Handlung bei Schelling : Zur Handlungstheorie, Zeit- und Religionsphilosophie des späten Schelling. 9783465143932, 3465143930

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Handlung bei Schelling : Zur Handlungstheorie, Zeit- und Religionsphilosophie des späten Schelling.
 9783465143932, 3465143930

Table of contents :
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Impressum
Inhalt
Einleitung
1. Teil: Schellings Grundanlagen des Praktischen
Kap. 1: Die innere und äußere Praktizität des Bewusstseins
I. Werkentwicklung vom selbstsetzenden Ich zum Geist als Potenzengefüge
II. Das Bewusstsein als dynamisches Selbstverhältnis der Potenzen
1) Die Potenzen als Ermöglichungsbedingungen des Seins
2) Die Potenzen als Geist
III. Die Potenzen als praktischer Geist, d. h. als Willen, der auf Etwas geht
1) Erste Potenz: der hinausdrängende Eigenwille
2) Zweite Potenz: der zurückhaltende Universalwille 3) Dritte Potenz: das Wollen, das sich hatIV. Die reale Handlung
1) Handeln als Veräußern des Willens
2) Die Stufen der Willenssteigerung
V. Die Einheit der zwei Aspekte des praktischen Bewusstseins. Ein Ausblick auf die weitere Untersuchung
2. Teil: Das Handeln Gottes
Kap. 2: Handlungstheoretische Grundmomente in der Schöpfung
1) Sicht und Möglichkeit
2) Selbstwissen und Absichtlichkeit
3) Handlungsmittel: die Spannung der Potenzen
4) Beweggründe (Motive)
5) Ziele
Kap. 3: Die Freiheit Gottes
I. Göttliche Freiheit in Schellings mittlerer Philosophie 1) Die freie Persönlichkeit Gottes2) Die Verbindung von Freiheit und Notwendigkeit
3) Drei falsche Freiheitsmomente
4) Der entschiedene Gott und die ihm entsprechende Welt
II. Göttliche Freiheit in Schellings Spätphilosophie
1) Gott ist frei, die Schöpfung zurückzuhalten
2) Die Positivität der Freiheit Gottes
3) Teleologie der Freiheit
4) Die Verstellung Gottes
5) Die Selbstgestaltung Gottes
6) Resümee
3. Teil: Das Verhältnis Mensch-Gott
Kap. 4: Zeit und Ewigkeit
1) Schelling und die traditionelle Zeitphilosophie
2) Die Entwicklung der Ewigkeitsproblematik bei Schelling 3) Die doppelte Ewigkeit4) Das Problem des Anfangs
5) Die creatio perpetua
6) Periodisierung und Geschichtlichkeit: die Weltalter-Folge
7) Die Zukunftsrichtung der praktischen Zeit
8) Schellings zeitphilosophische Interpretation des Namens Gottes nach Ex 3, 14
Kap. 5: Religiöses Bewusstsein als Mensch-Gott-Verhältnis
I. Ebenbildlichkeit und Interpersonalität
II. Das prähumane religiöse Urbewusstsein
III. Das religiöse Bewusstsein des Ur-Menschen und der Sündenfall
1) Der prälapsarische Urmensch
2) Der Sündenfall
IV. Das religiöse Bewusstsein des wirklichengeschichtlichen Menschen 1) Die ahistorische Perspektive2) Die historische Perspektive
V. Zusammenfassung
4. Teil: Das menschliche Handeln
Kap. 6: Die Freiheit des Menschen
I. Begriffe und Momente menschlicher Freiheit
1) Der reale und lebendige Begriff der Freiheit
2) Der formelle Begriff der Freiheit
3) Die Ablehnung der Wahlfreiheit
4) Wesen und Charakter. Eine Zwei-Ebenen-Unterscheidungder Freiheit
II. Die Freiheit der ursprünglichen Tat
III. Ursprüngliche Tat und menschliche Handlung innerhalb der Zwei-Ebenen-Unterscheidung
IV. Eine Perspektive in die Spätphilosophie

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Handlung bei Schelling

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PHILOSOPHISCHE ABHANDLUNGEN HERAUSGEGEBEN VON ROLF-PETER HORSTMANN, ANDREAS KEMMERLING UND TOBIAS ROSEFELDT

BAND 117

VITTORIO KLOSTERMANN · FRANKFURT AM MAIN

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STEFAN GERLACH

Handlung bei Schelling Zur Fundamentaltheorie von Praxis, Zeit und Religion im mittleren und späten Werk

VITTORIO KLOSTERMANN · FRANKFURT AM MAIN

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © Vittorio Klostermann GmbH Frankfurt am Main 2019 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile in einem photomechanischen oder sonstigen Reproduktionsverfahren oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu verbreiten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. ISO 9706 Satz: Marion Juhas, Frankfurt am Main Druck: und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0175-6508 ISBN 978-3-465-04393-5

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INHALT

Einleitung 11

1. TEIL: SCHELLINGS GRUNDANLAGE DES PRAKTISCHEN KAPITEL 1: Die innere und äußere Praktizität des Bewusstseins I. Werkentwicklung vom selbstsetzenden Ich zum Geist als Potenzengefüge II. Das Bewusstsein als dynamisches Selbstverhältnis der Potenzen 1) Die Potenzen als Ermöglichungsbedingungen   des Seins 2) Die Potenzen als Geist III. Die Potenzen als praktischer Geist, d. h. als Willen, der auf Etwas geht 1) Erste Potenz: der hinausdrängende Eigenwille 2) Zweite Potenz: der zurückhaltende Universalwille 3) Dritte Potenz: das Wollen, das sich hat IV. Die reale Handlung 1) Handeln als Veräußern des Willens 2) Die Stufen der Willenssteigerung V. Die Einheit der zwei Aspekte des praktischen Bewusstseins. Ein Ausblick auf die weitere Untersuchung

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2. TEIL: DAS HANDELN GOTTES KAPITEL 2: Handlungstheoretische Grundmomente in der Schöpfung 1) Sicht und Möglichkeit 2) Selbstwissen und Absichtlichkeit 3) Handlungsmittel: die Spannung der Potenzen 4) Beweggründe (Motive) 5) Ziele

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Inhalt

KAPITEL 3: Die Freiheit Gottes 93 I. Göttliche Freiheit in Schellings mittlerer Philosophie 95 1) Die freie Persönlichkeit Gottes 95 2) Die Verbindung von Freiheit und Notwendigkeit 95 3) Drei falsche Freiheitsmomente 99 4) Der entschiedene Gott und die ihm entsprechende  Welt 102 II. Göttliche Freiheit in Schellings Spätphilosophie 104 1) Gott ist frei, die Schöpfung zurückzuhalten 104 2) Die Positivität der Freiheit Gottes 108 3) Teleologie der Freiheit 111 4) Die Verstellung Gottes 116 5) Die Selbstgestaltung Gottes 121 6) Resümee 124

3. TEIL: DAS VERHÄLTNIS MENSCH-GOTT KAPITEL 4: Zeit und Ewigkeit 1) Schelling und die traditionelle Zeitphilosophie 2) Die Entwicklung der Ewigkeitsproblematik   bei Schelling 3) Die doppelte Ewigkeit 4) Das Problem des Anfangs 5) Die creatio perpetua 6) Periodisierung und Geschichtlichkeit:   die Weltalter-Folge 7) Die Zukunftsrichtung der praktischen Zeit 8) Schellings zeitphilosophische Interpretation   des Namens Gottes nach Ex 3, 14

131 132 136 145 153 157 163 174 182

KAPITEL 5: Religiöses Bewusstsein als Mensch-Gott-Verhältnis 193 I.   Ebenbildlichkeit und Interpersonalität 194 II.   Das prähumane religiöse Urbewusstsein 201 III. Das religiöse Bewusstsein des Ur-Menschen und   der Sündenfall 204 1) Der prälapsarische Urmensch 205 2) Der Sündenfall 207

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Inhalt

IV. Das religiöse Bewusstsein des wirklichen geschichtlichen Menschen 1) Die ahistorische Perspektive 2) Die historische Perspektive V. Zusammenfassung

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4. TEIL: DAS MENSCHLICHE HANDELN KAPITEL 6: Die Freiheit des Menschen 221 I. Begriffe und Momente menschlicher Freiheit 223 1) Der reale und lebendige Begriff der Freiheit 223 2) Der formelle Begriff der Freiheit 226 3) Die Ablehnung der Wahlfreiheit 231 4) Wesen und Charakter. Eine Zwei-Ebenen   Unterscheidung der Freiheit 234 II. Die Freiheit der ursprünglichen Tat 239 III. Ursprüngliche Tat und menschliche Handlung innerhalb der Zwei-Ebenen-Unterscheidung 250 IV. Eine Perspektive in die Spätphilosophie 256 KAPITEL 7: Handlungstheoretische Momente 261 1) Akteurskausalität 263 2) Handeln als Nach-außen-Treten 267 3) Zwecke 269 4) Ziele als ideale Finalursachen 279 5) Gegen die kausalistische Handlungsauffassung.   Zur Verortung der Handlungstheorie Schellings 286 6) Zu Schellings Moralphilosophie 290   i) Schellings Verhältnis zur Ethik Kants 291   ii) Eine Ethik des Sein-Sollens? 294   iii) Die Unterordnung des Ethischen unter das Religiöse     in der Spätphilosophie 299

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Inhalt

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5. TEIL: DIE GESAMTANLAGE DES PRAKTISCHEN IN DER SPÄTPHILOSOPHIE KAPITEL 8: Handlungstheorie und positive Philosophie 307 I. Zur Charakterisierung der positiven Philosophie 309 1) Die positive Philosophie als Philosophie des  Wirklich-Existierenden 309 2) Die positive Philosophie der freien Tat 312 II. Aspekte des praktischen Grundzugs der positiven Philosophie 315 1) Die Verzögerung des Weltprozesses 315 2) Die Vorsehung und die Frage nach dem Akteur   in der Geschichte 326 III. Aspekte der Einheit der praktisch-positiven Philosophie 343 1) Die organische Fügung der geschichtlichen Philosophie 343 2) Praktische Zeit und positive Philosophie 350 3) Die praktische Bewegung der positiven Philosophie 354 Bibliographie 363 Register 381 Personen 381 Sachen 385

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Die vorliegende Untersuchung ist die überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Sommersemester 2018 von der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen angenommen wurde. Sie entstand innerhalb eines vierjährigen Forschungsprojekts, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert wurde, der daher hier an erster Stelle mein Dank gebührt. Die Beschäftigung mit Schellings Spätphilosophie wurde angeregt von Friedrich Hermanni und gewann im Anschluss an ein interuniversitäres Seminar zur Philosophie der Offenbarung, das von Friedrich Hermanni zusammen mit Anton Friedrich Koch und Friedrike Schick geleitet wurde, erste Konturen. Das Konzept dieser Arbeit konnte ich dann am Lehrstuhl von Ulrich Schlösser mit Julia Peters und Stefan Lang diskutieren und einzelne Kapitel in Forschungsseminaren von Ulrich Schlösser, Friedrich Hermanni und Christoph Schwöbel vorstellen. Ulrich Schlösser, Friedrich Hermanni und Friedrike Schick haben zusammen mit Thomas Buchheim auch die Gutachten im Habilitationsverfahren übernommen, die mir wertvolle Hinweise zur Überarbeitung gegeben haben. Ihnen allen sei an dieser Stelle gedankt. Danken möchte ich auch Manuel Förderer und insbesondere Fernando Wirtz, die als Hilfskräfte im Projekt mitgearbeitet haben und bei der Bibliographie und der Erstellung der Register behilflich waren. Mit Fernando Wirtz konnte ich über Jahre hinweg Schellings Spätphilosophie diskutieren. Ein besonderer Dank gebührt zuletzt den Mitarbeitern der Bibliothek des Theologicums der Universität Tübingen, die mir ideale Arbeitsbedingungen gewährt und in deren Räumen ich nun bereits mein drittes Buch schreiben konnte.

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„Der Mensch ist zum Handeln geboren“ (AA I,3, 71, Herv. Schelling) 1

EINLEITUNG

Dass Schellings Philosophie, insbesondere seine Spätphilosophie, von einem „praktischen Antrieb“ (SW XI, 565) getragen wird, ja als innersten, letzten Kern etwas Praktisches besitzt, ist fast schon ein Gemeinplatz.2 Von der Tätigkeit der Selbstsetzung des Ich in der Frühphilosophie (1794/5), über die Darlegung im System des transzendentalen Idealismus (1800), dass „der Anfang des Bewusstseins nur erklärbar [sei aus] einem Handeln der Intelligenz auf sich selbst“ (AA I,9.1, 230/SW III, 532) bis zur These der Freiheitsschrift (1809), dass das ursprünglichste Sein Wollen sei (AA I,17, 123/SW VII, 350) und schließlich der Zentralthese der positiven Philosophie ab ca. 1827, dass „der Gott einer wahrhaft geschichtlichen und positiven Philosophie […] handelt“ (SW XIII, 125) 3 , 1   Alle Zitate Schellings werden in moderner Rechtschreibung wiedergegeben; stilistische Eigentümlichkeiten jedoch beibehalten (wie „eignen innern Natur“ (AA, I,17, 152/SW VII, 384) statt „eigenen inneren Natur“). Zudem wird auf die Wiedergabe von Schellings extensiver Kursivierung, die in den Vorlesungsmanuskripten oft eher eigener Orientierung als sachlicher Hervorhebung diente, verzichtet, da sie den Argumentationsfluss deutlich stört, die Hervorhebung lateinischer Ausdrücke wie üblich ausgenommen. Wo Schellings eigene Hervorhebungen wiedergegeben werden, wird darauf hingewiesen. Die Zitatnachweise zu Schelling erfolgen unmittelbar im Text; aus den Sämmtlichen Werken (SW) mit Angabe des Bandes (groß römisch) und der Seite (arabisch). Dabei wird wie heute zumeist üblich die Bandzählung durchgängig geführt, d. h. die 14 Bände mit römisch I–XIV angegeben und die Unterteilung in zwei Abteilungen (I/I–X und II/I– IV), unter der sie zunächst erschienen sind, beiseitegelassen. Bei Werken, die bereits in der Akademieausgabe (AA) erschienen sind, wird diese gemäß gegenwärtigen Standards zusätzlich angeführt mit Angabe der Reihe (groß römisch: I = Werke, II = Nachlass, III = Briefe), des Bandes und der Seite (je arabisch); bei Stellen, wie der gegebenen, die sich nur in der Akademieausgabe finden, natürlich nur diese. Werke, die weder in der AA noch den SW erschienen sind, werden mit eigenen Siglen geführt; zum Verzeichnis der Siglen siehe Bibliographie. 2   Vgl. Gabriel 2006, der bescheinigt, dass „die Bedeutung der praktischen Philosophie […] für die Bestimmung des Ansatzes der Spätphilosophie überhaupt“ (26) zentral sei und es „einen praktischen Antrieb zur positiven Philosophie“ (49) gebe; entsprechend z. B. Hutter 1996, 31 f., Langthaler 2006, 13 und Schwenzfeuer 2012, 207. 3   Schon bei den ersten Konzeptionen der positiven Philosophie in der sogenannten

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Einleitung

begleitet von der das Gesamtwerk kontinuierlich tragenden Bedeutung des Freiheitsbegriffs sowohl des Menschen, als auch – im Spätwerk – Gottes als fundamentaler ontologischer und systematischer Instanz, ist Schellings Werk tatsächlich durchwaltet von einem Netz zentraler praktischer Begriffe. Allerdings stehen diese Begriffe fast ausschließlich im Dienst theoretischer und klassisch metaphysischer Aufgaben: als Prinzip des Wissenssystems, einer ‚Form der Philosophie überhaupt‘, zur Erklärung des Selbstbewusstseins, des Aufbaus der Natur, und des Ursprungs und der Reichweite des Bösen, zur Erweisung der Existenz Gottes und der Erklärung der Herkunft und geschichtlichen Entwicklung der geistigen und empirischen Welt. Genuin praktische Untersuchungen zur Handlungstheorie, Ethik, Sozial- oder politischen Philosophie hingegen sind bei Schelling nur am Rand gegeben.4 Dementsprechend konzentriert sich die Forschung auch darauf, die praktischen Begrifflichkeiten im Dienst der theoretischen Fragestellungen zu konstatieren und deren systemtragende Bedeutung für das Ganze zu untersuchen. Dabei unterbleibt jedoch der Blick auf die praktische Relevanz und die Praxisartigkeit des praktischen Grundzugs – darauf also, was an den postulierten Kernbegriffen von Freiheit, Wille und Handlung an ihren Systemstellen tatsächlich handlungsartig ist und wie jene praktischen Grundkonstellationen dann in die tatsächlichen Handlungen Gottes und des Menschen eingehen. Aufgabe der vorliegenden Untersuchung ist es, eben diese Konzeption des Handelns, wie sie Schellings Spätphilosophie und deren Vorfeld ab 1809 zugrunde liegt, herauszuarbeiten. Diese Konzeption betrifft die göttliche Schöpfungstat und menschliche Individualhandlungen gleichermaßen. Hintergrund hierfür ist die Erwägung, dass jeder Form auf Handlungen bezogener Philosophie ein Modell über das Wesen von Handlungen und die Art ihres Zustandekommens zugrunde liegt. Dieses Modell kann explizit in Form einer ausgearbeiteten oder auch nur skizzierten Handlungstheorie dargelegt sein oder lediglich den stillschweigend vo‚Großen Münchner Einleitung‘ (1827–33) nennt Schelling ‚positiv‘ „das System, welches Persönlichkeit, Wille, Tat zu erklären hat“ (GPP 83). 4   Die einzige Schrift, die man als Ganze explizit der praktischen, nämlich der Rechtsphilosophie zurechnen kann, ist die Neue Deduktion des Naturrechts (Piper 1993, 148). Hinzu kommen mit dem vierten Hauptabschnitt des Systems des transzendentalen Idealismus eine transzendentalphilosophische Grundlegung der praktischen Philosophie – deren doktrinärer Bestand in der gegebenen Untersuchung zu berücksichtigen sein wird – und mit der 23. Vorlesung zur Darstellung der reinrationalen Philosophie noch eine kurze geschlossene Abhandlung zur Staatstheorie.

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Einleitung

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rausgesetzten Boden der praktischen Erörterungen bilden. In jedem Fall wird eine praktische Philosophie, gleichgültig, welche Ziele sie verfolgt, je davon abhängig bleiben, welche Vorstellungen über das Wesen und das ‚Funktionieren‘ von Handlungen ihr zugrunde liegen. Daher muss jede praktische Theorie, die ihre Voraussetzungen explizieren möchte, auch das ihr zugrundeliegende Handlungsmodell darlegen können. Wo es hierfür keine expliziten Darlegungen im untersuchten Werk gibt, ist es Aufgabe der Interpreten, dieses Modell systematisch zu rekonstruieren; wo es Ansätze und Bruchstücke zu einer solchen Theorie gibt, ist es die Aufgabe, diese Fragmente zusammenzutragen und zu versuchen, sie im Zusammenhang mit der systematischen Rekonstruktion zu einer möglichst kohärenten Theorie zu fügen. Gleichgültig, ob sich zuletzt eine solche Theorie einheitlich und vollständig aufweisen lässt, oder ob das Ergebnis der Untersuchung ‚nur‘ im Nachweis besteht, dass der Referenzautor sich von widersprüchlichen, unklaren oder unvollständigen Handlungsvorstellungen hat leiten lassen, immer wird die Darlegung dieses Handlungsmodells einen wesentlichen interpretativen Schritt zur Klärung einer praktischen Theorie bilden. Im Fall von Schellings Spätphilosophie ist ein solches Unternehmen besonders erfolgversprechend, weil 1) Schellings onto-theologisches Programm dieser Spätphilosophie von einem praktischen Grundzug getragen wird, 2) es bei Schelling in der Tat Fragmente zu einer Handlungstheorie in der Form verstreuter konzeptioneller Bemerkungen und kleinerer Theorieeinheiten zu einzelnen Handlungsaspekten gibt, und diese 3) sich zuletzt als Bruchstücke von teils hoher Originalität erweisen, so dass eine Rekonstruktion des Handlungsmodells, das Schellings Spätphilosophie trägt, über alles historische und exegetische Interesse hinaus auch noch von systematischem Wert zu sein verspricht. Dabei ist zu beachten, dass die Rekonstruktion ‚der‘ Handlungstheorie Schellings weder bedeuten kann, dass Schelling eine systematisch zusammenhängende und womöglich auch als solche ausgearbeitete Handlungstheorie zur Verfügung gehabt hätte, noch, dass sich die Fragestellungen und Problemkonstellationen derjenigen philosophischen Disziplin, die erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem Namen der ‚Handlungstheorie‘ einen eigenständigen Stellenwert erhielt, sich einfach auf einen Philosophen des 19. Jahrhunderts zurückprojizieren ließen. Weder gibt es bei Schelling Erörterungen zur Handlungsontologie, d. h. der Abgrenzung von Handlungen zu sonstigen Ereignissen, noch Erörterungen zur Handlungsindividuation, d. h. zur Frage, als welche Handlung ein bestimmtes menschliches Verhalten gilt. Auch zu weiteren zentralen Diskussionsfeldern wie der Frage, ob Gründe als Ursachen für

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Einleitung

Handlungen zu verstehen sind, ob als Gründe für Handlungen zuletzt die internen des Akteurs für seine eigenen Handlungen oder die externen der Situation und objektiver normativer Forderungen stichhaltig sind, finden sich in Schellings Epoche nicht nur keine theoretischen Positionierungen, sondern überhaupt kein Problembewusstsein. Die oft kleinteilige, analytische, an Beispielen orientierte Vorgehensweise handlungstheoretischer Erörterungen des 20. Jahrhunderts ist Schelling fremd. Innerhalb seines durch die 60 Jahre seines Philosophierens ungebrochenen Systeminteresses, das Ganze des Wirklichen aus einem einheitlichen Prinzip heraus zu denken, konnten Einzelaspekte zur Handlungstheorie nur im Zusammenhang mit umgreifenden metaphysischen Fragestellungen zum Tragen kommen. So führt – um gleich den zentralsten Aspekt herauszugreifen – Schelling die Analyse der Strukturmomente der Handlung Gottes in der Schöpfung nicht unter dem praktischen Interesse, zu explizieren, wie Handlungen im Letzten funktionieren, sondern unter dem metaphysischen Interesse, darzulegen, wie das Letztprinzip des Wirklichen – und eben dies ist Gottes freie Schöpfungstat – zu denken sei. Doch die hierin dargelegte Strukturentfaltung des Praktischen hat höchste philosophische Relevanz auch in Hinsicht auf die nüchterneren, ‚bloß‘ praktischen Grundfragen, was Handlungen seien und welche Eigenschaften wir ihnen notwendig zuschreiben müssen. Eine Vielzahl verstreuter Bemerkungen eingerechnet, lässt sich Schellings Handlungsauffassung so durchaus innerhalb eines breiteren Spektrums typischer handlungstheoretischer Problemkonstellationen positionieren. Bei Schelling lassen sich Antworten finden auf moderne Fragen wie denen nach der Existenz von Basishandlungen, einer Akteurskausalität, oder über die Stellung von Entscheidungen, Motiven, Gründen, Zwecken und Zielen in Handlungen; zudem auf klassische Fragen wie der, ob Handlungen ein Kausalmodell der Wirkursachen oder der Endursachen zugrunde liege. Hinzu kommen handlungsrelevante Fragen wie die nach ihrer Einbettung in den geschichtlichen Weltverlauf, nach dem Ort und der Reichweite des freien Willens und der Grundlegung der Moral, zudem Fragen der Handlungspsychologie wie nach dem Verhältnis von Rationalität und Emotionalität und zuletzt die Frage nach den zeitlichen Momenten und der Zeitontologie des Handelns. Trotz dieses breiten Spektrums an handlungstheoretischen Themen ist die Frage, inwiefern Schellings Philosophie überhaupt praktisch ist, nicht einfach zu beantworten. Einerseits ist es offensichtlich, dass die zentralen Themen seines Interesses solche sind, die man der theoretischen Philosophie zurechnen müsste. Hier ist an erster Stelle das Grundanlie-

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gen seines gesamten Philosophierens, nämlich die metaphysische Frage nach dem Grundprinzip und der systematischen Einheit des Seienden im Ganzen zu nennen, ausdifferenziert in Fragen nach der Wechselkonstitution von Welt und Bewusstsein, der Einheit des Idealen und Realen, oder des Geistes und der Natur. Hierbei geht die Bewegung des Denkens und die Hierarchie der philosophischen Disziplinen bei Schelling eindeutig vom Zentrum des Theoretischen zur Peripherie des Praktischen, wobei Schelling zuletzt neben moralischen auch rechtliche und staatstheoretische Fragen berührte. Dieser untergeordneten Stellung entspricht auch die eher geringe Bedeutung, die Schellings Erörterungen zu genuin praktischen Feldern der Philosophie in der Rezeption erfahren hat.5 Doch soll von dieser eher nachrangigen Seite des Praktischen bei Schelling hier nicht die Rede sein. Denn es gibt bei Schelling eine zweite, metaphysische vorrangige Ebene des Praktischen, der Schelling systematisch eine zentrale Stellung zumisst: Durch sein gesamtes Werk hindurch gilt, dass die ersten Prinzipien des Seins und aller Wirklichkeit, die Antworten auf die theoretisch-metaphysischen Grundfragen geben sollen, dem praktischen Kontext entnommen sind. So heißt es schon in der Frühphilosophie, dass einerseits das Ich das gesuchte Unbedingte als Letztprinzip sei und andererseits „das Wesen des Ichs […] Freiheit“ (AA I,2, 103/SW I, 179) bzw. noch deutlicher: „das Wesen des Menschen […] Handeln“ (SW II, 13) sei. Allerdings bleiben solche Thesen in Schellings Jugendphilosophie, welche die theoretische Philosophie auf einer praktischen, nämlich einer Theorie der Freiheit und des Handelns zu gründen scheinen, inhaltsarm. Handlung bleibt dort als bloßes dynamisches, selbstreferentielles Moment des theoretischen Fundaments auf seine – wenngleich zentrale – Funktion und Stellung innerhalb des Systems beschränkt. Dieses ändert sich in der zweiten Hälfte von Schellings Werk; als Wendepunkt hierfür kann man die Freiheitsschrift (1809) nehmen. Denn nicht nur wird nun mit dieser die freie Schöpfungstat Gottes als zentrales ontologisches Prinzip etabliert, welche dann ab 1827 den wissenschaftssystematischen Rang des spezifisch Positiven der positiven Philosophie erhält. Sondern es wird mit der Grund/Existierendes-Unterscheidung auch ein dynamisches inneres Seinsprinzip etabliert (das Schelling später   Vgl. Siep 1992, 130 –142. Sieps Buch mit dem Titel Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus spiegelt deutlich die geringe Bedeutung wider, die Schellings praktischer Philosophie zugemessen wird. Denn trotz des allgemeinen Titels kommt Schelling darin nur im Kontext der Entwicklung der Staatstheorie Hegels vor; eine eigenständige Behandlung findet sich darin nicht. 5

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zur dreigliedrigen Potenzenlehre ausbildet), aus welchem heraus die freie Tat inhaltliche Bestimmungen erhält. Und es wird drittens mit dem auf dieser Unterscheidung basierenden Konzept der Persönlichkeit Gottes und des Menschen zugleich eine grundsätzliche Zuordnung geschaffen, welche nun die praktischen Prinzipien der Freiheit, Tat und Handlung, die in der Frühphilosophie keine Handlungen in einem modernen Sinn bezeichneten, als Individualhandlungen von Personen erkennbar werden lassen, wodurch diese gleichermaßen auf Gott als auch auf den Menschen beziehbar werden. Die Durchführung der mittleren und späten Philosophie Schellings ist dann eine Entfaltung dieser Konstellation zu einer universalen Weltdeutung, in welcher die Praktizität Gottes in der Schöpfung und des Menschen als Trägers der Geschichte die entscheidenden Rollen spielen. Deshalb lässt sich sagen, dass dem Programm der Spätphilosophie eine „spezifische Seinsweise praktischer Wirklichkeit“6 zugrunde liege. Diese handlungstheoretisch zu explizieren ist die Aufgabe dieser Untersuchung. Hierzu bedarf es einer Reihe methodischer Vorüberlegungen: (1) Eine rekonstruierende Darstellung der Handlungstheorie bei Schelling muss sich darüber Klarheit verschaffen, welche Texte und welche Epochen des Schellingschen Denkens sie einer solchen Untersuchung sinnvollerweise zu Grunde legen soll. Dass eine solche begrenzende Entscheidung notwendig ist, liegt nicht nur am Umfang des Schellingschen Oeuvres, insbesondere des Nachlasses, das in seiner bloßen Gesamtheit eine für eine monographische Fragestellung kaum bewältigbare Masse bildet. Schwerwiegender ist das Problem, dass Schellings Philosophie bekanntlich einerseits von einer Vielzahl von Positionsänderungen geprägt ist, andererseits diese sich auch wiederum nicht einfach in scharf getrennte Epochen unterteilen lassen, da Schelling immer versucht hat, frühere, auch verworfene Konzepte in seine spätere Philosophie zu integrieren, indem er spätere Konzepte aus den früheren heraus entwickelt hat. Tilliettes Charakterisierung seines Denkens als einer philosophie en devenir bringt dies treffend auf den Punkt.7 Diese Entwicklung vollzog Schelling stets so, dass er für die je späteren Entwicklungsstufen große Teile der je früheren übernommen und unter Einbeziehung einzelner sachlicher oder bloß terminologischer Neuerungen, unter dem System-

  Hutter 1996, 35.   Tilliette 1970.

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gedanken neu arrangiert hat. 8 Dabei gebrauchte er seine frühere Philosophie oft in der Form eines Modulbaukastens, bei welchem Theoriebausteine bereits ausgearbeitet bereitlagen und als fertige nur noch in ihren Ergebnissen übernommen werden mussten. Da deren eigentliche argumentative Begründungsleistung so aber oft an ganz anderer Stelle vorgetragen wurde als deren Einsatz in späteren Systemen, stellt sich dem Interpreten die Aufgabe, dieser nachzuspüren und dabei darauf zu achten, ob die spätere Integration in den Theoriekontext der ursprünglichen argumentativen Entwicklung noch gemäß blieb oder nicht. Dies hat zuletzt dazu geführt, dass es zur Hauptaufgabe der Schelling-Forschung geworden ist, die historischen und werkimmanenten Bezüge der Schellingschen Philosophie zu rekonstruieren und seine Werke aus der Kontinuität und Diskontinuität mit dem Bisherigen seines Denkens unter Berücksichtigung einer Unzahl je modifizierter Paralleltexte zu erklären. Die eigentlich systematische Aufgabe philosophischer Deutung, einzelne Werke als in sich gültige Versuche der Sachklärung philosophischer Probleme – und sei es des Problems des Seinszusammenhangs im Ganzen – aufzufassen und anhand einer gelingenden oder misslingenden Rekonstruktion zu beurteilen, ist bei Schelling bloß werkimmanent, d. h., auf einzelne Schriften oder Vorlesungen bezogen, zumindest in der Spätphilosophie kaum durchführbar. So steht das Unternehmen einer Rekonstruktion der Handlungstheorie Schellings vor der doppelten Aufgabe, diese systematisch und genealogisch darzulegen. Dabei soll als Ausgangspunkt eine Erwägung dienen, welche auch schon Schellings Sohn und Nachlassherausgeber K.F.A. Schelling bei der Edition der Sämmtlichen Werke leitete: dass die je späteren Fassungen seiner Vorlesungen die je früheren konsumieren, weshalb es sinnvoll ist, die je spätesten als erste Bezugstexte zu wählen. Dies entspricht der Entscheidung, die Berliner Vorlesungen zur Philosophie der Mythologie und Offenbarung, die in den Bänden XI–XIV der Sämmtlichen Werke ediert sind, als primäre Textbasis zu nehmen und von dort aus das gesamte Vorfeld an Vergleichstexten bis 1809 und im Einzelfall darüber hinaus miteinzubeziehen, um dort die Ideenkonstellationen in statu nascendi oder in ihrer je gehaltvollsten Form fassen zu können.9   Hierzu treffend Vetö, 2011, 63, der einerseits auf Schellings schriftstellerische Kreativität hinweist, durch die er „ohne Unterlass neue Ausformulierungen seines Denkens anbietet“ und er andererseits das je Neue späterer Entwicklungsstufen seiner Philosophie als bereits „wenigstens keimhaft in seinen anfänglichen Positionen enthalten“ präsentiert. 9   Das beinhaltet die in den SW publizierten Werke und die später veröffentlichten Vorlesungsnachschriften gleichermaßen. Von diesen werden insbesondere die Vorle8

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(2) Allerdings gilt es bei einer Heranziehung der zweiten Abteilung der Sämmtlichen Werke als primärer Textgrundlage doch deren interne textlichen Unklarheiten und die schwierigen Editionsentscheidungen des Nachlassherausgebers zu berücksichtigen, welche zur vorliegenden Textgestalt geführt haben. Denn es darf als eine offene Frage bezeichnet werden, inwiefern es in Schellings letzter Werkphase, nach dem Einstellen seiner Vorlesungstätigkeit 1845 und mit der intensiven Ausarbeitung der Darstellung der reinrationalen Philosophie, nochmals zu einer Verschiebung der Gesamtsystematik der Spätphilosophie gekommen ist, die jener letzten Schrift zusammen mit dem Vortrag Über die Quelle der ewigen Wahrheiten von 1850 eine umfassendere Bedeutung zumisst als dies die Herausgabe der Sämmtlichen Werke durch K.F.A. Schelling nahelegt, und ob die Textlage der Sämmtlichen Werke demnach den systemarchitektonischen Willen des spätesten Schelling wiederspiegelt. Hier haben neuere Forschungen überzeugend darlegen können, dass Schelling selbst die sogenannte ‚Berliner Einleitung in die Philosophie der Offenbarung‘, die Schellings Sohn dann als „Einleitung in die Philosophie der Offenbarung oder Begründung der Positiven Philosophie“ der eigentlichen Philosophie der Offenbarung vorangestellt hat (SW XIII, 3–174), nicht für eine Nachlasspublikation in dieser Form vorgesehen gehabt hatte.10 Da jedoch einerseits die systematische Bedeutung dieser Vorlesung für die nachfolgende Untersuchung gering ist, und die Nachlassverfügung keinesfalls diese Vorlesung inhaltlich zurückweist, werde ich auf sie zu Vergleichszwecken ebenso zurückgreifen wie auf ältere Texte Schellings, die nicht in die Sämmtlichen Werke aufgenommen wurden und bei welchen zwischenzeitlich Vorlesungsnachschriften ediert sind. Gewichtiger ist allerdings die Frage, ob Schellings Vorstellung über eine letzte Fassung seines Systems, wie sie sich in seinem literarischen Testament spiegelt, eine systematische Verschiebung des Gesamtaufbaus der Spätphilosophie beinhaltet, welche die von Schelling an erster Stelle sungen der Münchner Zeit, System der Weltalter, Grundlegung der Positiven Philosophie und Urfassung der Philosophie der Offenbarung untersucht werden. Als nicht autorisiert werde ich die sogenannte Paulus-Nachschrift der Philosophie der Offenbarung grundsätzlich nicht berücksichtigen, von der Schelling selbst gesagt hatte, sie habe seine Gedanken „verstümmelt und besudelt“ (SW XIII, 22). 10   Vgl. Müller-Bergen 2007, 119 ff. und Rariora, 673. Allerdings heißt es in Schellings Nachlassverfügung auch nicht, dass die Textteile dieser Vorlesung überhaupt nicht gedruckt werden sollten, sondern nur, dass „das ganze [Manuskript der Berliner Einleitung] schwerlich [sich zum Abdruck] eignen würde“, hingegen die Einleitungsvorlesungen und in einzelnen Korrekturen sich „Brauchbares“ finde (ebd.).

