Zeit Und Gott: Mythos Und Logos Der Zeit Im Anschluss an Hegel Und Schelling (German Edition) 3506764381, 9783506764386

Heutige naturwissenschaftlich-chronologische Zeitkonzeptionen gehen - den alten zyklischen Mythen ähnlich - von einer in

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Zeit Und Gott: Mythos Und Logos Der Zeit Im Anschluss an Hegel Und Schelling (German Edition)
 3506764381, 9783506764386

Table of contents :
ZEIT UND GOTTMYTHOS UND LOGOS DER ZEITIM ANSCHLUSS AN HEGEL UNDSCHELLING
INHALTSVERZEICHNIS
I. EINLEITUNG
1. Zeit als Grundthema der Theologie
2. Ewigkeit als Erlösung aus der Zeit?
3. Die heillose chronologisch-quantitative Zeit
4. Zum (post)modernen Zeitverständnis und seinen Abgründen
5. Fortschritt, Eschaton und Theodizee der gefährdeten Zeit
6. Zur Aufgabe der vorliegenden Arbeit
7. Zum Fortgang der vorliegenden Arbeit
8. Methodisches
II. PROLOG: DIE ZUEIGNUNG DER ZEIT ALS THEMA DER SCHRIFT (GEN 1,1-2,4A)
III. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES SEINS UND DIE VERABSCHIEDUNG EINER ENTLEERTEN ZEIT IN DER MONADENLEHRE VON LEIBNIZ
1. Der Funktionsbegriff als noetische Grundlage der Neuzeit
2. Die Zeit als positiver Behälter der Ereignisse
3. Exkurs: Zum Begriff der Positivität
4. Die cartesisches Herausforderung
5. Die spinozistische Aufhebung alles Endlichen
6. Die beiden Labyrinthe der Philosophie als Ausgangspunkt leibnizscher Denkbestimmungen
7. Die leibnizsche Monadenlehre
8. Die Monade als Analogon des Ich
9. Der Stufenbau der Monaden
10. Die Monade als Spiegel des Universums
11. Die Zeitigung der Monaden und die in Gott gegründete Zeit als deren vinculum substantiale
12. Die leibnizsche Theodizee und die Vision einer von Gott gerechtfertigten Zeit
13. Die prästabilierte Harmonie von Natur und Gnade und der Verheißungscharakter der Zeit
14. Der Anfang der Monade als Geburt der Welt, der Tod als Vollendung und die Setzung der Ewigkeit als nunc stans
IV. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT IN DER PHILOSOPHIE KANTS
1. Einleitung
2. Von Leibniz zu Kant oder das Denken der Endlichkeit des Menschen
3. Der Primat der Zeit gegenüber dem Raum
4. Von der Monade zur Synthesis
5. Exkurs: Formale und transzendentale Logik
6. Die Zeit als Sphäre der Synthesis im transzendentalen Schematismus
7. Der Ideencharakter der Vernunftprinzipien
8. Die Antinomie des Anfangs
9. Die Antinomie der Freiheit
10. Naturkausalität und Freiheitskausalität
11. Das Problem der ewigen Wahl
12. Die Zeit als Zeitigung von Freiheit
13. Die Zeit und das Problem des Lebendigen
14. Erträge und Grenzen der kantischen Zeitbestimmungen
V. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER ENDLICHKEIT IN HEIDEGGERS „SEIN UND ZEIT“
1. Ein wichtiger Aspekt aus der Vorlesung „Der Begriff der Zeit“
2. Die Zeitlichkeit der Zeit
3. Von der Monade zum Dasein
4. Synthesis und Dasein
5. Die Geschlossenheit der Monade, das Ganzsein des Daseins und die Möglichkeit von Welt
6. Furcht, Angst und der Primat der Heimatlosigkeit
7. Die Sorgestruktur des Daseins
8. Das Ganze des Daseins als Zeitigung der durch den Tod markierten Endlichkeit
9. Die Zeitekstasen und der Sinn von Sein
10. Der Primat der Zukunft und das Daseinsganze.
11. Der Ursprungscharakter der Zeit
12. Heideggers unverzichtbare Einsicht
13. Vergebene Potentiale und Unerreichbares in Heideggers Denken
14. Der Tod als absolute Schranke der Zeit?
VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS IN SCHELLINGS SPÄTPHILOSOPHIE
1. Der Abgrund des Nichts und die Sinnlosigkeit der Zeit
2. Der Mensch als Mitwisser der Schöpfung
3. Exkurs: Das erste Weltalterfragment
4. Das transzendentale Ideal und die Suche nach Gott als „Einzelwesen“
5. Freiheit als Erlösung aus dem und durch den Tod
6. Das Scheitern menschlicher Selbstverwirklichung
7. Die zweifache Krisis der Vernunftwissenschaft als Übergang in die positive Philosophie und die Zeitigung des Seins
8. Die Zeit als Erweis Gottes
9. Das Gottsetzende Bewusstsein
10. Die Potenzen als Formen der Zeitigung der Zeit
11. Anfang I: Die Weisheit
12. Anfang II: Die Freisetzung der ersten Potenz und die Zeugung des Sohnes
13. Anfang III: Der Fall des Menschen: Die Zeit des Mythos, die Zeit des Logos und die Zeit Satans
14. Anfang IV: Die Kenosis des Logos
15. Anfang V: Der Anfang des Eschatons und die „Sabbatruhe Gottes“
16. Philosophie und zweiter Mythos
17. Schellings Spätphilosophie als Anfrage an Hegel
VII. ZEIT UND EWIGKEIT ALS ZEITIGUNG DER LIEBE IN DER WELTBEGEGNUNG DES BEWUSST-SEINS: GEDANKEN ZU HEGELS JUGENDSCHRIFTEN
1. Der leitende Gedanke in den Jugendschriften Hegels
2. Die Frage nach der Lebendigkeit der Religion als Ausgangspunkt des hegelschen Denkens
3. Positiver und sympathetischer Weltumgang
3. Positiver und sympathetischer Weltumgang
5. Die Gestalt Abrahams und der Bewusst-Seinscharakter von Sein und Zeit
6. Bewusst-Sein als Schicksal und Liebe und das Verhängnis der Zeit
7. Die Liebe und die Geschlossenheit der Zeit
VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN IN HEGELS SPEKULATIVER PHILOSOPHIE
1. Vorbemerkung
2. Die zweite Revolution der Denkungsart, der spekulative Satz und der Primat der Zeit gegenüber dem Raum
3. Die bestimmte Negation und die Form des Schlusses
4. Eine erste Annäherung zur Frage nach dem Anfang
5. Eine erste Annäherung zur Verhältnisbestimmung von Denken und Sein
6. Der Gang der Phänomenologie des Geistes
7. Die sinnliche Gewissheit und ihre Bedeutung
8. Zeit, Ewigkeit, kritische Differenz als zweite übersinnliche Welt
9. Zeitgestalten I: Leben, Lebendiges, Selbstbewusstsein
10. Zeitgestalten II: Unglückliches Bewusstsein, Vernunft und Sittlichkeit
11. Die Entfremdung und das Durchbrechen unseres Geltungsanspruches als Herzstück der Philosophie Hegels
12. Die zwei Entäußerungsbewegungen der Phänomenologie des Geistes und die unabweisliche Bedeutung der offenbaren Religion
13. Die Form der Vorstellung und die Frage des Anfangs
14. Die absolute Idee als Entsprechung
15. Die Tilgung der Zeit
IX. EPILOG: DIE ERÖFFNUNG DER ZEIT UND DIE GASTFREUNDLICHE STADT
1. Rückblick: Die Aporien des Zeitproblems und der Zusammenhang von Zeit- und Vernunftkonzeption
2. Zeit und Ewigkeit
3. Die Anaphora als Tiefendimension der Zeit
LITERATURVERZEICHNIS

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KURT APPEL ZEIT UND GOTT

KURT APPEL

ZEIT UND GOTT MYTHOS UND LOGOS DER ZEIT IM ANSCHLUSS AN HEGEL UND SCHELLING

Ferdinand Schöningh Paderborn · München · Wien · Zürich

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2008 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-506-76438-6

WIDMUNG UND DANK

Diese Arbeit soll meinem Lehrer Johann Reikerstorfer gewidmet sein. Aus Gesprächen und Seminaren mit ihm sind mir viele Motive, die sich darin versammelt haben, erwachsen, dazu hat er in all den Jahren, in denen ich am Institut für Fundamentaltheologie der Wiener Universität wirken durfte, eine Atmosphäre geistiger Kreativität, Offenheit zur theologischen Auseinandersetzung und selbstloser Freundschaft (die gerade mir als Assistenten erst viele Freiheiten, Perspektiven und Möglichkeiten eröffnet hat) geschaffen, von der ich mit vielen anderen Weggefährten profitieren konnte. Vor allem aber bewundere ich seinen Mut und sein rastloses und nie sich zufrieden gebendes Ringen, in der Theologie auch neue Wege zu beschreiten, um eine zeitgemäße Rechenschaft für den Glauben abzulegen. Herzlich danken will ich den externen Gutachtern dieser an der katholischtheologischen Fakultät der Universität Wien angenommenen Habilitationsarbeit, die für die vorliegende Drucklegung noch einmal stark überarbeitet wurde, nämlich Pier Angelo Sequeri (Mailand), der für mich nicht nur ein wichtiger Ansprechpartner war und ist und mir Mut für diese Thematik gegeben hat, sondern durch dessen Unterstützung ich auch einige Monate ein wenig Einblick in die Theologie und Philosophie Italiens gewinnen durfte, und Albert Franz (Dresden), der mit großem Einfühlungsvermögen und Wohlwollen dieses Projekt unterstützt hat. Ein weiterer Dank gilt Rudolf Langthaler, der viel Mühe auf die Lektüre dieser Arbeit verwendet hat und mir dabei eine Fülle von Anregungen und Hinweisen zukommen hat lassen. Ganz besonderen Dank schulde ich Nicoletta Capozza, sowohl was ihren klaren theologischen Blick betrifft, der mir immer wieder weitergeholfen hat, als auch für ihre Form der Nachfolge, in der kein Platz für falsche Kompromisse ist. Letzteres gilt auch für meinen langjährigen philosophischen Lehrer Friedrich Kern, dessen in ihrer Bedeutung für meinen wissenschaftlichen Werdegang gar nicht zu überschätzende Unterweisung meine Theologie vor entscheidende Herausforderungen gestellt hat. Stellvertretend für die vielen Weggefährten, die mich all die Jahre in Seminaren und Lesekreisen mit ihren Anfragen und Ideen begleitet haben, möchte ich Thomas Auinger, Jakob Deibl, Alfred Dunshirn, Stefan Gugerel, Marie-Theres Igrec und Birgit Reininger-Eisenmann danken. Für die geduldige Lektüre und Korrektur der Rechtschreib- und Druckfehler danke ich Veronika Brandstätter, Sebastian Pittl und Michael Scherzer, für die Covergestaltung Hubert Weber. Abschließend möchte ich ganz besonders meiner Mutter Maria Appel danken, ohne deren gleichermaßen selbstlose wie bedingungslose Unterstützung und gelebtes Christentum mein wissenschaftlicher Lebensweg im Allgemeinen und diese Arbeit im Besonderen nicht möglich gewesen wäre.

INHALTSVERZEICHNIS

I.

EINLEITUNG ................................................................................... 10

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Zeit als Grundthema der Theologie .................................................. Ewigkeit als Erlösung aus der Zeit?.................................................. Die heillose chronologisch-quantitative Zeit .................................... Zum (post)modernen Zeitverständnis und seinen Abgründen .......... Fortschritt, Eschaton und Theodizee der gefährdeten Zeit ............... Zur Aufgabe der vorliegenden Arbeit............................................... Zum Fortgang der vorliegenden Arbeit ............................................ Methodisches ....................................................................................

II.

PROLOG: DIE ZUEIGNUNG DER ZEIT ALS THEMA DER SCHRIFT (GEN 1,1-2,4A) ........................................ 32

III.

DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES SEINS UND DIE VERABSCHIEDUNG EINER ENTLEERTEN ZEIT IN DER MONADENLEHRE VON LEIBNIZ .................................................. 40

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Der Funktionsbegriff als noetische Grundlage der Neuzeit .............. Die Zeit als positiver Behälter der Ereignisse................................... Exkurs: Zum Begriff der Positivität.................................................. Die cartesisches Herausforderung..................................................... Die spinozistische Aufhebung alles Endlichen ................................. Die beiden Labyrinthe der Philosophie als Ausgangspunkt leibnizscher Denkbestimmungen ...................................................... Die leibnizsche Monadenlehre.......................................................... Die Monade als Analogon des Ich .................................................... Der Stufenbau der Monaden ............................................................. Die Monade als Spiegel des Universums.......................................... Die Zeitigung der Monaden und die in Gott gegründete Zeit als deren vinculum substantiale ................................................. Die leibnizsche Theodizee und die Vision einer von Gott gerechtfertigten Zeit.......................................................................... Die prästabilierte Harmonie von Natur und Gnade und der Verheißungscharakter der Zeit.............................................

7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

10 12 14 16 20 22 25 29

40 41 42 42 43 44 45 47 49 52 55 57 58

INHALTSVERZEICHNIS

7

14.

Der Anfang der Monade als Geburt der Welt, der Tod als Vollendung und die Setzung der Ewigkeit als nunc stans ..................................................................... 59

IV.

DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT IN DER PHILOSOPHIE KANTS .................................................................... 64

1. 2.

Einleitung.......................................................................................... Von Leibniz zu Kant oder das Denken der Endlichkeit des Menschen.................................................................................... Der Primat der Zeit gegenüber dem Raum........................................ Von der Monade zur Synthesis ......................................................... Exkurs: Formale und transzendentale Logik..................................... Die Zeit als Sphäre der Synthesis im transzendentalen Schematismus ................................................................................... Der Ideencharakter der Vernunftprinzipien ...................................... Die Antinomie des Anfangs.............................................................. Die Antinomie der Freiheit ............................................................... Naturkausalität und Freiheitskausalität ............................................. Das Problem der ewigen Wahl.......................................................... Die Zeit als Zeitigung von Freiheit ................................................... Die Zeit und das Problem des Lebendigen........................................ Erträge und Grenzen der kantischen Zeitbestimmungen ..................

3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.

64 65 69 70 72 73 76 79 83 84 89 92 95 100

V.

DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER ENDLICHKEIT IN HEIDEGGERS „SEIN UND ZEIT“ ................................................... 102

1.

Ein wichtiger Aspekt aus der Vorlesung „Der Begriff der Zeit“ ............................................................................................ Die Zeitlichkeit der Zeit .................................................................... Von der Monade zum Dasein............................................................ Synthesis und Dasein ........................................................................ Die Geschlossenheit der Monade, das Ganzsein des Daseins und die Möglichkeit von Welt............................................. Furcht, Angst und der Primat der Heimatlosigkeit............................ Die Sorgestruktur des Daseins .......................................................... Das Ganze des Daseins als Zeitigung der durch den Tod markierten Endlichkeit............................................................... Die Zeitekstasen und der Sinn von Sein............................................ Der Primat der Zukunft und das Daseinsganze................................. Der Ursprungscharakter der Zeit....................................................... Heideggers unverzichtbare Einsicht..................................................

2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

102 102 104 107 110 110 113 115 119 122 124 125

8 13. 14.

INHALTSVERZEICHNIS

Vergebene Potentiale und Unerreichbares in Heideggers Denken .............................................................................................. 127 Der Tod als absolute Schranke der Zeit? .......................................... 130

VI.

DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS IN SCHELLINGS SPÄTPHILOSOPHIE .................................................. 135

1. 2. 3. 4.

Der Abgrund des Nichts und die Sinnlosigkeit der Zeit ................... Der Mensch als Mitwisser der Schöpfung ........................................ Exkurs: Das erste Weltalterfragment ................................................ Das transzendentale Ideal und die Suche nach Gott als „Einzelwesen“................................................................................... Freiheit als Erlösung aus dem und durch den Tod............................ Das Scheitern menschlicher Selbstverwirklichung........................... Die zweifache Krisis der Vernunftwissenschaft als Übergang in die positive Philosophie und die Zeitigung des Seins................... Die Zeit als Erweis Gottes ................................................................ Das Gottsetzende Bewusstsein.......................................................... Die Potenzen als Formen der Zeitigung der Zeit .............................. Anfang I: Die Weisheit ..................................................................... Anfang II: Die Freisetzung der ersten Potenz und die Zeugung des Sohnes......................................................................................... Anfang III: Der Fall des Menschen: Die Zeit des Mythos, die Zeit des Logos und die Zeit Satans ................................................... Anfang IV: Die Kenosis des Logos .................................................. Anfang V: Der Anfang des Eschatons und die „Sabbatruhe Gottes“ .............................................................................................. Philosophie und zweiter Mythos...................................................... Schellings Spätphilosophie als Anfrage an Hegel ............................

5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.

135 137 139 141 146 152 154 158 160 164 175 177 181 187 190 193 197

VII. ZEIT UND EWIGKEIT ALS ZEITIGUNG DER LIEBE IN DER WELTBEGEGNUNG DES BEWUSST-SEINS: GEDANKEN ZU HEGELS JUGENDSCHRIFTEN ................................................... 202 1. 2. 3. 4. 5.

Der leitende Gedanke in den Jugendschriften Hegels....................... Die Frage nach der Lebendigkeit der Religion als Ausgangspunkt des hegelschen Denkens ................................................................... Positiver und sympathetischer Weltumgang..................................... Hegels Denken in Gestalten als Transformation des transzendentalen Schemas ................................................................ Die Gestalt Abrahams und der Bewusst-Seinscharakter von Sein und Zeit .............................................................................................

202 202 205 207 208

INHALTSVERZEICHNIS

6. 7.

9

Bewusst-Sein als Schicksal und Liebe und das Verhängnis der Zeit .............................................................................................. 212 Die Liebe und die Geschlossenheit der Zeit...................................... 217

VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN IN HEGELS SPEKULATIVER PHILOSOPHIE....................................................... 224 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.

Vorbemerkung .................................................................................. Die zweite Revolution der Denkungsart, der spekulative Satz und der Primat der Zeit gegenüber dem Raum.......................... Die bestimmte Negation und die Form des Schlusses ...................... Eine erste Annäherung zur Frage nach dem Anfang......................... Eine erste Annäherung zur Verhältnisbestimmung von Denken und Sein ............................................................................... Der Gang der Phänomenologie des Geistes ...................................... Die sinnliche Gewissheit und ihre Bedeutung .................................. Zeit, Ewigkeit, kritische Differenz als zweite übersinnliche Welt................................................................................................... Zeitgestalten I: Leben, Lebendiges, Selbstbewusstsein .................... Zeitgestalten II: Unglückliches Bewusstsein, Vernunft und Sittlichkeit .................................................................................. Die Entfremdung und das Durchbrechen unseres Geltungsanspruches als Herzstück der Philosophie Hegels ............................ Die zwei Entäußerungsbewegungen der Phänomenologie des Geistes und die unabweisliche Bedeutung der offenbaren Religion .................................................................... Die Form der Vorstellung und die Frage des Anfangs...................... Die absolute Idee als Entsprechung .................................................. Die Tilgung der Zeit..........................................................................

224 225 233 242 245 247 252 255 264 269 276 291 298 303 314

IX.

EPILOG: DIE ERÖFFNUNG DER ZEIT UND DIE GASTFREUNDLICHE STADT ........................................... 317

1.

Rückblick: Die Aporien des Zeitproblems und der Zusammenhang von Zeit- und Vernunftkonzeption ........................................... 317 Zeit und Ewigkeit.............................................................................. 325 Die Anaphora als Tiefendimension der Zeit ..................................... 330

2. 3.

LITERATURVERZEICHNIS ........................................................................ 333

I. EINLEITUNG

1. Zeit als Grundthema der Theologie Wer sich dem Offenbarungsthema und dessen Grunddatum – der Menschwerdung des göttlichen Logos in Jesus von Nazareth sowie dessen Tod und Auferstehung um der Erlösung der Zeiten willen – ernsthaft annähern will, sieht sich unweigerlich mit der Frage nach der Zeit konfrontiert, da sie die Sphäre göttlicher Offenbarung ist. Dies hat einerseits zur Folge, dass ihr Charakter entscheidend durch dieses Ereignis geprägt ist, und sie ohne die Reflexion dieses Geschehens gar nicht adäquat besprochen werden kann, und andererseits, dass sie damit konstitutives Moment des Offenbarungsgeschehens und als solches, wie J. Reikerstorfer festhält, als „strukturierendes Moment in die Begrifflichkeit der Theologie einzuholen“1 ist. Auch Heidegger hatte dies wohl im Blick, wenn er in dem Vortrag, den er vor der Marburger Theologenschaft 1924 gehalten hat, meint, dass eigentlich der „Theologe der rechte Sachkenner der Zeit“2 ist. Tatsächlich spielt das zeitliche Erlösungshandeln Gottes eine zentrale Rolle in der jüdisch-christlichen Tradition. Der Gott Israels offenbart/eröffnet sich in der Zeit, indem er in eine Geschichte, konkret in die Geschichte Israels – diese schaffend – eintritt, wobei diese Historie repräsentativ für die Eröffnung menschlicher Freiheit und der ihr korrespondierenden Zeit steht. Dabei ist zu konstatieren, dass im biblischen Sinne Schöpfung ursprünglich die Schöpfung Israels meint, d.h. die Initiierung einer aus sozialen, psychischen und mythologischen Zwängen befreiten Gesellschaft, die dadurch charakterisiert ist, dass ihr von Gott die Zeit oder noch präziser deren „Fülle“ – zu Fest (Liturgie), Lob und Freude – (sukzessive) zugeeignet ist3, wobei erst von diesem Heilshandeln her das kosmisch-universale Schöpfungsgeschehen in den Blick kommt. Dadurch ergibt sich ein unlösbarer Zusammenhang von Freiheit und Zeit oder präziser gesagt von Befreiung und Zeitwerdung, wodurch der Zeitbegriff bloß naturhaften Konnotationen entrissen ist, was sich auch daran zeigt, dass die Feste Israels primär Gedächtnis ergangenen Heils und erst sekundär Gedächtnis der Naturzyklen sind. Aus dieser Beobachtung heraus resultiert die Berechtigung, nicht nur von der Offenbarung Gottes in der Zeit zu sprechen, sondern auch von einer Offenbarung/Eröffnung Gottes der Zeit, in-

1 2 3

Vgl. J. Reikerstorfer, „... denn die Opfer bleiben unerreichbar“ 150. M. Heidegger, Der Begriff der Zeit 5. Siehe unsere Ausführungen in Kap. II.

1. ZEIT ALS GRUNDTHEMA DER THEOLOGIE

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sofern diese die ihr spezifische Qualität erst vor dem Hintergrund dieses Heilsgeschehens erhält. Die kühnste Vision dieser Zeitlichkeit der Offenbarung ist in der Christologie erreicht: Ihr Inhalt ist das Ja, welches Gott zu Jesus von Nazareth als dem Repräsentanten der Menschheit und ihrer Geschichte (die dadurch gerechtfertigt ist, dass Jesus und nicht irgend ein anderer als dieser Repräsentant gesetzt ist!) und der in ihr sich erfüllenden Schöpfung gesprochen hat. Dabei ist zu beachten, dass Jesus von Nazareth als dieser Repräsentant anerkannt ist, weil sich in seiner konkreten Geschichte, d.h. in Leben, Tod und Auferstehung (die dieser Geschichte nicht äußerlich und ohne die diese Geschichte nicht ist!) der ursprüngliche Logos der Zeit, deren Alpha und Omega er ist, selber manifestiert. Damit ist auch gesetzt, dass sich der Logos der Schöpfung zeitlich geoffenbart hat, was uns den Anstoß für die (im Laufe dieser Arbeit vor allem anhand der Philosophien Hegels und Schellings zu entwickelnden) Erkenntnis gibt, dass sich Gott als (Mitte der) Zeit offenbart und die Zeit als Offenbarung/Eröffnung Gottes betrachtet werden muss. Daraus wird resultieren 1) eine radikale Verabschiedung a) des heutigen Verständnisses der Zeit als bloß formaler, leerer und heilloser Ansammlung chronologisch fixierbarer Augenblicke, b) der kalendarisch-chronologischen Zeit als des höchsten Zeitbegriffes überhaupt und c) einer existentialen Zeitauffassung, die den Menschen als bloß endliches Wesen setzt, 2) das Desiderat einer Dialektik von Zeit und Ewigkeit4, die als Dialektik der Zeit selber gefasst werden muss. Wir werden daher die Zeit nur als Moment der Ewigkeit fassen, insofern die Ewigkeit als Moment der Zeit gefasst wird. Dadurch ist die Zeit nicht mehr (bloß) die chronologische Zeit, sondern Dialektik von Zeit/Logos/Zukunft und Ewigkeit/Mythos/Vergangenheit. Man kann in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam machen, dass im biblischen Verständnis die Ewigkeit als Prädikat5 Gottes weder primär die Ewigkeit eines substanzhaft verstandenen Gottes meint, der, in ontologischer Differenz, der Zeit gegenüberstünde, noch ein zeitenthobenes innertrinitarisches Geschehen Gottes bezeichnet, sondern vielmehr im Zusammenhang mit der unauflösbaren Bundestreue Gottes zur Sprache kommt, welche allemal eine Treue zur zeitlichen Existenz Israels (und der Kirche!) beinhaltet. Sehr schön hat dies Barth auf den Punkt gebracht hat, wenn er in seiner Erwäh4 5

Vgl. B. Forte, L´eternità nel tempo. Dass die Ewigkeit in ganz ausgezeichneter Weise Prädikat Gottes ist und diesem zukommt, reflektiert das Buch Kohelet, wenn das Wort „Windhauch“ (in der „Urfassung“ des Buches) ebenso 37mal vorkommt (im Übrigen den Zahlenwert dieses Wortes repräsentierend) wie das Wort „Gott“ und so die Vergänglichkeit des menschlichen Strebens und die Ewigkeit Gottes gegenübergestellt werden.

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I. EINLEITUNG

lungslehre daran festhält, dass Gott „im Raume der Schöpfung seine eigene Herrlichkeit“6 hat. Wir werden aus dieser Erkenntnis heraus aufzuweisen versuchen, dass erst mittels eines solchen zeitbezogenen Verständnisses der Ewigkeit Gottes – welches allerdings radikal abgehoben werden muss von der Vorstellung eines in der Zeit werdenden Gottes – und der damit verbundenen eschatologischen Spannung der Zeit auch die Rede von der göttlichen Trinität und der Auferweckung der Toten einen zeitlichen Sinn und damit Wirklichkeit in Bezug auf ein der Freiheit verpflichtetes und diese nicht zeitlos stilllegendes Leben auf dieser Erde bekommen, womit sich im Übrigen auch die Alternative Freiheit oder Ewigkeit7 nicht mehr stellen wird.

2. Ewigkeit als Erlösung aus der Zeit? Dagegen steht allerdings gerade innerhalb der Theologie der hartnäckige Versuch, die Zeitthematik aus der Offenbarung zu eliminieren, wenn das Erlösungsgeschehen, konkret die Auferstehung der Toten in Christus, nicht als Erlösung der Zeit, sondern als Erlösung aus der Zeit verstanden wird. Dies äußert sich nicht zuletzt darin, dass der Zeit die Ewigkeit – als deren eigentliches Ziel – als zeit- und weltjenseitiges Geschehen gegenübergestellt wird, womit das Leben des Menschen zum Zwischenspiel, welches er möglichst schnell hinter sich zu bringen habe, degradiert zu werden droht. Eine solche Ewigkeit als das Andere der Zeit ist aber eben, wie J.B. Metz in seinem Werk „Glaube in Geschichte und Gesellschaft“ festhält, „nicht Gott, sondern – Natur, oder genauer: Deus sive natura“8. Wir dürfen also schon aus Gründen einer adäquaten Interpretation des Heilsgeschehens nicht platonistisch auf der einen Seite eine uneigentliche, kosmologische, geschichtliche und existentielle Zeit und auf der anderen Seite eine eigentliche, statische Ewigkeit im Sinne des „nunc stans“ ansetzen, wie es etwa Augustinus im zehnten Buch seiner Confessiones – darin Vorläufer für einen Großteil der christlichen Theologie bis heute – vorschlägt. Die Vorstellung des „nunc stans“, wenngleich die Dialektik von Zeit und Ewigkeit wenigstens so weit aufnehmend, dass die Geschichte nicht annihiliert, sondern in der (statisch vorgestellten) Ewigkeit gleichsam geläutert wird, klingt sich in vielen bedeutenden zeitgenössischen theologischen Traktaten an, so z.B. bei H. Kessler „Sucht den Lebenden nicht bei den Toten“, in der „Eschatologie“ von M. Kehl, aber in gewisser

6 7 8

K. Barth, Kirchliche Dogmatik §33, 190. Vgl. L. Pareyson, Ontologia della libertà, der diese (von uns nicht geteilte) Alternative äußerst markant auf den Punkt bringt. J.B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft 169.

2. EWIGKEIT ALS ERLÖSUNG AUS DER ZEIT?

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Hinsicht auch in der Theologie Rahners, und steht sogar im Hintergrund der Erwählungslehre von Barth. Auch das viel diskutierte Votum von G. Greshake und G. Lohfink bezüglich des „Zugleichs“ von individuellem Tod und Eschaton findet sich letztlich auf dieser Linie, da hier der Tod als Transitus in eine zeitenthobene Ewigkeit gedacht wird.

Die Vorstellung des Überganges von der Zeit in die Ewigkeit als im Tod sich vollziehender „Transitus“9 ist eines der Folgeprobleme, die sich aus dieser Zeit- bzw. Ewigkeitskonzeption ergeben, denn der Tod wird darin als ultimative Grenze angesetzt, jenseits derer ein in seiner völligen Andersheit abstraktes, nicht mehr in die menschliche Lebenswirklichkeit hineinragendes Jenseits vorgestellt wird, welches dann zum Phantasma zu verblassen droht und so den Tod als Letztes und Unaussprechliches – damit gleichsam an die Stelle des Gottes der Mystik rückend – setzt. Gerade heute ist allerdings diese undialektische Entgegensetzung von Zeit und Ewigkeit, verbunden mit der Aufhebung ersterer und der völligen Abstraktheit zweiterer, zutiefst fraglich geworden. Der wache und Verantwortung für diese Welt übernehmende Zeitgenosse ist sich der Dignität endlicher, zeitlicher, verletzlicher, „nichtidentischer“, d.h. niemals absolut beheimatbarer Existenz bewusst geworden und scheint eher auf eine solche erschlichene Befriedigung seiner Identität in einer spannungsfreien Ewigkeit zu verzichten als auf die Dignität der ethischen Herausforderung durch den Anderen, welche Endlichkeit und damit Zeit voraussetzt. Im Letzten geht es dabei um den Aspekt der Zukunft, wie nicht zuletzt Heidegger bereits vor „Sein und Zeit“ in der eingangs zitierten Marburger Vorlesung „Der Begriff der Zeit“ gesehen hat. Die Sistierung der Zukunft bedeutete den Verlust der Unableitbarkeit (und damit auch der unausschöpflichen Vergangenheit) des Anderen, den Verlust der Freiheit und des durch die Spannung der Zeit konstituierten Geistes, den Verlust von Neuschöpfung und Geburt, letztlich alles Endlichen überhaupt. An die Stelle der Zeitlichkeit träte eine spannungsfreie, „allwirkliche“, eben ewige Gegenwart, nichts anderes als ein spinozistischer Pantheismus, eine zwar großartig anmutende, letztlich aber doch monströse, im wahrsten Sinne des Wortes höllische Leblosigkeit, die nicht umsonst von Dante in seiner „Divina commedia“ visionär als Eis – was gemäß dem hier Ausgeführten viel tiefer greift als das Feuer – symbolisiert wurde. Die Theologie, die auf diese Weise die sie konstituierende Zeitlichkeit verdrängt hat, was sich auch daran äußert, dass zentrale Theologumena wie die Auferweckung der Toten, die Ewigkeit, der neue Äon, die Basileia, die (liturgische) Gemeinschaft der Lebenden und der Toten, die Theodizee oder auch das Schöpfungsgeschehen ihres Zeitindexes (wenn nicht überhaupt ihres Inhaltes) beraubt wurden, schloss sich so immer mehr aus dem Diskurs der Moderne aus und – schlimmer noch – trug so zu deren Entfremdung von jenen 9

Vgl. die Kritik H.-D. Bahrs in „Den Tod denken“.

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I. EINLEITUNG

christlichen Heilswahrheiten bei. Wohl nicht zuletzt deshalb begannen Denker wie Marx, Nietzsche, Heidegger und viele andere in ihrem Gefolge jene Dialektik von Zeit und Ewigkeit, die charakteristisch für die Bibel ist, zugunsten der Zeit zu sistieren und damit auch die Sterblichkeit als absolute Schranke menschlicher Existenz vorauszusetzen. Die Dialektik von Zeit und Ewigkeit verkehrte sich so zweifach: einerseits in eine freiheits- und zeittilgende, letztlich abstrakt bleibende Ewigkeit – entweder in einem theologischen Sonderraum fixiert oder irrationales, voluntaristisch zu glaubendes Geschehen – und andererseits in den Glauben an die absolute Macht der Zeit über den von ihr letztlich annihiliert werdenden Menschen. Letzterer Standpunkt hat seine wohl wirkmächtigste Ausprägung allerdings nicht in der existentialen Bejahung einer ewigkeitslosen Zeitlichkeit bekommen, sondern in der dem gegenwärtigen objektivierenden und quantifizierenden Weltumgang10 – selber wiederum Erbe des neuzeitlichen aus allen geschöpflichen und zeitlichen Bindungen ausbrechen wollenden Ichs (siehe Kapitel III und VI) – korrespondierenden Vorstellung einer endlos und maschinell-gleichförmig fortlaufenden, entleerten, den Menschen in seiner Endlichkeit als (absurde oder auch in seinen Ansprüchen hypertrophe) Episode setzenden „ewigen“ Zeit. Oder anders gesagt: An die Stelle des die Zeit annihilierenden Jenseits ist ein die Zeit annihilierendes Diesseits getreten, paradoxerweise allerdings in zeitlicher Gestalt, und zwar jener des gleichförmig (sich) verlaufenden, alles nivellierenden Chronos.

3. Die heillose chronologisch-quantitative Zeit Vielleicht ist im Zusammenhang mit dem oben Ausgeführten auch die zunehmende Anzahl von Publikationen, in- und außerhalb der Theologie, zur Zeitthematik zu verstehen. Denn es drängt sich der Verdacht auf, dass uns die sich aus dem neuzeitlichen Weltumgang mit seinem Versuch totaler Kontrollierund Berechenbarkeit einstellende Maschinenwelt auch in der Zeitauffassung zum Schicksal geworden ist. Der gleichförmig verfließende Zeitstrom dieser artifiziellen Welt setzt sich in einem als gewaltige Maschine (und nicht mehr als Kosmos) verstandenen Universum fort und spült den Menschen und sein Verständnis, Krone der Schöpfung und Bild Gottes und damit auch Sinngebung der Zeit zu sein, hinweg.

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Mit dem Ausdruck „Weltumgang“, der in dieser Arbeit oft begegnen wird, wollen wir zu verstehen geben, dass der Mensch noetisch geprägt ist durch die Art und Weise, wie er individuell und gesellschaftlich der Welt begegnet (wie er mit der Welt „umgeht“).

3. DIE HEILLOSE CHRONOLOGISCH-QUANTITATIVE ZEIT

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Die moderne Kosmologie datiert das Alter des Universums auf etwas mehr als 13 Milliarden Jahre11, wenige davon, vielleicht 200.000, sollen dem Menschen gehören, der sich sprachlich zu artikulieren versteht, also dem Homo sapiens sapiens12. Und könnte man etlichen Wortführern heutiger Kosmologie vertrauen, ist die kosmische Zukunft, einer Maschine vergleichbar, noch gleichgültiger in Bezug auf die menschliche Existenz. So wird von vielen Physikern ein ewiger Kältetod des Universums prognostiziert, je nach Theorie in einigen Milliarden oder auch in unfassbaren Zeitspannen wie 1035 (Protonenzerfall) oder gar 1099 Jahren13. Die menschliche Welt scheint also gemessen am Universum nicht nur, angesichts von Trillionen von Galaxien, räumlich bedeutungslos14, sondern auch zeitlich lediglich Episode einer kosmischen Evolution zu sein, die allerdings nicht immer komplexere Strukturen (bis hin zum Punkt Omega) hervorbringt, an denen sich noch eine Minderheit teleologisch eingestellter Biologen oder Fortschrittsoptimisten zu trösten vermögen, sondern im Nichts, oder besser gesagt – gemäß dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, der die ständige Zunahme der Entropie (Strukturlosigkeit, Unordnung) in einem abgeschlossenen System, d.h. einem solchen, dem keine Energie von außen zugeführt wird, postuliert – im Erlöschen jeder Struktur endet. Theologisch hat v.a. J.B. Metz in Anschluss an Denker wie Bloch und Benjamin sowie eines biblisch-apokalyptischen Zeitverständnisses Einspruch gegen eine evolutionistisch-chronologische Auffassung einer „Zeit ohne Finale“ angemeldet. Besonders in den Zeituntersuchungen im zehnten Paragraphen von „Glaube in Geschichte und Gesellschaft“ weist er darauf hin, dass sich die Offenbarung ihres Verheißungskerns begibt, wenn sie unter das Paradigma der Evolution, verstanden als berechenbares chronologisches Voranschreiten, gerät. In diesem Zusammenhang weist Metz darauf hin, wie tief dieses Paradigma in unserer Gesellschaft verankert ist, wenn Raumschiffe wie die Voyager gebaut werden, deren „Weltraumtour voraussichtlich niemals endet.“15 Diese „Evolutionslogik“ ist also, wie Metz sagt, „Metaphysikersatz“16, wobei ihr Zeitverständnis jedoch keineswegs „rationaler [sei] als die Zeitsymbole der Religion, eben [nur] undurchdringlicher“17. Diese Undurchdringlichkeit zeigt sich in der alles nivellie11

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Wiewohl es heute sogar bei Vertretern der Stringtheorie Tendenzen gibt, die sogenannte Urknalltheorie mit ihrer Problematik, dass ihr Anfangszustand eine physikalische Singularität darstellt, dahingehend zu revidieren, dass „vor“ ihm ein quasi ewiges Quantenfeld angesetzt wird. Vgl. den Artikel von G. Veneziano, Die Zeit vor der Zeit. Die momentan sehr heftig geführte Diskussion, ob der sogenannte Neandertaler dem modernen Menschen intelligenzmäßig gleichrangig war, was Auswirkungen auf die Datierung des ersten chronologischen Auftretens des Menschen hätte, können wir auf sich beruhen lassen. Vgl. D. Dicus, J. Letaw, D. Teplitz, V. Teplitz, Die Zukunft des Universums 118-130. Allerdings gibt es in jüngster Zeit immerhin einige bemerkenswerte astrophysische Überlegungen, die darauf hindeuten, dass auch astronomisch gesehen die Erde wohl eher ein absoluter Sonderfall ist. Vgl. dazu L. M. Krauss, G. D. Starkman, Das Schicksal des Lebens im Universum und P. D. Ward, D. Brownlee, Unsere einsame Erde. J.B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft 166. J.B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft 167. J.B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft 167.

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I. EINLEITUNG

renden Macht des Chronos, der aus Ereignissen bloß leere Fakten macht und damit der Zeit jede Qualität nimmt, kurz, wie Metz es auf den Punkt bringt, „die Fiktion von Zeit als einer leeren überraschungsfreien Unendlichkeit [setzt], in die alle und alles gnadenlos eingeschlossen sind“18.

4. Zum (post)modernen Zeitverständnis und seinen Abgründen Der evolutionistisch-chronologische Zugang zur Zeit, ganz der um totaler Beherrschbarkeit willen geschaffenen Maschinenwelt entsprechend, durchdringt auch auf substanzielle Weise heutiges „(post)modernes“19 Lebensverständnis. Der Zeitgenosse – zumindest westlicher Provenienz, dessen maßloser (zeitlicher) Nihilismus aber auch alle anderen Kulturen aufs tiefste erschüttert und traumatisiert –, der seine individuelle Existenz in das Zentrum der Welt gerückt hat und darin noch immer vom Wert des Menschen aus (der Vergangenheit anheimgegebener) jüdisch-christlicher Tradition und derem säkularen Erbe weiß oder diesen zumindest ahnt, erfährt den sich ewig verlaufenden Zeitstrom, der alles Sterbliche zernichtet und nicht einmal die Spur einer Erinnerung übriglässt, als monumentales Trauma: teils äußerst handfest in der konkreten Ausprägung dieses Nihilismus in den fließbandbestückten Fabriken unserer Maschinenhallen, in denen die Zeit ewig weiterläuft, teils auf eher allgemeine Weise in der Sinnkrise unserer Zivilisation. Wenn wir hier vom Zeitgenossen westlicher Provenienz und seinem inhaltsleerchronologischen Zeitverständnis sprechen, inkludieren wir auch die angloamerikanische Welt, die Ausgangspunkt des die ganze Welt mittlerweile berührenden empirischquantifizierenden Atheismus geworden ist. Dabei greift das Argument zu kurz, dass gerade die US-amerikanische Kultur nicht säkularisiert sei. Denn abgesehen von den bekannten geschichtlichen Gründen der bestimmenden Rolle der Religion, wie etwa dem religiös inspirierten Gründungsereignis Amerikas in protestantischer Flucht und Landnahme, sowie der nicht vorhandenen Tradition eines obrigkeitsstaatlichen Christentums, gegen welches also auch nicht angekämpft zu werden brauchte, ist doch die teilweise unglaubliche Aggressivität und die völlig positivistische Glaubensauffassung der amerikanischen Evangelikalen wohl in einer tiefen Erschütterung durch diesen grundsätzlich atheistischen, weil keinen Raum für die Transzendenz lassenden Empirismus begründet, was sich ganz besonders im Streit zwischen Darwinismus und Krea18 19

J.B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft 168. An dieser Stelle sei nur angedeutet, dass wir den Unterschied von Moderne und Postmoderne darin festmachen, dass der Postmoderne die große Metaerzählung der Moderne, nämlich die Erzählung vom „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ fraglich geworden ist.

4. ZUM (POST)MODERNEN ZEITVERSTÄNDNIS UND SEINEN ABGRÜNDEN

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tionismus zeigt. Dabei sind im Übrigen beide Theorien einander viel ähnlicher, als es die Kontrahenten wahrhaben wollen, gehen sie doch auf dasselbe chronologisch undialektische Zeitverständnis zurück20.

Angesichts dieses Zeitstroms, der zu groß für die Sterblichen ist und sie der ungeheuren Leere der völligen Annihilation aussetzt21, welche letztes unverrückbares Qualitätsmerkmal dieser kosmologischen Zeit ist, scheint auch jenes kulturelle Gedächtnis22, welches von Alters her von Generation zu Generation weitergereicht wurde, nichts als Narretei. So wundert es nicht, dass der Mensch der Postmoderne tragisch-heroisch diesem Zeitstrom seine hypertroph anmutenden Versuche der Überwindung entgegensetzt, indem er ihm ein Stück Existenz, eine Art Aufschub herauszureißen trachtet oder gar ihn unter Kontrolle zu bringen sucht. Wir erleben in diesem Zusammenhang die Jagd nach dem vergangenheitsund zukunftsvergessenen Augenblick, in dem alles Leben sich versammeln und dem Nichts bzw. dem Abgrund der Zeit entrissen werden soll. Insofern diese Ansammlung von Events, d.h. unmittelbaren Zeitekstasen, nicht zu befriedigen vermag und uns dieser nichtigen Zeit je aufs Neue zurückgibt, muss diese grundsätzlicher kontrolliert werden, wofür die allgegenwärtigen Chronometer dienen. Diese transponieren dabei nicht mehr die natürlichen Eigenzeiten in die menschliche Welt, sondern unterwerfen alles, das menschliche Leben eingeschlossen, ihrem gleichermaßen unerbittlichen wie abstrakten zeitlichen Raster. Immer mehr Zeitinhalt, d.h. Lebensmöglichkeit, soll dabei dieser chronologischen Zeitform eingefügt werden, am Ende aber wird diese Form selbst der Inhalt, der sich den Menschen unterwirft. Dieser scheitert damit an der Zeitkontrolle (und mit ihr an der Kontrolle alles Seienden) und beginnt die Zeit immer stärker als ebenso unpersönliches wie unerbittliches Verhängnis, d.h. als unverrückbar ablaufenden Zeitpfeil zu erfahren. Die Vergangenheit versinkt ins Dunkel, die Gegenwart zeigt sich als bloßer Schein und die Zukunft trägt das Antlitz des Todes. Diese Zeit ist vor allem durch ihr (undialektisches) Verschwinden gekennzeichnet, wogegen der Mensch noch einmal mit dem Versuch der Wiederholbarkeit der Ereignisse antwortet. Dazu bedarf es heute keiner Magie mehr, sondern die verschwindende und sich entziehende Zeit soll mittels Videorekorder und Videokamera als Erbe einer langen Entwicklung, die wohl bereits mit der Schrift und ihrem Drang zur Ver20

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Man wird allerdings nicht umhinkommen, dem von Seiten des aufgeklärten Europäers (und Amerikaners) so belächelten amerikanisch-evangelikalen Bibelfundamentalismus bei all seiner theologischen Unbedarftheit ein wahres Moment zuzuerkennen, nämlich die Sorge vor der Naturierung und Annihilierung des Menschen und das, wenngleich nicht reflektierte, Wissen um die Abstraktheit des als definitive Zeitvorstellung gefassten Evolutionsgedankens. Dies heißt natürlich nicht, Methode, Theologie und reaktionär-politischen Machtanspruch von Segmenten dieser Glaubensrichtung zu teilen. Vgl. die sehr schöne Beschreibung dieses neuzeitlichen Mythos des annihilierenden Nichts von H.-D. Bahr, Den Tod denken. Vgl. P. Sloterdijk, Im selben Boot.

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I. EINLEITUNG

festigung einsetzt, dem Vergessen entrissen werden; der gegenwärtige Augenblick soll abrufbar bleiben und Zukunft als Zukunft – d.h. in ihrer Unableitbarkeit – am besten gar nicht stattfinden. Der Versuch ultimativer Kontrolle über die Zeit tritt aber erst jetzt am Horizont auf, nämlich einerseits mit dem Eingang des Menschen in eine von ihm geschaffene, computeranimierte Virtual Reality mit ihrer grundsätzlich wiederholbaren Zeit (die Welt sozusagen als Videospiel), andererseits mit dem Traum vom Klonen oder gar von der Speicherung des menschlichen Gedächtnisses auf Festplatte um der ewigen Fortdauer und Verfügbarkeit willen, wobei beide Varianten die früher für das Jenseits erhoffte Macht über die Zeit in das Diesseits übertragen.23 Der Mensch der (Post-)Moderne erweist sich in diesen Kontrollversuchen als würdiger Erbe des gefallenen, d.h. die göttliche Sphäre usurpieren wollenden Adams, der die Apotheose des eigenen Ichs zu erlangen sucht, indem er vom Baum des Lebens essen will, also die Zeit unter Kontrolle zu bringen sucht. Dabei schlägt Adam (wie sein Nachkomme) die göttliche Gnade aus, die darin bestanden hat, ihn von diesem Baum fernzuhalten und ihm die Sterblichkeit und darin auch die Menschlichkeit aufs Neue zu schenken, und träumt stattdessen den (Alp-)Traum unendlicher Lebenssteigerung.

In diesem neuen Horizont einer ultimativen Kontrolle der Zeit treten wir wohl auch von der Moderne in das Stadium der Postmoderne über. Denn während erstere nicht zuletzt in Bezug auf das Zeitverständnis in der Tradition des Logos steht, haben wir es in zweiterer mit einer Form der Remythisierung zu tun. Dies ist näher so zu bestimmen, dass am Ausgang des Mythos die Durchbrechung einer naturanalogen rituell-zyklischen und nicht gerichteten Zeit zugunsten einer „Differenz von geschichtlicher und naturgeschichtlicher Zeit, welche nicht mehr als Analogien füreinander anerkannt werden“24, stattfindet. Anders gesagt: Insofern sich der Mensch als autonomes und freies Wesen erkennt und damit geschichtliche Handlungen setzt, findet auch die Setzung einer bestimmten, zyklisches Maß durchbrechenden, chronologisch konnotierten Zeitrichtung statt. Diese wird irreversibel, was sich daran zeigt, dass die aus dem Bewusstsein der Freiheit resultierende Verantwortung für ein bestimmtes Geschehen nicht einfach getilgt werden kann. Wir sehen in diesem Zusammenhang, dass das chronologische Zeitverständnis ein Korrelat zum Bewusstsein der Freiheit darstellt, welches als Moment bewahrt werden muss, allerdings in seiner Absolutsetzung zu den oben genannten Aporien führt, weil der bloße Chronos der Geschichte in seinem grundsätzlich unbeschränkten Weiterlaufen schließlich in eine Freiheit erneut tilgende Zeit übertritt.

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Vgl. den Roman von T. Williams, Otherland, der, bei aller formalen Schwäche, doch auf höchst eindrucksvolle Art und Weise die (beklemmende) Vision einer solchen Zeit nachzeichnet. H.D. Klein, Geschichtsphilosophie 59.

4. ZUM (POST)MODERNEN ZEITVERSTÄNDNIS UND SEINEN ABGRÜNDEN

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Das Problem der absoluten Zeitmanipulation des Menschen der Postmoderne – ausgedrückt in seinem Willen zur virtual reality, in seinem Traum von der Speicherung seines Gedächtnisses, aber auch in seinem Glauben an die Reinkarnation, der immer mehr bei jenen, die nicht den Tod als absolute Schranke ansetzen, den Glauben an die Auferstehung der Toten ersetzt – ist genau der Wille zur unbeschränkten Wiederholbarkeit der Zeit, die damit wieder mythischen Charakter annimmt. Dies geschieht allerdings um den Preis der Selbstaufgabe des Menschen als freies Wesen, der so nicht mehr als Subjekt einer ethisch verantworteten Zeit auftritt, sondern in dieser Virtualität zum technischen Konstrukt regrediert. Der Mensch, angetreten, um die Zeit zu beherrschen, wäre damit den Konstrukten seines Herrschaftswillens definitiv erlegen und die Zeit zeigte als (scheinbar) beherrschte keinen Sinn, sondern immer nur den Abgrund ihrer den Menschen verschlingenden Richtungslosigkeit. Wir stehen damit vor dem Paradoxon, dass der Aufbruch des Menschen aus einer ziel- und richtungslosen Zeit entweder zu einer heillosen, ins Unendliche weiterlaufenden chronologischen Zeit oder aber in eine Remythisierung führt (auf die Alternative eines existentialen Zeitverständnisses im Sinne Heideggers werden wir noch zu sprechen kommen), sei es durch die Vorstellung einer zeittilgenden Ewigkeit, sei es durch deren säkulares Surrogat einer virtuellen oder durchtechnisierten Welt. Vielleicht hat diese destruktive Tendenz solch heilloser Zeit bzw. Ewigkeit niemand eindringlicher auf den Punkt gebracht als Jean Paul in seinem düsteren Bild der „Riesenschlange der Ewigkeit“, die programmatisch eingebettet ist in die „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“: Und als ich niederfiel und ins leuchtende Weltgebäude blickte: sah ich die emporgehobenen Ringe der Riesenschlange, die sich um das Welten-All gelagert hatte – und die Ringe [der Riesenschlange] fielen nieder, und sie umfasste das All doppelt – dann wand sie sich tausendfach um die Natur – und quetschte die Welten aneinander – und drückte zermalmend den unendlichen Tempel zu einer Gottesacker-Kirche zusammen – und alles wurde eng, düster, bang – und ein unermeßlich ausgedehnter Glockenhammer sollte die letzte Stunde der Zeit schlagen und das Weltgebäude zersplittern... als ich erwachte.25

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Jean Paul, Siebenkäs 301.

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I. EINLEITUNG

5. Fortschritt, Eschaton und Theodizee der gefährdeten Zeit Angesichts des bisher Gesagten mutet es wohl nicht unproblematisch an, wenn K. Rahner nach einer „Christologie innerhalb einer evolutiven Weltanschauung“ fragt, wobei allerdings auch Rahner um die Problematik des Verhältnisses von christlichem Glauben und evolutivem Weltverständnis weiß, wenn er betont, dass „die radikalere und letztlich für den christlichen Glauben selbstverständlichere Frage die [wäre], wie sich eine evolutive Weltanschauung rechtfertigen kann vor dem christlichen Glauben.“26 Allerdings weist er gleichzeitig darauf hin, dass der Glaube den „Verstehenshorizonten, die er [der Glaubende] mit seiner Zeit und den Zeitgenossen teilt“27, „einpassbar“ sein muss. Eine solche Einpassbarkeit kann, wie wir bereits gezeigt haben, natürlich nicht jene in ein chronologisches Schema sein, welches die menschliche Geschichte als Teil der Naturgeschichte und diese wieder als Teil einer dieser noch übergeordneten kosmischen Geschichte deutet. Vielmehr muss umgekehrt die Letztere in der menschlichen, von Gott geoffenbarten Heilsgeschichte verankert sein, was ja nicht zuletzt Rahner in seinem „Grundkurs des Glaubens“ auf das Eindrucksvollste durchführt. Allerdings stellt sich darin, neben dem von uns bereits angedeuteten Problem, ob nicht eine Zeitvorstellung auf Grundlage eines wie auch immer gearteten evolutionistischen Schemas automatisch in die Vorstellung einer endlos chronologischen, im Letzten menschenfreien Zeit führt – und tatsächlich lässt sich ja selbst bei Denkern wie Rahner eine gewisse Verlegenheit angesichts kosmischer „a-“ bzw. „vormenschlicher“ und dann womöglich auch nachmenschlicher Zeit, der man nur begegnen kann, wenn dann doch irgendwann ein ontisch mechanistisches Eingreifen Gottes in den Weltlauf gesetzt wird, nicht leugnen –, die Frage, ob nicht das Evolutionsmodell auch ohne seine naturhaften Konnotationen als Grundlage eines theologischen Zeitverständnisses höchst problematisch ist. Genau darauf weist die von uns bereits angesprochene Zeituntersuchung von Metz hin, wenn sie vom „katastrophischen Wesen der Zeit“28 spricht. Sie wendet sich darin gegen den heute zutiefst fraglich gewordenen (in seinen Wurzeln bis hin zu Joachim von Fiore reichenden) Fortschrittsoptimismus, sei er philosophischer Natur – wie jener von Hegels Geschichtsphilosophie, die sich allerdings, allem geschichtsphilosophischen Verdienst zum Trotz, nicht auf der Höhe seiner spekulativen Schriften befindet, oder auch einiger marxistischer Deutungen der Geschichte –, sei er theologischer Natur, wie er etwa bei Teilhard de Chardin und einigen Vertretern der Prozesstheologie vorliegt. Denn das Problem ist, dass solcher Fortschritt immer die Brüche der Ge26 27 28

K. Rahner, Grundkurs des Glaubens 180. K. Rahner, Grundkurs des Glaubens 180. J.B. Metz, Glaube 171.

5. FORTSCHRITT, ESCHATON UND THEODIZEE DER GEFÄHRDETEN ZEIT

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schichte und die Nichtbeheimatung in der Natur zu überblenden und so zur „Siegerideologie“ zu werden droht – unter Vergessen derer, die keine Spuren in der Geschichte zu hinterlassen vermochten. Es drängt sich dabei der Verdacht auf, dass in solchem Verständnis die Geschichten der Untergegangenen und Gedemütigten zum Mittel einer gleichermaßen überpersonalen wie erschlichenen Vernunft herabgesetzt werden. Theologisch stellt sich damit die Anfrage Schellings an Hegel (die allerdings der Geschichtsphilosophie Hegels „gebührt“), ob denn nicht auf diese Art und Weise der lebendige Gott zu einem notwendigen Prinzip herabgewürdigt wäre. Weiters ist zu konstatieren, dass in einem derartigen geschichtstheologischen Modell kein Platz für die in biblischer Tradition so bedeutsame Anfrage an Gott und für das Gebet – und auch die Klage – zu Gott wäre. Damit wäre auch der jede Selbstversicherung und Selbstimmunisierung sprengende Impetus der Theodizeefrage sistiert zugunsten eines besitzergreifenden und unerschütterbaren Wissens um die Zeit und diese so um die ihr eigentümliche Spannung – die doch auch den Ausgangspunkt aller Hoffnung darstellt – gebracht, die ihr im Bewusstsein der Verletzlichkeit des Menschen und der Geschichte innewohnt. Gegen diesen Gedanken eines linearen Geschichtsverlaufs bzw. eines Zeitund Gottesbegriffs, der in der chronologischen Geschichte aufgeht, setzt Metz den Gedanken einer durch das Eschaton (und nicht den Chronos) umgrenzten Zeit, „einer Zeit, in der es Zeit wird für die Zeit“29, d.h. er beginnt mit dem Versuch einer, so könnte man es wohl nennen, Temporalisierung der Zeit, in der diese weder als verräumlichter Hintergrund der Ereignisse noch als statischer Sinnträger Gottes und der Geschichte fungiert, sondern einen eschatologischen „Vermerk“ durch die Nachfolge Christi, die memoria passionis und die subversive – d.h. die Plausibilität des Faktischen, und dies ist allemal die Plausibiltät des Mächtigen, herausfordernde – Erzählung erhält. Auf diese Weise wird die Zeit selber als „ungleichzeitig“ erfahren, d.h. der chronologische Zeitstrom und die in ihm waltende Faktizität wird unterbrochen und die Ereignisse, die Geschichte erhalten einen „Zeitvermerk“, d.h. jene Spannung, die sie bloßer Präsenz entziehen. In diesem Zusammenhang muss allerdings vor einem möglichen Missverständnis eines solchen eschatologischen Zeitverständnisses gewarnt werden: Dieses darf nicht dahingehend interpretiert werden – wie dies etwa, so scheint es, J. Ebach tut30 –, dass unsere Zeit von einer Ewigkeit in einem chronologischen „Danach“ (ontisch) unterbrochen würde. Man muss zwar nicht so weit gehen wie Liebrucks, der eine solche Vorstellung in heutigem Kontext als „Barbarei“ qualifiziert31, denn tatsächlich hat sie, wie wir sehen werden, ein berechtigtes Moment, allerdings wäre doch damit ein Rückfall in die eingangs bereits angedeuteten Aporien bezeichnet. Weiterführender sind diesbezüglich 29 30 31

J.B. Metz, Glaube 170. Vgl. z.B. J. Ebach, Apokalypse und Apokalyptik 244. B. Liebrucks, Sprache und Bewusstsein V, 290.

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I. EINLEITUNG

die Überlegungen von Barth in seinem Römerbriefkommentar, wenn er metaphorisch davon spricht, dass „Jesus als der Christus [...] die uns unbekannte Ebene [ist], die die uns bekannte senkrecht von oben durchschneidet“32. Allerdings vermag wohl auch eine Ewigkeit als das ganz Andere der Zeit nicht zu überzeugen, da so erneut deren zeitlicher Horizont, d.h. deren Bedeutung für eine der Welt verpflichteten Rede unterlaufen würde. Demgegenüber werden wir gerade die Dialektik von Zeit und Ewigkeit, die einem eschatologischen Verständnis zu Grunde liegt, ausarbeiten müssen.

6. Zur Aufgabe der vorliegenden Arbeit Angesichts des bisher Ausgeführten gilt es für einen in dieser Arbeit zu entwickelnden Versuch einer Theologie der Zeit folgende Abgrenzungen und Aufgabenstellungen in Angriff zu nehmen: Erstens gilt es, das grausame Bild einer alles – und das heißt nicht zuletzt: geschöpfliche Freiheit und Verantwortung – verschlingenden rein chronologisch, d.h. ins Unendliche weiterlaufenden Zeit zu vermeiden, in der der Mensch, die Toten, das Leidensgedächtnis, die Schöpfung lediglich Episode, nicht bedeutsamer als irgendwelche mechanischen Objekte, bleiben. Es wäre dies eine Zeitbestimmung, die zu ihrer Voraussetzung die Auffassung der Welt als mechanisches Objekt hat und in deren Ziellosigkeit die leere Unendlichkeit der chronologischen Zeit an die Stelle des lebendigen Gottes träte. Gegen sie gilt es im Sinne Schellings herauszuarbeiten, dass wir „durch den Begriff des Absoluten [...] den Begriff der leeren Unendlichkeit aufgehoben [haben], wo kein Anfang und kein Ende ist.“33 Wie weit dieser Primat der Chronologie reicht, zeigt nicht zuletzt unser Datierungssystem. Tatsächlich ist es eigenartig, dass die erst seit der Neuzeit sich einstellende Aneinanderreihung von Jahren, mag sie auch noch so christlich signiert sein, nicht stärker hinterfragt wird. Denn ist es wirklich der Weisheit letzter Schluss, wenn man gerade als Christ die Ereignisse immer weiter von ihrem Heilszentrum entfernt?

Zweitens ist auch das ebenfalls freiheitssistierende Bild einer statischen und eingefrorenen Ewigkeit fernzuhalten. Diese wird zumeist als (verräumlichte) „Hinterwelt“, als „Jenseits“ zur Zeit, verstanden, wobei dann a) unter dem Eindruck der Wende zum Subjekt die individuelle Erlösung unabhängig vom universalen Heilsgeschehen in den Vordergrund tritt. Es handelt sich also in der heutigen Ausformulierung dieser Vorstellung darum, individuell den eigenen Himmel zu erlangen. Das universale Gericht, welches in diesem Vorstel32 33

K. Barth, Römerbrief 6. F.W.J. Schelling, PhdO 61.

6. ZUR AUFGABE DER VORLIEGENDEN ARBEIT

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lungshorizont eher bei b) apokalyptischen Bewegungen anzutreffen ist, wird in dieser Variante der „statischen Ewigkeit“ dann, wie oben bereits erwähnt, als je nach Weltauffassung herbeigesehnter oder gefürchteter chronologischer Schlusspunkt der Geschichte, d.h. als eine Ewigkeit, die sich nach der Geschichte ereignet, aufgefasst, womit man letztlich im chronologischen Schema verbleibt. In Bezug auf die in den institutionalisierten Kirchen vorherrschenden Vorstellungen ist zu sagen, dass zwar theoretisch der apokalyptische Horizont eines Abbruchs der Zeit am Ende einer (ebenfalls oft zumindest implizit chronologisch gefassten) Geschichte noch beiherspielt, aber die individuelle Eschatologie meist im Vordergrund steht, wobei im Übrigen beide wenig vermittelt werden.

Schließlich gibt es c) noch die sicherlich sehr bedenkenswerte, aber zuletzt nicht haltbare Vorstellung des „nunc stans“, also einer ewigen Präsenz, die alle Zeit immer schon in sich eingeschlossen hätte. Dieses Bild steht heute wohl im Hintergrund der meisten Theologien. Allerdings wird auch in dieser Konzeption weder der (eschatologische) Aspekt der Zukunft, d.h. das ewig unableitbare Handeln Gottes, adäquat berücksichtigt noch wird der Tatsache Rechnung getragen, dass es gerade die Geschöpflichkeit des Menschen, seine bleibende Verwiesenheit auf Gott, seine Endlichkeit und Verletzlichkeit ist, letztlich die Unmöglichkeit, allmächtig über den Anderen zu verfügen bzw. den Anderen durchgehend zu bestimmen – und zwar eben in alle Ewigkeit nicht –, die die Grundlage jeder Ethik, jeder wahren Mitmenschlichkeit und wahrer Lebendigkeit ausmacht. Der allmächtige und unverletzbare Mensch wäre der Teufel. In diesem Zusammenhang wird auch zu zeigen sein, dass einer solchen undialektischen Gegenüberstellung von Zeit und Ewigkeit das Problem der positivierten Entgegensetzung von ökonomischer und immanenter Trinität entspringt, wobei letztere ein Abstraktum bleibt, und dass darin gerade kein adäquater Zugang zu einer Theologie des Geistes möglich ist. Dieser bleibt darin vielmehr darauf eingeschränkt, Verbindungsglied der Selbstidentität Gottes zu sein. Drittens wird a) der paradigmatische Weg Heideggers anzufragen sein, der die Dialektik von Zeit und Ewigkeit zugunsten ersterer sistiert. Denn so wichtig die Herausarbeitung der Zeitstruktur des Seins und damit auch das unhintergehbare Moment des Endlichen sowie die Verabschiedung einer schlechten Unendlichkeit war und ist, werden wir uns doch die Frage zu stellen haben, ob bei Heidegger nicht an die Stelle Gottes der Tod als unheimliche Gottheit tritt, die jede Gemeinschaft von Lebenden und Toten verunmöglicht und so die Toten gleichsam zurücklässt. Dazu stellt sich bei Heidegger trotz des großartigen Physisaufsatzes die Frage, ob er nicht auch die Eigenzeit der Natur entleert habe. Viertens ist der Weg unerschwinglich, die Ewigkeit undialektisch innerweltlich zu verorten, wie dies, unter Nivellierung seiner spekulativen Einsichten etwa im Hinblick auf das Verhältnis von Weltgeist und absolutem Geist, He-

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I. EINLEITUNG

gel in „seinem schlechtesten Werk“ (Liebrucks), den „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ getan hat. Eine solche innerweltlichchronologische Erlösung hätte immer, wie Metz richtig festhält, die Opfer der Geschichte im Rücken, wäre, wie bereits angedeutet, hoffnungslose Siegerideologie. Nicht zufälligerweise wäre darin auch die individuelle Auferstehung aufgehoben. Fünftens wird der Versuch einer unmittelbaren Rückkehr in den Mythos und der ihm korrespondierenden Zeitvorstellung („ewige Wiederkehr des Gleichen“) zurückzuweisen sein. Diese ergibt sich aus dem Sistieren der Dialektik von Zeit und Freiheit34, d.h. dem Sistieren des untrennbaren Bezugs von menschlicher Freiheit, wie sie sich in der Praxis der Anerkennung manifestiert, und Zeit (vgl. das Kantkapitel, Kapitel IV), wobei dieser Zusammenhang als Verbindung/Bund menschlicher und göttlicher Freiheit in seiner Tiefendimension im Hegelkapitel (Kapitel VII) im Begriff der (Zeit als) Entäußerung zur Sprache kommen wird. Gegenüber diesen Formen des Zeitdenkens werden wir, wie eingangs bereits gesagt, versuchen, die Zeit von der Offenbarung/Eröffnung Gottes und diese von jener her zu denken. Dabei wird sich uns sukzessive ein Zeitbegriff enthüllen, der in der Dialektik von Zeit und Ewigkeit, von Logos und Mythos, von Chronos und Kyklos, von Geschichte als Historie (history) und Geschichte als Narrativität (story) steht. Wir werden sehen, dass die Zeit nicht mehr bloß die geschichtliche oder naturgeschichtliche (an dieser Stelle sei nur angedeutet, dass wir auch eine Narrativität der Natur und ihrer Eigenzeit zumindest anzudenken hätten) Zeitenfolge ist, sondern ihre Tiefenstruktur im Heilsgeschehen selber hat. Dabei wird sich ergeben, dass die chronologische Zeit von einer näher zu bestimmenden (biblischen) Heilsgeschichte als deren Anfang, „Mitte“ und Finale eingefasst ist, insoweit diese wiederum offen ist für je neue geschichtliche Zukunft. Anders formuliert: Das Heil der geoffenbarten „geschlossenen“ Zeit ist unerschwinglich ohne das – vor dem Hintergrund dieses Heilsgeschehens nicht mehr zernichtenden – In-die-Fremde-Gehen eines je neuen Aufbruchs in den Horizont des Anderen. Das „Trocknen der Tränen“ ist nur möglich in der Trauer um das Verlorene. Wir müssen in diesem Zusammenhang einen Zeithorizont zu vernehmen trachten, in dem der Logos den Mythos und damit die kalendarische die zyklische Zeit durchbrechen muss unter der Bedingung einer eodem actu statthabenden Umwendung vom Logos in einen (zweiten, d.h. durch den Logos gegangenen) Mythos – weshalb Bonhoeffer vollkommen Recht darin zu geben ist, dass er sich gegen das von Bultmann versuchte Programm einer Entmythologisierung der Offenbarung gewandt hat –, d.h. indem beide Wendungen als 34

Sehr eindringlich herausgearbeitet ist die Konsequenz eines remythisierten Zeitverständnisses im Vergleich zu einer christlichen Zeitkonzeption bei: N. Capozza, Im Namen der Treue zur Erde. Nicht zuletzt werden in diesem Buch, v.a. S 215-324, die Grenzen des Zeitbegriffs von Nietzsche vor dem Hintergrund der Theologie Bonhoeffers dargestellt.

7. ZUM FORTGANG DER VORLIEGENDEN ARBEIT

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eine Bewegung zu denken sind. Dies wird uns vor allem in den Raum der hegelschen Dialektik von Zeit und Ewigkeit, wie sie im Begriff der „zweiten übersinnlichen Welt formuliert ist“35, führen, sowie in die Offenbarungsphilosophie Schellings samt ihrer Verhältnisbestimmung von „positiver“ und „negativer“ Philosopie. Dabei werden wir auch darauf stoßen, dass die Zeit nur in der Spannweite des „UND“ von Zeit und Ewigkeit, Immanenz und Transzendenz, Natur und Gnade etc. zu besprechen ist, wobei der Wegfall einer der beiden Sphären auch die Sistierung des Menschen bedeutete. Gleichzeitig wird sich als ein Desiderat der Arbeit eine Umwendung des Vernunftverständnisses ergeben, die aus der Zeitstruktur des menschlichen Weltumgangs folgt. D.h., wenn Gott sich als (Fülle der) Zeit offenbart, wird diese auch der Horizont der Vernunft sein müssen, was zur Folge hat, dass alle statischen („präsentischen“, „metaphysischen“) Fundamente und Prinzipien abgewiesen werden müssen. Eine Verbindung von Zeit und Vernunft wird sich uns in den Jugendschriften Hegels eröffnen sowie im spekulativen Satz, der der Satz des Offenbarungsgeschehens im menschlichen Weltumgang ist. Wir werden aus dieser Verbindung von Vernunft und Zeit nicht nur dem Logos, sondern ursprünglicher noch einem Mythos der Zeit nachzuspüren versuchen, der uns andeutungsweise bis hin zur Zeitstruktur der Liturgie als möglicher Tiefendimension der Zeit stoßen lässt.

7. Zum Fortgang der vorliegenden Arbeit Die vorliegende Arbeit besteht aus zwei Hauptteilen: Der erste Teil nimmt Überlegungen von Leibniz, Kant und Heidegger auf, um die Frage der Zeit aus den Engführungen einer chronologisch-mechanistischen Sichtweise und einer Auffassung der Zeit als bloßes Durchgangsstadium der Ewigkeit herauszuführen. Der zweite Teil versucht anhand von Schellings Offenbarungsphilosophie und Hegels spekulativen Hauptwerken einem Logos der Zeit nachzuspüren, wo diese gegen alle Abgründe als SEINE (Vor-)Gabe und Eröffnung und damit als „Ort“ (U-Topos) der Erzählung (Mythos) einer verheißungsvollen Zukunft in den Blick zu kommen vermag. Genauer gesagt werden wir an die vorliegende Einleitung (Abschnitt I) einen Prolog (Abschnitt II) mit einer Reflexion über den priesterschriftlichen Schöpfungsbericht anschließen, weil sich einerseits zeigen wird, dass in ihm die Zeit als Leitthema der Offenbarung und darin der Schöpfung überhaupt zur Sprache kommt, andererseits der Anfang der Bibel bereits paradigmatisch die Form des von uns intendierten zwei35

Nur angedeutet werden kann hier, dass, mehr als dies Hegel zu sehen vermag, die Kunst eine mögliche Anschauung dieser Dialektik ist. Für die noetische Relevanz der Ästhetik vgl. ganz besonders P.A. Sequeri, L´estro di Dio, welches leider noch nicht auf Deutsch erschienen ist.

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I. EINLEITUNG

ten Mythos als Vereinigung von Mythos und Logos als Tiefendimension der Zeit anzeigt (insofern muss/kann dieses Kapitel auch am Ende unserer Arbeit gelesen werden!). Konkret werden wir dem nachdenken, was es heißt, dass Gott sich darin eröffnet, dass ER (sich) dem Menschen (als) Zeit zueignet, und daher eine theologisch adäquate Zeitbestimmung nie eine abstrakte Zeit als solche im Blick haben kann, sondern bereits eröffnete Zeit – in der Überwindung von Unrecht, Not und Gewalt – ist. Um die philosophischen und theologischen Kategorien dieser Eröffnung zu gewinnen, beginnen wir den ersten Teil der Arbeit mit Gedanken zu Leibniz (Abschnitt III) und seiner Monadenlehre. Wir versuchen darin die Monade als zeitigendes Sein darzustellen, d.h. als jene Entität, die nicht einfach in der Zeit steht, sondern diese Zeit in je bestimmter Qualität (Zeitigung) setzt. Damit hoffen wir das uns besetzende mechanistisch-evolutive und formale Zeitverständnis einer als Chronos verstandenen entleerten Zeit einer Kritik unterziehen zu können, die die erste Voraussetzung ist, um den in der Hinführung eröffneten Zeithorizont der Bibel gerecht werden zu können. Wir werden in diesem Zusammenhang bemerken, dass bei Leibniz bereits der Gedanke präsent ist, dass die Zeit nicht ohne den Heilswillen Gottes in Bezug auf seine Schöpfung gedacht werden kann. Gleichzeitig wird sich allerdings zeigen, dass wir mit ihm noch nicht hinreichend die Zeit als freiheitseröffnende Offenbarung Gottes denken können, weil in seinem Denken zumindest tendenziell die Dialektik von Zeit und Ewigkeit zugunsten letzterer – und damit die Freiheit und die ihr korrespondierende Endlichkeit – sistiert wird. Weiterführen werden wir daher unsere Arbeit anhand kantischer Überlegungen zur Zeitthematik (Abschnitt IV), weil wir darin in aller Konsequenz vor den Horizont menschlicher Freiheit als Eröffnung praktischer Weltverantwortung gestellt sind und die Zeit vor diesem Hintergrund als durch Freiheit gezeitigte Zeit zu besprechen ist. Dabei wird sich im Rahmen der Antinomien in Bezug auf die für die Zeitthematik so wichtige Anfangsproblematik ergeben, dass ein solcher Anfang niemals im Sinne der Naturkausalität gefasst werden kann, sondern – genauso wie der Welt- und Gottesbegriff, die beide nicht als „positive“ (gegenständliche) Totalitäten gefasst werden dürfen – im Horizont praktischer Vernunft zu verorten ist. Desgleichen wird uns Kant den Erweis dafür geben, dass eine chronologisch-quantitative Zeitvorstellung im Bereich der Erscheinungen bzw. der gegenständlichen „Positivität“ anzusiedeln ist. Allerdings wird sich zeigen, dass das kantische Welt- wie Zeitverständnis einer Zeit, die als Offenbarung Gottes in der Weltbegegnung des Menschen gefasst und diesem somit zugeeignet ist, noch zu äußerlich und zu formal bleibt. Der von Kant aufbereitete Aspekt der unverrückbaren Endlichkeit, d.h. Zeitlichkeit (und damit auch Sterblichkeit) des Menschen, der sich für einen zukunftsoffenen Zeitbegriff als konstitutiv erweist, wird uns eindringlich von Heidegger (Abschnitt V) dargelegt werden. Wir werden daher im fünften Abschnitt in eine kurze Erörterung der Zeitbestimmungen von Heideggers früher

7. ZUM FORTGANG DER VORLIEGENDEN ARBEIT

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Philosophie anhand seines „Vortrag[es] vor der Marburger Theologenschaft“ und anhand einiger Kapitel aus „Sein und Zeit“ eintreten. Eine solche Auseinandersetzung ist deshalb unabdingbar, weil wir bei Heidegger mit der radikalen Herausforderung konfrontiert werden, dass, namentlich in „Sein und Zeit“, der Rede von einer den Tod umgreifenden Ewigkeit jeder Boden entzogen zu sein scheint. In diesem Zusammenhang werden wir allerdings auch kritische Anfragen an ein Konzept richten müssen, welches Zeit zu denken sucht unter (tendenzieller) Aussparung sowohl des Horizontes praktischer Weltverantwortung als auch des Horizontes einer universalen, d.h. Natur und Geschichte, Lebende und Tote umfassenden Zeit als Eröffnung Gottes. Ähnlich wie bei Heidegger spielt der Tod eine zentrale Rolle in der Spätphilosophie Schellings (Abschnitt VI), mit der der zweite Teil unserer Arbeit einsetzt, in dem wir dem Mythos und dem Logos der Zeit nachspüren wollen. Im Unterschied zu Heidegger ist der Tod bei Schelling aber nicht die Eröffnung, sondern die grundsätzliche In-Frage-Stellung des Sinns menschlicher Existenz und verbunden damit Rückfrage an Gott. Die Suche nach einem Sinn angesichts der todesverfallenen Zeit führt Schelling zur Darstellung seiner „positiven Philosophie“. Darin begegnen wir dem Versuch, einen schöpferischen Anfang und eine sinngebende Mitte der Zeit sowie ein diese Zeit beschließendes und eröffnendes Eschaton aufzuweisen. Die solcher Art intendierte u-topische Dimension der Zeit und des sich darin erweisenden Gottes denkt Schelling mittels der Erzählung eines zweiten, d.h. durch den Logos gegangenen Mythos (positive Philosophie) an. Als Resultat dieses Abschnittes werden wir daher die Zeit in der Spannweite von Logos (kalendarisch-offener Zeit) und Mythos (geschlossener/zyklischer Zeit) als zweiten Mythos mit der Heilsgeschichte im Zentrum denken und auf diese Weise Zeitlichkeit und Ewigkeit zu vermitteln suchen. An die Ausführungen über Schelling schließen wir eine Auseinandersetzung mit Hegel an, um die Zeit mit der Frage der Anerkennung verknüpfen zu können und so als Zeit des Anderen zur Sprache zu bringen. Wir beginnen dabei mit einem kleinen Kapitel über die Jugendschriften Hegels (Abschnitt VII). In ihnen nehmen wir nicht nur Anlauf für eine Interpretation der spekulativen Hauptwerke Hegels, sondern vor allem den Anstoß, die Zeit als die in der Liebe den Chronos unterbrechende Weltbegegnung des Menschen aufzufassen. Darin hoffen wir, den Zeitbegriff aus existenzialen und formalen Engführungen herausführen und so den leibnizschen Intentionen vertieft gerecht werden zu können. Denn schon der junge Hegel wird uns den Weg zu einer sprachlichen (d.h. intersubjektiven36 und nicht mehr positiven) Auffassung der Zeit bereiten, in der diese nicht mehr als irreversible Schicksalsmacht auftritt, sondern im Horizont der Liebe steht. 36

Wenn unter Intersubjektivität nicht ein weltloses äußerliches Kommunikationsverhältnis von Subjekten verstanden wird, sondern das Subjekt-Subjekt-Objekt-Verhältnis, in dem sich auch die Natur als sprachlich verfasst enthüllt.

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I. EINLEITUNG

In eine Auseinandersetzung mit den spekulativen Schriften Hegels, d.h. der „Phänomenologie des Geistes“ und der „Wissenschaft der Logik“, treten wir, um die Frage der Zeit in ihrer Verschränkung mit der Frage der Anerkennung des Anderen einbetten zu können. Dabei lassen wir uns nicht nur von den Anfragen Schellings leiten, die dieser einer ungebrochenen Geschichtsteleologie entgegenhält, sondern vor allem versuchen wir, die Darstellung des zweiten Mythos und den u-topischen Horizont der Zeit, wie sie Schelling am Umschlagspunkt von negativer und positiver Philosophie gibt, für eine Interpretation und ein Weiterdenken der hegelschen Auffassung von Gott und Zeit fruchtbar zu machen. Konkret wird sich zeigen, dass in der Anerkennung des Anderen und der Durchbrechung poietischen Handelns (in ihrem abstrakten Herstellungs- und Selbstherstellungscharakter) eine Freigabe der Zeit erfolgt, worin menschliche Freiheit konkret denkbar wird. In diesem Zusammenhang wird sich das berühmte Diktum der „Tilgung der Zeit“ nicht als Abgleiten in eine zeitlose Notwendigkeit erweisen, sondern als die Überwindung der Reflexionsdistanz und ihrer Objektivierungen, die das Ich aufgebaut hat, um sich einer wirklichen Präsenz des Handelns, die mit dem Ablassen von der eigenen Geltung einhergeht, zu entgehen. Die Aufhebung der Reflexion wird dabei ein Geschehen bezeichnen, in dem das Subjekt ohne Vor-be-halt die Fremde und Gebrochenheit der Zeit als Verzicht auf einen substanziellen Ort (Selbstfundierung des Ich) übernimmt und in diesem Verzicht die Offenbarung/Eröffnung eines Anderen als Anfang der Zeit empfangen wird. Am Ausgang der hegelschen Philosophie, d.h. im Rahmen des absoluten Wissens respektive der absoluten Idee werden wir dabei vor der Aufgabe stehen, die von Hegel erreichte spekulative Dialektik von Zeit und Ewigkeit, die in der Gewahrwerdung der Zeit als Anfang eines Anderen mündet, daraufhin zu hinterfragen, ob sich in diesem Anfang eines Anderen als „ewige Vergangenheit“ der Zeit ein (zweiter) Mythos als deren Vor-Gabe verbirgt. Am Ausgang unserer Arbeit (Abschnitt IX) wollen wir deren noetische Konsequenzen zusammenfassen: Dabei deutet sich uns als Anfang, Mitte und Ende der Zeit eine verheißungsvolle Erzählung an, die in Leben, Tod und Auferweckung von Jesus Christus als dem menschgewordenen Logos ihren entsprechenden Ausdruck findet. In ihr sind die chronologische ebenso wie die mythologische Zeitvorstellung aufgehoben und finden ihre wahre Zukunft. Diese Erzählung, so wird sich zeigen, verlöre allerdings ihren Gehalt, identifizierte man sie geistlos als Apologie des Eigenen. Dagegen wird es gelten, die Offenheit und Unverfügbarkeit dieser Geschichte und damit der Zeit (im Hl. Geist) zu wahren, und zwar nicht nur durch einen ständigen Prozess der Tradierung und Weitererzählung, sondern auch im Innewerden, dass der Mensch Gast(geber) der Zeit ist, die er empfängt, indem diese nicht aufhören wird, sich (nicht) zu geben.37 Darin wird sich als Eschaton der Zeit die Vision uni37

Vgl. H.D. Bahr, Die Sprache des Gastes 43 u.a. Bahr, der in diesem Buch eine Phänomenologie des Gastes darlegt, der jenseits des Eigenen und Fremden, des Allgemeinen und Einzel-

8. METHODISCHES

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versaler (die Toten einschließender) Gastlichkeit im „himmlischen Jerusalem“ andeuten. Abschließen wollen wir unsere Überlegungen mit der Andeutung, dass die Liturgie, konkret die Anaphora in ihren drei Elementen (Anamnesis, Doxologie, Epiklese) die Tiefendimension der Zeit sein wird38.

8. Methodisches Das Ziel unserer Arbeit ist nicht, eine umfassende Interpretation der von uns behandelten Autoren zu geben (dies würde namentlich bei Hegel jeden Rahmen sprengen; kaum anders stellt sich dies für Kant und Schelling dar), wobei allerdings fraglich ist, ob sich der spezifische Gedanke eines Textes einem bloßen Nachvollzug überhaupt zu erschließen vermag, sondern wir wollen in Dialog mit ausgewählten Denkern treten und dabei den Zeitbegriff, wie er sich unserem Verständnis nach aus einem Bedenken des christlichen Logos ergibt, sukzessive hervortreten lassen. Dabei hoffen wir allerdings durchaus, auch Erhellendes zu den einzelnen hier herangezogenen Denkbewegungen beitragen zu können. Den Haupttext haben wir öfters durch längere Anmerkungsteile unterbrochen. Diese werden von uns nicht als weniger bedeutsam für die Gesamtaussage der Arbeit angesehen, wir haben sie aber als eigene Blöcke dazwischengesetzt, um den durchlaufenden Gedankenduktus des Haupttextes möglichst zu garantieren. Das Zitieren von Sekundärliteratur wurde soweit wie möglich eingeschränkt, weil dies einer organischen Entwicklung des Gedankens, der doch seine Herkunft vielerlei Quellen – mündlicher Diskussion genauso wie der Lektüre – verdankt, oft eher hinderlich ist. Daher sollen an dieser Stelle die für uns wichtigsten Quellen genannt werden (was nicht heißt, dass es nicht eine Unzahl anderer höchst relevanter Bücher zu den einzelnen Denkern gibt, von denen viele wichtige Gedanken für diese Arbeit beigetragen haben, die, falls direkt abhebbar, auch ausgewiesen sind; für eine genaue Bibliographie siehe das Literaturverzeichnis): Unser Leibnizteil verdankt sehr viel den Interpretationen Cassirers, wobei besonders die Einleitung der Meinerausgabe, in der Cassirer viele von Leibniz‘ Motiven auf das Konziseste zusammenfasst, zu nennen ist. Die für die Kantdarstellung relevantesten Untersuchungen waren der vierte Band von B. Liebrucks, „Sprache und Bewußtsein. Die erste Revolution der Denkungsart“ und der Kantband Heideggers „Kant und das Problem der Metaphysik“. Eine gute Einleitung in „Sein und Zeit“ bietet A. Luckner,

38

nen, des Subjekts und des Objekts auftritt, prägt die schöne Wendung: „Die Freigabe ist vielmehr die Weise, das zu empfangen, was sich nicht gibt: den Gast.“ (43) P.A. Sequeri versucht die Liturgie als zentrales Element einer Gotteslehre in seinem Buch „L´estro di Dio“ darzustellen.

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I. EINLEITUNG

„Heideggers Sein und Zeit“. Zwar keine direkte Darstellung Heideggers, aber doch eine in vielerlei Hinsicht kongeniale Heideggerfortschreibung, die viel Licht auf zentrale Gedanken Heideggers wirft, bieten E. Levinas in seiner letzten Vorlesung „Der Tod und die Zeit“ (veröffentlicht in „Gott, der Tod und die Zeit“) und H.-D. Bahr in seinem Buch „Den Tod denken“. Die Interpretation der Spätphilosophie Schellings verdankt sich vor allem den Lehrveranstaltungen und Gesprächen mit J. Reikerstorfer. Daneben war die ebenso umfassende wie luzide – auf Deutsch leider bisher nicht erschienene – Darstellung der schellingschen Spätphilosophie von F. Tomatis, „Kenosis del logos“ wegweisend. Wichtige Impulse verdanken wir auch L. Pareyson, „Il male e la sofferenza“, A. Franz, „Philosophische Religion“ und S. Žižek, „Der nie aufgehende Rest“. Für die Interpretation Hegels hatten die Gespräche mit J. Reikerstorfer eine wichtige Bedeutung, dessen von der Offenbarungsphilosophie Schellings inspirierte Anfragen zu einer ständig neuen Hegellektüre „zwangen“. Für die eigentliche Textauslegung haben wir uns – neben der sich eingestellt habenden Denkbewegung aus langer gemeinsamer mündlicher Kommentierung in verschiedenen Lesekreisen und Seminaren, am wichtigsten sicher die von F. Kern und F. Grimmlinger geleiteten – vor allem an den vielleicht bis heute besten, auf jeden Fall aber umfassendsten Kommentar von B. Liebrucks, „Sprache und Bewusstsein“, Band 5 „Die zweite Revolution der Denkungsart“ und Band 6, „Der menschliche Begriff“ gehalten. Die wichtigsten anderen Quellen unserer Hegelinterpretation waren T. Auinger, „Das absolute Wissen als Ort der Vereinigung“ sowie diverse Vorlesungen (und auch Gespräche) des verstorbenen Wiener Professors Franz Ungler (der stets zu bescheiden war, um zu publizieren). Für die Intention der gesamten Arbeit ist vor allem H.D. Bahr, „Die Sprache des Gastes“ zu nennen, ferner H.D. Klein, „Vernunft und Wirklichkeit“ und „Geschichtsphilosophie“ sowie P. Ricoeur, „Zeit und Erzählung“ und schließlich die Begegnungen und Gespräche mit J.B. Metz, die das Wiener Institut für Fundamentaltheologie seit vielen Jahren prägen. Was die von uns behandelten Primärtexte betrifft, haben wir für Hegel die leicht greifbare Suhrkamp Ausgabe herangezogen, Kant wird von uns – mit Ausnahme der Kritiken – nach der Akademieausgabe zitiert, bei Schelling haben wir vor allem die Urfassung der Philosophie der Offenbarung, die einen vorzüglichen Text bietet39, herangezogen. 39

In unserer Arbeit kann nicht auf die großen Gemeinsamkeiten und (fallweise sich ergebenden) Unterschiede zwischen der von Schelling offensichtlich selbst zusammengestellten und korrigierten (und von W. Ehrhardt wieder aufgefundenen und vorzüglich edierten) „Urfassung“ (nach einer Vorlesung über diese Thematik, gehalten 1831/1832) und der vom Sohn redigierten späteren Fassung in den „Gesammelten Werken“ eingegangen werden. Ein wichtiger Unterschied wäre z.B. der, dass in der späteren Fassung Hinweise auf die Parusie Christi gestrichen sind, ein anderer bedeutsamer Unterschied zeigt sich in der Formulierung des berühmten Freiheitsdiktums, wo an die Stelle des Satzes: „Freiheit ist unser und der Gottheit Höchstes“ der Urfassung (PhdO 79) in der Sohnesfassung der Wortlaut: „Freiheit ist unser Höchstes, unsere Gottheit“ (XIII 256) tritt.

8. METHODISCHES

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Abkürzungen werden wir möglichst spärlich verwenden, Ausnahmen machen wir bei folgenden Werken: SuZ: KrV: KpV: KdU: PhdO: EPhdM: I: PhdG: WdL:

Sein und Zeit Kritik der reinen Vernunft Kritik der praktischen Vernunft Kritik der Urteilskraft Philosophie der Offenbarung (Urfassung) Einleitung in die Philosophie der Mythologie Frühe Schriften (Hegels Jugendschriften) Phänomenologie des Geistes Wissenschaft der Logik

Zitate aus der Bibel sowie aus den Schriften Hegels wurden orthographisch angepasst, ansonsten wurde nach der jeweiligen Vorlage zitiert.

II. PROLOG: DIE ZUEIGNUNG DER ZEIT ALS THEMA DER SCHRIFT (GEN 1,1-2,4A)

Als Anfang hat Gott den Himmel und die Erde geschaffen [...] (Gen 1,1) Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst. (Joh 1,1-5) 1. Unser in der Einleitung skizziertes Programm, die Zeit als Offenbarung Gottes zu entfalten und in diesem Ansatz einen Logos der Zeit zu entwickeln, findet, wie E. Zenger in seiner Studie über die priesterschriftliche Urgeschichte „Gottes Bogen in den Wolken“1 aufweist, einen entscheidenden Anhaltspunkt in der Bibel selber. 2. Von großem Interesse ist dabei bereits der erste Satz, mit dem die Schrift beginnt. E. Zenger übersetzt ihn im Gegensatz etwa zur Einheitsübersetzung mit „Als Anfang hat Gott den Himmel und die Erde geschaffen“. Diese Übersetzung erfolgt nicht zuletzt aus der Überlegung heraus, dass der erste Vers der Bibel die Überschrift der priesterschriftlichen Urgeschichte (Gen 1,1-2,4a) darstellt. In ihm geht es nicht, wie Zenger betont, „um den Anfang der Welt“2, etwa im Sinne einer naturphilosophischen Spekulation, sondern er muss eingebettet werden in die Priesterschrift mit ihrem Programm einer Theologie der Schöpfung Israels. Allerdings wird man wohl über Zenger hinaus sogar sagen können, dass dieser Vers und der darauf folgende Text den cantus firmus der ganzen Schrift zum Ausdruck bringen. Diese Überlegung wird noch gestützt durch die Beobachtung, dass in der antiken Literatur, wie im Übrigen auch heute noch in päpstlichen Enzykliken der erste Satz Titel und Programm des Werkes angibt. Demnach ist der Titel der ganzen Schrift – die, wie wir im Laufe unserer Arbeit noch ausführen werden, inneres Maß der Geschichte oder besser noch inneres Maß aller Zeiten ist, so dass die Bibel und die in ihr zum Ausdruck gebrachte Heilsgeschichte nicht (bloß) in der Zeit, d.h. in der Profangeschichte, stehen, sondern umgekehrt und noch viel ursprünglicher, die Profangeschichte „in“ die Heilsgeschichte eingeschrieben ist – dieses „Als Anfang hat Gott den Himmel und Erde geschaffen“ ist. Hieraus ergeben sich

1 2

Siehe das Literaturverzeichnis! E. Zenger, Gottes Bogen in den Wolken 65.

PROLOG: DIE ZUEIGNUNG DER ZEIT ALS THEMA DER SCHRIFT (GEN 1,1-2,4A)

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etliche Konsequenzen, die im Laufe unserer Arbeit noch auszuführen sein werden: 3. Zunächst ist der Anfang, von dem die Bibel spricht, nicht irgendein naturhafter Anfang, sondern als Themenangabe und Titel der Hl. Schrift der Anfang der Heilsgeschichte. Die Priesterschrift macht dies deutlich, indem sie von einer Toledot (Genealogie) von Himmel und Erde spricht, und zwar an ausgezeichneter Stelle, nämlich am Abschluss der priesterschriftlichen Schöpfungsgeschichte (Gen 2,4a) als deren Unterschrift, die wieder ihrerseits durch Stichwortbezüge (Himmel, Erde, Schöpfung) auf die Überschrift den gesamten Text rahmt. Der Terminus „Genealogie“ wird wiederum aufgegriffen, wenn von Adam und seinen Nachkommen die Rede ist und setzt sich fort über Abraham bis zu Israel und damit bis zur Heilsgeschichte im engeren Sinne, deren Präludium und Fundament Gen 1,1-2,4a angibt. Wenn aber, so unsere noch auszuführende These, die Weltzeit in die Zeit der Heilsgeschichte, wie sie in der Bibel ihren Niederschlag gefunden hat, eingebunden ist, und letztere nicht umgekehrt eine kurze Epoche in jener darstellt, dann ist der Anfang der Heilsgeschichte der Anfang schlechthin. Aber eben nicht im Sinne einer naturphilosophischen oder gar naturwissenschaftlichen Spekulation, wie uns die Bibelfundamentalisten Glauben machen, vielmehr muss man sagen: Der Anfang der Heilsgeschichte ist das Anfangen Gottes und damit Schöpfung im eigentlichsten Sinne. 4. Dieser Anfang ist nun näher zu charakterisieren: Es geht um den Anfang von Himmel und Erde, oder, wie wir betont haben: Die Bibel trägt den Titel „Als Anfang hat Gott den Himmel und die Erde geschaffen“. Das Wort „als“, mit dem Zenger dieses Geschehen wiedergibt, weist stärker als das Wort „am“ oder „im“ darauf hin, dass in der Bibel die (Heils)geschichte unter dem Aspekt ihres anfangenden Charakters betrachtet werden will. Dies impliziert, dass die Schöpfung ein nach vorne offenes Geschehen ist, ein Geschehen, welches konkretisiert werden muss, wobei das „wie“ und „durch wen“ hier noch offen bleiben muss. Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt ist, dass mit Himmel und Erde nicht irgendwelche physikalischen Objekte gemeint sind, sondern ein Raum, in dem sich Leben in all der umfassenden Konnotation des hebräischen Verständnisses entfalten kann. In dieser Hinsicht ist die Komposition der priesterschriftlichen Urgeschichte von Bedeutung: In ihr liegt eine strenge Rahmung vor: Der erste, vierte und siebente Tag, also Anfang, Zentrum und Ende, sprechen vom zeitlichen Handeln Gottes, während der durch die Zeit gerahmte zweite (Trennung der Himmelswasser) und dritte Tag (Trennung von Erde und Meer als erstes Tagwerk und Pflanzen als Schmuck der Erde als zweites Tagwerk) von der Schaffung eines Raumes sprechen, in dem Leben möglich ist, und der fünfte (Wasser- und Flugtiere) und sechste Tag (Landtiere als erstes Tagwerk und der Mensch als zweites Tagwerk) – wieder durch die Zeit gerahmt – von den Lebewesen erzählen, die diesen Raum erfüllen. Daraus folgt, dass die Schöpfung von Himmel und Erde die Schöpfung eines Lebens-

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II. PROLOG: DIE ZUEIGNUNG DER ZEIT ALS THEMA DER SCHRIFT (GEN 1,1-2,4A)

hauses meint. Dies wird noch deutlicher, wenn man, wie vom Autor aufgrund zahlreicher Stichwortverbindungen intendiert, die Stelle in Bezug auf die Flutgeschichte liest. In ihr wird all das (allerdings mit Ausnahme des ersten Werkes, weil sonst die Welt wieder im unzeitigen Chaos landete) zurückgenommen, was die Erde als Lebenshaus auszeichnet oder vielmehr in einem verkleinerten Maßstab in einem anderen Lebenshaus, nämlich der Arche Noachs, bewahrt. Schöpfung ist konkret in der Zueignung von Zeit und Raum (Land) an den Menschen als dessen Lebensbedingung. Dem Menschen und seiner Welt wird von Gott Raum und noch fundamentaler, was die Rahmung zeigt, Zeit zugeeignet. Wenn man im Übrigen bedenkt, welche Bedeutung der Raum, konkreter das Land, für die Bibel, für Israel haben, sieht man, auf welch herausragende Weise das Zeitthema hier eingeführt ist. Für uns ist auf alle Fälle festzuhalten, dass die anfanghafte Schöpfung von Himmel und Erde als die Welt, in der der Mensch lebt – nicht zufällig ist die Schöpfung vollendet mit dem Menschen (vgl. 2,1) – die Schöpfung von Raum und noch fundamentaler von Zeit meint. Dabei sind Himmel und Erde nicht einfach irgendwelche kontingenten Gestirne, nicht kosmische Zufallsprodukte, sondern die privilegierten Zeigestäbe des sich offenbarenden Gottes, die nicht zuletzt zeitlicher Orientierung dienen. 5. Um dem Anfangsgeschehen besser gerecht zu werden, ist auf den zweiten Vers hinzuweisen. Nach der programmatischen Überschrift fängt die Bibel mit der Nennung des Ausgangspunktes an: „Tohuwabohu“, die Erde als Finsternis und Leere, Urflut. Gerne wurde vor allem in der mittelalterlichen Theologie dieser Anfang sistiert, sodass die Überschrift zum ersten Schöpfungsgeschehen gemacht und der Ausgangspunkt zum Beiwerk degradiert wurde. Dadurch sollte die Vorstellung der creatio ex nihilo (die ein unverzichtbares Moment des christlichen Glaubens darstellt, insofern mit ihr die Souveränität und Transzendenz Gottes zum Ausdruck gebracht wird3) in der Bibel festgemacht werden. Zu betonen ist dabei, dass auch für die Bibel bereits durch Vers 2b, der von „Gottes Geist über dem (Chaos)wasser“ spricht, klargestellt ist, dass der chaotische Urzustand nicht einfach als dualistisches Prinzip Gott entgegengestellt werden darf. Vielmehr wird sich zeigen, dass gerade von diesem Ausgangspunkt das Schöpfungshandeln Gottes vertieft begriffen werden kann. Einen Hinweis gibt uns hier wieder die streng zur priesterschriftlichen Schöpfungsgeschichte parallel zu lesende priesterschriftliche Flutgeschichte. In ihr wird bereits am Beginn das Chaos(wasser), welches in den ersten drei Schöpfungs3

In der Freiheitsschrift akzentuiert Schelling gegen den Gedanken einer creatio ex nihilo den Gedanken einer Schöpfung Gottes aus (der Differenz) Gott(es). Im späten Schelling finden wir die creatio ex nihilo durch das souveräne Anfangenkönnen des Vaters zum Ausdruck gebracht. Bei Hegel wiederum begegnet der Gedanke der creatio ex nihilo gewissermaßen am Eingang der Seinslogik.

PROLOG: DIE ZUEIGNUNG DER ZEIT ALS THEMA DER SCHRIFT (GEN 1,1-2,4A)

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werken überwunden wird, als Gewalttat des Menschen gedeutet. Damit ist ein entscheidender Schritt in der Überwindung des Mythos gesetzt: Der Mensch steht nicht mehr unter der Schicksalsmacht anonymer Chaosmächte, die ihm vorgeordnet sind, sondern er selber ist deren Urheber. Das Schöpfungshandeln Gottes ist in diesem Sinne der gnadenhaft eröffnete Ausgang aus dem Chaos der Geschichte. In diesem Falle ist auch der vermutliche Entstehungszeitraum dieses Schöpfungsberichts – nämlich die Zeit des babylonischen Exils – von Bedeutung. Israel erfährt in der Umkehr (d.h. der Hinwendung zur Tora) seine (Neu)schöpfung in der Befreiung aus dem Exil der gewalttätigen Macht Babylon, welches aber eben nicht einfach äußerliche Macht war, sondern Konsequenz, Schicksal des Abfalls von JHWH, also Konsequenz sozialer, religiöser und physischer Gewalt. Im Vergleich der vorderasiatischen Hochkulturen ist es ein revolutionärer Akt der Erkenntnis, wenn die kosmische Chaosmacht auf konkrete geschichtliche Unrechtssituationen zurückgeführt wird. Wir haben damit gleich am Eingang der Bibel eine hellsichtige Überwindung des Mythos gegeben, wobei dessen Sprachform gewahrt bleibt. Wie prophetisch solche Analyse auch heute noch im Vergleich ist, mag ein kleiner Hinweis auf Filme US-amerikanischer Provenienz gestatten: In fast allen gibt es einen Einzelkämpfer, der als Individuum eine Übermacht des „Bösen“ bekämpft, die sehr oft die Gestalt des Unheimlichen („Chaos“) trägt. Dass dieses Unheimliche in Wirklichkeit die eigene soziale Krise und damit verbundene Gewaltbereitschaft ist, wird dabei niemals zum Thema, damit natürlich auch nicht, dass das Unheimliche nicht in individueller Anstrengung (allein) überwunden werden kann.

6. Wichtig ist, das Schöpfungshandeln noch näher in den Blick zu nehmen. Die dem Menschen einen Ort des Lebens einräumenden Werke sind gerahmt sind von der Schöpfung der Zeit und dies, obwohl die Bibel dem Thema Land offensichtlich höchstes Gewicht zumisst, was sich ja auch in dieser Schöpfungserzählung zum Ausdruck bringt. Die erste Überwindung des „Tohuwabohu“ ist die Schaffung des „ein Tag“. Dieses Werk ist so fundamental, dass nach Überzeugung der Bibel Gott dieses Werk (im Gegensatz) zu allen anderen nicht einmal in der Flutgeschichte zurückgenommen hat. Interessant ist dabei, dass hier nicht die Rede vom ersten Tag ist, sondern überhaupt vom Tag als grundlegendem Strukturelement der Zeit. Angesprochen ist damit aber noch etwas anderes: „Und Gott berief das Licht als Tag, und die Finsternis berief er als Nacht. Und (danach) wurde es Abend, und es wurde Morgen: ein Tag.“4 In dieser Notiz verbirgt sich ein grundlegender (biblischer) Zugang zur Zeit. Die erste Form ihrer Offenbarung zeigt sich darin, dass der Mensch der hereinbrechenden Nacht mit Zuversicht begegnen kann. So sehr die aus ihr kommende Gefahr, sei es die reale, die damals noch in sehr unmittelbarer Weise gegenwärtig war, sei es die Traumwelt und der ihr verbundene Mythos, denen das Altertum viel größere Aufmerksamkeit geschenkt hat, (fast) 4

Gen 1,5 nach der Übersetzung von E. Zenger.

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II. PROLOG: DIE ZUEIGNUNG DER ZEIT ALS THEMA DER SCHRIFT (GEN 1,1-2,4A)

zwangsläufig in das Tagwerk einbricht, folgt auf sie der Aufgang des Lichtes, des Lebens, des Logos. Dieser Zusammenhang ist im Übrigen auch in der Liturgie gewahrt, wo der Tag eben nicht mit dem Morgen anbricht. Das zeitliche Moment der Offenbarung wird in der Folge weiter konkretisiert, und zwar durch den in der Mitte stehenden vierten Tag, der auf die erste Eröffnung des Raumes folgt und uns die Erschaffung von Sonne und Mond berichtet. Das Wichtigste an diesem Tagwerk ist, dass dem Menschen die Zeit als Festzeit zugeeignet wird. Das Fest ist dabei für israelitische Ohren nicht einfach eine Vergnügungsveranstaltung, auch nicht nur Durchbrechung des harten Alltags, sondern genuiner Ort von Gottesoffenbarung, wie sich in der großen Festtheologie des Deuteronomiums, gewissermaßen der Mitte des Alten Testaments, zeigen lässt5. Ist mit dem „ein Tag“ eine grundlegende Zeitbestimmung und Zeitordnung gegeben, die den Menschen leben lässt, die ihn aus der totalen Abhängigkeit von schöpfungsfeindlichen Gewaltstrukturen loslöst, so ist im vierten Tag die Zeit als genuiner Ort von Gottesoffenbarung ausgesprochen. Fundamental ist der Zusammenhang von Festzeit und Gottesoffenbarung nicht nur in der Priesterschrift, der die Schöpfungsgeschichte angehört, sondern in der gesamten Tora. So findet der Exodus seinen Höhepunkt im gottesdienstlichen Handeln Israels, welches ihrerseits wieder in untrennbarer Verknüpfung mit der Offenbarung der Sinaitora, also der Magna Charta einer befreiten Gesellschaft, steht.

Anders gewendet könnte man auch sagen, dass der Akzent nicht nur darauf liegt, dass sich Gott in der Zeit, in der Geschichte seines Volkes oder noch konkreter in der Schöpfung seines Volkes in der Überwindung menschlicher Gewalttat offenbart, wie der Anfang des Schaffens vor Augen führt, sondern dass Gott sich darin offenbart, dass er die Zeit als dem Menschen zugeeignete (Fest)zeit enthüllt. Diese Zueignung der Zeit ist dadurch (wie bereits das erste Werk angedeutet hat) gekennzeichnet, dass freiheitswidrige Mächte depotenziert werden. Gott erscheint als der souveräne Schöpfer der Gestirne, die ja nach orientalischer Vorstellung Götter und Schicksalsmächte waren. Der Mensch ist daher weder den Göttern der Gestirne noch deren Repräsentanten, allen voran den Königen und Priestern, die ihm Zeit enteignen, ausgeliefert, sondern steht in unmittelbarem Bezug zum befreienden Gott Israels, der die (fremdbestimmte) Schicksalszeit in die dem Menschen zugeeignete Festzeit umwandelt. Auf dieser Linie finden sich auch die weiteren Schöpfungswerke, die (zunächst) in der Schöpfung des Menschen gipfeln. Dabei ist wohl die Pointe die, dass die Schöpfung genau dann den Segen Gottes zum Ausdruck bringt, wenn der Mensch „Götterbild“6 wird, und zwar als Mann und Frau, und in dieser 5 6

Zum Zusammenhang von Festzeit und Offenbarung Gottes im Deuteronomium siehe: G. Braulik, Die Freude des Festes. Zur Bedeutung dieses Ausdruckes vgl. N. Lohfink, Im Schatten deiner Flügel 29-49.

PROLOG: DIE ZUEIGNUNG DER ZEIT ALS THEMA DER SCHRIFT (GEN 1,1-2,4A)

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Funktion die Verantwortung über Raum und Zeit übereignet bekommt – dies ist der Sinn des berühmten „Herrschaftsgebots“ –, worin er die kosmische Ordnung zu repräsentieren beginnt. Die tiefere Bedeutung dessen wird, wie Zenger zeigt7, im Vergleich zur ägyptischen Königsideologie sichtbar. Hier ist es der Pharao, der als Bild Gottes den Kosmos repräsentiert und garantiert. Diese Funktion ist in der Bibel auf den Menschen – nicht bloß auf die Israeliten! – schlechthin entschränkt, wobei – dies genauso revolutionär wie die Entschränkung auf den (einfachen) Menschen – die Frau explizit inbegriffen ist. Allerdings geht es nicht nur um die Erhaltung der kosmischen Ordnung, letztlich also um Herrschaftslegitimierung, sondern es geht um die Verwirklichung des göttlichen Anfangs. Der Mensch soll in der Überwindung von Unheilsstrukturen den in der Schöpfung eingeschriebenen Sinn zum Ausdruck bringen, indem die Erde zum Lebenshaus für alles Lebendige wird und die Zeit nicht hintergründige Schicksalsmacht, sondern menschliche, im Rhythmus von Arbeit und Fest, actio und contemplatio, sinnvolle Zeit wird. Als Gottesbild in der gegenseitigen Hinordnung von Mann und Frau – deren Geschlechtlichkeit und gegenseitige Hinordnung leiblicher Ausdruck der Transzendenz ist, die ohne die Geschlechterdifferenz nicht erfahrbar wäre – erschließt sich ihm der Sinn der Zeit Gottes. 7. Eine weitere wichtige Untersuchung betrifft die Bedeutung des siebenten Tages. Der eigentümliche Text lautet (in von der Einheitsübersetzung abweichender Übertragung)8: „Und Gott vollendete am siebenten Tage seine Arbeit, die er gemacht hatte, indem er aufhörte mit all seiner Arbeit, die er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebenten Tag, indem er ihn heiligte: denn an ihm hörte er auf mit all seiner Arbeit, die Gott geschaffen hat, um zu machen.“ (Gen 2,2-4a) Abseits von exegetischen Fragen in Bezug auf die Sabbatbegründung ist es von hoher Brisanz, dass die „gute Schöpfung“ nicht im Menschen zum letzten Ziel gekommen ist, sondern dass das Schöpfungswerk noch einmal eine zeitliche Transzendenz erfährt, mit der der zeitliche Rahmen auch zu einer inneren Einheit gelangt. Dabei ist der erste Schlüssel das „Aufhören“, wodurch angezeigt wird, „dass die Welt nicht mehr im Geschaffenwerden besteht“9. Dies meint allerdings keine Statik, keine eingefrorene Welt, aus der Gott sich zurückgezogen hätte, sondern legt den Schwerpunkt auf die Tatsache, dass die Schöpfung als Lebenshaus von der Seite Gottes als vollendet betrachtet werden kann, indem er und – so wird man ergänzen können – der „mühselig beladene“ Mensch (vgl. Mt 11,28) in ihr Ruhe finden wird. Gleichzeitig gibt es allerdings eine weitere Dimension: nämlich den Segen, den der siebente Tag erfährt, der, wie aufgrund der Tatsache der Vollendung gesagt werden kann, die gesamte Schöpfung transzendiert. Dieser Segen wird näher gekennzeichnet als dessen Heiligung. Damit ist aber nach dem Verständnis der 7 8 9

Vgl. E. Zenger, Gottes Bogen 84-95. Zur Übersetzung vgl. E. Zenger, Gottes Bogen 100f. G. von Rad, Das erste Buch Mose 41.

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II. PROLOG: DIE ZUEIGNUNG DER ZEIT ALS THEMA DER SCHRIFT (GEN 1,1-2,4A)

Bibel dieser Tag der Tag Gottes selber. Zenger hat wohl recht, wenn er den Terminus der Heiligung, in der die tiefe Bedeutung dieses siebenten Tages erfahren wird, auf das Exodusgeschehen bezieht10, als dessen Höhepunkt Gott in der Liturgie des befreiten Volkes selber gegenwärtig wird (vgl. Ex 24,16; 25,8; 39,43). Darüber hinaus wird man aber eine noch grundlegendere Dimension betonen können: Gott transzendiert die Zeit, in die die Schöpfung eingeschrieben ist, indem er sie zu seiner (d.h. heiligen) Zeit macht. Das Heil vergegenwärtigt sich vom biblischen Gedanken des siebenten Tages ausgehend in der Liturgie, die sich so als Ort eines eigentlich theologischen Zeitverständnisses zeigt. Auf diese Weise bringt sich in ihr die Offenbarung Gottes als (Fülle der) Zeit zum Ausdruck. Der siebente Tag schließt also, spekulativ gesehen, nicht nur den Gedanken ab, dass die dem Menschen zugeeignete Zeit Gottes Offenbarung ist, sondern radikalisiert ihn noch, indem sie Gottes Offenbarung als Zeit durchbuchstabiert. Dass der sich daraus ergebende Zeitbegriff nichts mit der Zeit als einem Behälter von Ereignissen zu tun hat, versteht sich wohl von selbst. 8. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Gottes Schöpfung nicht einfach im Erschaffen von etwas besteht, sondern dass sie in der Offenbarung/Eröffnung der Zeit als SEINER Zeit ursprünglich erfahren wird, einer Zeit, die dem Menschen zum Lob Gottes (Liturgie) zugeeignet ist – in der Überwindung von Unrecht und Gewalt und der Gestaltung der Erde als Lebenshaus. Dieses Geschehen ist das Offenbaren des Anfangens Gottes mit dem Menschen und zwar eines Anfangens, welches grundsätzlich offen ist für je neue Gottesbegegnung (daher fehlt auch im letzten Tagwerk die für die anderen Tage charakteristische Abschlussformel) in schöpferischer Weltbegegnung. Zugleich ist dieses Geschehen auch Offenbarung des Anfangs, der sich als Mitte und Ziel aller Zeit, letztlich als Gottes gute Schöpfung erweist. 9. Der Evangelist Johannes schließt in seinem großen Schöpfungshymnos an den paradigmatischen Anfang der Schrift an. Er spannt den Bogen zur heilsgeschichtlichen Fülle, die in ihm verborgen ist, d.h. zum fleischgewordenen Logos Gottes (dabar) als dessen Konkretisierung. Um diese tiefer fassen zu können, sind einige hermeneutische Signale des Evangeliums zu beachten11: Zunächst ist zu konstatieren, dass das „höchste“ der Zeichen Jesu, in denen ER sich offenbart, nicht die Auferweckung des Lazarus ist. Vielmehr folgt diesem noch die Sendung des Parakleten (Joh 14,16.26; 15,26; 16,7ff.) als der definitiven Gabe Gottes, die uns ins Zentrum der Zeit, nämlich der „Stunde“ Jesu führt. Woran zeigt sich nun dieser Beistand des Geistes? Hier ist eine 10 11

Vgl. E. Zenger, Gottes Bogen in den Wolken 102f. Einen sehr schönen Kommentar gibt U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes. Darin macht er darauf aufmerksam, dass dieses Evangelium eine theologische Weiterführung der Synoptiker darstellt, was ja die kirchliche Tradition in gewisser Hinsicht immer schon gesehen hat, wie die Stellung des Evangeliums nach den Synoptikern innerhalb des Kanons zeigt.

PROLOG: DIE ZUEIGNUNG DER ZEIT ALS THEMA DER SCHRIFT (GEN 1,1-2,4A)

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kleine Beobachtung am Ende des Evangeliums hilfreich12: Der Makarismus „Selig die nicht Sehenden und (doch) Glaubenden!“ (Joh 20,29c) kann schlecht als Tadel an Thomas verstanden werden. Dies nicht nur auf Grund der Sprachform, sondern auch, weil dieser Apostel unmittelbar zuvor das „höchste“ Bekenntnis des ganzen Evangelums („Mein Herr und mein Gott“) ausgesprochen hat13. Vielmehr ist dieser Makarismus dessen Klimax. Er bezieht sich auf das ganze Buch, welches Johannes oder besser gesagt der Paraklet selber verfasst hat. Seine größte Gabe ist also eine Schrift, in der nicht nur das Leben Jesu als fleischgewordene Tora pneumatisch ausgelegt wird, sondern die an den Anfang der Bibel und damit der Welt rührt. Anders gesagt: Der Logos und dessen zeitlicher Sinn (die „Stunde“) inkarniert sich in einer göttlichen Erzählung („Mythos“14), die weit über alle Bücher hinausgeht (vgl. Joh 21,25) und den Anfang, die Mitte und das Ende aller Zeiten ausmacht, damit aber den eigentlichen Sinn des siebenten Tages zum Ausdruck bringt. So ist der Logos die Eröffnung der Zeit, aus der der „Mythos“ Gottes, also die Schrift mit Christus im Zentrum, entspringt, wobei diese im Geist als göttlicher Gabe je neu erzählt werden muss ... Mit dieser Skizze ist nun unsere Aufgabenstellung verdeutlicht: Es geht darum, den Zeitbegriff und die damit einhergehende Vernunftstruktur von allen Abstraktionen abzuheben, die uns eine inhaltsleere Zeit suggerieren und die Zeit zu einem im wahrsten Sinne des Wortes gottlosen (und Gott zu einem zeitlosen) und menschenleeren Geschehen herabwürdigen, und zu einem Zeitbegriff („Stunde“) vorzudringen, der jenseits von Kyklos (Zyklus) und Logos als Eröffnung Gottes selber zu deuten ist. Um uns diesem Begriff zu nähern, werden wir uns zunächst Überlegungen von Leibniz zuwenden.

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14

Eine sehr schöne Darstellung findet sich bei R. Vignolo, Personaggi del quarto vangelo, 8294. Hinzuzufügen ist, dass es sich dabei um das höchste Bekenntnis aller vier Evangelien handelt, das Petrusbekenntnis noch überbietend, wobei diese Beobachtung sich noch vertieft, wenn man Wilckens und vielen anderen darin folgt, dieses Evangelium als Weiterführung der Synoptiker zu verstehen. Wir verwenden den Begriff „Mythos“ hier im Sinne einer göttlichen Erzählung (vgl. das Schellingkapitel), nicht im Sinne des „Erfundenen“.

III. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES SEINS UND DIE VERABSCHIEDUNG EINER ENTLEERTEN ZEIT IN DER MONADENLEHRE VON LEIBNIZ

1. Der Funktionsbegriff als noetische Grundlage der Neuzeit Wie kaum ein anderer Philosoph hat Leibniz die Herausforderung des neuzeitlichen Paradigmas angenommen, welches sich, wie E. Cassirer prägnant festhält1, dadurch auszeichnet, dass die aristotelischen Entelechien durch den Funktionsbegriff der mathematisch-quantifizierenden Naturwissenschaften ersetzt werden. Damit wird alles Seiende zumindest potentiell der Messbarkeit unterworfen. Da sich der Mensch, wie Hegel in seinen Jugendschriften aufzeigt, von seinem sprachlich kulturell vermittelten Weltverhältnis her versteht und objektiviert2, beginnt sich der neuzeitliche Mensch von der mathematischen Gesetzlichkeit, die er in die Welt einschrieben hat, zu interpretieren. Auf diese Weise erlangt er zwar auf der einen Seite eine zunehmende Macht über seine Umwelt, die ihm immer mehr zum Objekt seiner Tätigkeit und Selbstverwirklichung wird, auf der anderen Seite allerdings entschwindet ihm diese sukzessive als eigenständiger und lebendiger Organismus. An dieser Stelle sei vermerkt, dass (der junge) Hegel die Welt nicht in der für die Neuzeit typischen Subjekt-Objekt-Differenz belässt, sondern als Subjekt-Subjekt-Objekt setzt. D.h., dass die Welt, insofern sie Gegenstand unserer Erfahrung ist, nicht unabhängig von der (sprachlich vermittelten) intersubjektiven Welt verstanden werden darf, sondern (der korrespondierende) Inhalt der Form gemeinsamer Weltbegegnung ist. In Bezug auf unsere Epoche bedeutet dies, dass der menschliche Herrschaftswille der Neuzeit als Form des Weltumgangs, der alle Bereiche des Lebens objektiviert und positiviert (fixiert), dem Menschen inhaltlich als Objekt-Welt entgegentritt. Auf diese Weise entspringt der primären Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung, in der die Welt nicht fixierbar und nicht verobjektivierbar, also nicht reines Objekt, sondern der Sprachraum der Subjekte ist, die Subjekt-Objekt-Beziehung, in der die Objekte zur res extensa herabsinken. Die Objektwelt ist so ein Sonderfall der Subjekt-Subjekt-ObjektBeziehung, die sich objekthaft auslegt. Anders gesagt: Ein mechanistischer Weltumgang setzt eine Welt, die als Mechanismus erfahren wird.

1 2

E. Cassirer, Einleitung in: G.W.Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie XXXIX-XLI. Für eine eingehendere Diskussion vgl. K. Appel, Entsprechung im Wider-Spruch.

2. DIE ZEIT ALS POSITIVER BEHÄLTER DER EREIGNISSE

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Diese Gesetzlichkeit durchdringt in der Neuzeit alle Lebensbereiche und der Mensch wird zur Funktion sozialer, psychologischer, biologischer, physikalischer und vor allem ökonomischer Gesetzmäßigkeiten. Philosophisch ist es vor allem der Atomismus, der diesen Weltumgang zum Ausdruck bringt. Um die Welt verobjektivieren zu können, wird sie in diskrete Elemente „zerlegt“, was es ermöglicht, jede qualitative Bestimmung auszuschalten und die Welt als gesetzmäßige Funktion zu verrechnen und damit verfügbar zu machen. Vertreter dieser Philosophie, die heute in die Schreibstuben des Wissenschaftsjournalismus eindringt und immer mehr die Auffassungsweise sowohl vieler Wissenschaften3 als auch der (westlichen) Gesellschaft insgesamt durchdringt, sind dabei Gassendi, die englische Tradition des Empirismus (Bacon, Locke) und in gewisser Hinsicht auch Descartes, wenn er von der raumzeitlichen Welt als res extensa spricht (wenngleich er diese streng von der Sphäre des Geistigen abtrennt). Sie alle waren Leibniz wohlbekannt und bildeten einen entscheidenden Anstoß für seine Überlegungen.

2. Die Zeit als positiver Behälter der Ereignisse Mit der atomistischen Auffassung verbindet sich ein Begriff der Zeit, welcher dieser jede qualitative Konnotation nimmt. Sie wird entkoppelt von den Rhythmen der Natur und des Menschen und erhält so eine eigenartig weltlose Bestimmung. Auf diese Weise ist sie nicht mehr die Zeit von etwas, sondern der funktionale und in einem mathematischen Raster ausdrückbare Behälter, in den die Welt eingepasst werden kann. Damit konnten zwar Phänomene wie die Veränderung und die Bewegung, Grundprobleme abendländischer Auffassung seit alters her – man denke an den parmenideischen Ursprung unserer Philosophie samt all seiner auch weit in die Theologie hineinreichenden Wirkmächtigkeit! –, rechnerisch erfasst werden, allerdings trat der antike Titan Kronos auf diese Weise erneut seine Herrschaft an. Die veränderliche Welt inklusive des Menschen stand nun unter seiner Dominanz, Zeit als Eigenzeit war zu(un)gunsten einer allumfassenden Zeitmaschinerie sistiert, die analog dem atomistischen Modell die Welt als positive (im Sinne von positivistisch, fixiert, unbeweglich, verfügbar, s.u.) Zusammensetzung von Augenblicken darstellte, nach denen sich das Leben des Menschen zu bemessen hatte. Leibniz konnte die Konsequenzen dieser Denkungsart in ihrer ganzen Dimension noch nicht erahnen, wie etwa den Herrschaftsantritt der Maschinenzeit über die Menschheit in der Fließbandarbeit des industriellen Zeitalters, die den 3

Man vergleiche ganz besonders die Diskussion in der heutigen Gehirnforschung, wo viele Vertreter den Menschen als Ansammlung gehirnneurologischer, und d.h. im Letzten physikalisch-materialistischer Funktionen beschreiben.

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III. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES SEINS

Menschen als bloßes Rad, als Helfer des immer gleich verstreichenden Augenblicks, der niemals in seinem Strom unterbrochen werden darf, setzt, womit dem Menschen die Zeit als (göttliche) Gabe bzw. als Ereignis mitmenschlichen Daseins radikal entwunden und der Mensch zur Maschine erniedrigt ist. Allerdings kann die Denkbemühung von Leibniz durchaus als der beginnende Versuch gefasst werden, die Konsequenzen der als tödliche Logik erfassten mechanistischen Depotenzierung von Welt und Eigenzeit zur res extensa zu durchbrechen.

3. Exkurs: Zum Begriff der Positivität Da wir immer wieder auf den aus hegelscher Denktradition entlehnten Begriff der Positivität zurückgreifen werden, sei er hier kurz erläutert: Wir verwenden ihn im Sinne des Objekthaften, Undialektischen, Festgesetzten, des Unbeweglichen, des Erstarrten, des Verräumlichten, d.h. als Gegenbegriff zum Lebendigen, welches immer das in sich Bewegte ist. Eine „positive“ Zusammensetzung ist in diesem Sinne eine äußere Aneinanderreihung, die positive Zeit ist die verräumlichte, erstarrte Zeit, „zwischen“ deren Augenblicken sich im wahrsten Sinne des Wortes die allumfassende Leere verbirgt.

4. Die cartesische Herausforderung Neben Locke muss vor allem Descartes als Bezugspunkt für Leibniz gelesen werden muss. Allerdings ist interessant, dass Descartes nicht, wie der Materialismus nach ihm, die Welt völlig atomisiert, sondern der res extensa eine res cogitans entgegenstellt. Erstere erfüllt dabei gänzlich das Ideal der Berechenbarkeit, wobei sich in ihr die charakteristischen Momente des mechanistischen und des formallogischen Denkens zeigen, nämlich die beiden gemeinsame Tendenz zur Verräumlichung. Wir stimmen in diesem Zusammenhang Bruno Liebrucks zu, der immer wieder daran festhält, dass sich in einem mechanistisch-positiven Denken der formallogische Weltumgang wiederspiegelt, da dieser „Spaziologie“ ist. Dies ergibt sich aus dessen Grundaxiom: Einem X wird in der formalen Logik in jedem Bestimmungsvorgang jeweils genau ein A zugeordnet und so wird das Subjekt als positive Summe von außereinander vorgestellten Prädikaten gedacht. Die Zeit als Bewegung und damit „daseiender Widerspruch“ kann so nicht in den Blick kommen, vielmehr muss sie ver-

5. DIE SPINOZISTISCHE AUFHEBUNG ALLES ENDLICHEN

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räumlicht werden. Auf diese Weise kann sie als Summe von Zeitmomenten durchgängig bestimmt und in weiterer Folge gemessen und in Gesetzesform funktionalisiert werden. Dem Ideal der durchgängigen Bestimmbarkeit des Seienden, welches das Grundaxiom der traditionellen Metaphysik ist, korrespondiert ein völlig determinierter Zeitbegriff, wobei das determinierende Prinzip entweder verlagert wird in das Wechselspiel von Teilchen und Kräften oder in einen Allmachtsgott, außerhalb dessen es dann keine selbstständige Realität geben kann. Die Zeit ist dabei auf alle Fälle als eingefroren wie der Raum der res extensa vorgestellt. Sie ist der verräumlichte chronologische Zeitpfeil, die ewige mechanistische Folge von Ursache und Wirkung, die ebenfalls verräumlicht (als zwei „nebeneinanderliegende“ Sphären) vorgestellt werden. Ein Augenblick folgt dem anderen, jeder aber ist ohne eigene qualitative Bedeutung.

Diese cartesische Entgegenstellung von res extensa und res cogitans, wobei letztere die Welt des Selbstbewusstseins umfasst, bringt große Probleme mit sich: Zunächst stellt sich die Schwierigkeit der Zuordnung des nicht selbstreflexiven Lebendigen, die ja bei Descartes bekanntlich so „gelöst“ wird, dass es in der res extensa aufgeht – mit allen ungeheuren Konsequenzen, die dieser Verlust jedes Eigenwerts der Natur nach sich zieht. Ein weiteres Problem stellt die Vermittlung beider Sphären dar, die bei Descartes absolut getrennt bleiben müssen, um in die res extensa kein geistiges Element einzulassen und diese damit in ihrer Reinheit und Berechenbarkeit zu erhalten. Diese Vermittlung kann nur nachträglich gefasst werden, entweder okkasionalistisch, wobei ein „Deus ex machina“ die beiden Bereiche ständig zusammenschließen muss, indem er einer entsprechenden geistigen Willensregung die entsprechende Wirkung in der Körperwelt zuordnet, oder in dem fälschlicherweise Leibniz zugeschriebenen Gedanken der prästabilierten Harmonie, demgemäß Gott vor aller und für alle Zeit beide Bereiche aufeinander abgestimmt hat.

5. Die spinozistische Aufhebung alles Endlichen Neben dem Materialismus, vor allem in seiner Form des englischen Empirismus4, der die res cogitans, d.h. das Subjekt, die „Geistseele“, zugunsten des Objekts nivelliert – tatsächlich wird ja im Empirismus dieses Subjekt nur mehr als impressionenverarbeitende Maschine, d.h. als Mühle im Sinne von Leibniz (s.u.), verstanden –, und dem dualistischen Weg des Descartes ist vor allem Spinoza ein entscheidender Bezugspunkt für die leibnizsche Philosophie. Für diesen fallen alle Bestimmungen in die eine göttliche Substanz, der gegenüber das endliche Sein kein eigenes Bestehen hat. Sie ist daher die absolute Not4

Leibniz hat sich mit dem Empirismus, konkret der Philosophie von Locke, paradigmatisch in seinen „Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand“ auseinandergesetzt.

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III. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES SEINS

wendigkeit, die zeitenthobene Ewigkeit, an die keine Veränderung und keine Beschränktheit (Negation) treten kann. Ausdehnung und Denken als die cartesischen Grundmomente sind ihr gegenüber untergeordnete, nicht im eigentlichen Sinne zukommende Attribute. Gott als absolute Ursache tritt in dieser Bestimmung als absoluter Herr5 auf, dem gegenüber alles Endliche bloßer Schein ist. In gewisser Hinsicht könnte man sagen, dass die formale Logik in ihrem Ideal der durchgängigen Bestimmtheit alles Seienden bei Spinoza hypostasiert ist zu einem alles determinierenden Gott. Freiheit und Zeitlichkeit sind damit ausgeschaltet. Der Gott Spinozas ist auf diese Weise das Gegenbild des Materialismus – dessen Leblosigkeit er allerdings teilt –, insofern in ihm alles Endliche, sei es res cogitans, sei es res extensa, verschlungen ist, und steht damit auch im Gegensatz zum cartesischen Dualismus. Seine Problematik liegt aber darin, dass er als absolutes und unbewegtes Subjekt-Objekt jede Form von Zeitlichkeit und Geschichte, von Freiheit, von endlichem Selbstbewusstsein in ihrem Eigenwert negieren muss. Die spinozistische Zeit schreitet daher nicht mehr wie im Materialismus und seinen empiristischen Ablegern gleichförmig in das unendliche Nichts, sondern ist lediglich Schein gegenüber der wahren Zeitlosigkeit.

6. Die beiden Labyrinthe der Philosophie als Ausgangspunkt leibnizscher Denkbestimmungen Leibniz will bei aller Kritik an den oben genannten philosophischen Positionen in seinen Denkbemühungen nicht hinter das neuzeitliche Paradigma zurück, d.h. die Welt zerfällt ihm nicht in eine Mannigfaltigkeit substanzieller Formen, vielmehr hält er an der Notwendigkeit fest, die Welt in ihrer kausalen Gesetzlichkeit (funktional) und damit in ihrem Zusammenhang, in ihrer Einheit, zu begreifen. In seinen berühmten Ausführungen über die beiden Labyrinthe der Philosophie schreibt er: Es gibt zwei berühmte Labyrinthe, in denen sich die menschliche Vernunft oft verwirrt, das eine betrifft die große Frage der Freiheit und Notwendigkeit, besonders bei der Erzeugung und dem Ursprunge des Bösen; das andere besteht in der Erörterung der Kontinuität und deren als unteilbar anzusehenden Elemente, womit auch das Problem des Unendlichen eng zusammenhängt. Die erstere Frage bringt fast das ganze Menschengeschlecht in Verwirrung, die letztere beschäftigt nur die Philosophen.6 5 6

Es ist nicht zuletzt das spinozistische Verhältnis, konkret der Gott Spinozas, welches in der berühmten Herr-Knecht-Dialektik der PhdG von Hegel angesprochen ist. G.W. Leibniz, Versuche in der Theodicee über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels 8.

7. DIE LEIBNIZSCHE MONADENLEHRE

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In diesem kurzen Text ist die gesamte Problematik, vor die sich Leibniz gestellt sieht, wenigstens indirekt enthalten. Zuerst geht es ihm als Erben neuzeitlichen oder man könnte wohl auch sagen jüdisch-christlichen Denkens um die Freiheit des Menschen. Diese ist weder den archaischen numinosen Mächten noch jenen gesetzmäßigen, die der Mensch eben im Begriff ist zu entdecken, ausgeliefert. Allerdings ist für Leibniz auch der Gedanke reiner Zufälligkeit, d.h. ein Verständnis, welches die Freiheit im Moment der Indifferenz verankert, wie dies einer der in seiner „Theodicee“ (wenn auch anonym) abgehandelten Gegenspieler7 tut, absurd, wobei wir die tieferen Gründe dafür im zweiten Labyrinth suchen müssen. Es handelt sich dabei um das der Kontinuität, welches als die Frage der durchgängigen Vermittlung als Bedingung der Einheit des Seins gefasst werden soll. Die Natur darf deshalb „keine Sprünge machen“ und damit auch kein indifferentes Moment enthalten, sondern muss vielmehr kontinuierlich sein, weil sich darin der Zusammenhang der Welt zum Ausdruck bringt. Eine nicht durchgängig (kausal) vermittelte Welt wäre für Leibniz eine zerbrochene Welt, alogisch und damit kein möglicher Ort für die Freiheit des Menschen. Um diesen Gedanken näher entfalten zu können, müssen wir auf das Herzstück seiner Philosophie, nämlich die Monadenlehre eingehen.

7. Die leibnizsche Monadenlehre Leibniz beginnt seine berühmte Monadologie mit der Überlegung, dass die Monade „nichts Anderes als eine einfache Substanz ist“8. Um diese Aussage in ihrem vollen Gehalt zu verstehen, sollte man das sogenannte Mühlengleichnis hinzunehmen, in dem auch der Begriff der Perzeption vorkommt, der uns später noch beschäftigen wird: Man muß ferner notwendig zugestehen, daß die Perzeption und was von ihr abhängt, aus mechanischen Gründen, d.h. aus Gestalt und Bewegung, nicht erklärbar ist. Denkt man sich etwa eine Maschine, deren Einrichtung so beschaffen wäre, daß sie zu denken, zu empfinden und zu perzipieren vermöchte, so kann man sie sich unter Beibehaltung derselben Verhältnisse vergrößert denken, so daß man in sie wie in eine Mühle hineintreten könnte. Untersucht man alsdann ihr Inneres, so wird man in ihm nichts als Stücke finden, die einander stoßen, niemals aber etwas, woraus man eine Perzeption erklären könnte. Den Grund hierfür muß man also in der einfachen Substanz, nicht im Zusammengesetzten oder in der Maschine suchen. Auch läßt sich in der einfachen Substanz nichts

7 8

Nämlich William King (1650-1729). Vgl. G.W. Leibniz, Monadologie §1f., Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie 603.

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III. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES SEINS

weiter als eben dies: Perzeptionen und ihre Veränderungen, finden, und alle ihre inneren Tätigkeiten können nur hierin bestehen.9

Dieses Gleichnis gibt den Grund an, warum die Welt, und, wie wir sehen werden, die Zeit, nicht als Aggregat angeschaut werden kann. Träten wir nämlich in das Innere eines (nicht technisch-mechanisch hergestellten) Seienden, also eines komplexen in sich mannigfaltigen Systems, und deuteten dieses als z.B. atomare Zusammensetzung, hätten wir „nur Teile, die einander stoßen“, aber gerade nicht dieses Seiende selbst in seiner Mannigfaltigkeit. Analoges ist zu sagen, wenn das Denken als Summe gehirnphysiologischer Ströme gedeutet wird, denn diesen fehlt genau das, was einen Gedanken ausmacht, nämlich die Inhaltlichkeit (Bedeutsamkeit) und innere Einheit – wobei letztere im Gedanken als dem sich absolut Selbstbewegenden und Ruhelosen sogar noch einmal anders gefasst werden müsste als im Seienden. Damit fällt jede Möglichkeit einer atomistischen Deutung des Seienden, wobei vielleicht noch andeutungsweise hinzugefügt werden könnte, dass es auch physikalisch höchst problematisch ist, die Materie als Zusammensetzung von Elementarteilchen10 und den zwischen ihnen wirkenden Kräften11 zu verstehen, sind diese doch „an sich“, d.h. isoliert genommen, virtuell und erst in Bezug auf differenziertere Strukturen Träger von Informationen. Auf das Verhältnis des Zusammenhangs der Wirkursache als Bedingung eines Seienden – also in Bezug auf das Mühlengleichnis die Teile, die einander stoßen – und der Zweckursache als des wahrhaften Grundes desselben – also die Mühle als Ganzes in ihrer Bedeutsamkeit – hat im Übrigen bereits Platon in dem Leibniz wohlbekannten Dialog Phaidon hingewiesen12. Dort wirft Sokrates dem Anaxagoras vor, die Freiheit als Grund der Bewegung eines Menschen mit den Knochen und Sehnen als deren Bedingung zu verwechseln. Auch mit Leibniz muss man darauf bestehen, dass es keine Zweckursache ohne die Kontinuität der Wirkursachen, keine Seele ohne Leib, keine gedankliche Tätigkeit ohne neuronale Bedingung, keine res cogitans ohne res extensa und kein Seiendes ohne Elementarteilchen und die dazwischen wirkenden Kräfte13 gibt. Der entscheidende Punkt ist deren Zusammenhang: Um der Einheit und Bedeutsamkeit des Phänomens willen darf keine der genannten Sphären isoliert zur Sprache gebracht werden. Das bedeutet nicht zuletzt, dass das Verhältnis der Monade als der „einfachen Substanz“ und der Materie als dem „Aggregat“ nicht im Sinne einer „räumlichen“ Zusammensetzung gefasst werden kann. Vielmehr ist die Monade die Einheit (Kontinuität) des 9 10 11 12 13

G.W. Leibniz, Monadologie §17, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie 605f. Derzeit nach dem Standardmodell der Elementarteilchen Quarks und Leptonen. Also derzeit die elektroschwache und die starke Kraft sowie die Gravitation (als Phänomen sui generis). Vgl. Platon, Phaidon 97-99. In diesem Zusammenhang müsste man darauf hinweisen, dass die Vorstellung eines Elementarteilchens immer modellhaften Charakter hat und diese allenfalls im analogen Sinn als "real" angesetzt werden können.

8. DIE MONADE ALS ANALOGON DES ICH

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Seins als „Einfaches“ im Sinne der „Entelechie“, die ihren Zusammenhang wirkursächlich zur Darstellung bringt. Wichtig ist, dass dieses Einfache nie das in sich völlig Kontingente, Unsagbare/Alogische ist, sondern im Sinne der Repräsentation des Allgemeinen (Idee, Begriff, Logos) gefasst werden muss. Dies bedeutet, dass die Monade gerade als „Einfaches“ individuell und allgemein zugleich und somit bedeutsam und sprachlich/aussprechbar ist. Dieser Hund da ist Monade, indem er sich in seinem Hundsein zu verstehen gibt, d.h. sich in den Weisen des Hundseins perzipiert. Wir haben damit eine erste Hinführung zum Begriff der Perzeption erschlossen. Sie ist die Art und Weise, wie sich die Monade zum Ausdruck bringt, wobei Raum und Zeit den Zusammenhang ihres Ausdrucks markieren.

