Doxologische Entzogenheit: Die fundamentaltheologische Bedeutung des Gebets bei Karl Barth 3110209721, 9783110209723, 9783110209730

This study advances the thesis that prayer can be understood as the key to the fundamental structures of Karl Barth'

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Doxologische Entzogenheit: Die fundamentaltheologische Bedeutung des Gebets bei Karl Barth
 3110209721, 9783110209723, 9783110209730

Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Das begründende Fragen. Gebet und Dialektik in der theologischen Entwicklung Karl Barths. Ein vorbereitender Überblick
II. Die transformierende Reziprozität. Gebet und Erhörung im Vollzug dialektischer Gegenseitigkeit
III. Die beunruhigte Gemeinde. Gebet und Zeugnis im Horizont der Reziprozität der Offenbarung und in der Dialektik der freien Gabe
Konklusion
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Christine Svinth-Værge Po˜der Doxologische Entzogenheit

Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von O. Bayer · W. Härle · F. Nüssel

Band 147

≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York

Christine Svinth-Værge Po˜der

Doxologische Entzogenheit Die fundamentaltheologische Bedeutung des Gebets bei Karl Barth

≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISSN 0563-4288 ISBN 978-3-11-020972-3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

” Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist die leicht überarbeitete Fassung meiner PhD-Dissertation, die am 4. Oktober 2007 an der Universität Aarhus öffentlich verteidigt wurde. Zur Entstehung dieser Arbeit haben viele auf unterschiedliche Weise beigetragen. Ein ganz besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. dr. theol. Peter Widmann, der in anregenden Gesprächen mit großem Gespür für die Sache den Erkenntnisprozess begleitet und befördert hat. Prof. PhD Niels Henrik Gregersen hat mich dazu ermutigt, dieses Projekt in Angriff zu nehmen, und die frühe, noch tastende Phase der Arbeit auf inspirierende Weise begleitet. Der Schlüsselbegriff der Abhandlung – die Reziprozität – ist durch laufende Gespräche mit Prof. PhD Bo Kristian Holm artikuliert und präzisiert worden. Dr. Hans Anton Drewes hat mir sehr hilfsbereit unveröffentlichtes Material aus dem Karl-Barth-Archiv zugänglich gemacht. Prof. Dr. Eberhard Busch und Frau Beate Busch haben mir ihre Transkription der noch unveröffentlichten, frühen Vaterunser-Predigten aus der Safenwil-Zeit zur Verfügung gestellt. Prof. Dr. Busch und Prof. Dr. Joachim Ringleben haben meine Arbeit an der Dissertation während meines Aufenthalts an der Georg-August-Universität Göttingen freundlich begleitet und mich zu ihren respektiven Doktorandenkolloquien eingeladen. Ein wichtiger Teil des Arbeitsprozesses ist die Teilnahme am systematisch-theologischen Forschungsseminar der Universität Aarhus gewesen. Das gilt auf andere Weise auch für die freundliche Aufnahme in die kollegiale Gemeinschaft der Abteilung für Systematische Theologie. In diesen und vielen anderen Zusammenhängen sind wichtige Impulse für die Abhandlung entstanden. All den Genannten sowie vielen anderen, die die Entstehung der Arbeit mit Inspiration, Kritik, Ermunterung und Hilfe begleitet haben, gilt mein herzlicher Dank. Ein herzlicher Dank gebührt auch der Theologischen Fakultät der Universität Aarhus für die finanzielle Ermöglichung der Arbeit durch das PhD-Stipendium und dem Aarhus Universitets Forskningsfond für die freundliche Übernahme der Druckkosten Danken möchte ich auch Prof. dr. theol. Vagn Andersen, Prof. Dr. Dietrich Korsch und Prof. dr. theol. Bent Flemming Nielsen für ihre Gutachten, Prof. Dr. Oswald Bayer, Prof. Dr. Wilfrid Härle und Prof. Dr. Friederike Nüssel für die ehrenvolle Aufnahme der Dissertation in die

VIII

Vorwort

TBT-Reihe von Walter de Gruyter sowie Frau Sabina Dabrowski und Dr. Sabine Krämer für ihre Geduld und Hilfe bei der Drucklegung. Einen besonderen Dank schulde ich Prof. Dr. Oswald Bayer, der in freundlicher Zuwendung mir den Anstoß gegeben hat, die Dissertation zu veröffentlichen. Als Nicht-Muttersprachlerin war es mir eine Herausforderung, die Dissertation auf Deutsch zu schreiben. Für die zeitaufwändige Korrekturarbeit möchte ich Studienrätin Elisabeth Jochim, Pfarrer Dominik Wolf, Studienrätin Miriam Wolf-Schmidt und Pfarrer Matthias Burghardt danken. Schließlich ist dieses Buch nicht ohne diejenigen zu denken, die mich während seiner Entstehung mit Liebe und Geduld begleitet haben. Mein Mann ist mir in unseren vielen Besprechungen und im Alltag mit Rat, Tat und Ermunterung zur Seite gestanden. Meine Eltern haben mich stets unterstützt, ermutigt und uns mit unserem Sohn geholfen, der während dieser Zeit zur Welt kam. Für das alles bin ich sehr dankbar.

Inhaltsverzeichnis Vorwort .................................................................................................. VII Einleitung ................................................................................................. 1 1. 2. 2.1. 2.2. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4.

Die Entzogenheit des Verkehrs Gottes mit dem Menschen: Eine Annäherung ........................................................................ 1 Der Horizont der Untersuchung ................................................ 4 Anknüpfung an den Stand der Forschung ............................... 4 Anregungen und Zielrichtungen für die Untersuchung .......... 6 Drei Thesen zur fundamentaltheologischen Bedeutung des Gebets bei Karl Barth .................................................................. 7 Erste These: Die dialektische Gotteserkenntnis im Gebet ........ 7 Zweite These: Der Existenzvollzug im Gebet ........................... 8 Dritte These: Der blinde Fleck in der Theologie Barths ........... 9 Ausarbeitung .............................................................................. 9 Der Zugang ................................................................................. 9 Die Verwendung der Leitfigur der Reziprozität ...................... 11 Darstellungstechnik und Literaturbehandlung ....................... 12 Aufbau ........................................................................................ 13

I.

Das begründende Fragen. Gebet und Dialektik in der theologischen Entwicklung Karl Barths. Ein vorbereitender Überblick .................................................................................... 15

1.

Die Bedeutung des Gebets für die Begründung der Theologie bei Karl Barth ........................................................... 17 Theologie als Fragezeichen und Theologie als Lehre: Ansätze zur Entdeckung der fundamentaltheologischen Signifikanz des Gebets .................................................................................. 18 Gebet und Dialektik auf dem Weg zur Kirchlichen Dogmatik .. 23 Die Göttinger Dogmatikvorlesungen und Die christliche Dogmatik im Entwurf .................................................................. 23 Fides quaerens intellectum ............................................................ 27

1.1.

1.2. 1.2.1. 1.2.2.

X 1.2.3. 1.3. 1.4. 2. 2.1. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.3. 2.3.1. 2.3.2. 2.3.3. 2.3.4. 2.4. 2.4.1. 2.4.2. 2.4.3. 2.5. 2.5.1. 2.5.2. 2.5.3.

Inhaltsverzeichnis

Die Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik .............................. 30 Die letzten Präzisierungen: Einführung in die evangelische Theologie ...................................................................................... 33 Zusammenfassung ..................................................................... 37 Die Dialektik in der Theologie des frühen Barth und in der Kirchlichen Dogmatik ................................................................... 40 Dialektische und dogmatische Methode .................................. 41 Zwei hermeneutisch-fundamentaltheologische Ausläufer der dialektischen Methode ........................................................ 44 Das Unanschauliche .................................................................. 45 Die Frage-Antwort-Dialektik .................................................... 47 Frühe Gestalten einer material transformierten Dialektik ...... 50 Die Diastase von Gott und Mensch .......................................... 50 Das Krisismotiv und die relationale Dialektik ......................... 52 Die eschatologische Dialektik und die Wende zur christologischen Dialektik ......................................................... 54 Die Analogie des Kreuzes und der unanschauliche Augenblick ................................................................................. 55 Die dialektische Hermeneutik der Kirchlichen Dogmatik nach Dietrich Korsch ................................................................. 57 Die aporetische Hinweisfähigkeit der Negation beim frühen Barth ........................................................................................... 57 Exkurs: Negation und Hinweis in der rituellen Sprache nach Bent Flemming Nielsen ............................................................. 59 Die Verankerung der Negation im Begründungsvollzug ....... 60 Dialektik und Gebet ................................................................... 62 Metatheologische Barthinterpretation ...................................... 62 Okko Herlyn: Das Gebet als (Selbst-)Kritik der Religion ........ 64 Die kirchliche Dogmatik im Verständnishorizont der religiösen Erfahrung ................................................................................... 66

II.

Die transformierende Reziprozität. Gebet und Erhörung im Vollzug dialektischer Gegenseitigkeit ...................................... 69

1.

Einleitung: Die Dialektik der Reziprozität und die Struktur der Rechtfertigungslehre ........................................................... 71 Die ambivalente Reziprozität: Präzisierung der Leitfigur ...... 71

1.1.

Inhaltsverzeichnis

XI

1.2. 1.3. 1.4. 1.5. 1.6. 1.7.

Reziprozität bei Barth und in der Tradition ............................. 72 Gabentausch bei Pierre Bourdieu ............................................. 73 Die theologische Verneinung der Reziprozität ........................ 74 Teilnehmer und Beobachter ...................................................... 75 Geheiligte Reziprozität: Milbanks Kritik an Bourdieu ............ 76 Anwendung der Figur der Reziprozität im Hinblick auf Barth: Verneinung, Entzogenheit, Asymmetrie und Intervall ...................................................................................... 77

2. 2.1. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.3.

Dankbarkeit: Die Signifikanz der negierten Reziprozität ....... 79 Das Signal der Negativität ........................................................ 80 Der Spiegel der Gnade und das unsichtbare Opfer ................. 81 Die Anerkennung ...................................................................... 81 Empfangen als implizites Geben .............................................. 84 Geben ist Beanspruchen: Die Kommunikation der immer bereits verwirklichten Reziprozität .......................................... 85 Dankbarkeit im Gebet bei Ritschl und Barth ........................... 88 Dankbarkeit nach Ritschl .......................................................... 88 Rückfragen an Barth .................................................................. 90

2.4. 2.4.1. 2.4.2. 3. 3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.3. 3.3.1. 3.3.2. 3.4. 3.4.1. 3.4.2. 3.4.3.

Die Zentralstellung des Bittgebets ............................................ 93 Pragmatische und dogmatische Zentralstellung des (un)selbstverständlichen Bittgebets .......................................... 94 Die Bestimmung des bittenden Gebets .................................... 94 Die Integration der Wahrnehmung .......................................... 97 Die christologisch-integrative Verhältnisbestimmung von Bitte, Dank, Anbetung und Buße .............................................. 98 Die Bitte als integrierende Zentralbewegung des Gebets ....... 98 Bußgebet und Negativität: Ein Vergleich mit Rudolf Hermann .................................................................................. 100 Die Reziprozität des Bittgebets und die umgekehrte Opferterminologie ................................................................... 103 Das Bitten als Modus des Empfangens .................................. 103 Gegenüber Gott man selbst sein: Die umgekehrte Opferterminologie ................................................................... 106 Die potenzierte Dialektik der Reziprozität ............................ 109 Die Hinweisfähigkeit der Negativität .................................... 109 Die Frage nach der Begründung der Freiheit ........................ 111 Reziprozität und Aktualität .................................................... 113

XII 4. 4.1. 4.1.1. 4.1.2. 4.1.3. 4.1.4. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 5. 5.1. 5.1.1.

Inhaltsverzeichnis

Gebet und Erhörung in der Neuzeit ....................................... 114 Erhörung oder Erfüllung: Neuzeitliche Vorbehalte gegenüber dem Bittgebet ........................................................ 114 Kant .......................................................................................... 114 Ritschl ....................................................................................... 115 Kähler ....................................................................................... 116 Das Problem der Zweckmäßigkeit ......................................... 118 Verkehr mit Gott: Gebet und Reziprozität bei Wilhelm Herrmann ................................................................................. 119 Der Verkehr des Christen mit Gott ......................................... 119 Das Dilemma des Gebets ......................................................... 121

5.4.2.

Der Vollzug der Erhörung nach Karl Barth ........................... 124 Das Vorangehen der Erhörung ............................................... 125 Gebet als Hinweis auf den erhörenden Gott: Die implizite fundamentaltheologische Reziprozität in der Gotteslehre ... 125 Vorsehung als Erhörung: Die eschatologische Dialektik des Bittgebets .................................................................................. 128 Christologisches Gebet, I: Das Zugleich von Geben und Empfangen ............................................................................... 131 Das Empfangen als reine Aktualität ....................................... 131 Gabe als Forderung: Die Dialektik der Vorsehungslehre ...... 132 Christologische Bitte: Das Zugleich von Geben und Empfangen ............................................................................... 134 Die dialektische Hinweiskraft des Bittens .............................. 137 Exkurs: Der Zusammenfall des Willens Jesu mit dem Willen Gottes in der Gethsemane-Interpretation Barths ................... 138 Christologisches Gebet, II: Die Verheißung der Erhörung .... 139 Forderung als Gabe: Die Dialektik der Schöpfungsethik ...... 139 Die Gewissheit der Erhörung und der blinde Fleck des existentiellen Vollzugs ............................................................. 142 Das christliche Leben: Die Erhörung als Selbstbezeugung Jesu Christi ............................................................................... 145 Die Kommunizierbarkeit der christologischen Simultaneität von Gebet und Erhörung ........................................................ 145 Die Wahrnehmbarkeit der Erhörung ...................................... 147

6. 6.1.

Die Transformation des Gebets ............................................... 151 Leitfragen ................................................................................. 151

5.1.2. 5.2. 5.2.1. 5.2.2. 5.2.3. 5.2.4. 5.2.5. 5.3. 5.3.1. 5.3.2. 5.4. 5.4.1.

Inhaltsverzeichnis

6.1.1. 6.1.2. 6.1.3. 6.2. 6.2.1. 6.2.2. 6.2.3. 6.3. 6.3.1. 6.3.2. 6.4. 6.4.1. 6.4.2. 6.4.3.

III.

XIII

Das göttliche Empfangen ........................................................ 151 Das Gebet und die Frage-Antwort-Dialektik ......................... 152 Das Gebet als Leitfigur einer Fundamentalethik ................... 153 Die Reinigung des Bittgebets .................................................. 155 Entzogenheit und Einbezogensein des Gebetsvollzugs ........ 155 Tapferes Bitten: Die Dialektik der verantwortlichen Subjektivität ............................................................................. 158 Dechiffrierung des Gehorsams ............................................... 160 Die transformierte Anrufung .................................................. 162 Die Zeitlichkeit und die Wahrnehmbarkeit der versöhnten Reziprozität .............................................................................. 162 Die doxologische Wendung und die Selbstvergessenheit der Christenmenschen ............................................................. 166 Die Reziprozität der Freiheit ................................................... 170 Die Souveränität der Gebetserfüllung .................................... 170 Der Vollzug der Befreiung ...................................................... 171 Fundamentaltheologische Implikationen und der blinde Fleck des existentiellen Vollzugs ............................................ 174 Die beunruhigte Gemeinde. Gebet und Zeugnis im Horizont der Reziprozität der Offenbarung und in der Dialektik der freien Gabe ........................................................ 177 Einleitung: Die Gemeinschaftsstrukturen der Theologie Barths und das Zeugnispotential des Gebets ......................... 179

1. 1.1. 1.1.1. 1.1.2. 1.2. 1.3. 1.4.

Transformation als Extraversion: Fürbitte und Zeugnis in der Lehre von der Schöpfung ................................................. 183 Die Gemeinschaftsdimension des Betens ............................... 183 Die Fürbitte und der ontologische Vorrang der Gemeinde im Gebet ................................................................................... 183 Die Extraversion des Bittgebets .............................................. 185 Die Reziprozität des Vaterunsers ............................................ 190 Der einheitliche Vollzug des Betens und Bezeugens in der Vorsehungslehre ...................................................................... 193 Reine Gabe und Reziprozität: Die differenzierende Verhältnisbestimmung von Gebet und Zeugnis in der Schöpfungsethik ...................................................................... 196

XIV

Inhaltsverzeichnis

1.4.1. 1.4.2.

Zeugnis als Entsprechung der Offenbarung .......................... 196 Die freie Gabe und die reziproke Grundfigur ....................... 199

2.

