεράστιος726). Lukian verwendet dieses Adjektiv häufig (22 Belege); zwei Hauptbedeutungsfelder lassen sich ausmachen: Einerseits wird es zur Bezeichnung von Wunder-, Zauber- oder Lügengeschichten bzw. -taten herangezogen, die manchmal neutral, manchmal ambivalent, oft aber ganz klar in negativem Licht als Betrügereien und Schwindeleien dargestellt werden (neutral: Dial. 725 Vgl. zudem in christlichem Kontext Philon De conf. ling. 2,4 (Vergleich des Auftürmens der Berge durch Otos und Ephialtes mit dem Turmbau zu Babel) und Ps.-Justin Ad Graecos 2,4 (Homerzitat) und 28,5 mit dem Kommentar von Riedweg [1994b]. 726 So z.B. in Luk. Gall. 2; Tim. 41; Dear. Iud. 11 (jeweils im Anruf: ὦ Ζεῦ τεράστιε).

§13: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler

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Deor. 7,1; Dial. Mort. 7,1; ambivalent: Dial. Mar. 4,3 [ebenfalls die Junktur πρᾶγμα τεράστιον]; negativ: Philopseud. 2, 5, 29; Alex. 16 [ebenfalls die Junktur πρᾶγμα τεράστιον], 20, 31). Andererseits dient τεράστιος zur Bezeichnung von ungewöhnlichen und wundersamen Mischwesen bzw. erscheint in Vergleichen mit diesen, oft kombiniert mit dem Adjektiv ἀλλόκοτος (vgl. Bacch. 2: Pan; Ver. Hist. 1,8: Weinstockfrauen; Philopseud. 2: Pegasus, Chimaira, Gorgo, u.a.; Im. 2: Vergleich mit Gorgo und Medusa; Deor. Conc. 5: Pan, Satyrn, u.a.; Zeux. 12: Hippokentaur). Besonders interessant ist für uns die letztgenannte Textstelle Zeux. 12, der auf seine eigene Rhetorik umgemünzte Vergleich des Lukian mit der Abbildung einer Hippokentaurenfamilie des Malers Zeuxis:727 Beide Künstler ernten durch ihre Darbietungen beim Publikum grosses Lob wegen ihrer Innovation (wiederholt bezeichnet durch καινότης, παραδοξολογία, νεωτερισμός; auch durch die Adjektive ξένος, ἀλλόκοτος, καινός), ohne dass die kunstvolle, harmonische Verbindung mit dem Traditionellen Beachtung fände, worin jedoch die spezielle Exzellenz der Reden Lukians und der Bilder Zeuxis’ besteht. Aus dem Neuen und dem Klassischen eine perfekte Einheit zu schaffen, darin besteht das wirklich grosse Können.728 Der Rednerlehrer bezeichnet seine eigene Kunst als πρᾶγμα τεράστιον, was vor dem Hintergrund der dargelegten lukianischen Kontexte, in denen das Adjektiv fungiert, folgende Implikationen haben kann: Das Adjektiv τεράστιος ist zwar per se nicht negativ konnotiert, reicht aber als alleinige Qualitätsbezeichnung von Literatur oder Rhetorik (im Sinn eines billigen Unterhaltungsmittels) nicht aus. Dies wirft – neben dem höchst ambivalenten Vergleich mit den sich der Hybris hingebenden und scheiternden Riesen (s.o.) – zusätzlich ein negatives Licht auf vorliegende Passage sowie auf die folgende propagierte Trickrhetorik des Rednerlehrers 727 Zum Kontext: Lukian spricht über seine eigenen Erwartungen und die Reaktion seines Publikums: οἷς δὲ ἐγὼ ἐπεποίθειν, οὐ πάνυ ταῦτα ἐν λόγῳ παρ’ αὐτοῖς ἐστιν, ἀλλ’ ὅτι μὲν θήλεια Ἱπποκένταυρος γεγραμμένη, τοῦτο μόνον ἐκπλήττονται καὶ ὥσπερ ἐστί, καινὸν καὶ τεράστιον δοκεῖ αὐτοῖς. τὰ δὲ ἄλλα μάτην ἄρα τῷ Ζεύξιδι πεποίηται; (»Worauf ich mein Vertrauen gesetzt hatte, das hat bei ihnen keine Bedeutung, sondern nur weil ein weiblicher Hippokentaur gemalt worden ist, bewundern sie das und es scheint ihnen – was es tatsächlich ist – etwas Neues und Ungeheures. Alles andere aber hat Zeuxis vergeblich gemacht?«) – Vgl. bereits die Einleitung 1.7 zu Lukians Vorreden (προλαλιαί). 728 Wer nur reine Wunderwesen schafft, ist ein θαυματοποιός (Zeux. 12). Bereits Dionysios von Halikarnass zieht in seiner Mimesistheorie die Metaphorik von ›hybriden‹ Körpern heran, welche durch neue Zusammenfügungen, die ausserhalb des Natürlichen im Artifiziellen liegen, die Natur übertreffen (vgl. De imit., fr. 6,1 Us.): Ein Beispiel ist dasjenige des Malers Zeuxis, der ein Porträt von Helena aus den schönsten Zügen verschiedener Mädchen zusammenstellte (vgl. auch Luk. Im.). Genau so soll neue Literatur aus der Imitation der besten Stile verschiedener klassischer Autoren erzeugt werden. Siehe dazu Whitmarsh [2001] 72–75 (zu Dion. Hal.) und 75–78 (zu Luk., insbesondere auch zur Schaffung neuer Literaturgenera [Bis Acc. 33; Prom. Es 5]).

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5. Kommentar (§§13–14)

(§§15ff.).729 Zudem haftet bei Lukian demjenigen, dessen Taten oder Sprache mit dem Adjektiv τεράστιος beschrieben sind, der Ruf des Zauberers, Schwindlers und Betrügers an, was v.a. in der Schrift über den Lügenpropheten Alexander deutlich wird: Er ist mehrfach als γόης bezeichnet (Alex. 1, 5, 6, 25) und sein Orakel bzw. seine πράγματα τεράστια betrügen die Kundschaft (Alex. 16, 20, 31). Daher enthält vorliegende Stelle in Rh. Pr. zusätzlich einen Rückbezug auf die Einstufung des sidonischen Händlers (der ja mit dem Ratgeber und auch mit dem Rednerlehrer in Verbindung gebracht werden soll) durch Alexander den Grossen als einen γόης, dessen Rede man nicht vertrauen kann.730 Es wird über die Figur des sidonischen Händlers eine Kontinuität zwischen dem Rednerlehrer und seinem Vorgänger, dem Ratgeber, hergestellt, sowie gleichzeitig (implizit) deren Lehre auch mit Lukians eigener Darstellung von gelungener Rhetorik konfrontiert (Zeux. 12, s.o.). Der Rednerlehrer verfolgt, indem er das Wundersame und Übermenschliche (τεράστιον, ὑπερφυές) seiner Rhetorik betont, die Strategie seiner Eigendarstellung mit übernatürlichen Zügen weiter.731 Die Kontinuität zum sidonischen Händler als γόης lässt ihn allerdings dem Rezipienten ambivalent erscheinen, er wird ihm durch die Betonung der wundersamen Züge in Rhetorik und Persönlichkeit verdächtig. ἡ σάλπιγξ τοὺς αὐλοὺς [...] οἱ χοροὶ τοὺς ἐνδιδόντας Der Rednerlehrer betont seine Exzellenz durch einen dreigliedrigen Vergleich: Er übertönt die anderen Sophisten wie die Trompete die Flöten, die Zikaden die Bienen und die Chöre die Vorsänger übertönen. Die verglichenen Elemente stammen pro Paar jeweils aus demselben Bereich – Musikinstrumente, Tiergeräusche, Dramenkontext –, wobei eines 729

Als Subtext im Hintergrund steht möglicherweise auch Ar. Nu. 75–77, wo die Tricksophistik des Sokrates, von der sich Strepsiades Rettung aus seiner finanziellen Not verspricht, als ganz wunderbarer Pfad charakterisiert ist: νῦν οὖν ὅλην τὴν νύκτα φροντίζων ὁδοῦ / μίαν ηὗρον ἀτραπὸν δαιμονίως ὑπερφυᾶ, / ἣν ἢν ἀναπείσω τουτονί, σωθήσομαι. (vgl. Rh. Pr. 7: ἡ μὲν ἀτραπός ἐστι στενὴ). 730 τεράστιος findet sich verknüpft mit einer Diskussion über das Glaubhafte auch in Luk. Ver. Hist. 1,13; Charon 4. Vgl. zudem Ezechiel Trag. Exagoge 90–95 Snell (Moses spricht): ἔα· τί μοι σημεῖον ἐκ βάτου τόδε; / τεράστιόν τε καὶ βροτοῖς ἀπιστία; [...] προελθὼν ὄψομαι τεράστιον μέγιστον· οὐ γὰρ πίστιν ἀνθρώποις φέρει. (Ezechiel ist wohl im 3., spätestens Ende 2. Jh. v.Chr. anzusetzen; die Tragödie hat den biblischen Kontext des Auszugs der Israeliten aus Ägypten; siehe zum biblisch-christlichen Kontext auch die nächste Anm.); vgl. weiter Flav. Jos. Ant. Iud. 10,28. 731 Die Kombination τεράστια φάσματα, die sich in Plut. mor. 165f3 (im Zusammenhang mit schlimmen Traumerscheinungen) findet, erinnert an die Darstellung der Figur des Rednerlehrers als ξένον φάσμα, als fremartige, übernatürliche, taugenährte Gestalt aus dem Mund des Ratgebers (§11). Plut. mor. 507c5 enthält als einziger vorlukianischer Beleg den Ausdruck πρᾶγμα τεράστιον, der später auch bei christlichen Autoren zur Bezeichnung von Wundertaten auftritt, e.g. Euseb. Comm. in Psalm. 23,777.

§13: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler

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das andere jeweils (vorerst rein auf die Lautstärke bezogen) überflügelt. Der Vergleich von Flöte und Trompete sowie von Zikade und Biene wird auch von Diogenian diskutiert.732 Es stellt sich die Frage nach der Bedeutung des jeweils überlegenen und unterlegenen Teils pro Bereich: Sowohl Chor als auch Vorsänger passen in den Kontext des Auftritts und der Schauspielmetaphorik (vgl. §12). Dabei ist der Chor, der den Vorsänger übertönt, ambivalent einzustufen, da dieses Szenario eine Unordnung impliziert, in welcher der Chor nicht mehr auf seinen Anführer hört. Man könnte dabei an die Ablehnung des Studiums der ›Klassiker‹ und insgesamt des Traditionellen und Konventionellen denken (§10). Die Nennung von Biene und Zikade ist poetologisch lesbar: Grundsätzlich werden beide mit den Musen verknüpft und damit im weitesten Sinn mit literarisch-rhetorischen Erzeugnissen. Während dabei aber die Biene für Fleiss und Kunstfertigkeit steht und über den von ihr produzierten süssen Honig auch mit Dichtung und Dichtern assoziiert wird, steht die Zikade vor allem für meisterhaften Gesang.733 Diese Betonung des Gesangs könnte nun als Hervorhebung eines der zentralen Showelemente der zeitgenössischen Sophistik interpretiert werden (vgl. Rh. Pr. 15: μέλος ἀναίσχυντον; 19: ᾆσαι / ᾀδέσθω), welches zur reinen, schnörkellosen ›Dichtung‹ der Biene in Kontrast gesetzt wird. Zudem könnte die Biene auch für die konventionelle Art der μίμησις, des Pflückens von Blüten, stehen (vgl. Pisc. 6), welche gerade nicht in den Bereich der neuen Sophistik gehören soll (vgl. Rh. Pr. 9: ζηλοῦν [...] μιμεῖσθαι). Interessant für die Parallelisierung des Rednerlehrers mit einer Zikade ist zudem, dass sie als taugenährt gilt (vgl. Hesiod Sc. 395; Theokrit 4,16 mit dem Kommentar von Hunter [1999] 134f.), was über den Lehrer entsprechend ausgesagt wird (vgl. Rh. Pr. 11: τι ξένον φάσμα δρόσῳ ἢ ἀμβροσία τρεφόμενον). Gemäss dieser Deutung setzt also der Rednerlehrer in seinem Vergleich Flöte, Vorsänger und Biene für die ›alte‹ Rhetorik an, während Trompete, Chor und Zikade die ›neue‹, laute, showorientierte Rhetorik vertreten.

732

Paroemiographi Graeci vol. 1, p. 183, Nr. 15: Αὐλὸν σάλπιγγι συγκρίνεις· ἐπὶ τῶν τὰ ἐλάττω τοῖς μείζοσι συγκρινόντων. Τέττιγι μέλιτταν συγκρίνεις, κατὰ φωνήν. Überhaupt ist der Tiervergleich in diversen Varianten häufig, vgl. Theokrit 5,29 und 136f. sowie den Kommentar von Dover [1971] 132. 733 Vgl. zu Fleiss und Kunstfertigkeit der Biene Seneca Ep. mor. 121,22; zu Dichtern als Bienen: Platon Ion. 534b; Horaz carm. 4,2,17. Die Grille als Sängerin par excellence begegnet bei Platon Phdr. 259a–d; Kallimachos fr. 1,29f. Pfeiffer; Theokrit 1,148 und 5,29 (ihr Zirpen wird auch meist mit ᾆδειν bezeichnet). Keine Rolle scheint mir hier die später topische Bezeichnung nicht nur der auffällig showorientierten, sondern überhaupt aller Redner als Zikaden zu spielen (vgl. z.B. Lib. Ep. 301,1 und Him. Or. 59,1 sowie unten Anm. 967).

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5. Kommentar (§§13–14)

§14 ἕπου μόνον, ὦ μέλημα, οἷς ἂν εἴπω, καὶ ζήλου πάντα, καὶ τοὺς νόμους, [...] Die hier verwendete Anrede ὦ μέλημα gehört im Gegensatz zu ὦ μειράκιον und ὦ παῖ (vgl. §1) nicht in das platonische Vokabular, so dass der vor allem zu Beginn der Schrift sprachlich stark vertretene platonische Duktus an vorliegender Stelle nicht wiederholt wird. Lukians Textcorpus weist keine weiteren Belege dieser Anrede auf. Der Begriff μέλημα gehört ins Umfeld der poetischen, die klassisch seltene Anrede ὦ μέλημα insbesondere ins Umfeld der dramatischen Texte, vgl. A. Ch. 235 und Ar. Ec. 973.734 Die Wortwahl des Rednerlehrers an dieser Stelle impliziert dadurch folgende zwei Punkte: Die an den ἥττων λόγος der aristophanischen Wolken angelehnte, karikierte Figur spricht einerseits in Aristophanes’ Sprache,735 andererseits wird hier mit der Anspielung auf das Drama das Theatralische präsent gemacht, das Parallelen zum Auftritt des Rednerlehrers (und der Sophisten allgemein) hat. Der fehlende philosophische Duktus im Vokabular passt also zum weniger ernsten, sondern stärker komisch-theatralischen Auftreten und Sprechen des Rednerlehrers (vgl. die Schauspielmetaphorik und die Nennung des Tragödiendichters Agathon und der Komödienfiguren in §§11–12). Letztlich passt die besonders vertraute Anrede auch zur sich kollegial-einschmeichelnd verhaltenden Gestalt des Lehrers.736 Wie bereits in den einleitenden Bemerkungen zu §§13–14 angetönt, führt der Rednerlehrer mit den Aufforderungen ἕπου κτλ. den Duktus des Ratgebers weiter (vgl. §1: ἢν τὸ μετὰ τοῦτο ἐθελήσῃς αὐτὸς ἐμμένειν οἷς ἂν ἀκούσῃς παρ’ ἡμῶν).737 Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass er tatsächlich in einem Agon mit dem Lehrer des langen Weges steht, denn dieser verlangt vom Schüler genauso vertrauensvolle Gefolgschaft (vgl. den Bericht des Ratgebers §9: ἕπεσθαί σοι παρακελευόμενος ὑποδεικνὺς τὰ Δημοσθένους ἴχνη καὶ Πλάτωνος καὶ ἄλλων τινῶν) und die Nachahmung 734 Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass auch die Anreden ὦ μειράκιον und ὦ παῖ in dramatischen Texten Verwendung finden, dass allerdings in Rh. Pr. 1 aufgrund des Kontextes die platonischen Belege wohl stärker zu gewichten sind. 735 Zur Nähe solcher ›werbender‹ Passagen zum Agon der λόγοι in Aristophanes’ Wolken vgl. die Einleitung 1.8, Anm. 224. 736 Die Scholiasten kommentieren diese Anrede inhaltlich als »dasjenige, was einem besonders am Herzen liegt« (p. 178 Rabe): μέλημα*] ⌞ἀντὶ τοῦ φρ⌟όντισμα, ⌞οἱονεὶ ὑπ⌟ὲρ οὗ πολλή ⌞μοι φρον⌟τίς ἐστι. 737 Der Ratgeber bekräftigt zum Schluss umgekehrt nochmals die Rede des Rednerlehrers (§26): καὶ οὐδέν σε κωλύσει ἑπόμενον τοῖς νόμοις ἔν τε τοῖς δικαστηρίοις κρατεῖν καὶ ἐν τοῖς πλήθεσιν εὐδοκιμεῖν καὶ ἐπέραστον εἶναι καὶ γαμεῖν [...] τὴν Ῥητορικήν.

§14: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler

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dessen, was er seinem Schüler als exempla vorgibt (§9: εἶτά σε κελεύσει ζηλοῦν ἐκείνους τοὺς ἀρχαίους ἄνδρας; §10: μαχαιροποιοῦ υἱὸν καὶ ἄλλον Ἀτρομήτου τινὸς γραμματιστοῦ ζηλοῦν ἀξιῶν; hier bezogen auf das klassisch-attizistische Sprach- und Stilideal, während der Rednerlehrer mit dem undefinierten Objekt πάντα seine nachher ausgeführten Tipps und Tricks meint). Beide Lehrer verwenden zudem den Terminus νόμος – der eine zur Bezeichnung der Rechtmässigkeit der Heirat mit der Rhetorik nach Absolvierung des langen Weges (§9: νόμῳ γαμήσειν τὴν Ῥητορικήν), der andere, der Rednerlehrer, hingegen zur Bezeichnung der »Gesetze«, die er im Sinn einer einfachen, weil durch klare Regeln definierten Ausbildung vorlegt (§16: τοὺς νόμους δίειμι; §26: ἑπόμενον τῷ νόμῳ), und die dergestalt sind, dass sie sich nicht an der alten Rhetorik orientieren, sondern sogar bei Bedarf vom Schüler in der Funktion eines νομοθέτης direkt neu geschaffen werden können (§17: ἐνίοτε δὲ καὶ αὐτὸς ποίει καινὰ καὶ ἀλλόκοτα ὀνόματα καὶ νομοθέτει τὸν μὲν ἑρμηνεῦσαι δεινὸν εὔλεξιν [...]); zum Rednerlehrer als νομοθέτης vgl. §26. εἰ μὴ προετελέσθης ἐκεῖνα τὰ πρὸ τῆς ῥητορικῆς [...] προπαιδεία Mit dem Verb προ-τελεῖν (»vorher einweihen, instruieren«) wird ein zentraler Begriff der Mysterienterminologie metaphorisch herangezogen. Allgemein ist Mysterienmetaphorik in Texten der Zweiten Sophistik und speziell in sophistischer Rhetorik verbreitet.738 Der Ursprung dieser Metaphorik liegt allerdings in der klassischen Zeit: Schon Platon bezieht sich in Smp. 209e–210a (Rede der Diotima) und in Phdr. 250b–c (Palinodie des Sokrates) auf die Vorgänge bei den Mysterien von Eleusis, wobei durch diese Terminologie der Aufstieg zur Idee des Schönen metaphorisch verdeutlicht wird;739 vgl. auch (als Sokrates-Parodie) Ar. Nu. 143, 254–262; in späterer Zeit z.B. Plut. mor. 47a; Dion von Prusa Or. 36,33–35.740 Dass in der Zeit der Zweiten Sophistik »die Idee der Vulgarisierung rhetorischer Mysterien«741 zu einem Topos geworden ist, zeigt der elliptische Titel der 34. Re-

738

Vgl. dazu (mit ausführlichem Belegmaterial) Korenjak [2000] 214–219. Vgl. Kirchner [2005] 165f. und ausführlich Riedweg [1987] 1–69. Ein wichtiger Referenztext ist auch Platon Grg. 497c mit Sokrates’ spöttischer Bemerkung gegenüber Kallikles: Εὐδαίμων εἶ, ὦ Καλλίκλεις, ὅτι τὰ μεγάλα μεμύησαι πρὶν τὰ σμικρά (siehe auch bereits die Einleitung 1.3, S. 39f.). 740 Vgl. Korenjak [2000] 214 mit Anm. 58 (Belege). Im lateinischen Bereich tritt die Metaphorik zum ersten Mal bei Cicero auf (De Or. 1,206: mysteria dicendi), in der Folge bei Quint. Inst. 5,13,59ff. und 12,10,14 (vgl. Kirchner [2005] 166–173). 741 So Korenjak [2000] 216. Die tatsächlichen Bedingungen des Unterrichts beim Rhetoriklehrer, wo sich die Schüler durch verschiedene Progymnasmata mit steigendem Schwierigkeitsgrad arbeiten mussten, korrespondieren mit den Stufen einer Einweihung (vgl. dazu Burkert [31994] 45–46 [Mithraskult]; 58f. und 78–80 [Eleusis]). 739

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5. Kommentar (§§13–14)

de des Aristeides: κατὰ τῶν ἐξορχουμένων [sc. τὰ μυστήρια τῆς ῥητορικῆς].742 An dieser Stelle muss etwas weiter ausgeholt werden um aufzuzeigen, wie sich diese Metaphorik in den Texten der Zweiten Sophistik darstellt. Zwei Hauptbereiche sollen hier exemplarisch zur Sprache kommen: Erstens findet sich oft die Metaphorik einer »Weihe« (τελέτη) der bzw. in die Rhetorik (so z.B. Him. Or. 10,4 und 35,1; Lib. Or. 58,4; auch schon Dion. Hal. Comp. Verb. 25,5–6) und die Wiedergabe der Lehrtätigkeit der Rhetoriker als ein »Einweihen« (τελεῖν; z.B. Him. Or. 35,1; Lib. Ep. 285,2). Zweitens wird das Erlernen der Rhetorik als stufenweiser Vorgang beschrieben, vom »Uneingeweihten«, ἀμύητος, über Zwischenstufen zum »Eingeweihten«, τελούμενος.743 Ebenfalls erwähnenswert ist in unserem Zusammenhang, dass der Redner während seines Auftritts als von Raserei und Enthusiasmus erfüllt beschrieben wird (z.B. Philostrat VS 588; Aristeid. Or. 28,114), was eine Verbindung zur Dichterweihe in Rh. Pr. 4 (vgl. zum Lemma κάτοχος ἐκ Μουσῶν) schafft. Zur Funktion dieser Metaphorik in der Rhetorik der Zweiten Sophistik bemerkt Korenjak ([2000] 214) sie sei »eine Sprechweise, die insofern auch eine soziale Relevanz besitzt, als sie die gebildete Oberschicht als eine ausgezeichnete Gruppe von ihrer ignoranten Umgebung absondert.«744 Genau diesem Effekt entzieht sich der Rednerlehrer durch seine Betonung, dass keinerlei (Vor-)Einweihung und Wissen – auch wenn das einige Unwissende und Alberne glauben mögen – nötig ist, um ein berühmter Sophist, und damit ein Exponent der Bildung (παιδεία) zu werden. Die Mysterienmetaphorik wird in §16 wieder aufgegriffen, und diesmal im positiven Sinn einer ›Weihe‹, da die Rhetorik den Schüler als Eingeweihten aufnimmt.745 Aber wird er auch eingeweiht, so sind die Mysterieninhalte hier pervertiert und lächerlich gemacht – nur die im Vokabular gegebene ›Hülle‹ bleibt erhalten, während inhaltlich keinerlei Parallelität zum wirklichen Mysteriengeschehen herrscht: Die ›Weihe‹ gleicht einem Schnellverfahren, das so gar keine Ähnlichkeit mit den Initiationsriten und dem stufenweisen Ablauf hat, der hier vielmehr (zusammen mit den platonischen Subtexten zur ›Einweihung‹ in die Philosophie/Rhetorik) karikiert wird.746 In der Darstellung des 742

Vgl. Aristeid. Or. 28,113: ἐξορχοῦμαι δεικνὺς ἀμυήτῳ τὰ ἱερά. Vgl. z.B. Aristeid. Or. 41,2; Chor. Or. 8,5; Korenjak [2000] 215. 744 Zur weiteren Begründung der Blüte dieser Metaphorik vgl. auch Korenjak [2000] 217f.: Der sophistische Auftritt kann als quasireligiöser Akt verstanden werden, in dem eine (dem Publikum und Redner) gemeinsame Kulthandlung vollzogen wird und der als Gegenpol zum ebenfalls stark vertretenen Wettkampfdenken dient. 745 Vgl. den Kommentar zu §16: ἀτέλεστόν τινα καὶ κατάσκοπον τῶν ἀπορρήτων. 746 Vgl. über die Mysterien allgemein W. Burkert, Antike Mysterien. Funktionen und Gehalt, München 31994. 743

§14: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler

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Rednerlehrers überspringt der Schüler sozusagen alle Stufen und wird vom absolut Uneingeweihten direkt – in einem Tag (vgl. §15: πρὶν ἥλιον δῦναι) – zum Eingeweihten. Dies erinnert an die Beschreibung des Weges in §6, die vom Zielpunkt her (Berggipfel der Rhetorik) aufgerollt worden ist, so dass der Weg zur Nebensache wird, weil man das Ziel so rasch erreicht (vgl. dazu die Bemerkungen zu §6: νόμῳ [...] τοῦ γεγαμηκότος). Worin besteht nun der abgelehnte Vorunterricht, die προπαιδεία? Der Erstbeleg und gleichzeitig einzige Platonbeleg747 für das Substantiv προπαιδεία findet sich R. 536d: τὰ μὲν τοίνυν λογισμῶν τε καὶ γεωμετριῶν καὶ πάσης τῆς προπαιδείας, ἣν τῆς διαλεκτικῆς δεῖ προπαιδευθῆναι [...]. Erwähnt wird hier als Vorübung zur Dialektik der Elementarunterricht in Rechnen und Geometrie. Die Stelle scheint mir im vorliegenden Kontext wegen Ähnlichkeiten in der Formulierung bedeutsam zu sein, wobei die (abgelehnte) Vorübung (προπαιδεία) in Rh. Pr. ihren Platz nicht vor der Dialektik, sondern vor der Rhetorik (τὰ πρὸ τῆς ῥητορικῆς) hat. Der Rednerlehrer pervertiert einmal mehr platonische Aussagen, um den langen Weg zur Dialektik/Rhetorik abzulehnen, wodurch für die Rezipierenden gleichsam das andere (gängige) Paradigma des Subtextes aufscheint.748 Zum Inhalt und zur Betonung der Wichtigkeit der προπαιδεία im Bildungssystem (und als Grundausbildung des Philosophen) sind neben platonischen Texten auch zwei Passagen aus jüdisch-christlichen Autoren erhellend, die der Mysterienterminologie folgen, und damit wieder einen Bogen zurück zur vorliegenden Verbform προετελέσθης schlagen: Philon von Alexandria (De congr. erud. grat. 5) benutzt die Heiratsmetapher τὰ προτέλεια τῶν γάμων im Zusammenhang mit dem Erwerb von Weisheit und Tugend, mit denen man vorerst nur die »Vorriten« einer Hochzeit vollziehen kann, solange man das nötige Vorwissen nicht besitzt. Dieses ist – als Voraussetzung für das Betreiben von Philosophie – als μέση παιδεία umschrieben, bestehend aus den ἐγκύκλιοι ἐπιστῆμαι, die im Folgenden ausgeführt werden (§§14–18: Grammatik, Musik, Geometrie, Rhetorik, Dialektik).749

747 Auch Lukian verwendet das Substantiv nur an vorliegender Stelle. Zu erwähnen ist allerdings, dass Mysterien- und Einweihungsmetaphorik auch in Merc. Cond. eine Rolle spielt, der Schrift, die ja bereits bezüglich Wegmetaphorik und Kebes-Tabula Parallelen zu Rh. Pr. aufgewiesen hat (vgl. §6 unter dem Lemma ὁ Κέβης ἐκεῖνος). So wird das erste Essen, an dem der neue Hauslehrer teilnimmt, mit den »Vorriten« verglichen, bevor er richtig in die Hausgemeinschaft aufgenommen wird (§14: τὰ προτέλεια τῆς μελλούσης συνουσίας). 748 Vgl. zur Formulierung τὰ πρὸ τῆς ῥητορικῆς auch Plat. Phdr. 269b (τὰ πρὸ τῆς τέχνης). 749 Man vgl. auch Philon Quod deus sit immutabilis 148: τὰ προτέλεια τῆς σοφίας. Sehr häufig ist auch die (mit dem Begriff προπαιδεία verwandte) Bezeichnung dieses »Vorwissens« als τὰ ἐγκύκλια προπαιδεύματα (Philon De congr. erud. grat. 35; De fug. et inv. 184; De sacr. Abel. et Cain. 38).

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5. Kommentar (§§13–14)

Synesios (Dion 5,5) betont die Wichtigkeit der zum Philosophieren vorbereitenden Studien mit den Worten: [...] καὶ οὕτω μειονεκτεῖν ἀνάγκη τὸν ἄνδρα ἐκεῖνον, ὃς οὐ προετελέσθη τῷ κύκλῳ, καὶ τὰ Μουσῶν οὐκ ὠργίακε.750 τοῖς ἀνοήτοις καὶ ματαίοις Beide Adjektive sind häufig (Lukian: ἀνόητος 35 Belege, μάταιος 28 Belege), in Kombination erscheinen sie bei Lukian nur hier und vorlukianisch in einem Zusammenhang überhaupt nur einmal bei Platon (Lg. 967d): [...] καὶ δὴ καὶ λοιδορήσεις γε ἐπῆλθον ποιηταῖς, τοὺς φιλοσοφοῦντας κυσὶ ματαίαις ἀπεικάζοντας χρωμέναισιν ὑλακαῖς, ἄλλα τε αὖ ἀνόητ’ εἰπεῖν. Der Beleg ist interessant, weil es ebenfalls um die Diskreditierung von Gegnern – hier Philosophen – geht, deren Theorie über die vernunftbegabten Himmelskörper von den Dichtern als unnützes Gekläff und ihre Lehren überhaupt als unsinniges Geschwätz kritisiert werden. Gemäss dem »Athener« (im Gespräch mit Kleinias) sind die Philosophen allerdings im Recht: Hier wird deutlich, dass einer, der als ἀνόητος bezeichnet wird, dies je nach Kontext und Blickwinkel in Wahrheit nicht zu sein braucht. Ein Grossteil der lukianischen Belege für ἀνόητος kann grob in zwei Untergruppen geteilt werden: Entweder bezeichnet das Adjektiv die ungebildete, unverständige Menge (≈ οἱ πολλοί)751 oder einen vermeintlich Gebildeten, der aber in seinem Verhalten oder in dem, was er vermittelt, von einem anderen Gebildeten als ἀνόητος entlarvt wird.752 Diese Verwendungen entsprechen dem oben in Einleitung 2. dargelegten Prinzip der Dichotomie zwischen πεπαιδευμένοι und ἀπαίδευτοι bzw. der unter den πεπαιδευμένοι betriebenen Herabsetzung von Gegnern als ἀπαίδευτοι. Nicht selten wird die »unverständige Menge« dabei als von einem Scharlatan getäuschte herangezogen (während Gebildete wie der Autor sich nicht täuschen lassen, so z.B. wiederholt in Alex. 42 und 50; Peregr. 28 und 33; Lex. 17; weiter auch in Bis Acc. 23; Deor. Conc. 13). Der Rednerlehrer vollzieht an vorliegender Stelle eine Absetzung von anderen Rhetoriktheorien, also von gegnerischen Positionen, da er die anderen Rhetorikschüler, die sich auf den langen, mühevollen Weg begeben – und damit letztlich auch ihren Lehrer – durch diese Adjektive töricht

750 »[...] auch so ist jener Mann gezwungenermassen unterlegen, der nicht voreingeweiht ist in den allgemeinen Lehrgegenständen und der die [Mysterien] der Musen nicht gefeiert hat.« Vgl. hingegen die genau gegenteilige Aussage des Rednerlehrers (§14): ἀλλ’ ἀνίπτοις ποσίν – ἡ παροιμία φησίν – ἔμβαινε, οὐ μεῖον ἕξων διὰ τοῦτο. 751 Z.B. J. Trag. 20; Tim. 43; Alex. 42 und 50; Peregr. 28 und 33; Lex. 17. 752 So Alex. 54; Hermot. 53; Adv. Ind. 21: ἀνόητος καὶ ἀπαίδευτος ἄνθρωπος.

§14: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler

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schilt.753 Da aber das dem Schüler empfohlene und vom Lehrer vertretene Profil der absoluten Unbildung (§15: κόμιζε τοίνυν τὸ μέγιστον μὲν τὴν ἀμαθίαν) viel eher einen ἀνόητος oder μάταιος charakterisieren würde, ein Mitglied der ungebildeten, und daher oft auch vernunftlos handelnden Menge, bleibt die Aussage für den Rezipienten ambivalent.754 Die Aussage des Rednerlehrers enthält auch einen Rückbezug auf seine Selbststilisierung als Sokrates, der weiser ist als alle anderen, die daher als töricht gelten können.755 μετὰ πολλοῦ καμάτου Der mühselige Weg voller κάματος, auf dem die ἀνόητοι und μάταιοι wandeln, greift – da es sich ja auch hier um einen langen Weg zur Rhetorik handelt – verschiedene Formulierungen auf, die bisher die Anstrengung der langen Ausbildung symbolisiert haben (prominent sind vor allem die Verben πονεῖν und κάμνειν mit ihren Ableigungen): §2: πονῆσαι πολλὰ καὶ ἀγρυπνῆσαι; §3: πόνους προπονήσειν; καμόντα; [ὁδὸν] μακρὰν καὶ ἀνάντη καὶ καματηρὰν; §8: τοσαῦτα καμὼν οὐδὲν δέον; λέγοντα ἐκ τῶν πόνων φύεσθαι τὰ ἀγαθά; ἀπονητὶ γοῦν ὁρῶ; vgl. auch §7 und §9. ὁπόσα [...] ὁδοποιεῖ Das Verb ὁδοποιεῖν verwendet Lukian noch zweimal, Demon. 1 und Dial. Mar. 15,3; zur Konstruktion mit Akkusativ vgl. Demon. 1: ὁδοποιῶν τὰ ἄβατα (wörtl.: »Wege schaffend in bisher unbegangenem Gelände«), hier in Rh. Pr. auf alle diejenigen Disziplinen (ὁπόσα) bezogen, worin man sich in der Grundausbildung das nötige Vorwissen (προπαιδεία) erwirbt. ἀνίπτοις ποσίν Sprichwörtlich, wie an vorliegender Stelle explizit gesagt (ἡ παροιμία φησίν), von Lukian ebenfalls im Zusammenhang mit Bildung noch einmal (allerdings verneint) verwendet in Demon. 4 über das vorbildliche Leben des Philosophen Demonax, der »nicht mit ungewaschenen Füssen« (οὐ μὴν ἀνίπτοις γε ποσίν) zu seiner Weisheit und seinem bewundernswerten Charakter kam, sondern durch eine lange Ausbildung, und vgl. auch Pseudol. 4 753 Entsprechend äussert sich auch – auf den Lehrer des langen Weges bezogen – der Ratgeber in §9 (λήρους τινὰς ὁ μάταιος διεξιὼν πρὸς σέ). 754 Der Rednerlehrer verwendet das Adjektiv ἀνόητος noch ein weiteres Mal in der Schilderung seiner Karriere als Gerichtsredner (§25), wo er sich über seine »dummen Kunden« lustig macht, die sich von seinem vermeintlichen Können täuschen liessen und ihn zum Verteidiger nahmen, obwohl er die Prozesse meist verlor. 755 Mit diesem Hintergrund spielt auch Hermot. 53, wo Lykinos als Sokrates stilisiert ist (Hermotimos beschwert sich bei Lykinos): Μόνος δὲ σὺ τἀληθὲς κατεῖδες, οἱ δὲ ἄλλοι ἀνόητοι ἅπαντες ὅσοι φιλοσοφοῦσιν.

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5. Kommentar (§§13–14)

(ebenfalls verneint): οὐδὲ φιλαπεχθημόνως οὐδ’ ἀνίπτοις ποσὶ κατὰ τὴν παροιμίαν ἐπὶ τὸνδε τὸν λόγον ἀπηντήκαμεν [...]. Das Sprichwort lautet vollständig: Ἀνίπτοις ποσὶν ἀναβαίνων ἐπὶ τὸ στέγος (»mit ungewaschenen Füssen auf das Dach steigend«) und wird in seiner (übertragenen) Bedeutung erklärt als Bezeichnung für Leute, die unwissend und unvorbereitet zu gewissen Taten schreiten (ἐπὶ τῶν ἀμαθῶς ἐπί τινα ἔργα καὶ πράξεις ἀφικνουμένων).756 An vorliegender Stelle in Rh. Pr. steht der Kurzausdruck zusammenfassend für die davor besprochene Ablehnung jeglicher προπαιδεία (vgl. unten §15: κόμιζε τοίνυν τὸ μέγιστον μὲν τὴν ἀμαθίαν). Harmon weist im Kommentar zur Textstelle Pseudol. 4 (Loeb vol. 5, p. 379) zu Recht darauf hin, dass die Paroemiographen sowie die Suda zwar die übertragene Bedeutung erklären, nicht aber, was es eigentlich heisse, mit ungewaschenen Füssen auf das Dach zu steigen, und gibt als generelle Möglichkeit »it must have to do with the use of the roof as a sleepingplace«. Wir kommen auf die mögliche Herkunft des Sprichworts zurück; zuerst jedoch sollen zwei weitere Beispiele seiner übertragenen Verwendung angeführt werden, welche in platonischem Kontext stehen: Beide ziehen im Gegensatz zur hier vorliegenden Verwendung das Sprichwort in dem Sinn heran, dass gerade ein unvorbereitetes Vorgehen nicht ans Ziel führt, wobei sowohl Weg- als auch Mysterienmetaphorik ebenfalls erscheinen: Methodios von Olympos, in dessen (in Anlehnung an Platon benanntem) Werk Symposion die Jungfräulichkeit als Antizipation des Himmels gerühmt wird, formuliert die erste Lobrede aus dem Mund der Markella wie folgt (Symp. 1,1,22–26): ἧς δὴ ἐφιέμενοι καὶ πρὸς μόνον τὸ τέλος αὐτῆς ἀφορῶντές τινες, ἀνίπτοις ποσὶν ἀτελεῖς ὑπὸ βαναυσίας προσελθόντες, ἐκ μέσης ἀνέκαμψαν τῆς ὁδοῦ οὐδὲν ἄξιον φρόνημα τοῦ ἐπιτηδεύματος ἐπανῃρημένοι.757 Parallelen zu Rh. Pr. finden sich in der alleinigen Fixierung auf das Ziel hin (vgl. die einleitenden Bemerkungen zu §6), in der Mysterienmetaphorik bzw. der vernachlässigten stufenweisen Einweihung (vgl. oben), im Abbruch des Marsches, da für den Weg nicht die nötige innere Einstellung 756 Vgl. Paroemiographi Graeci vol. 1, p. 31, Nr. 95: Zenobios; vol. 1, p. 383, Nr. 29: Appendix; vgl. mit einer zusätzlichen Vorbemerkung zur Bedeutung »mangelnde Vorbereitung« auch Suda s.v. ἀνίπτοις ποσίν: ἀντὶ τοῦ ἀνετοίμοις, καὶ χωρίς τινος παρασκευῆς. καὶ παροιμία· Ἀνίπτοις ποσὶν ἀναβαίνων ἐπὶ τὸ στέγος, ἐπὶ τῶν ἀμαθῶς ἐπί τινα ἔργα καὶ πράξεις ἀφικνουμένων. 757 »Diejenigen, welche nach ihr [sc. der Jungfräulichkeit] streben und nur auf ihr Ziel hinsehen und mit ungewaschenen Füssen aufgrund ihrer Unbedarftheit uneingeweiht hingehen, kehren mitten auf dem Weg wieder um, weil sie keine dieser Lebensweise würdige Einstellung angenommen haben.«

§14: Auftritt des Rednerlehrers und adhortatio an den Schüler

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vorhanden ist (bzw. weil dieser zu anstrengend ist; vgl. über den steilen Weg §3 und §10). Im Zusammenhang mit Philosophie, Dialektik und Wahrheitssuche ist der zweite Text zu verorten, Proklos In Parmenid. 990: Der Aufstieg (ἄνοδος) zu Wissen und Wahrheit, den man als junger Mann (νέος) in Angriff nimmt, und zwar mit grossen Mühen (μεγάλοι πόνοι), muss in einer bestimmten Ordnung (τάξις) Stufe für Stufe fortschreiten. Wird er aber ungeordnet und mit »uneingeweihten Mündern« (ἀμυήτοις στόμασιν) und »ungewaschenen Füssen« (ἀνίπτοις ποσίν) begangen, so gleicht das einem unerfüllten Vorangehen, einem leeren Verlangen und blinden Pfad. Der Aufstieg zu etwas Hohem kann daher nur stufenweise durch Unteres und Mittleres hindurch erfolgen.758 Dieser Text weist zusätzlich Parallelen in Bezug auf das Lebensalter des Marschierenden und die Beschaffenheit des Weges (Anstrengung) auf. Wie bereits die platonischen Subtexte mit der Mysterienmetaphorik (vgl. oben) zeigen auch diese beiden Beispiele die gängige Art der Verwendung der Metaphorik und des vorliegenden Sprichwortes, dass nämlich ein unvorbereitetes und ohne Einweihung vor sich gehendes Fortschreiten auf dem (Lebens-)Weg nicht den entsprechenden Erfolg bringt – einen Inhalt, den der Rednerlehrer in seiner Darstellung in genau umgekehrter Weise propagiert und diesen Bruch mit der Tradition zudem durch den Zusatz ἡ παροιμία φησίν heraushebt.759 Aufgrund der Vermischung mit Mysterienmetaphorik scheint mir aber nicht zuletzt auch die religiöse Komponente des Ausdrucks ἀνίπτοις ποσίν (und parallel dazu: ἀνίπτοις χερσίν) bedeutsam zu sein und vielleicht sogar den eigentlichen Ursprung des Sprichwortes zu bilden: Die Rede ist vom Verbot des Betretens eines Heiligtums mit ungewaschenen Füssen bzw. des Verrichtens sakraler Handlungen mit ungewaschenen Händen, weil darin eine Befleckung liegt.760 Auch die Übertragung des Betretens heiliger Orte mit »ungewaschenen Füssen« auf die (intellektuell) unvorbereitete Herangehensweise an Religiöses (religiöse Texte) lässt sich nachzeichnen.761 Ein758

Vgl. In Parmenid. 991: διὸ καὶ τῷ Πλάτωνι καὶ τοῖς Λογίοις πειθόμενον διὰ τῶν ἡμῖν προσεχεστέρων ἀεὶ ποιητέον ἐπὶ τὰ κρείττω καὶ ἀπὸ τῶν χαμαιζηλοτέρων διὰ τῶν μέσων ἐπὶ τὰ ὑψηλότερα τὰς ἀνόδους. 759 Abgesehen von dieser Deutung, die mir hier am passendsten scheint, könnte der erklärende Zusatz auch als reine rhetorische Gelehrsamkeit oder aber als indirekte Charakterisierung des Schülers, dem man als unwissendem Neuling alles sagen muss, verstanden werden. 760 Die Belege sind zahlreich, vgl. z.B. Kyrill In XII prophetas vol. 1, p. 248,2 Pusey (καὶ ἀνίπτοις ἰόντες ποσὶν εἰς τὸν θεῖον οἶκον οὐκ ἐρυθριᾶτε); Euseb. HE 10,4,39; Philon De spec. leg. 2,6,7; Paroemiographi Graeci vol. 1, p. 187, Nr. 43 (Diogenian): Ἀνίπτοις χερσίν· ἐπὶ τῶν βεβήλοις χερσὶ τοῖς ἱεροῖς ἐγχειρούντων. 761 Vgl. dazu Basilios Ascet. magn. PG 31,944,42 Migne: Οὐ μὴν οὐδὲ ἀνίπτοις ποσὶν ἐπιτρέπειν χρὴ τῆς σεμνότητος ἐπιβαίνειν τῶν διδαγμάτων und Aineias von Gaza Ep. 21,1–5: Οἱ μὲν

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5. Kommentar (§§13–14)

zig die Bewegung des ἀναβαίνειν ἐπὶ τὸ στέγος bereitet Probleme, da im religiösen Kontext im Zusammenhang mit dem Sprichwort weder das Hinaufgehen (ἀναβαίνειν) noch στέγος im Sinne eines Heiligtums o.ä. belegt ist,762 so dass in der längeren Version letztlich vielleicht doch die weltliche Komponente des Besteigens eines Hausdaches gemeint ist (s.o.); allerdings erwähnt Lukian die Fortsetzung des Sprichwortes gerade nicht, so dass der religiöse Hintergrund auf jeden Fall enthalten sein kann. τὸ κοινότατον Zwei mögliche Bedeutungen dieses Einschubs liegen vor: a) »das Gängigste« im Sinne dessen, was im Moment allgemein in Mode ist, daher Harmons Übersetzung (153) »even if you are quite in the prevailing fashion and do not know how to write«,763 oder b) »das Gängigste, Allgemeinste« im Sinne dessen, was jeder kann oder weiss.764 Beide Möglichkeiten haben etwas für sich, da sie den absolut unbeleckten Einstieg als Redner (ἀνίπτοις ποσίν) weiter hervorheben: Normalerweise begann man die Schulausbildung (vgl. oben προπαιδεία) mit dem Unterricht beim Grammatiker, um Lesen und Schreiben zu erlernen (vgl. oben Philon De congr. erud. grat. 5,14). Die erste Übersetzungsvariante erzeugt durch das Propagieren einer neuartigen ›Ausbildung‹ einen Traditionsbruch – der Konvention widersprechend wäre es nun das Gängigste, nicht schreiben zu können –, wie es in Rh. Pr. so oft der Fall ist (vgl. z.B. §9 und §17). So besehen könnte diese Variante im Sinne des Selbstverständnisses und der Sprechweise des Rednerlehrers vorzuziehen sein.

§15: Voraussetzungen in Charakter und Erscheinungsbild (Präliminarien/Prothesis) Die hier gegebenen Instruktionen zu Charakter und Erscheinungsbild eines Starsophisten stehen in direktem Bezug zu seiner Haupttätigkeit im Rahmen der öffentlichen Auftritte und zum engen Kontakt mit dem Publikum. πολλοί, τὸ δὴ λεγόμενον, ἀνίπτοις ποσὶν ἐπιπηδῶσι τοῖς ἱεροῖς, καθάπερ ὁ τοῦ Πλάτωνος χαλκεὺς ἐκεῖνος ὁ φαλακρός, ὃς ἔτι καπνοῦ καὶ δυσωδίας ὄζων ἐπανέστη τῇ δεσποίνῃ. σὺ δὲ ἐξ ἱεροῦ διαβαίνεις εἰς ἱερόν, ἐκ φιλοσοφίας εἰς ἱερωσύνην. 762 Es finden sich nur Ausdrücke wie ἰέναι ἐπὶ τὴν εἴσω σκηνήν (Kircheninneres; Kyrill PG 77,580,14 Migne) oder εἰσθέων εἰς τὴν τοῦ μαρτυρίου σκηνήν (tabernaculum Mosis; Kyrill PG 68,781,39 Migne). 763 Vgl. auch Möllendorff [2006a] 175: »[...] auch wenn du, wie es heutzutage ganz normal ist, noch nicht einmal schreiben kannst.« 764 Vgl. Wieland [1974] Bd. 3,224: »[...] wenn du auch, was jedermann kann, nicht einmal deinen Namen schreiben könntest.«

§15: Voraussetzungen des Redners (Präliminarien/Prothesis)

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Jede Performance muss gemäss dem Rednerlehrer – um rasch Erfolg zu bringen – ohne jede Scham und Rücksichtnahme mit allerlei Tricks angegangen werden. Die Rhetorik wird so zur reinen Show pervertiert und zur Schauspielerei, denn der äusserlichen Erscheinung, insbesondere der Kleidung, wird – im Sinne einer ›Verkleidung‹ – höchste Priorität eingeräumt. Die Beschreibung eines solchen trügerischen Rednerdaseins weist bei Lukian Parallelen in der Darstellung von Scheinphilosophen auf, die zur Zeit der Zweiten Sophistik ebenfalls im Rahmen der öffentlichen Vortragstätigkeit agierten. Zu diesen Parallelen in der Symbolik der Scheingelehrten und Betrüger vgl. ausführlich die Einleitung 3. Auf die auffälligsten Paralleltexte wird im folgenden Kommentar jeweils hingewiesen. Der Rednerlehrer unterteilt seine Unterweisung von Anfang an in zwei Bereiche, einerseits in das, was der Schüler »von zu Hause« (οἴκοθεν) selbst mitbringen muss,765 und andererseits in die Lehre im engeren Sinn, die er ihm auf dem Weg zum Gipfel der Rhetorik vermitteln will (καὐτὸς ἃ μὲν ἐπιδεικνὺς κατὰ τὴν ὁδόν, ἃ δὲ καὶ παραινῶν) und die erst ab §16 im Detail vorgetragen wird. ἐφόδια [...] ἐπισιτίσασθαι Die Begriffe knüpfen als typisches Reisevokabular an die Wegmetaphorik und als häufig auch militärisches Vokabular an den historiographischen Duktus an (vgl. die Diktion des Ratgebers in §5); in beiden Bereichen hält sich der Rednerlehrer damit wiederum eng an die Sprechweise seines Vorgängers (vgl. die einleitenden Bemerkungen zu §§13–14). Das Substantiv ἐφόδιον, meist im Plural ἐφόδια, bezeichnet wörtlich »das, was für oder auf einer Reise [nötig bzw. dienlich] ist«, wobei damit Versorgungsmittel aller Art gemeint sein können, v.a. Geld zur Deckung der Reisekosten und Nahrungsmittel (vgl. LSJ s.v.: supplies for travelling, money and provisions, esp. of an army). Vgl. Thuk. 6,31,5 (Reisekosten); 6,34,5 (Lebensmittel); Hdt. 4,203,3 (Reiseausrüstung allgemein); 6,70,1 (Lebensmittel; jeweils in der ion. Form ἐπόδια); Xen. An. 7,8,2 (Reisekosten). Lukian verwendet den Begriff insgesamt 8x, im oben genannten Sinn Peregr. 16; Pseudol. 21; öfter aber übertragen zur Bezeichnung der (bloss scheinbaren, falschen) Ausrüstung oder Qualifikation hauptsächlich von Philosophen und Sophisten: Demon. 12; Rh. Pr. 15 und 24; Pisc. 45; Fug. 13; vgl. auch Abd. 24. Die engsten Parallelen – generell zum vorliegenden 765 Damit scheint sich der Lehrer auf den ersten Blick zum Bereich der φύσις, der angeborenen Eigenschaften zu äussern, die den von Natur aus zur Rhetorik Begabten auszeichnen. Doch solche condiciones sine quibus non werden sofort konterkariert, da hauptsächlich Eigenschaften genannt werden, die jeder mitbringen kann: Unwissenheit, Verwegenheit, Unverschämtheit etc. Vgl. zum Konventionsbruch dieser Passage bereits die Einleitung 1.3, S. 39.

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5. Kommentar (§15)

Abschnitt Rh. Pr. 15766 – weist dabei folgende Stelle in Fugitivi auf, worin sich die personifizierte Philosophie bitter über die Scheinphilosophen beklagt, die sich ihr bloss zuwenden, um sich ein finanziell angenehmeres Leben zu verschaffen (§13): [...] τόλμαν καὶ ἀμαθίαν καὶ ἀναισχυντίαν προσπαρακαλέσαντες, αἵπερ αὐτοῖς μάλιστα συναγωνίζονται, καὶ λοιδορίας καινὰς ἐκμελετήσαντες, ὡς πρόχειροι εἶεν καὶ ἀνὰ στόμα, ταύτας μόνας ξυμβολὰς ἔχοντες – ὁρᾷς ὁποῖα πρὸς φιλοσοφίαν ἐφόδια; – σχηματίζουσιν καὶ μετακοσμοῦσιν αὑτοὺς εὖ μάλα εἰκότως καὶ πρὸς ἐμέ [...].767 Die Parallelität zeigt sich in der Art und Weise, wie man auf schnellem, leichtem Weg zum Philosophen oder Sophisten wird, auch oder gerade wenn man über keinerlei Bildung verfügt, wobei sich die Textstellen nicht nur inhaltlich, sondern bis ins Detail der Formulierungen hinein ähnlich sind. Bestimmte Charakterzüge wie Tollkühnheit und Unverschämtheit und einige Standardweisheiten helfen, sich trotz mangelndem Wissen als das behaupten zu können, wofür man sich ausgibt. Und betont wird vor allem auch die Wirksamkeit des Anpassens der äusseren Erscheinung. All dies wird zusammenfassend und spöttisch als »Proviant, Ausrüstung« für das Agieren als Sophist oder Philosoph (ἐφόδια πρὸς τὴν πορείαν [sc. zur Rhetorik] / πρὸς φιλοσοφίαν) bezeichnet. Zum Verb ἐπισιτίζεσθαι »sich Lebensmittel verschaffen, sich verproviantieren« vgl. Thuk. 6,94,3; 8,95,4; Hdt. 7,176,5; 9,50,1; Xen. An. 2,5,38; 6,2,4. Lukian verwendet das Verb insgesamt 7x, davon 3x im Zusammenhang mit Essensvorräten (Ver. Hist. 2,53; Ikaromen. 11; Tox. 58 – jeweils ebenfalls in einem Reisekontext), ansonsten aber auch übertragen in Bezug auf einen Geldvorrat (Gall. 16; Fug. 20) und in Rh. Pr. 15 und 17 (s. auch dort) in Bezug auf die »Rhetorikvorräte«, die ein angehender Sophist braucht. Auch hier weist die Stelle in Fugitivi die engsten Parallelen zu Rh. Pr. auf (s. bereits oben zu Fug. 13): Das Verb »sich verproviantieren« erscheint jeweils im Kontext der Handlungen von Scharlatanen und Scheingelehrten, die einen kurzen Weg begehen und einen oberflächlich-theatralischen Auftritt liefern. Die Scheinphilosophen in Fug. agieren nur so lange, bis sie sich genügend bereichert haben (ἐπειδὰν ἱκανῶς συλλέξωνται καὶ ἐπισιτίσωνται) an all dem Geld, das sie von ihren Schülern fordern; dann

766 Vgl. auch §16: σχήματος μὲν τὸ πρῶτον ἐπιμεληθῆναι χρὴ μάλιστα καὶ εὐμόρφου τῆς ἀναβολῆς, ἔπειτα πεντεκαίδεκα ἢ οὐ πλείω γε τῶν εἴκοσιν Ἀττικὰ ὀνόματα ἐκλέξας ποθὲν ἀκριβῶς ἐκμελετήσας, πρόχειρα ἐπ’ ἄκρας τῆς γλώττης ἔχε [...]. 767 »[...] sie rufen Tollkühnheit, Unbildung und Unverschämtheit zu sich, die ihnen ganz besonders kämpfen helfen, und lernen neue Schimpftiraden auswendig, damit sie sie jederzeit zur Hand und auf der Zunge haben. Allein mit diesen Mitteln – siehst du, welche Art von Proviant sie zum Philosophieren haben? – staffieren sie sich aus und geben sich selbst eine sehr glaubwürdige andere Gestalt, die meine nachahmt.«

§15: Voraussetzungen des Redners (Präliminarien/Prothesis)

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werfen sie ihre Philosophen-Verkleidung weg und führen ein luxuriöses Leben.768 ὡς ἂν τάχιστα διανύσαι δυνηθείης ὡς leitet hier einen Finalsatz ein, ist daher nicht auf τάχιστα (wie häufig in der Wendung ὡς/ὅτι τάχιστα »möglichst schnell«) zu beziehen (vgl. auch §1: πάνυ θαρρῶν ὡς τάχιστα δεινὸς ἀνὴρ ἔσῃ γνῶναί τε τὰ δέοντα [...]). Zum Optativgebrauch im Finalsatz vgl. die Angaben zu §6: ὡς γαμήσειάς [...] ἔχοις. ἔπειτα καὶ αὐτὸς ἃ μὲν προϊόντι ἐπιδεικνὺς κατὰ τὴν ὁδόν, ἃ δὲ καὶ παραινῶν Die beiden Partizipien, welche einerseits ein praxisbezogenes »Vorzeigen« (ἐπιδεικνύναι) der Lehre, andererseits deren theoriebezogeneres »Anraten« (παραινεῖν) beinhalten, können auf der Ebene der Rhetoriktheorie ausgedeutet werden: Der Rednerlehrer nimmt für sich die epideiktische neben der paränetisch-symbuleutischen Sprechweise in Anspruch und liefert so die Stichworte für das Genre der folgenden Rede, welches in beiden Bereichen völlig parodiert wird: Die Ratschläge entsprechen den platten Regeln und Tricks, die der Lehrer im Folgenden für den Schüler durchgeht und exemplifiziert. Die ἐπίδειξις, wiewohl ein Zurschaustellen bzw. das Halten einer Prunkrede, bezieht sich ursprünglich auf den Inhalt ebendieser Rede,769 während hier, aufgrund des dürftigen Inhalts, fast nur auf die äusserliche Show des Sophisten und damit auf Schauspielerei Bezug genommen wird. In Platons Sophistenkritik erhält der Begriff ἐπίδειξις schon früh eine negative Konnotation (vgl. z.B. Plat. Cra. 384b; Grg. 447c). Zum Element der Vorzeigens und der damit verbundenen Optik vgl. auch den Kommentar zu §16: ὅρα καὶ ἄκουε. Zum Verb παραινεῖν vgl. auch die Wiederaufnahme in §25: ταῦτά σοι παραινῶ. πρὶν ἥλιον δῦναι Zur Kürze des Weges, der in weniger als einem Tag absolvierbar ist, vgl. bereits allgemein formuliert §1: τάχιστα; §3: ἐπιτομωτάτην [ὁδόν], ἐν βραχεῖ; §4: ἐν βραχεῖ, τὴν ταχίστην ὁδόν; und spezifisch die Dauer von knapp einem Tag angebend §6: μιᾶς οὐδὲ ὅλης ἡμέρας. Auch hier bezie768 Auch Plutarch verwendet das Verb übertragen und spöttisch im Sinn von »sich ausstaffieren zur Sophisterei« (mor. 78f: εὐθὺς ἐπισιτίζονται πρὸς σοφιστείαν). 769 Vgl. zu den drei Genera der Rhetorik Aristoteles Rh. 1358a–b: Der Hörer (ἀκροατής) der epideiktischen Rede ist ein »Zuschauer« (θεωρός), der über die Redefähigkeit des Vortragenden urteilt (κρίνων [...] περὶ δυνάμεως). Vgl. auch die Verwendung des Begriffs ἐπίδειξις in neutralem bzw. positivem Sinn als gängige Bezeichnung eines Rednervortrags Luk. Herc. 7 und Prom. Es 2.

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5. Kommentar (§15)

hen sich die Äusserungen des Rednerlehrers bestätigend zurück auf diejenigen des Ratgebers (s.o. zu: ἐφόδια [...] ἐπισιτίσασθαι). ῥήτορά σε ὑπὲρ τοὺς πάντας ἀποφανῶ, οἷος αὐτός εἰμι Der Schüler wird alle Konkurrenten überflügeln, vgl. dazu bereits §13 über die Person bzw. das Können des Rednerlehrers, welches sogar die Riesen Tityos, Otos und Ephialtes übertrifft: ὑπὲρ ἐκεῖνους πολὺ φανεῖταί σοι τὸ πρᾶγμα ὑπερφυὲς καὶ τεράστιον. Bereits auf der lexikalischen Ebene wird so die Verbindung zwischen Lehrer und Schüler ausgedrückt – der Schüler wird nach absolvierter Ausbildung ein Ebenbild des Lehrers sein –, was dann nachdoppelnd noch explizit gesagt wird (οἷος αὐτός εἰμι, vgl. genauso unten: βάδισμα οἷον τὸ ἐμόν). Der Zusatz macht auch insofern Sinn, als ohne diese Aussage im Übertreffen aller der Lehrer selbst eingeschlossen wäre. ἀναμφιλέκτως Das Adjektiv ἀναμφίλεκτος ist klassisch ungebräuchlich,770 entspricht in seiner Bedeutung »unbestritten, zweifellos« dem etwas häufigeren und seit Xenophon belegten ἀναμφίλογος (o-stufig; vgl. Xen. Mem. 4,2,34; Oec. 4,8; Smp. 3,4; auch Lukian Harmonid. 2; Hermot. 36).771 Dass ἀναμφίλεκτος zur Zeit der Zweiten Sophistik in Gebrauch war, belegt Pollux 5,151, wo ἀναμφίλεκτον neben Begriffen wie ἀναμφίλογον, βέβαιον und ἀναντίλεκτον772 aufgeführt ist; vgl. weiter Longin 7,4 (πίστιν ἰσχυρὰν καὶ ἀναμφίλεκτον); Galen In Hipp. de victu acut. comm. 4, vol. 15, p. 440 (τοὺς ἐναργῶς τι καὶ ἀναμφιλέκτως δείξαντας). Der Rednerlehrer streicht also sein Eigenlob durch diese markante, seltene Vokabel noch stärker hervor. τὰ πρῶτα καὶ μέσα καὶ τελευταῖα τῶν λέγειν ἐπιχειρούντων Diesen Ausdruck mit der Dreiergruppe τὰ πρῶτα καὶ μέσα καὶ τελευταῖα verwendet Lukian nur hier, vgl. aber zur Verwendung des Neutrums τὰ πρῶτα im Sinn von »der erste [sein]« bzw. »den Anfang [bilden]« Luk.

770 Die frühesten zwei Belege stammen aus dem Hellenismus (Epikur, Chrysipp), danach ist der grösste Teil vorlukianischer Belege aus dem 1. Jh. v.Chr. bei Dionysios von Halikarnass zu finden (6 Belege: Ant. Rom. 4,47,6; 5,48,3; 5,55,2; 5,55,3; 9,44,7; 12,1,13). Lukian selbst verwendet das Adjektiv nur an vorliegender Stelle. 771 Ebenfalls selten sind die entsprechenden Verben ἀμφιλέγειν resp. ἀμφιλογεῖσθαι; klassisch häufig belegt ist einzig die positive Form des Adjektivs, ἀμφίλογος, vgl. A. Pers. 905; Thuk. Hist. 4,118,9; E. Med. 638; Soph. Ant. 111; Xen. Hell. 5,2,10. 772 Auch dieses Adjektiv verwendet Lukian (Cal. 6; Eun. 13).

§15: Voraussetzungen des Redners (Präliminarien/Prothesis)

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Hipp. 3; Tim. 35 und 55.773 Syntaktisch kann dieser Nachsatz als abhängig von ἀποφανῶ aufgefasst werden: »auf unbestrittene Weise zu Anfang, Mitte und Ende machen«. Es scheint mir eine Anspielung auf Demosth. In Aristogeit. 1,8f. vorzuliegen, wo Demosthenes seinen Gegner als zwielichtige Rednerfigur mit äusserst schlechtem Charakter beschimpft. Seine Anhängerschaft benehme sich wie Tiere, bringe Schande über Athen, und er sei das allererste von ihnen, eben ihr Anführer und Drahtzieher (hervorgehoben sind auch weitere Begriffe, die Rh. Pr. 15 aufgreift): βουλοίμην δ’ ἂν [...] σπουδάσαντας ὑμᾶς ἐξετάσαι διὰ βραχέων εἰς ὅσην αἰσχύνην καὶ ἀδοξίαν προῆχε τὴν πόλιν δημοσίᾳ πάντα τὰ τοιαῦτα θηρία, ὧν μέσος καὶ τελευταῖος καὶ πρῶτός ἐστιν οὗτος. [...] εἰς τὰς ἐκκλησίας ἀναβαίνουσιν, ἐν αἷς ὑμεῖς γνώμης ἀπόδειξιν, οὐ πονηρίας τοῖς λέγουσιν προτίθετε, τόλμαν καὶ κραυγὴν καὶ ψευδεῖς αἰτίας καὶ συκοφαντίαν καὶ ἀναισχυντίαν καὶ πάντα τὰ τοιαῦτα συνεσκευασμένοι, ὧν οὐκ ἂν εὕροι τις ἐναντιώτερα τῷ βουλεύεσθαι, [...]. Das von Demosthenes zur Beschimpfung seines Gegners herangezogene Vokabular dient gemäss dem Mittel der ironischen Umkehrung in Rh. Pr. als positives und erstrebenswertes Ziel eines Redners, der damit so sein will, wie der widerwärtige Aristogeiton in Demosthenes’ Schilderung. Die Demosthenesrede bietet also einen Subtext, der die Ironie des vorgetragenen Lehrgangs deutlich herausstreicht und die gängige negative Konnotation von Charakterzügen wie τόλμα und ἀναισχυντία betont (s.u.).774 κόμιζε Dieser Imperativ »bringe mit« eröffnet die erste aufzählende Passage darüber, was man als Rhetorikaspirant wirklich braucht, und bildet so das positive Gegenstück zur vorangegangenen Passage über das Abzulehnende (§14: ἄλλο γάρ τι παρὰ ταῦτα ὁ ῥήτωρ). Die folgenden, dem Schüler in dicht gedrängter Zahl präsentierten Begriffe sind in ihrer Anwendung auf die »Naturanlage« (φύσις) des angehenden Redners höchst ironisch, da sie einmal mehr mit der Konvention brechen: ἀμαθία, θράσος, τόλμα, ἀναισχυντία (s.u.).775

773 Vgl. zur Form (Akk. Pl. n.) auch den Ausdruck τὰ πρῶτα φέρεσθαι, »[im Wettkampf] den ersten Preis gewinnen« oder übertragen »das höchste Ansehen geniessen« etc. (z.B. Luk. Ver. Hist. 2,18). 774 Zur Überheblichkeit der Aussage der allumfassenden Priorität des Redners vgl. den religiösen Kontext in Plat. Lg. 715e (= OF 21 Kern): ὁ μὲν δὴ θεός, ὥσπερ καὶ ὁ παλαιὸς λόγος, ἀρχήν τε καὶ τελευτὴν καὶ μέσα τῶν ὄντων ἁπάντων ἔχων [...]. 775 Zur Ironisierung aufgrund der Konventionsbrüche vgl. die Einleitung 1.6, S. 64f. Zur Pervertierung der idealen φύσις eines Redners vgl. auch die Einleitung 1.3, S. 39.

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5. Kommentar (§15)

τὴν ἀμαθίαν Nicht etwa παιδεία, Bildung, die ein Exponent der Zweiten Sophistik wohl für jede rhetorische Tätigkeit als Kernvoraussetzung nennen würde, stellt der Rednerlehrer an den Beginn seines Anforderungsprofils, sondern er macht sogleich klar, dass keinerlei Vorbildung, ja nicht einmal der gewöhnlichste Elementarunterricht nötig sei. Ein angehender Redner bedarf vielmehr ganz anderer Dinge (vgl. schon §14). Unbildung, ἀμαθία, wird so umgekehrt geradezu zur Voraussetzung einer erfolgreichen rhetorischen Laufbahn. Damit wird der unter allen Beispielen in Rh. Pr. wohl offensichtlichste und provokativste Bruch mit der Konvention vollzogen und die zeitgenössische Rhetorik stark pervertiert, denn Bildung ist eine wesentliche, ja unabdingbare Eigenschaft für die kaiserzeitlichen Aristokraten und insbesondere für alle, die sich derart öffentlich exponieren wie die Sophisten.776 So macht denn auch in Lukians Satiren gegen Sophisten Unbildung einen Hauptkritikpunkt aus (vgl. Pseudol. 2, 9, 13, 15; Sol. 3 und 9; Lex. 23). Auch der Kontrast zu der vom Schüler angestrebten Bezeichnung als σοφιστής ist zu beachten, wird doch der Begriff in erster Linie verbunden mit Kenntnis und Klugheit (σοφία) und dient zur Bezeichnung dessen, der sich in einem bestimmten Gebiet auskennt, eines Experten oder Gelehrten in weit zu fassendem Sinn, von dem das jeweils entsprechende Wissen gefordert wird.777 θράσος ἐπὶ τούτῳ καὶ τόλμαν καὶ ἀναισχυντίαν Siehe dazu bereits die Bemerkungen oben unter τὰ πρῶτα καὶ μέσα καὶ τελευταῖα τῶν λέγειν ἐπιχειρούντων. Solche negativen Charaktereigenschaften zieht Lukian andernorts zur Verspottung von Scheinphilosophen heran. Beispielsweise bezeichnet die personifizierte Philosophie gegenüber Zeus die Aneignung des entsprechenden Charakters als ersten und wichtigsten Schritt im Vorgehen der Sklaven und Handwerker, die sich als Philosophen ausgeben wollen (Fug. 13): τόλμαν καὶ ἀμαθίαν καὶ ἀναισχυντίαν προσπαρακαλέσαντες, αἵπερ αὐτοῖς μάλιστα συναγωνίζονται, [...]; (vgl. dazu auch bereits oben unter ἐφόδια [...] ἐπισιτίσασθαι). Vgl. auch Fug. 4: ὁ βίος δὲ παμμίαρος αὐτῶν [sc. der Scheinphilosophen], ἀμαθίας καὶ θράσους καὶ ἀσέλγειας ἀνάπλεως. 776 Vgl. dazu Schmitz [1997] 44–50 und 136–146. Inschriftenmaterial zeigt, dass es zu Lukians Zeit »eine weitverbreitete Gewohnheit war, die παιδεία des Geehrten als Aspekt seiner Gesamtpersönlichkeit aufzufassen« (Schmitz [1997] 136) und in einem Zug mit Charaktereigenschaften wie μεγαλοφροσύνη (»Grossmut«) oder δικαιοσύνη (»Gerechtigkeit«) zu nennen. 777 Neben den häufigen Belegen in der enger gefassten Bedeutung »Redner« benutzt Lukian σοφιστής durchaus auch in diesem allgemeinen Sinn als Kenner irgendeiner τέχνη (z.B. Vit. Auct. 12; Philopseud. 16; Luct. 20). Vgl. auch die Angaben im Kommentar zu §1: ῥήτωρ [...] σοφιστὴς.

§15: Voraussetzungen des Redners (Präliminarien/Prothesis)

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Im strukturellen Aufbau der Passage wird Parallelität erzeugt, indem den vier genannten ›Tugenden‹ – ἀμαθία, θράσος, τόλμα, ἀναισχυντία – in der Fortsetzung vier ›Untugenden‹ – αἰδώς, ἐπιείκεια, μετριότης, ἐρύθημα – entgegengehalten werden, wobei die Werte der gängigen Vorstellung entgegengesetzt festgelegt sind (die Konventionalität der letztgenannten Charakterzüge scheint in der Formulierung οἴκοι ἀπόλιπε durch, da sie dem Schüler offenbar durchaus zur Verfügung stünden; siehe zur Konvention auch die Bemerkungen zum folgenden Lemma). ἀχρεῖα γὰρ καὶ ὑπεναντία τῷ πράγματι Die abgelehnten, grundsätzlich allerdings positiven Charakterzüge (Rücksichtnahme, Anstand, Masshaltung, Schamgefühl) werden als dem zukünftigen Beruf geradezu abträglich gebrandmarkt: Alles, was einen schamlosen Auftritt behindern könnte, muss aus dem Charakter des angehenden Starredners verbannt werden. Vgl. im Gegenteil dazu die kommentierende Aussage des Rednerlehrers zu Stimme, Gesang und Gang: ταῦτα δὲ πάνυ ἀναγκαῖα καὶ μόνα ἔστιν ὅτε ἱκανά. Mit ganz entgegengesetzten Charakterzügen, die aus platonisch-philosophischem Hintergrund stammen, wird der junge Redner Lukian in Somnium 10 von seiner Lehrerin Paideia versehen (σωφροσύνη, δικαιοσύνη, εὐσέβεια, πραότης, ἐπιείκεια, σύνεσις, καρτερία: genauer dazu siehe Einleitung 1.5.b), und in Bis Acc. 17 kehrt ein ›geläuterter Philosoph‹ bei den Akademikern zu Besonnenheit (σωφροσύνη) und Schamgefühl (αἰδώς, ἐρύθημα) zurück und legt sein lautes Geschrei, seinen Gesang sowie seine Verkleidung ab – genau diejenigen Elemente, die den betrügerischen Scheingelehrten und seinen Auftritt kennzeichnen (zur Kleidung s.u. §15, zu Gesang und Geschrei §19). Auch die Briefe des Libanios, in welchen er die Väter oder andere männliche Verwandte über Entwicklung und Fortschritte der betreffenden Schüler informiert, geben Aufschluss über das gängige Konzept einer erfolgreichen Ausbildung, die sowohl Charakterqualitäten und gutes Benehmen als auch fachliche Resultate umfasst; vgl. z.B. Ep. 601: Ὁ τῆς παιδός σου παῖς τοιοῦτός ἐστιν, οἷον εὔξαιτο ἂν ὁ πάππος, λόγων ἐραστής, σωμάτων οὐκ ἐραστής, θράσους ἀφεστηκώς, ἐπιεικείᾳ φίλος [...].778 Dem vorliegenden Kontext ähnlich in der Formulierung ist der spöttische Aufruf des Parrhesiades an die Scheinphilosophen, sich zur Verteilung von Geschenken auf der Akropolis einzufinden (Pisc. 41): κομίζειν δ’ ἕκαστον σωφροσύνην μὲν ἢ δικαιοσύνην ἢ ἐγκράτειαν μηδαμῶς· οὐκ ἀναγκαῖα 778

Siehe dazu auch Cribiore [2007] 127f. Zum Erröten (ἐρύθημα) als Zeichen der Bescheidenheit eines Redners vgl. Lib. Or. 18,30: ὁ δὲ λέγων τε ἦν ὁμοίως θαυμαστὸς καὶ αἰδούμενος, οὐ γὰρ ἦν ὅ τι χωρὶς ἐρυθήματος ἐφθέγγετο. τῆς μὲν οὖν πρᾳότητος ἅπαντες ἀπέλαυον, [...].

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5. Kommentar (§15)

γὰρ ταῦτά γε, ἢν μὴ παρῇ· πέντε δὲ συλλογισμοὺς ἐξ ἅπαντος· οὐ γὰρ θέμις ἄνευ τούτων εἶναι σοφόν. Gute und für einen Philosophen herkömmliche Charaktereigenschaften sind unnötig, unabdingbar hingegen als Ausrüstung sind fünf Syllogismen – diese finden beim Beruf des Redners ihre Parallele in den attizistischen Standardvokabeln (vgl. Rh. Pr. 16: πεντεκαίδεκα ἢ οὐ πλείω γε τῶν εἴκοσιν Ἀττικὰ ὀνόματα ἐκλέξας κτλ.). βοὴν ὅτι μεγίστην καὶ μέλος ἀναίσχυντον Neben der Unbildung und bestimmten Charakterzügen benennt der Rednerlehrer nun mit der Erwähnung einer möglichst lauten Stimme und einem hemmungslosen Singsang konkrete Elemente, die der Sophist für einen effektvollen Auftritt benötigt. Das μέλος ἀναίσχυντον bezeichnet, wie später (§§19–20) deutlich wird, eine typische, bei Philostrat gut bezeugte melodiöse Vortragsweise der Sophisten, welche vor allem zur Untermalung wichtiger Passagen der Rede oder in der peroratio angewandt wurde und höchst umstritten war. Vgl. dazu ausführlicher den Kommentar zu §§19–20, v.a. zu §19: ἢν δέ ποτε καὶ ᾆσαι καιρὸς εἶναι δοκῇ κτλ. Lautes Geschrei und Gesang verweisen auch auf das Ende von §13 zurück, wo der Rednerlehrer seinen Triumph über alle anderen durch das Mittel der grösseren Lautstärke begründet (τοσοῦτον ὑπερφωνοῦντα [...] ὁπόσον ἡ σάλπιγξ τοὺς αὐλοὺς καὶ οἱ τέττιγες τὰς μελίττας καὶ οἱ χοροὶ τοὺς ἐνδιδόντας). Die vorliegende Forderung und Selbstdarstellung des Rednerlehrers steht im Gegensatz zu den Aussagen des Ratgebers über dessen göttliche, honigsüsse, verführerische (und daher wohl auch eher leise) Stimme, vgl. §11: μελιχρὸν τὸ φώνημα / εἰ μύοντι γάρ σοι [...] εἴποι τι [...] μάθοις ἂν ὡς οὐχὶ τῶν καθ’ ἡμᾶς ἐστιν und §12: τῷ προσηνεῖ τοῦ φθέγματος. Das Bild des Vergöttlichten sowie des eleganten Effeminierten bröckelt immer mehr (vgl. bereits die einleitenden Bemerkungen zu §12): Der Rezipient ahnt, dass dieser Sophist nicht davor zurückschreckt, seine Beiträge dem Publikum auch ›zwangsweise‹ mit lautem Geschrei ›schmackhaft‹ zu machen (vgl. §19: ὅλως τυραννὶς τὸ πρᾶγμα ἔστω). βάδισμα οἷον τὸ ἐμόν Vgl. zum schlenkernden Gang des Rednerlehrers den Kommentar zu §11: διασεσαλευμένον τὸ βάδισμα (sowie zum männlichen Gang seines Konkurrenten §9: ἀνδρώδης τὸ βάδισμα). Der beeindruckende Effekt bestimmter Bewegungen sowie des Hin- und Herlaufens auf der Bühne wird (neben anderen hier aufgezählten Elementen wie der lauten Stimme, dem Gesang und der Kleidung) in Rh. Pr. 20 nochmals erwähnt: οἱ πολλοὶ δὲ τὸ σχῆμα καὶ φωνὴν καὶ βάδισμα καὶ περίπατον καὶ μέλος καὶ κρηπῖδα καὶ τὸ ἄττα σου ἐκεῖνο θαυμάσονται, [...].

§15: Voraussetzungen des Redners (Präliminarien/Prothesis)

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ταῦτα δὲ πάνυ ἀναγκαῖα καὶ μόνα ἔστιν ὅτε ἱκανά Die Aussage bildet das positive Gegenstück zur Formulierung ἀχρεῖα γὰρ καὶ ὑπεναντία τῷ πράγματι oben, wo traditionell gute Charaktereigenschaften, weil sie mit einer gewissen Zurückhaltung verbunden sind, abgelehnt werden, und unterstreicht ironisch, wie leicht die Verwandlung in einen Starsophisten sein kann. Lukian spottet an anderen Stellen über die leicht zu bewerkstelligende äusserliche Verwandlung in einen πεπαιδευμένος (meist in einen Philosophen), der danach von vielen als das wahrgenommen wird, was er zu sein vorgibt, obwohl er den Anforderungen (bei den Philosophen neben Bildung und Charakter v.a. hinsichtlich der mit ihrer Lehre in Einklang stehenden Lebensführung) keinesfalls genügt; vgl. z.B. Fug. 4 (die Philosophie beklagt sich über die Scheinphilosophen): εἰσίν τινες [...] τὸ μὲν σχῆμα καὶ βλέμμα καὶ βάδισμα ἡμῖν ὅμοιοι καὶ κατὰ τὰ αὐτὰ ἐσταλμένοι· [...] ὁ βίος δὲ παμμίαρος αὐτῶν, ἀμαθίας καὶ θράσους καὶ ἀσελγείας ἀνάπλεως, ὕβρις οὐ μικρὰ καθ’ ἡμῶν und Fug. 14 (zur Problematik der Einfachheit der Nachahmung einer Philosophengestalt mit Mantel, Ranzen, Stock und viel Geschrei – im Sinne eines Kynikers): τὰ δ’ ἡμέτερα πάνυ ῥᾷστα, ὡς οἶσθα, καὶ ἐς μίμησιν πρόχειρα – τὰ προφανῆ λέγω – καὶ οὐ πολλῆς τῆς πραγματείας δεῖ τριβώνιον περιβαλέσθαι καὶ πήραν ἐξαρτήσασθαι καὶ ξύλον ἐν τῇ χειρὶ ἔχειν καὶ βοᾶν [...].779 ἡ ἐσθὴς δὲ ἔστω εὐανθὴς ἢ λευκή, ἔργα τῆς Ταραντίνης ἐργασίας Damit ein Redner erfolgreich auftreten kann, bedarf er auch passender Kleidung und Accessoires (zu letzteren s.u.). Der Ratgeber hat sich in §§11–12 nicht über die Kleidung des Rednerlehrers geäussert, sondern nur generell über dessen effeminierte Gesamterscheinung; die nun folgende inhaltliche Differenzierung dieses σχῆμα passt zur hier vorliegenden detaillierteren Instruktion, wobei dem Schüler eine Art Einkaufsliste für Kleid und Schuhe mit jeweiligen Varianten ›diktiert‹ wird (ἡ ἐσθὴς δὲ ἔστω εὐανθὴς ἢ λευκή / ἡ κρηπὶς Ἀττικὴ γυναικεία [...] ἢ ἐμβὰς Σικυωνία). Doch auch der Rednerlehrer geht nach diesem Einschub sogleich wieder zur Wirkung des σχῆμα als Gesamterscheinung über (vgl. §16: σχήματος μὲν τὸ πρῶτον ἐπιμεληθῆναι χρὴ μάλιστα καὶ εὐμόρφου τῆς ἀναβολῆς).

779 »Es gibt welche [...], die in Gestalt, Blick und Gang gleich sind wie ich und ähnlich ausstaffiert. [...] Ihr abscheuliches Leben aber, voll von Unwissenheit, Verwegenheit und Zügellosigkeit, ist kein kleines Vergehen gegen mich.« / »Meine Charakteristika sind sehr leicht verfügbar, wie du weisst, und zur Nachahmung bereit – was das Äussere angeht, meine ich –, und es bedarf keines grossen Aufwandes, sich einen Mantel anzuziehen, einen Ranzen umzuhängen, einen Stock in der Hand zu halten und zu schreien [...].«

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5. Kommentar (§15)

Den richtigen Eindruck macht also vorab ein spezielles, durchsichtiges Kleid aus teurem Stoff, das entweder bunt geblümt oder weiss ist.780 Die Herkunft des Kleides aus Tarent spielt auf den Status dieser griechischen Kolonie der Magna Graecia als wichtige Handelsstadt an, aus der v.a. auch Kunsthandwerk wie Keramik, Goldschmiedekunst und Toreutik stammte, und impliziert wohl ein teures Gewand.781 Dass Tarent tatsächlich speziell mit effeminierter und durchsichtiger Kleidung verbunden worden ist, zeigen folgende Texte: Pollux 7,76 beschreibt das so genannte ταραντινίδιον als durchsichtiges Kleidungsstück und erklärt auch gleich, dass der Name daher komme, dass man dieses in Tarent trage, was er mit Weichlichkeit assoziiert (καὶ μὴν τό γε ταραντινίδιον διαφανές ἐστιν ἔσθημα, ὠνομασμένον ἀπὸ τῆς Ταραντίνων χρήσεως καὶ τρυφῆς; zum ταραντινίδιον als effeminiert bzw. von Frauen getragen vgl. auch Luk. Cal. 16 und Dial. Meretr. 7,2).782 Generell zu durchsichtiger Kleidung siehe das folgende Lemma. ὡς διαφαίνεσθαι τὸ σῶμα Dass der dünne Stoff des Kleides den Körper durchscheinen lassen soll, charakterisiert eine effeminierte Erscheinung (siehe dazu bereits oben). Zudem existiert auch ein Konnex zu luxuriöser Lebensweise, vgl. Diod. 37,2– 4 (Beschreibung des moralischen Niedergangs v.a. unter Roms Jugend durch teure Luxusprodukte): ἐτράπησαν γὰρ οἱ νέοι εἰς τρυφὴν καὶ ἀκο780 Beide Varianten sind offensichtlich mit Effeminiertheit konnotiert; für die weisse Farbe ist uns dies auch belegt, vgl. dazu Anm. 786. Vgl. auch den Scholienkommentar (p. 179 Rabe): εἶδος ἐνδύματος λεπτοῦ. 781 Zu Tarent vgl. DNP 12.1 s.v. Taras [2], Sp. 20–22. Luk. Adv. Ind. 8 führt uns Euangelos, einen Mann aus Tarent, bei einem Auftritt (musikalischer Agon) in extravagant-luxuriöser Kleidung vor. Dass die äussere Erscheinung der Sophisten ganz allgemein wichtig war, zeigen die Berichte bei Philostrat, z.B. über die Bewunderung der Athener für die Eleganz (τὸ εὔσχημον) des Alexander, dessen Kleidung und stattliche Erscheinung ein Gemurmel durch die Reihen gehen liess, noch bevor er zu sprechen begonnen hatte (VS 572) und über Hadrians Vorliebe für teure Kleidung und Edelsteine (VS 587). Ein weiteres Paradebeispiel für Luxus und Zurschaustellung von Reichtum ist Polemon (VS 532). Schmitz ([1997] 198) weist darauf hin, dass die Tatsache, dass Philostrat ohne weitere Erläuterung von einem δημηγορικὸν ἱμάτιον (»Mantel für Volksreden«, VS 619) spricht, zeige, dass »die Erwartungen des Publikums« bezüglich der Kleidung der auftretenden Sophisten »recht fest gewesen sein müssen«. Lukian spielt hier also mit Elementen, die zum Sophistenberuf gehören, er überzeichnet sie allerdings so stark, dass sie lächerlich werden. Der Rednerlehrer überschreitet mit seinen Empfehlungen eindeutig das Mass des guten Geschmacks, ganz abgesehen davon, dass durchsichtige Kleidung und Frauenschuhe nur zu einem Effeminierten passen (siehe dazu auch Anm. 786). Höchst ironisch ist auch, dass die Erscheinung – genau wie (schlechter) Charakter und (aufdringliche) Verhaltensweisen – an erster Stelle zu stehen kommt und so das mangelhafte Können ersetzt. 782 Vgl. weiter Socrat. Epist. 9,1, im Rahmen einer allgemeinen Darstellung von Luxus, Üppigkeit und Weichlichkeit: Κακοδαιμονοῦμεν, ὦ Ἀντίσθενες, οὐ μετρίως. πῶς γὰρ οὐ μέλλομεν κακοδαιμονεῖν, ὄντες παρὰ τυράννῳ καὶ ὁσημέραι ἐσθίοντες καὶ πίνοντες πολυτελέα καὶ ἀλειφόμενοί τινι τῶν εὐωδεστάτων μύρων καὶ σύροντες ἐσθῆτας μαλακὰς ἐκ Τάραντος;

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λασίαν [...]. [...] κατὰ τὴν ἀγορὰν ἐφόρουν ἐσθῆτας διαφόρους μὲν ταῖς μαλακότησι, διαφανεῖς δὲ κατὰ τὴν λεπτότητα, ταῖς γυναικείαις παρεμφερεῖς. Seneca verbindet in seinem von gender-Thematik durchdrungenen 114. Brief über schlechte Rhetorik die schlechten (= effeminierten) Redner mit dem Tragen einer toga perlucens (§21; vgl. zu diesem Brief bereits die einleitenden Bemerkungen zu §§9–10). Nicht zuletzt erinnert das Tragen eines durchsichtigen Kleides auch an die im Hellenismus und in der Kaiserzeit typischen Frauenstatuen, deren eng am Körper anliegende, hauchdünne Gewänder diesen durchscheinen lassen:783 Der Rednerlehrer empfiehlt demnach erotisierende Kleidung, welche auf den Hetärenvergleich (§12) und auf die nachfolgenden Instruktionen zum Privatleben (§23) zurück- bzw. vorverweist. ἡ κρηπὶς Ἀττικὴ γυναικεία, τὸ πολυσχιδές Die κρηπίς, lat. crepida, ae f., ist ein Lederschuh, der von Männern und Frauen getragen wurde, und in einfacher bis hin zu höchst luxuriöser Ausführung zu haben war;784 er glich einer Sandale, die allerdings bis über den Knöchel hochreichte und geschnürt wurde. Damit ist dieser Schuh eine Zwischenform von Sandale und Halbschuh, an dessen Sohlen sich Ösen befanden, durch welche die Riemen zur Verschnürung gezogen wurden (vgl. die Anekdote von Apelles und dem Schuster bei Plin. n.h. 35,85: feruntque reprehensum a sutore, quod in crepidis una pauciores intus fecisset ansas). Vorliegende Textstelle wird in RE 11 s.v. Krepis 2., Sp. 1712 erläutert: »Da das reiche Riemenwerk mit seinen Laschen und Schnürungen viele schmale Öffnungen zwischen sich frei liess, hiess die K. πολυσχιδές.« (vgl. auch den Scholienkommentar p. 179 Rabe: πολυσχιδὲς τὸ νῦν στρικτόν »das Vielgeschlitzte [ist heute] das Zusammengeschnürte«; wohl zu lat. stringere »anziehen, zusammenziehen, -schnüren«785). Durch die Attribute »weiblich« und »vielgeschlitzt« weist der Rednerlehrer das von Männern und Frauen getragene Schuhwerk dem Bereich der letzteren zu und illustriert damit zum effeminierten Sophisten passende, extravagante Schuhe.786

783

Zur Illustration vgl. im Appendix Abb. 3 sowie z.B. LIMC VIII.2, Venus 66 und 67. Vgl. dazu und zum Folgenden den Artikel in RE 11 s.v. Krepis 2., Sp. 1711f. 785 Vgl. LSJ s.v. στρικτός, ή, όν, = strigosus, Gloss.; 2. στρικτόν, τό, a narrow kind of shoe, Sch. Luc. Rh. Pr. 15; Latin word acc. to Suid. 786 Auch Pollux (7,85) erwähnt »geschlitztes« (σχιστός) Schuhwerk als teuer (πολυτελής) und weichlich (θρυπτικός); solches werde bisweilen auch λεπτοσχιδής genannt. Λευκαὶ κρηπῖδες als luxuriös-effeminiertes Schuhwerk erwähnt z.B. Athenaios Deipn. 12,522a (= Timaios FGrHist 566 fr. 44). In Anlehnung daran kann wohl auch die oben empfohlene weisse Farbe des Gewandes als effeminiert und extravagant gedeutet werden. 784

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5. Kommentar (§15)

In §20 werden die Schuhe genau wie die Empfehlungen bezüglich Stimme, Gang und Gesang nochmals aufgegriffen: οἱ πολλοὶ δὲ τὸ σχῆμα καὶ φωνὴν καὶ βάδισμα καὶ περίπατον καὶ μέλος καὶ κρηπῖδα καὶ τὸ ἄττα σου ἐκεῖνο θαυμάσονται, [...]. ἐμβὰς Σικυωνία πίλοις τοῖς λευκοῖς ἐπιπρέπουσα Die ἐμβάς ist ein weicher Filz-Stiefel, der ebenfalls geschnürt wurde und wohl aus dem Osten stammte,787 in Athen v.a. im Zusammenhang mit alten Männern oder Armen erwähnt (Ar. Pl. 759; Ec. 850).788 Doch genau wie die κρηπίς muss es auch die ἐμβάς in verschieden luxuriösen Ausführungen gegeben haben, und gerade die auf der Bühne getragenen ἐμβάδες waren wohl, falls sie nicht eine arme Figur ausstaffierten, kostbar in der Ausstattung.789 Lukian lässt den Rednerlehrer zusätzlich das offenbar auffällige Material nennen (vgl. ἐπιπρέπουσα »herausstechend, bemerkenswert durch etwas«), aus dem der Schuh gefertigt sein soll: weisser Filz (so Sommerbrodt [21878] 71; RE 5, Sp. 2482 fasst die Formulierung hingegen als Bezeichnung eines Filzfutters auf).790 Zur weissen Farbe vgl. bereits Anm. 786. Sikyon791 findet in verschiedenen Texten Erwähnung im Zusammenhang mit Schuhen allgemein, mehrfach allerdings wird explizit von Frauenschuhen gesprochen, so Luk. Dial. Meretr. 14,2 (Dorio listet seiner Hetäre Myrtale alle Geschenke auf, die er ihr gebracht hat, als erstes ein Paar Schuhe aus Sikyon, ὑποδήματα ἐκ Σικυῶνος) und Cic. De Orat. 1,231 (mit negativer Konnotation im Sinn von ›effeminiert‹: [...] si mihi calceos Sicyonios attulisses, non uterer, quamvis essent habiles atque apti ad pedem, quia non essent viriles [...]). Vgl. weiter Hesych s.v. σικυώνια· ὑποδήματα γυναικεῖα [Eintrag 627] und Athen. Deipn. 4,155c (mit Implikation des Ex787

Man vgl. Hdt. 1,195, wo die Schuhe der Babylonier mit den den Griechen bekannten boiotischen ἐμβάδες verglichen werden. 788 Siehe dazu und zum Folgenden ausführlich RE 5 s.v. Ἐμβάς, Sp. 2482–2485. 789 Vgl. RE 5, Sp. 2484. Zur ἐμβάς im Zusammenhang mit Schauspielerkleidung, insbesondere mit dem gewöhnlich als Kothurn bezeichneten Schuhwerk vgl. Pollux 4,115 und 7,85 mit expliziter Erwähnung der Ähnlichkeit zwischen den beiden Schuhtypen. Vgl. zur ἐμβάς als Schauspielerschuh auch Luk. Pseudol. 19 und AP 7,51. Vgl. weiter zur vorliegenden Stelle in Rh. Pr. Korenjak [2000] 54 Anm. 47: »[Es ist] nicht auszuschliessen, dass die Sophisten ähnlich wie die Schauspieler eine Art Kothurn tragen, um grösser und eindrucksvoller zu erscheinen.« 790 Die Scholiasten identifizieren den beschriebenen Schuh aufgrund dieser zusätzlichen Angabe als καλίγιον (Diminutivform zu lat. caliga »Stiefel, Halbstiefel«): ἐμβάδες δὲ τὰ ὑφ’ ἡμῶν καλίγια, καὶ δῆλον ἀφ’ ὧν πίλοις αὐτὴν ἐπιπρέπειν τοῖς λευκοῖς, ὃ οὐκ ἂν ἐπὶ ἄλλου γένοιτ’ ἂν ὑποδήματος (p. 179 Rabe). 791 Handelsstadt am korinthischen Golf, 26 km westlich von Korinth. Sikyon als geographischen (besonders fruchtbaren) Ort erwähnt Lukian noch in Ikaromen. 18 und Nav. 20 (τὸ Σικυώνιον πεδίον γεωργεῖν); im Zusammenhang mit Korinth in Tox. 22; weitere Erwähnungen in Dial. Mort. 15,1 und 20,12.

§15: Voraussetzungen des Redners (Präliminarien/Prothesis)

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travaganten); ohne zusätzliche Angabe Pollux 7,93 »sikyonische Schuhe« (τὰ δὲ Σικυώνια [sc. ὑποδήματα]), ebenso Stephan. Ethnica 569 (ὑποδήματα Σικυώνια). Was der Rednerlehrer in vorliegender Behandlung der äusserlichen Ausstaffierung im Gegensatz zum Ratgeber nicht erwähnt, sind Merkmale wie besondere Sorgfalt bezüglich der Haare oder Parfumgebrauch (vgl. §§11– 12): So treten die beiden Figuren in einen Dialog, in welchem die karikierenden Aussagen der ersten Figur792 über die zweite von dieser nicht so übernommen werden können und sollen: Sie selbst betont allein die positive Eleganz ihrer Effeminiertheit. ἀκόλουθοι πολλοὶ Zu den zahlreichen Begleitern, die der Sophist zu seinem Auftritt mitbringen soll, damit sie ihm applaudieren und die Stimmung in seinem Interesse anheizen (im Fachjargon werden sie ›Claque‹ genannt), vgl. den Kommentar zu §21. Da solche Begleiter auf der Basis einer gewissen Gegenleistung angeworben werden (vgl. §21: sie sind Parasiten), müssen wir uns den Schüler wohl als jungen Vertreter der Oberschicht vorstellen, der über ein gewisses finanzielles Polster verfügt (vgl. dazu Luk. Adv. Ind.). βιβλίον Das Buch als ständiger Begleiter dient dazu, Bildung und Wissbegierde zu demonstrieren, und damit gleichzeitig die ἀμαθία (s.o.) zu übertünchen. Zur Ausstaffierung der Scheingebildeten mit einem Buch vgl. Adv. Ind. (eine Schrift, die ihren Spott hauptsächlich daraus gewinnt; vgl. auch die Einleitung 2.2) und den eröffnenden Satz des Lexiphanes (der ›Entlarver‹ Lykinos spricht): Λεξιφάνης ὁ καλὸς μετὰ βιβλίου; Ein Buch kann aber auch als Kennzeichen echter Gebildeter (πεπαιδευμένοι) erscheinen, z.B. in Im. 9 (über Panthea): βιβλίον ἐν ταῖν χεροῖν εἶχεν [...].

§§16–17: Vokabular und literarische Vorbilder Die Grundausstattung (§15) im Gepäck, beginnt nun die eigentliche Unterweisung bei einem Kernthema der zeitgenössischen Sophistik, dem attizistischen Sprachgebrauch (§16) bzw. der generell möglichst beeindruckenden Verwendung von Vokabular (§17: archaisierendes Vokabular und unge792 Vgl. beispielsweise das schüttere Haar des Rednerlehrers; siehe dazu den einleitenden Kommentar zu §§11–12 und §12 sowie §11: πάνσοφόν τινα καὶ πάγκαλον ἄνδρα.

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5. Kommentar (§§16–17)

wöhnliche Neubildungen). Vgl. dazu, insbesondere zum historischen Umfeld, die Einleitung 2.1 und 2.2 (zu Rh. Pr. bes. am Anfang). Die Konzentration auf das Vokabular – und damit auch auf ›erlaubte‹ und ›unerlaubte‹ Ausdrücke – greift einen zeitgenössischen Diskurs der verschiedenen attizistischen Richtungen auf, der sich exakt um das Thema der richtigen Wortwahl drehte. Dies wird uns in den im zweiten Jahrhundert florierenden attizistischen Wörterbüchern bezeugt, die sich v.a. mit den Möglichkeiten und Grenzen der Repristinisierung des Vokabulars, also dem Attizisieren der Sprache, befassen.793 Jeder Sophist, der etwas auf sich hält, muss in diesem Diskurs Position beziehen; der Rednerlehrer bietet dazu möglichst einfach handhabbare Tricks an. Der Diskurs bewirkt einerseits, dass sich die Gebildeten und insbesondere die Sophisten im Rahmen ihrer Auftritte voneinander abzugrenzen bzw. einander in ihrem Detailwissen über attizistisches Vokabular zu übertreffen suchen, andererseits aber auch, dass sich die Gebildeten einen gemeinsamen Sprachcode schaffen, der auf kanonischer Literatur794 beruht und durch den sie sich als Gruppe von den Ungebildeten absetzen.795 Lukian thematisiert in der Schrift Lexiphanes auf humorvolle Weise den archaisierenden Hyperattizismus des Protagonisten Lexiphanes, eines Scheinliteraten, und kommt dabei auch auf Standardattizismen zu sprechen, so dass die Schrift eine interessante und erhellende Parallele zur Lehre über den Vokabulargebrauch in Rh. Pr. 16–17 darstellt.796 Aus den im Kommentar angegebenen Parallelstellen wird deutlich, dass auch die wohl theoretischste von Lukians Schriften zum Thema Sprach- und Literaturkritik, Πῶς δεῖ ἱστορίαν συγγράφειν (Hist. Conscr.), für den vorliegenden Text erhellend ist – gerade was die Thematik der Lexis von Prosatexten angeht. Auch wenn Hist. Conscr. sich primär mit der Gattung der Historiographie befasst, was der Autor selbst betont,797 sind dennoch viele Bemerkungen über die Historiographie hinaus gültig, sei es aufgrund des allgemeinen Charakters

793 Vgl. Schmitz [1997] 72–75. Zum Attizismus allgemein vgl. Dihle [1992] und [1977]; Gelzer [1979]; Erbse [1950]. Weiter noch immer grundlegend Schmid [1887–1897]. Der sprachliche Attizismus ist im grösseren Rahmen des Wiederauflebenlassens der klassischen Zeit zu sehen, welches sich auch inhaltlich niederschlägt (vgl. zu den Paradethemen §18 sowie Swain [1996] 65 und Bompaire [1994] 70–75). 794 Vgl. zum ›Bildungskanon‹ Anm. 264. 795 Vgl. zu diesem ›Doppelmechanismus‹ von Bildung bereits die Einleitung 2.2, bes. S. 91– 93. 796 Vgl. bes. den Kommentar zu §16: τὸ ἄττα καὶ κᾆτα καὶ μῶν κτλ. Zur Schrift Lexiphanes siehe auch Weissenberger [1996] und Hall [1981] 279–285. 797 So setzt er beispielsweise in §6 die Literaturgattungen Enkomion und Historiographie klar voneinander ab und diskutiert in §§43–45 Sprachstil und Wortwahl des Historikers in Abgrenzung zum Rhetoriker und zum Poeten.