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vorgesehenen Texte auch systematisch einen neuen Rang zumessen und insbesondere andere Texte der Sämmtlichen Werke diesen gegenüber abwerten würden. Meines Erachtens ist dies nicht der Fall. Zwar ging Schellings eindeutiges Bemühen der letzten Jahre auf eine Neufassung der negativen Philosophie und insbesondere des in ihr angelegten Übergangs zur positiven Philosophie. Doch abgesehen von der Tatsache, dass Schelling selbst die Darstellung der reinrationalen Philosophie nicht befriedigend zu Ende brachte, und der heutige Text durch Herausgebereingriffe des Sohnes zu den hinsichtlich ihrer Authentizität am schwierigsten zu beurteilenden gehört11, ergänzt die existenzielle Perspektive der Motivation zur positiven Philosophie, die Schelling in der 24. Vorlesung der Darstellung der reinrationalen Philosophie einnimmt, die Durchführung einer Grundlegung der Philosophie der Offenbarung, wie sie in letzter Fassung nach den Vorlesungen von 1842 und 1844 im XIII. Band der SW als 9.–17. Vorlesung dargelegt werden, ohne dass sich hier inhaltliche Konflikte ergäben. Da in dieser Vorlesung eine genetische Gesamtentwicklung der positiven Philosophie aus ihren (negativen) Prinzipen zusammenhängend vorgetragen wird, wird diese mit den Paralleltexten zum Monotheismus und der Darstellung der reinrationalen Philosophie als gleichrangig behandelt.12 (3) Des Weiteren gilt es, sachliche und systembezügliche Erörterungen säuberlich zu trennen, auch wenn eine solche Trennung dem Schellingschen Grundanliegen entgegen sein mag, nach welchem die Bedeutung eines Begriffs aus seiner Stellung im System herrührt (vgl. AA I,17, 111/   Vgl. Müller-Bergen 2007.   Auch Schellings Nachlassverfügung, nach welcher für die philosophische Begründung der Philosophie der Offenbarung die Darstellung der reinrationalen Philosophie herangeführt werden sollte, „um zu motivieren, dass man Gott als Prius, das Seiende als Posterius voraussetzt“ (Rariora, 672), weist auf keine inhaltliche Verschiebung, sondern zielt darauf ab, dass zur Vermeidung von Redundanzen der ‚negative‘ Hinführungsteil der Philosophie der Offenbarung beiseitegelassen werden könne, da die entsprechende Deduktion der Potenzen und Explikation der rationalen Strukturmomente des Geistes bereits mit der Darstellung der reinrationalen Philosophie geleistet seien; eine Einschränkung hinsichtlich der Geltungskraft der entsprechenden Vorlesungen ist hiermit höchstens in dem Sinn verbunden, dass Schelling nachvollziehbarer Weise sein gesamtes Leben lang die je späteren Systementwürfe für die besseren gegenüber den früheren hielt. Schellings verständlichem Wunsch, sein Spätwerk in einer kohärenten, nichtredundanten Textzusammenstellung publiziert haben zu wollen, beinhaltet jedoch keine Diskreditierung für die Letztpublikation gemäß dem Testament nicht vorgesehener Textteile. Umgekehrt versucht die vorliegende Untersuchung Nutzen aus der schwierigen Textlage bei Schelling zu ziehen, indem sie alle zur Verfügung stehenden Paralleltexte insbesondere zur Spätphilosophie heranzieht und zur sachlichen Erhellung dieser Philosophie zu gebrauchen versucht. 11

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SW VII, 336) – und Schelling hat bis zuletzt seine Philosophie unter diesem holistischen Anspruch verstanden. Unter systembezüglichen Erörterungen sind solche zu verstehen, welche den Zusammenhang von Einzelaspekten mit dem Gesamten des Systems (in der jeweiligen Entwicklungsstufe) unter der Leitidee der Integration des Einzelnen ins Ganze betreffen. Unter sachlich-systematischen hingegen solche, welche Einzelprobleme nicht aus ihrem Zusammenhang mit dem Ganzen, sondern hinsichtlich ihrer Sachgerechtigkeit und Phänomenangemessenheit interpretieren. Und tatsächlich finden sich in Schellings später Philosophie sehr eindrückliche, sich gegen die Gefahren des Systemdenkens und damit auch gegen die Gefahren des eigenen immer so vertretenen Grundanliegens wendende Formulierungen, welche einer solchen Zuwendung der Philosophie ‚zu den Sachen selbst‘ das Wort reden. Sie dürfen als Leitfaden des methodischen Interesses der vorliegenden Untersuchung gelten: Bei jeder Erklärung ist das Erste, dass sie dem zu Erklärenden Gerechtigkeit widerfahren lasse, es nicht herabdrücke, herabdeute, verkleinere oder verstümmle, damit es leichter zu begreifen sei. Hier fragt sich nicht, welche Ansicht muss von der Erscheinung gewonnen werden, damit sie irgendeiner Philosophie gemäß sich bequem erklären lasse, sondern umgekehrt, welche Philosophie wird gefordert, um dem Gegenstand gewachsen, auf gleicher Höhe mit ihm zu sein. Nicht, wie muss das Phänomen gewendet, gedreht, vereinseitigt oder verkümmert werden, um aus Grundsätzen, die wir uns einmal vorgesetzt nicht zu überschreiten, noch allenfalls erklärbar zu sein, sondern: wohin müssen unsere Gedanken sich erweitern, um mit dem Phänomen im Verhältnis zu stehen (SW XII, 137).

Diesem Leitgedanken verpflichtet, versteht sich die gegebene als sachlich-systematische Untersuchung der inneren Eigenschaften von Handlungen in Schellings Philosophie, die sich dann erst in einem zweiten Schritt auf das Ganze seines Systems und die Stellung des Praktischen in ihm beziehen lassen. (4) Ein weiteres Problem einer rekonstruktiven Darstellung der Schellingschen Konzeption vom Handeln ist, dass die systematisch vorgegebene Problementwicklung nicht der genealogischen des Schellingschen Oeuvres entspricht. So muss bei einer Darstellung des Handlungskonzepts der Spätphilosophie Schellings die Schöpfungstat als das ontologische Prius zur menschlichen Existenz und dessen Tätigkeit dieser vorangestellt werden: denn der Mensch als Geschöpf und Spiegel des Schöpfers ist von diesem konzeptionell und ontologisch abhängig; er existiert nur durch die Schöpfungstat und die Art seines Handelns ist dieser nachgebildet. Diese Reihenfolge entspricht jedoch nicht der Werkentwicklung Schel-

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lings. Es ist nicht so, das Schelling der deklarierten Abhängigkeit und Ebenbildlichkeit des Menschen von Gott entsprechend dessen Handeln systematisch von der Schöpfung her entfaltet hätte; zumindest nicht entsprechend seinem spätesten und ausgereiftesten Konzept der Schöpfung, wie er es in der zweiten Münchner Zeit ab 1827 entwickelt hat. Sondern die wesentlichen konzeptionellen Darlegungen zum menschlichen Handeln finden sich in Schellings mittlerer Philosophie, d. h. der Phase von 1809–1815, in der anthropologische Erörterungen stärker als in anderen Epochen der Werkentwicklung Schellings im Zentrum standen.13 Dies ist schon dem Titel nach in der Freiheitsschrift greifbar, die ja ‚über das Wesen der menschlichen Freiheit‘ handelt, während das zentrale Moment der Positivität in der Spätphilosophie sich der Freiheit Gottes verdankt.14 Daher ist es angezeigt, in Hinsicht auf die Darstellung menschlichen und göttlichen Handelns bei Schelling dessen innerer Systematik zu folgen und menschliches Handeln entgegen der zeitlichen Abfolge der Werkentwicklung Schellings in der Folge des göttlichen zu zeigen, zumal vermeintliche Alternativen wie die, sich auf bloß göttliche oder bloß menschliche Tätigkeiten zu beschränken, die Handlungstheorie Schellings ihrer eigentümlichen Tiefendimension berauben würde. Immerhin lässt sich ein solches Vorgehen auch exegetisch dadurch rechtfertigen, dass Schelling einerseits allgemeine Erörterungen über die Praktizität insbesondere des Bewusstseins auch in der Spätphilosophie führte, die beide Bereiche gleichermaßen betreffen, und es andererseits hinsichtlich des menschlichen Handelns keine expliziten späteren Distanzierungen Schellings zu seinen Darlegungen der Phase 1809–1815 gibt und diese sich auch sachlich (mutatis mutandum) in das Konzept der Spätphilosophie einpassen lassen. Hinzu kommt, dass für Schelling auch bei der be­ 13   Schellings Werk lässt sich auf vielfältige Weise in Epochen einteilen. Eine hilfreiche Grobgliederung stammt von Theunissen 1965, der die Frühphilosophie entsprechend einem egologischen, die mittlere Philosophie entsprechend einem anthropologischen und die Spätphilosophie entsprechend einen ontotheologischen Ansatz zuordnet, insbesondere, da Theunissen zugleich sieht, dass sich in allen Phasen Schellings Motive aller drei Ansätze finden. 14   Daher liegt der interpretatorische Schwerpunkt derjenigen, welche Schelling unter dem Interesse des menschlichen Standpunkts lesen, wesentlich auf der Phase von 1809 bis 1815 (bzw. 1821); von diesem Standpunkt aus wird die Spätphilosophie als Rückschritt hinter das Weltalter-Niveau (Wieland 1956, 71), oder gar als „Verlegenheitslösung“ (Habermas 1954, 10) angesehen. Ich stimmte dementgegen Hutter 1996, 120 zu, der die Spätphilosophie als erneuen Versuch versteht, eine geschichtliche Philosophie zu realisieren, ohne in den Problemen, die dafür gesorgt haben, dass die Weltalterphilosophie Fragment gebelieben ist, stecken zu bleiben. Die Vorlesungsnachschrift der ersten Münchner Vorlesung, System der Weltalter, bestätigt bereits dem Titel nach diese Lesart.

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obachtbaren Verschiebung des systematischen Schwerpunkts von Mensch zu Gott in der Spätphilosophie das eigentliche Thema des Interesses immer der Mensch blieb. Auch für die Philosophie der Offenbarung war „der einzige Gegenstand der Philosophie […] der Mensch“ (SW XIII, 5) – nur, dass Schelling nun zur Explikation des Wesens, Bewusstseins und Handelns dieses Menschen dringlicher als zuvor eines göttlichen Seinsgrunds bedurfte. (5) Eine letzte methodische Schwierigkeit einer Rekonstruktion der Handlungstheorie im Werk Schellings besteht darin, dass Handlungen bei Schelling zwei in sich gedoppelte Bezugspole haben. So gibt es einerseits die personalen Bezugspole Gott und Mensch, deren Handlungen Schelling exklusiv zentrale Stellungen in seiner Philosophie zuweist. Andererseits gilt von Schellings Frühschriften an, dass das Bewusstsein einerseits für das Zustandekommen von äußeren Handlungen verantwortlich ist (denn in ihm bilden sich die handlungswirksamen Elemente des Wollens, Entscheidens usw. erst aus), dass dieses andererseits aber selbst praktisch ist: das ontologisch Erste schon in Schellings Frühschriften ist die bewusstseinskonstituierende Tat. Nun gilt weiterhin, dass beide Bezugspaare zwar differente Bezugspole haben, diese aber untereinander in Abhängigkeitsbeziehungen stehen. So verdankt sich das äußere Handeln kognitiven Elementen eines Bewusstseins, das seinerseits praktisch ist – d. h. dessen Praktizität sich wiederum an etwas messen lassen muss, dass äußeren Handlungen entlehnt ist. Ebenso ist menschliches Handeln strukturanalog zu göttlichem mit dem entscheidenden Unterschied, dass göttliches Handeln schöpferisch, menschliches aber geschöpflich – und zwar eben geschöpflich durch das göttliche Handeln – ist, während umgekehrt auch hier gilt, dass ein Verständnis der göttlichen Tat nur aus der irdischen Perspektive menschlichen Handelns gewonnen werden kann. Kurz: beide Verhältnisse stehen in ontologisch-epistemologisch gegenläufigen Wechselbeziehungen. Die ratio essendi des einen ist die ratio cognoscendi des anderen. Handlungen verdanken sich einem praktischen Bewusstsein, das nur durch Handlungen verständlich werden kann. Und: das menschliche Handeln verdankt sich göttlichem, das nur durch menschliches eingesehen werden kann. Die Schöpfungstat ist Seinsgrund des Menschen und findet sich zugleich in diesem – als ursprüngliche Gottsetzung eines ebenso ursprünglich religiösen Bewusstseins. Doch damit noch immer nicht genug: Denn auch diese Bezugspaare sind voneinander nicht unabhängig, sondern durch eine komplizierte Genese in der Entwicklung der Philosophie Schellings aufeinander bezogen. Grob stellt dies sich folgendermaßen dar: Schelling etabliert zu-

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nächst eine idealistische Philosophie, welche in praktischer Subjektivität, verstanden als ein tätiges Ich, gründet. Dieses ontologische Prius wird (ab 1801) durch ein Absolutes ersetzt, das dann als Gott interpretiert wird, so dass Gott als Bewusstsein (das seinerseits innerlich praktisch ist) an die Stelle bloßer Subjektivität tritt. Ab 1809 wird die Tat der Schöpfung zum ausdrücklichen Grund der realen Welt, der auch menschliche Handlungen zugehören, welche zudem in Schellings mittlerer Philosophie im besonderen Fokus seines Interesses stehen. Dies bedeutet aber, dass einerseits in Gott als Geist die Konstitutionsüberlegungen zur inneren Praktizität des Bewusstseins in transformierter Weise eingehen, andererseits aus diesem heraus sich die Schöpfung erklären lassen muss, welche wiederum verantwortlich ist für den erzeugten menschlichen Geist und die durch diesen vollzogenen realen Handlungen. Diese komplexe Konstellation ist dann die Grundlage für die eigentliche These der Spätphilosophie (ab 1827), dass eine auf dem göttlichen Geist zwar basierende, nicht aber auf diesen reduzierbare Freiheit Gottes in der Schöpfung das eigentliche Moment der Darlegung der Existenz der Welt sei – im Kontrast zur Möglichkeit einer (rationalen) Ableitung ihrer Inhalte aus dem Prinzipiengefüge seines Geistes. Diese systematisch und werkgenealogisch komplexen Verhältnisse erfordern eine rekonstruktive Vorgehensweise, die solcher Ausgangslage gerecht wird. Hierfür werden als Klammern zu den handlungstheoretischen Erörterungen über spezifisch göttliche und menschliche Praxis drei Rahmenerörterungen geführt, die jene Bezugspaare aufklären und verbinden. So steht an erster Stelle die Explikation der Praktizität des Bewusstseins als für Gott und den Menschen gemeinsame Basis. Nach den Untersuchungen zur Schöpfungstat wird zudem das Mensch-Gott-Verhältnis unter zwei Perspektiven entfaltet, welche die Großkontexte bilden, in die sich menschliche Handlungen in Schellings Spätphilosophie dann einbetten: erstens gilt es, die für Schellings reifes Denken fundamentale Zeitdimension zu berücksichtigen, da diese als Zeit-Ewigkeits-Relation einerseits den Rahmen der Mensch-Gott-Beziehung bildet, andererseits jedoch selbst praktisch imprägniert ist: mit der Schöpfungstat konstituieren sich erst die Zeit-Ewigkeits-Verhältnisse, welche dann das Spezifische der geschichtlichen Spätphilosophie Schellings erst verständlich werden lassen. Zweitens gilt es, um auch die andere Seite der epistemisch-ontologischen Doppelstruktur zu beleuchten, zusätzlich zur Schöpfungstat Gottes das religiöse Bewusstsein des Menschen zu explizieren als die ideale Perspektive auf die in ihm sich notwendig findende göttliche Urmacht. Auf der Basis der gezeichneten doppelten Bezugspolrelation des Prak-

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tischen bei Schelling ergibt sich demnach folgender Aufriss: Zuerst wird die innere Praktizität des Bewusstseins und dessen transitive Ausrichtung auf äußere Handlungen geklärt, da diese für Bewusstsein überhaupt – und somit für göttliches und menschliches zugleich – gilt (Kap. 1). Sodann muss wegen der ontologischen Priorität zuerst das göttliche Handeln in der Schöpfung hinsichtlich seiner handlungstheoretischen Grundaspekte und seiner Freiheit (Kap. 2 und 3) untersucht werden. Anschließend gilt es, die zwei zentralen Aspekte, innerhalb derer sich die Wechselbeziehung zwischen Gott und Mensch konstituiert, zu erörtern. Dies betrifft zum einen den temporalen Rahmen des Zeit- und Ewigkeitsverhältnisses, welches nicht nur das Mensch-Gott-Verhältnis umspannt und dessen differentia specifica bildet, sondern in dem zugleich die Fundamentalstrukturen für den Wechselbezug göttlichen und menschlichen Handelns angelegt sind (Kap 4). Zum anderen betrifft dies das religiöse Bewusstsein, welches nichts anderes als die ursprüngliche Achse des Menschen zu Gott als grundsätzlicher Orientierungslinie seines geschichtlichen Handelns bildet (Kap. 5). Vor hier aus lässt sich schließlich Schellings Auffassung vom menschlichen Handeln darstellen, bei welcher gesondert zuerst der Freiheitsaspekt unter handlungstheoretischer Perspektive betrachtet (Kap. 6) und sodann Schellings Theorie menschlichen Handelns unter ihren Einzelaspekten dargelegt wird (Kap. 7). Die systembezügliche Frage nach der Bedeutung der so herausgearbeiteten Handlungstheorie für Schellings Spätphilosophie schließt die Untersuchung ab (Kap. 8).

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1. TEIL SCHELLINGS GRUNDANLAGE DES PRAKTISCHEN

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KAPITEL 1: DIE INNERE UND ÄUSSERE PRAKTIZITÄT DES BEWUSSTSEINS

Es liegt nahe, dass der erste Schritt zur Entfaltung eines Handlungskonzepts unter idealistischen Voraussetzungen eine Untersuchung ihrer subjektiven Grundlagen betrifft. Eine solche Analyse der Praktizität des Bewusstseins ist bei Schelling in mehrfacher Hinsicht attraktiv: erstens umgreift sie in ihrer Allgemeinheit alle handlungsrelevanten Personen, also den Menschen und die für Schellings Spätphilosophie zentrale Figur Gottes gleichermaßen. Zweitens ist in der Philosophie des Deutschen Idealismus und explizit eben auch bei Schelling die Praxis nichts, das dem Bewusstsein nachrangig wie andere Befähigungen lediglich noch zukäme. Sondern es ist ihm fundamental als dessen erste Bedingung eingeschrieben. Und drittens bleibt diese Grundannahme über alle Wandlungen von Schellings Werk hindurch stabil. Es gilt also zu fragen, was es mit dieser fundamentalen inneren Praktizität auf sich habe und ob und gegebenenfalls wie äußere Handlungen mit dieser zusammenhängen. Dabei gründet eine solche Rekonstruktion der Praktizität des Bewusstseins bzw. des als Bewusstsein aufgefassten absoluten Geistes als grundlegendem Teil einer Untersuchung der ‚Handlungstheorie‘ Schellings auf der erst noch zu erweisenden Annahme, dass die These von der inneren Praktizität des Bewusstseins, die Schelling über die verschiedenen Fassungen von Bewusstsein (als transzendentale Ich-Subjektivität, als Subjekt-Objekt und als Gefüge von Grund und Existierendem oder als Einheit eines Potenzengefüges in der Spätphilosophie) hinweg sein gesamtes Werk hindurch beibehält, überhaupt relevant für seine Auffassung von Art und Wesen äußerer Handlungen ist. Das heißt, es muss sich zeigen lassen, dass es einen Weg der Praktizität von den ersten Seinsprinzipien zu tatsächlichen Handlungen bei Schelling überhaupt gibt. Klar ist zunächst, dass sich diese zwei Seiten des ‚praktischen Bewusstseins‘ bei Schelling vorfinden: dieses ist praktisch, insofern es handlungsfähig ist; d. h., insofern aus ihm Handlungen entstehen können und tatsächlich entstehen. Es ist aber auch in sich praktisch, insofern es selbst auf Handlungen beruht; d. h., insofern es wesenhaft „Selbstsetzen“ (AA I,17, 152/ SW VII, 385) ist. Die entscheidende Frage ist, wie es um das Verhältnis der Praxis, auf der das Bewusstsein beruht, zu der, die dem Bewusstsein entspringt, bestellt ist. Schelling stellt eine solche Theorie, die erklärt, inwiefern das inner-

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Teil 1: Schellings Grundanlage des Praktischen

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ste Handeln des Bewusstseins als Handlung im gewöhnlichen Sinne zu verstehen ist und wie es von der inneren Praktizität des Bewusstseins zu äußeren Handlungen kommt, nicht explizit bereit. Aber es finden sich Bausteine hierfür. Sie zu rekonstruieren ist Aufgabe dieses Kapitels. Sie wird sich dabei entsprechend der dargelegten Methodik auf die Spätphilosophie, welche ihre Grundprinzipien in der Potenzenlehre entwickelt und die praktischen Konzepte des Bewusstseins der früheren Philosophie in sich enthält, konzentrieren. Zur Bearbeitung dieser Aufgabe wird zunächst kurz Schellings Entwicklung der These vom praktischen Grundzug des Bewusstseins zur Spätphilosophie hin skizziert (I.), sodann die Konstitution dieses Bewusstseins in der Spätphilosophie nachgezeichnet (II.) und dessen voluntative Interpretation dargelegt (III.), um von dort aus zu zeigen, wie die Willensgestaltung des Bewusstseins zu tatsächlichen Handlungen Gottes und des Menschen führt (IV.) und wie sich zuletzt der Gesamtzusammenhang zwischen der inneren und äußeren Praktizität des Bewusstseins bei Schelling darstellt (V.).

I. Werkentwicklung vom selbstsetzenden Ich zum Geist als Potenzengefüge Bekanntermaßen haben die ersten eigenständigen philosophischen Schriften Schellings große Nähe zu Fichtes frühen Fassungen der Wissenschaftslehre. So übernimmt Schelling von Fichte die Idee, dass das oberste Prinzip der Philosophie das Ich sein müsse, das sich selbst setze und sich niemandem als sich selbst verdanke.1 Mit diesem sich-selbst-Setzen des Ich ist sowohl bei Schelling wie auch bei Fichte nicht eine lediglich formale Struktur zur Erfüllung der Systemforderung nach einem ersten, einheitlichen, voraussetzungslosen Prinzip gedacht – sondern das sich selbst setzende Ich wird als praktisches (täti-

1   In Fichtes prägnanter Formulierung: „Das Ich setzt sich selbst und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst“ (Fichte GA, Bd. I,2, 259). Bei Schelling klingt dies noch im selben Jahr so: „Denn das Ich ist schlechthin gesetzt, sein Gesetztsein ist durch nichts außer ihm bestimmt, es setzt sich selbst“ (AA I,1, 279 f./SW I, 97; vgl. AA I,2, 146 f./SW I, 216 f.). Schulz 1968 hat anhand des Briefwechsels zwischen Fichte und Schelling gezeigt, dass solche inhaltlichen Übereinstimmungen bis 1800 zumindest bei Schelling auch von dem Bewusstsein der Einigkeit, ja der Gemeinschaftlichkeit des philosophischen Projekts getragen waren.

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Kapitel 1: Die innere und äußere Praktizität des Bewusstseins

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ges) Selbstbewusstsein interpretiert.2 Fichte hat hierfür das Kunstwort der „Tathandlung“ geprägt. Schelling übernimmt diesen Ausdruck nicht unmittelbar.3 Wohl aber die darin enthaltene Gedankenfigur, die er bis in die Spätphilosophie beibehält. Der innerste Kern des Seins ist demnach auch bei Schelling ein Bewusstsein, das in der Tätigkeit des sich Konstituierens besteht, d. h., das Vollzug und Resultat dieser Tätigkeit zugleich ist. Das Bewusstsein hat keine bloß statisch-logische Struktur und ist auch kein theoretischer Akt der Selbsterkenntnis. Explizit nennt es Schelling 1796 „ein verkehrtes Unternehmen, die theoretische Philosophie durch die theoretische begründen zu wollen“ (SW I, 399), da ein System, „das sich selbst trägt“ (SW I, 400) nur durch Freiheit und Wollen erklärt werden könne. Diesen Gedanken von der Handlungsartigkeit des Seinsursprungs behält Schelling bei: Im System von 1800 heißt es: „Das Ich ist reiner Akt, reines Tun“ (AA I,9.1, 59/SW III, 368), und weiter: „was ich bin, bin ich nur durch mein Handeln“ (AA I,9.1, 89/SW III, 397). In der Formulierung der Freiheitsschrift (1809) ist das ursprüngliche Sein „reales Selbstsetzen, es ist ein Ur- und Grundwollen, das sich selbst zu Etwas macht“ (AA I,17, 152/SW VII, 385); das Wesen des Menschen ist „seine eigene Tat“ (ebd.).4 Auch dies bleibt bis in die späteste Philosophie Schellings erhalten: Noch in seiner letzten Vorlesung nimmt er Aristoteles‘ Ausdruck eines „tätigen Verstandes“ (SW XI, 457 und 460 f.) als Gewähr für die Auffassung, der   Vgl. AA I,1, 283/SW I, 99 f. Dieses Sich-Setzen, welches das Ich nicht nur erzeugt, sondern ist, benennt Fichte ausdrücklich als Handlung: „Tätigkeit und Ich sind eins“ (GA. IV, 2, 29). Das Ich „ist zugleich das Handelnde und Produkt der Handlung“ (GA I,2, 259). 3   Mittelbar allerdings ist er zu finden. Vgl., AA I,5, 74/SW II, 17: „In mir kann nur Tat und Handlung sein“ und AA I,17, 161/SW VII, 395, wo Schelling die ursprüngliche Handlung Gottes, die Offenbarung, als „Handlung und Tat“ bezeichnet. Eine explizite begriffliche Unterscheidung zwischen Handlung und Tat findet sich bei Schelling nicht. Man darf demnach die beiden Begriffe mit hoher Deckungsgleichheit entsprechend der Fichteschen Verwendung verstehen, nach welcher ‚Handlung‘ eher die Vollzugsseite, ‚Tat‘ eher das Resultat bzw. die Handlung als abgeschlossene aus der Ex-post-facto-Sicht bezeichnet. Eine diesen Gebrauch im Deutschen Idealismus grundsätzlich bestätigende, wenn auch darüber hinausführende Verwendungsweise findet sich bei Hegel, der in den Grundlinien der Philosophie des Rechts Tat und Handlung dahingehend unterscheidet, dass ‚Tat‘ das durch die Handlung bewirkte, d. h. ihre bloß äußere Erscheinung bezeichnet, was auch die unbeabsichtigten Folgen umschließt, während ‚Handlung‘ nur diejenigen Momente umfasst, die von der Absicht des Akteurs gedeckt sind: der „Unterschied[.] von Tat und Handlung [ist der] der äußerlichen Begebenheit und dem Vorsatze und Wissen der Umstände“ (GW 14,1, 106). 4   Zur Verbindung von Freiheit und Tätigkeit als ontologischen Grundprinzipien von 1800 bis 1809 vgl. Schwenzfeuer 2013. 2

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Teil 1: Schellings Grundanlage des Praktischen

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Mittelpunkt des Geistigen sei praktisch. Und ausdrücklich wiederholt er nochmals die zentrale These der frühen Jahre: Der Geist, d. h., das Bewusstsein, ist „sein selbst Anfang […], seine eigene Tat“ (SW XI, 420) 5 . Hierdurch zeigt sich eine erste Bestimmung der konstituierenden Praktizität des Bewusstseins: die praktische Terminologie der ‚Handlung‘ und ‚Tat‘ enthält noch nicht, wie der moderne Handlungsbegriff, einen Aspekt äußerer, physischer Aktivität und ebenso wenig eine kognitive Komponente des Beabsichtigens oder der Einsicht in Handlungsgründe. 6 Sondern das ursprüngliche Tun zeichnet sich dadurch aus, dass es aus sich selbst heraus etwas bewirkt – auch wenn dieses Bewirken nicht kausal als ein Zusammenhang zeitlich früherer Ursachen zu zeitlich späteren Wirkungen verstanden werden darf. Es ist vielmehr ein ursprünglich nur sich selbst bewirkendes Handeln, verstanden als eine der Subjektivität selbst entsprechende Dynamik.7 Der kursorische Überblick über die Stellung des Praktischen als Be  Es ist berechtigt, den Geist grundsätzlich als Bewusstsein, auch als menschliches Bewusstsein zu verstehen – selbst wenn in der Potenzenentwicklung zunächst der absolute Geist als der Geist Gottes in Erscheinung tritt. Diese Berechtigung, auf der die gegebene Interpretation des Geistes als handlungsfähigem Bewusstsein beruht, ergibt sich zum einen daher, dass Schelling sowohl den Geist als reflexives Selbstbewusstsein charakterisiert (SW XII, 53) als auch das menschliche Bewusstsein entsprechend (SW XII, 118 ff.). Zum anderen charakterisiert er den Menschen selbst als einen, der „seinem Wesen nach nur Bewusstsein“ (UF 230) ist. 6   Es ist nicht so, dass die moderne Handlungstheorie eine eindeutige Definition des Handelns hat. D. Davidson in etwa referiert als gängige Formel, dass „alles, was eine handelnde Person absichtlich tut – einschließlich absichtlicher Unterlassungen – als Handlung“ (1985, 21 Anm.) bezeichnet werden könne, und plädiert dann anschließend dafür „die absichtliche Handlung als Handlung zu definieren, die aus einem Grund vollzogen wird“ (1985, 24). Als Standartdefinition kann seitdem gelten, dass Handeln „Verhalten aus Gründen“ (Stoecker 2004, 9) sei. Hinzu kommt, dass Handlungen im modernen Sinn (von den Ausnahmefällen rein geistiger Tätigkeiten wie Rechnen, Urteilen usw. abgesehen) im Standartfall körperlich realisiert werden und Folgen in der physikalischen und sozialen Welt haben (hierzu nochmals paradigmatisch Davidson 1985, 81: „Wenn wir den Begriff der Körperbewegung großzügig interpretieren, spricht alles dafür, dass alle Elementarhandlungen Körperbewegungen sind“). 7   Dies lässt sich auch begriffsgeschichtlich belegen. ‚Handeln‘ als philosophischer Terminus wurde zuerst von Kant als Übersetzung des lateinischen actio im Sinne von ‚Bewirken‘ eingeführt (hierzu Gerhardt 1986). Es meint also primär das dynamische, aktive Wirken im Gegensatz zur Passivität etwa der theoretischen Vernunft, insofern diese als nur vernehmende verstanden wird. Dabei ist es ein bleibendes, auch von Kant zu Schelling transferiertes Grundproblem des Deutschen Idealismus, dass einerseits diese Dynamik in Ausdrücken von Akt, Handlung, Tätigkeit und Spontaneität zeitliche Qualität von Ereignissen zukommt, andererseits aber als transzendentale Konstitutionsleistungen vor und außer aller Zeit stehen sollen. 5

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Kapitel 1: Die innere und äußere Praktizität des Bewusstseins

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wusstseinskonstituens zeigt folgenden Entwicklungszusammenhang im Werk Schellings: zum einen wird seine Theorie des Selbstsetzens des Ichs bis in die Spätphilosophie hinein beibehalten, zum anderen wird sie von der Freiheitsschrift an überlagert von der dort zuerst angesetzten Theorie von Grund und Existierendem, welche dann zur Potenzenlehre ausgebaut wird. 8 Nach der Grund/Existierendes-Unterscheidung (AA I,17, 129/SW VII, 357) ist der Geist als Einheit gefügt aus einer dunklen Basis und einem lichten Verstand, die sich als zwei Formen des Willens interpretieren lassen. Nach der Potenzenlehre gibt es ein hinausdrängendes, ein zurückhaltendes und ein vereinheitlichendes Prinzip, die zusammen sich als Geist erweisen und sich gleichfalls als Willensformen interpretieren lassen. Die Potenzenlehre übernimmt dabei die Begründungsfunktionen, welche die Ich-Theorie der Frühzeit trug: zu erweisen, dass der Geist als reflexives Selbstbewusstsein in der Form des Wollens Basis und Ursprung des Seins selbst sei.9 Hierbei integriert sie den Grundgedanken der Frühphilosophie, dass der Geist ein durch sich selbst erzeugter und erhaltender sei, wodurch sich die Potenzenlehre der Spätphilosophie in Hinsicht auf die gegebene Fragestellung als die gehaltvollere erweist: denn zusätzlich zur abstrakten These von der Selbsttätigkeit des Bewusstseins (Ichs) legt die Spätphilosophie mit dem Potenzengefüge eine dynamische Struktur des Bewusstseins offen, die weit über die Frühphilosophie hinaus dessen Praktizität zu inhaltlich gehaltvoll darzulegen vermag.10 Die Eigentümlichkeit der Spätphilosophie Schellings wird verständlich, wenn man sich deren gewandelte Fragestellung vor Augen hält: War es in der Frühphilosophie die Suche nach einem letzten Prinzip, das den Systemforderungen der Philosophie entsprach, so ist es in der Spätphilosophie die Frage nach den letzten Seinsvoraussetzungen in ontologischer

  Zur Entwicklung der Potenzenlehre aus der Konstellation der Freiheitsschrift siehe den klassischen Aufsatz von Schwarz 1935, 118–148. 9   Den Ausdruck ‚Potenz‘ gebraucht Schelling bereits in der Frühphilosophie, dort allerdings noch im eher mathematischen Sinn der Steigerung eines Selben auf verschiedenen Stufen, der Multiplikation mit sich selbst. In der Phase der Identitätsphilosophie gebraucht Schelling den Potenzbegriff zur Charakterisierung des Absoluten in seiner Indifferenz und als Art seines Erscheinens. Mit der Grund/Existierendes-Unterscheidung der Freiheitsschrift treten dann systematisch zuerst Elemente in der Funktion auf, die Schelling in der Spätphilosophie mit der Potenzenlehre entwickelt: dynamische Prinzipien für das Sein im Ganzen in einer Vielfalt von Ausgestaltungen darzulegen. Erhellend hierzu: Durner 1979, 154 ff. 10   Dafür, dass und inwiefern Schelling in der Spätphilosophie seine Frühphilosophie nicht grundsätzlich verwirft, sondern relativiert und in das Neue integriert, siehe z. B.: Sandkaulen-Bock 1990, 174 ff. 8

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Stoßrichtung.11 Der Unterschied zeigt sich an der Methode: In der Frühphilosophie ging es darum, ein Prinzip zu postulieren, seine geforderten Eigenschaften (der Einfachheit usw.) nachzuweisen und von diesem aus die Wissenschaft als Ganze aufzubauen, so dass das Prinzip sich innerhalb des tatsächlichen Systems bewähren kann. In der Spätphilosophie hingegen geht die Fragestellung nicht lediglich von dem ersten Prinzip zum Sein, sondern sie wird erweitert um eine Frage vom Sein zurück zu dessen Prinzipien, zu dem, das „vor und über dem Sein“ (SW XIII, 240) ist. Dort findet sich dementsprechend zunächst kein substanzielles oder individuelles Ich, das sich selbst als Bewusstseinsträger setzt, sondern Potenzen des möglichen Seins, welche sich erst in ihrem Zusammenspiel am Ende ihrer Entwicklung als Geist – und zwar als absoluter Geist Gottes – erweisen. Erst von diesem so deduzierten Prinzip aus lässt sich dann in der Spätphilosophie wieder die analoge Frage nach dem Bezug und der Abhängigkeit der geistigen und materiellen Welt von eben diesem ersten Prinzip stellen. Bis in die Wortwahl hinein ist es die analoge Konstellation, wenn Schelling 1795 „das Ich […] nicht nur Ursache des Seins, sondern auch des Wesens alles dessen, was ist“ (AA I,2, 121/ SW I, 195, Herv. Schelling) nennt und 50 Jahre später erklärt, dass Gott „allem, das nicht seiend […], bloße Allmöglichkeit ist, Ursache des Seins [sei] eben dadurch, dass Er es ist“ (SW XIII, 174, Herv. Vf.).