Die Selbsterschließung der Versöhnung: Beziehung und Erkenntnis in der Dialektik von Vollzug und Entzogenheit . 202 Das Gebet als Parallelfigur zur christologischen Struktur der Versöhnungslehre ............................................................. 202 Die implizite Reziprozität der Christologie ........................... 202 Exkurs: Der Aktualismus der Versöhnungslehre .................. 204 Das Gebet als Korrelat der Rechtfertigung und Heiligung ... 205 Die Selbsterschließung der Versöhnung ................................ 208 Das Lob des Versöhners .......................................................... 208 Das selbsttranszendierende Ereignis ...................................... 210 Das Gotteslob der Negativität: Wahrheit und Begegnung in der Hiob-Interpretation ....................................................... 212 Die Selbsterschließung der Gott-Mensch-Beziehung als die Wahrheitsfähigkeit des Gekreuzigten .................................... 212 Reziprozität und die Freiheit-Treue-Dialektik in der HiobInterpretation ........................................................................... 215 Die Frage-Antwort-Dialektik in der Hiob-Interpretation ..... 218

2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.1.3. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.3. 2.3.1. 2.3.2. 2.3.3. 3. 3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.2.3. 3.2.4. 3.3.

3.3.1. 3.3.2. 3.3.3.

Die Reziprozität der Offenbarung und die Gabe der Zeit ... 222 Christologie als aktualistische Beziehungsontologie ............. 223 Die universelle Beziehung und das implizite Zeugnis .......... 223 Begegnung und Überwindung ............................................... 225 Die Gabe der Zwischenzeit ..................................................... 228 Die Durchsetzung der selbsterschließenden Versöhnung als aktuale Gegenwart des Auferstandenen ........................... 228 Beunruhigung und Befreiung in der Zwischenzeit ............... 230 Die Hoffnung als Chiffre der selbstüberschreitenden Entzogenheit ............................................................................ 233 Pneumatologische Heilsökonomie ......................................... 235 Die subjektive Verwirklichung in der Selbstentnahme und Selbstüberschreitung: Erfahrung und Hingabe in der Lehre von der Berufung ..................................................................... 236 Die universelle Befreiung ........................................................ 236 Die Aktualität der gegenseitigen Selbsthingabe und die Kritik des vorgestellten, reinen Empfangs ............................. 238 Die Souveränität der Selbstentnahme .................................... 241

Inhaltsverzeichnis

3.3.4. 3.4. 3.4.1. 3.4.2. 4. 4.1. 4.1.1. 4.1.2. 4.1.3. 4.1.4.

4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.3. 4.3.1. 4.3.2. 4.3.3. 4.3.4. 4.3.5. 4.4. 4.4.2.

XV

Die Gabe und der blinde Fleck ............................................... 243 Zeit, Gabe und Selbstvergessenheit: Barth im Gespräch mit Derrida ..................................................................................... 246 Die Dekonstruktion der Gabe bei Derrida ............................. 246 Die Dialektik des Gebens und Empfangens bei Barth ........... 249 Das Beten als Urvollzug der christlichen Existenz ................ 251 Die Bedeutung des Gebets für die christliche Existenz: Rückblicke und Vorfragen ....................................................... 251 Doxologie und Heilsökonomie ............................................... 251 Gebet, Glaube und Gehorsam: Der vereinende Vollzug zwischen Rezeptivität und Ex-Zentrizität .............................. 253 Das Verhältnis von Evangelium und Gesetz im Licht der Kritik des vorstellungshaften Empfangs ................................ 255 Das Gebet und der Vollzug der Freiheit: Kritische Einbeziehung und befreiende Beanspruchung der menschlichen Verantwortlichkeit ........................................... 258 Das Gebet, das Zeugnis und die Begründungsproblematik . 260 Fragende Theologie ................................................................. 260 Die Kritik des Fragens und der blinde Fleck der Theologie . 261 Das christliche Leben: Gebet als Leitfigur der Versöhnungsethik .................................................................... 264 Die Entscheidung der Versöhnungsethik ............................... 264 Begegnung als Begründung .................................................... 266 Aktualisierendes Beten als Vorstellungskritik ....................... 270 Die Uraktion und der offene Kreis des kommunikativen Handelns .................................................................................. 272 Eschatologie im Gebet: Das Verlangen als Zeugnis des Verlangten ................................................................................ 276 Das Gebet und die selbstvergessene Theologie ..................... 278 Die Frage-Antwort-Dialektik in der Theologie ...................... 278 Die Transformation der theologischen Methode ................... 281 Konklusion ............................................................................... 283

1. 2.

Perspektivische Wahrnehmung: Teilnehmer und Beobachter ................................................................................ 283 Der sich negierende Hinweis .................................................. 284

XVI 3. 3.1. 3.2. 3.3. 4. 5. 5.1. 5.2. 5.3. 6. 6.1. 6.2. 6.3. 6.4.

Inhaltsverzeichnis

Die Dialektik des Gebens und Empfangens im Vollzug des Gebets ....................................................................................... 285 Empfangen ist Geben: Die Dialektik des Bittgebets .............. 285 Die reziproke Simultaneität: Verwirklichung im Gebet als trinitarische Heilsökonomie .................................................... 286 Geben ist Empfangen: Die Dialektik des Lobs ....................... 288 Der Chiffrencharakter der objektivierenden Terminologie .. 288 Das Ereignis der Überwindung als Vollzug der Freiheit ...... 289 Die doxologische Wendung .................................................... 290 Die Extraversion des Betens .................................................... 291 Die Durchbrechung des Vorstellungskreises bzw. die Entnahme aus der Verschlossenheit ....................................... 291 Perspektivische Wahrnehmung: Der Sinn der Entzogenheit ............................................................................ 293 Der Entzug der Gabe ............................................................... 293 Entzogenheit und Einbezogensein im Gebet ......................... 294 Die methodologische Verwendung der Entzogenheit ........... 295 Selbstkritische, betroffene Freiheit .......................................... 295

Abkürzungen ......................................................................................... 297 Literatur ................................................................................................. 298 Register .................................................................................................. 309 Personenregister .................................................................................... 309 Sachregister ............................................................................................ 310

„Doch das ist das Seltsame und Überraschende, daß das religiöse Leben im Gebet sich nicht nur am klarsten offenbart, sondern ebenso am scheuesten verhüllt.‚ Friedrich Heiler, 1919

„Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.‚ Karl Barth, 1922

„Eben indem wir Gott danken für seine Offenbarung, werden wir ihn lobpreisen in seiner Verborgenheit. Aber eben indem wir das tun, bekennen wir – wie würden wir sonst dazu kommen, das zu tun? – daß wir ihn schon erkannt haben, das jenes Wunder schon Ereignis ist, daß uns jenes reine Geschenk schon gemacht ist und daß wir es schon angenommen haben.‚ Karl Barth, 1940

Einleitung 1. Die Entzogenheit des Verkehrs Gottes mit dem Menschen: Eine Annäherung „Das Gebet ist eine zarte und schöne Blume, die im Verborgenen blüht, < die geknickt wird durch jede unvorsichtige Berührung rationalistischer Wissenschaft.‚1 Die Aussage stammt von Friedrich Heiler, aus dem Erscheinungsjahr seiner großen religionsgeschichtlichen und -psychologischen Untersuchung zum Gebet.2 Er hat nach der Beendigung seines 500 Seiten langen Werkes die Empfindung tiefer Unzulänglichkeit dieses Bestrebens ausgedrückt. Diese Wahrnehmung hat ihn im gleichen Atemzug – und in nur scheinbarem Widerspruch zum Blumenbild – zu einer Bezeugung der großen Widerstandskraft des Gebets jedem Begreifen gegenüber veranlasst.3 Die Widerstandskraft des Gebets könnte man wahrscheinlich auch in dem Sachverhalt sehen, dass die Ausarbeitungen des Gebetsthemas bei sehr unterschiedlichen theologischen Ansätzen und Betonungen letztendlich sehr ähnliche Wahrnehmungen vom Gebet aufweisen – besonders hinsichtlich der Bemühungen, innerhalb eines neuzeitlichen Horizontes einer irgendwie wahrnehmbaren Gebetserhörung gerecht zu werden. Das Gebetsverständnis Karl Barths mit anderen Entwürfen zum Thema Gebet zu vergleichen, ist somit aufschlussreich.4 Besonders 1 2 3 4

Friedrich Heiler, Das Geheimnis des Gebets. Predigt, gehalten beim akademischen Gottesdienst in der Universität Uppsala am 29. September 1919, München: Chr. Kaiser 21921, 6. Friedrich Heiler, Das Gebet: Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung, München: Ernst Reinhardt (1919) 21920. Vgl. Heiler, Das Geheimnis des Gebets, 6. Für Ähnlichkeiten (und Unterschiede) zwischen Friedrich Heiler und dem ihn entschieden ablehnenden Karl Barth weise ich auf den von Okko Herlyn vorgenommenen Vergleich hin, Religion oder Gebet: Karl Barths Bedeutung für ein „religionsloses Christentum‚, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1979. Darüber hinaus sind im zweiten Kapitel der vorliegenden Untersuchung einige exemplarische Vergleiche vorzunehmen. Karl Barth ist dort jeweils mit Albrecht Ritschl (Kap. II, 2; 4), mit Rudolf Hermann (Kap. II, 3), ein wenig mit Martin Kähler (Kap. II, 4) und mit Wilhelm Herrmann (Kap. II, 4) zu vergleichen, der außerdem als durchgehender Gesprächspartner für Barth einzubeziehen ist. An dieser Stelle soll bereits andeutungsweise ein dann nicht mehr zu erwähnendes Beispiel gegeben werden, nämlich der bei allen Unterschieden vorzufindenden Parallele zwischen den Gebetsauffassungen von Karl Barth und Emanuel Hirsch. Während Hirsch zwar bei einer allgemeinen

2

Einleitung

belangreich ist es aber zu sehen, wie diese sich anscheinend durchhaltende Fragestellung vom Verhältnis zwischen Gebet und Erhörung im theologischen Rahmen von Karl Barth ihren Ausdruck findet. Wenn dieses Thema jedoch in der Weise widerstandskräftig ist, dass es sich der Annäherung entzieht, kann die Frage nach der geeigneten Annäherungsform selbst zum Thema der Theologie werden. Die oben zitierte Aussage von Friedrich Heiler gehört in eine Predigt von ihm. In diesem Zusammenhang hat er – seiner eigenen Einschätzung gemäß – die Gelegenheit, etwas zum Ausdruck zu bringen, wofür es im Rahmen der erwähnten 500 Seiten wahrscheinlich wenig Raum geben würde: Über das Gebet kann man, so Heiler, eigentlich nur „unter religiösem Gesichtspunkt‚5 reden. Wie er aber gleich im Anschluss zugibt, hat er damit in der Predigt keine leichtere Aufgabe vor sich als in seinem großen, wissenschaftlichen Werk, denn gerade bei der religiösen Vermittlung entzieht sich das Gebet dem Prediger.6 Diese Entzogenheit des Gebets hat ein paar Jahre später und aus einer unterschiedlichen theologischen Perspektive Karl Barth prinzipiell als die Entzogenheit des Verkehrs von Gott und Mensch überhaupt bestätigt; eine Bestätigung, die zunächst als Verneinung – dieses Verkehrs nämlich – zum Ausdruck kommt. Insofern ist für Barth die Annäherung dazu „unter religiösem Gesichtspunkt‚ nicht nur heikel, sondern von vornherein unmöglich. Die Entzogenheit Gottes für die menschliche Erkenntnis zu behaupten, wird besonders für die Theologen aporetisch, weil von ihnen Auskunft über diesen Verkehr gefordert ist. Das veranlasst Barth in seinem Elgersburger Vortrag, der Aporie der Entzogenheit die Doxologie entgegenzustellen: Die Theologen müssen ihrer Verpflichtung und ihrer Unfähigkeit bewusst sein „und eben damit Gott die Ehre geben.‚7 Seine Antwort bleibt jedoch selbst aporetisch, denn wie kann man Gott loben, wenn man über Gott nicht reden kann? Zwei Jahrzehnte später nimmt Karl Barth in der Gotteslehre seiner Kirchlichen Dogmatik eine implizite Selbstauslegung vor, derzufolge diese, die Gottes-

5 6 7

Erfahrung des allgegenwärtigen Gottes und Barth exklusiv bei der Offenbarung ansetzt, sind bei beiden aber eine mit der Rechtfertigungslehre korrelierende Struktur einer Transformation oder Wandlung des Gebets, besonders hinsichtlich dessen Bittaspekt, zu finden, was ebenfalls bei beiden zum Verweis des Bittenden auf die Gemeinschaft führt, vgl. Hirsch, Der Sinn des Gebets: Fragen und Antworten, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1928, 38, 42ff., 49ff., vgl. auch diese Untersuchung, bes. Kap. II, 6 und Kap. III, 1. Heiler, Das Geheimnis des Gebets, 6. Vgl. ibid. Karl Barth, „Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie‚ (1922), in: Anfänge der dialektische Theologie, hg. v. Jürgen Moltmann, München: Chr. Kaiser Verlag 1962, 199.

1. Die Entzogenheit des Verkehrs Gottes mit dem Menschen

3

erschließung paradox darstellende, doxologische Entzogenheit als erst nachträglich erkannte Erkenntnis entfaltet wird: Weil nach Barth Gott sich nur so erschließt, dass er sich zugleich entzieht, bleibt dem Menschen nur der Lobpreis übrig. Und genau in, mit und unter dem Lobpreis ereignet sich, unverfügbar für den lobenden Menschen, die Erkenntnis des Gott-Mensch-Verkehrs, die die Rede von Gott ermöglicht. Das Perfektum der Gottestat in der objektivierenden Barthschen Darstellung will eben dieser Entzogenheit, die erst nachträgliches Erkennen erlaubt, gerecht werden. Damit wird die Problemstellung aber nur verschoben und nicht gelöst: Denn wenn dem Lobpreis solche Wahrheitsfähigkeit zugeschrieben werden soll, muss er selbst für den lobenden Menschen entzogen bleiben. Von daher muss die folgende Frage gestellt werden: Wie kann die entzogene doxologische Wahrnehmung des Gott-Mensch-Verkehrs stattfinden? Darauf ist in der folgenden Untersuchung der Ausführungen zum Gebet bei Karl Barth einzugehen. Für dieses Thema hat er sich bereits früh interessiert und u. a. eine Reihe von Predigten zum Text des Vaterunser gehalten.8 Zuvor hatte er als theologischer Student Pläne für eine Dissertation über die Lehre vom Gebet nach Schleiermacher, die er jedoch aufgegeben hat.9 Zur eigentlich theologischen Ausführung kommt es somit erst in der Kirchlichen Dogmatik. Die Untersuchung wird sich zum größten Teil mit diesen späten Texten befassen.10

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Safenwil 1911, Karl-Barth-Archiv. Nachdem Barth ins Pfarramt, (in der reformierten Gemeinde in Genf 1909) eingetreten war, ist er nach eigener Aussage von der wissenschaftlichen Theologie etwas entfremdet worden. Vgl. ‛Autobiographische Skizzen Karl Barths aus den Fakultätsalben der Ev.-Theol. Fakultät in Münster (1927)‚: „Die Absicht in Marburg den Lic. Theol. zu erwerben, kam aus inneren und äuβeren Hemmungen nicht zur Ausführung. Der Betrieb der wissenschaftlichen Theologie begann mir, je länger ich zu predigen und zu unterrichten hatte, „irgendwie‚ fremd und rätselhaft zu werden‚, Karl Barth – Rudolf Bultmann Briefwechsel 1922–1966, hg. v. Bernd Jaspert, Zürich: TVZ 1971, 306. Es war ursprünglich die Absicht, teils die frühen Vaterunser-Predigten aus Safenwil und teils die späten Gebete Barths in einem selbständigen Abschnitt der Untersuchung einzubeziehen, um zu überprüfen, inwiefern sein Gebetsverständnis sozusagen sich als praktisch anwendbar erweisen würde. Schließlich haben leider die Zeit und der Umfang der Abhandlung diesem nahe liegenden Vorhaben eine Grenze gesetzt.