§16: Attizistisches Vokabular

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der Aussagen, sei es, indem sie sich per analogiam auf andere Gattungen übertragen lassen.798 Eng verbunden mit der Thematik des Vokabulars sind die literarischen Vorbilder, war es doch der gängige Weg zum attizistischen Sprechen, sich durch das Studium der klassischen Autoren die ›alte‹ Sprachform anzueignen, und genauso lag eine Möglichkeit der gegenseitigen Diskreditierung darin, das Vokabular eines Konkurrenten als klassisch nicht belegt anzugreifen.799 Auf diese Abläufe nimmt der Rednerlehrer Bezug und bietet eine Lösung an, die das (anstrengende) Studium der klassischen Autoren umgeht (vgl. §17: πρόχειρον εὐθὺς ὄνομα οὔτε ὄντος τινὸς οὔτε γενομένου ποτέ, ἢ ποιητοῦ ἢ συγγραφέως, ὃς οὕτω λέγειν ἐδοκίμαζε σοφὸς ἀνὴρ καὶ τὴν φωνὴν εἰς τὸ ἀκρότατον ἀπηκριβωμένος).

§16 Ταῦτα μὲν αὐτὸν χρὴ συντελεῖν Der sprachliche Rückbezug auf den Beginn von §15 (Λέξω δὲ πρῶτον μὲν ὁπόσα χρὴ αὐτὸν σε οἴκοθεν ἔχοντα ἥκειν ἐφόδια [...]) bildet eine kleine Ringkonstruktion. ὅρα καὶ ἄκουε Obwohl alles, was folgt, auf das Hören (ἀκούειν), nicht auf das Sehen (ὁρᾶν) konzentriert ist, lässt sich die Wortwahl des Lehrers an vorliegender Stelle aus dem Vorangegangenen erklären: Einerseits wird seine ganze Darlegung als Theaterstück inszeniert, das optisch mitverfolgt wird (vgl. §§11– 12), andererseits wird in §15 mit dem Partizip ἐπιδεικνύς auf ein aktives »Vorzeigen« der Lehre Bezug genommen, was bei Themen wie Gebrauch der Stimme, Gehweise und Kleidungsstil durchaus Sinn macht; die Anga-

798 Vgl. Weissenberger [1996] 32–34. Beispielsweise ist man sich in der Forschung darüber einig, dass Lukians Darlegung zum Bereich der ἀρεταὶ τῆς λέξεως über die Historiographie hinaus gültig ist, denn diese Forderungen werden überall dort verwirklicht, wo Literarisches (v.a. Prosa) nach den Gesetzen der Rhetorik verfasst wird (vgl. Weissenberger [1996] 32 Anm. 78). 799 Vgl. zur Widerspiegelung einer solchen Sprachdebatte (über die Vokabel ἀποφράς) Lukians Pseudologista und die an einem Sprachschnitzer aufgehängte Abhandlung über die möglichen Begrüssungsformeln mit χαίρειν, ὑγιαίνειν, εὖ πράττειν in Pro Lapsu inter salutandum. Vgl. weiter zum historischen Hintergrund Schmitz [1997] 112–127. Zu Lukians Auseinandersetzung mit den Anforderungen der attizistischen Sprache vgl. Swain [1996] 45–49 und Whitmarsh [2005] 45–47; zwei Arten von Schriften können unterschieden werden: Einerseits Attacken gegen den Sprachgebrauch anderer, wodurch sich der Autor in die Diskussion einbringt und positioniert (dazu gehören: Lex., Rh. Pr., Adv. Ind., Sol.), andererseits Verteidigungen gegen (tatsächliche oder fiktive) Angriffe auf seine eigene Sprache (Pro Lapsu, Pseudol.).

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5. Kommentar (§§16–17)

ben über die äusserliche Erscheinung in §15 betonen ganz generell stark die Optik. τοὺς νόμους Vgl. die Bemerkungen zu §14: ἕπου μόνον, ὦ μέλημα, οἷς ἂν εἴπω, καὶ ζήλου πάντα, καὶ τοὺς νόμους [...]. ἡ Ῥητορικὴ [...] σκορακιεῖ Wiederaufnahme der Bildes der personifizierten Rhetorik, die zum letzten Mal in §10 namentlich erwähnt worden ist (εἰ [...] τάχιστα ἐθέλεις τῇ Ῥητορικῇ συνεῖναι). Folgt der Schüler den Gesetzen des Rednerlehrers, ist ihm eine wohlwollende Aufnahme durch die Rhetorik gewiss, eine Aufnahme, die durch die Wahl des Vokabulars einer Mysterieninitiation angenähert wird (s.u.). Das Verb σκορακίζειν bedeutet wörtlich »zu den Raben [jagen]«, übertragen »schmähen«, und ist klassisch nur bei Ps.-Demosth. In epist. Philippi 11 belegt (vgl. dieselbe Stelle bei Anaximenes FGrHist 72 fr. 11b,62).800 Erklärt wird es von den Grammatikern folgendermassen: Die Wortbildung wird im Zusammenhang mit Kompositionen wie zum Beispiel ἐπουράνιος, ἀποθύμιος erwähnt bei [Ps.]-Herodian De Fig., Gr. Gr. vol. 3,2, p. 847 Lentz: σκορακίζειν· ἐς κόρακας, ἐσκορακίζειν καὶ ἀποβολῇ τῆς ἀρχῆς σκορακίζειν.801 Zur Bedeutung vgl. Zenob. (Paroemiographi Graeci vol. 1, p. 157, Nr. 90): σκορακίζειν· ἀντὶ τοῦ εἰς κόρακας πέμπειν, ἐκφαυλίζειν.802 Klassisch verbreitet ist jedoch der Schimpfausdruck ἐς κόρακας (»[scher dich] zu den Raben«), v.a. in der Alten Komödie, vgl. u.a. Ar. V. 458 (οὐχὶ σοῦσθ’; οὐκ ἐς κόρακας; οὐκ ἄπιτε;) und 835 (βάλλ’ ἐς κόρακας); Pax 500 (Ἄνδρες Μεγαρῆς, οὐκ ἐς κόρακας ἐρρήσετε;); Av. 990 (Οὐκ εἶ θύραζ’; Ἐς κόρακας); Th. 1079; Pl. 604 und 782. Die Verwendung eines klassisch ungebräuchlichen Verbs markiert die Sprechweise des Rednerlehrers als unklassisch, was angesichts seiner Lehre, die nur den oberflächlichsten Anschein der Klassik zu erzeugen empfiehlt, nicht erstaunt (s.u.: πεντεκαίδεκα ἢ οὐ πλείω γε τῶν εἴκοσιν Ἀττικὰ ὀνόματα). 800 Beinahe alle weiteren vorlukianischen Belege gehören in den Kontext jüdisch-christlicher Literatur, so häufig bei Philon von Alexandria (Vertreibung durch Gott [oft aus dem Paradies]), z.B. Leg. allegor. 1,96; De cherub. 2; De Abraham. 127. 801 »skorakizein: zu den Raben, eskorakizein und mit Schwund des Anfangs[buchstabens] skorakizein.« Fast identisch auch in Περὶ παθῶν, Gr. Gr. vol. 3,2, p. 185 Lentz. 802 »skorakizein: Anstelle von zu den Raben schicken, schmähen.« Vgl. auch die erweiterte Bedeutungsangabe bei Hesych s.v. σκορακίζει· εἰς ἔρημον πέμπει, καὶ ἀρᾶται, ἀπὸ τοῦ εἰς κόρακας πέμπειν, τὸ ἐκφαυλίζειν [Eintrag 1102].

§16: Attizistisches Vokabular

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ἀτέλεστόν τινα καὶ κατάσκοπον τῶν ἀπορρήτων Hier liegt eine Wiederaufnahme der Mysterienmetaphorik vor, diesmal allerdings im positiven Sinn:803 Bedurfte der Schüler zuvor keinerlei »Voreinweihung« (§14: εἰ μὴ προετελέσθης; προπαιδεία; ἀνίπτοις ποσίν), so wird er jetzt wie ein Eingeweihter von der Rhetorik in ihre Mysterien zugelassen und nicht wie irgendein Uneingeweihter (ἀτέλεστόν τινα) weggejagt. Das Adjektiv ἀπόρρητος verwendet Lukian insgesamt 20x, ca. die Hälfte der Belege weist wie hier eine explizite oder implizite Bezugnahme auf die Mysterien auf.804 Dass ἀπόρρητος auch in ganz allgemeinem Sinn die Bedeutung »unsagbar« hat, zeigen zwei Bedeutungsnuancen bei Lukian, die beide an vorliegender Stelle ebenfalls anklingen, so dass eine dreifache Lesart des Adjektivs möglich ist: Einerseits wird ἀπόρρητος auf »unsagbare« Taten angewendet, d.h. auf moralisch schlechtes Verhalten der Opfer der Satiren – meist gepaart mit Unbildung (Adv. Ind. 23: τὰ τῆς νυκτὸς ἀπόρρητα; Pseudol. 17: κίναιδον καὶ ἀπόρρητα ποιοῦντα; vgl. dazu die Darstellung des Privatlebens in Rh. Pr. 23–25: Der Rednerlehrer ist kein Spion der ἀπόρρητα, sondern übt sie selbst aus). Andererseits findet sich die Verwendung in der Bedeutung von veraltetem und obskurem Vokabular, in welchem sich der Rednerlehrer bestens auskennt, was er mit einer Reihe von Beispielen beweist (Rh. Pr. 17: ἀπόρρητα καὶ ξένα ῥήματα; Hist. Conscr. 44: ἀπορρήτοις καὶ ἔξω τοῦ πάτου ὀνόμασι). Vgl. zur Bedeutung »unsagbar, zu verschweigen« auch Pollux 4,128; 5,146; 6,209. Die Kombination mit dem Substantiv κατάσκοπος (»Spion«) findet sich ausserhalb Lukians v.a. in politischem Kontext, indem Spione bei den Feinden Geheimnisse bzw. geheime Pläne (ἀπόρρητα) in Erfahrung bringen und ihren Auftraggebern melden (vgl. Strab. 14,1,32; Polyainos Strateg. 8,22,1; Prokop. 1,21,13).805

803 Vgl. dazu, speziell zur Parodie der Mysterien und zu diesen auf den ersten Blick widersprüchlichen Angaben, den Kommentar zu §14: εἰ μὴ προετελέσθης ἐκεῖνα τὰ πρὸ τῆς ῥητορικῆς [...] προπαιδεία. 804 Vgl. z.B. Pisc. 33 (eingeweihte Scheinphilosophen, μεμυημένοι, welche die Geheimnisse, ἀπόρρητα, der ›Mysterien‹ der Philosophie ausplaudern, werden von Parrhesiades entlarvt); Menipp. 2 und Nav. 11 (Gespräch unter Freunden: der eine scheut sich, Geheimes, ἀπόρρητα, zu erzählen, während der andere entgegenhält, dass er ebenfalls ein Eingeweihter sei [μεμυημένος, ἐτελέσθημεν], und darum zu schweigen wisse); vgl. weiter mit Bezugnahme auf ›Geheimbünde‹ wie z.B. denjenigen des Pythagoras (so bereits Plat. Phd. 62b) oder der Christen: Gall. 5 und 18; Philopseud. 18; Peregr. 16. – Vgl. weiter zur Bezeichnung des Inhaltes der Mysterienlehren als ἀπόρρητα SIG 873 (Eleusis): τὰ ἀπόρρητα τῆς κατὰ τὰ μυστήρια τελετῆς und E. Rh. 943f.: [...] μυστηρίων τε τῶν ἀπορρήτων φανὰς / ἔδειξεν Ὀρφεύς, [...]. Zum Schweigegebot in den Mysterien siehe Riedweg [1987] 80–83; 101; 10f. (zu möglichen Inhalten der ἀπόρρητα). 805 Zur Bedeutung von κατάσκοππος »Spion« vgl. bereits Hdt. 1,100,2; 112,1; Thuk. 6,63,3. Zur Bedeutung des Neutrums τὰ ἀπόρρητα als »Staatsgeheimnis« vgl. Hdt. 9,94,1.

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5. Kommentar (§§16–17)

Die Figur eines κατάσκοπος ist auch im Drama von Bedeutung (z.B. E. Rh. 129, 140, 505 etc.; Ba. 838ff.: Pentheus’ verhängnisvolle Spionage in Verkleidung einer Mänade, vgl. v.a. 912–917), und der einzige Aristophanesbeleg in den Thesmophoriazusen könnte hier angesichts des vorangegangenen Agathon-Vergleichs (vgl. §11), der dieses Stück bereits aufgerufen hat, relevant sein: Der »Verwandte« (κηδεστής), der sich in Euripides’ Auftrag am Thesmophorienfest einschleicht, um die Pläne der Frauen auszuspionieren, wird entdeckt, seine Frauenverkleidung entlarvt:806 Das wird dem (ebenfalls in effeminierter Aufmachung erscheinenden) Schüler aufgrund der bereitwilligen Aufnahme durch die Rhetorik nicht passieren – zumindest gemäss der Behauptung des Rednerlehrers. σχήματος [...] εὐμόρφου τῆς ἀναβολῆς Mit der Nennung des Kernbegriffs σχῆμα zur zusammenfassenden Bezeichnung der äusseren Gestalt greift der Rednerlehrer die vorangegangenen Ausführungen nochmals auf (vgl. v.a. §15; auch §11, wo der Ratgeber das Äussere des Rednerlehrers beschreibt), um zu markieren, dass nun eine neue Stufe der Unterweisung (attisches Vokabular) folgt (vgl. auch den Kommentar zu §15: ἐφόδια [...] ἐπισιτίσασθαι und ταῦτα δὲ πάνυ ἀναγκαῖα καὶ μόνα ἔστιν ὅτε ἱκανά). Das Substantiv ἀναβολή bezeichnet im Zusammenhang mit Kleidung wörtlich »etwas, was über [die Schulter] geworfen wird«, einen Umhang oder Mantel (vgl. z.B. Plat. Prt. 342c). Lukian verwendet das Wort insgesamt 12x; ein grosser Teil der Belege bezieht sich dabei (spöttisch) auf die äussere Ausstattung von Scheinphilosophen bzw. Scheingebildeten allgemein.807 Daher ist diesen Belegen die Bedeutung »Philosophenmantel« inhärent, was an vorliegender Stelle durchaus anklingt: Der Schüler kann sich mit der passenden Verkleidung, entsprechend dem Philosophenmantel, der hier aber eher einem Frauenkleid gleichen dürfte, das durchsichtig und enganliegend ist (s.o. §15), sofort den Anschein eines Gelehrten bzw. Starsophisten geben.808 Die wörtliche Bedeutung ist in Pisc. 12 ersichtlich, wo Parrhesiades das kurtisanenhafte Auftreten der Scheinphilosophien rügt, die sich übermässig um den Faltenwurf ihres Gewandes kümmern (τοῦ ἱματίου τὴν ἀναβολήν). Die ἀναβολή bil806 Vgl. Ar. Th. 584–588: Κλ. Εὐριπίδην φάσ’ ἄνδρα κηδεστήν τινα / αὑτοῦ γέροντα δεῦρ’ ἀναπέμψαι τήμερον. / Χο. Πρὸς ποῖον ἔργον ἢ τίνος γνώμης χάριν; / Κλ. Ἵν’ ἅττα βουλεύοισθε καὶ μέλλοιτε δρᾶν, / κεῖνος εἴη τῶν λόγων κατάσκοπος. 807 Vgl. Tim. 54; Pisc. 12, 13, 31; Somn. 6; Hermot. 18, 19. In den restlichen Belegen wird das Wort allgemein-neutral im Sinn von »Kleidung, Gewand« verwendet (Gall. 10; Philopseud. 18; Im. 6); einmal findet sich die Bedeutung »Aufschub; Verzögerung« (Hermot. 56). 808 Gehäuft finden sich Parallelen zwischen lukianischem Philosophenspott und Rh. Pr. v.a. in den Passagen über das Privatleben des Sophisten §§23–25 (vgl. den detaillierten Kommentar).

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det oft einen der (meist drei) Bestandteile der äusseren Erscheinung, mittels derer Lukian die Scheingebildeten charakterisiert, vgl. Pisc. 13 und 31 (Parrhesiades klagt über die Ununterscheidbarkeit der scheinbaren und der echten Philosophen): πολλὰς ὁμοίας ὁρῶ τό γε σχῆμα καὶ τὸ βάδισμα καὶ τὴν ἀναβολήν / εὖ μάλα ἐοικότας ἀγαθοῖς ἀνδράσι, τὸ γένειον λέγω καὶ τὸ βάδισμα καὶ τὴν ἀναβολήν. Dabei nennt die erste Textstelle wie in Rh. Pr. 16 neben dem σχῆμα (allgemeine äusserliche Erscheinung) zusätzlich die ἀναβολή (Kleidung im Speziellen). In allen drei Stellen wird zudem der Gang betont (s.o. §15). Bringen also die zum Vergleich herangezogenen Texte mit der Diskussion der Äusserlichkeiten ein Scheinwissen (und dessen Entlarvung) in Verbindung, wird dem Schüler vom Rednerlehrer ausgerechnet ans Herz gelegt, grosse Sorgfalt auf die äussere Ausstaffierung zu verwenden – eine Empfehlung, die vor dem Hintergrund der Paralleltexte und überhaupt für den gebildeten Rezipienten ironisch wirkt:809 Mag auch die äussere Erscheinung der Sophisten durchaus eine Rolle spielen, so liegt der Kern ihres Auftritts für den πεπαιδευμένος dennoch unbestritten in Inhalt und Stil dessen, was sie vortragen. Das Adjektiv εὔμορφος verwendet Lukian nur hier als Attribut zu einem Kleidungsstück;810 zur ἀναβολή tritt sonst bei ihm das Beiwort κόσμιος (in spöttischem und ernstem Kontext), vgl. Somn. 6; Im. 6; Hermot. 19. Während κόσμιος ebenfalls die Vorstellung einer auftrittstauglichen, vielleicht extravaganten Kleidung erweckt, impliziert εὔμορφος zusätzlich ein körper- oder figurbetonendes Kleidungsstück, wie es für ein durchsichtiges Frauenkleid passend scheint (s.o. §15). Eine weitere Implikation des gewählten Adjektivs könnte in seiner Bedeutung im Zusammenhang mit der rhetorischen Theorie liegen: εὐμορφία und εὔμορφος bezeichnen nämlich bei Dionysios von Halikarnass wiederholt die formale Schönheit von Sprache, einerseits auf der Ebene des zusammenhängenden Textes, der wohlgestaltet oder -strukturiert ist (λέξις εὔμορφος, φράσις εὔμορφος; vgl. Dem. 18,2; Comp. Verb. 3,16), andererseits auf der Ebene der Einzelwörter (ὀνόματα; vgl. Comp. Verb. 16,18 und 25,31), wobei besonders der Klang der einzelnen zueinander gefügten Wörter von Bedeutung ist. Auch Lukian selbst überträgt das Attribut εὔμορφος von Gestalten auf Sprache: In Prom. Es thematisiert er die »Wohlgestalt« von neugeschaffenen Literaturgenera, die hybriden Wesen ähnlich sind und die εὐμορφία nur durch die kunstvolle, harmonische Zusammenfügung 809

Vgl. zur Ironisierung allgemein die Einleitung 1.6, S. 64f. Lukian benutzt das Adjektiv (und auch das Substantiv) häufig, die adjektivischen Belege neben Rh. Pr. (insgesamt 18) beziehen sich alle auf die Schönheit von Menschen (bzw. von Göttern, Heroen oder allegorischen Figuren), z.B. Catapl. 14 und 26; Tim. 23 und 46; Merc. Cond. 29 und 42; Pr. Im. 20; Salt. 81; Dial. Mort. 30,1f. 810

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5. Kommentar (§§16–17)

oder Mischung erreichen können (vgl. §5: ἡ μῖξις ἐναρμόνιος καὶ κατὰ τὸ σύμμετρον).811 Wenn der Rednerlehrer seinem Schüler also ein »formschönes« Gewand empfiehlt und damit allein auf dessen Äusseres abzielt, während gemäss der Konvention doch auch (oder vielmehr vor allem) dessen Rede eine schön gefügte Struktur benötigte,812 liegt einmal mehr eine Ironie vor, die vom gebildeten Rezipienten, der die Bedeutung von rhetorischer εὐμορφία kennt, entlarvt werden kann. πεντεκαίδεκα ἢ οὐ πλείω γε τῶν εἴκοσιν Ἀττικὰ ὀνόματα Die erste sprachliche Empfehlung des Rednerlehrers bezieht sich auf attisches Vokabular (Ἀττικὰ ὀνόματα) und setzt sich dadurch (wenn auch in absolut despektierlicher Weise) mit der Notwendigkeit auseinander, dass in jeder Deklamation zur Zeit der Zweiten Sophistik eine artifizielle Sprachform zur Verwendung kommen musste, die sich die Autoren des 5. und 4. Jh.s v.Chr., insbesondere die attischen Redner, zum Stilvorbild nahm.813 Während das fliessende attizistische Sprechen viel Übung erfordert, schlägt der Rednerlehrer als leichten Weg vor, eine Reihe von attischen Standardvokabeln zusammenzustellen (ἐκλέγειν), sie auswendig zu lernen (ἐκμελετᾶν) und reichlich anzuwenden (καθάπερ τι ἥδυσμα ἐπίπαττε αὐτῶν). Der Effekt besteht also darin, dem geforderten Attizismus mit minimalem Aufwand nachzukommen,814 da die attischen Vokabeln wie Schlagwörter wirken, die den ungebildeteren Zuhörern die Rede sofort als attisch ausweisen; das restliche Vokabular der Rede wird allerdings vernachlässigt (s.u.), was gebildeten Zuhörern auffallen muss, so dass sie den Schwindel durchschauen dürften.815 Parallel zu den die äusserliche Erscheinung betreffenden Empfehlungen wird auch hier eine oberflächliche Kopie dessen angestrebt, was einen Sophisten normalerweise auszeichnet, also ein Scheinsophist 811 Vgl. zu Prom. Es die Einleitung 1.7.2: μῦθοι und Lügen: Neuheit versus Tradition und die rhetorischen Errungenschaften Lukians. 812 Das Bemühen um zueinander passendes Vokabular wird am Ende von Rh. Pr. 16, das Bemühen um eine schöne Struktur im Sinne inhaltlich guter Stoffgliederung (τάξις) in Rh. Pr. 18 explizit abgelehnt. 813 Vgl. dazu Schmitz [1997] 67–83 und die einleitenden Bemerkungen zu §§16–17 sowie die Einleitung 2.1. 814 Eine Zusammenstellung entsprechender Vokabeln ist leicht aus einem attizistischen Lexikon zu gewinnen; ebenso verhält es sich mit dem seltenen, ungebräuchlichen Vokabular (vgl. §17); etwas mehr Kreativität erfordern die Neologismen (vgl. §17). Grundsätzlich ist, wie der Rednerlehrer ausdrücklich betont, ein Studium der klassischen Autoren nicht notwendig (vgl. den Kommentar zu §17: ὁ λῆρος Ἰσοκράτης ἢ ὁ χαρίτων ἄμοιρος Δημοσθένης ἢ ὁ ψυχρὸς Πλάτων und zu: τοὺς τῶν ὀλίγον πρὸ ἡμῶν λόγους). 815 Dass man allerdings die Gebildeten, welche die Tricks entlarven könnten, nicht zu fürchten braucht, versichert der Rednerlehrer in §20 (vgl. den Kommentar zu: ὑπ’ εὐγνωμοσύνης und zu: ὑπὸ φθόνου).

§16: Attizistisches Vokabular

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›herangezüchtet‹. Auf die Parallelen zur fachlichen Grundausstattung der bei Lukian verspotteten Scheinphilosophen (Beschimpfungen, Syllogismen u.ä.) ist bereits hingewiesen worden (s.o. zu §15: ἐφόδια [...] ἐπισιτίσασθαι und ἀχρεῖα γὰρ [...]).816 Das Thema Attizismus, welches natürlich schon vor Lukians Zeit präsent ist, hat eine witzige, Lukians Spott sehr ähnliche Behandlung in je einem Epigramm des Lukillios und des Cerealius gefunden (AP 11,142 und 144): Das eine nimmt die typisch attischen Wörter und Phrasen der Redner aufs Korn (dabei stimmen μῶν, ἄττα und δικασταὶ ἄνδρες überein mit Rh. Pr. 16 und 19), das andere erinnert daran, dass ein stilvoller und verständiger Vortrag nicht nur daraus bestehe, fünf attische Ausdrücke zu verwenden (οὐ τὸ λέγειν παράσημα καὶ Ἀττικὰ ῥήματα πέντε / εὐζήλως ἐστὶν καὶ φρονίμως μελετᾶν), sondern dass Sinn in den Sätzen stecken müsse (νοῦν ὑποκεῖσθαι δεῖ τοῖς γράμμασι).817 τὸ ἄττα καὶ κᾆτα καὶ μῶν καὶ ἁμηγέπῃ καὶ λῷστε καὶ τὰ τοιαῦτα Die ausgewählten Wörter entsprechen zur Hauptsache tatsächlich ›Standardattizismen‹: ἄττα (entspricht der Form τινά des Indefinitpronomens) ist bei Platon über 120x belegt, bei Demosthenes 8x; μῶν ist bei Platon über 80x belegt; κᾷτα scheint in der klassischen Prosa etwas weniger häufig zu sein (Platon 3 Belege; Demosthenes 3 Belege; häufig allerdings bei Aristophanes), ähnlich verhält es sich mit λῷστε (Platon 6 Belege; häufig im Drama: Aischylos, Euripides, Sophokles, Aristophanes) und ἁμηγέπῃ (auch: ἁμῇ γέ πῃ; Platon 9 Belege, Aristophanes 1 Beleg, häufiger seit Plutarch). Nicht zu allen diesen Wörtern finden wir Angaben in den attizistischen Lexika; zwei Bemerkungen des Moiris sind jedoch aufschlussreich (p. 203 und 190 Bekker): μῶν Ἀττικοί, μὴ ἄρα Ἕλληνες; ἁμηγέπη Ἀττικοί, ἁμωσγέπως Ἕλληνες. Die Bemerkungen, dass die »Attiker« bestimmte Vokabeln benutzten, die Hellenen (d.h. die griechische Koine sprechenden Zeitgenossen) sie jedoch nicht (mehr) oder in anderer Form verwenden, zei816

Die wichtigsten Textpassagen seien hier nochmals genannt: Fug. 13 (über das Vorgehen der Scheinphilosophen): [...] τόλμαν καὶ ἀμαθίαν καὶ ἀναισχυντίαν προσπαρακαλέσαντες, αἵπερ αὐτοῖς μάλιστα συναγωνίζονται, καὶ λοιδορίας καινὰς ἐκμελετήσαντες, ὡς πρόχειροι εἶεν καὶ ἀνὰ στόμα, ταύτας μόνας ξυμβολὰς ἔχοντες – ὁρᾷς ὁποῖα πρὸς φιλοσοφίαν ἐφόδια; – σχηματίζουσιν καὶ μετακοσμοῦσιν αὑτοὺς εὖ μάλα εἰκότως καὶ πρὸς ἐμέ [sc. τὴν Φιλοσοφίαν], [...] und Pisc. 41: πέντε δὲ συλλογισμοὺς ἐξ ἅπαντος· οὐ γὰρ θέμις ἄνευ τούτων εἶναι σοφόν. 817 Lukian selbst werden drei Epigramme zu rhetorischen Themen zugeschrieben (vgl. AP 11,274.435.436), welche namentlich genannte Redner bzw. σοφισταί und ihre Unwissenheit angreifen, und Ammian, ein Zeitgenosse Lukians, witzelt allgemein über die Unbildung der Redner (AP 11,146 [Thema Solözismen] und AP 11,152: Εἰ βούλει τὸν παῖδα διδάξαι ῥήτορα, Παῦλε, / ὡς οὗτοι πάντες, γράμματα μὴ μαθέτω.).

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5. Kommentar (§§16–17)

gen, dass die Wörter aus dem Gebrauch verschwunden sind und höchstens noch in attizisierender Sprache wiederbelegt werden.818 Das Wiederbeleben von altem Vokabular ist denn auch eine mit den Standardattizismen verbundene Empfehlung in Rh. Pr. (§17: μέτει δὲ ἀπόρρητα καὶ ξένα ῥήματα) bzw. ein damit verbundener spöttischer Vorwurf in Lex. 17 und 20 (s.u. zu Rh. Pr. 17). Was die Standardattizismen in Lex. angeht, so versucht der Arzt Sopolis den Scheinliteraten Lexiphanes mit einem Brechmittel zu heilen, durch das er sie ausspeien soll (Lex. 21): Ἄρξαι δὴ ἐμεῖν. βαβαί. πρῶτον τουτὶ τὸ μῶν, εἶτα μετ’ αὐτὸ ἐξελήλυθεν τὸ κᾆτα, εἶτα ἐπ’ αὐτοῖς τὸ ἦ δ’ ὅς καὶ ἁμηγέπῃ καὶ λῷστε καὶ δήπουθεν καὶ συνεχὲς τὸ ἄττα. Fünf der sieben genannten Vokabeln entsprechen denjenigen aus Rh. Pr. 16.819 Die typischen Attizismen, die hier verunglimpft werden, sind in der Diktion des Lexiphanes, der in §§2–15 sein eben fertig verfasstes Symposion vorträgt, mit Ausnahme von ἦ δ’ ὅς (13mal) bzw. ἦν δ’ ἐγώ (7mal) zwar selten bis gar nicht vertreten820 – er verfügt vielmehr über ein reichhaltiges attisches Vokabular, ist wie besessen davon, die jeweils seltensten Wörter aufzutreiben, und wird daher auch als Archaist ohne richtigen Geschmack gerügt (s.u. zu Rh. Pr. 17). Trotzdem liegt hier kein Widerspruch vor, denn der Kontext ist ausschlaggebend, wie Weissenberger ([1996] 83) zu Recht betont: »Sopolis spricht hier [...] eher etwas aus, was man generell einer bestimmten Sorte selbsternannter Attizisten zum Vorwurf machte, als dass seine Kritik gezielt auf Lexiph.’ Diktion gemünzt wäre. Genaues kann der Arzt auch gar nicht wissen, da er ja nicht Zeuge der Vorlesung aus dem Symposion geworden ist.« Die vorliegende Parallele in Rh. Pr. gibt uns weiteren Aufschluss darüber, worin der Vorwurf an die selbsternannten Sophisten besteht: Grundsätzlich ist gegen die aufgeführten Attizismen nichts einzuwenden, solange sie nicht in geschmackloser Häufung und ohne zum restlichen Vokabular und Inhalt zu passen benutzt werden. Ist das jedoch der Fall, dann wird derjenige entlarvt, der seine Bildung bloss vortäuscht; der Attizismus erscheint damit einmal mehr vor allem als Gegenstand einer Frage des Masses und des Blickwinkels.821 818 ἁμωσγέπως scheint im nachklassischen Griechisch tatsächlich häufig gewesen zu sein. Speziell viele Belege weist Plutarch auf (e.g. mor. 32f, 44f, 73e). 819 Vgl. zu weiteren Parallelen in der Formulierung Rh. Pr. 18, wo der Rednerlehrer an die zuvor gegebene Anweisung erinnert: ἐπὶ πᾶσι τὰ ὀλίγα ἐκεῖνα ὀνόματα ἐπιπολαζέτω καὶ ἐπανθείτω, καὶ συνεχὲς τὸ ἄττα καὶ τὸ δήπουθεν [...] (mit δήπουθεν findet sich hier eine weitere Vokabel der Aufzählung in Lex. 21). Ein drittes Mal verweist der Rednerlehrer auf die Form ἄττα in Rh. Pr. 20. 820 ἄττα verwendet Lexiphanes in seinem Vortrag einmal (§5), so dass συνεχὲς τὸ ἄττα bezogen auf seine Lesung blanke Übertreibung wäre; μῶν erscheint zweimal (§3, §12), ἁμηγέπῃ und κᾷτα je einmal (§10, §13), λῷστε verwendet er nie. 821 Vgl. dazu die Einleitung 2.1, v.a. S. 92f. sowie Anm. 622.

§16: Attizistisches Vokabular

315

Daher erstaunt es auch nicht, dass Lukian selbst keine der genannten Vokabeln vermeidet:822 λῷστε ist das einzige Wort, welches nur im kritischen Kontext von Rh. Pr. 16 und Lex. 21 vorkommt, ἄττα hingegen verwendet Lukian (ausserhalb der spöttisch-ironischen Belege von Rh. Pr. und Lex.) 9x, dabei 7x nicht direkt in Verbindung mit Sprachdebatten823 und 2x in Sol. 10, wo Lukian in der Rolle eines strengen Attizisten die Verwendung von ἄττα positiv bespricht, wobei der Vokabel aufgrund des Sprechers ein Hauch von Manieriertheit anhaftet. κᾷτα verwendet Lukian (neben Rh. Pr. und Lex. 13 und 21) 16x824, μῶν (neben Rh. Pr. und Lex. 3 und 12) 13x825, ἁμηγέπῃ erscheint neben Rh. Pr. und Lex. 21 einmal in Dips. 2 (Sprecher ist Lukian). Die einzige dieser Vokabeln, die auch der Rednerlehrer in seiner eigenen Diktion, und zwar als allererstes Wort seiner Rede, verwendet, ist μῶν (§13: Μῶν σέ, ὦ ἀγαθέ, ὁ Πύθιος ἔπεμψε [...]). Damit weist er sich zu Beginn als Attizist aus, lässt aber im Weiteren keine speziell attische Note mehr erkennen bzw. exemplifiziert das Einstreuen der empfohlenen Vokabeln selbst nicht vor.826 Dieser Befund mag auf den ersten Blick erstaunen, hätte doch eine Reihe missplazierter Attizismen die Komik der Schrift unterstützen können, er lässt sich aber vielleicht wie folgt erklären: Der Lehrer hält erklärtermassen nichts vom Attizismus und von den klassischen Autoren (§§9–10, §17), er weiss jedoch genau, dass ein Sophist, will er erfolgreich auftreten, gezwungen ist, ein Minimum an ›attizistischem Flair‹ zu erzeugen. So befolgt er die Regeln des Attizismus gegen aussen, sozusagen im Ernstfall, wo sie dem Ansehen nützlich sind, im ›privaten‹ Gespräch mit seinem Schüler aber – dass wir sein Schauspiel mitverfolgen, ist ihm ja nicht bewusst – braucht er seine Tricks nicht anzuwenden und kann auf den 822

Vgl. dazu Weissenberger [1996] 88. Nigr. 7; Tim. 28; Bis Acc. 2; Im. 13; Hes. 6; Hermot. 31; Prom. Es 2. 824 Nigr. 8; Char. 2 und 8; Vit. Auct. 3; Pisc. 8; Bis Acc. 21; Sacr. 5; Paras. 2; Anach. 35; Menipp. 1; Luct. 18; Pr. Im. 11; Sat. 12; Ap. 9; Dial. Mort. 25,4; Dial. Deor. 8,5. 825 J. Trag. 3; Gall. 7; Tim. 57; Pisc. 52; Philopseud. 18; Deor. Conc. 6; Scyth. 4; Nav. 11; Dial. Mort. 19,2; Dial. Mar. 15,1; Dial. Deor. 9,1; 12,1; Podag. 76. 826 Da μῶν ausser im platonischen vor allem im aristophanischen Vokabular gehäuft auftritt (keine Belege finden sich bei den kanonischen attischen Autoren wie Demosthenes, Aischines, Isokrates, Lysias, Thukydides, Xenophon, auch nicht bei Attizisten wie Aristeides oder Dion von Prusa), könnte hier eventuell weniger eine attizistische, sondern vielmehr eine komische Note des Beginns der Rede des Rednerlehrers, der ja als Menander’sche Figur auftreten soll (vgl. §12), intendiert sein. Damit erübrigte sich die Frage nach dem Fehlen weiterer eingestreuter Attizismen bzw. der Verwendung nur der einen typischen Vokabel μῶν. Vgl. u.a. Ar. Ach. 329 und 418; Eq. 185 und 786; Nu. 315; V. 396; Av. 109, 1014, 1421; Th. 31 und 33. – Unterstützt wird diese Annahme erstens dadurch, dass Lukian selbst diese Fragepartikel vor allem in tragisch (J. Trag. 3) oder komödiantisch stilisierten Dialogen (Pisc. 52; Deor. Conc. 6; Dial. Mort. 19,2; Dial. Mar. 15,1; Dial. Deor. 9,1 und 12,1) gebraucht, ebenso bei kolloquialem Stil (Philopseud. 18; Lex. 3 und 12; Scyth. 4; Nav. 11), und zweitens dadurch, dass der Rednerlehrer vor allem in §§23f. gehäuft Komikerausdrücke verwendet (siehe den Kommentar dazu). 823

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5. Kommentar (§§16–17)

besonders attizisierenden Klang der Sprache verzichten. Die Tatsache, dass der Rednerlehrer seine eigenen sprachlichen Empfehlungen nicht befolgt, sondern seine Rede in durchaus korrekter, ›gemässigter‹ attischer Sprache hält, gibt auch einen Hinweis auf die Ambivalenz seiner Figur und Lehre und ist in Einklang mit der möglichen Interpretation sowohl von Ratgeber als auch von Rednerlehrer als närrische Figuren (vgl. S. 63f.). καθάπερ τι ἥδυσμα ἐπίπαττε αὐτῶν Das Substantiv ἥδυσμα ist bei Lukian nur hier belegt, und zwar in übertragenem Sinn (s.u.). Es bedeutet »Gewürz, Würze« (vgl. LSJ s.v.: relish, seasoning, sauce; in pl.: spices, aromatics) und ist dabei nicht – wie man aufgrund des Adjektivs ἡδύς denken könnte – auf süssen Geschmack eingeschränkt.827 Vielmehr bezeichnet ἥδυσμα verschiedenste Gewürze in getrockneter Form (z.B. Pfeffer, Kardamom, Koriander, Zwiebeln)828 sowie eine Art Sauce (ein Öl-, Essig- oder Wassergemisch), worin Speisen eingelegt oder eingetunkt wurden;829 oft wird als eines dieser ἡδύσματα die in der Antike sehr verbreitete Fischsauce garum (gr. τὸ γάρον oder ὁ γάρος) genannt.830 Das Ein- bzw. Darüberstreuen (ἐπιπάττειν) der Würze, wie der Rednerlehrer es nennt, kommt ebenfalls aus dem kulinarischen Kontext und findet sich z.B. in Athen. Deipn. 3,117d (Beschreibung des Einpökelns von Fischen [= Alexis PCG 2, fr. 191,7]): εἶτ’ εἰς λοπάδιον ὑποπάσας ἡδύσματα ἐνθεὶς τὸ τέμαχος [...].831 Die übertragene Verwendung von ἥδυσμα bezogen auf Sprache, die durch den Gebrauch bestimmter Wörter gewürzt wird, ja erst richtigen Geschmack bekommt, aber auch ›überwürzt‹ werden kann, findet sich bereits bei Arist. Rh. 1406a: Die Diktion des Redners und Sophisten Alkidamas

827 Vgl. die synonyme Verwendung von ἄρτυμα (zu ἀρτύω »zusammenfügen, herrichten«, bei Speisen: »würzen«) und ἥδυσμα bei Pollux 6,13 und 6,182 sowie die Definition der Kochkunst als die den Speisen Würze gebende Kunst bei Plat. R. 332c–d: Ἡ δὲ τίσιν τί ἀποδιδοῦσα ὀφειλόμενον καὶ προσῆκον τέχνη μαγειρικὴ καλεῖται; Ἡ τοῖς ὄψοις τὰ ἡδύσματα. – Etwas irreführend daher Weissenbergers ([1996] 88) Wiedergabe der Passage: »[...] in jeder Rede trage davon reichlich auf, wie einen Zuckerguss.« Näher am griechischen Text bleibt Whitmarsh [2005] 45: »[...] and drizzle them on every speech, like a sauce.« 828 Vgl. Ar. Eq. 678; V. 496, 499 und Pollux 6,65.66.67.68. 829 Vgl. Pollux 6,68 und 85 und Athen. Deipn. 2,67a und 67c (Pfeffer und Essig). 830 Vgl. Pollux 6,65 (= Soph. fr. 606 Radt): τὰ δ’ ἡδύσματα ἔλαιον, ὄξος ὡς Εὔπολις [...]. τὸ δ’ ὄξος καὶ ἦδος ἐκάλουν. γάρος, ὡς Σοφοκλῆς »οὐδ’ ἡ τάλαινα δοῦσα ταριχηροῦ γάρου«. Weiter Athen. Deipn. 1,5f–6a: Κλέαρχος δέ φησιν Φιλόξενον [...] περιέρχεσθαι τὰς οἰκίας, ἀκολουθούντων αὐτῷ παίδων καὶ φερόντων ἔλαιον οἶνον γάρον ὄξος καὶ ἄλλα ἡδύσματα. 831 Vgl. auch Athen. Deipn. 6,268c (ψαιστὰ παρῆν ἡδυσματίοις κατάπαστα) und 7,316e (περιπάσας ἡδύσμασι).

§16: Attizistisches Vokabular

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wird wegen ihrer ψυχρότης (»Kälte«)832 getadelt, welche in übertriebenem Epithetagebrauch begründet liege. Ausgedrückt wird das durch die Kochmetaphorik und ein hübsches Wortspiel: Schmückende Epitheta gebraucht Alkidamas nicht als Würze (ἡδύσματι), sondern gleich als Hauptgericht (ἐδέσματι).833 Eine weitere enge Parallele weist die (pseudo)lukianische Schrift Demosth. Enc.834 auf: Zwei Sprecher debattieren über die Unterschiede einer Lobrede auf Homer und auf Demosthenes. Letzterer bietet aufgrund seines berühmten Lebens, über das so viel bekannt ist, den einfacheren Stoff, der nur noch in Worte gefasst werden muss – wie ein Essen, das fertig zubereitet vor einem liegt und nur noch der Würze bedarf (§10): τὸ δὲ σόν [sc. ἐγκώμιον], ἔφη, κατὰ χειρὸς ἐπίδρομόν τε καὶ λεῖον ἐφ’ ὡρισμένοις τε καὶ γνωρίμοις μόνον ‹τῶν› ὀνομάτων, οἷον ὄψον ἕτοιμον ἡδυσμάτων παρὰ σοῦ δεόμενον.835 Auch im Bereich der Malerei findet sich ἥδυσμα in der Bedeutung von schmückendem Beiwerk bzw. »Würze« eines Sujets, vgl. Philostrat Imag. 1,12,6 (über ein Bild des Bosporus): Σμικρὸν γὰρ ἀκούει περὶ αὐτῶν [sc. τῶν ἁλιέων] καὶ φανεῖταί σοι μᾶλλον ἡδύσματα τῆς γραφῆς [...].836 An vorliegender Stelle in Rh. Pr. dient das Heranziehen der (trivialen) kulinarischen Metapher zur Herabsetzung der Rhetorik als eine (komplexe) Kunst, wie sie die ›Alten‹ verstehen.837 μελέτω δὲ μηδὲν τῶν ἄλλων, εἰ ἀνόμοια τούτοις καὶ ἀσύμφυλα καὶ ἀπῳδά Der Begriff τῶν ἄλλων umfasst im vorliegenden Kontext grundsätzlich alles, was bei der Auswahl und Zusammenstellung der Wörter in der rhetorischen Theorie konventionellerweise zu beachten ist, wird aber durch den Konditionalsatz sofort näher erläutert; verbindend und heraushebend wirkt 832 Vgl. Lausberg [31990] 518, §1076: »Wird das aptum zwischen res und verba oder zwischen der literarischen Gattung und den verba in der Weise durchbrochen, dass die verba höher hinauswollen, als es der ausgedrückten res oder der literarischen Gattung entspricht, so liegt der Fehler des ψυχρόν (Ar. rhet. 3,3,1) [...] vor.« 833 Διὸ τὰ Ἀλκιδάμαντος ψυχρὰ φαίνεται· οὐ γὰρ ὡς ἡδύσματι χρῆται ἀλλ’ ὡς ἐδέσματι τοῖς ἐπιθέτοις, οὕτω πυκνοῖς καὶ μείζοσι καὶ ἐπιδήλοις [...]. 834 Die Echtheit der Schrift ist umstritten, was für meine Belange keine Schwierigkeit darstellt: Entweder liegt hier eine weitere lukianische Essensmetaphorik vor, oder ein Lukiannachahmer verwendete sie, um Lukians Stil zu kopieren. 835 Ebenfalls nur im übertragenen Kontext, wenn auch nicht in engem Zusammenhang mit Sprache und Wortwahl, benutzt Aristeides das Substantiv (Or. 1,377; 4,42; 17,7). 836 Vgl. dazu die Parallelisierung von Bildender Kunst (Skulpturen) und Sprache in Rh. Pr. 9. 837 Gleich im Anschluss folgt ein weiterer Vergleich aus dem trivialen Bereich der Kleidung. Die Essensmetaphorik wird weiter unten fortgeführt, vgl. §17: ἀπ’ ἐκείνων ἐπισιτισάμενος [...] ἐκ ταμιείου. Vgl. zur Stelle auch Bompaire [1958] 429 und allgemein zu Lukians Verwendung von Metaphern 424–443.

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5. Kommentar (§§16–17)

dabei auf der stilistischen Ebene die vierfache Alliteration (ἄλλων, ἀνόμοια, ἀσύμφυλα, ἀπῳδά). Die drei Ausdrücke (ἀνόμοια, ἀσύμφυλα, ἀπῳδά), die alle Ähnliches beschreiben sollen, nämlich die Uneinheitlichkeit der Diktion, werden von einem gängigen Adjektiv (ἀνόμοιος) zu selteneren Ausdrücken838 und gleichzeitig von einer wörtlichen zu einer zweifach übertragenen Ausdrucksweise gesteigert (Vergleich der Vokabeln mit Menschen[rassen] und mit musikalischen Klängen), so dass der Rednerlehrer den von ihm als unbedenklich empfohlenen Gebrauch zusammengestückelten Vokabulars in seiner eigenen sprachlichen Äusserung auf der Stelle umsetzt. Die inhaltliche Skurrilität ist dabei auf der Ebene des Klangs durch Alliteration attraktiv gestaltet. ἀσύμφυλος ist in der gesamten Gräzität 27x belegt839 und daher ein eher seltenes Adjektiv mit der wörtlichen Bedeutung »nicht bluts- oder stammverwandt840; fremd« sowie übertragen »unpassend«841. Die vorliegende Übertragung dieses Adjektivs auf Vokabular (ὀνόματα [...] ἀσύμφυλα) begegnet uns bei Lukian zum ersten Mal und scheint auch nach ihm nicht belegt zu sein; eine ähnliche Verwendung mit Bezug auf ganze Literaturgenera findet sich im zweiten lukianischen Beleg Hist. Conscr. 11, wo im Rahmen einer generellen Absetzung der Historiographie von Enkomion und Dichtung über das jedem Genus Angemessene (τὸ πρέπον) diskutiert wird. Wer Unangemessenes in die Historiographie eingliedert, wird wegen der sich ergebenden Uneinheitlichkeit von den Gebildeten ausgelacht werden (γελάσονται, ὁρῶντες τὸ ἀσύμφυλον καὶ ἀνάρμοστον καὶ δυσκόλλητον τοῦ πράγματος).842

838

ἀσύμφυλος weist in der gesamten Gräzität knapp 30, ἀπῳδός immerhin über 70 Belege auf, allerdings fast alle spät; klassisch und vorlukianisch sind beide Vokabeln gleichermassen selten. 839 Frühester Beleg ist Diokles Med. fr. 43b,11 van der Eijk (= Chrysipp fr. 752 SVF), die weiteren vorlukianischen Belege (insgesamt neun) sind fast alle bei Plutarch zu finden (vgl. die folgenden Anmm. 840 und 841). Ein noch früherer Beleg wird unter den zweifelhaften Fragmenten bei Empedokles (fr. 154 DK) eingereiht (überliefert bei Plut. De esu carn. 993c). 840 So z.B. Flav. Jos. Ant. Jud. 11,212 (ἔθνος [...] ἀσύμφυλον; bezogen auf die Juden); Plut. Ag. et Cleom. 10 (bezogen auf die Spartaner); Plut. mor. 996a (bezogen auf die ›Gattung‹ Mensch). 841 Vgl. Plut. Quaest. conv. 709b: Besprochen wird, wen man bei einer Einladung zum Nachtessen mitbringen soll: Wer keine Gleichgesinnten, sondern Leute mit anderem und unpassendem Naturell einlädt, geht falsch vor (ὁ δ’ ἀσυμφύλους καὶ ἀσυναρμόστους ἐπάγων [...] ἄκαιρός ἐστιν). Hier ist die ethnische Bedeutung des Adjektivs verblasst, es geht um die gleiche oder ähnliche Einstellung von verschiedenen Menschen. 842 Zur Kombination des Adjektivs ἀσύμφυλος mit von ἀρμόζω/-ττω (»zusammenfügen«) abgeleiteten Begriffen vgl. auch die oben (Anm. 841) angeführte Passage Plut. Quaest. conv. 709b (ἀσυνάρμοστος). Bei Plutarch begegnet ἀσύμφυλος zudem zweimal in Kombination mit ἀλλότριος (»fremd«): Quaest. conv. 729a und De esu carn. 996a.

§16: Attizistisches Vokabular

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In der Diskussion über die Zusammenstellung und Auswahl von Wörtern (σύνθεσις / ἐκλογὴ ὀνομάτων), die ja schon weit vor Lukian stattfindet, sind ὅμοιος bzw. ἀνόμοιος und ihre Ableitungen die gängigen Begriffe für Gleich- oder Ungleichheit des Vokabulars (z.B. Dion. Hal. Comp. Verb. 12,5: ὁμοιογενής; Anaxim. 1434b38: τὰ ὅμοια τῶν ὀνομάτων); man vergleiche das erstgenannte Adjektiv des Rednerlehrers: ἀνόμοια. ἀπῳδός ist klassisch nur zweimal belegt, bei Euripides Cyc. 490 und Hekataios FGrHist 264 fr. 12, jeweils in der wörtlichen Bedeutung (in musikalischem Zusammenhang) »unrein klingend; misstönend«. Unter den insgesamt 12 vorlukianischen Belegen ist eine auffällige, wohl zumindest teilweise überlieferungsbedingte Häufung bei Philon von Alexandria zu verzeichnen (9 Belege), in der Bedeutung sowohl wörtlich auf Musik bezogen als auch übertragen »unharmonisch mit etwas, unpassend«.843 Lukian selbst verwendet das Adjektiv 9x, davon zweimal wörtlich »unrein klingend« in Ikaromen. 17 (das Menschenleben wird mit Schauspielern auf der Bühne verglichen, die alle ihr eigenes Lied singen, so dass ein Missklang entsteht: ἀπῳδὰ φθεγγομένων) und Dial. Mar. 1,4 (des Kyklopen Polyphem unschöner Gesang: ἐμελῴδει ἄμουσόν τι καὶ ἀπῳδόν). Die restlichen Belege haben die übertragene Bedeutung »unharmonisch mit etwas«, wobei teilweise eine moralische Komponente wie bei Philon einfliesst.844 Lukian liefert für die Übertragung des Adjektivs auf Sprachliches (wie bereits bei ἀσύμφυλος, s.o.) die ersten Belege; für vorliegende Stelle aufschlussreich ist Salt. 65, wo ein Vergleich zwischen den Tänzern bzw. Pantomimen und den Rednern, die μελέται halten, gezogen wird, da es in beiden Arten der Darstellung darum gehe, eine möglichst gute ὑπόκρισις der gewählten Person zu leisten, was wiederum dadurch erreicht werde, dass die Darstellung bzw. das Gesagte im Einklang mit Charakter und Eigenheiten dieser Person stehe (μὴ ἀπῳδὰ εἶναι τὰ λεγόμενα [...]). Die übertragene Verwendung von ἀπῳδός auf Sprache und Literatur bezieht sich also einerseits auf Uneinheitlichkeit in der Diktion (Rh. Pr. 16) aber auch im Gesamtinhalt des Gesagten (Salt. 65; mit Bezug auf das jeweilige Literaturgenus vgl. oben Hist. Conscr. 11: ἀσύμφυλος).845 843 Mit Bezug zur Musik De ebrietate 116: Der Missklang einer Lyra, der entsteht, wenn auch nur eine einzige Note falsch ist (εἷς αὐτὸ μόνον ἀπῳδὸς ἦ φθόγγος), wird mit harmonischem Wohlklang (συμφωνία) kontrastiert und auf die Situation der menschlichen Seele übertragen; De conf. ling. 55: Der Lyra-Vergleich wird wieder aufgegriffen und auf die menschlichen Taten bezogen (ἐκμελὲς ἢ ἀπῳδὸν οὐδὲν οὔτε ῥῆμα εἰπόντες οὔτ’ ἔργον διαπραξάμενοι); De conf. ling. 150; De congr. erud. grat. 16; De Somn. 1,28. In übertragener Bedeutung Quis rer. div. her. 82; De vit. Mos. 2,228; De decal. 15; De spec. leg. 4,24. 844 Die Belege sind: Demon. 1; Cal. 13; Pisc. 34; Rh. Pr. 16; Salt. 46 und 65; Lex. 6 (zur unsicheren Bedeutung des Adjektivs hier siehe Weissenberger [1996] 214). 845 Die inhaltliche Uneinheitlichkeit, die den Starredner allerdings nicht bekümmern soll, wird auch in Rh. Pr. kurz gestreift (§18).

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5. Kommentar (§§16–17)

Die Formulierung οὐκ ἀπῳδόν [sc. ἐστιν] wird in Bezug auf Sprache von zwei Grammatikern des 2. Jh.s n.Chr. verwendet, beide Male in der Beurteilung bestimmter lautlicher Gegebenheiten, die als positiv bzw. wohlklingend eingestuft werden: Ap. Dysk. Synt., Gr. Gr. vol. 2,2 p. 439 Uhlig und [Ps.]-Hdn. Περὶ παθῶν, Gr. Gr. vol. 3,2, p. 355 Lentz. ἡ πορφύρα μόνον ἔστω καλὴ καὶ εὐανθής, κἂν σισύρα τῶν παχειῶν τὸ ἱμάτιον ᾖ Die Uneinheitlichkeit der durch vereinzelte Attizismen ›verzierten‹ Diktion wird durch den Vergleich mit einem dicken Wollmantel, der zuunterst einen leuchtenden Purpurstreifen aufweist, illustriert. Ein ähnlicher Gedanke – allerdings umgekehrt über ein Purpurgewand, das hässliche Wollflicken enthält – findet sich in Hist. Conscr. 15, wo ein Thukydides-Imitator gerügt wird, der sich einerseits äusserst eng an Thukydides anschliesst, andererseits für Kriegsgerät und Ähnliches lateinische Ausdrücke benutzt, was Lukian ironisch mit den Worten kommentiert, wie lobenswert und einem Thukydides angemessen es doch sei, wenn zwischen den attischen Wörtern die lateinischen stünden, wie eine zusätzliche Verzierung eines Purpurgewandes, die sich absolut passend einfüge (ὥσπερ τὴν πορφύραν ἐπικοσμοῦντα καὶ ἐμπρέποντα καὶ πάντως συνᾴδοντα; vgl. oben in Rh. Pr.: ἀπῳδά).846 Den Kern der Kritik bildet also auch hier – wie implizit in Rh. Pr. – die Forderung, dass die Diktion in sich stimmig sein muss. Das Substantiv σισύρα verwendet Lukian nur hier. Es ist bereits klassisch belegt, v.a. bei Aristophanes, und bezeichnet einen Mantel aus Schafoder Ziegenfell mitsamt Haar, der als derb und einfach galt und entsprechend bei Aristophanes bäurisch-einfache Kleidung impliziert (V. 1138; Ra. 1459) oder aber zur Bezeichnung von Decken auf Betten und Klinen dient (Ec. 840; Nu. 10; Av. 122; Lys. 933).847 Die Beschreibung des Gewandes des Starsophisten durch dieses ›rustike‹ Wort steht in auffälligem Kontrast zur Eleganz der Auftrittskleidung, worauf in §15 besonderer Wert gelegt worden ist, und streicht noch stärker heraus, dass allein ein Hauch konventioneller Bildung – der Purpurstreifen – zur Täuschung des Publikums ausreicht. Die durch den illustrierenden Vergleich wieder aufgegriffene Thematik der Kleidung schlägt einen Bogen zurück an den Anfang von §16.

846 Weissenberger ([1996] 101 Anm. 245) kommentiert zur Stelle: »Hier sind die dem Thukydides wörtlich gestohlenen Partien der Purpurmantel, der durch lateinische Wörter wie durch hässliche Flicken ›verziert‹ wird«, während in Rh. Pr. 16 »die wenigen, aber ständig gebrauchten Attizismen den Purpurstreifen am zottigen Wollrock [bilden]«. 847 Vgl. den Kommentar zu Ar. Ec. 347 von Sommerstein [1998] 171.

§17: Archaismen, Neologismen und literarische Vorbilder

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§17 μέτει Die Form ist eine Konjektur von Bekker für überliefertes μετὰ, die von allen Herausgebern848 übernommen worden und als Imperativ zu μετ-εἶμι zu deuten ist. Vgl. zur Form die Angaben zu §6: πρόσει. Das überlieferte adverbielle μετὰ (»danach, ferner«) ist problematisch, weil dadurch der Verbalinhalt der Partizipialform συμφορήσας auf ῥήματα zu beziehen ist, wodurch wiederum die Form ταῦτα redundant wird. Eine Übersetzung ist zwar möglich, allerdings inhaltlich und stilistisch unbefriedigend: »Ferner [sammle] ungebräuchliche und fremde Wörter, die von den Alten selten verwendet werden, und nachdem du diese gesammelt hast, hole etwas [davon] hervor und schiesse es ab in Richtung deiner Zuhörer.« ἀπόρρητα καὶ ξένα ῥήματα καὶ σπανιάκις ὑπὸ τῶν πάλαι εἰρημένα Die zweite Stufe der Empfehlungen in der Diktion umfasst nach den Standardattizismen seltenes Vokabular, das längst nicht mehr in Gebrauch ist (ἀπόρρητα849) und daher für die Zuhörer fremd klingt (ξένα),850 und das selbst bei klassischen Autoren nur wenige Belege aufweist (σπανιάκις ὑπὸ τῶν πάλαι εἰρημένα).851 Als Effekt, der durch die Verwendung solcher Vokabeln erreicht wird, gibt der Rednerlehrer ganz generell die Beeindruckung des gesamten Publikums bzw. der grossen ›Menge‹ der Zuhörer an 848

Von Macleod im korrigierten Reprint von 1993. Diese Vokabel changiert in ihrer Bedeutung und wird von Lukian in §16 anders verwendet: ἀπόρρητα bezeichnet auch und vor allem die Geheimnisse der Mysterien, die Eingeweihte kennen und die Uneingeweihten vorenthalten werden müssen, also nicht weitergesagt werden dürfen, vgl. den Kommentar zu §16: ἀτέλεστόν τινα καὶ κατάσκοπον τῶν ἀπορρήτων. Gemeinsam ist beiden Passagen, dass sie eine Art ›Code‹ markieren, durch dessen Beherrschung man sich als Eingeweihter (§16: metaphorisch ist die Einweihung in die Rhetorik gemeint) bzw. als ein der Seltenheiten attizistischer Diktion Kundiger (§17) ausweist. 850 Bei dem Effekt der Fremdheit muss unterschieden werden, dass er sich bei den ungebildeten Zuhörern aus Unkenntnis einstellt, bei den gebildeten Zuhörern aber wohl zumindest teilweise infolge einer bewussten Einordnung der Vokabel als ungebräuchlich und daher »fremd«. 851 Dass mit der Formulierung ὑπὸ τῶν πάλαι der Kanon der klassischen Autoren angesprochen ist, zeigen die Belege der Vokabeln παλαιός und ἀρχαῖος in den vorangehenden Kapiteln (§§8–10) sowie in der Fortsetzung von §17. Vgl. §8: Die Spuren auf dem steilen, ›klassischen‹ Weg sind uralt (πάνυ παλαιά); §9: Der Lehrer des langen Weges empfiehlt die Nachahmung von Klassikern wie Demosthenes und Platon, die als ἀρχαῖοι ἄνδρες bezeichnet sind und deren Werke mit der klassischen Kunst (παλαιὰ ἐργασία) verglichen werden; §10: auch der Lehrer des langen Weges selbst ist durch seine Identifikation mit den Klassikern ein ἀρχαῖος ἄνθρωπος, er gibt alte Leichen (νεκροὶ παλαιοί) zur Nachahmung vor und längst vergrabene Reden (λόγοι πάλαι κατορωρυγμένοι). §17: Die alten Schriften (τὰ παλαιά) soll der Schüler nicht lesen, weder diejenigen des Isokrates, noch des Demosthenes, noch Platons. 849

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5. Kommentar (§§16–17)

(ὁ λεὼς ὁ πολὺς ἀποβλέψονται καὶ θαυμαστὸν ὑπολήψονται; s.u.), obwohl man davon ausgehen muss, dass nur die Gebildeten im Publikum eine Vokabel konkret als klassisch sehr selten benutzt einordnen können.852 Wie bei den Standardattizismen konkretisieren Beispiele entsprechender Wörter die Empfehlung des Lehrers (ἀποστλεγγίσασθαι, εἱληθερεῖσθαι, προνόμιον, ἀκροκνεφές; s.u.). Näheren Aufschluss über die Beschaffenheit dieses als ungeläufig und fremd bezeichneten Vokabulars gibt uns Lukians Schrift Lexiphanes: Die Diktion des angegriffenen Möchtegern-Schriftstellers ist, wie aus seinem langen Vortrag deutlich wird, voll von klassisch sehr selten belegten Ausdrücken, die noch dazu mehrdeutig sind oder in unüblicher Bedeutung verwendet werden, oder aber von stilistisch dem falschen Genus (Poesie) angehörenden Ausdrücken, die in einer Prosaschrift unangebracht wirken.853 Lexiphanes’ Beschreibung der ganz alltäglichen Abläufe eines Symposions entbehrt generell der gängigen attischen Begriffe und weist dafür allzu gesuchte Ausdrücke auf. In Lykinos’ Reaktion auf Lexiphanes’ Diktion (§17 und §20) werden als Kritikpunkte des Vokabulars die Attribute ἄτοπος, διάστροφος und ἀλλόκοτος genannt, als Kritik an der Redeweise des Schriftstellers die Verbalinhalte διαστρέφειν τὴν γλώτταν und ξενίζειν.854 852

Zur Tatsache, dass die Gebildeten über die Verwendung solcher ›Archaismen‹ ein eher negatives Urteil im Sinne des Hyperattizismus fällen dürften, s. gleich. 853 Die Verwendung poetischer Vokabeln gibt in Lexiphanes’ Diktion wegen grosser Übertreibung Anlass zur Kritik; er benutzt grösstenteils Komikervokabular neben Vokabular der kanonischen Dichter (Homer, Sophokles; vgl. Hall [1981] 281f.). Der Gebrauch poetischen Vokabulars ist generell im attizistischen Sprachgebrauch durchaus möglich gewesen; entscheidend ist dabei, dass die durch einen poetischen Ausdruck gesteigerte Stilhöhe nicht zu stark mit dem Inhalt des Dargelegten differiert, vgl. dazu Anm. 832 und zu den kanonischen Autoren der Kaiserzeit Anm. 264. Von dieser Einschränkung ausgenommen ist der für Lukian zentrale Bereich der Verwendung poetischen Vokabulars zur Imitation oder Parodie poetischer Autoren, wo gerade die Auffälligkeit der Vokabel in humoristischem Sinn beabsichtigt ist (vgl. Bompaire [1958] 628). 854 Vgl. Lex. 17: Ζητῶ οὖν πρὸς ἐμαυτὸν ὁπόθεν τὰ τοσαῦτα κακὰ συνελέξω καὶ ἐν ὁπόσῳ χρόνῳ καὶ ὅπου κατακλείσας εἶχες τοσοῦτον ἑσμὸν ἀτόπων καὶ διαστρόφων ὀνομάτων, ὧν τὰ μὲν αὐτὸς ἐποίησας, τὰ δὲ κατορωρυγμένα ποθὲν ἀνασπῶν [...] (»Ich frage mich also, woher du dir soviel Ekelhaftes zusammengesammelt hast und in wie langer Zeit und wo eingeschlossen du einen solchen Schwarm von ungewöhnlichen und verdrehten Wörtern aufbewahrt hast, von denen du einen Teil selbst erfunden, den andern, der tief vergraben lag, irgendwoher hervorgezogen hast [...]«) und Lex. 20: Ἡμᾶς τοὺς νῦν προσομιλοῦντας καταλιπὼν πρὸ χιλίων ἐτῶν ἡμῖν διαλέγεται διαστρέφων τὴν γλῶτταν καὶ ταυτὶ τὰ ἀλλόκοτα συντιθεὶς καὶ σπουδὴν ποιούμενος ἐπ’ αὐτοῖς, ὡς δή τι μέγα ὄν, εἴ τι ξενίζοι καὶ τὸ καθεστηκὸς νόμισμα τῆς φωνῆς παρακόπτοι. (»Er verlässt uns, die wir heute mit ihm zusammen sind, und spricht mit uns [wie] vor tausend Jahren, wobei er seine Sprache verdreht, diese ungewöhnlichen [Wörter] beifügt und dafür allen Eifer aufwendet, wie wenn es eine grosse Tat wäre, wenn man ein wenig fremdländisch daherredet und die bestehende Sprachmünze fälscht.«) – Die Erwähnung des Vokabulars als teils selbst erfunden, teils ausgegraben, hat Parallelen zu dem in Rh. Pr. 17 später formulierten Rat, sich bisweilen auch Neologismen einfallen zu lassen, und zu den in Rh. Pr. 10 als längst begrabene Schriften bezeichneten Klassikern. Zur Kritik des Hervorholens von vergrabenem Vokabular vgl. auch Pseudol. 24 (ποῦ γὰρ ταῦτα τῶν βιβλίων εὑρίσκεις; ἐν γωνίᾳ που [...] κατορωρυγμένα), wo die als Beispie-

§17: Archaismen, Neologismen und literarische Vorbilder

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Die Wörter, die »nicht am rechten Platz« (ἄτοπος) sind, können als falsch angewandte Wörter, die nicht das bezeichnen, was sie sollten, interpretiert werden, während die Wörter, welche »verdreht« (διάστροφος) sind, der generellen gemässigt-attizistischen Sprachnorm zuwiderlaufen dürften.855 Die Verdrehtheit der Sprache liegt besonders in der Altertümlichkeit der Vokabeln und der Befremdung, die sie hervorrufen (ξενίζειν: es klingt, als ob ein Fremder spräche). Damit ist eine Erklärung gegeben, wann bestimmte Wörter als der Sprachnorm zuwiderlaufend gelten: Es ist ihr Alter im Zusammenspiel mit einer befremdlichen Wirkung beim Zuhörer (vgl. Demon. 26: ἀρχαῖα καὶ ξένα ὀνόματα856), wobei man annehmen muss, dass es um ein Vokabular geht, das selbst aus dem Sprachgebrauch der Gebildeten (und somit in älterer Sprache Bewanderten) geschwunden ist.857 Interessant sind bezüglich eines solchen Hyperattizismus, der sich dadurch definiert, dass jede Masshaltung im Ausgraben von möglichst obsoletem attischem Vokabular fehlt, zwei Stellen bei Philostrat: Kritias wird wegen seines massvollen Attizisierens, das genau solche allzu seltenen Wörter vermeidet, in VS 503 gelobt (ἀττικίζοντά τε οὐκ ἀκρατῶς, οὐδὲ ἐκφύλως – τὸ γάρ ἀπειρόκαλον ἐν τῷ ἀττικίζειν βάρβαρον), und Kritik an masslosem Hyperattizismus (ὑπεραττικίζειν) findet sich in VA 1,17. Einen Reflex gegen Hyperattizismus enthalten auch zwei Passagen bei Sextus Empiricus, wo eindringlich die Benutzung der gängigen Sprache (τὸ σύνηθες) angeraten wird (M. 1,208 und 218). le angeführten Vokabeln Neologismen und (mit Ausnahme von ῥησιμετρεῖν, vgl. Lex. 9) nur an dieser Stelle bei Lukian belegt sind; vgl. Hall [1981] 296 mit Anm. 63. 855 Vgl. die Ausführungen von Weissenberger [1996] 93f. διάστροφος könnte man aber ebenfalls im Sinn der Verdrehung der Bedeutung der Wörter auffassen, einen ›Fehler‹, den Lexiphanes immer wieder begeht (vgl. Hall [1981] 280–284). 856 An dieser Stelle tritt zusätzlich die Charakterisierung solchen Vokabulars als ὑπεραττικίζειν auf. 857 Vgl. Weissenberger [1996] 95f. Bereits Aristoteles (Rh. 1404b) betont in seinen Aussagen zur λέξις einer Prosaschrift, dass diese in erster Linie auf Klarheit (σαφήνεια) und auf eine angemessene Ausdrucksweise, in welcher Diktion und Inhalt/Geschildertes zusammenpassen (Forderung des πρέπον) bedacht sein solle: Auf der Ebene der Einzelwörter bedeutet dies, dass hauptsächlich allgemein gebräuchliche Vokabeln (κύρια ὀνόματα) verwendet werden sollen und eine davon abweichende, »fremdklingende Redeweise« (ξένη λέξις), die durch ihre Fremdartigkeit Staunen und Bewunderung (τὸ θαυμαστόν) erzeugt, im Gegensatz zur Poesie sparsam eingesetzt werden muss. Es ist also eine Frage des Masses, und Aristoteles gibt als Kriterium an, dass der Hörer die Rede immer noch als natürlich, keinesfalls als erdichtet empfinden dürfe (zur Angemessenheit solcher Vokabeln in poetischer Diktion vgl. Po. 1458a18–23). Die Thematik wird auch in Luk. Pseudol. 14 aufgegriffen im Rahmen von Lukians Verteidigung seines Gebrauchs des Wortes ἀποφράς: Wäre es zwar attisch, aber ausser Gebrauch und daher dem zeitgenössischen Ohr ungewohnt, so wäre es tatsächlich zu meiden: ἀλλὰ καὶ τῶν παλαιῶν ὀνομάτων τὰ μὲν λεκτέα, τὰ δ’ οὔ, ὁπόσα αὐτῶν μὴ συνήθη τοῖς πολλοῖς, ὡς μὴ ταράττοιμεν τὰς ἀκοὰς καὶ τιτρώσκοιμεν τῶν συνόντων τὰ ὦτα. Dies ist aber nicht der Fall, wie Lukian betont, der Ausdruck sei durch alle Zeiten hindurch verwendet worden.

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5. Kommentar (§§16–17)

Wie bereits bei den Standardattizismen (§16, vgl. Anm. 816) findet sich auch bei der Ausstaffierung mit ungebräuchlichem Vokabular eine Parallele zwischen Scheinsophisten und Scheinphilosophen, vgl. Vit. Auct. 23: Die Ausbildung zum Stoiker beinhaltet unter anderem das Sich-Anfüllen (ἐμπίμπλασθαι) mit Solözismen und ἄτοπα ῥήματα. ταῦτα συμφορήσας ἀποτόξευε Das Verb ἀποτοξεύειν ist in der gesamten Gräzität knapp 50x belegt, davon sind nur gerade drei Belege vorlukianisch und zwei klassisch (Plat. Tht. 180a; Alkid. fr. 2,43 Avezzù). Der Platonbeleg, worin Theodoros die Gesprächskultur der Herakliteer kritisiert, dürfte die Vorlage für Lukians Formulierung bilden: ἀλλ’ ἄν τινά τι ἔρῃ, ὥσπερ ἐκ φαρέτρας ῥηματίσκια αἰνιγματώδη ἀνασπῶντες ἀποτοξεύουσι, κἂν τούτου ζητῇς λόγον λαβεῖν τί εἴρηκεν, ἑτέρῳ πεπλήξῃ καινῶς μετωνομασμένῳ.858 Der Rednerlehrer löst wiederum auf der Stelle das ein, was er empfiehlt, indem er ein bei Platon 1x belegtes Verb aufgreift: Die Vokabel klingt fremdartig und ist vor allem bei den Klassikern extrem selten (siehe bereits oben zu: μελέτω δὲ μηδὲν τῶν ἄλλων, εἰ ἀνόμοια τούτοις καὶ ἀσύμφυλα καὶ ἀπῳδά). Zusätzlich liegt wohl eine Anspielung auf Aristophanes Nu. 943f. vor (es spricht der ἥττων λόγος über seine Redetechnik): ῥηματίοισιν καινοῖς αὐτὸν [sc. κρείττονα λόγον] / καὶ διανοίαις κατατοξεύσω (zu intertextuellen Bezügen auf Aristophanes vgl. Einleitung 1.8). Lukian verwendet das Verb ἀποτοξεύειν noch dreimal, wörtlich mit Bezug auf den Bogenschützen Phoibos Apollon in Alex. 36, übertragen mit Bezug auf eine treffende Aussage in Prom. Es 2 und auf die Ausrüstung der Philosophen (Stoiker), welche ihre Syllogismen als Waffe einsetzen, in Vit. Auct. 24.859 Der letztgenannte Beleg macht wiederum die Parallelisierung im Spott über Sophisten und Philosophen deutlich: Während der Scheinredner seine Zuhörerschaft mit ἀπόρρητα καὶ ξένα ῥήματα aus seinem Köcher bedient, sind es bei den Scheinphilosophen komplizierte Syllogismen.860

858 »Sondern wenn du einen etwas fragst, dann ziehen sie wie aus einem Köcher rätselhafte Wörtlein hervor und schiessen sie ab, und wenn du dann darüber eine Erklärung möchtest, wie es gemeint ist, so wirst du von einem anderen, ganz neu geschaffenen [Wort] getroffen.« So wird ein echtes Gespräch mit den Herakliteern verunmöglicht, bzw. sie entziehen sich auf diese Weise klarer Antworten und werden unangreifbar. – Die Neubildung von Wörtern oder Ausdrücken wird in Rh. Pr. 17 weiter unten erwähnt (καινὰ καὶ ἀλλόκοτα ὀνόματα). 859 Χρ. Σκώπτεις, ὦ οὗτος. ἀλλ’ ὅρα μή σε ἀποτοξεύσω τῷ ἀναποδείκτῳ συλλογισμῷ. 860 Aufgegriffen wird die Metaphorik von Wörtern und Reden, die wie Pfeile abgeschossen werden, mit längerem Zitat der Platonstelle bei Euseb. PE 14,4,4; wohl ebenfalls – wie hier bei Lukian – in Anlehnung an Platon bei Gregor von Nyssa In Eccl. 8,432; Vit. Mos. 2,260 und Joh. Chrys. Ep. ad Antioch. 10.

§17: Archaismen, Neologismen und literarische Vorbilder

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Das Verhältnis zwischen Redner und Publikum ist durch das Bild eines Bogenschützen als ein feindschaftliches und ein vom Redner rücksichtslos gestaltetes gezeichnet, da er seine Zuhörer egoistisch zum Selbstzweck mit ungebräuchlichem Vokabular überschüttet.861 ἐς τοὺς προσομιλοῦντας Das Verb προσομιλεῖν (»verkehren, sich unterhalten«) ist im Zusammenhang mit Rhetorik und Sophistik – mit negativer Konnotation – bereits bei Platon belegt. Allerdings werden damit nicht die Zuhörer bezeichnet, sondern vielmehr die einschmeichelnde Tätigkeit der Redner selbst (man vgl. den wörtlichen Sinn »sich einer Menge, ὅμιλος, zuwenden«): In Soph. 222c wird die Kunst des Sophisten als προσομιλητικὴ und πιθανουργικὴ τέχνη definiert; in Grg. 463a und 502e wird der Auftritt eines Redners im negativen Sinn als προσομιλεῖν τοῖς ἀνθρώποις / προσομιλεῖν τοῖς δήμοις umschrieben. An einer weiteren Stelle (Alc. I 130d) wird das Verb im neutralen Sinn für ein Lehrer-Schüler-Verhältnis und -Gespräch gebraucht. Bei Lukian fehlt die eindeutig negative Konnotation des Verbs; er bezeichnet mit προσομιλεῖν einerseits ganz generell den Umgang zweier oder mehrerer Personen miteinander (Tim. 36; Fug. 9; Nav. 7) oder speziell die Tätigkeit von Rednern (De Dom. 1; Somn. 12), andererseits die Zuhörer und Schüler eines Sophisten oder Philosophen (Demon. 6; Vit. Auct. 22; Lex. 20; Hermot. 79), wobei tendenziell eher eine private oder halbprivate Unterhaltung impliziert ist (philosophische Gesprächssituation; vgl. oben Plat. Alc. I 103d) als ein offizieller Auftritt, wie er an vorliegender Stelle in Rh. Pr. geschildert ist. Ein gewisser Spott kann aber aufgrund der platonischen Subtexte für den gebildeten Rezipienten an Stellen wie der vorliegenden mitschwingen. Ist dies der Fall, dann sind mit den als προσομιλοῦντες bezeichneten Zuhörern speziell die Berufskollegen, die anderen Sophisten und Gebildeten im Publikum aufgerufen, auf die der Scheinsophist mit dem gesuchten Vokabular besonders zielt. Obwohl im Text explizit nur die Beeindruckung der Menge angesprochen ist (s. das folgende Lemma), wäre also implizit auch ein Bezug auf die Gebildeten geschaffen. Dies macht durchaus Sinn, sind doch die ungebildeten Zuhörer leicht zu beeindrucken, während die grösste Hürde darin besteht, den Erwartungen und Konventionen der Gebildeten auch in dieser Tricksophistik wenigstens in minimaler Weise nachzukommen.862 Ob der empfohlene Hyperattizismus das erschwünschte Ergebnis, nämlich die 861 Vgl. zum egoistisch-tyrannisierenden Verhalten der Scheinsophisten bereits die Einleitung 1.7.1, S. 70–72 sowie den Kommentar zu §19: τυραννὶς. 862 Zur leichten Beeindruckbarkeit der Ungebildeten und zur Reaktion der Gebildeten vgl. §20; zu Zugeständnissen an die konventionellen Sprachnormen vgl. bereits die Einleitung zu §§16–17.

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5. Kommentar (§§16–17)

Zurschaustellung profundester Kenntnisse der Klassiker und entsprechend Anerkennung, tatsächlich auch bringt, bleibt dabei fraglich. Aus dem zeitgenössischen Umfeld Lukians interessant sind die Belege bei Aristeides (Or. 2 und 3: Pros Plat.), der sich mit der platonischen Negativsicht auf die Rhetorik bzw. Sophistik auseinandersetzt und daher wiederholt auf die oben genannten Textpassagen Grg. 463a und 502e Bezug nimmt (Or. 2,22.28.344; 3,536) sowie die Tätigkeit der Redner durch das von ihm in positivem Sinn verwendete Verb προσομιλεῖν rehabilitieren will (Or. 2,187.383). οὕτω γάρ σε ὁ λεὼς ὁ πολὺς ἀποβλέψονται καὶ θαυμαστὸν ὑπολήψονται Vgl. zum wörtlichen Rückbezug auf den Wunsch des Schülers nach Weltruhm §1 (θαυμάζεσθαι πρὸς ἁπάντων καὶ ἀποβλέπεσθαι); vgl. weiter §8 (θαυμαστὸς πᾶσι δόξεις); §11 und §22 (περίβλεπτος); §20 und §26 (ὅπως [...] θαυμάζωσιν / ὥστε [...] θαυμάζεσθε). Die Formulierung ὁ λεὼς ὁ πολὺς bietet eine Variation und gleichzeitig eine konkretisierende Steigerung von πρὸς ἁπάντων/πᾶσι in §1 und §8, da ausdrücklich das Volk, welches einem Redner zuhört, genannt ist863 und dessen Menge zudem durch das nachgestellte Adjektiv πολὺς betont sowie durch die pluralischen Prädikate neben dem singularischen Subjekt (sog. constructio ad sensum) weiter unterstrichen wird. Die vorliegende Aussage thematisiert die Anpassung der Rede an das Publikum (hier: die grosse Menge) mit dem Ziel der (positiven) Beeinflussung, womit eines der drei Überzeugungsmittel, die gemäss der rhetorischen Theorie vorhanden sind, angesprochen ist; vgl. dazu Aristoteles Rh. 1356a1–4: τῶν δὲ διὰ τοῦ λόγου ποριζομένων πίστεων τρία εἴδη ἔστιν· αἱ μὲν γάρ εἰσιν ἐν τῷ ἤθει τοῦ λέγοντος, αἱ δὲ ἐν τῷ τὸν ἀκροατὴν διαθεῖναί πως, αἱ δὲ ἐν αὐτῷ τῷ λόγῳ διὰ τοῦ δεικνύναι ἢ φαίνεσθαι δεικνύναι. Während bei Aristoteles mit diesem Vorgang spezifisch die Erzeugung von Affekten (πάθη) im Zuhörer in Zusammenhang gebracht wird, ist hier der allgemeinere Topos der leichten Täuschbarkeit des Volkes, die nicht zuletzt in seiner Unbildung begründet liegt, verwertet:864 Bei einem derartigen Publikum erfüllen einzelne auffällige Vokabeln (§17) und zahlreiche Showeffekte (§20) ihren Zweck vollkommen. Beeinflussung und positive Reaktion der ungebildeten Menge (τὸ πλῆθος/οἱ πολλοί) werden auch in §20 thematisiert, wo der Rednerlehrer die863 Dies geschieht mit dem seit Homer gängigen Begriff λεώς bzw. λαός; vgl. z.B. Il. 7,434 und 16,129 (versammelte Soldaten); Ar. Ra. 676 (versammeltes Volk im Theater); Eq. 163 (Volksversammlung im eigentlichen Sinn, ἐκκλησία); Plat. R. 458d. 864 Vgl. dazu Thuk. 3,38,5; Ar. Eq. 1115–1120; Hdt. 3,81,2 und die Ausführungen von Gondos [1996] 25–27.

§17: Archaismen, Neologismen und literarische Vorbilder

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sen Teil der Zuhörerschaft klar als für den Erfolg des Starsophisten allein ausschlaggebend einstuft: ὅπως δὲ καὶ τὸ πλῆθος τῶν λόγων θαυμάζωσιν, ἀπὸ τῶν Ἰλιακῶν ἀρξάμενος [...] καταβίβαζε τὸν λόγον ἐπὶ τὰ νῦν καθεστῶτα. οἱ μὲν γὰρ συνιέντες ὀλίγοι, οἳ μάλιστα μὲν σιωπήσονται ὑπ’ εὐγνωμοσύνης· [...] οἱ πολλοὶ δὲ τὸ σχῆμα [...] θαυμάσονται, καὶ τὸν ἱδρῶτα ὁρῶντες καὶ τὸ ἆσθμα οὐχ ἕξουσιν ὅπως ἀπιστήσουσιν κτλ. (vgl. weiter die Bemerkungen in Einleitung 2.2, Anfang). τὴν παιδείαν ὑπὲρ αὑτούς Zur sprachlich-literarischen Bildung der Sophisten bzw. generell eines Gebildeten (πεπαιδευμένος) in der Kaiserzeit vgl. ausführlich die Einleitung 2.1. εἰ »ἀποστλεγγίσασθαι« μὲν τὸ ἀποξύσασθαι λέγοις [...] τὸν ὄρθρον δὲ »ἀκροκνεφές« Anhand von vier Beispielen zeigt der Rednerlehrer dem Schüler, wie er sein Vokabular im Sinn der ungebräuchlichen Ausdrücke ausstatten kann: Statt ἀποξύσασθαι (»abschaben«) verwende man ἀποστλεγγίσασθαι (»abstriegeln«), ἡλίῳ θέρεσθαι (»sich in der Sonne wärmen«) soll man in einem Wort als εἱληθερεῖσθαι (»sonnenwärmen«) bezeichnen, statt ἀρραβών (»Anzahlung, Depot«) sage man προνόμιον (»Vorgesetzliches«), und die »Morgendämmerung« (ὄρθρος) bezeichne man als ἀκροκνεφές (»Enddunkel«). Von diesen vier kuriosen Vokabeln findet sich eine im heftig kritisierten Symposion des Lexiphanes genauso wieder (ἀκροκνεφές: §11), zwei andere werden in etwas veränderter Form gebraucht (§2): πρὸς τὴν εἵλην θέρεσθαι im Sinne von »sich sonnen« und das veraltete Wort στλεγγίς anstelle von ξύστρα. Das Verb ἀποστλεγγίζειν/ἀποστλεγγίζεσθαι zur Bezeichnung des Abschabens des Körpers mit einer στλεγγίς ist klassisch dreimal belegt: Ar. Eq. 580 (überliefert aber teilweise konjiziert); Arist. Pr. 867b; Xen. Oec. 11,18. Etwas häufiger werden die Belege im 2. Jh. n.Chr., eben der Zeit des Attizismus: Galen (San. tuend. vol. 6, p. 406; Loc. aff. vol. 8, p. 373; Simpl. medic. vol. 12, p. 283); Philostrat Gym. 18 und 51. Der Grossteil dieser und auch der späteren Belege findet sich aber in erklärenden Lexika bzw. bei Grammatikern: Poll. 7,179; [Ps.]-Hdn. Philet. p. 125 Dain: Στλεγγὶς ἡ ξύστρα καὶ ἀποστλεγγίσασθαι τὸ ἄνευ ἀλείμματος λούσασθαι;865 Hesych s.v. ἀπεστλεγγισμένον· ἀπεξυσμένον. Στλεγγίς γὰρ ἡ ξύστρα [Eintrag 6061];866 genauso Phot. s.v. ἀπεστλεγγισμένον [Eintrag 2367]. Diese Belege zeigen, dass sowohl das Verb ἀποστλεγγίζεσθαι als auch das 865 866

»Στλεγγίς [meint] die ξύστρα und ἀποστλεγγίσασθαι sich von Öl zu reinigen.« »ἀπεστλεγγισμένον [bedeutet] ἀπεξυσμένον. Denn die στλεγγίς [ist] die ξύστρα.«

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5. Kommentar (§§16–17)

zugrunde liegende Substantiv στλεγγίς erklärungsbedürftig und nicht mehr in Gebrauch waren (die nur vereinzelten klassischen Belege erweisen die Vokabeln als auch damals schon selten). Das für den Vorgang gebräuchliche Vokabular, das den Grammatikern zur Erklärung dient – ἀποξύειν, ξύστρα –, ist genau das, was der Rednerlehrer zu vermeiden empfiehlt.867 Was er fordert, ist die Verwendung eines gesuchten Ausdrucks für einen ganz gewöhnlichen, alltäglichen Vorgang868 – und darin liegt die Unerhörtheit, die in Rh. Pr. nur implizit anklingt, in der Kritik an Lexiphanes allerdings ausgesprochen wird.869 Mit dem Verb εἱληθερεῖσθαι verhält sich die Sache ähnlich: Die klassischen Belege des Verbs sind auf Hippokrates (Morb. 2,68,9; 2,70,16) und Xenarchos PCG 7, fr. 4 beschränkt;870 im 2. Jh. n.Chr. finden sich mehrfach Belege bei Galen (e.g. Meth. medend. vol. 9, p. 603), bei Athen. Deipn. 13,596b; Philostrat VA 6,6 und Gym. 58; ansonsten erklärende Grammatikereinträge wie [Ps.]-Herodian Part. p. 48 Boissonade; Philet. 42 Dain; Ael. Dionys. s.v. εἱληθερεῖν [Eintrag 17]; besonders ausführlich (mit Erklärung auch zum zugrunde liegenden Substantiv εἵλη871) Hesych s.v. εἰληθερεῖν· ἐν ἡλίῳ θερμαίνεσθαι· εἴλην γάρ φασι τὴν τοῦ ἡλίου αὐγήν [Eintrag 876; mit Spiritus lenis].872 Man vergleiche auch den Kommentar zu Philostr. Gym. 58 von Jüthner [21969] 306: »Der Ausdruck [sc. εἱληθερεῖν] war damals veraltet und ungebräuchlich und musste erklärt werden«, mit dem Verweis auf Galen Ling. seu dict. exolet. Hippocr. explicat. vol. 19, p. 97: εἱληθερές· τὸ ὡς ἀπὸ ἡλίου θερμόν. ἑληθερείσθω· ἡλιούσθω.873

867

Vgl. den Kommentar zur Vokabel στλεγγίς in Lex. 2 bei Weissenberger [1996] 72: »Den vier Vokabeln, mit denen Kallikles Gegenstände bezeichnet, die sein Sklave ins Bad mitnehmen soll, ist gemeinsam ihre Mehrdeutigkeit und dass sie im 2. Jh. in der jeweils hier wohl vorausgesetzten Bedeutung kaum mehr verstanden wurden; [...] στλεγγίς ist ein älteres Wort für ξύστρα [...].« Vgl. zum Realienhintergrund den Kommentar zu Philostrat Gym. 18 von Jüthner [21969] 230: »Die Striegel [...] hatte die Form eines sichelförmig gekrümmten und mit einem Stil versehenen Löffels [...] und bestand gewöhnlich aus Erz oder Eisen [...]. Verwendet wurde sie dazu, nach den Leibesübungen oder im Bade das Öl und den Schmutz vom Körper abzuschaben [...].« 868 Vgl. Sommerbrodt [21878] 72. 869 Vgl. oben den Kommentar zu: ἀπόρρητα καὶ ξένα ῥήματα καὶ σπανιάκις ὑπὸ τῶν πάλαι εἰρημένα. 870 Das Adjektiv εἱληθερής ist belegt bei Hippokrates Morb. 2,27,7 und 2,30,5. 871 Auch dies ist klassisch selten, vgl. Ar. PCG 3.2, fr. 636 (über in der Sonne gedörrte Fische): καὶ τῶν πρὸς εἴλην ἰχθύων ὠπτημένων; vgl. weiter den Kommentar zum verwandten Ausdruck πρὸς τὴν εἵλην θέρεσθαι (Lex. 2) bei Weissenberger [1996] 171. 872 »εἰληθερεῖν [bedeutet] ›sich in der Sonne wärmen‹; denn εἴλη nennen sie das Sonnenlicht.« 873 »εἱληθερές [bezeichnet] das, was wie von der Sonne warm ist. εἱληθερείσθω ›er soll von der Sonne beschienen werden‹.«

§17: Archaismen, Neologismen und literarische Vorbilder

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προνόμιον ist in einer dem Substantiv ἀρραβών entsprechenden Bedeutung874 nur hier bei Lukian erwähnt, ansonsten bedeutet es »ein vor dem νόμος (im Sinn von Hauptgesang, -lied) gesungenes Lied«, vgl. Poll. 4,53 (an dieser Stelle sind auch προ-αύλια erwähnt875) und die Formulierung προνόμιον μέλος bei Him. 35,7 und 38,25.876 Hier wird also ein nicht nur äusserst seltenes Wort, sondern auch die Verwendung in einem ungebräuchlichen Sinn angestrebt. Sommerbrodt ([21878] 72) erklärt es als Ableitung zu νόμος im Sinn von »Gesetz« als »eine Leistung, ehe die gesetzliche Verbindlichkeit eintritt, daher Angeld, welches zur Versicherung der Gültigkeit eines Geschäfts gegeben wird«.877 Das substantivierte Adjektiv ἀκροκνεφές ist bei Lukian zum ersten Mal belegt, begegnet aber in der Form ἀκροκνέφαιος klassisch ein einziges Mal bei Hesiod (Erga 567).878 Ansonsten gibt es neben Rh. Pr. 17 und Lex. 11 keine weiteren Belege bis auf Hesychs Erklärung s.v. ἀκρόκνεφα· πρὸς ὄρθρον [Eintrag 2609].879 Bemerkenswert ist, dass bereits dem – gemäss dem Rednerlehrer zu banalen – Wort ὄρθρος in den attizistischen Lexika ausführliche Erklärungen gewidmet sind, die seine spezifische Semantik gegenüber anderen Bezeichnungen für »Morgen« diskutieren (Poll. 1,68; Phryn. PS 93; Ecl. 240 Fischer: Kritik am Zusammenfall des Gebrauchs

874 Das Substantiv ἀρραβών ist klassisch bis ins 4. Jh. 8x belegt, von der wörtlichen Bedeutung »Anzahlung, Depot« im geschäftlichen Sinn (bei Nichtzustandekommen des Kaufs verfiel dieses Depot, vgl. LSJ s.v.) bis hin zur übertragenen Bedeutung: Vgl. Arist. Pol. 1259a (= Thales Test. 10); Isaios De Cir. 23; Python fr. 1,18 Snell; Antiphanes PCG 2, fr. 121,6. 875 Gebildet ist προνόμιον wohl in Anlehnung an das viel häufigere Wort προοίμιον (im musikalischen Bereich verwendet z.B. bei Pindar P. 1,4). 876 Eine gewisse Ähnlichkeit zum hier bei Lukian vorliegenden Sinn weisen später die bei Justinian häufigen Belege von προνόμιον auf, im Sinne eines »Vorrechts« (im lateinischen Text jeweils privilegium), vgl. u.a. Novellae (= Corpus Iuris Civilis vol. 3) p. 110,39; 114,10; 120,19; 174,1. 877 Eine mögliche inhaltliche Anknüpfung der Vokabel an innerhalb der vorliegenden Schrift aufgerufene Themen liegt in der Bezahlung der Sophisten durch ihre Schüler (vgl. §9 und implizit §12: Hetären) sowie auch in der Passage über die betrügerische Tätigkeit des Rednerlehrers als Gerichtsanwalt, der wohl Bestechungsgelder entgegennimmt (§25); vgl. in dieser Bedeutung ἀρραβών bei Plut. Galba 17,3. 878 Bei Hesiod bedeutet das Wort allerdings »bei Beginn der Abenddämmerung«; die Vokabel beinhaltet generell beide Bedeutungsmöglichkeiten, da das zugrunde liegende Substantiv κνέφας die Morgen- und auch die Abenddämmerung bezeichnet. Weil aber hier gerade die im einzigen vorlukianischen Beleg nicht verwendete Bedeutung emfohlen wird, darf für τὸ ἀκροκνεφές (genau wie für προνόμιον vorher) gelten, dass nicht nur ein sehr seltenes Wort, sondern auch ein ungebräuchlicher Sinn gefordert wird. Vgl. zur Seltenheit der Vokabel auch den Kommentar zu Lex. 11 von Weissenberger [1996] 247. 879 Es folgen noch vereinzelte sehr späte Belege (12. Jh.) und die Scholienkommentare zur Hesiodstelle (Schol. in Hes. Erg. 567a: ἀκροκνέφαιος· κατὰ τὸ ἄκρον κνέφας τῆς ἑσπέρας φαίνεται).

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5. Kommentar (§§16–17)

von ὄρθρος und ἕως, während die Attiker die beiden Begriffe deutlich unterscheiden).880 Zusammenfassend kann man zur Auswahl der vier Vokabeln ἀποστλεγγίσασθαι, εἱληθερεῖσθαι, προνόμιον und ἀκροκνεφές Folgendes festhalten: Sie umfassen inhaltliche Konzepte, die entweder zu banal und alltäglich (ἀποστλεγγίσασθαι, εἱληθερεῖσθαι) oder aber zu abstrus (προνόμιον) sind, als dass sie in den Rahmen einer sophistischen μελέτη gehörten.881 Mit dieser Auswahl verweist der Rednerlehrer möglicherweise auf das banale und inhaltsleere Sprechen des Scheinsophisten, wie er es in den Ausführungen über Stoffgliederung (τάξις) und Themen der Rede (§18 und §20) tatsächlich empfiehlt. Die Vokabeln προνόμιον und ἀκροκνεφές zeigen zudem auch, dass der Rednerlehrer nicht nur höchst seltenes, ja in den entsprechenden Bedeutungen unbelegtes Vokabular vorschlägt, sondern dass bereits die zu ersetzenden Begriffe (ἀρραβών, ὄρθρος) in ihrer Semantik diskutiert und schwierig sind, so dass die befremdende Wirkung weiter gesteigert sein dürfte. αὐτὸς ποίει καινὰ καὶ ἀλλόκοτα ὀνόματα Als dritte Stufe der Anweisungen bezüglich Diktion wird die Bildung ungewöhnlicher Neologismen genannt. Das Adjektiv ἀλλόκοτος hat bereits die kritisierte Diktion in Lex. 20 charakterisiert (vgl. Anm. 854). Weiter tritt die Kombination der Adjektive καινός, ἀλλόκοτος und ξένος (vgl. oben: ἀπόρρητα καὶ ξένα ῥήματα) zur Beschreibung von ›literarischen Neubildungen‹ in Zeux. 12 auf (vgl. den Kommentar zu §13: τεράστιον). Diese Adjektive dienen also gleichermassen der Charakterisierung von archaisierendem, ungebräuchlichem und von neugebildetem Vokabular, was nicht erstaunt, da beide Bereiche den Effekt des Befremdlichen und Seltsamen hervorrufen. Zur vorsichtigen Verwendung neugebildeter Vokabeln (ὀνόματα πεποιημένα) in Prosatexten, da sie der Forderung nach Klarheit (σαφήνεια) widersprechen, vgl. Arist. Rh. 3,2 (siehe auch 1408b11, 1414a27 und oben Anm. 857). νομοθέτει Zur »Gesetzgebung« durch den Schüler vgl. oben den Kommentar zu §14: ἕπου μόνον, ὦ μέλημα, οἷς ἂν εἴπω κτλ.

880 Lukian benutzt ὁ ὄρθρος nur an vorliegender Stelle in Rh. Pr. 17, daneben die Ableitungen τὸ ὄρθριον (»Morgen«) und ὀρθρεύειν (»frühmorgens aufstehen«) in Gall. 1. 881 Vgl. zu den gängigen Themen der μελέται den Kommentar zu §18: ὁ Μαραθὼν καὶ ὁ Κυνέγειρος [...] ὁ Λεωνίδας θαυμαζέσθω.