Das Bisherige zusammenfassend kann also gesagt werden, dass es die Monade weder als ideenhafte „Hinterwelt“, d.h. als Einfaches in einem wie auch immer vorgestellten „Hinter“ der Mannigfaltigkeit ihrer Perzeptionen (Ausdrucksweisen) gibt, noch dass sie durch diese, vielleicht gar in quantitativer oder materialistischer Abstraktion, ersetzt werden könnte. Die Monade ist vielmehr entelechiales „Inneres“, das seine Einheit wirkursächlich „äußert“, oder auch vis primitiva, die sich als vis derivativa bzw. res cogitans, die sich als res extensa zur Erscheinung bringt. Mit letzterer Bestimmung ist ein Gedankengang von Leibniz angesprochen, der nachvollzogen werden muss, um seine Philosophie und damit verbunden seine Zeitkonzeption verstehen zu können.

8. Die Monade als Analogon des Ich Die Monade ist nicht nur Idee und Entelechie, sondern auch Ich bzw. Analogon des Ich. Leibniz schreibt dazu im Entwurf an einen für de Volder gedachten Brief, dass sich seiner „Meinung nach [...] keine andere Existenz zwingend erweisen [lässt] als die der vorstellenden Subjekte und ihrer Perzeptionen“14. Die Lösung des von Cartesius aufgeworfenen Problems bezüglich der Vermittlung von Subjekt und Objekt, res cogitans und res extensa liegt nämlich weder in der Vorstellung einer absoluten Substanz gemäß Spinoza, die dem Endlichen nicht gerecht zu werden vermag und es zum bloßen Schein herunterdrückt, noch im materialistischen Kurzschluss, der uns die Welt als Ansammlung mechanischer Objekte darstellt, sondern in der Subjekt-ObjektEinheit, wie sie die Monade, insofern sie sich in ihren Perzeptionen (Bewusst14

G.W. Leibniz, Brief an de Volder, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie 531.

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III. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES SEINS

seinsinhalten) manifestiert, zum Ausdruck bringt. Als diese Einheit ist jede Monade, wie Leibniz festhält, „lebender, immerwährender Spiegel des Universums“15. Die innere Einheit, als die wir die Monade dargestellt haben, liegt nämlich nicht in Raum und Zeit, vielmehr sind Raum und Zeit die Kontinuität der Perzeptionen, in denen sich die Monade zum Ausdruck bringt. Von einem Subjekt kann deshalb im Zusammenhang der Monade gesprochen werden, weil alle Perzeptionen in ihr als einem (nicht verräumlichbaren) transzendentalen „Einheitspunkt“ versammelt sind, Objekt ist sie, weil sie sich als Subjekt in ihren Perzeptionen verobjektiviert. Mit diesen Überlegungen können wir auch den Begriff der Perzeption erweitern: Sie ist nicht nur Eigenschaft der Monade, nicht nur ihre räumliche und zeitliche Erscheinungsweise, d.h. ihre sich in der Raum-Zeit zum Ausdruck bringenden Relationen, sondern, insofern die Monade als (transzendentales) Subjekt zu verstehen ist, deren Bewusst-Seins-Inhalt, im weitesten Sinne also das ganze auf sie bezogene Universum. Wir verwenden hier die Schreibweise „Bewusst-Sein“ anstelle von Bewusstsein, um zum Ausdruck zu bringen, dass die Welt nicht von der Monade konstruiert wird, sondern Subjekt und Objekt in der Monade gleichursprünglich sind. Der Konstruktivismus verdankt sich ebenfalls einer technizistischen Sicht auf die Welt.

Wir können allmählich erahnen, dass die Monade nicht als isoliertes Subjekt vorgestellt werden darf, weil sie als solches auch nicht perzipierte (bzw. ihre Perzeptionen wären bloße Wahnprodukte, womit die Monade und mit ihr das Sein die innere Einheit und daraus folgend die Existenz verlören). Daher ist sie „Spiegel“ des Universums. Auf diese Weise ist sie kein (alogisches) Subjekt bzw. Objekt X, welches der Welt äußerlich gegenüberstünde oder an das Erkenntnis von „außen“ gebracht werden müsste, vielmehr gibt jede Monade eine bestimmte Perspektive auf das Universum frei und teilt sich in dieser Freigabe von sich aus mit. Damit ist sie überhaupt erst perzipierend und perzipierbar, d.h. einer Erkenntnis zugänglich und sprachlich ausdrückbar. Mit diesen Überlegungen sind zwei – auf einer Linie liegende – Vorurteile, die nicht zuletzt unser neuzeitliches Denken bestimmen und gegen die Leibniz argumentiert, zutiefst in Frage gestellt: Das eine betrifft die Auffassung des (nicht hergestellten) Seienden als Objekt: Tatsächlich rührt diese im technischen, die Welt verobjektivierenden Weltumgang des Menschen, entspricht aber nicht der monadischen Struktur, d.h. der Subjekt-Objekt-Einheit des Seienden, die dieses überhaupt erst in seiner Mannigfaltigkeit und Differenziertheit besprechbar macht, wenn man bedenkt, dass die Differenz nicht Produkt verschiedener Atomanordnung, sondern Konsequenz der verschiedenen monadischen Perspektiven ist. Das zweite Vorurteil betrifft die Tatsache, dass wir dieses Seiende in der Regel im wahrsten Sinne des Wortes als von sich aus 15

Vgl. z.B. G.W. Leibniz, Monadologie § 63, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie 615.

9. DER STUFENBAU DER MONADEN

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„stumm“ betrachten. Tatsächlich ist es aber weder etwas, das unser Denken im Sinne einer abgetrennten res cogitans erst (konstruktivistisch) produzieren müsste, noch ein von unserem Denken grundsätzlich separierter und damit unerreichbarer Bereich. Es ist auch nicht objekthafte Materie, der der menschliche Verstand äußerlich eine Form einschreiben müsste. Vielmehr ist das Seiende als Monade das sich als Spiegel des Universums Gottes in deren Perzeptionen mitteilende bzw. sich offenbarende Sein. So gesehen wird erst die sich aus der Subjekt-Objekt-Struktur ergebende berühmte „Fensterlosigkeit“ der Monade – „in die weder etwas [räumlich] herein- noch heraustreten könnte“16 –, die geradezu zum Synonym einer in sich verschlossenen Metaphysik geworden ist, die grundsätzliche Offenheit und Offenbarkeit des Seienden zum Ausdruck bringen. Die Monade ist als Subjekt-Objekt nicht ein in einem Raumzeitbehälter existierendes Objekt, sondern in ihren Perzeptionen erst Raum und Zeit (voraus)setzendes Subjekt (s.u.) und als solches das Universum Gottes in einer bestimmten Perspektive.

9. Der Stufenbau der Monaden Wenn wir im letzten Kapitel von der Monade als „Ich“ gesprochen haben, ist damit nicht Selbstbewusstsein im Sinne eines selbstreflexiven Verhaltens gemeint, sondern eben das, was Leibniz mit dem Ausdruck „Perzeptivität“ im Sinne hat. Tatsächlich ist die Natur nicht in sich isoliert und damit „stumm“, sondern steht in einem Bezugssystem, aus dem jedem ihrer Glieder die spezifische Bedeutung zuwächst. Leibniz beschreibt dies als den sich gegenseitig „spiegelnden“ (perzipierenden) Zusammenhang. So perzipiert („spiegelt“, „reflektiert“) z.B. die Erde die Sonne in Gestaltungen des Lichtes, der Pflanzen, die auf ihr wachsen, der Menschen, die als Bewohner dieser Erde die Sonne als Lebensquelle wahrnehmen. Auch der Stein ist nicht ohne Perzeption, d.h. ohne Zusammenhang und Bedeutung, wie jeder schmerzhaft erfährt, der sich an ihm stößt (wenn sich also der Stein in unserem Schmerz reflektiert). Grundsätzlich unterscheidet Leibniz als erste Gruppe die perzipierenden Monaden, innerhalb derer sich eine Differenz anbringen lässt zwischen jenen, deren Willen, um hier an eine bekannte Stelle Schellings anzuknüpfen, noch nicht über sich hinausweist17, die sich also lediglich durch eine differenzierte Gestalt und einen inneren Zusammenhalt (etwa Eigengravitation18), vor allem 16 17 18

G.W. Leibniz, Monadologie §7, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie 603. Vgl. F.W.J. Schelling, PhdO 26. Der Gravitation kommt überhaupt innerhalb des leibnizschen Systems eine überragende Bedeutung zu, denn sie ist das physische Band zwischen den Monaden, aber auch deren rudimentärste Einheit als Eigengravitation.

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III. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES SEINS

aber, und dies ist für unsere Arbeit wichtig, durch ein eigenes Zeitmaß19 auszeichnen, d.h. Monaden der nichtlebendigen Natur (z.B. Gestirne), und lebendigen Monaden, die eigenbewegt sind (Pflanzen und Tiere20), also ihr spezifisches Zeitmaß nicht nur empfangen, sondern aktiv setzen. Leibniz hält im 30. Abschnitt der Monadologie fest, dass die höheren perzipierenden Monaden, also die Tiere, über ein Gedächtnis verfügen. Damit können die Tiere nicht nur ein eigenes Zeitmaß (voraus)setzen, sondern bilden bereits aktiv eine Synthesis der Zeit als Ausdruck ihrer inneren Einheit.

Die zweite Gruppe sind die apperzipierenden Monaden, also jene mit Selbstbewusstsein, konkret der Mensch21. Bei ihnen ist die Art der Spiegelung insofern eine grundsätzlich andere, als sie nicht nur, wie die perzipierenden Monaden, „ansichseiende Vermittlung“ sind, d.h. über die Natur „verfügen“ und diese darin spiegeln, sondern „fürsichseiende“, d.h. auch über ihr Verfügen selber verfügen22 und in dieser Selbstdifferenz frei sind. Hinzuzufügen ist, dass sich diese Freiheit moralisch manifestiert in der Möglichkeit der Bejahung (oder Verneinung) der apperzipierenden Monaden (Anerkennung des Menschen als moralisches Wesen, was sich darin zum Ausdruck bringt, dass der Mensch in seiner moralischen Integrität nicht verletzt wird, z.B. in Form von „Verführung“ oder „Freiheitsberaubung“), der perzipierenden Monaden, insofern sie lebendig sind (Anerkennung des Menschen in seiner physischen Integrität und darin auch Anerkennung des Wertes des Lebendigen überhaupt, was sich darin zum Ausdruck bringt, dass weder dem Menschen noch dem Lebendigen überhaupt mutwillig Schmerz zugefügt wird) sowie der Monaden überhaupt (Anerkennung der Welt in ihrer Erhabenheit und Geschöpflichkeit, die sich nicht zuletzt in Lobpreis, Ehrfurcht und Kunst23zum Ausdruck bringt). Als Beispiel für eine nichtapperzipierende Monade könnte man einen Hund anführen. Dieser verfügt über die Objekte, wenn er sich z.B. eine Wurst einverleibt. Dabei ist er allerdings im Actus dieses Einverleibens mit seinem Gegenstand identisch. Er kann nicht über die Art und Weise seines Verfügens nachdenken, d.h. nicht in Differenz zu 19

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Dass Einstein in der allgemeinen Relativitätstheorie ein solches eigenes Zeitmaß in Bezug auf die Gravitation gefunden hat, gehört zu den schönen, in der physikalischen Natur sich manifestierenden Entsprechungen zur leibnizschen Monadenlehre. Ob die Einteilung zwischen Prokaryonten und Eukaryonten, wobei in letzter Zeit auch diese noch einmal durch die Entdeckung der Archaebakterien gesprengt wird, wirklich geistvoller ist als eine solche in Pflanzen und Tiere, bei der die Bewegung das Maß der Einteilung vorgibt, mag dahingestellt bleiben. Leibniz setzt die apperzipierenden Monaden und den Menschen nicht gleich, erstens, weil er die Existenz intelligenten Lebens außerhalb der Erde annimmt, zweitens, weil für ihn auch die Engel apperzipierende Monaden sind. Diesen meiner Meinung nach sehr prägnanten Ausdruck habe ich von H.D. Klein entlehnt. Ein besonderer Rang kommt der Musik als Darstellung der harmonia mundi zu. Wir weisen ihr deshalb eine herausgehobene Stellung zu, weil sich in ihr die Zeitlichkeit der Welt zum Ausdruck bringt. Dabei kann die Musik als zum Schwingen gebrachte Zeit angesehen werden, d.h. die Zeit hat essenziell musikalischen Charakter.

9. DER STUFENBAU DER MONADEN

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seinem Handeln treten. Umgekehrt ist es dem Menschen als apperzipierender Monade nicht möglich, in die Unmittelbarkeit der Natur zurückzukehren. Der Mensch, der z.B. eine Wurst isst, geht nicht völlig darin auf, sondern kann sich in dieser Tätigkeit reflektieren. Aus diesen Überlegungen ergeben sich zwei weitreichende Konsequenzen: Die eine betrifft die Weise der Sinnlichkeit des Menschen. Diese ist nie reine Sinnlichkeit, insofern der Mensch nie in der Objektwelt aufgeht, sondern immer bereits in den Gedanken gehoben. Dies zeigt sich z.B. daran, dass der Mensch, wiewohl biologisch mit einem viel weniger differenzierten Geschmackssystem als z.B. der Hund ausgestattet, seine Mahlzeiten, gerade indem er sie mittels kultureller Tradition in den Geist hebt, viel differenzierter genießen kann. Daher sehen wir, dass die Trennung von Sinnlichkeit und Verstand zu kurz greift. Die zweite Konsequenz betrifft die Triebe. Der Mensch ist entgegen biologistischer Vorurteile kein Triebwesen. Vielmehr ist sein Trieb die Freiheit. Dies zeigt sich z.B. daran, dass der Mensch, wenn seine Motivlage dies verlangt, auf Nahrung verzichten kann. Er wird sie aber deshalb wieder aufnehmen, weil eine dauerhafte Nahrungsverweigerung seine Freiheit, insofern diese natürliche Bedingungen hat – der Mensch als Leib ist immer auch natürliches Wesen –, ernsthaft limitieren wird. Leidet der Mensch z.B. unter großem Hungergefühl oder unter starken Schmerzen, ist er auf dieses Gefühl reduziert. Seine Freiheit ist eingeschränkt. Was die Erinnerung und damit die Synthesis der Zeit betrifft, hat diese bei apperzipierenden Monaden eine andere Qualität als bei den Tieren, denn die menschliche Erinnerung ist nicht nur eine zeitliche Verknüpfung von Ereignissen im Sinne der Einbildungskraft, die die Einheit der Monade nicht gewährleisten könnte, sondern steht unter der Schirmherrschaft der Vernunft. D.h. der Mensch kann idealiter eine zeitliche Totalität, d.h. einen absoluten Zusammenhang seiner Biographie (seiner Perzeptionen) als Bedingung der Möglichkeit der Einheit der Monade denken. In diesem Lichte betrachtet ist die Zeit als Vernunftzeit (Zeitganzes) die gesetzte Voraussetzung der Einheit der Monade.

Zwar ist nach Leibniz durch die Freiheit der Beziehungsfähigkeit (Selbstvermittlung) apperzipierender Monaden keine grundsätzliche Grenze gesetzt, weil eine solche da, wo sie als Objekt gesetzt wird, überschritten werden kann. Allerdings muss daran festgehalten werden, dass die apperzipierenden Monaden nicht allmächtig sind, da ihrer Tätigkeit Unmittelbares, d.h. natürliche Bedingungen, die Objektwelt, die Natur, gegenübersteht. Dieses Gegenüberstehende bildet den Leib des Menschen, an dem die Geistseele ihre Grenze erfährt, wobei allerdings wichtig ist, unter dem Leib nicht nur den Körper zu verstehen, sondern das ganze Relationsgefüge, in dem jedes Wesen schon steht. Die Grenze des Menschen, die der Leib ist, bildet ihrerseits die Sphäre seiner Geistigkeit. Denn der Mensch kann sich nur als geistiges Wesen erfahren, insofern er in einem Relationsgefüge steht, welches seiner Allmacht eine grundsätzliche Grenze einschreibt und zwar sowohl Gott (Gottesliebe) als auch dem Menschen (Nächstenliebe) gegenüber. Was die Synthesis der Zeit betrifft, kann der Mensch, wie vorher betont, nicht auf Grund seiner Erinnerung ein Ganzes der Zeit als Bedingung seiner Einheit

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III. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES SEINS

bilden, sondern nur als Vernunftidee, die ihn zur Idee eines allmächtigen (zeitmächtigen) Wesens als Bedingung der Möglichkeit ihrer Realisierung führt.

Die einzige Monade, die nach Leibniz keinerlei Beschränkung unterliegt, ist Gott als die Monas Monadum, die die absolute Vermittlung und so (wenn man Personalität als Selbstvermittlung bestimmte) die absolute Persönlichkeit ist, die keiner Perspektivität mehr unterliegt. In Bezug auf die Zeit betrachtet ist Gott deren Einheit als Bedingung der Möglichkeit der Einheit der Monade. Im Zusammenhang mit unseren Überlegungen wird sich nun in Hinsicht auf das Zeitproblem die Frage stellen, welche Bedeutung die Perspektivität der Monade hat, nicht zuletzt in Bezug auf das berühmte Diktum von deren „Fensterlosigkeit“. Dabei wird sich ein Zeitbegriff ergeben, in dem die Zeit nicht mehr als Behälter gefasst werden kann, sondern eine neue, für unsere Entwicklung des Problems wegweisende Bedeutung erhält.

10. Die Monade als Spiegel des Universums Zunächst ist noch einmal festzuhalten, dass die Monade, auch wenn sie nicht Gegenstand einer als Behälter gefassten Raumzeit ist, dennoch keiner gespenstischen Hinterwelt angehört, sondern als Subjekt, als Einfaches, als vis primitiva sich raumzeitlich zum Ausdruck bringt, d.h. Welt einräumt und Welt zeitigt. Wenn bei Leibniz die Rede davon ist, dass die Monade, als (transzendentales Ich) nicht in Raum und Zeit stehend, das ganze Universum in bestimmter Weise perzipiert, darf dies nicht dahingehend missverstanden werden, dass dem einen transzendentalen Ich nur eine Monade entspricht. Tatsächlich vermittelt es sich nämlich in unendlich viele Perspektiven (Monaden), von denen keine einen Vorrang vor der anderen hat. Höbe man eine Monade (Perspektive) gegenüber allen anderen heraus und deklarierte sie als die einzige Realität, so wäre dies nicht nur völlige Willkür, sondern hätte auch die Konsequenz, dass diese Monade, ihrer Relationen beraubt, blinder Spiegel und damit im strengen Sinne bedeutungslos wäre.

Zur Verdeutlichung des Gemeinten können wir auf eine Stelle aus den „Metaphysischen Abhandlungen“24 verweisen, in denen Leibniz festhält, dass das Prädikat dann „einem bestimmten Subjekt wahrhaft zugehört“, wenn es wenigstens „virtuell in ihm enthalten“ ist. Leibniz fügt hinzu, dass derjenige, der „die vollkommene Einsicht in den Begriff des Subjekts besäße“, also Gott, mit dem Subjekt (Leibniz verwendet als Beispiel Alexander den Großen) „den 24

G.W. Leibniz, Metaphysische Abhandlungen §8, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie 350f.

10. DIE MONADE ALS SPIEGEL DES UNIVERSUMS

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Grund aller Prädikate“ (im vorliegenden Beispiel etwa die Tatsache, dass Alexander Dareios besiegt etc.) überblicken könnte, d.h. auch die Gesamtheit der zeitlichen Bestimmungen (Geschichte der Monade) in ihrer Einheit. Denn auf Grund der Verknüpfung aller Ereignisse sind in jeder Monade „Spuren von allem, was im Universum vor sich geht“, zu finden. Die Monade ist ein (Letzt)Subjekt – d.i. ein Subjekt, welches nicht Prädikat sein kann, also ein Individuum –, das sich in all ihren räumlichen und zeitlichen Ereignissen (Prädikaten) zum Ausdruck bringt, deren Einheit sie ausmacht. Leibniz führt damit die traditionelle Urteilslogik aufs Konsequenteste fort: Denn die Monade ist sozusagen ein substantiiertes Urteil, bestehend aus Subjekt – als solche ist sie das Einzelne, d.h. nicht in Raum und Zeit stehende „Singularität“ – UND Prädikat, wobei das Prädikat das Ganze ihrer Geschichte, ihrer Relationen und ihrer Eigenschaften ausmacht. Die entscheidende Bedeutung liegt also in diesem UND: Als bloßes Subjekt wäre die Monade nämlich (singuläres) Gespenst, als bloße (positive) Aneinanderreihung von (raumzeitlichen) Prädikationen ohne innere Einheit (Zeitganzes) würde sie zerfallen, wäre also Illusion wie auch jede Form des Logos, d.h. Aussagemöglichkeit des Seienden. Wir wären zurückgeworfen in eine absurde Leere des Ausdrucks. Eine solche abstrakte, d.h. das Moment des Subjekts tilgende Herangehensweise an die Dinge kennzeichnet unser mechanistisches Denken, wenn wir meinen, Prädikationen freischwebend vornehmen zu können. Tatsächlich aber gibt es etwa die Farbe „Rot“ als abstrakt Allgemeines nur als Modell, welches als allgemeine Wellengleichung mathematisiert werden kann. In der Realität hingegen gibt es das allgemeine „Rot“ nur als das Rot des „Diesen da“, z.B. der Rose, d.h. nur in der Dialektik von Einzelnem und Allgemeinem.

Aus dem hier Ausgeführten folgt, warum bei Leibniz die Natur keine Sprünge machen darf bzw. warum es das Labyrinth der Kontinuität zu durchschreiten gilt: Es steht in diesen Sprüngen die Einheit und damit die Bedeutungsfähigkeit der Monade am Spiel, denn die Prädikate können sie nur als zeitliches Kontinuum, d.h. in absoluter Vermittlung, als Individuum (durchgängig bestimmtes Subjekt) bezeichnen. Bei Leibniz zeigt sich wie bei Kant ein Primat der Zeit, insofern sich die Monade als Bewusstseinsinhalt (Perzeption) zur Äußerung bringt. Streng genommen ist der Raum nur die vorstellungsmäßige Simultanität (das „ruhige Abbild“) der Zeit.

Eine nicht durchgängig bestimmte Monade könnte nicht als „Ich“, als Fokuspunkt („Prisma“) ihrer Perzeptionen gefasst werden, da das Ich als (negativer) „Punkt“ und seine Äußerung als durchgängig vermitteltes raumzeitliches Sein streng aufeinander bezogen sind. Mit der Einheit der Monade (als Einheit des transzendentalen Subjekts) geht auch die Einheit der Welt und die Einheit des Subjekts als Bedingung der Möglichkeit freien und vernünftigen Handelns einher. Die Alternative zu dieser Einheit wäre für Leibniz, wie oben bereits angedeutet, eine alogische, absurde Welt, mit allen moralischen und auch

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III. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES SEINS

theologischen Folgen25, da die Einheit der Welt, wie wir noch sehen werden, Ausdruck der Liebe Gottes ist und ohne dieser Einheit die Gottesliebe nicht manifest wäre. Aus diesen Überlegungen ergibt sich der Satz des zureichenden Grundes, den Leibniz in die Frage fasst, „warum etwas so und nicht anders ist“26. Er ist keineswegs als isolierter Grundsatz neben dem Satz der Identität anzusetzen, sondern er ergibt sich aus dem geforderten Vermittlungszusammenhang der Monade. Sie muss, um „vollständig“ zu sein, um als Subjekt gefasst werden zu können, in einer durchgängigen zeitlichen Verknüpfung stehen, d.h. zureichend begründet sein. Dieser zureichende Grund geht über jede lineare Kausalität hinaus, da diese niemals die Totalität der Gründe erreichen könnte. Wichtig ist, dass wir mit der Forderung nach dem zureichenden Grund jeden endlichen Vermittlungszusammenhang verlassen, da nur die Totalität aller Gründe die (zeitliche) Einheit der Monade zum Ausdruck bringt. Auf diese Weise ist die Monade einerseits von jedem technischen Produkt abgehoben, welches immer eine Zusammensetzung einer endlichen Anzahl von Herstellungsschritten ist, andererseits ist sie dadurch als Spiegel aller anderen, d.h. als unendlich bestimmt, weil sie das gesamte Universum immer schon in ihren Begründungszusammenhang hineingenommen hat. Leibniz bringt dies in der Monadologie zum Ausdruck, wenn er im 64. Abschnitt27 festhält, dass „jeder organische Körper eines Lebewesens“ unendlich komplexer ist als ein künstlicher Automat. Noch deutlicher zeigt uns dies der Satz, dass die „Maschinen der Natur, d.h. die lebenden Körper, [...] noch Maschinen in ihren kleinsten Teilen bis ins Unendliche“ und damit Zeigestäbe „göttlicher Kunst“ im Unterschied zu menschlicher sind28. Die Monade ist als innere Einheit nichts Zusammengesetztes, sondern in allen ihren Differenzierungen ein unendliches Beziehungsgefüge (von Monaden). Man muss also sagen, dass die entscheidende Kategorie in der leibnizschen Monadenlehre, so paradox dies für alle klingen mag, die von der Geschlossenheit der Monade fantasieren, die Relationskategorie ist. Die Monade ist, insofern sie das Universum spiegelt, Relation und als solche niemals begrenzt, ableit- und herstellbar, sondern, da nicht Teile, sondern alle anderen Monaden „enthaltend“ (perzipierend), unendlich kunstvoll. Dabei gibt es allerdings einen Unterschied zwischen den Monaden innerhalb dieses Beziehungsgefüges: Jede Monade verleiblicht das gesamte Universum, aber in unterschiedlichen Formen der Perzeption. So perzipiert etwa der Autor dieser Arbeit seine Hand auf eine andere – aktivere – Weise 25

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In einer derartigen Welt könnte nicht mehr von Gottes Güte gesprochen werden, die die Welt zureichend begründete. Menschliches Handeln wäre einer letzten Zufälligkeit bzw. numinosen polytheistischen Mächten ausgesetzt. Dieser Satz kommt z.B. in den „24 Sätzen“ (vgl. G.W. Leibniz, Die Philosophischen Schriften VII, hg. von C.I. Gerhardt, Hildesheim 1965, 289-291) vor, aber auch an zahlreichen anderen Stellen. G.W. Leibniz, Monadologie §64, in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie 615. G.W. Leibniz, Monadologie §64, in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie 615.

11. DIE ZEITIGUNG DER MONADEN

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als er dies etwa mit der Sonne tut, auf die er nicht unmittelbar einwirken kann, der er aber sein Leben verdankt, und wieder anders einen Milliarden Lichtjahre entfernten Quasar, in Bezug auf den die Gravitation die primäre Form der Perzeption ist. Mit diesen Überlegungen können wir nun auch dem Ausdruck „Perzeption“ die entsprechende Deutung geben. Diese ist nicht nur Prädikat oder gar Eigenschaft der Monade, sondern als Bewusstseinsinhalt die Art der Spiegelung anderer Monaden. Jede Monade spiegelt sich auf bestimmte, je einmalige Weise (vgl. das von Leibniz so hochgehaltene Indiszernibilienprinzip, nach dem es nicht zwei gleichartige Monaden geben kann, da zwei Monaden nicht in exakt derselben Relation stehen können) in den anderen und jede steht somit im Verhältnis bestimmter Perzeptivität. Auch von daher wäre, wie bereits gesagt, eine einzelne Monade ein völliges Unding, weil ohne Perzeptionen. Allerdings darf das Spiegeln nicht als mechanisches Aufeinandereinwirken gefasst werden, denn dieses ist lediglich der äußerliche (verräumlichte) Ausdruck des Zusammenhangs der Monade. Abzuheben von der Perzeption war die „Apperzeption“, denn apperzipierende Monaden sind solche, die das Universum „erkennen“ und „nachahmen“ können (Monadologie §83), d.h. solche, die mittels Vernunft das Ideal der Totalität einer zeitlichen Einheit erstellen können.

11. Die Zeitigung der Monaden und die in Gott gegründete Zeit als deren vinculum substantiale Die Zeit ist weder Behälter noch ein großer Mechanismus, zerteilt in eine unendliche Anzahl aufeinanderfolgender Augenblicke, an denen die Ereignisse wie Marionetten hängen, sondern die je einzigartige Erscheinungsweise der Monade. Man könnte in Anschluss an Husserl sagen, dass die Monade nicht in der Zeit steht, sondern sich zeitigt. Der Zeit wird auf diese Art und Weise ihre genuine Qualität restituiert, sie ist nicht mehr Zeit als Quantum, sondern Zeit als Zeitigung von etwas, d.h. bestimmte Zeitigung, sowohl individueller Ausdruck der Monade als auch der Zusammenhang ihres „Gedächtnisses“, ihrer Perzeptionen. Auf diese Art und Weise hat jede Monade ihre Eigenzeit. Zumindest der gedanklichen Nivellierung der Zeit, wie sie auftritt, wenn sich der Mensch als alles vermessender und quantifizierender Herr der Schöpfung setzt, ist als Konsequenz dessen ein Ende bereitet. Weiters ist die Zeit (gemeinsam mit dem Raum oder eigentlich der Gravitation) als Kontinuum (Zeittotalität) (voraus)gesetztes Bindeglied der Monaden. Damit ist aber nicht die Rückkehr zu einem formalen Zeitverständnis eingelei-

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III. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES SEINS

tet, sondern diese Aussage bekommt ihr spezifisches Gewicht, wenn man einen anderen Terminus von Leibniz betrachtet, den dieser vor allem in seinem Briefwechsel mit dem Jesuiten Des Bosses erläutert29, nämlich den des vinculum substantiale. Dieses ist das metaphysische Band der Monaden, d.h. deren innerer Zusammenhang. Monaden können zwar nicht äußerlich aufeinander einwirken, sie sind aber, wie wir bereits gesehen haben, durch ihre Perzeptionen sich gegenseitig spiegelnd. Dieser „Spiegel“, also der Zusammenhang zwischen den Monaden, in dem sie erst ihre grundsätzliche Offenheit und zureichende Begründung erfahren, ist für Leibniz das vinculum substantiale. Wollte man dies in einem Beispiel zum Ausdruck bringen, so ist das vinculum substantiale eines Ehepaares deren Liebe und gemeinsame Geschichte, das vinculum substantiale der menschlichen Zellen der menschliche Organismus, das vinculum substantiale zweier Planeten die Gravitation, das vinculum substantiale der Menschheit Gott etc.

Die Tiefendimension des vinculum substantiale lässt sich aber nur gemeinsam mit dem Satz der Kontinuität (Vermittlung), also dem Satz des zureichenden Grundes, warum etwas so und nicht anders ist, verstehen. Wir haben darauf verwiesen, dass eine Monade niemals in einer endlichen Anzahl von Schritten begründet werden kann. Vielmehr liegt nach Leibniz der zureichende Grund einer Monade (und damit der Welt) in der Liebe Gottes. Denn Gott allein ist es, vor dem die Monade „geschlossen“, d.h. (zeitliche) Einheit ist. Jede endliche (Begründungs)instanz bliebe dagegen äußerlich. Der Gedanke des zureichenden Grundes spielt auch eine wichtige Rolle in der für leibnizsche Verhältnisse ungewöhnlich heftig geführten Auseinandersetzung mit dem Newtonianer Clarke, der die Absolutheit von Raum und Zeit gegen Leibniz ins Spiel brachte. Leibniz betont dagegen, dass in einem unendlichen Raumzeitbehälter die jeweilige Lage völlig willkürlich und daher der zureichende Grund als Ausdruck der Liebe Gottes außer Kraft gesetzt wäre.

Näherhin bringt das Philosophem der zureichenden Begründung der Monade den Gedanken der Wahl mit sich. Genauso wie der Mensch aus einer beliebigen Anzahl von Wirkursachen durch den freien Entschluss eine in die Wirklichkeit setzt, ist auch Gott derjenige, der aus einer unendlichen Anzahl möglicher Welten, die sein unendlicher Verstand (Allwissenheit) zu überblicken vermag, eine, nämlich (auf Grund seiner allumfassenden Liebe) die zureichend begründete, in die Wirklichkeit ruft (Allmacht). Damit ist das eigentliche vinculum substantiale der Welt bzw. der Monade Gottes Liebe (die seine Allmacht und Allwissenheit einschließt). In Bezug auf die Zeit bedeutet dies, dass sie die offenbare, erscheinende Seite von Gottes Liebe als des eigentlichen 29

Vgl. G.W. Leibniz, Der Briefwechsel mit Bartholomäus Des Bosses, besonders LIII-LXV, 225-235, 350-359.

12. DIE LEIBNIZSCHE THEODIZEE

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vinculum substantiale des Seins ist. Auf diese Weise hat Leibniz endgültig die Zeit der Herrschaft des Chronos und der darin implizit liegenden Heillosigkeit und Unerbittlichkeit entwunden und den inneren Zusammenhang von Zeit und Gottes Offenbarung durchsichtig gemacht.

12. Die leibnizsche Theodizee und die Vision einer von Gott gerechtfertigten Zeit Mit den bisherigen Ausführungen kann ein weiterer für unser Thema wichtiger Aspekt abgehandelt werden, nämlich die leibnizsche Theodizee.30 Diese will nicht Rechtfertigung Gottes durch den Menschen sein, denn dazu wäre der Mensch in seiner Geschöpflichkeit gar nicht in der Lage, sie ist noch weniger Verklärung des Faktischen, sondern will, wie am Titel des der Problematik den Namen gebenden Werkes31 ersichtlich, Apologie menschlicher Freiheit sein. Dieser stand einerseits ein empiristisches Weltverständnis, andererseits aber ein Offenbarungspositivismus, wie er von Pierre Bayle repräsentiert wurde, gegenüber. Für letzteren war allerdings die Theodizeeproblematik kein Argument gegen die Existenz Gottes, sondern eines gegen die menschliche Vernunft. Leibniz lehnt allerdings ein solches Auseinanderfallen von freiheitsmotivierender Vernunft und göttlicher Offenbarung ab, wobei seine Argumentation darauf hinausläuft, dass ein solches Auseinanderfallen eine völlige Weltlosigkeit Gottes und analog dazu auch des Menschen bedeutete, insofern die nicht zureichend begründete Monade ein blinder, in sich bleibender Spiegel, gleichsam zerbrochene Zeit wäre. Die philosophische Argumentation, mittels der Leibniz sich berechtigt meint, von unserer Welt als der besten zu sprechen, braucht nach dem bisher Gesagten nicht mehr ausführlich erörtert zu werden. Denn unsere Welt ist die einzig zureichend begründete – d.h. alle anderen Welten hätten keine hinreichende Bestimmung dafür, warum sie so und nicht anders sind und könnten mangels dieses Vermittlungszusammenhangs nicht in die Existenz übertreten – und der zureichende Grund kann nur die Liebe Gottes sein. Die einzige Alternative wäre, dass man einen zureichenden Grund in einem teuflischen Wesen sucht, allerdings korrespondierte diesem gleich einer nichtbegründeten Welt der völlige Zusammenbruch der Monade und mit ihr der Zusammenbruch moralischen Handelns.

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Für eine genauere Interpretation siehe K. Appel, Kants Theodizeekritik. Der genaue Titel lautet "Versuche in der Theodicee über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels".

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III. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES SEINS

13. Die prästabilierte Harmonie von Natur und Gnade und der Verheißungscharakter der Zeit Ein das oben Gesagte präzisierender und für eine Zeitbestimmung sehr bedeutsamer Aspekt, den Leibniz im Zusammenhang seiner Theodizeekonzeption darstellt, ist die prästabilierte Harmonie zwischen dem „physischen Reich der Natur“ und dem „moralischen Reich der Gnade“32. Das physische Reich der Natur bezieht sich auf deren zeitlich erscheinende Abläufe, während das moralische Reich der Gnade die intelligible Bestimmung der Welt, konkret die Freiheit, zum Inhalt hat. Diese gehört deshalb in die Sphäre des Intelligiblen, weil sie nur in einem unendlich begründeten Vermittlungszusammenhang zur Sprache kommen kann. Anders gesagt: Der Mensch ist niemals endlich determiniert, also in bestimmten physikalischen, soziologischen, psychologischen oder biologischen Gesetzmäßigkeiten, sondern intelligibel in Gottes Güte als zureichendem Grund der Welt (siehe unsere Ausführungen im nächsten Kapitel). Im Übrigen zeigt sich auch an dieser Harmonie die innere Nähe von Leibniz und Kant, der in seiner Postulatenlehre ebenfalls die empirische und die intelligible Sphäre zusammenzubinden sucht, wobei allerdings Kant daran festhalten würde, dass uns im Bereich der theoretischen Vernunft niemals eine intelligible Totalität gegeben ist.

Leibniz bringt diese Harmonie in seiner kleinen Schrift „Vom Verhängnis“ prägnant zum Ausdruck, wenn er sagt: „Allein wir müssen uns mit den Augen des Verstandes dahin stellen, wo wir mit den Augen des Leibes nicht stehen, noch stehen können.“33 Es geht also bei ihm nie darum, die Welt in ihrem empirischen Charakter zu rechtfertigen, sondern die Welt im Lichte des Vertrauens auf den Gott zu sehen, der im Gegensatz zu einem voluntaristischen Willkürgott die Schöpfung nie außer sich hat. Es ist der Gott, der sein unwiderrufliches Ja zu dieser Schöpfung (theologisch: Bund, im Sinne von Leibniz: zureichend begründete Welt), d.h. sowohl zur physischen Welt der perzipierenden als auch zur moralischen Welt der apperzipierenden Monaden, gesprochen hat. Er wird da erfahren, wo diese Monaden einander als Spiegel auf eine immer schon je größer gewesene Welt wahrnehmen, wo Freiheit nicht als Willkürfreiheit, sondern als substanzielles Band zwischen den Menschen, aber auch im Umgang mit der Natur zum Ausdruck kommt. In Bezug auf die Zeitproblematik macht Leibniz uns darauf aufmerksam, dass die (Einheit der) Zeit Verheißungscharakter hat, nicht im Sinne billiger Vertröstung, aber im Wissen darum, dass der Blick des Empirisch-Faktischen zu kurz greift und dem Geheimnis einer in Gottes Vorsehung und Liebe erfüllten Zeit äußerlich bleibt. 32 33

G.W. Leibniz, Monadologie §87, in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie 619f. G.W. Leibniz, Von dem Verhängnisse, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie 339.

14. DER ANFANG DER MONADE ALS GEBURT DER WELT

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14. Der Anfang der Monade als Geburt der Welt der Tod als Vollendung und die Setzung der Ewigkeit als nunc stans Trotz aller Brillanz seiner Untersuchung, die sich gerade für die Zeitproblematik als fruchtbar herausgestellt hat, stellt sich die Frage, ob Leibniz der Freiheit des Menschen ausreichend gerecht geworden ist. Diese Frage wird von den idealistischen Denkern verneint, die meinen, dass Leibniz nicht substanziell über die Philosophie Spinozas hinausgekommen ist, und dies trotz seiner Würdigung des Lebendigen und der endlichen Welt. In Bezug auf die Zeit, die niemals vom Problem der Freiheit abtrennbar ist, wenn sie als Eröffnung Gottes qualifiziert ist, wird sich die mögliche Defizienz seiner Philosophie – deren umfassende theologische Bemühung nicht zufällig einer ausgearbeiteten Christologie entbehrt – in der Bestimmung der Ewigkeit als Nunc stans auswirken. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass Leibniz dem Problem der Freiheit größte Aufmerksamkeit geschenkt hat, und es gerade sein Anliegen war, gegen die freiheitssistierende Substanzmetaphysik von Spinoza ein Gegenkonzept vorzulegen. Tatsächlich ist seine Lösung in all ihrer Komplexität zuerst einmal als genial anzusehen34: Um sie nachzuvollziehen, ist daran zu erinnern, dass jede Monade Spiegel des Universums ist, wobei dieses nie als äußerliche Zusammensetzung von Monaden begriffen werden kann. Vielmehr ist es durch seine unendliche Mannigfaltigkeit, die in jeder Monade aufscheint, charakterisiert. Dies bringt Leibniz in den §65-§67 der Monadologie zum Ausdruck: Der Urheber der Natur allein hat dieses göttliche und unendliche wunderbare Kunstwerk zustande bringen können, in dem jeder Teil der Materie nicht nur ins Unendliche teilbar ist, wie es die Alten richtig erkannt haben, sondern selbst aktuell stets ohne Ende weiter geteilt ist, wo jeder Teil in neue Teile sich gliedert, von denen jeder eine bestimmte Eigenbewegung hat: sonst nämlich wäre es unmöglich, daß jeder Teil der Materie das ganze Universum ausdrücken könnte. Man ersieht daraus, daß es in dem geringsten Teil der Materie eine Welt von Geschöpfen, von Lebewesen, von Tieren, von Entelechien, von Seelen gibt. Jedes Stück Materie kann als ein Garten voller Pflanzen oder ein Teich voller Fische aufgefaßt werden. Aber jeder Zweig der Pflanze, jedes Glied des Tieres, jeder Tropfen seiner Feuchtigkeit ist wiederum ein derartiger Garten oder ein derartiger Teich.35

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Neben E. Cassirer, Einleitung in: G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie bietet auch Th. Liske, Leibniz´ Freiheitslehre eine lesenswerte Untersuchung über das Freiheitskonzept von Leibniz. G.W. Leibniz, Monadologie §65-67, in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie 615f.

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III. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES SEINS

Leibniz denkt in diesen Sätzen nicht an das Problem der unendlichen Teilbarkeit der Materie36 –, die die Vorstellung einer positiv-äußerlichen Zusammensetzung des Seienden implizierte, sondern für ihn geht es darum, dass die Mannigfaltigkeit der Welt grundsätzlich unbegrenzt ist. Diese Unbegrenztheit rührt aus der Tatsache, dass die Monade, indem sie Spiegel des Universums ist, den sich in SEINER Schöpfung mitteilenden Gott selber spiegelt. Anders gesagt: Da Gott unendliche Fülle ist und diese der Welt einschreibt – da die Welt nur in dieser Fülle die beste aller Welten und so der Liebe Gottes korrespondierend sein kann! –, besteht die Welt in unendlicher Mannigfaltigkeit, was wiederum jede endliche Begründungsfigur verunmöglicht. Epistemologisch liegt in der Tatsache, dass jede Monade unendlicher Spiegel ist (dass also auch im geringsten Teil sich ein ganzes Universum ausspricht), der Ermöglichungsgrund dafür, dass die Welt nicht ein statisch-endlicher und fixierbarer (positiver) Gegenstand ist, sondern in dynamischer Wechselwirkung steht. Damit ist der erste Schritt von einer verräumlichenden und begrenzenden Sichtweise zum Denken der Zeitlichkeit der Welt getan. Die Freiheitslehre von Leibniz hat in dieser grundsätzlichen Dynamik der Welt ihre Fundierung. Die Wahl einer (apperzipierenden) Monade ist nämlich niemals zeitlich ableitbar, vielmehr ist jeder Aktus darin frei, dass er „selbstanfangend“37 ist. Leibniz bringt dies zum Ausdruck, wenn er schreibt, „[es] ließe sich auch nicht erklären, wie eine Monade in ihrem Inneren durch ein beliebiges andres Geschöpf eine Einwirkung oder Veränderung erleiden könnte“38. Denn tatsächlich kann die Monade, wenn sie nicht als sich in Raum und Zeit befindliches Wesen, sondern als sich zeitigend verstanden wird, nicht einfach durch äußere Ursachen zureichend begründet sein, sondern muss als das Sich-selbstSetzen und damit als das Setzen einer Welt(zeit) verstanden werden. Allerdings bedeutet ein solcher Selbstanfang nicht, dass sich die Monade darin aus dem Vermittlungszusammenhang des Seienden herausnehmen könnte. Vielmehr fängt die Monade an, indem sie sich in einem unendlichen zeitlichen Zusammenhang hineinstellt, ihn gewissermaßen als ihre Voraussetzung setzt. So ist also festzuhalten, dass sich die Monade in ihrem intelligiblen Anfang eine zeitliche Ausdrucksweise mittels ihrer Perzeptionen gibt. Wenn z.B. ein Mensch auf die Welt kommt, perzipiert er sich als Sohn/Tochter von ..., als Sein bei und in etc. D.h., dass die Intelligibilität und das Selbstanfangenkönnen der Monade mit einem Sich-Verorten in einer bestimmten Zeit, in einer bestimmten Perspektive einhergeht. Anders gesagt: Der absolute Anfang der Monade IST (in strenger Identität) ein Sich-Begeben in die Zeit, ein Akt der 36 37

38

Zum Problem der Unteilbarkeit der Materie vgl. den Briefwechsel mit Remond, besonders Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie 634. Diesen Terminus gebraucht Kant etwa in seiner Metaphysik der Sitten, genauso Schelling in seiner Freiheitsschrift. Beide fallen damit aber latent hinter die Errungenschaften der Transzendentalphilosophie mit ihrem Primat des Praktischen zurück und geraten auf den Boden der leibnizschen Überlegungen. G.W. Leibniz, Monadologie §7, in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie 603.

14. DER ANFANG DER MONADE ALS GEBURT DER WELT

61

Verendlichung, Geburt als Hineingeworfensein in eine je größere Welt (hier ahnt man bereits, wie sehr Heidegger in leibnizschen Bahnen denkt!), wobei in diesen Gedanken eine christologische Dimension anklingt, die von Leibniz allerdings nicht ausgearbeitet wurde.39 Weiters bedeutet für Leibniz ein solcher Selbstanfang auch keine Einschränkung der Allmacht Gottes, da dieser ja gerade zum Selbstanfang der Monade sein schöpferisches Ja spricht, insofern die Monade im Rahmen einer zureichend begründeten Welt tätig ist. Auf diese Weise bleibt als Resultat, dass der Mensch in Bezug auf jede immanente Instanz frei ist, in den Augen Gottes aber determiniert, da er vor aller Zeit sein Ja zu jeder einzelnen Monade gesprochen hat. Grundsätzlich wäre mit Leibniz auch eine andere, durch seine metaphysische Sprache ins Verborgene gerückte Gottesdeutung möglich, v.a. wenn man die Schlusspassagen der Monadologie be- bzw. weiterdenkt. Leibniz sieht darin den Menschen als Abbild Gottes, der in seiner Freiheit auf Gott verweist. Entscheidend ist, dass diese Freiheit sich in der Erkenntnis Gottes und des Universums niederschlägt. Ausdruck davon sind „architektonische Proben“40, durch die der Mensch Gott nachahmt und „in eine Gemeinschaft mit Gott eintreten kann“41. Auf diese Weise ist Gott nicht nur „wie ein Fürst zu seinen Untertanen“, sondern sogar „wie ein Vater zu seinen Kindern“42. Die hier angezeigten „architektonischen Proben“ sind, wie der Kontext zeigt, keinesfalls als Artefakte zu verstehen, vielmehr ist an den Staat und letztlich den „Gottesstaat“ (Kirche) als Ausdruck der Gemeinschaft der Liebe zwischen Gott und dem Menschen zu denken. Leibniz kann sogar davon sprechen, dass Gott keinen Ruhm besäße, „wenn nicht seine Größe und seine Güte von den Geistern erkannt und bewundert würde“43. Hier zeichnet sich ein Gottesverständnis ab, welches Gott radikal von der Liebe zum Menschen her bzw. als Liebe zu Seiner Schöpfung denkt: ER ist die Gemeinschaft, die nicht nur die Monaden zusammenbindet, sondern noch mehr die Gemeinschaft in Liebe, in die er selbst mit dem Menschen (bzw. der Schöpfung überhaupt) eintritt. Der Mensch ist so betrachtet bestimmt, aber nicht durch einen Gott, der ihn verobjektivierte, sondern durch den Gott der Liebe, die der gnadenhafte (d.h. nicht als Selbstanfang zu verstehende) Anfang der Monade ist. Noch näher an Hegel, anhand von dessen spekulativen Schriften wir die hier angedeuteten Gedanken noch ausführen wollen, rückt Leibniz, wenn wir seine in metaphysischer Sprache zum Ausdruck gebrachte Bemer-

39

40 41 42 43

C. Pagazzi drückt sehr schön die christologische Tiefendimension dieses Anfangenkönnens als „Geborenwerden in eine Welt“ aus, wenn er schreibt: „Gott bestimmt sich nicht nur als Schöpfer und als Vater, der das Leben schenkt, sondern auch als Sohn, der es erhält und der nicht existieren könnte, ohne es erhalten zu haben.“ Vgl. F. Manzi, G.C. Pagazzi, Il Pastore dell´ essere 41. Die Übertragung des Zitates ins Deutsche stammt vom Autor der vorliegenden Arbeit. Im italienischen Original lautet die Stelle: „Dio non si qualifica soltanto come il creatore e il Padre che dona la vita, ma anche come il Figlio che la riceve e che non potrebbe esistere, se non l´avesse ricevuta.“ G.W. Leibniz, Monadologie §83, in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie 619. G.W. Leibniz, Monadologie §84, in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie 619. G.W. Leibniz, Monadologie §84, in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie 619. G.W. Leibniz, Monadologie §86, in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie 619.

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III. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES SEINS

kung, dass der „zureichende oder letzte Grund“, also Gott, außerhalb der Reihe der besonderen und zufälligen Dinge“ liegt44, dahingehend deuten, dass damit ein sich jeder Vermittlungsstruktur entziehender „vorgängiger“ Anfang angezeigt ist, durch dessen Leerstelle das System überhaupt erst als geschlossen betrachtet werden kann. Dieser nie in ein System integrierbare Anfang (der Zeit) als dessen zureichender Grund wäre konkret gesagt die Liebe Gottes.

Damit gilt es aber eine letzte Konsequenz, die gerade für das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit entscheidend ist, zu bedenken. Insofern die Monade nicht in der Zeit steht, sondern die Welt in einer bestimmten Perspektive zeitigt, sind Anfang und Ende der Monade auch Anfang und Ende der Schöpfung. Implizit wurde dieser Gedanke in zahlreiche gegenwärtige Eschatologien aufgenommen, nicht zuletzt etwa bei G. Greshake und G. Lohfink, die in ihrer Eschatologie mit dem individuellen Tod auch das Endgericht ansetzen.

Man kann sich dies so vorstellen, dass in der Schöpfung der Monade diese in allen ihren Relationen geschaffen wird, wobei diese für einen endlichen, beschränkt perspektivischen Blick in einer bestimmten zeitlichen Ordnung stehen. So hat der Mensch wie oben bereits ausgeführt vom Anfang her Eltern, einen Leib, also Herkunft und Abkunft. Das Entscheidende ist dabei, dass im Sinne von Leibniz diese Abkunft mit der Schöpfung der Monade gesetzt ist. Analoges gilt für das Ende: Im Tod wird die Monade geschlossen, alle ihre Perzeptionen, auch die in einem perspektivischen Blick zukünftig scheinenden, sind ihr damit untrennbar eingeschrieben. Geburt und Tod sind daher nicht als irgendwelche Ereignisse zu fassen, sondern sie bilden den Anfang und das Ende, ohne welches die Monade niemals welthaft sein könnte, ohne die sie ewig fortlaufendes, ohne innere Einheit seiendes Zusammen von Impressionen oder Atomen wäre. Entscheidend ist immer die doppelte Sichtweise, die Leibniz andenken will. Für den göttlichen Blick, der Anfang und Ende der Monade übersieht, ist die Monade völlig determiniert. Ihre zeitliche Bewegung wird so in ein Zusammen im Sinne des nunc stans verräumlicht. Dagegen gibt es aber unausweichlich auch den endlichen Blickwinkel, in dem die Monade sich immer als abkünftig und sterblich, letztlich als zeitlich erfährt. Der Tod wäre deshalb, wenn unter der Gnade Gottes stehend, der Transitus in den ewigen Blickwinkel Gottes, in die beseligende Schau der prästabilierten Harmonie von Natur und Gnade einer zureichend begründeten Welt. Darin wäre er zugleich Gericht, weil in der Schau Gottes auch die zeitliche Existenz in ihrem Guten und Schlechten den letzten Maßstab hat. Die Auferstehung bzw. der Auferstehungsleib wäre nichts anderes als das Hintersichlassen der empirischen Seite der Monade und so direkte Schau Gottes. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass diese Schau niemals deduzierbar ist. Die Sicht, dass Gott aus Liebe die Mona44

G.W. Leibniz, Monadologie §37, in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie 610.

14. DER ANFANG DER MONADE ALS GEBURT DER WELT

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de schafft, d.h. sich in ihrem endlichen Blickwinkel spiegeln lässt, dass ER die Monade vollendet, indem ER sie beschließt und in diesem (Be)schluss innere Einheit und Endgültigkeit gibt, wobei sie erst in dieser göttlichen Perspektive in der Vollgestalt Ich sein kann, und dass ER diesem Ich einen zweiten ewigen Blick in die unendliche Fülle seiner Existenz (Auferweckung) gibt, ist bereits Antizipation SEINER göttlichen Liebe, die, wie wir gesehen haben, jeden endlichen Begründungszusammenhang sprengt. Auch diese Überlegungen verstärken im Übrigen den Eindruck, dass das philosophische Denken von Leibniz zutiefst christologisch motiviert ist, denn klarerweise vereinen sich – in aller Unterschiedenheit (vgl. das Konzil von Chalcedon) – diese beiden Blickwinkel im Gottmenschen Jesus Christus, dessen Leben, Sterben und Auferstehung die Sichtbarwerdung der Gnade in der Natur, der ewigen Welt in der empirischen darstellt.

Diese Sicht, die im wesentlichen die Sicht der traditionellen Theologie ist und die selbst Rahner zu vertreten scheint45, hat allerdings einen entscheidenden Mangel, auf den Heidegger, wie wir noch sehen werden, in aller Schärfe hinweist: Der Mensch ist darin in Ewigkeit (zumindest idealiter) determiniert, seine Zeitlichkeit zwar notwendiger Vermittlungsort derselben, aber gleichzeitig doch darin aufgehoben. Die Zeit ist also Mittel der Ewigkeit, aber doch nur, um dieser zu weichen. In gewisser Weise gleicht sie damit einem Traum, aus dem es (mittels des Todes) zu erwachen gilt. Der Ewigkeit ihrerseits ermangelt allerdings der entscheidende Aspekt der Zukunft, in dem sich die genuine Freiheit des Menschen zum Ausdruck bringt. So wird der Mensch letztlich in der leibnizschen Philosophie naturiert, denn die Natur ist, da immer nur ihre Artgesetzlichkeit reproduzierend, ewige Vergangenheit – wobei allerdings das großartige theologische Moment der Evolutionslehre darin besteht, dass auch diese Artgesetzlichkeit eine Lücke aufweist, in die Zukunft hineinbrechen kann –, während doch die Freiheit ihr Zeitmoment, wie wir im Durchgang durch Heidegger und Schelling sehen werden, in der Zukunft hat und Theologumena wie die Allmacht und Allwissenheit Gottes daher einer weiteren Differenzierung der Zeitformen bedürfen, um diese nicht zu tilgen. Zusammenfassend gesagt sehen wir die große Leistung von Leibniz darin, dass er die Vorstellung der Zeit als chronologischer Behälter überwindet. Er eröffnet uns Zeit als Eigenzeit der Monaden und als Ausdruck der Liebe Gottes, in der die Monade ihre Einheit findet. Um aber der Freiheit und damit dem Zeitaspekt der Zukunft besser gerecht zu werden, wenden wir uns im Folgenden den Philosophien Kants und Heideggers zu.

45

Vgl. K. Rahner, Ewigkeit aus Zeit.

IV. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT IN DER PHILOSOPHIE KANTS

1. Einleitung Uns wird es im Folgenden nicht darum gehen, eine kantische Theorie der Zeit zu formulieren1, auch eine Auseinandersetzung zwischen der Philosophie Leibniz’und der Kants2 ist nicht das Thema, vielmehr geht es uns darum, anhand von Kant den Zusammenhang zwischen der Zeit und der Freiheit des Menschen darzustellen. Tatsächlich wird es sich erweisen, dass ein adäquates Zeitverständnis der menschlichen Freiheit gerecht werden muss (wie umgekehrt ein adäquates Freiheitsverständnis der Zeit), ja dass, wie wir bereits in unseren Überlegungen über die Genesis angezeigt haben, eine theologische Rede von der Zeit, insofern diese nicht formal als Verstreichen von Augenblicken betrachtet wird, deren immanenten Freiheitscharakter darlegen muss, nicht zuletzt, um sie als die von Gott geoffenbarte Zeit bzw. als Offenbarung Gottes fassen zu können. Dabei waren wir bei Leibniz auf das Problem gestoßen, dass bei ihm zwar der Formalismus eines quantitativ gefassten Chronos durchbrochen ist, aber andererseits die Zeit noch nicht als die Zeitigung von Freiheit verstanden werden konnte. Dies wird erstmals mit den Denkbestimmungen Kants möglich sein. Den ersten Schritt dazu setzt er in der transzendentalen Ästhetik, in der bereits die entscheidende Absetzung vom leibnizschen Zeitkonzept erfolgt. Anschließend werden wir das Problem der Einbildungskraft (kursorisch!) und der in ihr sich darstellenden Antinomien andenken müssen, und zwar erstens, um den Umbruch von Leibniz zu Kant tiefer nachvollziehen zu können, zweitens, um die folgenschwere Bedeutung des Antinomienkapitels für den Weltbegriff darzustellen, und drittens, um vor allem in der Freiheitsantinomie den Boden für die Verbindung von Freiheit und Zeit, wie sie in der praktischen Vernunft konkretisiert wird, aufzuzeigen. Mit einer Ausführung über den Zeitbegriff unter dem Gesichtspunkt der praktischen Vernunft (und wiederum kursorisch unter dem Gesichtspunkt des Lebendigen) werden wir daher unsere Ausführungen zu Kant beenden.

1 2

Die zeitliche Dimension des kantischen Denkens hat wohl bis heute M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik am tiefgründigsten auf den Punkt gebracht. Vgl. dafür K. Appel, Kants Theodizeekritik.

2. VON LEIBNIZ ZU KANT ODER DAS DENKEN DER ENDLICHKEIT DES MENSCHEN

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2. Von Leibniz zu Kant oder das Denken der Endlichkeit des Menschen Kant berichtet in den Prolegomena, dass ihn Hume aus dem dogmatischen Schlummer geweckt hätte. Dabei ist, wie besonders Heidegger in seinem Kantband3 gesehen hat, vor allem an das Bewusstsein der Endlichkeit des Erkennens zu denken, welches sich bereits in den ersten Sätzen der transzendentalen Ästhetik markant zum Ausdruck bringt. In den metaphysischen Erörterungen des Begriffs der Zeit schreibt Kant: Die Zeit ist 1) kein empirischer Begriff, der irgend von einer Erfahrung abgezogen worden. Denn das Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen würde selbst nicht in die Wahrnehmung kommen, wenn die Vorstellung der Zeit nicht a priori zum Grunde läge. [...] 2) Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann in Ansehung der Erscheinungen überhaupt die Zeit selbst nicht aufheben, ob man zwar ganz wohl die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen kann. Die Zeit ist also a priori gegeben. In ihr ist alle Wirklichkeit der Erscheinung möglich. Diese können insgesamt wegfallen, aber sie selbst (als die allgemeine Bedingung ihrer Möglichkeit) kann nicht aufgehoben werden.4

Man kann in diesen Sätzen auch, wie Cassirer es tut5, einen Hinweis darauf finden, dass Kant mit der Betonung des den Erscheinungen vorgeordneten Charakters der Anschauungsformen Raum und Zeit – sowie mit der Betonung, dass es sich bei Raum und Zeit nicht um Begriffe handelt – den wissenschaftlichen Charakter der Mathematik und darin die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori wahren will. Denn dieser könnte, sinken Raum und Zeit als Grundlage von Geometrie und Arithmetik zu bloßen Erscheinungen der Monade herab, in Frage gestellt werden. Hier zeigt sich wieder der spezifisch technische Umgang der Neuzeit: Die Mathematik gilt als die apriorische Wissenschaft schlechthin, weil sie zu exakten Resultaten kommt. Allerdings könnte man sagen, dass gerade darin ihr noch abstrakter Charakter liegt! Raum und Zeit sind im Übrigen bei Leibniz, wie wir gesehen haben, die Erscheinungen der Monade und des vinculum substantiale, als solche kann man sie auch in ihrer funktional-kausalen Vermittlungsfunktion eines Nacheinander und Beieinander festhalten und damit als anschaubares Korrelat der Mathematik benutzen. Dabei aber ist es wohl generell problematisch, die Mathematik als Korrelat einer Anschauungsform zu denken. Vielmehr ist sie, wie Hegel in der WdL aufzeigt, Quantität als aufgehobene Qualität innerhalb der vergleichsweise wenig konkreten Logik des Seins.

3 4 5

Vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik. I. Kant, KrV B 46. Vgl. E. Cassirer, Kants Leben und Werk 113. Cassirer kann sich dabei explizit auf KrV B 57 beziehen.

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IV. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT IN DER PHILOSOPHIE KANTS

Für uns aber geht es darum, dass Kant zeigen will, dass „die sogenannten reinen Begriffe der Metaphysik so rein nicht sind, da sie ja an der Erfahrung gewonnen wurden“6. Dies kann nicht bedeuten, dass Leibniz als der vielleicht differenzierteste Vertreter vorkantischer Philosophie die Erfahrung nicht berücksichtigt hätte. Das Gegenteil ist wahr! Die Monade ist kein abstrakter Begriff, sondern durch ihre angeschauten Perzeptionen (Relationen) vermittelt. Allerdings ist sie in ihrer Individualität erst dann beschlossen, wenn sie als (unendliche) Totalität aller Relationen begriffen ist.7 Leibniz versucht also die unendliche Mannigfaltigkeit des Sinnlichen in den Griff zu bekommen, indem er es mittels des Satzes des zureichenden Grundes, der der Satz der durchgängigen Vermittlung ist, unendlich, d.h. in der Vorsehung Gottes bestimmt. Kant dagegen schaltet Raum und Zeit als Anschauungsformen vor. Die kontingente Welt, das Seiende, ist uns immer schon raumzeitlich gegeben, womit Raum und Zeit dem Seienden (noetisch) vorhergehen, was bedeutet, dass wir raumzeitliches kategoriales Erkennen als Bedingung der Möglichkeit von menschlicher Erfahrung niemals überspringen können. Ich kann also gerade nicht die Monade von Ewigkeit her durchgängig bestimmen, weil ich dazu eine Anschauung derselben benötigte, die mir aber als raumzeitlich Erkennender versagt bleibt. Raum und Zeit sind die Schranken des endlichen Erkennens, welches dadurch gekennzeichnet ist, dass die Anschauung der reinen Vernunft vorgeschaltet ist, wobei deren Überschreiten kantisch gesehen als Anmaßung der Vernunft charakterisiert werden muss, da es „reine (anschauungstranszendente) Begriffe“ als hypothetische (unendliche) Verlängerung kategorialer Erkenntnis nicht gibt. Hier soll allerdings nicht der Hinweis fehlen, dass gerade Kant reine Begriffe – die in dieser Reinheit natürlich Modellcharakter haben, – in Form der Verstandeskategorien einführt, die er allerdings auf die Bestimmung von Gegenständen raumzeitlicher Erfahrung einschränkt. Die Vernunftbegriffe der klassischen Metaphysik (Gott, Welt, Mensch) wären dagegen nur ein verunendlichtes Endliches und gerieten durch diesen Charakter in Widersprüchlichkeiten, die Kant im Antinomienkapitel aufzeigt. Eine eigene Monographie bedürfte im Übrigen die Frage, warum Kant die Dialektik des Ich nicht ausarbeitet. Hier kann nur angedeutet werden, dass nach Kant das „Ich denke“ als „Begleiter“ der Vorstellungen kein Vernunftbegriff ist (vgl. KrV, A 346, hier ohne den wichtigen Zusatz „können muss“ von KrV, B 132) , sondern diesem vorhergeht und sich damit jeder Dialektik entzieht.

Kant fällt in seinen Überlegungen allerdings nicht dahingehend zurück, dass Raum und Zeit wie bei Newton und seinen Schülern als ansichseiende Behälter aufträten. Vielmehr hält er bezüglich der Zeit – Analoges gilt für den Raum 6 7

B. Liebrucks, Sprache und Bewusstsein IV 67. Th. Liske bringt diesen Gedanken in „Leibniz´ Freiheitslehre“ auf den Punkt (4f.), wenn er betont, dass der „Bereich des Faktischen“, also das sinnlich Konkrete, „durch eine unendliche Komplexität gekennzeichnet [ist], während die durch Abstraktionen gewonnenen Begriffsrelationen endlich abgeschlossen sind.“

2. VON LEIBNIZ ZU KANT ODER DAS DENKEN DER ENDLICHKEIT DES MENSCHEN

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– fest, „dass die Zeit [...] nicht etwas ist, was für sich selbst [d.h. ohne einen Gegenstand] bestünde, oder den Dingen als objektive Bestimmung anhinge [...] [,] denn im ersten Fall würde sie etwas sein, was ohne den Gegenstand dennoch wirklich wäre“, während sie im zweiten Fall „als eine den Dingen selbst anhängende Bestimmung oder Ordnung nicht von den Gegenständen als ihre Bedingung vorhergehen und a priori durch synthetische Sätze erkannt und angeschaut werden“ könnte (KrV B 49). Letzteres richtet sich gegen Leibniz, bei dem Raum und Zeit Bestimmungen (Relationen) der Monade selber sind, wogegen Kant den Monaden Raum und Zeit voraussetzt als Bedingung der Möglichkeit menschlicher, d.h. endlicher Erkenntnis, weshalb die Anschauung als eigenständiger Erkenntnisstamm gegenüber der reinen Vernunft auftreten muss. Zur ersten gegen Newton gerichteten Abgrenzung ist zu sagen, dass ein reiner Raum- bzw. ein reiner Zeitbehälter für Kant ein völliges Unding ist8, weil ein solcher niemals als Gegenstand der Erfahrung fungieren könnte. Denn eine vergegenständlichte Zeit (bzw. ein vergegenständlichter Raum) wäre bloßes Modell (also Gedanke!) und überblendete die Tatsache, dass es sich bei Raum und Zeit um Formen, nicht um Inhalte der Anschauung handelt. Im Übrigen wehrt Kant auch aus praktischen Überlegungen die Regression in eine Raum-Zeit-Behältervorstellung ab: Denn in einer absoluten, dem Menschen vorgelagerten Raum-Zeit könnte der Mensch nicht frei handeln, sondern wäre als mechanisches Objekt bestimmt. Mit diesen Überlegungen muss ein anderes Vorurteil ausgeräumt werden, nämlich jenes, dass Kant noch dem Affektionsschema anhinge (d.h. dass die Sinne durch an sich seiende Dinge affiziert würden), was ja letztlich ein Rückfall hinter Leibniz wäre. Tatsächlich gibt es bei ihm mancher Formulierung zum Trotz, wie explizit seine Ausführungen über die „Antizipationen der Wahrnehmung“ zeigen9 und implizit seine Darstellung des Raumes als Form der Anschauung, keine Sinnesdata, die von „außen“, d.h. in einem vorgelagerten Raumbehälter, an den Menschen heranträten. Auch die Trennung von Sinnlichkeit und Verstand ist nicht um der Restituierung einer solchen Außenwelt willen eingeführt, sondern markiert die Nichtdeduzierbarkeit des Seins aus einer endlichen Vernunft. Sehr schön bringt Heidegger diesen Sachverhalt auf den Punkt, wenn er schreibt: „Die menschliche Anschauung ist nicht deshalb , weil ihre Affektion durch -Werkzeuge geschieht, sondern umgekehrt: Weil unser Dasein ein endliches ist – inmitten des Seienden schon existierend, an dieses ausgeliefert –, deshalb muss es notwendigerweise das schon Seiende hinnehmen, d.h. dem Seienden die Möglichkeit bieten, sich zu melden.“10 Die Anschauung besteht also weder aus einem „Ding an sich“, welches in uns irgendwelche Empfindungen auslöst noch aus Raum und Zeit als verbindender Ordnung dieser Empfindungen. Denn das „Anschauungsmaterial“ (die Empfindung) ent8 9 10

Vgl. I. Kant, KrV B 56f. Vgl. I. Kant, KrV B 207-218. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik 26.

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IV. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT IN DER PHILOSOPHIE KANTS

springt erst der Zeitlichkeit – also dem inneren Sinn (der, wie wir im nächsten Kapitel sehen, den Vorrang gegenüber dem äußeren Sinn hat) – des menschlichen Erkennens, ohne aus ihr deduziert werden zu können. Interessant sind, wie angedeutet, die Antizipationen der Wahrnehmung, denen gemäß das Reale als Gegenstand der Empfindung eine intensive Größe ist (KrV B 207), die niemals gleich Null sein kann, wobei die der Empfindung korrespondierende antizipierte Zeiterfüllung (das Reale) dem transzendentalen Schema (s.u.) der auf die Kategorien der Qualität angewandten produktiven Einbildungskraft (s.u.) entspringt. Das Material der Anschauung ist also nichts an sich Vorhergehendes, sondern Produkt der sich zeitigenden Synthesis (s.u.) der Einbildungskraft, die so an die Stelle der ansichseienden leibnizschen Monade rückt. Kant selber drückt dies folgendermaßen aus: „Aber das Reale, was den Empfindungen überhaupt korrespondiert, im Gegensatz mit der Negation=O, stellet nur etwas vor, dessen Begriff an sich ein Sein enthält, und bedeutet nichts als die Synthesis in einem empirischen Bewusstsein überhaupt.“ (KrV B 217) Nach Kant ist es also ein Grundsatz aller endlichen Erfahrung, dass sie ein gegenständliches (positives) Korrelat enthält, oder präziser ausgedrückt, dass die Synthesis (wir werden auf diesen Begriff noch näher eingehen, hier soll sie zunächst als Einheitsfunktion, die jedem „ist“ zugrundeliegt, eingeführt sein) das Reale der Empfindungen setzt. B. Liebrucks spricht daher davon, dass „die Notwendigkeit des Prinzips der Antizipationen der Wahrnehmung nicht darin begründet [ist], daß die Dinge mich affizieren, sondern umgekehrt [...] die Notwendigkeit der Annahme, daß die Dinge mich affizieren, [...] die Folge der Antizipationen der Wahrnehmung [ist]“.11 Hier zeigt sich wiederum deutlich, dass es weder um eine willkürliche Setzung zweier Anschauungsformen (Anschauung und Denken) geht, noch dass in das Affektionsschema zurückgefallen werden darf, sondern dass es darum zu tun ist, das menschliche Erkennen als gegenstandssetzendes (und nicht absolutes) zu bestimmen, wobei Raum und Zeit überhaupt erst dieses allem Erkennen entgegenstehende Moment formieren. Dabei ist aber nicht die Objektwelt im Sinne des metaphysischen Realismus dem Erkennen vorausgesetzt, sondern Bestimmung dieses sich in den Bahnen von Raum und Zeit bewegenden Erkennens selber.

Der Mensch kann also nicht die Anschauung, d.h. das Seiende in seinen unendlichen Relationen aus sich heraus produzieren, er ist auch nicht in räumliche und zeitliche Bezugssysteme als ein ontologisches Prius hineingestellt, sondern setzt die Trennung der Erkenntnisstämme und damit Raum und Zeit als die Bedingung der Möglichkeit menschlicher und d.h. endlicher Erfahrung voraus. In den Prolegomena spricht Kant in diesem Zusammenhang von einem diskursiven im Gegensatz zu einem intuitiven Verstand12, der die Welt spontan aus sich setzen könnte. Dabei bleibt Kant nicht einfach in der Behauptung zweier Anschauungsstämme stehen, sondern zeigt, dass ein Denken, welches 11 12

B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, IV 578. Vgl. I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, A 173; IV, 355. Ähnliches findet sich auch in der KrV B 135.

3. DER PRIMAT DER ZEIT GEGENÜBER DEM RAUM

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die Grenze überschreitet, die das Denken an der Anschauung hat, unweigerlich in Antinomien gerät.

3. Der Primat der Zeit gegenüber dem Raum Bevor wir uns aber im nächsten Schritt mit diesen Antinomien auseinandersetzen, muss noch darauf hingewiesen werden, dass Kant am Beginn der transzendentalen Ästhetik nicht nur die Endlichkeit des Menschen in all ihren Konsequenzen zu denken beginnt, sondern auch in Bezug auf das Verhältnis von Raum und Zeit einen folgenschweren Schritt setzt. Während nämlich bei Leibniz die Zeit – bei aller Bedeutung, die sie hatte, insofern die Monade primär von ihrer Zeitigung aus gedacht wurde – im Letzten, d.h. im Angesicht der Ewigkeit, im Sinne eines Nunc stans verräumlicht wurde, betont Kant eindeutig den Primat der Zeit gegenüber dem Raum. Während nämlich der Raum bloß Bedingung a priori äußerer Erscheinungen ist, umfasst die Zeit als formale Bedingung a priori alle Erscheinungen überhaupt. Kant schreibt im dritten Schluss der transzendentalen Erörterung der Zeit: Die Zeit ist die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt. Der Raum, als die reine Form aller äußeren Anschauung ist die Bedingung a priori bloß auf äußere Erscheinungen eingeschränkt. Dagegen weil die Vorstellungen, sie mögen nun äußere Dinge zum Gegenstande haben, oder nicht, doch an sich selbst, als Bestimmungen des Gemüts, zum innern Zustande gehören: dieser innere Zustand aber, unter der formalen Bedingung der innern Anschauung, mithin der Zeit gehört, so ist die Zeit eine Bedingung a priori von aller Erscheinung überhaupt, und zwar die unmittelbare Bedingung der inneren (unserer Seelen) und eben dadurch auch der äußern Erscheinungen.“13

Kant betont hier, dass alle Vorstellungen, räumliche Gebilde eingeschlossen, Bestimmungen des „Gemüts“ sind, wobei dieses Gemüt gewissermaßen den Bereich des (Selbst)bewusstseins (der Selbstanschauung) ausmacht. Damit ist er in den Bahnen des leibnizschen Idealismus, allerdings mit der entscheidenden Modifizierung, dass der Gegenstand der inneren Anschauung kein substantiiertes Ich ist, auch nicht als substantiiertes Urteil, und die „logische Erörterung des Denkens damit keine metaphysische Bestimmung des Objekts“ (KrV B 409) (dies ist der Sukkus des Paralogismuskapitels in der kantischen Vernunftkritik) sein kann, wie dies noch bei Leibniz der Fall war. Es hat damit auch nicht mehr den Charakter des (durchgängig bestimmten) Seins, sondern ist theoretisch nur mittels der inneren Anschauung – als Sphäre, in der uns das Ich gewärtig und zwar zeitlich gewärtig wird –, also zeitlich zu fassen, wobei 13

I. Kant, KrV A 34.

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IV. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT IN DER PHILOSOPHIE KANTS

sich zeigen wird, dass eine adäquate Konkretisierung dieses Ichs erst in der praktischen Vernunft möglich sein wird. Um allerdings diese wirklich in ihrer ihr zukommenden noetischen Bedeutung fassen zu können, bedarf es einer Transformierung jener Vernunftkonzeption, die der leibnizschen Monadenlehre zugrunde liegt.

4. Von der Monade zur Synthesis Wir haben im obigen Abschnitt gezeigt, dass Kant in der transzendentalen Ästhetik den Blickwinkel der Endlichkeit einnimmt, der, wie wir sehen werden, konstitutiv für das Freiheitsverständnis seiner Philosophie ist. Gerade dadurch ist er aber gezwungen, seine Philosophie komplett neu zu konzipieren, um nicht in die Aporien vorleibnizscher oder auch vorspinozistischer Affektionsschemata zu verfallen. Eine der wichtigsten Konsequenzen im Zuge dieser Änderung des Blickwinkels, den Kant durch die Antinomien der reinen Vernunft bestätigt sah, ist die Trennung der Erkenntnisstämme. Kant verabschiedet die Vorstellung von einer intellektuellen Anschauung im Sinne von Leibniz und stellt der Spontaneität (Vermittlung) des Verstandes die Rezeptivität der Anschauung (Unmittelbarkeit) gegenüber. Die Problematik dabei ist allerdings die Herleitung dieser getrennten Bereiche. Dafür entwickelt Kant eine einzigartige Architektonik, die aber trotz der in ihr sich vollziehenden Revolution der Denkungsart Anknüpfungspunkte an die (v.a. leibnizsche) Tradition bietet. Am wichtigsten dabei ist der Ausgang von der Synthesis. Diese ist nicht die substantiierte Monade wie bei Leibniz, sondern Verstandeshandlung. Dabei hat sie ihren obersten Grundsatz in der „ursprünglichen synthetischen Einheit der Apperzeption“ (KrV B 135), welche die „Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle andere muss begleiten können“ (KrV B 132). Entscheidend ist also, dass das Ich nicht als Monade, sondern als Synthesis, als Handlung des Verbindens, als Tätigkeit ausgelegt wird, weshalb bei Kant nicht die Rede von einem Ich als absoluter Substanz oder einem ihr korrespondierenden Begriff sein kann, sondern die Satzform in der Gestalt des „Ich denke“, welches sich in dieser Synthesis manifestiert, verwendet wird. Dabei ist besonders die Wendung „begleiten können muss“, die die indikativische Form („begleitet“) vermeidet, zu beachten, um jedes substantiierende oder identifizierende Missverständnis dieses „Ich denke“ abzuwehren. Man kann also durchaus sagen, dass bei Kant in der theoretischen Vernunft der Begriff der Synthesis die gleiche Bedeutung wie der Monadenbegriff bei Leibniz hat, wobei wir im Folgenden auf deren gleichfalls zeitigende Bedeutung zurückkommen müssen. In der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft bestimmt Kant die Synthesis als Synthesis der Apprehension, d.h. der (reinen, s.u.) Anschauung, als Synthesis der Re-

4. VON DER MONADE ZUR SYNTHESIS

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produktion, d.h. der Einbildungskraft, und als Synthesis der Rekognition, d.h. des Verstandes. Erstere ist conditio sine qua non von Raum- und Zeitvorstellungen14, insofern sie uns überhaupt eine zusammenhängende und doch sich in einer Mannigfaltigkeit von Augenblicken (und nicht „auf einen Schlag“) manifestierende sukzessiv erstellte Raum-Zeitvorstellung als Bedingung jeder Form von Raum-Zeitlichkeit ermöglicht, andernfalls wir nur völlig „azeitiges“ und „aräumliches“ Chaos hätten. Heidegger prägt im Übrigen die sehr poetische Formulierung, dass die Synthesis der Apprehension „im Horizont des Nacheinander der Jetztfolge dem Angebot der Eindrücke je einen Anblick (Bild) abnimmt.“15. Zweitere, die Synthesis der Reproduktion, ist der transzendentale Ermöglichungsgrund der Reproduktion von Erscheinungen (reproduktive Einbildungskraft), insofern sie uns überhaupt die Möglichkeit zeitlicher (und räumlicher) in sich Bestand habender Verknüpfungen der Ereignisse einräumt. Man könnte also in ihr fast so etwas wie ein transzendentales Gedächtnis sehen, welches garantiert, dass der Mensch nicht in der bloßen Sukzession von Hier-/JetztMomenten aufgeht. Die dritte Synthesis, jene der Rekognition, führt uns zur transzendentalen Apperzeption selber, als deren Ausdruck sie die Einheit der Verstandeshandlung ist, der die Gesetzmäßigkeit der Vorstellung und damit der Erfahrungswelt korrespondiert. Im Übrigen, und dies sei hier nur angedeutet, hat die heideggersche Zuordnung dieser drei Gestalten der Synthesis zu den Zeitformen Gegenwart (Apprehension), Vergangenheit (Reproduktion) und Rekognition (Zukunft)16 insofern ihre Berechtigung, als mittels erster überhaupt etwas gegenwärtig werden kann, die zweite als transzendentales Gedächtnis die Anbindung sukzessiver Zeitmomente zu einem Zeitganzen ermöglicht und die dritte, insofern sie den Zusammenhang der Erscheinungen nach Regeln setzt, tatsächlich eine Art Vorgriff durchführt.

Kant spricht (auch) in der zweiten Auflage, in der er die transzendentale Apperzeption viel stärker herausarbeitet, auf der Ebene der Anschauung (und man muss hier selbstverständlich an die reine Anschauung, d.h. an den Raum und die Zeit denken) von einer Synthesis der Apprehension, also der sukzessiven Raum-Zeit-Aneinanderreihung, auf die wir oben eingegangen sind und die auch in der zweiten Auflage gleichsam die Raum-Zeiterstellung ausmacht. Auf der Ebene des Verstandes, der logischen Funktion zu urteilen, wobei das „Urteil nichts anderes [ist], als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen“17, entspricht nun der Synthesis der Apprehension die Synthesis der Apperzeption. Diese ist als das „Ich denke“ das oberste Prinzip aller Synthesis, der auch die Synthesis der Apprehension gemäß sein muss.18 Oder anders ausgedrückt: Auch die Raum-Zeit-Erfassung ist 14 15 16 17

18

Vgl. I. Kant, KrV A 99. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik 180. Vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik 176-188. I. Kant, KrV B 141. Kant legt also das Urteil von seinem synthetischen Charakter her aus, der jeder Analysis vorausliegt. Deshalb stimmt der Vorwurf nicht, er bringe zusammen, was er vorher getrennt habe. Vgl. I. Kant, KrV B 162.

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IV. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT IN DER PHILOSOPHIE KANTS

an die Verbindungsfunktion bzw. Urteilshandlung des „Ich denke“, welches alle Vorstellungen begleiten können muss, gebunden, wenngleich Kant aus den von uns bereits angedeuteten Gründen nicht wie Schelling im „System des transzendentalen Idealismus“ Raum und Zeit aus der Denktätigkeit abzuleiten versucht. Instrumentarium der Synthesis der Apperzeption ist die Kategorie, also der der Einheitsfunktion des „Ich denke“ – welche sich im „IST“ des Urteils ausdrückt – entsprechende Verstandesbegriff, der der „Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit [gibt]“ (KrV B 105). Beispiele solcher Kategorien sind etwa „Ursache und Wirkung“ oder „Einheit“, Begriffe also, die von sich her offen sind für die Vereinigung des Mannigfaltigen, welches in der Anschauungsform gegeben ist, wobei allerdings die Form der Vereinigung noch näher zu untersuchen sein wird.

5. Exkurs: Formale und transzendentale Logik In diesem Zusammenhang sei ein Exkurs erlaubt, zeigt sich doch darin eine entscheidende Konsequenz kantischer Philosophie: Kant nimmt bei der Herleitung der Kategorien den Ausgangspunkt aus den (überlieferten) Urteilsfunktionen (Quantität, Qualität, Relation, Modalität), weil er das „Ich denke“, welches oberstes Prinzip ist, wie oben erwähnt, als Urteil bestimmt. Damit leitet Kant die Verstandesbegriffe am Leitfaden formaler Logik, konkret der Urteilslogik, her. Allerdings muss die formale Logik, um überhaupt Erkenntnisdignität (fernab analytischer Tautologien) zu besitzen, auf Anschauungen anwendbar sein und kann so erst als transzendentale Logik Erkenntnis beanspruchen. Es gilt daher nicht nur für die aus formaler Logik gewonnenen Verstandesbegriffe, dass sie in all ihrer Reinheit aus sich heraus „blind“ sind, d.h. ohne den Bezug auf die Anschauung keine Erkenntniskraft und keine Anwendbarkeit der Einheitsfunktion des „Ich denke“ besitzen, sondern für die formale Logik insgesamt.19 Deren oberstes Prinzip, der Satz der Identität, wird bezeichnenderweise bei Kant, um die formallogischen Bestimmungen rein und damit zeitlos (undialektisch) zu erhalten, umformuliert20, womit ein weiterer Grund gegeben ist, die Zeit als eigenen Erkenntnisstamm auszulagern, weil sich sonst die von Kant (und der traditionellen Metaphysik) unhinterfragte Reinheit der formalen Logik nicht einmal als Denkmodell halten ließe. Eine 19 20

Vgl. B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, IV 513. In KrV B 190 schreibt Kant: „Keinem Dinge kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht“, wobei er die traditionelle Formulierung: „Es ist unmöglich, daß etwas zugleich sei und nicht sei“ kritisiert, weil der Satz so ausgedrückt „durch die Bedingung der Zeit affiziert sei“ (KrV B 191). Klarer kann der Versuch, die formale Logik rein zu erhalten, wohl nicht zu Tage treten.

6. DIE ZEIT ALS SPHÄRE DER SYNTHESIS

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Konsequenz dieses Zusammenspiels von formaler und transzendentaler Logik ist, dass die formale Logik auf den Bereich der Erscheinungen restringiert ist, was von Kant allerdings nicht ausdrücklich bedacht wird. Er erschüttert somit in seiner Transzendentalphilosophie den Geltungsbereich der formalen Logik – was besonders klar in der transzendentalen Dialektik im Allgemeinen und den Antinomien im Besonderen hervortritt –, verbietet sich allerdings (nicht immer erfolgreich) einen Übertritt in die Dialektik, wohl nicht zuletzt, um der Endlichkeit des Menschen gerecht zu werden.

6. Die Zeit als Sphäre der Synthesis im transzendentalen Schematismus Wir müssen berücksichtigen, dass bei Kant die von uns bereits im vierten Abschnitt angesprochenen Formen der Synthesis und damit auch die Erkenntnisstämme Teil einer Denkbewegung sind. So haben wir gesehen, dass die formale Logik überhaupt erst transzendentallogisch bedeutsam wird – in der Anwendung der Kategorien auf die Anschauung. Denn die Kategorien – unter dem Prinzip der Synthesis der Apperzeption stehend, die, wenn man ernst damit macht, dass die formale Logik nur auf der Grundlage der transzendentalen Logik bestimmt ist, auch deren oberstes Prinzip ist – sind für sich genommen völlig abstrakt, solange sie nicht auf den Bereich der Anschauung anwendbar sind. Kant versucht reine Begriffe zu entwickeln, deren Reinheit sich allerdings nicht einen Augenblick erhalten kann. Im Übrigen gilt es auch die umgekehrte Richtung zu sehen: Die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit konkretisieren sich erst, wenn sie in ihrem Bezug auf die Synthesis gedacht werden. Allerdings stehen sich zunächst noch immer auf der einen Seite die Synthesis der Apprehension, d.h. die sukzessive Raum-Zeit-Erstellung im Anschauen und auf der anderen Seite die Synthesis mittels der Kategorien des Verstandes gegenüber, die wiederum beide für sich genommen entweder blind oder leer, damit aber auf alle Fälle bedeutungslos sind. Daher muss ein Vermittlungsschritt erfolgen, der uns zu dem für das Verständnis der Antinomien so wichtigen transzendentalen Schematismus führt. Das Schema (eines Begriffes) wird dabei von Kant bestimmt als „Vorstellung [...] von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen“ (KrV B 180f). Damit ist nun die Einbildungskraft eingeführt, wobei die reproduktive Einbildungskraft (die Fähigkeit, etwas vorstellig zu machen), von der produktiven Einbildungskraft als transzendentaler Bedingung der Anwendung der Verstandeskategorien auf die Anschauung (bzw. als transzendentaler Bedingung der Schematisierung des Verstandes) zu unterscheiden ist. Das transzendentale Schema „eines reinen

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IV. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT IN DER PHILOSOPHIE KANTS

Verstandesbegriffes“ bestimmt Kant nun als „etwas, was in gar kein Bild gebracht werden kann“, weil es sich bei ihm um „die reine Synthesis, gemäß einer Regel der Einheit nach Begriffen überhaupt [handelt], die die Kategorie ausdrückt“. Als solches ist es „ein transzendentales Produkt der Einbildungskraft, welches die Bestimmung des inneren Sinnes überhaupt, nach Bedingungen seiner Form (der Zeit) in Ansehung aller Vorstellungen betrifft, so fern diese der Einheit der Apperzeption gemäß a priori in einem Begriff zusammenhängen sollten“. (KrV B 181) In dieser Bestimmung sind einige folgenschwere Gedanken enthalten. Zunächst fällt auf, dass das Schema als Produkt der produktiven Einbildungskraft als reine Synthesis bezeichnet wird. Diese reine Synthesis ist ferner Bestimmung des inneren Sinnes, also der Zeit, die somit zum „Ort“ der Vermittlung der transzendentalen Apperzeption (als reiner Synthesis) und der Anschauung wird, insofern deren ansonsten formalblinde Einheitsfunktion verzeitlicht wird, womit die Zeit die ursprüngliche Vereinigung der Erfahrungswelt bildet. Auch hier sieht man wieder die enge inhaltliche Nähe von Leibniz und Kant. Bei beiden ist die Zeit die Sphäre der Weltvermittlung. Der Unterschied besteht „lediglich“ darin, dass bei ersterem die Zeit Vermittlung der ansichseienden Monade ist, während bei zweiterem die Zeit Vermittlung der Verstandeshandlung ist, deren grundsätzliche Endlichkeit sie zugleich bezeichnet.

Die Zeit ist dabei von Kant nicht willkürlich als Sphäre der Synthesis gewählt, da ja der innere Sinn in seinem apriorischen Charakter formale Bedingung aller Erscheinungen war. Damit ergibt sich allerdings eine vertiefte Auffassung der Zeit: Kant nimmt endgültig Abschied davon, die Zeit als newtonschen chronologischen Behälter, nur eben ins Innere gewendet, aufzufassen. Vielmehr ist sie, auch gerade indem sie als Form der Anschauung Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung ist, oder noch präziser gesagt: indem sie als Form der Anschauung Gegenständliches als Gegenständliches (und nicht als unendlich Vermitteltes) begegnen lässt und damit Bedingung der Möglichkeit endlicher Erfahrung ist, die Sphäre der Synthesis und löst in dieser Funktion die unendlich vermittelte, Anschauung und Denken umgreifende, sich zeitigende Monade ab. Dieses Moment der Endlichkeit wird von Kant noch einmal sehr schön am Ende des Schematismuskapitels zum Ausdruck gebracht, wenn er schreibt: „Es fällt aber doch auch in die Augen: dass, obgleich die Schemata der Sinnlichkeit die Kategorien allererst realisieren, sie doch selbige gleichwohl auch restringieren, d.i. auf Bedingungen einschränken, die außer dem Verstande liegen (nämlich in der Sinnlichkeit).“ (KrV B 186f)

Die reine Synthesis der Zeit ist damit die eigentliche Erscheinungsweise der transzendentalen Apperzeption, des „Ich denke“. Heidegger drückt die Konsequenz daraus pointiert aus, wenn er sagt: „Die Zeit und das stehen sich nicht mehr unvermittelt und ungleichartig gegenüber, sie sind dassel-

6. DIE ZEIT ALS SPHÄRE DER SYNTHESIS

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be.“21 Auf alle Fälle ist es wichtig zu sehen, dass die diversen „Vermögen“, von denen Kant im Zusammenhang der Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung spricht, nicht als (verräumlicht) nebeneinander vorgestellt werden dürfen, sondern eine Einheit bilden, die von dem „Ich denke“ als sich zeitlich vermittelnder Synthesis her zu denken ist. Im Abschnitt über den Paralogismus kritisiert Kant explizit, dass dem (die Vorstellung begleiten können müssenden) „Ich denke“ Substanzialität beigelegt wird, was nicht zuletzt deshalb völlig richtig ist, weil auch die Substanzialität ein Schema der sich zeitigend vermittelnden Synthesis, aber nicht die ihr vorausgesetzte Grundlage ist. Insofern wird man die ursprüngliche Synthesis gerade nicht substanziell auslegen dürfen, sondern im Sinne Heideggers, wenn er schreibt, dass das „ Ich [...] soviel [bedeutet] wie: das Ich im ursprünglichen Bilden der Zeit, d.i. [...] das Gegenstehenlassen von ... und dessen Horizont“.22 Wichtig ist, dass das „Ich denke“ alle meine Vorstellungen begleiten können muss (KrV B 131). Der Akzent ist hier sowohl auf das „Begleiten“ als auch auf das „Können“ zu richten. Wenn also in der Sphäre der theoretischen Vernunft das metaphysische Sein durch die zeitlich vermittelte Synthesis abgelöst wird, ist festzuhalten, dass deren Ursprung nicht als „Sein“ gedacht werden kann, sondern – da weder im Sein noch im Denken, weder immanent noch transzendent „verortbar“ – eine Ortlosigkeit markiert, die uns bei Hegel (deutlicher noch als bei Kant) als Zeit entgegentreten wird.

Die Einheit des Ich manifestiert sich also als Synthesis, Tätigkeit, die allerdings niemals rein (d.h. als solche) ist, sondern gerade als Tätigkeit zeitbildend (zeitigend) – und abgeleitet davon raumbildend, insofern auch die Einräumung von Seiendem an die Schematisierung gebunden ist. Die Schemata als transzendentale Zeitbildungen entwickelt Kant im Folgenden aus den Kategorien und unterscheidet solche der Zeiterzeugung (die er in den Axiomen der Anschauung bespricht, wo uns das Schema einer Zeitreihe und damit einer extensiven Größe entgegentritt), der Zeiterfüllung, die den Zeitinhalt (als intensive Größe) gibt (den er in den Antizipationen der Wahrnehmung behandelt), der Zeitrelation, die uns eine objektive Zeitordnung vermittelt (in den Ordnungsschemata Substanz, Kausalität, Wechselwirkung, die Kant in den Analogien der Erfahrung zur Sprache bringt) und schließlich der Modalität, welche den Zeitinbegriff anzeigt (also ob ein Gegenstand in der Zeit als möglich, wirklich oder notwendig gesetzt ist). An dieser Stelle soll noch ein Missverständnis kantischer Philosophie, wie es wohl den meisten Kommentaren zu Grunde liegt, abgewehrt werden. Bei Kant gibt es kein Mannigfaltiges der Anschauung, welches dann durch die Verstandeskategorien zu einer Welt von Gegenständen (im Plural!) geordnet wird. Eine solche Welt gibt es erst 21 22

M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik 191. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik 193.

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IV. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT IN DER PHILOSOPHIE KANTS

als Resultat der reflektierenden Urteilskraft (siehe Punkt 13). Innerhalb der Bahnen der Kritik der reinen Vernunft gibt es lediglich die dem sich verzeitlichenden „Ich denke“ entspringenden Schemata der Zeiterstellung, wie sie sich in den Grundsätzen der Axiome der Anschauung, der Antizipationen der Wahrnehmung, der Analogien der Erfahrung und der Postulate des empirischen Denkens überhaupt zum Ausdruck bringen als die Bedingung der Möglichkeit, die Welt überhaupt als Gegenstandswelt, die als solche noch nicht näher spezifiziert ist, zu erfahren.

7. Der Ideencharakter der Vernunftprinzipien Wir haben in den vorhergehenden Abschnitten die der Verstandeshandlung des „Ich denke“ korrespondierende zeitbildende Synthesis als den Ursprungsort und die Bedingung menschlicher apriorischer Erkenntnis von Gegenständen der Erfahrung darzustellen versucht und dabei den Weg von der absoluten Vermittlung der Monade zur endlichen (weil unter der Form der Zeit stehenden) Vermittlung der Synthesis zurückgelegt und damit den Weg von der Ontologie – insofern die Monade in perspektivischer Weise auch Selbstvermittlung des absoluten Seins ist – zur erkenntniskritischen Transzendentalphilosophie – insofern die transzendentale Apperzeption Synthesis ist, in der Schemata der Zeit als Bedingung der unhintergehbaren Gegenständlichkeit der Erkenntnis gebildet werden – durchschritten. Dabei ist allerdings noch eine Besprechung der Vernunftantinomie ausständig, da erst diese den Grund angibt, warum Kant den (wohl von Hume ausgelösten) Schritt in die Endlichkeit nicht einfach voraussetzt, sondern um dessen Notwendigkeit weiß. Um diese Antinomien besprechen zu können, muss allerdings das Verhältnis von Verstand und Vernunft geklärt werden. Kant schreibt ja bekanntlich, dass „alle unsere Erkenntnis [...] von den Sinnen an[hebt], [...] von da zum Verstande [geht], und [...] bei der Vernunft [endigt].“ (KrV B 355) Dazu muss in Erinnerung gerufen werden, dass Kant die Synthesis vom Urteil her denkt. Allerdings stellt sich dabei die Frage, wie vermieden werden kann, dass die Welt in eine zusammenhanglose Reihe von Urteilen zerfällt, die ja genau diese Einheitsfunktion des „Ich denke“ zersetzte. Eine Antwort darauf gibt Kant erneut in Anlehnung an die traditionelle Logik: Dort war es der Schluss, der mittels Syllogismus die Urteile verbunden hat. Analoges nimmt Kant auch für die Transzendentalphilosophie in Anspruch. Dort sind es die Vernunftideen, die als Produkt der an den Schlüssen gewonnenen Vernunftsynthesen die Verstandessynthesen verbinden und „die Bestimmtheit der Urteile verbürgen, wenn sie nicht als erschlichene Gegenstände fungieren, [d.h., wenn] ihr Ideen-

7. DER IDEENCHARAKTER DER VERNUNFTPRINZIPIEN

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charakter gewahrt bleibt“23. Zunächst ist dazu hinzuzufügen, dass Kant die Vernunft als Vermögen der Prinzipien bestimmt und zwar im Gegensatz zum Verstand, der das Vermögen der Regeln darstellt. Allerdings ist Kant fernab jeder Prinzipienphilosophie, was Liebrucks ganz richtig auf den Punkt bringt, wenn er darauf abhebt, dass die Vernunftprinzipien keine erschlichenen Gegenstände sein dürfen. Als solche wäre tatsächlich die genuine Errungenschaft Kants, an die Stelle der Monade die Synthesis zu setzen, hinfällig und mit ihr auch die Möglichkeit, Freiheit zur Sprache zu bringen, weil jede Form von Seinstotalität eine absolute Bestimmtheit der Zeit mit sich brächte. Die Vernunftideen stellen also den Zusammenhang der Verstandessynthesis her, indem sie als deren Prinzip – unter dem Grundsatz des „Ich denke“ – fungieren oder, wenn man es mit Kant formuliert, die Verstandessynthesen bestimmen, um „zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden“ (KrV B 364). Da Kant, wie bereits erwähnt, die formale Logik als Leitfaden der Bestimmung der Verstandeskategorien gebraucht, ist es nur konsequent, wenn er auch die Schlussformen der formalen Logik entnimmt. Dabei richtet er sich nach den Relationskategorien, weil ja die Vernunftideen Totalitäten solcher Verhältnisse, wie sie sich zwischen den einzelnen Urteilen ergeben, darstellen. Insofern ergeben sich gemäß der Relation der Urteile: der kategorische Schluss, der nach einer unbedingten Substanz sucht – insofern die Substanz die entsprechende Verstandeskategorie in Bezug auf das kategorische Urteil „S=P“ ist –, der hypothetische Schluss, der nach einer unbedingten Kausalität Ausschau hält – insofern die Kausalität die entsprechende Verstandeskategorie in Bezug auf das hypothetische Urteil „wenn P, dann Q“ ist – und der disjunktive Schluss, der nach dem Inbegriff aller Glieder einer Synthesisreihe fragt – insofern dieser Inbegriff die entsprechende Verstandeskategorie in Bezug auf das disjunktive Urteil „A ist entweder B oder C“ ist. Kant nennt die diesen drei Vernunftschlüssen korrespondierenden obersten Ideen (Totalitäten) gemäß der traditionellen Schulmetaphysik „Ich“, „Welt“ und „Gott“. In Bezug auf die Idee des Ich ist zu sagen, dass hier Kant die oberste Substanz ganz im Sinne der leibnizschen Metaphysik als Ich bestimmt.24 Dies ist von Kant keine willkürliche Setzung, sondern Ausdruck der Tatsache, dass die oberste Substanz gemäß der Eigenart dieses Schlusses auch jenes Subjekt sein muss, welches nicht mehr als Prädikat fungieren kann. Es muss sich also um ein oberstes Subjekt handeln, welches eine Totalität bildet, womit wir bei der Monade angelangt sind. Diese Ich-Totalität stellt allerdings, wenn ihr Sein zugesprochen wird, einen Paralogismus dar, wobei wir die grundlegende Defizienz bereits anklingen haben lassen, die darin besteht, dass dieses Ich selber nicht Ausgangspunkt und oberstes Prinzip, sondern Produkt der immer auf die Anschauungsformen bezogenen Synthesen ist, welche als obersten Grundsatz 23 24

B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, IV 80. Vgl. dazu besonders die Ausführungen von H. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, 45f.

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IV. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT IN DER PHILOSOPHIE KANTS

das „Ich denke“ (insofern es alle meine Vorstellungen begleiten können muss) haben.25 In Bezug auf die dritte Idee, nämlich jene Gottes als des Inbegriffs aller Dinge, das transzendentale Ideal, auf welches wir noch im Zusammenhang mit Schelling eingehen werden und welches wir daher hier nur ganz kurz andeuten, ist zu sagen, dass es sich dabei konkret um die Totalität aller Prädikate handelt. Wichtig ist die Differenzierung von „Grund“ und „Inbegriff“, den Kant in der KrV A 579 anführt, ebenso in der Schrift „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“ (VIII, 389-406), 400f. Während Gott als Inbegriff aller Dinge dem Ideal der durchgängigen Bestimmung unterworfen ist, macht die Bestimmung Gottes als des Grundes aller Dinge keine Aussage über Gott, sondern zeigt uns deren Einschränkung (im Sinne der Endlichkeit) in Bezug auf ihn und nähert sich damit der klassischen negativen Theologie an. Dadurch führt diese Bestimmung aber nicht zum transzendentalen Schein, sondern restringiert ganz im Gegenteil unser Erkenntnisvermögen.

Jedes Bedingte ist vom disjunktiven Schluss her als Einschränkung dieser Totalität zu verstehen, die dabei immer mitgesetzt ist. Das heißt, dass in jedem Aktus des Prädizierens das transzendentale Ideal mitgesetzt ist. Dass Kant dieses transzendentale Ideal „Idee in individuo“ nennt, ergibt sich aus der klassischen Metaphysik, wo ein Individuum dadurch ausgedrückt wird, dass es durchgängig bestimmt ist. Dieses Ideal ist nun als Totalität aller Prädikate das Ideal der durchgängigen Bestimmtheit selbst und damit oberste Idee in individuo, nämlich Gott als Vernunftidee. Dass dieses transzendentale Ideal weitab des ebenso berühmten wie unseligen Talerbeispiels keine Existenz haben kann, ergibt sich aus der spezifischen Struktur des Seins, insoweit dieses als Erscheinung bestimmt ist. Gott kann gar nicht das Prädikat „Sein“ zugesprochen werden, da dieses immer zeitlich verfasst ist, wie sich für uns schon aus den bisherigen Analysen der Synthesis ergeben hat. Sein ist bei Kant immer kategoriales Sein, d.h. unter der Anschauungsform stehend bzw. in einem tieferen Sinn zeitliches Gebilde der Synthesis. Die Vernunftbegriffe also, solange sie den Status von Ideen haben, versammeln die Verstandessynthesen in die unbedingte Einheit der kategorischen, hypothetischen bzw. disjunktiven Synthesis. Sobald aber diesen Ideen Realität zugesprochen würde, ginge auch der Charakter der (dynamischen) Synthesis (zuungunsten eines statischen, damit im Übrigen auch freiheitstilgenden Un-Dings) verloren, wie wir beim Antinomienkapitel am deutlichsten sehen werden. Hinzuzufügen ist, dass, während das Ich und Gott aus Synthesen entspringen, die absolute, d.h. zeitenthobene, „auf einen Schlag“ sich manifestierende Totalitäten bilden – Gott ist der Inbegriff aller Prädikate, der in jeder Prädizierung vorausgesetzt ist, das Ich der Inbegriff eines Subjekts, wel25

Vgl. dazu E. Cassirer, Kants Leben und Werk.

8. DIE ANTINOMIE DES ANFANGS

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ches nicht als Prädikat dienen kann, womit beide Vernunftideen keine Totalitäten darstellen, die durch sukzessives Durchlaufen der Zeit gewonnen werden könnten – ist die Weltidee nur durch eine sukzessive Synthesis erreichbar, weshalb Kant sie objektive Synthesis der Erscheinungen nennt. Daher kommen für die Bildung des Weltbegriffes nur Schemata in Frage, die einen sukzessiven Zusammenhang aufweisen, also eine Reihe bilden, wobei dann der schematische Weltbegriff „die absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinungen“ (KrV B 391) darstellt. Dabei findet Kant konkret vier solcher auf die absolute Einheit der Bedingungen (der Zeiterstellung) zielende Reihen26, von denen wir, da sie für die Zeitproblematik eine besondere Bedeutung haben, die erste, in der es um den Weltanfang geht, und die dritte, in der die Freiheitsproblematik (Selbsttätigkeit) thematisiert wird, besprechen wollen27. Bevor wir dies tun, sei aber noch auf die grundsätzliche Struktur der Antinomien hingewiesen: Jede von ihnen weist eine Thesis auf, in der die Synthesen (also das Bedingte) von einem Unbedingten als Erstes (Prinzip) der Reihe bestimmt werden und eine Antithesis, in der die Reihe sich ins Unendliche verläuft. In Bezug auf die Antinomien ist noch eine Bemerkung wichtig, die Kant über die Synthesis macht: Er unterscheidet nämlich zwischen einer mathematischen Synthesis, d.i. eine solche der Größe, die er auch Synthesis von Gleichartigem nennt, und einer dynamischen Synthesis, die Ungleichartiges (z.B. Ursache und Wirkung) verbindet.

8. Die Antinomie des Anfangs Mit diesen Vorarbeiten können wir versuchen, uns einem der Herzstücke der kantischen Vernunftkritik zu nähern. Kant schreibt in den Prolegomena, dass das Phänomen der Antinomien, auf das er gestoßen ist, „das merkwürdigste Phänomen [der reinen Vernunft ist], welches auch unter allem am kräftigsten wirkt, die Philosophie aus ihrem dogmatischen Schlummer zu wecken, und sie zu dem schweren Geschäfte der Kritik der Vernunft zu bewegen“28. Tatsächlich zeigen die Antinomien wohl am deutlichsten die Verschiedenartigkeit des Blickwinkels der leibnizschen Monadenlehre und der kantischen Transzendentalphilosophie auf und werfen ein neues Licht auf die Zeitlichkeit und End-

26 27 28

Vgl. I. Kant, KrV B 443. Für eine Besprechung aller Antinomien siehe H. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, 220259; ebenso K. Appel, Kants Theodizeekritik, 67-81. I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können §50, IV 338.

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IV. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT IN DER PHILOSOPHIE KANTS

lichkeit der menschlichen Existenz, wie wir anhand der ersten und dritten Antinomie explizieren wollen. Die erste Antinomie geht aus der Reihe hervor, die die „absolute Vollständigkeit der Zusammensetzung des gegebenen Ganzen aller Erscheinungen“ (KrV B 443) bilden will, wobei diese Reihe dem Schema der extensiven Größe, „in welcher die Vorstellung der Teile die Vorstellung des Ganzen möglich macht“ (KrV B 203), entspringt und so auf die Erzeugung der Zeitreihe ausgerichtet ist. Es geht also in dieser Vollständigkeit der Zusammensetzung um die Bestimmtheit der erzeugten Zeitreihe, die diese durch einen absoluten Anfang erfährt, wobei sich als Alternative ein ewiges Sichverlaufen der Zeit darstellte. Demgemäß enthält die Antinomie die Thesis: „Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen“ und die Antithesis „Die Welt hat keinen Anfang, und keine Grenzen im Raume, sondern ist, sowohl in Ansehung der Zeit, als des Raumes, unendlich“. (KrV B 454) In dieser Antinomie geht es also im Sinne einer absoluten Erzeugung der Zeitreihe auf der einen Seite um Weltschöpfung, auf der anderen um eine seit Ewigkeit bestehende Welt. Beide Meinungen können nach Kant allerdings widerlegt werden: Die Thesis stützt sich auf die Tatsache, dass eine anfangslose Welt eine unendliche Zeitreihe voraussetzte, in der der Bestimmtheitscharakter des einzelnen Zeitmoments verlorenginge, was ja zu formallogisch absurden Konsequenzen führte, da es in der formalen Logik ja gerade um den Bestimmtheitscharakter des einzelnen Moments (A=A) geht. Analog kann allerdings auch die Antithesis argumentieren, dass der Anfang, den die Thesis in Anspruch nimmt, als außerhalb der Reihe sich befindend, diese Reihe ebenfalls nicht bestimmen kann, denn tatsächlich wäre ein solcher Anfangspunkt formallogisch völlig unbestimmbar und mit ihm die Zusammensetzung der Zeitreihe generell. Man sieht gerade bei den Antinomien, dass Kant am Gültigkeitsanspruch der formalen Logik festhält. Dieser restringiert unsere Erkenntnis auf Erscheinungen, da wir im Bereich unendlicher Totalitäten die formale Logik verlassen müssten, da deren einzelne Momente darin ihre Bestimmtheit (Begrenztheit) verlören. Charakteristikum dieser Logik ist, dies sei hier noch einmal erwähnt, der Satz der Identität A=A, der wiederum nichts anderes ist als die Forderung der durchgängigen Bestimmbarkeit des Seienden. Während Leibniz und noch unmittelbarer Spinoza als Repräsentanten der traditionellen Metaphysik29 dieses Ideal in ihren Gottesbegriff aufnehmen, führt Kant hier eine „große Revolution der Denkungsart“ durch, indem er den beschränkten Geltungsanspruch dieses Ideals durchschaut. So wird sich insbesondere bei der Freiheit zeigen, deren Besprechung wir in der Analyse der dritten Antinomie beginnen werden, dass sie sich 29

Wobei allerdings wohl die Größe von Platon und Aristoteles nicht zuletzt darin besteht, dass sie Positionen entwickelt haben, die dieses Ideal noch einmal wesentlich differenzierter in den Blick nehmen ließen. Die christliche Philosophie dagegen hat sich solche Wege versperrt, weil sie vermeinte, nur in diesem Ideal die Allmacht und Allwissenheit Gottes denken zu können.

8. DIE ANTINOMIE DES ANFANGS

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einer solch durchgängigen Bestimmbarkeit entziehen muss. Gleiches gilt im Übrigen auch für das Lebendige, das sich als selbstbewegend ebenfalls dem Anspruch einer völligen Bestimmbarkeit widersetzt.

Die Auflösung der ersten Antinomie erfolgt bei Kant folgendermaßen: Wenn man die zwei Sätze: die Welt ist der Größe nach unendlich, die Welt ist ihrer Größe nach endlich, als einander kontradiktorisch entgegengesetzte ansieht, so nimmt man an, dass die Welt (die ganze Reihe der Erscheinungen) ein Ding an sich selbst sei. Denn sie bleibt, ich mag den unendlichen oder endlichen Regressus in der Reihe ihrer Erscheinungen aufheben. Nehme ich aber diese Voraussetzung, oder diesen transzendentalen Schein weg, und leugne, dass sie ein Ding an sich selbst sei, so verwandelt sich der kontradiktorische Widerstreit beider Behauptungen in einen bloß dialektischen, und weil die Welt gar nicht an sich (unabhängig von der regressiven Reihe meiner Vorstellungen) existiert, so existiert sie weder als ein an sich unendliches, noch als ein an sich endliches Ganzes. Sie ist nur im empirischen Regressus der Reihe der Erscheinungen und für sich selbst gar nicht anzutreffen. Daher, wenn diese jederzeit bedingt ist, so ist sie niemals ganz gegeben, und die Welt ist also kein unbedingtes Ganzes, existiert also auch nicht als ein solches, weder mit unendlicher, noch endlicher Größe.30

Kant führt hier den transzendentalen Gedanken zu einer Art innerem Abschluss: Wir können nicht objektivierend den Standpunkt einer Ewigkeit einnehmen und von daher die Welt betrachten, und dies nicht nur deshalb, weil unser Erfahrungshorizont, wie in der transzendentalen Ästhetik dargelegt, immer kategorialer Natur ist, sondern vor allem, weil eine sich in die Unendlichkeit ausspannende oder in der Unendlichkeit erfolgende Synthesis jede Form der Zeitbildung verunmöglichte. Der Fehler der traditionellen Metaphysik ist es, die Welt zu vergegenständlichen. Ein solcher (vor dem Regressus der Synthesis gegebener) Weltbegriff ist aber schlechthin ein Un-Ding, dessen korrespondierende Zeit sowohl der ewig sich verlaufende Chronos ist, wie heutiger Empirismus in der Tradition der Antithesis festschreibt, als auch eine Zeit, die irgendwann aus Nichts hervorgeht und in der dann irgendwie der Mensch auftritt, wie die in den Bahnen der Thesis denkenden Traditionen nahelegen. Beide haben gemein, dass sie die Zeitlichkeit, die der Synthesis des „Ich denke“ entspringt, überspringen und damit an deren Stelle einen absoluten statischen Gegenstand („Welt“) setzen, der mit der Zeit auch den Erfahrungshorizont sistiert. Dazu stellt sich in der klassischen Metaphysik ein weiteres Problem dar: Sie denkt durchgängig in formallogischen Bahnen, die, wie wiederholt erwähnt, das Ideal durchgängiger Bestimmtheit fordern, wobei Kant den bloßen Forderungscharakter dieses Ideals durchschaut, wenn er von Ich, Welt und Gott als regulativen Ideen und vom Erscheinungscharakter unserer Welt spricht. Tatsächlich scheitert aber diese Vorstellung der durchgängigen Bestimmtheit gerade da, wo sie ihren Ausgangspunkt hernimmt, 30

I. Kant, KrV B 532f.

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IV. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT IN DER PHILOSOPHIE KANTS

nämlich in den Ideen selber und da – zumindest bei Kant explizit – in der Weltidee, deren sukzessiver Charakter, ins Ewige verlängert, unmittelbar in die Antinomie umschlägt. Zu dem Ausgeführten ist noch hinzuzufügen, dass Kant damit auch erkennt, dass die Rede von einem absoluten Anfang, einer unteilbaren Entität, der Freiheit oder auch einer absoluten Notwendigkeit (formallogisch) genauso haltlos ist wie die Rede von einem unendlichen Weiterlaufen, einer unendlichen Teilbarkeit, einer sich ewig weiterführenden Naturkausalität und einer absoluten Kontingenz. Bezüglich der Antinomien ist noch zu ergänzen, dass die Position der Thesis nicht auf derselben Stufe steht wie jene der Antithesis. Während letztere lediglich die Verabsolutierung unseres empirisch-positiven Zugriffs auf die Welt bedeutet, führt die erstere wahre Motive mit sich, die es allerdings gedanklich adäquater einzuholen gilt. Denn tatsächlich muss von einem Weltschöpfung Gottes, von einem unteilbaren BewusstSein (wir werden diesen Begriff noch erörtern), von der Freiheit und von Gott als dem absolut Notwendigen gesprochen werden, um die Zeit nicht zu einem völlig formalen Chronos regredieren zu lassen, aber es wird dies nicht mehr unmittelbar in den Bahnen der leibnizschen Argumente möglich sein, sondern nur in einem praktischvernünftigen Denken, welches die Zeitlichkeit und Endlichkeit des Daseins vollkommen ernst nimmt. Im Übrigen weist auch Kant darauf hin, dass die Thesis das praktische Interesse auf ihrer Seite habe, wenn er sagt: „Wenn es kein von der Welt unterschiedenes Urwesen gibt, wenn die Welt ohne Anfang und also auch ohne Urheber, unser Wille nicht frei und die Seele von gleicher Teilbarkeit und Verweslichkeit mit der Materie ist, so verlieren auch die moralischen Ideen und Grundsätze alle Gültigkeit, und fallen mit den transzendentalen Ideen, welche ihre theoretische Stütze ausmachen.“ (KrV B 496) Auch in diesen Sätzen ist das Anliegen Kants angedeutet, die Philosophie von Leibniz auf eine bessere Grundlage, nämlich jene der praktischen Vernunft, zu stellen.

Die Welt ist also nicht eine Welt, die fernab menschlicher Existenz zur Sprache gebracht werden kann, Schöpfung kann daher auch nicht das erste chronologische Auftreten eines Seienden (Erscheinung) bedeuten, denn diese Vorstellung entspringt einer Hypostasierung einer regulativen Idee, die in die Antinomie führt – tatsächlich haben wir ja in unserer Hinführung bereits angedeutet, dass der Schöpfungsbegriff viel tiefer gefasst werden muss –, vielmehr entspringt das Seiende (als Erscheinungsgegenstand) der Synthesis des Denkens. Dies darf aber nicht so vorgestellt werden, als ob das Seiende schlechterdings von uns produziert würde – nicht zuletzt, um diese Vorstellung zu vermeiden, führt Kant den Unterschied von Ding an sich und Erscheinung an –, sondern das Wesen des Denkens und der ihm korrespondierenden Welt besteht darin, an die zeitliche Endlichkeit „gehalten“ zu sein. Gerade aus dieser Zeitlichkeit, in der sich die Synthesis manifestiert, gehen uns die Vernunftbegriffe Welt, Ich und Gott als regulative Ideen hervor, die den inneren Zusammenhang unserer endlichen Welt darstellen. Dabei ist aber wichtig, dass diese Einheit selbst an die Zeitlichkeit und mithin Endlichkeit unseres Daseins

9. DIE ANTINOMIE DER FREIHEIT

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gebunden ist. Es gibt nach Kant keinen Weltbegriff „vor allem Regressus“ unserer Synthesis. Andernfalls hätten wir die Welt (und analog dazu Gott, wenn er als verräumlichter Inbegriff alles Seienden fungierte) als absoluten Behälter vorgestellt, der alle Momente der Zeit in sich verschlänge. Für Freiheit, die im Zuge unserer Besprechung der dritten Antinomie thematisch werden soll, bliebe kein Platz mehr übrig.

9. Die Antinomie der Freiheit Die dritte Antinomie geht aus der Reihe hervor, die auf „die absolute Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung überhaupt“ (KrV B 443) abzielt, wobei als Grundlage das Schema der zweiten Analogie der Erfahrung dient, welches lautet: „Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung von Ursache und Wirkung“ (KrV B 232). Es geht in dieser Antinomie also um die Vollständigkeit der Zeitfolge (Kontinuität), die ein notwendiges Moment der Zeitordnung ist. Die Thesis lautet dabei: „Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung derselben anzunehmen notwendig“ (KrV B 472), wohingegen die Antithesis behauptet: „Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.“ (KrV B 473) Die Thesis geht also mit der klassischen metaphysischen Tradition, die allerdings insofern abgewandelt wird, als die Ursache, die ja nur zeitordnende Funktion hat, nicht als umfangreicher als die Wirkung angesetzt wird, davon aus, dass es einer Erstursache bedarf, um die kausale Kette zu schließen. Hätten wir nämlich keine die Wirkungen bestimmende Ursache, kämen wir auch zu keiner Wirkung und damit zu keiner den Erfahrungsraum konstituierenden Zeitordnung. In diesem Zusammenhang sieht man wieder, welche Bedeutung die Freiheit für Kant hat. Denn die Pointe ist ja, dass die eine solche absolute Zeitfolge erstellende Erstursache niemals ein freies Wesen aus sich entlassen könnte. Im Übrigen steckt in dieser Vorstellung das verräumlichte Schema eines Außereinander von Ursache und Wirkung. Dagegen hat Hegel in der Wesenslogik sowohl gegen Kant als auch gegen die klassische Metaphysik gezeigt, dass die Ursache überhaupt nur in Bezug auf die Wirkung Ursache ist und gerade indem sie wirkt, mit der Wirkung identisch ist. Kant hält dagegen allerdings immer an den formallogischen Bestimmungen fest, was sich am deutlichsten in den Antinomien zeigt. In der ihnen korrespondierenden Erscheinungswelt, in der der Blickpunkt immer ein endlicher ist, kann der Bereich des Unendlichen, also nicht in der (chronologischen!) Zeit Stehenden, d.h. nicht Kategorialen, keinen bestimmten Sinn gewinnen. Deshalb gibt es in dieser Welt des Endlichen, Liebrucks nennt sie die Welt der Positivität, auch keinen Anfang, keine Freiheit und – allen Be-

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IV. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT IN DER PHILOSOPHIE KANTS

mühungen der Kritik der Urteilskraft zum Trotz – auch kein Lebendiges. Denn auch hier gilt, dass ein Teil, der zugleich das Ganze, ein Mittel, das zugleich Zweck ist, formallogisch ein Un-Ding ist.

Die Antithesis fordert gleich der Thesis eine Ursache um der Bestimmtheit der Zeitfolge willen, wobei diese nicht außerhalb der Reihe liegen darf, weil eine solche Ursache gar nicht als bestimmt und damit bestimmend gedacht werden kann. Vielmehr wäre es eine Kausalität außerhalb der Kausalität und damit formallogisch gesehen ein Widerspruch in sich oder von einem anderen Aspekt her betrachtet ein Produkt der Synthesis, welches aber die Zeitreihe und mit ihr die Synthesis selber überspringen würde. Von der leibnizschen Warte könnte man, so scheint es, sowohl bezüglich der ersten als auch bezüglich der dritten Antinomie damit argumentieren, dass die Ebene der Monade und ihrer Äußerung zwei Sphären bilden, d.h. dass die Monade als Zweck, als Subjekt, als Kraftpunkt selbstanfangend ist, während ihre kategoriale Erscheinung, d.i. die Monade in ihrer wirkursächlichen Vermittlung (als Objekt, als Prädikat, als Kraftäußerung) dies niemals sein kann. Damit, so scheint es, ist die Antinomie vermieden. Allerdings stellt sich nach Kant das Problem, dass beide Sphären der leibnizschen Monade in Totalitäten münden, die ihren jeweiligen Bestimmtheitscharakter sprengen, um dessen willen ja auch Leibniz die Monade als fensterlos eingeführt hat. Man könnte gewissermaßen sagen, dass sich die Monade in ihrem „Zentrum“ – also in ihrer unendlichen und zureichenden Begründung – aufhebt. Im Grunde genommen ist also, wie die Auflösung der dritten Antinomie zeigt, das Problem gar nicht so sehr die Antinomie zwischen Thesis und Antithesis als zwei Verschiedenen, sondern die innere Dialektik selber. Um den Bestimmtheitscharakter der einen Sphäre zu wahren, versucht man in die andere Sphäre auszuweichen, ohne hier an eine formallogisch sinnvolle Alternative zu gelangen.

10. Naturkausalität und Freiheitskausalität Wir wollen uns im Folgenden der kantischen Verhältnisbestimmung von Naturkausalität und Freiheitskausalität und seinem Versuch, aus der Aporie der Antinomien herauszutreten, zuwenden. Dabei macht Kant auf eine Eigenart der dynamischen Synthesis im Gegensatz zur mathematischen aufmerksam. Während letztere als Synthesis von Gleichartigem auf die (extensive oder intensive) Größe von Erscheinungen zielt, ist erstere als Synthesis des Ungleichartigen (z.B. Ursache und Wirkung) für das Dasein derselben verantwortlich, konkret für das bestimmte Dasein eines Erscheinungsgegenstandes. Dadurch ist allerdings – deshalb der Ausdruck „Synthesis des Ungleichartigen“ – der Inhalt der Relata nicht determiniert. So denkt Kant etwa die Ursa-

10. NATURKAUSALITÄT UND FREIHEITSKAUSALITÄT

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che und die Wirkung als zwei verschiedene inhaltliche Sphären, die um der Bestimmung der Zeitordnung willen synthetisiert werden müssen. Für die Bestimmtheit der Zeitordnung hat dies zur Folge, dass nach Kant grundsätzlich zwei Kausalitäten nebeneinander treten können: Einerseits eine Kausalität der Natur gemäß der Antithesis, die allein zur unmittelbaren Bestimmung der Zeitordnung herangezogen werden darf, andererseits aber auch eine intelligible Kausalität der Freiheit, „welche bei einer und derselben Wirkung zusammen stattfinden [können]“ (KrV B 566). In der Sphäre der Erscheinung können wir also eine Zeitordnung nur in der Verknüpfung empirischer Data erstellen, was aber nichts darüber aussagt, dass sich das Dasein einer Entität nicht einer intelligiblen Ursache verdanken könnte, wie ja die Thesis nahelegt, in die die Antithesis „kippt“, wenn sie als Totalität gedacht wird. Beide stehen nebeneinander, weil die intelligible Kausalität nicht unter Zeitbedingungen zu denken ist. Damit hat Kant die leibnizsche Trennung von ansichseiender Monade (Zweckursache) und deren wirkursächlicher Vermittlung wieder in ihr Recht eingesetzt. Denn jedes Ereignis der Menschenwelt muss ausnahmslos zumindest idealiter mittels eines fortschreitenden Regressus als Naturkausalität bestimmt werden – um der Regelhaftigkeit und Bestimmtheit dieses Ereignisses willen –; gleichzeitig aber kann es auch als Konsequenz praktischer Vernunft betrachtet werden. Es zeigt sich an diesen Überlegungen noch einmal die Ursache der Trennung von Ding an sich und Erscheinung: Nur im Verzicht der theoretischen Vernunft auf die Existenzsetzung ihrer Vernunftideen kann eine absolute Determiniertheit der Zeit und damit der Verlust der Freiheit, oder besser gesagt: das Zusammenfallen von Naturkausalität als durchgängig erstellter Zeitordnung mit der Freiheitskausalität und damit die Reontologisierung des Menschen verhindert werden. Diese Überlegungen zeigen noch einmal deutlich den Unterschied – aber auch die Nähe – von Leibniz und Kant auf: Ersterer spricht von einem Selbstanfangenkönnen der Monade, wobei sich dieser Selbstanfang zeitlich und wirkursächlich vermitteln muss. D.h. wir können und müssen für jede Handlung physikalische, biologische, soziologische, psychologische usw. Faktoren zu ihrer Bestimmung geltend machen, wodurch aber deren Intelligibilität nicht erreicht ist. Diese hat vielmehr ihren Ursprung in der Güte Gottes, die damit der absolute Vermittlungshorizont menschlichen Handelns ist. Bei Kant ist dagegen in der KrV von einer notwendigen Bestimmung der Zeitordnung die Rede, die empirisch mittels Naturkausalität, d.h. dem fortwährenden Regressus unserer Synthesis erfolgt, die damit die Ereignisse in einen unlösbaren und gesetzmäßigen Zusammenhang bringt, und transzendental als Kausalität durch Freiheit betrachtet werden darf. Dabei ist aber immer kritisch daran festzuhalten, dass uns die Totalität einer Zeitfolge niemals gegeben, sondern bloß aufgegeben ist, worin eine grundsätzliche Offenheit für ein gemeinsames Bestehenkönnen von Naturnotwendigkeit und transzendentaler Freiheit begründet ist, ohne dass das eine zugunsten des anderen nivelliert werden dürfte.

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IV. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT IN DER PHILOSOPHIE KANTS

Die Freiheitsantinomie zeigt uns, wie sehr die Architektonik Kants in der KrV durchdacht ist. Denn jene wird im Zusammenhang mit der Erstellung der Zeitfolge eingeführt. Dies bedeutet, dass der transzendentale Freiheitsbegriff, von dem Kant in dieser Antinomie spricht, nicht auf ein Anfangen der Zeit schlechthin ausgerichtet ist, sondern auf die Erstellung der Zeitfolge als eines der Momente der Zeitordnung. Diese ist theoretisch durch den Regressus der Naturkausalität gesetzt, praktisch aber durch Freiheit bestimmt. Phänomenal zeigt sich dies darin, dass der Unterschied von Traum und Wachzustand gerade in einer durch Freiheit gesetzten Zeitordnung des Wachzustandes, welcher der Traum entbehrt, begründet liegt.

Angesichts der doppelten denkmöglichen Kausalität darf aber nicht in den Fehler verfallen werden, den Freiheitsbegriff in den Bahnen der Thesis an der transzendentalen Freiheit, die den Anspruch der Naturkausalität restringiert und damit den praktischen Freiheitsbegriff eröffnet, auszurichten. Ihr „Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen“ (KrV B 561), kennzeichnet, wie Kant an dieser Stelle betont, eine Freiheit im „kosmologischen Verstande“. Kant setzt diese Hinzufügung, um den Gedanken abzuwehren, die Freiheit könne bereits in der Sphäre der theoretischen Vernunft adäquat gefasst werden. Dies wird noch durch die folgende Bemerkungen bestätigt, wo Kant festhält, dass es sich bei diesem Begriffe um „eine transzendentale Idee [handle], die erstlich nichts von der Erfahrung Entlehntes enthält, zweitens deren Gegenstand auch in keiner Erfahrung bestimmt gegeben werden kann“. Dem theoretischen Freiheitsbegriff kann deshalb keine Erfahrung zukommen, weil in der Sphäre des Seins, d.h. in dessen zeitlichem Schema von Ursache und Wirkung, das „ganze Feld der Erfahrung, so weit es sich erstrecken mag, in einen Inbegriff bloßer Natur verwandelt wird“ (ebd.), was umgekehrt bedeutet, dass es kein Schema der Freiheit geben kann. Das „Selbstanfangenkönnen“ der Thesis ist also bloßer Gedanke, der, sobald ihm eine (zeitliche) Erfahrung unterlegt werden soll, in die Antithesis kippt (die ihrerseits, wie die klassische Metaphysik weiß, in dem Moment in die Thesis kippt, in dem Kausalität eine Zeitordnung vollständig bestimmen können muss). Die Frage, die sich anschließt, ist die, ob es eine Möglichkeit gibt, die transzendentale Freiheit, die sich gewissermaßen am Kipppunkt der Antithesis dem Denken aufdrängt, der aber keine zeitliche Schematisierung zukommt, auf andere Art zu konkretisieren. Um diese Frage beantworten zu können, akzentuiert Kant das Verhältnis der beiden Kausalitäten als Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft: Es ist überaus merkwürdig, dass auf diese transzendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben gründe, und jene in dieser das eigentliche Moment der Schwierigkeiten ausmache, welche die Frage über ihre Möglichkeiten von jeher umgeben haben. Die Freiheit im praktischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit. [...] Man siehet leicht, dass, wenn alle Kausalität in der Sinnenwelt bloße Natur wäre, so würde jede Begebenheit durch eine andere in der Zeit nach notwendigen Gesetzen bestimmt sein, und mithin, da die Erscheinungen, so fern sie die Willkür

10. NATURKAUSALITÄT UND FREIHEITSKAUSALITÄT

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bestimmen, jede Handlung als ihren natürlichen Erfolg notwendig machen müssten, so würde die Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen. Denn diese setzt voraus, dass, obgleich etwas nicht geschehen ist, es doch habe geschehen sollen, und seine Ursache in der Erscheinung also nicht so bestimmend war, dass nicht in unserer Willkür eine Kausalität liege, unabhängig von jenen Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluss etwas hervorzubringen, was in der Zeitordnung nach empirischen Gesetzen bestimmt ist, mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen.31

Kant versucht in dieser Passage eine Konkretisierung der Freiheit durch die praktische Vernunft im Unterschied zur bloß transzendentalen Freiheit, wobei aber betont wird, dass letztere, gerade insofern sie die Naturkausalität „aufsprengt“, Bedingung der Möglichkeit ersterer ist. Damit ist die Bedeutung der kantischen transzendentalen Wende zum Ausdruck gebracht, insofern diese darin besteht, die theoretische Vernunft und die ihr korrespondierende durchgängige Bestimmtheit des Seienden zu begrenzen, um die Sphäre der Freiheit in praktischer Vernunft überhaupt eröffnen zu können. Diese richtet sich dabei am kantischen Sollensbegriff aus, der für Kant die einzige Möglichkeit ist, der Vernunftidee der Totalität eine konkrete Bedeutung zu geben. Der Grund dafür liegt darin, dass nach Kant die Vernunft als das Vermögen der Prinzipien bestimmt ist.32 D.h. die Vernunft ist der Bereich menschlichen Erkenntnisvermögens, der eine Reihe anfangen kann, die auf die Totalität der Ereignisse abzielt. Nun hat Kant im Bereich der theoretischen Vernunft aufzeigen können, dass eine solche Totalität für den in der Zeit stehenden Menschen nicht erschwinglich ist. Anders verhält es sich mit dem Sollensbegriff. Dieser ist nicht nur total von der Sphäre des von der Synthesis (Zeit) her zu verstehenden (kontingenten und singulären) Seins verschieden – was sich daran zeigt, dass die Welt nie so ist, wie sie sein soll –, sondern er erfüllt auch die Bedingung, dass er dieses Sein (durchgängig!) bestimmt ohne selbst von einer anderen Sphäre bestimmt zu sein. Damit haben wir mit dem Sollensbegriff auch jene Allgemeinheit, die Kant im je kontingenten Bereich des Seins nicht aufzufinden vermag, wobei zu präzisieren ist, dass die Verstandeskategorien zwar reine dem Verstand als Vermögen der Regeln korrespondierende allgemeine Begriffe darstellen, mittels derer die Urteilskraft die Zeit zu bestimmen sucht (was im Übrigen den Schematismus der Einbildungskraft voraussetzt), aber, da diese auf Erfahrung (das kontingent Zeitliche) bezogen sind, lediglich der Sollensbegriff die Sphäre der Allgemeinheit der Vernunft schlechthin zum Ausdruck bringt. Im Übrigen verdiente die Allgemeinheit des Sollens eine nähere Untersuchung. Kant bringt sie ja bekanntlich in seinem Kategorischen Imperativ zum Ausdruck, wenn er schreibt: „[...] handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen 31 32

I. Kant, KrV B 536f. Vgl. etwa I. Kant, KrV A 405.

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IV. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT IN DER PHILOSOPHIE KANTS

kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“33 Hier zeigt sich, dass die Allgemeinheit mit dem Vermögen der Prinzipien deshalb zusammenfallen muss, weil der gute Wille als Prinzip einer Selbstgesetzgebung – d.h. unabhängig vom kontingent Seienden – die reine Form der Allgemeinheit darstellt, welche das Besondere und Kontingente (in formallogischer Perspektive) unter sich enthalten soll. Allerdings bleibt dadurch die einzelne Handlung, insofern sie sich eine inhaltliche Bestimmtheit gibt, der Allgemeinheit äußerlich, wobei Kant durch eine „Typik der praktischen Urteilskraft“ versucht, Handlung und guten Willen zu vermitteln (KpV 119-126). Dieser Typus der praktischen Urteilskraft unterlegt der Idee der Vernunft kein Schema der Sinnlichkeit, sondern „ein Gesetz [...], das an Gegenständen der Sinne in concreto dargestellt werden kann, mithin ein Naturgesetz, aber nur seiner Form nach, als Gesetz zum Behuf der Urtheilskraft“ (KpV 122). Mit anderen Worten gesagt geht es im Typus um die mittels praktischer Urteilskraft zu bejahende oder verneinende Gesetzmäßigkeit und damit Allgemeinheit einer Handlung. In der zweiten Fassung des kategorischen Imperativs gibt Kant der Spannung von Allgemeinem und Besonderem eine neue Dimension. Denn der Imperativ „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals als Mittel brauchst“34 hat die Konsequenz, dass darin die Person einzelner und allgemeiner Begriff – nämlich als Menschheit, wobei ergänzt werden kann, dass dieser Einzelne da nicht nur die Menschheit repräsentiert, sondern als Zweck an sich auch die Totalität der Vernunft als zwecksetzendes Vermögen – zugleich ist, was streng genommen formallogisch nicht sein dürfte und einen deutlich anderen Akzent als die erste Fassung, welche diese beiden Bereiche noch zu trennen sucht, setzt.

Fassen wir zusammen, dann ist der Freiheitsbegriff nicht durch das transzendentale und als solches immer idealen Charakter tragende Vermögen des Selbstanfangenkönnens zu bestimmen, wenngleich gesagt werden kann, dass die grundsätzliche Einschränkung der Synthesis unseres Denkens auf die Zeit (und damit die grundsätzliche Beschränkung der Bestimmung der Kausalität auf Gegenstände der Erfahrung) ein solches transzendentales Vermögen eines ewigen Selbstanfanges als heuristisches Prinzip und als Bedingung der Möglichkeit praktischer Freiheit offenhält. Vielmehr liegt der Bestimmungsgrund des Willens in der Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft, d.h. in dem aus deren Form der Allgemeinheit erwachsenden Sollen des moralischen Gesetzes, welches die Sphäre des Seins, der Erscheinung, wo diese Allgemeinheit niemals auffindbar ist, grundsätzlich sprengt. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Kant in der Vorrede zur KpV darauf aufmerksam machen kann, dass die Möglichkeit der Freiheit durch deren Wirklichkeit bewiesen wird und dass ohne ein Wissen des moralischen Gesetzes Freiheit nicht denkbar wäre.35 Erst das unbedingte moralische Gesetz als „ratio cognoscendi“ der 33 34 35

I. Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, IV 421. I. Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, IV 428f. Vgl. I. Kant, KpV 5.

11. DAS PROBLEM DER EWIGEN WAHL

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Freiheit führt die menschliche Vernunft über den Bereich des kontingenten Seins hinaus, und die durch es initiierte moralische Selbstbestimmung führt zur theoretischen Idee einer transzendentalen Freiheit (als „ratio essendi“ der Freiheit) als Selbstanfangenkönnen „jenseits“ der allein schematisierbaren Naturkausalität.

11. Das Problem der ewigen Wahl Es muss in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass die Bestimmung der Freiheit als Selbstanfangenkönnen die transzendentale Wende Kants zu unterlaufen droht, wenn sie nicht von der moralischen Selbstbestimmung gedacht, sondern ontologisiert wird. Dieser Gefahr sind nicht zuletzt Schelling in der Freiheitsschrift und Kant selbst in der Religionsschrift erlegen, wobei beide das Motiv einer ewigen Wahl des Menschen in Anschlag bringen. Schelling schreibt36, dass der Mensch durch eine ursprüngliche Entscheidung, die nicht in die Zeit fällt, „sondern der Ewigkeit an[gehört]“, „bis an den Anfang der Schöpfung [reicht]“. Dadurch sei der Mensch gewissermaßen „außer dem Erschaffenen, frei und selbst ewiger Anfang [...]“. Diese Interpretation der intelligiblen Tat als ewige Wahl, die im Grunde mit der ewigen Wahl der Monade von Leibniz in eins fällt, hat ihr Vorbild in Kant, konkret in der Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. Dort hält dieser im Zusammenhang der Erläuterung des Begriffs „Natur des Menschen“ fest, „[...] dass hier unter der Natur des Menschen nur der subjektive Grund des Gebrauchs seiner Freiheit überhaupt (unter objektiven moralischen Gesetzen), der vor aller in die Sinne fallenden Tat vorhergeht, verstanden werde [...]“, womit die Natur des Menschen „nicht in der Zeit erworben sei“37. Es geht hier also um eine (intelligible) Natur des Menschen, die dieser sich selbst in der intelligiblen Bestimmung des Charakters gibt, wobei seine Natur, da nie dem Sittengesetz entsprechend, böse ist. Denkt man die intelligible Tat als absoluten Selbstanfang und ewige Charakterwahl des Menschen, kommt man konsequenterweise zur Auffassung der Freiheitsschrift von Schelling. Denn da die intelligible Tat die Zeit absolut bestimmen können soll, ohne selbst von dieser bestimmt zu werden, ist sie nicht nur Anfang irgend einer bestimmten Handlung, sondern schlechthin anfangend, keiner äußeren Zeit unterliegend. Als Konsequenz dieses Gedankens muss man sagen, dass der Selbstanfang des Menschen ein Zeit schlechthin setzender Selbstanfang ist und mit der Wahl des Charakters insofern zusammenfällt, als der Mensch nicht in eine Mannigfaltigkeit von Taten auseinanderfällt, da in diesem Falle 36 37

F.W.J. Schelling, Über das Wesen menschlicher Freiheit 57. I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, VI 21.