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Einleitung

2. Der Horizont der Untersuchung 2.1. Anknüpfung an den Stand der Forschung1 Die Untersuchung nimmt ihren Ausgangspunkt vom aktuellen Stand der Barthforschung. Das Interesse gilt bereits seit einigen Jahrzehnten dem frühen Barth und der Kontinuität der Entwicklung seiner Theologie, was den Widerspruch gegen die schulbildende These Hans Urs von Balthasars, dass Barth mit Fides quaerens intellectum2 sich von der Dialektik verabschiedete, impliziert. Aus dem historischen Abstand betrachtet wird die Kontinuität dieser Entwicklung deutlicher, als sie aus der historischen Nähe sein konnte. Dies betrifft nicht nur die Entwicklung von „dialektischer‚ zu „dogmatischer‚ Theologie, sondern zum Teil auch die Wende weg von der liberalen Theologie, die in der Zeit der Römerbriefkommentare stattgefunden hat. Die paradigmatische Verabschiedung der These Balthasars wurde schon in den sechziger Jahren von Eberhard Jüngel3 und nach 1980 von Ingrid Spieckermann4 und Michael Beintker5 vorbereitet. In der angelsächsischen Barthforschung kündigte Bruce McCormack6 1995 den Paradigmenwechsel an. Sein Anliegen war u. a., die besonders in der amerikanischen Barth-Rezeption verbreitete Ansicht, Barth sei ein neoorthodoxer Theologe, zurückzuweisen.7 Die neueren Barth-Interpre1

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Es wird hier nicht beansprucht, eine umfassende Präsentation der neueren Beiträge zur Barthforschung darzulegen, sondern bloß den näheren Horizont dieser Arbeit zu skizzieren. Karl Barth, Fides quaerens intellectum (1931), hg. v. Eberhard Jüngel und Ingolf U. Dalferth, Zürich: TVZ 1981. Jüngel, Gottes Sein ist im Werden, Tübingen: Mohr Siebeck (1965) 41986. Ingrid Spieckermann, Gotteserkenntnis: Ein Beitrag zur Grundfrage der neuen Theologie Karl Barths, München: Chr. Kaiser 1985. Michael Beintker, Die Dialektik in der ‚dialektischen Theologie‚ Karl Barths: Studien zur Entwicklung der Barthschen Theologie und zur Vorgeschichte der „Kirchlichen Dogmatik‚, München: Chr. Kaiser 1987. Bruce L. McCormack, Karl Barth’s Critically Realistic Dialectical Theology: Its Genesis and Development 1909–1936, New York: Oxford University Press 1995. Diese Ansicht ist nicht nur unter den Barthkritikern zu finden, sondern stellt sich auch in modifizierter Gestalt ein, wo man meint, von den Anliegen und Akzenten der frühen Theologie Barths absehen zu können. Dies scheint mir bei der BarthInterpretation in der theologischen Typologie Hans Freis der Fall zu sein. Mit dem Konzept von Glaubensaussagen erster Ordnung, die die Theologie zweiter Ordnung zu beschreiben und zu analysieren hat, und mit der Definition der Barthschen Theologie als Selbstbeschreibung der glaubenden Gemeinschaft, die in kommunitaristischer Richtung tendiert, wird der Ausgangspunkt Barths – die Betonung der grundsätzliche Entzogenheit Gottes als Vorzeichen für menschliche Rede über Gott – ignoriert. Vgl. Hans W. Frei, Types of Christian Theology, hg. v. George Hunsinger

2. Der Horizont der Untersuchung

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tationen haben damit in der vorliegenden Untersuchung eine indirekte, aber nicht unwichtige Funktion für die Lokalisierung des dialektischen Leitfadens der Theologie Barths. Besonders ist dabei Michael Beintker hervorzuheben, dessen Ergebnisse für die Darstellung der Dialektik Barths im ersten Kapitel der Untersuchung einzubeziehen sind. Vor allem seine Darstellung der Frage-Antwort-Figur beim frühen Barth ist für die Untersuchung hilfreich gewesen. Entscheidender Impuls für den Zugang der Untersuchung ist die von Dietrich Korsch8 ausgearbeitete These der Selbstrezeption Barths gewesen, demnach die frühe dialektische Theologie ihre eigentliche Rezeption in seiner Kirchlichen Dogmatik findet. Übergeordnet gesehen hat Karl Barth demnach mit der dogmatischen Theologie der Kirchlichen Dogmatik eine neue Ausdrucksform für das seine frühe Theologie treibende Anliegen gefunden, dem er damit besser zu entsprechen meinte. Korschs Zugang hat mit diesem Ausgangspunkt ein beträchtliches Deutungspotential hinsichtlich der objektivierenden Sprache des späten Barth. Einige Titel sollen schließlich wegen der thematischen Nähe zur vorliegenden Untersuchung erwähnt werden. Die übergeordnete Leitfigur der Reziprozität hat hinsichtlich ihrer Anwendung auf Barth teilweise einen Vorläufer in der Figur der Gabe, wie sie von Isolde Andrews9 in ihrem Vergleich zwischen Barth und Derrida einbezogen wird. Das Hauptthema, das Gebet nach Karl Barth, ist bereits vor dreißig Jahren Gegenstand der Dissertation von Okko Herlyn10 gewesen. Die Affinität der vorliegenden Untersuchung zur damaligen Interpretation von Herlyn ist mit dem gemeinsamen Text-Material gegeben: Verbindende Momente sind etwa die Betonung von Übergangsfiguren, die Einbeziehung der Offenbarung-Zeugnis-Konstellation und nicht

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u. a., New Haven: Yale University Press 1992, 38–46. Ich stimme insofern die Würdigung von Hans Vium Mikkelsen zu, vgl. Reconciled Humanity: A Constructive Reading of Revelation and Atonement in Karl Barth’s Church Dogmatics, unveröffentlichte Ph.D.-Dissertation der Theologischen Fakultät der Universität Aarhus 2002, 311ff. Dietrich Korsch, ‛Ein großes Mißverständnis: Die Rezeptionsgeschichte der eigentlichen “dialektischen Theologie’ Karl Barths‛ in: Karl Barth in Deutschland (1921–1935). Aufbruch – Klärung – Widerstand: Beiträge zum internationalen Symposion 1. bis 4. Mai in der Johannes-a-Lasco-Bibliothek Emden, hg. v. Michael Beintker u. a., Zürich: TVZ 2005, 347–361; Religionsbegriff und Gottesglaube, Tübingen: Mohr Siebeck 2005. Die These von der Selbstrezeption Barths ist im ersten Kapitel dieser Untersuchung darzuste llen. Isolde Andrews, Deconstructing Barth: A Study of the Complementary Methods in Karl Barth and Jacques Derrida, Frankfurt am Main: Peter Lang 1996. Okko Herlyn, Religion oder Gebet: Karl Barths Bedeutung für ein religionsloses Christentum, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1979.

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Einleitung

zuletzt die Akzentuierung des kritischen Potentials des Gebets. Der Horizont ist jedoch unterschiedlich.11 Schließlich hat Hartmut Ruddies12 auf den Bedarf nach Explizierung des Verhältnisses zwischen Gebet und Handlung hingewiesen, das in der Entscheidung für die Anrufung Gottes als Grundbegriff der Versöhnungsethik Barths zum Tragen kommen soll.

2.2. Anregungen und Zielrichtungen für die Untersuchung Ein Bedarf nach Zwischenbilanzen bei Barth, wie der von Ruddies angezeigte, ist weithin Antrieb der vorliegenden Untersuchung gewesen. Die Verbindung zwischen Gebet und Handlung ist dabei als Teilproblematik innerhalb der übergeordneten fundamentaltheologischen Fragestellung zu behandeln. Karl Barth hat vor und nach seinen dogmatisch-inhaltlichen Ausführungen zum Gebet in der Kirchlichen Dogmatik besonders im Zusammenhang der Begründungsfragen der Theologie vom Gebet gesprochen. Für die vorliegende Untersuchung ergibt sich von daher die leitende Frage nach der fundamentaltheologischen Relevanz des Gebets als eine ihrer Leitfragen. Diese Priorität ist u. a. wegen der zentralen Stellung der Begründungsproblematik in der Theologie Barths nahe gelegt. Die Begründungsproblematik ist im Prinzip Bestandteil seiner Dogmatik und wird deshalb von Barth in dogmatischen Termini dargelegt.13 Die Frage nach der fundamentaltheologischen Relevanz des Gebets ist also nicht von der generellen Frage nach der Bedeutung des Gebets in den materialdogmatischen Strukturen von Erwählung, Schöpfung und Versöhnung zu trennen. Mit der Erschließung des Begründungspotentials des Gebets bei Barth ist am Ende der Darstellung in Kap. III auch die Frage aufzunehmen, warum Barth ausgerechnet das Gebet zum Grundbegriff der Ethik seiner Versöhnungslehre14 gemacht hat. Die Untersuchung der Ausführungen zum Gebet bei Barth im Hinblick auf fundamentaltheologische Fragestellungen bietet die Möglichkeit, die objektivierenden Chiffren der Kirchlichen Dogmatik zu de-

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Eine Darstellung der Interpretation Herlyns ist im ersten Kapitel der Untersuchung zu finden. Hartmut Ruddies, „Anrufung Gottes: Das Gebet als Grundakt des christlichen Lebens bei Karl Barth‚ in: Zeitschrift für dialektische Theologie 2001:1, 8–24. Vgl. KD I/1. Karl Barth, Das christliche Leben: Die Kirchliche Dogmatik IV/4, Fragmente aus dem Nachlass, Vorlesungen 1959–1961, hg. v. Hans-Anton Drewes und Eberhard Jüngel, GA II,7, Zürich: TVZ 31999.

2. Der Horizont der Untersuchung

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chiffrieren und zu ihrer subjektiv-existentiellen Dimension hindurchzugelangen. Eine Anregung der Untersuchung ist somit die aus der Barthlektüre entstehende Unstimmigkeitswahrnehmung angesichts der anscheinenden Abwesenheit dieser Dimension. Es soll beim Aufweis einer solchen Dimension bei Barth selbstverständlich nicht um eine Reduktion der dogmatischen Äußerungen auf einen rein subjektiven Gehalt gehen, sondern um eine Erschließung der Komplexität dieser Äußerungen, deren Bedeutungsgehalt – im Gegensatz zum unmittelbaren Eindruck – auch subjektive Momente umfasst. Es ist somit ein Vorhaben dieser Untersuchung, solche spannungsreichen Konstellationen aufzufinden. Zunächst ist vorläufig festzustellen, dass, um Barth besser zu verstehen, ihm mithin besser gerecht zu werden, Barth notwendigerweise gegen Barth zu lesen ist.

3. Drei Thesen zur fundamentaltheologischen Bedeutung des Gebets bei Karl Barth Die fundamentaltheologische Bedeutung des Gebets für die Theologie Barths wird erst in den spätesten Teilen des Werkes sichtbar. In seinem Entwurf zur Ethik der Versöhnungslehre1 soll das Gebet als Grundbegriff christlichen Lebens gelten, und in einer späten Vorlesung wird es als der „erste und grundlegende Akt theologischer Arbeit‚2 bezeichnet. Die Untersuchung will diese spät entdeckte Bedeutsamkeit im Licht auch der frühen Theologie Barths erschließen. Zu diesem Zweck wird die Untersuchung vor allem den folgenden drei Hauptthesen nachgehen:

3.1. Erste These: Die dialektische Gotteserkenntnis im Gebet Mit der These, dass das Gebet in der Kirchlichen Dogmatik dialektisch entfaltet wird, schließt sich die Untersuchung an das neuere Paradigma in der Barthforschung von der Kontinuität in der theologischen Entwicklung Barths an. Diese Kontinuität soll sich im Zusammenhang des Gebets besonders bei der Einbeziehung der frühen fundamentaltheologischen, dialektischen Figur von Frage und Antwort sich zeigen.3 Zunächst wird dabei vorausgesetzt, dass das Gebet als ein impliziter 1 2 3

Vgl. aaO. Karl Barth, Einführung in die Evangelische Theologie (1962), Zürich: TVZ 31985, 176. Eine Darstellung der Figur ist im ersten Kapitel dieser Untersuchung zu geben.

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Einleitung

Ausdruck dessen, was mit der Frage-Antwort-Figur gemeint ist, fungiert. Damit wird angenommen, dass das Gebetsthema für Barth Möglichkeiten dargeboten hat, den aktualen Vollzug der Gotteserkenntnis auf indirekte Weise und in dogmatischem Rahmen zu entfalten. Hinsichtlich der beim späten Barth festzustellenden fundamentaltheologischen Bedeutung des Gebets wird somit angenommen, dass er immer noch – aber nun in dogmatischem Rahmen – der Dialektik des Elgersburger Vortrags vom „Sollen‚ und „Nicht-Können‚ gerecht werden will.

3.2. Zweite These: Der Existenzvollzug im Gebet Aus der These vom Gebet als Vollzug der Gotteserkenntnis ergibt sich die zweite These, denn demzufolge ist es nahe liegend, nach dem Vollzug der subjektiven, existentiellen Aneignung der göttlichen Selbstgabe zu fragen. Die These ist, dass die Theologie Barths gerade in ihrer objektivierenden Terminologie eine implizite Auffassung religiöser Erfahrung beinhaltet, die nur andeutungsweise Ausdruck findet. Es wird mit dieser These angenommen, dass das Thema Gebet besonders geeignet ist, die implizite Auffassung von der existentiellen Aneignung der göttlichen Selbstgabe bei Barth zu erschließen. Im Rahmen einer Darstellung der Ausführungen zum Gebet in der Kirchlichen Dogmatik sind Erschließungsmöglichkeiten bei folgenden spannungsreichen Konstellationen zu lokalisieren: – Im Verhältnis zwischen Christologie und Pneumatologie. – In der Grundstruktur des Übergangs, teils in ihrer christologischen Grundform als Übergang vom Tod zur Auferstehung und teils in ihrer soteriologischen Grundform als Übergang vom alten zum neuen Menschen. – Im Zusammenhang der chiffrenhaften Termini, die in einer dialektischen Spannung zwischen Unbedingtheit und Entzogenheit den Existenzvollzug des erneuerten Menschen bezeichnen, besonders Gehorsam und Glaube bzw. Gewissheit.4

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Es gibt bei Barth Begriffe, die mit einem komplexen fundamentaltheologischen Aneignungsgefüge umschrieben werden können und müssen; wenn man das nicht tut, reduzieren sie sich für den Leser auf ihre Signalfunktion in den Oberflächenstrukturen der Barthschen Theologie. Dies trifft beim Gehorsam und beim Glauben zu (und übrigens auch beim Gesetz und Evangelium, die in der Untersuchung beiläufig aufzunehmen sind).

3. Drei Thesen



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Bei Signalen der Betroffenheit, die als wahrnehmbare Zeichen dieser Existenzvollzüge zum Tragen kommen sollen (u. a. Verwunderung, Freude, Mut).

3.3. Dritte These: Der blinde Fleck in der Theologie Barths Mit dieser These ist schließlich auch ihre methodologische Implikation zu erwähnen, nämlich das konsequente Verbergen des Moments existentieller Aneignung in den objektivierenden Ausführungen Karl Barths. Es ist die These, dass Barth demjenigen Moment subjektiver Aneignung, das er ausdrücklich verneint, aber dabei eigentlich nur verbirgt, gerade so gerecht werden will. Damit wird die objektivierende Terminologie als implizite Strategie einer Darstellung der ebenso impliziten Wahrnehmungsstrukturen gedeutet. Explizit wird das bei Barth mit seiner Beschreibung der Theologie als Zeugnis angedeutet: Soll die theologische Arbeit als menschliche Entsprechung zur göttlichen Selbsterschließung stattfinden – geschieht sie also im Vollzug der existentiellen Aneignung der göttlichen Selbstgabe – dann bleibt der existentielle Vollzug ebenso wie der Vollzug göttlicher Selbsterschließung für sie entzogen. Mit dem Aufweis dieses blinden Fleckes in der Theologie Barths sind sowohl ihre Stärken als auch ihre Schwächen zu diagnostizieren.

4. Ausarbeitung 4.1. Der Zugang Der Zugang der Untersuchung zur Theologie Barths ist in expliziter und impliziter Anlehnung an Dietrich Korsch ausgearbeitet worden: – Die Untersuchung geschieht in explizitem Anschluss an seine These der Selbstrezeption Barths, demnach die dialektische Theologie ihre eigentliche Rezeption in seiner Kirchlichen Dogmatik findet. – Die Annäherung an die Theologie Barths geschieht darüber hinaus in Anlehnung an den konsequent aktualistischen Zugang1, den Korsch in seiner Barthinterpretation verwendet. 1

Mit „Aktualismus‚ ist nicht gemeint, dass die Aktualität des religiösen Vollzugs sich jeder begrifflichen Artikulation entzieht. Diese soll jedoch entscheidend die Dynamik des zu Begreifenden berücksichtigen können.

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Einleitung



In Zusammenhang mit den methodologischen Konsequenzen des aktualistischen Zugangs ist besonders die funktionalhermeneutische Deutung bei Korsch als Inspiration für die vorliegende Untersuchung zu erwähnen.

