Karl Barth und der Neukantianismus: Die Rezeption des Neukantianismus im "Römerbrief" und ihre Bedeutung für die weitere Ausarbeitung der Theologie Karl Barths 3110148838, 9783110148831

Lohmann, Johann Friedrich

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Karl Barth und der Neukantianismus: Die Rezeption des Neukantianismus im "Römerbrief" und ihre Bedeutung für die weitere Ausarbeitung der Theologie Karl Barths
 3110148838, 9783110148831

Table of contents :
Vorwort
0. Einleitung
0.1. Zum Thema der vorliegenden Untersuchung
0.2. Die bisherigen Beiträge der Forschung zur Frage nach der Neukantianismus-Rezeption im »Römerbrief«
0.3. Zur Disposition der vorliegenden Untersuchung
1. Der Neukantianismus. Innere Charakteristik und geschichtliche Anfänge
1.1. Innere Charakteristik des Neukantianismus
1.2. Geschichtliche Anfänge des Neukantianismus
2. Grundelemente der Philosophie Hermann Cohens
2.1. Grundlagen
2.1.1. Leben
2.1.2. Werk
2.1.3. Grundgedanken der Logik Cohens
2.1.3.1. Die Ablehnung des »Gegebenen« und das »reine Denken«
2.1.3.2. Der Dynamismus Cohens
2.1.3.3. Das »Faktum der Wissenschaft«
2.1.3.4. Die historischen Leitbilder und der aus Platon hergeleitete Begriff der »Grundlegung«
2.1.3.5. Cohens Philosophie als »Kritischer Idealismus«
2.1.4. Das »System der Philosophie«
2.1.5. Die Religionsphilosophie Cohens
2.1.5.1. Das formale Problem der Stellung der Religion im »System der Philosophie«
2.1.5.2. Inhaltliche Schwerpunkte
2.2. Cohens Konzept des »Ursprungs«
2.2.1. »Ursprung« als zentraler Begriff der Logik Cohens
2.2.1.1. »Ursprung« in der »Logik der reinen Erkenntnis«
2.2.1.2. Die Schrift über die Infinitesimalmethode als Interpretationshilfe
2.2.1.3. »Ursprung« und Kontinuität
2.2.2. Die Rede von Gott als »Ursprung« in der postumen Religionsschrift
2.3. Das »Selbst« als Aufgabe
2.4. Die Opposition gegen Psychologismus und Historismus
2.4.1. Der Anti-Psychologismus Cohens
2.4.2. Der Anti-Historismus Cohens
3. Grundelemente der Philosophie Paul Natorps
3.1. Grundlagen
3.1.1. Leben
3.1.2. Werk
3.1.3. Das Verhältnis Natorps zu Cohen in den Grundgedanken vor Natorps Konzeption einer »Allgemeinen Logik«
3.1.4. Die Spätphilosophie Natorps
3.1.5. Natorps Religionsphilosophie
3.1.5.1. Die ursprüngliche Auffassung Natorps
3.1.5.2. Die Aussagen zur Religion im Spätwerk Natorps
3.2. Die anti-subjektivistische Erkenntnistheorie
3.3. Natorps Auffassung des »Ursprungs«
3.4. Der Gedanke der coincidentia oppositorum beim späten Natorp
4. Grundelemente der frühen Philosophie Heinrich Barths
4.1. Grundlagen
4.1.1. Leben
4.1.2. Werk
4.1.3. Die grundsätzlichen Übereinstimmungen zwischen Heinrich Barth und dem Marburger Neukantianismus
4.2. Der Vortrag »Gotteserkenntnis«
4.3. Heinrich Barths Auffassung des »Ursprungs«
5. Die Rezeption des Neukantianismus in Karl Barths »Römerbrief«
5.1. Die Vorgeschichte
5.2. Die erste Auflage des »Römerbriefs«
5.2.0. Vorbemerkung
5.2.1. Die Auseinandersetzung mit dem »idealistischen Moralismus«
5.2.2. Der Begriff »Ursprung«
5.2.3. Die anti-subjektivistische Erkenntnistheorie
5.3. Die »Arbeitsgemeinschaft« von Karl und Heinrich Barth
5.4. »Der Christin der Gesellschaft« als Produkt dieser Arbeitsgemeinschaft
5.5. Die zweite Auflage des »Römerbriefs«
5.5.1. Zur impliziten Erkenntnistheorie des zweiten »Römerbriefs«
5.5.2 »Ursprung« und Transzendenz
5.5.2.1. Grundlegendes
5.5.2.2. Der »Ursprung« als »ursprünglich-endliche« Einheit
5.5.2.3. Der »Ursprung« als »kritische Negation«
5.5.3. Die Opposition gegen das »Gegebene«
5.5.4. Weitere Bezugnahmen und Anspielungen
6. Der Hintergrund von Barths Rekurs auf den Neukantianismus im »Römerbrief«
6.1. Barths Auffassung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie in seiner »dialektischen« Phase: Die These einer Kongruenz von »ernsthafter« Philosophie und Theologie
6.2. Die allmähliche Abwendung von der Kongruenzthese bis zur diastatischen Auffassung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie in der »Kirchlichen Dogmatik«.
6.2.1. Die Vorlesungen »Unterricht in der christlichen Religion« (1924/25)
6.2.2. Die Prolegomena zur »Christlichen Dogmatik im Entwurf« (1927)
6.2.3. Die Ethik-Vorlesungen von 1928/29 bzw. 1930/31
6.2.4. Der Vortragszyklus »Schicksal und Idee in der Theologie« (1929)
6.2.5. Die ersten drei Teilbände der »Kirchlichen Dogmatik« (1932-1940)
6.2.6. Der Aufsatz »Philosophie und Theologie« (1960)
6.3. Das theologische Motiv für Barths Rekurs auf den Neukantianismus
6.3.1. Die Souveränität Gottes als Motiv für die Abkehr von der Kongruenzthese
6.3.2. Die Souveränität Gottes als Motiv auch für Barths Rekurs auf den Neukantianismus
6.3.3. Die Souveränität Gottes als Hintergrund der gesamten theologischen Arbeit Karl Barths
7. Die Frage nach dem Fortwirken der Neukantianismus-Rezeption in der reifen Gestalt von Barths Theologie
7.1. Das Selbstzeugnis Karl Barths
7.2. Die anti-subjektivistische Erkenntnistheorie
7.3. »Ursprung« und Transzendenz
7.4. Die Opposition gegen das »Gegebene«
8. Ergebnisse und Einordnung in den Forschungsstand
Literaturverzeichnis
Namenregister

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Johann Friedrich Lohmann Karl Barth und der Neukantianismus

W DE

G

Theologische Bibliothek Töpelmann

Herausgegeben von O. Bayer · W. Härle · H.-R Müller

Band 72

Walter de Gruyter · Berlin · New York

1995

Johann Friedrich Lohmann

Karl Barth und der Neukantianismus Die Rezeption des Neukantianismus im »Römerbrief« und ihre Bedeutung für die weitere Ausarbeitung der Theologie Karl Barths

Walter de Gruyter · Berlin · New York

1995

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Die Deutsche Bibliothek - CIP-1 iinbeitsaufnahme

Lohmann, Johann Friedrich: Karl Barth und der Neukantianismus : die Rezeption des Neukantianismus im »Römerbrief« und ihre Bedeutung für die weitere Ausarbeitung der Theologie Karl Barths /Johann Friedrich Lohmann. Berlin ; New York : de Gruyter, 1995 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 72) Zugl.: Mainz, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-11-014883-8 N R: GT

© Copyright 1995 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die P'-inspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde unter dem jetzigen Untertitel im Wintersemester 1994/95 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie nur geringfügig überarbeitet. Es ist ein guter Brauch, die Veröffentlichung einer größeren wissenschaftlichen Arbeit mit Worten des Dankes zu verbinden. Ich danke an erster Stelle meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Eilert Herms, der die Arbeit aufs beste betreut hat, ohne die Freiheit meines Forschens in irgendeiner Weise zu beeinträchtigen. Zugleich danke ich ihm sowie Herrn Prof. Dr. Friedrich Beißer für die Anfertigung der Gutachten, die zur Annahme als Dissertation geführt haben. Die Studienstiftung des deutschen Volkes und die Johannes Gutenberg-Universität Mainz haben die Entstehung der Arbeit durch ein zwei- bzw. halbjährigesStipendium gefördert; die Kommission zur Verwaltung des literarischen Nachlasses Karl Barths hat die Einsichtnahme in bisher unveröffentlichte Briefe genehmigt; Herr Dr. Dr. Hinrich Stoevesandt, Leiter des Karl BarthArchivs in Basel, hat wichtige Auskünfte erteilt; die Herausgeber der »Theologischen Bibliothek Töpelmann« haben die Untersuchung in ihre Reihe aufgenommen; Jörn Heller und Andreas Taut haben mich bei der Suche nach entlegener Literatur unterstützt; Rodolphe Francey war bei der Erstellung der Druckfassung behilflich - ihnen allen gilt mein Dank. Für persönliche Unterstützung während der letzten Jahre danke ich schließlich meinen Eltern, meiner Frau sowie Karl und Margot Fey. Ich widme dieses Buch dem Andenken meines Freundes Karl Augustin (1960-1992). Unsere Gespräche in der Anfangsphase der Arbeit werden in meinem Gedächtnis für immer mit dem hier vorliegenden Ergebnis verknüpft bleiben. Genf, im Juli 1995

Johann Friedrich Lohmann

Inhaltsverzeichnis Vorwort

V

0. Einleitung 0. l. Zum Thema der vorliegenden Untersuchung 0.2. Die bisherigen Beiträge der Forschung zur Frage nach der Neukantianismus-Rezeption im »Römerbrief« 0.3. Zur Disposition der vorliegenden Untersuchung

5 33

1. Der Neukantianismus. Innere Charakteristik und geschichtliche Anfänge 1.1. Innere Charakteristik des Neukantianismus 1.2. Geschichtliche Anfänge des Neukantianismus

36 36 53

2. Grundelemente der Philosophie Hermann Cohens 2. l. Grundlagen 2.1.1. Leben 2.1.2. Werk 2.1.3. Grundgedanken der Logik Cohens 2.1.3.1. Die Ablehnung des »Gegebenen« und das »reine Denken« 2.1.3.2. Der Dynamismus Cohens 2.1.3.3. Das »Faktum der Wissenschaft« 2. l .3.4. Die historischen Leitbilder und der aus Platon hergeleitete Begriff der »Grundlegung« 2.1.3.5. Cohens Philosophie als »Kritischer Idealismus« 2.1.4. Das »System der Philosophie« 2.1.5. Die Religionsphilosophie Cohens 2.1.5.1. Das formale Problem der Stellung der Religion im »System der Philosophie« 1.l.5.2. Inhaltliche Schwerpunkte

l l

65 65 65 66 67 67 70 72 77 82 84 87 87 93

VIII

Inhaltsverzeichnis

2.2. Cohens Konzept des »Ursprungs« 100 2.2.1. »Ursprung« als zentraler Begriff der Logik Cohens 100 2.2.1.1. »Ursprung« in der »Logik der reinen Erkenntnis« . . . 100 2.2.1.2. Die Schrift über die Infinitesimalmethode als Interpretationshilfe 104 2.2.1.3. »Ursprung« und Kontinuität 110 2.2.2. Die Rede von Gott als »Ursprung« in der postumen Religionsschrift 112 2.3. Das »Selbst« als Aufgabe 118 2.4. Die Opposition gegen Psychologismus und Historismus . . . . 122 2.4.1. Der Anti-Psychologismus Cohens 122 2.4.2. Der Anti-Historismus Cohens 128 3. Grundelemente der Philosophie Paul Natorps 3.1. Grundlagen 3.1.1. Leben 3.1.2. Werk 3.1.3. Das Verhältnis Natorps zu Cohen in den Grundgedanken vor Natorps Konzeption einer »Allgemeinen Logik« . . . 3.1.4. Die Spätphilosophie Natorps 3.1.5. Natorps Religionsphilosophie 3.1.5.1. Die ursprüngliche Auffassung Natorps 3.1.5.2. Die Aussagen zur Religion im Spätwerk Natorps . . . 3.2. Die anti-subjektivistische Erkenntnistheorie 3.3. Natorps Auffassung des »Ursprungs« 3.4. Der Gedanke der coincidentia oppositorum beim späten Natorp

130 130 130 130 131 143 148 148 150 156 160 162

4. Grundelemente der frühen Philosophie Heinrich Barths 164 4. l. Grundlagen 164 4.1.I.Leben 164 4.1.2. Werk 165 4.1.3. Die grundsätzlichen Übereinstimmungen zwischen Heinrich Barth und dem Marburger Neukantianismus . . 166 4.2. Der Vortrag »Gotteserkenntnis« 172 4.3. Heinrich Barths Auffassung des »Ursprungs« 182

Inhaltsverzeichnis

5. Die Rezeption des Neukantianismus in Karl Barths »Römerbrief« 5. l. Die Vorgeschichte 5.2. Die erste Auflage des »Römerbriefs« 5.2.0. Vorbemerkung 5.2. l. Die Auseinandersetzung mit dem »idealistischen Moralismus« 5.2.2. Der Begriff »Ursprung« 5.2.3. Die anti-subjektivistische Erkenntnistheorie 5.3. Die »Arbeitsgemeinschaft« von Karl und Heinrich Barth . . 5.4. »Der Christ in der Gesellschaft« als Produkt dieser Arbeitsgemeinschaft 5.5. Die zweite Auflage des »Römerbriefs« 5.5.1. Zur impliziten Erkenntnistheorie des zweiten »Römerbriefs« 5.5.2. »Ursprung« und Transzendenz 5.5.2.1. Grundlegendes 5.5.2.2. Der »Ursprung« als »ursprünglich-endliche« Einheit 5.5.2.3. Der »Ursprung« als »kritische Negation« 5.5.3. Die Opposition gegen das »Gegebene« 5.5.4. Weitere Bezugnahmen und Anspielungen 6. Der Hintergrund von Barths Rekurs auf den Neukantianismus im »Römerbrief« 6. l. Barths Auffassung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie in seiner »dialektischen« Phase: Die These einer Kongruenz von »ernsthafter« Philosophie und Theologie 6.2. Die allmähliche Abwendung von der Kongruenzthese bis zur diastatischen Auffassung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie in der »Kirchlichen Dogmatik« 6.2.1. Die Vorlesungen »Unterricht in der christlichen Religion« (1924/25) 6.2.2. Die Prolegomena zur »Christlichen Dogmatik im Entwurf« (1927) 6.2.3. Die Ethik-Vorlesungen von 1928/29 bzw. 1930/31

IX

206 206 212 212 212 229 236 . 247 252 273 273 280 280 . 287 289 307 312

317

317 .338 338 343 346

X

Inhaltsverzeichnis

6.2.4. Der Vortragszyklus »Schicksal und Idee in der Theologie« (1929) 6.2.5. Die ersten drei Teilbände der »Kirchlichen Dogmatik« (1932-1940) 6.2.6. Der Aufsatz »Philosophie und Theologie« (1960) 6.3. Das theologische Motiv für Barths Rekurs auf den Neukantianismus 6.3. l. Die Souveränität Gottes als Motiv für die Abkehr von der Kongruenzthese 6.3.2. Die Souveränität Gottes als Motiv auch für Barths Rekurs auf den Neukantianismus 6.3.3. Die Souveränität Gottes als Hintergrund der gesamten theologischen Arbeit Karl Barths

350 353 359 361 361 367 369

7. Die Frage nach dem Fortwirken der NeukantianismusRezeption in der reifen Gestalt von Barths Theologie 7.1. Das Selbstzeugnis Karl Barths 7.2. Die anti-subjektivistische Erkenntnistheorie 7.3. »Ursprung« und Transzendenz 7.4. Die Opposition gegen das »Gegebene«

376 376 377 388 392

8. Ergebnisse und Einordnung in den Forschungsstand

400

Literaturverzeichnis Namenregister

404 418

O. Einleitung O.l. Zum Thema der vorliegenden Untersuchung Daß das theologische Denken Karl Barths während der fast 60 Jahre seines öffentlichen Wirkens eine Entwicklung durchgemacht hat, darf als unbestritten gelten. Barth selbst hat an mehr als einer Stelle auf Änderungen seines Standpunkts hingewiesen bzw. frühere Äußerungen zurückgenommen oder zumindest eingeschränkt.1 Umstritten ist hingegen der genauere Verlauf dieser Entwicklung: Gibt es Konstanten, die sich allen Wandlungen zum Trotz durchhalten, ja diese vielleicht sogar begründen? Sind diese Konstanten biographischer, theologischer oder philosophischer Natur? Um welche Wandlungen handelt es sich konkret? Wann sind sie zeitlich anzusetzen? Wodurch wurden sie ausgelöst? Sind sie als Brüche oder als stetige Weiterentwicklungen anzusehen? Dies sind die Fragen, die sich der Forschung schon zu Lebzeiten Barths stellten und bis heute kontrovers diskutiert werden. Die vorliegende Arbeit möchte einen Beitrag zu dieser Forschung liefern. Sie tut dies nicht, indem sie eine großangelegte Synthese einer Entwicklungsgeschichte der Theologie Karl Barths vorträgt, sondern sie ist mit einem auf den ersten Blick eher unscheinbaren Detail befaßt. Nun dürfte zwar niemand dem widersprechen, daß eine derartige Synthese nur auf der Basis gründlicher Detailanalysen möglich ist. Auch muß es der Untersuchung selbst überlassen bleiben, durch ihre Ergebnisse auf ihre Relevanz zu verweisen. Dennoch sollen im folgenden einige Punkte benannt werden, die die Frage nach der Neukantianismus-Rezeption in Karl Barths »Römerbrief« als wichtig erscheinen lassen und es somit rechtfertigen, sie zur Ausgangsfrage einer größeren Untersuchung zu machen:

1

Auf einige dieser Stellen wird im Laufe dieser Studie genauer einzugehen sein. S. vor allem u. Abschnitt 7.1.

2

Einleitung

1. Im Untertitel ist bewußt pauschal vom »Römerbrief«, nicht von dessen erster oder zweiter Auflage die Rede. Der Grund hierfür liegt darin, daß beide Auflagen auf die sich in ihnen manifestierende Rezeption des Neukantianismus hin untersucht werden sollen. Dadurch wird ein Zeitraum von mehreren Jahren abgedeckt, denen nicht nur für die theologische Entwicklung Barths, sondern auch für die gesamte Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts entscheidende Bedeutung zukommt. Denn mit ihnen wird die Vorgeschichte des zweiten »Römerbriefs« und damit des wichtigsten Dokuments der Dialektischen Theologie überhaupt erfaßt. 2. Es gibt etliche Hinweise in der Biographie Barths vor seiner Römerbrief-Auslegung, die auf eine gute Bekanntschaft und intensive Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus - genauer: dem Marburger Neukantianismus - hindeuten.2 Insbesondere die Tatsache, daß Barths jüngster Bruder Heinrich Philosoph und in seinem Denken im Neukantianismus verwurzelt war, verdient unter diesem Gesichtspunkt Beachtung. 3. In der Forschung wird die Frage nach der Bedeutsamkeit des Neukantianismus für die Genese der Dialektischen Theologie Barths immer wieder aufgeworfen, jedoch sehr unterschiedlich beantwortet.3 4. Der Römerbrief-Interpret Karl Barth trat mit einem Überbietungsanspruch gegenüber der damals an den theologischen Fakultäten vorherrschenden Theologie auf. Im Gegensatz zu deren vorgeblicher Befangenheit im Zeitgeist wollte er »die merkwürdige Stimme des Paulus zu Gehör [...] bringen«4. Dieser polemisch vorgetragene Anspruch mußte 2 3 4

S. dazu u. 5.1. S. dazu u. 0.2. K. Barth [1985 b], 595. An dieser Stelle einige Bemerkungen zur Zitationsweise: l. Die Orthographie und die Hervorhebungen in den zitierten Texten folgen stets den Originalen. Eingriffe des Verfassers sind durch eckige Klammern gekennzeichnet. - 2. Die Stellenangaben sind so knapp wie möglich gehalten. Sofern von dem betreffenden Autor nur ein Titel im Literaturverzeichnis aufgeführt ist, werden nur Name und Seitenzahl genannt, ansonsten zusätzlich die Jahreszahl der benutzten Auflage des Titels und gegebenenfalls ein Kennbuchstabe. Ausnahmen von dieser Regel sind die folgenden: a) bei Aufsätzen, die aus Sammelbänden zitiert werden, wird als Jahreszahl die der Erstveröffentlichung angegeben; b) die »Kirchliche Dogmatik« Karl Barths wird mit »KD«, Band- und Seitenzahl zitiert; c) bei den Schriften Immanuel Kants wird, wie zumindest für die »Kritik der reinen Vernunft« allgemein üblich, die Seitenzahl der Originalaufla-

Zum Thema der vorliegenden Untersuchung

3

den Widerspruch der Angegriffenen hervorrufen: Sie gaben den Vorwurf der Befangenheit an Barth zurück.5 Genannt wurde dabei als Exponent des Zeitgeists, der sich in Barths Auslegung spiegle, auch der Neukantianismus Hermann Cohens und Paul Natorps, der beiden Protagonisten der Marburger Schule des Neukantianismus.6 So verwundert es nicht, wenn Barth, offensichtlich irritiert durch diesen Vorwurf, aber mehr noch durch den Erfolg seines Buches, anläßlich einer Neuauflage im Jahr 1926 fragte: »Habe ich mich über die Welt und über mich selbst dahin getäuscht, daß ich als schlechter Theologe nolens volens der Knecht des Publikums gewesen bin, täuscht sich auch der Leser, der etwas für geistgemäß hält, was doch nur zeitgemäß, für Paulus, Luther gen genannt. - 3. Hinsichtlich der zweiten Auflage des »Römerbriefs« und ihrer Nachdrucke hat sich mit der 15. Auflage 1989 die Paginierung, die seit der 3. Auflage Gültigkeit hatte, geändert. Es werden daher jeweils zwei Seitenzahlen genannt: zunächst die der 15. Auflage, danach, durch Schrägstrich abgetrennt, die der 3.-14. Auflage. Aus der letzteren läßt sich durch Addition von 2 leicht die entsprechende Seitenzahl der zweiten Auflage ermitteln. - 4. Vorab anzusprechen ist ferner die Tatsache, daß neben Karl Barth auch Heinrich Barth im Laufe der Untersuchung häufig genannt wird. Um Verwechslungen zu vermeiden, wurde folgender Modus gewählt: Fällt im Text nur der Nachname »Barth«, so ist stets Karl Barth gemeint. Ist von Heinrich Barth die Rede, so wird dies durch Nennung des Vornamens explizit kenntlich gemacht. Bekannt ist Adolf Jülichers Votum aus seiner Rezension der Erstauflage des »Römerbriefs« in der »Christlichen Welt«: »Viel, möglicherweise sehr viel wird man einst aus diesem Buch für das Verständnis unsrer Zeit gewinnen, für das Verständnis des 'geschichtlichen' Paulus kaum irgend etwas Neues« (Jülicher, 97; vgl. auch den Titel der Rezension: »Ein moderner [!] Paulus-Ausleger«), Drastischer beurteilte Paul Althaus 1923 Barths Umgang mit Paulus in der zweiten Auflage: Nach ihm »vergewaltigt« Barth den paulinischen Text (vgl. Althaus, 747). »Nicht etwa die Wirklichkeit und inhaltliche Bestimmtheit des biblischen oder christlichen Gottesglaubens bildet den Ausgangspunkt, sondern umgekehrt wird der Sinn biblischer Gottesgewißheit durch einen vorausgesetzten Gottesgedanken gedeutet und gezwungen« (a.a.O., 742). Wohl unübertroffen ist jedoch die Polemik Martin Werners gegen Barths exegetisches Vorgehen: Es handle sich um ein »Halsabschneiden und Verdrehen der eigentlichen von Paulus gemeinten Gedanken« (Werner, 10); Paulus werde »auf der exegetischen Folterbank Karl Barths« behandelt (ebd.) bzw. »in das Prokrustesbett seiner aus dem zwanzigsten Jahrhundert mitgebrachten Anregungen« gezwungen (a.a.O., 16). S. u. S. 5f.

4

Einleitung

und Calvin, was doch nur ein Absud aus Nietzsche, Kierkegaard und Cohen ist [...]?«7 Man braucht diese Frage nur umzuformen und auf das hier interessierende Problem zu verengen, um eine Leitfrage der vorliegenden Arbeit zu erhalten: Läßt sich Barth bei seiner Römerbrief-Auslegung von philosophischen, nämlich neukantianischen, Denkmustern leiten? Oder anders gefragt: Wird der Anspruch der Barthschen Auslegung auf Biblizität durch einen eventuellen Rekurs auf den Neukantianismus durchkreuzt? Eine Klärung an diesem Punkt verspricht wichtige Einsichten hinsichtlich der systematisch-theologischen Bewertung des Barthschen Unternehmens. 5. Der »Römerbrief« bildet allen späteren Wendungen und Retraktationen Barths zum Trotz die Grundlage all seines weiteren Theologisierens. Aus diesem Sachverhalt ergibt sich eine zweite Leitfrage: Wirkt sich der Neukantianismus auch auf Barths spätere Theologie aus, und wenn ja, in welcher Weise? Barth hat sich ablehnend zu einer solchen Frage nach der »unvermeidliche[n] philosophische[n] Genealogie«8 eines Theologen geäußert. Demgegenüber gilt es jedoch festzuhalten, daß die Klärung der philosophischen Bezugspunkte und der Art, in der sie verarbeitet werden, sehr wohl einen wichtigen Beitrag zu einem sachlichen, von Mystifikationen freien Verständnis des Denkens eines Theologen leisten kann.

K. Barth [1989], XXXIIIf./[1984], XXV (Vorwort zur 5. Auflage, Februar 1926). Unmittelbarer Auslöser der Frage könnte ein Barth wenige Wochen vor der Erstellung dieses Vorworts bekanntgewordener Aufsatz des Bonner Privatdozenten Johann Wilhelm Schmidt-Japing gewesen sein. Vgl. dessen Beginn: »Die neueste Richtung in der evangelischen Theologie, die sich an die Namen von Barth, Gogarten und ihrer Freunde knüpft, ist ein echtes Kind der Gegenwart, eine Geburt unserer Tage. [...] Allzusehr wächst ihre Grundhaltung heraus aus der Stimmung des Untergangs und des Kulturpessimismus, die für das Deutschland unserer Tage so charakteristisch ist« (Schmidt-Japing, 87). Die »allzu große[] Abhängigkeit vom Zeitgeist der Gegenwart« (a.a.O., 100) macht sich nach Schmidt-Japing auch geltend hinsichtlich des Verhältnisses Barths zum Marburger Neukantianismus: »Jene [sc. die »Barthsche[] Theologie«] ließe sich darstellen als eine Akzentverschiebung im Natorp-Cohenschen logischen System« (a.a.O., 111 Anm.). K. Barth [1981], 58 (hier bezüglich Anselms von Canterbury).

Die bisherigen Beiträge der Forschung

5

0.2. Die bisherigen Beiträge der Forschung zur Frage nach der Neukantianismus-Rezeption im »Römerbrief« Rudolf Bultmann war der erste, der in seiner 1922 in der »Christlichen Welt« erschienenen, insgesamt positiv gestimmten Rezension der Zweitauflage des Barthschen »Römerbriefs« darauf hinwies, »in wie hohem Maße neukantische (Cohensche) Terminologie oft Wort und Gedanken beeinflußt haben [sie]«9. Ähnliche en-passant-Äußerungen zum Einfluß des Neukantianismus auf Barths Dialektische Theologie sind seither in großer Zahl gemacht worden.10 Auf sie wird im folgenden nicht näher eingegangen. Das Interesse gilt - von wenigen Ausnahmen abgesehen allein den Beiträgen aus der Forschung hinsichtlich des Verhältnisses Barths zum Neukantianismus, die über einen Satz hinausgehen.'' Weiter als Bultmann ging 1924 in seinem Urteil Martin Werner. In seiner durch und durch gegen Barth polemisierenden12 »Auseinandersetzung« des Denkens Karl Barths und Albert Schweitzers kommt er zu dem Urteil, es sei »das eigentliche Geheimnis«13 von Barths zweitem »Römerbrief«, »die paulinische Theologie durch die[] 'platonische1 Philosophie des Ursprungs neu zu interpretieren - will sagen: zu korrigieren«14. Auf die in ihr verborgene »Logik« fuhrt Werner letztlich alle von ihm inkriminierten Fehler der Barthschen Theologie zurück.15 Albert Schweitzers »Philosophie der Ehrfurcht vor dem Leben« stehe »den Grundintentionen Jesu viel näher [...] als die christlich verbrämte Barthische 'Philosophie des Ursprungs'«.16 9 10

11

12 13

Bultmann, 141. Einen ersten Überblick, der mühelos ergänzt werden könnte, gibt Ruschke, 124 Anm. 55. Innerhalb des folgenden Berichts werden die Beiträge - möglichst weitgehend mit ihren eigenen Worten - ausschließlich vorgestellt. Auf kritische Bemerkungen wurde an dieser Stelle verzichtet, da der Forschungsbericht lediglich in das Thema einleiten soll. Kritische Äußerungen zur hier genannten Literatur finden sich, ebenso wie zustimmende Bezugnahmen, an geeigneter Stelle im eigentlichen Text der Untersuchung. S. o. S. 3 Anm. 5. Zur Reaktion Barths vgl. K. Barth [1925 b]. Werner, 115.

14

Ebd.

15

Vgl. a.a.O., 25; 38; 46; 114; 119. A.a.O., 130.

16

6

Einleitung

Im gleichen Jahr wie Werners Buch erschien ein Aufsatz Gerhard Heinzelmanns, in dem er als erster den Einfluß des Neukantianismus auf den zweiten »Römerbrief« näher untersuchte. Zunächst betont er gegenüber Althaus, Piper und Werner, daß das theologische Anliegen bei Barth über dem philosophischen Moment stehe: »Die Dialektik K. Barths ist nicht philosophisch, sondern theologisch zu verstehen.«.11 Barth versuche jedoch, die Theologie des Paulus »in die Sprache der Platonisch-Kantisch-Cohenschen Philosophie zu übersetzen«18. Diese »Verwechselung des Transzendentalen im Sinne der kritischen Philosophie mit dem Gott der Bibel« sei - wie dann im einzelnen von Heinzelmann vorgeführt wird - »das der Barthschen Theolo19 gie« . »[T]rotz der gerügten Dialektik« bleibe Barth jedoch »im Zusammenhang mit dem neutestamentlichen Zeugnis, es neu erfassend und vertiefend«20. Als erste aus einer Reihe von Arbeiten aus den Niederlanden, wo der Frage nach Barths Verhältnis zur Philosophie stets besonderes Interesse galt,21 ist im hier interessierenden Zusammenhang eine 1926 erschienene Sammlung von drei Aufsätzen über die »Nieuwe Theologie« insbesondere Barths zu nennen, die in ihrem Urteil über die Theologie Barths und auch hinsichtlich der Bewertung seines Verhältnisses zum Neukantianismus ganz unterschiedlich ausfallen. Dirk Tromp beginnt seinen Beitrag mit Äußerungen Natorps über die Philosophie des Sokrates und attestiert, »dat B[arth] wijsgeerig zijn uitgangspunt neemt in de philosophic van Plato en Kant, naar de Marburger interpretatie«22. Barth bewe17

18 19 20 21

22

Heinzelmann, 537. Vgl. a.a.O., 533; 535f. Als theologisches Motiv Barths nennt Heinzelmann die Ehre Gottes (vgl. a.a.O., 532). Den Vorwurf, »Barth treibe eine Tlatonisch-Kantisch-Cohensche Philosophie1« (Ruschke, 124 Anm. 55), erhebt Heinzelmann also gerade nicht. (Ruschke ist auch in folgendem Punkt zu korrigieren: Die Kritik Werners erschien vor dem Aufsatz Heinzelmanns. Werner konnte sich also unmöglich Heinzelmann »[an]schließen« (so Ruschke ebd.). Vielmehr setzt letzterer Werners Interpretation Barths voraus und kritisiert sie.) Heinzelmann, 538. Vgl. a.a.O., 546. A.a.O., 549. A.a.O., 551. Vgl. dazu Thomassen, passim. Zu der im folgenden vorgestellten Textsammlung vgl. a.a.O., 309-312. Tromp, 7.

Die bisherigen Beiträge der Forschung

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ge »zieh methodisch [...] in 't schema der kritische philosophic«23. Diese »verbinding van theologie en critische philosophic«24 bei Barth wird nun zwar zum Schluß seines Aufsatzes von Tromp kritisch vermerkt, sofern sie als die Ursache dafür, daß Barths Theologie weitgehend formal bleibe und humorlos den Gnadenaspekt des Evangeliums Untergewichte, namhaft gemacht wird.25 Aber zugleich wird von Tromp herausgestellt, daß der Marburger Neukantianismus eben nur den philosophischen Ausgangspunkt Barths bilde. Insgesamt sei Barths Römerbrief-Auslegung theologisch orientiert. Es gehe ihm »om toepassing van de transcendentale methode in de theologie«26. Insbesondere betont Tromp diese Priorität der Theologie bei Barth hinsichtlich der Rede von Gott als »Ursprung«.27 In einem Nachwort allerdings - der Aufsatz Tromps ist der Text eines Vertrags, der anschließend diskutiert wurde - räumt Tromp ein, daß dem philosophischen Ausgangspunkt Barths möglicherweise doch größere Bedeutung zukomme und daß an dieser Stelle wie auch hinsichtlich des einseitigen Psychologiebegriffs Barths »een nieuwe, fundamenteele kritiek op de theologie van Barth« einzusetzen habe.28 Philipp Kohnstamms Beitrag zur oben genannten Sammlung ist durch und durch kritisch gegenüber der Theologie Barths. Auch Kohnstamm sieht den philosophischen Ausgangspunkt Barths in der »PlatonischMarburgsche wijsbegeerte«29, sieht aber darin anders als Tromp den grundsätzlichen Fehler Barths, da seiner Ansicht nach »een onoverbrug23 24 25 26 27

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A.a.O., 26. A.a.O., 52. Vgl. ebd. A.a.O., 17. Vgl. a.a.O., 14 (»Nog eens zij verzekerd dat 'de Römerbrief theo-logie wil zijn. [...] Ten slotte spreekt B[arth], ook als hij zegt Ursprung, over God.«); 16f. (Als eerste gezichtspunt wil ik geven: God en het gegevene. [...] Met nadruk echter herhalen we: God en het gegevene. Niet: der Ursprung en het gegevene. 't Gaat niet over logische orienteering, 't Gaat over God, den Heilige, den Transcendente, den volstrekt Andere, die woont in ontoegankelijk licht. God is uitgangspunt dezer theologie; de oorsprong dezer theologie. [...] 't Is waar, we herkennen hier onmiddellijk de functie van het Ursprungs-begrip in de kritische philosophic. Toch, dit begrip ontvangt z'n inhoud uit de Godsgedachte - niet andersom.«). A.a.O., 54.

Kohnstamm, 72.

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bare kloof«30 liegt zwischen dieser Philosophie und der Bibel. Die Differenz des Marburger »immanent idealisme«31 zum Christentum zeige sich gerade an der Religionsphilosophie Cohens und Natorps.32 Die Lehre der Dialektischen Theologen von der Unerkennbarkeit Gottes wird in diesem Zusammenhang von Kohnstamm als Gegenreaktion auf das Marburger Immanenzdenken interpretiert (ohne daß damit die idealistische Grundposition verlassen würde).33 Der dritte Beitrag der Sammlung stammt aus der Feder von Oepke Noordmans. Noordmans nennt zwar den Neukantianismus darin nicht; eine These des Beitrags ist aber dennoch hier zu nennen, weil die spätere Forschung darauf mehrfach Bezug genommen hat. Noordmans, der wie Tromp einen Primat der Theologie vor der Philosophie bei Barth sieht,34 beginnt seinen Aufsatz mit Ausführungen zum kritischen Charakter der Theologie Barths. Seine These ist nun, daß Barth, gerade indem er die Kritik, die Rede von der Unerkennbarkeit Gottes für den Menschen, bis zum äußersten treibe, wieder zu einer positiven Aussage komme, nur jetzt unter anderem Vorzeichen. An die Stelle des Erkennens Gottes durch den Menschen trete bei Barth das Erkanntwerden des Menschen durch Gott. Damit drehe Barth die Theologie um 180° und gelange, ähnlich wie Descartes durch seinen methodischen Zweifel, zu neuer Gewißheit. Allerdings entspreche die Ebene, auf der Barth die Gewißheit finde, das Erkanntwerden, einer genauen Umkehrung des Descartesschen »cogito«.35 In seinem 1927 veröffentlichten Aufsatz »Dialektische Methode und theologische Exegese«36 beschäftigte sich der Philosoph Gerhard Krüger mit Barths Exegese von Rom 5,12-21 in der Zweitfassung des »Rö30 31 32 33 34

35 36

A.a.O., 71f. A.a.O., 82. Vgl. a.a.O., 81. Vgl. a.a.O., 82. Vgl. Noordmans, 116 (in der deutschen Übersetzung: 115): »Het is Paulus en niet Plato die hier den toon aangeeft, al is het dat Plato hier en daar meepraat. Earth's boek blijft in wezen een Paulus-commentaar.« Vgl. a.a.O., lOOf. (deutsch: 104f.). Der Aufsatz geht auf ein im Dezember 1925 in einem Seminar Bultmanns gehaltenes Referat zurück; vgl. K. Barth - R. Bultmann, 62 (Brief Bultmanns an Barth vom 10.12.1925).

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merbriefs«. Neben einem Einfluß der Dialektik Kierkegaards stellt Krüger dabei eine sich an Cohen anschließende Begrifflichkeit fest: »Über die Begriffe 'gegeben1, 'anschaulich1, 'transzendental' [...], 'Begriff selbst, 'Fragwürdigkeit' und noch eine Reihe damit zusammenhängender Begriffe muß man bei ihm [sc. Cohen] die Aufklärung suchen.«37 Als Hintergrund dieses Rückgriffs Barths auf Cohen, der »letzten Endes durch das gemeinsame Interesse am Alten Testament ermöglicht« werde,38 wird von Krüger zum einen die Opposition gegen ein statisches, feststellendes Denken geltend gemacht,39 zum anderen »die Grundfrage der theologischen Begriffsbildung [...] nach dem 'Sein' [...], d. h. die Frage, wie Sünde, Welt, Gott, Gesetz 'ist'«40. Die Dialektik Kierkegaards wie die Transzendentalphilosophie Cohens seien zur Beantwortung der letzteren Frage von Barth als »exegetische Hilfsmittel«41 herangezogen worden, was aber zu »Unstimmigkeiten der Exegese mit dem Text«42 geführt habe, noch gesteigert durch die »Verquickung«43 beider. Bemerkenswert an Krügers Ausführungen ist noch, daß Heinrich Barth nicht erwähnt, vielmehr eine direkte Beeinflussung Karl Barths durch Cohen angenommen wird, und daß Krüger in Barths Auslegung der ersten Kapitel des Römerbriefs, namentlich Rom l,19ff, den Versuch sieht, »eine exegetische Begründung«^ für den Rekurs auf den Kritischen

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Krüger [1927], 139. A.a.O., 144. Vgl. ebd. (»Wenn die Fragen nach Sünde, Tod und Welt auf das Verhältnis zwischen relativer und absoluter Selbständigkeit führten, und wenn dieses Verhältnis begriffen wurde als das der 'fraglichen' anschaulichen Welt zu einem ewigen unanschaulichen Ursprung, in dem die Welt ebenso aufgehoben wie begründet ist, so war dafür leitend die negative Tendenz, dem psychologischen Anspruch beobachtender Feststellung entgegenzutreten.«); a.a.O., 150 (»[I]m Problem der Sünde [wurde] dem 'Anschaulich-Geschichtlichen' und 'historisch-psychologisch' Konstatierbaren [!] das 'Unanschauliche' des 'ewigen Ursprungs' entgegengesetzt, um die Sünde als herrschende Übermacht für den einzelnen Menschen darzustellen.«). A.a.O., 150. Ebd. Ebd. A.a.O., 144. A.a.O., 148.

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Idealismus Cohens zu geben. Sie böten Barth den »Anknüpfungspunkt«45 für eine »'natürliche Theologie1 der Offenbarungseindrücke«46. Direkt mit dem Problem »Die Schule Karl Barths und die Marburger Philosophie« ist der gleichnamige, 1929 in den Kant-Studien veröffentlichte Aufsatz von H. W. van der Vaart Smit befaßt. Er diskutiert dieses Problem auf der Basis nicht des »Römerbriefs«, sondern der »Prolegomena zur christlichen Dogmatik«. »Barth und die Seinigen« machen nach van der Vaart Smit den Versuch, »ob nicht auch die Denkmittel der neo-kantianischen Kulturwelt eine wirkliche Verdolmetschung des alten reformierten Glaubens, des Bibelinhalts, erlauben und also eine neue Marschroute dieser theologischen Wissenschaft gegeben sei«.47 Allgemein kantianisch sei bei Barth die Ablehnung des Realismus und die Lehre von der »wissenschaftlichefn] Unkennbarkeit des 'Ding-ansich'«48; Barth gebe »statt der alten 'Metaphysik der Dinge1 eine 'Metaphysik des Wissens der Dinge1, eine Metaphysik 'der christlichen Rede von der christlichen Sache1«49. Speziell mit der Marburger Schule habe Barth gemein: »das Suchen des den Kulturphänomenen immanenten Logos, den als Eingang zur Frage nach dem Transzendenten aufgeführten 'Ursprungs-begriff, die dialektische Methode, den logizistischen Einschlag, die Art der Beweisführung usw.«50. Diese kantianisch-neukantianischen Anteile im Denken Barths haben nach van der Vaart Smit folgende theologische Konsequenzen: erstens gegenüber der altreformierten Orthodoxie und ihrem Realismus »eine totale Umwälzung des Offenbarungsbegriffes«51, zweitens »eine starke Hinwendung zum Intellektualismus«52, drittens eine Orientierung nicht »an der Natur und der 45 46 47

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Ebd. Ebd. Van der Vaart Smit, 344. Vgl. auch a.a.O., 335: »Jetzt aber tritt in Barth eine Richtung auf, welche die Theologie wirklich Theo-Logie bleiben lassen will und zugleich diesen Standpunkt mit der kantianischen Philosophie zu verbinden sucht. Barth und seine Schule tun das nicht zufallig, sondern bewußt. Er und seine Schule sind stark philosophisch orientiert.« A.a.O., 350. Ebd. Ebd. A.a.O., 344. Vgl. ebd.: »Diese Theologie läßt die realia los und kehrt sich zu der Idee« - nämlich (s. o.) zum Zeugnis von der Offenbarung. Ebd.

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Geschichte als solcher«53, sondern an der »'christliche[n] Rede1 über die Natur und die Geschichte«54. Trotz dieser - von Barth bewußt eingegangenen55 - Beziehungen will van der Vaart Smit die Theologie Barths nicht »als eine ganz von der Marburger Schule abhängige [...] bezeichnen«56. Denn zum einen benutze Barth die Philosophie »nur zum technischen Aufbau« seiner Dogmatik,57 zum anderen sei auch der Gebrauch dieser »Denkmittel« z. T. unterschiedlich: Barth ersetze die »eleatische Grundformel«58 der Marburger, »nämlich, daß Denken = Sein ist«59, durch die Formel »Reden = Sein«60 und bringe im Gegensatz zu ihnen auch die zweite und dritte Kritik Kants zur Geltung61. Dennoch mißt van der Vaart Smit Barths Rekurs auf den Marburger Neukantianismus große Bedeutung bei: Das »Zusammenfallen [...] einer orthodox-kalvinistischen theologischen Anschauung und einer philosophisch-kantianischen kritizistisehen Einstellung«62, also von Realismus einerseits und Kritizismus andererseits, bildet nach van der Vaart Smit das Grundproblem der Theologie Barths.63 Auch in den USA wurde der Neuansatz der Dialektischen Theologie bald diskutiert. In Alvin Sylvester Zerbes Monographie »The Karl Barth Theology or the New Transcendentalism« (1930) sieht der Autor den Schwerpunkt der Theologie Barths in einem »cosmic-eschatological dualism«64. Dieser Dualismus werde zwar dem supranaturalen Charakter des Christentums gerecht;65 er verfällt aber dennoch der Kritik Zerbes,66 53 54 55

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A.a.O., 346. Ebd. Dieser Punkt bringt gegenüber dem ersten eigentlich nichts Neues. S. o. Anm. 47. Van der Vaart Smit, 350. Vgl. a.a.O., 349: »Die Theologie Barths ist nach dem kalvinistischen reformierten Prinzip auf Offenbarung gegründet und verwendet nur zum technischen Aufbau, nicht zum wirklichen Inhalt, die Denkmittel des Kantianismus.« A.a.O., 349f. Ebd. A.a.O.. 350. Vgl. ebd. A.a.O., 335. Vgl. ebd. Zerbe, 163f.; 250. Der größte Teil des Werks (a.a.O., 45-197) ist der Darstellung der verschiedenen Aspekte dieses Dualismus gewidmet. Vgl. a.a.O., 271.

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und zwar vor allem wegen seiner agnostischen Konsequenzen, die von Zerbe auf den neukantianischen Dualismus von Wissen und Glauben zurückgeführt werden.67 Von daher sei der »Barthianismus« eher eine Philosophie als eine Theologie.68 Adolf Sannwald nannte 1931 unter Hinweis auf Heinrich Barth folgende »Gedanken des Marburger Platoverständnisses«69, die für Karl Barth bedeutsam geworden seien: »a) Der Gedanke der absoluten Transzendenz der höchsten Idee (des Guten) [...]. b) Der Gedanke der Unrast, der unendlichen Bewegung und des immer neuen Fragens und Begründens, was alles eben in der Transzendenz der Idee selbst gründet; in ihr wurzelt Frage und Antwort zugleich. [...] c) Der Gedanke, daß im Transzendenten der Idee 'Gericht und Richtung1, Krisis und Begründung für alle diesseitigen Lebenswerte liege [...].«70 An anderer Stelle weist Sannwald noch darauf hin, daß Karl und Heinrich Barth beide »vom Transzendenten [...] her alle psychologisch-menschlichen Konkretionen in Frage [stellen]«71. Die bislang ausführlichste Untersuchung zum Einfluß des Kritischen Idealismus Marburger Prägung auf Barths Dialektische Theologie stellt die 1936 gedruckte, in Tübingen bei Karl Heim geschriebene Dissertation Hans Ulrichs dar. Gleichwohl ist auch Ulrichs Arbeit thematisch eingeschränkt, da seine Überlegungen nur von einem - allerdings zentralen - Aspekt der Barthschen Theologie, dem »Transzendenzproblem«, ausgehen. Darunter versteht Ulrich die Frage nach dem Verhältnis von Gott und Welt, und es ist die Kernthese seiner Schrift, daß dieses Verhältnis von Barth als Gegensatz interpretiert werde und dieser Gegen66

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Folgendes Diktum soll dem Leser nicht vorenthalten werden: »He [sc. Barth] has verbummelt the whole subject [sc. die Gotteslehre]« (a.a.O., 252f). Vgl. a.a.O., 238: »Whether Barth, Brunner, Gegarten, and Thurneysen are or are not directly indebted to Neo-Kantianism, it is nevertheless a fact that their system has the same irreconcilable elements of absoluteness and relativism, transcendentalism and phenomenalism, and faith versus reason. What John Lindsay says of Neo-Kantianism may be said of Barthianism: It has faith, but cannot know that there is a God.« Vgl. auch a.a.O., 234; 241; 254; 263. Vgl. a.a.O., 35; 219; 261; 270. Sannwald, 55 Anm. 31. Ebd. A.a.O., 73 Anm. 24.

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satz die »Grundkategorie« Barths sei.72 Da Barth seine Auffassung von Transzendenz mit Platon und Kant in Verbindung bringt, gilt der größte Teil von Ulrichs Arbeit der Frage nach deren Lösung des »Transzendenzproblems« und dem Verhältnis, in dem beide zu Barth stehen. Das Ergebnis der Analysen Ulrichs ist das folgende: Beide Philosophen scheiden zwar streng zwischen Gott und Welt, machen jedoch - anders als Barth - auch Verbindungslinien geltend, so daß sich ihre »Transzendenzkategorie« signifikant von der Barths unterscheidet. Wichtig ist nun, daß Ulrich Barths einseitige Aneignung der idealistischen Tradition auf den Marburger Neukantianismus zurückführt. Hinsichtlich der Platon-Deutung sei Karl von Heinrich Barth abhängig, nach dem »die Gegensatzkategorie bei Platon die Grundkategorie sei«73. Hinsichtlich Kants werden von Ulrich außer Heinrich Barth auch Cohen und Natorp als wesentliche Vermittler geltend gemacht.74 Nicht nur die »Gegensatzkategorie«, sondern auch der Gedanke des »Ursprungs« bei Barth sei durch »die marburgische Kantphilosophie« »bestimmt«.75 Dennoch ist für Ulrich der Einfluß des Neukantianismus auf Barth nicht entscheidend. »Die entscheidende Seite seines Werkes liegt im theologischen Ausgangspunkt. Aber die philosophische Seite hat am Denken Barths und an der Bildung seiner Gegensatzkategorie gestaltend mitgewirkt.«76 Der spätere Kardinal Hermann Volk legte 1938 eine Interpretation der Theologie Barths vor, die diese im ersten »Römerbrief« als »stark idealistisch in platonischem Sinne«77 ansah. Der Einfluß Heinrich Barths78 habe dann »den Einfluß Kants unmittelbarer [gemacht]«79 und sei »mit ein Grund für die Neubearbeitung des R[ömer]br[iefs]«80. Weiterhin 72 73 74 75

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Vgl. Ulrich, 26; 79; 122; 131; 133; 141. A.a.O., 30. Vgl. a.a.O., 75f. Vgl. a.a.O., 112-132. A.a.O., 132. Ebd. Volk, 294. A.a.O., 48-50, referiert Volk die Antrittsvorlesung Heinrich Barths und resümiert: »Diese Gedanken sind von Karl Barth fast unverändert übernommen mehrfach finden sich die gleichen Formulierungen [sc. im zweiten »Römerbrief«] -, und sind mitbestimmend im Gottesbegriff, im Kreations- und Kreaturbegriff« (a.a.O., 50). A.a.O., 50. Ebd.

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schreibt Volk: »Plato wird durch Kant interpretiert, Kant im Sinne der Marburger Schule verstanden. Cohen ist besonders wirksam in der Idee des Ursprunges und in der Auffassung der Religion als unendliche Aufgabe, bei Cohen als unendlicher Prozeß. Die idealistische Zuversicht von Rbr. I wird in Rbr. II durch die scharfe und grundsätzlichere Dialektik von Sein und Idee aufgelöst. Sein und Idee ist das philosophische Problem, das auftritt in der Form: das Ursprüngliche und das Begründete, das Nichtanschauliche und das Anschauliche, das Nichtgegebene und das Gegebene. Die idealistische Fragestellung von der Idee her wird als 'Idealismus mit negativem Vorzeichen' zur Infragestellung der Kreatur und aller ihrer Vermögen, des Denkens und des Wollens; Kants Lehre von den Möglichkeiten des Denkens und von dem moralischen Handeln scheinen der einzige Ausdruck für die Fragwürdigkeit der Kreatur.«81 Aus der idealistischen Gleichsetzung Gottes mit der Idee als dem Richtigen ergibt sich nach Volk, daß die Schöpfung in der Zweitauflage des »Römerbriefs« »als das Unrichtige betrachtet [wird]«82. Volks Schlußfolgerung lautet: »[D]äs platonisch-idealistische Element im [zweiten] Rbr. ist nicht nur in der Sprache, es geht auf die Sache.«83 1945 äußerte sich E. G. van Teylingen über den philosophischen Hintergrund der Dialektischen Theologie. Er findet ihn in der Philosophie Heinrich Barths, die er als Verbindung platonischer und neukantianischer Gedanken charakterisiert84 und auf die Formel »rationalistischer Subjektivismus«85 bringt. Ihr Einfluß auf die zweite Auflage des »Römerbriefs« zeigt sich für van Teylingen in deren Gottesbegriff86 81

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Ebd. Die These: »Barths Theologie und Christologie ist konsequenter Idealismus mit negativem Vorzeichen« hatte Schmidt-Japing 1925, allerdings eher mit Bezug auf Hegel als auf den Neukantianismus, formuliert (vgl. Schmidt-Japing, 104). Volk, 296. Ebd. Vgl. van Teylingen, 11: »PLATO slaat erin de grondtoon aan door de resolute scheiding tusschen Idee en werkelijkheid; maar dan PLATO opgenomen in een na-Kantiaansch subjectivistisch nominalisme, een verbinding van motieven die in de geschiedenis der philosofie niet vreemd is.« Vgl. a.a.O., 16. Vgl. a.a.O., 14: »De God die hier verkondigd wordt als de crisis der gansche tijdelijke werkelijkheid [...], deze God vertoont de koele trekken van de Idee in het critisch idealisme.«

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und Ethik87. Barth sei auch später dem »rationalistischen Subjektivismus« treu geblieben.88 Diese Verbindung der Theologie Barths (und der gesamten Dialektischen Theologie) mit einem »unbiblischen Denkschema«89 wird von van Teylingen kritisiert; es gelte für die reformierte Theologie, nach einer Philosophie zu suchen, »die haar grondthema's aan die openbaring ontleent«90. Wie van Teylingen machte auch Johannes Jacobus Louet Feisser in seiner 1948 gedruckten Dissertation kantianisch-neukantianische Gedanken als Hintergrund von Barths gesamter Theologie aus. Der entscheidende Gedanke Barths sei der von der Verborgenheit Gottes in seiner Offenbarung.91 Dies sei aber letztlich nichts anderes als eine konsequente Umkehrung des Kantschen Kritizismus: »Hij [sc. Barth] heeft de kritiek op de Godskennis zo ver doorgedreven, dat hij tenslotte van de leer van de onkenbaarheid Gods de inzet van zijn openbaringstheologie heeft gemaakt. Hij heeft zodoende de anthropocentrische godsdienstwijsbegeerte met haar agnosticisme van de onbekende God 180° omgekeerd en haar theologisch verwerkt in zijn leer van de openbaring in de verborgenheid.«92 Insofern nun die Lehre von der Verborgenheit Gottes in seiner Offenbarung die Grundlage sei für Barths Methode der christologischen Konzentration und seinen Kampf gegen die natürliche Theologie, erweist sich für Louet Feisser der Kantsche Agnostizismus als eigentlicher Hintergrund von beidem.93 1956 veröffentlichte Eduard Thurneysen in der Festschrift zu Karl Barths 70. Geburtstag erstmals Auszüge aus dem gemeinsamen Brief87 88

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Vgl. a.a.O., 14f. Vgl. a.a.O., 22 (»Zoo is dus EARTH'S denken van begin tot einde in hoofdtrekken hetzelfde gebleven.«); 23 (»het critische subjectivisme, dat zijn denken beheerscht«). Vgl. a.a.O.. 23. Ebd. Vgl. Louet Feisser, 77: »Wij hebben gezien, dat het kenmerk van Earth's theologie gelegen is in het consequent volgehouden inzicht van de verborgenheid Gods in zijn openbaring.« A.a.O., 83. Vgl. a.a.O., 80: »een omgekeerd Kantianisme«. Louet Feisser schließt sich mit dieser These den Barth-Interpretationen von Noordmans und Haitjema an (vgl. ebd.). Vgl. a.a.O., 83: »Ziehier de eigenlijke achtergrond van Earth's christocentrische theologie en deszelfs permanente strijd tegen de theologia naturalis.«

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Wechsel. In der einleitenden Skizze, die unter der These steht, Karl Barth sei schon in den Anfängen »kein abstrakter Denker«, sondern Schrifttheologe gewesen,94 findet sich auch eine Stellungnahme zur Frage nach der Bedeutung des Neukantianismus fur Earths zweiten »Römerbrief«. Sie lautet: »KARL BARTH verzichtet auf alle idealistischen, neukantischen Begriffsformen.«95 Im (freilich unausgesprochenen) Gegensatz dazu machte Henri Bouillard 1957 in seiner dreibändigen Karl Barth-Monographie für französischsprachige Leser auf die Bedeutung Heinrich Barths für die Kant- und Platon-Rezeption in der Zweitauflage des »Römerbriefs« aufmerksam.96 Unter dem Einfluß des Bruders interpretiere Karl Barth nun Kant, der schon vorher für sein Denken bedeutsam gewesen sei, platonisch-dualistisch.97 Theologische Folge dieses Einflusses sei Barths Konzept einer zeitlosen Offenbarung und Eschatologie.98 Drei nur kurze Erwähnungen des neukantianischen Einflusses auf die Dialektische Theologie aus den Jahren um 1960 verdienen dennoch Beachtung, da sie an prominenter Stelle erschienen. Wolfhart Pannenberg wies 1958 in einem RGG-Artikel auf Berührungen der Dialektischen Theologie mit der »neukantischen Religionsphilosophie«99 Cohens hin. Von den Dialektikern, namentlich von Barth im zweiten »Römerbrief«, sei »die Idee des unbekannten Gottes der neukantischen Religionsphilosophie mit der verzehrenden Wirklichkeit des lebendigen Gottes der Bibel«100 gefüllt worden. Ähnlich heißt es ein Jahr später im ent94

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Vgl. Thurneysen, 832: »BARTH ist, das wird schon in den Anfangen klar, kein abstrakter Denker, und abstrakt würde hier heißen: losgelöst von der Schrift; er entwirft nicht aus sich heraus theologische Spekulationen, es geht ihm nicht um ein System, er ist und bleibt Schüler und Lehrer der Heiligen Schrift.« A.a.O., 834. Vgl. Bouillard [1957], 104f. Vgl. a.a.O., 105: »Ce qu'il retient cette fois, c'est l'element platonicien du kantisme: la dualite de l'intelligible et du sensible, du transcendantal et de l'empirique. Kant interdit a l'homme de depasser ses limites, de confondre le ciel et la terre, de croire qu'il peut realiser en sa vie empirique une volonte parfaitement bonne et saisir le regne des fins dans le scheme du temps.« Vgl. ebd.: »C'est I'lnfluence conjugee de Platon et de Kant qui a conduit Barth ä concevoir une revelation et une eschatologie intemporelles.« Pannenberg, 169f. A.a.O., 170.

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sprechenden Artikel aus dem »Lexikon für Theologie und Kirche«, der von Henri Bouillard geschrieben wurde: »Gerade in Jesus Christus hat er [sc. Gott] sich als der ganz Andere, als der unbekannte Gott offenbart. [...] Was Barth von R[udolf] Otto bzw. v[on] der vom Neukantianismus beeinflußten Religionsphilosophie übernommen hatte, ist hier durch den calvinist[ischen] Begriff der maiestas Dei überformt.«101 Wirkungsgeschichtlich bedeutsam wurde der durch Sätze Karl Barths, Brunners und Gogartens sowie den Abdruck von Heinrich Barths Vortrag »Gotteserkenntnis« belegte Hinweis Jürgen Moltmanns auf eine »erstaunliche Verbindung von 'dialektischer Theologie1 und 'Ursprungsphilosophie1 platonischer Art«102 in den »Anfängen der dialektischen Theologie«. Seit der erstmaligen Edition der gleichnamigen Textsammlung im Jahre 1962 kommt keine Untersuchung zur frühen Theologie Barths ohne zumindest den Hinweis auf diese Verbindung aus. Zugleich verengte sich die Frage nach Barths Verhältnis zum Neukantianismus fortan meist auf die Frage nach seiner Rezeption des Begriffs des »Ursprungs«. James Walker stellte 1963 in seiner Dissertation die theologische Entwicklung Barths von den Anfängen bis zur zweiten Fassung des »Römerbriefs« dar. Dabei attestiert er sowohl für die erste als auch für die zweite Auflage Einflüsse der »Ursprungs«-Philosophie Heinrich Barths,103 wobei nach Walker in dieser Hinsicht keine wesentlichen Unterschiede zwischen beiden Fassungen des »Römerbriefs« bestehen.104 Insgesamt sind die philosophischen Einflüsse auf Barth laut Walker kleiner als oft angenommen. Barths Theologie sei keine Philosophie, sondern »it is more accurately described as a theology that uses philosophical language to express the same essential ideas as are also expressed in more narrowly theological terminology«105. Friedrich-Wilhelm Marquardt hat 1972 in seiner von der These einer fundamentalen »Inhärenz des Sozialismus im Denken Barths«106 101

Bouillard [1959], 335. Anfänge [...]!, 220. 103 Vgl. Walker, 60f.; 111-114; 134f. 104 Ygj a a o., 134f: »The concept of the Ursprung in the second edition is essentially the same as it was in the first edition.« 105 A.a.O., 165f. 106 Marquardt [1972], 333. Vgl. a.a.O., 37; 304. 102

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bestimmten Habilitationsschrift mit bis dato unerreichter Vehemenz die Bemerkung Moltmanns aufgegriffen und auf die Bedeutung Heinrich Barths für die theologische Entwicklung Karl Barths hingewiesen. Die »philosophische Abhängigkeit Karl Barths von dem 'Kritischen Idealismus' seines Bruders«107, die Marquardt postuliert, manifestiert sich für ihn im gemeinsamen Gedanken des »Ursprungs«. Zum Beleg dieser Abhängigkeit stellt Marquardt Aussagen aus Karl Barths »Tambacher Rede« und aus der 1927 erschienenen »Philosophie der praktischen Vernunft« Heinrich Barths nebeneinander. Der Rückgriff auf Heinrich Barths Denkfigur des »Ursprungs« im Vortrag von Tambach entstehe aus Karl Barths Bemühen um »Stabilisierung seines Gottesbegriffs«108 »im engsten Konnex mit der Universalfrage der Gesellschaft«109. Er ist laut Marquardt dadurch begründet, daß der »Ursprung« von Heinrich Barth als »'begründender Logos1« im »kritisch-transzendentalen« und nicht - wie in der Tradition des Spekulativen Idealismus, aber auch zuvor bei Karl Barth - im »ontologisch-immanenten Sinne« verstanden wurde.110 Anders als bei Heinrich Barth werde der »Ursprung« allerdings von Karl Barth nicht existentialistisch-individualistisch, sondern gegenständlich, nämlich gesellschaftsbezogen, interpretiert.111 Durch diese beiden Abgrenzungen erklärt sich die für Marquardts Rekonstruktion der Entwicklung von Barths Theologie wichtige These, daß »[d]as kritisch-idealistische Denken des 'Ursprungs' [...] Mittelglied zwischen dem [vor-dialektischen] Denken des 'Unmittelbaren1 und dem [für Barths spätere Theologie bezeichnenden] Denken der 'Gegenständlichkeit1 Gottes« sei.112 107

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A.a.O., 209. Vgl. auch a.a.O., 211: »Unbedingt sollte eine Arbeit über Barths Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie die enge Arbeitsgemeinschaft der Barth-Brüder beachten und möglicherweise diese zum Ausgangspunkt einer entsprechenden Darstellung machen [...].« A.a.O., 217. Vgl. a.a.O., 201; 228. A.a.O., 217. Vgl. a.a.O., 209f.;216f. Vgl. a.a.O., 218f. A.a.O., 217. Vgl. a.a.O., 276: »Seit der Abkehr vom Denken des 'Unmittelbaren1 und in Konsequenz der Logik des 'vorausschreitenden und begründenden1 Logos [Heinrich Barths] gilt [Karl] Barths Mühe vor allem dem Denken von Gottes 'Gegenständlichkeit'.«

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In seiner etwa zeitgleich mit Marquardts Untersuchung entstandenen, ursprünglich auf holländisch geschriebenen Dissertation behandelte Nico Bakker unter anderen philosophischen und theologischen Einflüssen auf die Zweitauflage des »Römerbriefs« auch den Neukantianismus. In dem entsprechenden Abschnitt113 geht Bakker zunächst auf die Bedeutung Heinrich Barths für die Römerbrief-Auslegung seines Bruders ein. Sie liegt seines Erachtens »darin, daß er die Motive der kritischen Philosophie auf das Problem der Gotteserkenntnis übertrug und anwendete«114. In diesem Zusammenhang spricht Bakker unter Verweis auf Oepke Noordmans vom »umgeschlagenen Neukantianismus«115 bei Karl und Heinrich Barth sowie davon, daß die Theologie des zweiten »Römerbriefs« an diese »philosophische Denkform« nicht gebunden sei.116 Bakker vermutet aber, daß »R[ömerbriefJ II nicht nur rein zufällig über jene neukantianische Einkleidung [verfügt]«117, und fragt nach einer »auf eine gemeinsame Wurzel zurückgehende[n] strukturellefn] Verwandtschaft beider«118. Die gemeinsame Wurzel findet er in der alttestamentlich-jüdischen Religiosität und deren »Distanzgefühl«119. Auf dieser Basis ergeben sich für Bakker folgende Strukturverwandtschaften zwischen Cohens Religionsphilosophie120 und der Zweitauflage von Barths »Römerbrief«: »die Trennung von Gott und Mensch«121; »die 113 114 115

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Bakker, 87-94. A.a.O., 88. Dieser Begriff scheint von Bakker geprägt zu sein. Noordmans erwähnt in dem Aufsatz, auf den sich Bakker bezieht, den Neukantianismus und Heinrich Barth nicht; wohl spricht er aber der Sache nach von einem »umgeschlagenen Cartesianismus« (s. o. S. 8). Letzterer Begriff findet sich mit Bezug auf Karl Barth erstmals van Oyen, 272 (»Een omgekeerd cartesianisme dus.«). Vgl. a.a.O., 89. Die zweite Aussage verträgt sich nur schlecht mit der folgenden aus dem Resümee Bakkers: »Die Theologie von R II war stark an der idealistischen Denkform des Neukantianismus orientiert« (a.a.O., 171; vgl. a.a.O., 56; 61). Die Rede von der idealistischen »Denkform« bei Barth verdankt sich der Barth-Interpretation Hans Urs von Balthasars (s. dazu u. S. 283 Anm. 281). Bakker, 89. Ebd. Ebd. Bakker bezieht sich auf Cohens postum erschienene »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums«. Bakker, 90.