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IV. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT IN DER PHILOSOPHIE KANTS

erneut die Zeit ein vorgängig die Taten trennendes Element darstellte. Als dieser Selbstanfang finge der Mensch aber auch die Welt an, weil er andernfalls unter die Zeitbestimmungen der Natur fiele. So hätte die Welt als in sich bestimmte Zeitreihe ihren intelligiblen Grund in der Anfanghaftigkeit des Menschen, konkret in der (gemäß kantischer Religionsschrift) Bestimmung seiner Natur (seines Charakters als böse). Selbstanfang und Weltanfang fielen wie bei Leibniz zusammen und jeder Mensch wäre eine sich in bestimmter Perspektive zeitigende Monade. Allerdings ergibt sich, wenn man die Freiheit als absoluten Selbstanfang konkretisiert (im Verlauf der Arbeit werden wir sehen, dass diese Bestimmung ein notwendiges Moment ist, um Freiheit adäquat zu denken), die uns bei Leibniz bereits begegnende Frage, wie denn der Selbstanfang des solcher Art weltanfangenden Individuums und der Selbstanfang Gottes als des vinculum substantiale der Individuen vermittelt sind. Bei Leibniz ist ersterer, wie wir gesehen haben, nichts anderes als die Selbstvermittlung der Liebe Gottes, womit das endliche Subjekt vollkommen in Gott zurückgenommen ist. Kant hingegen verweist in Bezug auf diese Problematik in der KpV auf die Trennung von Ding an sich und Erscheinungswelt: Fielen diese beiden Sphären nämlich zusammen, wäre Gott Ursache der zeitlichen Ereignisse – die menschlichen Handlungen eingeschlossen – und der Mensch „Marionette [...], gezimmert und aufgezogen von dem obersten Meister aller Kunstwerke [...]“ (KpV 181). Da aber die zeitlich vermittelte Erscheinungswelt nicht auf die intelligible Welt angewendet werden kann, ergibt sich für Kant folgende Perspektive: Die Auflösung obgedachter Schwierigkeit geschieht kurz und einleuchtend auf folgende Art. Wenn die Existenz in der Zeit eine bloß sinnliche Vorstellungsart der denkenden Wesen in der Welt ist, folglich sie als Dinge an sich selbst nicht angeht: so ist die Schöpfung dieser Wesen eine Schöpfung der Dinge an sich selbst, weil der Begriff einer Schöpfung nicht zu der sinnlichen Vorstellungsart der Existenz und zur Kausalität gehört, sondern nur auf Noumenen bezogen werden kann. [...] Sowie es also ein Widerspruch wäre, zu sagen, Gott sei ein Schöpfer von Erscheinungen, so ist es auch ein Widerspruch zu sagen, er sei als Schöpfer Ursache der Handlungen in der Sinnenwelt, mithin als Erscheinungen, wenn er gleich Ursache des Daseins der handelnden Wesen (als Noumenen) ist.38

Kant weist uns hier in seinen Schöpfungsbegriff ein: Gott ist nicht (unmittelbar) die determinierende Ursache der zeitlichen Welt und diese nicht in einem ontologischen Sinne, wie etwa im kosmologischen Gottesbeweis, die Sphäre göttlicher Offenbarung – wobei man diese Aussage einschränken muss, wenn man die Postulatenlehre berücksichtigt, in der Gott als Urheber des höchsten Gutes die Vermittlungsinstanz von moralischer Welt und zeitlicher Sinnenwelt ist, denn als Postulat ist Gott auch Herr der Zeit, allerdings darf dies nie im Sinne einer ontologischen Aussage gefasst werden (Gott „ist“ so gesehen kantisch nicht und trotzdem waltet gemäß Kant Gott als Schöpfer und Erhalter 38

I. Kant, KpV 181.183.

11. DAS PROBLEM DER EWIGEN WAHL

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einer intelligiblen Welt sozusagen „überseiend“) –, denn in diesem Fall wäre der Mensch immer Marionette Gottes. Genauso wenig darf auch die menschliche Freiheit in der Zeit verortet werden. Vielmehr ist die Sphäre sowohl Gottes als auch der Freiheit die intelligible Welt, für die es eine einzige Bestimmtheit gibt, nämlich die moralische Welt des Sollens, unter deren Auspizien allein ein Selbstanfang zu denken ist. Dies bedeutet, dass der Mensch allein deshalb als selbstanfangendes Wesen gesetzt werden kann, weil er das moralische Gesetz befolgen soll. Daraus lassen sich nach Kant aber keine theoretischen Aussagen über einen etwaigen ontologischen Status des Selbstanfangs treffen. Nach Kant ist der Mensch in der Sphäre der theoretischen Vernunft (die immer das Ideal einer durchgängigen Bestimmbarkeit mit sich führt) als determiniert zu denken, wobei es allerdings die unabweisliche Einschränkung gibt, dass die theoretische Vernunft, wenn sie um einer totalen Bestimmbarkeit willen die Zeit überspringen will, sich also als Totalität setzt, ihre Grenze überschreitet und antinomisch wird. Deshalb gibt es sozusagen eine theoretische „Lücke“, in der der Mensch sich in praktischer Absicht, d.h. in Bezug auf das ihm auferlegte moralische Gebot als frei auffassen kann.

Auf diese Art und Weise muss man sagen, dass Gott in der moralischen Welt (in der praktischen Vernunft) zu verorten ist, unter deren Anspruch der Mensch, gerade indem er zeitliches Naturwesen ist – ein intelligibles Wesen stünde nicht unter dem moralischen Gesetz, – unbedingt steht und in der er erst seiner Freiheit gewahr werden kann. Die unüberwindliche Endlichkeit des menschlichen Erkennens, aus der erst menschliche Freiheit entspringt, zeigt sich so in bestimmter Weise in der vollkommenen Dualität von Sein und Sollen. Nur insofern der Mensch Bürger dieser beiden Welten ist, kommt ihm ein Status zu, der ihn grundsätzlich über das Sein, in dem er idealiter nach einer geschlossenen Kausalitätskette und damit sich als Marionette suchen müsste, heraushebt und ihn in die Würde eines moralische Verantwortung tragenden Wesens einsetzt. Eine Überlegung von Axel Hutter kann uns in diesem Zusammenhang weiterführen: Hutter verortet im Anschluss an den späten Schelling das Positive in der Fähigkeit, eine Grenze zu setzen39, wobei Schelling diese einen Anfang setzende Grenze als Entscheidung und damit als Akt der Freiheit interpretiert40. Diesen Aktus könnte man noch immer im Sinne des absoluten Anfanges und damit ontologisch definieren, allerdings macht Hutter darauf aufmerksam, dass die eigentliche Grenzziehung, wie sie die praktische Vernunft vornimmt, wenn sie frei anfängt, die zwischen Erscheinungswelt und intelligibler Sphäre ist41. Demgemäß gründet nach Hutter „die praktische Vernunft“ (und damit die Freiheit) „in der Differenz zweier Sphären“, andererseits „lebt 39 40 41

Vgl. A. Hutter, Geschichtliche Vernunft 233. Vgl. F.W.J. Schelling, Philosophie der Offenbarung, XIII 145f. Vgl. A. Hutter, Geschichtliche Vernunft 236.

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IV. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT IN DER PHILOSOPHIE KANTS

[sie] nur in der Überbrückung dieser Differenz“42, soll die Moralität überhaupt in der empirischen Welt Anwendung finden. Wir können ergänzen, dass dies unserer Meinung nach der eigentliche Hintergrund des Postulats Gottes ist, da Gott bei Kant der Vermittler dieser beider Sphären ist, ohne den die praktische Vernunft entweder ihre Anwendbarkeit auf das Sein oder aber auch ihre nicht zuletzt zeitliche Spannung (s.u.) verlieren würde; wobei letzteres in all jenen Systemen der Fall ist, in denen diese Differenz intelligibel oder empirisch zurückgenommen wird. Das Postulat Gottes als höchstes ursprüngliches Gut in der Sphäre der praktischen Vernunft verbürgt nicht nur die Einheit von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit und damit von Sollen und Sein, sondern auch die Differenz beider, insofern Kant darauf aufmerksam macht, dass die beiden Sphären niemals in der endlich-kategorialen Welt zusammenfallen. Auf diese Weise vermeidet Kant innerhalb seiner Denkbahnen eine Nivellierung der Ewigkeit zugunsten einer reinen Zeitlichkeit.

12. Die Zeit als Zeitigung der Freiheit Wenn wir nun versuchen, die bisher aufgestellten kantischen Überlegungen in Bezug auf die Zeitthematik zusammenzudenken, so ist als erstes festzuhalten, dass Kant nicht in eine Auffassung der Zeit als chronologischen Behälters der Ereignisse zurückfällt. Sie ist aber auch als Vermittlungsinstanz der transzendentalen Synthesis des „Ich denke“ weder die Zeitigung der Monade – in ontologischer Differenz des das Artallgemeine repräsentierenden Kraftpunktes und der wirkursächlich zusammenhängenden Äußerung – noch die erscheinende Seite Gottes als des vinculum substantiale der Welt. Vielmehr fungiert sie als die Sphäre des Endlichen, wobei unter dem Gesichtspunkt dieser zeitlich vermittelten Endlichkeit die intelligible menschliche Freiheit (in praktischer Absicht) hervorzutreten vermag. In diesem Sinne können wir nun die Aussage andenken, dass sich bei Kant die Freiheit zeitigt. Im Bereich der theoretischen Vernunft war das „Ich denke“ der – in transzendentaler Differenz zum Sein stehende – oberste Grundsatz, der alle Synthesen, die immer zeitigende Synthesen waren, begleiten können musste und sich in diese Synthesen, d.h. letztlich in die Zeiterstellung, selbst vermittelt hat. Seine spezifische Bedeutung bekommt dieses „Ich denke“ allerdings nicht in einer substanzhaft gedachten Monade, sondern in Bezug auf die Sphäre der praktischen Vernunft. Dabei zeigt sich, dass die transzendentalen Ideen als Produkte der Synthesis – diese wird durch jene wiederum erst bestimmt – in ihrem idealen 42

A. Hutter, Geschichtliche Vernunft 238.

12. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT

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Charakter eine Grenze markieren, durch die sich der Mensch als Freiheitswesen zu fassen vermag. Innerhalb der praktischen, durch das moralische Gesetz bestimmten Vernunft bekommen die Vernunftideen eine konkrete Bedeutung als die Postulate der Freiheit („Ich“), der Unsterblichkeit („Welt“, insofern die Unsterblichkeit einen analog dem Weltbegriff ins Unendliche gehenden Regressus bildet, s.u.) und Gottes („transzendentales Ideal“). Dies führt dazu, dass es die Freiheit ist, innerhalb derer das „Ich denke“ und seine zeitigenden Synthesen eine Konkretisierung bekommen. Anders gesagt: Bei Kant ist dem Subjekt jede Form von theoretischer Selbsterkenntnis verwehrt (vgl. den Paralogismus der reinen Vernunft), was bedeutet, dass lediglich in moralischer Verantwortung das „Ich denke“ und die ihm eigene Zeitstruktur konkretisiert werden kann, wobei ohne eine solche praktische Konkretisierung die Welt in apersonale Synthesen und damit in völlig bedeutungsleere Zeitreihen auseinanderfiele. Man kann daher sagen, dass bei Kant die Zeit erst in der Moralität ihren spezifischen Sinn gewinnt. Die Dialektik von Zeit und Ewigkeit ist bei ihm dabei die Dialektik von theoretischer und praktischer Vernunft bzw. jene von Sein und Sollen und damit auch jene von der je kontingenten Selbstverwirklichung des Menschen als sinnliches Wesen einerseits und der Freiheitsverwirklichung im Durchbrechen dieser Kontingenz andererseits, die dann statthat, wenn der Mensch beginnt, von seinen endlichen Interessen abzusehen und allgemein zu handeln. Man kann daran die Aussage anknüpfen, dass der Mensch letztlich diese Dialektik von Zeit und Ewigkeit ist, insofern er gerade als Freiheitswesen sich immer in die Zeit gestellt sieht, d.h. Freiheit zeitigt, und andererseits gerade in praktischer Hinsicht als sich selbst bestimmender Zweck an sich jede rein zeitlich-vorläufige Dimension immer schon hinter sich gelassen hat. In diesen Überlegungen erschließt sich uns eine weitere Dimension des Ausdrucks der sich zeitigenden Freiheit. Denn man wird insofern sagen können, dass die Freiheit sich zeitigt, insofern sowohl jeder zeitliche Aktus als menschlicher praktisch bestimmt ist, als auch die Freiheit immer eine zeitliche Erscheinungsweise annehmen muss. Zugespitzt formuliert: Die Freiheit entspringt der Zeit, weil sie nur in der von der Zeit markierten Endlichkeit als Freiheit wirksam werden kann; die Zeit entspringt der Freiheit, weil sie überhaupt nur unter dem Gesichtspunkt praktischer Vernunft einen inneren Einheitspunkt aufweist und nicht in sinnlose Synthesen zerfällt.

Wenn Kant in der KpV vom Postulat der Unsterblichkeit der Seele spricht, welches die „völlige Angemessenheit der Gesinnungen zum moralischen Gesetze“ verlangt als „oberster Bedingung des höchsten Guts“ (KpV 219), welches der Mensch befördern muss – und daher auch befördern können muss, was aber die Fähigkeit eines endlichen Wesens in der Sinnenwelt übersteigt, daher der postulatorische Charakter –, liegt die Bedeutung dieses Postulats

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IV. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT IN DER PHILOSOPHIE KANTS

allen berechtigten Einwänden zum Trotz43 einerseits darin, dass der Mensch, der in seinen Einzelinteressen, in seinem Selbsterhaltungstrieb, d.h. letztlich in seiner Bestimmtheit durch das Seiende, zum Naturwesen regrediert und damit der Zeit ihren grundsätzlichen Freiheitssinn nimmt, doch immer auch als intelligibel, als vernunft- und freiheitsfähig betrachtet werden muss. Andererseits weist uns gerade dieses Postulat auch in eine der Zeit immanente Spannung von Zeitlichkeit und Ewigkeit ein, insofern deren moralischer durch den Menschen in der Zeit zu verwirklichender Freiheitssinn jede empirische Sinngebung der Zeit (und damit jede Beheimatung in der Zeit) hinter sich lässt bzw. immer schon hinter sich gelassen hat. Zusammenfassend gesagt: Die Zeit erfährt ihre Bestimmung nicht über einen theoretischen Weltbegriff, sondern in der praktischen Vernunft, insofern diese den Menschen als sich selbst bestimmendes Freiheitswesen und damit als Endzweck der Welt zur Geltung bringt, wobei in dieser Bestimmung jeder empirisch immanente Sinn der Zeit transzendiert wird. In den Ausführungen zur praktischen Vernunft haben wir gesehen, dass sich innerhalb der kantischen Vernunftkritik der Sinn der Schöpfung ändert. Diese ist nicht mehr das Initiieren der Natur, welche nur dem Bereich der Erscheinung zukommt, sondern ihr Sinn liegt im moralischen Aktus selber. Damit ergibt sich nun auch eine neue Bedeutung der Freiheit als Selbstanfangenkönnen. Dieses ist nicht mehr ontologisch zu verstehen, in dem Sinne, dass mit dem Anfang der Monade auch die Welt entsteht, sondern es bedeutet, dass überhaupt erst im Aktus der Moralität der Mensch in Differenz zur Natur tritt und sich als zeitliches Wesen in einer zeitlichen Welt und damit als Geschöpf erfährt, gleichzeitig aber als intelligibel sich und der Welt immer schon einen ewigen, zeitlich-empirisch nie ableitbaren Sinn eingeschrieben hat. Dabei erübrigt sich die Frage nach einem ontologischen „Vorher“ oder sie beginnt sich in verwandelter Form erst dann wiederum zu stellen, wenn sich der Mensch als geschichtliches Wesen einer Generationenfolge wahrzunehmen beginnt, wobei Kant in diesem Zusammenhang festhält, dass das „Dass“ menschlicher Existenz als solches unableitbar ist44. Es hat aber die Möglichkeit einer moralischen Konkretisierung, die im eigentlichen Sinne als Schöpfung bezeichnet werden kann. Auf diese Weise ist Gott, wie oben bereits angedeutet, Schöpfer der noumenalen Welt, insofern er der heilige Gesetzgeber einer niemals in der endlichen Welt (dem zeitlichen Sein) ableitbaren praktischen Vernunft ist. Auf diese Weise beseitigt sich auch der scheinbare Widerspruch, dass es nach Kant einerseits der Wille ist, der sich als selbstgesetzgebend das moralische Gesetz gibt, andererseits aber Gott als heiliger Gesetzgeber bezeichnet wird. Denn tatsächlich sind wir mit dem Willen in den Bereich des Intelligiblen, also letztlich in die göttliche Sphäre eingetreten, zu der von der empirischen Welt des Seins keine Brücke führt, wie 43 44

Diese Einwände hat wohl niemand so meisterhaft wie Hegel in der PhdG in den „Verstellungen der kantischen Moralität“ auf den Punkt gebracht. Vgl. I. Kant, Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, VIII 110.

13. DIE ZEIT UND DAS PROBLEM DES LEBENDIGEN

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der Mensch am schmerzlichsten im Auseinandertreten von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit erfährt. Eine solche wird dem Menschen nur „nachträglich“ im Postulat des Daseins Gottes offenbar, insofern Gott als der Urheber beider Sphären die beiden auch – im Postulat – vermittelt, wozu der Mensch von sich aus nach Kant niemals imstande wäre.

Deshalb kann man sagen, dass sich Gott nicht in der Welt der Erscheinung offenbart – so ehrfurchtgebietend diese ist, wie Kant in der Kritik der praktischen Vernunft in seiner Eloge über den bestirnten Himmel45 bekennt –, sondern in der Freiheit des Menschen. Der Mensch ist immer als „Grenzgänger“46 zwischen der Welt der Erscheinung und der intelligiblen Welt, zwischen Zeit und Ewigkeit, auf Gott als den Vermittler dieser beiden Sphären verwiesen. Da der Mensch nur als zeitliches Wesen in dieser Grenze steht, hat auch die Zeit nicht nur die Bedeutung, die Welt der Erscheinung zu bezeichnen und der synthetischen Tätigkeit einen welthaften Ausdruck zu geben, sondern sie ist auch der „Ort“ von Gottesoffenbarung. Bei Leibniz hat sich Gott in der Zeit geoffenbart, insofern die Monade in ihrer Zeitigung Zeigestab des liebenden Gottes ist. Dabei hat Leibniz die Zeit als das vinculum substantiale der Liebe und Ewigkeit Gottes und so Gottes Offenbarung als Zeit ausgesprochen. Auch bei Kant ist die Zeit, wie wir gesehen haben, nicht abgetrennt von der Intelligibilität (Ewigkeit) der praktischen Vernunft, die der zeitbildenden Synthesis des „Ich denke“ überhaupt erst Bestimmung verleiht, zu besprechen und ist so gerade nicht einfach Behälter oder Chronos, sondern Offenbarungsgestalt Gottes, insofern dieser sich dem zeitlichen Menschen als der heilige Gesetzgeber in der intelligiblen Welt der Freiheit, die empirisch niemals ableitbar ist, offenbart. Allerdings manifestiert sich bei Kant trotz aller Weiterführung des Freiheitsbegriffes ein Problem gerade im Vergleich mit Leibniz, nämlich die Bedeutung der Natur, konkret des Lebendigen, die letzterer grandios in seiner Monadenlehre gegenüber Descartes und Newton hervorzuheben wusste.

13. Die Zeit und das Problem des Lebendigen Die Zeit wurde von uns als die Zeitigung der Freiheit bestimmt. In Bezug auf Leibniz fällt allerdings auf, dass der zeitigende Charakter der Monade, die jedem Organismus und jeder Entität ihre je spezifische Eigenzeit zugewiesen hat, bei Kant abhanden gekommen ist. Vielmehr, so scheint es, wird das Sein 45 46

Vgl. I. Kant, KpV 288. Vgl. die kantische Bestimmung des Menschen in seinem Opus postumum. Eine lesenswerte Darstellung von dessen religiösen Aspekten gibt R. Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie.

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IV. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT IN DER PHILOSOPHIE KANTS

bei ihm vor allem hinsichtlich seiner Gegenständlichkeit gefasst, wobei aber jene inneren Differenzierungen, die das leibnizsche Konzept ausgezeichnet haben, wegfallen. Wir haben es daher bei Kant zwar mit Gegenständen der Erfahrung zu tun, aber nicht mit bestimmten. Dieser Ausdruck der deutschen Sprache trifft den Sachverhalt insofern auf höchst spekulative Weise, als den kantischen Gegenständen im wahrsten Sinne des Wortes die Stimme abgeht. Sie sind Produkte zeitbildender Synthesen, d.h. extensive und intensive Größen in einer Zeitordnung, aber im Grunde genommen fehlt ihnen, zumindest außerhalb der menschlichen Spezies, bei der die Freiheit einen Zweck in praktischer Absicht impliziert hat, jede Form innerer Einheit als Grundlage, von bestimmten (im Sinne des Besonderen) Gegenständen sprechen zu können. Die Verstandessynthesen haben so streng genommen keinen spezifischen Inhalt, den weder die produktive Einbildungskraft noch die Anschauung zu generieren vermag.

Dramatisch stellte sich die Frage nach der bestimmten Einheit bei einem der Ausgangspunkte der leibnizschen Monadenlehre, nämlich dem Lebendigen, welches in den ersten beiden Vernunftkritiken nicht als eigener Bereich zur Sprache kommen konnte. Der Mensch vermag unter dem Grundsatz der transzendentalen Apperzeption einen Zeitinhalt zu erstellen, außerdem gelangt er zu einer praktischen Selbsterfassung als intelligibler Zweck in der Moralität, ein Sicherfassen als lebendiges Wesen in einer organisch gebildeten Natur ist ihm aber nicht möglich. Man kann gewissermaßen sagen, dass Kant zwar in den Antizipationen der Wahrnehmung die Erstellung des Zeitinhalts behandelte, dass dieser aber als absolut unlebendig und ohne die notwendigen inneren Differenzierungen gefasst werden musste.47 Kant hat dieses Problem in der letzten von ihm verfassten Kritik erkannt. Deshalb versucht er sich in deren zweitem Teil (der Kritik der teleologischen Urteilskraft) dem allem Lebendigen vorgelagerten Zweckbegriff – Leibniz fasst ja nicht zufällig die Monade als Zweck – zu nähern. Dabei gelangt er unter Wahrung seiner transzendentalen Voraussetzungen zu einer Analyse der Urteilskraft, die er als ein eigenes Vermögen bestimmt, dessen Charakteristikum darin besteht, das „Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken“ (KdU XXVI), wobei sich die bestimmende Urteilskraft, in der das Besondere unter einem gegebenen Allgemeinbegriff subsumiert wird, von der für diese Untersuchungen wichtigen reflektierenden Urteilskraft – die zu einem gegebenen Besonderen das Allgemeine finden soll (KdU XXVI) – abhebt. Letztere interpretiert dabei mittels des Zweckbegriffes als eines heuristischen Erkenntnisprinzips – Kant spricht von einem subjektiven Prinzip (Ma47

M. Frank und V. Zanetti drücken dies in ihrem Kommentar zur KdU folgendermaßen aus: „Die Natur formal betrachten, heißt: ihr Sinnliches nur durch die Brille der Formen von Anschauung und Verstand anvisieren. Sie auch material betrachten, heißt: ihr stoffliches Dasein (in der Mannigfaltigkeit seiner kontingenten empirischen Ausprägungen) ins Spektrum der Theorie einbeziehen.“ (M. Frank, V. Zanetti (Hg.), I. Kant, Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie 1228.)

13. DIE ZEIT UND DAS PROBLEM DES LEBENDIGEN

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xime) der Urteilskraft48 – den inneren Zusammenhang der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, gewissermaßen also die Sphäre der Besonderheit, nachdem in der produktiven Einbildungskraft der Verstandessynthesis gemäß die Sphäre der Allgemeinheit („Grundsätze“) und in der sinnlichen Synthesis („Synthesis der Apprehension“) die Sphäre der Einzelheit erstellt wurde, wobei hier noch einmal darauf verwiesen werden kann, dass für den sich der formalen Logik bedienenden Kant diese Sphären getrennt bleiben müssen, weil innerhalb formaler Logik das Einzelne niemals in gleicher Hinsicht an ihm selbst das Besondere und Allgemeine sein kann. Die Bestimmung der Zweckmäßigkeit als subjektives Prinzip der Urteilskraft war im deutschen Idealismus Anlass massiver Kritik. Allerdings darf Kants Bestimmung nicht als „nur subjektiv“ in dem Sinne verstanden werden, dass ein Subjekt Erkenntnis in die Natur einschriebe und diese solcher Art depotenzierte. Denn gemäß der transzendentalen Wende Kants ist zu betonen, dass es kein als Substanz (Monade) existierendes Subjekt gibt (im Sinne des Paralogismus der reinen Vernunft), von welchem die Macht einer Identifizierung von etwas als „Zweck“ ausginge, und dass die Urteilskraft nicht Produkt eines (substanzhaften) Subjekts ist, sondern umgekehrt unsere Selbsterfassung als Subjekt sich der vorgängigen reflektierenden Urteilskraft verdankt49. Was den Geltungsbereich der formalen Logik betrifft, stellt sich im Zusammenhang mit dem Begriff des Naturzweckes das Problem, dass eine natürliche Entität, als Naturzweck gesetzt, „Ursache und Wirkung von sich selbst ist“50, was formallogisch nicht denkbar ist. Kant illustriert diese Definition des Zweckes anhand des Gattungsprozesses, in dem jedes Lebendige als Ursache und Wirkung dieses Geschehens betrachtet werden muss. Allerdings ist die Reichweite der kantischen Definition größer: So stellt Kant fest, dass „Teile [erstlich] (ihrem Dasein und der Form nach) nur durch Beziehung auf das Ganze möglich sind“ (KdU 290) und „[zweitens], dass die Teile desselben [d.h. eines Dinges als „Naturprodukt“] sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, dass sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind“ (KdU 291). Mittels dieser Definition kann ein Naturzweck klar von einem mechanischen Produkt, z.B. einer Uhr, unterschieden werden, die im Gegensatz zu ersterem niemals von sich selbst Ursache und Wirkung ist, also nicht als sich „selbst organisierend“ verstanden werden kann. Die Uhr folgt nämlich einer formallogisch möglichen Konstruktion, in 48 49

50

Vgl. I. Kant, KdU XXXIV. Kant spricht in der KrV in der transzendentalen Methodenlehre interessanterweise davon, dass „wir von der Kenntnis der Natur selbst keinen zweckmäßigen Gebrauch in Ansehung der Erkenntnis machen, wo die Natur nicht selbst zweckmäßige Einheit hingelegt hat; denn ohne diese hätten wir sogar selbst keine Vernunft, weil wir keine Schule für dieselbe haben würden [...]“ (A 817f.). Wir können diese Stelle so interpretieren, dass die Urteilskraft und der ihr entspringende Zweckbegriff das eigentliche Bindeglied theoretischer und praktischer Vernunft ist und das letztere vermittelt durch den Zweckbegriffs eine „Schule“ vorfindet, durch die ihre Anwendbarkeit im Erfahrungsraum des Menschen gewährleistet ist. Daher gründet nicht nur unsere Selbsterfassung als Lebewesen, sondern letztlich unsere Selbsterfassung als (moralisches) Subjekt und (End)zweck in der dem Subjekt vorgängigen reflektierenden Urteilskraft. Vgl. I. Kant, KdU 286.

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IV. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT IN DER PHILOSOPHIE KANTS

der jeder Teil mit sich identisch und das Ganze das Produkt der Zusammensetzungen ist, während der Naturzweck so gedacht werden muss, dass das Ganze und die Teile einander bedingen und nicht in einem äußerlichen Über- oder Unterordnungsverhältnis stehen. In diesem Zusammenhang soll bemerkt werden, dass Kant das in heutiger Wissenschaftstheorie gebräuchliche Philosophem der „Selbstorganisation“ in seinem philosophischen Status geklärt hat, indem er es der reflektierenden Urteilskraft zuzuordnen vermag.

Wohl nicht zuletzt aufgrund dieses formallogisch gesehen selbstwidersprüchlichen Charakters hält Kant daran fest, dass eine Kausalität aus Zwecken, wie sie der Organisation der Natur zugrunde liegt, „nichts Analogisches mit irgendeiner Kausalität [hat], die wir kennen“ (KdU 294). Entscheidend ist dabei, dass es sich bei dieser Kausalität nicht um eine der Welt und ihren Gebilden zukommende Eigenschaft handelt, sondern um ein Erkenntnisprinzip der (dem Subjekt vorgängigen reflektierenden) Urteilskraft. Kant legt weiters das Augenmerk darauf, dass die Welt als in sich gegliederter Organismus und als Mannigfaltigkeit von Gesetzmäßigkeiten nicht aus apriorischen Kategorien und den aus ihnen folgenden Gesetzen abgeleitet werden kann, und dass nicht einmal einsehbar ist, wie sich aus dem Zweckbegriff so etwas wie ein Weltbegriff deduzieren ließe, der doch, wie wir gesehen haben, unter den Grundsätzen kantischer Philosophie „überschwänglich“ ist. Vielmehr begegnet uns in der Welt anstelle eines allgemeinen apriorischen teleologischen Gesetzes der Natur eine nicht mehr überschaubare Fülle solcher Gesetzmäßigkeiten. Denn jede Entität, insofern sie Naturzweck ist, kann nur als solche wahrgenommen werden, wenn sie einer inneren Zweckmäßigkeit gehorcht. So folgt z.B. die Rose ihrer Artgesetzlichkeit, ebenso ein (funktionierendes) körperliches Organ, um zwei Beispiele zu nennen. Nur auf diese Weise kann die Natur bestimmte Natur sein und nicht abstraktes Correlatum der transzendentalen Synthesis, was der Grund dafür ist, weshalb es, wie Kant betont, niemals einen Newton des Grashalms geben wird51. Dabei müssen aber um des Zusammenhangs der Natur bzw. der Welt willen diese Zwecke selber – analog dem leibnizschen vinculum substantiale, welches das metaphysische Band der Monaden ausmacht – als ein System nach der Regel der Zwecke reflektiert werden. Kant drückt dies sehr schön aus, wenn er sagt: „Aber dieser Begriff [des Naturzweckes] führt nun notwendig auf die Idee der gesamten Natur als eines Systems nach der Regel der Zwecke, welcher Idee nun aller Mechanism der Natur nach Prinzipien der Vernunft (wenigstens um daran die Naturerscheinungen zu versuchen) untergeordnet werden muss.“ (KdU 300) Sucht man in diesem System einen „letzten Zweck“, so findet man ihn nach Kant nur in einem Wesen, welches sich „einen Begriff von Zwecken“ (KdU 383) zu machen vermag und „durch seine Vernunft ein System der Zwecke machen kann“ (ebd.), d.i. im Menschen. Dieser als zwecksetzendes Wesen befördert 51

Vgl. I. Kant, KdU 338f.

13. DIE ZEIT UND DAS PROBLEM DES LEBENDIGEN

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innerhalb der Natur deren „Verknüpfung mit einem Zweck“ durch den Gedanken der Glückseligkeit (KdU 388) – diese bekommt daher innerhalb der KdU den ihr zukommenden noetischen Stellenwert, insofern sie als „Inbegriff aller durch die Natur [...] möglichen Zwecke [des Menschen]“ (KdU 391) bestimmt ist – und durch die Kultur (bzw. den Staat und als höchstes Moment das „weltbürgerliche Ganze“) (KdU 391-393), in der die Natur gemäß den Anlagen des Menschen als Mittel gebraucht wird. Endzweck – d.i. ein Zweck, der nicht mehr Mittel eines höheren (anderen) Zweckes sein kann52 – der Schöpfung aber ist „das höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt“ (KdU 423), d.i. eine moralische Welt und die ihr korrespondierende Glückseligkeit (als Bedingung der Anwendbarkeit des Zweckbegriffes auf die Natur). Schlussstein des ganzen Systems ist dabei die reflektierende Urteilskraft: Ihr entspringt der Zweckbegriff, der sich in einen Endzweck fokussiert, in dem das „Reich“ der moralischen Zwecke und das Reich der Naturzwecke vermittelt sind und der uns zum Begriff Gottes führt, „welcher so beschaffen ist, daß man sieht, er sei [...] für die Urteilskraft nach Begriffen der praktischen Vernunft, und als solcher für die reflektierende [...] Urteilskraft gefällt“ (KdU 433). Mit diesen Überlegungen differenziert sich für uns noch einmal der kantische Welt- und mit ihm der Zeitbegriff: Das Sinnliche der Anschauung ist als solches nicht aussprechbar (auch die Eigenschaften sind immer schon Eigenschaften von etwas, d.h. im Zusammenhang der Synthesis zu sehen, und keine für sich seienden analytischen Gebilde53), vielmehr ist die Welt unserer Anschauung mittels des der Urteilskraft entspringenden Zweckbegriffes als gegliedertes Gebilde reflektiert. Die Trennung in die Sphären von Anschauung und Verstand dient dabei dem Umstand, dass der Mensch nach Kant die Natur ihrem inneren Grunde nach nicht einsehen kann, weil diese für ihn nicht deduzierbar ist. So lässt sich nun sagen, dass die menschliche Erkenntnis als Einbildungskraft Zeit bildend ist und dem Menschen damit als endliches Wesen setzt. Als Urteilskraft tritt die Zeitlichkeit dem Menschen nicht als formale Gegenständlichkeit, sondern als gegliederte und ein System von Zwecken bildende, dabei aber nie deduzierbare Natur gegenüber. Als praktische Vernunft schließlich wird die Zeitlichkeit als Freiheit konkretisiert, wobei sie, alle Naturzwecke transzendierend, den eigentlichen Endzweck bildet54 und den Menschen über die Schranke der Endlichkeit hinausweist ohne doch je mittels der Einbildungskraft das intelligible Jenseits der Endlichkeit veranschaulichen zu können. 52 53 54

Kant gebraucht die Definition: „Endzweck ist derjenige Zweck, der keines andern als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf.“ (KdU 396) Vgl. die kantische Anmerkung zu der jeder Analysis vorausliegenden synthetischen Einheit, KrV B 133f. Für eine genaue Analyse des moralischen Zweckes als Endzweck unter Einbeziehung der Erkenntnisse der „Metaphysik der Sitten“ vgl. R. Langthaler, Kants Ethik als System der Zwecke.

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IV. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER FREIHEIT IN DER PHILOSOPHIE KANTS

14. Erträge und Grenzen der kantischen Zeitbestimmungen Zeit tritt bei Kant, nachdem sie in den Anfangspassagen der transzendentalen Ästhetik (scheinbar) als abstrakte Anschauungsform und transzendentaler „Behälter“ gefasst wurde, in der Sphäre der produktiven Einbildungskraft als jene zeitbildende Synthesis auf, die den Menschen als endliches Wesen bestimmt, insofern er diese Synthesen nie im Hinblick auf irgendwelche Totalitäten überspringen kann. In Bezug auf die reflektierende Urteilskraft tritt drittens die zeitlich erstellte Welt als bestimmte und in sich mannigfaltige Welt unter Zwecken auf, und als die Grenze, die die Zeit theoretischen Vernunftansprüchen setzt, ist sie viertens Ausgangspunkt praktischer Vernunft, wobei, insofern überhaupt erst im Freiheitspostulat der sich zeitlich manifestierenden Synthesis ein subjekthaftes Fundament und die Möglichkeit in der Zeit zu handeln verliehen wird, von einer Zeitigung der Freiheit in praktischer Hinsicht gesprochen werden kann. Diese Situierung des Menschen als endliches, sprich zeitliches – wobei diese Zeitlichkeit nicht defizienter Status in Bezug auf einen ontotheologisch gefassten Gott ist, der in seinem Totalitätsanspruch die Endlichkeit sistierte – und daraus folgend als praktisches Wesen ist somit der erste positive Ertrag der kantischen Überlegungen. Der zweite positive Ertrag ist die Tatsache, dass der Schöpfungsbegriff bei Kant aus seiner ontologischen Naturhaftigkeit heraustritt und einen inneren Zusammenhang mit der menschlicher Freiheit bildet, in deren Zwecken Gott zur Sprache zu kommen vermag. Drittens wird Kant der Dialektik von Zeit und Ewigkeit auf großartige Weise gerecht, insofern die Zeit eine in der Postulatenlehre zum Ausdruck kommende eschatologische Spannung hat, die sie über das bloß Empirische hinaushebt. In dieser eschatologischen Spannung eröffnet sich ein vertiefter Bezug von produktiver Einbildungskraft, Zeit und reflektierender Urteilskraft: In ersterer werden die Zeitsynthesen erstellt, die mittels der reflektierenden Urteilskraft nicht nur in Richtung einer mannigfaltigen Welt mit ihren Eigenzeiten spezifiziert, sondern auch transzendiert werden, da der Zweckbegriff auf das Postulat Gottes als Endzweck der Schöpfung verweist, in dem die Zeit zu ihrem letzten, weder inner- noch außerzeitlichen Sinn kommt.55

55

Eine sehr interessante Stelle findet sich in der kleinen Schrift „Das Ende aller Dinge“, wo Kant in Bezug auf die Ewigkeit festhält, dass dieser Ausdruck „in der Tat nichts sagen [würde], wenn hier unter der Ewigkeit eine ins Unendliche fortgehende Zeit verstanden werden sollte“ (VIII 327). Allerdings dürfen wir den Begriff der Ewigkeit auch nicht „außer“ die Zeit stellen, da er nur als kritisches Korrektiv in Bezug auf eine verabsolutierte Zeitlichkeit Sinn macht.

14. ERTRÄGE UND GRENZEN DER KANTISCHEN ZEITBESTIMMUNGEN

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Bei Kant fungiert der Begriff der Ewigkeit als kritisches Korrektiv gegenüber einer rein immanenten Zeitlichkeit, in der es keinen Endzweck und damit auch keine praktische Selbstbestimmung des Menschen gäbe. Diesem zerfielen nicht nur die Begriffe Gott und Welt, sondern auch seine eigene Subjekthaftigkeit. Die Frage, die sich uns allerdings stellt, ist, ob sich nicht ein Begriff der Ewigkeit als bloßer Grenzbegriff zu verflüchtigen droht. Ist in einer diesbezüglichen Darstellung der Weg, den wir bei Heidegger sehen werden, vorprogrammiert, die Ewigkeit zu tilgen? Im Grunde genommen standen wir in der traditionellen Metaphysik vor dem Problem, dass die Zeit zugunsten der Ewigkeit sistiert wurde. Bei Kant dagegen gleicht letztere einem Schattengebilde – nicht zufällig spricht er in seiner Schrift „Das Ende aller Dinge“ von einem „grausigen Abgrund“ (VIII 327), zu dem uns dieser Begriff zu führen droht. In seinem großen Werk „Zeit und Erzählung“ weist P. Ricoeur darauf hin, dass unser Weltumgang zwischen den Polen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont aufgespannt ist56, wobei ein Schisma zwischen beiden auch einen Zusammenbruch des Weltverhältnisses bedeutet. Es wird also kritisch anzufragen sein, ob bei Kant der Erfahrungsraum der Ewigkeit, wie wir ihn in einer Dialektik der Zeit verorten wollen, adäquat zur Sprache kommt. Systematisch wird darüber nachzudenken sein, ob nicht die bei Kant auseinanderfallenden Synthesen und Vermögen eine neue und vertiefte Dimension erhalten, wenn sie, wie dies bei Hegel der Fall ist, vor dem Hintergrund einer Subjekt-Subjekt-Objekt-Relation bedacht werden („Phänomenologie des Geistes“ als Genese der reflektierenden Urteilskraft bzw. Reflexion). Dabei wird die Geschichte – aber auch, wie sich bei Schelling zeigen wird, der Mythos – noch einmal in ihrem (bzw. seinem) vollen Gewicht zu betrachten sein. Bevor wir uns aber in die Bahnen Hegels begeben, wollen wir uns Heidegger zuwenden, konkret seinem frühen Hauptwerk „Sein und Zeit“. Auf Grund der hier vorgenommenen Sistierung der Ewigkeit ist dieses Denken nicht nur eine fundamentale Herausforderung heutiger Theologie, sondern auch Prüfstein, ob eine Dialektik von Zeit und Ewigkeit (und damit Christentum) denkerisch verantwortet werden kann.

56

Vgl. P. Ricoeur, Zeit und Erzählung, III 348.

V. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER ENDLICHKEIT IN HEIDEGGERS „SEIN UND ZEIT“

1. Ein wichtiger Aspekt aus der Vorlesung „Der Begriff der Zeit“ Bereits einige Jahre vor seinem frühen Hauptwerk „Sein und Zeit“ hat Heidegger vor der „Marburger Theologenschaft“ eine bereits am Eingang unserer Arbeit zitierte Vorlesung mit dem Titel „Der Begriff der Zeit“ gehalten. Sie enthält folgenden Satz: „[wenn] die Zeit ihren Sinn findet in der Ewigkeit, dann muß sie von daher verstanden werden“1. Heidegger betont dabei, dass die Ewigkeit eingebettet sein müsse in die gläubige Nachfrage an Gott, weshalb sie für den Philosophen nicht zugänglich sei. Außer dieser bemerkenswerten Feststellung enthält der Vortrag sehr vieles an Vorarbeiten zum berühmten Hauptwerk. So kommen unter anderem die Begriffe des Daseins, der Jemeinigkeit, der Eigentlichkeit und andere wichtige Bestimmungen hier bereits vor. Wir wollen allerdings diese Arbeit nicht im Detail interpretieren, sondern uns im Folgenden einen Aspekt, der sich in ihr in besonders schöner Klarheit zum Ausdruck bringt, nämlich den Aspekt der „Zeitlichkeit der Zeit“2 näher ansehen, um anschließend mit der Lektüre einiger ausgewählter Kapitel aus Heideggers Hauptwerk „Sein und Zeit“ fortzusetzen.

2. Die Zeitlichkeit der Zeit Heidegger führt den für den Vortrag „Der Begriff der Zeit“ zentralen Gedanken einer „Zeitlichkeit der Zeit“ folgendermaßen aus: Das Dasein ist immer in einer Weise seines möglichen Zeitlichseins. Das Dasein ist die Zeit, die Zeit ist zeitlich. Das Dasein ist nicht die Zeit, sondern die Zeitlichkeit. Die Grundaussage: die Zeit ist zeitlich, ist daher die eigentlichste Bestimmung – und sie ist keine Tautologie, weil das Sein der Zeitlichkeit ungleiche Wirklichkeit bedeutet. Das Dasein ist sein Vorbei, ist seine Möglichkeit im Vorlaufen zu diesem Vorbei. In diesem Vorlaufen bin ich die Zeit eigentlich, habe

1 2

M. Heidegger, Der Begriff der Zeit 5. M. Heidegger, Der Begriff der Zeit 26.

2. DIE ZEITLICHKEIT DER ZEIT

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ich Zeit. Sofern die Zeit je meinige ist, gibt es viele Zeiten. Die Zeit ist sinnlos. Zeit ist zeitlich.3

Heidegger führt in dieser Schrift einen Gedanken genuin weiter, der uns bereits bei Kant begegnet ist, nämlich den einer zeitlichen Spannung der Zeit. Während sich allerdings beim großen Königsberger Philosophen diese Spannung aus der Spannung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, zwischen Zeit und Ewigkeit ergab, nimmt hier Heidegger eine radikale Wendung vor, indem er die Spannung in die Zeit selber verlegt. Hierin manifestiert sich bereits die sich bei Heidegger durchziehende und später von Derrida und anderen aufgenommene Kritik einer Seinsauslegung als Parusia4, als Anwesenheit, als „Metaphysik der Präsenz“. In dem vorliegenden Vortrag spricht Heidegger demgemäß davon, dass die Zeit nicht als Gegenwartszeit im Sinne einer Folge von homogenen Jetztpunkten verstanden werden darf. Dies impliziert, dass die Zeit nicht aus dem spannungslosen Gegenwärtigsein in der Jeweiligkeit des Augenblicks verstanden werden darf, sondern vom „Vorlaufen“ des Daseins her. Wir wollen an dieser Stelle noch nicht auf den Begriff des Daseins näher eingehen, den Heidegger bereits in diesem Vortrag für das Sein des Menschen gebraucht, allerdings kann hier bereits angedeutet werden, dass sich dieser Terminus für Heidegger im Anschluss an den kantischen Paralogismus ergibt. Es ist kein substantiiertes Subjekt als Grundlage „gegeben“, d.h. kein Subjekt als Monade, weiters auch keine sich selbst setzende und darin zu absoluter Präsenz gelangende Vernunft, sondern nur dies – Sein im Da, Dasein als Vorlaufen.

Wir können dies auch so verstehen, dass Heidegger hier das Augenmerk darauf legt, dass „ich“ mir immer schon vorweg bin, dass ich in eine Ausständigkeit gehalten bin, die jede absolute Selbstverfügung und Selbstpräsenz grundsätzlich sprengt. Heidegger deutet in diesem Vortrag bereits den Tod als den Horizont dieses Vorlaufens an, als die „äußerste Möglichkeit“5, in der das Dasein es selbst ist oder wie Heidegger es prägnant zum Ausdruck bringt: „den Anderen bin ich nie“.6 Dass Heidegger in dieser Formulierung den Akkusativ verwendet, muss wohl als äußerst geglückt bezeichnet werden. Denn gerade die nachkantische Philosophie hatte das Ich als Vollzug (Fichte etwa als Tathandlung) interpretiert. Dieser Vollzug bringt sich bei Heidegger gerade in diesem Fall zum Ausdruck. Damit ist also auch ausgesagt: Gerade im Sein-zum-Tod (und nicht im sich selbst setzenden Ich) vollziehe ich mich selbst. In diesem Zusammenhang ergibt sich auch die spezifische Bedeutung, die Heidegger dem Tod zumisst. Einerseits ist er der Markierungspunkt unabweislicher 3 4 5 6

M. Heidegger, Der Begriff der Zeit 26. Vgl. etwa M. Heidegger, SuZ 25. Zu J. Derridas Aufnahme und Weiterführung dieser Kritik siehe J. Derrida, Ousia und Grammé. M. Heidegger, Der Begriff der Zeit 16. M. Heidegger, Der Begriff der Zeit 16.

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V. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER ENDLICHKEIT IN HEIDEGGERS „SEIN UND ZEIT“

Endlichkeit als Voraussetzung dafür, dass das Sein nicht absolute Selbstgegebenheit in der Parusia ist, andererseits ist aber der Tod das unhintergebare Moment der Individuierung. Bei Kant, der es sich im Paralogismus verboten hatte, von einem Ich als höchster Substanz zu sprechen, war dieses Moment die praktische Vernunft. Indem Heidegger nun deren Dialektik ausschaltet, ist es auch notwendig, ein anderes Moment solcher Individuierung anzugeben. Dafür bietet sich für ihn der Tod an, gerade insofern er die absolute Schranke des Daseins, die dieses auf sich selbst zurückwirft, markiert.

Trotzdem tritt der Tod in diesem Vortrag noch nicht in die zentrale Stellung von „Sein und Zeit“ ein. Vielmehr liegt, und dies macht wohl den Eigenwert dieses Vortrags aus, der Schwerpunkt auf der Zukünftigkeit als solcher. Diese ist nicht das Weiterschreiben einer Gegenwart, sondern, wie wir in der eingangs zitierten Textpassage bereits gelesen haben, die „ungleiche Wirklichkeit“ der Zeit und damit deren Temporalisierung. Sie ist so nicht im „Was“ erschließbar, sondern nur im „Wie“, im Entwurf vorlaufender Existenz auf die je eigene Möglichkeit hin – als deren Horizont sich allerdings bereits in dieser Schrift der Tod meldet –, damit aber die jeder räumlich-homogenen Erstreckung enthobene Spannung der Zeit selber. Insofern ist das Dasein nicht anwesende Selbstgegebenheit, sondern Zeitlichkeit.

3. Von der Monade zum Dasein Die Grundgedanken, die Heidegger in dem Vortrag in Marburg formuliert hat, ziehen sich auch durch sein frühes Hauptwerk „Sein und Zeit“. Dabei erklärt er gleich am Beginn dieses Werkes als dessen Ziel, als „Sinn des Seins desjenigen Seienden, das wir Dasein nennen, die Zeitlichkeit aufzuweisen“ (SuZ 17). Einen deutlichen Hinweis auf sein Verständnis dieses Daseins gibt er uns im zweiten Kapitel des ersten Abschnittes von „Sein und Zeit“, das programmatisch mit der Überschrift „Das In-der-Welt-sein überhaupt als Grundverfassung des Daseins“ versehen ist. Wir können an dieser Stelle nicht die einzelnen Resultate, die sich aus dieser Grundbestimmung Heideggers ergeben und von diesem in herausragender Art und Weise entwickelt werden, nachzeichnen, wollen allerdings doch auf eine Grundüberlegung Heideggers hinweisen, nämlich den ontologischen Primat der Endlichkeit und damit der Zeitlichkeit gegenüber der Ewigkeit. Dabei ist zunächst auf den Begriff des Daseins und seine (inhaltliche) Genese selbst zu verweisen. Einerseits kommt, wie erwähnt, der kantische Paralogismus mit seinem Aufweis des transzendentalen Scheins ontologischer Subjektbestimmungen in den Blick, womit eine erste Erklärung dafür gegeben ist, warum Heidegger den Begriff des Subjekts vermeidet, andererseits die

3. VON DER MONADE ZUM DASEIN

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leibnizsche Monade. Man braucht wohl nicht so weit zu gehen wie B. Liebrucks, der im Zusammenhang der Kommentierung eines der Schlüsselkapitel aus Hegels PhdG, nämlich von „Kraft und Verstand“, meint, dass Heidegger mit dem Begriff des Daseins nur den „alten leibnizschen Gedanken umfrisiert, ohne ihm doch etwas Neues hinzuzufügen“7, allerdings soll durchaus auf die Parallelität und den bezeichnenden Unterschied zwischen dem Begriff des Daseins und dem der Monade hingewiesen werden. Denn in der Tat erinnert die zentrale heideggersche Bestimmung des Daseins als In-der-Welt-Sein – oder man könnte auch sagen: Sein im Da – an die Monade, wobei allerdings die ihr eigentümliche Spannung von Kraftpunkt und Kraftäußerung, von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Ewigkeit und Zeitlichkeit gestrichen ist. Vielmehr kann bei Heidegger das Dasein zunächst als die Monade, insofern sie in ihre Erscheinung getreten ist, interpretiert werden, wobei allerdings die Dimension der Monade als in sich unendlich vermittelter, ewiger „Kraftpunkt“ bzw. als Inneres, welches das Universum spiegelt, fehlt. Wir haben also sozusagen dieses „Innen“ nur in seiner endlichen Außenseite, welche nun bei Heidegger folgerichtig als In-der-Welt-Sein bestimmt wird, insofern die Welt zwar gewissermaßen jenen absoluten Horizont des monadischen Subjekts als Kraftpunkt bildet, aber nur, indem er als solcher niemals gegenständlich oder real werden kann bzw. die monadische Außenseite figurativ gesprochen gerade in ihrem Sich-Äußern umgreift – vergleichbar der Gedankenfigur Kants im Zusammenhang mit der Auflösung der Antinomien, wo er ja darauf hinweist, dass es keinen unendlichen Regressus vor aller Synthesis gibt, sondern dieser erst in ihr entsteht, ohne dass ihn die Synthesis einholen könnte. Oder anders gesagt: Bei Leibniz war die Monade das Subjekt-Objekt und als solches, insofern sie als „Inneres“ (Subjekt) angesprochen werden musste, ganz äußerlich als Spiegel einer Welt (Objekt), wobei Leibniz im Sinne der Einheit des Subjekts diese objektive Seite als durchgängige Bestimmtheit fasste, die ihrerseits wiederum durch den Gedanken einer vollständigen Kausalität dargestellt wurde. Heidegger macht nun in Anschluss an Kant den Schritt hin zu der Überlegung, dass es eine solche durchgängige Bestimmtheit und den damit verbundenen Gedanken eines absoluten (bzw. absolut determinierten) Horizonts gar nicht gibt. So findet sich in „Sein und Zeit“ die Aussage, dass „das Zuhandene der Umwelt [...] ja nicht vorhanden [ist] für einen dem Dasein enthobenen ewigen Betrachter, sondern begegnet in die umsichtig besorgende Alltäglichkeit des Daseins“ (SuZ 106). Diese umsichtige Besorgung des Zuhandenen (s.u.) bildet dabei sozusagen einen Verweisungszusammenhang, in dem uns die Welt als „Bewandtnisganzheit“ (SuZ 104) und damit in ihrer Weltlichkeit entgegentritt. D.h. es manifestiert sich auf diese Weise ein Beziehungsgefüge, in das der Mensch immer schon hineingestellt ist, ohne es auf irgendeine Weise – etwa im Sinne des zureichend begründeten monadischen Inneren – transzendieren zu können. Will man vor dem Hintergrund des hier Ausgeführten 7

B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, V 55.

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V. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER ENDLICHKEIT IN HEIDEGGERS „SEIN UND ZEIT“

den Zusammenhang von Dasein und Monade noch näher zum Ausdruck bringen, kann man daran erinnern, dass die Monade je ihre Ereignisse IST. Verwehrt man sich nun den unendlichen Blickwinkel, den Leibniz noch meint einnehmen zu müssen, verbleibt man also in der Kontingenz der Ereignisse, ist jedes Ereignis immer schon ein In-Sein nur scheinbar in Bezug auf einen absoluten Horizont (im Sinne eines durchgängig bestimmten Daseinsganzen), weil es nämlich dessen Spezifikum ist, niemals gewesen zu sein, nicht zu sein und nicht werden zu können. Dagegen zeigt die Monade ihre Innenseite in ihrer Äußerlichkeit, die aber ihrerseits die Innenseite und darin ein ganzes Universum als Offenbarung der Liebe und Ewigkeit Gottes spiegelt. Bei Heidegger entfällt nun gerade jener unendlich vermittelte Einheits- und Spiegelpunkt als absoluter Horizont, womit nur mehr das Moment des In-Seins verbleibt und die Welt nicht in der zureichend begründeten Monade fassbar wird, sondern nur im Verweisungszusammenhang je kontingenter Zuhandenheit. Im Übrigen ergibt sich aus dem Gesagten auch ein Schlüssel für wichtige heideggersche Gedankengänge in Bezug auf die Raumzeitlichkeit. So spricht Heidegger davon, dass der „Raum weder im Subjekt [ist], noch die Welt im Raum“ (SuZ 111). Vielmehr ist der Raum „ der Welt, sofern das für das Dasein konstitutive In-der-Welt-sein Raum erschlossen hat“ (ebd.). Aus diesem Grund ist „das ontologisch wohlverstandene , das Dasein, [...] in einem ursprünglichen Sinn räumlich“ (ebd.). Die Parallele und der Unterschied zu Leibniz drängen sich auch in diesen Sätzen auf: Natürlich sind bei Leibniz nicht die Zeit oder der Raum „im“ Subjekt, sondern dessen endliche Seite, insofern Raum und Zeit die Ordnungsstrukturen der Perzeptionen ausmachen, d.h. sich jede Monade auf bestimmte Weise in ihren Perzeptionen verräumlicht und verzeitlicht. Der Unterschied zu Heidegger besteht allerdings darin, dass bei Leibniz die Monade nur raumzeitlich (in ihren Perzeptionen) ist, insofern sie gleichzeitig von Gott gesetztes, als Spiegel des Universums unendliches und ewiges Subjekt ist. Was hier größte Bedeutung für die Theologie hat, ist die Tatsache, dass Heidegger damit den Gedanken eines Gottes, der die Welt sozusagen von außen bestimmt, verabschiedet. Man kann also gerade in Bezug auf das Zeitproblem pointiert formulieren, dass in diesen Sätzen insofern ein unabweislicher Ertrag der heideggerschen Überlegungen aufleuchtet, als hier ein Gottesbegriff kritisiert wird, der Gott in die Rolle eines „exterritorialen“ Marionettenspielers drängt, oder wollte man ein zeitgemäßeres Bild verwenden, der in Gott den absoluten Betrachter einer Welt versteht, die nichts anderes ist als ein je nach weltanschaulicher Disposition endlicher oder unendlicher Videofilm. Bevor wir unsere Ausführungen fortsetzen, stehen wir noch vor der Aufgabe, die bereits angesprochene Zuhandenheit kurz zu streifen. Sie bedeutet bei Heidegger „die Seinsart von Zeug [also im Besorgen begegnendes Seiendes, z.B. der Hammer], in der es sich von ihm selbst her offenbart“ (SuZ 69) und ist die fundamentalere Weise der Bestimmung von Seiendem als dessen bloße Vorhandenheit. So schreibt er: „Zuhandenheit ist die ontologisch-kategoriale

4. SYNTHESIS UND DASEIN

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Bestimmung von Seiendem, wie es ist.“ (SuZ 71) Man kann dabei festhalten, dass gerade die Vorhandenheit, die, wie Heidegger richtig sieht, immer bereits Konsequenz der „Störung“ eines ursprünglicheren Verweisungszusammenhanges von welthaft Begegnendem ist – so wird der Hammer als vorhanden erfahren, wenn er kaputt ist –, immer das Ideal einer Beherrschbarkeit und (durchgängigen) Bestimmbarkeit mit sich führt. Hingegen ist die Zuhandenheit Ausdruck eines Verweisungszusammenhanges, der keinen äußeren, objektivierenden Blick erlaubt, d.h. sie ist das Äquivalent des In-derWelt-Seins, insofern „Welt“ nicht ein unendlich vermitteltes „vorhandenes“ Seiendes darstellt, sondern der Ausdruck eines solchen Verweisungszusammenhangs ist oder wie Heidegger schreibt: „Das Worin des sichverweisenden Verstehens als Woraufhin des Begegnenlassens von Seiendem in der Seinsart der Bewandtnis ist das Phänomen der Welt. Und die Struktur dessen, woraufhin das Dasein sich verweist, ist das, was die Weltlichkeit der Welt ausmacht.“ (SuZ 86). Heidegger arbeitet in diesem Kontext sehr schön die Differenz zwischen der Positivität einer Vorhandenheit, die als solche äußerlich bestimmt werden muss, auf der einen Seite und den Verweisungszusammenhang des Zuhandenen auf der anderen Seite heraus. „Das Sein des Zuhandenen hat die Struktur der Verweisung“ (SuZ 83), bringt es Heidegger dementsprechend auf den Punkt, wobei er diese Verweisungsstruktur unter dem Titel Bewandtnis zusammenfasst, die jedem einzelnen Zeug, d.h. dem konkret Zuhandenen vorausliegt, insofern der Mensch sich immer schon in solchen Verweisungsketten orientiert hat und daraus dann das „Worin“ des sichverweisenden Verstehens entsteht. Damit ist aber bereits ein zweites Grundmoment der Weltlichkeit gegeben, das uns dann noch in der Besprechung der Sorge begegnen wird und das auch das spätere Werk Heideggers durchzieht, nämlich die Erschlossenheit des Daseins. Dieses ist als In-der-Welt-Sein nicht nachträglich und äußerlich bei vorhandenen Dingen, sondern als solches bereits erschlossene Welt oder man könnte auch sagen, dass sich gerade aus diesem In-der-Welt-Sein ein Verweisungszusammenhang immer schon erschlossen hat, der uns das Seiende als Zuhandenes und nicht als vorhandenes Ding in den Blick treten lässt. Auch hier lässt sich der enge Bezug zwischen Leibniz und Heidegger feststellen, denn die Monade ist nicht in sich verschlossen, sondern in ihren Perzeptionen immer schon in einem Gefüge (prästabilisierte Harmonie), das sie gerade in ihrer Monadizität konstituiert.

4. Synthesis und Dasein Wir können als Ergebnis des bisher Ausgeführten festhalten, dass Heidegger das Sein des Menschen als Dasein bezeichnet und dieses charakterisiert ist

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V. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER ENDLICHKEIT IN HEIDEGGERS „SEIN UND ZEIT“

durch sein In-der-Welt-sein. Das bedeutet nicht, dass das Sein des Menschen sich in einem wie auch immer gearteten Raumbehälter vollzieht, vielmehr wird die für das Dasein charakteristische Weltbegegnung im Unterschied zur leibnizschen Monade im Modus der Endlichkeit zum Ausdruck gebracht. Dabei ist es Kant, der eine solche Verendlichung vorgedacht hat. So haben wir gesehen, dass dieser sich durch seine Kritik am Monadenbegriff veranlasst gesehen hat, die Welt von der Synthesis des „Ich denke“ her zu bestimmen, wobei es die Zeit war, die dieser Synthesis ihr Gepräge gegeben hat. Allerdings verwehrt sich Heidegger dagegen, diese Synthesis als Ausgangspunkt zu nehmen. Vielmehr versucht er sie in dem In-der-Welt-Sein des Daseins zu fundieren und nicht umgekehrt dieses in einer vorgelagerten Synthesis. Zunächst ist dabei daran zu erinnern, dass durch die Bestimmung des Daseins als In-derWelt-Sein nicht das Problem auftreten kann, wie ein Subjekt zu seiner Welt kommt, vielmehr gründet „das Erkennen selbst vorgängig [...] in einem Schon-sein-bei-der-Welt [in welchem Heidegger dann das Moment der Faktizität des Daseins herausarbeiten wird], als welches das Sein von Dasein wesenhaft konstituiert“ (SuZ 61). D.h. es muss jede Vorstellung verlassen werden, die ein Subjekt äußerlich zu einer Objektwelt hinzutreten lässt. Heidegger verdeutlicht dies folgendermaßen: „Im Sichrichten auf ... und Erfassen geht das Dasein nicht etwa erst aus seiner Innensphäre heraus, in die es zunächst verkapselt ist, sondern es ist seiner primären Seinsart nach immer schon „draußen“ bei einem begegnenden Seienden der je schon entdeckten Welt.“ (SuZ 62) Wir haben den Schlüssel für diese heideggersche Feststellung gegeben, indem wir auf die Kongruenz von Monadizität und Dasein hingewiesen haben, die darin besteht, dass das Innere der Monade durch seinen Weltbezug vermittelt war, ohne in einem nachträglichen Akt aus sich heraustreten zu müssen. Bei Heidegger gibt es zwar dieses Innere als Spiegel des Absoluten nicht mehr, aber dessen Vollzug in jeweiliger Weltbegegnung bleibt aufrecht. Weiters haben wir gesehen, dass sich gerade aus diesem In-der-Welt-Sein des Daseins die Welt als Verweisungszusammenhang konstituiert, der sich dem Dasein schon vorweg erschlossen hat, wenn es die Welt nicht als Vorhandenes erfährt, welches nachträglich bestimmt werden muss. Denn tatsächlich versteht es sich schon ursprünglich auf Welt und hat gerade darin die, wie Heidegger sagt, „Bewandtnis“ des innerweltlich begegnenden Seienden erfahren. In §32 von „Sein und Zeit“, betitelt „Verstehen und Auslegung“, weist Heidegger in diesem Zusammenhang dem Wort „als“ eine Schlüsselrolle zu (SuZ 149), insofern es diesen sich dem Dasein eröffnenden Verweisungszusammenhang auf prägnanteste Weise zum Ausdruck bringt. Heidegger versucht an dieses Wort anknüpfend darzulegen, dass die Urteilsform, wie sie Kant seinem Denken von der Synthesis zugrundelegt, nicht die ursprüngliche Weise der Welterschließung ausmacht (vgl. SuZ 159). Er macht darauf aufmerksam, dass die von Aristoteles aufgezeigte Grundstruktur des Urteils, nämlich etwas als etwas zu bestimmen, nicht im Sinne einer äußerlichen Synthesis dergestalt gefasst werden darf, dass verschiedene Elemente

4. SYNTHESIS UND DASEIN

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zusammengesetzt werden. Grundsätzlicher noch hält er fest, dass nicht das der Aristotelischen Urteilsstruktur korrespondierende apophantische „Als“ der Aussage – etwas wird in ihr als etwas ausgesagt – die Grundlage des Erkennens bildet, sondern dass der ursprüngliche Wissenshorizont im „existenzialhermeneutischen Als“ (SuZ 158) liegt, aus dem das apophatische abgeleitet werden muss. Das apophantische Als entspricht nämlich der Struktur des Vorhandenen, welche sich dann kundtut, wenn der bedeutungsgebende Logos als Vorhandenes isoliert wird, der in dieser Vorhandenheit Bedeutungselemente zusammenbindet und trennt. Das Entscheidende ist dabei, dass diese Verbindung nicht mehr die ursprüngliche Bewandtnisganzheit umgreift und diese so allenfalls nachträglich zu postulieren vermag. Dagegen weist das hermeneutische „Als“ auf die „umsichtige verstehende Auslegung“ (der Zuhandenheit als Zeug) (SuZ 158) hin, in der das Dasein das In-der-Welt-Sein realisiert. Heidegger sieht also nicht die apophantische Aussage als das Primäre des Erkennens an, sondern ist der Auffassung, dass diese in ihrem aufweisenden Charakter in einem grundlegenden Seinsverständnis, in einer grundlegenden Seinserschlossenheit gründet, ohne die wir niemals Orientierung in der Welt als Realisierung des In-der-Welt-Seins fänden. Es ist also nicht so, dass einer an sich stummen und bedeutungslosen Welt Information herausgerissen werden könnte: Erkenntnis ist auch nicht im kantischen Sinne als Welterstellung (Reflexion) zu deuten, wobei diese Welt erst in der praktischen Vernunft konkret realisiert werden könnte, sondern Heidegger lehnt sich vielmehr an Leibniz an in dem Gedanken, dass es ein grundlegendes und bedeutungserschließendes „Sein in“ und „Sein bei“ der Welt gibt. Auch das urteilende „Ich denke“ gründet dabei in diesem Weltbezug. Heidegger widmet der Auseinandersetzung mit Kant einen eigenen Paragraphen in „Sein und Zeit“, nämlich §64: „Sorge und Selbstheit“. Dort würdigt er die Tatsache, dass Kant die Rückführung des „Ich“ auf eine Substanz verneint und das „Ich“ im Sinne des „Ich denke“ versteht. Gleichzeitig kritisiert er, dass Kant das „Ich“ wieder als Subjekt verstünde und somit als die Selbigkeit eines Vorhandenen, wobei allerdings diese Kritik übersieht, dass Kant gerade die analytische Einheit von der synthetischen her auslegt. Tatsächlich dürfte Heidegger in seiner Schrift „Kant und das Problem der Metaphysik“ Kant bereits wesentlich differenzierter in den Blick genommen haben.

So großartig nun allerdings diese heideggerschen Analysen sind, darf doch damit ein Problem nicht aus dem Blick kommen, nämlich die Frage nach dem Daseinsganzen, welches das In-der-Welt-Sein dieses Daseins konstituiert.

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V. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER ENDLICHKEIT IN HEIDEGGERS „SEIN UND ZEIT“

5. Die Geschlossenheit der Monade, das Ganzsein des Daseins und die Möglichkeit von Welt Wir haben in unseren Ausführungen über Leibniz gesehen, dass die Problematik der Geschlossenheit der Monade oder, wenn man es in heideggersche Sprache transformiert, die Frage nach dem Daseinsganzen dazu geführt hat, dass er die Monade als in sich unendlich und darin vollständig bestimmtes Subjekt-Objekt gefasst hat, welche ihre Ganzheit der zureichenden Begründung in der Liebe Gottes verdankt. Damit ist die Aussage möglich, dass die Zeit bei Leibniz nicht ein Sich-Verlaufen darstellt, sondern in sich und d.h. in der Liebe Gottes geschlossen und daher sinnvoll ist. Im Gefolge Kants konnte auf Grund der Antinomien und des Paralogismus das Daseinsganze nicht mehr in einem in sich vollständig, d.h. in der Liebe Gottes vermittelten SubjektObjekt gefunden werden, sondern es war die Freiheit in praktischer Absicht (der gesetzmäßige Wille) und der in ihr sich kundmachende Zweckbegriff, der uns vor ein Ganzes des Daseins, wenn auch allein praktisch erschwinglich, stellte. Bei Heidegger haben wir gesehen, dass ein solcher Beschluss des Menschen weder in der durchgängigen Bestimmtheit, die Leibniz veranschlagt, liegen kann noch in der Selbstbestimmung des Willens gemäß dem moralischen Gesetz. Man könnte sich die Frage stellen, ob damit jede Form einer Geschlossenheit des Daseins bzw. der Monade verabschiedet ist. Allerdings wäre damit, wie uns Leibniz aufgezeigt hat, sowohl jede Form innerer Einheit als auch Weltlichkeit verunmöglicht. Heidegger, der diese Konsequenz, in deren Richtung Nietzsche tendiert, gerade um des In-der-Welt-Seins und der Erschlossenheit von Welt willen nicht ziehen will, steht daher vor der Aufgabe, eine solche „ursprüngliche Seinsganzheit des Daseins“ zu finden – von ihm als Sorge bestimmt –, die sich, wie wir vorwegnehmen können, erst durch das Phänomen des Todes eröffnet.

6. Furcht, Angst und der Primat der Heimatlosigkeit Er steht dabei vor der Herausforderung, das Daseinsganze als Bedingung der Möglichkeit des In-der-Welt-Seins aufzufinden, wobei er allerdings die von ihm angesetzte unabweisliche Endlichkeit dieses Daseins nicht sistieren will. Man kann sagen, dass Heidegger also vor die Aufgabe gestellt ist, eine innere Geschlossenheit der Zeit darzulegen, um das Dasein nicht im wahrsten Sinne des Wortes in kontingente Zeitmomente zu zerbrechen, ohne aber den Weg in eine diese Geschlossenheit tragende Ewigkeit beschreiten zu können.

6. FURCHT, ANGST UND DER PRIMAT DER HEIMATLOSIGKEIT

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Dazu arbeitet er zunächst die Bestimmungen der Daseinsfurcht und der Daseinsangst aus, um diese Problematik besser in den Blick bekommen zu können, wobei sich in diesem Zusammenhang wohl auch die viel kritisierte Entgegenstellung des Verfallens auf der einen Seite und der Eigentlichkeit auf der anderen lichten wird. In Bezug auf die Zeitbestimmung ist dies deshalb bedeutsam, weil das Verfallen gerade den Charakter eines Sich-Verlierens an den je kontingenten Augenblick oder besser gesagt eines Sich-Verlierens an die Zeit als chronologischen Zeitstrom bezeichnet, womit die gesuchte Geschlossenheit bzw. das Daseinsganze, damit aber auch eine in sich erfüllte Zeit nicht mehr „erschwinglich“ ist. Heidegger schreibt: „Der Titel [d.h. das Verfallen], der keine negative Bewertung ausdrückt, soll bedeuten: das Dasein ist zunächst und zumeist bei der besorgten „Welt“. Dieses Aufgehen bei ... hat meist den Charakter des Verlorenseins in die Öffentlichkeit des Man. Das Dasein ist von ihm selbst als eigentlichem Selbstseinkönnen zunächst immer schon abgefallen und an die „Welt“ verfallen.“ (SuZ 175). Wie auch immer sich dieses Verfallen an das Man konkret ausdrückt, wird man es doch zunächst primär dahingehend konkretisieren können, dass es nicht zu dem gesuchten Daseinsganzen führt und damit auch die genuine Struktur einer erfüllten, und dies wird bedeuten ek-statischen Zeit verfehlt, sondern in die Jeweiligkeit des begegnenden Geschehens verfällt. Wir wären also in diesem Modus des Seins in eine Seinsweise gestellt, die in sich, wie Heidegger an späterer Stelle aufzeigt8, den Primat einer qualitätslosen und das heißt allemal nicht zu einer inneren Fülle gelangenden Gegenwärtigkeit mit sich führte. Um eine solche Seinsweise überwinden zu können, ohne doch deren Momentcharakter zu verkennen – das Verfallen ist tatsächlich unabweislich in Bezug auf das Dasein, weil der Mensch sich immer auch verliert und verlieren darf an die Zeit –, versucht Heidegger daher, Furcht und Angst, wie in der Einleitung bereits angedeutet, als zwei entscheidende Weltumgangsweisen herauszuarbeiten. Die Furcht als Korrelat des Verfallens ist nämlich Resultat eines Sich-Aufhaltens in einem bestimmten Seinsbereich und damit jene von Heidegger gesuchte Daseinsganzheit verfehlend, während die Angst uns mitten in diese und damit in die Eigentlichkeit hineinführt. Heidegger schreibt: Das Wovor der Angst ist das In-der-Welt-sein als solches. [...] Das Wovor der Angst ist kein innerweltliches Seiendes. [...] Wenn sich demnach als das Wovor der Angst das Nichts, das heißt die Welt als solche herausstellt, dann besagt das: wovor die Angst sich ängstet, ist das In-der-Welt-sein selbst. [...] Sie wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstet, sein eigentliches In-der-Weltsein-können. Die Angst vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes In-der-Weltsein.“9

8 9

Vgl. etwa M. Heidegger, SuZ, §81: Die Innerzeitigkeit und die Genese des vulgären Zeitbegriffs. M. Heidegger, SuZ 226f.

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V. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER ENDLICHKEIT IN HEIDEGGERS „SEIN UND ZEIT“

Wenn man so will, kann man sagen, dass es in der Angst sozusagen ums „Ganze“ geht, und damit nicht um einen bestimmten Seinsbereich, weshalb Heidegger hier vom „Nichts“ als Wovor der Angst sprechen kann. In der Angst steht der Mensch vor der Möglichkeit (und man müsste wohl auch ergänzen: Unmöglichkeit) seines In-der-Welt-sein-Könnens, in ihr geht es daher um den Seinssinn überhaupt, den ja bereits Leibniz mit seiner Grundfrage „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ mit der Möglichkeit eines Daseinsganzen verbunden hat. Dies deshalb, weil allein in dieser Möglichkeit des Ganzen ein Sinngefüge als Zentrum und innere Einheit des Daseins liegt, in welcher der je kontingente Augenblick und das heißt letztlich der Zeitfluss überhaupt transzendiert zu werden vermag. Heidegger schließt in seinen weiteren Überlegungen noch eine sehr wichtige Bemerkung an, wenn er sagt: „Das beruhigt-vertraute In-der-Welt-sein ist ein Modus der Unheimlichkeit des Daseins, nicht umgekehrt. Das Un-zuhause muß existentialontologisch als das ursprünglichere Phänomen begriffen werden.“ (SuZ 189). Hier ist das Augenmerk darauf gelegt, dass der Mensch, gerade indem er vor das Daseinsganze gebracht ist, sich niemals in begegnendem Seienden und das heißt letztlich in der Zeit, vorgestellt als Präsenz, überhaupt beheimaten kann. Natürlich kann er sich an je hereinströmende Augenblicke vergeben (Verfallen), damit verfehlt er aber seine geistige Bestimmung oder in heideggersche Termini umgewandelt: die Eigentlichkeit des Daseins. Besonders bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die Nähe und Differenz zu traditionellen Positionen. Die traditionelle Metaphysik legte das Augenmerk darauf, dass der Mensch erst in der absoluten Transzendenz Beheimatung findet, also nicht in der Kontingenz der Weltzeit, womit sich eine massive Parallele zu Heidegger auftut. Der bezeichnende Unterschied liegt allerdings darin, dass es für Heidegger gerade darum geht, in dieser Nichtbeheimatung das auch gegenüber jeder Transzendenz ursprünglichere Phänomen zu sehen, wobei diese Unheim-lichkeit so etwas wie eine Transzendenz von innen bildet. Der Mensch ist in dieser sich jeder absoluten Präsenz entziehenden Nichtbeheimatung, die bei Heidegger als Tod ihren eigentlichen Niederschlag findet, vor das Ganze des Daseins gebracht, d.h. in der Endlichkeit findet ein Umschlag in eine Transzendenz statt, die aber niemals ein Jenseits, einen Transitus mit sich führen kann. Wir können an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es bereits Kant war, der das Daseinsganze im Anderen als Zweck, der zugleich Pflicht ist, verortet hat. Obwohl, wie wir sehen werden, Heidegger im Bedenken der von ihm erkannten Unheimlichkeit eine Kategorie hätte, um den Grundstein für eine Ethik zu legen – wie sie etwa M. Cacciari10 und H.D. Bahr11 auf verschiedene Weisen sehr schön herausarbeiten, wenn sie darauf hinweisen, dass sich gerade aus dieser Endlichkeit eine Ethik der Gastlich10 11

Vgl. M. Cacciari, L´invenzione del individuo. Vgl. H.-D. Bahr, Den Tod denken; ders., Die Sprache.des Gastes.

7. DIE SORGESTRUKTUR DES DASEINS

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keit ergibt, die jede sich beheimatende Abgrenzung gegenüber dem Anderen verwehrt –, begibt er sich, wie ja auch Levinas immer wieder kritisch beanstandet hat, dieser Möglichkeit, indem ihm der (je eigene) Tod zur absoluten Grenze und Ausprägung dieser Unheimlichkeit wird.

Der Zeitsinn kann sich deshalb bei Heidegger niemals in einer angstfreien, d.h. die Endlichkeit überblendenden Ewigkeit manifestieren und das Daseinsganze, dessen Sinn die Zeit sein soll, greift dementsprechend nicht über das In-der-Welt-sein hinaus, sondern muss in diesem gefunden werden. Dazu versucht Heidegger, die Sorgestruktur des Daseins herauszuarbeiten.

7. Die Sorgestruktur des Daseins Heidegger leitet aus der Angst als dem Ort, sich des Daseinsganzen bewusst zu werden, dessen Sorgestruktur ab. Dabei differenziert er drei Elemente, die nicht willkürlich gewählt, deshalb auch nicht einfach im Sinne einer Aneinanderreihung zu verstehen sind, sondern in ihrer Einheit das Ganze des Daseins und, insofern dieses zeitlich ist, auch das Ganze der Zeitstruktur ausmachen. Zunächst zeichnet er, wie schon angedeutet, aus dem „Worum“ der Angst das In-der-Welt-sein-Können nach, welches sich dahingehend konkretisiert, dass das Dasein sich auf sein eigentliches Seinkönnen zu entwerfen hat. Bestimmter gesagt bedeutet dies, dass dieses Können kein vorgegebenes, umgrenztes Vermögen bezeichnet, sondern sich darin manifestiert, dass das Dasein schon immer über je Begegnendes hinaus ist. Wie also die apperzipierende Monade auf Grund ihres Reflexionsvermögens vor das Ganze des Daseins gebracht ist, wird auch das Dasein durch das Vermögen der Angst nicht mit einem spezifischen Seinsbereich, sondern mit dem Sinn von Sein und damit mit dem In-der-Welt-Sein überhaupt konfrontiert. Dieses ist ihm dabei nicht im Sinne eines positiv Vorhandenen vorgegeben, sondern zeigt sich negativ gegenüber jeder positiven (verfallenden) Bestimmung. Die Angst ist also die Erfahrung des Hinter-sich-Lassen-Könnens(Müssens) des innerweltlich Seienden und darin der Rückbezug auf das eigene Seinkönnen, das sich bei Heidegger nicht als Sprung in die Unendlichkeit des Ewigen erweist, sondern als Übernahme der durch den Tod markierten Endlichkeit, die die Bedeutung des In-der-Welt-Seins ausmacht. Gerade darin erfährt aber das Dasein sowohl die Nichtigkeit des innerweltlich Seienden als auch die grundsätzliche Grenze jeder absoluten Selbstgegebenheit – ihm widerfährt sozusagen existenzial die Unmöglichkeit einer absoluten Vermittlung im Sinne des SubjektObjekt-Status der leibnizschen Monade –, weshalb es sich gewissermaßen in einem doppelten Sinne vorweg ist, nämlich dahingehend, dass es sich weder im innerweltlich Seienden noch in Selbstreflexion findet, sondern nur als die

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V. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER ENDLICHKEIT IN HEIDEGGERS „SEIN UND ZEIT“

alle (Selbst)Identifizierungen zurückgelassen habende Bewegung. Heidegger schreibt: „Das Sein zum eigensten Seinkönnen besagt aber ontologisch: das Dasein ist ihm selbst in seinem Sein je schon vorweg. Dasein ist immer schon „über sich hinaus“, nicht als Verhalten zu anderem Seienden, das es nicht ist, sondern als Sein zum Seinkönnen, das es selbst ist.“ (SuZ 191f.) Dieses Moment des Sich-vorweg-Seins bezeichnet Heidegger in der bei ihm üblichen fast wörtlichen Übertragung Existenz, wobei wir sehen werden, dass sich von diesem Moment der Sorge her eine spezifische Auffassungsweise der Ekstasis der Zukunft ergeben wird. Neben dem Moment der Existenz (Sich-vorweg) arbeitet Heidegger als zweites Moment die Faktizität heraus, insofern sich das Dasein in der Angst als in die Welt geworfen und diese nicht einfach zurücklassen könnend vorfindet. Die Faktizität ist auch dadurch unabweisliches Moment eines gesuchten Daseinsganzen für ein endliches Wesen, weil sich in ihr der untrennbare Bezug eines Seins in der Seinsart des Daseins mit der Welt manifestiert, weshalb das gesuchte Daseinsganze nicht „jenseits“ der Welt gefunden werden kann. Das dritte Moment der Sorge wird schließlich von Heidegger als Verfallen bestimmt, d.h. als jeweiliges Sich-Aufhalten des Daseins bei innerweltlich Zuhandenem. So ergibt sich für Heidegger als das Strukturganze des Daseins die Sorge, die sich in den Seinsmomenten der Existenz (Sich-Vorweg), der Faktizität (Schon-sein-in-der-Welt) und des Verfallens (Sein-Bei) kundtut. Für Heidegger folgen – neben von uns noch zu analysierenden zeitlichen auch entscheidende noetische und ontologische Bestimmungen aus diesen Strukturmomenten. So ergibt sich aus der Sorgestruktur die Erschlossenheit des Daseins. Der Mensch, oder mit Heidegger gesprochen: das Dasein, ist nicht als isoliertes Subjekt nachträglich bei den Dingen, sondern es ist das ursprüngliche Sein-Bei und damit Sich-Verstehen auf Welt, welches, wie wir gesehen haben, jeder Synthesis vorausliegt. Dies bedeutet nun aber nicht, dass der solcher Art in einem Seinsverständnis sich befindende Mensch mittels des Logos über seine Endlichkeit hinausreichen kann. Vielmehr ergibt sich gerade aus der Faktizität die Tatsache, dass der Mensch nie das absolut sich selbst setzende Wesen ist, sondern immer schon in diese Welt „geworfen“ wurde, d.h. dass seiner Verfügungsgewalt eine grundsätzliche Grenze eingeschrieben ist. Von daher fällt auch ein neues Licht auf die Antinomie des Anfangs. Diese Antinomie vermag Heidegger nämlich nun dahingehend „existenzial“ zu deuten, dass ein solcher Anfang dem Menschen immer entzogen bleiben muss, gerade insofern er geistiges Dasein ist und darin die Zeit nicht losgelöst von der Sorge als chronologisches Verstreichen mit einem ersten Anfang oder als sich in eine unendliche Vergangenheit ausspannende Linie verstehen kann. Anders gesagt: Der „absolute“ Ursprungsort des Menschen ist sein Geworfensein, seine Endlichkeit, die er niemals im Sinne absoluter „Anfangsorte“ hinter sich zu lassen vermag.

8. DAS GANZE DES DASEINS ALS ZEITIGUNG

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Mit der Nachzeichnung der Sorgestruktur sind wir nun in die Lage versetzt, die bereits eingangs angezeigte Frage nach dem Ganzen des Daseins im Sinne Heideggers in den Blick zu nehmen.

8. Das Ganze des Daseins als Zeitigung der durch den Tod markierten Endlichkeit Wir haben in unseren Ausführungen bereits aufgezeigt, dass für Heidegger Leibniz´ Weg, über eine unendlich vermittelte Monade zu einem Daseinsganzen zu gelangen, nicht gangbar ist. Auch gegenüber der praktischen Vernunft von Kant verankert Heidegger noch einmal das Moment der Endlichkeit, indem er die von uns aufgezeigte Spannung von Zeit und Ewigkeit, wie sie sich für Kant in praktischer Absicht ergab, sistiert. Dabei lässt sich wohl sagen, dass Heidegger sich nicht zuletzt deshalb dazu genötigt sah, weil er gegenüber Kant den Charakter des – wie wir sehen werden: zeitlich ex-sistierenden – Inder-Welt-Seins des Daseins, den er durch die kantische Reflexionsphilosophie unterlaufen sah, als die ursprünglichere Weise von dessen Sein betrachtete. Dies bedeutete, dass Heidegger, wenn er an einem Daseinsganzen und damit überhaupt an der Dignität von Freiheit, von menschlicher Existenz, v.a. aber von Zeit als nichtchronologischer, in sich erfüllter Zeit festhalten wollte, eine andere Bestimmung des Daseinsganzen vornehmen musste. Dabei haben wir als erste Spur einer solchen die Angst angezeigt. Als deren Konkretisierung und damit als das eigentliche Daseinsganze bestimmt Heidegger allerdings den Tod oder präziser gesagt, um den Tod nicht als mögliches Objekt misszuverstehen: das Sein zum Tode. Wir können dies so verstehen, dass die Angst des Daseins, insofern es sich vor dem und für das In-der-Welt-sein ängstigt, immer schon Todesangst war, wie umgekehrt sich der Tod gerade im Phänomen der Angst anzeigt12. Zunächst macht Heidegger dabei auf eine scheinbare Aporie aufmerksam: Wenn nämlich die Existenz, d.h. das Sich-Vorweg ein unabweisliches Moment des Daseins ausmacht, insofern das Dasein, wie im Phänomen der Angst ersichtlich, einerseits innerweltlich Begegnendes hinter sich gelassen hat, andererseits aber nicht einen Abschluss antizipieren kann, scheint es, als ob ein unabschließbarer Entwurfcharakter dieses Dasein bestimmte: Der Sorge, welche die Ganzheit des Strukturganzen des Daseins bildet, widerspricht offenbar ihrem ontologischen Sinn nach ein mögliches Ganzsein dieses Seienden. [...] Im Wesen der Grundverfassung des Daseins liegt demnach eine ständige Unabgeschlossenheit. [...] Solange das Dasein als Seiendes ist, hat es 12

Vgl. M. Heidegger, SuZ 251 und 265f.

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V. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER ENDLICHKEIT IN HEIDEGGERS „SEIN UND ZEIT“

seine „Gänze“ nie erreicht. Gewinnt es sie aber, dann wird der Gewinn zum Verlust des In-der-Welt-seins schlechthin.13

Der Tod ist damit in Bezug auf ein spezifisches Daseinsganzes, welches nicht einfach mit der Vorstellung einer Vollendung konnotiert werden darf, markiert. Denn zuerst ist darauf hinzuweisen, dass er für Heidegger gerade nicht – wie etwa bei Rahner oder auch anderen Theologen – als Abschluss gefasst werden kann, in dem Freiheit definitiv wird. Vielmehr ist für Heidegger der Tod die absolute Schranke des Daseins, welche niemals „positiv“ in den Blick kommen kann. Dem berühmten Diktum des deutschen Idealismus, nach dem das In-den-Blick-Nehmen einer Grenze auch deren Überschreitung bedeutet, entgegnete Heidegger, dass damit der Tod und mit ihm das Seiende zu einem bloß (objektivierbaren) Vorhandenen reduziert würde. Deshalb ist gerade in Bezug auf die „unvordenkliche“ Schranke des Todes das Noch-nicht für das Dasein konstitutiv14 und zwar nicht im Sinne der fortlaufenden Erwartung eines ausstehenden Endes, sondern im Sinne einer „Unganzheit“ dieses Daseins15, auf die wir bereits in unserer Nachzeichnung der Unheimlichkeit gestoßen waren und die sich daraus ergibt, dass der Tod nicht eine – figurativ gesprochen – Ummantelung des Lebens darstellt, welches durch ihn eine fest umrissene und definitive Gestalt bekäme, sondern einen unheimlichen (im Sinne von nicht zu verortenden, einzugliedernden) Ausstand darstellt. Auf alle Fälle markiert Heidegger in diesem Gedanken das grundsätzliche Moment der Endlichkeit, welches verbietet, auf einen absoluten Horizont auszugreifen. Die Schranke dieser Endlichkeit kann nicht im Tod hinter sich gelassen werden, weil der Tod nicht als das chronologische oder ontische Ende eines Seienden gefasst werden kann, wie Heidegger in aller Ausführlichkeit im ersten Kapitel des zweiten Abschnittes von „Sein und Zeit“ nachzeichnet. Daraus folgt, dass es für Heidegger schlechterdings keinen Überblick gibt, der die Schranke des Todes und eine sich jenseits derselben befindliche Seinsweise objektivierend in den Blick nehmen könnte. Heidegger wendet sich in diesem Zusammenhang auch gegen Denkhorizonte, die aus dieser Unganzheit des Daseins einen (eschatologischen) Ausstand folgern. Denn auch wenn am Dasein eine „ständige [ist], die mit dem Tod ihr Ende findet“ (SuZ 242), so darf das daraus resultierende „Noch-nicht“ nicht als „Ausstand“ interpretiert werden, weil „Ausstehen als Fehlen [...] in einer Zugehörigkeit [gründet]“ (ebd.). Mit dieser Bemerkung soll, nachdem die Vorstellung des sterblichen Menschen als „Vorhandenes“ abgewehrt ist, ein Verstehen des Daseins aus dem Zuhandenen, welches einen Verweisungszusammenhang der Zugehörigkeit (ein Zuhandenes weist in seiner Bedeutung auf ein anderes) bildet, abgewehrt werden. Denn der Tod entzieht sich, obwohl das Leben des Menschen durchschreitend, welches Sein zum Tode ist, als absolute Schranke jeder Form von 13 14 15

M. Heidegger, SuZ 236. Vgl. M. Heidegger, SuZ 243. Vgl. M. Heidegger, SuZ 242.

8. DAS GANZE DES DASEINS ALS ZEITIGUNG

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Zugehörigkeit. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass sich durch diese Schranke des Todes, die das Leben unabweislich als endliches markiert, nach Heidegger überhaupt erst die Möglichkeit einer Ex-sistenz des Daseins eröffnet, weil in dieser Markierung jede Form fixierbarer Zugehörigkeit überschritten wird. Die spezifische Möglichkeit des Daseins liegt also weder in der Erfüllung bestimmter Erwartungen – wie etwa die kantische Postulatenlehre (oberflächlich) ausgelegt wird –, denn eine solche schüfe wiederum eine festgeschriebene Identität, die gerade den Existenz- und Entwurfcharakter des Daseins, damit auch, wie wir sehen werden, den Primat der Zukunft, negierte, noch muss das Dasein im Sinne des Sisyphos-Mythos heroisch das Schicksal einer nie erfüllbaren Möglichkeit ertragen. Denn diese Gedankenfigur wäre nur die verkehrte Spiegelung des Erfüllungsgedankens. Bei Heidegger bezeichnet also der Tod kein Positivum, weshalb er auch nicht vom Tod als Daseinsganzen spricht, sondern vom „Tod als der eigensten Möglichkeit des Daseins“ (SuZ 263). Diese Möglichkeit wiederum ist nicht ein zeitliches Ende auf ontisch-chronologischer Ebene, sondern bringt sich existenzial als „Sein zum Tode“ zum Ausdruck. Anders gesagt: Der Tod ist nicht das letzte Zeitmoment in einer Zeitskala, „nach dem“ der Mensch vorbei oder in ein absolutes Nichts annihiliert ist. Man kann sich diesem Phänomen wiederum mit Hilfe leibnizscher Gedanken nähern. Bei Leibniz bezeichnete der Tod nicht ein Moment im Chronos, sondern das Ende aller Chronologie. Dasselbe gilt für Heidegger, allerdings mit dem charakteristischen Unterschied, dass jenes Ende nicht den Transitus in ein absolutes Sein bedeutet. Vielmehr ist damit das „Sein-zu“ einer Schranke bezeichnet, welche den Menschen nicht nur als „absolut-endliches“ Wesen kennzeichnet, sondern auch ein „Ich“ konstituiert, insofern der Tod, wie Heidegger betont, „eigenste Möglichkeit des Daseins“ ist (SuZ 262). Darin wird der Menschen in seiner Unbezüglichkeit als Einzelner beansprucht16 – ich kann nicht den Anderen sterben, der Andere stirbt nicht mich –, allerdings geht mit diesem Gedanken kein sich selbst setzendes Ich einher, sondern ein solches, welches im kantischen Sinne als „Begleiter“ oder, wie H.D. Bahr sagt, als „der Nämliche“17, fungiert. Mit diesen Ausführungen erhellt sich auch die Ablehnung Heideggers, den Tod aus dem Tod des Anderen zu interpretieren: Das entscheidende Moment des Todes ist nämlich, dass er dem Dasein die spezifische Individualität gibt, die nicht Selbstgegebenheit, sondern absolute Endlichkeit, Auf-sichZurückgeworfenheit und „Unbeheimatung“ des Daseins bezeichnet. Der eigene Tod legt so bei Heidegger gemäß dem alten Prinzip: „Individuum est ineffabile“ eine Individualität fest, die sich jeder absoluten Bestimmbarkeit im Sinne der alten Metaphysik entzieht, woraus dem Dasein eine grundsätzliche Offenheit zukommt, welche ihm bei Leibniz noch fehlte. 16 17

Vgl. M. Heidegger, SuZ 263. H.-D. Bahr, Den Tod denken 144. Wir werden nach dem Durchgang durch Hegel sehen, dass vielleicht der Ausdruck „Der Entsprechende“ vorzuziehen wäre.

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V. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER ENDLICHKEIT IN HEIDEGGERS „SEIN UND ZEIT“

Heidegger kann also deshalb den Tod nicht, wie von Levinas vorgeschlagen, als Tod des Anderen denken, weil damit gerade die absolute Endlichkeit und Auf-sich-Zurückgeworfenheit als Folge dieser Schranke, in der aber paradoxerweise der gesamte Gehalt der Individualität liegt, übersprungen würde. Natürlich kann und muss man sogar sagen, dass auch und gerade im Tod des Anderen ein Moment unabweislicher Unverfügbarkeit liegt, aber Heidegger kommt es darauf an zu zeigen, dass im „Sein zum (eigenen) Tode“ die grundsätzlichste Form von in radikale Unverfügbarkeit gestellter Individuierung und damit Endlichkeit statthat. Auch wenn bisher noch nicht auf die spezifischen Zeitekstasen eingegangen wurde, sind schon die bislang dargestellten Überlegungen Heideggers äußerst relevant für das Zeitproblem. Zuerst ergibt sich aus dem Gesagten, dass jede chronologische Sicht auf das menschliche Dasein zu kurz greift. Der Tod streicht nicht nur jede unendliche Vermittlung des Seins durch, sondern auch die Möglichkeit, Zeit als kontinuierliches Verstreichen aufzufassen. Entscheidend ist, dass das Dasein aufgrund der Faktizität weder einen chronologischen Anfang hat (sondern immer schon geworfen ist in die Welt) noch ein chronologisches Ende (weil es seinen Tod nie positiv ergreifen kann). Auch eine Zeit „zwischen“ Anfang und Ende ist dabei nicht räumlich ausspannbar, weil die Zeit als Zeit des Daseins, welches Vorlaufen auf den Tod ist, durch das SichVorweg dieses Daseins auf seine eigene Möglichkeit ursprünglich als Zukunft gekennzeichnet ist. Oder anders gesagt: Gerade weil durch das Phänomen des (eigenen) Todes, der sich als absolute Schranke jedem Wissen entzieht, ein äußerer, die Gesamtheit der Existenz des Daseins umfassender Blick verwehrt ist, eröffnet sich für dieses Dasein erst die Möglichkeit von Ex-sistenz (Freiheit, wobei Heidegger im Allgemeinen diesen sehr stark strapazierten Begriff, der meist auf Wahl- bzw. Handlungsfreiheit reduziert ist, vermeidet) und damit Zeit im Horizont der Zukunft. Das berühmte Diktum „Sein zum Tode“ bedeutet deshalb auch nicht, auf irgendein abschließendes Ereignis hinzuleben, sondern die Entschlossenheit zur bewussten Übernahme der aus dem Phänomen des Todes resultierenden Endlichkeit und damit Zeitlichkeit – Heidegger nennt dies die Eigentlichkeit – als ursprünglicher Möglichkeit des Daseins und damit das Entspringen von Zeit, die so in ihrer Gewichtung an die Stelle der metaphysischen Ewigkeit tritt. Aus diesen Überlegungen heraus kann man sagen, dass sich bei Heidegger das Daseinsganze nicht als statisch-räumliche Vorhandenheit einer ewig weiterlaufenden oder im nunc stans der Ewigkeit getilgten Zeit kundtut, sondern als Zeitigung der Endlichkeit des Daeins. Mit diesen Überlegungen sind wir nun dahin gehalten, den Zeitekstasen, wie sie Heidegger als Konsequenz der bisher dargestellten Überlegungen entwickelt – nicht zuletzt in ihrem Sinnpotential für das Dasein –, nachzudenken.

9. DIE ZEITEKSTASEN UND DER SINN VON SEIN

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9. Die Zeitekstasen und der Sinn von Sein Nach Heidegger bedeutet „Sinn“ das „Woraufhin des [...] Entwurfs, aus dem her etwas als das, was es ist, in seiner Möglichkeit [in seinem Seinkönnen] begriffen [verstanden] werden kann“ (SuZ 324). Dieses Woraufhin des Entworfenen, in unserem Zusammenhang also des Seins des Daseins, richtet sich dabei – insofern das Dasein als Sorge ausgelegt werden konnte – auf den Ermöglichungsgrund der „Konstitution des Seins als Sorge“ (ebd.), konkret auf den Ermöglichungsgrund der „Ganzheit des gegliederten Strukturganzen der Sorge“ (ebd.), wobei, wie Heidegger festhält, der in der Sorge aufzusuchende Seinssinn des Daseins „nicht ein freischwebendes Anderes und seiner selbst [ist], sondern das sich [auf sein Seinkönnen] verstehende Dasein selbst“ (SuZ 325). In diesen Überlegungen zielt Heidegger darauf, dass die Sinnfrage weder aus einem positiviert Vorhandenen (also einem bestimmten Seienden) verstanden werden kann noch sich aus einer dem Dasein äußeren Instanz herleiten lässt, denn beide Möglichkeiten wurden gerade durch die Überlegungen über das Sein-zum-Tode versperrt, insofern der Tod weder über die Schranke der Endlichkeit hinausblicken lässt noch eine zureichende Begründungsfigur im Sinne von Leibniz zulässt, deren unendliche Vermittlung er immer schon vorgängig durchgestrichen hat. Allerdings leitet Heidegger aus dieser Tatsache nicht die Sinnlosigkeit des Daseins und damit der Zeit ab, sondern sieht in dieser Endlichkeit auch ein spezifisches Sinnpotential. Denn gerade dadurch wird der Mensch erst frei für den zeitlichen Charakter seiner Existenz, d.h. er erfährt sein Dasein als wesentlich zukünftig. Heidegger schreibt: Das Entworfene des ursprünglich existenzialen Entwurfs der Existenz enthüllte sich als vorlaufende Entschlossenheit. Was ermöglicht dieses eigentliche Ganzsein des Daseins hinsichtlich der Einheit seines gegliederten Strukturganzen? Formal existenzial gefaßt, ohne jetzt ständig den vollen Strukturgehalt zu nennen, ist die vorlaufende Entschlossenheit das Sein zum eigensten ausgezeichneten Seinkönnen. Dergleichen ist nur so möglich, daß das Dasein überhaupt in seiner eigensten Möglichkeit auf sich zukommen kann und die Möglichkeit in diesem Sich-auf-sich-zukommenlassen als Möglichkeit aushält, das heißt existiert. Das die ausgezeichnete Möglichkeit aushaltende, in ihr sich auf sich Zukommen-lassen ist das ursprüngliche Phänomen der Zukunft.18

In dieser Entschlossenheit (zur Endlichkeit) und der darin sich eröffnenden Zukunft als Moment der Existenz ist allerdings, wie Heidegger betont, die „Übernahme der Geworfenheit“19 enthalten. Dabei ist noch einmal zu betonen, dass die durch den Tod markierte Schranke jedes Daseinsganze und damit auch jeden Blick von außen und die sich erst einem solchen Blick eröffnende 18 19

M. Heidegger, SuZ 325. M. Heidegger, SuZ 325.

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V. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER ENDLICHKEIT IN HEIDEGGERS „SEIN UND ZEIT“

Selbstverobjektivierung verunmöglicht. D.h. der Mensch kann sich weder als festumrissenes und d.h. auch zeitlich umgrenztes Objekt reflektieren noch als absolut vermitteltes Subjekt-Objekt, sondern er wird sich nur in seinem Seinzum-Tode gewahr. Gerade aber im Vorlaufen, von dem her erst ein Äquivalent zum Daseinsganzen im Sinne der leibnizschen Monade denkbar ist, manifestiert sich auch die, wie Heidegger sagt, Geworfenheit des Daseins (Faktizität) als unabweisliches Moment der Endlichkeit, denn das Dasein befindet sich in diesem Vorlaufen immer schon in dessen Sphäre, ist immer schon „verortet“ in der Welt, ohne sich als absoluter Selbstanfang setzen zu können. Der Mensch, der seine Endlichkeit im Sein-zum-Tode übernimmt, ist nicht Teil einer übergeordneten, objektivierbaren Zeit, „schafft“ auch nicht als unendlich vermitteltes Subjekt „die Zeit“ (zeitigt also nicht das Sein), sondern zeitigt sich im Sinne der Sorge als „Sich-vorweg“, womit das Moment der Zukunft eröffnet ist, als „Schon-sein-in“, worin sich das Moment der Gewesenheit oder Vergangenheit manifestiert, und schließlich als Sein-bei, indem er sich immer schon Seiendes ge(gen)wärtigt, d.h. sich immer schon bei der ihm unverfügbaren Welt aufhält. Von entscheidender Bedeutung für das Verständnis Heideggers ist es, die Bedeutung des Todes als Schranke wahrzunehmen, die jedes In-sich-beschlossen-Sein verunmöglicht. Wenn Levinas in seiner letzten – in vielerlei Hinsicht sowohl theologisch als auch philosophisch äußerst bedeutsamen – Vorlesung „Der Tod und die Zeit“ schreibt: „Das Sich-Vorweg-sein ist genau dieses Sein-zum-Tode (wenn das Sein zum Tode unterdrückt wird, wird gleichzeitig das Sich-vorweg-sein unterdrückt, und das Dasein bildet keine Ganzheit mehr). So also wird der Mensch in seiner Ganzheit gedacht, so ist das Dasein in jedem Augenblick vollständig: in seinem Bezug zum Tod“20, so liegt darin ein bezeichnendes Missverständnis, denn die Pointe Heideggers besteht darin, dass das Dasein niemals vollständig ist. Ich kann also nicht sagen, dass es gleichsam wie die leibnizsche Monade, nur unter Abzug der Unendlichkeit, aufzufassen und darin im Tode beschlossen ist. Sondern der eigentliche Kerngedanke Heideggers besteht darin, dass sich das Daseinsganze als Vorlaufen konstituiert. Katholischerseits liegt Rahner, der die Nichtselbstgegebenheit des Subjekts sehr schön in seinem „Grundkurs des Glaubens“ darstellt, auf derselben Linie wie die Interpretation durch Levinas, wenn er den Tod als Beschließung des menschlichen Lebens und damit Ermöglichung der Definitivwerdung menschlicher Freiheit versteht. Aus diesem Grund wird man feststellen müssen, dass Rahner gerade nicht den Kerngedanken der existenzialen Interpretation der Zeit durch Heidegger aufnimmt.

Das von uns gesuchte Äquivalent zur leibnizschen Monade, deren Beschluss bzw. Sinn in ihrer absoluten Vermittlung durch die Güte Gottes dargestellt wurde, bzw. zum kantischen Begriff des Endzweckes kann nun näher gefasst werden: Es ist nicht einfachhin der Tod, sondern es ist die Zeitlichkeit des Daseins, die den Sinn des Daseinsganzen (d.h. der Sorge) ausmacht. Heidegger 20

E. Levinas, Gott, der Tod und die Zeit 63.

9. DIE ZEITEKSTASEN UND DER SINN VON SEIN

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führt aus: „Nur sofern das Dasein als Zeitlichkeit bestimmt ist, ermöglicht es ihm selbst das gekennzeichnete eigentliche Ganzseinkönnen der vorlaufenden Entschlossenheit. Zeitlichkeit enthüllt sich als der Sinn der eigentlichen Sorge.“ (SuZ 326) Dabei darf diese Zeitlichkeit allerdings nicht – verräumlicht im Sinne eines Vorhandenen – als eine Aneinanderreihung von Zeitmomenten verstanden werden, sondern muss in ihrem ekstatischen Charakter gefasst werden. Die Zeit „ist“ so gesehen nicht, sondern zeitigt sich in ihren Ekstasen. Diese Struktur ist bei der Zukunft am offensichtlichsten, insofern sie als „sich vorweg“ zu verstehen ist oder noch genauer als Sich-vorweg-Sein auf die eigenste Möglichkeit hin, wobei diese das Vermögen der durch die Endlichkeit eröffneten Zeitlichkeit ist. Die Vergangenheit ist deshalb ek-statisch, weil sie nicht einfach als Rückbezug auf vergangene objektivierbare Ereignisse betrachtet werden darf, sondern von der Ekstase der Zukunft her bestimmt werden muss. Genauer ist dabei zu sagen, dass das Dasein gerade im Ausgriff auf die Zukunft, oder wie Heidegger in der Marburger Vorlesung sehr schön sagt: „in der Möglichkeit, nach der es eine Gegenwart jeweils versteht, zukünftig zu sein“21, auf sich als „Gewesensein“ zurückkommt. Heidegger verdeutlicht dies auch dahingehend, dass er in Bezug auf die Vergangenheit von einer „Übernahme“ spricht – einer vormoralischen „Schuldigkeit“ (SuZ 283), die in einer Nichtigkeit in Bezug auf den niemals sich absolut vollziehenden, d.h. alle Möglichkeiten ausschöpfen könnenden Daseinsvollzug besteht – bzw. vom Vorlaufen als verstehendes Zurückkommen auf das eigenste „Gewesen“ (SuZ 326), was nichts anderes zum Ausdruck bringt als die je neue Übernahme der eigenen Endlichkeit, in der sich die Vergangenheit sozusagen „ereignet“ (und nicht einfach „ist“). Man kann an dieser Stelle darauf hinweisen, dass Heidegger damit eine Gegenposition zu E. Jüngel einnimmt, der das ewige Leben denkt als „Offenbarung und Inkraftsetzung derjenigen Möglichkeiten [...], in die unser Leben ständig hinausschwingt, ohne sie je verwirklicht zu haben“22. Heidegger dagegen sieht gerade den spezifischen Sinn in der Übernahme einer Schuldigkeit, die überhaupt erst die dem Dasein eigene Möglichkeit eröffnet.

Bezüglich der Gegenwart, ekstatisch im „jetzt, da...“ (SuZ 408) hält Heidegger folgendes fest: „Zukünftig auf sich zurückkommend, bringt sich die Entschlossenheit gegenwärtigend in die Situation. Die Gewesenheit entspringt der Zukunft, so zwar, daß die gewesene (besser gewesende) Zukunft die Gegenwart aus sich entläßt.“ (SuZ 326) Die Gegenwart kann also ebenfalls nicht – wie Heidegger dies dann in „Sein und Zeit“ Hegel vorwirft23 – als Jetztpunkt 21 22 23

M. Heidegger, Der Begriff der Zeit 26. E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt 292f. Gegen Heideggers Hegelkritik wäre zu sagen, dass bei Hegel die Zeit nicht primär von der Naturphilosophie gefasst werden darf. Sein spekulatives Zeitverständnis lässt daher die Zeit nicht aus einem Vorhandensein entspringen, sondern aus einem Weltumgang, der der (daseiende) Begriff selber ist. Sehr schön gesehen haben dies A. Luckner, „Genealogie der Zeit“

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V. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER ENDLICHKEIT IN HEIDEGGERS „SEIN UND ZEIT“

gefasst werden, sondern zeitigt sich in der Begegnung des Sein-Bei. Man kann dies wohl auch so ausdrücken, dass erst in der durch die Zukünftigkeit des Daseins markierten Endlichkeit jeweils Gegenwart in Hinblick auf je (kontingente) Begegnung entlassen werden kann. Andernfalls wäre die Gegenwart immer schon Grundbaustein einer alles umfassenden, verräumlichten Zeit, hierin sehr ähnlich der Zeiterzeugung, wie sie Kant im Schematismuskapitel vorstellt. Bereits an dieser Stelle der Darstellung sieht man erneut und vielleicht noch deutlicher, dass Heideggers Zeitkonzept eine radikale Kritik an Zeitauffassungen darstellt, die die Zeit als chronologisches Außereinander fassen. Fokussierte man diese Kritik, könnte man sagen, dass sich der von Heidegger so genannte vulgäre Zeitbegriff dadurch „auszeichnete“, dass er die Gegenwart in das Zentrum rückt, wobei diese ihres ekstatischen Charakters entkleidet würde und dadurch zur bloßen Vorhandenheit verfiele. Dagegen setzt Heidegger in „Sein und Zeit“ die Zukunft als die ursprüngliche Zeitform, in der erst das gesuchte Daseinsganze zu finden ist.

10. Der Primat der Zukunft und das Daseinsganze Heidegger hält dem entsprechend explizit fest, „daß die Zukunft in der ekstatischen Einheit der ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit einen Vorrang hat“ (SuZ 329) und „das primäre Phänomen der ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit [ist]“ (ebd.). Wenn also ein Daseinsganzes gesucht wird, dann wird sich dies erst über das Moment der Zukunft zeigen, da ja, wie bereits aufgezeigt, das Dasein wesentlich Sein zum Nichts ist, d.h. vorlaufendes Ergreifen der eigenen Endlichkeit. Vielleicht kann man auch hier Heideggers Position sehr gut im Vergleich mit Leibniz erhellen: Dessen Monade ist im Sinne einer ewigen Vergangenheit geschlossen, wobei diese Vergangenheit jene der Ewigkeit Gottes ist, der die Zeit immer schon hinter sich gelassen hat. Lediglich aus endlicher Perspektive ergibt sich aus den „Augen der Verheißung“ eine Zukunftsperspektive, die auf das Offenbarwerden eines in Gott bereits erfolgten „Abschlusses“ der Monade zielt. Heidegger dagegen betont, dass durch den Tod jeder Abschluss unmöglich ist. Daher hat das Dasein „nicht ein Ende, an dem es nur aufhört, sondern existiert endlich“ (SuZ 329). Dadurch liegt in der Zukunft auch kein Endzweck, den eine reflektierende Urteilskraft der Zeit als inneres Spannungsmoment einschriebe, sondern die „eigentliche Zukunft, die primär die Zeitlichkeit zeitigt, die den Sinn der vorund W. Grießer, „Geist zu seiner Zeit“, der eine ausführliche Darstellung des hegelschen Zeitkonzepts, gerade in seiner Spannweite zwischen Naturphilosophie, Phänomenologie, Logik und Geistphilosophie gibt.

10. DER PRIMAT DER ZUKUNFT UND DAS DASEINSGANZE

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laufenden Entschlossenheit ausmacht, enthüllt sich [...] als endliche“ (SuZ 329f.). Das Daseinsganze ist daher kein Abschluss, der in einer ausstehenden Zukunft erfolgen wird, sondern die Endlichkeit als Zeitlichkeit des Daseins selber, die in der ursprünglichen (d.h. nicht ausstehenden) Zukunft, konkret in der Ekstase des Sich-Vorweg, ergriffen wird. Heidegger gibt in diesen Passagen noch einen gleichermaßen interessanten wie inkonsequenten Hinweis. Er lässt sich dazu verleiten, die Frage zu bejahen, ob nicht „trotz des Nichtmehrdaseins meiner selbst die Zeit nicht doch weiterginge?“ (SuZ 330). Konsequent gedacht dürfte Heidegger diese Frage gar nicht zulassen, weil „Sein und Zeit“ unter der Ägide des Daseins geschrieben ist und eine Zeit „außerhalb“ desselben hier nicht thematisch werden kann. Das Sein in der Weise des Nicht-Daseins kann wohl überhaupt nur im Sein-Bei besprochen werden, allerdings ist es auf diese Weise wieder in die Sorgestruktur des Daseins hineingestellt und nicht unabhängig von dieser.

Heidegger verkehrt damit radikal den traditionellen Transzendenzbegriff. Denn dieser bezeichnet nicht mehr ein „transcendere“ im Sinne eines „(über die Grenze) Hinausgehens“, sondern eine sich aus dem Tod als der absoluten Schranke, die zugleich jede innerweltliche Fixierung hinter sich lässt, ergebende „Transzendenz nach innen“24. Das Daseinsganze ist also zusammenfassend gesagt als Sich-Transzendieren25 der Zeitekstasen unter dem Primat der Zukunft charakterisiert, wobei allerdings diese Transzendenz nicht das Überschreiten der Endlichkeit auf ein Absolutes hin bedeutet, sondern immer nur radikal diesseitig auf die Endlichkeit als die absolute Schranke verweist. D. Bonhoeffer (der dies bereits in „Akt und Sein“ erkannt hatte) und S. Žižek haben aus diesem Grund sicherlich nicht ganz unrecht, wenn sie „Sein und Zeit“ als das atheistische Werk des 20. Jahrhunderts bezeichnen, wiewohl immerhin ernst genommen sein will, dass Heidegger in „Sein und Zeit“ selber in den Raum stellt: „Wenn die Ewigkeit Gottes sich philosophisch ließe, dann dürfte sie nur als ursprünglichere und Zeitlichkeit verstanden werden.“ (SuZ 427) Wir können hier nicht auf die Frage nach dem Gottesverhältnis von Heidegger eingehen, aber eines dürfte klar sein: Die Zukunft ist nicht das Daseinsganze im Ausstand, sondern Ek-stasis der Endlichkeit. Eine schöne Zusammenfassung des Ausgeführten gibt Heidegger selbst: „Zeit ist ursprünglich als Zeitigung der Zeitlichkeit, als welche sie die Konstitution der Sorgestruktur ermöglicht. Die Zeitlichkeit ist wesenhaft ekstatisch. Zeitlichkeit zeitigt sich ursprünglich aus der Zukunft. Die ursprüngliche Zeit ist endlich.“ (SuZ 331) 24

25

Diesen Ausdruck, der sehr treffend auf das Transzendenzverständnis von SuZ angewandt werden kann, wurde von J. Habermas in seinem Aufsatz „Transzendenz von innen, Transzendenz ins Diesseits“ geprägt. Vgl. M. Heidegger, SuZ 366, wo er explizit von Transzendenz spricht: „In der horizontalen Einheit der ekstatischen Zeitlichkeit gründend, ist die Welt transzendent.“

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V. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER ENDLICHKEIT IN HEIDEGGERS „SEIN UND ZEIT“

11. Der Ursprungscharakter der Zeit Aus dem bisher Erarbeiteten soll noch einer Konsequenz für eine Bestimmung der Zeit nachgegangen werden, die Heidegger im §80 von „Sein und Zeit“ darzustellen versucht. Diese wirft ein Licht auf den ursprünglicheren Charakter der Zeit gegenüber jeder isoliert gesetzten Subjektivität bzw. Objektivität: Die Zeit, „in der“ Vorhandenes sich bewegt und ruht, ist nicht „objektiv“, wenn damit das An-sich-vorhanden-sein des innerweltlich begegnenden Seienden gemeint wird. Aber ebensowenig ist die Zeit „subjektiv“, wenn wir darunter das Vorhandensein und Vorkommen in einem „Subjekt“ verstehen. Die Weltzeit ist objektiver als jedes mögliche Objekt, weil sie als Bedingung der Möglichkeit des innerweltlich Seienden mit der Erschlossenheit von Welt je schon ekstatischhorizontal „objiciert“ wird. [...] Die Weltzeit ist aber auch „subjektiver“ als jedes mögliche Subjekt, weil sie im wohlverstandenen Sinne der Sorge als des Seins des faktisch existierenden Selbst dieses Sein erst mit möglich macht. „Die Zeit“ ist weder im „Subjekt“ noch im „Objekt“ vorhanden, weder „innen“ noch „außen“ und ist „früher“ als jede Subjektivität und Objektivität, weil sie die Bedingung der Möglichkeit selbst für dieses „früher“ darstellt.26

Wohl an kaum einer Stelle nähert sich Heidegger so sehr der hegelschen Figur des Bewusst-Seins und des daraus folgenden Entspringens von Zeit in Weltbegegnung – oder radikaler noch: des Denkens von Zeit als Weltbegegnung – an. Die Weltzeit, die Heidegger als die sich im Besorgen veröffentlichte (d.h. in der Sphäre einer Öffentlichkeit stehende) Zeit bestimmt27, ist objektiver als jedes mögliche Objekt, weil dieses nicht in zeitenthobener statischer Vorhandenheit vorgestellt werden darf, sondern in der vorlaufenden Entschlossenheit des Daseins begegnet bzw. „objiciert“ wird, welches, geworfen in die Welt, das Seiende in seinem jeweiligen Da (ver)ge(gen)wärtigt. Ebenso ist die Weltzeit subjektiver als jedes Subjekt, weil sich in dessen Dasein „je schon“ die Zeitekstasen manifestiert haben. In gewissem Sinne könnte man hier betonen, dass nicht das Dasein die Zeitekstasen setzt, sondern sich gerade in seinem Sein zum Tode schon in diese Zeitekstatik hineingestellt findet. Man ist bei Heidegger der Endlichkeit immer ausgeliefert. Dabei ergibt sich allerdings gerade aus dieser Stelle eine sehr interessante Verbindung von „Sein“ und „Zeit“. Denn es ist nicht nur so, dass sich letztere, insofern deren Ekstasen das Daseinsganze bilden, als Sinn des Daseins erweist, sondern es ist auch so, dass das Sein selber radikal zeitlich ist. Heidegger wird dabei zunehmend vor dem Problem stehen, wie das Verhältnis von Sein und Dasein zu verstehen ist. In „Sein und Zeit“ ist die Tendenz klar, dass das Sein vom Dasein her ausgelegt wird. Auf der anderen Seite wird etwa gerade das Phänomen der Sprache, aber

26 27

M. Heidegger, SuZ 419. Vgl. M. Heidegger, SuZ 411.

12. HEIDEGGERS UNVERZICHTBARE EINSICHT

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auch der Aletheia28, welche niemals Produkt einer Setzung oder Evolution ist, einen Hinweis liefern, dass das Dasein selber noch einmal einer fundamentaleren Einbettung bedarf. Wenn Heidegger in seinem Vortrag (nach der sogenannten Kehre) „Die Sprache“ darauf abhebt, dass „die Sprache spricht“29, erinnert dies an die absolute Methode der WdL Hegels, nur dass Heidegger die dialektischen Bestimmungen Hegels zu vermeiden trachtet.

In gewisser Hinsicht hat die Zeit bei Heidegger eine ähnlich fundamentale Bedeutung wie der Zweckbegriff der reflektierenden Urteilskraft bei Kant. Denn erst in ihren Ekstasen ist ein konkreter Weltbegriff und damit verbunden Weltbegegnung möglich. Die Frage, die wir sowohl in Bezug auf Kant als auch in Bezug auf Heidegger mitzuführen haben, ist, ob nicht die Zeit fundamentaler vom Bewusst-Sein als Bedingung der Möglichkeit sowohl praktischer Selbstbestimmung als auch der Endlichkeit auszulegen ist. Es wird also untersucht werden müssen, ob nicht die Zeit zuerst als Ausdruck des Ganges des Menschen zum Menschen als Gang Gottes mit dem Menschen gefasst werden muss.

12. Heideggers unverzichtbare Einsicht Heidegger ist vielleicht schon allein deshalb der bedeutendste Philosoph des 20. Jahrhunderts, weil er wie kein anderer die dieses Jahrhundert charakterisierende Bewusstwerdung der Endlichkeit und damit Temporalität des Menschen in seine Philosophie eingeholt hat, womit er wohl nicht nur Vorbild der französischen Gegenwartsphilosophie bis hin zu Derrida30 wurde, sondern auch der Theologie eine bis heute – mit wenigen Ausnahmen wie z.B. Bonhoeffer31 und Metz – kaum in Angriff genommene Herausforderung hinterlässt. Diese lässt sich damit umschreiben, dass Heidegger erstens einen Primat der Zeitlichkeit gegenüber jeder Form der Ewigkeit ansetzt und damit die Sinn- und Seinsproblematik in der Zeit selber verankert. Nicht zuletzt vermag 28 29 30

31

Hier kann auf die großartigen Ausführungen Heideggers im Rahmen seines Aufsatzes „Vom Wesen und Begriff der Physis“ verwiesen werden. M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache 12. Eine umfassende Darstellung der Philosophie Derridas („wenn es die denn gäbe“) unternimmt P. Zeillinger, „Nachträgliches Denken“, dessen Nachspüren Derridas sich als Bekenntnis auslegt. Die Frage wäre, ob nicht Derridas Philosophie ein einziges Bekenntnis zur Endlichkeit des Menschen ist. Explizit befasst sich Bonhoeffer in seiner Habilitationsschrift „Akt und Sein“ mit Heidegger, implizit ist aber der Primat der Zeitlichkeit bei kaum einem Theologen so präsent wie bei ihm. Vgl. dafür die Darstellung von N. Capozza, Im Namen der Treue zur Erde.

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V. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER ENDLICHKEIT IN HEIDEGGERS „SEIN UND ZEIT“

er dabei nicht nur den heutigen chronologisch-naturwissenschaftlichen Zeitbegriff einer Fundamentalkritik zu unterziehen, sondern auch die statische Vorstellung einer Ewigkeit als das Andere der Zeit. Beiden ist gemeinsam, dass sie den von Heidegger herausgearbeiteten Primat der Zukunft verkennen, wobei diese Zukunft allerdings nicht in eine fixierbare Erwartung drängt, sondern die radikale Offenheit ausmacht, die der Endlichkeit des Daseins korrespondiert. Dass diese offene und zukunftsfähige Zeit (allerdings, wie wir noch sehen werden, nur in der Dialektik von Offenheit und Geschlossenheit) gerade die Voraussetzung für die Würde des Anderen ist, insofern dieser in Ewigkeit nicht ableitbar ist, macht sie dabei zum unverzichtbaren Moment jeder Zeitkonzeption. Ein daraus sich ergebendes zweites entscheidendes Erbe der Philosophie Heideggers ist jenes von uns bereits angezeigte Motiv der „Unheimlichkeit“. Das Christentum hat viel zu sehr seinen eigenen abrahamitischen Ursprung und d.h. konkret das „In-die-Fremde-Gehen“ als entscheidendes Moment der Geistigkeit vergessen, was ja im Übrigen auch am Beginn (und Ende) des Wirkens Jesu steht, wenn ihn sein Weg in die Wüste führt. Heidegger weiß darum, dass das Moment der Fremde, welches er in der Erfahrung des Seinszum-Tode verankert, geistvoller ist als die Vorstellung absoluter Identität. Christlicherseits ist zu sagen, dass der Tod für uns zuerst nicht die Bedeutung eines Definitivwerdens der Freiheit oder des Sprungs in ein spannungsloses Nunc stans hat, dass er auch nicht erschlichene Versöhnung bedeutet, sondern sich schon in der Taufe vollziehendes „Sein in Christus“ meint, welches sich in der Nachfolge konkretisiert. Immerhin weist der Evangelist Markus darauf hin, dass Jesus nur in der Erfahrung des Kreuzes, also radikaler Nichtidentität, als Messias bekannt werden kann, was J.B. Metz für unsere Welt fruchtbar zu machen sucht, wenn er nicht müde wird, darauf hinzuweisen, dass Theologie zunächst einmal „memoria passionis“ ist. Auf alle Fälle wird christlicherseits viel zu schnell der Status der Fremde durch erschlichene Beheimatung ersetzt, und es ist vielleicht nicht die geringste geistige Leistung unserer Zeit, dass genau jene einseitige Vorstellung der Ewigkeit als ewige Heimat und damit verbunden der Primat der Heimat überhaupt – nicht nur politisch – fraglich geworden ist.32 Wir werden, nicht zuletzt provoziert durch die Seinsanalyse Heideggers, vor der Herausforderung stehen, einen Weg zu Gott und zur Unsterblichkeit zu sichten, der weiß, dass die endgültige Antwort, gäbe es sie denn, immer schon zu kurz griffe. Dabei, dies sei nur am Rande bemerkt, wird allerdings auch nicht die klassische negative Theologie helfen, die zwar daran festhält, dass der Mensch Pilger auf Erden und damit der Zeit zugehörig ist und keine letzte Antwort einsehen kann, diese aber dann nach dem Transitus in die Ewigkeit erwartet. Mit Heidegger können wir gut alttestamentlich lernen, dass es nur diese Erde und die sich darin zum Ausdruck bringende Zeit 32

Eine fundamentale Kritik an jeder letzten Beheimatung vollzieht auf grandiose Weise H.D. Bahr in „Die Sprache des Gastes“.

13. VERGEBENE POTENTIALE UND UNERREICHBARES IN HEIDEGGERS DENKEN

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gibt, wenngleich wir dies – gegen Heidegger – so lernen müssen, dass wir erkennen, dass sie nicht gottlos und ohne die Wirklichkeit der Auferstehung ist. Ein drittes Moment ist die Frage, ob nicht die Theologie von Heidegger lernen muss, dass transzendentale Begründungen nicht zuletzt deshalb problematisch sind, weil sie genau jene Temporalität des Seins zu überspringen drohen, die sich aus der Endlichkeit des Menschen ergibt. Tatsächlich ist es wohl nicht ausgemacht, dass der Mensch nach absoluter Einheit und damit Tilgung der Zeit (die nicht die Tilgung im Sinne Hegels ist) strebt, sondern eher so, dass das geistige Moment darin besteht, eine solche, und sei sie auch nur in eine jenseitige Ewigkeit verlagert, zu verabschieden. Abschließend soll noch auf ein viertes Moment, welches Heidegger anzeigt, verwiesen werden, nämlich eine Anfrage an die hegelsche Dialektik: Tatsächlich wird in den weiteren Abschnitten unserer Arbeit zu diskutieren sein, ob der Tod sich (nicht) der Dialektik des Bewusst-Seins entzieht, indem er eine absolute Singularität des Daseins bezeichnet. Im Anschluss daran wird auch zu fragen sein, ob der Tod einen Umschlag vom Logos – sollte dieser an der Todeserfahrung zerbrechen – in den Mythos erzwingt und welche Konsequenzen dies für eine Bestimmung der Zeit hätte.

13. Vergebene Potentiale und Unerreichbares in Heideggers Denken Wir haben angedeutet, dass Heideggers Denken der Temporalität auch ethische Konsequenzen mit sich führt, die von ihm allerdings gerade nicht vertieft werden. Dabei ist dies kaum Versäumnis Heideggers, sondern resultiert wohl daraus, dass für Heidegger Ethik und Christentum nicht zu trennen sind, er aber eine Philosophie (später wohl einen Mythos) jenseits des Christentums und des aus ihm resultierenden abendländischen Weltumgangs zu entwickeln sucht. Andererseits zeigt sich das Dasein im Sein zum Tode radikal vereinzelt, was impliziert, dass der Tod sozusagen absolut trennende Funktion hat. Allerdings könnte der Akzent auch auf die mit dem Sein-zum-Tode gegebene absolute Unverfügbarkeit dieses Daseins gelegt werden, was Heidegger selber zumindest implizit mit der Rede von der Unheimlichkeit (oder auch vom Gewissen) aufbereitet. Denn hätte ein Primat der Temporalität gegenüber der Ewigkeit als nunc stans und ein Primat der Unheimlichkeit (Heimatlosigkeit) gegenüber einer Beheimatung in eigenen Identitäten nicht eine gegenüber bisheriger abendländischer Praxis radikalisierte Ethik zur Folge? Könnte darin nicht ein genuin christliches Ethos aufleuchten? M. Cacciari weist in dem Artikel „L´invenzione dell´individuo“ auf die genuine Verbindung der Kategorie

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V. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER ENDLICHKEIT IN HEIDEGGERS „SEIN UND ZEIT“

des „Fremden“ und christlicher Ethik im Zusammenhang der zentralen abendländischen Paradigmen hin: Das erste [Paradigma] tritt hervor mit der Tempelfront von Delfi – und herrscht in der sokratischen Ironie (des nicht platonischen Sokrates, des Sokrates, der auch tragisch ist). „Erkenne Dich selbst! [...] Wie aber ist das Proprium des Daseins zu erreichen, seine ultimative Wahrheit, falls ihr Fortgang konstitutiv schwach und fehlerhaft ist? Noch radikaler: sich zu erkennen setzte voraus, in sich Subjekt und Objekt zu identifizieren (zu realisieren den Traum des Narziss), das Denkende und das Gedachte. Aber dies ist zu viel für den Menschen; es wäre auch zu viel für die „geschaffenen Götter“. Allein im Einen außerhalb jeder Bestimmtheit ist diese Identität denkbar. [...] Das zweite Paradigma kommt aus der biblischen Tradition. Der griechische Gott schützte den Fremden. Die Gastfreundschaft ist ein universeller Wert, anerkannt im Griechentum, ein Wert des Zeus selbst. Aber der Fremde, mit dem der Gastgeber in Beziehung tritt, war dennoch angesehen als eine auswärtige Figur, herkünftig „von draußen“. Fremd konnte nicht zugleich der sein, der auch Gastfreundschaft gewährte und den Fremden schützte. Auch in der biblischen Tradition schützt Gott offensichtlich den Fremden, er kleidet ihn, er ernährt ihn, er gebietet, ihn zu lieben. Auch die biblische Tradition weiß, dass der Gast [hospes] immer potentiell auch der Feind [hostis] ist, immer auch verbannt ist. Aber es findet sich in ihr auch ein Ausdruck, der unendlich stärker ist: und d.i., dass Gott der Fremde IST. Wirklich, Gott ist DER FREMDE. So offenbart ER sich jenen, die an seiner rechten Seite sitzen: ich war fremd, ich bin euch erschienen in der „Person“ des Verbannten, des Vertriebenen – und trotzdem habt ihr mich erkannt.33

Hier wird von Cacciari nicht nur ein zentrales Moment jüdisch-christlicher Tradition auf den Punkt gebracht, wenn er festhält, dass Gott selber „der Fremde“ ist, und zwar nicht als der absolut Andere, sondern als der sich im Fremden und in der Fremde Offenbarende. Weiters zeigen diese Überlegungen auch sehr schön, warum die Bewegung des Sich-selbst-Setzens als Sub-

33

M. Cacciari, L´invenzione 126f. Die zitierte Stelle lautet im Original: „Il primo campeggia sul frontone di Delfi – e domina nell´ironia socratica (del Socrate non platonico, del Socrate ancora anche tragico). „Conosci te stesso“ [...] Come raggiungere il proprio dell´esserci, la sua verità ultima, se costitutivamente infermo, zoppo è il suo procedere? Più radicalmente ancora: conoscersi presupporebbe identificare in sé soggetto e oggetto (realizzare il sogno di Narciso), pensante e pensato. Ma ciò è troppo per l´uomo; sarebbe troppo anche per gli „dei creati“. Solo nell´Uno al di là di ogni determinazione quest´identità è pensabile. [...] Il secondo paradigma ci viene dalla tradizione biblica. Il dio greco proteggeva lo straniero. La philoxenia è valore universalmente riconosciuto nella grecità, timé dello stesso Zeus. Ma lo straniero, con cui l´hospes entrava in relazione, era pur sempre considerato come figura esterna, come proveniente „da fuori“. Straniero non poteva essere simul colui che ospitava e proteggeva lo straniero. Anche nella tradizione biblica, ovviamente, il dio protegge lo straniero, lo veste, lo nutre, comanda di amarlo. Anche la tradizione biblica sa che l´hospes è sempre potenzialmente anche hostis, è sempre anche esule. Ma si trova in essa anche un´espressione infinitamente più forte: e cioè che Dio è straniero. Anzi, Dio è lo Straniero. Cosi Egli si rivela a coloro che siederanno alla Sua destra: io ero lo Straniero; io sono apparso a voi nella „persona“ dell´esule, dell´abbandonato – e tuttavia mi avete riconosciuto.“

13. VERGEBENE POTENTIALE UND UNERREICHBARES IN HEIDEGGERS DENKEN

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jekt-Objekt zutiefst problematisch ist: Weil es sich darin nämlich um eine narzisstische Figur handelt, die gerade das Moment der Fremde außer sich hat. Bezüglich Hegel, also des Philosophen, dem sehr oft diese Denkfigur zugeschrieben wird, ist zu sagen, dass es bei ihm nicht nur darum zu tun ist, dass die Substanz Subjekt wird, sondern auch, dass das Subjekt (als der Andere) Substanz wird. Im Übrigen zeigt sich in jeder Stufe der PhdG, dass der Weg in die Erkenntnis immer einen Entfremdungsprozess inkludiert, der im absoluten Wissen nicht getilgt, sondern anerkannt wird.

In bestimmter Weise ist dann sogar die den Tod gewissermaßen zum großen negativen Gott erhebende Paganität Heideggers noch ein Nachhall des jüdisch-christlichen Erbes, welches ja, wie bereits erwähnt, mit dem In-dieFremde-Gehen Abrahams beginnt und sich fortsetzt in der Gottesoffenbarung im Exodus, der gewissermaßen eine doppelte Fremde darstellt, weil hier ein Noch-nicht-Volk sogar den einzigen Status, den es sein „eigen“ meint, nämlich den sich nie zueignenden Gaststatus, verliert. Dabei wissen wir auch, dass es nicht das Geschick Israels war, im Land zur Ruhe zu kommen, was die Bibel dadurch zum Ausdruck bringt, dass die Landnahme mit dem Exil endet. Dass dieser Fremde die Landverheißung korrespondiert, will natürlich bedacht sein, aber immerhin kann hier der an gegebener Stelle noch auszuführende Fingerzeig gegeben werden, dass christlich gesehen Gott über den Weg der Fremde seinem Volk nah ist (was das Christentum im Gegensatz zum älteren Bruder allzu schnell vergessen hat), aber bis in alle Ewigkeit nicht ohne diese Vermittlung... Auf alle Fälle kann festgehalten werden, dass der Primat der Zukunft von Heidegger mit der Übernahme der Endlichkeit einhergeht. Damit verliert Heidegger allerdings die Dimension einer gemeinsamen Zukunft und damit verbunden die Vision einer Menschwerdung des Menschen aus den Augen. Noch entfernter ist seiner Konzeption – selbst als Frage – die Vision einer universalen Gerechtigkeit für die Lebenden und die Toten, obwohl vielleicht gerade Heideggers Kritik an der Seinsauslegung von der parousia her einen bedenkenswerten Ansatz für den Gedanken einer jeder unmittelbaren Präsenz vorausliegenden Gemeinschaft von Lebenden und Toten (und von Gott und Mensch) böte. Die Problematik Heideggers liegt nicht nur darin, dass er die ethische Dimension mitmenschlichen Daseins, konkret die Anerkennungsstruktur, und deren universalen Horizont nicht ausgearbeitet hat, sondern auch in seinem Zugang zur Natur. Dabei sollen nicht die durchaus herausragenden Beiträge Heideggers zu diesem Thema übersehen werden, namentlich etwa im Physisaufsatz34, in dem er der Natur als „Aufgang“ und „a-letheia“ nachspürt. Es bleibt aber das Problem, dass es in seiner Philosophie keine Verbindung von 34

M. Heidegger, Vom Wesen und Begriff der Physis.

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V. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER ENDLICHKEIT IN HEIDEGGERS „SEIN UND ZEIT“

Natur- und Geistphilosophie gibt und dass die Zeit letztlich als Zeit des Menschen, nicht aber als Eigenzeit der Natur bedacht wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich für uns weiter die Frage nach einer Bestimmung der Zeit ergibt, die nicht in einem heroischen Akt individuell übernommen werden muss, sondern die sich als geistvolle, d.h. als von Gott selber geoffenbarte und darin als Zeit der Erde und dem in ihr Lebendigen, d.h. als menschliche, als universale und damit als schöpferische Zeit erweist. Wir werden einen solchen Zugang nur in einer Dialektik des Unendlichen selber finden, welche das Endliche nicht vertilgt, sondern erst in seine Würde einsetzt. Vorher allerdings soll noch ein kurzer Gedankengang über die Bedeutung des Todes das Heidegger-Kapitel abschließen.