Dieser Zugang bedeutet zunächst, auf der Inhaltsebene, dass der Figur der Überwindung (bzw. der Figur des sich durchsetzenden göttlichen Vollzugs, der in seiner Verwirklichung einen entsprechenden menschlichen Vollzug bewirkt) der Vorrang gegeben werden muss. Dabei werden solche Unstimmigkeiten abgewehrt, die sich zum Beispiel bei chalcedonensisch argumentierenden Barthinterpretationen einfinden, bei denen essentialisierende Wahrnehmungen schließlich nicht zu verhindern sind.2 Auf methodischer Ebene hat der aktualistische Zugang zur Folge, dass der implizite Bezug auf religiöse Erfahrung in der Theologie Barths viel einsichtiger wird. Der vordergründig entstehende und öfters zu Kritik veranlassende Eindruck, dass die Barthsche Offenbarungstheologie letztendlich auf zwei getrennte Wirklichkeitsbereiche hinausläuft, wird damit von der Einsicht überholt, dass Gotteserkenntnis nach Barth weithin von Entzogenheitswahrnehmung bestimmt ist. In dieser Optik bedeutet dies, dass Entzogenheit nicht nur dogmatisch den Unterschied zwischen Gott und Mensch beschreibt, sondern zugleich ein Wesenszug religiöser Erfahrung ist. Damit ist eine, die existentielle Dialektik der subjektiven Aneignung berücksichtigende, Bestimmung von Entzogenheit und Bezogensein nahe gelegt, die beides möglichst eng verbindet. Wenn Die kirchliche Dogmatik als Hermeneutik ausgelegt wird, dann sind mit den dogmatischen Inhaltsstrukturen zugleich zwischen den Zeilen Verstehensstrukturen angezeigt. Das bedeutet wiederum, dass die dogmatische Terminologie der KD sich im Hinblick auf ihren impliziten Gehalt existentieller Aneignung als stillschweigender Implikation der Gotteserkenntnis dechiffrieren lässt. Wörter wie „Gewissheit‚, „Gehorsam‚, „Freiheit‚ sind demnach Chiffren, die Verstehensmomente implizieren und diesbezüglich ausgelegt werden können. Damit erschließen sich gewissermaßen die Zwischenschritte für maßgebende hermeneutische Barthinterpretationen wie z. B. die Beiträge von Eber2

So gerät etwa George Hunsinger aus darstellungstechnischen Gründen – trotz aller Betonung des Aktualismus als übergeordneten Prinzips – in die Statik eines Schubladensystems. Weil die Implikationen des Aktualismus für den „Objektivismus‚ nicht genügend berücksichtigt werden, läuft der Aktualismus in seiner Barthdarstellung schließlich auf eine Anzeige des Wundercharakters der göttlichen Selbstgabe hinaus. Dabei gerät er nicht über die Wiederholung der religiösen Terminologie Barths hinaus. Mithin kann er die signalhafte Barthsche Rede vom „Wunder‚ ebenfalls nur signalhaft erschließen. George Hunsinger, How to Read Karl Barth. The Shape of his Theology (1991), New York: Oxford University Press 21993.

4. Ausarbeitung

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hard Jüngel. Es kann somit angezeigt werden, wie Barth über Barth hinaus gedeutet werden kann.

4.2. Die Verwendung der Leitfigur der Reziprozität Die Ausarbeitung der Thesen der Abhandlung geschieht weithin mit Hilfe einer für die Untersuchung aufschlussreichen Leitfigur. Die Figur der Reziprozität wird verwendet, um die Dialektik von Entzogenheit und Bezogensein im Verkehr zwischen Gott und Mensch zu erschließen, und damit auch fundamentaltheologische Einsichten zu eröffnen. Eine Ausarbeitung der Figur ist in der Einleitung zum zweiten Kapitel vorzunehmen. Zunächst ist bloß auf die der Reziprozitätsfigur innewohnende Spannung, wie sie bei Barth vorzufinden ist, hinzuweisen. Denn hier wird anscheinend zugleich eine starke Einseitigkeit des göttlichen Handelns vorgeführt und eine Art Gegenseitigkeit des menschlichen Handelns als Entsprechung entfaltet. Die sich von daher ergebende Leitfrage lautet in aller Kürze: Wie einseitig ist das göttliche Handeln? Wie ist die eventuelle Gegenseitigkeit der menschlichen Entsprechung auszulegen? Die Einbeziehung des Sozialanthropologen Pierre Bourdieu3 geschieht heuristisch, um die Dilemmata der reziproken Figur zu lokalisieren und um diesbezügliche Erkenntnisse hervorzurufen. Es wird nicht beansprucht, seine Ergebnisse oder anthropologischen Methoden ausführlich darzustellen, jedoch ist vom Perspektivenunterschied zwischen Barth und Bourdieu (d. h. von ihrer gegensätzlichen Bevorzugung der Teilnehmerperspektive und der Beobachterperspektive) ein Erschließungspotential zu erwarten.4 Indes sind auch Affinitäten zwischen den beiden wahrzunehmen: Bourdieu – der Außenseiter, der sich mit dem Strukturalismus auseinandersetzt und die universitäre Elite Frankreichs zum Gegenstand seiner Forschung macht – hat grundsätzlich einen Blick für praktische Ambivalenzen, die sich in dialektische 3

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Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft: Zur Theorie des Handelns , übers. v. Hella Beister (edition suhrkampf NF1985), Frankfurt am Main: Suhrkampf Verlag 1998; ‚Marginalia – Some Additional Notes on the Gift‛ in The Logic of the Gift: Towards an Ethic of Generosity, hg. v. Alan D. Schrift. New York: 1997, 231–241. Die Problemstellung des Perspektivenunterschieds wird die Einbeziehung von Pierre Bourdieu begleiten und ist schließlich nochmals in der Konklusion aufzunehmen. Die Entscheidung, diese Problemstellung zu thematisieren, ist zum Teil vom Perspektivismus bei Ingolf U. Dalferth inspiriert, vgl. dazu Dalferth, Gedeutete Gegenwart: Zur Wahrnehmung Gottes in den Erfahrungen der Zeit, Tübingen: Mohr Siebeck 1997, 23ff., 87–93; ‛Umsonst: Vom Schenken, Geben und Bekommen‛ in: Studia Theologica 59, 2005.

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Einleitung

Gedankenstrukturen umsetzen lassen. Deshalb ist die Ambivalenz des Gabentausches bei Bourdieu als ein Bezugsmoment zu verwenden, das die Dialektik von Reziprozität und Gabe bei Barth zu erschließen verhelfen kann. Einen anderen Charakter hat die Einbeziehung von Jacques Derrida5, der im dritten Kapitel zum Vergleich mit Barth einzubeziehen ist. Es geht in diesem Vergleich um den Verweis auf die auffälligen Parallelen zwischen der Dekonstruktion der Gabe bei Derrida und der Dialektik der Gabe bei Barth: Nach beiden muss die Gabe, um reine Gabe zu sein, verschwinden und sich für die Wahrnehmung entziehen. Der Vergleich ist damit für einige eigenartige Züge der Kirchlichen Dogmatik Barths, z. B. die christologische Exklusivität und der soteriologische Universalismus, aufschlussreich.

4.3. Darstellungstechnik und Literaturbehandlung Die Untersuchung ist hauptsächlich als interpretierende Analyse der wichtigsten Textbestände zum Gebet in der Kirchlichen Dogmatik auszuarbeiten. Es geht weithin darum, die dogmatischen Ausführungen bei Barth hinsichtlich ihres impliziten, nur signalhaft angedeuteten Gehalts religiöser Erfahrung zu deuten. Die objektivierenden Termini sind dabei als komplexe Chiffren für den entzogenen, reziproken Vollzug des Gott-Mensch-Verkehrs zu erschließen. Diese Übersetzungsarbeit muss u. a. den suggestiven Charakter der theologischen Sprache Barths berücksichtigen. Beim Umgang mit Zitaten ist somit beabsichtigt, die zu deutenden Textfragmente in die Darstellung zu integrieren, ohne sie darin verschwinden zu lassen. Deshalb werden auch kleinere Zitate im Text hervorgehoben; der eventuelle Verlust der Flüssigkeit des Lesens wird dabei in Kauf genommen. Der aktualistische Zugang hat methodische Konsequenzen. Nicht Begriffe, sondern vor allem Vollzüge und Bewegungsstrukturen sind zu erschließen. Konkret wird z. B. weithin vermieden, die Entfaltungen der zentralen Figuren auf fixe Begriffsbestimmungen hinauslaufen zu lassen; stattdessen ist die Vollzugslogik zu explizieren und zu artikulieren.6 Ebenso werden essentialisierende Veranschaulichungen vermie-

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Jacques Derrida, Falschgeld: Zeit geben I, übers. v. Andreas Knop und Michael Wetzel, München: Fink 1993. Der aktualistische Zugang bedeutet also nicht, dass man auf begriffliche Artikulation verzichten muss, vgl. Fußnote 1, Seite 9. Eine derartige Auffassung vom Aktua-

4. Ausarbeitung

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den. Barths eigene Bestimmungen können gelegentlich zu solchen essentialisierenden Wahrnehmungen veranlassen; dies betrifft nicht zuletzt die Bestimmung der Bitte als Mitte des Gebets, die bereits Interpreten in Aporien geführt hat.7 Soll sie nämlich buchstäblich genommen werden, wird es schwierig, etwa das Lob oder die Klage ohne schematisierende Subordination ins Gebet einzugliedern. Dann entsteht leicht der Eindruck, dass das Gespräch zwischen Gott und Mensch nach Barth auf die Bitte beschränkt worden ist.8 Versucht man stattdessen die Vollzugslogik der Zentralstellung der Bitte zu erschließen, können solche Sackgassen vermieden werden.

4.4. Aufbau Die Bearbeitung der Haupttexte9 für die Untersuchung findet im zweiten und dritten Kapitel statt. Zuerst wird jedoch im ersten Kapitel eine einleitende Darstellung der Bedeutung des Gebets in den Begründungszusammenhängen und der Dialektik der Theologie Karl Barths vorgenommen. Ihr Zweck ist es, einen Überblick über die Gesamtentwicklung der Theologie Barths zu schaffen und gleichzeitig eine Präzisierung der, für die folgende Untersuchung geltend zu machenden, Hauptfragestellungen vorzunehmen. Das zweite Kapitel untersucht das Verhältnis zwischen Gebet und Erhörung. Es werden hier die grundlegenden Leitfragen erörtert und zentrale Passagen in den Haupttexten ausführlich bearbeitet, mit dem Zweck, implizite reziproke Strukturen im Gebetsvollzug festzustellen. Zu den entscheidenden Ergebnissen kommt es im abschließenden Abschnitt zur Transformation des Gebets, der gleichzeitig als Grundlage für die weitere Erörterung im dritten Kapitel fungiert. Im dritten Kapitel wird eine Erweiterung des Problemfelds durch die Einbeziehung der Offenbarung-Zeugnis-Konstellation vorgenommen. Zunächst wird das Verhältnis von Gebet und Zeugnis anhand der Haupttexte zum Gebet dargestellt. Danach wird in zwei mittleren Abschnitten eine extensive Darstellung größerer Teile des dritten Bands der Versöhnungslehre Barths vorgenommen. Dies geschieht, um die im

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lismus würde schließlich die Darstellung auf eine Wiederholung der Barthschen Aufstellungen reduzieren. Z. B. Daniel Migliore, „Freedom to Pray: Karl Barth’s Theology of Prayer‚, in: Spirituality and Theology: Essays in Honor of Diogenes Allen, hg. v. Eric O. Springsted, Louisville: Westminster John Knox Press 1998, 112–123. Vgl. z. B. Vincent Brümmer, Was tun wir, wenn wir beten?: Eine philosophische Untersuchung, Marburg: N.G. Elwert Verlag 1985, 13. KD III/3 und 4, und Das christliche Leben.

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Einleitung

zweiten Teil entfalteten Vollzugsstrukturen zu präzisieren, wie einen übergeordneten christologischen und soteriologischen Horizont für den abschließenden Abschnitt zu schaffen. Hier wird im Licht der erreichten Ergebnisse die späte Entscheidung Barths für das Gebet als Grundbegriff für die Versöhnungsethik und seine Bezeichnung des Gebets als Grundakt theologischer Arbeit eingehend gewürdigt.

I. Das begründende Fragen. Gebet und Dialektik in der theologischen Entwicklung Karl Barths. Ein vorbereitender Überblick

1. Die Bedeutung des Gebets für die Begründung der Theologie bei Karl Barth Der Frage nach der fundamentaltheologischen Bedeutung des Gebets ist zunächst mit einer übergeordneten Darstellung der Rolle des Gebets in Begründungsfragen bei Barth anzunähern. Eine Entwicklung über eine Zeitspanne von vierzig Jahren vom Elgersburger Vortrag von 19221 bis zur Einführung in die Evangelische Theologie von 19622 ist zu skizzieren. Es sind die Göttinger Dogmatik3, Die Christliche Dogmatik im Entwurf 4 und Fides quaerens intellectum5 aufzunehmen. Damit sollen zugleich einige Grundzüge der Barthschen Theologie angedeutet werden. Die Darstellung hat außerdem die Funktion, einen vorläufigen Überblick über die theologische Entwicklung Barths zu präsentieren und dadurch auch ihre Kontinuität zu würdigen. Ein Thema, das sich in diesem Zusammenhang wiederholen wird, ist die Frage von der Gegenständlichkeit Gottes in der Theologie. Bei der Leitfrage nach der fundamentaltheologischen Relevanz des Gebets geht es auch um den Charakter dieser Gegenständlichkeit und um ihre gegenseitige Einwirkung auf einander. Dabei wird die Frage nach der Kontinuität der Theologie Barths virulent. Der Gedanke von der Gegenständlichkeit Gottes entwickelt sich bei Barth im Zusammenhang mit seiner Beschäftigung mit Anselm von Canterbury. 6 Bei dem frühen Barth dagegen wird die dialektische Methode der Gegenständlichkeit der dogmatischen Methode als Korrektiv gegenübergestellt.7 Bedeutet das Anselmbuch daher eine Verabschiedung von der Dialektik? Oder wird die Dialektik beibehalten und die Gegenständlichkeitsterminolo1

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Karl Barth, „Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie‚ (1922), in: Anfänge der dialektische Theologie, hg. v. Jürgen Moltmann, München: Chr. Kaiser Verlag 1962, 197–218. Karl Barth, Einführung in die evangelische Theologie (1962), Zürich: TVZ 31985. Vgl. Karl Barth, Unterricht in der christlichen Religion, Erster Band, Prolegomena (1924), hg. v. Hannelotte Reiffen, GA II,8, Zürich: TVZ 1985. Vgl. Karl Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf. Erster Band: Die Lehre vom Worte Gottes (1927), hg. v. Gerhard Sauter, GA II, 14, Zürich: TVZ 1982. Karl Barth, Fides quaerens intellectum (1931), hg. v. Eberhard Jüngel und Ingolf U. Dalferth, Zürich: TVZ 1981. Vgl. Michael Beintker, Die Dialektik in der „dialektischen Theologie‚ Karl Barths: Studien zur Entwicklung der Barthschen Theologie und zur Vorgeschichte der „Kirchlichen Dogmatik‚, München: Chr. Kaiser Verlag 1987, 191 ff. „Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie‚, 212ff.

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I. Das begründende Fragen

gie dialektisch transformiert – nämlich in die Richtung eines Sich-gegenständlich-Machens Gottes, womit Gott sich nur so erschließt, dass er sich zugleich entzieht? Folgt man den Ergebnissen der neueren Barthforschung8, ist die Kontinuität der Theologie Barths hervorzuheben. Das frühe Verständnis von der Theologie als Theologiekritik würde dann gerade durch die Betonung der Gegenständlichkeit Gottes zum Tragen kommen. Bei der Untersuchung der Bedeutung des Gebets für die Theologie Barths ist aus diesem Grunde gleichzeitig nach seiner Bedeutung für diese Dialektik zu fragen. In und mit diesen übergeordneten Fragestellungen bleibt auch der Charakter des Gebets als solches ein Thema. Zu untersuchen ist nicht nur, wie das Gebet nach Barth zu verstehen und im Gefüge des theologischen Gehalts zu verorten ist. Es ist auch zu erschließen, wie das Gebetsthema seinen theologischen Zusammenhang, in dem es verortet worden ist, bzw. die theologische Position Barths beeinflusst, und wie damit unerwartete Implikationen dieser Position ins Licht gerückt werden können.

1.1. Theologie als Fragezeichen und Theologie als Lehre: Ansätze zur Entdeckung der fundamentaltheologischen Signifikanz des Gebets Die im Anselmbuch zu findende explizite Funktion des Gebets als Bedingung und Voraussetzung für das theologische Verstehen ist in den 20er Jahren in Vorbereitung gewesen. Als Professor in Göttingen entschloss Karl Barth sich 1924 zum ersten Mal, eine eigene Dogmatik zu lesen. Im einleitenden Teil der Vorlesungsreihe stellt er einige Überlegungen zum grundlegenden Problem der Dogmatik an und bemerkt dabei: „Es hat wahrhaftig Sinn, daß Thomas von Aquino an die Spitze seiner Summa Theologica ein Gebet gesetzt hat‚,

denn die Dogmatik ist ein „lebensgefährliches Unternehmen‚9.