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Einleitung

Ausschaltung der substantiellen Gottesidee«n2; die »Lehre von der 'Einzigkeit' Gottes im Blick auf das Sein«123. Der beiderseitige Rückgriff auf das Alte Testament an diesen drei Punkten dient freilich laut Bakker verschiedenen Interessen: Gehe es Cohen darum, daß der »sittliche[] Ernst des Menschen« nicht kompromittiert werde, so Barth um die »Souveränität Gottes«.124 Ebenfalls in den Niederlanden entstanden ist die 1974 erschienene Arbeit Hendrik Johan Adriaanses mit dem Titel »Zu den Sachen selbst«, die einen Vergleich der Denkansätze Husserls und Barths darstellt. Adriaanse stößt darin auf den »eigentümliche[n] Ausdruck Von Gott aus denken1 [,] der ein Motiv bezeichnet [,] das für Barths ganze theologische Erkenntnislehre bestimmend ist«125. »Im religiösen Akt ist nicht der Mensch Subjekt, sondern erweist Gott selbst sich als Subjekt.«126 Dieser »Subjekt-Wechsel«127 fuhrt aber nach Adriaanse auf »[d]ie legitime theologische Frage [,] wie dem Menschen eine Betrachtung von Gott aus möglich ist«128. Barth beantworte sie in der Zweitfassung des »Römerbriefs« »noch nicht theologisch, durch Entfaltung der Christologie und Pneumatologie«129, sondern durch Rekurs auf die »neukantisch-platonisch gefärbte Ursprungsphilosophie«130 seines Bruders Heinrich. »Indem Barth Gott im Sinne des Ursprungs versteht, wird nämlich die Bedingung erfüllt, unter der die erkenntnistheoretische Möglichkeit einer derartigen Betrachtung allein begreiflich ist: die Voraussetzung, daß zwischen dem Menschen und Gott irgendwie eine Identität des Bewußtseins besteht.«131 122 123 124 125

126 127 128 129

130 131

Ebd. A.a.O., 92. Vgl. a.a.O., 91. Adriaanse [1974], 59. Daß die damit gegebene Reduktion auf das »von Gott her Gegebene« »der Reduktion auf das phänomenologisch Gegebene bei Husserl ähnlich« (a.a.O., 186) sei, ist für Adriaanse Anlaß zu dem Versuch, »die (Offenbarungs)theologie [sc. Barths] als Phänomenologie von Gott« zu deuten (ebd.; vgl. a.a.O., 164). A.a.O., 59. Ebd.; a.a.O., 183; 191. A.a.O., 184. Ebd. A.a.O., 183. Ebd.

Die bisherigen Beiträge der Forschung

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Hatte Friedrich-Wilhelm Marquardt in seiner Habilitationsschrift besonders die Bedeutung Heinrich Barths für die Genese der Dialektischen Theologie Karl Barths herausgestellt, so ist es in den 1980 von ihm vorgelegten Analysen zur »Tambacher Rede« der Begründer der Marburger Schule selbst, Hermann Cohen, von dem aus Verbindungslinien zum Denken Karl Barths gezogen werden. Näherhin sind es Aussagen der Ethik Cohens, die Marquardt »[i]m Hintergrunde«132 jedes der Abschnitte des Vortrags stehen sieht.133 Aber auch ein längerer Abschnitt des zweiten »Römerbriefs«, der von Marquardt zur Erläuterung herangezogen wird, stellt nach ihm eine »Reproduktion entscheidender Bestimmungen der 'Ethik des reinen Willens' von Hermann Cohen, dem neukantianischen Lehrer Barths«134, dar. Ein weiterer kurzer Hinweis auf die Wichtigkeit des Neukantianismus für die Zweitauflage des »Römerbriefs« ist dem ein Jahr später erschienenen TRE-Artikel über die Dialektische Theologie aus der Feder von Wilfried Härle zu entnehmen. Ohne damit sachlich über die oben genannte Bemerkung Moltmanns hinauszugehen, erwähnt Härle in einem Absatz des Artikels, daß »[insbesondere Karl Barth [...] und Brunner [...] durch diesen Vortrag [sc. »Gotteserkenntnis«] und weitere Arbeiten Heinrich Barths stark beeinflußt« worden seien.135 »Es war besonders der aus einer eigenwilligen Kombination Platos und Kants entwickelte und gedeutete Begriff des Ursprungs, der von Karl Barth und Brunner alsbald aufgegriffen und an zentraler Stelle verarbeitet wurde«136. In die gleiche Richtung wies die Erwähnung Heinrich Barths in einer 1985 von Jean-Louis Leuba vorgelegten Studie zu den Bezügen zwischen platonischer Philosophie und Barthscher Theologie. Leuba attestiert darin für die »dialektische« Phase Barths »une composante platonicienne indeniable«137. Diese »platonische Komponente« sei Barth und den anderen Dialektischen Theologen durch Heinrich Barth vermittelt worden, in dem Leuba eine, wenn nicht die entscheidende Quelle ihrer 132 133 134 135

136 137

Marquardt [1980], 76. Vgl. a.a.O., 66f.; 70; 76-78. A.a.O., 52f. Härle [1981], 692. Ebd. Leuba, 153.

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Einleitung

Theologie sieht.138 Besonders Heinrich Barths Konzept des »Ursprungs« - »de type platonicien«139 - stellt Leuba in diesem Zusammenhang heraus.140 Der radikal transzendent gedachte »Ursprung«141 habe den Dialektischen Theologen das in der Depression der Nachkriegszeit gesuchte »sturmfreie[] Gebiet«1*2 dargeboten und sei für den Erfolg ihrer Theologie mitverantwortlich gewesen.143 Aus dem gleichen Jahr wie der Beitrag Leubas stammt Hendrikus Berkhofs »Reisebericht« durch die neuere Theologiegeschichte, in dem er auch zur Genese der Dialektischen Theologie Barths Stellung nahm. Berkhof unterscheidet sich insofern von den bisher genannten Autoren, als er zwar einen Einfluß von Heinrich Barths Vortrag »Gotteserkenntnis« auf Karl Barths Dialektische Theologie registriert,144 diesen Einfluß jedoch als für die Umgestaltung von Barths Theologie nach dem ersten »Römerbrief« relativ unbedeutend ansieht.145 »[NJicht auf intellektuellem Gebiet, sondern in der Tiefe des 'Lebensgefühls1«146 sei der Grund für diese Umgestaltung zu suchen. Berkhof wendet sich damit ausdrücklich gegen die Interpretationen von Marquardt und Adriaanse.147 138 Ygi a a o., 160: »Aussi bien la pensee de ce philosophe [sc. Heinrich Barth], nettement orientee sur Platon - par delä Kierkegaard, le neokantisme de Marbourg et Kant lui-meme - constitue-t-elle l'une des sources, sinon la source essentielle oü vinrent s'alimenter les theologiens 'dialectiques' de l'epoque pour exprimer leurs propres preoccupations.« 139 A.a.O., 162. 140 Vgl. aber auch a.a.O., 166: »Les categories platoniciennes d'Ursprung, d'idee, de manifestation, de phenomene (categories presentes parfois sous leur forme kantienne ou neokantienne) auxquelles Barth a explicitement recouru au temps du Römerbrief z\ meme encore de la Christliche Dogmatik [...].« 141 A.a.O., 168, spricht Leuba vom »dualisme, encore assez sommaire, postule par le Römerbrief«. 142 A.a.O., 163. Leuba bezieht sich mit dieser Wendung auf Martin Kahler. 143 Vgl. a.a.O., 153; 162f. 144 Ygi Berkhof, 191: »Es besteht kein Zweifel darüber, daß Barth die Anwendung des Wortes 'Ursprung' in seinem Tambacher Vortrag und kurz danach in der zweiten Auflage seines 'Römerbriefs1 diesem Vortrag seines Bruders verdankt [...].« 145 Ygj a a o., 195: »Die philosophischen Begriffe spielen dabei eine untergeordnete Rolle.« Vgl. auch a.a.O., 196. 146 A.a.O., 196. 147 Vgl. a.a.O., 197 Anm. 37.

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Stand die Erforschung der theologischen Anfänge Barths zuvor deutlich im Schatten der Aufarbeitung der »Kirchlichen Dogmatik«, so brachten die 80er Jahre gleich mehrere Monographien zur frühen Theologie Barths,148 die allesamt auch mehr oder weniger ausführlich auf Barths Verhältnis zum Neukantianismus zu sprechen kommen. Vom Publikationsdatum (1985) her als erste dieser Arbeiten ist die Dissertation von Ingrid Spieckermann über »Gotteserkenntnis« als »Grundfrage der neuen Theologie Karl Barths«149 zu nennen. Sie versteht sich als »systematisch«, nicht »historisch-genetisch« ausgerichtete Untersuchung150 und möchte dementsprechend unter den »Einflüssen und Abhängigkeiten« der Theologie Barths nur eine »Auswahl bestimmter, für die jeweilige Explikationsgestalt signifikanter rezipierter Denkelemente« 148

149

150

Dieses vermehrte Interesse am »frühen« Barth dürfte seinen Motor u. a. darin haben, daß im Rahmen der Karl Barth-Gesamtausgabe wichtige Texte seiner theologischen Frühzeit, angefangen beim Briefwechsel mit Thurneysen, erstmals vollständig publiziert wurden. Ferner ist auf die umstrittene Habilitationsschrift Marquardts als Impulsgeber hinzuweisen. Als »neue Theologie« bezeichnet Spieckermann die 1914/15 (so Spieckermann, 149; 181; 190; a.a.O., 77, heißt es davon abweichend: »1914/16«) erfolgte, die Orientierung der Liberalen Theologie am menschlichen Subjekt »radikal umkehrende« (vgl. a.a.O., 73: »radikale Umkehrung der Denkrichtung«) »Wieder- und Neuentdeckung des in der Tat seiner Offenbarung allererst selbst zum Menschen in Relation tretenden und so mit sich selbst seine Erkenntnis voraussetzenden Gottes« (a.a.O., 77), durch die der Theologie »also nicht die eigenmächtige Konstitution Gottes als eines - und sei es durch Offenbarung' - menschenmöglichen Gegenstands, sondern seine folgsame Wahr-nehmung als dieses in souveräner Gotteswirklichkeit sich selbst in seinem Wort in Jesus Christus am (hier der eigenen Ohnmacht ansichtig werdenden) Menschen erweisende Subjekt« (ebd.) als Problem aufgegeben sei. Es ist - neben dem Insistieren darauf, daß diese »Wieder- und Neuentdeckung« theologisch und nicht geistesgeschichtlich motiviert sei (vgl. a.a.O., 72f.; 215) - die Grundthese von Spieckermanns Arbeit, daß unter der so spezifizierten Leitfrage der »Gotteserkenntnis« sich die »neue Theologie« Barths »zu einer überraschenden, in ihren Wendungen und Korrekturen nicht zufälligen und disparaten, sondern folgerichtigen und stetigen dynamischen Einheit zusammenschließt]« (a.a.O., 19), gegliedert lediglich in zwei Etappen, die durch Barths Anselm-Buch markiert sind (vgl. ebd.). Das »entwicklungsgeschichtlichef] Schema« (a.a.O., 19) bzw. der »entwicklungsgeschichtlichen Schein« (a.a.O., 109 Anm. 3) werden ausdrücklich abgewiesen.

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darstellen.151 Umso bedeutsamer ist es, daß Spieckermann vergleichsweise viel Raum der Philosophie Heinrich Barths und ihrem Verhältnis zur »neuen Theologie« Karl Barths widmet.152 Das Ergebnis dieser Betrachtung lautet (in ausdrücklicher Antithese zu Marquardt)153: Es bestehe zwar eine »Parallelität«154 zwischen dem »theologischen Sachanliegen K. Barths« und dem »kritisch-idealistischen Ursprungsdenken H. Barths«155, und das Anliegen Karl Barths gelange »durch die 'Grenzklärung1 des im Resultat parallelen philosophischen Denkens H. Barths im zweiten 'Römerbrief zu klarerer Aussprache«156, doch handle es sich um eine »bloße Parallelität«157. An entscheidender Stelle sieht Spieckermann einen Dissens zwischen den Brüdern. Während der »Ursprung« bei Heinrich Barth ein allgemeines Prinzip repräsentiere, gelte für seine »originär theologischf]« motivierte158 - Rezeption bei Karl Barth: »Der Ursprung ist nicht Prinzip und darum auch nicht allgemein, sondern relative Explikationskategorie der höchst besonderen göttlichen Tat der Gotteserkenntnis im Christus und der exklusiv in ihr wahren und wirklichen Gottesbeziehung des Menschen.«159 Außer diesen Aussagen zum Verhältnis der Gedanken Karl und Heinrich Barths ist aus der Arbeit Spieckermanns noch für das hier verhandelte Thema bemerkenswert, daß Spieckermann den Begriff des »Ursprungs« in der ersten Auflage des »Römerbriefs« nicht auf den Neukantianismus, sondern auf Hermann Kutter zurückführt.160 In seiner 1977/78 abgeschlossenen, aber erst 1987 in Buchform veröffentlichten Dissertation zur »Diastasentheologie in Karl Barths zweitem 'Römerbrief« wies Werner M. Ruschke verschiedentlich auf Parallelen im Denken von Heinrich und Karl Barth hin, wobei auch bei ihm der 151

Vgl. a.a.O., 20 Anm. 36. Vgl. a.a.O., 108-121; 167f.; 190f. 153 Ygj a a o., Ulf Anm. 14. Vgl. auch a.a.O., 134f, die Kritik an der oben genannten Arbeit von Gerhard Krüger. 154 A.a.O., 117f; 134. 155 A.a.O., 134. 156 A.a.O., 190. 157 A.a.O., 119. 158 A.a.O., 118. 159 A.a.O., 120. Vgl. a.a.O., 168; 191. 160 Vgl. a.a.O., 92-95. 152

Die bisherigen Beiträge der Forschung

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»Kategorie Ursprung« das besondere Augenmerk gilt.161 Um ihre Bedeutung für die Zweitauflage des »Römerbriefs« zu ermitteln, stellt Ruschke nacheinander den Gedanken des »Ursprungs« bei Karl und Heinrich Barth sowie Cohen dar. Ergebnis. Aus dem logischen »Ursprungs«-Begriff Cohens sei bei den Barth-Brüdern ein theologischer geworden. Dem »Ursprung« komme bei dieser Transposition nur begrifflich-funktionale, keine inhaltliche Bedeutung zu.162 Heinrich Barth hat nach dieser Interpretation zwar einen Beitrag zur Theologie des zweiten »Römerbriefs« geliefert, aber nur für deren Ausformulierung.163 Analog äußert sich Ruschke hinsichtlich des Barthschen Rückgriffs auf die Dialektik Kierkegaards,164 der platonischen Elemente165 und des im zweiten »Römerbrief« zugrunde liegenden Verhältnisses von Theologie 161

162

163

164

165

Vgl. Ruschke, 111-125. Vgl. außerdem a.a.O., 57f. (Bedeutung der Frage); SSSV (Ethik); 141 (dito). vgi a a.O., 124: »Ursprung ist bei H. Barth und K. Barth kein spekulatives, neue Dimensionen eröffnen wollendes Prinzip, sondern ein synthetisches, das die Mannigfaltigkeit der biblisch-theologischen Aussagen in einem Begriff verdichtet. Darum dringt nichts Neues von außen in die Theologie ein, sondern das Bekannte wird zusammenfassend durch einen für die Theologie neuen Begriff interpretiert. Alles in RII mit dem Begriff Ursprung Gesagte läßt sich unverkürzt auch ohne diesen Begriff ausdrücken. Der Ursprungsbegriff hängt von der theologischen Aussage ab und nicht die theologische Aussage vom Ursprungsbegriff! In diesem Sinne ist Ursprung in RII ein funktionaler und kein inhaltlicher Begriff.« Ebd. Anm. 55 lehnt Ruschke Thurneysens Negation neukantianischer Begrifflichkeit bei Karl Barth (s. o. S. 15f.) ab und schließt sich Barths Rede von der »Kruste kantisch-platonischer Begriffe« (s. u. S. 376) an. Dazu Ruschke ebd.: »Die Kruste aber macht nicht das Brot aus.« vgi Ruschke, 12 If.: »Ganz gewiß aber hat Heinrich Barth dadurch, daß Karl von ihm den Ursprungsbegriff in kritischer Interpretation übernommen hat [...J, wesentlich mit dazu beigetragen, daß in RII der Gedanke der absoluten Transzendenz Gottes, also die Diastase, so deutlich ausformuliert [!] wurde.« Vgl. a.a.O., 63 (»Offenbar also dienen Kierkegaards Gedanken Barth zur Ausformulierung und Verdeutlichung der Diastase [...].«); 64 (»Dialektik und Paradox folgen den Wegen des [paulinischen] Römerbriefes und gestalten diese formal aus, unterstehen sich aber, inhaltlich die Richtung des Römerbriefes bestimmen zu wollen. [...] Die Dialektik bei Barth ist ein theologisches, kein philosophisches Prinzip.«). Vgl. a.a.O., 138: »Interessant ist der Corpus der Barthschen Theologie, und nur aus diesem Grunde, aber erst in zweiter Linie, das Kleid, in dem dieser einherschreitet.«

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Einleitung

und Philosophie im allgemeinen.166 Hintergrund dieser Bewertungen ist Ruschkes Kernthese, daß die Diastase (zwischen Gott und Mensch bzw. Welt) die Grundvoraussetzung von Barths Dialektischer Theologie sei.167 Die Diastase aber ist laut Ruschke kein philosophisches Prinzip, sondern Barth hat sie »durch die Bibel erkannt[]«168. Michael Beintker stellte in seiner Habilitationsschrift zur »Dialektik in der 'dialektischen Theologie1 Karl Barths«, die im gleichen Jahr wie die Arbeit Ruschkes veröffentlicht wurde, die Bedeutung des Neukantianismus für diese Dialektik heraus. Besonderen Wert legt Beintker dabei auf die Feststellung, daß diese Bedeutung entgegen dem ersten Augenschein und der Meinung vieler Barth-Exegeten die Kierkegaards übertrifft.169 Weiterhin wird von Beintker betont, daß es der »theozentrisch pointierte« Neukantianismus Heinrich Barths gewesen sei, den Karl Barth rezipierte.170 Daß diese Rezeption »in so erstaunlicher Unbefangen166 Ygi a a o., 142: »Barth mißt die Philosophie mit einem theologisch gewonnenen Maßstab; nicht aber bestimmt Philosophie, was die Theologie sagen darf. Barth ist nicht theologischer Neukantianer, wohl aber sieht er in der neukantianisch interpretierten Philosophie Kants und Platos geeignete Weggenossen.« Ruschke widmet diesem Verhältnis einen recht langen Abschnitt (a.a.O., 139147). 167 Vgl. a.a.O., 6f; 69; 88; 96; 107; 108; 151. 168 A.a.O., 64. 169 Die entscheidende These lautet: »Kants Philosophie - vermittelt durch die Kantinterpretation des Marburger Neukantianismus und dessen Fassung durch Heinrich Barth - bildet das eigentliche philosophische Orientierungsgefüge der Barthschen Dialektik. Entscheidende Begrifflichkeiten, Motive, Strukturen dieser Dialektik erwuchsen primär aus Barths Begegnung mit einem bestimmten Typus des Neukantianismus. Das bedeutet, daß wir den Einfluß der Dialektik Sören Kierkegaards auf die Dialektik von Römer II nicht überschätzen dürfen, ihr Stellenwert ist begrenzter, als man zunächst vermutet« (Beintker [1987], 223). Vgl. insgesamt a.a.O., 222-238, insbesondere noch a.a.O., 233: »Auf Grund der zumeist stillschweigenden Verwendung neukantianischer Topoi und der häufigen expliziten Bezugnahme auf Kierkegaard kann man bei der Lektüre von Römer II sehr leicht der optischen Täuschung erliegen, als bilde Kierkegaards Werk den eigentlichen und authentischen Hintergrund der Barthschen Dialektik. Das ist nicht uneingeschränkt zu akzeptieren.« S. auch u. S. 303 Anm. 325. no Vgi Beintker [1987], 239. Ebd. schließt sich Beintker an die Rede (Noordmans1 und) Bakkers vom »umgeschlagenen Neukantianismus« bei Heinrich Barth an.

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heit«171 erfolgt sei, erklärt Beintker dementsprechend daraus, daß Karl Barth bei seinem Bruder eine »philosophia Christiana«172 begegnet sei. Karl Barth habe aus ihr »entscheidende Begrifflichkeiten und Denkstrukturen«173, vor allem das Prinzip des »Ursprungs«, entliehen, doch unter dem Primat theologischer Prämissen.174 Ebenfalls 1987 erschien eine Monographie von Cornells van der Kooi zur Entwicklung der Barthschen Theologie zwischen 1909 und 1927, und auch van der Kooi sieht den Marburger Neukantianismus als für diese Entwicklung bedeutsam an. Barths Theologie bis 1914 wird von ihm »[zjwischen Cohen und Herrmann«175 angesiedelt. Barth sei damals »in seiner Auffassung von dem Status wissenschaftlicher Erkenntnis in hohem Maße vom Neukantianismus Hermann Cohens abhängig«176 gewesen. Er sei »der Meinung gewesen, daß die Philosophie Cohens und die Theologie Herrmanns für die Beantwortung der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Kultur und Religion fruchtbar miteinander verbunden werden könnten«177. Stärker noch als diese frühen Verbindungslinien zu Cohen wird von van der Kooi der Einfluß Heinrich Barths auf Karl Barths Entwicklung zwischen erster und zweiter Auflage des »Römerbriefs« betont. Heinrich Barth und sein Begriff des »Ursprungs« erscheinen in der Darstellung van der Koois ähnlich wie bei Beintker als die entscheidenden unter den verschiedenen Faktoren, die zum »dialektischen« Neuansatz Karl Barths im »Römerbrief« von 1922 führten.178 Vgl. auch a.a.O., 226: »Das bei den beiden großen Marburgern [sc. Cohen und Natorp] weitgehend noetisch aufgefaßte Prinzip gerät bei Heinrich Barth in ontologische Dimensionen [...].« 171 A.a.O., 229. 172 A.a.O., 230. 173 A.a.O., 229. 174 Ygj jjg Sätze, mit denen Beintker die Erörterung der Hintergründe der Dialektik Barths einleitet: »So wollen wir zwar den Einfluß philosophischer Argumentationsmuster und Denkformen auf die Explikation des theologischen Themas bei Barth keineswegs bestreiten. Aber generell möchten wir den Primat der theologischen Sachentscheidungen vor deren Ausarbeitung auch mit Hilfe philosophischer Denkstrukturen festhalten« (a.a.O., 204). 175 So der Titel eines Exkurses van der Kooi, 36-38. 176 A.a.O., 36. 177 A.a.O., 38. 178 Vg, van der Kooi 123-128; 152-157; 242 (für Zitate s. u. S. 303 Anm. 325).

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1988 legte Simon Fisher die bislang einzige explizit dem Themenkreis »Karl Barth und der Neukantianismus« gewidmete Monographie unter dem Titel »Earth's Earliest Theology and the Marburg School« vor. Unter der »frühesten« Phase sind dabei - wie in der hier vorliegenden Arbeit auch - die Jahre 1909-1914 verstanden. Aufgrund dieser Beschränkung bildet Fishers Untersuchung keinen direkten Beitrag zur Frage nach der Rezeption des Neukantianismus im »Römerbrief«, wohl aber einen indirekten, da durch Fisher die Vorgeschichte dieser Rezeption aufgehellt wird. Fishers Ergebnisse werden unten an entsprechender Stelle vorgestellt und diskutiert.179 Es sei lediglich vorgreifend auf das Fazit Fishers hingewiesen, wonach Barths Rezeption des Neukantianismus in dieser frühen Phase eklektisch erfolgt und der Theologie in jedem Fall der Primat gegenüber der Philosophie zukommt. »Barths Theologie hat ihre Wurzeln im Neukantianismus«180. - Mit dieser provozierenden These begann Jan Rohls innerhalb eines Aufsatzes ebenfalls aus dem Jahr 1988 seine Beschreibung von Barths Weg zu dem theologischen Programm einer »antirationalistische[n], rein glaubensbezogene[n] Offenbarungstheologie, durchgängig operierend mit dem Gedanken der Priorität des Ontischen vor dem Noetischen«181, wie 179

180 181

S. u. S. 209f. Anm. 20. Noch in einer anderen als der zeitlichen Hinsicht ist der Fragehorizont in Fishers und der hier vorliegenden Arbeit ein anderer. Fisher rechnet auch Wilhelm Herrmann zur Marburger Schule (vgl. Fisher, 170: »the Marburg School, in both its theological and philosophical guises«) und bezieht daher auch die Theologie Herrmanns und deren - ganz wesentlichen - Einfluß auf die »früheste« Theologie Barths mit in seine Untersuchung ein. In der vorliegenden Arbeit wird hingegen Herrmann nur ganz am Rande behandelt. Dies geschieht aus folgenden zwei Überlegungen: Zum einen bestehen grundsätzliche Unterschiede im Denken des theologischen (Herrmann) und philosophischen (Cohen und Natorp) Marburg der Vorkriegszeit (s. dazu u. S. 119f.), die im übrigen auch Fisher nicht verborgen sind (s. u. S. 209f. Anm. 20). Daher sollte man Herrmann besser nicht zur Marburger Schule zählen; eine gesonderte Untersuchung der Barthschen Rezeption der Marburger Philosophie ist möglich, ja empfiehlt sich sogar. Zum anderen hat sich Barth zum Zeitpunkt schon der ersten Auflage des »Römerbriefs« weitgehend von Herrmann gelöst (ohne daß damit ein unterschwelliges Fortwirken Herrmannscher Einflüsse, die aber eben eine gesonderte Behandlung erfordern, bestritten werden soll). Rohls, 414. A.a.O., 432.

Die bisherigen Beiträge der Forschung

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es in »Fides quaerens intellectum« vorliege. Die These erklärt sich aus Rohls1 Beobachtung, daß es zunächst im ersten »Römerbrief« bei Barth zu einer »Wende vom Subjekt zum Objekt [...], so daß der Glaube nunmehr von dem ihn konstituierenden Gegenstand, Gott, her verstanden werden muß«182, gekommen sei. Dem sei im Vortrag von Tambach dann die Ersetzung der in Barths erster Römerbrief-Auslegung »noch im Sinne Schellings als Immanenz gedacht[en]«183 Ursprungsunmittelbarkeit durch einen transzendenten Begriff des »Ursprungs« gefolgt.184 Manches an dieser Entwicklung Barths entspricht nun nach Rohls »ganz allgemein der expressionistischen Menschheitsdämmerung«185. »Aber speziell der Gedanke der Transzendenz des Ursprungs ist nur verständlich auf dem Hintergrund der Zersetzung des transzendentalphilosophischen Ansatzes, den der Neukantianismus mit der Phänomenologie Husserls teilte.«186 Als Beleg für diese Entwicklung des Neukantianismus verweist Rohls auf die späte Religionsphilosophie Cohens sowie die »Philosophie des Transzendenten«187 des alten Natorp. Diese »antiidealistische Ursprungsmetaphysik des Marburger Spätneukantianismus«188, mit der dieser »die Absage an die idealistische Vernunft mit[vollzieht], die Achsendrehung des Geistes vom Subjekt zum Objekt, die eine Wende zum Realen, zum Sein, zur Person, zur Existenz oder eben zum transzendenten Gott sein kann«189, habe Heinrich Barth seinem Bruder vermittelt. Rohls kommt am Ende des Aufsatzes auf die so herausgearbeitete Wurzel Barths im »Spätneukantianismus« zurück, indem er in ihr einen Aspekt der »verborgene[n] Verwandtschaft zwischen der Theologie des reifen Barth und der Philosophie des späten Heidegger«190 findet. 182 183 184

185 186 187 188

189 190

A.a.O., 416f. A.a.O., 417. Vgl. ebd.: »[D]as Unmittelbare, der Ursprung, das ist nun die transzendente, nur im jenseitigen Gott, nicht im Diesseits existierende Synthesis von Ja und Nein, Thesis und Antithesis. Die Immanenz ist aufgehoben zugunsten der Transzendenz.« Ebd. Ebd. Ebd. A.a.O., 418. Ebd. A.a.O., 433.

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Von philosophischer Seite aus hat 1990 Günther Hauff innerhalb eines Abrisses der Philosophie Heinrich Barths in einem kurzen Exkurs zur »Bedeutung des Ursprungsgedankens für die Theologie Karl Barths« Stellung genommen.191 Neu ist dabei gegenüber den bisher angeführten Beiträgen die Betonung, die Hauff darauf legt, daß es sich zwischen den Brüdern um ein gegenseitiges Sich-Beeinflussen gehandelt habe. Das zusammenfassende Urteil Hauffs, das er durch ein zuvor unveröffentlichtes Zitat aus einem Brief Heinrich Barths an Karl Barth von 1927 untermauert,192 lautet: »Heinrich Barth hat den Ursprungsbegriff in einem vertieften Sinne dargelegt. Karl Barth hat mit seinem kraftvollen Einsatz, wenigstens für einen Bereich der Theologie, die 'Diastase' von Mensch und Gott so deutlich gemacht, dass der Ursprungsgedanke in diesem 'Umfeld' von Heinrich Barth weiter bedacht und dann [in der »Philosophie der praktischen Vernunft«] als 'transzendentale Transzendenz' ausgesprochen werden konnte.«193 Der letzte Hinweis an dieser Stelle gilt Herbert Anzingers 1991 erschienener Studie zur Entwicklung der Theologie Barths bis einschließlich des ersten »Römerbriefs«, die eine erweiterte Fassung einer Heidelberger Dissertation von 1984 darstellt. Anzinger bringt an mehreren Stellen dieser Entwicklung Einflüsse des Marburger Neukantianismus in Vorschlag.194 An entscheidender Stelle fällt sein Urteil allerdings negativ aus. Bezüglich der Erstauflage des »Römerbriefs« heißt es nach Darstellung der - von Anzinger als stark differierend eingeschätzten - Konzeptionen des »Ursprungs« bei Cohen und Heinrich Barth: »Als Zwischenergebnis läßt sich festhalten, daß der Ursprungsbegriff des ersten 191 192

193 194

Vgl. Hauff, 46f. »Ich weiss nicht, wo ich jetzt stehen würde, wenn Du nicht diese neue theologische Umwelt geschaffen hättest [notabene ein Beleg fiiir die Bedeutung, die Heinrich Barth dem Bruder - und ihm allein - für die Entstehung der Dialektischen Theologie beimaß!] ... Das Geben und Empfangen geschieht eben in diesem Bereiche unnachweisbar. Darum ist es eine Sache der Dankbarkeit, das recepisse auch öffentlich zu bekunden« (Brief vom 16.10.1927; zit. Hauff, 47; Heinrich Barth begründet mit diesen Sätzen, warum er Karl (und Peter) Barth seine »Philosophie der praktischen Vernunft« widmete). Für zwei Beispiele einer solchen Rezeption Karl Barths durch Heinrich Barth s. u. S. 218 Anm. 48 und S. 240 Anm. 122. Hauff, 47. Vgl. Anzinger, 34 Anm. 40; 38-44; 68f.; 76f.; 182.

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'Römerbriefs1 sich jedenfalls nicht dem Neukantianismus verdankte, weder in der Gestalt, die Heinrich Barth ihm zu geben versucht hat, noch gar in der von Cohen vertretenen Variante.«195 Stattdessen vermutet Anzinger im Anschluß an Spieckermann eine Beeinflussung dieses »Ursprungsbegriff[s]« durch Hermann Kutter.196 Faßt man diesen Forschungsüberblick zusammen, so ist zunächst zu wiederholen, daß sich nach der genannten Bemerkung Moltmanns das Forschungsinteresse fast ganz auf Karl Barths Verhältnis zu Heinrich Barth und dessen »Ursprungs«-Gedanken konzentriert hat. Weiterhin ist auffällig, wie unterschiedlich die Bedeutsamkeit des Neukantianismus für die Theologie Barths eingeschätzt wird. Das Spektrum reicht von der Aussage Thurneysens, wonach Barth nicht einmal neukantianische »Begriffsformen« verwendet habe, bis zur These Zerbes, daß Barth eher eine (neukantianische) Philosophie als eine Theologie treibe. Seit den 70er Jahren hat sich allerdings ein gewisser Konsens in der Mitte zwischen diesen beiden Extremen herausgebildet insofern, als die Mehrzahl der Autoren zwar auf die Beziehungen zwischen Barth und dem Neukantianismus hinweist, zugleich aber betont, daß im zweiten »Römerbrief« - hinsichtlich der Erstauflage werden solche Beziehungen kaum diskutiert - der Theologie gegenüber der Philosophie deutlich der Primat zukomme. Auf dieser Basis ist dann von der Rezeption des Neukantianismus zur »Ausformulierung«, als »Denkform«, »Argumentationsmuster« und »Begrifflichkeit« für die Theologie Barths die Rede. Zwar gibt es auch innerhalb dieser Position Abstufungen - Spieckermann nähert sich mit ihrer Rede von einer »bloßen Parallelität« der Gedanken Karl und Heinrich Barths sowie mit der Verabschiedung der entwicklungsgeschichtlichen Fragestellung der Auffassung Thurneysens an, während Beintker bei allem Insistieren auf dem »Primat der theologischen Sachentscheidungen« doch Wert darauflegt, die Relevanz der von Barth verarbeiteten Einflüsse herauszustellen -, doch kann man durchaus von einem Konsens der Forschung sprechen. Als abweichende Meinungen sind aus jüngerer Zeit nur Marquardt, für den eine »Abhängigkeit« Karl Barths von Heinrich Barth besteht, sowie Rohls

195 196

A.a.O., 149. Vgl. a.a.O., 150f.

32

Einleitung

mit seiner These von der Verwurzelung der Theologie Barths im Neukantianismus zu notieren.197

197

Zu Rohls ist noch hinzuzufügen, daß er im Gesamt der gegenwärtig diskutierten Barth-Interpretationen keineswegs die Außenseiterposition einnimmt, die ihm in obigem Forschungsbericht in gewisser Weise zukommt. Rohls beendet seinen oben genannten Aufsatz damit, daß er sich der Barth-Kritik der »Münchener Schule« (Rohls, 434) anschließt, und in der Tat ist sein Beitrag im Kontext dieser »Schule« der Barth-Interpretation zu sehen. Sie wurde inauguriert durch einen 1972 erschienenen Aufsatz Trutz Rendtorffs mit dem Titel »Radikale Autonomie Gottes« und ist methodisch gekennzeichnet durch die Forderung nach einer konsequenten Historisierung der Barth-Interpretation. (Am deutlichsten aus dem Rendtorff-Kreis hat sich in dieser Hinsicht Friedrich Wilhelm Graf ausgesprochen. Vgl. Graf, 422: »In diesem Sinne plädiere ich für eine Historisierung der Barth-Interpretation.«) Inhaltlich wirkt sich diese Historisierung so aus, daß Karl Barths Schülerschaft bei Wilhelm Herrmann und damit seine Verwurzelung in der Liberalen Theologie betont wird. Wie in dieser und der gesamten Aufklärung sei der Autonomiegedanke der »Zielpunkt« auch der Theologie Barths, nur sei es bei ihm »nicht die Freiheit und Autonomie des Menschen, sondern die Freiheit und Autonomie Gottes«, die im Zentrum stehe (vgl. Rendtorff, 164). Damit stehe Barth zwar im Gegensatz zur historischen Gestalt der Aufklärung, indem er jedoch die Autonomie Gottes radikal zu denken versuche, setzt Barth nach Rendtorff den Prozeß der Aufklärung legitim fort (vgl. a.a.O., 165: »Die Aufklärung muß entweder radikal durchgeführt werden, die Autonomie sich rein durchsetzen, oder sie findet gar nicht statt.«). Wird somit der Prozeß einer solchen Gegenaufklärung von Rendtorff im Kern durchaus positiv bewertet, so ist der Gedanke der »radikalen Autonomie Gottes« innerhalb des Rendtorff-Kreises bald Ausgangspunkt einer harschen Kritik an Barth geworden, indem er in Parallele zu totalitaristischen bzw. faschistischen Strömungen des 20. Jahrhunderts gesetzt wird. An dieser Stelle hat auch der Aufsatz von Rohls seinen Ort. (Die Ausgangsthese Rendtorffs, ihre Weiterentwicklung und die Diskussion darum bis zu den frühen 80er Jahren wird dargestellt bei Macken, 184-206; 352-357. Als kritische Stellungnahmen aus späterer Zeit vgl. Krötke, passim; Anzinger, 253-256; Gundlach, 81-95.)

Zur Disposition der vorliegenden Untersuchung

33

0.3. Zur Disposition der vorliegenden Untersuchung Die vorstehenden Betrachtungen zur Forschungsgeschichte der Neukantianismus-Rezeption in Barths »Römerbrief« geben wichtige Aufschlüsse hinsichtlich des weiteren Vorgehens: Die Untersuchung kann sich auf die Rezeption des Marburger Neukantianismus beschränken; ein Schwerpunkt muß auf den Gedanken des »Ursprungs« gelegt werden. Doch darf dieser Schwerpunkt keinesfalls die einzige Perspektive sein, unter der der Marburger Neukantianismus wahrzunehmen ist. Ein Problem der Forschung, das die divergenten Ergebnisse zu einem guten Teil erklärt, liegt vielmehr gerade darin, daß die Betrachtung des Neukantianismus nur aspekthaft und aufrecht schmaler Quellenbasis erfolgt. Dies ist nicht weiter verwunderlich und auch kaum zu kritisieren, weil das Thema bisher nur in Aufsätzen oder im Rahmen von anderen Fragestellungen gewidmeten größeren Arbeiten behandelt worden ist. Es ist die Chance einer monographischen Untersuchung wie der vorliegenden, demgegenüber das Phänomen »Neukantianismus«, wie es sich Barth präsentierte, als ganzes, einschließlich seiner Absichten und inneren Probleme, in den Blick zu nehmen. Dabei wird es auch darum gehen, in der Forschung weitergereichte Formeln wie die vom »umgeschlagenen Neukantianismus« bei Heinrich Barth zu überprüfen. Doch nicht nur, was die philosophische Seite betrifft, ist die Perspektive der dargestellten Forschungsbeiträge verengt. Auch die Rezeption des Neukantianismus durch Karl Barth selbst wird größtenteils nur in starker Beschränkung, nämlich anhand eines Werkes, der Zweitauflage des »Römerbriefs«, untersucht. Nun stellt sich zwar das Problem der NeukantianismusRezeption Barths bei diesem Werk zweifellos am dringendsten. Doch darf darüber die Vor- und Nachgeschichte des zweiten »Römerbriefs« nicht vernachlässigt werden. Erst ihre Einbeziehung in die Untersuchung kann diese relevant machen für ein Verständnis des Gesamts der Barthschen Theologie. Mit diesen Gedanken ist eine methodische Vorentscheidung verbunden. Generell bestehen für eine rezeptionsgeschichtliche Untersuchung wie die vorliegende zwei Möglichkeiten. Zum einen könnten die theologischen Hauptgedanken der Barthschen Römerbrief-Auslegung der Reihe nach referiert werden und in dieses Referat dann an entsprechender Stelle exkursartig die neukantianischen Philosopheme, die bei diesen

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Einleitung

Gedanken möglicherweise im Hintergrund stehen, eingearbeitet werden. Der Nachteil einer solchen Art der Darstellung liegt auf der Hand: Sie würde ein ständiges Hin- und Herspringen von Barth zum Neukantianismus und zurück erfordern, was der Verständlichkeit abträglich wäre. Zudem würde sie gerade die eben inkriminierte aspekthafte Wahrnehmung des Neukantianismus befördern. Deshalb wird in der vorliegenden Arbeit der andere Weg beschritten: Die Elemente der neukantianischen Philosophie, die für eine Rezeption seitens Barths in Frage kommen, werden zunächst en bloc behandelt, ehe dann die Erst- und Zweitauflage des »Römerbriefs« auf eine solche Rezeption hin untersucht werden. Neben der Übersichtlichkeit spricht für ein derartiges Verfahren auch, daß es weitgehend der Chronologie folgt, so daß Weiterentwicklungen, etwa des Gedankens des »Ursprungs« von Cohen über Natorp und Heinrich Barth zu Karl Barth hin, nachvollzogen werden können. Nach diesen prinzipiellen Überlegungen steht es nun noch aus, die gewählte Disposition im einzelnen zu begründen. Das erste Kapitel stellt eine systematische und historische Annäherung an das Phänomen »Neukantianismus« dar. Eine derartige Annäherung empfiehlt sich, da der Neukantianismus heutzutage eine weitgehend vergessene philosophische Richtung ist. Soll der Begriff »Neukantianismus«, der schon im Titel der vorliegenden Arbeit auftaucht, keine bloße Worthülse bleiben, so muß wenigstens im Ansatz geklärt werden, was sich hinter diesem Etikett verbirgt. Es folgen Darstellungen von Grundelementen der Philosophie Cohens, Natorps und Heinrich Barths. Die Beschränkung auf diese drei Autoren und damit auf den Marburger Neukantianismus ergibt sich, wie schon gesagt, aus den bisherigen Ausführungen dieser Einleitung.198 Die Beschränkung der Darstellung auf »Grundelemente« ihrer Philosophie ergibt sich aus der Themenstellung der Arbeit: Nur das, was für eine Rezeption durch Karl Barth von Belang ist, soll in die Darstellung ein-

198

Es mag vielleicht überraschen, daß der wirkungsgeschichtlich bedeutsamste unter den Marburger Neukantianern, Ernst Cassirer, in dieser Untersuchung ausgeklammert wird. Doch gibt es keine Hinweise darauf, daß Karl Barth eine tiefere Kenntnis der Philosophie Cassirers besaß. Als Barth in Marburg studierte, war Cassirer bereits in Berlin tätig. In der Bibliothek Barths befinden sich keine Schriften Cassirers (Mitteilung von Herrn Dr. Dr. Hinrich Stoevesandt vom Karl Barth-Archiv, Basel).

Zur Disposition der vorliegenden Untersuchung

35

fließen.199 Jedoch wird, damit die einzelnen Gedanken, die von Interesse sind, nicht isoliert und unverständlich im Raum stehen, ein Abschnitt mit »Grundlagen« der Philosophie des jeweiligen Denkers vorangestellt. An diesen philosophischen Teil schließt sich als zentrales Kapitel der Untersuchung die Analyse von erster und zweiter Fassung des »Römerbriefs« unter dem Gesichtspunkt der Neukantianismus-Rezeption an. Als wichtiger Zwischenschritt wird das Verhältnis der »Tambacher Rede« zu Heinrich Barths Vortrag »Gotteserkenntnis« erörtert. Zwei weitere Kapitel folgen, die auf dem Ergebnis der Analyse aufbauen: Zunächst wird die Frage nach dem Motiv der Barthschen NeukantianismusRezeption im »Römerbrief« gestellt, sodann wird im Sinne der unter 0. l. formulierten zweiten Leitfrage ihr Fortwirken in der reifen Gestalt der Theologie Barths, wie sie durch die »Kirchliche Dogmatik« repräsentiert wird, untersucht.

199

So werden beispielsweise die Ästhetik Cohens oder die Psychologie Natorps nur ganz am Rande erwähnt.

1. Der Neukantianismus. Innere Charakteristik und geschichtliche Anfange 1.1. Innere Charakteristik des Neukantianismus Die Lehren des Neukantianismus sind weitgehend in Vergessenheit geraten. Daher ist es sinnvoll, den Ausführungen speziell zum Neukantianismus der Marburger Schule eine Vorstellung grundlegender und charakteristischer Elemente neukantianischen Denkens im allgemeinen vorausgehen zu lassen. Ein solches Vorhaben trifft allerdings auf ein Problem: Angesichts der beträchtlichen und öffentlich ausgetragenen Divergenzen unter den gemeinhin dem Neukantianismus zugerechneten Philosophen1 scheint die einzige Gemeinsamkeit in der Berufung auf Kant zu bestehen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es nicht dennoch möglich ist, über die Tautologie, der Neukantianismus habe sich von neuem auf Kant berufen, hinauszukommen. Dies erscheint umso notwendiger, als das Interesse an Kant im 19. Jahrhundert weit über die Neukantianer hinausging, also als differentia specifica dieser Strömung nicht hinreicht.2 Es Vgl. die Marck, 20, zitierte mündliche bzw. briefliche Äußerung Heinrich Rickerts: »Wir kritischen Idealisten meinen im Grunde alle dasselbe; deshalb müssen wird uns bis aufs Messer bekämpfen.« Einen Katalog der Divergenzen gibt Marck, ebd., unter der Überschrift: »Die verschiedenen Kolonnen des Neukantianismus schlugen vereint und marschierten getrennt.« Oesterreich unterscheidet in seiner Philosophiegeschichte sieben Richtungen innerhalb des Neukantianismus (vgl. ders., 417). Vgl. Lehmann, 52f; Schnädelbach, 134: »Das 'Zurück zu Kant!1 ist nicht das Spezifikum des Neukantianismus; daß hinter die Verirrungen des absoluten Idealismus zurückgegangen und an Kant angeknüpft werden müsse, ist ein Gemeinplatz, der sich bei Fries, Herbart und ihren Schülern, bei Schopenhauer und vielen Nicht-Kantianern findet.« Köhnke bezeichnet Benekes Schrift »Kant und die philosophische Aufgabe unserer Zeit« aus dem Jahr 1832 - also aus einer Zeit, die weit vor der des Neukantianismus, der nach allmählichen Anfängen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine Blütezeit zwischen 1880 und dem

Innere Charakteristik des Neukantianismus

37

müßten zu diesem Zweck inhaltliche Kriterien spezifisch neukantianischer Philosophie benannt werden, die eine Abgrenzung von anderen philosophischen Richtungen des 19. Jahrhunderts erlauben. Einen solchen Abgrenzungsversuch unternahm bereits Heinrich Rickert, um gegen eine mißbräuchliche, ausschweifende Verwendung des Worts »neukantisch« anzugehen und ihm seine prägnante Bedeutung zurückzugeben: »Im strengen Sinne sollte man nur die als Neukantianer, d. h. als Kantianer, die etwas Neues gebracht haben, bezeichnen, die [...] durch ein erneutes und vertieftes Studium Kants die Philosophie über sich selbst zu besinnen suchten und dadurch zugleich wirklich über ihren schon vorher erreichten Stand /i/'«urw.sführten.«3 Allerdings muß auch er einräumen: »[...] einig waren sie nur in wenigen Grundbegriffen, die sie Kant entnahmen.«4 Das für den Neukantianismus charakteristische Ensemble dieser Grundbegriffe soll im folgenden ausgehend von den Hauptschriften derjenigen Philosophen, die von der Philosophiegeschichtsschreibung als wichtigste Vertreter des klassischen Neukantianismus angesehen werden,5 entwickelt werden. 1. Der Neukantianismus betont einen engen Zusammenhang zwischen Philosophie und Wissenschaft. Wenn, wie Rickert sagt, die Neukantianer »die Philosophie über sich selbst zu besinnen suchten«, so hat dies seinen Hintergrund in der »Identitätskrise der Philosophie«6, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts, dem »Jahrhundert der Wissenschaft«7, immer weiter verdichtete. Zunehmenden Erfolgen der Naturwissenschaften stand eine zunehmende Geringschätzung der Philosophie gegenüber. Dies manifestierte sich auch institutionell, indem die Naturwissenschaften sich an den Universitäten zusehends von der philosophischen Fakultät, der sie traditionell zugeordnet waren, lösten, bis es 1863 in Tübingen zur Eröffnung einer ersten

3 4 5

6 7

Ersten Weltkrieg hatte, liegt - als »früheste Programmschrift der Kantbewegung des 19. Jahrhunderts« (ders., 62). Rickert [1924/25], 163f. A.a.O., 164. Es handelt sich um Hermann Cohen, Friedrich Albert Lange, Otto Liebmann, Paul Natorp, Heinrich Rickert, Alois Riehl und Wilhelm Windelband. Schnädelbach, 119. A.a.O., 118.

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Der Neukantianismus - Charakteristik und Anfänge

eigenen naturwissenschaftlichen Fakultät kam. Den »mündig gewordenen Einzelwissenschaften«8 gegenüber geriet die Philosophie in einen »Legitimationszwang«, »in die mißliche Lage, immer wieder ihre Unentbehrlichkeit, ja ihre Existenzberechtigung nachweisen zu müssen«9. Es lag nahe, diesen Nachweis durch Bezug auf die Einzelwissenschaften zu fuhren. Zu diesem Zweck griffen die Neukantianer auf verschiedene Argumentationsmuster zurück. a) Betonung der Wissenschaftlichkeit der Philosophie. - Sie fällt am stärksten aus bei Alois Riehl, der seine Untersuchung »Über Begriff und Form der Philosophie« in den Satz zusammenfaßt: »Die Philosophie ist nach Begriff und Form Wissenschaft.«10 Philosophie und Naturwissenschaften unterscheiden sich nach Riehl nur hinsichtlich ihres Gegenstands, oder besser: in dem Gesichtspunkt, unter dem sie den gleichen Gegenstand (nämlich die Bewußtseinserscheinungen) betrachten.11 Ihre Methode hingegen ist identisch: »Auch die Philosophie kennt und gebraucht keine andere Form des wissenschaftlichen Beweises, als die in den übrigen Wissenschaften durch den Erfolg erprobte.«12 Riehls Forderung einer wissenschaftlichen Philosophie geht so weit, daß er die Relevanz eines Studiums der Geschichte der Philosophie primär aus dessen Vermögen begründet, »die Überzeugung von ihrer Wissenschaftlichkeit herzustellen«13. Seine grundlegende Definition bestimmt die Philosophie »als wissenschaftliche Erforschung des Bewußtseins, seiner Gegenstände und Gesetze«14. Zwar hat Riehl in zwei späteren Vorträgen15 dieser wissenschaftlichen Aufgabe der Philosophie eine zweite, ethisch-praktische gegenübergestellt, die sogar im eigentlichen Sinne den Namen Philosophie verdienen und selbständig neben der Wissenschaft stehen

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13 14 15

Rickert [1928], 438. Schnädelbach, 89. Riehl [1872], 172. Vgl. a.a.O., 173. Ebd. A.a.O., 165. A.a.O., 114. Vgl. Riehl [1883]; [1913]. Vgl. auch schon ders. [1872], 172: Philosophie soll sein »Führerin des Lebens und der Geschichte zu ihren idealen Zielen«. Doch wird dieser Gedanke dort nicht weiter ausgeführt.

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soll,16 doch sind auch nach dieser späteren Meinung Riehls beide Bereiche streng zu unterscheiden,17 bzw. hat auch die ethische Besinnung »auf dem Boden wissenschaftlicher Erkenntnis«18 zu erfolgen. Riehl selbst sah seine Aufgabe denn auch nur im ersten Bereich19 und konnte das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts als »die Periode der wissenschaftlichen Philosophie«20 rühmen. Auch bei anderen Neukantianern ist das Interesse an einer wissenschaftlichen Philosophie spürbar. Wilhelm Windelband stellt in seiner grundlegenden Arbeit »Was ist Philosophie?« zwei Definitionen der Philosophie auf, in denen sie jeweils als Wissenschaft bezeichnet wird,21 und gegenüber der »Mystik unserer Zeit« ruft er die Philosophie dazu auf, »ihren Charakter als rationales Denken, als begriffliche Wissenschaft aufrechtzuerhalten«22. Windelbands Schüler Heinrich Rickert reserviert fast ein ganzes Kapitel (gut 80 Seiten) seiner Monographie über den »Gegenstand der Erkenntnis«, um zu zeigen, daß der von ihm zuvor entwickelte »transzendentale Idealismus« - »im Gegensatz zum Positivismus wie zum transzendentalen Realismus«23 - mit dem Realismus der Einzelwissenschaften harmoniert.24 Zum Schluß seiner Darstellung wird zudem deutlich, daß die von ihm geforderte Wendung der Philosophie vom Sein zu den Werten zumindest auch in einer Rückzugsstrategie gegenüber den empirischen Wissenschaften begründet ist: »Mag also die Philosophie heute die Erforschung des Wirklichen den Einzelwissenschaften überlassen müssen, so findet sie dafür in dem Reich der Werte und der auf ihnen beruhenden Sinngebilde ein umso gesicherteres und zugleich unermeß16 17

18 19 20

Vgl. Riehl [1883], 252. Vgl. ebd. Zugrunde liegt die Kantsche Unterscheidung von Schul- und Weltbegriff der Philosophie (vgl. Kant [1976], A 838 ./ 866f.). Riehl [1913], 311. Vgl. den Schlußsatz von Riehl [1883]. Riehl [1913], 305.

21

Vgl. Windelband [1882], 29 (»die kritische Wissenschaft von den allgemeingiltigen Werten«)', 46 (»die Wissenschaft vom Normalbewußtsein«).

22

Windelband [1910 a], 299. Die Gleichsetzung von Philosophie und »begrifflicher Wissenschaft« begegnet auch: ders. [1910 b], 281. Rickert [l928], 361. Vgl. a.a.O., 351-432.

23 24

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lieh großes Gebiet für ihre Arbeit.«25 Bezeichnend ist, daß Rickert nicht vergißt zu betonen, daß die Philosophie nach dieser Wendung ihre Wissenschaftlichkeit nicht verliert.26 Paul Nalorp beginnt seine »Einführung in den kritischen Idealismus« mit der Diskussion des Verhältnisses von Philosophie und Wissenschaft, wobei er »die Forderung einer sehr engen Einheit von Philosophie und Wissenschaft«21 erhebt. Schließlich ist in diesem Zusammenhang noch auf die zeitweilige Mitarbeit mehrerer Neukantianer an der »Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie« hinzuweisen, wobei das gemeinsame Interesse an eben dieser »wissenschaftlichen Philosophie« sogar eine Annäherung an den später heftig bekämpften Positivismus herbeiführte. 2X h) Philosophie als Wissenschaft- und Erkenntnistheorie. - Was aber macht die Philosophie zur »wissenschaftlichen Philosophie«? Mußte die Philosophie »die Erforschung des Wirklichen den Einzelwissenschaften überlassen«29, so bot es sich an, ihr neues Tätigkeitsfeld auf einer Reflexionsebene anzusiedeln: Philosophie klärt ab, was die einzelnen Wissenschaften verbindet und wie Wissenschaft bzw. generell Erkenntnis zustandekommt. Dieser Bezug auf die Wissenschaften versprach zugleich, die Wissenschaftlichkeit und Unentbehrlichkeit der Philosophie sicherzustellen. Da die Bedeutung der erkenntnistheoretischen Fundierung der Philosophie für die Neukantianer unter dem nächsten Punkt dargestellt wird, soll hier nur über ihre Auffassung der Philosophie als einheitsstiftendes Band der Wissenschaften oder als Wissenschaftstheorie gehandelt werden, obwohl beides - Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie - für sie eng zusammenhing. Denn dem allgemeinen Zug der Zeit folgend galt den Neukantianern die wissenschaftliche Erkenntnis als einzig diskutable Form von Erkenntnis überhaupt. 30 25 26 27 2X

29 10

A.a.O., 452 Vgl. a.a.O., 432. Natorp|1921|, 3. Vgl. Köhnkc, 3X8-404. Man kann Köhnkcs Belege noch um das Bekenntnis Rickcrts ergänzen, er habe als Sludcnl tief im Posilivisnuis gesteckt (vgl. Rickert |192X|, V). S.o. S. 39. Zu Cohens Versuch, einen sogar philologischen Zusammenhang von Wissenschaft und Erkenntnis nach/uwciscn, s. u. S. 78 Anm. 67.

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Aus dem Kreis der oben genannten Philosophen war Friedrich Albert Lange der erste, der von einer Philosophie, »welche die gemeinsame Theorie aller Wissenschaften enthält«, spricht.31 Was damit gemeint ist, machen andere Stellen aus seiner »Geschichte des Materialismus« deutlich. Lange versteht Theorie im wörtlichen Sinne als Schau. »[ÜJberall die verbürgtesten Tatsachen aus fremden Forschungen aufzulesen und sie zu einem Gesamtbilde zusammenzusetzen«32 - diese Arbeit ist »im wesentlichen eine philosophische«^, diese Gesamtansicht »eine echt philosophische«34. Von ihr aus gilt es, auf die »positiven Wissenschaften [...] zurückzuwirken und die Resultate eines weiteren Überblicks und einer strengeren Logik gegen das Gold echter Spezialforschung auszutauschen«35. So gesehen, ist die Philosophie »das Bindeglied zwischen den verschiedensten Wissenschaften«36, Philosophie und exakte Forschung bedürfen einander gegenseitig.37 Einem im Vergleich zu Lange weniger deskriptiven als kritischen Verständnis von Wissenschaftstheorie entspricht die Aufgabenbestimmung der Philosophie, wie sie Windelhand in einem Vortrag »Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie« formuliert hat.3* Eine Zusammenschau der Einzelwissenschaften im Sinne Langes wird von ihm als »Philosophie der Brosamen und Lesefrüchte«39 verurteilt. Vielmehr soll die Philosophie die übrigen Wissenschaften »zum Gegenstande ihres eignen, des kritischen Verfahrens [...] machen«40. Damit ist gemeint, »die letzten Gründe ausfindig zu machen, worauf dieses ganze [...] Wissen beruht, die innere Struktur der intellektuellen Arbeit aller jener besonderen Disziplinen zu verstehen und die sachlichen Voraussetzungen 31 32 33 34 35 36 37 3X

39 40

Lange, 539. A.a.O., 587 A.a.O.. 5X9. A.a.O., 595. A.a.O., 553. A.a.O., 729 (Zitat aus der l. Auflage). Vgl. a.a.O., 734 (Zitat aus der l. Auflage). Diese Aufgabcnbcstimmung ist nicht gan/ kongruent mit der von Windclband 25 Jahre /uvor in »Was ist Philosophie?« gegebenen. Doch ist hier nicht der Ort für eine Diskussion der Unterschiede. Windelband [l907], 10. Ebd.

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Der Neukantianismus - Charakteristik und Anfänge

zu gewinnen, die ihren Geltungsgrund in sich enthalten«41. Eine solche Philosophie als »kritische Wissenschaftslehre«42 fuhrt auf zwei Grundlagen menschlicher Erkenntnis: über die Naturwissenschaften auf »die Welt der Gesetze«, über die historischen Wissenschaften auf »die Welt der Werte«43. Wie bei Cohen44 fallen also für Windelband Wissenschafts- und Erkenntnistheorie letztlich zusammen. Dies ist auch bei Rieht so. Er bestimmt die Philosophie nicht nur als Wissenschaft,45 sondern die Wissenschaft ist zugleich der Gegenstand der philosophischen Forschung, wobei Wissenschaft und Erkenntnis identifiziert werden: »Die Erkenntnis, die Wissenschaft selber, bildet das Objekt der Philosophie. «46 An anderer Stelle wiederholt Riehl diese Aufgabenbestimmung der Philosophie als Wissenschafts- und Erkenntnistheorie: »Es gibt eine wissenschaftliche Untersuchung, welche sich unmittelbar auf das Wesen des Erkennens richtet, die Bedeutung dessen bestimmt, was wir Erfahrung und Wissenschaft nennen. Diese Untersuchung ist die Philosophie, welche daher nicht diese oder jene Wissenschaft, sondern die Wissenschaft kennen lehrt, und im Unterschiede zu den besonderen Disziplinen den allgemein wissenschaftlichen Geist vertritt.«47 Philosophie als die Wissenschaft von der Wissenschaft ist somit 41

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Ebd. Vgl. Windelband [1881], 139: »Sie [sc. die Philosophie] sucht die allgemeinen Voraussetzungen, die als normative Bestimmtheit des richtigen Denkens aller wissenschaftlichen Arbeit zugrunde liegen.« Windelband [1907], 13. Der Begriff »Wissenschaftslehre« kann von Windelband als Synonym zu »Theorie der Wissenschaft« gebraucht werden, vgl. ders. [1882], 19. Er ist bezeichnend für die gesamte Südwestdeutsche Schule des Neukantianismus und bildet einen bewußten Anschluß an Fichte (vgl. Rickert [1902], 15). Windelband [1907], 23. Es war ein Schwerpunkt der Forschungen der Südwestdeutschen Schule, den Nachweis zu erbringen, »dass die Lehre von der allein selig machenden naturwissenschaftlichen Methode [...] eine prinzipielle Irrlehre ist« (Rickert [1902], 8), und die Eigenständigkeit der historischen Wissenschaften zu begründen. Vgl. dazu die berühmte Rektoratsrede Windelbands zu »Geschichte und Naturwissenschaft« (= Windelband [1894]) und die mehrfach aufgelegte Abhandlung Rickerts über »Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung« (= Rickert [1902]). Zu Cohens Wissenschaftstheorie s. u. 2.1.3.3. S.o. S. 38f. Riehl [1883], 245. Riehl [1926], 16.

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»die Selbsterkenntnis der Wissenschaft, das zum Verständnis seiner selbst gebrachte Erkennen«48 »[A]ndere[] Aufgaben als jene, die von der kritischen Erkenntniswissenschaft behandelt werden«, gibt es für »die Philosophie im engeren Sinne des Wortes« nicht49 - »fdjie Philosophie ist die Wissenschaft und Kritik der Erkenntnis«50'. Der spätere Vorwurf, der Neukantianismus habe die Philosophie auf erkenntnistheoretische Untersuchungen beschränkt,51 dürfte angesichts solcher Aussagen auf Riehl noch am ehesten zutreffen.52 2. Philosophie ist für die Neukantianer immer kritische Philosophie. Kritik wird dabei als »Erkenntniskritik«^ verstanden und steht für eine erkenntnistheoretische Fundierung der Philosophie und der Wissenschaft. Die Forderung einer kritischen hängt mit der nach einer wissenschaftlichen Philosophie eng zusammen, da Kritizismus und Wissenschaftlichkeit für die Neukantianer so gut wie identisch sind.54 Was die Bedeutung der Erkenntnistheorie betrifft, so ist die eben bereits genannte verbreitete These, der Neukantianismus habe die Philosophie auf Erkenntnistheorie reduzieren wollen, schon angesichts der zahlreichen Werke von Neukantianern über nicht-erkenntnistheoretische Themen sicherlich falsch.55 Allerdings werden sie nicht müde zu betonen, daß eine erkenntnistheoretische Fundierung für eine ihres Namens werte Philosophie unumgänglich ist. So schreibt bereits Lange, daß ein Philosoph, der die Fragen der Erkenntnistheorie umgehe, leicht in Halbheiten steckenbleibe.56 Auch Riehl sieht in der Erkenntnistheorie »die philosophische 48 49 50 51 52

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Ebd. A.a.O., 17. A.a.O., 16. Dazu s. u. Punkt 2. S. aber o. S. 38f. Riehls Bemerkungen zur »nichtwissenschaftlichen Philosophie« (vgl. auch ders. [1926], 18-22). Vgl. z. B. Windelband [1907], 17. Zur Identifikation von kritischer und auf Erkenntnistheorie gegründeter Philosophie vgl. z. B. Lange, 612; Liebmann, 83; Riehl [1924], 2. Vgl. z. B. Riehl [1872], 97: »Das wissenschaftliche Denken unterscheidet sich vom vulgären zuvörderst dadurch, daß es kritisch ist.«

Vgl. auch Schnädelbach, 135, und das Zitat von Natorp u. Anm. 57. Vgl. Lange, 595.