14. Der Tod als absolute Schranke der Zeit? Wir haben gesehen, dass bei Heidegger der Tod die absolute Schranke des Daseins ist und vom Phänomen des Todes die Zeitbestimmungen entwickelt werden. Dabei scheint für den Gedanken einer Dialektik von Zeit und Ewigkeit kein Raum vorhanden zu sein, auch wenn Heidegger, wie von uns erwähnt, im Konditional eine Ewigkeit Gottes, die als ursprünglichere Zeitlichkeit zu verstehen wäre, immerhin andeutet.35 Grundsätzlich bleibt aber die Frage zu stellen, ob die Vorstellung des Todes als absolute Schranke wirklich ursprünglich ist. Denn immerhin hat sie nicht nur das Wissen tausender Kulturen und Generationen gegen sich, sondern auch den Glauben der großen monotheistischen Weltreligionen, die von einer Gemeinschaft der Lebenden und der Toten sprechen. In diesem Zusammenhang ist die Tatsache wohl ebenfalls von Interesse, dass, wie bereits angedeutet, in den neutestamentlichen Schriften – in gut alttestamentlicher Tradition – der Tod nicht einmal primär den physischen Tod bezeichnet, sondern seine ursprüngliche Auslegung von der Taufe gefunden hat. Diese stellt nach christlichem Verständnis nicht nur das Sterben in Christus (Röm 6,1-11 u.a.), sondern auch den eigentlichen Transitus in eine neue Zeit dar. Einen entscheidenden Wink für die Frage nach dem Tod gibt Bonhoeffer, wenn er in „Widerstand und Ergebung“ Folgendes festhält: „Nicht nur die Tat, sondern auch das Leiden ist ein Weg zur Freiheit. Die Befreiung liegt im Leiden darin, daß man seine Sache ganz aus den eigenen Händen geben und in die Hände Gottes legen darf. In diesem Sinn ist der Tod die Krönung der menschlichen Freiheit.“36 Christlich gesehen wird es also darum gehen, den Tod noch einmal einzubetten in eine Zeitstruktur, die dem Bewusst-Sein, d.h. 35 36

M. Heidegger, SuZ 427. D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung 407.

14. DER TOD ALS ABSOLUTE SCHRANKE DER ZEIT?

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dem menschlichen Weltumgang entspricht, der immer zugleich der (verborgene!) Gang Gottes zum Menschen ist. In ihm wird der Tod die (durch die Taufe erahnbare) Chiffre für die grundsätzliche Unverfügbarkeit des Menschen und im Letzten Gottes selber darstellen, da er tatsächlich jede als „positiv“ aufgefasste Präsenz zernichtet. Heidegger ist dabei völlig zuzustimmen, dass erst in dieser Unverfügbarkeit Zukunft eröffnet ist, allerdings wird dabei zu berücksichtigen sein, dass diese gerade die Toten insofern miteinbezieht, als sie nicht als die, wie die deutsche Sprache so schön sagt, Verblichenen anzusehen sind. Denn dass sie nicht im Modus verfügbarer Präsenz anwesen, rechtfertigt nicht, sie als die definitiv Vergangenen festzuschreiben (zu positivieren) und zu naturieren. Wir können in diesem Zusammenhang andeuten, dass es die Natur ist, von der Wesensaussagen getroffen werden können, was Aristoteles dahingehend konkretisiert, dass dieses Wesen dem Mythos gleich37 „to ti en einai“, d.h. das, „was es war zu sein“ ist. Konkret gesagt: Die Natur ist die ewige, „zeitlos vergangene“ (d.h. durchgängig bestimmte) Vergangenheit, während der Mensch als Individuum, da nicht durch seine Artgesetzlichkeit begrenzt, nicht Fall einer Gattung „Mensch“ und daher weder durch seine Art determiniert noch zeitlos vergangen ist.

Heidegger bringt dies sehr schön zum Ausdruck, wenn er mit der Bezeichnung „Dasein“ den Gattungsbegriff „Mensch“ vermeidet, wenngleich er allerdings den Zusammenhang des Menschen hinter sich lässt, der nicht ein solcher der Gattung, sondern der gemeinsamen Geschichte ist. Aufgrund dieser nicht naturhaften Ge-art-etheit des Menschen ist der Mensch vor allem dies, einander Zukunft zu sein, wobei er das nur insoweit zu sein vermag, als auch die Toten als gestorbene Menschen – und als Angehörige (der Hinterbliebenen) – nie in den Status zeitloser Vergangenheit gelangen, sondern unabweislich in diese Zukunft als „zukunftsfähig“ mit einzubeziehen sind. Man wird dabei darauf hinweisen müssen, dass das Erbe der monotheistischen Religionen nicht zuletzt darin besteht, erkannt zu haben, dass es nicht „das Eigene“ und die Fremden, Menschen und Barbaren gibt, sondern eine gemeinsame Welt des Menschen, einen universalen Horizont, der alle, also auch die Toten, umgreift. Es gehört zu den vielen grandiosen Errungenschaften des Tenachs, dass dieser im Gegensatz zu den Mythen die Geschichte nicht mit dem Eigenen beginnen lässt und in dieser Einsicht einen universalen Denkhorizont gewinnt. Im Zusammenhang unserer Besprechung der priesterschriftlichen Schöpfungsgeschichte haben wir darauf hingewiesen, dass es darin nicht bloß um die Schöpfung Israels geht, wie dies altorientalischer (und auch heutiger) Logik gemäß gewesen wäre, sondern um die Schöpfung des Menschen schlechthin. Folgerichtig und doch atemberaubend in der darin enthaltenen Einsicht lässt der Tenach Israel nicht am Beginn, sondern erst im Laufe der Geschichte sukzessive hervortreten. Israel ist zunächst ein unbedeutender Teil im Konzert der 37

Die Temporalität des Mythos werden wir noch im Schelling-Teil der Arbeit näher ausführen.

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V. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DER ENDLICHKEIT IN HEIDEGGERS „SEIN UND ZEIT“

Völker, welches erst über den Weg der Fremde im Exodus entsteht und zwar um des Heiles der Völker willen (Gen 12,1-4). Im Exil wurde schließlich für Israel offenbar, dass JHWH die anderen Völker (Babylonier, Perser) als Werkzeuge seines Heilswillens, der Israel einen Neuanfang ermöglichte, eingesetzt hatte. Dabei ist zu betonen, dass das Exil keine äußere Strafe war, sondern Konsequenz des eigenen Handelns, weil Israel bereits mit dem Abfall von der Sozialtora seine Bestimmung als Gottesvolk verfehlt hatte. Das große Wunder war allerdings die Antwort Gottes auf dieses Ende der Geschichte: nämlich ein Neubeginn sola gratia. Die intellektuelle Antwort Israels war der Übergang von der Monolatrie (Verbot, andere Götter zu verehren) zum Monotheismus, weil JHWH als der das Schicksal aller Völker bestimmende Weltenlenker erkannt wurde. Diese Erkenntnis war deshalb unerhört, weil mit dem (scheinbaren) Untergang Israels im Exil auch der Gott Israels untergehen oder zumindest als gegenüber anderen Göttern weniger wirkmächtig ins Abseits gestellt hätte werden müssen. Nachdem aber JHWH als der Einzige erkannt und damit ein universaler Horizont eröffnet wurde, hat sich, wie K. Baltzer eindrucksvoll nachweist38, sofort mit Deuterojesaja, dem ersten großen Monotheisten, die Einsicht eingestellt, dass JHWH nicht nur der universale Herrscher der Erde (der Lebenden), sondern auch des Totenreiches ist, das damit ebenfalls in die Sphäre des Heilsgeschehens integriert wurde.

Tatsächlich wird man wohl überhaupt den Monotheismus mit dem Gedanken einer Universalgeschichte, die alle Völker und Menschen umgreift, in Verbindung bringen müssen, d.h. Gott offenbart sich soweit als der Eine, als die Menschheit als eine, d.h. in ihrer universalen Dimension erkannt wird, was, wie uns der Tenach zeigt, impliziert, dass damit auf das Eigene (des Volkes, der Familie etc.) verzichtet werden muss. So gesehen ist mit dem Monotheismus Gott und mit ihm der Mensch ein Stück heimatloser... Auf alle Fälle folgt daraus, wie J.B. Metz betont, die „ständig bedrohte und umstrittene, aber unzerstörbare Hoffnung auf universale Gerechtigkeit, also auf Gerechtigkeit für die Toten und ihre vergangenen Leiden“39. Wir können den Akzent darauf legen, dass in einem Horizont universaler Verantwortung, der durch die monotheistischen Religionen grundgelegt und für das europäische Erbe unabweislich – wenngleich von Heidegger vernachlässigt – von Kant auf den Punkt gebracht wurde, uns die Toten und ihre Geschichte – und darin nicht zuletzt auch deren Leidensgeschichte – in eine Verantwortung einweisen, die nicht unmittelbar an den toten Ahnen abgegolten werden kann, denn diese sind uns in bleibender Unverfügbarkeit entzogen, sondern einen Auftrag für die Welt der Erben, der Lebenden beinhaltet. Allerdings darf dabei niemals vergessen werden, dass der Verantwortung für die Lebenden eine Schuld gegenüber dem Erbe der Geschichte und d.h. gegenüber den Toten entspricht. Diese dürfen dabei nicht ihrer konkreten Geschichte und Persönlichkeit entkleidet und darin zum bloßen Teil einer allgemeinen Weltgeschichte reduziert werden – auf 38 39

Vgl. K. Baltzer, Deutero-Jesaja 130. J.B. Metz, Zum Begriff der neuen Politischen Theologie 110.

14. DER TOD ALS ABSOLUTE SCHRANKE DER ZEIT?

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diese Weise lässt man sie zeitloser Vergangenheit anheimfallen –, vielmehr sind sie in ihrer Unverfügbarkeit, darin Gott ähnlich, präsent. Der Tod ist damit nicht mehr die absolute Schranke, die zwar individuelle Zukunft ermöglicht, allerdings nur in ebenso radikaler Vereinzelung wie Sterblichkeit, sondern er wird zum Zeichen der freiheits- und lebensermöglichenden Unverfügbarkeit, die nicht nur Lebende und Lebende verbindet, die sich dadurch in ihrer Endlichkeit anerkennen können (als Fremder und Gast auf dieser Erde), sondern auch Lebende und Tote. Damit ist vielleicht auch an dieser Stelle ein kleiner Hinweis auf ein gerade in den letzten Jahren und Jahrzehnten sehr kontroversielles Thema der Theologie möglich, nämlich dem Verhältnis der beiden zentralen Theologumena „Unsterblichkeit der Seele“ und „Auferstehung der Toten“. Das erste Theologumenon ist entgegen heute zunehmender Ansicht in der Theologie unverzichtbar, weil es uns daran erinnert, dass die Toten niemals als Tote festgeschrieben werden können. Die Geschichte des menschlichen Individuums endet nicht, und eine Person kann in ihrer Transzendenz und Unverfügbarkeit nicht zukunftslos in eine „vergangene Vergangenheit“ eingefügt werden. Diese Vorstellung entspringt vielmehr dem Primat einer chronologischen, nicht zuletzt von Heidegger, aber auch von Schelling und Hegel als nicht ursprünglich erwiesenen Zeitbetrachtung. In der von keiner Vergangenheit einholbaren Präsenz ist der Mensch dagegen unsterbliche Seele und Bild Gottes. Die Auferstehung erinnert darüber hinaus an den sich gerade in den monotheistischen Religionen im Angesicht ihres Gottes offenbarenden universalen Welthorizont, der eine ursprüngliche Verbindung von Lebenden und Toten in der Verantwortlichkeit für die Geschichte beinhaltet. Daher ist zu sagen, dass Jesus Christus, entgegen individualistischer und soteriologischer Verkürzungen, in (nicht durch!) der christlichen Gemeinde aufersteht und durch Ihn und mit Ihm und in Ihm die Gemeinschaft der Heiligen, weshalb auch darauf hingewiesen werden kann, dass die Toten nicht „zwischenweltlich“ in einer leiblosen Seele ausharren müssen, sondern dass vielmehr die Lebenden der Leib der Toten sind und damit nicht nur die Verantwortung für die jetzigen und kommenden, sondern auch für die vergangenen Generationen tragen. Anders gesagt: Der Mensch ist nicht nur zum Hirten der „biologisch-physikalischen“ Erde eingesetzt, er ist auch nicht im heideggerschen Sinn „Hüter des Seins“, sondern Hirte der Zeit und darin Hirte einer Erde, die auch das Lebenshaus der Toten ist – was, dies sei hier nur angemerkt, auf tiefe Weise einen Ausdruck in den katholischen Kirchen findet, die Häuser der Lebenden UND Toten sind. Allerdings muss in unserer Zeit wohl extra darauf hingewiesen werden, dass dies nicht meint, dass die Toten „nur“ in unserem Gedächtnis weiterleben. Vielmehr sind sie als unsterbliche Seelen bei uns und in diesem Sein-bei-uns verleiblicht. Eine tiefere Bestimmung der Zeit als Zeit der Lebenden und Toten fordert eine Dialektik von Zeit und Ewigkeit, in weiterem Sinne auch eine Dialektik

134 von Mythos und Logos, die wir im Gespräch mit Schelling und Hegel nachzeichnen wollen.

VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS IN DER SPÄTPHILOSOPHIE SCHELLINGS

1. Der Abgrund des Nichts und die Sinnlosigkeit der Zeit Die leibnizsche Frage „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ wird nicht zufällig sowohl von Heidegger1 als auch von Schelling aufgegriffen. Bei beiden hat die Todesproblematik – und damit die Zeitproblematik! – zentrale Bedeutung und bei beiden ergibt sich daraus ein massives Bewusstsein der Endlichkeit menschlicher Existenz2. Verbunden damit ist die Bemühung, eine Philosophie im Zeichen der Überwindung Hegels zu vollziehen, die – wohl ebenfalls kaum zufällig – in etlichen Punkten an die Monadenlehre von Leibniz anknüpft, v.a. in der zentralen Stellung des wie auch immer konkret zu bestimmenden „Seins“. Bei Heidegger haben wir die inhaltliche Nähe zu Leibniz aufgezeigt, auch bei Schelling ergeben sich viele Berührungspunkte, nicht zuletzt in der Potenzenlehre. Die Monade ist Subjekt-Objekt, der Mensch „Weltseele“; weiters ist jede Monade Spiegel des Universums, so wie jeder Mensch gebrochener Spiegel der göttlichen Potenzen ist etc. Der Unterschied zwischen der schellingschen Potenzenlehre und der Monadologie liegt im Schöpfungsbegriff: Während bei Leibniz die Welt in Gottes Liebe zureichend begründet und jede Monade Bild Gottes ist, treffen wir bei Schelling auf eine Welt, die ihren zureichenden Grund verloren hat, da der menschliche Geist einen alogischen, nicht mehr in Gott eingebetteten Anfang zu setzen vermag, der ihm als Macht des Todes entgegentritt. Die schellingsche Monade ist also gewissermaßen zersprungen und findet daher nicht mehr ihren unendlichen „ewigen“ Einheitspunkt.

L. Pareyson, der diesen Zusammenhängen in seinem Buch „Ontologia della libertà“ nachspürt3, schreibt Folgendes: Aber die Darstellung [der Frage nach dem Warum etwas und nicht nichts?] Heideggers entspricht heutiger Mentalität mehr [als der Kontext, d.h. die Frage nach dem zureichenden Grund, in dem Leibniz diese Frage stellt], die erwachsen ist aus der Erfahrung des Nihilismus, sensibel für die Faszination des Nichts und erfüllt von Existenzangst. Diesbezüglich kommt Heidegger vor allem von Schelling her, der die fundamentale Frage als „Frage der Verzweiflung“ betrachtete.

1 2 3

Vgl. Heidegger, Was ist Metaphysik? Vgl. dazu auch L. Pareyson, Ontologia della libertà. Vgl. L. Pareyson, Ontologia della libertà 463-466.

136

VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

[...] Für all dies fand [diese Frage] Hegel unempfänglich: Seine Identifikation des Rationalen und des Realen lässt keinen Spielraum für den Abgrund.4

Neben der tiefen Gemeinsamkeit, die Schelling und Heidegger gerade in ihrem existentiellen Zugang zur Frage nach dem abgründigen Nichts verbindet5, welches in der Gestalt des Todes einen unüberwindlichen Riss zwischen Denken und Sein setzt und dazu veranlasst, das Sein im Horizont der Zeit auszulegen, gibt es aber auch einen zentralen Unterschied: Heidegger nimmt die Schranke des Todes als Ausgangspunkt dafür, das Sein als Sein zum Tode auszulegen. Daraus ergibt sich die radikale Immanenz des Daseins, die unter Ausschaltung jeder Form von (jenseitiger) Transzendenz in eigentlicher (d.h. todesbewusster) Existenz übernommen werden muss. Verbunden damit ist eine paradoxe Eschatologisierung ohne Eschaton. Die „Geschlossenheit der Monade“ (also der Sinn des Daseins) ist die Zeit als Ek-stasis der Endlichkeit, ohne Hoffnung auf Erlösung aus dem Abgrund der Sterblichkeit (zumindest ist dies, wie wir gezeigt haben, die Tendenz von „Sein und Zeit“). Dagegen führt bei Schelling die Erfahrung des „Nichts“ zur Frage nach (dem rettenden) Gott, die gewissermaßen den Ausgangspunkt seiner positiven Philosophie darstellt. Durch die Eröffnung dieser Frage versucht Schelling dem Abgrund des Todes die eschatologische Hoffnung auf göttliche Erlösung entgegenzustellen: Diese Erlösung ist keine Erlösung aus der Zeit, wohl aber aus der chronologischen (und der mythologischen) Zeit, d.h. aus einer Zeitform, die im Zeichen der Notwendigkeit des jeden Sinn annihilierenden Todes steht. Besonders deutlich kündigt sich die Frage nach dem rettenden Gott – und damit verbunden die Frage nach dem Abgrund sterblicher Existenz – als Ausgangspunkt der positiven Philosophie in der ersten Vorlesung der (Einleitung der) Philosophie der Offenbarung an, in der Schelling davon spricht, dass „diese Welt der Geschichte [...] ein so trostloses Schauspiel darbietet“, dass er an „einem Zwecke, und demnach an einem wahren Grunde der Welt vollendes verzweifle“6. Diese Verzweiflung über die Welt und den Menschen geht so weit, dass sie ihm „zur letzten verzweiflungsvollen Frage: warum überhaupt etwas? warum nicht nichts?“ treibt7. Abgesehen von allem Leid ist schon der scheinbar ziellos hintreibende Zeitfluss die Negation jedes Sinnanspruchs. Es scheint sich keine Mitte der Zeit festhalten zu lassen. Die Zeit verstreicht und bei dieser „Suche nach der verlorenen Zeit“ scheint es im Gegensatz zum Roman von 4

5 6 7

L. Pareyson, Ontologia della libertà 464. Das italienische Original lautet: „Ma l´impostazione di Heidegger è piú congeniale con la mentalità d´oggi, immersa nell´esperienza del nichilismo, sensibile al fascino del nulla, pervasa dall´angoscia dell´esistenza. In ciò Heidegger deriva piuttosto da F.W.J. Schelling, che considerava la domanda fondamentale come . [...] Tutto ciò trovava insensibile G.W. Hegel: la sua identificazione di razionale e reale non offriva posto all´abisso.“ Eine interessante Untersuchung zum Verhältnis von Heidegger und Schelling enthält auch W. Wieland, Schellings Lehre von der Zeit. F.W.J. Schelling, Einleitung in die Philosophie der Offenbarung, XIII, 6. F.W.J. Schelling, Einleitung in die Philosophie der Offenbarung, XIII, 7.

2. DER MENSCH ALS MITWISSER DER SCHÖPFUNG

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Proust auch keine tröstende Erinnerung zu geben, die wenigstens momenthaft so etwas wie eine „wiedergefundene Zeit“ in Aussicht stellte. Im Zeichen des Ringens um ein „Ziel“ dieser Zeit, welches nicht nur dem Menschen, sondern allem Seienden Sinn und Halt zu geben vermag, sieht Schelling auch das Ringen des deutschen Idealismus8. Er selber hat spätestens seit der Weltalterphilosophie die Frage nach der Zeit als zentrale Frage angesehen. Einzig ein Denken, welches an den Grund, d.h. an den Anfang aller Zeit rührt, kann Auskunft geben über einen Ausweg, der über den Abgrund des Chronos und die Macht des annihilierenden Todes hinausführt.

2. Der Mensch als Mitwisser der Schöpfung Die Frage nach dem Anfang ist treibendes Moment der Weltalterphilosophie Schellings. Wir können hier auf die Weltalterversuche, die ja ihre reife Gestaltung in der „Philosophie der Offenbarung“ erhalten haben, nicht näher eingehen, trotzdem wollen wir sie kurz anführen, weil wichtige Motive in Bezug auf die Zeit bereits in ihnen angedeutet sind. Vor allem ist die Frage nach der Zeit selber als zentrales Problem einer Rede von Gott wie einer Rede von der menschlichen Freiheit erkannt. Daher können wir in den verschiedenen Darstellungen der „Weltalter“ eine enge Verklammerung von Zeit und dem trinitarischen Gott feststellen. Dies ist insofern kein zwanghaftes Abbilden Gottes, als die Zeit als die den Menschen bestimmende Realität nur dann eine innere Einheit hat, wenn sie Zeit Gottes und damit auch Ausdruck seines Schöpfungswillens ist. Bemerkenswert ist, dass Schelling schon in diesem Stadium seiner Philosophie erkennt, dass Gott nicht jenseits seines Schöpfungswillens, also im Sinne einer zeitenthobenen immanenten Trinität zur Sprache zu bringen ist.9 Diese Bindung Gottes an die Zeit ist für Schelling der Garant einer inneren Einheit der Zeit, was wiederum Bedingung dafür ist, dass diese als Zeit des Menschen und nicht der menschenleeren ewig weiterlaufenden Schicksalsmacht in den Blick gerät. Der Mensch kann sich nämlich nur dann als freie und nicht schicksalhafter Notwendigkeit ausgelieferte Person verste8

9

Vgl. folgende Passage in der „Einleitung in die Philosophie der Offenbarung“: „Der deutsche Geist insbesondere hat seit länger als einem halben Jahrhundert, seit Kants Kritik der reinen Vernunft, eine methodische Untersuchung der Fundamente alles Wissens, ja aller Grundlagen des menschlichen Daseyns und Lebens selbst eingeleitet, hat seitdem einen Kampf gekämpft, wie er mit gleicher Dauer, mit gleich wechselnden Szenen, mit so anhaltendem Feuer nie gekämpft worden ist [...].“ (XIII, 10) Diesen Grundzug schellingschen Denkens bringt J. Reikerstorfer nicht zuletzt gegen W. Kasper, „Das Absolute in der Geschichte“ auf den Punkt, wenn er schreibt, dass „die Rede vom ewigen Gott die Zeit als Vermittlung miteinschließt und deshalb auch nur im Blick auf sie Sinn gewinnt“. Vgl. J. Reikerstorfer, Die Potenzen-Lehre in Schellings Spätphilosophie 223.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

hen, wenn seine Freiheit „jenseits“ des empirisch wahrnehmbaren Abgrundes hinaus motivierbar ist. Anders gesagt: Der Mensch kann nur dann frei einen Anfang (und damit Zeit) setzen, wenn dieser sich nicht in die Leere eines alogischen Chronos verläuft, sondern die Fülle und d.h. den Zeitsinn als innere Einheit der Zeit in sich versammelt. Dies bedeutet allerdings, dass Gott selbst die Zeit als Ausdruck seiner Offenbarung erwählt und dass der Mensch, wie Schelling in den Weltalterfragmenten sagt, eine „Mitwissenschaft der Schöpfung“ besitzen muss10. Der Mensch ist nur dann der Zeit nicht heillos ausgeliefert, wenn er ihre innere Einheit findet und von diesem „Zentrum“ aus auch „Vergangenheit wissen“, „Gegenwärtiges erkennen“ und Zukünftiges ahnen“11 kann. In seinem Anfangen muss sich der untrennbare Bezug auf den göttlichen Anfang zum Ausdruck bringen oder deutlicher formuliert: in seinem Anfangen „seinen Gott nach sich selbst, so wie dann freylich auch sich wieder sich nach seinem Gott bilden“12. Denn der Mensch als bloß endliches Wesen wäre lediglich Episode des Zeitstroms und könnte niemals die Zeit in ihrem Zusammenhang einsehen. Die Welt wäre damit „eine ins Endlose auslaufende Kette von Ursachen und Wirkungen“ und im „eigentlichen Verstande [gäbe es] weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft“13. Um ein solches Sich-Verlaufen und damit verbunden die Vergleichgültigung der Zeit und die Unmöglichkeit eines qualitativen Anfangs zu überwinden, muss die Zeit als ein Organismus aufgefasst werden. Dies bedeutet, dass jedes Zeitmoment die Zeit als Ganzes in sich enthält14. Hier zeigt sich die große sachliche Nähe der leibnizschen Monadenlehre und der Weltalterfragmente Schellings. Denn jede Monade ist Spiegel des Universums und enthält damit die ganze Zeit. Der unterschiedliche Akzent, den die Weltalterphilosophie gegenüber der Monadologie setzt, ist (neben der v.a. im ersten Fragment erfolgenden Betonung der Abgründigkeit, des chaotischen Moments, aus dem die Zeit hervorgeht) die stärkereBetonung der uneinholbaren Zukunft. Erst der zukünftige Geist enthält die Zeit als Ganzes. Allerdings ist auch bei Leibniz Gott als die Monas Monadum gegenüber der endlichen Menschenmonade sowohl ewige Vergangenheit als auch ewige Zukunft.

Jener Organismus der Zeiten tritt dreigliedrig auf: In der Gegenwärtigkeit des Anfangs – in dem sich bereits das versöhnende Tun des Logos manifestiert, ohne den die Welt abgründige Vergangenheit bliebe – gewärtigt der Mensch eine Vergangenheit, die er überhaupt erst in dieser Gewärtigkeit, wie A. Hutter ganz richtig sagt, als solche15 setzt. Der Mensch kann diese Vergangenheit 10 11 12 13 14 15

Dieses Motiv der Mitwissenschaft des Menschen in Bezug auf die Schöpfung kommt bereits im ersten Weltalterfragment vor, vgl. F.W.J. Schelling, Weltalter, 4 par. Vgl. F.W.J. Schelling, Die Weltalter, 3 par. F.W.J. Schelling, Die Weltalter 51. F.W.J. Schelling, Die Weltalter 11. Vgl. F.W.J. Schelling, Die Weltalter 81. Vgl. A. Hutter, Priorität und Superiorität 343.

3. EXKURS: DAS ERSTE WELTALTERFRAGMENT

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als Mitwisser der Schöpfung wissen, wobei aber darauf hinzuweisen ist, dass sie auch ein uneinholbares und abgründiges Moment als Gottes eigene Vergangenheit (Reich des Vaters) enthält, welches nie Gegenwart werden kann. Weiters liegt in der anfangenden Gewärtigung des Menschen ein Verheißungspotential, welches über jede unmittelbare Gegenwärtigkeit hinausweist und ein Reich der Zukunft als Sphäre des Geistes bildet. Damit offenbart sich aber im Handeln das ursprüngliche Handeln (des trinitarischen) Gottes, weshalb Schelling schreiben kann, dass „jedes Einzelne durch dieselbe Scheidung [entsteht], durch welche die Welt entsteht, und also gleich anfangs mit einem eignen Mittelpunkt der Zeit“16.

3. Exkurs: Das erste Weltalterfragment Die Abgründigkeit der Vergangenheit kommt besonders im ersten Weltalterfragment zur Geltung.17 Hier setzt Schelling „vor“ dem trinitarischen Gott mit einer im Sinne einer immanenten Trinität in sich kreisenden, noch zu keiner Differenzierung kommenden Liebe („Lauterkeit“) an. Diese ewig in sich kreisende Liebe wird erst durch ein zweites Prinzip, einen „kontrahierenden Willen“ unterbrochen, der zu einem Sein, oder mit den Worten Schellings gesprochen „zur Enge des Seins“18 kontrahiert. Als Konsequenz stellt sich ein chaotischer Wechsel expandierender Geistigkeit und kontrahierender Materialität (wobei beide nie rein als solche zu trennen sind) ein, die sich ständig gegenseitig aufheben, womit Zeit noch nicht als qualifizierte und gerichtete hervortreten kann. Die (expandierende) Lauterkeit der Liebe kann sich als das erste Prinzip nicht von der kontrahierenden Kraft scheiden, denn dies würde deren Aufhebung (sozusagen deren inneren Zusammenbruch) bedeuten. Die Lauterkeit hätte ihren Gegensatz verloren und könnte sich auf diese Weise nicht offenbaren. Umgekehrt kann die kontrahierende Kraft (der Wille) nicht aufhören zu wollen, da er gegen sein Wollen (Kontrahieren) unfrei ist. Schelling schlägt als Lösung vor, dass die Einheit durch eine Scheidung in sich erfolgt oder anders gesagt, dass in der Kontraktion eodem actu die Scheidung vollzogen wird, d.h. der Wille sich als Anderer will und so in der Kontraktion expandiert. Dies ist die Zeugung des Sohnes, der im Actus des Gezeugtwerdens den Vater (der als solcher die ewige Vergangenheit eines Wechsels von 16 17

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F.W.J. Schelling, Die Weltalter 79. Einen äußerst geistreichen, wenngleich nicht in allem dem Text Schellings entsprechenden Kommentar zum ersten Weltalterfragment hat S. Zizek geschrieben. Er trägt den Titel „Der nie aufgehende Rest“ und enthält eine Fülle nicht zuletzt für die Zeitthematik interessanter Beobachtungen und Motive. F.W.J. Schelling, Die Weltalter 34.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

expandierender geistiger Liebe und kontrahierendem materiellen Willen ist, wobei Schelling das Moment der Kontraktion akzentuiert, weil in diesem sich der eigentliche Zeugungsprozess vollzieht) setzt und gleichzeitig Natur und Geist scheidet. Gegenüber dem Vater, der für sich genommen die Schöpfung noch nicht frei entlassen kann (abgründige Vergangenheit) und der scheidenden Kraft des Sohnes (In-den-Gegensatz-Treten von Natur und Geist), die den eigentlichen Anfang der Zeit bildet, tritt als drittes Moment der Geist auf, der die vom Sohn geschiedenen Momente Natur und Geist eschatologisch vereinigt. Erst er ist die absolute Freiheit, die als „Einteiler“ der Zeiten absolut zeitmächtig ist und einen Abschluss aller Zeit bildet. Die menschliche Entsprechung dieses aus dem Blickwinkel des Geistes gesehen ewigen göttlichen, sich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinanderlegenden Geschehens liegt ebenfalls in einer Scheidung. Der Mensch muss von seiner Vergangenheit ablassen, die nichts anderes ist als die Ungeschiedenheit einer primordialen Geborgenheit. Wirkliches Trennen ist so ein gegenwärtiges In-dieFremde-Gehen, aus dem heraus der Mensch erst zu tätiger Liebe fähig wird. Kurz gesagt: Freiheit ist trennendes, sich der Geschiedenheit aussetzendes Handeln (Entscheidung), in dem bereits das Moment einer geistgewirkten Versöhnung aufleuchtet. In den Weltalterfragmenten erschließt sich der eigentliche Zeitsinn und damit Freiheit als dessen Darstellung erst in der geistgewirkten Zukunft, wobei es der Geist ist, der als Einteiler und Herr der Zeiten bereits den Anfang gesetzt hat. Somit deutet sich eine Bewegung an, der wir auch in der PhdO begegnen werden, nämlich das Anfangen Gottes als zukünftiges eschatologisches Geschehen, von dem her erst der Abgrund unserer Vergangenheit zu bestehen ist. Wir beenden mit diesen Überlegungen unsere kurzen Ausführungen zur Weltalterphilosophie, die eine Art Mythos der Freiheit darstellt und wenden uns dem Übergang von der negativen in die positive Philosophie zu, da in der sich darin zeigenden Ekstasis der Vernunft der Weg freigemacht wird für ein Verständnis des Seins als von Gott eröffneter Zeit in der Überwindung der Abgründigkeit menschlicher todesverfallener Existenz.

4. DAS TRANSZENDENTALE IDEAL

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4. Das transzendentale Ideal und die Suche nach Gott als „Einzelwesen“ Ohne die Genese der sogenannten negativen Philosophie Schellings im Einzelnen nachzuvollziehen19, wenden wir uns dem Umschlag der negativen in die positive Philosophie zu, von der F. Tomatis meint, dass sie der zentrale Inhalt der Spätphilosophie Schellings sei. Bezüglich der negativen Philosophie hat Schelling noch in der „Geschichte der neueren Philosophie“ (1827) zumindest angedeutet, dass er diese bei Hegel verwirklicht sehe20. In der „Darstellung der reinrationalen Philosophie“ (Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie) versucht er allerdings auch die negative Philosophie darzustellen. Dabei will er mittels „dialektischer Methode“ endliche Bestimmungen aufheben und zum Prinzip selbst kommen.21 Erst wenn darin die negative Philosophie konstituiert ist, wenn also philosophisch geklärt ist, in welchem Sinne überhaupt vom absoluten Prinzip, von Gott, gesprochen werden kann, wenn dieses Prinzip also erreicht ist, kann von ihm ausgegangen werden und die positive Philosophie zur Entfaltung kommen. Zwar könnte nach Schelling „die positive Philosophie [...] möglicherweise rein für sich anfangen, und zwar mit dem bloßen Ausspruch: “ (EPhdM XI 564), allerdings müsste man dabei den Zusammenhang von positiver und negativer Philosophie beachten. Die höchsten Prinzipien (Denkmöglichkeiten) der negativen Philosophie stellen die Potenzen dar.22 Entscheidender Ausgangspunkt ist dabei das „transzendentale Ideal“ Kants23. Dieses ergibt sich aus dem bis zum Unbedingten durchgeführten disjunktiven Schluss und ist so die Idee „von dem Inbegriffe aller Möglichkeit, so fern er als Bedingung der durchgängigen Bestimmung eines jeden Dinges zum Grunde liegt, in Ansehung der Prädikate, die denselben ausmachen mögen, selbst noch unbestimmt ist, und wir dadurch nichts weiter als einen Inbegriff aller möglichen Prädikate überhaupt denken [...]“ (KrV A 19 20

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Für eine Darstellung vgl. A. Franz, Philosophische Religion und F. Tomatis, Kenosis del logos. Vgl. F.W.J. Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie, X 542. Hier fällt der bemerkenswerte Satz: „Man kann Hegel das Verdienst nicht absprechen, daß er die bloß logische Natur jener Philosophie, die er sich zu bearbeiten vornahm, und die er zu ihrer vollkommenen Gestalt zu bringen versprach, wohl eingesehen hatte.“ A. Franz fasst diesen Sachverhalt prägnant zusammen (A. Franz, Philosophische Religion 95): „Erst wenn die negative Philosophie konstituiert ist, wenn also philosophisch geklärt ist, in welchem Sinne überhaupt vom absoluten Prinzip, von Gott, gesprochen werden kann, wenn dieses Prinzip also erreicht ist, kann von ihm ausgegangen werden, kann die positive Philosophie zur Entfaltung kommen.“ Eine detaillierte Untersuchung der Potenzen als höchster Denkmöglichkeiten, v.a. auch in ihrem Zusammenhang mit der Philosophie Platons (und Aristoteles) gibt A. Franz, Philosophische Religion. Vgl. F.W.J. Schelling, EPhdM, XI 283.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

573). Im Akte des Prädizierens ist jedes Prädikat die Einschränkung des Alls der Prädikate als des Inbegriffs aller Möglichkeiten, der so als transzendentales Ideal jedem Urteil zu Grunde liegt. Dieses ist damit die absolute Position, der „Behälter“ der Prädikate, der aber lediglich Idee ist, da ihm keine Erfahrung oder – wie wir ja in unserem Kantkapitel ausführlich dargelegt haben – keine zeitliche Entsprechung zukommt. Konkret ist diese Idee auf Grund der durchgängigen Bestimmung „Idee in individuo“ (Monade bzw. Monas Monadum), d.h. transzendentales Ideal. Die Frage, die sich sowohl gegenüber dem kantischen „transzendentalen Ideal“ als auch gegenüber den Prinzipien (bzw. der Darstellung) der negativen Philosophie Schellings stellt, ist, ob das Urteilsschema (welches in der Darstellung der reinrationalen Philosophie immer wieder bemüht wird24) in der Lage ist, das Absolute begrifflich zu fassen, was Hegel, wie sich zeigen wird, verneint. Tatsächlich sind weder das Ich noch Gott (noch die Welt) als Substrat anzusehen, an das Prädikate angeheftet werden können (auch nicht via eminentiae). Im Grunde genommen wissen dies Kant und Schelling und hypostasieren daher das transzendentale Ideal nicht, wenngleich es für beide der Gottesbegriff der theoretischen Vernunft ist, was sich aus der Sicht Hegels als fragwürdig erweist. Während Kant über diese „Idee“, die „dem Verstande die Regel seines vollständigen Gebrauchs vorschreibt“ (KrV A 574) mittels der praktischen Vernunft hinausgeht, versucht Schelling dies auf dem Wege seiner positiven Offenbarungsphilosophie, die daher nicht einen Appendix seines Bemühens darstellt, sondern das Zentrum seiner Philosophie ausmacht. Wie sehr Schellings Gedanke einer Unterscheidung von positiver und negativer Philosophie in die Nähe Kants rückt, soll hier nur ganz kurz anhand einer kleinen Schrift Kants, nämlich „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“ (VIII, 389-406) angedeutet werden: In dieser Schrift gibt Kant zwei Bedeutungen des „transcendentalen Begriffes von Gott“, nämlich einmal „Gott als Inbegriff (complexus, aggregatum) aller Realitäten“ und einmal „Gott als Grund aller Realität“. Während ersterer hypostasiert zum transzendentalen Schein führt, ist Gott als der zweite Begriff „das Wesen, welches den Grund all dessen in der Welt enthält, wozu wir Menschen einen Verstand anzunehmen nötig haben (z.B. alles Zweckmäßige in derselben); er ist das Wesen, von welchem das Dasein aller Weltwesen seinen Ursprung hat, nicht aus der Nothwendigkeit seiner Natur (per emanationem), sondern nach einem Verhältnisse, wozu wir Menschen einen freien Willen annehmen müssen, um uns die Möglichkeit desselben verständlich zu machen“25. Die erste Bestimmung Gottes kann mit dem Weg der negativen Philosophie Schellings in Verbindung gebracht wird, während die zweite Bestimmung Gottes (als „Grund“ der Freiheit, der „Realität in praktischer Absicht“ hat) an dessen positive Philosophie erinnert. Allerdings wird sich, dies sei vorweg gesagt, der Übergang der bei-

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Vgl. auch die kritische Anfrage von A. Franz, Philosophische Religion 221 und das Eingeständnis von Schelling, dass die Potenzen eigentlich nur als Namen ausdrückbar sind (vgl. EPhdM, XI 336). I. Kant, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, VIII, 400f.

4. DAS TRANSZENDENTALE IDEAL

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den Philosophien und damit auch der Schritt in die Freiheit bei Schelling nicht durch die praktische Vernunft, sondern durch eine Ekstasis der Vernunft vollziehen.

Schelling weist zunächst in Bezug auf das transzendentale Ideal darauf hin, dass sich jene Idee auf Grund des „Principiums der durchgängigen Bestimmung“ (KrV A 572) zu einem „durchgängig a priori bestimmten Begriff zusammenziehen [wird], der zufolge der bekannten Definition, nach welcher das Individuum das allseitig bestimmte Ding (res omnimodo determinata) ist, zum Begriff von einem einzelnen Gegenstand wird, der, indem er [...] den ganzen Vorrath des Stoffes für alle möglichen Prädikate der Dinge enthält, diese doch nicht bloß wie ein Allgemeinbegriff unter sich, sondern als Individuum in sich begreift“ (EPhdM XI 285f). Das transzendentale Ideal ist als durchgängig bestimmt die absolute Monade, d.h. das absolute Individuum. Näherhin wird es von Schelling als das absolute Subjekt-Objekt dargestellt, welches sich in die von ihm als die Potenzen des Seins bezeichneten Sphären des (unendlichen) Subjekts (von ihm -A oder „Seyendes“ bezeichnet – causa materialis), des (unendlichen) Objekts (+A – causa formalis) und des (unendlichen) Subjekts/Objekts (+/-A – causa finalis) auseinanderlegt. Die Potenzen sind als Denkprinzipien nicht unproblematisch, da sie das SubjektPrädikat-Schema als Form des Urteils verabsolutieren. Zwar ist darin richtig erkannt, dass das transzendentale Ideal Kants der Verabsolutierung der Urteilsform entspringt, denn es ist die Idee in individuo und als solche absolutes Subjekt/Objekt! Dabei können wir uns auch an die Ausführung über die Monade erinnern, die als ebendiese Darstellung des Urteils aufgezeigt wurde. Näherhin ist sie nämlich als absoluter Kraftpunkt das absolute Subjekt (und damit absolute Potenz), als absolute Äußerung das absolute Objekt (reiner Actus des Sich-Äußerns) und als absolute Selbstvermittlung des Seins (der zureichende Grund als causa finalis) das absolute Subjekt/Objekt. Hiermit erweist sich in der Darstellung der reinrationalen Philosophie, dass Schelling in den Bahnen der leibnizschen Philosophie denkt! Kant zeigt nun, wie im Kantkapitel ausführlich dargestellt, das transzendentale Ideal als Denkprinzip, welchem kein Sein zukommen kann. Auch Schelling weiß um die transzendentale Wende Kants, weshalb er der negativen Philosophie die positive Philosophie folgen lässt. Dies bedeutet, dass die Potenzen ihren eigentlichen Gehalt nicht als allgemeine Denkprinzipien (und darin verabsolutiertes Urteil) haben, sondern als Weisen der Gottheit des sich in der Geschichte offenbarenden Gottes. Erst wenn die Einheit der Potenzen durch die Kenosis des Logos in ihrer geschichtlichen Wirklichkeit zur Geltung kommt und der Sohn Gottes (Logos) Ausdruck des freien Könnens des Vaters im Geist ist, wird die sich aus dem Subjekt-Prädikat-Schema ergebende Verräumlichung der Potenzen zurückgenommen, die auf diese Weise zu ihrer eigentlichen Ausdrucksmöglichkeit gelangen. Bereits an dieser Stelle lässt sich andeuten, dass die schellingsche Potenzenlehre als Hinführung zur Darstellung des trinitarischen Gottes verstanden werden sollte. Dementsprechend heben sich die Potenzen in der Offenbarung des trinitarischen Gottes als Vater, Sohn und Geist auf.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

Die Potenzen bilden zusammen das ens perfectissimum, das in der wohl 1841 entstandenen „Anderen Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie“ noch als der „letzte Begriff der negativen Philosophie“26 angesehen wird. In dieser Schrift wird darauf abgehoben, dass Gott als die natura necessaria, d.h. als der absolut Freie, sowohl gegen sich als das „unvordenklich Seiende“ – d.h. gegen sich als das Sein (Schelling spricht hier noch nicht von Individualität, weil diese bereits einen konkreten Actus voraussetzte), welches jedem Denken als „ineffabile“ zuvor und „Resultat“ einer angesichts des Absoluten außer sich gesetzten Vernunft ist – als auch gegen sich als das in Spannung getretene Seinkönnen (d.h. gegen die aktuierten Potenzen) frei ist27. Schelling schreibt demgemäß (mit offensichtlicher Spitze gegen Hegel)28, dass Gott sich „nicht zur Welt entäußert“, sondern Schöpfer ist, indem er sich seines „notwendigen“, „unvordenklichen Seyns“ zu entäußern vermag. In dieser Schrift wird also das Bestreben ansichtig, Gott jenseits der höchsten Denkmöglichkeiten anzusiedeln (aber auch jenseits eines unvordenklichen Seins, das er zwar wählen kann, aber genauso wie die Schöpfung völlig frei wählt, d.h. eine Pointe dieses Textes ist darin zu sehen, dass bereits Gottes unvordenkliches Sein vor aller Schöpfung Ausdruck einer Wahl, nicht aber ein ontologisches Prius ist). Gott ist Person – wobei hier noch nicht bestimmt werden kann, was Personsein bedeutet, denn die Pointe schellingscher Philosophie liegt darin, dass dies überhaupt nur in einem geschichtlichen Ereignis zum Ausdruck kommen kann – und als Person steht Ihm zu, „außer der Person, nach eigenem Willen zu seyn“ (EPhdM XI 281). Schelling bestimmt in seiner negativen Philosophie, wie A. Franz in seiner Habilitationsschrift „Philosophische Religion“ aufzeigt, den Geist als Willen. Dies ist jedoch noch nicht das letzte Wort Schellings, weil sich sowohl die Frage, was Wille, als auch die Frage, was Personsein bedeutet, erst von der positiven Philosophie und d.h. erst (offenbarungs)geschichtlich beantworten lassen.

Was sich in der „Anderen Deduktion“ bereits angedeutet hat, vollzieht Schelling endgültig in der „Darstellung der reinrationalen Philosophie“, nämlich über die Potenzen des ens perfectissimum hinaus das „Wollen als Setzen der Ichheit“ (EPhdM XI 464) als gleichsam letzten Schritt der negativen Philosophie anzusetzen. Der Unterschied zwischen negativer und positiver Philosophie wird also nicht (mehr) lediglich darin liegen, dass erstere nur zur Notwendigkeit des Begriffs kommt und in letzterer das unableitbare „Dass“ und damit das Geschichtliche und Freie zur Sprache kommt, sondern auch in der Funktion, die dem Willen zukommt. Bevor wir allerdings auf die „letzte Krisis“29 der negativen Philosophie eingehen, gilt es, den Gottes- bzw. Freiheits26

F.W.J. Schelling, Andere Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie, XIV 351. Vgl. F.W.J. Schelling, Andere Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie, XIV 339. 28 F.W.J. Schelling, Andere Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie, XIV 353. 29 Vgl. F.W.J. Schelling, EPhdM, XI 565. 27

4. DAS TRANSZENDENTALE IDEAL

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begriff, wie er sich in der „Darstellung der reinrationalen Philosophie“ ergibt, zu untersuchen. Dort wird zunächst der von uns bereits angeführte Gedanke aufgenommen, dass Gott die natura necessaria „vermöge des von seinem dasSeyende-Seyn [d.i. nothwendigen] unabhängigen Seyns [ist], wodurch er gegen jenes nothwendige Existiren frei wird und in sich seyn kann“ (EPhdM XI 317). In Folge wird es darum gehen, mit der „Idee in individuo“ des transzendentalen Ideals ernst zu machen. Gott ist nicht an bestimmte Prädikate gebunden, auch nicht an die Potenzen als allgemeinste Seinsweisen, sondern er ist der absolut Eine, A0. In der Abhandlung über die Quelle der ewigen Wahrheiten30 spricht Schelling – nachdem er Bezug auf Kants Lehre vom transzendentalen Ideal genommen hat – davon, dass „überhaupt nichts Allgemeines [existiert], sondern nur Einzelnes“, wobei er hinzufügt, „dass das allgemeine Wesen [nur] existiert, wenn [es] das absolute Einzelwesen [...] ist“, womit programmatisch der Satz ausgesprochen wird: „Nicht die Idee ist dem Ideal, sondern das Ideal ist der Idee Ursache des Seyns [...].“31 Die entscheidende Bestimmung Gottes ist also, das er das absolute Einzelwesen ist, wobei wir jetzt noch nicht in der Lage sind, zu würdigen, warum Schelling solches Gewicht auf diese Aussage legt. Bevor Gott als der Inbegriff aller Möglichkeiten angesehen werden kann – diese Bestimmung ist, wie Schelling ergänzt, lediglich ein Hinzugekommenes32 – ist er bereits absolute, individuelle, „atome“ Persönlichkeit. Die Frage, die Schelling nun zu stellen hat, ist, wie diese Singularität trotzdem als das allerallgemeinste Wesen bestimmt werden kann: Gott enthält in sich nichts als das reine Daß seines eigenen Seyns; aber dieses, daß er ist, wäre keine Wahrheit, wenn er nicht Etwas wäre – Etwas freilich nicht im Sinn eines Seyenden, aber des alles Seyenden –, wenn er nicht ein Verhältniß zum Denken hätte, ein Verhältniß nicht zu einem Begriff, aber zum Begriff aller Begriffe, zur Idee. Hier ist die wahre Stelle für jene Einheit des Seyns und des Denkens, die einmal ausgesprochen auf sehr verschiedene Weise angewendet worden. [...] Die Einheit, die hier gemeint ist, reicht bis zum höchsten Gegensatz; das ist also auch die letzte Grenze, ist das, worüber man nicht hinauskann. In dieser Einheit aber ist die Priorität nicht auf Seiten des Denkens, das Seyn ist das Erste, das Denken erst das Zweite oder Folgende. Es ist dieser Gegensatz zugleich der des Allgemeinen und des schlechthin [!] Einzelnen. Aber nicht vom Allgemeinen zum Einzelnen geht der Weg, wie man heutzutag allgemein dafür zu halten scheint.33

Es fällt auf, dass Schelling hier gar keine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem gibt. Zunächst hält er lediglich 30

31 32 33

Vgl. F.W.J. Schelling, Über die Quelle der ewigen Wahrheiten, XI 575-600. Diese Schrift aus dem Jahr 1850 wurde auf Geheiß Schellings der „Darstellung der reinrationalen Philosophie“ (EPhdM) als Anhang beigegeben. F.W.J. Schelling, Abhandlung über die Quelle der ewigen Wahrheiten, XI 586. Vgl. F.W.J. Schelling, Abhandlung über die Quelle der ewigen Wahrheiten, XI 589. F.W.J. Schelling, Abhandlung über die Quelle der ewigen Wahrheiten, XI 587.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

fest, dass der Ausgangspunkt Gott (oder deutlicher gesagt das „dass Gottes“) als der absolut Einzelne ist. Diese göttliche Einzelheit ist aber nicht ohne Verhältnis zum Denken – sonst wäre sie doch nur Wahnsinn –, sondern sie enthält die Idee, die aber ihrerseits nicht die absolute Persönlichkeit Gottes enthält, d.h. es findet kein spekulativer Schluss von Einzelnem und Allgemeinem statt, vielmehr bleibt eine letzte Grenze bestehen, die gewissermaßen die Unaussprechlichkeit der absoluten Einzelheit Gottes wahren soll. Es gilt im Folgenden die Frage nach dieser Grenze zu stellen, was uns einen weiteren Schritt in Richtung positiver Philosophie bringen wird.

5. Freiheit als Erlösung aus dem und durch den Tod Bevor wir uns dieser Grenze zuwenden, ist es nötig, in aller Kürze – entscheidende Motive werden im Zusammenhang der PhdO ausführlicher behandelt – das Verhältnis des freien Gottes zu den Potenzen zu betrachten. Wir haben bereits auf die drei Potenzen (absolutes Subjekt, absolutes Objekt, absolutes Subjekt/Objekt)34 als (die höchsten denkbaren) Seinskonstituenten hingewiesen. Der zureichende Grund ihrer Aktualisierung liegt aber nicht in ihnen selbst, sondern in A0, d.h. dem freien Schöpfungshandeln Gottes, das sich als absolutes Subjekt setzen kann. Schelling schreibt in der „Darstellung der reinrationalen Philosophie“: Das Seyende im Seyenden waren nicht die drei Ursachen als solche, d.h. in ihrer Unterscheidung und Entgegensetzung; da war keine etwas für sich und in ihrem nicht-für-sich-Seyn waren sie das Seyende; in ihrem Hervortreten aber, da jede außer der anderen, sind sie nicht mehr das Seyende, sondern nur noch die Materie, der Stoff derselben. Dieses Seyende, das sie waren, kann jedoch nicht verloren gehen, denn gerade dieß war das auch im Gedanken einzige Wirkliche, die drei Potenzen aber in ihrem Auseinandergehen das bloß Mögliche: die Einheit war, ehe an die Zertrennung gedacht wurde, das prius, das durch die nachfolgende nicht aufgehoben werden kann.35

Erst im Zusammenhang der PhdO besteht die Möglichkeit, die Potenzenlehre in ihrer tieferen Bedeutung als Versuch, Mythos und Logos zu vereinigen, darzulegen. Aus der Sicht der negativen Philosophie kann festgehalten werden: Gott als der freie Schöpfer schafft nicht aus einem vorausliegenden Nichts, und der Aspekt einer creatio ex nihilo hat – wie wir noch in den Ausführungen zur positiven Philosophie sehen werden – hat seinen Sinn darin, als dieses „aus dem Nichts“ existentielle Bedeutung (im Sinne des Bestehens der Frage „Warum überhaupt etwas...“) gewinnt (dies gilt wohl auch für die entspre34 35

Vgl. auch F.W.J. Schelling, Philosophie der Mythologie, XII 51. F.W.J. Schelling, EPhdM, XI 400f.

5. FREIHEIT ALS ERLÖSUNG AUS DEM UND DURCH DEN TOD

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chende Stelle aus 2 Makk 7,28). Vielmehr schafft Gott aus (der Differenz) Gott(es) selbst!36 Um die Welt nicht als Emanation aus sich hervorgehen zu lassen, besitzt Gott die drei Potenzen als Seinsmöglichkeiten, die er in Spannung setzen kann, wobei in dieser Spannung Welt erschaffen wird. Gott ist als das absolute Prius daher frei gegen die Potenzen, die, durch Gott „nach außen gekehrt“, auseinandertreten. Er kann dabei nicht mehr unmittelbar als deren Einheit auftreten – wenngleich er in einem in der PhdO noch näher zu bestimmenden Sinne der Idee nach deren Einheit bleibt –, weil dies ihre Selbständigkeit aufheben würde. Worin besteht nun aber die Einheit der Potenzen? Schelling hebt darauf ab, dass diese Einheit in einem „Actus“ liegt37. Das erste Moment desselben ist das Heraustreten der ersten Potenz, wodurch die Potenzen in eine Spannung versetzt werden. Die erste Potenz als Materie (subiectum) tritt als expandierende, grenzensprengende (a-peiron) und damit „abgründige“ Kraft hervor und muss durch die zweite Potenz als Form wieder in die ursprüngliche Grenze zurückgeführt werden (zweites Moment). Auch hier könnte an die Monadologie von Leibniz erinnert werden: Denn die Monade als Subjekt tritt sozusagen in der Geburt, die eodem actu die Geburt des gesamten Universums ist, aus der absoluten Einheit des Seins in die Spannung endlicher Existenz heraus und ist erst dann wiederum geschlossen, wenn sie in ihrer Äußerung (Prädikat) das Universum spiegelt (wobei dieses „wiederum“ natürlich relativiert werden muss – an sich, d.h. in den Augen Gottes, ist die Monade zureichend begründet, die Zeit ist aber das bewegte Bild dieser Ewigkeit). Dies kann empirisch gesehen als Gang durch die Geschichte betrachtet werden, indem die Monade die harmonia mundi (d.h. die zureichend begründete Welt) immer durchsichtiger zu machen hat. Eine endgültige Schließung und damit die Setzung der Monade als Subjekt/Objekt, d.h. als Geist gibt es bei Leibniz erst mit dem Tod, der zugleich (durch die Liebe Gottes als zureichenden Grund bewirkte) Auferstehung zur Schau Gottes als der ewigen Monas Monadum ist.

Die dritte Potenz wird durch die Überwindung der ersten durch die zweite Potenz (deren Triebfeder die dritte Potenz als causa finalis ist) wiederum aus ihrer „Ortlosigkeit“ befreit und als Geist hergestellt (drittes Moment). Die hergestellte Einheit der drei Potenzen, also die Durchgeistigung des Materiellen bzw. die Materialisierung des Geistigen, die Einheit von Möglichem und Wirklichem, nennt Schelling nun die Weltseele a0. Diese ist nicht einfach „bloßes Abbild“, sondern „Gleich- oder Ebenbild“ Gottes, in dem alles Seiende, welches in dieser Weltseele „wiederhergebracht“ wird, sein Prinzip und Ziel hat.38 Der Status dieses Zieles ist aber nicht unmittelbar bestimmbar. Denn einerseits ist mit dem Ausdruck „Ebenbild Gottes“ eindeutig auf den Menschen 36 37 38

Vgl. F. Meier, Transzendenz und Wirklichkeit Gottes 256-259, der diesen Aspekt des schellingschen Denkens heraushebt. Vgl. F.W.J. Schelling, EPhdM, XI 412. Vgl. F.W.J. Schelling, EPhdM, XI 416f.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

angespielt, andererseits aber ist hier noch nicht vom menschlichen Individuum zu sprechen. Schelling drückt dies an anderer Stelle dezidiert aus, wenn er betont, dass diese „Seele“ der „Mensch [...] als Möglichkeit ist“, d.h. der Mensch seiner „intelligiblen Ordnung“ bzw. „seiner Idee“ nach, die „älter ist als die wirklichen Menschen“, wobei – dies ist ein wichtiger Aspekt in Bezug auf die im vorigen Kapitel angestoßene Frage nach dem Allgemeinen – diese „Idee“ (a0) „dem ganzen Seyenden“ gleich ist (EPhdM XI 528f). Die Weltseele ist also gewissermaßen der „urständliche“ Mensch, der die Einheit (aber nicht der absolute Herr) der Potenzen als die Schöpfung in sich beschließende Weltseele ist. Allerdings ist damit noch nicht der Schritt zur konkreten Individualität in ihrer Ambivalenz gemacht. Wir befinden uns im Status einer Seele, die harmonia mundi ist. Bei Leibniz hebt sich tatsächlich die Individualität der Monade in das ewige Leben der Monas Monadum auf, die eigentlich Weltseele ist, da ihr keine unabhängige Freiheit entgegensteht. Denn die Monade ist im ewigen Leben Schau Gottes sowohl im Sinne eines Genetivus Subjectivus als auch im Sinne eines Genetivus Objectivus. Gegenüber Leibniz akzentuiert Schelling das Moment des „Urzufalls“, der freien Wahl, die aber als freie Wahl endlicher Wesen die Welt als zureichend begründete und daraus folgend deren Einheit zersprengt.

Schelling muss daher in einem weiteren Schritt den Übergang von der (Welt)seele zum (individuellen) Geist aufzeigen. Dazu führt er aus, dass „in a0 ein doppelter Wille (zwei Menschen)“ ist, nämlich einerseits der ursprüngliche, andererseits der gefallene Mensch, wobei sich „nach dem einen Willen [...] a0 gegen Gott als Potenz“ verhält, d.h. „die Seele wird die Seele, die sie seyn soll, d.h. die das Göttliche berührt und allem andern den Eingang in das göttliche Seyn vermittelt“, während sich „nach dem andern Willen die Seele Gott“ versagt, womit sie nicht nur ihr eigenes Ziel verfehlt, sondern „macht, daß auch alles andere hinter dem Ziel zurückbleibt“ (EPhdM XI 419). Die Rede ist vom Sündenfall, auf den wir noch im Zusammenhang der PhdO eingehen werden. In Bezug auf die Frage nach dessen Notwendigkeit ist eine Anmerkung, die Schelling an dieser Stelle macht, interessant: „Die andere Seite des (abfallenden) Menschen [d.i. der ursprüngliche, mögliche Mensch] kann in dieser Entwicklung nun keine Stelle finden: sie ist die ausgeschlossene; wohl aber ist auch auf dem gegenwärtigen Standpunkt der Vernunftwissenschaft einzusehen, daß dieser andere Mensch ein zukünftig möglicher ist.“ (EPhdM XI 419) In diesen Sätzen deutet sich die Tragweite des Sündenfalls an: Schelling weiß zwar einerseits, dass mit dem Fall auch die Individualisierung des Menschen – und damit überhaupt der Glaube an einen persönlichen Gott – möglich ist, andererseits will er ihn aber nicht als notwendiges Geschehen bestimmen, um sich die Möglichkeit eines u-topischen zukünftigen Menschen nicht zu verstellen. Der gegenwärtige gefallene Mensch soll gegenüber dem Abgrund des Nichts am U-topos Halt finden, also gewissermaßen Heimat in der Heimatlosigkeit der Zukunft ... Da in der Weltseele die Schöpfung und

5. FREIHEIT ALS ERLÖSUNG AUS DEM UND DURCH DEN TOD

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damit (wie wir in den Weltaltern gesehen haben und wie sich auch in der PhdO zeigen wird) die Zeit zu einer inneren wenngleich mangels Freiheit noch nicht konkreten Einheit kommt, bedeutet deren Zerbrechen auch das Zerbrechen der Schöpfung. Die Ewigkeit, die die Weltseele ist, wird durch den Fall ihres Einheitspunktes, d.h. des Logos der Weltseele beraubt. Schelling nimmt also mit äußerster theologischer Präzision die paulinische Theologie auf und lässt den Tod aus dem Fall entspringen, weil durch den Fall die Verbindung mit der Ewigkeit zerrissen ist. Die diesbezüglichen Worte des Paulus lauten: „Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod, und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten.“ (Röm 5,12) Heute wird dieses „alle“ vielfach nicht mehr verstanden (so etwa auch in dem ansonsten durchaus lesenswerten Buch von F. Hermanni39, der von einem „Konstrukt des alle Menschen einigenden “40 spricht), zumal nicht begriffen wird, dass der Mensch immer schon das Tun der Menschheit vollzieht. Die Vorstellung einer undialektischen und d.h. „individualistischen“ Wahlfreiheit gehört, wie bereits Leibniz gesehen hat, in die Welt metaphysischer Märchen. Könnte die Freiheit so begriffen werden, wäre sie nichts anderes als hypostasierte Zufälligkeit und damit wiederum schicksalshafte Notwendigkeit. Ist die Freiheit nicht zureichend begründet, dann ist sie, weil sie ist. Dies kann im Sinne des hegelschen Begriffes verstanden werden, aber auch im Sinne eines schicksalhaften Geschehens.

Schelling zeigt im Folgenden den Schritt zur Individualisierung auf. Dieser wird als „Wollen“ bestimmt, das sich nicht mehr „natürlich“ im Sinne einer Emanation in das „Seyn“ erhebt, da dieses ja bereits in der Weltseele als Einheit von Akt und Potenz, von Wirklichkeit und Möglichkeit und damit als allgemeines und gewissermaßen vollendetes „Seyn“ gefasst wurde. Vielmehr ist dieses Wollen „reine That“, das von „Materialität Freie“, d.h. das von jeder Allgemeinheit und damit auch von jedem Begründungszusammenhang Losgelöste. Insofern ist dieses Wollen „nicht wieder Seele, sondern nur Geist zu nennen“ und es hat „nichts von einem Was“, sondern ist „das reine Daß, ohne alle Potenz, [...] somit in der That wie Gott [...]; ein völlig Neues, etwas das zuvor schlechthin nicht war, ein rein Entstandenes, das doch ewigen Ursprungs ist, weil es keinen Anfang hat, sondern sein selbst Anfang ist, seine eigne That, Ursache seiner selbst [...], jenes rein sich selbst Setzende, mit dem“, wie Schelling hinzufügt, „Fichte einst einen größeren Griff gethan, als er selbst wußte“ (EPhdM XI 419f). Bedeutsam ist, wie Schelling in dieser Passage die Tat bestimmt: Sie ist der Aktus des Sich-Selbst-Setzens und entspricht damit nicht nur der fichteschen Tathandlung, sondern auch der intelligiblen Wahl, die Kant in der Religionsschrift angedeutet hat und die Schelling in der Freiheitsschrift behauptete. In 39 40

F. Hermanni, Die letzte Entlastung. F. Hermanni, Die letzte Entlastung 253.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

dieser ursprünglichen Tat – die im Gegensatz zum Spinozismus nicht aus einer göttlichen Substanz abgeleitet werden kann, sondern absoluter Anfang und damit auch Anfang der Welt (!) ist – vollzieht sich in der Freisetzung der Potenzen das (Heraus-)Setzen der Welt, die aus dem Zentrum der ursprünglichen Einheit geworfen nicht mehr die Weltseele als ewigen Mittelpunkt findet. Entscheidend ist also, dass Schelling dieses Sich-Selbst-Setzen als absolute Tathandlung mit dem Sündenfall in Verbindung bringt, den er, insofern das Verhängnis des Todes bedeutend, äußerst ambivalent sieht. Denn auch wenn dieser Geist „der unrechte, weil der Gott sich entziehende [sey]“, womit er „der Vergänglichkeit unterworfen [ist]“, so muss doch eingeräumt werden, dass die „gegenwärtige Philosophie [...] die Welt außer Gott will und jenes Wollen als das Prinzip feiert, vermöge dessen sie die bloße Ideenwelt überwindet, weil die sinnliche Natur selbst, wäre sie ihrer bewußt, [...] es feiern würde, weil sie ihm verdankt, aus dem Reich des Allgemeinen in die Welt des freien und eignen Lebens versetzt [...] zu seyn“ (EPhdM XI 420). Schelling betont aber, dass „jenes Wollen“ und damit der Fall und die mit dem Fall verbundene Individualität „nur der Anfang, nicht das Ende, mit dem sich erst jedes Urtheil bestimmt“ sein kann (ebd.). Aus dieser Stelle geht also nicht nur die Ambivalenz, die Schelling dem Fall zumisst, hervor, sondern auch in aller Deutlichkeit – und dies ist entscheidend in Bezug auf die weitere Schellingauslegung –, dass er die absolute Tathandlung nur als Anfang, nicht als letztes Wort in Bezug auf die Freiheitsproblematik betrachtet. D.h. es deutet sich bereits an dieser Stelle an, dass sich der Freiheitsbegriff Schellings erst im Kontext der positiven Philosophie erschließt. Erhellend ist in diesem Zusammenhang wieder der Vergleich mit Leibniz (dessen System der höchst entfaltete Spinozismus ist!). Bei ihm ist die Monade zwar anfangenkönnend, aber zureichend begründet nur im Wollen Gottes. Schellings absolute Tathandlung dagegen hat keinen zureichenden Grund außer den Aktus des Wollens selber.41 D.h. die Welt ist abgründig, todesverfallen, weil mit der Trennung (von) der Seele im Sich-Wollen diese auch nicht mehr als zureichend begründet erfahren werden kann. Es ist nicht mehr Gottes Liebe, die der Grund ist, „warum die Welt so und nicht anders ist“, und in diesem Grund auch die Frage beantwortet, warum überhaupt etwas ist und nicht nichts („ist“). Daher gibt es keinen Grund mehr, nicht in den Abgrund zu fallen. Das Wollen, in das sich die Tathandlung zusammenzieht, ist „ein rein in sich entspringendes“, welches „keine Ursache [...] außer sich selbst hat“ (EPhdM XI 464). Ohne letzten Grund in Gott fällt es dem „Seyenden, und 41

A. Franz schreibt über dieses Wollen, wie es uns in Schellings negativer Philosophie begegnet (A. Franz, Philosophische Religion 253.255): „Die Welt ist für Schelling nichts als seinsloser, vorübergehender, ungründiger Wille (-A), der zu beherrschen ist, weil er in sich ein vergängliches Geschehen ist, ein vorübergehender Zustand. [...] Die Tragik des prometheischen Strebens findet somit darin ihre höchste Spitze, daß der selbst-sein-wollende Geist durch diesen seinen Willen, der ihn von Gott entfernt, zugleich in Wahrheit seines eigenen Selbst beraubt wird [...].

5. FREIHEIT ALS ERLÖSUNG AUS DEM UND DURCH DEN TOD

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zwar als zufällig materiellem“ anheim und ist damit nicht mehr der gottunmittelbaren (Welt)seele gleich, sondern „wird durch jenes Wollen zur individuellen, denn dieses Wollen eben ist das Individuelle in ihr“ (ebd.). Mit dieser Setzung der (zufälligen) Individualität „aber ist eine unendliche Möglichkeit anderer, gleichberechtigter, ebenfalls individueller Seelen gesetzt, an welche je nach vorbestimmter Ordnung und nach der jeder zukommenden Stelle die Reihe des Wollens, d.h. des Actes kommt, durch den jede sich selbst und mit sich die Welt aus der Idee setzt, so daß zur Wahrheit wird, daß [...] der unergründliche Act der Ichheit eines jeden zugleich der Act ist, durch den für ihn diese Welt – die Welt außer der Idee – gesetzt ist“ (ebd.). Mit der Setzung der Welt durch das Ich bzw. der Ichheit erhält zwar die Welt ein individuelles Gepräge, sie verliert aber dabei den zureichenden Grund und regrediert zum zufälligen (oder, was das Gleiche ist, blind notwendigen) Geschehen, womit sich bereits das schicksalhafte Walten der Mythologie andeutet. Die Welt ist nicht mehr Spiegel des Logos, sondern Produkt eines alogischen Willens, wobei die erste Potenz (das im Sich-selbst-Setzen sich verloren habende Subjekt) die Chiffre dieser Alogizität ist. Schelling betont allerdings auch, dass gerade in diesem trennenden Actus sich der Übergang von der (Welt-)Seele zum Geist vollzieht, der, wie wir bereits zitiert haben, „überhaupt nichts von einem Was hat“, sondern das „reine Dass“ ist. Die weitere Entwicklung sieht nun Schelling darin, dass der abgetrennte Geist von sich, d.h. von seinem Willen ablassen und wieder zur Seele werden muss. Er hat nach seiner Scheidung folgende Entscheidung vor sich, die sich endgültig bei der Abscheidung vom Leib manifestiert, nämlich „entweder [...] Gott mit Freiheit [sich] zu geben, oder [...] die Welt an sich zu reißen“ (EPhdM XI 474). Eindringlich warnt Schelling, dass in letzterem Fall der Geist als „ein so mit der Welt [als Produkt des zufälligen Willens] verwachsener“, „nun auch wirklich frei und losgerissen von ihr, nicht von ihr lassen können“ wird (ebd.). Dieser Geist wird „beständig, obwohl umsonst, in sie [die Welt] zurückverlangen“ und doch nur „Unseligkeit, Unruhe und ein[en] immerwährende[n] Verlust des Lebens, das er nicht wieder erlangen kann“ erleiden (ebd.). Dagegen wird der Geist, der „schon während dieses Lebens soviel möglich als ein Abgeschiedener gelebt hat [...] nun wirklich abgeschieden und jedes Bezugs auf das Außergöttliche frei und ledig und ganz bloß er selbst“ (EPhdM XI 475). Er wird daher die Trennung als Möglichkeit sehen, „sich ganz dem Göttlichen zu[zu]wenden und mit dem ganzen Reichtum des erworbenen Bewußtseyns sich gegen Gott zur bloßen Potenz [zu] machen“, sodass er „in diesem Act“ wiederum „zur Seele“ wird und so „mit Recht ein seliger genannt werden kann“ (ebd.). In dieser Passage ist also zunächst vom Schicksal der Verstorbenen die Rede, allerdings geht sie insofern darüber hinaus, als deren Schicksal sich nicht vom Leben überhaupt separieren lässt. Der sichselbstsetzende Mensch trennt sich von der Welt. Er ist leeres „Dass“ des Willens, der sich ihm nur äußerlich, d.h. rein weltlich füllen kann. Der Mensch, der will, will sich als die Welt. In

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

Bezug auf den Tod deutet sich in dieser Passage eine ambivalente Stellung an: Einerseits ist der Tod das Schicksal des getrennten Geistes oder noch schärfer formuliert dessen Abgrund. Auf der anderen Seite aber ist der Tod Segenszeichen, indem er die letzte Krisis darstellt, durch die das Tun ein Von-sichAblassen wird, wie dies von den Seligen gesagt werden kann. Der Tod setzt den Menschen sozusagen an den Ort, wo seine Heimat ist. Schelling nennt sie hier die Seligkeit, wobei man aber Acht geben muss, diese nicht falsch zu interpretieren: Sie ist keine absolute Selbstverwirklichung des sich selbst setzenden Ichs, denn diese war der Fall. Es ist hier nicht vom Ich die Rede, welches sich als das absolut seins- und zeitmächtige Ich setzt, sondern die absolute Macht dieses Willens ist gleichzeitig die absolute Ohnmacht. Der Tod kann nur dann als heilvolles Geschehen anerkannt werden, wenn er als absolutes Seinlassen dieser Welt verstanden wird. Dieses Seinlassen ist die Freiheit von der Welt und die Freiheit zu Gott. Das Moment der Anerkennung manifestiert sich also in der Anerkennung Gottes als des transzendenten Herren, der jeden Ort, den sich das Ich in der Welt gibt, „entortet“ (vielleicht kann bereits angedeutet werden, dass sich hier die Zeit als dieser Nicht-Ort „meldet“) und somit Freiheit jenseits schicksalshafter Zufälligkeit überhaupt erst ermöglicht.42 Diese Freiheit kann nach dem bisher Gesagten folgendermaßen charakterisiert werden: Es handelt sich nicht um die Freiheit einer intelligiblen Wahl, sondern um die Freiheit des Ablassens vom Sein, die sich in der positiven Philosophie gleichzeitig als Befreiung von einer Welt zeigen wird, die durch den Selbstwillen des Menschen den zureichenden Grund verloren hat, wobei diese Abgründigkeit die Gestalt des Todes annimmt. Freiheit ist also Freiheit vom Tod, die sich im Verzicht einstellt. Der Tod ist damit nicht mehr Transitus in den Abgrund des Nichts, sondern wird den Charakter der Taufe, d.h. des Seins in Christus annehmen. Dieses Ablassen wird von Schelling dabei am Ausgang seiner „Darstellung der reinrationalen Philosophie“ als eigentlicher Umschlagspunkt zur positiven Philosophie dargestellt. Konkret spricht er in diesem Zusammenhang von einer letzten Krisis der Vernunftwissenschaft.

6. Das Scheitern menschlicher Selbstverwirklichung Vor dieser letzten Krisis sucht allerdings der Geist noch andere Wege dieses Ablassens um der Wiederfindung Gottes willen43, wobei Schelling fast parallel 42

43

W. Ehrhardt schreibt (W. Ehrhardt, F.W.J. Schellings Gottesbegriff 134): „Die Schöpfung zielt auf Menschheit, auf den Menschen, der in uns allein lebt, der frei sein kann, weil er frei sein soll. Abhängigkeit [...] entsteht erst mit dem Fall, der eben darin besteht, ein Sein statt Freiheit als Höchstes zu wollen.“ Vgl. A. Franz, Philosophische Religion 256f.

6. DAS SCHEITERN MENSCHLICHER SELBSTVERWIRKLICHUNG

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zum Gang der hegelschen Enzyklopädie den Staatsdienst44, die Frömmigkeit45, die Kunst46 und die philosophische Wissenschaft47 (in der EPhdM als „kontemplative Wissenschaft“ bezeichnet) nennt. Entscheidend ist aber, dass keine dieser Tätigkeiten die „Umkehrung“ (hin zu Gott) erreicht. Möglicherweise in Anspielung auf die hegelsche Philosophie sagt Schelling, dass die „contemplative Wissenschaft“ zum „bloß ideellen Gott“ führt, bei dem „das Ich sich etwa dann [...] beruhigen“ könnte, „wenn es beim beschaulichen Leben bleiben könnte“, im tätigen Leben reiche „dieser Gott des Endes“ aber nicht mehr zu (EPhdM XI 559f). In der Anmerkung zu der hier zitierten Textstelle führt Schelling aus, dass der Gott des Endes Gott als Finalursache ist. Damit ist – zumindest indirekt – der Vorwurf an Hegel erhoben, dass dessen Gott in Wirklichkeit naturanaloges Wesen ist, nichts anderes als Finalursache der Geschichte. Anders gesagt: Der Gott, der sich in der Geschichte verwirklichen muss, ist von der gleichen Notwendigkeit getrieben wie etwa eine Frucht, die die Finalursache ihres Samens darstellt. Subtiler könnte man die hier angeführte Passage dahingehend auf Hegel beziehen, dass seine Philosophie in der Abgründigkeit der realen Welt nicht „erschwinglich“ ist, dass Hegel sich sozusagen schon in einer Sphäre der Unendlichkeit aufhält, die menschlicher Endlichkeit unerreichbar ist. Eine zweite Kritik Schellings betrifft das Ungenügen theoretischen Erkennens, wobei auch hier die hegelsche Philosophie im Blick sein dürfte. Schelling verneint ausdrücklich die Möglichkeit einer Identitätsgebung im theoretischen Wissen, weil dieses durch das Handeln, hinter das der Mensch nicht zurück kann, unterbrochen ist. Genau wie Hegel ist aber auch Schelling nicht der Meinung, dass sich der Mensch in seinen Herstellungen – und seien es auch der Staat oder das Kunstwerk als geistvollste Ausdrucksweisen menschlichen Tuns! – verwirklichen könnte, da diese wiederum lediglich Ausdruck seines Willens wären. Einen Ausweg sieht er daher nur in der letzten Krisis der Vernunftwissenschaft.

44

Vgl. die 23. Vorlesung der „EPhdM“! Vgl. F.W.J. Schelling, EPhdM, XI 557. 46 Vgl. F.W.J. Schelling, EPhdM, XI 557. 47 Vgl. F.W.J. Schelling, EPhdM, XI 558. 45

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

7. Die zweifache Krisis der Vernunftwissenschaft als Übergang in die positive Philosophie und die Zeitigung des Seins Die entscheidenden Passagen in Bezug auf diese Krisis finden sich am Ende der „Darstellung der reinrationalen Philosophie“: Wenn das Prinzip zum Anfang gemacht wird [...], so hört dasselbe auch auf bloße Idee oder in der Idee zu seyn: es wird aus seinem Begriff gesetzt, aus der Vernunft, in der es eingeschlossen war, befreit, aus der Idee ausgestoßen. Zugleich geschieht eine Umkehrung des bisherigen Verhältnisses zwischen dem was das Seyende ist (A0) und dem Seyenden (-A+A+/-A). Denn da jenes Anfang (prius) wird, kann dieses, übrigens nicht von ihm zu Trennende, nicht mehr von ihm vorausgehen, es muß ihm also nachfolgen, und das erste Problem wird seyn, zu zeigen, wie Letzteres möglich ist. Indeß sind wir noch nicht so weit. Denn es bleibt uns jetzt vor allem die Hauptfrage zu beantworten: von wem jene Ausstoßung A0´s aus der Vernunft und die damit zusammenhängende Umkehrung – worin der Uebergang zur positiven Philosophie besteht – ausgeht. Hier ist nun zu sagen, daß sie nicht vom Denken ausgehen kann. [...] Dazu bedarf es vielmehr eines praktischen Antriebs; im Denken aber ist nichts Praktisches, der Begriff ist nur contemplativ, und hat es nur mit dem Notwendigen zu thun, während es sich hier um etwas außer der Nothwendigkeit Liegendes, um etwas Gewolltes handelt. Ein Wille muß es seyn, von dem die Ausstoßung A0´s aus der Vernunft, diese letzte Krisis der Vernunftwissenschaft, ausgeht, ein Wille, der mit innerer Notwendigkeit verlangt, daß Gott nicht bloße Idee sey. Wir sprechen von einer letzten Krisis der Vernunftwissenschaft: die erste nämlich war die, daß das Ich aus der Idee ausgestoßen wurde, womit zwar der Charakter der Vernunftwissenschaft sich änderte, sie selbst aber blieb; die große, letzte und eigentliche Krisis besteht nun darin, daß Gott, das zuletzt Gefundene, aus der Idee ausgestoßen, die Vernunftwissenschaft selbst damit verlassen (verworfen) wird. Die negative Philosophie geht somit auf die Zerstörung der Idee (wie Kants Kritik eigentlich auf Demüthigung der Vernunft) oder auf das Resultat, daß das wahrhaft Seyende erst das ist, was außer der Idee, nicht die Idee ist, sondern mehr ist als die Idee [...].48

Schelling spricht hier von zwei Krisen der Vernunftwissenschaft, die eine Umkehrung erfordern: Die erste Krisis war das Herausgesetztsein des Menschen aus der Weltseele, aus einer Welt, die als zureichend begründet erkannt werden kann. Im Handeln hat sich der Mensch in eine Fremde begeben, die ihm jede innerweltliche Aufgehobenheit versagt. Auch eine Rücknahme des Handelns in eine kontemplative philosophische Schau ist dem Menschen versagt (das Gleiche gilt für eine mystische Vereinigung mit Gott, für die Schelling nicht Partei ergreift). Der einzige Ausweg ist, die Krisis gewissermaßen zu verschärfen, den alogischen Sprung der ersten Krisis in einem zweiten lo48

F.W.J. Schelling, EPhdM, XI 565f.

7. DIE ZWEIFACHE KRISIS DER VERNUNFTWISSENSCHAFT

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gisch unableitbaren Sprung zu komplettieren. Der Mensch muss, wie wir in den Ausführungen über den Tod und die Unsterblichkeit gesehen haben, sein Abgetrenntsein dahingehend radikalisieren, dass er auf weltliche Vereinigungen (Identitätsgebungen) verzichtet. Da selbiges aber auch für religiöse Vereinigungen gilt, bleibt ihm nur mehr eine radikale Umkehr: Nämlich die Übergabe seines Lebens und Willens an den Herrn des Seyns, die mit einer Selbstbegrenzung der Vernunft einhergeht. Diese Selbstbegrenzung wird sich bei Hegel als Ablassen vom eigenen Geltungsanspruch zeigen. Bei Schelling ist es sozusagen ein traumatischer Bruch, in dem sich erst wirkliche Zeit und wirkliche Geistigkeit konstituieren. Oder anders gesagt: Die Menschheit ist eingebettet in zwei Traumata, die beide nicht als notwendige eingesehen werden können, weil dies ihren traumatischen Charakter verharmlosen würde. Das erste Trauma ist der Fall, das zweite Trauma ist das Gottesbekenntnis, der Sprung aus allen Fixierungen und Verortungen in der Welt. Damit reduziert sich der Gegensatz von Hegel und Schelling in der Einschätzung des Sündenfalls. Bei Hegel ist der Fall ein Anfang, der, wie jeder Anfang, nicht unmittelbar zugänglich ist. Von daher liegt dem Fall kein äußerlich notwendiges „Vorher“ zu Grunde, aus dem er folgt. Ähnliches gilt auch bei Schelling: Der Fall ist ein traumatisches Geschehen, dessen Sinnhorizont erst eschatologisch erschlossen werden kann. Dabei bleibt es aber – figurativ gesprochen – unbekömmlich, dem Fall unmittelbar zu nahe zu treten, weil er sich in dieser Unmittelbarkeit nur als traumatisches Geschehen „mitteilt“.

Hegel wird die Ortlosigkeit, in der sich der Mensch erkennt, im Sinne einer Anerkennung des Anderen konkretisieren – allerdings nicht als Folge einer Herstellung des Menschen, sondern als Vollzug des „Sich-anders-Werdens“, in dem der Anfang Gottes zu finden sein wird. Schelling setzt einen anderen Akzent: Bei ihm hängt alles an der – natürlich ebenfalls nicht als herstellendes Hervorbringen aufzufassenden – Anerkennung des persönlichen Gottes49, der allein retten kann. Er schreibt demgemäß mit großer Emphase, dass das Leben „nach Gott selbst verlangt“ (EPhdM XI 566). Fast als Aufschrei steht der Satz: „Ihn, Ihn will es haben, den Gott, der handelt, bei dem eine Vorsehung ist, der als ein selbst thatsächlicher dem Thatsächlichen des Abfalls entgegentreten kann, kurz der der Herr des Seyns ist.“ (ebd.) An dieser Stelle kommt Schelling noch einmal auf das Verhältnis von singulärer Person und Allgemeinheit zu sprechen und bestimmt nun den Sinn „des contemplativen Lebens“ dahin, „über das Allgemeine zur Persönlichkeit durchzudringen“, denn, so Schelling, „Person sucht Person“ (ebd.). Allerdings gelangt die Philosophie nur zur Not49

A. Franz hat den Verfasser dieser Arbeit auf eine mögliche Nähe von Augustinus und F.W.J. Schelling hingeweisen, die sich im Lichte des hier Ausgeführten wohl nur bestätigen lässt. Es war in dieser Arbeit kein Raum für eine Interpretation der augustinischen Zeitlehre, die – unmittelbar genommen – die Ewigkeit als Vertilgung der Zeit vorstellt (vgl. K. Flasch, Was ist Zeit?). Allerdings stellt sich die Frage, ob man Augustinus nicht von seinen Fragestellungen her noch einmal „quer“ lesen könnte. Dabei wäre sicherlich eine Untersuchung der Rezeption der augustinischen Schriften durch Schelling hilfreich.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

wendigkeit der „Idee“, d.h. zu einem „transmundanen Gott“, nicht zum freien, „extramundanen“ (transzendenten) Gott, der „allein das wirklich höchste Gut“ ist, weil nur er den Unheilszusammenhang der Welt zu durchbrechen vermag, d.h. „als ein selbst thatsächlicher dem Thatsächlichen des Abfalls entgegentreten kann“ (ebd.). Schelling fügt hinzu, dass gerade um dieser freien Unverfügbarkeit der absoluten göttlichen Individualität willen dieser Gott auch außerhalb der Idee und damit der Vernunft ist – sola gratia ohne jede Möglichkeit der Verrechenbarkeit, weshalb die „erwartete Seligkeit [...] getrübt würde, wenn [...] sie noch als (wenigstens mittelbares) Erzeugnis des [sei es gedanklichen, sei es praktischen] Tuns“ aufgefasst werden könnte (EPhdM XI 567). Wenn Schelling in diesem Abschnitt die Supramundanität von der Transmundanität Gottes abhebt, will er zum Ausdruck bringen, dass Gott nicht (als Methode, „Denken des Denkens“ etc.) in der Welt im Sinne eines Prinzips verortbar ist. Diese Supramundanität ist nicht im Sinne eines „räumlichen“ Jenseits zu verstehen (obwohl ein die Dialektik abhaltendes Denken nicht zufällig auf räumliche Metaphern zurückgreifen wird), sondern im Sinne einer uns auch bei Hegel begegnenden „Ortlosigkeit“, die es verbietet, das Erlösungsgeschehen aus innerweltlichen Handlungsvollzügen hervorgehen zu lassen. Was Schelling ansetzt, ist, dass dieser „andere Ort“ den Sprung in die (Offenbarungs-)Geschichte bedeutet, denn die mit der mundanen Ortlosigkeit Gottes verbundene Transzendenz und Singularität wirft im Versuch der tradierenden Versprachlichung die Wer-Frage auf. Jeder Ausblick auf eine wie immer ge-art-ete Wesensfrage greift dabei zu kurz. Der schellingsche Satz „Person sucht Person“ macht deutlich, dass eine Geschichte, die nicht in einem negativen Mythos à la Jean Pauls Horrorvision der „Rede des toten Christus“ oder im komödiantischen Gestus von Nietzsche enden soll, die Offenbarung einer Erzählung verlangt, in der unsere Geschichte als Geschichte Gottes betrachtet werden kann. Hegel zufolge darf dies nicht in formallogischer Identität verstanden werden. Die Art und Weise, wie Gott den Sterblichen entspricht, ist für diese nicht durchschaubar. Die Nichtdurchschaubarkeit ist wiederum die Anerkennung der Dignität der Endlichkeit des Menschen, in der uns Gott seine Liebe zeigt.

Die Erlösung durch Gott ist kein äußeres Geschehen – ein solches könnte, wie bereits Dostojewski durch die Gestalt des Iwan Karamasow festgestellt hat, niemals die Vergangenheit tilgen –, d.h. eine finale Wiedergutmachung am chronologischen Ende der Zeiten im Sinne einer Apokatastasis panton, sondern das Vertrauen in und die Anfrage an den Gott, der bei uns sein will. Dies ist wohl auch die zentrale Botschaft Jesu in seiner Bergpredigt und der Sinn der Kinderpreisung. Die Kranken, Armen, Kinder und die Menschen, die wirklich sittlich, d.h. barmherzig handeln, stehen nicht in der Verblendung des Satten, der glaubt, irgendetwas selber herstellen zu können, sondern „wissen“ um den Gott, der allein retten kann, wenn ihnen dieses fragile „Wissen“ nicht geraubt wird, wogegen anscheinend v.a. die Nationen im islamischen Kultur-

7. DIE ZWEIFACHE KRISIS DER VERNUNFTWISSENSCHAFT

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kreis rebellieren – und wenn die Lethargie, dieser letzte Feind, sie nicht überwältigt hat. Vielmehr kann dieses reale Leben, nicht das illusionäre einer in Bezug auf die ganze Menschheit gesehen verschwindend kleinen privilegierten Schicht, nur bestanden werden, wenn das Handeln (nicht die Lethargie einer ästhetischen Betrachtung) noch einmal transzendiert wird in ein Wissen um das Sola-gratia-Prinzip. In diesem Sprung aus eigener Selbstvergewisserung, in diesem Wissen darum, dass Gott alles ist (wobei dieses „ist“, wie Schelling zeigen wird, sofort wieder in ein „der er sein wird“ aufgesprengt werden muss, ohne Gott damit verharmlosend in ein zukünftiges Geschehen auszulagern), in diesem gebrochenen Wissen, das, wie J. Reikerstorfer in motivlicher Anlehnung an Schelling sagt, als „Hoffnung wider alle Hoffnung offenbart wurde“50, liegt die Ekstasis der Vernunft. Darin liegen aber auch die entscheidenden theologischen Vollzüge eingebettet: Wenn das Gebet als Poiesis verstanden wird und in einen Handel mit Gott eintritt, ist es bereits degeneriert. Das Gebet aber als Ekstasis, als Ausdruck der „Entsichertheit auf Gott“51, als Ringen mit Gott, als mühsam sich immer wieder abzuringendes Vertrauen, als Klage, Hoffnung und Hymnus, liegt darin nicht der Vollzug einer Ekstasis, die um die „Ortlosigkeit“ allen Seins weiß – aber auch die Hoffnung darauf, dass diese nicht letztes Unheil bedeutet? Ist nicht das Ringen Hiobs der Weg, auf dem sich Gott als der offenbart, der sogar mit den Ungeheuern spielt, wie dies in den Gottesreden zum Ausdruck kommt? Ist nicht auch in der Liturgie das Zerbrechen des Brotes, das vergossene Blut und das Dankgebet ein und derselbe Aktus? Ein zentraler Aspekt der Ekstasis der Vernunft ist das Wollen oder vielleicht könnte man besser sagen die Frage (nach) der Person Gottes. Diese ist, wie Schelling weiß, nicht im Sinne einer reflexionslogischen Vermittlung zugänglich, sondern nur mittels einer Geschichte, in der Gott uns selbst nahezukommen vermag. Daher fordert die Gottesfrage „jenseits“ aller „Contemplation“ eine Erzählung oder in anderen Worten die Selbstoffenbarung Gottes als Umschlagspunkt von negativer und positiver Philosophie. Dieser Umschlag bringt eine Art zweites Entspringen der Zeit mit sich. Genauso wie die erste Krisis der Vernunftwissenschaft, die aus dem Zerbrechen des Falls hervorgegangen ist, Ende der Ewigkeit (eine genauere Differenzierung erfolgt noch in der Besprechung der Offenbarungsphilosophie) und Anfang einer (Un-)Zeit ist, ist die zweite Krisis das Ende eines Versuchs, dieser (Un-)Zeit in einer Prinzipienphilosophie zu begegnen, die die Zeit stilllegt. Vielmehr ist sie der Übergang von menschlich gesetzter (Un-)Zeit in das Vernehmen der Zeit als Zeit Gottes. Gottes Ewigkeit wird darin nicht mehr als prinzipielle Ewigkeit aufzufassen sein, sondern als solche, die sich im und durch das Offenbarungsgeschehen vermittelt. Eine weitere Konsequenz der in diesem Abschnitt 50 51

J. Reikerstorfer, Über die „Klage“ in der Christologie 269. J. Reikerstorfer, Über die „Klage“ in der Christologie 275.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

durchgeführten Überlegungen ist, dass Gott auch bei Schelling im Letzten nicht voluntaristisch verstanden werden kann. Vielmehr ist SEIN Wille gemäß der positiven Philosophie Schöpfungs- und Erlösungswille, wie er sich in der Offenbarung bezeugen muss – als Wille zu sich selbst wäre Gott nur der hypostasierte gefallene Mensch –, weshalb der Gotteserweis Schellings ein geschichtlicher sein muss.

8. Die Zeit als Erweis Gottes Fassen wir noch einmal die Bewegung der negativen Philosophie zusammen, so hat sich ergeben, dass die höchste Weise des Ausdrucks Gottes nicht seine Darstellung als Einheit der drei Potenzen war, sondern als „Idee in individuo“. Während diese bei Kant in der theoretischen Vernunft Ideal bleibt, zielt Schelling auf einen Umschlagspunkt, an dem diese Idee real wird. Die (Selbst)realisierung der Idee fällt dabei mit der Ekstasis des menschlichen Willens zusammen, an dem Gott als der sich offenbarende anerkannt wird. Aus diesem Grund verkehrt sich bei Schelling der ontologische Gottesbeweis, der auch bei ihm die höchste Stelle einnimmt. In der PhdO schreibt Schelling: Der Grund, die Ursache, daß eine Vernunft ist, ist erst in jenem vollkommenen Geiste möglich. Nicht die Vernunft ist die Ursache des vollkommenen Geistes, sondern der Geist ist die Ursache der Vernunft. Dadurch ist allem philosophischen Rationalismus das Fundament zerstört. [...] Der vollkommene Geist selbst ist ohne Voraussetzung, er ist, weil er ist52 [...] Die ganze Philosophie ist der Erweis dieses vollkommenen Geistes; er hat kein Prius, sondern ist selbst das absolute Prius. [...]. Wenn ich sage, der Geist sei nur a posteriori erweisbar, so darf dies nicht in dem Sinne verstanden werden, wie man den physiko-theologischen Beweis einen Beweis a posteriori nennt. In diesem Beweis wird aus der Einrichtung und Zweckmäßigkeit der Natur auf einen freien Urheber geschlossen – es wird also die Welt zum Ausgangspunkt gemacht; aber in der wahrhaft objektiven Philosophie ist nicht die Welt, sondern der Geist das Prius, von wo aus man erst zur Welt gelangt. Die Philosophie ist [...] in Ansehung der Welt Wissenschaft a priori, aber in Ansehung des vollkommenen Geistes Wissenschaft a posteriori. [...] Das Prinzip der Philosophie liegt in ihrem Ende, denn sie ist die Realisierung ihrer Ideen, d.h. ihrer Prinzipien.53

Schelling macht in der von uns zitierten Textstelle deutlich, dass der physikotheologische Gottesbeweis zu kurz greift, weil er lediglich zu höchsten Prinzipien gelangt, denen aber der (geschichtliche) Selbsterweis fehlt. Vor allem 52

53

Es wäre durchaus möglich, dass Schelling mit dieser Wendung an die Logik Hegels anknüpft. Auf alle Fälle ist seine Wendung absolut gleichlautend und sogar herausgehoben, was doch auffällig ist. F.W.J. Schelling, PhdO 71f.

8. DIE ZEIT ALS ERWEIS GOTTES

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aber hat er das Defizit, dass davon ausgegangen wird, dass die Welt vernünftig und die Vernunft das höchste Prinzip ist. Dies ist aber nach Schelling keineswegs ausgemacht, denn mit dem Verlust des zureichenden Grundes entschwindet auch die Welt als vernünftige. Sie ist dann nur der Abgrund „notwendiger Zufälligkeit“. Umgekehrt ist das Problem des ontologischen Beweises, dass er den Gott des Endes als Anfang voraussetzt. Am Anfang aber ist lediglich das nackte Sein, „dass es ist“. Dieses „nothwendig Existierende“54 aber muss sich – mittels seiner Prinzipien, d.h. der Potenzen – erst als Gott oder konkreter gesagt als der Gott einer vernünftigen, zureichend begründeten und freiheitsermöglichenden Weltordnung (letztlich als Gott der Liebe) erweisen. Dieser Erweis erfolgt a posteriori, d.h. geschichtlich und zeitlich, wobei, wie man in Anspielung auf die „Einleitung in die Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie“ (XIII 1-174) sagen könnte55, dies dann erfolgt ist, wenn diesem Einen, der alle Notwendigkeit in sich befasst, ein Name zugesprochen werden kann. In diesem Namen ist der ganze Inhalt der Offenbarung (Liebe) und der Logos (Vernunft) der Schöpfung versammelt und einzig in ihm kann der Abgrund überwunden werden. Interessant ist wiederum der Anklang an Leibniz. Denn die Monade ist nicht abstrakt Allgemeines, sondern Name, weil in jeder deren Geschichte versammelt ist. Gott als Monas Monadum ist bei Leibniz als der absolut Einzelne intendiert, in dem alle Geschichte befasst ist. Ein weiterer interessanter Bezug ergibt sich zum Dekalog Ex 20,121par. Er spricht deshalb ein Bilderverbot aus, weil Gott der Name ist, der adäquat nur in einer Geschichte zum Ausdruck kommen kann. Konkret ist diese Geschichte das Exodusgeschehen, welches in einer befreiten Gesellschaft, in der Gott gelobt werden kann, konkretisiert werden muss.56

Schelling gibt am Ende der „Darstellung der reinrationalen Philosophie“ einen wichtigen Hinweis in Bezug auf die Geschichtlichkeit dieses Gotteserweises, wenn er betont, dass der Beweis Gottes ein „durch die gesammte Wirklichkeit und durch die ganze Zeit des Menschengeschlechts hindurchgehender ist, der insofern nicht ein abgeschlossener, sondern ein immer fortgehender ist, und ebenso in die Zukunft unseres Geschlechts hinausreicht, als in die Vergangenheit desselben zurückgeht.“, wobei er hinzufügt, dass „die positive Philosophie“ in diesem Sinne „geschichtliche Philosophie“ sei (EPhdM XI 571). Die Offenbarung Gottes hat also nach Schelling ein nicht aufzuhebendes offenes Moment. Der Selbsterweis Gottes muss sich gewissermaßen von Generation zu Generation konkretisieren und darf nicht in seiner Geschichtlichkeit ver54 55

56

F.W.J. Schelling, Begründung der positiven Philosophie, XIII 169. Vgl. F.W.J. Schelling, Einleitung in die Philosophie der Offenbarung, XIII 174. Dort spricht Schelling davon, dass Gott im Namen „er selbst ist, [...] der seines Gleichen nicht hat“. Dieser Name muss sich als das Allgemeine, als das „Einzelwesen, das alles ist“ zeigen. Umgekehrt wird aber wohl auch gesagt werden können, dass das Allgemeinste dann konkretes Allgemeines ist, wenn ihm ein Name zukommt. Vgl. E. Zenger, Das Buch Exodus.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

drängt werden57. Daneben aber wird in diesen Passagen ein theologisch äußerst wichtiger Hinweis in Bezug auf die Bedeutung der Unsterblichkeit zu finden sein. Genauso wie Gott in einer lebendigen, d.h. niemals aufzuhebenden Geschichte – deren Gehalt noch in der PhdO zu konkretisieren sein wird – seinen Namen mitteilt, ist auch der Mensch als Ebenbild Gottes nicht in ein abstrakt allgemeines geistiges Geschehen aufzuheben. Der Tote ist uns – wie Gott – unverfügbar, d.h. er entzieht sich unserer Handhabe, was aber nicht bedeutet, dass er damit von der Geschichte abgeschnitten werden darf. Vielmehr sind uns die Toten wie Gott gegenwärtig als die Vergangenen UND Zukünftigen. In ihrem Gedächtnis (d.h. im Gedächtnis ihrer Namen) sind sowohl ein Erbe als auch ein Auftrag für die Zukunft enthalten, in denen wir mit ihnen (die, wie bereits im Heidegger-Kapitel erwähnt, als die Namensträger niemals vergangene „annihilierte“ Objekte sein können) verbunden sind bzw. ihren Leib darstellen. „Gleichzeitig“ sind sie uns als die in Christus Verstorbenen auch voraus, insofern Christus Anfang, Mitte und Ende der Zeiten ist. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass am Übergang zur positiven Philosophie ein traumatischer Sprung in den Glauben an ein Offenbarungsgeschehen steht, in welchem Gott sich konkretisiert und welches überhaupt erst den Menschen erlösen kann. Dabei haben wir schon erwähnt, dass dieses Geschehen dem Menschen und seinem Tun nicht äußerlich sein darf. Denn damit wäre er Spielball göttlicher Willkür und Gott wäre, dem Menschen gleich, ein voluntaristischer Hersteller von Situationen, d.h. an die Stelle eines totalitären spinozistischen Seins träte ein hypostasierter Wille, der alles be- und verurteilt. Gegenüber einer derart äußerlichen Gottesvorstellung gilt es die schellingsche Figur des Gottsetzenden Bewusstseins und in weiterer Folge die PhdO zu interpretieren.

9. Das Gottsetzende Bewusstsein Die Schrift, in der Schelling wohl am detailliertesten auf das Gottsetzende Bewusstsein eingeht, ist die „Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie“ (XI 1-252). Neben wichtigen Beobachtungen zum Mythos zeigt Schelling in dieser Schrift den untrennbaren Bezug von göttlicher Offenbarung und menschlicher Weltwirklichkeit auf. Bevor wir die entscheidenden Passagen besprechen, muss allerdings das hier Gesagte insofern eingeschränkt werden, als bei Schelling nicht ungebrochen von Offenbarung Gottes gesprochen werden kann. Denn die eigentliche Offenbarung wird das Christentum darstellen, während der Mythos als erste Form der Gottesrede gewissermaßen 57

Vgl. A. Hutter, Geschichtliche Vernunft 372.

9. DAS GOTTSETZENDE BEWUSSTSEIN

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noch die „Verhüllung“ Gottes ist. Allerdings eine solche, die nicht menschlicher Phantasie oder göttlichem Unwillen entspringt, denn der Mythos hat eine für die Heilsgeschichte absolut konstitutive Funktion, insofern er die erste Antwort Gottes auf den menschlichen Fall ist. Um diesen Antwortcharakter verstehen zu können, muss zunächst gesehen werden, dass Gott auch bei Schelling (zunächst) in den Bahnen des menschlichen Weltumgangs „spricht“. Über das Verhältnis von menschlichem Bewusstsein und Gottesfrage schreibt er demgemäß, dass der Grund davon, „daß es [das Bewusstsein] überhaupt im Verhältnis zu Gott ist, [...] nicht mehr im ersten wirklichen Bewußtseyn“ liegen kann, denn „der ursprüngliche Mensch ist nicht actu, er ist natura sua das Gott Setzende“ (EPhdM XI 184). Wäre nämlich der Mensch „actu Gott“ setzend, liefe der in der Ekstasis der Vernunft bereits angedeutete Sprung in den Glauben auf eine Selbstprojektion hinaus. Gott (bzw. der Glaube) wäre Resultat menschlicher Handlung. Dagegen ist Schelling der Auffassung, dass der Mensch als „natura sua Gott Setzendes (Bewußtseyn)“ in einem ursprünglichen Gottesverhältnis steht, wobei das „Gottsetzend“ im Sinne einer Einheit von Genetivus subjectivus und Genetivus objectivus zu verstehen ist. Dies wird durch die Aussage unterstrichen, dass „das Bewußtseyn in seiner reinen Substanz vor allem wirklichen Bewußtseyn, wo der Mensch nicht Bewußtseyn von sich ist (denn dieß wäre ohne ein Bewußtwerden, d.h. ohne einen Actus, nicht denkbar), also, da er doch Bewußtseyn von etwas seyn muß, nur Bewußtseyn von Gott seyn kann“ (EPhdM XI 184f). Schelling spricht hier vom Bewusst-Sein (absoluten Subjekt-Objekt) als transzendentaler Bedingung jeder Gegenständlichkeit und auch jeder Limitation. Das Gottsetzende Bewusstsein modifiziert den Gedanken des transzendentalen Ideals, insofern das natura sua Gottsetzende Bewusstsein als einzigen Inhalt das absolute Sein hat. Es ist als der gesamte Inhalt der Vernunft (des Bewusst-Seins) das absolute Subjekt-Objekt oder das – in der Sprache Schellings – immanente Absolute als Endpunkt der negativen Philosophie. Von daher kann man sagen, dass die negative Philosophie (genauso wie Kants regulative Prinzipien der Vernunft) kritische Funktion gegenüber allen Philosophemen hat, die den Menschen verendlichen. Allerdings führt der damit verbundene Gottesbegriff nur zum Gott des Anfangs, noch nicht zum lebendigen Gott, welcher nur durch die Ekstasis der Vernunft in den Blick kommen kann.

Grundsätzlich können wir aus dem hier Ausgeführten sagen, dass der Mensch, wäre er nicht Gottsetzendes Bewusstsein (als Einheit von Genetivus subjectivus und Genetivus objectivus), also Bewusst-Sein, sich und sein Bewusstsein von seinen endlichen Herstellungen verstehen müsste – für Schelling (genau wie für Hegel) allerdings der Wahn des gefallenen Menschen. Natürlich versteht der Mensch sich – und Gott – immer von seinem jeweiligen Weltverhältnis her. Die entscheidende Pointe ist aber, dass eben die Poiesis per se nicht zu einer wirklich geistigen Sicht führen kann. Ihre Geistigkeit, die selbstverständlich nicht abgewertet werden darf, liegt im Bereich des endlichen Lebens – der Arbeit, der

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

Gestaltung von Welt etc. Die Liebe, die Sprache, die Anerkennung, der Glaube entspringen allerdings nicht der Sphäre des endlichen Geistes, sondern des absoluten Geistes, was sich eben daran zeigt, dass sie nicht hergestellt werden können. Bezeichnend ist dabei, dass eine Welt wie die unsere – in industrieller Manier – die Herstellung hypostasiert. Diese Hypostasen treten uns heute als Evolution, als Kosmogenese etc. entgegen, wobei der Mensch jeweils als Produkt angesehen wird.

Gott als Erfindung des Menschen wäre nicht nur ein Götze, sondern verwiese vor allem den Menschen selber in den untersprachlichen Bereich bloßer Endlichkeit zurück. Der Mensch ist erst als Gottsetzendes Bewusstsein Mensch – ohne diesen Bezug wäre er nicht einmal Tier (bereits das Leben und die anorganische Natur sind Begriff!), sondern bloße Maschine. Erst in der Lautung des Wortes „Gott“ wird der Mensch der absoluten Negativität seiner eigenen Unendlichkeit gewahr, unter deren Ägide überhaupt erst von Personalität, Seele und Anerkennung gesprochen werden kann. Gott tritt also nicht nachträglich in die Welt des Menschen (als Postulat oder gar als Kompensation) ein, sondern der Mensch ist ohne „apriorischen Gottesbezug“58 gar nicht zu denken. „Der Mensch hat daher nicht ein Bewusstsein von Gott, sondern er ist es“59. In diesem Zusammenhang ist ersichtlich, warum Projektionsthesen ins Leere gehen. Wenn nämlich der Mensch Gottsetzendes Bewusstsein ist und sich darin sein Weltumgang zum Ausdruck bringt, kann Gott, wie J. Reikerstorfer sagt, nur „je neu in dem sich differenzierenden Motivationshorizont der Menschen [...] als wirklichkeitsbestimmende und –erfüllende Sinninstanz zur Sprache kommen.“60 Auf diese Weise ist der spekulative Satz, der uns bei Hegel als Satz von der Gottesbegegnung (oder besser gesagt: Gottesentgegnung) in der Weltbegegnung des Menschen begegnen wird, auch bei Schelling angesprochen, allerdings nicht in seiner dialektischen Durchführung, sondern, wie gleich zu zeigen sein wird, im Versuch einer Brechung, die immer wieder den eschatologischen Horizont aller Gottesrede herausstreichen will. Schellings Philosophie wird sich darin gleichsam als Frage nach dem kommenden Gott zum Ausdruck bringen, „der [...] zukünftig als Gott des Anfangs wirklich sein wird“61. Dieses Gottsetzende Bewusstsein ist eodem actu zeitlich-konnotiertes Bewusstsein. Schelling spricht davon, dass „der Mensch in seinem ursprünglichen Wesen keine andere Bedeutung hat, als die, die Gott-setzende Natur zu seyn, weil er ursprünglich nur existiert, um dieses Gott-setzende Wesen zu seyn, also nicht die für sich selbst seyende, sondern die Gott zugewandte, in Gott gleichsam verzückte Natur [ist]“ (EPhdM XI 185). Dieser Ursprung ist die übergeschichtliche, ewige Existenz des Menschen. Für Schelling ist damit also keine konkrete Vergangenheit gemeint, sondern „das, was es war zu 58 59 60 61

Vgl. J. Reikerstorfer, Der Mensch als „Gott-Setzendes“ Bewußtsein 91. J. Reikerstorfer, Zur Ursprünglichkeit der Religion 8. J. Reikerstorfer, Der Mensch als „Gott-Setzendes“ Bewußtsein 95. J. Reikerstorfer, Die Potenzen-Lehre in Schellings Spätphilosophie 231.

9. DAS GOTTSETZENDE BEWUSSTSEIN

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sein“. Die Frage, die sich stellen wird, ist, in welcher Zeitform dies dargestellt werden kann. Eine Pointe schellingscher Philosophie scheint es zu sein, dass es der Mythos ist, der das niemals gegenwärtig Gewesene verortet. Nicht zuletzt aus diesen Überlegungen heraus dürfte dieser bei ihm eine so zentrale Rolle spielen und – wenngleich auch in durch den Logos gereinigter Form – „als unvordenkliche Zukunft“ wieder auftreten, und es kann sich uns allmählich die Frage stellen, ob nicht der eigentliche Sprung von der negativen in die positive Philosophie der Sprung des Logos in den (durch den Logos gegangenen) sozusagen zweiten Mythos ist. Nur in dieser Form des (eschatologischen) Mythos wird Schelling sein bereits in den Weltaltern angedachtes Programm umsetzen können, welches in der „Historisch-Kritischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie“ in die beunruhigte Frage gekleidet wird, ob „überhaupt an einen Schluß gedacht worden [ist], und nicht alles vielmehr darauf hinausläuft, daß die Geschichte überhaupt keine wahre Zukunft hat, sondern alles ins Unendliche so fortgeht, da ein Fortschritt ohne Grenzen – aber eben darum zugleich sinnloser Fortschritt –, ein Fortschritt ohne Aufhören und ohne Ablaß, bei dem etwas wahrhaft Neues und Anderes anfinge, zu den Glaubensartikeln der gegenwärtigen Weisheit gehört“ (EPhdM XI 230). Immer deutlicher wird sich für uns der Zusammenhang zwischen der Frage nach einer „geschlossenen“, d.h. in sich sinnvollen Zeit, die bei Schelling immer mehr zu der zentralen Frage überhaupt wird (gleichsam als Verzeitlichung der Frage „Warum überhaupt etwas...?“) und den zentralen schellingschen Motiven herauskristallisieren. Bevor wir aber unsere diesbezüglichen Überlegungen fortsetzen, sei auf die Konsequenz des Sündenfalls für das Gottsetzende Bewusstsein hingewiesen: Schelling unterstreicht zunächst, dass der einzige Inhalt des natura sua Gott setzenden Bewusstseins Gott ist. Dabei ist aber sofort hinzuzufügen, „daß dieses wesentliche Verhältniß eben nur als Moment zu denken ist, daß der Mensch in diesem Außer-sich-seyn nicht verharren kann, daß er herausstreben muß aus jenem Versenktsein in Gott, um es in ein Wissen von Gott, und dadurch in ein freies Verhältniß zu verwandeln. Aber zu einem solchen kann es nur stufenweise gelangen. [...] Selbst wirklich geworden, fällt der Mensch dem Gott [zunächst] in seiner Wirklichkeit anheim.“ (EPhdM XI 189) An dieser Stelle ist eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass der Fall überhaupt erst Geschichte in Gang setzt als Bedingung dafür, dass der Mensch aus einem primordialen Zustand einer Weltseele heraustritt und in ein freies Verhältnis zu Gott eintreten kann. Allerdings ist der Anfang analog der Ekstasis der Vernunft ein traumatischer. Es ist das „Anheimfallen Gottes“ (Genetivus objectivus), der „theogonische Prozess“, in den der Mensch eintritt. Dieser Prozess, der Form und Inhalt des Mythos ist, gibt den Menschen (noch) nicht frei, vielmehr ist mit ihm eine Zeit gesetzt, die dem Menschen als Schicksalsmacht entgegentritt. Näher bestimmt Schelling dieses notwendige Schicksal als Heraustreten der Potenzen:

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

Es sind überhaupt nicht die Dinge, mit denen der Mensch im mythologischen Proceß verkehrt, es sind im Innern des Bewußtseyns selbst aufstehende Mächte, von denen es bewegt ist. Der theogonische Proceß, durch den die Mythologie entsteht, ist ein subjectiver, inwiefern er im Bewußtseyn vorgeht und sich durch die Erzeugung von Vorstellungen erweist: aber die Ursachen, und also auch die Gegenstände dieser Vorstellungen sind die wirklich und an sich theogonischen Mächte, eben dieselben, durch welche das Bewußtseyn ursprünglich das Gottsetzende ist. Der Inhalt des Processes sind nicht bloß vorgestellte Potenzen, sondern die Potenzen selbst – die das Bewußtseyn, und da das Bewußtseyn nur das Ende der Natur ist, die die Natur erschaffen, und daher auch wirkliche Mächte sind. Nicht mit Naturobjecten hat der mythologische Prozeß zu thun, sondern mit den reinen erschaffenen Potenzen, deren ursprüngliches Erzeugnis das Bewußtseyn selbst ist.62

Der Mythos ist kein Konstrukt des Menschen, sondern ein bestimmter Ausdruck des menschlichen Weltverhältnisses. „Die Göttergeschichte aber macht sich in den Dichtern selbst“ (EPhdM XI 20), ist die Quintessenz Schellings, die das auch in den hegelschen Schriften enthaltene Wissen zum Ausdruck bringt, dass das Bewusst-Sein immer der doppelte Weg Gottes mit dem Menschen und des Menschen mit Gott ist, und zwar in allen Epochen und Zeiten. Schelling setzt nun den Akzent darauf, dass das erste reale Verhältnis des Menschen zu Gott kein direktes Verhältnis sein kann, weil der Mensch sich und die Welt aus Gott herausgesetzt hat. Daher hat er es nicht mit dem wahren Gott zu tun, der der Gott des Endes ist, sondern mit den von Gott getrennten (außer Gott gesetzten) Potenzen, die allerdings, wie sich noch zeigen wird, zwar vom Menschen praeter deum gesetzt werden können, nicht aber extra deum, da das Bewusst-Sein (die metaphysische Einheit der Potenzen) immer der transzendentale Hintergrund jeder Seinsbestimmung bleibt. Die Potenzen wiederum bringen den Mythos hervor als gewissermaßen „uneigentliche“ noch „verhüllte“ Form der Offenbarung, in dessen Überwindung bzw. Durchbrechung (die niemals als Werk des Menschen stattfinden kann!) überhaupt erst wahrhafte Offenbarungsreligion möglich ist.

10. Die Potenzen als Formen der Zeitigung der Zeit Gemäß J. Reikerstorfer ist es eine der Hauptintentionen der schellingschen Potenzenlehre, gegen den Pantheismusverdacht „begreiflich [zu] machen, dass Gott in freier Schöpfung das Geschaffene, das nicht-göttliche Andere, nicht so aus sich entlassen kann, dass er ihm nicht – gerade in der Schöpfungsdifferenz – verbunden bliebe und in diesem Anderen eine Geschichte haben könnte“.63 62 63

F.W.J. Schelling, Historisch-Kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie, XI 207. J. Reikerstorfer, Die Potenzen-Lehre in Schellings Spätphilosophie 228.

10. DIE POTENZEN ALS FORMEN DER ZEITIGUNG DER ZEIT

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Paradoxerweise macht Schelling, wiewohl selber mit der Anklage des Pantheismus konfrontiert, Hegel diesen Vorwurf. Wir werden dagegen sehen, dass bei Hegel das Verhältnis von Gott und Welt nicht im verräumlichten Sinne, d.h. in der seinslogischen Bestimmung eines „etwas und anderes“ gesehen werden kann. Dabei darf niemals vergessen werden, dass Hegel sozusagen jede Zeile Kants in seine Philosophie aufnimmt. Daher weiß er selbstverständlich, dass der „Weltbegriff“ bloße Idee ist. D.h. die Kritiker Hegels, die ihm vorwerfen, Gott und Welt oder Gott und Mensch zusammenfallen zu lassen, berücksichtigen nicht, dass sich jeder formallogisch-metaphysische Zugang zu den Ideen „Gott“, „Welt“ und „Mensch“ verbietet. Bei Hegel sind erst im Durchgang durch die gesamte PhdG bzw. WdL diese Ideen einer entsprechenden Bestimmung unterzogen. Dabei zeigt sich dann, dass es völlig sinnlos wäre, von Gott weltlos zu sprechen (dies entspricht durchaus biblischer Einsicht, gemäß der der Gott der Bibel und damit unser Gott der Gott Israels, der Gott Abrahams, Jakobs, Isaaks und zuletzt der Gott Jesu ist) – genauso wie ein gottloser Zugang zum Menschen (oder der Welt) sinnlos wäre. „Gott“, „Welt“ („Schöpfung“) und „Mensch“ sind dabei allerdings niemals nivellierbar.

Ein weiteres zentrales Anliegen der Potenzenlehre ist die Bestimmung des freiheitsleitenden Logos als Überwindung des Abgrunds der Sinnlosigkeit, d.h. die Einsicht, dass Freiheit sich erst in den „durchlittenen“ Erfahrungen von Verletztlichkeit, Abgründigkeit und (selbst)zerstörerischer Bösartigkeit artikulieren lässt. Der Darstellung des theogonischen Prozesses korrespondiert die Einsicht, dass die menschliche Geschichte eine Aneinanderreihung von Sinnwidrigkeiten, Leid und inneren und äußeren Zwängen ist. Fragt man nach dem Hintergrund der Potenzen, reicht dieser von einer Entfaltung des absoluten Seins bis zum Versuch einer Antwort auf die hegelsche Dialektik, weiters von der platonisch-aristotelischen Ursachenlehre bis hin zum transzendentalen Ideal (und der leibnizschen Monade) und den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft“, wobei sicherlich auch die Einflüsse der Romantiker und gnostisch-neuplatonischer Quellen gar nicht überschätzt werden können. Deren letzte und entscheidende Referenz ist allerdings die christliche Trinitätslehre, weshalb erst am Ende der PhdO eine tiefere Bestimmung der Potenzenlehre, ihre Bedeutung (aber auch ihre Grenzen) angegeben werden kann. Zunächst allerdings wollen wir noch einmal um des besseren Verständnisses der Potenzen willen die bereits angedeutete sachliche Nähe mit der leibnizschen Monadenlehre – die wiederum durch den Begriff des transzendentalen Ideals vermittelt ist – verdeutlichen: Jede bestimmte quantitative Differenz der Subjektivität und Objektivität, wodurch ein Einzelnes als Endliches im Gegesatzes [sic!] gegen die Totalität des Universums, d.h., als diese bestimmte Form des Seins gegen das allgemeine Sein überhaupt gesetzt wird, heißt eine Potenz. Jede einzelne endliche Potenz hingegen besteht aus einem positiven und negativen Faktor, welche beide an sich unendlich sind. Wie nun A=B überhaupt der Ausdruck von Endlichkeit ist, so ist demnach A Subjekt als das Begründende oder als der negative Faktor; B Objekt hingegen als das ursprünglich Seiende, oder das an sich Unbegrenzte aber Be-

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

grenzbare, und mithin als der positive Faktor zu betrachten. Beide Faktoren aber sind an sich unendlich, in wie ferne das eine und gleiche Identische in beiden, obschon in einem jeden derselben mit einem Übergewichte der Subjektivität oder Objektivität gesetzt ist. – Da also beide Faktoren an sich unendlich, das B Objekt aber als das, welches ursprünglich ist, das an sich Unbegrenzte doch Begrenzbare positiv, hingegen das A Subjekt als das Begrenzende, folglich als das Prinzip der Endlichkeit und als der negative Faktor gesetzt ist; so können also weder A noch B in irgendeinem Teile des Alls, d.h., in irgend einem Individuum als absolute Subjektivität oder Objektivität, sondern nur als das Identische von beiden mit überwiegender Subjektivität oder Objektivität von den beiden Polen nach entgegengesetzten Richtungen und die quantitative Indifferenz beider im Mittelpunkt gesetzt sein.64

In dem Moment, in dem die „Monade“ aus der primordialen Einheit getreten ist, in der A „unendliches Subjekt“ (Monas Monadum als Idee in individuo) und B „unendliches Objekt“ (Monas Monadum als absolut vermittelte Unendlichkeit) in absoluter Einheit waren, tritt die „quantitative Differenz von Subjektivität und Objektivität“ hervor. A=B als der Ausdruck der Endlichkeit bedeutet, dass A als Einschränkung gegen das All der Prädikate B auftritt. A ist so in den Gegensatz getreten und bestimmtes Subjekt, „Tätigkeit“ und Potenz (Möglichkeit), B das Beschränkte. Diese Tätigkeit ist aber, da aus ihrem zureichenden Grund, der die absolute Einheit („Synthesis“) des Seins (dritte Potenz) war, getreten, das „Prinzip der Endlichkeit“, das „Begrenzende“. In einem endlichen Individuum, welches nicht absolute Selbstvermittlung (Tätigkeit) ist, die ihren zureichenden Grund hat, gibt es daher weder ein reines A noch ein reines B. Schelling konkretisiert im Folgenden sein Motiv der Einführung der Potenzen gegen Kant, indem er diesem vorwirft, einen verstandlosen Stoff vorauszusetzen65. Dagegen stellt er – ob damit systematisch hinter Kant zurückgehend oder nicht, sei zunächst dahingestellt – die SubjektObjekt-Identität (also im Grunde genommen die Monade). Die Welt ist nur dann besprechbar, wenn das Seiende nicht an sich stumm ist. Dieser Logos in den Dingen ist „absichtliche Setzung“, d.h. Wille. Die Dinge offenbaren die ihnen eigene Weisheit, indem sie nicht nur reine (behandelbare) Objekte sind, sondern ebensosehr Subjekte. Näherhin bestimmt Schelling dies so: „Wo wir auf keinen Widerstand stoßen, sagen wir: Da ist nichts; denn Widerstand ist ganz synonym mit Gegenstand, d.i. das Reelle unserer Erkenntnis. Was etwas ist, muß widerstehen; der Widerstand aber liegt im Wollen – ohne Wollen gibt es keinen Widerstand.“ (PhdO 25) In dem Augenblick, in dem die Welt nicht als zu bearbeitender Stoff betrachtet wird und die Subjekt-Objekt-Identität gesetzt ist, muss das Seiende als Wille bestimmt werden – und sei dieser noch so „selbstbezüglich“. Selbst ein Stein stellt diesen Willen dar, was sich daran zeigt, dass wir uns an ihm stoßen können. Der Unterschied der Subjekte liegt im Grad der Selbstbezüglichkeit bzw. der Fähigkeit, diese zu transzendieren. 64 65

F.W.J. Schelling, PhdO 13f. Vgl. F.W.J. Schelling, PhdO 23.

10. DIE POTENZEN ALS FORMEN DER ZEITIGUNG DER ZEIT

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Ein bloß „toter Körper will nur sich“ (PhdO 26). Im Folgenden bringt Schelling ein folgenschweres Motiv in Anschlag: Die Philosophie will hinter das Sein kommen; ihr Gegenstand ist also nicht das Sein selbst, sondern das, was vor dem Sein ist, um eben das Sein zu begreifen. [...] Es ist leicht einzusehen, daß das, was vor dem Sein ist, noch nichts ist in Vergleich mit dem, was es hernach sein wird; [...] wir betrachten, was das vor dem Sein Seiende hernach sein wird. Sonst gibt es kein anderes Mittel, das Sein zu begreifen – also müssen wir das, was vor dem Sein ist, in bezug auf das künftige Sein begreifen. Der Ausgangspunkt der Philosophie ist also das, was sein wird, das absolut Zukünftige: es ist also unsere Aufgabe, in die Wesenheit des absolut Zukünftigen einzudringen.66

In diesen Ausführungen sehen wir den Anfang einer Akzentuierung, die Schelling von Leibniz abhebt und die wichtig sein wird in Bezug auf die Kritik Kants. Schelling spricht hier vom „absolut Zukünftigen“ und dem, was vor dem Sein ist, welches wir wohl das „absolut Vergangene“ nennen können. Das Entscheidende daran ist, dass erst in einem unableitbar („absolut“) Zukünftigen ein wirklicher Anfang und damit auch eine wirkliche Einheit der Zeit gefunden werden kann. Dieses notwendige Moment der Unableitbarkeit des Anfangs, sowohl von Kant als auch Hegel aufgezeigt, ist nicht nur konstitutiv für die Zeitlichkeit der Zeit – die sonst kantisch gesprochen in der Antinomie einerseits einer Anfanglosigkeit, andererseits einer Ewigkeit („intelligibler Anfang“) wäre, deren Anfangen das Sistieren endlicher Zeit bedeutete (vgl. die absolute Substanz Spinozas) –, sondern auch für die Freiheit. Schelling schreibt: „Wäre das, was sein wird, bloß ein unmittelbar sein Könnendes, so würden wir in der Wirklichkeit nur auf ein blindes Sein stoßen – und schon daraus ist klar, daß so viele philosophische Systeme des Pantheismus im blinden Sein stecken geblieben sind, und daß diese Systeme des blinden Seins sich immer wieder erneuern.“ (PhdO 32) Angesprochen ist das spinozistische System und (wenngleich in den Motiven reicher und mit über Spinoza hinausreichenden Aspekten) Leibniz (und damit die ganze metaphysische Tradition), die über bloßen Pantheismus nicht hinauskommen, in dem Freiheit und wahre Zukunft nicht möglich sind. Bei Leibniz ist die Monade endlicher Spiegel Gottes als des zureichenden Grundes. Daher ist sie zwar von einem endlichen Blickwinkel aus betrachtet frei, von Gott her gesehen aber determiniert. Schelling, der einen Anfang sucht, der erst in absoluter Zukunft besprechbar ist, will dafür ein System der Zeiten, in der die (sich ewig verlaufende) Zeit nicht die absolute Macht ist, gleichzeitig aber auch nicht sistiert werden kann zugunsten einer zeitlosen Ewigkeit. Dafür braucht es aber einen Bruch im Chronos oder anders gesagt: Die Welt darf nicht als absolute Vermittlung betrachtet werden. Sowohl die „Vergangenheit“ als auch die „Zukunft“ bedürfen eines unverfügbaren, uneinholbaren Moments. Dies schließt nach Schelling den Gedanken eines „Sein Könnende[n], absolut gesetzt“, welches „gar nicht festzuhalten 66

F.W.J. Schelling, PhdO 24.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

ist“, aus, denn auf diese Weise „würden wir es nur im Sein antreffen, und zwar als ein Sein, das seinen eigentlichen Anfang verschlungen hat, und die Ewigkeit gewissermaßen vindiziert“ (PhdO 33). Zwar scheint sich Schelling hier auf die Antithesis in Bezug auf den Anfang zu beziehen, wo tatsächlich der Anfang verschlungen ist, die gleiche Problematik begegnet uns aber auch in der Thesis, nur ist dort das Angefangene das Verschwindende. Schelling will dem (zunächst einmal) mit folgender Überlegung begegnen: Wir haben das, was vor dem Sein ist, als das sein Könnende bestimmt. Nun kann aber dieses sein Könnende [insofern es a potentia ad actum übergeht] an sich nicht festgehalten werden. Die Absicht unseres Überganges zur zweiten Bestimmung [zum rein Seienden] war, das sein Könnende als sein Könnendes festzuhalten. Wir wollen es vor dem Übertritt ins Sein bewahren: wir wollen, daß es als pura potentia, als reines Können, stehen bleibe, als Können ohne Sein. [...] Potenz bleiben kann es [das rein sein Könnende] nämlich nur so, daß es selbst an und für sich schon das rein Seiende, dem keine Möglichkeit vorausgeht, ist. [...] Als bloß sein Könnendes würde es, vor allem Denken, [...] schon wirklich ins Sein übergegangen sein. In diesem Falle würde es keine Zukunft haben, weil wir es als Zukünftiges nicht festhalten können.67

Dieser Text ist sicherlich einer der Schlüsseltexte der PhdO. Schelling unterscheidet das im ontologischen Sinn aufzufassende Sein, welches immer im Potenz/Aktverhältnis steht und in dieser absoluten Vermittlung weder Freiheit noch Zukunft kennt vom „reinen Können“ bzw. „reinen Sein“. Was ist unter dieser potentia pura zu verstehen? Wäre sie als sich an einer Wirklichkeit zu ergänzende Möglichkeit aufzufassen, also etwa als Subjekt, welches Prädikate „anziehen“ müsste, wäre sie endliches Sein. Die erste Potenz, das reine Können – Schelling bestimmt es auch als das absolut in sich Seiende, das Urständliche, der sich nicht äußernde Wille – kann nur als reines Können festgehalten werden, wenn sie in ihrem Seinkönnen das unendliche Sein ist. Sie ist absolutes Subjekt und kann in dieser Absolutheit nur gedacht werden, wenn ihrem Können das reine Sein schon „vorgängig“ entsprochen hat. Schelling zielt damit schon auf zeitliche Bestimmungen. Die Einheit der drei Potenzen nämlich, bereits in der potentia pura (reines Seinkönnen), insofern diese das „an und für sich rein Seiende“ ist, enthalten, deutet bereits die Zeit als Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (die nicht ineinander nivelliert werden dürfen wie dies der Chronos macht) an, wobei erst im Eschaton diese Einheit in ihrer durchgeführten Gestaltung und damit als freier Anfang, der diese drei Zeiten in sich enthält, zum Ausdruck kommt. Dass diesem absoluten Subjekt/Objekt Schellings, welches dieser an den Anfang und an das Ende setzt, konkretes menschliches Handeln entspricht, ist eine der Erkenntnisse der hegelschen Philosophie. Denn, wie wir noch sehen werden, impliziert Hegels Handlungsverständnis, dass Können und Sein, Möglichkeit und Wirklichkeit, Vergangenheit und Zukunft nicht in einem räumlichen Sinn auseinandertreten können. Das 67

F.W.J. Schelling, PhdO 34f.

10. DIE POTENZEN ALS FORMEN DER ZEITIGUNG DER ZEIT

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Subjekt bestimmt sich im Handeln nicht in der Wahl aus einem vorgegebenen Behälter von Möglichkeiten, sondern ist als Setzen auch Voraussetzen, ist als das Bestimmen des Allgemeinen die konkrete, d.h. bestimmte einzelne Tat. Es ist als Entscheiden zugleich Scheiden (Trennen) und Zurücknahme des Geschiedenen. So ist es das Können, dem kein Sein vorausliegt, sondern das in seiner Tätigkeit das Sein als (nur in dieser Tätigkeit) „Vorgängiges“ empfängt. Entscheidend ist dies in Bezug auf die Auffassung der sittlichen Handlung: In der konkreten sittlichen Handlung gilt es nicht, aus dem allgemeinen Guten einen „Ausschnitt“ zu verwirklichen, um dann die Erfahrung zu machen, dass man an der Verwirklichung des allgemeinen Guten gescheitert ist, sondern die Sittlichkeit der Handlung besteht darin, dass sich das allgemeine Gute nur im konkreten Guten verwirklichen lässt. Alle Potenzialität und alle Verwirklichung versammeln sich in der konkreten guten Tat, deren Güte sich nicht zuletzt dadurch erweist, dass sich der Mensch um des Anderen willen in der eigenen sittlichen Substanz und der eigenen Identität erschüttern lässt, was aber auch zur Folge hat, dass die „eschatologische“ und damit „zeitliche“ Spannung der wirklich guten Tat68 immanent ist. – Gäbe es diese Immanenz der Spannung nicht, d.h. bliebe die Versöhnung ungebrochen, wäre Hegel tatsächlich der Zyniker oder naive Idealist, als der er oft dargestellt wird. Dagegen soll aber auf die sich im Gewissenskapitel zeigen werdende Erschütterung durch das „Andere“ verwiesen werden, die auch im absoluten Wissen nicht hinweggeleugnet wird. – Das, was viele Hegelkommentare übersehen, ist, dass bei Hegel die Aufhebung der Endlichkeit durch das Absolute gerade nicht bedeutet, dass das Endliche getilgt wird, sondern dass sich in der Dignität des Endlichen das Absolute manifestiert und so das Endliche nicht mehr als zu vermeidendes „NurEndliches“ angesehen werden kann. Schelling dagegen hält die Dialektik ab und verräumlicht (und fixiert damit) ihre Bestimmungen (Subjekt-Prädikat, MöglichkeitWirklichkeit, erste Potenz-zweite Potenz), wobei der Sinn dieser Verräumlichung, die in der Potenzenlehre durchgeführt wird, erstens der ist, die Zeit als System von Zeiten (nicht zuletzt als Vereinigung von Mythos und Logos) darzustellen und zweitens die Sichtung eines „abgetrennten Eschatons“ als U-Topie um des Offenhaltens der Gottesfrage willen ist, wobei er mittels dieser Eschatologisierung des Seins seinerseits die an den Anfang gesetzten Verräumlichungen zurücknehmen will. Die Fragerichtung, die sich uns also stellen wird, ist die nach dem Sinnpotenzial der schellingschen „Verräumlichung“ und „Eschatologisierung“ des Seins bzw. der damit einhergehenden „Brechung“ (und gewissermaßen Eschatologisierung) des spekulativen Satzes, wie er uns in den Ausführungen über Hegel begegnen wird.

Das reine Sein ist komplementär zum reinen Seinkönnen. Schelling nennt diese zweite Potenz auch das ohne Willen Wollende (d.h. nicht sich Wollende), 68

Die wirklich gute Tat wird z.B. im Gewissenskapitel der PhdG beschrieben. Es handelt sich um ein Von-Sich-Absehen zugunsten des Anderen unter Zerbrechen der eigenen Geltung. Verbunden damit ist die geistvolle Erkenntnis, dass das An-und-für-sich-Sein Gesetztsein ist, d.h. die Bewusstwerdung der uns verbindenen Verletzlichkeit (als das eigentliche Vinculum substantiale, in dem Gott sich offenbart), des uns niemals an einen sicheren Anfang kommen lassenden geistigen Geschehens, dessen wir nie Herr werden können.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

den reinen Actus, das rein Gegenständliche. Sie ist das „bloß mittelbar sein Könnende“69, weil ihr Actus immer schon Entsprechung des reinen Seinkönnens war. Daher ist ihr Wille kein selbstanfangender, sondern sich immer vollbringender Vollzug eines anderen (nämlich der ersten Potenz). Sie ist der ersten Potenz vollkommen zugeordnet. Schelling lässt in der Darstellung der ersten beiden Potenzen anklingen, dass in ihrem Verhältnis schon eine Spannung gesetzt ist. Diesen für seine Philosophie wichtigen Gedanken veranschaulicht er, indem er die Frage stellt, „was hell sein [kann], d.h. was [...] Subjekt der der Hellheit [ist], als das seiner Natur nach Dunkle“ (PhdO 53). Zur Verdeutlichung rekurriert er im Anschluss an diese Frage auf die arabische Sprache, in der der Akkusativ, den das „est“ verlangt, ein „potest“ anzeigt, wobei er darin die Erkenntnis quasi versprachlicht sieht, dass das, „was sich als Subjekt verhält, [...] Gewalt [hat] über das, was es an sich zieht“ und deshalb „Potenz“ genannt werden kann (ebd.). In Analogie zu dem Textzitat wird die erste Potenz (das Seinkönnen) dahingehend zu bestimmen sein, dass sie gegenüber dem Abgrund des „Nichts“ das reine Sein „angezogen“ hat. Im Fortgang der Philosophie der Offenbarung konkretisiert sich dies in Bezug auf die Zeit, die nur in der Durchbrechung der „alles zermalmenden Riesenschlange der Ewigkeit“ als sinnvoll erfahren werden kann. Näherhin wird dies bedeuten, dass die Freiheit als das eigentliche Ziel Gottes und des Menschen und damit der Zeit überhaupt70 nur „im Ringen gegen ihre natürlichen wie auch geschichtlichen Bedrohungen“71 konkret werden kann. Die Freiheit ist daher – wie Schelling im mythologischen Prozess aufzuzeigen sucht – nur in der Geschichte und in der Zeit im Aufleuchten eines „Gegen-Logos“ gegenüber einer leidvollen und abgründigen Wirklichkeit besprechbar und tradierbar. Neben den ersten beiden Potenzen setzt Schelling eine dritte Potenz. Diese ist „das unzertrennliche Subjekt=Objekt“, „das Dritte, als das von beiden Einseitigkeiten Freie, [...] in welchem der actus nicht die Potenz, und die Potenz nicht den actus ausschließt, oder welches im Vergleich mit dem Könnenden nicht aufhört, Sein zu sein“ (PhdO 59). Näherhin muss sie sich in der PhdO als das Moment des Zukünftigen erweisen, welches das Sein überhaupt erst beschließt. Dabei ist wichtig, dass die Zeitformen nicht auf „einer Ebene“ als chronologischer Zeitpfeil angesehen werden. Für Schelling gibt es eine „ewige“ Vergangenheit (die Einheit der drei Potenzen unter der Schirmherrschaft der ersten Potenz), d.i. ein „zeitlos vergangenes Sein“, die Gegenwärtigkeit des Logos und eine nie einholbare, u-topische Zukunft. Es ist der Mythos, der von einem zeitlos vergangenen Sein weiß – und der durch den Logos gegangene Mythos, der vom Eschaton spricht. Die Theogonien sind niemals der 69 70 71

Vgl. F.W.J. Schelling, PhdO 38. Vgl. F.W.J. Schelling, PhdO 79. J. Reikerstorfer, Die Potenzen-Lehre in Schellings Spätphilosophie 230.

10. DIE POTENZEN ALS FORMEN DER ZEITIGUNG DER ZEIT

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chronologische Beginn einer Welt, sondern das, „was es war zu sein“, was im Übrigen auch zeigt, dass nicht zuletzt Aristoteles in der Bestimmung des Wesens noch auf den Mythos zurückgriff. Für das Verständnis Schellings ist zu bedenken, dass sich die Spekulationen über den Anfang der Sprachform des (allerdings durch den Logos der Vernunft gegangenen) Mythos bedienen, um die für ihn so zentrale eschatologische Differenz zu wahren. Andernfalls wäre der Einwand Kants berechtigt, dass die Frage nach dem Anfang in die Antinomie führt und Schellings Philosophie daher nicht über Leibniz hinausginge. Dagegen muss berücksichtigt werden, dass Schelling aufzeigen will, dass das transzendentale Ideal weder im Sinne von Leibniz als in Gott absolut vermitteltes Sein noch im Sinne von Kant als das Sollen der praktischen Vernunft konkretisiert werden kann, sondern nur durch die Selbstoffenbarung des trinitarischen Gottes, dessen Anfang eschatologischer Anfang ist, der sich im menschlichen Handeln zu konkretisieren hat. Erst in einem Rückgriff in die ewige Vergangenheit des anfangenden Gottes und in einem Vorgriff auf das Eschaton vermag sich für Schelling eine wirkliche, d.h. freiheitsermöglichende Zeitigung des Seins ergeben, was wiederum nur zu begreifen ist in der Ekstasis der Vernunft, die Schelling für den Übergang von negativer und positiver Philosophie ansetzt.