Die Rede vom Gebet fungiert hier als Signal für die akute Wahrnehmung der Begründungsproblematik. Barth kombiniert den Gedanken

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Neben dem oben erwähnten Entwurf von Michael Beintker geht es z. B. um: Bruce L. McCormack, Karl Barth’s Critically Realistic Dialectical Theology: Its Genesis and Development 1909–1936, Oxford: Oxford University Press 1995; Dietrich Korsch, Dialektische Theologie nach Karl Barth, Tübingen: Mohr 1996. Unterricht I, 3.

1. Die Bedeutung des Gebets für die Begründung der Theologie

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der Grundlagenkrisis der Dogmatik als solche mit einer Gegenwartsdeutung, die besonders die Selbstverständlichkeitsverluste der Kirche als tragende kollektive Größe10 und der christlichen Existenz im „Umgang mit Gott‚ vor Augen hat.11 Was aber darüber hinaus die Grundlagenkrisis konstituiert, ist die Frage nach dem Selbstbezug des Theologen, die sich einfindet, egal ob man als „Betrachter‚ oder „Praktikus‚ Theologie treibt: „Was willst du nun sagen? < Und: Was willst du sagen? ... Wohl zu bedenken, daß es sich darum handelt, “irgendwie’ von Gott zu reden‚ 12.

Barth stellt den Theologiestudierenden die Beunruhigung und die Unsicherheit hinsichtlich dessen, „ob man nicht heimlich schon Bankerott gemacht hat‚13,

als den dauerhaften Zustand der Theologie vor Augen. Die Begründungsproblematik wird damit in der Gestalt einer persönlichen Gotteskrisis dargelegt, der gegenüber das Gebet der Ausweg sein soll und die es zugleich zu bestätigen hat. Die Problemstellung ähnelt in einigen Hinsichten derjenigen des Vortrags „Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie‚, den Barth zwei Jahre zuvor auf der Versammlung der „Freunde der Christlichen Welt‚ in Elgersburg gehalten hatte. Hier stellt Barth zum ersten Mal methodologische Überlegungen an.14 Er charakterisiert mit programmatischer Zuspitzung die Situation der Theologie: „Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben‚15.

Es wird hier zwar nichts Explizites vom Gebet gesagt, und erst recht nicht, dass es eine Bedingung der Theologie sei. Aber gegenüber der Aporie des Sollens und des Nicht-Könnens wird nachdem jedem Ausweg die Endgültigkeit abgestritten worden ist die Doxologie als Lösung einbezogen, die keine Lösung ist oder sein will. Die Doxologie 10 11

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D. h. eine Kirche „die nicht wir zu bauen und zu tragen haben, sondern die uns baut und trägt‚, aaO., 4. Ibid. Barth hat durchaus auch die Konsequenzen dieser Unselbstverständlichkeit für die Dogmatik vor Augen: „Ist nicht schon das Wort „Dogmatik‚ ominös, ein Popanz, der mit den Kindern der Welt auch den Kindern des Lichts fast nur noch Schrecken einflößt? Denkt man nicht unwillkürlich an finstere, muffige Perücken des 17. Jahrhunderts auf der einen, an kopfschüttelnde Naturwissenschaftler auf der anderen Seite?‚, aaO., 5. AaO., 6. Barth expliziert jedoch nicht den Zusammenhang zwischen dem Reden von Gott und dem Reden zu Gott. AaO., 7. Vgl. auch McCormack, 307. „Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie‚, 199.

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I. Das begründende Fragen

scheint in diesem Text als Bejahung der Ausweglosigkeit im Sinne einer Anerkennung der eigenen diesbezüglichen Begrenzung zu funktionieren. Es geht aber nicht darum, dass man wegen der Ausweglosigkeit der Theologie besser stehen bleibt, als sich weiterzubewegen. Das Reden-Sollen ist mit dem Fragen der Menschen nach Gott und mit der entsprechenden Erwartung an den Theologen begründet.16 Der Vortrag präsentiert diesbezüglich drei mögliche „Wege‚, die allerdings einander aufheben: Den dogmatischen Weg hält Barth zwar für den angemessenen Zugang zum Thema der Theologie (welches nach dem Elgersburger Vortrag die Menschwerdung Gottes ist), jedoch droht hier zugleich die Vergegenständlichung des Inhalts. Der dogmatische Weg wird deshalb durch den kritisch-mystischen Weg aufgehoben. Der Negation des Menschen, die sich hier vollzieht, stimmt Barth zu, schließlich trifft aber die theologische Selbstkritik auch den kritischen Weg. Denn wo beim dogmatischen Typus die Gefahr besteht, dass „die Frage des Menschen nach Gott durch die Antwort einfach niedergeschlagen wird‚17,

wird von der kritischen Theologie her dem fragenden Menschen eigentlich nur das „Fragezeichen irgendwie riesengroß‚18

gemacht. Gegenüber dieser unbalancierten Frage-Antwortfigur ergibt sich die Herausforderung, Frage und Antwort ins richtige Spannungsverhältnis zu bringen.19 Die dritte Möglichkeit, der dialektische Weg, besteht somit darin, die beiden anderen Wege, Position und Negation, aufeinander zu beziehen und einander aufheben zu lassen; damit ist er ihnen überlegen. Zur Synthese kommt es jedoch nicht: Die Mitte – die Menschwerdung Gottes – bleibt unanschaulich.20 Die Möglichkeit, von Gott zu reden, ist somit auch der dialektischen Theologie entzogen; um richtig zu fragen und zu antworten, bleibt sie darauf angewiesen, dass Gott dies selber tut. Trotz – oder gerade wegen – der Überlegenheit der dialektischen Theologie den beiden anderen theologischen Wegen gegenüber kommen nun auch ihre Schwachstellen zum Vorschein: Im Blick auf ihren 16 17 18 19

20

Vgl. bes. aaO., 200ff. AaO., 209. AaO., 211. Die dialektische Frage-Antwort-Figur ist im Elgersburger Vortrag noch nicht so ausgearbeitet, wie es später, etwa in der Christlichen Dogmatik im Entwurf der Fall ist. Ich deute hier die Problematik nur an; sie ist im Folgenden (Kap. I, 2.2.) etwas ausführlicher aufzugreifen. Vgl. „Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie‚, 212.

1. Die Bedeutung des Gebets für die Begründung der Theologie

21

Inhalt ist dialektische Theologie von einer potenzierten Wahrnehmung der Abwesenheit geprägt.21 Schließlich hebt sie im Wissen um die ihr innewohnenden Aporien sich selbst auf, und das ist genau der Punkt, an dem die Doxologie eingeführt wird.22 Nachdem Barth also seinen Zuhörern die Aussichtslosigkeit der Theologie vor Augen geführt hat, wird es ihnen empfohlen, Gott die Ehre zu geben. Und so bleibt es bis zum Ende des Vortrags bei einer Aporie. Es wird zwar einerseits angesichts der Bedrängnis auf die Verheißung gehofft, dass das Reden des Theologen ein „Gefäß des Wortes Gottes‚23 sein könnte. Andererseits wird aber die Frage gestellt, „[o]b die Theologie über die Prolegomena zur Christologie je hinauskommen kann und soll? Es könnte ja auch sein, daß mit den Prolegomenen Alles gesagt ist.‚24

Die Doxologie dient hier dazu, den Charakter der Theologie als permanente Theologiekritik festzulegen, wobei sie zugleich eine Möglichkeit aktualistischen Hinweises anzeigt. Damit wird ein Zusammenhang von religiöser Äußerung und Begründungsproblematik angedeutet, allerdings in dem sehr expressiven Stil dieses Vortrags, der die Theoretisierbarkeit jenes Zusammenhangs erschweren würde. 25 Insofern geht es im Vortrag immer noch um dasselbe Verständnis der Theologie als Korrektiv und als Schriftauslegung wie im zweiten Römerbrief Barths.26 Charakteristisch für diese Auffassung ist dort die Identifikation der Aufgabe der Theologie mit der Aufgabe der Verkündigung.27 Aber mit der Berufung Barths nach Göttingen 1922 fängt insofern eine neue Phase an, als Barth sich hier veranlasst sieht, über den universitären Charakter der Theologie zu reflektieren und einen neuen Stil auszuarbeiten.28 Es geht nicht nur darum, die Rolle der Theologie an der Universität zu bedenken (wie Barth es ansatzweise im Elgersburger Vortrag tut, indem er der Theologie die Funktion eines Fragezeichens zukommen lässt, damit aber nur durch die explizite, prinzipielle Art 21 22 23 24 25 26

27 28

Vgl. aaO., 215. Vgl. aaO., 216. AaO., 218. Ibid. Vgl. auch Beintker, 139f. Vgl. z. B. Karl Barth, Der Römerbrief 1922, Zürich: TVZ 151989, 471: „Die Heilsbotschaft von Christus, das Wort Gottes als „Lehre‚?! Theologie als Wissenschaft?! Wir meinen die Fragezeichen zu kennen, die hier zu setzen sind. Wir setzen sie mit.‚ Vgl. Beintker, 141. Eberhard Jüngel, „Von der Dialektik zur Analogie: Die Schule Kierkegaards und der Einspruch Petersons‚ in: Ds. Barth-Studien, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Mohn 1982, 128.

22

I. Das begründende Fragen

der Bestimmung über die Auffassung des Römerbriefs hinauskommt). Sondern es geht für Barth auch um eine Transformation seiner Theologie zu einer lernbaren Gestalt.29 Indem diese Lehre weithin (mit Hinblick auf die Verkündigung) um die Begründungsproblematik zwischen Hinweis und Verneinung der Hinweisfähigkeit kreist, behält sie – im Gegensatz zur Statik des dogmatischen Wegs des Elgersburger Vortrags – Vollzugscharakter.30 Der Unterschied zwischen der Lehre und der Verkündigung als religiösem Vollzug bleibt dann nur pragmatisch.31 Beim Übergang zur Theologie als Lehre, die einerseits mit der Dogmatik gleichzusetzen ist, wird andererseits die Dialektik des Elgersburger Vortrags beibehalten.32 Man begegnet nun am Anfang der Prolegomena der Göttinger Dogmatikvorlesung dem Gebet – wenn auch nur ansatzweise – in einer neuen, grundsätzlichen Rolle. Gegenüber der Doxologie im Elgersburger Vortrag, die schlicht die unendliche Selbstaufhebung der dialektischen Theologie festlegen sollte, hat das Gebet bei aller vergleichbaren Betonung der Not und der Beunru29 30

31

32

Vgl. Georg Pfleiderer, Karl Barths praktische Theologie, Tübingen: Mohr Siebeck 2000, 389f. und Beintker, 141f. Vgl. Beintker 143: „Lehre realisiert sich eher im Lernen als im Aufstellen von fertigen ´ viel mehr als eine doctrina’.‚ Vgl. auch Barth, „ReformierUrteilen, ist “eine te Lehre, ihr Wesen und ihre Aufgabe‚ (1923) in Das Wort Gottes und die Theologie: Gesammelte Vorträge, München: Chr. Kaiser 1924, 190. Barth hat später den Charakter seiner Theologie in einem Interview so beschrieben: „Meine ganze Theologie, wissen Sie, ist im Grunde eine Theologie für Pfarrer. Sie ist herausgewachsen aus meiner eigenen Situation, wo ich unterrichten, predigen und ein wenig Seelsorge üben mußte‚, Letzte Zeugnisse, Zürich: EVZ 1969, 19. Vgl. Beintker, 141f. Der Charakter dieser Differenz kommt auch in dem offenen Briefwechsel Barths mit Adolf von Harnack von 1923 zum Ausdruck, vgl.: „Ein Briefwechsel zwischen Karl Barth und Adolf von Harnack‚ in: Anfänge der dialektische Theologie, hg. v. Jürgen Moltmann, München: Chr. Kaiser 1962, 323–347. In seiner Antwort an von Harnacks „Fünfzehn Fragen an die Verächter der wissenschaftlichen Theologie unter den Theologen‚ bleibt Barth programmatisch bei seiner Ineinssetzung von der „Aufgabe der Theologie ... mit der Aufgabe der Predigt‚ (336); er will jedoch eine unprinzipielle, pragmatische Unterscheidung zwischen beiden festhalten: „Ist ... dies „Wort‚ *„des Christus‚+ wiederzugeben die Aufgabe des Predigers, so ist dies auch die des (mit jenem in mindestens virtueller Personalunion befindlichen) Theologen. Die taktisch-praktischen Verschiedenheiten der Ausführung sind selbstverständlich und ebenso, daß Einiges auf das Katheder gehört, was auf der Kanzel unterbleiben kann und umgekehrt‚ (ibid). Vgl. Beintker, „Von dieser Argumentation her *d. h. in „Wort Gottes‚+ eröffnet sich die Möglichkeit, auch den dogmatischen Weg der Theologie als taugliches Mittel des Denkens neu zu entdecken, also unverkrampft einen Weg zu wählen, der zeitweilig im Schatten der Dialektik lag. Dabei wäre allerdings das von der Erprobung der Dialektik her sensibilisierte Bewußtsein aufrechtzuerhalten, daß sich auch der dogmatische Weg nur als Prolegomenon und Hinweis für das Gott selbst vorbehaltene Ereignis der Wahrheit verstehen kann‚, Beintker, 130.

1. Die Bedeutung des Gebets für die Begründung der Theologie

23

higung der Theologie hier eine unterschiedliche Funktion. Diese Funktion ist im Folgenden durch eine Darstellung exemplarischer Stellen aus den verschiedenen dogmatischen Entwürfen Barths aufzuweisen.

1.2. Gebet und Dialektik auf dem Weg zur Kirchlichen Dogmatik 1.2.1. Die Göttinger Dogmatikvorlesungen und Die christliche Dogmatik im Entwurf Barths Betonung des Gebets in der Einleitung zu den Prolegomena der Göttinger Dogmatik wurde bereits besprochen. Die Situation der Theologie wurde dort als mühevoll, riskant und deshalb auch als verantwortungsvoll charakterisiert. Mit dieser Einleitung hat Barth signalhaft die fundamentaltheologische Grundfrage des Elgersburger Vortrags zum Vorzeichen seiner Dogmatik gemacht. Die diesbezügliche Notwendigkeit des Gebets hat er an dieser Stelle nur angedeutet und nicht expliziert. Das wird ansatzweise an einigen Stellen im ersten Kapitel der Prolegomena, „Das Wort Gottes als Offenbarung‚ getan. Diese Ansätze sind nun in einigen Punkten darzustellen: Zum ersten geht es um die erkenntnistheoretisch gefasste Relation zwischen der Bitte und dem Eintreten Gottes für den Menschen.33 Die Erörterung findet im breiteren Kontext der trinitarischen Selbsterschließung Gottes als Bedingung der Gotteserkenntnis statt. Gott soll hier sowohl Subjekt als auch Objekt der Gotteserkenntnis sein.34 Das heißt, die Gotteserkenntnis ist dadurch bedingt, dass Gott selbsterschließend für den Menschen eintritt. Barth will die ausschließliche Verursachung der Gotteserkenntnis durch Gott betonen und jeden Verdacht des Synergismus durch Vorstellungen von einer „Ausgestaltung des Menschen und seiner Lage‚35 vermeiden. Die Selbstmitteilung Gottes ist durch den Geist vermittelt, und das entsprechende menschliche Tun ist das Gebet um das stellvertretende Eintreten des Geistes: „Wer im Geist vor Gott steht, der kann nur beten; er meint also gerade nicht, schon etwas zu sein, zu haben, zu tun, zu besitzen; beten heißt gar nichts haben, Alles suchen müssen; beten kann man nur wie der Zöllner im Tempel: von ferne. ... Man weiß, daß man um das reine Herz, um den neuen, gewissen Menschengeist ... immer nur beten kann‚36

33 34 35 36

In § 4 „Der Mensch und seine Frage‚. Vgl. Unterricht I, 155: Auch in dem „Vernehmen *des+ Wortes *Gottes+‚ ist „Gott selbst ... der Inhalt der Offenbarung‚. Ibid. Ibid.