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Der Neukantianismus - Charakteristik und Anfänge

Grundwissenschaft«57, und Ricken »vertritt [...] die Überzeugung, daß allein in der Erkenntnistheorie die Basis für eine wissenschaftliche Philosophie zu finden ist [,..]«58. Doch bildet die Erkenntnistheorie nicht nur die Grundwissenschaft der Philosophie und verbürgt deren Wissenschaftlichkeit, sondern qua Erkenntnistheorie kann die Philosophie beanspruchen, die Grundlage aller Wissenschaften zu sein. Die Erkenntnistheorie stellte daher ein hervorragendes Instrument dar, um die oben angesprochene Infragestellung der Philosophie durch die Einzelwissenschaften zu widerlegen. »Mag auch in der Wertschätzung des Zeitalters das Ansehen der Philosophie noch so sehr gesunken sein, ihr Rang und Einfluß ist ihr schon durch den einzigen Umstand gesichert, daß sie durch Auffindung und Untersuchung der Quellen des Erkennens den Maßstab jeder wissenschaftlichen Forschung festsetzt«, heißt es bei Riehl59 - von der »allumfassende[n] Weite ihres Objektes« her hat die Philosophie sogar »Anspruch auf die erste Stelle in der Reihe der Wissenschaften«60. Ziel der erkenntnistheoretischen Untersuchung sind die apriorischen, d. h. allgemeinen und notwendigen, Grundlagen der Erkenntnis.61 Die Behauptung der Existenz solcher Grundlagen - und damit eine Wendung gegen die Skepsis - ist ein wesentliches Moment neukantianischer Philosophie. In der Frage, worin sie bestehen, jedoch gingen die Auffassun-

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60 61

Riehl [1872], 126. Vgl. auch Natorp [1921], 28: Logik als »die Lehre von den Bedingungen und Gesetzen der Erkenntnis überhaupt« ist »die oberste Philosophie« und Grundlage der übrigen »philosophische[n] Teilwissenschaften«. Sie ist »zwar die erste, aber schwerlich die einzige philosophische Wissenschaft« [!]. Rickert [1928], VII. Riehl [1872], 122. Ebd. Zur Gleichsetzung von Apriorität mit Allgemeinheit und Notwendigkeit vgl. z. B. Lange, 465; Riehl [1872], 151. Hieran wird übrigens deutlich, daß die Frage nach dem Apriorischen ebenfalls vom Interesse an einer »wissenschaftlichen Philosophie« bestimmt war, denn Allgemeinheit und Notwendigkeit sind die Kriterien von Wissenschaftlichkeit (vgl. z. B. Riehl [1872], 135). Die andere mögliche Deutung von Apriorität als Eingeborenes, der Entstehung - und nicht der Gültigkeit - nach Erstes, wird von den Neukantianern durchgängig als psychologistisch abgelehnt in Konsequenz der für sie bezeichnenden Vorordnung der quaestio iuris vor die quaestio facti.

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gen der einzelnen Schulen weit auseinander.62 Kam es im frühen Neukantianismus zu einer »Naturalisierung des Apriorischen«63, d. h. zu einem Verständnis im Sinne von Naturanlagen, so wurde eine solche Deutung, die sich der psychologistischen in der Tat nähert, von den späteren Neukantianern strikt abgelehnt.64 Windelband und die Südwestdeutsche Schule fanden das Apriorische in den Werten, Cohen und die übrigen Marburger hingegen in den »reinen«, im Denken erzeugten Gesetzen.65 3. Ergebnis dieser kritischen Untersuchung ist stets eine Erkenntnistheorie, die »die Subjektkomponente im Erkenntnisvorgang«66 mehr oder weniger stark betont. »[D]aß die Gegenstände der Erfahrung überhaupt nur unsre Gegenstände sind, daß die ganze Objektivität mit einem Wort eben nicht die absolute Objektivität ist, sondern nur eine Objektivität für den Menschen und etwaige ähnlich organisierte Wesen [...]«, heißt es schon in Langes Kant-Interpretation.67 Auch das für die Marburger Schule so charakteristische Stichwort von der »Erzeugung« des Gegenstands - man hat von einem »Credo der Marburger Schule« gesprochen68 - findet sich bereits in der »Geschichte des Materialismus«, wenn von »jene[n] Funktionen der Sinne und des verknüpfenden Verstandes, welche uns die Wirklichkeit erzeugen«, die Rede ist.69 62

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Köhnke spricht von einer »Anarchie der Meinungen« im Lager der Neukantianer an diesem Punkt (ders., 350). A.a.O., 177. S. u. S. 62. Vgl. Rickert [1928], 270: »A priori ist keine psychische Realität, keine 'Gewißheit', keine 'Anlage1, keine "Kraft1, wodurch das Erkennen hervorgebracht wird [Abwehr des Psychologismus!], es ist überhaupt kein real und auch kein ideal Existierendes, sondern eine Form des Sinnes, ein theoretischer Wert, der transzendent gilt [...].« Zu Cohen s. u. 2.1.3.3. Ollig, 2. Lange, 455. Vgl. auch die an Schopenhauer gemahnende Kapitelüberschrift »Die Physiologie der Sinnesorgane und die Welt als Vorstellung« (a.a.O., 850) und a.a.O., 982 (»Die Welt ist nicht nur Vorstellung, sondern auch unsre Vorstellung [...].«); 986 (»[...] daß auch unsre Wirklichkeit keine absolute Wirklichkeit ist, sondern Erscheinung«). Köhnke, 284. S. zu diesem Stichwort u. S. 69. Lange, 984.

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Der Neukantianismus - Charakteristik und Anfänge

Auch Windelband kann dieses Stichwort verwenden, und zwar im Rahmen einer Kritik an der naiven Abbildtheorie der Wirklichkeit: »Die Gegenstände der Erkenntnis somit, die wir in den Begriffen denken, sind nicht als Abbilder des Wirklichen gegeben, sondern im Denken und vom Denken selbst erzeugt.«70 Die Passage, in der sich dieser Satz befindet, ist auch insofern interessant, als sie verdeutlicht, daß die Betonung der »Subjektkomponente« mit der Forderung zusammengehört, wonach die Aufgabe der Philosophie primär in der Untersuchung der apriorischen Erkenntnisbedingungen bestehen soll. Denn Windelband fährt fort: »Aus diesen Grundverhältnissen ergibt sich die fundamentale Aufgabe aller Erkenntniskritik: die Prinzipien zu bestimmen, nach denen in der wissenschaftlichen Begriffsbildung die Auswahl und die Neuverknüpfung der Merkmale von statten geht.«71 Wäre die Erkenntnis vom Gegenstand abhängig, so wäre sie aposteriorisch (der Anschluß an Kant ist hier unverkennbar), es gäbe gar keine »allgemeingültigen Prinzipien«72, auf die sich die philosophische Untersuchung richten könnte. Umgekehrt ist natürlich die Existenz derartiger Prinzipien für Windelband der beste Beweis gegen eine Abbildtheorie der Wirklichkeit. Schon zuvor hatte sich Windelband in einem Vortrag mit ihr auseinandergesetzt und die These vertreten, sie sei für die griechische und überhaupt die gesamte vorkantische Philosophie prägend gewesen. Kants Verdienst sei zunächst ein neuer Gegenstandsbegriff gewesen: nicht mehr ein außerhalb des Bewußtseins befindliches »Original«, sondern »eine Regel der Vorstellungsverknüpfung«.73 Daraus resultiere aber auch, daß die alte Definition von Wahrheit als Übereinstimmung von Denken und Sein durch eine neue, die der Übereinstimmung einer Vorstellung mit einer allgemeingültigen Regel der Vorstellungsverknüpfung, also einer apriorischen Norm, zu ersetzen sei. »Wahrheit ist Normalität des Denkens«74 70 71

72 73

74

Windelband [l907], 17. Ebd. A.a.O., 18. Vgl. Windelband [1881], 135. Der »gewisse Zug zur Immanenzphilosophie«, wonach »nur Bewußtseinsgegebenheiten (Vorstellungen) für die Erkenntnistheorie als Wirklichkeit in Frage kommen«, den Ollig im Anschluß an Zocher Rickert attestiert (vgl. Ollig, 61f.), ist auch bei anderen Neukantianern, so wie hier Windelband, spürbar (s. auch u. S. 60 zu Liebmann). S. aber u. S. 47f. Windelband [1881], 138.

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so lautet nach Windelband der neue Wahrheitsbegriff Kants. Das alles impliziert eine Wendung der Philosophie zum Subjekt: »An die Stelle des Weltbildes, das die griechische Philosophie sucht, tritt die Selbstbesinnung, vermöge deren der Geist sein eigenes Normalgesetz sich zum Bewußtsein bringt.«75 Selbst Rieht, der aufgrund seines von ihm selbst so genannten »kritischen Realismus«, mit dem er an der vom Subjekt unabhängigen Realität der Außenwelt festhielt,76 eine Sonderstellung innerhalb des Neukantianismus einnimmt, leugnet einen Einfluß des Subjekts auf die Gegenstand serkenntni s keineswegs: »Die Gegenstände der Naturforschung sind ohne Ausnahme hypothetisch, gelten nur unter Voraussetzung gewisser Erscheinungsweisen und Gesetze im Bewußtsein.«77 Seine Kritik richtet sich allerdings gegen die idealistische Behauptung, die Gegenstände seien nur im Bewußtsein: »Die Gegenstände jeder anderen Wissenschaft sind in diesem Betrachte auch philosophische, wenn auch nicht bloß philosophische, wofür sie irrtümlich der subjektive und objektive Idealismus ansahen.«78 Daraus ergibt sich, daß in seiner den beiden zitierten Sätzen vorangehenden Kritik an dem Theorem von der Erzeugung des Gegenstands (»Nur die Behauptung ist falsch, und nicht bloß unerwiesen, daß alle Realität vom Bewußtsein abgeleitet sei, von ihm hervorgebracht werde.«79) das »alle« zu betonen ist.80 Die Differenz Riehls zu den anderen Neukantianern an diesem Punkt ist also keine diametrale, zumal auch diese die radikal idealistische These einer rein bewußtseinsimmanenten Erkenntnis ablehnen: Spricht Lange von dem »absolute[n] Unfaßbare[n]«, welches jenseits »unsrer menschlichen Wirklichkeit« liegt, aber »gleichwohl angenommen werden muß«,81 so betont Windelband, der Idealismus der Kantschen (man 75 76 77 78 79

80

81

A.a.O., 139. Vgl. z. B. Riehl [1926], 163-166. Riehl [1872], 122. Ebd. Ebd. Ein ähnliches »sowohl - als auch« betreffs des Ursprungs der Erkenntnis findet sich Riehl [1924], Ulf.; ders. [1926], 165. Die relative Betonung der subjektunabhängigen Bestandteile der Erkenntnis beruht auf Riehls Opposition zum Idealismus. Lange, 987.

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Der Neukantianismus - Charakteristik und Anfänge

könnte auch sagen: der Windelbandschen) Philosophie bestehe »keineswegs darin, zu behaupten, daß in der weiten Welt nichts existiere, als die Vorstellungsmassen der Individuen. Aber sie behauptet, indem sie jede Metaphysik abschneidet, daß Gegenstände für uns nichts weiter sind, als bestimmte Regeln der Vorstellungsverbindung, welche wir vollziehen sollen, wenn wir wahr denken wollen. Was diese Regeln sonst sein mögen, geht uns nichts an [,..].«82 Rickert modifizierte diese These seines Lehrers dahingehend, daß (mit den radikalen Idealisten, gegen Windelband) tatsächlich nichts außerhalb des Bewußtseins existiere. Dennoch sei (mit Windelband, gegen die radikalen Idealisten) ein transzendenter »Gegenstand der Erkenntnis« feststellbar: die Werte. Diese existieren zwar nicht, aber sie gelten.83 Cohen schließlich spricht vom (rechtmäßigen) »Anspruch der Empfindung«.84 Die Neukantianer differieren also nicht in der Annahme eines erkenntnistheoretisch transzendenten Gegenstands, wohl aber in dessen Näherbestimmung. 4. Philosophische Entwürfe, die eine derartige erkenntniskritische Fundierung nicht oder nur unzureichend ausführen, verfallen dem Verdikt des Dogmatismus. Betroffen sind davon einerseits die traditionelle Metaphysik und der Deutsche Idealismus, andererseits Materialismus, Empirismus und Positivismus. Diese für den ganzen Neukantianismus typische doppelte - die eine Seite steht für einen einseitig spekulativen, die andere für einen einseitig empiristischen Ansatz der Philosophie - Frontstellung wird am deutlichsten bei Lange. In seiner »Geschichte des Materialismus« geht er zum einen an gegen die »Formelnetze[] der metaphysischen Wegelagerer«85 und die Vertreter »unsre[r] metaphysische[n] Sturm- und Drangperiode«, die »Nachahmer« Kants, »welche, den Pharaonen gleich, eine Pyramide um die andre in die Lüfte türmten, und nur vergaßen, sie auf den festen Erdboden zu begründen«86. Aber auch der »dogmatische« Materialismus - Lange versieht den Begriff »Materialismus« im Laufe seiner 82 83

84 85 86

Windelband [1881], 136f. Vgl. zur Abgrenzung des »transzendentalen Idealismus« Rickerts von anderen erkenntnistheoretischen Positionen Rickert [1928], 358f. Vgl. Cohen [1977], 455f. Lange, 412. A.a.O., 514.

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Darstellung mit nicht weniger als acht verschiedenen Adjektiven87 - ist zu naiv, indem er von der »Idee eines ungestörten Verkehrs zwischen den Gegenständen und unsern Sinnen«88 ausgeht. Ihm liegt - trotz aller anti-metaphysischen Polemik - selbst ein metaphysisches Dogma zugrunde: »daß die Welt so ist, wie sie uns kraft unsrer Sinne erscheint«89. Daher gilt, daß die Kritik, die jede dogmatische Metaphysik beseitigt, »also auch den dogmatischen Materialismus beseitigt«90. Beide sind »zwei koordiniertet] Standpunkte[]«, denen gegenüber es mit Kant »einen höheren Gesichtspunkt der Betrachtung« zu gewinnen gilt.91 Analog zu der Kritik Langes am Materialismus fällt Windelbands Urteil über den Positivismus aus, der inzwischen den Materialismus als philosophischer Reflex der in den Naturwissenschaften gängigen Forschungsweise abgelöst hatte: Indem er sich und das, was den Namen Wissenschaft verdiene, auf die Konstatierung von Tatsachen beschränken wolle, übersehe er, daß es gar keine voraussetzungs- und deutungsfreie Wahrnehmung gebe. Darin liege seine Kurzsichtigkeit.92 Aber nicht nur der Positivismus, sondern auch »die Metaphysik in dem alten Sinne eines dogmatischen Wissens von den letzten Gründen aller Wirklichkeit« wird von Windelband - an anderer Stelle - als »ein Unding« abgelehnt.93 Die doppelte Frontstellung wird auch bei Rickert deutlich, der parallel zu Windelband gegen das »empiristische Dogma« damit argumentiert, »daß die Sphäre der tatsächlichen Gegebenheit [...] von überempirischen Werten nicht frei ist«94. Das »'realistische1 Dogma« andererseits, wie es der traditionellen Metaphysik zugrunde liegt (allerdings auch dem »Realismus« des Neukantianers Riehl, gegen den sich Rickert hier in erster Linie wenden dürfte), scheitert für Rickert daran, daß es, wie ihm die 87

88 89

90 91 92 93 94

Außer »dogmatisch« handelt es sich um: ethisch, praktisch, anthropologisch, theoretisch, naiv, systematisch, physikalisch. A.a.O., 736 (Zitat aus der 1. Auflage). A.a.O., 503. Vgl. auch ebd.: »das metaphysische Dogma von der absoluten Objektivität der Sinnenwelt«. Daß der Materialismus eine - defiziente - Metaphysik ist, begegnet auch Riehl [1883], 244, und Rickert [1928], 109f. Lange, 504. Vgl. a.a.O., 515. Vgl. Windelband [1881], 123f. Vgl. Windelband [1882], 40. Rickert [l928], 431.

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erkenntnistheoretische Untersuchung gezeigt hat, keine Erkenntnis einer überempirischen Realität gibt.95 Daß die angesprochene zweifache Abgrenzung schließlich auch für die Marburger Schule charakteristisch ist, wird unten noch zu zeigen sein.96 Bei all dem ist jedoch zu betonen, daß der Neukantianismus nicht generell anti-metaphysisch eingestellt war. Der Neukantianer Otto Liebmann und der dem Neukantianismus zumindest nahe stehende Johannes Volkelt arbeiteten jeweils an einer »kritischen Metaphysik«.97 Das tut aber der These, daß die traditionelle Metaphysik von den Neukantianern als dogmatisch abgelehnt wurde, keinen Abbruch. 5. Alle diese Aussagen werden getroffen unter ausdrücklicher Berufung auf Kant. Dieser Punkt trat für die Zeitgenossen so stark hervor, daß er dem Neukantianismus zu seinem Namen verhalf.98 Tatsächlich lassen sich denn auch alle oben aufgeführten neukantianischen Aussagen mit Stellen aus der »Kritik der reinen Vernunft« in Verbindung bringen: l. In der Vorrede zu ihrer zweiten Auflage bezeichnet es Kant als das Ziel seiner Arbeit, die Metaphysik (womit die ganze »reine«, d. h. nicht empirische, Philosophie gemeint ist)99 auf »den sicheren Gang einer Wissenschaft«100 zu bringen, wobei die anderen Wissenschaften, Mathe95

96 97

98 99 100

Vgl. ebd. Es stellt sich freilich die Frage, ob Rickert nicht selbst eine (Wert-)Metaphysik formuliert, wenn er anstelle der überempirischen Realität der Tradition von überempirischcn Werten spricht. Sie stellt sich zumindest dann, wenn man als Gegenstand der Metaphysik nicht das transzendente Sein, sondern jegliche Art von Trans/enden/, im Sinne eines übercmpirisch Wahrgenommenen ansieht. S. S. 82f Vgl. Lehmann, 67; Oesterreich, 422-427. Auch Lange und Riehl sprechen von einer »Metaphysik als Kritik der Begriffe« (Lange, 492) bzw. davon, daß Metaphysik »nur als kritische oder negative zugelassen werden [kann]« (Riehl [1883], 249), verurteilen sie also nicht in Bausch und Bogen. Zu vergleichen sind ferner auch die folgenden Sätze Cohens: »Wir wissen, daß kein Gegensatz zwischen Logik und Metaphysik bestehen darf. Die Logik, als die Logik der reinen Erkenntnis, ist immerdar Metaphysik gewesen; oder hat die Grundlage der Metaphysik gebildet« (ders. [1977], 605). Vgl. zur Begriffsgeschichte: Köhnke, 179; 478; 484f. Vgl. Kant [ 1976], A 84l/B 869. A.a.O., B VII u. ö.

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matik und Naturwissenschaft, als Vorbilder, die diesen Stand bereits erreicht haben, dienen.101 2. Das Mittel dazu ist für Kant die Kritik,102 die als »Propädeutik« dem Systementwurf vorauszugehen hat.103 Sie »[untersucht] das Vermögen der Vernunft in Ansehung aller reinen Erkenntnis a priori«104. 3. Diese Untersuchung zeigt nach Kant, daß sich im Bereich der Erfahrung die Gegenstände nach den Anschauungs- und Verstandesformen des Subjekts richten - die berühmte »Kopernikanische Wende« Kants.105 Auch das Schwanken der Neukantianer zwischen Idealismus und Realismus (mit dem Schwerpunkt auf dem Idealismus) läßt sich auf die »Kritik der reinen Vernunft«, nämlich auf die Position Kants, die beiden Auffassungen gerecht zu werden sucht, zurückfuhren. 4. Die Kritik ist bei Kant dem Dogmatismus entgegengesetzt, »d. i. der Anmaßung, mit einer reinen Erkenntnis aus Begriffen (der philosophischen), nach Prinzipien, so wie sie die Vernunft längst im Gebrauche hat, ohne Erkundigung der Art und des Rechts, womit sie dazu gelangt ist, allein fortzukommen. Dogmatismus ist also das dogmatische Verfahren der reinen Vernunft, ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Vermögens.«106 Ist hiervon die traditionelle Metaphysik betroffen, so kennt Kant auch einen dogmatischen Empirismus, einen solchen nämlich, der »dasjenige dreist verneint, was über der Sphäre seiner anschauenden Erkenntnisse ist«107. Die ganze »Kritik der reinen Vernunft« ist als »kritische[r] Friedensschluss«108 zwischen Rationalismus und Empirismus zu interpretieren. 101

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Vgl. a.a.O., B VII-XLIV. Vgl. auch die Formulierung der Ausgangsfrage a.a.O., B 22: »Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?« Vgl. mit dieser Frage als Indiz für das unten anzusprechende Hinausgehen über Kant die negative Auskunft Riehls (ders. [1926], 17): »Ebenso gewiß ist es uns heute, daß auf metaphysische Fragen keine wissenschaftliche Antwort erfolgen kann, daß die Metaphysik keine Wissenschaft ist.« Vgl. Kant [1976], B 22: »Die Kritik der Vernunft führt also zuletzt notwendig zur Wissenschaft [...].« Vgl. a.a.O., A841/B869. Ebd. Dies ist die »transzendentale« Fragestellung Kants (vgl. a.a.O., A l l/B 25). Vgl. a.a.O., B XV-XVIII. A.a.O., B XXXV. A.a.O., A471/B499. Windelband [1898], 6.

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Der Neukantianismus - Charakteristik und Anfänge

Trotz dieser Anknüpfung war es keineswegs das Interesse des Neukantianismus, die Philosophie Kants zu repristinieren. »[...] [UJnsere heutige 'Rückkehr' zu ihm [sc. Kant] darf nicht die bloße Erneuerung der historisch bedingten Gestalt sein, in welcher er die Idee der kritischen Philosophie darstellte. [...] Kant verstehen, heißt über ihn hinausgehen.«109 Diese Sätze Windelbands hätten die anderen Neukantianer genauso formulieren können. Entsprechend findet sich in ihren Schriften neben überschwenglichem Lob Kants auch harsche Kritik am Königsberger Philosophen.110 Mit den aufgeführten fünf Punkten dürfte eine ausreichende Charakteristik des Phänomens »Neukantianismus« gegeben sein - einerseits ausreichend weit, um alle seine verschiedenen Spielarten zu umfassen, andererseits eng genug, um eine Abgrenzung von anderen zeitgenössischen philosophischen Strömungen zu ermöglichen. Allerdings ist zu betonen, daß erst das Ensemble dieser Punkte, wie es in seinem inneren Zusammenhang oben entwickelt wurde, spezifisch neukantianisch ist. Für sich genommen, sind die Suche nach einer dezidiert wissenschaftlichen Philosophie, ihre Aufgabenbestimmung als Wissenschaftstheorie oder als Kritik, die Forderung nach ihrer erkenntnistheoretischen Fundierung ebenso wie subjektzentrierte Ansätze und das Kant-Interesse schon lange vor den Neukantianern in der Philosophie des 19. Jahrhunderts auszumachen.'J l

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Windelband [l921 a], IV. no vgi z g Liebmann, der Kant einerseits zu den größten Geistern der Welt zählt und von Schellings »Blasphemieen« gegen Kant spricht (vgl. Liebmann, 93f.), andererseits aber seinem Vorbild »klare, nackte Inconsequenz« hinsichtlich der Beibehaltung des Ding-an-sich vorwirft (a.a.O., 27). 111 Wissenschaftliche Philosophie: vgl. z. B. den Positivismus; Wissenschaftstheorie: vgl. Köhnke, 23-57 (von Berger und Trendelenburg als Initiatoren); Kritik: vgl. den Linkshegelianismus; Erkenntnistheorie: vgl. Köhnke, 58-105 (Schleiermacher, Ernst Reinhold, Beneke und der Spekulative Theismus als Vorläufer); Subjektorientierung: vgl. die verschiedenen idealistischen Systeme; Kant-Interesse: s. o. S. 36f.

Geschichtliche Anfänge des Neukantianismus

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1.2. Geschichtliche Anfänge des Neukantianismus112 Für ein besseres Verständnis des Neukantianismus ist es hilfreich, sich die Umstände seiner Entstehung vor Augen zu führen. Dazu beginnt man am besten mit der Situation der deutschen Philosophie in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt hatte das öffentliche Ansehen der Philosophie in Deutschland einen Tiefstand erreicht.113 Diese Tatsache, die sich darin manifestiert, daß es 1852 nur zwei der Philosophie sich öffnende Zeitschriften gab,114 hatte mehrere Gründe. Zum einen schienen die Fortschritte der Naturwissenschaften, gipfelnd in der Formulierung des ersten Hauptsatzes der Thermodynamik, des Energieerhaltungssatzes, durch Robert Mayer und Hermann von Helmholtz in den 40er Jahren, eine philosophische Welterklärung überflüssig zu machen. Dem ging zweitens - parallel der Zusammenbruch der idealistischen Systemphilosophie, der sich in der Spaltung der Hegeischen Schule nach dessen Tod

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Hierzu vgl. vor allem die im Literaturverzeichnis aufgeführte materialreiche Monographie Köhnkes, die allein diesem Thema gewidmet ist, aber auch Lehmann, 52-63, und Schnädelbach, 131-135. Köhnke betont zu Recht, daß die traditionelle Geschichtsschreibung der Übergangsperiode zwischen Deutschem Idealismus und »Wiederaufstieg der Philosophie« in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts, die die 50er Jahre als »Zeit der tiefsten Versumpfung der Philosophie« (Lange, 535) bezeichnet oder vom Bankrott der Philosophie spricht (vgl. Ziegler, 271; Natorp [1918 c], 5; ders. [1918 d], 14), »Philosophie wie selbstverständlich mit einem wie auch immer gearteten Idealismus gleichsetzt« (Köhnke, 303) und daher das Eigenständige der Philosophie dieser Übergangszeit gar nicht in den Blick bekommt (vgl. ders., 302-305). Von dieser veränderten Bewertung bleibt jedoch das Faktum, daß die Öffentlichkeitswirkung der Philosophie auf einem Tiefstand angelangt war, unbeeinflußt. Vgl. schon Oesterreich, VII: »In der vorigen Auflage befand ich mich noch im Bann der traditionellen Auffassung vom Tiefstande der deutschen Philosophie in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Erneute Beschäftigung mit derselben hat mich erkennen gelehrt, daß ein solcher allgemeiner Tiefstand der Philosophie überhaupt nicht bestanden hat. Auf einem Tiefstand befand sich die öffentliche Achtung vor der Philosophie, sie selbst stand auf erheblicher Höhe, großenteils keinesfalls unter dem Niveau der Philosophie vom Ende des Jahrhunderts, sondern darüber.« Vgl. auch a.a.O., 2; 198. Vgl. Köhnke, 121; 464 Anm. 2.

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und dem Fiasko Schellings in Berlin115 spiegelte. Er wirkte sich nicht deshalb negativ aus, weil nun überhaupt nicht mehr philosophiert worden wäre,116 aber es standen sich nun für jedermann sichtbar verschiedene um die Wahrheit streitende Ansätze gegenüber, ein »unentwirrbares Chaos von Meinungen«117, das für ein Wissenschaftlichkeit wie ein Zauberwort verehrendes Publikum wenig attraktiv sein mußte. Zwei weitere Gründe für den Mißkredit der Philosophie sind schließlich mit dem Scheitern der Revolution von 1848/49 verknüpft: Nachdem »das Jahr des tollen Idealismus«118 keine wesentlichen Veränderungen bewirkt hatte, machte sich unter den Intellektuellen Resignation breit, die der philosophischen Arbeit abträglich war. Außerdem hatte die Philosophie mit dem Argwohn der nachmärzlichen Reaktion zu kämpfen. 119 Das so begründete Desinteresse an philosophischen Fragen in den 50er Jahren wurde nur zweimal wirklich durchbrochen: durch den Materialismusstreit und durch die Schopenhauer-Rezeption. Beide Phänomene trugen auf ihre Weise zur Verstärkung des Interesses an Kant und damit zur Entstehung des Neukantianismus bei. Der in den Reihen der Naturwissenschaftler schon länger schwelende Materialismusstreit120 drang an die Oberfläche auf der Göttinger Naturforscherversammlung vom September 1854, »welche uns beinahe das Schauspiel der großen Religionsdispute der Reformationszeit wiederholt hätte«121. Zum Eklat führte vor allem das Votum Carl Vogts, aus dem noch im selben Jahr die Streitschrift »Köhlerglaube und Wissenschaft« hervorging. Vogt, der mit Jakob Moleschott und Ludwig Büchner die Trias der »Vulgärmaterialisten« bildete, trat darin einer theologisierenden Rede des Physiologen Rudolf Wagner entgegen, u. a., indem er das Verhältnis von Gehirn und Gedanke mit dem von Leber und Galle bzw. Niere und Urin verglich. Durch diesen Eklat waren die damals führenden 115 116

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Vgl. dazu Ziegler, 208-212; Pölcher, passim. S.o. Anm. 113. So schon Liebmann (ders., 4) bei der Analyse des »allgemeine[n] Mißtrauen[s] gegen philosophische Untersuchungen« (a.a.O., 2) Mitte der 60er Jahre. Ziegler, 278. Vgl. Köhnke, 124-130 (Entzug der Lehrerlaubnis für Carl Prantl und Kuno Fischer). Vgl. dazu Lehmann, 54-57; Schnädelbach, 132; Ziegler, 278-282. Lange, 536.

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Naturwissenschaftler gezwungen, sich mit dem konsequenten Materialismus auseinanderzusetzen. Hermann von Helmholtz tat dies, wenn auch implizit,122 Anfang 1855 in einer zur Einweihung eines Kant-Denkmals in Königsberg gehaltenen Rede mit dem Titel »Über das Sehen des Menschen«. Darin sucht er anhand breiten empirischen Materials über die Physiologie des Auges zu zeigen, »[d]ass die Art unserer Wahrnehmungen ebenso sehr durch die Natur unserer Sinne, wie durch die äusseren Dinge bedingt sei«123. Wird hieran Helmholtz' Gegenposition zum erkenntnistheoretischen objektiven Realismus der Materialisten deutlich, so zeigt schon der folgende Satz sein zweites Interesse, das an einer Rehabilitierung der Philosophie. Zumindest Kant nämlich ist vom Mißtrauen breiter naturwissenschaftlich orientierter Kreise gegenüber der Philosophie auszunehmen. Denn: »Gerade dasselbe, was in neuerer Zeit die Physiologie der Sinne auf dem Wege der Erfahrung nachgewiesen hat, suchte Kant schon früher für die Vorstellungen des menschlichen Geistes überhaupt zu thun, indem er den Antheil darlegte, welchen die besonderen eingeborenen Gesetze des Geistes, gleichsam die Organisation des Geistes, an unseren Vorstellungen haben.«124 Diese Argumentation Helmholtz1 zur Bekämpfung des Materialismus sollte Schule machen, zumal die Gegner des Materialismus auf Seiten der Fachphilosophie, etwa die Spekulativen Theisten, keine überzeugende Gegenposition formulieren konnten.125 Der Rückgriff auf Kant zum Zwecke der Rehabilitierung der Philosophie, das rein erkenntnistheoretische Verständnis Kants,126 das gegen den Materialismus gerichtete 122

Näheren Aufschluß über die anti-materialistische Frontstellung der Kant-Rede gibt Helmholtz' Briefwechsel mit seinem Vater, vgl. Köhnke, 151-157. 123 Helmholtz, 379. 124 Ebd. 125 Vgl. Ziegler, 281. 126 Ygj Helmholtz, 368: »Kant's Philosophie beabsichtigte .nicht, die Zahl unserer Kenntnisse durch das reine Denken zu vermehren, denn ihr oberster Satz war, dass alle Erkenntnis der Wirklichkeit aus der Erfahrung geschöpft werden müsse, sondern sie beabsichtigte nur [!], die Quellen unseres Wissens und den Grad seiner Berechtigung zu untersuchen, ein Geschäft, welches immer der Philosophie verbleiben wird, und dem sich kein Zeitalter ungestraft wird entziehen können.«

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Der Neukantianismus - Charakteristik und Anfänge

Bündnis von Sinnesphysiologie und Kantscher Philosophie, das naturalistische Verständnis des Apriorischen - all diese Themen des frühen, »physiologischen« Neukantianismus bis hin zu Lange klingen in der Rede Helmholtz1 an, die durch das Aufsehen, das sie erregte, dem Ansteigen des Kant-Interesses mächtigen Vorschub leistete.127 Dies tat auch die in den 50er Jahren stark wachsende Popularität Schopenhauers. Dieses Phänomen, bedingt durch die resignative Stimmung des Nachmärz, mußte insofern zwangsläufig auf die Popularität Kants zurückwirken, als Schopenhauer seine Philosophie als konsequente Fortschreibung der Kantschen verstand. Besonders wichtig für die weitere Entwicklung hin zum Neukantianismus wurde Schopenhauers idealistische Kant-Interpretation, bei der er sich auf die erste Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« berief, wohingegen er in der zweiten Auflage nur »einen verstümmelten, verdorbenen, gewissermaßen unächten Text« sah.128 Schopenhauers Kant-Auffassung berührt sich z. T. mit der »physiologischen« (bzw. hat sie mitinitiiert), denn zum einen sieht auch er Kants größtes Verdienst in der Erkenntnistheorie, in der »Unterscheidung der Erscheinung vom Dinge an sich, - auf Grund der Nachweisung, daß zwischen den Dingen und uns immer noch der Intellekt steht«129. Zum anderen wird der subjektive Faktor der Erkenntnis physiologisch beschrieben: »Intellekt« kann von Schopenhauer mit »Gehirn« gleichgesetzt werden,130 ein schöner Anblick mit einem »Gehirnphänomen«,, weshalb »[die] Reinheit und Vollkommenheit desselben [...] nicht bloß vom Objekt ab[hängt], sondern auch von der Beschaffenheit des Gehirns, nämlich von der Form und Größe desselben, von der Feinheit seiner Textur und von der Belebung seiner Thätigkeit durch die Energie des Pulses der Gehirnadern«131.

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Als weitere Exponenten eines Rückgriffs auf Kant in den 50er Jahren nennt Köhnke: Friedrich Harms, Jürgen Bona Meyer, Rudolf Haym (vgl. Köhnke, 131134; 157-167). Meyer bezeichnet er als »den ersten Neukantianer überhaupt« (a.a.O., 15). Vgl. Schopenhauer [Band I], 514-516. Zitat: a.a.O., 516. A.a.O., 494. Vgl. auch a.a.O., 499: »[Kant] zeigte, daß die erscheinende Welt ebenso sehr durch das Subjekt, wie durch das Objekt bedingt sei [...].« Vgl. Schopenhauer [Band II], 23. A.a.O., 29.

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Nur ein Jahr nach der dritten Auflage von Schopenhauers »Welt als Wille und Vorstellung«, der Ausgabe letzter Hand, erschien 1860, in einer Zeit, als die deutsche Philosophie dabei war, das Tief der 50er Jahre zu überwinden und wieder allgemeine Geltung zu erlangen,132 das Werk, das - zumindest laut Windelband - »den entscheidenden Anstoss zu der neukantischen Bewegung [gab]«133: Kuno Fischers zweibändige Kant-Darstellung im Rahmen seiner »Geschichte der neuern Philosophie«. Sie beflügelte das Interesse an Kant einerseits durch ihre Allgemeinverständlichkeit, andererseits, weil sie Kant in ein überragendes Licht stellte und die Philosophen des 19. Jahrhunderts zu »seinen Nachfolgern«134 degradierte. Fischers Ziel war dabei eine Darstellung der Kantschen Philosophie »in ihrem echten Geiste«135, der sich jedoch als einseitig idealistischer entpuppt:136 Wie Schopenhauer will sich Fischer allein auf die erste Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« beziehen, entscheidend für das richtige Verständnis Kants ist für ihn die »neue Lehre von Raum und Zeit«, die transzendentale Ästhetik.137 Andererseits war Fischer der erste unter den hier zu nennenden Autoren, der auch die anderen Werke Kants außer der ersten Kritik zur Geltung brachte (im zweiten Band seiner Darstellung) und insofern zur Auflösung der einseitig erkenntnistheoretischen Auffassung des Königsbergers beitrug.138 Zunächst allerdings sollte diese weiter dominieren, denn Eduard Zeller urteilte in seiner »vielbemerkten Heidelberger Antrittsvorlesung«139: »Über Bedeutung und Aufgabe der Erkenntnistheorie«, die als nächste wichtige Station auf dem Weg zum eigentlichen Neukantianismus zu betrachten ist: »[D]ie wissenschaftliche Leistung, mit der Kant der Philosophie eine neue Bahn brach, ist seine Theorie des Erkennens.«140 Ange-

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Vgl. Köhnke, 179-194. Windelband [1898], 7. 134 Fischer, XI. 135 A.a.O., XIV. 136 Vgl. Köhnke, 195-211. 137 Vgl. Fischer, XIVf. 138 Vgl windelband [1898], 9. 139 Ziegler, 309. 140 Zeller, 490. 133

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sichts der auch von Zeller konstatierten Krise der Philosophie141 und der Bedeutung der Erkenntnistheorie als Grundlagenwissenschaft, die die Grundbedingungen von Erkenntnis bestimmen soll,142 ergibt sich daher die Forderung eines Rückgriffs auf Kant: »Auf diese Untersuchung wird jeder, der die Grundlagen unserer Philosophie verbessern will, vor allem zurückgehen, und die Fragen, welche sich Kant vorlegte, im Geist seiner Kritik neu untersuchen müssen, um durch die wissenschaftlichen Erfahrungen unseres Jahrhunderts bereichert, die Fehler, welche Kant machte, zu vermeiden.«143 »[D]ie Fragen, welche sich Kant vorlegte«, sind die »nach dem Ursprung und der Wahrheit unserer Vorstellungen«144 Nach Zeller löste er die eine, indem er, zwischen Empirismus und Rationalismus vermittelnd, zu dem Ergebnis kam, »dass alle unsere Vorstellungen ohne Ausnahme und auf allen Stufen ihrer Entwicklung das zusammengesetzte Erzeugniss aus zwei Quellen, dem objektiven Eindruck und der subjektiven Vorstellungsthätigkeit, sind«145. Mit diesem Standpunkt, der »nicht der des Dogmatismus, weder des empiristischen noch des spekulativen, sondern der des Kriticismus [ist]«146, stimmt Zeller völlig überein. Anders hingegen verhält es sich bei der zweiten Frage, der nach der Wahrheit der Vorstellungen. Hier findet Zeller den »Grundfehler des kantischen Kriticismus«147, der von Fichte, Schelling und Hegel ausgebaut worden sei und indirekt die Krise der Philosophie herbeigeführt habe. Indem Kant eine Erkenntnis des Ding-an-sich und damit »eine richtige Ansicht der Dinge«148 für unmöglich erklärte, hat er das von Zeller - im Unterschied zu Schopenhauer und Fischer - goutierte Gleichgewicht von subjektiven und objektiven Elementen der Erkenntnis aufgegeben und damit den »verhängnisvolle[n] Schritt zu jenem Idealismus, der sich sofort bei Fichte in so schroffer Einseitigkeit entwickeln sollte«149, getan. 141 142 143 144 145 146 147 148 149

Vgl. a.a.O., 489f. Vgl. a.a.O., 483. A.a.O., 490. A.a.O., 485. A.a.O., 492. A.a.O., 495. A.a.O., 492. A.a.O., 493. A.a.O., 492.

Geschichtliche Anfänge des Neukantianismus

59

Auch Zeller, der im übrigen wie Helmholtz und später Lange das Apriori Kants naturalistisch deutete,150 verfährt also bei seinem Rückgriff auf Kant kritisch. Ob man seine und Helmholtz1 Ausführungen bereits mit dem Prädikat »Neukantianismus« versehen will, bleibt Geschmackssache. Von den oben entwickelten Kriterien her könnte man es ohne weiteres tun, obwohl beide Forscher natürlich von ihrem Gesamtwerk her ganz anderen Richtungen zuzuordnen sind. Traditionell läßt man den Neukantianismus mit einer anderen Schrift beginnen: mit der »Jugendarbeit«151 Otto Liebmanns »Kant und die Epigonen«, die 1865 erschien.152 Dieses Urteil kann sich darauf berufen, daß Liebmann wie kein anderer seinen Lesern das »Zurück zu Kant!« eingeschärft hat. Seine Darstellung der Philosophie der »Epigonen« Fichte, Schelling, Hegel, Herbart, Fries und Schopenhauer endet jeweils refrainartig mit dem Satz: »Also muß auf Kant zurückgegangen werden.«153 Allerdings geht es dabei auch Liebmann nicht um eine bloße Repristination Kants. Der Gedankengang ist vielmehr der folgende: Wie sein Lehrer Fischer findet Liebmann »die eigentliche Basis und das wahrhaft Neue und Epochemachende der /7/ischen Philosophie« in der transzendentalen Ästhetik,154 auch er bevorzugt die Erstauflage der »Kritik der reinen Vernunft« gegenüber der zweiten. Doch »ist etwas viel Schlimmeres [sc. als die »Untreue Kants gegen sich selbst« in der zweiten Auflage] bisher fast übersehen worden, das schon in der ersten Gestalt der Kantischen Lehre verborgen liegt, wie der Wurm in der Frucht. Es ist hineingekommen, indem er der dogmatischen Philosophie Concessionen machte und dadurch die eigene Existenz seiner Philosophie in Frage stellte. Im Allgemeinen besteht diese Inconsequenz darin: Während aus der transscendentalen Aesthetik, und der, von Kant selbst hervorgehobenen und oft 150 Ygj a a Q 4£3 (»Natur unseres Geistes«); 491 (»Natur unseres Erkennens«), 492 (»Natur unseres Vorstellens«). 151 So Liebmann rückblickend selbst (vgl. ders., XIII). Er war beim Erscheinen des Werks 25 Jahre alt. 152 Köhnke kritisiert diese traditionelle Sichtweise (für sie vgl. z. B. Oesterreich, 418) mit guten Gründen (vgl. Köhnke, 214f.). Seine Darstellung Liebmanns (a.a.O., 211-230) ist allerdings nicht frei von Polemik. 153 Vgl. Liebmann, 85; 96; 109; 138; 156; 204; 216. 154 A.a.O., 20. Vgl. a.a.O., 90 Anm. 1.

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Der Neukantianismus - Charakteristik und Anfänge

wiederholten Thatsache, daß der theoretische Intellect nur innerhalb seiner Erkenntnißformen oder mittelst seiner Functionen erkennen darf, und irgend Etwas, was außer diesen und unabhängig von ihnen existiren sollte, ihm gar nicht in den Sinn kommen kann, nothwendig folgt, daß wir etwas Außerräumliches und Außerzeitliches durchaus nicht vorzustellen oder gar zu denken vermögen, läßt sich Kant von vornherein doch dazu herbei, ein solches, von den Erkenntnißformen emancipirtes, also irrationales Object anzuerkennen, d. i. etwas vorzustellen, was nicht vorstellbar ist - ein hölzernes Eisen.«155 Das Ding-an-sich - denn dies ist das »hölzerne Eisen« Liebmanns - ist »ein fremder Tropfen Bluts im Kriticismus«156, und der Fehler der Nachfolger Kants war, daß sie diese Inkonsequenz nicht erkannten und ausmerzten, sondern vielmehr dem Ding-an-sich Kants Vergleichbares in ihre Systeme einbauten. »Also muß auf Kant zurückgegangen werden« nicht weil seine Philosophie fehlerfrei den anderen gegenübersteht, sondern weil in seinem Fehler die Wurzel der gesamten Fehlentwicklung der späteren Philosophie liegt und das »allgemeine[] Mißtrauen gegen philosophische Untersuchungen«157 einen Ansatz »ab ovo«158 nötig macht. Die Intentionen Zellers und Liebmanns beim Rückgriff auf Kant sind also identisch: Zum einen habe Kant die angesichts der Krise der Philosophie notwendige Grundlagenklärung geleistet,159 zum anderen sei ein von ihm begangener Fehler, durch die »Nachfolger« multipliziert, für diese Krise verantwortlich und müsse daher an der Wurzel beseitigt werden. Während allerdings Zeller diesen Fehler in einer zu starken Betonung der subjektiven Erkenntnisfaktoren gegenüber den objektiven sah, verhält es sich bei Liebmann gerade umgekehrt. Seiner Ansicht nach soll sich die Philosophie auf rein bewußtseinsimmanente Probleme beschränken (wofür als Gewährsmann sogar Martin Luther angeführt wird).160 155 156 157 158 159

160

A.a.O., 24f. A.a.O., 35. A.a.O., 2. A.a.O., 4. Auch Liebmann sieht in Kant primär den Erkenntnistheoretiker. Vgl. a.a.O., 8: »[DJenn was ist denn ihr [sc. der Kantschen Lehre] einfaches, anspruchsloses Thema? [...] [E]s ist die Beantwortung der Frage: Was kann ich überhaupt erkennen?« Vgl. a.a.O., 209-214. Der Bezug auf Luther findet sich a.a.O., 214.

Geschichtliche Anfänge des Neukantianismus

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Es bietet sich an, die Darstellung der Anfänge des Neukantianismus mit der Schrift abzuschließen, die »eine der wichtigsten, vor allem aber die meistgelesenste des ganzen Neukantianismus werden sollte«, und deren Autor »durch sie zum bedeutendsten unter allen frühen Neukantianern [wurde]«161: Friedrich Albert Langes »Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart«. Sie erschien 1866 in erster, 1873/75 in völlig umgearbeiteter und erweiterter zweiter und danach noch in zahlreichen weiteren Auflagen. Wie der Titel schon sagt, geht es Lange, dessen Tätigkeit sich im übrigen keineswegs auf die Philosophie beschränkte,162 zunächst um eine Kritik des Materialismus. Zu diesem Zweck verweist er ganz parallel zu Helmholtz einerseits auf Kant, der das »metaphysische Dogma« der Materialisten »von der absoluten Objektivität der Sinnenwelt«163 durch seine These, »daß unsere Begriffe sich nicht nach den Gegenständen richten, sondern die Gegenstände nach unseren Begriffen«164., widerlegt habe, andererseits auf die Ergebnisse der Sinnesphysiologie. Bezeichnend für Langes Kant-Deutung ist dabei folgender Satz: »Die Physiologie der Sinnesorgane ist der entwickelte oder der berichtigte Kantianismus, und Kants System kann gleichsam als ein Programm zu den neueren Entdeckungen auf diesem Gebiete betrachtet werden.«165 Kant wird also physiologisch interpretiert, wobei auch Umdeutungen (»Berichtigungen«) in Kauf genommen werden. Die entscheidende Umdeutung ist, wie Lange selbst in einer wichtigen Anmerkung erläutert,166 die Einführung des Begriffs der Organisation. Während Kant die Frage nach dem Ursprung der Kategorien, die der Synthesis a priori zugrundeliegen, offen ließ, sieht Lange hierin die Gefahr einer Auflösung der Vernunftkritik in Platonismus oder eine Tautologie. Daher fuhrt er das Apriorische auf die »physisch-psychische Organisation des Menschen«167 zurück - die für den frühen Neukantianismus typische »Naturalisierung des 161

Köhnke, 233. Darstellung Langes a.a.O., 233-257. 163 Lange, 503. 164 A.a.O., 455. 165 A.a.O., 850. 166 Ygi a a Q 571.573 (Anm. 25). Vgl. auch die Auseinandersetzung mit Cohens Kant-Deutung a.a.O., 577f. (Anm. 37). 167 A.a.O., 481. 162

Vgi die

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Der Neukantianismus - Charakteristik und Anfänge

Apriorischen«168. Sie wurde von den späteren Neukantianern als Psychologismus zurückgewiesen. So betont Windelband: »Die kritische Methode darf die Tatsachen der Psychologie und der Geschichte niemals als Geltungsgründe für die Normen [sie stehen bei Windelband für das Apriorische] anerkennen [,..].«169 (Der Grund ist, daß psychologisch und historisch nur faktische, nicht jedoch normative Geltung begründet werden kann.) Worauf gründet sich dann aber das Apriori? Windelband antwortet: »Die Begründung der Axiome und Normen liegt lediglich in ihnen selbst, in der teleologischen Bedeutung, welche sie als Mittel für den Zweck der Allgemeingiltigkeit besitzen.«170 D. h. aber: Der spätere Neukantianismus bleibt genau bei der Tautologie stehen, die von Lange verworfen wurde.171 Doch zurück zu Lange! Neben der Beziehung der Apriorität auf die Organisation des Menschen - sie begegnet auf fast jeder Seite des zweiten Teils seiner Darstellung - und der doppelten Frontstellung gegen Materialismus und Metaphysik172 fällt ein drittes Moment in seinem Hauptwerk ins Auge: die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Materialismus. Denn die oben skizzierte Kritik trifft nur den »dogmatischen« Materialismus. Nicht mit weltanschaulichem Anspruch verbunden, ist er für Lange »eine vortreffliche Maxime der Naturforschung«173. Lange kann seinen eigenen Standpunkt sogar in die Nähe eines »Materialismus der Erscheinung«114 rücken. Wichtig sei nur, daß sich dieser seiner eben nur relativen Berechtigung, nämlich für den Bereich der Erscheinungen, bewußt bleibe.175 »[D]ie Art, wie der äußere Naturvorgang zugleich ein Inneres ist für das denkende Subjekt« - an diesem Punkt liegen nach Lange »die Grenzen des Naturerkennens« (Lange zitiert damit den Titel eines 1872 von dem Physiologen Du BoisReymond gehaltenen und vielbeachteten Vortrags) und somit auch des 168

169 170 171

172 173 174

175

Köhnke, 177. Schon Helmholtz sprach von der »Organisation des Geistes« und der »Natur unserer Sinne« als Bedingungen der Erkenntnis (s. o. S. 55). Windelband [1883], 130. A.a.O., 131. Zu Cohen s. u. S. 78-81. S. o. S. 48f. Lange, 599. A.a.O., 839. Vgl. ebd.

Geschichtliche Anfänge des Neukantianismus

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Materialismus,176 der, konsequent betrieben, genau auf sie hinführe.177 Lange räumt allerdings ein, daß ein solcher, »die Unbegreiflichkeit des Geistigen« einräumender Materialismus der eigentlichen Intention der Materialisten (nämlich: die ganze Welt begreifbar zu machen) widerspreche.178 »Die konsequent materialistische Betrachtung schlägt« jedoch »sofort um in eine konsequent idealistische«.179 »Denn während es stets eine unüberwindliche Klippe für den Materialismus blieb, zu erklären, wie aus stofflicher Bewegung eine bewußte Empfindung werden könnte, so ist es dagegen keineswegs schwer zu denken, daß unsre ganze Vorstellung von einem Stoff und seinen Bewegungen das Resultat einer Organisation von rein geistigen Empfindungsanlagen ist.«180 Diese letztere Auffassung ist »der Standpunkt des Ideals«, mit dessen Beschreibung Langes Text endet.181 Dieser Standpunkt verläßt den Boden der Erscheinungswelt, der Wirklichkeit,182 und sieht die Welt als freie Synthesis des menschlichen Geistes an. Dies geschieht in der Dichtung,183 vorbildlich in der Schillers, »welche mit edelster Gedankenstrenge die höchste Erhebung über die Wirklichkeit verbindet und welche dem Ideal eine überwältigende Kraft verleiht, indem sie es offen und rückhaltlos in das Gebiet der Phantasie verlegt«184. Es geht also Lange in seinem Buch keineswegs um eine Generalabrechnung mit dem Materialismus. Er bezeichnet es an einer Stelle als wesentliche Aufgabe, »die strengsten Forderungen der Wissenschaft mit der Wahrung unsrer sittlichen und religiösen Ideen zu vereinigen«185. »[D]ie Herstellung einer haltbaren Verbindung zwischen einer materialistisch begriffenen Natur und einer idealistischen Metaphysik«186 - dies 176

Vgl. a.a.O., 817. Vgl. a.a.O., 812. 178 Vgl. a.a.O., 599f. Zitat: a.a.O., 600. 179 A.a.O., 867. 180 A.a.O., 870f. 181 Vgl. a.a.O., 981-1003. 182 Vgl. die Definition von Wirklichkeit, a.a.O., 98 If: »Inbegriff der notwendigen, durch Sinneszwang gegebenen Erscheinungen«. 183 Ygj a a o., 982: »Erst in der Dichtung im engeren Sinne des Wortes, in der Poesie, wird der Boden der Wirklichkeit mit Bewußtsein aufgegeben.« 184 A.a.O., 987f. 185 A.a.O., 774. 186 A.a.O., 211 (dort als Beschreibung der Leistung Kants). 177

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Der Neukantianismus - Charakteristik und Anfänge

und nicht eine grobe Bekämpfung des Materialismus war das Ziel seines Hauptwerks. Insofern sich in diesem Ziel die Intention spiegelt, eine idealistische Position zu vertreten, ohne die aufblühenden Naturwissenschaften zu ignorieren, wurde Langes Vorgehen vorbildlich für den späteren Neukantianismus.187 Die frühe Geschichte des Neukantianismus zusammenfassend, kann man sagen: Der Neukantianismus ist zunächst ein Krisenphänomen. Angesichts eines Tiefstands der Popularität der Philosophie und angesichts der Herausforderung durch den vulgären Materialismus, der mit dem Anspruch, eine dezidiert wissenschaftliche Philosophie zu sein, auftrat, wurde der Ruf nach einem Neuaufbau der Philosophie »ab ovo«188 immer lauter. »Ab ovo« - das hieß aber für einen Großteil der deutschen Philosophen: zurück zu Kant und seiner erkenntnistheoretischen Fundierung der Philosophie. Zur Rehabilitation der Philosophie und Bekämpfung des Materialismus wurde eine Identität von Kants Philosophie mit den Ergebnissen der sinnesphysiologischen Forschung behauptet, wurde Kant einseitig physiologisch und erkenntnistheoretisch interpretiert. Erst die zweite Phase des Neukantianismus, die mit »Kants Theorie der Erfahrung« von Hermann Cohen beginnt, sprach sich gegen diese Einseitigkeiten aus - freilich nicht, ohne selbst gemäß dem Grundsatz: »Kant verstehen, heißt über ihn hinausgehen«189, andere Engführungen der Kant-Auffassung an ihre Stelle zu setzen. Nun auch erst kam es zur Bildung von Schulen, namentlich der Marburger und der Südwestdeutschen Schule, deren Antagonismus für die Blütezeit des Neukantianismus bestimmend blieb.

187

188 189

Es stellt sich allerdings die Frage, ob Lange diese Verbindung erreicht hat, ob er über Schiller und den Gegensatz von Ideal und Wirklichkeit, von Dichtung und Wissenschaft, hinausgekommen ist. S. o. S. 60. S. o. S. 52.

2. Grundelemente der Philosophie Hermann Cohens 2.1. Grundlagen 2.1.1. Leben Hermann Cohen, geboren 1842, promovierte im Jahre 1865 in Halle. Versuche, sich in Berlin zu habilitieren, scheiterten. Erst die Fürsprache Friedrich Albert Langes, der seit 1872 in Marburg als ordentlicher Professor tätig war, ermöglichte ihm dort die Habilitation, die Ende 1873 erfolgte. Die Unterstützung Langes gründete sich auf Cohens 1871 erschienene erste monographische Schrift »Kants Theorie der Erfahrung«, von der Lange positiv eingenommen war.1 1875 wurde Cohen Extraordinarius, 1876 erhielt er das Ordinariat des inzwischen verstorbenen Lange, das er bis 1912 innehatte. In diesem Jahr bat Cohen um seine Entlassung,2 aus Alters- und gesundheitlichen Gründen,3 aber nicht zuletzt auch zermürbt durch jahrelange Kämpfe um den Rang der Philosophie innerhalb der Fakultät4 (angesichts derer es wie eine Ironie des Schicksals anmutet, daß Cohens Nachfolger ein Experimentalpsychologe war) und durch den von ihm als Juden mit höchster Sensibilität wahrgenommenen Antisemitismus. Cohen wechselte nach seiner Entlassung nach Berlin an die dortige Lehranstalt des Judentums und widmete sich bis zu seinem Tode im Jahr 1918 primär der Religionsphilosophie.5 1

2 3

4

5

Vgl. Lange, 576f. Anm. 35. Das positive Urteil Langes ist umso bemerkenswerter, als Cohen ihn in »Kants Theorie der Erfahrung« deutlich kritisiert hatte (vgl. Cohen [1987 b], 207f.). Das Entlassungsgesuch Cohens ist dokumentiert bei Holzhey [1986 b], 514f. Cohen war im Dezember 1892 an einer Netzhautablösung des rechten Auges erkrankt bei gleichzeitiger hochgradiger Kurzsichtigkeit des anderen Auges (vgl. a.a.O., 514). Seitdem war er bei der Arbeit auf die Hilfe seiner Frau angewiesen. Der Philosophischen Fakultät in Marburg gehörten damals noch neben Fachphilosophen, Philologen und Historikern auch die Naturwissenschaftler an. Vgl. zur Biographie: Ollig, 29-35; zu den Fakultätskämpfen: Holzhey [1986 a], 16-22.

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Grundelemente der Philosophie Hermann Cohens

2.1.2. Werk Für das Werk Cohens ist zunächst die Anknüpfung an die Kantsche Philosophie bezeichnend: Stellt »Kants Theorie der Erfahrung« eine Auslegung der »Kritik der reinen Vernunft« dar (freilich ohne den Anspruch historischer Objektivität, sondern als »systematische Parteinahme«6, als »Weiterbildung von Kant's System«7), so folgten mit »Kants Begründung der Ethik« (1877) und »Kants Begründung der Ästhetik« (1889) parallel ausgerichtete Werke zu den beiden anderen Kritiken Kants. Die beiden ersten Kant-Werke wurden von Cohen für Neuauflagen erheblich überarbeitet und erweitert (1885 bzw. 1910). 1907 erschien noch ein »Kommentar zu Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft«, doch stand die zweite Hälfte der Marburger Zeit Cohens eher im Zeichen der Formulierung eines eigenen »Systems der Philosophie«, von dem drei Teile vorliegen: »Logik der reinen Erkenntnis« (1902), »Ethik des reinen Willens« (1904) und »Ästhetik des reinen Gefühls« (1912). Ein vierter Teil, der unter dem Titel einer »Psychologie« gegenüber den jeweils ein Glied des »Kulturbewußtseins« behandelnden Teilen auf die Einheit dieses Bewußtseins abheben sollte,8 wurde von Cohen nicht mehr geschrieben. Wichtige Vorstufen zum »System« Cohens markieren die Schrift: »Das Prinzip der Infmitesimal-Methode und seine Geschichte« (1883) und die »Einleitung mit kritischem Nachtrag« zu Langes »Geschichte des Materialismus« (1896). Aus der Berliner Zeit schließlich sind zwei größere Schriften hervorgegangen: »Der Begriff der Religion im System der Philosophie« (1915) und - postum veröffentlicht - »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums« (1919).

6 7 8

Cohen [1987 b], V. Cohen [1977], XII. Vgl. Cohen [1977], 17f.; ders. [1982 b], 425-432 (vgl. insbesondere die Definition a.a.O., 429: »Die Psychologie ist die Psychologie der Einheit des Bewußtseins der einheitlichen Kultur.«).

Grundlagen

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2. L 3. Grundgedanken der Logik Cohens9 2.1.3.1. Die Ablehnung des »Gegebenen« und das »reine Denken« Für eine Rekonstruktion der Grundgedanken Cohens liegt es nahe, von dem schon rein äußerlich in den Titeln der drei Teile des »Systems der Philosophie« hervorstechenden Begriff der »Reinheit« auszugehen. »Rein« - das bedeutet zunächst einmal fur Cohen wie für Kant ex negativo »unvermischt« und »nicht empirisch«.10 Philosophie muß »rein« sein. Von dieser Voraussetzung her ergab sich fur Cohen eine radikale Ablehnung eines Bezugs der Philosophie auf die Empfindung. 11 Aber auch der Kantsche Dualismus von Anschauung und Denken wurde ihm auf dieser Basis immer verdächtiger. Es läßt sich an den Schriften Cohens die immer stärkere Abwendung von Kant an diesem Punkt nachweisen.12 Cohens Kant-Kritik läßt sich so zusammenfassen: Kant habe zwar durch die Rede von »reiner Anschauung« eine Kollision von Empfindungs- und Anschauungsbegriff vermeiden wollen. »Durfte diese Verschiedenheit aber ernst genommen werden, so war es nicht leicht zu verstehen, warum die Anschauung so streng vom Denken unterschieden bleiben mußte.«13 Cohen meint, den Grund feststellen zu können: Die »reine Anschauung« Kants repräsentiert zwar nicht die Empfindung, 9

10 1!

12 13

Die Fragen der Logik standen stets im Zentrum von Cohens philosophischer Arbeit. Die auf diesem Gebiet gewonnenen Ergebnisse bilden das unverbrüchliche Fundament der beiden anderen Systemteile. Daher werden im folgenden die Grundgedanken Cohens anhand der »Logik der reinen Erkenntnis« entwickelt. Über die Durchführung dieser Gedanken in Ethik und Ästhetik s. u. 2.1.4. Vgl. Holzhey[1986a], 175. Vgl. z. B. Cohen [1984 b], 65: »Von vorn herein schien es, und es mußte sich so verhalten, daß die Empfindung als das lediglich empirische, das will sagen, das unphilosophische und unwissenschaftliche, nur ein Fragezeichen an die Wissenschaft ausdrückende Moment daher unter den erzeugenden Grundlagen der Wissenschaft gänzlich und grundsätzlich eliminiert werden und bleiben würde; ihm ist ja der Wert des a priori unzugänglich.« (Der Satz ist Bestandteil eines KantReferats.) Die Polemik Cohens richtet sich allerdings nur gegen eine Auffassung der Empfindung im Sinne eines konstitutiven Bestandteils der Erkenntnis. Im Rahmen der modalen Kategorien hat der »Anspruch der Empfindung« durchaus sein Recht (vgl. Cohen [1977], 434-501). Vgl. Holzhey [1977], X*-XV*; ders. [1986 a], 140-160. Cohen [l984 b], 65.