Nach diesem Vorgriff unsererseits ist nun wohl auch folgender Text von Schelling verständlicher: Durch den Begriff des Absoluten haben wir den Begriff der leeren Unendlichkeit aufgehoben, wo kein Anfang und kein Ende ist. In jenen drei Bestimmungen ist freilich Anfang, Mitte und Ende – aber absolut gegeben, nur so, daß sie nicht außereinander sind. Von der leeren Unendlichkeit ist alle Endlichkeit ausgeschlossen; aber in jenen drei Begriffen ist das Absolute in sich selbst ein Endliches, durchgängig bestimmtes, und doch Unendliches, weil es keiner einzelnen Form Untertan ist, die eine andere ausschlösse, weil es nach außen völlig frei ist.72

In diesem Rückblick ist ein Vorblick in die absolute Zeitigung des Seins gegeben, die erst erfolgt ist, wenn die Zeit als organisches Ganzes von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft betrachtet wird. Dagegen ist es sozusagen der Abgrund des Nichts, der die Zeit in einer rein gegenwärtigen, schlechten Unendlichkeit voranschreiten lässt, in der weder Freiheit noch Sinn denkbar sind. Aus diesen Überlegungen können wir dem Votum von A. Hutter73 zustimmen, nach dem in der Naturierung der Vernunft im Sinne einer geschichtslosen Reflexionsphilosophie bzw. in der „Darstellung einer reinrationalen Philosophie“ die Vernunft selber dem theogonischen Prozess der Mythologie anheimfällt. Allerdings gilt es dabei zu berücksichtigen, dass Schelling dem gerade nicht eine Geschichtsphilosophie im hegelschen Sinne (die Hegel in der PhdG selber weit hinter sich gelassen hat) gegenüberstellen will (was A. Hutter ebenfalls betont), sondern dass es für ihn darum geht, den Mythos in den Logos einzuholen, wie dies im Christentum vollbracht wurde! Darin 72 73

F.W.J. Schelling, PhdO 61. A. Hutter, Geschichtliche Vernunft.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

wird sich die eigentliche Ekstasis der Vernunft zeigen und von daher sind die Spekulationen Schellings über die Jungfrauengeburt, den Satan, die Engel, das Fleisch Christi, die Existenz der Toten u.a. gerade keine theologisierenden Verschrobenheiten seiner Philosophie, sondern eine Essenz derselben. Die wahre Bedeutung Schellings und der Bereich, wo er wichtige Akzente über Hegel hinaus zu setzen vermag, liegt nicht im Bereich seiner negativen Philosophie, sondern in diesem expliziten Wissen um die Bedeutung des Mythos und der damit verbundenen Vernunftkritik, die so auf ihre Weise Kant weiterführt. Wichtig sind diese Überlegungen gerade für ein Zeitalter, welches der reinrationalen Philosophie – in welcher Gestalt auch immer – verfallen ist. Da wir in solchen Zeiten leben, muss betont werden, dass es Schelling nicht darum geht, im Sinne eines New-Age-Kitsches den Mythos ungebrochen zu restituieren, sondern die eigene (mythische) Vergangenheit zu finden und zu verstehen und damit überhaupt erst der wahren Bedeutung von Gegenwart und Zukunft auf die Spur zu kommen! Tatsächlich scheint heute die Theologie weit von einem freien Zugang zum Mythos entfernt (was schon Bonhoeffer gegen Bultmann kritisiert hat) und es bedarf philosophischer Denker wie Pareyson, Vattimo oder sogar Žižek (alle drei nicht zufällig Erben Schellings und Hegels), um der Theologie ihre genuine Sprachform zurückzugeben. Vielleicht wird wieder die Zeit kommen, in der die Theologie über diese Themen jenseits kindlicher Naivität und abgeklärter, letztlich ungläubiger Rationalität sprechen kann.

Die Potenzen sind nicht in der Form eines zeitlosen Seins Weisen der Gottheit, vielmehr treten sie erst durch die Vermittlung der Zeit in ihrer konkreten Gestalt (als Personen) hervor. In ihrer geistimmanenten Form, d.h. als Weisen des vollkommenen Geistes sind sie der „an sich seiende Geist“ (PhdO 73) („Urform“ der ersten Potenz), d.h. dessen Aseität, dessen In-Sich-Halten. Weiters der „für sich selbst seiende Geist“ (PhdO 75), d.i. der außer sich seiende Geist, der ganz des ansichseienden Geistes ist (d.h. sein Fürsichsein in der Form absoluter Entäußerung hat) und schließlich als „Urform“ der dritten Potenz der „im an sich Sein für sich seiende Geist“ (PhdO 77), von Schelling auch „bei sich seiender Geist“ genannt. Im Geist-Sein manifestiert sich Gott als das metaphysische Band der Potenzen, wobei für Schelling entscheidend ist, dass Gott frei davon ist, sich in einer bestimmten Potenz zu zeigen. Schelling schreibt: „Der vollkommene Geist darf nicht als Viertes außer den 3 besonders gedacht werden. Er ist nicht außer den drei Gestalten, und sie sind nichts anders, als der Geist selbst. So wie wir die 3 Gestalten in ihrer Verkettung denken, so denken wir den vollkommenen Geist, und wie wir den vollkommenen Geist denken, denken wir die 3 Gestalten. Er ist in keiner von diesen Gestalten der ganze Geist, und doch in keiner von ihnen für sich, sondern er ist notwendige Allheit.“ (PhdO 80) Mit Blick auf die Freiheit, die sich als das freie Spiel der Potenzen zeigen wird, ordnet Schelling diesen auch die Sphären des „Sein-Könnenden“ (causa materialis), des „Sein-Müssenden“

10. DIE POTENZEN ALS FORMEN DER ZEITIGUNG DER ZEIT

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(causa formalis) und des „Sein-Sollenden“ (causa finalis) zu74. Diese drei Ursachen entsprechen der Aristotelischen Ursachenlehre, allerdings wird sich zeigen, dass Schellings entscheidende Modifikation darin besteht, dass er die drei Ursachen als drei Zeitformen bestimmt. Gott ist als der absolute Geist der ganze Geist, der in der Aktuierung seiner Vaterschaft die Schöpfung hervorzubringen vermag, die aber – und dies ist entscheidend – nicht unmittelbare Emanation Gottes, sondern Herauswendung (und Wechselspiel) der göttlichen Potenzen ist. Im Unterschied zur leibnizschen Darstellung ist es also nicht unmittelbar Gott, der eine in ihm zureichend begründete Welt hervorbringt, sondern der zureichende Grund ist das in Gott als absoluter Geist beschlossene Wechselspiel der göttlichen Potenzen (Personen). Der absolute Geist (Idee in individuo) enthält also die Dreistrahligkeit der Monade (Kraftpunkt, Kraftäußerung, Kopula) als drei absolute, in Gott allerdings vereinigte Prinzipien in sich. Diese zeigen sich als drei Ursachen, deren Wechselspiel das in Gott „beschlossene“ Sein ist. In ihrer vollendeten Gestalt werden sie dabei als begeistete Zeiten auftreten. Damit deutet sich an, wie Schelling der kantischen Kritik an der Ontologie begegnen will. Er wird darauf abheben, dass tatsächlich ein absoluter Anfang, ein zureichender Grund, ein absolutes Sein Idee ist. Allerdings wird er versuchen zu zeigen, dass diese Idee sich selber offenbart. Dabei wird nun natürlich nicht das, was der Vernunft verwehrt blieb – nämlich ein absoluter Anfang oder das absolute Ende, wie es uns als Postulat der praktischen Vernunft entgegentrat – über den Schleichweg der Offenbarung „vernunftgerecht“ gemacht. Vielmehr besteht die Ironie Schellings gewissermaßen darin, dass das, was Kant als U-topie (Postulat) bzw. Vernunftidee (Ich, Welt, Gott) von der Sphäre des Seins ausgestoßen hat, von Schelling ausgestoßen bleibt, aber als „Überseiendes“ anerkannt wird. Die Problematik Kants besteht für Schelling darin, dass er die Vernunftkritik nicht weit genug treibt, indem er die Abgründigkeit und Vernunftwidrigkeit (aus dem Fall resultierender theogonischer Prozess) der Welt mittels der praktischen Vernunft „in den Griff“ zu bekommen glaubt. Dagegen akzentuiert Schelling den u-topischen Ort der Vernunftideen als eigentliche Realität, wenngleich dieser nicht mehr über den Weg negativer Philosophie, sondern nur mehr mittels der Ekstasis der Vernunft einholbar ist. Betrachtet man Hegels Position, zeigt sich eine wichtige Nähe zu Schelling. Als entscheidendes Moment seiner Dialektik wird sich die Anerkennung der Diskretion (Nichtkontinuität) des Anderen erweisen, was nur im Verzichttun auf den Geltungsanspruch gegenüber der Wirklichkeit einholbar ist. Erst wo dem Begriff als (traumatischer) Entzweiung mit einem „Sich-Selbst-Anders-Werden“, d.h. einem Ablassen von der eigenen noetischen und ethischen Substanz entsprochen wird, beginnt eine geistige Sicht der Wirklichkeit. Der damit verbundene Bruch ist durchaus der Ekstasis der Ver74

Vgl. F.W.J. Schelling, PhdO 86.

174

VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

nunft vergleichbar, wobei eine weitere Parallele darin besteht, dass dieser Bruch / diese Ekstasis kein vom Menschen herstellbares Geschehen ist, sondern ihre Tiefendimension im Geist selber haben. Wie wir in den letzten Abschnitten sehen werden, ist dieser Geist die Gabe der Zeit, insofern sie uns als (noch zu bestimmender) zweiter Mythos begegnet.

Nach diesem programmatischen Vorgriff können wir mit Blickrichtung auf die folgenden Abschnitte sagen, dass Gott als der Herr des Seins auch Herr über die göttlichen Potenzen ist, die sich in ihrer untrennbaren Einheit nicht in das konkrete Sein entäußern müssen. Allerdings kann Gott die Potenzen in einem freien Aktus herauswenden und somit schöpferisch tätig sein. Wie Schelling festhält, bleiben dabei „zwei Fragen“ übrig: 1) Wie Gott dieses [außergöttliche] Sein annehmen könne – 2) Wodurch er im Falle der wirklichen Annahme dieses Seins außer sich zur wirklichen Annahme des Seins bewogen werde?75

Die erste Frage beantwortet Schelling damit, dass „am Ansich die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, hervorzutreten“ (PhdO 90). Im reinen Können steckt die Möglichkeit eines Heraustretens aus der primordialen Einheit, d.h. die potentia pura kann sich in das Potenz-Akt-Verhältnis übersetzen. Das reine Seinkönnen tritt durch eine „bestimmte“ Äußerung in den Gegensatz des Seins, d.h. Gott kann in der Aktuierung seiner Vaterschaft die Potenzen trennen, d.h. herauswenden und damit als der Überzeitliche in die Zeit treten. Bevor wir diesen Schöpfungsakt weiter ausführen, wollen wir auf die zweite Frage eingehen: Warum gibt es konkretes Sein? Oder deutlicher: Warum gibt es konkretes Sein, wenn dieses Sein die Schattenseite der Sinnlosigkeit, des Abgründigen (aus dem zureichenden Grund Herausgesetzten) mit hervorbringt. Die erste Antwort, die Schelling in der PhdO gibt, geht dahin, dass Gott als reine Unendlichkeit ohne die Möglichkeit der Schöpfung bloße „Rotation“, ohne Anfang und Ende (und damit Zentrum) und damit unselig wäre.76 Es ist die in Gott gründende Möglichkeit der Zeit, die Gott aus der rein rotatorischen Bewegung bzw. aus seinem Dasein als absoluter („schicksalhaft“ notwendiger) Substanz befreit77. Theologischer formuliert: SEIN Gottsein als trinitarischer Gott schließt die Möglichkeit der Zeit ein und steht einem Dasein als anfangund endloser78 (transzendenzloser) absoluter Substanz entgegen. In diesen 75 76

77 78

F.W.J. Schelling, PhdO 90. F.W.J. Schelling, PhdO 92. Interessanterweise unterscheidet sich an dieser Stelle der Text der Sohnesausgabe (XIII 273f.) vom Text der Urfassung: Letzterer akzentuiert die Unseligkeit des In-sich-kreisenden-Gottes stärker, die die Sohnesausgabe dahingehend abmildert, dass Gott schon durch die Möglichkeit der Schöpfung dieser Unseligkeit enthoben ist. Vgl. F.W.J. Schelling, PhdO 114: „Will man also Gott nur mit dem Wort bezeichnen?“ Dass es sich bei diesem Anfang und Ende nicht um einen Anfang und ein Ende in der (chronologischen) Zeit handeln kann, versteht sich wohl von selber. Denn nach Schelling (genauso wie nach der Bibel) ist Gott das Alpha und das Omega!

11. ANFANG I: DIE WEISHEIT

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Ausführungen nähern wir uns dem „Anfang“ der Offenbarung, wobei nie vergessen werden darf, dass erst in der Analogie konkreter Zeitlichkeit (des Menschen) ein solcher Anfang besprechbar ist. Gott in der Möglichkeit der Aktuierung ist so noch ewige Vergangenheit in Bezug auf eine zeitliche Schöpfung, deren eigentlicher Sinngrund allerdings nicht eine willkürliche Wahl Gottes oder gar eine Befreiung Gottes aus zwanghafter Substanz wäre, sondern dessen Hingabe an den Menschen.

11. Anfang I: Die Weisheit Die Liebe Gottes zur Welt als Anfang der Schöpfung wird von Schelling in einer Auslegung von Spr 8,22-31 als Grund des Schöpfungshandelns Gottes dargelegt. Schelling schreibt zunächst von einem Wissen, „so alt wie die Welt [...]. [...] Potenz eines andern von Gott verschiedenen Seins“, das in Gott „zuerst nur als Möglichkeit Verborgene, das einmal schlechterdings nicht war“ (PhdO 133). Bei Leibniz sieht Gott alle möglichen Welten, aus denen er die zureichend begründete auswählt. Ähnliches ist bei Schelling der Fall, allerdings mit einem markanten Unterschied: Die zureichend begründete Welt, die Gott von Ewigkeit her erblickt, ist ihrerseits nur eine Zeitform, nämlich der Mythos einer Welt, das „was es war zu sein“. Gott sieht also nicht die Gegenwärtigkeit der Zeit, die sich in der Ewigkeit aufhebt, sondern in der Weisheit erblickt er eine Ewigkeit, die die ewige Vergangenheit der Welt ist. Insofern nimmt sie eine „Mittelstellung“ zwischen Schöpfer und Geschöpf ein79. Sie ist nicht real, daher nicht die ewige Vergangenheit, die Gott wie bei Leibniz und der gesamten metaphysischen Tradition als Gegenwärtigkeit (die aber vor den Augen Gottes ewige Vergangenheit bliebe) aktuieren könnte, sondern, wie sich zeigen wird, ewige Vergangenheit in Bezug auf die Spannung der sich zeitigenden Potenzen, in der diese Ewigkeit nur ein Moment ist. Inhalt der Weisheit Gottes ist seine „mögliche Andersheit“ – „das eigentliche Geheimnis seiner Gottheit“ (PhdO 135) –, deren Kulminationspunkt der Mensch ist. Schelling drückt dies sehr poetisch folgendermaßen aus: „Sie [die Weisheit80] spielte ihm vor Tag für Tag, alle Tage der künftigen Schöpfung; denn in ihr sollte sich Gott einen künftigen Zeugen seiner Tat erziehen; aber ihre vorzügliche Lust war, in ihr den künftigen Menschen vorzubilden.“ (PhdO 134) Der Wille Gottes, den Schelling so akzentuiert, um klar herauszustreichen, dass der lebendige Gott nur ein persönlicher Gott sein kann und nicht als ein abstraktes Prinzip aufgefasst werden darf, ist, so zeigt sich nun, kein voluntaristisches Geschehen. Vielmehr gilt, was F. Tomatis sagt: „Auch 79 80

Vgl. F.W.J. Schelling, PhdO 134. F.W.J. Schelling vergleicht sie hier mit der indischen „Maja“.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

für Gott gilt die absolut wirkliche Aussage: Person sucht Person“81. Gott erkennt in seiner Liebe den Menschen und er will ihn als das Andere seiner, d.h. frei. Mit anderen Worten gesagt: Die Weisheit stellt die Welt und ihre Zeit als einen Mythos der Freiheit vor. An die Ausführung über die Weisheit schließt Schelling tiefsinnige Zeitspekulationen an, die wir hier in den Grundzügen wiedergeben wollen: Von den älteren Theologen ward standhaft behauptet, die Welt sei in der Zeit entstanden. Es gehört zur Oberflächlichkeit der neuen Theologen und Philosophen, sich darüber hinauszusetzen [...]. Hat Gott von Ewigkeit, von da an, wo er ist, geschaffen, so hat er seiner Natur nach geschaffen. Dies zu entfernen, schützen sie vor, die Zeit habe erst mit der Welt angefangen, sei aber nicht in ihr entstanden. Allein näher betrachtet ergibt sich: Zeit ist nicht möglich ohne Vor und Nach, ohne prius und posterius – wo diese sind, ist wirkliche Zeit, d.h. wirkliche Sukzession. [...] Denken Sie die Welt als B, so hat allerdings die Zeit eben erst mit der Welt angefangen, denn die Zeit fängt erst mit A+B an; allein es kann doch vorher eine Zeit sein, und es folgt schlechterdings nicht, daß vor der Welt keine Zeit war. Indem A+B gesetzt wird, wird A selbst ein Element der Zeit. A wird durch B zur Vergangenheit, und da es keine Zeit gibt ohne Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, so wird erst Zeit gesetzt, indem A als Vergangenheit gesetzt wird. B, inwiefern es zunächst nur Spannung ist, ist selbst nur wieder das Vermittelnde dessen, was als Zukunft erscheint. Daraus folgt also, daß mit der Schöpfung zuerst und zugleich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – Anfang, Mitte und Ende – gesetzt ist; aber es folgt nicht, daß keine Zeit vor der Welt oder der Schöpfung ist, und insofern kann man allerdings sagen: die Welt ist in der Zeit entstanden – sie ist gleichsam nur das Glied einer Zeit. Die Vergangenheit ist eine Zeit, welche über die Welt hinausgeht – die Zukunft ist eine Zeit, welche über die Welt hinausgehen wird.82

Im Schöpfungsakt ist die „Weisheit Gottes“, d.h. die zureichend begründete Welt mit der Weltseele a0 als Kulminationspunkt, als ewige Vergangenheit gesetzt. Der gegenüber steht die vermittelnde Tätigkeit von B (der zweiten Potenz, der Gegenwart, der Welt des Logos). Sie besteht in der Setzung sowohl der ewigen Vergangenheit (Mythos der Weisheit bzw. Ewigkeit) als auch der absoluten Zukunft (Eschaton) durch eine „Urspannung“ bzw. einen „Gegensatz“ oder auch einen (freien) Anfang, in dem sich erst Gegenwärtigkeit manifestieren kann und ohne den die Sphären der Zeit (Gegenwärtigkeit, Vergangenheit als Ewigkeit, Zukunft als Eschaton) noch abstrakt in der primordialen Einheit des Seins als des absoluten Subjekt-Objekts und damit in einer Nicht-Zeit oder besser gesagt wiederum in der ewigen Vergangenheit als lediglich ein Moment stünden. Dieses B (der Logos, die zweite Potenz) ist also die durch Heraussetzung der ersten Potenz (s.u.) gewirkte Spannung der Zeit, in der die Rede von einer vorweltlichen Vergangenheit und einer nachweltlichen Zukunft erst Sinn macht. Es ist weiters jener Logos, dessen Anfang 81 82

F. Tomatis, Kenosis del logos 169. Im italienischen Original lautet der Satz folgendermaßen: „Anche per Dio vale la realissima affermazione: “. F.W.J. Schelling, PhdO 137f.

12. ANFANG II: DIE FREISETZUNG DER ERSTEN POTENZ

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bereits den Abgrund eines Gegenlogos („Fall“) impliziert, der nur bestanden werden kann, indem sich der Logos an jene „vorweltliche“ Vergangenheit bzw. „nachweltliche“ Zukunft erinnert, in denen er in der Einheit Gottes ist. Dabei wird sich uns in der Besprechung der Kenosis zeigen, dass dieses „ist“ wiederum nur im Modus absoluter Vergangenheit und absoluter Zukunft erschwinglich ist (wenngleich es im kenotischen Handeln, welches so die Analogie Gottes ist, präfiguriert wird). Bevor wir uns in den nächsten beiden Abschnitten der eigentlichen Schöpfung zuwenden, ist zu berücksichtigen, dass Schelling im Zusammenhang der von uns zitierten Stelle außer von einer „vorweltlichen Ewigkeit“ (PhdO 138), also einer vorweltlichen Vergangenheit, auch von einer absoluten Ewigkeit spricht. Er schreibt: „Dagegen kann die absolute Ewigkeit niemals ein Glied einer Zeit werden, weil sie von der Zeit nie berührt wird. Denn zur absoluten Ewigkeit, eben weil sie lautere Einheit ist, verhält sich die Spannung der Potenzen als etwas Akzessorisches [...]. Diese Spannung ändert an der Ewigkeit selbst nichts [...]. Sie koexistiert mit jedem einzelnen Moment der Zeit und in jedem Moment ist die absolute, die ganze Ewigkeit.“ (PhdO 138f) Die absolute Ewigkeit Gottes kann insofern kein Glied der Zeit sein, als Gott niemals der in der Zeit Werdende ist. Es darf aber nicht vergessen werden, dass die Ewigkeit für Schelling mit jedem einzelnen Moment der Zeit „koexistiert“. Sie kann nicht in der von einer verräumlichten Gegenwart her verstandenen Zeit „verortet“ werden, darf aber auch nicht als für sich seiende Entität aufgefasst werden (wenngleich dies von Schelling, der gegen den Gedanken eines werdenden Gottes auftritt, an dieser Stelle nicht akzentuiert wird). Vielmehr ist erst in zeitlicher Offenbarung überhaupt möglich, von der absoluten Ewigkeit des trinitarischen Gottes zu sprechen. Wir können vorwegnehmend sagen, dass die Ewigkeit das Zeichen für eine kritische Differenz der Zeit selber ist – in dem Sinne, dass jede Beheimatung in der Gegenwart zu kurz greift. Darin ist sie die „lautere Einheit“ von Proton, Präsenz und Eschaton und „frei“ (d.h. nicht fixierbar) gegen diese Zeitformen. Dass Gott absolute Ewigkeit ist, bedeutet, dass er im Eschaton das Proton und im Proton das Eschaton ist, beides aber vermittelt durch die Präsenz der Zeit, die so nie als reine Gegenwärtigkeit aufzufassen ist, in der Gott werden könnte.

12. Anfang II: Die Freisetzung der ersten Potenz und die Zeugung des Sohnes Schelling hebt in seinen Ausführungen über die Schöpfung mit dem Vater an: Er ist der Gott, „in cujus potestate omnia sunt, [...] der ganze Gott – nicht eine Gestalt Gottes, sondern Gott in absoluter, vollkommener Persönlichkeit [...],

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

die allein was anfangen kann [...]“ (PhdO 156). Hier kommt der sehr wichtige Gedanke zum Ausdruck, dass der Vater nicht etwa ein Teil (im Sinne der Art) der (Gattung) Gottheit ist, sondern „ganzer Gott“ (ebd.) und als solcher ewiger Ursprung, indem er seine Vaterschaft in der Zeugung des Sohnes vollzieht. Mit diesem Akt haben wir es nicht mehr mit wesenhaften „Gestalten der Gottheit“ (ebd.) zu tun, sondern „mit Persönlichkeiten“ (ebd.). Denn die Schöpfung ist nach Schelling weder Emanation Gottes noch creatio ex nihilo im Sinne eines herstellenen Tuns, welches die Welt nicht frei aus sich entlassen könnte, sondern als Schöpfung aus der Differenz Gottes (Spannung der göttlichen Potenzen) Setzung der Freiheit als Bedingung der Möglichkeit von Personalität. Diesen Gedanken fortsetzend schreibt Schelling, „wenn sie [die erste Persönlichkeit, der Vater] das an sich Sein ihres Wesens ins Sein erhebt, so schließt sie das rein Seiende ihres Wesens aus von dem, was dieser zweiten Gestalt das Subjekt war. Die zweite Gestalt ist nur das Erhabene, unendlich Seiende, weil ihr eben die erste Gestalt, das Können, Subjekt ist. Erhebt sich diese selbst zum Objekt, so hebt sich zwar jenes rein Seiende nicht auf; dafür ist gesorgt durch die Unzertrennbarkeit der göttlichen Einheit, [...] aber [es ist] doch in seinem reinen, potenzlosen Sein negiert [...]“ (PhdO 156). Diese merkwürdige Stelle erinnert uns zunächst daran, dass Gott als absolutes Subjekt (Idee in individuo) der absolut Freie und ex nihilo Anfangenkönnende, daher der Vater ist, der seine Vaterschaft aktuieren kann, indem er die erste Potenz (sein Seinkönnen) ins Sein erhebt und dabei die zweite Potenz (Logos, die absolute Vermittlung als Inbegriff aller Möglichkeiten) aus der Sphäre der Unendlichkeit heraussetzt. Diese (absolute Vermittlung als unendliches Prädikat) verliert damit das absolute Subjekt als ihren zureichenden Grund und bewegt sich dadurch gleichsam in zwei Sphären, die durch die Potenzialisierung auseinandergetreten sind: Einerseits im Abgrund des Endlichen, andererseits aber in der metaphysischen Verbundenheit mit den anderen Potenzen, die es im Geist nicht verloren hat. Eine nähere Interpretation muss in diesem Zusammenhang berücksichtigen, dass die Schöpfung das „In-die-DifferenzTreten“ Gottes selber ist (dieser Akzent ist gegenüber Leibniz neu). Gottes Sein (unendliches Subjekt, Seinkönnen, erste Potenz, eschatologisch gesehen „der Vater“) ist als das Andere seiner (zweite Potenz, eschatologisch gesehen „der Sohn“), und dieses IST als reines „Anderssein“ (unendliches Prädikat) immer schon das Sein des Vaters (Genetivus objectivus, deshalb nennt Schelling es „Objekt“). Die Aktuierung der ersten Potenz bedeutet nun nichts anderes als das Einschreiben einer Differenz in Gott, die von der zweiten Potenz zu überwinden ist, weil sie als das „Andere“ auf das unendliche Subjekt angewiesen ist. Sie bekommt daher „eine Potenz in sich, wird wirken Müssendes als das in einem notwendigen actus, dem actus der Überwindung des contrarium, sich ins ursrüngliche reine, potenzlose Sein wieder Herstellende“ (PhdO 157). Diese zweite Potenz muss sich als das Andere ihrer, d.h. als absolutes Subjekt, finden, wobei es in der Spannung zwischen dem Abgrund der Endlichkeit und der ewigen Verbundenheit „im Geist“ mit Gott als dem Vater steht. Die dritte

12. ANFANG II: DIE FREISETZUNG DER ERSTEN POTENZ

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Potenz als das metaphysische Band zwischen erster und zweiter erklärt sich dabei daraus, dass die Differenz in Gott eine Differenz in Gott ist, die die dritte Potenz als die absolute Copula nicht aufzuheben vermag. Zusammenfassend gesagt können wir die Vaterschaft dadurch charakterisieren, dass sie in der Setzung der Spannung der Potenzen zeugend war, während die Sohnschaft in der „Wiedereinbringung“ des Ursprungs besteht, wobei vom Sohn (und damit vom Vater und vermittelt durch beide vom Geist) im strengen Sinne erst im wiedereingebrachten Ursprung und damit eschatologisch zu sprechen ist. Durch diesen Prozess wird die in den Abgrund der Endlichkeit gefallene Welt wieder eingebracht. Schelling kann daher schreiben, dass der „wahre“ Wille des Vaters „nicht die Spannung, sondern das Erzeugen des Sohnes [ist]“, der „in seiner Gottheit“ und damit als „Sohn“ erst am Ende (in der Wiedereinbringung) offenbar ist, womit er „zwar schon vor Anfang der Schöpfung gezeugt, aber nicht als Sohn schon verwirklicht [ist]“ (PhdO 158). Dieses Ende aber ist, so Schelling, „das menschliche Bewußtsein“ (ebd.). Als Einheit der Potenzen hat es sich uns bereits dargestellt als die Weltseele, der Logos, das Wesen der Welt, d.i. der Einheitspunkt der endlichen und auseinandergetretenen Natur als deren wiedereingebrachter zureichender Grund. Jetzt wird es konkretisiert als der Sohn, das Wesen des urbildlichen Menschen, in dem die Natur Analogie Gottes und Spiegel des göttlichen Schöpfers ist. In Bezug auf die zeitlichen Konsequenzen dieses Prozesses hält Schelling fest: [...] wie der Sohn außer dem Vater gedacht werden müsse, ist jetzt zu erklären, diese Bestimmung des Sohnes oder die Zeugung kann erst im Anfange der Schöpfung gedacht werden. Indem aber die Dogmatiker von einer ewigen Zeugung sprechen, entsteht ein Widerspruch mit unserer Ansicht; denn ich habe gezeigt, daß die Zeugung erst mit der Weltschöpfung gedacht werden könne. Aber dieser Widerspruch unserer Ansicht schließt nur die Ewigkeit des Sohnes außer dem Vater, aber nicht seine Ewigkeit als Sohn aus. [...] [Des Vaters] Wollen [...], da es das Zeit und Ewigkeit als solche scheidende Wollen ist, so muß es als Setzendes der Zeit über der Zeit sein. Eine Entstehung der Zeit läßt sich nur so denken, daß zugleich – in Einem actus – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesetzt werden. Wenn die Zeit nur so anfangen kann, daß zugleich die drei Unterscheidungen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesetzt werden, so muß etwas vorausgesetzt werden, das schlechterdings als Vergangenheit gesetzt ist. [...] Eine Zeit wie die unsrige, in der immer nur dieselbe Zeit wiederkehrt A+A+A, ist nicht wahre Zeit, sondern Hemmung der wahren Zeit. Erst wenn A+B+C gesetzt ist, ist wahre Zeit. In jenem actus, der etwas völlig Neues, Niegewesenes einsetzt, wird, was er zuvor war, als Vergangenheit gesetzt. Das durch oder während des actus Geschehende ist die Gegenwart, und das eigentlich Gewollte ist die Zukunft. Sie sehen hieraus, daß auf diese Art in Einem actus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterschieden werden. Dieser actus, der die Zeit im großen Sinne setzt, kann nicht in einem einzelnen Moment der Zeit begriffen werden, sondern ist ein ewiger actus – er ist ein die ganze Zeit fortwirkender, kein zeitlicher sondern immer währender actus – und eben darum ist

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

auch die Zeugung, die Spannung der Potenzen, die Zeugung des Sohnes eine ewige, d.i., immer währende.83

Schellings Auffassung von der Zeit kommt in diesem Text auf herausragende Weise sukzessive zum Ausdruck. Zunächst kritisiert er die Vorstellung „der Theologen“ von einer ewigen Zeugung des Sohnes. Doch was ist mit dieser „ewigen Zeugung“, die Schelling kritisiert, gemeint? Der Kontext weist eindeutig darauf hin, dass Schelling hier eine von der Schöpfung unabhängig gedachte Zeugung des Sohnes im Visier hat. Dagegen hält er fest, dass die Schöpfung eodem actu die Zeugung des Sohnes ist. In der Spannung der Potenzen wird die zweite Potenz (in der Wiedereinbringung der ersten) als Sohn gesetzt. Dabei könnte zunächst der sukzessive Charakter dieser „Sohnwerdung“ kritisiert werden. Allerdings werden wir sehen, dass dies ebensowenig wie die Ablehnung einer ewigen Zeugung des Sohnes das letzte Wort Schellings ist. Zunächst aber ergibt sich in der Zeugung des Sohnes (Schöpfung) ein System von Zeiten: Wir haben es mit der vorzeitigen Vergangenheit der Einheit der drei Potenzen zu tun, wobei diese gewissermaßen primordiale Trinität nicht leer ist, sondern ihr der Mythos eines zukünftigen Menschen (mittels der Weisheit) korrespondiert. Als zweite Zeit ist die sich in der Spannung befindliche Gegenwart gesetzt und als dritte die „gewollte Zukunft“. Dabei ergibt sich nun allerdings eine charakteristische Verschränkung dieser Zeiten. Denn Inhalt der Vergangenheit ist nichts anderes als die gewollte Zukunft – der U-topos einer Welt, in der Gott „alles in allem“ ist. Noch deutlicher gesagt: Die „Fabel“ (um hier mit Ricoeur zu sprechen) der Vergangenheit ist die u-topische Zukunft, die sich in der Präsenz Gottes manifestiert. Schelling geht in seinem Text nun einen weiteren Schritt. Um sich diesen zu vergegenwärtigen, hilft es, auf die Kritik Hegels an der „Form der Vorstellung“ der Religion zu verweisen. Die Religion lagert nach Hegel das göttliche Schöpfungshandeln in die Vergangenheit (bzw. in die Zukunft) aus und verstellt sich damit die Sicht auf die Präsenz des Geistes, die sich im freien Handeln des Menschen (in der höchsten Form in der Anerkennung und in der Liebe) als der wahre Anfang (der weit über den Gedanken einer intelligiblen Wahl hinausgeht) manifestiert. Im schellingschen Text ist die Rede von einem ewigen Actus des Vaters, d.i. die ewige Zeugung des Sohnes: Darin entlässt der Vater den Sohn frei aus sich84 und setzt in diesem Entlassen Zeit. Dieses freie Entlassen ist aber ein „immer währender Actus“, eine „immerwährende Geburt des Sohnes“, was nur dann mit Sinn behauptet werden kann, wenn diese Zeugung in der Zeitigung menschlichen Handelns erfolgt. So manifestieren sich die Potenzen (und die Zeiten) im menschlichen Tun, was in der höchsten Be83 84

F.W.J. Schelling, PhdO 162-164. Vgl. F.W.J. Schelling, PhdO 165: „Die Zeugung besteht vielmehr im Ausschließen, nicht im Setzen. Gerade dieses Ausschließen gibt dem rein Seienden sich selbst, setzt es als selbständig, gibt ihm die Kraft, actu zu sein, die es ohne Vermittlung eines Negierenden nicht finden kann.“

13. ANFANG III: DER FALL DES MENSCHEN

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deutung die Konsequenz hat, dass der (geisterfüllte) Mensch Tun Gottes ist. Der Mensch ist in seinem Weltumgang konfrontiert mit einer nie einholbaren Vergangenheit (erste Potenz als uneinholbarer Anfang), er handelt ferner aus einem Logos heraus, in dem er den Abgrund (der Vergangenheit) wenigstens momenthaft durchbrechen kann (zweite Potenz) und lebt (darin) letztlich aus der Sinngebung einer Zukunft (dritte Potenz), deren unmittelbare Sicht ihm verwehrt ist. Zugegebenermaßen ist in dieser Zuordnung bereits der „Fall“ vorweggenommen – der rein hypothetische „Urmensch“ wäre nicht abgeschieden von Vergangenheit und Zukunft –, dessen Interpretation wir uns im nächsten Abschnitt zuwenden werden.

13. Anfang III: Der Fall des Menschen Die Zeit des Mythos, die Zeit des Logos und die Zeit Satans Am Endpunkt der ersten Kosmogonie, in der durch die Spannung der Potenzen die Natur hervorgeht, ist der Mensch als Einheitspunkt der Potenzen und damit als Einheitspunkt der Natur gesetzt. Schelling schreibt über diesen Menschen: Der Mensch ist übersubstantiell – als actus purissimus=Gott, nur mit dem Unterschiede, daß der Mensch der gewordene, Gott aber der ungewordene, der ursprüngliche Gott sei. [...] Er [der Mensch] ist in demselben freien Verhältnisse zu den drei Ursachen, wie Gott zu den drei Potenzen, nur mit dem Unterschiede, daß Gott seiner Natur nach das Prius der drei Ursachen, der Mensch aber nur insofern Herr der drei Ursachen ist, als er die Einheit bewahrt, in die sie durch ihn gesetzt sind. [...] Indem er frei ist von den drei Ursachen in ihrer Differenz, besteht seine Freiheit darin, daß er sich gegen den Schöpfer oder gegen die Potenzen wenden kann. Er wendet sich, da er sich Herr über die Potenzen glaubt, natürlich gegen die Potenzen, um selbst Gott zu sein. [...] Dem Versuche, mit den Potenzen gleich Gott zu wirken, folgt der Fall. [...] Anstatt sich der Potenzen zu bemeistern, die ihm in der Einheit unfühlbar waren, bemächtigen sich jetzt diese des Menschen und seines Bewußtseins.85

Entscheidend ist, dass der Fall, von dem hier die Rede ist, nicht als Geschehen in der Zeit gedeutet wird. Wie bereits im Zusammenhang der EPhdM ausgeführt, ist es dem Menschen „natürlich“ (PhdO 223), aus der Einheit der Potenzen herauszutreten. Erst in dieser Urtat wird aus der Weltseele bzw. aus der Gattung Mensch „dieser Mensch“, erst in der Aktuierung der ersten Potenz erfährt er sich als Wille. 85

F.W.J. Schelling, PhdO 218f.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

Schelling ist im Grunde der Auffassung Hegels, dass der Fall ein den Menschen konstituierendes Geschehen ist. Bei Hegel konkretisiert sich dies darin, dass im Trennen (des Handelns, also dem Fall) bereits eine „Rückkehr“ (Versöhnung) stattfindet, d.h. Fall und Rechtfertigung können nicht auseinandertreten oder theologisch gesagt: Gott erwählt den Menschen als endliches, verletzliches, schuldfähiges und zeitliches Wesen. Dem entspricht der Mensch auf geistvolle Weise, indem er sich im Ablassen von jeder Form der Beheimatung der Erfahrung des In-die-Fremde-Gehens öffnet und in diesem Verzicht darin „innigste Verwandtschaft“ mit dem endlichen Sein erfährt. Der Mensch, der bereit ist, seine sittliche und noetische Substanz aufs Spiel zu setzen, kann in diesem „Wagnis der Nichtidentität“ Versöhnung als Tat Gottes erfahren. Schelling legt den Akzent auf die Abgründigkeit der Fremde und den Tod, die den Menschen zerbrächen, gäbe es nicht die Offenbarung (Geschichte) eines Heilshandeln Gottes, indem dieser in einem kenotischen Akt die Freiheit des Menschen (eschatologisch) bejaht. Dabei entspricht der Mensch diesem Heilsgeschehen seinerseits mit einer Kenosis, d.h. mit dem Ablassen vom eigenen Willen, wodurch sein Handeln erst Analogie göttlichen Handelns wird.

Schelling streicht in seiner Erörterung des Falls ganz besonders den Willen des Menschen heraus. Der Fall ist der Selbstwille (das eigenmächtige Aktuieren der ersten Potenz), durch den der Mensch sich zwar einerseits Individualität gibt, auf der anderen Seite aber sich und mit sich die ganze Schöpfung, die auf ihn hingeordnet ist und kein von ihm unabhängiges Sein hat, aus der Einheit mit Gott setzt. Da der Mensch bei Schelling als Weltseele Subjekt-Objekt ist, kann der Gegenstand nicht unabhängig vom menschlichen Sein betrachtet werden. Daher korrespondiert mit dem menschlichen Fall der Fall der ganzen Schöpfung. In den Worten von Leibniz ausgedrückt: In dem Moment, da die Monade nicht mehr in der Liebe Gottes (unendlich) vermittelt ist, wird sie blinder Spiegel (der prästabilisierten Harmonie) und die Welt wird im wahrsten Sinne des Wortes dunkel.

Damit aber nimmt der Mensch sich und der Welt das Fundament und die so herausgetretene erste Potenz, die nicht mehr Potenz Gottes, sondern des Menschen ist, hat kein Zentrum mehr. Sie ist Un-Person, Raserei, alles verzehrender Wahnsinn, Apeiron, abgründiges Nichts und in ihrer tiefsten Gestalt der Tod als Siegel eines von der göttlichen Unendlichkeit abgeschnittenen Lebens. Der Mensch ist so außer die Sphäre Gottes gesetzt und verfällt dem theogonischen Prozess. D.h. als Gottsetzendes Bewusstsein hat er es mit von ihm gesetzten abgründigen mythologischen Mächten („Göttern“) zu tun, in denen ihm der mit blutigen Opfern zu besänftigende „Zorn Gottes“ entgegentritt. Die Menschheit befindet sich gewissermaßen in einem kollektiven Wahnzustand, wobei der aufgelösten Persönlichkeit des Menschen chaotische theogonische Mächte korrespondieren. In diesem Zusammenhang kommt Schelling auch auf den Satan zu sprechen. Dieser „ist unstreitig als Repräsentant der im Menschen wieder erregten kreatürlichen Macht

13. ANFANG III: DER FALL DES MENSCHEN

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der Finsternis, als Repräsentant des als nicht sein sollend erklärten, aber dennoch seienden Prinzips, welches insofern es durch den Menschen erregt ist, ein kreatürliches, die Schöpfung voraussetzendes ist“ (PhdO 439). Der Satan ist also nicht Gottesgeschöpf, sondern Repräsentant der vom Menschen freigesetzten ersten Potenz. Er ist damit die absolute Nicht-Identität, die Un-Person und das Symbol des Todes. Ihm gehören auch die Seelen an, die nicht von ihrem (Eigen-)Willen ablassen konnten, durch den Tod aber von der Möglichkeit des Handelns getrennt sind und sich in ihrem eigenmächtigen Selbst verzehren.

Wie oben bereits erwähnt, ist durch den Fall die zweite Potenz (und mit ihr die dritte) aus der Einheit der göttlichen Potenzen gesetzt. Schelling schreibt: 1) der Sohn ist schon vor der Menschwerdung – mit dem Abfall des Menschen – aus der Einheit mit dem Vater gesetzt. Er ist 2) in völliger Unabhängigkeit von dem Vater – und 3) in der Freiheit, sich eine, vom Vater unabhängige, Herrlichkeit zu geben, das Sein ansich zu reißen, sich zu verherrlichen – 4) sich vor der Verherrlichung zu entherrlichen [...]86

Die Einheit mit dem Vater hat der Sohn als das Andere Gottes bzw. philosophisch gesprochen als die in der Idee in individuo gründende unendliche Tätigkeit der Monas Monadum. Als diese ist der Sohn der Ur-Logos, in dem die Welt entspringt und der die Herrlichkeit des Vaters (allerdings noch nicht personal!) spiegelt. In dem Augenblick, in dem der Mensch beginnt, in seinem endlichen Eigenwillen zu handeln, zerbricht der Logos. Der Mensch trennt damit den Logos in die Willkür der aktivierten ersten Potenz und in die zweite Potenz. Schelling betont in diesem Zusammenhang, dass Gott den Menschen der ersten Potenz überliefern hätte können. In diesem Fall gäbe es niemals Sinn für den Menschen und dieser würde von den Mächten der Sinnlosigkeit zernichtet. Dies wäre dann der Fall gewesen, wenn Gott seinen Schöpfungswillen dadurch zurückgenommen hätte, dass er sich als Vergangenheit, d.h. als die ewige Einheit der Potenzen, die er an sich ist, erwählt hätte. Dem entspräche gewissermaßen eine Welt ohne Gott, in welcher der Mensch samt der Erde, auf der er lebt, dem Untergang überlassen bliebe. Im Grunde genommen wäre dies der apokalyptische Horizont, an den der Mensch unserer Tage zu glauben scheint. Schelling ist überzeugt davon, dass keine Verstandesreflexion einen Grund findet, warum dieses Szenarium nicht eintreten sollte. Dem hält er aber seine große Erzählung, seinen neuen „Mythos“ (wir verwenden dieses Wort hier nicht als Gegenbegriff zur Offenbarung, sondern als Gegenbegriff zur Verstandesphilosophie) der unverbrüchlichen Selbstzusage Gottes an den Menschen entgegen. Es gibt schlechterdings keinen Grund dafür, dass Gott an seiner Schöpfung festhält außer seiner Liebe, seinem Willen zur Person und dem darin begründeten Willen zur zeitlichen Vermittlung. Gott selber möchte im und durch den Menschen mit der Schöpfung verbunden bleiben. D.h. ER will auch in einer nichtgöttlichen Welt, in einer zerbrochenen Zeit, die ihren 86

F.W.J. Schelling, PhdO 396.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

Anfang und ihr Ziel verloren hat, als Hoffnungshorizont beim Menschen sein. Mit diesem von Gott sola gratia eingeräumten Bund (vgl. Gen 9,12-17) steht ER selber dafür ein, dass der Mensch nicht in der von ihm hervorgebrachten „Flut“ untergeht. Die erste Ausformung des göttlichen Heilswillens ist dabei die Mythologie. Gott bleibt der Erde treu, indem er die zweite Potenz nicht in sich zurücknimmt. Sie ist durch den Menschen aus der Einigkeit des Vaters gesetzt, allerdings befindet sich die zweite Potenz als der ewige Sohn in einem immerwährenden metaphysischen Band mit dem Vater (im Geist, philosophisch also durch die absolute Copula des Gott=Gott), welches auch durch die zeitliche Welt des Menschen nicht zu trennen ist. Auf Grund dieses Bandes kann sie das Bewusstsein der ursprünglichen Einheit erhalten (conservare)87. Der Mensch ist in seinem ersten Aktus, da Gott die Schöpfung nicht komplett aus sich entlässt und mittels des Logos – dessen Antrieb der Geist (als causa finalis) ist, in dem der Sohn eins mit dem Vater ist – in der Welt präsent bleibt, Gottsetzendes Bewusstsein. Insofern ist der Mensch nie der absoluten Destruktion der ersten Potenz vollkommen ausgeliefert, sondern diese wird bereits anfänglich von der zweiten Potenz überwunden. Wir brauchen hier nicht auf die einzelnen mythologischen Gestalten Schellings eingehen, da diese fast ausschließlich an die griechischen Mysterien angelehnt sind und wohl eher wenig mit wirklicher Mythologie zu tun haben. Zwei Grundeinsichten Schellings gilt es aber festzuhalten: Erstens, dass die Mythologie – obwohl weder Offenbarung im eigentlichen Sinne noch „direkter Gegenstand des göttlichen Willens“ (PhdO 406) – bereits eine Ausprägung göttlicher Gnade ist, indem im mythologischen Prozess und seinen Vollzügen der Mensch nicht sich selber überlassen ist, sondern unter der Ägide der zweiten Potenz, des Logos steht. Bliebe allerdings der Mensch im mythologischen Prozess, wäre er in einer ewig zyklischen rotatorischen Bewegung (für Schelling ein Zeichen der Unseligkeit!), die es ihm unmöglich machte, seinen Anfang bzw. sein Ziel zu entdecken. Der Grundausdruck des mythologischen Prozesses ist das Opfer. Dessen Zweck ist der Ausdruck des Ablassens von sich und damit die Zurückdrängung (die Beschwichtigung) der ersten Potenz. Die Tatsache, dass das Opfer immer wiederholt werden muss, zeigt allerdings auch, dass es zu keiner wirklichen Versöhnung kommt. Schelling sieht in diesem Zusammenhang eine Grundanalogie zwischen den mythischen Religionen und dem Judentum, die beide das Opfer immer wieder erneuern müssen. Allerdings weist Schelling, der das Judentum expliziter würdigte als Hegel (und Fichte), darauf hin, dass „die Juden das auserwählte Volk waren, weil Christus bei ihnen schon im Kommen begriffen, ja gleichsam schon gekommen war“88. Für Schelling ist daher im Judentum zwar die erste Potenz, wie das Opfer zeigt, nicht überwunden – wobei aller87 88

Vgl. F.W.J. Schelling, PhdO 436. F.W.J. Schelling, PhdO 398. Schelling hält im Übrigen in Anlehnung an Röm 9-11 an der bleibenden Erwählung Israels fest.

13. ANFANG III: DER FALL DES MENSCHEN

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dings die Abkehr vom Menschenopfer, wie sie durch Abraham vollzogen wird, den Umschlag in die Vorherrschaft der zweiten Potenz bedeutet89 –, aber die zweite Potenz ist bereits in „ihrer persönlichen Wirkung“ und nicht mehr „ihrer natürlichen Wirkung“ gesetzt90. Im Judentum ist der Logos also nicht mehr die schicksalhafte Macht der Notwendigkeit, die der Welt ein Fundament gegen den Abgrund der ersten Potenz gibt, sondern bereits personale Offenbarung. Demgemäß ist im Judentum auch der Eintritt in die reale Geschichte vollzogen.

Der Mythos ist also Übergangsstadium in die Sphäre der Offenbarung, die dessen eigentliches Ziel darstellt. Diese erst kann den Menschen aus dem Mythos und aus der Gewalt der ersten Potenz wirklich befreien. In diesem Zusammenhang zeigt sich zweitens, dass für das Christentum zentrale Begriffe wie „Monotheismus“ oder „Offenbarung“ nicht ungeschichtlich verstanden werden dürfen. Von „Monotheismus“ zu sprechen hat überhaupt erst in der polemischen Überwindung des Polytheismus Sinn. Der wahre Monotheismus bringt sich so im geoffenbarten Gott des Christentums zum Ausdruck, nicht in irgendeinem allwirksamen Prinzip – denn ein solches gibt es im Mythos auch. Schelling denkt zunächst an den Pantheismus, der die absolute Vorherrschaft der ersten Potenz zum Ausdruck bringt, die durch den Polytheismus bereits aufgesprengt wird. In weiterer Folge ist am Ausgang des Mythos wieder eine Vereinheitlichung der Welt unter einem Prinzip festzustellen, wie sich uns gleich zeigen wird.

Der Terminus „Offenbarung“ wiederum hat nur Sinn in der Abhebung von einer „natürlichen Religion“. Diese wäre aber gerade die Mythologie, der der Mensch immer wieder verfällt. Hier zeigt sich deutlich, dass die Mythologie nur in der Retrospektive der offenbaren Religion als anfangendes Erlösungshandeln Gottes betrachtet werden kann. Denn für sich alleine genommen bliebe der Mythos in der im Hinduismus dargestellten rotatorischen Bewegung ohne heilvollen Anfang und heilvolles Ende, oder schlimmer noch: er fiele in die Welt Satans, wenn sein letztes Wort die Abgründigkeit der ersten Potenz, d.h. des menschlichen Selbstwillens wäre.

Erst in der offenbaren Religion wird eine Zeit aufleuchten, die nicht sinnloses Kreisen oder ewiges Fortlaufen ist, sondern der menschlichen Freiheit entspricht. Schelling folgend kann man – gemäß dem Stand der bisherigen Ausführungen – folgende Zeiten unterscheiden: Erstens die absolute Ewigkeit Gottes, in der die protologische Vergangenheit, die Gegenwart und die eschatologische Zukunft eingeborgen sind. Zweitens die ewige Vergangenheit, d.i. die Zeit der immanenten Trinität als der Zeit des Vaters. Sie ist durch die Weisheit charakterisiert, in der Gott den 89 90

Gott offenbart sich dem Isaak als Gott, der das Leben des Menschen erhalten will. D.h. er ist nicht mehr die Raserei der ersten Potenz, die den Menschen verzehrt. Vgl. F.W.J. Schelling, PhdO 482.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

Mythos (nicht im Sinne des mythologischen Prozesses) einer zukünftigen Welt schaut. Drittens setzt Schelling die Zeit der Spannung (der Potenzen) als Charakteristikum der Gegenwart. Dies wäre die eigentliche „Zeit der Zeit“ bzw. Zeit der Geschichte. Dabei ist wiederum zu unterscheiden: a) Die Zeit der Natur (Naturgeschichte), die ihrerseits wiederum in Bezug auf die (Menschheits-)Geschichte als Vergangenheit gesetzt ist. In ihr gibt es daher keine reale Geschichte, sondern lediglich einen Mythos der Natur, der von ihrem Werden erzählt (wobei in der Zeit des Logos ein solches Werden wiederum mittels eines chronologischen Rahmens dargestellt werden muss). b) Die Zeit der Mythologie (die Vorherrschaft der ersten aus Gott gesetzten Potenz), also die Zeit der Göttergeschichte, in der die göttlichen Potenzen sukzessive hervortreten. An deren Ende steht die Überwindung der ersten Potenz durch die zweite, die Restituierung des Logos, die sich nach Schelling bezeichnenderweise in der Einsicht des Todes beschließt: „Zu einem Ganzen wird das menschliche Leben erst dadurch, daß der Mensch den Tod dieses Lebens nicht bloß fürchtet, wie das Tier, sondern als notwendigen Ausgang erkennt, und daß ihm mit der Einsicht in dieses notwendige Ende der Begriff der Zukunft entsteht. In den Mysterien feiert das mythologische Bewußtsein sein eigenes Ende, seinen Tod, aber damit auch seine Zukunft [...].“ (PhdO 389) Wir haben bereits in der Besprechung der „Darstellung der reinrationalen Philosophie“ darauf aufmerksam gemacht, dass Freiheit bei Schelling letztlich die Freiheit vom Tode als Freiheit zum Tode (Ablassen von der Seinsbewältigung) meint. Erst der Mensch, der dem Abgrund des Todes damit begegnet, dass er vom Leben und damit von seinem eigenen Willen lassen kann, ist in der Lage, den Tod zu überwinden. Zwar nicht den physischen Tod, aber das Bewusstsein des Todes als Abgrundes. Mit diesen Hinweisen zeigt sich auch, dass die mythologischen Potenzen im Grunde genommen Gestalten der Todesangst waren. In den Mysterien und in der Philosophie(!) (Schelling spielt wohl auf philosophische Bewältigungsversuche des Todes an!) erwirbt der Mensch die Erkenntnis, dass er der Todesmacht nur im Opfer des eigenen Willens begegnen kann. Dieses Opfer ist aber in den Mysterien nur theoretisch vollbracht. Erst die reale Lebenshingabe kann daher den mythologischen Prozess vollenden und in die c) Zeit der Offenbarung überleiten, in der sich die Zeit der Gegenwart beschließt. Sie ist die eigentliche geschichtliche Zeit (Vorherrschaft der zweiten Potenz) und hat ihre Vorprägung in der Geschichte Israels. Die Geschichte Israels läuft gewissermaßen parallel zum mythologischen Prozess. Allerdings ist in ihr, wie schon erwähnt, die zweite Potenz nicht als natürliches Prinzip, sondern bereits als Person erkannt. Damit verbunden ist auch das Hervortreten von Geschichte. Diese hat im Judentum, so wie es Schelling interpretiert, ihren Kulmina-

14. ANFANG IV: DIE KENOSIS DES LOGOS

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tionspunkt im Gesetz91, v.a. in der Kulttora. In ihr muss das Opfer noch wiederholt werden und sie ist so Vorblick auf die Ankunft und das eschatologische Opfer Christi.

Die geschichtliche Zeit ihrerseits ist wiederum Zeigestab auf Viertens: das Eschaton, in dem sich das System der Zeiten (in der Vereinigung von erster und zweiter Potenz, von Mythos und Logos) beschließt.

14. Anfang IV: Die Kenosis des Logos Nachdem wir in den vorigen Abschnitten Weisheit, Schöpfung und Fall in ihren zeitlichen Dimensionen besprochen haben, kommen wir nun zur eigentlich geoffenbarten Zeit, die uns zum Begriff der Kenosis führen wird. Schelling entwickelt seine zentralen Aussagen darüber anhand des Philipperhymnus (Phil 2,5-11). Ausgangspunkt der Offenbarung ist die Überwindung der ersten Potenz durch die zweite am Ende des mythologischen Prozesses. Dabei darf nicht vergessen werden, dass das Sein durch den Fall des Menschen als außergöttliches Sein gesetzt war. Dieses hatte bisher keinen wirklichen Selbststand, da es der „zureichenden Begründung“ in Gott entbehren musste und am Abgrund des Todes zerbrach. An seinem höchsten Punkt aber ergibt sich für Schelling die Situation, dass der Sohn in der Überwindung der ersten Potenz und damit verbunden in dem Herrschaftsantritt über das außergöttlich gesetzte Sein zu eigener Machtvollkommenheit gekommen ist. Er ist damit nicht nur in die Lage versetzt, einen wirklichen Selbstanfang zu setzen (im Gegensatz zum Menschen, der keinen wirklichen Selbstanfang setzen konnte, sondern herumgetrieben war vom Widerstreit der Potenzen, insbesondere von der Macht der Alogizität der ersten), sondern auch den Tod in unverletzbarem und unsterblichem Dasein zu überwinden. In ihm ist die notwendige Allgewalt des Schicksals gleichsam in einen allmächtigen Willen transformiert. Dies bedeutet aber zugleich, dass der Logos (Monas Monadum) Gott (Idee in individuo) nun in wirklicher Selbständigkeit und damit Freiheit gegenübersteht. Der Sohn ist also am Ende des mythologischen Prozesses der (rechtmäßige) Herr des (außergöttlichen) Seins, er hat darin die Gestalt (μορφή) Gottes (als desjenigen, der Gewalt selbst über den Tod hat), die für ihn, wie Schelling betont92 (und im Gegensatz zur Einheitsübersetzung auch richtig übersetzt), kein „Raub“ ist. Schelling macht dazu folgende zentrale Bemerkung: „Denn bis zur Menschwerdung ist jenes Subjekt in der Außergöttlichkeit noch immer ein göttliches έν μορφή θεου [Phil 2,6]. Die Menschwerdung des Subjekts besteht lediglich darin, daß es sich der Göttlichkeit in der Außergöttlichkeit entschlägt, und daß 91 92

Vgl. F.W.J. Schelling, PhdO 492. Vgl. F.W.J. Schelling, PhdO, XIV 40-43.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

es in der Außergöttlichkeit nicht mehr ein göttliches ist [...], sondern daß es sich in der Außergöttlichkeit zum Menschen, zur Kreatur macht [...].“ (PhdO 537) Der entscheidende Aktus ist also eine Entleerung, eine Erniedrigung (Kenosis) – nicht der Gottheit, wie Schelling betont93, sondern der als außergöttlich gesetzten Gestalt Gottes. Der Herr des Seins lässt ab von seinem Willen, von der Möglichkeit des Selbstanfangens, von der Allmacht, die sich sogar auf den Tod erstreckt, und entschlägt sich damit der „Göttlichkeit in der Außergöttlichkeit“, d.h. der außergöttlichen Göttlichkeit. Schelling betont in diesem Zusammenhang die ursprüngliche Differenz des Logos von Gott. Erst durch die Menschwerdung in Jesus Christus ist der Logos „Gott und Mensch zugleich in einer Person“ (PhdO 574), weil Gott den kenotischen Akt der Annahme eines menschlichen und damit sterblichen Leibes seitens des Sohnes mit der Anerkennung seiner Göttlichkeit in Gott beantwortet. Dabei deutet aber laut Schelling noch die Bezeichnung Jesu als Menschensohn darauf hin, dass Jesus sich in der Kenosis zum Sohn der außer Gott gesetzten und damit dem Tod verfallenen Menschheit gemacht hat. „Menschensohn“ ist also keine Herrschertitulatur, vielmehr liegt in diesem Wort laut Schelling die Trauer darüber, dass um der Erlösung des Menschen willen Jesus die Todesverfallenheit der Menschenwelt annehmen musste.

Dabei nimmt der Herr des Seins die sterbliche „Knechtsgestalt“ des gefallenen Menschen an, wird in diesem Ablassen von Gott, der von seinem Zorn ablässt, anerkannt und als Gottes Sohn eingesetzt und so der neue Repräsentant des Menschengeschlechts, in dem sich jüdische und heidnische Geschichte „versammelt“. In diesem Aktus ist der Mensch als „Uranalogie“ Gottes wieder hergestellt. Der „Zorn Gottes“ ist Folge des Falls. Es ist dies die vom Menschen selbst (schicksalhaft) erwirkte Trennung von Gott, die sich in der ersten Potenz manifestiert. Durch das von sich absehende Heilshandeln Jesu erhält die Menschheit einen neuen Repräsentanten, der zum Ausdruck bringt, wer der Mensch eigentlich ist, indem er sich Gott „unterwirft“, d.h. von der Bewältigung des Seins absieht, in diesem Akt wirklich frei wird und von Gott als der Mensch anerkannt wird. Gott nimmt das im Handeln Jesu sich vollziehende Opfer an und erhebt Jesu Geschichte und mit ihr die ganze Geschichte in seine ewige göttliche Geschichte, über die er Jesus als „Herrscher“ (insofern sich die Geschichte in seiner Kenosis zentriert) einsetzt.

Das Tun des Sohnes als des Menschen, der von sich und seiner Allmachtsphantasie abgelassen hat, wird darin Tun Gottes und der Sohn macht auf diese Weise nicht nur „die unsichtbare Gottheit auf das glänzendste sichtbar“ (PhdO 528), sondern wird im eigentlichen Sinne Sohn Gottes. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Kenosis nicht im Status allgemeiner Mythologie verbleibt, sondern dass sie Zeit- oder besser noch Geschichte setzend ist. 93

Vgl. F.W.J. Schelling, PhdO 537. Eine sehr erhellende Interpretation gibt C. Danz, Die philosophische Christologie.

14. ANFANG IV: DIE KENOSIS DES LOGOS

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Schelling schreibt: „Die rein äußere Geschichte entsteht erst mit Christi Geburt – die frühere Geschichte ist eine Mischung von Wahrheit und Wahn.“ (PhdO 553) Das, was in der Mythologie (und in der negativen Philosophie) noch als prinzipielles Geschehen gefasst ist, muss sich in einem realen Leben konkretisieren. Nicht der Mensch als Weltseele, als Prinzip, sondern eine konkrete Person und deren gesamte Geschichte von der Geburt bis zum Tod, welche darin der Versuchung Selbstwille zu sein ausgesetzt ist, welche dem Tode ins Auge blickt, welche wirklich vollkommen ablässt von sich und der Versuchung, die Welt zu „bewältigen“, ist die Person, die Gott als Person sucht94. Die Versuchung Jesu stellt Schelling auf höchst dramatische Weise dar. Denn würde Jesus Christus sein Herrsein aktualisieren, indem er nach der Kenosis auf sein eigenes Sein und auf die selbstmächtige Überwindung des Todes besteht, wäre die in seinem Ablassen Grund gelegte neue Einheit mit Gott unwiederbringlich verloren.95

Erst im Ablassen bis hin zur Lebenshingabe kann die wirkliche Geschichte des Menschen beginnen – die, wie Schelling betont, allerdings in der Geschichte Israels verheißen ist. Diese Geschichte ist dabei nur Geschichte des Menschen als Geschichte mit Gott, der im Von-sich-Absehen des Menschen transparent wird. Schelling betont, dass der (gewaltsame) Tod Christi kein zufälliges Ereignis ist, sondern in Gott beschlossen liegt96. Denn erst in der vollkommenen Lebenshingabe, d.h. in der wirklichen Vollendung (und damit Aufhebung des mythologischen Opfers) ist der Fluch des Falls, also der Selbstwille und die in ihm sich erhebende Todesmacht aufgehoben. Damit vollendet sich aber auch das Tun des Logos (zweite Potenz) hin zum Tun des Geistes (dritte Potenz), aus dessen Zukünftigkeit (die die Einheit Gottes selber ist) der Logos die Kraft der Überwindung Satans geschöpft hat. Im bisherigen Geschehen erwies sich die Wirksamkeit des Logos in einem „Durchbrechen“ bzw. einer Überwindung sinnwidriger „Gegenhorizonte“, durch das dem Menschen von Gott ein Stück Leben, ein Stück sinnvoller Zeit zugeeignet wurde. Als Beispiel dieser Vermenschlichung der Welt sieht Schelling, wie uns die EPhdM zeigte, den Staat, die Kunst und die Religion. Ursprünglicher findet aber diese Durchbrechung da statt, wo das vinculum substantiale, das sowohl die Menschen untereinander als auch die Menschen mit Gott (und der Schöpfung) verbindet, aufleuchten kann. „Unterbrechungsgeschichten“ dieser Art begegnen uns in den Evangelien und in der Bibel, z.B. in den Kranken- und Dämonenheilungen Jesu, in den Gleichnissen, die die allzu menschliche Logik unserer Welt erschüttern, in der Zuwendung Jesu zu den Schwachen und Außenseitern. Die tiefste Durchbrechung des Menschenlogos findet aber ihren Ausdruck in der Todeshingabe. Denn in ihr werden alle menschlichen Werte verkehrt, indem der Herr sich bis zu seinem Tod erniedrigt, so dass aus diesem radikalsten Ab94 95 96

Vgl. F.W.J. Schelling, EPhdM, XI 566. Vgl. F.W.J. Schelling, PhdO 439f. Vgl. F.W.J. Schelling, PhdO 582.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

lassen neues Leben entspringt. Es ist also dieser Verzicht auf das Eigene, in dem ein „neuer Bund“ im Geist (der dritten Potenz) geschlossen wird, der Zeigestab für das Eschaton als letzte Zeit in Schellings System der Zeiten.

15. Anfang V: Der Anfang des Eschatons und die „Sabbatruhe Gottes“ Der Geist war das ursprüngliche Band zwischen der ersten und der zweiten Potenz. Dieses wurde dadurch gebrochen, dass die zweite Potenz bzw. der Sohn durch den menschlichen Fall aus der Einheit der Gottheit gesetzt wurde. Dieses Zerbrechen konnte zwar nicht Gott selber zerbrechen, da Gott der Herr über das ganze System der Zeiten ist, was bedeutet, dass die Sphäre der Einheit Gottes die sich im eschatologischen Blickwinkel offenbarende absolute Ewigkeit ist (in der der Sohn nicht außerhalb des Vaters war, ist und sein wird). Allerdings fand ein solches Zerbrechen (und das dadurch erfolgende Indie-Fremde-Gehen des Sohnes) in zeitlicher Perspektive statt, wobei nur in der Überwindung des daraus resultierenden Abgrundes wieder der Blick auf den ewigen und trinitarischen Gott und damit auf eine sinnerfüllte Zeit frei werden konnte. Umgekehrt muss freilich auch mit Schelling betont werden, dass erst in diesem In-dieFremde-Gehen des Sohnes und der daraus resultierenden Zeitigung des Seins eigentliche Geschichte, reale Freiheit und damit auch ein geschichtsmächtiger (und konkret trinitarischer) Gott besprechbar ist. Weil Gott als Gott der Gott des Menschen und für diesen der Ewige sein will, hat sich Gott zeitlich geoffenbart.

Die Überwindung der ersten Potenz durch den Sohn war nicht einfach deren Annihilierung, sondern deren Wiedereinbringung in die schöpferische Kraft des Vaters. So aktualisiert sich im Handeln des Sohnes, d.h. in Jesu Leben, Sterben, Tod und Auferstehung und in der Anerkennung dieses Handelns durch den Vater die ewige Einheit (im Geiste) nun derartig, dass sie den Menschen und seine (auch abgründige) Geschichte umgreift. Die dritte Potenz manifestiert sich dabei als Hl. Geist, indem erstens der Mensch und mit ihm die Schöpfung nicht mehr einem alogischen Prinzip und dem Nichts des Todes ausgeliefert sind, sondern die nie absolut verfügbare Schöpfungskraft des Vaters aktualisieren. Damit ist ähnlich wie bei Hegel zum Ausdruck gebracht, dass sich im (sich entäußernden) Tun des Sohnes und der in ihm repräsentierten (neuen) Menschheit bzw. Schöpfung das Tun des Vaters in der Einheit des Geistes vollzieht. Zweitens zeigt sich der Hl. Geist dadurch an, dass die Geschichte nicht mehr als sinnloses Schauspiel erlebt werden muss, sondern ihren Anfang und ihr Zentrum und damit auch ihr Ziel gefunden hat, wobei

15. ANFANG V: DER ANFANG DES ESCHATONS UND DIE „SABBATRUHE GOTTES“

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aber Schelling den Akzent darauf legt, dass dies lediglich im Zeichen einer Verheißung möglich ist, für die sich der Mensch im Geist öffnen kann. Denn rein empirisch gesehen bleibt zu konstatieren, dass der Mensch nicht über den Abgrund des Todes hinwegkommt, dass er sein Handeln als Spielball nicht in den Griff zu bekommender Mächte erfährt. Allerdings ermöglicht ihm die Offenbarungsgeschichte einen Blick in eine verheißungsvolle Zukunft – in der der Mensch auch mit der Natur eine noch unabgegoltene Zukunft hat – über den Abgrund alltäglichen Daseins hinaus. In Bezug auf die Freiheit ist zu konstatieren, dass sich die absolute Vermittlung des Sohnes (der Logos, die Monas Monadum) mit der absoluten Unmittelbarkeit väterlicher Schöpfungskraft in der absoluten Differenz (die absolute Identität der absoluten Copula als absolute Differenz) des aus einer empirisch nie einholbaren Zukunft zu „verortenden“ Geistes zusammenschließt – damit ist die Copula radikal verzeitlicht! –, was überhaupt erst wirkliche Freiheit eröffnet. Zu betonen ist dabei, dass der Sohn nur der Herr des Seins in einer Übereignung des Seins an den Vater ist. Er hat die Einheit mit dem Vater und damit die Freiheit gerade nicht in der Aktuierung irgendwelcher Allmachtsphantasien erlangt, sondern in der Hingabe seines Lebens. Die Brüche des Seins, der Geschichte bleiben und der Mensch kann sie nie in eine absolute Verfügbarkeit bringen. Daher hat diese geistige Einheit von unmittelbarem Anfangenkönnen und logischer Vermittlung, in der sich Freiheit vollzieht, einen nicht wegzudenkenden Verheißungsaspekt. Es ist also nicht die Verfügbarkeit über das Sein verheißen, denn dies wäre ein Rückschritt in die vom Sohn kenotisch entäußerte Allmachtsphantasie, sondern der Hl. Geist, um den Abgrund geschöpflicher Existenz in einem letzten Ablassen, d.h. Vertrauen und Sich-Entsichern auf Gott bestehen zu können.

Das Eschaton des Geistes ist für geistvolles, d.h. von-sich-ablassen-könnendes Handeln genauso konstitutiv wie die Präsenz des Sohnes und der darin erschlossene Anfang des Vaters. Dieses ist dabei nicht in einem perennierenden Aktus zu erreichen, sondern resultiert aus einer sich jeder Präsenz entziehenden absoluten Zukunft des Geistes und ist so der U-Topos, der Nicht-Ort, in dem Gott sich zuletzt (und zuerst) offenbart und in den auch die anderen Potenzen „zurückgehen“97, um in diesem Rückgang überhaupt erst in ihrer Vaterschaft und Sohnschaft hervorzutreten. So zeigt sich bei Schelling vom Eschaton her die Aufhebung der Potenzen (und damit einer Urteilsform, in der die Copula präsentisch verstanden wird) und die Einheit der Zeit. Denn der absolute Anfang, wirkliche Gegenwart (Freiheit) und verheißungsvolle Zukunft stellen die eine Zeit dar, in der alle drei Zeiten als solche in ihrem Eigenwert gesetzt sind. Gott ist als der Zukünftige der Anfangende und Gegenwärtige, wobei sich seine Gegenwart in der Kenosis des Menschen zeigt. Der tiefste Ausdruck dieser Kenosis und das Ziel der Schöpfung ist da97

Vgl. F.W.J. Schelling, PhdO 554f.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

bei für Schelling die Sabbatruhe Gottes. Schelling schreibt dazu: „Um dies näher an der Wirklichkeit zu zeigen, scheint es wohl, die Wissenschaft könne nichts Höheres erreichen, als jenen Punkt, in welchem sogar Gott selbst ruht und seinen Sabbat feiert, jenen Moment, wo der Mensch als wirkliches Ebenbild der Gottheit, als ein wahrhaft anderer, nur erschaffener, Gott begreiflich geworden ist.“ (PhdO 413) Ein weiteres wichtiges Moment in Bezug auf ein adäquates Verständnis des Anfangs der Zeit ist der Umstand, dass die Zeugung des Sohnes und damit der eigentliche Anfang der Schöpfung im tiefsten Sinne in der Auferweckung Jesu begründet liegen98. Denn Jesu Leben, Handeln, Sterben und Auferstehung versammeln die ganze bisher zerbrochene Geschichte in ein „Zentrum“, welches uns das schöpferische Heilshandeln Gottes als Anfang erblicken lässt und eine geistvolle Zukunft verheißt, wobei der Mensch gerade aus dieser Verheißung heraus von seinem Willen ablassen und so die abgründige Welt „durchbrechen“ kann. Dies bedeutet, dass in der Auferstehung ein Anfang gesetzt ist, der aus der Utopie des Eschatons kommt. Damit erhält auch die Todesproblematik eine andere Wendung: Der Tod war das Urtrauma, worin dem Menschen der eigene Wille zur Macht begegnete. Gerade mit dem Ablassen davon vermag der Mensch die ursprüngliche Schöpfungsintention Gottes zu schauen, die auf eine die gesamte Schöpfung umfassende Gemeinschaft in Gott und damit auf ewiges Leben zielt. In diese Schau ist auch die von Schelling wunderschön dargestellte Gemeinschaft der Lebenden und der Toten einzuordnen. Der Tod des Menschen ist nicht ein ihn annihilierendes Ende, auch kein leibloser Zustand, sondern die „Essentifikation seines ganzen Wesens“ (PhdO 596). Der Tod ist das Trauma, in dem der Mensch (bei Strafe der Verdammnis) endgültig sich seines Eigenwillens entäußern muss, dafür aber in wirkliche („essentielle“) Gemeinschaft mit der Schöpfung treten kann. Jesu Leben und Leib ist dabei das „Sakrament“, in welches nicht nur die gesamte Schöpfung und auch die Welt der Toten eingeborgen ist, sondern das auch eine einmalige Verbindung zwischen der Gegenwart und dem Eschaton (und dem schöpferischen Anfang JHWHs) schafft. So sind seine sogenannten „Naturwunder“ nicht wegzurationalisierende Mythen, sondern wirklicher Ausdruck dafür, dass Jesus das lebendige und geschichtliche „Gleichnis“ bzw. das Sakrament des Eschatons und damit der Ewigkeit ist.

Diese Schau und verbunden damit das Ablassen des Menschen vom Versuch, das Sein bewältigen zu wollen, lässt sich aus keinem Prinzip herleiten, sondern ist Resultat göttlicher Offenbarung. Die (negative) Philosophie vermag diese lediglich gegen dogmatische Einwände, die a priori erklären, solches Heilshandeln könne nicht stattfinden, abzusichern. Wichtig ist aber, dass diese Offenbarung nicht als ein von der menschlichen Geschichte abgetrenntes Geschehen aufgefasst wird. Vielmehr ist es das zeitliche Tun des Menschen, in dem diese Verheißung aufleuchten muss. Schelling schreibt, dass Gott eine 98

Vgl. F.W.J. Schelling, PhdO 169.

16. PHILOSOPHIE UND ZWEITER MYTHOS

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„Schwäche für den Menschen“ habe99. In dieser doppeldeutigen Aussage wird einerseits die Liebe Gottes zum Menschen zum Ausdruck gebracht, andererseits die Tatsache, dass Gott „sein ganzes Werk in die Hände des Menschen legt“ (PhdO 422). Die ursprünglichen göttlichen Potenzen haben sich im Durchgang durch die Schöpfung und die Offenbarung als Seinsweisen des trinitarischen Gottes erwiesen. Gott ist im Anfangen der ersten Potenz, das im tiefsten Sinne Anfang im Eschaton ist, der Vater. Die zweite Potenz ist im vollen Sinne, d.h. in der konkreten Geschichte des Jesus von Nazareth, in der alle Geschichte der Welt in ihrer Tiefendimension umfasst ist, und die in der Auferstehung Zeigestab des Eschatons wurde, der Sohn Gottes. Der Hl. Geist wiederum ist das substanziale Vinculum, in welchem nicht nur die göttlichen Potenzen verbunden sind, sondern vor allem auch Zeit und Ewigkeit, insofern im Geist die Zeit (eschatologisch) in die Ewigkeit gleichsam eingeborgen ist. Dabei manifestiert sich im (und durch den) Geist ein System von Zeiten, in dem Anfang, Mitte und Eschaton im verheißungsvollen Handeln sichtbar und erzählbar werden, d.h. in der Analogie menschlicher Freiheit, die den Abgrund zerbrochenen Lebens unter Aufgabe eigener Selbstversicherungen momenthaft zu durchbrechen vermag. Der Mensch, der den Anfang kennt, aus dem er handelt, und an die Verheißung des göttlichen Heilshandeln glaubt, ist so in die Lage versetzt, wirklich „frei vom Sein“ zu werden.

16. Philosophie und zweiter Mythos In dieser Sicht schließt sich der Kreis zur Ekstasis der Vernunft am Ausgang der reinrationalen Philosophie. Schelling spricht dort von einer letzten Möglichkeit des Menschen, dem Fall zu entrinnen, nämlich in der Ekstasis der Vernunft (wobei wir Parallelen zwischen der negativen Philosophie und den griechischen Mysterien am Ende der Mythologie erkennen konnten). Es scheint, als wollte Schelling darauf hinweisen, dass menschliche Versöhnung weder unmittelbar in praktischer Vernunft möglich ist noch in theoretischer Spekulation, da beide Formen der Selbstversicherung des Menschen darstellen. Vielmehr bleibt dem Menschen als Letztes nur die Hoffnung auf Gott als den erlösenden Anderen. Diese Hoffnung entzündet sich an einer Erzählung, deren Inhalt die Offenbarung eines neuen (erneuerten, gereinigten, geschichtlichen) Mythos ist, der die Vereinigung von Mythos (1. Potenz) und Logos (2. Potenz) sein wird. Schelling antwortet auf den traumatischen Bruch des Todes mit dem traumatischen Brechen der Vernunft, d.h. letztlich mit einem (allerdings durch den Logos gegange99

Vgl. F.W.J. Schelling, PhdO 422.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

nen) zweiten Mythos (der nicht mehr der des mythologischen Prozesses ist), wodurch er der Herkunft des Mythos aus dem Trauma menschlicher Existenz gerecht wird. Wir können in diesem Zusammenhang auf den Film „Dancer in the Dark“ des dänischen Regisseurs Lars von Trier hinweisen. Die Hauptperson, eine auf Grund einer vererbbaren Krankheit erblindende Frau, die ihren Sohn vor dem selben Schicksal bewahren will, indem sie unter größter Selbstaufopferung Geld für eine zur Erhaltung von dessen Augenlicht notwendige Operation weglegt, kommt sukzessive unter die Räder des „American way of life“. Dabei bricht an den traumatischen Wendepunkten ihres Lebens, die sie unschuldig bis zum elektrischen Stuhl führen, der Mythos durch (der, und dies ist das Großartige des Films von Lars von Trier, nicht als Projektion denunziert wird!), der ihre Realität transzendiert und das unerträgliche Leid ihrer Existenz momenthaft durchbricht.

Dieser neue „Mythos“ ist aber nicht mehr jener der Mythologie (Zeit der ersten Potenz), der immer nur von einem ewigen Kreislauf des Kampfes der Potenzen berichtet. Denn dieser (erste) Mythos (der ersten Potenz) stellt das Schicksal des Menschen dar, der nicht in eine wirkliche Geschichte einzutreten vermag, weil er in der todesverfallenen Zeit weder einen wirklichen Anfang, noch ein wirkliches Zentrum, noch ein wirkliches Ende findet. Schelling hält dem die Erzählung der Offenbarung Jesu Christi entgegen, die einen durch den Logos (Zeit der zweiten Potenz) gegangenen Mythos zur Sprache bringt und so die mythische und die (chrono)logische Zeitauffassung vereinigt. Ihr mythisches Element ist die Tatsache, dass diese eine Geschichte abgeschlossen bzw. in sich geschlossen ist und in diesem Abschluss alle Zeit und d.h. alle anderen Geschichten, sei es die Geschichte der Natur, sei es die Geschichte des Menschen, sei es das Eschaton in sich enthält100. In dieser Geschlossenheit ist sie auch die Aufhebung des nie zu einem Abschluss kommenden Chronos. Ihr logisches Element ist die Tatsache, dass es ein Mythos der Freiheit ist: Er erzählt die wirkliche Geschichte eines sterblichen Menschen, konkret verortbar und datierbar, der unheilvolle Wirklichkeit zeichenhaft durchbrochen und diese Wirklichkeit damit in ihrer Verkehrtheit entlarvt hat, und dessen letztes Durchbrechen die Kenosis als „Umwertung aller Werte“ und Schritt in die Freiheit war. Das Ende dieser Geschichte, die nur im Zusammenhang der Geschichte Israels erzählt werden kann, bildet den Anfang aller anderen Geschichten, d.h. dass diese Geschichte, die die Geschichte Gottes mit dem Menschen ist, von Generation zu Generation je neu tradiert, fortgeschrieben und bewährt werden muss und dabei niemals endgültig interpretiert und ausgeschöpft werden kann.

100

Dies würde Schelling möglicherweise gegen P. Ricoeur ins Treffen führen, der in seinem Hauptwerk „Zeit und Erzählung“ die Meinung vertritt, dass es nicht mehr die Fabel aller Fabeln gibt. Schelling könnte an einer solchen Fabel aller Fabeln festhalten, aber nur, insofern die „eine“ Geschichte immer neu weitererzählt wird, d.h. in der Dialektik von Offenheit und Geschlossenheit.

16. PHILOSOPHIE UND ZWEITER MYTHOS

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Aus diesen Überlegungen zu Schellings „positiver Philosophie“ ergibt sich eine weitere Pointe: Die Potenzen waren die Prinzipien der negativen Philosophie. In der positiven Philosophie traten sie wieder auf, um sich am Ende als Vater, Sohn und Hl. Geist darzustellen. Zeigt nicht gerade dies, dass die Ekstasis der Vernunft auch eine Aufhebung der philosophischen Prinzipien bzw. schärfer gesagt überhaupt eine Aufhebung des Weges der Philosophie impliziert, nicht zuletzt auch der Potenzenlehre?101 Deutet dies nicht letztlich darauf hin, dass sich Schelling einer philosophischen und metaphysischen Sprache bedient, um diese letztlich aufzuheben in eine verheißungsvolle Erzählung, die Mythos und Logos zu vereinen mag? Versucht er nicht auf diese Weise, dem alles integrieren wollenden Denken ein „gottvermissendes Bewusstsein“102 entgegenzuhalten? Ist nicht sein Denken ein Weg dahin, Räume zu eröffnen für eine Erzählung, die – ähnlich der Sprachform der Basileia-Gleichnisse Jesu – Analogie des aus der Zukunft kommenden Heilshandeln Gottes in der Durchbrechung menschlicher Geltungsansprüche sein will? E. Jüngel zeigt103, dass die Gleichnisse nicht einfach bildliche Darstellungen einer an und für sich zu Grunde liegenden Sache sind. Vielmehr tritt uns in den Gleichnissen die Zukunft der Basileia Gottes entgegen, die mittels der Gleichnisse sogar in Gang gesetzt wird. Gilt nicht Ähnliches für die geoffenbarte Erzählung überhaupt? Ist sie nicht die Sphäre, in der der verheißungsvolle Logos Gottes unter uns wirksam wird? Wird man von daher nicht festhalten müssen, dass die Gestalt des Logos nicht zuletzt die Hl. Schrift ist, die in Jesus von Nazareth Fleisch geworden ist? Ist daher nicht die Aufhebung der chronologischen Zeit die Zeit der Schrift, indem sie im Geist je neue Geschichte freigibt, diese anfangen lässt und diese beschließt?

Die Philosophie wird dabei nicht überflüssig. Sie verhindert jede unmittelbare Mythologie, d.h. sie hat gegenüber den immer wieder auftauchenden mythologischen Prozessen und Selbstversicherungen eine unverzichtbare kritische Funktion. Es sollte ein Ertrag dieser Arbeit sein, darzulegen, dass die heute mehr denn je notwendige eschatologische Erzählung der Auferstehung der Toten nicht die Dignität des Endlichen und Fremden hinter sich lassen darf. Der Gaststatus des Menschen ist in alle Ewigkeit nicht aufzuheben und wirkliche Anerkennung als tiefster Sinnhorizont des Menschen kann niemals in absoluter Beheimatung vollzogen werden. Wenn daher E. Jüngel in seinem Hauptwerk „Gott als Geheimnis der Welt“ vom ewigen Leben als „Inkraftsetzung derjenigen Möglichkeiten, in die unser Leben ständig hinausschwingt, 101

102

103

M. Theunissen weist in seinem Aufsatz „Vernunft, Mythos und Moderne“ darauf hin, dass sich die Vernunft nach Schelling quasi „in der Hand ihres Anderen befindet“ (44). Wir legen den Akzent darauf, dass es nach Schelling die verheißungsvolle Erzählung ist, in deren Hand sich die Vernunft begeben muss. Vgl. J. Reikerstorfer, Über die „Klage“ in der Christologie 270. Gegen ein alles integrierendes Denken wendet sich auch insbesondere „Leiddurchkreuzt. Zum Logos christlicher Gottesrede“. Vgl. E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, insbesondere 400-408.

196

VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

ohne sie je verwirklicht zu haben“104 spricht, deutet sich eine Problematik an, insofern die menschliche Geschichte gerade im Scheitern und in den Brüchen ihrer Biographie Dignität hat.

Absolut genommen tritt die Philosophie in den mythologischen Prozess ein. In dieser Aussage deutet sich die eigentliche Hegelkritik Schellings an: Schelling ist der Auffassung, dass Hegel nicht den Sprung in den verheißungsvollen Mythos des Eschatons und damit in hoffnungsvolle Zeit zu tun vermag, womit er den Gott der Zukunft, der auch die Toten errettet, aus den Augen verliert. Wir können an diese Überlegungen mit der Frage nach der systematischen Stellung Schellings anschließen: Die mannigfaltigen Anknüpfungen an Leibniz haben wir anklingen lassen. Schelling setzt allerdings den Akzent darauf, dass Gott nicht aus einer unendlichen Anzahl möglicher Welten, sondern aus (der Differenz) Gott(es) selber schafft. Der Monade als der aus der unendlichen Copula105 der göttlichen Potenzen herausgesetzten Entität ist Anfang und letztes Ziel verschlossen. Allerdings gibt es eine Sinngebung in der Verheißung, die uns Gott in seinem Sohn Jesus von Nazareth mitgeteilt hat und die vom Menschen (in der Gnade Gottes) immer wieder neu tradiert und bewährt werden muss. In Bezug auf Kant ist zu sagen, dass für Schelling das transzendentale Ideal Ausgangspunkt seiner negativen Philosophie ist. Kant weist darauf hin, dass diesem Ideal keine Realität zukommen kann und dass es nicht möglich ist, einen Anfang des Seins zu finden, da es einen solchen in der Welt der Erscheinung nicht gibt. Der wahre Anfang der Zeit liege vielmehr in der praktischen Vernunft. Die ironische Antwort Schellings wäre vielleicht, dass die Vernunftkritik Kants radikalisiert werden müsse106: Der Mensch habe nicht nur die theoretische Vernunft zu restringieren, sondern auch die praktische. Philosophie könne nur als Grenzwissen immer wieder neu auftauchende Vernunftansprüche in die Schranken weisen, im Übrigen gelte es aber, „das Wissen aufzuheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“ (KrV B XXX). Zwischen Heidegger und Schelling gibt es eine weitaus größere Nähe als auf den ersten Blick zu vermuten wäre. Bei beiden Denkern spielt der Tod die zentrale Rolle107, beide verbieten sich wohl nicht zuletzt auf Grund dieses UrPhänomens den Schritt in die Dialektik, wobei beide die in der Dialektik He104 105

106

107

E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt 292f. Diese unendliche Copula ergibt sich aus dem schellingschen Grundsatz: Gott IST Gott, in dem die absolute Identität Gottes als dessen absolute Differenz gedacht wird. Dadurch erhält dieses IST eine eschatologische Dimension. Dieser vernunftkritische Aspekt F.W.J. Schellings wird sowohl von A. Hutter, „Geschichtliche Vernunft“ als auch von R. Langthaler, „Gottvermissen – eine theologische Kritik der reinen Vernunft?“ dargestellt. Letzterer zeigt auch die theologischen Implikationen, die sich aus der Selbstbeschränkung der Vernunft im Sinne Schellings ergeben, auf: Vgl. R. Langthaler, Gottvermissen – eine theologische Kritik der reinen Vernunft? 210. Dies gilt zumindest für die erste Hauptschrift „Sein und Zeit“. Über Intentionen des späten Heideggers kann hier nicht gesprochen werden, wenngleich es auch hier einige Parallelen zu Schelling, nicht zuletzt in der Entdeckung des Mythos, zu geben scheint.

17. SCHELLINGS SPÄTPHILOSOPHIE ALS ANFRAGE AN HEGEL

197

gels sich zeigende Anerkennungsstruktur übersehen haben (tatsächlich ist bei beiden Denkern die Frage der Anerkennung peripheres Thema). Während für Heidegger die sich aus dem Tode ergebende absolute Schranke menschlichen Denkens und Handelns der Ausgangspunkt für eine radikale „heimatlose“ Übernahme dieser Endlichkeit in „eigentlicher“ Existenz ist, die keinen Raum für Transzendenz und Heilserwartung lässt, ist für Schelling der Tod das traumatische Geschehen, dem der Mensch damit begegnen kann, dass er die Frage nach dem rettenden Gott offenhält, um die Gabe einer verheißungsvollen Erzählung zu empfangen.

17. Schellings Spätphilosophie als Anfrage an Hegel Es bleibt schließlich am Ausgang dieses Kapitels die Frage, ob die eschatologische Verheißung des rettenden Gottes, wie sie uns Schelling in seinem zweiten Mythos als Mitte der Zeit dargelegt hat, nicht rückgebunden bleiben muss an die Frage nach der Anerkennung des Anderen. Wird nicht darin die VorGabe eines Anfangs aufleuchten, die der Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth entspricht? Werden nicht die großen Fragen Schellings „Warum überhaupt etwas ...?“108 und „Wer bzw. Wo bist Du?“109, in denen wir die Suche nach dem Anfang, der Mitte und dem Ende der Zeit erahnen konnten, an ein auch bei ihm anklingendes Ethos einer Wandlung der eigenen ethischen und noetischen Substanz rühren, in der der Andere erst empfangen werden kann und ER selber Zeit eröffnet? Wir werden uns im Folgenden Hegel zuwenden, weil wir der Auffassung sind, dass Hegels spekulatives Denken wenigstens implizit die Genese (den zweiten Mythos) eines radikalen Selbstverlusts beschreibt, der nicht in die Sinnlosigkeit der Zeit führt, sondern uns als deren Logos vorausgeht. Dabei aber wird uns im gesamten Gedankengang Hegels immer Schellings Spätphilosophie als dessen „nächtliches Antlitz“ begleiten müssen. In Hegels Dialektik, auch wenn sie kein die Wirklichkeit umschließendes „Kleid“ ist, in dem diese in ihrer Härte und in ihren Verwerfungen zugedeckt ist, besteht die Gefahr des Zaubers der „schönen Seele“, in dem sich der offene Logos umwendete in eine Selbstimmunisierung gegen das Leid der Schöpfung – dem nicht zuletzt Hegel in seiner Geschichtsphilosophie erlegen ist –, weswegen wir den eschatologischen Horizont Schellings immer mit uns führen müssen. In der Abhandlung „Zur Geschichte der neueren Philosophie“ (X 1-200) wirft Schelling Hegel vor, positive und negative Philosophie zu konfundieren, dadurch aber eine 108 109

F.W.J. Schelling, Einleitung in die Philosophie der Offenbarung, XIII, 6f. Vgl. F.W.J. Schelling, EPhdM XI, 566.

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VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

logische Notwendigkeit im Fortgang der Philosophie zur Darstellung zu bringen, in die Gott eingesargt werde. Auf diese Weise verschließe Hegel den Weg in die „positive Philosophie“, d.h. in eine wirkliche Geschichte Gottes mit dem Menschen, in der allein Freiheit thematisch werden könne. Wir werden sehen, dass dieser Vorwurf Schellings nicht zutrifft und dass Hegels spekulative Schriften keine deduzierbare Methode zum Ausdruck bringen, in die Gott eingepasst werden könnte. Vielmehr wird ER sich im Weltumgang des Menschen als gestalteter Zeit – oder besser gesagt im jeweiligen Untergang menschlicher Selbstdarstellungen, die als Schicksalsmächte der Zeit auftreten – zum Ausdruck bringen, wobei die Zeit ein fundamental offenes Geschehen bezeichnet. Allerdings ist Schelling recht zu geben, dass Hegels Philosophie immer stärker den Charakter eines „Systems“ im Sinne eines die Wirklichkeit umschließenden und schließlich erdrückenden „Kleides“ unter gleichzeitiger Ausschaltung der Brüche und Abgründe der Geschichte angenommen hat, sodass in seiner Geschichtsphilosophie der Verdacht nahe liegt, dass hier der Unterschied zwischen Weltgeist und absolutem Geist nivelliert wird, wodurch Gott zum monströsen Götzen menschlicher Selbstverwirklichung in der Geschichte herabsänke. Wir wären damit bei dem Paradoxon angelangt, dass Hegel, der, wie wir sehen werden, einen poietischen Handlungsentwurf und damit den neuzeitlichen Subjektbegriff (Subjekt als Selbstentwurf) radikal kritisiert, die Geschichte und sogar Gott wenigstens in die Nähe einer Autopoiesis des Menschen gebracht hätte, und so ist es wohl die Tragik hegelscher Rezeption, und zwar sowohl rechtshegelianischer als auch marxistischer, dass Hegel – nicht ohne sein Zutun – absolut verkehrt wurde in den Denker einer sowohl den Menschen als auch den lebendigen Gott zermalmenden Geschichtsnotwendigkeit, in der Fragen und Verletzlichkeit, Zukunft und Hoffnung, Gebet und der Glaube an die Auferstehung der Toten keinen Platz mehr haben.

In der Auseinandersetzung mit der schellingschen Potenzenlehre stellt sich die Frage, ob Schelling nicht in verräumlichte Denkschemata verfällt und damit in jene Wissensauffassung, die Hegel als „Form der Vorstellung“ kritisieren wird. Konkret weisen die in ihr zum Ausdruck gebrachte Trennung von Subjekt (Gott als Idee in individuo) und Prädikat (zeitliche Vermittlung der Potenzen), von Möglichkeit und (ihre Möglichkeiten nicht findender) Wirklichkeit, von Einzelheit (Gott als Einzelwesen) und Allgemeinheit (Sein) und das Außereinander der Zeiten in diese Richtung. Allerdings werden wir bei der Lektüre Hegels und der Interpretation des spekulativen Satzes, der letztlich der Satz von der Gegenwart Gottes in der Welt des Menschen ist, daran zu denken haben, dass Schelling den Versuch macht, den spekulativen Satz und die darin zum Ausdruck gebrachte Einheit von Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit aufzuspreizen (dispandere), um das eschatologische Moment der Zeit als Hoffnungsfigur gegen die Erfahrung des Todes herauszuarbeiten. Was die Frage des Anfangs betrifft, könnte Schelling zunächst von Kant (vgl. die Antinomien) und von Hegel der Vorwurf gemacht werden, dass der Versuch, einen

17. SCHELLINGS SPÄTPHILOSOPHIE ALS ANFRAGE AN HEGEL

199

Anfang festzumachen, einen Rückfall in die Metaphysik darstellte.110 Damit ginge eine Gottesvorstellung einher, die IHN zu einer alles bestimmenden Totalität hypostasierte, in der Freiheit nicht möglich wäre. Außerdem wäre damit ein Gedanke von Gott als Träger von Handlungen verbunden111, d.h. die Auffassung, dass Gott einen identifizierbaren Beginn setzte, was ja nicht zuletzt im Anfangen der ersten Potenz zum Ausdruck zu kommen scheint. Auf diese Weise wäre Gott verortbar und in der Folge handhabbar, wogegen im hegelschen Gedanken, dass jeder Anfang Vor-Gabe eines niemals fixierbaren und verortbaren Anderen ist, die kritische Differenz von menschlicher Weltbemächtigung und Gabe gewahrt bleibt112 (auch wenn, wie bereits erwähnt, Hegel dies später unterlaufen hat). All diese Kritik darf aber nicht vergessen, dass auch für Schelling der Anfang niemals im positiven Sinne festzumachen ist, vielmehr ist für ihn der Gott des Anfangs der Gott der eschatologischen Verheißung, der in der Vereinigung von Mythos und Logos zur Sprache kommt, d.h. in einer sich der kenotischen Nachfolge Christi enthüllenden Erzählung, die als eigentlicher ewiger Anfang der Zeit hervortritt. Dies stellt die große Einsicht von Schelling dar, die den Schritt in die positive Philosophie bedeutet. Inhalt dieser Verheißung ist die Teilhabe an Leben, Sterben und Auferstehung von Jesus Christus, die sich in den Lebenden in der Vergegenwärtigung der Nachfolge Jesu konkretisiert und in den Toten durch die Teilhabe am „Sein bei“ den Lebenden – durch das sie verletzbar bleiben.113 Nimmt man das Verhältnis von Schelling zu Hegel näher in den Blick, so fällt auf, dass sich trotz der teils massiven Polemik Schellings gegen seinen ehemaligen Weggefährten (die im Grunde genommen den Großteil der Kritik an Hegel vorwegnimmt, die 110

Zur Problematik der Reontologisierung des Denkens durch Schelling vgl. F. Meier, Transzendenz der Vernunft und Wirklichkeit Gottes, 206-228. Sein Resumé, dass Schellings Spätphilosophie als Ganzes genommen nicht „als eine Alternative zu den transzendentalen Begründungsstrategien der Fundamentaltheologie“ ins Auge gefasst werden kann (228), wäre dahingehend zu modifizieren, dass Schellings Kritik an noetischen und ethischen Geltungsansprüchen und sein Wissen um eine der Reflexion vorgängige Erzählung sehr wohl eine entscheidende Kritik an transzendentalen Positionen beinhaltet, die allerdings auch unserer Auffassung nach systematisch durch die spekulative Philosophie Hegels „begleitet“ werden muss. 111 Selbstverständlich soll hier nicht das Wirken Gottes in der Geschichte geleugnet werden, wichtig ist aber das Geheimnis SEINER Gabe, die (gleich dem Gast, siehe Kap. IX) niemals in Besitz genommen werden darf. Wir können das Leben und alles, was damit verbunden ist, gläubig aus SEINER Hand entgegennehmen, es kann und darf aber niemals dabei eine absolute Position eingenommen werden, von der aus SEIN Anfangen identifiziert werden könnte. 112 Ein großes Problem in einer Auseinandersetzung mit Schelling liegt darin, dass man zunächst auf einen scheinbar gigantomachischen Erkenntniswillen stößt, der die Wirklichkeit einem Netz von Erklärungen unterwirft. Allerdings verbergen sich hinter den manchmal gezwungen wirkenden Ableitungen Schellings – man denke nur an die Durchführung der „Philosophie der Mythologie“ – oft nicht nur großartige Einsichten, sondern auch „retardierende“ und „korrektivische“ Elemente, die Schelling auch zu dem großen Erkenntniskritiker machen, als den wir ihn in diesem Kapitel darzustellen versucht haben. 113 Vielleicht könnte an dieser Stelle im Anschluss an Schelling die Ahnung aufleuchten, dass nicht nur die Lebenden die Geschichten der Toten erzählen, sondern auch die Toten jener der Lebenden.

200

VI. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ZWEITEN MYTHOS

es seither gibt, so z.B., dass Hegel die Existenz auf den abstrakten Begriff bringen wolle, dass sein System eine Selbstvergöttlichung der Vernunft sei, dass Gott in Abhängigkeit des Menschen gerate, wobei letztlich alle diese Vorwürfe darin zusammenkommen, dass Hegel Denken und Sein gleichgesetzt habe) nicht nur der Sache nach, sondern auch in der konkreten Aufnahme hegelscher Motive eine Nähe der Spätphilosophie Schellings zu Hegel feststellen lässt. So kommt der herausragende Schellingkenner F. Tomatis in der (die klassischen Arbeiten von H. Fuhrmanns114, W. Schulz115 und die zentralen Schellingschriften von X. Tilliette116 aufnehmenden) bis dato wohl gründlichsten Monographie der Spätphilosophie Schellings mit dem Titel „Kenosis des Logos“ zu folgender Aussage: „Für Schelling wäre das hegelsche System korrekt, falls es die eigenen Grenzen anerkannte, falls es sich als eine negative Philosophie behielte [...].“117 Gestützt wird dieses Urteil auch von A. Franz, der aufzeigt, dass die letzte große philosophische Anstrengung Schellings, die „Darstellung der reinrationalen Philosophie“ in ihrer Struktur der hegelschen Enzyklopädie nachempfunden ist118. Franz betont allerdings auch, dass Schelling v.a. das „Identitätssystem“ Hegels zu überwinden trachtete119, indem er zu zeigen versuchte, dass die negative Philosophie lediglich Systemteil sein könne. Wir können an die beiden Aussagen von Tomatis und Franz dahingehend anschließen, dass nach Schelling Hegel das System der Zeiten auf die linear-chronologische Gegenwärtigkeit reduziere und den Eingang in die positive Philosophie verpasse, weil im hegelschen System die notwendige Ekstasis der Vernunft hin auf eine eschatologisch bestimmte Zeit und die mit ihr sich verbindende gläubige Hoffnung durch den Versuch einer theoretischen Geschichtsbewältigung ersetzt werde.

Es ergibt sich also die Fragelinie, ob der spekulative Satz Hegels, dessen Durchführung die „Phänomenologie des Geistes“ und die „Wissenschaft der Logik“ (nicht aber die Vorlesungen!) darstellen, ein linear-chronologisches Zeitkonzept impliziert oder ob er in eine Richtung weist, aus der uns die Zeit als Eröffnung und Vor-Gabe eines jeder unmittelbaren Vergegenwärtigung vorausliegenden Geschehens entgegentritt, aus dem heraus eine Begegnung des Anderen – und eine Wandlung der nie ihre Mitte findenden chronologischen Zeit in SEINE Zeit – überhaupt erst möglich wird. Der spekulative Satz ist der Satz der Identität, d.h. der Inhaltsgleichheit von Subjekt und Prädikat, ohne dass diese als Tautologie zu verstehen ist. Wenn z.B. im spekulati114 115 116 117

118

119

H. Fuhrmanns, F.W.J. Schellings letzte Philosophie. W. Schulz, Die Vollendung des deutschen Idealismus. X. Tilliette, Une philosophie en devenier (2Bde); ders., Le Christ des philosophes (3Bde); ders., La mythologie comprise. F. Tomatis, Kenosis del logos 68. Im italienischen Original lautet die Stelle: „Per Schelling il sistema Hegeliano sarebbe coretto se riconoscesse i propri limiti, se si ritenesse una filosofia negativa [...].“ Vgl. A. Franz, Philosophische Religion 209-211. Dabei kommt A. Franz sogar zum Urteil, dass die „eher versteckte, aber umso spitzere Polemik gegen Hegel eine Nähe in der Sache zu verbergen oder zu überspielen [sucht], die sich Schelling selbst nicht eingestehen wollte oder konnte“. Vgl. A. Franz, Philosophische Religion 211. Vgl. A. Franz, Philosophische Religion 211.

17. SCHELLINGS SPÄTPHILOSOPHIE ALS ANFRAGE AN HEGEL

201

ven Sinne gesagt wird, dass Gott die Liebe IST, dann kommt nicht einem endlichen Gegenstand „Gott“ eine endliche Bestimmung (im Sinne einer De-finition) „Liebe“ zu, an die andere Bestimmungen angehängt werden könnten, vielmehr ist die Liebe der ganze Umfang des Gottseins und umgekehrt Liebe Gottes, d.h. nicht von ihrem Subjekt im Sinne eines für sich allein stehenden frei schwebenden allgemeinen Begriffes ablösbar, sodass sich die Bedeutung beider Worte erst in der gegenseitigen Durchdringung, d.h. in der Bewegung der Kopula ergibt. Darum zeigt sich, dass das spekulative Denken niemals ein definierendes Denken ist und dass es hierin ebensowenig fixierbare und vergegenständlichbare Subjekte wie definierende (subjektlos vorkommende) Prädikate geben kann. Wir werden in den kommenden Kapiteln sehen120, dass im Grunde genommen jede liebevolle Aussage wenigstens in nuce die Form des spekulativen Satzes und niemals die Form eines identifizierenden Ur-Teils hat.

In der spekulativen Identität, die sich zeitlich als Präsenz Gottes in der Welt kundtut, liegt die Problematik des spekulativen Denkens Hegels, weil sie der Gefahr ausgesetzt ist, dass sie im Sinne einer identifizierenden Zuordnung, ihres Bewegungscharakters entkleidet, festgeschrieben wird. Auf diese Weise ginge dann Gott in der Geschichte, in der Menschheit, in der Welt bzw. einem alles umgreifenden Sein auf und Hegels Philosophie wäre (transzendentaler) Pantheismus, in dem die Zeit heillose Gegenwart im Sinne Schellings bliebe. Allerdings muss Hegels substanzielle Identität ebensosehr als negative Bewegung gelesen werden, wie bereits der Eingang der PhdG und der WdL zeigen. Von da her wird gesagt werden können, dass die Copula bei Hegel eine immanente zeitliche Spannung zum Ausdruck bringt und seine Dialektik in der Rücknahme räumlicher Bestimmungen insgesamt Darstellung der Zeit ist. Dadurch eröffnet sich uns eine im kritischen Blick Schellings (und Kants) vollziehende Anknüpfung an das hegelsche Denken, in der die Kategorien seiner spekulativen Hauptwerke auf einen Begriff der Zeit als SEINE Offenbarung in der Anerkennung des Anderen verweisen. Bevor wir uns aber deren Lektüre zuwenden, wollen wir kurz bei den Jugendschriften Station machen, weil sie viele Gedanken enthalten, die eine Lektüre der Hauptwerke erleichtern, so die Darstellung des Seins als BewusstSein, vor allem aber, weil im Liebesbegriff des jungen Hegel eine eschatologische Spannung angezeigt ist, die für ein adäquates Verständnis der Zeit wichtig ist. Letztlich zeigt sich in ihnen bereits die Verheißung des Anderen an, der wir dadurch entsprechen, dass wir ihn auch in seiner Endlichkeit und Gefallenheit lieben.

120

Vgl. besonders Kapitel VIII, Abschnitt 2, weiters Kapitel VII/2.

VII. ZEIT UND EWIGKEIT ALS ZEITIGUNG DER LIEBE IN DER WELTBEGEGNUNG DES BEWUSST-SEINS: GEDANKEN ZU HEGELS JUGENDSCHRIFTEN

1. Der leitende Gedanke in den Jugendschriften Hegels Wir können in diesem Abschnitt keine umfassende Interpretation der Jugendschriften Hegels vornehmen1, sondern wollen diese nur in einigen Motiven darstellen, da Hegel in ihnen auf luzideste Weise das Sein als Bewusst-Sein bestimmt. Das bedeutet, dass in den Jugendschriften das Sein weder als Objekt noch als Subjekt-Objekt, sondern als Subjekt-Subjekt-Objekt-Verhältnis bestimmt wird. Es wird sich zeigen, dass damit mehr als der Gedanke einer intersubjektiv vermittelten Welt anvisiert ist, denn (bereits) für die Jugendschriften Hegels gilt, dass der Weltumgang des Menschen (d.h. die Weise, in der der Mensch das Sein intersubjektiv vermittelt auffasst und gestaltet) gleichzeitig als Gang Gottes zum Menschen verstanden werden muss. Dies hat nicht zuletzt eine tiefgreifende Konsequenz für die Gottesauffassung Hegels: Gott zeigt sich nicht zeitlos, sondern der Zeit entsprechend, d.h. gemäß der Wissens- und Weltauffassung einer bestimmten Epoche.

2. Die Frage nach der Lebendigkeit der Religion als Ausgangspunkt des hegelschen Denkens Bereits in den Fragmenten der Berner Zeit steht die Frage nach der Lebendigkeit der Religion im Mittelpunkt des hegelschen Denkens. Dieser Begriff hat dabei von Anfang an die Bedeutungen von Freiheit und Autonomie im Blick, wobei aber die Freiheit nicht nur wie bei Kant im Sinne einer individuellen Selbstbestimmung gefasst wird, sondern, wie beispielhaft im „Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus“ ersichtlich ist2, auch die Frage nach einer freien Gesellschaft und der ihr korrespondierenden Welt- und Naturauffassung einschließt und den Gegenbegriff zum Ausdruck „Positivität“, der den 1

2

Eine umfassende Interpretation bietet H. Busche, Das Leben des Lebendigen. Für eine theologische Lektüre der Jugendschriften vgl. K. Appel, Entsprechung im Wider-Spruch. Weitere wichtige Kommentare liegen u.a. vor von C.Jamme, Ein ungelehrtes Buch. Vgl. G.W.F. Hegel, Frühe Schriften, I 234-236.

2. DIE FRAGE NACH DER LEBENDIGKEIT DER RELIGION

203

Versuch der Fixierung, Beherrschung und Trennung zwecks Analyse bezeichnet, darstellt. Dabei zeigt sich von Anfang an eine Skepsis Hegels gegenüber dem „positiven“ Denken, welches seinen Ausgangspunkt in der Urteilsform hat. Diese Auffassungsweise fixiert (poniert) ein Subjekt und will es mittels fest umrissener, endlicher, in sich ruhender Prädikaten fassen. Dagegen erkennt bereits der junge Hegel, dass sich das Seiende nicht in festen (zeitlosen) Prädizierungen adäquat bestimmen lässt. Als Beispiel möge folgender Gedanke herangezogen werden: Wenn wir von einer roten Rose sprechen, meint der positivierende Weltumgang, dass einem fixierten Subjekt, in diesem Fall der Rose, ein fixierbares Prädikat, also rot, welches dann umfangreicher wäre als das Rot dieser Rose, zukommt. Tatsächlich ist es aber so, dass sich sowohl die Bedeutung von „Rose“ als auch jene von „rot“ nur in der dialektischen Bewegung des Satzes manifestieren und nicht von dieser abgehoben werden kann. Wenn etwa von „rot“ gesprochen wird, ist dies ein konkretes Allgemeines, d.h. „dieses Rot der Rose“, in dem sich alle Farbschattierungen dieser Farbe versammeln, die wir jemals auf jeweils bestimmte Art und Weise im Laufe unseres Lebens als Sprecher in einer Sprachgemeinschaft erfahren haben.

In diesem Denken der Lebendigkeit tritt der leibnizsche Gedanke eines „vinculum substantiale“ in den Vordergrund, d.h. es wird darauf abgehoben, dass die Rose sich nur in einer Mannigfaltigkeit von geschichtlichen, kulturellen, d.h. letztlich intersubjektiv vermittelten Relationen manifestieren kann, wobei diese sich durch ihren organischen, d.h. nicht fixierbaren, man könnte sagen zukunftseröffnenden Charakter ausweisen. Für Hegel konkretisiert sich dabei die Frage nach der Lebendigkeit bzw. einer lebendigen Gemeinschaft als Bedingung von „Leben“ und Freiheit an der Religion, da sich in ihr die Totalität dieser Beziehungen, d.h. der Weltumgang einer bestimmten Epoche und ihr Wissen, zum Ausdruck bringt. In diesem Sinne gilt bereits für den jungen Hegel, dass es keine Epoche ohne Religion gibt, da in ihrem Begriff des Absoluten, gleichgültig, ob dieses als lebendiger Gott oder als lebloser Mechanismus gefasst ist, ihr jeweiliger Wissensgehalt zum Ausdruck kommt. Die Problematik, vor die der junge Hegel gestellt ist, liegt nun darin, dass sich die Religion seiner Zeit nicht mehr als „lebendiger“, d.h. beziehungs- und autonomiestiftender Vollzug manifestiert, sondern als „positives“, die Menschen von einander und von der Gesellschaft entfremdendes Zwangssystem. Zunächst schien zwar Kant insofern einen Ausweg anzuzeigen, als seine auf Autonomie gegründete moralische Religion eine Alternative zu rein äußerlich religiösen (heteronomen) Vorschriften und den ihr korrespondierenden Gottesvorstellungen darzubieten schien; allerdings sah Hegel sehr früh die Gefahr einer abstrakten, rein moralisierenden Verstandesreligion, in der kein Platz für das Leibliche, das Geschichtliche, das Kultische, d.h. letztlich das Gemeinschaftsstiftende ist und somit wiederum der Weg zu einer lebendigen, d.h. die Menschen verbindenden und freisetzenden Religiosität verschlossen

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VII. ZEIT UND EWIGKEIT ALS ZEITIGUNG DER LIEBE

wird. Impliziert ist damit eine Geistigkeit, die die Trennungen von Gott und Mensch/Welt, Subjekt und Objekt, Verstand und Sinnlichkeit, Pflicht und Neigung, Freiheit und Natur, Jenseits und Diesseits, Praxis und Theorie, Einzelnem und Allgemeinem, Individuum und Gemeinschaft in ihrer Fixiertheit gegeneinander (d.h. Positivität) aufhebt. Denn alle diese Trennungen zerteilen und verendlichen das unendliche Leben (so bezeichnet der junge Hegel das Sein, um dessen lebendigen, zusammenhängenden und nicht fixierbaren Charakter zum Ausdruck zu bringen) in einzelne Teilbereiche, die so ihren organischen Zusammenhang verlieren und als einander entfremdete und tote Objekte auftreten. So ist etwa ein Gott, der der Welt „positiv“ gegenübersteht, ein endlicher Gott, dem eine Welt, die nicht mehr als Ort göttlicher Präsenz erfahren werden kann, korrespondiert. Ebenso ist eine Moralität, die der Neigung gegenübergestellt wird, nur mehr bloße Forderung gleich den als äußerlich empfundenen Geboten „vormoderner“ Religiosität. Auf diese Weise gestalten sich die so abgegrenzten Bereiche zu äußerlichen Mächten, die den Menschen nicht freisetzen. Der junge Hegel dagegen hat die Vision einer lebendigen Religion, die sich sowohl in einer Geisteshaltung, die die oben genannten Trennungen überwindet, als auch in der Beförderung einer Gesellschaft zum Ausdruck bringt, in der der Einzelne nicht Atom eines mechanistischen Staates ist, sondern an ihm selbst allgemeine Bedeutung gewinnen kann. Eine solche Religion, deren Spuren der junge Hegel im Christentum mit dessen Grunddogma von der Menschwerdung Gottes – und damit der Überwindung der grundsätzlichsten „positiven“ Trennung, nämlich der zwischen Gott und Mensch – sucht, enthält die Vision, dass dem Menschen weder die Gesellschaft (in äußerlicher Gesetzlichkeit und Mechanik) noch die Natur noch der Andere und schließlich auch nicht Gott als äußerliche Objekte gegenübertreten, und sich so der Mensch weder als fremdbestimmter Teil eines übergeordneten Ganzen noch als in sich selbst zerrissen zwischen Natur und Freiheit, Neigung und Pflicht etc., sondern als tiefster Ausdruck dieser organischen Einheit und gerade darin als Bild Gottes zu erfahren vermag. Bezüglich der Zeit könnte man sagen, dass der Mensch eine solche Zeit nicht als äußerliches Geschehen erführe, in welchem er bloß Spielball ist, sondern als „organische“ Zeit, d.h. er nähme eine Welt wahr, in der alles seine Zeit hätte. Vor dem Hintergrund des Gesagten ist es zu verstehen, dass Kant zum großen Gegenspieler Hegels wird. Denn für letzteren ist Kant der Philosoph der Trennung, der die Welt einem urteilenden Blick unterzieht, also sozusagen vom Ur-Teil aus denkt. Diese Trennungen (Natur und Freiheit, Neigung und Pflicht usw.) zu überwinden, gilt Hegel als Voraussetzung dafür, dass überhaupt die Positivität zugunsten eines sympathetischen bzw. freien Weltumgangs aufgehoben werden kann. Für diesen sympathetischen Weltumgang nimmt Hegel zunächst die Griechen als Vorbild, weil er in der Kultur der Polis eine umfassende Partizipation des freien Griechen

3. POSITIVER UND SYMPATHETISCHER WELTUMGANG

205

am Gemeinwesen verwirklicht sieht. Allerdings erkennt Hegel zunehmend, dass ein Schritt zurück in die griechische Sittlichkeit unmöglich ist, nicht zuletzt deshalb, weil in ihr noch eine sittliche Substanz vorherrscht, in der das für die Freiheit konstitutive Entfremdungsgeschehen zwar bereits, wie die Tragödie zeigt, als Schicksal erfahren wird, aber noch nicht als notwendiges Moment von Individualität erkannt wird.

3. Positiver und sympathetischer Weltumgang In dem von Nohl „Religion, eine Religion stiften“ betitelten Fragment kommt der von Hegel im Gefolge Hölderlins anvisierte sympathetische Weltumgang auf besonders prägnante Art und Weise zum Ausdruck. Hegel schreibt hier Folgendes: „Einen Bach betrachten, wie er nach Gesetzen der Schwere in die tieferen Gegenden fallen muss und von dem Boden und den Ufern eingeschränkt und gedrückt wird, heißt ihn begreifen, ihm eine Seele geben, als an seinesgleichen Anteil an ihm nehmen, – heißt ihn zum Gotte machen.“ (I 242) Die Natur ist nicht in ihrer Eigenart begriffen, wenn sie als gesetzmäßiger Gegenstand aufgefasst wird, vielmehr muss sie, wie dies bei Leibniz zum Ausdruck kommt, in ihrer Geistigkeit, d.h. als Monade gefasst werden. Die dieser Auffassungsweise entgegenstehende Objektivierung und Funktionalisierung der Natur entspringt dabei nach Hegel erst dem spezifisch neuzeitlichen Herrschaftsdenken. „Begreifen ist beherrschen. Die Objekte beleben ist, sie zu Göttern zu machen.“ (ebd.), ist dementsprechend ein Schlüsselsatz der hegelschen Ausführungen. Wie in den folgenden Überlegungen noch ersichtlich werden wird, ist für ihn das Prinzip des Urteilens, des Trennens geradezu das Charakteristikum des neuzeitlichen Weltumgangs. Dieser ist dabei auch der Schritt von der Liebe, in der „allein man eins ist mit dem Objekt“ (ebd.) zur Gewalt, die sich sowohl theoretisch in Form der Objektivierung als auch praktisch als handelnde Poiesis äußert, die das Objekt in der Bearbeitung vernichtet. Erst wo dagegen „Subjekt und Objekt oder Freiheit und Natur so vereinigt gedacht sind, dass Natur Freiheit ist, dass Subjekt und Objekt nicht zu trennen sind, da ist Göttliches“ (ebd.), führt Hegel ins Treffen. Wir sind also bereits in diesen Schriften mit einer Vision konfrontiert, in der sich die Göttlichkeit der Liebe darin äußert, dass die Welt nicht mehr unter einem bestimmenden Herrschaftsblick wahrgenommen wird, sondern in ihrem unverfügbaren Eigenwert. Das bereits in den Jugendschriften vorfindliche Diktum des „im Anderen bei sich sein“ – konkret heißt es in denselben: „Liebe kann nur stattfinden gegen das Gleiche, gegen den Spiegel, gegen das Echo unseres Wesens“ (I 243) – hat so schon die Bedeutung, dass dieses Andere nicht als das getrennte und somit beurteilbare Andere gefasst werden darf, sondern jenes Andere ist,

206

VII. ZEIT UND EWIGKEIT ALS ZEITIGUNG DER LIEBE

welches der freilassenden, nicht mehr prädizierenden Liebe als das Unverfügbare entspringt. Dadurch ist ein weiterer Hinweis auf die Subjekthaftigkeit der Natur gegeben: Wenn diese nicht mehr als das um der Unterwerfung willen bestimmbare und quantifizierbare Objekt erscheint, hat sie insofern subjekthaften Charakter, als genau diese Subjekthaftigkeit einen unabweislichen Grad an Unverfügbarkeit anzeigt, der Voraussetzung für einen liebenden und freien Blick ist. Auch in Bezug auf die Zeit ist damit ein Hinweis darauf gegeben, dass sogar in der Natur, so sie nicht immer schon Objekt unserer Herrschaft ist, ein unabweisliches Potenzial an Zukünftigkeit liegt. Aus diesen Überlegungen eröffnet sich ein weiterer Gedanke der hegelschen Jugendschriften, nämlich der der Untrennbarkeit von Natur und Freiheit. Während das Manko der leibnizschen Philosophie darin besteht, dass sie die Freiheit naturiert, liegt das Problem bei Kant darin, dass bei ihm Natur und Freiheit auseinanderzufallen drohen. In den Jugendschriften Hegels wird dagegen festgehalten, dass sowohl ein adäquater Freiheits- als auch ein adäquater Naturbegriff dem geistigen Weltumgang der Liebe, die jeder objektivierenden Trennung vorgelagert ist, entspringen. Weiters ist, wenn Hegel davon spricht, im „Bach die Gottheit zu sehen“, angezeigt, dass sich das Moment der Freiheit bereits in der Natur manifestiert. Ein Gedanke, der im Rahmen dieses Buches nur angedeutet werden kann, der aber Desiderat eines noch zu führenden Dialogs zwischen Theologie, Philosophie und Naturwissenschaft wäre, ist, dass auch die Natur nicht einfach Natur unter Gesetzen und somit zeitlos vergangen sich ständig wiederholend ist. Darin liegt nicht nur der theologische Grund der Evolution, sondern vor allem auch die Konsequenz, dass auch die Natur, insofern sie Moment des Geistes ist, sich in und mit dem geistigen Weltumgang, d.h. in der Geschichte verändert. Konsequenz daraus ist, dass eine Änderung der Weltauffassung auch eine, wenn man so will, „objektive“ Änderung der Natur impliziert, wobei der Begriff der Objektivität deshalb mit Vorbehalt zu wählen ist, weil die Natur als Moment des Bewusst-Seins keinen (rein) objektiven Änderungen unterliegt, was der Mythos weiß, wenn er von Naturgottheiten spricht. Immerhin dürfen wir derzeit eine große Wende namentlich in der Quantenphysik erleben, die vielleicht zur Folge haben wird, dass sich die physikalischen Gesetzmäßigkeiten selber zu verflüssigen beginnen.

Allerdings ist mit diesen Andeutungen noch nicht dem kantischen Einwurf Rechnung getragen, dass eine Trennung von Natur und Freiheit um letzterer willen notwendig ist. Dies bedeutet, dass Hegel vor der Herausforderung steht, dem von ihm erkannten sympathetischen Weltumgang eine tiefere Fassung als Leibniz zu geben. Er wird in diesem Zusammenhang versuchen, die Freiheit im Weltumgang des Menschen zu verankern, was ihn letztlich dazu führen wird, eine PhdG zu schreiben. Dies bedeutet, dass die Geschlossenheit der Monade, die bei Leibniz in einer absoluten Vermittlung Gottes, bei Kant in der praktischen Vernunft und bei Heidegger in der Endlichkeit festgemacht wurde, sich bei Hegel aus dem geistigen Weltumgang ergeben wird, der der

4. HEGELS DENKEN IN GESTALTEN

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Gang des Menschen zum Menschen ist, insofern sich darin der Gang Gottes zum Menschen offenbart. Vorausblickend sei angedeutet, dass Hegel diesen Gang zunehmend als Gang der Entfremdung erkennen wird, wenngleich dies in den Jugendschriften lediglich anklingt und erst in den spekulativen Schriften ausgearbeitet wird.

4. Hegels Denken in Gestalten als Transformation des transzendentalen Schemas Ein besonderes Charakteristikum der hegelschen Jugendschriften ist das Denken in Gestalten, welches den Bewusst-Seinscharakter des Seins zum Ausdruck bringt. Hegel nimmt dabei eine Transformation des transzendentalen Schematismus vor. Dessen Defizit liegt nämlich in der Sichtweise Hegels darin, dass er nicht die konkrete Welt erfassen kann. Den Schemata entspricht nämlich ein Zeitbegriff, der weder der Eigenzeit der Natur noch der des Menschen gerecht zu werden vermag, sondern formell bleibt. Hegel dagegen versucht, die Welt als Bewusst-Sein, d.h. in Gestalt einer Subjekt-SubjektObjekt-Beziehung zu denken, die den geschichtlichen und zeitlichen Charakter des Seins berücksichtigt. Die Welt ist keine statische Objektwelt, sondern korrespondiert der sprachlich und geschichtlich-kulturell vermittelten Welt des Menschen als Welt Gottes mit dem Menschen. Durch die Einführung eines Denkens in Gestalten versucht Hegel, die abstrakte Form des Schemas zu vergeschichtlichen und den Schritt von der Welterstellung (insofern ist der Ausdruck „subjektiver Idealismus“ für die Bemühungen Kants und Fichtes, die beide von der Handlung3 des Erstellens denken, nicht unberechtigt) zum Weltumgang (absoluter Idealismus, insofern der Gang des Menschen immer auch der Gang Gottes ist) zu machen. Deshalb sind seine Gestalten nicht zufällig auftretende Figuren, sondern sie repräsentieren jeweils den Gehalt einer spezifischen Weltauffassung. Dabei ist bereits in den Frankfurter Entwürfen, namentlich in den von Nohl „Der Geist des Christentums und sein Schicksal“ (I 274-418) betitelten Fragmenten angedeutet, was sich später in der PhdG noch stärker herauskristallisieren wird, nämlich, dass gewissermaßen verschiedene Akteure das Geschehen bestimmen. Denn die dargestellte Gestalt (sozusagen der erste Akteur) soll nicht verobjektivierend den BewusstSeinsgehalt einer vergangenen Epoche zum Ausdruck bringen – eine solche Objektivierung ist ja nach Hegel immer dem abstrakt-urteilenden Denken verhaftet –, sondern als Moment des jeweiligen Wissenscharakters des Lesers 3

Kant spricht nicht von ungefähr von der Urteilshandlung! Wir werden sehen, dass Hegel gerade die Form der Handlung kritisieren wird.

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VII. ZEIT UND EWIGKEIT ALS ZEITIGUNG DER LIEBE

(zweiter Akteur) aufgezeigt werden4. Der dritte Akteur, wenngleich nie unmittelbar, ist schließlich Gott, der nicht nur in jeder Weltbegegnung des Menschen präsent ist, und zwar in dem Maße, wie dies der Mensch in seiner jeweiligen Wissensstufe fassen kann, sondern auch als Gott des Lebens und der Liebe auch der Untergang aller dem Menschen nicht entsprechenden Stufen ist.

5. Die Gestalt Abrahams und der Bewusst-Seinscharakter von Sein und Zeit Ausgangspunkt eines von Nohl mit dem Titel „Der Geist des Judentums“ versehenen Fragments (I 274-297) aus der Frankfurter Zeit ist der zerbrochene Status der Welt. Es beginnt mit der Konsequenz der Sintflut, nämlich einem Entfremdungsprozess zwischen Mensch und Natur, der nach Hegels Meinung zweifach überwunden werden kann, nämlich entweder in einem „Gedachten“ wie bei Noah oder in einem „Wirklichen“ wie bei Nimrod, dem legendären Gründer Babylons. In beiden Gestalten deuten sich dabei bestimmte Philosophien und Weltumgangsweisen an, nämlich in Noah wohl Kant, der die Welt unter das Gebot des Gesetzes als „gedachtes Ideal“ „zwingt“, und in Nimrod wohl Fichte, der in seinem subjektiven Idealismus die Welt depotenziert. Auf einer tieferen Ebene wird man in diesem Text auch eine Metaphorik des Todes erkennen können. Dem Bild liegt in gewisser Hinsicht eine feindselige Natur zu Grunde, mit der lediglich ein „Frieden der Not“ zu schließen ist und ansonsten verewigte Feindschaft herrscht, die nicht unmittelbar versöhnbar ist, weil sich in ihr der ursprüngliche Riss des Sündenfalls zum Ausdruck bringt, insofern dem Menschen, indem ihm das eigene Ich zu Bewusstsein kommt, auch dessen Ohnmacht und Endlichkeit präsent wird. In diesem Kontext einer bereits zerrissenen Welt tritt der hegelsche Abraham auf, der als ersten Akt eine „Trennung, welche die Bande des Zusammenlebens und der Liebe zerreißt“ (I 277), setzt. Man könnte also sagen (auch wenn der junge Hegel noch an der pejorativen Bedeutung festhält, was sich daran zeigt, dass er kurz die griechischen Gestalten Deukalion und Pyrrha als Bilder versöhnten Lebens mit der Natur anklingen lässt), dass hier die an sich seiende Trennung bewusst vollzogen wird. Damit ist in einem ganz bestimmten Sinne die neuzeitliche Situation bezeichnet, wie aus der Darstellung Hegels herauszuhören ist: 4

Dies ist besonders bei der nahezu unerträglichen Darstellung der Gestalt des „Juden“ zu berücksichtigen, in der eigentlich deutscher Geist und Kant anvisiert sind. Zur Problematik dieser Gestalt vgl. K. Appel, Entsprechung im Wider-Spruch 20-22.

5. DIE GESTALT ABRAHAMS

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Der erste Akt, durch den Abraham zum Stammvater einer Nation wird, ist eine Trennung, welche die Bande des Zusammenlebens und der Liebe zerreißt. [...] Abraham wollte frei von diesen Beziehungen selbst sein; [...] der Geist, sich in strenger Entgegensetzung gegen alles fest zu erhalten, das Gedachte erhoben zur herrschenden Einheit über die unendliche feindselige Natur, denn Feindseliges kann nur in die Beziehung der Herrschaft kommen. [...] Die ganze schlechthin entgegengesetzte Welt, wenn sie nicht ein Nichts sein sollte, war von dem ihr fremden Gott getragen, an dem nichts in der Natur Anteil haben sollte, sondern von dem alles beherrscht wurde. [...] Da Abraham selbst die einzige mögliche Beziehung, welche für die entgegengesetzte unendliche Welt möglich war, die Beherrschung, nicht realisieren konnte, so blieb sie seinem Ideale überlassen [...].5

Abraham ist die Gestalt gewordene Positivität der Neuzeit. Er repräsentiert weder die naturhaften Bindungen eines die Individuen vereinigenden Ethos noch einen sympathetischen Weltumgang mit der Natur, in der diese als begeistet erfahren werden könnte. Vielmehr sind Natur und Gesellschaft funktionalisiert. Das Ich setzt sich dabei als cartesisches Subjekt der Welt gegenüber, um diese zu unterwerfen, und radikalisiert die Trennung des Subjekts von jeder substanzhaften Bezüglichkeit. Die Welt wandelt sich damit von der Monade zum Gegenstand. Eine weitere Beobachtung, die Hegel hier anschließt, ist die des Ideals (wobei der Begriff nicht zufällig an das transzendentale Ideal Kants erinnert). In diesem Gedanken steckt im Rahmen des vorliegenden Fragments die große Erkenntnis, dass der Weltumgang des Menschen, also die Form (Art und Weise), unter der die Welt in den Blick genommen wird, inhaltlich als Ideal (Gottheit) entgegentritt, womit die kantische Trennung von Form und Inhalt wegfällt. Dies hat die Bedeutung, dass sich im „Ideal“ der gesamte Bewusstseinshorizont einer Welt versammelt. In Bezug auf die neuzeitliche Wissensauffassung kann man sagen, dass die Art und Weise ihres Weltumgangs der objektivierende, die Welt bestimmende – und um dieser Bestimmung willen quantifizierende – Herrschaftsblick ist, die „Positivität“. Ihr „Ideal“ ist Gott als absolute Position, d.h. als jenes Wesen, in dem sich das Ideal durchgängiger Bestimmbarkeit der Welt zum Ausdruck bringt. Allerdings tritt es in jene Dialektik ein, die Hegel in der PhdG als HerrKnecht-Dialektik beschrieben hat, aber auch bereits in den Jugendschriften festhält: In jeder Vereinigung ist ein Bestimmen und Bestimmtwerden, die eins sind; in der positiven Religion aber soll das Bestimmende, auch insofern es bestimmt, bestimmt sein [...]; aber dies ist eine niedrigere Art von Vereinigung; denn in der Handlung, die aus positivem Glauben geschieht, ist dies Vereinigte selbst wieder ein Entgegengesetztes, das sein Entgegengesetztes bestimmt, und hier ist nur unvollständige Vereinigung, denn beide bleiben Entgegengesetzte, das eine ist das Bestimmende und das andere das Bestimmte [...].6 5 6

G.W.F. Hegel, Frühe Schriften, I 277-279. G.W.F. Hegel, Frühe Schriften, I 253.

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VII. ZEIT UND EWIGKEIT ALS ZEITIGUNG DER LIEBE

Dieser Text, aus einem Fragment der Jugendschriften, „Glaube und Sein“ betitelt, handelt von zwei Formen der Vereinigung, nämlich einerseits jener der Liebe, andererseits jener der Positivität. In letzterer ist das Bestimmen immer auch ein Bestimmtwerden. Der Mensch, der das Andere vergegenständlicht und bestimmt, wird darin in seinem eigenen Bestimmen bestimmt und unfrei. Freiheit gibt es nur im Freilassenkönnen, was die Vereinigung der Liebe auszeichnen wird. D.h. der alles vergegenständlichende Mensch der Neuzeit vergegenständlicht dabei zugleich sich selbst. Sein Ideal, welches er um der „Welt der Positivität“, wie B. Liebrucks diesen Weltumgang genannt hat, willen aufgerichtet hat, tritt die Herrschaft über ihn an. Aus den hier angeführten Überlegungen wird sich die Erkenntnis ergeben, dass die neuzeitliche Subjekt-Objekt-Differenz eine Modifikation eines ursprünglicheren Subjekt-Subjekt-Objekt-Verhältnisses darstellt. Denn ein Charakteristikum der Neuzeit ist ein Weltumgang, in dem sich das Subjekt der Welt im Zeichen der Autonomie gegenübersetzt und das Sein verdinglicht, um es verfügbar zu machen. Die Form dieser Weltauffassung tritt nun der Neuzeit inhaltlich als Objektwelt entgegen. Berücksichtigt man nun, dass im jeweiligen Ideal (Gottesbild) der Wissensgehalt einer Epoche verdichtet ist, verwundert es nicht, dass Begriffe wie „Energie“ oder „Information“ die Gottesbilder der Neuzeit zum Ausdruck bringen. Mit dem jeweiligen Gottesverständnis korrespondiert aber nicht nur die Weltauffassung sondern auch das Selbstverhältnis bzw. die Freiheit. Hegel schreibt in den „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“: „Die Vorstellung, welche der Mensch von Gott hat, entspricht der, welche er von sich selbst, von seiner Freiheit hat.“7 Angesichts dessen verwundert es nicht, dass einer Zeit, in der Gott als Maschine oder Energie aufgefasst wird, auch der Freiheitsbegriff abhanden zu kommen droht. Zu betonen ist dabei, dass Freiheit sich nicht in der Wahlfreiheit erschöpft, sondern, wie der junge Hegel unterstreicht, die Freiheit der Liebe ist. Wir können hier vermerken, dass die große Liebe Gottes zu uns nicht zuletzt darin besteht, dass er sich dem Menschen dessen Auffassungsvermögen entsprechend offenbart. Allerdings darf dies nicht im Sinne Feuerbachs aufgefasst werden, wie wir an folgendem Schlüsselsatz der Jugendschriften sehen können: „Das Ideal können wir nicht außer uns setzen, sonst wäre es ein Objekt, – nicht in uns allein, sonst wäre es kein Ideal.“8 Gott darf also weder unabhängig vom menschlichen Weltumgang im Sinne einer absoluten Position, d.h. vom Menschen und seiner Welt losgelöst, zur Sprache gebracht werden – wir können hier auch an die biblische Einsicht erinnern, die ursprünglich immer wieder von einem „Gott des“ spricht, z.B. Gott des Abraham, Gott Israels und

7 8

G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, XVI 83. G.W.F. Hegel, Frühe Schriften, I 244.

5. DIE GESTALT ABRAHAMS

211

natürlich vom Vater Jesu etc. – noch im Sinne eines Resultats menschlicher Intersubjektivität.9 Das hier angezeigte Gottesverständnis hat die Konsequenz, dass jeder Stufe des Bewusst-Seins ein bestimmtes Handeln Gottes entspricht, was insbesondere für die Wunder von Bedeutung ist. So wird Gott in einer magischmythischen Stufe, in der nicht zwischen Naturkausalität und Freiheitskausalität unterschieden wird, auch Naturwunder wirken, während in einer Stufe, die von der Positivität des Weltumgangs geprägt ist wie unsere, solche Wunder wohl unmittelbar in ein Spektakel umzuschlagen drohen, mit dem Effekt, sich Gottes versichern zu wollen. Die entscheidende Frage ist, welches Handeln an der Zeit ist, womit sich aus dem Bewusst-Seinscharakter des Seins nicht zuletzt ergibt, dass das Ideal einer zeitlosen Gültigkeit die Wahrheit einer Weltauffassung ist, in der Gott als absolute Position auftritt, aber noch nicht als inkarniertes Wort erkannt ist. Diese Wahrheit der Zeit darf dabei nicht mit Relativismus verwechselt werden, da sie im Gegensatz zur sogenannten ewigen Wahrheit nicht relativistisch ist in Bezug auf den menschlichen Weltumgang als Gang Gottes zum Menschen, und sich dessen Nöten und Herausforderungen auszusetzen bereit ist.10 Mit diesen Überlegungen können wir uns wieder dem Gestaltcharakter des Denkens zukehren. Die Gestalten sind Auffassungsweisen, in unserer Geschichte, Kultur und Sprache aufbewahrt, die die Zeit selber strukturieren, die andernfalls bloße Anhäufung äußerlicher Fakten oder überhaupt nur mathematischer Strahl wäre. Dabei ist allerdings zu erkennen, dass die Bewusst-SeinsGestalten ebensowenig wie Glaubenswahrheiten „positive“ Gültigkeit verlangen können, sondern ihrerseits wiederum ständiger Interpretation, Erzählung und praktischer Bewährung bedürfen. Aus der Zeit tritt uns also die Gestalt als Zeitigung des jeweiligen Weltumgangs entgegen. So zeitigt sich die Positivität als quantitativer Chronos, das griechische Ethos als Schicksal, das unglückliche Bewusstsein als Apokalyptik usw. In ihrer Tiefendimension ist dabei jede Gestalt (und ihre Aufhebung!) als Selbstoffenbarung des Gottes anzusehen, der nicht nur die zeitgemäße Antwort jeder Bewusst-Seinsstufe ist, sondern dessen Liebe das bewegende, zeitigende Moment unserer Weltbegegnung ist, in deren Bewegung alle Gestalten zurückgehen. Dass der Mensch dabei dieser Liebe keine adäquate 9

10

Sehr schön bringt dies B. Liebrucks in „Sprache und Bewußtsein“, V 184 zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Die Absolutheit des Geistes besteht darin, daß Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf und daß der Mensch Gott immer nach seinem Bilde schafft. Das ist die Preisgabe Gottes an den Menschen, daß er ohne diesen Menschen [auf Grund seiner Liebe, Anm.: K.A.] kein Sein hat, daß er ihn nicht nicht lieben kann, weil sein Sein nicht den Charakter der absoluten Position hat.“ Mit der ihm eigenen Prägnanz bringt Bonhoeffer dies zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Die Kirche darf also keine Prinzipien verkündigen, die immer wahr sind, sondern nur Gebote, die heute wahr sind. Denn was „immer“ wahr ist, ist gerade „heute“ nicht wahr [...]. Gott ist uns „immer“ gerade „heute“ Gott.“ Vgl. D. Bonhoeffer, Ökumene, Universität, Pfarramt (DBW 11), 332.

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VII. ZEIT UND EWIGKEIT ALS ZEITIGUNG DER LIEBE

Antwort zu geben vermag und den Geist nicht leben lässt, ist die sich ständig neu inszenierende menschliche Tragödie, die aber von Gott noch einmal mit der jeweils entsprechenden Liebe beantwortet wird. Als sich in bestimmten Gestalten der Zeit darbringend, ist der Weltumgang zeitlich verfasst. Die Zeit ist so nicht Behälter, aber auch nicht einfach Zeitigung der Monade, sondern Zeitigung des Bewusst-Seins. Damit ist der heideggersche Gedanke, dass das Sein zeitlich ist, bewahrheitet, allerdings kann von Hegels Jugendschriften her gesagt werden, dass die Zeit nicht undialektisch endlich verfasst ist, sondern die (Todesgestalten aufhebende) Bewegung Gottes zum Menschen zur Erscheinung bringt, die die verbindende Bewegung des Menschen zum Menschen als Individuum, als Kultur und als Sprache und darin die Bewegung zur Natur darstellt.