§17: Archaismen, Neologismen und literarische Vorbilder

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Die auf den Schüler applizierte Funktion des Gesetzgebers wirkt lächerlich-überhöhend; zur möglichen Anspielung auf den platonischen Hintergrund des Wortes, insbesondere zur inhaltlichen Nähe zur Schrift Kratylos (v.a. 388e–389d), wo der Begriff ebenfalls auf diejenige Person angewendet ist, welche sprachliche Bezeichnungen festlegt, vgl. den Kommentar zu §26: καθάπερ ὁ νομοθέτης καὶ διδάσκαλος (der Rednerlehrer selbst – in dessen Fussstapfen ja der Schüler treten soll – wird an dieser Stelle als νομοθέτης bezeichnet). Lukian benutzt die Vokabel andernorts zur positiven Bezeichnung der konventionellen, bekannten Autoritäten der klassischen Zeit, vgl. Hist. Conscr. 42 (Thukydides als Vorbild der Historiographie: Ὁ δ’ οὖν Θουκυδίδης εὖ μάλα τοῦτ’ ἐνομοθέτησεν) und Pro Lapsu 4 (Platon als Stilvorbild: Ἀλλ’ ὁ θαυμαστὸς Πλάτων, ἀνὴρ ἀξιόπιστος νομοθέτης τῶν τοιούτων). τὸν μὲν ἑρμηνεῦσαι δεινὸν »εὔλεξιν« καλεῖν [...] τὸν ὀρχηστὴν δὲ »χειρίσοφον« Auch für die empfohlenen Neologismen liefert der Rednerlehrer Beispiele: Einer, welcher fähig ist im sprachlichen Formulieren (ὁ ἑρμηνεῦσαι δεινός), soll εὔλεξις (»mit Wohldiktion ausgestattet«) heissen,882 ein Intelligenter (ὁ συνετός) σοφόνους (»Weisgeist«) und schliesslich ein Tänzer (ὀρχηστής) χειρίσοφος (»handweise«).883 Von den genannten Vokabeln finden sich zwei ebenfalls wieder in Lex., was die Nähe des hier Vorgeführten zur archaistisch-gesuchten Sprache des Lexiphanes unterstreicht: εὔλεξις §1 und χειρίσοφος (bzw. die Form χειρόσοφος) §14 (auch in Salt. 69).884 Die Adjektive εὔλεξις und σοφόνους sind – wie es durch ihre Bezeichnung als Neologismen zu erwarten ist – ausserhalb Lukians nirgends belegt; χειρίσοφος verwendet (in dieser Form) 882 Zu den rhetorischen Termini ἑρμηνεία bzw. λέξις siehe bereits den Kommentar zu §1: γνῶναί τε τὰ δέοντα καὶ ἑρμηνεῦσαι αὐτά. 883 Gemeint ist ein Tänzer, der auf pantomimische Weise – namentlich durch Bewegungen der Hände (deshalb »handweise«) – eine Geschichte darstellt (vgl. Luk. Salt. passim). Das Adjektiv χειρίσοφος wird in Salt. 69 zusätzlich in dem Sinn erläutert, dass hinter der Darbietung der Pantomimen ein geistiges Verständnis für den Stoff, διάνοια und σοφία genannt, stehe. 884 Macleod druckt in der Erstausgabe OCT vol. 2 [1974] in Rh. Pr. 17 die Form χειρίσοφος (βγ), die ich übernommen habe, in der verbesserten Neuauflage von 1993 hingegen erscheint die Form χειρόσοφος (corr. recc.). Diese Verbesserung, auf der Überlieferung der älteren HSS von Lex. 14 (χειροσόφων; χειρισόφων recc.) beruhend, halte ich für unnötig, da in Salt. 69 umgekehrt die älteren HSS χειρισόφους überliefern, während die neueren χειροσόφους haben. Es ist also deutlich, dass die Überlieferungslage keine eindeutigen Schlüsse zulässt bzw. die alte Überlieferung nicht als falsch eingestuft werden sollte. Für die Lesart χειρίσοφος sprechen zudem die ausserlukianischen Belege – es sei denn, gerade dieser Befund sei Grund für die Bevorzugung des anderslautenden χειρόσοφος (zum Problem des Neologismus s. gleich). In LSJ s.v. χειρίσοφος findet sich denn auch die Angabe, dies sei eine falsa lectio für χειρόσοφος.

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5. Kommentar (§§16–17)

[Ps.]-Herodian Part. p. 150,8 Boissonade (in einer Aufzählung von Komposita mit χείρ, »Hand«), vgl. weiter Dionysios Thrax, Gr. Gr. vol. 1,1, p. 30 Uhlig. Zudem ist dieses Kompositum als klassischer Name bei Xenophon häufig belegt: Der Spartiate Cheirisophos (Xen. An. 1,4,3 etc.) verstärkte um 401 v.Chr. mit spartanischen Hopliten das Heer des jüngeren Kyros auf seinem Feldzug gegen seinen Bruder, den Perserkönig Artaxerxes.885 Das Problem, dass hier kein eigentlicher Neologismus vorliegt, mag durch die beabsichtigte Intertextualität mit origineller Umdeutung eines Eigennamens zu einer Berufsbezeichnung erklärbar sein. Zudem werden durch den Verweis auf die historische Person Cheirisophos Kleinasien und das Perserreich aufgerufen, was auf die Perserkriege als Paradethema der sophistischen Deklamationen vorausdeuten könnte (vgl. den Kommentar zu §18: ὁ Μαραθὼν καὶ ὁ Κυνέγειρος κτλ.). Das diesen Adjektiven gemeinsame Element ist der affektierte, lächerliche Effekt einer Diktion, die massgeblich durch Neologismen eine Gesuchtheit erreicht, welche die erstrebte Beeindruckung der πολλοί garantiert. Zur Selbststilisierung des Rhetoriklehrers, der diese Neologismen verwendet, kann Folgendes gesagt werden: Implizieren die zuvor genannten obskuren Vokabeln inhaltliche Banalität und Abstrusität der Reden, so wird mit den Neologismen generell auf den Rednerberuf rekurriert: Dass εὔλεξις und σοφόνους den fähigen Redner sowie auch den Scheinredner, der sich als πεπαιδευμένος stilisieren will, charakterisieren, versteht sich von selbst. Das dritte Adjektiv χειρίσοφος wird in Zusammenhang mit einem Pantomimenkünstler, einem Techniten also, gebracht, der allerdings genauso als πεπαιδευμένος gilt (vgl. Salt. 4, 6, 23, 35, 81) und daher als Beispiel herangezogen werden kann, und der mit dem Showredner vor allem die Bühnenprofession gemeinsam hat: Der Einbezug dieses Adjektivs verweist daher möglicherweise auf das typische schauspielerische Element886 der neuen Modesophistik, durch das sie sich gegenüber der alten Sophistik, als deren Attribute εὔλεξις und σοφόνους gelten können, zusätzlich auszeichnet. ἂν σολοικίσῃς δὲ ἢ βαρβαρίσῃς Zu Solözismen und Barbarismen als Bezeichnungen für sprachliche Ausrutscher in Syntax bzw. im Gebrauch von Einzelwörtern vgl. die Einleitung 2.2 (über Lukians Soloecista), bes. Anm. 275. Hier liegt im Gegensatz zu den vorangegangenen Passagen über seltenes Vokabular und über Neologismen keine weitere Empfehlung zur sprachlichen Gestaltung der Rede vor, sondern eine Anweisung für den Fall, dass sich ein Sprachfehler einschleicht, der vom Publikum als solcher moniert 885 886

Vgl. DNP 2 s.v. Cheirisophos. Vgl. dazu Rh. Pr. 15 und 19.

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wird: Direkt im Anschluss an die seltsamen Vokabeln, die einen kritischen Punkt darstellen, der leicht den Vorwurf des Barbarismus nach sich ziehen könnte, macht diese zusätzlich formulierte ›Notfallstrategie‹ durchaus Sinn.887 Lukian zieht die Termini σολοικίζειν/σολοικισμός ganz allgemein immer wieder zur Verspottung Scheingebildeter heran, seien es Philosophen (Vit. Auct. 23: Der Stoiker füllt sich mit Solözismen und ungebräuchlichen Wörtern an [σολοικισμῶν ἐμπιμπλάμενον καὶ ἀτόπων ῥημάτων]), reiche Ungebildete (Merc. Cond. 35) oder Redner im engeren Sinn (vgl. dazu die gesamte Schrift Soloecista, bes. §§1–4). Sogar unangebrachte Darstellungen in der Pantomime können übertragen als Solözismen bezeichnet werden (Salt. 27 und 80). Ebenso verhält es sich mit den Termini βαρβαρίζειν/βαρβαρισμός zur Kritik an der Sprache der Ungebildeten, vgl. Adv. Ind. 7; Somn. 8; Dial. Mort. 20,10 (bezogen auf einen ῥήτωρ). Im sophistischen Streit um den Gebrauch des Wortes ἀποφράς in Pseudol. 11 wird βαρβαρίζειν mit ξενίζειν und ὑπερβαίνειν τοὺς ὅρους τοὺς Ἀττικούς ergänzt (vgl. auch Pseudol. 29 und den Kommentar oben zu: ἀπόρρητα καὶ ξένα ῥήματα καὶ σπανιάκις ὑπὸ τῶν πάλαι εἰρημένα). Vgl. auch Rh. Pr. 23 (über das Privatleben des Sophisten, seine sexuellen Eskapaden und die entsprechenden Aufgaben seiner Zunge, γλῶττα): δύναται δὲ οὐ σολοικίζειν μόνον καὶ βαρβαρίζειν [...] ἀλλὰ καὶ νύκτωρ τι ἄλλο ὑποτελεῖν [...]. ἡ ἀναισχυντία Hier wird in einem Beispiel der ›Anwendung‹ deutlich gemacht, warum vom Schüler als eine der grundlegenden Charaktereigenschaften »Unverschämtheit« gefordert wird (vgl. den Kommentar zu §15: θράσος ἐπὶ τούτῳ καὶ τόλμαν καὶ ἀναισχυντίαν): Jedem möglichen kritischen Einwand muss eine unverschämte Antwort entgegengehalten werden können. πρόχειρον Vgl. bereits §16 (die attischen Wörter sollen dem Schüler immer greifbar zuvorderst auf der Zunge liegen: πρόχειρα ἐπ’ ἄκρας τῆς γλῶττης ἔχε) und §17 oben (bezogen auf die ungebräuchlichen und fremden Wörter: ἀποτόξευε προχειριζόμενος εἰς τοὺς προσομιλοῦντας). Vgl. auch den Kommentar zu §15: ἐφόδια [...] ἐπισιτίσασθαι. Inhaltlich wird hier dem konventionellen Bezug auf die Klassiker als Autoritäten in pervertierter Weise nachgekommen: Der Schüler soll sich ein 887 Zu Sprachdebatten während der sophistischen Vorträge vgl. die Einleitung zu §§16–17 und die folgende Anm.

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5. Kommentar (§§16–17)

Repertoire von Autoren zurechtlegen, aus denen er bei Bedarf für jede strittige Vokabel eine (imaginäre) Belegstelle anführen kann.888 ὄνομα οὔτε ὄντος τινὸς κτλ. Die sorgfältige stilistische Gestaltung mit Alliteration (ὄνομα οὔτε ὄντος) und Parallelismus (οὔτε ὄντος τινὸς / οὔτε γενομένου ποτέ) hebt die Unverschämtheit der Empfehlung auch auf sprachlicher Ebene hervor. ἢ ποιητοῦ ἢ συγγραφέως Die Formulierung »entweder eines Dichters oder eines Prosaschriftstellers« macht deutlich, dass in der sophistischen Rhetorik sowohl poetisches als auch prosaisches Vokabular zum Einsatz kommen konnte, ersteres jedoch in geringerem Umfang und vor allem in Zitaten, weshalb im Folgenden auch keine Dichter, sondern die klassischen Prosaautoren Isokrates, Demosthenes und Platon genannt sind. Vgl. zu den kanonischen Autoren der Kaiserzeit Anm. 264 und zur lukianischen Diskussion über den Umgang mit poetischem Vokabular in Prosatexten Anm. 853. Das Substantiv συγγραφεύς bezeichnet ursprünglich denjenigen, der historische Fakten sammelt und niederschreibt, d.h. einen Historiker (vgl. Xen. Hell. 7,2,1; Dion. Hal. Thuk. 5,1), dann auch generell einen Prosaschriftsteller (vgl. in Opposition zum Dichter: Plat. Phdr. 235c und 278e). ὁ λῆρος Ἰσοκράτης ἢ ὁ χαρίτων ἄμοιρος Δημοσθένης ἢ ὁ ψυχρὸς Πλάτων Man vgl. bereits die Ablehnung dieser ›Klassiker‹ in §§9–10. Die indirekt wiedergegebenen Aussagen des Lehrers des langen Weges, der sich ja in die Tradition dieser klassischen Redner und Autoren stellt, sind dort bereits als »Geschwätz« (§9: λήρους) charakterisiert worden.889 Ein weiterer intertextueller Bezug ergibt sich daraus, dass hier dem Demosthenes »(sprachliche) Grazie« (χάρις) abgesprochen wird, sie dem Rednerlehrer hingegen vom Ratgeber bescheinigt wird (§11: φίλον Ἀφροδίτη καὶ Χάρισι); damit wird der Bruch mit der Konvention bis zum äussersten fortgeführt:890 Die 888

Eine Episode aus Philostrat (VS 578) illustriert, dass Sprachfehler tatsächlich kritisiert und aufgedeckt wurden, indem ein Klassikerbeleg gefordert bzw. auf das Fehlen desselben hingewiesen wurde. Der Sophist Philagros kann sich allerdings elegant-witzig aus der Affäre ziehen: Ihm entschlüpfte ein ungebräuchliches Wort (ἔκφυλον ῥῆμα), worauf ein Kritiker ihn fragte, bei welchem Klassiker sich das denn finde. Philagros reagierte schlagfertig mit der selbstbewussten Antwort »bei Philagros«. 889 In Rh. Pr. 23 allerdings wird ληρεῖν angewandt auf die neue Modesophistik bzw. vom Rednerlehrer über seine eigene Tätigkeit geäussert, vgl. den Kommentar zur Stelle. 890 Zu Lukians (konventionellen) Aussagen über χάρις Ἀττική, die er auch in seinen eigenen Werken verwirklichen möchte, vgl. Zeux. 1. Die Junktur χαρίτων ἄμοιρος begegnet neben Lukian

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neuen Redner, Absolventen des kurzen Lehrgangs, beanspruchen die wahre Redequalität für sich, ja setzen sich selbst an die Stelle der kanonischen Autoren.891 Die Vorbildfunktion, welche die klassischen Autoren konventionellerweise für die Sophisten hatten, illustrieren die Berichte Philostrats: Ein Beispiel ist der grosse Sophist Herodes Atticus, der vom Biographen für seinen Stil in den höchsten Tönen gelobt und als jemand beschrieben wird, der sich so stark dem Studium der Klassiker widmete und Tag und Nacht lernte, dass er vom Publikum einer »der Zehn«892 genannt und von weniger fleissigen, leichtsinnigeren Kollegen als σιτευτὸς ῥήτωρ (»gemästeter Redner«) bezeichnet wurde (VS 564f.). Herodes kann daher als einer derjenigen angesehen werden, die den ›langen Weg‹ absolvierten und für ihn einstanden.893 Auch in Lukians Œuvre treten die klassischen Autoren durchaus (sowohl explizit als auch implizit) in einem der vorliegenden Passage entgegengesetzten Licht auf (vgl. für Textbeispiele bereits §9: ζηλοῦν [...] μιμεῖσθαι): Demosthenes tritt uns als das grosse Vorbild in Rhetorik und Bildung allgemein entgegen – zwar teilweise in humoristischen Kontexten, in denen der Umgang der zeitgenössischen Redner und πεπαιδευμένοι mit dem klassischen Erbe kritisiert oder verspottet wird, aber so, dass die Wichtigkeit dieses Autors für die Zweite Sophistik hinter der Komik verborgen relativ selten; einziger vorlukianischer Beleg ist Plut. mor. 769c, zwar bezogen auf die χάρις der Frauen, aber mit einem illustrierenden Sprachvergleich (mit Umkehrung von Substantiv und Adjektiv noch Cass. Dio 20,67,2: οὐκ ἄμοιρον χαρίτων ἄνδρα). Ebenfalls im Kontext mit Frauen bei Greg. Nyss. Contra Eunomium 1,96. In Verbindung mit einer Aussage über Platon bei Psell. Theolog. 75 (über die Frage der sprachlichen Grazie des platonischen Timaios): Λογγῖνος [...] τὸν τοῦ Πλάτωνος ἐξηγούμενος Τίμαιον καὶ βουλόμενος μηδὲ τῶν ῥητορικῶν χαρίτων ἄμοιρον αὐτὸν ἀποδεῖξαι [...]. Die χάρις der klassischen attischen Autoren wird jedoch in etwas variierter Form durchaus erwähnt: Dion von Prusa Or. 18,13 empfiehlt dem angehenden Redner das Studium der Sokratiker, insbesondere Xenophons, da jede Rede »ohne sokratische Grazie« (χάριτος Σωκρατικῆς ἄμοιρος) unschön anzuhören sei. Bei Dionysios von Halikarnass findet die χάρις des Demosthenes positive Erwähnung (Dem. 13,7, an dieser Stelle wird auch Lysias’ »Grazie« herausgestrichen; vgl. Lys. 12–13; genauso bei Longin 34,2), ebenso diejenige Platons (Din. 8,2: τὸ εὔχαρι; als gegenteiliger Begriff erscheint ἄχαρις, vgl. Lys. 12). 891 Vgl. auch bereits den Kommentar zu §13: δαιμόνιον ἄνδρα. 892 Gemeint ist der Kanon der 10 attischen Redner: Antiphon, Andokides, Lysias, Isokrates, Isaios, Demosthenes, Aischines, Lykurgos, Hypereides, Deinarchos (vgl. Quint. Inst. 10,1,76–79 und 12,10,21–23 [vollständigste Liste]; Dion. Hal. Orat. Vett. 4,1). Der Kanon der Zehn (ἡ Ἀττικὴ δεκάς) findet auch positive Erwähnung in Luk. Scyth. 10 (siehe zu dieser Textstelle bereits Anm. 265). 893 Über die nicht empfehlenswerte Nachahmung (nur) der Modernen äussert sich in späterer Zeit z.B. auch Libanios und votiert für ein umfassendes Studium der alten Klassiker (Or. 1,23). Bei Libanios ist allerdings auch bezeugt, dass in den Rhetorikschulen durchaus eine Auswahl von Reden der ›Modernen‹, insbesondere des der jeweiligen Schule vorstehenden Lehrers selbst, gelesen wurden, und zwar im Wechsel mit Klassikertexten (vgl. Lib. Ep. 894 und weitere Zeugnisse bei Cribiore [2007] 152).

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5. Kommentar (§§16–17)

trotzdem unbestritten deutlich ist (J. Trag. 14 und 23; Adv. Ind. 4; Somn. 12; Merc. Cond. 5 und 25).894 Platon wird bei Lukian sehr häufig erwähnt, einerseits in Texten, in denen er als (komische) Dialogfigur agiert (Pisc.), andererseits in Texten, die sich mit den verschiedenen Philosophenschulen auseinandersetzen (Hermot.). Die Wichtigkeit der platonischen Schriften (vgl. z.B. Philopseud. 6: λόγοι; Philopseud. 27: βιβλίον), die von Lukians Zeitgenossen wie auch von ihm selbst eifrig rezipiert wurden und deren Inhalt immer wieder zum Vergleich oder als Reverenz zur Verdeutlichung eines Sachverhalts angeführt wird, tritt gerade in Anspielungen ohne engeren philosophischen Kontext klar zutage (Musc. Enc. 7; Demon. 14; Ver. Hist. 2,17; Symp. 37; Merc. Cond. 24; Salt. 2, 34, 70; Dips. 9). Sogar der Ratgeber macht in Rh. Pr. 26 einen Platonbezug auf Phdr. 246e (siehe den Kommentar zu §26: τὸ τοῦ Πλάτωνος ἐκεῖνο »πτηνὸν ἅρμα ἐλαύνοντα« κτλ.). Entgegen der vorliegenden Ablehnung begegnet uns Platon als Stilvorbild (und daher im Verbund mit den klassischen attischen Rednern), ja geradezu als höchste Instanz für Vokabularfragen in Lex. 1 und 22; Pro Laps. 4 (ὁ θαυμαστὸς Πλάτων, ἀνὴρ ἀξιόπιστος νομοθέτης895 τῶν τοιούτων [sc. Stilfragen]); Sol. 6, 7 und 10 (ὁ δὲ Πλάτων καλεῖ / ὁ γὰρ Πλάτων λέγει / ὁ Πλάτων φησὶν [...]). Die durchaus leicht übertrieben oder ironisch wirkenden Attribute (ὁ θαυμαστὸς Πλάτων: Pro Laps. 4; ὁ ἱερώτατος: Makr. 21; ἱερός: Philopseud. 24) sind nicht als versteckte Platonkritik zu lesen, sondern als Hinweis darauf, wie stark sich zu Lukians Zeit alles um diesen Autor drehte, was den Umgang mit seinen Texten nicht einfach macht und immer auch dazu führen kann, dass jedes Mass dessen, was gute Rhetorik oder korrektes Attisch ist, durch allzu verkrampfte Traditionsbezogenheit aus den Augen verloren wird. Der Vorwurf liegt daher viel eher bei denjenigen, welche die Klassiker (falsch) rezipieren. An vorliegender Stelle in Rh. Pr. wird der einen Vergleichsperson, Isokrates, ein überladener Attizismus vorgeworfen, der anderen, Demosthenes, ein zu wenig eleganter Stil, so dass implizit eine Art ›goldene Mitte‹ gefordert ist. Der Vorwurf an Platon trifft, wie gleich dargelegt werden soll, nicht den engeren stilistischen Bereich, was darin begründet liegen kann, dass der Rednerlehrer aus Mangel an möglichen (und vor allem glaubwürdigen) platonischen Stilfehlern in einen mit dem Inhalt kombinierten Be894 Paras. 42 ist die einzige Textstelle, in welcher Demosthenes – und ebenso Isokrates (§42) und Platon (§43) – eindeutig negativ erwähnt wird (der Parasit Simon betitelt sie alle als Feiglinge). Isokrates wird weiter nur noch in Makr. 23 als Beispiel hohen Alters genannt (genauso Platon in Makr. 21). Vgl. zu Lukians Anspielungen auf verschiedene Vertreter des Kanons der zehn attischen Redner auch die Analyse von Baldwin [1973] 64–69. 895 Vgl. zu diesem Begriff in ironischer Anwendung auf den Schüler und den Rednerlehrer den Kommentar zu §17: νομοθέτει und §26: καθάπερ ὁ νομοθέτης καὶ διδάσκαλος.

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reich ausweichen muss. Bereits der Scholienkommentar analysiert entsprechend, indem die Verkehrung der gängigen ἀρεταί von Isokrates, Demosthenes und Platon festgestellt und näher erläutert wird (p. 179 Rabe).896 An Isokrates werde der überaus sorgfältige Stil, an Demosthenes der heftigdichtgedrängte Stil kritisiert, an Platon wiederum seine Üppigkeit, Weitschweifigkeit, ja Freigeistigkeit, die in jeglicher Hinsicht angenehm sei. Die verwendeten substantivierten Adjektive ἄφετον und ἐλευθέριον weisen darauf hin, dass der Inhalt der Schriften Platons im Urteil zumindest miteinbezogen ist.897 Bei Lukian begegnet uns neben den vielen positiven Belegen die in Rh. Pr. 17 vorliegende Kritik an Platons ψυχρότης ein weiteres Mal in Ikaromen. 24, allerdings eingeschränkt auf die Schrift Nomoi, was den oben postulierten Konnex zu bestimmten Inhalten unterstützt (Zeus beklagt sich): ψυχροτέρους ἄν μου τοὺς βωμοὺς ἴδοις τῶν Πλάτωνος νόμων ἢ τῶν Χρυσίππου συλλογισμῶν. Grundsätzlich ist ψυχρότης ein rhetorischer Terminus zur Stilkritik, der eine Verletzung der Stilqualität des πρέπον bezeichnet, indem die Wortwahl, die Diktion insgesamt, nicht dem beschriebenen Gegenstand und dem gewählten Literaturgenus angepasst erscheinen.898 Da aber gerade Platon als hervorragendes Stilvorbild gilt, legt die Aussage in Ikaromen. 24 mit entsprechendem Scholienkommentar eine zumindest erweiterte Bedeutung des Begriffs nahe: Der Scholienkommentar lässt nämlich, da er vor allem die Nutzlosigkeit dieser Werke betont, denen sich niemand zuwenden mag, darauf schliessen, dass die Kritik der ψυχρότης nicht nur auf Stil und Diktion, sondern auch auf den (faden) Inhalt und

896 Der gesamte Kommentar zur Stelle lautet: δριμέως ἄγαν ὁ βωμολόχος καὶ γόης τῷ λόγῳ καθίκετο τῶν θαυμασίων ἀνδρῶν εἰς τὸ ἐναντίον τὴν ἑκάστου λοιδορησάμενος ἀρετήν· τοῦ μὲν γὰρ τὸ ἐπιμελὲς ἄγαν καὶ ὕπτιον λῆρον ἐκάλεσε, τοῦ δὲ τὸ γοργὸν καὶ πυκνὸν εἰς τὸ ἄχαρι ἀπέσκωψε, τοῦ δὲ τὸ ἄφετόν τε καί ἐλευθέριον καὶ κατὰ πᾶσαν ἰδέαν εὐμεταχείριστον εἰς ψυχρολογίαν διέβαλεν. 897 Beide Vokabeln sind nicht im engeren Sinn Stilbegriffe, wie es bei ἐπιμελής, γοργός, πυκνός der Fall ist (vgl. dazu Hermogenes Περὶ ἰδεῶν); Lukian verwendet ἄφετος nochmals bezogen auf eine Rede in Tox. 56, wo Mnesippos sich über den grossen Redefluss (ἀφετοὶ λόγοι) seines Gesprächspartners Toxaris mokiert, der ihn zu langem Schweigen gezwungen hat (auch diese Stelle weist eine Aussage auf, die Inhalt und Form nicht differenziert). Die in den Scholien verwendete Formulierung κατὰ πᾶσαν ἰδέαν changiert in ihrer Bedeutung, kann doch ἰδέα eine Literaturgattung oder verschiedene Stilqualitäten (s.o. zu Hermogenes), aber einfach auch generell verschiedene Arten einer Sache bezeichnen. 898 Vgl. dazu bereits Anm. 832. Vgl. weiter Arist. Rh. 1405b–1406b; Longin 3,4; 4,1; 4,5; Quint. Inst. 5,10,31 sowie 8,3,56; schliesslich Fuhrmann [1984] 119f.: »Die andere Art [sc. von Verstössen gegen das Angemessene] – das κακόζηλον, [...] der ›übel angebrachte Ehrgeiz‹, das Äquivalent des ψυχρόν [...] bei Aristoteles – reicht weiter; sie umfasst alles, was einem normalen Stilempfinden als unnatürlich, überflüssig, gespreizt oder geziert erscheint.« Vgl. zu den Fehlern, die der Rednerlehrer hier Demosthenes (fehlende Grazie) und Platon (Frostigkeit) ankreidet, auch Lausberg [31990] 524, §1079, 3g (vitia des genus grande: ψυχρόν, χαρακτὴρ ἄχαρις).

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5. Kommentar (§§16–17)

die (uninteressante) Thematik eines Werks angewendet werden konnte.899 Diese Bedeutung geht von der wörtlichen Übersetzung »kalt« aus, die hier in dem Sinn verwendet wird, dass Zuhörer oder Rezipienten sich für die Sache nicht erwärmen können und in ihnen keinerlei Emotionen bzw. positive Reaktionen ausgelöst werden. τοὺς τῶν ὀλίγον πρὸ ἡμῶν λόγους Anstelle der attischen Klassiker soll sich der Schüler die Reden der Sophisten kurz vor seiner Zeit zu Gemüte führen. Das ist der schnelle Weg, denn diese Sophisten verwirklichten bereits – sei es im Schnellverfahren, wie es der Rednerlehrer vorschlägt, sei es nach ausführlichem Studium der Klassiker, dem sich der Ratgeber selbst noch unterzog (vgl. Rh. Pr. 8 und 9) – die an attizistische Diktion und Stil gestellten Forderungen, so dass der Scheinsophist die Arbeit nicht von neuem leisten muss, sondern die eigene Sprechweise zusätzlich zu den aus Lexika zusammengestellten Vokabeln (vgl. Anm. 814) auch mit Passagen aus solchen Reden ausstaffieren kann (vgl. unten die Formulierung: ἐπι-σιτισάμενος). μελέτας Hier begegnet zum einzigen Mal in Rh. Pr. der terminus technicus900 für die Deklamationen der Redner der Zweiten Sophistik, diejenige Redegattung, auf welche sich die Anweisungen des Rednerlehrers beziehen (deutlich v.a. in den folgenden Kapiteln 18–22). Die μελέτη wird definiert als eine fiktive deliberative oder forensische Rede, welche Personen aus Mythos oder Geschichte in einer bestimmten Situation hätten halten können, wobei die gewählten Themen der uns bekannten Deklamationen sich von der Mythologie über einige bekannte Episoden aus den Perserkriegen, dem Peloponnesischen Krieg und der Zeit des makedonischen Aufstiegs bis zum Tod Alexanders des Grossen erstrecken901 (vgl. Schmitz [1997] 10; 112–114; 198–205; Korenjak [2000] 23–24; Swain [1996] 92–97; ausführlich Russell [1983], bes. 10–15 und 106–108). Ihren Ursprung haben diese Themen in

899 Vgl. p. 108 Rabe: οἱ Χρυσίππου συλλογισμοὶ σοφισματώδεις ὄντες καὶ οὐδὲν ἧττον τῶν Πλάτωνος νόμων τὸ χρειῶδες ἐπιφαίνοντες ἀργοὶ κεῖνται καὶ ἀνεπίσκεπτοι μηδενὸς ἀνθρώπων μεταχειρίζεσθαι προθυμουμένου τούτους διὰ τὸ ἀνωφελὲς τε καὶ ἄκαρπον. Vgl. dazu auch LSJ s.v. ψυχρός 4.: of flat, lifeless, insipid productions (z.B. Ar. Th. 848). Im obigen Scholienkommentar zu Rh. Pr. ist es wohl eher die genannte Weitschweifigkeit, die negativ als ψυχρότης gedeutet werden kann. 900 Vgl. die Häufigkeit dieses Begriffs bei Philostrat (e.g. VS 513 und 514). 901 In der fiktiven Gerichtsdebatte treten auch nicht konkret benannte oder nicht berühmte Personen auf, vgl. dazu Cribiore [2001] 233f.

§17: Archaismen, Neologismen und literarische Vorbilder

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den Übungen (προγυμνάσματα) der Rhetorikschulen (speziell ἀνασκευή, κατασκευή, ἠθοποιία und χρεία).902 ἀπ’ ἐκείνων ἐπισιτισάμενος Lukian verwendet das Verb ἐπισιτίζεσθαι bereits zu Beginn von §15 (vgl. den Kommentar zu: ἐφόδια [...] ἐπισιτίσασθαι), so dass das Motiv des Proviants bzw. des Sich-Verproviantierens aus der Speisekammer (ἐκ ταμιείου) einen Rahmen um den ersten Teil der Instruktionen bildet; zudem liegt eine Anwendung von Essensmetaphorik auf den Bereich von Sprache bzw. Literatur vor, wie sie bereits in §16 herangezogen worden ist (vgl. den Kommentar zu: καθάπερ τι ἥδυσμα ἐπίπαττε αὐτῶν). Versteht man das Partizip ἐπισιτισάμενος im Sinne einer grosszügigen Übernahme von Passagen und Formulierungen, die nach Belieben im eigenen Vortrag reproduziert werden können, genau wie es bei den Standardattizismen und dem seltenen Vokabular der Fall ist (s.o.), dann wird hier inhaltlich eine äusserst heikle Empfehlung ausgesprochen, die dem gebildeten Rezipienten die Haare zu Berge stehen lässt, den schamlosen Redner freilich nicht kümmert: Der beschriebene Vorgang des sich ›Verproviantierens‹ mit Versatzstücken aus Deklamationen der Vorgänger, die bei Bedarf unverändert bequem in die eigene Rede eingebaut werden können und nicht als Zitate gekennzeichnet werden, kommt einem Plagiat gleich, das der attizistischen Theorie der μίμησις keineswegs mehr entspricht.903 Die hier formulierte Empfehlung des Rednerlehrers ist für jemanden, der sich an die uns bekannten Regeln für Auftritte von Sophisten hält oder als gebildeter Rezipient über diese Bescheid weiss, auch gerade deshalb in höchstem Mass verwerflich, weil die Improvisation ein wesentliches Merkmal der Deklamationen darstellte, d.h., dass aus dem Stegreif (oder zumindest nach relativ kurzer Vorbereitungszeit) eine noch nie zuvor gehaltene Rede vorgetragen wurde. Die Kunst besteht gerade darin, die Fähigkeit zu besitzen, selbst aus dem Stegreif Neues zu formulieren, wobei Anspielungen auf und Zitate aus (hauptsächlich klassischen) Autoren erwünscht sind, eine passen-

902 Vgl. dazu auch die Thematik der Paradethemen in Rh. Pr. 18; zu den Progymnasmata allgemein siehe Gibson [2004]. Vgl. zu den historischen Themen der Deklamationen weiter Bowie [1970] 6–10 und bes. 10–28 über die Historiographie der Kaiserzeit, welche denselben stilistischen, formalen und inhaltlichen Rückbezug auf die klassische Periode erkennen lässt, was das Phänomen als ein – über die sophistische Rhetorik hinaus – charakteristisches Zeichen der Zeit erweist. 903 Man vergleiche Pseudol. 6, wo sich Lukian über eine (vermeintliche) Stegreifrede lustig macht, die praktisch nur aus Versatzstücken aus früher gehaltenen Deklamationen bestand, was das Publikum bemerkte und sich im weiteren Verlauf der Darbietung einen Spass daraus machte, die Plagiate den eigentlichen Autoren bzw. Rednern zuzuordnen. Die Nichtakzeptanz von Plagiaten gilt natürlich auch für jede andere literarische Produktion ausserhalb des ›Rednergeschäfts‹.

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5. Kommentar (§§16–17)

de Adaptation aber unabdingbar ist.904 Dass diese Adaptation hier nicht geschieht, sondern eine beliebige Stelle wie aus einer Vorratskammer ›gezückt‹ wird, macht m. E. die Formulierung ὡς ἔχῃς [...] ἐν καιρῷ καταχρῆσθαι καθάπερ ἐκ ταμιείου προαιρῶν deutlich. Was der Rednerlehrer empfiehlt, widerspricht dem Berufsethos somit gleich doppelt: Er verwirft nicht nur eine Orientierung an den klassischen Vorbildern,905 sondern geht auch mit den stattdessen empfohlenen Vorgängertexten nicht im Sinn von μίμησις und ζήλωσις um, weil aus ihnen grosszügig Material direkt übernommen werden kann. Wie anders Bildung und speziell Rhetorikausbildung in Lukians Schrift Lexiphanes konzipiert sind, die wegen der Thematik kritisierter Diktion im vorliegenden Abschnitt bereits mehrfach erwähnt worden ist, wird aus Lykinos’ Aussagen gegenüber Lexiphanes deutlich. Die ideale Ausbildung, der sich Lexiphanes zu unterziehen hätte, dadurch umlernen würde (§21: μεταπαιδεύειν) und zu echter μίμησις imstande wäre, sähe folgendermassen aus (Lex. 22): [...] ἀρξάμενος δὲ ἀπὸ τῶν ἀρίστων ποιητῶν καὶ ὑπὸ διδασκάλοις αὐτοὺς ἀναγνοὺς μέτιθι ἐπὶ τοὺς ῥήτορας, καὶ τῇ ἐκείνων φωνῇ συντραφεὶς ἐπὶ τὰ Θουκυδίδου καὶ Πλάτωνος ἐν καιρῷ μέτιθι, πολλὰ καὶ τῇ καλῇ κωμῳδίᾳ καὶ τῇ σεμνῇ τραγῳδίᾳ ἐγγυμνασάμενος· παρὰ γὰρ τούτων ἅπαντα τὰ κάλλιστα ἀπανθισάμενος ἔσῃ τις ἐν λόγοις.906 Aufgeschlüsselt ergibt sich ein Bildungsgang in vier Etappen, der die Studien beim Grammatiker und beim Rhetoriker zusammenfasst: 1. Lektüre der besten Dichter unter Aufsicht von Lehrern, 2. eingehendes Studium der (klassischen) Redner, vor allem mit dem Ziel der Aneignung einer korrekten attischen Sprache, 3. Beschäftigung mit Komödie und Tragödie, 4. Fortgeschrittenenstudium mit Thukydides und Platon.907 Eine Kombination der 904

Vgl. Schmitz [1997] 115–119 und 156–159 und das bereits erwähnte Prinzip der μίμησις und ζήλωσις im Kommentar zu §9: ζηλοῦν [...] μιμεῖσθαι. 905 Vgl. die Bemerkungen oben zu: ὁ λῆρος Ἰσοκράτης [...]. 906 »[...] beginne bei den besten Dichtern und gehe, sobald du diese unter der Anleitung von Lehrern gelesen hast, zu den Rednern über und wechsle, wenn du dich mit deren Sprache ganz vertraut gemacht hast, zum rechten Zeitpunkt zu den Werken von Thukydides und Platon, aber nicht bevor du dich auch häufig in der schönen Komödie und der majestätischen Tragödie geübt hast. Denn wenn du alle Highlights aus diesen [Autoren] pflückst, wirst du eine Kapazität auf dem Gebiet der Rhetorik sein.« Das aoristische Partizip ἐγγυμνασάμενος kann, muss aber nicht zwingend durch einen Vorzeitigkeit signalisierenden Nebensatz wiedergegeben werden. Dafür, dass der hier präsentierte Lehrgang bereits aus antiker Sicht so aufgefasst wurde, dass Komiker- und Tragikerlektüre Thukydides und Platon vorausgehen, spricht die Lesart ἐγγεγυμνασμένος (recc.) mit perfektischem Partizip sowie die schon in der Antike vorherrschende Meinung v.a. über Thukydides als anspruchsvollen Autor (vgl. die folgende Anm.). 907 Mit den »besten Dichtern« sind wohl die homerischen Epen und Hesiod gemeint, deren Lektüre bereits in klassischer Zeit zum Ausbildungsprogramm der Angehörigen der athenischen Oberschicht gehörte (vgl. DNP 5 s.v. Homeros [1], Sp. 697) und die im Hellenismus eindeutig

§17: Archaismen, Neologismen und literarische Vorbilder

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Blüten all dieser Autoren wird Lexiphanes zur richtigen Art und Weise der imitatio und aemulatio der Klassiker führen, wie sie für die Literatur der Zweiten Sophistik gefordert ist.908 Diese Stelle bietet uns den ausführlichsten Kanon von klassischen Vorbildern bei Lukian.909 In der speziell auf sophistische Rhetorik ausgerichteten Schrift Rh. Pr. werden insbesondere die wegen ihrer Sprache wichtigen attischen Redner, allen voran Demosthenes und Isokrates, in einer Anspielung (§10) auch Aischines, genannt, daneben Platon (§§9, 10, 17, 21). In Lukians Lexiphanes erscheint also nur der traditionelle Weg als gangbar, und wir finden auch über die Reden derer, die kurz vor der eigenen Zeit deklamiert haben, dezidierte Aussagen, die denjenigen in Rh. Pr. diamentral entgegenstehen (§23): Πρὸ πάντων δὲ ἐκεῖνο μέμνησό μοι, μὴ μιμεῖσθαι τῶν ὀλίγον πρὸ ἡμῶν γενομένων σοφιστῶν τὰ φαυλότατα μηδὲ περιεσθίειν ἐκεῖνα ὥσπερ νῦν, ἀλλὰ τὰ μὲν τοιαῦτα καταπατεῖν, ζηλοῦν δὲ τὰ ἀρχαῖα τῶν παραδειγμάτων.910

zum Kanon der literarischen Texte gehörten, mit denen sich die Jugendlichen bei den Grammatikern beschäftigten (vgl. DNP 4 s.v. Erziehung, Sp. 112 und Cribiore [2001] 194–198). Das heisst nichts anderes, als dass Lexiphanes nochmals ganz von vorn beginnen muss. Das Studium von Tragödien und Komödien (auch hier sind wohl in erster Linie die kanonischen Vertreter, die drei grossen Tragiker und Aristophanes, gemeint), dessen Ziel Lykinos nicht anspricht, dient wohl zum Erlernen der Kunst, einen Charakter das jeweils Passende sagen zu lassen (die so genannte ἦθοςLehre). Dass Platon und Thukydides erst am Schluss und »zur rechten Zeit« (wohl im Sinn von »nicht zu früh«) gelesen werden sollen, liegt bei letzterem sicher an seinem als dunkel und schwer verständlich geltenden Stil (vgl. z.B. Dion. Hal. Thuk. 24 und 33), bei Platon möglicherweise an der eigenwilligen, manchmal ins Poetische übergehenden Diktion (so Weissenberger [1996] 130f.), wahrscheinlich auch an inhaltlichen Schwierigkeiten, wobei allerdings umstritten ist, wie stark Platon von Sophisten auch bezüglich des eigentlichen philosophischen Inhalts rezipiert wurde (zuversichtlich De Lacy in Bowersock [1974] 7f.; der Sophist Favorinus mit seinem Selbstverständnis als Philosoph stellt ein Beispiel der engen Verbindung und Nutzung Platons als Sprachvorbild sowie als Vorbild in der Philosophie dar, vgl. Swain [1996] 45). Zum ›Bildungskanon‹ vgl. auch bereits Anm. 264. 908 Zur Kombination der Blüten verschiedener Autoren äussert sich bereits Quintilian (Inst. 10,2,25f.): Er rät im Rahmen der Theorie der imitatio und aemulatio, dass man sich nie auf ein Vorbild beschränken solle, sondern das Beste von allen in Frage kommenden Autoren auswählen und passend einsetzen solle, um so ein Werk von höherer Vollkommenheit zu schaffen als jedes einzelne Vorbild (vgl. Gelzer [1979] 37). Natürlich lehnt sich Lukian hier auch an das bereits besprochene Prinzip des Dionysios von Halikarnass an; vgl. den Kommentar zu §9: ζηλοῦν [...] μιμεῖσθαι sowie Anm. 728. Siehe zur Verbindung von Lukians μίμησις und Dionysios von Halikarnass auch Bompaire [1994]. 909 Besprochen und durch weitere Aussagen in lukianischen Schriften erweitert wird dieser Kanon bei Bompaire [1958] 144. Siehe auch Cribiore [2007] 160 (v.a. über Lektüre von Poesie im Rhetorikunterricht). 910 »Vor allem andern aber behalte mir dies im Gedächtnis, dass du nicht die äusserst schlechten Erzeugnisse der Sophisten, die kurz vor unserer Zeit gelebt haben, nachahmst oder an demjenigen nagst, wie [du das] jetzt [tust], sondern dass du solches verachtest, den alten Beispielen aber nacheiferst.« – Wiederum verwendet Lukian in sprachlichem Kontext eine Essensmetaphorik (περιεσθίειν), vgl. oben §16: καθάπερ τι ἥδυσμα ἐπίπαττε αὐτῶν.

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5. Kommentar (§§18–22)

§§18–22: Der eigentliche Auftritt, die Stegreifrede (μελέτη) und die Tricks des Sophisten: Paradethemen, Showelemente, Stoffauffindung, Claque, Umgang mit Konkurrenz Die folgenden Empfehlungen des Rednerlehrers können aus rhetoriktheoretischer Sicht zu einem grossen Teil unter die officia oratoris der εὕρεσις (Stoffauffindung), τάξις (Stoffgliederung) und besonders der ὑπόκρισις (Vortragsweise) gerechnet werden.911 Zudem ist uns aus Quellen, welche die Abläufe sophistischer Deklamationen beleuchten, das, was der Rednerlehrer hier – wenn auch in humoristisch-pervertierter Form – als entscheidende Elemente des Auftritts anführt, als tatsächlich historisch belegt greifbar.912 Damit bieten rhetorische Theorie sowie historischer Hintergrund eine wichtige (›reale‹) Kontrastfolie in der folgenden Darlegung des sophistischen Auftritts durch den Rednerlehrer. Angesichts der primär unterhaltenden Funktion der kaiserzeitlichen Rhetorik sind Showelemente und pompöse Auftritte der Sophisten durchaus nachvollziehbar und passend. Doch der intensive inhaltliche Rückgriff auf längst vergangene Zeiten, der sich v.a. in den historischen Themen der Deklamationen zeigt und dem §18 mit der Abhandlung über die Paradethemen gewidmet ist, hat in der Forschung kontroverse Interpretationen hervorgebracht und führt zur Kernfrage nach Bedeutung und Funktion der Vortragskultur der Zweiten Sophistik.913 Dazu sollen an dieser Stelle einige Überlegungen angestellt werden: Unbestritten ist das klare Bemühen der Sophisten, die klassische griechische Epoche wiederaufleben zu lassen. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass das Bildungskonzept der Kaiserzeit, dessen Grundlage die klassischen Texte darstellen, diesen Fokus auf die Vergangenheit notwendig macht, der sich dann wiederum als gemeinsame Bildungsgrundlage von Redner und Publikum in der rhetorischen Vortragskultur entsprechend niederschlägt:914 Es entsteht ein etablierter Kanon von Themen, der sich immer weiter perpetuiert und der durch seine Überschaubarkeit gerade auch einer weniger gebildeten Zuhörerschaft die Möglichkeit bietet, am kulturellen Gedächtnis teilzuhaben und beispielsweise konkurrierende Redner, die über dasselbe Thema sprechen, miteinander zu 911

Vgl. dazu bereits die rhetorische Analyse in der Einleitung 1.1.2, S. 26. Dies haben Schmitz [1997] und Korenjak [2000] in ihren Forschungen über die Zweite Sophistik und deren historisches Umfeld ausführlich gezeigt. 913 Einen guten Überblick und kritische Analysen, welche die Unzulänglichkeit bestimmter Thesen für das Phänomen der Zweiten Sophistik aufzeigen, liefert Schmitz [1997] 18–26. 914 Zum Bildungskanon vgl. bereits Anm. 264. Zur Schulübung als Grundlage der Deklamation und den daraus folgenden Konsequenzen vgl. auch Schmitz [1997] 114. 912

§§18–22: Der eigentliche Auftritt, Stegreifrede, Tricks des Sophisten

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vergleichen. Doch verlangt die ungeheure Verbreitung und Popularität solcher sophistischer Auftritte nach einer tiefer gehenden Erklärung: Ob darin eine Gegenreaktion auf die römische Beherrschung zu sehen ist und ein Schwelgen in der Zeit, in der die Freiheit Griechenlands erfolgreich verteidigt wurde und intakt war (sog. Eskapismus),915 oder ob das Phänomen innerhalb der römischen Herrschaft und nicht im eigentlichen Sinn als Gegenreaktion infolge einer Unzufriedenheit mit der politischen Situation erklärbar ist, ist umstritten. Letztere Theorie sieht in der Sophistik und ihren klassisch-griechischen Themen ein Feld, das sich den griechischen Eliten in den Städten des Ostens bot, um untereinander zu wetteifern, wobei sich diese Griechenstädte eine (kulturell-ideologische) Identität innerhalb des römischen Reiches schufen.916 Dabei ist es von Bedeutung, dass auch die römische Einstellung zur griechischen Vergangenheit der Städte im Osten durchaus eine positive war und das regierende Rom die Griechen in ihrem Rückbezug sogar unterstützte. Denn sowohl die griechischen lokalen Eliten als auch Rom zogen gleichermassen einen Nutzen aus der Stärkung der Ideologie des gemeinsamen Griechentums: Erstere, da sie ihre Stellung innerhalb der Städte legitimieren und sichern konnten, indem sie sich mit den anerkannten grossen Staatsmännern der klassischen griechischen Epoche verglichen, letztere, weil dadurch die griechische Elite in das Imperium eingebunden werden konnte.917 Zwei weitere Punkte sind zu bedenken: Erstens, dass eine ganze Reihe von Sophisten politisch nicht unbedeutend

915 Vgl. Bowie [1970]. Er betont, dass dieser Eskapismus nicht zwingend anti-römisch geprägt sein musste, aber grundsätzlich durch Frustration über die gegenwärtige politische Situation hervorgerufen wurde, vgl. 46f.: »Sometimes the reaction took the extreme form of anti-Roman sentiments [...] most often, however, the past was resorted to as an alternative to rather than an explicit reflection on the present, for most Greeks were in no real sense anti-Roman, and their absorption in the Greek past complemented their acquiescence in the politically defective Roman present. By re-creating the situations of the past the contrast between the immense prosperity and the distressing dependence of the contemporary Greek world was dulled [...]. [Hervorhebungen des Autors] 916 Vgl. Whitmarsh [2005] 10–13; Schmitz [1997] 97–110. 917 Siehe dazu Swain [1996] 67: »The Greek past functioned as a common framework of communication between the Greeks and their rulers«, weiter 66–68 und 71–76. Zur römischen Auseinandersetzung mit Homer und Troja, also mit griechischer Vergangenheit, die gleichzeitig durch die trojanische Abstammung der Römer auch die eigene ist, vgl. Zeitlin in Goldhill [2001] 233– 241. Vgl. auch die weiterführende Theorie über die Funktionen der sophistischen Literatur bei Schmitz [1997] bes. 26–31; 39–66. Er geht davon aus, dass »eine von den an der politischen Macht beteiligten Eliten produzierte Literatur von den Machtverhältnissen entscheidend geprägt ist und ihrerseits eine Funktion bei der Etablierung und Aufrechterhaltung dieser Verhältnisse übernimmt« (26) und arbeitet vor dem Hintergrund der Schriften des französischen Soziologen Bourdieu neue Thesen zur Wechselwirkung von Rhetorik, Politik und Macht in der Zweiten Sophistik aus. Siehe auch die zusammenfassende Darstellung der Forschungsmeinungen bei Möllendorff [2000b] 2–6 mit besonderer Betonung des Philhellenismus der römischen Kaiser seit Hadrian und der Probleme der Eskapismus-Theorie.

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5. Kommentar (§§18–22)

war.918 Ihre öffentlichen Auftritte vor grossem Publikum werden dahingehend interpretiert, dass sie der Vorbereitung auf die politisch-diplomatische Rolle galten. Jedoch scheint die Gesandtschaftstätigkeit der Sophisten zu wenig häufig zu sein, als dass dadurch das Phänomen der Zweiten Sophistik ausreichend und in allen Facetten erklärt werden könnte.919 Zweitens erlebten gerade zu dieser Zeit die Städte des griechischen Ostens einen wirtschaftlichen Aufschwung, wobei »gleichzeitig die Angehörigen der von diesem Aufschwung am meisten profitierenden Eliten der griechischen Städte in bislang nicht gekanntem Masse an der Macht im Imperium [partizipierten]: Sie stiegen bis in die höchsten Reichsämter auf und stellten einen beträchtlichen Anteil an Senatoren.«920 Aufgrund dieses Befundes müsste der Nährboden für das Gefühl politischer Unterdrückung insgesamt als eher gering eingestuft werden. Es wird jedoch in der Forschung nach wie vor kontrovers argumentiert: Schmitz ([1997] 25) weist auf die paradoxe Situation hin, dass »gerade die Männer, die bis in die höchste Spitze der römischen Gesellschaft vordrangen, besonders prominente Vertreter der vergangenheitsfixierten kulturellen Bewegung waren: So brachten es Herodes Atticus und Antipatros von Hierapolis beide bis zum Consulat – und waren doch Deklamatoren, die einen strengen attizistischen Stil pflegten.« Diese Fakten sind mit der Eskapismus-Theorie schwer vereinbar. Bowie ([1970] 37–39) hingegen vertritt die These, dass der politischwirtschaftliche Aufschwung der griechischen Städte im 2. Jh. die Diskrepanz zur früheren Freiheit Griechenlands und das Bewusstsein für echte politische Selbständigkeit nur noch verstärkte – zu dieser Zeit erst sei den Eliten die Endgültigkeit der Fremdherrschaft Roms deutlich geworden. Dagegen spricht die Selbstperzeption der Eliten, die von hohem Selbstbewusstsein und nicht von Verbitterung zeugt.921 918 Vgl. Bowersock [1969], bes. Kap. 4: Die Sophisten hatten als herausragende Vertreter der Oberschicht die Rolle von Vermittlern zwischen einzelnen griechischen Städten oder auch (im Rahmen von Gesandtschaften) zwischen ihren Städten und dem Kaiserhof inne (vgl. zur Vermittlung zwischen Städten: Dion von Prusa Or. 38–41 und Aristeid. Or. 23–24; vgl. zu Gesandtschaften an den Kaiserhof: VS 520–521, 530–531, 570; Aristeid. Or. 19–21). Teilweise fungierten sie sogar als Berater am Kaiserhof (Dion und Polemon). 919 Vgl. dazu Bowie [1982]; der entscheidende Punkt liegt in der Beurteilung, ob der Sophistenberuf die politische Prominenz bedingt, oder ob sie nicht vielmehr durch die Zugehörigkeit zur aristokratischen Elite der betreffenden Städte bedingt ist, wobei die literarisch-kulturelle Aktivität dieser Personen dazu beiträgt, dass sie uns mit ihrer (politischen) Karriere bekannt sind. Bowie beschliesst seine Ausführungen bezüglich der Beurteilung der Gesandtschaftstätigkeit der Sophisten wie folgt (38): »their role as city politicians from distinguished families is as significant as their eminence in sophistic oratory.« 920 So Schmitz [1997] 24f.; vgl. auch Swain [1996] 69–71. 921 Vgl. Schmitz [1997] 25f.: »Römisches Bürgerrecht ist bei den bedeutenderen Vertretern der zweiten Sophistik die Regel. Diese Männer hatten keinen Anlass zu Verbitterung und Ressenti-

§§18–22: Der eigentliche Auftritt, Stegreifrede, Tricks des Sophisten

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Das Problem kann auch an dieser Stelle nicht gelöst werden. Mir scheint allerdings der Zugang von Swain, der die komplexen Wechselwirkungen des Griechischen und Römischen beleuchtet, besonders fruchtbar ([1996] 71f.): Es besteht für die griechischen Eliten durchaus die Möglichkeit einer griechischen (kulturellen) neben einer römischen (politischen) Identität, wobei das Grieche-Sein dennoch immer den Vorrang haben dürfte, und einer der Hauptgründe für die Betonung des Griechentums in den Texten und Deklamationen des 2. Jh.s sehr wohl in der Absetzung von der neuen Grossmacht Rom (früher die Barbaren) liegen kann, so dass die griechische Identität letztlich auch eine politische Signifikanz aufweist (89). Ergänzen lässt sich, dass speziell den Deklamationen mit Themen aus den Perserkriegen und der Invasion Griechenlands durch den Makedonenkönig Philipp II. eine kritische Auseinandersetzung mit Roms Eroberung von Griechenland inhärent ist, die – wenn auch aufgrund des fehlenden deutlichen Bezugs auf die Gegenwart des Sprechers nicht offen ausgesprochen – zumindest zur Reflexion über die eigene Vergangenheit und Gegenwart anregt.922 Wenden wir uns nun den konkreten Empfehlungen des Rednerlehrers zu, wie der Schüler seine Deklamation inhaltlich gestalten und gliedern und wie er durch die Verwendung bestimmter Paradethemen die griechische Vergangenheit in seinen Hörern wiederaufleben lassen soll. §18 ἐπειδὰν δὲ καὶ δέῃ λέγειν Der Rednerlehrer verhehlt nicht, dass seine theoretische Lehre ein nur mangelhaftes Handwerkszeug liefert, welches durch Tricks ergänzt werden muss, die den Redner aus brenzligen Situationen retten können, welches aber vor dem ungebildeten Publikum völlig ausreicht (vgl. den Kommentar zu §17: οὕτω γάρ σε ὁ λεὼς ὁ πολὺς ἀποβλέψονται καὶ θαυμαστὸν ὑπολήψονται). Vielleicht formuliert er nun deswegen die Einleitung seiner ment; aus ihrem öffentlichen Auftreten, aus der Art, wie sie sich auf Münzen, in Inschriften und in ihren Texten gebärden, gewinnt man eher den Eindruck eines hohen Selbstbewusstseins.« (ebenso Swain [1996] 87–89 und 97). 922 Zur Bedeutung der historischen Themen für die Gegenwart der Zuhörer vgl. Whitmarsh [2005] 66–70, bes. die zusammenfassenden Bemerkungen (70): »My point is not that historical declamations worked consistently, or even regularly, as anti-Roman allegories, but that while the reader enjoys glorious narratives of Greece’s military past, the gates to the realm of fantasy are open wide. Words like ›freedom‹, ›conquest‹, ›enslavement‹ are powerful, evocative terms, with a tendency to resist any safe compartmentalization in the ancient past. Sophistry allowed audiences to enjoy stirring militarist rhetoric in the safe setting of the classical world – with the occasional fleeting thrill of approximation between that distant world and the present.« – Vgl. aber relativierend auch Anm. 953 unten.

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5. Kommentar (§§18–22)

Lehre über den eigentlichen Auftritt nicht wie zu erwarten positiv – »wenn du dann sprechen darfst« o.ä. –, sondern zurückhaltend-negativ – »wenn du dann sprechen musst«, d.h. wenn der Ernstfall einer öffentlichen Deklamation eintritt. Die Formulierung markiert auch die Unsicherheit des Schülers, die nach dem kurzen Lehrgang, der einen sofort ins Rampenlicht führt, vorhanden sein dürfte, und zeigt gleichzeitig das Kalkül des Rednerlehrers, welcher mit einem absoluten Minimum an Wissen und Ausbildung jongliert. τινας ὑποθέσεις καὶ ἀφορμὰς τῶν λόγων ὑπόθεσις und ἀφορμή sind zwei Begriffe, die sowohl allgemeine als auch spezifisch rhetorische Bedeutungen haben, welche hier zum Tragen kommen, deutlich durch den angehängten Genitiv τῶν λόγων. In der Rhetorik meint ὑπόθεσις das zugrunde liegende Thema und die Argumentation einer Rede (oft in der forensischen Rhetorik, wo der Rechtsfall im engeren Sinn damit bezeichnet wird, der ja wiederum für eine fiktive Deklamation verwendet werden kann923) oder auch allgemein das Thema eines literarischen Produktes.924 Vgl. dazu LSJ s.v. II.: subject proposed for discussion; 2. case at law, lawsuit; 3. subject of a poem or treatise; 4.b. speech or subject of a speech; Arist. Rh. 1391b13 und 1404b15; Anaxim. 1436a36; vgl. z.B. auch Xen. Mem. 4,6,13. Vorliegendem Kontext am nächsten kommen Äusserungen bei den klassischen Rednern, z.B. Isoc. Or. 7,63: Βούλομαι δ’, εἰ καὶ τινές με φήσουσιν ἔξω τὴς ὑποθέσεως λέγειν, δηλῶσαι [...]; Aeschin. Or. 3,76: ἵνα δ’ ἐπὶ τῆς ὑποθέσεως μείνω [...]; Demosth. Or. 3,1; 19,242. Lukian verwendet den Begriff wiederholt zur Bezeichnung des Themas oder Inhalts eines literarischen Erzeugnisses (Ver. Hist. 1,2 und 1,3; Pseudol. 1) und im engeren Sinn einer Rede (Cal. 6: τοιαύτη μὲν ἡ ὑπόθεσις τοῦ λόγου). Man vgl. auch Philostr. VS 595, wo ὑπόθεσις genau wie an vorliegender Stelle das Thema einer Deklamation bezeichnet. Die Themen und Themenvorschläge der zeitgenössischen Deklamationen greift Lukian auch in J. Trag. 32 auf: Wenn die Götter aus Wut auf diejenigen Philosophen, die ihre Existenz leugnen, die Stoa poikile zerschmetterten, und damit 923

Vgl. dazu Quint. Inst. 3,5,5–18, insbes. §7f. (definiert werden die unbegrenzten Fragen, θέσεις, und die begrenzten, ὑποθέσεις): finitae autem sunt ex complexu rerum, personarum, temporum ceterorumque: hae ὑποθέσεις a Graecis dicuntur, causae a nostris. [...] quod ut exemplo pateat, infinita est ›an uxor ducenda‹, finita ›an Catoni ducenda‹, ideoque esse suasoria potest. Vgl. zur Bedeutung »Rechtsstreit, Prozess« z.B. Luk. Apol. 8. 924 Zudem kann als ὑπόθεσις auch das Thema bzw. der Plot einer Tragödie oder einer anderen Art von Theateraufführung bezeichnet werden (man vergleiche die so benannten antiken Inhaltszusammenfassungen, die zugleich Informationen zur Plazierung im Agon und zu Konkurrenten geben, siehe DNP 5 s.v. Hypothesis [A], Sp. 819; vgl. Luk. Salt. 31 [Tragödie und Pantomime]; Nigr. 8; Bis Acc. 33); schliesslich auch das Thema bzw. Sujet in der Malerei (Luk. Zeux. 5 und 7).

§18: Der eigentliche Auftritt: Paradethemen und Aufbau der Rede

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die Gemälde von Marathon, Miltiades und Kynegeiros zerstörten, so gingen die Redner ihres Hauptthemenkreises – der Perserkriege, siehe dazu unten – verlustig (τὴν μεγίστην εἰς τοὺς λόγους ὑπόθεσιν ἀφῃρήμενοι). Verbunden mit einem konkreten Auftritt ist Pseudol. 5 aufschlussreich: Lukian beschreibt spöttisch das Szenario einer Deklamation seines (nicht namentlich genannten) Opfers. Da dieser Mann ein Scheinsophist ist, bringt er eine bereits vorgefertigte und von Aesop-Plagiaten durchsetzte Rede auf die Bühne und lässt, weil er den Anschein der Themenwahl durch das Publikum und folglich des Sprechens aus dem Stegreif aufrecht erhalten will, einen Verbündeten das vorher abgesprochene Thema vorschlagen.925 Genauer zum Ablauf einer Deklamation siehe unten. ἀφορμή bedeutet »Ausgangspunkt, Ursprung« und bezeichnet häufig einen »Stützpunkt« im militärischen Sinn (z.B. Thuk. 1,90). Im gerichtlichen Kontext, woher die Verwendung als rhetorischer Begriff stammt, bezeichnet das Wort den Prozessfall sowie besonders die zugrunde liegenden Vorkommnisse, auf welche aufbauend (als Gründe für Anklage oder Verteidigung) argumentiert werden kann (vgl. Lausberg [31990] 63, §73 und LSJ s.v. II.5.: food for argument, material, subject); Euripides benutzt den Plural ἀφορμαί mehrfach in Kombination mit dem Genitiv λόγων, parallel zur vorliegenden Formulierung Lukians: Hec. 1239; Phoen. 199; Bacch. 267; siehe den Kommentar zu Bacch. von Dodds [1944, repr. 1953] 98: »In all these passages ἀφορμαί refers to the factual basis, λόγοι to the verbal presentation.«926 Lukian benutzt die Junktur λόγων ἀφορμαί noch in Symp. 37 (Gesprächsthema beim Symposion); ähnlich sind auch Pr. Im. 19: τὰς ἀφορμὰς τῶν ἐπαινετικῶν τούτων λόγων (die inhaltliche Gestaltung von Lobreden); Cal. 1: ἀφορμὰς εἰς τὰ δράματα (Dramenmotive); Salt. 47: ἀφορμὰς τοῖς ὀρχεῖσθαι πειρωμένοις (Motive für die Darstellung von Tänzern). In Rh. Pr. 22 erscheint der Begriff ein zweites Mal in der Bedeutung »Angriffspunkte« für Tadel (siehe den Kommentar zu §22: ἀμφιλαφεῖς δὲ αἱ ἀφορμαὶ τῶν μέμψεων). Die Doppelung der sehr ähnlichen Begriffe ὑπόθεσις und ἀφορμή lässt sich in ihren Nuancen folgendermassen erklären: Während ὑπόθεσις das allgemeinere Grundthema (z.B. ›Perserkriege‹) bezeichnet, steht ἀφορμή für den konkret gewählten Ausgangspunkt (z.B. ›Marathon‹). 925 Ἦν δὲ ὑπόθεσις τῷ συγγράμματι ὁ Πυθαγόρας κωλυόμενος [...] μετέχειν τῆς Ἐλευσῖνι τελετῆς ὡς βάρβαρος, ὄτι ἔλεγεν αὐτὸς ὁ Πυθαγόρας πρὸ τούτου ποτὲ καὶ Εὔφορβος γεγονέναι. [...] βουλόμενος δὴ μὴ ἕωλα δόξαι λέγειν ἀλλ’ αὐτοσχεδιάζειν τὰ ἐκ τοῦ βιβλίου, δεῖται τῶν συνήθων τινός [...] ἐπειδὰν αἰτήσῃ τινὰς ὑποθέσεις τοῖς λόγοις, τὸν Πυθαγόραν αὐτῷ προελέσθαι. 926 Vgl. zu ἀφορμαί in dieser juristischen Bedeutung Luk. Apol. 8 (mit der Differenzierung von ὑπόθεσις als »Prozess« neben ἀφορμαί als einzelne Bestandteile desselben, mögliche »Angriffspunkte«); vgl. auch Pisc. 10; Symp. 30.

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5. Kommentar (§§18–22)

Über die hier geschilderte Themenwahl durch das Publikum, die einer sophistischen Deklamation immer vorangegangen ist, und über ihren Verlauf sind wir v.a. durch Philostrat informiert.927 Nach der auf dem Rednerstuhl (θρόνος; κάθεδρα; vgl. Philostr. VS 519; Eunap. VS 489) sitzend gehaltenen Vorrede (VS 572, 579) folgt der Hauptvortrag des Sophisten, wofür er das Publikum ein Thema vorzuschlagen auffordert (VS 482, 529, 583: προβάλλειν928). Aus den verschiedenen Vorschlägen, die vor allem von angeseheneren und/oder kompetenteren Zuhörern gestammt haben dürften, legt das Publikum dann durch Abstimmung einen fest (VS 572– 574).929 Nun beginnt der Redner sofort oder (häufiger) nach einer kurzen Bedenkzeit zu deklamieren (VS 572 und 537; Quint. Inst. 10,7,20–21). Durch diesen Ablauf ist der Redner dem Publikum zwar in einem gewissen Mass ausgeliefert, kann es doch einen für ihn idealen oder aber unangenehmen Vorschlag machen; dennoch ist das Prozedere wichtig, weil es – auch aus Sicht der Redner selbst – dazu dient, die Exzellenz der klassischen Bildung herauszustreichen, welche die Sophisten an jedem beliebigen Thema vorzuexerzieren imstande sind. ψεγέσθω Die vorliegende Form ist eine Konjektur Hermanns für überliefertes λεγέσθω, die von Macleod und Harmon übernommen worden ist. Der überlieferte Text wäre folgendermassen zu übersetzen: »Alles, was schwierig ist, sollst du nennen (d.h. aufgreifen) und schlecht machen [...].« Dies bedeutet, dass der Redner alle schwierigen Themen ausscheidet, so dass nur noch die leichten übrig bleiben. Die Konjektur ψεγέσθω verändert den Gesamtsinn der vorliegenden Passage nicht stark (»alles, was schwierig ist, sollst du kritisieren«), liegt aber inhaltlich-stilistisch näher an den Aufforderungen, wie sie der Rednerlehrer an anderen Orten formuliert, vgl. generell zum frechen, unanständigen Charakter §15; zum Umgang mit der Zuhörerschaft §19: ἀγανάκτει καὶ λοιδοροῦ αὐτοῖς (mit dem Bild des Sophistenauftritts als Tyrannis); vgl. auch §22: καὶ φθόνος πρὸς ἅπαντας καὶ μῖσος καὶ βλασφημία καὶ διαβολαὶ πιθαναί.

927 Vgl. insgesamt zum Ablauf von Sophistenauftritten und zur Themenwahl Korenjak [2000] 36–37 und 116–120. 928 Προβάλλειν scheint der terminus technicus zu sein; das im vorliegenden Text verwendete ὑποβάλλειν findet sich bei Philostrat nicht (vgl. Korenjak [2000] 36). 929 Vgl. Korenjak [2000] 117 mit dem Verweis auf folgende Situation bei Philostrat VS 529: Als an einem Vortrag des Polemon der berühmte Sophist Markus von Byzanz teilnahm, erwartete das Publikum, dass er das Thema vorschlage (τοῦ Πολέμωνος αἰτοῦντος τὰς ὑποθέσεις ἐπεστρέφοντο πάντες ἐς τὸν Μάρκον, ἵνα προβάλοι).

§18: Der eigentliche Auftritt: Paradethemen und Aufbau der Rede

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Die Verschreibung λεγέσθω begünstigt haben könnten die Formen λέγειν, λόγων, λέγε in unmittelbarer Nähe im Text, etwas später exakt die Form λεγέσθω. ἐκφαυλιζέσθω Das Verb ἐκφαυλίζειν »schlecht machen, herabsetzen, schmähen« ist klassisch nicht belegt, jedoch seit dem 1. Jh. n.Chr. häufig: Flav. Jos. (8 Belege, z.B. Ant. Iud. 1,166; 2,293; 15,222); Arr. An. 1,13,6; 4,8,4; Athen. Deipn. 8,358f; S. E. M. 2,25; Ael. (6 Belege, z.B. VH 2,6); D. L. 6,1. Zur vorliegenden Konstruktion ἐκφαυλίζειν ὡς »schlecht machen als ob« vgl. Flav. Jos. Ant. Iud. 6,98: τὴν δύναμιν ἐκφαυλίζων αὐτῶν καὶ διασύρων ὡς οὐκ ἀξιόλογον (»als ob sie [sc. die Stärke] nicht der Rede wert sei«) und Ant. Iud. 10,114: οἱ δὲ ἡγεμόνες καὶ οἱ ἀσεβεῖς ὡς ἐξεστηκότα τῶν φρενῶν αὐτὸν οὕτως ἐξεφαύλιζον (»als ob er von Sinnen sei«). Die Verbreitung des Verbs in der Kaiserzeit zeigen auch die Belege in Lexika: Apollon. Lex. Hom. p. 121,17 (Bekker), wo das homerische Verb ὄνομαι durch ἐκφαυλίζειν erklärt wird, und Zenob. (Paroemiographi Graeci vol. 1, p. 157, Nr. 90), wo σκορακίζειν durch ἐκφαυλίζειν paraphrasiert wird.930 Lukian selbst verwendet das Verb ein weiteres Mal in Merc. Cond. 11 (der Hausherr prüft den Gebildeten, der sich als Hauslehrer einstellen lassen will und sich vor Tadel fürchtet): εἰ μὲν ἐκφαυλίζοι τι τῶν λεγομένων, ἀπολλύμενον, εἰ δὲ μειδιῶν ἀκούοι [...]. οὐδὲν ὅλως ἀνδρῶδες αὐτῶν Vgl. zum Adjektiv ἀνδρώδης bereits §9 und §10. Während dort die klassische Vokabel zur Bezeichnung des Männlichen zur Diskreditierung der hypermaskulinen Erscheinung des Lehrers des langen Weges diente, wird sie hier nun vom Rednerlehrer für die eigene Domäne beansprucht und als Trick herangezogen, um schwierige Themen abzulehnen: Der Schüler soll vorgeben, dass der Themenvorschlag, der ihn eigentlich überfordert, weit unter dem Angemessenen und seinen Fähigkeiten liegt. Die Aussage, die der Autor dem Rednerlehrer hier in den Mund legt, widerspiegelt das konventionelle Verständnis einer Deklamation über ein schwieriges Thema als Männlichkeitsprüfung und erzeugt deshalb Komik, weil der Lehrer und auch sein Schüler alles andere als eine männliche Erscheinung aufweisen und daher den Test nie bestehen können (vgl. bereits S. 231f. sowie Gleason [1995] 128). In der Eigenwahrnehmung der modernen, effeminierten Sophisten wird ›Männlichkeit‹ allerdings neu definiert und gleichzeitig die-

930

Vgl. dazu bereits den Kommentar zu §16: ἡ Ῥητορικὴ [...] σκορακιεῖ.

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5. Kommentar (§§18–22)

jenige der ›alten‹ Rhetoriker unterwandert, indem schwierige klassische Themen als unmännlich abgetan werden. Vgl. auch den Kommentar zu §12: ἄγροικον γὰρ τὸ ἀρρενωπὸν καὶ οὐ τοῦ ἁβροῦ καὶ ἐρασμίου ῥήτορος. μηδὲν ἔτι μελλήσας Textkritisches: Überliefert ist μηδὲν ἐπιμελλήσας (β); μὴ μελήσας (γ). Macleod (dem ich mich anschliesse) übernimmt stattdessen μηδὲν ἔτι μελλήσας nach einer Korrektur einer jüngeren HS (corr. rec.); Harmon bleibt bei der Lesart von γ (mit Verdoppelung des Lambda: μὴ μελλήσας). Die Verschreibung μηδὲν ἐπι-μελλήσας für μηδὲν ἔτι μελλήσας ist angesichts des gleich darauf folgenden μηδὲν ἐκείνων ἐπιμεληθείς leicht nachvollziehbar. λέγε ὅττι κεν ἐπ’ ἀκαιρίμαν γλῶτταν ἔλθῃ Auch hier ist die Überlieferung fehlerhaft, ἐπ’ ἀκαιρίμαν ist eine Konjektur Valckenaers für überliefertes ἐπὶ καὶ ῥήματι (γ); ἐπὶ καὶ ῥῆμα (β),931 die von allen Herausgebern übernommen worden ist, da sie ein bekanntes Sprichwort wiederherstellt. Dieses ist, in leicht voneinander abweichenden Versionen, zitiert bei Dion. Hal. Comp. Verb. 1,5 (ὅ τι κεν ἐπ’ ἀκαιρίμαν γλῶσσαν ἔπος ἔλθῃ); Strab. 1,2,14 (πᾶν ὅ τι ἂν ἐπ’ ἀκαιρίμαν γλῶσσαν ἴῃ κελαδεῖν); Athen. 5,217c (identisch mit der vorliegenden Version bei Lukian: ὅττι κεν ἐπ’ ἀκαιρίμαν γλῶτταν ἔλθῃ); PMG frg. adesp. 1020 (in der Version des Strabon).932 Das Sprichwort wird in den oben genannten Stellen jeweils zur Kritik an Rednern oder Literaten verwendet, deren Erzeugnisse in Inhalt (τάξις) und/oder Diktion (λέξις) ungenügend durchdacht sind. Damit wird an vorliegender Stelle eine Redensart herangezogen, die konventionell immer eine Negativaussage bezüglich Sprache enthält, so dass die Empfehlung an den Schüler auf den Kenner des Sprichwortes ironisch wirkt.933

931

Infolge des Itazismus ist die Aussprache der Silben ρι-μα und ρη-μα identisch. Die ältere Ausgabe von Bergk enthält unter frg. adesp. 85 die in Lukian vorliegende Version: ὅττι κεν ἐπ’ ἀκαιρίμαν γλῶσσαν ἔλθῃ; eine Übersicht über die verschiedenen Überlieferungen gibt Campbell, Greek Lyric vol. 5, fr. 1020, p. 418. Die Ersetzung des Doppelsigmas durch Doppeltau, die wir in vorliegender Formulierung Lukians (γλῶτταν) sehen, gehört in den Rahmen der attizistischen Tendenzen seiner Zeit, vgl. dazu Swain [1996] 49 (mit dem Hinweis auf Phryn. Ecl. 177 Fischer, wo der Gebrauch des Doppeltaus dem »wahren Attiker« empfohlen wird); vgl. weiter Lukians Schrift Lis Consonantium (ein komischer Gerichtsprozess zwischen Sigma und Tau). 933 Die Empfehlung wäre Aristeides ein Dorn im Auge; er richtet exakt den Vorwurf mangelhafter Taxis und Diktion (Inhalt und Form) an die schlechten Sophisten seiner Zeit und betont, 932

§18: Der eigentliche Auftritt: Paradethemen und Aufbau der Rede

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Lukian benutzt das Sprichwort ein zweites Mal in Hist. Conscr. 32, wie nicht anders zu erwarten zur Kritik an schlechten Historikern: Τοιαῦτα πολλὰ ὑπ’ ἀπαιδευσίας ληροῦσι, τὰ μὲν ἀξιόρατα οὔτε ὁρῶντες οὔτ’ εἰ βλέποιεν κατ’ ἀξίαν εἰπεῖν δυνάμενοι, ἐπινοοῦντες δὲ καὶ ἀναπλάττοντες ὅ τι κεν ἐπ’ ἀκαιρίμαν γλῶσσαν, φασίν, ἔλθῃ [...].934 Der Kontext zeigt, dass das »planlose Sprechen« sowohl Inhalt als auch Diktion umfasst und auf Unbildung gründet (ὑπ’ ἀπαιδευσίας). Zudem verbindet Lukian das Verb ληρεῖν, welches der Rednerlehrer seinerseits den alten Klassikern (Isokrates; vgl. §17) unterstellt, mit sprachlicher Darbietung genau solcher Art, wie sie der Lehrer hier fordert. ὡς τὸ πρῶτον [...] ἐρεῖς ἐν καιρῷ προσήκοντι καὶ τὸ δεύτερον μετὰ τοῦτο καὶ τὸ τρίτον μετ’ ἐκεῖνο κτλ. Da nach Bestimmung des Themas und mit Beginn der Rede als oberstes Gebot gilt, dass der Redner niemals schweigt, sondern möglichst schnell und flüssig deklamiert (s.u.: ἔπειγε καὶ σύνειρε καὶ μὴ σιώπα μόνον), kann er sich mangels Training daneben nicht zusätzlich noch um Inhalt und logischen Aufbau der Rede kümmern, sondern muss vortragen, was ihm gerade einfällt (τὸ πρῶτον ἐμπεσὸν πρῶτον λεγέσθω). Daher kann es geschehen, dass die Rede unordentlich wird: Die vorliegenden Ausführungen betreffen, in einen rhetorischen Terminus übersetzt, die Stoffgliederung (τάξις), die gemäss den Handbüchern die zweite Stelle unter den fünf Arbeitsgängen eines Redners einnimmt (vgl. Quint. Inst. 7 praef. 1). Klar ist, dass der Schüler als Einstieg in seine Rede benutzen soll und darf, was ihm gerade in den Sinn kommt. Aus der Formulierung τὸ δεύτερον μετὰ τοῦτο καὶ τὸ τρίτον μετ’ ἐκεῖνο könnte allenfalls, was die τάξις der restlichen Rede betrifft, abgeleitet werden, dass nach dem variablen Einstieg innerhalb der Rede eine Ordnung herrscht, indem das Zweite nach dem Ersten und das Dritte nach dem Zweiten folgt. Doch muss wohl der Einschub ὥσπερ οὖν καὶ ἔστι πρῶτον, der betont, dass es nun einmal ein Erstes geben muss, dieses aber ein beliebiges sein kann, inhaltlich auch auf das Zweite und Dritte übertragen werden, so dass sämtliche Teile in ihrer Auswahl beliebig werden. Diese Interpretation wird zudem gestützt durch die insgesamt ablehnende Einführung des Satzes in der Formulierung μηδὲν ἐκείνων ἐπιμεληθείς und stimmt mit dem Duktus der Passage und der Ausbildung des Rednerlehrers überein, ist es doch seine Praxis, konventionelle Konzepte in pervertierter Form abzuhandeln: Er nennt daher die (kondass γνώμη und κόσμος noch immer die wichtigsten Anforderungen an eine Rede seien (Or. 34,45). 934 »Viel solches schwatzen sie aus Unbildung dahin und sehen weder das, was wert ist zu sehen, noch könnten sie es, wenn sie es sähen, angemessen ausdrücken. Sie erfinden und erdichten, was ihnen – wie man sagt – gerade in den Sinn kommt [...].«

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5. Kommentar (§§18–22)

ventionellen) Teile der Rede (πρῶτον, δεύτερον, τρίτον), verbindet diese aber nicht zu einem sinnvollen Ganzen, da jeder einzelne Teil ohne Rücksicht auf den vorangehenden dazugesetzt werden kann.935 Die folgende Metaphorik der militärischen Ausrüstung (Beinschiene um die Stirn; Helm um den Unterschenkel; s.u.) illustriert zwar nur das verdrehte Erste (πρῶτον), kann aber genauso auf die restlichen Teile übertragen werden. περὶ τῷ μετώπῳ μὲν ἡ κνημίς, περὶ τῇ κνήμῃ δὲ ἡ κόρυς Die mangelhafte Stoffgliederung (τάξις) innerhalb der vorgetragenen Rede, speziell das Ergebnis des beliebigen Einstiegs, so dass »um die Stirn die Beinschiene und um den Unterschenkel der Helm« liegt, wird vom Rednerlehrer als unwichtig abgetan. Dieselbe Metapher gebraucht Lukian in Pro Laps. 12, um seinen sprachlichen Ausrutscher im Gebrauch der Begrüssungsformel ὑγίαινε zu illustrieren (περὶ τῇ κνήμῃ τὸ κράνος ἢ περὶ τῇ κεφαλῇ τᾶς κνημῖδας). Eine ähnliche Art von Metapher wird zudem in Hist. Conscr. 23 herangezogen, wo Lukian das übertrieben lange Proömium eines Historikers tadelt, dem ein kümmerliches eigentliches Werk folgt, wie wenn ein Knäblein sich eine riesige Maske des Herakles vor das Gesicht hielte oder – allgemeiner formuliert – wie wenn Kopf und Körper überhaupt nicht zueinander passen. Obwohl in Hist. Conscr. nicht die Reihenfolge, sondern die Proportion der einzelnen Teile zueinander angesprochen wird, können die beiden Stellen verglichen werden, da τάξις sowohl eine sinnvolle Gliederung des Ganzen in Teile als auch eine sinnvolle Reihenfolge des Inhalts der Einzelteile umfasst (vgl. Lausberg [31990] 241, §443 und Quint. Inst. 7,1,1: dispositio utilis rerum ac partium in locos distributio).936 Eine verwandte Metaphorik und Gedanken zur Proportionalität finden sich bereits bei Plat. Phdr. 264c: Eine Rede soll wie ein Lebewesen (ζῷον) aufgebaut sein mit einem Körper, der aus sämtlichen nötigen Teilen (Kopf, Füsse etc.) besteht, die zueinander sowie zum Ganzen im richtigen Verhältnis stehen.937 Vgl. genauso Arist. Po. 1459a; Rh. 1415b; Longin 10,1.

935 Vgl. z.B. dasselbe Vorgehen bei dem Konzept der μίμησις, abgehandelt im Kommentar zu §10: νεκροὺς εἰς μίμησιν παλαιοὺς προτιθεὶς und §17: ἀπ’ ἐκείνων ἐπισιτισάμενος. 936 Überhaupt bietet im lukianischen Œuvre die Schrift Hist. Conscr. die umfangreichsten Erörterungen über die Thematik der Stoffgliederung, inhaltlich richtet sie sich dabei ganz nach der klassischen Rhetoriktheorie (vgl. auch Hist. Conscr. 55). Jedoch ernten nicht nur die zeitgenössischen Historiker Kritik, beispielsweise auch das von Lykinos analysierte Symposion des Möchtegern-Literaten Lexiphanes schneidet unter dem Gesichtspunkt der Stoffgliederung schlecht ab (siehe dazu Weissenberger [1996] 151–155). 937 Vgl. zudem unmittelbar vorangehend Sokrates’ Kritik an Lysias’ Rede über die Liebe in Phdr. 264b (unordentlicher Aufbau, aufs Geratewohl formuliert) und zu diesem platonischen Dialog als wichtigem Kontrasttext für Rh. Pr. allgemein die Einleitung 1.3, S. 39.

§18: Der eigentliche Auftritt: Paradethemen und Aufbau der Rede

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μὴ σιώπα μόνον Der Effekt einer so genannten rhetorischen Pause wird als Schwäche abgelehnt und zwar, wie man sich denken könnte, aus drei Gründen: Wegen inhaltlicher Banalität bietet die Rede des Scheinsophisten grundsätzlich kaum Gelegenheit, eine bedeutungsvolle Passage durch einen Haltepunkt zu betonen. Der Rahmen für eine rhetorische Pause ist damit nicht gegeben. Zweitens verschafft eine Redepause dem Publikum Gelegenheit, über das bisher Gehörte nachzudenken und die stilistische Gestaltung auf sich wirken zu lassen, was unweigerlich zu einem Negativurteil führen muss. Dies zu vermeiden dürfte wohl die Hauptabsicht der Regel sein, den Redefluss nie abbrechen zu lassen. Drittens wäre auch der Scheinsophist selbst durch eine Pause gezwungen, über seinen bisherigen Vortrag zu reflektieren, was ihn seinerseits aus dem Konzept bringen könnte, indem ihm die Schlechtigkeit seiner Rede bewusst wird. κἂν περὶ ὑβριστοῦ τινος ἢ μοιχοῦ λέγῃς Ἀθήνησι Der Rednerlehrer nennt als erstes Thema keines der typischen Paradethemen (diese zählt er später auf, vgl. dazu unten: ὁ Μαραθὼν καὶ ὁ Κυνέγειρος κτλ.), sondern beginnt einmal mehr mit einer Konventionswidrigkeit, da das klassische Athen durch das Bild der Frevler und Ehebrecher in einem negativen, ja dekadenten Licht dargestellt und zudem auf die topische Prozesssucht seiner Bewohner angespielt wird.938 Die Wahl dieses Themas könnte darauf beruhen, dass der Rednerlehrer selbst und sein Schüler, falls er sich an die Gesetze hält, aufgrund ihres Lebenswandels als Spezialisten auf dem Gebiet der Frevelei und des Ehebruchs gelten dürfen und damit gleich zu Beginn eine vertraute Thematik anpacken (vgl. §23: πάντα πράγματα ποιεῖν σοι δεδόχθω, κυβεύειν μεθύσκεσθαι λαγνεύειν μοιχεύειν / δύναται [sc. ἡ γλώττα] οὐ σολοικίζειν μόνον καὶ βαρβαρίζειν οὐδὲ ληρεῖν ἢ ἐπιορκεῖν ἢ λοιδορεῖσθαι ἢ διαβάλλειν καὶ ψεύδεσθαι; vgl. ebenso §25 mit der Schilderung der Karriere des Rednerlehrers als Gerichtsanwalt, wo er sich mit entsprechenden Fällen befasst haben könnte, und seines abgrundtief schlechten Charakters). τὰ ἐν Ἰνδοῖς καὶ τὰ ἐν Ἐκβατάνοις Jedes ›griechische‹ Thema soll durch Geschichten aus fernen Ländern ergänzt werden, was wohl der zusätzlichen Beeindruckung des Publikums

938 Dieser Topos des Atheners als φιλόδικος entwickelt sich über das Bild des richtenden Volkes in der radikalen Demokratie hin zum prozesswütigen Volk und existiert bereits seit Aristophanes, vgl. Eq. 50f. und 255–257; Av. 27–48; ebenso bei Thukydides 1,77,1 und in der Kaiserzeit z.B. bei Chariton 1,11,5–7 (Athen ist für Sklavenhändler ein gefährliches Pflaster, da die Bewohner derart prozesswütig sind). Siehe allgemein Bleicken [21994] 225.

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5. Kommentar (§§18–22)

dient, da es darüber weniger weiss (vgl. zu den Wunder- oder Lügengeschichten der zeitgenössischen Sophisten auch die Einleitung 1.7.2). Indien wird in der Antike speziell mit Lügenerzählungen verbunden, was sich generell formuliert bei Strabon findet939 und auch an anderer Stelle bei Lukian ersichtlich ist, vgl. Ver. Hist. 1,3, wo die Ἰνδικά des Historikers Ktesias (Ende 5. Jh. v.Chr.) getadelt werden, da sie weder auf Autopsie noch auf einem wahrheitsgetreuen Zeugenbericht beruhen.940 Ekbatana war die medische Hauptstadt und diente nach der Annexion des Mederreiches den Achämeniden, den Herrschern über das neue persische Grossreich, als Sommerresidenz (vgl. Xen. An. 3,5,15; Cyr. 8,6,22). Die Erwähnung dieser Stadt, die den Griechen zwar näher als Indien, aber dennoch in weiter Ferne liegt, bereitet auf die folgenden Paradethemen aus den Perserkriegen vor. Dass der Redner solche ›Lügengeschichten‹ zur Unterhaltung des Publikums benutzt, zeigt seine niedere Wertschätzung desselben, und sie dienen wohl auch als Füllmaterial, das ihm Zeit verschafft, sich die nächsten Punkte auszudenken. Drittens weisen sie einen ähnlichen Nutzenaspekt auf, wie das in §20 empfohlene möglichst weite Ausholen in der Vergangenheit (bei den Vorfällen um Troja oder gar bei Deukalion und Pyrrha), weil damit eine grosse Redefülle (τὸ πλῆθος τῶν λόγων) entsteht und ein Wissensschatz demonstriert wird, was ebenfalls Bewunderung verspricht. ὁ Μαραθὼν καὶ ὁ Κυνέγειρος [...] ὁ Λεωνίδας θαυμαζέσθω Mit diesen Worten eröffnet der Rednerlehrer nun eine Aufzählung derjenigen Themen, die jede Deklamation abdecken sollte. Tatsächlich sind die Themen der Deklamationen beschränkt gewesen, und gerade die Perserkriege machen einen Hauptbestandteil davon aus (vgl. oben den Kommentar zu §17: μελέτας); der Rednerlehrer spricht also etwas an, was wir im historischen Umfeld fassen können, allerdings einmal mehr in pervertierter Form, da gerade den weiteren Anforderungen der Verwendung eines Paradethe939 Vgl. Strabon 2,1,9: Alle, die über Indien geschrieben haben, haben sich als Lügenerzähler (ψευδολόγοι) erwiesen; besonders erwähnt werden Deimachos, Megasthenes, Onesikritos und Nearchos. 940 Noch deutlicher wird die Kritik aus den gleich darauffolgenden Aussagen über Iambulos’ παράδοξα, eine antike Utopie, die rundweg als Lüge, ψεῦδος, kritisiert wird (überliefert bei Diodor 2,55–60). Vgl. auch Ktesias’ Bestrafung als Lügenhistoriker in der Unterwelt in Ver. Hist. 2,31. Photios, der uns einen Auszug aus Ktesias’ Ἰνδικά überliefert, beurteilt ihn kritisch als Geschichtenerzähler, der allerdings beteuere, die Wahrheit zu sagen (Bibl. 49b39–40: Ταῦτα γράφων καὶ μυθολογῶν Κτησίας λέγει τἀληθέστατα γράφειν [...]). – Für eine kurze Information zu Ktesias vgl. Meister [1990] 62–64 (bes. 62: »Mit Recht bezeichnet man diesen [sc. Ktesias] als Vorläufer der hellenistischen Sensationshistorie sowie als Begründer des historischen Romans«) und 137–142 zu den späteren hellenistischen Autoren, die über fremde Länder und Völker geschrieben haben, insbesondere zu Megasthenes über Indien. Vgl. weiter zu Utopie und romanesker Historie Holzberg in Schmeling [2003] 621–632.

§18: Der eigentliche Auftritt: Paradethemen und Aufbau der Rede

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mas in Form einer sprachlich und inhaltlich möglichst ansprechenden Deklamation keine Beachtung geschenkt wird.941 Die stilistische Gestaltung der Aufzählung der Paradethemen, die in einer langen, ohne Pause durchgeführten Aneinanderreihung mit wiederholtem καί besteht, bildet auf der formalen Ebene die Empfehlung ab, in der alles gipfelt, nämlich diese Themen in grosser Zahl und in dichter Folge anzuwenden (πολλὰ ταῦτα καὶ πυκνά). Marathon, Kynegeiros und alle folgenden Anspielungen mit Ausnahme von Othryadas sind im Umfeld der Perserkriege anzusiedeln; dabei springt der Fokus jeweils hin und her zwischen (erfolgreichen) Aktionen der Griechen und der Perser.942 Kynegeiros aus Athen fiel in der Schlacht bei Marathon (490 v.Chr.) nach tapferem Kampf und galt als Exempel eines Helden, der sich für die Polis einsetzt (vgl. zur Schlacht insgesamt Hdt. 6,103–120; zu Kynegeiros Hdt. 6,114943). Der nachgereichte Kommentar ὧν οὐκ ἄν τι ἄνευ γένοιτο (mit Hyperbatonstellung: »ohne welche«) betont sarkastisch die übermässige Präsenz des Themas in der zeitgenössischen Rhetorik. Dass Marathon tatsächlich ein wichtiges Thema der sophistischen Deklamationen war, machen die beiden ganz erhaltenen μελέται des Polemon von Laodikeia deutlich, die ein Redenpaar bilden: Die Väter der bei Marathon gefallenen Kynegeiros und Kallimachos beanspruchen beide das Recht, aufgrund der Tapferkeit ihrer Söhne die Rede auf die Toten der Schlacht halten zu dürfen. Auch Philostrat bestätigt uns mit seinem Bericht, dass Ptolemaios von Naukratis den Spitznamen ›Marathon‹ erhielt, weil er in seinen Reden immer wieder an die Helden dieser Schlacht erinnerte, die grosse Verbreitung dieses Themas (VS 595).944 Mit der Erwähnung des Athos und des Hellesponts wird auf zwei Taten des Perserkönigs Xerxes I. angespielt, der in der Nachfolge seines Vaters 941 Zu Parallelen zur vorliegenden Passage aus Rh. Pr. vgl. Hall [1981] 253 mit Anm. 1. Eine witzige Behandlung erfährt die Verbreitung dieser Themen auch im Epigramm (AP 11,141: Othryadas, Leonidas, Xerxes), genau wie es beim Spott über (oberflächlich-)attizistischen Wortgebrauch der Fall ist (vgl. den Kommentar zu §16: πεντεκαίδεκα ἢ οὐ πλείω γε τῶν εἴκοσιν Ἀττικὰ ὀνόματα). Vgl. auch Cribiore [2007] 150 Anm. 74: »Libanius himself sometimes manifested a bit of impatience with the historical themes of meletai; cf. Ep. 796.5, where he wrote that he would never neglect a friend and choose instead to ›chatter away about Miltiades or Themistocles‹.« 942 Genannt sind: Marathon (Erfolg der Griechen); Athos und Hellespont (Erfolg der Perser); Thermopylen, Xerxes’ Flucht und Leonidas’ Heldentat (letztlich Erfolg der Griechen). 943 Siehe zu diesem herodoteischen Thema auch den Scholienkommentar (p. 179 Rabe): Μαραθὼν* κτλ.] ταῦτα πάντα παρ’ Ἡροδότῳ ἱστόρηται, ἡ ἐν Μαραθῶνι τῶν Περσῶν μάχη, Περσῶν μὲν Δάτιδος ἡγουμένου, Ἀθηναίων δὲ Μιλτιάδου, ἐν ᾗ ὁ Καλλίμαχος πολεμῶν καὶ τὴν κεφαλὴν ἀφαιρεθεὶς ἐπὶ πολὺ νεκρὸς εἱστήκει, ὑπὸ τῆς περὶ τὸν πόλεμον προθυμίας οὐδὲ τί πάθοι αἰσθόμενος. 944 Zu Anspielungen auf Kynegeiros und Marathon vgl. weiter Favorin De ex., fr. 96,22 und Luk. Demonax 54; Dial. Deor. 2,3.

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5. Kommentar (§§18–22)

Dareios einen weiteren grossen Heereszug nach Griechenland unternahm und einerseits die Landenge, welche das Athosgebirge mit dem Festland verband, durchstechen liess, so dass ein Kanal für seine Flotte entstand (vgl. Hdt. 7,22–24), und andererseits den Hellespont überbrücken liess (Hdt. 7,33–36).945 Athosdurchstechung und Hellespontüberbrückung finden sich als Paradethemen des Sophisten Varus aus Perge bei Philostrat VS 576. Skopelian wiederum wird allgemein ein grosses Können in Themen, die die Meder, Dareios und Xerxes beinhalten, attestiert (VS 519–520; vgl. auch die Anspielung auf Dareios und Xerxes in VS 541). Auch Maximus von Tyros verwendet zur Darstellung seiner philosophischen Inhalte diese rhetorischen Paradethemen, vgl. Or. 14,8 mit der Erwähnung von Xerxes und Mardonios, des Hellesponts und des Athosgebirges.946 Die Formulierung ὁ ἥλιος ὑπὸ τῶν Μηδικῶν βελῶν σκεπέσθω spielt auf die (durch die Nennung von Leonidas gleich danach wiederaufgegriffene) Schlacht bei den Thermopylen an, wo der besonders tapfere Spartiate Dienekes sich vom furchteinflössenden Ruf der Medergeschosse, deren riesige Anzahl angeblich die Sonne verdunkle, unbeeindruckt gezeigt hat (Hdt. 7,226).947 Mit Xerxes’ Flucht (vgl. Hdt. 8,97–120) und der Bewunderung für Leonidas werden der (unterlegene) Perserkönig und der (durch seinen Heldentod die Niederlage einleitende) Spartanerkönig einander gegenübergestellt. Leonidas sollte die Thermopylen gegen das persische Heer verteidigen, während die persische Flotte am Kap Artemision bei Euboia aufgehalten würde. Doch infolge eines Verrats948 ging der Plan schief, die Perser überfielen die Ausharrenden, und Leonidas starb mit all seinen Männern (vgl. Hdt. 7,205–239). Nach den Siegen bei Salamis und Plataiai wurde Leonidas glorifiziert (vgl. Paus. 3,14,1).

945 Vgl. auch den Scholienkommentar (p. 179 Rabe): Ἄθως κτλ.] ἡ Ἑλλησπόντου ὑπὸ Ξέρξου γεφύρωσις καὶ ἡ τοῦ Ἄθω διόρυξις, ἵν’ ἡ θάλασσα εἰσρυεῖσα πλωτὸν ἀπεργάσαιτο τὸν ἰσθμὸν τοῖς Ξέρξου σκάφεσιν, καὶ ὅσα ἄλλα ἱστόρηται Ἡροδότῳ. – Xerxes’ Niederlage wird in der Retrospektive als Folge seiner ὕβρις interpretiert, generell die Grenzen zwischen Asien und Europa übertreten zu haben sowie speziell den Hellespont, nachdem die erste Brücke nicht gehalten hatte, gegeisselt und von neuem überbrückt zu haben (vgl. A. Pers.). 946 Vgl. im lateinischen Bereich Seneca maior suas. 2,3 (Xerxes, Hellespont und Athos); 5,2 (Kynegeiros und Salamis). 947 Überliefert ist neben Μηδικῶν βελῶν (β) auch Περσικῶν βελῶν (γ), wobei ersteres wegen der Anlehnung an Herodot vorzuziehen ist und dementsprechend sowohl von Macleod als auch von Harmon gedruckt wird. Siehe dazu auch bereits Mras [1911] 169: »Die B-Klasse hat das Richtige: Luc. spricht von den rhetorischen Schulthemen; in diesen war nach Art der alten Autoren (Herodot, Thukydides) von τὰ Μηδικά und daher von Μηδικὰ (nicht Περσικὰ) βέλη die Rede.« 948 So Hdt. 7,213.

§18: Der eigentliche Auftritt: Paradethemen und Aufbau der Rede

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τὰ Ὀθρυάδου γράμματα ἀναγιγνωσκέσθω Mit der Erwähnung des Spartiaten Othryadas wird die Aufzählung von Orten, Ereignissen und Helden der Perserkriege unterbrochen; sie lehnt sich inhaltlich allerdings an die Nennung des Spartanerkönigs Leonidas an und ist ebenfalls ein herodoteisches Thema (Hdt. 1,82–83): Othryadas zeichnete sich in der Schlacht zwischen Sparta und Argos um die Landschaft Thyrea (um 550 v.Chr.) aus; gemäss Herodots Schilderung verlief der Kampf dermassen ausgeglichen, dass alle Soldaten bis auf zwei Argeier und den Spartaner Othryadas fielen: Erstere meldeten in Argos ihren Sieg, der jedoch von den Spartanern nicht anerkannt wurde, was zu einer zweiten Schlacht führte (in der die Lakedaimonier schliesslich siegreich waren). Othryadas schämte sich, nach Sparta zurückzukehren, weil alle seine Mitkämpfer gefallen waren, und brachte sich selbst um.949 Allerdings finden sich andere Versionen der Geschichte, in denen Othryadas als Anführer der dreihundert kämpfenden Spartaner als letzter einen Heldentod stirbt, so dass eine Analogie zu Leonidas gegeben ist, wie sie auch vorliegender Text von Rh. Pr. enthält (vgl. RE 18 s.v. Othryadas, Sp. 1872 und AP 7,431; 11,141): Bevor Othryadas verstirbt, verewigt er den Sieg auf einem Tropaion, auf dem er eine mit seinem eigenem Blut geschriebene Inschrift anbringt (vgl. AP 7,430 und 431; Stob. Antholog. 3,7,68).950 Gerade dieses Element des Heldentodes des Othryadas und seiner Inschrift fand weite Verbreitung in rhetorischen Texten der Kaiserzeit: Lib. Decl. 24,22; Max. Tyr. Or. 23,2 und 32,10; vgl. auch Seneca maior suas. 2 (v.a. §2 und §16: Othryadis nostri litteras); auch Lukian bezieht sich ein weiteres Mal auf diesen Helden in Char. 24 (Hermes zu Charon): Ἀργείους ὁρᾷς, ὦ Χάρων, καὶ Λακεδαιμονίους καὶ τὸν ἡμιθνῆτα ἐκεῖνον στρατηγὸν Ὀθρυάδαν τὸν ἐπιγράφοντα τὸ τρόπαιον τῷ αὑτοῦ αἵματι.951 ἡ Σάλαμις καὶ τὸ Ἀρτεμίσιον καὶ αἱ Πλαταιαὶ Die drei neben dem oben erwähnten Marathon (und dem fehlenden Mykale) berühmtesten Hauptschauplätze der Perserkriege runden die Aufzählung der Paradethemen ab; in chronologischer Reihenfolge ereignete sich die erste Seeschlacht zwischen Griechen und Persern am Kap Artemision auf Euboia um 480 v.Chr. (vgl. Hdt. 8,1–18); es folgten die Seeschlacht bei Salamis um 480 v.Chr. (vgl. Hdt. 8,83–96) und die Schlacht bei Plataiai um 479 v.Chr. (vgl. Hdt. 9,58–79).