68

Grundelemente der Philosophie Hermann Cohens

wohl aber ein anderes - wie abstrakt auch immer - dem Denken vorausgehendes »Gegebenes«, durch das die Reinheit (jetzt von Cohen positiv gefaßt als »Selbständigkeit«) des Denkens beeinträchtigt wird.14 Kant hat sich nach Cohens Meinung von dem empiristischen »Vorurteil des Gegebenseins«15 nicht genügend gelöst. Hinter Cohens Kant-Kritik steckt also ein grundlegender Anti-Empirismus. Spätestens mit der »Logik der reinen Erkenntnis« ist die Frage, ob man »für die philosophische Erkenntnisbegründung von der Bezugnahme auf ein Gegebenes absehen [könnte]«16, Cohens beherrschende Frage geworden. Entsprechend lauten die programmatischen Sätze der »Logik der reinen Erkenntnis«: 14 15

16

Vgl. Cohen [1977], 12f.; 27f. A.a.O., 28. Vgl. auch a.a.O., 587 (»Das Gegebene ist ein Vorurteil der Empfindung und der Vorstellung.«); Cohen [1982 a], 78 (»Es ist ein gefahrlicher Ausdruck, daß der Gegenstand unmittelbar gegeben sei. Das ist er niemals für die Erkenntnis. Er muß für sie, in ihr immer erst erzeugt werden; seine Gegebenheit selbst muß erzeugt werden. So fordert es die Reinheit; und so bringt sie es zur methodischen Wahrheit. Der Gegenstand muß immer der reine Gegenstand sein.«). Holzhey [1986 a], 145. Holzhey sieht hinter dieser Frage das »Interesse des philosophisch-weltanschaulichen Idealismus« (ebd.). Wenn Cohen jedoch immer wieder auf die Selbständigkeit des Denkens abhebt, kann man noch ein zweites, lebensgeschichtlich bedingtes (Stichwort: Fakultätskämpfe) Motiv als Hintergrund ausmachen: das, die Selbständigkeit der Philosophie zu erweisen. (Dieses Motiv wird besonders deutlich in Cohens Vorrede zu seiner »Ästhetik des reinen Gefühls«, die im Jahr seines Abschieds von Marburg erschien. Vgl. z. B. Cohen [1982 a], XI: »Denn das ist die vornehmliche Obliegenheit des philosophischen Schriftstellers, daß er das Lebensrecht und das Eigenrecht der Philosophie klarzustellen sich bestrebe für die Wissenschaften, für die Künste, für die allgemeine Kultur. Der Kultur fehlt die Einheit und der Halt, wenn ihr das Rückgrat der Philosophie gebrochen wird.«) Ein drittes Interesse, das an der Annäherung der Philosophie an die empirischen Wissenschaften, zeigt sich in folgender Passage aus der Erstauflage von »Kants Theorie der Erfahrung«: »Wenn dennoch das lediglich Empirische, die Materie der Empfindung ebenfalls a priori sich anticipiren Hesse, wäre es auch nur in gewissem Betracht, so würde durch eine solche Ausdehnung des a priori die Kluft zwischen demselben und dem schlechthin Empirischen erheblich verengt, und die Kantische Theorie der Erfahrung den Einzelforschungen der Erfahrungswissenschaften bedeutsam genähert sein« (Cohen [1987 b], 214). Dieses Interesse widerstreitet dem zweiten nicht, denn Cohen wollte die Selbständigkeit der Philosophie gerade in ihrer Annäherung an die Erfahrungswissenschaften begründen (s. u. 2.1.3.3.).

Grundlagen

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»Wir [anders als Kant und erst recht die Empiristen] fangen mit dem Denken an. Das Denken darf keinen Ursprung haben außerhalb seiner selbst, wenn anders seine Reinheit uneingeschränkt und ungetrübt sein muß. Das reine Denken in sich selbst und ausschließlich muß ausschließlich die reinen Erkenntnisse zur Erzeugung bringen. Mithin muß die Lehre vom Denken die Lehre von der Erkenntnis werden. Als solche Lehre vom Denken, welche an sich Lehre von der Erkenntnis ist, suchen wir hier die Logik aufzubauen.«^ Worin besteht fur Cohen die Tätigkeit des »reinen Denkens«? Die eben zitierten Sätze enthalten bereits die beiden wesentlichen Metaphern, die Cohen zur Näherbestimmung einsetzt: Das Denken ist »Ursprung«, und es ist »Erzeugung«, wobei »Ursprung« - allerdings mit speziellen Konnotationen18 - nichts anderes als »Erzeugung« aussagen soll. Daher kann im folgenden an die Rede Cohens von der erzeugenden Kraft des Denkens angeknüpft werden. »Das Erzeugen bringt die schöpferische Souveränität des Denkens zum bildlichen Ausdruck.«19 »Erzeugung« ist schon vor der »Logik der reinen Erkenntnis« ein von Cohen häufig verwendeter Begriff, der für die Tätigkeit des Erkenntnisvermögens steht, seinen Gegenstand, also Erkenntnis, selbst hervorzubringen und so zu konstituieren.20 In der »Logik der reinen Erkenntnis« wird diese enge Bezogenheit von Erkenntnisvermögen (jetzt ja verstanden als »reines Denken«) und Erkenntnisgegenstand explizit als Identität bestimmt: »Die Erzeugung selbst ist das Erzeugnis.«21 Die Anstößigkeit dieses Satzes, der seine Entsprechung in Cohens Hochschätzung des Parmenides und dessen Satz von der Identität von Denken und Sein hat,22 war Cohen durchaus bewußt: »Es scheint eine unauflösliche, abenteuerliche Paradoxie, daß das Denken seinen Stoff sich selbst erzeugen soll. Und aller Verdacht und aller Spott, dem von jeher der falsche Apriorismus verfallen war, scheint hier herausgefordert zu wer17 18

19 20 21 22

Cohen [l977], 13. S.u. 2.2. Cohen [1977], 28. Vgl. schon Cohen [1987 b], 216; 232. Cohen [1977], 29 u. ö. (vgl. das Register s. v. »Erzeugung«). Vgl. z. B. a.a.O., 44: »Die Identität des Parmenides ist der Polarstern aller Wissenschaft und aller Forschung, alles Denkens.«

70

Grundelemente der Philosophie Hermann Cohens

den.«23 Dennoch ist dieser Satz, daß die (Denk-)Tätigkeit den Inhalt erzeugt und zugleich bildet, eine unausweichliche Folgerung aus der Reinheit des Denkens, denn Reinheit - hier wieder im wörtlichen Sinne von »unvermischt« - bedingt Einheit, in diesem Fall von Denken und Gegenstand.24 Dementsprechend lehnt Cohen eine bloß formale Logik ab; Denken ohne Gegenstandsbezug gibt es nicht. Die »Logik der reinen Erkenntnis« ist daher dezidiert eine Sach- bzw. Seinslogik.25 2.1.3.2. Der Dynamismus Cohens Wie wehrt nun Cohen den Verdacht des »falschen Apriorismus«, worunter die bloße Erneuerung eines spekulativen Idealismus mit seinen für Cohen »dogmatischen« (im pejorativen Sinn) Aussagen zu verstehen ist, ab? Er tut dies in zweifacher Weise, von der Denktätigkeit wie von ihrem Inhalt aus.26 Das Denken wird von Cohen näher bestimmt als Korrelation27 von Sonderung (der Aspekt von »Mehrheit«) und Einigung (der Aspekt von »Einheit«). Diese Korrelation bedeutet kein SichAbwechseln, sondern beide Richtungen erhalten sich im Denken. Damit ist gemeint, daß beide Aspekte »nicht nebeneinander lagern, so wenig, als ineinander übergehen. Eine Durchdringung, wie man sie sich dynamisch nicht vorzustellen vermag, wird für die Erhaltung gefordert.«28 »Erhaltung« hat jedoch auch einen temporalen Sinn: Beide Richtungen des Denkens erhalten sich in die Zukunft, dürfen niemals als abgeschlossen gedacht werden; sie - und damit auch das Denken - sind »Aufgaben, und müssen unaufhörlich Aufgaben bleiben«29. Spiegelt sich darin das Interesse, die Aktstruktur des Denkens zu wahren, so steht dieses Interesse auch im Hintergrund, wenn Cohen seine Logik explizit als »Logik des Urteils« konzipiert. Denn das Urteil bezeichnet eine Tätigkeit und ist 23

24 25 26 27

28 29

A.a.O., 59. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 13f. Vgl. zum Folgenden a.a.O., 59-68. Cohen verweist auch auf den Kantschen Terminus »Synthesis« (a.a.O., 61), vermeidet ihn aber ansonsten - wohl deshalb, weil »Synthesis« bei Kant das »Gegebene der Anschauung« voraussetzt und daher mit fur Cohen unbrauchbaren Implikationen verknüpft ist (vgl. a.a.O., 25-28). A.a.O., 62. A.a.O., 64f.

Grundlagen

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dadurch weniger der Gefahr, als unveränderlich fixiert angesehen zu werden, ausgesetzt als Kategorien oder Grundsätze.30 »Das eben ist das Verfahren, den Schatz des Apriorismus zu hüten, und seine Zweideutigkeiten zu vermeiden.«31 Aus dieser Auffassung des Denkens ergeben sich wichtige Konsequenzen für seinen Inhalt. Ebenso wie die Tätigkeit ist auch der Inhalt des Denkens »nicht in einer Gegenwart zu stabilieren, sondern aus der aktuellen Gegenwart in die Zukunft, zur Zukunft in Beziehung zu setzen«32. Daraus folgt, daß er kein »Ding« sein kann, denn Dinglichkeit hat für Cohen die Konnotation von Gegebensein und Fixiertheit.33 Es kann jedoch ein anderer Inhalt von der Tätigkeit des Denkens unterschieden werden: Sofern die Erhaltung als Bestand gedacht wird, leistet dieser Bestand Widerstand gegen »jene schwebende Tätigkeit«34 und erweist sich so als Gegenstand. Aus seiner engen Gebundenheit an das ewig fortschreitende Denken ergibt sich, daß er eben kein fixes »Ding«, sondern Objekt im wörtlichen Sinn, nämlich »Vorwurf«, ist, oder, wie Cohen in Anlehnung an das griechische Äquivalent zu »Vorwurf« schreibt: »Problem«. Es entspricht diesem dynamischen Gegenstandsbegriff voll und ganz, wenn es später heißt: »Die Identität von Denken und Sein

30 31 32 33

34

Vgl. a.a.O., 585f. A.a.O., 585. A.a.O., 64. Vgl. z. B. a.a.O., 145 (»Dinge [...], welche an sich gegeben wären«); 220 (»Die Natur ist nicht ein solches unwandelbares Ding; sie besteht vielmehr in Veränderungen.«); 22If. (»So bewährt sich der idealisierende Wert dieser fundamentalen Methode darin, daß sie von dem Vorurteil eines fixen Dinges loslöst und das Prinzip der Veränderung an die Stelle der geschlossenen Gegebenheit setzt.«); 224 (»Nicht Dinge sind ihr [sc. der mathematischen Naturwissenschaft] gegeben, sondern Bewegungen bilden ihr Problem.«); 248 (»sinnliche[r], dingliche[r] Nebensinn«); 378 (Verdinglichung = »Verknöcherung«); Cohen [1981], 171 (»Der Begriff ist niemals ein abgeschlossenes Ding, niemals eine Versteinerung.«). Daß Gegebensein von Cohen mit Fixiertheit gleichgesetzt werden kann, deutet auf ein viertes (für die ersten drei Motive s. o. Anm. 16) Motiv für seine Abwendung vom »Gegebenen« hin: die durch und durch dynamische Struktur seines Denkens (die wiederum im ersten Motiv, dem weltanschaulichen Idealismus, gründet; s. o. in dieser Anmerkung das Zitat aus Cohen [1977], 221f.). Cohen [1977], 67.

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könnte man daher auch als Identität von Denken und Bewegung bezeichnen.«35 Die an diesen Überlegungen zum Denken und seinem Inhalt beispielhaft36 deutlich werdende grundsätzliche Dynamisierung von wesentlichen Termini der philosophischen Tradition stellt ein erstes wichtiges Moment dar, das aus Cohens leitendem Interesse entspringt, Philosophie aus dem Denken zu begründen, ohne der Gefahr eines »falschen« Apriorismus, wie er ihn der »Metaphysik des Absoluten« vorwirft,37 zu erliegen. An die Stelle von feststehenden Absolutheiten treten bei ihm Korrelationen, wodurch ein scheinbar »dogmatischer« Satz wie der von der Identität von Denken und Sein neue Bedeutung erhalten soll. 2.1.3.3. Das »Faktum der Wissenschaft« Das zweite Moment, mit dem sich Cohen vom »dogmatischen« Idealismus abhebt, zeigt sich bei der näheren Betrachtung seines Gegenstandsbegriffs. Dieser wird in folgenden Sätzen aus »Kants Begründung der Ethik« ausgesprochen: »Nicht die Sterne am Himmel sind die Objecte«, »sondern die astronomischen Rechnungen, jene Facten wissenschaftlicher Realität sind gleichsam das Wirkliche, das zu erklären steht, auf welches der transscendentale Blick eingestellt wird. [...] Jene Facten von Gesetzen sind die Objecte; nicht die Sinnendinge«.38 Dies ist auch die Position der »Logik der reinen Erkenntnis«: Der »problematische« Gegenstand, von dem oben die Rede war, sind die »reinen Erkenntnisse«, die Gesetze der Wirklichkeit, wie sie von der Wissenschaft herausgearbeitet werden.39 Daraus ergibt sich eine grundsätzliche Angewie35 36

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38 39

A.a.O., 224. Vgl. vor allem auch die Deutung des Substanzbegriffs, die - wie schon das letzte, dem entsprechenden Abschnitt der »Logik der reinen Erkenntnis« entstammende Zitat andeutet - ganz von der Bewegung her erfolgt (a.a.O., 210-254). S. auch u. S. 79f. Vgl. a.a.O., 606. Wenn ebd. der »Metaphysik des Absoluten« vorgeworfen wird, verkappter Materialismus zu sein, und dieser zum - neben dem Eklektizismus (zu diesem vgl. Cohen [1984 b], 18) - einzigen Gegensatz gegen den (Cohenschen) Idealismus erklärt wird, so zeigt dies, daß sich die anti-materialistische Tendenz des frühen Neukantianismus bis zu Cohen durchgehalten hat. Zit. Holzhey [1986 a], 133f. Vgl. z. B. Cohen [1977], 70.

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senheit nicht nur der Logik, sondern der ganzen Philosophie auf die empirischen Einzelwissenschaften.40 Die Beziehung des Denkens auf das »Faktum der Wissenschaft«41 leistet mehreres: 1. Sie verbürgt die Wissenschaftlichkeit der Philosophie, an der Cohen wie allen Neukantianern sehr gelegen ist.42 2. Sie harmoniert aufs beste mit dem »Vorwurf«-Charakter des Denkgegenstands, denn die wissenschaftlichen Gesetze sind ebenfalls »in Fluß«.43 3. Sie schützt vor »Willkür« und »sophistischen Verrenkungen« und unterscheidet so den »kritischen« vom »dogmatischen« Idealismus.44 4. Sie schützt vor Psychologismus und Subjektivismus: »Nehme ich hingegen die Erkenntnis nicht als eine Art und Weise des Bewusstseins [,] sondern als ein Factum, welches in der Wissenschaft sich vollzogen hat und auf gegebenen Grundlagen sich zu vollziehen fortfährt, so bezieht sich die Untersuchung nicht mehr auf eine immerhin subjective Thatsache, sondern auf einen wie sehr auch sich vermehrenden, so doch objectiv gegebenen und in Principien gegründeten Thatbestand, nicht auf den Vorgang und Apparat des Erkennens, sondern auf das Ergebniss desselben, die Wissenschaft.«45 40

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Vgl. z. B. Cohen [1981], 65: »Alle Philosophie ist auf das Faktum von Wissenschaften angewiesen.« Zu dieser Wendung vgl. außer der eben angeführten Stelle und der im Text anschließend zitierten Passage aus Cohen [1984 a] noch ders. [1977], 76 (»unsere, an dem Werdefaktum der mathematischen Naturwissenschaft orientierte Logik«); ders. [l984 a], 119 (»das Factum der mathematischen Naturwissenschaft«,). Über die hinter Ethik und Ästhetik stehenden »Fakta« s. u. 2.1.4. In einem Brief an Natorp spricht Cohen von der »Eifersucht der Exakten gegen unsere wissenschaftliche Philosophie« (zit. Holzhey [l986 a], 21). Die »Metaphysik des Absoluten« ist nicht nur »falsch«, sondern auch »unwissenschaftlich« (Cohen [1977], 606). Zu den übrigen Neukantianern s. o. S. 37-40. Vgl. Cohen [l977], 585. Vgl. Cohen [1984 a], 127. Vgl. auch ders. [1984 b], 23: »[...] die Verbindung mit der Wissenschaft, ohne welche die Philosophie tote, heuchlerische Scholastik bleibt [...]«. Cohen [1984 a], 5. Der gleichen Intention entstammt die generelle Vorordnung der erkenntnistheoretischen Untersuchung des Objekts der Erkenntnis vor die des Subjekts bei den Marburgern (vgl. Holzhey [1986 a], 131-139; Beleg ist z. B.

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Spätestens angesichts dieses Zitats muß sich allerdings die Frage stellen, ob Cohen mit seiner Rede vom Wissenschaftsfaktum nicht sein eigenes Prinzip, nämlich von der »Reinheit« des Denkens auszugehen und kein »Gegebenes« vorauszusetzen, verletzt. Die Wissenschaft scheint ja dem Denken »empirisch« vorgegeben zu sein. Dem ist jedoch nicht so, denn die Wissenschaft und ihre Prinzipien sind ja für Cohen selbst Erzeugnisse des Denkens (indem sie dessen Gegenstand sind).46 Wenn im Zitat von »gegebenen Grundlagen« die Rede ist, so sind dies keine vom »reinen Denken« unabhängigen »Dinge«, sondern der »Vorwurf« - die wissenschaftlichen Erkenntnisse, bei denen das »reine Denken« im Laufe des Prozesses seiner Entwicklung zum Zeitpunkt der erkenntnistheoretisch-logischen Untersuchung gerade angekommen ist. Es ist wesentlich für das Verständnis Cohens, zwischen dem »reinen Denken« und dem Denken der Logik zu unterscheiden. Dem »reinen Denken« ist tatsächlich nichts vorgegeben, es ist durch und durch schöpferisch. Dem Denken des Logikers Cohen hingegen sind geschichtliche »Offenbarungen«47 des »reinen Denkens« vorgegeben, von

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Cohen [1984 a], 10: »Erkenntnisskritik aber ist nicht schlechthin auf den erkennenden Geist gerichtet, sondern auf den Inhalt der Erkenntniss.«), die sich auch in der geplanten Anlage von Cohens »System der Philosophie« spiegelt (die Teile 1-3 behandeln die Objekte des Kulturbewußtseins, Teil 4 sollte behandeln die Einheit dieses selbst). S. u. 3.2. Dies geht aus den bisherigen Überlegungen hervor (die wissenschaftlichen Gesetze als Gegenstand des Denkens; Denkgegenstand = Denkerzeugnis). Vgl. noch Cohen [1977], 13; 262: »reine Erkenntnisse]« als Erzeugnis des »reinen Denkens«, wobei die »reinen Erkenntnisse« nichts anderes als die »Prinzipien der mathematischen Naturwissenschaft« sind (vgl. z. B. a.a.O., 11). Vgl. a.a.O., 50: »Demgegenüber halten wir an der historischen Ansicht fest, daß die echten schöpferischen Elemente des wissenschaftlichen Denkens in der Geschichte des wissenschaftlichen Denkens sich offenbaren [...].« Cohen teilt das rationalistische und optimistische Geschichtsbild der Aufklärung. Vgl. z. B. ders. [1984 b], 19: »Der Idealismus der reinen Vernunft hat sich als die Grundkraft in der Geschichte der Wissenschaften und der allgemeinen Kultur ausgewiesen. In ihm hat die reine Vernunft, die reine Erkenntnis in ihrer nie versiegenden Arbeit das unverdächtige Recht erlangt und behauptet, immer neue Grundlagen sich auszugraben. Und so gewinnt der Idealismus der wissenschaftlichen Vernunft den Halt und die Sicherheit der Geschichte: daß sie nicht zu furchten hat, in Flugsand ihre Grundlagen zu legen; sondern daß sie in einem Schachte zu graben vermag, der unerschöpflich, aber auch unerschütterlich ist;

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deren »faktischer Geltung«48 er auszugehen hat: die Prinzipien der Wissenschaft. Seine Aufgabe ist es, deren Grundlagen im »reinen Denken« zu »entdecken«49 und - ein Aspekt, der in der »Logik der reinen Erkenntnis« nicht so deutlich wird50 - zu »beglaubigen«: »Verhält es sich denn aber in Wahrheit so, dass 'man nichts zu schneiden vorhat', wenn man erkenntniskritisch die Messer wetzt? [Cohen bezieht sich auf eine kritische Äußerung Lotzes zur Erkenntnistheorie.] Was wir zu schneiden vorhaben, das ist nichts Realeres als die Wissenschaften in dem Bestände ihrer Grundbegriffe und Voraussetzungen. Indem wir diese entdecken und ordnen, beglaubigen wir den transszendentalen Geltungswert apriorischer Bedingungen und betreiben kritische Philosophie nach transszendentaler Methode. Freilich herrscht dabei die Voraussetzung, dass wir nicht die Aufgabe haben, die Methoden der Wissenschaft zu antizipieren, sondern vielmehr nur zu rekognoszieren.«51 Deutet der letzte Satz auf eine rein reproduktive Funktion der Philosophie hin, 52 so wird dieser Eindruck durch die Rede vom kritisch-transzendentalen Beglaubigen des Geltungswerts korrigiert.53 »Daß Voraussetzungen der Wissenschaft zugrunde liegen, mit dieser Einsicht muß das Philosophieren anfangen«54. Die Wissenschaft (und generell alle Objektgestaltungen des Menschen) ihrer - unbewußt - zugrundeliegenden

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in seinen Variationen ewig wandelbar, aber ebenso in seinen Motiven unveränderlich; daher diese das ewige und einheitliche Fundament der Geschichte der Kultur bilden, und zuvörderst das der Wissenschaft.« Der Optimismus Cohens zeigt sich vor allem in seiner Ethik; vgl. ders. [1977], 454; ders. [1981], 296; 451 f. (»der Sieg des Guten«). Cohen [1977], 70. Vgl. z. B. a.a.O., l If.; 15. Vgl. aber a.a.O., 103. Cohen [l987 a], 740. Die Verbindung beider Aspekte findet sich auch ders. [1982 a], 97. A.a.O., 69, spricht Cohen von »entdecken« und »begründen«. Vgl. auch Cohen [1984 a], 5 (»Die Wissenschaft geht der Logik und deren Ergänzung vorauf.«); 9 (»[...] die Reconstruction der wissenschaftlichen Erfahrung [-]«). Vgl. auch die Fortsetzung des ersten in der letzten Anmerkung angeführten Zitats: »Auf den Thatbestand der Wissenschaft richtet sich die Untersuchung der Erkenntniss, die Prüfung ihres Geltungswerthes und ihrer Rechtsquellen« (a.a.O., 5f.). Cohen [1977], 515. Vgl. ders. [1984 b], 20.

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Voraussetzungen bewußt zu machen, nach deren Recht zu fragen und so die Wissenschaft aus dem Stadium des »naiven Mythos«55 herauszuführen - dies ist fur Cohen (und die gesamte Marburger Schule) die von Kant und seiner transzendentalen Methode inaugurierte bleibende Aufgabe der Philosophie.56 Dabei kann durchaus Kritik gegenüber Wissenschaftlern, die die Ergebnisse der Philosophie ignorieren, laut werden;57 der Beteuerung, die Philosophie wolle »nicht von aussen her der Tat der Erfahrung Gesetze aufzwingen, nicht vorgreifend ihr die Geleise legen, in denen sie zu laufen habe«58, wird faktisch widersprochen. Tatsächlich besteht eine Korrelation zwischen Philosophie und Wissenschaft, in der die Philosophie auch präskriptiv wirksam wird:59 »Die Wissenschaß muß begreifen lernen, daß sie auf dem Grunde philosophischer Grundlagen steht. Und Philosophie -wird zur Frivolität, wenn vom A priori orakelt wird; wenn man aber über den sachlichen Sinn und Inhalt der reinen Grundlagen sich kein Gewissen macht. «60 55 56

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Vgl. Cohen [1883], 369f. Vgl. a.a.O., 369-372; Cohen [1977], 15 (Es geht in der Logik »um die Grundlegung der Erkenntnisse, um die Entdeckung und so allerdings auch um die rechte [!] Benennung der reinen Erkenntnisse«.); 589 (»Dieses ihres Weges die Wissenschaft bewußt zu machen, das ist die Aufgabe der Logik.«); ders. [1981], 510f. Zur Interpretation des Ansatzes Kants vgl. den Vortrag Cohens von 1883 im ganzen und z. B. ders. [1977], 596. Das Marburger Verständnis der transzendentalen Methode hat Paul Natorp klassisch formuliert: Sie fordert von der Philosophie erstens »die sichere Zurückbeziehung auf die vorliegenden, historisch aufweisbaren Fakta der Wissenschaft, der Sittlichkeit, der Kunst, der Religion« (Natorp [l912 a], 196), und zweitens (»entscheidend«), »zum Faktum den Grund der 'Möglichkeit' und damit den 'Rechtsgrund' nachzuweisen« und es so zu »'transzendieren'« (a.a.O., 197). Vgl. Cohen [1883], 372. Natorp [1912 a], 197f. Vgl. Holzhey [1986 a], 297 (der ganze Abschnitt a.a.O., 294-298, ist instruktiv). Cohen [1977], 599f. In der Fortsetzung des Zitats spricht Cohen selbst von »ihrer [sc. der Logik] fundamentalen Korrelation [!] zur Wissenschaft« (a.a.O., 600). S. auch u. S. 105 Anm. 215. Diese grundlegende Korrelation läßt sich auch an Cohens Dynamismus studieren. Denn auch hier dürften gegenüber der Wissenschaft reproduktives (der Dynamismus als Reflex der neuzeitlichen Mechanik und des Fortschreitens der Wissenschaften) und präskriptives (die Betonung des Bewegungsgedankens in der neuzeitlichen Wissenschaft - »die Bewegung [...] aas fundamentale Problem der mathematischen Naturwissenschaft«;

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Cohens Logik, auf der ja wiederum das gesamte »System der Philosophie« ruht, kann man angesichts dieser Orientierung an der Wissenschaft als großangelegte Wissenschaftstheorie bezeichnen, die als eigenständig gelten kann: Durch den Bezug auf die Wissenschaften überhaupt, speziell aber auch durch den Aspekt des »Entdeckens«, ist sie vom »falschen Apriorismus«, »vom Versuch jedweden spekulativen Idealismus, das System der reinen Erkenntnisse a priori zu konstruieren«61, ebensowohl unterschieden wie durch den Aspekt des »Beglaubigens« »von der Absicht analytischer Wissenschaftstheorie, formale Kriterien der Prüfung 'gegebener1 wissenschaftlicher Aussagen aufzustellen«62. 2.1.3.4. Die historischen Leitbilder und der aus Platon hergeleitete Begriff der »Grundlegung« Cohen selbst beanspruchte freilich keine Originalität. Ein beträchtlicher Teil seiner Bücher ist - der eigenen These von der »Notwendigkeit der Verbindung systematischen und geschichtlichen Denkens«671 folgend geschichtlichen Erörterungen gewidmet, in denen wiederum der Nachweis, daß Platon, Descartes, Leibniz und Kant die eigene Position zumindest in nuce vorweggenommen haben, eine wichtige Rolle spielt. War es zunächst vor allem Kant, auf den Cohen sich berief, so geriet dieser, je aussschließlicher Cohen die »Reinheit« des Denkens betonte, immer mehr ins Zwielicht.64 Dennoch markiert Kant auch für den Cohen des »Systems der Philosophie« allen Schwächen zum Trotz die »Vollendung des Idealismus« und den »Gipfel« der »Klassizität«, weil er durch sein »transzendental-a priori« die Anbindung der Logik an die mathematische Naturwissenschaft exemplarisch eingefordert habe.65

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Cohen [1977], 225 - als Reflex eigener Denkvoraussetzungen (Cohen hatte bei Trendelenburg studiert!)) Moment der Philosophie zusammenkommen. Holzhey [1977], X*. Ebd. Cohen [1984 b], 20. Vgl. auch a.a.O., 25: »Originalität ohne geschichtliche Kontinuität ist sachlich undenkbar, weil methodisch unmöglich.« S. o. S. 61 f. Die kritische Stellung zu Kant bildete für Cohen übrigens ein nützliches Argument, um den »Verdacht einer Orthodoxie« von sich zu weisen (vgl. Cohen [1984b], 59). In der Ablehnung einer bloßen Repristination Kants stimmt Cohen mit den übrigen Neukantianern überein (s. o. S. 52). Vgl. Cohen [1977], 596.

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Die drei anderen klassischen Leitbilder jedoch haben nicht nur das »reine Denken« stärker als Kant zur Geltung gebracht. Sie haben darüberhinaus in der Mathematik Beispiele für dessen fundierende Bedeutung erbracht: Platon als »Erfinder« der analytischen Methode, Descartes als »Erfinder« der analytischen Geometrie, Leibniz als »Erfinder« der Infinitesimalrechnung.66 Da die beiden letzteren Methoden die Grundlagen der neuzeitlichen Wissenschaft geworden sind, erhält ihre Entwicklung durch Philosophen besonderes Gewicht. Sie bestätigt Cohens These »von der intimen Art des Verhältnisses zwischen Philosophie und Wissenschaft« und wird so zum »Doppel-Wegweiser für beide: wo ihre Quellen entspringen, und wohin ihre Ziele fuhren«67. Noch größere Bedeutung als Descartes und Leibniz hat Platon für Cohens Denken. Er »erfand« neben der analytischen Methode in der Mathematik auch »den fundamentalen Terminus seiner Philosophie, der das Grundwort der philosophierenden Menschheit geworden ist: die Idee«.6*. In Cohens Interpretation entwickelte Platon die Ideenlehre im Ausgang von der für ihn zentralen Frage »nach dem Begriffe der Wissenschaft«69. Zur Lösung dieser Frage habe er sich an der Mathematik orientiert, wobei sich sein Interesse auf deren Axiome, die als Grundsätze von den Lehrsätzen zu unterscheiden sind, gerichtet habe. Auch hier habe Platon nach dem »Woher?« gefragt. Die Antwort habe er in einem der damaligen Ausdrücke für das Axiom, der Hypothesis, gefunden. Dazu Cohen: »Dieses verbale Wort bedeutet nicht sowohl die Grundlage, als vielmehr in erster Linie die Grundlegung. Dieses vielsagende Wort wurde das Zauberwort für Platons Kritik. Nicht in der Natur, nicht in der Organisation des mathematischen Kopfes, nicht ihm angeboren ist das Axiom: und nicht solche Naturanlage könnte den Grund und das Recht desselben begründen. Der Grundsatz ist vielmehr nur dadurch Grundlage, daß er in einer Grundlegung und kraft derselben voll66

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Vgl. zu Platon Cohen [1977], 570 und ders. [1984b], 59; zu Descartes ders. [1984 b], 60f.; zu Leibniz a.a.O., 61. Ebd. Als Beleg für seine These verweist Cohen außerdem gern auf die doppelte Bedeutung von im Griechischen: Es bedeutet sowohl »Erkenntnis« als auch »Wissenschaft« (vgl. Cohen [1977], X; ders. [1984 b], 15). Cohen [1984 b], 16. Vgl. a.a.O., 19: »Die Idee ist unstreitig der wichtigste Begriff der philosophischen Sprache.« A.a.O., 13. Vgl. a.a.O., 15f.

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zogen wird. Das reine Denken, welches sonach das wissenschaftliche Denken ist, bringt selbst in der Grundlegung den Grundsatz hervor. So wird das reine Denken das legitime Mittel zur Erzeugung der Idee. Die Idee selbst ist daher in ihrem tiefsten Grunde nichts Anderes als Grundlegung. Das ist der Sinn der Idee [...].«7° Diese Passage ist aus mehreren Gründen beachtlich: 1. Die Abweisung der Übersetzung von »Hypothesis« mit »Grundlage« verdeutlicht einmal mehr die dynamische, den Handlungscharakter der Erkenntnis betonende Denkweise Cohens.71 Als Grundlagen könnten die platonischen Ideen als an sich gegebene Substanzen verstanden werden.72 Gerade ein solches Verständnis möchte Cohen jedoch ausschließen. Die Idee als Hypothesis ist ein rein methodischer Begriff, »Werkzeug«73, »logische Maßregel«74. Sie stellt eine Versuchshypothese dar, die ihre Gültigkeit ganz analog zum herkömmlichen Hypothesenbegriff der Naturwissenschaften erst bewähren muß.75 Die »Grundlegun-

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A.a.O., 17f. Zur Differenzierung von »Grundlage« und »Grundlegung« vgl. Cohen [1981], 85; 97; ders. [1982 a], 73f; 76. Wenn es an einer Stelle der »Logik der reinen Erkenntnis« heißt: »die Grundlegung wird Grundlage« (ders. [1977], 94), so bedeutet dies keinen Widerspruch, da es im Kontext um die Sicherstellung des vom Denken erzeugten »Etwas« durch das Denkgesetz der Identität geht. An diesem Punkt kommt es tatsächlich zu einem »beständigen« Ruhen des erzeugenden Denkens, aber durchaus im Rahmen des Systems, da ohne »Bestand« gar kein »Gegenstand« »zustande« käme. Insgesamt zieht Cohen auch in der »Logik der reinen Erkenntnis« die Deutung der Idee als Grundlegung vor (vgl. a.a.O., 7; 401). Vgl. Cohen [1981], 97; 429f. A.a.O., 100. Cohen [l982 a], 76. Besonders aufschlußreich ist Cohen [1982 a], 248: »Ohne den Versuch kann sich die Grundlegung nicht erproben, und ohne die Erprobung hat die Grundlegung allerdings keine Bedeutung. Es gehört zu ihrer Differenz von der absoluten Substanz, daß sie kein anderes Dasein hat, als welches sie in dem Versuche, der mit ihr angestellt wird, gewinnen kann. Und auch der Versuch darf nicht als absolut gedacht werden, so wenig wie die Grundlegung.« Im Anschluß (a.a.O., 249) spricht Cohen von der prinzipiell unabschließbaren »Aufgabe der Grundlegung« und ihrem »unendlichen Fortschritt«. Zum Versuchscharakter der platonischen Hypothesis vgl. auch Cohen [1981], 416 (»[...] mit der Grundlegung des

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gen« müssen immer neu erzeugt werden und ermöglichen so die Fortentwicklung der Wissenschaft.76 Der »rastlose Fortschritt im reinen Denken«77 macht übrigens auch vor Cohen selbst nicht Halt: Das eigene System von Kategorien partizipiert an der notwendigen Offenheit der Logik.78 2. Versuche, die Gültigkeit der grundlegenden Axiome von außen her, sei es durch Bezug auf die physiologische »Organisation« des Menschen (Lange und der frühe Neukantianismus), sei es durch das Postulat ihres Angeborenseins, zu begründen, werden abgewiesen. Der Grundsatz wird Grundlegung dadurch, daß er Grundlegung ist - auf diese Tautologie läuft Cohens (Nicht-)Antwort auf die Frage nach Letztbegründung des Apriorischen hinaus.79 Lediglich post festum, durch ihren Erfolg bei der Erklärung der Erscheinungen, rechtfertigt sich die Grundlegung eben ganz analog zur naturwissenschaftlichen Hypothese.80 Cohen verzichtet auf über diese Selbstlegitimation hinausgehende Apriori-Begründungsversuche wegen der »Reinheit« des Denkens, die keinerlei Rückgriff auf dem Denken äußerliche Legitimationsquellen erlaubt. Mit Natorp gesprochen: Die Erkenntnis ist autonom,81 wobei der Autonomie-

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reinen Willens den Versuch zu wagen [...]«) und ders. [1982 a], 76. Zur Identifikation mit der naturwissenschaftlichen Hypothese vgl. ders. [1977], 6-8; 43()f. Vgl. Cohen [1984 b], 19. Vgl. auch ders. [1977], 396: »Der notwendige Gedanke vom Fortschritt der Wissenschaft hat zur notwendigen, nicht etwa bloß Begleitung, sondern Voraussetzung den Gedanken vom Fortschritt der reinen Erkenntnisse.« Cohen [l977], 401. Vgl. a.a.O., 396f.; 585. Vgl. Cohen [1982 a], 89f., und die folgende Anmerkung. Vgl. Cohen [1981], 98: »Alle Theorie, alles Gesetz kann keinen ändern Grund haben, als den die Grundlegung legt. Und keine andere Sicherheit und Gewissheit kann es geben, als welche in der Grundlegung besteht. Das Sichere der Hypothesis [...], so beglaubigt Plato selbst seine Hypothesis. Und doch ist sie auf die Übereinstimmung mit den Erscheinungen angewiesen, auf den Erfolg, den sie für die zusammenhängende Erklärung der Erscheinungen und der Probleme zu erzielen vermag. Erzielt sie diesen Erfolg nicht, so hat sie sich eben als Hypothesis nicht bewährt; aber den Geltungswert der Hypothesis kann das einzelne Beispiel derselben nicht erschüttern. Die Hypothesis, sofern sie ihren Begriff erfüllt, hat Sicherheit und Gewissheit. Eine andere Gewissheit gibt es nicht.« Vgl. Natorp[ 1887], 285.

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begriff, den Kant erst der praktischen Vernunft zusprach, bereits für die theoretische Vernunft in Anspruch genommen wird.82 3. Die angeführte Passage gibt schließlich ein gutes Beispiel für die Verortung der zentralen Gedanken Cohens in der Geschichte, wobei der schon von Zeitgenossen an Cohen gerichtete Vorwurf, eine unhistorische Platon-Deutung zu betreiben, trotz der Replik Cohens83 einiges für sich hat. Der für Cohen so wichtige Terminus »Grundlegung« dürfte seiner Kant-Interpretation entstammen, denn der Satz aus der »Kritik der reinen Vernunft«, »daß wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen«, der von Cohen gegen seine Gegner geltend gemacht wird, um die philologische Übereinstimmung zwischen Platon und Kant aufzuzeigen,84 war bereits in seiner Erstlingsschrift »Kants Theorie der Erfahrung«, in der die späteren Grundgedanken schon vorgebildet sind,85 zentraler Ansatzpunkt der Interpretation.86 82 83 84 85

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Vgl. Holzhey[1986a], 137. Vgl. Cohen [1984 b], 25-27. Vgl. a.a.O., 27. Der angeführte Satz findet sich Kant [1976], B XVIII. Bereits der Titel läßt vermuten, was später explizit gemacht wird: »Die Kritik der reinen Vernunft ist Kritik der Erfahrung« (Cohen [1987 b], 3), Erfahrung ist »de[r] eigentliche^ terminus, um den sich das ganze Unternehmen [sc. die »Kritik der reinen Vernunft«] dreht« (a.a.O., 170). Erfahrung aber wurde schon hier von Cohen verstanden als in Mathematik und reiner Naturwissenschaft gegebene (vgl. a.a.O., 206; 208). Sie wird »konstruiert« »im reinen Anschauen und im reinen Denken« (a.a.O., 104; zur späteren Ablehnung der »reinen Anschauung« s. o. S. 67f.). Auch der Dynamismus deutet sich bereits an, sowohl bezüglich des Subjekts (a.a.O., 142: »Das Ich ist demnach so wenig eine als besonderes producirendes Vermögen gedachte Substanz, dass es vielmehr in einen Prozess aufgelöst wird, in welchem es entsteht, welcher es ist.«; Cohen nimmt mit der Rede von den »Prozessen des Erkennens« eine Kritik Herbarts an Kant positiv auf, vgl. a.a.O., 38f; 98f.; 128; 161) als auch bezüglich des Objekts (a.a.O., 269f.: »[...] dass es in der Reihe der Erscheinungen kein erstes und kein letztes Glied giebt, dass die verschiedenen Erscheinungen von allen Seiten zusammenstreben zu einer Einheit, welche stets von Neuem sich entzweit, um in einer neuen Idee eine reinere Einheit zu finden.«) der Erkenntnis. Vgl. schließlich die Kritik an Lange (a.a.O., 208), die ebenso wie später »tautologisch« eine Begründung der Formen der möglichen Erfahrung anders als dadurch, daß sie Erfahrung ermöglichen, ablehnt. Der Satz wird im Laufe der Darstellung mehrfach angeführt. Vgl. a.a.O., 12; 28; 33; 54; 90; 255. Paraphrasen finden sich a.a.O., 35; 75; 93; 105; 109; 124; 221.

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Grundelemente der Philosophie Hermann Cohens

Der so aus Platon hergeleitete Begriff der Grundlegung hat fur Cohen entscheidende Bedeutung. Es ist Aufgabe der Philosophie, die die Kultur fundamentierenden Grundlegungen zu entdecken, sie methodisch nachzuerzeugen und dadurch ihre »Reinheit« klarzustellen.87 Alle wirklich »reinen« Gesetze sind solche platonische Grundlegungen: »Die Grundlegung ist das Kriterium der Vernunft.«** Oder anders ausgedr ckt: »Philosophie ist Platonismus.«*9 Doch nicht nur die »Reinheit« der Philosophie verk rpert sich im Begriff der Hypothesis. Er bildet auch die fur Cohen so wichtige Br cke zwischen Philosophie und Wissenschaft. Die Ideen sind die »reinen Erkenntnisse«, welche vom »reinen Denken« erzeugt werden und den den beiden Disziplinen gemeinsamen Gegenstand bilden.90 Indem Cohen die wissenschaftlichen Axiome und Hypothesen mit den platonischen Ideen identifiziert, will er »die idealistische Verfa theit der Naturwissenschaften ausweisen«91 und - so k nnte man erg nzen - dadurch den Idealismus (als kritischen und wissenschaftlichen, nicht »dogmatischen« Idealismus) vom Verdacht der Unwissenschaftlichkeit freisprechen. 2.1.3.5. Cohens Philosophie als »Kritischer Idealismus« Fa t man die Grundgedanken Cohens zusammen, so zeigt sich die f r den gesamten Neukantianismus92 spezifische doppelte Frontstellung: Die Ablehnung eines Ansatzes beim »Gegebenen« und der methodische 87 88 89

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Vgl. Cohen [1982 a], 4f. A.a.O., 88. A.a.O., 245. Die Verehrung Cohens f r Platon wird auch deutlich, wenn er ihn als den »tiefsten aller tiefsten Denker« bezeichnet (vgl. ders. [1981], 298). Selbst die f r Cohen so entscheidende Rede vom »Vorurteil« des empirisch »Gegebenen« (s. o. S. 68) d rfte eine platonische Wurzel haben: die Zuordnung von (defizit rer) δόξα und φαινόμενα, w hrend nur von den Ιδέαι vorurteilsfreie επιστήμη m glich ist. Vgl. Cohen [1984 b], 18: »die Ideen, als die Grundlegungen, sie sind es, welche den Inhalt der Erkenntnis, den Schatz bilden, der ewig durch neue Grundlegungen vermehrt werden kann; wenngleich alle neuen Grundlegungen als Vertiefungen der alten sich herausstellen d rften.« Die Identit t der platonischen Ideen mit den durch die Wissenschaft hypothetisch festgestellten Naturgesetzen ist die Grundthese auch von Natorps Monographie ber »Platos Ideenlehre«. Holzhey [1977], X*. S.o. S. 48-50.

Grundlagen

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Anschluß an Platon richten sich gegen Empirismus und Positivismus, der Dynamismus und die Anbindung der Philosophie an die Einzelwissenschaften gegen einen »dogmatischen« Idealismus. Wie Kant möchte Cohen eine zwischen diesen beiden Extremen liegende Position, einen »kritischen Idealismus«, einnehmen.93 Zweifellos schlägt das Pendel dabei weiter in Richtung Idealismus aus als bei Kant.94 Dies zeigt nicht nur Cohens Kritik am Kantschen Dualismus von Anschauung und Denken, sondern auch seine Interpretation des Ding-an-sich als »Inbegriff der wissenschaftlichen Erkenntnisse«95. Da diese nichts anderes als Denkerzeugnisse sind, liegt die Differenz zu Kant, bei dem das Ding-an-sich in der theoretischen Philosophie für den vom Subjekt unabhängigen Hintergrund der Erscheinungen steht, deutlich zu Tage.96 Dennoch bleibt auch bei Cohen die Distanz zu einem die Erfahrung ignorierenden Idealismus gewahrt, wie folgende Zeilen exemplarisch belegen: »Der echte Idealismus macht sich zwar nicht abhängig, sondern durchaus unabhängig von der Wirklichkeit und von der Erfah93 94

95 96

Vgl. die eigene Positionsbestimmung: Cohen [1984 a], 125-127. Die Aussage van der Koois, es handle sich bei der Philosophie Cohens um »eine[] äußerst bescheidene!] Art des Idealismus« (van der Kooi, 36), ist zumindest mißverständlich. Cohen [1987 a], 660. insofern das Ding-an-sich bei Kant auch Platzhalter für die von der Welt der Erscheinungen abgesonderte intelligible Welt ist, zeigt sich im anderen Verständnis des Ding-an-sich bei Cohen zugleich eine weitere, mit dem konsequenteren Idealismus zusammenhängende Differenz gegenüber Kant: Hat Kants Philosophie eher einen Zug zum Dualismus, so tendiert Cohen in Richtung auf einen Monismus, und zwar einen Monismus des Denkens. Diese Differenz wird durch die gerade unter Theologen verbreitete pauschale Rede von »neukantianischem Dualismus« (s. z. B. o. S. 12) verschleiert (wobei der theologische Neukantianismus der Ritschl-Schule Pate steht). Eine Ausnahme bildet das freilich überspitzte Urteil Brunners: »Es ist schon nicht mehr kritisch gedacht, wenn man, wie einige 'Marburger' es tun, durch die Idee der unendlichen Denkentwicklung oder -Aufgabe den Dualismus zwischen Gegebenheit und Nichtgegebenheit monistisch auflösen will. Es ist kein Zufall, daß Kant, trotz der offenkundigen Bedenklichkeit des Begriffs, am Ding-an-sich festgehalten hat. Dieser Begriff bezeichnet ihm die unübersteigliche Schranke zwischen uns und der Wahrheit selbst. Wird dieser Dualismus durch eine Denkentwicklung beseitigt, so stehen wir unvermerkt bei Hegels Monismus« (Brunner [1924], 34f). S. zum Ganzen auch u. S. 187-189 und S. 305 Anm. 327.

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rung; um so energischer aber und gründlicher achtet er auf den Zusammenhang mit der Erfahrung. Er will nicht für Wolkenkukuksheim spekulieren, sondern mit dem Wirklichkeitssinn, der dem wahrhaften Idealismus eigen ist, die Wirklichkeit umklammern, um sie zu bändigen, zu meistern, zu verwandeln. Der tiefste Sinn der Reinheit liegt in der Anwendbarkeit, in der Erzeugung des Seins, als einer Anwendung des reinen Begriffs. Auf die Wirklichkeit geht die Anwendung der Reinheit; aber die Reinheit vollzieht dabei die Umwendung der Wirklichkeit.«97 Daß solche Sätze bei Cohen eher die Ausnahme sind - und auch hier wird ja nichts weniger als eine »Umwendung der Wirklichkeit« beansprucht - und stattdessen vom »Gängelband der Natur« und der »Tyrannei der Erfahrung« die Rede ist,98 dürfte in den Zeitumständen begründet sein. Gegenüber der empiristischen und naturalistischen Vulgärphilosophie seiner Zeit, die implizit von einer »Omnipotenz der Gegenwart«99 ausging, vertritt Cohen mit Pathos einen Idealismus, der nicht bereit ist, dem Faktischen auch nur die geringste normative Kraft zuzubilligen. 2.1.4. Das »System der Philosophie« »Es gibt nur eine Art von Philosophie, das ist die systematische, die aus Gliedern eines Systems bestehende, aus diesen Gliedern zu einem System sich zusammenschließende Philosophie.«100 Angesichts dieser Auffassung Cohens wäre eine Darstellung seiner Philosophie, die nicht die Durchführung des in der »Logik der reinen Erkenntnis« aufgestellten Programms einer »reinen« Begründung der Philosophie in den anderen Systemteilen in den Blick nimmt, unvollständig.

97

98 99 100

Cohen [1981], 391. Zur Korrelation von Reinheit und Anwendbarkeit vgl. noch ders. [1984 a], 131: »[N]ur das ist rein, was unter gegebenen Bedingungen anwendbar werden kann.« Vgl. Cohen [1981], 14. A.a.O., 426. Cohen [1982 a], 16. Vgl. dazu folgende Aussage Natorps aus seiner Marburger Gedächtnisrede auf Cohen: Es sei für Cohen »bezeichnend, daß er, vom ersten Schritt seiner Laufbahn bis zum letzten, so wie kein zweiter in den letzten fünfzig Jahren und noch weiter zurück, nach dem System gestrebt hat« (Natorp [1918 d], 14).

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Das »System der Philosophie« Cohens besteht nach dem Vorbild der drei Kritiken Kants aus Logik, Ethik und Ästhetik.101 Die drei Teile reflektieren das Bewußtsein der gesamten Kultur, von Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst. Es entspricht dem Cohenschen Systembegriff, der, wie die Metapher von den Systemgliedern zeigt, einem Organismus nachempfunden ist, wenn einerseits die Eigenart und Selbständigkeit dieser Glieder betont wird, andererseits aber ihre Aufeinanderbezogenheit. So heißt es zum Verhältnis von Ethik und Logik: »fDJie Ethik hat die Logik zur Voraussetzung; aber die Logik ist an sich nicht Ethik.«102 Beide dürfen sich nicht widersprechen, wie in einem eigens formulierten »Grundsatz der Wahrheit« gefordert wird: »Wahrheit bedeutet den Zusammenhang und Einklang des theoretischen und des ethischen Problems. «103 Es gibt keinen anderen Wahrheitsbegriff: »In der Verbindung von Logik und Ethik allein ist Wahrheit zu suchen«104. Auch hinsichtlich der Ästhetik sind Eigenständigkeit und Gebundenheit miteinander verschränkt. Dem Satz: »Die Kunst ist eine selbständige Richtung des Bewußtseins der Kultur« läßt Cohen sofort die Einschränkung folgen: »Sie ist durch den systematischen Charakter des Kulturbewußtseins gebunden; [...] Erkenntnis und Ethik sind ihre Vorbedingungen.«105 Die Logik bildet also das Fundament von sowohl Ethik als auch Ästhetik. Dementsprechend kommen die Grundgedanken der »Logik der reinen Erkenntnis« auch in den beiden anderen Teilen des »Systems der Philosophie« zur Geltung. Für die auf der platonischen Hypothesis beruhende »Methode der Reinheit«106 ergibt sich dies schon aus den Titeln der beiden Schriften. Aber auch der Dynamismus der Cohenschen Logik findet in Ethik und Ästhetik seine Fortsetzung. Bereits das erste Kapitel der »Ethik des reinen Willens« weist auf den Bewegungscharakter des Denkens hin, um 101

102 103 104

105 106

Über das Projekt einer das System durch Thematisierung der Einheit des Kulturbewußtseins abschließenden Psychologie s. o. S. 66. Cohen [1981], 38. A.a.O., 89. Ebd. Dieser Wahrheitsbegriff ist identisch mit dem Begriff Gottes (vgl. a.a.O., 441). Cohen [l982 a], 310. Cohen [1981], 94 u. ö.

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den widerspruchsfreien Zusammenhang von Denken und Handlung (die ja per se Bewegung ist), wie ihn der »Grundsatz der Wahrheit« fordert, zu begründen.107 Im folgenden wird dann mit dem Selbstbewußtsein und dem Gesetz »die gesamte Sittlichkeit auf die Zukunft gestellt«108. Auch die Ewigkeit als Ideal wird dynamisiert: Sie bedeutet keinen Zustand der Vollkommenheit, sondern »nur die Ewigkeit des Fortgangs der sittlichen Arbeit«109. In der »Ästhetik des reinen Gefühls« spiegelt sich der Dynamismus vor allem in der Bewußtseinstheorie, die in ihr entwickelt wird und die die Bewegung als »Urform des Bewußtseins«110 auszeichnet. Die »Gleichartigkeit des Denkens mit der Bewegung«111 ermöglicht wie für den Willen so auch für das »reine Gefühl« die durch das System geforderte Homogenität mit der logischen Vorbedingung. Das Wissenschaftsfaktum, auf das sich, wie oben gezeigt, die Philosophie nach Cohens Auffassung immer beziehen muß, bildet für die Ethik die Rechtswissenschaft. Was die Mathematik für die theoretische, das ist die Jurisprudenz für die praktische Philosophie: »DasAnalogon zur Mathematik bildet die Rechtswissenschaft. Sie darf als die Mathematik der Geisteswissenschaften, und vornehmlich für die Ethik als ihre Mathematik bezeichnet werden.«112 »Die Ethik des reinen Willens muss demzufolge zur Prinzipienlehre der Philosophie von Recht und Staat werden.«113 Dementsprechend hat die Ethik Cohens ein stark juristisches Gepräge; die Diskussion von Begriffen wie Gesetz, juristische Person, Genossenschaft und Vertrag nimmt breiten Raum ein, ehe Cohen mit der Besprechung eines Katalogs von sechs Tugenden (Wahrhaftigkeit, Bescheidenheit, Tapferkeit, Treue, Gerechtigkeit, Humanität) zumindest formal wieder in die Bahnen der traditionellen Ethik lenkt. 107 108

109 110 111 112 113

Vgl. a.a.O., 104-108. A.a.O., 282. Zur Auffassung von »Selbst« und Selbstbewußtsein als ewige Aufgabe s. u. 2.3. A.a.O., 410. Cohen [1982 a], 361. A.a.O., 163. Cohen [1981], 66. A.a.O., VII. In seiner Hochschätzung des Staats (der Staat als Inbegriff der ethischen Allheit) erweist sich Cohen als typischer deutscher Philosoph an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.

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Das der Ästhetik zugrundeliegende Faktum ist die Kunst,114 nicht, wie man erwartet hätte, die Kunstwissenschaft. Hier liegt zweifellos eine Aufweichung der ursprünglichen Position Cohens, die Philosophie streng an die Wissenschaften zu binden, vor. Es verwundert daher nicht, daß an diesem Punkt die Kritik innerhalb der Marburger Schule, namentlich von selten Natorps, der »das gänzliche Verschwinden der transzendentalen Methodik« beklagte,115 ansetzte. Es ist allerdings zu beachten, daß schon in der »Ethik des reinen Willens« der Wissenschaftsbezug nicht mit der in der »Logik der reinen Erkenntnis« geforderten Konsequenz durchgeführt wurde. Es entspricht durchaus der Tendenz von Cohens Ethik, wenn er zu Beginn der »Ästhetik des reinen Gefühls« nicht die Rechtswissenschaft, sondern die »sittliche[] Kultur in Recht und Staat« als Faktum, an dem sich die Ethik zu orientieren habe, benennt. 116

2.7.5. Die Religionsphilosophie Cohens 2.1.5. L Das formale Problem der Stellung der Religion im »System der Philosophie« Neben Logik, Ethik und Ästhetik bildet die Religionsphilosophie einen vierten Schwerpunkt in Cohens Schaffen. Auf sie muß im Rahmen dieser Untersuchung etwas ausführlicher eingegangen werden. Das Charakteristikum von Cohens Religionsbegriff besteht in der Annäherung, ja Identifikation von Religion und Sittlichkeit. »[A]uch Religion ist Sittlichkeit, und nur als Sittlichkeit ist sie Religion«, heißt es in den einleitenden Sätzen eines Aufsatzes aus dem Jahre 1900.117 Und in seinem religionsphilosophischen Hauptwerk, der postum erschienenen »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums«, schreibt Cohen: »Die Religion ist selbst Sittenlehre, oder sie ist nicht Religion.«118 Beleg für diese These ist für Cohen vor allem seine Interpretation der 114 115 116 117 118

Vgl. Cohen [ 1982 a], 5 u. ö. Vgl. Wolandt, XIV*. Vgl. auch a.a.O., IX*. Vgl. Cohen [1982 a], 5. Cohen [1900 a], 36. Cohen [l988], 38.

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alttestamentlichen Propheten; Mi 6,8, wo der Prophet von Gott als dem Künder des Guten spricht, wird in fast jedem Text Cohens, der sich mit der Religion befaßt, zitiert. Aber auch die jüdischen Religionsphilosophen und Kant werden von Cohen als Kronzeugen für seine Auffassung namhaft gemacht.119 Aus diesem Religionsbegriff mußte sich jedoch für die Systematik Cohens ein Problem ergeben, denn die Religion gerät auf diese Weise zwangsläufig in Kollision mit der Ethik als dem Glied des »Systems der Philosophie«, das die Fragen der Sittlichkeit behandelt.120 Dieses Problem wurde von Cohen gesehen; bis zu seinem Tode hat er sich mit dem Verhältnis von Religion und Ethik bzw. weitergehend mit der Stellung der Religion innerhalb des »Systems der Philosophie« beschäftigt, wobei sich zwei Phasen unterscheiden lassen. Die erste Phase, die bezeichnenderweise in die Zeit der Ausarbeitung des »Systems« fällt, steht im Zeichen eines starken Systembegriffs. Die Nähe von Religion und Ethik wird hier von Cohen nutzbar gemacht, um das generelle Problem, das das Phänomen »Religion« für das »System der Philosophie« darstellt (mit Erkenntnis, Wille und Gefühl scheinen die selbständigen, erzeugenden Richtungen des »Kulturbewußtseins« erschöpft, für eine selbständige Religion also kein Platz mehr vorhanden zu sein)121, durch einen Machtspruch zu lösen: Cohen erhebt die These einer »Auflösung der Religion in Ethik«122. Der Hintergrund dieser These wird besonders deutlich in der ausführlichsten Äußerung Cohens zu diesem Thema aus jener Zeit, der Abhandlung »Religion und Sittlichkeit«, die 1907 erschien. Cohen spricht dort 119 120

121 122

Vgl. z. B. Cohen [1900 b], 45. Zu Mi 6,8 vgl. z. B. Cohen 11915], 32f. Die terminologische Unterscheidung zwischen Sittlichkeit und Ethik als deren philosophischem Reflex ist für ein Verständnis Cohens an diesem Punkt unabdingbar. Sie wird von Cohen selbst gefordert (vgl. ders. [1900 a], 36), wenn auch nicht immer durchgehalten (vgl. schon das oben angeführte Zitat aus der »Religion der Vernunft«, das Religion und Sitten/e/zre identifiziert). Vgl. Cohen [1915], 10. So in der ersten und zweiten Auflage der Einleitung zu Langes »Geschichte des Materialismus« (in der dritten Auflage - Erscheinungsjahr 1914 - mildernd geändert in »Aufnahme der Religion in die Ethik«; vgl. Holzhey [1984], 21*; ders. [1986 a], 345). Vgl. noch Cohen [1981], 587: »Die Religion muss in die Ethik übergehen.«

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schon weniger radikal - nicht von einer Auflösung, sondern von der Aufhebung der Religion: »Die Richtung der Religion wird aufgehoben in die der Ethik. Was bedeutet diese Aufhebung? Sie bedeutet nicht, daß die Religion in die Ethik über- und eingehe; geschweige daß jene mit ihr assimiliert würde. Die Aufhebung bedeutet vielmehr die Verwandlung in die andere Richtung. Denn hier gibt es keine gleichartige Fortsetzung; es wäre denn die zwischen Mythos und Sittlichkeit des Kulturbewußtseins. Mythos ist naive Erkenntnis; das Kulturbewußtsein pflanzt wissenschaftliche Erkenntnis auch für die Sittlichkeit. Somit ist es die systematische Erkenntnis, die methodische Erkenntnis der systematischen Philosophie, welche die Ethik von der Religion unterscheidet. Und das ist die Frage: soll die Religion bestehen bleiben neben der systematischen Erkenntnis?«123 Der Unterschied zwischen Ethik und Religion liegt also in den mythischen, naiven Anteilen der letzteren. Streicht man diese Anteile - eine Forderung, die sich aus Cohens Postulat einer »reinen«, wissenschaftlichen Erkenntnis, wie sie nur innerhalb der drei Richtungen des »Systems« möglich ist, ergibt124 -, so entfällt die Differenz, und die Religion verwandelt sich in Ethik. Doch nicht nur das generelle Theorem der »Reinheit« der Erkenntnis, sondern auch das sittliche Grundprinzip der Autonomie (das freilich nur das Erkenntnismotiv variiert) fordert einen Übergang der Religion in Ethik. Denn wenn jeder Mensch zu sittlichen Urteilen gelangen soll, so kann dies nach Cohen nur auf der Basis methodischer, wissenschaftlicher Untersuchung geschehen; nicht jedoch durch die Unterwerfung unter religiöse Autoritäten, seien dies nun »heilige[] Bücher[]« oder - Cohen reflektiert hier die zeitgenössische Theologie - das Vorbild Jesu. 125 Da sittliche Autonomie, als die »allgemeine Erkenntnis der Sittlichkeit für alle Menschen ohne Ausnahme«126, bereits bei den alttestamentlichen Propheten zur Sprache kommt (wofür Cohen Jer 31,31-34 zitiert),127 handelt es sich bei der geforderten Verwandlung der Religion 123 124

125 126 127

Cohen [1907], 15If. Vgl. a.a.O., 157f. Cohen [1984 b], 108, heißt es lapidar: »Wahrheit ist Wissenschaft. Wenn der Gottesglaube Wahrheit sein soll, so muß Gott der Wissenschaft der Ethik als Idee eingegliedert werden.« Vgl. Cohen [1907], 154-157. Zitat: a.a.O., 155. A.a.O., 153. Vgl. ebd.

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letztlich um deren »Vollendung«.129· und um eine »homogene Entwicklung«129. Noch in anderem Sinne geht es bei der These von der Auflösung bzw. Verwandlung der Religion nicht um deren Negation. Sie nimmt - »in den Zeiten der Vorbereitung für das Ideal der systematischen Ethik«130 wichtige Funktionen wahr. Zum einen sorgt sie in dieser Übergangszeit für die »Erhaltung der Gottesidee«131, die als Bürgschaft für die Realität der Sittlichkeit »ein unerläßlicher Bestandteil der Ethik ist«132, zum anderen erhält sie den »Leitgedanken der Pflicht«133 am Leben. Trotz dieser positiven Aspekte bleibt die Stellung der Religion in dieser Phase Cohens eine untergeordnete. In seiner Berliner Zeit gelangte er - nicht zuletzt durch die intensive Beschäftigung mit der eigenen Religion - zu einer anderen Einschätzung. Das Mittel dazu lieferte ihm eine Ergänzung seines SystembegrifFs. Hatte bisher die Alternative gelautet: entweder Selbständigkeit der Religion, damit aber Sprengung des Systems, oder Unselbständigkeit der Religion mit der Konsequenz ihrer Auflösung in die Ethik, so führt Cohen mit der Schrift »Der Begriff der Religion im System der Philosophie« die Kategorie der systematischen »Eigenart« als vermittelnden Begriff ein. Diese neue Kategorie unterscheidet sich von der »Selbständigkeit« darin, daß in ihr »die systematische Bereicherung und Erfüllung nicht gebunden zu sein braucht an eine neue Bewußtseinsart., sondern nur bedingt ist durch einen neuen Inhalt, durch eine neue Modifikation desjenigen Inhalts, dessen Erzeugung durch eine reine Bewußtseinsart bereits gesichert ist«134. Eine derartige Eigenart des Inhalts läßt sich nun aber tatsächlich hinsichtlich der Religion feststellen. Die Eigenart der Religion besteht darin, daß sie die »Korrelation von Gott und Mensch«, und zwar des letzteren als sündigem Individuum, zum Thema hat.135 Diese 128 129 130

A.a.O., 158. A.a.O., 159.

Ebd. Ebd. 132 A.a.O., 160. 133 A.a.O., 162. 134 Cohen [1915], 44. 135 Ygj z g a.a.O., 62. Der Bezug der Religion auf das Individuum dürfte inspiriert sein durch die Kritik Wilhelm Herrmanns, die Religionsphilosophie der er131

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Eigenart - der Gedanke der Vergebung - zeichnet die Religion »allen anderen Kulturinhalten gegenüber«136 aus, wenn auch die Differenzierung gegenüber der Ethik den Schwerpunkt von Cohens Erörterungen bildet (nach wie vor gilt ja die Gleichung von Religion und Sittlichkeit). Die Religion wird so zu einem bereichernden Faktor innerhalb des »Systems der Philosophie« und muß sich nicht mehr der Ethik unterordnen. Cohen geht noch weiter im Widerspruch zur ursprünglichen These, indem er der Religion sogar Notwendigkeit zuschreibt: Sofern die »Einheit des Kulturbewußtseins [...] durch die Individualität bedingt« ist, »ist die Eigenart der Religion eine Grundbedingung der systematischen Einheit des modernen Kulturbewußtseins«.137 Diese Neueinschätzung der Religion hat zwei Voraussetzungen: einen veränderten Religions- und einen erweiterten Vernunftbegriff. Der gegenüber der ursprünglichen radikalen Ethisierung der Religion neue Religionsbegriff wird mehr als deutlich, wenn man die Auffassung, wonach das Proprium der Religion in der Korrelation Gottes und des individuellen Menschen besteht, mit einer Passage der Abhandlung über »Religion und Sittlichkeit« konfrontiert. Denn dort wird diese Auffassung als die mythische ausdrücklich der Religion, für die vielmehr »das Verhältnis zwischen Mensch und Mensch«, wobei dieser »in der Linie der Menschheit«, also gerade nicht individuell, gedacht wird, »das ausschließliche Problem [...] bildet«, entgegengesetzt.138 Der erweiterte Vernunftbegriff besteht darin, daß die für Cohen so bezeichnende strikte Ineinssetzung von Philosophie, Wissenschaft und Vernunft, die ja auch im Hintergrund stand, wenn Cohen die Religion nur unter dem Etikett der (wissenschaftlichen) Ethik zum »System der Philosophie« zulassen wollte, in dieser letzten Phase seines Denkens aufgegeben wurde. Nun heißt es: »[D]ie Vernunft erschöpft sich nicht in Wissenschaft und Philosophie.«139 Es war das Ziel von Cohens letztem Werk, den Anteil der Vernunft am Judentum aufzuspüren und dieses so, obwohl es als Religion

136 137 138 139

sten Phase Cohens werde dem individuellen Charakter der Religion nicht gerecht (vgl. z. B. Herrmann [1907], 112f.). A.a.O., 45. A.a.O., 119. Vgl. Cohen [1907], 139f. Zitate: a.a.O., 139. Cohen [1988], 8.