6. Bewusst-Sein als Schicksal und Liebe und das Verhängnis der Zeit Wir haben ausgeführt, dass für den jungen Hegel das zentrale Defizit der Positivität deren Herrschaftscharakter ist, der verhindert, dass es zu einer wirklich lebendigen Beziehung zwischen den Subjekten – und dies bedeutet auch zu Gott – kommt. Die Positivität stellt dabei eine Vereinigung dar, über der der „Tod schwebt“ (I 280), die also das Andere nicht frei aus sich entlassen kann. In die Sphäre der Positivität gehört auch das Gesetz, auf das wir kurz eingehen, um den Schicksals- bzw. Liebesbegriff besser verstehen zu können. In den Überlegungen der Jugendschriften, die Nohl treffend „Der Geist des Christentums und sein Schicksal“ (I 274-418) betitelt hat, begegnet uns eine Bestimmung des Gesetzes: „Da Gesetze Vereinigungen Entgegengesetzter in einem Begriffe sind, der sie also als Entgegengesetzte lässt, der Begriff aber selbst in der Entgegensetzung gegen Wirkliches besteht, so drückt er ein Sollen aus [...].“11 Die Entgegengesetzten, von denen Hegel hier spricht, sind einerseits das Allgemeine der Gesetzesform, andererseits das Einzelne des je konkret Wirklichen. Das Gesetz hat näherhin nach Meinung Hegels den Status eines Ideals, von welchem im letzten Abschnitt die Rede war. Dabei hat es das wahre Moment, dass es eine Allgemeinheit zum Ausdruck bringt, welche im Bereich des Seienden erlaubt, Zusammenhänge über das je kontingent Erscheinende hinaus zu erkennen, und im Bereich der Moralität gestattet, die Willkür der einzelnen Handlung hinter sich zu lassen und den Menschen als zur Verallgemeinerung fähiges vernünftiges Wesen, was ihn über bloß zufällige Existenz hinaushebt, zu würdigen. 11

G.W.F. Hegel, Frühe Schriften, I 321.

6. BEWUSST-SEIN ALS SCHICKSAL UND LIEBE UND DAS VERHÄNGNIS DER ZEIT

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In diesem Sinne ist die Gesetzesstrafe durchaus mehr als bloß willkürliche Vergeltung, weil einer ihrer Aspekte der ist, dass in ihr der Verbrecher, der sich in der Egoität und Willkür seines Verbrechens zur Zufälligkeit bestimmt hat, in die Sphäre des Allgemeinen erhoben wird.

Weiters liegt die große, von Paulus erkannte, hier nicht auszuführende Bedeutung des Gesetzes darin12, dass es durch die Differenz von Sein und Sollen, die in ihm gesetzt ist, den verkehrten Seinscharakter der Welt entlarvt. Das Gesetz bleibt aber insofern positiv, weil es erstens niemals der konkreten Wirklichkeit in ihrer Lebendigkeit gerecht wird. Dies gilt dabei gleichermaßen für das Naturgesetz, welches niemals die Natur in ihren bestimmten Gestaltungen zur Sprache bringt, wie für das positive Gesetz, welches den Menschen auf eine bestimmte Handlung bzw. Bestimmtheit reduziert, was Hegel sehr pointiert ausdrückt, wenn er festhält, dass „vor dem Gesetze [...] der Verbrecher nichts [ist] als ein Verbrecher“ (I 353), aber auch für das moralische Vernunftgesetz, welches, dem vernünftigen Willen korrespondierend, die reine Form der Allgemeinheit trägt. Am positiven Gesetz zeigt sich zweitens – und dies teilt es mit dem moralischen Vernunftgesetz – dessen Unversöhnbarkeit. Hegel bringt dies zum Ausdruck, wenn er schreibt: „wenn es [das Gesetz] auf eben die Art, auf welche der Verbrecher wirkte, auf ihn zurückgewirkt hat, lässt es zwar ab, zieht sich aber in die drohende Stellung zurück, und seine Gestalt ist nicht verschwunden oder freundlich gemacht [...].“ (I 340) Diese Unversöhnbarkeit entspringt dem drohenden Charakter des Gesetzes, welches erstens in seiner Allgemeinheit eine Forderung aufstellt, der die einzelne Tat nicht gerecht wird, und zweitens, wie wir vorher gesehen haben, den Menschen niemals als Menschen, sondern unter einer Bestimmtheit in den Blick nimmt. Ein weiterer Aspekt, den Hegel in diesem Zitat anführt, ist, dass die Sollensform immer bereits ein Moment der Äußerlichkeit in Bezug auf den Willen des Menschen gesetzt hat, d.h. sie setzt voraus, dass das Sein des Menschen dem Geforderten nicht entsprechen wird und das Geforderte hergestellt werden muss. Drittens zeigt sich am positiven Gesetz, dass dessen Anwendung beschränkt ist, weil es ein Moment der Zufälligkeit hat, das sich darin kundtut, dass die dem positiven Gesetz notwendig inhärente Gesetzesfolge, also die Strafe – ohne diese verliert das positive Gesetz die Form der Gesetzmäßigkeit und wird zur bloßen Willkür – nur fallweise zur Geltung kommt bzw., selbst wenn sie vollzogen wird, der Tat äußerlich, d.h. nicht in der Tat enthalten ist. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Form des Gesetzes (allein) keine lebendige Be12

Vgl. dazu H. Busche, Das Leben der Lebendigen 238-245; K. Appel, Entsprechung im Wider-Spruch 135-155. Bezeichnend für die Jugendschriften Hegels ist es, dass die Gestalt des Gesetzes vielerlei Anknüpfungspunkte zusammendenkt. Zunächst bezieht sie sich auf den kantischen Gesetzesbegriff, allerdings gibt es genauso Bezugspunkte auf das mosaische Gesetz und auf deutsches Gesetzesdenken, wie es sich sowohl im Staat als auch in der kirchlichen Gemeinde zum Ausdruck bringt. Für den jungen Hegel ist Kant der neue Moses und der Deutsche der Jude.

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VII. ZEIT UND EWIGKEIT ALS ZEITIGUNG DER LIEBE

ziehung des Menschen (zur Natur, in einer freien Gesellschaft ...) ermöglicht und dessen Freiheit nicht in der Form des Gesetzes gründet, weshalb das Gesetz aufgehoben werden muss in eine Gestalt, die unter Wahrung des allgemeinen Charakters des Gesetzes dessen „Trennungen“ zu überwinden vermag. Hegel entwickelt deshalb in seinen Jugendschriften eine weitere Kategorie, die sich aus dem Bewusst-Seinscharakter des Seins ergibt, nämlich die des Schicksals. Mit ihr verbindet er zwei Bedeutungen: Das Schicksal des Menschen ist erstens dessen Weltumgang („Leben“), der ihm in bestimmter Gegenständlichkeit entgegentritt, wobei zweitens das Schicksal des gefallenen Menschen, der sich vom Leben abgetrennt hat, konkret darin besteht, dass ihm dieses Leben als feindliche Macht begegnet. Hegel schreibt in diesem Zusammenhang die bemerkenswerten Sätze: Die Strafe als Schicksal vorgestellt, ist ganz anderer Art [als das Gesetz]; im Schicksal ist die Strafe eine feindliche Macht, ein Individuelles, in dem Allgemeines und Besonderes auch in der Rücksicht vereinigt ist, dass in ihm das Sollen und die Ausführung dieses Sollens nicht getrennt ist, wie beim Gesetz, das nur eine Regel, ein Gedachtes ist und eines ihm Entgegengesetzten, eines Wirklichen bedarf, von dem es Gewalt erhält. In dieser feindlichen Macht ist auch das Allgemeine vom Besonderen nicht in der Rücksicht getrennt, wie das Gesetz als Allgemeines dem Menschen oder seinen Neigungen als dem Besonderen entgegengesetzt ist. Das Schicksal ist nur der Feind, und der Mensch steht ihm ebensogut als kämpfende Macht gegenüber; dahingegen das Gesetz als Allgemeines das Besondere beherrscht, diesen Menschen unter seinem Gehorsam hat.13

Das Schicksal ist also sowohl gerechter als auch unerbittlicher als das Gesetz, denn es kennt keine Willkür (aber auch keine Gnade!) und seiner Sanktion kann sich niemand entziehen. Im Schicksal manifestiert sich die BewusstSeinsstruktur des Seins in ihrer unmittelbaren Form. Der Mensch IST sein Weltumgang, was bedeutet, dass er sich in seinem Verhalten zu Anderem gleichermaßen zu sich selber (und zu Gott) verhält, weshalb jede seiner Taten und Untaten unmittelbar auf ihn zurückschlägt. Meisterhaft drückt Hegel dies in den folgenden Sätzen aus, die zunächst zynisch und grausam klingen: Das Schicksal [...] ist unbestechlich und unbegrenzt, wie das Leben; es kennt keine gegebenen Verhältnisse, keine Verschiedenheiten der Standpunkte, der Lage, keinen Bezirk der Tugend; wo Leben verletzt ist, sei es auch noch so rechtlich, so mit Selbstzufriedenheit geschehen, da tritt das Schicksal auf, und man kann darum sagen, nie hat die Unschuld gelitten, jedes Leiden ist Schuld.14

Das Leben hat die Bedeutung des ursprünglichen Bewusst-Seinscharakters der Welt, d.h. es steht für eine vorgängige Einheit und Beziehung, die jedes Seiende an sich selbst zum Ausdruck bringt. Der Mensch ist, wie wir gesehen haben, weder reines Subjekt noch reines Objekt, auch nicht statisches Subjekt13 14

G.W.F. Hegel, Frühe Schriften, I 342. G.W.F. Hegel, Frühe Schriften, I 347.

6. BEWUSST-SEIN ALS SCHICKSAL UND LIEBE UND DAS VERHÄNGNIS DER ZEIT

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Objekt, sondern sprachliches Wesen – man könnte dieses zur Differenzierung fürsichseiende Sprache nennen, weil es aus sich selbst heraus die Welt ins Wort zu holen vermag, während die Natur nur ansichseiende Sprache ist, die sich in kein Selbstverhältnis setzen kann –, welches er nur sein kann, wenn ihn als Anerkannten und immer schon vorgängig Angesprochenen auch die Dinge anzusprechen vermögen. In diesem vorgängigen Bezug aber, ohne den der Mensch nicht einer Regung, geschweige denn eines Wortes fähig wäre, manifestiert sich das Sein als Leben, welches sowohl einen anorganischen als auch einen organischen Bereich umfasst. In dieser Wirklichkeit bedeutet jede Verletzung des Anderen die Verletzung der eigenen Person. Hier kann noch einmal unterstrichen werden, dass der Mensch in der Verletzung des Lebens sich als lebendiges Wesen verletzt und in der Verletzung des Anderen als geistiges. Der härteste und grausamste Satz Hegels scheint zu sein, dass „niemals die Unschuld gelitten hat“. Was aber, so wird man berechtigt fragen, ist mit all dem unschuldigen Leid? Allerdings muss darauf geachtet werden, dass Hegel die Begriffe „Schuld“ und „Unschuld“ in einem umfassenderen Sinn als im bloß moralischen verwendet. Die Schuld des Menschen ist dessen Endlichkeit. Als Endlicher ist ihm die Natur und die Geschichte, in der er sich befindet, Schicksal. Dies impliziert allerdings auch die von uns oben angezeigte zweite Bedeutung dieser Kategorie, nämlich die Trennung vom Leben, welche dem Menschen sozusagen als Verhängnis entgegentritt. Der (gefallene) Mensch IST Leben und darin Bewusst-Sein, aber niemals im Sinne einer absoluten Identität und Macht, sondern so, dass er die Welt als von ihm abgetrennte Macht erfährt, wie ja Hegel auch eingangs des Fragments „Der Geist des Judentums“ angedeutet hat. Am schönsten kommt dies vielleicht in den Ausführungen des jungen Hegel über das Phänomen der Scham zum Ausdruck. Hegel schreibt im entsprechenden Fragment, von Nohl „Die Liebe“ (I 244-250) betitelt: Wahre Vereinigung, eigentliche Liebe findet nur unter Lebendigen statt, die an Macht sich gleich und also durchaus füreinander Lebendige, von keiner Seite gegeneinander Tote sind: sie schließt alle Entgegensetzungen aus, sie ist nicht Verstand, dessen Beziehungen das Mannigfaltige als Mannigfaltiges lassen und dessen Einheit selbst Entgegensetzungen sind; sie ist nicht Vernunft, die ihr Bestimmen dem Bestimmten schlechthin entgegensetzt; sie ist nichts Begrenzendes, nichts Begrenztes, nichts Endliches [...]; in der Liebe ist dies Ganze nicht als in der Summe vieler Besonderer, Getrennter enthalten; in ihr findet sich das Leben selbst, als eine Verdoppelung seiner selbst, und Einigkeit desselben; das Leben hat, von der unentwickelten Einigkeit aus, durch die Bildung den Kreis zu einer vollendeten Einigkeit durchlaufen [...].15

In diesem Text finden sich eine Fülle schönster Annäherungen an die Gestalt der Liebe. Zunächst ist die Rede davon, dass die Liebenden sich „gleich an Macht“ und „füreinander Lebendige“ sind. Damit ist die Liebe von der Posi15

G.W.F. Hegel, Frühe Schriften, I 245f.

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VII. ZEIT UND EWIGKEIT ALS ZEITIGUNG DER LIEBE

tivität abgehoben, in der immer Trennung und Gewalt, Über- und Unterordnung herrschen – so z.B. das Gesetz über das Sinnliche, das Sollen über das Sein oder das Ideal über eine zum Objekt herabgesetzte Welt. Außerdem ist zum Ausdruck gebracht, dass ihr Proprium darin besteht, den Anderen nicht zu bestimmen, d.h. als Objekt zu setzen, um ihm dann Merkmale zuzuschreiben, sondern ihn freizulassen, d.h. in seiner Unverfügbarkeit und Zukunftsfähigkeit anzuerkennen. Da die Liebe sich nicht als Getrenntes erfährt, denn die Liebenden sind eins in ihr, ist sie nicht endlich, ist sie die ursprüngliche Vereinigung und zwar eine solche, die nicht die Unterschiede nivelliert und als Ideal darüber „thront“, sondern diese immer wieder neu aus sich entlässt. Allerdings ist, wie Hegel weiter ausführt, die Liebe kontrastiert durch die Endlichkeit: Weil die Liebe ein Gefühl des Lebendigen ist, so können Liebende sich nur insofern unterscheiden, als sie sterblich sind, als sie diese Möglichkeit der Trennung denken, nicht insofern, als wirklich etwas getrennt wäre, als das Mögliche mit einem Sein verbunden ein Wirkliches wäre. An Liebenden ist keine Materie, sie sind ein lebendiges Ganze [sic!]; Liebende haben Selbständigkeit, eigenes Lebensprinzip – [das] heißt nur: sie können sterben.16

Mit der Feststellung, dass „an Liebenden keine Materie ist“, ist wohl der höchste Ausdruck und tiefste Grund jeder Vereinigung, die absolute Synthesis und die Grunderfahrung des Hauptstroms christlicher Mystik und Philosophie auf das Dichteste ausgesprochen. Dieser Gedanke, durch den allein die hegelschen Jugendschriften ein Werk höchsten Ranges darstellen, übersteigt dabei jede endliche Erfahrung und führt mitten in die mystisch-religiöse Dimension der Liebe. Es ist nicht zuletzt das Verhältnis bzw. die mystische Vereinigung von Mensch und Gott, in besonderer Tiefe in der Kommunion der christlichen Eucharistiefeier zum Ausdruck gebracht, in der dieser Gedanke zu verorten ist. Dies beinhaltet auch das Wissen, dass Gott nicht mehr als Objekt, auch nicht als endliches Subjekt angesehen werden darf, sondern dass er die Gestaltung dieses höchsten Vereinigungspunktes ist, als absolutes Subjekt, das ewig die Fülle aller Zeit beinhaltet. Unsere Ausführungen wären also damit an ein Ende gekommen, gäbe es nicht den Nachsatz, dass Liebende Selbständigkeit haben, was bedeutet, „dass sie sterben können“. Diese Selbständigkeit, d.h. dieser für Sterbliche sich immer wieder eröffnende Rest an Eigenem ist dabei die Wurzel der Scham. Der junge Hegel stellt in diesen Passagen die Verkehrung von Heidegger dar: Die Sterblichkeit ist nicht Eröffnung eigentlicher Existenz, sondern Resultat einer Verstrickung in das Eigene. Ein Ereignis gibt es allerdings, wo dieses Todesmoment definitiv überwunden wird, wo die liebende Vereinigung untrennbar geworden ist, nämlich die Weitergabe des Lebens, das Kind17. 16 17

G.W.F. Hegel, Frühe Schriften, I 246. Damit zeigt sich die heutige Diskussion darüber, wann Leben entsteht oder gar ab welchem Moment man von einem Menschen sprechen kann, als Resultat positiver Ungeistigkeit. Das

7. DIE LIEBE UND DIE GESCHLOSSENHEIT DER ZEIT

217

Mit diesen Ausführungen hat sich ein Fingerzeig in Bezug auf die mit dem Schicksal zusammenhängende Schuld eröffnet: Es ist die Schuld der Endlichkeit, die sich darin auftut, dass der Mensch nicht vermag, definitiv auf das Eigene zu verzichten. Dieses Eigentum wird ihm dabei zum Schicksal in der Form des Todes. In Bezug auf die Zeit ist zu sagen, dass aus der Kategorie des Schicksals die Vergangenheit entspringt. Sie bewahrt unerbittlich die Taten und Untaten des Einzelnen und der Generationen auf, bereit, jederzeit den Generationen als Erinnye entgegenzutreten. Allerdings ist die Macht des Schicksals und damit der Vergangenheit nicht absolut, wie die Kategorie der Liebe bzw. des Lebens aufzeigt, in der man auch die Geschlossenheit der Zeit verorten können wird.

7. Die Liebe und die Geschlossenheit der Zeit Im letzten Abschnitt haben wir schon einige Hinweise zum Begriff der Liebe, wie er fundamental für Hegels Jugendschriften ist, gegeben. Daran anschließen wollen wir die Frage, wie ein sich nicht ins Leere verlierender Zeitbegriff im Anschluss an die Jugendschriften Hegels zu denken ist. Diese Form der Zeit hat sich in der Interpretation der Schöpfungsgeschichte als dem Menschen zum Lobpreis Gottes, der so als (verdichtete) Zeit eröffnet wird, zugeeignete Zeit bestimmt, bei Leibniz hat sie sich ergeben durch die Geschlossenheit der in der Liebe Gottes zureichend begründeten Monade, bei Kant durch den Zweckbegriff der reflektierenden Urteilskraft und bei Heidegger durch die Entschlossenheit zur Endlichkeit. Beim jungen Hegel wird sie als ursprüngliche Synthesis des Bewusst-Seins auftreten, welche nur in der Kategorie der Liebe und dem ihr korrespondierenden Leben – d.h. weder im Gesetz noch im Schicksal – aufzufinden ist. Ein entscheidendes Moment dieser Kategorie leuchtete in dem Satz „Liebende haben keine Materie gegeneinander“ auf. Dabei wird sich zeigen, dass Hegel in der PhdG dem Moment der Materie, d.h. der Endlichkeit und Fremde ein stärkeres, affirmativeres Gewicht zuerkennt als dies in den Jugendschriften der Fall ist. Allerdings gibt es auch in der Schrift „Der Geist des Christentums und sein Schicksal“ Momente, die einen Liebesbegriff implizieren, der nicht als primordiale Synthesis zu verstehen ist. Eine der wichtigen Passagen lautet folgendermaßen: In Opfern, in Büßungen haben Verbrecher sich selbst Schmerzen gemacht; als Wallfahrer im härenen Hemde und barfuß bei jedem Tritt auf den heißen Sand Leben nimmt seinen Anfang nicht im Chronos, sondern in einem geistigen Geschehen, welches es unantastbar macht. Vielleicht hat dies niemand besser gesehen als der große Papst Paul VI, auch wenn er in dieser Erkenntnis – und nicht nur in ihr – der große Unverstandene geblieben ist.

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VII. ZEIT UND EWIGKEIT ALS ZEITIGUNG DER LIEBE

das Bewusstsein des Bösen, den Schmerz verlängert und vervielfältigt und einesteils ihren Verlust, ihre Lücke ganz durchgefühlt, andernteils zugleich dies Leben, obwohl als feindliches, ganz darin angeschaut und sich so die Wiederaufnahme ganz möglich gemacht; denn die Entgegensetzung ist die Möglichkeit der Wiedervereinigung [Hervorhebung K.A.], und soweit es im Schmerz entgegengesetzt war, ist es fähig, wieder aufgenommen [zu] werden. Weil auch das Feindliche als Leben gefühlt wird, darin liegt die Möglichkeit der Versöhnung des Schicksals; diese Versöhnung ist also weder die Zerstörung oder Unterdrückung eines Fremden, noch ein Widerspruch zwischen [dem] Bewusstsein seiner selbst und der gehofften Verschiedenheit der Vorstellung von sich in einem Anderen, oder ein Widerspruch zwischen dem Verdienen dem Gesetze nach und der Erfüllung desselben, [zwischen] dem Menschen als Begriff und dem Menschen als Wirklichem. Dies Gefühl des Lebens, das sich selbst wiederfindet, ist die Liebe, und in ihr versöhnt sich das Schicksal.18

Das Schicksal ist deshalb unversöhnlich, weil es das Entgegentreten des eigenen Weltumgangs und der in ihm enthaltenen Entfremdung und Zerrissenheit, wie sie in jeder geschichtlichen Epoche auf ihre Weise auftritt, darstellt. Dennoch meint Hegel, dass auch das Schicksal noch einmal durchbrochen zu werden vermag, nämlich in der Liebe. In diesem Zusammenhang untersucht er das Phänomen der Strafe. Diese hat – zumindest dann, wenn erkannt wird, dass das Schicksal die härtest mögliche Bestrafung einer Untat schon mit sich führt – nicht die Funktion einer äußeren Strafe, sie erschöpft sich auch nicht darin, den Verbrecher die von ihm verletzte Allgemeinheit zurückzuerstatten, wie es das Gesetz tut, sondern sie soll die Trennung des Lebens spüren lassen. Denn gerade in dieser Trennung, sobald sie zum Bewusstsein kommt, steckt bereits das Wissen um die Einigkeit des Lebens. Hegel sagt darüber den für das Verständnis seiner Jugendschriften entscheidenden Satz: „[...] denn Leben ist vom Leben nicht verschieden, weil das Leben in der einigen Gottheit ist [...].“ (I 343) Hier sind wir noch einmal zum Kern der Gedankenwelt des jungen Hegels geführt: Ursprünglicher als jede Trennung ist die Einheit des Lebens. Ohne diese vorgängige Vereinigung mit dem Leben, welches nicht auf biologische Prozesse reduziert werden darf, sondern der Bindestrich des BewusstSeins, also das ursprüngliche Vinculum substantiale ist, welches sowohl Subjekt und Objekt bzw. – am ausdrucksstärksten in der Sprache – Subjekt und Subjekt und darin die Objekte verbunden hat, als auch die ursprüngliche Verbindung von Mensch und Gott darstellt, wäre der Mensch völlig bedeutungslos in sich verschlossen, er wäre nicht einmal eines Atemzuges fähig. Bestimmter noch ist in diesem Zitat enthalten, dass Gott das Leben selber ist, denn die Vereinigung des Lebens ist keine positive zweier endlicher Glieder, d.h. eine, zu der der Mensch (pelagianistisch) seinen Teil beitragen könnte, sondern die „atome Subjektivität“ Gottes, durch die der Mensch erst als Mensch (und nicht als Maschine, die er wäre, existierte nur „endlicher Geist“ – im Übrigen ein Ausdruck so falsch wie von einem „viereckigen Kreis“ zu 18

G.W.F. Hegel, Frühe Schriften, I 345f.

7. DIE LIEBE UND DIE GESCHLOSSENHEIT DER ZEIT

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sprechen) aufzutreten beginnt. Wir können dies etwa daran exemplifizieren, dass das menschlichste aller Vermögen, die Sprache, niemals technisch, d.h. in bestimmten methodischen Schritten erworben werden kann, sondern der Mensch immer vorgängig der Angesprochene (und nicht Programmierte) ist. Der Sprachraum ist nämlich vor dem Menschen bzw. in hegelscher Dialektik formuliert dem Menschen so vorausgesetzt, dass er die setzende Bewegung des Begriffes selber ist. An diesen Stellen zeigt sich auch der Sinn der hegelschen Kritik an der Positivität: Die ursprüngliche Einheit des Bewusst-Seins bzw. des Lebens ist niemals herstellbar, sondern sola gratia und in dieser Eigenart nur „mit den Augen der Liebe“ auffassbar, insofern diese durch die Unmöglichkeit jeder Form von Positivität gekennzeichnet ist. Wenn Hegel in den Jugendschriften in unserem Zitat das Beispiel des Verbrechers bringt, welcher in der Trennung vom Leben das Leben schaut, ist genau dies erkannt, dass auf das Leben niemals unmittelbar, sondern nur „in Entgegensetzung“ zugegriffen werden kann. Wir nähern uns damit der biblischen Einsicht an, dass es des Weges über die Fremde bedarf, um die Offenbarung des Lebens zu empfangen. Damit fällt jede Möglichkeit weg, die lebendige Einheit der Liebe als „Besitz des Menschen“ zu handhaben. „Der Geist des Christentums und sein Schicksal“ endet tendenziell düster, weil Hegel meint, dass das Christentum dadurch charakterisiert ist, dass es sich, um dem Schicksal (der Entfremdung und Verletzung der Reinheit – hier bereits die für die PhdG zentrale Gestalt der „schönen Seele“19 präfigurierend) zu entgehen, in einen Sonderraum zurückgezogen hat, wobei diese Abgrenzung nach außen dem Bewusst-Sein sofort als unbezogenes und damit positives Ideal gegenständlich entgegengetreten ist (ein Vorgang, den Hegel ja ausführlich „Im Geist des Judentums“ behandelt). Dabei hilft, so der junge Hegel, auch die Liebe Jesu nicht, die Positivität zu überwinden, weil sein Schicksal dies ist, keine adäquate Rezeption erfahren zu haben. Neben Abraham ist Jesus die zweite Hauptgestalt der Jugendschriften. Sie verkörpert im Gegensatz zur positiven Trennung des ersten die verbindende Liebe. Allerdings scheitert der Jesus der hegelschen Jugendschriften am Schicksal, nämlich insofern, als er mit seiner Vision letztlich isoliert ist – hier erkennt man sehr deutlich, dass sich Hegel selber mit der Jesusgestalt bzw. deren Leben und Lehre identifiziert – und, um die Gewalt, mit der ihm dies Schicksal begegnet, zu durchbrechen, sich aus den lebendigen Beziehungen (Familie, Dorf, Staat etc.) flüchtet. Dabei wird diese Fremde Jesu von seinem Schülerkreis und der in ihr gebildeten Gemeinde (gleich der philosophischen „Gemeinde“ zur Zeit Hegels) wiederum positiv als sich abtrennende „Kontrastgemeinde“ veranschlagt und somit der Kreis der Positivität erneut in Gang gesetzt. Erwähnt sei hier noch, dass die Ähnlichkeit zwischen dem Ende der Jugendschriften und dem der Religionsvorlesungen sehr groß ist: Beide enden mit einem gewissen re19

Der Begriff „Schönheit der Seele“ fällt bezeichnenderweise auch einmal im Fragment „Der Geist des Christentums und sein Schicksal“, vgl. Frühe Schriften, I 350.

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VII. ZEIT UND EWIGKEIT ALS ZEITIGUNG DER LIEBE

signativen Unterton, der sich daraus ergibt, dass Hegel der Auffassung ist, dass lediglich ein geistig erneuertes Christentum eine gesellschaftliche Veränderung herbeiführen kann, wofür er allerdings in der konkreten Gestalt des Christentums seiner Zeit wenig Anhaltspunkte erkennt.

Es bleibt richtig, dass der Einzelne als Einzelner dem Schicksal unterliegen muss, wenn er nicht zugleich den Geist, konkret die ursprüngliche Einheit des Lebens in seiner Allgemeinheit zum Ausdruck bringt. So gesehen deutet sich bereits in den Jugendschriften Hegels an, dass der von den Existentialisten seit Kierkegaard behauptete Primat der Existenz gegenüber dem Begriff noch einmal hinterfragt werden muss, weil gerade in letzerem zum Ausdruck gebracht wird, dass konkrete Existenz nur in der Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit möglich ist. Für uns bleibt hier festzuhalten, dass das Leben, also die der Liebe zugängliche Vereinigung ihre Möglichkeit in der Entgegensetzung zum Ausdruck bringt. Dies wird Hegel zunehmend bewusst, wie uns das „Systemfragment von 1800“ aufzeigt, wo die Rede davon ist, dass „das Leben [...] eben nicht [nur] als Vereinigung, Beziehung allein, sondern [...] zugleich als Entgegensetzung betrachtet [werden muss].“ (I 422)20 Die ursprüngliche Vereinigung des Lebens „ist“ also nie im Sinne einer Präsenz zuhanden oder verfügbar, sondern nur in temporaler Spannung. Sie meldet sich, wo das Schicksal in einem verbindlichen (verbindenden) Akt der Liebe zeichenhaft durchbrochen wird, wobei „die Liebe als Wiedervereinigung“ (I 345) nicht ein „zurück“ in einen paradiesischen Urzustand meint, sondern das „Sich-Entäußern“ als Übernahme des Lebens in seiner ganzen Gebrochenheit. Diese Gestalt der Liebe als Hervortretenlassen einer unableitbaren Verbindlichkeit bringt Jesus in seinen Gleichnissen, in seiner Predigt und in Wundern ebenso zum Ausdruck wie im Durchbrechen des Gesetzes (wo es nicht um Willkür, sondern um dessen Radikalisierung als Einheit der Liebe geht) und in der Durchbrechung der Todesmacht durch seine Auferstehung. Dieser Akt der Unterbrechung zeigt sich z.B. in den Gleichnissen darin, dass die in ihnen dargestellte Wirklichkeit der Basileia eine (nicht zuletzt im Aktus des Erzählens) hereinbrechende Gegenwirklichkeit unserer Wirklichkeit darstellt. Die Wunderheilungen am Sabbat setzen gerade in ihrer Verletzung des Gesetzes (die ja zunächst von den Gegnern Jesu völlig zu Recht kritisiert zu werden scheint, denn dieser hätte ja auch an jedem anderen Tag heilen können) dessen ursprüngliche lebensfördernde Intention in Kraft. Die Vergebung der Schuld, wie sie von Jesus an den Sündern und Außenseitern gegen das Selbstverständnis der Gerechten vollzogen wird, ruft in Erinnerung, dass die Schuld des Einzelnen immer auch die Schuld der Gemeinschaft ist, mag diese sich auch noch so gerecht fühlen, d.h. Jesus 20

In diesen Sätzen, auf die ausführlich in dem Buch „Entsprechung im Wider-Spruch“ Bezug genommen wurde (173-176), kommt eine zum sonstigen Antijudaismus der Jugendschriften in Kontrast stehende Würdigung des Judentums seitens Hegels zum Ausdruck, nämlich, dass das Judentum in einer Zeit erschlichener Vereinigung das „Würdigste“ und „Edelste“ sei. Vgl. zu diesem Aspekt auch B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, III 217.

7. DIE LIEBE UND DIE GESCHLOSSENHEIT DER ZEIT

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vergibt in diesem einzelnen Sünder der Gemeinschaft, wo diese es nicht erwartet usw. In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, dass letztlich auch die Apokalyptik vor dem Hintergrund dieser Unterbrechung zu verstehen ist. Sie ist gerade NICHT eine chronologische Beendigung der Zeit zugunsten der Ewigkeit, wie sie vor dem Hintergrund platonisierenden Denkens erschien, sondern sie ist das Wissen darum, dass inmitten menschlicher Zeit und ihrer Brüche und Katastrophen die Zeit Gottes sich Durchbruch verschafft.21 In gewisser Hinsicht ist das apokalyptische Ereignis schlechthin das Heilsgeschehen von Tod und Auferstehung Christi und die damit verbundene Geistsendung, was nicht zuletzt in der Theologie des Evangelisten Johannes zum Ausdruck kommt22. Betrachtet man noch einmal vor dem Hintergrund des hier Ausgeführten das Verhältnis von Gesetz und Evangelium, so wird man sagen können, dass das jüdische Gesetz der Welt und ihrer Zeit Heiligkeit, d.h. einen Bereich, in dem Gott offenbar wird, schenkt. Gleichzeitig wird dadurch aber auch gleichsam als „Negativ“ die Todesmacht, die Gottlosigkeit der Welt offenbar, was besonders Paulus gesehen hat. Der spezifische Schritt Christi – auch gegenüber der Tora – liegt darin, dass er inmitten dieser Gottlosigkeit der Welt Gott offenbart, wie es der Evangelist Johannes in unüberbietbarer Prägnanz zum Ausdruck bringt, wenn er davon spricht, dass Christus als das Licht der Welt „in der Finsternis leuchtet“ (Joh 1,5) und darin zum eschatologischen Tempel (Joh 2,19-21) und zur fleischgewordenen Tora (Joh 1,1) wird. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, den Ruf zur Umkehr (Mk 1,14f.) zu vernehmen. Der neuen Zeit der Basileia Gottes korrespondiert die Metanoia hin zu einer Nachfolge, die bereit ist, alles zu verlassen, wobei namentlich das Mk-Evangelium so weit geht, das Bekenntnis zu Jesus als dem Messias Gottes erst im Angesicht einer alles verlassenden Nachfolge bis hin zum Kreuz für erschwinglich zu halten (vgl. Mk 8,2933). Diese Nachfolge ist auch ein Schlüssel zur Theodizeefrage. Bereits Kant hob eine erschlichene „doctrinale Theodicee“ theoretischer Vernunft von einer sich aus der praktischen Vernunft herleitenden „authentischen Theodicee“ als einzig möglicher ab. In den Kategorien der hegelschen Jugendschriften könnte man dies so zum Ausdruck bringen, dass es eine Theodizee in der Sphäre der Reflexion gibt, die die Sinnfrage verobjektiviert und zeitlos nach einer ewigen Präsenz des Weltsinnes bzw. noch deutlicher nach einer ewigen (im Sinne von atemporalen) Präsenz Gottes in der Welt fragt. Die Theodizee in der Sphäre der Liebe dagegen, die davon weiß, dass „das Leben in der einigen Gottheit ist“, die nicht als absolute Position aufgefasst werden kann, wird die Theodizee im Kairos, d.h. in der temporalen Entsprechung der Nachfolge aufzusuchen haben.

Das ursprüngliche Leben offenbart sich in einem verbindlichen und verbindenden Akt der Nachfolge inmitten einer zerbrochenen Welt, die keine Distanz im Sinne eines objektiven Ideals zulässt. Gott tritt demgemäß als Geist 21

22

Eine äußerst lesenswerte Studie über ein menschliches Unheil durchbrechendes Heilshandeln Gottes, wie sie für die Heilsgeschichte paradigmatisch in Gen 4 (Kain und Abel) vorliegt, gibt K. Butting, Abel steh auf! Vgl. U. Wilckens, Das Evangelium des Johannes. Vgl. auch die interessante Studie von K. Scholtissek, „Geschrieben in diesem Buch“ (Joh 20,30).

222

VII. ZEIT UND EWIGKEIT ALS ZEITIGUNG DER LIEBE

auf in der Entsprechung unseres Handelns, d.h. da wo unser Handeln sowohl individuell als auch v.a. gemeinschaftlich – als Kirche in statu confessionis, um hier an Bonhoeffer anzuknüpfen – in der Gestalt der Liebe dem Leben der einigen Gottheit korrespondiert. Dabei ist völlig evident – Hegel wird dies dann in differenziertester Gestalt am Ausgang der Wesenslogik und Eintritt in die Begriffslogik darstellen –, dass diese Relation nicht mehr in einem (mechanistischen) Ursache-Wirkungs-Schema zu fassen ist, und dass daher die Frage, ob zuerst die Gnade und dann die Natur kommt oder umgekehrt, abstrakt ist. Der Zuvorkommende ist der lebendige Gott, der sich aber gerade im Kairos des menschlichen Weltumgangs, d.h. da, wo dieser Lebendigkeit entsprochen wird – und dies auf allen Stufen menschlicher Weltauffassung – offenbart. Mit diesen Überlegungen können wir einen Schritt in Richtung Beantwortung der Frage nach der nicht zentrumslos ewig weiterlaufenden, sondern in sich erfüllten, d.h. sinnvollen Zeit und damit dem sinnstiftenden Identitätsmoment des Menschen (als Äquivalent der Geschlossenheit der Monade) machen, wie er sich anhand eines Dialogs mit den hegelschen Jugendschriften, die in nuce bereits die spekulative Philosophie enthalten, ergibt: Der Sinn der Zeit liegt in der menschlichen Entsprechung gegenüber dem göttlichen Logos, die sich in der Offenbarung Gottes als einiges Leben in den Trennungen und Verwerfungen des menschlichen Lebens auf dieser Erde zum Ausdruck bringt, wobei entscheidend ist, dass diese Form der Manifestation Gottes über den Weg der Fremde erfahren wird, oder man könnte sagen in der Anerkennung, dass der Mensch Gast auf dieser Erde ist. Die Zeit ist damit markiert als der Bindestrich des Bewusst-Seins. Sie ist die Sphäre des menschlichen Weltumgangs, der immer im Zeichen der Trennung, d.h. des Schicksals steht, wobei aber in der Liebe dieses Schicksal eschatologisch, d.h. niemals positiv verfügbar, durchbrochen wird. Chronologisch gesehen ist diese Manifestation des göttlichen Lebens nur ein Moment, betrachtet man aber die Zeit ihrer Qualität nach, ist in diesem Moment, d.h. in dieser temporalen „Offenbarung des eschatologischen Schöpfungsgeheimnisses“23 Gottes, alle Zeit – eingeschlossen die (zeitliche) „Differenz eines Noch-nicht“24 – versammelt, wodurch sich diese gewissermaßen zur – in der Offenheit der liebenden Handlung abgeschlossenen – Ewigkeit (die die eschatologische Differenz, nicht aber ein fixierbares Danach wäre) öffnet. Diese Grenze des Geschichtlichen ist nicht einfach, wie wir in der Besprechung Heideggers aufgezeigt haben, als defizient aufzufassen, sondern markiert genau die Stelle der Transzendenz des Anderen, die in ihrer Unverfügbarkeit (Abwesenheit) und Verletzlichkeit temporalen und eschatologischen Charakter hat. Damit ist eine Überleitung hin zu den spekulativen Schriften Hegels gegeben, die nicht nur die bereits in den Jugendschriften auftretenden 23 24

J. Reikerstorfer, Über die „Klage“ in der Christologie 272. J. Reikerstorfer, Über die „Klage“ in der Christologie 272.

7. DIE LIEBE UND DIE GESCHLOSSENHEIT DER ZEIT

223

Motive in ihrem inneren Zusammenhang darstellen, sondern auch den Anderen und die mit ihm verbundene Zeitstruktur stärker in das Zentrum rücken und uns damit eine „Zeitwirklichkeit, welche sich in der Begegnung mit dem Anderen ergibt“25, vor Augen und – darauf müsste man bei Hegels spekulativen Schriften wie bei sonst keiner Philosophie des Abendlandes insistieren – vor Ohren führen.

25

N. Capozza, Im Namen der Treue zur Erde 343.

VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN IN HEGELS SPEKULATIVER PHILOSOPHIE

1. Vorbemerkung Wir können in diesem Kapitel weder eine detaillierte Interpretation der beiden spekulativen Hauptwerke Hegels geben, noch ist es unsere Intention, den hegelschen Zeitbegriff einer umfassenden Analyse (unter Einschluss der Naturphilosophie) zu unterziehen1. Es wurde von uns bereits am Ausgang des Schelling-Kapitels angedeutet, dass der spekulative Satz die Darstellung der Zeit ist, worauf in jüngster Zeit W. Grießer in einer sehr umfangreichen und textnahen Auseinandersetzung mit zahlreichen hegelschen Texten unter Einschluss der Jenenser naturphilosophischen Schriften hingewiesen hat. Der Zeitbegriff in der Naturphilosophie bleibt demgegenüber abstrakt, was sich nicht zuletzt daraus erklärt, dass Hegel die Zeit am Eingang seiner Realphilosophie explizit thematisiert. Dass sie im Hintergrund aller anderen Bestimmungen bleiben wird und sich in diesen konkretisiert, deutet sich aber auch in der Naturphilosophie an, wenn Hegel sie als „sich auf sich beziehende Negation“2 bezeichnet und sogar explizit schreibt, dass die Zeit „dasselbe Prinzip als das Ich = Ich des reinen Selbstbewusstseins“3 ist. Konkretisieren lässt sich dieser Zusammenhang erst am Ausgang der PhdG.

Vielmehr wollen wir Hegel als Station zu unserem Versuch einer Theologie der Zeit befragen und dabei mit einigen Gedankengängen in Dialog treten, die für diese Absicht besondere Bedeutung haben. Zu diesem Zweck wollen wir nach einer Darstellung der hegelschen Methode als „Revolution der Denkungsart“ einen Durchgang durch die beiden spekulativen Hauptwerke, nämlich die PhdG und die WdL, wagen. Dabei soll an dieser Stelle etwas über die Schwierigkeit der Darstellung der hegelschen Philosophie angemerkt werden: Diese ist weder eine Prinzipienphilosophie, bei der aus einem gegebenen Prinzip etwas deduziert werden könnte, noch denkt sie im Subjekt-Prädikat-Schema und damit im Urteil, sondern sie hat die Form des spekulativen Satzes. In ihm sind Subjekt und Prädikat umfanggleich. Daher fallen Anfang und Ende, Verinnerlichung und Entäußerung etc. zusammen, und es konstituiert sich jede Bedeutung erst in ihrem 1 2 3

Vgl. W. Grießer, Geist zu seiner Zeit; siehe dazu auch die Rezension des Autors dieser Arbeit, erschienen in: Hegel-Studien 41 (2006), hg. von W. Jaeschke und L. Siep, 208-211. G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften §257, IX 48. G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften §258, IX 49.

2. DIE ZWEITE REVOLUTION DER DENKUNGSART

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Verweisungszusammenhang. Daraus ergibt sich allerdings das Problem, dass eine solche Gleichzeitigkeit nicht optisch darstellbar ist. Hegels Philosophie muss, wenn sie interpretiert werden soll, genauso von vorne nach hinten wie von hinten nach vorne gelesen werden. Eigentlich ist sie eine Philosophie, die sich nicht primär einer stillen Lesung, sondern erst dem Hören und Sprechen zugänglich macht, da auf diese Weise ein Festhalten fixierter Bedeutungen nicht in dem Ausmaße erfolgen kann. Damit ist sie eine der wenigen Philosophien unserer Tradition, die dem Primat des Auges – wie es erstmals wohl in der griechischen Philosophie zum Ausdruck kommt und heute stärker denn je unser Leben dominiert – den Primat des „Hörens“ entgegensetzt, welcher uns in der biblischen Tradition des „Höre Israel“ begegnet. Wir können dieser Schwierigkeit nur durch ein Nacheinander an Erläuterungen begegnen, wobei vieles antizipiert werden muss, das erst am Ende dieses Kapitels deutlicher hervortreten kann.

2. Die zweite Revolution der Denkungsart der spekulative Satz und der Primat der Zeit gegenüber dem Raum Eine der Hauptschwierigkeiten in der Auseinandersetzung mit dem hegelschen Denken ist die Wissensauffassung unseres Zeitalters, die dazu führt, dass wir in fixierten und positivierten Gedankenbestimmungen denken und eine spekulative Erfassung des Seins verfehlen. Die Welt soll mittels des Urteils bestimmt werden. Basis dabei ist das fixierte Subjekt, an das ebenso fixierte Prädikate angeheftet werden, wobei das Sein die äußerliche Zusammenfügung der beiden für sich bestehenden Sphären darstellt. Auf diese Weise ist es, wie Kant innerhalb dieser Denkbahnen in seiner Kritik des ontologischen Gottesbeweises völlig zu Recht festhält, kein reales Prädikat und fügt dem Begriff weder etwas hinzu noch nimmt es ihm etwas weg. Demgegenüber denkt Hegel bereits in seinen Jugendschriften das Sein nicht als Inbegriff der Prädikate – welches so zum transzendentalen Ideal wird, wobei der kantische Fortschritt gegenüber der Metaphysik und damit der erste wirkliche Schritt zur Freiheit dadurch gegeben ist, dass diesem transzendentalen Ideal im Gegensatz zur spinozistischen Substanz keine Existenz korrespondiert –, sondern als Weltumgang des Menschen, der zugleich der Gang Gottes zum Menschen ist. Wir wollen uns das Beispiel der Aussage „Er/Sie hat blaue Augen“ in Erinnerung rufen: Wenn dieser Satz mehr ist als eine Identifizierung, vielleicht gar eine Identifizierung zur Überwältigung und Abgrenzung, zeigt sich das Phänomen, dass in der Aussprache des Satzes die Farbe „blau“ nicht mehr die Bedeutung hat, die ihr bislang

226

VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

zugekommen ist, sondern untrennbar mit dem Antlitz des angesprochenen Menschen verschmilzt. In Liebe gesprochen wird sich dies dahin erweitern, dass die Substanz der Farbe blau im Antlitz des geliebten Menschen und seiner Geschichte zum Ausdruck kommt wie umgekehrt die gesamte Geschichte, die ich mit diesem Menschen begonnen habe, in dieser Farbe enthalten ist und sie durchdrungen hat4. Es liegt darin kein Urteil mehr und keine Identifikation, es ist uns damit auch jede Möglichkeit genommen, das „blau“ oder auch die „Augen“ als meine Zuschreibung anzugeben, vielmehr erwächst sie aus einem geistigen Geschehen, welches Vor-Gabe der Geschichte ist, aus der heraus dieser Satz, wenn er in Liebe gesprochen ist, erwächst. Damit rühren wir an den spekulativen Satz (ohne ihn hier schon in seiner grundlegensten Form aussprechen zu können), weil in unserem Beispiel Subjekt und Prädikat umfanggleich sind und das Sein keine endliche Bestimmung zur Identifikation darstellt, sondern die geistige Bewegung des Geschehens.

Das Sein ist damit erstens keine Ansammlung von endlichen Bestimmungen wie in den empiristischen Philosophien, zweitens nicht das All der Prädikate im Sinne der traditionellen Metaphysik und drittens nicht das Korrelat der Synthesis des Urteils, dem es grundsätzlich äußerlich und unerreichbar bliebe. Vielmehr ist das Sein absolute Negativität, d.h. Bewegung des menschlichen Geistes als (vorgängige) Selbstbewegung eines geistigen Geschehens als dessen Vor-Gabe. Hegel versucht diese Selbstbewegung mittels der „spekulativen (d.h. dialektischen) Methode“ darzustellen. Wichtig ist, dass es die Entwicklung dieser Methode ist, durch die sich die Hauptwerke von den Jugendschriften abheben5, womit sie die in ihnen bereits enthaltene Dialektik, die wir am Liebes- und Lebensbegriff ebenso wie an der Kategorie des Schicksals erkennen können, systematisch ausarbeiten. Betrachtet man den Entwicklungsgang der Dialektik in ihrer geschichtlichen Genese, kann zunächst der Bogen von Kant über Fichte und Schelling zu Hegel gespannt werden. Während der Empirismus die Reflexion als Eigenschaft des Menschen betrachtet und deshalb als Vermögen unter anderen ansetzt und die traditionelle Metaphysik die Reflexion in der Monade (oder als Attribut der Substanz) vergegenständlicht, geht Kant in seiner „ersten Revolution der Denkungsart“ einen anderen Weg: Er konzipiert nicht mehr ein in sich fixiertes Sein, sondern spricht vom „Ich denke“ als der Urteilshandlung. Anders gesagt: Das „Ich denke“ ist bei Kant die gegenstandserstellende (und sich zeitigende) Reflexionstätigkeit, die Fichte zum Ausgangspunkt seiner Philosophie nimmt, was sich prägnant in dem Satz zum Ausdruck bringt: „Das Ich setzt sich selbst“ (wobei allerdings im Unterschied zu Kant dieses Sich-Selbst-Setzen als zeitloser Akt des absoluten Ich eingeführt und damit die Trennung der Anschauungsformen zurückgenommen wird). Allerdings finden wir bei Fichte eine Darstellung des absolu4

5

Auf großartige Weise zeigt uns Wolfram von Eschenbach dies im Parzifal: Dieser erblickt im Schnee Blutstropfen, deren Farbe ihn an seine geliebte Frau Condwiramur erinnern und ihn völlig der (kriegerischen) Realität entheben. Vgl. Wolfram von Eschenbach, Parzifal 282ff. Für eine Darstellung der Entwicklung des hegelschen Denkens vgl. K. Düsing, Das Problem der Subjektivität in G.W.F. Hegels Logik.

2. DIE ZWEITE REVOLUTION DER DENKUNGSART

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ten Ich, die nahelegt, dass dieses etwas vor seiner Tätigkeit wäre. Der frühe Schelling legt den Akzent darauf, dass das Ich, indem es die Subjekt-Objekt-Differenz setzt, Werden des Objekts ist. Darin ist bereits die Form des Ich=Ich als Weltbegegnung dargelegt, also die Dialektik des absoluten Ichs, welches sowohl absolutes Subjekt als auch absolutes Objekt ist. Dieses bildet gemeinsam mit der griechischen Dialektik und der kantischen Antinomienlehre den philosophiegeschichtlichen Ausgangspunkt der Ausarbeitung der hegelschen Dialektik. Allerdings muss hinzugefügt werden, dass weder der späte Schelling noch Hegel (noch der späte Fichte) diese Form des Ich=Ich im Sinne der von Heidegger zu Recht kritisierten Form einer narzisstischen Introspektion eines absoluten Ichs verstehen (und deshalb Hegel gerade kein Vertreter einer Metaphysik des Subjekts ist, wie Heidegger meint) und somit das aus ihr hervortretende Diktum des „Im-Anderen-bei-sich-Sein“ nicht die Vertilgung der Andersheit bedeutet. Bei Hegel bringt sich dies so zum Ausdruck, dass die Reflexions- oder Wesenslogik (die die Reflexion des absoluten Ichs darstellt) lediglich den zweiten Teil der WdL bildet. Allerdings bleibt das Reflexionsmoment des Ich=Ich als Moment bestehen, wird sich aber gerade begriffslogisch gesehen als der den Anderen anerkennende Weltumgang ausdeuten. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass Hegel in seinen spekulativen Schriften als radikaler Antifichteaner auftritt. Dies zeigt sich sowohl in seiner Fassung des Ich=Ich, die in der Darstellung des spekulativen Satzes Fichte weiterführt, insofern sich bei Hegel das absolute Ich aufhebt (deshalb kann Gott bei Hegel nicht als Subjektivität des Subjekts gefasst werden, s.u.) als auch in seiner radikalen Kritik aller Geltungsansprüche. Umso paradoxer mutet es an, dass heute Hegel von vielen, die seinem Denken zu folgen meinen, reflexionslogisch (wesenslogisch) als Denker eines absoluten Systems interpretiert wird.

Hegel spricht am Eingang der Vorrede der PhdG (im 17. Absatz, PhdG III 21f., nach einer kurzen Reflexion über die Dignität von Vorreden überhaupt), die ursprünglich als Vorrede des ganzen Systems konzipiert war, folgenden Satz, der das Leitmotiv seines Systems – das sich an seinem höchsten Punkt in gleicher Weise als Nicht-System erweisen wird –, einer Fuge gleich, angibt: Es kommt nach meiner Einsicht, welche sich nur durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muss, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.

Eine erste Erläuterung, die zugleich angibt, wogegen sich dieser Satz abhebt, schließt Hegel noch im selben Absatz an: Wenn Gott als die eine Substanz zu fassen das Zeitalter empörte, worin diese Bestimmung ausgesprochen wurde, so lag teils der Grund hiervon in dem Instinkte, dass darin das Selbstbewusstsein nur untergegangen, nicht erhalten ist, teils aber ist das Gegenteil, welches das Denken als Denken festhält, die Allgemeinheit als solche, dieselbe Einfachheit oder ununterschiedene, unbewegte Substanzialität; und wenn drittens das Denken das Sein der Substanz mit sich vereint und die Unmittelbarkeit oder das Anschauen als Denken erfasst, so kommt es noch darauf an, ob dieses intellektuelle Anschauen nicht wieder in die

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

träge Einfachheit zurückfällt und die Wirklichkeit selbst auf eine unwirkliche Weise darstellt.6

Hegel spricht hier das spinozistische Resultat der klassischen Metaphysik aus, dem sich auch Leibniz nicht entziehen konnte: Das endliche Sein verschwindet undialektisch in der unendlichen Substanz, in Gott. Die Allmacht und Allwissenheit Gottes wird darin so gefasst, dass Gott die Totalität des Seins („absolute Position“, da Gott in dieser Vorstellung ein fixierter Gegenstand ist) ist, welches in ihm durchgängig bestimmt ist, sodass es – bildlich gesprochen – vor ihm gleich einem vorherbestimmten Videofilm abläuft. Anders gesagt: Im Angesicht des metaphysischen Gottes kann sich das menschliche Selbstbewusstsein nicht einen Augenblick als freies erhalten, sondern lediglich im Nunc stans der göttlichen Ewigkeit untergehen (wobei allerdings in diesem Nicht-sich-selbst-Erhalten-Können ein wahres Moment liegt). Auf der Ebene Spinozas befindet sich nach Meinung Hegels auch Fichte: Sein absolutes Ich ist „ununterschiedene, unbewegte Substanzialität“, die das Andere nicht frei aus sich zu entlassen vermag, und der daraus resultierende Gottesbegriff führt zur Vorstellung Gottes als Subjektivität des Subjekts. Diesem transzendentalen Spinozismus begegnen wir auch in Schellings „intellektueller Anschauung“, die die Wirklichkeit in eine substanzielle Einheit, in die alle Differenzen zurückgehen, „einsargen“ wird. Demgegenüber kommt es für Hegel darauf an, die Substanz ebensosehr als Subjekt zu fassen, was den ganzen Inhalt der dialektischen Methode als der zweiten Revolution der Denkungsart ausmacht. Die auf diese Weise angezeigte Substanz, das Absolute, das „anundfürsich bei uns sein will“ (PhdG 69), teilt sich von sich her mit und ist damit Subjekt, ohne allerdings ihren Charakter als Substanz zu verlieren. Denn dieses SichOffenbaren des Seins ist nur dann begriffen, wenn erkannt wird, dass die Substanz, gerade insofern sie Subjekt ist, erst ihren wirklich substanziellen Gehalt ausspricht. Auf diese Weise wird sie sich als die Einheit von Vergegenständlichung (der/das Andere als unaufhebbare Differenz) und Entgegenständlichung (der/das Andere, der, wie wir bereits im Zusammenhang des kantischen Paralogismus erahnen konnten, niemals als Gegenstand aufgefasst werden kann), als das Nichtverfügbare, als freier Begriff, als die Einsicht, dass das Sein in seiner geistigen Dimension Denken IST oder auch als das Moment des Anderen des berühmten hegelschen Diktums des „Im-Anderen-bei-sichSeins“ zeigen. Liebrucks weist völlig richtig in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die gesamte hegelsche Philosophie letztlich nichts anderes zur Darstellung bringen will als den christlichen – konkret: christlich eucharistischen – Gedanken der „Transsubstanziation der Substanz in das Subjekt“, der philosophisch, wie wir noch sehen werden, der Gedanke der „Transsubstanziation des Subjekts des Satzes in das Prädikat“7 ist. 6 7

G.W.F. Hegel, PhdG, III 23. B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, V 362.

2. DIE ZWEITE REVOLUTION DER DENKUNGSART

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In diesem Zusammenhang kann darauf hingewiesen werden, dass Hegels Denken eine massive Kritik der formalen Logik beinhaltet. Diese ist geprägt von der „Positivität“, d.h. dem Gedanken der durchgängigen Bestimmbarkeit des Seins, welchen Kant zwar als Schein zurückgewiesen hat, gleichzeitig aber als regulatives Prinzip bestehen ließ. Hegel kritisiert nun die formale Logik nicht äußerlich, sondern nimmt sie in ihren Konsequenzen radikal ernst. Ihr Grundsatz ist der Satz der Identität: A=A. Dieser Satz wird in einem Urteil ausgesprochen, wobei mit der in ihm angezeigten Identität insofern nicht ernst gemacht wird, als dieses Ur-Teil sich in ein Subjekt und ein Prädikat dirimiert, welches sich ungleich ist und in einem räumlichen Über- und Unterordnungsverhältnis angesiedelt wird. Entweder wird das Schwarz als eine Eigenschaft des Tisches neben anderen gesetzt – in dieser Betrachtung ist der „Tisch“ umfangreicher und das Schwarz ein Teil von ihm –, oder das Schwarz des Tisches wird isoliert vom Tisch betrachtet und gilt als Fall von dieser Farbe, die über den Tisch hinausgeht – in diesem Fall ist es umgekehrt. Beide Fälle haben aber gemein, dass sie das zu Bestimmende und das Bestimmte in ein räumliches Außereinander aufspalten.

Die formalen Logiker behaupten nun, dass wir, wenn Subjekt und Prädikat nicht gegeneinander abgegrenzt sind, nur Tautologien produzierten. Allerdings übersehen sie dabei, dass sie immer schon die Dinge in ihrer Positivität festgehalten haben und die endlichen Dinge zum Maßstab des Denkens nehmen. Demgegenüber aber ist zu zeigen, dass Geistvolles nicht in solch räumlich prädizierender Weise ausgesprochen werden kann und der spekulative Satz nur dann eine Tautologie wäre, wenn die Kopula unbewegt ein verendlichtes Subjekt und ein verendlichtes Prädikat äußerlich zusammenschlösse. Eine Tautologie wäre etwa der „Satz“ Tisch=Tisch, wo ich zwei fixierte endliche Entitäten festhalte und in dieser absoluten Erstarrung eigentlich auch zum Verschwinden bringe, da sie nichts mehr bedeuten. Das berühmte Ich=Ich bringt demgegenüber zum Ausdruck, dass die Kopula spekulativ gesehen immer schon als bewegt gedacht werden muss. Das Lebendige, das Geistige ist nur als Bewegtes identisch mit sich. Wesenslogisch ausgedrückt: Die Identität ist nur als Identität von Identität und Unterschied identisch mit sich.

Die einzige Art und Weise, wirkliche Identität auszusprechen, die doch dort verlangt wird, wo es z.B. um den Bereich des Selbstbewusstseins, des Lebendigen oder gar des Göttlichen geht, ist der spekulative Satz, der die absolute Identität von Subjekt und Prädikat IST. Hegel bringt dies in seiner Vorrede, und zwar im Absatz 60, folgendermaßen zum Ausdruck: [...] so ist dagegen in seinem positiven Erkennen das Selbst ein vorgestelltes Subjekt, worauf sich der Inhalt als Akzidens und Prädikat bezieht. Dies Subjekt macht die Basis aus, an die er geknüpft wird und auf der die Bewegung hin und her läuft. Anders verhält es sich im begreifenden Denken. Indem der Begriff das eigene Selbst des Gegenstandes ist, das sich als sein Werden darstellt, ist es nicht

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

ein ruhendes Subjekt, das unbewegt die Akzidentien trägt, sondern der sich bewegende und seine Bestimmungen in sich zurücknehmende Begriff. In dieser Bewegung geht jenes ruhende Subjekt selbst zu Grunde; es geht in die Unterschiede und den Inhalt ein und macht vielmehr die Bestimmtheit, d.h. den unterschiedenen Inhalt wie die Bewegung desselben aus, statt ihr gegenüber stehenzubleiben. Der feste Boden, den das Räsonieren an dem ruhenden Subjekte hat, schwankt also, und nur diese Bewegung selbst wird der Gegenstand. Das Subjekt, das seinen Inhalt erfüllt, hört auf, über diesen hinauszugehen, und kann nicht noch andere Prädikate oder Akzidentien haben. Die Zerstreutheit des Inhalts ist umgekehrt unter das Selbst gebunden; er ist nicht das Allgemeine, das frei vom Subjekte mehreren zukäme. Der Inhalt ist in der Tat nicht mehr Prädikat des Subjekts, sondern ist die Substanz, ist das Wesen und der Begriff dessen, wovon die Rede ist. [...]8

Diese absolute Identität (als Aufhebung der formalen Logik) endet nur dann nicht in einer Tautologie, wenn sich das Subjekt von sich aus in das Prädikat zu bewegen vermag. Wir haben es also nicht mit einem abgegrenzten Ding zu tun, welches wir in mehr oder minder differenzierter Aufzählung bestimmen könnten, sondern mit einem geistvollen, lebendigen, sich ins Prädikat bewegenden Subjekt oder in anderer Terminologie gesagt: Mit einer Monade, deren Wesen es ist, sich zu äußern. Der Satz, dass die Substanz ebensosehr als Subjekt ausgesprochen werden muss, bringt genau dies zum Ausdruck: Die Substanz IST Subjekt, insofern sich das Satzsubjekt nicht als endliche Bestimmtheit fixieren lässt, sondern im Prädikat untergeht, sich in dieses bewegt. Auf diese Weise ist das Satzsubjekt nicht inhaltsreicher oder auch inhaltsärmer als das Prädikat, sondern geht in diesem unter, um als neuer Inhalt wieder hervorzutreten. Wir sehen hier, dass räumliche Über- und Unterordnungen in der Dialektik sinnlos sind; sie stellt vielmehr auf radikale Weise den von Kant und Heidegger erkannten Primat der Zeit dar, die an ihr selbst, insofern nicht festhaltbar, dialektisch IST. Wir können das hier Gemeinte auch folgendermaßen verdeutlichen: Der Mensch als Ausdruck des Geistes kann nicht durch ein Subjekt-PrädikatSchema bestimmt werden wie das Ding, was wir bereits anhand der Darstellung der leibnizschen Monadenlehre gesehen haben. Niemals ist der Andere nämlich eine Ansammlung von endlichen Bestimmtheiten (Qualitäten), die vermehrt oder vermindert werden könnten. Philosophisch werde ich daher nicht sagen können, dieser Mensch da hat braune Augen, womit ich ihn, wenn dieses Urteil für sich, also isoliert von seiner geistigen Bestimmung gesprochen wird, als bloßes Ding genommen hätte. Hier kann an den spekulativen Satzes Kants erinnert werden, dass dieser Mensch da sowohl in seiner Person als in der Person eines jeden anderen Menschen niemals nur Mittel, sondern Zweck an sich ist. Mit dieser Aussage ist das Subjekt „Mensch“ und das Prädikat „Zweck“ inhaltsgleich und doch sind beide nicht tautologisch. Dass der Mensch Endzweck ist, drückt nämlich seine ganze Bestimmung aus; dass um8

G.W.F. Hegel, PhdG, III 57-59.

2. DIE ZWEITE REVOLUTION DER DENKUNGSART

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gekehrt der Zweck nicht als Zweck einer Sache gefasst werden darf (etwa im heutigen Sinne, wo der Begriff Zweck mit dem Begriff Geld zur Deckung gebracht werden soll), sondern im vollen Sinne von Zweck nur im Zusammenhang mit dem Menschen – und zwar insofern er nicht einfach endliche Entität, sondern Ebenbild Gottes ist – die Rede sein kann, wird ebenfalls in der spekulativen Identität zum Ausdruck gebracht. D.h., dass im Aussprechen dieses spekulativen Satzes nun auch die Bedeutung „Zweck“ nicht mehr von der Bedeutung „Mensch“ abzutrennen ist, sondern diese in sich aufgenommen hat. Was nun das oben angezeigte Beispiel der „braunen Augen“ betrifft, so bekommt dieses, eingebettet in den spekulativen Satz, einen anderen als vergegenständlichenden Sinn: „Weil Du Zweck und als solcher Kind Gottes bist, ist es gut, dass Du braune Augen hast und deshalb sind die braunen Augen nicht die Augen eines Dinges, sondern eines Kindes Gottes.“ Oder mehr im Sinne Hegels formuliert: „Erst im Anblick Deiner Augen weiß ich, was die Farbe braun (in all ihrer Schönheit) zu bedeuten vermag“. Ein besseres Beispiel für den spekulativen Satz wäre der Satz „Gott ist das Sein“, auf den Hegel in der Vorrede hinweist, oder die Sätze „Gott ist die Liebe“, „Jesus Christus ist wahrer Gott“ und „Gott ist der Hl. Geist“. In keinem dieser Sätze sind Tautologien gemeint, was ja im zweiten und dritten Fall eine ausgesprochene Häresie in Bezug auf das christliche Glaubensbekenntnis darstellte. Andererseits können diese Sätze nicht nach dem Muster endlicher, d.h. in Subjekt und Prädikat zerfallender Aussagesätze gefasst werden, denn es wäre, wie nicht nur E. Jüngel ganz richtig schreibt9, z.B. eine ausgesprochene Absurdität, wenn die Liebe ein endliches Prädikat Gottes wäre. Das Gleiche gilt, wenn man Jesu Gottsein als eine Eigenschaft neben andere setzte. Vielmehr IST Gott die Liebe und nicht ein deus absconditus jenseits ihrer, wie umgekehrt die Liebe nur Liebe ist, insofern sie (zugleich) die Liebe Gottes ist. Analoges behaupten wir auch für die Zeit, die nur als Zeit Gottes Heilsbedeutung für den Menschen haben kann, was umgekehrt bedeutet, dass Gott in seiner Inkarnation sich als die eigentliche Fülle der Zeit, d.h. als Zeit geoffenbart hat. Einen weiteren wichtigen Hinweis in Bezug auf den spekulativen Satz gibt B. Liebrucks, der ihn als Satz der Sprache bezeichnet (wobei hier unter „Sprache“ nicht ausschließlich die gesprochene Sprache gemeint ist, wenngleich sie die Sprache auf hervorragende Weise repräsentiert), was er unter anderem damit illustriert, dass in ihr das Subjekt des Satzes untergehen muss, um im Prädikat einen (neuen) Sinn zu generieren. Dabei kann auch darauf verwiesen werden, dass die Sprache niemals fixierbares Objekt, sondern die sich gebende Substanz ist. Damit ist sie, wie sowohl der Mythos als auch die Bibel wissen, göttlichen Ursprungs, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass noch nie ein Mensch sprechen gelernt hat, ohne angesprochen worden zu sein. In diesem Sinne ist die Sprache dem Menschen immer schon voraus, allerdings nicht als ein

9

Vgl. E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt.

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

räumlich abtrennbares Jenseits, da sie sich völlig im sprechenden Menschen inkarniert und nicht außerhalb des Menschen existiert.

Der von Hegel als Exposition und Grundthema seiner ganzen Philosophie, die als ein einziger spekulativer Satz zu begreifen ist, angegebene (spekulative) Satz muss daher so ausgedrückt werden: Die Substanz IST Subjekt, insofern das Subjekt Substanz IST. Beides zusammen ist der Geist. Von einer anderen Perspektive aus kann man sagen, dass der spekulative Satz auch der Satz der Offenbarung ist, denn die seinem Leitmotiv korrespondierende theologische Grundaussage Hegels ist, dass es der Begriff Gottes ist, sich zu inkarnieren und dass der in der Inkarnation sich offenbarende Gott „nicht neidisch“ ist. D.h. aber auch, dass durch diese Inkarnation die Substanz Subjekt ist und das Subjekt selber erst als wirklich substanzhaft zu begreifen sein wird. Eine Abkürzung des spekulativen Satzes ist die von Fichte entnommene Formulierung Ich=Ich, die aber nicht im Sinne einer Introspektion eines absoluten Ichs verstanden werden darf. Vielmehr drückt diese Version des Leitsatzes aus, dass der Mensch – wie Liebrucks in Anlehnung an Humboldt sagt – in der Fremde (Substanz) innigste Verwandtschaft erfährt, d.h. die Welt als begeistet erlebt. In dieser Ausdrucksweise ist das von Hegel in den Jugendschriften angezeigte sympathetische Weltbild enthalten, wobei allerdings Hegel die Entfremdungsschritte, ohne die dieser Satz nicht zu denken ist, in ihrem vollen Gehalt erst in seinen spekulativen Schriften berücksichtigen wird. Nach diesen ersten Anmerkungen zum spekulativen Satz stellt sich nun die Frage nach der hier angesetzten immanenten Bewegung des Seins. Denn wenn die erste Revolution der Denkungsart von Kant gegenüber der Metaphysik darin liegt, dass das Sein nicht gegenständliche Totalität (absolute Position), sondern Erscheinung ist und darin als sich zeitigende Freiheit gelesen werden muss, liegt die zweite Revolution der Denkungsart vorausgreifend gesagt darin, die Erscheinung als Erscheinung aufzuzeigen, d.h. das Sein in seiner Unverfügbarkeit als Negativität zu denken. Im Gefolge des bisher Ausgeführten ist dies dahingehend zu interpretieren, dass die Welt als Bewusst-Sein zu verstehen ist, und damit mit der Vorstellung einer behandelbaren, in sich toten Welt Schluss gemacht werden muss. Zum Ausdruck bringt dies die im spekulativen Satz enthaltene dialektische Methode. Diese ist nicht eine mechanische Methode formallogischer Art, sondern, wie wir an den hegelschen Jugendschriften angedeutet haben, die Zeit als Strich des Bewusst-Seins, d.h. der menschliche Weltumgang, der der Gang Gottes zum Menschen ist. Das Proprium Hegels ist dabei, dass er diesen Gang in seiner jede Positivität auflösenden immanenten Negativität zu begreifen versucht. Diese ergibt sich daraus, dass jede (Selbst)Bewegung, wie bereits Zenon in seinen Aporien gezeigt hat, als Widerspruch und damit als Negation zu begreifen ist. Diese Negation gilt es daher in einem ersten Durchgang zu betrachten.

3. DIE BESTIMMTE NEGATION UND DIE FORM DES SCHLUSSES

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3. Die bestimmte Negation und die Form des Schlusses Hegel schreibt in Absatz 18 der Vorrede Folgendes: Die lebendige Substanz ist ferner das Sein, welches in Wahrheit Subjekt oder, was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des Sichselbstsetzens oder die Vermittlung des Sichanderswerden mit sich selbst ist. Sie ist als Subjekt die reine einfache Negativität, eben dadurch die Entzweiung des Einfachen; oder die entgegengesetzte Verdopplung, welche wieder die Negation dieser gleichgültigen Verschiedenheit und ihres Gegensatzes ist: nur diese sich wiederherstellende Gleichheit oder Reflexion im Anderssein in sich selbst – nicht eine ursprüngliche Einheit als solche oder unmittelbare als solche – ist das Wahre. Es ist das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfange hat und nur durch die Ausführung und sein Ende wirklich ist.10

In gewissem Sinne kann jeder Absatz Hegels als Partitur gelesen werden, wo der jeweils erste Satz die Thematik vorgibt. Hier macht Hegel darauf aufmerksam, dass die Substanz als Subjekt „Bewegung des Sichselbstsetzens“ bzw. „Vermittlung des Sichanderswerdens“ ist. Wir stoßen darin bereits auf die radikale Ablehnung jeder Prinzipienphilosophie, was sich nicht zuletzt in seiner Ablehnung einer „ursprünglichen Einheit“ zum Ausdruck bringt. Wir können ganz im Sinne der kantischen Antinomien keinen positivierten Anfang angeben. Weiters kann die Dialektik nicht von einem in sich ruhenden Prinzip deduziert werden. Ein solches verunmöglichte nicht nur Freiheit, sondern wäre auch ein Rückfall in vorkantische Metaphysik. Dabei ist Hegel der Auffassung, dass der kantische Versuch, ein solches „Prinzip“ als Selbstgesetzgebung der Vernunft praktisch zu bestimmen, noch zu kurz greift, da dies in die Aporie eines unerreichbaren Sollens führt, wenngleich wir sehen werden, dass die praktische Bestimmung der Methode (d.h. Vernunft) trotzdem ein entscheidendes Moment auf den Weg zur absoluten Idee bleiben wird. Hegel setzt zunächst bei der Bewegung des Bewusst-Seins als solcher an, was uns zur bestimmten Negation als Motor des hegelschen Systems führt. Während die Sinnlichkeit in falsch verstandener „Zärtlichkeit für die Dinge“ diese zu fixieren trachtet, ist die Substanz als Subjekt die Negativität des BewusstSeins, die im Sinne Spinozas weiß, dass jede Bestimmung Negation ist. Allerdings denkt Hegel im Unterschied zu Spinoza die Negation nicht als die Einschränkung eines absoluten Seins (absolute Position), d.h. als Negation in Bezug auf ein fixiertes Substrat, welches sich gegen diese erhalten könnte, sondern er denkt die Negation als Negation, d.h. als absolute Negativität und reine Selbstbewegung. Man könnte hier statt von der Negativität des Bewusst-Seins auch von der Negativität des Denkens sprechen, wenn das Denken nicht als „Nur-Denken“ im Gegensatz zur 10

G.W.F. Hegel, PhdG, III 23.

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

Bewegung des Seins gesetzt wird. Denn eine Trennung von Denken und Sein setzte den Gegenstand als geistloses Material. Damit wäre die Endlichkeit des Gegenständlichen – dem Denken äußerlich – verunendlicht. Hegel zeigt aber sowohl in der PhdG, etwa im Kapitel „Kraft und Verstand“, als auch in der WdL (hier an zahlreichen Stellen, das erste Mal im Daseinskapitel), dass sich endliche Bestimmungen als solche nicht fixieren lassen.

An anderer Stelle (WdL V 49) schreibt Hegel, dass „das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstrakte Nichts auflöst, sondern wesentlich nur in die Negation seines besonderen Inhalts, oder dass eine solche Negation nicht alle Negation, sondern die Negation der bestimmten Sache, die sich auflöst, somit bestimmte Negation ist“. Das Lebendige ist in allen seinen Stufen und Ausprägungen Selbstbewegung und damit Negation. Diese ist sozusagen der Motor der hegelschen Dialektik, in der dieser aus der Hölle Dantes zu entrinnen sucht, die uns die Vision einer gefrorenen und statischen Welt vor Augen führt (die manche Theologen eigentümlicherweise gerne mit dem Paradies assoziieren), welche wir als Charakteristikum der Welt der Positivität zu begreifen versuchten. Leben, Denken, Bewegung, Sein IST Negation, konkret bestimmte Negation, die sich nicht in ein abstraktes Nichts verliert. Weiters ist die Negation nicht einfach als Negation von ihr vorausliegenden fixierten Entitäten zu denken, sondern sie ist die Negation des Negativen und damit Vermittlung mit sich, also absolute Negativität und als solche die absolute Methode. Der Ausdruck „absolute Methode“ suggeriert, dass Hegel an eine Formel, mit der die Welt „abgeleitet“ werden kann, denkt. Abgesehen davon allerdings, dass Hegel – wie bereits betont – keine Prinzipienphilosophie geben will, ist zu diesem Ausdruck zu sagen, dass er zunächst die Vereinigung von analytischer (Unmittelbarkeit des Begriffs) und synthetischer (Vermittlung des Begriffs) Methode, die beide innerhalb der Idee des Erkennens ausgeführt werden, bezeichnet (und damit die Einheit von Unmittelbarkeit und Vermittlung zum Ausdruck bringt), wenngleich natürlich auch Anlehnungen an das Johannesevangelium nicht ganz unbeabsichtigt sein dürften. Auf alle Fälle ist aber festzuhalten, dass die absolute Methode aus dem spekulativen Satz, in dem Substanz und Subjekt identisch sind, verstanden werden muss und damit auf den Weltumgang des Bewusst-Seins bezogen bleibt, was sich, wie wir gleich sehen werden, daran zeigt, dass jede logische Stufe eine genuine Dialektik zeigt und daher erst im Durchgang aller Stufen (und den ihnen korrespondierenden Inhalten) gesagt werden kann, was die dialektische Methode ist. Niemals könnte aus ihr das Heilsgeschehen abgeleitet werden, vielmehr ist sie die Entfaltung des in dieser Heilsgeschichte ergangenen „ursprünglichen Wortes“ (Wdl VI 550). Zeitlose logische Prinzipien gibt es nur in der formalen Logik. Hegel trennt nicht zwischen einer dialektischen negativen Philosophie und einer (im Sinne Schellings) positiven geschichtlichen, da beide, wie sich noch zeigen muss, bei ihm als eine Bewegung Gottes zu betrachten sind.

3. DIE BESTIMMTE NEGATION UND DIE FORM DES SCHLUSSES

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Hegel erläutert die dialektische Methode am Ende der WdL folgendermaßen: „Dies ist nun selbst der [...] Standpunkt, nach welchem ein allgemeines Erstes, an und für sich betrachtet, sich als das Andere seiner selbst zeigt. Ganz allgemein aufgefasst, kann diese Bestimmung so genommen werden, dass hierin das zuerst Unmittelbare hiermit als Vermitteltes, bezogen auf ein Anderes, oder dass das Allgemeine als ein Besonderes gesetzt ist.“ (WdL VI 561) Wir werden im Laufe unserer Charakterisierung der hegelschen Dialektik noch auf das Problem des Anfangs zurückkommen: Zunächst sei nur betont, dass bei Hegel keine Bestimmung positivierend festgehalten werden kann. Weiters können wir in diesem Zusammenhang auf einen wichtigen Gesichtspunkt der dialektischen Methode hinweisen. Diese zeigt ihr „wahres Gesicht“ erst in der begriffslogischen Dialektik, weshalb Hegel hier vom „Allgemeinen“ spricht, welches „als Besonderes gesetzt ist“. Dies impliziert, dass bei Hegel nicht zwischen einer Realdialektik und einer gedachten Dialektik bzw. zwischen Form und Inhalt unterschieden werden darf. Vielmehr erweist die dialektische Methode ihre Dignität an den Inhalten, die durch sie zum Ausdruck gebracht werden können. Generalisierend ausgedrückt manifestiert sich die dialektische Methode als die im eingangs zitierten spekulativen Satz (Die Substanz IST das Subjekt oder anders gesagt Ich IST Ich) enthaltene Bewegung in der Seinslogik (wo das „Ich IST Ich“ als Sein aufgefasst wird) als Übergehen (z.B. in der Dialektik von „Etwas“ und „Anderes“, bei der sich zeigt, dass das Etwas selber ein Anderes ist und daher in dieses übergeht), in der Wesenslogik (wo das „Ich IST Ich“ als die Bewegung von Nichts zu Nichts und damit als Wesen gefasst ist) als Scheinen (z.B. im Scheinen der Identität am Unterschied und des Unterschieds an der Identität, insofern die Identität nur als Identität von Identität und Unterschied identisch mit sich und der Unterschied an ihm selbst Unterschied ist, insofern er identisch mit sich ist; weitere Beispiele wären das gegenseitige Scheinen von Positivem und Negativem, Grund und Folge, Ganzem und Teil etc.) und in der Begriffslogik (wo das „Ich IST Ich“ als Begriff, d.h. als Einheit des Allgemeinen, welches sich besondert und in der Besonderung als Einzelnes identisch mit sich ist) als Kontinuieren des Allgemeinen in das Besondere und Einzelne (so ist dieser Mensch, wie Kants kategorischer Imperativ weiß, zugleich der Mensch in seiner Allgemeinheit, insofern sich der Mensch in wechselseitiger Anerkennung in die vielen Menschen besondert).

Wichtig wird also vor allem die Dialektik der Begriffslogik sein, in der nicht zuletzt die Intersubjektivität enthalten ist, wobei diese Stufe an dieser Stelle noch nicht in ihrem ganzen Gehalt zur Darstellung gebracht werden kann, weil dazu die anderen Stufen bereits dargestellt sein müssten. Für uns ist zunächst nur die Bedeutung festzuhalten, dass die Dialektik die Bewegung des spekulativen Satzes zum Ausdruck bringt und nicht nur jedes positive Fixieren und Anfangen verunmöglicht, sondern auch den (sich in die Unmittelbarkeit des Anfangs kontinuierenden) vermittelten Charakter des Seins darlegt. Hegel fährt in seiner Erläuterung der Dialektik fort:

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

Das Zweite, das hierdurch entstanden, ist somit das Negative des Ersten und, indem wir auf den weiteren Verlauf zum voraus Bedacht nehmen, das erste Negative. Das Unmittelbare ist nach dieser negativen Seite in dem Anderen untergegangen, aber das Andere ist wesentlich nicht das leere Negative, das Nichts, das als das gewöhnliche Resultat der Dialektik genommen wird, sondern es ist das Andere des Ersten, das Negative des Unmittelbaren; also ist es bestimmt als das Vermittelte, – enthält überhaupt die Bestimmung des Ersten in sich. Das Erste ist somit wesentlich auch im Anderen aufbewahrt und erhalten.11

Hegel trifft hier die wichtige Feststellung, dass die Negation nicht leer, sondern immer bestimmte Negation ist und gerade so das Negierte in sich enthält. Allerdings wird gleich darauf hinzuweisen sein, dass dieses Negierte seinerseits nicht als positives Unmittelbares genommen werden darf, womit sich die Dialektik gewissermaßen verkompliziert: Die zweite Bestimmung, die negative oder vermittelte, ist ferner zugleich die vermittelnde. Zunächst kann sie als die einfache Bestimmung genommen werden, aber ihrer Wahrheit nach ist sie eine Beziehung oder Verhältnis; denn sie ist das Negative, aber des Positiven, und schließt dasselbe in sich. Sie ist also das Andere nicht als von einem, wogegen sie gleichgültig ist – so wäre sie kein Anderes, noch eine Beziehung oder Verhältnis –, sondern das Andere an sich selbst, das Andere eines Anderen; darum schließt sie ihr eigenes Anderes in sich und ist somit als der Widerspruch die gesetzte Dialektik ihrer selbst.12

Der wichtigste Satz steht in diesem Absatz wiederum am Beginn, nämlich dass das Negative als Vermitteltes zugleich Vermittelndes ist. Hier ist nicht zuletzt zum Ausdruck gebracht, dass das Negative nicht als Positives gefasst werden darf, sondern die negative Vermittlung selber ist. Als solches ist sie „Verhältnis“ (und zwar nicht zwischen fixierten Bestimmungen, sondern absolutes Verhältnis des Wesens) oder wie Hegel auch seinslogisch formuliert, das „Andere an sich selbst“. Mit dieser vermittelnden Vermittlung ist natürlich auch schon an geistige Bestimmungen gedacht, was sich etwa an der Sprache konkretisieren lässt, die die Einheit von Vermitteltem (als durch das Sprechen Vermitteltes; unabhängig von den Sprechern existiert die Sprache nicht) und Vermittelndem (die Sprache ist die Vermittlung des Sprechens, welches sich niemals ohne Sprache vollzieht) ist. Selbstverständlich ist die Sprache mehr als die Lautsprache, was ja anhand der Gebärdensprache einsichtig ist. Insofern die Sprache Manifestation des Begriffs ist, ist auch die Natur sprachlich, wenn sich gemäß der WdL der Begriff Objektivität gibt. An diesen Bestimmungen deutet sich auch an, dass Liebrucks vollkommen Recht zu geben ist, Hegel den Sprachphilosophen schlechthin zu nennen, der die Sprache nicht äußerlich beschreibt, sondern sprachlich denkt und die Sprachlichkeit der Welt aufzeigt.

11 12

G.W.F. Hegel, WdL, VI 561. G.W.F. Hegel, WdL, VI 562.

3. DIE BESTIMMTE NEGATION UND DIE FORM DES SCHLUSSES

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Mit diesen Ausführungen ist die dialektische Methode noch nicht dargestellt. So fährt Hegel im 15. Abschnitt der absoluten Idee der WdL fort: Die betrachtete Negativität macht nun den Wendungspunkt der Bewegung des Begriffes aus. Sie ist der einfache Punkt der negativen Beziehung auf sich, der innerste Quell aller Tätigkeit, lebendiger und geistiger Selbstbewegung, die dialektische Seele, die alles Wahre an ihm selbst hat, durch die es allein Wahres ist; denn auf dieser Subjektivität allein ruht das Aufheben des Gegensatzes zwischen Begriff und Realität und die Einheit, welche die Wahrheit ist. – Das zweite Negative, das Negative des Negativen, zu dem wir gekommen, ist jenes Aufheben des Widerspruches, aber ist sowenig als der Widerspruch ein Tun einer äußerlichen Reflexion, sondern das innerste, objektivste Moment des Lebens und Geistes, wodurch ein Subjekt, Person, Freies ist.13

Zunächst kann gesagt werden, dass der Wendungspunkt der Dialektik in der sich auf sich beziehenden Negation gegeben ist. Das Geistige ist das Formierende und Tätige, damit Negative, welches in dieser formierenden Tätigkeit identisch mit sich ist. Konkreter spricht Hegel hier von der Subjektivität als Aufhebung des Gegensatzes von Begriff und Realität, womit bereits die Position, gemäß der ein formierendes Ich sich an einem inhaltlichen Substrat Identität gibt, hinterfragt ist. Dagegen ist hier die Idee als Einheit von subjektivem und objektivem Begriff ausgesprochen, was wir zunächst so fassen können, dass der Wendungspunkt sich darin konkretisiert, dass dem Geist die Welt als begeistete entgegentritt (Negativität, die sich auf sich bezieht) und sich in dieser Begegnung aller Inhalt manifestiert. Dabei ist des weiteren festzuhalten, dass hier ein Erkennen bezeichnet ist, welches ein Erkanntwerden durch den Anderen impliziert, womit sich jede positive Handhabe verflüchtigt. Gerade in diesem (An)Erkanntwerden durch den Anderen, das Hegel auch in die Kurzformel des „Ich, das Wir ist“ bringt, zeigt sich das höchste Moment der Dialektik. Aus dieser Anerkennungsbewegung entspringt nicht nur unser Subjektund Personsein, sondern es ist damit auch das objektivste Moment des Lebens und des Geistes angezeigt. Die Freiheit als objektives Geschehen entspringt nicht aus einer intelligiblen Wahl, die aus einem vorgegebenen Behälter von (fixierten, toten, ungeistigen) Möglichkeiten getroffen wird. Vielmehr ist sie Selbstbestimmung, die in einer Bewegung die Bestimmung eines allgemeinen geistigen Geschehens ist. Konkreter ist sie das bestimmende Bestimmtwerden im menschlichen Weltumgang, der der entsprechende Gang Gottes zum Menschen ist. In der Sprache als Vor-Gabe des Menschen spricht der Mensch als Angesprochener, Vernommener und (hoffentlich auch) Anerkannter. In der Liebe bestimmt sich der Mensch als („vorgängig“) bestimmt durch den Anderen und im tieferen Sinne als bestimmt durch Gott, der die Liebe ist. Kant hat als erster Denker begriffen, dass die Freiheit nicht aus der (der Mechanik angehörenden) Kausalität resultiert (Hegel wird zeigen, dass sie aufgehobenes Moment ist). Philosophisch sollte

13

G.W.F. Hegel, WdL VI 563f.

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

man allen geistigen Mördern (samt deren wirtschaftlichen und politischen Hintermännern), die den Menschen heute zur kausalen Maschine herabwürdigen, um ihn morgen (oder im Falle der verbrauchenden Embryonenforschung auch schon heute) wie eine Maschine zu behandeln, den deutschen Idealismus zur Pflichtlektüre machen!

Nur in der Intersubjektivität – die nicht ein Geschehen zwischen endlichen Subjekten ist, sondern aus einer (nicht chronologisch zu verstehenden) „vorgängigen“ Anerkennung resultiert – gibt es überhaupt Objektivität, die wir sowohl in der Gestalt der Singularität (hier im Sinne der Unverfügbarkeit zu verstehen) des Anderen als auch in der Gestalt des allgemein Gültigen erfahren dürfen. Hegel bringt im Verlauf des Absatzes die hier angezeigte Dialektik in ihrer Schlussform zum Ausdruck, wobei kurz erwähnt werden kann, dass das Schließen keine äußere Reflexion des Denkens ist, sondern die Konkretisierung des eingangs angezeigten spekulativen Satzes, da sich erst in der vermittelnden und sich teilenden Bewegung von der Substanz zum Subjekt, die auch die Bewegung vom Subjekt zur Substanz ist, eine Mitte ergibt, aus der beide in ihrer Verschränktheit hervortreten. Die Beziehung des Negativen auf sich selbst ist als die zweite Prämisse des ganzen Schlusses zu betrachten. Die erste kann man, wenn die Bestimmungen von analytisch und synthetisch in ihrem Gegensatze gebraucht werden, als das analytische Moment ansehen, indem das Unmittelbare sich darin unmittelbar zu seinem Anderen verhält und daher in dasselbe übergeht oder vielmehr übergegangen ist, – obgleich diese Beziehung, wie schon erinnert, eben deswegen auch synthetisch ist, weil es ihr Anderes ist, in welches sie übergeht. Die hier betrachtete zweite Prämisse kann als die synthetische bestimmt werden, weil sie die Beziehung des Unterschiedenen als solchen auf sein Unterschiedenes ist.14

Hegel zieht hier als erste Prämisse das analytische Moment (das Moment der Unmittelbarkeit15) der Methode heran, in der das Übergegangensein und Bezogensein auf ein Anderes noch als unmittelbares Geschehen ausgesprochen ist. Für die zweite Prämisse des Schlusses, die synthetische Methode (in der das Moment der Vermittlung in den Vordergrund rückt), prägt Hegel die schwierige Wendung „weil sie [die Methode] die Beziehung des Unterschiedenen als solchen auf sein Unterschiedenes ist“. Damit ist die oben bereits angezeigte Dialektik des Begriffs zum Ausdruck gebracht: „Die Beziehung des Unterschiedenen als solchen“, also „der einfache Punkt der negativen Beziehung auf sich“ ist die von uns im Laufe dieser Arbeit noch zu explizierende Identität des Allgemeinen (als Resultat der ersten Prämisse, die Hegel als den Übergang in die Allgemeinheit bestimmt, da das Allgemeine zunächst diese 14 15

G.W.F. Hegel, WdL, VI 563f. Hegel schreibt Folgendes über das analytische Erkennen: „Das Unterscheidende des analytischen Erkennens hat sich dahin bestimmt, dass ihm als der ersten Prämisse des ganzen Schlusses die Vermittlung noch nicht angehört, sondern dass es die unmittelbare [Hevorhebung K.A.], das Anderssein noch nicht enthaltene Mitteilung des Begriffs ist, worin die Tätigkeit sich ihrer Negativität entäußert.“ (WdL, VI 502)

3. DIE BESTIMMTE NEGATION UND DIE FORM DES SCHLUSSES

239

übergehende Bewegung ist), welche als das sich Kontinuieren des Geistigen oder auch als der „geistige Raum“ der Weltbegegnung betrachtet werden kann. Dieser zeigt sich auf herausragende Weise in der Sprache (die niemals rein menschliche Sprache ist, sondern bereits im Zeichen des uns ansprechenden Wortes steht) oder auch im „Moment der innigsten Verwandtschaft, welches wir in der Fremde erfahren dürfen“. Entscheidend ist der zweite Teilsatz, der die Beziehung des von uns angezeigten Unterschiedenen „auf sein Unterschiedenes“ thematisiert, wobei hier das Moment des Einzelnen angezeigt ist. Hier kann gesagt werden, dass sich das von uns oben angedeutete Allgemeine darin manifestiert, dass es sich besondert oder anders gesagt: Das Allgemeine als solches darf nie als quasi umfassende geistige Hülle positiviert werden, sondern ist in seinem Besondern mit sich identisch. Dies zeigt sich daran, dass weder eine Metasprache unabhängig von den sprechenden Personen noch ein „Ich, das Wir ist“ als einsames Ich existiert. Auch eine Freiheit, die sich nicht im Handeln bestimmt (um eine weitere Ausprägung des Allgemeinen zu nennen), bliebe abstrakt, ebenso – zumindest für Hegel – ein Gott, der sich nicht offenbart. Wirkliche Realität gibt sich der Geist in seiner Besonderung. Da hier aber die Rede von der Beziehung des Unterschiedenen auf sein Unterschiedenes ist, muss ferner und vor allem das Moment des Einzelnen zentral herausgehört werden. Dieses ist weder das Allgemeine für sich festgehalten, noch das Besondere in seiner Teilung, sondern das Einzelne als Beziehen des Allgemeinen, d.h. dessen Tätigkeit selber, in der das Allgemeine identisch mit sich ist. Oder figurativer gesprochen: Es ist die Tätigkeit des sich selbstbestimmenden Einzelnen, d.h. die Subjektivierung des Geistes, in der dieses Einzelne da gerade in seiner Singularität das Moment des Allgemeinen vollzieht. Konkret ist es die Anerkennung der nicht mehr vergegenständlichbaren und in ein abstrakt Allgemeines integrierbaren Differenz, in der die Substanz als Subjekt und damit die Welt als geistvoll erfahren wird. Dieses AnErkennen bekommt als die Erkenntnis Gottes (und daher nie endliches intersubjektives Geschehen; die strenge Einheit von Genitivus Subjectivus und Genetivus Objectivus ist auch in dieser Wendung wie in allen spekulativen Bestimmungen Hegels zu beachten), insofern ER Vor-Gabe und Er-Öffnung eines Anderen ist, substanzielle Bedeutung. Hegel deutet mit seiner Betonung des Moments des Einzelnen auch „die Idee des Guten“ an, in der die Tätigkeit des Geistes als praktische Vernunft und damit verbunden das Moment des Einzelnen, welches im (rein) theoretischen Erkennen nicht erschwinglich war, thematisiert wurde. Dabei schlug, wie wir hier antizipierend festhalten können, diese Idee des Guten in dem Augenblick in die absolute Idee um, als das handelnde Subjekt die Wirklichkeit als Wirklichkeit Gottes erkannte und darin mit dieser zusammenging. Mit diesen Hinweisen können wir die Explikation dieses Absatzes fertig ausführen: – Wie die erste das Moment der Allgemeinheit und der Mitteilung, so ist die zweite durch die Einzelheit bestimmt, die zunächst ausschließend und als für

240

VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

sich und verschieden sich auf das Andere bezieht. Als das Vermittelnde erscheint das Negative, weil es sich selbst und das Unmittelbare in sich schließt, dessen Negation es ist. Insofern diese beiden Bestimmungen nach irgendeinem Verhältnisse als äußerlich bezogen genommen werden, ist es nur das vermittelnde Formelle; als die absolute Negativität aber ist das negative Moment der absoluten Vermittlung die Einheit, welche die Subjektivität und Seele ist.16

Es ist also zunächst die Rede davon, dass die Einzelheit als „ausschließend und verschieden sich auf das Andere bezieht“ und so das Moment einer Unmittelbarkeit/Diskretion/Unbezogenheit in der Kontinuität des Allgemeinen zum Ausdruck bringt. Dies ist die Beziehung des Allgemeinen auf sich, die nicht als abstraktes geistiges Geschehen in einer geistigen Hinterwelt vorgestellt werden darf, sondern sich im konkreten, für sich seienden Tun des Einzelnen manifestiert. Darin ist das Einzelne kein Fall des Allgemeinen, sondern dessen freier Selbstvollzug. Als Vermittlung davon und damit als Vermittlung des ganzen Schlusses „erscheint“ das Negative, welches sich hiermit in seiner Methodik entschließt. Formal könnte man den Schluss folgendermaßen ansetzen, womit natürlich dessen Bewegungscharakter unterdrückt ist: Analytische Prämisse: Das Unmittelbare verhält sich unmittelbar zu seinem Anderen und ist dadurch das Negative. Synthetische Prämisse: Das Negative als Negatives ist die Beziehung des Unterschiedenen als solchen auf sein Unterschiedenes. Conclusio: Das Unmittelbare ist mittels des Negativen diese Beziehung und damit absolute Vermittlung.

Der springende Punkt ist also, dass das Einzelne gerade in der Unmittelbarkeit seines Anfangens die absolute Vermittlung als die Bewegung des Allgemeinen vollzieht. Die Identität von Unmittelbarkeit und Vermittlung ist essenziell für ein Verständnis von Hegel: In jeder Stufe ist die absolute Vermittlung auch die Unmittelbarkeit des Anfangs. Dieser ist aber nicht positivierbar im Sinne eines ersten chronologischen Beginnens, da in einer solchen Positivierung das Moment der Vermittlung übersprungen wäre. Die Freiheit ist auf diese Weise sowohl absolut unmittelbarer Anfang und daher wirkliche Freiheit, als auch absolute Vermittlung (und zwar geistige Vermittlung des Allgemeinen) und daher nicht willkürliche Zufälligkeit.

Die ganze Bewegung als die absolute Negativität ist somit die geistige Bewegung, in der das Einzelne in der Besonderung (Diskretion) des (kontinuierlichen) Allgemeinen tätig wird und darin sich als dieses Allgemeine und Besondere erkennt (d.h. die Pointe wird darin liegen, dass die Unmittelbarkeit des sich besondernden Einzelnen die Vermittlung der Allgemeinheit ist). Deshalb kann Hegel hier von „Vermittlung der Einheit, welche die Subjektivität 16

G.W.F. Hegel, WdL, VI 563f.

3. DIE BESTIMMTE NEGATION UND DIE FORM DES SCHLUSSES

241

und Seele ist“ sprechen. Mit diesen Ausführungen können wir die Überlegungen zur dialektischen Methode mit einem letzten Satz zum Abschluss bringen: „In diesem Wendepunkt der Methode kehrt der Verlauf des Erkennens zugleich in sich selbst zurück.“ (WdL VI 564) Der Wendepunkt der Methode ist als Rückkehr bestimmt, womit ein wichtiges hegelsches Motiv genannt ist, welches wir an dieser Stelle erst andeuten können. Gemeint ist die „unendliche Rückkehr“ (unendlich deshalb, weil es nicht das Rückkehren aus einem fixierbaren Ausgangspunkt ist) des Einzelnen, das berühmte „Im Anderen bei sich sein“. Sie zeigt sich im logischen Status der absoluten Idee, wie wir noch sehen werden, als der (sittliche) Vollzug der Anerkennung einer anderen Wirklichkeit, die in ihrer geistvollen Differenz ursprünglicher als jeder fixierbare Ausgangspunkt war, wodurch das Sich-anders-Werden als Rückkehr bestimmt ist. Erst in diesem Wendepunkt stellt sich die erste (im Sinne von anfangender) Unmittelbarkeit her, die die Unmittelbarkeit in jeder Stufe der Logik und Phänomenologie und in ihrer höchsten Gestalt die Idee und die ihr entsprechende Zeit ist. Dabei ist besonders zu betonen, dass bei Hegel nicht nur jede logische Stufe in ihrer Vermittlung betrachtet werden muss, sondern ebensosehr diese Vermittlung in die Unmittelbarkeit eines Anfangs jeder Stufe umschlägt. Als Resultat dieser Vorschau auf die absolute Methode wollen wir festhalten, dass diese weit weg ist von der (Fichte entnommenen und) Hegel fälschlicherweise unterstellten Mechanik eines dialektischen Dreischrittes von Thesis, Antithesis und Synthesis. Sie hat auch nichts zu tun mit der von Schelling kritisierten formalen Methode, sondern sie enthält allen Inhalt in sich und zwar nicht in einem räumlich und zeitlich umschließenden Sinn, sondern als die Offenheit des Anfangs in der Anerkennung, der der absolute Inhalt selber ist. Bevor wir im nächsten Kapitel explizit auf diesen Anfang eingehen, sei noch darauf hingewiesen, dass – wie sich aus dem Ausgeführten wohl ergeben hat – die hegelsche Methode nicht als ein „selbstbezügliches Spielen der Liebe mit sich selbst“ aufgefasst werden darf. Denn, so Hegel im 19. Absatz der Vorrede der PhdG, „diese Idee sinkt zur Erbaulichkeit und selbst zur Fadheit herab, wenn der Ernst, der Schmerz, die Geduld und Arbeit des Negativen darin fehlt“ (PhdG III 24). Die dialektische Methode ist gerade nicht eine Dialektik der (von uns noch darzulegenden) schönen Seele (des Gewissenskapitels der PhdG), die in sich kreist und sich darin selbst genießt, vielmehr trägt die hier angezeigte Negativität der Vermittlung auch den, wie Hegel immer wieder betont, „härtesten Gegensatz“ in sich, wie er uns noch im Gewissenskapitel der PhdG und in der offenbaren Religion begegnen wird. Nach dem hier Ausgeführten kann zunächst einmal festgehalten werden, dass er darin besteht, dass der Begriff nicht in einer alles umschließenden Allgemeinheit bleibt, sondern dass die von uns angezeigte negative Vermittlung des Ich=Ich nur dann nicht wiederum positiv und d.h. in diesem Falle selbstbezüglich gefasst ist, wenn erkannt wird, dass das sich besondert habende Allgemeine dann als Einzelnes identisch mit sich ist, wenn es die Negativität der Vermittlung, wel-

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

che nichts anderes ist als das In-die-Fremde-Gehen, also die Verflüssigung jeder positiven Bestimmung (die in der PhdG das erste Mal als Tod auftreten wird) in der Gestalt des Anderen erfährt und anerkennt. Die hegelsche Methode ist so nicht der Weg zu sich, sondern der Weg Abrahams, was Hegel allerdings v.a. in seiner Realphilosophie oftmals verkannt hat.

4. Eine erste Annäherung zur Frage nach dem Anfang Wir werden auf die für die Zeitbestimmung so wichtige Frage nach dem Anfang noch in der Interpretation einiger Stellen des „absoluten Wissens“ der PhdG, weiters in der Interpretation des Überganges von der Notwendigkeit in den Begriff und schließlich noch am Ende des Kapitels zurückkommen, daher seien hier nur einige Gedanken bezüglich des Anfangs des Systems (auch dieser Begriff wird noch einer Erläuterung bedürfen) angedeutet, wobei wir an einen Satz aus dem 18. Absatz der Vorrede anknüpfen können, dass „nicht eine ursprüngliche Einheit als solche oder unmittelbare als solche [...] das Wahre [ist]. Es ist das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfange hat und nur durch die Ausführung und sein Ende wirklich ist“ (PhdG III 23). Wir haben in diesem Zusammenhang bereits einige Gesichtspunkte der dialektischen Methode dargestellt. Sie hat sich als die absolute Negativität dargestellt, welche in der Anerkennung des Allgemeinen (als absoluter Vermittlung) als Einzelnes in sich zurückgekehrt ist. Dadurch hat sich als Resultat das „Einzelne, Konkrete, Subjekt“ (WDL VI 566) ergeben, durch welches „das Allgemeine [...] im Subjekte gesetzt ist“ (WdL VI 566). Gesetzt deshalb, weil sich nun erweist, dass auch das Allgemeine (als der Geist, der die Bewegung des Ich=Ich oder besser der spekulative Satz der Substanz, die ebensosehr Subjekt ist, darstellt) nicht ein Vorausgesetztes im Sinne des Vorgefundenen, sondern nur in dieser negativen Vermittlung (Bewegung, Handeln) des Einzelnen ist (wir haben auf die Sprache als Beispiel verwiesen, in der der Akt des Sprechens nicht einer Metasprache folgt, sondern diese setzt, indem sie vorausgesetzt ist; Analoges gilt auch für die Liebe). Hegel fasst diese Bewegung nun folgendermaßen zusammen: Das Resultat hat nun als das in sich gegangene und mit sich identische Ganze sich die Form der Unmittelbarkeit wiedergegeben. Somit ist es nun selbst ein solches, wie das Anfangende sich bestimmt hatte. Als einfache Beziehung auf sich ist es ein Allgemeines, und die Negativität, welche die Dialektik und Vermittlung desselben ausmachte, ist in dieser Allgemeinheit gleichfalls in die ein-

4. EINE ERSTE ANNÄHERUNG ZUR FRAGE NACH DEM ANFANG

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fache Bestimmtheit zusammengegangen, welche wieder ein Anfangen sein kann.17

In diesen Sätzen ist der berühmte Satz Hegels in der Einleitung der WdL („Womit muss der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?“) eingeholt, dass „es Nichts gibt, nichts im Himmel oder in der Natur oder im Geiste oder wo es sei, was nicht ebenso die Unmittelbarkeit enthält als die Vermittlung, so dass sich diese beiden Bestimmungen als ungetrennt und untrennbar und jener Gegensatz sich als Nichtiges zeigt“ (WdL V 66). Näherhin ist damit, wie im Verlaufe dieses Kapitels noch näher auszuführen sein wird, der Anfang menschlichen Tuns ausgesprochen, welches kein solches der Poiesis ist, indem es monologisch etwas abarbeitet oder herstellt, sondern als sprachlicher Weltumgang aufgefasst werden muss. Dieser ist sowohl unmittelbarer Anfang im Sinne einer freien Setzung – andernfalls wäre der Mensch die Marionette, zu der ihn die Manipulatoren unserer Warenwelt machen wollen – als auch absolute Vermittlung – andernfalls wäre der Mensch absoluter Willkür ausgeliefert – und in dieser Vermittlung immer schon, wie wir noch sehen werden, Anfangen der Liebe Gottes, was Liebrucks immer wieder in die prägnante Formel fasst, dass der Mensch nur als Marionette Gottes frei ist. Hegel sprach in der oben zitierten Passage aus der WdL davon, dass „die einfache Beziehung auf sich das Allgemeine ist“. Damit ist noch einmal akzentuiert, dass im Einzelnen, oder – wie sich uns im dritten Schluss der Enzyklopädie erweisen wird – in der Menschwerdung des Einzelnen in der Anerkennung das Allgemeine zu sich zurückkehrt, d.h. als Geist konkret wird. Darin ist alle Bestimmung in eine einfache Bestimmtheit (nämlich die Bestimmtheit zum Anfangen) zusammengegangen, „welche wieder ein Anfang sein kann“. So ergibt sich nun ein Hinweis darauf, was Hegel meint, wenn er am Ausgang der WdL sagt, dass jeder „Schritt des Fortgangs im Weiterbestimmen, indem er von dem unbestimmtem Anfang sich entfernt, auch eine Rückannäherung zu demselben ist, dass somit das, was zunächst verschieden erscheinen mag, das rückwärtsgehende Begründen des Anfangs und das vorwärtsgehende Weiterbestimmen desselben, ineinanderfällt und dasselbe ist“ (WdL VI 570). Die höchste und konkreteste Stufe ist die in die Unmittelbarkeit zurückgegangene Vermittlung des Anfangs (der „in sich geschlungene Kreis“ bzw. „Kreis von Kreisen“18) der geistvoll, d.h. in der Anerkennung je neu vollzogen werden muss. Erst in dieser anfangenden und d.h. schöpferischen Tat wird sich, wie wir noch ausführen werden, die Fülle des Anfangs konkretisieren. An dieser Stelle zeigt sich, dass Hegels Philosophie an ihrem höchsten Punkt den Systemgedanken verlässt. Denn das System ist die absolute Vermittlung in eine Unmittelbarkeit, die das absolut freie, zeit- und zukunftseröffnende Anfangen des Menschen und Gottes ist. 17 18

G.W.F. Hegel, WdL, VI 566. Vgl. G.W.F. Hegel, WdL, VI 571f.

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

Dabei sind wir wiederum vor die Sprachlichkeit eines solchen Anfangens gestellt, denn in dem schöpferischen Urwort manifestiert sich die ganze Konkretion des Weltumgangs des Bewusst-Seins in all seinen Brüchen (bestimmte Negation) und Aufbrüchen. Mit diesen ersten Hinführungen zur Anfangsthematik erweist sich auch ein in der Theologie immer wieder vorgebrachtes Vorurteil gegen Hegel bereits an dieser Stelle als nichtig, nämlich das des „werdenden Gottes“. Gott als der absolute Anfang ist nicht in einen Prozess eingeschlossen, vielmehr zeigt sich sein Anfangenkönnen in der vollen Bedeutung erst am Ende des Prozesses (in den Kategorien der biblischen Schöpfungserzählung: Erst am Sabbat offenbart sich Gott als Schöpfer in seiner tiefsten Dimension) als absolutes, ewiges, die Zeit freigebendes Anfangen Gottes, nicht aber als Anfangen in der Zeit eines sich in dieser Zeitlichkeit entwickelnden Gottes. Anders gesagt: Nur in einem freien Weltumgang offenbart sich das wahre Antlitz Gottes, der der ewig Anfangende war, ist und sein wird. In dem von uns zitierten Text fällt ein Hinweis darauf, warum bei Hegel das reine Sein (klassische Metaphysik) ebenso wenig der Anfang der Methode ist – obwohl mit dieser Kategorie die Logik eröffnet wird – wie das Wesen oder die Reflexion (Fichte, Prinzipienphilosophien), d.h. der Anfang der Wesenslogik, sondern das Allgemeine des Begriffs. Denn nur dieses enthält das für jeden Anfang konstitutive Moment der Freiheit, welche aber nicht Willkürfreiheit (die Indifferenz ist nur Moment) ist, sondern jene der Anerkennung. Natürlich drängt sich dadurch die Frage auf, warum Hegel dann seine Darstellung der Logik mit dem Sein beginnt. Dazu muss festgehalten werden, dass das Sein die wesentlich ärmere Kategorie als der Begriff ist und menschliche Schrift die Kategorien nicht auf einen Schlag festhalten kann. Da aber Hegels Logik eine einzige Variation des spekulativen Satzes ist, enthält erstens jede Kategorie alle anderen. Zweitens sind alle Kategorien in der spekulativen – d.h. Subjekt und Prädikatstelle austauschenden Bewegung – Identität der ärmsten (Sein, sinnliche Gewissheit) und reichsten (absolute Idee, absolutes Wissen) Kategorie enthalten (diese spekulative Identität von sinnlicher Gewissheit und absolutem Geist ist besonders wichtig in Bezug auf die Bedeutung, die sich aus der hegelschen Philosophie für die Person des Jesus von Nazareth ergibt), was Hegel in der WdL folgendermaßen zum Ausdruck bringt: „Jede neue Stufe des Außersichgehens, d.h. der weiteren Bestimmung, ist auch ein Insichgehen, und die größere Ausdehnung [ist] ebensosehr höhere Intensität. Das Reichste ist daher das Konkreteste und Subjektivste, und das sich in die einfachste Tiefe Zurücknehmende das Mächtigste und Übergreifendste“ (WdL VI 570).

Im 20. Absatz der Vorrede bringt Hegel diese Struktur des Anfangs in dem berühmten spekulativen Satz „Das Wahre ist das Ganze“ (PhdG III 24) zum Ausdruck, wobei eben dieses Ganze niemals positiv gefasst werden darf (so missversteht Adorno Hegel!) oder als das oben bereits angeschnittene erbauliche Spielen der Liebe Gottes mit sich selbst anzusehen ist, sondern alle Entfremdungsschritte in sich trägt. Als Konsequenz des hier Dargestellten ergibt sich, wie Hegel im 24. Abschnitt der Vorrede schreibt, dass „ein sogenannter Grundsatz oder Prinzip der Philosophie, wenn er wahr ist, schon darum auch

5. EINE ERSTE ANNÄHERUNG ZUR VERHÄLTNISBESTIMMUNG

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falsch ist, insofern er nur als Grundsatz oder Prinzip ist“ (PhdG III 27). Jede Prinzipienphilosophie verkennt den dialektischen Charakter des Anfangs, fixiert Bestimmungen und verfehlt damit von vornherein den Gedanken der Freiheit. Ebenso wenig gangbar ist ein Anfangen bei einem Vorhandenen oder bei der Subjektivität Gottes, weil hier Gott noch als „ruhender Punkt“ (PhdG III 27) aufgefasst wird. Auch der Offenbarungsglaube kann nicht bei einer Behauptung einsetzen, vielmehr muss sich diese, wie auch Schelling gezeigt hat, geschichtlich und d.h. in den Kategorien Hegels gesprochen in allen Stufen des Weltumgangs einholen. Die Frage, die sich stellt, ist, ob der Anfang in einem reinen, dem Denken vorausliegenden und abgetrennten (unvordenklichen) Sein liegen und damit eine Differenzierung in eine Real- und in eine Idealdialektik gemacht werden kann.

5. Eine erste Annäherung zur Verhältnisbestimmung von Denken und Sein Für eine erste Antwort, die noch nicht die erschöpfende Erörterung dieser Thematik ist, wollen wir eine weitere Textstelle aus dem Schlusskapitel der WdL heranziehen: Nach dem geläufigen Gegensatze von Gedanken oder Begriff und Sein erscheint es als eine wichtige Wahrheit, dass jenem für sich noch kein Sein zukomme und dass dies einen eigenen, vom Gedanken selbst unabhängigen Grund habe. Die einfache Bestimmung von Sein ist aber so arm an sich, dass schon darum nicht viel Aufhebens davon zu machen ist; das Allgemeine ist unmittelbar selbst dies Unmittelbare, weil es als Abstraktes auch nur die abstrakte Beziehung auf sich ist, die das Sein ist. In der Tat hat die Forderung, das Sein aufzuzeigen, einen weiteren inneren Sinn, worin nicht bloß diese abstrakte Bestimmung liegt, sondern es ist damit die Forderung der Realisierung des Begriffs überhaupt gemeint, welche nicht im Anfange selbst liegt, sondern vielmehr das Ziel und Geschäft der ganzen weiteren Entwicklung des Erkennens ist.19

Bei Hegel ist weder das Sein ein endlich und positiv Gegebenes und damit ein bearbeitbarer Inhalt, noch das Denken die dem Sein äußerliche und so für sich genommen abstrakt bleibende Form. Vielmehr sind Denken und Sein nur in der Bewusst-Seins-Struktur des spekulativen Satzes besprechbar. Dabei zeigt sich das Sein als Begeistetes und gewinnt in jeder Form des Weltumgangs spezifische Konturen, welche in der PhdG herausgearbeitet werden. Im Zusammenhang des hier zitierten Textes muss gesagt werden, dass das Sein keinen dem Denken vorausliegenden Anfang bildet. Als dieser Anfang zeigt sich 19

G.W.F. Hegel, WdL, VI 554.

246

VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

vielmehr die dialektische Methode in ihrem ganzen Gang, in dem jede endliche Bestimmtheit, die in ihrer Einseitigkeit festgehalten wird, negiert wird, worauf bereits Spinoza hingewiesen hat: Omnis determinatio est negatio. Die Methode erschließt sich allerdings erst im Denken der Negation als Negation, als deren Resultat wir die Dialektik von Allgemeinem und Einzelnem andeuteten. In dieser tritt die Unmittelbarkeit der absoluten Vermittlung hervor, die das freie Sein bezeichnet, d.i. die Unmittelbarkeit der geistigen Schau des Anderen in seiner Unverfügbarkeit und Negativität, d.h. die innigste Verwandtschaft, die in der Substanzialität der Fremde zu finden ist, worin sich der Inhalt des spekulativen Satzes manifestiert. Dieser Inhalt ist darin nicht vorgefunden, sondern bringt sich in der Bewegung selber zum Ausdruck. Verdeutlicht kann dies am Geist ebenso wie an der Sprache, Liebe oder an der Religion als Formen des menschlichen Weltumgangs werden. Der Andere ist niemals bloßes Konstrukt meiner Gedankentätigkeit – die Gedanken als bloße Gedanken sind das Zufällige und Willkürliche –, denn darin hätte er gerade nicht die Form freien Andersseins, er ist aber auch nicht etwas Vorgefundenes oder Hereinbrechendes – solches ist er nur in der Welt der Positivität, wo räumliche Figuren dieser Art einen Sinn machen –, sondern, wie Hegel sich im absoluten Wissen ausdrücken wird, „jenes Ansich des Anfangs [...] als Negatives, [welches] in Wahrheit ebensosehr das vermittelte [ist]“ (PhdG III 581). Er und in ihm alle Substanzialität IST also mein Anfang, aber nicht auf eine positivierbare Weise, sondern in einer Vermittlung, die sich für uns als eine solche eines geistvollen Tuns (Anerkennung) erweisen wird. Wir werden im Anschluss an H.D. Bahrs Buch „Die Sprache des Gastes“ noch andeuten, dass das Phänomen des „Gastes“ eine mögliche Konkretisierung dieses geistigen Geschehens ist. Denn der Gast gehört nicht der Sphäre des Eigenen an, noch wird man ihm gerecht, wenn er als Fremder identifiziert wird, was ihn letztlich (als Gast) zum Verschwinden brächte. Vielmehr eröffnet er einen Raum bzw. eine Zeit, in der eine geistvolle Begegnung möglich sein wird. Darüber hinaus kann festgehalten werden, dass sich das „Ich“ nicht als absolute Selbstgegebenheit verstehen lässt, sondern „Gast“ einer vorgängigen Eröffnung ist, was die indogermanische Sprache vielleicht in der Verwandtschaft der Worte hospes und ipse zum Ausdruck bringt.20

Die Substanzialität des Anderen bedeutet, dass das Denken nicht im Sinne einer absoluten Identifizierung und damit Beherrschung verstanden werden darf, damit auch nicht als Nur-Denken, dem ein davon abzugrenzendes, definierbares „Sein“ gegenüberstünde. Vielmehr ist das Denken, wenn es nicht abstrakte Prädizierung im obigen Sinne ist, d.h. wenn es als hegelscher Begriff im Sinne des Bewusst-Seins verstanden wird, die je neu sich erzählende bzw. zeitigende Repräsentanz des Anfangs des Anderen, der die nichtpositivierbare und deshalb unausschöpfbare Vor-Gabe eines Geschehens bzw. einer Eröffnung (gewesen) ist (sein wird), die uns als Zeit begegnet. 20

Vgl. H.D. Bahr, Die Sprache des Gastes, 30-44.

6. DER GANG DER PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES

247

Gegenüber diesem Geschehen ist das Sein noch die allerabstrakteste Sphäre, allerdings ist es auch Sein des Begriffs, d.h. im Sein ist schon die gesamte Reichhaltigkeit SEINER schöpferischen Momente präsent. Dabei zeigt sich, dass das Sein sprachlicher Natur ist, denn im Sein der Sprache ist bereits die gesamte Welt in nuce präsent, wobei sie sich in der Realisierung des Sprechens aus ihrer Allgemeinheit entäußert und in den einzelnen Subjekten in sich geht. Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang darauf verweisen, dass diese Präsenz oder besser gesagt die Geburt der Welt in der Sprache im Mythos und auf reflektiertere Weise im Epos der Griechen begriffen wird21 und natürlich auch der Bibel nicht fremd ist, wie wir in unseren Ausführungen über den Schöpfungsbericht und den Johannesprolog gesehen haben.

Als Konkretisierung der absoluten Methode werden sich die einzelnen Gestalten der PhdG als Repräsentanz des vorgängigen, sich zeitigenden Anfangs erweisen, womit ihr eine zentrale Rolle im spekulativen Denken zukommt, wenngleich der späte Hegel, wie Liebrucks immer wieder betont, die in ihr enthaltenden Einsichten unterlaufen hat, vielleicht auch mangels phänomenaler Konkretisierungsmöglichkeit unterlaufen musste. Wir werden auf alle Fälle versuchen, einige Bestimmungen, die wir bisher im Gang dieses Kapitels angedeutet haben, anhand der Darstellung der PhdG zu explizieren. Weiters muss natürlich gerade auf diese Schrift verwiesen werden, wenn es darum geht, eine nähere Verhältnisbestimmung von Denken und Gegenstand des Denkens vorzunehmen und sich der Frage nach dem Anfang und damit auch der Zeit, von deren Tilgung ja am Ende dieses Buches die Rede ist, zu nähern. Dabei werden wir nicht zuletzt sehen, dass der ebenso zentrale wie kaum gewürdigte Gedanke der PhdG dahingehend zu interpretieren ist, dass ein echter Anfang nur im Zerbrechen unseres Geltungsanspruchs möglich ist.

6. Der Gang der Phänomenologie des Geistes Wir stehen in der Kommentierung der PhdG vor dem Problem, dass im Schlusskapitel der PhdG, in der es auch um die Tilgung der Zeit geht, alle in diesem Werk „gesponnenen“ Fäden zusammenlaufen, wobei wir aber nicht das gesamte Werk im vollen Umfang kommentieren können, weil dies jeden Rahmen sprengte. Daher wollen wir einen möglichst kurzen, aber doch die wesentlichen Gedankenbewegungen beinhaltenden Durchgang durch dieses Werk in Angriff nehmen und uns v.a. bei solchen Passagen länger „aufhalten“,

21

Zu Hegels Sichtweise des Epos vgl. A. Dunshirn, Die Einheit der Ilias als tragisches Selbstbewusstsein.

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

die für unsere Ausführungen über die Zeit unerlässlich scheinen.22 Dabei sollen auch ein paar Worte über die Eigenart der PhdG fallen: Diese ist bekanntermaßen die „Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins“, d.h. sie zeichnet die Weisen, in der sich der Weltumgang des Bewusst-Seins in seinem Auseinandertreten von Bewusstsein und Gegenstand desselben und der daraus resultierenden Erfahrung von „Ich“, „Welt“ und „Gott“ gestaltet, nach, wobei sich dann im absoluten Wissen ein von uns noch zu erläuternder Ausgleich von Bewusstsein und Gegenstand ergibt und damit die Erkenntnis des Gegenstands als Bewusst-Sein stattfindet. Dabei sind natürlich alle von Hegel in der WdL ausgearbeiteten logischen Kategorien präsent, da diese die immanenten Kategorien des Bewusst-Seins selber sind, allerdings muss betont werden, dass die PhdG nicht einfach eine Umsetzung einer ihr vorgegebenen logischen Struktur (und zwar weder der Jenenser Logik [vgl. Heinrichs] noch der WdL noch einer zu destillierenden genuinen phänomenologischen Logik [vgl. Scheier]) oder deren Anwendung ist. Vielmehr zeichnet sie spezifische BewusstSeinsgestalten und ihren dialektischen Umschlag nach, wobei sich zeigen wird, dass es gerade die Eigenart des Bewusst-Seins ist, dass es keine solchen festumrissenen Gestalten im Sinne einer mechanischen Abfolge geben kann und daher jede Zeit ihrer eigenen PhdG bedürfte.

Auch in diesem Werk geben die ersten Zeilen gewissermaßen das gesamte Programm der Darstellung an: Es ist eine Auseinandersetzung mit dem Kantianismus, d.h. mit der (auch unserer Zeit) zur „natürlichen Vorstellung“ gewordenen Tatsache, dass wir das Erkennen als „Werkzeug“, sich des „Absoluten zu bemächtigen“23, verstehen, wobei es gleichgültig ist, ob uns dieses Absolute als moralisches Gesetz, als Prinzip, als Ideal, als absolute Positivität, als leere Zeit des Kosmos oder als Ansammlung von Endlichkeiten gegenübertritt. Hegel skizziert meisterhaft die Erkenntnisfrage in folgenden Sätzen des zweiten und dritten Abschnittes der Einleitung der PhdG: Sie [die natürliche Vorstellung] setzt nämlich Vorstellungen von dem Erkennen als einem Werkzeuge und Medium, auch einen Unterschied unserer selbst von diesem Erkennen voraus; vorzüglich aber dies, dass das Absolute auf einer Seite stehe und das Erkennen auf der anderen Seite für sich und getrennt von dem Absoluten doch etwas Reelles [sei], oder hiermit, dass das Erkennen, welches, indem es außer dem Absoluten, wohl auch außer der Wahrheit ist, doch wahrhaft sei, – eine Annahme, wodurch das, was sich Furcht vor dem Irrtume nennt, sich eher als Furcht vor der Wahrheit zu erkennen gibt. 22

23

Auf entsprechende ausführliche Kommentare haben wir in unserem Buch „Entsprechung“ verwiesen. Hier sei noch einmal auf folgende Kommentare und Arbeiten hingewiesen: J. Heinrichs, Die Logik der Phänomenologie des Geistes; C.-A. Scheier, Analytischer Kommentar zu Hegels Phänomenologie des Geistes; J. Schmidt, „Geist“, „Religion“ und „absolutes Wissen“; K. Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik; W. Jäschke, Die Vernunft in der Relgion. Auf die Kommentare von B. Liebrucks und T. Auinger haben wir bereits in der Einleitung verwiesen. Vgl. G.W.F. Hegel, PhdG, III 68.

6. DER GANG DER PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES

249

Diese Konsequenz ergibt sich daraus, dass das Absolute allein wahr oder das Wahre allein absolut ist.24

Der Bezug auf Kant ist hier so deutlich, dass wir ihn nicht im Detail nachzuvollziehen brauchen. Generell ist aber das Grundproblem dieser Wissensform angegeben: Sie wähnt sich zwar bescheiden, in Wirklichkeit ist aber das Gegenteil der Fall, weil in ihr nicht klar ausgesprochen ist, dass Erkenntnis immer Erkenntnis des Absoluten ist, das, wie das Christentum bekennt, von Haus aus bei uns sein will. Außerhalb des Absoluten, das, wie es der spekulative Satz am Beginn des dritten Abschnittes ausdrückt, das Wahre ist, stellt sich jedes Erkennen als „Werkzeug“ dar, als Produktion einer Welt von Modellen, die die Welt der Technik und Naturwissenschaften ist, aber nicht die Welt des Bewusst-Seins, des geistigen Weltumgangs. Dies bedeutet natürlich nicht, dass der Mensch einen unmittelbaren Zugriff auf die Wahrheit und d.h. auf Gott hätte – es wird sich zeigen, dass jede Erfahrungsstufe mit der Unmittelbarkeit der Positivität beginnt und gerade darin ihren Untergang erlebt, um einen geistvolleren Blick ergreifen zu können –, vielmehr wird sich mit jedem Gegenstand, welcher dem Bewusst-Sein entgegentritt, auch das Wahrheits- und damit das Gottesverständnis ändern, bis der „Begriff dem Gegenstande, der Gegenstande dem Begriffe entspricht“25, wobei wir erst am Ende des Ganges durch die Phänomenologie angeben werden können und müssen (da alles Verständnis Hegels davon abhängt), welche Bedeutungen den Worten „Begriff“, „Gegenstand“ und „Entsprechung“ zukommt. An dieser Stelle kann auf unsere Bemerkung im Zusammenhang der Methode verwiesen werden, dass es sich bei dem Begriff niemals um den formal- oder transzendentallogischen Begriff, sondern um den Weltumgang des Menschen, der der Gang Gottes zum Menschen ist, handelt. Selbiges gilt für den Gegenstand: Auch dieser verändert sich in jeder Stufe und ist im absoluten Wissen nicht der Gegenstand, welcher in einem „Wissen“ verschwindet, sondern, die transzendentale Dialektik Kants fortführend, die Einheit von Entgegenständlichung und Vergegenständlichung, die uns als freier, nicht mehr umfassbarer und kategorialisierbarer Selbststand eröffnet wird. Im tiefsten Sinne wird sich sowohl die Bedeutung von „Begriff“ als auch die Bedeutung von „Gegenstand“ erst in der Bedeutung von „Entsprechung“ klären. Am Rande sei hier erwähnt, dass zu den Großartigkeiten, aber auch Schwierigkeiten der Darstellungen Hegels gehört, dass die Worte keine fixierte Bedeutung haben, sondern erst in ihrem Verweisungszusammenhang zu sprechen beginnen. Dies erfahren wir erstens immer schon in unserer Alltagsssprache und zweitens erlebt dies jeder Mensch, der eine Zeit lang mit offenen Ohren in Wien, der Stadt Freuds und des ethischen Wittgenstein, der anfangs die Sprache reinigen wollte (wohl un(ter)bewusst von aller Zweideutigkeit seiner Wie-

24 25

G.W.F. Hegel, PhdG, III 70. Vgl. G.W.F. Hegel, PhdG, III 77. Hevorhebung K.A.

250

VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

ner Umgebung, in der die Dialektik in ihrer nihilistischen Gestalt gelebt wird), gewohnt hat.

Deshalb kann Hegel auch von der PhdG als „sich vollbringendem Skeptizismus“ (PhdG III 72) sprechen. Dabei wird das natürliche Bewusstsein (also das Bewusstsein, welchem der jeweilige Weltumgang gegenständlich gegenübertritt) allerdings nicht durch abstrakte Überlegungen über sich hinausgetrieben, sondern durch die Tatsache, dass „das Bewusstsein für sich selbst sein Begriff [ist], dadurch unmittelbar das Hinausgehen über das Beschränkte und, da ihm dies Beschränkte angehört, über sich selbst [...]“ (PhdG III 74). So leidet also das Bewusstsein „die Gewalt, sich die beschränkte Befriedigung zu verderben, von ihm selbst“ (ebd.). Da das Bewusstsein als Bewusst-Sein immer schon der von uns bereits als zeitlich angedeutete Bindestrich des Weltumgangs ist, wird es diesen nie positiv festhalten können (selbst Gott nicht als absolute Position oder die hegelsche Dialektik als erstarrtes System), weil diese Versteinerung schon der eigene Tod wäre. Es wird als Begriff hinausgetrieben über alle Behausungen, die es sich mehr oder weniger erfolgreich verschafft und in deren verschiedene Gestaltungen es sich immer wieder herabwürdigt, und es wird dabei diesen Verlust als Schicksal erfahren. Das Bewusst-Sein kann dieses dann bekämpfen oder begreifen lernen, wobei damit kein theoretisches Wissen gemeint ist – was wäre damit schon gewonnen? –, sondern bereits eine praktische Seite angesprochen werden muss, die uns in ihrem genuinen Gehalt am Ende der hegelschen Philosophie begegnen wird. Dabei wird auch noch einmal die in den Jugendschriften ausgesprochene Erkenntnis virulent, dass eine Flucht vor dem Schicksal, also eine Flucht vor der Fremde, ein umso härteres Schicksal mit sich bringen wird. Im Folgenden führt uns Hegel ein in den spezifischen Gang der PhdG: Zunächst ist es wieder die uns bereits am Anfang des Kapitels begegnende Voraussetzungsfrage, d.h. die Frage nach dem Maßstab, an dem sich das Wissen zu vergleichen hätte. Dabei zeigt sich, dass ein solcher nicht vorgefunden werden kann. Das Bewusstsein „unterscheidet etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht“ (PhdG III 76). Die bestimmte Seite dieser Beziehung ist das Wissen des Bewusstseins, von ihm unterschieden wird die Wahrheit des Bezogenen, wie sie unabhängig vom Wissen sein mag. Allerdings wird sich zeigen, dass sich (subjektives) Wissen und (objektive) Wahrheit nicht so einfach trennen lassen. Hegel schreibt (wir nehmen dabei die wichtigsten Gedanken heraus): Das Bewusstsein gibt seinen Maßstab an ihm selbst, und die Untersuchung wird dadurch eine Vergleichung seiner mit sich selbst sein; denn die Unterscheidung, welche soeben gemacht worden ist, fällt in es. [...] An dem also, was das Bewusstsein innerhalb seiner für das Ansich oder das Wahre erklärt, haben wir den Maßstab, den es selbst aufstellt. [...] Allein gerade darin, dass es überhaupt von einem Gegenstande weiß, ist schon der Unterschied vorhanden, dass ihm etwas das Ansich, ein anderes Moment aber das Wissen oder das Sein des Gegenstandes für das Bewusstsein ist. Auf dieser

6. DER GANG DER PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES

251

Unterscheidung, welche vorhanden ist, beruht die Prüfung. Entspricht sich in dieser Vergleichung beides nicht, so scheint das Bewusstsein sein Wissen ändern zu müssen, um es dem Gegenstande gemäß zu machen; aber in der Veränderung des Wissens ändert sich ihm in der Tat auch der Gegenstand selbst, denn das vorhandene Wissen war wesentlich ein Wissen von dem Gegenstande; mit dem Wissen wird auch er ein anderer, denn er gehörte wesentlich dem Wissen an. [...] Dieser neue Gegenstand enthält die Nichtigkeit des ersten, er ist die über ihn gemachte Erfahrung. [...] In jener Ansicht aber zeigt sich der neue Gegenstand als geworden, durch eine Umkehrung des Bewusstseins selbst. Die Betrachtung der Sache ist unsere Zutat, wodurch sich die Reihe der Erfahrungen des Bewusstseins zum wissenschaftlichen Gange erhebt und welche nicht für das Bewusstsein ist, das wir betrachten. Es ist aber dies in der Tat auch derselbe Umstand, von welchem oben schon in Ansehung des Verhältnisses dieser Darstellung zum Skeptizismus die Rede war, dass nämlich das jedesmalige Resultat, welches sich an einem nicht wahrhaften Wissen ergibt, nicht in ein leeres Nichts zusammenlaufen dürfe, sondern notwendig als Nichts desjenigen, dessen Resultat es ist, aufgefasst werden müsse [...]. [...] für es [das natürliche Bewusstsein] ist dies Entstandene nur als Gegenstand, für uns zugleich als Bewegung und Werden.26

Hier wird dem Vorurteil entgegengetreten, dass es das Wissen und den Gegenstand rein für sich gäbe. Dagegen führt uns Hegel vor Augen, dass unser Wissen immer schon die gemachte Erfahrung mit dem Gegenstand war. Auf diese Weise ist das Wissen genauso bewegt wie der Gegenstand und mit ersterem ändert sich auch dieser als vergegenständlichtes Wissen. Das bedeutet, dass die Wahrheit nicht mehr als räumlicher Ort, dem wir uns asymptotisch anzunähern hätten, angezeigt werden kann, sondern die Bewegung des Inhalts (bzw. des Weltumgangs) selber ist. Hegel nennt dies Umkehrung des Bewusstseins, erstens, weil damit endgültig zum Ausdruck gebracht ist, dass es kein Wissen jenseits unseres Weltumgangs geben wird, zweitens, weil damit ausgesprochen wird, dass es wirkliche Erkenntnis nur im Zerbrechen unserer Geltungsmaßstäbe gibt. Dabei kann auch festgehalten werden, dass das Wissen jeden neu auftretenden Gegenstand als Entfremdung erleben wird. Will es sich dagegen verhärten und in sich zurückziehen, wird es, da jede Bestimmung Negation ist, die Bewegung umso härter durchmachen. Als Letztes sei darauf hingewiesen, dass dem natürlichen Bewusstsein sein jeweiliger Weltumgang als bestimmte Gestalt entgegentreten wird, während das absolute Wissen um den Bewegungscharakter weiß. Dies wird noch eine wichtige Bedeutung in Bezug auf die Frage nach einem sich aus der Philosophie Hegels ergebenden Gottes- und Zeitverständnis haben.

26

G.W.F. Hegel, PhdG, III 76-80.

252

VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

7. Die sinnliche Gewissheit und ihre Bedeutung Hegel beginnt den Gang der PhdG mit der sinnlichen Gewissheit – wobei wir anmerken wollen, dass dieses Kapitel ein sprachliches Kunstwerk sondergleichen darstellt, da es gelingt, den naiv unmittelbaren Charakter der sinnlichen Gewissheit auch sprachlich nachzuahmen –, die nicht nur deshalb wichtig ist, weil mit ihr der Anfang gemacht wird, sondern auch, weil ihre Grundbestimmungen in der offenbaren Religion und im absoluten Wissen, durch die erst die wahre Bedeutung der Sinnlichkeit manifest wird, eine zentrale Rolle spielen. Die sinnliche Gewissheit erscheint sowohl als die unmittelbarste als auch als die wahrhafteste und reichste Erkenntnis, ist aber „in der Tat“ die ärmste Wahrheit. Hegel schreibt: Sie sagt von dem, was sie weiß, nur dies aus: es ist; und ihre Wahrheit enthält allein das Sein der Sache; das Bewusstsein seinerseits ist in dieser Gewissheit nur als reines Ich; oder Ich bin darin nur als reines Dieses. Ich, dieser, bin dieser Sache nicht darum gewiß, weil Ich als Bewusstsein hierbei mich entwickelte und mannigfaltig den Gedanken bewegte. Auch nicht darum, weil die Sache, deren ich gewiss bin, nach einer Menge unterschiedener Beschaffenheiten eine reine Beziehung an ihr selbst oder ein vielfaches Verhalten zu anderen wäre. Beides geht die Wahrheit der sinnlichen Gewissheit nichts an; weder Ich noch die Sache hat darin die Bedeutung einer mannigfaltigen Vermittlung, Ich nicht die Bedeutung eines mannigfaltigen Vorstellens oder Denkens, noch die Sache die Bedeutung mannigfaltiger Beschaffenheiten, sondern die Sache ist, und sie ist, nur weil sie ist; sie ist, dies ist dem sinnlichen Wissen das Wesentliche, und dieses reine Sein oder diese einfache Unmittelbarkeit macht ihre Wahrheit aus. Ebenso ist die Gewissheit als Beziehung unmittelbare reine Beziehung; das Bewusstsein ist Ich, weiter nichts, ein reiner Dieser; der Einzelne weiß reines Dieses oder das Einzelne.27

In diesem Absatz ist nicht nur der phänomenale Gehalt der sinnlichen Gewissheit beschrieben (man beachte im Übrigen die Kursivstellungen in Hegels Text, denn hört man nur die kursiv gesetzten Wörter, manifestiert sich der unmittelbare Charakter der sinnlichen Gewissheit noch direkter), sondern es finden sich auch wichtige Verweise auf andere Wissensstufen. Die sinnliche Gewissheit sucht in ihrer Unmittelbarkeit, die aber lediglich gestattet, die allerärmste und abstrakteste Wahrheit: „Es ist!“ auszusprechen, das reine Diese oder das Einzelne, welches sie aber erst in der höchsten Wissenstufe als Einzelnes aussprechen wird können. D.h. es zeigt sich, dass die Intention der sinnlichen Gewissheit nicht überholt werden wird, sondern im berühmten dreifachen Sinn aufgehoben werden muss und nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch höchstes Resultat des Wissens ist. Weiters ist für die sinnliche Gewissheit die Sache, „weil sie ist“. Auch hier spricht (wobei man der sinnlichen 27

G.W.F. Hegel, PhdG, III 82f.