24

I. Das begründende Fragen

Der Hinweis auf das Beten als Ausdruck der Angewiesenheit soll hier das grundsätzliche menschliche Nicht-Können signalisieren. Zugleich wird damit die Gotteserkenntnis mit der Erschaffung des Gottesverhältnisses zusammengedacht. Die Zusammenstellungen – etwa von der Gotteserkenntnis und dem reinen Herzen und der Vergleich der Gotteserkenntnis mit der Situation des Zöllners im Tempel – zeigen, dass es bei der offenbarungstheologischen Epistemologie Barths nicht um eine bloße Übertragung von Information, eine neutralisierende Vergegenständlichung oder um ein bloß intellektuelles, von den übrigen Lebensvorgängen isoliertes Vernehmen geht. Mit dem Beispiel des Zöllners wird die Bitte um Gotteserkenntnis durch den Heiligen Geist und die Bitte um die Vergebung der Sünden als das grundsätzliche Bitten um das Eintreten Gottes für den Menschen zusammengefasst. In diesem Kreuzungspunkt von theologischer Epistemologie und Rechtfertigungslehre, wo es für Barth darum geht, Synergismen nach beiden Seiten abzuwehren, wird mit dem Hinweis auf das Gebet signalhaft der Geschenkcharakter der Gottesbeziehung bzw. der Gotteserkenntnis ausgesagt: Es geht, auf dialektische Weise, um ein Mittun des Menschen, das jede Möglichkeit eines Mittuns bestreitet. Zum zweiten werden im Kontext der Entfaltung der Menschwerdung Gottes, die den Entzogenheitscharakter der Offenbarung anzeigt, einige Überlegungen zur Bedeutung der Anbetung angestellt.37 Es geht um den für die Theologie Barths charakteristischen Vorrang der Wirklichkeit der Offenbarung vor ihrer Möglichkeit und an dieser Stelle auch um den aposteriorischen Charakter der Theologie, die der Offenbarung stets hinterherhinkt.38 Angesichts dieses Entzogenheitscharakters wird mit dem Zeugnisbegriff alle menschliche Vermittlung der Offenbarung prinzipiell gleichgeschaltet.39 Barth zieht nun zur Verdeutlichung das Weihnachtsbild des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald heran. Er entfaltet mit Bezug auf die anbetende Gestalt der Maria die Anbetung als „Suchen dessen, was schon gefunden ist‚40. Die so verstandene Anbetung soll die Paradoxie der Gotteserkenntnis in ihrem Bezogensein auf die unverfügbare Offenbarung bzw. die Menschwerdung Gottes signalisieren.41 Die Anbetung wird somit zur Entsprechung des Geheimnisses der Mensch37 38 39 40 41

Vgl. aaO., 185ff. Zwischen Theologie und Gotteserkenntnis wird hier nicht explizit unterschieden. Vgl. ibid. AaO., 186. „Das Kindlein sehen wir wohl, aber wir sehen nicht direkt, was für ein Kindlein es ist... Nur der Vater in seiner unerforschlichen Höhe sieht den Sohn, und nur der Sohn selbst, nicht einmal die Gottesgebärerin Maria, sieht den Vater.‚ Ibid.

1. Die Bedeutung des Gebets für die Begründung der Theologie

25

werdung Gottes und als solche zum entscheidenden Vorzeichen der Christologie, denn sie fungiert als Anzeige für die Differenz zwischen Christus und der Christologie. Die Anbetungsfigur ist somit funktional dem Zeugnisbegriff Barths zuzuordnen, dessen angemessenen Ausdruck er in der „zeigende*n+, nur zeigende*n+ Hand Johannes des Täufers‚42

im Kreuzigungsbild des Isenheimer Altars findet, der aber auch mit der Position der anbetenden Maria im Weihnachtsbild „am Ausgang dieser Adventswelt zwar und doch noch innerhalb‚43

veranschaulicht wird. Ein dritter Aspekt des Verhältnisses zwischen Gebet und Gotteserkenntnis findet sich im Paragraphen zur „subjektive*n+ Möglichkeit der Offenbarung‚44, den Barth im Anschluss an die reformierte Tradition „Der Glaube und der Gehorsam‚45 betitelt hat. Wie in den oben dargestellten Beispielen ist die Gotteserkenntnis nicht außerhalb der den ganzen Menschen in Anspruch nehmenden Gottesbeziehung zu denken. Das Beten ist hier ein wesentliches Moment der aktualistischen Bestimmung des Gottesverhältnisses. Diese wird im engeren Kontext der Darstellung der Möglichkeitsbedingungen für die Begegnung bzw. für das Gegenübersein von Gott und Mensch vorgenommen. Die Beziehung wird dialektisch in einer dynamischen Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität bestimmt als „volle Labilität‚, als ein „Gespräch‚, als ein „Kampf‚, und zwar „ein Jakobskampf, in dem man riskieren muß, an der Hüfte gelähmt zu werden‚.46

Wie man sieht, wird in den Äußerungen zum Verhältnis von Gebet und Theologie bzw. Gotteserkenntnis in den Göttinger Prolegomena der kritisch-dialektische Signalcharakter, den die Doxologie im Elgersburger Vortrag hatte, beibehalten. Das Gebet dient in den erwähnten Beispielen dazu, einerseits die Entzogenheit der Offenbarung und andererseits die dynamisch-aktualistische Beschaffenheit der subjektiven Möglichkeit der Offenbarung zu pointieren. Aber anders als bei der Doxologie im Elgersburger Vortrag wird nun das Gebet in die dogmati-

42 43 44 45 46

Ibid. Ibid. AaO., 213. AaO., 207. AaO., 222. Vgl. auch ibid.: „*W+eiß der Mensch, daß es für ihn exklusiv nur darum gehen kann, in dieser Gemeinschaft mit Gott Gott zu erkennen, wie könnte dann die Anbetung im Geist und in der Wahrheit, das Wachen, Beten, Flehen etwa aufhören, in ein Besitzen und Genießen sich verwandeln?‚

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I. Das begründende Fragen

schen Ausführungen einbezogen und explizit mit der positiven Möglichkeit der Gotteserkenntnis bzw. des Gottesverhältnisses verknüpft. Somit trägt der Gebetsgedanke in der Theologie Barths dazu bei, Dialektik und Dogmatik ineinander zu integrieren. Während der Münsteraner Professur (1925–30) überarbeitete Barth die Göttinger Dogmatikvorlesungen nochmals, um die Neufassung unter dem Titel Christliche Dogmatik im Entwurf erscheinen zu lassen. Wie der Titel andeutet, war Barth sich des Versuchscharakters bewusst. Da diese Empfindung sich während der Arbeit verstärkte, erschienen schließlich nicht mehr als die Prolegomena.47 In den Prolegomena zur Christlichen Dogmatik wiederholen sich einige der schon besprochenen Beispiele.48 Die Neufassung ist u. a. davon geprägt, dass Barth sich inzwischen ausführlich mit Anselm von Canterbury beschäftigt hatte49. Besonders aufschlussreich ist eine Passage im ersten Kapitel „Die Wirklichkeit des Wortes Gottes‚, wo das schon in den Göttinger Dogmatikvorlesungen zu findende Motiv der Notwendigkeit des Betens für die Gotteserkenntnis eine Präzisierung erhält, die bestimmte Ausführungen in Fides quaerens intellectum vorwegnimmt. In der Rekonstruktion Barths wird Anselms Bitte um das Verstehen als Gegenstück zu einer vermeintlichen neuprotestantischen Verallgemeinerung der Offenbarung aufgefaßt.50 Anselms klagende Bitte wird als Ausdruck der prinzipiellen Entzogenheit Gottes im Verhältnis zur menschlichen Erkenntnis51 verstanden; die Kontinuität mit den Göttinger Dogmatikvorlesungen und mit dem Elgersburger Vortrag ist insofern greifbar. Neu ist hier die aus seiner Anselmlektüre stammende Figur einer Bewegung vom Glauben zum Verstehen. Dies bedeutet eine neue positive Explikation der Bedeutung, die das Gebet in den Göttinger Dogmatikvorlesungen für die Theologie hat, und zwar eine programmatische Präzisierung der Richtung und des Inhalts des Gebets. Anselm bittet nach Barth „um die Gegenwart des Angesichtes Gottes ... trotz des „credo‚, damit das „credo‚ gehaltvoll und kräftig werde‚52.

47 48

49 50 51 52

Vgl. Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf, München: Chr. Kaiser 1975, 188. So findet man z. B. die Zustimmung zu Thomas von Aquino in der Einleitung wieder, jetzt aber mit der Änderung, dass Barth explizit zwischen Theologie als Verkündigung und als Lehre unterscheidet, mit dem Ergebnis, dass das Unternehmen einer Dogmatik nur noch „das zweitgefährlichste‚ ist, Die christliche Dogmatik, 17. Der Anlass zur Beschäftigung mit Anselm war die Veranstaltung eines Seminars 1926, vgl. Busch, 183. Vgl. Die christliche Dogmatik, 131ff. Vgl. aaO., 132f. AaO., 134.

1. Die Bedeutung des Gebets für die Begründung der Theologie

27

Damit bekommt der Glaube auch inhaltliche Bestimmung und zwar als Glaube, „nicht an den “Gott unseres Bewußtseins’, sondern an den Gott, der das Gebet seiner Heiligen hört und erhört‚53,

was zugleich den Entzogenheitscharakter der Gottesgegenwart anzeigen soll. Dass dieser Entzogenheitscharakter auch für die theologische Arbeit geltend zu machen ist, wird mit der unabgeschlossenen Gestalt der Christlichen Dogmatik praktisch angezeigt. Die Wiederholungen, die für die theologische Entwicklung Barths – erst im Zusammenhang der beiden Römerbriefkommentare und später bei den dogmatischen Werken – charakteristisch sind, können damit als entscheidendste methodische Bestätigung seiner Auffassung von der Vorläufigkeit der Theologie genommen werden.

1.2.2. Fides quaerens intellectum Aus der fortgesetzten Beschäftigung mit Anselm resultierte 1931 das Buch Fides quaerens intellectum über Anselms Gottesbeweis. Dieses Buch spielt nach Barths eigener Aussage eine große Rolle als Präzisierung der „Denkbewegung‚, die der Kirchlichen Dogmatik zugrunde liegt;54 es wird hier angeblich, „von den letzten Resten einer philosophischen bzw. anthropologischen ... Begründung und Erklärung der christlichen Lehre‚55

Abschied genommen. Das heißt zum Beispiel, dass vordergründig die neukantianisch geprägten Betonungen der Nicht-Gegenständlichkeit Gottes (und somit der Unmöglichkeit der Gotteserkenntnis) im zweiten Römerbrief zugunsten einer Betonung der „Gegenständlichkeit‚ Gottes im Sinne eines Sich-für-den-Menschen-gegenständlich-Machens aufgegeben werden.56 Dies war, wie in den erwähnten Beispielen aus den 53 54 55

56

AaO., 135. Vgl. dazu Busch, 223; Beintker, 183. „*I+n these years I have had to rid myself of the last remnants of a philosophical, i.e., anthropological ... foundation and exposition of Christian doctrine‚, How I Changed My Mind (1939, 1949, 1960), Richmond: John Knox Press 1966, 42f. Die deutsche Übersetzung im Text ist nach Der Götze wackelt, hg. v. Karl Kupisch, Berlin: Käthe Vogt Verlag 1961, 185 zitiert. Vgl. Beintker, 191 ff. Diese Gegenständlichkeit ist aber nach Beintker nicht im Cartesianischen Sinne gemeint, sondern die Möglichkeit der Erkenntnis der Wahrheit ist von der Wahrheit selbst gesetzt. „Gegenständlichkeit impliziert Sagbarkeit, Denkbarkeit und Kommuniziertbarkeit – aber eben nicht auf der Ebene des Cartesianischen Objektbegriffs‚ (ibid.).

28

I. Das begründende Fragen

Göttinger Prolegomena bereits angedeutet, schon länger in Vorbereitung. Das theologische Programm in Fides quaerens intellectum versteht die Theologie als eine Denkbemühung, die sich aus dem Glauben ergibt und die Rationalität des Glaubens ausarbeitet.57 Das intelligere ist nicht etwa als eine Absicherung des Glaubens zu verstehen, sondern als ein Verlangen, das dem Glauben inhärent ist.58 Die Denkbemühung ist mithin als ein unerlässliches Tun des Glaubens aufzufassen. Dabei sind aber sowohl Anfang als auch Ende des intelligere schon mit dem Glauben – als „Kenntnisnahme‚ und als „Bejahung‚ verstanden – gegeben.59 Von daher kann Barth nun eine Reihe von Bedingungen der Theologie aufstellen, die hier in drei Punkten zusammenzufassen sind. 1. Die Theologie expliziert das im Glauben bereits implizit Erkannte, indem sie fragt, „inwiefern es so ist, wie der Christ glaubt‚60. Dieses Fragen geschieht im Horizont des Glaubensbekenntnisses und des Kanons der Kirche61. 2. Die theologischen Begriffe bleiben ihrem Gegenstand inadäquat, und sind als solche immer angefochtene Aussagen. Die Theologie muss daher aktualistisch in Bewegung sein und nicht bei früheren Ergebnissen stehen bleiben.62 Damit bleibt der selbst-kritische Aspekt der früheren dialektischen Theologie beibehalten. 3. Auch das Sich-Einsetzen des betroffenen Menschen ist eine Bedingung der theologischen Arbeit. Die Erkenntnis des Glaubens „ist Herzenssache‚ und „gerade darum Willenssache‚63. 57 58 59 60

61 62

63

Vgl. Fides quaerens intellectum, 16. Vgl. aaO., 14. AaO., 24. AaO., 26. Gesperrte Wörter im Original werden im Zitat durchgehend kursiv gesetzt. Dies betrifft Fides quaerens intellectum und der Kirchlichen Dogmatik. Dadurch wird es allerdings nicht möglich, zwischen Hervorhebungen und fremdsprachige Wörter zu differenzieren, die von Barth ebenso kursiv gesetzt werden. Vgl. aaO., 25, 32f. Vgl. aaO., 28–31. Die vorhandene Wiedergabe betont die dialektischen Aspekte im Text Barths. Das ist insofern nicht ganz gerecht, als die entsprechenden Stellen im Text auch Hinweise auf Anselm beinhalten, die von einem anderen Charakter sind – z. B. die Möglichkeit, dass die an sich inadäquaten Begriffe durch die schöpfungsgegebenen Gottebenbildlichkeit dennoch angemessen angewandt werden können (28f.), und die „Perfektibilität der Theologie*, die+ für Anselm Antrieb und Vorbehalt zugleich bedeutet‚ (31). Dieses Beispiel zeigt, dass Barths Anselm-Interpretation sicherlich nicht ausschließlich das theologische Programm Barths darstellt. Wie viel von beiden vorzufinden ist, und inwiefern Barths Interpretation Anselm gerecht wird, kann aber in diesem Rahmen nicht erörtert werden. AaO., 33ff. Barth weist hier auf Anselms Gleichnis über „das Disputieren der Fledermäuse und Eulen über die Wirklichkeit des Sonnenscheins‚ als negatives Beispiel hin.

1. Die Bedeutung des Gebets für die Begründung der Theologie

29

Wie diese drei Punkte letztlich sehr eng zusammenhängen ist in der vorliegenden Untersuchung zu erschließen. Es geht nicht darum, wie man zunächst meinen könnte, das Geglaubte immer ein bisschen besser zu verstehen, sondern es geht um die Aktualität des Begründungsvorgangs, der sich als persönliche Gotteskrisis des Glaubenden vollzieht. Nun erwähnt Barth eine letzte Bedingung des intelligere, die all die erwähnten Bedingungen ihrerseits „bedingt und relativiert‚.64 Es geht um das Gebet. Die Sonderfunktion des Gebets sieht Barth vor allem in der Form des Proslogion Anselms, wo die Denkbemühung um das intelligere sich als Anrede an Gott gestaltet. Aber auch in den übrigen Werken Anselms begegnet ihm dieser Zug in einem solchem Umfang und in einer solchen Weise, dass er meint, darin eine „nicht nur stilistisch[e] oder menschlich*e+‚ Eigenart Anselms zu erkennen.65 Die Sache hat zwei Seiten: Weniger bedeutsam ist für Barth die Feststellung, dass die Erkenntnis von der Gnade Gottes bedingt ist und dass diese nur zu erbitten ist. Der Geschenkcharakter der Gotteserkenntnis ist unbestritten. Was er aber hier als Ergebnis einer genaueren Exegese des Eingangsgebets im Proslogion zu akzentuieren wünscht, ist etwas, das er die „objektive Seite‚66 der Erkenntnisgnade nennt. Anselm bittet darum, „Gott möchte ihm sein Angesicht, sich selber zeigen. Gott möchte sich ihm wiederschenken.‚67

Das intelligere hängt von der Begegnung mit Gott ab, das Suchen an sich hilft sonst nichts. Die Haltung Anselms ist deshalb nach Barth „nicht nur die Haltung des „frommen‚ Denkers, der sein Tun in den Dienst des göttlichen Tuns stellt, damit es wohlgetan sei. ... Alles hängt ja nicht nur daran, daß ihm Gott die Gnade gibt, recht von ihm zu denken, sondern auch daran, daß Gott selbst als Gegenstand dieses Denkens auf dem Plane ist ... [D]er Verfasser des Proslogion [verharrt] in der Anrede an Gott, ... in der Haltung dessen, der Gott gegenüber steht, weil er weiß, daß Gott ihm gegenüber stehen muß, wenn sein intelligere nicht Schaum, wenn er selbst nicht doch auch insipiens sein soll.‚68

Die „Wissenschaft‚ Anselms ist, so schließt Barth die Erläuterung der „Bedingungen der Theologie‚, letztlich „eine Frage des Gebetes und der Gebetserhörung.‚69

64 65 66 67 68 69

AaO., 35. AaO., 36. AaO., 37. Ibid. AaO., 38f. AaO., 40.