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per se unwissenschaftlich ist, dennoch als »Religion der Vernunft« aufzuweisen.140 Zweifellos stellt dieser neue Vernunftbegriff (und die aus ihm resultierende positivere Einschätzung der Religion) eine tiefgreifende Veränderung in Cohens Denken dar. Dennoch muß Josef Kleins Aussage, mit der postumen Religionsschrift werde »[d]as ganze System der reinen Methode [...] aus den Angeln gehoben«141, widersprochen werden. Hinsichtlich der Religionsphilosophie ergibt sich die Kontinuität aus der Aufrechterhaltung des engen Bezugs von Religion und Ethik. Das »religiöse Bewußtsein« bleibt auch »mit seiner Eigenart« der Ethik »angegliedert«.142 »Der Anteil, den sie [sc. die Religion] an der Vernunft hat, bindet sie an die Ethik.«143 Auch der Gedanke, daß die Religion es mit der Korrelation von Mensch und (Mit-)Mensch zu tun habe, wird nicht einfach negiert. Diese Korrelation bildet vielmehr die Basis für die von Mensch und Gott: »Die Korrelation von Mensch und Gott kann nämlich nicht in Vollzug treten, wenn nicht vorerst an der eingeschlossenen Korrelation von Mensch und Mensch.«144 Und was die Methode betrifft, so entspricht das in Cohens letztem Werk angewandte Verfahren genau dem Marburger Verständnis der transzendentalen Methode: Ein geschichtliches Faktum (in diesem Fall das Judentum und seine Schriften) wird auf die sich in ihm offenbarenden »reinen Grundlegungen« hin untersucht. Zwar hat Cohen - anders als Natorp - die für die transzendentale Untersuchung in Frage kommenden Fakta zunächst auf die der Wissenschaft eingeschränkt. Doch wird diese Position schon vor dem Opus postumum verlassen, spätestens mit der »Ästhetik des reinen Gefühls«, die ja nicht auf die Kunstwissenschaft, sondern auf das Faktum der Kunst selbst rekurriert.145 Man sollte daher bezüglich der Methodik die postume Religionsschrift Cohens nicht 140 141 142 143

144

145

Vgl. a.a.O., 27. Zit. Holzhey [1986 a], 344. Vgl. Cohen [1988], 486. A.a.O., 488. S. auch o. S. 87 (weiterhin Identifikation von Religion und Sittlichkeit); a.a.O., 415, spricht Cohen sogar von einer »Identität von Gott [!] und Sittlichkeit«. A.a.O., 133. A.a.O., 264, heißt es allerdings, daß die Korrelation von Mensch und Mensch innerhalb der des Menschen zu Gott erst entstehe. S. o. S. 87.

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als Bruch mit seiner Vergangenheit, sondern als Fortbildung einer bereits im »System der Philosophie« angelegten Akzentverschiebung des ursprünglichen Ansatzes ansehen, die dessen innere Problematik verdeutlicht: Die Engführung der Philosophie auf die Reflexion der Einzelwissenschaften drängt schon bei Cohen selbst über sich hinaus. 2.1.5.2. Inhaltliche Schwerpunkte »Der Mensch und Gott, Gott und der Mensch, in dieser Doppelfügung vollzieht sich das religiöse Bewußtsein.«146 Dieser These entsprechend bilden Gott, der Mensch und das Verhältnis, in dem sie zueinander stehen, die zentralen Themen der Religionsphilosophie Cohens, und zwar nicht nur in der späten Phase, aus der obiges Zitat stammt, sondern auch schon in der Phase des »Systems der Philosophie«. Es empfiehlt sich, die Rekonstruktion mit den Überlegungen Cohens zum Verhältnis von Gott und Mensch zu beginnen, da hier die entscheidende Weichenstellung für das, was über beide dann im einzelnen gesagt wird, erfolgt. Wie sich nämlich schon in obiger These (»Doppelfügung«) andeutet, macht die Religion nach Cohen gar keine Aussagen über Gott oder den Menschen an sich, sondern sie hat stets das andere Glied der Korrelation mit im Blick: »Hier dagegen [sc. in der Religion im Gegensatz zur Kunst] spaltet sich die Einheit des Gegenstandes in die Korrelation, in den Bund zwischen Gott und Mensch. Keiner von beiden kann für sich allein stehend gedacht werden. Wenn ich Gott denke, muß ich zugleich den Menschen denken, und ich kann den Menschen nicht denken, ohne zugleich Gott zu denken.«147 Cohen kann sogar von einem gegenseitigen Sich-Bedingen sprechen: »Gott ist bedingt durch die Korrelation mit dem Menschen. Und der Mensch ist bedingt durch die Korrelation mit Gott. Der Höhepunkt dieser Korrelation wird erreicht im Begriffe des heiligen Geistes.«148 Daß Gott und Mensch in dieser Weise aufeinander bezogen sind, darf jedoch nicht als Identität mißverstanden 146

147 148

Cohen [1915], 90. Ganz ähnlich heißt es a.a.O., 124: »So vollzieht sich der systematische Begriff der Religion: Gott mit dem Menschen, und der Mensch mit Gott.« A.a.O., 96. Cohen [1988], 122. Vgl. a.a.O., 102f: »gegenseitige Bedingtheit« von Gott und Mensch.

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werden. Dies betont Cohen gegen Mystik und Pantheismus, aber auch gegen den christlichen Gedanken vom Gottmenschentum Christi.149 In diesem Zusammenhang ist die Fortsetzung des obigen Zitats über das gegenseitige Bedingen interessant: Auch für den heiligen Geist »muß Gott Gott bleiben, und der Mensch Mensch«150. Die Transzendenz Gottes darf - ganz im Sinne des strengen Monotheismus des Judentums - nicht gefährdet werden. Es ist die Pointe des Begriffs der Korrelation, die enge Bezogenheit von Gott und Mensch bei gleichzeitiger Wahrung der Differenz zum Ausdruck zu bringen. Aus diesen Überlegungen wird verständlich, warum Cohens Aussagen über Gott seine Funktionen für den Menschen ins Zentrum rücken. Zwar ist Gott auch Schöpfer der Welt,151 doch zwei auf den Menschen und seine Sittlichkeit bezogene Prädikationen begleiten Cohens gesamte religionsphilosophische Reflexion: Gott ist Idee, und als solche ist er zum einen der Bürge für die Realisierung der Sittlichkeit auf Erden, zum anderen das Urbild der Sittlichkeit.152 Cohen greift mit diesen Bestimmungen einerseits den Gottesbegriff Kants auf, andererseits die von jüdischen Religionsphilosophen des Mittelalters entwickelte Lehre, wonach Gott nur »Attribute der Handlung«, als »Musterbilder für die Handlung des Menschen«153, zugeschrieben werden dürfen. In seiner Spätphase hat Cohen diese Prädikationen gemäß der These, daß der Religion gegenüber der Ethik inhaltliche Eigenart und somit auch ein eigener Gottes- und Menschenbegriff zukomme,154 ergänzt. Bezieht die Ethik den Gottesbegriff nur auf die Menschheit, so fugt dem die Religion den Bezug auf das menschliche Individuum und dessen Sünde hinzu. Der Gott 149 150

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Vgl. a.a.O., 390 (Mystik); 423 (Pantheismus); 298 (Christentum). A.a.O., 122. An einer Stelle spricht Cohen sogar von einem Gegensatz zwischen Gott und Mensch (vgl. ders. [1915], 63). Doch ist diese Aussage offenbar nur cum grano salis zu nehmen, denn anderenorts bestreitet Cohen, daß das Judentum, das ja die für ihn vorbildliche Religion des »reinen« Monotheismus ist, einen Gegensatz zwischen Gott und Mensch aufrichte (vgl. ders. [1988], 38f.). Vgl. Cohen [1988], 68-81. Cohen interpretiert die Schöpfung als ständige Erneuerung der Welt, hebt also ganz auf den Aspekt der creatio continua ab. Vgl. einerseits z. B. a.a.O., 460; andererseits z. B. a.a.O., 400. Daß »Urbild« nicht mit »Vorbild« verwechselt werden darf, betont Cohen a.a.O., 188. A.a.O., 110. Vgl. als kurze Zusammenfassung der Attributenlehre: Keller, 137141. Vgl. Cohen [1988], 477.

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der Religion ist zusätzlich zu den genannten Funktionen der gütige Gott, der die Sünden vergibt.155 Auch Cohens Begriff des Menschen ist zunächst ganz von der Ethik geprägt. Dies ist nicht verwunderlich; bestimmt Cohen doch die Ethik als »die Lehre vom Menschen«156. In der Spätzeit wird dann zwar wie der Gottes- so auch der Menschenbegriff der Ethik mit ihrer »AllheitsSittlichkeit«157 als defizitär und durch die Religion ergänzungsbedürftig erkannt; die Religion »entdeckt« das Individuum in seinem Sündenbewußtsein, und sie »entdeckt« durch den Affekt des Mitleids den Anderen als Mitmenschen. Jedoch bleiben die Aussagen Cohens zum Menschen auch in dieser Phase stark von der Ethik geprägt - gemäß dem Theorem, »daß zwar Kollisionen und Schwierigkeiten entstehen können zwischen Religion und Sittlichkeit [strenggenommen müßte es heißen: zwischen Religion und Ethik], niemals aber Widersprüche«158. Besonders deutlich wird das an den Aussagen zur Versöhnung, dem »Angelpunkt des Monotheismus«159. Da »die Ethik die methodische Norm der Religion bleibt«160, darf die Versöhnungslehre dem ethischen Grundsatz der Autonomie, der verlangt, daß »die Sittlichkeit in allen ihren Stufen mein eigenes Werk sein muß«161, nicht widersprechen.162 Konsequenz ist, daß Cohen die Vergebung stark von der Tätigkeit des »Selbst« abhängig macht. Die »Selbstheiligung des Menschen« ist Bedingung für die Sündenvergebung durch Gott,163 sogar von der »Selbsterlösung der Menschenseele« ist die Rede.164 Zwar muß Gott »bei der

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Vgl. a.a.O., 244; 249; 277. Cohen [1981], 1. Cohen [l988], 221. A.a.O., 473. A.a.O., 251. A.a.O., 308. Ebd. Vgl. a.a.O., 235; 308. Vgl. a.a.O., 251. Vgl. auch a.a.O., 371: »Es gibt keine Genugtuung für die Sünde, als welche die eigene Selbstheiligung herbeizubringen vermag.« A.a.O., 391. Andere Komposita mit »Selbst-«, die von Cohen in diesem Zusammenhang gebraucht werden, sind: »Selbsttätigkeit« (a.a.O., 232), »Selbstbefreiung« (a.a.O., 233), »Selbstvervollkommnung« (a.a.O., 474). Schon in der Einleitung zu Langes »Geschichte des Materialismus« hatte Cohen gefordert, die

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Sündenvergebung jede Mitwirkung ausschließen«165 (ein Satz, der auch gegen den christlichen Mittlergedanken gerichtet sein dürfte, dessen Unvereinbarkeit mit dem »reinen« Monotheismus Cohen mehrmals herausstellt166), doch hat dieses Werk Gottes eben die »Selbstheiligung« des Menschen zur Voraussetzung. Es handelt sich letztlich um einen Synergismus: »[D]ie Korrelation von Mensch und Gott findet ihre höchste Bewährung darin, daß Mensch und Gott zusammenwirken, um das Werk der Erlösung zu vollbringen.«167 Im Hintergrund dieser Theorie steht das im Vergleich zum Christentum ungleich positivere Menschenbild Cohens. Cohen wendet die Kantsche Formel vom radikalen Bösen in die vom »radikalen Guten im Menschen«168. Gerade »das Bewußtsein der Sünde [zeugt] gegen die

165 166 167

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Erlösung müsse als »Selbstbefreiung« gedacht werden (vgl. Cohen [1984b], 106). Cohen [1988], 249. Vgl. z. B. a.a.O., 235; 261. A.a.O., 268. Im Widerspruch zu diesem Zitat heißt es Cohen [1915], 63, nicht das »Zusammenwirken« von Gott und Mensch habe die Erlösung zur Folge. Doch will Cohen an dieser Stelle lediglich eine undifferenzierte Vorstellung eines solchen Zusammenwirkens ausschließen, wobei sich das Schwergewicht noch stärker als im postumen Werk auf das Handeln des Menschen verschiebt: Nicht als Zusammenwirken, »sondern in der abgestuften Weise vollzieht sich die Ausgleichung: die sittliche Arbeit des Menschen bleibt die unerläßliche, die unaufhörliche Voraussetzung. [...] Alle Aktivität liegt beim Menschen, dem sie nicht erlassen, kaum erleichtert werden kann« (ebd.). Auch hier steht der strenge Monotheismus Cohens im Hintergrund, der eine »Mitwirkung« Gottes bei dieser Arbeit des Menschen ausschließt (vgl. ebd.). Gott soll nur insofern an der Erlösung des Menschen beteiligt sein, als er »0/5 das Ziel gedacht [wird], auf welches die eigene sittliche Arbeit des Menschen hin gerichtet wird« (ebd.). Gott verbürgt den »Erfolg dieser sittlichen Arbeit«, der »doch nicht ausschließlich von dem Menschen und seiner Arbeit ab[hängt]« (ebd.). »Der Mensch bleibt in der Arbeit, aber Gott, der an dieser Arbeit selbst nicht teilnimmt, wird als das Wahrzeichen gedacht, das die Befreiung von der Sünde bewirkt« (a.a.O., 64). Gerade das letzte Wort (»bewirkt«) belegt nun aber, daß Gott von Cohen auch in der Schrift von 1915 als wirksam bei der Erlösung gedacht wird. Auch hier handelt es sich also de facto um einen Synergismus, nur werden eben Handeln Gottes und Handeln des Menschen im Vorgang der Erlösung strikt voneinander getrennt. Cohen [1981], 561. Vgl. ders. [1915], 59: »Mithin ist radikal vielmehr im Menschen das Gute, das jedoch in das Schlechte entstellt und umgedeutet wird.«

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Schlechtigkeit und für die Wacht des Guten«169. Das Kantsche radikale Böse, dessen Bedeutung allein in der Rede Kants von der »Verkehrung der Prinzipien«™ liege, ist dann in Cohens Interpretation ganz folgerichtig gerade der Pessimismus.171 Die Differenz zum Christentum an diesem Punkt wird besonders deutlich an Cohens Auslegung von PS 51, dem locus classicus der christlichen Lehre von der Erbsünde. Zu Vers 7 (»Siehe in Verschuldung bin ich geboren und in Sünde hat mich meine Mutter empfangen.«) schreibt Cohen: »Der Dichter will nur die menschliche Sünde schonungslos aufdecken. An eine Erbsünde ist dabei nicht zu denken.«172 Das Schwergewicht des Psalms liegt seiner Ansicht nach nicht in diesem Vers, sondern in den Versen 12 und 13 (»Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz, und erneuere in mir einen gegründeten Geist. Verwirf mich nicht vor Deinem Angesicht, und nimm Deinen heiligen Geist nicht von mir.«), die er folgendermaßen interpretiert: »Jetzt ist alles klargestellt und in Ordnung gebracht, auf was es für die Sehnsucht des Büßenden nach Erlösung ankommt: Gott kann ihn nicht verwerfen; denn Gott kann seinen heiligen Geist nicht von ihm nehmen. Gott hat seinen heiligen Geist dem Menschen gegeben. Der menschliche Geist ist daher selbst zum heiligen geworden. So kann die Erlösung von der Sünde nicht ausbleiben.«173 Das positive Menschenbild Cohens steht in Korrelation zum Optimismus seiner Ethik.174 Doch nicht nur, weil sich in Cohens Aussagen zur Versöhnung des Menschen mit Gott die Bindung seiner Religionsphilosophie an die Ethik exemplarisch manifestiert, wurden sie hier relativ ausfuhrlich behandelt. Sie sind im Rahmen dieser Studie darüberhinaus von besonderem Interesse, weil an ihnen der fundamentale Abstand der Religionsphilosophie Cohens zu Karl Barth deutlich wird.175 169

170 171 172 173 174 175

Cohen [1915], 59. Ebd. Vgl. Cohen [1981], 626f.; ders. [1915], 59. Cohen [1988], 118. Die Psalmzitate folgen der Übersetzung Cohens. Cohen [1915], 104. Vgl. ders. [1988], 119. S. zu Cohens Optimismus o. S. 74f. Anm. 47. Interpretationen wie die Pannenbergs, Bouillards und Bakkers, die gerade in der Religionsphilosophie Cohens entscheidende Einflüsse fur Earths Theologie des qualitativen Unterschieds von Gott und Mensch sehen (s. o. S. 16f. und S. 19f.), sind daher abzuweisen. Barth stand der Religionsphilosophie Cohens von An-

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Noch auf ein Charakteristikum der Religionsphilosophie Cohens ist abschließend einzugehen: die Betonung des Erkenntnischarakters der Religion. In »Religion und Sittlichkeit« hatte Cohen der Religion einen Anteil an der Erkenntnis, die für ihn per se systematisch-philosophische Erkenntnis ist, noch ausdrücklich abgesprochen.176 Dies mußte sich mit der Aufnahme der Religion in das »System der Philosophie« ändern. Denn »die Eigenart, mithin das Eigenrecht der Religion ist bedingt zunächst durch die Angliederung an die Erkenntnis, sofern ihre Eingliederung in das System und in die Einsicht des Bewußtseins erstrebt wird. Die Grundlagen der Religion können daher auch nichts anderes sein als Grundlegungen.«177 D. h. aber: Weder Mystik noch Intuition noch Phantasie, sondern allein Erkenntnis darf die Basis bilden für die Religion.178 Diese Forderung sieht Cohen verwirklicht - und damit die Aufnahme der Religion ins »System« ermöglicht - im Alten Testament und seinem Leitgedanken der Erkenntnis Gottes.179 Dieser Leitgedanke sichert laut Cohen für den Monotheismus, auch wenn er keine Wissenschaft ist, den Anteil an der Vernunft;180 der »Intellektualismus«181 des fang an skeptisch gegenüber (s. u. S. 208-210). Zwar betont Cohen, wie oben gezeigt, aufgrund seines strengen Monotheismus die Differenz zwischen Gott und Mensch. Doch diese Differenz ist bei Cohen eingebettet in den Gedanken der Korrelation. Der »unbekannte Gott« Karl Barths begegnet bei Cohen nicht (gegen Pannenberg, s. o. S. 16). In diesem Zusammenhang ist es immerhin bemerkenswert, daß Kohnstamm in der Religionsphilosophie Cohens und Natorps deren Immanenzphtiosophie verkörpert sieht und den »unbekannten Gott« der Dialektischen Theologen gerade als Entgegensetzung zu dieser Religionsphilosophie interpretiert (s. o. S. 7f.). (Daß diese Sichtweise Kohnstamms eine Überzeichnung in der anderen Richtung als bei den Genannten bedeutet, braucht nicht eigens belegt zu werden.) 176 Ygi Cohen [1907], 158. Die grundlegende Definition von Erkenntnis, die Cohen in diesem Text gibt, lautet: »Erkenntnis ist Erkenntnis aus Voraussetzungen und Grundlagen, vor denen und an denen der Erkennende selbst Rechenschaft abzulegen hat für jeden Schritt seiner Erkenntnis« (a.a.O., 111). Rechenschaft ablegen ( ) von den Grundlagen der Erkenntnis - dies ist für Cohen die Aufgabe der Logik und aller Philosophie (vgl. z. B. ders. [1977], 16). 177 Cohen [1915], 111. 178 Vgl. ebd. 179 Vgl. a.a.O., 25. 180 Vgl. Cohen [1988], 105. 181 A.a.O., 108.

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Judentums, der sich auch nach-alttestamentlich im Talmud und seinem Aufruf zum methodischen Thorastudium widerspiegelt,182 macht die Erkenntnis zur »Wurzel«183 der Religion und erweist die jüdische Religion dadurch als »Religion der Vernunft«. Da für Cohen nur eine mit der Vernunft im Einklang stehende Religion eine wahre Religion ist,184 bildet die Erkenntnis als Gotteserkenntnis die »Grundbedingung schlechthin der Religion«185. »Die Gottesverehrung ist Gotteserkenntnis.«186

182 183 184 185 186

Vgl. a.a.O., 106. A.a.O., 511. Vgl. a.a.O., 489. A.a.O., 105. A.a.O., 519. Der ganze Absatz der postumen Religionsschrift, dem dieses Zitat entstammt, ist interessant, weil sich in ihm sehr schön der intellektualistische Glaubens- und Religionsbegriff Cohens ausspricht (der Absatz, a.a.O., 519, ist Bestandteil des Kapitels über die Tugend des »Seelenfriedens«): »Der Seelenfriede und die irdische Zufriedenheit mit der jeweiligen Lebenslage sind daher durch die Voraussetzung und deren Erfüllung bedingt, welche die Erkenntnis bildet, in der religiösen Sprache das Studium der Lehre. Nicht der Glaube schlechthin darf den Menschen befriedigen. Die Gottesverehrung ist Gotteserkenntnis. Der Gottesdienst wurzelt und gipfelt im Studium der Lehre, welche nach dem Spruche der Mischna der Inbegriff aller Gebote ist. So beruht der Seelenfriede auf einem Frieden der Vernunft. Nicht der unselbständige Glaube, für den es keine Widersprüche in der religiösen Tradition gibt, der die Zufriedenheit mißbraucht, indem er ihr die Vernunft unterordnet, nicht der Glaube ohne Erkenntnis begründet den wahren Seelenfrieden, die wahrhafte religiöse Zufriedenheit mit dem Geschicke, sondern die Vernunft, die Erkenntnis ist der Wurzelboden, der alle Äste und Zweige der Zufriedenheit nährt und kräftigt.«

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2.2. Cohens Konzept des »Ursprungs« 2.2.1. »Ursprung« als zentraler Begriff der Logik Cohens 2.2.1.1. »Ursprung« in der »Logik der reinen Erkenntnis« Cohens Rede, daß das Denken »Ursprung« sei, die auf fast jeder Seite der »Logik der reinen Erkenntnis« begegnet, bildet zunächst einmal eine bloße Metapher für die »Reinheit« des Denkens: Das Denken ist »ursprünglich« im Sinne von »voraussetzungslos«; das Denken hat keinerlei Ursprung außerhalb seiner selbst.187 Cohen hat den »Ursprung« aber über diese Metapher hinaus als »Prinzip des Ursprungs« ausgezeichnet. »Denn der Ursprung ist nicht nur der notwendige Anfang des Denkens; sondern in allem Fortgang muß er sich als das treibende Prinzip betätigen. Alle reinen Erkenntnisse müssen Abwandlungen des Prinzips des Ursprungs sein. Andernfalls hätten sie keinen selbständigen, wie keinen reinen Wert. Die Logik des Ursprungs muß sich daher in ihrem ganzen Aufbau als solche vollziehen. In allen reinen Erkenntnissen, die sie als Prinzipien beglaubigt, muß das Prinzip des Ursprungs durchwalten.«188 Deshalb gilt: »Die Logik muß [...] Logik des Ursprungs werden«1*9, oder noch kürzer gefaßt: »Denken ist Denken des Ursprungs.«190 Diese Formel Cohens hat also mindestens zwei Bedeutungen:191 a) Denken ist reines, ursprüngliches Denken; b) Denken ist Denken, das dieser seiner Ursprünglichkeit immer gewärtig ist, sie denkt und insofern den »Ursprung« zum alles durchwaltenden Prinzip macht. Der so in der Einleitung der »Logik der reinen Erkenntnis« programmatisch geforderten Auszeichnung des »Ursprungs« wird Cohen in der Durchführung seiner Logik dadurch gerecht, daß er das »Urteil des Ur187

188 189 190

191

Vgl. Cohcn [1977], 36: »Dem Ursprung darf nichts gegeben sein. Das Prinzip ist Grundlegung in buchstäblicher Genauigkeit. Der Grund muß Ursprung werden. Wenn anders das Denken im Ursprung das Sein zu entdecken hat, so darf dieses Sein keinen, keinerlei ändern Grund haben, als den das Denken ihm zu legen vermag. Als Denken des Ursprungs erst wird das reine Denken wahrhaft.« Ebd Ebd. Ebd. Holzhey unterscheidet drei Bedeutungen (vgl. ders. [1986 a], 182-184).

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sprungs« als erstes und fundamentales der ersten Urteils-»Klasse«, der »Urteile der Denkgesetze«, behandelt.192 Der Gedankengang des diesem Urteil gewidmeten Kapitels soll im folgenden nachgezeichnet werden. Nach einem Hinweis auf das allgemeine Interesse an der Frage des »Ursprungs«, das sich schon in der Frage der ionischen Naturphilosophen nach der manifestiere, wird das »Prinzip des Ursprungs« als Voraussetzung der weiteren Überlegungen explizit benannt. Es ist das Prinzip, das Cohens gesamter Philosophie zugrunde liegt, indem es fordert, daß das Denken ursprünglich und rein zu sein hat, also kein Sein als »Gegebenes« voraussetzen darf: »Nur das Denken selbst kann erzeugen, was als Sein gelten darf.«193 »Sein« wird dabei von Cohen so abstrakt wie möglich, als bloßes »Etwas« verstanden, dem wie dem mathematischen x kein anderer Inhalt als die Bestimmbarkeit zukommt. 194

192

193

194

Zur Konzeption der »Logik der reinen Erkenntnis« als »Logik des Urteils« s. o. S. 70f. Cohen disponiert die Urteile in Anknüpfung und Widerspruch zur Kategorientafel der »Kritik der reinen Vernunft«. Wie bei Kant handelt es sich um vier Dreiergruppen. Die »Urteile der Denkgesetze« sind Ursprung, Identität und Widerspruch. Es folgen die »Urteile der Mathematik« (Realität, Mehrheit, Allheit), der »mathematischen Naturwissenschaft« (Substanz, Gesetz, Begriff) und der »Methodik« (Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit). Cohen [1977], 81. Parallele Formulierungen des »Prinzips des Ursprungs« finden sich in der »Ethik des reinen Willens« (vgl. ders. [1981], 101: »Nichts darf dem reinen Denken als gegeben gelten; auch das Gegebene muss es sich selbst erzeugen.«) und in der »Ästhetik des reinen Gefühls« (vgl. ders. [1982 a], 131: »die Bewegung muß reine Erzeugung sein«). Zum Forderungscharakter des »Prinzips des Ursprungs« vgl. noch ders. [1982 a], 240: Das Urteil des »Ursprungs« ist den anderen Urteilsarten übergeordnet, »insofern alle Kategorien und alle Urteilsarten dem Prinzip des Ursprungs entsprechen müssen«. Es ist Natorps Interpretation an dieser Stelle zuzustimmen: »Der Ursprung will für Cohen, allerdings nicht bloß, aber zuerst den allgemeinen, zunächst nur die Aufgabenstellung der Logik betreffenden Grundsatz vertreten, daß nur das Denken selbst seinen reinen Inhalt 'erzeugen', ihm Ursprung geben, und demgemäß ihn verantworten - daß nur es selbst [...] für das einstehen könne, was ihm, dem Denken, als Sein gelten dürfe. Zwar der Ursprung will noch etwas mehr, er will auch den Grund selber besagen, auf dem alles, was logische Geltung beansprucht, eben logischerweise erwachsen müsse. Aber dies, was der 'Ursprung1 mehr besagen will, muß von jener ersten, grundsätzlichen Erwägung aus sich unmittelbar verstehen lassen« (ders. [1986], 94). Vgl. Cohen [1977], 82f.

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Doch auch diese Näherbestimmung verhindert nicht, daß das Denken an diesem Punkt in eine Aporie gerät, denn nach wie vor besteht zwischen dem »Nichts«, das das Denken voraussetzen darf, und dem »Etwas« eine scheinbar unüberbrückbare Kluft. Sie kann, da der Weg über das »Etwas« zum »Etwas« versperrt ist, nur auf einem »abenteuerlichen Umweg«195 überwunden werden: »Auf dem Umweg des Nichts stellt das Urteil den Ursprung des Etwas dar.«196 Cohen versucht im folgenden zu zeigen, daß dieser »Umweg« nicht so abwegig ist, wie es zunächst erscheinen mag. Er verweist dazu auf Demokrit und Platon und die Bedeutung, die das Nichtseiende in ihrer Philosophie habe. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er jedoch dem unendlichen Urteil, da es dem Nichts in gewisser Weise positive Bedeutung zuspricht und insofern den »Umweg« über das Nichts zum Sein gangbar macht. Die traditionelle Logik versteht unter dem unendlichen oder limitativen Urteil ein Urteil, das eine Zwischenstellung zwischen dem bejahenden und dem verneinenden Urteil einnimmt, indem es nicht wie das letztere ein positives Prädikat abspricht, sondern ein negatives Prädikat zuspricht (in dem negativen, unbestimmten - daher der Name: »infmitum« wurde mit »unendlich« übersetzt - Prädikat liegt wiederum die Differenz zum bejahenden Urteil). So kann beispielsweise von dem verneinenden Urteil: »Er ist nicht Mensch« das unendliche Urteil: »Er ist NichtMensch« unterschieden werden. Die Berechtigung dieser von Aristoteles in die philosophische Diskussion eingeführten Unterscheidung war freilich im 19. Jahrhundert, namentlich von Hegel und Lotze, bestritten worden, die zudem gegen das unendliche Urteil auf die in ihm scheinbar mögliche logische Verbindung von Widersinnigem und Beliebigem hinwiesen. So schrieb Lotze zum »Nicht-Menschen«, er bedeute alles, »was nicht Mensch ist, mithin nicht blos Thier oder Engel, sondern auch Dreieck Wehmuth und Schwefelsäure«197. Beide Kritikpunkte werden jedoch von Cohen abgewiesen. Zum einen enthalte das unendliche Urteil ein »Mehr« gegenüber dem verneinenden: »Sie [sc. Hegel und Lotze] scheinen z. B. nicht bedacht zu haben, daß auch der Materialist sagen kann: die Seele ist nicht sterblich. Dagegen 195 196 197

A.a.O., 84. Ebd. Zit. Holzhey [1986 a], 191 Anm. 32.

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kann nur derjenige sagen: die Seele ist unsterblich, der die Seele als ein Prinzip des Geistes aufrecht hält. Und so steht es mit dem Begriffe des Immateriellen überhaupt. Denn Nicht-Mensch kann noch etwas Anderes bedeuten als die Unterscheidung von Tier oder Engel, die übrigens auch nützlich werden kann; so z. B. die des Menschen vom Übermenschen, als von einem Unmenschen.«198 Zum anderen sei das Quodlibet schon von William von Occam ausgeschlossen worden, von dem Cohen zitiert: »Differentia est inter praedicatum infinitum et inter praedicatum privativum. Injustum non potest dici de quolibet, quod non est justum, quia non dicitur de asino, sed tantum de hominibus.«199 Das Quodlibet wird zudem durch einen Begriff ausgeschlossen, den Cohen im folgenden als »Kompaß«200 auf dem Weg zum »Etwas« einfuhrt: die Kontinuität.201 »Die Kontinuität wollen wir für das Denken, für das Urteil als das Gesetz der Operationen auszeichnen.«202 Da sie nicht aus dem »Ursprung« erzeugt wird, sondern tiefere Bedeutung hat (insofern nämlich »der Ursprung durch den Zusammenhang bedingt [ist]«203), ist sie keine Kategorie, sondern Denkgesetz. Sie steht für den Zusammenhang, die Einheitlichkeit, die dem Denken im Gegensatz zur Empfindung, die auf gegebene Vielheit rekurriert, eigen ist. Sie ist »das Denkgesetz desjenigen Zusammenhangs, welcher die Erzeugung der Einheit der Erkenntnis und dadurch der Einheit des Gegenstands ermöglicht und zur ununterbrochenen Durchführung bringt«204. Mit der Einheit des Gegenstands zugleich verbürgt sie »den Zusammenhang aller Methoden und Disziplinen der mathematischen Naiurwissen198

Cohen [1977], 90. Der letzte Satz dürfte eine Anspielung auf Nietzsche enthalten, der von Cohen auch an mehreren anderen Stellen scharf kritisiert wird, ohne daß sein Name fällt.

199

Cohen [1977], 90.

200

Ebd. 201 Zum Zusammenhang von Ausschluß des Quodlibet und Denkgesetz der Kontinuität, der in der »Logik der reinen Erkenntnis« nur aus dem Kontext erschlossen werden kann, vgl. Cohen [1984 a], 35-37. Insgesamt bleibt das Verhältnis von »Ursprung« und Kontinuität bei Cohen unklar. S. dazu u. 2.2.1.3. 202 Cohen [1977], 91. 203 Ebd. 204 A.a.O., 92.

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schaß«205. Die Kontinuität hat also wahrhaft fundamentale Bedeutung. Sie ist »das Denkgesetz der Erkenntnis«206. Die Kompaßfunktion der Kontinuität für das unendliche Urteil, das nun »das unendliche Urteil des Ursprungs« genannt wird,207 besteht darin, daß sie den Begriff des Nichts als bloßen Operationsbegriff erweist: »Dieser ist nicht als ein gleichwertiges Denkelement anzusehen; er bezeichnet vielmehr nur einen Durchgang, der kraft der Kontinuität gangbar und zulässig ist.«208 Der Kontinuitätsbegriff stellt sicher, daß - wie Cohen schon zuvor postuliert hatte209 - es sich im Ursprungsurteil nicht um das Nichts als »Korrelativbegriff zum Sein« handelt,210 sondern um »das relative Nichts«211. Dieses bildet den Ursprung des »Etwas«. Die erste - und wichtigste - Etappe auf dem Weg vom Denken zum Sein ist damit abgeschritten. Der »Archimedischef] Punkt[]«212, die »reine[] Er1 kenntnis «213, ist gefunden. 2.2.1.2. Die Schrift über die Inßnitesimalmethode als Interpretationshilfe Diese in sich nicht ohne weiteres verständlichen Überlegungen Cohens verlangen nach einer näheren Erklärung. Sie kann daran anknüpfen, daß innerhalb der »Logik der reinen Erkenntnis« mehrfach die Infinitesimalrechnung als bestes Beispiel für das »Urteil des Ursprungs« bezeichnet wird.214 Die Verbindung zwischen »Urteil des Ursprungs« und Infmitesimalmethode reicht jedoch noch weiter. Cohen hat selbst auf die Abhängigkeit des »Urteils des Ursprungs« von der Mathematik aufmerksam ge205

206 207 208 209

210

211 212 213 214

Ebd. A.a.O., 93. A.a.O., 91. A.a.O., 93. Vgl. a.a.O., 84: »Nicht etwa die Aufrichtung eines Undings, welches den Widerspruch zum Etwas bezeichnen sollte, ist das Nichts [...].« Wäre ein solches Nichts angesichts der von Cohen vorausgesetzten Identität von Denken und Sein überhaupt vom Denken erzeug-, also denkbar? A.a.O., 93. A.a.O., 38. A.a.O., 37. Vgl. a.a.O., 35; 124-126; 136.

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macht.215 Konkret dürfte das »relative Nichts« dem Unendlichkleinen der Analysis nachgebildet sein. Zu dieser Vermutung gibt die Schrift Cohens »Das Prinzip der Infmitesimal-Methode und seine Geschichte«, die 19 Jahre vor der »Logik der reinen Erkenntnis« datiert, Anlaß. In ihr hatte Cohen bereits einen Zusammenhang von »Ursprung«, Kontinuität und unendlichem Urteil entwickelt, jedoch - dies die Differenz und gleichzeitig der Hinweis auf die Genese des »Urteils des Ursprungs« zugespitzt auf die Infmitesimalmethode. Interessant ist in dieser Perspektive vor allem die Aussage Cohens, Leibniz habe bei seiner Entdeckung dieser Methode im Anschluß an Galilei vom unendlichen bzw. limitativen Urteil216 Gebrauch gemacht. Die intensive Größe wurde vor Leibniz via negationis als das Inextensive gedeutet. Leibniz hingegen verstand nach Cohen das Inextensive limitativ, so daß es positive Bedeutung erhielt und »[sich] aus der Negation des Inextensiven kraft der Limitation das eminent positive Intensive [...] entwickelt hat«217. Darin liegt fur Cohen der entscheidende Vorsprung der Infinitesimalmethode gegenüber den beiden mit ihr konkurrierenden Verfahren zur Begründung der Analysis, der Archimedischen Exhaustionsmethode und der Grenzmethode, daß diese den für sie zentralen Begriff der Grenze rein negativ verstehen.218 Das Leibnizsche Inexten215

216

217 218

Vgl. Cohen [1981], 65: »Wir wissen von der Logik her, wie diese im Zusammenhange steht mit der Mathematik. Zwar gibt es auch für die Mathematik allgemeine Voraussetzungen, welche selbständig in der Logik gelegen sind. Aber für den Aufbau und Ausbau selbst dieser Grundlagen ist die Logik auf die Mathematik angewiesen. Das haben wir sogleich in dem Urteile des Ursprungs erkannt. Es besteht also ein deutliches Wechselverhältnis zwischen der Logik und der Mathematik. Die logischen Motive, welche der Mathematik eingeboren sind, wachsen in ihr so inhaltvoll aus, dass die Logik von diesem Inhalte in ihrer eigenen Inhaltsbestimmung abhängig wird. Bleibt es doch Geist von ihrem Geiste, der dort Fleisch geworden ist, und den sie als neuen Geistesinhalt in ihr Gebein einzufügen hat.« Das Zitat bestätigt im übrigen nochmals obige (s. S. 76) These, daß Cohen das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft (in diesem Fall Mathematik) korrelativ auffaßt. In der Frühschrift spricht Cohen bevorzugt vom »limitativen Urteil«, was aber mit dem unendlichen Urteil identisch ist (vgl. Cohen [1984 a], 35-37). A.a.O., 136. Vgl. zur Exhaustionsmethode a.a.O., 30 (»der Grenze mangelte alle schöpferische Positivität«); zur Grenzmethode a.a.O., 91 (»negativefr] Grenzbegriff«).

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sive hingegen bildet zwar auch eine Grenze gegenüber der Ausdehnung, jedoch in ganz bestimmtem Sinn: »Nicht der Ausdehnung baar und ledig, noch der Ausdehnung widerstreitend sind die Punkte, die man als die Fundamente der Materie, nämlich des Realen derselben anzunehmen hat; sondern als die Ausdehnung begrenzend, mithin derselben zugehörig. Das Inextensum muss gedacht werden als mit der Tendenz zur Ausdehnung begabt, kann daher aber nicht selbst ausgedehnt sein sollen; denn es soll diese Ausdehnung in und aus sich erzeugen.«219 Ein solcher Grenzbegriff setzt stetige bzw. kontinuierliche Übergänge voraus. Dementsprechend heißt es bei Cohen: »Das Intensive ist die nächste Frucht des Princips der Continuität.«220 Die Kontinuität leistet nach Cohen jedoch noch mehr. Bereits »vor Raum und Zeit« gilt sie ihm als »Grundgesetz des Bewusstseins«221 wie sich ihm schon an der Möglichkeit, per Limitation Urteile zu bilden, zeigt.222 Nicht nur die Erzeugnisse des Bewußtseins, sondern das Bewußtsein selbst ist nach Cohen, wenn anders es einheitlich sein soll,223 kontinuierlich: »Die Continuität bezeichnet einen allgemeinen Charakter des Bewusstseins, ähnlich wie die Identität.«224 In engem Zusammenhang mit der Kontinuität wird schließlich auch der Begriff des »Ursprungs« in der Schrift von 1883 entwickelt. Zwar nimmt er längst nicht die zentrale Position wie in der »Logik der reinen Erkenntnis« ein (die hat eher das Prinzip der Kontinuität inne), doch zwei Passagen sind aufschlußreich für seine Deutung. Die erste gibt im Anschluß an die Deutung des Unendlichkleinen als kontinuierliche Maßeinheit eine Art Definition des »Ursprungs«: »Soll ein Continuum als solches bestimmt, soll der durchgängige Zusammenhang der Gebilde hergestellt werden, so muss die Maasseinheit eine constructive, nicht eine reductive sein. Die continuirliche Einheit muss als Ursprung gedacht

219 220 221 222

Über die Weiterentwicklung der Grenzmethode zur Epsilontik, die vor den Vorwürfen Cohens geschützt ist, vgl. Schulthess, 20*f. Cohen [1984 a], 137. A.a.O., 69. A.a.O., 37. Vgl. a.a.O., 35.

223

Vgl. ebd.: »Sie [sc. die Kontinuität] ist daher ein Special-Ausdruck des allgemeinen Gesetzes der Einheit des Bewusstseins.«

224

Ebd.

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werden. Das Unendliche muss dem Endlichen entrückt werden, um aus sich das Endliche erzeugen zu können.«22* Die zweite Stelle bestimmt in diesem Sinn das Infinitesimale als »Ursprung« des Endlichen: »Das Infinitesimale ist daher Instrument des Naturerkennens in der Bedeutung des Organon, welches die Naturdinge erzeugt und bildet. Es ist nicht ein äusserlicher, mechanisch angesetzter Theil; sondern es ist das innerlich zugehörige Glied, durch welches ein einheitliches Ganzes hervorgebracht und verbürgt wird. In dem Unendlichkleinen wird als seinem natürlichen Elemente und Ursprung das Endliche gegründet, welches und sofern es wissenschaftlich objectivirt und bestimmt werden kann.«226 Für die Interpretation dieser beiden Stellen ist zunächst darauf hinzuweisen, daß dem »Ursprung« jeweils erzeugende Funktion zugesprochen wird. »Ursprung« und »Erzeugung« sind in dieser frühen Phase Cohens, in der der »Ursprung« noch nicht den Zentralbegriff seiner Logik darstellt, offenbar noch weitgehend identische Metaphern.227 Die Pointe des »Ursprungs« ist jedoch die Spannung, in der das Verhältnis von Erzeugendem (Unendlichem) und Erzeugtem (Endlichem) gesehen wird. Betont die erste Stelle das Äußerlichsein des »Ursprungs« (»[...] muss dem Endlichen entrückt werden [...]«), so die zweite seine Einheitlichkeit mit seinem Erzeugnis. Was Cohen über das Leibnizsche Inextensum sagte (»nicht der Ausdehnung baar und ledig« - »nicht selbst ausgedehnt«), gilt eben auch für den »Ursprung«: Er steht genau auf der Grenze, wobei sich Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zu dem von ihm Erzeugten charakteristisch und unauflöslich durchdringen. Voraussetzung für diesen Begriff des »Ursprungs« wie für das limitative bzw. unendliche Urteil, mittels dessen er gebildet wird, ist das Prinzip der Kontinuität. Als Zusammenfassung für das Verhältnis von »Ursprung«, Kontinuität, unendlichem Urteil und Unendlichkleinem in der Schrift über die Infinitesimalmethode können einige Sätze aus ihrem § 42 dienen: »Das Unendlichkleine ist das instructivste Beispiel für die Fruchtbarkeit, den Plan und Werth des limitirenden Unheils. Um das Endliche zu bestimmen, aus den Voraussetzungen und Gesetzlichkeiten, denen es ent225 226

A.a.O., 32. A.a.O., 133.

227 Ygj a.a.O., 123: »[...] die erzeugende oder ursprüngliche Function [...].«

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stammt und zugehört, letztlich zu erzeugen [die Funktion des »Ursprungs«], dazu wird es nothwendig, eine Art wissenschaftlichen Seins zu erdenken, welche zunächst nur durch ihren Unterschied vom Endlichen zu charakterisiren ist. [...] Diese Schöpfung vollbringt ein Grundgesetz des Bewusstseins, welches gilt vor Raum und Zeit, welches daher von den eingeschränkten Rechten auch der reinen Anschauung nicht abhängen kann.«228 Im letzten Satz klingt bereits an, was im folgenden dann ausgesprochen wird: »Somit wird die Continuität nicht erst als Stetigkeit in der unendlichen Theilbarkeit des Raumes wirksam, sie gehört überhaupt nicht in erster Linie der Raum-Anschauung an; sondern sie bildet eine fundamentale Bestimmung des Denkens, eine Grundgestalt desjenigen Bewusstseins, welches als Bewusstsein des Denkens von dem Bewussisein der Anschauung oder dem Bewusstsein der Sinnlichkeit so zu unterscheiden ist, wie man Logik von Erkenntnisslehre zu unterscheiden allgemeiner geneigt ist.«229 Hier kündigt sich schon die Verabschiedung der Sinnlichkeit als erkenntnisfundierendes Prinzip an, die dann in der »Logik der reinen Erkenntnis« zur Konzeption einer Erkenntnistheorie als Logik gefuhrt hat. Die Unterscheidung einer privilegierten, im Denken verorteten von einer »räumlichen«, als Stetigkeit wirksamen Kontinuität wirkt in der »Logik der reinen Erkenntnis« nach, wenn dort die Kontinuität als Denkgesetz von einer »Kontinuität der Realität« abgesetzt wird.230 Aber auch ansonsten kann die Abhandlung von 1883 als erklärende Paraphrase für das »Ursprungs«-Konzept des ersten Systemteils Cohens angesehen werden, wenn man von ihrer Zuspitzung auf die Infinitesimalmethode (und demzufolge auf das »Urteil der Realität«) und von dem weitgehenden Festhalten am Kantschen Anschauungsbegriff absieht. Das 228

229 230

A.a.O., 37. Ebd. Vgl. Cohen [1977], 136f. Während diese und die zitierte Stelle aus der Schrift von 1883 die »logische« über die »Realitäts«-Kontinuität stellen, wertet Cohen in einer dritten Passage, in der der Kontinuitätsbegriff differenziert wird, umgekehrt (vgl. ders. [1984 a], 90f). Die Erklärung dieses Widerspruchs könnte darin liegen, daß letztere Stelle noch die traditionelle, rein formale Auffassung von Logik zugrunde legt, derzufolge diese keine Realität erzeugen kann und insofern defizient ist.

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»relative Nichts«, das in der »Logik der reinen Erkenntnis« für den »Ursprung« steht, hat sein Pendant im Unendlichkleinen der Leibnizschen Infmitesimalmethode. Wie dieses stellt es einen GrenzbegrifF dar, der via limitationis gebildet wird und kraft der Kontinuität in der Spannung von Noch-Zugehörigkeit und Nicht-mehr-Zugehörigkeit einen Inhalt erzeugt.231 Lediglich der Inhalt differiert in den beiden Schriften Cohens: Wird 1883 als Folge der Orientierung am Unendlichkleinen bzw. der Mathematik das Erzeugnis des »Ursprungs« als »Endliches« bzw. »Realität« bestimmt, so nimmt die »Logik der reinen Erkenntnis« eine nochmalige Abstraktion vor. Den »Urteilen der Mathematik«, deren erstes das (infinitesimale) »Urteil der Realität« bildet, werden als vor-gegenständliche, der formalen Logik entsprechende Urteile die »Urteile der Denkgesetze« vorgeschaltet. Erstes Erzeugnis des »Ursprungs« ist dementsprechend ein bloßes »Etwas«, das nicht wie das »Endliche« schon eine räumliche Bestimmung enthält, sondern alles Inhalts ledig bloße Bestimmbarkeit vertritt. D. h. aber, die Schwelle vom Denken zum Sein wird mit diesem Urteil noch nicht überschritten. Der Abschnitt über die »Urteile der Denkgesetze« versucht, die Bedingungen der Möglichkeit von Gegenständlichkeit im Denken selbst zu ermitteln. Innerhalb dieses Konzepts steht das »Urteil des Ursprungs« als erstes der »Denkgesetze« für eine Spannung im Denken selbst, die erzeugend wirkt. Diese Spannung, die im Kapitel über das »Urteil des Ursprungs« als die zwischen »Etwas« und »Nichts« ihren Ausdruck findet, entspricht genau der Denken und Urteilen generell ausmachenden Spannung von Sonderung und Einigung. Die Erhaltung und gegenseitige Durchdringung der beiden Pole »hat in der Kontinuität einen neuen Ausdruck und eine tiefe Prägnanz gewonnen«232.

23

' Von einer derartigen produktiven Spannung spricht Cohen explizit in der »Ethik des reinen Willens«, und zwar in dem Abschnitt, der die »Tendenz« als dem »Ursprung« analoges Moment auf dem Gebiet des Willens einfuhrt: »Die Spannung zur Bewegung ist die Entfaltung zur Bewegung, mithin die Erzeugung derselben« (Cohen [1981], 133). Und in der »Ästhetik des reinen Gefühls« ist von der Spannung zwischen Erkenntnis und Willen die Rede, aus der das reine Gefühl »hervorschnellt« (Cohen [1982 a], 188). 232 Cohen [1977], 93.

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Grundelemente der Philosophie Hermann Cohens

2.2.1.3. »Ursprung« und Kontinuität Das Konzept des »Ursprungs« ist also schlüssig in der Auffassung des »reinen Denkens«, wie sie Cohen in der Einleitung zur »Logik der reinen Erkenntnis« entwickelt hat, verankert. Im »Urteil des Ursprungs« wird das »reine Denken« erzeugendes Denken; dem »Ursprung« kommt die in der Formel »Denken ist Denken des Ursprungs« geforderte zentrale Bedeutung zu. »Im Ursprung des unendlichen Urteils ist ein Oberbegriff der Erkenntnis aufgestellt.«2^ Ein Problem für die Stimmigkeit des Cohenschen Konzepts bildet allerdings das Verhältnis von »Ursprung« und Kontinuität. Die Stellung der Kontinuität innerhalb der »Logik der reinen Erkenntnis« ist schon an sich unklar: Sie wird als »Denkgesetz der Erkenntnis« hervorgehoben, anders als den »Denkgesetzen« »Ursprung«, »Identität« und »Widerspruch« wird ihr aber kein eigenes Urteil zugeteilt. Besonders problematisch ist jedoch ihre Position gegenüber dem »Ursprung«. Kontinuität und »Ursprung« werden von Cohen in enger Bezogenheit gesehen. Das zeigt sich nicht nur daran, daß die Kontinuität als »Kompaß« im Kapitel über das »Urteil des Ursprungs« eingeführt wird, sondern auch an ihrer Definition: »Die Kontinuität bedeutet, als Denkgesetz, den Zusammenhang des Etwas mit dem Nichts, als seinem Ursprung.«234 Welchem der beiden Prinzipien kommt aber Priorität zu? Wohl im Bewußtsein, daß hier ein Klärungsbedürfnis besteht, hat Cohen der Frage: »Der Ursprung und die Kontinuität« einen eigenen Paragraphen gewidmet, in dem der »Ursprung« als das umfassendere »Denkgesetz« bezeichnet wird.235 Zudem wird der »Ursprung« als »Denkgesetz der Denkgesetze«236 über alle anderen »Denkgesetze« hinausgehoben. Dies entspricht voll und ganz der Intention Cohens, die Logik als »Logik des Ursprungs« zu konzipieren. Einige Aussagen aus der »Logik der reinen Erkenntnis« sprechen nun allerdings dafür, daß der »Ursprung« bei Cohen contra intentionem doch nicht den Anfang des Denkens bildet, indem er nämlich das Prinzip der Kontinuität voraussetzt. Der Weg über den »Ursprung« wird ja erst 233 234 235 236

Cohen [l982 a], 240. Cohen [l977], 136. Vgl. a.a.O., 119 A.a.O., 119.

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»kraft der Kontinuität« gangbar,237 der »Ursprung« ist »durch den Zusammenhang bedingt«,238 die Kontinuität »beschreibt und regelt nicht nur einen, sondern den ersten Grundzug des Denkens, der auf den Ursprung abzielt«239. Diese Formulierungen weisen deutlich auf die Schrift über die Infmitesimalmethode zurück, in der Cohen die Kontinuität als »allgemeinen Charakter« bzw. »Grundgesetz« des Bewußtseins bezeichnet hatte, wobei die Kontinuität das Erdenken des Infinitesimalen - also des »Ursprungs« - erst ermögliche.240 Auf der Basis dieser Aussagen erscheint es völlig konsequent, wenn Cohen in der »Logik der reinen Erkenntnis« von keinem »Urteil der Kontinuität« spricht. Denn die Kontinuität ist hier als allem Urteilen noch vorausliegend gedacht. Ist also die Kontinuität der eigentliche »Ursprung« des Denkens? Dies wäre angesichts der zitierten gegenteiligen Aussagen Cohens eine Überinterpretation der zuletzt genannten Belege. Dennoch zeigt sich an ihnen, daß die Distanz zwischen Cohen und Natorp hinsichtlich des Grundprinzips ihrer Philosophie möglicherweise kleiner ist als Helmut Holzhey, der dem Verhältnis der beiden Marburger eine Monographie gewidmet hat, herausgestellt hat. Denn Kontinuität steht bei Cohen für die Einheit des Denkens,241 steht also Natorps Grundprinzip der »synthetischen Einheit«242 durchaus nahe. Vor allem aber zeigen die widersprüchlichen Aussagen Cohens eine Unklarheit in seinem Denken, die, da sie das oberste Prinzip betrifft, den ganzen Ansatz beim »reinen« Denken in Frage stellt. Tatsächlich muß ja, um, wie von Cohen postuliert, mit dem Denken anfangen zu können, schon dessen Einheit, eben »Kontinuität«, vorausgesetzt werden. Dann stellt sich aber zwangsläufig das Problem, wie denn diese das Denken (und folgeweise die ganze Realität) konstitu-ierende Einheit selbst konstituiert ist. So, wie Cohen sie einführt - als »allgemeine[r] Charakter« und »Grundgesetz« -, nimmt die Kontinuität selbst die Funktion des von Cohen so vehement bekämpften »Gegebenen« an. An dieser Stelle set237 238 239

240 241 242

A.a.O., 93. A.a.O., 91. A.a.O., 93. S. o. S. 106. Vgl. Cohen [1977], 91f. Vgl. Holzhey [1986 a], 201-224. S. u. S. 136-141.

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zen, wie unten zu zeigen sein wird, Kritik und Fortbildung des Cohenschen Ansatzes durch Heinrich Barth an. 2.2.2. Die Rede von Gott als »Ursprung« in der postumen Religionsschrift Da die Logik das Fundament des ganzen »Systems der Philosophie« bildet, mußte ihr zentraler Begriff des »Ursprungs« auch für die beiden anderen Glieder des »Systems« von Bedeutung sein. Cohen geht daher in seiner Ethik und Ästhetik der Frage nach dem »Ursprung« von Wille und Gefühl nach.243 Hingegen bleibt es in der Phase des »Systems« für Cohen fraglich, »ob Gott im methodischen Sinne als ein Ursprung gedacht werden kann«244. Dies änderte sich - und mußte sich ändern - mit der Einordnung der Religion ins »System der Philosophie«, wie sie für Cohens Berliner Zeit bezeichnend ist.245 In der Schrift aus dem Jahre 1915, die diese Einordnung programmatisch vollzieht, heißt es im Zuge eines Referats über die von Maimonides intendierte Unterscheidung zwischen Sein und Dasein Gottes: »Nur das Sein ist Gegenstand unserer Gotteserkenntnis; das Dasein gehört unter die negativen Attribute, deren Sinn übrigens eine andere Formulierung fordert. Wir dürfen nur denken: Gott hat nicht das Dasein. Damit ist nach Maimonides gesagt: Gott ist der Ursprung des Daseins; ohne ihn gäbe es kein Dasein. Es enthüllt sich hier eine geistige Gemeinschaft mit dem Grundgedanken der Logik der reinen Erkenntnis.«246 Ausführlicher begründet Cohen die Applikation des »Ursprungs«-Gedankens auf Gott im Schöpfungskapitel der postumen Religionsschrift, dessen Gedankengang nun skizziert werden soll.247 In den vorausgehenden Kapiteln hatte Cohen als »Inhalt des Monotheismus« die »Einzigkeit Gottes« ausgezeichnet,248 die absolute Differenz des göttlichen von allem anderen Sein. Doch darf es bei diesem rein 243 Ygj die Sachregister s. v. »Ursprung«. 244 Cohen [l982 a], 249. 245 S. o. 2.1.5.1. 246 Cohen [1915], 47. 247 Vgl. zum Folgenden Cohen [1988], 68-81. 248 Vgl. a.a.O., 41.

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negativen Verhältnis Gottes zur Welt nicht bleiben, denn »was wäre der Gott, der nur ein negatives Verhältnis zur Welt hätte?«249 Was aber kann positiv von Gott ausgesagt werden? Hier verweist Cohen auf die Philosophiegeschichte: So wie der philosophische Begriff des Seins als Grundlage für das die Welt auszeichnende Werden erdacht worden sei, so wie die Substanz von Kant nicht mehr als in sich ruhendes Absolutum, sondern als Vorbedingung für die kausalen Beziehungen der Gegenstände gedacht worden sei, so müsse auch dem göttlichen Sein eine immanente Beziehung auf das Werden, indem es dessen Grundbedingung sei, zugesprochen werden. Gottes Einzigkeit bedeutet nach Cohen positiv seine einzige Ursächlichkeit. Die göttliche Ursächlichkeit kann jedoch auf verschiedene Weise mißdeutet werden.250 Widersprüchlich ist laut Cohen zunächst die mythische Vorstellung einer Schöpfung aus dem Chaos, da es sich ja, indem dieses vorausgesetzt werde, eben um kein reines Erschaffen handle. Aber auch die scheinbar entgegengesetzte Auffassung einer Schöpfung aus dem Nichts wird von Cohen in ihrem landläufigen Sinn abgewiesen, weil auch hier nicht Gott allein am Anfang des Werdens stehe, sondern ihm ein - wenn auch als »Nichts« gedachter - »Urstoff« als Objekt seiner Tätigkeit auf der Seite des Werdens zur Voraussetzung gemacht werde. Drittens ist die pantheistische Vorstellung einer Emanation der Welt aus dem göttlichen Sein für Cohen ungenügend, da sie eine materielle Immanenz des Werdens im Sein voraussetze und mit diesem Materialismus auf dem Niveau des Mythos bleibe, also »um nichts besser«251 sei als die beiden anderen Vorstellungen. Gegenüber diesen materiell-mythischen Auffassungen müsse die Bedingtheit der Welt durch Gott vielmehr »logisch so gedacht werden, daß das materielle Hervorgehen des Werdens aus dem Sein ausgeschlossen wird«252. »[E]s gilt nun, den Begriff Gottes so zu bestimmen, daß die Schöpfung kein eigenes Rätsel bildet, sondern in der Definition Gottes seine Lösung findet.«253 249

A.a.O., 68.

250

Der Gedankengang Cohens wird klarer, wenn, wie es im folgenden geschieht, die §§ 10-11 und teilweise 12 des Kapitels vor den §§ 5-9 dargestellt werden. Cohen [1988], 76. A.a.O., 74. A.a.O., 75.

251 252 253

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Welche logische Kategorie kann aber den Schöpfüngsgedanken schon in die Definition Gottes hineinnehmen? Es ist die Kategorie des »Ursprungs«. Vorbild fur Cohen bei ihrer Beziehung auf das Problem der Schöpfung ist Maimonides. Er korrigierte nach Cohen die ihm überkommene Lehre, daß nur negative Attribute von Gott aussagbar seien, indem er eine Verbindung zum unendlichen Urteil des Aristoteles hergestellt habe: Er habe als negative Attribute nicht Negationen von positiven, sondern nur die von privativen Attributen zugelassen. Die Privation bildet nun laut Cohen wie das griechische einen »Zwischenbegriff zwi254 schen Bejahung und Verneinung« . Bei ihrer Verneinung entstehe eine neue, eminente Position. Das Beispiel des Maimonides habe gelautet: Gott ist nicht träge. Das heiße nun im Sinne des unendlichen Urteils als Position gedacht: »er ist der Ursprung der Aktivität«255', »Gott ist der Urgrund der Tätigkeit, Gott ist der Schöpfer«256. Die gleiche Überlegung lasse sich auch an der Privation »endlich« und deren Negation »unendlich« durchführen. Gott als Negation des Endlichen bilde dessen »Ursprung«.257 Cohen resümiert: »Ist Gott das einzige Sein, so ist er der Ursprung für das Werden, und in diesem Ursprung hat es seinen gedanklichen Urgrund gefunden. [...] Logisch ist damit das Problem gelöst. Und logisch bildet die Schöpfung kein Rätsel mehr.«258 Im Begriff Gottes als Einzigem, als Negation und damit »Ursprung« des Endlichen, sei die Schöpfung bereits mitgedacht. »So ist die Schöpfung die Konsequenz der Einzigkeit«259, ja »sie ist schlechthin mit ihr identisch«260. Durch den Gedanken des »Ursprungs« läßt sich nach Cohen auch das Problem lösen, daß das Alte Testament scheinbar mythologisch von der Schöpfung aus dem Nichts spricht. Gemeint sei dort nämlich nicht »das Nichts schlechthin«, ein materiell gedachter Gegenbegriff zum göttlichen Sein, »sondern vielmehr das relativ Unendliche der Privation«.261 254

A.a.O., 71.

255

A.a.O., 73. Ebd. Vgl. a.a.O., 76. Ebd. Ebd. A.a.O., 77. Vgl. a.a.O., 76.

256

257 258 259

260 261

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Die Möglichkeit, ja Notwendigkeit der Applikation des Konzepts des »Ursprungs« auf den monotheistischen Schöpfungsgedanken und damit die für eine »Religion der Vernunft« geforderte Übereinstimmung mit der philosophischen Logik zeigt sich fur Cohen noch an einer anderen Stelle. Im späteren Judentum wurde der Ausdruck »Werk im Anfang« für die Schöpfung immer mehr verdrängt durch die Auffassung der Schöpfung als kontinuierlicher »Erneuerung der Welt«. Hierin sieht Cohen eine Bestätigung seiner Konzeption: »Die Bedeutung unseres Ursprungs wird dadurch weiter bekräftigt. Denn der Ursprung hat ja nicht nur für den ersten Anfang einzustehen - das wäre mythologisch -, sondern er muß den Fortbestand und demgemäß die Forterhaltung in sich begründen.«262 »Der Vernunftanteil der Religion bewährt sich bei der Schöpfung in der Erneuerung der Welt.«263 Mit diesem Gedanken endet das Kapitel der postumen Religionsschrift, das als einziges die »Ursprungs«-Thematik explizit aufnimmt. Es ist auffällig, daß der Begriff des »Ursprungs« in den folgenden Kapiteln der Schrift kaum noch eine Rolle spielt (lediglich auf den Ursprung des Menschen bzw. seines Geistes in Gott, was ja, da der Mensch Bestandteil der Welt ist, nur logische Konsequenz des Ursprungs der Welt in Gott ist, weist Cohen noch gelegentlich hin)264. Doch ist dieses eine Kapitel völlig ausreichend, um den Sinn der Übertragung der Kategorie des »Ursprungs« auf die Religionsphilosophie verständlich zu machen. Was oben265 schon hinsichtlich des Verhältnisses von Gott und Mensch gesagt wurde, gilt ebenso für das allgemeinere Verhältnis von Gott und Welt: Cohen sucht eine Begrifflichkeit, die Zusammengehörigkeit bei gleichzeitiger strikter Wahrung der Distanz ausspricht. Hinsichtlich des Problems »Gott und Mensch« leistet dies die Denkform der »Korrelation«; für die Frage »Gott und Welt«, bei der im Sinne des Schöpfungsgedankens eine stärkere Abhängigkeit der letzteren von Gott als beim Menschen zum Ausdruck kommen soll, greift Cohen auf die Konzeption des »Ursprungs« zurück. Der »Ursprung« war ja in der Logik als »erzeugendes« Prinzip eingeführt worden, bot sich also als logische Kate262

A.a.O., 79.

263

A.a.O., 81. Vgl. z. B. a.a.O., 354.