II. Das Bewusstsein als dynamisches Selbstverhältnis der Potenzen 1) Die Potenzen als Ermöglichungsbedingungen des Seins Demnach muss der Weg der Potenzendeduktion nachgegangen werden, um zu verstehen, wie beim späten Schelling praktisches Bewusstsein konzipiert ist. In ihr zeigen sich die Grundvoraussetzungen von Sein als Gefüge des Geistes. Schellings Theorie des Bewusstseins wird in der Spätphilosophie entwickelt als Prinzipienontologie des absoluten Geistes.12 11   Hierin zeigt sich auch deren grundsätzlich andere Veranlagung zu einer transzendentalphilosophischen Perspektive, bei welcher das Zielobjekt der Metaphysik immer letzte Erkenntnisbedingungen sind; Schelling ‚realistischer‘ Grundzug bedeutet, dass er im Verhältnis der Letztbegründungsbedingungen von Sein und Erkennen stets zu solchen des Seins tendiert. Demnach ist mit Gabriel 2006, 41 „die Potenzenlehre […] eine Transzendentalontologie, die nicht mehr die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, sondern von erkennbarem Sein überhaupt untersucht“. 12   Vgl. Franz 1992, der Schellings Spätphilosophie als „ontologische Prinzipienwis-

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Schelling geht es in seiner Spätphilosophie um eine Erklärung der Art und Existenz des Seienden im Ganzen. Die Erklärung ihrer Art (ihres Was-Seins) ist dabei die Aufgabe, die die traditionelle Metaphysik seit der Antike sich gestellt hat; Schelling nennt dies die negative Philosophie, die im bloß Begrifflichen verbleibt. Die Erklärung der Existenz der Welt (ihres Dass-Seins) hingegen ist die Aufgabe der positiven Philosophie, welche Schelling seinem eigenen Anspruch nach zuerst entdeckt und entwickelt hat. Ihr geht es um die Beantwortung der Leibniz‘schen Grundfrage „Warum ist überhaupt etwas, warum ist nicht nichts?“ (SW XIII, 242).13 Die Antwort auf die prinzipienontologische Frage nach den Gründen des Seins muss für Schelling in etwas liegen, das „vor dem Sein ist“ (SW XIII, 204, herv. Schelling) und das demnach die Möglichkeit eines künftigen Seins (vgl. SW XIII, 241) in sich birgt, ja eben diese Möglichkeit ist. Eine solche Möglichkeit des Seins müsste dieses Sein aus sich heraus entwickeln können. Solche autonome Seinsermöglichungen nennt Schelling „Potenzen des Seins“ (SW XIII, 246), als „Principe […], deren innerstes Wesen bloße Möglichkeit ist“ (SW XI, 387). Dieser Potenzengedanke enthält zunächst nicht mehr, als dass da etwas noch nicht ist, aber unmittelbar, „ohne etwas anderes als sich selbst vorauszusetzen“ (SW XII, 86) sein kann. Daher bestimmt Schelling die erste Potenz des Seins als „das unmittelbar Seinkönnende“ (SW XIII, 204).14 Es ist die Potenz der „erste[n] Seins-Entstehung, [ein Prinzip des] Übergang[s] vom nicht Sein zum Sein“ (SW XIII, 207).15 senschaft“ (S. 78) bezeichnet, wenngleich Schelling den Terminus „Ontologie“ selbst nicht gebrauche. Als „Wissenschaft vom Seienden“ (SW XIII, 76), kennzeichne Schelling jedoch die Philosophie im Kern als Ontologie. 13   Vgl. Leibniz 2014, 163, der dies als erste Frage der Metaphysik charakterisiert. Dass der Unterschied zwischen positiver und negativer Philosophie einer der „Differenz zwischen der existentiellen Dimension und der essentiellen der Vernunft“ sei, ist auch gängige Auslegung der Schelling-Forschung (hier: Cruz Cruz 1998, 7; Übers. Vf.); hierzu näheres in Kapitel 8. 14   Schelling charakterisiert die erste Potenz an anderer Stelle auch als „Ursein“ und „Wollen“ (AA I,17, 123/SW VII, 350 und XI, 388), als „Ur- und Grundwollen, [bzw.] Grund und Basis aller Wesenheit“ (AA I,17, 152/SW VII, 385), als Subjekt der anderen Potenzen (SW XII, 124), als das „Grenz- und Bestimmungslose, […] gleich dem […] platonischen Unendlichen (Apeiron)“ (SW XI, 388) oder als „causa materialis“ (GPP 297). 15   Danz 2004, 184, versteht die Potenzen als „Strukturmerkmale des Denkens“, da die Frage nach dem, was vor dem Sein sei, für Schelling „als Abstraktion von allem Sein auf das Denken als Produzent aller Bestimmungen“ führe (183). Dies ist im Ergebnis sicher insofern richtig, als das Potenzengefüge sich auch als theoretischer Geist erweist; allerdings verstellt es den Blick auf eine Interpretation des Geistes als Willen, der dem Denken noch vorausgeht. Bereits im System des transzendentalen Idealismus hat

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Diese erste Potenz lässt sich unter zwei Hinsichten betrachten: als ein solches Sein-Könnendes, das in sich den Bezug ins Sein konkret führt, das ins Sein strebt – oder als solches, das im Status der Möglichkeit verbleibend lediglich sein könnte. Schelling unterscheidet diese beiden Pole der ersten Potenz auch durch die Buchstaben A und B16 . A ist demnach die intransitive (GPP 137) Seite der bloßen Potentionalität, die sich noch nicht aus ihrer reinen Potentionalität erhoben hat, B die transitive Seite des Seinkönnenden, ihr Zug ins Sein.17 Allerdings ist diese erste Potenz als Prinzip des Übergangs ins Sein in sich kein stabiles Prinzip der Seinsentstehung: denn entweder muss Schelling diese elementare Funktion des Willens dargelegt, nach welcher „der Anfang des Bewusstseins […] nur erklärbar [sei] aus einem Selbstbestimmen“ (AA I,9.1, 230/SW III, 532), dieses Selbstimmen aber eben Wollen sei (AA I,9.1, 231/SW III, 533); hierzu auch Schulz 1968, 38. Als Strukturmomente des Denkens sind die Potenzen die letzten logischen Universalien des Vernunftraums, gewissermaßen die Letztprinzipien von Schellings ‚Wissenschaft der Logik‘. Allerdings führt diese Seite der Potenzen nur zur negativen Philosophie; zur positiven bedarf es ihrer als Momente eines freien, handlungsfähigen Willens. 16   Schellings Terminologie in der Potenzenlehre ist sehr uneinheitlich (hierzu Barbarić 2012, 317 mit Anm. 27). Die Buchstabennotation der ersten Potenz findet sich u. a. in SW XI, 391, XIII, 228 und XIV, 257. Ansonsten orientiere ich mich an der Terminologie der Philosophischen Einleitung in die Philosophie der Offenbarung (SW XIII, 177–530), die auch als Referenztext für die Ausführung der Potenzenlehre gelten soll. Denn auch die Ausführung der Potenzenlehre ist uneinheitlich – und zwar bereits in der Bestimmung der Anzahl der Potenzen. So gibt es in der Philosophie der Offenbarung drei Potenzen, in der GPP (297), und der Darstellung der reinrationalen Philosophie (SW XII, 112) jedoch in Anlehnung an die Vier-Ursachen-Lehre des Aristoteles vier. Entsprechend differieren die Zuordnungen der Aristotelischen Ursachen zu den Potenzen, so dass in etwa die causa finalis einmal die dritte Potenz gleich Gott bezeichnet (SW XII, 112) einmal bloß die dritte Potenz, zu der Gott als causa finalis noch hinzukommt (GPP 297) und einmal entsprechend dem trinitarischen Schema als Geist während Gott der ersten Potenz zugeordnet wird (SW XIII, 342). Und während in der Philosophie der Offenbarung die Potenzen „das Seinkönnende“, „das rein Seiende“ und „das als solches seiende Seinkönnende“ genannt werden, bezeichnet sie Schelling in den Einleitungen zur Philosophie der Mythologie zusätzlich als -A, +A und ±A, (SW XI, 288 ff.; XII, 85, entsprechend X, 305 ff.) bzw. als A, A² und A³ (SW XII, 84–89) und verbindet sie mit den modalen Ausdrücken des Seinkönnens, -müssens und -sollens (SW XII, 82 und 110). 17   Ebd. Vgl. entsprechend GPP 435 und 440. Zum Ausdruck des ‚Transitiven‘ auch SW XIII, 79, wo Schelling vom Seinkönnenden „im transitiven Sinn“ spricht. Und X, 306, wo Schelling davon spricht, dass „das Können geht, d. h. […] sich ins Sein erhebt“ – Buchheim 1992, 140 weist auf den Zusammenhang von ‚geht‘ und lat. ‚transit‘ hin, wodurch sich mit dem intransitiv-transitiven Element des Seinkönnenden als erster Potenz eine „Zweiwegetheorie“ (142) ergebe, welche eine Entscheidung (zwischen A und B) an den Anfang setze. Ad actum übergehen heiße demnach noch nicht, eine Wirklichkeit annehmen, sondern „auf etwas gehen“ (144).

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sie als A, d. h. als eine gedacht werden, die in der Potentialität verbleibt. Dann verbliebe sie jedoch streng im Status der Möglichkeit und es würde gar kein Sein entstehen. Sie selbst wäre als eine sich nie verwirklichende Möglichkeit im Grunde gleich nichts. Oder als B, als eine, die ins Sein übergeht. Dann aber wäre sie keine Potenz des Seins mehr, sondern, als übergegangene, Actus, d. h. das aktualisierte Sein selbst. Die fundamentale Schwierigkeit der ersten Seinsbestimmung ist also die, dass darin eine ambivalente, sich selbst aufhebende Struktur sichtbar wird, weil das Seinkönnende „nicht in das Sein übergehen kann, ohne sich selbst als Potenz aufzuheben, weil also in ihm der Actus die Potenz und die Potenz den Actus ausschließt“ (SW XIII, 234). Hinzu kommt, dass das bloße Übergehen ins Sein, also der Zustand zwischen bloßer Möglichkeit und ihrer Realisierung, seinerseits nicht stabil ist. Denn das bloße ins Sein Streben wäre, wie Schelling formuliert, „ein blindlings […] Fortgehendes, sich selbst gleichsam Überstürzendes und auf diese Weise sich Verlierendes“ (SW XIII, 240). Was ins Sein strebt, bleibt nicht im Streben stehen, sondern will gerade sein Streben hinter sich lassen und ins Sein gelangen. Daher wäre es als solches ein Sein-Müssendes, eines, das zum Übergehen ins Sein keine Alternative hätte. Demnach erweist sich das Seinkönnende als aporetisch: Es ist „von sich selbst in den Grenzen des Seinkönnenden nicht zu erhalten“ (UF 50)18 . Die Schwierigkeit eines Prinzips des Seinkönnens wird so offenbar: entweder es verbleibt in der Potenz und kann so gerade nicht sein – und hebt sich damit auch als Potenz auf. Oder aber es geht ins Sein über und verliert auf diese Art seine Potentialität. Es bedarf also eines Prinzips der Transitivität, das sich in seinem Zug ins Sein nicht entäußert und verliert. Daher muss es ein zweites Prinzip geben, welches den transitiven Grundzug der ersten Potenz zurückhält, ohne ihn zum Versiegen zu bringen. Schelling nennt dieses Prinzip die zweite Potenz oder „das rein Seiende“ (SW XIII, 210).19 Ihre primäre 18   Die Schreibweise in der Ausgabe der Urfassung ist „das sein Könnende“. Sie wird hier und im Folgenden der Schreibweise der Philosophie der Offenbarung (= „das Seinkönnende“) in moderner Rechtschreibung angeglichen. 19   Die zweite Potenz wird auch charakterisiert als „die Grenze (péras)“ (SW X, 393), als Prinzip der Ordnung (ebd.), als causa efficiens (SW XII, 112), als Objekt (SW XIII, 78). Sie entspricht der Seite des Existierenden in der Grund/Existierendes-Unterscheidung der Freiheitsschrift (SW VII, 395) und wird dort charakterisiert als Licht und Verstand (AA I,17, 161/SW VII, 360), bzw. dem Seienden in der terminologischen Fassung als Sein/Seiendes-Unterscheidung der Stuttgarter Privatvorlesungen (AA II,8, 100/SW VII, 436) und wird dort charakterisiert als ideale Seite im Gegensatz zur realen des Seins (AA II,8, 82/SW VII, 427); hier spricht Schelling auch bereits von erster und zweiter Potenz (AA II,8, 82/SW VII, 427).

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‚Funktion‘ ist, den Grundzug des ins Sein Dringens der ersten Potenz zu beschränken.20 Schelling bezeichnet sie daher auch „das Begrenzende, Grenzen Setzende“ (SW XI, 393) für die „an sich grenzenlose“ (ebd.) erste Potenz. Wie gelingt es der zweiten Potenz, die erste zu begrenzen? Schellings Gedanke ist der, dass das Seinkönnende seinen selbstverzehrenden Zug ins Sein nur dadurch zurückhalten kann, dass es bereits ein Seiendes als eine Form des Seins vorfindet. Hierdurch erklärt sich der Ausdruck des ‚rein Seienden‘. Es ist „eine Art des Seins“ (SW XIII, 212), die aber noch nicht „das wirkliche Sein“ (ebd.) ist, sondern im Gegenteil sich diesem gegenüber als Nichts verhält. Diese merkwürdige Zwischenstufe des Seins erläutert sich primär über die Anforderungen der Prinzipiendeduktion: Potenzen des Seins als solche, die vor dem Sein sind, können nicht völlig seinslos sein, da sie sich sonst in ihrem Zug ins Sein blind entäußern würden. Sie würden vom Sein gleichsam aufgesogen. Sie müssen in sich bereits eine Form des Seins haben, welche bewirkt, dass sie weder als bloße Potenzen in der Seinslosigkeit verbleiben, noch sich im Sein verlieren. Damit das Seinkönnende „stehen bleibe“ (SW XIII, 210), so Schelling, muss es „zum Ersatz gleichsam des Seins […] Es selbst auch an und für sich schon“ (SW XIII, 210 f.) sein – d. h. ohne weitere Bestimmungen eine reine Form des Seins an sich haben. Die Potenzen des Seins sind nicht in sich nichts, denn sonst könnte man sie nicht einmal formalontologisch bestimmen. Sie sind aber auch nicht im Sinne des Seins, um dessen Erklärung es geht, denn sonst wären sie nicht mehr Potenzen desselben. Die erste und zweite Potenz versteht Schelling nicht als getrennte, singuläre Prinzipien. Sie verhalten sich komplementär zueinander. Sie bilden kein dualistisches System, in dem sie je für sich sein könnten, wie physikalische Kräfte. Die Potenzen sind keine Substanzen (UF 42). Sondern jede von beiden ist, für sich betrachtet, eine bloße Einseitigkeit (SW XIII, 233). Die erste Potenz kann Potenz nur durch die zweite, begrenzende sein und die zweite Potenz als begrenzende, zurückhaltende, hat nur Sinn durch die erste, auf die sie bezogen ist. Sie ist nur für die erste 20   Die Idee, dass etwas nur dadurch stehen bleiben könne, dass es im dynamischen Gelichgewicht einer forttreibenden und zurückdrängenden Kraft (bzw. Potenz) sich befindet, hatte Schelling schon in der Naturphilosophie zur Konstruktion der Materie gebraucht. Vgl. hierzu erhellend sein Referat im System der Weltalter: „wenn es eine Materie gibt, so muss ich sie mit 2 Grundkräften, der Attraktion und Repulsion, vorstellen. Ohne Attraktion würde die expandierende Kraft unendlich über sich hinausgehen; aber die Expansion setzt schon eine Attraktion voraus, diese jene, damit nicht alles in einem Punkt zusammenfalle“ (SyWA, 48).

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Potenz. Beide Potenzen sind ein in sich verschmolzenes bipolares Gefüge und dementsprechend als Momente oder Aspekte eines Selben aufzufassen Schelling beschreibt diesen Umstand folgendermaßen: „Demnach ist es eigentlich nicht das rein Seiende, wovon das Seinkönnende begrenzt wird, sondern es ist jenes Eine und Selbe, das, inwiefern es das Seinkönnende ist, von sich selbst, sofern es das rein Seiende ist, begrenzt und in den Schranken des Könnens […] erhalten wird“ (SW XIII, 226). Diese Charakteristika der Potenzen erläutern sich näher über die Ausdrücke Potenz und Actus. Unter ihnen versteht Schelling die Möglichkeit und Wirklichkeit des Seins. Der Keim einer Pflanze ist ihre Potenz; die sich entwickelnde oder fertig entwickelte Pflanze ist dieselbe in actu (SW XIII, 63 und 205). Im Gegensatz zur Pflanze jedoch, die außer ihrer Anlage als Keim noch weiterer Bedingungen für ihre Entwicklung bedarf, soll das Seinkönnende potentia pura (SW XIII, 210) sein, „die Urmöglichkeit, die der erste Grund alles Werdens […] ist“ (SW XIII, 245); d. h. eine „unbedingte potentia existendi, [die] die ohne weitere Vermittlung a potentia ad actum übergehen kann“ (SW XIII, 205). Dieser Übergang enthält also eine dreigliedrige Struktur: er ist Möglichkeit am Anfang, und Wirklichkeit in der Phase der Entwicklung und an deren Ende, entsprechend den Stadien der Pflanze. Der Moment des Übergangs von Potenz zu Akt ist dementsprechend der der ersten Entwicklung, im Bild der Pflanze: der des Beginns des Keimens. Dies ist die entscheidende Stelle der eigentlichen Seinsentstehung, die „erste Potenz in ihrer Erhebung“ (SW XII, 87). Als Ermöglichungsbedingungen des Seins sind beide, erste und zweite Potenz: Potenzen – in sich jedoch ist nur die erste Potenz als seinkönnende Potenz im eigentlichen Sinn, die zweite hingegen als seiende purer Actus. Daher ergänzen sich die beiden Potenzen, sie sind, wie Schelling formuliert, sich „annehmlich“ (SW XIII, 265). Das eigentliche Sein als Erhebung ins Sein steht zwischen beiden, ist in ihr aus Potenz und Actus gemischtes Gefüge eingegangen. Seinkönnendes und rein Seiendes sind nur als Einheit zu verstehen – und diese Einheit der beiden ersten Seinspotenzen ist ihrerseits eine Ermöglichungsbedingung des Seins; die beiden ersten Potenzen können nicht für sich bestehen. Daher führt Schelling eine dritte Potenz ein. Sie ist diese Einheit als das „als solches seiende Seinkönnende“ (SW XIII, 236) 21, d. h. das Seinkönnende, das sich nicht verliert, sondern sich selbst ist. Sie ist als die Einheit von Übergang und bei-sich-Bleiben die Potenz,   Auch hier finden sich vielfältige weitere Charakterisierungen: Die dritte Potenz ist causa finalis (SW XIII, 279), das Subjekt-Objekt (SW XIII, 78) und entspricht bereits 21

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der es zu eigen ist, übergehen zu können ins Sein, aber dies nicht zu müssen. Sie hat „als das Seinkönnende sich selbst als das rein Seiende in seiner Gewalt“ (SW XIII, 227), sie ist das „seiner selbst Mächtige, sich selbst Besitzende“ (SW XI, 391).22 2) Die Potenzen als Geist Das Gefüge der Seinspotenzen interpretiert Schelling als Geist. Hierfür lassen sich rekonstruktiv mindestens fünf Argumente finden, die nachfolgend ausführlich erörtert werden sollen: Das Potenzengefüge ist gleich dem Geist 1) seiner mächtig, 2) frei, 3) in Subjekt-Objekt-Verhältnissen reflexiv verfasst, 4) eine Einheit und 5) wirkungsmächtig. Der letzte Punkt ist bereits ein Kennzeichen des praktischen, handlungsfähigen Geistes, der im dritten Teil dieses Kapitels besprochen wird. Zu den Punkten 1) bis 4) im Einzelnen: 1) Was sich selbst mächtig ist, sich besitzt, indem es sein kann, aber darin sich nicht verliert, sondern, so Schelling, „nicht aufhört, Quelle des Seins zu sein, [verhält] sich so […], wie in uns der Geist sich verhält“ (UF 56). Dieses Argument beweist noch nicht die Berechtigung einer Gleichsetzung von Geist und Potenzengefüge, macht diese jedoch plausibel. Denn eben dem Geist ist es eigentümlich, sich äußern, d. h. aus sich hinaus gehen zu können und doch sich nicht zu verlieren, sondern bei sich zu bleiben. In Naturprozessen muss, wo etwas abgeht, dieses durch einen neuen Zufluss ersetzt werden, sonst verringert sich seine Substanz.23 Im Geist findet sich die beschriebene Struktur des zurückgehaltenen Hinausdrängens wieder. Und für eben dieses, das „im außer-sich-Sein an sich bleiben und bestehen [kann, hat, so Schelling] die Sprache kein anderes Wort als Geist“ (SW XII, 57). 2) ist die in den Potenzen angelegte Alternativität – nämlich aus sich in der Konstellation der mittleren Philosophie der absoluten Existenz als Geist (AA I,17, 160 f./SW VII, 395). 22   In kürzester Form benennt Schelling die Potenzenfolge als „1) reines Seinkönnen, 2) reines Sein, 3) als Sein gesetztes Seinkönnen“ (SW XII, 577). Ich stimme BarbariĆ 2012, 316 zu, wenn dieser im Seinkönnenden „den alles beherrschenden Mittelpunkt der gesamten späten Philosophie Schellings“ sieht und daher das besondere Verhältnis von erster und dritter Potenz darin sieht, dass „das Dritte zwar nicht das erste ist, aber doch wieder das ist, was das Erste auf blinde, zufällige Weise war“ (318). 23   Die von Schelling gebrauchte Analogie von Quelle und Geist beruht ja darauf, dass bei der Quelle der unterirdische Zustrom nicht sichtbar ist und sie daher scheinbar aus einem aus sich selbst fließenden Quellpunkt strömt. Tatsächlich vermag dies – aus sich selbst strömen ohne sich zu verringern – aber nur der Geist.

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selbst heraus (und unabhängig von wandelbaren Zusatzbedingungen) sein und nicht sein zu können – ein Kriterium der Freiheit: sie sind „zu sein und nicht zu sein Freie“ (SW XIII, 238). Im Unterschied zum Bereich des Natürlichen und Kontingenten, das nur auf der Basis variierender Bedingungen etwas sein kann oder nicht, können die Potenzen nach Deduktionsvoraussetzung aus sich selbst heraus sein oder nicht sein – womit in ihnen bereits noch näher zu explizierende Freiheitskriterien wie die der Alternativität und Urheberschaft angelegt sind, welche dann auch für Schellings auf äußere Handlungen bezogene Freiheitstheorie in Anspruch genommen werden können. Mit der Freiheit ist so ein zweites Kriterium des Geistigen gegeben. 3) nennt Schelling die erste Potenz, sofern sie noch bloße Potenz ist und sich noch nicht in die transitive Form des Seinsübergangs erhoben hat, den „an sich seiende[n] Geist“ (SW XIII, 251), oder, das Subjekt (SW XII, 124).24 Die zweite Potenz, insofern sie die erste Potenz in ihrer hinausgehenden Bewegung zurückhält und auf sich selbst rückbezieht, nennt Schelling: den „für sich selbst seiende[n] Geist“ (SW XIII, 252) oder das Objekt (SW XIII, 78). Hierdurch wird die Wechseldurchdringung der beiden ersten Potenzen auf der Ebene des Geistes deutlich, insofern der für sich seiende Geist eben für den an-sich seienden ist und umgekehrt dessen an-sich darin besteht, Bezugspunkt des für-sich seienden zu sein. Nun ist Bewusstsein nichts, das lediglich in seinen objektiven Gehalten ruht und nichts, das umgekehrt in bloßer (leerer) Gegenstandsbezüglichkeit sich verliert. Subjekt und Objekt können nicht isoliert bestehen, sie sind relationale Wechselbegriffe.25 Die Momente des an-sich und des   Müller-Bergen 2006, 286 macht darauf aufmerksam, dass dem auf der Ebene des Denkens, d. h. der rationalen Entwicklung der Potenzenlehre, entspricht, dass „das Erste, was wir überhaupt denken können“, das ist, das Schelling „Subjekt der Existenz“ nennt (SW X, 303), was bedeute, dass dies „noch keinen Inhalt, sondern nur die Möglichkeit dazu“ habe, was der Tatsache entspreche, „dass das Denken immer transitiv, immer ein ‚Denken von …‘ ist“. Hierzu auch Buchheim 1992, 116–120. 25   Gabriel 2006, 133 interpretiert die 3. Potenz gerade als die Relation zwischen den beiden ersten; eine Relation, die deren Sein erst verbürgt, denn „das Seiende zweier Relata ist […] ihre Relation“. Dem ist die Interpretation Müller-Bergens 2006, 289 unter Berufung auf SW XI, 394 f. gegenüberzustellen, nach welcher Schelling die Potenzen insgesamt aus den Kantischen Relationsfunktionen entwickle, und zwar in einer in der Hinsicht verbesserten Weise, dass die Potenzenentwicklung dem Schema „Substanz, Ursache, Substanz und Ursache in Einem“ entspreche. Diese Differenz soll hier nur dazu dienen, die Offenheit der Potenzenlehre zu demonstrieren und muss nicht zur Entscheidung gebracht werden, insofern das gegebene Interesse an der Potenzenentwicklung weniger deren Funktion als Grundelemente des Denkens oder der Logik in den interpretativen Fokus stellt, als vielmehr deren Funkti24

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für-sich seienden Geistes müssen demnach als eine Einheit verstanden werden, wodurch sich als dritte Stufe die volle Elementarstruktur des Bewusstseins zeigt, die gleichermaßen für Gott wie für den Menschen gilt: Der vollkommene Geist ist also 3) der im an sich oder Subjekt-Sein für sich seiende, der als Subjekt sich selbst Objekt seiende, so dass er […] in einer und derselben Gestalt, also unzertrennlicher Weise, ohne wirklich zwei sein zu können, Subjekt und Objekt ist, wie der menschliche Geist, indem er sich selbst bewusst ist und sich selbst hat (SW XIII, 253 f.). 26

Die hierdurch zutage tretende Reflexionsstruktur ist fundamentaler Art: Bewusstsein ist zum einen Bewusstsein von etwas.27 Und es ist zugleich Bewusstsein seiner selbst, aber so, dass es sich nicht lediglich spiegelt und so bloß doppelt, sondern so, dass sich in der Objektivität seine Subjektivität in modifizierter Form zeigt.28 Das heißt, insofern jemandem etwas (außer ihm) bewusst ist, ist ihm zugleich auch immer bewusst, dass er (in sich) Bewusstsein von etwas außer ihm hat.29 Bewusstsein ist demnach onen in der Zusammensetzung des als Bewusstsein verstandenen Geistes – und wie sich zeigen wird, des aus diesem erst folgenden weiteren Seins. 26   Schelling greift hier auch auf den Ausdruck des Subjekt-Objekts zurück, den er ab ca. 1800 als Bezeichnung des Ichs bzw. des Bewusstseins gebraucht. Vgl. SW XIII, 235: „wenn wir das Seinkönnende als Subjekt, das rein Seiende als Objekt bestimmen, so ist das Dritte das, was weder bloß dieses, noch bloß jenes, sondern das unzertrennliche Subjekt-Objekt ist, […] kurz das als solches seiende Seinkönnende“. Vgl. auch AA I,9.1, 148 f./SW III, 452 und AA I,10, 90/SW IV, 86. Es ist klar, dass die ganze hier beschriebene Geist-Konzeption aus dem Gefüge der Potenzen eine Weiterentwicklung der Ich-Theorie aus Schellings Frühzeit und damit bekanntermaßen auch eine Weiterführung von Fichtes Wissenschaftslehre ist. Bei Fichte hat das Selbstbewusstsein immer einen Doppelbezug auf sich selbst und auf anderes, es ist Ich- und Nicht-Ich-Setzen zugleich, wobei logisch das Ich-Setzen über den Satz der Identität dem Nicht-Ich-Setzen vorausgeht (vgl. Fichte GA I,2, 260). Eben dies findet sich unverändert noch beim späten Schelling, wenn es an der entsprechenden Stelle heißt: „Eh‘ ein Wesen für sich, d. h. als Objekt von sich selbst, da ist, muss es an sich da sein. Der für sich selbst seiende, d. h. der als Objekt von sich seiende Geist setzt den an sich seienden Geist voraus“ (SW XIII, 252). 27   Bekanntlich wird dies seit Brentano 1874 mit ‚Intentionalität‘ bezeichnet; der Sache nach wird dies bereits im Deutschen Idealismus, namentlich in Schellings fester Subjekt-Objekt-Struktur gesehen. 28   Buchheim hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Reflexivität mit Unterschiedlichkeit verbunden sein muss, damit sie nicht in sich leerläuft. Vgl. Buchheim 2006, 188 f. mit Anm. 1 und 2. 29   In der genaueren Deutung dieser Beziehung auf Anderes und ihres wechselseitigen Begründungsverhältnisses stehen neben Fichte noch weitere historische Alternativen zur Verfügung, z. B.: Ist die Objektivität dasjenige notwendige Medium, in dem Subjektivität sich überhaupt erst entfalten und darstellen kann (Hegel) oder ist die Selbstbewusstsein

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immer auch ein Selbstverhältnis, ein: sich-zu-sich-verhalten.30 Damit ist die Grundstruktur des Selbstbewusstseins dargelegt, d. h. der entscheidenden Entdeckung des Deutschen Idealismus, dass Bewusstsein immer darin besteht, dass nicht nur jemandem etwas bewusst ist, sondern dies zugleich damit einhergeht, dass dieses Bewussthaben selbstbewusst ist, d. h. jeder Person implizit bewusst ist, dass sie Bewusstsein hat.31 Hierdurch erklärt sich auch das vierte Argument: 4) Die Potenzen gehen ineinander als vollkommene Einheit auf, von welcher sie nur Momente oder Aspekte sind. Eine solche Einheit ist nicht ein Verhältnis von Teilen und Ganzem, da es in ihr kein räumliches Auseinander oder zeitliches Nacheinander gibt. Es ist aber auch kein begriffliches Verhältnis, da Begriffe zueinander in Subordinationsverhältnissen stehen. Sondern die Potenzen sind in einem organischen Verhältnis ineinander gefügt (SW XIII, 238). In ihnen ist der Teil „selbst das Ganze […] und umgekehrt ist das Ganze nicht mehr, als jeder Teil auch ist. Dies aber ist der Charakter der vollendeten Geistigkeit“ (SW XIII, 239, vgl. UF 62). In Raum und Zeit, so lässt sich das Argument verstehen, haben die Raum- und Zeitteile zwar je die volle Räumlichkeits- und Zeitlichkeitsstruktur in sich, nicht aber den ganzen Raum oder die ganze Zeit, da es sonst nicht Dinge und Ereignisse geben könnte, die an einem anderen Ort oder zu einem anderen Zeitpunkt stattfänden. Ebenso enthalten zwar Allgemeinbegriffe Momente der subordinierten, diese aber bilden keine wechselseitige Einheit. Der Geist hingegen ist ein nicht separierbares Gefüge seiner Momente. So lässt sich z. B. die Subjekt- und die Bedingung allen Bezugs auf Objektivität als auf etwas von mir Verschiedenem (Kant)? Offenbar ist der späte Schelling innerhalb dieser Alternativen eher in Hegels Nähe zu sehen, da – anders als bei Kant – der Geist über das Moment des Für-sich-Seins bereits Subjekt-Objekt-Strukturen mit sich führt, die noch gar keine echte Alterität beinhalten, während er, wie sich zeigen wird, erst in der praktischen Entfaltung in das Andere der geschöpften Welt zu Gott im vollen Sinne wird. 30   Kierkegaard 1984, 13, hat dies unter Schellings Einfluss zu seiner Definition des Selbst übernommen, nach welcher es die Selbstbezüglichkeit des Verhältnisses ist, welche den Geist oder das Selbst ausmacht. Das Sich-zu-sich-Verhalten wurde auch im 20. Jahrhundert weiter als Kernkriterium von Bewusstsein diskutiert. Prominent z. B. bei Tugendhat 1979. 31   Vgl. Stolzenberg 2003. Die strittige Frage der Selbstbewusstseinstheorien ist nicht, ob es das so beschriebene Selbstbewusstsein, dass sich nach gegebener Interpretation auch bei Schelling findet, gebe, sondern lediglich, ob es sich einer Befähigung ausdrücklicher Reflexionsakte verdanke oder ein diesen gegenüber ursprünglicheres präreflexives Selbstbewusstsein anzusetzen ist (hierzu Henrich 1970). Rödl 2011, 8 sieht auch die Handlungstheorie und die Theorie des Erkennens innerhalb des Deutschen Idealismus als „Teil einer Untersuchung des Selbstbewusstseins“.