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So auch AP 7,526. Die gesamte Überlieferung in ihren verschiedenen Strängen hat Kohlmann [1874] zusammengestellt. 951 »Die Argeier siehst du hier, Charon, und die Lakedaimonier und den bekannten Feldherrn Othryadas, halbtot, wie er das Siegesmal mit seinem eigenen Blut beschriftet.« 950

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5. Kommentar (§§18–22)

Sowohl kurze Anspielungen als auch längere Ausführungen über die Perserkriege und die berühmtesten Kriegsschauplätze und damit über die militärischen Grosstaten der Vorfahren finden sich bereits bei den klassischen Rednern (Isoc. Or. 4,71–90; 5,147; 12,195; Demosth. Or. 18,208; auch Plat. Mx. 239c–241c)952 und treten in der Kaiserzeit dann gehäuft auf: z.B. Plut. Comp. Aristid. et Cat. 5,1; mor. 814c; Aristeid. Or. 1,13.110.114– 128.182; 2,341; 3,215.246; 8,8; Max. Tyr. Or. 20,7; 23,6; 24,6; 34,9; Dion von Prusa Or. 11,145–146; vgl. weiter in der Rhetoriktheorie Longin 16; Hermog. Περὶ ἰδεῶν 1,6,81, Rhetores Graeci vol. 6, p. 246 Rabe (über die Arten von σεμνότης; eine davon ist das Anführen von grossen Taten der Menschen: Beispiele sind Marathon, Plataiai, Salamis, Athos und Hellespont), vgl. z.B. auch Sopat. Rh., Rhetores Graeci vol. 8, p. 197,26–28 und 198,1–3 Walz (als exempla empfohlen werden Salamis und Themistokles bzw. die Meder, Marathon und Salamis).953 ἐπὶ πᾶσι τὰ ὀλίγα ἐκεῖνα ὀνόματα Vgl. zu den Standardattizismen bereits den Kommentar zu §16: πεντεκαίδεκα ἢ οὐ πλείω γε τῶν εἴκοσιν Ἀττικὰ ὀνόματα. Überliefert ist neben ἐπὶ πᾶσι τὰ (γ) auch ἐπίπαστα (β); ich übernehme hier gegen Macleod die Lesart der Handschriftengruppe γ, da sie einen absolut zufriedenstellenden Sinn ergibt (so auch Harmon), und ἐπίπαστα eine

952 Zu dieser nostalgischen Haltung bezüglich des 5. Jh.s vgl. Bowie [1970] 28: »In Athens itself the attitude can be traced at least to fourth-century regret for the loss of the Athenian empire of the fifth century, and Demosthenes is one of the first witnesses to a nostalgia of which he was later to become one of the prime objects.« 953 Dass das Thema der Perserkriege auch im römischen Bereich verbreitet war und seit Augustus sogar Teil der Herrscherideologie wurde, wobei die Perser mit den Parthern verglichen worden sind, eröffnet eine zusätzliche, neue Perspektive, relativiert die Möglichkeit einer (impliziten) Romkritik in den griechischen Deklamationen bzw. ihre subversive Funktion bis zu einem gewissen Grad (vgl. die Einleitung zu §§18–22) und lässt dieses Paradethema unproblematisch erscheinen. Siehe dazu Spawforth [1994] 233–247. Vgl. auch bereits Anm. 916 zur positiven römischen Haltung gegenüber griechischer Vergangenheit und Geschichte. Antike Quellen dieser Herrscherideologie sind: Cass. Dio 55,10,7; 61,9,6; Suet. Nero 12; Cal. 19. Spawforth verdeutlicht Entstehung und Bedeutung dieser Herrscherideologie folgendermassen (240): »Among Roman admirers of Greek culture this equation was highly flattering to Rome, since it absorbed her stand against Parthia into a universal myth-historical tradition of struggle against barbarism [...]. [...] the official Persian/Parthian metaphor was a form of ›sociological propaganda‹, slipping almost spontaneously into the official thinking of the regime because in fact it drew on the dominant cultural values of the Roman upper class.« Über den Zusammenhang zwischen römischer Ideologie und Verbreitung des Themas der Perserkriege in der griechischen Kultur dieser Zeit vgl. 243–247, bes. 245: »Intentionally or not, imperial ideology played on the old ethnocentrism of the Greeks, and it may well be here that the real strength of the Persian wars as a unifying symbol should be sought, especially since the Romans themselves, as they came into contact with the ›uncivilized‹ peoples on their frontiers, Parthians included, in due course constructed their own brand of ›barbarology‹ on Greek lines.« [meine Hervorhebungen]

§18: Der eigentliche Auftritt: Paradethemen und Aufbau der Rede

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antike Verbesserung im Sinn einer Anlehnung an §16: ἐπίπαττε darstellen könnte.954 ἐπιπολαζέτω Zum Verb ἐπιπολάζειν und seiner Semantik vgl. den Kommentar zu §26: παύσομαι τῇ Ῥητορικῇ ἐπιπολάζων. καλὰ γάρ ἐστι καὶ εἰκῆ λεγόμενα Mit der ihm eigenen entwaffnenden Ehrlichkeit zeigt der Rednerlehrer am Ende der langen Passage über die Paradethemen nochmals deutlich die Nebensächlichkeit des Inhalts auf, da er auf die auswendig gelernten Standardattizismen zurückverweist (vgl. §16), die letztlich den Ausschlag geben, ob eine Rede als angenehm und schön anzuhören empfunden wird.955 Eine präzise Anwendung dieser Vokabeln ist dabei unnötig, weil allein ihr Klang den gewünschten Effekt bringen soll, das (An-)Erkennen der Rede als attizistisch. So läuft auch die einzige Passage der Schrift, die sich konkret mit dem Inhalt einer sophistischen Rede befasst,956 auf eine Empfehlung hinaus, die ein oberflächlich-ästhetisches Kriterum anwendet, was mit der Bilddarstellung der hetärenhaften Rhetorik und der Betonung allein ihrer äusserlichen Schönheit korrespondiert.957 §19 Da die Zuhörer, wie aus dem Vorangehenden klar geworden ist, nicht durch argumentative Technik und ausgefeilte Stoffgliederung (τάξις) des Redners beeindruckt werden,958 muss er seinen Auftritt mit Showeffekten anreichern, welche zudem von allfälligen Mängeln bestens ablenken können. Verschiedene solcher Effekte werden explizit genannt; sie lassen sich einteilen in 954 Vgl. zur Zuverlässigkeit der Handschriftengruppe γ die einleitenden Bemerkungen zum griechischen Text, bes. Anmm. 473 und 474. Das Adjektiv ἐπίπαστος ist ansonsten bei Lukian nicht belegt. Siehe auch Nesselrath [1984] 597: »ἐπίπαστα β klingt künstlich und zusammen mit ἐπιπολαζέτω und ἐπανθείτω tautologisch; es findet sich bei Lukian wiederum nur hier, und wiederum ist ἐπὶ πᾶσι τά γ wesentlich natürlicher.« 955 Zu Formulierungen mit ähnlichem Duktus vgl. bereits den Kommentar zu §15: ἀχρεῖα γὰρ καὶ ὑπεναντία τῷ πράγματι / ταῦτα δὲ πάνυ ἀναγκαῖα καὶ μόνα ἔστιν ὅτε ἱκανά. 956 Nur noch kurz gestreift wird die Thematik des Inhalts zu Beginn von §20; vgl. den Kommentar zu: ἀπὸ τῶν Ἰλιακῶν ἀρξάμενος ἢ καὶ νὴ Δία ἀπὸ τῶν Δευκαλίωνος καὶ Πύρρας γάμων. 957 Vgl. §6 (mit dem Kommentar zu: νόμῳ [...] τοῦ γεγαμηκότος), §12 und den Kommentar zu §26: καλλίστην γυναῖκα τῆν Ῥητορικήν. 958 Vgl. den Kommentar zu §18: ὡς τὸ πρῶτον [...] ἐρεῖς ἐν καιρῷ προσήκοντι καὶ τὸ δεύτερον μετὰ τοῦτο καὶ τὸ τρίτον μετ’ ἐκεῖνο κτλ.

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5. Kommentar (§§18–22)

Elemente eines bestimmten Gebrauchs der Stimme und in Elemente, welche die zusätzliche physische Aktivität – ein spezielles ›Gehabe‹ auf der Bühne – betreffen. Zur Stimme gehören die Intonation einzelner Passagen der Rede (ᾆσαι) oder zumindest eine auffällige Satzmelodie (ἐμμελῶς πεπληρωκέναι οἴου τὴν ἁρμονίαν), vielfach wiederholte Zwischenrufe (τὸ δὲ οἴμοι τῶν κακῶν πολλάκις) und allgemein Geschrei (λαρύγγιζε). Zur körperlichen Aktivität gehört es, sich auf die Schenkel zu schlagen (ὁ μηρὸς πατασσέσθω), mit dem Hintern wackelnd hin und her zu stolzieren (βάδιζε μεταφέρων τὴν πυγήν) und das Gesagte durch Räuspern oder Ausspucken zu unterstreichen (ἐπιχρέμπτου τοῖς λεγομένοις; zur Bedeutung des Verbs s.u.). Die stilistische Gestaltung in Form einer Aneinanderreihung durch wiederholtes καί959 stellt die Showeffekte in ihrer ganzen Bandbreite dar und unterstreicht die Dichte ihrer Anwendung (genau diese Darstellungsweise findet sich auch in der Aufzählung der Paradethemen; vgl. den Kommentar zu §18: ὁ Μαραθὼν καὶ ὁ Κυνέγειρος κτλ.). Auch im Bereich der Showeffekte bestätigen uns Philostrats Berichte – wie schon im Bereich von Vokabular und Paradethemen –,960 dass solche Elemente durchaus mit zu einem gelungenen und beeindruckenden Sophistenauftritt gehörten, dass sie aber immer auch Gegenstand allfälliger Kritik sein konnten und damit satirisches Potential aufweisen.961 ἢν δέ ποτε καὶ ᾆσαι καιρὸς εἶναι δοκῇ, πάντα σοι ᾀδέσθω καὶ μέλος γιγνέσθω Die Formulierung klingt an den Beginn von §18 an (ἐπειδὰν δὲ καὶ δέῃ λέγειν καὶ οἱ παρόντες ὑποβάλωσί τινας ὑποθέσεις), wobei die Eigeninitiative des Schülers, die im Rahmen des Ernstfalls eines sophistischen Auftritts, der als erste Hürde die Wahl eines geeigneten Deklamationsthemas stellt, thematisiert wird, hier mit der Möglichkeit von Gesangseinlagen noch stärker gefordert ist: Wenn ein passender Zeitpunkt bzw. eine passende Passage der Rede vorliegt, soll der Schüler zu einer melodiösen Einlage schreiten. Dabei liegt es in der Natur der Stegreifrede, dass der Schüler den

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[...] καὶ ὁ μηρὸς πατασσέσθω, καὶ λαρύγγιζε καὶ ἐπιχρέμπτου [...] καὶ βάδιζε [...]. Vgl. den Kommentar oben zu §17: ἀπόρρητα καὶ ξένα ῥήματα καὶ σπανιάκις ὑπὸ τῶν πάλαι εἰρημένα und zu §18: ὁ Μαραθὼν καὶ ὁ Κυνέγειρος κτλ. 961 Vgl. Hall [1981] Kap. 4, bes. 267–273; Korenjak [2000] 37; 134–135. Aristeides (Or. 28,128–129) lehnt sämtliche Elemente, die nur der reinen Show dienen (σχήματος εἵνεκα), ab und bekräftigt, sich ihrer niemals bedient zu haben, weder auffälliger Gestik und Mimik, noch theatralischer Kleidung, noch des Tanzens. 960

§19: Der eigentliche Auftritt: Showelemente

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καιρός, den richtigen Zeitpunkt, selbst findet; der Rednerlehrer muss daher in seinen Angaben relativ vage bleiben (ἢν δέ ποτε).962 Hier kommt nun der bereits in Rh. Pr. 15 geforderte hemmungslose Singsang (μέλος ἀναίσχυντον) zum Einsatz. Der Gesang eines Redners wird in den antiken Zeugnissen zur typisch asianischen Vortragsweise gezählt.963 So bemerkt Wright in seiner Ausgabe des Philostrat im Glossar unter ᾠδή, sing-song (p. 575): »The Asianists from the first indulged in a sort of chant which suited their metrical rhythms; this seems to have been especially the case in the epilogue [...].« Obwohl sich Nordens Einteilung aller antiken Stilphänomene in ›asianisch‹ und ›attizistisch‹ als problematisch erwiesen hat964 und der Asianismus in der Zweiten Sophistik nicht mehr eine solche Bedeutung als Gegenbegriff zum Attizismus hat wie noch im 1. Jh. v.Chr.,965 kann man dennoch bezüglich des Gesangs von einem asianischen Element sprechen, weil er seit der Stildebatte zu Ciceros Zeit klar zum Asianismus gehört; ein Element, das hier mitsamt den Implikationen der Verweichlichung (vgl. z.B. Seneca maior contr. 1 praef. 8) übernommen wird, da ja der Rednerlehrer mit seiner Auftrittspraxis als Paradebeispiel des Effeminierten dargestellt wird (vgl. v.a. Rh. Pr. 11). Der Gesang ist bei besonders pathetischen Passagen angewandt worden, was eine zwar populäre, aber umstrittene Praxis war, wie schon die Aussagen Ciceros über die Asianer seiner Zeit, aber auch diejenigen des Quintilian, Plutarch, Aristeides oder Dion von Prusa zeigen: Bereits bei Cicero (Or. 27 und 57) heisst es, es gebe Redner aus Kleinasien, die more Asiatico sängen und deren Epiloge beinahe ein canticum seien. Darauf nimmt Quintilian (Inst. 11,3,58) Bezug und klagt, dass in seiner Zeit die Redner dieses paene canticum bereits weit hinter sich gelassen hätten, denn die Singerei sei, wie aus einer anderen Stelle deutlich wird, ein vitium, das sich bereits überall verbreitet habe (Inst. 11,1,56; genauso später Dion Or. 32,68: πάντες δὴ ᾄδουσι καὶ ῥήτορες καὶ σοφισταί). Sie sei vor allem deshalb so beliebt, weil sie über Mängel hinwegtäuschen könne. Diejenigen, deren Stimme zu schwach sei, um lange Zeit laut zu deklamieren, wendeten diese Taktik an, obwohl doch das Modulieren der Stimme auf die Schauspielbüh962 §19 weist noch drei weitere solche mit ἤν eingeleitete Konditionalsätze auf, die zwar konkretere Anweisungen des Rednerlehrers enthalten, jedoch ebenfalls alle auf das Charakteristikum der Stegreifrede, in deren Ablauf verschiedene Handlungsmöglichkeiten von Seiten des Redners, aber auch von Seiten des Publikums her entstehen, fokussieren: κἄν ποτε ἀπορήσῃς πράγματος ᾠδικοῦ / ἢν μέν σε μὴ ἐπαινῶσιν / ἢν δὲ ὀρθοὶ ἑστήκωσιν. 963 Vgl. Norden [31915] 1,375–379 und Hall [1981] 269 mit Anm. 24. 964 Vgl. Korenjak [2000] 135 Anm. 69 mit Literaturhinweisen, zum Asianismus siehe Norden [31915] 1,134–147; 270–300; 351–354; 367–392 und HWRh 1 [1992] 1114–1120. Eine kurze Übersicht über die Attizismus-Asianismus-Debatte in der Forschung bietet auch Whitmarsh [2005] 49–52. 965 So Gelzer [1979] 39–40.

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5. Kommentar (§§18–22)

ne gehöre (Inst. 11,3,13 und 57). Ähnliches lastet Plutarch den singenden Sophisten an, wenn er auch stärker aus einem moralisch-philosophischen Standpunkt heraus formuliert (mor. 41d): Statt mit dem Inhalt ihrer Rede wollen sie mit Gesang beeindrucken, der vor allem die unerfahrenen oder leicht zu lenkenden Zuhörer in einen bakchischen Rausch versetzt und mit sich fortreisst, wobei ein leerer Genuss (κενὴ ἡδονή) entsteht, von dem der Zuhörer keinen echten Nutzen hat. Aristeides schliesslich wirft den neumodischen Rednern genau wie Quintilian und Plutarch vor, dass sie ihren Gesang bloss anwendeten, weil es ihnen an sonstigen Rednerqualitäten mangle, wobei er aber besonders die Unangemessenheit solchen Verhaltens für einen Redner und für einen Mann betont: So benimmt sich ein ἀνδρόγυνος oder εὐνοῦχος (Or. 34,45.47–48).966 Der bei Quintilian vorliegende Bezug zum Theater ist für Rh. Pr. von besonderer Bedeutung, denn Gesangselemente und Klagelaute (s.u. zu: οἴμοι τῶν κακῶν) erinnern an die Performanz der Tragödie und führen den Vergleich des Sophistenauftritts mit einem Schauspiel weiter (vgl. Rh. Pr. 11–12). Bei Philostrat ist solcher Gesang, den man sich als eine Art Intonation und (verstärkte) Rhythmisierung wichtiger Passagen (oft eine Art Refrain oder aber die Betonung der Schlusspassage) vorstellen muss, gut bezeugt: Die Auftritte des Hadrian von Tyros sind beispielsweise derart bewundert worden, dass die Menschen sie, ohne Griechisch zu verstehen, besuchten, und dies nicht zuletzt wegen seiner bezaubernden Stimme (VS 589): ἠκροῶντο δὲ ὥσπερ εὐστομούσης ἀηδόνος, [...] ἐκπεπληγμένοι [...] τὸ εὔστροφον τοῦ φθέγματος καὶ τοὺς πεζῇ τε καὶ ξὺν ᾠδῇ ῥυθμούς.967 Ähnliches berichtet der Biograph über Favorinus, dessen Epiloge vom Publikum ᾠδή (Gesang) genannt wurden, weil er sie jeweils intonierte (VS 491f.), wobei Philostrat solchen Zusatz, der nichts mehr zur Rede beitrage, kritisch als reine φιλοτιμία einstuft.968 Dass der Gesang durchaus eine Gratwanderung sein und auch als unangemessen empfunden werden konnte, zeigt eine Passage, worin Varus von Laodikeia wegen seiner hässlichen kleinen Ge966 Vgl. über die unmännlichen Rhetoren auch Sen. contr. 1 praef. 10. Über Stimmtraining und Gesang und deren Bedeutung im Bereich der gender-Frage sowie über die antiasianische Polemik der rhetorischen Schriftsteller, die meist mit einem Angriff auf die Weichlichkeit kombiniert ist, vgl. Gleason [1995] Kap. 4 und 5. 967 »Sie hörten ihm zu wie einer schön singenden Nachtigall, [...] in Bann geschlagen durch die Flexibilität seiner Stimme und die Rhythmen, sei es in der Prosa oder wenn er ein Rezitativ intonierte.« Auch in VS 516 wird der Vergleich zwischen der Tätigkeit eines Redners und dem Gesang einer Nachtigall hergestellt. Die Bezeichnung eines Redners als Nachtigall oder Schwan (s.u. zu Lukians Electrum) ist topisch, z.B. bei Libanios (Ep. 617,1: Vergleich seiner selbst mit einer Nachtigall; Or. 31,44: Vergleich seiner Lehrerkollegen mit Schwänen) oder bei Himerios (Or. 40,1; 22,1). Auch tritt der Vergleich mit einer Zikade auf (Him. Or. 59,1; Lib. Ep. 301,1; siehe dazu den Kommentar zu §13: ἡ σάλπιγξ τοὺς αὐλοὺς [...] οἱ χοροὶ τοὺς ἐνδιδόντας). 968 Als Beispiel dieser speziellen Art der peroratio des Favorinus kann die im Corpus der Reden des Dion von Prusa überlieferte 37. Rede dienen (§47), vgl. dazu Gleason [1995] 19.

§19: Der eigentliche Auftritt: Showelemente

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sangseinlagen gerügt wird, die allenfalls gerade noch als Musik für Tänzer herhalten könnten (VS 620, vgl. Quintilians Erwähnung der Schauspielbühne: Inst. 11,3,13 und 57). In einer weiteren Anekdote berichtet Philostrat, dass Dionysios von Milet, als er seine Deklamationen intonierte, von seinem Lehrer Isaios getadelt wurde, das Singen habe er ihn aber nicht gelehrt (ᾄδειν οὐκ ἐπαίδευσα; VS 513). Auch aus den lukianischen Texten geht der Gesang teils implizit, teils explizit als verbreitete Technik im Rahmen der Auftritte zeitgenössischer Redner hervor: Einerseits werden Geschichten oder Situationen, in denen Gesangsvokabular (ᾄδειν, ᾠδή) verwendet ist, durch Vergleiche auf Redner (und auch Philosophen) bezogen, womit implizit auf deren Vortragstechnik mit Gesang oder melodiösem Sprechen verwiesen wird,969 andererseits distanziert sich Lukian explizit von dieser Gepflogenheit der zeitgenössischen Sophisten oder thematisiert zumindest das Gefahrenpotential solcher Showeinlagen.970 Beide Herangehensweisen nebeneinander finden sich in Lukians Electrum, worin er die von den Dichtern erzählte Geschichte über Schwäne, die in grosser Zahl am Ufer des Flusses Eridanos singen, als lügnerisch erweist (§§4–5) und derartige Täuschungen dann auf die Situation zwischen Redner und Publikum adaptiert: Er warnt das Publikum in einer Bescheidenheitspose davor, von ihm solche ›Schwäne‹ zu erwarten, auch wenn viele andere Sophistenkollegen diese Erwartungen durch ihren ›Gesang‹ schürten (§6: ἄλλοις μὲν γὰρ οὐκ ὀλίγοις ἐντύχοις ἂν [...] πολὺ τῶν κύκνων τῶν ποιητικῶν λιγυρωτέροις). Durch den Vergleich der Sophisten und ihrer Reden mit singenden Schwänen wird generell auf beeindruckende Lügengeschichten und auf das Showverhalten der Sophisten angespielt, doch erwähnt Lukian abschliessend konkret das Fehlen des Gesangs in seinen Vorträgen, um die Tatsache zu illustrieren, dass er keine Show im Sinn einer Täuschung bieten wird und will (§6: τὸ δὲ ἐμὸν ὁρᾶτε ἤδη ὁποῖον ἁπλοϊκὸν καὶ ἄμυθον, οὐδὲ τις ᾠδὴ πρόσεστιν).971 Eine deut969

Vgl. De Domo 3; Merc. Cond. 27; Pisc. 6 und Electrum 4 (weiter dazu s.u.). Die neue, hetärenhafte Rhetorik in Bis Acc. 31 freut sich über die (abscheulichen) Gesänge ihrer Verehrer – und damit auch Exponenten der Sophistik – vor ihrer Haustüre. Gehört solcher Gesang für die Angebetete – das sog. Paraklausithyron – auch zu den gängigen Elementen der ›Brautwerbung‹, so glaube ich doch, dass Lukians Erwähnung der vielen singenden Verehrer hier im Zusammenhang mit der aktuellen Auftrittspraxis steht. Vgl. weiter Symp. 40, wo die ›Gelehrten‹ (Philosophen, Redner und Grammatiker) einen unter ihnen wegen eines abwegigen Vokabulargebrauchs zum Schweigen auffordern und sein Verhalten als »barbarischen Gesang« (βαρβαρικὰ ἡμῖν ᾄδων) tadeln. 971 Ebenfalls sowohl wörtlich als auch übertragen kann die Erwähnung einer νέα ᾠδή im Zusammenhang mit Lukians Einstellung zu Tradition und Neuheit verstanden werden (Zeux. 2): Obwohl Homer (Od. 1,352) richtigerweise gesagt hat, dass ein neuer Gesang bei den Zuhörern besonderen Gefallen finde, soll er dennoch nicht überhand nehmen und die konventionellen Qualitäten einer guten Rede völlig übertünchen. Vgl. zu Electrum, Zeuxis und den weiteren Vorreden Lukians die Einleitung 1.7.2. 970

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5. Kommentar (§§18–22)

liche Ablehnung von (schlechten) Gesangseinlagen findet sich schliesslich in Pseudol. 7: Am Vortrag seines Kontrahenten anwesend, bricht Lukian in Lachen aus, als jener zu singen beginnt. κἄν ποτε ἀπορήσῃς πράγματος ὠδικοῦ Diejenigen Themen, die sich nicht für Gesang eignen, dürften vor allem in den Bereich der Gerichtsrede bzw. eines fingierten Gerichtsfalles gehören, was durch die genannte Alternative melodiöser Anrufe an die Richter (τοὺς ἄνδρας τοὺς δικαστὰς ὀνομάσας ἐμμελῶς κτλ.) angedeutet ist: Obgleich die Ethopoiie grosser historischer Persönlichkeiten wie Themistokles oder Demosthenes ungleich häufiger ist, so nimmt der Deklamator manchmal auch die Rolle eines Advokaten (συνήγορος) oder generell eines Angeklagten vor Gericht ein.972 Gerade in der relativ farblosen Rolle des Anwalts ist die sachliche Darlegung des Falles (die so genannte κατάστασις973) zentral, wobei Gesang, obwohl er einen solchen trockenen Stoff auflockern könnte, wohl aufgrund der Forderung einer der historischen Situation (Gerichtsverhandlung) getreuen μίμησις nicht bzw. nur in der abgeschwächten Form von melodiösem Sprechgesang angewandt wird.974 τοὺς ἄνδρας τοὺς δικαστὰς ὀνομάσας ἐμμελῶς πεπληρωκέναι οἴου τὴν ἁρμονίαν Die Alternative zum eigentlichen Gesang ist eine Art melodiöser Sprechgesang. Die Junktur ἐμμελῶς ὀνομάζειν findet sich so noch bei Maximus von Tyros Or. 10,3, allerdings in der übertragenen Bedeutung »angemessen benennen« (in dieser Bedeutung auch Plut. mor. 632d). Dass ἐμμελῶς wörtlich bezogen auf Sprache den harmonischen Klang von Wörtern oder Silben meint, die aufeinander folgen, also die Satzmelodie, zeigt eine Formulierung bei Psell. Enc. in patr. Const. Leich. 394: ὀνόματά τε ἐκλέξασθαι καὶ ἐμμελῶς ταῦτα ἁρμόσαι. Zu dem an »meine Herren Richter« gewandten Ausruf vgl. die spöttische Behandlung solcher vielfach wiederholter Phrasen in AP 11,142 (vgl. bereits den Kommentar zu §16: πεντεκαίδεκα ἢ οὐ πλείω γε τῶν εἴκοσιν Ἀττικὰ ὀνόματα). Inhaltlich ist diese Anrede durch die dem Publikum zugewiesene fiktive (historische) Rolle als Richter am athenischen Gerichtshof zu erklären;975 gleichzeitig verweist sie auf die (gegenwärtige) Rolle als ›Kunstrichter‹.

972 Vgl. Russell [1983] 14–15. Zur Rolle des Advokaten vgl. Hermogenes Περὶ μεθόδου δεινότητος 21, Rhetores Graeci vol. 6, p. 436–37 Rabe. 973 Vgl. Russell [1983] 88. 974 Zu melodiösem Sprechen vgl. ausführlich Dion. Hal. Comp. Verb. 11. 975 Vgl. Korenjak [2000] 59 mit weiteren Belegstellen.

§19: Der eigentliche Auftritt: Showelemente

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Zur vorliegenden Konstruktion des Verbs οἴομαι (hier: »achten auf, beabsichtigen«) vgl. LSJ s.v. VI.2. und 3.: οἴομαι δεῖν: I think it my duty, think fit sowie mit fehlendem δεῖν: I mean to, indend. Beispiele sind Plat. Men. 95c (über Gorgias: λέγειν οἴεται δεῖν ποιεῖν δεινούς); Arist. EN 1135b14 (οὐ βαλεῖν [...] ᾠήθη); Lysias Or. 12,26 (οὐκ οἴει ἐμοὶ καὶ τουτοισὶ δοῦναι δίκην). οἴμοι τῶν κακῶν Die klagenden Zwischenrufe, die neben dem Gesang empfohlen werden, gehören inhaltlich in ein weiteres Feld als die zuvor genannten Anrufe an die Richter, die auf die forensische Rede bzw. die Nachahmung einer solchen beschränkt sind. Innerhalb dieser ist eine solche Klage auf Seiten des sich verteidigenden Angeklagten denkbar, darüber hinaus aber in der deliberativen Rhetorik aus dem Mund des gescheiterten oder sich in einer Konfliktlage befindenden Helden, Staatsmann oder Strategen vorstellbar. Der Ausruf οἴμοι (τῶν) κακῶν findet sich denn auch zuerst in Tragödie und Komödie (bei letzterer in komischer Brechung der unglücklichen Lage),976 später – und für vorliegenden Kontext von besonderer Bedeutung – in rhetoriktheoretischen Werken und in Deklamationen.977 Generell erwecken solche Zwischenrufe das Mitleid des Publikums mit der nachgeahmten Figur und thematisieren daher implizit die Publikumsreaktion (vgl. über Mitleid, ἔλεος, Aristoteles Rh. 2,8). ὁ μηρὸς πατασσέσθω Das Verb πατάσσειν ist bereits bei Homer belegt, intransitiv »schlagen, klopfen«, z.B. Il. 7,216: θυμὸς ἐνὶ στήθεσσι πάτασσεν; Il. 13,282. In der transitiven Bedeutung »schlagen« erscheint es z.B. bei Plat. Grg. 527c (die Junktur πληγὴν πατάσσειν); mit dem Objekt, welches geschlagen wird, z.B. Ar. Ach. 1166f. (Kopf; so häufig bei Lukian); Ra. 38 (Tür); E. HF 1007 (Rücken). Die angesprochene Gestik wird bei Philostrat einmal beschrieben (VS 519): Skopelian, ein Schüler des Niketes von Smyrna, pflegte sich auf den Schenkel zu schlagen, um sich und seine Zuhörer aufzurütteln (τόν τε μηρὸν θαμὰ ἔπληττεν ἑαυτόν τε ὑπεγείρων καὶ τοὺς ἀκροωμένους). Gene976 Vgl. z.B. Euripides Heracl. 224; Andr. 394; Tr. 1231; Ph. 373 und 1346; Ba. 1248; Eupolis PCG 5, fr. 289; Aristophanes Pl. 389; Menander Dysk. 189. 977 Vgl. z.B. Men. Rh. Περὶ ἐπιδεικτικῶν, Rhetores Graeci vol. 3, p. 420 Spengel (über die Gestaltung eines Epitaphios – also einer epideiktischen Rede – mit dem Beispiel einer angemessenen Klage auf den Verstorbenen): οἴμοι τῶν κακῶν, καὶ γάρ τοι νῦν οὗτος ἀνήρπασται, ferner Himerios Or. 5,180 (Themistokles spricht: οἴμοι τῶν κακῶν· ἡττημένος μου Χέρξης λαμβάνει τὴν πόλιν), Or. 2,90 und Sopat. Rh. Διαίρεσις ζητημάτων, Rhetores Graeci vol. 8, p. 210,21 Walz.

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5. Kommentar (§§18–22)

rell dient solche Gestik sicher auch der Unterstreichung des Gesagten, vergleichbar mit Polemons Aufstampfen (κροαίνειν) an wichtigen Stellen seiner Deklamationen (VS 537). Quintilian (Inst. 11,3,123) bezeichnet das Schlagen des Schenkels als übliche Gestik und erwähnt sowohl das Unterstreichen bestimmter Affekte (Unwillen) als auch das Aufrütteln des Publikums als Wirkungen: femur ferire, quod Athenis primus fecisse creditur Cleon, et usitatum est et indignantes decet et excitat auditorem.978 Durch den vorliegenden Kontext einer Klage (οἴμοι τῶν κακῶν) können die Verben πατάσσειν und λαρυγγίζειν implizit auch als Geste und Äusserung der Trauer oder Verzweiflung gelesen werden.979 Lukian gebraucht das Verb πατάσσειν häufig, jedoch nicht in zu vorliegender Stelle parallelen Formulierungen, sondern vielfach in der Bedeutung »jemanden auf den Kopf schlagen« (εἰς τὴν κεφαλήν/κατὰ κόρρης/τὸ κρανίον πατάσσειν, vgl. Demon. 16; Symp. 44; J. Trag. 53; Gall. 30), oft in Verbindung mit Philosophen, speziell mit Kynikern, welche mit ihrem Stock zu schlagen pflegen (τῷ ξύλῳ; vgl. Bis Acc. 24; Dial. Mort. 2,1). λαρύγγιζε Ein Element, das den Scheinsophisten und -philosophen in den lukianischen Texten immer wieder angekreidet wird, ist, dass sie durch Geschrei Aufmerksamkeit zu erregen und Bewunderung zu erheischen versuchen, was ihnen bei den ungebildeten Zuhörern auch gelingt, vgl. Bis Acc. 11: αὐτῶν [sc. τῶν φιλοσόφων] ἀεὶ κεκραγότων [...] / ὅ γε λεὼς ὁ πολὺς τεθήπασιν αὐτούς, [...] καὶ παρεστᾶσιν πρὸς τὸ θράσος καὶ τὴν βοὴν κεκηλημένοι; Ikaromen. 30; Fug. 14. So rät denn auch Lykinos dem Sophisten Lexiphanes davon ab, Geschrei einzusetzen, wenn er als echter Gebildeter gelten wolle (Lex. 24): τὸ βρενθύεσθαι καὶ λαρυγγίζειν ἀπέστω. Die Empfehlungen des Rednerlehrers dienen also, wie es schon bei Standardattizismen und obskurem Vokabular der Fall war,980 in anderen Texten einmal mehr zur Verspottung und Entlarvung Scheingebildeter und der Oberflächlichkeit ihrer Auftrittspraxis.

978 Als abstossend wird diese Gestik im Scholienkommentar (p. 179 Rabe) kritisiert, wohl aufgrund der folgenden, klar negativ konnotierten Empfehlungen (vgl. den Kommentar zu: λαρύγγιζε; ἐπιχρέμπτου τοῖς λεγομένοις; βάδιζε μεταφέρων τὴν πυγήν usw.): ὁ μηρός*] οὐκ ᾤμην τουτὶ τὸ μιαρὸν καὶ κατάπτυστον ἔργον τὸ τὸν μηρὸν πατάσσειν ἀρχαῖον εἶναι. 979 Allerdings ist als Klagegestus nur das Schlagen auf die Brust bezeugt, vgl. von Männern: Homer Od. 20,17; Aischylos Pers. 1046; Martial 2,11,5; von Frauen: Petron 111,2; Properz 2,13,27. 980 Vgl. den Kommentar zu §16: τὸ ἄττα καὶ κᾆτα καὶ μῶν καὶ ἁμηγέπῃ καὶ λῷστε καὶ τὰ τοιαῦτα und zu §17: ἀπόρρητα καὶ ξένα ῥήματα καὶ σπανιάκις ὑπὸ τῶν πάλαι εἰρημένα.

§19: Der eigentliche Auftritt: Showelemente

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ἐπιχρέμπτου τοῖς λεγομένοις Das Simplex χρέμπτεσθαι umfasst in der Bedeutung sowohl »sich räuspern, husten« als auch »Schleim (χρέμμα) aushusten« oder »spucken«.981 Die frühesten Belege sind bei Ar. Th. 381 (im Zusammenhang mit einem Rednerinnenauftritt in der Bedeutung »sich räuspern«: χρέμπτεται γὰρ ἤδη, ὅπερ ποιοῦσ’ οἱ ῥήτορες. μακρὰν ἔοικε λέξειν) und bei E. Cyc. 626 zu finden. Zur Bedeutung »(Schleim) aushusten/ausspucken« vgl. folgende Anekdote über Diogenes bei D. L. 6,32: εἰσαγαγόντος τινὸς αὐτὸν εἰς οἶκον πολυτελῆ καὶ κωλύοντος πτύσαι, ἐπειδὴ ἐχρέμψατο, εἰς τὴν ὄψιν αὐτοῦ ἔπτυσεν, εἰπὼν χείρονα τόπον μὴ εὑρηκέναι.982 Das Kompositum ἐπιχρέμπτεσθαι ist nur hier bei Lukian belegt, in seiner Bildung aber durchsichtig als Gegenstück zu »sich vor einer Rede räuspern« in der Bedeutung »sich zum Gesagten oder nach einer Rede (bzw. einem Redeabschnitt) räuspern/dazu ausspucken« interpretierbar. Der Rednerlehrer dürfte damit wohl eher ein unverschämtes Ausspucken als ein harmloseres sich Räuspern oder Husten empfehlen, was mit seiner Figur und seinem unverschämten, provokativen Verhalten besser in Einklang steht; vgl. dazu die wiederholt thematisierte ἀναισχυντία (§§15, 17, 22, 23, 24) sowie den vorliegenden Kontext (λαρύγγιζε; βάδιζε μεταφέρων τὴν πυγήν; die Publikumsreaktion: ὑπὸ τῆς αἰσχύνης).983 Das Simplex verwendet Lukian mehrfach und im gesamten Bedeutungsfeld von »sich räuspern« bis »ausspucken«, wobei letzteres im Sinne seiner spöttisch-witzigen Schriften häufiger ist (Catapl. 12; Gall. 10; Pr. Im. 20; Philopatr. 20). βάδιζε μεταφέρων τὴν πυγήν Textkritisches: Überliefert ist μεταφέρων, Macleod druckt μεταστρέφων, eine Konjektur von Borthwick. Harmon behält die überlieferte Form bei, und auch mir scheint die Konjektur unnötig, da die Junktur πυγὴν μεταστρέφων ansonsten nicht belegt ist,984 πυγὴν μεταφέρων hingegen schon, 981 Eine Verwandtschaft besteht zum bereits homerischen Wort χρεμετίζειν/χρεμέθειν (von Pferden) »wiehern«, vgl. Il. 12,51; Hdt. 3,86; vgl. weiter das Kompositum ἐπιχρεμέθειν »wiehern zu« bei A. R. 3,1260; Q. S. 7,319; 11,328. 982 »Als einer ihn in ein prächtiges Haus führte und ihn warnte, nicht auszuspucken, da spuckte er, nachdem er Schleim ausgehustet hatte, diesen direkt in dessen Gesicht und sagte, er habe keinen geringeren Ort dafür gefunden.« Häufig ist das Verb in dieser Bedeutung auch bei Medizinern belegt, e.g. Hippokrates De affect. 9. 983 Vgl. zudem Quint. Inst. 11,3,56, wo Husten, Ausspucken und dergleichen als unangebracht getadelt werden (tussire et exspuere crebro et ab imo pulmone pituitam trochleis adducere et oris umore proximos spargere [...]). 984 Einzig in einem Scholienkommentar zu Theokrit 2,17 (p. 275 Wendel) heisst es von einer Vogelart (ἴυγξ), sie werde auch κιναίδιον oder σεισοπυγίς genannt: διὰ τὸ πανταχοῦ στρέφειν καὶ λυγίζειν τὴν πυγήν.

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5. Kommentar (§§18–22)

vgl. AP Appendix (Cougny, vol. 3, 455, Epigrammata irrisoria 66): Λεύκιππος ἀνὴρ τὴν ὁδὸν παρατρέχων, εὖ θρύπτεται μὲν τὴν πυγὴν μεταφέρων, [...] und Phot. s.v. καταπυγίζειν· τὸ τὴν πυγὴν ἐπιπολὺ μεταφέρειν ἐν τῷ βαδίζειν [Eintrag 344]. Eine ähnliche Formulierung findet sich auch in Luk. Asinus 6: ὡς εὐρύθμως, ἔφην, ὦ καλὴ Παλαίστρα, τὴν πυγὴν τῇ χύτρᾳ ὁμοῦ συμπεριφέρεις καὶ κλίνεις.985 Die beschriebene Bewegung hat die Konnotation von effeminiert-kinädenhaftem und lüsternem Verhalten, was zur Person des Rednerlehrers passt (vgl. die Aussagen über das Privatleben §§23–25).986 Weiteren Aufschluss hierzu gibt Lukians Pseudologista: Der in dieser Schrift angegriffene Sophist wird – dem Rednerlehrer sehr ähnlich – als Effeminierter gezeichnet, κίναιδος genannt (§17), und über sein Sexualleben wird allerlei Schändliches berichtet.987 κίναιδος bezeichnete ursprünglich eine Art von östlichen Tänzern, die mit einem Tympanon in der Hand auf eine bestimmte, aufreizende Weise auftraten und als deren Merkmal es galt, dass sie ihren Hintern hin und her bewegten, als wollten sie den Zuschauer damit zur Penetration anregen.988 Aus diesem Detail ihrer Tanzweise ergab sich die häufige Verwendung des Wortes κίναιδος zur Bezeichnung eines erwachsenen Mannes, der im Verkehr mit anderen Männern die rezeptive (weibliche, passive) Rolle übernimmt, was seinem Alter nicht entspricht, gemäss dem er als aktiver Partner (ἐραστής) fungieren müsste. In der römischen Rhetoriktheorie werden zahlreiche Bewegungen diskutiert, und zwar immer auf ihre Konformität für einen Redner und Mann hin. Dies geschieht ausführlich bei Quintilian Inst. 11,3,65–149 (über Gebärden und Bewegungen, bezeichnet als gestus), insbesondere 125–129 (über Fussstellung und Gang). Cicero lehnt übermässiges Herumgehen während einer Rede ab (Or. 59): Idemque motu sic utetur, nihil ut supersit: in gestu status

985 »Schöne Palaistra«, sagte ich, »wie rhythmisch wackelst du mit deinen Hintern im Gleichklang mit der Bratpfanne.« 986 Vgl. die Gleichsetzung von καταπύγων »geil, lüstern« mit κατωφερής (Hesych s.v. καταπύγων [Eintrag 1366]) sowie die Erklärung zu diesem Adjektiv bei Athen. 7,281f. 987 Die Beschimpfung schlechter Redner als κίναιδος, ἀνδρόγυνος und εὐνοῦχος ist in der Zweiten Sophistik gängig, vgl. z.B. Aristeid. Or. 34,48 und Dion von Prusa Or. 4,35. 988 Vgl. Williams [1999] 175. Eine Zusammenstellung und Auswertung sämtlicher Textzeugnisse zum Wort κίναιδος liefert Kroll in RE 11 s.v. Kinaidos, Sp. 459–462 Die Etymologie des Wortes ist ungeklärt, doch wurde es in der Antike mit κινεῖσθαι τὰ αἰδοῖα in Verbindung gebracht (Et. Gud. 322,13ff.). Vgl. zum Zusammenspiel von Effeminiertheit und Kinädenhaftigkeit auch Williams [1999] 178: »A cinaedus was [...] a man who failed to be fully masculine, whose effeminacy showed itself in such symptoms as feminine clothing and mannerisms and a lascivious and oversexed demeanor that was likely to be embodied in a proclivity for playing the receptive role in anal intercourse.«

§19: Der eigentliche Auftritt: Showelemente

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erectus et celsus; rarus incessus nec ita longus [...].989 Dass dahinter eine gender-Frage steht, zeigt sich in der Terminologie der Fortsetzung: Der Redner muss auf jeden Fall ein Biegen des Nackens vermeiden (nulla mollitia cervicum), damit die ganze Darbietung männlich (virilis) wirkt; mollitia (bzw. mollis) ist einer der verbreitetsten lat. Termini für Unmännlichkeit (vgl. Williams [1999] 128 und den Kommentar zu §11: διασεσαλευμένον τὸ βάδισμα).990 Reflexe der Auffassung, dass die Gehweise etwas über Männlichkeit oder Unmännlichkeit dessen, der geht, aussagt, finden sich im sophistischen Umfeld z.B. bei Dion von Prusa Or. 32,54 und Libanios Or. 2,18.991 Die Verbreitung der Thematik des Ganges zeigt, dass das Einhalten bestimmter Grenzen, eines gewissen Masses – wenn auch je nach rhetorischem Umfeld wohl mit graduellen Unterschieden – nicht nur auf politische Rhetorik (Cicero) beschränkt ist, deren ernsthafter Hintergrund die in Rh. Pr. geschilderte Bewegung von vornherein absurd erscheinen liesse. Ganz generell dürften solche provokativen Bewegungen das Publikum der kaiserzeitlichen Sophisten trotz ihrer Ambivalenz fasziniert haben als Showeinlagen, wie wir sie von Musikstars kennen – erinnert sei an an Elvis’ berühmten Hüftschwung. ἢν μέν σε μὴ ἐπαινῶσιν, ἀγανάκτει καὶ λοιδοροῦ αὐτοῖς Hall ([1981] 267) verweist auf eine Schilderung bei Philostrat, die auf drastische Weise ein Beispiel davon gibt, wie der Sophist mit unangepassten Zuhörern umgehen könnte (VS 578): Philagros aus Kilikien (nicht ohne Grund wird er als σοφιστῶν δὲ θερμότατος καὶ ἐπιχολώτατος bezeichnet) verpasste einem eingeschlafenen Besucher seines Vortrags prompt eine Ohrfeige. Der Rednerlehrer verweist auf die für einen Sophisten höchst erstrebenswerte, ja unabdingbare Qualität des Schmähens (λοιδορεῖσθαι) noch zweimal in Rh. Pr. 23. Die Kritik an solchen Beschimpfungen von Mitmenschen, Publikum oder von Berufsgenossen ist ein Standardelement in Lukians Spott über Scheingelehrte und v.a. Scheinphilosophen, deren Geschrei und Schmähungen als Teil ihrer öffentlichen Auftritte einerseits ein für Philosophen be989 »Er [sc. der Redner] wird auch Bewegung einsetzen, aber so, dass nichts daran übertrieben ist: In seiner Stellung wird er eine aufrechte, gerade Haltung einnehmen, dabei selten umhergehen und nicht weit [...].« 990 Vgl. auch Quint. Inst. 11,3,128: Longissime fugienda mollis actio, qualem in Titio Cicero dicit fuisse, unde etiam saltationis quoddam genus Titius sit appellatum; Sen. Ep. mor. 114,3: Non vides, si animus elanguit, trahi membra et pigre moveri pedes? Si ille effeminatus est, in ipso incessu apparere mollitiam? 991 Vgl. allgemein auch Gleason [1995] 60–64.

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5. Kommentar (§§18–22)

sonders unangemessenes Affektverhalten darstellen, andererseits speziell das aufsässige Agieren der Kyniker illustrieren.992 Die Fähigkeit des Beschimpfens ist neben Mantel, Stock, Bart etc. ein Teil der notwendigen Ausstattung zum Scheinphilosophen und bringt die Bewunderung des (gemeinen) Publikums ein bzw. erfüllt dessen Erwartungen an einen sophistisch-philosophischen Auftritt.993 ἢν δὲ ὀρθοὶ ἑστήκωσιν ὑπὸ τῆς αἰσχύνης Hier liegt eine ähnliche Negativzeichnung der Wirkung des Sophisten auf sein Publikum vor, wie sie in §21 nochmals erscheint, vgl. den Kommentar zu: θαυμάσια περὶ σαυτοῦ λέγε καὶ ὑπερεπαίνει καὶ ἐπαχθὴς γίγνου αὐτῷ (vgl. auch zur negativen Wirkung des Sophisten als Zuhörer auf die übrigen Zuhörer §22: τὰς ἀκοὰς τῶν παρόντων [...] ἐνοχλήσοντα, ὡς ναυτιᾶν ἅπαντας ἐπὶ τῷ φορτικῷ τῶν ὀνομάτων καὶ ἐπιφράττεσθαι τὰ ὦτα). Der Effekt solcher Aussagen ist, dass die Ironie der Schrift durchbrochen und eine tatsächliche Zurückweisung der Handlungs- und Redeweise der neuen Modesophisten geschildert wird, die Empfehlungen des Rednerlehrers also letztlich am Publikumsgeschmack vorbei zielen. Denn trotz mehrfacher Versicherung des grossen Erfolges durch diese Art des Auftritts (vgl. v.a. §15 und §20), besteht an vorliegender Stelle die Gefahr, dass das Publikum angewidert durch den Vortrag die Flucht ergreift. Die Inkonsistenz zu der in §20 geschilderten Bewunderung der Showeffekte und der Standardattizismen durch die ungebildete Menge, die hier wohl ohne Unterschied zu den Gebildeten den Vortrag verlässt, so dass der Redner sich vor einem leeren Publikumsraum wiederfindet, lässt sich wohl am besten durch die Ambivalenz (Narrenhaftigkeit) der Aussagen des Rednerlehrers erklären, die selbstentlarvende Züge annehmen kann.994 Die konkrete Nennung des Grundes, weshalb das Publikum den Vortrag ablehnt, nämlich ein Gefühl der Scham oder Peinlichkeit (αἰσχύνη), markiert einmal mehr die Verknüpfung der Vortragsweise mit Fragen des Ge992 Vgl. z.B. Symp. 35 und 40; J. Trag. 33; Pisc. 45; Menipp. 4; Peregr. 3, 18, 19; Fug. 7, 13, 14. Das Schmähen der Mitmenschen nimmt im Treiben des Scheinphilosophen Peregrinos Proteus dermassen Überhand, dass sein Beruf geradezu darin besteht (Peregr. 18: τὴν φιλοσοφίαν ὑποδυόμενόν τινα [...] καὶ μάλιστα τέχνην τινὰ τὸ λοιδορεῖσθαι πεποιημένον). 993 Oft ist dieser Spott verbunden mit der Erwähnung des Geschreis der Philosophen (vgl. einen Teil der Stellen bereits oben zu: λαρύγγιζε): Bis Acc. 11; Ikaromen. 30; Fug. 14, 15, 27; Pisc. 25; Peregr. 18; Vit. Auct. 10f. (Diogenes stellt die Ausstattung eines Kynikers dar): ἰταμὸν χρὴ εἶναι καὶ θρασὺν καὶ λοιδορεῖσθαι πᾶσιν ἐξ ἴσης καὶ βασιλεῦσι καὶ ἰδιώταις· οὕτω γὰρ ἀποβλέψονταί σε καὶ ἀνδρεῖον ὑπολήψονται. [...] οὐδέν σε κωλύσει θαυμαστὸν εἶναι, ἢν μόνον ἡ ἀναίδεια καὶ τὸ θράσος παρῇ καὶ λοιδορεῖσθαι καλῶς ἐκμάθῃς. (vgl. bereits S. 43 mit Anm. 106 [Übersetzung]). 994 Zur möglichen narrenhaften Gestalt von Ratgeber und Rednerlehrer sowie zur Durchbrechung der Ironie vgl. die Ausführungen auf S. 63–65.

§19: Der eigentliche Auftritt: Showelemente

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schmacks und der Masshaltung: Der Redner verhält sich derart unangemessen, dass das Publikum bei dessen Anblick Scham empfindet bzw. es ihm peinlich ist, diesem Vortrag weiter beizuwohnen, während es einer massvollen Modernisierung der Vortragsweise durchaus positiv gegenüberstehen mag.995 τυραννὶς Bereits zur Zeit des Gorgias findet sich die Metaphorik der beherrschenden Kraft der Rede (Grg. Hel. 8) und der Zuhörenden als Sklaven (Plat. Grg. 452e). Sie zieht sich weiter bis zur Zeit Lukians, der diesen Topos der Tyrannis der Rede bzw. des Redners hier parodiert. Vgl. dazu Korenjak [2000] 200: »Bei Lukian besteht die τυραννίς des Redners nicht in dessen rhetorischer Grösse [wie dies z.B. bei Aristeid. Or. 34,33 der Fall ist], sondern vielmehr darin, dass er sein Publikum, welches vor der Langweile seines Vortrags fliehen möchte, zum Bleiben zwingt und es so im modernen Sinne des Wortes ›tyrannisiert‹.« Zu diesem tyrannisierenden Umgang vgl. auch die Bemerkungen auf S. 71f. §20 Das nun folgende Kapitel fasst das vorher Gesagte (§§15–19) stichwortartig zusammen und rundet es durch zwei zusätzliche Tipps, die an den Beginn und an das Ende des Kapitels gesetzt sind, ab: Einerseits streift der Rednerlehrer erneut kurz das Gebiet der Stoffauffindung (εὕρεσις), indem er darlegt, wie eine grosse Redefülle (πλῆθος τῶν λόγων) erreicht werden kann, andererseits rät er davon ab, jemals eine vorgefertigte Rede zu halten, da eine solche das wahre (und kümmerliche) Können des Scheinsophisten entlarven würde. ἀπὸ τῶν Ἰλιακῶν ἀρξάμενος ἢ καὶ νὴ Δία ἀπὸ τῶν Δευκαλίωνος καὶ Πύρρας γάμων Das weite Ausholen bei den Geschehnissen um Troja oder bei Deukalion und Pyrrha, egal über welches Thema gesprochen werden soll, dient einem ähnlichen Effekt wie die in §18 angeratenen Geschichten über ferne Länder und Völker (τὰ ἐν Ἰνδοῖς καὶ τὰ ἐν Ἐκβατάνοις λεγέσθω): So steht dem Redner reichhaltiges Material für einen zweckmässigen Einstieg in seinen Vortrag zur Verfügung – ein Standardmaterial (entsprechend den Standardattizismen des Vokabulars), das er immer anwenden und sich unterdessen 995 Vgl. zu den in Rh. Pr. aufgeworfenen Fragen des Geschmacks bereits oben S. 230f. mit Anm. 614.

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5. Kommentar (§§18–22)

weitere Gedanken zurechtlegen kann. Dabei sollen wohl diese Erzählungen nicht in ihrer ganzen Breite aufgerollt werden, sondern vielmehr durch das blosse Antippen möglichst vieler Geschichten eine grosse Zeitspanne abgedeckt und ein breites Wissen demonstriert werden; die Fülle der Rede (πλῆθος τῶν λόγων) bezieht sich demnach vor allem auf die Menge der aufgerufenen archaisch-klassischen Themen. Zu den konkret genannten Beispielen: Troja weckt als Paradethema der Illustration von griechischem Kriegsruhm positive Gefühle eines gemeinsamen Griechentums,996 Deukalion und Pyrrha verweisen, wie auch der emphatische Einschub νὴ Δία zeigt, auf die frühestmögliche Vergangenheit, auf den Ursprung der Menschen überhaupt. Das Adjektiv Ἰλιακός ist vor allem in der Junktur ὁ Ἰλιακὸς πόλεμος belegt (e.g. Hellanikos FGrHist 4 fr. 84; Diodor 1,62,1; Dion. Hal. Ant. Rom. 1,9,3). Wo es substantiviert wird, findet es sich meist im Genitiv bei chronologischen Angaben folgender Art: τῶν Ἰλιακῶν ὕστερον ἔτεσιν ἑκατὸν ὀγδοήκοντα (Philochor. FGrHist 328 fr. 211a); Ὅμηρος καὶ Ἡσίοδος πολλῷ νεώτεροι τῶν Ἰλιακῶν (Clem. Alex. Strom. 1,21,107,5), wobei auch hier der trojanische Krieg (sc. πολέμων) bezeichnet wird. Gleichbedeutend existiert daneben auch das neutrale τὰ Ἰλιακά (vgl. Clem. Alex. Strom. 1,21,130,2), womit der Fokus auf die gesamten Geschehnisse um Troja gelegt wird, wie es auch an vorliegender Stelle der Fall ist. Vgl. dazu die Formulierungen τὰ Ἰλιακὰ γράψαι (Achill. Tat. Isagog. excerpt. 1,63); τὰ Ἰλιακὰ ποιήματα (Longin 9,13); οἱ Ἰλιακοὶ μῦθοι (AP 9,192). Lukian benutzt das Adjektiv noch zweimal in Salt. 46 in ebendiesem allgemeineren Sinn: ἡ Ἰλιακὴ ἱστορία / τὰ Ἰλιακά. Deukalion und Pyrrha treten in der Überlieferung als Schöpfer der Menschen auf, einerseits, indem sie Steine hinter ihren Rücken werfen (Akusilaos FGrHist 2 fr. 35; Pindar O. 9,41–46; Ovid Met. 381–399), oder aber andererseits als Eltern des Hellen, welcher wiederum der eponyme Stammvater aller Hellenen ist (Hesiod fr. 2; Hellanikos FGrHist 323a fr. 23). In beiden Fällen impliziert die Empfehlung des Rednerlehrers den Beginn der Rede bei dem Ursprung aller Griechen, vergleichbar wäre etwa die Formulierung »bei Adam und Eva« beginnen (wobei Deukalion und Pyrrha als einzige Überlebende der Sintflut auch mit dem biblischen Noah verbunden sind, vgl. Gen. 6–8; Plat. Ti. 22a; Ov. Met. 318–329). Lukian erwähnt Pyrrha nur an vorliegender Stelle, Deukalion allerdings mehrfach, jeweils sowohl in Verbindung mit der grossen, von Zeus gesand-

996

Zum Trojanischen Krieg und allgemein homerischer Dichtung als weit verbreitetem Thema im Umfeld der Zweiten Sophistik vgl. Zeitlin in Goldhill [2001] 195–266 (bes. 207–218 und 233– 262).

§20: Der eigentliche Auftritt: Showelemente und Redefülle

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ten Flut als auch als Stammvater der Menschen (Tim. 3 und 4; Syr. D. 12; Salt. 39: hier mit der Version der Menschenschöpfung aus Steinen). Deukalion findet als einziger Überlebender der Sintflut und als Schöpfer der Menschen tatsächlich Eingang in die zeitgenössischen Deklamationen, vgl. Dion von Prusa Or. 36,49; Libanios Decl. 17,70 (Deukalion ist illustrierendes exemplum im Verbund mit anderen mythischen Figuren); Favorin De ex., fr. 96,20 (Entstehung der Menschen); vgl. auch Philostr. Heroicus 7,6 (Teubner; Olearius p. 667,15). καταβίβαζε τὸν λόγον ἐπὶ τὰ νῦν καθεστῶτα Nicht nur der zeitliche Anfangspunkt (Troja, Deukalion und Pyrrha) sondern auch der Endpunkt der Rede werden genannt: Die eigene Gegenwart des Sprechers. Obwohl nicht weiter ausgeführt, zeigt diese Stelle, dass die Reden der Zweiten Sophistik durchaus einen Bezug zur Gegenwart hatten (welche hier sogar ausdrücklich als Thema vorhanden ist), mag auch der Kern in einer Begebenheit der klassischen griechischen Epoche liegen. Über mögliche Anspielungen auf Aktuelles und die Auseinandersetzung sophistischer Deklamationen mit Zeitgenössischem vgl. Russell [1983] 108– 109 und Schmitz [1997] 201–205.997 οἱ μὲν γὰρ συνιέντες ὀλίγοι [...] οἱ πολλοὶ δὲ Vgl. zur möglichen Zusammensetzung und zum Bildungsstand der Zuhörerschaft sophistischer Vorträge sowie zur Darstellung der Zuhörer in den lukianischen Schriften die Einleitung 2. Zur ungebildeten Menge, die gemäss Rednerlehrer letztlich für den Erfolg ausschlaggebend ist, vgl. auch den Kommentar zu §17: οὕτω γάρ σε ὁ λεὼς ὁ πολὺς ἀποβλέψονται καὶ θαυμαστὸν ὑπολήψονται. ὑπ’ εὐγνωμοσύνης εὐγνωμοσύνη, »Rücksichtnahme, Höflichkeit, Liebenswürdigkeit; Klugheit, Überlegtheit«, gehört in den Tugendkatalog eines Menschen, was sowohl aus philosophischen Abhandlungen über die verschiedenen ἀρεταί als auch aus nicht im engeren Sinn philosophischen Schriften deutlich wird. Vgl. Arist. MM 2,2,1 (εὐγνωμοσύνη wird eng verbunden mit ἐπιείκεια, indem beiden Tugenden das gleiche Objekt [τὰ δίκαια] zugrunde liege, wobei erstere das Urteilen beinhalte, zweitere das diesem Urteil entsprechende Handeln) und VV 1251b (εὐγνωμοσύνη wird im Verbund mit χρηστότης und ἐπιείκεια genannt), vgl. ebenso Chrysipp Fragmenta moralia, fr. 997

Nur schon ganz generell ist zu bedenken, dass die eigene Gegenwart in der Auseinandersetzung mit der als gemeinsam empfundenen Geschichte unweigerlich von Bedeutung ist (vgl. Schmitz [1997] 204f.). Vgl. ähnlich auch Rütten [1997] 128.

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5. Kommentar (§§18–22)

273 (εὐγνωμοσύνη δὲ ἑκούσιος δικαιοσύνη) und 295 SVF. Vgl. auch Aeschin. Or. 3,170 und 174 (εὐγνωμοσύνη als Eigenschaft eines guten Menschen und Politikers, genannt neben Attributen wie ἐλεύθερος, σώφρων, μέτριος, ἀνδρεῖος); Plut. Them. 7,3; Diod. 13,21,5. In der Selbstpräsentation der Exponenten der Rhetorik und der Angehörigen der Oberschicht zur Zeit der Zweiten Sophistik findet sich, wie vor allem aus Inschriftenmaterial deutlich wird, Bildung, d.h. rhetorisches Können, eng verknüpft mit Charaktertugenden.998 Diese Haltung der oberen Gesellschaftsschicht widerspiegelt sich hier, wobei aufgrund der Bedeutungsvielfalt des Substantivs folgende zwei Szenarien denkbar sind: Der Lehrer gibt in seiner Darstellung die gebildeten Zuhörer der Lächerlichkeit preis, da ihre Höflichkeit sie davor zurückhält, etwas gegen den miserablen Vortrag des Schülers einzuwenden. Oder aber die Gebildeten halten ihre Kritik aus Überlegtheit zurück, da sie an ihren eigenen Vorträgen ebenfalls auf das Schweigen bzw. auf angemessenes Verhalten und konstruktive Einwürfe der Kollegen setzen und diese nicht schon im Voraus gegen sich aufbringen wollen. Diese Interpretation engt allerdings den Kreis der Gebildeten stärker auf die eigentlichen Sophisten ein, weshalb in der deutschen Übersetzung die allgemeinere erste Variante der Interpretation berücksichtigt ist (vgl. auch unten Plutarch). Seinem Schüler rät der Rednerlehrer in §15 von entsprechenden Tugenden (αἰδώς, ἐπιείκεια, μετριότης, ἐρύθημα) ab, da sie ihm, der ja auch keine Bildung erstreben, sondern allein mit Tricks und Unverschämtheit arbeiten soll, nicht dienlich wären (vgl. den Kommentar zu §15: ἀχρεῖα γὰρ κτλ.). Der in Somnium 10 gezeichnete grossartige Starredner hingegen verfügt sehr wohl über diese Charaktertugenden, insbesondere wird die – wie gezeigt wurde eng mit εὐγνωμοσύνη verknüpfte – ἐπιείκεια genannt (vgl. die Einleitung 1.5.b).999 Die genannten Charaktertugenden bzw. das Verhalten einer gebildeten Hörerschaft an einem Vortrag thematisiert auch Plutarch in seiner Schrift De audiendo, worin er Wohl- sowie Fehlverhalten der Hörer diskutiert: Das passende Verhalten wird als ἐλευθέριος bezeichnet (»einem Freien angemessen«, vgl. Plut. mor. 44a, 46d) und bezieht εὔνοια (»Wohlwollen«, vgl. 44e) mit ein, wohingegen unpassendes Verhalten mit Begriffen wie ἀνελεύθερος, ἀπαίδευτος, ἀναισχυντία (»unfrei«, »ungebildet«, »Unverschämtheit«, vgl. 46c–d) getadelt wird.1000 998

Vgl. dazu die Untersuchungen von Schmitz [1997] 44–50; 97–110, v.a. die Beispiele 106. Das Substantiv εὐγνωμοσύνη verwendet Lukian nur noch in J. Conf. 7 (»Grosszügigkeit«). Das Adjektiv verwendet er 10x, häufig in der Bedeutung »vernünftig, überlegt«. Vgl. zum Substantiv εὐγνωμοσύνη auch Aristeid. Or. 3,338; 24,33 und Pollux 4,10; 8,7 (mit der uns aus den philosophischen Texten bereits bekannten Einreihung neben ἐπιείκεια bzw. δίκαιος). 1000 Vgl. insgesamt zu Plutarchs De audiendo die Untersuchung von Korenjak [2000] 170–194. 999

§20: Der eigentliche Auftritt: Showelemente und Redefülle

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ὑπὸ φθόνου Diese Formulierung gibt wohl primär die Sicht der Ungebildeten wieder (s.u. οἱ πολλοὶ δὲ), die Neid als Begründung für allfällige negative Kritik der Gebildeten annehmen und demzufolge die Einwände nicht ernst nehmen. So wird ihre Bewunderung für den Redner nicht geschmälert, sie unterstellen vielmehr dem Kritiker böse Absichten. Aus Sicht der Gebildeten im Publikum kann aber, da sie die Minderwertigkeit des Vortrags erkennen, solche Kritik schwerlich als Folge von Neid aufgefasst werden – diesen Redner beneidet kein echter πεπαιδευμένος um sein ›Können‹. Die tatsächliche Konstellation ist also durch die wiedergegebene falsche Einschätzung der Ungebildeten in höchstem Mass ironisiert, indem hier die gebildeten Kritiker einen ungebildeten Scheinredner aufgrund von Neid angreifen. Durch die Erwähnung von Neid wird implizit auch auf die Heftigkeit der Debatten Bezug genommen, die sich im Anschluss an oder während einer Deklamation ergeben können und in denen der Vortragende zu bestehen hat. Neid bzw. der Drang, den Berufskollegen zu übertreffen, mag in solchen Streitgesprächen durchaus eine Rolle spielen. Richtiggehende Fehden zwischen einzelnen Sophisten sind derart gut bezeugt, dass sie beinahe in die Definition dieses Berufsstandes gehören.1001 οἱ πολλοὶ δὲ τὸ σχῆμα καὶ φωνὴν καὶ βάδισμα καὶ περίπατον καὶ μέλος καὶ κρηπῖδα καὶ τὸ ἄττα σου ἐκεῖνο θαυμάσονται, καὶ τὸν ἱδρῶτα ὁρῶντες καὶ τὸ ἆσθμα [...] Zu dieser zusammenfassenden Bündelung aller wichtigen Erfordernisse eines Starsophisten, um bei der Menge der Ungebildeten, auf die es hauptsächlich ankommt,1002 Erfolg zu haben, vgl. im Einzelnen §15 (φωνή, μέλος, βάδισμα, κρηπίς); §16 (ἄττα, σχῆμα); §19 (φωνή, μέλος, περίπατος); §3 (ἱδρώς) und §10 (ἱδρώς, ἆσθμα). Korenjak ([2000] 54 Anm. 48) weist im Zusammenhang mit der Kombination der Begriffe ἱδρώς und ἆσθμα auf die mögliche spöttische Anspielung auf epische Passagen folgender Art hin: Il. 15,241f. (über Hektors Zustand): ἆσθμα καὶ ἱδρὼς / παύετ’; Il. 16,109f. (über den Telamonier Aias): αἰεὶ δ’ ἀργαλέῳ ἔχετ’ ἄσθματι, κὰδ δέ οἱ ἱδρὼς / πάντοθεν ἐκ μελέων πολὺς ἔρρεεν [...]. Der Anblick des Sophisten würde so vom Autor ironisch 1001 Vgl. auch die Erwähnung von Neid und Hass gegenüber Konkurrenten in Rh. Pr. 22. Zu den Auseinandersetzungen der Sophisten siehe Bowersock [1969] 89–100 (mit Belegstellen, v.a. aus Philostrat); Anderson [1993] 35–39; Philostrat VS 491 (über Favorinus, den Philostrat zu den Philosophen zählt, dazu aber bemerkt, man könnte ihn Sophist nennen wegen seiner Rededuelle mit Polemon). Konkret von Neid spricht Philostrat in VS 515 bezüglich derer, die Skopelians Redefähigkeit kritisch beurteilen, obwohl sie selbst zur Stegreifrede nicht fähig sind. 1002 Siehe dazu den Kommentar zu §17: οὕτω γάρ σε ὁ λεὼς ὁ πολὺς ἀποβλέψονται καὶ θαυμαστὸν ὑπολήψονται.

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5. Kommentar (§§18–22)

mit demjenigen eines homerischen Helden im Kampfgetümmel parallelisiert. Zusätzlich liegt hier eine Parallelisierung zum echten Schweiss vor, den die Redner, welche den langen Weg beschreiten, vergiessen (vgl. §3; Charakterisierung des langen Weges als ἱδρῶτος μεστή [sc. ὁδός]).1003 πάνδεινόν τινα ἐν τοῖς λόγοις ἀγωνιστὴν Zur Wettkampfmetaphorik in Rh. Pr. vgl. die generellen Bemerkungen zum Agon der beiden Lehrerfiguren in der Einleitung zu §§9–10 sowie den Kommentar zu §1: τὸ τέρμα und §11: βασιλεὺς ἐν τοῖς λόγοις; τὰ τέθριππα ἐλαύνων τοῦ λόγου. An vorliegender Stelle wird die Metaphorik aus dem als körperlich dargestellten Wettkampf (ἱδρῶς, ἆσθμα) entwickelt und dann verallgemeinert bzw. durch den Zusatz ἐν τοῖς λόγοις auf den Bereich der Rhetorik adaptiert. Die Gleichsetzung von ›rhetorischen‹ und sportlichen Athleten, von Rhetorikausbildung/-auftritt und sportlichem Training/Wettkampf ist gängig und findet sich bei kaiserzeitlichen Autoren immer wieder. Vgl. z.B. Lib. Ep. 140,2 und 548,3 (Anwendung der Metapher von Trainer und Trainiertem/Athlet auf den Bereich des Rhetorikunterrichts), ebenso Quint. Inst. 2,8,3f.; 10,1,4. Siehe auch Philostrat VS 529 (ἀγωνίζεσθαι als Bezeichnung für das Bestreiten eines sophistischen Vortrags) und mit weiteren Belegstellen Cribiore [2001] 222. Zu der als δεινότης bezeichneten Redefähigkeit vgl. Rh. Pr. 1: δεινὸς ἀνὴρ ἔσῃ [...] und Rh. Pr. 17: τὸν μὲν ἑρμηνεῦσαι δεινὸν (vgl. auch Rh. Pr. 1: δύναμιν ἐν τοῖς λόγοις). Das Adjektiv πάνδεινος weist die beiden Bedeutungen »sehr gewaltig, sehr schlimm« (oft von einer Tat: πρᾶγμα) und »sehr fähig, tüchtig« auf, wobei erstere häufiger ist (z.B. Plat. R. 605c und 610d; Demosth. Or. 19,209; 22,43; 54,33; ebenso auch die drei weiteren lukianischen Belege: Prom. 8; Philopseud. 20; Tox. 11). Zur zweiten Bedeutung mit der Erweiterung »sehr fähig im Reden/als Redner« vgl. sarkastisch über Aischines Demosth. Or. 19,120 (δῆλον ὅτι πάνδεινος εἶ τις); weiter Pollux 4,20: ἐπὶ δὲ τοῦ ῥήτορος εἴποις ἂν δεινὸς εἰπεῖν, ὑπέρδεινος, πάνδεινος, σοφὸς εἰπεῖν, πάνσοφος (vgl. Rh. Pr. 11), [...] πρόχειρος (vgl. Rh. Pr. 16, 17, 22). In seinem Angriff auf Aischines verbindet Demosthenes die Bedeutungen der Redefähigkeit und des moralisch schlechten und unverschämten Verhaltens, ähnlich wie es in Rh. Pr.1004 der Fall ist, vgl. Or. 19,126–127: ὁ σοφὸς καὶ δεινὸς οὗτος καὶ εὔφωνος [...] ᾤχετο πρεσβεύων [...], ὑπολογισάμενος [...], οὔθ’ ὅτι πάνδεινόν ἐστιν [...].1005 1003 Zu anstrengenden rhetorischen Auftritten vgl. auch Quint. Inst. 11,3,147, der sudor und fatigatio als ganz natürliche und damit geziemende Folge eines engagierten Vortrags beschreibt. 1004 Vgl. v.a. die Passagen über die Gestaltung des Privatlebens §§23–25. 1005 »Dieser clevere Mann mit seiner effizienten und wohlklingenden Rhetorik [...] ging mit der Gesandtschaft weg [...], ohne Rücksicht darauf [...], dass es eine ganz üble Sache ist [...].«

§20: Der eigentliche Auftritt: Showelemente und Redefülle

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τὸ ταχὺ τοῦτο Diese Formulierung bezieht sich in erster Linie auf das hohe Tempo der gehaltenen Rede, was zu Schweissausbrüchen und Keuchen führt (vgl. oben: τὸν ἱδρῶτα ὁρῶντες καὶ τὸ ἆσθμα), bezeichnet aber auch – wie aus der Fortsetzung hervorgeht – spezifisch eine Stegreifrede mit einer raschen Abfolge der Sätze, untermalt durch verschiedene Effekte aus den Bereichen Akustik und Bewegung.1006 Das hohe Sprechtempo ist ein in den antiken Texten immer wieder diskutiertes Element, welches sowohl als erstrebenswert beurteilt werden (Cic. Or. 53; Aristeid. Or. 1,328) als auch Kritik nach sich ziehen kann (Dion von Prusa Or. 33,5).1007 Cicero erläutert, dass den einen Rednern vor allem flüssiges Sprechen (flumen, volubilitas, celeritas verborum) am Herzen liege, den anderen wiederum Pausen und Absätze (interpuncta, intervalla, morae). Beides zeuge durchaus von hoher rhetorischer Kunst. Dion hingegen kritisiert die Einwohner von Tarsos, weil sie sich von der Geschwindigkeit und Wortfülle der Vorträge bestimmter Sophisten beeindrucken lassen, ohne den Inhalt kritisch zu prüfen (τῇ ταχυτῆτι τῶν λόγων ἐπαίρεσθε καὶ πάνυ χαίρετε ἀπνευστὶ ξυνείροντος τοσοῦτον ὄχλον ῥημάτων [...]. οὐδὲν ὠφελούμενοι θαυμάζετε ὅμως [...]). Diese Stelle weist Ähnlichkeiten zu den – hier allerdings als Empfehlungen formulierten – Äusserungen des Rednerlehrers auf, v.a. §18: ἔπειγε καὶ σύνειρε καὶ μὴ σιώπα μόνον und §20: ὅπως δὲ καὶ τὸ πλῆθος τῶν λόγων θαυμάζωσιν. παρὰ τοῖς πολλοῖς Ähnlich wie oben die Einwände gebildeter Zuhörer von den Ungebildeten als neidische Kritik (ὑπὸ φθόνου) abgetan werden, dient hier die Stegreifrede, speziell ihr hohes Tempo, in den Augen der Ungebildeten als Entschuldigungsgrund (ἀπολογία) für allfällige stilistische und inhaltliche Mängel, die gebildete Zuhörer monieren könnten. σκεψάμενος σκέπτεσθαι »prüfen« wird hier im Sinn von »[eine Rede] vorbereiten, im Voraus überlegen bzw. einüben« gebraucht, vgl. LSJ s.v. II.3.: think of beforehand; prepare, premeditate. Häufig findet sich der Ausdruck ἐσκεμμένα λέγειν als Gegensatz zur Stegreifrede, bereits Demosth. Or. 21,191

1006 Nachgeahmt ist das hohe Tempo im vorangehenden Satz einmal mehr durch eine dichte Abfolge von mit καί verbundenen Elementen: οἱ πολλοὶ δὲ τὸ σχῆμα καὶ φωνὴν καὶ βάδισμα καὶ περίπατον κτλ. Siehe zu dieser Darstellungsweise auch die einleitenden Bemerkungen zu §19 sowie den Kommentar zu §18: ὁ Μαραθὼν καὶ ὁ Κυνέγειρος [...] ὁ Λεωνίδας θαυμαζέσθω. 1007 Vgl. Korenjak [2000] 54 mit Anm. 49.

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5. Kommentar (§§18–22)

(ὡς ἐσκεμμένα καὶ παρεσκευασμένα πάντα λέγω νῦν);1008 weiter Longin 18,2 und 22,2 (ὡς μὴ δοκεῖν ἐσκεμμένα λέγειν); vgl. auch Pollux 6,139 (εἰς μὲν δὴ τὸν οὐκ ἀφροντίστως δοκοῦντα λέγειν ἐρεῖς ἐσκεμμένος, βεβουλευμένος κτλ.). Auch Lukian verwendet das Partizip ἐσκεμμένος mehrfach, z.B. bezüglich einer viel zu flüssig vorgetragenen angeblichen Stegreifrede, die vorher vorbereitet worden ist, in Pseudol. 6: συνείρων οἷον εἰκὸς ἐκ πολλοῦ ἐσκεμμένα καὶ μεμελετημένα;1009 vgl. auch Nigr. 14; Merc. Cond. 28. ἔλεγχος γὰρ σαφὴς ταῦτά γε Der Rednerlehrer warnt seinen Schüler hier vor der Entlarvung als Scheinredner, sobald er sich einer vorbereitbaren Aufgabe, also keiner Stegreifrede zuwende: Da das Publikum bei einer vorbereiteten Rede eine inhaltlich und stilistisch einwandfreie Darbietung erwartete, bräche die gesamte Auftrittspraxis des Scheinredners, die sich auf Showeffekte und Schnelligkeit konzentriert, zusammen und könnte den mangelhaften Inhalt nicht mehr auffangen. Witzig an dieser Formulierung ist, dass der Autor der vorliegenden satirisch-ironischen Schrift eine solche Entlarvung genau in diesem Moment, und ohne dass der Schüler bereits von der vorgegebenen Lehre abwiche, bewirkt. Zum Autor bzw. den von ihm kreierten Entlarver-Figuren vgl. die Bemerkungen auf den Seiten 57f.; 67; 77f. sowie die einleitenden Kapitel 2.2; 3.1; 3.2. Zur prägnanten Endposition der Partikel γε vgl. Denniston [21954] 146: Normalerweise steht γε gleich hinter dem Wort, das es betonen soll, und dieses wiederum tendenziell früh im Satz, so dass ein Beginn mit ταῦτά γε (oder auch ἔλεγχός γε) gängiger wäre; aber klassische Beispiele für abschliessendes ταῦτά γε sind durchaus vorhanden, vgl. Plat. R. 408c5 (ebenfalls mit Ellipse des Verbs ἐστίν): ὀρθότατα, ἦ δ’ ὅς, ταῦτά γε und Lg. 862c5: καλῶς ταῦτά γε; später Polybios 4,8,8,1: οὐ παράδοξα ταῦτά γε. Bei Demosthenes findet sich das singularische τοῦτό γε am Ende des Satzes relativ häufig, vgl. z.B. Or. 14,24: αἰνίγματι γὰρ ὅμοιον τοῦτό γε; Or. 18,16: ὑπερβολὴ γὰρ ἀδικίας τοῦτό γε; Or. 25,19: ὕβρις γὰρ δὴ τοῦτό γε; ebenso Or. 18,1 und 114; Or. 2,26. Lukian selbst gebraucht diese Wortstellung noch mehrfach, vgl. z.B. Herc. 2: ὅλος Ἡρακλῆς ἐστι ταῦτά γε; Pisc. 41: οὐκ ἀναγκαῖα γὰρ ταῦτά γε; Alex. 3: οὐδαμόθεν μεμπτὸς ἦν ταῦτά γε.

1008 Vgl. mit auf die Person bezogenem Partizip, parallel zur vorliegenden Stelle in Rh. Pr., auch Plat. Mx. 236b (über Aspasia: ἔπειτα τὰ μὲν ἐκ τοῦ παραχρῆμα μοι διῄει, οἷα δέοι λέγειν, τὰ δὲ πρότερον ἐσκεμμένη). 1009 Vgl. zu dieser Textstelle bereits Anmm. 903 und 925.

§21: Der eigentliche Auftritt: Claque

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§21 Die letzten Instruktionen des Rednerlehrers bezüglich des Auftritts betreffen die so genannte Claque1010, eine Gruppe von ›Freunden‹ (φίλοι), welche der Redner zur Unterstützung mitbringen soll. Es gibt weder im Griechischen noch im Lateinischen einen terminus technicus für diese Personengruppe;1011 Lukian bezeichnet sie als φίλοι, was allerdings ein euphemistischer Ausdruck ist, da diese Leute, wie aus der Erwähnung der Mahlzeiten (δεῖπνα) deutlich wird, aufgrund ökonomischer Abhängigkeit ihre Pflicht erfüllen. Diese besteht einmal mehr in der Vertuschung allfälliger Mängel der Rede, denn die φίλοι sollen aufspringen und applaudieren, sobald der Eindruck entsteht, dass dem Redner die Worte fehlen, und damit unangenehme Pausen überbrücken. Zudem dürfte wohl ein solcher ›Fanclub‹ auch auf das restliche Publikum animierend wirken und so den Auftritt zu einem Erfolg werden lassen. Auch nach dem Auftritt übernimmt die Claque eine bedeutende Rolle, indem sie den Redner auf seinem Weg nach Hause wie eine Leibwache begleitet (προϊόντα σε δορυφορείτωσαν), wodurch die Wichtigkeit seiner Person demonstriert werden soll. Das Phänomen der Claque und die daran anknüpfende Chormetaphorik zeigen, dass an den sophistischen Vorträgen eine Interaktion und Kommunikation zwischen Redner und Publikum stattfindet, von deren Verlauf für den Erfolg des Redners viel abhängt. Da die Publikumsreaktionen von solcher Wichtigkeit sind, ist es naheliegend, dass ein nur mangelhaft ausgebildeter Sophist wie der Rednerlehrer seine eigenen Leute ins Publikum einschleust und damit seine Situation erheblich verbessert.1012 Die Darstellung des Rednerlehres beinhaltet ein selbstentlarvendes Element, wie wir es auch an anderen Stellen sehen können (vgl. den Kommentar zu §19: ἢν δὲ ὀρθοὶ ἑστήκωσιν ὑπὸ τῆς αἰσχύνης und unten zu: θαυμάσια περὶ σαυτοῦ λέγε καὶ ὑπερεπαίνει καὶ ἐπαχθὴς γίγνου αὐτῷ), weil unter dem Deckmantel der Affirmation, welche die Claqueure leisten, die Negation dieser Art von 1010 Vgl. zur Claque allgemein Korenjak [2000] 121; 124–127; 144. Ich übernehme den in der Forschung gängigen Terminus, den Korenjak (124) folgendermassen definiert: »[...] eine Personengruppe, die sich verpflichtet, dem Star einer öffentlichen Veranstaltung Beifall zu spenden, weil sie auf ökonomischer, geistiger, politischer oder privater Ebene mit ihm verbunden und aus diesem Grund daran interessiert ist, dass er mit seiner Darbietung möglichst grossen Erfolg hat.« 1011 Vgl. Korenjak [2000] 124 Anm. 29. 1012 Wie wir bereits gesehen haben (vgl. den Kommentar zu §18: τινας ὑποθέσεις καὶ ἀφορμὰς τῶν λόγων mit Anm. 925), manipulierte auch der in Pseudologista attackierte Sophist seine Ausgangslage, indem er im Publikum einen Verbündeten hatte, der dafür sorgte, dass ihm als Thema ein zuvor ausgemachtes und längst vorbereitetes vorgeschlagen wurde. Diese Manipulation war allerdings nicht erfolgreich, da sie als solche aufgedeckt wurde.

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5. Kommentar (§§18–22)

Rhetorik und ihrer scheinbar autarken Kraft durchscheint: Das häufige Eingreifen der Claque (s.u. zu: χεῖρα ὀρέγοντες / ἐν τοῖς μεταξὺ τῶν ἐπαίνων διαλείμμασι) deckt letztlich das häufige Straucheln oder Scheitern des Scheinsophisten auf. Die vorliegenden Instruktionen des Rednerlehrers gehören zu den wichtigsten Belegen über Claquen an Auftritten sophistischer Rhetoren. Weitere Belege finden sich bei Philostrat VS 540f. und 583. Das früheste und ausführlichste Textzeugnis über das Agieren einer Claque, allerdings im Bereich der Gerichtsrhetorik, ist Plin. Ep. 2,14: Plinius schildert die ärgerliche Praxis der Gerichtsredner, die solche erkauften Zuhörer (auditores redempti) mitbringen, welche man auch »Laudiceni« (»die für eine Mahlzeit Beifall spenden«) nennt. Sie erheben einen endlosen Beifallssturm, wenn der Chorführer (mesochorus) das Zeichen dazu gibt.1013 Die erkauften Mahlzeiten und die Chormetaphorik weisen Übereinstimmungen mit der Lukianstelle auf, so dass die Annahme, dass die Claqueure am Gericht sowie an sophistischen Deklamationen auf eine ähnliche Weise operierten, plausibel scheint (vgl. Korenjak 125f.).1014 Da die Sophisten neben Auftritten in ihrer Heimatstadt vor allem Tourneen durch fremde Städte absolvieren, stellt sich für einen unbekannten Anfänger, wie unser Schüler es ist, das Problem, trotzdem ein grosses und vor allem wohlgesinntes Publikum anziehen zu können. Es wäre vorstellbar, dass die eigene Claque sicherheitshalber auch auf solchen Reisen mitzuführen ist. Generell finden sich, sobald ein Vortrag angekündigt ist, jeweils die ortsansässigen Rhetoriklehrer mit ihren Schülern ein; manchmal wird der Vortrag auch direkt in der Schule abgehalten.1015 Durch einen öffentlichen Aushang sowie Mundpropaganda wird das weitere Publikum mobilisiert.1016 πηδάτωσαν [...] ἀποτινέτωσαν Zu diesen im Attizismus verbreiteten Imperativformen vgl. den Kommentar zu §6: παρέστωσαν [...] περιπλεκέσθωσαν. Vgl. auch unten δορυφορείτωσαν. 1013

Das lateinische Adjektiv Laudicenus bezeichnet eigentlich einen Einwohner der syrischen Stadt Laudicea; Plinius hat es jedoch, wie aus dem Kontext klar wird, in Laudi-cenus umgedeutet und so ein Wortspiel erzeugt (vgl. Leumann [1977] 77 und 396). 1014 Über schlechte Sophisten und ihre bewundernde Anhängerschar, die aus ἀνόητοι besteht (vgl. Rh. Pr. 14 und 25), denen sie ihren (ungerechtfertigten) Ruhm als Redner überhaupt verdanken, äussert sich auch Dion von Prusa Or. 35,8–9. 1015 Vgl. Korenjak [2000] 27 mit Anm. 49 und Schmitz [1997] 160f. Für einen Scheinsophisten allerdings ist der Auftritt innerhalb einer Rhetorikschule eine gefährliche Angelegenheit; um als Neuling einen derartigen Auftritt erfolgreich zu absolvieren, bedarf es zumindest grosser Begabung (ein Beispiel dazu findet sich in VS 619). 1016 Vgl. zu den Abläufen Korenjak [2000] 33–35. Zum Problem der Zusammensetzung der Zuhörerschaft, insbesondere der Anzahl ungebildeter Hörer, siehe bereits Anm. 259.

§21: Der eigentliche Auftritt: Claque

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(ἀνα)πηδᾶν ist neben (ἐξ)άλλεσθαι das gebräuchlichste Verb, um das Aufspringen zur Beifallsbekundung zu bezeichnen, wie es im Rahmen rhetorischer Vorträge verbreitet war.1017 Oft tritt das Aufspringen kombiniert mit zusätzlichen lobenden Gesten auf, wie an vorliegender Stelle mit einem Heben der Hand und Applaudieren (s.u.); in derselben Kombination Philostrat VS 540f.1018 und VS 626. Vgl. weiter Luk. Zeux. 2 (Lukian über die eigenen, ihn lobenden Zuhörer): ἐγὼ [...] ᾤμην, ὁπότε ἀναπηδῶντες ἐπαινοῖεν; Quint. Inst. 2,2,12 (exsurgere). Die Bedeutung des Aufspringens erhellen weiter folgende zwei bei Korenjak (93) aufgeführten Belege: Aus Lib. Or. 41,15 wird deutlich, dass eine Zuhörerschaft, die sitzen bleibt, als beleidigend empfunden wird (τί μεμφόμενοι κάθησθε; vgl. Rh. Pr. 22, wo genau dieser herabsetzende Effekt durch seltenes Aufstehen beabsichtigt ist). Aristeides hingegen berichtet stolz über einen seiner eigenen Auftritte, bei dem das Publikum aus Begeisterung gleich beim ersten Wort aufsprang und dann die ganze Rede über stehen blieb (Or. 51,33).1019 εἴ ποτε αἴσθοιντό Die vorliegende Verwendung des Optativs ist im klassischen Griechisch nicht gebräuchlich (ein solcher Optativus iterativus ist klassisch nur bei einem Nebentempus in der Apodosis zulässig; erwartet würde bei Haupttempus ein Konjunktiv mit ἐάν), er passt allerdings zur ausgeweiteten Verwendung dieses Modus im Attizismus, vgl. dazu die Angaben zu §6: ὡς γαμήσειάς [...] ἔχοις.1020 Inhaltlich bezeichnet αἰσθάνεσθαι die äusserliche Wahrnehmung der Claque (Sehen und Hören), dass der Redner ins Stocken gerät, was ihren Einsatz erforderlich macht, um offensichtliche Pausen zu vermeiden. Denkbar ist auch, dass der Redner durch kritische Gegenrufe aus dem Publikum in Bedrängnis gebracht wird, die durch die Claque zu übertönen sind. 1017 Vgl. Korenjak [2000] 93f. (mit Belegmaterial) sowie allgemein zu sämtlichen verbalen, parasprachlichen und nonverbalen Elementen der Publikumssprache Korenjak [2000] 68–95 mit einem Lexikon der Begriffe. Ich übernehme an vorliegender Stelle den Text von Macleod; das von Harmon gedruckte Kompositum ἀναπηδάτωσαν ist eine Konjektur Sommerbrodts, die wohl zur Verdeutlichung gesetzt ist, sich aber als unnötig erweist, da in den Quellen häufig blosses πηδᾶν im Sinn von »aufspringen« verwendet ist. 1018 In dieser Anekdote über Polemon als Zuhörer eines schlechten Sophisten namens Varus entpuppt sich dann allerdings das Aufspringen und Entgegenstrecken der Hände (ἀναπηδήσας [...] καὶ ὑποσχὼν τὼ χεῖρε) entgegen der gängigen Bedeutung als Zeichen des Tadels. 1019 καὶ μὴν τό γε τοῦ θορύβου τε καὶ τῆς εὐνοίας, μᾶλλον δέ, εἰ χρὴ τἀληθὲς εἰπεῖν, ἐνθουσιασμοῦ, τοσοῦτον παρὰ πάντων συνέβη ὥστε οὐδεὶς ὤφθη καθήμενος οὔτ’ ἐπὶ τοῦ προαγῶνος οὔθ’ ἡνίκα ἀναστὰς ἠγωνιζόμην, ἀλλ’ ἐκ πρώτου ῥήματος εἱστήκεσαν, ὤδινον, ἐγάνυντο, ἐξεπλήττοντο, συμπαρένευον τοῖς λεγομένοις, [...]. 1020 Über die Möglichkeit der Interpretation von §1: ὁπότε [...] αἰτοίη als Optativus iterativus vgl. den Kommentar zur Stelle.

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5. Kommentar (§§18–22)

χεῖρα ὀρέγοντες Die relativ unspezifische Formulierung χεῖρα ὀρέγειν »die Hand entgegen/ausstrecken« kann »helfen, unterstützen« bedeuten,1021 hat aber hier vermutlich die zusätzliche Implikation der als Beifallsbezeugung eingesetzten typischen Handbewegung, die meist mit dem Terminus ἐπισείειν τὴν χεῖρα wiedergegeben ist (vgl. die in Kombination genannten Ausdrücke ἐπισείειν τὴν χεῖρα und ἀναστῆναι in Rh. Pr. 22 unten): Gemäss Korenjaks ([2000] 89f.) Ausführungen wurde dabei dem Redner die rechte Hand entgegengestreckt und auf und ab geschüttelt. Dieses Schütteln der Hand dürfte in Verbindung mit dem zuvor genannten Aufspringen an vorliegender Stelle in richtiggehenden Applaus, also in ein Klatschen, übergehen (vgl. das folgende Lemma). ἐν τοῖς μεταξὺ τῶν ἐπαίνων διαλείμμασι Die Beschreibung der Situation legt nahe, dass die Claque durch Applaus oder Zurufe einen solchen Lärm verursacht, dass der Redner nicht mehr weiterfahren kann, und so eine Pause entsteht, die ihm zum Nachdenken gelegen kommt. Das Aufspringen und das Schütteln der Hände scheint hier also durch das akustische Element des Klatschens ergänzt, was wie heute so auch in der Antike eine neben den zuvor genannten sehr gebräuchliche Form des Beifalls war (vgl. Korenjak [2000] 88f.). Der gängige Terminus ist κρότος, κροτεῖν bzw. plausus, vgl. dazu Luk. Bis Acc. 28 und 32 (jeweils mit Verknüpfung von ἔπαινος und κρότος im Zusammenhang mit dem anerkennenden Verhalten des Publikums): ἔπαινος ἢ κρότος πολὺς / τῶν ἐπαίνων καὶ κρότων οὐ δεομένους; weiter Philostr. VS 583, 614; Eunap. VS 484; Quint. Inst. 4,1,77. Von Begeisterungsstürmen, die seine Rede wohl minutenlang unterbrachen, berichtet Libanios Or. 1,88f. (vgl. Korenjak [2000] 140). τὸν χορὸν ἔχειν οἰκεῖον καὶ συνᾴδοντα Die vorliegende Bezeichnung der Claqueure bzw. φίλοι als Chor ist eine, wie Korenjak ([2000] 210–213) gezeigt hat, gängige Metapher zur Zeit der Zweiten Sophistik. Der Sophist erscheint dabei als Chorführer, seine Hörer oder im Speziellen seine Freunde und Schüler im Publikum erscheinen als Chor.1022 Der in der Textpassage dargestellte Vorgang lässt sich am ehesten 1021 So aufgefasst von Harmon (163): »lending you a hand«. Die Bedeutungen »die Hand [helfend] ausstrecken« und »helfen« liegen selbstverständlich sehr nahe beisammen, vgl. Luk. Cal. 21; Pisc. 30; Hermot. 3; Plut. Ant. 18,3; Aristeid. Or. 44,13; Philon Quod deus sit immutabilis 73. Ansonsten bedeutet das Verb oft »die Hand ausstrecken [um Hilfe zu bekommen oder: zum Gebet]«, schon bei Homer: Od. 9,527; 12,257; 17,366. 1022 Ansätze dieser Metaphorik finden sich bereits in klassischer Zeit (Platon beschreibt die Schüler von Sophisten als Chor, Euthd. 276b; Prot. 315b), gehäuft tritt sie dann im Rahmen der

§21: Der eigentliche Auftritt: Claque

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mit der Funktion des Chorführers als Vorsänger, dem die Choreuten mit dem Refrain antworten, vergleichen, wobei Rede und Beifall hier den Wechselgesang bilden. Im Idealfall dirigiert der Sophist auf der Bühne, also der Chorführer, dieses Geschehen, im Notfall aber müssen die Claqueure im Publikum, also die Choreuten, selbst die Initiative ergreifen und dem Chorführer zu Hilfe kommen. Das von der Claque geforderte »Zusammensingen« (συνᾴδειν) deutet man besser als zeitlich richtig abgestimmten Wechselgesang denn als harmonisches Zusammenklingen beider Seiten, obwohl die Belege für συνᾴδειν normalerweise ein gleichzeitiges Zusammensingen bezeichnen1023 und LSJ s.v. die Bedeutung eines Wechselgesangs nicht vermerkt.1024 Die vorliegende Bedeutung könnte über den übertragenen Sinn »harmonieren« zu »eine harmonische [d.h. harmonisch wechselnde] Gesangsdarbietung machen« erklärbar sein. Lukian selbst verwendet das Verb mehrfach sowohl wörtlich (»zusammensingen«: Ver. Hist. 2,15; Anach. 23) als auch übertragen (»zusammenpassen«: Paras. 4; Hist. Conscr. 15 und 23), wobei der Beleg in Ver. Hist. die Situation von Chor und Chorführer aufnimmt. Beschrieben werden Knaben- und Mädchenchöre auf den Inseln der Seligen, deren Leiter und »Mitsänger« die Dichter und Chorlyriker Eunomos, Arion, Anakreon und Stesichoros sind: ἐξάρχουσι δὲ καὶ συνᾴδουσιν Εὔνομός τε ὁ Λόκρος κτλ.1025 Hier bezeichnet συνᾴδειν also das »Mitsingen« in der besonderen Rolle als Vorsänger, ἔξαρχος1026, was in zeitlichem Wechsel zum eigentliZweiten Sophistik auf. Libanios beispielsweise nennt seine Schüler immer wieder seine »Choreuten« bzw. seinen »Chor« (vgl. u.a. Ep. 135,1; 282,4; 371,4; 820,1); weitere Belege bei Korenjak [2000] 211f. Erhellend für sämtliche Metaphern aus den Bereichen Schauspiel, Poesie und Musik in Rh. Pr. sind folgende Beobachtungen Korenjaks (210f.): »Sophistische Vorträge eignen sich besonders gut dazu, in musikalischen und insbesondere in Chormetaphern beschrieben zu werden. Wie wir schon verschiedentlich gesehen haben, enthalten sie oft ein starkes theatralisches Element und können im Gegensatz zu modernen Reden durch ihre Wortwahl, ihre rhythmisierte Sprache und die musikalische Stimmführung des Redners der Dichtung verhältnismässig nahestehen. Es verwundert also nicht, dass bei der Beschreibung solcher Vorträge regelmässig Metaphern aus dem Bereich des Dramas, der Poesie und der Musik verwendet werden. Der Sophist selbst erscheint dabei etwa als Schauspieler (e. g. Aristid. 34.7, Lib. Ep. 127.5) oder Musiker (Him. 39.1), seine Tätigkeit als Theaterspielen (Philostr. VS 541) oder Singen (Aristid. 20.3, Him. 6.12, Them. Or. 1.1a).« 1023 Im eigentlichen Sinn »gemeinsam singen« z.B. Aeschin. Or. 2,162; Arist. Mu. 399a12 und Pr. 921a36; im übertragenen Sinn »harmonieren, in Einklang stehen« (oft von philosophischen Aussagen bzw. Argumenten) z.B. Plat. Prt. 333a8; Grg. 461a2; Arist. EN 1098b11 und 20. 1024 Vgl. dazu auch Korenjak [2000] 212 mit Anm. 55. 1025 ἐξάρχειν bedeutet allgemein »anführen, leiten«, aber auch spezifisch »[eine musikalische Darbietung] einstudieren/als Vorsänger agieren«, im Sinne von διδάσκειν (vgl. LSJ s.v. und Arist. Po. 1449a11: ἀπὸ τῶν ἐξαρχόντων τὸν διθύραμβον; vgl. auch Xen. Cyr. 3,3,58; Philon De ebr. 96 und 105). 1026 Vgl. z.B. Homer Il. 24,721 (θρήνων ἐξάρχους); Demosthenes Or. 18,260; Euripides Ba. 141.

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5. Kommentar (§§18–22)

chen Chorgesang steht.1027 Der in Rh. Pr. geschilderten Situation am nächsten kommt eine Stelle bei Plutarch, die das Verhältnis der Reichen gegenüber ihren Schmeichlern abhandelt (mor. 63a): ὥσπερ οἱ τραγῳδοὶ χοροῦ δέονται φίλων συνᾳδόντων ἢ θεάτρου συνεπικροτοῦντος.1028 Die Partizipien συνᾳδόντων und συνεπικροτοῦντος dienen parallel als illustrierende Beispiele, wobei das zweite eine im Wechsel mit dem dargebotenen Schauspiel ablaufende Tätigkeit (Applaus) nennt, was für das erste ebenso in Betracht gezogen werden sollte. προϊόντα σε δορυφορείτωσαν Zur Imperativform δορυφορείτωσαν vgl. den Kommentar zu §6: παρέστωσαν [...] περιπλεκέσθωσαν. Das Substantiv δορυφόρος ist klassisch v.a. bei Historikern häufig belegt und bezeichnet einerseits allgemein den »Speerträger« (Xen. An. 5,2,4; Cyr. 8,3,9), andererseits speziell den »Leibwächter« von Tyrannen oder Königen (vgl. Thuk. 6,56,2; 6,57,1; Hdt. 1,89; 1,98; Xen. Cyr. 8,5,3). Das klassisch etwas seltenere Verb δορυφορεῖν bedeutet entweder spezifisch »jemanden als Leibwächter begleiten« (vgl. Thuk. 1,130,1) oder aber generell »(begleitend) wachen über« (vgl. Demosth. Or. 23,123; vgl. LSJ s.v.: attend as a body-guard; generally keep guard over). Eine metaphorische Verwendung findet sich bei Platon in der Behandlung der verschiedenen Seelenteile, vgl. R. 573a und 587c. Dass solche Leibwächter oder Söldner für Geld angeworben werden, ist ebenfalls Thema in klassischen Textzeugnissen, vgl. Xen. Hell. 3,1,23: ἀνεῖπε καὶ τοὺς Μειδίου δορυφόρους θέσθαι τὰ ὅπλα ἐπὶ τῷ στόματι τοῦ ἑαυτοῦ στρατεύματος, ὡς μισθοφορήσοντας und Demosth. Or. 23,123 und 186. Lukian verwendet an vorliegender Stelle einmal mehr historiographische Terminologie in komischer Adaptation1029 und entwirft ein satirisches Bild des Sophisten und seiner Claque: Die Begleiter des effeminierten Redners umringen ihn wie Leibwächter, während ihre Bezahlung auf die Mahlzeiten reduziert ist, welche sie für ihre Dienste erhalten. Das Verb findet sich bei Lukian in zwei weiteren Belegen in der Bedeutung von »Begleitern« im Sinne einer Claque, wobei die Situation jedes Mal etwas variiert:1030 1027 Wieland [1974] Bd. 2,332 übersetzt die Verbalausdrücke denn auch im Sinne eines Hendiadyoins: »Sie haben Chöre von Knaben und Mädchen, denen Eunomus von Lokri, Arion von Lesbos, Anakreon und Stesichorus vorsingen.« [meine Hervorhebung] 1028 »Wie die Tragödienschauspieler brauchen sie einen Chor von Freunden, der mit ihnen zusammensingt, oder ein Theaterpublikum, das sie beklatscht.« 1029 Vgl. dazu Rh. Pr. 5 passim und Rh. Pr. 15: ἐφόδια [...] ἐπισιτίσασθαι. 1030 Insgesamt sind bei Lukian die Belege für δορυφόρος und δορυφορεῖν zahlreich, dabei meist in der oben angegebenen gängigen Bedeutung als »Leibwächter«, vgl. Phal. 1,3; Catapl. 13 und 26; Menipp. 16; Tox. 50; Tyrannicid. 4, 5, 7 etc.