264

265

S. S. 93f.

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gorie für den Schöpfüngsgedanken an. Darüberhinaus war es ohnehin ein systematisches Erfordernis fur Cohen, das »Denkgesetz der Denkgesetze« auch in der Religion zur Geltung zu bringen, sofern diese ja als vernünftige und in das »System der Philosophie« mit ihrer Eigenart integrierbare nachgewiesen werden sollte. Man könnte daher meinen, die Rede Cohens von Gott als »Ursprung« in dem oben referierten Kapitel seiner Religionsphilosophie sei das Resultat eines »Systemzwangs«. Dies ist jedoch ganz und gar nicht der Fall. Es besteht vielmehr eine innere Übereinstimmung zwischen Cohens Schöpfüngs- und »Ursprungs«-Konzeption. Wie oben266 gezeigt, übt der »Ursprung« seine »erzeugende« Funktion in charakteristischer Spannung von Identität und Differenz zu dem von ihm Erzeugten aus. Genau auf diese Spannung kommt es Cohen aber auch für die Schöpfertätigkeit Gottes an. Einerseits soll gegenüber pantheistischen Spekulationen der strenge Monotheismus gewahrt, also die größtmögliche Differenz von Gott und Welt ausgesagt werden. Andererseits darf es keinen von Gott unterschiedenen »Urstoff« geben, da auch dies die »Einzigkeit Gottes« gefährden würde. Die Welt soll - nicht materiell, sondern »logisch« - aus Gott hervorgehen; Gott ist der »Ursprung« der Welt. Über diese grundsätzliche Übereinstimmung hinaus harmoniert das Kapitel auch im Detail mit der von Cohen in seinen logischen Schriften entwikkelten »Ursprungs«-Theorie. Dies zeigt sich im Verweis auf das unendliche Urteil und das griechische , in der Wahl des Paars »Endliches« »Unendliches« als Beispiel, in der Rede von einer bloß relativen Negation (hier das »relativ Unendliche«, dort das »relative Nichts«) und in der Auffassung des »Ursprungs« als eines nicht bloß anfänglichen, sondern fortdauernden Erzeugens. Neu ist lediglich der Bezug auf Maimonides und sein Verständnis des unendlichen Urteils als Negation der Privation, was jedoch keine Änderung des Grundgedankens bedeutet. Trotz dieser Übereinstimmungen muß gesagt werden, daß die Rede von Gott als »Ursprung« im der Schöpfung gewidmeten Kapitel der postumen Religionsschrift (das im übrigen nur ausführt, was bereits 1915 von Cohen thetisch ausgesprochen worden war)267 an einem entschei266

267

S. S. 107. Die Unterscheidung zwischen dem göttlichen Sein und dem Dasein, die in der zitierten Passage aus der Schrift von 1915 von Cohen hervorgehoben wird, fm-

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denden Punkt über die »Ursprungs«-Konzeption der »Logik der reinen Erkennntnis« hinausgeht. Die anfänglichen Bedenken Cohens, »ob Gott im methodischen Sinne als ein Ursprung gedacht werden kann«268, erscheinen durchaus berechtigt. Denn der Gottesgedanke enthält Implikationen, die die Cohensche Logik des »Ursprungs« überschreiten. Eine konsequente Übertragung dieser Logik auf Gott ist nicht möglich. Es ist denn auch bezeichnend, daß Cohen in seinem postumen Werk nur hinsichtlich des Gedankens der Schöpfung diese Übertragung durchführt. Das Verhältnis Gottes zur Welt besteht jedoch in mehr als nur in der Schöpfung. Cohen selbst betont ja in seiner späten Religionsphilosophie den Gedanken der Vergebung.269 Dieser Gedanke läßt sich jedoch mittels des »Ursprungs« nicht ausdrücken. Weiterhin verraten auch schon die oben wiedergegebenen Ausführungen Cohens zur Schöpfung die Problematik bei der Übertragung der logischen »Ursprungs«-Konzeption auf Gott. Cohens Bemerkungen zur creatio ex nihilo sind nicht überzeugend. Handelt es sich bei diesem »nihil«, wie Cohen intendiert, um ein bloß relatives Nichts, so ist dies eine Einschränkung, durch die gerade der entscheidende Sinn der Rede von der creatio ex nihilo verdeckt wird. Und daß die Welt »logisch« aus Gott hervorgehen soll, erinnert fatal an die »Metaphysik des Absoluten«, gegen die Cohen andernorts so heftig polemisiert. »Schöpfung« besagt jedoch mehr als nur ein »logisches« Hervorgehen, enthält durchaus eine »materielle« Komponente und vor allem ein Moment von Kontingenz (»Schöpfung« als freier Akt Gottes). Cohen gelingt die Applikation des »Ursprungs« auf den alttestamentlichen Gottesgedanken also nur an einer Stelle und auch dort nur unter Inkaufnahme entscheidender Uminterpretationen des letzteren.

268 269

det sich zwar nicht im Schöpfungskapitel des Opus postumum (dort unterscheidet Cohen mit der gleichen Intention das Sein Gottes vom Werdecharakier der Welt), wohl aber an anderen Stellen. »Dasein« meint die Wirklichkeit, wie sie mit den Sinnen wahrnehmbar ist; das »Sein« hingegen ist unsinnlich (vgl. Cohen [1988], 51). Im Hintergrund steht bei beiden Abgrenzungen (Sein - Dasein; Sein - Werden) die platonische Vorstellung eines hinter den Gegenständen stehenden, unveränderlichen und eigentlichen Seins ( ), während den Dingen nur ein defizitäres, abgeleitetes Sein, eben »Dasein«, zukomme. S.o. S. 112. S. o. S. 90f.

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Grundelemente der Philosophie Hermann Cohens

2.3. Das »Selbst« als Aufgabe Der Begriff des »Selbst« bzw. des Selbstbewußtseins nimmt als Subjekt des Willens eine zentrale Stellung innerhalb der Ethik Cohens ein. Dieses Subjekt ist für die Ethik nicht etwa das einzelne Individuum. Wie in der theoretischen Philosophie das »Etwas« im Nichts seinen »Ursprung« hat, so ist das »Ich« auf den Anderen, das »Nicht-Ich«, angewiesen. »Das Ich könnte nicht definiert, nicht erzeugt werden, wenn es nicht durch die reine Erzeugung des Ändern bedingt wäre und aus ihm hervorginge.«270 Daraus folgt für das ethische Selbstbewußtsein: »Das Selbstbe\vusstsein ist in erster Linie bedingt durch das Bewusstsein des Ändern. Diese Vereinigung des Ändern mit dem Einen erzeugt erst das Selbstbewusstsein, als das des reinen Willens.«271 Diese »Vereinigung von Ich und Du«272 verkörpert der Staat als geschichtlich gewordene Form der Menschheit: »Im Staate wird das Ich zur reinsten Entfaltung gebracht, indem der Andere zum Du verwandelt wird.«273 Der Staat stellt das Selbstbewußtsein freilich nur in idealer Form dar: »Seine Bedeutung liegt nicht in seiner aktuellen Wirklichkeit, sondern in seinem Werte als ethischer Leitbegriff des Selbstbewusstseins. «274 Das Selbstbewußtsein bleibt Aufgabe.275 Daraus ergibt sich, daß es niemals »vorhanden« sein kann. Dies gilt zunächst für seine Konstitution: »Das Selbst ist keineswegs und in keiner noch so idealen Gestalt vorher vorhanden, bevor es sich darlegt, und es hat sich keineswegs nur darzulegen; sondern es hat sich erst zu erzeugen. Und es kann sich nur erzeugen in der Gesetzgebung.«276 Aber auch nach Beginn der Erzeugung 270

Cohen [1981], 212. A.a.O., 213. 272 A.a.O., 249. 273 Ebd. Zum Verhältnis von Staat und Menschheit vgl. a.a.O., 82. 274 A.a.O., 244. 275 Yg] z g a.a.O., 249. Der Begriff der »Aufgabe« kommt auch in Cohens Logik zur Geltung. S. o. S. 70. 276 Cohen [1981], 339. An dieser Stelle zeigt sich sehr schön die Verbindung von Dynamismus und Opposition gegen das »Gegebene« bei Cohen. Denn wie das »Selbst« nicht fixiert vorhanden ist, so ist es auch nicht gegeben (vgl. Cohen [1982 a], 196: »Das Ich des reinen Willens ist durchaus nicht gegeben.«). Vgl. 271

Das »Selbst« als Aufgabe

119

darf es nicht hypostasiert werden, wie folgende auf Bedenken und Kritik Wilhelm Herrmanns277 antwortende Sätze Cohens zeigen: »Nicht aber darf dieses Werdende flugs zu einem Individuum gestempelt werden, dem Erlebnisse zukommen, auf Grund deren es ein eigenes Leben, eine alleinige Selbständigkeit, und somit ein vollkommenes Selbst gewinnt. Hier tritt das sensualistische, das psychologische Vorurteil unter dem Nimbus des sittlichen oder des religiösen Bewusstseins der Selbstentwicklung, der Aufgabe des Selbst hemmend in den Weg. Allen diesen Bedenken gegenüber ist festzuhalten, dass es kein Selbst als ein vorhandenes gibt, weder im sittlichen, noch im religiösen Bewusstsein; und allerdings ebenso auch nicht im rechtlich-staatlichen; überall sind es nur Ansätze, welche voraufgehen müssen, an welche angeknüpft werden muss; an welchen die Aufgabe einsetzt.«278 Keinerlei »Materialisierung

277

278

noch ders. [1981], 136: »Das Bewusstsein darf nicht als vorhanden angenommen werden, geschweige das Selbstbewusstsein. Wie das Bewusstsein an seinem Teile, so soll insbesondere auch das Selbstbewusstsein durch den Willen erst erzeugt werden.« Herrmann hatte in einer Rezension der ersten Auflage der »Ethik des reinen Willens« geschrieben: »Kann ich das Selbst immer nur als ein entstehendes anschauen, so ist es doch in diesem Werden und Sichentwickeln vorhanden. Wenn man diesen Gedanken des in dem menschlichen Individuum werdenden und insofern vorhandenen Selbst anerkennt und gebraucht, wie wir tatsächlich alle in irgendeinem Maß tun, [...]« (Herrmann [1907], 100). Cohen [1981], 351. Die Theorie des »Selbst« bildete einen entscheidenden Differenzpunkt zwischen Cohen und Herrmann. Während letzterer die Auffassung des »Selbst« als allgemeine, ewige Aufgabe nicht nachvollziehen konnte, weil das individuelle »Selbst« im Zentrum seiner Religionstheorie stand, fiel Herrmanns Psychologie bei Cohen unter Psychologismusverdacht (vgl. dazu außer dem obigen Zitat noch Kluback, 167f: »Cohen was concerned that the given or the becoming self becomes sensual, individual, and subject to psychological prejudice. [...] The ethical is the universal, and the reduction of the self to the individual identifies the ethical demand with psychological analysis. Ethics becomes psychology.«). Generell war das Verhältnis Herrmanns zum philosophischen Marburg Cohens und Natorps nicht so harmonisch wie oft angenommen wird (vgl. z. B. Ruschke, 124 Anm. 54: »auch W. Herrmann [...] hat ja in zustimmender Interpretation an Cohen angeknüpft«). Vgl. dazu Kluback, 163-186 (Kluback stellt seine Ausführungen zum Verhältnis Herrmanns und Cohens unter den bezeichnenden Titel: »Friendship without communication«; a.a.O., 163); s. auch u. S. 150 Anm. 109 die Kritik Natorps an Herrmanns Frühschrift. Für die Auseinandersetzung Herrmanns mit Cohen und Natorp, die fast ausschließlich

120

Grundelemente der Philosophie Hermann Cohens

des Selbst«279 wird von Cohen zugelassen. Dementsprechend wird der Begriff des »Charakters« als zweideutig abgewiesen.280 In seiner späten Religionsphilosophie, die ja in Ergänzung zur »Allheits-Sittlichkeit« der Ethik das Individuum, und zwar jetzt als einzelnes »Ich«, zur Geltung bringen sollte,281 mußte das Problem des »Selbst« von Cohen erneut thematisiert werden. Dabei zeigt sich für Cohen gerade an diesem Problem die Ergänzungsbedürftigkeit der Ethik. Die »Auflösung des Individuums ist der höchste Triumph der Ethik. Das ethische Individuum geht unter als isoliertes Einzelwesen, das im Stoffwechsel seinen Lebensgrund hat, und es vollzieht seine Auferstehung im Ich des Staates und vermittels des Staatenbundes in der Menschheit.«282 Der Einzelne ist für die Ethik wie für alle Wissenschaft »nur der einzelne Fall ihrer Gesetze«283. Es gibt jedoch einen Aspekt menschlichen Lebens - man könnte durchaus in Cohens Sinne sagen: ein »Faktum« -, an dem der Einzelne sich als mehr, nämlich als Individuum, bewußt wird: die Frage nach individueller Schuld.284 Hier tritt die Religion ein, indem sie die persönliche Schuld als Sünde anspricht, das Problem in der Korrelation des Menschen mit Gott zur Lösung bringt und so erst den Menschen als wahrhaftes Individuum erzeugt. Die Sünde ist also der »Pfadfinder des Individuums«285. Wie die Versöhnung und damit die Konstitution des »Ich« von Cohen im Zusammenwirken von Gott und Mensch im einzelnen vorgestellt wird, wurde oben286 referiert. An dieser Stelle soll nur darauf eingegangen werden, daß die Abwehr einer Hypostasierung des »Ich« bzw. »Selbst« auch in dieser Phase seines Denkens für Cohen von besonderer

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eine Auseinandersetzung mit deren Religionsphilosophie war, vgl. die drei im Literaturverzeichnis genannten Aufsätze Herrmanns. Die Zustimmung Herrmanns betraf wie die Karl Barths in dessen »frühester« Phase (s. u. 5.1.) vor allem die Erkenntnis- bzw. Wissenschaftstheorie der Marburger Schule. Cohen [1981], 348. Vgl. a.a.O., 630f. S. o. S. 90f. Cohen [1988], 208f. A.a.O., 196. Vgl. ebd. A.a.O., 251. S. S. 95-97.

Das »Selbst« als Aufgabe

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Wichtigkeit ist. »Das neue Herz und der neue Geist sind und bleiben Aufgaben. Auch das Ich darf als nichts anderes gelten denn als Aufgabe. So wenig man sich vorstellen kann, daß in konkreter Gegebenheit ein neues Herz gebildet werden sollte, ebensowenig ist eine solche abzuschließende Gestalt der Sinn des zu erzeugenden Ich. Wie die Ethik, so muß es auch die Religion immer nur mit Aufgaben zu tun haben, die, als solche, unendlich sind, und daher auch nur unendliche Lösungen fordern können. Das Ich kann daher nichts Höheres und durchaus nichts anderes zu bedeuten haben als nur einen Schritt, eine Stufe im Aufschwung zu dem Ziele, das unendlich ist.«287 »[AJlle andere Art der Subjekterscheinung [ist] nichts als Gespenst oder Materialisierung.«288 »Das Subjekt, als Ich, ist bedingt durch den Moment und durch die Kontinuität der Momente.«289 »Für den Moment nur hat das Ich Bestand. Für den Moment nur kann es auch die Erlösung fordern und gebrauchen.«290 Diesem nur momentanen Bestand des »Ich« scheint es zu widersprechen, wenn Cohen von den »mannigfachen Stadien meines sittlichen Selbstbewußtseins«291, vom »Bußweg«292, von der »Entwicklung des Menschen«293 und von einer »Selbstvervollkommnung«294 spricht. Beides läßt sich jedoch vereinbaren, wenn man davon ausgeht, daß Cohen den Moment, den das Ich einnimmt, im Sinne des Unendlichkleinen der Analysis, das trotz seiner gegen Null gehenden Größe die Basis von stetigen, kontinuierlichen Funktionen bildet, denkt. Nicht nur die Tatsache, daß das Infinitesimale schon für Cohens Konzept des »Ursprungs« Pate gestanden hat, spricht für diese Deutung, sondern auch die Rede von der »Kontinuität [!] der Momente« in obigem Zitat. -

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Cohen [1988], 238. A.a.O., 239. Ebd. A.a.O., 269. Vgl. a.a.O., 437: »[E]r [sc. der Mensch] ist durch Sünde und Erlösung ein Individuum geworden mit dem Eigenwerte eines solchen, wenngleich dieser immer nur in den Momenten besteht, in denen der Aufschwung zur Versöhnung sich vollzieht.« A.a.O., 493. Ebd. A.a.O., 518. Ebd.

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Grundelemente der Philosophie Hermann Cohens

Es liegt auf der Hand, daß die hier skizzierte Konzeption des »Selbst« nach Streichung der Bindung an den Staat und dessen Gesetzgebung, wie sie Cohen selbst schon vor der späten Religionsphilosophie in seiner Ästhetik vorgenommen hatte,295 nicht nur ein wesentlicher Ansatzpunkt für Bubers Dialogische Philosophie werden konnte, sondern auch einer Verbindung mit Kierkegaardschen Gedanken, wie sie von den BarthBrüdern vorgenommen wurde, offenstand.296

2.4. Die Opposition gegen Psychologismus und Historismus 2.4.1. Der Anti-Psychologismus Cohens Die Einführung des planmäßigen Experiments in die Psychologie führte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem enormen Aufschwung der Psychologie. Der neuen »experimentellen Psychologie« waren etliche Erfolge beschieden, so daß Bestrebungen laut wurden, nicht nur die traditionelle philosophische Teildisziplin der Psychologie, sondern die gesamte Philosophie auf experimental-psychologischer Basis neu zu begründen. Gegen einen solchen die (experimentelle) Psychologie absolut setzenden »Psychologismus« opponiert Cohen - wie die übrigen Neukantianer auch - in allen seinen Schriften. Es werden dabei verschiedene Argumente von ihm geltend gemacht: 1. Die neuere Psychologie sucht einen möglichst engen Anschluß an die Physiologie.297 Cohen bestreitet nicht, »dass das Grenzgebiet von 295

296

297

In der »Ästhetik des reinen Gefühls« unterscheidet Cohen vom sittlichen ein ästhetisches, individuelles Selbstbewußtsein (vgl. ders. [1982 a], 198-201). Schon in der Erstauflage von »Kants Theorie der Erfahrung« findet sich übrigens eine prozessuale Auffassung des Ich (s. o. S. 81 Anm. 85). Zur Nähe Cohens zu Kierkegaard an diesem Punkt vgl. Krüger [1927], 145: »Insofern steht Cohen den Intentionen Kierkegaards und seinem Begriff der werdenden 'Existenz' gar nicht so fern; beide sehen, daß der Mensch nicht 'fertig' ist, sondern wesentlich aus der Zukunft her lebt [...].« Vgl. Cohen [1981], 10. In ders. [1984 b], 54, setzt Cohen die experimentelle mit einer »physiologischen« Psychologie gleich. (A.a.O., 53-58, findet sich eine gute Zusammenfassung von Cohens Meinung zum »Verhältnis der Psychologie zur systematischen Philosophie« (a.a.O., 53).)

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Physiologie und Psychologie auch für die letztere unentbehrliche Aufschlüsse enthält. Nur darauf bezieht sich der Widerspruch gegen diese moderne Psychologie, dass sie an sich und auf Grund dieser der Physiologie angehörigen Methode Psychologie sei; und zumal dass sie als solche die Grundlage der Philosophie bilde. Einem schätzbaren Material gibt man den Wert eines methodischen Fundaments. Darin besteht die Verirrung. Die Fragen und Interessen der Psychologie gehen dagegen über jenes Material in seiner grössten Vervollständigung und Verfeinerung prinzipiell hinaus. Daher müssen die Prinzipien eigene, selbständige sein, andere als die eines Appendix der Physiologie.«298 Cohen sieht also durch die neueren Bestrebungen die Selbständigkeit (was für ihn ja, wie im Abschnitt über das »reine Denken« gezeigt, ein Synonym zu »Reinheit« ist) der Psychologie und, wenn sie auf solcher Basis betrieben wird, der Philosophie gefährdet. 2. Auch aus einem anderen, allgemeineren Grund ist die experimentelle Psychologie »unrein« und damit als methodisches Fundament ungeeignet. Schon indem sie - ganz unabhängig vom Anschluß an die Physiologie - ihren »Ausgang von der Empfindung nimmt«, begeht sie einen grundlegenden »Fehler«.299 Zum einen nämlich ist eine Empfindung und generell jeder »psychische Vorgang« eine bloß »subjective Thatsache«, die nicht die für die Philosophie geforderte Gewißheit bzw. Objektivität gewährleisten kann.300 Zum anderen partizipiert die Psychologie durch ihren Ausgang von der Empfindung am Makel allen Empirismus, die Natur nicht von Innen heraus, aus dem Denken, zu konstituieren, sondern ein Äußeres (denn die Empfindung ist bei aller Innerlichkeit doch 298 299

300

Cohen [1981], 11. Vgl. Cohen [1982 a], 127. Vgl. auch ders. [1984 b], 57: In der experimentellen Psychologie werden »die Vorstellungen und ihre Verbindungen [...] nimmermehr in der erzeugenden Reinheit des wissenschaftlich schöpferischen Denkens zum Vorwurf genommen, sondern immer nur unter dem Schattenbild der abgeblaßten, der reproduzierten Empfindung«. Vgl. Cohen [1984 a], 5f. Die Rede vom bloßen (Bewußtseins-)»Vorgang«, auf den die Psychologie rekurriere, begegnet bei Cohen öfters. Zur Gleichsetzung von Psychologismus und Subjektivismus vgl. noch ders. [1977], 31: »Die Selbständigkeit und Ursprünglichkeit des Denkens war [sc. bei Aristoteles] allem subjektiven, psychologischen Prius gegenüber durch dieses absolute Prius hochund festgehalten und proklamiert.«

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nur »Reaktion auf einen Reiz von außen«301) als »Gegebenes« vorauszusetzen.302 Konsequenz ist auch in dieser Hinsicht mangelnde Gewißheit bzw., wie das Beispiel Humes zeigt, Skepsis.303 Deshalb gilt es, gegenüber der »Heteronomie der Sinnlichkeit«304, der »psychologischen Ansicht von der selbständigen Kraft der Sinnlichkeit«?®*, die Opposition einzunehmen, »welche das a priori gegen den Psychologismus bildet«306, also die Cohensche Position des »reinen Denkens« (wobei vorausgesetzt ist, daß die »apriorischen Elemente« nicht selbst »psychologische Grundbeschaffenheiten des Geistes« sind, sondern vielmehr »Bedingungen allein, aus deren Wirksamkeit und Geltung die der wissenschaftlichen Erkenntniss sich deduciren lässt«307). 3. In der »Ethik des reinen Willens« wird gegen eine psychologische Fundamentierung vor allem geltend gemacht, daß sie unweigerlich eine naturalistische ist. Der Naturalismus aber ist »der Todfeind der Ethik«308, weil er den Unterschied zwischen Sein und Sollen nivelliert und aus dem Sein, aus der Natur des Menschen, ethische Imperative ableiten will,309 was »dem Eigenwert des sittlichen Seins nicht gerecht« wird310 und eine Festschreibung des Gesetzes auf den Jetztzustand impliziert.311 Cohens Vorwurf läuft also auf den des »naturalistischen Fehlschlusses« hinaus. Als Beleg für die Verknüpfung von Psychologismus und Naturalismus fuhrt Cohen die notwendige Anknüpfung der experimentellen Psychologie an die Physiologie an.312 Man wird jedoch sagen können, daß sich der Vorwurf allgemeiner aus dem Psychologiebegriff 301

Cohen [1982 a], 127. Vgl. Cohen [1977], 190; ders. [1982 a], 127. 303 Vgi Cohen [1977], 190. Zum Psychologismus- bzw. Skepsis-Vorwurf an Hume vgl. a.a.O., 264-267; 308f. 304 Cohen [l981],326. 305 A.a.O., 327. 306 Cohen [1977], 310. 307 Cohen [1984 a], 128. Über die generelle Ablehnung einer äußerlichen (hier: psychologischen) Ableitung der apriorischen »Grundlegungen« s. o. S. 80f. 308 Cohen [1981], 12. 309 vgi den ganzen über die Psychologie handelnden Abschnitt der Einleitung der »Ethik des reinen Willens« (a.a.O., 8-29). 310 A.a.O., 28. 311 Vgl. a.a.O., 281 f. 312 Vgl. a.a.O., 12; 18. 302

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Cohens ergibt. Indem er sie nämlich als bloß deskriptive Disziplin bestimmt,313 kann sie per se nur vom Sein und nicht vom Sollen handeln. Die naturalistischen Implikationen der Psychologie machen diese nach Cohen auch für die anderen Glieder des philosophischen Systems als Fundament untauglich. Generell geht es ja fur Cohen in der Philosophie um kritisches Erzeugen der Gesetze des Bewußtseins, nicht jedoch um die Beschreibung von Bewußtseinsvorgängen, wie sie in seiner Sicht die Grundlage der Psychologie bilden.314 Ihr Interesse bleibt auf die äußerlichen Fragen nach dem »Wie« und der Entwicklung des Bewußtseins (Cohen verwendet dafür den Begriff der »BewußtAe/f«) beschränkt.315 313

314

315

Vgl. Cohen [1984 a], 5: »Psychologie entwirft die Beschreibung [!] des Bewusstseins aus seinen Elementen.« Vgl. auch ders. [1977], 470 (»psychologische!] Beschreibung«); ders. [1982 a], 88 (»Beschreibung und Beleuchtung«; s. die folgende Anmerkung). Vgl. Cohen [1982 a], 88: »An diesem Kriterium wird auch der Unterschied dieser kritischen Erwägungsweise von der sogenannten Psychologie ersichtlich. Nicht um Beschreibung und Beleuchtung [...] handelt es sich hier; [...] sondern auf ein Sondergebiet des Bewußtseins ist es abgesehen, um seine Einheit, um die Gesetzlichkeit zu erzeugen, welche jenes Sondergebiet zur Auszeichnung bringt.« Vgl. Cohen [1977], 469f: »Sie [sc. die Psychologie] kann die Unterscheidung zwischen Empfindung und Denken nicht über äußerliche Merkmale hinausrücken; ihre Merkmale bewegen sich allesamt innerhalb des Gebiets der Bewußtheit, welches das allgemeine Rätsel bildet, das nur immer in neuen Formen scheinbar neu formuliert wird. Die Verbindung, die Verflechtung, die Verschmelzung, die Vergleichung: derartige Gesichtspunkte der Komposition macht die Psychologie geltend. Daher die Schwierigkeiten der Definition, gemäß den Konflikten unter den konkurrierenden Vorgängen. Anders wird das Problem, wenn die Logik die Leitung übernimmt. [...] Wie es zugeht, daß wir blau, und daß wir eis empfinden, das darf uns nicht weiter interessieren; so wenig es uns interessieren darf, wie es zugeht, daß wir Substanz, und daß wir Kausalität denken. Die logische Definition einer Art des Bewußtseins im Unterschiede von der psychologischen Beschreibung einer Art der Bewußtheit, ist auf die Bestimmung des besonderen Denkwertes gerichtet, welcher jener besondern Art des Denkens zukommt und zusteht.« Vgl. auch a.a.O., 600: »Den Inhalt der Psychologie bilden nicht die Voraussetzungen, die Methoden der Wissenschaft, wie sie den Inhalt der Logik unverkennbar bilden. Die Folge ist, daß nicht der Wert der Grundlagen, ihre Formulierung, ihre Anordnung, ihre stets erneute Abschätzung zum philosophischen Problem gemacht wird; sondern daß das Interesse an der Entwickelung des Bewußtseins alle anderen Pvätsel verschlingen soll.« A.a.O.,

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4. Der unkritische Naturalismus der modernen Psychologie zeigt sich für Cohen noch an einer anderen Stelle: »in der unkritischen Ansicht vom Bewusstsein und vom Selbstbewusstsein«316. Man spreche vollmundig vom »Willen« und vom »Selbstbewußtsein«, ohne diese grundlegenden Begriffe zuvor kritisch zu untersuchen. Dadurch sei die Gefahr der Hypostasierung gegeben,317 und die experimentelle Psychologie erweise sich um keinen Deut besser als die »rationale Psychologie« der »dogmatischen« Metaphysik mit ihrer absoluten Seelensubstanz;318 der Psychologismus ist für Cohen durchaus mit dem Mythos vergleichbar.319 Diesem »psychologischen Vorurteil«320 gegenüber betont Cohen: »Es [sc. der Wille; die Aussage gilt jedoch für alle Begriffe] ist keineswegs eine unmittelbare Naturtatsache, die zu analysieren wäre.«321 Die psychologischen Grundtermini müssen vielmehr zuerst von der Philosophie »entdeckt« werden, ehe sie Ausgangspunkt einer eigenständigen Psychologie werden können.322 Die Psychologie darf daher nicht im Sinne des Psychologismus Grundlage der Philosophie werden. Das Gegenteil gilt: Die Psychologie setzt Logik, Ethik und Ästhetik voraus. Dementsprechend sollte sie - als »systematische Psychologie« von der experimentellen wie der rationalen Psychologie ausdrücklich unterschieden 580, wird »der sachliche, also der logische« dem »psychologische[n] Gesichtspunkt« gegenübergestellt. 316 Cohen [1981], 135f. 317 Vgl. a.a.O., 340: »Die Psychologie kann in den Schein verlocken, dass das Ich als eine wirksame Potenz fix und fertig vorhanden wäre; oder allenfalls sich von seinem festen Kerne aus nur auszubauen hätte.« Über die konträre Konzeption des »Ich« bei Cohen s. o. 2.3. 318 Vgl. Cohen [1981], 99. 319 Ygi C0hen [1977], 598: »Der Psychologismus dagegen geht von dem Bewußtsein aus, und glaubt nur von ihm ausgehen zu können; während der Idealismus von den sachlichen Werten der Wissenschaft, den reinen Erkenntnissen ausgeht. Jener also bleibt auf einer Stufe stehen, die sich der des Mythos vergleichen läßt, für den die Natur eben beseelt und mit Bewußtsein begabt ist, während die Philosophie und die Wissenschaft an diesem Anfangspunkte Beide durchaus zugleich die Materie und das Unendliche und die Zahl, kurz das reine Denken dafür einsetzen.« 320 A.a.O., 310 u. ö. 321 Cohen [1981], 103. 322 Vgl. Cohen [1981], 10; 28; 153; ders. [1984 b], 55f.

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den Abschluß des Cohenschen »Systems der Philosophie« bilden, womit zugleich eine veränderte Aufgabenstellung verbunden war: Nicht mehr die Beschreibung von Bewußtseinsvorgängen, sondern die Einheit des Bewußtseins ist nunmehr ihr Thema.323 Aus diesen Argumenten - daß sie trotz der hier vorgenommenen Aufteilung innerlich zusammenhängen und sich zwingend aus Cohens Auffassung der »reinen« Philosophie ergeben, dürfte deutlich geworden sein - folgt die strikte Ablehnung einer sich absolut setzenden Psychologie: »Es gibt keine Psychologie, die an sich selbständig wäre, geschweige, daß eine experimentelle Psychologie aus dem Zubehör der Physiologie oder nicht minder auch der Neuropathologie heraustreten, und sich als eine selbständige Philosophie geltend machen dürfte.«324

323

324

S. o. S. 66. Zum Terminus »systematische Psychologie« vgl. z. B. Cohen [1982 a], 84. Cohen [1984 b], 57. Im folgenden wird Cohen - auf die Benennung eines Experimentalpsychologen zu seinem Nachfolger Bezug nehmend - noch deutlicher: »Diese falsche Selbständigkeit verdirbt nicht allein die Philosophie; sie ist ein Verderbnis überhaupt für die Universität. Denn jede Art von Dilettantismus ist ein Verhängnis für den Lehrbetrieb der Universität. Und jene falsche Selbständigkeit muß dem Dilettantismus verfallen. Sie ist aber auch eine Gefahr für die Kultur überhaupt. Denn die schleichenden Mächte der Geschichte, denen nach ihrem Programm die uneingeschränkte Selbständigkeit der wissenschaftlichen Vernunft ein Schreckbild und ein Abscheu sein muß, sie werden jenes Scheinbild von Philosophie schützen, mit dem sie alle Philosophie, die nicht scholastisch ist, zu verdrängen und zu ersticken streben. So fordert das Erbe des deutschen Idealismus in seiner methodischen Reinheit, wie in seiner systematischen Einheit, den Kampf gegen den schweren Fehlgriff, dessen die Universitäten sich schuldig machen, indem sie, der politischen Reaktionstendenz der Zeit gehorsam, mit der Lahmlegung der systematischen Philosophie an die Selbständigkeit der wissenschaftlichen Vernunft, an die der Wissenschaft selbst die Axt anlegen, und damit den Nagel schmieden zum Sarge der Universitäten. Denn die Philosophie wird fortleben, auch wenn sie von den Universitäten hinweggehaßt wird. Aber die Universitäten werden nicht leben bleiben können, wenn sie die systematische Philosophie totgeschlagen haben« (a.a.O., 57f).

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Grundelemente der Philosophie Hermann Cohens

2.4.2. Der Anti-Historismus Cohens Nicht so häufig, aber doch ebenso bestimmt wie von einem psychologischen Ansatz setzt sich Cohen von einem Ansatz der Philosophie bei der Geschichtsforschung und ihren Ergebnissen ab. Seine Argumentation verläuft dabei in den gleichen Bahnen wie gegenüber dem Psychologismus. Zum einen nämlich macht Cohen auch dem Historismus den Vorwurf des Naturalismus. Im Historismus »tritt die Geschichte an die Stelle der Natur; [...] die geschichtliche Erfahrung wird zum Symbol der Wirklichkeit. Und nicht allein zum Symbol; sondern zum Prinzip der Wirklichkeit.«325 Das Sollen und überhaupt alle Prinzipien der Vernunft sollen aus der geschichtlichen Wirklichkeit abgeleitet werden. »Der psychologische Begriff der Erfahrung wird der Tyrann.«326 Daher ist der Historismus »der Naturalismus der Geschichte«327. Zum anderen gibt es laut Cohen keinen geschichtlichen Ansatz, der nicht schon philosophische Reflexion über den Gegenstand, dessen Geschichte ihn auf den Begriff bringen soll, voraussetzt. Dieses Argument, das dem gegen den Seelenbegriff der experimentellen Psychologie entspricht, findet sich sowohl in Cohens Ästhetik328 als auch in seiner Religionsphilosophie329. »Die Vernunft fängt nicht mit der Geschichte an, sondern die Geschichte muß mit der Vernunft anfangen.«330 Diese Überlegungen Cohens zu den Anleihen, die jede noch so objektive Geschichtsforschung bei der philosophischen Reflexion machen muß, haben Konsequenzen für seine Hermeneutik. Cohens Kant-Inter325

Cohen [1981], 331. A.a.O., 329. 327 Ebd. 328 Ygj c0hen [1982 a], 46: »Es gibt keine Kunstgeschichte, es sei denn auf Grund der Ästhetik. Denn für diese allein und in ihr allein gibt es eine Kunst, die Kunst; die Kunst als Einheit. Die Ästhetik allein, als eine systematische Disziplin der Philosophie, vermag den problematischen Begriff der Einheit zu verwalten und zu rechtfertigen. Außerhalb der Ästhetik und scheinbar unabhängig von ihr gibt es nur Künste, kann es solche nur in ihrer Mannigfaltigkeit geben. Sobald das Problem der Einheit innerhalb der Kunstgattungen selbst entsteht, erwacht der ästhetische Gedanke in seiner unaufhaltsamen Natürlichkeit.« 329 Vgl. Cohen [1988], 1-5. 330 A.a.O., 98. 326

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pretation ist von Anfang an eine bewußte Fortschreibung der Kantschen Philosophie nach dem von Kant selbst ausgesprochenen Grundsatz, »daß man einen Autor durch die vergleichende Anordnung seiner Sätze besser verstehen könne, als er selbst sich verstanden hat«331. Systematische, sachliche Gesichtspunkte haben die philologische Untersuchung zu leiten. Es klingt wie eine Vorwegnahme der von Karl Barth im Vorwort zum »Römerbrief« an der zeitgenössischen Bibelexegese geübten Kritik, wenn Cohen seinen philosophischen Zunftgenossen ins Stammbuch schreibt, geschichtliche Objektivität bestehe nicht darin, lediglich die »biographische Gebundenheit« eines Autors und den »inneren relativen Zusammenhang seiner Gedanken zu ermitteln«,332 und »ohne eigene systematische Anteilnahme« bleibe »die Geschichte der Philosophie bei aller äußerlich scheinbaren Gründlichkeit in der Benutzung des philologischen Apparates und der technischen Hilfsmittel dennoch [...] innerlich hohl und ohne wahrhaftes Verständnis, geschweige, daß sie für die philosophische Einsicht, ihre Vertiefung und ihre fruchtbare Fortentwicklung von Einfluß sein könnte«333.

331 332 333

Cohen [1977], XI. Vgl. Cohen [1984 b], 8f. Zitate: a.a.O., 9. A.a.O., 25.

3. Grundelemente der Philosophie Paul Natorps 3.1. Grundlagen 3.1.1. Leben Paul Natorp wurde 1854 geboren. Vielseitig interessiert und begabt, entschied er sich erst am Ende seiner Studienzeit aufgrund der Entdeckung von »Lange, Cohen und ihre[m] Kant«1 für die Philosophie und gegen die »Lieblinge meiner Muße, die beiden ungleichen Schwestern Mathematik und Musik«2. Natorp legte im Frühjahr 1876 in Straßburg das Lehrer-Staatsexamen ab; 6 Wochen später promovierte er ebendort mit einer historischen Dissertation.3 1880 kam Natorp, ermöglicht durch eine Stelle als Hilfsbibliothekar an der Universitätsbibliothek, nach Marburg, wo er bis zum Ende seines Lebens verblieb. Bereits ein Jahr später habilitierte er sich mit einer von Cohen angeregten Arbeit über »Descartes' Erkenntnistheorie«. Nachdem er 1885 zum Extraordinarius ernannt worden war und 1887 geheiratet hatte, dauerte es noch bis 1893, ehe er das Ordinariat für Philosophie und Pädagogik erhielt, das er dann bis kurz vor seinem Tode im Jahre 1924 innehatte.4 3.1.2. Werk Natorps Werk läßt sich nicht so übersichtlich gliedern wie das Cohens. Es seien daher hier nur die wichtigsten Werke Natorps in chronologischer Folge genannt. Die 1899 erstmals erschienene »Sozialpädagogik« liefert die theoretische Grundlage für Natorps umfangreiches Schrifttum zu Fragen der Pädagogik. 1903 folgte »Platos Ideenlehre« - ein Buch, 1 2 3 4

Natorp [1921 b], 153. A.a.O., 154. Vgl. Holzhey[1986a], 4. Vgl. zur Biographie Holzhey [1986 a], 1-12; Natorp [1921 b], 151-155; Ollig, 37-43.

Grundlagen

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dessen »wesentliche Leistung« nach des Autors eigenen Worten in der »Feststellung des wissenschaftlichen Sinnes der 'Idee1 als Hypothesis 'möglicher Erfahrung1« besteht,5 d. h. in der Deutung der platonischen Idee vom Gesetzesbegriff der neuzeitlichen Naturwissenschaft her. Natorps logisches Hauptwerk vor der in seiner Spätzeit entwickelten Konzeption einer »Allgemeinen Logik« erschien 1910 unter dem Titel: »Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften«. 1912 publizierte Natorp die »Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode«, die mit ihrer Ablehnung einer bloß abstraktiven Philosophie bereits zu ebendieser Spätzeit überleitet, wenn auch Natorp die in diesem Werk geforderte Ergänzung einer (konstruktiven) Gegenstandslogik durch eine deren Weg schlicht umkehrende, auf das Subjekt gerichtete »rekonstruktive Psychologie« später als nicht weitgreifend genug kritisierte.6 Während des Ersten Weltkriegs nahm Natorp intensiv am Kriegsgeschehen Anteil, wobei seine Veröffentlichungen im großen und ganzen die deutsche Position zu rechtfertigen suchten.7 Doch fallt in diese Zeit auch der Beginn der Arbeit an dem durch das Programm einer »Allgemeinen Logik« geforderten Neuansatz der Philosophie, der Natorp bis zu seinem Tode rastlos beschäftigte.8 Den letzten Stand dieser Arbeit geben die beiden Nachlaßwerke »Vorlesungen über praktische Philosophie« und »Philosophische Systematik« wieder. 3.1.3. Das Verhältnis Natorps zu Cohen in den Grundgedanken vor Natorps Konzeption einer »Allgemeinen Logik« Im Vorwort zu einer gemeinsam herausgegebenen Reihe, den »Philosophischen Arbeiten«, formulierten Cohen und Natorp im Jahre 1906 folgende Anforderungen an künftige Mitarbeiter, die durchaus als Programm der Marburger Schule gelesen werden können: »Wer mit uns verbunden ist, der stellt sich mit uns auf den Boden der transscendenta5 6

7 8

Natorp [1961], 509. Vgl. Natorp [1921 b], 157; ders. [1958], 383; 392-395. Als Zusammenfassung der Methode der »Rekonstruktion« vgl. Natorp [1912 b], 192f. S. das Beispiel u. S. 209 Anm. 20. Vgl. zur Rastlosigkeit die von Hinrich Knittermeyer mitgeteilten Briefzitate Natorps (Knittermeyer, XXIX-XL).

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len Methode, wie wir diese in Lehre und Schrift vertreten. Philosophie ist uns in allen ihren Fragen mit dem Faktum der Wissenschaft, wie dieses sich fortbildet, logisch verbunden. Philosophie ist uns daher die Prinzipienlehre der Wissenschaften und damit der gesamten Kultur. Diesen treibenden Kern der Kultur nennen wir mit Platon und mit Kant Idealismus und Aphorismus. Unsere Zeitschrift soll kein Sprechsaal sein für andersgerichtete Bestrebungen. [...] Wie die logische Methodik des idealistischen Apriorismus die sachliche Grundlage für die Einheitlichkeit unserer Mitarbeiter bildet, so bildet in nicht mißverständlichem Sinne die persönliche Grundstimmung dafür das unbedingte Einvernehmen in der sozial-ethischen Humanität. «9 Angesichts einer derartigen programmatischen Äußerung und der tatsächlich vorliegenden Übereinstimmungen im Denken der beiden Schulhäupter verwundert es nicht, daß die Marburger Schule des Neukantianismus als »eine[] der eindrucksvollsten Schulgemeinschaften in der neueren Philosophie«10 in die Geschichte eingegangen ist. Es ist das Verdienst Helmut Holzheys, dieses Urteil nach Entdeckung von zuvor unbekannten Dokumenten der internen Diskussion revidiert und auf tiefgreifende Differenzen im Denken Cohens und Natorps - schon vor dessen Alterswerk - aufmerksam gemacht zu haben.!' Diesen Differenzen gegenüber dürfen zwar die grundlegenden Übereinstimmungen, ohne die eine jahrzehntelange Zusammenarbeit gar nicht möglich gewesen wäre, nicht vernachlässigt werden: das Theorem von der Konstitution des Gegenstands durch das »reine« Denken; die damit verbundene Kritik am Empirismus und am Dualismus von Anschauung und Denken; das Verständnis der transzendentalen Methode als auf ein Faktum der Erfahrung, vor allem Wissenschaft, bezügliche Rechenschaftsgabe; die geschichtliche Orientierung an Platon, Descartes, Leibniz und Kant; der Anti-Psychologismus; selbst im Dynamismus und im Systemgedanken besteht grundsätzliche Übereinstimmung, wenn auch Natorp - s. u. - in diesen Punkten Cohen radikalisiert. Doch sind die Differenzen deshalb von besonderer Bedeutung, weil Natorp aufgrund der 9 10 1!

Cohen/Natorp, l f.; 3. Gadamer, XI. Vgl. Holzhey [1986 a]. Die angesprochenen Dokumente sind publiziert in: Holzhey[1986b].

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leichteren Zugänglichkeit seiner Schriften für die Wirkungsgeschichte der Schule - neben Ernst Cassirer - bestimmend wurde. Ob und worin dies auch für die Rezeption des Marburger Neukantianismus durch Karl Barth zutrifft, wird dann im Einzelfall zu überprüfen sein. Eine Untersuchung der Differenzen zwischen Cohen und Natorp kann sich an den logischen Hauptwerken der beiden - in der entscheidenden, weil grundlegenden Bedeutung der Logik für das »System« besteht zwischen ihnen Einigkeit - orientieren. Ausgehend von einem Vergleich der »Logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften« mit der »Logik der reinen Erkenntnis« lassen sich mehrere wesentliche Unterschiede konstatieren. 1. Der Dynamismus Cohens wird von Natorp noch gesteigert. Natorp betont unablässig die prinzipielle12 Unabgeschlossenheit menschlicher Erkenntnis. Erfahrung ist ein unendlicher Prozeß,13 der Gegenstand der Erkenntnis nie abschließend bestimmt, sondern »Vorwurf«, »unendliche Aufgabe«.14 Steht Natorp hierin noch im Einklang mit Formulierungen Cohens, so zeigt sich seine radikalere Position darin, daß er Cohens stehende Wendung vom »Faktum der Wissenschaft« kritisiert. Anstatt von »Wissenschaft« spricht Natorp lieber von »Wissenschaffen«, um die nie vollendete Arbeit der Forschung zum Ausdruck zu bringen.15 Vor allem aber der Begriff des »Faktums« verfällt der Kritik: »So kann von keinem 'Faktum1 mehr im Sinne fertigen Wissens die Rede sein [...]. Der Fortgang, die Methode ist alles; im lateinischen Wort: der Prozeß. Also darf das 'Faktum1 der Wissenschaft nur als 'Fieri1 verstanden werden. Auf das, was getan wird, nicht was getan ist, kommt es an. Das Fieri allein ist das Faktum: alles Sein, das die Wissenschaft festzustellen'

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13

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Vgl. Natorp [1910], 18: Der Fortgang der Erkenntnis ist kein »individual-psychologisch[es]« oder »historisch[es], d. h. gruppen-psychologisch[es]« Phänomen, sondern er liegt »an sich im logischen Bestände der Wissenschaft, und wenn man sie sich vollendet denken dürfte, besteht dieser Fortgang, und bleibt es also immer richtig, daß geradezu der Gegenstand nicht ist, sondern wird«. Vgl. z. B. a.a.O., 361: »Unendlichkeit des Prozesses der Erfahrungserkenntnis überhaupt«. Vgl. a.a.O., 33f. Vgl. z. B. Natorp [1921 a], 4.

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sucht, muß sich in den Strom des Werdens wieder lösen. Von diesem Werden aber, zuletzt nur von ihm, darf gesagt werden: es ist. «16 Diesem prozessualen Fortschritt der Wissenschaft und des durch sie »festgestellten« Seins korrespondiert die Dynamik der grundlegenden Denkbestimmungen, der »logischen Grundfunktionen«17 - notwendigerweise, da das Sein ja vom Denken konstituiert wird, sein Prozeßcharakter also in dem des Denkens begründet sein muß. Schon der »Urakt« des Denkens, das Grundprinzip der Natorpschen Logik, die »synthetische Einheit«,18 wird von ihm als »Prozeß« kenntlich gemacht.19 Dieser legt sich für die Gegenstandserkenntnis in die drei »Grundrichtungen« Quantität, Qualität und Relation auseinander, wobei »die Quantität und Qualität zusammen den einfachen Prozeß der synthetischen Einheit nach seinen beiden Grundrichtungen ausdrücken, die Relation die synthetische Einheit der synthetischen Einheiten und die dadurch ermöglichte Fortfuhrung des Prozesses auf immer höheren Stufen [also ad infmitum!] darstellt«20. Diese drei Richtungen wiederum gliedern sich jeweils in (1) ebenfalls drei »Stufen«, die (2) ebenfalls im Sinne eines Prozesses zu denken sind, und zwar nach dem Dreischritt Ansatz - Durchführung Abschluß,21 welcher Prozeß (3) ebenfalls unendlich ist, da der »Abschluß« »nur zur sicheren Grundlage dienen soll für neue Prozesse von gleichem allgemeinem Stufengang«22. Ebendiesen »allgemeinen Stufengang des synthetischen Prozesses« »beschreibt« die den drei Richtungen

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20 21 22

Natorp [1910], 14. In der Hochschätzung des »Werdens«, wie sie sich in den beiden letzten Sätzen spiegelt (vgl. noch a.a.O., 369; 386: Sein = »Sein des Werdens«), liegt ein verbindendes Element zu Natorps Altersphilosophie. Schon diese Terminologie verrät Natorps Bemühen um eine durch und durch dynamische Konzeption. Wie Cohen (»Logik des Urteils«) vermeidet er es, seine Logik mit Kant auf »Kategorien« zu gründen, da diesen als »reinen Verstandesbegriffen« etwas Statisches anhaftet. Demgegenüber soll der Terminus »Funktion« die Handlungsstruktur des Denkens zum Ausdruck bringen (vgl. Natorp [1910], 22: »Funktion« = »Handlung«). S. u. Punkt 2. Vgl. z. B. Natorp [1910], 85: »[...] zum logischen Urprozeß, dem Prozeß der synthetischen Einheit [...]«. A.a.O., 86. Vgl. a.a.O., 87-90. A.a.O., 90.

Grundlagen

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koordinierte, gleichfalls dreigestufte Modalität,23 so daß ein System von vier Dreiergruppen entsteht. Der so strukturierte »Prozeß oder Gang des reinen Denkens«24, von dem betont wird, daß er »kein Zeitgang, also gewiß kein psychologischer oder bloß historischer« ist,25 bildet aber nur den einen Aspekt, mit dem Natorp die grundsätzliche Dynamik des Denkens zum Ausdruck zu bringen sucht. Der andere Aspekt ist die gegenseitige Korrelativität der logischen Grundmomente.26 Auch hierin kann Natorp an Cohen anknüpfen. Er geht jedoch über den Älteren27 hinaus, indem er von einem »Gesetz der Korrelativität« spricht, »das sich [...] auf alle ursprünglichen Denkbestimmungen erstreckt«.28 Die »Denkgesetzlichkeit selbst in ihrem ganzen Umfang« ist »nichts anderes [...] als Gesetzlichkeit der Relation, gültig für Relationen von Relationen usf. ohne Schranken«.29 Auch dieser programmatische Aspekt wird von Natorp im Rahmen seiner Logik konsequent zur Ausführung gebracht. Grundstock ist wiederum der Grundakt der »synthetischen Einheit«, der von Natorp nicht nur prozessual, sondern auch korrelativ gedacht wird. In diesem Akt nämlich »entspringt mit dem Bewußtsein der Einheit zugleich das der Mannigfaltigkeit, als beiderseits gleich sehr gedankliche und in ihrem gedanklichen Bestand streng aufeinander bezogene Bestimmungsweisen«30. Diese Urkorrelation spiegelt sich sodann in den beiden primären »Richtungen« der Quantität und Qualität. Nicht nur, daß diese als Ganze einander korrelieren, indem sie den Aspekt von Einheit (Qualität) bzw. Mannigfaltigkeit (Quantität) repräsentieren, sondern auch ihre jeweiligen »Stufen« l, 2 und 3 stehen in enger Korrespondenz.31 Erwartungsge23 24 25 26 27

28 29 30 31

Vgl. a.a.O., 86f. A.a.O., 18. A.a.O., 17. S. o. Anm. 12. Vgl. Natorp [1910], 26; 29; 42; 55. Von einem Lehrer-Schüler-Verhältnis sollte man, da Natorp nie bei Cohen studiert hat, besser nicht sprechen. Natorp [1910], 76. A.a.O., 186. A.a.O., 48. Vgl. z. B. für die jeweils zweite Stufe: »Diese beiden Auffassungsweisen: Unterscheidbarkeit und Mehrheit, sind zueinander so streng korrelativ, daß jeder Versuch mißlingen muß, sie voneinander loszureißen« (a.a.O., 53).

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maß dominieren auch in Natorps Behandlung der dritten »Richtung« der Relation Korrelationen: Ihr »Fundament« ist das »streng korrelativ[e]« »Grundverhältnis des Beharrlichen und Veränderlichen«;32 die Stufen 2 und 3 (Kausalität bzw. Wechselwirkung) entsprechen sich als Ordnungen der Veränderung unter dem Gesichtspunkt von Sukzession bzw. Simultaneität.33 In paralleler Weise korrelativ zu denken wie die Grundmomente des Logischen sind schließlich nach Natorp auch die der Ethik - sowohl unter sich als auch hinsichtlich des Verhältnisses von Logik und Ethik.34 Die beiden aufgezeigten Momente - »Wechselbezüglichkeit (Korrelativität)« und »unbegrenzte[] Entwicklungsmöglichkeit«. - bilden »Grundmerkmale[]« von Natorps gesamtem Denken.35 2. Natorp ersetzt als logisches Grundprinzip den »Ursprung« durch die »synthetische Einheit«.*6 - Natorp entwickelt im zweiten Kapitel der »Logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften« seine Auffassung vom obersten Prinzip des Logischen, indem er sich mit dem traditionellen Ausgang der Logik bei Begriff und Urteil auseinandersetzt.37 Basis der Kritik ist die mit Cohen gemeinsame Position des »reinen« Denkens, dem nichts »Gegebenes« vorausgehen darf. Aus dieser Position ergibt sich zunächst die Ablehnung eines Ansatzes beim Begriff oder beim analytischen Urteil, da in beiden Fällen »Bestimmtheiten« dem Bestimmungsakt des Denkens vorgegeben sind.38 Aber auch Kants »synthetisches Urteil« genügt dem Natorpschen Anspruch an das gesuchte Prinzip nicht. Zwar hat Kant die größere Ursprünglichkeit der Synthesis gegenüber der Analysis richtig erkannt, doch seine Rede vom Mannigfalti32 33 34 35 36

37

38

A.a.O., 76. Vgl. a.a.O., 78-81. Vgl. a.a.O., 51. Vgl. Natorp [1921 a], 15; ders. [1912 b], 135. Dies ist die Grundthese von Holzhey [1986 a] (vgl. vor allem a.a.O., 175-224), die durch den hier angestellten Vergleich bestätigt wird. Vgl. zu den folgenden Ausführungen vor allem Natorp [1910], 35-44. Sie stellen den Versuch dar, den Kern von Natorps Argumentation herauszuarbeiten, was insofern nicht ganz einfach ist, als Natorp zwar weniger assoziativ als Cohen, dennoch aber nicht unbedingt zielstrebig argumentiert. Vgl. a.a.O., 38f.

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gen oder von Vorstellungen, die in der Synthesis vom Denken bearbeitet werden, läßt dem Denken dann doch wieder ein Etwas als gegeben vorausgehen.39 Für den in Frage stehenden Urakt der Erkenntnis ist dieses Vorgegebene vielmehr bis auf ein bloßes zu reduzieren, »welches durch nichts weiter zu bezeichnen ist als durch den vorgreifenden Bezug auf die an ihm zu vollziehende Bestimmung«40. Was bleibt, ist also »das Urmoment der Richtung auf die erst zu vollziehende Bestimmung«41, die »Denkbewegung«.42 der Synthesis. Aus dem »Quell« dieser Bewegung, »aus dem Quell der Methode allein kann das synthetische Urteil [...] sich erzeugen«43. Sie bildet den gesuchten »ersten Ursprung irgendwelcher Bestimmtheit überhaupt«44. Dieser Ursprung ist, da er jeglicher Spaltung voraus liegt, notwendig als Einheit zu denken, als »Einheit der Synthesis« oder - mit Kant - »synthetische Einheit«45 - eine Einheit, die jedoch immer schon Einheit eines Mannigfaltigen ist,46 die »Grundkorrelation von Sonderung und Vereinigung«4·1', enthaltend »den Grund und Quell unendlicher peripherischer Erweiterung und Differenzierung«48. Auch Begriff und Urteil sind dieser letzten Einheit untergeordnet, gehen aus ihr erst hervor.49 39

40 41 42 43

44 45 46 47 48 49

Vgl. a.a.O., 40. Laut a.a.O., 46, ist allerdings Kant »sehr leicht aus seinen eigenen Voraussetzungen zu korrigieren«. A.a.O., 41. A.a.O., 42. A.a.O., 46. Ebd. Daß Natorps Argumentation auf eine Tautologie hinausläuft - das Denken erzeugt das Denken -, ergibt sich letztlich zwingend aus der Ablehnung jeglicher vor-denklicher Gegebenheiten. Zumindest die Aporetik ist bei der Ableitung des logischen Grundprinzips Natorp und Cohen gemeinsam, auch wenn sie nur von letzterem - bei seinem »Umweg des Nichts« - eingestanden wird. Gemeinsam ist auch die These, daß eine Letztbegründung dieses Prinzips und der aus ihm hergeleiteten (Denk-)Voraussetzungen der Erfahrung weder deduktiv noch induktiv, sondern nur durch faktische Bewährung - nämlich am Wissenschaftsfaktum - möglich ist (vgl. zu Cohen: o. S. 80f, zu Natorp: ders. [1910], 31). Natorp [1910], 46. Vgl. a.a.O., 21f. Vgl. a.a.O., 47f. A.a.O., 44. A.a.O., 29. Natorp benutzt gern die Metaphorik von Zentrum und Peripherie. Vgl. a.a.O., 44: »Die Logik hat also Begriff und Urteil selbst aus den Grundfunktionen der synthetischen Einheit erst aufzubauen, nicht sie als gegeben vor-

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Aus all dem ergibt sich, daß das Prinzip der »synthetischen Einheit« kein »bloßefr] Anfang«50 ist: »Die Einheit des Erkenntnisgrundes kann nicht den dürftigen Sinn einer logischen Eins haben, von der aus und mit der dann weiter zu zählen wäre; sondern diese Einheit kann nur die jenes allbefassenden Zusammenhanges sein, durch die jedes herausgehobene einzelne Element des Denkens die anderen alle zwingend herbeiführt und scheinbar aus sich heraus setzt. Dann aber ist um so klarer, daß man mit dieser Einheit nicht, als ob sie gegeben sei, beginnen kann; sondern beginnen läßt sich mit ihr nur in dem Sinne, daß das Ganze der logischen Aufgabe damit voraus bezeichnet sei.«51 In welchem Verhältnis steht das so bestimmte Prinzip der »synthetischen Einheit« zum Cohenschen »Ursprung«? Natorp suggeriert nicht nur eine Identität, indem er immer wieder von der »Ursprungseinheit« spricht,52 sondern er versucht auch, die Identität beider Konzeptionen nachzuweisen. Das Ergebnis einer kurzen Zusammenfassung des Cohenschen Wegs zum »Ursprung« lautet: »[D]er Ursprung reduziert sich gänzlich auf die Möglichkeit des Überganges, des logischen Fortganges

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auszusetzen, um aus ihnen die Grundfunktionen des Erkennens hinterher zu entnehmen.« Hiermit wird nicht nur die traditionelle Logik, sondern implizit auch Cohen, der ja seine Logik vom Urteil aus konzipierte, kritisiert. A.a.O., 23. Ebd. Vergleichbare Formulierungen (»Urakt« kein Punkt am Beginn, sondern der ganze Denkzusammenhang): »Was anderes könnte dies [sc. das »Anhypotheton« Platons] sein, als das Gesetz dieses ganzen Prozesses, das Gesetz, welches die Richtung dieses ganzen Ganges der Erkenntnis ins Unendliche vorausbestimmt, in Platos Sprache das Gesetz des 'Logos' selbst, das Urgesetz 'des Logischen1, oder das Gesetz des reinen Denkens? Es ist identisch mit dem Gesetze der Methode, welche Plato durch das Beiwort der dialektischen in der Tat deutlich genug als Prozeß kennzeichnet« (a.a.O., 15f.); »Einheit des Denkweges« (a.a.O., 21); »Der Zusammenhang, die Doppelrichtung des Denkens [...], das ist es wohl, was zuletzt zugrunde liegt.« (a.a.O., 26); »Nicht auf den Punkt des Zentrums kann es ankommen, sondern allein auf den Bezug zum Zentrum, vielmehr auf [...] die Wechselbeziehung der zentralen und peripherischen Richtung des Erkennens. Diese enthält aber vielmehr schon das Ganze der Gesetze des Kreises, der den Inbegriff des Logischen darstellt.« (a.a.O., 29); »das zugrunde liegende [wird] vielmehr die Wegrichtung der Erkenntnis, in der das Plus und Minus, in strenger Korrelation aufeinander bezogen, in Eins gedacht werden müssen« (a.a.O., 50). Vgl. a.a.O., 22; 63; 189.

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bzw. auch Rückganges, und damit auf die durchgängige Kontinuität des Zusammenhanges, als Zusammenhanges der Begründung; wie denn am Ende auch als der faßlichste Sinn des Cohenschen Ursprungs die Denkkontinuität sich herausstellt.«53 Außer auf den Konnex von Kontinuität und »Ursprung« bei Cohen verweist Natorp noch auf Cohens grundsätzliche Bestimmung des Denkens als »Erhaltung der Vereinigung in der Sonderung, der Sonderung in der Vereinigung«.54 Es bleiben jedoch bei Natorp Zweifel an der Richtigkeit der Interpretation des »Ursprungs« auf den prozessualen Zusammenhang des Denkens, die Natorpsche »synthetische Einheit«, hin: »So möchte ich mir Cohens Grundgedanken, sei es nun deuten oder berichtigen, oder, um den unvorgreiflichsten Ausdruck zu wählen: mir zugänglich machen.«55 Anlaß der Zweifel ist die Disposition Cohens, die das »Urteil des Ursprungs« mit den elf anderen Grundurteilen in eine Reihe stellt. Zwar handelt es sich dabei, wie Natorp sich noch zugute halten kann, nur um eine scheinbare Koordination. Cohens »ganze Anordnung der Grundelemente des Denkens will vielmehr als 'konzentrische' verstanden sein, so daß die Anfangsstellung des Ursprungsurteils vielmehr Zentral Stellung wird«56. Dennoch spürt Natorp einen Dissens: »Aber auch diese [sc. die Zentralstellung] scheint immerhin noch eine Art der Aussonderung sein zu sollen, die ich nicht als begründet zu erkennen vermag. Nicht auf den Punkt des Zentrums kann es ankommen, sondern allein auf den Bezug zum Zentrum [,..].«57 Hiermit hat Natorp in der Tat den grundsätzlichen Differenzpunkt der beiden Konzepte getroffen. Wenn obige58 Interpretation zutrifft, dann sind in der »Logik der reinen Erkenntnis« Prinzip und Urteil des »Ursprungs« voneinander zu unterscheiden. Beide Varianten sind jedoch mit Natorps »synthetischer Einheit« nicht kongruent. Das Prinzip des »Ursprungs« besagt bei Cohen nur die Forderung, daß alle Ableitungen der

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A.a.O., 25.

54

Vgl. a.a.O., 26. A.a.O., 29. A.a.O., 28. Diese Interpretation Natorps erhielt 1912 eine nachträgliche Bestätigung, indem Cohen in der »Ästhetik des reinen Gefühls« den »Ursprung« dezidiert zum »Oberbegriff der Erkenntnis« erklärte (Cohen [1982 a], 240). Natorp [1910], 28f. S. S. lOOf.