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Objektseite unterscheiden; beide jedoch wären in sich nichts, wäre die relationale Struktur des Ganzen (Subjekt-Objekts) ihnen als an-sich und für-sich Seiende nicht schon eingeschrieben. Auf der Basis dieser vier Punkte lässt sich Schellings Interpretation, dass die Einheit der entfalteten Potenzen als Geist zu verstehen sei, rechtfertigen. Insofern sich die Architektur der Potenzen nun als Geist verstehen lässt, stellt sich allerdings zudem die Frage, wie sich jene zu diesem und in diesem verhalten? Schelling betont, dass der Geist als Einheit den Potenzen gegenüber primär ist im Sinne ontologischer Superiorität.32 Innerhalb der Prinzipiendeduktion, welche zuerst die Potenzen ausgewiesen hatte, tritt daher „mit dem Begriff des Geistes […] ein vollkommener Wendepunkt ein“ (SW XIII, 239); ein Wendepunkt, der darin besteht, dass sich die Deduktionsfolge der Potenzen nicht als Seinsfolge erweist, da diese „in ihrer   Vgl.: GPP 298: „Als drei Ursachen verhalten sich die drei Prinzipien im Prozess. Da aber dieser selbst nur Tatsache ist, so ist die Ursache, die außer und über dem Prozess bleibt als die den Prozess setzende und daher unabhängig von ihm seiende, erst die wahre Ursache: das zuerst und ursprünglich allein Existierende“. Hierzu auch Franz 1992, 227 f. Ebenso bezeichnet Schelling in der Urfassung den Menschen als einen, der „zwischen [den] drei Potenzen als ein Viertes zu stehen kommt, frei von jeder einzelnen Potenz“ (UF 217). Diese Position geht daher über frühere Fassungen hinaus, bei denen in etwa das Bewusstsein als Subjekt-Objekt gerade die Einheit eines zweipoligen Verhältnisses war. Auch Gott wurde mit der Entwicklung der Grund/Existierendes-Unterscheidung zunächst lediglich als die Einheit der drei Potenzen (wovon die dritte selbst die Einheitsstiftende ist) bezeichnet – z. B. in AA I,17, 160/SW VII, 395: „Gott [ist] durch die Verbindung des idealen Prinzips in ihm mit dem (relativ auf dieses) unabhängigen Grunde, da Basis und Existierendes in ihm sich notwendig zu Einer absoluten Existenz vereinigen“. Eine letzte Klarheit in dieser Frage hat Schelling auch in der Spätphilosophie nicht erreicht, was sich unter anderem daran zeigt, dass, er die aristotelische Vier-UrsachenLehre unterschiedlich der Potenzenlehre zuordnet: In der GPP 297 ordnet er die causae materialis, efficiens und finalis den drei Potenzen und die causa formalis als vierte zugleich Gott als übergeordneter Ursache zu; in der Philosophie der Mythologie hingegen lediglich die causae materialis, efficiens und finalis als die drei Potenzen, wobei die causa finalis explizit Gott gleichgesetzt wird (SW XII, 112) und dann in der Philosophie der Offenbarung die causa materialis, formalis und finalis in dieser Reihenfolge entsprechend der trinitarischen Ordnung von Vater, Sohn und Geist (SW XIII, 342). Demensprechend bleibt auch sachlich unklar, was es bedeute, dass Gott eine zu den drei Potenzen noch übergeordnete Einheit sei. Hintergrund mögen trinitätsspekulative Überlegungen sein, nach welchen Gott einerseits als Gottvater Teil der Dreiheit, andererseits aber die Einheit der Dreiheit ist. Nach Jacobs 2015, 346 ist in der übergreifenden Einheit „Gott […] gedacht als der sich in den Potenzen vollziehende, als die Freiheit, die in den Potenzen lebt“. Halfwassen 2015, 390 versteht sie als „die reine Tätigkeit der Vermittlung in allen drei Potenzen, die als ihre vermittelnde einigende Einheit ursprünglicher als sie und darum über sie erhaben ist“. 32

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Einheit, d. h. im vollendeten Geist betrachtet […] nicht mehr als Potenzen eines künftigen Seins, sondern als […] immanente Bestimmungen des Geistes selbst“ (SW XIII, 241) zu betrachten sind. Sie sind Wirklichkeiten in ihm: „Sie verhalten sich [in ihm] als er selbst“ (UF 65 f.).33 Das bedeutet, dass die Potenzen zwar als Potenzen des wirklichen Seins deduziert sind, jedoch als unselbständige Momente, die nicht im Sinne des Substanzbegriffs für sich sein könnten. Erst indem sich die Einheit der Potenzen als Geist erweist, erweist sich dieser zuletzt als das, was vor dem Sein ist, nämlich als die Quelle des künftigen Seins. Der Geist selbst als Potenzeneinheit ist letztes Prinzip und kann nicht seinerseits noch Prinzipien haben. Als Wirklichkeit des Geistes jedoch bleibt das dynamische Potenzengefüge erhalten; es bildet die Innenarchitektur des Geistes, sein unsichtbares Amalgam, das jedoch in seinen Tätigkeiten wieder sichtbar wird. In der Entäußerung erweisen sich die Potenzen des Geistes dann als die Ursachen des durch ihn erzeugten Seins: „Sie sind die eigentlichen Anfänge […] des sämtlichen gewordenen Seins“ (SW XIII, 243). Deswegen lässt sich vom absoluten Geist als Potenzeneinheit her auch die Art seines Heraustretens im Handeln beschreiben.

33   Erhellend hierzu Simon 2014, 164 ff., der den hypothetischen Status der Prinzipiendeduktion hervorhebt, die noch der negativen Philosophie zugehört, während mit dem Begriff des Geistes eine Umkehrung des Denkens vom Negativen zum Positiven stattfindet in welchem „der wahre Anfang“ (vgl. UF 69) liege. Hierzu auch die Anmerkung aus Schellings Tagebüchern von 1846: „Die negative Philosophie ist die Wissenschaft der Welt ohne Gott, […] die negative Philosophie ist Welt-Weisheit, die nur unrecht hat, wenn sie Gottes Weisheit sein will“ (TGB, Bd. 12, 87 f.). Vgl. entsprechend auch Fuhrmans 1972, 21 f., der darauf hinweist, dass die negative und positive Philosophie in der Schöpfungslehre Schellings einer zu Gott aufsteigenden und einer von Gott absteigenden Bewegung entspricht. Die negative Philosophie ist als „philosophia ascendens (von unten aufsteigende)“ (SW XIII, 151 Anm.) Erhellung und Konstruktion des Wesens des Absoluten; die positive hingegen (mit dem Absoluten als Anfang und nicht als Ende) die Begründung der Wirklichkeit aus Gott als philosophia descendens, als „von Gott ausgehende Philosophie“ (22). Die Philosophie bedürfe daher, so Fuhrmans, „in ihrer Mitte einer entscheidenden ‚Kehre‘“ (22). Hierzu gehört auch, dass die negative Philosophie synthetisierend die Einheit des Geistes aus den Potenzen als seinen Momenten darstellt, während die positive Philosophie die hieraus entspringende Vielheit der Welt entfaltet: sie ist „Auseinander-Setzung der Potenzen [und damit] das genaue Komplement zu der Zusammennahme, welche als die gegenseitige Potenzialisierung der Potenzen diese in eine Einheit brachte“ (Schulz 1955, 219). Es ist klar, dass bei dieser Theorieveranlagung die Entfaltung einer positiven Philosophie einer ausgearbeiteten negativen als ihrer Basis bedarf (Franz 1992, 95).

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III. Die Potenzen als praktischer Geist, d. h. als Willen, der auf Etwas geht. Das dynamische Selbstverhältnis des Geistes, als das sich Schelling das Gefüge der deduzierten Potenzen zeigte, lässt sich von diesen her auf vielfältige Weise interpretieren. Es ist metaphysisch die Verbindung von Subjekt und Objekt, psychologisch von Licht und Dunkel, in Hinsicht auf die Geistesvermögen von scheidendem Verstand und vereinigender Vernunft, in moralischer Hinsicht von Egoität und Alterität. In unmittelbarster Hinsicht allerdings erweisen sich die Potenzen als Grundentfaltungen des Willens; ja sie sind selbst unmittelbare Willensformen. Als solche sind sie eben die Momente, aus denen sich das praktische Bewusstsein bei Schelling aufbaut. 1) Erste Potenz: der hinausdrängende Eigenwille. In der ersten Potenz, dem unmittelbar Seinkönnenden, liegen in der gegebenen Interpretation bereits eine Reihe Merkmale vor, die es berechtigt sein lassen, diese Potenz voluntativ zu interpretieren und so zuletzt das unmittelbar Seinkönnende als das zu bestimmen, das „in seinem Sein nichts anderes als Wollen“ (SW XIII, 206) ist. Was sein kann, ist zunächst noch nicht. Zumindest nicht dieses Sein, das es sein kann. Demnach ist in der ersten Potenz ein Übergang angelegt von einem Nichtsein zu einem Sein. Der Ausdruck ‚Potenz‘ bezeichnet eben dies: Übergehen-Können in ein anderes. Und dieses Übergehen-Können denkt Schelling im Fall der ersten Potenz aktiv. „Das Seinkönnende ist eine lautere Macht und Gewalt zu existieren“ (SW XII, 35) und damit ein aus sich selbst in etwas Übergehen-Können. Aber eben dies bedeutet, einen Willen zu haben, nämlich „seiend sein […] durch sein bloßes Wollen, ohne dass e[s] etwas anderes bedarf, als eben zu wollen“ (ebd.). Entsprechend der beiden ersten Seiten (A und B) der ersten Potenz differenziert Schelling zwischen dem Willen als einem allgemeinen Vermögen des Wollens und dem Wollen als der Aktualisierung dieses Willens: „Der Wille ist die Potenz, die Möglichkeit des Wollens, das Wollen selbst ist Actus“ (SW XII, 36, vgl. XIII, 205). Dementsprechend ist „die reine potentia existendi […] selbst noch ein lauterer, nicht wollender Wille und bloß dadurch schon, dass sie will, gibt sie sich ein Sein oder zieht sich ein Sein zu; sie ist seiend im Wollen, oder das Wollen selbst ist ihr das Sein“ (SW XII, 37). Entsprechend der in der ersten Potenz angelegten Seinserhebung gilt für das Verhältnis von Wille und Wollen: das Wollen

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ist der ins Sein erhobene Wille, der Wille die Quelle des Wollens (SW XII, 58). Während der bloße Wille eine bloß intransitive Potenz (= das Seinkönnende im Modus A) ist, ist seine Erhebung ins Sein, das Wollen (= das Seinkönnende im Modus B) in seiner Entzündung, Dauer und Vollendung Actus. Das Wollen selbst ist die entfaltete Transitivität. Daher erweist sich das Vermögen eines Willens, vom Nicht-Wollen zum Wollen übergehen zu können, als eigentliches Seinsentstehungsprinzip: „Wenn eine Begierde [d. h., ein Wollen] in uns entsteht, ist auf einmal ein Sein da, wo vorher keines war“ (SW XIII, 213).34 Das Wollen-Können des Willens ist demnach die voluntative Einlösung des formalontologischen Prinzips des Seinkönnens: „Das Seinkönnende ist der wollen könnende Wille“ (SW XIII, 213). Hier ist daher der systematische Ort für Schellings bekannte These: „Ursein ist Wollen“ (SW XI, 388)35 . Nach dieser ist „Wollen nicht bloß der Anfang, sondern auch der Inhalt des ersten entstehenden Seins“ (ebd.), ja „die Substanz allen Seins“ (UF 39). Es ist „die eigentliche geistige Substanz des Menschen, […] das einzige im Menschen, das Ursache von Sein ist“ (SW X, 289). Während die bloße Potenz (= A) eine leere, formale Möglichkeit ist – ein Keim, der sich noch nicht entwickelt hat – ist das Wollen des Seins (= B) bereits seinerseits eine Form von Sein; da es andererseits das Sein, vor dem es ist, erst will (bzw. kann), ist der Ausdruck des ‚Urseins‘ wohlbegründet.36   Es stellt sich die berechtigte Frage, was denn der bloße Wille vor und außerhalb des sich Erhebens oder Äußerns sein soll – und die Antwort muss wohl darin bestehen, diesen als eigentliches Nichts zu bezeichnen (oder als etwas, das sich aller Bezeichenbarkeit entzieht), als dasjenige Nichts, das dort ist, wo danach ein Sein ist und zuvor nichts war, wenn eine Begierde sich erhebt. Vgl. zutreffend Buchheim 1992, 150: „Der nichtwollende Wille kann für Schelling nur in eben derselben Weise gedacht werden, und von ihm nur so die Rede sein, wie vom intransitiven Können. Von selbst kann vom Willen nicht gesagt werden, weder dass er etwas will, noch dass er nicht will; es kann somit nicht gesagt werden, dass er Wille ist“. 35   Bzw. in der Formulierung der Freiheitsschrift: „Wollen ist Ursein“ (AA I,17, 123/ SW VII, 350). Es ist nicht zu sehen, dass Schelling sich von dieser grundsätzlich voluntativen Grundveranlagung in seiner spätesten Werkphase verabschiedet hätte, auch wenn er in den letzten Passagen des Akademievortrags Über die Quelle der Ewigen Wahrheiten von 1850 Gott als bloßes Dass, „vor allem Wollen“ (SW XI, 586) zu fassen versucht. Denn einerseits führt dieser Vortag andere Beweisziele mit sich, indem er Gott entlang dem Vernunftideal vollständiger Bestimmbarkeit, d. h. in rein negativer Weise, zu fassen versucht, während der Wille eine entscheidende Schlüsselfunktion im Übergang in die positive Philosophie bildet. Zweitens ist das angeführte Zitat eine Wiederholung des Ausrufs der Freiheitsschrift in eben dieser letzten Werkphase selbst. 36   Zu Recht weist Dörendahl 2012, 224 darauf hin, dass Schelling dieser Stelle „den 34

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In diesem entsprechend der ersten Potenz veranlagten Wollen finden sich nun zwei zentrale Eigenschaften, die in einem ambivalenten, spannungsreichen Verhältnis zueinander stehen: Das Wollen will etwas anderes und sich selbst als dasjenige, das etwas anderes will.37 Das Etwas-Wollen ist zunächst eine intrinsische Eigenschaft des Wollens selbst: Nichts zu wollen ist Nicht-Wollen. Dementsprechend gilt: „alles Wollen muss etwas wollen“ (SW XI, 462).38 Die grundsätzliche Intentionalität des Bewusstseins gilt auch für die Momente seiner voluntativen Interpretation. Da dieses Wollen aber im Status der Prinzipiendeduktion der ersten Potenz nur sich selbst hatte, gilt für den Willen entsprechend: „Der Wille, der nichts vor sich hat, […] kann nur selbstisch sein“ (SW XIII, 215). Dieses sich-selbst-Wollen ist jedoch kein sich-zurücknehmen-Wollen in den Status der Potenz (A), da das Wollen (B) sonst gerade zum nicht wollenden Willen würde. Sondern das sich selbst-Wollen des Willens muss ein Wollen des hinausdrängenden Wollens sein: der Wille will sein eigenes, auf ein anderes gehendes Wollen erhalten. Dies entspricht der herausgestellten Struktur von Selbstbewusstsein, das zugleich Bewusstsein von etwas und seiner selbst ist. In Hinsicht auf die voluntative Interpretation zeigt sich darin aber ein ambivalentes Verhältnis: denn das Wollen, das hinausdrängt, will etwas, ein Objekt – und zwar eines, das es nicht selbst ist. In diesem Sinne drängt es von sich weg. Das Wollen umgekehrt, das nur sich selbst will, ist „eigentlich gegenstandslos“ (SW XI, 462). Es ist nichts als auf sich selbst bezogene Sucht, etwas, das den hinausdrängenden Wollenscharakter eigentlich verzehrt. Der Suchtcharakter des ursprünglichen Eigenwillens zeigt sich darin, dass dieser stets sich und nur sich will. Er ist Wollen „um des Wollens willen, das nicht etwas will, sondern nur sich selbst will“ (SW XI, 461).39 Begriff des Willens von seiner Bedeutung als praktischer Vernunft ab[löst], mit dem er bei Kant und Fichte bis zur Identität verbunden ist“. 37   Vgl. W 122. 38   Vgl. AA I,9.1, 255/SW III, 557: „Das Wollen richtet sich ursprünglich notwendig auf ein äußeres Objekt“. 39   Die in der Periode von der Freiheitsschrift zu den Weltaltern zunächst konzipierte Prinzipienlehre von Grund und Existierendem charakterisierte Schelling auch als eine Gegenüberstellung von einem kontraktiven und einem expansiven Prinzip (vgl. Durner 1979, 159 und 163, der Schellings Charakterisierungen der Prinzipien in den Weltalterentwürfen ausführlich auflistet). Die zusammenziehende ‚Bewegung‘ des Grundes entspricht dem Eigenwillen, der Egoität; das ‚ausquellende‘ dem Universalwillen. Allerdings ist diese ‚Bewegung‘ nicht eindeutig. Der gezeigte Doppelcharakter das Wollens der ersten Potenz (sich selbst und etwas anderes zu wollen) hat so zu zweierlei Exegese geführt, bei der nach der einen Sicht der Grund bzw. die erste Potenz expansiv sei und das Existierende bzw. die zweite Potenz kontraktiv – es sich nach der anderen

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2) Zweite Potenz: der zurückhaltende Universalwille Als Moment der Zurückhaltung und Begrenzung hat sich das rein Seiende in Bezug auf das Seinkönnende in der Potenzenentwicklung dadurch manifestieren können, dass es selbst eine Art des Seins mit sich führte. Durch dieses Sein, das es selbst schon war, konnte es in sich bestehen und dem Seinkönnenden ein Moment des Verbleibens zuführen, durch welches dieses in der Verbindung mit der zweiten Potenz zu sich kommen konnte. Entsprechendes gilt nun für die Perspektive, in der sich das Potenzengefüge im Geist als Moment des Willens darstellt: „das rein Seiende ist = dem völlig willen- und begierdelosen, dem ganz gelassenen Willen, denn es hat das Sein nicht zu wollen, weil es das von selbst, d. h. das an und für sich, gleichsam ohne sich selbst Seiende ist“ (SW XIII, 213). Als ein Moment, „das schlechterdings nicht sich will, [muss es umgekehrt] ein absolut unselbstisches Wollen sein“ (SW XIII, 214), ein reines oder unendliches (universales) Wollen. Da aber jedes Wollen ein Wollen von etwas ist, muss das Wollen, das sich selbst nicht will, ja das überhaupt kein Sein sich zuziehen will, das Wollen von etwas Anderem sein. Es muss also sich selbst gegenüber gelassener Wille und auf anderes bezogen ein Wollen sein, das ein anderes Wollen will (ein Wollen anderer Art) – das Wollen, das ein anderer will. Nun gibt es auf dem Standpunkt der Deduktion der zweiten Potenz nichts anderes als die erste Potenz; also will die unselbstische zweite Potenz das (selbstische) Wollen der ersten Potenz. Das rein Seiende „will nicht Sich als Sich […], sondern Sich als das Seinkönnende, und demnach als ein anderes“ (SW XIII, 215). 3) Dritte Potenz: das Wollen, das sich hat Auch unter der voluntativen Interpretation zeigte sich so die Wechselbezüglichkeit der beiden ersten Potenzen. Sie sollen dasselbe auf verschiedenen Stufen der Betrachtung sein (vgl. SW XIII, 215). Wie lässt sich dies sachlich begründen? Die Genese der Wechselbezüglichkeit der voluntativ verstandenen ersten Potenz gründete darin, dass für beide Willenstypen gilt: in ihrem charakteristischen Wollen ein ambivalentes Moment angelegt ist, das sie Sicht aber gerade umgekehrt verhalte. Diese „große Unklarheit“ (Fuhrmans 1950, 86) in Schellings Schriften besonders der mittleren Periode lässt sich durch eine hybride Lesart wie die vorgestellte vermeiden.

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je auf die Seite der anderen Potenz bezogen sein lässt. Ihren Grundcharakter nach ist das Grundwollen beider Potenzen (das sich Wollen der ersten Potenz und das sich nicht Wollen der zweiten) je als solches wegen der Intentionalität des Wollens nicht haltbar. In ihm liegt je ein über es selbst hinausführendes Moment, in der Struktur ihres Wollens liegt je mehr, als sie selbst dem Inhalt ihres Wollens nach möchten. Der Wille, der nur sich selbst will, kann nicht nur sich selbst wollen, da er selbst, als sein gewolltes Objekt wiederum intentional verfasst ist, und daher noch etwas anderes, ein Seiendes, mitwollen muss. Einen bloß aktivierten, auf sich selbst bezogenen Willen ohne allen weiteren Inhalt zu wollen, ist nicht möglich. Deshalb ist das bloße Selbstwollen verzehrend. Entsprechend verhält es sich mit dem Willen der zweiten Potenz: ein nicht wollender Wille ist ein Unding; insofern der Wille der zweiten Potenz also sich selbst nicht will (weil er sich schon als Sein hat), kann er gleichfalls nicht inhaltslos bleiben, und muss etwas anderes als sich wollen. Nach potenzendeduktiver Vorgabe kann dies nur der selbstische Wille sein. Hierdurch jedoch verschränken sich beide Willenstypen zu einer dynamischen Einheit eines nichtwollend-Wollenden, im Wollen sein Wollen zurückhalten Könnenden. Der Geist als die dritte Potenz ist voluntativ interpretiert der selbstmächtige, sich selbst besitzende Geist als ein „Wollen, das sich hat“ (SW XI, 462). Denn das Geistkriterium, im außer-sichSein bei sich bleiben zu können, entspricht der Eigenschaft des als Willen verstandenen Geistes, „im Wollen Quelle des Wollens, d. h. Willen zu bleiben“ (SW XII, 58). Insofern durch Verbindung mit dem nicht-wollenden Willen der zweiten Potenz jener erste Wille zurückgehalten und im Erreichen seines eigenen Wollens zum Stillstand gebracht werden kann, wird das Wollen als Objekt des Willens beherrschbar. Es sei, betont Schelling, eine wichtige Unterscheidung zwischen dem Urwollen, das sich selbst will und dem Wollen, „das nun sich hat und als Erzeugnis jenes ersten Wollens stehen bleibt und erst der wirkliche Geist ist, der Geist, der sich hat, der bewusste Geist“ (SW XI, 462). Durch das Einheitsprinzip des Geistes ist eine zentrale Eigenschaft des Bewusstseins geschaffen, welche überhaupt erst verbürgt, dass es wandelbare Inhalte haben und dennoch sich als Bewusstsein gleichbleiben kann. Durch das Zweiheitsprinzip der ersten Potenz kann das Bewusstsein sich ungleich werden und dennoch durch die in dieses gefügte Einheitsstiftung der zweiten Potenz sich gleichbleiben (vgl. UF 63). Nur so kann es, was in Bezug auf seine Handlungsfähigkeit von entscheidender Bedeutung ist, sich im Werden, d. h. im sich Äußern, im aus sich Herausgehen, nicht verlieren. Die Einheit des Willens hört nicht auf, „im

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Wirken oder im Wollen […] als Quelle des Wirkens, als Wille zu bestehen“ (SW XIII, 235). Und so wie der Geist frei ist, zu sein oder nicht zu sein, ist der als Wille verstandene Geist frei „sich zu äußern oder nicht zu äußern“ (GPP 112). Der Geist als Einheit der Potenzen hatte sich als deren Prius erwiesen. Dieses Verhältnis gilt es auch bei der voluntativen Interpretation der Potenzen zu beachten. Der Geist als Wille ist ontologisch kein Resultat seiner auf sich bezogenen Willensformen, sondern diese sind als seine Momente (Struktureigenschaften) und nicht als seine Prinzipien oder gar Ursachen in ihn eingegangen.40 Der Geist als freies Wollen ist die Antwort auf die Ausgangsfrage nach dem, das vor dem Sein ist.

IV. Die reale Handlung 1) Handeln als Veräußern des Willens Mit dem Geist als Willen, der auf etwas anderes geht, ist die Grundfigur des praktischen, nun auch im Sinne des handlungsfähigen Bewusstseins erreicht – des Bewusstseins, das aus sich heraus geht, um zu wirken. „Das Wollen [ist] der Anfang einer anderen, außer der Idee gesetzten Welt“ (SW XI, 464), der Wille im Menschen das „Mittel der Äußerung seines Innersten“ (W 137). Daher stellt sich nun die Frage: Wie gestaltet sich tatsächliches Handeln auf der Basis des praktischen Bewusstseins und seiner ausgewiesenen voluntativen und ontologischen Strukturen? Hierfür ist zunächst das transitive Element der ersten Potenz einschlägig. Denn ein als Wille verstandener handlungsfähiger Geist bedarf zum Handeln eben derjenigen Elemente, deren ein Geist überhaupt zum Sein bedarf: Die Potenzen seines eigenen Seins werden durch die Transitivität der ersten Potenz für ihn „Möglichkeiten, Potenzen eines anderen, eines von seinem gegenwärtigen verschiedenen Seins“ (SW XIII, 272), desjenigen Seins nämlich, das im Handeln entsteht als Außer-sich-Setzen des eigenen Wesens; modern gesprochen: als Verwirklichung von Absichten als Gehalten mentaler Zustände. In diesem Übergang a potentia ad actum in der internen   Wenn Schelling in SW XI, 388 das reine Wollen der ersten Potenz als „die erste, nämliche materiale Ursache alles Entstehenden“ bezeichnet, so ist damit klarerweise nicht gemeint, dass sie diese Funktion in Hinsicht auf den Geist/Willen hat, sondern es ist ihre Funktion in Hinsicht auf den durch die Schöpfung in Gang gesetzten Naturprozess bezeichnet. Vgl. Franz 1992, 228 f. 40

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Aktivierung des Willens (SW XIII, 68) ist zugleich ein verwirklichender Überstieg aus der Sphäre des Geistes hinaus angelegt: Handeln ist Transitivität, Ektase und Außersichsein.41 Der ersten Potenz, als Urform des Übergangs, entsprechend, wird auch das Außer-sich-Sein im Handeln durch bloßen Willen (SW XIII, 271) bewirkt. Die Potenzen, die den Geist bilden, bilden so auch die objektive Welt als Veräußerung dieses Geistes: Im Fall Gottes wird diese objektive Welt in der Schöpfung überhaupt erst hervorgerufen; im Fall des Menschen durch Handlungen verändert und gestaltet. Durch diese situative Differenz zwischen Mensch und Gott ist auch ein Unterschied in der Frage, ob man untätig bleiben kann, oder ob das Hinausdrängen des Willens der ersten Potenz unmittelbar zum äußeren Handeln nötigt, gegeben. Gott muss nicht wirken, insbesondere muss er keine Welt schöpfen. Er genügt sich selbst. Der Mensch hingegen hat nur die Wahl, wie er handelt. Er kann nicht in der reinen Theorie, in der Kontemplation verbleiben. Für ihn gilt: „es muss gehandelt werden“ (SW XI, 560). Dieser Unterschied rührt daher, dass der Mensch kreatürlich ist und daher im Gegensatz zu Gott, der keine physischen Bedürfnisse kennt, bereits über die physischen Notwendigkeiten seines Daseins in einer geschaffenen Welt zum Handeln gezwungen wird. In Hinsicht auf seine Konstitution als geistiges Wesen hingegen besteht kein Unterschied zwischen Mensch und Gott. Hier gilt: Der Mensch ist „Gott gleich; er ist ganz wie Gott“ (SW XIII, 349). Für Gott und den Menschen gilt gleichermaßen: wer handelt, der muss die Veräußerung seines Geistes wollen, er muss die Absicht haben, „das nicht selbstgesetzte Sein, in dem er sich selbst nur findet, in ein selbstgesetztes zu verwandeln“ (SW XIII, 277). Damit ist nicht nur eine spezifische Absicht Gottes in Hinsicht auf die Schöpfung beschrieben, sondern die allgemeine Struktur handlungsrelevanter Wünsche, d. h. Absichten, dargelegt. Wer etwas beabsichtigt, der möchte explizit, dass der Gehalt seines (unwillkürlichen) Wunsches willkürlich durch ihn selbst außer ihm gesetzt, d. h. verwirklicht wird.

41   Und auch dies entspricht den potenzendeduktiv bereits angelegten ursprünglichen Seinsformen. Denn „alles Sein ist ein Hinaus-gesetzt-Sein, ein Exponiert-Sein, ein gleichsam Hinausstehen“, wie Schelling in der Monotheismusabhandlung (SW XII, 56) ausführt.

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2) Die Stufen der Willenssteigerung Überblickt man nun mit Schelling den Weg von der ersten Bildung des Willens bis zur Ausführung der Handlung, so zeigt sich, dass darin zwei weitere Übergänge virulent sind, die es nachfolgend auszuführen gilt: Zur Erhebung des Wollens als genereller Entscheidung, etwas zu tun, kommt noch eine zweite Entscheidung, nämlich die, eine Handlung konkret und unmittelbar zu beginnen, hinzu. Demnach ergibt sich folgende zeitlich-logisch sukzedierende, aus dem Potenzengefüge heraus entwickelte Steigerungsfolge: 1) unbewusster Wille, 2) bemerkbares Wollen, 3) Entschluss, 4) entzündetes Wollen, 5) zweiter Entschluss und schließlich 6) Handeln. Diese Elemente sukzedieren zum einen zeitlich auf die Handlung zu, so dass in etwa der entzündete Wille früher sein muss, als die zweite Entscheidung, deren Voraussetzung er ist. Zum anderen stehen sie wechselseitig in Potenz-Actus-Verhältnissen, so dass der entzündete Wille zugleich die Potenz der zweiten Entscheidung und diese wieder der Ausführung der Handlung ist. In der sich so ergebenden Steigerungskette stehen auf der einen Seite mit dem bloßen (nicht wollenden) Wille die reine Potenz und am anderen Ende mit der realen Handlung der reine actus. Die zunehmend zum actus sich steigernden Elemente dazwischen bilden keine sich ablösende Sukzession voneinander unabhängigen Einzelgliedern, sondern fügen sich so ineinander, dass zuletzt in den tatsächlichen Handlungen die vollständige Struktur des gesteigerten Willensgefüges enthalten ist. Dieses bildet zugleich die fundamentale Struktur für den Erklärungsgrund der Handlung, da konkrete Handlungen aus dem spezifischen Gefüge des so und so gebildeten Wollens entstehen. Daher muss der Weg zu einem Verständnis des Zustandekommens von Handlungen bei Schelling über eine Analyse des das Handeln tragenden Willensgefüges gehen. Betrachten wir nun die Elemente dieser Steigerungsfolge im Einzelnen: 1) Der Wille selbst bildet sich unbewusst. Er ist als solcher nicht erkennbar. Ein Wille, der als Wille verbleibt, ist epistemisch gleich null, nämlich reine Potenz. Man kann diese Ebene analog zu Schellings transzendentaler Konzeption einer Geschichte des Selbstbewusstseins, wie er es im System des transzendentalen Idealismus dargelegt hat, als die verborgene, aber prägende Tiefenschicht der Konstitutionsvergangenheit des praktischen Bewusstseins verstehen, auf deren sichtbarer Oberfläche dann die Formen des handlungserzeugenden Willens und die wirkliche Tat erscheinen. Denn die epistemisch unzugängliche Willensebene kann sich zeigen, d. h. zu einem bemerkbaren, inhaltlichen Willen umbilden. Im zweiten Weltalterentwurf führt Schelling aus, dass „sich ein Wille im

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Menschen bewusstlos, ohne sein Zutun erzeugt, den er nur findet, nicht macht, und der ihm, gefunden, erst zum Mittel der Äußerung seines Innersten wird“ (W 137). Ein solcher, im Menschen gefundener Wille, der wirksam werden kann, aber es noch nicht ist, kann man als inneren Drang, Lust, oder auch inhaltlichen Wunsch verstehen. Der Mensch kann auf dieser Stufe nicht beeinflussen, was er inhaltlich will (wünscht), aber er kann entscheiden, was von einem solchen in ihm gebildeten Willen tatsächlich gewollt, d. h. angezielt wird. Dies geschieht mit 2) der Instanz der Entscheidung, d. h. des Entschlusses, die gewünschte Handlung auch tatsächlich dereinst auszuführen. Schelling spricht hier von einer „Entzündung“ des Willens: „Wollen [ist] ein entzündetes Feuer, wie wir selbst im gemeinen Leben von einem Feuer des Wollens, der Begierde reden“ (SW XIII, 207) Dieser Entschluss ist nicht lediglich dem Glauben gleichzusetzen, dass die gewünschte Handlung ausführbar ist und anderen Wünschen nicht widerspricht, wie dies nach standardmäßigen belief-desire-Theorien humeanischer Prägung der Fall zu sein scheint.42 Schelling hingegen statuiert sachangemessen noch eine zusätzliche innere Metainstanz, welche die spezifischen Wünsche des eigenen Willens bei sich behalten oder per Entschluss in ein Wollen überführen kann. Diese Metainstanz in Schellings Strukturontologie des Geistes ist der reflexive Geist selbst, der die hinausdrängend-zurückhaltenden Momente der Potenzen in sich trägt. Denn nur der beherrschte Wille in Form seiner Vollendung in der dritten Potenz vermag das fortdrängende Wollen der ersten Potenz durch die zweite zu begrenzen und zurückzuhalten. Dass es also sein kann, dass jemand etwas zu tun wünscht, alle äußeren Realisierungsbedingungen gegeben sind, keine sonstigen verhindernden Gegengründe oder konfligierenden Wünsche vorliegen, es aber deswegen nicht tut, weil er es im Zustand des Wünschens (= des bemerkbaren Wollens) belassen und dieses nicht entzünden, d. h. nicht in wollendes Verwirklichen durch Handeln überführen will, ist mit Schellings Willenstheorie (im Gegensatz zu den meisten Handlungstheorien) ohne eine Statuierung einer rätselhaften Willensschwäche direkt aus der intrinsischen Struktur des Wollens erklärbar. Ja, mehr noch: mit Schelling lässt sich zeigen, dass in den bloß internen Eigenschaften des Wil42   Nach diesen führt ein Wunsch, etwas zu erreichen, kombiniert mit dem Glauben, dies durch eine bestimmte, einem selbst situativ mögliche Handlung zu bewirken, quasi automatisch zur Ausführung der Handlung, ohne dass es hierfür noch eines expliziten weiteren Entschlusses bedürfte. Vgl. hierzu paradigmatisch: Smith 2004, 125 f. Eine solche Metainstanz statuiert Frankfurt 1981, der es für ein Charakteristikum von Personen erachtet, dass sie in ein Distanzverhältnis zu ihren eigenen handlungsmotivierenden Wünschen gehen können.

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lens gute Gründe liegen können, diesen Willen nicht zu entzünden. Denn entsprechend des zweideutigen Wesens der transitiven ersten Potenz hat das Wollen eine Tendenz, sich zu erschöpfen, sich in seiner Ausrichtung auf sich selbst und sein Objekt vom Willen als seiner Quelle loszureißen: „der Mensch [kann] in unbändigem Wollen die Macht des Wollens, den Willen selbst verwirk[en]“ (SW XI, 388). Das heißt, dass derjenige, dem der Wille stets ins Wollen übergeht, d. h. der alles, das er wünscht, auch anstrebt, sein inneres Potential erschöpft: „er wird also seinen Willen an eine Menge Dinge setzen, die in der Tat des Willens nicht wert sind, und nicht nur dies, sondern die nur seinen Willen befangen, belastet und unfrei machen“ (SW XIII, 68).43 So erweist sich entsprechend der Ambivalenz des Willens in der ersten Potenz, der zugleich sich selbst als wollender erhalten und als transitiver von sich wegwill, auch das lediglich dieser ursprünglichen Willensform der ersten Potenz entsprechende Handeln als ambivalent – ja als verzehrend. Eine bloße vita activa nimmt zuletzt die Form eines blinden Aktionismus an. Denn ihr kommt es zuallererst darauf an, dass der Wille entzündet ist; d. h., dass der auf Veränderung der äußeren Welt angelegte praktische Wille in dauernder Aktivität und der Mensch entsprechend in andauernder Tätigkeit befindlich ist. Ein solcher Wille ist deswegen ‚blind‘, weil er sich in letzter Instanz nicht von ausgewählten Zielen leiten, sondern sich von seinen zufälligen Wünschen hinreißen lässt. Zwar ist ein jedes willensgesteuertes Handeln in irgendeiner Form zielgerichtet. Aber die Ziele wären dem unbändigen Willen nur eine notwendige Bedingung seiner Aktivität. Das Wollen um seiner selbst willen ist gegenüber seinen Zielen indifferent – sie sollen lediglich dazu dienen, das Wollen eines im Grunde tyrannischen Willens zu erhalten.44 Schelling illustriert es am Beispiel des widerspenstigen Kindes, das immer das Ge-

  Schelling gebraucht die Wille/Wollen-Unterscheidung nicht immer streng, so dass er oft, wie in der hier angeführten Passage, den Terminus ‚Wille‘ für das gesamte Phänomen gebraucht, also auch dort, wo es gemäß seiner eigenen Differenzierung ‚Wollen‘ heißen müsste. 44   Das aristotelische Wertgefüge, nach welchem der Wert der Handlung vom übergeordneten Wert des Ziels abhängt, zu welchem die Handlung bloß Mittel ist (Nikomachische Ethik 1094a), wird hier umgekehrt: Die beliebigen Ziele sind bloß da, um das Handeln zu erhalten. Das Erreichen von so gesetzten Zielen ist einem solchen Willen demnach auch kein eigentlicher Erfolg, keine Bereicherung, sondern ein Verlust seines aktuellen Dieses-Wollens, das entsprechend sofort von einem neuen Etwas-anderes-Wollen ersetzt oder von einem weiteren bereits vorhandenen Wollen überlagert wird. Die Einbindung einzelner Handlungen in ein teleologisches Kontinuum, eine Sinn-und Wertordnung höherer Ziele, ist dem Eigenwillen nicht möglich. 43

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genteil tun möchte von dem, das von ihm verlangt wird, „nur dass es seinen Willen habe“ (SW XI, 462). Schelling leitet hieraus die Klugheitsmaxime ab: „Mit nichts […] soll der Mensch sparsamer sein als mit seinem Können, denn darin besteht seine wahre Kraft und Stärke, und was er als Können in sich bewahrt, das eben ist sein […] nicht zu verlierender Schatz, aus dem er schöpfen, aber den er nicht erschöpfen soll“ (SW XIII, 208). Diese Klugheitsmaxime beinhaltet ein wichtiges handlungstheoretisches Element: die Freiheit der Entscheidung darüber, ob ein Willenselement aus dem inneren Pool der Wünsche, Triebe usw. in einer Handlung verwirklicht werden soll oder nicht. Dabei kommt es nicht lediglich darauf an, ob ein bestimmter Wunsch realisierbar ist, oder anderen Wünschen nicht widerspricht, sondern auch darauf, ob der Gewinn der Realisierung den Verlust des ursprünglichen Willens aufwiegt. Demnach gilt es, ein Gleichgewicht zu finden zwischen den Extremen eines Lebens, das in dauernder Tätigkeit, im Versuch, alles Wünschen zu verwirklichen, sich zuletzt in innerer Leere auszehrt, und dem umgekehrten, das in völliger Willenszurückhaltung passiv gelähmt bleibt. Daraus lässt sich als Maxime ableiten, dass ein gut geführtes Leben darin bestehen müsse, das Verhältnis von Willen und Wollen so auszutemperieren, dass es einer dauerhaft handlungsfähigen vita activa entspricht. Allerdings ist (3) der Entschluss zur Handlung in der Entzündung des Wollens noch nicht gleichzusetzen mit dem handlungswirksamen Wollen selbst, mit dem die unmittelbare Ausführung der Handlung einsetzt.45 In Bezug auf die Schöpfung und die Frage, ob Gott in seiner Ewigkeit nicht auch seit ewig schon zur Schöpfung entschlossen war, führt Schelling aus: Der Wille zwar, der Entschluss zur Welt, muss in Gott als ein von Ewigkeit, d. h. von da an, dass er Ist, gefasster gedacht werden; aber das Wollen (das wirkliche   Dass dieser von Schelling markierte und in der philosophischen Handlungstheorie wenig beachtete Unterschied ein wichtiges Merkmal an Handlungen trifft, zeigt sich auch darin, dass er im Strafgesetzbuch als ‚Versuch‘ (§22 StGB) klassifiziert und als das unmittelbare Ansetzen zur Verwirklichung der Handlung nach der Vorstellung des Akteurs (‚Täters‘) von der bloßen Vorbereitung und dem straflosen ‚bloßen‘ Wollen einer Tat einerseits und der tatsächlichen Tatverwirklichung andererseits, unterschieden ist. Wer zwar entschlossen ist, eine Bank auszurauben, und sich hierfür auch schon Maske und Fluchtauto gekauft hat, der versucht noch nicht, eine Bank auszurauben, sondern bereitet dies lediglich vor (und ist daher bis dato straffrei). Es könnte immer noch sein, dass er es doch nicht wirklich täte, d. h., den zweiten Entschluss, nun konkret die Bank zu betreten, doch nicht fasste. Wer andererseits mit gezogener Waffe eine Bank betritt und „Geld her!“ ruft, der versucht bereits einen Bankraub; ob dieser gelingt, zeigt sich dann daran, ob er zuletzt mit dem Geld in der Tasche die Bank wieder verlässt. 45

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Wollen), wodurch das Beschlossene zur Ausführung kommt, […] dieses Wollen kann nicht ein ewiges sein, weil der Gegenstand desselben […] nicht ein ewig zu Wollendes ist (SW XIII, 308).