§21: Der eigentliche Auftritt: Claque

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Nigr. 24 setzt sich spöttisch mit den Scheinphilosophen auseinander, die selbst als Begleiter reicher, hochgestellter Persönlichkeiten beschrieben werden;1031 Peregr. 16 stellt boshaft die aus Christen bestehende »Leibwache« des Peregrinos dar, die ihn ihrerseits unterstützt und durchfüttert, so dass deswegen zwar nicht im engeren Sinn der oben gegebenen Definition von Claque gesprochen werden kann, die Stelle aber dennoch in Vokabular und Duktus Ähnlichkeiten aufweist.1032 Das Bild des von einer mit Speeren bewehrten Leibgarde begleiteten Tyrannen wird somit in verschiedenen Varianten und in spöttischer Abwertung auf Scheinphilosophen (Peregrinos) und Scheinsophisten (Rh. Pr.) und auf Reiche mit ihrer bewundernden Anhängerschaft (Nigrinos) übertragen.1033 Schilderungen davon, wie ein Sophist nach absolvierter Rede den Schauplatz begleitet von zahlreichen begeisterten Hörern verlässt, liegen beispielsweise bei Philostr. VS 587 und Lib. Or. 1,89 vor.1034 Vgl. auch Zeux. 1, wo Lukian über seine bewundernde Hörerschaft spricht und dabei die eigene Bescheidenheit hervorstreicht: Ἔναγχος ἐγὼ μὲν ὑμῖν δείξας τὸν λόγον ἀπῇειν οἴκαδε, προσιόντες δέ μοι τῶν ἀκηκοότων πολλοὶ [...] ἐδεξιοῦντο καὶ θαυμάζουσιν ἐῴκεσαν. ἐπὶ πολὺ γοῦν παρομαρτοῦντες ἄλλος ἄλλοθεν ἐβόων καὶ ἐπῄνουν ἄχρι τοῦ καὶ ἐρυθριᾶν με, μὴ ἄρα πάμπολυ τῆς ἀξίας τῶν ἐπαίνων ἀπολειποίμην.1035 Durch einen solch triumphalen Abgang mehren sich Ansehen und Erfolg des betreffenden Starredners. Zu beachten ist, dass an vorliegender Stelle in Rh. Pr. jedoch die Claque diese begeisterten Begleiter stellen muss, da der Redner zu schlecht ist, als dass seine Hörerschaft ihm von allein folgte. 1031

Nigr. 24 (über den Scheinphilosophen): ἀναμεμιγμένον κολάκων ὄχλῳ καὶ τῶν ἐπ’ ἀξίας τινὰ δορυφοροῦντα καὶ τοῖς ἐπὶ τὰ δεῖπνα παραγγέλλουσι κοινολογούμενον [...]. 1032 Peregr. 16: Ἐξῄει [sc. Περεγρῖνος] οὖν τὸ δεύτερον πλανοῦμενος, ἱκανὰ ἐφόδια τοὺς Χριστιανοῦς ἔχων, ὑφ’ ὧν δορυφορούμενος ἐν ἅπασιν ἀφθόνοις ἦν. (»Er begab sich nun ein zweites Mal auf Wanderschaft und hatte eine ausreichende Versorgungsquelle in den Christen, durch deren Begleitung er in vollumfänglichem Überfluss lebte.«) 1033 Die Kombination der Begriffe φίλοι und δορυφόροι findet sich wie in vorliegender Stelle auch bei Philon von Alexandria (Quod deter. potior. insidiar. soleat 33: ὥσπερ τινὲς δορυφόροι καὶ φίλοι), Plutarch (Eumen. 8,6f.; mor. 94b) und Johannes Chrysostomos (De resurrect. mortuor. 423,34). 1034 Vgl. Korenjak [2000] 120 mit Anm. 16. Bei Philostrat heisst es über die Begleiter des Hadrian von Tyros (VS 587): [...] ἐπεὶ δὲ σπουδάσειε, ζηλωτὸς αὖ ἐπανιὼν ξὺν πομπῇ τοῦ πανταχόθεν Ἑλληνικοῦ. (»[...] und nachdem er seine Rede gehalten hatte, kehrte er jeweils beneidet heim, begleitet von einem Gefolge von Philhellenen aus der ganzen Welt.«) 1035 »Neulich war ich, nachdem ich vor euch eine Rede gehalten hatte, auf dem Heimweg, als mir viele Zuhörer folgten [...], mich grüssten und voller Bewunderung zu sein schienen. Sie begleiteten mich ein ganzes Stück weit und jubelten und lobten mich von allen Seiten her, bis ich errötete beim Gedanken, ob ich nicht ganz hinter dem Wert ihrer Lobpreisungen zurückgeblieben sei.«

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5. Kommentar (§§18–22)

Lukians Nennung der Leibwächter verweist eventuell auch auf die Möglichkeit tätlicher Übergriffe, denen gerade ein schlechter Sophist ausgesetzt sein kann; obgleich die Streitereien der Sophisten und Gebildeten hauptsächlich im verbalen Bereich ausgetragen werden, sind uns Handgreiflichkeiten bei Philostrat VS 588 bezeugt: Die Schüler des Hadrian von Tyros dulden die von einem unbekannten Sophisten gegen ihren Lehrer gerichteten Schmähungen nicht und lassen ihn von ihren Sklaven verprügeln, was zu dessen Tod führt.1036 ἐγκεκαλυμμένον αὐτὸν Die Bedeutung des Partizips ist nicht ganz einfach zu verstehen; ἐγκαλύπτειν heisst grundsätzlich »verhüllen, einwickeln«1037, im Medium »sich einhüllen«, meist als Zeichen der Scham »sein Gesicht/seinen Kopf bedecken«1038. Die Übersetzer beziehen das Verb denn auch auf ein Verhüllen des Hauptes,1039 was mir problematisch erscheint, da dies wie gesagt üblicherweise aus Scham oder um unerkannt zu bleiben geschieht (vgl. Luk. Merc. Cond. 39), was an vorliegender Stelle nicht der beabsichtigte Effekt ist. Möglich wäre ein Einhüllen des Körpers in ein (kostbares, auffälliges) Gewand: Man könnte sich vorstellen, dass der Redner nach absolviertem Auftritt seinen prunkvollen Mantel wieder anlegt und majestätisch von dannen zieht.1040 Wieland versteht ἐγκεκαλυμμένος als einziger Übersetzer in übertragenem Sinn so, dass der Redner von seiner Claque »eingehüllt« ist, er also inmitten einer Menschentraube davongeht.1041 Das ist inhaltlich ebenso gut möglich, ja ist vielleicht sogar wahrscheinlicher, da der bisherige Fokus auf dem Agieren der Claque (φίλοι) beibehalten wird, wahrscheinlicher. Diese Möglichkeit des Verständnisses ist denn auch in vorliegender Übersetzung wiedergegeben. 1036

Vgl. ausführlich zu Streitigkeiten unter Sophisten Bowersock [1969] 89–100. Vgl. Ar. Nu. 11: ἐγκεκαλυμμένος von einem Schlafenden, der in Decken eingewickelt ist; Plut. Crassus 27,6: ἐγκεκαλυμμένος ὑπὸ σκότος. 1038 Vgl. Plat. Phd. 117c; Phdr. 243b; Aeschin. Or. 1,26 und 2,11; Demosth. Ep. 3,42; auch Alex. PCG 2, fr. 115,16f. 1039 Vgl. Harmon (163): »Afterwards let them dance attendance upon you as you go away with your head swathed in your mantle« und Möllendorff ([2006a] 179): »Hinterher verhülle dein Haupt und lass dich heimbegleiten wie von einer Eskorte von Leibwächtern [...].« 1040 Zu den Empfehlungen bezüglich Kleidung vgl. §15 und §16 (bes. Anm. 781). Das Partizip ἐγκεκαλυμμένος findet sich bezogen auf Kleidungsstücke, mit denen man den Körper einhüllt, bereits bei Plat. Prt. 315d: Der Sophist Prodikos liegt, bequem und luxuriös eingehüllt in zahlreiche Decken und Felle, in einem Raum in Kallias’ Haus, wo er sich mit seinen Gesprächspartnern unterhält; vgl. auch Lukian Dial. Deor. 21,1. 1041 Wieland [1974] Bd. 3,228: »Nach geendigter Rede müssen sie sich, als deine Trabanten, um dich her versammeln und dich nach Hause begleiten [...].« – Vgl. zur Situation sowie zu Parallelstellen den Kommentar oben zu: προϊόντα σε δορυφορείτωσαν. 1037

§21: Der eigentliche Auftritt: Claque

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Auf jeden Fall haben beide Versionen – das Sich-Einhüllen in (auffällige) Kleidung sowie das Eingehülltwerden von Begleitern – den Effekt der Steigerung des Ansehens und der Wichtigkeit der betroffenen Person. θαυμάσια περὶ σαυτοῦ λέγε καὶ ὑπερεπαίνει καὶ ἐπαχθὴς γίγνου αὐτῷ Zu Recht weist Harmon (163 Anm. 3) darauf hin, dass hier eigentlich nicht mehr der Rednerlehrer spreche, sondern die Stimme des Autors durchscheine1042 bzw. die Ironie durchbrochen werde, indem durch diese Negativzeichnung die tatsächliche Wirkung der Scheinsophisten auf ihr (gebildetes) Umfeld deutlich gemacht wird (v.a.: ἐπαχθὴς γίγνου). Die unendliche Arroganz der Scheinsophisten wirkt abstossend, so dass sie viel eher berüchtigt als berühmt sind. Zudem kann ihre Berühmtheit nicht in echter Bildung begründet liegen, sondern muss durch auffälliges Verhalten bewirkt werden.1043 Dass hier nicht die Begleiter Wunderbares über den Redner erzählen – obwohl sie als scheinobjektive Instanz vielleicht den noch grösseren Effekt erzielten –, könnte in der Absicht begründet liegen, die Arroganz des Rednerlehrers durch das Selbstlob in ihrer ganzen Tragweite darzustellen, was mit zwei provokativen Beispielen solcher θαυμάσια sofort auch weiter illustriert wird (τί γὰρ ὁ Παιανιεὺς κτλ.): Sie stellen eine mögliche Auswahl dar, wie man sich gegenüber verschiedenen Gesprächspartnern äussern kann (dies zeigt das abschliessende καὶ τὰ τοιαῦτα). ὁ Παιανιεὺς »Paianieus« ist eine Bezeichnung für den Redner Demosthenes, der aus dem Demos Paiania stammte. Angesichts der Vorbildfunktion des Demosthenes für die Rhetorik der Kaiserzeit legt der Rednerlehrer mit der Aussage, Demosthenes sei im Vergleich zu ihm nichts, die grösstmögliche Arroganz an den Tag. Er schliesst sich dadurch der ablehnenden Haltung des Ratgebers zur alten Ausbildung, die auf Demosthenes’ Spuren wandelt, dies aber unnötigerweise tut, an (vgl. den Kommentar zu §9: ζηλοῦν [...] μιμεῖσθαι und zu §10: μαχαιροποιοῦ υἱὸν καὶ ἄλλον Ἀτρομήτου τινὸς γραμ1042 Ohne auf einen Autor rückzuverweisen kann die Art der vorliegenden Äusserungen auch als Ambivalenz (Narrenhaftigkeit) der Sprechweise des Rednerlehrers erklärt werden, durch die er seine eigene Figur unterwandert. Vgl. dazu auch bereits den Kommentar zu §19: ἢν δὲ ὀρθοὶ ἑστήκωσιν ὑπὸ τῆς αἰσχύνης. 1043 Vgl. zur Durchbrechung der Ironie die Einleitung 1.6, S. 65 sowie unten §22, wo diese Negativzeichnung in den Anweisungen zum Verhalten der Sophisten als Zuhörer eines Konkurrenzvortrags weitergeführt wird (ξένον τινὰ ἔπαινον ἐπειπεῖν τὰς ἀκοὰς τῶν παρόντων ἐπιστρέψοντα καὶ ἐνοχλήσοντα, ὡς ναυτιᾶν ἅπαντας ἐπὶ τῷ φορτικῷ τῶν ὀνομάτων καὶ ἐπιφράττεσθαι τὰ ὦτα).

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5. Kommentar (§§18–22)

ματιστοῦ; vgl. auch §17). Dass dennoch auch der Rednerlehrer in der demosthenischen Tradition steht und sich ihr nicht entziehen kann, verraten beispielsweise die Anklänge an die Invektivenelemente von De corona in §24.1044 Zum Inhalt der vorliegenden Aussage vgl. auch Philostrat VS 565, wo Herodes auf das Lob, er sei »einer der Zehn« antwortet, er sei jedenfalls besser als Andokides (»Ἀνδοκίδου μὲν« ἔφη »βελτίων εἰμί.«). πρὸς ἕνα ἴσως μοι τῶν παλαιῶν ὁ ἀγών Die zweite Aussage ist ähnlich arrogant wie die erste, lässt aber immerhin noch die Möglichkeit offen, dass einer der klassischen Redner dem modernen Starsophisten das Wasser reichen könnte (und gesteht so implizit deren Vorbildfunktion ein). Die hochnäsige Verachtung des Vertreters der neuen Modesophistik gegenüber der alten Rhetorik, verkörpert durch Demosthenes und allgemein »die Alten«, οἱ παλαιοί (vgl. auch §10 und §17), wirft die Frage auf, wie es denn mit der zeitgenössischen Konkurrenz steht: Das wird im Anschluss (§22) behandelt. §22 Da an sophistischen Vorträgen die Interaktion von Publikum und Redner bzw. die Publikumsreaktionen und Diskussionen der gebildeten Hörerschaft eminent wichtig sind – wobei sie einerseits zur Selbstpositionierung der Gebildeten innerhalb ihres Standes, andererseits auch zur Stärkung ihrer Position als elitäre Gruppe gegenüber der ungebildeten Menge dienen –, geht der Rednerlehrer im vorliegenden Kapitel auch auf das Verhalten des Starsophisten als Besucher von Konkurrenzvorträgen ein. Die angesprochenen Bereiche – allgemeine Reaktion auf das Vorgetragene, Ankunft bei den Vorträgen, Zwischenrufe, Schütteln der Hand, Aufspringen, Mimik – sind allesamt verankerte Bestandteile im Ablauf der Deklamationen (vgl. Korenjak [2000] 63–95). Da nun der Starsophist seine Konkurrenz generell schlecht machen und damit dem (ungebildeten) Publikum signalisieren soll, dass er der wahre Gebildete ist, wird jeder Bereich jeweils in einem Verhalten zu Ungunsten des Vortragenden abgehandelt – umfassende Kritik, zu spätes Erscheinen, vulgäre Zwischenrufe, seltene Beifallsbekundungen und eine Mimik der Distanzierung und Überlegenheit. Gleichzeitig diskreditiert der Starsophist aber durch sein aufsässiges, vulgäres Verhalten auch sich selbst, was im Text durch die Reaktion des restlichen Publikums gezeigt wird (vgl. den Kommentar zu: ἐνοχλήσοντα; ναυτιᾶν; ἐπὶ τῷ φορτικῷ 1044

Vgl. den Kommentar zu §24: πατρὸς μὲν ἀφανοῦς.

§22: Umgang mit Konkurrenz

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τῶν ὀνομάτων; ἐπιφράττεσθαι τὰ ὦτα).1045 So bleibt er nach der zwar wirkungsvollen Störung des Konkurrenzauftritts selbst in einem negativen Licht zurück. In Anlehnung an den Inhalt von §21 und gleichzeitig in Umkehrung desselben werden die gleichen Elemente im Gegensatz zur positiven Wirkung durch die unterstützende Claque hier mit sabotierender Wirkung von einem einzelnen Hörer eingesetzt. Sabotierende Einflussnahme des Publikums begegnet uns in den Quellen tatsächlich, vgl. Aristeid. Or. 34,47: Der Autor schildert schadenfroh, wie das Publikum einem Redner, welcher die ärgerliche Praxis anwandte, mit modulierender Stimme immer denselben Refrain an das Ende jedes Abschnittes zu setzen, diesen vorwegzunehmen begann, so dass der Chorführer seinem Chor hinterherhinkte (ὁ κορυφαῖος ἰὼν κατόπιν τοῦ χοροῦ) und der Vortrag kläglich scheiterte. Korenjak ([2000] 143f.) äussert hierzu die Vermutung, dass es sich bei diesen Hörern eventuell nicht einfach um beliebige Leute aus dem Publikum handle, sondern dass Aristeides selbst eine Claque angeheuert und sie mit der entsprechenden Sabotage beauftragt haben könnte. ὃ δὲ μέγιστον καὶ πρὸς τὸ εὐδοκιμεῖν ἀναγκαιότατον κτλ. Der Satzbeginn (ὁ δὲ μέγιστον / ἀναγκαιότατον) lässt eine überaus wichtige, unverzichtbare letzte Empfehlung erwarten, wie sie auch innerhalb der Struktur der Rede gerechtfertigt wäre, da wir mit §22 am Ende der eigentlichen Darstellung des Rednerberufes (§§23–25 widmen sich dem privaten Bereich) und damit auf dem Höhepunkt angelangt sind. Was folgt, ist allerdings unerwartet und verleiht der Aussage einmal mehr eine ironischsarkastische Brechung: Die (wichtigste) Empfehlung, alle anderen Redner auszulachen, befasst sich absurderweise nicht einmal im engeren Sinn mit der rhetorischen Tätigkeit des Sophisten selbst und zeigt damit nochmals auf, dass der Scheinredner sich auf ein derart geringes eigenes Können stützt, dass er die Konkurrenz unterdrücken muss, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Somit bewirkt der – durch einleitende Superlative spannungsvoll verzögerte – letzte Ratschlag, das Auslachen aller Gegner, gleichzeitig auch das Lachen der Rezipierenden als Reaktion. Durch die allgemein gehaltene Formulierung ἁπάντων καταγέλα τῶν λεγόντων kann zudem der Rednerlehrer selbst unter die λέγοντες gezählt und so eine versteckte Aufforderung (an den Schüler und an uns) im rezeptionsästhetischen Sinn mitgelesen werden. Das Verb καταγελᾶν erinnert in diesem Zusammenhang an Lukian als Vertreter des ernsthaften Spassens (σπουδο1045

Lukian unterstreicht das unangemessene Verhalten des modernen Sophisten sowie die Reaktion des Publikums an drei Stellen durch auffälliges unklassisches Vokabular, vgl. den Kommentar zu: ἐπιλήψιμα; ἐπιφράττεσθαι; ὑπομειδία.

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5. Kommentar (§§18–22)

γέλοιον):1046 Im Einklang mit dem in Rh. Pr. stark betonten komischen Aspekt, der auf den Elementen der konstanten Karikierung und Ironisierung und auf der Stilisierung des Auftrittes des Rednerlehrers zur Komödie beruht, wird hier auf Amüsement und Lachen des Publikums verwiesen, während das Ernsthafte v.a. in diejenigen intertextuellen Verweise, die Subtexte als Kontrastfolien beiziehen, ausgelagert ist.1047 καὶ ἢν μέν τις καλῶς εἴπῃ Über Konkurrenz wird erst in Rh. Pr. 22 explizit gesprochen: An vorliegender Stelle wird deutlich, dass es sie gibt, und zwar werden zuerst diejenigen Redner genannt, die – wohl nach der guten alten Tradition – »schön« (καλῶς) zu reden verstehen. Solche Redner sind auch der Ratgeber, der den alten Weg beschritten hat (vgl. §8), und der Lehrer des langen Weges (vgl. §§9–10), dessen Können nicht bestritten wird, wenn er auch als Verfechter eines viel zu umständlichen Weges abgelehnt wird. οὐχ ἑαυτοῦ Vgl. über die Thematik des Plagiates bereits die Empfehlung, aus Reden von Vorgängern grosszügig Material zu übernehmen (§17: ἀπ’ ἐκείνων ἐπισιτισάμενος). Der Rednerlehrer unterwandert an dieser Stelle seine eigene Äusserung, da sein Ratschlag, jedem Gegner, dessen Rede gut gelungen ist, Plagiate anzulasten, auf jemanden, der tatsächlich Plagiate begeht, mit noch viel verheerenderer Wirkung angewandt werden dürfte. Darüber hinaus zielt dieses Verhaltensmuster der ungerechtfertigten Kritik wiederum auf die Beeinflussung des ungebildeten Publikums ab (vgl. bereits §20), welches den geäusserten Vorwurf nicht hinterfragt, während die Gebildeten die falsche Unterstellung eines Plagiates gegen den Kritiker selbst verwenden könnten. Allerdings hält der Rednerlehrer auch darauf eine Antwort bereit: Wer über einen genügend durchtriebenen Charakter verfügt, traut sich, selbst Plagiate zu verwenden, und unterstellt sie anderen bösartig – nur überzeugend muss man sein (vgl. unten διαβολαὶ πιθαναί). ἐλεγχθῇ Die vorliegende Form ist eine Konjektur Harmons anstelle des überlieferten ἐνεχθῇ, die von Macleod übernommen wird. Der aoristische passive Konjunktiv ἐνεχθῇ lässt sich zwar als Form von φέρειν übersetzen, am ehesten wohl in der Bedeutung »im Mund führen, sprechen über«1048 (»wenn einer 1046

Vgl. dazu die Einleitung 3.1, S. 120–125. Vgl. dazu die Einleitung 1.2; 1.3 (platonische Subtexte); 1.4 (Herakles am Scheideweg und Tabula des Kebes); 1.6, S. 60f. 1048 Zur entsprechenden Bedeutungsentwicklung von »(er)tragen« siehe LSJ s.v. φέρω VIII: carry or have in the mouth, i.e. speak of (häufiger im Passiv). Vgl. z.B. Aischines Or. 3,223 (ἐν 1047

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massvoll besprochen, d.h. kritisiert wird«), doch bietet das Verb ἐλέγχειν einen gezielter auf die eigentlichen Abläufe passenden Sinn (einzelne Widerlegungen von sprachlichen Äusserungen etc.).1049 πάντα ἔστω ἐπιλήψιμα Das Adjektiv ἐπιλήψιμος ist klassisch nicht belegt. Der früheste Beleg findet sich in der zweiten vollständig erhaltenen Deklamation des Polemon mit dem Thema des bei Marathon heldenhaft gefallenen Kallimachos (Call. 34: ἡ δὲ ναῦς ὅλη [...] πῶς ἦν ἐπιλήψιμος [...];). Während bei Polemon noch die wörtliche Bedeutung »einnehmbar« (bzw. von einem Schiff: »kaperbar«) vorliegt, benutzt Lukian die übertragene Bedeutung »angreifbar, tadelnswert«; ebenso Max. Tyr. Or. 18,6; [Ps.]-Hermog. Περὶ εὑρέσεως 4,13, Rhetores Graeci vol. 6, p. 206,5 Rabe; Philostr. VA 4,42. Die kaiserzeitliche Verbreitung des Adjektivs in dieser übertragenen Bedeutung widerspiegelt auch Pollux 3,139: καλοῖτο δ’ ἂν ὁ μὲν ἔνοχος ὑπαίτιος, ὕποχος, ὑπεύθυνος, ἐγκλητέος, ἐπιλήψιμος, μεμτὸς ἐπίμεμπτος, ἐπίψογος [...]. ἐπίσημον Das Adjektiv ἐπίσημος bedeutet wörtlich »mit einem Zeichen versehen, geprägt (bei Münzen)«1050, übertragen »ausgezeichnet, kenntlich; bemerkenswert, berühmt; berüchtigt« und ist schon klassisch sowohl in Prosa als auch in Poesie häufig belegt.1051 Lukian benutzt das Adjektiv insgesamt 34x, meist bezogen auf Menschen, dabei sowohl mit positiver Konnotation (e.g. Salt. 8; Ver. Hist. 2,17; Anach. 36) als auch mit vorliegender Stelle ähnlicher negativ-sarkastischer Konnotation (vgl. nochmals in Rh. Pr. 25: ἀλλὰ καὶ τὸ μισεῖσθαι πρὸς ἁπάντων καὶ ἐπίσημον εἶναί με ἐπὶ τῇ μοχθηρίᾳ κτλ.; weitere Beispiele sind Nigr. 13: über den Auftritt eines Reichen mit seinem ›Gefolge‹; Merc. Cond. 28: der Hauslehrer muss sich hervortun, um seinem reichen Herrn neben all den anderen aufzufallen; Peregr. 4 und Pseudol. 17: die abscheulich-berüchtigten Figuren zweier Scheingebildeter; ταῖς διαβολαῖς φέρων) oder Platon Ep. 7,328e (φιλοσοφία δέ, ἣν ἐγκωμιάζεις ἀεὶ καὶ ἀτίμως φῂς ὑπὸ τῶν λοιπῶν ἀνθρώπων φέρεσθαι [...]). 1049 Vgl. auch oben §20: ἔλεγχος γὰρ σαφὴς ταῦτά γε. Lukian gebraucht sowohl Substantiv als auch Verb sehr häufig, wie es den Entlarverfiguren seiner Schriften entspricht (vgl. dazu die Einleitung 3.1 und 3.2); vgl. im Kontext einer Diskussion über Bildung und Unbildung allgemein Adv. Ind. 1 und 5; Lex. 23; zu Kritik in der Öffentlichkeit Alex. 44–45; vgl. auch Fug. 11 und 15; Pseudol. 4. 1050 Vgl. zu dieser Bedeutung Luk. Catapl. 9; Tim. 41; Nav. 18, 20, 25, 31 (immer in der Kombination χρυσίον ἐπίσημον); siehe auch Pollux 3,86 und bereits Thuk. 2,13,3. 1051 E.g. Thuk. 2,43,2; Hdt. 2,20,1 (bezogen auf Menschen, mit sarkastischem Unterton); E. El. 936; HF 68. Vgl. zu den Bedeutungen LSJ s.v. II.3.: notable, remarkable; in bad sense conspicuous, notorious; 4. significant.

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generell wird an diesen Stellen jeweils eine zweifelhafte Berühmtheit impliziert). Eine enge Parallele, von der Rh. Pr. 22 und 25 gleichzeitig ein Zerrbild darstellen, ist in Anach. 36 enthalten, wo Solon gegenüber seinem Dialogpartner Anacharsis als positiven Ansporn der jungen Männer an den Wettkämpfen folgende Elemente nennt: das Lob der Zuschauer, die Berühmtheit und das Zeigen mit dem Finger auf die besten ihres Jahrgangs. Sarkastisch wird hingegen dem Rednerlehrer der Stolz darauf in den Mund gelegt, dass er von allen gehasst werde, berühmt-berüchtigt sei wegen der Schlechtigkeit seines Charakters und seiner Reden und mit dem Finger auf ihn gezeigt werde als auf den Allerverdorbensten.1052 Syntaktisch dürfte die Form als substantiviertes Adjektiv τὸ ἐπίσημον (»Kennzeichen, Merkmal«) mit gängiger Ellipse von ἐστίν aufzufassen sein: »denn es [sc. das Zuspätkommen] ist ein [bzw. dein] Kennzeichen«.1053 Dieser Gebrauch findet sich bereits bei Herodot zur Benennung eines z.B. an einem Schild (9,74) oder an einem Schiff (8,88) angebrachten Zeichens. σιωπησάντων ἁπάντων ξένον τινὰ ἔπαινον ἐπειπεῖν Das Schweigen aller anderen Zuhörer lässt darauf schliessen, dass der Redner vielleicht gerade mitten in einer spannenden Passage seines Vortrags steckt und dass auf jeden Fall nicht die Zeit für Urteilsbekundungen ist; diese gehören wohl eher an das Ende jeweiliger Sinneinheiten und natürlich an den Schluss des gesamten Vortrags. So bewirkt denn der unangebrachte Zwischenruf eine empfindliche Störung der Stimmung.

1052 Vgl. Anach. 36: ὁ ἔπαινος ὁ παρὰ τῶν θεατῶν καὶ τὸ ἐπισημότατον γενέσθαι καὶ δείκνυσθαι τῷ δακτύλῳ ἄριστον εἶναι τῶν καθ’ αὑτόν [...] und Rh. Pr. 25: καὶ τὸ μισεῖσθαι πρὸς ἁπάντων καὶ ἐπίσημον εἶναί με ἐπὶ τῇ μοχθηρίᾳ τοῦ τρόπου καὶ πολὺ πρότερον τῶν λόγων καὶ τὸ δείκνυσθαι τῷ δακτύλῳ τοῦτον ἐκεῖνον τὸν ἀκρότατον ἐν πάσῃ κακίᾳ λεγόμενον [...]. Vgl. zum Status des Berüchtigten auch den Kommentar zu §21: θαυμάσια περὶ σαυτοῦ λέγε καὶ ὑπερεπαίνει καὶ ἐπαχθὴς γίγνου αὐτῷ. Vgl. weiter Harmonides’ Wunsch nach Weltruhm (Harmonid. 1): ἡ δόξα ἡ παρὰ τῶν πολλῶν καὶ τὸ ἐπίσημον εἶναι ἐν πλήθεσι καὶ δείκνυσθαι τῷ δακτύλῳ [...]. Solch ein Wunsch ist, wie in der Folge Lukians Übertragung auf seine eigene Situation zeigt, nicht grundsätzlich unberechtigt, seine Erfüllung darf aber nicht mit trügerischen Mitteln angestrebt werden (vgl. auch Herodot. 2). 1053 Die Struktur ist somit anders als in Rh. Pr. 25, denn an vorliegender Stelle kann das Adjektiv kaum mit Bezug auf ein fehlendes σε und Ellipse von εἶ verstanden werden (»[so bist du] nämlich auffällig«, d.h. du erregst Aufmerksamkeit): Erstens ist eine solche Ellipse selten und erscheint in Prosa nur in Verbindung mit bestimmten Adjektiven (vgl. K.-G. II 1,40: »Das Verb εἶναι, als Kopula, wird oft weggelassen, jedoch meistens nur im Indik. Praes., wo sich das Aussageverhältnis leicht ergänzen lässt, und zwar vorwiegend in der 3. Person.« – Ellipsen der 2. Person finden sich bei den Adjektiven ἕτοιμος, πρόθυμος, δυνατός, οἷος etc., z.B. Demosth. Or. 4,29; Plat. R. 499d; Xen. Smp. 6,7). Zweitens würde statt des Akkusativs ein Nominativ (ἐπίσημος) erwartet (trotz der vorangehenden Konstruktion ἐν ταῖς ἀκροάσεσι μετὰ πάντας [σε] εἰσιέναι χρή).

§22: Umgang mit Konkurrenz

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Der Zwischenruf wird als ξένος ἔπαινος (»befremdliches, ungebräuchliches Lob«) bezeichnet; zu ξένος in Bezug auf sprachliche Äusserungen vgl. bereits den Kommentar zu §17: ἀπόρρητα καὶ ξένα ῥήματα κτλ. Welche Art von Lob damit genau gemeint ist, zeigt die Fortsetzung, die Reaktion des Publikums (ναυτιᾶν; ἐπιφράττεσθαι τὰ ὦτα) auf die Vulgarität der Ausdrucksweise (ἐπὶ τῷ φορτικῷ τῶν ὀνομάτων), s.u. ἐνοχλήσοντα Hier findet sich eine weitere Negativzeichnung dessen, was der Rednerlehrer empfiehlt, und damit eine Durchbrechung der Ironie, wie sie auch in §19 und §21 vorhanden ist, vgl. den Kommentar zu §19: ἢν δὲ ὀρθοὶ ἑστήκωσιν ὑπὸ τῆς αἰσχύνης und zu §21: θαυμάσια περὶ σαυτοῦ λέγε καὶ ὑπερεπαίνει καὶ ἐπαχθὴς γίγνου αὐτῷ, siehe auch gleich: ναυτιᾶν κτλ.1054 Das Verb ἐνοχλεῖν erscheint bereits bei den klassischen Rednern zur Bezeichnung einer zu vermeidenden Wirkung auf das Publikum, deren parodistische Empfehlung hier vorliegt;1055 vgl. Demosth. Or. 14,41: ἵνα δ’, ὦ ἄνδρες Ἀθηναῖοι, μὴ μακρὰ λίαν λέγων ἐνοχλῶ; ebenso Isoc. Or. 15,29: ἵνα δὲ μὴ λίαν ἐνοχλῶ πολλὰ πρὸ τοῦ πράγματος λέγων.1056 ναυτιᾶν Das Verb ist bereits klassisch in Prosa und Poesie belegt; unschwer zu erkennen ist seine Ableitung aus der Seemannssprache: zu ναῦς »Schiff« ναυτιᾶν »an Seekrankheit leiden«.1057 Das Bedeutungsfeld erweitert sich in ein allgemeines »an Übelkeit leiden«1058: Lukian gebraucht das Verb insgesamt 11x, davon 5x im wörtlichen Sinn einer Seekrankheit bzw. in einem nautischen Vergleich, der dann auf andere Bereiche appliziert wird (Char. 7; Tox. 19; Merc. Cond. 2: Vergleich des schlimmen Loses eines Hauslehrers mit einer stürmischen Seefahrt; Hermot. 28: Vergleich der Reise zur Philosophie mit einer Seereise, die gute Planung und einen erfahrenen Kapitän erfordert, um nicht in einen schlimmen Sturm zu geraten; Dial. Mort. 22,6). In den übrigen 6 Belegen wird das Verb im übertragenen Sinn ver1054

Zur Ironie und deren Durchbrechung siehe auch bereits die Einleitung 1.6, S. 65. Dasselbe Phänomen findet sich im Anschluss gleich nochmals, s.u.: ἐπὶ τῷ φορτικῷ τῶν ὀνομάτων. 1056 Vgl. weiter Demosth. Or. 18,4; Isoc. Or. 4,7; insbesondere im Zusammenhang mit Sophistenkritik Isoc. Or. 5,12 und 15,224. 1057 Vgl. Ar. Th. 882; Plat. Lg. 639b und Tht. 191a (das illustrative Beispiel aus der Seemannssprache wird jeweils auf andere Bereiche übertragen) und die Erklärungen zum Begriff bei Plut. Quaest. conv. 694b: ὡς δὲ ναυτιᾶν ὠνομάσθη μὲν ἐπὶ τῶν ἐν νηὶ καὶ κατὰ πλοῦν τὸν στόμαχον ἐκλυομένων [...] (»Wie aber ναυτιᾶν benannt worden ist nach denen, deren Magen in einem Schiff auf hoher See revoltiert [...]«) und Suda s.v. Ναυτιᾶν· τὸ ἐν τῇ νηὶ κυρίως ἐμεῖν (»Ναυτιᾶν [bezeichnet] das heftige Erbrechen auf hoher See«). 1058 Vgl. LSJ s.v.: suffer from seasickness or nausea; 2. generally to be disgusted. 1055

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wendet, wobei ein übler Geruch (Fug. 1), ein hässlicher Anblick (Dial. Deor. 8,5) und die Sprache bzw. Äusserungen eines Gegenübers (Rh. Pr. 22; Lex. 16; Menipp. 4; Dial. Meretr. 13,4) die Übelkeit auslösen können.1059 Interessant für uns sind dabei die Belege in Lexiphanes und Menipp: Lykinos unterbricht den Vortrag des Lexiphanes, weil er dessen hyperattizistische Sprache nicht mehr erträgt, und klagt über Trunkenheit und derartige Übelkeit, dass er das Gehörte sogleich wieder erbrechen müsse, um nicht in »korybantische Raserei« zu geraten (ἅλις, ὦ Λεξίφανες, καὶ ποτοῦ καὶ ἀναγνώσεως. ἐγὼ γοῦν ἤδη μεθύω σοι καὶ ναυτιῶ καὶ ἢν μὴ τάχιστα ἐξεμέσω πάντα ταῦτα ὁπόσα διεξελήλυθας, εὖ ἴσθι, κορυβαντιάσειν μοι δοκῶ περιβομβούμενος ὑφ’ ὧν κατεσκέδασάς μου ὀνομάτων1060). In ähnlicher Weise wird Menipp von den Lehren der Philosophen, die ihn beschwatzen und ihm Widersprüchliches um die Ohren werfen, schlecht (ἰδέας καὶ ἀσώματα καὶ ἀτόμους καὶ κενὰ καὶ τοιοῦτόν τινα ὄχλον ὀνομάτων ὁσημέραι παρ’ αὐτῶν [sc. τῶν φιλοσόφων] ἀκούων ἐναυτίων1061). Damit wird einmal mehr ein Verb in witzig-satirischer Bedeutung sowohl auf die Sparte von Rednern und Sprachgelehrten als auch auf Philosophen angewandt. Dass derjenige, der den anderen durch seine Äusserungen Übelkeit verursacht, eigentlich selbst eine beschämende Figur darstellt, fällt an vorliegender Stelle aus Sicht des Rednerlehrers – vgl. ebenso seine Äusserungen zum Privatleben (§§23–25) – offenbar nicht ins Gewicht, da nur zählt, die Zuhörer mit jedem Mittel vom Vortrag des Konkurrenten abzulenken, was denn auch eintritt, wenn sie sich aus Übelkeit die Ohren zuhalten.1062 ἐπὶ τῷ φορτικῷ τῶν ὀνομάτων φορτικός bezeichnet wörtlich etwas »von der Art einer Last«, d.h. »lästig, mühsam«, bei Personen »plump, unverschämt, vulgär«.1063 Das Adjektiv ist in der rhetorischen Diskussion als Terminus mangelnder Stilqualität ver1059 Die metaphorische Verwendung im Zusammenhang mit falsch verwendeten sprachlichen Ausdrücken findet sich auch bei Phrynichos Ecl. 167 Fischer: Μεσοδάκτυλα· ἐναυτίασα τοῦτο ἀκούσας τοὔνομα. λέγομεν οὖν τὰ μέσα τῶν δακτύλων. (»Fingerzwischenräume: Mir wird schlecht, wenn ich dieses Wort höre. Wir sagen vielmehr ›die Zwischenräume zwischen den Fingern‹.«) – Zur Bedeutung des Wortes μεσοδάκτυλον vgl. LSJ s.v. 1060 »Hör auf, Lexiphanes, sowohl mit dem Symposion als auch mit deiner Lesung. Du hast mich schon ganz betrunken gemacht und seekrank, und wenn ich nicht schnellstens all das, was du vorgetragen hast, erbreche, dann werde ich ganz sicher gleich korybantisch rasen, [die Ohren] umrauscht von all den Wörtern, die du über mich ausgegossen hast.« 1061 »Ideen, Körperloses, Atome, Leeres und ein Haufen solcherlei Begriffe klang mir täglich von ihnen [sc. den Philosophen] in den Ohren und machte mich seekrank.« 1062 Vgl. dazu bereits Sommerbrodt [21878] 76: »Durch den Ekel, den sie wegen der Unterbrechung empfinden, soll dem Sprechenden die Aufmerksamkeit entzogen werden.« 1063 Vgl. LSJ s.v. II.: of the nature of a burden: metaph. tiresome, wearisome; 2. coarse, vulgar, common.

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breitet (vgl. bereits Arist. Po. 1462a)1064; zahlreiche Belege liefert uns Dionysios von Halikarnass. Er bringt »vulgären« Stil mit dem kritisierten Asianismus und daher auch mit Überladenheit, Schwülstigkeit und Gesuchtheit in Verbindung (vgl. Dion. Hal. Or. Vett. 2; Lys. 3 [Kritik an Gorgias]: πάνυ φορτικήν τε καὶ ὑπέρογκον ποιῶν τὴν κατασκευὴν [...]).1065 Isokrates’ Verwendung der Figuren kritisiert er als zumindest teilweise übertrieben und entlegen (περίεργα σχήματα), wobei auch der Vorwurf der ψυχρότης mit hinein kommt (Isoc. 3).1066 Er lobt hingegen Demosthenes und Lysias, deren Sprache nicht schwülstig oder vulgär sei (vgl. Dem. 57 und Lys. 3: τὰ ὀνόματα κοσμεῖ τε καὶ ἡδύνει μηδὲν ἔχοντα ὀγκῶδες μηδὲ φορτικόν), auch wenn letzterer sich diesen Vorwurf von seinem Gegner Aischines gefallen lassen musste (vgl. Dem. 55). Wo sich in Lysias’ und Demosthenes’ Schriften solches finde, liege es an deren Unechtheit (Lys. 12; Dem. 44 und 57). Auch die Redner selbst thematisieren schlechte rhetorische Darbietungen unter Heranziehung dieses Begriffs und verwehren sich gegen den Vorwurf des φορτικόν, bevor sie deutliche Negativaussagen ihre Gegner betreffend machen, vgl. Demosth. Or. 24,104: ὥστ’ ἔμοιγε δοκεῖ (καὶ γὰρ εἰ φορτικώτερον εἶναι τὸ ῥηθησόμενον δόξει, λέξω καὶ οὐκ ἀποκρύψομαι) κατὰ τοῦτο αὐτὸ ἄξιον αὐτὸν εἶναι θανάτῳ ζημιῶσαι [...]; Aeschin. Or. 1,41: ταυτὶ δὲ λέγω οὐ τοῦ φορτικοῦ ἕνεκα, ἀλλ’ ἵνα γνωρίσητε αὐτὸν ὅστις ἐστίν; Dion von Prusa Or. 32,100 und 38,4. An vorliegender Stelle in Rh. Pr. wird damit wieder etwas empfohlen, was ansonsten unter Rednern mit grösster Vorsicht zu vermeiden gepflegt wird, nämlich der Ruf einer vulgär-unangebrachten Sprache (vgl. den Kommentar zu §21: θαυμάσια περὶ σαυτοῦ λέγε καὶ ὑπερεπαίνει καὶ ἐπαχθὴς γίγνου αὐτῷ). So legt der Autor dem Rednerlehrer eine Empfehlung in den Mund, die ihn selbst bzw. alle, die sich diese Lehre aneignen, als Person gesamthaft diskreditiert: Die Vulgarität in Sprachgebrauch und Verhalten verweist auf die folgenden Kapitel 23–25 über das entsprechende Privatleben und den schlechten Charakter des Scheinsophisten. Dass die Vermeidung des Vorwurfs des φορτικόν auch in der Zeit der Zweiten Sophistik aktuell ist, zeigt sich in der als Bescheidenheitstopos benutzten Wendung Lukians εἰ (δὲ) μὴ φορτικὸν εἰπεῖν (»wenn es nicht geschmacklos ist, [dies] zu sagen«; vgl. Alex. 20 und Pisc. 5) sowie z.B. in Li1064 Bei Platon bezeichnet das Adjektiv in einem weiter gefassten Sinn eine moralische Unterlegenheit (z.B. ist in Phdr. 256b von einer δίαιτα φορτικωτέρα, einer »niedrigeren Lebensweise« in Absetzung zum Philosophenleben die Rede; vgl. weiter Cra. 400a; Tht. 176c), mit engem Bezug zu sprachlichen Äusserungen vgl. aber Ap. 32a und Phdr. 236c. 1065 Diese Verbindung besteht auch in Rh. Pr.: Zum asianischen Hang des Rednerlehrers vgl. §19 (Gesang), zur Gesuchtheit des Vokabulars §17. 1066 Vgl. dazu bereits die Bemerkungen zu §17: ὁ ψυχρὸς Πλάτων mit Anm. 898.

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banios’ Empfehlung an Themistios, das φορτικόν zu meiden (Ep. 1477,3). Insgesamt verwendet Lukian das Adjektiv 17x, zum grössten Teil in Verbindung mit Sprache und unangemessenen Äusserungen (J. Trag. 14; Ikaromen. 1: verbunden mit dem Vorwurf des ξενίζειν; auch an vorliegender Stelle in Rh. Pr. besteht die vulgäre Sprache in einem ξένον ἔπαινον). Über das Verhältnis von vulgärem Lob und Bildung, die sich gegenseitig ausschliessen, gibt die Kritik der Bankette der Reichen und Scheingebildeten, die sich von ordinären Lobhudeleien ihrer Gäste unterhalten lassen, bzw. allgemein das Verhältnis zwischen (mächtigen) Reichen und ihren Parasiten, weiteren Aufschluss (vgl. Pisc. 34: καὶ δεῖπνα πολυάνθρωπα δειπνοῦντες καὶ ἐν αὐτοῖς τούτοις ἐπαινοῦντες φορτικῶς; Merc. Cond. 24: ἐπαινεῖς φορτικῶς; Nigr. 22: τὸ φορτικὸν ἐκεῖνο δεῖπνον; Timon 43; niemals derart verhält sich die gebildete, schöne und reiche Panthea: Im. 21; Pr. Im. 1). Vulgäres Verhalten ist ein Zeichen mangelnder Bildung und eines echten πεπαιδευμένος nicht würdig (vgl. die bereits oben unter ἐπίσημον genannte Stelle Nigr. 13, wo von einem πολύχρυσος die Rede ist, welcher als μάλ’ ἐπίσημος καὶ φορτικός charakterisiert ist; weiter Aristeides Or. 28,98).1067 ἐπιφράττεσθαι τὰ ὦτα Sowohl das Verb ἐπιφράττεσθαι als auch die vorliegende Junktur sind erst nachklassisch belegt,1068 vgl. zur Junktur Philon Leg. alleg. 2,25 (τὰ ὦτα ἐπιφράττομεν); De Cherub. 42 (ἀκοὰς ἐπιφραξάτωσαν); De sacr. Abel. et Cain. (χρὴ νεωτέρων ὦτα ἐπιφράξαντας).1069 Lukian selbst verwendet das Verb insgesamt 4x, immer in der hier vorhandenen Junktur: Vorliegender Stelle am nächsten kommt Pr. Im. 1 (vgl. bereits oben zu φορτικός). Pan1067

Auch Pollux erklärt φορτικός abgesehen von der wörtlichen Bedeutung, aufgrund derer es neben Adjektiven wie ἐπίπονον, βαρύ, ἐπαχθές eingereiht wird (3,130; 5,106), im Zusammenhang mit Symposien als einen den συμπότης (»Mitttrinker, Tafelgenossen«) charakterisierenden Begriff. Im Positiven nenne man ihn ἀστεῖος, ἐπιεικής usw., im Negativen hingegen ἄγροικος, ἀλαζών, φορτικός, ἐπαχθής (6,19; man vgl. Rh. Pr. 21: ἐπαχθὴς γίγνου). Die Belege bei Pollux bestätigen φορτικός auch als Terminus der Stilkritik: τὸ γὰρ τριπέρυσιν ἠρέμα φορτικόν (6,165); φορτικὸν γὰρ τὸ σιγηλῶς (6,209); σκληρότερον γὰρ τὸ γελωτοποιεῖν, καὶ εὐτελέστερον τὸ γελοιάζειν, καὶ φορτικώτερον τὸ γλοιάζειν (9,148). 1068 Zuerst bei Theophrast Hist. plant. 9,3,2; Nicander Al. 285 (jeweils »zustopfen, blockieren« τὴν δίοδον / πόρους). Trotzdem führt Pollux in seinem Lexikon das Verb sowie dessen übertragene Bedeutung in Bezug auf Mund oder Gehör auf (8,155: ἐπιφράττειν τὸ στόμα; τὰς ἀκοὰς [...] ἐπιφράττειν). 1069 Letztere beiden Stellen weisen zudem einen Zusammenhang mit Mysterienterminologie auf, und zwar in dem Sinn, dass nur Eingeweihte hören dürfen, die anderen sich aber die Ohren verstopfen sollen; vgl. zur Mysterienterminologie in Rh. Pr. den Kommentar zu §14: εἰ μὴ προετελέσθης κτλ. und zu §16: ἀτέλεστόν τινα καὶ κατάσκοπον τῶν ἀπορρήτων. Vor diesem Hintergrund wird die ›Lehre‹, in welche der Rednerlehrer seinen Schüler einweiht, und welche hier zum Einsatz kommt, herabgesetzt, indem sie derart anstössig ist, dass die anderen (gebildeten) Zuhörer deren Inhalte zu hören vermeiden wollen und sich daher freiwillig die Ohren verschliessen.

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thea, die von Lykinos gelobt wird, erklärt ihren skeptischen Standpunkt gegenüber Lobreden, dass sie nämlich vor übermässigem Lob am liebsten die Ohren verschlösse: Ἐν δὲ τοῖς ἐπαίνοις μάλιστα, ὅταν τις ἐπαινῇ με φορτικὰς καὶ ὑπερμέτρους ποιούμενος τὰς ὑπερβολάς, ἐρυθριῶ τε καὶ ὀλίγου δεῖν ἐπιφράττομαι τὰ ὦτα. Sie zeigt also dieselbe Reaktion wie die (gebildeten) Hörer an vorliegender Stelle in Rh. Pr.1070 Inhaltliche Parallelen weist auch Tim. 9 auf, wo Zeus beschreibt, wie ihm nichts anderes übrig bleibt, als sich vor dem lauten Geschrei und Geschwätz der Philosophen die Ohren zu verstopfen: [...] ἐπιβυσάμενον χρὴ τὰ ὦτα καθῆσθαι. ἐπισείσῃς δὲ μὴ πολλάκις τὴν χεῖρα [...] μηδὲ ἀναστῇς Zur Bedeutung von Händeschütteln und Aufspringen während eines Vortrags vgl. den Kommentar zu §21: πηδάτωσαν [...] ἀποτινέτωσαν und χεῖρα ὀρέγοντες. ὑπομειδία δὲ τὰ πολλὰ Das Verb ὑπομειδιᾶν mit der Bedeutung »ein wenig/sanft lächeln« ist erst nachklassisch belegt;1071 Lukian verwendet es insgesamt 5x, neben vorliegender Stelle auch in Rh. Pr. 12 über die hetärenhafte Erscheinung des Rednerlehrers: ὑπομειδιάσας τὸ γλαφυρὸν ἐκεῖνο καὶ ἁπαλὸν οἷον εἴωθεν. Während dort durch das Verb das Bild des Effeminierten unterstützt wird, da der Lehrer sanft (ἁπαλός) lächelt, dient es hier der Charakterisierung eines überheblichen Zuhörers, der so Distanz zum und Verunsicherung beim Redner schafft.1072 Zur Hauptbedeutung von Lächeln oder Lachen als Teil der Mimik des Publikums sophistischer Vorträge vgl. Korenjak ([2000] 85): »In einer Kul1070

Die Junktur verwendet Lukian noch in Im. 14: καὶ ἢν κηρῷ ἐπιφράξῃ τὰ ὦτα (mit Anspielung auf Od. 12,154–200, wo Odysseus seine Gefährten zum Schutz vor den Sirenen sich die Ohren mit Wachs verstopfen lässt) und Dial. Deor. 9,2: ἐγὼ [...] ἐπιφραξαμένη τὰ ὦτα (Hera verschliesst vor Ixions Gejammer und Bitten die Ohren). 1071 Vgl. Ariston fr. 14,2 (Wehrli, Schule des Aristoteles, vol. 6, p. 37) und Polybios 18,7,6. Dennoch verzeichnet es Pollux 6,199 in einer Reihe von Ausdrücken des Lachens: γελᾶν, μειδιᾶν, ὑπομειδιᾶν, ἐπιμειδιᾶν [...]. 1072 Allerdings zeigen die Belege (insbes. bei Philon), dass das Verb durchaus »lachen« ohne weiteren (negativen) Nebensinn bedeuten kann (De Abr. 151; vgl. auch Plut. Dion 20,3; mor. 583d: ὁ δ’ ἀδελφὸς ὑπομειδιῶν ὥσπερ εἰώθει πρὸς ἐμέ [...] ἔφη [»mein Bruder, der mich in seiner gewohnten Art anlächelte, sagte«] – die Stelle klingt an die Formulierung in Rh. Pr. 12 an) und dass es im Rahmen öffentlicher Auftritte – hier eine Mimenvorstellung – auch gerade in positivem Sinn die zurückhaltendere Lachart des sich gesetzt und angemessen Verhaltenden bezeichnen kann (Leg. ad Gaium 42: [...] ἐπὶ μίμοις αἰσχρῶν καὶ σκωμμάτων μὴ ὑπομειδιῶντα σεμνότερον ἀλλὰ μειρακιωδέστερον καγχάζοντα [...]). Etwas näher an den hier vorhandenen Kontext des Überlegenheit signalisierenden Lächelns kommt die Verwendung des Verbs zur Einleitung einer Aussage, die einen Witz oder eine treffende bzw. herausfordernde Bemerkung enthält, vgl. Plut. mor. 664b: ἔφη τις ὑπομειδιάσας und 775c: ὁ Σώκλαρος ὑπομειδιῶν [...] ἔφη; vgl. genauso Luk. Philopseud. 8: Ὁ δ’ οὖν Κλεόδημος ὑπομειδιῶν ἅμα [...] ἔφη.

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5. Kommentar (§§18–22)

tur, in der die wirkungsvolle Präsentation der eigenen Person eine so zentrale Rolle spielt wie in der antiken, stellt die Möglichkeit, sich lächerlich zu machen, für das einzelne Individuum eine ständige Bedrohung dar.« Ist also der Redner mit einem Zuhörer konfrontiert, der ständig ein leises Lächeln auf den Lippen hat, kann ihn dies im Sinn der implizierten Lächerlichkeit seiner Darbietung verunsichern. Die Angst, ausgelacht zu werden und zu scheitern, widerspiegelt sich z.B. bei Aristeid. Or. 43,1 (ein Gebet an Zeus): τῷ τε λόγῳ ἐπάρκεσον καὶ παράπεμψον [...] ὡς μὴ τελέως καταγέλαστοι γενώμεθα μηδὲ ἀπὸ τοῦ παντὸς πέσωμεν.1073 Vor allem richtig lautes Lachen während einer Rede (meist ist dann wie hier bei Aristeides von καταγελᾶν die Rede) bedeutet ganz klar das Auslachen des Redners (so Korenjak [2000] 86 mit Verweis auf Dion Or. 32,22; Aristeid. Or. 34,47; vgl. auch Rh. Pr. 22 oben: ἁπάντων καταγέλα τῶν λεγόντων). Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass bei Lukian ein leises Lächeln manchmal auch im Sinn moderater Zustimmung erscheint (vgl. Bis Acc. 28: μειδίαμα δὲ παρὰ τῶν ἀκουόντων καὶ τὸ ἐπισεῖσαι τῆν χεῖρα ἐντὸς τῶν ὅρων). ἀμφιλαφεῖς δὲ αἱ ἀφορμαὶ τῶν μέμψεων Das Adjektiv ἀμφιλαφής ist bereits klassisch sowohl in Prosa und Poesie belegt; es bedeutet »weitausgreifend« (von grossen, laubreichen Bäumen: vgl. Hdt. 4,172 und Plat. Phdr. 230b) und allgemein »umfangreich, zahlreich« (vgl. Pindar O. 9,82: ἀμφιλαφὴς δύναμις; Aischylos fr. 146a Radt: ἀμφιλαφῆ πήματα; Ag. 1014f.: δόσις ἐκ Διὸς ἀμφιλαφής; Hdt. 3,114: ἐλέφαντας ἀμφιλαφέας; 4,28: βρονταὶ ἀμφιλαφέες; 4,50: χιὼν ἀμφιλαφής).1074 Der einzige weitere Beleg des Adjektivs ἀμφιλαφής bei Lukian steht in vorliegender Stelle ähnlichem Kontext (Apol. 8; Lukian erklärt in Gerichtsterminologie über seinen eigenen ›Fall‹): Ταῦτα μὲν καὶ τὰ τοιαῦτα πολλὰ ἕτερα εἴποι τις ἂν οἷος σὺ κατηγορῶν ἐν οὕτως ἀμφιλαφεῖ τῇ ὑποθέσει καὶ μυρίας τὰς ἀφορμὰς παρεχομένῃ.1075 Pollux erwähnt das Adjektiv nur in der seit Herodot und Platon (s.o.) belegten Bedeutung »weit ausgreifend bzw. blatt- oder laubreich« von Bäu1073

»Hilf meiner Rede und gib ihr Geleit [...], so dass ich mich nicht völlig lächerlich mache und nicht gänzlich versage.« 1074 Vgl. LSJ s.v.: taking in on all sides, wide-spreading of large trees; 3. generally abundant, enormous. Interessant ist Plut. mor. 724d, wo die erste Bedeutung – ein Baum mit reichem Laub – mit der generellen vermischt auftritt: ἡμεῖς δ’ ἑπόμενοι Σώσπιδι (καλῶς γὰρ ὑφηγεῖται) πάλιν ἐχώμεθα τοῦ φοίνικος ἀμφιλαφεῖς τῷ λόγῳ λαβὰς διδόντος. (»Wir aber wollen, Sospis folgend [denn er führt uns gut], uns wieder an den Palmbaum halten, der dem Gespräch umfangreichen Halt gibt.«) 1075 »Dies und viel anderes von solcher Art könnte wohl ein Ankläger wie du sagen in einem derart umfangreichen Gerichtsfall, der unzählige Angriffspunkte bietet.«

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men, Hainen, Gegenden allgemein (1,299: ἄλση; 1,236: δένδρον; 1,239: χωρίον; 5,66: ἶδαι). Vgl. zur Bedeutung und Verbreitung des Substantivs ἀφορμή den Kommentar zu §18: τινας ὑποθέσεις καὶ ἀφορμὰς τῶν λόγων. Vgl. zu inhaltlich ähnlichen Junkturen Cal. 14: τῆς διαβολῆς τὰς ἀφορμάς (»Ausgangspunkte für Verleumdung«) und J. Trag. 30 (Zeus zu Apollon, der von Momos angegriffen worden ist): μὴ παράσχῃς τῷ συκοφάντῃ τούτῳ ἀφορμὰς διαβάλλειν καὶ χλευάζειν τὰ σὰ [...].1076 τοῖς συκοφαντικοῖς τὰ ὦτα Das Substantiv συκοφάντης, dessen Etymologie zwar durchsichtig ist als Ableitung zu τὸ σῦκον und φαίνειν (»Feigenanzeiger«), dessen inhaltliche Erklärung allerdings schon seit der Antike verschieden ausfällt und bisher unklar bleibt,1077 bezeichnet einen Ankläger vor Gericht, welcher aus finanziellen Motiven agiert, d.h. um bei erfolgreichem Prozessverlauf die über den Angeklagten verhängte Geldstrafe einzustreichen. Sein Auftreten hängt mit dem System des athenischen Gerichtswesens zusammen, in dem es keinen öffentlichen Ankläger gab.1078 Die ersten Belege sind einerseits in der Alten Komödie zu finden, wo der Sykophant, obwohl seine Anklagen nicht per se falsch sein müssen, als geldgierig und erpresserisch dargestellt ist. 1079 Andererseits kann in den klassischen Gerichtsreden jeder zu diskreditierende Gegner als Sykophant bezeichnet werden; in dieser negativen Darstellung kommen Sykophanten denn auch Kriminellen gleich.1080 Wenn der Rednerlehrer nun sich selbst und diejenigen, die wie er agieren, als Sykophanten bezeichnet – durch den Akkusativus respectus wird die Sykophantie zwar spezifisch den Ohren des Sophisten angelastet, was aber die Sache nur geringfügig entschärft: Wer will und den entsprechenden Charakter hat, hört in jeder Rede Dinge, die (fäschlich) kritisiert werden können –, diskreditiert er sich selbst,1081 indem er zugibt, dass Redner wie er keine gefeierten Starsophisten sind, sondern Störefriede, deren Handlungen 1076 »Biete diesem Sykophanten keine Angriffspunkte, deine Domäne [gemeint ist die Prophetie] zu verleumden und zu verspotten [...].« 1077 Siehe zu den Erkärungsansätzen Frisk [1970] s.v. συκοφάντης und Chantraine [1968] s.v. σῦκον sowie RE II.4 s.v. Συκοφάντης, Sp. 1028f. (derjenige, welcher andere wegen verbotener Ausfuhr von Feigen denunziert / derjenige, welcher wegen einer Sache von geringem Wert Anzeige erstattet u.a.). 1078 Vgl. DNP 11 s.v. Sykophantes, Sp. 1126–1128. 1079 Vgl. z.B. Ar. Ach. 519, 559, 725, 818–829 (mit dem Kommentar von Sommerstein [1980] 181); Pl. 850–958; Av. 1410–1469. 1080 Vgl. z.B. Demosth. Or. 20,62; 21,103; 57,34; Aeschin. Or. 2,5 und 145; Isoc. Or. 15,313; 18,3. Vgl. zum gegenseitigen Vorwurf der Betrügerei und Bestechung unter den Rednern auch die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §25 (am Ende). 1081 Dies geschieht in §22 mehrfach, vgl. bereits den Kommentar zu: οὐχ ἑαυτοῦ; ἐνοχλήσοντα; ἐπὶ τῷ φορτικῷ τῶν ὀνομάτων.

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5. Kommentar (§§18–22)

gar als kriminell gelten können: Der Kontrast zur Ruhmesvision des Schülers zu Beginn von Rh. Pr. – die auch ihrerseits ironisch eingefärbt ist – könnte grösser nicht sein (vgl. §1: τὸ σεμνότατον τοῦτο καὶ πάντιμον ὄνομα σοφιστὴς; ὡς ἄμαχον εἶναι καὶ ἀνυπόστατον καὶ θαυμάζεσθαι πρὸς ἁπάντων καὶ ἀποβλέπεσθαι). ἡ τόλμα γὰρ καὶ ἡ ἀναισχυντία καὶ τὸ ψεῦσμα πρόχειρον Ein weiteres Mal betont der Rednerlehrer die Wichtigkeit der in §15 geforderten Charakterzüge, auf denen fast der gesamte berühmt-berüchtigte Status des Scheinsophisten basiert; vgl. dazu allgemein S. 70, sowie den Kommentar zu §15: κόμιζε; τὴν ἀμαθίαν; θράσος ἐπὶ τούτῳ καὶ τόλμαν καὶ ἀναισχυντίαν. Vgl. weiter §17: ἂν σολοικίσῃς δὲ ἢ βαρβαρίσῃς, ἓν ἔστω φάρμακον ἡ ἀναισχυντία, καὶ πρόχειρον εὐθὺς ὄνομα οὔτε ὄντος τινὸς οὔτε γενομένου ποτέ, [...]; §16: Ἀττικὰ ὀνόματα ἐκλέξας [...] πρόχειρα ἐπ’ ἄκρας τῆς γλώττης ἔχε sowie später §23: πλείων ἡ ἀναισχυντία καὶ θράσος und §24: τὸ θράσος, ἡ ἀμαθία, ἡ ἀναισχυντία. Gegenüber den vorangegangenen Stellen, wo Unbildung (ἀμαθία) eine prominente Rolle spielt, wird hier als drittes Element die Lüge (φεῦσμα) stärker betont, welche im Abschnitt über das Privatleben des Scheinsophisten ausführlicher zur Sprache kommen wird (vgl. §23). ὅρκος [...] διαβολαὶ πιθαναί ὅρκος und διαβολή (verbal: διαβάλλειν) sind termini technici der rhetorischen Theorie. ὅρκοι, »Eide«, werden bei Aristoteles (Rh. 1,15) in den engeren Kontext der Gerichtsrede eingeordnet, und zwar neben νόμοι, μάρτυρες, συνθῆκαι und βάσανοι als fünftes der so genannt »untechnischen Beweismittel« (ἄτεχνοι πίστεις). διαβολή bezeichnet die herabsetzende Verleumdung eines Gegners vor dem gemeinsamen Publikum mit dem Ziel, das eigene Ansehen zu stärken. Sie erscheint in den Quellen als Möglichkeit gerade zur Kompensation mangelnder eigener Redefähigkeiten bzw. in der Gerichtsrede bei mangelnden Beweisen.1082 Vgl. zu (falschen) Schwüren,Verleumdungen und Lügen auch die Ausführungen des Rednerlehrers in Rh. Pr. 23 (mit dem Kommentar zu: ἐπιορκεῖν und ψεύδεσθαι). Der Ratgeber seinerseits vollzieht eine διαβολή an dem von ihm kritisierten Lehrer des langen Weges, indem er ihm beispielsweise Geldgier (§9 Ende) und Betrug (§10 Ende) vorwirft (vgl. auch schon §3).

1082

Vgl. dazu bereits im 5. Jh. Thuk. 3,42,2 und Andokides Or. 2,3 sowie die Ausführungen von Gondos [1996] 15–23; vgl. weiter Aristoteles Rh. 3,15 und Anaximenes 29,10–28. Siehe auch die rhetorische Analyse von Rh. Pr. in der Einleitung 1.1.2.

§23: praecepta zum Privatleben eines Sophisten

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Die Glaubwürdigkeit Scheingebildeter thematisiert Lukian z.B. auch in Pisc. 37, wo die Scheinphilosophen, die dem geübten Auge des Parrhesiades nicht entgehen, als unglaubwürdige Schauspieler gebrandmarkt werden: ἀλλὰ ἤνεγκα ἄν, εἰ πιθανοὶ γοῦν ἦσαν καὶ ἐπὶ τῆς ὑποκρίσεως αὐτῆς.1083

§§23–25: Hinweise zur Gestaltung und Illustration des Privatlebens eines Sophisten Die folgenden Kapitel beinhalten einerseits die praecepta hinsichtlich des Privatlebens (§23) – parallel zur vorangegangenen Belehrung über die öffentliche Arbeit des Sophisten, welche zu Beginn von §23 in der Formulierung τὰ φανερὰ καὶ τὰ ἔξω aufgegriffen ist – andererseits den Lebenslauf (βίος) des Rednerlehrers selbst, welcher der vorbildhaften Illustration dient (§§24–25).1084 Die gesamte Darstellung besteht auffälligerweise darin, dass der Rednerlehrer seinem Schüler das empfiehlt bzw. über sich und seinen eigenen Werdegang das berichtet, was üblicherweise zur Herabsetzung eines Gegners herangezogen wird, nämlich eine durch und durch amoralische Lebensweise.1085 Es werden also Motive, die ihrer Herkunft nach zur Gattung der Invektive (ψόγος) – und damit in einen traditionell negativ konnotierten Bereich – gehören und topisch sind, für die vermeintlich positiven Empfehlungen an den Schüler herangezogen. 1086 In dieser Vorgehensweise liegt eine Parallele zu den immer wieder begangenen Konventionsbrüchen in der Abhandlung von Ausbildung und Auftritt (Kürze des Lehrgangs; Ablehnung traditioneller Bildungsinhalte und damit der μίμησις der alten Klassiker; unkonventionelle charakterliche Voraussetzungen; Ablehnung 1083

»Ich hätte es noch ertragen können, wenn sie wenigstens glaubwürdig wären in ihrer Rolle.« Zur Tatsache, dass dieser βίος nur scheinbar ein Vorbild ist, in Wahrheit aber einem Schauredner keinen Erfolg bringen dürfte, vgl. die einleitenden Bemerkungen zu §25. 1085 Eine solche Herabsetzung des Gegners wird in der rhetorischen Theorie generell als διαβολή bezeichnet, vgl. dazu die Einleitung 1.1.2, bes. die Bemerkungen zu Rh. Pr. 1–4. 1086 Vgl. die Einleitung zum Pamphlet Pseudologista (§1), wo Lukian sich in einer längeren Passage ausdrücklich in die Tradition des Archilochos stellt, der sich mit seinen ἴαμβοι kompromisslos gegen Angreifer wehrte, eine Methode, die nun auch gegen denjenigen angewandt werden soll, der den Autor einen Barbaren in Bezug auf die Sprache (βάρβαρον τὴν φωνήν) genannt hat. Da gerade die ἰαμβικὴ ἰδέα mit ihren Angriffen ad personam das entscheidende Charakteristikum der Invektive (ψόγος) ist (vgl. Arist. Po. 1448b24–33 und 1449b6–8 sowie Koster [1980] 7–11), verweist Lukian also durch seine Anlehnung an Archilochos auf diese literarische Form. Auch andere literarische Formen können Trägerform der ἰαμβικὴ ἰδέα werden; an dieser Stelle ist v.a. die Alte Komödie zu nennen (vgl. Koster [1980] 22 und 72–76), die für Rh. Pr., wo mit dem Auftritt des Rednerlehrers eine Art Theater inszeniert wird, von Bedeutung ist (vgl. dazu den einleitenden Kommentar zu §§9–10 und §12), daneben auch die Werke der klassischen Redner wie z.B. Demosthenes oder Aischines (vgl. Koster [1980] 76–90). 1084

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5. Kommentar (§§23–25)

der traditionellen Auffassung der officia oratoris, v.a. λέξις, τάξις, εὕρεσις). Beide Bereiche, Öffentliches und Privates, werden insgesamt aus gänzlich untraditioneller, ja provozierender Warte aus betrachtet, die gleichzeitig durch Ironisierung das Traditionelle als Kontrast einfliessen lässt.1087 In Bezug auf Ausbildung und Auftritt der Sophisten können neben der hier vorliegenden karikierenden Darstellung punktuell immer wieder Schriften eines gegenteiligen Inhalts herangezogen werden (Lexiphanes, vgl. v.a. die Anmerkungen zu §§16–22; Soloecista, vgl. v.a. die Einleitung 2.2), die das traditionelle, und damit den Rezipierenden näher liegende Gegenbild enthalten. Im Bereich des Privatlebens von Sophisten und allgemein von Gebildeten (πεπαιδευμένοι) gestaltet sich die Situation ähnlich: Drei Schriften sind vorrangig zu nennen, die zwar denselben Inhalt, aber in absolut negativem Kontext transportieren: Pseudologista ist eine bissige Abrechnung mit einem Scheinsophisten, die dem βίος ihres Angriffszieles besonders viel Raum widmet und uns dieselben Motive herabsetzend vorführt, die der Rednerlehrer in Rh. Pr. als erstrebenswert predigt. Da Pseudologista, wie zweitens auch Adversus Indoctum, klar der Gattung der Invektive angehört und daher griffige, effektive Mittel der Diskreditierung verwenden muss, verdeutlicht sich uns das zur Zeit von Lukian traditionellerweise zur Herabsetzung ungebildeter Zeitgenossen herangezogene (topische) Material; die wichtigsten Parallelstellen werden im folgenden Lemmakommentar angeführt. Auch Lukians Pamphlet Peregrinos stellt einen wichtigen Paralleltext dar, wobei sexuelle Eskapaden und allgemein eine schlechte Lebensführung eine Rolle spielen, vor allem aber das Motiv des Vatermordes und der Erbschleicherei zentral ist (vgl. Rh. Pr. 24). Adversus Indoctum behandelt nebst der Herabsetzung des Ungebildeten auch das positive Gegenbild der Lebensweise eines echten Gebildeten, dessen Bildung ihm Richtlinien für angemessenes Handeln vermittelt (v.a. Adv. Ind. 16– 17).1088 Durch den auf das Privatleben konzentrierten Abschluss erörtert und verspottet die Schrift Rh. Pr. nicht nur Lehre sondern auch Leben der Scheinsophisten und stellt damit dieselbe Einheit der beiden Bereiche her, wie sie in Lukians Philosophenspott vorhanden ist.1089 Dass die verwerfliche Lebensweise an das Ende des Textes gesetzt ist und im Sinne einer peroratio die Rede des Lehrers beschliesst, steigert die Effizienz der Ironisierung bzw. Verspottung dieser Figur: Die Obszönität der Darstellung v.a. in §23 1087

Vgl. zur Ironisierung aufgrund der zahlreichen Konventionsbrüche die Einleitung 1.6, S.

64f.

1088 1089

Vgl. dazu bereits die Einleitung 2.2, S. 102f. Vgl. dazu die Einleitung 3.

§23: praecepta zum Privatleben eines Sophisten

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ruft nämlich noch viel stärker als die vorangegangene theoretische Lehre Widerwillen und Abscheu der Rezipierenden hervor und lässt sie peinlich berührt zurück, wobei kein Zweifel an der Einstufung der präsentierten Art von Rhetorik als zwar Aufsehen erregendes, aber verwerfliches Phänomen besteht. §23 Das Kapitel fokussiert auf die sexuellen Eskapaden des Scheinsophisten, einerseits auf seine Rolle als Frauenheld, andererseits vor allem auf diejenige als passiver Partner in homosexuellen Beziehungen. Dabei erfolgt ein Bruch mit der Konvention sowohl des griechischen wie auch des römischen Bereichs: Die griechische Lebenswelt des 5. Jhs. v.Chr., durch die Vorstellung eines jüngeren und eines älteren Partners aufgerufen, wird pervertiert, indem das klassische Verhältnis von aktivem Liebhaber (ἐραστής) und passivem Geliebten (ἐρώμενος) umgedreht wird. Noch skandalöser ist das Benehmen des Sophisten vor dem Hintergrund der römischen Gesellschaft, welche homosexuelle Beziehungen zwischen freien Bürgern generell ächtete (s.u. zu: γενειήτης [...] φαλακρὸς). Die Darstellung des Sexualverhaltens kumuliert in einer Aufzählung der Tätigkeiten der Zunge des Sophisten, wobei das rhetorische Sprechen nach und nach in sexuelle Akte überführt wird: Ausgehend von stilistischen und inhaltlichen Merkmalen der Rede des Scheinsophisten (σολοικίζειν, βαρβαρίζειν, ληρεῖν, ἐπιορκεῖν, λοιδορεῖσθαι, διαβάλλειν, ψεύδεσθαι) erfolgt der Übergang zu seinen nächtlichen Tätigkeiten, zur ›obszönen‹ Rhetorik, die den krönenden Abschluss der Passage bildet. Insgesamt liegt eine klimaktisch gesteigerte Karikatur dreier konventioneller Ansprüche an Rhetorik vor: Die Sprachrichtigkeit im attizistischen Sinn weicht Solözismen und Barbarismen, die inhaltliche Qualität besteht nur noch aus einem einzigen lügnerischen, verleumderischen Geplapper, der praktische Nutzen der τέχνη konzentriert sich auf den erfolgreichen Vollzug verpönter sexueller Praktiken.1090 Die Rezeptionswirkung der Schrift wird damit zum Ende hin immer stärker auf das Erzeugen von Ekel und Abscheu verdichtet, wobei in diesem Kontext Lachen und Humor als Mittel dienen, sich vom Abscheulichen zu distanzieren und zu befreien.

1090 Vgl. Robinson [1979] 35 zur inhaltlich parallelen Stelle in Pseudol. 25, wo die Attacke auf den Verspotteten durch dessen personifizierte Zunge erfolgt: »This allows him [sc. dem Autor] to couple the charges of professional (i.e. linguistic) incompetence and moral degeneracy (fellatio) within the activity of the one organ, symbolizing its owner.« Siehe auch den folgenden Kommentar zu: ἐπιορκεῖν und νύκτωρ τι ἄλλο ὑποτελεῖν.

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5. Kommentar (§§23–25)

πάντα πράγματα ποιεῖν Obwohl in der Formulierung vage, betont die dreifache π-Alliteration schon vorab das, was der Rednerlehrer gleich als private Tätigkeiten nennen wird. Dieser Beginn wird am Ende des Kapitels zweimal aufgenommen, wobei im Verlauf des Textes πάντα eine eindeutig obszöne Bedeutung annimmt: τὸ στόμα πρὸς ἅπαντα ὁμοίως κεχηνέτω / πάντα αὐτή [sc. ἡ γλῶττα] γε ἐπιστάσθω. κυβεύειν μεθύσκεσθαι λαγνεύειν μοιχεύειν, ἢ αὐχεῖν γε, κἂν μὴ ποιῇς Die asyndetische Reihung (in der Rhetoriktheorie als »Anhäufung«, συναθροισμός/congeries, bezeichnet1091) bildet die Fülle der oben genannten πράγματα stilistisch ab. Als erste allgemeine Regel formuliert der Rednerlehrer, dass der Schüler sich den Ruf des Spielens, Saufens, Hurens und Ehebrechens zulegen solle – wobei es ihm freisteht, ob er diese Dinge tatsächlich tut oder bloss Gerüchte darüber verbreitet. Erst in der Passage über die Depilation liegt wieder eine Anweisung vor, die eindeutig in die Tat umzusetzen ist (s.u.: καὶ μὴν καὶ πιττοῦσθαι χρή). Sogar im Bereich keinerlei Bildung erfordernder Tätigkeiten treffen wir also auf das Konzept von ›mehr Schein als Sein‹, welches der Lehrer bereits bei der Behandlung der optimalen Rede verfolgt hat (Wortschatz §§16–17; Showeffekte §§19–20; Vernachlässigbarkeit des Inhalts §18), da es die einzige Möglichkeit bietet, ohne entsprechende Bildung eine μελέτη halten zu können. Der einschränkende Einschub des Rednerlehrers (κἂν μὴ ποιῇς) kann auch didaktisch in dem Sinn gedeutet werden, dass er damit die Einführung des Invektivischen, also derjenigen Verhaltensweisen, von denen man sich konventionellerweise weit distanziert, gegenüber seinem Schüler etwas abzumildern versucht. Da es aber absurd erscheint, einem schlechten Ruf nachzueifern, auch wenn man überhaupt kein schlechtes Leben führt, steigert der Einwurf gleichzeitig auch die humoristische Wirkung auf die Rezipierenden. Die vier genannten Tätigkeiten bilden eine klimaktische Reihe, deren Inhalt immer weiter ins Negative gesteigert wird: Sowohl Würfelspiel und Weingenuss als auch (häufiger) sexueller Verkehr müssen im Gegensatz zum folgenden Ehebruch nicht per se negativ sein,1092 wer diesen Beschäfti-

1091

Vgl. Quint. Inst. 8,4,27 und Longin 23,1. Würfelspiel und Weingenuss gehören durchaus in den Alltag der Griechen und Römer, vgl. z.B. Plut. Alexander 76,2 und Artaxerxes 17,3–5 (Würfelspiel). Da vor allem um Geld gespielt worden ist, was die Verlierer in den Ruin treiben konnte, ist das Spielen von den römischen Behörden zu unterbinden versucht worden, vgl. Hor. ep. 1,18,21 und carm. 3,24,58; Ov. trist. 2,471f.; Plaut. Mil. 164; Dig. 11,5,2 sowie allgemein DNP 12.2 s.v. Würfelspiel(e), Sp. 578. 1092

§23: praecepta zum Privatleben eines Sophisten

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gungen allerdings im Übermass nachgeht bzw. zu offen darüber spricht oder damit prahlt, bietet seinen Gegnern eine Angriffsfläche. Das Verb κυβεύειν (»spielen mit Würfeln, κύβοι«) hat seine frühesten Belege bei den klassischen Komikern und Tragikern. Wenn auch eine neutrale Konnotation durchaus vorkommt,1093 so dürften hier diejenigen Belege als Kontrastfolie von Bedeutung sein, welche jemanden als Würfelspieler verspotten oder kritisieren und ihm etwas Lasterhaftes oder Leichtfertiges zuschreiben, vgl. Euripides Rhesos 446; Kratinos PCG 4, fr. 208; Eupolis PCG 5, fr. 99 (ὦ πανοῦργε καὶ κυβευτὰ σύ).1094 Interessant ist Aischines’ Rede gegen Timarchos, welche die Abscheulichkeit der (früheren) Lebensführung desselben nachweisen soll, was unter anderem durch die Darstellung seines Umgangs mit Spielern illustriert und durch Hinweise auf die abartige sexuelle Beziehung zu diesen Spielerkollegen untermauert wird (vgl. §§53–68 und §§75–76), genau wie Würfelspiel und sexueller Verkehr mit Männern auch in vorliegender Stelle kombiniert auftreten (vgl. unten: [...] εἰ καὶ πρὸς ἀνδρῶν ἐπὶ τῷ ἑτέρῳ ἐρᾶσθαι δοκοίης). Das Verb μεθύσκεσθαι verwendet Lukian noch in Nigr. 25 und Fug. 19 zur Kritisierung des liederlichen Lebenswandels der Scheinphilosophen sowie in Sat. 22 und 26 im Spott über die Reichen (οἱ πλούσιοι). Fug. 19 kontrastiert die Empfehlungen des vorliegenden Textes in weiteren Punkten, da den Scheinphilosophen neben Trunkenheit auch Ehebruch und Hurerei angelastet werden: ἃ μὲν γὰρ ἐν τοῖς συμποσίοις δρῶσιν καὶ ἃ μεθύσκονται, μακρὸν ἂν εἴη λέγειν. καὶ ταῦτα ποιοῦσιν πῶς οἴει κατηγοροῦντες αὐτοὶ μέθης καὶ μοιχείας καὶ λαγνείας καὶ φιλαργυρίας.1095 Das Verb λαγνεύειν ist bei Lukian nur an vorliegender Stelle belegt, das Substantiv λαγνεία einmal in Fug. 19 (s.o.). Grundsätzlich bedeutet es »sexuellen Verkehr haben; potent sein« und findet sich häufig in medizinischen Schriften (z.B. Hp. De semine 1; De natura pueri 21,5; Gal. De semine vol. 4, p. 588), dann aber auch mit deutlich negativem Einschlag »wollüstig, geil sein«, wie in vorliegender Stelle impliziert (vgl. Plut. mor. 136d: Wer gut lebt, vermeidet es, in seiner Freizeit ebensolchen schlechten Gelüs1093

Vgl. Plat. R. 374c. Vgl. auch Isoc. Or. 15,287; Lys. Or. 16,11 (in Kombination mit Trinken); mit besonderer Betonung der Verarmung durch übermässiges Spielen Lys. Or. 14,27; Xen. Hell. 6,3,16. Generell mit negativer Konnotation Xen. Mem. 1,2,57 (τοὺς δὲ κυβεύοντας ἤ τι ἄλλο πονηρὸν καὶ ἐπιζήμιον ποιοῦντας); Dion von Prusa Or. 20,3 (πίνοντα ἢ κυβεύοντα ἢ ἄλλο τι τῶν βλαβερῶν καὶ ἀσυμφόρων πράττοντα). Lukian selbst verwendet das Verb im Zusammenhang mit den Tätigkeiten am Saturnalienfest – daher positiv konnotiert – noch in Sat. 2 und 4. 1095 »Was sie an den Symposien tun und wie betrunken sie werden, das wäre eine lange Geschichte. Und während sie dies tun – wie sehr, glaubst du, verurteilen gerade sie Trunkenheit, Ehebruch, Hurerei und Geldgier.« Vgl. Dion von Prusa Or. 70,10 (ein Philosoph gibt sich gerade nicht der Trunkenheit hin); Plut. Alcibiades 36,2 (Trunkenheit und lasterhafte Lebensweise werden von Gegnern zu Alkibiades’ Diskreditierung herangezogen). 1094

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5. Kommentar (§§23–25)

ten wie μεθύειν oder λαγνεύειν nachzugeben; vgl. weiter Pollux 6,188: ὁ δ’ ἐπ’ ἀφροδισίοις μαινόμενος λάγνης ἂν καὶ λάγνος ῥηθείη, λαγνίστατος, λαγνεύων, [...]1096). μοιχεύειν ist ein seit klassischer Zeit häufig belegtes Verb und gehört wiederum auch in den Komikerwortschatz.1097 So ist für die vorliegende Stelle Ar. Nu. 1076 von Bedeutung, wo der ἥττων λόγος seinem Schüler Pheidippides versichert, er werde ihm beibringen, solche Verfehlungen wie Ehebruch durch eine entsprechende Art der Rede geradezubiegen bzw. zu vertuschen.1098 Lukian selbst benutzt das Verb insgesamt 21x, wobei neben wiederholten Verweisen auf Ehebruch von Göttern und Göttinnen (Gall. 3; Sacr. 7; Menipp. 3; Dial. Deor. 2,1) einmal mehr (Schein-)Philosophen wegen dieses Vergehens an den Pranger gestellt werden (Symp. 32; Fug. 18; Peregr. 9), sowie auch die neue ›Moderhetorik‹ in Bis Acc. 31, was eine Parallele zu vorliegender Stelle schafft, da ja der Rednerlehrer in deren Fussstapfen tritt. Sexuelle Verfehlungen sind ein typisches Element der Invektive und zur Verunglimpfung des Gegners verbreitet,1099 bei Lukian im Rahmen eines kurzen ›Lebenslaufes‹ gepaart mit weiteren invektivischen Elementen z.B. in J. Trag. 52 (vgl. Rh. Pr. 24 und auch Peregr. 9). Dadurch, dass die genannten Tätigkeiten allesamt entweder in Wirklichkeit ausgeführt werden oder aber durch die überzeugende Rhetorik des Scheinsophisten (αὐχεῖν) bloss in der Imagination der Mitmenschen existieren können, werden Wort und Tat gleichgesetzt, die Rhetorik letztlich mit dem Leben untrennbar in Verbindung gebracht (s. dazu auch unten: εἰς τὴν ῥητορικὴν [...] ἀνοίσουσιν). γραμματεῖα [...] ὑπὸ γυναικῶν Die (selbstverständlich fälschbaren) Frauenbriefe als Beweise der sexuellen Aktivitäten des Sophisten gehören in eine ähnliche betrügerische Kategorie wie die Nennung inexistenter Autoritäten für Vokabularverwendungen (vgl. 1096 »Derjenige, der versessen ist auf sexuellen Verkehr, wird λάγνης oder λάγνος genannt, [weiter] λαγνίστατος und λαγνεύων [...].« 1097 Vgl. vorher κυβεύειεν sowie unten τὸ δεῖνα; φαλακρός; λαλίστεραι. 1098 Zu Aristophanes’ Wolken als Subtext vgl. bereits die Einleitung 1.8 und die einleitenden Bemerkungen zu §§9–10. Das Verb findet sich weiter in Pax 980; Aves 558 und 793. 1099 Vgl. dazu Koster [1980] 282–284 und 363. Als Beispiel sei Catulls carmen 57 gegen Caesar und Mamurra genannt, das beide gleich zu Beginn mit dem Etikett des improbus cinaedus und pathicus versieht, was wie eine Krankheit an ihnen haftet (morbosi). Daneben sind sie aber auch voraces adulteri und rivales bzw. socii puellularum, verkörpern also gleichzeitig die übelste Art von Schürzenjägern, die sogar vor verheirateten Frauen nicht Halt machen und so in ihren Gelüsten absolut zügellos erscheinen (vgl. dazu Williams [1999] 207: »[...] their disease is an unmanly submission to their own uncontrolled desires« sowie allgemein über Männlichkeit und Selbstkontrolle ders. 138–142). Zum gleichzeitigen aktiven und passiven Sexualverhalten eines Kinäden s.u. den Kommentar zu: γενειήτης [...] φαλακρὸς.

§23: praecepta zum Privatleben eines Sophisten

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§17: πρόχειρον εὐθὺς ὄνομα οὔτε ὄντος τινὸς οὔτε γενομένου ποτέ, ἢ ποιητοῦ ἢ συγγραφέως, ὃς οὕτω λέγειν ἐδοκίμαζε) oder das eigenhändige Schmücken der Haustüre mit Palmzweigen, um sich den Anschein eines erfolgreichen Gerichtsanwaltes zu geben (vgl. §25: [...] οἱ φοίνικες δὲ ἐπὶ τῇ θύρᾳ χλωροὶ καὶ ἐστεφανωμένοι· τούτοις γὰρ ἐπὶ τοὺς δυστυχεῖς χρῶμαι τοῖς δελέασιν). (Liebes-)Briefe spielen zuweilen auch in der Komödie eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Plots (vgl. Men. Sic. 141: Liebeswirren und Identität des Protagonisten),1100 und Lukian selbst spricht über γραμματεῖα auch in Tox. 13, wo der reiche Deinias durch falsche Freunde und eine mit ihnen verbündete verheiratete Frau in den Ruin getrieben wird, indem sie ihm Liebesbriefe zukommen lässt, damit er glaube, sie sei in ihn verliebt. καλὸς Das Adjektiv schafft eine Rückbindung an die als Vorbild dienende Erscheinung des Rednerlehres, als dessen primäre Attribute πάνσοφος und πάγκαλος genannt worden sind (vgl. den Kommentar zu §11: πάνσοφόν τινα καὶ πάγκαλον ἄνδρα). Gleichzeitig beinhaltet es einen humoristischen Kontrast zum Bild des Betrunkenen (μεθύσκεσθαι). Die effeminierte Schönheit des Redners könnte prima facie dem weiblichen Männlichkeitsideal (ὑπὸ τῶν γυναικῶν σπουδάζεσθαι) entgegenstehen; vgl. aber zur Tatsache, dass auch Kindäen als Frauenhelden agieren, ihre effeminierte Erscheinung die Frauen somit offensichtlich nicht abschreckt, den Kommentar unten zu: γενειήτης [...] φαλακρὸς. εἰς τὴν ῥητορικὴν [...] ἀνοίσουσιν Die Berühmtheit des Sophisten in den Frauengemächern (s.u.: σοὶ καὶ ἄχρι τῆς γυναικωνίτιδος εὐδοκιμοῦντι) wird dessen rhetorischem Können zugeschrieben, damit also der Nutzen oder Gewinn der Rhetorik – speziell im Alltag – diskutiert. Der Text kann zweifach interpretiert werden: Einerseits dahingehend, dass der immense Ruhm des Starredners illustriert werden soll, indem die Kunde über seine Auftritte bis in die Abgeschiedenheit der Frauengemächer dringt, und er wegen dieses Ruhmes beim weiblichen Geschlecht Erfolg hat. Andererseits wird aber wohl auch auf Wirkung und Einsatzfeld seiner Rhetorik im Privaten angespielt, dass nämlich der Sophist durch seine Redekunst imstande ist, die Frauen zum Ehebruch zu verleiten; er setzt daher seine schlechte Rede in der Alltagswelt zu schlechten Zwecken und Handlungen ein und wird so zur Karikatur eines im konventionellen Sinne guten Redners. Rede und Leben stimmen in ihrer Qualität 1100 Vgl. zur komödiantischen Rolle des Rednerlehrers die einleitenden Bemerkungen zu §12; zur Verwendung von Komödienvokabular in vorliegender Passage vgl. bereits Anm. 1097.

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5. Kommentar (§§23–25)

überein – e contrario auch im positiven Sinn, worüber der Rezipient nachzudenken aufgefordert ist: Sowohl gute als auch schlechte Rhetorik können Entsprechendes bewirken. Zur Thematisierung des Nutzens vgl. bereits den Kommentar zu §10: καὶ ταῦτα ἐν εἰρήνῃ [...] ἴσως ἐδόκει χρήσιμα sowie unten zu: πρὸς τὴν ῥητορικὴν χρήσιμα. Die Bezugnahme auf den Einsatz der Rhetorik im Alltag nimmt ihr ihre Abgehobenheit und Alltagsferne, zwei Punkte, die aus Sicht der modernen Forschung immer wieder als Charakteristikum der Rhetorik der Zweiten Sophistik angeführt werden (vgl. zum Gegenwartsbezug der Rhetorik auch den Kommentar zu §20: καταβίβαζε τὸν λόγον ἐπὶ τὰ νῦν καθεστῶτα). σοὶ καὶ ἄχρι τῆς γυναικωνίτιδος εὐδοκιμοῦντι Textkritisches: Ich halte mich an den Text von Macleod σοὶ [...] εὐδοκιμοῦντι (γ), während Harmon der Konstruktion mit absolutem Genitiv folgt: σοῦ [...] εὐδοκιμοῦντος (β). Der Dativ kann aus dem Kontext erklärt werden: Aus dem vorhergehenden »denn auch das wird der Grossteil der Leute deiner Redekunst zuschreiben« wird gedanklich »dir zuschreiben« extrahiert und durch die partizipiale Ergänzung »im Glauben, du seist deswegen sogar bis in die Frauengemächer berühmt« erläutert.1101 Das Substantiv γυναικωνῖτις »Frauengemach« ist seit klassischer Zeit belegt; zuerst bei Ar. Th. 414, weiter Xen. Oec. 9,5,2 und 9,6,5 sowie Lysias Or. 1,9,3 und 3,6,3.1102 Lukian verwendet es noch ein weiteres Mal in sehr ähnlichem, klar negativem Kontext in der Invektive Pseudologista: Das abscheuliche Verhalten des Opfers der Satire, besonders seine sexuellen Abartigkeiten, sind bis in die Frauengemächer bekannt (§28: μέχρι καὶ τῆς γυναικωνίτιδος περιβόητος εἶ). Angespielt wird damit wohl auf Ehebruch (vgl. oben μοιχεύειν), indem der Sophist in ein fremdes Haus eindringt, und es liegt nahe, eine intertextuelle Verbindung zu folgenden der oben genannten klassischen Belege zu sehen: In Aristophanes’ Thesmophoriazusen beklagen sich die Frauen darüber, dass sie von ihren misstrauischen Männern in die Gemächer eingesperrt werden, damit sie auf keinen Fall Ehebruch treiben, vgl. V. 397: μὴ μοιχὸς ἔνδον ᾖ τις ἀποκεκρυμμένος.1103 Lysias’ 1. Rede stellt eine Rechtfertigung für den Mord am Ehebrecher Eratosthenes dar, welcher dafür be1101 Neben der häufigeren Konstruktion ἀναφέρειν τι εἴς τι/τινα (»etwas einer Sache/jemandem zuschreiben«) findet sich auch der blosse Dativ ἀναφέρειν τί τινι (»jmd. etwas zuschreiben«), vgl. z.B. Lys. Or. 12,81; Dion. Hal. Ant. Rom. 10,54,4. 1102 Pollux nennt das Substantiv γυναικωνῖτις im Rahmen einer Aufzählung der μέρη δ’ οἰκίας (1,79; vgl. auch 10,125). 1103 Diese Komödie ist ein wichtiger Subtext zur Nennung Agathons in Rh. Pr., vgl. den Kommentar zu §11: πάναβρόν τινα Σαρδανάπαλλον ἢ Κινύραν ἢ αὐτὸν Ἀγάθωνα.

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kannt ist, die Frauen anderer zu verführen, vgl. §3: ἐμοίχευεν Ἐρατοσθένης τὴν γυναῖκα τὴν ἐμὴν καὶ ἐκείνην διέφθειρε und §16: οὐ μόνον τὴν σὴν γυναῖκα διέφθαρκεν ἀλλὰ καὶ ἄλλας πολλάς· ταύτην γὰρ τέχνην ἔχει. Vor allem die Lysiasrede, welche den Ehebrecher und seinen Charakter scharf verurteilt, bildet eine Kontrastfolie zur vorliegenden Passage.1104 Inhaltlich führt die Aussage über den Bekanntheitsgrad des Sophisten an den Anfang der Schrift zurück, wo das Ruhmstreben des Schülers programmatisch als Motiv für das Erlernen der Rhetorik vorgeführt ist (§1). Da sowohl Ratgeber als auch Rednerlehrer die Bedürfnisse des jungen Mannes vollauf erfüllen wollen, zieht sich die Thematik von Ruhm (und Reichtum) durch die gesamte Schrift (vgl. §6, §8 Ende, §13: Der Rednerlehrer selbst ist ein Vorbild in Berühmtheit, §17: Bewundernde Reaktion der Menge auf den Auftritt des Redners). Dasselbe Verb (εὐδοκιμεῖν) erscheint in §22: ὃ δὲ μέγιστον καὶ πρὸς τὸ εὐδοκιμεῖν ἀναγκαιότατον und in §26: καὶ οὐδέν σε κωλύσει ἑπόμενον τοῖς νόμοις [...] ἐν τοῖς πλήθεσιν εὐδοκιμεῖν. Die vorliegende Passage erweitert die Stellen insofern, als die Berühmtheit sich nicht mehr nur aus der ›Trickrhetorik‹ ergibt, sondern auch aus dem Verhalten im Privatleben bzw. aus dem Ruf, den man insgesamt, nicht nur spezifisch bezogen auf die Rhetorik, geniesst. τὸ δεῖνα Dieser Einschub ist wiederum ein typisches Element aus dem Komödienvokabular, vgl. LSJ s.v. δεῖνα II.: in Com. as an interjection to express an idea which suddenly strikes one: by the way, mark you; ergänzend kann hinzugefügt werden, dass τὸ δεῖνα nicht nur weiterführende Ideen, sondern auch ein Zögern einleitet. Es bedeutet wörtlich »ein solches«, übertragen »übrigens, noch etwas«, vgl. Ar. Pax 268; Av. 648; Lys. 921 und 926; Men. Dysk. 897. Der Ausdruck kann daher genau wie ἢ αὐχεῖν γε (s.o.) im Sinne der behutsamen Heranführung des Schülers an den homosexuellen Bereich gedeutet werden. Lukian gebraucht den Ausdruck noch 3x: Vit. Auct. 19 (ein Käufer überreicht dem Sklavenhändler das Geld für einen Epikureer und fragt dann nach, was er esse: Λάμβανε· τὸ δεῖνα δέ, ὅπως εἰδῶ, τίσι χαίρει τῶν ἐδεσμάτων;); Bis Acc. 23; Dial. Meretr. 12,5; τὸ δεῖνα als Konjektur in Catapl. 13. εἰ [...] δοκοίης Zum Optativgebrauch vgl. den Kommentar zu §6: ὡς γαμήσειάς [...] ἔχοις.