30

I. Das begründende Fragen

Damit wird zunächst festgestellt, dass es beim Verhältnis von Beten und Denken nicht um eine kausal-instrumentale Beziehung, sondern um einen einheitlichen Vollzug im Gegenüber zur göttlichen Selbsterschließung geht. Die von Barth betonte Bitte um Selbstgabe und Gegenwart Gottes als Voraussetzung der Erkenntnis ist dabei nichts Neues. Der in den früheren Entwürfen schon ansatzweise vorhandene Gedanke ist aber in Fides quaerens intellectum programmatisch mit der Möglichkeit der Gegenständlichkeit, d. h. des Sich-für-den-Menschengegenständlich-Machens Gottes als fundamentaltheologische Kategorie umformuliert worden. Das Gebet wird hier für die Betonung des Begegnungscharakters, der mit dem Gegenstandsbezug gemeint ist, entscheidend. Die Gegenständlichkeit bedeutet somit nicht ein Objektives im Sinne eines von der subjektiven Wirklichkeit Abgetrennten, sondern signalisiert die Entzogenheit des sich gebenden und erschließenden göttlichen Anderen im Gegenüber zum glaubenden Subjekt. Von diesem Begegnungscharakter ergibt sich nicht nur das Weiterfragen des Glaubens und der Aspekt der Betroffenheit, sondern auch der kritisch-dialektische Aspekt im Sinne der persönlichen Gotteskrisis.70 Auf der Materialebene der Theologie Barths bedeutet dies, dass die Wahrnehmung der Abwesenheit Gottes der frühen Schriften nun in einen Gegenwartsgedanken dialektisch integriert worden ist.

1.2.3. Die Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik Die Bedeutsamkeit, die Barth dem Anselmbuch für seine spätere Theologie im Sinne einer 180° Wende zugeschrieben hat, ist in der neueren Barthforschung mehrmals in Frage gestellt worden.71 Das Ergebnis jener Fragestellung ist nun vorläufig zu bestätigen. Wie es in der Darstellung sichtbar wurde, bleibt das Verständnis der Theologie als Theologiekritik beibehalten, nicht etwa neben der Figur der Gegenständ70

71

Vgl. Hartmut Ruddies, „Protestantische Identität zwischen Krise und Aufbau. Überlegungen zum Recht und zur Form des Einspruchs der dialektischen Theologie Karl Barths gegen die Liberale Theologie‚, in: Protestantische Identität heute, hg. v. Friedrich Wilhelm Graf und Klaus Tanner, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Mohn 1992, 165: „Die Umorientierung der Theologie Barths zur Theologie des Wortes Gottes ist nicht identisch mit dem Verlust ihres Formalcharakters einer dialektischen Theologie. In diesem Umstand liegt das relative Recht, auch die entwickelte Theologie Barths als dialektische Theologie zu bezeichnen. Und das weiterführende Moment der Theologie des Wortes Gottes ist nicht nur ihr Grundprinzip, sondern auch ihr Revisionsprinzip.‚ Dies ist besonders bei Michael Beintker und Bruce McCormack der Fall.

1. Die Bedeutung des Gebets für die Begründung der Theologie

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lichkeit (etwa als Überreste einer sonst verlassenen Position), sondern gerade durch das mit der Figur der Gegenständlichkeit Gemeinte. Diese Fragestellung ist ein Stück weiter zu verfolgen, indem die Bedeutung des Gebets in den Prolegomena der Kirchlichen Dogmatik durch einige Beispiele anzudeuten und dabei auch die Bezugnahme auf Anselm zu vermerken ist. Einen direkten Bezug auf Anselm findet man hauptsächlich in kleineren Exkursen.72 Auch eine Erörterung zur spezifischen Problemstellung der Frage Anselms nach der Gegenwart Gottes für den sich um das intelligere Bemühenden ist dabei vorhanden. Sie findet sich innerhalb der Ausführungen zum Verhältnis zwischen dem Glauben und der Selbsterschließung Gottes, bzw. zum Gegenstandsbezug des Glaubens in § 6.4. Die Dialektik und die Aktualität dieses Verhältnisses finden hier Ausdruck im Gedanken der theologischen „Unruhe‚ Anselms.73 Demnach sucht Anselm die Gegenwart Gottes, in der er sich nicht ohne weiteres befindet. Seine Suche geschieht im Horizont des bereits Geglaubten. Insofern ist seine Unruhe nur eine relative, nicht absolute Unruhe – und sein Gebet schon erhörtes Gebet. Es wird hier die Gewissheit des Gebets als dynamische Größe expliziert: „Nimmt man es ernst, daß Anselm so beunruhigt betete und gerade betend so beunruhigt war, dann wird man das Kapitel würdigen als eine in ihrer Art einzigartige Illustration dafür, wie gerade der wirkliche, der restlos sichere und geborgene Glaube immer ein Durchgang ist von Erwartung zu neuer Erwartung. Alle Unruhe des Glaubens ist in der Tat aufgehoben in Gebet, aber gerade sein Gebet ist seine tiefe Unruhe. Und als Gebet wie als Unruhe ist er Erwartung und zwar Erwartung eben seines Gegenstandes. Von seinem Gegenstand lebt er, ruhig oder unruhig, gefunden habend, suchend, wiederfindend und aufs neue suchend.‚74

Es wird hier deutlich, dass es beim Gegenstandsbezug des Glaubens und des Gebets nicht um eine Vergegenständlichung geht. Eher wird damit die besondere Ausrichtung des Betens beschrieben, die gerade für den Begründungsvorgang entscheidend ist. Denn das Beten ist nicht auf ein vorausgesetztes Etwas, sondern in und mit dem Beten auf ein unverfügbares Gegenüber gerichtet. Damit ist das Beten zugleich auch nicht als bloße Bestätigung einer Entzogenheitswahrnehmung zu verstehen, was auf den kritischen „Weg‚ des Elgersburger Vortrags hin-

72

73 74

Die Exkurse bieten in der Kirchlichen Dogmatik den Rahmen, in dem Barth biblischtheologische Überlegungen anstellt und sich mit der theologischen Tradition auseinandersetzt. Vgl. KD I/1, 242ff. KD I/1, 243.

32

I. Das begründende Fragen

auslaufen würde.75 Sondern mit der Figur des Übergangs von Erwartung zu Erwartung sind die Entzogenheitswahrnehmung und die Selbstaufhebung stets mit der expliziten Ausrichtung des Glaubens auf Gott verbunden.76 Für die Erläuterungen zur Theologie und Gotteserkenntnis in den Prolegomena ist die Bezugnahme auf das Gebet durchgängig, wenn es auch nur wenige Stellen und keine längeren Ausführungen zum Verhältnis gibt. Mit auffallender Kontinuität werden die in den früheren Entwürfen vorzufindenden, einleitenden Betrachtungen zur Notwendigkeit des Gebets für die Dogmatik hier weitergeführt.77 Jetzt wird aber die Dogmatik explizit als „Glaubensakt‚78 beschrieben. Als kritische Implikation der Begründungsfunktion des Gebets stellt Barth fest, dass das Beten nicht für eine gelungene Theologie zu instrumentalisieren ist. Somit wird z. B. „reine Lehre‚79 als eine göttliche Gabe verstanden, um die gebetet werden muss. Der Unterschied zwischen nicht-verfügbarem und verfügbarem Empfang wird dabei mit dem Unterschied von Entgegennehmen (wo die Gabe eine Aufgabe impliziert) und Übernahme angezeigt80. Dadurch wird die Dogmatik selbst ein – dogmatisches (!) – Thema der Dogmatik.81 Das übergeordnete Begründungsgefüge bekommt somit Metacharakter, was jedoch nichtthematisch geschieht. Auf ähnliche Weise wird das Gebet in späteren Paragraphen der KD I/1-2 in die Ausführungen zur Verkündigung einbezogen.82 Die

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Die nur relative Unruhe Anselms wird hier der Krisis-Theologie H.M. Müllers entgegengehalten. Die Abgrenzung erinnert an den Elgersburger Vortrag. Ähnlich wie damals wird hier dem Krisis-Theologen vorgehalten, dass die Behauptung einer solchen „absoluten Unruhe‚ schließlich mit einer menschlichen Selbstverherrlichung gleichkommen würde. Ibid., vgl. auch „Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie‚, 211. So sieht Barth z. B. in dem von Althaus wahrgenommenen Konflikt der Theologie zwischen „kritischer Haltung‚ und „kirchlicher Bindung‚ eine falsche Alternative (KD I/1, 21, vgl. auch KD I/2, 867: „Die Haltung der Dogmatik der kirchlichen Verkündigung gegenüber muß eine kritische, sie darf aber keine skeptisch-negative sein.‚ KD I/1, 23. AaO., 16ff. KD I/2, 859f. Vgl. aaO., 860. Ich antizipiere mit diesem Hinweis die Leitfigur vom zweiten und dritten Kapitel dieser Untersuchung, nämlich die Figur „Reziprozität und Gabe‚. Sie ist in der Einleitung zum zweiten Kapitel ausführlicher auszuarbeiten. Vgl. KD I/1, 16–23. Dies bezieht sich auf der einen Seite auf die biblischen Zeugnisse, um die nach Barth gebetet werden muss, wobei das Beten nicht in ein Konkurrenzverhältnis mit dem Forschen und Fragen tritt, sondern mit diesen im Zusammenhang wahrzunehmen

1. Die Bedeutung des Gebets für die Begründung der Theologie

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Bedeutsamkeit des Gebets für die übrige christliche Kommunikation, in der Barthschen Terminologie das Zeugnis, ist in der vorliegenden inhaltlichen Analyse aufzunehmen. Hier soll nur auf die Strukturähnlichkeit dieser Beziehung mit der Beziehung zwischen Gebet und Theologie hingewiesen werden. In beiden Fällen geht es um ein Unternehmen, das nach Barth innerhalb einer Relation von Gott und Mensch stattfindet, und dessen Eigentümlichkeit die Angewiesenheit auf die freie Gnade Gottes ist; als Signal dieser Angewiesenheit wird das Gebet ins Spiel gebracht.83 Mit der doppelten Bedeutung des Gebets für den Nachvollzug der Selbsterschließung Gottes und für die selbstkritische Haltung wird es als eigenständiges dogmatisch-fundamentaltheologisches Thema bestätigt.84

1.3. Die letzten Präzisierungen: Einführung in die evangelische Theologie Zu einer ausführlicheren, expliziten Erläuterung der Bedeutung des Gebets für die Theologie kommt es allerdings nicht in der Kirchlichen Dogmatik. Dies geschieht erst in den als Einführung in die evangelische Theologie erschienenen Vorlesungen aus dem Wintersemester 1961/62, wo er den Anlass sah, über sein theologisches Leben Bilanz zu ziehen.85 Die Bedeutung des Gebets für die Theologie ist hier das Thema einer der siebzehn jeweils einstündigen Vorlesungen, die wiederum in vier Hauptthemen geordnet sind: Der Ort, die Existenz, die Gefährdung und die Arbeit der Theologie. Es kann vielleicht wundern, daß das Gebet nicht dem Thema der theologischen Existenz 86, sondern der theologischen Arbeit zugeordnet wird, und zwar als der „erste und

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ist, vgl. KD I/2, 590, 767. Auch die Verkündigung bedarf des Gebets, vgl. beispielsweise KD I/1, 101; KD I/2, 781f., 844. Vgl. dazu beispielsweise die Ausführungen zur Freiheit der Kirche in ihrer Hellhörigkeit für das Wort Gottes: „Haben wir schon bei der Erörterung der Freiheit des Wortes Gottes als solcher immer wieder auf das Gebet hinweisen müssen, weil diese Freiheit des Wortes Gottes konkret eben dies bedeutet, daß die Kirche dem Geschehen jenes Ereignisses, durch welches sie geschaffen, erhalten und regiert wird, immer nur dankend und bittend beiwohnen kann, so müssen wir nun erst recht sagen: es kann ... unsere eigene Anteilnahme an der Freiheit des Wortes, es kann unsere Willigkeit und Bereitschaft zu seinem verantwortlichen Verständnis nur der Gegenstand unseres Dankens und Bittens sein‚, aaO., 781. Vgl. ibid. Vgl. auch KD I/1, 513 über die Anbetung angesichts des Unterschieds und der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Zum kritischen Aspekt vgl. aaO., 76. Karl Barth, Einführung in die evangelische Theologie, 7. Die entsprechenden Einzelthemen zur theologischen Existenz sind „Verwunderung‚, „Betroffenheit‚, „Verpflichtung‚ und „Der Glaube‚.

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I. Das begründende Fragen

grundlegende Akt theologischer Arbeit‚87. Das entspricht aber den Ausführungen zum Gebet in den späten Bänden der KD.88 Es geht in der Vorlesung über das Gebet um dieselben Themen wie bei den oben dargestellten Bedingungen der Theologie im Anselmbuch. Vergleicht man die beiden Texte, findet man hier keine grundsätzlichen Abweichungen, dafür aber einige interessante Präzisierungen. Das Gebet ist in der Vorlesung im Gegensatz zum Anselmbuch von vornherein ins Zentrum gerückt. In früheren Texten stand besonders die Notwendigkeit des Betens für die Theologie im Vordergrund; dem Gebet wurde ein Platz in der theologischen Arbeit zuteil. Das war auch in Fides quaerens intellectum nicht anders. Zwar betonte Barth die Form des Proslogion: Theologie als solche wäre demnach als Anrede an Gott zu verstehen. Dies wurde jedoch nicht weiter entfaltet. In der Einführung geht es dagegen nicht nur um die Notwendigkeit des Gebetsaktes für die theologische Arbeit, sondern zugleich darum, die theologische Arbeit als Gebet zu bestimmen, genauer, als „eine mit Gebet nicht nur beginnende und von ihm nicht nur begleitete, sondern eine eigentümlich und charakteristisch im Akt des Gebetes zu leistende Arbeit ... ein solches Tun ..., das in allen seinen Dimensionen, Beziehungen und Bewegungen die Art und den Sinn eines Gebetes hat.‚89

Handelt es sich hier um eine Neukonzipierung oder bloß um eine Redewendung? Für die erste Möglichkeit sprechen nicht nur die Ausführungen der Vorlesung, die das Gebet und die theologische Arbeit enger zusammendenken, als es in Fides quaerens intellectum der Fall war. Auch die Umgestaltung, die Barth mit KD IV/4, Das christliche Leben vorgenommen hat, scheint dies zu bestätigen. Barth hatte seine Versöhnungsethik zunächst nach dem Grundbegriff der Treue konzipiert, dann hat er aber alles durchgreifend überarbeitet und gemäß dem Leitbegriff der Anrufung Gottes ausgeführt.90 Die Begrifflichkeit der Versöhnungsethik ist somit in die Fundamentaltheologie übergegangen und das 87 88

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Einführung, 176. In KD IV/3, in §72.4 „Der Dienst der Gemeinde‚ ist das Gebet der erste von den handelnden Diensten (aaO., 1011 – im Gegensatz zu den redende Diensten, vgl. aaO., 988ff.). Eine Erweiterung dieses Gedankens wird in Das christliche Leben vorgenommen, indem das Gebet hier als Grundbegriff der christlichen Ethik verstanden wird (Vgl. Karl Barth, Das christliche Leben: Die Kirchliche Dogmatik IV/4, Fragmente aus dem Nachlass, Vorlesungen 1959–1961, hg. v. Hans-Anton Drewes und Eberhard Jüngel, GA II, 7, Zürich: TVZ 31999, 67ff.). Die Zuordnung des Gebets zur theologischen Arbeit statt zur theologischen Existenz entspricht aber auch den früheren Überlegungen, insofern der selbstinvolvierende Charakter der Theologie nie ein eigenständiges Thema war, sondern eher implizit mitgedacht wurde (vgl. z. B. Fides quaerens intellectum, 33ff.). Einführung, 176f. Vgl. Das christliche Leben, IX f.