Zwei wichtige Einsichten sind dieser Passage für den gegebenen Zusammenhang zu entnehmen: zum einen markiert Schelling hier den Unterschied zwischen dem Willen, eine zukünftige dereinst Handlung auszuführen, und dem „wirklichen Wollen“, das die konkrete Handlung dann tatsächlich in Gang setzt.46 Zwischen diesen beiden Phasen muss es eine Art zweiten Entschluss geben, zumindest den Übergang in ein Bewusstsein, nun die Handlung tatsächlich auszuführen und dies auch zu wollen. Sieht man von den zeittheoretischen Schwierigkeiten ab, die sich aus   Wenn Peter sich ein neues Auto wünscht und sich auch entschließt, ein neues Auto zu kaufen, dann bedeutet das noch nicht, dass er mit dem Zeitpunkt dieses Entschlusses sich bereits auf den Weg zum Autohändler macht. Sondern er kann mit dem gefassten Entschluss noch abwarten, bis er genügend Geld beisammenhat oder ein neues Modell erscheint oder sonstige Umstände eintreten und erst dann ein wirkliches, d. h. wirksames Wollen, das ihn zum Händler führt, in sich bilden. Dies ist der gewöhnliche Fall, in dem ein ursprünglicher Entschluss ausgeschoben wird, weil noch nicht alle äußeren Realisierungsbedingungen, oder diese zumindest nicht in optimaler Weise gegeben sind. Es kann aber auch sein, dass alle äußeren Umstände mit dem ursprünglichen Entschluss bereits gegeben sind und Peter trotzdem das Auto noch nicht kauft, weil er in etwa bei so einer Entscheidung ein paar Tage abwarten möchte, um die Ernsthaftigkeit seines Wollens zu prüfen und sich von seinem ersten Entschluss nicht mitreißen zu lassen. Es liegt demnach in der Hand des Akteurs, vom Standpunkt des ersten Entschlusses aus, diesen auch zu realisieren oder nicht. In der modernen, von E. Anscombe geprägten Theorie der Absichten, lassen sich in der von Schelling vorgeführten Konstellation die zukunftsgerichtete Absicht (future-directed intention oder prior intention genannt) und die Handlungsabsicht (intention in action) unterscheiden (vgl. Anscombe 2011, 11). Der zur Schöpfung entschlossene Gott hat die Absicht, dereinst die Welt zu schaffen; aber erst die direkte Handlungsabsicht bringt das Beschlossene zur (beabsichtigten und absichtlichen!) Ausführung. Und mit etwas interpretatorischer Großzügigkeit kann man Schellings an dieser Stelle nicht klar auflösbare Bemerkung, dass der Gegenstand des Wollens nur um eines zufälligen Zwecks willen gewollt werden kann, dahingehend verstehen, dass die gewollte (absichtliche) Handlung immer noch unter einer weiteren Absicht steht, mit der sie ausgeführt wird. Anscombe nennt dies die Absicht-mit-der (intention with-which), was sachlich dem Terminus des Zwecks einer Handlung entspricht. Wenn Peter also absichtlich ein Auto kauft, weil er die Absicht hatte, ein Auto zu kaufen, so kann dies alles mit der weiteren Absicht (= dem Zweck) geschehen, seiner Freundin zu imponieren oder in den Urlaub zu fahren. Der Zweck, dem die Handlung gewidmet ist, ist deswegen ‚zufällig‘, weil es keine notwendige Verbindung zwischen der Art der Handlung und der Absicht-mit-der gibt. Man kann ein Lied singen, um jemanden zu erfreuen oder zu ärgern, um seine Stimme zu üben oder die Angst zu vertreiben oder auf eine Not aufmerksam zu machen, oder ein Fußballspiel zu eröffnen usw. 46

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der Ewigkeitssituation Gottes ergeben, und die nachfolgend gesondert untersucht werden, und übersetzt den Schellingschen Gedanken in die gewöhnlichen Zeitverhältnisse menschlichen Lebens, dann wird hier zweitens eine wichtige Einsicht in die Zeitlogik von Handlungen sichtbar: während das bloße Wollen einer Handlung beliebig lange dauern kann, weil die gewollte Handlung als Ganze sich beliebig aufschieben lässt, kann das ‚wirkliche‘ Wollen, d. h., das Wollen, das in die Handlung mündet und im Handeln bleibt, nicht beliebig dauern, da es auf sein Ziel (seinen Gegenstand) gerichtet ist und dadurch von dessen zeitlogischen Realisierungsbedingungen abhängt.47 Die beiden nachgezeichneten Übergangsmomente vom unbewegten Willen zum Wollen einer zukünftigen Handlung und vom diesem zum Handeln selbst hatten sich ontologisch als Stufen der Seinssteigerung erwiesen. Das Wollen als der entzündete Wille und die Handlung als die Realisierung dieses Wollens waren als Erhebungsformen des Seinkönnenden ins Sein, als Übergänge a potentia ad actum zu verstehen. Der in dieser Art der Steigerung liegende Verwandlungscharakter dieser Übergänge und die Irreversibilität dieser Verwandlungen zeigen sich nun ihrerseits wieder unmittelbar als prägende Charakteristika des Handelns selbst in einem handlungstheoretisch eminent bedeutenden Sinn: Handlungen und die ihnen zugrunde liegenden Willensbildungen sind intrinsisch personal prägend und irreversibel. So gilt nicht nur, dass sich eine Tat nicht mehr aus der Welt schaffen lässt, weil die Vergangenheit nicht mehr zu ändern ist und die Folgen jeder Handlung kausal ins Unabsehbare weiterlaufen. Sondern auch, dass die Tat den Menschen selbst prägt: kann der Mensch vor der Ausführung einer Handlung über diese verfügen, indem er deren Ob und Wie bestimmt, so hat diese ihn nach ihrer Ausführung, wie Schelling drastisch formuliert, in ihrer Gewalt. Der Mensch ist „ein anderer […] vor der Tat, gegen die er sich noch frei verhält, und nach vollbrachter Tat, wo diese […] sich gegen ihn umwendet und nun ihn sich unterwirft“ (SW XIII,   Auch wenn Peter sich entschließt, einmal Sachertorte zu backen, kann es sein, dass er dies nie tut, weil es keinen intrinsischen Zusammenhang zwischen dem ersten Entschluss und dem Beginn der Handlung gibt. Wenn in Peter aber ‚wirkliches‘ Wollen im Sinne Schellings ist, dann will er die unmittelbare Realisierung seines Ziels, die gebackene Torte. Er wird dann hierzu, mit Kant gesprochen, das zur Erreichung des Zwecks „unentbehrlich notwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist“ (Kant AA IV, 417), nämlich seine Handlung selbst als Mittel zur Erreichung dieses Zwecks, aufbieten – was sich aber nicht für unbestimmte Zeit aufrecht erhalten lässt, da die innere Realisierungsmechanik des Tortenbackens dazu führt, dass entweder irgendwann Peter sein Vorhaben aufgibt, oder sein Handeln sein Ziel erreicht haben wird, weil die Torte fertig gebacken ist. 47

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208). Und auch dies hat einen inneren und einen äußeren Aspekt. Äußerlich gilt: es mag noch gelingen, eine Handlung (durch Verwischung der Spuren) physikalisch aus der Welt zu tilgen: vor sich selbst ist dies jedoch unmöglich, da man seine Erinnerung und die Geschichte dieser Handlungen als irreversible Abfolge des biographischen Prozesses vor sich selbst höchstens verleugnen, nicht aber in sich selbst tilgen kann. Innerlich gilt, dass man die persönliche Willensbildungsstufe, die der Entschlossenheit in der Handlungsausführung entspricht, ebenso wenig wieder auf den Status ihrer vorangegangenen Nichtexistenz zurückstufen kann, wie die konkrete Erinnerung an die vollzogene Handlung mit ihren psychischen und physischen Folgen.48 Dies bedeutet, dass nicht nur ein Akteur Handlungen bildet, sondern dass umgekehrt Handlungen den Akteur auch prägen: Was sich dem Handelnden prospektiv als Möglichkeit gezeigt hat, welche sein oder nicht sein konnte, zeigt sich retrospektiv als Notwendigkeit seines gegenwärtigen Seins. Wir vermögen uns im Handeln selbst zu gestalten, aber wir sind eben deswegen auch ausweglos an unsere vergangenen Handlungen und Nichthandlungen als an die Daseinsbedingungen unserer Gegenwart und Zukunft gebunden. Durch die Handlung erst erhält der Handelnde eine biographische Vergangenheit, das heißt, ein Schicksal und eine Individualgeschichte. Subtiler noch ist Schellings Einsicht, dass dies auch für den ersten Übergang, die Erhebung des Willens gilt – selbst wenn dieser gar nicht via Handlung äußerlich wird. Das Fassen einer Absicht – in Schellings Terminologie: der Entschluss zu einer (zukünftigen) Handlung als das Entzünden des Wollens – verwandelt die geistige Wirklichkeit einer Person grundlegend, d. h. prägt diese gleichfalls. Schelling nennt den Übergang des Willens ins Wollen gar „den größten Umsturz“ (SW XIII, 208), der sich denken lasse. Und dieser Umsturz ist nicht wieder rückgängig zu machen, auch nicht dadurch, dass man den Entschluss zur Ausführung der Handlung später wieder zurücknimmt.49 Denn es ist etwas an  Und dies gilt auch für Schellings positive Philosophie, die, wie noch zu zeigen sein wird, von der Praxis des Denkens des philosophierenden Menschen aus gedacht werden muss. Buchheim 2001, 142 hat darauf hingewiesen, dass in dieser Praxis des Denkens alle Gedanken als Elemente des geschichtlichen Weges erhalten bleiben, während in ahistorischen Wissenschaftssystemen widerlegte Hypothesen gelöscht werden: „Jeder Irrtum wie auch jeder wahre Schritt des Erkennens [wird] zur Geschichte des Denkens“. Dies mag in einem ersten Beispiel illustrieren, wie die positive Philosophie an die Handlungstheorie bei Schelling rückgebunden ist. 49   Die Bilder, die Schelling für den Übergang a potentia ad actum gebraucht, machen dies deutlich: 1) das Wasser, das der Quelle entsprungen ist, kann nicht wieder in diese 48

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deres, einen Entschluss zu einer Handlung nie zu fassen als einen bereits gefassten Entschluss zu suspendieren. In diesem Fall bleibt das Wollen, selbst als aufgegebenes, erhalten. Man kann demnach nicht sich selbst gegenüber erfolgreich so tun, als wäre ein Entschluss nie gewesen; wer also eine Absicht fasst, evoziert einen geistigen Zustand in sich, der ganz anderer Art ist, als der des bloßen Wünschens, des bloßen Willens in der Potenz. Dies hat unmittelbar handlungsrelevante Folgen: das bloße Fassen der Absicht, etwas zu tun, erzeugt so einen Ausführungsdruck auch deswegen, weil der Akteur sich bewusst ist, dass er hinter seine Entscheidung nicht wieder zurück kann und dass eine aufgegebene Absicht etwas ganz anderes ist, als eine nie gefasste, d. h. ein in der Potenz belassener Wille.50 Wie es sein kann, dass Menschen Handlungen ausführen, bloß weil sie sich einmal dazu entschlossen haben, obwohl sie zum Zeitpunkt der Ausführung keine emotionalen oder rationalen Gründe mehr dafür haben, erklärt sich mit Schelling darüber, dass das Aufgeben einer Absicht diese nicht einfach aus der Welt schafft, sondern auf Dauer einen selbstverzehrenden Zustand eines Wollens, das nicht mehr in sein Ziel gelangen kann, hinterlässt.51 Schellings metaphysisch veranlagte Willenstheorie, konzipiert gemäß den ursprünglichen Seinsmomenten der Potenzen, lässt sich demnach zugleich als eine präzise und gehaltvolle Theorie der sukzessiven Bildung des direkt auf Einzelhanflungen bezogenen Willens verstehen, die es auszeichnet, phänomenangemessen Steigerungsstufen von der ersten Willensregung bis zur Ausführung einer konkreten Handlung zu präsentieren, mit welcher sich präzise die Steigerungsstufen nachzeichnen lassen, die von jenem ersten unwillkürlichen bloßen Wünschen über zwei Entschließungsstufen zuletzt zu tatsächlichen Handlungen führen können, aber nicht müssen. zurück (vgl. SW XII, 58). 2) die Pflanze, die dem Keim entwächst, lässt sich nicht wieder in diesen zurückentwickeln (vgl. SW XII, 63). 50   Dieser Aspekt der Selbstfestlegung an Handlungen wurde erst wieder von Bratman (1987 und 2007) aufgegriffen und in die kontemporäre analytische Handlungstheorie eingeführt. Festlegung (commitment) bedeutet für Bratman der Aspekt des Fassens einer Absicht, in dem wir uns auf eine zukünftige Ausführung dieser Absicht selbstverpflichtend festlegen, und wodurch diese zumindest nicht mehr vollständig aus der psychischen Wirklichkeit unserer Welt geschaffen werden kann. 51   Es kann also sein, dass Peter kein Auto kauft, obwohl er nun das Geld beisammen hat und es kann auch sein, dass Peter sich dennoch ein Auto kauft, obwohl sein ursprünglicher Wunsch nach einem neuen Auto erloschen ist (weil er in etwa seine Arbeit verloren hat, zu der er mit dem Auto pendeln wollte), nur weil er nicht bereit ist, seine bereits gefasste Absicht zu suspendieren.

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V. Die Einheit der zwei Aspekte des praktischen Bewusstseins. Ein Ausblick auf die weitere Untersuchung Geht man von hier zur Ausgangsfrage nach dem Zusammenhang der zwei Seiten des praktischen Bewusstseins bei Schelling, ihrem praktischen (inneren) Kern und ihrer (äußeren) Handlungsfähigkeit, zurück, so zeigt sich, dass diese zwei Seiten Aspekte oder Momente eines und desselben Verhältnisses sind. Es ist also zumindest in der Spätphilosophie nicht so, dass einerseits sich das Bewusstsein einer inneren Praktizität verdankt, durch welche es sich als Selbstbewusstsein aufbaut und andererseits auf eine eigenständige Weise durch dieses Selbstbewusstsein dann Handeln möglich ist.52 Sondern es ist dasselbe Innenverhältnis, dasselbe ontologische Erstprinzip eines dynamischen Willens, das sich selbst, seine Bewusstheit und sein Handeln erzeugt. Alle theoretische Vernunft ist dieser ursprünglich praktischen Verfassung gegenüber in Hinsicht auf ihre Prinzipienkonstitution sekundär, auch wenn Schelling der übergreifenden Einheit des Geistes gegenüber den in ihn aufgegangenen Potenzen einen höheren ontologischen Rang einräumt. Aus diesem fundamentalen Zusammenhang heraus lassen sich auch die weiteren Untersuchungen zum Handeln Gottes und des Menschen unter jeweiliger Berücksichtigung des Freiheitsaspekts entwickeln: (1) Im Handeln Gottes in der Schöpfung ist, wie zunächst auszuführen sein wird, der intrinsische Zusammenhang zwischen innerer praktischer Bewusstseinskonstitution und des prägenden Eingangs ihrer Konstitutionsverhältnisse in die äußere Handlung am unmittelbarsten gegeben. Ja es ist die eigentliche Pointe der positiven Philosophie, dass die Antwort auf die Frage, was vor dem Sein sei, in dem als sich selbst mächtigen Willen verstandenen absoluten Geist Gottes mit dessen zentraler Eigenschaft der Handlungsfähigkeit, des sich äußern Könnens, besteht und dass die Antwort auf die Frage, wie es von dem, das vor dem Sein ist, zum Sein gekommen ist, in der Schöpfung als Handlung Gottes durch eben diesen Willen besteht, wenn man das entscheidende und hinsichtlich seiner Qualität gesondert zu fassende Moment der Freiheit dieser 52   Ein solches Verhältnis entspricht in etwa der Kantischen Anlage, bei welcher zum einen mit dem ursprünglichen Handeln der Synthesis als einem „Aktus der Spontaneität“ (KrV, B 130) ein praktischer Kern der theoretischen Vernunft angelegt ist und andererseits die praktische Vernunft als reiner Wille selbst handlungsfähig ist, ohne dass sich letztere der ursprünglichen Synthesis unmittelbar verdankte. Und auch in Schellings Frühphilosophie Fichtescher Prägung ist nicht klar, inwiefern die Ich-setzende Tat eine strukturelle Anlage für tatsächliche Handlungen in sich birgt, die sich dann in äußeren Tätigkeiten auch realisieren.

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Handlung hinzunimmt. Der den absoluten Geist prägende Wille ist also nicht zuerst ein bewusstseinsstiftendes Prinzip und kann dann zusätzlich auch noch handeln, sondern als Sein-Könnender ist seine innerste und eigenste Bestimmung von Anfang an die Möglichkeit des Übergangs ins Sein, der sich umgekehrt in der weiteren Fügung der Potenzen erst sein theoretischer Aufbau als Selbstbewusstsein mit allen theoretischen kognitiven Eigenschaften der Erkenntnisfähigkeit verdankt. Deswegen betont Schelling auch, dass in Gott die Möglichkeit der Schöpfung immer schon enthalten gewesen sei, und nicht irgendwann noch nachträglich zu ihm hinzugekommen sei. Sie ist als seine Handlungsfähigkeit mit ihm selbst uranfänglich gegeben, auch wenn diese Möglichkeit so lange als bloß theoretische Möglichkeit in ihm verblieb (und auch nur als solche sichtbar war), solange der Wille in Form der ersten Potenz noch nicht auf ihre Wirklichkeit hin aktiviert war. (2) Grundsätzlich entsprechend verhält es sich beim Menschen, der in Hinsicht auf seine geistige Grundkonstitution Gott gleich ist. Durch seine Kreatürlichkeit jedoch ist er in eine bereits bestehende Welt körperlich versetzt, er findet sich schon „im Beginn seines Daseins gleichsam in einen Strom geworfen“ (SW XIII, 202) und seine praktische Konstitution hat diese grundsätzliche Situation als ihre Realisierungsbedingung.53 Doch abgesehen davon ist auch das menschliche Bewusstsein in dem Doppelsinn praktisch, dass es sich als ein in sich gegliederter Wille zeigt, in dem zugleich seine Handlungsfähigkeit besteht. Auch der menschliche Wille ist in dem Sinn vor dem Sein, als er durch sein Handeln mit seinen Taten grundsätzlich neues Sein entstehen lässt. Während Gottes Tat der Schöpfung ein Sein entstehen lässt, wo zuvor noch keines außer ihm war, ändert das menschliche Handeln das bestehende Sein ab und erschafft so grundsätzlich Neues und Unvorhergesehenes. Diese Unmittelbarkeit, mit der die innere bewusstseinsprägende Willensveranlagung zugleich das äußere Handeln realisiert, führt zuletzt in Schellings Freiheitskonzeption dazu, dass der Mensch im Handeln am authentischsten, weil sich selbst am nächsten ist. Dasselbe gilt innerhalb dieses Handelns: Der Mensch ist sich selbst im Handeln dann am nächsten, wenn sich sein Handeln am unmittelbarsten der individuellen inneren Konstellation seines Willensgefüges verdankt. Eine räsonierende   Es ist nicht zu übersehen, dass die Metapher der Stroms, in die der Mensch als Daseinsbedingung geworfen ist, einerseits idealistischen Selbstermächtigungsgedanken, namentlich Fichtes und Kants entgegentritt, nach welchen der Mensch voraussetzungslos im Handeln anfangen könne (Kant) bzw. sich selbst gar dem Dasein nach setze (Fichte – hierzu Dörendahl 2012, 245), andererseits bei Heidegger GA I,2, 180 im Gedanken der Geworfenheit des Menschen als dessen Grundverfassung sich wiederfindet. 53

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praktische Vernunft hingegen, welche in etwa vor der Ausführung einer Handlung deren Alternativen bedenken und gegen diese abwägen muss, stört diesen direkten Bezug. Daher hält Schelling, wie in Kapitel 6 gezeigt werden wird, den Menschen auch dort im Handeln für am freiesten, wo sein Handeln direkt seinem Willen entspringt und es nicht eines sich von sich selbst distanzierenden inneren Auswählens aus Handlungsoptionen bedarf, weil die abwägende Rationalität die Verbindung zwischen der Handlung und dem Wesen der Person verstellt. Es ist eine attraktive Besonderheit von Schellings praktischer Theorie, dass der Weg von der Praktizität des Bewusstseins zum äußeren Handeln unmittelbar ist, ja dass die äußere Handlung im Grunde dieselbe innere Handlung des Willens, die das Bewusstsein erst aufspannt und spezifisch prägt, in Anwendung auf die physische Sozialwelt ist, so dass es nicht zwei, sondern nur eine zugleich innere und äußere Handlung gibt, in deren dynamischer und spannungsreicher Willensgliederung zudem ein hohes Erklärungspotential für das Wie? und Warum? der tatsächlichen Handlung liegt.

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2. TEIL DAS HANDELN GOTTES

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Vorblick Schelling konzipiert die Entstehung der Welt ausdrücklich als „Schöpfungstat“ (SW XIII, 303, Herv. Vf.),1 das heißt als individuelle Handlung eines handlungsfähigen Wesens, des Schöpfers. Demnach kann entsprechend zur doppelten Fragestellung an die Praktizität des Bewusstseins auch an die Schöpfung als Handlung eine doppelte Fragestellung gerichtet werden: was in ihr liegt und was aus ihr folgt. Die Frage, was in der Schöpfung (handlungstheoretisch) liegt, ist Gegenstand des folgenden Teils der Untersuchung. Als Leitgedanke für die Frage nach den inneren Momenten der Schöpfungshandlung kann Schellings Forderung dienen, dass „die erste Erklärung der Philosophie […] ein Sein voraus[setze], welches gleich Anfangs mit Absicht und Freiheit entstanden ist“ (UF 23). Demnach werden zunächst Absichten und weitere innere Elemente des Handelns (Kapitel 2) und anschließend die Freiheit Gottes (Kapitel 3) in der Schöpfung die Hauptuntersuchungsgegenstände dieses Teils bilden.

  Entsprechend AA I,17, 161/SW VII, 396: „Die Schöpfung ist keine Begebenheit, sondern eine Tat“. 1

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KAPITEL 2: HANDLUNGSTHEORETISCHE GRUNDMOMENTE IN DER SCHÖPFUNG

Die Untersuchung zum praktischen Bewusstsein hatte zum Ergebnis, dass der transitive Grundzug des Willens bei Schelling einerseits die ontologische Fundamentalstruktur des Bewusstseins überhaupt und zugleich die Ermöglichungsbedingung für äußeres Handeln bildet. Sie ist demnach die Basis, auf der sich verstehen lassen kann, wie Schelling des Näheren die Schöpfungshandlung innerhalb des handlungstheoretischen Begriffsfelds von Absichten, Motiven und Zielen versteht. Ausgangspunkt muss dabei allerdings Gott als bloße, aber übergeordnete Einheit der Potenzen sein, wie er sich für Schelling als absoluter Geist am Ende der Potenzendeduktion und am Anfang der Schöpfung zugleich darstellte. Für ihn galt, dass das Potenzengefüge mit seinen vielfältigen Relationen und Strukturmerkmalen als untergeordnete Eigenschaften seines einheitlichen Geistes in ihn eingegangen ist, so dass Schelling feststellen kann: „In ihm selbst ist alles Er selbst“ (SW XIII, 262). Dieser Standpunkt der theoretischen Genese der Welt, in welchem es als erste und „absolute Wirklichkeit“ (ebd.) lediglich Gott gibt, bildet demnach eine ideale Ausgangsbasis für die Frage, welche basalen Momente mit Schelling Handlungen ausmachen. Denn die von Schelling darzulegenden Entwicklungsstufen, die vom Status der bloßen Einheit und Wirklichkeit Gottes ausgehend zur Handlung der Schöpfung führen, müssen zugleich die Grundelemente des Handelns ausweisen, wenn nach Voraussetzung die Tat Gottes der Schöpfung das erste ist, das Bezüge außerhalb Gottes und seiner Einheit überhaupt erst herstellt. Das innere Verhältnis Gottes zu seinen Potenzen, dargelegt als das Willensgefüge seines Geistes, muss sich demnach an diesen gesondert zu erweisenden Handlungsstrukturen bestätigen, wenn Schellings These, dass die Handlung Gottes in der Schöpfung zwar nicht aus den Momenten seines Geistes ableitbar ist, aber strukturell diesen entsprechen muss, richtig sein soll. Diese Entwicklung der handlungstheoretischen Bedingungen der Schöpfung soll in fünf Schritten nachgezeichnet werden. Diese ergänzen die in der voluntativen Interpretation des praktischen Bewusstseins bereits ausgewiesenen Willensmomente um die kognitiven und

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Teil 2: Das Handeln Gottes

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funktionellen Momente des Sehens, Wissens, Beabsichtigens, der Mittel-Zweck-Relation und des Ziel-Setzens.2

1) Sicht und Möglichkeit Damit ein Schöpfungshandeln Gottes möglich sein kann, muss er selbst als absoluter Geist vor der Schöpfung so beschaffen sein, dass in ihm die Möglichkeit von etwas, das nicht er selbst ist, sichtbar wird. Es muss „an seinem eigenen Sein sich die Möglichkeit eines anderen, […] Seins zeige[n] und darstelle[n]“ (SW XIII, 263). Wäre Gott ein lediglich selbstbezüglicher Geist, d. h. ein nicht wollender, in sich ruhender Wille, so würde er innerhalb eines streng in sich beschlossenen Horizonts je nur sich selbst bedenken und erkennen können. Diese Möglichkeit gilt es nun hinsichtlich ihres Status und ihrer Funktion zu fassen. Hier ist zunächst festzuhalten, dass, insofern Gott die künftige Schöpfung als Möglichkeit aufgeschlossen sein muss, damit eine wichtige kognitive Bedingung des Handelns genannt ist; eine Bedingung, die an erster Stelle, noch vor einer ersten Regung eines handlungsbezüglichen Willens stehen muss: Bewusstsein muss auf ein Anderes zu sich selbst als Möglichkeit bezogen sein können. Darin liegt die intentionale Struktur, dass Bewusstsein überhaupt nur als auf etwas bezogen gedacht werden kann, und dass Selbstbezug und Bezug auf Anderes hierbei untrennbar miteinander einhergehen. In praktischer Hinsicht ist dabei bedeutend, dass dieser Bezug in einer Sicht auf die Möglichkeiten bestehen muss, die sich dann als Inhalte einer möglichen Handlung zeigen. Um auszudrücken, dass diese Möglichkeiten keine Wahrnehmungen von Gegenständen außerhalb des Geistes sein können, sondern unwillkürliche Produkte des Geistes selbst, spricht Schelling im Fall Gottes vor der Schöpfung davon, dass Gott sie „ersieht“ (SW XIII, 292); die Seinsmöglichkeiten als Vollzüge und Gegenstände dieses Sehens nennt er „Gesichte“ (SW XIII, 293) oder „Visionen“ (SW XIII, 294) Gottes.3 Sie sind die quasi-visuellen Pro  Vor der Dimension der Zeitproblematik, welche in der Frage nach der Bedeutung von Ausdrücken des ‚Vorhersehens‘ eines ‚Zukünftigen‘ usw. in der Ewigkeit Gottes liegt, wird hier zunächst systematisch abgeblendet und die Schöpfung in dieser Hinsicht wie eine gewöhnliche Handlung in der Zeit betrachtet. Sie wird in Kap. 4 eigens behandelt. 3   Die Entstehung eines ersten ‚Erkennens‘ eines von diesem Erkennen freilich nicht unabhängigen Inhalt durch den Vollzug und Aufbau des Einsehens („Ersehens“) selbst, darin vergleichbar mit performativen Akten der Sprachpragmatik, verbunden mit Metaphern der Visualität, findet sich analog bei Fichte in der Genese des Erkenntnis-Lichts. Vgl. Fichte GA II,8, 345 ff. mit Schlösser 2001, 124–136. 2

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dukte der Konfigurationen der Stellungen der Potenzen in ihm. Schelling beschreibt diese auch als platonische Ideen (SW XIII, 293) im Sinne von „Urbildern“ (SW XIII, 294). Nun stellt sich zunächst die Frage nach dem Zusammenhang dieses Elementes mit der prinzipiendeduktiven Situation Gottes vor der Schöpfung. Die Frage ist also, was eine solche Sicht auf eine Möglichkeit außer Gott sein soll, wenn Gott nach Voraussetzung absoluter, und damit auch allumfassender Geist ist, der nichts außer sich hat. Zentrales Resultat der der Potenzendeduktion war, dass die Wirklichkeit Gottes als Einheit der Potenzen deren Möglichkeitsmomente ontologisch überragt. Die Potenzen sind keine vorgängigen Möglichkeiten der Wirklichkeit Gottes, die entsprechend des gewöhnlichen Möglichkeitsbegriffs in etwa auch dann gegeben sein könnten, wenn es Gottes Wirklichkeit nicht gäbe. Daher sind umgekehrt auf der Basis der Wirklichkeit Gottes dessen Potenzen als seine inneren Möglichkeiten gegeben, die sich nur in ihm und durch ihn zeigen können. In die Wirklichkeit Gottes sind die Potenzen depotenziert eingegangen. So erläutert Schelling, dass die zentrale erste Potenz des unmittelbar Seinkönnenden „des Seinkönnens im transitiven Sinn, entbunden“ (SW XIII, 241) sei. Der Möglichkeitsbegriff in Bezug auf Gott als absolutem Geist beinhaltet so nicht etwas, durch das Gott möglich wäre, sondern benennt nun dasjenige, das durch Gott möglich ist. Bereits hierdurch sind in Bezug auf die Schöpfung als Handlung von der ontologischen Grundveranlagung Gottes her alle Versuche, die Schöpfung durch Ursachen oder Gründe zu erklären, die Gott (ontologisch, logisch, zeitlich oder kausal) vorhergingen, bei Schelling zum Scheitern verurteilt. Gottes Tun kann aus keinen Vorbedingungen, auch nicht solchen seiner Existenz, erklärt werden. Insofern Gott also vorgängig ist zu allem, das er nicht ist, muss seine Sicht auch auf die Möglichkeit von etwas Anderem die Sicht auf etwas ontologisch Nachrangiges, Späteres sein, auf das Gott in einem ontologischen, und dann auch zeitlich so zu verstehenden Sinn, vorausblickt. Damit hat der Status der Möglichkeit eines „von ihm selbst verschiedenen Sein[s]“ (SW XIII, 271) bereits nähere Bestimmung erfahren. Diese Möglichkeit muss einerseits, insofern sie sich an ihm selbst zeigt, die Strukturen seines Geistes in sich führen; denn es gibt nach der gegebenen Theorielage der Prinzipienentwicklung keine weitere Instanz, auf die Gott zurückgreifen könnte und kein alternatives Prinzip, das die Herkunft einer solchen Möglichkeit eines Anderen verbürgte. Andererseits darf es für Gottes Handeln auch keinen Mechanismus und keine logische oder ontologische Notwendigkeit geben, welchen gemäß die inneren Verhältnisse seines Geistes unmittelbar zu seinen Handlungen führten,

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da Gott sonst seine Selbstmacht verlieren und seine innere Konstitution sich als ihm selbst gegenüber primär erweisen würde. Wohl aber müssen die Elemente, welche sich unabhängig von der Potenzenkonstitution des göttlichen Bewusstseins als notwendige Bedingungen eines jeden Handelns erweisen, umgekehrt auf die Potenzenkonstitution zurückführbar sein, da Gott, der aus sich selbst heraus handelt, natürlich auf die Konstitution seines eigenen Wesens zurückgreifen und diesem entsprechend handeln können muss. Schelling betont nun, dass diese Möglichkeit eines anderen Seins dem absoluten Geist zunächst passiv, ohne sein Zutun gegeben ist. Sie ist etwas, das der Geist nicht gesetzt und nicht gewollt hat, sondern das sich ihm nur darstellt (SW XIII, 264).4 Das Erscheinen dieser Möglichkeit ist mit der Vollendung des Geistes ungewollt, wenn auch nicht wider Gottes Willen da. „Sie tritt von selbst hervor, ohne Willen des Geistes“ (SW XIII, 267 f.). Schelling beschreibt sie als das, womit sich der absolute Geist im Zustand des ruhenden, nichtigen, d. h. auf nichts bezogenen Willens, beschäftigt. Sie sind in diesem Sinn die Gedanken Gottes vor der Schöpfung, in einem Zustand allerdings, in dem Gott auch noch an keine Schöpfung denkt. Sie bilden gleichsam das innere Panorama an äußeren Seinsmöglichkeiten, welche dem absoluten Geist lediglich ansichtig sind, ohne dass er diese als Möglichkeiten, die er selbst realisieren könnte, versteht. In diesem Sinn kann man sie psychologisch fassen als bloße Phantasien, und das heißt eben: Gesichte oder Visionen Gottes. Diese bloße, nicht willentliche Vorstellung von etwas, das nicht ist, wird so zur ersten Bedingung des Handelns, zur Kenntnisnahme einer Möglichkeit, die sich dann in einem zweiten Schritt, als praktische Handlungsoption verstehen lässt. Sie ist ein Element, dass sich bereits als Sicht, als Aussicht auf ein Anderes hat kennzeichnen lassen und das dann, wenn die Möglichkeit als praktische Option verstanden wird, zur „Voraussicht“ (SW XIII, 203) und Absicht im Handeln wird. Diese Absicht muss, wie nun gleichfalls zu explizieren ist, mit einer inhaltlichen Kenntnis, einem Wissen um den Gehalt dieser Absicht einhergehen.