7. DIE SINNLICHE GEWISSHEIT UND IHRE BEDEUTUNG

253

Gewissheit eigentlich noch nicht Sprache zuordnen kann; sie ist vielmehr deiktisch) die sinnliche Gewissheit ein höchst geistvolles Wissen aus, nämlich den Begriff (und d.h. Freiheit und Liebe), dessen Ausgangspunkt genau diese Struktur des „Es ist, weil es ist“ sein wird. Unmittelbar allerdings wird die sinnliche Gewissheit scheitern. Bereits in der ersten Dialektik, in der sie das Dieses als Jetzt (bzw. als Hier) festhalten will, verändert sich ihr Gegenstand. Das Jetzt ist die Negation der einzelnen Momente und „daher nicht ein unmittelbares, sondern ein vermitteltes“ (PhdG III 84). Auf diese Weise zeigt sich bereits am Anfang der PhdG, dass es nicht möglich ist, ein Unmittelbares als solches festzuhalten. Damit verschwindet aber auch die Möglichkeit, das Einzelne unmittelbar zu erreichen. Hegel schreibt: „Ein solches Einfaches“ – gemeint ist das Jetzt, welches sich als die Negation der vielen Jetzt-Momente erwiesen hat –, „das durch Negation ist, weder Dieses noch Jenes, ein Nichtdieses, und ebenso gleichgültig, auch Dieses wie Jenes zu sein, nennen wir ein Allgemeines; das Allgemeine ist also in der Tat das Wahre der sinnlichen Gewissheit“ (PhdG III 85). In diesem Zusammenhang fällt auch ein sehr wichtiger Hinweis auf die Sprache: Sie ist das „Wahrhaftere“, weil sie in jedem Satz und jedem Wort bereits weiß, dass wir die von der sinnlichen Gewissheit gemeinte Einzelheit nicht unmittelbar aussprechen können. Hegel zieht daraus folgende Schlussfolgerung, die wir deshalb anführen, weil sie im Kapitel über die offenbare Religion wieder aufgenommen wird: Dieser sinnlichen Gewissheit, indem sie an ihr selbst das Allgemeine als die Wahrheit ihres Gegenstandes erweist, bleibt also das reine Sein als ihr Wesen, aber nicht als Unmittelbares, sondern [als] ein solches, dem die Negation und Vermittlung wesentlich ist, hiermit nicht als das, was wir unter dem Sein meinen, sondern das Sein mit der Bestimmung, dass es die Abstraktion oder das rein Allgemeine ist [...].28

Der unmittelbare Sinn dieser Passage spricht noch einmal aus, dass die sinnliche Gewissheit in ihrer Abstraktion lediglich das reine Sein ausspricht. Dieses reine Sein und diese Abstraktion – wobei dieser Terminus einerseits durchaus die pejorative Bedeutung des bloß Abstrakten hat, andererseits aber auch die affirmative Bedeutung der Bewegung der Negativität, der Tätigkeit, die ein Auflösen aller unkonkreten Stufen darstellt – hat sich uns aber bereits in unseren Ausführungen über die Methode als das Allgemeine angedeutet, welches in der absoluten negativen Vermittlung der sich auf sich beziehenden Negativität (des Ich=Ich im Sinne der von uns eingangs zitierten spekulativen Identität von Substanz und Subjekt) im konkreten Einzelnen mit sich identisch ist. Oder anders gesagt: Es wird sich zeigen, dass alles Sein, insofern es abstrakte Negativität ist, in die absolute Unverfügbarkeit des Einzelnen, welches sich als das substanzielle Sein „des Anderen“ erweisen wird, zurückgeht. Geistvoll 28

G.W.F. Hegel, PhdG, III 85f.

254

VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

ist dies bereits im Kapitel über die offenbare Religion ausgesprochen, wo es, nicht zuletzt in Anspielung auf die sinnliche Gewissheit (deshalb greifen wir an dieser Stelle so weit vor) im Zusammenhang des Auftretens Jesu heißt: Denn der Begriff des Wesens, erst indem er seine einfache Reinheit erlangt hat, ist er die absolute Abstraktion, welche reines Denken und damit die reine Einzelheit des Selbsts sowie um seiner Einfachheit willen das Unmittelbare oder Sein ist. – Was das sinnliche Bewusstsein genannt wird, ist eben diese reine Abstraktion, es ist dies Denken, für welches das Sein das Unmittelbare ist. Das Niedrigste ist also zugleich das Höchste; das ganze an die Oberfläche herausgetretene Offenbare ist eben darin das Tiefste. Dass das höchste Wesen als ein seiendes Selbstbewusstsein gesehen, gehört usf. wird, dies ist also in der Tat die Vollendung seines Begriffes; und durch diese Vollendung ist das Wesen so unmittelbar da, als es Wesen ist.29

Das, was die sinnliche Gewissheit also intendiert, wird sich erst in der Stufe der offenbaren Religion einholen lassen, wo bereits gewusst wird, dass es keinen unmittelbaren Zugriff auf das „Diese da“ gibt, sondern wo sich in der konkreten, sinnlichen und erniedrigten Gestalt des Jesus von Nazareth das Höchste und Spekulativste, nämlich der Begriff Gottes und, wie Hegel sagt – wobei dieser Satz an gegebener Stelle noch einer Interpretation bedarf, weil er ansonsten unmittelbar positiv und damit falsch genommen wird –, darin die Einheit von menschlicher und göttlicher Natur zum Ausdruck bringt. Hier können zwei Gedanken angedeutet werden, die aber noch auszuführen sind. Das eine betrifft die Einmaligkeit Jesu. Diese wird von Hegel selten akzentuiert, aber gerade aus der sinnlichen Gewissheit ergibt sich ein erster Hinweis darauf, dass Jesus nicht als Fall eines abstrakt allgemeinen Geschehens betrachtet werden darf. Denn die geistige Bewegung muss sich in einem Individuum sinnlich und d.h. auf der Stufe des Geistes geschichtlich manifestieren, in einem „dieser da und jetzt“. Ansonsten bliebe der Begriff wirklicher Konkretion äußerlich. Dass umgekehrt allerdings Jesus wiederum nicht positiv und unmittelbar festgehalten werden darf, was ja schon Maria von Magdala erfahren hat, wird das absolute Wissen ergeben. Zweitens ist an dieser Stelle zur Einheit von göttlicher und menschlicher Natur zu sagen, dass diese Einheit in der Regel gerade nicht in ihrer spekulativen Bedeutung gefasst wird. Vielmehr wird der darin sich manifestierende spekulative Satz, der derjenige der Einheit von Substanz und Subjekt ist, so interpretiert, dass der Mensch in einem positiven Sinne – d.h. im Sinne einer Feuerbachschen Auflösung des Göttlichen zugunsten des Menschlichen – göttlich ist. Zu dieser Auffassung ist zu sagen, dass – wiewohl nach Hegel festzuhalten ist, dass Gott sich nicht jenseits menschlicher Wirklichkeit zum Ausdruck bringt – diese Einheit gerade nicht zugunsten des „allzu Menschlichen“ im Sinne einer Apotheose des sündigen Menschen (blasphemisch) gefasst werden darf. Vielmehr muss sie in ihrer spekulativen Bewegung betrachtet werden, die immer eine zweiseitige ist. So kann nicht unmittelbar gesagt werden, was die menschliche oder göttliche Natur ist,

29

G.W.F. Hegel, PhdG, III 553f.

8. ZEIT, EWIGKEIT UND KRITISCHE DIFFERENZ ALS ZWEITE ÜBERSINNLICHE WELT

255

sondern nur in der entsprechenden Bewegung des Menschen zu Gott, die die Bewegung Gottes zum Menschen sola gratia ist.

Nach diesen Ausführungen, die uns zeigen sollten, wie weit gerade dieses Anfangskapitel schon vorausgreift, können wir dessen weitere Darstellung kurz abhandeln: Nach der ersten Erfahrung des Verschwindens des Gegenstandes scheitert die sinnliche Gewissheit auch daran, sich auf ihre Meinung (Ich sehe...) zu fixieren (in der sie wiederum bloß abstrakt allgemein ist) und geht schließlich endgültig im dritten Erfahrungsschritt unter, in dem die Verhärtung am größten ist. Dort versteift sie sich auf die „sich selbst gleichbleibende Beziehung“ (PhdG III 87) zwischen dem Ich und dem Gegenstand, die es nur mehr deiktisch darstellen kann. Allerdings scheitert auch dies, weil sich das Dieses (sowohl als „Jetzt“ als auch als „Hier“) weder in unmittelbarer Präsenz noch als Gewesenes darstellen lässt und sich daher als Allgemeines, konkret als „einfaches Zusammen“ (PhdG III 92) vieler Hier und Jetzt erweist, womit der Schritt in die Wahrnehmung gesetzt ist.

8. Zeit, Ewigkeit und kritische Differenz als zweite übersinnliche Welt Die nächste Station unseres Ganges, bei der wir länger Halt machen müssen, ist das Kapitel „Kraft und Verstand, Erscheinung und übersinnliche Welt“, denn dieses ist nicht nur eines der zentralsten Kapitel der PhdG, ohne dessen Verständnis ein adäquater Zugang zur Philosophie Hegels unmöglich ist, sondern es enthält auch höchst bedeutsame Kategorien für eine Bestimmung des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit. Um die wichtigsten Gedanken dieses Kapitels30 darzustellen, werden wir zunächst ganz kurz die Wahrnehmung zusammenfassen. Als Resultat der sinnlichen Gewissheit hat sich das Allgemeine ergeben bzw. besser gesagt: Die sinnliche Gewissheit ist in ihrer Meinung in der Allgemeinheit untergegangen. Die Wahrnehmung nimmt dieses Resultat in ihrer unmittelbaren Form als Ding mit vielen Eigenschaften. Damit sind wir erstens in der eigentlichen Welt der Sinnlichkeit angekommen und zweitens wird sich erweisen, dass unser natürliches Bewusstsein gerade in der Wahrnehmung eine, wie Hegel sich ausdrückt, „Zärtlichkeit für die Dinge“ entwickelt, die zwar unsere Wissensauffassung dominiert, sich aber als haltlos erweist. Ohne 30

Eine ausgezeichnete Darstellung dieses Kapitels, die über die dem Verfasser dieser Arbeit bekannten Kommentare weit hinausgeht, gibt T. Auinger in seiner bis dato leider noch unveröffentlichten Diplomarbeit (eine solche aber weit hinter sich lassend) „Genese und Exposition der Erscheinung in G.W.F. Hegels Phänomenologie des Geistes“.

256

VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

auf die diffizile Genese der Entwicklungsschritte dieses Kapitels näher eingehen zu können, sei bemerkt, dass das Resultat der sinnlichen Gewissheit nicht willkürlich in die Wahrnehmung eines Dinges mit vielen Eigenschaften mündet. Vielmehr treten in dieser Vorstellung die beiden entscheidenden Momente der sinnlichen Gewissheit hervor, nämlich einmal die reine Form der Allgemeinheit, das andere Mal das Moment der Negation. Die erste gestaltet sich in der Wahrnehmung als umschließendes Medium oder als Auch der Dingheit (positive Allgemeinheit), die zweite als ausschließendes Eins (logisch wäre dies der Status der sich in die Quantität aufhebenden Qualität der sinnlichen Gewissheit). Konkret ergibt dies ein Ding mit vielen Eigenschaften. An dieser Bestimmung zeigt sich der spekulative Blick Hegels: Das ausschließende Eins tritt als „Fluchtpunkt“ bzw. „negativer Ort“ (Resultat der sinnlichen Gewissheit!) der vielen Eigenschaften auf, die erst in diesem ausschließenden Eins zu solchen werden. Umgekehrt ist das Medium als die positive umschließende Allgemeinheit sowohl die Sphäre der Eigenschaften als bloßer (seiender) Allgemeinheiten, die Hegel auch Materien nennt, als auch die Sphäre des Dings, in dem sich die Eigenschaften „durchdringen, ohne sich zu berühren“.

In der ersten Dialektik der Wahrnehmung zerbricht ihr Gegenstand am Widerspruch zwischen dem Ding und seinen Eigenschaften, zwischen dem Eins und dem Auch. Näherhin31 bestimmt sich der Widerspruch so, dass der Gegenstand als rein Einer (d.h. als opake Entität) aufgenommen werden soll, an dem aber Eigenschaften (als erste Form der Allgemeinheit) hervortreten und diesen sprengen. So stellt sich in einer zweiten Stufe der Gegenstand als umschließende Gemeinschaft (positive Allgemeinheit) dieser Eigenschaften dar, wobei aber nun die Negation in Form der Eigenschaften, die in ihrer Besimmtheit auftreten, den Gegenstand als bloßes Medium sprengen. Um dieser Bestimmtheit der Eigenschaften willen muss der Gegenstand in einer dritten Stufe als ausschließendes Eins (sozusagen als Fluchtpunkt der Eigenschaften; man beachte die zunehmende Reflexionstätigkeit, die sich in die Wahrnehmung einschaltet) gesetzt werden. Durch diese Setzung des ausschließenden Eins, in welchem die Eigenschaften fokussiert sind, werden diese nun in einer vierten Stufe als sinnliche Allgemeinheiten, die einander ausschließen und die jeweils für sich sind, wahrgenommen, woraus sich als letzter Schritt ergibt, dass die Eigenschaft in diesem reinen Sich-auf-sich-selbstBeziehen, welches die Negativität nicht an ihr hat, wieder zum bloßen sinnlichen Sein herabsinkt. Allerdings findet deshalb keine Regression in die sinnliche Gewissheit statt, weil das wahrnehmende Bewusstsein die „Erfahrung der Wahrnehmung gemacht hat“32, d.h. die eigene Reflexionstätigkeit, das eigene Auffassen ist ihm präsenter geworden, was gegen Kant und dessen Trennung von Verstand und Sinnlichkeit bereits

31 32

Vgl. G.W.F. Hegel, PhdG, III 97f. G.W.F. Hegel, PhdG, III 98.

8. ZEIT, EWIGKEIT UND KRITISCHE DIFFERENZ ALS ZWEITE ÜBERSINNLICHE WELT

257

an dieser Stelle angeführt werden muss. Deshalb kann die Wahrnehmung in der zweiten Dialektik die Bestimmungen von Eins und Auch auf sich nehmen.

In der zweiten Dialektik versucht die Wahrnehmung den Widerspruch so aufzulösen, dass sie abwechselnd das Auch (die Allgemeinheit; die Wahrnehmung als umschließendes Medium des Dinges) und das Eins (d.h. die Negation; die Wahrnehmung als das Eins des Dinges) auf sich nimmt und dem Ding die jeweils andere Seite zuordnet (das Ding als Eins bzw. das Ding als umschließendes Medium der Eigenschaften). Wenn die Wahrnehmung das „Auch“ auf sich nimmt, wird damit beansprucht, dass die Eigenschaften sich mittels der Wahrnehmung als solche differenzieren (Hegel bringt das Salz als Beispiel, welches kubisch durch unsere Augen, salzig durch unseren Geschmack etc. ist) und das Ding das Moment des „Eins“ darstellt. Als Eins aber ist das Ding Bestimmtes, womit es sich als Ding von bestimmten Eigenschaften manifestiert, die wiederum (siehe erste Dialektik) in ihrer Eigenständigkeit auftreten, wodurch das Ding bloßes Auch ist (in Bezug auf das Salz treten die Eigenschaften salzig, weiß, kubisch in ihrer Selbständigkeit hervor) und die Einheit durch das wahrnehmende Bewusstsein hergestellt werden muss. Dies macht das Bewusstsein durch das Ineinssetzen dieser Eigenschaften. In diesem Ineinssetzen allerdings stellt sich das Ding wiederum als Eins und das Bewusstsein als Auch her, womit der Kreislauf wiederum von vorne beginnt.

Der Erfahrungsschritt, den das Bewusstsein durch seine Tätigkeit allerdings macht, ist, dass die Reflexionsbestimmungen (Eins, Auch) immer deutlicher an den Dingen selbst hervortreten. Die Wahrnehmung will allerdings weiterhin ihren Gegenstand fixieren. In der dritten Dialektik versucht sie dabei die Momente von Eins und Auch auf verschiedene Dinge zu verteilen. Das Moment des Auch sind die mannigfaltigen (unwesentlichen) Beschaffenheiten des Dinges (die Eigenschaften), dagegen aber steht das Eins, das Wesen des Dinges, sein Proprium und Fürsichsein, wodurch es sich von anderen (seinem Sein für Anderes) absolut unterscheidet. Dieser sinnlich mittlerweile nicht mehr wahrnehmbare absolute Unterschied – womit endgültig der Eintritt in das Reich des Verstandes erfolgt ist – ist aber nichts anderes als das Verhältnis zu den anderen Dingen und gerade dadurch die Negation der Selbständigkeit des Dinges. Als Resultat der Wahrnehmung ergibt sich: [...] der Gegenstand ist vielmehr in einer und derselben Rücksicht das Gegenteil seiner selbst: für sich, insofern er für Anderes, und für Anderes, insofern er für sich ist. Er ist für sich, in sich reflektiert, Eins; aber dies für sich, in sich reflektiert, Eins-Sein ist mit seinem Gegenteile, dem Sein für Anderes, in einer Einheit und darum als Aufgehobenes gesetzt; oder dies Fürsichsein ist ebenso unwesentlich als dasjenige, was allein das Unwesentliche sein sollte, nämlich das Verhältnis zu Anderem.33

33

G.W.F. Hegel, PhdG, III 104.

258

VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

Damit kann die Wahrnehmung nicht mehr zwischen einem Fürsichsein und einem Sein für Anderes, zwischen einem Eins und einem Auch changieren, der positiven Allgemeinheit tritt nicht mehr das ausschließende Eins gegenüber, sondern die gesamte Bewegung ist in das, wie Hegel es nennt, Unbedingt-Allgemeine (der Ausdruck ist treffend, weil der sich damit einstellende Gegenstand nicht mehr die Form eines Dinges hat) zusammengegangen und das Ding hat sich in seiner Fixiertheit aufgelöst. Tatsächlich ist dies aber ein Wissen, welches heute, da sogar der Mensch oder Gott als Ding mit Eigenschaften genommen wird, kaum präsent ist. Vielmehr ist es nicht zuletzt durch das Fernsehen und die in ihm verstärkte Idolatrie die Wahrnehmung, die in ihrer Unmittelbarkeit den Wissenscharakter unserer Gesellschaft massiv bestimmt, womit es zunehmend schwierig wird, geistigere Formen des Weltumgangs explizit zu machen.

In diesem Unbedingt-Allgemeinen vermag das Bewusstsein zunächst noch nicht die Denktätigkeit zu erkennen, sondern es nimmt dieses wiederum gegenständlich als Kraft. Das Moment des Eins ist darin – wir verkürzen die Interpretation dieses Kapitels, welches in seiner Fülle darzustellen jeden Rahmen sprengte – als Kraftpunkt (Monade) gesetzt, das Moment des Auch als die Äußerung der Kraft. Da das Bewusstsein allerdings die Dialektik noch abzuhalten sucht, muss es die Momente der Kraft (des Kraftpunktes) und ihrer Äußerung auseinanderhalten. Dadurch bedarf es einer anderen Kraft, die die erste Kraft zur Äußerung sollizitiert34. Als entäußerte Kraft allerdings ist wiederum ihr Einssein, das ihr wesentlich zukommt, ein anderes als sie und sie muss daher wiederum von einer anderen Kraft zur Reflexion in sich (Einssein) sollizitiert werden. Damit ist aber die Kraft in zwei Kräfte auseinandergetreten, die gegeneinander bestimmt sind. In dieser gegenseitigen Bestimmung bedingen sie einander und jede Kraft ist (als das Sollizitierende) „sollizitierend nur, insofern es vom anderen dazu sollizitiert wird, sollizitierend zu sein“ (PHdG III 114). Damit ist es aber nicht mehr möglich, die zwei Kräfte positiv gegeneinander festzuhalten, vielmehr ist das Sein der Kraft „Gesetztsein durch ein Anderes“, was nichts anderes bedeutet, „als dass ihr Sein [als Festgehaltenes] die Bedeutung des Verschwindens“ hat“ (ebd.). Damit ist die leibnizsche Monadenlehre philosophisch eingeholt, insofern sich zeigt, dass die Monade ihr eigenes Verschwinden als Gegenstand ist. Das Fürsichsein und das Sein für Anderes, das Sollizitieren und das Sollizitierte, der Kraftpunkt und die Äußerung lassen sich nicht mehr an verschiedene Momente verteilen. In diesem Sichselbstaufheben aller festen Bestimmungen ist, wie Hegel sagt, bereits der „Begriff als Begriff“ (in seiner negativen Dialektik von Allgemeinem, Beson34

Im eigentlichen Sinne müsste man darauf hinweisen, dass das Fürsichsein als das Moment der Negativität (vorstellungsmäßig) nichts Anderes ist als das Sollizitieren (vgl. Absatz 9 von „Kraft und Verstand“), welches zunächst noch in eine zweite Kraft ausgelagert ist, was hier aber nicht ausgeführt werden kann.

8. ZEIT, EWIGKEIT UND KRITISCHE DIFFERENZ ALS ZWEITE ÜBERSINNLICHE WELT

259

derem und Einzelnem, worauf wir hier deshalb schon antizipierend hinweisen, weil dieser die Entäußerung der Zeit sein wird) als „Inneres der Dinge“ gesetzt, was aber noch einer Erläuterung bedarf. Dieses Innere der Dinge ist nicht der anfangs sich dargestellt habende Kraftpunkt, sondern die gesamte negative Bewegung des SichSelbstaufhebens der festen Bestimmungen. Damit ergibt sich, dass der Verstand – die Wahrnehmung ist ja bereits an dem Widerspruch des Dinges zu Grunde gegangen, gleichzeitig sind die Reflexionsbestimmungen immer stärker in den Vordergrund getreten; an dieser Stelle haben wir nur mehr das SichAufheben – mittels des sich aufhebenden Spiels der Kräfte in das Innere „als den wahren Hintergrund der Dinge blickt“ (PhdG III 116). Hegel schreibt Folgendes: Die Mitte, welche die beiden Extreme, den Verstand und das Innere zusammenschließt, ist das entwickelte Sein der Kraft, das für den Verstand selbst nunmehr ein Verschwinden ist. Es heißt darum Erscheinung; denn Schein nennen wir das Sein, das unmittelbar an ihm selbst ein Nichtsein ist. Es ist aber nicht nur ein Schein, sondern Erscheinung, ein Ganzes des Scheins. Dies Ganze als Ganzes oder Allgemeines ist es, was das Innere ausmacht, das Spiel der Kräfte, als Reflexion desselben in sich selbst.35

Es ist unschwer zu erkennen, dass in diesen Sätzen ein Schluss angesprochen ist, der den Verstand und das Innere zu seinen Extremen hat. Dabei weiß allerdings der Verstand noch nicht, dass es seine Reflexionstätigkeit ist, die das Innere der Dinge ausmacht. Vielmehr versucht er dieses, welches Hegel das Absolut-Allgemeine bezeichnet – weil hier keine gegensätzlichen Seiten mehr auftreten –, noch einmal gegenständlich zu nehmen. Dabei ist ihm der Gegenstand zunächst das Innere als absolutes Jenseits. Dieses Innere ist leer, weil es nur das Nichts der Erscheinung, das ständige Verschwinden aller Bestimmungen ist. Damit tritt Hegel in die Auseinandersetzung mit Kant ein, weil für ihn sich in diesem Leeren, welches dem „Ding an sich“ entspricht, das Resultat der kantischen Philosophie ausspricht. Diese vollzog, wie wir gesehen haben, eine Trennung in Erscheinung und Ding an sich, welches als Grenzbegriff aufrecht erhalten werden musste, um die Antinomien des Verstandes aufzulösen und in weiterer Folge, um überhaupt Freiheit denken zu können. Hegel beginnt nun seine Auseinandersetzung mit Kant, die gleichzeitig Kritik aller Metaphysik und Prinzipienphilosophie ist, mit dem (indirekten) Verweis darauf, dass in diesen Philosophien und Theologien das Sein entweder als absolute Positivität fungiert oder aber als Erscheinung erkannt wird wie bei Kant. Letzterer denkt dann allerdings nicht die Erscheinung als Erscheinung, sondern stellt ihr ein Ding an sich gegenüber, welches bloße Leere ist, die dann gefüllt werden muss (sei es in der praktischen Vernunft, sei es offenbarungstheologisch, oder sei es gar, dass diese Leere im Sinne einer radikalen End35

G.W.F. Hegel, PhdG, III 116.

260

VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

lichkeit oder einer sich ständig erzeugenden Dekonstruktion vorgegebener Bestimmungen gefasst wird). Diese Leere, gegen die Hegel in den Jugendschriften in einer furchtbaren Stelle, die sich gegen den jüdischen Tempel richtet36, noch polemisiert, wird sich, auch wenn es im 15. Abschnitt (III 117f.) von „Kraft und Verstand“ auf Grund der Auseinandersetzung mit Kant noch den Anschein hat, als ob Hegel die Polemik gegen die Leere fortsetzte, als das geistigste Element, weil Resultat der zweiten übersinnlichen Welt, darstellen.

Auch bei Hegel wird sich diese Leere (negativ) „füllen“ (d.h. nicht als Leere positivierend festgehalten), wobei er aber auf deren Genese verweist und diese „Füllung“ in ihrer immanenten Dialektik darzustellen versucht: Das Innere oder das übersinnliche Jenseits ist aber entstanden, es kommt aus der Erscheinung her, und sie ist seine Vermittlung; oder die Erscheinung ist sein Wesen und in der Tat seine Erfüllung. Das Übersinnliche ist das Sinnliche und Wahrgenommene, gesetzt, wie es in Wahrheit ist; die Wahrheit des Sinnlichen und Wahrgenommenen aber ist, Erscheinung zu sein. Das Übersinnliche ist also die Erscheinung als Erscheinung.37

Dabei darf die Erscheinung als Erscheinung, von der Liebrucks sehr prägnant schreibt: „Die zweite Revolution der Denkungsart besteht darin, daß sie sich dem ständigen Wechsel der Erscheinungen stellt und ihn nicht unter kantischen Grundsätzen und fichteschen Bildern wieder zum Stillstand bringt.“ 38, nicht mit der sinnlichen Welt verwechselt werden, vielmehr ist sie deren Aufhebung. Dem Verstand hat sich die Leere als das absolute Austauschen der Bestimmtheiten (Kraft-Äußerung, Eins-Auch, Sollizitieren-Sollizitiertwerden) ergeben. In diesem Austausch zeigt sich ihm der absolute Wechsel oder, wie Hegel schreibt, „der Unterschied als allgemeiner oder als ein solcher, in welchen sich die vielen Gegensätze reduziert haben“. Der Verstand hat (über die Wahrnehmung) bereits die Erfahrung des Allgemeinen gemacht. Dieses stellt sich für ihn allerdings nicht mehr auf sinnliche Weise dar, sondern als der von Hegel angeführte Unterschied – wobei wir darauf hinweisen können, dass in diesem Unterscheiden schon die genuine Tätigkeit des Verstandes selber zum Ausdruck gebracht ist –, der sich als der einfache (d.h. unmittelbare) Unterschied, in den aller Wechsel der Bestimmtheit zurückgegangen ist, präsentiert. Wiederum auf unmittelbare Weise genommen stellt sich dieser Unterschied, von dem wir wissen, dass er die Denktätigkeit selber ist, dem Verstand als Gesetz dar. Denn dieses ist tatsächlich der Ausdruck eines einfachen, sich gleichbleibenden Unterschieds, der in der Sphäre der Allgemeinheit gesetzt ist. Denn jedes Gesetz, egal ob damit ein neuzeitliches Naturgesetz oder die platonische Idee oder auch der kantische Zweckbegriff als Reflexionsbestim36 37 38

Vgl. G.W.F. Hegel, Frühe Schriften, I 283f. G.W.F. Hegel, PhdG, III 118. B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, V 59.

8. ZEIT, EWIGKEIT UND KRITISCHE DIFFERENZ ALS ZWEITE ÜBERSINNLICHE WELT

261

mung (oder der Funktionsbegriff Cassirers) oder ein Prinzip ins Auge gefasst ist, zeichnet sich dadurch aus, dass es eine fixierte Unterscheidung darstellt – und zwar in Bezug auf die wechselnden Erscheinungen. So ist die Idee bzw. der Zweck als einfacher Unterschied den wechselnden sinnlichen Erscheinungen entnommen (d.h. ihre Einheit gestaltet sich als Unterschied zu den wechselnden Erscheinungen). Gleiches gilt auch für das Naturgesetz, in welchem der Unterschied auch als innerer gesetzt ist, insofern es nämlich einen fixen Bezug (Unterschied) zweier fester Parameter bildet (z.B. die Geschwindigkeit und die Zeit in Bezug auf den Weg usw.). Im Prinzip schließlich ist schon immer ein Anfang positiviert, in dem sich das Prinzip vom Prinzipiierten unterscheidet.

Damit hat sich der Unterschied zwischen der Erscheinung und der Welt der Gesetze ergeben, wobei letztere deren, wie Hegel antiplatonistisch sagt, „stilles Abbild“ sind39. Allerdings vermag das Reich der Gesetze die Erscheinung in deren ständiger Veränderung nicht auszufüllen (was sich umso deutlicher ausdrückt, je geistiger sich eine Erscheinung darstellt; nichts ist peinlicher, als wenn etwa in der Pädagogik oder Psychologie menschliches Verhalten klassifiziert wird), was zunächst zu dessen ständiger Vermehrung in viele bestimmte Gesetze führt. Allerdings brächte uns dies weg vom Verstand, der ja den einfachen Unterschied als die Wahrheit des Inneren ausgesprochen hat. So bleibt nur mehr der „Begriff des Gesetzes“ übrig, welcher aussagt, „dass die Wirklichkeit an ihr selbst gesetzmäßig ist“40, womit der Verstand die Essenz Platons und der modernen Naturwissenschaften ausspricht, indem er den Unterschied als fixierte Größe positiviert. Die folgenden langen und durchaus interessanten Ausführungen Hegels müssen wir übergehen. Wichtig ist, dass das Gesetz (nicht mehr die Kraft als Kraftpunkt) als das Sollizitierende (der Erscheinung), in das alle Wirklichkeit aufgehoben werden soll und die Erscheinung als das Sollizitierte (beide) in das Innere (nun nicht mehr der Kraft, sondern gemeint ist das Innere der Dinge!) zurückgehen, welches Hegel wiederum Kraft nennt (die physikalischen Anlehnungen, die Hegel dabei vor Augen gestanden sind, können an dieser Stelle nicht ausgeführt werden41, wichtig ist, dass es sich hier nicht mehr um die Kraft, die in das Spiel der Kräfte tritt, handelt. Am ehesten könnte man sagen, dass es hier um eine Metaphysik geht, die eine unbestimmte Kraft als das Innere der Dinge setzt). Diese (Grund)kraft, in die alle Unterschiede zurückgehen, stellt sich aber wiederum lediglich in Form des Unterschieds des Gesetzes dar. Dieser Unterschied, der sich als die Unterscheidung der ersten übersinnlichen Welt und der Erscheinung ergeben hat, ist aber wiederum (in der Teilung von Gesetz als Sollizitierendem und Erscheinung als Sollizitier39 40 41

G.W.F. Hegel, PhdG, III 120. G.W.F. Hegel, PhdG, III 121. Zu erinnern sei lediglich, dass auch physikalisch die Grundkräfte (elektroschwache Kraft, starke Kraft, Gravitation) eine andere Bedeutung haben als die „normale“ Kraft.

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

tem) nichts anderes als der Rückgang in die Einheit des Inneren. Damit ist die Grundstruktur der Reflexion am Gegenstand aufgefunden, die (wie sich am kantischen Urteil gezeigt hat) einen Unterschied setzt und diesen wiederum unmittelbar zurücknimmt. Dies (d.h. die reflektierende Urteilskraft) stellt sich am Gegenstand als zweite übersinnliche Welt dar, in der „das Gleichnamige sich von sich abstößt [...] oder das Ungleichnamige sich anzieht“ (PhdG, III 127). Somit ist auch der wohl bis dato radikalste Antiplatonismus gesetzt, denn das Reich des Unterschieds der ersten übersinnlichen platonischen Welt hat den Unterschied an ihr selbst – Hegel nennt diese damit einhergehende Verkehrung die verkehrte Welt – und stößt sich als zweite übersinnliche Welt ab in den absoluten Unterschied der Unendlichkeit oder absoluten Unruhe des reinen Sichselbstbewegens. Bevor wir klären, was damit gemeint ist, muss darauf hingewiesen werden, dass die zweite übersinnliche Welt nicht so aufgefasst werden darf, dass sie die erste übersinnliche Welt in die unmittelbare Sinnlichkeit der Erscheinung verkehrt, denn erstens zeigte sich diese ja als aufgehoben, zweitens wäre damit der Unterschied nicht als solcher gesetzt, sondern er wäre der festgehaltene Unterschied, der die erste übersinnliche Welt von der Welt der Erscheinung abgegrenzt hat. Hier soll kurz angemerkt werden, dass es Feuerbach ist, der Hegel deshalb missverstanden hat, weil er den Unterschied an der ersten übersinnlichen Welt nicht als zweite übersinnliche Welt, sondern als deren positiviertes Gegenteil in Form der Erscheinung gefasst hat. Die Konsequenz ist, dass die Ewigkeit damit in der Zeit sistiert wäre, Gott im Menschen, der Geist in der Materie usw.

Die zweite übersinnliche Welt ist vielmehr zu fassen als die Wahrheit von erster übersinnlicher Welt und Welt der Erscheinung, was bedeutet, sie ist die Erscheinung als Erscheinung. Auf diese Weise ist sie nicht das Verschwinden im dauernden Wechsel und nicht der festgehaltene Unterschied (oder vielmehr ist sie beides, allerdings spekulativ aufgefasst, d.h. die Erscheinung und das Gesetz sind als Momente an ihr), sondern sie ist der Unterschied als Unterschied, d.h. der Unterschied, der identisch mit sich (im Verschwinden) ist, d.i. der im Unterscheiden aufgehobene Unterschied oder die absolute Negativität, welche uns in der dialektischen Methode begegnete und welche hier in der PhdG als Selbstbewusstsein (bzw. in der ansichseienden Form als Leben) gefasst ist. Hegel schreibt dazu Folgendes: Indem ihm [d.h. dem Verstand] dieser Begriff der Unendlichkeit Gegenstand ist, ist es also Bewusstsein des Unterschiedes als eines unmittelbar ebensosehr Aufgehobenen; es ist für sich selbst, es ist Unterscheiden des Ununterschiedenen oder Selbstbewusstsein. Ich unterscheide mich von mir selbst, und es ist darin unmittelbar für mich, dass dies Unterschiedene nicht unterschieden ist. Ich, das Gleichnamige, stoße mich von mir selbst ab [...]. Wir sehen, dass im Innern der Erscheinung der Verstand in Wahrheit nicht etwas Anderes als die Erscheinung selbst, aber nicht wie sie als Spiel der Kräfte ist, sondern dasselbe in seinen absolut-allgemeinen Momenten und deren Bewegung, und in der Tat nur sich

8. ZEIT, EWIGKEIT UND KRITISCHE DIFFERENZ ALS ZWEITE ÜBERSINNLICHE WELT

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selbst erfährt. [...] Es zeigt sich, dass hinter dem sogenannten Vorhange, welcher das Innere verdecken soll, nichts zu sehen ist, wenn wir nicht selbst dahintergehen [...].42

Der Verstand schaut in das Innere der Dinge und sieht nichts, wobei dieses „nichts“ nicht mehr als Ding an sich vergegenständlicht werden darf, sondern die reine Leere der Negativität des Begriffs oder auch, wie wir vorwegnehmen können, die Zeit ist, insofern sie als daseiender Begriff die negative Bewegung des Unterschieds, d.h. das Selbstbewusstsein ist. Die Leere des Begriffs in der unmittelbarsten und d.h. festgehaltenen Form ist der Raum, während die Zeit, wie Hegel in der (sonst für die theologische Frage nach der Zeit wenig beitragenden) Naturphilosophie sagt, die Negativität des Ich=Ich in der Form der Äußerlichkeit ist43, wobei sich uns die Bedeutung dieser Äußerlichkeit im absoluten Wissen erschließen wird. Festgehalten kann hier werden, dass die Zeit die gleiche Negativität wie die zweite übersinnliche Welt darstellt.

Anders gesagt: Der Verstand findet am Gegenstand seine eigene Reflexion (die Synthesis, die sich in Bewusstsein und Gegenstand, Gesetz und Erscheinung unterscheidet und diesen Unterschied zurücknimmt). Diese ist nichts anderes als der absolute Unterschied, der sich in seiner ganzen Totalität von sich unterscheidet, und daher das Selbstbewusstsein als gedoppeltes (das Ich, das Wir ist). Unmittelbar wird das Bewusstsein diese Negativität als anderes Selbstbewusstsein erfahren, wobei allerdings noch lange nicht der Status gegenseitigen Anerkennens erreicht ist. Als Resultat ergibt sich, dass das Innere der Dinge als zweite übersinnliche Welt die Wahrheit der gegenständlichen Welt ist. Es trägt als der absolute sich auf sich beziehende Unterschied die Form des Ich=Ich im Sinne der von uns bereits angezeigten absoluten Methode und ist so die Darstellung des spekulativen Satzes. Anders gesagt: Die zweite übersinnliche Welt ist der von uns bereits angesprochene Weltumgang des Menschen als Gang Gottes zum Menschen, der zugleich die kritische Differenz aller affirmativen Fixierungen und Prinzipiierungen ist. Unsere Auffassungsweise von der Welt, die in dieser ein ungeistiges Geschehen sieht, ist damit von Hegel widerlegt, vielmehr hat er das Selbstbewusstsein (bzw. die reflektierende Urteilskraft bzw. die Monade, wenngleich nicht in der von Leibniz substantiierten Form) als Wahrheit des kantischen Dinges an sich bzw. des Seins überhaupt dargestellt. Dieses Selbstbewusstsein ist dabei, wie wir bereits in der absoluten Methode angedeutet haben und wie die PhdG im ganzen Verlauf ihrer Ausführungen weiter anzeigen wird, nicht die narzisstische Introspektion eines alles integrierenden Ichs, sondern wird sich als Wahrheit der Substanz, d.h. als freies Sichanderswerden herausstellen. Weiters ist zu betonen, dass die zweite übersinnliche Welt die Prinzipienwelt der ersten übersinnlichen Welt und die sinnliche Welt der Erscheinung als kri42 43

G.W.F. Hegel, PhdG, III 134-136. Vgl. G.W.F. Hegel, Enzyklopädie §258, IX 49.

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

tische Differenz vereinigt oder anders gesagt: Sie ist das Wissen davon, dass der Mensch sein Selbstbewusstsein nicht als kantisches oder fichtesches Prinzip gewinnen kann, sondern als gedoppeltes und damit unter der Schirmherrschaft der Anerkennungsfrage stehend nur im konkreten Weltumgang (d.h. geschichtlich). Als absoluter Unterschied ist sie ferner Ewigkeit als die sich auf sich beziehende Negativität und so die immanente Differenz (Spannung) der Zeit, die sich als diese Differenz in die Zeit (als deren Voraus-Setzung / Vor-Gabe bzw. Eschaton) und ihre Gestalten abgestoßen hat, wodurch sie die Einheit von positiver und negativer Philosophie Schellings darstellt. Zu unterstreichen ist dabei, dass die Ewigkeit nicht in einem räumlichen Sinne abgehoben werden kann, sondern Anfangen (der Negativität) der Zeit (als Einheit von Genetivus subjectivus und Genetivus objectivus) ist, die in ihren Anfang verschwindet und ihn dadurch setzt. Mit Liebrucks ist ferner zu sagen, dass die zweite übersinnliche Welt die Welt der Sprache ist, deren Proprium es ist, sich als Metasprache in die konkreten Einzelsprachen, in denen der jeweilige Weltumgang einer Epoche aufgehoben ist, abzustoßen oder auch als gesprochene Sprache im Verschwinden einen allgemeinen Sinn zu entwickeln. Nach den Ausführungen über dieses zentrale Kapitel der PhdG können wir unseren Durchgang nun beschleunigen:

9. Zeitgestalten I Leben, Lebendiges, Selbstbewusstsein Die ersten Gestalten, die uns im weiteren Verlauf der PhdG begegnen, wobei wir immer berücksichtigen müssen, dass jede Gestalt eine Gestaltung der Zeit (von der wir bereits angedeutet haben, dass sie der daseiende Begriff bzw. die Manifestation der zweiten übersinnlichen Welt ist) darstellt, sind das Leben/Lebendige und das Selbstbewusstsein. Die Ausführungen über das Leben in den zwölf Absätzen der Einleitung des Selbstbewusstseinskapitels gehören dabei wohl mit zum Bedeutendsten, was jemals in der Philosophie geschrieben wurde. Für die Theologie gilt auch, dass es sich bei dieser Ausführung um einen wunderschönen Beitrag zu Gen 2,23 handelt. Weiters ist zu sagen, dass alle, die die hegelsche Dialektik auf eine blutleere, mechanische Methode reduzieren, allein durch diese Ausführungen über das Lebendige in Frage gestellt sind. Wir müssen uns allerdings in der Darstellung dieser Gestalten auf einige Hinweise beschränken, die nicht den Reichtum der hegelschen Gedanken ausschöpfen: Dem Selbstbewusstsein ist im Durchgang durch das Verstandeskapitel die Einheit mit sich selbst zur Wahrheit geworden, wobei wir wissen, dass diese Einheit keine affirmative sein kann. Unmittelbar realisiert es diese Wahrheit als Begierde. Dabei trägt der Gegenstand allerdings bereits

9. ZEITGESTALTEN I

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den Charakter des Negativen (daher wird nie ein Gegenstand begehrt, sondern das Aufheben desselben), denn die „positive“ Wahrnehmung hat sich verflüssigt und der Gegenstand hat sich in der zweiten übersinnlichen Welt als die absolute Negativität manifestiert. Dieser Charakter des Negativen oder die Reflexion des Gegenstandes in sich, der sich im Verschwinden als identisch mit sich darstellt, ist an sich genommen das Leben. In der zweiten übersinnlichen Welt als der Welt des spekulativen Satzes ist bereits der Gedanke der Anerkennung inkludiert. Während bis dahin das Bewusstsein in seinen Gegenständen keine Anerkennung erfahren konnte, ist nun eine Änderung eingetreten: Die erste Anerkennung, die das Selbstbewusstsein dabei erfährt, ist seine Anerkennung als Lebendiges durch das Leben, konkreter die Anerkennung, die es durch die Negativität des Lebens erfährt. Bestimmter ausgedrückt bedeutet dies, dass der Mensch niemals Herr des Lebens ist, sondern seine Schranke an diesem erfährt, was er bereits im Paradies zur Kenntnis nehmen musste, wo ihm die Frucht verboten war. Wir werden noch im Laufe der Arbeit darauf zurückkommen, dass auch die Gegenständlichkeit (hier nicht im Sinne positivierbarer Objektivität, sondern im Sinne von Unverfügbarkeit zu verstehen) des Lebens in der Bewegung gegenseitiger Anerkennung ihren Charakter verändert; festzuhalten bleibt aber, dass die sich entziehende Negativität des Lebens konstitutives Element menschlicher Geistigkeit ist. Gott entspricht dem Menschen in der Natur (von der wir allerdings, wie Schelling und Paulus uns zu bedenken geben, noch nicht wissen, was sie in ihrer vollen Gestalt ist) als lebendigem Wesen, indem er die Natur (d.h. den Ort des Lebens) als das sich Entziehende, Unverfügbare und Gegenständliche schafft.

Das Leben ist dabei die „allgemeine Flüssigkeit“ (des Begriffes), die in ihren Unterschieden das Lebendige darstellt, ein „Unterschied, der keiner ist“, insofern das Lebendige im Lebensprozess untergeht und aus ihm wieder hevorgeht. Als dieser Prozess ist sie „nicht die erste einfache Substanz“ (PhdG III 142), sondern „in sich reflektierte Einheit“ (durch das ständige Aufheben des Lebensprozesses in das konkrete Lebendige und des Lebendigen in den Prozess ist sie die Negativität, die sich auf sich bezieht und somit in sich reflektiert). An dieser Stelle kann darauf hingewiesen werden, dass mit den hegelschen Überlegungen auch der kantische Begriff des Lebens konkretisiert ist. Das Lebendige ist in sich reflektiert (damit hat es unhintergehbar eigene Würde) und als diese „Reflexion in sich“ auch „Reflexion für uns“, insofern alle Unterschiede in die Einheit der einen Reflexion zurückgegangen sind. Oder anders gesagt: Die kantische „Reflexion für uns“ ist genauso „Reflexion in (an) sich“.

In diesem Moment des „Fürsichseins“ (in sich reflektierte Einheit), welches das Leben als Leben nicht für sich vollzieht, verweist es „auf ein Anderes“, konkret auf das Selbstbewusstsein, „für welches die Gattung als solche und welches für sich selbst Gattung ist“ (PhdG III 143). Während also das Leben in der Dialektik von Leben und Lebendigem sich in ständig neuen Variationen

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

gestaltet und darin in sich (aber noch nicht für sich) zurückkehrt, ist das Selbstbewusstsein Ausgangspunkt und Resultat dieser Rückkehr: Es ist die Negativität des Lebens, die sich auf sich bezieht. In diesem Satz steckt ein wichtiger Hinweis auf die Stellung des Selbstbewusstseins gegenüber dem Leben. In der Biologie wird in der Regel der Mensch als eine Art (oder als Homo sapiens sapiens gar als Unterart) unter Millionen anderen Arten aufgefasst. Tatsächlich ist es aber so, dass jedes menschliche Individuum den gesamten Gattungsprozess des Lebens für sich vollzieht, also das gesamte Leben beinhaltet, während alle anderen Lebewesen nur von einer Art sind und in dieser auch untergehen (wobei allerdings in Bezug auf die Unsterblichkeit überlegt werden könnte, was es bedeutet, wenn Tiere z.B. als Haustiere Teil der menschlichen Welt werden). Auch in Bezug auf die Frage der Evolution findet sich in diesen Passagen Entscheidendes: Insofern die ganze Bewegung des Lebens in das Selbstbewusstsein zurückgeht, ist das Selbstbewusstsein sowohl Resultat als auch Ausgangspunkt der Evolution. D.h., unser modernes Denken hat insofern Recht, als es das Selbstbewusstsein als Resultat erkennt und insofern Unrecht, als es nicht weiß, dass dieses Resultat schon der Ausgangspunkt des ganzen Geschehens war. Ohne Evolution gibt es also keinen Menschen und ohne Menschen auch keine Evolution, die so als die (ewige) Vergangenheit des Menschen (voraus)gesetzt wird.

Im Menschen vollzieht sich nicht nur der gesamte Lebensprozess, weshalb niemals etwa eine Tierart das Allgemeine (der Idee) darstellen kann – sondern immer in der Besonderung bleibt –, sondern er wird, wie bereits die jahwistische Schöpfungserzählung weiß, zur, wie Hegel es nennt, Befriedigung der Begierde (d.h. seinem Selbstvollzug als Negativität des Selbstbewusstsein) erst durch ein anderes Selbstbewusstsein kommen. Dies deshalb, weil die Negation, die konstitutiv für seine Auffassungsweise in Bezug auf den Gegenstand ist, sich an diesem selbst, d.h. in dessen Selbstvollzug und damit in absoluter Negativität darstellen muss. Dies ist aber nur in einem anderen Selbstbewusstsein möglich bzw. – um hier nicht in die Vorstellung zweier „Iche“ zu verfallen – in einem gedoppelten Selbstbewusstsein, einem „Ich“, das im Prozesse des „Sich-Anders-Werdens“ zugleich „Wir“ ist. Hegel schreibt: Indem ein Selbstbewusstsein der Gegenstand ist, ist er ebensowohl Ich wie Gegenstand. – Hiermit ist schon der Begriff des Geistes für uns vorhanden. Was für das Bewusstsein weiter wird, ist die Erfahrung, was der Geist ist, diese absolute Substanz, welche in der vollkommenen Freiheit und Selbständigkeit ihres Gegensatzes, nämlich verschiedener für sich seiender Selbstbewusstsein[e], die Einheit derselben ist; Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist. Das Bewusstsein hat erst in dem Selbstbewusstsein, als dem Begriffe des Geistes, seinen Wendungspunkt, auf dem es aus dem farbigen Scheine des sinnlichen Diesseits und aus der leeren

9. ZEITGESTALTEN I

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Nacht des übersinnlichen Jenseits in den geistigen Tag der Gegenwart einschreitet.44

Erst in der „Freiheit und Selbständigkeit des Gegensatzes“ wird sich geistige Erkenntnis einstellen, d.h. in der freien Anerkennung des Anderen, die nur dann möglich ist, wenn er/es nicht als Ding von Eigenschaften, sondern in seiner Negativität, d.h. in der Differenz der zweiten übersinnlichen Welt betrachtet wird. Die Begierde wird nicht in der unmittelbaren Identitätsgebung eines Glückseligkeitsgefühls befriedigt, sondern nur in dem bereits in der absoluten Methode angesprochenen Wendungspunkt des Geistes, in dem das Eigene in die Fremde gegangen ist, ihr Ziel erreichen. Damit wird sich aber die Zeit nicht in einem „übersinnlichen Jenseits“ gestalten, sie wird auch nicht in den unmittelbaren Beschäftigungen, d.h. dem unmittelbaren Schein des Diesseits ihre wahre Gestalt finden, sondern als freigelassene Zeit (Ge[gen]wärtigkeit) des Anderen, in der sich für uns auch die Präsenz Gottes und die Gemeinschaft mit den Toten zeigen wird. Das Selbstbewusstsein existiert nur als Anerkanntes. Eine solche Anerkennung kann ihm nur durch ein Anderes zukommen. Allerdings weiß das Selbstbewusstsein in seiner unmittelbaren Form noch nicht, dass es „füreinander die Bewegung der absoluten Abstraktion, alles unmittelbare Sein zu vertilgen“ (PhdG III 148), ist (womit die Geistigkeit ausgedrückt ist, die darin liegt, den Anderen nicht unter einer Bestimmung in den Blick zu nehmen). Vielmehr stellt es, weil jede Gestalt zuerst in ihrer unmittelbaren Form auftritt, diese Abstraktion als unmittelbare Negation des Gegenständlichen dar. Die Begierde will das Andere unmittelbar aufheben. Die erste Gestalt, in der das Selbstbewusstsein auftritt, ist Kain, das mordende Bewusstsein, der gefallene Mensch. Im Ermordeten erfährt das Bewusstsein allerdings keine Anerkennung – wir sind hier noch nicht in der Subtilität derer, die den Ermordeten Denkmäler bauen, um sich in ihrem Gutsein zu genießen, was ja Jesus entsprechend kommentiert hat (Mt 23,29-31; Lk 11,47f.) –, daher kann es bei dieser Form der Unmittelbarkeit nicht stehen bleiben. Die weitere Gestaltung vollzieht sich daher in der berühmten Herr-Knecht-Dialektik, wobei der Knecht derjenige ist, dem in der Angst vor dem Tode bzw. Gott (dem Herrn) das Leben (d.h. die Negativität des Lebens nicht mehr in der Abstraktion des Todes, sondern als Gegenstand) das Wesentliche geworden ist, was wir bereits im Verlaufe unserer Auseinandersetzung mit Heidegger angedeutet haben. Tatsächlich gibt es kein Gottesbewusstsein ohne das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit, weil der Mensch nur in der Furcht des Todes, wie Heidegger wohl in Anlehnung an Hegel richtig erkannt hat, die totale „Verflüssigung des Begriffs“ (d.h. die „Negativität“ und „Leere“ des Inneren) erfährt und in dieser Auflösung aller festen Bestimmungen vor das (nicht mehr positivierbare) Ganze seiner Existenz als Voraussetzung der Erfahrung Gottes gestellt ist. B. Liebrucks weist auf den Zusammenhang 44

G.W.F. Hegel, PhdG, III 145.

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

von Sprache als (dem göttlichen) Ausdruck des Geistes und Todesfurcht in eindringlichen Sätzen hin: „Die Sprache haben wir uns in ihrem Ursprung an den prägnanten Situationen des Menschengeschlechts zu denken, an denen die Formen der Dinge aus ihrer Selbstverständlichkeit heraustreten. [...] Der Ursprung der Sprache [...] ist der an den Rändern des Lebens in der Todesfurcht oder im höchsten Glück des Anblicks göttlicher Gestalten erzitternde Mensch. Die Sprache ist das in die Tonalität übersetzte Erzittern der Lippen Niobes, die den Apollon um die Erhaltung des letzten Kindes bittet.“45 Eine zweite Anmerkung soll noch dem Verhältnis der PhdG mit der Geschichte gelten: Gerade an der Herr-Knecht-Dialektik zeigt sich, dass diese bereits in den Jugendschriften vorbereitet ist, wobei hier die „Juden“ als Knechte auftreten (wobei allerdings Hegel die Dialektik des Knechts noch nicht ausgearbeitet hat). Daran können wir erkennen, dass, so wichtig historische Vorlagen für Hegel sind – L. Siep erkennt etwa Anspielungen auf die antike Sklaverei46 –, die Phänomenologie keine Geschichtsphilosophie ist und sich in den einzelnen Bewusst-Seinsgestalten durchaus auf mannigfaltige Erfahrungen beziehen kann. Sie führt dabei diese BewusstSeinsgestalten (und damit Zeitgestalten), die grundsätzliche Formen des Weltumgangs bezeichnen, auf einer Bühne vor, verwandelt sie also gewissermaßen in eine dem Bewusst-Sein entsprechende Erzählung, wobei wir nicht wissen, welche Gestalten wann in den Vordergrund treten. Hegels Methode ist, auch wenn dies das spätere System vielleicht anders nahegelegt hat, keine mechanische Methode eines theoretischen Durchschauens von Geschichte (und damit Philosophie der ersten übersinnlichen Welt), auch kein undialektischer Fortschrittsmythos, sondern die Transformation einer einem äußerlichen Blickwinkel sinnlos erscheinenden (chronologischen) Weltgeschichte in die Geschichte des Bewusst-Seins, welches nicht chronologisch, sondern in Gestalten abläuft.

Der Knecht kann also nicht die Negativität des Gegenstandes vollziehen, d.h. vom Sein abstrahieren, indem er den Tod auf sich nimmt. Daher muss er seine Anerkennung über die Negation des Seienden in der Arbeit erhalten. Damit erfährt er sich als Selbstbewusstsein im Gegenstand und damit bereits, wie Liebrucks festhält, „sprachlich“47, wenngleich allerdings dieser Gegenstand noch nicht der (ihm adäquat Anerkennung verschaffende) Begriff ist. Der weitere Gang führt in den Stoizismus, der den Gegenstand (und die Todesfurcht) hinweggearbeitet hat und sich in den Gedanken zurückzieht. Dabei entlässt er zwar das natürliche Dasein in die Freiheit, was die Höhe dieser Stufe andeutet, aber dies kann er nur, indem er alle Inhaltlichkeit, alle Substanzialität nivellierend vertilgt. So ist er nur die „unvollendete Negation des Andersseins“, dem die Wirklichkeit gleichgültig ist und der sich in seine Innerlichkeit (die darin nicht negiert ist) zurückzieht. Der Skeptizismus ist die Realisierung des Stoizismus, indem er die im Stoizismus bewusst gewordene Freiheit des Gedankens in der tätigen Negation der Wirklichkeit vollzieht (womit er im 45 46 47

B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, V 96. Vgl. L. Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes. B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, V 93.

10. ZEITGESTALTEN II

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Übrigen das für sich durchführt, was der Wahrnehmung widerfahren ist). In seiner allen Inhalt negierenden Bewegung wird „für das Bewusstsein die gänzliche Unwesentlichkeit und Unselbständigkeit dieses Anderen [...]“ (PhdG III 159). Dabei ist er in dieser Bewegung der Ungleichheit („ist nicht“), die er an einem beliebigen, sich ständig erneuernden Inhalt vollzieht, identisch mit sich. So ist der Widerspruch des „sich befreienden, unwandelbaren und sichselbstgleichen und seiner als des absolut sich verwirrenden und verkehrenden“ (PhdG III 163) Bewusstseins das Resultat dieser Bewegung. Damit sind wir bei einer der für die PhdG wichtigsten Gestalten, dem unglücklichen Bewusstsein angelangt. Es enthält viele Anspielungen auf die mittelalterliche Welt, auch auf das römische Reich, nicht zuletzt aber sind in dieser höchsten Stufe des Selbstbewusstseinskapitels, welches sich auch als Ausgangspunkt der offenbaren Religion darstellen wird, das Judentum und ein apokalyptisches Christentum sowie Kant und Fichte (mit)gemeint.

10. Zeitgestalten II Unglückliches Bewusstsein, Vernunft, Sittlichkeit Das Grunddilemma des unglücklichen Bewusstseins liegt darin, dass es die Einheit von dem unwandelbaren und dem wandelbaren Wesen (des Skeptizismus), die an sich die Bewegung der zweiten übersinnlichen Welt ist, noch in einen positivierten Fluchtpunkt, nämlich in das unerreichbare Unwandelbare (Gott) auslagert. Dabei ist es sich zwar der Negativität dieses Unwandelbaren bewusst, das sich als diese absolute, d.h. sich auf sich beziehende Negativität bereits zu dem Unwandelbaren (d.h. zu Jesus Christus) gestaltet, aber es erkennt in ihm noch nicht die Bewegung des eigenen Selbst – wobei erst im absoluten Wissen eine entsprechende Anzeige stattfindet, wie sich diese Bewegung des Selbst als Bewegung Gottes gestaltet. In dieser Bewusst-SeinsStufe tritt die Negativität (der zweiten übersinnlichen Welt) als jenseitiger Fluchtpunkt, d.h. als Jenseits von Zeit und Raum (als abstrakte Ewigkeit und Erhofftes) auf, wobei sich das unglückliche Bewusstsein diesem Punkt mittels Andacht, Arbeit und Askese zu nähern sucht. Letztlich bleibt es aber auf sich selbst zurückgeworfen, weil es sein eigenes Tun unmittelbar in das Tun Gottes aufheben will, d.h. sein Ich noch nicht am real Anderen entäußert. Zu Hegels Kritik an entscheidenden Ausdrucksformen des Glaubens wie Hoffnung, Andacht und Askese ist hier Folgendes zu sagen: Tatsächlich liegt eine Defizienz in einer Hoffnung, die im Sinne bloßer Sehnsucht alles geistige Geschehen in ein abstraktes Jenseits auslagert und damit gerade die Präsenz des Hl. Geistes verleugnet. Allerdings gibt es eine Hoffnung als Antwort auf ein erkanntes geistiges Geschehen, aus der

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

die bei Hegel so hoch veranschlagte Umkehr des Bewusstseins überhaupt erst zu entspringen vermag. Über diese Form der Hoffnung, die Widerstand gegen eine unmenschliche Wirklichkeit impliziert, hat Bonhoeffer in seinen Ausführungen über die „teure“ und die „billige“ Gnade im Rahmen seiner „Ethik“ alles gesagt, was es zu sagen gibt. Auch in Bezug auf die Andacht und Askese gilt, dass beide nicht einfach eine Flucht vor der Präsenz des Geistigen in der Welt sein müssen, indem sie eine unmittelbare Vereinigung mit Gott anstreben, sondern auch (höchst geistvolle) Ausdrucksweisen der Aufhebung des Endlichen darstellen können.

Erst wenn das Selbstbewusstsein dieser Unmittelbarkeit der Vereinigung mit dem Unwandelbaren und damit seinem Fürsichsein entsagt, was es in dieser Stufe nur mittels eines Mittlers (Hegel denkt hier wohl an den Priester) zu tun in der Lage ist, setzt es seinen „Willen als [den] eines Anderen“ (PhdG III 176) und somit als allgemeinen. Die Einführung des Vermittlers ist keine äußerliche historische Reminiszenz. Vielmehr ist das Unwandelbare als vergegenständlichte Negativität die Diskretion des Selbstbewusstsein, d.h. der Ausschließungspunkt, der sich in das auf seine Einzelheit zurückgeworfene Selbstbewusstsein und das jenseitige Selbst (der Unwandelbare) dirimiert, wobei diese ausschließende Mitte (des unglücklichen Bewusstseins) zum entfremdenden Selbst, d.h. zum Vermittler verdichtet wird.

Für sich erkennt es zwar noch nicht, dass damit „das Allgemeine, das für es dadurch wird“ (ebd.), sein eigenes Tun ist – vielmehr bleibt es für das unglückliche Bewusstsein ausschließlich das Tun des Unwandelbaren –, an sich ist ihm aber, da die (sich) ausschließende Einzelheit in die Mitte getreten ist, „die Vorstellung der Vernunft geworden, der Gewissheit des Bewusstseins, in seiner Einzelheit absolut an sich oder alle Realität zu sein.“ (PhdG III 177) Damit hat sich am Ausgang des Selbstbewusstseins die höchst spekulative Bestimmung der Vernunft ergeben, dass geistvolles Handeln nicht die poietische Handlung der Herstellung eines Dinges oder eines Geschehens ist – in dieser wird mir Gott nur als mechanisches Universum erscheinen –, sondern das Von-sich-Ablassen. Darin zeigt sich das Tun des Menschen als Allgemeines und eodem actu als Tun Gottes, wobei im unglücklichen Bewusstsein aufgezeigt ist, dass der Weg zu dieser Einsicht nur in der Entfremdung des eigenen Ichs statthaben kann. Erst im Untergang des Gegenstandes (der das eigene Ich war), auf den sich das Ich bezieht, und damit in dessen eigenem Untergang kann sich eine geistvollere Einsicht einstellen – was sich als Hauptthema der PhdG erweisen wird. Verbunden damit ist die tiefe Einsicht, dass es eine Erkenntnis Gottes niemals unmittelbar, schon gar nicht in einer unmittelbaren Selbstfindung, sondern nur über den Weg der Entäußerung gibt. Die tiefe Einsicht am Ende des unglücklichen Bewusstseins, dass das Ich als das sich von sich entfremdende Tun (als Tun Gottes) den Blick auf die Welt freigibt – weil es durch seinen eigenen Untergang den Unterschied zwi-

10. ZEITGESTALTEN II

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schen sich und der Welt als einer fremden verliert48 –, wird allerdings von der Vernunft wiederum auf eine völlig unmittelbare Weise genommen, weshalb diese weit unter dem geistigen Niveau des unglücklichen Bewusstseins steht (dessen geistige Höhe erst am Ende des Gewissenskapitels erreicht wird; so wenig linear denkt die PhdG!): Sie will das Selbstbewusstsein (d.h. die vermittelnde Negativität) unmittelbar – und d.h. auf gegenständliche Weise – in der Welt finden. Der erste Schritt dazu ist die beobachtende Vernunft, in der sich das Ich mittels Naturwissenschaft, Psychologie, formaler Logik, schließlich Leiblichkeit in der Welt identifiziert, wobei sie sich schließlich ausspricht in dem Satz, dass „das Sein des Geistes ein Knochen ist“49. Oft wird kritisiert, dass das Kapitel über die beobachtende Vernunft überproportional lang sei. Tatsächlich hat Hegel aber damals bereits etwas gesehen, was uns heute noch viel stärker betrifft, weshalb es ein Desiderat ist, dieses Kapitel in Bezug auf die zeitgenössische Auffassung von Wissenschaftlichkeit umzuschreiben: Denn gerade in unserer Zeit wird versucht, den Geist in physikalischen und chemischen Prozessen, in psychologischen Strukturen (man denke nur an viele den menschlichen Geist absolut positivierende und beurteilende psychischen Tests!) und neuronalen und genetischen Vorgängen zu verorten. So wäre das Fazit der beobachtenden Vernunft heute: „Der Geist ist ein genetisch bedingter neuronaler Strom“.

Das Resultat der beobachtenden Vernunft ist also das ebenso geistlose wie höchst geistvolle unendliche Urteil: „Das Selbst ist ein Ding“. Das unendliche Urteil ist dadurch charakterisiert, dass die Sphäre des Prädikats die Sphäre des Subjekts vollkommen negiert und sich beide dadurch absolut voneinander abheben. Hegel gibt als Beispiel für ein solches Urteil den Verbrecher, der die Sphäre des Gesetzes aufhebt. Das geistvolle Moment des unendlichen Urteils ist erstens, dass es den höchsten Gegensatz vereinigt, was sich im absoluten Wissen so zum Ausdruck bringt, dass dort die Gegenständlichkeit in ihrer geistigen Dimension und die geistige Dimension in ihrer Gegenständlichkeit erkannt wird. Zweitens, dass sich in ihm die starre Form des Urteils (welches immer den eigenen Geltungsanspruch zum Ausdruck bringt!) aufhebt und in die Bewegung des spekulativen Satzes, der (als das Ablassen von sich) die Wahrheit des Urteils ist, übergeht.

Da sich die Vernunft auf diese Weise nicht an sich als gegenständliche Wirklichkeit findet – als Knochen käme ihr keine Anerkennung entgegen –, versucht sie sich für sich zu realisieren. Die unmittelbare Form dieser Realisierung, d.h. der Realisierung der Individualität als Allgemeinheit, ist die sexuelle „Lust“ (durch die Aufhebung der fremden Individualität), deren Allgemeinheit als Aufhebung der Individualität allerdings abstrakte Notwendig48 49

Vgl. B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, V 112. G.W.F. Hegel, PhdG, III 260. Mit dieser Aussage bezieht sich Hegel im Übrigen auf die Schädellehre von Franz Joseph Gall (1758-1828), der meinte, den Charakter in der Struktur des Schädelknochens verorten zu können.

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

keit ist. Logisch gesehen fallen in dieser Stufe „Einheit“, „Unterschied“ und „Beziehung“ unmittelbar zu einer Beziehung der Notwendigkeit zusammen, da hier ein Unterschied vorliegt, der keiner ist. Phänomenal wird man sagen können, dass sich das Selbstbewusstsein durch die Aufhebung der Individualität nur auf abstrakte Weise gewinnt. Dem „Gesetz des Herzens“ als Resultat dieser Stufe liegt bereits der Erfahrungsschritt zu Grunde, dass das Selbstbewusstsein allgemeines ist, allerdings tritt die Allgemeinheit in der Form der Einzelheit als „Eigendünkel“ auf, der die Welt (das Allgemeine) nach seiner eigenen individuellen Disposition gestalten will. Darin meldet sich der „Weltlauf“, dem die „Tugend“ entgegensteht. Ersterer ist dabei die durch die Individualitäten (und deren Eigendünkel) angereicherte lebendige, „flüssige“ Allgemeinheit, während zweitere das verkehrende Moment dieser Individualitäten ist, die sich als bloße Einzelheiten aufheben und in die Allgemeinheit des Unterschieds (Gesetz) zurückgehen. Dies ist die Seite des Gesetzes der Tugend (deren Inhalt die aufgehobene Individualität ist) als die einseitig fixierte und beruhigte allgemeine Seite des Selbstbewusstseins, die aber in dieser Fixierung die Lebendigkeit (d.h. die individuelle Seite) des Selbstbewusstseins verloren hat. Sich verwirklichen wollend ist sie als (versuchte) Verkehrung des Weltlaufs wiederum Individualität, deren Wesen die Verkehrung ausmachte, und damit die allgemein gewordene Individualität des Weltlaufs. Man wird an dieser Stelle vielleicht die Kritik Hegels an einer toten Tugend nachvollziehen können, die der Wirklichkeit nicht gerecht wird, gleichzeitig wird aber der Verdacht laut werden können, dass Hegel den siegreichen Weltlauf sanktionierte bzw. sogar deifizierte und damit die Weltgeschichte als das Absolute bezeichnen wollte. Dagegen ist aber darauf aufmerksam zu machen, dass die PhdG nicht mit dem Weltlauf endet, sondern dass hinter diesem „Das geistige Tierreich und der Betrug oder die Sache selbst“ steht. Dieses Kapitel zeigt uns die Unsittlichkeit des Weltlaufs auf: In ihm findet „weder Erhebung, noch Klage, noch Reue statt“50, denn er ist die „von der Individualität durchdrungene Realität“51. Der Weltlauf ist gewissermaßen das vollkommen flüssige Medium, in dem keine absoluten Werte, Optionen, Hoffnungen oder Verortungen Geltung haben, wir sind also hier mit der Leere (und Beliebigkeit) eines absoluten Relativismus (als Entwurzelung aller konkreten Gehalte) und Individualismus konfrontiert, die vom „geistigen Tierreich“ zu dessen je individueller „Sache“ gemacht wird. Man könnte auch sagen, dass wir uns hier in einem absoluten Netz der Anpassung an eine jede eschatologische Spannung abgeworfen habende Wirklichkeit befinden, die ständig neu konstruiert und entworfen wird. Auf diese Weise erinnert diese Gestalt an den alles nivellierenden und sich ständig bewegenden „Markt“, der keine substanziellen Gehalte mehr zulässt, wobei das geistige Tierreich die vollendete Anpassung daran ist. Der Mensch dieser Stufe ist, wie B. Liebrucks 50 51

G.W.F. Hegel, PhdG, III 299. Ebd. 295.

10. ZEITGESTALTEN II

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zu Recht sagt, an diese Wirklichkeit „angepaßt wie ein Tier“ und „die Welt Selbstdarstellung des Individuums“52. Diese Selbstdarstellung wird als die „Sache selbst“ ausgegeben, wobei sich das Individuum jederzeit aus dieser Sache zurücknehmen kann, was den „Betrug“ dieser Stufe ausmacht. Das geistvolle Moment an dieser an sich völlig ungeistigen Stufe liegt aber darin, dass sich die „Sache selbst“ nicht mehr als (Selbst)Darstellung eines Einzelnen halten lässt, sondern die allgemeine Individualität als Wirklichkeit aller ist. Dies aber ist nichts anderes als die sittliche Substanz. Hegel spricht hier die tiefe Wahrheit aus, dass wir in der jeweiligen sittlichen Substanz, in der wir uns immer schon befinden, die „Sache selbst“ gar nicht angeben können. Wird diese sittliche Substanz nun in Frage gestellt, wie es derzeit offensichtlich großen Teilen der islamischen Welt widerfährt, wird irgendein möglichst unbestimmter, d.h. abstrakt allgemeiner Inhalt als diese Sache selbst gesetzt. Im Falle der islamischen Welt ist dies gerade eben „der wahre Islam“, wobei bezeichnenderweise die hier auftretenden inhaltlichen Konkretisierungen in ihrer abstrakten Herkunft überhaupt nichts mit gewachsenen Traditionen zu tun haben. Ähnliches erlebt man derzeit auch in der Debatte um die sogenannte „Leitkultur“, wie sie von den sich selbst christlich bezeichnenden Parteien ins Spiel gebracht wird. In Wirklichkeit ist dies ein völlig abstrakter Begriff, der verschleiern soll, dass die Sache selbst unaussprechbar ist. Angemerkt kann auch noch werden, dass es derzeit die perfide Tendenz gibt, Menschen aus anderen Kulturkreisen die unmögliche Aufgabe abzuverlangen, ihre Sache selbst auszusprechen!

Die Sache selbst der sittlichen Vernunft muss, da ihr kein bestimmter Inhalt entspricht, zunächst abstrakt gefüllt werden und es wird daher behauptet, dass die Sache selbst das Allgemeine ist. Wir sind damit bei der gesetzgebenden Vernunft angelangt, die, sobald sich deren Inhaltslosigkeit zeigt, unmittelbar in die gesetzprüfende Vernunft umschlägt. In unserer Gesellschaft entspricht dieser Gestalt die political correctness, die durch ihren völlig abstrakten Vorschreibungscharakter gekennzeichnet ist.

In der gesetzprüfenden Vernunft ist das Allgemeine nur der Maßstab, an dem die inhaltlichen Bestimmungen gemessen werden sollen. Allerdings zeigt sich, dass die gesetzprüfende Vernunft in ihrer Abstraktion lediglich anzugeben vermag, ob sich ein Gesetz widerspricht oder nicht. Damit ist einerseits (inhaltlich gesehen) alles möglich, was sich nicht widerspricht (um hier bereits die Logik zu zitieren), andererseits (formal) aber gibt es keinen konkreten Inhalt (kein Gesetz), welcher der leeren Form der Allgemeinheit dieser Gestalt entspricht. So geht das Prüfen in seiner Abstraktion zu Grunde, allerdings hat sich der Erfahrungsschritt ergeben, dass es die Tätigkeit der Vernunft war, die das Allgemeine ist. Diese Tätigkeit als das allgemeine Selbst bzw. sittliche 52

B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, V 170. Es sei kurz angemerkt, dass Hegel mit dieser Gestalt vermutlich die Vertreter der Wissenschaft im Blick hatte!

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

Selbstbewusstsein ist nun das absolute Wesen. Das Gesetz gilt nicht mehr, weil es der Form einer abstrakten Allgemeinheit (z.B. der Demokratie oder der freien Marktwirtschaft) entspricht, sondern es ist, weil es ist und es ist, weil es ist (womit wir also in den logischen Status der absoluten Notwendigkeit an der Schwelle zur Freiheit eingetreten sind). Damit ist die Vernunft „Geist, indem die Gewissheit, alle Realität zu sein, zur Wahrheit erhoben und sie sich ihrer selbst als ihrer Welt und der Welt als ihrer selbst bewusst ist.“ (PhdG III 324) Der Geist ist „hiermit das sich selbst tragende, absolute reale Wesen“ (PhdG III 325), d.h. wir sind in den Status der Intersubjektivität, der Sprache, der Kultur eingetreten. In seiner unmittelbaren Form ist dieser Geist das „sittliche Leben eines Volkes“ (PhdG III 326), also die sittliche Welt, die eine sittliche Handlung hervorbringt. An dieser Unmittelbarkeit zerbricht allerdings diese Sittlichkeit. Näherhin gesagt ist der Geist als die Einheit von Allgemeinem und Besonderem, als „das Ich, das Wir ist“ auch der sich (in der Handlung) besondernde Geist. Hegel schreibt, „dass die Handlung [den Geist] in die Substanz und das Bewusstsein derselben und [...] ebensowohl die Substanz als das Bewusstsein [trennt]“ (PhdG III 327). Da der Geist bereits alle Realität (und d.h. Realität des Selbstbewusstseins) ist, bringt diese Stufe auch ein reelles Handeln hervor. Durch dieses tritt an der (umschließenden) Form der Allgemeinheit, d.h. der „bewusstlosen Ruhe der Natur“ (dem zeitlos Geltenden), die Einzelheit, d.h. die „selbstbewusste unruhige Ruhe des Geistes“ hervor, wobei auf Grund der Unmittelbarkeit dieser Stufe das Allgemeine noch nicht im Gegensatz der Einzelheit (als Anerkennung von deren Diskretion) identisch mit sich ist, sondern diesen Gegensatz als die Allgemeinheit notwendig auflösenden Widerspruch erfährt. Dieser wird der sittlichen Welt zum Schicksal, wobei wir auf die konkrete Darstellung Hegels, die sich an die griechische Welt und an den Antigone-Stoff anlehnt, nicht eingehen53. Festzuhalten bleibt, dass in einem geistigen Status, in dem die Subjektivität bereits hervorgetreten ist, die unmittelbare Plausibilität der Sittlichkeit durch die fehlende Anerkennung des Einzelnen untergeht. Hegel lehnt nicht zwanghaft die Ausführung der Sittlichkeit an den Antigone-Stoff bzw. an die griechische Polis an. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass der Gegensatz als (hintergründiges) Leitmotiv im Geist der Sittlichkeit ansichseiend, d.h. als männliches und weibliches Gesetz auftritt. Dass das männliche Gesetz mit der allgemeinen Staatsmacht verbunden wird, liegt an der Überzeugung Hegels, dass es nur in der Erschütterung des Lebens (dafür setzt er in der Gestalt der Sittlichkeit den Krieg ein) zu einem allgemeinen Gedanken kommt. Was auch heute drastische Gültigkeit hat, ist die Einsicht Hegels, dass sittliche Kulturen auf Grund der Verdrängung des Gegensatzes nur zum abstrakten Individuum kommen und daher Kulturen des Todes sind, was die Unsittlichkeit dieser Stufe ausmacht. 53

Eine sehr schlüssige Interpretation der „Unmittelbarkeit als Grund für den Untergang der Sittlichkeit“ gibt A. Dunshirn, Die Einheit der Ilias als tragisches Selbstbewußtsein, 40-42.

10. ZEITGESTALTEN II

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Der Gegensatz, der das substanzielle Moment des Geistes der Sittlichkeit ist, trennt ebenso die Substanz wie das Subjekt und manifestiert sich auf fixierte Weise als Entfremdung der sittlichen Substanz. Deren erste Stufe ist bereits der Rechtszustand, in dem sich der Gegensatz absolutiert und als „Herr der Welt“ die absolute Diskontinuität („Punktualität“) der Substanz ist. Resultat davon ist die entsubstanzialisierte, d.h. abstrakte Persönlichkeit. Die Person, auf sich als unbezogene Punktualität zurückgeworfen, erfährt zwar durch das Recht als ersten Ausdruck eines allgemeinen Geltungsanspruchs, durch den sich die Person die verlorene Substanzialität wiederaneignen will, Anerkennung, aber diese Anerkennung bezieht sich auf sie als entfremdetes Wesen. Es bleibt ihr in dieser Stufe lediglich der Wille zur Geltung, der sich auf erste Weise durch die Anhäufung von Eigentum zum Ausdruck bringt (vgl. die gegenwärtig überall auftretende Vision eines Volkes von Eigentümern und dem damit einhergehenden Gedanken, dass durch das Eigentum per se eine Berechtigung zur Teilhabe an der allgemeinen Substanz eintritt!). Dieses Eigentum führt aber, wie alle Stufen, die unter der Schirmherrschaft der Geltung stehen, nicht zu lebendigen Beziehungen, sondern sind Ausdruck eines Geistes, dessen Substanz der Gegensatz (Entfremdung) ist. Die gesellschaftliche Sprengkraft, die dieses Kapitel der PhdG aufweist, liegt darin, dass der Rechtszustand als Verteidigung eines abstrakten Geltungsanspruches, konkret als Verteidigung des Eigentums als des substanziellen Wertes einer Gesellschaft dechiffriert wird.

Die Wahrheit des Rechtszustandes ist also die entfremdete Welt, und dem sich entfremdenden Geist hat sich diese Welt als äußerliche, fremde Wirklichkeit ergeben. Die Zeit wird diesem Weltumgang als äußerlich ablaufender Chronos entgegentreten. Das geistige Moment, welches sich in dieser Stufe allerdings manifestiert, ist, dass die Substanz die Entfremdung des Selbstbewusstseins und damit wirklicher Geist ist, womit wir den unmittelbaren Geist der Sittlichkeit verlassen haben. Damit sind wir nunmehr vor die Tatsache gestellt, dass jeder Rückgang in eine unmittelbare Sittlichkeit, und sei es auch in ein unmittelbares paradiesisches Aufgehobensein gemessen an dieser Stufe unsittlich wäre. Hegel ist jedenfalls, zumindest in seinen spekulativen Momenten, nicht der narzisstische Identitätsphilosoph, für den man ihn heute gemeinhin hält.

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

11. Die Entfremdung und das Durchbrechen unseres Geltungsanspruchs als Herzstück der Philosophie Hegels Die erste Stufe der Entfremdung des Selbst, in der es sein „natürliches Sein“ verliert, ist die Bildung. Ausgangspunkt war das Zerbrechen des natürlichen Selbst, welches seinen aller sittlichen Substanz beraubten Weltumgang in der Gestalt des Gegensatzes, d.h. als harte, es ausschließende Wirklichkeit erlebt. Anders gesagt: Es erblickt den Gegensatz seines Selbst als für sich freie, gegenständliche Wirklichkeit, womit sich im Übrigen bereits die hohe Stufe dieser Bewusst-Seinsgestalt zum Ausdruck bringt, wenngleich es diese freie Wirklichkeit zunächst als „unverrückbare Wirklichkeit“, d.h. als fixierten Gegensatz bzw. stumme Welt der Positivität erleben wird. In Bezug auf die Zeit ist zu sagen, dass die hohe Geistigkeit des von uns kritisierten chronologischen Zeitverständnis darin besteht, dass in ihm die Zeit nicht mehr als naturzyklisches Geschehen betrachtet werden kann, sondern deren Offenheit gewusst wird. Diese tritt uns allerdings auf unmittelbare Weise in der von uns beschriebenen Gestalt heilloser, „fremder“ Zeit entgegen, die ein vom Bewusst-Sein unabhängiges Sein hat, wie es ihr ja heute von allen Wissenschaften und im Großteil Bewusst-Seinsvergessener Philosophie und Theologie zugestanden wird. Letztere fügt dann zwar die Eschatologie an die Zeit hinzu, allerdings bleiben beide gleichgültig nebeneinander.

Für das entfremdete Bewusstsein ist also das Selbst nur als aufgehobenes wirklich, es kann sich in keiner positiven sittlichen Gestalt erkennen. Diesen Gegensatz, in den das (leere) Selbst dadurch zur gegenständlichen Wirklichkeit tritt, reflektiert es in sich, indem es ihn im Ur-Teil ausdrückt. D.h. es fixiert den Unterschied, in dem es durch das unüberwindliche Gelten der (auf diese Art) festen Wirklichkeit zu dieser getreten ist, „auf die allgemeinste Weise durch die absolute Entgegensetzung von Gut und Schlecht, die, sich fliehend, auf keine Weise dasselbe werden können“ (PhdG III 366). Anders ausgedrückt: Dem Selbst, jeder Substanzialität beraubt, bleibt in Bezug auf die Wirklichkeit nur die abstrakte Form der Allgemeinheit: Diese ist aber nichts anderes als der allgemeine Geltungsanspruch, d.h. das Urteil gut/schlecht, in das sich dieses Allgemeine, die sich auf sich beziehende Negativität als Entfremdung in sich, teilt. Dabei ergeben sich diesem Bewusstsein das Gute als das „sich selbst gleiche Wesen“, in dem es sich unmittelbar zu finden glaubt und das Schlechte als das „sich selbst ungleiche Wesen“. Dass sich dieser fixierte Geltungsanspruch dabei nicht halten kann, ahnt natürlich jeder Leser, der einmal die hegelsche Wesenslogik, die den logischen Status des Entfremdungskapitels angibt, studiert hat, wenngleich sich dieser Anspruch hartnäckig und d.h. im Falle der PhdG bis zum Schluss des Gewissenskapitels durchhalten wird.

11. DIE ENTFREMDUNG UND DAS DURCHBRECHEN

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Hegel führt uns im Entfremdungskapitel die tiefe Einsicht vor Augen, dass sich das Wesen der Entfremdung im abstrakten Geltungsanspruch äußert. Dabei ist zu konstatieren, dass unsere Welt als die Welt der Positivität und damit Entfremdung durch diesen Anspruch absolut gekennzeichnet ist. Auf die hartnäckigste Weise äußert sich dieser Geltungsanspruch, der, wie gesagt, unsere gesamte Wissensauffassung prägt, WESHALB WIR DAS ANDERE NICHT ZULASSEN KÖNNEN, in der Wissenschaft.

Hegel führt nun den Geltungsanspruch des Urteils – in seiner unmittelbaren Weise wie gesagt die Zuordnung gut/schlecht – am Beispiel der Gestalten Staatsmacht und Reichtum aus. Dabei kommt die Seite des Guten der ruhigen Sichselbstgleichheit zu (das „Ich denke“ als die synthetische Einheit der Apperzeption – bei der Leküre Hegels darf nie vergessen werden, dass praktisch jede Zeile eine Antwort auf Kant darstellt) und damit unmittelbar der (in sich „beruhigten“) Staatsmacht. Die Seite des Schlechten kommt dem Sichungleichwerden (das „Ich denke“ in der Gestalt des Ur-Teils) zu und damit unmittelbar dem (sich ständig auflösenden und erneuernden) Reichtum. Da nun das Urteil nichts anderes ist als der ständige Wechsel von Gleichheit und Ungleichheit, wechselt auch, wie wir ja nicht nur am Beispiel des mittelalterlichen Feudalismus, sondern gerade heute wieder sehen, ständig Reichtum und Staatsmacht (d.h. einmal ist dem Bewusstsein die Staatsmacht das Gute, in dem es sich findet, dann der Reichtum usw.). In diesem ständigen Wechsel verhärtet sich schließlich das Urteil und gestaltet sich einerseits als edelmütiges Bewusstsein (der treue Vasall aller Zeiten), welches in Staatsmacht (Allgemeines, d.h. hier findet es sich nach seiner allgemeinen Seite anerkannt) und Reichtum (Einzelnes, hier findet es sich nach der Seite des Fürsichseins anerkannt) die gleichfindende Beziehung ist, die sich in ihrem unmittelbaren Geltungsanspruch findet. Als niederträchtiges Bewusstsein (der Rebell aller Zeiten) dagegen ist es die ungleichfindende Beziehung, d.h. die in ihrem Geltungsanspruch nicht sich findende Beziehung (und insofern die sich als geistvoller herausstellende Seite). Der Wechsel der Reflexionsbestimmungen „gleich“/“ungleich“ kommt schließlich sowohl an die Staatsmacht, die durch die Aufopferung des edelmütigen Bewusstseins die Seite des Selbst erhält (als Selbst, welches dieses Bewusstsein in die Staatsmacht ausgelagert hat), dadurch aber in den Reichtum umschlägt (indem es den Vasallen belehnt), als auch an das edelmütige Bewusstsein. Dieses erfährt sich als die Ungleichheit von der Gleichheit mit sich (Ehre) und der Ungleichheit mit sich (Aufopferung).

Das edelmütige Bewusstsein erfährt also das Gleichbleiben mit sich, indem es sich an seinen Gegenstand (hier denkt Hegel an den Vasallendienst) entäußert, wodurch für es der erste Schritt der Bildung getan und der Gegenstand die (bereits begeistete) Gestalt des Fürsichseins ist.

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

Bezüglich dieser Entäußerung ist zu sagen, dass das edelmütige Bewusstsein zunächst „nur“ sein unmittelbares Dasein, nicht aber sein Ich (und schon gar nicht seinen Geltungsanspruch, den es ja als Ehre erhält) aufgehoben hat. Eine konkrete Aufhebung als Ich setzt es erst in der Sprache, wobei deren erste unmittelbare Form die Schmeichelei (Hegel denkt hier wohl an den Absolutismus) darstellt, weil, wie Hegel tiefsinnig festhält, es die Sprache allein (und nicht etwa die sinnliche Gewissheit, die Wahrnehmung, die Physiognomie etc.) ist, in der das Ich in seiner Wirklichkeit, d.h. für ein allgemeines Bewusstsein, präsent werden kann: Denn die Sprache hat die Eigenart, dass sie das Ich sowohl als dieses Ich (d.h. als Einzelnes) als auch, indem es dieses Ich ausspricht und es darin vernommen wird, als allgemeines darstellen kann. Hier zeigt sich nicht zuletzt die innige Berührung von Sprache, Zeit und Ich (als Sphären der Offenbarung Gottes), die alle drei im Verschwinden als die Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit negativ präsent sind.

Der Erfahrungsschritt, den das edelmütige Bewusstsein in dieser Entäußerung gemacht hat, verändert den Gegenstand. Dieser ist nicht mehr das abstrakte Gelten, welches sich im unmittelbaren Urteil ausspricht, sondern er hat die Gestalt des Fürsichseins, aber als gegenständliches Wesen (Hegel denkt hier an den Monarchen bzw., insofern die Staatsmacht in Reichtum umschlägt, an den Kapitalisten). Diese Gegenständlichkeit des Fürsichseins tritt dem entfremdeten Bewusstsein in unmittelbarer Härte als Willkür gegenüber, wodurch sich die „Sichselbstgleichheit des Fürsichseins schlechthin ungleich geworden ist“ (PhdG III 384). Es erfährt damit in dem Gegenstand nicht „zugleich sein eigenes Selbst als solches“ (ebd.). Damit hat sich aber folgendes Resultat ergeben: Die Sprache der Zerrissenheit aber ist die vollkommene Sprache und der wahre existierende Geist dieser ganzen Welt der Bildung. Dies Selbstbewusstsein, dem die seine Verworfenheit verwerfende Empörung zukommt, ist unmittelbar die absolute Sichselbstgleichheit in der absoluten Zerrissenheit, die reine Vermittlung des reinen Selbstbewusstseins mit sich selbst. Es ist die Gleichheit des identischen Urteils, worin eine und dieselbe Persönlichkeit sowohl Subjekt als Prädikat ist. Aber dies identische Urteil ist zugleich das unendliche; denn diese Persönlichkeit ist absolut entzweit, und Subjekt und Prädikat [sind] schlechthin gleichgültige Seiende, die einander nichts angehen, ohne notwendige Einheit, sogar dass jedes die Macht einer eigenen Persönlichkeit ist. Das Fürsichsein hat sein Fürsichsein zum Gegenstande, als ein schlechthin Anderes und zugleich ebenso unmittelbar als sich selbst, – sich als ein Anderes, nicht dass dieses einen anderen Inhalt hätte, sondern der Inhalt ist dasselbe Selbst in der Form absoluter Entgegensetzung und vollkommen eigenen gleichgültigen Daseins.54

In diesen Sätzen kommt bereits der geistvolle Status dieses Bewusstseins zum Ausdruck, denn es ist der spekulative Satz des Ich=Ich in der Einheit von identischem und unendlichem Urteil, d.h. in der Einheit des härtesten Gegensatzes. Die Wahrheit dieser „Einheit in der Zerrissenheit“ ist das niederträch54

G.W.F. Hegel, PhdG, III 384f.

11. DIE ENTFREMDUNG UND DAS DURCHBRECHEN

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tige Bewusstsein55, weil es den ersten Schritt dazu setzt, den Geltungsanspruch und d.h. in diesem Fall seinen Gegenstand bewusst zu ändern (bisher sind solche Änderungen dem Bewusstsein nur passiert. Man kann daher sagen, dass die in jeder Stufe des Weltumgangs bereits an sich daseiende Entfremdung sich hier so verschärft, dass sie für das Bewusstsein wird). Es ist darin „Bewusstsein der Verkehrung und zwar der absoluten Verkehrung“ (PhdG III 386). Wir sind einem Weltumgang auf der Spur, der in die Richtung geht, durch die Fähigkeit des Änderns des Geltungsanspruchs wirklich geistiges Bewusstsein zu werden. Vorerst allerdings wird es noch eines längeren Weges bedürfen, um dieses Aufgeben der Geltung als Eintrittstor des absoluten Geistes (in dem allein die Zeit getilgt werden kann) darzustellen. Dabei ist zunächst auf einen weiteren Erfahrungsschritt des Bewusstseins hinzuweisen: Es hat begonnen, in die zweite übersinnliche Welt zu schauen, worin es die Leere des Wechsels des Ichs als diese Zerrissenheit und Auflösung aller Maßstäbe erblickt. Allerdings vergegenständlicht es diese Leere wiederum unmittelbar und zwar einerseits in der reinen Einsicht als die Eitelkeit des Urteils (d.h. des eigenen Geltungsanspruchs), welche in allen Dingen nur sich als deren Eitelkeit (Leere) anzuschauen vermag (damit ist sich dieses Bewusstsein selbst gleich im Ungleichsein der Wirklichkeit und so die Wahrheit des niederträchtigen Bewusstseins), andererseits im Glauben (der noch nicht den Status der offenbaren Religion hat), der diesen Wechsel auslagert in den sich gleichbleibenden Unterschied der ersten übersinnlichen Welt (womit er die Wahrheit des edelmütigen Bewusstseins ist). Dieser wird diesem Bewusstsein als Jenseits von Raum und Zeit entgegentreten. Wir können diese beiden Wissensgestalten auch so zum Ausdruck bringen, dass die Einsicht das reine Ich (als den Wechsel der Dinge) zum Gegenstand hat, während der Glaube alle Entfremdungserfahrungen, durch die er als gebildetes Bewusstsein hindurchgegangen ist, als sich selbst gleiche übersinnliche und jenseitige Welt, d.h. als fixierten Unterschied, anblickt. Dabei weiß der Glaube das Bewusstsein des Geistes als Wesen, während der Einsicht das eigene Selbstbewusstsein Wesen ist. Anders gesagt: Die Einsicht weiß sich als Wahrheit und alle Gegenständlichkeit hat die Bedeutung, für es zu sein – der Utilitarismus, in dem diese Wissensauffassung, wie wir heute schmerzlich erfahren, endet, lässt bereits grüßen. In der Einsicht ergibt sich in weiterer Folge der Widerspruch, dass sie einerseits negatives Verhalten ist (im Gegensatz zum positiven, in sich beruhigten Glauben), andererseits alles Anderssein und damit aller Inhalt in sie (die alle Gegenständlichkeit als „eitel“ erklärt hat) zurückgegangen ist. Damit 55

Dieses bringt sich in der reinsten Form in der Morbidität der Wiener Kultur zum Ausdruck. Ihrer Niedertracht, die sich in der Doppeldeutigkeit des sprachlichen Geschehens sedimentiert hat, entspricht ein ethischer Nihilismus, der seine Geltung in der Entwertung des Anderen findet..

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

kann sie sich als diese Negativität (d.h. dieses negative Verhalten: in die Positivität des Glaubens kann sie nicht mehr zurück) nur mehr realisieren, wenn die Bewegung ihrer Realisierung „darin besteht, dass sie selbst sich als [sich auf sich beziehende Negativität, die erst in der Anerkennung erreicht sein wird] Inhalt wird“ (PhdG III 405). An sich ist dies bereits vollzogen, da die „Eitelkeit“ der Dinge nichts anderes als die Negativität der Einsicht ist.

Zunächst allerdings wird sich die Negativität der Einsicht wiederum auf völlig unmittelbare Weise vollziehen: Das Andere ihrer selbst als die sich auf sich beziehende Negativität ist für sie der Glaube, den sie in der Gestalt der Aufklärung bekämpft und der so zum Aberglauben herabgewürdigt wird. Phänomenal muss darauf hingewiesen werden, dass der Glaube und die Einsicht deshalb sich gleich sind, weil beide als Entfremdete, wie wir gesehen haben, die Leere des Ich=Ich waren, und zwar als Ausdruck des eigenen Geltungsanspruchs. Dieser verlagerte sich einmal in ein, so könnte man mit Bonhoeffer sagen, „religiöses“ höchstes Wesen – in dem, so können wir sagen, der Gott der Liebe dem entfremdeten Bewusstsein, welches im Zerbrechen seiner Welt unterzugehen droht, als absolut jenseitiger Herr des Himmels und somit unmittelbarer „Anker“ entspricht und sich gerade so als absoluter Gott der Liebe, der sich jedem Bewusst-Sein gemäß dem, was es fassen kann, offenbart –, das andere Mal in das eigene Ich. In Bezug auf die Zeit zeigt sich, dass Gott sich dem Bewusst-Sein des Glaubens, welches die Wahrheit der ersten übersinnlichen Welt und darin Moment aller Wahrheit ist, als „räumlich abgetrennte Ewigkeit“ offenbart.

Die Einsicht negiert also den Glauben, wobei sie nicht zu sehen vermag, dass ihr dessen Inhalt entspricht. Dies zeigt sich z.B. daran, dass auch der Glaube genauso wie die Einsicht den absoluten Gegenstand sowohl außer sich als auch in sich hat. Denn der (absolute) Gegenstand ist nicht nur dem Glauben das Andere, sondern auch der Aufklärung, insofern sie sich auf den Glauben bezieht. Umgekehrt ist dem Glauben der Gegenstand nicht bloßes Jenseits, sondern er weiß sich mit ihm in einer Einheit bzw. er weiß, dass das absolute Wesen sein eigentliches Selbst ausmacht. Dies wiederum war genau das Proprium des Wissens der Aufklärung. Diese, die so in Bezug auf den Glauben niederträchtiges Bewusstsein ist, hat diesem allerdings voraus, dass sie das Moment der Ungleichheit, welches der Glaube „vergisst“, diesem in ihrem negierenden Tun in Erinnerung ruft. So ist sie dem Glauben überlegen und die weitere Entwicklung des Bewusstseins wird nicht durch die Positivität des Glaubens, sondern die Negativität der Aufklärung vorangetrieben. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Aufklärung den Glauben daran erinnert, dass dessen Absolutes das Tun des Selbst ist, allerdings erkennt sie ihren eigenen Inhalt nicht in ihm. Durch diese zersetzende Bewegung der Aufklärung verliert nun allerdings auch der Glaube den Inhalt und er wird „reines Seh-

11. DIE ENTFREMDUNG UND DAS DURCHBRECHEN

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nen“, dessen „Wahrheit ein leeres Jenseits, dem [...] kein [sich] gemäßer Inhalt mehr finden lässt“, ist und der so „in der Tat56 hiermit dasselbe geworden, was die Aufklärung, nämlich das Bewusstsein der Beziehung des an sich seienden Endlichen auf das prädikatlose, unerkannte und unerkennbare Absolute [als Äquivalent der inhaltslosen Reflexionstätigkeit]; nur dass sie die befriedigte, er aber die unbefriedigte Aufklärung ist.“ (PhdG IIi 423f.) In die Kritik Hegels am prädikatlosen Absoluten fällt neben dem Deismus der Aufklärung auch die „Gefühlsreligion“ Jacobis. Grundsätzlich ist zu sagen, dass bei Hegel die Figur des prädikatlosen Absoluten den Status einer Metaphysik (und einer Reflexionsphilosophie) angibt, die entweder meint, sich dem Absoluten in bestimmten Prädikaten (also mittels des Urteils) annähern zu können, oder die an diesem Begriff als welt-und erfahrungsloser absoluter Position (Ding an sich, Substrat vor aller Setzung) festhält. D.h. das prädikatlose Absolute ist der reinste Ausdruck einer (inhaltslosen) Reflexionsphilosophie, die meint, sich dem Absoluten mittels Verstandesbestimmungen nähern zu können.

Resultat der in der Auseinandersetzung zwischen der Aufklärung und dem Glauben angezeigten Bewegung ist die reine Abstraktion – wobei wir wissen, dass das Abstrahieren das Tun der Aufklärung war – als das prädikatlose Absolute, welches sowohl als deistische absolute Macht als auch als reine Materie ausgelegt wird. Einmal fehlt diesem das sich unterscheidende Bewusstsein des lebendigen Gottes, das andere Mal der Reichtum des entfalteten Lebens. Beide Bestimmungen zusammengenommen führen zu dem spekulativen Satz „Das Denken ist Dingheit, oder Dingheit ist Denken“ (PhdG III 427). Die Wahrheit dieses Satzes allerdings nimmt das Bewusstsein – welches, wie wir nicht vergessen dürfen, von seinem abstrakten Geltungsanspruch nicht abgesehen hat, der sich in der Absolutsetzung der eigenen Reflexionstätigkeit als des prädikatslosen Absoluten zum Ausdruck bringt – auf völlig unspekulative Weise auf. Solcherart wird es das Bewusstsein der Nützlichkeit, womit wir gewissermaßen ins Zentrum des aufgeklärten Bewusstseins vorgedrungen sind. Denn als Nützlichkeit ist es die Vereinigung der reinen Einsicht, also des Moments des Fürsichseins, und des Glaubens, also des Moments des Ansichseins. Zusammenfassend können wir sagen, dass der Einsicht genauso wie dem Glauben die eigene Reflexionstätigkeit die Substanz ist, in die alle Gegenständlichkeit zurückgeht, was sich im Gedanken der Nützlichkeit dahingehend konkretisiert, dass alle Gegenständlichkeit (die „Dingheit“) „für es“ ist. Als Resultat schließt sich in der Nützlichkeit das Selbst mit dem Selbst – denn jeder Gegenstand ist für es – zusammen und erfährt sich in diesem Verschwinden jeder Gegenständlichkeit als absolute Freiheit. Die Aufklärung ist in ihre Dialektik eingetreten und wir haben den Status der sich aus allen Bindungen lösenden Willkürfreiheit erreicht. In dieser realisiert sich das Ich=Ich 56

Diese Wendung ist bei Hegel meist, so auch hier, im emphatischen Sinne zu lesen.

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

ohne alle Gegenständlichkeit und im Hintergrund können wir bereits den Schrecken des Todes (Gen.Subj. und Gen.Obj.) erkennen, der aus dieser absoluten Macht hervorgehen wird. Tatsächlich bahnt sich hier bereits die Einsicht an, dass der Gott dieser Stufe des Bewusst-Seins, welches sich als absolute Macht versteht, der alles nihilierende Tod ist, der Tod als absoluter Herr, dessen Hauptwaffe die leere Macht der Zeit, die alles auslöscht, ist.

In dieser absoluten Macht zeigt sich die sich auf sich beziehende Negativität als die „Furie des Verschwindens“. Logisch gesehen kann man sagen, dass sich die absolute Negativität des Ich=Ich in die abstrakte Allgemeinheit (als annihilierende Negation) und die absolute Punktualität des Einzelnen (als die jeder Substanzialität beraubte Individualität) zersetzt, deren Mitte die reine Negation des Todes ist. Damit schaut nun dieses Bewusstsein die Abstraktion des prädikatlosen Absoluten (d.h. seinen absoluten Geltungsanspruch) als Tod an (Vgl. Heidegger, wo der Tod als prädikatloses Absolutes auftritt! Hier hat Hegel wohl den Geltungsanspruch der Endlichkeit auf den Punkt gebracht!). Während die Bildung in ihrem Weltumgang sich noch in den Gestalten der Ehre und des Reichtums, des Glaubens und der Einsicht usw. empfangen hat, empfängt diese Freiheit nur mehr den Tod. Die Entfremdung ist gewissermaßen an die Spitze getreten und mit der Erfahrung des Todesschreckens ist auch der unmittelbare Geltungsanspruch des Bewusstseins untergegangen. Damit ist es „aufgehobene Unmittelbarkeit, insofern es reines Wissen oder reiner Wille ist“ (PhdG III 440), d.h. die Unmittelbarkeit des Selbst hebt sich in das Allgemeine, in den allgemeinen Willen auf, es ist in das moralische Bewusstsein übergetreten. In diesen Ausführungen Hegels steckt die Erkenntnis, dass der Gedanke des Allgemeinen, wie er für die Moralität kennzeichnend ist, überhaupt erst in der Erfahrung absoluter Entfremdung und d.h. im Zerbrechen aller konkreten inhaltlichen Besetzung hervortreten kann. Damit verbindet sich auch die Einsicht, dass es völlig sinnlos ist, der ganzen Welt allgemeine Moralvorstellungen zu oktroyieren, wenn nicht die entsprechenden Erfahrungsschritte damit verbunden sind. Ein zweiter Gesichtspunkt, der hier erwähnt werden soll, ist der religiöse Zusammenhang, in dem die Moralität auftritt: Denn der allgemeine Gedanke der Moralität kann erst im Kontext eines allgemeinen religiösen Gedankens, d.h. wenn Gott als der universal Eine geglaubt wird, hervortreten. Dabei werden wir sehen, dass auch im religiösen Bewusstsein dazu die Erfahrung religiöser Entfremdung gemacht werden muss, wie sie den Israeliten als Exodusvolk widerfahren ist. Anders gesagt: Die Moralität verbindet sich untrennbar mit dem universalen Gott Israels und ist nicht unmittelbar, schon gar nicht mit Gewalt, auf alle Kulturen übertragbar. Dies bedeutet allerdings nicht, dass in anderen Kulturen die in der PhdG dargelegten Erfahrungsschritte, die solche des Bewusst-Seins sind, nicht gemacht werden (können).

11. DIE ENTFREMDUNG UND DAS DURCHBRECHEN

283

Von entscheidender Bedeutung ist, dass die Moralität ihren abstrakten Geltungsanspruch noch nicht aufgegeben hat, worin ihr Defizit liegt. Daher kann sie die Wirklichkeit noch nicht frei entlassen, was Hegel in folgendem Satz zum Ausdruck bringt: „[...] ebenso ist für es die gegenständliche Wirklichkeit, das Sein, schlechthin selbstlose Form, denn sie wäre das nicht Gewusste; dies Wissen aber weiß das Wissen als das Wesen.“ (PhdG III 440) Das moralische Selbstbewusstsein hat einseitig in seinem Geltungsanspruch, der als moralische Pflicht auftritt, das Wissen und damit das Selbst zum Wesen. Damit ist aber verbunden, dass die Wirklichkeit noch nicht in ihrem freien Anderssein anerkannt wird. Anders gesagt: Das moralische Bewusstsein ist der Widerspruch, dass es einerseits die Wirklichkeit als das selbständige Sein erkennt, sie aber noch nicht (auf Grund ihres Geltungsanspruchs) als solches anerkennt. Hegel bringt dies folgendermaßen zum Ausdruck: Von dieser Bestimmung an bildet sich eine moralische Weltanschauung aus, die in der Beziehung des moralischen Anundfürsichseins und des natürlichen Anundfürsichseins besteht. Dieser Beziehung liegt zum Grunde sowohl die völlige Gleichgültigkeit und eigene Selbständigkeit der Natur und der moralischen Zwecke und Tätigkeit gegeneinander als auf der anderen Seite das Bewusstsein der alleinigen Wesenheit der Pflicht und der völligen Unselbständigkeit und Unwesenheit der Natur.57

Hegel wird in seiner Kantkritik die Tatsache, dass sich die kantische Moralphilosophie durch ihren Geltungsanspruch die Natur verstellt, breit entfalten. Wir wollen auf diese Kritik nicht im Detail eingehen58, sondern nur einzelne Punkte herausgreifen. Einer der wichtigsten Kritikpunkte lautet folgendermaßen: „[...] denn das Handeln ist nur unter Voraussetzung eines Negativen, das durch die Handlung aufzuheben ist.“ (PhdG III 456) Damit ist eine – allerdings erst durch die offenbare Religion und im logischen Status der „Idee des Guten“ wirklich einsichtige – radikale Kritik am kantischen Handlungsbegriff angedeutet. Dessen zu Grunde liegende Moralität kann die Natur deshalb noch nicht wirklich frei aus sich entlassen, weil sie diese als etwas zu Behandelndes betrachtet, wobei sie sich selbst in dieser Behandlung, d.h. in der Aufhebung des Gegenstandes verwirklichen will. Auf diese Weise ist das voluntaristische Moment der Willkürfreiheit noch nicht überwunden und die Natur ist der Widerspruch, einerseits das Moment zu sein, an dem sich das Handeln und damit der Geltungsanspruch der Moralität konstituiert, andererseits aber das Moment des Aufzuhebenden zu sein. Auf diese Weise kann man sagen, dass für das Handeln die Natur sein soll, aber gleichzeitig nicht sein darf. Das Handeln wird sich so lange in diesen Widerspruch, der durch alle kantischen Postulate hindurchgeht, begeben, bis es erkennt, dass es sich als Handeln aufheben muss. An sich erkennt es dies schon in der Postulatenlehre; so tilgt z.B. das 57 58

G.W.F. Hegel, PhdG, III 443. Für eine detaillierte Interpretation dieses Kapitels vgl. A.J. Prestel, Die Verstellungen der kantischen Moralität.

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

Postulat des höchsten Gutes die Negativität des Seins und damit das Handeln, allerdings muss dies in das Postulat ausgelagert werden, will es den Geltungsanspruch seines Handelns aufrecht erhalten. Ein wirkliches Aufheben des Handelns wird also nicht durch das Postulat gelingen, auch nicht, wie die schöne Seele des Gewissenskapitels meint, durch eine theoretische Introspektion, sondern dadurch, dass gesehen wird, dass unser Handeln das Gute nicht zu verwirklichen braucht, weil dieses Geschenk Gottes sola gratia (d.h. von Ihm verwirklicht) ist. In dieser Erkenntnis, die Christentum und Buddhismus eint, wird der Status des absoluten Geistes erreicht sein. Hegel deutet ihn im Verstellungskapitel schon an, wenn er schreibt: „[...] was nämlich durch das Handeln wirklich werden soll, muss an sich so sein, sonst wäre die Wirklichkeit nicht möglich.“ (PhdG III 455) Logisch gesehen sind wir in der Moralität noch in der formellen Notwendigkeit, die sich im Gewissen zur realen weiterbestimmt, um am Ende des Gewissens über die Wechselwirkung in den Begriff (Religion) überzugehen. Dies zeigt sich phänomenal daran, dass die moralische Handlung noch etwas herstellt, während die sprachliche Handlung sich als Antwort auf den vorgängigen Logos, in dem das Gute verwirklicht ist, versteht.

Das moralische Bewusstsein geht also am Widerspruch zu Grunde, dass für es das Wirkliche zugleich das Nichtige und Reale, freigelassener Gegenstand und dessen Aufhebung, Setzen des Unterschieds und dessen Zurücknahme ist. Auf diese Weise ist es der absolute Unterschied, d.h. der Unterschied, der keiner ist, und so reines Selbst (das Ich=Ich). In dessen Unmittelbarkeit, in die nun aller Unterschied (der Form, d.h. die formelle Notwendigkeit) zurückgegangen ist, stellt sich das moralische Bewusstsein als Gewissen (als reale Notwendigkeit mit einem Inhalt als Resultat der aufgehobenen Formbestimmung) dar. Phänomenal könnte man auch sagen, dass das Gewissen die Wahrheit der Moralität insofern ist, als es in letzterer um die individuelle Verwirklichung (als Ausdruck der Handlung des Selbst, welches noch nicht wirklich allgemein ist, da es die Wirklichkeit der Natur außer sich hat) des allgemeinen Willens gegangen ist. Diese gestaltet sich nun als Gewissen. Das Gewissen ist damit nicht das willkürliche Selbst der absoluten Freiheit, sondern sein Geltungsanspruch ist allgemein, sein Selbst ist die Einheit von Einzelnem und Allgemeinem (und damit bereits an sich Begriff). Weiters ist es die Wahrheit der Entfremdung, weil es in der Entäußerung (seiner Individualität) als Handeln das Hervorbringen der Substanz ist. D.h. im Gewissen ist realisiert, dass das Selbst des Bewusstseins das Hervorbringen der Wirklichkeit ist. Als dieses Ich=Ich bzw. als allgemeiner Wille und Begriff ist sein Selbst, welches sich im Handeln entäußert, die in die Allgemeinheit gestellte Wirklichkeit (die die Wirklichkeit des allgemeinen Selbst ist) und damit nur wirklich als Anerkanntes. Während bisher die Wirklichkeit immer rein gegenständliche Bedeutung gehabt hat, ergibt sich auf diese Weise für das Gewissen, dass die Wirklichkeit begeistet ist.

11. DIE ENTFREMDUNG UND DAS DURCHBRECHEN

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Der letzte Geltungsmaßstab – dessen Zerbrechung es erfahren muss – ist das gewissenhafte Handeln. Dieses soll als allgemein anerkannt sein. Allerdings drückt das (unmittelbare) Handeln nicht die Sphäre des Selbst, also das Gewissen aus. Das Handeln ist eine Bestimmtheit und bloßes Handeln ist die Lust der eitlen Besonderung. Um also als Anerkanntes handeln zu können, muss es in die als „Mitte selbständiger und anerkannter Selbstbewusstseine hervortretende“ (PhdG III 479) Allgemeinheit der Sprache übergehen und seine Überzeugung aussprechen. In diesem Satz steckt die Einsicht, dass freies Sprechen und Sprechenlassen der Anfang der Anerkennung ist. Daher ist nichts trauriger als eine Kultur oder ein Mensch, der die freie Sprache verloren hat. Diese bestimmt Hegel in diesem Zusammenhang auf großartige Weise als „das sich von sich selbst abtrennende Selbst, das als reines Ich=Ich sich gegenständlich wird, in dieser Gegenständlichkeit sich ebenso als dieses Selbst erhält, wie es unmittelbar mit den anderen zusammenfließt und ihr Selbstbewusstsein ist; es vernimmt ebenso sich, als es von den anderen vernommen wird, und das Vernehmen ist eben das zum Selbst gewordene Dasein“ (PhdG III 478f.). Darin ist ausgesprochen, dass das Individuum allein in der Sprache59 (von der Musik wollen wir hier absehen) real ist. Alle untersprachlichen Stufen von der unmittelbaren sinnlichen Gewissheit bis hin zur Moralität verfehlen diese Individualität. Die wirkliche Einzelheit bringt sich dagegen in der Sprache, die als diese wirkliche Einzelheit der Begriff ist, zum Ausdruck. Konkret ist sie die Einheit von Einzelheit (Sprecher) und Allgemeinheit (Anerkanntsein), der Begriff, der in den Gegensatz tritt und sich darin erhaltet/erhält (servat/recipit) (in der Bedeutungserstellung durch das ausgesprochene Wort, in dem ich mich ausspreche) sowie die Einheit von Subjektivität (Sprechen) und Objektivität (Vernehmen). Ihr Proprium, nämlich in der Negativität des Verschwindens (die Sprache verklingt nicht nur, sondern sie ist die niemals fixierbare, d.h. ständig verschwindende und in diesem Verschwinden sich erhaltende Bedeutung) das Allgemeine und Einzelne und damit der absolute, sich selbst aufhebende Unterschied zu sein, ist die Wahrheit der zweiten übersinnlichen Welt. B. Liebrucks zeigt, wie jede logische Kategorie Hegels ihr Äquivalent in der Sprache hat bzw. aus dieser entwickelt ist. So ist die Philosophie Hegels (und nicht die Heideggers oder gar die derjenigen sprachanalytischen Strömungen, die die Sprache als positives Ding mit Eigenschaften behandeln) wohl bis heute die einzige Philosophie der Sprache und die Dialektik nichts anderes als deren Methode und so (im nicht emphatischen Sinne) die absolute Methode, denn die Sprache ist wahrhaft göttlichen Ursprungs, was sich daran zeigt – wie etwa der Wiener Philosoph E. Heintel betont hat60 –, dass noch niemals ein Mensch sprechen gelernt hat ohne zuvor angesprochen worden zu sein. Ergänzt sei noch, dass Hegel in dem hier angeführten Zitat auch das Wesen des ontologischen Gottesbewei59

60

Wobei wir hier anmerken, um Missverständnissen vorzubeugen, dass die Sprache nicht in der gesprochenen Sprache aufgeht. Selbstverständlich sprechen auch Gehörlose, wenn sie die Zeichensprache verwenden, wobei auch deren Wirklichkeit an der gesprochenen Sprache partizipiert. Vgl. E. Heintel, Die beiden Labyrinthe der Philosophie, 138-143.

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

ses ausspricht: Denn dieser behauptet das Sein des absoluten Geistes. In der Sprache aber gibt sich Gott als Logos Dasein für den Menschen, was die Bibel auf großartige Weise weiß, wenn sie alles Dasein im schöpferischen Wort Gottes anfangen lässt. Die Sprache ist auf diese Weise die Negativität des Begriffs bzw. der durchgeführte spekulative Satz, denn die Sprache ist (wie die Zeit) die subjektivste und objektivste Realität. Weiters ist sie als diese Negativität, die sich in Worte und Sätze gestaltet, die gestaltete Zeit schlechthin.

Das Gewissen spricht also sein Wesen aus und stellt sich darin als das Wahre, als Organ der „göttlichen Stimme“ dar. Da es als Allgemeines auch der Anerkennung bedürftig ist, stellt es sich in das allgemeine Medium einer (christlichen) Gemeinde, worin es Anerkennung erfährt. In diesem Selbstbewusstsein verwirklicht sich auf reine Weise das Ich=Ich, alle Äußerlichkeit verschwindet in es. So ist es die schöne Seele (des Gewissens), der „absolute Gottesdienst in sich“. Seine erschaffene Welt ist die Rede, das „ausgesprochene Wort, welches es unmittelbar in sich zurücknimmt“ – um hier bereits auf die Parallele mit dem Reich des Vaters der offenbaren Religion hinzuweisen. Auf diese Weise ermangelt es der Entäußerung, der Kraft, sich zu unterscheiden und sein Denken in Sein zu verwandeln. Wir sind in dieser schönen Seele in einem undialektischen Primat der Theorie gegenüber der Praxis, im Status der für sich reinen WdL, wenn diese als „Gedanken Gottes vor der Erschaffung der Erde“ verstanden werden könnte oder auch im Status eines Hegelianismus, der alle Welt in theoretischer Erklärung so in sich zurückgenommen hat, dass die Wirklichkeit durch den hegelschen Gedanken oder abgekürzt gesprochen durch den „Begriff“ ersetzt wird. Allerdings wird diese Sichselbstgleichheit durch das Handeln, welches ja der Leitbegriff des Gewissens war, getrennt. Denn dieses ist allgemeines Selbst und Einzelnes und als Einzelnes kann es nur in der bestimmten Handlung allgemeine Anerkennung finden. Durch diese Bestimmtheit wird aber die sich selbst gleiche Allgemeinheit der schönen Seele getrennt und zerfällt in die Einzelheit des handelnden und die Allgemeinheit des urteilenden Bewusstseins (womit wir logisch gesehen in der Kategorie der Wechselwirkung und damit an der Schwelle des Begriffs, der ja die Wechselwirkung schon an sich ist, stehen). Hegel bringt dieses Verhältnis folgendermaßen zum Ausdruck: „Seine [d.i. das handelnde Bewusstsein] Besonderheit besteht darin, dass die beiden sein Bewusstsein konstituierenden Momente, das Selbst und das Ansich, mit ungleichem Werte, und zwar mit der Bestimmung in ihm gelten, dass die Gewissheit seiner selbst das Wesen ist gegen das Ansich oder das Allgemeine, das nur als Moment gilt.“ (PhdG III 485) Das handelnde Bewusstsein lässt zunächst nicht von seiner Geltung ab: Sein Maßstab ist die Gewissheit seiner selbst, die es als Allgemeines (Pflicht) setzt, aber in der Besonderheit des Handelns gegenüber dem urteilenden Bewusstsein nicht zum Ausdruck zu bringen vermag. Daran zerbricht seine Geltung, die jene der Sichselbstgleichheit des Ich war und im Gewissen bereits unter der Ägide der Anerkennung

11. DIE ENTFREMDUNG UND DAS DURCHBRECHEN

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stand. Diese wird ihm jetzt aber vom urteilenden Bewusstsein verweigert, denn es erkennt den abstrakten Geltungsanspruch des handelnden Bewusstseins und ver-ur-teilt es. Damit hat es allerdings gleichzeitig sich selbst das Urteil gesprochen, denn als das sich selbst gleich bleibende Allgemeine liegt seine Handlung einzig und allein darin, zu urteilen, d.h. die Ungleichheit mit dem handelnden Bewusstsein hervorzubringen und festzuhalten. Auf diese Weise besondert es aber ebenso wie das handelnde Bewusstsein die Kontinuität des Allgemeinen. Das Handeln erkennt in dieser Besonderung des urteilenden Allgemeinen dessen Sichselbstgleichheit mit ihm und kann ohne Erniedrigung sein Bösesein eingestehen. Logisch gesehen erkennt es, dass das Allgemeine in der Besonderheit beider identisch mit sich und darin ebenso wie es Einzelnes ist.

Phänomenal gesprochen wird man diese Erkenntnis des handelnden Bewusstseins darin zu verorten haben, dass im absoluten Zerbrechen seiner Geltung (die das Allgemeine war) dieses Allgemeine selbst zerbricht. Es erkennt sich also gewissermaßen im zerbrochenen Allgemeinen. Religiös wird dem der Kreuzestod Christi entsprechen, bei dessen Anblick das Bewusstsein erst die tragende Erfahrung der Gebrochenheit aller Geltungsmaßstäbe (und die Anerkennung der Wirklichkeit als gefallener) machen wird oder anders gesagt: Erst in der Entäußerung Gottes wird das Selbstbewusstsein zur Selbstentäußerung und damit zur Umkehr wirklich fähig sein. Hegel führt noch weiter aus, dass umgekehrt sich der Geltungsanspruch des urteilenden Bewusstseins zum harten Herzen verhärtet, welches aber dadurch bricht, dass sein Geltungsanspruch bzw. überhaupt der Geltungsanspruch schlechthin (als das Allgemeine) vom handelnden Bewusstsein nicht mehr anerkannt wird. Im Brechen der Geltung (als dessen letztes Fundament sich das Urteil überhaupt herausstellte) als vollkommener und wahrer Entäußerung (Metanoia) hat sich nun aber die Wirklichkeit begeistet. Hegel prägt in diesem Zusammenhang den wunderschönen und hochspekulativen Satz, der doch die ganze ungeheure Zumutung des Christentums beinhaltet (und das Brechen der Macht des Vergangenen und Hereinbrechen der Zukunft bedeutet): „Die Wunden des Geistes heilen, ohne dass Narben bleiben.“61 Dies beginnt sich in dem Moment einzustellen, in dem das Bewusstsein durch das aufgehobene Urteil die Welt in ihrer Endlichkeit, in ihrer Verletzlichkeit und Hinfälligkeit, letztlich in ihrem freien Sichanderssein vernehmen und bejahen kann. Hegel bringt die Essenz dieses Ablassen von der Geltung folgendermaßen zum Ausdruck: „Das versöhnende Ja, worin beide Ich von ihrem entgegengesetzten Dasein ablassen, ist das Dasein des zur Zweiheit ausgedehnten Ichs, das darin sich selbst gleich bleibt und in seiner vollkommenen Entäußerung und Gegenteile die Gewissheit seiner selbst hat; – es ist der erscheinende Gott mitten unter ihnen, 61

G.W.F. Hegel, PhdG, III 492. Vgl. dazu Mt 18,21-35, wo die Essenz des Gewissenskapitels zum Ausdruck gebracht ist!

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

die sich als das reine Wissen wissen.“ (PhdG III 494). Dieses Wissen darf nun allerdings nicht mehr, wie Hegel in der Einleitung zum Religionskapitel festhält, als ein die „Wirklichkeit umschließendes Kleid“ (PhdG III 497) aufgefasst werden. Ein solches Wissen hätte nämlich die Form der Vorstellung der Gestalt der offenbaren Religion, die sich noch in ihrer (theologischen) Reflexion (nicht dem ansichseienden und in der Liturgie zum Ausdruck gebrachten Inhalt nach!) im Zeichen eines Gottes versteht, der die Wirklichkeit (und damit die Zeit!) nicht frei in der Anerkennung ihrer Endlichkeit entlässt. Vielmehr wird sich dieses Wissen als das absolute Wissen manifestieren, in dem die absolute Unverfügbarkeit und Negativität des Anderen als ewiges Schöpfungshandeln Gottes (an)erkannt wird. Damit wird sich eine weitere Dimension des Ich=Ich ergeben, die aber erst im Durchgang durch die offenbare Religion und in der Vereinigung des absoluten Wissens in seiner vollen Bedeutung erfasst werden wird. Das „zur Zweiheit ausgedehnte Ich, das darin sich selbst gleich bleibt“ ist einerseits im Verzicht auf den eigenen Geltungsmaßstab die Anerkennung des Endlichen, d.h. das Sich-selbst-Erkennen in der Hinfälligkeit und Verletztlichkeit des Anderen. Andererseits manifestiert sich aber in der absoluten Negativität des Begriffs (in dieser „Verflüssigung“ alles Wirklichen), die sich phänomenal im Verzicht auf das Ur-Teil einstellt, bereits das Selbstbewusstsein des Geistes, weil die Wirklichkeit ihre Gegenständlichkeit (d.h. Positivität) verloren hat. Eine Quelle des Missverständnisses in der Darstellung der Philosophie Hegels ist das Wort Gegenständlichkeit. Dieses meint einmal die geistlose Positivität als Korrelat endlicher Bestimmungen und Identifizierungen. Andererseits meint es das geistvolle Entgegenstehen als Zerbrechen eigener Ansprüche. Hegel ist dabei, hier dem Buddhismus vergleichbar, der Auffassung, dass sich in der Anerkennung der (geistvollen) Gegenständlichkeit (dem freien Sich-Anders-Sein) der Wirklichkeit die Gegenständlichkeit als Positivität tilgt und so die Wirklichkeit als Geist empfangen wird.

Wir sind damit in die Lage gesetzt, die hegelsche Bedeutung des Wortes „Anerkennung“ tiefer zu erfassen: Anerkennung meint nicht eine von einem überlegenen Maßstab ausgehende (urteilende) Toleranz. Sie meint weiters nicht einmal den Respekt, den ich dem Anderen entgegenbringe, denn auch dieser setzte mich in die absolute Position eines Ortes, von dem aus ich den Respekt bezeuge. Vielmehr meint Anerkennung, wie Hegel sagt, die „Bewegung dieses Gegensatzes“ (im Sinne des spekulativen Satzes), die „indiskrete Kontinuität und Gleichheit des Ich=Ich“, das „wirkliche Ich, das allgemeine Sichselbstwissen in seinem absoluten Gegenteile“62. Damit ist zum Ausdruck gebracht, dass ich mir selber in der Ungleichheit (Diskretion), d.h. konkret Endlichkeit und (kulturellen, religiösen, geistigen) Bestimmtheit des Anderen begegne. Im Anderen, der auf Grund seiner Endlichkeit und Bestimmtheit von mir verurteilt wird, verurteile ich mich, und genauso wie das Sein des Anderen 62

G.W.F. Hegel, PhdG, III 494.

11. DIE ENTFREMDUNG UND DAS DURCHBRECHEN

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ist auch mein „Anundfürsichsein Gesetztsein“ (so kennzeichnet ja Hegel den Eingang in die Begriffslogik).63 Dies ist der tiefe Gehalt des Ich=Ich und damit verbunden des spekulativen Satzes. Er ist keine narzisstische Bespiegelung, sondern das Bewusstsein, dass es keinen absoluten Ort gibt, von dem aus ich den Anderen beurteilen kann, weil ich selber durch und durch bestimmter Ort bin (Gesetztsein durch ein Anderes) und das mich setzende geistige Geschehen nie von einer absoluten Warte aus in den Griff bekommen kann. Gleichzeitig ist damit bereits der religiöse Inhalt impliziert, denn er bringt zum Ausdruck, dass Gott die Eröffnung der Zeit als dieser „Nicht-Ort“ der zweiten übersinnlichen Welt ist, die jeden positivierbaren Anfang sprengt. Gott ist darin auch nicht die absolute Position der Metaphysik, sondern der sich jedes Ortes (und sei es auch des Seins als festen Fundaments) Entäußernde, dessen Handeln der Ermöglichungsgrund ist, dass ich jede Fixierung und damit das Urteil überhaupt aufgeben kann. Denn – und dies ist die Erfahrung, die das Gewissen noch machen muss bzw. schon immer gemacht hat, da es ja Entsprechung der offenbaren Religion ist – auch dieses Ablassen ist nicht meine Tat (womit wir wiederum das Anerkennen in einen bloßen Respekt verwandelt hätten), sondern als meine Tat bereits Tat Gottes. Wenn hier die Rede davon ist, dass der Mensch keinen absoluten Ort zur Verfügung hat, sondern durch ein geistiges Geschehen bestimmt ist, welches ihm immer schon voraus liegt, darf dies nicht im Sinne eines „aboluten Relativismus“, wie er uns im geistigen Tierreich begegnete, verstanden werden. Es geht vielmehr, wie wir noch sehen werden, um ein Sich-Anders-Werden (Umkehr), d.h. weder um Haltlosigkeit noch um eine Beliebigkeit der Selbstverortung, sondern darum, der Vorgabe eines „anderen Ortes“ zu folgen64, den ich nie mein eigen nennen werden könne und den ich mich nur in zeitlicher Übernahme (traditio, Nachfolge) aussetzen kann. In dieser Erkenntnis liegt der phänomenale Grund, warum das Gewissen als Antwort auf die offenbare Religion als vorgängiges Geschehen (Eröffnung dieses anderen Ortes) betrachtet werden muss. Ein weiterer Hinweis, der an dieser Stelle gegeben werden soll, betrifft eine paradigmatische und gegenwärtigem Geschehen entsprechende Form der bei Hegel so zentralen Durchbrechung der Geltung: Es handelt sich dabei um das von J.B. Metz als Organon einer anamnetischen Vernunft namhaft gemachte „Eingedenken fremden Leides“, dessen Ermöglichungsgrund nicht nur das Von-sich-Absehen ist, sondern auch die Anerkennung des Anderen als verletztlichen und durch seine kulturellen Erfahrungen und Brüche bestimmten Anderen.65

63

64 65

F. Wagner bringt dies folgendermaßen zum Ausdruck: „Die wechselseitige Anerkennung gründet also in einer , die jede Position aufgrund der Einsicht in die eigene Abstraktheit der jeweils anderen Position zuteil werden läßt.“ Vgl. F. Wagner, Philosophisch begriffene christliche Religion zwischen Voll-Endung und Umformung 156. Vgl. H.D. Bahr, Die Sprache des Gastes. Bahr entwickelt am Begriff des „Gastes“ diese nicht aneignende Annahme einer (zeitlichen) Vorgabe. Vgl. dazu sein (unter Mitwirkung von J. Reikerstorfer) verfasstes Buch „Memoria passionis“, in dem viele Motive von „Glaube in Geschichte und Gesellschaft“ weiterentwickelt werden.

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

In der Begeistung (Subjektwerdung) der Substanz, wie sie sich in der Anerkennung des Anderen einstellt, findet also der spekulative Umschlag vom Bewusstsein in das Selbstbewusstsein des Geistes statt. Es zeigt sich darin der Verlust des Anderen als umreißbaren Gegenstandes, womit auch der tiefste Sinn der Einheit von Bewusstsein und Gegenstand, d.h. des Ich=Ich im hegelschen Sinne ausgesprochen ist. Es geht also nicht darum, den Gegenstand in mein kategoriales Gefüge einzusargen, vielmehr um das die transzendentale Dialektik Kants radikalisierende Wissen, dass „Gott“, „Ich“ und „Welt“ keine Gegenstände unserer Reflexion sind. Solcherart rückt die Beziehung (d.h. die Kopula) des Bewusst-Seins in die Mitte und die Wirklichkeit zeigt sich als begeistete. Darin zeigt sich, dass diese begeistete Wirklichkeit immer schon der Ermöglichungsgrund, d.h. die Zeit als Vorgabe, unseres anerkennenden Tuns war. Der Gang des Menschen zum Menschen, der wirklich menschlich nur im Sinne des Sicherkennens als Endlicher in der Anerkennung des Anderen ist, war also immer schon der den Menschen als Menschen (und d.h. in seiner Endlichkeit, Zerbrechlichkeit und Sündigkeit) anerkennende Gang Gottes zum Menschen. In der Darstellung Hegels wird sich dies so zum Ausdruck bringen, dass sich die Entäußerung des Subjekts in die Substanz, wie sie das Gewissen vollbringt, immer schon an der Entäußerung der Substanz in das Subjekt komplettiert hat, wie sie uns in der offenbaren Religion überliefert ist. Wird die Wirklichkeit als begeistet erkannt, verliert sich jede Möglichkeit einer Setzung eines chronologischen Anfangs. Die Handlung (und mit ihr die Zeit!) tilgt sich in dem Augenblick, in dem sie weiß, dass sie im Handeln schon alles empfangen hat (vgl. Mk 11,24: „Darum sage ich euch: Alles, worum ihr betet und bittet – glaubt nur, dass ihr es schon erhalten habt, dann wird es euch zuteil!“). Gott ist kein Monarch, der, je nachdem wie es ihm beliebt, von Mal zu Mal gibt oder auch nicht. Dadurch ist die transzendentale Freiheitskonzeption Kants noch einmal einer bereits in Kants praktischer Fassung des Freiheitsbegriff begonnenen fundamentalen Revision unterzogen. Der Anfang des Handelns wird sich bei Hegel als Anfang eines Anderen herausstellen.

Uns bleibt jetzt noch erstens die Aufgabe, das Selbstbewusstsein des absoluten Geistes als inhaltlichen Ermöglichungsgrund des anerkennenden Handelns aufzuweisen und zweitens die im Umschlag vom Bewusstsein zum Selbstbewusstsein des Geistes sich bereits andeutende Grenze des Handelns darzulegen. Diese wird darin bestehen, dass das Handeln noch meint, einer unbegeisteten Wirklichkeit das Gute zu vindizieren, während das absolute Wissen „weiß“ (in einem noch zu bestimmenden Sinne, hier kann es nicht mehr um ein Wissen im üblicher Weise so genannten theoretischen Sinn gehen; genau dieses musste bereits das Gewissen abwerfen), dass die Wirklichkeit als Wirklichkeit Gottes an und für sich gut ist, was uns dann zur Frage nach der Tilgung der Zeit führen wird.

12. DIE ZWEI ENTÄUßERUNGSBEWEGUNGEN

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12. Die zwei Entäußerungsbewegungen der Phänomenologie des Geistes und die unabweisliche Bedeutung der offenbaren Religion Im Religionskapitel der PhdG zeigt Hegel die Entfaltung des Selbstbewusstseins des Geistes auf, wobei festzuhalten ist, dass genau wie bei Schelling die mythologischen Religionen bereits Ausdruck Gottes sind: „Die Reihe der verschiedenen Religionen, die sich ergeben werden, stellt ebensosehr wieder nur die verschiedenen Seiten einer einzigen, und zwar jeder einzelnen dar, und die Vorstellungen, welche eine wirkliche Religion vor einer anderen auszuzeichnen scheinen, kommen in jeder vor.“ (PhdG III 504f.) Auf diese Weise wird sich das Christentum einerseits als die Zusammenfassung (Aufhebung) aller wirklichen Religionen, auf der anderen Seite auch als Ausgangspunkt für ein je neu (und überall) sich entfaltendes geistiges Geschehen erweisen. Wir werden im absoluten Wissen sehen, dass gerade die Abgeschlossenheit jüdischchristlicher Offenbarung die radikale Eröffnung eines je neu dieses Offenbarungsereignis fortschreibenden Geschehens IST. Zunächst soll aber hier festgehalten werden66, dass sich in der Darstellung des Selbstbewusstseins des Geistes dessen Subjektivität immer stärker manifestiert, insofern der Geist die substanzhafte Weise, in der sein Selbstbewusstsein erscheint, entäußert. Ist er zunächst als die seiende Durchdringung aller Wirklichkeit präsent – Hegel nennt diese Gestalt Lichtwesen –, offenbart er sich im Folgenden immer deutlicher als Selbst, wobei Hegel dies vor allem anhand der ägyptischen und griechischen Religion darstellt (auf die einzelnen Gestalten gehen wir nicht ein). Dabei tritt immer deutlicher der Zusammenhang von göttlicher Offenbarung und menschlichem Weltumgang zu Tage. So ist es für die (griechische) Kunstreligion charakteristisch, dass der Mensch, sei es als Bildhauer der Götterstatuen, sei es als epischer Sänger oder tragischer Dichter dem Volk die Götter schafft, insofern sich die göttliche Substanz in diesem Schaffen selbst offenbart (entäußert), womit wir beim Kern des Mythos angelangt sind. Dabei zeigt sich in der griechischen Kunstreligion die göttliche Substanz schon in menschlicher Gestalt, aber sie ist in der Darstellung der Götter (Genetivus subjectivus und Genetivus objectivus.!) idealisiert und bringt noch nicht die konkrete, und d.h. nicht zuletzt leidvolle, sterbliche Wirklichkeit des Menschen zum Ausdruck. Am Kulminationspunkt der Kunstreligion, dem komödiantischen Bewusstsein, tritt schließlich das Absolute als Selbst auf – unter Annihilierung der Götter –, womit das „Selbstbewusstsein sich als das Schicksal der Götter darstellt“ (PhdG III 541). 66

Für eine detailliertere und spekulative Darstellung siehe das in der Einleitung bereits erwähnte Buch von T. Auinger, Das absolute Wissen als Ort der Ver-einigung und A. Dunshirn, Die Einheit der Ilias als tragisches Selbstbewußtsein.

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

Das Schicksal, welches dem wesenslogischen Status der Notwendigkeit entspricht, tritt in der griechischen Religion als negative Macht der Götter immer stärker in den Vordergrund, zunächst im Epos, wo es bereits die Wahrheit der Göttergestalten ist und dann in der Tragödie, wo diese Wahrheit explizit in Bezug auf das menschliche Handeln hervortritt. Was allerdings bis zur Komödie noch nicht gewusst wird, ist, dass die absolute Negativität und damit die Wahrheit des Schicksals das Selbst ist genauso wie der Begriff und damit die Freiheit die Wahrheit der Notwendigkeit darstellt. Oder phänomenal gesagt: Das Selbst ist der absolute Gegensatz, die Fremde, die sittlicher und mythologischer Beheimatung als Schicksal entgegentritt.

In der Komödie wird der Satz ausgesprochen „Das Selbst ist das absolute Wesen“67 (der erste Satz des spekulativen Satzes), d.h. in ihr hat sich die Entäußerung der Substanz, die zum Prädikat herabsinkt, in das Subjekt ergeben. Allerdings wird sich zeigen, dass das Selbst nichts anderes als der absolute Unterschied und darin die Umkehrung seiner selbst ist, womit der spekulative Satz (als der Satz der Negativität des Selbstbewusstseins) in dem Satz „Die Substanz ist das absolute Wesen“ sich vervollständigen und die Wahrheit der Entäußerung sein wird. Philosophiegeschichtlich gesehen ist wohl der Vertreter des komödiantischen Bewusstseins schlechthin Nietzsche. Das geistvolle Moment der Komödie liegt dabei auch darin, dass alle substanziellen Positivitäten, d.h. nicht zuletzt die als Herren aller Zeiten auftretenden Schicksalsmächte zerlacht werden. Allerdings findet die Komödie als absolut inhaltszersetzendes Wissen keinen substanziellen Halt mehr und trägt daher bereits den Untergang in sich. Zeitlich entspricht der Komödie der Zerfall der Zeit in ein Spiel zeitlicher Perspektiven und Masken, die, wie N. Capozza anhand einer Konfrontation von Nietzsche und Bonhoeffer aufzeigt68, erst durch die ethische Tat hin zu einer (unter eschatologischem Vermerk stehenden) gerichteten Zeit umschlägt.

Die Wahrheit des komödiantischen Bewusstseins, nämlich die Haltlosigkeit eines substanzlosen Selbstbewusstseins, spricht das unglückliche Bewusstsein aus, das dieses Selbst als Verlust erfahren hat. Es „weiß ein solches Gelten [des Selbst] vielmehr als den vollkommenen Verlust; es selbst ist dieser seiner bewusste Verlust und die Entäußerung seines Wissens von sich“ (PhdG III 547). In diesem gewissenhaften Zerbrechen aller Maßstäbe ist es die „Entäußerung des Subjekts“ und als solches die Gegenbewegung bzw. die Vervollständigung des glücklichen, komischen Bewusstseins, in welchem sich die „Entäußerung der Substanz“ in das Selbst vollzogen hat. Erst beide Entäußerungsbewegungen zusammengenommen werden die wirkliche Entäußerung der Substanz als tragendes Fundament (bzw. als Gegenbewegung) zur Gewissensentäußerung ergeben. Der radikalste Ausdruck dieser Entäußerungen, in der mit dem Selbst auch alle Substanz entäußert wird, und damit die „Wahr67 68

Für eine detaillierte Darstellung der dialektischen Bewegung vgl. T. Auinger, Das absolute Wissen als Ort der Ver-einigung, 123-130. N. Capozza, Im Namen der Treue zur Erde.

12. DIE ZWEI ENTÄUßERUNGSBEWEGUNGEN

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heit“ des unglücklichen Bewusstseins, welches sich noch an einen melancholischen Fluchtpunkt klammerte, spricht sich in der Offenbarung des Kreuzestodes Jesu „als das harte Wort [aus], dass Gott gestorben ist“. Damit ist nun jene Versöhnungsbewegung, die das Gewissen für sich und damit noch handelnd vollbracht hat, in ihrer ansichseienden „substanziellen“ Seite ausgesprochen. Die Fremde Abrahams hat die höchstmögliche Steigerung erfahren und alle Geltungsansprüche sind in diesem Geschehen untergegangen. Hier soll noch auf die spekulative Bedeutung des Satzes „Gott ist tot“ hingewiesen werden, denn in diesem spekulativen Satz ist nicht nur das Verschwinden Gottes als absoluter Position (bzw. eben seine Entäußerung als substanzielles Kleid und seine Auferstehung als Geist) und das Freilassen der endlichen Welt, die damit nicht mehr undialektisch endlich bleibt, zum Ausdruck gebracht, sondern vor allem, dass die durch den Tod beherrschte Endlichkeit als solche begeistet ist. Damit wandelt sich der Tod vom absoluten Herrn und der annihilierenden Leere der Aufklärung (unserer üblichen Auffassung) zum die Endlichkeit begeistenden Geschehen. Der Tod (als Tod der Substanz) ist damit nicht mehr die absolute, alles nihilierende Schranke, sondern der Ausdruck der absoluten Unverfügbarkeit des Anderen. Theologisch gesprochen ist die Substanz gestorben, um als Subjekt aufzuerstehen. In dieser Bedeutung aber ist der Tod nicht mehr das „Ende“ des menschlichen Daseins, sondern der ewige Anfang (Auferstehung) der Vergeistigung aller Substanz. Dieser spekulative Gedanke aber lässt sich wahrhaft nur in dem Bekenntnis zu Tod UND Auferstehung aussprechen, weil ohne letztere der Tod immer einseitig als (gottloses) annihilierendes, den Menschen als undialektisch endlich setzendes Geschehen (am Ende positiviert auf den Leichnam) aufgefasst würde. Die im Tode zu Tage tretende Entäußerung wäre leeres Zeichen absoluter Positivität. So aber sind die Toten (Frei)Gabe der Lebenden und in ihrem substanzhaften Verschwinden erst als unverfügbare Subjekte gegenwärtig, was die christliche Gemeinde seit je in der Eucharistie feiert. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass diese Sicht nur im Blick auf das Zerbrechen aller Maßstäbe, oder wie Metz es ausdrückt, im Angesicht des Karsamstags, erschwinglich ist. Ansonsten findet die Entäußerung und Anerkennung des Endlichen gerade nicht statt. Gott liebt den Menschen so sehr, dass er für ihn unverfügbar bleibt und die Toten in die Unverfügbarkeit entrückt hat.