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Logik ihre Wurzel im »reinen« Denken haben sollen,59 gibt also keine Aussage darüber, wie das geschieht. Demgegenüber stellt Natorps »synthetische Einheit« ein Konstruktionspnnzip dar, den »Inbegriff« des gesamten »Systems der logischen Grundfunktionen«, aus dem sich dieses rein logisch ableiten läßt. Das Urteil des »Ursprungs« wiederum wird von Cohen nicht versehentlich den übrigen Grundurteilen zugeordnet. Das Bild vom Zentrum eines konzentrischen Kreises trifft genau die Funktion dieses Urteils im Rahmen der Entwicklung des »reinen« Denkens: Als erstes Urteil, als Ort, an dem das Denken überhaupt zum »Etwas« kommt, ist es zwar von herausgehobener Bedeutung und wirkt in allen anderen »reinen Erkenntnissen« des Denkens nach; es kann jedoch nicht mit dem gesamten Zusammenhang oder Gesetz der Erkenntnis gleichgesetzt werden.60 Gegenüber diesen Differenzen verfangen Natorps Argumente für eine Identität beider Konzeptionen nicht. Dem Be-

59



S. o. S. 101 Anm. 193. Der grundsätzliche Dissens an dieser Stelle (Cohen: eher punktuelle, Natorp: eher extensive Auffassung des »Ursprungs«) hat seine exakte Parallele in der differierenden Einschätzung des Infinitesimalen: »Der Punkt, heißt es bei Cohen, müsse nicht als Grenze, als Anfang, sondern als Ursprung der Extension gedacht werden. Aber nicht der Punkt, der als solcher in der Tat nur den Nullwert der Ausdehnung bedeuten würde, ist der Ursprung, sondern der Ursprung ist das Gesetz [!], das man sich (wie gesagt) intensiv im Punkte konzentriert oder extensiv auf die Strecke erstreckt denken mag, das aber an sich so wenig am Punkte wie an der Strecke haftet, sondern gleichermaßen beide bestimmt, insofern über beiden steht und eben damit den Übergang vom einen zum ändern möglich macht« (Natorp [1910], 220). Bedenkt man, daß Cohen das »Urteil des Ursprungs« seiner Auffassung des Infinitesimalen nachgebildet hat (s. o. S. 104f), so erhält diese Kritik Natorps besonderes Gewicht. Der Vorrang des (universalen) Gesetzes vor einem (punktuellen) Grenzwert bei Natorp erhellt auch aus folgender Passage: »Diese [sc. die Stetigkeit der Zahl] enthält nun schon die ermöglichende Bedingung für die Zahlstrecke, als definiert durch irgendein Gesetz der Entwicklung einer Folge von Werten (Reihe, insbesondere als unendliche), welche an die Forderung eines rational bestimmten Grenzwertes nicht mehr gebunden ist (Irrationalzahl). Sie begründet aber ganz allgemein die Möglichkeit, unendliche Folgen von Werten, die durch irgendein Gesetz gegeben werden, in Inbegriffen zu vereinigen, die nicht gleichsam von außen, durch endliche Grenzwerte, sondern in sich selbst, rein durch ihr erzeugendes Gesetz, also durch einen Universalbegriffbesumml sind« (a.a.O., 193f).

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griff der Kontinuität kommt bei Cohen zwar große Bedeutung zu,61 doch werden »Kontinuität« und »Ursprung« von ihm keinesfalls gleichgesetzt. Und die Bestimmung des Denkens als Erhaltung von Sonderung und Vereinigung bildet - wie das Prinzip des »Ursprungs« - eher eine Forderung als ein Konstruktionsprinzip. Das »Urteil des Ursprungs« jedenfalls wird nicht von dieser Bestimmung aus konzipiert, sondern erst am Ende des entsprechenden Abschnitts stellt Cohen erfreut fest, daß das herausgearbeitete Urteil dem »Gattungscharakter des Urteils«, der eben durch Sonderung, Einigung und Erhaltung charakterisiert ist, entspricht.62 3. Natorp radikalisiert den Cohenschen Systemgedanken.63 - In einer Gedächtnisrede auf Cohen fuhrt Natorp dessen philosophische Lebensarbeit »unter dem Gesichtspunkte des Systems« vor.64 Er hält dabei mit Kritik nicht zurück, die darauf hinausläuft, daß Cohen den Gedanken des Systems nicht konsequent genug zur Durchführung gebracht habe. Natorp gibt dafür auch eine Erklärungshypothese: »[I]n einer, wie mir scheint, ungegründeten Scheu auch vor dem Scheine eines unzulässigen Erzeugens oder Konstruierens - während er das 'Konstruieren1 gewiß nicht der einzelnen Gegenstände, aber der Gegenständlichkeiten, dieses aber in aller Strenge als Erzeugen aus dem Ursprung, selber behauptet scheint er [sc. Cohen] überall nur ein nachträgliches Vereinigen im System ins Auge zu fassen.«65 Mit diesem Satz gibt Natorp selbst den Hinweis auf einen tiefgreifenden Unterschied in der Auffassung der Philosophie und ihrer Systematizität, der nicht erst zwischen dem Natorp von 1918 und Cohen, sondern schon zuvor in den logischen Hauptwerken der beiden spürbar ist. Man könnte ihn als den zwischen konstruktiver (Natorp) und rekonstruktiver (Cohen) Methode bezeichnen (wobei »rekonstruktive Methode« natürlich etwas anderes bedeutet als die unter dem gleichen Titel von Natorp in seiner »Allgemeinen Psychologie« geforderte auf das Subjekt gerichtete Methode). 61 62 63 64 65

S. 0.2.2.1.3. Vgl. Cohen [1977], 93. Vgl. zum Folgenden Holzhey [1986 a], 80-127; 272-308. Vgl. Natorp [1918 c]. A.a.O., 21.

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Cohens Logik (und ganzes Lebenswerk) ist bei aller Betonung des Systemgedankens66 in der Tat geprägt durch »Zurückhaltung gegenüber einer konstruktiven Systematik«67. Er fordert für die Logik zwar eine »Ableitung« der Urteilsarten aus den »reinen Erkenntnissen«,68 doch diese Erkenntnisse sind keine Erzeugnisse der Logik, sondern sind ihr in Gestalt der Prinzipien der Wissenschaft vorgegeben.69 Und wenn es später heißt: »So erzeugt jede Art des Urteils ein Element der reinen Erkenntnisse«1®, so manifestiert sich in diesem scheinbaren Widerspruch nur die fur Cohen bezeichnende Korrelativität von Philosophie und Wissenschaft,71 die jedenfalls eine rein logische Ableitung der logischen Grundmomente, bei Cohen also der Urteilsarten, unmöglich macht. Anders Natorp! Dies zeigt sich schon äußerlich: Während in Cohens Logik die Darstellung des Systems der Urteilsarten, von »Einleitung« und »Beschluß« umrahmt, den weitaus größten Raum einnimmt (weil nämlich mit wissenschaftsgeschichtlichen und -theoretischen Erörterungen verknüpft), kommt Natorps »System der logischen Grundfunktionen« mit gut 60 Seiten aus, relativ am Anfang der Schrift, jedenfalls von dem Teil, der direkt die »exakte Wissenschaft« und deren »logischen Aufbau« behandelt, ausdrücklich abgesetzt.72 Der äußere Eindruck wird durch den Inhalt bestätigt: Das »System der logischen Grundfunktionen« wird von Natorp streng logisch, ohne Reflexion der Wissenschaften und ihrer »reinen Erkenntnisse«, hergeleitet, konstruiert aus dem »Grundgesetz des Logischen«, der Einheit des Mannigfaltigen, unter Anwendung des »Gesetzes der Korrelativität«.73 Natorp spricht sogar 66

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S. o. S. 84. Holzhey [1986 a], 106. Vgl. Cohen [1977], 73: »Die Arten des Urteils müssen aus den Arten und Richtungen der reinen Erkenntnisse abgeleitet werden.« Vgl. ebd.: Die Erkenntnisse der mathematischen Naturwissenschaft »wurzeln« in Mathematik und Naturwissenschaft. A.a.O., 74. S. o. S. 74-77. Vgl. Natorp [1910], 97. Vgl. a.a.O., 35 (»[...] es muß sich ein gesetzlicher Zusammenhang konstruieren [!] lassen [...]«); 36 (»Grundgesetz des Logischen«); 44 (»Direkt aus dieser [sc. der Grundkorrelation von Sonderung und Vereinigung] werden die Grundkonstituentien der Erkenntnis herzuleiten [!] sein [...].«); 76 (»Gesetz der Korrelativität«).

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einmal von »Deduktion«,74 was die Differenz zu Cohen und dessen eher induktivem Vorgehen besonders verdeutlicht, auch wenn es sich bei dieser Deduktion, wie Natorp an anderer Stelle klargestellt hat,75 wegen des Fehlens eines festen Ausgangspunkts - das Grundprinzip der »synthetischen Einheit« steht ja, wie oben gezeigt wurde, als »Inbegriff« für das ganze System, geht diesem also gerade nicht als Anfang voraus und wegen der gegenseitigen Korrelativität um keine Deduktion im klassischen Sinne handelt. Ob Natorp bei diesem deduktiv-konstruktiven Aufbau seiner Logik noch im Rahmen des Marburger Verständnisses der transzendentalen Methode - Reflexion des »Faktums der Wissenschaft« - bleibt, erscheint fraglich. Die »Überschreitung der Methode«, die Hans-Georg Gadamer als Spezifikum des alten Natorp herausgestellt hat,76 ist in den »Logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften« zumindest angelegt. 3.1.4. Die Spätphilosophie Natorps Nach dem Ersten Weltkrieg trat Natorp mit Werken an die Öffentlichkeit, deren Aussagen (etwa die Hochschätzung des Konkreten, Individuellen gegenüber dem Abstrakten; die positive Wertung der Mystik; antirationalistische Polemik)77 dem herrschenden Bild Natorps als »de[m] strengste[n] Methodenfanatiker und Logizist[en] der Marburger Schule«78 widersprachen. Natorp ist daher - positiv oder negativ gewertet in die Geschichte eingegangen als ein Philosoph, der im Alter seine lebenslangen Überzeugungen vollständig revidiert hat. Da es explizite Beziehungen zwischen dem späten Natorp und der Dialektischen Theologie - vor allem, aber nicht ausschließlich, zu Friedrich Gogarten - gibt,79 74 75 76 77

78 79

A.a.O., 38. VgJ. Holzhey [1986 a], 273f. Vgl. Gadamer, XIII. Vgl. z. B. eines der letzten überlieferten Worte Natorps: »Wir kranken alle an der Abstraktion« (zit. Prager, 190). Zur Mystik s. u. S. 155, zum Anti-Rationalismus s. u. S. 147. Gadamer, XIII. Ihren Höhepunkt erreichten diese Beziehungen 1921 mit der Teilnahme Natorps an der Aarauer Studentenkonferenz, die in den Jahren zuvor zu einem Podium der Dialektischen Theologie geworden war. In dem dort von Natorp gehaltenen

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muß die Altersphilosophie Natorps in dieser Untersuchung zur Sprache kommen. Der folgende Unterabschnitt soll das sie beherrschende Projekt einer »Allgemeinen Logik« in großen Linien skizzieren, um ein Verständnis ihrer in Bezug auf die Dialektische Theologie besonders interessanten Aspekte der Religionsphilosophie und des Koinzidenzgedankens vorzubereiten. In einer Rezension aus dem Jahre 1917 nennt Natorp selbst die beiden Fragen, die hinter der Umorientierung seiner Philosophie während und nach dem Ersten Weltkrieg stehen: »Zwei Fragen möchte ich hier herausheben, denen für die Weiterbildung des philosophischen Systems, wie ich glaube, schlechthin entscheidende Bedeutung zukommt [...]: die der letzten Verallgemeinerung des Problems des Logischen, und die seiner letzten Zuspitzung auf die Frage des Individuellen.«80 Auf beide Fragen versucht das Projekt einer »Allgemeinen Logik« zu antworten. Natorp versteht darunter: »die streng einheitliche logische Grundlegung nicht zuerst der exakten Wissenschaft, danach der beschreibenden Naturwissenschaften, dann der Menschheitswissenschaften, oder wie sonst einzuteilen richtig sein mag; als seien dies einander nach- oder auch nebengeordnete, so wie so aber außereinander liegende, allenfalls nur hintennach sich aufeinander beziehende und nur im Sinne nachträglicher Wechselbeziehung sich wieder vereinigende Gegenstandsgebiete [Natorp beschreibt damit die »klassische« Marburger Aufgabenstellung der Philosophie], sondern schlechthin der Gegenstandssetzung, vielmehr aller irgendwie logisch erfaßlichen, sei's auch außer-, unter- oder übergegenständlichen Setzung. Alles Geistige, die ganzen weiten Gebiete auch des Handelns, des Schaffens, des Selbstaufbaus der (relativen) Individualität und (absoluten) Individuität, (relativen) Universalität und (absoluten) Universität, bis zu einer letztletzten, einer Ur-Individuität, die zugleich Ur-Universität ist, die etwa der letzte (logische) Sinn von Religion sein mag - das alles muß, eben sofern Geistiges (und das heißt schon ein, das eine Geistige) in schlechthin zentraler Einheit erkannt werden, aus der

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Vortrag »Individuum und Gemeinschaft« - es sprachen außerdem Thurneysen (»Dostojewski«) und Gegarten (»Mystik und Offenbarung«) - werden auch einige Sätze von Karl Barth, »dessen Art mir sonst zwar ferner liegt [sc. als Gogarten und Tillich]«, zustimmend zitiert (Natorp [1921 c], 13; vgl. auch a.a.O., 21). Natorp [1917], 428.

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erst alle diese Besonderungen, oder welche sonst noch oder statt ihrer sein mögen, in zweifelloser Vollständigkeit und genauer Bestimmung ihrer Unterschiedlichkeit wie Zusammengehörigkeit, ihrer positiven wie negativen Beziehungen, ihrer Grenzen wie ihres festesten Zusammenschlusses in der Ureinheit des Geistigen, hervorgehen müssen.«81 Zur Lösung der mit diesem Projekt gestellten Aufgabe - Hervorgehenlassen aller »Setzung«, letztlich alles dessen, was »ist«, aus »zentraler Einheit«, aus dem »Logos selbst« - entwickelte Natorp ein großangelegtes Kategoriensystem. Dessen Systematik wird dadurch gewährleistet, daß das Kategoriengefuge nach nur einem Gesetz abgeleitet wird. Als dieses »Grundgesetz aller logischen Gliederung und Entwicklung« bestimmt Natorp in der Letztfassung der »Allgemeinen Logik«, jetzt unter dem Titel »Philosophische Systematik«,82 »den Heraklitischen Satz vom Einen, das sich mit sich selbst entzweien muß, um mit sich selbst in sich selbst wieder zusammenzugehen, und zwar immer, und in allem«, der von ihm in Analogie zu »dem berühmten Hegeischen Gesetz des Dreischritts der 'dialektischen Methode1« gesetzt wird.83 Allerdings besteht nicht völlige Übereinstimmung mit Hegel: Der Begriff »Synthesis« für die dritte Stufe wird von Natorp abgelehnt;84 die drei Stufen, die als »Anhub«, »Fortgang« und »Abschluß« charakterisiert werden, stehen in strenger Korrelativität;85 anstelle von einem Kreisgang möchte Natorp lieber von einer Spirale sprechen, um die prinzipielle Unabgeschlossenheit des ganzen Prozesses zum Ausdruck zu bringen.86 Charakteristisch für Natorp ist ferner, daß die drei Stufen oder Phasen von ihm als Momente der Individualisierung bestimmt werden: Der »Anhub« ist allgemein, der »Fortgang« »vollzieht die Besonderung«, die dann in der Individualbestimmung ihren »Abschluß« findet.87 Das Individuelle bildet auf

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85 86 87

Natorp [1921 b], 157f. Über die Titeländerung vgl. Natorp [1958], 19. A.a.O., 55. Vgl. a.a.O., 139; 325f.; 334f.: Die dritte Stufe ist »nicht Zusammensetzung, 'Synthesis', oder bloß 'Verbindung1, 'Verknüpfung', sondern In-eins-setzung« (a.a.O., 139), »Rückgang in die Ureinheit« (a.a.O., 326). Vgl. a.a.O., 140. Vgl. a.a.O., 63f. Vgl. a.a.O., 139.

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diese Weise tatsächlich, wie von Natorp gefordert, die »letzte Zuspitzung« des Logischen. Das »Dreiphasengesetz«88 bestimmt die gesamte Entfaltung des Logischen: »Dies ganze Verhältnis der drei Phasen untereinander muß dann immer wiederkehren, so daß auch in unendlich weiter gehender Gliederung stets nur Kategorienordnungen in irgend einer Potenz von drei hervorgehen können. In diesem Sinne ist das ganze System geschlossen und doch grenzenlos offen; geschlossen, sofern jede einzelne Kategorie ihre unverrückbare Stelle im System findet, grenzenlos offen, sofern das System selbst eine Fortentwicklung verträgt und an sich nicht nur möglich macht, sondern fordert, wenn auch selbstverständlich für uns die Entwicklung nicht weiter geht, als sich eine Leistung aufweisen läßt, die dadurch vollziehbar wird.«89 Nichts anderes als einen Aufriß des so nach dem »Dreiphasengesetz« gegliederten Systems der Kategorien stellt die »Philosophische Systematik« dar, die in der vorliegenden Form - zugrunde liegen Vorlesungsdiktate vom Sommersemester 1923 - als Summe von Natorps gesamtem Alterswerk angesehen werden kann. Sie verwirklicht das Programm einer »Allgemeinen Logik«, indem sie alle Kategorien und damit »das Logische« aus der Einheit, die »das schlichte Daß [,] das schlichte 'es ist1« als oberstes »Faktum« bildet,90 in drei »Dimensionen« hervorgehen läßt. Die (vor-gegenständliche) Basis bilden neun »Grundkategorien«, die in drei jeweils dreistufige »Ordnungen« (Modalität, Relation, Individuation) aufgegliedert sind. Die zweite Dimension steht für die »Entwicklung«, den »Fortgang« des Logischen und fächert sich auf in die Gebiete der theoretischen (als »Strukturlogik«), praktischen (»Funktionslogik«) und ästhetischen (»Gehaltslogik«) Vernunft. Die dritte Dimension betrachtet im Natorpschen Sinne einer Psychologie das Ganze unter dem Gesichtspunkt der Korrelativität von Subjekt und Objekt, doch bleibt es hier in der »Philosophischen Systematik« bei Andeutungen. Vollends unausgeführt im Blick auf die durch das »Dreiphasengesetz« bestimmte Architektonik sind schließlich die Überlegungen zu einer »Grenzlogik«, die an die Stelle der herkömmlichen Religionsphilosophie treten sollte. 88 89 90

A.a.O., 223; 294. A.a.O., 140. Vgl. a.a.O., 227.

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Natorp sah seine hier kurz charakterisierten Altersgedanken durchaus in Kontinuität zu seinem vorausgegangenen Schaffen im Sinne des Kritischen Idealismus.91 In der Tat gibt es durchgehende Linien, wie aus einem Vergleich dieses und des vorigen Unterabschnitts hervorgehen dürfte. Von daher ist die gängige Auffassung von einem radikalen Bruch in Natorps Denken sicherlich überzogen. Ein entscheidender Unterschied, der es zugleich fraglich macht, ob Natorps Altersphilosophie tatsächlich noch das Prädikat »Kritischer Idealismus« gegeben werden kann, besteht jedoch darin, was als »Faktum« jeweils den Ausgangspunkt der philosophischen Reflexion bildet. Indem das »Faktum der Wissenschaft« durch »das schlichte Daß [,] das schlichte 'es ist1« ersetzt wird, wird das »Faktum« so allgemein formuliert, daß sein Sinn, der den Kantschen Kritischen Idealismus kennzeichnende Anhalt des Denkens an der Erfahrung,92 faktisch wegfällt und keine grundsätzliche Differenz mehr zu einem spekulativ-idealistischen Entwurf bestehen bleibt (was ja auch in der insgesamt positiven Wertung Hegels zum Ausdruck kommt).93 Mit der Ausweitung des »Faktums« nähert sich Natorp zugleich einer anderen, gerade nach dem Ersten Weltkrieg hochaktuellen philosophischen Richtung: der Lebensphilosophie. Das »es ist« wird von Natorp mehrfach mit dem »Leben« identifiziert.94 Hieraus erklärt sich der gelegentliche Anti-Rationalismus in seinem Spätwerk.95 Abgesehen nun von der Frage, wie Natorp eine gleichzeitige Annäherung an zwei so gegensätzliche Richtungen möglich war (immerhin haben sie den Gedanken der Entwicklung gemein; zudem konnte Natorp jeweils an Tendenzen, die schon vorher sein Denken auszeichneten, anknüpfen: einer91

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Vgl. z. B. Natorp [1921 b], 151: »Umbildung, Erneuerung, Verjüngung [...] der Philosophie des kritischen Idealismus«. Vgl. nur den bekannten Satz: »Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel [...]« (Kant [1976], B 1). Auch wenn Rohls1 Ausführungen zum »Spätneukantianismus« prinzipiell nur zugestimmt werden kann: Weder die Spätphilosophie Natorps noch die Cohens noch die Frühschriften Heinrich Barths verdienen das Prädikat »antiidealistisch« (s. zu Rohls o. S. 28f.). Vgl. Natorp [1958], 12 (Leben = der »Urfaktor, auf dem Philosophie fußen und an dem sie sich bewahrheiten [muß]«); ders. [1920], 172f. (das »echt Logische« = »das Leben selbst«). Vgl. z. B. Natorp [1958], 179f.

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seits konstruierende Systematik, andererseits Dynamismus) - nach beiden Seiten verläßt Natorp die ursprüngliche Fragerichtung des Neukantianismus. Die »transzendentale Methode«, wie sie für die Philosophie Kants und - mit einer gewissen Engführung des Erfahrungsfaktums auf die Wissenschaft - für den »klassischen« Marburger Neukantianismus prägend ist, wird vom späten Natorp »überschritten«96 in Richtung auf eine spekulative Philosophie des Absoluten (sei es nun absoluter Logos oder absolutes Leben). 3.1.5. Natorps Religionsphilosophie 3.1.5.1. Die ursprüngliche Auffassung Natorps Der Neuansatz Natorps in seiner letzten Lebensdekade hat sich auch auf dem Gebiet der Religionsphilosophie ausgewirkt. Die ursprüngliche Position Natorps, wie sie vor allem in der Schrift »Religion innerhalb der Grenzen der Humanität« und den beiden Schlußparagraphen der »Sozialpädagogik« niedergelegt ist, läßt sich mit folgender These zusammenfassen: »Religion, oder was sich unter diesem Namen bisher barg, ist genau so weit festzuhalten, als sie innerhalb der Grenzen der Humanität beschlossen bleibt, dagegen nicht mehr, sofern der ungemessene Drang des Gefühls sie verleitet, deren Grenzen zu durchbrechen und ihren ewigen Gesetzen den Gehorsam zu versagen.«97 Diese These wird von Natorp in erster Linie bewußtseinstheoretisch hergeleitet. »Humanität« steht ihm für »Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst in ihrer wesentlichen Zusammengehörigkeit und inneren, organischen Einheit«.98 Letzteres, die Zusammengehörigkeit und Einheit, ist für ihn darin begründet, daß es sich bei den drei genannten Gebieten jeweils um »Gestaltungsweisen« des menschlichen Bewußtseins handelt, zurückgehend auf (theoretisches) Erkennen, (praktisches) Wollen und (ästhetische) Phantasie. Als »Gestaltungsweisen« ist ihnen gemeinsam, daß das Subjekt in ihnen aus sich herausgeht, objektivierend ist, indem

96 97 98

Vgl. Gadamer, XIII. Natorp [1894], 68. Natorp [1974], 308f.

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es ein Objekt gestaltet." Religion kann sie als Ausdrucksmittel nutzen, doch »[e]ine weitere, von diesen dreien verschiedene, etwa ganz eigene Weise des objektivierenden Ausdrucks, eine andere Sprache der Religion als diese gibt es meines Wissens nicht. Ich folgere: also vertritt Religion nicht eine vierte, jenen dreien koordinierte Gestaltungsweise bewußten Inhalts.«100 Sie vertritt jedoch einen anderen, wesentlichen Bestandteil des Bewußtseins: nicht seine objektivierende, sondern seine nach innen gerichtete Seite. Natorp bezeichnet diese Seite im Anschluß an Schleiermacher als Gefühl in der Bedeutung »des Unmittelbaren, subjektiv Ursprünglichen, Umfassenden, aber noch Gestaltlosen«101. Wichtig ist nun das Verhältnis des Gefühls zu den anderen Bewußtseinsarten. Einerseits ist das Gefühl ihnen verbunden, da es ihnen vorausgeht und alles Bewußtsein begleitet. »Es ist der Mutierschoß alles Bewußtseins.«102 Andererseits ist es vom objektivierenden Bewußtsein zu scheiden. Hierin liegt die Gefährlichkeit des Gefühls (und der Religion), die Natorp als »Gefahr der Transcendenz« bezeichnet:103 Das Gefühl verwechselt die eigene Unendlichkeit mit der eines Gegenstands und tritt somit als »Gefühl des Unendlichen« in Konkurrenz zu den gestaltenden Bewußtseinsarten.104 Diesen latenten Anspruch des Gefühls gilt es laut Natorp zu bannen. Für die Religion ergibt sich daraus, daß sie, soweit sie objektivierende »Religion der Transzendenz«105 sein will, zu bekämpfen und durch eine »Religion in den Grenzen der Humanität« zu ersetzen ist. Diese wird von Natorp in ein besonders enges Verhältnis zur Sittlichkeit gerückt: Sie nimmt aufgrund ihres gemeinschaftsbildenden Charakters in Natorps Programm einer »Sozialpädagogik« eine wichtige Funktion wahr (das gesamte letzte Kapitel der Religionsschrift ist »sozialpädagogischen Folgerungen« gewidmet); der »Kern der Religion« liegt im Ethischen, und es gilt, ihn aus der (metaphysischen) Schale zu lösen;106 die »Grundidee der Religion« ist in ihrem Kern »eine ethi99

Vgl. Natorp [1894], 38-44. Natorp [1974], 309. 101 Natorp [l894], 49. 102 Ebd. 103 A.a.O., 54. 104 Vgl. a.a.O., 52f. 105 Natorp [1974], 324 u. ö. 106 Vgi Natorp [1906], 44. 100

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sehe Idee«;107 das letzte Ziel ist »die reine Ethisierung der Religion«.108 Dennoch bleibt festzuhalten, daß Natorp anders als Cohen und Wilhelm Herrmann die Religion nicht von vornherein im Bereich der praktischen Vernunft verortet, sondern ihren Platz im allen drei gestaltenden Vernunftvermögen gleicherweise gegenüberstehenden Gefühl bestimmt.109 3.1.5.2. Die Aussagen zur Religion im Spätwerk Natorps Die eben umrissene Auffassung der Religion als einer »Religion innerhalb der Grenzen der Humanität« hat Natorp im Spätwerk ausdrücklich kritisiert. Er räumt ein, mit ihr dem relativistischen »Fluch des Säkulums«110 erlegen zu sein, durch den »selbst Religion [...] nicht dem Schicksal [entging], gerade als Objekt emsiger psychologisch-historischer wie philosophisch-kritischer Bearbeitung des ihr grundwesentlichen unmittelbaren Bezugs auf ein Letztes, Letztletztes, Transzendentes so gut wie ganz verlustig zu gehn. [...] Würde ich es schelten, ich würde mich selber schelten. [...] Jetzt aber, das fühlen wir alle, ist die Stunde gekommen, all solchem Relativismus entschlossen den Abschied zu geben. [...] Welche Geltung auch sonst der Relativität verbleiben mag, keinesfalls gebietet sie dem Absoluten, sondern findet an ihm ihre einfürallemal unübersteigliche Grenze.«111 Mit dem Begriff der Grenze ist bereits der Punkt genannt, um den die Gedanken des alten Natorp zur Religion kreisen. Anstelle von Religionsphilosophie möchte er lieber von »Grenzlogik«112 oder »Grenzphilosophie«113 sprechen. Damit ist eine neue Verortung der Religion verknüpft: »Ich frage nicht mehr [,] ob Religion 'innerhalb' oder 'außerhalb1 der 'Grenzen der Menschheit1 und der Welt. Es gibt ein Drittes: daß sie genau auf der Grenze liegt, selbst diese Grenze bezeichnet - aber nicht 107

Vgl. a.a.O., 46. Vgl. a.a.O., 50. 109 Ygj schon Natorp [1881] - ein Aufsatz, der sich kritisch mit der in Herrmanns Frühschrift »Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit« vertretenen These, daß nur die Sittlichkeit, nicht aber die theoretische Erkenntnis die Gewißheit religiöser Erkenntnis verbürgen könne, auseinandersetzt. 110 Natorp [1921 c], 8. 111 Ebd. 112 Natorp [1958], VI. 113 Zit. Knittermeyer, XXXVII (Brief Natorps an Knittermeyer vom 17.9.1923). 108

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als Abgrenzung gegen anderes. Sondern wie zwischen der absoluten Null und dem absoluten Unendlichen alle (endliche und relativ unendliche) Zahl liegt, jene beide aber nicht jenseits und nicht im Bereiche der Zahl [,] sondern eben den Bereich als ganzen, als das arithmetische Universum bezeichnen, seine begrifflichen Grenzen selber sind, und nicht etwas [,] das diesseits oder jenseits seiner zu suchen wäre.«114 Diese Passage aus einem Briefentwurf Natorps von 1917 wird verständlicher, wenn man die in ihr angedeutete Unterscheidung von zwei Arten der Unendlichkeit berücksichtigt. Die relative Art - die »schlechte« Unendlichkeit Hegels115 - steht für die bloße Negation eines endlichen Abschlusses, für den ewigen Fortgang einer Reihe, mit der der Bereich des Endlichen letztlich nicht verlassen wird. Sie verhält sich zu dem absoluten Unendlichen, das von Natorp meist als »Überendliches« bezeichnet wird, »wie die unendliche Reihe zu ihrem Grenzwert, den die Reihe nie erreicht, durch den und auf den hin sie vielmehr von vornherein bestimmt, vielmehr ewig weiter bestimmbar und zu bestimmen ist«116. Aus dieser Analogie zum Grenzwertbegriff der Mathematik (einerseits nie erreicht, andererseits der Reihe als Bestimmendes doch in gewisser Weise immanent) erklärt sich die paradoxe Bezeichnung der Grenze in obigem Briefzitat als nicht diesseits und nicht jenseits zugleich. Es handelt sich beim Verhältnis von Endlichem und Überendlichem für Natorp um überhaupt keinen räumlichen oder sonst quantitativen Unterschied, sondern um einen qualitativen.117 Ganz dasselbe, was 114

115

116 117

Zit. Holzhey [1986 b], 474 (Entwurf eines Briefs Natorps an Heinrich Scholz vom 1.4.1917). Zur »Religion auf der Grenze« vgl. noch Natorp [1918 c], 35; ders. [1961], 512. Vgl. dazu Hegel, 112 (§ 94): »Diese Unendlichkeit ist die schlechte oder negative Unendlichkeit, indem sie nichts ist als die Negation des Endlichen [...].« Vgl. auch a.a.O., 113-115 (§ 95). Natorp [l958], 404. Vgl. a.a.O., 219: »Der Gegensatz des Unendlichen [aus dem Kontext ergibt sich, daß Natorp hier das absolute Unendliche, also das Überendliche meint] und Endlichen ist selbst kein quantitativer, sondern ein qualitativer, und dieser bleibt für alles Endliche ohne Unterschied derselbe. Kein Endliches ist dem Unendlichen näher (auch nicht ferner) als ein anderes. Aber das Unendliche und das Endliche liegen überhaupt nicht außereinander; nicht wo das Endliche aufhört, beginnt das Unendliche; es ist nicht ein Bereich bloß über den des Endlichen hinaus; insofern ist auch der Ausdruck des Jenseitigen, des Epekeina, des Tran-

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als End- bzw. (relativ) Unendliches eine kontingente, amorphe Masse darstellt, wird durch die überendliche Begrenzung bestimmt und so zu einem (geordneten) »Universum«, zu einer Ganzheit. Mit dem Überendlichen ist absolute Totalität gesetzt, »die Totalität überhaupt von allem, was ist, und damit unbedingte Wirklichkeit«118. Die religionsphilosophische Pointe dieser Konzeption eines »Überendlichen« ist nun schlicht die, daß das Überendliche von Natorp mit Gott identifiziert wird.119 Da Gott auf diese Weise an der Doppelgesichtigkeit des Überendlichen - einerseits dem Endlichen transzendent, andererseits immanent - Anteil bekommt, entsteht eine Religionstheorie von prima facie merkwürdiger Unausgeglichenheit. Sofern Natorp den Aspekt der Transzendenz betont, kommt er zu Aussagen, die den bekannten der Dialektischen Theologie nahestehen.120

118

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szendenten oder Transzendentalen letztlich unzulänglich. Es liegt nicht, gleichsam lokal, hinaus über den Bereich des Endlichen, sondern in einem rein qualitativen Sinne hinaus über alle Endlichkeit, über allen Sinn des Endens. Es ist insofern nicht bloß überendlich, sondern ebensowohl überunendlich.« A.a.O., 403. Insofern Natorp das Überendliche mit der Totalität des Universums gleichsetzt, Gott aber mit dem Überendlichen (s. u.), erhält seine Spätphilosophie einen pantheistischen Zug (vgl. auch Holzhey [1986 b], 110; 136: Gott als »Allseele«). Vgl. Natorp [1958], 408. Das Verhältnis der späten Religionsphilosophie Natorps zur Dialektischen Theologie ist nicht leicht aufzuklären. Natorp hat sich mit Gogarten und Barth auseinandergesetzt (s. o. S. 143f. und u. S. 153), und zweifellos hat ihn dies bei der Ausarbeitung seiner späten Religionsphilosophie beeinflußt. Andererseits fügt sich beispielsweise die Rede vom nicht bloß quantitativen, sondern qualitativen Gegensatz von Überendlichem und Endlichem (s. o. Anm. 117), die für einen solchen Einfluß genannt werden könnte, nahtlos in das gesamte Programm der »Allgemeinen Logik« Natorps ein. Schon 1910 heißt es bei Natorp, die infinitesimale Größe sei gegenüber den endlichen Größen nicht bloß etwas quantitativ, sondern »etwas qualitativ Anderes« (Natorp [1910], 216; vgl. a.a.O., 219: »qualitative^] Übergang[] in eine andere Wertordnung«). Zudem darf nicht übersehen werden, daß Natorp bereits 1917 von einer Religion »auf der Grenze« (s. o. S. 150) und 1918 - allerdings in einem unveröffentlichten Vorlesungsmanuskript - von einer kritischen Bedeutung der Religion für die Kultur (s. u. Anm. 124) spricht. Daher dürfen die Parallelen zwischen Natorps später Religionsphilosophie und der Dialektischen Theologie nicht vorschnell auf eine Beeinflussung Natorps durch die letztere zurückgeführt werden. Vielmehr ist auch von einer Einflußnahme in umgekehrter Richtung auszugehen. Karl Barth hatte vermut-

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Sie ergeben sich aus der mathematischen Analogie, wonach der Grenzwert in die unendliche Reihe weder selbst eintritt noch eine Annäherung an ihn möglich ist.121 In gleicher Weise ist Gott als das Absolute vom Bereich des Relativen geschieden. Dies impliziert für Natorp zum einen die absolute Gewißheit seiner Existenz: »Gerade als letzte, schlechthin unverschiebbare Grenze von allen verschiebbaren Begrenzungen her erkannt und festgestellt, ist es [sc. das Absolute] von allen Seiten zugleich gesichert wie nichts andres; nicht durch die Relativitäten in ihrer Summierung, sondern als der selbst allem voraus sichere Sicherungsgrund ihrer aller und ihrer echten Allheit selbst, die nicht eine Summe bedeutet, sondern den Ursprung.«122 Zum anderen ergibt sich, daß Erlösung nur möglich ist durch radikale Verneinung des Endlichen, Relativen;123 der Weg führt über den Tod zum Leben, Religion bedeutet »radikale Kulturkrisis«124. Es ist angesichts solcher Aussagen verständlich, wenn Natorp den Vorwurf, »die Transzendenz [zu] verflüchtigen oder überhaupt ab[zu]schwächen«, an »Gogarten und die Seinen« zurückgibt.125 Daneben finden sich ganz andere, geradezu gegensätzliche Aussagen in Natorps Alterswerk. So heißt es in der Fortsetzung der oben zitierten Briefstelle, in der »absolute Null« und »absolutes Unendliches« als Grenzen genannt worden waren, Religion sei der Wechselbezug »jener beiden identischen [!] Endpunkte des geistigen Universums - in religiö-

121 122

123 124

lich keine selbständige Kenntnis der Spätphilosophie Natorps (s. u. S. 264f.), doch könnte sie von Gogarten oder Heinrich Barth an ihn vermittelt worden sein. Immerhin dürfte es als Zeichen des Bewußtseins einer gewissen Verbundenheit zu werten sein, wenn Barth anläßlich eines Marburg-Besuchs Anfang 1922 Natorp besuchte und ihm ein Exemplar des gerade erschienenen zweiten »Römerbriefs« überreichte (vgl. K. Barth - E. Thurneysen [1987], 49 (Brief Barthsvom26.2.1922)). Vgl. Natorp [1921 c], 9. Ebd.

Vgl. a.a.O., 13f.

Natorp [1920], 253. Schon 1918 spricht Natorp von der »kritische[n] Stellung der Religion gegen 'Kultur' als ganze« (vgl. Natorp [1980], 264). 125 Ygi fas Zitat Knittermeyer, XXXIX (Brief Natorps an Knittermeyer vom 8.4.1924). Der Gegenvorwurf Natorps (»[...] für jene aber lügt alles außerhalb der bekannten zwei Buchdeckel. O diese Wissenden!«; a.a.O., XL) ergibt sich aus seiner Ablehnung jedes dogmatischen »Transzendierens« (vgl. Natorp [1918 c], 36).

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ser Sprache 'Seele' und 'Gott'«.126 An anderer Stelle schreibt Natorp unter Bezug auf das Goethesche »Allah braucht nicht mehr zu schaffen, Wir erschaffen seine Welt!«: »Gott selbst schafft sich in uns und in allen. [...] [N]icht von einer jenseitigen, fremden Macht weiß sich die Schöpfung ferner abhängig, sondern in ihr selbst schafft sich das nun nicht mehr jenseitige Ewige.«127 In der gleichen Schrift ist von einer Religion die Rede, in der »das trennende Gegenüber von Gott und Seele [weg]fällt [...]. Eben damit fällt auch die Erlösungsbedürftigkeit; die Seele wird so erlösungs- wie seinssicher.«128 Der Widerspruch beider Aussagereihen läßt sich jedoch auflösen (sofern man nicht sklavisch dem Buchstabensinn folgt). Die gleichzeitige Transzendenz und Immanenz des Göttlichen erklärt sich für Natorp aus der »Zweiseitigkeit« des Menschen: Als endliches Wesen ist er »Vergang« und von Gott getrennt; sofern aber die Möglichkeit einer Erlösung besteht, »müssen wir doch wohl nicht bloß Vergang sein, sondern selbst, und zwar ganz als das, was wir wesenhaft sind, am Ewigen irgendwie teilhaben«129. Natorp wirft Gogarten vor, letzteren Aspekt vernachlässigt zu haben, obwohl er sich nicht nur aus der Möglichkeit einer Erlösung, sondern auch aus dem Gedanken der Gotteskindschaft zwingend ergebe: »Kindschaft ist nicht etwas, das nachträglich aufgeprägt werden kann, sondern sie muß ursprünglich sein. Nicht sie, nur das Bewußtsein von ihr, kann uns verloren gehen, und dann wiedergewonnen werden.«130 Es ist dieser Gedanke eines ursprünglichen Einsseins des Menschen mit Gott, aktuell nicht bewußt, doch im innersten Kern der Seele weiterbestehend, der für Natorp nicht nur den »unverlierbaren Kerngedanken des Christentums« darstellt,131 sondern der hinter seiner gesamten späten Religionsphilosophie steht.132 Er ermöglicht erst die 126

Zit. Holzhey [1986 b], 475. Natorp [1918 b], 128. 128 A.a.O., 144. 129 Natorp [1958], 406. 130 Ebd. 131 Vgl. Natorp [1918 a], 78. 132 Ygi Natorp [1920], 171 (Der Logos erschien, »um den Menschen selbst zum Bewußtsein seiner Gotteskindschaft, ja seines ursprünglichen Einsseins mit Gott zu erlösen«.); ders. [1961], 508 (Religion bedeutet »die 'Wiederknüpfung' des Bandes, das - im Grunde nur scheinbar, für das getrübte Bewußtsein des seinem 127

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Identifikation Gottes mit dem Überendlichen der Mathematik (sofern nämlich der »Zweiseitigkeit« des Menschen die Doppelgesichtigkeit Transzendenz und Immanenz - Gottes korreliert, die wiederum mit dem Schillern des mathematischen Grenzbegriffs parallelisiert werden kann). In der Gemeinsamkeit dieses Gedankens ist die oft beobachtete Nähe der Spätphilosophie Natorps zur Mystik begründet. Natorp schließt sich besonders an Meister Eckhart an, dessen Sätze er immer wieder zitiert.133 Wenn Natorp Religion als »radikale Kulturkrisis« interpretiert, so korrespondiert dem Eckharts Forderung eines »Entwerdens«; wenn dagegen die Immanenz des Göttlichen von Natorp hervorgehoben wird, so hat dies sein Pendant in Eckharts Rede vom göttlichen Seelenfunken. Wie verhält sich nun die Konzeption einer »Religion auf der Grenze« zur »Religion innerhalb der Grenzen der Humanität«? Gerade im zuletzt Genannten, dem Finden des Göttlichen im innersten Kern des Menschen, seinem Seelengrund, besteht Kontinuität zwischen Natorps früher und später Religionsphilosophie. Die Differenz zeigt sich in der Frage eines Transzendenzbezugs der Religion. Während dieser von Natorp zunächst abgelehnt wurde, gesteht der späte Natorp der Religion durchaus ein allerdings nicht »dogmatisches« - »Transzendieren« zu.134 Religion besteht nun nicht mehr in der reinen subjektiven Innerlichkeit des Gefühls, sondern sie steht für den Wechselbezug von Seele und Gott - einem Gott, der als das Überendliche und Absolute den Menschen umgreift, ob dieser darum weiß oder nicht.135

133

134 135

Ursprung innerlich entfremdeten Endlichen - zerrissen, durch das aber, nach der letzten Wahrheit der Sache, es im Ueberendlichen, Totalen [...] ewig gehalten ist«.). Nicht zufallig wird Eckhart von Natorp für seine Schrift »Die Seele des Deutschen« neben Luther als Repräsentant »deutschen Glaubens« ausgewählt (vgl. Natorp [1918 b], 59-83). S. o. S. 153. Vgl. Natorp [1958], 402 (s. u. S. 159).

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Grundelemente der Philosophie Paul Natorps

3.2. Die anti-subjektivistische Erkenntnistheorie Spätestens seit dem Aufkommen von Erkenntnistheorie als eigener philosophischer Disziplin - im Grunde noch länger, wenn man nämlich die erkenntnistheoretischen Positionen Platons und der Sophisten vergleicht - ist die Frage nach dem bestimmenden Faktor beim Zustandekommen menschlicher Erkenntnis kontrovers. Ist es das (menschliche) Subjekt oder das Objekt der Erkenntnis? Der Marburger Neukantianismus vertritt entschieden die zweite Variante, was letztlich nur die Kehrseite des oben136 angesprochenen Marburger Anti-Psychologismus bildet. Wenn letzterer in dieser Untersuchung als Aspekt der Philosophie Cohens, der Anti-Subjektivismus hingegen im Natorp gewidmeten Kapitel zur Darstellung kommt, so liegt dies nicht an inhaltlichen Differenzen der beiden Protagonisten, sondern schlicht daran, daß Cohen sich häufiger und dezidierter gegen den Psychologismus als ganzen gewendet hat, während Natorp wiederum »lieber objective und subjective Begründung der Erkenntniss« eigens einen Aufsatz veröffentlicht hat.137 Bevor jedoch auf die eigentliche Argumentation dieses Aufsatzes eingegangen werden kann, muß ein Problem ausgeräumt werden: Eine »anti-subjektivistische Erkenntnistheorie« scheint der oben138 als allgemein neukantianisch behaupteten Betonung der »Subjektkomponente im Erkenntnisvorgang« zu widersprechen. Natorp hat dieses Problem gesehen und daher die Alternative, um die es ihm geht, genauer bezeichnet.139 Mit dem Objektivismus der Marburger Schule ist keine Repristination eines naiven Realismus, der das erkenntnistheoretische Subjekt passiv dem unabhängig von ihm subsistierenden Objekt gegenüberstellt, gemeint. Die »Kopernikanische Wende« Kants, wonach sich der Gegenstand nach der Erkenntnis richten soll, wird von Natorp (und Cohen) als selbstverständlich vorausgesetzt. Insofern herrscht auch bei ihnen die »Subjektkomponente« vor. Die eigentlich interessierende Alternative ergibt sich nun jedoch daraus, daß »Erkenntniss [...] den Gegenstand sich gegenüber als unabhängig von der Subjectivität des Erkennens 136

137 138

139

S. 2.4. Vgl. Natorp [1887]. S. S. 45. Vgl. zum Folgenden Natorp [1887], 268f.

Die anti-subjektivistische Erkenntnistheorie

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[stellt]«140. Erkenntnis »stellt sich von vornherein zweiseitig dar: als 'Inhalt1 (Erkanntes oder zu Erkennendes) und als Thätigkeit' oder Erlebniss des Subjects (als Erkennen)«141. Aus dieser, erkenntnisimmanenten Zweiseitigkeit folgt die Fragestellung für eine Erkenntnistheorie, die das die Erkenntnis bestimmende Gesetz der Gegenständlichkeit sucht: ob dieses nämlich »ausschließlich in dem (auf den Gegenstand zu beziehenden) Inhalte der Erkenntniss liegen und daraus erwiesen werden muss, ohne dass auf das Verhalten zum Subject überhaupt Rücksicht zu nehmen wäre; oder ob vielleicht gerade im Verhältniss zum Subject der gesetzmässige Grund der Gegenständlichkeit ursprünglich gesucht werden muss, und etwa bloss secundärer Weise, sofern der Erkenntnissinhalt dadurch irgendwie mitberührt wird, auch an diesem sich erkennen lässt«142. In dieser Frage nahmen die Marburger den ersten, objektorientierten Standpunkt ein, was allerdings auch schon eine Distanzierung von anderen Spielarten des Neukantianismus, namentlich von dessen früher, »physiologischer« Variante, bedeutete, während andererseits an diesem Punkt zur Phänomenologie Husserls Verwandtschaft besteht.143 Natorps Argumentation für diesen Standpunkt verläuft im wesentlichen in zwei Schritten. Zunächst wird gezeigt, warum eine subjektivistische Begründung der Erkenntnis nach Natorps Meinung unmöglich ist: Die Erkenntnistheorie - für Natorps Standpunkt des »reinen« Denkens identisch mit Logik - würde sich damit in Abhängigkeit von einer anderen Wissenschaft, der Psychologie, begeben, was ihrem fundamentalen Charakter widerstreitet.144 Dieses Argument wird von Natorp im folgenden noch generalisiert: »[NJicht bloss der Sinn der Logik, sondern der Sinn aller objectiven Wissenschaft [wird] verkannt und beinahe in sein 140 141 142

143

144

A.a.O., 269. A.a.O., 260. A.a.O., 260f. Daß es Erkenntnistheorie als Wissenschaft mit dem Gesetz der Gegenständlichkeit zu tun hat, setzt Natorp voraus (vgl. a.a.O., 259f.). Natorp hat die »Logischen Untersuchungen« Husserls insgesamt positiv aufgenommen. Die Kritik Cohens und Natorps an Husserl besteht darin, daß sie jeglichen dem Denken vorgegebenen, nicht durch es erst konstituierten (Denk-)Inhalt ablehnen und Husserl auf dieser Basis des oben beschriebenen naiven erkenntnistheoretischen Realismus beschuldigen (vgl. Cohen [1977], 56f.; Natorp [1958], 298). Vgl. Natorp [1887], 264f.

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Grundelemente der Philosophie Paul Natorps

Gegentheil verkehrt, wenn man die objective Wahrheit der Erkenntniss zur Dependenz des subjectiven Erlebnisses macht«145. Objektive Wissenschaft fordert autonome Begründung, »unabhängig von der Subjectivität des Erkennens«146. In einem zweiten Schritt, der den größten Teil von Natorps Ausführungen einnimmt, folgt auf diese apagogische Beweisführung für die »objektive« Erkenntnisbegründung (Unmöglichkeit des Gegenteils) der Versuch, positiv ihr notwendiges Gefordertsein nachzuweisen. Den Ausgangspunkt bildet die schon oben genannte These, wonach das Subjekt sich den Gegenstand als von sich unabhängig gegenüberstellt. D. h. aber: Es abstrahiert von sich; im Begriff des Gegenstands ist eine Abstraktion von der Subjektivität gefordert.147 Diese Abstraktion bedeutet positiv eine Reduktion des Gegenstands auf das Gesetz, auf »die beharrende Einheit, worin die wechselnde Mannigfaltigkeit der Erscheinung gedanklich geeint und festgestellt wird«148. Die Subjektivität reduziert sich demgegenüber auf das einzelne Erscheinungsmoment. Somit ergibt sich als geklärter Sinn von subjektiver und objektiver Seite der Erkenntnis: »das Erscheinen als solches (oder das unmittelbare Gegebensein der Erscheinung im Erlebniss des Bewusstseins) und die Reduction aufs Gesetz (die Objectivirung der Erscheinung)«149. Nun bildet aber nach Natorp das konkrete Einzelne nicht, wie die Positivisten glauben, den Anfang der Erkenntnis, sondern es bleibt notwendig immer Problem, da jede begriffliche Bestimmung »aus dem Standpunkte des Allgemeinen«150 erfolgt, also objektivierend ist. Damit ist der gewünschte Beweis für die Priorität des Objektiven gegenüber dem Subjektiven erbracht. Es soll hier nicht weiter die Schlüssigkeit der Natorpschen Argumente überprüft werden. Wichtig ist jedoch die Konsequenz, die mit dieser objektorientierten Erkenntnistheorie gegeben ist. »Im Gegenstande, in der Sache, die als wahr behauptet wird, soll dasjenige liegen, was die Wahr145

146 147 148 149 150

A.a.O., 265. Die Möglichkeit eines Rekurses auf die Subjektivität, ohne der Zufälligkeit »subjektiver Erlebnisse« anheimzufallen (etwa als Intersubjektivität), wird von Natorp nicht erwogen. A.a.O., 267. Vgl. a.a.O., 271. Ebd. Zur Gleichsetzung von Gegenstand und Gesetz bei Cohen s. o. S. 72. Natorp [1887], 274. A.a.O., 281.

Die anti-siibjektivistische Erkenntnistheorie

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heit der Erkenntniss ausmacht, ganz unabhängig von dem Gegebensein einer dieser Sache gemässen Vorstellung als subjectivem Erlebniss in diesem oder jenem Bewusstsein.«151 D. h.: »Erlebnis« wird zu einer defizienten Kategorie; ein Rekurs auf das Subjekt und seine Erlebnisse, auf den konkreten Vollzug bestimmter Erkenntnisse trägt in der Frage nach deren Wahrheit nichts aus. Erkenntnis muß objekt-autonom, ohne Rücksicht auf das individuelle Subjekt, begründet werden.152 Diesen »Objektivismus« hat Natorp zeitlebens beibehalten. So heißt es in der »Sozialpädagogik«, daß sich Wahrheit oder Falschheit von Vorstellungen »[njicht aufs tatsächliche Sodenken oder dessen tatsächliche Bedingungen« gründen, sondern nur auf den »Inhalt des Gedachten« komme es an, »überhaupt ohne Rücksicht auf das Denkgeschehen oder den Denkvollzug«.153 Ganz im Duktus dieser Auffassung liegen folgende Sätze aus der »Philosophischen Systematik«, auch wenn sie zweifellos unter dem Einfluß der Dialektischen Theologie geschrieben sind: »Nenne man es [sc. das Jenseitige] denn mit dem allgemein geläufigen Namen 'Gott1, und verstehe man auch diesen Namen lediglich im Sinne einer Frage, nicht einer Antwort. Vermutlich ist beides gleich falsch; vermutlich handelt es sich hier gar nicht mehr um eine Frage, welche Antwort heischt, sondern um einen Ja-Spruch oder einen Nein-Spruch, der erfolgt, ob nun danach gefragt wird oder nicht; der über uns entscheidet, vielmehr von Ewigkeit entschieden hat, ohne Frage, ob wir uns an den Scheideweg gestellt wußten oder nicht. Auch von 'Glauben1 möchte eben deswegen hier nicht zu reden sein, es wäre denn in dem sehr ironischen Sinne des 'Daranglaubenmüssens', d. h. Keine-Wahl-habens. Schroff gesagt: gar nicht um 'uns', unser Erkennen oder Glauben oder Wollen und Verlangen, um irgend etwas, das von uns ausginge und wobei wir irgend etwas zu sagen hätten, ist es hier zu tun; sondern um uns nur, sofern über uns das Los geworfen wird.«154 Ebenfalls eine Konsequenz von Natorps erkenntnistheoretischem Anti-Subjektivismus dürfte es sein, wenn er in seiner letzten veröffentlichten Äußerung, einem 151 152

153 154

A.a.O., 266. Konkret vollzogen wird dann diese autonome Begründung durch die »Methode der Hypothesis« (s. . 2. .3.4.). Natorp [1974], 39. Natorp [1958], 402.

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Grundelemente der Philosophie Paul Natorps

von Hans Prager mitgeteilten Brief, schreibt: »Ich gestehe, mich hat nichts von dem, was sich Religion nennt, so sehr verscheucht wie die Vordringlichkeit des Ich, das für sich eine Vorzugsstellung zum Göttlichen in Anspruch nimmt und damit im Grunde sich selbst vergöttert.«155

3.3. Natorps Auffassung des »Ursprungs« Für Natorps Auffassung des Cohenschen »Ursprungs« ist zunächst die Interpretation im Sinne des eigenen logischen Grundprinzips der »synthetischen Einheit« bezeichnend: Der »Ursprung« wird zur »Ursprungseinheit«; betont Cohen mehr die Bedeutung des »Ursprungs« als punktuelles Zentrum der Erkenntnisentwicklung, so Natorp die Funktion als »Inbegriff«, der den ganzen Erkenntnisprozeß durchwaltet. Da über diese (Um-)Deutung bereits gehandelt wurde,156 kann hier gleich zur Frage übergegangen werden, in welchem Sinn der späte Natorp vom »Ursprung« spricht. Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Wie in vielem präsentiert sich auch hinsichtlich des »Ursprungs« das Spätwerk Natorps unausgeglichen, ja widersprüchlich. Zwar finden sich etliche Belege für das Kompositum »Ursprungseinheit«,157 was für ein Festhalten an der in »Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften« vorgetragenen Interpretation des »Ursprungs« spricht, doch ist daneben auch vom »Zentrum des Ursprungs«158 und vom »Urpunkt«159 die Rede, was in die von Natorp zuvor abgelehnte Richtung zu deuten scheint. Gewissen Aufschluß gibt die einzige längere über den »Ursprung« handelnde Passage der »Philosophischen Systematik«.160 Hier figuriert der »Ursprung« zunächst ganz im Sinne der bereits bekannten Auffassung Natorps als »Ursprungseinheit«, als »Allkontinuität«, als der Be155 156 157

158 159 160

Zit. Prager, 188. S.o. S. 136-141. Vgl. Natorp [1917], 429; ders. [1918 c], 25; ders. [1921 b], 173; ders. [1958], 192; 241; 310. Natorp [1961], 472. Natorp [1920], 249; ders. [1921 b], 163. Vgl. zum Folgenden Natorp [1958], 310-313.

Natorps A uffassung des » Ursprungs«

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ziehung zugrunde liegende Einheit.161 »Die Einheit, diese Einheit [...] resultiert nicht erst aus dem Mannigfaltigen [um dieses Mißverständnis auszuschließen, spricht Natorp nun nicht mehr von synthetischer Einheit], sondern sie ist ihm gegenüber schlechthin primär. Sie ist durchwaltend durch alles, sie bleibt zu Grunde liegend auch in allen Spaltungen.«162 Mit ihr ist »das Prinzip aller Prinzipien« gefunden, »welches nicht bloß den Anfang, sondern den Ursprung besagt«.163 Zwar erwähnt Natorp in diesem Kontext auch einen »Punkt des Ursprungs«, doch handelt es sich dabei, da es »keine logischen Punkte anders als ewig hervorgehend im Zuge des Werdens« gibt, nur um eine andere Bezeichnung der »Durchgangs- und Wendepunkte«, die aus dem Kontinuum der logischen Setzungen »sich herausheben, ohne den Fluß selbst je wirklich zu unterbrechen«.164 Nur eine Seite später jedoch, am Ende seiner Ausführungen über den »Ursprung«, spricht Natorp in einer ganz anderen Bedeutung vom »Punkt des Ursprungs«: als »Zentralpunkt des Logischen«, als »Koinzidenzpunkt«, von dem »die Scheidung ausgehen« und in dem alle logische Entwicklung »wieder anlangen« muß.165 Da die beiden widersprüchlichen Aussagereihen so dicht beieinanderstehen, bleibt keine andere Erklärungsmöglichkeit - und dies ist der gewisse Aufschluß, von dem oben die Rede war - als die, daß der »Ursprung« nun tatsächlich beides für Natorp ist: durchwaltendes Prinzip der logischen Entwicklung wie auch der Punkt, von dem diese ausgeht und in den sie wieder, aber sich ständig steigernd, zurückstrebt. Man könnte auch sagen: In Natorps Spätphilosophie ist der »Ursprung« der Entwicklung zugleich immanent und transzendent. Dieser Befund ist in zweifacher Hinsicht interessant. Zum einen manifestiert sich darin eine Annäherung Natorps an den Cohenschen »Ursprung«, für den diese Duplizität von Anfang an bezeichnend ist.166 Zum anderen fällt die Parallele zu Natorps Konzept des »Überendlichen« ins Auge, das gleichfalls durch die Duplizität von Immanenz und Transzen161 162 163

164 165 166

Vgl. a.a.O., 310f. A.a.O., 311. A.a.O., 312. Ebd. A.a.O., 313. S. 0.2.2.1.

162

Grundelemente der Philosophie Paul Natorps

denz gekennzeichnet ist.167 Diese Parallele wird dadurch noch deutlicher, daß beide - »Ursprung« und »Überendliches« - von Natorp mit Gott gleichgesetzt werden können.168 Alle drei Begriffe sind letztlich für den späten Natorp Metaphern des »Logos selbst«, als dessen Auslegung das Programm der »Allgemeinen Logik« sich versteht. So wie alle Gegensätze - s. u. - fallen in diesem auch Transzendenz und Immanenz zusammen: »Der haltbare Sinn der Transzendenz1 ist das platonische Epekeina des 'Logos selbst1. Diese ganz logisch gegründete Transzendenz ist zugleich Immanenz; Transzendenz nur gegenüber allem bloß im Werden Seienden; transzendental aber als Welt und Seele begründend, begrenzend, in dieser Begründung und Begrenzung aber voll bejahend.«169

3.4. Der Gedanke der coincidentia oppositorum beim späten Natorp Die Denkfigur der Koinzidenz ist für die Spätphilosophie Natorps von großer Bedeutung. Diese Bedeutung klang oben bereits an, wenn Natorp den »Ursprung« mit dem »Koinzidenzpunkt« gleichsetzt. Und wenn Natorp »den Heraklitischen Satz vom Einen, das sich mit sich selbst entzweien muß, um mit sich selbst wieder zusammenzugehen«, als Grundgesetz des Logischen bezeichnet,170 so ist auch darin der Gedanke der Koinzidenz mitgedacht, ja es handelt sich faktisch um das gleiche Gesetz, das von Natorp an anderer Stelle als »Koinzidenzgesetz« zum »letzten Gesetz[] des Logischen« erklärt wird.171 Denn dem »logischen Dreischritt: Setzung, Gegensetzung, Ineinssetzung« (der als »Dreiphasengesetz« in der »Philosophischen Systematik« eben das logische Grundgesetz repräsentiert) entspricht »die Dreiheit der Momente: Indifferenz, Differenzierung, Koinzidenz«.172 In diesem Dreischritt ist das 167

S. o. 3.1.5.2. 168 pür jag »überendliche« s. o. S. 152, für den »Ursprung« vgl. Natorp [1921 c], 9; 26; ders. [1961], 508. 169 Natorp [1980], 264. 170 S. o. S. 145. 171 Vgl. Natorp [1921 b], 172. 172 A.a.O., 173.

Coincidentia oppositorum beim späten Natorp

163

dritte Moment eigentlich das erste, denn: »Koinzidenz ist nicht hinterherkommende Synthese, Integrierung, Integral, sondern ursprüngliche Integrität, vor aller und über aller Scheidung.«173 (So erklärt sich Natorps Rede vom »Ursprung« als »Koinzidenzpunkt«.) Da die Koinzidenz noch vor jeglicher Setzung und Gegensetzung liegt, trifft sie den Urzustand des »Logos selbst«, »der noch diesseits Ja und Nein, Sein und Nichtsein liegt«174. Wie schon beim »Überendlichen« versucht Natorp auch hier, das Gemeinte über den Begriff der Grenze verständlich zu machen: »Die Grenze nämlich ist in sich zweiseitig, scheidend zugleich und einend. In ihr koinzidieren die Bereiche, die sie zugleich gegeneinander sondert, indem sie zugleich beiden, damit aber keinem von beiden, sofern er den anderen ausschließt, angehören will. [...] Die Grenze ist zweigesichtig wie Janus, der Gott des Anfangs, des Neuanhebens; sie ist über dem Gegensatz [,..].«175 Die Grenze symbolisiert also den Anfang, die ursprüngliche Einheit, aus der der ganze Prozeß des Logischen hervorgeht und in die er - freilich ohne je wieder kreisförmig in den Anfang zurückzukehren - stets zurückstrebt. In diesem »Ursprung« - denn um nichts anderes als den »Ursprung« im Sinne Cohens handelt es sich hier - sind die Gegensätze, in denen sich dieser Prozeß vollzieht, noch ungetrennt zusammen. Um dieses Einssein, das die den ganzen Prozeß tragende Spannung der Gegensätze bereits latent in sich enthält, adäquat zum Ausdruck zu bringen, greift Natorp auf die von Cusanus geprägte Wendung von der »Koinzidenz der Gegensätze« zurück.176 Natorp nennt allerdings als Vorbild bei diesem Gedanken weniger Cusanus als Heraklit,177 dessen Einfluß auf die Spätphilosophie Natorps generell nicht zu unterschätzen ist.

173 174

175 176 177

Ebd. Zur Kritik des späten Natorp am Begriff der Synthesis s. auch o. S. 145. Natorp [1921 b], 171. Ebd. Vgl. Natorp [1921 b], 161; 170; ders. [1958], 374; ders. [1961], 490f. Vgl. vor allem Natorp [1961], 465-467.

4. Grundelemente der frühen Philosophie Heinrich Barths1 4.1. Grundlagen 4.1.1. Leben Der am 3. Februar 1890 geborene Heinrich Barth2 studierte in Bern, Marburg und Berlin Philosophie und Altphilologie. Er promovierte 1913 in Bern. Nach einem Intermezzo ab 1918 als Lehrer an der Höheren Töchterschule in Basel, wo er fortan lebte, setzte er seine wissenschaftliche Laufbahn 1920 mit der Habilitation ebendort fort. 1928 wurde er außerordentlicher, 1942 ordentlicher Professor. Dazwischen lag 1929 seine Vermählung mit der Verlegerstochter Gertrud Helbing. Heinrich Barth starb am 22. Mai 1965 in Basel.3

Als Frühzeit Heinrich Barths gilt hier der Zeitraum zwischen 1913 und 1921. Die Beschränkung auf diese Jahre ergibt sich daraus, daß logischerweise nur Schriften aus dieser Zeit in Karl Barths erstem und zweitem »Römerbrief« rezipiert worden sein können. Äußerungen Heinrich Barths aus späterer Zeit werden im folgenden nur gelegentlich herangezogen. Es ist ein methodischer Fehler, wenn Marquardt (s. o. S. 18; s. auch u. S. 385 Anm. 46 zu McLelland) zum Vergleich mit der »Tambacher Rede« die erst 1927 erschienene »Philosophie der praktischen Vernunft«, die ein fortgeschrittenes Stadium der denkerischen Entwicklung Heinrich Barths repräsentiert, heranzieht (so auch Beintker [1987], 225; Ruschke, 118 Anm. 18). Wenn Walker (vgl. ders., 111 Anm. 107) und Härle (vgl. ders. [1981], 692) Heinrich als älteren Bruder Karl Barths, der bekanntlich 1886 geboren wurde, bezeichnen, so kann dies nur ein Versehen sein. Vgl. zu dieser Vita vor allem Gürtler, 257, außerdem K. Barth - M. Rade, 81 Anm. 2; K. Barth - E. Thurneysen [1987], 677 Anm. l (jeweils Anmerkungen des Herausgebers); Busch [1986], 194.