4   Hieraus ist aber nicht zu folgern, dass die Möglichkeit, weil sie nicht von Gott aktiv erzeugt ist, ihrerseits Gott gegenüber ontologisch primär ist (vgl. Wetz 1991, 89, nach welchem die „Existenz einer möglichen Welt“ als „Urexistenz“ deshalb vor dem Absoluten steht) – denn sie ist mit Gott als absoluten Geist durch sein Wesen gegeben.

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2) Selbstwissen und Absichtlichkeit Die schöpfungstheoretische Voraussetzung der Sicht auf die Möglichkeit eines Anderen verweist damit auf zwei wichtige handlungstheoretische Komponenten in Schellings spekulativer Offenbarungsphilosophie: Handeln muss damit einhergehen, dass der Handelnde weiß, was er tut. Und: was er tut, d. h. die Spezifik seiner Handlung, ist nichts anderes als der Gehalt seiner Absicht, um den er weiß – woraus folgt, dass Handeln absichtlich sein muss.5 Die Schöpfung könnte nicht als Handlung verstanden werden, wenn sie wie ein Sprung in die Finsternis wäre – wenn der Schöpfer keine Vorstellung davon hätte, was sie sei, oder bloß eine vage Vorstellung davon, dass da irgendetwas zu ihm Anderes sein könnte. Dieses notwendige Wissen im Handeln Gottes hat drei Aspekte: es betrifft sowohl die Schöpfung als Vorhaben (a), als auch die Schöpfung in der Durchführung (b), und die Schöpfung als Resultat der Schöpfungshandlung (c). Dem entsprechen drei Dimensionen der Absichtlichkeit in Gottes Handeln. Es gibt in ihm eine Absichtlichkeit hinsichtlich des Vorhabens, der Durchführung und der Folgen der Schöpfung. Kurz: Gottes Absicht umfasst von jeder seiner ihm möglichen Perspektiven auf die Schöpfung den gesamten Prozess der Schöpfung: in diesem kann „nichts anders als nach der Absicht des Hervorbringenden geschehen“ (SW XIII, 286). 6   Absichtlichkeit als Kriterium für Handlungen ergibt sich bei Schelling auch über eine negative Bemerkung im System des transzendentalen Idealismus, wonach „völlig absichtslose[.] Handlungen [nicht nur] überhaupt nicht zu den freien […] gehören, sondern bloße Naturerfolge, oder Erscheinungen“ (AA I,9.1, 245/SW III, 547) und das heißt zuletzt, überhaupt keine Handlungen sind. Diese Gleichsetzung von Wissen und Absicht betrifft den Kerngehalt der Absicht und des Tuns, dasjenige also, worauf die Handlung direkt bezogen ist, bzw. was sie direkt auszeichnet. Für Nebenabsichten oder das Wissen um Begleitwirkungen gilt diese Gleichsetzung nicht. Daher klassifiziert das Strafrecht nur die direkte Absicht als den Vorsatz als ‚Wissen und Wollen der Tatbestandverwirklichung‘, lässt aber auch Absichten ohne sicheres Wissen und insbesondere Wissen ohne Absicht als Vorsatz gelten. Denn es kann sein, dass jemand eine strafrechtlich relevante Nebenfolge seines Tuns nicht beabsichtigt, sondern bloß um sie weiß und in Kauf nimmt. 6   Abgesehen von der Schöpfungssituation ist die Frage, inwiefern Absichtlichkeit Voraussicht impliziert, handlungstheoretisch in doppelter Hinsicht umstritten. Denn man kann einerseits dafür plädieren, dass es möglich sei, spontan eine absichtliche Handlung zu beginnen, ohne dass man diese zuvor bereits vorausgesehen oder beabsichtigt hätte. Absichtliches Handeln wäre so möglich, ohne dass dieses als solches vor Beginn der Handlung vorausgesehen worden wäre. Hiergegen ist allerdings zu bedenken, dass zumindest das inhaltliche Muster dieser Handlung dem Akteur bekannt sein muss, da sonst sein Handeln ‚blind‘ wäre. Andererseits kann man Absichtlichkeit auch hinsicht5

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a) Als Vorhaben geht die Sicht auf die Schöpfungsmöglichkeit als Voraussicht auf die Schöpfungstat mit der Weise der Absichtlichkeit einher, der in der modernen Handlungstheorie ‚zukunftsgerichtete Absicht‘ oder ‚vorausgehende Absicht‘ genannt wird. In dieser Situation des bereits entschlossenen Willens vor Ausführung der Handlung weiß der Akteur um den Kern des Bedeutungsgehaltes seiner Absicht – und darum, dass er diese Absicht hat. Dass er seine Handlung voraussehen kann, bedeutet, dass er im Kern weiß, was geschehen wird, sofern er die Handlung erfolgreich durchführt, auch wenn er nicht alle Aspekte seines Tuns und seiner Folgen überblicken können muss; in dieser Hinsicht gleicht seine Voraussicht einer Prognose. Im Gegensatz zur Prognose kommt jedoch zu seiner Voraussicht in der vorgängigen Absicht noch ein besonderes Element hinzu, das die Voraussicht von der Prognose unterscheidet: der Akteur weiß, dass bei erfolgreicher Handlung der Gehalt seiner zukunftsgerichteten Absicht verwirklicht sein wird, nicht deswegen, weil er (wie bei einer Prognose) Beobachtungskenntnis der Ausgangslage und Erfahrungswissen über die Zusammenhänge von Vorhaben und Resultat lich der Handlungsfolgen dort attestieren, wo diese nicht mit Sicherheit vorausgesehen werden können. Wer es zwar nicht abschätzen kann, ob seine Handlung eine bestimmte Folge nach sich zieht, diese aber will und für möglich hält, dem kann man in Hinsicht auf diese Folgen doch Absichtlichkeit attestieren. Der Elfmeterschütze erzielt das Tor absichtlich, auch wenn er zuvor nicht sicher sein kann, ob der Torhüter den Ball nicht hält. Schwierig werden solche Absichtlichkeitsbezeichnungen dort, wo der Akteur zwar das Ergebnis will und anstrebt, es aber zuletzt nur eingeschränkt in seiner Hand liegt, ob er es auch erreicht, weil die Erfolgswahrscheinlichkeit hierfür gering ist. Der Lotteriespieler mag zwar gewinnen – es mutet aber merkwürdig an, dies als ‚absichtlich‘ zu bezeichnen. Dennoch bedarf es m.E. bei jeder Handlung notwendig der Voraussicht, wenn auch nicht notwendig einer, welche vor dem zeitlichen Beginn der Handlung auf diese als spätere blickt oder in der Handlung alle Folgen derselben umfasst. Notwendig ist jedoch eine Voraussicht, die in jeder Phase der Handlung auf deren Fortsetzung zum beabsichtigten Ziel hin vorausblickt – und eben dies ist eine Umschreibung von Absichtlichkeit (vgl. hierzu z. B. Anscombe 2011, 74 f.). Über den Kontext der Erörterungen des göttlichen Geistes vor der Schöpfung ist allerdings anzunehmen, dass Schelling hier an eine Voraussicht denkt, welche zukunftsgerichtet ist, also diejenige Sicht bezeichnet, die der hat, der eine zukünftige Handlung beabsichtigt, auch wenn der Status einer Zukunft in der Ewigkeit prekär ist. Exegetisch ergibt sich bei Schelling eine Gleichsetzung von Voraussicht und Absichtlichkeit über die Wortlautvarianten zwischen der Urfassung und der Philosophie der Offenbarung. So heißt es wie gesehen in der Urfassung: „Die erste Erklärung der Philosophie setzt ein Sein voraus, welches gleich Anfangs mit Absicht und Freiheit entstanden ist“ (UF 23) – die Parallelstelle der Philosophie der Offenbarung lautet: „Die Philosophie setzt ein […] gleich Anfangs […] mit Voraussicht, und also mit Freiheit entstehendes Sein voraus“ (SW XIII, 203).

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einer Handlung hat, sondern deswegen, weil das Wissen um die eigene Absicht ihr Resultat selbst erzeugt. Gottes Voraussicht auf die Schöpfung auf der Basis seiner Einsicht in die Möglichkeit der Schöpfung ist also von dem Augenblick an ein Vorherwissen des Schöpfungsakts, von dem an Gott zur Schöpfung entschlossen ist. Zwischen dem Inhalt seiner vorausblickenden Absicht, die Schöpfung zu vollziehen und dem Vollzug der Schöpfung kann es auf Grund der Selbsttransparenz Gottes und der spezifischen Lage in der Schöpfungssituation keine Differenzen geben. Gott kann nichts dazwischenkommen und ihm kann die Schöpfung nicht aus der Hand gleiten. Er kann weder vor noch in der Schöpfung von der Schöpfung überrascht werden, weil sie ihm auf der Basis dieser Voraussicht seines Vorhabens nicht misslingen kann.7 b) Daher ist selbstverständlich auch im Vollzug der Schöpfungshandlung Gottes Selbstwissen um das, was er da tut, unmittelbar gegeben. Die vorausblickende Absicht, A zu tun, transformiert sich mit Handlungsbeginn in die aktuelle Absicht im Handeln. Für diese wiederum gilt: wer mit der Absicht A etwas tut, der tut A absichtlich, weil die aktuelle Absicht, A zu tun, sein Tun gerade als (absichtliches) A-Tun bestimmt. 8 In   Zwar gilt auch für menschliches Handeln, dass die vorausgehende Absicht (prior intention), sofern der Akteur diese zu verwirklichen sucht, die Handlung als das, was sie ist, bestimmt. Wer singen möchte und mit seiner Handlung dieser Absicht entsprechend beginnt, der singt. Aber hier kann einerseits der Beginn der Handlung durch ein unvorhergesehenes Ereignis zwischen Entschluss und Handlungsbeginn verhindert werden. Und andererseits kann es in der Art und Weise der Durchführung Abweichungen zwischen Absicht und Resultat geben: Wer schön singen möchte, dem kann es passieren, dass er zwar singt, der Charakter dieses Singens aber die Schönheit sehr vermissen lässt. 8   Handeln bedeutet insofern automatisch, zu wissen was man tut, (z. B. Searle 1987, 121) da dieses Wissen die Handlung erst als das, was sie ist, bestimmt. Wer A tut, weiß, dass er A tut. Dass A absichtlich zu tun bedeutet, dass es mit der Absicht, A zu tun, einhergeht, nennt Bratman 1987, 112 ‚the simple view‘. Horst 2011, 147 hat in Anlehnung an Anscombe und Searle dies noch dahingehend präzisiert, dass der Gedanke eines Akteurs, dass er gerade A tue, verursacht, dass er gerade A tut; er wird zum „Wissen, das die Ursache dessen ist, was es versteht“ – und eben dies kennzeichnet praktisches Wissen im Gegensatz zum Beobachtungswissen; ein entscheidendes Moment dabei ist für Horst, dass diese Formel den Terminus ‚gerade‘ enthält, also für den je gegenwärtigen Vollzug der Handlung gilt, was prospektive und retrospektive Irrtümer ausschließen soll. Allerdings kann dieser bloß kursorische Verweis keine abschließende Bestimmung aller Fälle von Handlungen beanspruchen. Die Frage, ob ein Akteur je weiß was er tut, hängt u. a. nicht nur von Folgen der Handlung ab, die die Handlung spezifizieren, aber zum Zeitpunkt des Handelns noch nicht eingetreten sind. Auch in der Handlungsgegenwart kann man sich über spezifische Merkmale täuschen. Verwechslungskomödien leben davon, dass ständig jemand mit jemand anderem zu tun zu haben meint, als es tatsächlich der Fall ist. Wenn A also mit B zu telefonieren meint, die in Wirklichkeit C ist, dann 7

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dieser Hinsicht ist das Selbstwissen des Akteurs in der Handlung täuschungsresistent, denn es ist selbst die Ursache dessen, das es weiß.9 c) Hinzu kommt, dass Gottes Wissen um die Schöpfung, um das, was er da tut, wenn er die Welt entstehen lässt, auch die Folgen der Schöpfungshandlung umgreifen muss: Es sei notwendig zu bejahen, heißt es in der Freiheitsschrift, dass „die Tat der Selbstoffenbarung in dem Sinne frei gewesen [sei], dass alle Folgen derselben in Gott vorhergesehen worden“ (AA I,17, 162/SW VII, 396) sind.10 Damit nimmt Schelling das negative Aristotelische Wollenskriterium, nach welchem epistemische Einschränkungen in Handlungen als Willenseinschränkungen zu verstehen sind,11 auf und wendet es umgekehrt unter dem Gedanken vollumfänglicher Selbsttransparenz Gottes in dessen Allwissen auf Gottes Handeln an. Gottes Handeln beinhaltet, dass er unter allerhöchsten Ansprüchen weiß, was er tut. Die Dimension dieser These auf der Basis vollständiger Selbsttransparenz und vollständigen Folgenwissens im freien Handeln Gottes wird erst deutlich, wenn man sie mit der menschlichen Situation vergleicht. Hier gibt es gibt es klarerweise Irrtümer und fehlgehende Handlungen, bei welchen die Umstände, Folgen oder Nebeneffekte nicht dem entsprechen, was der Akteur gedacht oder angezielt und in das Verständnis seines je gegenwärtigen Tuns aufgenommen hat. Allerdings ist hier eine gewichtige und für den weiter zu entwickelnden täuscht er sich darüber, dass er gerade mit B telefoniert. Hinsichtlich der allgemeineren Handlungsbeschreibung, nach der A schlicht telefoniert, scheinen Täuschungsmöglichkeiten (außerhalb von pathologischen Zuständen) jedoch schwieriger vorstellbar. Wie soll es zugehen, dass jemand, der bei Verstand ist, sich in der Meinung täuscht, er telefoniere/ spreche/singe/koche/schreibe usw. gerade? 9   Anscombe 2011, 135. Diesem Selbstwissen der Art der äußeren Handlung in ihrem Vollzug entspricht die vom frühen Schelling übernommene Idee Fichtes, dass in der subjektivitätskonstituierenden Tathandlung die Art der Handlung durch intellektuelle Anschauung selbsttransparent ist: „Die intellektuelle Anschauung“, heißt es bei Fichte, „ist das unmittelbare Bewusstsein, dass ich handle und was ich handle [!]: sie ist das, wodurch ich etwas weiß, weil ich es tue“ (GA I,4, 216 f.). Zur Übernahme des Motivs der intellektuellen Anschauung beim frühen Schelling allgemein (wenn auch ohne handlungstheoretische Komponente) siehe Tilliette 2000, 23 und 29 f. 10   Es ist klar, dass die Annahme der präscientia eine Quelle großer Schwierigkeiten darstellt: zum einen entsteht hierdurch das notorische Problem, wie menschliche Freiheit zu denken sei, wenn die Folgen auch seiner Handlungen bereits von Gott vorausgesehen werden. Damit verbunden ist die Frage, ob Gottes Voraussicht zugleich das menschliche Handeln vorherbestimmt – oder worin sonst das Vorherwissen Gottes seinen Grund haben könnte. Diese Fragen werden im Zusammenhang mit der Gesamtkonzeption der geschichtlichen Philosophie Schellings im letzten Kapitel untersucht. 11   Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1110b.

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Gesamtprozess der Geschichte bedeutungsvolle Einschränkung zu beachten: Die Gehalte von Absichten sind Abstrakta, die sich auf vielfältige Weise realisieren können.12 Es wäre auch bei Gott von keiner Absicht zu sprechen, wenn deren Gehalt je schon konkret vorläge; denn dann wäre ein Fall von Wahrnehmung, und sei es eines Zukünftigen, gegeben. Die Absichtlichkeit in Gottes Handeln muss selbst dann, wenn alles dieser Absicht entspricht, in einer Allgemeinform vorliegen, die vom tatsächlichen Weltprozess auf vielfältige Art verwirklicht werden kann. Eben dem entspricht, dass Schelling Gottes Visionen, die sich dann zu praktischen Absichten umbilden, als Idealitäten in der Form von platonischen Ideen auffasst. Für Gott selbst spielt es dabei keine Rolle, auf welche Art die Realisierung konkret geschieht, sofern alle so möglichen Weltverläufe der Allgemeinform dieser Absicht entsprechen und Gott daher allgemeines Vorherwissen von ihnen beanspruchen kann. Gott kennt, wie Schelling formuliert, die Momente des Weltprozesses als „bloß logische“ und bedarf daher nicht ihrer Kenntnis als „auch reelle“ (SW XIII, 286). Daher liegt in der Selbsttransparenz der göttlichen Absichten hinsichtlich des aus ihnen folgenden geschichtlichen Prozesses auch kein Despotismus: Weder will noch kann Gott das kosmische Geschehen und die menschlichen Handlungen in ihm in jeder Hinsicht festlegen. Diese Art der Absichtlichkeit bedeutet daher auch nicht, dass die gesamte Geschichte und das gesamte Handeln des Menschen durch die Absicht Gottes, nach der alles geschieht, bis ins Detail vorherbestimmt sei. Sondern insofern Gott seine Ziele durch den Menschen erreichen möch  Die Handlung ist eine Spezifikation und Konkretisierung des allgemeineren Ziels, weswegen die Zweck-Mittel-Beziehung immer auch eine Subsumptionsbeziehung von konkreter Situation zu allgemeinerer Handlung unter das abstraktere Ziel ist (vgl. Ford 2013, 407 ff. und erhellend auch Rohs 1980, insb. 15–63). Das abstrakte Ziel, ein Haus zu bauen, muss zum Vorhaben, ein Haus eines bestimmten Typs zu bauen, spezifiziert werden und die einzelnen Arbeitsschritte sind raum-zeitlich konkrete einzelne Handlungen, die diesen Typ instanziieren. Das tatsächliche, fertig gebaute Haus, das zuletzt das Ziel verwirklicht, ist eben deswegen ein konkreter Fall des allgemeineren Ziels des Baus ‚dieses‘ Hauses, das auch in einer Unzahl von konkreten Variationen als Ziel des Vorhabens ebenso hätte verwirklicht werden können. Im Ausdruck der ‚Verwirklichung‘ eines Ziels ist diese Subsumption der konkreten Handlung und ihrer Folge unter das allgemeinere Ziel als Gehalt der Absicht enthalten. Diese Struktur ist auch gegen alle Versuche, die Absichten selbst möglichst konkret zu formulieren, resistent: wer das Fußballspiel gewinnen will, kann dies durch ein 1:0- oder 5:2-Ergebnis. Wer es mit 1:0 gewinnen will, kann das Tor per Kopf oder 11-Meter erzielen; wer per 11-Meter, der kann dies durch einen Schuss rechts oder links, oben oder unten, früh oder in der letzten Minute erreichen usw. Die unendliche Mannigfaltigkeit des Wirklichen entzieht sich der vollständigen Bestimmungsmacht des Geistes. 12

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te, und dieser als Ebenbild Gottes seinerseits mit Freiheit ausgestattet wird, ist das nicht vorherbestimmte freie Handeln des Menschen von der allgemeinen Absicht Gottes auch dann gedeckt, wenn es im Einzelfall – wie in etwa dem Sündenfall – nicht Gottes Willen entspricht. Unberührt hiervon kann gelten, dass Gott die Folgen seiner Schöpfung vorhersieht und dass die strukturelle Anlage des geschichtlichen Verlaufs der Welt inklusive ihres Ziels von der Absicht Gottes im Sinne der ideellen Vorherbestimmung gedeckt ist; die Spannung zwischen der uneingeschränkten Vorhersicht und der eingeschränkten Vorherbestimmung wird, wie im letzten Kapitel dieser Untersuchung gezeigt werden wird, durch den Begriff der Vorsehung Gottes eingefangen werden. Insofern nun festgestellt ist, dass die Schöpfung eine Handlungsoption für einen handlungsfähigen göttlichen Geist ist, und dass Gott, sofern er sie realisiert, diese Handlungsoption auch wissend und absichtlich verwirklicht, bleiben zwei Hauptfragen an das Schöpfungsgeschehen im Sinne einer Annahme eines zu Gott anderen Seins übrig, die Schelling folgendermaßen formuliert: „1) wie, auf welche Weise er [Gott] dieses Sein annehmen könne, [und] 2) wodurch er im Fall der Annahme dieses Seins zu derselben bewogen gedacht werden könne, welche Beweggründe zu dieser Annahme in ihm sich denken lassen“ (SW XIII, 271). Die erste Frage betrifft das Handlungsmittel, die zweite die Handlungsmotivation. 3) Handlungsmittel: die Spannung der Potenzen Die Frage danach, auf welche Weise das Offenbarungshandeln möglich sein kann, hat in ihren Grundzügen ihre Antwort bereits darin gefunden, dass der göttliche Geist als auf Transitivität hin angelegtes Willensgefüge, dem die praktische Handlungsmöglichkeit gleichsam eingeschrieben ist, verstanden werden kann. Doch stellt sich hier die Frage, auf welche Weise der erste Vollzug einer Handlung auf der Grundlage des auf Praktizität hin angelegten Geistes sich gestaltet. Was, so ist zu fragen, ist anders in dem Geist, der tatsächlich handelt im Unterschied zu dem, der lediglich handeln kann, oder gar zu dem, der lediglich handeln könnte, diese Möglichkeit aber weder versteht noch ergreift? Wie bringt es Gott zuwege, außer sich zu gehen? Die Antwort, die sich hierauf mit Schelling geben lässt, besteht in seinem Lehrstück von der Spannung der Potenzen: die Potenzen, wel-

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che Gott überhaupt erst die Möglichkeit eines anderen Seins darstellen, lassen sich zugleich in eine solche Spannung versetzen, dass die durch sie dargestellte Möglichkeit eines anderen Seins durch sie auch realisiert werden kann. Hierfür bieten die Potenzen allerdings auch die besten Voraussetzungen: denn das Moment des aus sich Herausgehens, bis dato lediglich Binnenstruktur eines selbstbewussten Geistes, dem sich ein Anderes darstellt, verbürgt die Möglichkeit, sich gleichsam zu verlassen und ein Anderes zu sich selbst (oder sich selbst als ein Anderes) zu setzen, ja von Anfang an war in der Potenz des unmittelbar Seinkönnenden der Übergang in ein Anderes angelegt. Vom Standpunkt dieser „erste[n] Wirklichkeit [aus, die] in jenem Geist gegeben“ (SW XIII, 247) ist, ist also zu fragen, wie dieser theoretische Vernunftgeist, in welchen das transitive Element depotentialisiert eingegangen ist, nun seinerseits aus sich heraustreten könne. Die Antwort liegt auf der Hand: durch Repotentialisierung seiner Wesensmomente, nun allerdings bereits auf der Basis seiner Wirklichkeit als Geist. Diese Repotentialisierung ist nichts anderes als die Erhebung des Willens zum Wollen in seiner ersten Stufe. Durch sie wird die Möglichkeit des Andersseins, die sich dem Geist bis dahin lediglich zeigt, in eine neue, sie erst als echte Möglichkeit des Seins verstehende, Dimension erhoben: denn die Möglichkeit ist eine, „die eigentlich Nichts ist, wenn er [der Wille] sie nicht will, und nur Etwas ist, wenn er sie will“ (SW XIII, 264). Mit der Bezogenheit des Willens auf sie geht aber die entscheidende Änderung im Potenzengefüge Gottes einher. Als Möglichkeiten des Willens verstanden, sind die Möglichkeiten eines Anderen solche, die gewollt werden können, und dies bedeutet nichts anderes als dass sie solche sind, welche der Geist nicht mehr als bloß interne Erscheinungen eines Anderen versteht, sondern die er zugleich als Wirklichkeiten außer sich haben möchte. Durch die Beziehung des Willens auf die Möglichkeiten des Seins werden diese von der Art bloßer Visionen zu Handlungsoptionen transformiert, denen der absolute Geist nun nicht mehr in einem theoretisch-epistemischen Verhältnis eines Vernehmenden, sondern im praktischen Verhältnis eines Akteurs zu seinen eigenen möglichen Handlungen und deren Folgen gegenübersteht. Was zuvor in der Voraussicht nur die Ansicht einer abstrakten, unpersönlichen Möglichkeit war, wird so zur Absicht, „das nicht selbstgesetzte Sein, jenes Sein, in dem Gott sich selbst nur findet, in ein selbstgesetztes zu verwandeln“ (SW XIII, 277, Herv. Schelling).13 Aus dem absoluten Geist, in dem lediglich theore  Dies lässt sich ganz konkret handlungsbezüglich illustrieren: Wenn Peter sich bloß vorstellt, bloß phantasiert, vor seiner Haustüre stünde ein rotes Päckchen, dann 13

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tische kognitive Eigenschaften aktualisiert sind, wird ein praktisches und willensbefähigtes Wesen genau von dem Augenblick an, da es versteht, dass die Möglichkeit der Welt seine eigene praktische Seinsmöglichkeit ist, die „er annehmen könnte, wenn er wollte“ (SW XIII, 268).14 Dieser Umwandlung in eine praktische Seinsmöglichkeit durch das Wollen seines Inhalts entspricht auf der Ebene der Potenzen deren In-Spannung-Treten. Die Spannung in den Potenzen beruht auf dem Bezug des Willensmomentes des Geistes auf die sich ihm zeigende Möglichkeit und gleichsam durch die Ansicht dieser Möglichkeit hindurch auf deren mögliche Wirklichkeit hinaus. Man kann die Spannung dieser Bezugnahme schon durch eine Analyse des Willensbegriffs erfassen: Wollen bedeutet, dass jemand etwas will – und dass das Gewollte als etwas, das es noch nicht ist, möglich ist. Also muss es in der Person einen nach außen gerichteten, über die Grenzen der je gegenwärtigen Wirklichkeit der Person hinausgehenden, Bezug geben. Dies entspricht aber genau der metaphysischen ‚Bewegung‘ der Transitivität, die Schelling der ersten Potenz zugeschrieben hat: etwas muss sein können.15 Also muss die erste Potenz repotentialisiert werden und ihre ursprüngliche dynamische Funktion des Sein-Könnens nun auf neue Weise, nämlich innerhalb der ist es ihm erstens gleichgültig, ob dort ein rotes Päckchen steht und zweitens wird er nichts unternehmen, damit dort ein rotes Päckchen steht. Das rote Päckchen vor der Türe erscheint ihm lediglich als Gehalt seiner Vorstellung. Er kann auf seine Vision passiv bezogen sein wie der Zuschauer auf die Kinoleinwand. Wenn Peter sich jedoch wünscht, dass vor seiner Haustüre ein rotes Päckchen stehe, dann ist er ihm erstens nicht mehr gleichgültig, ob dort ein Päckchen steht oder nicht und zweitens wird er möglicherweise etwas unternehmen, um seinen Wunsch zu erfüllen. Wird er nichts unternehmen, spricht man von bloßem Wünschen – wird er etwas unternehmen, dann will er, dass dort das Päckchen steht. Er wird dann Handlungen unter der Absicht, vor seiner Haustüre ein rotes Päckchen zu platzieren, beginnen. Der Bezug seines Willens auf den Gehalt seiner Vorstellung macht ihn zum Akteur und enthebt ihn der Gleichgültigkeit gegenüber der Tatsache, ob vor seiner Haustüre ein rotes Päckchen steht. Dieser Umwandlung des inneren Bezugs vom Objekt des Erkennens zum Objekt des Handelns auf psychologischer Ebene entspricht auf metaphysischer Ebene hinsichtlich des Handelns Gottes das In-Spannung-Setzen der Potenzen. 14   Vgl. zur Willensentzündung schon im ersten Weltalterentwurf die Feststellung, dass die Umwandlung des ruhenden zum etwas wollenden (oder jetzt: wollen könnenden) Willen nicht ableitbar ist, sondern sich selbst in einem absoluten Anfang erzeugt: „Wird der Wille, der nichts will, als das Höchste, zugestanden [als der absolute Geist in absoluter Ewigkeit], so gibt es aus ihm keinen Übergang; das erste ihm Folgende, der Wille, der Etwas will, muss sich selbst erzeugen, absolut entspringen“ (W 77). 15   Vgl. SW XI, 293: „Die Möglichkeiten […] können wohl nur als transitive gemeint sein. D. h. als solche, die über Gott hinausgehen, die zu Wirklichkeiten außer ihm werden sollen oder doch können. So ist aber gleich im ersten Begriff Gott mit einer Beziehung auf die Welt […] gesetzt“ (Herv. Schelling).

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Wirklichkeit des absoluten Geistes realisieren. Repotentialisierung der Potenzen bedeutet hier also, dass die Potenzen, die als konstituierendes Amalgam im absoluten Geist enthalten waren, der seinerseits in der dialektischen Entwicklung bis dato auf strengste Weise „in sich beschlossen“ (SW XIII, 260) war, ihre Ursprungsfunktionalität nun auf neue Weise, über diesen Geist hinaus entfalten.16 Dadurch erfährt der bis dato in sich ruhende Geist eine dramatische Veränderung seines Selbstverhältnisses: dessen in sich ruhendes Gefüge erhält eine extatische Ausrichtung, eine Tendenz, seine eigenen Grenzen zu sprengen. Nun würde diese extatische Ausrichtung zuletzt zu einem Handlungsautomatismus führen, in der die innere Spannung verpuffte, statt erhalten zu bleiben, wenn nicht, wie schon in der Potenzendeduktion erwiesen, dem transitiven Element etwas entgegenstünde, das die Spannung erhielte. Die zweite Potenz, das rein Seiende, die sich in der Potenzendeduktion als das neutralisierende Moment zum Seinkönnenden erwiesen hatte, übernimmt nun gleichfalls diese Rolle – jedoch angesichts der eingetretenen Spannung in gewandelter Form. Es ist nun als das rein Seiende, wie Schelling ausführt, negiert und gehemmt, es ist „in ihm […] eine Negation, eine Hemmung, d. h. ein Nichtsein eingetreten“ (SW XIII, 265). Diese ist es, so Schelling weiter, bestrebt zu überwinden, „um dadurch sich selbst zu dem, was es ursprünglich war, zum rein Seienden wiederherzustellen“ (SW XIII, 266). Hierdurch deckt Schelling auf der Ebene des Potenzengefüges eine Dynamik auf, die handlungstheoretisch bedeutsam ist: nicht nur, dass Handlungen je einer vorhergehenden Spannung bedürfen, welche sich in Willensbeziehungen, Entscheidungen und Absichten wiederfinden lässt, sondern auch, dass diese Spannung intrinsisch gebildet ist aus Momenten der Negation und Hemmung auf der einen Seite und der Überwindung dieser Negation zur Wiederherstellung eines ursprünglichen Zustands (des nicht wollenden Willens) in einer höheren Stufe auf der anderen Seite, sind Verhältnisse, die sich 16   Die Frage ist hierbei, ob es einen nicht-transitiven, „in sich beschlossenen“ absoluten Geist, der dann zusätzlich über sich hinaus gehen kann, bei Schelling überhaupt als solchen gibt oder ob dieser nicht von Anfang an die wesenhafte Anlage des Transzendierens in sich trägt. M.E. ist letzteres der Fall. Zwar betont Schelling am Ende der zwölften Vorlesung der Philosophie der Offenbarung, dass bei der Entwicklung des Absoluten Geistes „nirgends von einem Sein außer dem Geist die Rede“ (SW XIII, 260) gewesen sei, er betont aber zugleich, dass dies lediglich der sukzessiven Darstellung geschuldet war und keinen ontologischen Ausschluss von Alterität bedeutete: „Als solche […] rein in sich beschlossene Wirklichkeit haben wir also zwar den Geist dargestellt [!]. Aber wir haben doch zugleich auch erklärt, in dem Geist sei das Zukünftige, das, was sein wird, verborgen“ (SW XIII, 261; vgl. ebd., 255).

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strukturell in Einzelhandlungen ausbuchstabieren lassen und die – wie sich zeigen wird – sich zugleich in Schellings kosmologischer Dimension eines durch Gottes Tat geprägten geschichtlichen Weltverlaufs, ja in der Prägung der geschichtlichen Zeit selbst, wiederfinden lassen.17 Während also das Erscheinen der bloßen Möglichkeit der Schöpfung dem absoluten Geist passiv widerfährt, übernimmt er deren Realisierung aktiv. Diese aktive Realisierung geht – und dies ist exegetisch und systematisch höchst bedeutsam – mit einer Bewusstwerdung Gottes als eines willensbefähigten Wesens einher, das Gott selbst zudem in Freiheit setzt: indem sie [die erscheinende Möglichkeit] dem vollkommenen Geist einen solchen Gegenstand seines möglichen Wollens zeigt, wird er sich als Wille als der wollen kann, inne und diese Erscheinung […] der ersten Möglichkeit eines von ihm selbst verschiedenen Seins setzt ihn zuerst in Freiheit gegen die Notwendigkeit seines unvordenklichen Seins (SW XIII, 268).