1104 Auch Lysias Or. 3,6 hat das nächtliche Eindringen eines Fremden in ein Frauengemach zum Thema.

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5. Kommentar (§§23–25)

γενειήτης [...] φαλακρὸς Nicht nur als Frauenheld soll sich der Redner ausgeben, sondern auch Verkehr mit Männern pflegen, und zwar in der rezeptiven Rolle (vgl. die passive Formulierung πρὸς ἀνδρῶν [...] ἐρᾶσθαι), selbst wenn er bereits in einem Alter ist (bärtig, d.h. erwachsen, oder gar kahlköpfig, d.h. alt1105), in dem diese Rolle für einen Mann nicht mehr angebracht ist. Es wird hier auf die griechische Päderastie angespielt, in deren Rahmen die rezeptive Rolle für einen Knaben, der noch keinen Bartwuchs hat, die Norm ist; diese Vorstellung pervertiert der Rednerlehrer durch seine Empfehlung. Noch skandalöser ist das empfohlene Benehmen aus Sicht der Römer, bei denen Homosexualität generell als verpönt galt und die allein Sklaven und männliche Prostituierte als mögliche passive Sexualpartner tolerierten (vgl. Williams [1999] 18f. und 62–77). Wird hier dem Schüler eine für erwachsene Männer sowohl aus griechischer als auch aus römischer Sicht abgelehnte Praktik empfohlen, so finden wir genau dieses Agieren als passiver Sexualpartner mehrfach heftig gegeisselt in Lukians Schrift Pseudologista (vgl. §§17, 18, 20, 21, 27).1106 Benannt wird das Opfer dort als κίναιδος (§17), womit ein Konzept aufgerufen ist, das auch in Rh. Pr. 19 bereits angeklungen ist (vgl. den Kommentar zu §19: βάδιζε μεταφέρων τὴν πυγήν). Neben passiver Homosexualität umfasst die Kinädenhaftigkeit ein ganzes Bündel von Verhaltensweisen, die allesamt in Rh. Pr. verarbeitet sind:1107 Eine wichtige Rolle spielt dabei das Erscheinungsbild (Kleidung, Gang, Sprechweise). So wird ein exzessives Bemühen um den eigenen Körper als effeminiert angesehen, weil es den Frauen vorbehalten ist, sich erkennbar ›zurechtzumachen‹ und auf andere anziehend wirken zu wollen. Weiter sind es Elemente, die mangelnder Selbstkontrolle zugeordnet werden, wie übermässige Emotionalität, Luxus, sexuelle Zügellosigkeit, welche als unmännlich gelten. Bezeichnend dafür, dass Kinädenhaftigkeit weit über passive Homosexualität hinausgeht, ist die Tatsache, dass diverse Textbeispiele – genau wie das vorliegende – ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass ein Kinäde auch mit Frauen schläft, ja Kinäden geradezu als Schürzenjäger charakterisieren.1108

1105

Zur Glatzköpfigkeit als Zeichen eines γέρων vgl. Luk. Luct. 16; Nav. 45; Dial. Mort. 1,2. Vgl. auch Adv. Ind. 22–25. 1107 Vgl. Gleason [1995] 46f. und 64f.; Williams [1999] 203–218; Richlin [1992] 92f. Für den Lexikographen Pollux sind die Bezeichnungen κίναιδος und μαλθακός geradezu synonym; er vermerkt unter dem Lemma κίναιδος (6,126) die auf allgemeine moralische Schlechtigkeit abzielenden Adjektive βδελυρός und ἀσελγής, daneben die auf sexuelle Abartigkeiten der Passivität und der Prostitution zielenden Begriffe καταπύγων und τὴν ὥραν/τὴν ἡλικίαν πεπρακώς. Vgl. dazu die Lustknabendienste in Rh. Pr. 24 und Pseudol. 18 und die wiederholte Verwendung von βδελυρός/βδελυρία in Pseudol. 2, 3, 4, 16, 19 und 31. 1108 Vgl. Williams [1999] 206–209; Richlin [1992] 91f. sowie Pseudol. 22 und 28. 1106

§23: praecepta zum Privatleben eines Sophisten

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Das Adjektiv γενειήτης weist nur drei vorlukianische Belege auf (Theokrit 17,33: γενειήταν Διὸς υἱόν »den bärtigen Zeussohn« [Herakles]; Kallimachos Dian. 90: ὁ γενειήτης [Pan]; Eratosthenes fr. 12 Powell: γενειῆτιν τρίγλην »eine bärtige Seebarbe«) und ist in der gesamten Gräzität relativ selten. Lukian selbst benutzt das Wort noch 3x, davon wie bereits bei Theokrit und Kallimachos zweimal bezogen auf Götter (Sacr. 11: bärtiger Zeus; Syr. D. 35: bärtiger Apollon; Bis Acc. 28: Bart als Erkennungszeichen des Philosophen). Die Anwendung des Adjektivs auf Scheinphilosophen (Bis Acc.) und auf effeminierte Scheinsophisten (Rh. Pr.) könnte daher im Sinne einer Ironisierung gedeutet werden. Das Adjektiv φαλακρός benutzt Lukian häufig (19 Belege). Dem Wort haftet meist etwas Komödiantisch-Spöttisches an, wobei der Glatzkopf einen Typus Mensch darstellt, auf dessen Kosten Witze gemacht werden und der dem Schönheitsideal entgegensteht:1109 Vgl. Ver. Hist. 1,23 (gegenteiliges Schönheitsideal der Mondbewohner: καλὸς δὲ νομίζεται παρ’ αὐτοῖς ἤν πού τις φαλακρὸς καὶ ἄκομος ᾖ); Ver. Hist. 2,41; Adv. Ind. 19; Alex. 53 und 59 (der Lügenprophet war ein Glatzkopf, der dies allerdings mit einer Perücke zu vertuschen suchte). Glatzköpfigkeit ist zudem ein Merkmal des Sokrates, sowie von Silenen und Satyrn (Philopseud. 24; Dial. Mort. 1,2; Deor. Conc. 4). Das Adjektiv φαλακρός dürfte hier vom Rednerlehrer selbstreferentiell auf seine (zumindest im Ansatz vorhandene) Glatze angewandt sein (vgl. den Kommentar zu §11: ὀλίγας μὲν ἔτι, οὔλας δὲ καὶ ὑακινθίνας τὰς τρίχας εὐθετίζοντα und zur zweifelhaften Schönheit §11: πάνσοφόν τινα καὶ πάγκαλον ἄνδρα). Damit applizierte er das passive sexuelle Verhalten auch auf sich selbst, was mit seiner Vorbildfunktion in Einklang steht. Die hinter vorliegender Textpassage stehenden Annahmen über die sexuelle Passivität und Aktivität von jugendlichen und erwachsenen Männern zeigen sich in zwei weiteren Texten Lukians, einerseits Sat. 24 und 35 (den Lustknaben der Reichen soll das Haar ausfallen und ein Bart wachsen, so dass sie ihrer Rolle nicht mehr nachkommen können, da sie aus dem Status des παῖς in denjenigen des Erwachsenen bzw. sogar des Greises übergehen); andererseits Dial. Mort. 19,2f. wo Polystratos, ein alter Glatzkopf, über sein Leben berichtet, welches er noch in hohem Alter umgeben von unzähligen Liebhabern (ἐρασταί) verbrachte.

1109

Vgl. Ar. Nu. 540 mit Ablehnung solcher Witze (οὐδ’ ἔσκωψεν τοὺς φαλακρούς), was impliziert, dass Glatzköpfe durchaus Ziel des Komödienspotts werden konnten. Aristophanes soll selbst glatzköpfig gewesen sein (Eq. 550; Pax 767–773).

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5. Kommentar (§§23–25)

ἔστωσαν Zur Imperativform vgl. den Kommentar zu §6: παρέστωσαν [...] περιπλεκέσθωσαν. Genau wie der Redner bei seinen öffentlichen Auftritten die Hilfe seiner Anhänger, der Claque, benötigt (vgl. §21), braucht er im Privaten Zudiener, um seine sexuellen Eskapaden zu verwirklichen. οἱ οἰκέται ἱκανοί Die Formulierung klingt an §15 an, wo der Rednerlehrer nach seiner Beschreibung der für den Starsophisten nötigen Charaktereigenschaften, Stimme und Gang feststellt: ταῦτα δὲ πάνυ ἀναγκαῖα καὶ μόνα ἔστιν ὅτε ἱκανά. Die Annahme, der Schüler verfüge über Sklaven, verweist auf eine entsprechende soziale Stellung (siehe auch §15: ἀκόλουθοι πολλοὶ). Inhaltlich ist Adv. Ind. 25 vergleichbar, wo dem Opfer der Schrift unterstellt wird, durch den unablässigen Kauf von hübschen Sklaven seine Kinädenhaftigkeit auszuleben. πρὸς τὴν ῥητορικὴν χρήσιμα Zur Diskussion des Nutzens des Dargelegten vgl. bereits den Kommentar zu §10: καὶ ταῦτα ἐν εἰρήνῃ [...] ἴσως ἐδόκει χρήσιμα und oben zu: εἰς τὴν ῥητορικὴν [...] ἀνοίσουσιν. Hat sich die Rhetorik als nützliches Instrument erwiesen, um ein Frauenheld zu werden oder als solcher zu gelten, so wird hier umgekehrt der Nutzen des kinädenhaft-effeminierten Verhaltens mitsamt der rezeptiven (femininen) Rolle im Sexualverkehr für die Rhetorik erläutert, was stufenweise und in einer abstrusen Argumentation erfolgt (s.u.). So schliesst sich der Kreis, da die Rhetorik dem Leben und das Leben wiederum der Rhetorik nützt. πλείων ἡ ἀναισχυντία καὶ θράσος Zwei der bereits in §15 geforderten Kerncharakteristika des Starsophisten werden hier wieder aufgegriffen: Mit dem oben beschriebenen Verhalten im Privatleben intensivieren sich Unverschämtheit und Verwegenheit des Schülers, wobei der Nutzen darin besteht, dass sich dies wiederum positiv auf seine Karriere auswirkt, da seine Fähigkeit, jeden Gegner an die Wand zu spielen, steigt.1110 Warum ausgerechnet ein kinädenhaft-weibliches Ver-

1110

Vgl. zu den Charaktereigenschaften allgemein S. 70 sowie den Kommentar zu §15: κόμιζε; τὴν ἀμαθίαν; θράσος ἐπὶ τούτῳ καὶ τόλμαν καὶ ἀναισχυντίαν und §17: ἡ ἀναισχυντία; πρόχειρον. Vgl. auch die wiederholte Nennung dieser Charakterzüge in §22 und §24.

§23: praecepta zum Privatleben eines Sophisten

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halten diese Charakterzüge unterstützt, wird in einem weiteren Schritt erklärt (s.u.). ὁρᾷς Hiermit wird das eigentliche Argument eingeleitet, welches zuerst einmal die grössere Fertigkeit der Frauen im Schwatzen und Schimpfen herausstreicht. Der unmittelbare Zusammenhang mit der Intensivierung der Unverschämtheit und Verwegenheit des Schülers erscheint vorerst noch rätselhaft, wird aber durch das Versetzen des Redners in die Frauenrolle (εἰ δὴ τὰ ὅμοια πάσχοις) aufgelöst. λαλίστεραι αἱ γυναῖκες λαλίστερος ist die Komparativform zu λάλος »geschwätzig«, zuerst belegt in der Alten Komödie und im Satyrspiel, bezogen sowohl auf Männer als auch auf Frauen.1111 Solange sich die vorliegende Argumentation noch in der Schwebe befindet, lässt der Hinweis auf die Geschwätzigkeit der Frauen daran denken, dass sie den Ruf des Redners auf ideale Weise zu verbreiten verstehen. Aus dem empfohlenen Verkehr mit Frauen ergäbe sich daher ein passiver Nutzen für seine rhetorische Laufbahn. Eigentlich geht es aber um den Nutzen des sexuellen Verkehrs mit Männern, den sowohl die Frauen als auch der Effeminierte praktizieren: Der Sprecher geht absurderweise davon aus, dass die körperliche Verweichlichung des Schülers auch die Entwicklung typischer weiblicher Charaktereigenschaften nach sich zieht, der effeminierte Schüler daher die Männer in denselben Bereichen übertrifft, wie Frauen es tun. Das Adjektiv λαλίστερος verweist durch die Wortgestalt raffiniert auf die berufliche Tätigkeit des Sophisten zurück, denn es ist abgeleitet von λαλεῖν mit dem dazugehörigen Substantiv λαλιά, das neben allgemeiner Geschwätzigkeit eine Redegattung bezeichnet, welcher sich die Starsophisten bedient haben.1112 Wer demnach λαλίστερος ist, ist ein besserer Redner als die anderen. Und so ergibt sich aus dem Verkehr mit Männern in der rezeptiven (weiblichen) Rolle ein aktiver Nutzen für die Rhetorik.

1111

Vgl. E. Cyc. 315 (Superlativ λαλίστατος); Ar. Ra. 91 (über geschwätzige Dichter, so auch Aristeid. Or. 3,65); bezogen auf eine Frau – und daher mit Nähe zur vorliegenden Stelle – Alexis PCG 2, fr. 96: σοῦ δ’ ἐγὼ λαλιστέραν οὐποτ’ εἶδον οὔτε κερκώπην, γύναι, οὐ κίτταν, οὐκ ἀηδόν’, ‹οὐ χελιδόνα,› οὐ τρυγόν’, οὐ τέττιγα. Als Typus findet sich der Geschwätzige (λαλιάς) in Theophrast Char. 7 (die Komparativform in §7: τῶν χελιδόνων [...] λαλίστερος). 1112 Vgl. Korenjak [2000] 23: »Sie [sc. die λαλιά] umfasst, wie schon der Name verrät, in relativ schlichtem, ›gesprächshaften‹ Ton gehaltene Reden von mässiger Länge, welche nicht an bestimmte Anlässe gebunden sind, die verschiedensten Inhalte transportieren können und sich dementsprechend vielseitig einsetzen lassen.« Vgl. weiter die Bemerkungen zur Vorrede, προλαλιά, in der Einleitung 1.7 (Anfang).

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5. Kommentar (§§23–25)

λοιδοροῦνται Genau wie das Adjektiv λαλίστερος (s.o.) verweist auch das Verb λοιδορεῖσθαι auf die berufliche Tätigkeit der Redner: Bereits in §19 wurde an den Sophisten die Forderung gestellt, Zuhörer, die sich nicht wie erwünscht verhalten, rundheraus zu beschimpfen, vgl. den Kommentar zu §19: ἢν μέν σε μὴ ἐπαινῶσιν, ἀγανάκτει καὶ λοιδοροῦ αὐτοῖς. τὰ ὅμοια πάσχοις An dieser Stelle wird die Argumentation zu Ende geführt: Da die Frauen nach Meinung des Rednerlehrers die Männer beim Lästern und Schimpfen übertreffen und damit grössere Unverschämtheit an den Tag legen, wird der Schüler sich diesen Vorteil gegenüber den anderen Sophisten zulegen, wenn er »dasselbe erlebt wie die Frauen«, d.h. sich beim Geschlechtsverkehr in die rezeptive Rolle begibt. Die Verben πάσχειν (und weiter oben ἐρᾶσθαι) verweisen klar auf diese passive Rolle, vgl. v.a. lat. pathicus1113 (z.B. Catull carm. 16, 57, 112; Juvenal sat. 9,130) sowie gr. ὁ ἐρώμενος (»Geliebter«) gegenüber ὁ ἐραστής (»Liebhaber«).1114 καὶ μὴν καὶ πιττοῦσθαι χρή, μάλιστα μὲν τὰ πάντα, εἰ δὲ μή, πάντως ἐκεῖνα Die Empfehlungen, deren tatsächliche Umsetzung dem Schüler bis hierher freigestellt war (der Ruf des Frauenhelden und des Kinäden reichen bereits aus), werden an dieser Stelle wieder in eine konkrete Handlungsaufforderung überführt (vgl. bereits den Kommentar zu: κυβεύειν μεθύσκεσθαι λαγνεύειν μοιχεύειν, ἢ αὐχεῖν γε, κἂν μὴ ποιῇς). Dies passt zum Duktus der Passage, da nach ausführlichem Beweis des Nutzens der Effeminiertheit für die Rhetorik dem Schüler nichts anderes übrig bleibt, als sich in eine Frau zu verwandeln, indem er seine Körperhaare entfernt. Zum Verb πιττοῦσθαι vermerkt LSJ s.v. πισσόω II.: Med., remove the hair by means of a pitch-plaster. In dieser medialen Verwendung sind keine klassischen Belege vorhanden; den Erstbeleg in der Bedeutung »sich mit Pech enthaaren« liefert Theopomp FGrHist 115 fr. 204,32. Im Komikervokabular findet sich καταπιττοῦν »mit Pech bedecken/überschütten« (Ar. Ec. 829 und 1109). Lukian verwendet dieses Verb zur Bezeichnung von Depilation im Zusammenhang mit Männern mehrfach und immer in spöttischem Kontext 1113

Vgl. darüber Richlin [1992] 92. Vgl. Plat. Smp. 178e, wo die Begriffspaare ἐρώμενος und ἐραστής sowie ἐρασταί und παιδικά verwendet sind, παιδικά mit klarer Bezugnahme auf das angemessene Alter des Geliebten (noch nicht erwachsen). Vgl. weiter die drei Reden über die Liebe in Plat. Phdr. 230e–257b, bes. 231a–232a, 240c–d (wiederum mit Bezugnahme auf den Altersunterschied: ὁ νεώτερος, ὁ πρεσβύτερος), 252c–253a. 1114

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(Vorwurf der Effeminiertheit), wobei die enthaarten Körperteile bisweilen genannt sind. Dass Enthaarung nicht nur negativ, sondern auch aus gesundheitlichen Gründen angebracht sein konnte, zeigen medizinische Texte (vgl. auch unten Pseudol. 17).1115 Im Hintergrund steht die Frage des richtigen Masses bezüglich der Wirkung auf das Umfeld, vgl. dazu bereits S. 233. Vgl. Luk. Demon. 50: Ein Prokonsul, der zu denjenigen gehörte, die sich Beine und überhaupt den ganzen Körper enthaaren (τῶν πιττουμένων τὰ σκέλη καὶ τὸ σῶμα ὅλον), wurde von einem Kyniker wegen Kinädenhaftigkeit verschrien (Κυνικοῦ [...] εἰς κιναιδίαν διαβάλλοντος), wogegen ersterer sich jedoch vehement wehrte. Ebenso wird in Merc. Cond. 33 ein gestandener Philosoph mit einem Kinäden kontrastiert, der sich die Beine enthaart und den Bart rasiert (κίναιδόν τινα τῶν πεπιττωμένων τὰ σκέλη καὶ τὸν πώγωνα περιεξυρημένων). In Fug. 33 findet sich als Strafe für einen der entlaufenen Sklaven der Gang zu den Enthaarern (οἱ πιττωταί). Während der Rednerlehrer in der vorliegenden Passage generell kein Blatt vor den Mund nimmt und vor allem im Folgenden die verschiedenen sexuellen Aktivitäten von Mund und Zunge in obszöner Deutlichkeit ausführt, werden die Geschlechtsteile hier nur umschrieben (πάντως ἐκεῖνα). Es liegt jedoch durch die prägnante Position von ἐκεῖνα am Satzende und dadurch, dass die Rezipierenden dazu gezwungen werden, dieses Demonstrativum zu decodieren, ein umso stärkerer Verweis auf die abstossenden, glattrasierten Genitalien des Sophisten vor. Die Bestätigung dafür, dass an vorliegender Stelle tatsächlich der Schambereich gemeint ist, und dass dessen Depilation ein Invektiventopos ist, liefert Pseudologista, eine Schrift, die sich gegen einen Scheinsophisten richtet, welcher einen abscheulichen Lebenswandel führt und als Effeminierter und Kinäde bezeichnet wird (§17). Der Sprecher erteilt dem Kritisierten boshaft ›Ratschläge‹ (§31): ἄφελε τὸ μύρῳ χρίεσθαι τὰς πολιὰς καὶ τὸ πιττοῦσθαι μόνα ἐκεῖνα. εἰ μὲν γὰρ νόσος τις ἐπείγει, ἅπαν τὸ σῶμα θεραπευτέον, εἰ δὲ μηδὲν νοσεῖς τοιοῦτο, τί σοι βούλεται καθαρὰ καὶ λεῖα καὶ ὀλισθηρὰ ἐργάζεσθαι ἃ μηδὲ ὁρᾶσθαι θέμις;1116 Der Rednerlehrer empfiehlt in Rh. Pr. ausdrück1115

Vgl. Galen San. tuend. vol. 6, p. 326 (bei ἰσχνότης ist Enthaarung der Beine hilfreich: τούτῳ δὲ συμφέρει πιττοῦσθαί τε τὰ σκέλη [...]); vgl. auch p. 328 und 416, wo Galen thematisiert, dass eine vom Arzt verordnete Enthaarung oft auf Widerstand stösst, weil sie verpönt ist bzw. zumindest einen zweifelhaften Ruf hat, wodurch er die Diskussion um Enthaarung und Effeminiertheit bestätigt ([...] καὶ ὁ πάντα μᾶλλον ὑπομείνας παθεῖν, ἢ πιττοῦσθαι συνεχῶς ὅλον τὸ σῶμα, συμβουλευόντων αὐτῷ τῶν ἰατρῶν τὸ βοήθημα τοῦτο διὰ τὴν ἰσχνότητα. [...] ἄλλ’ ἔνιοι, ὡς ἔφην, ὑπὸ φιλοτιμίας, ἵνα μὴ δόξωσιν ὁμοίως τοῖς τρυφῶσιν ἢ καλλωπιζομένοις πιττοῦσθαι, φεύγουσιν τὴν ἐξ αὐτοῦ βοήθειαν, ἄλλο τι κελεύοντες ἡμᾶς ἐφευρεῖν αὐτοῖς βοήθημα τῆς ἰσχνότητος.). Vgl. weiter Meth. medend. vol. 10, p. 997 (ἐπιτήδειον δ’ αὐτοῖς ἐστι καὶ τὸ πιττοῦσθαι). 1116 »Lass ab davon, deine grauen Haare mit Parfum zu versehen und nur jene Teile zu enthaaren. Wenn dich nämlich irgendeine Krankheit quält, muss der ganze Körper therapiert werden,

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5. Kommentar (§§23–25)

lich etwas, was ansonsten mit bissigem Spott belegt ist; vor allem in der römischen Invektive finden sich zahlreiche Beispiele dafür, dass rasierte Genitalien und Gesäss als Markenzeichen eines pathicus galten.1117 τὸ στόμα [...] κεχηνέτω Vorliegende Junktur ist neben Lukian nur einmal bei Hippokrates belegt;1118 χαίνω (bzw. im Präs. χάσκω) zur Bezeichnung eines weit geöffneten Mundes ist allerdings schon seit Homer in Poesie und Prosa verbreitet.1119 Vgl. auch Poll. 2,97, der χαίνω als angemessenes Verb zu στόμα anführt und auf Aristophanes verweist (Ach. 1197; V. 721 und 1007: jeweils das Kompositum ἐγχάσκω »jemanden verhöhnen, auslachen«). Lukian selbst verwendet χαίνω und στόμα in Kombination noch 5x (Tim. 18; Anach. 31; Tox. 9; Salt. 27; Pseudol. 27: hier ebenfalls im Kontext von oralem Verkehr). Die drastisch-bildliche Darstellungsweise des weit aufgerissenen Mundes führt mit grösstmöglicher Obszönität die Figur des pathicus vor Augen, der (nunmehr enthaart wie eine Frau) seinem irrumator zu Diensten ist (siehe zum Oralverkehr auch unten zu: νύκτωρ τι ἄλλο ὑποτελεῖν). Erst in zweiter Linie (angedeutet durch πρὸς τοὺς λόγους) erinnert der aufgerissene Mund auch an die nicht-sexuellen Tätigkeiten des Redners, an sein unablässiges Geschwätz und Geschrei (vgl. unten ληρεῖν und λοιδορεῖσθαι). σολοικίζειν [...] βαρβαρίζειν Diese beiden Begriffe zur Bezeichnung von Sprachfehlern, die in den lukianischen Schriften immer wieder zur Verspottung Scheingebildeter herangezogen werden, sind bereits in Rh. Pr. 17 gefallen, vgl. den Kommentar zu §17: ἂν σολοικίσῃς δὲ ἢ βαρβαρίσῃς.

wenn du aber nichts dergleichen leidest, warum machst du dann diejenigen Teile rein und spiegelglatt, die man nicht einmal sehen darf?« Vgl. zur Verwendung von Parfum durch den Effeminierten auch Rh. Pr. 11. 1117 Vgl. z.B. Mart. 10,65; Persius 4,33–41: Besonders interessant ist hier der äussere Schein, da der junge Mann (Alkibiades) einen Bart trägt und die rasierten Stellen (Penis und Gesäss) verborgen blieben, hätte er nicht eine Vorliebe für das Sonnenbaden. Siehe dazu Richlin [1992] 188– 189 und 41: »[...] the one characteristic always cited as the mark of the pathic is his shaved buttocks, which are supposed to make him once again as smooth and attractive as a boy.« Neben dem symbolisierten Rückschritt in das Jugendalter und damit in das Alter, in dem er tatsächlich die passive Rolle einnehmen könnte, macht der pathicus durch die Enthaarung auch eine weitere Verweiblichung durch, da die Depilation weiblicher Genitalien verbreitet war (vgl. z.B. Mart. 3,74 und Richlin [1992] 123 mit Anm. 23). Zudem wird ganz grundsätzlich ein distinktives Merkmal des Mannes entfernt (vgl. Gleason [1995] 68 mit Verweis auf Clem. Al. Paed. 3,19,3). 1118 Vgl. Hp. Morb. 2,21: τὸ στόμα κέχηνε (über ein bestimmtes Krankheitsbild). 1119 Vgl. Hom. Il. 16,410 (über einen Verwundeten); Aesop fab. Synt. 1,6 Hausrath; Ar. Eq. 1018 (von einem Hund).

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ληρεῖν ληρεῖν bedeutet in ganz allgemeinem Sinn »(Unsinn) schwatzen« (vgl. Luk. Catapl. 8 und Pisc. 5: ληρεῖς), wird von Lukian jedoch speziell zur Verspottung von Scheingebildeten1120, Scheinphilosophen und Scheinsophisten angewandt, verbunden mit den immer wiederkehrenden Vorwürfen der Verkleidung, der Unbildung, des schlechten Charakters. ληρεῖν bezeichnet in diesem Fall konkret den mangels Ausbildung stupiden Inhalt des vermeintlich Rhetorischen oder Philosophischen. Zum »Geschwätz« der Scheingebildeten vgl. Merc. Cond. 25 und Hist. Conscr. 32 (gegen schlechte Geschichtsschreiber: τοιαῦτα πολλὰ ὑπὸ ἀπαιδευσίας ληροῦσι); zum »Geschwätz« der Philosophen vgl. Tim. 9; Pisc. 25; Menipp. 21; Deor. Conc. 17; Hermot. 81 und 86; Dial. Mort. 1,2 (explizit gegen ἀλαζόνες φιλόσοφοι gerichtet); Dial. Mort. 20,8 (gegen einen verkleideten φιλόσοφος γόης gerichtet, unter dessen Maskerade allerlei Schlechtes auftaucht). Zum »Geschwätz« der Redner vgl. Somn. 7; Anach. 19 (gegen Gerichtsredner); Lex. 18 (der Arzt Sopolis stellt als Krankheitsbild des Lexiphanes dessen »Schwätzerei« fest); Pseudol. 25 (›Anklage‹ der Zunge des Scheinsophisten; vgl. das folgende Lemma). In vorliegender Schrift wird ληρεῖν nur hier als Charakteristikum der neuen Modesophistik, ansonsten – entsprechend der immer wiederkehrenden Konventionsbrüche – zur Diskreditierung der klassischen Rhetorik und ihrer Exponenten benutzt (vgl. §9: gegen den Lehrer des langen Weges; §17: gegen den Redner Isokrates).1121 ἐπιορκεῖν Die im Folgenden aufgezählten Beschäftigungen der Zunge – Meineide schwören, schmähen, verleumden und lügen – gehören zu den typischen Invektivenelementen, die Charakterschwächen exponieren und die Lukian in anderen Schriften zur Kritik seiner Opfer, insbesondere der Scheinphilosophen und der Scheinsophisten, immer wieder in verschiedener Kombination heranzieht bzw. seinen Sprechern in den Mund legt. Vgl. gegen Schmeichler: Cal. 20 (ἐπιορκία wird aufgezählt neben ἀπάτη, ψεῦδος, ἀναισχυντία; vgl. Rh. Pr. 8, 10, 15, 17, 22); gegen Philosophen: J. Trag. 37 (im Philosophenstreit zwischen Damis und Timokles klagt ersterer seinen Gegner wegen Meineids an), Ikaromen. 16, Tim. 55 (der Philosoph Thrasykles predigt zwar allerlei Tugendhaftes, weist selbst aber einen Charakter auf voller 1120 Ebenfalls in den Bereich von Bildung gehören diejenigen Belege, welche Dichtung und ihren Wahrheitsgehalt thematisieren und die Dichter, speziell Homer, als »Schwätzer« verspotten (J. Conf. 2; Gall. 6; Tim. 1; Sat. 10). 1121 Somit entsteht eine Ambivalenz des Begriffs, wie wir sie auch bei anderen Vokabeln feststellen können (vgl. den Kommentar zu §10: ἀλαζὼν καὶ ἀρχαῖος ὡς ἀληθῶς καὶ Κρονικὸς ἄνθρωπος).

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5. Kommentar (§§23–25)

λοιδορία, ψεύσματα, θρασύτης, φιλαργυρία, ἐπιορκία, ἀναισχυντία), Pisc. 21 (Parrhesiades, der Entlarver von Scheinphilosophen, verabscheut deren Wortbrüche; siehe dazu Anm. 190); gegen Sophisten vgl. die Invektive Pseudol. 17 und 25. Die letztgenannte Stelle ist vom Inhalt her praktisch deckungsgleich mit Rh. Pr. 23 (vgl. auch unten νύκτωρ τι ἄλλο ὑποτελεῖν), nur dass keine Empfehlung, sondern eine fiktive, ausführliche ›Anklage‹ der Zunge des Scheinsophisten vorliegt, die ihren ›Missbrauch‹ nicht länger erdulden will: οὐχ ἱκανά μοι τὰ ἐπὶ τῆς ἡμέρας ἔργα, ψεύδεσθαι καὶ ἐπιορκεῖν καὶ τοὺς τοσούτους ὕθλους καὶ λήρους διαντλεῖν, μᾶλλον δὲ τὸν βόρβορον τῶν λόγων ἐκείνων ἐμεῖν, ἀλλ’ οὐδὲ νυκτὸς τὴν κακοδαίμονα σχολὴν ἄγειν ἐᾷς [...].1122 Zu ὅρκος und διαβολή als Termini der Rhetoriktheorie vgl. den Kommentar zu §22: ὅρκος [...] διαβολαὶ πιθαναί. λοιδορεῖσθαι Aufsässiges, freches Verhalten zeichnet Scheinphilosophen und Scheinsophisten aus, die auf diese Weise ihre Unwissenheit übertünchen und das Publikum einschüchtern (vgl. den Kommentar zu Rh. Pr. 19: ἢν μέν σε μὴ ἐπαινῶσιν, ἀγανάκτει καὶ λοιδοροῦ αὐτοῖς). Beschimpfungen anstelle des argumentativen Gesprächs bestimmen auch den Umgang der Scheingebildeten miteinander, vgl. Symp. 35 und 40; J. Trag. 33 und 53; Bis Acc. 11. Immer wieder wird in den lukianischen Schriften λοιδορία als Markenzeichen (Menipp. 4; Peregr. 3, 18, 19 und 37; Fug. 7 und 27) oder als Teil der ›Ausrüstung‹ der Scheinphilosophen verspottet (Fug. 13–15; vgl. darüber bereits den Kommentar zu §15: ἐφόδια [...] ἐπισιτίσασθαι; Ikaromen. 30; Pisc. 45). Ganz im Sinn des Rednerlehrers äussert sich Diogenes in Vit. Auct. 10f. über den (leichten) Weg, ein berühmter Philosoph zu werden: ἰταμὸν χρὴ εἶναι καὶ θρασὺν καὶ λοιδορεῖσθαι πᾶσιν ἑξῆς καὶ βασιλεῦσι καὶ ἰδιώταις· οὕτω γὰρ ἀποβλέψονταί σε καὶ ἀνδρεῖον ὑπολήψονται. [...] οὐδέν σοι κωλύσει θαυμαστὸν εἶναι, ἢν μόνον ἡ ἀναιδεία καὶ τὸ θράσος παρῇ καὶ λοιδορεῖσθαι καλῶς ἐκμάθῃς.1123 ψεύδεσθαι Aufschlussreich zum Element der Lüge als Markenzeichen der Scheingebildeten, insbesondere der im Rahmen der Vortragskultur agierenden Philo1122 »Was ich tagsüber verrichte, reicht nicht aus – lügen, Meineide schwören und all das leere Geschwätz brav zu erdulden, ja vielmehr: den Schlamm jener Reden auszuspucken – sondern auch nachts lässt du mich Unglückliche nicht zur Ruhe kommen [...].« – Zum »leeren Geschwätz« sowie dem »Schlamm« der Reden vgl. bereits den Kommentar zu §18: λέγε ὅττι κεν ἐπ’ ἀκαιρίμαν γλῶτταν ἔλθῃ und §10: ἀνορύττειν [...] λόγους [...] κατορωρυγμένους. 1123 Vgl. dazu bereits S. 43 mit Anm. 106 (Übersetzung).

§23: praecepta zum Privatleben eines Sophisten

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sophen und Sophisten, ist Lukians komödiantische Schrift Piscator. Die Hauptfigur Parrhesiades, durch diesen Namen als Verkörperung des für die Komödie grundlegenden Elements des freimütigen Sprechens charakterisiert, entlarvt die Scheinvertreter und stellt sich selbst der personifizierten Philosophie als »Lügenhasser« (μισοψευδής) vor (§20; vgl. dazu bereits Anm. 190). Hinter der Maskerade, die jemanden dem Schein nach als Philosophen oder Sophisten auszeichnet und schon daher etwas Lügnerisches an sich hat, stehen Betrug (§29: ἀπάτη), Lüge (§29: ψεῦδος) und Unwissenheit (§45: ἄγνοια). Vgl. zur Thematik von Scheingebildeten und Betrügern bereits den Kommentar zu §1: τὸ σεμνότατον τοῦτο καὶ πάντιμον ὄνομα [...] εἶναι δόξεις; §5: γόητα; §15: ἐφόδια [...] ἐπισιτίσασθαι. Vgl. auch Rh. Pr. 22: ἡ τόλμα γὰρ καὶ ἡ ἀναισχυντία καὶ τὸ ψεῦσμα πρόχειρον. Ein schlechter, lügnerischer Charakter (ἀναισχυντία, τόλμα, ψεῦδος) wird bei jungen Männern, gegen die eigentliche Absicht der Ausbildung, verschlimmert oder gar erst geweckt durch den Umgang mit den ›falschen‹ Philosophen (Hermot. 81) – genau dies dürfte unserem Rhetorikschüler widerfahren, sollte er sich nach den vorgegebenen ›Gesetzen‹ richten. Dem vorliegenden Kontext ähnlich sind wiederum auch invektivische Schriften: Einerseits Pseudologista (§25; zur Stelle s.o.: ἐπιορκεῖν), andererseits Alexander, wo bereits im zweiten Teil des Doppeltitels der Schrift (ἢ Ψευδόμαντις) das betrügerische Machwerk des Opfers als »Lügenprophetie« blossgestellt ist und sein Charakter in §4 folgendermassen beschrieben wird: ἐπινόησον [...] ποικιλωτάτην τινὰ ψυχῆς κρᾶσιν ἐκ ψεύδους καὶ δόλων καὶ ἐπιορκιῶν καὶ κακοτεχνιῶν συγκειμένην [...].1124 νύκτωρ τι ἄλλο ὑποτελεῖν Das Bild der Tag und Nacht aktiven Zunge des Redners unterstreicht dessen Omnipräsenz: Die neuen Modesophisten haben sich überall verbreitet und lassen sich nicht mehr vertreiben. Zur Thematik des Niedergangs der Rhetorik vgl. die Einleitung 1.6, S. 62. Die konkrete Empfehlung lautet, dass der Redner vor allem dann, wenn seine Manneskraft unter den vielen Liebschaften leidet – und damit ist auch der Verkehr mit Frauen wieder einbezogen – zum Mittel des oralen Verkehrs greifen soll. Dieser gehört ebenfalls in den Bereich des effeminierten, 1124 »Stelle dir [...] eine äusserst gewiefte Seelenmischung vor, aus Lügen und Listen, Meineiden und Betrügereien zusammengesetzt [...].« Typisch für Lukians Invektive ist, dass schlechter Charakter und schlechte Ausübung des Berufs beim Scheingebildeten zusammenfallen, d.h., dass Unbildung und Charakterschwäche miteinander einhergehen, während im Gegenzug Bildung das (richtige) Verhalten bewirkt, das einen echten πεπαιδευμένος auszeichnet (vgl. Adv. Ind. 16–17, 24, 28; Demon. 1–4). Zu weiteren (ausserlukianischen) Belegen der Verknüpfung von rhetorischer Kunst und Moral vgl. bereits Anm. 307.

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5. Kommentar (§§23–25)

sich passiv verhaltenden Mannes und wird in der Invektive als verpönteste Praktik dargestellt, so dass die Empfehlungen des Rednerlehrers zum Ende des vorliegenden §23 einen Höhepunkt erreichen, was ihre – zwischen Humor und Abscheu schwankende – Wirkung angeht. Besonders viele Zeugnisse bietet hierzu wiederum die lateinische Invektive:1125 Sowohl fellatio als auch cunnilingus werden als unmännlich angesehen, weil beide mit einer Unterordnung verbunden sind.1126 Oraler Verkehr und passive Homosexualität treten genau wie an vorliegender Stelle kombiniert auf bzw. werden derselben Person vorgeworfen (z.B. Sen. N.Q. 1,16; dabei scheint der Vorwurf des fellator noch stärker zu sein als derjenige des cinaedus, vgl. z.B. Mart. 2,28). Die in Rh. Pr. angedeuteten ›Nebenbeschäftigungen‹ der Zunge (τι ἄλλο) werden in Pseudol. an mehreren Stellen, mit teilweise zu Obszönität neigender Deutlichkeit, ausgesprochen, und zwar einerseits in Form der bereits zitierten ›Anklage‹ der Zunge (§25; s.o. zu: ἐπιορκεῖν), andererseits in Form von verstreuten Spitzen gegen den beschmutzten, unreinen Mund des Verspotteten, mit dem er eklige Küsse austeilt (§§23, 24, 31; vgl. zum Angriff auf das os impurum ebenso Adv. Ind. 3). In §28 werden als Tätigkeiten der Zunge explizit λεσβιάζειν und φοινικίζειν genannt (»sich wie eine Lesbierin bzw. ein Phönizier verhalten«), wobei ersteres fellatio, letzteres wohl cunnilingus meint.1127 Die Fokussierung auf die Tätigkeiten der Zunge (Rh. Pr.) bzw. auf die Anklage der Zunge (Pseudol.) ist kein Zufall: Es ist ja gerade der Mund, mit dem der Scheinsophist seine schlechten Reden formuliert, und ebendieser wird auch im Privaten unmoralisch eingesetzt.

1125 Vgl. Martial 11,61; 3,73; 4,43 und Catull 97,1–4. Siehe allgemein Williams [1999] 197– 203, Holzberg [2002] 195f. und Richlin [1992] 26: »[...] the strongest Latin invective is that against the os impurum, the unclean mouth that supposedly results from oral intercourse« (vgl. auch 27–28). Aus dieser Beschmutzung durch Oralverkehr heraus wird auch häufig das Vermeiden von Küssen oder nur schon Begrüssungen aus dem Mund der Verspotteten thematisiert (im Bereich des griechischen Epigramms z.B. AP 11,155.218–223; zu Lukian s. gleich). 1126 Dass fellare als ›passive‹ Betätigung empfunden wird, macht die Existenz des aktiven Pendants irrumare bzw. irrumari deutlich; cunnilingus ist wohl darum eines Mannes unwürdig, weil kein Einsatz des männlichen Gliedes erfordert wird und die Frau stattdessen stärker ins Zentrum rückt (vgl. Williams [1999] 202). Vgl. zur Verpöntheit des oralen Verkehrs auch die ›Anklage‹ der Zunge in Pseudol. 25: λαλεῖν μοι ἔργον ἐστὶ μόνον, τὰ δὲ τοιαῦτα ποιεῖν καὶ πάσχειν ἄλλοις μέρεσι προστέτακται; zudem beklagt sie ihre Befleckung (μιαίνομαι). 1127 Vgl. dazu Gal. vol. 12, p. 249: ἀλλὰ καὶ τῶν αἰσχρουργῶν μᾶλλον βδελυττόμεθα τοὺς φοινικίζοντας τῶν λεσβιαζόντων, ᾧ φαίνεταί μοι παραπλήσιόν τι πάσχειν ὁ καὶ καταμηνίου πίνων. »Aber auch von denen, die Hässliches tun, verabscheuen wir diejenigen, die sich wie Phönizier verhalten mehr als diejenigen, die sich wie Lesbierinnen verhalten, denn es scheint mir einer, der sogar Menstruationsblut trinkt, Ähnliches über sich ergehen zu lassen wie dieser [sc. ein Phönizisierender].«

§23: praecepta zum Privatleben eines Sophisten

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γονιμωτέρα Das Adjektiv γόνιμος (sowie der Komparativ γονιμώτερος) ist schon seit klassischer Zeit belegt und bedeutet grundsätzlich im biologischen Sinn »fruchtbar, zeugungsfähig, potent«.1128 Im metaphorischen Sinn »etwas erzeugend«, speziell bezogen auf die intellektuell-stilistischen Leistungen literarisch Tätiger, findet es sich bereits bei Ar. Ra. 96–99: Δι. γόνιμον δὲ ποιητὴν ἂν οὐχ εὕροις ἔτι / ζητῶν ἄν, ὅστις ῥῆμα γενναῖον λάκοι. / Ηρ. πῶς γόνιμον; Δι. ὡδὶ γόνιμον, ὅστις φθέγξεται / τοιουτονὶ τι παρακεκινδυνευμένον.1129 Vgl. konkret über sophistisch-philosophische Vorträge Max. Or. 1,7d: λόγων γονίμων; Philostr. VS 582 (positiv über Aristeides): τῷ γονίμῳ ἴσχυσε (»er war ein fruchtbarer/produktiver Redner«) und VS 599 (negativ über Rufin). Vgl. weiter Cass. Dio 38,28,2 (σχολὴν γονιμωτέραν: Musse, innerhalb derer ein Geschichtsschreiber Produktives hervorbringt); im engeren Sinn auf den Redestil bezogen: Longin 31,1; Cass. Longin. Append. I 54 (οἱ γονιμώτεροι »die Talentierteren«) und fr. 52 Patillon (χαρακτῆρ γόνιμος »produktiv-inspirierender Stil«). Der in vorliegender Stelle gemachte Bezug auf die Zunge, die »immer potenter« werden soll, nimmt sowohl die sprachlich-literarische Konnotation, wie sie bereits bei Aristophanes vorgezeichnet ist, auf, da der Sophist seinen Beruf durch seine γλῶττα ausübt, verweist aber gleichzeitig in provozierend direkter Weise auf die biologisch-sexuelle Konnotation der Potenz, die hier vom Glied des Sophisten auf seine Zunge übertragen wird. §24 Die Ironie der vorangegangenen Empfehlungen zum Privatleben (§23) wird in §§24–25 um eine Stufe gesteigert, indem der Rednerlehrer über seinen eigenen lasterhaften und aus konventioneller Sicht verabscheuungswürdigen Lebenslauf spricht, der grosse Starsophist sich also ganz persönlich äussert: Damit liegt eine scheinbare Untermauerung der Nützlichkeit und des Erfolgs der bezüglich des Privatlebens gemachten Empfehlungen vor, die aber dadurch lächerlich wird, dass der Lehrer selbst weder als Frauenheld gelten kann, noch mit zahlreichen hübschen jungen Sklaven Verkehr 1128 Vgl. v.a. medizinisch-biologische und naturphilosophische Texte wie Hp. Vict. 1,25; Arist. GA 765b (über die Fruchtbarkeit von Samen: σπέρμα [...] γονιμώτερον); HA 576a (εἰσὶ δ’ οἱ πρεσβύτεροι τῶν ἵππων γονιμώτεροι); Anaximand. test. fr. 10 DK; weiter auch Plut. mor. 651b und 912e. 1129 »Di.: Wenn du einen potenten Poeten suchst, der ein edles Wort ertönen lassen kann, dürftest du keinen mehr finden. He.: Wie meinst du ›potent‹? Di.: So potent, dass er etwas Gewagtes etwa solcher Art sagen würde, (es folgen Beispiele).« Vgl. zur Stelle LSJ s.v. γόνιμος 3.: metaph. of persons, ποιητὴς γ. poet of true genius.

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5. Kommentar (§§23–25)

hat, sondern in seiner Jugend ein Lustknabendasein unter widrigsten Umständen gefristet hat. Wie bereits gesagt (vgl. die Einleitung zu §§23–25) ist diese βίοςSchilderung voll von invektivischen Elementen; ihr Inhalt umfasst folgende Hauptpunkte: Niedere Herkunft, sexuelle Abartigkeiten (insbesondere Lustknabendienste), Schamlosigkeit und schlechter, betrügerischer Charakter.1130 Dabei ist zu beachten, dass diese Elemente zu den vorgegebenen Teilen eines ψόγος gehören, wie wir sie in den antiken rhetorischen Lehrbüchern1131 finden: Ein ψόγος (vituperatio; »Schmähung«), genau wie sein Gegenteil ἔπαινος (laus; »Lob«), orientiert sich am βίος der betreffenden Person und weist neben Proömium und Epilog eine Behandlung der Themen Abstammung (γένος, mit der Unterteilung in ἔθνος, πατρίς, πρόγονοι, πατέρες), Erziehung und Ausbildung (ἀνατροφή/educatio), Beschaffenheit von Geist (ψυχή/animus) und Körper (σῶμα/corpus), Lebensumstände (τύχη/extraneae res) auf. Wie es üblich ist, wenn Invektivisches in andere Trägerformen – in Rh. Pr. in eine Satire – eingearbeitet wird, werden diese Teile flexibel gehandhabt und müssen keine vollumfängliche Behandlung erfahren. Der Autor Lukian setzt, wie in §23 bereits deutlich geworden ist, den Schwerpunkt auf die (als Stärken ausgelegten) Charakterschwächen und den entsprechenden Lebenswandel sowie auf das Erscheinungsbild. Dabei wird im Kern auf die sexuelle Abartigkeit fokussiert: Sie ruft einen bestimmten Lebenswandel hervor, wirkt sich auf die äussere Erscheinung (effeminiert) und letztlich auch auf die Vortragsweise (asianisch1132) aus, ja scheint eine erfolgreiche Rhetorik erst zu erzeugen (vgl. den Kommentar zu §23: λαλίστεραι αἱ γυναῖκες). Der lehrbuchgerechte, chronologisch fortschreitende ψόγος, der aus dem Mund des Rednerlehrers als ›Lehre‹ im positiven Sinn, ja als ἔπαινος (Lobrede) auf sich selbst, erscheint, wird aufgrund des invektivischen Materials vom gebildeten Rezipienten sofort als pervertierter ψόγος (bzw. als ScheinEnkomion) erkannt, gehört dieser doch zu den in der Rhetorikschule trainierten προγυμνάσματα.1133

1130 Vgl. dazu Kosters Termini im Anhang zur Beschimpfungstopik der Invektivensprache ([1980] 363): »Ehrlose Herkunft«; »Vorwurf der Widernatürlichkeit«; »Ehrenrührigkeit des Lebenswandels«; »Herabsetzung als Missetäter«, »entehrende Abstrakta / Konkreta«. 1131 Aphthonios 8, p. 22,1–11 Rabe; Rhet. Her. 3,6,10–15; Cic. Inv. 1,34–36 und 2,177–178; Quint. Inst. 3,7. 1132 In der Debatte über Gesang und Asianismus schwingt meist die Implikation von Verweichlichung mit, vgl. bereits Anm. 966. 1133 Vgl. Koster [1980] 15. Siehe auch Robinson [1979] 35 zu den lukianischen Gestaltungsvarianten in der Präsentation einer Invektive: »[...] the most sophisticated variant is to place the attack in the mouth of the alazon himself, making him deliver a mock-encomium of his own vices. This is the case with A Professor of Public Speaking.«

§24: Der βίος des Rednerlehrers

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Zusätzlich zum Unterhaltungswert eines solchen pervertierten ψόγος erfüllt der in §§24–25 dargelegte βίος eine wichtige Funktion im Gesamtduktus der Schrift und in der Stilisierung der Figuren, insbesondere des Rednerlehres, welcher hier spricht. Besteht bis zur vorliegenden Passage die Möglichkeit der ironischen Verspottung einer konkreten historischen Person oder Schule, welche im βίος nun zu einem eindeutigen Ende geführt werden könnte, so wird gerade diese Möglichkeit nicht verwirklicht, da die Lebensbeschreibung den Sprecher keineswegs konkretisiert, sondern weiter anonymisiert: Er narrt die Rezipierenden insofern, als er vorgibt, über sich zu erzählen, seine Maske jedoch auch hier nicht fallen lässt. Die scheinbar konkreten Angaben über seine geographische Herkunft führen in ein Niemandsland und entpuppen sich als gezielte Dislokalisierung (s.u. zu: ὑπὲρ Ξόϊν καὶ Θμοῦιν; ἐπ’ ἀμφοδίου τινός), seinen aktuellen Namen – den vorhergehenden, wenn auch generalisierenden, erfahren wir immerhin – verschleiert er in einem Rätsel (s.u. zu: τοῖς Διὸς καὶ Λήδας παισὶν ὁμώνυμος). Die Passage scheint mir daher die Möglichkeit der Konzeption des Rednerlehrers als komische Figur, oder eben auch als Narrenfigur zu bestätigen (vgl. dazu die Einleitung 1.6, S. 63f.), und damit auch die Intention der gesamten Schrift als närrisches Stück über gute und schlechte Rhetorik und als amüsanter Prüfstein und Denkanstoss für die Rezipierenden (vgl. auch die einleitenden Bemerkungen zu §25). Der Rednerlehrer in seiner Anonymisierung ist als ›multiple‹ Figur interpretierbar, als ›Super-Sophist‹, der alle negativen bzw. potentiell anstössigen Verhaltensweisen, die in der Vortragskultur der Zweiten Sophistik auftreten, auf sich vereinigt. Diese Figurengestaltung weist eine Nähe auf zur komischen Technik, wie sie bei Aristophanes beispielsweise in den hybriden Figuren des »Verwandten« (κηδεστής) in den Thesmophoriazusen und des Dikaiopolis in den Acharnern verwirklicht ist.1134 ἢν ταῦτα, ὦ παῖ, καλῶς ἐκμάθῃς Dieser Beginn des neuen Kapitels erscheint im Licht des Vorangegangenen wiederum obszön in der Formulierung: Der Lehrer scheint seinem Schüler auch für den Unterricht in sexuellen Praktiken zur Verfügung zu stehen, und die Anrede als παῖς, die sich bereits in §1 (neben μειράκιον, beides in sokratisch-platonischem Duktus) findet, gewinnt im Kontext die weitere Konnotation der Einnahme der sexuellen Rolle eines παῖς, wie sie u.a. in §23 gefordert ist. Erst im Verlauf der Fortsetzung ist der Beginn auch allgemeiner auf die gesamte präsentierte Lehre bezogen zu verstehen (vgl. ἄριστον ῥήτορα; τὰ ἀγαθὰ παρὰ τῆς Ῥητορικῆς).1135 1134 1135

Siehe dazu Fisher [1993] und die Einleitung 1.8. Zur Nähe der vorliegenden Passage zu Aristophanes’ Wolken vgl. Anm. 224.

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5. Kommentar (§§23–25)

Das Kompositum ἐκμανθάνειν kann ausgehend von der Grundbedeutung »genau lernen« einerseits »erfahren, herausfinden«, andererseits »auswendig lernen« bedeuten.1136 In der ersten Bedeutung ist uns das Verb schon zweimal begegnet, vgl. Rh. Pr. 1: καὶ δὴ τὰς ἐπὶ τοῦτο ἀγούσας ὁδοὺς αἵτινές ποτέ εἰσιν ἐθελήσεις ἐκμαθεῖν und Rh. Pr. 9: εἴ τις ἐκμάθοι τὴν ταχίστην ὁδόν; an vorliegender Stelle liegt primär die Bedeutung »(sexuelle) Erfahrungen machen« vor, sekundär auf die gesamte Lehre bezogen ist »auswendig lernen« gemeint. Lukian verwendet das Verb häufig (33 Belege); syntaktische und inhaltliche Ähnlichkeit weisen folgende zwei Passagen auf, jedoch findet sich nirgends die sexuelle Konnotation: Vit. Auct. 11 (über den leichtesten Weg, ein Philosoph zu werden; vgl. dazu bereits den Kommentar zu §23: λοιδορεῖσθαι): οὐδέν σε κωλύσει θαυμαστὸν εἶναι, ἢν μόνον ἡ ἀναιδεία καὶ τὸ θράσος παρῇ καὶ λοιδορεῖσθαι καλῶς ἐκμάθῃς1137 sowie Hermot. 81 (die Prahlerei eines jungen ›Möchtegern-Stoikers‹): ἢν τὸν λῆρον τοῦτον, ἔφη, ἐκμάθω ἀκριβῶς, οὐδὲν κωλύσει με μόνον πλούσιον μόνον βασιλέα εἶναι [...].1138 Nicht nur auf lächerliche, sondern vor allem auf rein äusserlich betrachtet ernsthafte Lerngegenstände wendet Lukian das Verb an (z.B. Anach. 14 und 22), oft allerdings, um sie dann kritisch-spöttisch zu hinterfragen (v.a. philosophische Lehren; vgl. Hermot. 32, 35, 45, 48; Ikaromen. 5, 23; Vit. Auct. 21; Peregr. 11).1139 Zudem verwendet er mehrfach die Junktur τέχνην ἐκμανθάνειν »eine Kunst erlernen« (vgl. Somn. 1 und 2; Paras. 1; Abd. 4 und 24), was einen Bogen zurück zur vorliegenden Stelle schlägt, weil damit das Erlernen eines Berufs, genauso aber eines Scheinberufs, wie ihn die kritisierten Scheinsophisten ergreifen, thematisiert wird. Im engeren Kontext betrachtet ist dies letztlich das Erlernen der ›Kunst‹ der Homosexualität, wodurch der konventionelle Begriff einer τέχνη lächerlich gemacht wird. Auch an zwei Stellen in Pseudologista treibt Lukian seinen Spott mit dem Angegriffenen und dessen geringem Wissen durch Verwendung des Verbs ἐκμανθάνειν; vgl. §13 (Lukian erklärt seinem Opfer die Bedeutung des Wortes ἀποφράς und fügt dann sarkastisch an): πάνυ γοῦν τοῦτ’ ἔστι τὸ λοιπόν, κἂν ἐκμάθῃς αὐτό, πᾶν ἡμῖν εἰδὼς ἔσῃ1140 und §14 (Lukian 1136

Vgl. LSJ s.v.: learn thoroughly; II. examine closely, search out; III. learn by heart. »Nichts wird dich daran hindern, ein Objekt der Bewunderung zu sein, wenn du nur Schamlosigkeit und Kühnheit pflegst und ganz genau lernst, wie man beschimpft (bzw. Schimpftiraden sorgfältig auswendig lernst).« Zur Formulierung οὐδέν σε κωλύσει vgl. Rh. Pr. 6 und 26. 1138 »Wenn ich dieses Geschwafel«, sagte er, »sorgfältig auswendig lerne, dann wird mich nichts hindern, allein reich, allein König zu sein [...].« 1139 In diesem witzig-spöttischen Sinn bezüglich des Gegenstandes des ἐκμανθάνειν vgl. bereits Aristophanes V. 1387 und Ec. 244 (Tricks der Redner). 1140 »Dies ist also alles, was fehlt, und wenn du das gelernt hast, dann wirst du uns allwissend sein.« 1137

§24: Der βίος des Rednerlehrers

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bemerkt spöttisch, dass er sich mit dem Wort ἀποφράς wohl nicht in der richtigen Sprache an sein Opfer gewandt habe): ἐχρῆν γὰρ ἐχρῆν ἢ κατὰ Παφλαγόνων ἢ Καππαδοκῶν ἢ Βακτρίων πάτρια διαλέγεσθαί σοι, ὡς ἐκμάθῃς τὰ λεγόμενα καὶ σοὶ ἀκούειν ᾖ ἡδέα.1141 θαρρῶν Vgl. zum Verb θαρρεῖν, das hier die Zuversicht auf Seiten des Lehrers bezeichnet, die sich aber genauso auf den Schüler überträgt, bereits §1: τό γε ἐπ’ ἐμοὶ καὶ πάνυ θαρρῶν ὡς τάχιστα δεινὸς ἀνὴρ ἔσῃ γνῶναί τε τὰ δέοντα καὶ ἑρμηνεῦσαι αὐτά und §22: τὰ δ’ ἄλλα χρὴ θαρρεῖν. Es bestehen zudem inhaltliche Parallelen zu §1 in der Versicherung, den Schüler so rasch als möglich (τάχιστα; οὐκ εἰς μακράν) zu einem hervorragenden Redner (δεινὸς ἀνὴρ κτλ.; ἄριστον ῥήτορα) zu machen, wobei Rednerlehrer (§24) und Ratgeber (§1) in ihrer Haltung miteinander verschmelzen. ἐπαγγέλλομαι Das Verb ἐπαγγέλλειν ist hier in der Bedeutung »versprechen« gebraucht; im Medium speziell »(von sich aus) bereitwillig versprechen; anbieten«, vgl. z.B. Hdt. 3,135,3 und 6,35,2 sowie LSJ s.v. 4.: more freq. in Med., promise unasked or offer of one’s free will. Lukian verwendet die vorliegende Junktur θαρρῶν ἐπαγγέλλομαι auch in Bacch. 5; vgl. weiter zu ἐπαγγέλλειν Im. 15 und Philopseud. 7. οὐκ εἰς μακράν Zum Ausdruck οὐκ εἰς μακράν [sc. ὥραν] (»binnen kurzer Zeit«) vgl. Demosthenes Or. 2,20; Aischines Or. 3,98; Menander Sam. 718. μακράν wird auch alleinstehend als Adverb (räumlich [sc. ὁδόν]: »weit« und zeitlich [sc. ὥραν]: »lange«) gebraucht; vgl. Aischylos Pr. 857 (οὐ μακρὰν λελειμμένοι) und Aristophanes Ra. 438 (μηδὲν μακρὰν ἀπέλθῃς). Lukian selbst benutzt die Wendung recht häufig (insgesamt 16 Belege); im selben Duktus wie an vorliegender Stelle in Somn. 10 (Paideia verspricht Lukian eine rasche Ausbildung in allem, was wichtig ist): [...] καὶ ὅλως ἅπαντα ὁπόσα ἐστί, τά τε θεῖα τά τ’ ἀνθρώπινα, οὐκ εἰς μακράν σε διδάξομαι.1142 Betont wird das rasche Erreichen des Status eines Starsophisten, wodurch ein Bogen zum Anfang der Schrift und zur Wegmetaphorik geschlagen wird, vgl. §1: τάχιστα; §3: ἐν βραχεῖ; §4: ἐν βραχεῖ. Die Lehrerfigu1141 »Denn ja, ich hätte in der Sprache der Paphlagonier, Kappadokier oder Baktrier mit dir sprechen sollen, damit du das Gesagte genau verstehst und es deinen Ohren angenehm ist.« 1142 »[...] kurz: Ich werde dich rasch in allem, was da ist, in Göttlichem und Menschlichem, belehren.« Vgl. zu Lukians Schrift Somnium die Einleitung 1.5.b.

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5. Kommentar (§§23–25)

ren versichern den Schüler auch zwischendurch immer wieder der Kürze der Ausbildung, vgl. §6: μιᾶς οὐδὲ ὅλης ἡμέρας; §15: τάχιστα; πρὶν ἥλιον δῦναι; §22: ἐν βραχεῖ. An vorliegender Stelle werden durch den nachdoppelnden Ausdruck ἐν βραχεῖ (s.u.) das tatsächlich nahende Ende der Schrift, und damit der Ausbildung, sowie zusätzlich der Profit aus dem Rednerberuf, dessen sich der Schüler bald erfreuen kann, unterstrichen. σε ἄριστον ῥήτορα καὶ ἡμῖν ὅμοιον ἀποτελεσθήσεσθαι ἀποτελεῖσθαι in passiver Bedeutung heisst wörtlich »auf vollkommene Weise zu etwas gemacht werden«;1143 mit dieser Formulierung werden Stellen aufgegriffen, welche dem Schüler unter Verwendung von ähnlichem Verbmaterial der Bedeutung »machen zu« und mit Verweis auf die Kürze der Zeit garantieren, ein (exzellenter) Redner zu werden, vgl. Rh. Pr. 4: ῥήτορα δέ, ὃ πολὺ ἔνερθε τῆς ποιητικῆς μεγαληγορίας ἐστίν, ἐν βραχεῖ καταστῆναι ἀδύνατον, εἴ τις ἐκμάθοι τὴν ταχίστην ὁδόν; und Rh. Pr. 15: πρὶν ἥλιον δῦναι ῥήτορά σε ὑπὲρ τοὺς πάντας ἀποφανῶ, οἷος αὐτός εἰμι. Bereits hier werden explizit die Exzellenz des neu ausgebildeten Redners (ὑπὲρ τοὺς πάντας) genannt sowie die Schaffung eines Ebenbildes des Rednerlehrers selbst (οἷος αὐτός εἰμι).1144 In vorliegendem Kontext zentral ist vor allem die Angleichung des Schülers an den Rednerlehrer, was Charakter und Moral angeht. Obwohl in dieser Bedeutung nicht belegt, könnte hier die Verwendung des Kompositums ἀπο-τελεῖν auch auf die zuvor vom Rednerlehrer eingeflochtene Mysterienterminologie anspielen, so dass – gegen Ende des Lehrgangs – die Konnotation »vollständig eingeweiht« mitschwingen würde; vgl. dazu Rh. Pr. 14: εἰ μὴ προ-ετελέσθης und Rh. Pr. 16: καθάπερ ἀτέλεστόν τινα. Dadurch erhielte die Stelle zusätzlichen Witz, indem ein letztes Mal darauf verwiesen würde, dass der Schüler im Schnellverfahren (οὐκ εἰς μακράν) direkt in die höchste Stufe des Rednerdaseins (ἄριστον ῥήτορα) eingeweiht werden wird (ἀπο-τελεσθήσεσθαι).

1143

Lukian gebraucht ἀποτελεῖσθαι in dieser Bedeutung mehrfach, vgl. z.B. Alex. 1 (über die absolute moralische Verwerflichkeit Alexanders): αὐτίκα μάλα τῶν ἐπὶ κακίᾳ διαβοήτων ἀκρότατος ἀπετελέσθη; Hermot. 8 (über den vollendeten Stoiker): ἀλλ’ ὃς ἂν ἀποτελεσθῇ πρὸς ἀρετήν, οὔτε ὀργῇ οὔτε φόβῳ οὔτε ἐπιθυμίαις ὁ τοιοῦτος ἂν δουλεύοι [...]; ebenso Bis Acc. 8; Im. 7. 1144 Vgl. dazu auch die Aussagen des Ratgebers über das exzeptionelle Können des Rednerlehrers, als er das Wort an ihn abtritt (§12: γελοῖον γὰρ ὑπὲρ τοιούτου ῥήτορος ἐμὲ ποιεῖσθαι τοὺς λόγους), sowie das ausschweifende Eigenlob des Rednerlehrers selbst (§13: Μῶν σέ, ὦ ἀγαθέ, ὁ Πύθιος ἔπεμψε πρός με ῥητόρων τὸν ἄριστον προσειπών). Vgl. weiter die Aufforderung des Rednerlehrers, seine eigene Gehweise nachzuahmen (§15: βάδισμα οἷον τὸ ἐμόν).

§24: Der βίος des Rednerlehrers

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ἐν βραχεῖ Vgl. den Kommentar oben zu: οὐκ εἰς μακράν sowie zu §1: τάχιστα. An vorliegender Stelle bezieht sich die Kürze der Zeit allerdings nicht mehr auf die zu absolvierende Ausbildung, sondern auf die sich danach rasch einstellenden Vorteile des Rednerberufs (vgl. dazu das folgende Lemma). τὰ ἀγαθὰ παρὰ τῆς Ῥητορικῆς Vgl. dazu Rh. Pr. 3, wo die durch die Rhetorik erworbenen »Güter« (ἀγαθά) ein erstes Mal genannt sind: σὺ δὲ πρὸ πολλοῦ ἄνω ἐστεφανωμένος εὐδαιμονέστατος ἔσῃ, ἅπαντα ἐν βραχεῖ ὅσα ἐστὶν ἀγαθὰ παρὰ τῆς Ῥητορικῆς μονονουχὶ καθεύδων λαβών (siehe den Kommentar zu: παρὰ τῆς Ῥητορικῆς). In Rh. Pr. 6 werden diese Güter konkret aufgezählt (Horn der Amaltheia, Reichtum, Ruhm, Stärke, Komplimente). Die grundsätzlich positive Konnotation dieser Güter, deren Erwerb durchaus legitim ist, wird durch das philosophische setting und philosophische Subtexte (Platon, Kebes) von Beginn weg ironisiert und in Frage gestellt. Noch dazu bleibt von der ›reichen Ernte‹ in der nachfolgenden Schilderung des Rednerlehrers nicht mehr viel übrig: Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander, denn der Rednerlehrer verweist nur darauf, dass er durch seine Rhetorik, die aus Verwegenheit, Unbildung und Unverschämtheit besteht, seine ärmliche Herkunft einigermassen wettmachen bzw. sich durchschlagen konnte. Das Horn der Amaltheia und übergrosser Reichtum rücken hier in weite Ferne. Auch in seinem Sexualleben ist er nicht in dem Sinne erfolgreich, wie er es dem Schüler in §23 empfiehlt. In §25 wird weiter deutlich, dass er als Gerichtsredner nicht wirklich grosse Erfolge feiern kann, sondern durch den blossen Schein von Erfolg nur gerade genügend Klienten anlockt, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten (s.u. zu §25: ἡττῶμαι μὲν τὰ πλεῖστα κτλ.). Sein Ruhm besteht zudem darin, dass er von allen gehasst wird und berüchtigt ist wegen seines schlechten Charakters, worauf er allerdings stolz ist (s.u. zu §25: τὸ μισεῖσθαι πρὸς ἁπάντων; ἐπὶ τῇ μοχθηρίᾳ τοῦ τρόπου καὶ πολὺ πρότερον τῶν λόγων). So wird an vorliegender Stelle und im Verlauf des folgenden §25 aufgedeckt, worin die ἀγαθά der neuen Moderhetorik letztendlich bestehen – und dies durch ihren eigenen Vertreter. Der Rednerlehrer merkt dabei entweder nicht, dass sein Lebensweg als überhaupt nicht erfolgreich einzustufen ist und hinter seinen Versprechungen weit zurücksteht, oder aber – und das ist wahrscheinlicher – er löst in seinen ambivalenten (närrischen) Aussagen die Ansprüche absichtlich nicht ein und konterkariert seine eigene Lehre, um den Rezipierenden deren Unzulänglichkeit zu zeigen.1145

1145

Vgl. dazu auch die einleitenden Bemerkungen zu §24 oben und §25 unten.

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5. Kommentar (§§23–25)

πατρὸς μὲν ἀφανοῦς Was der Rhetoriklehrer hier über sich erzählt, dass er nämlich aus absolut niederem Stand heraus durch die Rhetorik einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt habe, lässt Lukian auch die personifizierte Rhetorik bzw. Paideia in weiteren Schriften über Rhetorik für sich reklamieren: Sie macht ihre Schüler reich und berühmt. Das Adjektiv ἀφανής steht dabei jeweils regelmässig, um die (überwundene) Unbekanntheit, das Dasein zwischen allen anderen Mittellosen auszudrücken.1146 Das Gegenteil eines ἀφανής umfasst, wie aus weiteren lukianischen Passagen deutlich wird, adlige Abstammung, Erziehung und Bildung, Besitz.1147 Thematisiert wird hier also die im Rhetorikberuf enthaltene Möglichkeit des sozialen Aufstiegs sowie gleichzeitig die Perzeption des rhetorisch Gebildeten als ein Mitglied der Elite.1148 Inhaltlich wird in vorliegender Passage über die ärmliche Herkunft des Lehrers ein Topos der Invektive verarbeitet, den Lukian beispielsweise gegen den Lügenpropheten Alexander (Alex. 11: ἄμφω τοὺς γονέας ἀφανεῖς καὶ ταπεινούς) anwendet und den der Rednerlehrer hier gegen sich selbst heranzieht.1149 Zu diesem Invektiventopos ist Demosthenes’ Kranzrede (De corona) aufschlussreich, ein Paradebeispiel einer Invektive innerhalb der Gattung Rhetorik.1150 Sie ist nicht nur passend, weil ebenfalls von Redner zu Redner gesprochen wird, wobei natürlich die Hintergründe des Angriffs bei Demosthenes bzw. der Ironisierung in Rh. Pr. verschieden sind – einerseits die Politik, andererseits die (Aus-)Bildung bzw. der Bildungsmangel mit all seinen Konsequenzen –, sondern weit wichtiger ist dabei die Tatsache, dass diese Rede des Demosthenes seit ihrer Publikation grosse Bewunderung genoss, speziell aber in der Zeit des Attizismus,1151 sie war gar »the ultimate model for emulation under the Second Sophistic«1152. Aufgrund dieser enormen Wirkungsgeschichte ist es nicht erstaunlich, dass gewisse Elemente in Lukians invektivenartigen Schriften Demosthenes’ De corona sehr nahe kommen – teilweise so nahe, dass man von einer bewussten Intertextualität 1146 Vgl. Bis Acc. 27 ([...] τῷ ἀχαρίστῳ τούτῳ ἐμαυτὴν ἐνεγγύησα πένητι καὶ ἀφανεῖ καὶ νέῳ [...]. καὶ κλεινὸν αὐτὸν καὶ ἀοίδιμον ἐποίουν κατακοσμοῦσα καὶ περιστέλλουσα) sowie Somn. 9 und 11 ([...] οὐδ’ ἐπὶ τῆς ἀλλοδαπῆς ἀγνὼς οὐδ’ ἀφανὴς ἔσῃ). 1147 Phal. 1,2: ἐγὼ γὰρ οὐ τῶν ἀφανῶν ἐν Ἀκράγαντι ὤν, ἀλλ’ εἰ καί τις ἄλλος εὖ γεγονὼς καὶ τραφεὶς ἐλευθερίως καὶ παιδείᾳ προσεσχηκώς [...] (vgl. Rh. Pr. 24: οὐδὲ καθαρῶς ἐλευθέρου; ἀμαθία); Demon. 3: ἦν δὲ τὸ μὲν γένος Κύπριος, οὐ τῶν ἀφανῶν ὅσα εἰς ἀξίωμα πολιτικὸν καὶ κτῆσιν. 1148 Vgl. dazu auch die Einleitung 2.1 sowie den Kommentar zu §2: ὁπόσοι τέως μηδὲν ὄντες ἔνδοξοι καὶ πλούσιοι καὶ νὴ Δί’ εὐγενέστατοι κτλ. Siehe auch Somn. 11 und 13. 1149 Vgl. zu den Elementen einer Invektive die einleitenden Bemerkungen zu §24. 1150 Vgl. Koster [1980] 78. 1151 Vgl. z.B. Dion. Hal. Dem. 14,1; Thuk. 54,6 und Cic. Or. 8,26. 1152 Vgl. Usher [1993] 19. Cribiore [2001] 231 verweist auf einen ägyptischen Papyrus mit Auszügen aus De corona, die wohl von einem Rhetorikschüler notiert worden sind, um bei Bedarf in den eigenen Reden darauf zurückgreifen zu können.

§24: Der βίος des Rednerlehrers

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sprechen kann: Den Angriff auf Aischines’ ehrlose Herkunft leitet Demosthenes in §126 mit der Ankündigung ein, er wolle den Athenern sagen, wer Aischines sei und von welchen Eltern er abstamme (τίς ὢν κἀκ τίνων). Er fährt fort (§§129f.): Aischines’ Vater Tromes sei ein Sklave gewesen und Aischines selbst sei erst kürzlich1153 Athener und Redner geworden, wobei er den Namen seines Vaters durch Zufügung von zwei Silben zu ›Atrometos‹ geändert habe und seine Mutter hochtrabend ›Glaukothea‹ nenne. Sehr Ähnliches sagt der Lehrer in Rh. Pr. 24 über sich selbst: Er stammt aus ärmlichen, nicht-griechischen Verhältnissen, sein Vater ist ebenfalls Sklave, und er ändert seinen eigenen Namen von ›Potheinos‹ zum Namen des Sohnes von Zeus und Leda (in der Forschung teilweise identifiziert mit ›Pollux‹, vgl. den Kommentar zum Titel: ΡΗΤΟΡΩΝ ΔΙΔΑΣΚΑΛΟΣ sowie unten zu: τοῖς Διὸς καὶ Λήδας παισὶν ὁμώνυμος). Die Thematik ist derart ähnlich und die Worte des Demosthenes sind zu Lukians Zeit wohl so berühmt, dass sie tatsächlich den Hintergrund für Lukians Aussagen bilden dürften. An dieser Stelle soll ein kurzer Überblick zur Funktion der namentlichen Anspielungen und intertextuellen Bezüge auf Demosthenes innerhalb der ganzen Schrift gegeben werden: In §§9–10, 17 und 21 wird Demosthenes jeweils als Vorbild der Rhetorikausbildung thematisiert und von Ratgeber bzw. Rednerlehrer klar verworfen. Er dient als prominentes Aushängeschild der abzulehnenden alten Art der Rhetorik. Umso interessanter ist die Tatsache, dass in den Aussagen des Rednerlehrers dennoch intertextuelle Bezüge auf Demosthenes vorliegen. Wo solche herstellbar sind, weisen sie jeweils dasselbe Muster auf: Demosthenes wird zwar als Vorbild für Rhetorik im engeren Sinn abgelehnt, tritt aber als vorzüglicher Lieferant von Invektiventopik (die jeweils positiv umgedeutet wird) auf. Sämtliche Textstellen verweisen nämlich auf Demosthenespassagen, worin ein Gegner boshaft diskreditiert wird, immer mit Verweis auf dessen schlechten Charakter (die Belege stammen hauptsächlich aus De corona und De falsa legatione), wobei die demosthenischen Negativaussagen vom Rednerlehrer positiv umgedeutet auf sich selbst und seinen Schüler appliziert werden, vgl. den Kommentar zu §15: τὰ πρῶτα καὶ μέσα καὶ τελευταῖα τῶν λέγειν ἐπιχειρούντων; §20: πάνδεινόν τινα ἐν τοῖς λόγοις ἀγωνιστὴν; §§24–25:

1153 Hier spielt der Vorwurf der so genannten ὀψιμαθία (wörtlich »Spätlernen«) mit hinein, die Folgendes beinhaltet (Schmitz [1997] 150f.): »Dieser [sc. der ὀψιμαθής] lernt erst in hohem Alter die Dinge, die man eigentlich schon als Kind lernen müsste, und zeigt dabei Übereifer, kann aber in dieser spät erworbenen Bildung nie mehr die Sicherheit gewinnen, die die Jungen erwerben, sondern bleibt ein Halbgebildeter.« Man vergleiche auch Demosthenes über seinen eigenen, ehrenvollen Werdegang (§§257f.), der eine gute Ausbildung beinhaltete.

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5. Kommentar (§§23–25)

passim.1154 Dieses Phänomen der Ablehnung und gleichzeitigen Bezugnahme auf Demosthenes illustriert dessen Allgegenwärtigkeit in der Zeit der Zweiten Sophistik, der man sich letztlich nicht entziehen kann, und passt wiederum vor allem in das ambivalente (närrische) Konzept von Rh. Pr., indem der berühmte Redner gleichzeitig Ablehnung und Zustimmung erfährt, die Rezipierenden somit in ihrem Urteil auf sich selbst zurückgeworfen werden.1155 οὐδὲ καθαρῶς ἐλευθέρου Vgl. dieselbe Formulierung in Luk. Tim. 52 (im Streit schlägt Timon den Redner Demeas, welcher sich entrüstet): τυραννίδι Τίμων ἐπιχειρεῖς καὶ τύπτεις τοὺς ἐλευθέρους οὐ καθαρῶς ἐλεύθερος οὐδ’ ἀστὸς ὤν;1156 Inwiefern ein Mensch als »nicht absolut frei geboren« bezeichnet werden kann, macht die Fortsetzung in Rh. Pr. deutlich, da der Rednerlehrer Sohn eines freigelassenen Sklaven ist und der Freigelassene immer in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis zu seinem früheren Herrn bleibt. Vgl. erklärend z.B. Orig. Fragmenta ex comm. in ep. i ad Corinth. 38,10: ὁ γὰρ ἀπελεύθερος οὔτε καθαρῶς ἐλεύθερός ἐστιν οὐδὲ ἔτι δοῦλος. Vgl. weiter zum Vorwurf der unfreien Herkunft in invektivischer Rhetorik Demosth. Or. 18,129 und 131 (ὁ πατήρ σου Τρόμης ἐδούλευε; ἐλεύθερος ἐκ δούλου [...] γεγονώς) sowie die Bemerkungen oben zu: πατρὸς μὲν ἀφανοῦς. ὑπὲρ Ξόϊν καὶ Θμοῦιν Zur Nennung der niederen, unfreien Herkunft gesellt sich zusätzlich eine nicht-griechische, fremde Abstammung, was in Invektivenliteratur typisch ist, vgl. Demosthenes’ Vorwurf, Aischines sei nicht von Geburt an Athener (Or. 18,130). Als positiven Aspekt der ägyptischen Herkunft kann man allenfalls die Steigerung der Leistung des Rednerlehrers sehen, perfektes Griechisch zu 1154 Wieder in den engeren Bereich von Sprache/rhet. Auftritt gehören Begriffe, die Demosthenes und andere klassische Redner für sich ablehnen, die der Rednerlehrer allerdings in positiver Umdeutung in Bezug auf sein eigenes Verhalten anführt (siehe §22: ἐνοχλήσοντα; ἐπὶ τῷ φορτικῷ τῶν ὀνομάτων). 1155 Vgl. zum Ratgeber als Narrenfigur die Ausführungen auf S. 63f., die Einleitung zu §5 und zu §§9–10 sowie den Kommentar zu §10: ἀλαζὼν καὶ ἀρχαῖος ὡς ἀληθῶς καὶ Κρονικὸς ἄνθρωπος. Vgl. weiter die einleitenden Bemerkungen zu §24 sowie den Kommentar oben zu: τὰ ἀγαθὰ παρὰ τῆς Ῥητορικῆς. 1156 »Timon, du greifst nach der Tyrannei und schlägst freie Männer, wo du selbst weder völlig frei geboren noch ein Bürger bist?« – Die Schrift thematisiert die Menschenfeindlichkeit des Timon aus Athen, des Sohnes eines Echekratidas aus dem Demos Kollytos (vgl. Luk. Tim. 50 und DNP s.v. Timon [1]), was ihn grundsätzlich als freien athenischen Bürger markiert; der Angriff auf seine ἐλευθερία könnte ähnlich zu verstehen sein wie in Rh. Pr., dass nämlich sein Vater ein Freigelassener war.

§24: Der βίος des Rednerlehrers

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sprechen (vgl. Lukians Auseinandersetzung mit seiner eigenen ›barbarischen‹ Herkunft in Bis Acc. 27; Pisc. 19; Pseudol. 11; Scyth. 9; implizit auch Somn. 15–18; siehe auch Whitmarsh [2001] 116–129).1157 Xois und Thmuis sind unterägyptische Städte; Xois liegt im nordwestlichen Nildelta (Hauptstadt des xoitischen Gaues [νόμος]), Thmuis im nordöstlichen Nildelta (ab der römischen Kaiserzeit anstelle von Mendes Hauptstadt des mendesischen Gaues).1158 Durch die Zufügung der Präposition ὑπέρ (»jenseits von«) wird die geographische Angabe bezüglich der Herkunft des Vaters bewusst verschleiert: Ist bereits aufgrund der Nennung zweier nicht direkt beieinanderliegender Städte eine klare Lokalisierung unmöglich, so wird der Rezipient nun in ein Niemandsland, einen orientierungslosen Raum jenseits dieser beiden Orte gelotst. Diese Art der ›Dislokalisierung‹ lässt Zweifel am Wahrheitsgehalt des Dargelegten, ja an der Existenz der Figuren – und damit auch des Rednerlehrers selbst – aufkommen: Orte und Personen verschwimmen in einem phantastischen Nirgendwo. Dadurch, dass wir uns in Ägypten befinden, wird auf Rh. Pr. 5f. und auf die narrenhafte Gestalt des Händlers aus Sidon zurückverwiesen (vgl. den Kommentar zu: Σιδωνίου τινὸς ἐμπόρου), der seinerseits unwirkliche oder mindestens zweifelhafte Angaben über die Topographie Persiens und Ägyptens macht. μητρὸς δὲ ἀκεστρίας Auch mütterlicherseits zeigt die Herkunft des Rednerlehrers ein ärmliches Dasein auf, da seine Mutter als Näherin in einem Quartiersträsschen ihr Geld verdiente. Lukian ruft mit dem Wort ἀκέστρια eine Figur der Komödie auf (bei Antiphanes ist ein Stück dieses Titels belegt; vgl. PCG 2, p. 320f.)1159 und verwendet gleichzeitig eine spezifisch attizistische und damit 1157

Zudem stammt der Rednerlehrer damit aus der – gemäss den Ausführungen von sidonischem Händler und Ratgeber – positiv konnotierten Region, wohin der Schüler – adaptiert auf die Geschichte des Händlers – nach kurzem ›Flug‹ gelangen wird (vgl. §6: [...] οὐδέν σε κωλύσει ἤδη ῥήτορα δοκεῖν μιᾶς οὐδὲ ὅλης ἡμέρας ὑπερπετασθέντα τὸ ὄρος ἐκ Περσῶν εἰς Αἴγυπτον). 1158 Vgl. zur Geographie Ptol. Geog. 4,5,50–51 (Xois und Thmuis); Flav. Jos. Bell. Iud. 4,659 und Aristeid. Or. 36,113 (Thmuis), sowie an verschiedenen Stellen Herodian, der die Deklination der ägyptischen Namen auf -ις erklärt, die sich von derjenigen der griechischen unterscheidet (vgl. z.B. De pros. cath., Gr. Gr. vol. 3,1, p. 85 Lentz: ὁ δὲ λόγος ἐπὶ Ἑλληνικῶν ὀνομάτων, μή τις τὸ Ξόϊς καὶ Σάϊς Αἰγύπτια ὄντα καὶ παρ’ Ἡροδότῳ λεχθέντα παράθηται. ὡσαύτως δὲ καὶ Θμοῦις πόλις Αἰγύπτου [vgl. Hdt. 2,28,1]). Xois scheint – allerdings nur vorübergehend – zum sebennytischen Gau gezählt zu haben, so Strabon 17,1,19. Vgl. RE II.9 s.v. Xois, Sp. 2152–2155 und RE II.6 s.v. Thmuis 1), Sp. 294–296. 1159 Abgesehen davon, dass die niedere Herkunft ein Topos der Invektive ist, findet sich in Aristophanes’ Thesmophoriazusen ein entsprechender Spott, und zwar hinsichtlich Euripides’ Mutter, die als Gemüsehändlerin bezeichnet wird (Th. 386f.: προπηλακιζομένας ὁρῶσ’ ἡμᾶς ὑπὸ / Εὐριπίδου τοῦ τῆς λαχανοπωλητρίας; vgl. ebenso Th. 456; Ach. 457 und 478; Ra. 840). Zu der für die Komödie typischen Wortbildung auf -τρία vgl. die Kommentare zu Th. von Prato [2001] 234

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auffällige Vokabel, die zu seiner Zeit Erklärungen der Grammatiker hervorrief (vgl. Moiris p. 190: ἀκέστρια Ἀττικοί, ἠπήτρια Ἕλληνες; Aelios Dionysios s.v. ἀκέσασθαι καὶ ἀκέσαι· ἰάσασθαι, ῥάψαι [...]. τὸ δὲ ἠπήσασθαι παντελῶς βάρβαρον. ὅθεν καὶ ἀκέστριαν λέγουσιν, οὐκ ἠπήτριαν [Eintrag 64]1160). Drei Belege des Wortes ἀκέστρια bei Plutarch illustrieren weiter die geringe Geltung der Abstammung von einer Näherin (vgl. Aem. Paul. 8,11 und Arat. 54,3 über Philipps Sohn Perseus, der als uneheliches Kind einer Näherin galt, das Philipps Frau jedoch als das ihre aufnahm; vgl. auch Galba 9,1). Genau wie die Figur des Vaters wird auch diejenige der Mutter nur scheinbar lokalisiert: Wohnte dieser irgendwo »jenseits von Xois und Thmuis«, so wird der Blick des Rezipienten nun in einer Art Zoom auf ein bestimmtes Quartier gelenkt, in welchem die Mutter ansässig ist, doch bleibt dessen geographische Lage völlig im Dunkeln (s. gleich). ἐπ’ ἀμφοδίου τινός Mit dem Substantiv ἀμφόδιον »Strässchen, Quartiersträsschen; Quartier« reiht sich eine weitere auffällige, weil seltene Vokabel an (s.o. zu: ἀκέστρια), ein lukianisches hapax legomenon, welches bei ihm in dieser Diminutivform zuerst belegt ist.1161 Es liegt die Verkleinerung zum Substantiv ἄμφοδον vor, dessen Bedeutung von »Strasse«, wohl ursprünglich »Häuserblock umgeben von Strassen«, bis zu »Quartier« reicht1162 (klassische Belege sind selten, vgl. Ar. PCG 3.2, fr. 342 [überliefert bei Pollux, s.u.]; später häufiger, z.B. Polybios 39,3,2; LXX Je. 17,27; EM 557,46). Pollux zählt ebendiese Bedeutungen von ἄμφοδον im Rahmen einer Abhandlung über die verschiedenen Teile (μέρη) einer Stadt auf (9,36): ἀγυιαὶ (»Strassen«) μὲν κατὰ Ξενοφῶντα καὶ καθ’ Ὅμηρον [...]. ταῦτα δὲ καὶ ἄμφοδα ἔστιν εὑρεῖν κεκλημένα οὐ παρ’ Ἀριστοφάνει μόνον, εἰπόντι ἐν Θεσμοφοριαζούσαις1163 »ἄμφοδον ἐχρῆν αὐτῷ τεθεῖσθαι τοὔνομα«, ἀλλὰ καὶ παρ’ Ὑπερείδῃ ἐν τῷ περὶ ἀντιδόσεως πρὸς Πασικλέα »τὴν οἰκίαν τὴν und Austin/Olson [2004] 177 (Euripides’ Mutter war in Wahrheit von adliger Herkunft, siehe Philochoros FGrHist 328 fr. 218). 1160 Zu Dionysios siehe die Ausgabe von H. Erbse, Untersuchungen zu den attizistischen Lexika, Berlin 1950, 93–151. »ἀκέσασθαι und ἀκέσαι [bedeutet soviel wie] ἰάσασθαι (›heil machen‹), ῥάψαι (›flicken‹). ἠπήσασθαι ist eine völlig barbarische Ausdrucksweise, weshalb sie [sc. die Attiker] auch ἀκέστρια sagen und nicht ἠπήτρια.« Vgl. später auch Hesych s.v. ἀκέστρια [Eintrag 2347]; Phot. s.v. ἀκέσασθαι [Eintrag 729]. 1161 Ein weiterer Beleg nur noch bei Ps.-Makarios Homil. 19,1. 1162 Vgl. LSJ s.v.: street; II. block of houses surrounded by streets; hence ward, quarter of a town. 1163 Gemeint ist das zweite unter dem Titel Thesmophoriazusen bekannte Stück; eine Zusammenstellung der Fragmente und eine Diskussion des möglichen Plots findet sich bei Austin/Olson [2004] lxxvii–lxxxix.

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μεγάλην τὴν Χαβρίου καλουμένην καὶ τὸ ἄμφοδον«. καλοῖτο δ’ ἂν καὶ κῶμαι (»Quartiere«) ταῦτα. Durch die von Lukian verwendete Diminutivform und das verallgemeinernde τι (»irgendein«) wird die Bedeutungslosigkeit des Ortes, an welchem die Näherin ihre Tätigkeit ausübt, hervorgestrichen und ihre Figur dadurch anonymisiert. ἀδόκιμος Das bereits in klassischer Zeit häufig belegte Adjektiv ἀδόκιμος beinhaltet eine Reihe von Bedeutungen, einerseits »nicht echt« (immer im Zusammenhang mit Münzen)1164, andererseits »unnütz, ungeeignet, unglaubwürdig« (bezogen auf Dinge oder Personen) bis hin zu »verrufen, lasterhaft« (bezogen auf Personen).1165 Im engeren politischen Sinn verweist ἀδόκιμος auf die Dokimasieverfahren in Athen, wo die Beamten Rechenschaft über ihre Tätigkeit ablegen mussten.1166 Das Adjektiv, das der Rednerlehrer durch die Verwendung einer Litotes (οὐκ ἀδόκιμος) in positivem Sinn auf sich bezieht, ruft demnach diverse Kontexte auf. Aufschlussreich für vorliegende Stelle sind v.a. Belege, die zeigen, dass die innerhalb einer Polis gering Geachteten als ἀδόκιμοι bezeichnet werden, besonders auch diskreditierte Staatsmänner oder Redner (z.B. Xen. Lac. 3,3; Pollux 4,35), und Belege, die den Begriff direkt mit Armut und niederer Herkunft verknüpfen (vgl. Dion von Prusa Or. 66,28; Pollux 5,159: Kombination von ἀφανής und ἀδόκιμος; s.o.: πατρὸς ἀφανοῦς).1167 Diese beiden Bereiche werden vom Rednerlehrer im Vorangegangenen (Abstammung) und im Folgenden (lasterhaftes, betrügerisches Leben und Rednerdasein) thematisiert. Dennoch will er sich selbst als δόκιμος sehen, wobei er diese Bezeichnung nicht etwa wegen seines (guten) Charakters oder seiner Abstammung, sondern wegen seines für Lustknabendienste geeigneten Aussehens für sich beansprucht. So werden die Inhalte, welche einen Menschen gewöhnlich als οὐκ ἀδόκιμος auszeichnen, durch die Aussagen des Rednerlehrers pervertiert. Zusätzlich kann hineinspielen, dass in den attizistischen Lexika δόκιμος bzw. ἀδόκιμος zu Termini der Stilkritik geworden sind; sie bezeichnen an-

1164

Vgl. Plat. Lg. 742a; Plut. mor. 94d. Vgl. Aesop fab. 227,8 Hausrath; E. Tr. 497; Plat. Lg. 829d; Plut. mor. 4c und 952d. 1166 Vgl. z.B. Aeschin. Or. 3,15. 1167 Eine Rh. Pr. ähnliche Formulierung weist Isoc. Or. 8,7, worauf eventuell sogar als Subtext angespielt sein könnte (Isokrates thematisiert sein rhetorisches Können, das nicht auf lauter Stimme und Tollkühnheit [τόλμα] beruhe): οὐ μὴν παντάπασιν ἄχρηστος ἔφυν οὐδ’ ἀδόκιμος [...]. Lukian selbst verwendet dieselbe Formulierung bezogen auf den ›Hauslehrer‹ nochmals in Merc. Cond. 11 (δόξαντα εἶναι ἀδόκιμον). 1165

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gebrachtes bzw. unangebrachtes Vokabular.1168 Damit erhebt sich der Rednerlehrer implizit in die Reihen der guten Attizisten, was angesichts seiner dargebotenen Lehre Komik hervorruft. ἐπὶ ψιλῷ τῷ τρέφεσθαι Bevor er überhaupt richtig zu erzählen beginnt, stellt der Rednerlehrer sogleich klar, dass die Lustknabendienste, die er bei einem geizigen Liebhaber und später bei einer alten Liebhaberin verrichtete, allein aus materieller Not stattgefunden haben (vgl. auch unten: πλὴν ἀλλά γε διὰ τὴν πενίαν κτλ.; ὁ λιμός). Damit untergräbt er seine eigene Lehre, da solche Dienste in §23 aus Gründen des Ruhms empfohlen werden und ihnen sogar ein praktischer Nutzen für die Rhetorik nachgesagt wird (vgl. den Kommentar zu §23: λαλίστεραι αἱ γυναῖκες und τὰ ὅμοια πάσχοις). Der entschuldigende Tonfall und das Vorschieben finanzieller Ausflüchte stehen also in auffälligem – und daher für die Rezipierenden verdächtigem – Kontrast zu den Ermutigungen an den Schüler in §23. Auch folgende Differenz der beiden Passagen karikiert den Rednerlehrer weiter: Wird dem Schüler in §23 das Bild vermittelt, dass sich zahlreiche Frauen und auch (schöne, junge) Männer mit ihm einlassen werden – oder er im Notfall auch immer noch seine Sklaven benutzen kann –, so bleibt die Ausbeute des Rednerlehrers gering: Nur zwei alte, abstossende Personen interessieren sich für seine Dienste. So gibt Lehrer ein negatives Beispiel für die Funktionstüchtigkeit seiner Lehre. Vor dem Hintergrund der im 5. Jh. v.Chr. praktizierten Knabenliebe ist die vorliegende Äusserung des Rednerlehrers auch wegen eines anderen Aspekts unkonventionell, ja parodistisch: Nicht die Frage des Lebensunterhaltes, sondern vielmehr die Frage der guten Lebensweise (ἀρετή) und Bildung (παιδεία) und deren Vermittlung durch den älteren Partner sind zentrales Anliegen und Aufgabe dieser Verbindung. Das wird beispielsweise deutlich aus Pausanias’ Rede in Plat. Smp. 182a–185c, derjenigen Rede, auf die der Rednerlehrer wenig später durch seinen Ausruf νὴ τὴν πάνδημον anspielt (vgl. §25).1169 Der Rednerlehrer zeigt aber keinerlei Interesse an

1168 Vgl. z.B. Phryn. PS 35: ἀειλογία· δόκιμον. τὸ δ’ ἀειλογεῖν καὶ τὰ ὅμοια ἀδόκιμα. Ebenso PS 67 und 73 sowie Ecl. praef. 4–6 Fischer: ταῦτ’ ἄρα κελεύσαντός σου τὰς ἀδοκίμους τῶν φωνῶν ἀθροισθῆναι πάσας μὲν οὐχ οἷός τ’ ἐγενόμην τὰ νῦν περιλαβεῖν, τὰς δ’ ἐπιπολαζούσας μάλιστα καὶ τὴν ἀρχαίαν διάλεξιν ταραττούσας καὶ πολλὴν αἰσχύνην ἐμβαλλούσας. 1169 Vgl. v.a. Plat. Smp. 184d–e: ὅταν γὰρ εἰς τὸ αὐτὸ ἔλθωσιν ἐραστής τε καὶ παιδικά [...] καὶ ὁ μὲν δυνάμενος εἰς φρόνησιν καὶ τὴν ἄλλην ἀρετὴν ξυμβάλλεσθαι, ὁ δὲ δεόμενος εἰς παίδευσιν καὶ τὴν ἄλλην σοφίαν κτᾶσθαι, [...] μοναχοῦ ἐνταῦθα ξυμπίπτει τὸ καλὸν εἶναι παιδικὰ ἐραστῇ χαρίσασθαι.

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Bildung oder gar ethisch korrektem Verhalten (vgl. §15); zudem wären wohl seine Liebhaber die falschen Vermittler. γλίσχρῳ ἐραστῇ Das Adjektiv γλίσχρος ist bereits klassisch häufig belegt, unter anderem einmal mehr in der Alten Komödie.1170 Ausgehend von der Grundbedeutung »klebrig, zähflüssig«1171 nimmt es verschiedene metaphorische Bedeutungen an: »lästig, aufdringlich (als Adverb: beharrlich)«1172; »geizig, knausrig«1173 und auch »schäbig, ärmlich«1174. An vorliegender Stelle ist die Bedeutung »geizig, knausrig« passend; sie ist durch das Bild des »am Geld Klebenden« zu erklären, wobei das sowohl aus einem Zwang heraus geschehen kann (Armut), als auch aus Geldgier (Geiz). Der Liebhaber, über den wir hier weiter nichts erfahren, könnte den Typus des geizigen alten Mannes verkörpern, als Pendant zur unten genannten greisenhaften Liebhaberin (in Euphron PCG 5, fr. 9 wird der als φιλάργυρος und γλίσχρος Verspottete als γέρων bezeichnet; vgl. auch Menander Aspis 351: φιλάργυρος γέρων und Julian Or. 1,19d: καθάπερ οἱ φιλάργυροι γέροντες ὑπὸ τῶν κωμῳδῶν ἐπὶ τὴν σκηνὴν ἑλκόμενοι). In der Zweiten Sophistik ist das Adjektiv in allen Bedeutungen rege in Gebrauch,1175 scheint aber gerade wegen seiner Bedeutungsvielfalt auch erklärungsbedürftig zu sein.1176 Aufgrund seiner ärmlichen Herkunft lässt sich also der Rednerlehrer mit einem Liebhaber ein, wobei er von diesem nicht etwa auf Händen getragen wird, sondern dessen Knausrigkeit zu spüren bekommt.1177 Lustknabendienste sind ein weiteres topisches Motiv der Invektive, sehr ähnlich ist Luk. Pseudol. 18; dieselbe Unterstellung findet sich auch in Alex. 5–6. Vgl. 1170

Siehe zum Komödienvokabular bereits oben ἀκεστρίας sowie unten ἐγαστριζόμην. Vgl. z.B. Pherecrates PCG 7, fr. 75; Plat. Ti. 74d, 82d und 84a. 1172 Vgl. z.B. Aristophanes Ach. 452. 1173 Vgl. z.B. Euphron PCG 5, fr. 9. 1174 Vgl. z.B. Plat. R. 553c. 1175 Bei Lukian finden sich drei weitere Belege, wobei keiner die Bedeutung »geizig« aufweist: Bis Acc. 34 (»lästig«); Anach. 29 (γλισχρότης: Klebrigkeit); Fug. 13 (»schäbig«). Die Bedeutung »geizig« findet sich z.B. bei Plut. Them. 5,1; Dion von Prusa Or. 4,96 und 7,91. 1176 Vgl. dazu Phryn. PS 60: γλίσχρος· ὁ φιλάργυρος. κολλώδης γάρ τίς ἐστι καὶ ὀλισθηρὸς ὁ φιλάργυρος und 76: ἰξοί· ἐπὶ τῶν γλίσχρων καὶ φειδωλῶν. καὶ ἔοικε παρὰ τὸν ἰξὸν (»Vogelleim«) γεγενῆσθαι τοὔνομα, ὅτι καὶ ὁ ἰξὸς γλίσχρος ἐστίν. Vgl. auch Pollux 3,115 und zu den weiteren Bedeutungen Phryn. PS 57,9 und Pollux 4,199. 1177 Die Vokabeln γλίσχρος und ἐραστής finden sich zusammen und in ähnlichem Kontext, allerdings mit gegenteiliger Aussage, noch einmal bei Plutarch mor. 762b–c, wo über die positive Wirkung der Liebe gesagt ist, sie mache jeden Liebhaber, und sei er noch so geizig gewesen, zu einem grosszügigen und grossherzigen Menschen: δωρητικὸς δὲ καὶ ἁπαλὸς καὶ μεγαλόφρων γίνεται πᾶς ἐραστής, κἂν γλίσχρος ᾖ πρότερον, τῆς μικρολογίας καὶ φιλαργυρίας δίκην σιδήρου διὰ πυρὸς ἀνιεμένης. 1171

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5. Kommentar (§§23–25)

im römischen Bereich z.B. Ciceros zweite Philippische Rede (§45), wo Antonius mit der Aussage angegriffen wird, er sei ein puer emptus libidinis causa gewesen und seinem dominus völlig ergeben – ein Verhalten, das für einen freien Römer unangebracht ist (vgl. bereits den Kommentar zu §23: γενειήτης [...] φαλακρὸς). διεκπαίσας Das Verb διεκπαίειν, wörtlich »durchbrechen«, weist klassisch nur zwei indirekte Belege auf;1178 ab dem 1. Jh. v.Chr. werden die Belege zahlreicher. Inhaltlich findet sich das Verb zum grössten Teil in kriegerisch-militärischem Kontext, meist zur Bezeichnung eines Ausfalls oder Fluchtversuchs der unterlegenen bzw. belagerten Partei, manchmal auch zur Bezeichnung eines Einfalls der überlegenen Partei.1179 Für vorliegende Stelle weniger wichtig sind die vereinzelten Belege, die das Verb auf den Lauf von Flüssen oder auf Feuererscheinungen anwenden.1180 Besonders illustrativ sind Textstellen, welche das Verb auf einen einzelnen Menschen beziehen, wobei damit immer eine Heldentat beschrieben wird, z.B. Luk. Tox. 61 (Rettung eines Freundes aus einem brennenden Haus); Philostr. Heroicus 33,33 (Teubner; Olearius p. 714,16: über die tapfere Kampfweise des homerischen Helden Aias); Philostr. Imag. 2,13,1 (über einen Schiffbrüchigen, der sich durch die Meereswogen kämpft). Aus diesen Belegen wird deutlich, dass der Rednerlehrer hier eine besonders auffällige und v.a. in kriegerischem Kontext benutzte Vokabel aufgreift, die für seine Person und seinen Weg zur Rhetorik lächerlich überhöht wirkt: Er vergleicht seinen Weg auf den Gipfel der Redekunst mit einer Schlacht, in welcher er sich erfolgreich ›durchboxt‹ – wobei statt Heldenmutes θράσος, ἀμαθία und ἀναισχυντία dafür ausreichen. Dabei konterkariert er seinen Vokabulargebrauch (διεκπαίσας) gleich selbst, indem er den Weg ausdrücklich als leicht einstuft (τὴν ὁδὸν ταύτην ῥᾴστην οὖσαν), was nebeneinander betrachtet paradox erscheint. Zur Verwendung von kriegerisch-militärischem Vokabular durch den Rednerlehrer vgl. bereits den Kommentar zu §15: ἐφόδια [...] ἐπισιτίσασθαι und §20: οἱ πολλοὶ δὲ τὸ σχῆμα καὶ φωνὴν καὶ βάδισμα κτλ. 1178 So Aristoxenos fr. 18,24 Wehrli, überliefert bei Iamblich VP 250: Als ein Brandanschlag auf den Versammlungsort der Pythagoreer in Kroton erfolgte, konnten sich allein zwei junge Anhänger nach draussen retten (διεξεπαίσαντο ἔξω). Weiter auch Dioxippos PCG 5, fr. 3, überliefert bei Athen. Deipn. 3,100e. 1179 Vgl. Dion. Hal. Ant. Rom. 11,37,7; gehäuft finden sich Belege bei Flavius Josephus, z.B. Bell. Iud. 4,66 (καὶ πολλοὺς διεκπαίειν τολμῶντας οἱ Ῥωμαῖοι διέφθειραν), ebenso 3,526; 4,23; 7,208; 7,211. Vgl. auch Arrian An. 3,14,5 und 3,15,2. 1180 Vgl. Poseidonios fr. 9,14 Theiler (= Strab. 1,3,7,34) und Flav. Jos. Bell. Iud. 3,515 [Flüsse]; Philon Vit. Mos. 2,154 und Philostr. Imag. 2,17,5 [Feuer].