Hegel bringt diese doppelte Entäußerung folgendermaßen zum Ausdruck: „Insofern das Selbstbewusstsein einseitig nur seine eigene Entäußerung erfasst, wenn ihm schon sein Gegenstand also ebensowohl Sein als Selbst ist, und es alles Dasein als geistiges Wesen weiß, so ist dadurch dennoch noch nicht für es der wahre Geist geworden, insofern nämlich das Sein überhaupt oder die Substanz nicht an sich ebenso ihrerseits sich ihrer selbst entäußerte und zum Selbstbewusstsein wurde.“ (PhdG III 550) Während also im Gewissen das „Selbstbewusstsein einseitig nur seine eigene Entäußerung erfasst“ hat und so diese Entäußerung noch als sein Handeln interpretiert, wird diese Entäußerung jetzt als absolut substanzielles Geschehen erkannt. Damit ist die Bewegung des spekulativen Satzes, dass die Substanz ebensosehr als Subjekt aufzufassen

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

ist, in einer weiteren Dimension erfüllt. Hegel schreibt dazu Folgendes: „Er [dieser spekulative Satz] hat die zwei Seiten an ihm, die oben als die beiden umgekehrten Sätze vorgestellt sind; die eine ist diese, dass die Substanz sich ihrer selbst entäußert und zum Selbstbewusstsein wird, die andere umgekehrt, dass das Selbstbewusstsein sich seiner entäußert und zur Dingheit oder zum allgemeinen Selbst macht.“ (PhdG III 549) Das Selbst erfährt in diesem wechselseitigen Geschehen der Selbstoffenbarung Gottes in Jesu Leben, Tod und Auferstehung (als inhaltliche Abschlussbewegung der Entäußerung der Substanz) und der Nachfolge (Entäußerung des Subjekts), die an der Schnittstelle des unglücklichen Bewusstseins69 stattfindet (welches weiß, dass der Geist die Negativität ist – und als solches eine geistigere Sichtweise einnimmt als das tragische Bewusstsein, welches diese Negativität noch in das Schicksal verlagert hat, und auch als das komische Bewusstsein, welches dieses Wissen nur im komödiantischen Gestus untersprachlich unter Aussparung der Subjektivität vollziehen kann), radikale Entfremdung, die es aber gleichzeitig als Tun Gottes (Entäußerung der Substanz als Heiligung der endlichen Welt) wahrzunehmen vermag. Im Verlust der unmittelbaren substanziellen Wirklichkeit, den wir bereits im Gewissen als Ablassen von dem eigenen Geltungsanspruch und der Anerkennung der Welt als endlicher als Ermöglichung der Anerkennung des Anderen dargestellt haben, begeistet sich ihm diese Welt. Dabei erkennt das Bewusstsein, dass es nicht seine Tat ist, die diese Welt erst begeisten muss – womit die Welt wiederum nur das Tun des eigenen Ichs wäre – sondern es erkennt durch die offenbare Religion als absoluten Inhalt die Welt als die Sphäre des Hl. Geistes, der die absolute Gabe ist. Dieses substanzielle Geschehen (d.h. die Entäußerung der Substanz) ist, wie wir gleich deutlicher sehen werden, zusammengefasst in der Person des Jesus von Nazareth, in dem es die Negativität der Wirklichkeit (d.h. die Wirklichkeit als Entäußerung der Substanz) als „einfaches positives Selbst“ wahrnimmt. Der Mangel der „Form der Vorstellung“ der offenbaren Religion ist zunächst, dass sie dieses „positive Selbst“ (PhdG III 551) wiederum vergegenständlicht und in ihm nicht die absolute Negativität des selbständigen freien Daseins anerkennt, es sieht also in der Wirklichkeit Jesu nur die Seite der Einzelheit, d.h. die irdische Dimension und erkennt nicht Jesus als den absoluten Geist. Die positive Vereinigung, die das religiöse Bewusstsein gleich der Andacht des unglücklichen Bewusstseins mit Jesus erstrebt, ist aber nicht möglich, da das „Sein in Gewesensein“ (PhdG III 555) übergeht. Darin zeigt sich der spekulative Sinn des Verschwindens, der das erste Mal in der sinnlichen Gewissheit aufgetreten ist. Jesus „verschwindet“ als Gegenstand unserer Reflexion, um Kraft des Hl. Geistes als (nicht mehr zu distanzierendes) Subjekt auferstehen zu können. Sein Dasein als absolutes Subjekt konkretisiert sich dabei im Hl. Geist als Menschwerdung des Menschen, d.h. als Anerkennung des Subjekts als der Substanz. Diese 69

Vgl. G.W.F. Hegel, PhdG, III 549.

12. DIE ZWEI ENTÄUßERUNGSBEWEGUNGEN

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Bewegung ist zugleich die Anerkennung des Menschen durch Gott, der sich seiner Substanz entäußert und Mensch wird.70 In der Hegelinterpretation gibt es sowohl die Tendenz, Gott als „Ichheit“ des Menschen als auch Gott als die „Iche“, die sich gegenseitig anerkennen, aufzufassen. Die zweite Position ist ein Rückfall in wesenslogische Bestimmungen, weil hier der Mensch als Ursache des Geistes gesetzt wird. Damit wird das Versöhnungsgeschehen als Handlung interpretiert. Dagegen soll gezeigt werden, dass die Versöhnung immer die Doppelbewegung der Entäußerung der Substanz (offenbare Religion) und der Entäußerung des Subjekts (Gewissen) ist. Damit ist Gott das absolute Subjekt, welches sich – und dies ist das Richtige an dieser Position – als Hl. Geist in der Anerkennung manifestiert. Das sola gratia-Prinzip darf aber nicht vergessen werden! Zum ersten ist zu sagen, dass der Ausdruck „Ichheit“ nicht glücklich ist, weil impliziert sein könnte, dass Gott die Subjektivität des Subjekts im Sinne eines Substrats oder gar der Summe der endlichen Bewegungen der Iche (objektiver Geist) ist. Gott „ist“ vielmehr das nicht vergegenständlichbare „Ich“ „vor“ dem Ich (eine fundamentalere Realität als dieser Partikel zum Ausdruck bringen kann71). Er eröffnet sich im „Sich-andersWerden“ als anderer Ort, als Anspruch und Vor-Gabe der Zeit (vor der Sprache, insofern sie immer wieder „Ich“ sagt) bzw. als ewige Vergangenheit (und Horizont der Verheißung), der wir bereits bei Schelling als Gedanke des (von uns so bezeichneten) zweiten Mythos als (Wahrheit) der Zeit begegnet sind.

Aus den bisherigen Ausführungen folgt, dass die Philosophie keinen eigenen Inhalt gegenüber der Religion hervorbringt, diese auch nicht ersetzen kann, denn dies wäre ein Rückfall in die „fürsichseiende Versöhnung des Gewissens“ (PhdG III 579) und damit in das handelnde Hervorbringen des eigenen Selbst.72 Umgekehrt wäre das Selbst auf diese Weise noch immer gegenständlich (Gegenstand einer Handlung). Deshalb hat die Entäußerung des Subjekts ihre Gegenbewegung an der Entäußerung der Substanz, womit letztendlich 70

71

72

Sehr schön bringt diese hegelsche Grundfigur D. Bonhoeffer zum Ausdruck, wenn er in „Widerstand und Ergebung“ (414) schreibt: „Unser Verhältnis zu Gott ist kein „religiöses“ zu einem denkbar höchsten, mächtigsten, besten Wesen – dies ist keine echte Transzendenz –, sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im „Dasein-für-andere“, in der Teilnahme am Sein Jesu. Nicht die unendlichen, unerreichbaren Aufgaben, sondern der jeweils gegebene erreichbare Nächste ist das Transzendente.“ Man stößt hier an die Grenzen der Sprache, aber es kann betont werden, dass dieses „vor“ dem Ich selbstverständlich keinen pantheistischen Gott – auch keinen transzendentalen Pantheismus – meint, der Hegel so oft unterstellt wird. T. Auinger schreibt in „Das absolute Wissen als Ort der Ver-einigung“ (184): „Diese Selbstaufhebung [des Ich] hat jedoch nunmehr die Inhaltlichkeit der Religion zu ihrer absoluten Grundlage, weil in ihr die Besonderheit durch die [PhdG, III 582] zu einem konstitutiven Moment des absoluten Geistes geworden ist. Diese Form wird zwar im absoluten Wissen aufgehoben und zur [PhdG, III 582] , sie ist aber eine Form, die notwendig ist, um die Bewegung des Handelns nicht zu einer abstrakten Wissensbewegung in sich selbst verkommen zu lassen, die dann wiederum nur eine einseitig fürsichseiende Versöhnung des Bewusstseins mit dem Selbstbewusstsein [Gewissen] ergeben würde.“

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

auch ein anderes Licht auf die Bedeutung der Sinnlichkeit und auf die Stellung Jesu fällt, die oft übersehen wird73. Hegel schreibt in der „offenbaren Religion“: Dass diese Bedeutung des Gegenständlichen also nicht bloße Einbildung sei, muss sie an sich sein, d.h. [nur] einmal dem Bewusstsein aus dem Begriff entspringen und in ihrer Notwendigkeit hervorgehen. So ist uns durch das Erkennen des unmittelbaren Bewusstseins oder des Bewusstseins des seienden Gegenstandes, durch seine notwendige Bewegung der sich selbst wissende Geist entsprungen. Dieser Begriff, der als unmittelbarer auch die Gestalt der Unmittelbarkeit für sein Bewusstsein hatte, hat sich zweitens die Gestalt des Selbstbewusstseins an sich, d.h. nach eben der Notwendigkeit des Begriffes gegeben, als das Sein oder die Unmittelbarkeit, die der inhaltslose Gegenstand des sinnlichen Bewusstseins ist, sich seiner entäußert und Ich für das Bewusstsein wird.74

Wir müssen die ganze PhdG als doppelte Entäußerungsbewegung lesen: Die eine konnten wir anhand der Darstellung der Entfremdung als das Zerbrechen der Geltung und der damit verbundenen Freilassung des Anderen nachvollziehen: Sie war die Bewegung des Subjekts in die Substanz, die darin mündet, dass das Selbstbewusstsein als Dingheit gesetzt ist, d.h. in der Erkenntnis, dass es der (nicht mehr objektivierbare) Andere ist, in dem sich alle Substanzialität versammelt. Die zweite Entäußerung, nämlich die der Substanz, fand ihren tiefsten Ausdruck in der offenbaren Religion und mündet in der Erkenntnis, dass die Substanzialität (immer schon) die Tätigkeit des Geistes war. Jetzt können wir die ganze Tragweite dieses Geschehens nachvollziehen: Es manifestierte sich bereits im Sein der sinnlichen Gewissheit, welches sich aus seiner Unmittelbarkeit entäußerte und sich so zum Zeig- und Benennbaren machte, und setzte sich durch alle Stufen der PhdG (etwa als sich gebendes Inneres der Kraft, als die ansichseiende Sprache des Lebens, als die Sittlichkeit freigebender Geist usw.) fort, bis die Gegenbewegung zur ersten Entäußerung dahingehend abgeschlossen war, dass erkannt wurde, dass die Substanz in dieser Entäußerung die Gestalt des Selbstbewusstseins hat. Dabei aber kann die sich entäußernde Gegenständlichkeit nur in allen substanziellen Momenten gewahrt bleiben – und damit nicht zur bloßen Einbildung herabsinken – wenn die sinnliche Gewissheit darin aufbewahrt ist. Erst durch die Menschwerdung Gottes in der konkreten, d.h. räumlich („Hier“) und zeitlich („Jetzt“) verortbaren Existenz Jesu, der als der menschgewordene Gott auch die in seiner Nachfolge und seinem Kreuzestod sich vollziehende Entäußerung des Subjekts ist, kann die Entäußerungsbewegung zu ihrem Abschluss kommen, weil in ihr alle Stufen der Substanzialität in ihre wahre Bedeutung gesetzt sind und sich auf diese Weise zeigt, dass sich bereits in der Sinnlichkeit der absolute Geist Gottes manifestiert hat. Auch wenn daher das absolute Wissen im Sinne Hegels 73

74

So z.B. von P. Klimatsakis in „Religion und absolutes Wissen“ (v.a. 267-278), wenn er die Kritik übt, dass bei Hegel die Differenz zwischen Christus als Gottmensch und dem Menschen als Bild Gottes verschliffen wird. G.W.F. Hegel, PhdG, III 550f.

12. DIE ZWEI ENTÄUßERUNGSBEWEGUNGEN

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die Substanz des spekulativen Satzes als die Einheit von menschlicher und göttlicher Natur bekennt, ist diese Einheit nur eine in und durch Jesus Christus, in dem die beiden Entäußerungsbewegungen in allen ihren Stufen sich als eine Bewegung darstellen, die die Bewegung Gottes, d.h. der Gang Gottes zum Menschen im Gang des Menschen zum Menschen ist. Theologisch kann man sagen, dass, weil Gott Jesus als Repräsentant der Schöpfung geoffenbart hat, diese durch Christus gerechtfertigt ist. Wir sind nun in der Lage, eine spekulative Zusammenschau der wichtigsten Gestalten der PhdG, nämlich des unglücklichen Bewusstseins, des Gewissens und der offenbaren Religion versuchen zu können: Das Gewissen konnte von allem Geltungsanspruch auf Grund eines von ihm selbst gar nicht thematisierten Mittlers ablassen, nämlich aufgrund der Vermittlung der Entäußerung der Substanz, wie sie in Jesus von Nazareth „kulminiert“. Andernfalls wäre sein Ablassen noch seine Handlung gewesen. Das unglückliche Bewusstsein ist dieses Ablassen durch einen daseienden Vermittler, der als tiefgründigste Gestalt das Antlitz Jesu, wie es z.B. in der romantischen Kunst (d.h. in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gottes- und Jesusdarstellungen) als Form des absoluten Geistes zum Ausdruck kommt, trägt. In der offenbaren Religion vollzieht sich aber in Tod und Auferstehung Jesu das Verschwinden (im Sinne der Erscheinung der Erscheinung, die auch das Verschwinden des Verschwindens beinhaltet) des Vermittlers. D.h. sie ist der Übergang zum absoluten Wissen, dass sich die Vermittlungstat Jesu nicht äußerlich darstellen lässt, sondern nur in der im Hl. Geist erfolgenden Freigabe der Welt in ihrem Anderssein. D.h. das absolute Wissen muss die Versöhnungstat Gottes als eigene im Geist vollziehen (die aber darin gerade Tat Gottes in Jesus Christus bleibt!). Erst dadurch tritt die Mitte in ihre Extreme (Subjekt und Substanz) und schließt diese im spekulativen Sinne zusammen. Die sich entäußernde Gestaltung dieses Geschehens und die Rücknahme aller Gestalt in das ewige Versöhnungshandeln Gottes ist aber nichts anderes als die Zeit, die so als die Wahrheit der zweiten übersinnlichen Welt in der Einheit von Zeit und Ewigkeit die Zeit des trinitarischen Gottes ist. Mit diesen Überlegungen sollte klar sein, dass sich auch bei Hegel, zumindest da, wo sein Denken noch spekulativ und nicht primär enzyklopädisch ist, nicht die Offenbarung Gottes auf ein zeitloses, philosophisches Geschehen reduzieren lässt, und wir können, nachdem wir noch einige Gedanken über das Problem der „Form der Vorstellung“ und die Trinität anschließen, dann zur Frage nach der Tilgung der Zeit übergehen.

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

13. Die Form der Vorstellung und die Frage des Anfangs Das absolute Wissen hat zwar keinen gegenüber der Religion eigenen Inhalt (es ist vielmehr theologisch reflektierte Offenbarungsreligion). Allerdings schaut es das erlösende Handeln Gottes nicht als äußeres Geschehen an, welches – unabhängig von seinem eigenen Tun – in einer fernen Vergangenheit stattfand und in einer ebenso fernen Zukunft sich wieder einstellen wird. Vielmehr ist es das in der Präsenz des Handelns sich einstellende Wirken des Geistes. Im zentralen neunten Absatz des Kapitels „Das absolute Wissen“ der PhdG schreibt Hegel: Seine Erfüllung gab sich dieser Begriff einesteils im handelnden seiner selbst gewissen Geist, andernteils in der Religion: in der letzteren gewann er den absoluten Inhalt als Inhalt oder in der Form der Vorstellung, des Andersseins für das Bewusstsein; hingegen in jener Gestalt ist die Form das Selbst selber, denn sie enthält den handelnden, seiner selbst gewissen Geist; das Leben führt das Leben des absoluten Geistes durch.75

Diese Sätze erschließen sich uns aus dem bisher Dargestellten: Wir hatten im Gewissenskapitel gesehen, dass es für das Selbstbewusstsein einen Primat der Praxis gibt. Erst in diesem Primat, d.h. im handelnden Ablassen von der schönen Seele76 und im Sichaussetzen endlicher Wirklichkeit – welches sich beim Gewissen letztlich durch die Infragestellung der eigenen ethischen Substanz in der Anerkennung zeigte – erfüllte sich der Begriff. Der zweite Hinweis betrifft die Religion, deren durch Gott geoffenbarter Inhalt die ansichseiende Bewegung der Versöhnung war. So ist es die von Gott freigesetzte Wirklichkeit, die der Mensch aktualisiert – nicht aber herstellt (der Primat der Gnade muss bei Hegel gewahrt bleiben, wenngleich es diese Gnade nie ohne Natur gibt). Der Mensch hat seine Freiheit daher nicht in der Autonomie von Gott, sondern er ist, wie B. Liebrucks immer wieder betont, frei als „dessen Marionette“. Eine weitere wichtige Stelle des neunten Absatzes lautet: Diese Gestalt ist, wie wir sehen, jener einfache Begriff, der aber sein ewiges Wesen aufgibt, da ist oder handelt. [...] Was nun zuerst an sich geschieht, ist zugleich für das Bewusstsein und ebenso selbst gedoppelt, sowohl für es, als es sein Fürsichsein oder sein eigenes Tun ist. Dasselbe, was schon an sich gesetzt ist, wiederholt sich also jetzt als Wissen des Bewusstseins von ihm und bewusstes Tun. [...] Jenes Ansich des Anfangs ist als Negativität in Wahrheit ebensosehr das vermittelte; so wie es in Wahrheit ist, setzt es sich also jetzt, und das Negati-

75 76

G.W.F. Hegel, PhdG, III 580f. Eine ebenso detaillierte wie fundierte Interpretation dieses Absatzes gibt T. Auinger, Das absolute Wissen als Ort der Ver-einigung 172-187. T. Auinger zeigt in seiner Interpretation, dass im absoluten Wissen die schöne Seele eine andere Bedeutung als im Gewissenskapitel hat, nämlich die des im Ablassen wirklich freien Selbstbewusstseins.

13. DIE FORM DER VORSTELLUNG UND DIE FRAGE DES ANFANGS

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ve ist als Bestimmtheit eines jeden für das andere und an sich das sich selbst aufhebende.77

Das ablassende Gewissen ist, wenn es sich als ewiges Tun Gottes erkennt, absolutes Wissen. Es ist die Antwort auf das ursprüngliche Wort der Offenbarung. Die Momente seines Tuns spiegeln sich so im Inhalt der Offenbarung wider, wie konkret an den Schlüssen der Religion (Enzyklopädie §567-570) gezeigt werden kann. Die drei Schlüsse der Religion in der Enzyklopädie stellen den absoluten Inhalt dar. Denn jene der Philosophie beinhalten lediglich die Epochen der Philosophiegeschichte bzw. besser gesagt die grundsätzlichen Stellungen des Gedankens zur Objektivität (Ontologie, Reflexionsphilosophie, spekulative Philosophie), sie heben aber weder die Religion in ihren Grundvollzügen auf, noch transformieren sie sie in einen anderen Inhalt.

Zunächst ist zu betonen, dass die drei Schlüsse der Religion als ein Schluss aufzufassen sind (die drei Begriffsmomente Allgemeines, Besonderes und Einzelnes treten in die Mitte und sind so der ganze Schluss) wie die versöhnende Handlung des Gewissens eine einzige ist. Im ersten Schluss liegt der Schwerpunkt auf dem Moment der Allgemeinheit. Es ist die Rede vom Primat der Theorie, von der immanenten Trinität, vom Reich des Vaters, wobei der Akzent noch nicht auf das In-die-Fremde-Gehen fällt. Was die Zeit betrifft, sind wir in der Sphäre einer zeitlosen Ewigkeit. Auf diese Weise entspricht der erste Schluss dem Gewissen, welches noch nicht in den Gegensatz des Handelns getreten ist, d.h. der schönen Seele. In der „offenbaren Religion“ korrespondiert dem „das Element des reinen Denkens“ bzw. „das Reich des Vaters“ (Abs. 22-25; III 558-561). Hier wird – da es sich um die Sphäre des Allgemeinen, d.h. der Bewegung des Negativen zu sich handelt – dieses Sein des Vaters als „Sein für Anderes“ (PhdG III 561) bestimmt. Als die Bewegung des Negativen zu sich (als die allgemeine Dimension des Ich=Ich) des „SichAnders-Werdens“ ist das Sein ferner „das Selbst“ bzw. „der Begriff“. Allerdings kann dieses Sein noch nicht allein die Sphäre des absoluten Geistes zum Ausdruck bringen, weil in dieser Form „das Anderssein nicht als solches gesetzt“ ist (ebd.). Der zweite Schluss ist jener der Besonderheit. Er ist als Weiterbestimmung der Negativität des Allgemeinen das Trennen des „einigen Sohnes“ in den Gegensatz von Natur und Geist und dem „Insichgehen“ (Besondern) des Letzteren. Das Sein ist auf diese Weise getrennt und „böse“. Im Gewissen entspricht dem das Moment des Handelns, welches ebenfalls ein solches In-sichGehen, ein Trennen, ein Sich-Verendlichen impliziert (solange es noch nicht sein Handeln als freilassendes Handeln des Anderen erkennt). In diesen Überlegungen ist bereits angedeutet, was die Form der Vorstellung zum Ausdruck 77

G.W.F. Hegel, PhdG, III 581.

300

VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

bringt: Sie fixiert den Gegensatz, das Moment der Trennung von Ewigkeit und Zeit, von Natur und Geist und letzteren in seinem In-sich-Gehen.78 In der PhdG entspricht diesem Schluss „das Reich des Sohnes“ (Abs. 26-33; III 561568). Hier wird das Moment des Anderen zunächst als Erschaffen einer Welt vorgestellt. Näherhin darf aber dieses Sein nicht ontologisch im Sinne eines Verursachten und Unfreien verstanden werden. Vielmehr ist es, wie wir gesehen haben „Sein für Anderes“ und „Selbst“. Dieses „Sich-anders-Werden“ bestimmt sich als negative Beziehung (des Gegensatzes) auf sich, damit als „Insichgehen“ des Wissens, womit der Sündenfall bezeichnet ist. Am Sündenfall bzw. der Stellung des Bösen zeigt sich die große Nähe, aber auch die verschiedenen Akzentsetzungen von Hegel und Schelling. Bei beiden ist der Sündenfall als Trennung des Seins ein die gesamte Wirklichkeit umgreifendes Geschehen, aber während Hegel den Sündenfall und die Erlösung als ein zusammenhängendes Geschehen denkt, akzentuiert Schelling den eschatologischen Horizont dieser Versöhnung. Allerdings darf Hegel nicht dahingehend missinterpretiert werden, als ob bei ihm das Böse und der Tod völlig ungebrochen in die menschliche Welt integriert werden könnten, denn auch bei ihm führt die Negativität des Subjekts nur dann nicht ultimativ zum Wahnsinn des mordenden Bewusstseins oder dem Schrecken der Aufklärung, wenn sie von einer göttlichen Vor-Gabe, wie sie Inhalt der offenbaren Religion ist, getragen wird.

Die entscheidende Aussage liegt darin, dass die Sphäre der Besonderheit das Sich-selbst-Ungleichwerden, die Trennung, das In-die-Fremde-Gehen und das Sich-anders-Werden ist. Theologisch ist damit die Selbsterniedrigung des göttlichen Wesens (des Sohnes), die darin besteht, dass es „auf seine Abstraktion und Unwirklichkeit Verzicht tut“, angesprochen, insofern es die Übernahme dieses dem Sündenfall entspringenden trennenden In-sich-Gehens bedeutet. Konkret bringt sich uns diese Übernahme der Endlichkeit, Verletzlichkeit und Ungesichertheit in dem Bekenntnis zum Ausdruck, dass „Christus für uns zum Fluch geworden ist“ (Gal 3,13). War das Gute zunächst (als schöne Seele) als das Sich-Erhalten gegen das Insichgehen bestimmt, zeigt sich nun, dass gerade in diesem Sich-Erhalten-Wollen das Böse liegt. Hegel legt also den Akzent darauf, dass das in sich gehende Handeln (Sündenfall) Moment einer Bewegung ist, die eingebettet ist in das Versöhnungshandeln des Sohnes. So schreibt er im Kapitel über das „absolute Wissen“: „Das Handeln ist das erste ansichseiende Trennen der Einfachheit des Begriffs und die Rückkehr aus dieser Trennung.“ (PhdG III 578) Auf diese Weise ergibt sich für das absolute Wissen der Zusammenfall von Schöpfung, Sündenfall und Erlösung. Im Sündenfall, d.h. im trennenden Handeln bringt sich ein Gegensatz zum Ausdruck, der der Gegensatz des Seins selber ist. Dabei muss zunächst das handelnde Bewusstsein als böse betrachtet werden, weil es sich in den Gegensatz gegen 78

Zu einer Bestimmung der „Form der Vorstellung“ vgl. auch W. Jaeschke, Die Religionsphilosophie Hegels 110-119.

13. DIE FORM DER VORSTELLUNG UND DIE FRAGE DES ANFANGS

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das Leben (wie der Hegel der Jugendschriften sagte) bzw. gegen die Kontinuität des Begriffes (in seinem Moment der in sich beruhigten Allgemeinheit) setzt. Gleichzeitig ist es aber der Gegensatz des Begriffs, das Besondere, was bedeutet, dass sein trennendes Handeln nur das vollzieht, was das Sein bereits an sich ist, womit das Trennen des Handelns Rückkehr ist. Genauso wie im Gewissen das In-sich-Gehen das (nachträglich gesehen) erste Moment der Anerkennung und des Von-sich-Ablassens war, ist von der Warte des absoluten Wissens aus das Trennen schon ein Rückkehren, weil es sich als das Trennen Substanz erweist, in dem sich Gott – in der Anerkennung der Welt als endlicher! – in diese Welt entäußert hat. Der Sündenfall ist so kein zufälliges Geschehen in der Zeit, sondern das intelligible Setzen von Zeit. Was die Vorstellung noch zeitlich auseinanderhält, ist in Wirklichkeit ein Geschehen. Vor den hier ausgeführten Überlegungen greift die Frage, ob der Sündenfall heilsnotwendig ist oder nicht, zu kurz, denn der Sündenfall ist nur vor dem Hintergrund göttlichen Erlösungsgeschehens formulierbar und kein „objektivierbares“ Ereignis, welches ich neutral in reflexiver Distanz betrachten könnte.

Der dritte Schluss, der des Einzelnen, enthält drei Elemente, nämlich die Erlösung durch den Sohn Jesus von Nazareth (allgemeine Einzelheit), die Sendung des Geistes als Konstituierung der Gemeinde (besondere Einzelheit) und die Sendung des Geistes als Menschwerdung des Menschen in der Anerkennung (einzelne Einzelheit). Bezüglich der Erlösung durch Jesus haben wir bereits dargelegt, dass diese Erlösung kein intelligibles, abstrakt-allgemeines Geschehen sein kann, sondern alle Momente des Geistes durchlaufen muss und daher die sinnliche Gewissheit, die in diesem Heilsgeschehen (durch Tod, Auferstehung – d.h. Verschwinden der Substanz als Erscheinen des Subjekts und damit der in den Geist gehobenen Substanz – und Geistsendung) vergeistigt wird, miteinschließt. Auf diese Weise entäußert sich also Gott in der konkreten Gestalt des Jesus von Nazareth. Die Sendung des Geistes konstituiert eine Gemeinde, die – allerdings nicht in der Liturgie – das Erlösungsgeschehen zunächst in der Form der Vorstellung erkennt. Diese Form ist dadurch charakterisiert, dass die Erlösung vom eigenen Tun getrennt und als etwas betrachtet wird, was sich in der Vergangenheit ereignet hat und in der Zukunft ereignen wird. Das absolute Wissen weiß dagegen, dass Gott als der Geist der an und für sich Lebendige und Gegenwärtige ist. Konkret weiß es darum, dass er sich in der Menschwerdung des Menschen in der Anerkennung, die der schöpferische Anfang des Begriffs ist, konkretisiert. Das Moment der einzelnen Einzelheit (Gott als der absolute Geist vor aller Identifikation, vor dem „Ich“) bringt demgemäß zum Ausdruck, dass das Subjekt als verschwundene Substanz (im Sinne einer beurteilbaren Gegenständlichkeit) als Bewusst-Sein alle Substanz (und damit freie Gegenständlichkeit) ist. Es ist das absolute Wissen darum, dass mein Anfang der Anfang eines niemals positivierbaren Anderen und somit, da es hier keine äußere Instanz gibt, nicht unfrei, wohl aber unverfügbar ist. Theologisch gesprochen ist es die Begegnung mit Chris-

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

tus im Primat der Praxis, die sich nicht mehr als Praxis verwirklichen muss (vgl. Mt 25,37-40: „Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen [...]?“). Vielleicht kann man sich dieser einzelnen Einzelheit mittels der Bezeichnung „Gast“, als der sich Gott ja bekanntlich Abraham geoffenbart hat (und im Weltgericht offenbaren wird), nähern, denn dieses Wort bildet keinen verallgemeinerbaren Begriff, wie H.D. Bahr in „Die Sprache des Gastes“ aufweist79, denn es hat keinen Gegenbegriff (wie „Ungast“) und es gibt auch kein Adjektiv („gastlich“ bezeichnet den Gastgeber), welches sich von diesem Wort ableiten ließe. Damit wahrt er, der niemals Eigentum werden kann und in der Identifizierung, wie die alten Kulturen wissen, zu entschwinden droht, aber auch nicht der/das „ganz Andere“ ist, etwas von dem Geheimnis, welches dem zum Begriff gewordenen Wort „Gott“ schamlos entrissen wurde. Was den Anfang betrifft, liegt dieser vielleicht darin, dass wir uns als Gast „unseres“ Gastes (gleich ob man ihn jetzt Gott, Geist, Christus, Logos, Zeit etc. bezeichne) erkennen.

Diesen Abschnitt abschließend kann gesagt werden, dass die Form der Vorstellung nicht zuletzt die Zeitfrage betrifft: Für Hegel gibt es keine Ewigkeit vor bzw. nach der Zeit80 als räumlich abtrennbares Geschehen – hinter diesem Gedanken steht noch der chronologische Zeitbegriff, der aber nicht in die Sphäre des absoluten Geistes gehört –, sondern im Sinne der zweiten übersinnlichen Welt manifestiert sich die Ewigkeit in der Zeit und die Zeit ist deren Scheinen. Konkreter gesagt ist sie Vor-Gabe der Zeit im ewigen, schöpferischen Anfang des geistvollen, d.h. in der Aufgabe jedes Vorbehalts den Anderen anerkennenden Handelns. Auf diese Weise fasst Hegel zwar die Ewigkeit (wie in der klassischen Metaphysik) als nunc stans, aber nicht im Sinne eines zeitenthobenen Geschehens, sondern als sich in der Antwort auf den Anspruch des Anderen erfüllendes Hier und Jetzt. Der Anfang ist daher nicht positiv entschlüsselbar als erster Aktus (eines chronologischen Geschehens) zu fassen, sondern im Sinne der zweiten übersinnlichen Welt als sich von sich in die Zeit und durch die Zeit abstoßendes Anfangen des Anderen, dessen Anspruch der Geist ist. Man könnte auch sagen, dass die hegelsche Zeitauffassung das „Hier bin ich“ Samuels zum Ausdruck bringt. Es ist die (unmittelbar anfangende) Präsenz in der Aufgabe des Eigenen, in das sich aller Anfang (d.h. der Anfang des Seins, des Wesens, des Begriffs) vermittelt. Auf diese Weise ist das Schöpfungshandeln Gottes nicht mehr zuerst reflexionslogisch im Sinne absoluter Kausalität aufzufassen, in der die Wirklichkeit immer abhängig von Gott (und Gott damit abhängig von der Wirklichkeit) bliebe, sondern als freiheitseröffnendes Geschehen. Aus dieser Eröffnung der Zeit, in die alle Zeit zurückgeht, ist ersichtlich, dass auch bei Hegel die Präsenz des Geistes nicht im Sinne einer spannungslosen Gegenwart verstanden werden darf, sondern die „intensivste“ Präsenz des gewissenhaften Handelns (Logos der Zeit), die Vor-Gabe der offenbaren Religion (als dessen vorausge79 80

Vgl. besonders, H.D. Bahr, Die Sprache des Gastes, 25-30. Vgl. auch G.W.F. Hegel, Enzyklopädie, IX, §§ 247; 257.

14. DIE ABSOLUTE IDEE ALS ENTSPRECHUNG

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setzter Mythos im Sinne einer göttlichen Erzählung) und die unausschöpfliche und niemals in das eigene Wissen intergrierbare Verheißung des Anderen (zweiter Mythos) ein (dreistrahliges) Geschehen bilden. Einen wichtigen Hinweis in Bezug auf die Vorstellung gibt Hegel in seiner Einschätzung des Kultus: In diesem ist bereits der Zusammenschluss von göttlicher Gnade und menschlichem Tun erfolgt. Die Wandlung ist keine Handlung der Gemeinde, sondern die „Handlung“ des Geistes, die doch die entsprechende Antwort fordert. Man könnte ergänzen, dass der Kultus dann der Status des absoluten Wissens IST, wenn er in seiner untrennbaren Verbindung mit der Diakonie der Gemeinde erkannt wird. Die tiefste Dimension der Eucharistie, die Wandlung, fasst im Grunde genommen die gesamte hegelsche Philosophie zusammen, wenn gewusst wird, dass die Wandlung die christologische Tiefendimension der Schöpfung zum Ausdruck bringt. Dies impliziert allerdings auch die Wandlung gesellschaftlicher Verhältnisse, die das Antlitz Christi verdunkeln. Anders gesagt: Die Vereinigung mit Gott ist dann mystisch und nicht erschlichen, wenn sie die Umkehr und den Verzicht auf eigene Geltung impliziert. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Hegel am Ende seiner Ausführungen über die Religion (Enzyklopädie § 571) davon spricht, dass die Versöhnung nicht in „formellem, inhaltslosem Sinne“ genommen werden darf. Was aber ist der Inhalt? Hegel denkt in seiner Spätzeit wohl v.a. an den Staat, auf dessen Altare er Gott geopfert hat, bzw. an die Geschichte, obwohl weder das eine noch das andere als Handlung des Menschen der absoluten Idee entsprechen kann und deshalb in der Enzyklopädie dem objektiven Weltgeist zugerechnet wird. Der absolute Inhalt ist dagegen (neben der Kunst) die Religion (und die Philosophie als kritische Reflexion von Kunst und Philosophie). Ihr Inhalt allerdings darf niemals positiviert werden, sondern muss sich ständig neu konkretisieren, interpretieren und weitererzählen81. In diesem Zusammenhang soll noch kurz angedeutet werden, dass die Eucharistie als Vereinigung von Kunst, Religion und Praxis als Ausdruck des absoluten Inhalts Darstellung der Zeit ist.

14. Die absolute Idee als Entsprechung Um die im vorigen Kapitel angedeuteten Bestimmungen vertiefen zu können wenden wir uns im Folgenden der WdL zu. Selbstverständlich ist es dabei nicht möglich, sie im Detail darzustellen, wir wollen aber die wichtigsten Bahnen anzeigen, um ein einigermaßen adäquates Verständnis für die Gottes(und Zeit-)frage und damit verbunden die Frage nach dem Anfang aus hegelscher Sicht zu gewinnen. Die WdL tritt nicht mehr in Gestalten, d.h. in der Differenz von Bewusstsein und Sein auf, sondern ist die Darstellung der an81

Zu diesem Aspekt vgl. J. Deibl, Geschichte als Zeit erlösender Offenbarung und antwortender Interpretation. (erscheint demnächst im Lang-Verlag)

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

undfürsichseienden Kategorien des Bewusst-Seins. Als solche sind die in ihr vorkommenden Kategorien auch Darstellungen Gottes, wobei bekanntlich das Sein die erste und somit noch die abstrakteste Form der Offenbarung Gottes ist (es entspräche etwa dem transzendentalen Ideal Kants, in das alle Prädikate zurückgegangen sind. Da dieses aber auch als die Einschränkung aller Prädikate die absolute Einschränkung und damit die Einschränkung seiner selbst ist, so ist es genauso die Kategorie des Nichts). Wir können hier nicht die Kategorien im Einzelnen darstellen, festgehalten sei nur, dass der erste Teil der Logik, die Seinslogik (die den Status der klassischen Metaphysik bezeichnet), durch das Übergehen (z.B. von Etwas in Anderes) seiner Bestimmungen ineinander gekennzeichnet ist. Die einzelnen Kategorien bezeichnen dabei als Darstellungen Gottes in der Weltbegegnung des Menschen auch bestimmte Weisen der Gottesauffassung (und damit auch Religionen). So wird Gott als Sein (Pantheismus), als Nichts, als Unendlichkeit des Endlichen (dies wäre die heutige agnostische Auffassung), als verendlichtes Unendliches (wenn er das fixierte „ganz Andere“82 ist und so dem Endlichen gegenübersteht, wobei dann beide als Andere identisch sind), als Quantität (wie im Materialismus) oder als Maß aller Dinge betrachtet, womit einige Kategorien des Seinslogik aufgezählt wären. Hier sei nur erwähnt, dass die Vereinigung von Sein und Nichts, die beide (in ihrer absoluten Abstraktion) identisch sind, das Dasein ist, welches sich als Qualität zeigt. Diese ist also das Sein mit einer Grenze (einem Nichts), d.h. bestimmtes, endliches Sein. Da aber jede Qualität nur Grenze ist (omnis determinatio est negatio), fallen die Qualitäten in ihrem Grenzesein zusammen und machen so die Quantität des Eins aus, welches so die in sich gegangene Negation der Qualität ist. Da das Eins aber (als in sich gegangene Grenze) Negation ist, ist es (als sich Negieren) das sich von sich selbst Abstoßen (Repulsion) in die vielen Eins, womit wir beim Atomismus wären. Diese vielen Eins unterscheiden sich aber durch Nichts (wobei dieses vorgestellte Nichts der leere Raum und der Raum überhaupt die vorgestellte Kategorie der Quantität ist). Dadurch fallen die vielen Eins wieder zusammen (Attraktion) und sind als der Wechsel von Repulsion und Attraktion abwechselnd diskrete und kontinuierliche Größe. Deren Einheit ist die Zahl, die sich in die unendliche Zahlenreihe (quantitativer unendlicher Progress) repelliert. Als dieses Sein im Sich-äußerlich-Sein ist sie das quantitative Verhältnis, dessen Wahrheit das Maß (die sich als Verhältnis bestimmende und damit qualitativ gewordene Quantität) ist. Die Wahrheit des Maßes aber ist die absolute Indifferenz (in die das ständige Umschlagen von Qualität in Quantität und Quantität in Qualität übergeht) und damit (als Indifferenz, die indifferent gegen sich ist) die Beziehung auf sich selbst, d.h. das Wesen.

Den zweiten Teil der Logik, der den logischen Status der Reflexionsphilosophie (Kant, Fichte) angibt, nennt Hegel Wesenslogik. Sie ist nicht mehr ein 82

Damit soll nicht geleugnet werden, dass Gott der Andere ist, nur muss diese Andersheit Gottes entsprechend bestimmt werden.

14. DIE ABSOLUTE IDEE ALS ENTSPRECHUNG

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Übergehen von Bestimmungen, sondern die Bewegung von Nichts zu Nichts, d.h. die negative Beziehung auf sich, reine Beziehung oder der Schein83 (Nichts ist sich gleich, indem es sich negiert, in dieser Selbstnegation scheint eine Seite in die andere und jede ist nichts als dieser Schein), der die reflektierende Tätigkeit selber ist. Diese Reflexion ist als die Bewegung von Nichts zu Nichts Setzen, welches die Unmittelbarkeit des Anfangs als Resultat (Negatives, Reflexion) ist – daher kann es bei Hegel niemals einen positivierten Anfang geben. Ferner ist sie als Setzen Beziehung auf sich als Aufgehobenes (Negieren ihrer selbst) und damit Voraussetzen. Macht sie den Anfang beim Vorausgesetzten, ist sie äußere Reflexion, aber im Setzen der Voraussetzung hebt sie diese auf und setzt sich als Vorausgesetztes (bestimmende Reflexion als vermitteltes Unmittelbares).

Die Reflexion als die Beziehung von Nichts zu Nichts ist die Identität. Diese enthält als Identität den ganzen Unterschied in sich. Beide sind die ganze Reflexion (Satz der Identität) und so verschieden. Die Identität, die gleichgültig gegen den Unterschied ist, ist die Gleichheit; der Unterschied, der gleichgültig ist gegen die Identität, ist die Ungleichheit. Beide bilden den Gegensatz des Positiven (Gleichheit mit sich) und des Negativen (Ungleichheit mit sich). Das Negative ist aber nicht einfach eine der beiden Seiten des Gegensatzes, sondern der setzende Grund, das Positive das Gesetzte (als Identität des Negativen mit sich), d.h. die Folge. Der Inhalt als Vorausgesetztes der setzenden Negativität des Grundes ist die Bedingung. Hier zeigt sich immer deutlicher, dass die Wesenslogik die Sphäre der Notwendigkeit, konkret der notwendigen Vermittlung ist. Die Identität ist nicht ohne Unterschied, das Positive nicht ohne Negatives, der Grund nicht ohne Folge (und umgekehrt). Wird Gott also als bloßer Grund gesetzt, macht man ihn von der Welt abhängig. Sagt man, er ist etwas außer der Grund-Folgebeziehung, ist er vom Grund vorausgesetzte Bedingung. Die Sphäre der Freiheit ist erst die Sphäre des Begriffs, noch nicht die des Wesens. Nach Hegel manifestiert sich der freie Gott daher erst im teleologischen Gottesbeweis, der dem objektiven Begriff zugehört und v.a. im ontologischen Gottesbeweis, der für ihn der wahrhaft christliche ist. Dabei kann hier schon darauf verwiesen werden, dass die Freiheit bei Hegel die Fähigkeit ist, das Gute zu tun. Die Indifferenz ist bloßes Moment (in der Sphäre des Wesens wird sie als absolute Notwendigkeit, in der Sphäre des Begriffs als das Allgemeine auftreten).

Die Bedingung ist das Material des Grundes, der Grund ist die Totalität der Bedingungen. Diese Totalität ist die Existenz als Aufgehobensein der Bedingungen. Die Existenz ist aber (wie wir bereits in der Dialektik der „Wahrnehmung“ und in „Kraft und Verstand“ gesehen haben) Erscheinung. Deren letzte 83

Alle seinslogischen Bestimmungen versuchten den Zusammenfall von Sein und Nichts zu verhindern. Im Schein ist dies aufgegeben und er ist so die Wahrheit der Identität von Sein und Nichts.

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

Bestimmung ist die Identität von Innerem und Äußerem (wir erinnern uns an Kraft und Verstand, wo der Verstand durch das Spiel der Kräfte in das Innere der Dinge geblickt hat. Dieses war der absolute Unterschied, in den alle Wirklichkeit zurück gegangen ist), welche die Wirklichkeit ist. In ihrer ersten Form (sozusagen die unmittelbare Form der zweiten übersinnlichen Welt als Einheit von Reflexion/Wesen = Inneres = Vermittlung und Sein = Äußeres = Unmittelbarkeit) ist sie das spinozistische Absolute als Zusammenfassung aller Metaphysik, welches alles Endliche in sich aufgehoben hat. Sie ist der logische Status des kosmologischen Gottesbeweises, in dem sich das Absolute als die Wahrheit des Endlichen erweist. Gott hat aber die Welt und den Menschen frei entlassen und kann daher nicht als spinozistische Substanz gedacht werden (obwohl sie Moment bleibt, insofern das Endliche in Gott zurückgeht). Das Absolute ist absolute Identität als negative Beziehung (Reflexion) auf sich und als diese die („innerste“) Innerlichkeit (Wesen) als („äußerste“) Äußerlichkeit oder der Modus. Als dessen Modalitäten stellen sich dar die Wirklichkeit (der Seinsaspekt des Absoluten), die Möglichkeit (der Wesensaspekt des Absoluten) und die Notwendigkeit (als notwendige Vermittlung beider). Auf diese sehr wichtigen, aber auch sehr schwierigen Bestimmungen können wir hier nicht adäquat eingehen: Die formelle Wirklichkeit ist die Unmittelbarkeit der Äußerlichkeit und enthält als negative Beziehung auf sich als ihr Ansichsein die formelle Möglichkeit (alles ist möglich, was sich nicht widerspricht). Diese ist selber der Widerspruch, denn sie enthält die Möglichkeit von A und Non A. Als solche Nurmöglichkeit (d.h. als Sein, das zugleich Nichtsein ist) hebt sie sich in die Wirklichkeit auf (ergänzt sich an der Wirklichkeit) und ist als Einheit von Wirklichkeit und Möglichkeit die Zufälligkeit (eine Wirklichkeit, die möglich ist) oder, da sich Möglichkeit und Wirklichkeit in ihr aufheben, die formelle Notwendigkeit. Im rastlosen Umschlagen der formellen Notwendigkeit hebt sich die Form auf und wird so ein (mannigfaltiger) Inhalt oder reale Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit reflektiert sich in die zufällige Mannigfaltigkeit ihrer Möglichkeiten (reale Möglichkeit) als Voraussetzung (d.i. der zufällige Anfang), die sich in dieser mannigfaltigen Zufälligkeit als nur Möglichkeit nicht halten lässt und in die Wirklichkeit übergeht. Dieses Umschlagen von realer Wirklichkeit und Möglichkeit ist die reale Notwendigkeit. Die reale Notwendigkeit hat ihre Voraussetzung an der Zufälligkeit ihres Anfangs (äußerliche Reflexion), insofern dieser aber ihr eigenes Setzen ist (bestimmende Reflexion), bestimmt sie sich aus sich selbst zur Zufälligkeit und ist so absolute Notwendigkeit oder Freiheit.

In der absoluten Notwendigkeit wird ausgesprochen: Das Sein ist, weil es ist. Es ist, weil es ist und es ist, weil es ist. Hiermit deutet sich in ihr bereits die Sphäre des Begriffs bzw. der Liebe an. Allerdings ist sie unmittelbar noch das blinde Schicksal (die Wahrheit der griechischen Religion) und als absolute Vermittlung (hier ist die Relationalität und ihre Wahrheit, die Notwendigkeit, auf die Spitze getrieben und es gilt der Satz: alles ist Beziehung) die Wahrheit des Wesens (und auf diese Weise noch nicht die Freiheit des Begriffs). Ihre erste Konkretion ist das Verhältnis von der Substanz und den Akzidentien. Die

14. DIE ABSOLUTE IDEE ALS ENTSPRECHUNG

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Substanz ist dabei die absolute Macht – der allmächtige Gott –, die im Setzen (bzw. in der Manifestation) in der Endlichkeit der Akzidentien identisch mit sich ist. Sie bringt das Endliche hervor und lässt es vergehen. Darin ist sie die absolute Notwendigkeit. Die Allmacht Gottes hat ihren Ort in der Kategorie der Substanz. Als solche ist sie nicht die höchste Bestimmung Gottes, sondern wird aufgehoben in der Liebe. Aber auch hier gilt, dass die Allmacht nicht als solche verschwinden kann, sie bleibt Kategorie Gottes. Gott vermag alles, aber in einem tieferen Sinne ist sein Vermögen die Liebe.

Im Setzen der Akzidentien setzt sich die Substanz als das Negative ihrer selbst und ist so die Ur-Sache, die reine Tätigkeit (dies war der Grund noch nicht, er war das Setzen des Negativen, aber nicht die sich absolut bestimmende Macht), die causa sui, die in der Wirkung mit sich identisch ist. Die Ursache ist die Substanz und im Sich-Unterscheiden ist sie als die absolute Macht das Setzen der Wirkung, die keinen eigenen Inhalt gegen die Ursache hat (wie umgekehrt aber auch die Ur-Sache keinen eigenen Inhalt gegen die Wirkung. „Außerhalb“ dieser Beziehung der Notwendigkeit gäbe es nur das abstrakte Sein). Hier zeigt sich bereits an, dass das Anorganische nicht Ur-Sache des Lebendigen, das Lebendige nicht Ur-Sache des Geistigen sein kann. Vielmehr setzt das Geistige sich das Lebendige und das Anorganische (und deren jeweilige Zeiten) voraus (das Anorganische hat viele Milliarden „Jahre“, da es das „Außer-sich-Sein“, das noch abstrakte Sich-Verlaufen ist). Die Welt ist im Logos und nicht im Anorganischen oder gar der abstrakten Materie geschaffen!

Die Wirkung ist zunächst die Notwendigkeit der Ursache. So ist alles Ursache und ebenso Bewirktes. In diesem unendlichen Progress zerstört sich aber das Verhältnis von Ursache und Wirkung selber: Wir kommen zu keiner Ursache, da alles nur bewirkt ist (wir haben die sich daraus ergebende Antinomie bereits bei Kant kennengelernt), damit hebt sich aber auch die Wirkung auf. Was bleibt, ist nicht der sich aufhebende unendliche Progress, sondern das Verhältnis von Ursache (nicht mehr als Ursache eines Anderen, sondern als Ursache ihrer selbst) und Wirkung (nicht mehr Wirkung eines Anderen, sondern als Wirkung ihrer selbst). Die eine Seite ist das Setzen der aktiven Substanz, die andere Seite ist das ursprüngliche Gesetztsein, das Substrat, an dem sich das Setzen der Ursache vollzieht, die passive Substanz. Dabei zeigt sich, dass die aktive Substanz erst im Setzen der passiven Substanz aktiv ist. So aber ist sie die passive Substanz der (ursprünglich) passiven Substanz, die sich aktiviert hat usw. Das Anundfürsichsein (aktive Substanz, Freiheit) erweist sich als Gesetztsein. Wir haben den Status der Wechselwirkung erreicht. Mit der Wechselwirkung sind wir bereits in die Sprache übergetreten. In einem Gespräch gibt es kein Ursache-Wirkungsschema, sondern jeder Sprecher ist aktive (Spre-

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

chen) und passive Substanz (Vernehmen), wobei man sinnvollerweise nur dann sprechen kann, wenn man in der Lage ist, das Gesprochene auch auf irgendeine Weise zu vernehmen. Oder noch grundsätzlicher: Sprechen kann ich nur als Anerkannter! Anfangen nur als Empfangender! Frei handeln kann ich nur als Freigelassener! Frei sein nur als Marionette Gottes! Es verbietet sich daher, einen positivierten Anfang finden zu wollen. Die große Schwierigkeit und eine der Pointen des hegelschen Gottesbegriffes ist die absolute Negativität Gottes: Dieser ist nicht eine endliche Person, die e t w a s anfängt84 – diese Vorstellung ist der Poiesis, dem Herstellen entnommen und macht das eigentliche Moment der Vorstellung aus – und daher ist auch kein erster Anfang im Sinne eines beginnenden Chronos zu finden (ein solcher könnte immer nur Abhängigkeit erzeugen). Der Gott der spekulativen Schriften Hegels ist nicht auf ein direkt intendierbares Du zu reduzieren. Er ist die absolute Person und sein Anfangen das Anfangen des Begriffs, welches im tiefsten Sinne die Liebe ist. Das freie SichEntlassen der absoluten Idee, von der Hegel am Ende der WdL spricht, drückt das innerste Moment des schöpferischen Tuns Gottes aus: Gott schenkt sich (wie wir in der Entäußerung der Substanz gesehen haben) als die Wahrheit des Endlichen. Er tut dies aber nicht, indem er es im Sinne Spinozas annihiliert, auch nicht als Ding an sich oder Urbild, sondern indem jeder Aktus des Endlichen immer schon seine Entsprechung in Gottes Tat hatte und Gottes Tat als Anfang eines Anderen der unverfügbare Horizont des Endlichen ist. Gott ist der Vater, der seine Kinder frei gibt, sie aber nicht ihrem Schicksal überlässt. Am tiefsten ist dieses Verhältnis in der christlichen Dogmatik ausgedrückt. Das Tun des Vaters ist das Tun des Sohnes, das Tun des Sohnes das Tun des Vaters. Besser noch, weil hier die von Gott gewollte Welt zum Ausdruck kommt (die auch bei Hegel nicht die faktische ist; allerdings offenbart sich der Gott Hegels jedem auf die entsprechende Weise, was seine Anerkennung zum Ausdruck bringt, auch wenn diese das Gericht beinhaltet): Das Tun des wahren Vaters ist das Tun des wahren Sohnes Jesus von Nazareth, das Tun des wahren Sohnes Jesus von Nazareth das Tun des wahren Vaters. Der sich darin zum Ausdruck bringende spekulative Satz ist der Geist, in dem alle Zeit versammelt ist.

Mit der Darstellung der Wechselwirkung sind wir eingetreten in die dritte Sphäre der hegelschen Logik, in die Sphäre des Begriffs. Er ist als die Kontinuität der Substanzen das Allgemeine, welches im absoluten Bestimmen der Substanzen sich besondert und im Einzelnen identisch mit sich ist. Wichtig ist, dass das Allgemeine nicht einfach das aristotelische Artallgemeine ist (z.B. Hundsein), welches im Einzelnen (diesem Hund da) identisch mit sich ist. Denn 84

Die Aufhebung des Handlungsbegriffs, verbunden mit der Kritik an einem Freiheitsbegriff, der die Freiheit als Selbstanfangenkönnen bestimmt, und einem transzendentalen oder metaphysischen Subjektbegriff, ist eine der entscheidenden Pointen der hegelschen Philosophie. Von hier aus wären die Diskussionen mit zahlreichen Freiheitskonzeptionen, wie sie heute in der Theologie vorliegen, zu führen, paradigmatisch mit T. Pröpper, Evangelium und freie Vernunft; H.J. Verweyen, Gottes letztes Wort; M. Striet, Das Ich im Sturz der Realität. Selbstverständlich vertritt Hegel nicht den Gedanken einer Fremdbestimmung, da es auch kein positivierbares Anderes gibt, welches determinierte.

14. DIE ABSOLUTE IDEE ALS ENTSPRECHUNG

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die (bestimmte) Natur dringt nur in die Sphäre der Besonderung vor. Einzig und allein das absolute Selbstbestimmen des Geistes ist das Allgemeine, welches im Einzelnen identisch mit sich ist. Der Begriff ist nach Hegel die Freiheit – die, wie hier noch einmal betont werden soll, nur als Freiheit Gottes die Freiheit des Menschen ist, d.h. Freiheit ist kein Prädikat des Menschen – und die Liebe (auch sie Prädikat Gottes). In der Begriffsbestimmung des Allgemeinen ist der Begriff die Kontinuität der Substanzen (und so das Moment der Indifferenz). Die Freiheit bestimmt sich aus diesem Horizont der Allgemeinheit (und sie ist allgemein in diesem Bestimmen), sie geht darin aber nicht in Bestimmtheit über, sondern ist im Bestimmen mit sich identisch (sie ist, wie Hegel sagt, das bestimmte Bestimmte) und so das Moment der Einzelheit, in welchem sich das Allgemeine konkretisiert. Das wahrhaft Einzelne ist so nicht einfach der empirische Mensch, vielmehr die ganze Tätigkeit des Begriffs, sich zu manifestieren, also der Hl. Geist, wie er sich in seiner Wahrheit in der Bereitschaft des Menschen zur Umkehr zeigt. Die Einheit von menschlicher und göttlicher Natur ist keine positive, sondern die der zweiten übersinnlichen Welt. Sie gibt es nur im absoluten Unterschied des spekulativen Satzes. Niemals geht bei Hegel die göttliche Natur in der menschlichen Natur auf. Umgekehrt ist die menschliche Natur niemals etwas Fixierbares oder endlich Bestimmbares. Wir wären mit der „Was-Frage“ nach einer menschlichen Wesenheit in der Sphäre der Wesenslogik. Die dem Menschen aber adäquate Frage ist die „Wer-Frage“, die sich jeder positivierbaren Beantwortung entzieht. Wir werden in den abschließenden Überlegungen unserer Arbeit sehen, dass damit auch ausgedrückt ist, dass sich der Begriff wahrhaft nur in einem logischen Mythos, einer Erzählung („positive Philosophie“ im Sinne Schellings) zum Ausdruck bringen kann.

Der Begriff ist die Identität von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem, im Urteil („Das Einzelne ist allgemein“) legt sich diese Einheit auseinander, um sich im Schluss zu vermitteln. Im vollständigen Schluss (dem disjunktiven) fallen das Vermittelnde und das Vermittelte zusammen und der subjektive Begriff gibt sich Dasein in der Objektivität. Im disjunktiven Schluss (A ist B oder C oder D, A ist B [nicht C noch D], also ist A nicht C noch D) ist jedes der Glieder das Ganze und die Einteilung, die Einheit von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem, daher die Identität von Vermittlung und Vermitteltem, daher auch Aufhebung der Vermittlung und die Unmittelbarkeit des Seins. Auf diese Weise hat sich der Begriff Objektivität gegeben. Während in der Sphäre des Wesens der höchste Gegensatz der zwischen aktiver und passiver Substanz war, ist es in der Sphäre des Begriffs der Gegensatz von Subjektivität und Objektivität.

Mit der Objektivität ist der Begriff in den härtesten Gegensatz getreten. Das Ich erfährt „innigste Verwandtschaft im Fremden“, im Kosmos (der anorganischen und organischen Welt), im Leben (Idee des Lebens), im (gefallenen!) Anderen. Er weiß sich so als Leib, indem er einerseits erfasst, dass seine Wahrheit der Widerstand, das Unverfügbare, das Fremde, das Zerbrechen eigener Sicherheiten ist, andererseits, indem er erfasst, dass die Welt, in der er lebt, die begeistete Welt Gottes ist. Letzteres Wissen ist aber, wie wir in der

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

PhdG gesehen haben, kein theoretisches Wissen, sondern muss in der Bereitschaft des Handelns bis hin zu dem Punkt, für den Anderen seine eigene ethische und noietische Substanz aufzuopfern (Metanoia), hervorgebracht werden – eine Hervorbringung, die ihrerseits wiederum deshalb möglich ist, weil Gott sich für uns dahingegeben hat. Ein rein theoretischer Weltumgang im Sinne der schönen Seele, welcher sich in ewigen Gefilden aufzuhalten meint, entspricht dem Bewusst-Sein ebensowenig wie praktisches (poietisches) Handeln, welche das Gute (in der Zeit) herstellen will. Dies entwickelt Hegel in den Schlusskapiteln der WdL: der Idee des Erkennens (theoretische Vernunft) und der Idee des Guten (praktische Vernunft), die beide in ihrer Einseitigkeit von der absoluten Idee aufgehoben werden. Ein theologisch wichtiger Punkt ist der Übergang von der Idee des Lebens zur Idee des Erkennens, in der die Idee in ihrem Fürsichsein (d.h. die Subjektivität an der Objektivität) hervortritt. Der Gattungsprozess erzeugt das Individuum, indem er es zugleich in dessen Tod aufhebt. D.h. das tierische oder pflanzliche Individuum ist nicht für sich, sondern es erhält das Fürsichsein durch die Gattung (durch die es vollkommen bestimmt ist. Sollte ein Hund auf die Idee kommen, fliegen zu lernen, hat er seine Gattung gesprengt). Auf diese Weise hat sich die Idee des Lebens als das Allgemeine (und Fürsichsein) der Gattung bestimmt. Üblicherweise wird daran festgehalten, dass Hegel auch den Tod des menschlichen Individuums auf diese Art fasst, d.h. dass die menschliche Unsterblichkeit bei ihm eine solche der Gattung ist. Dies ist aber deshalb nicht haltbar, weil das menschliche Individuum nicht im Gattungsprozess aufgeht. Es ist im Sinne der Idee des Erkennens für sich das Allgemeine, welches als Tier sterblich ist, nicht aber als Bild Gottes.

Die Idee des Erkennens (in ihrem Fürsichsein die Wahrheit der Idee des Lebens) hat sich als subjektive Idee (endliches Erkennen) eine Welt vorausgesetzt. Welt und Zeit existieren nicht unabhängig vom Geist. Aufbewahrt ist aber das Moment der Endlichkeit: Der Geist gestaltet sich als Leib, als Natur, als endliches Wesen in der (voraus)gesetzten Zeit. Er erfährt sich als Glied der Schöpfung. Die Welt „vor“ dem Menschen ist ewige Vergangenheit und nicht chronologisches „Vorher“, denn die Schöpfung des Menschen und die Schöpfung der Welt fallen zusammen. Die Evolutionslehre als philosophische Weltanschauung naturiert den Menschen, denn sie erkennt nicht, dass die Wahrheit der Idee des Lebens die Idee des Erkennens ist. Damit soll nicht die Evolutionslehre in ihrem naturwissenschaftlichen Wert geleugnet werden. Aber die Evolution vollzieht sich nicht unabhängig von der menschlichen Existenz, d.h. der Mensch ist Resultat der Evolutionsgeschichte als deren Voraussetzung (was, wie alles Geistige, formallogisch unmöglich ist). Leibniz hat ausgeführt, dass mit der Monade die Welt beginnt. Dies ist auch die Auffassungsweise Hegels. Der wahre Anfang ist der Anfang des Begriffs, d.h. das (nicht im poietischen Sinn zu verstehende) „Hervorbringen“ des Menschen (Genetivus subjectivus und Genetivus objectivus), im Anspruch des Logos, wobei der Mensch als endliches Geschöpf (auch

14. DIE ABSOLUTE IDEE ALS ENTSPRECHUNG

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zeitlich gesehen) Teil der Natur ist. Nicht die Natur bringt den Geist hervor, sondern der Geist erkennt die Natur als das Andere, wobei sich deren Geistigkeit, d.h. Ursprung aus dem Geist, darin zeigt, dass sie diesem Widerstand leistet (auf allgemeinste Weise als Zeit und Raum). Die Welt „vor“ dem Menschen (Saurier etc.) ist keine Illusion, sondern als ewige Vergangenheit menschlicher Existenz gesetzt und nicht ein Zeitstrom, in und aus dem der Mensch irgendwann auftaucht. Insofern der Mythos den zeitlichen Status einer ewigen (d.h. nie in die chronologische Zeit eingetretenen) Vergangenheit in Bezug auf das Menschengeschlecht hat, ist die menschliche Evolutionsgeschichte der authentische Mythos unserer Zeit. Ihr logisch-chronologisches Element tritt uns darin entgegen, dass uns diese ewige Vergangenheit der Natur als chronologische Abfolge der Zeit entgegentritt. Darin erkennen wir, dass auch die Natur eine Geschichte hat, was wiederum ihr geistiges Element ausmacht. Sie hat diese Geschichte aber nur in Bezug auf den Menschen. Ohne ihn gäbe es auch keine Natur. Die Jahrmilliarden des Universums und der Natur sind kein absoluter chronologischer Zeitfluss, sondern die Eigenzeit der Natur in ihren Gestaltungen, die damit den Menschen als unverfügbares Geschehen gegenübertritt. Die Wahrheit der Natur ist ihr freies Sichanderssein des Geistes. Was den Anfang des Menschengeschlechts betrifft, ist dieser nicht in der Zeit, da die Zeit gesetzte Voraussetzung ist. Um sich dieser Frage trotzdem zu nähern, was notwendig ist, weil der Mensch auch in einer chronologischen Generationenfolge steht, ist zu erinnern, dass der Mensch nur spricht als Angesprochener. Weiters haben wir im Zuge unserer Interpretation der PhdG darauf hingewiesen, dass der Mensch auf den „anderen Ort“ verweist, d.h. niemals ein eigenes letztes Fundament, einen verfügbaren Anfang usurpieren kann. Von daher kann mit Schelling angedeutet werden, dass „vor dem Anfang“, als dessen ewige Vergangenheit und anderer Ort die ewige Vergangenheit der Zeit, d.h. ein Mythos (eine Erzählung) steht, in dessen Anspruch (hier in allen Bedeutungsnuancen zu verstehen) die Menschwerdung des Menschengeschlechts erfolgt. Verdeutlichend kann dabei hinzugefügt werden, dass dieser Mythos gewissermaßen am Ursprung und am Anfang des Menschengeschlechts bzw. menschlicher Sprache steht und auch dessen letzter, eschatologischer Horizont ist.

Für die Idee des Erkennens gilt aber auch, dass sie nicht darum weiß, dass die Welt ihre Welt ist. So tritt sie ihr noch als vorgefundene, als gegenständliche (im Sinne der Positivität) entgegen. Dabei gelangt das Erkennen als analytisches Erkennen zum Allgemeinen und als synthetisches Erkennen (etwa in der Mathematik) zum Erfassen notwendiger Zusammenhänge (hier kehrt die wesenslogische Kategorie der Notwendigkeit wieder) des Besonderen, aber sie erfasst nicht die Welt als freie, als geistige, als Begriff. Sie gelangt daher nur zur Objektivität, die Subjektivität ist ihr verschlossen. Diese realisiert sich erst in der Idee des Guten. Die Idee des Erkennens weiß noch nicht, dass wirkliches Erkennen Anerkennen ist. Sie glaubt, dem Gegenstand Erkenntnis zu vindizieren, indem sie ihn analysiert oder in der Synthese in seiner Systematik darstellt. Zum Einzelnen, zum freien Subjekt gelangt sie dadurch aber nicht. Erst unter der Ägide der Idee des Guten erkennt sie, dass der

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

Zweck, damit der Logos und wahre Gegenstand der Welt dieser Mensch hier und jetzt ist. Auf diese Weise ist auch in der WdL der Primat der Praxis und die grundsätzliche Grenze allen theoretischen Erkennens ausgesprochen. Der Übergang von der Notwendigkeit zur Freiheit, der sich im Übergang von der Idee des Erkennens zur Idee des Guten vollzieht, entspricht dabei in gewissem Sinne dem Übergang von der negativen zur positiven Philosophie Schellings.

Während in der theoretischen Idee die Subjektivität der objektiven Welt gegenübersteht, versucht die praktische Idee (Kant) sich in der Wirklichkeit, die sie als endliche Idee wie die Idee des Erkennens als vorgefundene betrachtet, zu realisieren. Sie will die Wirklichkeit der Subjektivität gemäß machen, ihre „Mittel“ sind dabei das Recht, die Moralität, der Staat, die Technik. Auf diese Weise ist das Gute das zu Verwirklichende, wobei diese Verwirklichung, weil die Welt vorgefunden ist, nie vollkommen gelingen kann. Sie wird daher ins Postulat ausgelagert und die Welt wird letztlich als amoralisch, als von Gott verlassen angeschaut. Wir sind in der Sphäre des handelnden Bewusstseins. In der theoretischen Idee gilt die Wirklichkeit als Gegenstand (allerdings als positiver, noch nicht als begeisteter Gegenstand), in der praktischen Idee als Aufzuhebendes. Beide aber betrachten die Welt auf diese Art noch als unbegeistet Vorgefundenes. Dieser noch abstrakte Standpunkt ändert sich zu dem Zeitpunkt, an dem die praktische Idee sich in konkretes Handeln umsetzt. Diese Umsetzung wird dabei auch den Übergang von der Poiesis in die Praxis markieren. Wird nämlich die Wirklichkeit nur als entgegenstehende betrachtet, verbleiben wir noch in der Theorie. Durch die konkrete Handlung erfahren wir die Wirklichkeit sowohl als sich mitteilende – andernfalls könnte der Mensch nicht eine Handlung setzen –, als auch als gegenständliche Wirklichkeit. In der Anerkennung dieser Gegenständlichkeit begeistet sich der Gegenstand und die Handlung hebt sich als poietisches Tun auf. Das Böse wird auf diese Weise nicht als diese Gegenständlichkeit, sondern deren Vermeidung erkannt. B. Liebrucks bringt diesen Gedanken auf den Punkt: „Daß dem Menschen immer das seiner Forderung entsprechende, also die Forderung des Guten begegnet, soweit er sie nur als Forderung hat, und daß ihm das Gute soweit begegnet, wie er es in seiner wirklichen Tat hat, dieses Ganze ist das absolute Gute, das nicht erst auf uns zu warten braucht, das vielmehr immer geschieht.“85 [...] Mit dieser Einsicht, die uns auch am Ausgang der PhdG begegnet ist, wo sich gezeigt hat, dass menschliches Handeln nicht im Lichte eines Selbstanfangs, sondern als Anfang eines (nicht positivierbaren) Anderen zu verstehen ist, womit sich die Aufhebung des Handlungsbegriffs angezeigt hat, verbindet sich eine wichtige Gemeinsamkeit mit dem buddhistischen Prinzip des Nichthandelns, an das sich eine Kritik eines von der Handlung her bestimmten Subjektbegriffs anschließt. Liebrucks schreibt: „Wirklichkeit beginnt in dem Augenblick den Menschen etwas zu lehren, in dem er unmittel85

B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, VI/3, 567.

14. DIE ABSOLUTE IDEE ALS ENTSPRECHUNG

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bar [Hervorhebung K.A.] von ihr nichts will. Damit hat Hegel die abendländische Idee vom Menschen so ausgesprochen, daß sie mit östlichen Philosophien konvergiert, die im Nichthandeln die höchste Form des menschlichen Handelns gesehen haben.“86 Mit dieser Kritik am Handlungsbegriff ist der Übergang von der Idee des Guten zur absoluten Idee vollzogen (die im Übrigen auf wunderbare Weise in den Gottesreden des Hiobbuches aufscheint): Sie ist die Vereinigung von Theorie und Praxis, das Wissen, dass sich Erkennen in der Anerkennung vollzieht. In der Verwirklichung des Guten in der konkreten guten Tat teilt sich uns die Welt konkret mit, d.h. verschwindet das abstrakte Kleid, welches wir mit unserem theoretischen Wissen über die Welt immer schon geworfen haben. Darin gilt innerhalb der absoluten Idee der Primat der Praxis gegenüber der Theorie. Weiters enthält die absolute Idee aber das absolute Wissen davon, dass die Praxis nicht als Vertilgung des Gegenständlichen, d.h. als Subjektivierung eines vorgegebenen Objektiven aufgefasst werden darf. Vielmehr ist sie als gute Tat das Freilassen der Wirklichkeit (nicht zuletzt im Anerkennen der Natur!), der Verzicht auf eigene Geltung, die Umkehr. In diesem Wissen um die Dignität des Gegenstandes, die in dem Maße anwächst, in dem (an)erkannt wird, dass der Gegenstand schon immer Gottes Tun war und so nicht mehr Objekt, sondern begeistet ist, enthält sie den Primat der Theorie gegenüber der Praxis, die sich noch als Handeln interpretiert hat. Als Leitmotiv hegelscher Philosophie hat sich die Frage nach der Entsprechung von Begriff und Gegenstand gestellt. Diese Entsprechung ist eine doppelte: Sie ist die menschliche Entsprechung auf den Begriff, der sich in der Entäußerung der Substanz als der freie Gegenstand mitgeteilt hat. Konkret ist sie die Anerkennung der Wirklichkeit als des freien Andersseins, in dem ihr nie positivierbarer Anfang liegt (ein Anfang, der nie war ...). Dieser ist so ein ewiger Anfang je konkreter Zeit (Zeit als Zeit des Anderen!), wobei als das tiefste Zeichen dieses Anfangens der Zeit der Tod der Substanz als Auferstehung des Subjekts (als innerer Einheitspunkt aller Zeiten), wie sie in Christus Geschichte wurde, angesehen werden kann. Im Letzten ist diese Entsprechung die Anerkennung Gottes als ewiger Schöpfer der Zeiten. Anders gesagt: Der innere Einheitspunkt der Zeit, in dessen freien Anfang alles zurückgeht, ist die Entsprechung Gottes (Genetivus subjectivus und Genetivus objectivus) selber. Hier erschließt sich noch einmal das am Beginn dieses Kapitels über die Methode Ausgeführte: Dort hat sich schon gezeigt, dass es keinen ersten, isolierten Anfang gibt. Nun zeigt sich auch, dass dieser Anfang sowohl absolute Vermittlung, d.h. der ganze Gang der hegelschen Philosophie als auch absolute Unmittelbarkeit ist. Dies bedeutet aber, dass die hegelsche Philosophie zu keinem Zeitpunkt ein abgeschlossenes System ist – denn die Unmittelbarkeit des Anfangs bleibt in jeder Stufe der hegelschen Philosophie erhalten –, sondern dass sich dieser Anfang (Gottes) jederzeit neu (durch den 86

B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, VI/3, 579.

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VIII. DIE ZEIT ALS ZEITIGUNG DES ANDEREN

Menschen) konkretisieren muss. So ist er kein chronologisches „Vor“, sondern das „Vor“, welches sich „nachträglich“ jeweils neu – und zwar in praktischer Bewährung – darstellt.

Die Entsprechung von Begriff und Gegenstand ist also auch Gottes Entsprechung, wobei in Erinnerung zu rufen ist, dass die Wirklichkeit nicht stummes Objekt und der Mensch nicht gottverlassene Kreatur ist. Gottes Schöpfungshandeln wiederum ist nicht bloß ein Geschehen ferner Vergangenheit oder ebenso ferner Zukunft, sondern seine Entsprechung in der Anerkennung des Menschen, ohne die der Mensch sich nicht einen Augenblick auf dieser Welt erhalten könnte. Allerdings schließt diese Anerkennung die Endlichkeit des Menschen ein, der so nie die Schöpfung in ihren konkreten Gestaltungen und Herausforderungen rein theoretisch durchschauen kann.

15. Die Tilgung der Zeit Im Kapitel über das absolute Wissen heißt es: „Die Zeit ist der Begriff selbst, der da ist und als leere Anschauung sich dem Bewusstsein vorstellt; deswegen erscheint der Geist notwendig in der Zeit, und er erscheint so lange in der Zeit, als er nicht seinen reinen Begriff erfasst, d.h. nicht die Zeit tilgt.“ (PhdG III 584) Die Tilgung der Zeit ist nach dem bisher Ausgeführten nicht ein Transitus in eine zeitferne Ewigkeit oder gar ein Rückgang in eine geschichtslose Prinzipienphilosophie, sondern die Aufhebung der wesenslogischen Reflexionsbestimmungen (Gott als Ursache, die Welt als Wirkung etc.). Bestimmter ist sie die Entsprechung der Aufhebung abstrakter Wissensformen, die in jeder Stufe des Weltumgangs statthat. In der Sphäre des absoluten Wissens (welches wiederum keine eigene Stufe ist, sondern das in allen aufscheint, v.a. aber in der offenbaren Religion und im Gewissen) ist sie das sich dem Anderen aussetzende Handeln, welches dem schöpferischen Anfangen Gottes entspricht. Darin weiß es, dass nicht sein Handeln die Welt hevorbringt. So kann zusammenfassend gesagt werden, dass die Zeit die Gestalt zweier Entäußerungsbewegungen – und zwar des Menschen in der Nachfolge und des trinitarischen Gottes – ist, die im geistvollen Handeln einen Anfang bilden, in dem die Zeit getilgt ist, indem sie als Anfang eines Anderen freigegeben wird. Dieser geistvolle Anfang ist als Einheit der beiden Entäußerungsbewegungen der Anfang Christi, wie er in seinem Leben und Sterben und in seiner Auferstehung als deren Zusammenfassung geoffenbart ist. Zu beachten ist nur, dass Christus dabei nicht als das alles integrierende (und so die Welt in ihrer Andersheit aufhebende) „Kleid der Wirklichkeit“ betrachtet werden darf. Er ist der verschwindende Vermittler, der sich nicht mehr in einer äußerlichen Gestalt, sondern in der die beiden Entäußerungsbewegungen beinhaltenden

15. DIE TILGUNG DER ZEIT

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Sendung des Geistes (und auf diese Weise auch den Vater) offenbart. Die Mitte ist die Leere der zweiten übersinnlichen Welt, die nichts anderes ist als die absolute Methode bzw. die Negativität (absolute Unverfügbarkeit) des Geistes, aus dem die Zeit entspringt. Hegel schreibt am Ende der PhdG: „[...] diese [Offenbarung] ist der absolute Begriff [...] und seine Zeit, dass diese Entäußerung sich an ihr selbst entäußert und so in ihrer Ausdehnung ebenso in ihrer Tiefe, dem Selbst ist.“ (PhdG III 591) Diese Entäußerung ist als die Unmittelbarkeit des Anfangs (in welchen alle Vermittlung zurückgeht) das doppelte Freilassen der Natur (welche aus diesem Grunde nicht determiniert ist, was sich heute auf physikalischer Ebene zunehmend bestätigt) und der Geschichte, wobei wir die Einheit beider erst wieder begreifen lernen müssen. Dieses geistige Geschehen, welches Hegel hier anzeigt, darf allerdings nicht in ein diese Form der Andersheit zurücknehmendes System eingesargt werden. Vielmehr bedarf es eines ihm entsprechenden je neuen Zeugnisses. Dessen absoluter Inhalt ist die offenbare Religion, was wir nach unserem Durchgang durch Hegel noch weiter konkretisieren können: Wir haben darauf hingewiesen, dass das absolute Wissen darum weiß, dass nicht der Mensch die Versöhnung mit der Wirklichkeit erstellen muss. Damit sind wir aber bei einem Welt- und Zeitverständnis angelangt, welches dem entspricht, was in der christlichen Liturgie immer schon gefeiert wird, nämlich das Mysterium der Wandlung. Denn in der Transubstanziation der Substanzen Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi ist nicht nur die Wandlung der gesamten Schöpfungswirklichkeit und die Umkehr der Gemeinde impliziert, sondern auch das Wissen, dass sie nicht Handlung des Menschen, sondern Handlung Gottes und damit Ausdruck seiner rechtfertigenden Versöhnung ist. Hegels spekulativer Satz ist im Grunde genommen eine einzige Variation über dieses Zentrum unseres Glaubens. Erst von daher kann aber auch die menschliche Freiheit richtig verstanden werden. Sie ist weder Illusion, als die sie jedes mechanistische und formallogische Denken ansetzen muss, noch ist sie intelligible Wahl des Subjekts. Sondern Freiheit ist die Selbstbestimmung des Menschen, die kein absoluter Selbstanfang ist, sondern immer schon in der Wechselwirkung der Substanzen stattgefunden hat. Genauso wie ich als Angesprochener spreche, indem ich die Sprache aktuiere, handle ich als Anerkannter, indem ich die sich bereits immer schon entäußernd habende (und mich darin anerkennende) Substanz entäußere (wobei dieses „sich entäußernd habend“ sich erst im Aktus meiner Entäußerung manifestiert). So ist das Handeln nicht poietisch, sondern sprachlich, was neben dem Christentum wie angedeutet auch der Buddhismus auf seine Weise zur Darstellung bringt. Der Mensch kann bereits frei – wenngleich noch nicht als Kind Gottes als des absoluten Geistes – mit einem Stein, mit dem Lebendigen verkehren, was der Mythos weiß, weshalb er in gewisser Hinsicht ein (wenngleich mittlerweile fast ausgerottetes) höheres geistiges Stadium bezeichnet als unser gegenwärtiges. Denn auch mit dem Anorganischen und dem Lebendigen handle ich bereits in der Kontinuität der Substanzen (ich nehme den Stein in die Sprache auf, der sich darin

316 bereits als Geist kund getan hat ...). In tiefster Weise menschlich und göttlich handelt der Mensch in der Anerkennung, die so auch die für uns von Anbeginn der Zeiten bereit gehaltene Anerkennung Gottes ist, wenngleich sie und mit ihr der Schöpfer durch immer neue Selbstdarstellungen des Menschen geschändet werden.

Ein entscheidendes Moment der den absoluten Inhalt offenbarenden Eucharistie, deren Reflexion die beiden Hauptwerke Hegels insofern sind, als ihr Leitthema die Transsubstanziation der Substanz in das Subjekt darstellt, ist die Anamnesis, ohne die die Eucharistie inhaltsleeres Tun bliebe. Diese Anamnesis (Hl. Schrift) enthält den absoluten Inhalt des Todes der Substanz als Auferstehung des Subjekts in der Form der Erzählung, die dann nicht in die Form der Vorstellung zurückfällt, wenn sie erstens nicht als vergangenes, positivierbares Geschehen, sondern als zu bewährendes und fortzuschreibendes „Heute“ gewusst wird und zweitens ihr Inhalt der Anerkennung des Anderen entspricht. Ihr begegneten wir in der PhdO als Erzählung (zweiten Mythos) der Suche nach einem eschatologischen Anfang, der stärker ist als der Tod und das Böse und in der PhdG als Erzählung (zweiten Mythos) der Zeit und ihren Gestalten. Schelling hat uns durch die Aufspreizung des spekulativen Satzes ausdrücklicher als Hegel den eschatologischen Horizont der Zeit deutlich gemacht und uns vor Augen geführt, dass die Zeit im Horizont einer ewigen Vergangenheit (Mythos) und einer Verheißung (U-Topos) in Form einer Erzählung des trinitarischen Gottes steht, die Anfang und Ende der Zeit ist. Hegel radikalisiert dieses Geschehen, wenn er darauf abhebt, dass das uns im absoluten Wissen begegnende Subjekt „vor“ dem Subjekt, d.h. jenes nicht mehr vergegenständlichbare Subjekt, welches im Verlust der Substanz als Bewusst-Sein alle Substanz ist, an den (die Zeit offen haltenden!) Anderen und seine Verheißung rückgebunden bleibt, die eine Entsprechung hier und jetzt erfordert. Im Zusammendenken beider Philosophen – welches wir dahingehend resümieren können, dass Schelling den unverzichtbaren eschatologischen Horizont der hegelschen Spekulation als U-Topos des Anfangens des kommenden Gottes explizit macht, wobei diese Geschichte zurückgehen muss (ohne je verschwinden zu dürfen!) in die hegelschen Fassung des Anfangs als Anfangen eines Anderen – können wir festhalten, dass sich uns Zeit als „Zeit des Anderen“ eröffnet, wenn wir uns in unserer ethischen und noetischen Substanz in Frage stellen lassen. Dabei befinden wir uns im Horizont einer Vor-Gabe, d.h. eines sich erzählenden geistigen Geschehens, zu dem wir als Gäste (welches wir also nicht in Besitz nehmen können, indem wir meinen, es komplett entschlüsseln bzw. identifizieren zu können, von dem wir aber auch nicht als Fremde ausgeschlossen sind) geladen sind und worin der Mensch hoffen darf, dass nicht der Tod der letzte Gast(geber) ist ...

IX. EPILOG: DIE ERÖFFNUNG DER ZEIT UND DIE GASTFREUNDLICHE STADT

Und es kam einer von den sieben Engeln, die die sieben Schalen mit den sieben letzten Plagen getragen hatten. Er sagte zu mir: Komm, ich will dir die Braut zeigen, die Frau des Lammes. Da entrückte er mich in der Verzückung auf einen großen, hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem, wie sie von Gott her aus dem Himmel herabkam, erfüllt von der Herrlichkeit Gottes. [...] Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt. Denn der Herr, ihr Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung ist ihr Tempel, er und das Lamm. Die Stadt braucht weder Sonne noch Mond, die ihr leuchten. Denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm. Die Völker werden in diesem Licht einhergehen, und die Könige der Erde werden ihre ganze Pracht in die Stadt bringen. Ihre Tore werden den ganzen Tag nicht geschlossen – Nacht wird es dort nicht mehr geben. Und man wird die Pracht und die Kostbarkeiten der Völker in die Stadt bringen. (Offb 21,9-11a.22-26)

1. Rückblick: Die Aporien des Zeitproblems und der Zusammenhang von Zeit- und Vernunftkonzeption Die Grundaporie der Zeit, die Ausgangspunkt dieser Arbeit war, lag erstens in einer (chronologischen) Zeitauffassung, die die Zeit im Sinne eines ewigen Weiterlaufens interpretiert und den Menschen in diesem unendlichen SichVerlaufen heillos hinter sich lässt. Zweitens in der Vorstellung einer zeitvertilgenden Ewigkeit, die die Geschichte, die Zeit und die menschliche Freiheit zu einer Episode herabwürdigt. Die Problematik dieser Position liegt darin, dass sie die Endlichkeit und Verletzlichkeit des Menschen sistiert, damit aber auch dessen Geistigkeit, die sich dadurch zum Ausdruck bringt, dass der Mensch niemals zu absoluter Identität mit seiner Umwelt gelangen kann. Die „ortlose“ Fremde ist notwendige Voraussetzung nicht nur jeder Form von Personalität, sondern auch der Liebe. Drittens sahen wir umgekehrt die Aporie einer Position, die um dieser nicht zu tilgenden Zeitlichkeit willen jede Form von Transzendenz „abschneidet“, den Tod als letzte Schranke setzt und die Ewigkeit im Standhalten der todgeweihten Zeit sistiert. Dadurch naturiert sie die Toten, die sie (wie die zweite Position) als zeitlose Vergangenheit setzt und von der gemeinsamen Zukunft mit den Lebenden abschneidet. Der Tod tritt als absoluter

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IX. EPILOG: DIE ERÖFFNUNG DER ZEIT UND DIE GASTFREUNDLICHE STADT

Herr auf und die Vergangenheit verliert ihre Zukunftsfähigkeit. Die vierte Aporie zeigte sich schließlich in geschichtsteleologischen Positionen. Diese vergessen die Brüche und Opfer der Geschichte und werten den Menschen zum biologischen Gattungswesen ab, indem sie ihn, dem Tier und der Pflanze gleich, als Vollzug seiner Gattung betrachten. Um diese Aporien zu überwinden und die Zeit als Eröffnung Gottes darzustellen, in der Er Wohnstatt nimmt, also letztlich im Versuch der Entfaltung eines Zeitbegriffs, in dem die Zeit eine verheißungsvolle Mitte zeigt, aus der ein schöpferischer Anfang und eine die Menschen verbindende Zukunft besprechbar wird, haben wir einen Durchgang durch zentrale Philosophien bzw. Theologien versucht, worin Vernunftkonzepte aufleuchteten, in denen nicht nur die Zeit zunehmend in ihrer Bedeutung hervortrat, sondern die auch selber die Zeit als ein inneres Moment ihres Denkens mit sich führten. Dies ist theologisch deshalb relevant, weil wir gesehen haben, dass sich Gott in der Zeit offenbaren will und sein Anfangen ein Anfang der Zeit ist. Zunächst konnten wir in einem Durchgang durch die Philosophie von Leibniz feststellen, dass alle Konzeptionen, die den Menschen als endliches Seiendes in einem Zeitbehälter verorten, zu kurz greifen. Leibniz zeigt uns ferner, dass die cartesische Subjekt-Objekt-Trennung und verbunden damit eine quantifizierende Sicht auf Sein und Zeit überwunden werden müssen durch eine Konzeption der Welt als Monade. Sie ist dabei als Subjekt-Objekt der perspektivische Spiegel Gottes und so in der Zeitigung bestimmten Seins die Darstellung des göttlichen Schöpfers, der als Monas Monadum die absolute Selbstvermittlung des Seins ist. Ihr Anfang ist Anfang der Schöpfung als Anfangen Gottes, wobei die endliche Monade immer als gesetzte (oder geborene) beginnt. Ihr Ende ist das Weltende und der Übertritt in die Ewigkeit. Die Zeit erweist sich in diesem Konzept als Ideal innerer Einheit und Band der Monaden und in einem tieferen Sinne als Abbild Gottes, der das eigentliche vinculum substantiale der Monaden ist. Allerdings sahen wir bei Leibniz noch das Problem, dass die Zeit letztlich in der Ewigkeit aufgehoben ist. Vor den Augen der Ewigkeit war sie immer schon als vergangen gesetzt und Vernunft und Freiheit damit naturiert. Angedeutet haben wir in diesem Zusammenhang, dass durch Leibniz die metaphysische Tradition und die auf ihr basierenden Theologien erfasst sind. In der Darstellung Kants konnten wir sehen, dass dieser in seiner transzendentalen Wende als erster Philosoph wirklich Freiheit zu denken vermochte. In den Vernunftantinomien zeigt er, dass ein metaphysischer Anfang nicht zu denken ist, ebenso wenig eine durchgängige Bestimmung des Seins, wenngleich diese als transzendentales Ideal weiter fungiert. Die Realität Gottes ist keine ontologische, sondern eine praktische, keine des Seins, sondern eine solche der reflektierenden Urteilskraft. Allein die praktische Vernunft, die den Primat gegenüber der theoretischen Vernunft ausübt, kann die Form der Allgemeinheit erreichen und in der moralischen Pflicht ein Vernunftprinzip darstellen. In Bezug auf die theoretische Vernunft erweist sich die Urteilsform

1. RÜCKBLICK: DIE APORIEN DES ZEITPROBLEMS

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(Synthesis), d.i. das „Ich denke“ als potenzieller Begleiter aller Vorstellungen, als das höchste Prinzip. Die Zeit zeigt sich in der transzendentalen Ästhetik als dem Sein vorausliegend (als dessen „transzendentaler Behälter“), in der produktiven Einbildungskraft wird sie konkretisiert als Bildung der Synthesis, die den Menschen als endliches Wesen bestimmt, insofern dieser die jeweilige Urteilshandlung nie zugunsten einer Totalität überspringen kann. In der reflektierenden Urteilskraft begegnet uns die Welt in der Gestalt bestimmter zeitlicher Gebilde. Zum Abschluss deuteten wir die Zeit auf Grund der Grenze, die sie theoretischen Vernunftansprüchen setzt, als Ausgangspunkt der praktischen Vernunft. Erst im Postulat der Freiheit kann die sich zeitlich manifestierende Synthesis bzw. der der reflektierenden Urteilskraft entspringende Zweckbegriff als „Ich“ konkretisiert werden. Auf diese Weise vermochten wir die Zeit als Zeitigung der Freiheit in praktischer Absicht zu bestimmen. In der Postulatenlehre erkannten wir schließlich eine sich aus der praktischen Vernunft ergebende „Spannung“ der Zeit, die sie über bloße Gegenwärtigkeit hinaushebt. In theoretischer Hinsicht erweist sich vor dem Hintergrund Hegels die transzendentale Dialektik als entscheidender Schritt gegenüber der Metaphysik, der allerdings noch nicht radikal genug ausfällt, da bei Kant die Vernunftideen Gott, Welt und Ich zwar nicht mehr als Substanzen auftreten, aber als Ideen der Vernunft ihren Charakter der Gegenständlichkeit nicht vollständig abgelegt haben. In praktischer Hinsicht stellt sich das Problem, dass Kant die Frage der Anerkennung unterbelichtet hat. Verbunden damit ist, dass sich in seiner Fassung der Moralität noch ein Geltungsanspruch gegenüber dem Gegenständlichen zum Ausdruck bringt, der verhindert, dass die Welt frei aus sich entlassen werden kann. Zeit zeigt sich bei Kant noch in ihrer formalen Gestalt, aber nicht als geschichtlich markierte Zeit des Bewusst-Seins, welches der Gang des Menschen zum Menschen als Gang Gottes zum Menschen ist. Bei Heidegger hoben wir vor allem seine radikale Kritik an allen identitätsphilosophischen Konzeptionen, die die Temporalität des Daseins überspringen, hervor. Das Daseinsganze lässt sich weder im Sinne der Monade als durch Gott zureichend begründet denken noch in praktischer Absicht postulieren. Vor allem aber zeigt Heidegger, dass die Figur eines sich selbst setzenden Ichs die Todesproblematik überspringt. Der Tod markiert auf der einen Seite die Jemeinigkeit und radikale Vereinzelung des Daseins, andererseits aber verhindert er jede Form absoluter Selbstidentifikation bzw. Selbstreflexion. Er ist nicht Abschluss wie bei Leibniz, sondern die absolute Schranke, die Unheimlichkeit (d.h. radikale Unmöglichkeit jeder Beheimatung), die das Dasein in eine unaufhebbare zeitliche Spannung versetzt. Eine „Geschlossenheit“ erhält das Dasein nicht durch eine ausstehende Zukunft, vielmehr ist es die zeitliche Spannung selbst, die das Dasein in einer Ekstasis des Sich-vorweg-Seins zu ergreifen hat, ohne einen bestimmten Ort damit zu erreichen. Daher konnten wir zusammenfassend Heidegger dahingehend interpretieren, dass das Dasein ein Sich-Transzendieren ohne Transzendenz (Sein zum Tode) ist. Festzuhalten blieb weiter, dass sich in Heideggers Denken ethische Möglichkeiten

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IX. EPILOG: DIE ERÖFFNUNG DER ZEIT UND DIE GASTFREUNDLICHE STADT

zeigen, die von ihm allerdings nicht weiterverfolgt werden: Die „Unheimlichkeit“ des Daseins macht den Menschen zum „Gast“, wobei wir theologisch ergänzen konnten, dass uns verheißen ist, Gott als dem Fremden zu begegnen. Das Problem der heideggerschen Zeitkonzeption sahen wir darin, dass das Sein als Bewusst-Sein (Subjekt-Subjekt-Objekt-Verhältnis) und damit auch der Gemeinschaftscharakter von Lebenden und Toten unterbelichtet ist. Die Frage der Zeit war getrennt von der Anerkennung des Anderen, wodurch die Zeit bei Heidegger letztlich zu einem einsamen Selbstvollzug wird. Ebenso wie bei Heidegger kommt dem Tod auch in der Spätphilosophie Schellings eine zentrale Bedeutung zu. Allerdings ist er bei Schelling nicht inneres Moment für ein Sich-Transzendieren ohne Transzendenz, sondern Ausgang der Frage nach der Abgründigkeit der Welt (Warum überhaupt etwas und nicht nichts?). Schelling versucht dabei in immer neuen Anläufen den unversöhnten Gegensatz menschlicher Existenz aufzuzeigen, die keinen wirklichen Anfang, kein Ziel und damit auch keine Mitte der Zeit finden kann. Auch die philosophische Spekulation („negative Philosophie“) und die praktische Vernunft scheitern seiner Auffassung nach am Tod, am Leid, am Bösen, am Verhängnis der Zeit. Als einzigen Ausweg sieht Schelling eine Ekstasis der Vernunft, ein Ablassen vom Versuch, die Welt in den (Be-)Griff zu bekommen. Diese Ekstasis ist dann möglich (wenn sie denn möglich ist – diese dunkle Frage kann bei Schelling nie stillgelegt werden), wenn Gott sich selbst als der eschatologische Anfang der Zeit offenbart, wobei der Heilswille Gottes nicht philosophisch deduzierbar, sondern nur in der Kenosis als Antwort eines vorgängigen geschichtlichen Selbsterweises bezeugbar ist. Auf Grund der Ambivalenz der empirischen Geschichte, die als Geschehen anonymer und alogischer Mächte widerfährt, bedarf es einer Tiefengeschichte als eschatologischer Sinngebung der Zeit. Diese Tiefengeschichte versucht Schelling in der PhdO darzustellen: Es ist als die ewige Vergangenheit und U-Topie des Logos die Geschichte des Hervortretens Gottes im Außergöttlichen, die ihren Kulminationspunkt in Leben, Sterben und Auferstehung des Jesus von Nazareth hat. Dieser ist der Herr des durch den Fall (d.i. der Wille zum Selbst-Sein) außergöttlich gesetzten Seins, der aber dieses Herr-Sein nicht aktualisiert, sondern vom Sein bis zum Opfer des Todes ablässt und sich dadurch als Sohn Gottes und wahrer (ursprünglich von Gott gewollter und wirklich freier) Mensch erweist. Repräsentativ für den Menschen und die gesamte Schöpfung überwindet er in diesem Ablassen den Tod, der als Trennung von Gott Frucht des Eigenwillens war. In dieser Tiefengeschichte der Zeit findet eine Vereinigung von Mythos und Logos statt, die beide in ihrer Wahrheit hervortreten lässt. Die mythisch bestimmte Zeit ist gekennzeichnet durch die Vorherrschaft der, wie Schelling dieses Geschehen nennt, ersten alogischen Potenz, was zur Folge hat, dass der Mensch im reinen Mythos nie wirkliche Freiheit finden kann, sondern die Zeit als ewigen Zyklus ohne letztes Ziel erfahren muss. Dagegen eröffnet die Vorherrschaft des Logos dem Menschen zwar die Möglichkeit, sich zum „Herrn des Seins“ aufzuschwingen, aber er verfehlt die innere Ein-

1. RÜCKBLICK: DIE APORIEN DES ZEITPROBLEMS

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heit der Zeit, die ihm nur als Gabe zukommen kann. Schelling ist in diesem Zusammenhang der Auffassung, dass „reinrationale Darstellungen“ des Seins – d.h. der Weltumgang im Zeichen des (einseitigen) chronologisch voranschreitenden Logos – im Versuch, das Sein (theoretisch oder praktisch) in den Griff zu bekommen, am Abgrund des Todes scheitern. Erst durch die Vereinigung von Mythos und Logos, von ewiger Vergangenheit als u-topischer Verheißung und Gegenwärtigkeit der Geschichte in der positiven Philosophie der Offenbarung (die die negative als kritische Instanz in sich trägt) kann der Mensch Anfang und Ziel der Zeit finden. Das mythische Element bringt sich in der Form der zeitlich geschlossenen Erzählung als „Antwort“ auf die Wer(und Warum-)Frage zum Ausdruck. Dabei findet die Fabel in der die positive Philosophie konstituierenden Erzählung des ewigen Erlösungsswillens Gottes einen alle anderen Erzählungen anfangenden Abschluss. Der entscheidende Inhalt ist dabei Jesus von Nazareth, in dessen Kenosis alle anderen Geschichten und Zeiten in die Ewigkeit Gottes selber eingeborgen sind und somit ein wirkliches Ende (Ziel) haben. Das logische Element ist die Tatsache, dass es ein Mythos der Freiheit ist. Jesus Christus ist wahrer, sterblicher, geschichtlich und chronologisch verortbarer Mensch, der den Tod wirklich auf sich genommen hat. Seine Freiheitstat muss dabei je neu in der Zeitlichkeit menschlicher Existenz kenotisch konkretisiert werden. In dieser Zeitlichkeit bringt sich die (ohne Verzicht auf den Logos) nicht zu sistierende zeitliche Dimension des ewigen Gottes zum Ausdruck, die er für sich in der Erschaffung des Menschen erwählt hat. Am Ausgang der Schriften Schellings stellte sich uns schließlich die Frage, ob das Moment der Verheißung des erlösenden Heilshandeln Gottes, welches uns im zweiten Mythos als ewige Vergangenheit und u-topische Zukunft der Zeit entgegentritt, nicht als Verheißung der Zeit des Anderen konkretisiert werden muss, was wir als inneres Moment des Denkens Hegels darzustellen versuchten, wobei wir aber in der Auslegung Hegels die eschatologische Sicht Schellings als entscheidende Anfrage mitzuführen versuchten. In den Jugendschriften Hegels, mit denen wir unsere Hegellektüre begannen, da in ihnen viele Motive der späteren Schriften grundgelegt sind, stellte sich uns die Zeit in ihrer Bewusst-Seinsstruktur dar. Sie ist Ausdruck des Weltumgangs des Menschen, der bereits vom jungen Hegel als der menschliche Selbstverschließungen aufhebende Gang Gottes zum Menschen erkannt wurde. Besonders wichtig sind dabei die Kategorien des Schicksals und des Lebens (bzw. der Liebe). Die erste Kategorie zeigt auf, dass das Bewusst-Sein die eigene Weltbegegnung in all ihren Verwerfungen und Brüchen IST, der Gott auf Grund der Trennung vom Absoluten in bestimmter Gegenständlichkeit entgegentritt. Dabei bringen die jeweiligen schicksalshaften Gottesentgegnungen auch bestimmte Zeiterfahrungen zum Ausdruck. Als über das Schicksal hinausweisende Kategorie begegnete uns das „Leben“, welches die ursprüngliche Einheit in Gott bezeichnet. Dieses kann nur in der Liebe als höchstem Vereinigungspunkt gesichtet werden, die aber jeden direkten Zugriff, jede unmittelbare Präsenz verwehrt. „Liebende haben keine Materie für-

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IX. EPILOG: DIE ERÖFFNUNG DER ZEIT UND DIE GASTFREUNDLICHE STADT

einander“ ist die zentrale Aussage des jungen Hegel, die bedeutet, dass jeder verobjektivierende und distanzierende Blick auf das „Leben“ zu kurz greift. Nur in einer Nachfolge, in der der Mensch nichts mehr für sich behält (d.h. jeden Vor-behalt aufgibt) – was jede urteilende Befestigung ausschließt –, kann das „Leben“ in seiner wirklichen Bedeutung wahrgenommen werden. Darin erfährt die Zeit einen die Sinnlosigkeit(en) des Schicksals durchbrechenden Sinn, der sich jeder unmittelbaren Verfügbarkeit entzieht und in diesem Entzug auf Gott hinweist. In der Darstellung der spekulativen Schriften Hegels sahen wir, dass sich das bereits in den Jugendschriften angedeutete Zeitverständnis (Zeit als Zeichen der Unverfügbarkeit) weiter vertieft, insofern das Moment der Entfremdung eine tragende Bedeutung bekommt. Die dialektische Methode ist eine radikale Verzeitlichung des Denkens, weil durch sie jede positivierende Verortung aufgehoben wird. Wir konnten anhand der Darstellung der zweiten übersinnlichen Welt das „Innere der Dinge“ als absoluten Unterschied, d.h. als Negativität der Substanz, die ebensosehr Subjekt ist, erkennen. Damit hob sich jede Möglichkeit, von einem positivierten Anfang oder einem Prinzip auszugehen, auf, ebenso die Möglichkeit, ein solches Prinzip perennierend anzustreben. In der Interpretation des Gewissenskapitels der PhdG, in dem sich die Bedeutung der zweiten übersinnlichen Welt konkretisiert, haben wir aufgezeigt, in welchem geistigen Geschehen für Hegel eine authentische Gottesbegegnung möglich ist: Diese erfordert ein radikales Ablassen von allen Geltungsansprüchen bis hin zur Aufgabe der eigenen noetischen und sittlichen Substanz, die sich in der Erkenntnis zeigt, dass es keinen absoluten, gesicherten „Ort“ gibt – schon gar nicht das „Ich“ –, auf den ich mich zurückziehen kann, um den Anderen einem Urteil zu unterziehen. Ich erkenne, dass der Andere einem geistigen Geschehen unterliegt, über welches er nicht verfügen kann und begreife in dieser Sicht des Anderen, dass auch mein Ort keine absolute Position ist, sondern durch und durch (kulturell und sprachlich) bestimmtes Geschehen, welches meiner Verfügbarkeit entzogen ist (daher fasst sich auch der Übergang von der Wesenslogik in die Begriffslogik in dem Satz zusammen, dass „das Anundfürsichsein Gesetztsein ist“). Dieses Wissen ist das „Im-Anderen-bei-sichSein“, welches also gerade keine narzisstische Figur ist, sondern die Erkenntnis, dass im Fehlen einer absoluten Position der Andere und Ich „Ort(losigkeit) des Anderen“ sind.

Erst in dieser absoluten Erschütterung meiner Position, d.h. in der Erfahrung des Sich-anders-Werdens der (noetischen und praktischen) Existenz wird mir die Verletzlichkeit, Bedrohtheit, Endlichkeit und Negativität sowohl meiner Person als auch der Person des Anderen als Bedingung seiner ihn freilassenden Anerkennung bewusst. Dabei offenbart sich Gott als der „andere Ort“, d.h. als die diese Iche verbindende Ortlosigkeit des Sich-anders-Werdens, in die alle Substanz untergeht und als nicht vergegenständlichbares Subjekt, d.h. als Ich „vor“ dem Ich aufersteht, das als diese reine negative Bewegung die

1. RÜCKBLICK: DIE APORIEN DES ZEITPROBLEMS

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Spannung der sich jeder Präsenz entziehenden Zeit ist. Der tragende Grund der Entäußerung des Subjekts, die sich in der sich nicht zurückbehaltenden Anerkennungspraxis zum Ausdruck bringt, war immer schon die Entäußerung der (göttlichen) Substanz, die sich in dieser doppelten Entäußerungsbewegung als absolutes Subjekt zeigt. Im wirklich freien (anerkennenden, nachfolgenden) Handeln bin ich Marionette Gottes, der nicht die absolute Position ist. Beide Entäußerungsbewegungen, nämlich die der Substanz und die des Subjekts, vereinigen sich gestalthaft in Jesus Christus, in dessen Einzelheit und Einmaligkeit sich auch die sinnliche Gewissheit und der absolute Geist als der härteste und damit geistvollste Gegensatz zusammenschließen, wobei in diesem Schluss beide Momente ihre Bestimmungen austauschen. Jesus Christus ist auf diese Weise die Einheit der menschlichen und der göttlichen Natur und zwar stellvertretend für die Menschheit, der diese Einheit nur in und durch Jesus von Nazareth zukommt. Somit ist Jesus Christus die Mitte aller Zeiten und das anfangende Wort (s.u.). Hegel betont aber, dass dieser absolute Inhalt der offenbaren Religion nicht in der „Form der Vorstellung“ aufgefasst werden darf: Gott ist kein die Welt umschließendes „Kleid“, durch welches die Wirklichkeit ihres freien Andersseins beraubt würde, indem die absolute Persönlichkeit Gottes als metaphysische Ursache und die Welt als abhängige Wirkung betrachtet wird. Vielmehr zeigt sich die göttliche Schöpfungskraft darin, dass in der Wirklichkeit die Kraft eines (sich entäußernden) Selbstanfangs liegt, der der Anfang eines Anderen ist. Der geistige Anfang ist immer ein Anfang des Wortes. Dieser Wortcharakter des Anfangs und der anfangende Charakter des Wortes bringen sich in der Überwindung der Sphäre des Herstellens zum Ausdruck. Der Anfang ist nicht ein Übergang von einem Etwas, welches ein Anderes hervorbringt (oder das Scheinen einer Ursache in die Wirkung), sondern das Wissen, dass mein Anfang schon der Anfang eines Anderen (Genetivus subjectivus und Genetivus objectivus) ist. Nur in der Entäußerung meines Sprachgeschehens1 (als höchster Form der Entäußerung des Subjekts) vermag ich das Andere freizulassen, wobei dieses Freilassen kein herstellbares Geschehen ist, sondern nur möglich wird, insofern ich (von der sich entäußernden Substanz, die in dieser Entäußerungskraft sprachlich ist) angesprochen bin. Erst beide Entäußerungen zusammen sind der Anfang des ursprünglichen Wortes, welches in der Gestalt von Jesus von Nazareth in die Geschichte eingetreten ist.

Das absolute Wissen hat gegenüber der offenbaren Religion keinen eigenen (philosophischen) Inhalt, sondern weiß in der Überwindung der Form der Vorstellung, dass das Anfangen des Geistes nicht als vergangenes Geschehen po-

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Dies ist natürlich nicht unmittelbar intentional erzwingbar. Konkret verortbar ist diese geistigste Form aller Entäußerungen einerseits im Sich-Einlassen auf eine fremde Kultur (Leben in der Fremde), auf der anderen Seite im Gebet, in welchem der Betende sich darin übt, seine Sprache Gott darzubringen.

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IX. EPILOG: DIE ERÖFFNUNG DER ZEIT UND DIE GASTFREUNDLICHE STADT

sitivierbar ist.2 Es weiß sein Tun als Verzicht auf sich und als Antwort (Hingabe) auf eine nie in das Eigene integrierbare Vorgabe, die die (Spannung) der Zeit ist. Darin ist es die keinem Selbst zurechenbare Anerkennung der Wirklichkeit als freies Anderssein. Die Zeit hat in diesem Geschehen in ihrer wahren Bedeutung die Gestalt zweier Entäußerungsbewegungen: Einerseits die Gestalt des Menschen, der sein Ich in der Nachfolge riskiert, andererseits die Gestalt des sich aus ewiger, unumkehrbarer Liebe zur Schöpfung und damit zur Zeit entschließenden3 trinitarischen Gottes. Beide bilden im geistvollen Handeln einen gemeinsamen Anfang, in dem die Zeit (in der die Anfänge auseinander getreten sind) getilgt ist, insofern sie als Anfang eines Anderen (Natur, Geschichte) freigegeben wird. Diese Freigabe der Wirklichkeit ist die Transsubstanziation der Substanz in das Subjekt, womit nicht zuletzt der liturgische Charakter dieses Geschehens und damit der Zeit anklingt. Theologisch ist daran zu erinnern, dass die Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi die Christuswirklichkeit der ganzen in diesen Gaben symbolisierten Schöpfung zum Ausdruck bringt. Daher kann die Schöpfung nicht mehr als bloße Substanz betrachtet werden, sondern sie ist freie Schöpfung, der (gebrochene) Leib des Herrn, aus dem neue Gemeinschaft erwächst.

Ein zentraler Terminus unserer Überlegungen war der Begriff der „Ortlosigkeit“, mit dem sich nicht die absolute Relativität des Wissens verbindet, sondern das Sich-anders-Werden des Bewusst-Seins. Diese Bewegung eröffnete sich im Tod der Substanz als Auferstehung des Subjekts, wobei sich das absolute, nicht mehr zu objektivierende Subjekt (welches als absolute Negativität „Umkehrung des Bewusstseins“ und damit auch die absolute Substanz ist) als Substanz eines Anderen („anderen Ortes“) vernehmen ließ, in der wir eine ewige Vergangenheit und eine u-topische Zukunft als Vorgabe der Zeit anzudeuten versuchten. Damit ergibt sich folgende Zusammenschau: Am Kulminationspunkt der hegelschen Philosophie waren wir mit dem absoluten Subjekt als freilassendem Anfang des Anderen konfrontiert. Darin deutete sich die niemals festschreibbare und integrierbare „Ortlosigkeit“ eines „anderen“ Ortes, eine Zeit als ewige Vergangenheit „vor“ der Zeit an. Schelling hat die große Intention, in dieser Vorgabe den U-Topos einer Erzählung, eines Mythos (dessen Wesen 2

3

Für Hegel ist der kirchenkonstituierende Anfang des Geistes kein vergangenes Geschehen. Er polemisiert daher gegen die Auffassung einer normativen ersten Urgemeinde, in der allein der eigentliche Anfang läge, gegenüber dem dann alles spätere Geschehen nur mehr Abfall sein könnte. Dieser Ausdruck, den Hegel in der Enzyklopädie verwendet und der immer wieder Anlass zu Diskussionen gegeben hat, muss aus der Bedeutung des Schlusses geklärt werden. Bereits im subjektiven Begriff zeigte sich, dass das Moment der Einzelheit den Begriff sprengt, der daher in das Urteil übergeht. In der Sphäre der absoluten Methode kann man sagen, dass die absolute Vermittlung die Unmittelbarkeit des Anfangs ist. Der Schluss ist daher im Schließen auch Ent-schließen. Gerade in der absoluten Vermittlung der Liebe Gottes liegt die höchste Freiheit. Gott schafft die Welt, weil er Gott (und d.h. die Liebe) ist.

2. ZEIT UND EWIGKEIT

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es ist, ewige Vergangenheit und uneinholbare Zukunft zu sein) zu sehen, der sich im Logos offener und d.h. freier Geschichte immer neu zu erzählen beginnt. Dieses Moment kann innerhalb der Philosophie Hegels akzentuiert werden, wenn nicht vergessen wird, dass der Entäußerung des Subjekts im Gewissen eine Entäußerung der Substanz entspricht, die in Jesus von Nazareth ansichtig wird. Nicht zuletzt von da her lässt sich sagen, dass die WdL die PhdG als Voraussetzung hat und der spekulative Satz aus und in einer Erzählung lebt, die „vor“ dem Anfang war und als „anderer Ort“ niemals die eigene Erzählung werden kann, d.h. verschwinden wird, wenn sie Genese eigener Identität wird ...

2. Zeit und Ewigkeit Aus den bisherigen Darstellungen hat sich ergeben, dass sich in Leben, Tod und Auferstehung des Jesus von Nazareth die Geschichte zu erzählen beginnt, die die Vorgabe der Zeit ist. Diese Geschichte ist nur im Kontext der gesamten Schrift lesbar und schließt daher die Geschichte des Judentums samt der dem Volk Israel bleibend zugesprochenen Verheißungen mit ein. Die gesamte biblische Geschichte mit all ihren Fortschreibungen und Bezügen bildet so die Fabel, die im Zentrum der Zeit steht. Damit ist sie nicht lediglich ein Teil der Menschheitsgeschichte oder des Chronos, vielmehr ist die Menschheitsgeschichte auch in diesem Heilsgeschehen als deren Vor-Gabe und Zu-Kunft eingeborgen. Aus den hier vorgebrachten Überlegungen könnte sich in Bezug auf den „Sohn“ eine Akzentverschiebung gegenüber Hegel und Schelling ergeben: Der Sohn ist nämlich in einer weiteren Dimension als fleischgewordene Schrift zu berücksichtigen, die die von uns angezeigte Fabel zum Ausdruck bringt. Es ist richtig, dass der Sohn der in Jesus Christus fleischgewordene Logos ist, in dessen uns ansprechendem Wort die Welt entsteht, dies ist aber dahin zu ergänzen, dass der Logos auch als Buch offenbar wurde. So ist das Judentum im Erstbesitz der Sohnschaft, was in der Dogmatik immer neu zu bedenken wäre.

P. Ricoeur spricht in „Zeit und Erzählung“ von der „Idee einer unvollkommenen Vermittlung“4, welche als Resultat des Ausgangs aus dem Hegelianismus darauf verzichten müsse, „die höchste Fabel zu entziffern“5. In Bezug auf das an der Geschichtsphilosophie inspirierte Hegelverständnis Ricoeurs ist zu sa4 5

P. Ricoeur, Zeit und Erzählung, III 335. P. Ricoeur, Zeit und Erzählung, III 332. Vgl. auch III, 414: „Es gibt keine Fabel aller Fabeln, die imstande wäre, der Idee der einen Menschheit und der einen Geschichte gerecht zu werden.“

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IX. EPILOG: DIE ERÖFFNUNG DER ZEIT UND DIE GASTFREUNDLICHE STADT

gen, dass Hegel in der PhdG die Forderung aufstellt, die Wirklichkeit nicht in das Kleid der Religion zu zwingen und damit zu depotenzieren6. Die Geschichte Jesu deutet insofern auf die Vorgabe einer Fabel aller Fabeln, als sie einen Gott offenbart, der keinen fixierbaren Ort zulässt, von dem aus die menschliche Geschichte festgeschrieben wäre. So gesehen ist die „höchste“ Fabel tatsächlich nicht zu entziffern, vielmehr entschwände sie im vereinnahmenden Zugriff. Allerdings wäre an Ricoeur die Frage zu richten, ob die von ihm postulierte „Leitidee der einen Menschheit“7 von dem Inhalt der offenbaren Religion abgehoben werden muss.8 Wir sind der Auffassung, dass der Gedanke der Universalität ebenso wie die aus ethischer Nachfolge entspringende Zeit9 – insofern diese nicht mehr, wie bei Nietzsche10 angedacht, in ein Kaleidoskop von Zeitmomenten zerfällt – durch die biblische Heilsgeschichte eröffnet ist. Dabei fällt auf, dass die Offenheit dieser Geschichte bereits in dem ihr entsprechenden Gottesnamen JHWH (und dessen Zeitlichkeit!) eingeschrieben ist11. Grundsätzlich kann also gesagt werden, dass es keiner Reidealisierung der Geschichte in Form einer „Leitidee“ (der Menschheit) als bloßer Idee bedarf, wenn die Dialektik von Zeit und Ewigkeit bzw. von Offenheit und Geschlossenheit in ihrem dialektischen Charakter gewahrt bleibt. Der Verweis auf einen Anfang, eine Mitte und ein Ziel der Zeit bedeutet daher nicht das Ende der Menschheitsgeschichte und die Unmöglichkeit von Neuem. Vielmehr impliziert die Vereinigung von Mythos und Logos, dass diese Mitte je neu konkretisiert, überliefert und bewährt werden muss. Am Ausgang der Bibel, in der Offenbarung des Johannes (dem Brief12 über das Eschaton), findet sich als ein häufig übersehenes Element die Offenheit des himmlischen Jerusalem13 (Offb 21,25). Dadurch ist im protologischen Anfang genau wie im Zentrum14 und im eschatologischen Ausgang der Schrift eine 6 7 8 9

10

11

12 13 14

Vgl. G.W.F. Hegel, PhdG, III 497. P. Ricoeur, Zeit und Erzählung, III 411. Vgl. P. Ricoeur, Zeit und Erzählung, III 414. Vgl. N. Capozza, Im Namen der Treue zur Erde. Sie macht in einer Konfrontation von Nietzsche und Bonhoeffer auf den Zusammenhang von Nachfolge und (eschatologischem) Zeitsinn aufmerksam. Der Übermensch im Sinne von Nietzsche wäre wohl der Mensch, der im Zeitfragment („ewige Wiederkehr“) unter Brechung jeder Zeitrichtung (und damit völlig a-ethisch) überleben könnte. Daher wird man wohl sagen können, dass er mehr der Gestalt des barksschen Donald Duck, der von Verhängnis zu Verhängnis gleitet und doch immer wieder neu anfängt, gliche als einem Superheros. Vgl. P. Ricoeur, Zeit und Erzählung, III 425, wo die Bedeutung des JHWH-Namens wunderbar auf den Punkt gebracht ist: „Der unaussprechliche Name von JHWH bezeichnet den Fluchtpunkt, der dem Über- und dem Innerhistorischen gemeinsam ist. Zusammen mit dem Verbot, sich kein Bildnis zu machen, schützt dieser das Unerforschliche, hält es auf Distanz gegenüber seinen eigenen historischen Figuren.“ Vgl. J. Roloff, Die Offenbarung des Johannes, der auf die Briefform dieser Schrift hinweist. Vgl. J. Deibl, Geschichte als Zeit erlösender Offenbarung und antwortender Interpretation, der ganz besonders auf diesen Aspekt der Offenheit in der Offb hinweist. Jesus Christus als Konkretion des JHWH-Namens bestätigt diese Offenheit an den zentralen Stationen seiner Geschichte, wie besonders nachdrücklich das Mk-Evangelium zeigt: Vgl.

2. ZEIT UND EWIGKEIT

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Offenheit der Zeit markiert: Gott hat die Welt als fortzuschreibenden Anfang geschaffen. Ziel ist dabei nicht eine stillgelegte Zeit, sondern „die offene Stadt“, die Stadt der Gastfreundschaft / des Gastes, verbunden mit der Bereitschaft, Neues zuzulassen, Abgrenzungen zu überwinden und so eine menschliche Welt zu schaffen, in der JHWH Wohnstatt nehmen kann. Die sich darin ergebende Zukunft schlösse auch eine neue Geschichte mit der Natur ein, von der wir nicht wissen, welche Entwicklungsmöglichkeiten noch in ihr liegen. Allerdings steht zu vermuten, dass sie als Moment des Geistes schon auf physikalischer Ebene einer Geschichte fähig ist, wie Schelling im Anschluss an Paulus erahnt. Wir sind allerdings noetisch weit davon entfernt, diese zu verstehen – nicht zuletzt deshalb, weil es kaum Physiker (oder Biologen) gibt, die auf der Höhe des Idealismus philosophieren und wohl noch weniger Theologen und Philosophen, die ausreichende Kenntnisse etwa in der Quantenmechanik oder der Molekularbiologie hätten. Ricoeur weist auf die grundlegende Spannung von phänomenaler und physikalischer Zeit (repräsentiert durch die Zeitkonzeptionen von Augustinus und Aristoteles) am Ausgang des Mythos hin, in dem beide Zeiten noch rituell vermittelt sind. Denn der Logos ist, wie H.D. Klein festhält, durch das „Bewußtsein einer strikten Differenz von geschichtlicher und naturgeschichtlicher Zeit, welche nicht mehr als Analogien füreinander anerkannt werden können“15, gekennzeichnet. Dies führt dazu, dass der Logos, indem er die Wahrheit des Mythos vergessen hat, in den Mythos der alles verschlingenden Zeit umschlägt. Es „wird dadurch die Illusion hervorgerufen, das menschliche Leben wäre in Wahrheit ein zeitliches und nicht ein ewiges“16. Dieses Trugbild einer endlos fortlaufenden Zeit ohne Ewigkeit in ihrem Zentrum kann erst in einem zweiten Mythos als Vereinigung von Mythos und Logos durchbrochen werden, der die Dialektik von Zeit und Ewigkeit ist. Ausdrucksformen davon sind die Nachfolge, die Liturgie, in der sowohl die Natur vergeistigt als auch die Zeit als Zeigestab der Ewigkeit (himmlische Liturgie) gewusst wird, und die Kunst, die zeigt, dass „es eine Illusion wäre, wenn nichtmythisches Geschichtsbewußtsein meint, die wahren Geschichten des Menschen erzählen zu können“17. In Bezug auf den Status der Natur in der Sphäre des zweiten Mythos beinhaltete eine geistige Auffassungsweise der Natur das Desiderat, die Geschichte der Natur so zu erzählen, dass diese Ausdruck der Verheißung wird. Dies bedeutete nicht, die sich auch in äußerster Härte manifestieren könnende Andersheit der Natur zu überspringen, die dem Menschen nicht nur unheilvolle Bedrohung, sondern auch geistvolle Fremde zueignet. Wohl aber ginge es darum, Naturgeschichte

15 16 17

Mk 1,1, wo (in Anlehnung an Gen 1,1) vom „Anfang“ des Evangeliums die Rede ist (sicherlich nicht nur in der Bedeutung, dass mit dem ersten Satz das Evangelium anfängt); vgl. weiters das Zentrum des Evangeliums (die Verklärung Jesu Mk 9,2-10), wo die versuchte Verortung der Verklärung Jesu durch Petrus scheitert; vgl. schließlich das Ende (Mk 16,1-8), wo zum Ausdruck gebracht ist, dass „Jesus nicht hier ist“ und „voran geht nach Galiläa“ (d.h. an den Ort, wo sein heilvolles Wirken begonnen hat). H.D. Klein, Geschichtsphilosophie 59. H.D. Klein, Geschichtsphilosophie 61. H.D. Klein, Geschichtsphilosophie 62.

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und Menschengeschichte als die eine verheißungsvolle Geschichte zu erzählen und so das Schisma von menschenleerer kosmologischer Zeit und „phänomenaler“ Zeit zu durchbrechen. Manches deutet darauf hin, dass wir heute in der Physik an einem neuen Anfang stehen, dessen Konsequenzen für eine Theologie der Zeit noch gar nicht abzuschätzen sind. Zwar ist die Zeit als „Bindestrich“ (vinculum substantiale) des BewusstSeins genausowenig wie der Mensch zuerst ein physikalisches Phänomen, allerdings sind Natur und Geist, kosmische Zeit und Menschenzeit auf Grund des BewusstSeinscharakters der Wirklichkeit nicht zu trennen. Hinsichtlich naturphilosophischer Errungenschaften betreffend die Frage nach der Zeit ist wahrscheinlich nicht einmal Einstein an erster Stelle zu nennen, der in der speziellen Relativitätstheorie gezeigt hat, dass der Ablauf der Zeit vom Standort (Geschwindigkeit) des Beobachters abhängt und in der allgemeinen Relativitätstheorie den Zusammenhang von Gravitation (Masse, Raumkrümmung) und Zeitablauf darstellen konnte, sondern mehr noch die Quantenmechanik. Denn ihr großes Verdienst ist es, zumindest in der Kopenhagener Interpretation, die Natur aus dem Newtonschen Determinismus befreit und bisher physikalisch für unverrückbar gehaltene Grenzen zwischen Natur und Bewusstsein gesprengt zu haben.18

Bezüglich des Anfangs der Zeit, der der Anfang des Menschengeschlechts ist, kann mit Schelling daran festgehalten werden, dass dieser auf einen Mythos als Zeit „vor“ der Zeit verweist, d.h. auf eine Erzählung, fundamentaler als der Begriff des „Subjekts“, die uns in der biblischen Heilsgeschichte erahnbar wurde. Mit dieser Vor-Gabe einer Erzählung, die niemals unser Besitz werden kann, verbindet sich der Empfang der Sprache und die Eröffnung des Seins. Zentrum menschlicher Geschichte ist die Antwort auf die Eröffnung der Zeit, wie sie uns in Leben, Tod und Auferstehung Jesu und im In-die-FremdeGehen Israels begegnet, zum Ausdruck gebracht in der Anerkennung des Fremden, in der sich die Menschwerdung des Menschen vollzieht. Dabei markiert der Grad der Offenheit für das Andere auch die Nähe zum Zentrum aller Zeit. In Anlehnung an H.D. Bahrs Buch „Die Sprache des Gastes“ können wir darauf hinweisen, dass diese Offenheit sich in der Bereitschaft zur Annahme des Anderen zum Ausdruck bringt und im Wissen, dass wir den Anfang nicht 18

Nur ganz kurz kann hier angemerkt werden, dass eine physikalische Bestimmung der Zeitrichtung große Verlegenheit bereitet hat. Zu nennen ist zunächst der zweite Hauptsatz der Thermodynamik (Zunahme der Entropie), doch dieser bietet lediglich Wahrscheinlichkeiten. Erst in jüngster Zeit scheint es eine andere Form experimenteller Überprüfbarkeit der Zeitrichtung zu geben: Es zeigte sich nämlich, dass Antikaonen sich rascher in Kaonen umwandeln als umgekehrt. Grundsätzlich ergibt sich die physikalische zeitliche Asymmetrie von Vergangenheit und Zukunft aus dem experimentell gut abgesicherten CPT-Theorem. Es besagt, dass die Vertauschung aller elektrischen Ladungen, die Spiegelung der räumlichen Richtungen und die Naturgesetze invariant in Bezug auf die Zeitrichtung sind. Dies gilt allerdings nur für alle drei Parameter zusammengenommen. Da nun die CP-Invarianz alleine nicht gilt, kann die CPT-Invarianz nur durch eine der CP-Verletzung entgegengesetzte Zeitasymmetrie wiederhergestellt werden, d.h., Vergangenheit und Zukunft sind physikalisch nicht umkehrbar.

2. ZEIT UND EWIGKEIT

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besitzen, sondern Gäste einer Erzählung der Gastfreundschaft19 sind, deren Vorgabe wir nachfolgend repräsentieren20. Der Verweis auf den „Gast“ ist insofern wichtig, als der Gast sich jeder Vereinnahmung entzieht und – gleich dem Heiligen – seine Verletzung sein Verschwinden bedeutete. Wir haben in Anschluss an Bahr schon darauf hingewiesen, dass das Wort „Gast“ keinen Begriff bildet, denn es kann nicht nur nicht negiert, sondern auch nicht als Eigenschaft verallgemeinert werden. Die Nähe des Gastes zum Göttlichen zeigte sich in der archaischen Welt darin, dass der Gast nicht identifiziert werden durfte und seine Aufnahme höchstes Gebot war. Ergänzend zu Bahr können wir darauf hinweisen, dass die Verheißung an Abraham in eine Erzählung der Gastfreundschaft eingebettet ist (Gen 18) und Jesus von sich gesagt hat, dass er uns als Gast eschatologisch begegnen wird (Mt 25).

Diese Gastfreundschaft begegnet uns am Anfang der Bibel, wenn wir eingeladen sind, Zeiten und Räume in Empfang zu nehmen und wenn sich an diese Einladung eine große Erzählung des Heils bzw. der Gastfreundschaft bis hin zur Eucharistie knüpft21. Darin zeigt sich die merkwürdige Verkehrung, dass der Gastgeber Gast des Gastes wird (so wird Jesus als Gast in unsere Häuser treten und Gott als Gast unter uns zelten ...), und IHN nicht vereinnahmend werden wir Antwort geben in immer neuen Erzählungen der Gastfreundschaft, der Hingabe des Subjekts, der Entäußerung der Substanz, der Ekstasis, in denen ER uns je neu begegnen wird ... Das Eschaton, SEINE Parusie kann kein chronologischer Abbruch der Zeit im Sinne ihrer Annihilierung in eine zeitlose Ewigkeit sein. Diese Vorstellung haben wir mit Hegel (und Heidegger) als unsittlich dargestellt. Sowohl die Offenheit (Zeitlichkeit, Endlichkeit) als auch die Geschlossenheit (Ewigkeit, Versöhnung) sind notwendige Momente der Zeit. Abgesehen von der Offenheit der Geschichte Gottes mit dem Menschen – so wäre etwa zu fragen, ob die vollkommene Trennung der Sphäre der Lebenden und der Toten wirklich menschlich, geschweige denn christlich ist –, ist daran festzuhalten, dass die Tiefendimension der Zeit der zweite Mythos ist. So ist die Vorgabe der Offenheit der Zeit auch ihr Endpunkt, der auf IHN verweist, dessen größte Nähe, wie wir im Rückgang der Substanz in das Subjekt erahnen konnten, einen bleibenden Abstand bezeichnet, der doch im Gegensatz zu dem sich unglücklich nennenden Bewusstsein niemals durch Vereinigung überwunden werden soll.

19 20

21

H.D. Bahr stellt in seinem Buch zwei Erzählungen vor, in denen das Ethos der Gastlichkeit paradigmatisch zum Ausdruck kommt, nämlich die „Odysee“ und „Parzifal“. Diese Repräsentanz (der Erzählung) ist niemals die Repräsentanz eines zu identifizierenden X, sondern die Repräsentanz der Vor-Gabe der Gastlichkeit. Vgl. H.D. Bahr, Die Sprache des Gastes 188. Es wäre lohnend, die Emmaus-Perikope unter diesem Gesichtspunkt zu lesen.

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Zwischen Proton und Eschaton zeigt sich also ein Gang vom Mythos zum Logos an, der auch Gang vom Logos zum Mythos sein wird22. Dies ist entscheidend für ein Verständnis sowohl von zentralen Dogmen als auch der Hl. Schrift. Denn deren Gehalt erschließt sich nicht in einer rein geschichtlichen Betrachtung, sondern erst in deren mytho-logischer Tiefendimension. Diese darf nun aber (als zweiter Mythos) nie als nur mythisch gegenüber einem höherstehenden Logos verstanden werden, sondern ist die Wahrheit desselben, wobei es dessen Funktion bleibt, undialektische Mythisierungen einer Kritik zu unterziehen. Deshalb ist die Schrift, weil sie aufgehobener Logos ist, in ihren zentralen Glaubensaussagen wahrer als es ein abstraktes historisches Faktum je sein könnte. Nehmen wir als Beispiel für das hier Angedeutete das Dogma der Jungfrauengeburt Jesu, so zeigt sich, dass bereits die Frage, ob sie historisch stattgefunden hat oder nicht, nicht nur zu Obszönitäten führt, sondern auch theologisch höchst fragwürdig ist, da sie versucht, die Sphäre des zweiten Mythos in der Sphäre des (chronologischen) Logos zu beantworten.

Für jenen zweiten Gang, nämlich den des Logos zum Mythos, fehlt heute, obwohl sich in jeder Eucharistiefeier vollziehend, weitgehend das Verständnis. Trotzdem ist daran festzuhalten, dass sich im Logos konkreter Geschichte die Vorgabe der Erzählung als deren Eschaton zum Ausdruck bringt. Denn die Zeit „vor“ der Zeit ist auch deren nicht im Chronos zu verstehendes „Danach“. Im Horizont der Ewigkeit können wir also die Erzählung eines eschatologischen Gastmahls vernehmen23, zu dem ER einlädt/kommt, im Horizont der Zeit können wir dieses Kommen als Einladung zu den Armen, Gefangenen und Kranken erfahren.

3. Die Anaphora als Tiefendimension der Zeit Als Abschluss unseres Versuchs, Zeit als Eröffnung Gottes zu denken, wollen wir sie vom eucharistischen Hochgebet (Anaphora) als Tiefendimension der Liturgie aus in den Blick nehmen, wobei zu betonen ist, dass eine adäquate Darstellung der eucharistischen Dimension der Zeit ein eigenes Buch verlangte. Daher kann es sich bei den folgenden Ausführungen nur um eine kleine Skizze und einen Anhang zur vorliegenden Arbeit handeln, auf den wir aber nicht verzichten wollen, weil damit nicht zuletzt die religiöse Dimension der großen idealistischen Konzepte angezeigt ist. Ausgehen wollen wir dabei von den drei Hauptbestandteilen des Eucharistischen Hochgebets, nämlich der Anamnesis, der Epiklese und der Doxologie, die wir als die Tiefendimension der drei Zeiten andeuten wollen. 22 23

Vgl. B. Liebrucks, Irrationaler Logos und rationaler Mythos. Vgl. Mt 22,1-14; Mk 14,17-25; Lk 24,13-36 u.a.

3. DIE ANAPHORA ALS TIEFENDIMENSION DER ZEIT

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Besonders Hegel hatte ein Empfinden dafür, dass der „Kult“ Darstellung des absoluten Inhalts ist24. Dies bezieht sich nicht nur auf die Kommunion, sondern auch auf die sich in der Liturgie vollziehende Transsubstanziation der Substanz in das Subjekt und die Tatsache, dass das geistvolle Handeln des Menschen Handeln Gottes ist.

Der Anamnese als vergegenwärtigender Erinnerung begegneten wir an den Kulminationspunkten der Philosophien von Hegel und Schelling. Wir haben gesehen, dass dem Anfang der Zeit und jeder Subjektivität eine Erzählung bzw. die Einladung zu einer Erzählung, d.h. ein zweiter Mythos vorausgeht, der die Entäußerung der Substanz und die ihr entsprechende Antwort beinhaltet und in Christus als offener Mitte der Zeit Gestalt angenommen hat. Die damit verbundene Erinnerung verweist nicht einfach in eine „vergangene“ Vergangenheit – diese gehört der „Form der Vorstellung“ an –, sondern zeigt sich ebenso als Horizont der Zukunft, aus deren Verheißung wir leben. Dieses Gedächtnis stellt keine Apologie des Eigenen dar – als solche verschwände der Gehalt dieser Erzählung (gleich dem verletzten Gast) –, sondern bringt die Geschichte einer Eröffnung der Zeit zum Ausdruck, der die biblische Vision des universalen Gastmahles in einer offenen Stadt als Folge vorausgegangener Lebenshingabe entspricht. Die Doxologie ist biblisch gesprochen die höchstmögliche Präsenz, denn Gott selbst ist gegenwärtig im Lobpreis seines befreiten Volkes, wobei, wie wir gesehen haben, darin auch die Tiefendimension SEINER Sabbatruhe liegt. Dieses Moment höchster göttlicher Präsenz zeigte sich in unseren Ausführungen zuerst in der Aufhebung der Handlung als „intensiviertester“, weil nichts zurückbehaltender Praxis, in der der Mensch gewahr wird, dass er als „Marionette Gottes“ frei ist; dann in der Bestimmung des Anfangs als Anfangs eines Anderen, in der Gott als absolutes Ich „vor“ dem Ich, als „gegenwärtiger“ als jede Gegenwart erahnbar war, und schließlich im Durchgang durch die WdL bzw. durch die PhdO, die je auf ihre Weise die Gegenwart Gottes in bleibender Unverfügbarkeit zum Ausdruck bringen. In diesem Sinne müssten vielleicht die großen idealistischen Konzeptionen insgesamt als Doxologien gelesen werden. Die Epiklese (Herabrufung des Geistes mit der damit verbundenen Wandlung) konnten wir als Grundmoment der Philosophie Hegels erahnen. Der spekulative Satz zeigte sich als Variation über die Subjektwerdung der Substanz, d.h. über die Transsubstanziation der Substanz in das Subjekt. Wir konnten bei Hegel und Schelling verfolgen, wie sich Christus als die Substanz der Schöpfung zeigt, in die alle Wirklichkeit zurückgeht. Dabei sahen wir die ethischen Konsequenzen dieses Geschehens, die als innerstes Moment der Wandlung Umkehr bis hin zur Lebenshingabe implizieren. In der Bewegung der substanziellen Entäußerung erkannten wir das Hervortreten des Geistes als 24

Vgl. dazu G. Dellbrügger, Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen. Hegels Theorie des Kultus.

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Anfang der Zeit, in der die Wirklichkeit als nicht mehr schicksalshaften Zwängen unterliegende Geschichte des Menschen (mit dem Akzent auf dem Genetivus objectivus) frei hervortritt, d.h. in ihrer Zukunftsdimension zur Sprache zu kommen vermag. Der Rückgang in ein Subjekt „vor“ dem Ich, welches jeder Vergegenständlichung entzogen ist, gibt vielleicht auch einen Fingerzeig für das (von Schelling visionär in den Blick genommene) Verhältnis von Lebenden und Toten, insofern die Toten die „Ortlosen“ sind, deren Präsenz sich gleich der Präsenz Gottes in größter Ferne und nächster Nähe als Sein bei den Lebenden vollzieht. 25 Der Preis der Epiklese und damit von Zeit und Gastfreundschaft darf aber niemals unterschlagen werden, wie die christliche Liturgie weiß: Der gebrochene Leib des Herrn und das vergossene Blut, d.h. die Lebenshingabe, sind nicht vergangenes Geschehen, sondern Gegenwart. Auch der durch den Logos gegangene Mythos und die Liturgie dürfen nicht als umschließendes „Kleid“ verstanden werden, in das alles integrierbar wäre. Der Bruch und der Abstand bleiben, aber ebenso die Hoffnung auf SEINE Zeit als Vor-Gabe der Gastfreundschaft, wenn wir die Frage nach der Zeit fragen ...

25

In der katholischen Liturgie kommt diese Dimension der Gemeinschaft von Lebenden und Toten nicht zuletzt im Text der Anaphora („offere pro“) zum Ausdruck. Vgl. R. Meßner, Einführung in die Liturgiewissenschaft 210-212.

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