Grundlagen

165

4.1.2. Werk Die Herkunft Heinrich Barths aus dem Kritischen Idealismus Marburger Prägung verrät sich bereits durch die Themen seiner drei ersten größeren Veröffentlichungen: Seine Dissertation behandelte - wie die Habilitationsschrift Natorps - die Erkenntnistheorie Descartes', die Habilitationsschrift befaßte sich mit der Seelenlehre Platons, die »Philosophie der praktischen Vernunft« von 1927 stellt - in Auseinandersetzung mit anderen zeitgenössischen ethischen Ansätzen und Deutungen Kants eine großangelegte Interpretation der praktischen Philosophie Kants dar. Diese drei Schriften markieren nach Gerhard Huber eine erste Epoche in Heinrich Barths philosophischer Entwicklung: die des »eigentlichen kritischen Idealismus«.4. Auf sie folge - sich abzeichnend in der KantSchrift, unabhängig von und in kritischer Auseinandersetzung mit Heidegger - die Ausarbeitung von »Prinzipien einer transzendental begründeten Existenzphilosophie«5. Wichtigster Beitrag dieser zweiten Epoche, »in der nichts, was in der ersten erworben worden war, preisgegeben wird«6, ist das 1935 erschienene Buch »Die Freiheit der Entscheidung im Denken Augustins«. Als Hauptwerk Heinrich Barths gilt die zweibändige »Philosophie der Erscheinung« (1946/59), die nach Huber die in den 40er Jahren beginnende, dritte und abschließende Phase seines Denkens - mit der Überschrift: »Philosophie der Existenz als Philosophie der Erscheinung«1 - bezeichnet. Mit den fünf genannten Arbeiten sind bereits alle größeren Werke Heinrich Barths, dessen Publikationstätigkeit sich ansonsten auf Zeitschriftenaufsätze und Vorträge beschränkte, aufgezählt. Das Korpus der Schriften aus dem hier zu untersuchenden Zeitraum umfaßt außer der Dissertation und der Habilitationsschrift noch den 1919 in Aarau gehaltenen Vortrag »Gotteserkenntnis« und die Basler Antrittsvorlesung »Das Problem des Ursprungs in der platonischen Philosophie« aus dem November 1920.

4 5

6 7

Huber, 200. A.a.O., 202.

Ebd. Ebd.

166

Grundelemente der frühen Philosophie Heinrich Barths

4.1.3. Die grundsätzlichen Übereinstimmungen zwischen Heinrich Barth und dem Marburger Neukantianismus In einer autobiographischen Vorbemerkung zu einem Aufsatz schreibt Heinrich Barth 1953: »Meine grundlegende akademische Belehrung habe ich - in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg - in der sog. 'Marburger Schule1 erhalten. Hermann Cohen und Paul Natorp waren meine Lehrer.«8 Auch in der Nachkriegszeit sei er »der in der Marburger Schule damals am besten vertretenen klassischen Philosophie treu geblieben freilich nicht ohne diese Linie weiter und weiter zu führen bis zu Ergebnissen, die mit den Ausgangspunkten scheinbar wenig zu tun haben«9. Zwar muß aufgrund der Entwicklung von Heinrich Barths Denken hin zu einer eigenständigen Variante der Existenzphilosophie letztere Einschränkung unterstrichen werden,10 doch für seine hier allein interessierende Frühzeit kann in Konsequenz dieser autobiographischen Notiz eine weitgehende Abhängigkeit von der Philosophie des Marburger Neukantianismus vermutet werden. Die frühen Texte Heinrich Barths bestätigen eine solche Vermutung. Schon im Vortrag »Gotteserkenntnis« nennt er neben anderen Denktraditionen auch die Marburger Schule als Grundlage der Betrachtung.11 Eine genauere Untersuchung des Frühwerks Heinrich Barths (bis 1921) führt auf eine Fülle von Parallelen zu den Gedanken Cohens und Natorps. 8

9 10

1!

H. Barth [1953], 101. Schon in der Einleitung der »Philosophie der praktischen Vernunft« bezeichnet Heinrich Barth Cohen und Natorp als seine Lehrer (vgl. H. Barth [1927], 4). Sich selbst nennt er ebd. ironisch »einen augenscheinlich verspäteten Nachzügler der sog. Marburger Schule« und bekennt sich dazu: »In der Tat liegt der Ausgangspunkt des Verfassers im 'kritischen Idealismus1, wie er in jener Schule gelehrt wurde« (ebd.). H. Barth [1953], lOlf. Einen Abriß der Philosophie Heinrich Barths und ihrer Entwicklung gibt der oben bereits zitierte Text von Gerhard Huber. Vgl. außerdem den die Ausführungen Hubers ergänzenden Beitrag von Hauff, der vor allem durch die darin enthaltenen zuvor ungedruckten Äußerungen Heinrich Barths von großer Wichtigkeit ist. Vgl. H. Barth [1919], 225: »Bei Plato, in der christlichen Gedankenwelt, im Rationalismus, bei Kant und Fichte, in der Marburger Schule finden Sie ohne weiteres die Grundlagen des hier vertretenen Standpunktes.«

Grundlagen

167

Wie die beiden geht Heinrich Barth von der Position des »reinen«, »ursprünglichen« Denkens aus:12 Der Gegenstand der Erkenntnis ist dieser in keiner Weise vorgegeben13, sondern wird von ihr erst konstituiert14; daher ist er kein »Ding«15, sondern »unendliche Aufgabe«16; es besteht eine dynamische »Korrelation von Denken und Sein«17. Gleichfalls gemeinsam sind die sich aus dieser erkenntnistheoretischen Grundposition ergebenden Antithesen. Die für den gesamten Neukantianismus charakteristische doppelte Frontstellung einerseits gegen Materialismus, Empirismus und Positivismus, andererseits gegen die traditio12

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17

Vgl. zur Wendung »reines Denken« H. Barth [1913], 52; ders. [1921 a], 68; 75; 121; 154; 183; 235; ders. [1921 b], 12. Zum »Ursprung« s. u. 4.3. Die Polemik gegen die (positivistisch-empiristische) Rede vom »Gegebenen« der Erkenntnis fallt bei Heinrich Barth ähnlich scharf aus wie bei Cohen und Natorp. Dies zeigt sich schon allein darin, daß er als »das bewegende Moment eines platonisch gerichteten Idealismus«, also als entscheidendes Merkmal der für das eigene Denken vorbildlichen Philosophie, die »kritische Negation der gegebenen Elemente und Inhalte« bestimmt (H. Barth [1921 a], 157). Ganz analog dazu heißt es in der Dissertation von 1913: »Der kritisch-idealistische Begriff des Erkennens zeichnet sich dadurch vor ändern philosophischen Erkenntnisbegriffen aus, dass er die Begründung und Beglaubigung der Erkenntnis nirgends anders als in ihrem eigenen Prinzipe findet. Jede dogmatische Gegebenheit, aus der sich das Erkennen erst herleiten sollte, um dann mit ändern Gegebenheiten in Beziehung gesetzt zu werden, muss von diesem Standpunkte aus streng abgelehnt werden« (H. Barth [1913], 79). Für weitere Belege s. u. 4.2. die Zusammenfassung des Vertrags »Gotteserkenntnis«, der aus der Oppositon gegen das »Gegebene« seine ganze Kraft schöpft. Vgl. H. Barth [1913], 13 (»'Ding' oder Gegenstand ist nur das, was durch die reine Erkenntnis als solchen [sie] konstituiert wird.«); ders. [1919], 237 (»[...] weil der wahre Inhalt erst durch das Gesetz zu erzeugen ist [...]«). Allerdings tritt dieser konstitutionsidealistische Aspekt bei Heinrich Barth gegenüber seiner Betonung bei Cohen und Natorp auffällig zurück (s. u. S. 196). Zur Kritik Heinrich Barths an der »Welt der Dinglichkeit« (H. Barth [1921 b], 10) s. wiederum u. zu »Gotteserkenntnis«. Vgl. zu dieser für die Marburger Schule typischen Wendung H. Barth [1921 a], 295 Anm. 1: »[D]as Objekt der Forschung, die 'Natur' ist die unendliche Aufgabe, die in der Totalität ihrer Beziehungen fortschreitend begriffen wird und doch niemals adäquat erfaßt werden kann.« Vgl. H. Barth [1913], 18; 67; 88; ders. [1921 a], 96; 268f. Zum »Dynamismus« Heinrich Barths vgl. außer der letztgenannten Stelle noch ders. [1921 b], 11, und Hauff, 34-36 (»Bewegung« als zentraler Gedanke Heinrich Barths).

168

Grundelemente der frühen Philosophie Heinrich Earths

nelle Metaphysik wird von Heinrich Barth übernommen, wobei das tertium comparationis der gegenüber allen diesen Standpunkten erhobene Vorwurf eines zu starken Haftens am »dinglich Gegebenen« bildet.18 Eine weitere Parallele zwischen Heinrich Barth und der Marburger Schule besteht in dem, was oben19 als »anti-subjektivistische Erkenntnistheorie« bezeichnet wurde, d. h. in der Parteinahme für eine »autonome«, von den Zuständlichkeiten des Erkenntnissubjekts abstrahierende Begründung der Erkenntnis.20 Kennzeichnend ist folgende Passage aus der Dissertation Heinrich Barths: »So konsequent einerseits die Voraussetzung von fertigen Objekten aller Erkenntnis abgewiesen werden muss, so wenig darf die Kritik andererseits bei jener 'Umwendung zum Subjekt1 stehen bleiben, die oft mit Unrecht als der eigentliche Gehalt der kritischen Philosophie hingestellt wird. So lange die Erkenntnis im Subjekt und der 'Struktur seines Bewusstseins' begründet wird, setzt sie nicht nur den Subjektsbegriff in dogmatischer Weise voraus, sondern sie verflüchtigt und verflacht die Erkenntnis von hier aus leicht zum Produkt meiner 'physisch-psychischen Organisation' oder gar zur blossen 'Gehirnfunktion'; mit diesen Formulierungen aber beraubt sich der Erkenntnisbegriff seiner eigentümlichen, schlechthin primären Geltung. Die Korrelation des Subjekts zu einem allgemeinen Objekt, zwischen welchen beiden die Erkenntnis erst in eine konstruierte Beziehung gesetzt werden soll, muss in ihrem metaphysischen und dogmatischen Charakter erkannt werden. Nicht in einem gegebenen Subjekte, sondern allein in ihrem eigenen Begriffe muss die Erkenntnis begründet werden. Nicht auf die Beschaffenheit 'unseres Bewusstseins1 kann die Geltung eines wissenschaftlichen Prinzipes zurückgeführt werden; es beglaubigt sich nur damit, dass es als notwendiges Glied im System der Wissenschaft er18

19

20

S. u. S. 174f. Die Metaphysik wird von Heinrich Barth allerdings - wie von anderen neukantianischen Philosophen auch (s. o. S. 50) - nicht pauschal abgelehnt (s. u. S. 191f.). S. 3.2. Van Teylingens These von einem grundlegenden Subjektivismus bei Heinrich Barth und der Marburger Schule (s. o. S. 14) ist nur nachvollziehbar, wenn für van Teylingen, wie es den Anschein hat (vgl. ders., 11; 22f), die Gleichung Idealismus = Nominalismus = Subjektivismus besteht. Diese Gleichung ist jedoch falsch. Heinrich Barth und die Marburger Schule sind zwar Idealisten, aber keine Subjektivisten.

Grundlagen

169

wiesen wird, dass es allgemein ein Prinzip reiner Erkenntnis ist. Diese wahre 'kritische Umwendung1 muss aber in voller Schärfe durchgerührt werden, wenn der logische Idealismus rein herausgearbeitet werden soll.«21 Bemerkenswert ist an diesen Sätzen vor allem zweierlei. l. An die Stelle des »dogmatischen« Objektivismus - direkt vorausgegangen war die oben22 zitierte Ablehnung einer Begründung der Erkenntnis im »Gegebenen« - darf kein ebenso »dogmatischer« Subjektivismus treten. Es besteht kein Zweifel, welche philosophische Richtung mit den Schlagworten von der »Struktur seines Bewusstseins«, der »physisch-psychischen Organisation« und der »Gehirnfunktion« gemeint ist: der Psychologismus in seinen verschiedenen Varianten (wie etwa dem frühen, »physiologischen« Neukantianismus eines Friedrich Albert Lange, auf den das Stichwort von der »physisch-psychischen Organisation« gemünzt sein dürfte)23. Die Vorwürfe gegen den Psychologismus stimmen mit denen Cohens24 überein: dogmatisch vorgegebener Subjektsbegriff; Verflüchtigung und Verflachung, d. h. mangelnde »Reinheit« des Erkenntnisbegriffs; Subjektivität im Sinne fehlender Allgemeingültigkeit (»Produkt meiner [!] 'physisch-psychischen Organisation'«; »Beschaffenheit 'unseres [!] Bewusstseins'«); Unwissenschaftlichkeit25; Relativismus26. Wie stark die Abhängigkeit Heinrich Barths vom Marburger Neukantianismus an diesem Punkt - Anti-Psychologismus - ist, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, daß bei ihm wie bei Cohen und Natorp27 psychologische und historische Begründungen gegenüber der logischtranszendentalen Begründung der Erkenntnis auf eine - und zwar als in21

22 23 24 25

26

27

H. Barth [1913], 79f. (es folgt als Anmerkung ein Hinweis auf Cassirer und Natorp). S. Anm. 13. Zur Bedeutung des Begriffs der »Organisation« bei Lange s. o. S. 61. S. o. 2.4.1. Vgl. H. Barth [1913], 24: »Die Aufmerksamkeit wird [sc. durch Descartes' psychologistischen Begriff des intuitus] abgelenkt von der wissenschaftlichen Methodik und ihrem einheitlich logischen Interresse [sie] auf die subjektiven Vorgänge des erkennenden Bewusstseins, auf die psychologischen Bedingungen des Denkprozesses.« Vgl. H. Barth [1921 a], 112: »psychologisch-relativ«. S. o. 2.4. und S. 135.

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Grundelemente der frühen Philosophie Heinrich Barths

adäquat geltende - Ebene gerückt werden. Bei Heinrich Barth drückt sich dies in der eigentümlichen Wortverbindung »historisch-psychologisch« aus.28 2. Die eigene Position wird durch die Forderung charakterisiert, daß die Erkenntnis »allein in ihrem eigenen Begriffe« begründet werden müsse. Auch hierin stimmt Heinrich Barth im Grundsatz mit der Marburger Schultradition überein, wie sich an zwei Details zeigen läßt: Zum einen entspricht das, was Heinrich Barth über die Beglaubigung eines wissenschaftlichen Prinzips sagt, dem von Cohen zur Frage der Letztbegründung Gesagten.29 Zum anderen wird die von Natorp vorgenommene Übertragung des primär ethischen Begriffs der Autonomie auf die Erkenntnistheorie30 von Heinrich Barth nachvollzogen.31 Alles in allem ergibt sich vorerst32 für die Erkenntnistheorie des jungen Heinrich Barth, daß er in der Tat seinen Lehrern Cohen und Natorp treu geblieben ist - sowohl hinsichtlich des Ausgangs beim »reinen« Denken als auch hinsichtlich der daraus gezogenen Folgerungen. Weniger stark als bei den übrigen Neukantianern fällt bei Heinrich Barth die Orientierung am neuzeitlichen Wissenschaftsbegriff aus. Zwar sieht auch er das eigentliche Interesse der Philosophie in der quaestio iuris und teilt insofern das Marburger Verständnis der transzendentalen Methode Kants.33 Die für Cohen bezeichnende Wendung »Faktum der Wissenschaft« findet sich in seinen Schriften jedoch nicht. Dennoch ist nachweisbar, daß das Ideal einer »wissenschaftlichen Philosophie« auch für den jungen Heinrich Barth leitend war. Anders ist die Versicherung, daß das propagierte kritische Denken »nichts anderes ist als das Denken 28

29

30 31

32 33

Vgl. H. Barth [1919], 247; 253; ders. [1921 a], 5; ders. [1931/32], 111. Die Opposition Heinrich Barths gegen Psychologismus bzw. Subjektivismus zeigt sich auch darin, daß er bestreitet, daß das »cogito« »die Grundlage des Erkenntnisprinzips« Descartes' bildet (vgl. H. Barth [1913], 81; s. u. S. 192). S.o. S. 78-81. S.o. S. 80f. Vgl. H. Barth [1913], 34 u. ö., vor allem aber ders. [1919], 238: »Erkenntnis ist autonom; denn um über die Geltung ihrer Resultate und Thesen zu entscheiden, ist keine andere Rekursinstanz möglich als ihre eigene Gesetzmäßigkeit.« S. aber u. S. 196. Vgl. H. Barth [1921 b], 9: »Allen letzten Prinzipien grundsätzlich übergeordnet ist die logisch-wissenschaftliche Frage nach dem Erklärungsgrunde, nach dem Anrechte auf Einordnung in den theoretischen Zusammenhang.«

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der Wissenschaft«34 nicht zu verstehen. Kritik und Würdigung Descartes' in der Dissertation erfolgen von diesem Ideal aus.35 Ähnlich verhält es sich bei der Deutung Platons, der stellenweise36 ganz in Marburger Tradition als Begründer des (eigenen) Standpunkts des »wissenschaftlichen Idealismus« interpretiert wird: Die Betonung liegt auf dem »wissenschaftlich-methodischen Charakter«37 der Ideenlehre, die Idee ist »Hypothesis«38, ihr »logischer Sinn ist wohl kein anderer als derjenige einer wissenschaftlichen Begründung der empirischen Erkenntnis«39. In diesen Zusammenhang gehört auch der Intellektualismus Heinrich Barths, wie er sich negativ in der Opposition gegen die Lebensphilosophie,40 positiv im schon bei Cohen begegnenden41 Herausheben des Erkenntnischarakters von nicht nur Wissenschaft, sondern auch Sittlichkeit und Religion äußert.42 Damit ist bereits angedeutet, daß auch die ethische und religionsphilosophische Reflexion des jungen Heinrich Barth im Ansatz - und mehr als Ansätze dazu sind den hier zugrundeliegenden Schriften nicht zu entnehmen - in den von Cohen vorgezeichneten Bahnen verläuft. Wichtig ist allerdings, daß Heinrich Barth die Transzendenz der Idee des Guten bzw. Gottes - schon diese Gleichsetzung hat bei Cohen keinen Anhalt stärker betont als seine Lehrer. Davon und von der in dieser Differenz sich manifestierenden eigenständigen Weiterbildung der Gedanken Co34 35 36 37 38 39 40 41

42

H. Barth [1919], 237. Vgl. H. Barth [1913], 29f. S. aber u. S. 183-185. H. Barth [1921 a], 179. Vgl. a.a.O., 184; 299. A.a.O., 291. S. u. S. 176. S. o. S. 98f. Vgl. zur Sittlichkeit H. Barth [1919], 241-243: Aufweis der Notwendigkeit einer philosophischen Ethik als »praktische Erkenntnis« (a.a.O., 242); Cohens Formulierung von der Ethik als »Logik der Sittlichkeit« findet sich H. Barth [1921 a], 96. Vgl. zur Religion H. Barth [1919], 244: »Glaube an Gott« = »Erkenntnis Gottes«. Hintergrund der Dominanz des Erkenntnisbegriffs - die auch später für Heinrich Barth bezeichnend bleibt (vgl. ders. [1953], 103: Existenz existiert »nicht anders als im Horizonte der Erkenntnis«; »Existenz ist Erkenntnis«) - ist die aus Platon entlehnte Auffassung der Seele als primär erkennende Seele (vgl. z. B. H. Barth [1921 a], 53-55).

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Grundelemente der frühen Philosophie Heinrich Barths

hens und Natorps schon von Beginn an wird unten im Zusammenhang mit Heinrich Barths Konzept des »Ursprungs« noch zu sprechen sein. Nur eine Parallele zu Cohen auf dem Gebiet der Ethik soll hier noch genannt werden, weil sie auch bei Karl Barth in ähnlicher Form begegnet. Es handelt sich um die Auffassung der Person als Aufgabe.43 Für Heinrich Barth ist selbstverständlich: Wie alles Geistige darf auch die Seele nicht als statisches »Ding« vorgestellt werden. Ihre Einheit, die Einheit der Person, muß aus dem vordergründigen Zwiespalt von Vernunft und Trieben erst hergestellt werden: »Diese Einheit finden wir nicht als einen seelischen Sachverhalt vor, sondern sie muß sich an eben diesem Sachverhalt erst vollziehen. Die Einheit ist nicht empirisches Faktum, sondern Aufgabe; Seelenleben heißt nichts anderes als das nie abgeschlossene, immer zu vollbringende Lösen dieser Aufgabe, heißt das Werden jener Einheit.«44 »Einheit der Persönlichkeit« ist »niemals im Gegebenen, sondern nur in der Idee zu finden«.45

4.2. Der Vortrag »Gotteserkenntnis« Auch in der Auffassung philosophiegeschichtlicher Forschung befindet sich Heinrich Barth im Einklang mit der Marburger Schule. Wenn er als Aufgabe der Philosophiegeschichte »nicht ein Wiedergeben von Worten, sondern ein Nach- und Mitdenken überlieferter Gedanken« bestimmt und daraus ein »systematisch orientiertefs] historische[s] Verfahren« rechtfertigt,46 so ist dies ganz im Geiste Cohens gesprochen.47 Daher können die primär historisch orientierten, mit der Deutung Platons und Descartes' befaßten Schriften Heinrich Barths mit vollem Recht auch als systematische, die eigene Position wiedergebende Äußerungen gelesen werden. Allerdings ist in ihnen Historisches und Systematisches in eigentümlicher Weise verschlungen. Daher erhält die einzige »nur« systema43 44 45 46

47

S. zu Cohen O.2.3. H. Barth [1921 a], 12. A.a.O., 39f. H. Barth [1913], 29. Vgl. a.a.O., 5f; ders. [1921 a], 1-4. S. o. S. 128f.

Der Vortrag »Golteserkenntnis«

173

tische Arbeit des jungen Heinrich Barth, der auf der Aarauer Studentenkonferenz 1919 gehaltene Vortrag »Gotteserkenntnis«, besonderes Gewicht. Er bildet eine »'Programmschrift'«48 für Heinrich Barths gesamtes späteres Werk. Ein ausführliches Eingehen auf dieses Referat ist im Rahmen der vorliegenden Studie ohnehin unverzichtbar, da Heinrich Barth mit ihm seinen Bruder Karl in der Zeit zwischen der ersten und der zweiten Auflage des »Römerbriefs« erklärtermaßen beeinflußt hat.49 Es folgt daher eine Erhebung und zusammenfassende Darstellung des Gedankengangs dieses Textes.50 Die Exposition bringt zunächst eine Situationsbeschreibung. »Kaum hat die Weltgeschichte je so viel Zusammenbruch, so viel Umwälzung erlebt, wie unser heutiges Geschlecht« (221). »Unsere Zeit steht im Zeichen der Katastrophe« (ebd.), in einer »fundamentalen Krisis« (ebd.). Diese Situation ist aber nicht nur negativ zu sehen. Zusammenbruch bedeutet zugleich »dringliche Frage, Warnung, Forderung einer Entscheidung. Er ist geschichtliche Gelegenheit« (ebd.). Soll die Gelegenheit genutzt werden, so darf die Antwort allerdings nicht zu kurz greifen. Sie muß erfolgen »im Hinblick auf die universale Notlage, in der wir stehen« (222), und daher entsprechend universal sein, grundlegend, das Tagesgeschehen transzendierend. An einer solchen Antwort versucht der Vortrag zu arbeiten: »Indem unser Thema von 'Gotteserkenntnis1 redet, spricht es aus, daß die heutige Verhandlung der Frage nach den grundlegenden Voraussetzungen unserer Lebensarbeit gewidmet sein soll. [...] Verwurzelung und Befestigung unseres ganzen Wesens in jenen Tiefen, die allem Tagesgeschehen vorausliegen, ist ja auch das einzige Streben, das uns zu unserer Konferenz zusammenfuhrt« (222f). Der zweite Teil der Einleitung unternimmt eine Rechtfertigung des philosophischen Ansatzes. Angesichts der opportunen »Abneigung gegen sogenannten Intellektualismus, grundsätzliche[n] Skepsis gegen alle philosophische Arbeit« (223) ist dies notwendig. Die Vorwürfe gegen die Philosophie übersehen jedoch, daß ihre »Lebensferne« gerade »die Voraussetzung ihrer Lebenserkenntnis« ist (ebd.). Indem sie die Ebene 48

Hauff, 40.

49

Vgl. K. Barth - E. Thurneysen [1973], 325; 344. S. u. 5.4. Die im folgenden Text in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf H. Barth [1919J.

50

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Grundelemente der frühen Philosophie Heinrich Barths

der Erscheinungen mit ihren Gruppenegoismen transzendiert, übt sie eine eminent soziale Funktion aus, »rechtfertigt sie ihr scheinbar selbstgenügsames Verfahren als einen unentbehrlichen Dienst an der Gemeinschaft« (224). Damit soll freilich nicht die Philosophie absolut gesetzt werden. »Philosophie ist eine unter den Möglichkeiten des Lebens« (ebd.). Der auf die Exposition folgende Text gliedert sich in sechs etwa gleich lange Abschnitte. Der erste gibt eine nähere Bestimmung dessen, worin die Not nicht nur der Zeit, sondern ganz allgemein der Menschheit besteht: »Herrschaft der Sachenwelt über den freien Willen und Bindung des Willens an die Begrenztheit des geschaffenen oder des zu erschaffenden Dinges. Unsere gesamte Kultur ist dinglich bestimmt; die Welt der Dinge tritt als eine unausweichliche Gegebenheit an uns heran und diktiert uns ihre Forderungen. Dinglichkeit ist die Signatur unserer Unfreiheit; das begrenzte Objekt beherrscht unser Begehren, der materielle Wert absorbiert die Kräfte des Willens. Verdinglichte Wesenheiten materieller und nicht minder 'geistiger' Art legen Wünsche und Hoffnungen, Strebungen und Ideale fest auf bedingte, weil vereinzelte und beziehungslose 'Lebensgüter1, die sich der Seele als die selbstverständliche Erfüllung ihrer tiefen Erwartung gewaltsam aufdrängen. Materialismus ist überall da, wo ein zusammenhangloses Etwas als eine selbständig gewordene Macht die Seele beherrscht, wo ihr gegebene, autonom gewordene Potenzen erfolgreich mit dem Anspruch gegenübertreten, ihre Kräfte an sich zu binden und in sich zu begrenzen. Dinglichkeit bedeutet absolute Geistesfeindschaft; das Ding in seiner klotzigen Eigenherrlichkeit widerstrebt der Erkenntnis und dem gestaltenden Willen; das Ding in seiner unechten Vergeistigung vergiftet und verderbt die innerste Lebensregung. Bejahung einer Gegebenheit der Lebensinhalte ist das schlechthin Böse; sie ist das Wesen aller Sünde und Verkehrtheit; sie ist das Übel als solches« (226f). Mit dieser - ganz vom Marburger Neukantianismus und seiner Opposition gegen die »Dinglichkeit« und das »Gegebene« bestimmten - Analyse ist zugleich das Urteil über die selbsternannte »'naturwissenschaftliche Weltanschauung1« (229; gemeint sind Materialismus, Empirismus, Positivismus) gesprochen, denn ihr Kennzeichen ist gerade »Bestimmung des Lebens vom Dinge aus« (ebd.). Ihr Endpunkt ist »radikaler Pessimismus« (228), »eine entsetzliche Mythologie« (229): »sinnloses Auf- und Abschwellen der Lebensbewegung im

Der Vortrag »Gotteserkenntnis«

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Vordergrunde, im Hintergrunde Ananke mit ihrem unerbittlichen Gesetze« (ebd.). Kann »die Welt der Metaphysik, der Religion, der Jenseitigkeit« (230) »Befreiung von jener Knechtschaft, die das theoretische wie das praktische Bewußtsein an die 'Natur der Dinge1 bindet« (ebd.), bringen? Mit dieser Frage ist Abschnitt II des Vertrags befaßt. Die Antwort lautet: »Nein«, denn Religion und Metaphysik vermögen das »Natürliche« nicht wirklich zu transzendieren. Zunächst freilich geht es Heinrich Barth um die Klärung des Standpunkts, von dem aus Religion und Metaphysik der kritischen Prüfung unterzogen werden. Es kann nicht der Standpunkt einer »besseren« Religion sein: »Wie kommt es, daß das Wort 'religiös1 auch in seiner reinsten Verwendung jenen gewissen eigentümlichen Nebenton nicht verliert, der aus einer heiligen und befangenen Sphäre zu erklingen scheint? Müssen wir nicht ehrlich gestehen, daß das spezifisch religiöse Wort, auch wenn es mit Leben und Kraft verkündet wird, gerade indem es uns durch die Wucht seines Inhaltes gefangen nimmt, irgendwo in uns auf einen Herd berechtigten Widerstandes stößt, irgendwo eine Stimme wachruft, die noch immer nicht Gefangenschaft, sondern Freiheit fordert. Indem wir nach dem wahrhaftigen göttlichen Worte fragen, dürfen wir nicht stehen bleiben in der Ablehnung allgemein gekennzeichneter religiöser Mißgestaltungen. Unsere eingehende, teilnehmende Frage begleitet auch diejenige Verkündigung der göttlichen Welt, der wir alle zur größten Dankbarkeit verpflichtet sind.51 Wie wir uns auch zu ihr stellen werden, wir wissen jedenfalls das Eine, daß das echte göttliche Wort etwa ein Eintauchen in eine bestrickende Geistesatmosphäre, eine Narkose allerfeinster und sublimster Art nicht bedeuten kann« (231). Die Kritik darf nicht bei »kraftvollen Teilwahrheiten« (232) stehenbleiben, sondern muß den grundsätzlichen, »tiefgreifende[n] Fehler religiösen und metaphysischen Denkens« (ebd.) aufdecken: »die prinzipielle Bindung dieses Denkens an die natürliche Kategorie des Dinges, die Verdoppelung der Natur in einer geistigen Sublimierung, die Materialisierung des Geistigen durch Angleichung an die vertrauten Formen naiven, natürlichen Weltbewußtseins« (ebd.). Aber trifft der Vorwurf eines logischen Denkfehlers überhaupt die Religion? Geht es in ihr 5

' Hat Heinrich Barth hier und im folgenden die damalige Theologie Karl Barths im Blick?

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Grundelemente der frühen Philosophie Heinrich Barths

nicht um »unmittelbare[s] Lebensbewußtsein[]« (ebd.), um »Erleben« (233)? Heinrich Barth entgegnet: »Religiöses Leben als eine Besonderheit des Bewußtseins, wie sie insbesondere auf den meisten akademischen Kathedern gelehrt wird, kann uns kaum von einem unruhigen Zweifel nicht nur an ihrer Begriffswelt, sondern vielmehr an ihrer innersten Lebenswahrheit befreien« (ebd.). Die Kritik beginnt bereits da, »wo sich religiöses Leben in einem als 'religiös' noch besonders angesprochenen Lebensinhalte selbst die Schranke und die Begrenzung auferlegt. Was in uns eine gesonderte Sphäre schafft, anerkennt das, was sie ausschließt, in seinem Eigenrechte. Die Versenkung in ein metaphysisch Abgegrenztes und Absolutes hebt uns einerseits über die Natur hinweg, um uns andrerseits ihr anheimzugeben« (ebd.). Was gefordert ist, ist vielmehr eine »prinzipielle Negation«: »Wahre Freiheit kann in einem bloß jenseitigen Reiche noch nicht begründet sein, solange als ein höheres, geistiges Etwas mit dem Etwas der Diesseitigkeit überhaupt verglichen werden kann. Eine radikale Überwindung der Natur allein kann uns von ihrem Banne befreien; eine prinzipielle Negation muß stattfinden, wenn das Göttliche in seiner Reinheit erkennbar werden soll« (234). Damit ist das Entscheidende dieses Abschnitts gesagt; es folgt noch eine erneute Verteidigung des philosophischen Ansatzes, diesmal konkret gewendet als Antwort auf anti-rationale Einlassungen der Lebensphilosophie. Ihrer »romantischen Verherrlichung der subjektiven Willkür und scheinhaften Genialität« (236) gegenüber wird gesagt, daß es um »[o]bjektive Wahrheit« (ebd.) geht, um das »entscheidende Wort« (ebd.). »Dieses letzte Wort kann nicht naturhaft sein, denn es hätte dann nichts mit Gott zu schaffen« (ebd.). Ging es Heinrich Barth bisher nur um die Beschreibung des Problems und die Bestreitung vorgeblicher Lösungen, so bringt der zentrale dritte Abschnitt seinen Lösungsvorschlag. »Um den befreienden Ausweg aus all dieser Problematik zu finden, haben wir einen radikalen Bruch mit den Kategorien einer dinglich-dynamischen Denkweise zu vollziehen. Wir alle wissen es von vornherein genau: Wenn von Gott und dem Göttlichen geredet sein soll, so muß es sich um ein ganz Neues, um ein unbedingt Überlegenes, um ein prinzipielles Übertreffen jener Denkweise handeln« (ebd.). Um ein solches »prinzipielles Übertreffen« zu ermöglichen, »gehen wir aus von einem schlichten logischen Prinzipe, dessen wir uns gleichsam als Hebel bedienen, um die natürliche Welt und die

Der Vortrag »Gotteserkenntnis«

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sublimierte Überwelt in ihrer beidseitigen Sicherheit zunächst einmal ins Wanken zu bringen. Es ist dies das Erkenntnisprinzip der kritischen Negation« (ebd.). Es folgt nun (236-238) ein erkenntnistheoretischer Exkurs, der - mit einer bezeichnenden Akzentverschiebung52 - eine mustergültige Zusammenfassung der Erkenntnistheorie der Marburger Schule bietet, gipfelnd in der Präsentation des Prinzips des »Ursprungs«: »In der reinen Autonomie der Erkenntnis findet jenes in aller Metaphysik gesuchte prinzipielle Übertreffen des Geistigen seinen eindeutigen und klaren Ausdruck; sie ist das echte Wunder des Geisteslebens, weil sie dem Geiste sein Recht gibt: ohne Einbuße seines geistigen Wesens wahrhaft und unbedingt der Anfang zu sein. Denn adäquate Deutung des Geisteslebens verlangt das Zurückgehen an einen Ort, der allen Weltsphären und Seinszusammenhängen physischer oder psychischer Art prinzipiell enthoben ist. Diese zentrale Wahrheit bringen wir dahin zum Ausdruck, daß Erkenntnis als ursprünglich anerkannt wird; sie findet ihre Begründung in der einzig legitimen, echten und wahren Transzendenz des Ursprungs. Ohne Autonomie, ohne Begründung im Ursprung der Idee, wird der Geist zu einer Kraft unter Kräften in der reichbelebten Welt physischer, metaphysischer, religiöser, romantischer Mächte und Gewalten. Man mag sich des Gewimmels freuen. Allein der Geist geht seiner selbst verlustig; denn er ist beraubt des Gedankens, beraubt des eigenen, weltüberlegenen Gesetzes, beraubt seiner göttlichen Selbstherrlichkeit. Im Ursprung ist der archimedische Punkt gefunden, von dem aus das Schwergewicht der Physis prinzipiell überwunden wird; an ihm wird sich ein neues Denken, eine neue Philosophie in jedem Schritte, den sie unternimmt, zu orientieren haben« (238). Obwohl erkenntnistheoretische Reflexion auf den »Ursprung« geführt hat, ist er kein lebensfernes, bloß logisches Prinzip. Der Gedanke des »Ursprungs« hat auch »ethischen Sinn« (240); es handelt sich um ein »fundamentale[s] Lebensgesetz« (ebd.), wie Heinrich Barth im folgenden ausfuhrt: »Dem Ursprung wird die Logik und die Wissenschaft gerecht, indem sie die Gegebenheit der Inhalte einer radikalen Negation unterwirft, um sie eigengesetzlich neu aufzubauen. Er wird so zum unumgänglichen Durchgangspunkt einer zunächst negativen und dann um so unbedingter positiv gerichteten Geistesbewegung. Einen scheinbaren Nullpunkt müs52

S. u. S. 196.

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sen wir erreichen, um die letzte Voraussetzung aller aufbauenden Arbeit zu gewinnen. Dieser Sachverhalt scheint uns schlaglichtartig die ganze Lebenslage zu beleuchten. [...] Leben heißt frei sein von der Sukzession gegebener Lebensinhalte, die kraft ihres eigenen Schwergewichtes ihm seine Bahn vorschreiben. Leben heißt neu anfangen können, heißt den sich gestaltenden Gebilden, Gedanken und Erlebnissen immer wieder gegenübertreten können. [...] Das gesamte soziale Leben wird prinzipiell unter den Gesichtspunkt der Revolution gestellt [...]. [...] Orientierung am Ursprung heißt immerwährendes Brechen mit dem Gewordenen. Was von Leiden und Opfer, vom Verlieren des Lebens, um es zu gewinnen, von Tod und Auferstehung je Tiefes gesagt wurde, erfährt seine scharfe Beleuchtung und Bestätigung durch das im Ursprung wahrgenommene fundamentale Lebensgesetz« (238-240). Der Schluß des Abschnitts ist zwei Klarstellungen gewidmet: Dieses »Lebensgesetz« versteht das Leben wie der bei den Lebensphilosophen hoch gehandelte Heraklit als Bewegung - aber im Unterschied zu diesem als sinnvolle Bewegung. »Denn der Ursprung bedeutet die Idee« (240). Damit, mit der Identifikation von »Ursprung« und (platonischer) Idee (des Guten), ist zugleich sichergestellt, daß man nicht doch wieder - wie in der Metaphysik - im Bereich des Kontingent-Natürlichen verbleibt. Denn: »Die Idee ist anderer Ordnung als die Welt. Anstatt daß wir immer wieder vom Geschöpfe aus Welt und Überwelt verstehen, möchten wir uns ihrer schöpferischen Voraussetzung zuwenden. Mit Plato suchen wir sie nicht wiederum in der Welt, sondern gleichsam in einem überhimmlischen Raum, in einer grundsätzlich der Welt entrückten Sphäre. Die Idee ist göttlich; denn sie ist Voraussetzung und Ursprung. Und der Sinn, die Vernunft, die sich in ihr entfaltet, ist nicht von der Natur, sondern von Gott« (ebd.). Heinrich Barth identifiziert also nicht nur »Ursprung« und Idee miteinander, sondern beide sind auch »göttlich«. Die zweite Hälfte des Vertrags - Abschnitt IV-VI - befaßt sich mit den ethischen Konsequenzen der Verankerung des Lebens in der Instanz »Ursprung« - Idee - Gott (die drei Begriffe werden von Heinrich Barth im folgenden promiscue verwendet, wobei die Rede von Gott allerdings dem Titel des Vertrags entsprechend dominiert). Zunächst: Den zeitgenössischen Einwänden gegenüber einer philosophischen Ethik zum Trotz ist diese ein notwendiges Erfordernis. Wie schon Sokrates gezeigt hat, ist jedes Handeln zweckgerichtet und somit bestimmt durch »prakti-

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sehe Erkenntnis« (242). Allerdings begegnet im Leben der Zweckbegriff nur »in seiner unsagbaren subjektiven Zersplitterung und innern Zerklüftung« (ebd.), ist die Erkenntnis »zersetzt[] und verderbt[]« (ebd.). In Frage steht also nicht die Ethik, wohl aber der letzte Sinn menschlichen Handelns. Die Antwort auf diese Sinnfrage »kann nur in Gott liegen. Denn in Gott ist Ursprung und Idee schöpferischen Handelns; in ihm ist Ursprung und Idee eines durch Erkenntnis bestimmten guten Willens« (243). »Die Voraussetzung alles praktischen Suchens und Irrens ist der Weg der Wahrheit. Alle Verkehrtheit des Tuns, alle Unzulänglichkeit des Strebens weist zurück auf ein Unbedingtes, dem es entgegengeht. Wir wüßten sonst nicht, warum wir auch nur einen Moment teilnehmend bei ihm verweilen sollten. Trotz aller ontologischen Anklänge des Gedankens - es besteht zu Recht die Idee des Ursprungs im ethischen Vollsinn des schöpferischen Wortes in ihrer Identität mit der Idee des Zwekkes, als der nicht mehr materiell bedingten, sondern formalen, reinen Zielstrebigkeit« (ebd.). »Gottesgeschichte [bildet] Ursprung und Voraussetzung aller Menschengeschichte« (244) - ohne daß dadurch die »reine[] Transzendenz der Idee« (ebd.), die dafür steht, daß »wir Gott geben möchten, was Gottes ist, und der Welt, was der Welt ist« (ebd.), gefährdet wird. Die gesuchte Erlösung des Menschen besteht in der »Rückführung auf den schöpferischen Ursprung« (243): »Glaube an Gott, Erkenntnis Gottes ist das Einzige, was uns Rettung bringt; darum darf die zentrale Frage uns nicht loslassen, ob er es ist, von dem wir reden und Zeugnis geben« (244). Die philosophische Darlegung kann solche Erkenntnis freilich nicht schaffen. Sie will aber »Wege weisen, Hemmnisse beseitigen, Zusammenhänge aufdecken« (245), erinnern an den vergessenen »Ursprung und Sinn des Lebens« (ebd.). Der fünfte Abschnitt des Vortrags versucht, das bisher Gesagte zu »klären und [zu] befestigen« (246) durch Reflexion auf das Wesen der menschlichen Seele. Auch bezüglich der Seele greifen äußerliche Ansätze - empirische Psychologie und Metaphysik - nicht weit genug, können die Frage nach dem Woher der Seele nicht beantworten. Im Letzten können mit Platon »Wurzel und Ursprung der Seele nur in der Ordnung der Idee gedacht werden« (ebd.). »Nur in Gott findet sie ihren Ursprung. [...] Die Seele ist Gott zugehörig [...]« (ebd.). Aus dieser Erkenntnis ergeben sich Konsequenzen für die Deutung des menschlichen Lebens, als erstes eine trotz allen Leidens hoffnungsvolle Sicht des Le-

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bens: »Wir glauben es mit voller Deutlichkeit zu erkennen, daß es nur die eine Wahrheit ist, die wir im ewigen Auf- und Niedergang seelischer Erlebnisse und sittlicher Kämpfe, im endlosen Wechsel von Gottesnähe und Gottesferne wahrnehmen. Die andere Wahrheit unseres menschlichen Seins, und zwar die grundlegende, liegt nicht in diesem Felde. Sie lautet dahin, daß die Entscheidung, die wir unablässig suchen, bereits gefallen ist. Sie besagt, daß wir im Zwiespalte der Lebenskonflikte unsere Stellung ein für allemal bezogen haben, weil wir von vornherein auf Gottes Seite stehen. Das haben wir freilich vergessen; und im Vergessen unserer Ursprünglichkeit liegt die Not und Verwirrung, in der wir stehen. Aber was vergessen ist, verliert seine Wahrheit nicht; das Sein der Seele ist unzerstörbar und die Treue Gottes beharrt. Es ist ein Anfang der Lebensbewegung geschehen; Gottesgeschichte hat ihren unverwüstlichen Ursprung genommen. Das Sein des Menschen ist das Sein in Gott; am Menschensohne, am Christus ist es der Welt bewußt geworden. Nicht ein Leben und Weben in Gott besagt dieses Ursprungsbewußtsein. Wie der Weg des Christus durch Leiden und Tod zur Auferstehung führt, so bleibt das Diesseits des historisch-psychologischen Menschentums ein Schauplatz des Kampfes und der Überwindung und des erneuten Kampfes. Aber dieser Notlage zum Trotz ist unser Lebensbewußtsein ein Bewußtsein der Gotteszugehörigkeit« (247). Eine weitere Konsequenz dieser Seelenlehre ist eine Kritik an den anti-individualistischen Tendenzen der Zeit. Es ist die Einzelseele, die in der »ursprünglichen« Beziehung zu Gott steht.53 »Schauplatz der Weltgeschichte ist nicht der Kosmos [...]. Schauplatz ist vielmehr die Seele« (249). Allerdings beinhaltet ihre Berufung zu »Ursprungs«-gemäßem Sein auch die Berufung zur Gemeinschaft. Was ergibt sich aus all dem für das konkrete Tun des Menschen? Unter diese Überschrift könnte man den letzten Abschnitt des Vertrags stellen. Bestimmend für die Antwort Heinrich Barths ist die Gleichsetzung des Gottesgedankens mit »Ursprung« und Idee und die daraus resultierende Zweiseitigkeit des Verhältnisses Gottes zur Welt. Einerseits folgt daraus, »daß wir nicht in einem metaphysischen Absoluten, sondern im Ursprung, wie er durch die Idee eine eindeutige Bestimmung erlangt hat, den Gottesgedanken zu verstehen suchen« (250), eine 53

Vgl. dazu auch H. Barth [1921 b], 16.

Der Vortrag »Gotteserkenntnis«

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»Durchdringung des Lebens« (251) mit dem Göttlichen: »Das Göttliche stellt sich dem Leben nicht als etwas Abgelöstes, Begrenztes, in sich selbst Verschlossenes gegenüber. Es schafft Beziehung, es bewirkt Gestaltung« (250). »Was die Voraussetzung aller Lebensinhalte ist, tritt nicht selbst als begrenzter Inhalt zu dem übrigen Leben in Konkurrenz« (252). Für das Tun des Menschen folgt daraus eine Aufwertung der notwendigen, »sachlichen« Arbeit: »Sachliches Reden und Handeln darf nicht verdächtigt werden, als entbehrte es des Lebens und des Geistes« (251 f.). Andererseits darf aber die Grenze zwischen »Diesseits und Jenseits unseres Daseins« (253) nicht übersehen werden. »[U]m der Wahrheit willen bitten wir, in diesen letzten Dingen die Distanzen zu wahren, die Entfernungen nicht zu verkürzen, die Entscheidungen nicht vorauszunehmen« (ebd.). »Völkerfrieden, Sozialismus, Genosssenschaftsbewegung [...] bedeuten doch nicht etwa eine Vorbereitung oder gar einen kontinuierlichen Übergang zur Enderfüllung!« (254). Das Problem liegt im Wesen des Menschen: »Wir haben von seiner Unendlichkeit und Ursprünglichkeit geredet, und es lag uns daran, die Hoheit des Menschen ins Licht der Erkenntnis zu stellen. Aber ebenso grundsätzlich sind auf der ändern Seite die Schranken einzusehen, die in seinem Begriffe gesetzt sind« (ebd.). Aus diesen Schranken ergibt sich die Unmöglichkeit für den Menschen, an seiner Erlösung mitzuarbeiten. Was der Mensch tun kann, ist einzig, sich am »Ursprung« seines Lebens, an Gott, zu orientieren. Der Vortrag schließt mit den Sätzen: »Erkenntnis Gottes allein kann unser Dasein gründen. Gegründetsein aber ist das Einzige, was uns nottut. Gegründetsein in Gott ist die Anwartschaft der Erfüllung« (255).

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4.3. Heinrich Barths Auffassung des »Ursprungs« Vergleicht man das im Vortrag »Gotteserkenntnis« von Heinrich Barth zum »Ursprung« Gesagte mit der Deutung des »Ursprungs« bei Cohen und Natorp, wie sie oben dargestellt wurde, so ergeben sich Übereinstimmungen, aber auch Differenzen. Zunächst mag es überraschen, daß Heinrich Barth das Prinzip des »Ursprungs« primär als Negation entwikkelt. Dies ist bei Cohen und Natorp nicht der Fall. Es zeigt sich freilich rasch, daß es sich hier nur um eine vordergründige Differenz handelt. Denn auf die »radikale[] Negation« folgt bei Heinrich Barth eine »um so unbedingter positiv gerichtete[] Geistesbewegung«; der »Ursprung« wird von ihm als »Durchgangspunkt« dieser Bewegung verstanden.54 Damit ist der Denkweg Cohens eingeholt. Denn auch bei ihm hat der »Ursprung« zunächst negativen Charakter, wenn auch von vornherein die aufbauende Funktion im Vordergrund steht. Sein »Prinzip des Ursprungs« fordert Freiheit des Denkens von empirischen Anteilen, negiert diese also; der Weg zum »Etwas« führt im »Urteil des Ursprungs« über das Nichts. An das so begründete »Etwas« schließt sich dann die aufbauende Bewegung an. Übereinstimmung besteht auch darin, daß eine einfache Negation als nicht ausreichend abgelehnt wird. Um hier zu unterscheiden, hebt Cohen das unendliche vom verneinenden Urteil ab.55 Doch was wird jeweils nach Durchgang durch die Negation des »Ursprungs« aufgebaut? Hier liegt eine tatsächliche Differenz vor. Während Cohen und Natorp ausgehend vom »Ursprung« primär ein logisches Kategoriensystem aufbauen, das ganz auf die Grundlegung der »mathematischen Naturwissenschaft« ausgerichtet ist, bestimmt Heinrich Barth den »Ursprung« wesentlich umfassender als Grundprinzip des Lebens, als »fundamentales Lebensgesetz«56. Ein Zusammenhang zwischen dem 54

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S. o. S. 177. Vgl. auch die Rede des späten Natorp vom »Überendlichen«, das dem eine bloße Negation des Endlichen darstellenden »Unendlichen« überlegen ist (s. o. S. 151 f.). S. o. S. 177. Zum »Ursprung« als »Lebensgesetz« vgl. noch H. Barth [1921 a], 159. Zutreffend schreibt van der Kooi, 155: »Steht dieser Begriff [sc. »Ursprung«] im Denken Cohens noch im eingen Zusammenhang mit dem theoretischen Bewußtsein als dem fundamentalen Urteil aller Urteile, so macht bei Heinrich Barth diese starke Bindung an das menschliche Bewußtsein für eine viel

Heinrich Earths A uffassung des » Ursprungs«

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»Ursprung« und dem Gedanken einer umfassenden »Krisis« der Gesellschaft oder dem Tod als der »Krisis« des individuellen Lebens, wie er von Heinrich Barths hergestellt wird,57 ist bei seinen Lehrern ohne Beispiel. Nun könnte man zwar darauf verweisen, daß Cohen und Natorp das Prinzip des »Ursprungs« auch auf Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie applizieren,58 doch bleibt es bei Andeutungen, während umgekehrt Heinrich Barth an der Frage der Begründung der exakten Wissenschaften kein Interesse zeigt. Sein Interesse geht vielmehr auf das »Leben«.59 Daß mit dieser Interessenverlagerung eine tatsächliche Veränderung im Begriff des »Ursprungs« einhergeht, erhellt am besten aus einer Passage über die Idee des Guten bei Platon aus der Habilitationsschrift Heinrich Barths: »Im Hinblick auf diese Darstellung des Guten am Ende des 6. Buches der Politeia möchten wir vor allem darauf aufmerksam werden, daß diese Idee keineswegs ohne weiteres mit dem letzten Prinzip des hypothetischen Verfahrens zusammenfällt. Der Beschreibung des Guten folgt jene schematische Uebersicht über die Stufen des Erkennens, aufgeführt am Bilde des doppelten Schnittes, der eine vierfache Gliederung ergibt (509 d ff.). Die höchste der vier Fähigkeiten ist die Dialektik, ausgeübt durch die 'Vernunft1; sie führt zum 'Anhypotheton', der prinzipiellen Voraussetzung dieses ganzen Verfahrens. Vom Guten ist in diesem Zusammenhange nicht mehr die Rede; wir befinden uns offenbar in einer Gedankenlinie, die zunächst ihren Abschluß rein logisch findet. Im folgenden Buch erleben wir den Aufstieg der Seele zur höchsten Erkenntnis; die Idee des Guten ist ihr Ziel und ihr Weg dazu unverkennbar die dialektische Methode (533 c). Ein Rückwärtsschreiten auf Grund der Hypothesis zu ihrem Ursprung hin führt also hier offenbar

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umfassendere Funktion dieses Begriffs Platz. Er ist das fruchtbare Lebensprinzip [...].« Vgl. einerseits den Beginn von »Gotteserkenntnis«, andererseits vor allem H. Barth [1921 b], 16-18 (Sokrates als Denker in der Nähe des Todes; der Tod als »Ursprung« des Lebens). S. o. S. 112 und S. 162. Es kündigt sich hierin seine spätere Konzentration auf die Probleme des Menschen und seiner »Existenz« an. Dieses von der reinen philosophischen Theorie abgewandte Denken Heinrich Barths zeigt sich schon in seinen ungedruckten Jugendschriften (vgl. Hauff, 31-34).

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zum sittlichen Grundprinzip. Und doch kann dieses mit jenem logischen Ursprung nicht schlechthin zusammenfallen. Denn die Idee des Guten ist zu erschließen als 'Ursache' von allem Rechten und Schönen, indem sie im Sichtbaren das Licht und seinen Herrn hervorbringt und im Denkbaren selbst als Herrscherin waltend Wahrheit und Vernunft darbietet (517 c, 508 e). 'Vernunft' ist Trägerin des regressiven, auf das Anhypotheton gerichteten Verfahrens; aber trotzdem behauptet ihr gegenüber das Gute eine letzte Ueberlegenheit, indem es als ihr beherrschendes und schaffendes Prinzip auftritt. Ethische 'Ursache' und logischer 'Ursprung' sind immerhin nicht identisch gedacht. Das ethische Grundprinzip genießt einen letzten Primat vor dem höchsten Inbegriff theoretischen Verhaltens. Dem Enthusiasmus des dialektischen Fortschreitens scheint freilich ein einziges Ziel vor Augen zu stehen; aber es sind im Grunde zwei Gedankengänge, die auf zwei Begriffe, auf das logische und das ethische Ursprungsprinzip hinleiten.«60 Es kann kein Zweifel bestehen, um welche der beiden in diesen Sätzen - notabene eine charakteristische Synthese von platonischem, Kantschem (Primat der praktischen Vernunft) und neukantianischem Gedankengut - vorgestellten Varianten des »Ursprungs« es Heinrich Barth in »Gotteserkenntnis« und auch sonst primär geht: um das dem logischen noch übergeordnete61 ethische Grundprinzip. So erklärt sich der sofortige Übergang vom »Ursprung« zu Fragen der Ethik in »Gotteserkenntnis«. So erklärt sich weiterhin die sonst kaum begreifliche Gleichsetzung von »Ursprung«, Idee und Gott. Die als wissenschaftliche Hypothese aufgefaßte Idee - die in der Marburger Schule vorherrschende Deutung der platonischen Idee, wie sie auch bei Heinrich Barth gelegentlich be60 61

H. Barth [l921 a], 95f. Vgl. zu dieser Überordnung noch H. Barth [1921 a], 103 (»Der Erkenntnisweg der Seele führt nicht nur hin zum Guten, sondern er vollzieht sich im Guten. [...] Wissenschaft bereitet vor zur höchsten Erkenntnis; diese aber ist unvergleichbar in ihrem Glänze, weil sie die Seele in ihrem tiefsten Grunde, in ihrem Ursprünge ergreift.«); ders. [1921 b], 12 (»Die platonische Wahrheit, vertreten durch die dialektisch bewegte, aber doch einseitig logische, gegen jedes Interesse am Menschen indifferente Hypothesis, erfahrt gerade bei dem letzten Schritte ihrer Dialektik [sc. dem Schritt zur Idee des Guten] eine Bereicherung und Verstärkung ihres Gehaltes, durch die mit einem Male das Leben in den Bereich ihrer Wirkung hineingezogen wird.«).

Heinrich Barths Auffassung des »Ursprungs«

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gegnet62 - kann nicht mit Gott identifiziert werden. Handelt es sich hingegen um die alle übrigen Ideen noch transzendierende Idee des Guten und werden von ihr her sowohl »Ursprung« als auch Gottesgedanke verstanden,63 so wird die Gleichsetzung plausibel. Diesem Bezug auf die platonische Idee des Guten kommt für Heinrich Barths Deutung des Cohenschen »Ursprungs« schlechthin entscheidende Bedeutung zu. Steht die Idee des Guten noch über den übrigen Ideen, so ist damit nach Heinrich Barth die »reine[] Transzendenz der Idee«64 ausgesagt. Wird nun von ihr her der »Ursprung« interpretiert,65 so bedeutet das für diesen, daß er »uns in ein unerreichbares Jenseits des Kosmos entrückt«66. »Jenseits liegt der Ursprung - und nur Jenseits!«67 Auch den 62 63

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S.o. S. 171. Daß letzteres bei Heinrich Barth der Fall ist, geht zweifelsfrei aus folgendem Zitat aus einem Brief hervor, den er an Emil Brunner schrieb: »Warum ziehen Sie die Idee nicht zur Abklärung des Ursprungs bei? Sie sehen so gut wie ich, dass der Ursprung nur als Idee die Eigenschaft der Voraussetzung vor aller Gegebenheit, und was damit zusammenhängt, haben kann. Sonst ist alles eine metaphysische Taschenspielerei. Die Idee ist die enge Pforte, durch die auch die Theologen eingehen müssen. Sie vertritt die Ferne Gottes, die ich Ihnen gegenüber noch einmal unterstreichen möchte« (Brief vom 29.11.1921; zit. Hauff, 45). S. o. S. 179. Vgl. H. Barth [1921 b], 12: »[d]ie absolute Transzendenz der Idee«. Die Gleichsetzung der Idee des Guten mit dem »Ursprung« wird ausdrücklich vollzogen H. Barth [1921 a], 92 Anm. 1; 157f; 169 Anm. 1. Auch in »Gotteserkenntnis« spricht Heinrich Barth von der Idee als »Idee des Guten«: Vgl. ders. [1919], 245. Vgl. H. Barth [1921 b], 15: »[W]ir halten das Eine fest: die ursprüngliche Idee des Guten hat den überirdischen nicht nur, sondern den überhimmlischen Ort inne, den Ort jenseits aller möglichen Erfahrung, den weltfernen Ort, an dem allein die Wirklichkeit der Welt ihre Voraussetzung und ihre Ursache suchen darf. Und unser leitender Gedanke des Ursprungs ist uns in ein unerreichbares Jenseits des Kosmos entrückt.« Zit. Hauff, 45 (Zitat aus dem bereits angeführten Brief Heinrich Barths an Brunner vom 29.11.1921; die Fortsetzung des Zitats ist aufschlußreich für Heinrich Barths Auffassung der Psychologie, die nach ihm ganz an das Diesseits gebunden ist, sowie für seinen Gottesbegriff: »Diesseits liegt die Psychologie mit Allem und Jedem, was in unserer Seele geschehen mag, seien es auch sehr sublime Ereignisse. Wir fassen mit ihnen nicht FUSS im Jenseits. Ursprung und psychische Gehalte sind von schlechthin verschiedener Ordnung, und diese Grenze darf nicht verwischt werden ... Jene strenge Grenzscheidung liegt aber auch im Interesse eines reinen Gottesbegriffes. Gott bricht nicht herein in unsere Welt,

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Begriff des »Jenseits« entlehnt Heinrich Barth dabei aus Platon, insofern dieser in der Passage der Politeia, aus deren Interpretation die oben zitierten Sätze stammen, schreibt, die Idee des Guten sei , »jenseits des Seins«.68 Diese Wendung wird von Heinrich Barth immer wieder zitiert,69 über Platon hinausgehend70 im Sinne eines dem Sein gegenüberstehenden und es aus sich heraussetzenden Nichtseins gedeutet und zum Fluchtpunkt seiner Platon-Interpretation gemacht.71 Doch nicht nur das - auch für die Kant-Deutung Heinrich Barths bildet das »jenseits des (Da-)Seins« der (ethischen) Wahrheit den entscheidenden Ansatzpunkt.72 Es verwundert daher nicht, wenn als Inhalt »[k]antische[r] Orientierung« das »Innehalten der Distanzen und Wahrnehmen der Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit« hervorgehoben wird.73 Eben-

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wie man unter uns etwa ein Jahrzehnt lang gesagt hat. Diese Durchbruchstheologie bedeutet eine gewisse Pantheisierung des Gottesbegriffs; sie nimmt ihm die monotheistische Strenge seiner Transzendenz.«). Die Belegstelle ist Politeia 509 b. »Jenseits des Seins«: Vgl. H. Barth [1921 a], 95; 97; 158; 197; ders. [1921 b], 12-14. Vgl. Ulrich, 76: »Das Einzelne, dessen Sinn in ihm selbst unerfüllt blieb, hatte Heinrich Barth bei Platon im Nicht-sein befaßt und vom Jenseits her begründet gesehen. Dieser Schluß griff über das platonische epekeina hinaus. Dort war die Erhöhung des Guten als Krönung des Seins, noch über das Sein hinauf, kein Nichtseiendes jenseits des Seins. Hätte Platon dies geglaubt, so würde er sich die Lebensarbeit erspart haben, zu suchen und zu zeigen, wie das Gute in den Menschen und ihren Ordnungen zu verwirklichen ist.« Dies wird am deutlichsten in H. Barth [1922] (vgl. z. B. a.a.O., 405: »Wenn wir den lautgewordenen Ruf der Negation als Ausdruck des Verlangens nach einem unbedingten Jenseits - jenseits aller Mächte des Himmels und der Erde! - zu verstehen glauben, so erkennen wir in den tiefsten Tendenzen der platonischen Philosophie die Bejahung einer alles Dasein unbedingt übertreffenden Ordnung, die Erweisung einer alle Daseinswirklichkeit begründenden Jenseitswahrheit.«). Vgl. H. Barth [1923], 18 (»Es ist jene gewisse Jenseitigkeit der kantischen Grundgedanken, deren Erkenntnis uns beschwerlich ist; daß die entscheidende Wahrheit jenseits alles Daseins, auch des überweltlichen, liegen muß, das ist kein Gedanke, der sich uns durch besondere Erbaulichkeit empfiehlt.«); 24 (»Jenseits des Daseins liegt hier [sc. bei Kant] der ethische Grundgedanke [...].«). A.a.O., 24. Vgl. a.a.O., 25: »Kantische Ethik bedeutet Klärung der Distanzverhältnisse; sie lehrt ein der Lebenslage endgültig nicht entsprechendes Ineinssetzen von sittlicher Wahrheit und Wirklichkeit vermeiden. [...] Hier sind die

Heinrich Earths A uffassung des » Ursprungs«

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falls liegt es ganz auf der Linie dieses Interpretationsansatzes, wenn die Kantsche Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft, »Kants Aufdeckung der praktischen Vernunft und ihre unverwischbare Abgrenzung gegen die theoretische Vernunft durch den Imperativ«, als »geistesgeschichtliches Ereignis von wahrhaft klassischer Bedeutung« gefeiert wird.74 Kant und Platon werden von Heinrich Barth bis zur Identit t zusammenger ckt.75 Die Einseitigkeit dieser Deutung Kants braucht kaum eigens hervorgehoben zu werden. Im gleichen Sinne wird nun auch, wie bereits gesagt und durch Zitate belegt, der Cohensche »Ursprung« von Heinrich Barth angeeignet. Dies bedeutet ein entscheidendes Hinausgehen ber Cohen. Denn bei Cohen liegt im Widerspruch zu den zitierten S tzen aus Heinrich Barths Habilitationsschrift der Akzent auf der Vorordnung der Logik vor die Ethik. Die Rede vom έπέκεινα της ουσίας als Ortsbestimmung der Idee des Guten - wie auch die Kantsche Rede vom »Primat der praktischen Vernunft« - wird von Cohen ausdr cklich kritisiert, weil die Logik, die f r das Sein steht, von dem die Wissenschaft handelt, dadurch gegen ber dem Sollen herabgesetzt werde.76 Aber nicht nur der Primat der Ethik vor der Logik bei Heinrich Barth widerspricht den Intentionen Cohens. Schon die Rede von zwei Ur-

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Grenzen zwischen der jenseitigen Grundwahrheit und dem Diesseits nicht im Verflie en; keine schielende religi se Sublimierung des Daseins gef hrdet die Wahrhaftigkeit des sittlichen Lebensbewu tseins.« Vgl. a.a.O., 17. Vgl. a.a.O., 10: »diese platonisch-kantische Entdeckung«; »letzte platonischkantische Einsicht«. Vgl. Cohen [1977], 212; ders. [1981], 26; 88; 418. (Letztere Stelle ist besonders markant als Gegenpol zu Heinrich Barth: »Das Gute ist nicht jenseit des Seins (έπέκεινα της ουσίας); es ist dem Probleme des Seins nicht zu entr cken.«) Gott ist f r Cohen nicht Idee des Guten, sondern »Idee der Wahrheit« (ders. [1981], 454f.); Wahrheit aber »bedeutet den Zusammenhang und den Einklang des theoretischen und des ethischen Problems« (a.a.O., 89), also gerade keinen Primat der praktischen Vernunft (vgl. a.a.O., 87f.). Einen solchen gesteht Cohen nur zu im Sinne eines »Privilegium[s]