Die praktische Handlungsoptionalität, das Bewusstwerden Gottes als Akteur und die zu seiner Handlungsbefähigung gehörige Freiheit gehen demnach aus ein und demselben Grundverhältnis – dem ersten Bezug des göttlichen Wollens auf die Möglichkeit eines Seins außer sich – hervor. Ja, mehr noch: Gott als solcher entsteht selbst erst mit dieser als praktischer verstandenen Möglichkeit. Denn zu Gott gehört das Selbstverstehen seiner Selbstmacht – der Macht in sich verbleiben, oder von sich ausgehen und dabei doch der selbe bleiben zu können: „Indem jenes andere Sein ihm als ein mögliches gezeigt wird, […] wird er eigentlich erst sich als sich, als den wahrhaft absoluten und an nichts […] gebundenen Geist inne“ (SW XIII, 269). Erst von dem Moment an, da dieser Geist sich als handlungsfähig versteht, ausgestattet mit der Freiheit, „in den ursprünglichen – spannungslosen – Sein zu bleiben, oder in jenes gespannte und in sich konträre Sein hervorzutreten“ (ebd.), legt Schelling ihm den Namen ‚Gott‘ bei. Gott ist das Wesen, das sich selbst wandeln kann, indem es sich als mächtig versteht, seinen bloß geistigen Status zu verlassen und   Werkgenealogisch findet sich die Idee der Hemmung zuerst in Schellings Naturphilosophie, nach welcher die Produktivität der Natur (natura naturans) in einer Duplizität von Tätigkeit und Hemmung besteht (AA I,7, 81/SW III, 16), durch welche dann die Naturprodukte (natura naturata) zustande kommen (Sollberger 1996, 142). Sie findet sich in der Transzendentalphilosophie in der Form wieder, dass das Ich nicht nur „reines […] Produzieren“ (AA I,9.1, 71/SW III, 380) sein könne, sondern diesem Grenzen setzen müsse. Diesen Gedanken hat Schelling schon 1806 auf die Schöpfungssituation übertragen: „Damit […] ein Fortschreiten möglich sei, so muss eine Hemmung sein; sonst würde das ganze vollendete (= göttliche) Leben in Einem Schlag hervorbrechen“ (SW VII, 9). Zur Entwicklung dieser Konstellation Hübner 2011, 105–118. 17

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die Möglichkeit, ein anderes Sein anzunehmen, zu ergreifen. „Der vollkommene Geist, inwiefern er […] nicht an sich gebunden ist, sondern von sich ausgehen kann, […] kann allein […] Gott genannt werden“ (UF 89). Und explizit: wo er „dieser oder ein Anderer sein [kann], stellt sich der vollkommende Geist als Gott dar; hier sind wir berechtigt, ihm diesen Namen zu geben“ (SW XIII, 267 f., Herv. Schelling).18 Dieser Zusammenhang zwischen dem Willen und seiner ursprünglichen Möglichkeit ist auch systematisch für Schellings Konzeption der positiven Philosophie von entscheidender Bedeutung. ‚Vollkommener Geist‘ bleibt terminologisch als der Ausdruck für das bloße ‚Begriffs-Sein‘ Gottes reserviert, für die Seite Gottes also, die sich in der Potenzendeduktion als absolute Einheit ausweisen ließ und die Schelling der negativen Philosophie zurechnen wird.19 Darüber hinaus jedoch ist Gott im Vollsinne erst der Schöpfergott, und das heißt, der Gott, der   Hierzu steht m.E. auch nur scheinbar im Widerspruch, dass Schelling in der GPP 380 schreibt: „es gibt einen Begriff Gottes, in welchem überhaupt keine Beziehung auf einen Schöpfer enthalten ist“. Was Schelling hier meint, ist, dass dieser Begriff Gottes (ohne Beziehung auf einen Schöpfer) nicht den wahren Gott trifft, sondern nur dasjenige im Begriff Gottes, das seine pure (theoretische) Seite des vollkommenen, in sich beschlossenen Geistes bezeichnet. Vgl. SW XIII, 319 f., wo es heißt: „Zuerst [!] ist nur Gott als absoluter, vollendeter Geist gesetzt […]. Bis dahin ist nichts als reine Ewigkeit“. Derselbe Gott ist aber erst Gott im Vollsinne des Begriffs, wenn er sich als Herr und Schöpfer erweist. Vgl. hierzu auch Ehrhardt 2000, 134, der Passagen aus einer in der Universitätsbibliothek Eichstätt aufbewahrten, bisher nicht publizierten Vorlesungsnachschrift von 1833/4 anführt (Cod. Sm 1195), in welcher Schelling von zwei Begriffen Gottes spricht, die als Momente im Schöpfungsprozess unterscheidbar sind. Der eine Begriff ist „der gleichsam inwendige“, in dem „bloße Notwendigkeit“ ist, der andere ist der Begriff, „nach welchem Gott die Freiheit ist, das konträre Sein zu setzen. [Er ist] der äußere, der offenbare Begriff Gottes“ (E, 145). 19   Die hier nachgezeichnete und für den gegebenen Entwicklungspunkt sehr erhellende terminologische Unterscheidung Schellings aus der 13. Vorlesung der Philosophie der Offenbarung wird von Schelling allerdings nicht konsequent gebraucht. Insbesondere gebraucht Schelling den Terminus des ‚absoluten Geistes‘ mal in dem einen, mal in dem anderen Sinn. Dies ist terminologisch unbefriedigend, aber systematisch verständlich, insofern der absolute Geist in Gott ja erhalten bleibt. Klar ist zumindest, dass derjenige Geist, der in den Stellungen der Potenzen in ihm lediglich auf seine eigenen Seinsgestalten bezogen ist und sich daher mit Schulz 1955, 216 in einer „reinen weltlosen Selbstvermittlung“ befindet, dass er in der „Notwendigkeit seines unvordenklichen Seins“ (SW XIII, 268) steht und dass erst ein Verständnis einer Andersheit zu sich selbst in diesen Gestalten die Bedingung zu all dem bereit stellt, das den Schöpfergott als „übermateriell All-Einigen“ (SW XIII, 269) auszeichnet. Hilfreich ist Schulz‘ (1955, 222) Faustformel, nach welcher „der Begriff des Geistes […] bei Schelling immer dort durch den Begriff Gottes ‚ersetzt‘ wird, wo vom Setzungsbezug des Seins die Rede ist“. 18

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handelt, oder zumindest, der handeln kann. Dabei bleibt in Gott der absolute Geist erhalten. Er ist in sich ein Selbstverhältnis zu diesem Geist, dessen Besonderheit eben darin liegt, dass er sich als dieser Geist nun auf ein Anderes hin übersteigen kann, was ihn zu Gott im eminenten Sinne macht. 20 Diesen Übergang vom vollkommenen Geist zu Gott bildet im Kern die Transformation des zunächst lediglich theoretisch gegebenen Möglichkeitsbegriffs zum Begriff einer praktischen Möglichkeit, durch welchen dann die Potenzen so in Spannung versetzt, d. h. praktisch potentialisiert werden, dass die Offenbarung als das tatsächliche aus sich Heraustreten Gottes, und damit Gott selbst als handlungsfähiges Wesen, möglich wird. 21 Damit steht Gott als Handeln-Könnender in einem Selbstverhältnis zu seinem zuvor spannungsfreien, harmonischen, in sich geschlossenen Sein, das darin besteht, dass er über dieses Sein verfügen, d. h. es in Spannung setzen und praktisch übersteigen kann. 22   Zum Verhältnis von Geist und Gott Schulz 1955, 221, der von „einer Aktualisierung des Geistes durch Gott“ spricht. Und weiter: „Es ist ein durch und durch dialektisches Phänomen. Man kann sagen: im absoluten Geist liegt Gott verborgen darin, aber erst in und durch Gott wird sich der Geist als seinkönnend bewusst“. Dies entspricht auch der bereits angeführten Passage am Ende der zwölften Vorlesung der Philosophie der Offenbarung, nach welcher der Geist, bei dem „nirgends von einem Sein außer dem Geist die Rede war“ (SW XIII, 260) und der also als der in sich beschlossene Vernunftgott der negativen Philosophie gelten kann, zwar als eine „rein gegenwärtige […] ganz in sich beschlossene Wirklichkeit“ (SW XIII, 261) dargestellt worden sei, für den aber zugleich gelte, dass in ihm „das Zukünftige, das, was sein wird, verborgen“ (ebd.) sei. 21   Kasper 1965, 227 stellt fest, das Schellings Konzeption an dieser Stelle in Widersprüche zu seiner Konzeption, dass die Wirklichkeit Gottes seiner Möglichkeit zuvor gehen müsse, zu führen droht: „Die Wirklichkeit Gottes als freier Gott kann nicht wieder in der Möglichkeit einer Schöpfung gelegen sein“ Sondern „er ist gerade darin Gott, dass er von Ewigkeit her Herr ist, die Schöpfung zu setzen oder nicht zu setzen“. M.E. beruht dies aber auf einem Missverständnis: es gibt nicht zuerst einen bloßen Gott, der durch die zusätzliche Möglichkeit (einer von ihm unabhängigen) Schöpfung dann zu einem wirklichen Schöpfergott würde. Sondern der Gott der positiven Philosophie, für den gilt, dass er erste Wirklichkeit vor aller Möglichkeit ist, ist der Schöpfergott; und nur weil es diesen gibt, gibt es auch eine Möglichkeit der Schöpfung. Der Gott ohne Verständnis der praktischen Schöpfungsmöglichkeit ist noch der Gott der negativen Philosophie, d. h. der vollkommene Geist. Die bloß theoretische Möglichkeit, das ansichtige Bild der Schöpfung, geht nicht als Möglichkeit dem Schöpfergott voraus (denn es kann dies kein Bild einer Schöpfung als Produkt eines Schöpfers sein, sondern es ist bloß das Bild einer möglichen Welt im Geist Gottes – nicht seiner Schöpfung), weil dieser erst mit dem Ergreifen dieser Möglichkeit entsteht, die in eins damit sich zu einer praktischen Seinsmöglichkeit wandelt, und als eine solche Schöpfungsmöglichkeit dann Folge (und nicht Grund) der Wirklichkeit des positiven Gottes ist. 22   Dieses Selbstverhältnis beschreibt Schulz 1955, 226 f. als Selbstvermittlung und den Schritt, der aus der Ruhe des absoluten Geistes zu diesem Selbstverhältnis führt, als 20

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Hierdurch ist die erste der beiden genannten Hauptfragen Schellings an die Schöpfungshandlung, nämlich „wie, auf welche Weise er [Gott] dieses Sein annehmen könne“ (SW XIII, 271) beantwortet. 4) Beweggründe (Motive) Aber auch die zweite Frage, „wodurch er im Fall der Annahme dieses Seins zu derselben bewogen gedacht werden könne, welche Beweggründe zu dieser Annahme in ihm sich denken lassen“ (SW XIII, 271) hat so schon eine erste Antwort gefunden: die Möglichkeit einer solchen Selbstsetzung ergibt zugleich ein Motiv der Schöpfung. Die strikte Einheit der Potenzen, bei welcher im absoluten Geist Anfang und Ende zugleich ist, differenziert sich in der Möglichkeit eines zu Gott Anderen aus. Schelling vergleicht das Verhältnis der transitiven Beziehung auf die praktische Möglichkeit zur immanenten Beziehung des Geistes auf seine bloß theoretischen Möglichkeiten mit dem mathematischen Modell der Erzeugung einer Linie durch die Dehnung des Punktes. Im Punkt ist Einheit daSelbstaffektion. Die Selbstaffektion besteht für Schulz darin, dass der Geist in ihr „nicht eigentlich handelt und auch nicht eigentlich erleidet“ (227), sondern mit ihm in einer quasi-Handlung etwas wie „eine Einheit von Tun und Erleiden“ (ebd.) geschieht. In diesem Geschehen der Selbstaffektion distanziert sich der Geist zu sich selbst, indem er aus seiner Unmittelbarkeit heraustritt; er muss sich, so Schulz, „von seinen unmittelbaren Bestimmungen noch einmal befreien, sie mit sich […] nochmals vermitteln“ (ebd.), um sich überhaupt als den Geist, der ein Anderes zu sich setzen kann, zu entdecken. Schulz unübertroffen genauer Erfassung dieser Grundverhältnisse, wie sie Schelling in der 13. Vorlesung der Philosophie der Offenbarung darlegt, ist grundsätzlich zuzustimmen, zeigt jedoch zugleich auch, dass sich alle Erklärungen und Beschreibungen dieser Momente als Grenzbegriffe zum eigentlich Unerklärlichen und nicht mehr Beschreibbaren verstehen lassen müssen – und dies ist nicht als Aufdeckung einer Begrenztheit der Philosophie Schellings zu verstehen, sondern steht im vollen Einklang mit seinen Intentionen. Die Selbst-Affektion, wie Schulz sie erfasst, ist deshalb ein Grenzbegriff, weil er noch dort zu erklären versucht, wo es im Grunde nichts mehr zu erklären gibt. Die Frage, „wie soll es denn möglich sein, dass sich die erste Potenz […] erhebt“ (Schulz 1955, 226), hat eine Tendenz zu einer funktionellen oder gar kausalen Erklärung, die dem metaphysischen Status dieser Frage bei Schelling natürlich nicht angemessen ist und die auch gar nicht genau der Frage Schellings nach der Weise dieser Erhebung entspricht. Daher ist es wichtig, dass Schulz hervorhebt, dass die Selbstaffektion keine eigentliche Handlung sein könne (die ihrerseits nach Erklärungen verlangen würde) und dass es auch keinen wirklichen Vorgang der Selbstaffektion gibt, der in der Zeit abliefe und nach Verhältnissen früherer Ursachen zu späteren Folgen verlangt (230). Sondern es ist eine Darlegung von notwendig in den Übergang zu denkenden Strukturverhältnissen, bei welcher auf die Frage nach ihrem Zustandekommen mit Schelling keine Antwort möglich ist, da es auf die Frage nach einer Erkenntnis des Absoluten „keine Antwort“ (AA II,8, 74/SW VII, 423) gibt.

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durch verbürgt, dass in ihm Anfang, Mitte und Ende zur Deckung kommen. Durch die Dehnung des Punktes zur Linie (bzw. Strecke) hingegen entfalten sich diese. Verbindet man dieses Modell nun mit der der Vorstellung der drei Potenzen, die zuerst als Momente der Einheit in Gott sind und im praktischen Bezug in Spannung versetzt werden, d. h., auseinander treten, dann wird der volle Sinn klar, den Schelling in das Moment des Auseinandertretens der Potenzen als Selbstoffenbarung setzt: die Tat der Schöpfung bedeutet dann, dass Gott „Anfang, Mittel und Ende […] sich ungleich machen [würde], wenn er die an den drei Gestalten seines Seins erblickten Möglichkeiten zur Wirklichkeit erhöbe“ (SW XIII, 274). Daher vermag sich Gott im Auseinandertreten der in ihm einheitlichen Potenzen zu erkennen als ein Wesen, das die in sich kreisende Bewegung der Einheit verlassen und in die transitive Bewegung übergehen kann, in der es selbst in geradliniger Bewegung von einem „bestimmten Anfang durch bestimmten Mittelpunkt in ein vorbestimmtes Ende fortschreite[t]“ (SW XIII, 274). Erst hierdurch kann sich Gott als persönliches, handlungsfähiges Wesen, d. h. als Schöpfergott verstehen. Daher kann Schelling sagen, dass durch die sich Gott zeigende Möglichkeit der Schöpfung, in welcher sich ihm überhaupt erst sein eigenes Wesen, nämlich die Einheit der Potenzen in einem Auseinander als Möglichkeit zeigt, „zuerst Erkenntnis in Gott“ (SW XIII, 274) komme. Nun gibt dies jedoch noch keine hinreichende Erklärung dafür, weshalb Gott die Schöpfung tatsächlich vollzieht und es nicht beim Anblick dieser Möglichkeit belässt. Denn der Anblick der möglichen Schöpfung beinhaltet bereits die Erkenntnis all dessen, das sich in der wirklichen Schöpfung zeigt. Im Unterschied zu menschlichem Handeln kann, wie gesehen, es über Art, Umfang und Konsequenzen der Schöpfung bei Gott keine Wissensdefizite geben. Denn dies würde bedeuten, dass Gott im Schöpfungsakt Irrtümern hätte aufsitzen können. Gott lernt jedoch die Momente des Schöpfungsprozesses „nicht erst dadurch kennen, dass, dass er sie als voneinander abgesetzte verwirklicht“ (SW XIII, 286). Ihm sind, wie Schelling in Anlehnung an die Apostelgeschichte bemerkt, „alle seine Werke bekannt von Ewigkeit“ (UF 126, vgl. Apg., 15,18). Daher kann auch das Erkenntnismotiv nur eine motivationale Voraussetzung, nicht aber das eigentliche Motiv der Schöpfung sein. Dieses „eigentliche Motiv“ (SW XIII, 277) muss in der Schöpfung selbst liegen. Da es in der Schöpfungssituation nichts außerhalb der Schöpfungssituation gibt, kann die Schöpfungshandlung ohnehin nicht durch heterogene Motive, also solche, die außerhalb Gottes oder der Schöpfung lägen, hervorgebracht worden sein. Sie muss selbstmotiviert sein. Konsequenterweise gilt für Schelling daher, dass „das wahre Mo-

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tiv des Herausgehens […] also die Schöpfung“ (SW XIII, 277 f.) ist. Sie ist Motiv ihrer selbst. Denn das Herausgehen ist nichts anderes als die Schöpfung. Was bedeutet dies nun? Offenbar dies: In der Schöpfung fällt das Resultat der Handlung mit deren Vollzug, Motiv und Ziel zusammen. Der Zusammenhang zwischen Vollzug und Ergebnis ist schon sprachlich dadurch gegeben, dass beides mit dem äquivoken Ausdruck der „Schöpfung“ bezeichnet wird. Die Schöpfung ist Vollzug und Produkt – und zwar nicht sowohl das eine als auch das andere, sondern beides zugleich. Hiermit ist ein wichtiger Gedanke ausgesprochen: Die Schöpfung ist für Schelling kein abgeschlossenes Geschehen, kein Herstellen der Welt, bei dem der Herstellungsprozess vom Ergebnis unterschieden sein könnte. Sie kann nicht als bloß zeitlicher Anfang einer Welt verstanden werden, die dann unabhängig von ihm weiterbestehen würde. Denn sonst würden Tat und Resultat auseinanderfallen. Sondern die Schöpfung ist creatio perpetua, dauerhafte Schöpfung. Das Bestehen des Kosmos wird durch eine fortdauernde Schöpfungshandlung im Sein gehalten.23 In Hinsicht auf die Frage nach den Beweggründen der Schöpfung ist von Bedeutung, dass hier eine um ihrer selbst willen gewollte Handlung in eins mit dem um seiner selbst willen gewollten Ziel das Motiv ebendieser Handlung bildet. Die bedeutet einerseits, dass man der Schöpfung eine intrinsische Zielveranlagung zuschreiben muss: ihr Ziel ist nichts, das über ihren Vorgang hinausginge.24 Sie hat auch keine anderen Ziele, in deren Dienst sie steht. Zugleich bedeutet dies, dass die Schöpfung keine ihr vorhergehenden Beweggründe hat. In ihr gibt es nichts außer dem Inhalt der Absicht selbst, woraus sie sich erklären lassen könnte. Was dies handlungstheoretisch bedeutet, kann man sich klar machen, indem man   Zur näheren Explikation dieser Figur siehe Kapitel 4, Abs. 5).   Mit der von Aristoteles herrührenden Unterscheidung zwischen Handlungen mit intrinsischen (praxis) und solchen mit extrinsischen Zielen (poiesis), müsste man die Schöpfung so der praxis zuschreiben (vgl. Nikomachische Ethik, 1140b). Die Interpretation dieser Unterscheidung ist allerdings umstritten; die Differenzierung nach intrinsischen und extrinsischen Zielen dürfte dennoch die Hauptlinie bilden (vgl. Flashar 1986, 338 und Corcilius 2011, 246). Denn die Schöpfung ist um ihrer selbst willen und hat ihr Ziel in sich selbst. Dieses Ergebnis ist insofern überraschend, als mit poiesis die hervorbringenden Handlungen bezeichnet werden, und es auf der Hand zu liegen scheint, dass gerade die Schöpfung etwas (nämlich die geschöpfte Welt als ihr Resultat) hervorbringt. Die Lösung besteht m.E. darin, dass die Schöpfung beides ist (womit auch die Ausschließlichkeit der Aristotelischen Unterscheidung in Frage gestellt wird) und wird erklärlich über das Modell der creatio continua, nach welcher Gott nicht deistisch die Welt schöpft und diese von da an unabhängig von ihm weiterexistiert, sondern sie in einer ständigen Handlung hervorgebracht und erhalten wird. 23 24

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gängige Alternativen für Beweggründe bzw. Motive, welche menschliche Handlungen erklären, betrachtet: Charaktereigenschaften des Handelnden, hervorgerufen durch soziale, biologische und psychologische Prägungen, die Situation, welche zur Handlung geführt hat, mentale Gegebenheiten wie Gefühle, Triebe, Wünsche, Erwägungen, Einschätzungen oder Entscheidungen.25 All dies sind mögliche Erklärungsgründe für Handlungen, denen gemeinsam ist, dass sie Elemente angeben, die zeitlich vor der Handlung liegen, und denen deshalb besondere Erklärungskraft zuzukommen scheint, weil sie hierdurch als Kandidaten für mögliche Ursachen für die entsprechende Handlung in Frage kommen.26 Wenn es aber zur Schöpfung nichts zeitlich Früheres gibt, können all diese Typen von Gründen für die Schöpfung nicht gegeben sein. Umgekehrt wird hierdurch sichtbar, dass die Zielsetzung (Absichtlichkeit) der Handlung intrinsisch zu eigen sein kann, ohne dass diese als mentales Ereignis gedeutet werden müsste, das in einer kausalen Relation zur aus ihr resultierenden Handlung stünde. Mit Schellings Schöpfungsauffassung 25   Motive in diesem Sinn sind faktische Gründe, die erklären, weshalb jemand etwas getan hat, also was ihn zu der Handlung bewogen hat. Vgl. Scarano 2006b, 448–453, und 2016. In extenso: Halbig 2007, 31–185). Insbesondere werden als Motive regelmäßig die verborgenen Dispositionen, Gefühle, Wünsche oder Absichten des Handelnden genannt, d. h. diejenigen, die über die Angabe der unmittelbaren und offensichtlichen Absicht hinausgehen (Anscombe 2011, 54 f.). Wenn A absichtlich ein Glas gegen die Wand wirft, so ist die unmittelbare Erklärung dieser Handlung, dass er die Absicht hatte, das Glas gegen die Wand zu werfen – sonst hätte er dies nicht absichtlich getan. Aber diese Angabe ist wenig informativ, da jeder, der versteht, was A tut, nämlich ein Glas gegen die Wand zu werfen, auch versteht, dass er die Absicht dazu hat. Darüber hinaus sind aber weitere Erklärungen dieser Handlung von Interesse. Die auf das Motiv gehende Frage, warum A dies getan habe, könnte sehr disparate Antworttypen haben, z. B.: wegen seiner Jähzornigkeit (Charakterdisposition), aus Wut (momentanes Gefühl), um seine Oma zu erschrecken (weitergehendes Ziel, als Folge der Handlung), weil es ihm gefiel, wie es klirrte (Wunsch/Proeinstellung zu einem Aspekt der Handlung), weil er dachte, das gehöre sich so (= aus Konventionalität) usw. Smith hat darauf hingewiesen, dass allen diesen Arten von Motiven gemeinsam ist, dass sie auf Wünschen basieren und insbesondere ein gewünschtes Ziel beinhalten (Smith, 2004, 147). Sie sind in diesem Sinne dasselbe, wie die Beweggründe, die ein Akteur selbst hat. So wünscht z. B. der Konventionelle, der Konvention zu entsprechen und hat das Ziel, dies durch die entsprechende Handlung zu erreichen. 26   Damit ist die Schöpfungshandlung klarerweise keine, für die gilt, dass die Angabe der Gründe der Handlung, wie es nach der berühmten Formulierung Davidsons lautet, „eine Spielart der kausalen Erklärung“ (1985, 19) bildet. Gottes Beweggründe können gerade nicht als Ursachen verstanden werden, durch welche die Schöpfung zustande kommt. Klar ist zudem, dass über den ontologischen Status des Schöpfers als absolutem Geist auch alle empiristischen (humeanischen) Handlungs-Erklärungen wegfallen, bei denen Wünsche das primäre motivationale Element bilden.

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gilt umgekehrt: Mit Handlungen sind notwendig Absichten gegeben, die Ziele als ihre Gehalte haben. In der Schöpfung als dem Motiv und Ziel der absichtlichen Handlung der Schöpfung ist dies in Reinform gegeben. Damit entspricht Schellings Auffassung von Gottes Handeln im Kern einer teleologischen Handlungstheorie, d. h. einer Theorie, die davon ausgeht, dass Handlungen primär und irreduzibel zielgerichtet sind.27 Was dies insgesamt bedeutet, wird vom göttlichen zum menschlichen Handeln hin innerhalb von Schellings Gesamtkonzept sukzessive in allen seinen Momenten zu entfalten sein. Seine Grundkonzeption der Handlungsteleologie gilt es zunächst auf das göttliche Handeln bezogen zu skizzieren. 5) Ziele Man kann zwei Hinsichten unterscheiden, unter denen man Handlungstheorien als teleologisch ansehen kann. Die eine ist die eben gezeigte, nach welcher Handlungen grundsätzlich zielgerichtet sind und diese Ziele sich nicht auf Ursachen zurückführen lassen. Hier können als Ziele solche gelten, auf die Handlungen unmittelbar bezogen sind. Die andere ist diejenige, nach welcher es einen bedeutenden Aspekt von Handlungen ausmacht, dass sie unter der Leitidee fernerliegender Ziele (oder gar eines höchsten Ziels) stehen und dass die unmittelbaren Handlungsziele auf diese ferneren bezogen sind, wodurch sich eine Hierarchie und ein Kontinuum an Zielen erzeugen lässt. Diese Art einer teleologischen Handlungsauffassung nennt man finalistisch.28 Beide Auffassungen hängen miteinander zusammen, wobei die erste   Dass Handlungen zielgerichtet sind, rührt schon von Aristoteles her (Nikomachische Ethik, 1094a) und wird auch von den Vertretern der kausalen Handlungstheorie nicht bestritten; allerdings behaupten diese, dass sich Ziele über die Vorgänge der Zielsetzungen des Akteurs kausal reduzieren lassen. Zu den modernen teleologischen Handlungstheorien, welche Elemente der Zielsetzung und der Leitung der Handlung als unverzichtbar für deren Erklärung und als nicht kausal reduzierbar ansehen, gehören neben Anscombe 2011 insbesondere Wilson 2010 und Frankfurt 2002. 28   Die klassische finalistische Handlungstheorie findet sich bei Aristoteles, demzufolge alle (per se zielgerichteten) Handlungen auf ein höchstes Ziel gerichtet sein müssen, da ihre Zielfunktionen sonst sich in einem unendlichen Progress verliefen (NE 1094a). Schelling nimmt hierauf explizit Bezug (SW XIII, 105). Moderne Handlungstheoretiker haben die aristotelische Idee ohne den Gedanken eines feststehenden höchsten Ziels dahingehend wieder aufgegriffen, als sie betonten, dass einzelne Handlungen von Personen oft unter ferneren Leitideen stünden, welche sie in der Struktur hierarchischer, auf diese 27

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Hinsicht die fundamentalere ist. Denn wenn Handlungen nicht in sich zielgerichtet wären, könnten sie auch nicht auf fernere Ziele bezogen sein – umgekehrt schon. In Schellings Schöpfungskonzeption findet sich beides. So ist einerseits die Schöpfung das Motiv ihrer selbst, andererseits ist sie die „Endabsicht des Hervorbringenden“ (SW XIII, 286) und er blickt mit „Final-Bewusstsein“ (SW XIII, 287) auf sie. Die Schöpfung, die in sich das Ziel der Schöpfungshandlung ist und weder weitere Ziele außer sich noch extrinsische Motive für sich hat, hat dennoch in sich ihrerseits ein Ziel, auf das sie prozesshaft zuläuft. Dieses Ziel in der Schöpfung, dass diese als Handlung und als objektiver Weltprozess abschließen wird, ist es, das Schelling meint, wenn er von Gottes Final-Bewusstsein spricht. Umgekehrt bedeutet, dass Gott in der Schöpfung (als Gesamthandlung) keine über diese hinausgehenden, weiteren Ziele hat, nicht, dass nicht innerhalb der Schöpfung diese als Komplex von Handlungen mit ferneren und näheren Ziele gegliedert sein kann.29 Dies zeigt sich auf der Seite der geschöpften Welt als Produkt der Schöpfungshandlung darin, dass diese nicht schlagartig vollendet ist, sondern in ihr, wie Schelling ausführt, Anfang, Mittel und Ende auseinander sind. Die Schöpfung hat so einen Beginn, einen Verlauf und eine Vollendung. Dies bedeutet auch, dass wir den Schöpfungsprozess „vor allem als einen sukzessiven, stufenweisen uns denken“ (SW XIII, 286) müssen. Gottes Absicht in der Schöpfung ist demnach auch auf alle drei Momente, ihren Anfang, Verlauf und ihr Ende gerichtet. Demnach gibt es zusätzlich zum Ziel des Beginnens auch das Ziel des Mittels und Endes, die eigentliche Endabsicht. So lassen sich auch für die teleologischen Strukturen im Handeln Gottes festhalten: a) Gott handelt final. Er hat ein letztes Ziel seines Handelns, das ihm als Idealität, d. h. „als Muster, exemplar [.] vorschwebt“ (SW XIII, 288) und auf das hin er insgesamt sein Handeln ausrichtet. Das heißt, alle sonstigen Ziele seines Handelns erhalten ihren Sinn und ihre Bestimmung in Hinsicht auf dieses letzte Ziel. Zugleich bedeutet dies, ferneren Ziele hinführenden Pläne gliedern (vgl. Bratmans sogenannte ‚planning theory of action‘, z. B. 2007). 29   Komplexe und ausgedehnte Handlungen, wie es die als creatio perpetua verstandene Schöpfung ist, bestehen zumeist aus einer Folge oft sich wechselseitig in Zwischenglieder integrierender Teilhandlungen, bei welcher jede einzelne Handlung ihrerseits wieder Ziele hat. Essen kochen mit dem Ziel des gekochten Abendessens kann u. a. aus den Teilhandlungen des Herd-Anstellens, Umrührens und Würzens der Suppe bestehen, die je ihre Ziele haben und diese lassen sich wiederum als die Handlung des Suppe-Kochens neben der des Salat-Anrichtens mit Schneiden, Putzen, Marinieren usw. zusammenfassen.

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dass b) Gott instrumentell, in Mittel-Zweck-Relationen handelt: „Die göttliche Weltregierung handelt immer durch Mittel“ (SW XIII, 285). Alle Handlungen, deren Ziele im Dienste des letzten Ziels stehen, sind mitsamt ihren untergeordneten Zielen Mittel zu diesem letzten Ziel als ihrem Zweck.30 Und Gott bedarf untergeordneter Zwischenziele und entsprechender Handlungen als Mittel zum letzten Ziel eben deswegen, weil dieses nicht schlagartig erreicht werden soll: „Würde […] jedes Prinzip des Anfangs, was die veranlassende Ursache der Spannung [der Potenzen] ist, unmittelbar, gleichsam in einem Zug überwunden“, führt Schelling aus, „so wäre die Einheit unmittelbar wiederhergestellt ohne Mittelglieder und ohne unterscheidbare Momente“ (SW XIII, 286). Es wäre also lediglich der Einheitszustand des Anfangs wiederhergestellt, ohne dass dieser in irgendeiner Form eine Bereicherung gefunden hätte. Daher muss es in „in der Endabsicht des Hervorbringenden liegen, dass die Überwindung stufenweise und insoweit sukzessiv geschehe“ (SW XIII, 286). Also muss Gott nicht nur Schöpfer, sondern auch Lenker des Weltgeschehens sein. Er muss die Gesamthandlung der Schöpfung so führen können, dass sie zuletzt in ihrem Gesamtziel der Vollendung terminiert.31 Und dies beinhaltet, dass er sein Handeln auch auf alle Zwischenglieder des Prozesses in ihrer Funktion auf das den Prozess abschließende Ziel hin bezieht. c) bedeutet dies auf der Seite seiner untergeordneten Absichten, dass Gott sowohl unmittelbare als auch weitere Absichten im Handeln hat, während es zum eigentlichen oder wahren Motiv des Ganzen der Schöpfung keine übergeordneten Absichten geben kann. Als unmittelbare Absichten sind dabei diejenigen zu verstehen, von denen jeder Akteur direktes Selbstwissen hat, die eine Handlung überhaupt erst als absichtlich charakterisieren und die diese Handlung zugleich individuieren.32 Im Gegensatz zu dieser Form von Absichten, die jedes absichtliche Handeln haben muss, können Handlungen noch weitere Absichten haben und haben solche auch im Regelfall.33 Erst durch sie werden Handlungen überhaupt 30   Ein Zweck ist in praktischer Hinsicht der Ausdruck für ein Ziel in Relation auf die Handlung als Mittel, es zu erreichen. Insofern sind ‚Ziele‘ und ‚Zwecke‘ in Handlungen äquivalente Ausdrücke mit dem Unterschied, dass bei ‚Zwecken‘ je die Hinsicht auf die Mittel mitberücksichtigt ist. 31   Dies ist der Kern des Konzepts der Handlungslenkung (guidance) das H. Frankfurt in die Diskussion eingeführt hat, wonach es zu den Grundcharakteristika von Handlungen gehört, dass diese vom Akteur im Verlauf der Handlung auf ihr Ziel zugeführt werden (Frankfurt, 2010, 76). 32   Also in etwa die Absicht, zu schreiben beim Schreiben, die das Tippen auf die Tasten auch erst zu einem Schreiben macht. 33   Ob es überhaupt Handlungen gibt, die einfach so, d. h. ohne weitere Absichten/ Ziele vollzogen werden, ist umstritten. Eine starke Tradition in der Handlungstheorie

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zu Instrumenten der Initiierung und Steuerung von Geschehnissen, die über den unmittelbaren körperlichen Handlungsvollzug hinausgehen. Sie dienen dazu, dass durch eine Tätigkeit etwas Anderes, über diese Tätigkeit Hinausgehendes erreicht werden kann.34 Unter der finalen Struktur der Schöpfung gilt daher klarerweise, dass jegliches auf den Verlauf der Welt bezogene Handeln Gottes, d. h. jegliche Tätigkeit, die Schelling als „Weltregierung“ (UF 205) bezeichnet, unter der weiteren und übergreifenden Absicht steht, den Weltverlauf in das Ziel des ‚Alles in Allem‘ zu führen. Abgesehen von der Schöpfung selbst als Gesamter, deren Sinn intrinsisch sein muss, tut Gott nichts, ohne die weitere Absicht des Gesamten damit zu verfolgen, d. h. nichts einfach so. Gottes kontinuierliche Handlung der Schöpfung lässt sich daher in untergeordnete Zwischenhandlungen, die im Dienst der Schöpfung stehen, untergliedern, ohne dass deswegen die Einheit der Schöpfungshandlung unterbrochen würde. Im Gegenteil: dass Schelling untergeordnete Mittelhandlungen im Dienst der Lenkung der übergeordneten Handlung auf ihr intrinsisches Ziel hin explizit hervorhebt, zeigt, dass ihn die komplexen Verhältnisse der Integration von Zweck- und Mittelhandlungen bewusst sind. Somit lässt sich der speziellen, voraussetzungslosen Schöpfungslage Gottes als Kern des Schellingschen Handlungskonzepts die auch systematisch überzeugende teleologische Ansicht entnehmen, dass Handlungen als primäre kognitive Bedingung eine Sicht des Akteurs auf seine Ziele benötigen und eine Willensbefähigung, die ihn in die Lage versetzt, dem Außenbezug seiner Ziele zu folgen und sein Verhalten als Mittel einzusetzen, diese Ziele auch gesteuert zu erreichen. befürwortet dies. Anscombe 2011, 57 f. plädiert dafür, dass „der Mensch [nicht] immer in Hinblick auf ein Ziel handeln muss, [sondern] häufig einfach so“ handelt, was nicht bedeute, dass ein solche Handlung unbeabsichtigt sei, sondern dass sie keine weiteren Absichten als ihren bloßen Vollzug verfolge (entsprechend Davidson 1985, 23 f.). Dieser Fall war mit Schelling bereits für die Schöpfung zugestanden, deren Ziel lediglich sie selbst war. 34   Die Standardbeschreibung solcher Handlungen ist: A φ-t, um zu ψ-en; A hat demnach in seinem Tun sowohl die Absicht, zu φ-en, als auch die weitere Absicht, zu ψ-en. Letztes entspricht dem informativen Gehalt von Motiven, sofern diese aus weiteren Absichten bestehen; im Beispiel oben wäre dies die weitere Absicht, die Oma zu erschrecken, als Motiv des Werfens des Glases. Daher ist ‚um zu ψ-en‘ auch die informative Antwort auf die Frage ‚warum φ-st Du?‘ (Anscombe 2011, 66 f.) Beide Absichten sind logisch miteinander verbunden. Denn ψ-en geschieht durch φ-en; A ψ-t, indem er φ-t. Umgekehrt bedeutet dies, dass sich eine Auffassung Schellings, dass Gott Absichten-mit-denen habe und mittels ihrer handle, bereits durch Beschreibungssätze manifestieren lassen, die die angegebene Struktur haben. Z. B.: „Gegen den Frommen kann Gott sich verkehren, um ihn zu prüfen“ (UF 204 f., Herv. Vf.).