§24: Der βίος des Rednerlehrers

437

Der militärische Ausdruck dürfte im vorliegenden Kontext – eingebettet in die Darstellung der Lustknabendienste – zusätzlich eine sexuelle Konnotation (im Sinne der militia amoris) haben; vgl. ausführlicher den Kommentar unten zu: πλὴν ἀλλά γε διὰ τὴν πενίαν ὑφιστάμην τὸν ἆθλον κτλ. ὦ φίλη Ἀδράστεια Adrasteia wird mit der Göttin Νέμεσις gleichgesetzt1181 und in den Quellen mit der Vergeltung für prahlerische, unvorsichtige Grosssprecherei, für übermässiges Glück oder für frevelhafte Taten in Zusammenhang gebracht, wobei sie oft präventiv zur Abwehr angerufen wird (sog. Aposiopesis, vgl. Luk. Symp. 23: ἀπείη δὲ ἡ Ἀδράστεια; Dial. Meretr. 6,2 und 3: ὦ φίλη Ἀδράστεια). Bereits klassisch gibt es diverse Belege dieser Art, vgl. A. Pr. 936: οἱ προσκυνοῦντες τὴν Ἀδράστειαν σοφοί; E. Rh. 342: Ἀδράστεια μὲν ἁ Διὸς παῖς εἴργοι στομάτων φθόνον und 468: σὺν δ’ Ἀδραστείᾳ λέγω; Plat. R. 451a: προσκυνῶ δὲ Ἀδράστειαν; Demosth. Or. 25,37; weiter Men. Pk. 304 und Sam. 503.1182 Der Rednerlehrer, der sich vor aufschneiderischer Rede keineswegs scheut, nimmt trotzdem auf die darin lauernde Gefahr Bezug, indem er Adrasteia – wie die Formulierung φίλη zeigt – schmeichlerisch zu seiner Verbündeten macht.1183 Den Rezipierenden wird durch die Anrufung der Adrasteia das Agieren des Rednerlehrers implizit als frevlerisch oder zumindest zwielichtig ausgewiesen. πάντα ἐκεῖνα ἃ προεῖπον ἐφόδια, τὸ θράσος κτλ. Zum bereits genannten »Proviant« vgl. v.a. den Kommentar zu §15: ἐφόδια [...] ἐπισιτίσασθαι; κόμιζε; τὴν ἀμαθίαν; θράσος ἐπὶ τούτῳ καὶ τόλμαν καὶ ἀναισχυντίαν; βοὴν ὅτι μεγίστην καὶ μέλος ἀναίσχυντον. Siehe weiter §17: ἡ ἀναισχυντία; §22: ἡ τόλμα γὰρ καὶ ἡ ἀναισχυντία καὶ τὸ ψεῦσμα πρόχειρον und §23: πλείων ἡ ἀναισχυντία καὶ θράσος. Die Formulierung πάντα ἐκεῖνα ruft die in §23 gegebenen Instruktionen zur Depilation der Geschlechtsteile (πιττοῦσθαι χρή, μάλιστα μὲν τὰ πάντα, εἰ δὲ μὴ, πάντως ἐκεῖνα) in Erinnerung, so dass unter dem »vorher

1181

Vgl. Phot. s.v. Ἀδράστεια· ἡ Νέμεσις, ἣν οὐκ ἄν τις ἀποδράσειεν [Eintrag 384] (genauso Hesych s.v. Ἀδράστεια [Eintrag 1190]). Der Name wird also etymologisch aus alpha privativum und dem Verb διδράσκειν erklärt. 1182 Weitere lukianische Belege, die Adrasteia als Rächerin von Untaten oder Überheblichkeit nennen, sind Pseudol. 30; Apol. 6; Dial. Meretr. 12,2. Vgl. unter Lukians Zeitgenossen Aristeid. Or. 21,12 und 48,2; Philostr. VA 1,25,43. 1183 Genauso erklären die Scholien (p. 179–180 Rabe): ἐπεὶ οὖν καυχώμενος εἰσάγεται ὁ μιαρὸς οὗτος διδάσκαλος, ὥσπερ ἐκμειλισσόμενος τὴν δαίμονα ἀνευφήμησε νῦν οὕτως αὐτὴν ἤτοι ἐπεβοήσατο. (»Da dieser verruchte Lehrer als Prahler vorgeführt wird, hat er die Göttin, um sie zu beschwichtigen, jetzt so angerufen, ja geradezu zu Hilfe gerufen.«)

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5. Kommentar (§§23–25)

genannten Proviant« auch die effeminierte Erscheinung und die sexuellen Anstössigkeiten mitgehört werden können. Ποθεινὸς Eine bekannte Person dieses Namens könnte hier eine Rolle spielen: Es ist der Eunuch Potheinos, welcher Erzieher von Ptolemaios XIII. war. Seine genaue Rolle am Königshof ist unklar, er hatte jedoch grossen Einfluss auf die politischen Entwicklungen, insbesondere auf den Mord an Pompeius im September 48 v.Chr. Als er in der Folge die Alexandriner gegen Caesar mobilisierte, wurde er selbst von diesem hingerichtet.1184 Drei Elemente korrespondieren mit dem Rednerlehrer, der diesen Namen zugunsten eines neuen ablegt: Erstens stellt der Eunuch ein Pendant zur Effeminiertheit des Lehrers dar, zweitens wird Ägypten aufgerufen, was ja auch Herkunftsland des Rednerlehrers ist, drittens wird Potheinos in den Quellen als hinterhältig und betrügerisch geschildert, was auf den Charakter des Lehrers passt (vgl. unten §25). Baldwin ([1973] 35) bemerkt dazu, der Name Potheinos sei »admirably suited to the orator’s sexual versatility«, denn er diene auch allgemein zur Berufsbezeichnung von Eunuchen, was hier den Witz ausmache.1185 Falls der historische Potheinos tatsächlich im Hintergrund anklingen soll, dann wird durch diese scheinbare Historisierung eine weitere Anonymisierung1186 des Sprechers erreicht; diesmal dadurch, dass er sich hinter einer anderen Person verbirgt. Ποθεινός ist aber auch einfach ein sprechender Name (»der Sehnsucht Erweckende; Ersehnte«). Die Vokabel ist vor allem als Adjektiv seit klassischer Zeit verbreitet1187 und ruft mit der Konnotation des Sexuellen die erotischen Eskapaden des Rednerlehrers (sowie seine entsprechenden Empfehlungen in §23) auf, und zwar speziell den Bereich des Kinädenhaften, Passiven mit dem Charakteristikum, von anderen begehrt zu werden.1188 Bei

1184 Vgl. zu dieser Episode aus dem Bürgerkrieg Plut. Pomp. 77,2 und 80,5; Caes. 48–49 und Ant. 60; weiter Appian Bell. civ. 1,12–13. Vgl. weiter DNP 10 s.v. Potheinos sowie zu weiteren Personen dieses Namens auch RE 22.1 s.v. Potheinos [2]–[5], Sp. 1177f. 1185 Er belegt diese Aussage nicht weiter, dürfte aber Recht haben, da das Adjektiv ποθεινός die Konnotation der passiven Sexualität beinhaltet; s.u. 1186 Vgl. bereits den Kommentar oben zu: ὑπὲρ Ξόϊν καὶ Θμοῦιν; ἐπ’ ἀμφοδίου τινός. 1187 Vgl. z.B. Kallinos fr. 1,16 West; Pindar O. 8,64; Euripides Phoen. 320f.; Thukydides 2,42,4. 1188 Mit erotischer Konnotation z.B. in Ar. Av. 696 (Ἔρως ὁ ποθεινός); Ra. 84 (über den Tragiker Agathon: ἀγαθὸς ποιητὴς καὶ ποθεινὸς τοῖς φίλοις; φίλοι kann auch die Bedeutung »Liebhaber« annehmen; vgl. zum Spott über Agathons Effeminiertheit bereits den Kommentar zu §11: πάναβρόν τινα Σαρδανάπαλλον ἢ Κινύραν ἢ αὐτὸν Ἀγάθωνα). Vgl. zur erotischen Konnotation weiter die Erklärungen bei Hesych s.v. ἐρατόν· ἐράσμιον. ἡδύ. ποθεινόν, ἐπιθυμητόν [Eintrag 5640] und s.v. ἱμερτόν· ἐπέραστον, καλόν, ποθεινόν, ἐπιθυμητόν, ἐράσμιον [Eintrag 630]. Zu den Adjektiven ἐπέραστος und ἐράσμιος siehe bereits den

§24: Der βίος des Rednerlehrers

439

genauerer Betrachtung ist dieser Name für den Rednerlehrer lächerlich, da er ja offenbar nur das Begehren alter, hässlicher Leute auf sich zieht. Lukian verwendet neben dem vorliegenden substantivischen Beleg das Adjektiv ποθεινός 6x (De Dom. 6 und 11; Patr. Enc. 9; Alex. 8; Nav. 43; Dial. Deor. 8,3), wobei die zwei letztgenannten Passagen die erotische Konnotation aufweisen.1189 Letztlich klingt in diesem Adjektiv auch das Ideal des Starsophisten an, der von seinem Publikum umschwärmt wird (vgl. Rh. Pr. 1: ὡς ἄμαχον εἶναι καὶ ἀνυπόστατον καὶ θαυμάζεσθαι πρὸς ἁπάντων und 26: ἐν τοῖς πλήθεσιν εὐδοκιμεῖν καὶ ἐπέραστον εἶναι; ebenso Rh. Pr. 13 und 17). Generell zum Namenswechsel als Element der Invektive vgl. die Bemerkungen oben zu: πατρὸς μὲν ἀφανοῦς (locus classicus ist Demosth. Or. 18,130; vgl. auch Luk. Peregr. 27 und Gall. 14). τοῖς Διὸς καὶ Λήδας παισὶν ὁμώνυμος Zur Schwierigkeit der Deutung dieser Namensangabe bzw. der Identifikation des Rednerlehrers mit dem Sophisten Pollux von Naukratis vgl. bereits das Lemma zum Werktitel oben (ΡΗΤΟΡΩΝ ΔΙΔΑΣΚΑΛΟΣ). Zwei neue Interpretationsmöglichkeiten sollen an dieser Stelle diskutiert werden: Lukian stattet die Figur des Rednerlehrers wiederholt mit Charakteristika aus, die uns bei Philostrat über verschiedene namhafte Sophisten berichtet werden, so dass wir im Rednerlehrer die Verkörperung einer Mischung der Auffälligkeiten diverser Starsophisten vor uns haben. Diese Tatsache liesse auch die Interpretation zu, dass hier der Name des Pollux durchaus aufscheinen soll, wobei dies allerdings nicht heisst, dass die Figur mit Pollux gleichzusetzen ist; vielmehr wäre der Name des Pollux ein Baustein zur Konstruktion einer hybriden Figur, deren Parfumduft an Alexander Peloplaton erinnern könnte (Rh. Pr. 11; VS 571), die Marotte, sich während des Auftritts auf den Schenkel zu schlagen, an Skopelian (Rh. Pr. 19; VS 519), die Arroganz und luxuriöse Ausstaffierung an Polemon (VS 532 und 535), die Gesangseinlagen an eine ganze Reihe berühmter Sophisten (Hadrian, Favorin, Varus; Rh. Pr. 19; VS 589, 491f., 620) und die effeminierte Gestalt überhaupt immer wieder stark an Favorin. Zur Komplexität und Multiplikation der Figur trägt weiter ihre Verbindung zu Komödiencharakteren (Agathon, verschiedene Hetären, ἥττων λόγος in Aristophanes’ Wolken, Dikaiopolis in Acharnern) und zum Philosophen Sokrates bei.1190 Kommentar zu §11: ἐπέραστον ἐκεῖνον ποιητήν und zu §13: ἄγροικον γὰρ τὸ ἀρρενωπὸν καὶ οὐ τοῦ ἁβροῦ καὶ ἐρασμίου ῥήτορος. 1189 In Nav. 43 tritt das Adjektiv neben dem Begriff ἐράσμιος auf; in Dial. Deor. 8,3 geht es um Zeus’ Liebschaft mit Ganymed, welcher als Effeminierter (μαλθακός) das Verlangen des Zeus anstachelt – und zwar mehr als Hera dies tut (ἡδίων ἐμοὶ καὶ ποθεινότερος). 1190 Vgl. dazu auch die Einleitung 1.8.

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5. Kommentar (§§23–25)

Bisher nicht thematisiert worden ist weiter die mögliche Funktion, mit einer Namensangabe, die keinen klaren Sinn ergibt, bewusst Unklarheit zu stiften, was sich gut in den Gesamtkontext von §24 einfügen würde, und die oben postulierte hybride Figur ebenfalls unterstützte:1191 Der Rednerlehrer gibt seinen neuen Namen erstens nur indirekt an und nennt sich zweitens Namensvetter nicht von einer Person, sondern von zweien (παισίν) – wie ist das überhaupt möglich? Die Anonymisierung und Multiplikation der Figur wird durch eine Mythologisierung, speziell durch eine komplexe, verworrene Sagentradition (s.u.), fortgeführt und verstärkt, und der Sprecher entfernt sich so immer mehr von der tatsächlichen Leistung eines βίος (Information über und Illustration des Lebens einer konkreten Person). Tatsächlich existieren nämlich über Leda und ihre Kinder verschiedene, sich widersprechende Traditionen; Streitpunkt ist jeweils die Vaterschaft (Zeus oder Tyndareos) der berühmteren Kinder (Helena, Kastor, Polydeukes). Entgegen der Tradition der homerischen Hymnen (h. Hom. 17,1–3 und 33,1–2) sind die Dioskuren in der Odyssee (11,298–300) Kinder des Tyndareos, gemäss einer anderen Tradition stammen sie je von Zeus und Tyndareos ab, so dass Polydeukes göttlich ist, Kastor hingegen nicht (Pindar N. 10,80–82; Kypria, fr. 8 PEG I Bernabé). Und zusätzlich kommt Helena ins Spiel, die ebenfalls als Kind von Zeus und Leda gilt (Kypria, fr. 10 PEG I Bernabé), und manchmal als gemeinsam mit Polydeukes aus einem Ei stammend genannt wird (vgl. Hygin. fab. 77). Also stellt sich die Frage, ob mit παισίν auch auf Helena und Polydeukes angespielt werden könnte und der Verweis dann mit Bezug auf die effeminierte Figur des Lehrers, die eine Art Mischung zwischen Mann und Frau darstellt, zu verstehen wäre. Damit würde der Sprecher den Rezipierenden bewusst (d.h. in seiner narrenhaften Rolle) ein Rätsel aufgeben, zu dessen Entwirrung die Kenntnis der mythologischen Traditionen über die Kinder von Leda gefordert ist, was gleichzeitig zur Erkenntnis der Unlösbarkeit dieses Rätsels führt, weil die Traditionen divergieren und somit die Identität des Rednerlehrers weiter verschleiern. γραῒ συνοικήσας [...] ἐγαστριζόμην In einer nächsten Stufe wird der Rednerlehrer Lustknabe einer alten Frau, wobei zwei weitere Themen der Invektive und des Spottepigramms aufgegriffen werden, die so genannte Vetulaskoptik, eine sexuell orientierte Invektive gegen die alternde Frau, und die Erbschleicherei.1192 Der Typus der 1191 Vgl. die Dislokalisierung in den Angaben zur Herkunft von Vater und Mutter oben unter: ὑπὲρ Ξόϊν καὶ Θμοῦιν; ἐπ’ ἀμφοδίου τινός. 1192 Berühmte Beispiele von Vetulaskoptik bieten Horaz’ 8. und 12. Epode; erstere mit der ausführlichen Beschreibung des Aussehens der Alten, u.a. ihres einen schwarzen Zahnes (dens ater), und mit der Erwähnung ihres Reichtums, durch den ein anständiger Mann sich nicht verlocken

§24: Der βίος des Rednerlehrers

441

hässlichen Alten ist zudem in alter und neuer Komödie präsent.1193 Die Verspottung der alten Frau erfolgt hier allerdings nur sekundär – hauptsächlich setzt die Beschreibung der zahnlosen Alten den Rednerlehrer, der ihr zu Diensten ist, herab. Die Vokabel γραῦς ist nicht per se negativ-verächtlich konnotiert, vgl. z.B. Hom. Od. 1,191; E. Tr. 191 und 490; Hec. 495 und 810; in der Komödie allerdings schon (vgl. z.B. Ar. Th. 345, 505 und 512). Eine Passage in Ar. Pl. 999–1002 ist von besonderem Interesse, da es dort ebenfalls um eine Alte und ihren jungen Liebhaber geht, der sich zu ihrem Verdruss aus der Beziehung verabschiedet hat. Das Verb γαστρίζειν bedeutet einerseits »auf den Bauch schlagen«, andererseits »den Bauch füllen«, med. »sich den Bauch vollstopfen«;1194 Lukian verwendet hier letztere Bedeutung, ebenso in den weiteren Belegen Sat. 38; Dial. Meretr. 10,4. Die Vokabel gehört in den Komikerwortschatz, die frühesten Belege finden sich bei Ar. Eq. 273 und 454 sowie V. 1529 in der Bedeutung »auf den Bauch schlagen«, danach Platon PCG 7, fr. 219 (über einen Vielfrass, γαστρίμαργος) in der Bedeutung »den Bauch füllen«, ebenso Men. Pk. 288. Das Verb wird sowohl von Phrynichos als auch von Pollux erklärt, wobei ersterer die bei Aristophanes belegte Bedeutung »auf den Bauch schlagen« als inexistent abtut,1195 während letzterer beide Bedeutungen anführt und Aristophanes und Platon als Beispiele nennt.1196 Zu Lukians Zeit dürfte die (von Phrynichos als einzige akzeptierte) Bedeutung »den Bauch füllen« tatsächlich dominant gewesen sein, vgl. Max. Or. 36,2 und 4; Dion von Prusa Or. 66,11 und Athen. Deipn. 5,210f (= Poseidonios FGrHist 87 fr. 10); 8,354d; 10,421a und 435f (= Theopomp FGrHist 115 fr. 188). γυναικὸς ἑβδομηκοντούτιδος τέτταρας ἔτι λοιποὺς ὀδόντας [...] ἐνδεδεμένους Genau wie alles, was der Rednerlehrer über seine eigene Herkunft sagt, letztlich unklar und verschwommen bleibt, liegt hier eine zwar scheinbar individuelle Beschreibung und Charakterisierung derjenigen Person vor, lässt. Vorbildfunktion haben Archilochos fr. 188 und 196a West. Zahlreiche Beispiele finden sich auch bei Martial, e.g. 3,32; 3,93; 7,75; 9,37; 10,67; 10,90; 11,29. Vgl. D. Mankin, Horace. Epodes, Cambridge 1995, Richlin [1992] 109–116 sowie weiterführend zu Horaz Esler [1989]. Vgl. zum griechischen Spottepigramm auch AP 11,328 und 5,289. – Zur Thematik der Erbschleicherei vgl. Horaz sermon. 2,5; Martial 4,56; 11,83 und 12,40. 1193 Vgl. Bompaire [1958] 216f. mit Stellenangaben. 1194 Vgl. LSJ s.v.: punch a man in the belly, II. stuff, gorge. 1195 Vgl. Phryn. Ecl. 67 Fischer (γαστρίζειν· ἐπὶ τοῦ ἐμπίμπλασθαι λέγουσιν Ἀθηναῖοι, οὐκ ἐπὶ τοῦ τὴν γαστέρα τύπτειν) sowie den ausführlichen Kommentar zur Doppelbedeutung des Verbs in der älteren Ausgabe von Rutherford, p. 178–180. 1196 Vgl. Pollux 2,175.

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5. Kommentar (§§23–25)

mit welcher der Rednerlehrer verkehrt, doch bleibt auch sie anonym, da sie in Alter und Aussehen absolut topisch behandelt ist. Somit wird der ganze βίος zu einem fiktiv-stilisierten, vom (narrenhaften1197) Sprecher möglicherweise völlig frei erfundenen. Lukians Nennung einer siebzigjährigen Frau könnte auf die verlorene Rede Lysias’ gegen Aischines den Sokratiker anspielen, deren Inhalt bei Athen. Deipn. 13,612e zusammengefasst ist (ἀλλὰ γὰρ οὐ τὴν οὐσίαν κέκτηται Ἑρμαίου τοῦ μυροπώλου, τὴν γυναῖκα διαφθείρας ἑβδομήκοντα ἔτη γεγονυῖαν; ἧς ἐρᾶν προσποιησάμενος [...]); vgl. dazu Hall [1981] 275. Siebzig Jahre sind zudem bekannt als von Solon angesetzte obere Grenze des menschlichen Lebens, vgl. Hdt. 1,32 und D. L. 1,55. Die Liebhaberin wäre somit wirklich uralt und der Verkehr mit ihr umso abstossender.1198 Ein Charakteristikum der hässlichen Alten sind ihre nur noch spärlich vorhandenen Zähne, deren Anzahl 4 sich auch in anderen spöttischen Kontexten findet, vgl. Mart. 1,19 (Si memini, fuerant tibi quattuor, Aelia, dentes [...]) und 3,93 (Cum tibi [...], Vetustilla, et tres capilli quattuorque sint dentes, [...]). Vgl. schon in der alten Komödie z.B. Ar. Pl. 1057–1059. Die Verspottung der zahnlosen Alten findet sich auch im griechischen Epigramm, vgl. z.B. AP 11,374.1199 Das mediopassive Partizip zu ἐνδέω (»hineinbinden; anknüpfen«) findet sich jeweils im Kontext von Beschreibungen kostbarer Einlegearbeiten oder Einfassungen, vgl. Philon De somn. 2,57 (über Liegebetten mit Einlegearbeiten aus Perlmutt und Schildpatt: κλιντῆρες [...] ὀστράκοις πολυτελέσι καὶ ποικίλαις χελώναις ἐνδεδεμέναις [...] κατασκευάζονται); Pausanias 10,30,4 (über ein Siegel aus Stein, mit Gold eingefasst: λίθου σφραγῖδα ἐνδεδεμένην χρυσῷ); Flav. Jos. Ant. Iud. 3,103; Joh. Chrys. In Matth. PG 58,750,35 Migne. Aufgrund der Formulierung in Rh. Pr. liegt eher eine Goldfassung als eine Goldfüllung der Zähne vor. Dies stimmt auch besser mit den Informationen überein, die wir über Zahnheilkunde in der Antike besitzen.1200 Gold wird nämlich nicht als Zahnfüllung, sondern 1197

Vgl. zu Ratgeber und Rednerlehrer als Narrenfiguren die Ausführungen auf S. 63f. Solon hat auch eine Einteilung des gesamten Lebens in Hebdomaden vorgenommen (vgl. fr. 27 West), was letzlich mit der Zahlenmystik, in welcher die Zahl 7 eine wichtige Rolle spielt, zusammenhängt. Vgl. zur Zahlenmystik vor pythagoreischem Hintergrund W. Burkert, Lore and Science, Harvard 1973, 465–482 und zur Hebdomadenlehre in griechischer Philosophie und Medizin (v.a. Hippokrates’ Schrift Περὶ ἑβδομάδων) die Werke von W. H. Roscher: Die Hebdomadenlehre der griechischen Philosophen und Ärzte, Leipzig 1906; Über Alter, Ursprung und Bedeutung der Hippokratischen Schrift von der Siebenzahl, Leipzig 1911; Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl und ihr Verhältnis zum Altpythagoreismus, Leipzig 1919. 1199 Bei Lukian findet sich entsprechender Spott – allerdings bezogen auf einen alten Mann und dessen vier verbleibende Zähne – noch in Dial. Mort. 19,2 (vgl. zur Stelle auch den Kommentar oben zu §23: γενειήτης [...] φαλακρὸς). 1200 Vgl. W. Hoffmann-Axthelm, Die Geschichte der Zahnheilkunde, Berlin 1973, 57–76, bes. 64–73 und allgemein DNP 12.2. s.v. Zahnheilkunde, Sp. 682–684. 1198

§24: Der βίος des Rednerlehrers

443

bei der Technik des Zahnersatzes in Form von Bändern, welche die echten und die künstlichen Zähne aneinanderfügen, eingesetzt oder auch in Form von Verdrahtungen zur Stabilisierung gelockerter Zähne.1201 Löchrige Zähne wurden teilweise gezogen, teilweise aber auch ausgeschabt oder ausgebohrt und mit schmerzstillenden Mitteln (Harze und Salben) gefüllt.1202 Man könnte sich vorstellen, dass die verbleibenden Zähne der Alten derart klein geworden sind, dass sie mit Gold stabilisiert und ergänzt worden sind. πλὴν ἀλλά γε διὰ τὴν πενίαν ὑφιστάμην τὸν ἆθλον κτλ. Im Wissen darum, wie abstossend seine Beziehung zur alten Frau ist, betont der Rednerlehrer, wie bereits zuvor bezüglich seines Liebhabers, dass er, durch Armut gedrängt, nicht anders konnte, als sich dieser Tortur zu unterziehen. Durch die Negativkonnotation der Sexualität erzeugt er ein Ungleichgewicht zu seinen Empfehlungen in §23 und erweist sich als AntiFrauenheld, der seinem Schüler diesbezüglich kein Vorbild sein kann. Vgl. ausführlicher den Kommentar oben zu: ἐπὶ ψιλῷ τῷ τρέφεσθαι. Die Passage ist stilistisch hübsch gestaltet, da die beiden zwingenden Gründe (πενία, λιμός) die in Kauf genommenen Unannehmlichkeiten (τὸν ἆθλον, τὰ ψυχρὰ ἐκεῖνα [...] φιλήματα) einrahmen (chiastische Stellung) und somit an Satzbeginn und -ende besonderes Gewicht bekommen. Durch das Substantiv ἆθλος (»Wettkampf«) fliesst einmal mehr ein im Vergleich zum Inhalt lächerlich wirkender Terminus der Heldensprache in das Vokabular des Rednerlehrers ein, vgl. den Kommentar zu §11: ὀλίγας μὲν ἔτι, οὔλας δὲ καὶ ὑακινθίνας τὰς τρίχας εὐθετίζοντα (Odysseusvergleich) und §20: οἱ πολλοὶ δὲ τὸ σχῆμα καὶ φωνὴν καὶ βάδισμα καὶ περίπατον καὶ μέλος καὶ κρηπῖδα καὶ τὸ ἄττα σου ἐκεῖνο θαυμάσονται, καὶ τὸν ἱδρῶτα ὁρῶντες καὶ τὸ ἆσθμα [...] (allg. Vergleich mit homerischen Helden). Inbesondere ist hier aber an die Symbolik eines sexuellen Wettkampfes zu denken (vgl. oben zu: διεκπαίσας): Diese Symbolik gehört in den Bereich der Beschreibung einer Liebesbeziehung mit Begriffen aus der militärischen Sprache, die so genannte militia amoris. Sie besteht für den Rednerlehrer im Erdulden der »kalten Küsse aus dem Grab«; weiterführende Details werden hier nicht genannt, wohl aber in der Vorstellung der Rezipierenden evoziert. Besonders verbreitet ist die Metaphorik der Liebesbeziehung als Kampf bzw. zu Hause absolvierter Militärdienst (militia amoris) in der römischen Liebeselegie, vgl. z.B. Properz 1,6,19–30; 2,15,4; Tibull 1,1,73f.; 1,10,53f. und Ovid amores 1,9 (normalerweise wird eine solche militia nur um eines schönen jungen Mädchens willen erduldet, vgl. V. 43: formosa puella); vgl. allgemein auch Holzberg [22001]. Auf 1201 1202

So bereits bei Hippokrates Art. 32. Vgl. z.B. Galen Comp. medicam. sec. loc. vol. 12, p. 863.

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5. Kommentar (§§23–25)

konkrete sexuelle Handlungen wie an vorliegender Stelle in Rh. Pr. wird die militia bei Ovid amores 3,7,68 bezogen. Die Verbindung von militärischer Terminologie mit Liebe findet sich allerdings bereits in griechischer Literatur immer wieder, indem entweder die Liebe als Kampf zwischen den Beteiligten oder aber Eros selbst als kriegerischer Gegner stilisiert wird, vgl. z.B. Alexis PCG 2, fr. 236 (Liebende werden als στρατευτικώτατοι bezeichnet); Sappho fr. 1,25–28 Voigt; Anakreon fr. 53 Page; Sophokles Antigone 781; Euripides Andromache 631; AP 12,22 und 12,120.1203 τὰ ἐκ τῆς σοροῦ φιλήματα Das Substantiv σορός »Urne« oder »Sarg« ist bereits seit Homer belegt und findet sich auch mehrfach wieder im Komikervokabular.1204 Von den drei weiteren lukianischen Belegen (Hermot. 78,6; Dial. Mort. 16,4 und Dial. Meretr. 11,3) ist vor allem der letzte illustrativ: Eine ältere Hetäre namens Φιλημάτιον wird von einer jüngeren boshaft mit dem Übernamen »der Sarg« bedacht: Im Rahmen der Vetulaskoptik wird die sexuelle Beziehung zu einer Alten manchmal überzeichnet als diejenige zu einer Toten, einer Leiche, dargestellt, vgl. Mart. 3,32: Non possum vetulam. Quereris, Matrinia? possum / et vetulam, sed tu mortua, non vetula es und 10,67: Quid busti cineres tui lacessis? Die vorliegende Nennung eines Sargs bereitet zudem das Thema der Erbschleicherei bzw. des Giftanschlags auf die Alte vor (s.u.).1205 ὀλίγου δεῖν κληρονόμος [...] κατέστην Während bisher die konkrete Methode des Rednerlehrers, mit der er auf den Gipfel der Rhetorik gelangt ist (διεκπαίσας ἐπὶ τῷ ἄκρῳ), im Dunkeln geblieben, ja sogar programmatisch ausgeblendet ist,1206 findet sich hier in der Schilderung des Giftanschlags auf die Alte zum Zweck der Erbschleicherei immerhin eine konkrete Anwendung der zuvor hervorgehobenen Charakterzüge (θράσος; ἀμαθία; ἀναισχυντία): Der Rednerlehrer führt zum ersten Mal eine verwegene Handlung aus, die rein egoistischen Nutzen – Bereicherung – bringen soll, worin er aber, weil er verraten wird, scheitert.

1203

Zur Entwicklung der Metaphorik seit griechischer Zeit vgl. Murgatroyd [1975]. Hom. Il. 23,91 (Urne); Hdt. 1,68,3 und 2,78 (Sarg); Ar. Ach. 691; Lys. 600; Nu. 846 (Kompositum σοροπηγός) und mit sexueller Konnotation V. 1365: ποθεῖν ἐρᾶν τ’ ἔοικας ὡραίας σοροῦ (»du scheinst dich nach einem jungen Grab zu sehnen«, d.h. der ersehnte sexuelle Verkehr mit der jungen Flötenspielerin Dardanis dürfte den alten Philokleon wohl ins Grab bringen). 1205 Genauso steht der Beleg in Dial. Mort. 16,4 im Zusammenhang mit Erbschleicherei: Der junge Terpsion möchte den alten Thukritos möglichst bald im Sarg sehen, stirbt dann aber selbst zuerst. 1206 Vgl. dazu auch die einleitenden Bemerkungen zu §25. 1204

§24: Der βίος des Rednerlehrers

445

Eine Parallele zur Erbschleicherei und Ermordung der Alten weist Lukians Peregrinos auf: Peregrinos Proteus erwürgte seinen sechzigjährigen Vater, wollte dessen Erbe für sich behalten, vermachte es dann allerdings, des Mordes überführt und angeklagt, notgedrungen dem Staat (vgl. Peregr. 10; weitere Anspielungen in §§14, 15, 21, 37). κατάρατός Das Adjektiv κατάρατος (zu ἀράομαι »verfluchen, verwünschen«) ist bereits klassisch, vor allem im Drama, häufig, und zwar einerseits in der Tragödie meist mit der Bedeutung »verflucht, mit einem Fluch belegt« in Klagen der tragischen Helden über sich oder ihr Umfeld (z.B. Euripides Med. 112: ὦ κατάρατοι παῖδες; Andr. 383f.: ἁ κατάρατος ἐγὼ κατάρατος ἀνθρώποις; Hel. 54: ἡ δὲ πάντα τλᾶσ’ ἐγὼ κατάρατός εἰμι; Hipp. 1362; Sophokles OT 1345),1207 andererseits in der Komödie, wo sich die Bedeutung eines tragischen Fluches zugunsten einer reinen komischen Beschimpfung wandelt (»verflucht, abscheulich, scheusslich«; auch verblasst: »verflixt«), wobei sich das Adjektiv nicht nur auf Menschen, sondern auch auf Tiere oder auf Gegenstände beziehen kann (z.B. Ar. V. 1157: τᾶς καταράτους ἐμβάδας; Pax 33 [bezogen auf den Mistkäfer], 1076b und 1272; Lys. 530; Th. 1048 [Tragödien-Persiflage, Klage der Andromache], 1097 und 1109). Der Rednerlehrer benutzt hier also, um seinem Ärger über den indiskreten Sklaven Luft zu machen, einen seiner komödiantischen Rolle angemessenen Fluch.1208 Zudem gehört das Adjektiv auch in die Invektivensprache und findet sich häufig in Demosthenes’ Reden, um die moralische Verkommenheit der Person, auf die es bezogen wird, zu betonen, vgl. v.a. Or. 18,209.212.244.290, wo Aischines regelmässig als κατάρατος bezeichnet ist.1209 Der Ausdruck κατάρατος οἰκέτης weist ausserlukianisch keine Parallelen auf, er selbst verwendet das Adjektiv – das bei ihm insgesamt 44x1210 belegt ist – bezogen auf Sklaven noch 4x (Catapl. 11; Tim. 14; Philopseud. 20; Merc. Cond. 34). Wichtiger aber ist die Tatsache, dass knapp die Hälfte der Belege sich auf Scheingebildete bezieht, meist Scheinphilosophen, z.B. aber auch schlechte Poeten.1211 Vor allem die Belege in den Invektiven ge1207

Seltener sind Verfluchungen anderer Personen, z.B. E. Med. 162: τὸν κατάρατον πόσιν. Zum zur Komödie stilisierten Auftritt des Rednerlehrers vgl. die einleitenden Bemerkungen zu §12. 1209 Zu invektivischen Elementen in den vorliegenden Kapiteln vgl. die einleitenden Bemerkungen zu §§23–25 und zu §24. 1210 Miteingerechnet sind Belege des Menander’schen Kompositums τρισκατάρατος; vgl. Men. Epit. 1080 und PCG 6.2, fr. 71. 1211 Vgl. z.B. J. Conf. 6: παρὰ τῶν καταράτων σοφιστῶν; J. Trag. 17, 32, 36, 46; Adv. Ind. 169; Pr. Im. 5: καταράτων ποιητῶν. 1208

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5. Kommentar (§§23–25)

gen die betrügerischen Machenschaften von Alexander und Peregrinos (letzterer ist bereits durch das Thema der Erbschleicherei aufgerufen; s.o.), welche (selbst oder zumindest ihr Umfeld) als κατάρατος bezeichnet werden, sowie die Belege in den Schriften gegen die verkleideten Scheinphilosophen werfen zusätzlich folgendes Licht auf die vorliegende Stelle in Rh. Pr.:1212 Der aufmerksame Rezipient weiss um dieses von Lukian häufig zur Verunglimpfung von Scheingebildeten verwendete Wort, was ein Lachen darüber erzeugen kann, wie der Rednerlehrer den Sklaven mit dem eigentlich auch auf ihn selbst passenden Wort beschimpft.1213 Zudem hat der Text das moralische Fehlverhalten des Rednerlehrers, das mit diesem Adjektiv ebenfalls aufgerufen wird, bis zu diesem Punkt zur Genüge deutlich gemacht. §25 Auffällig ist, dass der Rednerlehrer auch im vorliegenden §25, womit wir am Ende seines βίος angelangt sind, nicht auf seine rhetorische Ausbildung eingeht, sondern seine Geltung als Redner als gegeben vorgibt (ῥήτωρ δοκῶ, vgl. ohne weitere Konkretisierung bereits oben §24: διεκπαίσας ἐπὶ τῷ ἄκρῳ). Er geht direkt zur Beschreibung seiner Tätigkeit als Gerichtsredner über. Dies illustriert zwar denjenigen Aspekt seiner Lehre, dass die moderne Rhetorik keine Bildung benötigt (vgl. §15), steht aber trotzdem in Kontrast zur ausführlichen Darstellung der Tricks und Showeinlagen, die an die Stelle der klassischen Ausbildung treten (vgl. §§15–20). Eine zusätzliche Distanz zwischen der Lehre des Rednerlehrers und seinem βίος ergibt sich aus der Tatsache, dass er selbst nicht sein Wirken als Schauredner, sondern dasjenige als Gerichtsredner darlegt und damit nicht konkret über das Gebiet spricht, in welchem der Schüler erfolgreich zu sein erstrebt. So kann er für diesen kein eindeutiges Vorbild abgeben; die Eignung des Lehrers wird zunehmend fragwürdiger. Und es ist der Lehrer selbst, der die verschiedenen Aspekte seines βίος so gestaltet, dass sie allesamt karikierend und konterkarierend wirken, da sie die Unzulänglichkeit der eigenen Lehre aufzeigen bzw. den versprochenen rhetorischen Erfolg in den Augen des Schülers und der Rezipierenden nicht einlösen (vgl. §24: unergiebige Lustknabendienste, Anti-Frauenheld, erfolglose Erbschleicherei; §25: erfolglose 1212

Vgl. Alex. 2, 6, 32, 47; Peregr. 7 und 28; Fug. 7 und 22; Pisc. 46 und 49. Gerade die Belege der Schrift Piscator zeigen auf, wie rasch die Fronten wechseln können: Lässt Lukian zu Beginn (Pisc. 1 und 15) die wiederauferstandenen Philosophen den Parrhesiades als »Verfluchten« beschimpfen, so ändert sich die Lage mit der erfolgreichen Richtigstellung des Parrhesiades dahingehend, dass die Scheinphilosophen die wahren »Verfluchten« sind (Pisc. 46 und 49). 1213

§25: Der βίος des Rednerlehrers

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Gerichtsrhetorik).1214 Vom Vokabular und vom Inhalt her enthält §25 viele Rückverweise, die im folgenden Kommentar als solche gekennzeichnet sind und die deutlich machen sollen, dass der Rednerlehrer gegen Ende seines Ausbildungsgangs eine Art Zusammenfassung gibt, wobei die Verweise oberflächlich betrachtet tatsächlich eine Einheit zwischen seiner Lehre und seinem βίος herstellen. Thematisiert werden die Scheinfassade eines Redners, das Unwissen der Klienten des Gerichtsredners (parallel zur grossen Masse von ungebildeten Hörern des Starsophisten; vgl. §20), die Erregung negativer Gefühle bei den Zuhörern (vgl. §21f.), der Status des berühmt-berüchtigten Redners mit abgrundtief schlechtem Charakter (eine Steigerung des Themas ›notwendige Charaktereigenschaften‹; vgl. §15). In Wahrheit sind aber Lehre und βίος aufgrund des unterschiedlichen Blickwinkels – die Laufbahn des Starredners steht in Kontrast zu derjenigen des Rednerlehrers als Gerichtsanwalt, die zudem absolut erfolglos verläuft – nicht völlig gleichzusetzen.1215 Vor allem die Endpassage über μοχθηρία und κακία des Rednerlehrers lässt die gesamte Lehre zum Schluss nochmals höchst unplausibel erscheinen, da der Lehrer selbst betont, dass sein (zweifelhafter) Ruhm allein auf der Schlechtigkeit seiner Reden und seines Charakters beruht. Dabei bringen ihm die schlechten Reden als Anwalt nur Misserfolge ein, was auf die Showrhetorik adaptiert den Schüler schwerlich zu Ruhm führen kann (vgl. den Kommentar zu: ἡττῶμαι μὲν τὰ πλεῖστα und ἐπὶ τῇ μοχθηρίᾳ τοῦ τρόπου καὶ πολὺ πρότερον τῶν λόγων). Der Kern der Scheinsophistik besteht nämlich darin, dass der Redner trotz mangelnder Ausbildung fähig ist, sein Publikum zu Begeisterungsstürmen hinreissen zu können. Trotzdem beschliesst der Rednerlehrer seine Rede, indem er sich selbst als leibhaftiges, illustres Exempel für die Tauglichkeit seiner Lehre in den Vordergrund rückt. Wie die in §§23–24 behandelten Bereiche gehört auch die Thematik von betrügerischen und bestechlichen Gerichtsrednern zur Invektiventopik; sie wird von rivalisierenden Rednern regelmässig zur gegenseitigen Beschimpfung herangezogen, vgl. Demosthenes Or. 18,21.36; 19,111ff.; Aischines Or. 2,165.1216 ἐξωσθεὶς δὲ ἐπὶ κεφαλὴν Die Formulierung verweist zurück an den Anfang der Schrift, vgl. §3: ἀποκυλιομένους ἐπὶ τὴν κεφαλὴν ἐνίοτε. Während dort das Scheitern derer, die sich auf dem langen, steilen Weg zur Rhetorik abmühen, bildlich darge1214

Vgl. auch bereits den Kommentar zu §24: τὰ ἀγαθὰ παρὰ τῆς Ῥητορικῆς. Siehe auch unten den Kommentar zu §26: ἔν τε τοῖς δικαστηρίοις κρατεῖν (zur doppelten Tätigkeit der Sophisten als Gerichts- und Schauredner). 1216 Der Typus des korrupten Redners findet sich auch bereits in der Alten Komödie, vgl. Ar. Pl. 30 und 379 (siehe Hall [1981] 256f.). 1215

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5. Kommentar (§§23–25)

stellt ist, appliziert hier der Rednerlehrer dasselbe Bild auf sich selbst, den Exponenten des kurzen Weges, was eine karikierende Wirkung hat: Auch diese Art des Werdegangs geht also nicht ohne Rückschläge vonstatten, obwohl der Ratgeber den Schüler in §3 genau vor einem solchen Hinunterfallen zu bewahren verspricht. Der Ausdruck ἐπὶ κεφαλήν findet sich häufig in Kombination mit den Verben ὠθεῖν und ἐξωθεῖν (»sich kopfvoran stürzen«; pass. »gestürzt werden«); vgl. bereits Herodot 7,136: ὠθεόμενοι ἐπὶ κεφαλήν; Plat. R. 553b: ἐπὶ κεφαλὴν ὠθεῖ; nachklassisch Menander Sam. 353: ἐκ τῆς δ’ οἰκίας ἐπὶ κεφαλὴν ἐς κόρακας ὦσον τὴν καλὴν Σαμίαν; Dion. Hal. Ant. Rom. 7,36,3; Aristeid. Or. 1,301; Heliodor 1,17,5 und 7,22,2. Pollux (2,42) verzeichnet denn auch den Ausdruck ἐπὶ κεφαλὴν ὦσαι. Lukian gebraucht diese Junktur mehrfach, vgl. Tim. 38: ἐπὶ κεφαλὴν ἐξωσθεὶς τῆς οἰκίας; Sat. 2: ἐπὶ κεφαλὴν ὠθεῖσθαι; Bis Acc. 21. Der Ausdruck ἐπὶ κεφαλὴν findet sich zudem in Kombination mit anderen Verben für »stossen« oder »fallen« z.B. in Symp. 45; Gall. 23; Pisc. 48; Peregr. 24. ῥήτωρ δοκῶ Zur häufigen Verwendung des Verbs δοκεῖν und zur damit verbundenen Erzeugung des blossen Anscheins eines Redners, eben eines Scheinsophisten, vgl. bereits S. 60 mit Anm. 159. κἀν ταῖς δίκαις ἐξετάζομαι Zu ἐξετάζομαι in der Bedeutung »sich präsentieren als« vgl. LSJ s.v. ἐξετάζω V.2.: pass. present oneself, appear. Vgl. zum Gebrauch Demosthenes Or. 19,291; 21,161 und in der Formulierung sehr ähnlich Or. 24,6.1217 Das Verb kann hier sowohl rückbezüglich aufgefasst werden »und ich präsentiere mich vor Gericht als Redner« als auch mit den folgenden Partizipien verbunden »und ich präsentiere mich vor Gericht als einer, der seine Klienten meist betrügt und [...] verspricht«. Die zweite Variante ist aussagekräftiger, da sie die paradoxe Spannung zwischen der Tätigkeit des Gerichtsanwalts und den Vorgängen von Betrügerei, falschen Versprechungen und Bestechung, die normalerweise auf die Anklagebank führen sollten, stärker hervorhebt.

1217 Ἵνα δ’ ὑμῶν μηδεὶς θαυμάζῃ τί δή ποτ’ ἐγὼ μετρίως [...] τὸν ἄλλον βίον βεβιωκὼς νῦν ἐν ἀγῶσιν καὶ γραφαῖς δημοσίαις ἐξετάζομαι, βούλομαι μικρὰ πρὸς ὑμᾶς εἰπεῖν. (»Damit keiner von euch sich wundert, warum ich, der bisher ein ruhiges Leben führte, mich jetzt an Gerichtsverhandlungen und öffentlichen Anklagen präsentiere, will ich darüber ein paar Worte zu euch sagen.«)

§25: Der βίος des Rednerlehrers

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τοῖς ἀνοήτοις Zum Adjektiv ἀνόητος vgl. bereits den Kommentar zu §14: τοῖς ἀνοήτοις καὶ ματαίοις mit Anm. 754. Es bezeichnet bei Lukian oft generell die ungebildete, unverständige Menge (≈ οἱ πολλοί; vgl. bereits Anm. 751), was auch an vorliegender Stelle der Fall ist: Leicht zu täuschende Klienten vertrauen sich dem betrügerischen Gerichtsredner an. καθυπισχνούμενος Das unklassische Kompositum καθυπισχνεῖσθαι stellt eine Verstärkung des gängigen ὑπισχνεῖσθαι dar; zusätzlich ist eventuell an folgende Konnotation zu denken: Die zwei einzigen vorlukianischen Belege – Flav. Jos. Ant. Iud. 7,95 (David dankt Gott für alle Wohltaten, u.a. für die Versprechungen an seine Nachkommen): ὧν τε τοῖς ἐγγόνοις αὐτοῦ καθυπέσχετο und Ps.-Clementina 162,6: ὁ θεὸς καθυπέσχετο – stehen beide in biblischem Kontext und thematisieren Versprechungen Gottes; ebenso verhält es sich bei einem grossen Teil der nachlukianischen Belege.1218 Bei Lukian selbst ist ein weiterer Beleg1219 vorhanden in Hermot. 6, wo das Verb exakt in einer spöttischen Anspielung auf prophetische Versprechungen benutzt wird.1220 Bezieht man diesen Hintergrund mit ein, dann pervertiert der vorliegende Beleg die (falschen) Versprechungen des Rednerlehrers als Anwalt zusätzlich, da die dafür herangezogene Vokabel sonst meist im Kontext göttlich-wahrhaftiger Aussagen steht.1221 Inhaltlich ist mit dem Versprechen an die Klienten, die Richter auf ihre Seite zu bringen, wohl Bestechung gemeint, wobei der Anwalt das dafür erhaltene Geld in die eigene Tasche wirtschaften dürfte.1222 Die Missachtung 1218 Viele Belege finden sich bei Kyrill von Alexandria im Zusammenhang mit durch Gott selbst oder Propheten gemachte göttliche Versprechungen oder Offenbarungen, vgl. u.a. In XII prophetas vol. 1, p. 64,21 Pusey; vol. 2, p. 19,20 und p. 320,24 Pusey; In Psalmos PG 69,1008D und 1013C Migne. 1219 Einen Beleg enthält auch die möglicherweise pseudolukianische Schrift Demosth. Enc. 43. 1220 Hermotimos berichtet Lykinos, dass seine Ausbildung zum Stoiker wohl noch zwanzig Jahre dauern dürfte, worauf dieser sarkastisch bemerkt: ὑπὲρ δὲ τῶν εἴκοσιν ἐτῶν ὅτι βιώσῃ τοσαῦτα πότερον ὁ διδάσκαλός σου καθυπέσχετο, οὐ μόνον σοφός, ἀλλὰ καὶ μαντικὸς ὢν ἢ χρησμολόγος τις ἢ ὅσοι τὰς Χαλδαίων μεθόδους ἐπίστανται; φασὶ γοῦν εἰδέναι τὰ τοιαῦτα. (»Was aber die zwanzig Jahre betrifft: Dass du solange leben wirst, hat dir das dein Lehrer versprochen, womit er nicht nur weise, sondern gar ein Prophet oder Orakeldeuter wäre oder einer derjenigen, welche sich in den chaldäischen Lehren auskennen? Die behaupten ja, solche Dinge zu wissen.«) – Vgl. zur langwierigen Ausbildung bereits den Kommentar zu Rh. Pr. 3: ἱδρῶτος μεστὴν. 1221 Zudem läge damit auch ein Rückbezug zur Stilisierung des Ratgebers als göttliche Figur vor, vgl. Rh. Pr. 11: τι ξένον φάσμα δρόσῳ ἢ ἀμβροσίᾳ τρεφόμενον. – Allerdings finden sich bei kaiserzeitlichen Autoren auch vereinzelte Belege, die nicht in den biblischen Kontext gehören, vgl. Cass. Dio 49,31,3 und 79,1,3 sowie Heliodor 2,30,5 und 5,30,1. 1222 Vgl. dazu Harmon (169): »He is an accomplished praevaricator, not only selling out to the other side, but extracting money from his own clients under pretext of bribing the jury.«

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5. Kommentar (§§23–25)

des moralischen Aspektes, des Beistandes, den der Anwalt seinen Klienten schuldig wäre, zeigt deutlich seine Schamlosigkeit. Da der Rednerlehrer die Gerichtsrhetorik als einzigen Bereich erwähnt, in dem er tätig ist, wirft er die Frage nach seiner Eignung als Lehrer für Schaurhetorik und nach dem Wert seiner vorangegangenen Lehre auf. Gerade auch der folgende Bericht über Prozessniederlagen lässt bezüglich des Starstatus der Lehrerfigur (vgl. §11 und §13) Skepsis aufkommen. ἡττῶμαι μὲν τὰ πλεῖστα Freimütig gesteht der Rednerlehrer, dass er seine Prozesse zwar meistens verliert (ἡττῶμαι μὲν), er aber durch das Befestigen unverdienter Palmzweige (φοίνικες δὲ) an seiner Haustüre neue Klienten anlockt, die offenbar noch nichts von seiner Unfähigkeit gehört haben. Diese Aussage des Lehrers über seine rhetorischen Misserfolge ist für den Schüler ein Zeichen, sich von der gesamten Lehre zu distanzieren, sie zumindest sorgfältig zu überdenken: Denn auf die Showrhetorik angewandt dürfte das beschriebene Vorgehen zu einem absoluten Scheitern führen, da es keine einzelnen und immer wieder neuen Klienten, sondern ein Gesamtpublikum zu überzeugen gilt, welches – einmal verloren – nicht mehr zurückkehren wird. Die schlechte Rhetorik des Anwalts und seine trickreiche Abhilfe sind mit der vorangegangenen Lehre über die Showrhetorik nur scheinbar kompatibel; klar wird dies auch durch die Tatsache, dass der Rednerlehrer selbst in seiner Darstellung der Showrhetorik niemals von einem Misserfolg ausgeht, sondern stets den – durch den Anschein der attizistischen Rhetorik und spezielle Showeffekte herbeigeführten – Erfolg im Auge hat (vgl. §§16–20). οἱ φοίνικες δὲ ἐπὶ τῇ θύρᾳ χλωροὶ καὶ ἐστεφανωμένοι Palmzweige gelten als Siegeszeichen: Siegreichen Anwälten wurde die Haustüre mit solchen geschmückt,1223 aber auch an athletischen und musischen Agonen wurden sie als Preis verliehen.1224 Einen Palmzweig (φοίνικα) und einen geflochtenen Kranz (στέφανόν τινα τῶν πλεκτῶν) als Siegespreis eines rhetorischen Agons nennt Plut. mor. 723b.1225 Während bei Plutarch Palmzweig und Kranz als separate Preise aufgeführt sind, dürfte die Formulierung an vorliegender Stelle in Rh. Pr. Palmzweige bezeichnen,

1223 Vgl. dazu Juvenal sat. 7,117f.: [...] ut tibi lasso / figantur virides, scalarum gloria, palmae (»[...] damit man dir, dem Erschöpften, grüne Palmzweige zum Ruhm an der Treppe befestige«). 1224 Vgl. Arist. MM 1196a36 (über den Teilnehmer eines Wettkampfes, der vom vorsitzenden Schiedsrichter die Siegespalme erhält: ὁ λαβὼν τὸν φοίνικα παρὰ τοῦ ἐφεστῶτος). 1225 Damit schliesst sich der Kreis zu der in Rh. Pr. angestrebten Tätigkeit des Schülers im Umfeld der epideiktischen Rhetorik.

§25: Der βίος des Rednerlehrers

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die mit Kränzen – die eventuell ebenfalls aus Palmblättern bestehen – umwunden sind.1226 Der Rednerlehrer stellt die Palmzweige vor der Haustür eines Gerichtsredners implizit als mögliches Vorbild – als weiteren Trick – auch für den angehenden Sophisten dar.1227 Denn wird die Siegespalme einem Anwalt oder Wettbewerbsteilnehmer normalerweise von anderen aufgrund eines tatsächlichen Erfolgs verliehen, so täuscht der Rednerlehrer diesen Erfolg selbst vor. Ein ähnliches Phänomen zeigt sich in seinen Äusserungen zur ›Claque‹, zu den erkauften Fans, die den Sophisten während und nach seinem Auftritt bejubeln (vgl. §21, v.a. den Kommentar zu: προϊόντα σε δορυφορείτωσαν); ein wichtiger Unterschied liegt allerdings darin, dass die Claque schon während des Auftritts für den rhetorischen Erfolg des Showredners sorgen sowie diesen nach absolviertem Auftritt weiter zementieren soll. Zum Palmzweig als Siegessymbol sophistischer Redner vgl. Aristeides’ Kritik an seinen Rivalen, welche Palmwedel herumtrügen, um ihren Erfolg zu demonstrieren (vgl. Aristeid. Or. 33,27 mit der Erklärung von Keil, p. 234: palma victoriae rhetoricae insigne [...] quam cum ostentatione circumferunt).1228 Die Thematik der Siegeskränze verweist auch zurück auf Rh. Pr. 3, wo der Schüler als bekränzter Symposiast auf dem Berggipfel der Rhetorik sitzt. τοῖς δελέασιν Das Substantiv δέλεαρ, »Köder«, ist seit Aesop1229 in Prosa und Poesie verbreitet, wobei es häufig in folgenden Kontexten auftaucht: Einerseits in der wörtlichen Bedeutung als Köder im Zusammenhang mit der Jagd von Tie1226

Vgl. die Übersetzung von Möllendorff [2006a] 182: »[...] die Palmwedel an meiner Haustür sind aber trotzdem immer grün und mit Kränzen umwunden.« Anders hingegen Jones [1986] 107: »the green palm leaves on my door, worked into crowns.« Nicht weiter hilft hier die Bemerkung in DNP 9 s.v. Phoinix [6], Sp. 938, dass sowohl Kränze als auch einzelne Zweige der Palme als Siegespreis verwendet wurden. Aus sprachlicher Sicht scheint mir die Verwendung des Partizips ἐστεφανωμένος im Sinne von »zu einem Kranz geformt« schwierig; sowohl vorlukianisch als auch bei Lukian selbst finden sich keine Belege dafür; vielmehr bezieht sich der Grossteil der Belege dieses Partizips auf bekränzte Personen, einige wenige auf bekränzte Gegenstände (wie es an vorliegender Stelle mit der Siegespalme der Fall ist), vgl. Hdt. 7,92 (mit Federn umkränzte Hüte); Luk. Alex. 30 und Luct. 19 (bekränzte Steine). 1227 Vgl. die abschliessende Bemerkung: ταῦτά σοι παραινῶ. 1228 Der Verweis auf die Stelle findet sich bei Jones [1986] 107. 1229 Bei Aesop findet sich δέλεαρ dreimal in der Bedeutung »Köder einer Vogelfalle«: fab. 207 vers. 1 und 2 Hausrath; fab. 284 aliter Chambry p. 461. Es folgen fünf Belege bei Euripides (Andr. 264; Tr. 700; IT 1181; Hel. 755; fr. 981 Kannicht), einer bei Aristophanes (Eq. 789: in der Form δελέασμα zur Bezeichnung rhetorischer Tricks als »Köder«), drei bei Platon (Sph. 222e; Euthd. 272d; Ti. 69d). Zu lukianischen Anspielungen auf Aesop vgl. Bompaire [1958] 460–463.

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5. Kommentar (§§23–25)

ren,1230 andererseits in übertragener Bedeutung, in Darstellungen der Verführungen der menschlichen Seele1231 oder aber in politisch-kriegerischen Berichten über das Taktieren verschiedener Parteien.1232 Die Junktur δελέασι/δελέατι χρῆσθαι ist ebenfalls mehrfach belegt, vgl. z.B. Arist. HA 591a21 (οὔτε δελέατι χρῶνται πρὸς αὐτοὺς ζῴων σαρξὶν ἀλλὰ μάζῃ); Philon De spec. leg. 4,43 (οἷς καθάπερ δελέασιν ἐπὶ θήρᾳ χρῆται); Strab. 1,2,8; Athen. 3,87b. Die Palmwedel als Köder für die Klienten des Anwalts reflektieren die zuvor vom Rednerlehrer aufgezeigten Tricks des Scheinsophisten, die genauso als Köder dienen, um sich begeisterte Zuschauer zu ›angeln‹ und Ruhm einzuheimsen. Lukian greift das Auslegen eines Köders durch Scheingebildete in zwei weiteren Schriften auf,1233 dreht aber in Piscator den Spiess auch um, indem er Parrhesiades die Scheinphilosophen mit einem Köder aus Feigen und Geld angeln lässt.1234 Auch der betrügerische Rednerlehrer könnte seinerseits von einem Entlarver geködert werden: Die in der gesamten Schrift vorhandene Ironie sowie speziell der vorliegende βίος, welcher sich als völlig unkompatibel mit der vorangegangenen Lehre erweist, sind als sprachliche Köder interpretierbar, welche den Rezipierenden ein Mittel bieten, den Lehrer als Scheingebildeten und seine Lehre als ›Narrenstück‹ zu entlarven.1235 Über dasselbe Mittel verfügt der Schüler, auch wenn er sich zu Beginn durch den Scheinruhm des Rednerlehrers geblendet von ihm hat ködern lassen (vgl. §13). τὸ μισεῖσθαι πρὸς ἁπάντων Wiederum mit scheinbarer Bezugnahme auf die vorangegangene Lehre (s.u.: ταῦτά σοι παραινῶ) spricht der Rednerlehrer in aller Deutlichkeit aus, dass er den Hass der Leute auf sich zieht, was er als grosse Errungen1230

Vgl. Hekataios FGrHist 1 fr. 324b (Krokodiljagd); Ktesias FGrHist 688 fr. 45g10; 45r37 (Hasen-, Fuchs- und Schlangenfang); Aristoteles HA 533a und 534a; Polybios 15,21,6 und 8. 1231 Häufig wird dabei die Lust (ἡδονή) als Köder bezeichnet, vgl. bereits Platon Ti. 69d; später u.a. Philon De post. Cain. 72; Quod deus sit immutabilis 168; De ebr. 165; Flav. Jos. Contra Apionem 2,284. 1232 Vgl. z.B. Polybios 29,8,3; Diodor 10,9,1; 10,19,3; 14,101,3; Flav. Jos. Bell. Iud. 1,373.434.514.519. 1233 Vgl. Bis Acc. 20, wo die personifizierte Hedone (Epikureismus) aus Sicht der Stoa als Scheinphilosophin angeklagt wird, die mit ihrer lustvollen Lehre die Unwissenden ködert (τὰ τοιαῦτα γὰρ αὕτη δελέατα τοῖς ἀνοήτοις προτείνουσα [...]) und Hist. Conscr. 40, wo Scheinhistoriker kritisiert werden, die sich nicht der Wahrheit verpflichten, sondern der Schmeichlerei, und deren Werke daher zum Ködern der Herrscher dienen. – Zweimal greift Lukian das Substantiv δέλεαρ auch im Zusammenhang mit Erbschleicherei auf (Dial. Mort. 16,4; Dial. Mort. 18,1), vgl. die Thematik im vorangehenden Abschnitt Rh. Pr. 24. 1234 Vgl. Pisc. 47, 48, 51. 1235 Vgl. zur Narrenhaftigkeit der Figuren in Rh. Pr. und zur Ironisierung die Einleitung 1.6, S. 63–65.

§25: Der βίος des Rednerlehrers

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schaft taxiert (οὐ μικρὸν ἐμοί γε δοκεῖ). Ein ähnlicher Effekt ist bereits in §§21–22 über die Interaktion zwischen Redner und Publikum bzw. die Publikumsreaktionen zur Sprache gekommen, vgl. v.a. den Kommentar zu §21: θαυμάσια περὶ σαυτοῦ λέγε καὶ ὑπερεπαίνει καὶ ἐπαχθὴς γίγνου αὐτῷ und §22: ναυτιᾶν. Mit der Formulierung ἐπαχθὴς γίγνου (»werde lästig«) beschreibt der Rednerlehrer die Reaktion der Leute auf die Person des Starredners mit gänzlich unschmeichelhaften, aber realistischen Worten, die seine Lehre bzw. seine Art von Sophistik karikierend abwerten und dem eingangs formulierten Wunsch des Schülers (§1, vgl. insbesondere θαυμάζεσθαι πρὸς ἁπάντων καὶ ἀποβλέπεσθαι) kaum oder zumindest nur in pervertierter Weise entsprechen. Einmal mehr sind aber situative Unterschiede ausschlaggebend: Während die betrogenen Klienten des Gerichtsredners echte Hassgefühle entwickeln, die aus direkter Betroffenheit resultieren, erregt der Showredner bei seinem Publikum keinen eigentlichen Hass, sondern eher Ekel und Abscheu, und gleichzeitig – da das Publikum vom Verhalten des Sophisten nicht direkt betroffen ist – auch die Neugier, dessen skandalträchtige Performance zu besuchen. Echte Hassgefühle würden den Showredner um sein Publikum bringen, genau wie die betrogene Klientel des Anwaltes diesen nie wieder engagieren wird. Eine direkte Umsetzung des βίος des Gerichtsredners triebe den Showredner in den Ruin. Dem Scheinsophisten selbst wird ein hasserfülltes Auftreten empfohlen, damit er auffalle und alle Konkurrenten weit hinter sich lasse, vgl. §22: καὶ φθόνος πρὸς ἅπαντας καὶ μῖσος καὶ βλασφημία καὶ διαβολαὶ πιθαναί. So wird Hass auch zu einem Element im Wettstreit zwischen den Rhetorikern, welchen das Publikum – wiederum aus sicherem Beobachterposten heraus – fasziniert verfolgt. ἐπίσημον Zum Adjektiv ἐπίσημος vgl. bereits den Kommentar zu §22: ἐπίσημον und zu §21: θαυμάσια περὶ σαυτοῦ λέγε καὶ ὑπερεπαίνει καὶ ἐπαχθὴς γίγνου αὐτῷ. ἐπὶ τῇ μοχθηρίᾳ τοῦ τρόπου καὶ πολὺ πρότερον τῶν λόγων Zur Schlechtigkeit des Charakters vgl. die gesamte Darstellung des Privatlebens (§§23–25) sowie die explizit geforderten negativen Charaktereigenschaften des Scheinsophisten (§15). Hier liegt die einzige Stelle der Schrift vor, in welcher der Rednerlehrer seine Lehre bzw. die daraus hervorgehenden Reden derart explizit als schlecht bezeichnet, dass er sie selbst endgültig disqualifiziert. Implizit ist die Schlechtigkeit der Reden bereits mehrfach thematisiert worden, worauf der Rednerlehrer durch den Einschub πολὺ πρότερον möglicherweise hin-

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5. Kommentar (§§23–25)

tergründig verweist. Vgl. §17: Vokabulartricks, die klar als solche ausgewiesen werden; Abhilfe bei Solözismen und Barbarismen; §18: Ablehnung schwieriger Themen; aufs Geratewohl verwendete Attizismen; §20: Eine schriftlich fixierte Rede würde das mangelnde Können des Scheinsophisten sofort entlarven; §21: Eine erkaufte Claque ersetzt die nicht vorhandene echte Fangemeinde des Scheinsophisten. Ein wichtiger Unterschied zwischen der Lehre über die Showrhetorik und der Beschreibung der Gerichtsrhetorik liegt allerdings darin, dass die schlechten Reden des Anwaltes zu Misserfolg und Prozessverlust führen, während die im Sinne klassischer παιδεία schlechten Reden des Sophisten durch ablenkende Tricks und Showelemente trotzdem zum Erfolg führen sollen (vgl. dazu bereits oben: ἡττῶμαι μὲν τὰ πλεῖστα). τὸ δείκνυσθαι τῷ δακτύλῳ Siehe dazu bereits den Kommentar zu §22: ἐπίσημον mit Anm. 1052. τὸν ἀκρότατον ἐν πάσῃ κακίᾳ Diese Formulierung stellt eine Steigerung zum vorangegangenen ἐπίσημον [...] ἐπὶ τῇ μοχθηρίᾳ dar. Abgesehen davon, dass die eigene Schlechtigkeit generell niemandem ernsthaft zu Ruhm gereichen dürfte, gehört die Thematik der Schlechtigkeit des Charakters zur Invektiventopik (vgl. die Einleitung zu §§23–25 sowie den Kommentar zu §23: ἐπιορκεῖν), so dass sich der Rednerlehrer einmal mehr über konventionell negativ Konnotiertes positiv äussert, wodurch der Rezipient eine ironische Distanz zu dessen Worten aufbaut. Vor diesem Hintergrund erstaunen auch die Parallelen in lukianischen Invektiven nicht: Vgl. Pseudol. 16, wo das Opfer beschimpft wird als παμπόνηρος ἄνθρωπος ἁπάσῃ κακίᾳ σύντροφος1236 sowie über die Schlechtigkeit (κακία) des Alexander von Abonuteichos Alex. 4: τῶν ἐπὶ κακίᾳ διαβοήτων ἀκρότατος ἀπετελέσθη. Vgl. bereits Demosth. Or. 18,32 und 119 (Aischines’ Taten werden als κακουργήματα, er selbst als παμπόνηρος ἄνθρωπος bezeichnet). Indem sich der Rednerlehrer als »Gipfel« (ἀκρότατος) aller Schandtaten bezeichnet, greift er einen Begriff auf, welcher zuvor mehrfach den Berggipfel bezeichnet, auf dem die personifizierte Rhetorik thront und den der Rhetorikaspirant zu erklimmen wünscht (vgl. §3: ἐπιστήσῃ τῇ ἄκρᾳ; §6: ἐπὶ τῆς ἄκρας; §8: ἐπὶ τὸ ἀκρότατον ἀναβήσῃ; §24: ἐπὶ τῷ ἄκρῳ ἐγενόμην). Wenn nun charakterliche Schlechtigkeit das einzig Herausragende ist, was der Schüler durch den präsentierten Rhetoriklehrgang erreichen wird, 1236

Dass moralisches Fehlverhalten oft auch eng mit Unbildung zusammenhängt, legt das gegenteilige, in paralleler Weise formulierte Idealbild des Lykinos in Salt. 2 nahe: παιδείᾳ σύντροφος.

§25: Der βίος des Rednerlehrers

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so wird das Bild des wunderbaren Berggipfels konterkariert, wie es auch mit den Gütern der Rhetorik geschieht (vgl. den Kommentar zu §24: τὰ ἀγαθὰ παρὰ τῆς Ῥητορικῆς). οὐ μικρὸν εἶναι ἐμοί γε δοκεῖ Infolge der absoluten Unzulänglichkeit des βίος zur Illustration einer erfolgreichen Sophistenkarriere kommt dieser Aussage besonderes ironisches Gewicht zu: Durch die Litotes (οὐ μικρὸν) auch kleinlaut ausdeutbar und auf die persönliche Einschätzung des Rednerlehrers konzentriert (ἐμοί γε δοκεῖ), spart sie das Urteil der anderen – des Schülers und gleichermassen der Rezipierenden – bewusst aus, während der Lehrer zu Beginn seiner Rede seinen Starstatus noch überheblich am Lob und der unermesslichen Bewunderung aller seiner Zuhörer festgemacht hat (vgl. §13: κατὰ κλέος αὐτὸς ἥκεις ἀκούων ἁπάντων ὑπερεκπεπληγμένων τὰ ἡμέτερα καὶ ὑμνούντων καὶ τεθηπότων καὶ ὑπεπτηχότων). Die Formulierung οὐ μικρὸν nimmt der Rednerlehrer später in einer ›Danksagung‹, die er ebenfalls selbst an sich richtet, wieder auf (χάριν ἐμαυτῷ οὐ μικρὰν ἐπιστάμενος). Ταῦτά σοι παραινῶ Mit diesen Worten schliesst der Rednerlehrer den Bogen zu §15, dem eigentlichen Beginn seiner Lehre; vgl. den Kommentar zu §15: ἔπειτα καὶ αὐτὸς ἃ μὲν προϊόντι ἐπιδεικνὺς κατὰ τὴν ὁδόν, ἃ δὲ καὶ παραινῶν. Zudem wird damit dem Schüler die erfolglose Anwaltskarriere in höchst ironischer Weise explizit als Vorbild vor Augen gestellt. νὴ τὴν πάνδημον Dieser Ausruf richtet sich an Aphrodite Pandemos und spielt auf die Rede des Pausanias in Platons Symposion 180c–185c an, wo zwischen der himmlischen Aphrodite (Οὐρανία) und der gemeinen Aphrodite (Πάνδημος) unterschieden wird: Während die himmlische Liebe sich auf die Seele des Gegenübers richtet, verlangt es die gemeine Liebe nach dessen Körper, weshalb sie als minderwertig einzustufen ist.1237 Genau diese Aphrodite an1237

Vgl. Plat. Smp. 183e: πονηρὸς δ’ ἐστὶν ἐκεῖνος ὁ ἐραστὴς ὁ πάνδημος, ὁ τοῦ σώματος μᾶλλον ἢ τῆς ψυχῆς ἐρῶν. Vgl. auch Xen. Smp. 8,9–10. Anspielungen auf die Platonpassage sind verbreitet, u.a. bei Philon De vit. contempl. 60 (wo πάνδημος ἔρως mit Effeminiertheit in Zusammenhang gebracht wird, was zum Kontext von Rh. Pr. passt); Cornutus ND 46; Plutarch mor. 748d und 764b; Achilleus Tatios 2,36,2f. und 2,37,1. Vgl. auch Luk. Dial. Meretr. 7,1 und [Ps.]Luk. Demosth. Enc. 13. – Anzumerken ist, dass die wertende platonische Interpretation der Epitheta Οὐρανία und Πάνδημος als Bezeichnung für die höhere und die gemeine Liebe im historischen Kontext des Aphroditekultes nicht so erscheint, vgl. dazu DNP 1 s.v. Aphrodite, Sp. 840: »Der Beiname Pandemos, den sie vor allem in Athen trägt [...], macht sie zur Beschützerin der gesamten Bürgerschaft [...], sie kann aber auch mit nur einer bestimmten Magistratur assoziiert wer-

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5. Kommentar (§§23–25)

zurufen passt jedoch zum Rednerlehrer, der damit die in den vorangehenden Zeilen gerühmte Schlechtigkeit seines Charakters (ἐπίσημον [...] ἐπὶ τῇ μοχθηρίᾳ; τὸν ἀκρότατον ἐν πάσῃ κακίᾳ) unterstreicht, auf seine Lustknabendienste zurückverweist (vgl. πολὺ πρότερον ἐμαυτῷ παραινέσας; §24: γλίσχρῳ ἐραστῇ; Ποθεινὸς; γραῒ συνοικήσας [...] ἐγαστριζόμην) und so am Ende seiner Darlegung den Kern der praecepta für das Privatleben nochmals deutlich macht: Die gemeine, körperliche Liebe exzessiv auszuleben wird dem Schüler zum Erreichen seiner Ziele dienen (vgl. §23 passim).1238 Der Verweis auf die Lustknabendienste des Rednerlehrers karikiert die platonische Darlegung von körperlicher und seelischer Liebe insofern als sich diese immer auf das Schöne bzw. auf Reproduktion im Schönen (τόκος ἐν καλῷ) richtet, die Sexualakte mit der alten Frau aber in krassem Kontrast dazu stehen (vgl. Plat. Smp. 206b–207a). Der Ausruf, der auch den Kontext der himmlischen Liebe und der Schau des Schönen evoziert, verweist zudem auf die in §26 folgende Beschreibung der Fahrt des Redners im geflügelten Wagen (vgl. den Kommentar zu: τὸ τοῦ Πλάτωνος ἐκεῖνο »πτηνὸν ἅρμα ἐλαύνοντα« φέρεσθαι κτλ.). χάριν ἐμαυτῷ οὐ μικρὰν ἐπιστάμενος Die letzten Worte des Rednerlehrers, einmal mehr überheblich im Ton,1239 nehmen die erwartete Reaktion des Schülers – grosse Dankbarkeit – vorweg, der damit (scheinbar) nicht anders kann, als dieser Vorgabe zu folgen (vgl. dazu bereits die einleitenden Bemerkungen zu §§13–14). Durch die ironische Brechung des Textes und die selbstkarikierende βίος-Darstellung des Lehrers bekommt diese Aussage gleichzeitig einen lächerlichen, kleinlauten Anstrich: Dank erhält er nur von sich selbst. Die abschliessende Partizipialform ἐπιστάμενος markiert durch die im semantischen Feld von »Wissen« aufgerufene konventionelle Bildung eines Redners und Sophisten eine letzte ironische Distanz zur so ganz anders gearteten Konzeption des Rednerlehrers.

den. [...] Die Epiklese Urania, ›Himmlische‹, trifft man in zahlreichen Kulten an; sie drückt die Macht der Göttin aus, welche menschlichen Verbindungen in all ihren Formen vorsteht.« 1238 Auch der Scholienkommentar zu Rh. Pr. 25 bringt diesen Schwur mit dem anrüchigen Sexualleben des Lehrers und seinen diesbezüglichen Empfehlungen in Verbindung (p. 180 Rabe): νὴ τὴν πάνδημον*] τὴν Ἀφροδίτην φησίν. ὄμνυσι ⌞δὲ⌟ ταύτην νῦν ἢ διὰ τὴν προηγη⌞σα⌟μένην αἰσχρότητα τῆς γραὸς ἢ ⌞διὰ⌟ τὸ ἀναιδές· ἐπεὶ καὶ τοῦτο μετὰ τῶν ἄλλων κακῶν ἔχουσιν αἱ ⌞πόρ⌟ναι, ὃ μιμεῖσθαι καὶ αὐτὸς ὑπ⌞οβάλ⌟λεται καὶ τοὺς ἄλλους διδάσκε⌞ι⌟. Vgl. zur Formulierung auch Luk. Pseudol. 11: εἰπὲ γάρ μοι, πρὸς πανδήμου καὶ Γενετυλλίδων καὶ Κυβήβης [...], wo Lukians Opfer mit dieser sexuellen Anspielung verspottet wird (der Scholienkommentar erklärt, alle drei Begriffe seien Epitheta τῆς αἰσχρᾶς Ἀφροδίτης [p. 209 Rabe]). 1239 Vgl. den Beginn seiner Rede §13, v.a. den Kommentar zu: μῶν σέ κτλ. und zu: Τιτυὸς ἢ Ὦτος ἢ Ἐφιάλτης.

§26: Schlusswort und Abschiedsgruss des Ratgebers (Epilog)

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§26: Schlusswort und Abschiedsgruss des Ratgebers (Epilog) Der Ratgeber übernimmt zum Schluss nochmals das Wort bzw. schlüpft in seine alte Rolle zurück.1240 Er versichert dem Schüler zunächst ausführlich, dass er, wenn er sich an der vorgeführten Ausbildung orientiere, sein Ziel erreichen, ja seinen Lehrer dabei in den meisten Bereichen übertreffen werde: Er werde ein erfolgreicher Anwalt, bei allen beliebt und begehrt, und er heirate nicht eine Greisin, wie der Rednerlehrer es notgedrungen tun musste, sondern die schönste Frau, die Rhetorik selbst. Durch die Kontrastierung der Laufbahn des Schülers mit der eben dargestellten Karriere des Rednerlehrers wird indirekt auf dessen Misserfolg Bezug genommen und den Rezipierenden abschliessend nochmals die Unzulänglichkeit des βίος vor Augen geführt, wenn auch nicht weiter kommentiert: Die Laufbahn des Schülers orientiert sich nach wie vor an der vorgeführten Lehre (ἢν πεισθῇς τοῖς εἰρημένοις), wird aber stillschweigend ›ausgebessert‹ – die daraus zu ziehenden Schlüsse bleiben offen. Die Darstellung der glänzenden Karriere des Schülers kulminiert in einem Platonzitat, das ihn durch den Zeusvergleich in die göttliche Sphäre erhebt (vgl. den Kommentar zu: τὸ τοῦ Πλάτωνος ἐκεῖνο κτλ.). Dieses grossartige Szenario erfährt jedoch sogleich eine ironische Brechung: Im zweiten Teil des Schlusswortes kontrastiert der Ratgeber seine eigene Person und Karriere (vgl. ἐγὼ δὲ) mit derjenigen der neuen Modesophisten, wie der Schüler einer werden wird (vgl. ὑμῖν; τὰ ὑμέτερα), und schafft dadurch eine Distanz zwischen sich und dem – von ihm empfohlenen – Rednerlehrer, was insofern paradox erscheint, als Ratgeber und Rednerlehrer zuvor in der gesamten Schrift eng verbunden, ja in einem Sprecher vereint sind. Diese ambivalente Haltung des Ratgebers wird weitergeführt, indem sich der Ratgeber einer zunehmend mehrdeutigen Sprache bedient: Ambivalenzen im Vokabulargebrauch oder im Bezug der Vokabeln auf die Figuren (s.u. zu: ἀγεννής; ἀσύμβολος; ἀκονιτὶ ἀνακηρύττεσθε) verstärken zunehmend die Infragestellung dessen, was der Rednerlehrer vorgetragen hat, und fordern ein Überdenken der Qualitäten der neuen, aber auch der alten Lehre. Zur offenen Kritik am kurzen Weg kommt es im Schlusssatz, dessen Aussage nicht mehr ironisch-ambivalent gestaltet ist, sondern zum Zweck einer eindeutigen Entlarvung – und wie der Text vorgibt: der zusammenfassenden Erinnerung und der Memorierung (μεμνημένοι) – geradlinig daherkommt: Der Ratgeber erinnert den 1240 Zum Schauspiel des Ratgebers in der Rolle des Rednerlehrers vgl. den Kommentar zu §12: ἐμὲ ποιεῖσθαι τοὺς λόγους.

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5. Kommentar (§26)

Schüler vorwurfsvoll an die zweifelhafte Natur des Erfolgs der neuen Sophistik, die auf einer raschen Scheinausbildung beruht – oder bildlich gesprochen: auf einer Abkürzung auf den Berg der Rhetorik – und zu einem unlauteren Sieg gelangt.1241 Während der erste Teil des Schlusswortes den βίος des Rednerlehrers als Vorbild unterwandert, wird durch den zweiten Teil allgemein die Frage nach ›guter‹ Rhetorik neu aufgeworfen, indem der kurze Weg nun endgültig und immer eindeutiger abgewertet, die Tauglichkeit des langen Weges aber gleichzeitig weiterhin in der Schwebe belassen wird. Letzterem mag eine Vorrangstellung bezüglich der Ausbildungsinhalte zukommen; er ist jedoch kein Erfolgsgarant (mehr), und so verabschiedet sich der auf dem langen Weg ausgebildete Ratgeber auch ›folgerichtig‹ aus dem Vortragsbetrieb.1242 Angesichts der ambivalenten Sprache des Ratgebers sowie der Möglichkeit seiner Einordnung als Narrenfigur1243 dürfte sein Abschied aus der Szenerie mit einer grossen Portion (Selbst-)Ironie versetzt sein. Verdeutlicht man sich vor dem Hintergrund der vorliegenden Schlusspassage nochmals die inhaltliche Gestaltung der Darstellungen der beiden Wege, so ergibt sich ein weiterer möglicher Hinweis darauf, dass eine Rückkehr zum alten Weg trotz allem nicht die intendierte Lösung ist: Die Lehre des langen Weges ist ausschliesslich mit rhetorischen Inhalten befasst, die Lehre des kurzen Weges führt mit Bezugnahme auf den alten Weg eine pervertierte Form dieser Inhalte und darauf aufbauend vor allem die Aufführungsmodalitäten vor. Somit wären die beiden Systeme (›alter‹, klassischer Inhalt / Performanz) eigentlich als ein Ausbildungsgang kompatibel, da die Auftrittssituation vom Redner sowohl inhaltliche als auch performative Fähigkeiten fordert (wobei deren Gewichtung in der Rezeption je nach Bildungsstand der Zuhörer variieren dürfte). Die beiden Systeme werden einander jedoch entgegengestellt und in einseitiger Gewichtung jeweils nur eines Bereiches (Inhalt oder Performanz) als unzulänglich markiert. Ein möglicher Lösungsansatz könnte also darin liegen, eine neue Gewichtung der gegebenen Elemente vorzunehmen, in der das Verhältnis von Inhalt und Performanz ausgewogener wäre. Darüber, wie diese Neugewichtung aussehen könnte, schweigt sich die Schrift Rh. Pr. allerdings aus und überlässt den Rezipienten sich selbst. 1241 Dennoch bleibt eine gewisse Offenheit des Schlusses bestehen: Der Ratgeber weist bloss auf die trickreiche Natur des errungenen Sieges hin, eine explizite moralische Beurteilung desselben erfolgt aber nicht. 1242 Siehe zur Einstufung des langen Weges in §26 bereits die Einleitung 1.6.c) und d). 1243 Zum Ratgeber als Narrenfigur vgl. die Ausführungen auf S. 63f., die Einleitung zu §5 (illustrierende Geschichte des sidonischen Händlers, mit dem Kommentar zu: Σιδωνίου τινὸς ἐμπόρου) und zu §§9–10 (sowie den Kommentar zu §10: ἀλαζὼν καὶ ἀρχαῖος ὡς ἀληθῶς καὶ Κρονικὸς ἄνθρωπος).

§26: Schlusswort und Abschiedsgruss des Ratgebers (Epilog)

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Εἶεν· Εἶεν ist eine verbreitete Abbruch- bzw. Übergangsformel, die v.a. in dialogischer Literatur belegt ist: Sowohl in Tragödie und Komödie als auch im philosophischen Dialog.1244 Insbesondere bei Platon ist die Zahl der Belege gross; εἶεν (oder ergänzt: εἶεν, ἔφη/ἦν δ’ ἐγώ u.ä.) dient jeweils dem Abschluss eines Argumentes und dem Übergang zu einem neuen Punkt (vgl. z.B. Euthphr. 13d4; Ap. 18e5; Cri. 47c1 und 50e2; Phd. 105e8 und 115b1). Der platonische Hintergrund scheint mir hier denn auch primär wichtig zu sein, da im gesamten Abschnitt (parallel zum Beginn der Schrift, vgl. §1) die Redeweise des Ratgebers, trotz Einlagen aus dem Komikervokabular (γεννάδας; ἀσύμβολος), wieder im sokratisch-platonischen Duktus im Sinne eines abschliessenden Votums gestaltet ist (vgl. unten zu: καθάπερ ὁ νομοθέτης καὶ διδάσκαλος; τὸ τοῦ Πλάτωνος ἐκεῖνο κτλ.). ὁ μὲν γεννάδας Das Substantiv γεννάδας weist vorlukianisch 13 Belege auf, wobei 8 davon bei Aristophanes zu finden sind, hier also wiederum ein Wort vorliegt, das zum Komödienvokabular gehört, und damit gut zum Rednerlehrer als Komödienschauspieler passt. Die restlichen Belege finden sich in der klassischen Prosa, wo γεννάδας in seiner grundsätzlichen, positiven Bedeutung »edel, adlig« verwendet ist, vgl. u.a. Plat. Phdr. 243c (γεννάδας καὶ πρᾷος τὸ ἦθος) und Chrm. 155d (ὦ γεννάδα); Arist. EN 1100b32 (γεννάδας ὢν καὶ μεγαλόψυχος). Dass die Vokabel γεννάδας trotz ihrer klassisch relativ beschränkten Verbreitung zum attizistischen Wortschatz gehört, machen die Belege bei Pollux (1,206; 3,120) und Phrynichos (PS 90,2) deutlich. Die Belege bei Aristophanes charakterisieren einerseits Figuren, die prima facie aufgrund ihrer niederen Herkunft die Bezeichnung als γεννάδας nicht nahelegen, sie aber dennoch wegen edlen Verhaltens oder Absichten erhalten (vgl. Eq. 240 über den Wurstverkäufer, der das noble Gegenstück zum Paphlagonier Kleon darstellt; Ra. 179 und 640 über den Sklaven Xanthias), und dienen andererseits zur ironischen Verspottung von Personen (vgl. Ra. 738 und 739).1245 Diese ironische Brechung des Begriffs ist bei Lukian, der die Vokabel 14x verwendet, verbreitet: Vgl. u.a. Catapl. 1; Charon 4; Sacr. 5; Deor. Conc. 4; besonders interessant für vorliegende Schrift ist die sarkastische 1244 Vgl. z.B. Aischylos Eu. 244; Euripides Alc. 299; Med. 386; Supp. 1094; El. 596; Sophokles El. 534; OC 1308; Aristophanes Nu. 1075; Pax 877. Als Element der Komödiensprache schliesst εἶεν an vorliegender Stelle in Rh. Pr. den komödiantischen Auftritt des Rednerlehrers passend ab. Vgl. zum philosophischen Kontext z.B. Xen. Smp. 4,52,1; 4,56,1; 5,6,1. 1245 Die verbleibenden drei (positiven) Belege beziehen sich auf Dikaiopolis (Ach. 1230; siehe allerdings zur Vielschichtigkeit dieser Figur, speziell zu egoistischen Zügen Fisher [1993]), auf den athenischen General Myronides (Ec. 304a) und auf Aischylos (Ra. 997).

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5. Kommentar (§26)

Anwendung des Begriffs in den Invektiven1246 gegen die betrügerischen Figuren Alexander (Alex. 41) und Peregrinos Proteus (Peregr. 1) bzw. dessen ›Entourage‹ (Peregr. 36). Die Bezeichnung des Rednerlehrers als »Edelmann« ist im Anschluss an seinen βίος denn auch höchst ironisch (vgl. seine Herkunft als Sohn eines Freigelassenen, §24, und vor allem seine moralische Schlechtigkeit, §§23– 25 passim). Gerade die Formulierung ὁ μὲν γεννάδας εἰπὼν ταῦτα stellt einen scharfen Kontrast her, kann doch einer, der so spricht, wie es der Rednerlehrer zum Schluss seiner Darlegung tut, nicht als »edel« gelten. Aber auch die platonisch-philosophische, positive Konnotation der Vokabel dürfte hier eine Rolle spielen, wodurch das Wort letztlich ambivalent erscheint.1247 Platon wird nämlich in der Fortsetzung mehrfach aufgerufen (vgl. νομοθέτης; τὸ τοῦ Πλάτωνος ἐκεῖνο κτλ.), und durch die Nennung des gegenteiligen Begriffes ἀγεννής wird zudem eine moralische Diskussion erzeugt. ἀγεννής, was als Gegenbegriff zu γεννάδας auch bei Pollux zu finden ist (1,206),1248 dient in Rh. Pr. 26 zur Selbstcharakterisierung des Ratgebers als Exponent der ›alten‹ Rhetorik: γεννάδας und ἀγεννής sind in Beziehung aufeinander zu interpretieren (vgl. die antithetische Formulierung: ὁ μὲν γεννάδας [...] ἐγὼ δέ – ἀγεννὴς γὰρ κτλ.), wobei die konventionelle Auffassung von »Edlem« und »Schlechtem« verdreht und damit die Frage nach guter Rhetorik und guten Rednern neu aufgeworfen wird. Hat sich der Ratgeber von Anfang an bedingungslos für die Ausbildung des Rednerlehrers stark gemacht, ja ist sogar in dessen Rolle geschlüpft (vgl. den Kommentar zu §12: ἐμὲ ποιεῖσθαι τοὺς λόγους), so distanziert er sich zum Ende von ihm, wobei er zwar seine eigene Person durch die Wortwahl herabsetzt,1249 die »Edelkeit« des Rednerlehrers aber genauso in einem ironischen Licht zurücklässt (s. auch unten zu: ἀγεννὴς γὰρ καὶ δειλός εἰμι). So erweist sich das Sprechen des Ratgebers auch im Schlussvotum keineswegs als eindeutig, sondern ist angereichert mit Ambivalenz und Ironie. 1246 Zur Verwendung von Invektiventopik in Rh. Pr. vgl. die einleitenden Bemerkungen zu §§23–25. 1247 Vgl. zu neutralen bzw. positiven Belegen bei Lukian z.B. Cal. 20; Hist. Conscr. 9 und 33; Dial. Mort. 20,13. 1248 Das Begriffspaar »edel« und »unedel« wird klassisch durch γενναῖος (weitaus häufiger als γεννάδας, auch bei Lukian) und ἀγεννής wiedergegeben, vgl. Plat. Alc. I 107b; Prt. 319d; Lg. 690a und 714e sowie auch Luk. De Dom. 14 und Cal. 23f. Genau wie γεννάδας umfasst γενναῖος in der Bedeutung bei Lukian gleichzeitig edle Abstammung und edles Verhalten und wird häufig ironisch verwendet, z.B. Catapl. 4; Gall. 19; Tim. 47; Pisc. 45 und 48; Peregr. 20; Salt. 83; Deor. Conc. 4 und 12; Hist. Conscr. 24; Sat. 38; Dial. Deor. 3,2; die Applikation des Adjektivs γενναῖος auf eine Person oder Sache als Frage des Standpunktes und damit die Ambivalenz des Begriffs wird aufgerufen in Pisc. 38 und besonders häufig in Paras. – bedingt durch die Absicht des Parasiten Simon, seine Kunst als γενναία zu erweisen (vgl. §§1, 22, 42, 45). 1249 Vgl. dazu bereits die Einleitung 1.6, S. 62f.

§26: Schlusswort und Abschiedsgruss des Ratgebers (Epilog)

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σὺ δὲ ἢν πεισθῇς τοῖς εἰρημένοις Der Konditionalsatz mit dem prospektiven Konjunktiv beinhaltet die Erwartung, dass der Schüler dem Gesagten tatsächlich Folge leisten wird, sie wird aber durch die nicht vorhandene Reaktion des Schülers sowie durch die im vorliegenden Schlusskapitel nochmalige starke Ironisierung des Vorgetragenen unterwandert. Dennoch verschmelzen später in der Wortwahl des Ratgebers Schüler und Rednerlehrer zu einem »ihr«, die Erwartung wird also zumindest rhetorisch eingelöst (s.u. zu: ἐκστήσομαι ὑμῖν τῆς ὁδοῦ). παρεῖναι νόμιζε οἷπερ ἐξ ἀρχῆς ἐπόθεις ἐλθεῖν Durch den Rückbezug auf den Beginn (ἀρχή) wird die Schrift im Schlusswort zu einem Ganzen abgerundet (vgl. dazu auch unten: ἑπόμενον τῷ νόμῳ und τῷ ῥᾴστην καὶ πρανῆ τραπέσθαι τὴν ὁδόν); zudem bewirkt die Feststellung, der Schüler habe sein zu Beginn formuliertes Ziel bereits erreicht, dass die Illusion der Reise auf den Berg der Rhetorik Wirklichkeit wird oder zumindest von der Wirklichkeit nicht mehr deutlich unterschieden ist. Gleichzeitig betont allerdings die Abhängigkeit des Infinitivs παρεῖναι vom Imperativ νόμιζε den unsicheren Status der zwischen Fiktion und Wirklichkeit schwankenden Feststellung: Es wird bloss geglaubt, dass das Ziel erreicht ist. οὐδέν σε κωλύσει Der Ratgeber erzeugt ein Echo – und damit eine Bekräftigung – seiner eigenen Aussage am Anfang von §6: εἴσῃ γὰρ πειρώμενος ὡς οὐδέν σε κωλύσει ἤδη ῥήτορα δοκεῖν μιᾶς οὐδὲ ὅλης ἡμέρας [...]. An beiden Stellen ist die Aussage jedoch ambivalent: Während bereits in §§5–6 der Wahrheitsgehalt des Gesagten, weil es sich an die Behauptung des sidonischen Narren anschliesst, zweifelhaft ist, kommt an vorliegender Stelle zum Zweifel über die tatsächliche Existenz eines solchen raschen (Ausbildungs-)Weges zusätzlich die moralische Frage hinzu, ob der leichte Weg, der einen ohne Mühe, nur durch trickreiches Agieren zum Starredner macht, wirklich erstrebenswert sein kann (vgl. unten zu: μὴ τῷ τάχει ἡμῶν κεκρατήκατε). ἑπόμενον τῷ νόμῳ Eine letzte Ermahnung, den vorgeführten Weg zu befolgen, geht einher mit einer nochmaligen Aufzählung all dessen, was dem Schüler dadurch zuteil werden wird. Beides ist in der Schrift von Seiten des Ratgebers und des Rednerlehrers bereits mehrfach ausgeführt worden und liegt hier in einer zusammenfassenden Abschlusspassage vor, die speziell auf den vorangegangenen βίος (§§24–25) Bezug nimmt.

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5. Kommentar (§26)

Vgl. zu den »Gesetzen«1250 den Kommentar zu §14: ἕπου μόνον, ὦ μέλημα, οἷς ἂν εἴπω, καὶ ζήλου πάντα, καὶ τοὺς νόμους, [...], ἀκριβῶς μοι παραφύλαττε; vgl. auch §16: καὶ δή σοι τοὺς νόμους δίειμι [...]. Letztlich liegt eine Ringkomposition vor, da der Ratgeber bereits ganz zu Beginn der Schrift auf den Gehorsam des Schülers als Garantie für das Gelingen der Ausbildung verwiesen hat (§1): [...] ἢν τὸ μετὰ τοῦτο ἐθελήσῃς αὐτὸς ἐμμένειν οἷς ἂν ἀκούσῃς παρ’ ἡμῶν καὶ φιλοπόνως αὐτὰ μελετᾶν [...]. Vgl. zu den von der Rhetorik gewonnenen »Gütern« das Ende von §3: σὺ δὲ πρὸ πολλοῦ ἄνω ἐστεφανωμένος εὐδαιμονέστατος ἔσῃ, ἅπαντα ἐν βραχεῖ ὅσα ἐστὶν ἀγαθὰ παρὰ τῆς Ῥητορικῆς [...] λαβών sowie das Ende von §6: ὡς γαμήσειάς τε αὐτὴν ἀνελθὼν καὶ πάντα ἐκεῖνα ἔχοις, τὸν πλοῦτον τὴν δόξαν τοὺς ἐπαίνους; vgl. weiter §24: τὸ μετὰ τοῦτο δὲ οὐκ ἐμὲ χρὴ λέγειν, ὅσα ἐν βραχεῖ παρέσται σοι τὰ ἀγαθὰ παρὰ τῆς Ῥητορικῆς. Vgl. weiter zum Kernmotiv der Berühmtheit und Bewunderung durch die Menge §§1, 8, 17, 20, 22f. Aus dem Katalog der Güter bzw. Fähigkeiten, welche dem Schüler zufallen werden, wird eine Auswahl getroffen, die in engem Bezug zur Karriere und Figur des Rednerlehrers steht, so dass der Ratgeber dessen βίος – wie wir sehen werden in subversiver Weise – kommentiert. Der Ratgeber beginnt damit, dem Schüler eine (im Gegensatz zum Rednerlehrer) erfolgreiche Anwaltskarriere zu prophezeien, es folgt dann die glänzende Karriere als Schauredner, die der Schüler eigentlich erstrebt (vgl. §1), und zum Schluss die Heirat mit der Rhetorik – in Absetzung zur Figur des Lehrers, welcher eine hässliche Alte geehelicht hat. Die genannten Elemente haben eine subversive Wirkung, was die Karriere des Rednerlehrers betrifft, weil der Schüler, obwohl durch die Nennung der Gerichtsrhetorik ein scheinbarer Anschluss an die Laufbahn des Lehrers gemacht wird, erstens weit erfolgreicher ist (s.u. zu: ἔν τε τοῖς δικαστηρίοις κρατεῖν), und zweitens die Gegenüberstellung der Heirat mit der Alten und derjenigen mit der Rhetorik eine Abkehr vom Rednerlehrer als Vorbild bewirkt, welchem durch die Verweigerung dieser Eheschliessung die Beherrschung der rhetorischen τέχνη sogar abgesprochen wird (s.u. zu: γαμεῖν οὐ γραῦν τινα τῶν κωμικῶν).

1250 Überliefert sind an vorliegender Stelle in Rh. Pr. sowohl die Singularform τῷ νόμῳ (so Macleod: γ) als auch der ansonsten in der Schrift vorhandene Plural τοῖς νόμοις (so Harmon: β; vgl. Rh. Pr. 14 und 16). Ich schliesse mich der Lesart von γ an (im Sinne einer lectio difficilior), da die Änderung des Numerus keine Probleme bereitet, der Singular vielmehr die Lehre und die Tricks als Gesamtheit umfasst und damit die inhaltliche Zusammenfassung des Ratgebers formal unterstützt. Die Pluralform könnte, abgesehen davon, dass sie der gängigen Verwendung in Rh. Pr. entspricht, aufgrund der Annahme einer Anspielung auf Platons νόμοι (s.u. zu: καθάπερ ὁ νομοθέτης καὶ διδάσκαλος) in den Text gesetzt worden sein.

§26: Schlusswort und Abschiedsgruss des Ratgebers (Epilog)

463

ἔν τε τοῖς δικαστηρίοις κρατεῖν Vgl. die als Vorbild vorgeführte Anwaltskarriere des Rednerlehrers in §25. Wichtig ist allerdings folgende Differenz, wodurch indirekt die Untauglichkeit des βίος als Vorbild aufgedeckt wird: Die Gerichtsrhetorik des Schülers wird erfolgreich sein (κρατεῖν), wohingegen der Rednerlehrer meistens erfolglos bleibt (vgl. §25: ἡττῶμαι μὲν τὰ πλεῖστα). Mit welchen Mitteln der Schüler zum Erfolg kommt, wird offen gelassen; zur möglichen negativen Konnotation des Verbs κρατεῖν im Sinne einer Trickrhetorik s.u. zu: μὴ τῷ τάχει ἡμῶν κεκρατήκατε. Obwohl im Schwerpunkt nicht die Gerichtsrhetorik, sondern die Schaurhetorik das eigentliche Ziel des Schülers ist (vgl. §1), ist ihre Nennung hier unproblematisch; abgesehen von der damit bewirkten Anknüpfung an die Karriere des Rednerlehrers ist eine doppelte Tätigkeit von Starsophisten als Anwälte und Schauredner keine Seltenheit, eine Sophistenkarriere kann zumindest als Anwalt begonnen werden (vgl. Philostrat VS 483, 511 und 516 [Niketes], 519 [Skopelian], 595 [Polemon], 628). ἐν τοῖς πλήθεσιν εὐδοκιμεῖν Mit der Nennung des Ruhms bei der grossen Menge geht der Ratgeber endlich konkreter auf den Ausbildungswunsch des Schülers (Schaurhetorik) ein; vgl. dazu §1: [...] ὡς ἄμαχον εἶναι καὶ ἀνυπόστατον καὶ θαυμάζεσθαι πρὸς ἁπάντων καὶ ἀποβλέπεσθαι, περισπούδαστον ἄκουσμα τοῖς Ἕλλησι δοκοῦντα. Das Verb εὐδοκιμεῖν wird vom Rednerlehrer zweimal verwendet, vgl. §22: ὃ δὲ μέγιστον καὶ πρὸς τὸ εὐδοκιμεῖν ἀναγκαιότατον ὀλίγου δεῖν παρέλιπον sowie den Kommentar zu §23: σοὶ καὶ ἄχρι τῆς γυναικωνίτιδος εὐδοκιμοῦντι. Die Berühmtheit bei der (ungebildeten) Menge, nach welcher sich der Scheinsophist hauptsächlich richten soll, ist bereits in §17 und §20 thematisiert worden.1251 Die Bezeichnung der Menge als τὸ πλῆθος – passend zum Abschluss sogar pluralisch gesteigert: τὰ πλήθη – findet sich nur hier; 1252 der Rednerlehrer verwendet οἱ πολλοί (§20 und §23) sowie einmal ὁ λεώς (§17).