1. Die Bedeutung des Gebets für die Begründung der Theologie

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Gebet in der Einführung zum Grundprinzip nun auch der theologischen Arbeit geworden. Die Explikation der theologischen Arbeit durch den Leitbegriff des Gebets erfolgt unter vier Gesichtspunkten, die hier wiederzugeben sind. Dabei geht es wie in der oben dargestellten Passage aus dem Anselmbuch um die Bedingungen der Theologie. Die Ähnlichkeit mit dieser Ausführung ist nicht zu übersehen: 1. Die Bewegung der Theologie ist die Bewegung des Gebets. Bei der für Barth typischen Redewendung der Bewegung geht es um dasselbe wie bei der Rede des Anselmbuchs vom „Begehen der Mittelstrecke‚91, das das fragende Suchen des Glaubens bezeichnen soll. Diese Zirkelbewegung hat Barth in der KD als circulus virtuosus (im Gegensatz zum circulus vitiosus) bezeichnet.92 Dabei wird hier gerade diese Bewegung des Gebets zum Garant der Offenheit der Theologie in der Ausgerichtetheit auf ihren „Gegenstand‚93, von dem her nach Barth auch das selbstkritische Potential der Theologie kommt. Als geschlossener Kreislauf wird dagegen die theologische Arbeit an sich, ohne die Ausrichtung auf Gott, verstanden.94 2. In großer Nähe zum ersten Punkt, aber als eine wichtige Präzisierung, wird die theologische Arbeit nun (mit Hinweis auf die Gestalt des Proslogion von Anselm) mit dem persönlichen Gegenübersein zu Gott und mit der Anrede an Gott in enge Beziehung gebracht.95 Eine Präzisierung ist dies vor allem hinsichtlich der missverständlichen Rede von einer Gegenständlichkeit Gottes in der Gotteserkenntnis: Nur die Anrede wird Gott als Gegenstand des Denkens gerecht. Der Gebetscharakter der Theologie macht ihre Richtung aus als ein „durch das göttliche Denken und Reden zum Menschen hin herausgefordertes ... Denken und Reden zu Gott hin‚96.

Damit wird aber auch im gewissen Sinn ein neuer Weg aus der Aporie des Elgersburger Vortrags beschrieben, wo die Theologie zwischen der Frage des Menschen und dem Wort Gottes schließlich ihre Ausweglosigkeit bejahen mußte. 91 92

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Fides quaerens intellectum, 24. Z. B. (über den Gottesbeweis Anselms): „Also ein Zirkelschluß? Genau das: wir haben uns am Inhalt – nur eben am Inhalt! – unserer Voraussetzung und Behauptung klar gemacht, daß und in welchem Sinn sie, weil wahr, notwendig, erlaubt und geboten ist. ... Auch das werden nur die Toren in ihrem Herzen sprechen: daß dies ein circulus vitiosus sei! Als ob es nicht auch einen circulus virtuosus geben könnte und in dieser Sache geben müßte!‚, KD IV/3, 95. Einführung, 177. Vgl. aaO., 177ff. AaO., 179ff. AaO., 180. Vgl. auch Das christliche Leben 83.

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I. Das begründende Fragen

3. Aber auch die korrektive Dimension der Gegenständlichkeit bleibt bei der Beschreibung der theologischen Arbeit als Gebet zentral. Der bei Barth wiederkehrende aktualistische Leitgedanke, man müsste immer mit dem Anfang anfangen97, trifft hier in methodologischer Hinsicht zu. Demnach kann es keine Routine oder Automatismen geben: Die theologische Arbeit ist immer unterwegs und kann keine von ihren Fragestellungen für bereits erledigt erachten. Diese sind alle, in Barths liturgischer Metaphorik, Gott zu übergeben, „als Ganzopfer‚ darzubringen.98 Die theologische Arbeit wird in dieser korrektiven Dimension und in der Gleichsetzung mit dem Gebet zur Selbstübergabe an Gott.99 4. In dem letzten, nach Barth „praktisch greifbarsten und auch sachlich entscheidenden Punkt‚ wird auf die doppelte Bitte Anselms im Proslogion hingewiesen.100 Es geht im Prinzip – nun dreißig Jahre nach dem Anselmbuch – um eine Rekapitulierung der oben dargestellten Passage aus Fides quaerens intellectum.101 Das theologische Fragen und Suchen weist auf die Probleme der Beziehung zwischen Gott und Mensch hin. Es geht um die Erkenntnisgnade und damit um die Selbstgabe Gottes. In ihrem Charakter als ein Suchen und Fragen geschieht die theologische Arbeit demnach im Bitten um die Gegenwart Gottes. Barth betont hier die Angewiesenheit der theologischen Arbeit auf die sich verwirklichende Selbsterschließung Gottes; dementsprechend endet die Vorlesung bei der Gewissheit der Erhörung, die somit für diese Arbeit maßgebend sein soll.

97 98

Vgl. z. B. Einführung, 182. AaO., 183. Eine kurze Anmerkung zu Barths Umgang mit der Opferterminologie ist hier angebracht: Alle bisherigen Ergebnisse Gott als Ganzopfer darzubringen heißt in diesem Zusammenhang natürlich nicht, sie als Satisfaktion anzubieten. Es wäre aber auch nicht ganz zutreffend, es so zu verstehen, dass die Ergebnisse mit Hinblick auf ihr Gelingen Gott zuzueignen wären. Eher heißt „Übergabe‚ hier Aushändigung – mit dem Endergebnis, wieder vor Gott mit leeren Händen zu stehen. Auch in der Kirchlichen Dogmatik kann Barth in fundamentaltheologischem Zusammenhang das Gebet als Opfer bezeichnen (vgl. KD I/1 49, 488). 99 Nur in „dieser freiwilligen Übergabe kann die Theologie wirklich freie und fröhliche Wissenschaft sein. ...Das bedeutet nun aber, daß sie auch von dieser Seite gesehen eine Gebetshandlung, ihr Vollzug ein einziges: „Nicht wie ich will, sondern wie du willst!‚ sein muß.‚ Einführung, 183. 100 AaO., 184ff. 101 Vgl. auch Fides quaerens intellectum, 35–39.

1. Die Bedeutung des Gebets für die Begründung der Theologie

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1.4. Zusammenfassung Es ist eine Entwicklung skizziert worden, in der die Bedeutsamkeit des Gebets für die theologischen Begründungsfragen zunehmend artikuliert wird. Dies impliziert – so die These dieser Abhandlung – ein stillschweigendes Verständnis der Theologie als Reflexion religiöser Erfahrung. Dies kann allerdings bei Barth so nicht entfaltet werden, sondern explizit wird das Suchen und Fragen der Theologie im Laufe dieser Entwicklung immer eindeutiger im Gegenüber der Gottesbeziehung verortet. Die Bezugnahme auf das Gebet in den fundamentaltheologischen Erörterungen soll dabei einerseits den Gegenstandsbezug der Theologie präzisieren und andererseits das Wissen um die eigenen Grenzen und die Angewiesenheit auf die Selbsterschließung Gottes signalisieren. Die letzten Bestimmungen in der Einführung, wonach die theologische Arbeit den Charakter des Gebets hat, kann man also als Ergebnis einer fundamentaltheologischen Entwicklung sehen, worin die Dialektik zunehmend in einer dogmatischen Form zum Ausdruck gebracht wird. Zwei Leitmotive dieser Geschichte sind nun zu rekapitulieren: Im Elgersburger Vortrag ist eine der dogmatischen Methode gegenüber entscheidende Leistung der dialektischen Methode, der Theologie das Fragen beizubringen. Das Reden-Sollen wird hier mit dem Fragen des Menschen nach Gott begründet. Gerade die Beschreibung der theologischen Arbeit als ein Suchen und Fragen kann als ein durchgängiges Thema gesehen werden – vom Elgersburger Vortrag über Fides quaerens intellectum bis in die Kirchliche Dogmatik hinein. Es kann im Anselmbuch überraschen, dass Barth die Zirkelbewegung des intelligere von „Kenntnisnahme‚ zu „Bejahung‚102 gerade nicht als einen geschlossenen Kreislauf ansieht. Das begründet er mit der Gottgerichtetheit des Fragens – aber eben des Fragens. Das Fragen geschieht nach dieser Vorstellung von der Antwort her, es darf aber dennoch nicht aufhören zu fragen; die Theologie kann damit bei ihren Errungenschaften nicht stehen bleiben. Das inhaltliche Äquivalent zu diesem Fragen ist das Beten, das in der Gewissheit seiner Erhörung stattfindet. Eine zweite Korrektur, die die dialektische Methode im Elgersburger Vortrag der dogmatischen Methode gegenüber vollzieht, betrifft den Gedanken von der Gegenständlichkeit Gottes. Als die Dialektik zunehmend dogmatische Gestalt bekommt, wird die Gegenständlichkeit als das unverfügbare Sich-gegenständlich-Machen Gottes für die Menschen verstanden. Deshalb muss die Gotteserkenntnis erbeten 102 AaO., 24.

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I. Das begründende Fragen

werden bzw. die Rede von Gott muss im Prinzip Anrede sein. Dies wird besonders am Ende der KD (in Das christliche Leben) und in der Einführung expliziert. Der Gedanke geht aber auf die Göttinger Dogmatik zurück. Das gläubige Verstehen findet hier in einer beweglichen, unruhigen Beziehung statt, die Barth als „Gespräch‚ und sogar als „Jakobskampf‚ beschreiben kann.103 Auf diese Kontinuität ist im Folgenden näher einzugehen. An dieser Stelle ist aber zunächst nach dem Verständnis des Gebets zu fragen. Welchen Charakter wird das Gebet bei einer solchen fundamentaltheologischen Bedeutsamkeit haben müssen? Und vor allem: Muss das Gebet nicht – im gleichen Maße wie nach Barth alles menschliche Tun – der Korrektur der dialektischen Methode ausgesetzt sein? Soll das Gebet in der theologischen Arbeit das Wissen um die eigenen Grenzen signalisieren, müssen auch die Grenzen des Gebets klar werden. Wenn die selbstkritische Theologie den Charakter des Gebets hat, muss auch das Gebet selbstkritisch sein. So müsste man logischerweise sagen, um die Bedeutsamkeit des Gebets für die Theologie nicht in Widerspruch zu bringen und das Gebet schließlich doch vorstellungshaft als ein Instrument zum Gelingen aufzufassen. Barth kritisiert tatsächlich das Beten – dies aber im zweiten Römerbrief, als das Gebet noch keine fundamentaltheologische Relevanz hatte.104 Hört diese Kritik nach dem Römerbrief auf oder bleibt sie in dem Positiven integriert, das Barth später über das Gebet sagt? Diese Frage ist wichtig, nicht nur wegen der fundamentaltheologischen Implikationen, sondern weil sich damit die Frage nach der Tragfähigkeit des Gebetsverständnisses stellt: Soll das Gebet gegenüber dem Krisenhaften immun sein, oder ist es krisenfähig, revisionsfähig? Damit steht der Anspruch Barths auf dem Spiel, die Bewegung des Glaubens, der „circulus virtuosus‚105, sei kein geschlossener Kreislauf. Denn dieser Anspruch könnte leicht als die Behauptung einer selbstgenügsamen Frömmigkeit verstanden werden und ist somit angreifbar. Von daher stellt sich die für die vorliegende Untersuchung grundsätzliche Frage, wie diese Offenheit einer Bewegung, die immerhin als zirkulär beschrieben wird, zu entfalten ist. Diese Problematik soll 103 Unterricht I, 222. 104 Vgl. bes. Der Römerbrief 1922, 327f., wo Barth das Gebet als Bestätigung des Feuerbachschen Einwands sieht. Diese Ambivalenz dem Gebet gegenüber kommt auch in der Beschreibung des Gebets als einem beinahe absoluten Tun und zugleich als einem tief problematischen Tun (aaO., 482) zum Ausdruck, so wie in der Überlegung zum Wesen des Gebets „als Religion, die zugleich – Glaube ist?‚ (aaO., 307 – vorausgesetzt ist hier, Religion und Glaube seien zwei qualitativ verschiedene Sachen). 105 KD IV/3, 95.

1. Die Bedeutung des Gebets für die Begründung der Theologie

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zunächst nur angedeutet werden. Sie ist im Laufe der Untersuchung mehrmals aufzugreifen, um schließlich im dritten Kapitel prinzipiell thematisiert zu werden.

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I. Das begründende Fragen

2. Die Dialektik in der Theologie des frühen Barth und in der Kirchlichen Dogmatik Die vorliegende Untersuchung geht davon aus, dass die Theologie Barths in sowohl methodischer als auch hermeneutischer Hinsicht von einer grundsätzlichen Dialektik bestimmt ist und bleibt.1 In diesem Abschnitt ist diese Dialektik in ihren unterschiedlichen Erscheinungen darzustellen, sowohl auf formaler Zugangsebene als auf dogmatischer Inhaltsebene. Schließlich ist anhand der Interpretation von Dietrich Korsch auch die der ganzen Barthschen Theologie unterliegende dialektische Grundstruktur darzulegen und ihre Bedeutsamkeit für das Gebetsthema anzudeuten. Es wird hier nicht beansprucht, eine genaue chronologische Entwicklung darzulegen, obwohl dieser Aspekt unvermeidlich auftauchen wird. Die Darstellung wird sich diesbezüglich an die neueren BarthLesungen halten. Diese nehmen vor allem den Zusammenhang zwischen dialektischer und dogmatischer Theologie wahr. Dies geschieht in impliziter oder expliziter Auseinandersetzung mit der These von Hans Urs von Balthasar, es gebe einen Bruch in der Entwicklung Barths, wo er sich von der dialektischen Denkform verabschiedet und sich der Analogie zuwendet.2 Im Folgenden werde ich die Diskussionen um die Periodisierung der Theologie Barths nur beiläufig aufnehmen. Es bleibt jedoch von Bedeutung, die Kontinuität des Barthschen Denkens aufzuweisen. Es ist eine These der Abhandlung, dass die Gebetslehre des späten Barth die frühere „kritische‚ und „dialektische‚ Theologie voraussetzt, die mit der Kirchlichen Dogmatik nicht aufgegeben ist, sondern eine neue Ausdrucksform gefunden hat. Um die dialektischen Momente später in der Untersuchung der Gebetslehre aufzeigen zu können, sind sie

1

2

Zum Begriff „Dialektik‚ weise ich vorläufig auf den von Beintker formulierten „Vorbegriff‚ hin: „Dialektik vermuten wir dort, wo in einem geschlossenen Aussagezusammenhang ein Widerspruch auftritt. In seiner extremsten Fassung ist die Zuordnung des Urteils “S=A’ zum Urteil “S=Nicht-A’ denkbar. Es ist aber auch möglich, dass zum Urteil “S=A’ ein zweites Urteil “S=B’ hinzutritt, und erst die jeweilige Implikationen beider Sätze in eine Antithetik geraten. Entscheidend für Barth ist weiter, dass im Interesse der Geltung der Wahrheit die Zuordnung beider Urteile bzw. Aussagenreihen geboten scheint, und der Widerspruch stehen bleibt. In diesem Sinne bezeichnen wir Dialektik in den Barthschen Texten als ein Ertragen des Widerspruchs und die gedankliche Bewältigung dieses Ertragens.‚ Michael Beintker, Die Dialektik in der „dialektischen Theologie‚ Karl Barths, 23. Hans Urs von Balthasar, Karl Barth: Darstellung und Deutung seiner Theologie, Köln: Verlag Jacob Hegner 21962.

2. Die Dialektik in der Theologie des frühen Barth und in der KD

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zunächst an dieser Stelle in Anlehnung an die Sekundärliteratur auszuarbeiten.

2.1. Dialektische und dogmatische Methode Bei der Frage der Entstehungsgeschichte der Barthschen Dialektik, sind grundsätzlich die explizite dialektische Methode und die Erscheinungsformen einer indirekt verwendeten Dialektik zu unterscheiden. Diese Erscheinungsformen sind somit nicht mit einer expliziten dogmatischen Ausdrucksform inkompatibel.3 Die dialektische Methode ist in dem Elgersburger Vortrag „Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie‚ zum ersten Mal von Barth als Alternative zu der dogmatischen Methode einerseits und der kritischen Methode andererseits dargelegt worden. Die Problemstellung ist in der berühmt-berüchtigten Formulierung impliziert: „Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.‚4

Das Problem ist die Unfähigkeit der menschlichen Sprache, das Thema der Theologie direkt in den Griff zu nehmen. Die dogmatische und die kritische Methode kommen beide zu kurz. Bei der dogmatischen Methode droht die Vergegenständlichung Gottes. In der Verdinglichung der Dogmatik entzieht sich der wahre Gott; die Dogmatik ist insofern nicht wahrheitsfähig. Das ist aber auch die kritische Methode nicht. In seiner Selbstnegation gelangt der Mensch über sich selbst nicht hinaus.5 Die dialektische Methode wird somit bevorzugt. Sie pendelt zwischen Position und Negation und hat damit die Möglichkeit die unanschauliche Wahrheit einzukreisen, was allerdings ein schauerliches Abenteuer sein kann; eine Balance auf dem „schmalen Felsengrat‚ nämlich, auf dem man „nur gehen, nicht stehen *kann+, sonst fällt man herunter