1251 Vgl. §17 (über den Effekt der Verwendung ungebräuchlichen Vokabulars): οὕτω γάρ σε ὁ λεὼς ὁ πολὺς ἀποβλέψονται καὶ θαυμαστὸν ὑπολήψονται καὶ τὴν παιδείαν ὑπὲρ αὑτούς und §20 (über den durchschlagenden Erfolg aller Showeffekte): οἱ μὲν γὰρ συνιέντες ὀλίγοι [...] οἱ πολλοὶ δὲ τὸ σχῆμα καὶ φωνὴν καὶ βάδισμα καὶ περίπατον καὶ μέλος καὶ κρηπῖδα καὶ τὸ ἄττα σου ἐκεῖνο θαυμάσονται κτλ. 1252 In einem anderen Kontext findet sich τὸ πλῆθος noch einmal in §20: ὅπως δὲ καὶ τὸ πλῆθος τῶν λόγων θαυμάζωσιν κτλ.

464

5. Kommentar (§26)

ἐπέραστον Mit diesem Adjektiv sind bereits der personifizierte Reichtum (Πλοῦτος) und der Tragödiendichter Agathon charakterisiert worden (vgl. §6 und §11). Da durch die Heirat mit der Rhetorik dem Schüler auch ihr Reichtum zufällt und da Agathon als illustrierendes Exempel für die Figur des Rednerlehrers eingeführt worden ist, welcher wiederum den Schüler nach seinem Vorbild unterrichtet, kann letztlich auch der Schüler selbst als ἐπέραστος gelten. Die durch die Nennung der erfolgreichen Anwaltstätigkeit des Schülers erfolgte Absetzung vom Rednerlehrer wird also hier insofern wieder aufgehoben, als dessen Figur das Paradebeispiel für den effeminierten ἐπέραστος bildet. Die Charakterisierung als ἐπέραστος ist vor dem Hintergrund des konventionellen Männerbildes wenig schmeichelhaft und daher ironisch aufgeladen – ob sie für ihn erstrebenswert ist, mag dem Schüler zu denken geben. Vgl. ausführlicher zur Verwendung und Semantik der Vokabel den Kommentar zu §11: ἐπέραστον ἐκεῖνον ποιητήν. γαμεῖν οὐ γραῦν τινα τῶν κωμικῶν Hier liegt ein weiterer (negativer) Rückverweis auf die Karriere des Rednerlehrers vor, die erst einmal durch Lustknabendienste in Schwung gebracht werden musste; vgl. den Kommentar zu §24: γραῒ συνοικήσας [...] ἐγαστριζόμην. Der Ratgeber gibt das vom Rednerlehrer als »Zusammenleben« (συνοικεῖν) bezeichnete Verhältnis gar als Heirat (γαμεῖν) wieder, wodurch die Parallelität zur Hochzeit des Schülers mit der Rhetorik gewährleistet ist. Dieser Unterschied in der Karriere von Lehrer und Schüler hat folgende Implikation: Der Rednerlehrer wird, abgesehen davon, dass sein Verhältnis mit der Alten per se abstossend ist, vor allem in seinen rhetorischen Fähigkeiten abgewertet. Denn in der Wegmetaphorik, die den gesamten Beginn der Schrift durchzieht, taucht die personifizierte Rhetorik als ›Trophäe‹ auf, welche der Aspirant nach erfolgter Ausbildung erhalten und damit als erfolgreicher Redner gelten wird.1253 Dadurch, dass dem Rednerlehrer eine entsprechende Heirat vorenthalten wird, erscheinen seine gesamte Lehre und seine Eignung als Vorbild höchst zweifelhaft.

1253 Die Metaphorik der Heirat mit der Rhetorik bezeichnet also den fähigen bzw. zumindest fähig scheinenden Redner; vgl. sowohl die Worte des Ratgebers (§6: Πρόσει δὴ σὺ ὁ ἐραστὴς [...], ὡς γαμήσειάς τε αὐτὴν κτλ. und §10: ἀλλὰ εἰ πάντως ἐρᾷς καὶ τάχιστα ἐθέλεις τῇ Ῥητορικῇ συνεῖναι κτλ.) als auch die dem Lehrer des langen Weges in den Mund gelegte Aussage (§9: φήσει εὐδαίμονά σε ἔσεσθαι καὶ νόμῳ γαμήσειν τὴν Ῥητορικήν). Der Rednerlehrer seinerseits verwendet die Metaphorik der Heirat nicht explizit, lehnt sich aber klar daran an (vgl. §16: καὶ δή σοι τοὺς νόμους δίειμι, οἷς χρώμενόν σε ἡ Ῥητορικὴ γνωριεῖ καὶ προσήσεται, οὐδὲ ἀποστραφήσεται καὶ σκορακιεῖ καθάπερ ἀτέλεστόν τινα καὶ κατάσκοπον τῶν ἀπορρήτων).

§26: Schlusswort und Abschiedsgruss des Ratgebers (Epilog)

465

Der bereits in §24 vorhandene Konnex der Alten mit der Komödie 1254 wird an vorliegender Stelle durch den Genitiv τῶν κομικῶν aufgenommen, wobei der βίος des Rednerlehrers zur Komödie wird, ja sein gesamter Auftritt die Inszenierung einer Komödie ist.1255 An dieser Stelle macht der Ratgeber demnach deutlich, dass seine Antwort auf die Frage des Schülers als humoristischer Ratschlag aufgefasst werden kann. καθάπερ ὁ νομοθέτης καὶ διδάσκαλος Die Bezeichnung des Rednerlehrers als νομοθέτης und διδάσκαλος erscheint vor dem Hintergrund seines βίος (sexuelle Abartigkeit und charakterliche Schlechtigkeit) und der soeben erfolgten Einstufung seines Auftrittes als Komödie (s.o. zu: γαμεῖν οὐ γραῦν τινα τῶν κωμικῶν) höchst ironisch, denn er entbehrt (v.a. aufgrund seiner effeminierten, komödiantischen Gestalt) der Autorität und Ernsthaftigkeit sowie der einwandfreien Moral, die den idealen Gesetzgeber auszeichnet. Das Substantiv νομοθέτης ist zum ersten Mal belegt im Zusammenhang mit dem berühmten Gesetzgeber Solon (Σόλων ὁ νομοθέτης; vgl. Epimenides FGrHist 457 test. fr. 1,30 und 2,8), weitere klassische Belege finden sich vor allem in Gerichtsreden, vgl. Antiphon Or. 5,15; Isaios Or. 2,13; 9,3 und 12; Andokides Or. 1,82–84 (Bezugnahme auf Solon und Drakon1256); vgl. aber auch Thuk. 8,97,2. Weitaus die grösste Anzahl von Belegen (420) für Verb und Substantiv findet sich allerdings bei Platon, der in der vorliegenden Passage namentlich aufgerufen ist (s.u.: τὸ τοῦ Πλάτωνος ἐκεῖνο κτλ.) und dessen Vokabular zu verwenden zum Duktus der Redeweise des Ratgebers passt (s.o. zu: Εἶεν); vgl. Plat. Cra. 388e–389d (im Zusammenhang mit der Festlegung der Benennung der Dinge), zur Moralität der Gesetzgeber vgl. bes. 390d (κινδυνεύει ἄρα, ὦ Ἑρμόγενες, εἶναι οὐ φαῦλον [...] ἡ τοῦ ὀνόματος θέσις, οὐδὲ φαύλων ἀνδρῶν οὐδὲ τῶν ἐπιτυχόντων); die meisten Belege weisen naturgemäss Platons νόμοι auf (e.g. Lg. 625e1, 626a6, 628a5, 671c3). Die Kombination der Begriffe νομοθέτης und διδάσκαλος ist ebenfalls bereits platonisch, vgl. Lg. 964b91257; die Vokabel διδάσκαλος nimmt das zu Beginn der Schrift stilisierte Lehrer-Schüler-Verhältnis wie1254

Vgl. z.B. Ar. Th. 345, 505 und 512; Pl. 999–1002. Insbesondere das Verb γαστρίζεσθαι ist Teil des Komikervokabulars. 1255 Bereits der Vergleich mit dem Tragödiendichter Agathon (§11) und mit den Hetären aus den Komödien Menanders (§12) sowie die Schauspielmetaphorik (§12: τὸν ἥρωα ὃν ὑποκρίνομαι) markieren den Auftritt des Rednerlehrers als denjenigen auf einer Schauspielbühne. Vgl. zur komödiantischen Rolle des Rednerlehrers v.a. die einleitenden Bemerkungen zu §12. 1256 Vgl. auch Lukian Cal. 8: οἱ ἄριστοι τῶν νομοθετῶν, οἷον ὁ Σόλων καὶ ὁ Δράκων und Macr. 28: Λυκοῦργος δὲ ὁ νομοθέτης τῶν Λακεδαιμονίων. 1257 Mehrere Belege dieser Kombination folgen später in theologischem Kontext bei Philon, vgl. De post. Caini 166,3; Quod deus sit immutabilis 125,1; De plant. 66,2; De agric. 84,1.

466

5. Kommentar (§26)

der auf, vgl. dazu die Einleitung 1.3 sowie den Kommentar zu §1: ἐρωτᾷς, ὦ μειράκιον und §10: παραλαβὼν. Ironisch-negativ ist neben der unpassenden Applikation des positiven Begriffs νομοθέτης auf den Rednerlehrer auch sein Agieren in Personalunion, indem er alleine die Gesetze aufstellt, (vor)lebt und unterrichtet, ohne dass der gemeinsame Konsens, auf dem νόμοι beruhen, berücksichtigt wäre. Genau diese selbstherrliche Verhaltensweise im Kreise der Christen kritisiert der Autor sarkastisch an der Figur des Peregrinos, vgl. §13: ἔπειτα δὲ ὁ νομοθέτης ὁ πρῶτος ἔπεισεν αὐτοὺς ὡς ἀδελφοὶ πάντες εἶεν ἀλλήλων, vgl. auch §11: ὡς θεὸν αὑτῶν ἐκεῖνοι ᾐδοῦντο καὶ νομοθέτῃ ἐχρῶντο [...]. καλλίστην γυναῖκα τῆν Ῥητορικήν Der Schüler übertrifft damit, was seine Ehefrau angeht, den Lehrer bei weitem,1258 doch werden diese Heirat und die Figur der Rhetorik mitsamt ihrer ausserordentlichen Schönheit in der Fortsetzung des Schlussworts des Ratgebers zunehmend ambivalent: Der Text lässt offen, ob hier die konventionelle, ›alte‹ Rhetorik gemeint ist, oder aber diejenige, die man auf dem kurzen Weg erreicht. Da der Ratgeber (zumindest dem Schein nach) noch immer an der zuvor gegebenen Lehre festhält (s.o.: σὺ δὲ ἢν πεισθῇς τοῖς εἰρημένοις), müsste damit die Rhetorik der Scheinsophisten bezeichnet sein, die eigentlich eine hetärenhafte, niedere Gestalt ist. Ihre herausgestrichene äusserliche Schönheit mag dann implizit in Kontrast zu ihren (negativen) inneren Werten stehen. Zur hetärenhaften Gestalt der ›neuen‹ Rhetorik vgl. die Parallelisierung der Figur des Rednerlehrers mit berühmten Hetären aus der Komödie (§12: Αὐτοθαΐδα τὴν κωμικὴν ἢ Μαλθάκην ἢ Γλυκέραν τινὰ μιμησάμενος). Gleichzeitig könnte es aber auch dieselbe Rhetorik sein, um die sich der Ratgeber seinerseits bemüht hat. Vgl. dazu bereits die Einleitung 1.4, S. 46, 1.5, S. 47f. und 1.6, S. 65f. Die Hochzeit mit der Rhetorik thematisiert der Ratgeber bereits §6 und §§9–10. τὸ τοῦ Πλάτωνος ἐκεῖνο »πτηνὸν ἅρμα ἐλαύνοντα« φέρεσθαι κτλ. Der Ausspruch Platons stammt aus Phaidros 246e: Ὁ μὲν δὴ μέγας ἡγεμὼν ἐν οὐρανῷ Ζεύς, ἐλαύνων πτηνὸν ἅρμα, πρῶτος πορεῦεται, διακοσμῶν πάντα καὶ ἐπιμελούμενος. Τῷ δ’ ἕπεται στρατιὰ θεῶν τε καὶ δαιμόνων, κατὰ ἕνδεκα μέρη κεκοσμημένη.1259 Diese göttliche Ausfahrt bezieht sich 1258 So wird seiner Karriere ein letzter Glanzpunkt aufgesetzt; im übrigen Text wird der Schüler als Ebenbild des Rednerlehrers dargestellt, wobei sie gemeinsam alle anderen übertreffen, vgl. den Kommentar zu §15: ῥήτορά σε ὑπὲρ τοὺς πάντας ἀποφανῶ, οἷος αὐτός εἰμι. 1259 »Der grosse Herrscher im Himmel, Zeus, fährt auf einem geflügelten Wagen voraus, alles anordnend und besorgend. Ihm folgt ein Heer von Göttern und Dämonen, in elf Abteilungen geordnet.«

§26: Schlusswort und Abschiedsgruss des Ratgebers (Epilog)

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zurück auf das Bild des geflügelten Seelengespanns, des Grundzustandes aller Seelen, wobei die nichtgöttlichen Seelen ihr Gefieder verlieren können, da es zu seiner Erhaltung und Stärkung des Aufstiegs und der Schau des wahrhaft Seienden bedarf, was irdische Seelen nicht mehr leicht bewerkstelligen (vgl. 246a–248c).1260 Der Vergleich des Redners mit Zeus als Wagenlenker evoziert primär das Bild des auf einem Wagen dahinfahrenden Starsophisten, welches bereits in der Beschreibung des kurzen, angenehmen Weges durch das Adjektiv ἱππήλατος angeklungen ist (vgl. §3 mit Kommentar) und in der Versicherung des Ratgebers, dass der Schüler im Rednerlehrer denjenigen Ausbilder wählen wird, der ihn in kürzester Zeit als König der Rhetorik in einem Triumphgespann daherfahren lässt, ausführlicher zur Sprache gekommen ist (vgl. den Kommentar zu §11: τὰ τέθριππα ἐλαύνων τοῦ λόγου). Das Bild des in einem geflügelten Wagen fahrenden Sophisten findet sich auch in Lukians Somnium 15, wo Lukian von der personifizierten Paideia auf eine Luftreise in einem von geflügelten Pferden gezogenen Wagen (ὄχημα ὑποπτέρων ἵππων) mitgenommen wird (siehe dazu bereits die Einleitung 1.5.b). Darüber hinaus wird an vorliegender Stelle ein weiterer überhöhender Vergleich1261 angestellt, indem der Starsophist Zeus als obersten Gott ablöst (σοὶ μᾶλλον πρέπειν [...] ἢ ἐκείνῳ περὶ τοῦ Διός)1262, und seine Heirat mit der Rhetorik hat, vor dem Kontext des platonischen Phaidros gelesen, den Effekt des höchsten Wissens, der Schau des wahrhaft Seienden nämlich, was in ironischem Kontrast zur bislang vorherrschenden Forderung der absoluten Unbildung (ἀμαθία; vgl. §15 mit Kommentar) steht. Ebenso dürfte für den gebildeten Rezipienten, der die Fortsetzung der Platonstelle kennt, die Beschreibung des Zeus als sorgender Herrscher (διακοσμῶν πάντα καὶ ἐπιμελούμενος) den – sich gerade durch Unbekümmertheit auszeichnenden1263 – Starsophisten in Zeusgestalt lächerlich werden lassen. Die Empfehlung des Ratgebers an den Schüler, das Platonzitat selbst (öffentlich) über sich zu verbreiten (σοὶ [...] πρέπειν περὶ σεαυτοῦ εἰπεῖν) ist ebenso subversiv, resultierte doch aus einer tatsächlichen Anwendung eine (ungewollte) Selbstironie des Schülers, der mit diesem Vergleich viel zu 1260

Für eine ausführliche Interpretation dieser Platonpassage vgl. Heitsch [1993] 90–212. Vgl. bereits §13: Der Rednerlehrer stellt sich und seine Lehre über riesenhafte Gestalten wie Tityos, Otos und Ephialtes. – Zu αὔξησις und ταπείνωσις als rhetorische Elemente in §26 vgl. die rhetorische Analyse unter 1.1.2. 1262 Vgl. zur göttlichen Gestalt des Rednerlehrers §11: τι ξένον φάσμα δρόσῳ ἢ ἀμβροσίᾳ τρεφόμενον. 1263 Vgl. §18: ἑλομένων δέ, μηδὲν ἔτι μελλήσας λέγε ὅττι κεν ἐπ’ ἀκαιρίμαν γλῶτταν ἔλθῃ, μηδὲν ἐκείνων ἐπιμεληθείς, ὡς τὸ πρῶτον κτλ. Allein ein Bemühen um die äussere Ausstaffierung, welche die ›Schauspielerei‹ des Starsophisten erst ermöglicht, ist nötig, vgl. §16: σχήματος μὲν τὸ πρῶτον ἐπιμεληθῆναι χρὴ μάλιστα καὶ εὐμόρφου τῆς ἀναβολῆς. 1261

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5. Kommentar (§26)

hoch griffe. Der Ratgeber verweist durch die unangebrachte Verwendung des Zitates auf eine Problematik, die der Rednerlehrer seinerseits zuversichtlich ausblendet: In seiner Lehre können Zitate grosszügig angewendet werden, die Reden bestehen zur Hauptsache aus Paradethemen oder Paradepassagen, ohne dass eine tiefere Auseinandersetzung mit ihnen nötig wäre (vgl. den Kommentar zu §17: ἀπ’ ἐκείνων ἐπισιτισάμενος; §18: ὁ Μαραθὼν καὶ ὁ Κυνέγειρος [...] ὁ Λεωνίδας θαυμαζέσθω). ἐγὼ δέ – ἀγεννὴς γὰρ καὶ δειλός εἰμι ἐγὼ δέ leitet zur Schlusspassage über, in welcher der Ratgeber sich als dritte Partei neben Rednerlehrer (ὁ μὲν γεννάδας) und Schüler (σὺ δὲ) positioniert, sich dabei in seiner Stellungnahme zur Rhetorik von beiden (ὑμῖν; τὰ ὑμέτερα) absetzt und das letzte Wort hat. Seine Stellungnahme ist allerdings ambivalent, genauso wie er selbst, parallel zu den Figuren des Rednerlehrers und des Schülers, in der stilisierten Figur eines sich aus dem rhetorischen Umfeld zurückziehenden alten Mannes schemenhaft-vage bleibt.1264 Das Adjektiv ἀγεννής ist seit klassischer Zeit häufig belegt und bedeutet »unadlig, unedel« in Bezug auf die Abstammung1265 sowie »unedel, niedrig, unwürdig« bezogen auf die Geisteshaltung bzw. das Verhalten von Menschen1266 oder bezogen auf Dinge1267. An vorliegender Stelle wird es in Kombination mit dem ebenfalls einen schlechten Charakterzug markierenden Adjektiv δειλός im zweiten Sinn verwendet. Bei Lukian sind zahlreiche Belege vorhanden, die aber nie ausschliesslich auf adlige bzw. nichtadlige Herkunft bezogen werden,1268 sondern mit Einstellung oder Verhalten einer Person verknüpft sind1269 (was mit ihrer sozialen Stellung übereinstimmen kann) und ebenso häufig zur Charakterisierung von Dingen herangezogen werden.1270 In Kombination mit Feigheit (im militärisch-heroischen Sinn) wird ἀγεννής auch in Dial. Meretr. 13,2 und in Dial. Mort. 26,1 gebracht.1271 1264 Zur Selbstanonymisierung des Rednerlehrers in seinem βίος vgl. die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §24. 1265 Vgl. Hdt. 1,134,1; Plat. R. 555d und Lg. 913c. 1266 Vgl. Xen. Cyr. 2,3,7; Plat. Chrm. 158c. 1267 Vgl. Plat. Euthphr. 2c; Grg. 465b und 513d. 1268 Eine Ausnahme ist Hermot. 24; vgl. ansonsten Cal. 24; Charon 4; Anach. 37. 1269 Vgl. u.a. Demon. 6; Tox. 20; Hist. Conscr. 37; Dial. Mort. 3,1 und 14,2. 1270 Vgl. u.a. Merc. Cond. 23 (ἀγεννῆ πράγματα); Ap. 3 (τὸ ἀγεννέστατον ἐκεῖνο ἰαμβεῖον); Ap. 4 (ἀγεννῆ λατρείαν); Tox. 58; Hist. Conscr. 23. 1271 Besonders eng an vorliegenden Text schliesst sich Dial. Mort. 26,1 an: ταῦτα μὲν οὖν ἀγεννῆ τινα Φρύγα δειλὸν καὶ πέρα τοῦ καλῶς ἔχοντος φιλόζῳον ἴσως ἔχρην λέγειν. Zu dieser Kombination bei anderen Autoren vgl. Anm. 1273. Im Gegenzug zur unheldenhaften Selbstdarstellung des Ratgebers wird der Rednerlehrer mehrfach als (homerischer) Held und Kämpfer stilisiert, vgl. den Kommentar zu §11: ὀλίγας μὲν ἔτι, οὔλας δὲ καὶ ὑακινθίνας τὰς τρίχας

§26: Schlusswort und Abschiedsgruss des Ratgebers (Epilog)

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Folgende zwei Kontexte sind besonders aufschlussreich für die vorliegende Selbstcharakterisierung des Ratgebers: ἀγεννής findet sich erstens kombiniert mit Adjektiven wie γυναικεῖος und μαλθακός,1272 was die den selbstironischen Zug der Aussage des Ratgebers noch verstärkt und den eigentlichen Effeminierten der Schrift, den Rednerlehrer, aufruft. So wird auch dessen vorheriges ›Lob‹ als γεννάδας in Frage gestellt. Mehrere Stellen bei Pollux unterstützen über die innerlukianischen Belege hinaus die kontextuelle Nähe der Wortfelder ἀγεννής, δειλός, μαλακός, ἄνανδρος (vgl. Poll. 1,158; 3,123; 3,136.137; 5,124).1273 Interessant sind weiter Belege in Texten mit philosophischer Thematik, welche unedles, feiges Verhalten zusätzlich mit Prahlerei, Skrupellosigkeit, Betrügerei und Lügnerei verknüpfen, allesamt Elemente, welche der Rednerlehrer für sich selbst beansprucht und seinem Schüler empfiehlt (vgl. v.a. §§23–25), so dass die Charakterisierung wiederum besser auf ihn passte: Vgl. Dion von Prusa Or. 1,26 (der gute König verachtet πανουργία und ἀπάτη, wobei er sich am Tierreich orientiert): ὅτι καὶ τῶν θηρίων τὰ δειλότατα καὶ ἀγεννέστατα ἐκεῖνα καὶ ψεύδεται πάντων μάλιστα καὶ ἐξαπατᾷ. Siehe auch Epiktet 2,19,19 und 3,24,90. In Lukians thematisch verwandter Schrift Somnium wird der Bereich der Bildhauerei durch die personifizierte Bildung mehrfach mit dem Adjektiv ἀγεννής abgewertet, wobei damit in erster Linie betont wird, dass Lukian als Bildhauer ein Dasein in den ›Niederungen der Unbekanntheit‹ fristen, wohingegen er durch die Bildung Weltruhm erlangen wird.1274 Hier klingt ein Thema an, das auch in Rh. Pr. aufgegriffen wird, denn der Ratgeber beklagt seine eigene Unbekanntheit und rät dem Schüler, um seinen Wunsch nach Ruhm zu befriedigen, dringend den Weg der neuen Modesophistik an (vgl. §8). Auch wenn dahinter eine ironische Selbststilisierung zur Abgrenzung vom modernen Stardasein steckt – so unbekannt kann der Ratgeber nicht sein, da er vom Schüler als Berater für eine sophistische Karriere angegangen wird (§1) und offenbar für die neuen Modesophisten trotz allem eine gewisse Konkurrenz darstellt (vgl. unten zu: ἐκστήσομαι ὑμῖν τῆς εὐθετίζοντα und §20: οἱ πολλοὶ δὲ τὸ σχῆμα καὶ φωνὴν καὶ βάδισμα κτλ. sowie §24: διεκπαίσας. 1272 Demon. 12 (über Favorinus’ Reden), Tim. 32 (über die Verweichlichung durch Reichtum); Dial. Mort. 1,1 (Darstellung der Reichen und Mächtigen als Tote). 1273 Die Kombination der Adjektive ἀγεννής und δειλός in kriegerisch-militärischem Kontext und die Parallelisierung mit verweichlichtem (γυναικώδης) Verhalten findet sich bereits bei Polybios 5,85,13; 36,15,1 und Diodor 1,55,8; 11,81,5; 30,17,1. 1274 Vgl. Somn. 9 (Abwertung des Handwerks): οὐδὲν γὰρ ὅτι μὴ ἐργάτης ἔσῃ [...] ἀφανὴς μὲν αὐτὸς ὤν, ὀλίγα καὶ ἀγεννῆ λαμβάνων [...] οὔτε φίλοις ἐπιδικάσιμος οὔτε ἐχθροῖς φοβερὸς οὔτε τοῖς πολίταις ζηλωτός und Somn. 11 (Versprechungen der Paideia): Καὶ ὁ νῦν πένης ὁ τοῦ δεῖνος, ὁ βουλευσάμενός τι περὶ ἀγεννοῦς οὕτω τέχνης, μετ’ ὀλίγον ἅπασι ζηλωτὸς καὶ ἐπίφθονος ἔσῃ κτλ.

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5. Kommentar (§26)

ὁδοῦ) – passt also die Bezeichnung ἀγεννής in diesem Sinne auf den Ratgeber. ἐκστήσομαι ὑμῖν τῆς ὁδοῦ Der Ratgeber stilisiert sich in seinem Abschied aus dem Rednergeschäft als erfolglose, frustriert-resignierte Figur, die für die neuen Sophisten den Platz freimacht, wobei er die Wegmetaphorik, welche den Beginn der Schrift charakterisiert, wieder aufnimmt.1275 Die Funktion dieser Stilisierung liegt aber darin, die Rezipierenden in selbstironischer Weise gerade auf das Gegenteil aufmerksam zu machen, was aus folgender Inkonsistenz der Aussagen deutlich wird: Wäre der Ratgeber derart ἀγεννής und δειλός, wie er es behauptet, so könnte er für die neuen Starsophisten kein Hindernis auf dem Weg zur Rhetorik darstellen. Die ambivalente Darstellung des Ratgebers ist ein weiterer möglicher Hinweis auf seine Narrenhaftigkeit (vgl. dazu sowie zur impliziten Kritik am Publikumsgeschmack die Einleitung 1.6, S. 62–64 und 65f.). Zudem lässt natürlich seine Distanznahme zum Rednerlehrer (den er selbst ja einst empfohlen hat, vgl. §11) und gleichzeitig zum Schüler, den er zu dessen Gefolge (ὑμῖν) rechnet, aufhorchen. Das in der Formulierung »aus dem Weg treten« aufgerufene Bild muss hier dasjenige der Zielgeraden bzw. des Berggipfels sein, wo die Rhetorik bereits in greifbarer Nähe ist, und wo die Vertreter des – ansonsten getrennt verlaufenden – langen und kurzen Weges sich treffen bzw. einander in die Quere kommen können. παύσομαι τῇ Ῥητορικῇ ἐπιπολάζων Das Verb ἐπιπολάζειν ist bereits klassisch häufig belegt und bedeutet wörtlich »obenauf schwimmen«1276, woraus sich verschiedene metaphorische Bedeutungen entwickeln wie »Überhand nehmen, vorherrschen«1277 und »im Überfluss, reichlich vorhanden sein; verbreitet sein«1278.

1275

Für eine ähnlich frustrierte Aussage vgl. bereits §8 (über den steilen Weg): καὶ ἔγωγε κατ’ ἐκείνην ἄθλιος ἀνῆλθον τοσαῦτα καμὼν οὐδὲν δέον. 1276 Vgl. Xen. Oec. 16,14 und Arist. HA 592a10 (absolut gebraucht) sowie Arist. Cael. 311a18 und 311a28 (Konstruktion mit Dativ: κοῦφον δὲ τὸ πᾶσιν ἐπιπολάζον / ἀὴρ μὲν γὰρ [...] ἐπιπολάζει ὕδατι). 1277 Vgl. im politischen Sinn Isoc. Or. 5,64 und 8,107 sowie Demosth. Or. 9,25; Xen. Lac. 3,2,2 (ὕβριν ἐπιπολάζουσαν); bei Polybios häufig im Zusammenhang mit moralischem Niedergang (z.B. 13,3,1: ἡ νῦν ἐπιπολάζουσα κακοπραγμοσύνη; 22,19,4: διὰ τὴν νῦν ἐπιπολάζουσαν ἀκρισίαν). 1278 Vgl. Hp. Epid. 1,15; Arist. EN 1095a30 und 1128a14.

§26: Schlusswort und Abschiedsgruss des Ratgebers (Epilog)

471

Lukian verwendet das Verb insgesamt 6x; die Junktur τῇ Ῥητορικῇ ἐπιπολάζων ist nur an vorliegender Stelle belegt.1279 Die wörtliche Bedeutung erscheint in Rh. Pr. 18 im Zusammenhang mit den Standardattizismen (καὶ ἐπὶ πᾶσιν τὰ ὀλίγα ἐκεῖνα ὀνόματα ἐπιπολαζέτω καὶ ἐπανθείτω) und in Dips. 3 (von Schlangen, die auf der Erdoberfläche kriechen). Im übertragenen Sinn »reichlich vorhanden sein, verbreitet sein« erscheint das Verb einerseits im Zusammenhang mit Philosophenspott in Tim. 9 und Ikaromen. 29,1280 andererseits in Salt. 34 über Tänze, die in ländlicher Umgebung verbreitet sind, in der Bedeutung »sich beschäftigen mit« nur an vorliegender Stelle in Rh. Pr. 26. Vgl. aber z.B. Poseidonios FGrHist 87 fr. 117,97 (= Diodor 5,36,3): ὕστερον δὲ τῶν Ῥωμαίων κρατησάντων τῆς Ἰβηρίας, πλῆθος Ἰταλῶν ἐπεπόλασε τοῖς μετάλλοις, καὶ μεγάλους ἀπεφέροντο πλούτους διὰ τῆν φιλοκερδίαν; hier ist die Richtung der Bewegung stärker hervorgehoben: »sich in Scharen zu den Bergwerken begeben«, was möglicherweise auch in Rh. Pr. betont ist, im Sinne eines rücksichtslosen Ergatterns dessen, was die Rhetorik zu bieten hat, wobei damit letztlich auch ein sexueller Nebensinn gegeben sein könnte, den mitzuhören gerade nach der Thematik von §§23–25 möglich ist (vgl. v.a. die einleitenden Bemerkungen im Kommentar zu §23). Dadurch applizierte der Ratgeber eine spezifisch die Handlungsweise des Rednerlehrers und der neuen Modesophisten charakterisierende Vokabel selbstironisch auf sich, um gleichzeitig klar zu machen, dass er sich von dieser (neuen) Umgangsweise mit der Rhetorik distanzieren will und muss (παύσομαι). Der Begriff Ῥητορική geht an dieser Stelle von der personifizierten Verwendung zu derjenigen im Sinne der ῥητορικὴ τέχνη über, deutlich v.a. in der folgenden Aussage über die zwischen den alten und den neuen Rednern differierende Anwendung von Elementen der rhetorischen Kunst (s.u. zu: ἀσύμβολος ὢν πρὸς αὐτὴν τὰ ὑμέτερα).

1279 Auch eine inhaltlich parallele Wendung λόγῳ/λόγοις ἐπιπολάζειν ist nicht belegt (so wird auch nur vorliegende Lukianstelle genannt in LSJ s.v. ἐπιπολάζω IV.2.: to be engaged upon); eine entfernte inhaltliche Parallele, aber mit der gängigen Bedeutung von ἐπιπολάζειν, bietet noch Diodor 11,87,5: ἐπεπόλαζε γὰρ δημαγωγῶν πλῆθος καὶ συκοφαντῶν, καὶ λόγου δεινότης ὑπὸ τῶν νεωτέρων ἠσκεῖτο [...]. 1280 Vgl. Tim. 9 (Zeus spricht): πολὺν ἤδη χρόνον οὐδὲ ἀπέβλεψα ἐς τὴν Ἀττικήν, καὶ μάλιστα ἐξ οὗ φιλοσοφία καὶ λόγων ἔριδες ἐπεπόλασαν αὐτοῖς; Ikaromen. 29 (Zeus über die Scheinphilosophen): γένος γάρ τι ἀνθρώπων ἐστὶν οὐ πρὸ πολλοῦ τῷ βίῳ ἐπιπολάσαν ἀργὸν φιλόνικον κενόδοξον κτλ. Einmal mehr übernimmt damit eine Vokabel im Philosophen- und im Rhetorikspott eine ähnliche Funktion, indem sie die insgesamt grosse Verbreitung der Scheinphilosophen sowie speziell ihre Streitreden, die »reichlich vorhanden sind«, anprangert, genauso aber auch die Standardattizismen der Scheinsophisten, die in ihrer Diktion »obenauf schwimmen bzw. reichlich vorhanden sind«.

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5. Kommentar (§26)

Die Verbform παύσομαι verweist zurück auf das Ende der Darlegung des Rednerlehrers (πεπαύσεται) und wird im folgenden (korrigierenden) ἤδη πέπαυμαι ein drittes Mal aufgegriffen: Im Gebrauch von Vokabular und Tempus (Wechsel vom Futur zum Perfekt) wird also das nahende Ende der Schrift abgebildet, wobei sowohl die komische Inszenierung, als auch die Beratung, sowie überhaupt die Beschäftigung mit der Rhetorik beendet werden und der Vorhang in einer Weise zugezogen wird, welche die Rezipierenden ihren eigenen Gedanken zur Rhetorik überlässt. ἀσύμβολος ὢν πρὸς αὐτὴν τὰ ὑμέτερα Das Adjektiv ἀσύμβολος ist erst ab dem 4. Jh. v.Chr. und abgesehen von zwei Ausnahmen1281 ausschliesslich in der Mittleren und Neuen Komödie überliefert. In seiner Bedeutung »ohne Beitrag (συμβολή)« gehört es dabei immer in den Kontext des Essens und bezieht sich auf Parasiten, welche sich kostenloser Mahlzeiten bedienen oder auf das Essen selbst als offerierte Mahlzeit, vgl. u.a. Dromon PCG 5, fr. 1: ὑπερῃσχυνόμην μέλλων ἀσύμβολος πάλιν δειπνεῖν· πάνυ αἰσχρὸν γάρ. – ἀμέλει· τὸν Τιθύμαλλον γοῦν ἀεὶ ἐρυθρότερον κόκκου περιπατοῦντ’ ἔσθ’ ὁρᾶν· οὕτως ἐρυθριᾷ συμβολὰς οὐ κατατιθείς1282; Timokles PCG 7, fr. 8,10: χαίρουσιν [sc. οἱ παράσιτοι] δείπνων ἡδοναῖς ἀσυμβόλοις1283; Amphis PCG 2, fr. 39: ἀσύμβολον δεῖπνον; Ephippos PCG 5, fr. 20: ἀσύμβολος χείρ; Diphilos PCG 5, fr. 74,8: οἱ ἀσύμβολοι; Menander Samia 603: Χαιρεφῶν [...] ὃν τρέφουσ’ ἀσύμβολον. Erst bei Plutarch findet sich neben dem Bezug auf Parasiten1284 ein allgemeinerer und übertragener Gebrauch, z.B. Pomp. 6,2 (mit leeren Händen); mor. 635c (zu einem Gespräch nichts beitragend: ἀσύμβολος τοῦ λόγου).1285 Lukian selbst verwendet das Adjektiv noch in Merc. Cond. 3 im üblichen Zusammenhang mit kostenlosen Mahlzeiten, die der Hauslehrer bei seinen reichen Arbeitgebern zu erhalten träumt (δεῖπνα πολυτελῆ καὶ ἀσύμβολα). 1281

Vgl. Aischines Or. 1,75 und Herakleides Pontikos fr. 140,7 (Wehrli, Schule des Aristoteles, vol. 7, p. 42). 1282 »Ich schämte mich ausserordentlich, wieder ohne Beitrag zum Essen zu gehen. Denn das ist eine absolute Schande. – Zweifellos; Tithymallos jedenfalls kann man immer röter als scharlachrot herumgehen sehen. Er errötet dermassen, weil er seinen Anteil nicht bezahlt hat.« 1283 »Die Parasiten erfreuen sich kostenloser Essensgenüsse.« 1284 Vgl. Plut. mor. 727f. 1285 Vgl. später auch Galen vol. 14, p. 283,9; Aristeid. Or. 1,119. Pollux nennt sowohl die wörtliche Bedeutung bezogen auf Mahlzeiten und Parasiten (5,143; 6,12; 6,123) als auch zwei übertragene, einerseits in kriegerischem Kontext zur Bezeichnung von Leuten, die nicht verhandeln (1,151: ἀδιάλλακτοι), andererseits zur Bezeichnung unumgänglicher Menschen (5,139: ἀνεπιμίκτως).

§26: Schlusswort und Abschiedsgruss des Ratgebers (Epilog)

473

Die vorliegende Aussage des Ratgebers, er könne der Rhetorik nicht die Eigenheiten der modernen Starsophisten (τὰ ὑμέτερα) beisteuern,1286 markiert eine weitere bescheidene Zurückstufung im Vergleich mit dem Rednerlehrer, die durch die auffällige Vokabel aus dem Komikervokabular jedoch ambivalent erscheint, da gerade die modernen Sophisten zur Rhetorik nichts wirklich Substantielles (lediglich trickreiche Reden) beitragen, sondern sich ihr egoistisch bedienen. Genau wie das vorangehende Adjektiv ἀγεννής scheint ἀσύμβολος wiederum eher auf den Rednerlehrer zu passen, da auch die Konnotation des Parasitenhaften an seinen zuvor beschriebenen Werdegang als Lustknabe erinnert (vgl. §24).1287 Interessant für Lukians Umfeld ist auch folgende Bemerkung bei [Ps.]Herodian Philet. 189 Dain: ἀσύμβολος παιδείας, ὁ ἀπαίδευτος· ἐκ δὲ τῶν ἐναντίων οὐκ ἀσύμβολος, ὁ πεπαιδευμένος. Liest man diesen Bezug des Adjektivs auf Bildung bzw. mangelnde Bildung an vorliegender Stelle in Rh. Pr. mit, so ergibt sich einmal mehr eine Verkehrung der Werte,1288 da der in der alten Ausbildung bewanderte Ratgeber als ἀπαίδευτος erscheint, sein moderner Gegenspieler allerdings als πεπαιδευμένος. πέπαυμαι Der Ratgeber korrigiert hier seinen zuvor für die Zukunft angekündigten Rückzug (vgl. die Futurformen ἐκστήσομαι; παύσομαι) zu einem unmittelbaren, ja bereits erfolgten, der mangels eines Gegners das sofortige Ausrufen der neuen Sophisten als Sieger im Wettkampf der Rhetorik zur Folge hat. Im Gegensatz zum obigen Bild der Konkurrenz zwischen alter und neuer Sophistik (s.o. zu: ἐκστήσομαι ὑμῖν τῆς ὁδοῦ; παύσομαι τῇ Ῥητορικῇ ἐπιπολάζων) zeichnet er hier – ganz im Sinn seiner sprunghaften, ambivalenten Sprechweise – ein anderes Bild, welches die beiden Rednergruppen gar nicht erst miteinander in Konkurrenz treten lässt, und zwar deswegen, weil der Absolvent des langen Weges vorher aufgehört hat (πέπαυμαι). Damit verweist er auf das Beschreiten zweier getrennt verlaufender Wege zurück, von denen der eine lang und beschwerlich ist – und oft aufgegeben wird –, der andere eine Abkürzung ist. πέπαυμαι ist vor diesem Hintergrund im Sinne von »ich bin zurückgeblieben« interpretierbar, da der lange Weg niemals mit der Abkürzung konkurrieren kann (s.u. zu: τῷ ῥᾴστην καὶ πρανῆ τραπέσθαι τὴν ὁδόν), und verweist zudem möglicherweise auf die traditionelle, in klassischer Zeit verankerte, und damit längst ›beendete‹ Rhetorik. 1286 Zur Formulierung vgl. z.B. Luk. Hercules 4, wo ein in griechischer Sprache und Kultur bewanderter Kelte als οὐκ ἀπαίδευτος τὰ ἡμέτερα bezeichnet wird. 1287 Kostenlose Mahlzeiten im Gegenzug für Lustknabendienste werden thematisiert im Erstbeleg bei Aischines Or. 1,75 (invektivischer Kontext) sowie bei Ephippos PCG 5, fr. 20. 1288 Vgl. bereits den Kommentar oben zu ὁ γεννάδας und ἀγεννὴς γὰρ καὶ δειλός εἰμι.

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5. Kommentar (§26)

ἀκονιτὶ ἀνακηρύττεσθε καὶ θαυμάζεσθε Das Adverb ἀκονιτί (wörtlich »nicht bestäubt«1289) ist in dieser Form klassisch nur 3x belegt, immer im Kontext mit einem Sieg, der mühelos errungen wird, da der Gegner sich dem Kampf nicht stellt (wobei in Rh. Pr. erst gar kein Gegner vorhanden ist), vgl. Thuk. 4,73,2; Xen. Ages. 6,3; Aeschin. Or. 1,64.1290 Häufiger sind die Belege seit Polybios sowie ab dem 1. Jh. v.Chr. bei Diodor und Dionysios von Halikarnass, wobei immer ein kriegerisch-militärischer Kontext vorliegt; besonders häufig ist die Wendung ἀκονιτὶ κρατεῖν (ἐπικρατεῖν; κατακρατεῖν)1291, die in Rh. Pr. insofern auch anklingt, als das Verb κρατεῖν zweimal vorkommt, vgl. oben: ἔν τε τοῖς δικαστηρίοις κρατεῖν und im Folgenden: ἡμῶν κεκρατήκατε. Zudem beinhaltet ἀνακηρύττεσθαι im Sinn von »als Sieger ausgerufen werden« implizit die Bedeutung »siegen«. Lukian gebraucht die Wendung in den zwei weiteren Belegen Nav. 32 (ἀκονιτὶ κρατοῦμεν) und Dial. Mort. 23,1 (Gespräch zwischen den homerischen Helden Ajas und Agamemnon: ἀκονιτὶ κρατεῖν ἁπάντων). Durch die aus dem kriegerischen Bereich stammende Vokabel wird auf den Rednerlehrer und seinen Schüler einmal mehr ein Heldenvergleich1292 angewendet, ihre Heldenhaftigkeit wird aber abgewertet und damit ironisiert, weil die Ausrufung zum Sieger und die Bewunderung mühelos erworben werden, genau wie es das Charakteristikum des kurzen Weges zur Rhetorik ist, dass er ohne jede Mühe bewältigt werden kann; vgl. dieselbe Adverbbildung in §3: ἀνιδρωτί; §8 und §11: ἀπονητί; sowie allgemein zur Thematik §3: ἀγρεύσεις οὐ καμὼν; §8: ἔγωγε [...] ἄθλιος ἀνῆλθον τοσαῦτα καμὼν οὐδὲν δέον; §10: οὐκ εἰδὼς ὁποία νῦν κεκαινοτόμηται ταχεῖα καὶ ἀπράγμων [...] ὁδός. Mühe bzw. Mühelosigkeit ist das Kernelement, welches die alte Lehre, deren Anhänger der Ratgeber selbst (früher) war, und die neue Lehre des Rednerlehrers unterscheidet, so dass in der Formulierung des Ratgebers die Differenz, die bereits in den Vokabeln ἀγεννής und ἀσύμβολος betont worden ist, weiter ausgebaut wird. Das Verb ἀνακηρύττειν »durch einen Herold (κῆρυξ) ausrufen« ist bereits in klassischer Prosa belegt und zwar grundsätzlich im Zusammenhang mit staatspolitischen Verdiensten oder aber mit einem Wettkampfsieg (oft

1289

Vgl. LSJ s.v.: without the dust of the arena. In der Form ἀκονιτεί auch Demosth. Or. 15,31; 18,200; 19,77. 1291 Vgl. z.B. Polyb. 1,20,5; 18,31,11; 30,13,5; 32,10,8; Diod. 15,51,4; 19,104,4; Dion. Hal. Ant. Rom. 6,91,2. 1292 Vgl. dazu bereits Anm. 1271. 1290

§26: Schlusswort und Abschiedsgruss des Ratgebers (Epilog)

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im Olympischen Agon) – der Kontext, welcher auch hier in Rh. Pr. vorliegt und bei Lukian generell häufig ist.1293 Die Kombination mit dem Verb θαυμάζειν ist nur hier bei Lukian belegt,1294 ansonsten findet sich häufig die Kombination mit der Bekränzung des Siegers (στεφανοῦσθαι),1295 was in Rh. Pr. ebenfalls ein Thema ist, vgl. dazu §3 über den Schüler, der bekränzt (ἐστεφανωμένος) auf dem Gipfel der Rhetorik thront, sowie den Kommentar zu §11 (Triumphmetaphorik): τὰ τέθριππα ἐλαύνων τοῦ λόγου und §25: οἱ φοίνικες δὲ ἐπὶ τῇ θύρᾳ χλωροὶ καὶ ἐστεφανωμένοι. Die weiterhin (s.o. ὑμῖν; τὰ ὑμέτερα) pluralisch gehaltene Formulierung (ἀνακηρύττεσθε; θαυμάζεσθε; später μεμνημένοι) umfasst Schüler, Rednerlehrer und überhaupt die Gesamtheit derer, die den kurzen Weg absolvieren, und mündet in die allgemeine Schlusssentenz über die Unterschiede in Ausbildung und Qualitäten der Absolventen des kurzen und langen Weges, wobei der Ratgeber sich seinerseits in die Gesamtheit der ›alten‹ Rhetoriker eingliedert (s.u.: ἡμῶν κεκρατήκατε). μόνον τοῦτο μεμνημένοι Dieser Partizipialeinschub gibt vor, die Quintessenz der gesamten Schrift einzuleiten, ja gar das einzige, was Schüler und Rezipierende bezüglich des Themas im Gedächtnis behalten sollen: Es werden aber nicht etwa die wichtigsten Punkte der Darlegung des Rednerlehrers zusammengefasst, vielmehr unterwandert der Ratgeber durch den spöttisch-abwertenden Ton der folgenden Entlarvung des kurzen Weges als banale Abkürzung die zuvor empfohlene Lehre endgültig und stellt sie ironisch als unwichtig, d.h. nicht weiter erinnernswert, dar. Damit gibt er einen weiteren Hinweis auf die komödiantisch-humoristische Intention der Figur des Rednerlehrers (vgl. dazu bereits den Kommentar oben zu: γαμεῖν οὐ γραῦν τινα τῶν κωμικῶν). 1293 Vgl. Aeschin. Or. 3,32.34.43.45.46; Thuk. 5,50,4; Hdt. 6,103,2; Xen. Hieron 11,8; später z.B. Plut. mor. 230d und 539d; Dion von Prusa Or. 13,11. Vgl. bei Lukian Tim. 20 (ebenfalls von einem Wettlauf wie in Rh. Pr.); Anach. 36 (mit Betonung der Ehre, welche ein Sieg im Agon mit sich bringt: τιμωμένους καὶ ἀνακηρυττομένους ἐν μέσοις τοῖς Ἕλλησιν; vgl. Rh. Pr. 1: ὡς ἄμαχον εἶναι καὶ ἀνυπόστατον καὶ θαυμάζεσθαι πρὸς ἁπάντων καὶ ἀποβλέπεσθαι, περισπούδαστον ἄκουσμα τοῖς Ἕλλησι δοκοῦντα); Pr. Im. 29; Tim. 51; Sat. 4; Herodot. 2. 1294 Zur Bewunderung des Redners durch das Publikum vgl. bereits den Kommentar oben zu: ἐν τοῖς πλήθεσιν εὐδοκιμεῖν sowie §1. 1295 Vgl. And. Or. 2,18 (στεφανοῦνται [...] καὶ ἀνακηρύττονται); Aeschin. Or. 3,32 (ὁ γὰρ νόμος [...] κελεύει, ἐὰν μέν τινα ἡ βουλὴ στεφανοῖ, ἐν τῷ βουλευτηρίῳ ἀνακηρύττεσθαι); Athen. 12,519d (χρυσοῖς στεφάνοις τιμῶσι καὶ [...] ἀνακηρύττουσιν); 12,538b (ἀνακηρυττόντων καὶ στεφανούντων); 15,670b (στεφανοῦσθαι καὶ ἀνακηρύττεσθαι). Vgl. auch die Wendungen bei Pollux 3,152: ὁ δὲ νικήσας τὰ ἆθλα ἀνείλετο, τὸν στέφανον ἀνείλετο, [...], ἐστεφανώθη, ἀνερρήθη, ἐκηρύχθη [...] und 8,139: χρυσῷ στεφάνῳ στεφανωθῆναι, [...], ἀνακηρυχθῆναι.

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5. Kommentar (§26)

μὴ τῷ τάχει ἡμῶν κεκρατήκατε Die Abwertung des Sieges der neuen Modesophisten, die sich bereits in der Formulierung ἀκονιτὶ ἀνακηρύττεσθε zeigt (s.o.), wird hier insofern weitergeführt und verstärkt, als der Wettkampf, der in Form eines Wettlaufs geschildert ist, nicht mit regulären Mitteln gewonnen wird, nämlich durch die schnellere Laufgeschwindigkeit (τάχος) des Siegers, sondern durch das Einschlagen einer Art Abkürzung, die Wahl einer leichten, bergab führenden ›Laufstrecke‹. Mit diesen Worten stellt der Ratgeber die Basis des Erfolgs der modernen Sophisten – auch wenn sie zweifellos Erfolg haben – in Frage (vgl. dazu ausführlicher die Einleitung 1.6, S. 65f.); er spricht ihnen letztlich möglicherweise gar die Beherrschung ihrer kargen rhetorischen Fähigkeiten, nämlich der showorientierten Stegreifrede, ab, da τάχος diese Bedeutung enthält (vgl. dazu §20: ἄλλως τε καὶ τὸ ταχὺ τοῦτο οὐ σμικρὰν ἔχει τὴν ἀπολογίαν καὶ θαῦμα παρὰ τοῖς πολλοῖς mit dem Kommentar). τῷ ῥᾴστην καὶ πρανῆ τραπέσθαι τὴν ὁδόν Die Schrift, die mit dem Thema der Wegwahl, genauer mit der Frage des Schülers nach den richtigen Wegen, beginnt (vgl. §1: τὰς [...] ὁδοὺς αἵτινές ποτε εἰσιν ἐθελήσεις ἐκμαθεῖν), schliesst auch damit, wobei der optimistische Duktus des Anfangs und das Lob des kurzen Weges in Ambivalenz aufgelöst werden und am Ende kein haltbarer Ratschlag übrigbleibt; die Wahl und das weitere Nachdenken über die Möglichkeiten einer Wahl werden an den Schüler und an die Rezipierenden zurückdelegiert (vgl. dazu die Einleitung 1.2, S. 32f. und 1.5, S. 50). Der Superlativ ῥᾷστος ist zur Beschreibung des kurzen Weges bereits mehrfach verwendet worden, vgl. §4 und §8 (jeweils die Form ῥᾷστα »am leichtesten«) und §24: ἐπεὶ δὲ τὴν ὁδὸν ταύτην ῥᾴστην οὖσαν κατεῖδον. Das Adjektiv πρανής (»abwärts; bergab«) verwendet Lukian nur hier zur Charakterisierung des kurzen Weges; es entspricht in der Bedeutung κατάντης (vgl. §3).1296 Die Vokabel ist klassisch in vergleichbarem Kontext nur bei Xenophon belegt1297 und bezeichnet mehrfach steile Abhänge, deren Bewältigung durchaus mit Anstrengung verbunden ist, vgl. An. 1,5,8 (κατὰ πρανοῦς γηλόφου); An. 4,8,28 und 6,5,31 (jeweils die Junktur κατὰ τοῦ πρανοῦς »den Abhang hinunter«); An. 5,2,29 (τὴν κατάβασιν ἐφοβοῦντο [...] πρανὴς γὰρ ἦν καὶ στενή). Sie findet sich andererseits aber auch als Charakteristikum eines angenehmen Weges und in Kombination mit moral1296 Vgl. dazu Pollux 1,187: καὶ λόφοι δὲ ἐρεῖς καὶ γήλοφοι, ἄκραι, χαράδραι, χείμαρροι, κατάντη, πρανῆ κτλ. Bei Lukian ist das Adjektiv ein weiteres Mal in De Domo 10 belegt. 1297 Die Anklänge an platonische Wegmetaphorik (vgl. dazu die Einleitung 1.3) erstrecken sich hier nicht bis in den Bereich des Vokabulars; πρανής und κατάντης sind bei Platon nicht belegt.

§26: Schlusswort und Abschiedsgruss des Ratgebers (Epilog)

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philosophischen Inhalten, vgl. Cyr. 2,2,24: Tugend und Laster werden mit zwei Wegen illustriert, wobei der erste steil bergauf führt (πρὸς ὄρθιον), der andere bergab, so dass er leicht zu bewältigen ist (ἐπὶ τὸ πρανὲς καὶ τὸ μαλακόν). Noch enger vergleichbar mit Rh. Pr., was die Dichotomie und Charakterisierung zweier gegensätzlicher Wege betrifft, ist Philon De Abrahamo 59: αἱ μὲν γὰρ ἀνάντεις ὁδοὶ καματηραὶ καὶ βραδεῖαι, ἡ δὲ κατὰ πρανοῦς φορά [...] ταχεῖα καὶ ῥᾴστη (vgl. Rh. Pr. 3: μακρὰν [sc. ὁδόν] καὶ ἀνάντη καὶ καματηρὰν). Durch das Wiederaufgreifen der Wegmetaphorik bedingt, endet die Schrift auch sprachlich wieder in stärker moralphilosophischem Duktus (vgl. den Kommentar zu §§1–4), während der lange Zwischenteil mit dem Auftritt des Rednerlehrers, der als komisches Theaterstück inszeniert wird, sich näher an Inhalten und Vokabular der Alten Komödie orientiert. So ergibt sich ein Amalgam von Ernsthaftem und Komischem (σπουδογέλοιον), das mit in den Kontext von Lukians Schaffung des so genannten komischen Dialogs eingeordnet werden kann.1298 Die vorliegende Schlussbemerkung stellt insofern eine Mischung aus humoristischer und ernsthafter Äusserung dar, als sie ein moralisierendes Moment enthält, da der Gewinn eines Wettkampfs durch einen Trick gegen Konvention und guten Ton verstösst und als unlauterer Sieg gelten muss. Weil rhetorische Auftritte ebenfalls zu den in Agonen vertretenen Disziplinen gehören, ist die Verbindung zur Metaphorik des sportlichen Wettkampfes eng. Kaiserzeitliche Quellen berichten über die Ausbildung der Kinder, die in Wettkämpfen mit sportlichen und rhetorisch-philologischen Disziplinen zu bestehen hatten.1299 Die ›echte‹ Elite der Kaiserzeit legt in ihrer Selbstdarstellung neben dem Übertreffen (πρωτεύειν) der Konkurrenz in sportlicher oder geistiger Hinsicht (παιδεία) immer auch grosses Gewicht auf die moralische Exzellenz (ἦθος; ἀρετή),1300 und so stellt der Ratgeber durch die Entlarvung des ›unlauteren‹ Wettbewerbs die soziale Position der Scheinsophisten in Frage und bestätigt die mit ihm lachende Elite in ihren Werten.

1298 Vgl. dazu Baumbach [2002] 22–25 und Hall [1981] 65–73. – Zu Lukian als Vertreter des ernsthaften Spassens und zur Intention seiner Texte vgl. die Einleitung 3.1, S. 120–125 und 1.8 (über die Komödie). 1299 Vgl. Schmitz [1997] 108–109. Siehe auch bereits den Kommentar zu §20: πάνδεινόν τινα ἐν τοῖς λόγοις ἀγωνιστὴν. 1300 Vgl. dazu ausführlich und mit zahlreichen inschriftlichen Belegen Schmitz [1997] 101– 110. Vgl. auch bereits Anmm. 265 und 998.

6. Zur Rezeption von Lukians Rhetorum praeceptor in der Renaissance: Pirckheimer und Erasmus

Für einen Ausblick auf die Rezeption der Schrift Rh. Pr. den Schwerpunkt auf die Zeit der Renaissance zu legen, bietet sich deshalb an, weil die Rezeption, wie sie heute für uns fassbar ist, überhaupt erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts einsetzt; um 1500 erscheint auch die grundlegende Gesamtedition von Lukians Werken durch Aldus Manutius.1301 Grundsätzlich kann diese Rezeption in die zwei Stränge der wissenschaftlichen (Übersetzungen) und der kreativen Rezeption (›Anlehnungen‹ an Lukian) geteilt werden. In der wissenschaftlichen Rezeption und damit unter den Übersetzungen von Rh. Pr. ist die diejenige des Nürnberger Humanisten Willibald Pirckheimer (1470–1530) zentral, eines Zeitgenossen des Erasmus von Rotterdam. Pirckheimer hat diverse lukianische Werke ins Lateinische übertragen, teils zur privaten Übung, teils bewusst zur Drucklegung (Hist. Conscr., Pisc., Rh. Pr., Fug.; allesamt mit Widmungsvorreden, erschienen zwischen 1515 und 1520). Im Fall von Rh. Pr. scheint damit eine Erstübertragung vorzuliegen.1302 Zur zeitlichen Einordnung der Übersetzungen Pirckheimers kann angemerkt werden, dass kurz davor, im Jahr 1506, in Paris die erste Sammlung von Lukianübersetzungen aus der Feder nichtitalienischer Humanisten erschien, nämlich diejenige des Erasmus und seines Freundes Thomas Morus, in der aber Rh. Pr. nicht enthalten war.1303 Pirckheimers Übersetzungen sind aus Sicht der Rezeption vor allem aufgrund der Beifügung der bereits erwähnten Widmungsschreiben interessant. Sie zeigen, dass er Lukians Satiren als Muster der Verulkung von ἀλαζόνες, Scheingebildeten, heranzieht und für die Debatten über die Reform des theologischen Studiums, für die geistig-religiösen Kontroversen der eigenen Zeit 1301

Die erste Edition fällt in das Jahr 1503, eine überarbeitete Auflage folgt 1522. Nicht nur im Fall von Rh. Pr., sondern ganz generell ist erst ab dem 15. Jh. in Italien und Deutschland eine verstärkte Lukianrezeption festzustellen (vgl. dazu Baumbach [2002] 28–51, bes. S. 29 mit Anm. 11). Zur Rezeption in byzantinischer Zeit, die sich vor allem auf die Unterweltsdialoge konzentriert, vgl. Robinson [1979] 68–81 und Baumbach [2002] 27–28. 1302 Vgl. dazu Holzberg [1981] 120–129, 195–197, 253 sowie zu einer (positiven) Einschätzung der Qualität dieser Arbeiten 376. 1303 Vgl. Holzberg [1981] 198; Robinson [1979] 95; Baumbach [2002] 33 Anm. 37; für eine Übersicht der übersetzten Werke Robinson [1969] 370f. Zum Kanon lukianischer Texte und Übersetzungen im italienischen Humanismus (14./15. Jh.) vgl. auch Robinson [1979] 81f.

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aktualisiert. Erhalten ist auch reichlich Briefmaterial, worin Pirckheimer im Streit zwischen dem Hebraisten Johannes Reuchlin und dem zum christlichen Glauben konvertierten Juden Johannes Pfefferkorn über das Verbot jüdischer Schriften in der theologischen Wissenschaft Stellung bezieht sowie die Reuchlinisten allgemein gegen die Dominikaner, insbesondere gegen den Theologen Johann Eck, verteidigt – wenn auch immer mit vorsichtiger Zurückhaltung. Eine scharfe, satirische Auseinandersetzung mit den Reuchlin-Gegnern erlauben ihm aber die Widmungen, welche die lukianische Thematik der Scheinsophisten und -philosophen zu den zeitgenössischen Ereignissen in eindeutige Beziehung setzen:1304 Im Widmungsschreiben zu Rh. Pr. an Hieronymus Emser erscheinen die Reuchlin-Gegner als ungebildete und unmoralische Heuchler, die – ganz im Sinn des lukianischen Rednerlehrers – allein in der Kunst des Schmähens bewandert sich wie der aesopische Esel im Löwenfell verhalten.1305 Reuchlin und seine Freunde dagegen werden als feinsinnige Förderer der freien Wissenschaften, als Vorzeigemodelle humanistisch gebildeter Theologen gepriesen: Non enim usque adeo insulsi sunt ac hebetes, quin se barbaros, inertes, rudes, ineptos, stupidos, illiteratos et plane disciplinarum cunctarum inscios esse cognoscant. Adversarios vero suos homines politos, compositos, excultos, aptos, perspicaces, eruditos et nullius recte scientiae ignaros, ut interim de moribus et vitae honestate sileamus. [...] Cur igitur non doleant, ac rabiose non maledicant, cum longe facilius sit tam stupenda conviciandi ratione munitos, quicquid in buccam venerit effutire et omnes homines virulenta lingua dilacerare, quam ignorantiam abiicere, optima perdiscere et animum bonis quibusque artibus exornare. [...] Et recte quidem, non enim de Asini umbra, sed de asini ipsius pelle agitur. [...] 1306 1304 Vgl. zu den Streitigkeiten und zum historischen Hintergrund Holzberg [1981] 179–195; Eckert/Imhoff [1971] 239–285; Robinson [1979] 96–98 (insbesondere zur Tatsache, dass dergestaltige Lukianrezeption für die zunehmend negative Haltung der Theologen gegenüber Lukian mitverantwortlich war). Die Aktualisierung Lukians zur Illustration und Entlarvung zeitgenössischer Verfallserscheinungen ist im Humanismus allgemein verbreitet, vgl. dazu Baumbach [2002] 31 und 33. 1305 Das Widmungsschreiben zur Übersetzung von Rh. Pr. findet sich abgedruckt in Pirckheimer, Opera 245f., ins Deutsche übersetzt in Eckert/Imhoff [1971] 281–285; vgl. weiter zum Inhalt Holzberg [1981] 252–255 und 377–379. 1306 »Sie sind nämlich bis jetzt nicht so witzlos und stumpfsinnig, um nicht zu erkennen, dass sie barbarisch, träge, ungeschliffen, töricht, stupide, ungebildet und in allen Fächern gänzlich unwissend sind, dass aber ihre Gegner gebildete, gelassene, feine, geschickte, einsichtsvolle, unterrichtete Leute sind und kundig jeder rechten Wissenschaft. Von ihren Sitten und der Ehrenhaftigkeit ihres Lebens wollen wir vorderhand schweigen. [...] Warum aber sind sie nicht betrübt und lästern wütend; denn weit leichter ist es, mit einer so staunenswerten Schulung im Schmähen ausgerüstet das, was einem auch immer ins Maul kommt, herauszuschwatzen und jeden Menschen mit geifernder Zunge zu zerreisen, als die Unwissenheit fahren zu lassen, das Beste gründlich zu erlernen und den Geist mit allen guten Künsten zu versehen. [...] Mit Recht allerdings handelt man nicht über den Schatten sondern über das Fell des Esels. [...]« Übersetzung nach Eckert/Imhoff [1971] 284.

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Es wird deutlich, dass Pirckheimer im Unterschied zu der im vorliegenden Kommentar gegebenen Analyse von Rh. Pr. als höchst ambivalente Schrift, die das Wesen ›guter‹ Rhetorik weitgehend im Dunkeln lässt, Lukians Satire in einer klaren Zweiteilung von guter und schlechter Bildung interpretiert. Stärker bewahrt ist die lukianische Ambivalenz in der kreativen Rezeption durch Erasmus von Rotterdam, der wir uns nun zuwenden. Im Rahmen der kreativen Rezeption findet sich einerseits eine formale Adaptation der Schrift Rh. Pr. in der Gestaltung von Satiren oder Invektiven, und zwar insofern, als der Sprecher seine eigenen vitia in Form eines Schein-Enkomions (oft auch paradoxes Enkomion oder ironische Lobrede genannt) enthüllt,1307 andererseits eine konkrete Anlehnung mittels inhaltlicher Parallelen oder Zitate, wodurch formale Ähnlichkeiten natürlich nicht ausgeschlossen sind. Zwei Beispiele kreativer Rezeption aus dem Werk des Erasmus – bekanntlich auch als Lukian-Übersetzer von grösster Wichtigkeit1308 – sollen hier vorgestellt werden: In den Colloquia familiaria, welche diverse lukianische Schriften verarbeiten,1309 findet sich das Stück Ἱππεὺς ἄνιππος sive Ementita nobilitas (zuerst gedruckt in der Edition 15291310), in dem das Thema des Erwerbs eines ›Scheinstatus‹ am Beispiel eines Möchtegern-Ritters behandelt wird. Der Ritter mit dem sprechenden Namen Harpalus (aus dem Griechischen, »der Gierige«) erbittet sich von Nestor, dem weisen Berater par excellence, Hilfe, um ein Adliger zu werden. Bereits diese Grundkonstellation erinnert an Rh. Pr., und die konkreten Empfehlungen Nestors festigen die Parallele: Er beginnt seine Beratung mit dem Thema der sozialen Umgebung: Der Scheinadlige muss sich unter echte junge Adlige mischen. Dann erörtert er angemessene Kleidung, Schmuck, Schild, Helm (vgl. die Passage über die Ausstaffierung in Rh. Pr. 15). Es folgt der fingierte aristokratische Name – Harpalus von Como, Ritter des goldenen Felsens – und das Lebensmotto omnis iacta sit alea (vgl. den Namenswechsel des Rednerlehrers in Rh. Pr. 24). Der Scheinritter soll 1307 Charakteristisch für das Schein-Enkomion ist das Lob von konventionellerweise Schlechtem oder Minderwertigem; im engen formalen Sinn gesehen ist Muscae encomium das einzige lukianische Stück dieser Gattung (vgl. dazu mitsamt der Rezeption in der Renaissance Billerbeck/Zubler [2000]), doch tragen auch Paras., Rh. Pr. und Podagr. zumindest entsprechende Züge. Aus der Rezeption sind unter Anlehnung an die Figurengestaltung von Rh. Pr. beispielsweise der Dialog Servus aus der Sammlung Intercoenales (Buch 4) von Leon Battista Alberti (1404– 1472) und das Lob der Torheit des Erasmus von Rotterdam (1466–1536; siehe dazu gleich) zu nennen, aber auch Utopia von Thomas Morus (1478–1535) oder Niels Klim von Ludvig Holberg (1684–1754). Ich stütze mich im Folgenden auf die immer noch grundlegende Darstellung lukianischer Rezeption bei Robinson [1979]. Zum paradoxen Enkomion in der Lukianrezeption der Renaissance vgl. auch Marsh [1998] 148–180 (u.a. Albertis Musca und Canis). 1308 Vgl. Marsh [1998] 168; Robinson [1969] 365; Baumbach [2002] 34–35 mit Anm. 37. 1309 Z.B. Cyclops sive Evangeliophorus – Adv. Ind.; Concio sive Merdardus – Pseudologista; siehe dazu Robinson [1979] 168ff. 1310 Siehe dazu Thompson [1997] 818f. und 880.

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Briefe an sich selbst fälschen, welche die entsprechende adlige Anrede tragen und von bedeutenden Personen stammen sowie über wichtige Angelegenheiten berichten, diese mit sich herumtragen bzw. unauffällig verlieren und so unter die Leute bringen.1311 Auch eine Claque wird empfohlen, die den angeblichen Ritter hoffärtig verehrt;1312 zudem muss er sich den Ruf eines Spielers, Herumhurers, Trinkers, Betrügers zulegen.1313 Gelebt wird auf Kosten anderer Reicher, von Krediten, die man nie zurückzahlt, oder höchstens zu einem kleinen Teil, um die Kreditoren bei der Stange zu halten. Und sollte der Geldmangel einmal allzu gross werden, schickt man seine Diener los, um Händler oder Reisende auszurauben.1314 Als grundlegendes dogma equestre formuliert Nestor schliesslich, dass der Ritter vor nichts zurückschrecke, sich völlig schamlos zeige1315 – Gefahr drohe ihm dabei keine.1316 Auch die gegen Ende gemachte Bemerkung Nestors, er habe beinahe etwas Wichtiges vergessen – die Heirat mit einem Mädchen aus reichem Haus –, klingt an die Unterweisung des lukianischen Rednerlehrers an.1317 In der Schrift Moriae Encomium id est Stultitiae Laus (Lob der Torheit) lässt Erasmus die Torheit sich selbst in einem Schein-Enkomion loben, das als sophistische Deklamation vor Publikum ausgestaltet ist (vgl. 71,8ff.1318). Der Autor beruft sich im Vorwort unter anderem auf Lukians Lob der Fliege und Parasita als literarische Vorläufer, doch weisen – neben der formalen Gemeinsamkeit eines Schein-Enkomions – wörtliche Zitate sowie enge inhaltliche Parallelen auch Rh. Pr. als wichtigen Subtext aus. Zudem ist das 1311 614,85–89 (zitiert nach Halkin/Bierlaire/Hoven [1972]): fingito litteras a magnatibus ad te missas [...]. Curabis ut huiusmodi litterae tibi velut elapsae aut per oblivionem relictae veniant ad aliorum manus. Vgl. Rh. Pr. 23. 1312 615,99f.: Deinde sodales aliquot asciscendi sunt, aut etiam famuli, qui tibi cedant loco, et apud omnes mi Ioncherum appellent. Vgl. Rh. Pr. 21: οἱ φίλοι δὲ πηδάτωσαν ἀεὶ κτλ. und 23: ἔστωσαν οἱ καὶ ἐπὶ τούτῳ συνόντες· ἢν δὲ μὴ ὦσιν, οἱ οἰκέται ἱκανοί. 1313 615,114–116: Ni sis bonus aleator, probus chartarius, scortator improbus, potator strenuus, profusor audax, decoctor et conflator aeris alieni, deinde scabie ornatus Gallica, vix quisquam te credet equitem. Vgl. Rh. Pr. 23: ἰδίᾳ δὲ πάντα πράγματα ποιεῖν σοι δεδόχθω, κυβεύειν μεθύσκεσθαι λαγνεύειν μοιχεύειν κτλ. sowie allgemein 24–25. 1314 Die Thematik der Geldbeschaffung, die ausführlich besprochen wird, nimmt in Erasmus’ Kolloquium eine zentralere Rolle ein als in Rh. Pr., was durch den Umstand bedingt ist, dass der Ritter, um seine Standeszugehörigkeit glaubwürdig zu demonstrieren, über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügen muss. Lukians Redneraspiranten hingegen werden Reichtum, neben Ruhm und Ansehen, als willkommenen Effekt ihrer rhetorischen Tätigkeit erhalten. 1315 616,164: ne quid pudeat, perfricanda frons est [...]. Vgl. Rh. Pr. 15: κόμιζε τοίνυν τὸ μέγιστον μὲν τὴν ἀμαθίαν, εἶτα θράσος ἐπὶ τούτῳ καὶ τόλμαν καὶ ἀναισχυντίαν κτλ. sowie 23 passim. 1316 617,177–179, vgl. Rh. Pr. 20. 1317 618,201f.: Sed heus, Harpale, pene exciderat, quod dictum in primis oportuit, puella quaepiam bene dotata in matrimonii nassam illaqueanda est. Vgl. mit etwas anderer Fortsetzung Rh. Pr. 22: ὃ δὲ μέγιστον καὶ πρὸς τὸ εὐδοκιμεῖν ἀναγκαιότατον ὀλίγου δεῖν παρέλιπον, ἁπάντων καταγέλα τῶν λεγόντων. 1318 Zitiert nach Miller [1979].

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Stück im thematischen Kern, der Darstellung dessen, was Unwissenheit/ Torheit bewirkt bzw. wo sie überall grassiert, dem lukianischen Werk verwandt. Erasmus’ Lob der Torheit bewahrt die lukianische Ambivalenz insofern, als die Sprecherfigur nicht nur konventionellerweise nicht Lobenswertes lobt, sondern auch Dinge, die durchaus Lob verdienen (z.B. Freundschaft, Ehe, Künste), wenn auch mit der falschen Begründung.1319 Erste wörtliche Anklänge ergeben sich aus der Selbstdarstellung der Torheit, wobei deren Aussagen jeweils den Empfehlungen des Rednerlehrers an seinen Schüler vergleichbar sind: Die Torheit spricht frei von der Leber weg, ohne Ordnung aus dem Stegreif (74,55f.: Mihi porro semper gratissimum fuit, ὅττικεν ἐπ’ ἀκαιρίμαν γλῶτταν ἔλθῃ dicere, vgl. Rh. Pr. 18: [...] λέγε ὅττι κεν ἐπ’ ἀκαιρίμαν γλῶτταν ἔλθῃ), sie stammt von den Inseln der Seligen, wo alles ungesät und ungepflügt (ἄσπαρτα καὶ ἀνήροτα; Rh. Pr. 8) wächst, was sozusagen auch der Leitspruch für ihre Anhänger ist. Im zweiten Teil des Stückes, der invektivischen Darstellung verschiedener Berufsgruppen, deren Auftritt und Gehabe auf Torheit basiert (Redner, Grammatiker, Schriftsteller, Philosophen, Theologen und insbesondere Mönche), erinnern die aufgezählten Charakteristika immer wieder an diejenige Spezies von Sophisten, wie der Rednerlehrer sie verkörpert, nur sind sie bei Erasmus auf mehrere Exponenten von Scheinprofessionen verteilt. Allgemein zu nennen sind Selbstverliebtheit, die umso stärker hervortritt, je ungebildeter einer ist (128,48ff.) und Scheinweisheit (138,240: sapientiae species). Die Grammatiker zeichnen sich durch Geschrei und ›Gewaltherrschaft‹ über ihre Schüler, durch das Ausgraben von seltenem Vokabular und durch Schadenfreude, wenn Berufskollegen ein grammatikalischer Fehler unterläuft, aus (138–140);1320 die ungebildeten Schrifsteller, die niederschreiben, was ihnen gerade in den Sinn kommt, haben den grössten Erfolg bei der törichten Menge, können das kritische Urteil einiger weniger Fachleute leicht verschmerzen (142,316ff.), und in der Öffentlichkeit wird bewundernd mit dem Finger auf sie gezeigt (142,326f.: quam hi sibi placeant, cum vulgo laudantur, cum digito ostenduntur in turba: οὗτός ἐστιν ὁ δεινὸς ἐκεῖνος);1321 die Sophisten zeichnen sich durch ihre Geschwätzigkeit (garrulitas), die diejenige der Frauen weit übertrifft, und durch ihre Streitsucht aus (142,354ff.);1322 die Mönche schliesslich, deren öffentliche Auftritte ausführlich beschrieben sind, strotzen vor Unbildung, brüllen auswendig gelernte, aber unverstandene Psalmen herunter und fallen als Bettler 1319

So auch Robinson [1979] 196. Vgl. Rh. Pr. 17, 19, 22, 23. 1321 Vgl. Rh. Pr. 20 und 25 (eine sprachlich noch engere Parallele bietet Somn. 11, vgl. auch Herod. 2, Anach. 36, Harmonid. 1). 1322 Vgl. Rh. Pr. 23: ὁρᾷς ὡς λαλίστεραι αἱ γυναῖκες καὶ λοιδοροῦνται περιττῶς καὶ ὑπὲρ τοὺς ἄνδρας; εἰ δὴ τὰ ὅμοια πάσχοις, καὶ ταύτῃ διοίσεις τῶν ἄλλων. 1320

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und durch Rüpelhaftigkeit und Unverschämtheit negativ auf (160,529ff.). Sie halten ihre Predigten ganz nach der Manier der Rhetoriker, gestikulieren, modulieren ihre Stimme, schreien, holen in ihrer Darstellung viel zu weit aus (162,587ff.), ja ihr Auftritt gleicht einer Tyrannis (168,670ff.). Rufen wir uns abschliessend nochmals die Empfehlungen zur Auftrittsgestaltung aus Rh. Pr. 19 in Erinnerung: Ἢν δέ ποτε καὶ ᾆσαι καιρὸς εἶναι δοκῇ, πάντα σοι ᾀδέσθω καὶ μέλος γιγνέσθω. [...] τὸ δὲ οἴμοι τῶν κακῶν πολλάκις, καὶ ὁ μηρὸς πατασσέσθω, καὶ λαρύγγιζε καὶ ἐπιχρέμπτου τοῖς λεγομένοις καὶ βάδιζε μεταφέρων τὴν πυγήν. καὶ ἢν μέν σε μὴ ἐπαινῶσιν, ἀγανάκτει καὶ λοιδοροῦ αὐτοῖς· ἢν δὲ ὀρθοὶ ἑστήκωσιν ὑπὸ τῆς αἰσχύνης ἤδη πρὸς τὴν ἔξοδον ἕτοιμοι, καθέζεσθαι κέλευε, καὶ ὅλως τυραννὶς τὸ πρᾶγμα ἔστω.1323 Soweit zur Rezeption von Lukians Rh. Pr. bei zwei Autoren der Renaissance. Für einen Ausblick in die spätere Rezeption seien aus der französischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts das kurze Gedicht Le poète courtisan von Joachim du Bellay (1522–1560) erwähnt, worin der Sprecher seinem Zögling den kurzen Weg (le chemin le plus court) zum gefeierten Hofpoeten ganz im lukianischen Sinn durch das Spielen der Rolle des homme savant aufzeigt (die Reminiszenzen an Rh. Pr. sind zahlreich; vgl. dazu Merrill [1931]), sowie die Lukianübersetzung von Perrot d’Ablancourt (1654), die L’orateur ridicule enthält (zur Rolle der lukianischen Sprachkritik bei d’Ablancourt und Balzac siehe Bury [2007], bes. 156 und 159). Im Deutschland des 18. Jahrhunderts zentral ist der Name Christoph Martin Wielands (1733–1813), der sich mit Lukian sowohl in wissenschaftlicher als auch in kreativer Rezeption auseinandergesetzt hat und eine Funktionalisierung lukianischer Schriften zur Thematisierung und Kritik von Aktuellem vornimmt, wie wir sie bei Pirckheimer getroffen haben (s.o.). Vgl. zu Wieland ausführlich Baumbach [2002] 89–113. Aus dem englischsprachigen Raum ist Henry Fielding (1707–1754) zu nennen (siehe dazu Robinson [1979] 220–226 und 232f.).

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Vgl. auch Rh. Pr. 15, 18, 20.

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8. Register

8.1 Stellenregister Verzeichnet sind alle Stellen aus den lukianischen Schriften (abgesehen von Rh. Pr.) mit Ausnahme reiner Wortparallelen. Die Werktitel richten sich nach der OCT-Ausgabe von Macleod [1993]. Adversus Indoctum 2: 74 Anm. 206; 102 3: 420 3f.: 102 Anm. 302 4: 101; 102; 336 5–7: 102 6: 101 7: 102 mit Anm. 303; 105 Anm. 316 9f.: 101 15: 102; 196 16: 141 16f.: 419 Anm. 1124 17: 74 Anm. 206; 103 18: 102 19: 101; 102 mit Anm. 301; 411 22: 102 Anm. 301 22–25: 410 Anm. 1106 23: 258; 309 24: 103; 419 Anm. 1124 24–26: 101 25: 102; 180; 412 27f.: 102 mit Anm. 303 28: 74 Anm. 206; 102; 103; 105 Anm. 316; 419 Anm. 1124 Alexander 1: 426 Anm. 1143 2: 446 Anm. 1212 4: 419; 454 5f.: 435 6: 446 Anm. 1212 11: 428 20: 395 25: 209 32: 446 Anm. 1212 41: 460 47: 446 Anm. 1212 53: 411 59: 411

Anacharsis 19: 417 36: 392; 475 Anm. 1293 Apologia 6: 437 Anm. 1182 8: 398 Bacchus 5: 124 Bis Accusatus 6: 136 Anm. 434 11: 136f. Anm. 437; 366; 418 17: 299 20: 452 Anm. 1233 21: 186f. 26–29: 47 27: 428 Anm. 1146; 431 28: 382; 398 30–32: 48 31: 363 Anm. 970; 406 32: 382 33: 122; 126 34: 77; 123 Calumniae non temere credendum 8: 465 Anm. 1256 20: 417 Contemplantes 24: 357 Demonax 1: 111 Anm. 335 1–4: 419 Anm. 1124 2: 111 Anm. 334 3: 428 Anm. 1147 3–10: 112f. 4: 114; 289 5: 116 Anm. 347 8: 112 12: 111; 259; 469 Anm. 1272 12f.: 114f.

492 (Demonax) 14: 116; 201 16: 117 18: 117 20: 117 23: 117 24: 114; 117 25: 117 26: 114; 323 28: 117 29: 116 32: 117 33: 114; 117 35: 117 36: 114; 117 37: 117 38: 117 41: 117 43: 117 44: 114 45: 117 48: 115 50: 415 54: 355 Anm. 944 56: 116 60f.: 114 62: 112; 121 66: 117 Demosthenis Encomium 10: 317 13: 455 Anm. 1237 Deorum Concilium 4: 411 17: 417 Dialogi Deorum 2,3: 355 Anm. 944 6,2: 264 8,3: 439 19,1: 264 Dialogi Marini 1,5: 264 Dialogi Meretricii 6,2f.: 437 7,1: 455 Anm. 1237 11,3: 444 12,2: 437 Anm. 1182 12,4: 259 14,2: 304 Dialogi Mortuorum 1,1: 469 Anm. 1272 1,2: 410 Anm. 1105; 411; 417 6,5: 259 12,6: 220

8. Register 16,4: 444 mit Anm. 1205; 452 Anm. 1233 18,1: 452 Anm. 1233 19,2f.: 411; 442 Anm. 1199 20,3: 264 20,8: 209; 417 26,1: 468 mit Anm. 1271 Dipsades 9: 71 De Domo 3: 363 Anm. 969 Electrum 4–6: 363 6: 72f. Fugitivi 4: 136f.; 298; 301 7: 418; 446 Anm. 1212 10–15: 136 13: 294; 298; 313 Anm. 816 13–15: 42; 418 14: 301; 366 17: 228 18–20: 137 19: 405 20: 294 22: 446 Anm. 1212 27: 418 33: 415 Gallus 14: 439 Harmonides 1: 392 Anm. 1052 2: 226 2f.: 106 Anm. 319 Hercules 4–8: 71 Anm. 194 7: 69 8: 72 Hermotimus 1: 236 4f.: 56 4–6: 245 5: 186 6: 187; 449 8: 426 Anm. 1143 15: 276 21: 56 24: 244 25: 189 25–27: 56 53: 289 Anm. 755 60: 256f. 71–73: 56 76f.: 56

8.1 Stellenregister (Hermotimus) 79: 56 Anm. 143; 135 Anm. 432 81: 417; 419; 424 86: 417 Herodotus 7f.: 71 Anm. 192 Hesiodus 1f.: 225 Icaromenippus 1: 206; 396 5: 246 16: 417 24: 337 29: 471 Anm. 1280 30: 132f.; 136 Anm. 437; 366; 418 Imagines 3ff.: 241 9: 305 Iuppiter Tragoedus 14: 336 23: 336 30: 399 32: 346 33: 418 37: 417 52: 406 53: 418 Lexiphanes 1: 336 16: 394 17: 105 Anm. 316; 119 Anm. 366; 249; 322 17f.: 74 Anm. 206 18: 417 20: 74 Anm. 206; 322 21: 314; 340 22: 74 Anm. 206; 106; 336; 340 23: 104 Anm. 313; 341 23f.: 105 Anm. 316 24: 74 Anm. 206; 105 Anm. 316; 116 Anm. 347; 366 De Luctu 16: 410 Anm. 1105 Macrobii 21: 336 Anm. 894 23: 336 Anm. 894 De Mercede conductis 3: 228; 472 4: 119 5: 336 11: 349 14: 287 Anm. 747 24: 396

25: 336; 417 27: 363 Anm. 969 28: 391 33: 257f.; 415 35: 265; 333 42: 187; 212 Anm. 577; 253 De Morte Peregrini 1: 460 3: 418 4: 391 5f.: 278 Anm. 715 7: 446 Anm. 1212 10: 445 11: 466 12: 278 Anm. 715 13: 466 16: 385 18: 370 Anm. 992; 418 19: 418 27: 439 28: 446 Anm. 1212 29: 265f. 36: 460 37: 418 Navigium 11: 309 Anm. 804 43: 439 45: 410 Anm. 1105 Necyomantia 2: 309 Anm. 804 4: 394; 418 5: 246 7: 253 21: 417 Nigrinus 1: 270 8: 270 11: 270 13: 396; 391 22: 396 24: 385 25: 246 De Parasito 42: 336 Anm. 894 Phalaris 1,2: 428 Anm. 1147 Philopseudeis 6: 256 24: 411 Piscator 1: 446 Anm. 1213 1–20: 127f. 5: 395

493

494 (Piscator) 6: 363 Anm. 969 11: 131 12: 310 13: 311 15: 446 Anm. 1213 19: 118f.; 431 20: 134; 419 21: 418 25: 417 25–27: 128 29: 128f. mit Anm. 403; 419 30f.: 129 31: 131; 175; 311 32: 129 Anm. 406; 130–132 33: 130; 132; 309 Anm. 804 34: 396 34–36: 130 36: 132 37: 129 Anm. 406; 130–132; 401 38f.: 131 41: 299f.; 313 Anm. 816 41f.: 131 45: 418f. 46: 132; 446 Anm. 1212–1213 47f.: 452 Anm. 1234 49: 446 Anm. 1212–1213 50: 257 51: 452 Anm. 1234 Pro Imaginibus 1: 396f. 5: 261 Pro Lapsu inter salutandum 4: 331; 336 12: 352 Prometheus es in Verbis 1: 76 3: 76f. 5: 77; 311f. 5f.: 124 Pseudologista 1: 119; 401 Anm. 1086 3: 104f. 4: 289f. 4–9: 119 5: 104 Anm. 310; 347 6: 339 Anm. 903; 378 6f.: 105 Anm. 316 7: 364 11: 333; 431; 456 Anm. 1238 13f.: 424 14: 177; 323 Anm. 857 16: 454

8. Register 17: 309; 368; 391; 410; 415; 418 18: 410 mit Anm. 1107; 435 20: 104 Anm. 310; 410 21: 410 22: 104 Anm. 310; 410 Anm. 1108 23: 420 24: 322 Anm. 854; 420 25: 104 Anm. 310; 403 Anm. 1090; 417–420 27: 410; 416 28: 408; 410 Anm. 1108; 420 29: 333 30: 437 Anm. 1182 31: 260 Anm. 671; 415; 420 Quomodo Historia conscribenda sit 1: 195f. 8: 195 11: 318 15: 320 23: 352 32: 351; 417 40: 452 Anm. 1233 42: 331 44: 309 55: 352 Anm. 936 De Saltatione 2: 176 Anm. 494; 454 Anm. 1236 6: 176 Anm. 494 27: 333 35: 241 36: 181 39: 373 65: 319 68: 176 Anm. 494 69: 331 Anm. 883 80: 333 Saturnalia 24: 411 35: 411 Scytha 9: 431 Soloecista 1f.: 97 1–4: 96; 333 3–11: 97 4: 98 6f.: 336 9: 98 10: 336 12: 98 Somnium sive Vita Luciani 1: 49; 50 Anm. 128 5: 53 Anm. 135

8.1 Stellenregister (Somnium) 6: 52 Anm. 130; 53 Anm. 133; 234; 235 Anm. 627 7: 417 8: 52 Anm. 131 9: 50 Anm. 126; 428 Anm. 1146; 469 Anm. 1274 10: 51; 299; 374; 425 10–13: 50 Anm. 128 11: 51; 428 Anm. 1146; 428 Anm. 1148; 469 Anm. 1274; 482 Anm. 1321 12: 51; 336 13: 50 Anm. 126; 235 Anm. 627; 428 Anm. 1148 14: 52 Anm. 130; 53 Anm. 135 15: 467 15f.: 50 Anm. 128 15–18: 431 17: 54 Anm. 136 18: 53 Anm. 135 Symposium 23: 437 35: 418 40: 363 Anm. 970; 418 De Syria Dea 12: 373 Timon 3f.: 373 9: 397; 417; 471 Anm. 1280 20: 475 Anm. 1293 32: 469 Anm. 1272

495

52: 430 55: 417 Toxaris 13: 407 61: 436 Verae Historiae 1,3: 354 1,5–7: 219 Anm. 591 1,23: 411 2,5f.: 190 2,14: 190 2,15: 383 2,18: 187 Anm. 516 2,25f.: 262 Anm. 678 2,30: 221 2,31: 354 Anm. 940 2,41: 411 Vitarum Auctio 10f.: 43; 370 Anm. 993; 418 11: 424 12: 259 23: 333 23f.: 324 Zeuxis 1: 72; 334 Anm. 890; 385 1f.: 73f. 2: 74 Anm. 201; 177; 363 Anm. 971; 381 2–4: 124 3–7: 77 Anm. 215 12: 71; 74 Anm. 203; 281

8.2 Namen- und Sachregister Agathon: 23; 84; 261–263; 274; 438 Anm. 1188; 439; 464 Aischines: 51; 250–252; 376 Alexander von Abonuteichos: 132 Alexander der Grosse: 20f.; 63; 198–200; 202f.; 207; 218–220; 251f. Alexander Peloplaton: 259; 279; 302 Anm. 781; 439 Alkibiades: 37 Amaltheia: 213f. Ambivalenz: 27–29; 33; 35; 39; 46; 50f.; 60; 62–64; 87f.; 193; 197; 199f.; 207; 220; 225; 229f.; 234; 245–248; 256; 280–282; 289; 316; 370; 427; 430; 457f.; 460; 466; 468; 470; 473; 476; 480; 482

Aornos: 21; 56; 218–220 apaideutos: 89–110; 136f.; 286; 288f.; 298 Aporie: 32f.; 49; 60; 226 Archaismus: 249f.; 305; 309; 314; 321– 330; 482 Aristophanes aristophanische Subtexte: 13; 31; 79–88; 230; 266f.; 274; 284; 310; 324; 406; 408; 431 Anm. 1159 Artemision: 357f. Asianismus: 262; 361 Attizismus: 92; 94; 99f.; 103f.; 107; 249– 251; 305–307 mit Anm. 799; 312–315; 320; 322 Anm. 853; 334–338 Hyperattizismus: 249f.; 306; 323–330 Standardattizismen: 306; 312–315; 358f.

496

8. Register

Autopsie: 21; 198 Anm. 541; 223 Barbarismus: 96 Anm. 275; 99; 332f.; 403; 416 Bildung  paideia Unbildung  apaideutos Bildungskanon/kanonische Autoren: 91 mit Anm. 264; 306f.; 321 Anm. 851; 333– 338; 340f.; 342 Claque: 305; 379–385; 451; 481 Deklamation: 14; 60; 67; 72; 174; 177; 181; 338f.; 342–349; 354f.; 359–363; 376–378; 481 Demonax: 110–125 Demosthenes: 22; 48; 51; 192; 208; 237f.; 240f.; 250–252; 278; 297; 321 Anm. 851; 334–337; 376; 387f.; 395; 428– 430 Depilation: 233; 414–416 Deukalion (& Pyrrha): 371–373 Diogenes von Sinope: 41–43; 109; 120– 122; 200 Dionysos: 21; 219f. Effeminiertheit: 83f.; 230–233; 255; 257– 264; 269; 274; 302–305; 361f.; 368f.; 407; 410; 413–415; 438; 464; 469 Enthaarung  Depilation Entlarvung: 58; 70 Anm. 189; 77f.; 98; 100; 103–105; 110; 126; 130; 134; 147; 175; 378; 452; 477 Ephialtes: 24; 275; 279f. Epirrhematischer Agon: 13; 79–83; 230 Eskapismus: 343f. Favorinus von Arelate: 114f.; 261; 362; 439 gender: 231f.; 235; 259 Anm. 668; 273; 349f.; 362 Anm. 966; 369 Gesang: 114f.; 283; 300; 360–364 Glykera: 23; 271f. Hadrian von Tyros: 188; 302 Anm. 781; 362; 439 Hegesias/Hegias: 241f. Herakles: 21; 219f. Herodes Atticus: 268; 335; 344; 388 Hesiod: 19–21; 186; 192–195; 197; 222; 224f.; 227; 274 Hippokentaur: 14; 77; 281 Homosexualität: 403; 410–414; 420; 424; 434–436; 438 Hypermaskulinität: 229–234; 255; 258 Anm. 667; 274 Intertextualität: 15; 31–33; 79; 428f. Invektive/Invektiventopik: 27; 401f.; 406; 415; 417–420; 422f.; 428–430; 435;

439; 440–442; 444–447; 454; 482 Ironie: 29f.; 36; 60; 64–66; 174f. mit Anm. 491; 180; 197; 223f.; 226; 255f.; 260f.; 276; 297; 311f.; 350; 375; 421; 456– 460; 465; 467; 475 Isokrates: 334; 336f. Karneval/Karnevalisierung: 247f. Kebes: 211 Tabula Cebetis: 32; 43–46; 178; 210– 212; 214 Kinäde: 230; 260; 368; 407; 410; 415f. Kinyras: 23; 261f. Komödie Komischer Dialog: 15; 76f.; 79; 88; 122f.; 126 Komödienauftritt: 13; 84–87; 123; 228 Anm. 607; 255 mit Anm. 661; 269; 284; 465 Komödienschauspieler: 35; 459 Konkurrenz/Konkurrenten: 388–391; 394 Konvention: 33; 74f.; 78; 223f.; 226; 229; 401f. Konventionsbruch: 12; 25; 64; 180; 240; 249; 250; 273; 283; 292; 297–299; 334f.; 351–353; 401–403; 417; 434; 454; 460; 477 Konzertphilosophen: 146f. Kritios: 241f. Kynismus: 41f., 109; 120–123 Lykinos: 55–59 Malthake: 23; 271f. Marathon: 354f. Maske (lukianische): 33; 41; 59; 118; 133f.; 423 melete  Deklamation Metapher Chor-Metaphorik: 379f.; 382–384 Jagd-Metaphorik: 183; 190 Mysterien-Metaphorik: 39; 285–287; 290f.; 309; 396 Anm. 1069; 426 Schauspiel-Metaphorik: 131–134; 137; 143; 147; 210; 255 Anm. 661; 263; 269f.; 283; 361–363 Triumph-Metaphorik: 268f.; 467 Weg(wahl)-Metaphorik: 11f.; 19–21; 29; 32; 37–39; 41 Anm. 98; 43–57; 65f.; 80; 184–189; 204; 218–226; 290f.; 293f.; 425; 457f.; 470; 476f. Wettkampf-Metaphorik: 182; 376; 473– 477 mimesis: 75 Anm. 209; 76f.; 103 Anm. 306; 240–243; 249f.; 270 Anm. 690; 283–285; 339–341

8.2 Namen- und Sachregister Musen Inspiration durch: 195f. Narrenfigur: 30; 63–65; 199–201; 229f.; 248; 423; 458; 470 Neologismus: 330–332 Nesiotes: 241f. Nihilismus: 59f.; 66 Nil: 21; 215f. Odysseus: 260 officia oratoris: 25f.; 74; 342; 351f.; 371 Othryadas: 357 Otos: 24; 275; 279f. paideia: 49–51; 54; 71f.; 75; 77f.; 89–91; 93–95; 99–104; 107–110; 112 Anm. 338; 135; 140f.; 147; 298 (s. auch: pepaideumenos) Paradethemen: 26; 91; 342; 345–347; 354– 358; 372 Parodie: 29f.; 180 parrhesia: 118–122; 124 Parrhesiades: 70 Anm. 189; 118f.; 125; 127–132; 134 pepaideumenos: 92–95; 100–104; 107–110; 112 Anm. 338; 147; 288; 306; 325; 374f.; 419 Anm. 1124 Peregrinos Proteus: 132; 145 Perikles: 181 Philagros aus Kilikien: 369 Plagiat: 339; 347; 390 Plataiai: 357f. Platon: 22; 237f.; 240; 251; 278; 321 Anm. 851; 334; 336–338 platonische Subtexte: 13; 31f.; 34–40; 178–180; 183; 277; 287; 324f.; 434; 455f.; 459; 465–467 Polemon von Laodikeia: 279; 302 Anm. 781; 355; 366; 439 Pollux von Naukratis: 52 mit Anm. 132; 170f.; 439f. Prodikos Allegorie des: 11; 32; 43f.; 52–54 progymnasma: 24; 200; 285 Anm. 741; 339; 422 prolalia: 15; 67–78; 122; 124 Prosopopoiie: 23f.; 83f.; 170 Publikum: 89–95; 105–107; 126 Anm. 398;

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176f.; 277; 325–327; 348; 364–366; 369–371; 373–377; 379–383; 388–390; 393f.; 397f.; 482 Rezipienten: 31–33; 35; 50; 60f.; 66f.; 94; 126; 147; 229f.; 403; 430; 440; 457f.; 470 Rhetorik (rhet.) Gattungen: 12 Anm. 5 Gerichtsrhetorik: 14; 21; 28 Anm. 61; 72; 82; 364f.; 400; 446–454; 463 Hetärenhaftigkeit der: 46 Anm. 114; 48; 54; 217; 466 Schein-/Trickrhetorik: 12; 36; 39f.; 60– 63; 65f.; 70f.; 94; 135; 138f.; 281; 293– 295; 301; 312; 325; 332; 345; 366; 427; 452; 454 Symbuleutische Rhetorik: 12f.; 22; 72; 82 Salamis: 357f. Sardanapal: 23; 261f. Satire: 29f. Menippeische Satire: 15; 30; 120 Anm. 371; 122f. Scheinphilosophen: 40f.; 108; 113–117; 125–141; 143–145; 147; 293–295; 298– 300; 301; 310; 324; 369f.; 418f. Showelemente: 26; 61; 71 Anm. 190; 93; 115f.; 139; 232; 342; 359–371 Sidonier/sidonischer Händler: 20; 63; 198– 201; 207; 218; 248; 282; 431 Skopelian: 356; 365 Sokrates: 24; 34f.; 37; 58; 82–84; 86; 105; 121f.; 172; 178; 180; 183; 257; 267; 275; 277; 279; 289; 439 Solözismus: 96–100; 332f.; 403; 416 Sophist: 36; 172–177; 246; 298 spoudogeloion: 120–125; 389f.; 477 Stegreifrede  Deklamation Thaïs: 23; 271f. Theatralik: 41; 47 Anm. 118; 55; 133f.; 137; 143; 147; 270 Anm. 690; 284 Tityos: 24; 275; 279f. Varus von Laodikeia: 362; 439 Verweichlichung  Effeminiertheit Zweite Sophistik: 11 Anm. 1; 89f.; 174; 342–345

Appendix: Abbildungen

Abb. 1: LIMC VI.2, Neilos 1 Kolossalstatue, weisser Marmor, Rom: Vatikan. Museen, Datierung unsicher. Der Nil, mit seiner linken Hand auf den Rücken einer Sphinx gestützt, darüber ein Füllhorn. Sechzehn Ellen (πήχεις) klettern im Spiel auf ihm herum.

Abb. 2: LIMC VI.2, Neilos 6 Kolossalstatue, grauer Marmor, Rom: Kapitolsplatz, trajanische Zeit. Der Nil mit Sphinx und Füllhorn in seiner linken Hand, die rechte ausgestreckt.

Appendix: Abbildungen

Abb. 3: LIMC VIII.2, Venus 68 Marmorstatue, Neapel, Museo Nazionale (aus Pompei), Kaiserzeit. Venus in feingeripptem Chiton, unter der Brust gegürtet.

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