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Festzuhalten ist hierbei, dass Schellings teleologische Handlungstheorie, wie sie hier am Handeln Gottes nachgezeichnet wurde, Handeln wesentlich als auf den Momenten des Wollens in der Form des Beabsichtigens von Zielen basierend erachtet. Gott bedarf im Schöpfungsakt seiner inneren Willenskonstitution und eines Ziels, auf das er sich in einer Absicht ausrichtet, und das er dann mittels Willensanspannung verwirklichen kann. Dabei fällt auf, dass Begriffe der Moral, Momente der Rationalität und Elemente der psychischen oder sonst charakterlichen Disposition hier gar nicht genannt sind. Schellings teleologische Auffassung von Handlungen steht so in deutlichem Kontrast zu Handlungskonzepten, die entweder Handeln von vornherein im Horizont des Moralischen ansiedeln, indem sie in etwa den Willen nicht nur als Quellpunkt für Handlungen, sondern in der Form praktischer Gesetzgebung auch der Moral ansehen (Kant), oder die Handlungen von Grund auf aus einer bestimmten Form der Rationalität heraus verstehen, wie es in etwa gleichfalls bei Kant der Fall ist, der den Willen auch als ein Vermögen, sich nach Gesetzen zu bestimmen, versteht, oder zuletzt zu Handlungskonzepten, welche eine psychologische motivationale Seite in der Form von Wünschen für unverzichtbar zur Erklärung von Handlungen halten, wie dies der Tradition Humes entspricht. Es zeichnet sie aus, dass sie – verankert in der Willensmetaphysik der Potenzenkonstitution des Geistes – die wesentlichen Strukturen des Handelns in einem reduzierten teleologischen Vokabular von Absichten und Zielen darstellen kann, wie es beispielhaft am Handeln Gottes in der Schöpfung nachgewiesen werden konnte. Zu zeigen, wie sich das zielführende Schöpfungshandeln in zeitlicher Hinsicht und in Bezug und unter Hinzunahme des geschichtlichen Handelns des Menschen in der Durchführung ausgestaltet, wird Aufgabe der nachfolgenden Kapitel sein. Zuerst aber ist es angezeigt, mit der Freiheit das vielleicht zentralste Thema der Philosophie Schellings nicht in metaphysischer Hinsicht, sondern im handlungstheoretischen Fokus, als spezifisches gehaltvolles Merkmal menschlichen und göttlichen Wollens und Tuns, zunächst auf das Handeln Gottes bezogen, darzustellen.

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KAPITEL 3: DIE FREIHEIT GOTTES Freiheit ist der systemtragende Begriff im ganzen Werk Schellings. Von den frühen Schriften an, in denen Freiheit programmatisch zum „Anfang und Ende aller Philosophie“ (AA I,2, 101/SW I, 177)35 erklärt wurde, bis in die Spätzeit 50 Jahre danach, in der Schelling Freiheit noch immer „unser Höchstes“ (SW XIII, 256) nennt, bleibt Freiheit durch alle Wandlungen und Entwicklungen der Philosophie Schellings hindurch der metaphysische Grundbegriff, von dem aus das Sein in allen seinen Formen erst verständlich werden soll. Dabei differenziert sich der Bezugspol dieser Freiheit zunehmend aus. Ist es in der Frühphilosophie ab 1795 das abstrakte Ich Fichtescher Prägung als die transzendentale Grundfunktion allen Bewusstseins, welche das Zentrum des Systems bildet, so unterscheidet Schelling spätestens von der Freiheitsschrift von 1809 an Funktion und Reichweite göttlicher und menschlicher Freiheit. Hierbei verlagert sich zum einen der Schwerpunkt von der inneren, bewusstseinskonstituierenden Freiheit zur äußeren, auf Handlungen bezogenen. Zum anderen wächst der göttlichen Freiheit zunehmend Bedeutung zu, bis sie in der sogenannten positiven Philosophie (ab 1827) schließlich die zentrale Position einnimmt, welche am Anfang seines philosophischen Weges die Freiheit des Ichs hatte: Die Freiheit Gottes in der Schöpfungshandlung wird zu dem, und zwar zu dem einzigen Erklärungsgrund der Existenz der Welt.36 Diese zentrale Rolle des Freiheitsbegriffs auch in der Spätphilosophie hat immer die Aufmerksamkeit der Schelling-Forschung erhalten. Von   Vgl.: Brief an Hegel vom 4.2.1795, AA III, 1, 52; und „Freiheit ist unser Höchstes, unsere Gottheit, diese wollen wir als letzte Ursache aller Dinge“ (SW XIII, 256); entsprechend UF 79. Dass „Schellings gesamtes Denken im Zeichen der Freiheit steht“ ist Konsens der Schelling-Literatur (hier exemplarisch: Zöller 2012, 262); Freiheit ist das Grundproblem seines 50 Jahre währenden Philosophierens (Schulz 1977, 301); Heidegger GA II, 42, 37 hat auch für die Spätphilosophie explizit herausgestellt, dass diese nichts anderes sei als Schellings fortwährendes Bemühen um ein ‚System der Freiheit‘. Bezeichnend ist, dass sich dieser Ausdruck eines „System[s] der Freiheit“ in allen Werkphasen findet. Vgl. (auf Spinoza bezogen) AA I,3, 84/SW I, 315, Initia 171 und SW X, 36 und XII, 33. 36   Dabei ist die bloße Tatsache, dass Gott Freiheit zugeschrieben wird, wenig originell und folgt einer langen Tradition. Bereits Philon von Alexandrien bezeichnet Gott als das einzig selbstständig-selbstgenügsam freie Wesen. Bei Luther wird das liberum arbitrium dann zentrales Attribut. Hierzu: Schwöbel 2002, 252. 35

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ihr aus ließ sich der Aufbau einer geschichtlichen Offenbarungsphilosophie, ihre Reichweite und Ziele, systematisch rekonstruieren. Dabei blieben allerdings diejenigen Eigenschaften der Freiheit Gottes, die ihre Eignung als Prinzip der Positivität verbürgten, im Zentrum des Interesses. Übergangen wurde dabei zumeist die inhaltliche Frage, wie man sich diese Freiheit sachlich vorzustellen habe, d. h., mit welchen Freiheitsaspekten ein Wesen ausgestattet ist, das Schellings göttliche Freiheit besitzt und wie diese Aspekte sich in freien Handlungen realisieren.37 Doch Schelling hat diese Fragen gestellt und zu beantworten versucht. Sie zu rekonstruieren ist Aufgabe dieses Kapitels. Der rekonstruktive Gedankengang wird hierbei in neun Schritten entwickelt, wobei die ersten vier Schritte sich auf die Freiheitslehre bis zu den Weltaltern (1815) beziehen (I.), die weiteren fünf Schritte jedoch Spezifika der Spätphilosophie sind (II.): (1) Schelling konzipiert die Schöpfung als freie Tat eines personalen Gottes. (2) Freiheit muss mit Notwendigkeit verbunden sein: freie Handlungen entsprechen notwendig dem freien Wesen des Handelnden. Dies schließt (3) Willkürfreiheit, Wahlfreiheit und Indifferenzfreiheit aus und erklärt (4) das Was der Welt aus dem Wesen Gottes. (5 (= II.1)) gehört es jedoch zur Freiheit Gottes, dass er die Schöpfung auch hätte unterlassen können. Hierin liegt (6) das Moment der Positivität, das beinhaltet, dass es für ihre Existenz keine Erklärung gibt. Dennoch kann die Schöpfung (7) verständlich werden über eine Betrachtung ihres Ziels. (8) In der Idee der Verstellung Gottes zeigt sich, dass Gottes Freiheit auch einen Standpunkt beinhaltet, in dem er sich von sich selbst distanzieren und sich entgegen handeln kann; in der Idee der Selbstgestaltung (9) schließlich, dass Gottes Freiheit auch die Möglichkeit der Selbstprägung beinhaltet.

  Der Mangel an Arbeiten, welche inhaltliche Aspekte des Schellingschen Freiheitsbegriffs zu rekonstruieren versuchen, wurde bereits mehrmals festgestellt (Sturma 1995, 150 und Buchheim 2012, 187). Zwischenzeitlich gibt es allerdings neben den genannten weitere Arbeiten, die dem entgegenzuwirken versuchen: z. B. Noller 2015. Allen ist allerdings gemein, dass sie sich auf den menschlichen Freiheitsbegriff beziehen, während der explizit göttliche insbesondere der Spätphilosophie ein Desiderat bleibt. 37

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I. Göttliche Freiheit in Schellings mittlerer Philosophie 1) Die freie Persönlichkeit Gottes Wie gesehen ist Gott für Schelling ein personales, d. h. mit Bewusstsein und Reflexionsvermögen ausgestattetes, zudem handlungsfähiges Wesen, dem insbesondere die Schöpfung nicht bloße Folge seines Seins ist, sondern das diese ausdrücklich als „Handlung und Tat“ (AA I,17, 161/ SW VII, 395) vollzieht. Gott ist kein bloßer Vernunftraum und kein abstraktes Prinzip des Guten und die Welt ist kein bloßer Ausfluss oder Spiegel seines Wesens. Sondern als handlungsfähige Person konzipiert Schelling Gott von Anfang an als ein dem Menschen analoges Wesen und die Schöpfung, die den Menschen beinhaltet, ist Vollzug und Resultat der Schöpfungshandlung. An diese Handlung lässt sich nun mit Recht die Frage stellen, ob sie „mit blinder und bewusstloser Notwendigkeit erfolgt, oder […] sie eine freie und bewusste Tat“ (AA I,17, 160/SW VII, 394) ist. Für Schelling ist die Antwort eindeutig: es ist gerade seine Konzeption eines personalen, lebendigen Gottes, welche für ihn den entscheidenden Fortschritt namentlich gegenüber Spinoza und Fichte bildet, und zu diesem Gott als „höchste[r] Persönlichkeit“ (AA I,17, 160/SW VII, 395) gehört „göttliche Freiheit“ (AA I,17, 163/SW VII, 398).38 Wenn die Schöpfung eine Handlung ist, dann ist sie auch frei, da Handeln bereits begrifflich Freiheit impliziert (vgl. SW VI, 539). Daher ist „die Welt [nicht] eine Emanation der bloßen göttlichen Natur, sondern […] eine frei gesetzte Schöpfung des göttlichen Willens“ (SW XIII, 292). 2) Die Verbindung von Freiheit und Notwendigkeit Dass die Schöpfung frei ist und nicht aus ‚blinder, bewusstloser Notwendigkeit‘ erfolgt, bedeutet allerdings nicht, dass sie ohne Notwendigkeit erfolgt, sondern lediglich, dass diese Notwendigkeit nicht ‚blind und bewusstlos‘ ist. Die Schöpfung ist keine bloß mechanische oder logisch 38   Zum Verhältnis von Schelling, Fichte und Spinoza in der Bestimmung des Absoluten vgl. Brachtendorf 2012, insb. 184 f. Schellings Hauptkritik an Spinoza ist schon 1809, dass dieser das Absolute verdinglicht habe, indem er es nicht als Subjekt gedacht habe, sondern nur als Substanz. Wetz 1991, 80 weist zudem darauf hin, dass die gemeinsame Kritik von Fichte und Schelling an Spinoza nicht nur den Punkt betraf, dass dieser die Substanz (= Gott) unlebendig konzipiert habe, sondern dass er auch nicht zeigen konnte, wie das Mannigfaltige der Welt aus der Substanz folge.

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notwendige Folge des Wesens Gottes. Sondern ihre Freiheit erhält ihre spezielle Charakteristik aus der Verbindung mit einer spezifischen Art von Notwendigkeit, die selbsttransparent und bewusstseinsstiftend ist. Die Einsicht in diese Verbindung von Freiheit und Notwendigkeit ist für Schelling das zentrale Anliegen einer systematischen Philosophie der Freiheit, zu welcher Schelling in der Vorrede zur Freiheitsschrift erklärt, dass „der Gegensatz […] von Notwendigkeit und Freiheit [den] innersten Mittelpunkt der Philosophie“ (AA I,17, 26/SW VII, 333) bilde.39 Dass zum einen der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit der Mittelpunkt der Philosophie sein, volle Freiheit aber erst in ihrer Verbindung bestehen soll, hat tiefere Gründe. Zum einen geht es Schelling darum, das Freiheitsproblem ab 1809 auch gegenüber seiner eigenen Identitätsphilosophie neu zu konturieren, da bei dieser zwar „diese Prinzipien [von Notwendigkeit und Freiheit] im Absoluten [d.i. in Gott] vereinigt“ (AA I,3, 100/SW I, 330) waren, doch die erklärte Identität beider zuletzt ihren Kontrast verschwinden ließ und zudem keinen Raum für eigentümliche menschliche Freiheit mehr blieb.40 Es geht also darum, Freiheit und Notwendigkeit so zu verbinden, dass ihr Kontrast nicht verschwindet. Zum anderen wird Schelling gerade in der Unterscheidung von Freiheit und Notwendigkeit seine spezifische Freiheitsphilosophie entwickeln und konturieren. Diese besteht in der notwendigen Verbindung des Wesens der Person mit ihrer freien Handlung: „Das intelligible Wesen kann […] nur seiner eignen inneren Natur gemäß handeln, oder die Handlung kann aus seinem Innern nur nach dem Gesetz der Identität und mit absoluter Notwendigkeit folgen, welche allein auch die absolute Freiheit ist“ (AA I,17, 152/SW VII, 384). Dabei ist, wie gesehen, zu beachten, dass diese Verknüpfung als eine Verbindung von Person und Tat zwei Seiten hat: Erstens ist darin der Grundgedanke Fichtes beibehalten, dass das Wesen der Person, d. h. Gottes wie des Menschen selbst aus einer freien Handlung besteht. Das Verständnis dieser inneren Handlung als zugleich frei und notwendig bildet den Kern der identitätsphilosophischen Behauptung, dass Freiheit und Notwendigkeit dasselbe seien und „Ein Wesen“ (AA I,17, 152/SW VII, 385) bilden, die Schelling auch nach 1809 beibehält. Zweitens jedoch   Vgl. schon AA I,9.1, 293/SW III, 594, wonach die Vereinigung von Freiheit und Notwendigkeit „das höchste […] Problem der Transzendental-Philosophie“ sei. Man kann hierin mit einiger Berechtigung das Grundproblem und den Motor sehen, der Schellings Philosophieren zeitlebens in Atem gehalten hat (vgl. Sandkühler 2013, 78). 40   Hierzu Buchheim 2011, XI f. 39

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müssen die äußeren freien Handlungen ihrerseits notwendig dem Wesen der Person entsprechen. Hier geht es nicht um die Handlung, die das Wesen bildet, sondern um die, die aus diesem Wesen folgt – was Schelling in der Freiheitsschrift mit dem ‚formellen Freiheitsbegriff‘ ausdrückt, wonach „frei ist, was nur den Gesetzen seines eignen Wesens gemäß handelt und von nichts anderem weder in noch außer ihm bestimmt ist“ (AA I,17, 152/SW VII, 384).41 Beide Hinsichten werden deutlicher, wenn wir Schellings Entwicklung des Gedankens der Freiheit Gottes verfolgen: Die früheste Stelle, an der Schelling explizit die Freiheit Gottes erörtert, ist der dritte Hauptabschnitt des Systems des transzendentalen Idealismus (1800). Dort diskutiert Schelling den Charakter des „Selbstbewusstseins[s] als [den] absolute[n] Akt, durch den für das Ich alles gesetzt ist“ (AA I,9.1, 87/SW III, 395). Er stellt fest, dass die bewusstseinsstiftende Handlung weder willkürlich noch unwillkürlich sein könne, da beides Bewusstsein schon voraussetze, sondern „absolut frei sein“ (ebd.) müsse, diese absolute Freiheit aber mit absoluter Notwendigkeit identisch sein müsse. Von hier aus erwägt Schelling, wie es um eine Freiheit Gottes bestellt sein müsste: Könnten wir uns z. B. ein Handeln in Gott denken, so müsste es absolut frei sein, aber diese absolute Freiheit wäre zugleich absolute Notwendigkeit, weil in Gott kein Gesetz und kein Handeln denkbar ist, das nicht aus der inneren Notwendigkeit seiner Natur hervorgeht (ebd.).42

Hieran ist zweierlei bemerkenswert: 1) gewinnt Schelling hier Grundbestimmungen des göttlichen Wesens aus systematischen Überlegungen 41   Zu dieser Festlegung des in der Forschung uneinheitlich gefassten formellen Freiheitsbegriffs in der Freiheitsschrift vgl. Kap. 6. 42   Man kann diese Forderung einer Verbindung von Freiheit und Notwendigkeit in Gott als eine Reaktion Schellings auf die historische Problemlage der Schöpfungslehre verstehen, bei der sich zwei konkurrierende Modelle gegenüberstanden, die je ihrerseits mit unlösbaren Problemen behaftet waren: die Emanationslehre einerseits, nach welcher die Welt mit Notwendigkeit aus dem Wesen Gottes fließt, und die, wie gesehen, u. a. das Problem zur Folge hat, nicht erklären zu können, wie das Viele aus dem Einen hervorgehen kann und die zudem Gott als bloße Substanz denkt und nicht als lebendiges Wesen bzw. als Person. Dem gegenüber stand steht die Lehre von der creatio ex nihilo, welche die Schöpfung auf göttliche Freiheit zurückführt, den Zusammenhang zwischen ihr und dem Nichts allerdings nicht verständlich machen konnte. Schellings Schöpfungslehre aus der Verbindung von Freiheit und Notwendigkeit in Gott versucht hierfür eine Alternative zu bilden; vgl. Rezvykh 2008, 178. Als konkrete Bezugspositionen für Schelling findet sich die Emanationslehre bei Spinoza und die Freiheitslehre der Schöpfung bei Jacobi (hierzu Hermanni 2000, 198 f.).

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zur Grundlegung des Ich, d. h. des zunächst menschlichen Bewusstseins in der Form allgemeiner Subjektivität: wenn Gott Geist ist, d. h. Bewusstsein hat, dann müssen die Resultate der Überlegungen, was gegeben sein muss, damit Bewusstsein sein kann, auch für Gott gelten. Wenn also für das Subjekt gilt: „Freiheit ist das Wesen des Subjekts, oder es ist selbst nichts anderes als die ewige Freiheit“ (SW IX, 220), dann ist auch in Bezug auf Gott zuerst Freiheit als dessen Fundamentalveranlagung und danach erst Gott mit all seinen weiteren göttlichen Attributen. Gott wie auch das menschliche Bewusstsein ist bei Schelling primär eine spezifische Entfaltung der Freiheit. 2) wird Schelling den Grundgedanken, der bereits in der kurzen Erwägung 1800 auftaucht, dass auch Gottes Freiheit in einer notwendigen Verbindung seiner Handlungen mit seinem Wesen bestehen müsse, auf äußeres Wirken hin weiterführen und modifizieren. Zwar betrifft die angeführte Passage zunächst noch das Handeln in Gott.43 In der Formulierung, dass diese Notwendigkeit auch für die aus diesem Wesen ‚hervorgehenden‘ Handlungen gilt, ist jedoch bereits die Blickbahn auch auf äußere Handlungen wie die Schöpfung bereitet. Im sogenannten Würzburger System von 1804 formuliert Schelling dann beide Seiten der Relation zwischen Wesen und Handlung Gottes im Sinne einer Identitätsbeziehung: „Das Handeln Gottes ist das Wesen Gottes selbst, und umgekehrt, und nichts kann aus ihm folgen, das nicht aus der bloßen Idee seines Wesens von selbst folgte und diesem gleich wäre“ (SW VI, 539). In der Freiheitsschrift von 1809 wird die Freiheit Gottes schließlich explizit Thema (AA I,17, 160 ff./SW VII, 394 ff.). Hier ist die Frage nun die nach Gottes Freiheit im äußeren Handlungsbezug, nämlich der Offenbarung. Jetzt geht es um das Wirken Gottes, und Schelling wird durch die Frage nach der Möglichkeit des Bösen klar, dass Gottes Handeln und Wesen keine Identitätsbeziehung mehr eingehen können. Zwar muss die Schöpfung als freie Handlung Gottes Wesen entsprechen, aber sie muss zugleich von diesem unterschieden sein, da Gott sich sonst nur selbst bewirken würde und das Böse der Welt sich zurechnen lassen müsste. In der Schöpfung, die primär in der Erschaffung des Menschen als eines ebenbildlich-gleichen und doch anderen zu Gott gipfelt, ist dieser Forderung Genüge getan.   Dem korrespondiert ontologisch der Gedanke, dass es auch in Gott zwei Momente geben müsse, die der Notwendigkeit und Freiheit entsprechen und die demnach gleichfalls verbunden bzw. zur Einheit gebracht werden müssen: Mit dem Grund (bzw. der ‚Natur‘) in Gott, wie Schelling ihn in seiner mittleren Philosophie konzipiert, ist dieser Forderung entsprochen, weswegen Schelling „das Notwendige von Gott […] die Natur von Gott“ (SW VIII, 210) nennt. Vgl. Danz 2005, 15 f. 43

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Damit ist das Konzept einer freien äußeren Handlung Gottes gewonnen. Die Frage nach der Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit und die Antwort der Selbstbindung der freien (äußeren) Handlung an das Wesen des Akteures wird hierzu weiterhin die Grundkonstellation (und das durchgängige Grundproblem) auch für alle weiteren Erwägungen Schellings über die Freiheit Gottes bilden. Hierdurch ist die Aufgabe gestellt, Gottes Freiheit so zu verstehen, dass in ihr sich Freiheit und Notwendigkeit verbinden ohne sich gegenseitig zu eliminieren oder zu neutralisieren.44 3) Drei falsche Freiheitsmomente Diese Freiheitsbestimmung als Verbindung von Freiheit und Notwendigkeit lässt sich näher konturieren, wenn man drei Gegenmodelle von Freiheit betrachtet, die Schelling ablehnt, weil sie die Verbindung der Handlung mit dem Wesen des Akteurs bestreiten oder einschränken: die Freiheit der Wahl, die bloße Willkürfreiheit und das beiden zugrundeliegende Modell des inneren Gleichgewichts. 1) Die Willkürfreiheit beinhaltet die Vorstellung, Freiheit würde darin bestehen, „sich ohne alle bewegende Gründe für A oder -A entscheiden zu können“ (AA I,17, 150/SW VII, 382), insofern Willkür überhaupt „das Bewusstsein real entgegengesetzter, d. h. gleichmöglicher Handlungen“ (AA I,4, 157) bezeichnet.45 In den Unterredungen zu den Stuttgarter Pri44   Noller 2015 hat die Freiheitsproblematik in der Nachfolge Kants als das Problem rekonstruiert, einen Mittelweg zu finden zwischen den beiden Polen eines intelligiblen Determinismus, nach welchem alle Handlungen frei via Vernunftnotwendigkeit sind und einer bloßen Willkürfreiheit, welche im Gegensatz dazu spontanes Handeln ohne die Bindung an Vernunftgründe beinhaltet und dem Zufall gleichzusetzen ist (61 f.). So sehr Schellings Konzeption einer Natur in Gott von Anfang an einem intelligiblen Determinismus entgegen ist, der Freiheit allein an Vernünftigkeit knüpft, ist doch der in der Konzeption formeller Freiheit drohende Wesensdeterminismus damit verwandt. Die gezeichnete Motivlage zeigt, dass Schellings selbstgestellte Aufgabe, Freiheit und Notwendigkeit in Handlungen zu verbinden, um so erst verständliche Freiheit zu erlangen, eben das Resultat des Problems ist, dass weder die bloße Vernunftnotwendigkeit noch der Indifferentismus bloßer Willkür zu einem verständlichen Freiheitsbegriff führen. 45   Noller 2015 macht darauf aufmerksam, dass der Willkürbegriff im 18. Jahrhundert eine Abwertung erfahren hat, so dass zur Zeit des Deutschen Idealismus parallel der alte Begriff „begründete[r] Entscheidung“ neben dem neuen einer „grundlos-beliebigen Wahl“ (54) Gebrauch hatte. Es ist klar, dass Schelling sich hier auf letzteren bezieht. Hinzufügen ist zudem, dass sich dieser Willkürbegriff auch von dem des frühen Schelling deutlich unterscheidet, welcher dort den Willen, sofern er im Bewusstsein erscheint, bezeichnete. Insbesondere war diese Willkür dort zudem mit dem Bewusstsein

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vatvorlesungen charakterisiert Schelling sie als „blinde Willkür, die ganz verstandlos, ganz und gar unabhängig von vernünftig vorgestellten Beweggründen mithin im höchsten Grade unnotwendig – also auch nicht Freiheit“ (AA II, 8, 89) sei. Darin bestätigt sich nicht nur, dass Schelling auch weiterhin Freiheit in der Verbindung mit Notwendigkeit sieht und die Definition formeller Freiheit Willkür ausschließt, sondern es zeigt sich auch, dass diese Notwendigkeit in einem Zusammenhang zwischen den vernünftigen Beweggründen der Person und ihrer Handlung besteht; d. h., dass freie Handlungen für Schelling gründebasiert sind und Rationalitätsanforderungen unterliegen. Eine bloße Willkürhandlung wäre also mangels Einsicht und Verbindung zu Gründen nicht frei, sondern zufällig.46 2) spricht Schelling der Freiheit Gottes in der Schöpfung das Moment des Wählens zwischen Alternativen mit Nachdruck ab: „die Vorstellung einer Beratschlagung Gottes mit sich selbst, oder einer Wahl zwischen mehreren möglichen Welten [bleibt] eine grundlose und unhaltbare Vorstellung“ (AA I,17, 162/SW VII, 397). Was Schelling an dieser Vorstellung stört, ist folgendes: hätte Gott gewählt, dann hätte es für ihn die Option geben müssen, eine schlechtere als die realisierte Welt zu erschaffen. Dies widerspräche jedoch seinem Wesen völlig, bei welchem „ein Absehen […] von seinen Vollkommenheiten nicht gedacht werden kann“ (AA I,17, 163/ SW VII, 398). Diese Art des Nicht-anders-Handeln-Könnens darf jedoch nicht verwechselt werden mit einer alternativlosen Situation. Aus anderen Gründen als solchen des Zusammenhangs mit seinem Wesen von alternativen Handlungsoptionen ausgeschlossen zu sein, würde Gottes Freiheit beschneiden. Leibniz, auf den Schelling in der Freiheitsschrift in dieser Sache rekurriert, hatte die Situation folgendermaßen beschrieben: „Gott wählt zwischen Möglichkeiten, und wählt darum frei, ohne Nezessitierung: dann erst wäre keine Wahl, keine Freiheit, wenn nur Eines möglich wäre“47. Daher räumt Schelling ein, dass in diesem Sinn Gott „einer Wahl zwischen Entgegengesetzten“ verbunden (vgl. AA I,9.1, 275/SW III, 576), entsprechend der Fichteschen Definition der Auswahl „unter mehreren gleichmöglichen Handlungen“ (GA I, 5, 149). Hierzu Schmidt 2012 und Noller 2015, insb. 300–307. 46   Nach modernen Handlungsbegriffen ist es gar zweifelhaft, ob „zufällige Handlungen“ überhaupt Handlungen sind, insofern nach der m.E. zutreffenden Standartdefinition Handeln ein ‚Verhalten aus Gründen‘ ist – wonach grundloses Verhalten natürlich kein Handeln, sondern bloßes ungesteuertes Geschehen wäre. Allerdings müssen die Gründe auch keine Vernunftgründe sein; Wünsche oder andere bloß psychische Impulse ergeben gleichfalls nicht-zufällige Handlungen. 47   Leibniz 1996, 267 = Theodicée, § 235; vgl. AA I,17, 163/SW VII, 398.

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doch formell die Möglichkeit einer Wahl besessen habe, dass dies aber eine bloß „leere Möglichkeit“ (AA I,17, 163/SW VII, 398) gewesen sei. Nach diesem Möglichkeitsbegriff, der besagt, dass „alles möglich ist, das sich nicht widerspricht“ (ebd.), hätte Gott unendlich viele Möglichkeiten gehabt. Eine Pluralität möglicher Welten wird von Schelling für den bloß logischen Vernunftraum, unter dessen Bedingungen auch Gottes Weisheit steht, zugegeben. Zur Erklärung von Wesen und Herkunft der wirklichen Welt reicht dieser Möglichkeitsbegriff aber nicht hin. Da eine echte Wahl zwischen formalen Möglichkeiten Gott in einen Zustand vorgängiger Unentschlossenheit versetzen würde, den er erst durch Wahl und Entscheidung wieder aufheben müsste, ist dies nur für einen abstrakten Gott denkbar. Gott als Person jedoch kann nicht seinem Wesen entgegenhandeln; es gibt demnach nur eine entsprechend „dem Wesen Gottes allein mögliche[.] Welt“ (AA I,17, 164/ SW VII, 398). So ergibt sich zuletzt ein zweistufiger Aufbau in der Frage nach der Wahlfreiheit im göttlichen Handeln: in Absehung von der Bindung an sein eigenes Wesen, gilt das Leibniz‘sche Modell, nach welchem zur freien Handlung die Möglichkeit der Wahl zwischen Alternativen gehört. Zwischen diesen Alternativen, die Gott formell als Handlungsoptionen zur Verfügung stehen, kann und muss er aber reell nicht auswählen, da er durch die kognitive und moralische Vollkommenheit seines eigenen Wesens immer schon auf die die bestmögliche Option ausgerichtet ist, welche er dann im Tun realisiert. Dabei ist es für Schelling von entscheidender Bedeutung, dass diese bestmögliche Option in Gott selbst liegt – und nicht in etwa einer äußerlichen Handlungsoption entspricht, welche Gott ergreift, da er ihre moralische Qualität einsieht: „Würde [Gott] bloß ex ratione boni handeln, so wäre dies der allergeringste Grad der Freiheit; dann läge der Grund, warum er so handelt, nicht in ihm selbst, sondern in der Beschaffenheit des Guten“ (AA II, 8, 89). 3) Beiden Momenten – der freien Wahl und der bloßen Willkür – ist gemeinsam, dass sie mit der Vorstellung eines inneren Gleichgewichts, der libertas indifferentiae, einhergehen: der bloßen Willkür oder der Wahl zwischen Optionen bedarf es genau dann, wenn der Akteur sich in einem Zustand des inneren Gleichgewichts befindet, d. h. wenn es von ihm aus weder ein rationales noch ein emotionales Übergewicht an Gründen in die eine oder andere Richtung gibt. Ein solches Gleichgewicht jedoch hält Schelling für sachlich unmöglich und in den Konsequenzen unhaltbar: so geht er einerseits mit Leibniz davon aus, dass es immer Gründe für ein Verhalten geben müsse, weswegen es nicht bedeute, keine Gründe zu haben, wenn man diese selbst nicht kenne (AA I,17, 150/SW VII,

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382 f.).48 Des Weiteren sei die Vorstellung, ohne bewegende Gründe zu handeln, keine Freiheitsvorstellung, sondern bedeute, „ganz unvernünftig zu handeln“ (AA I,17, 150/SW VII, 382), weswegen die Vorstellung vom inneren Gleichgewicht „eine gänzliche Zufälligkeit der einzelnen Handlungen einführt[e]“ (AA I,17, 150/SW VII, 383), der Zufälligkeit bloßer Willkürakte entsprechend.49 4) Der entschiedene Gott und die ihm entsprechende Welt In Schellings mittlerer Philosophie ist sein positives Gegenmodell zu Indifferenz, Wahl und Willkür das einer Entschiedenheit, nach welcher es Gott nach der Bestimmtheit seines Wesens nicht möglich war, anders zu handeln als er es in der Offenbarung getan hat. Betrachten wir die drei von Schelling angeführten Varianten der Unentschiedenheit – die Beratschlagung mit sich selbst, die Wahl zwischen möglichen Welten und das innere Gleichgewicht – dann zeigen sich darin umgekehrt in aufschlussreicher Weise positive Anforderungen göttlicher Freiheit: wer frei handelt, der muss um den Inhalt seiner äußeren Handlungsoptionen und um seine inneren Gründe wissen, diese als eigene Handlungen zu wollen oder abzulehnen und er muss aus diesen Gründen zu handeln entschlossen sein; kurz: er muss wissen, was er will. Die Forderung nach epistemischer Klarheit in Gottes Handeln bedeutet, dass Gott höchste Transparenz hinsichtlich der Art und der Folgen seiner Handlung haben muss. Das heißt, dass er sich selbst und seine Handlung im Voraus in allen Hinsichten bekannt sein muss: Gott 48   Schellings Argument ist allerdings prekär, da es die unterschiedlichen Funktionsweisen und Typen praktischer Gründe nicht angemessen berücksichtigt. Denn praktische Gründe, die erklären können, weshalb jemand so und nicht anders handelt, sind immer diejenigen, die der Akteur selbst hat, d. h., die in seinen Absichten enthalten sind. Es kann also nicht sein, dass er diese nicht kennt. Gründe, die der Akteur haben, aber auch verkennen oder missachten könnte, sind entweder normative Gründe, die sagen, was zu tun richtig wäre oder faktische Gründe der Situation. Also: wenn der Grund dafür, dass Peter zu einem bestimmten Zeitpunkt über die Straße ging, darin lag, dass die Fußgängerampel (faktisch) auf Grün schaltete und es normativ richtig ist, bei Grün und nicht bei Rot die Straße zu überqueren, dann hatte Peter diesen Grund nur (und ging auch nur deshalb dann über die Straße), weil er sah, dass die Ampel grün war und es für richtig hielt, der Norm zu folgen. Dafür, dass normative und faktische Gründe zu praktischen werden, die Handlungen auch erklären, muss je ein Internalisierungsprozess (der Moralbildung oder der Wahrnehmung) stattgefunden haben (van Wright, 2002, 51). 49   Hier übernimmt Schelling sehr direkt Leibniz‘ Argumente in der Ablehnung der libertas indifferentiae (1996, 311 ff. = Theodicée §§ 302 ff.).

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erkennt sich in der Schöpfung selbst – ohne dass er die Schöpfung zur Selbsterkenntnis nötig hätte. Es entsteht durch sie „ein reflexives Bild alles dessen, was in dem Wesen implizite enthalten ist, in welchem Gott sich ideal verwirklicht, oder, was dasselbe ist, sich in seiner Verwirklichung zuvor erkennt“ (AA I,17, 162/SW VII, 396 f.). Zu dieser kognitiven und epistemischen Durchsichtigkeit Gottes kommt noch seine moralische Vollkommenheit hinzu. Der schlechthin freie Wille Gottes, mit welchem die Schöpfung geschieht, ist „der Wille der Liebe“ (AA I,17, 161/SW VII, 395); die Schöpfung entsprechend eine „sittlich-freie[.] Tat“ (AA I,17, 162/SW VII, 397). So lässt sich das formale Kriterium alternativer Handlungsoptionen auch gegen die starke Forderung, dass auf der Basis der göttlichen Natur „alles, was kraft derselben möglich ist, auch wirklich sein muss, und was nicht wirklich ist, auch sittlich-unmöglich sein muss“ (ebd.), aufrechterhalten, denn die Möglichkeit, nach welcher Gott in etwa eine andere Welt schaffen oder überhaupt keine Schöpfung hätte inaugurieren können, ist zwar sittlich im Zusammenhang mit Gottes Wesen undenkbar, formal jedoch möglich, weil sich nicht widersprechend. Schließlich gilt explizit, dass „die Handlung der Offenbarung nur sittlich oder beziehungsweise auf Güte und Liebe notwendig ist“ (ebd., Herv. Vf.). Unter der gegebenen Voraussetzung des moralischen Wesens Gottes jedoch bleibt bestehen, dass es Gott „nicht frei [stand], sich eine andere Folge der Offenbarung zu erwählen“ (W 25), da er „nach seiner Vollkommenheit nur eines wollen kann“ (AA I,17, 164/ SW VII, 398).50 Damit ist auch klar, dass das moralische Kriterium der menschlichen   Kutschera 1990, 51–54 hat darauf aufmerksam gemacht, dass moralische Vollkommenheit und Freiheit in Gott in einem Konflikt stehen, wenn man in einem starken Sinn annimmt, Gott hätte in sich keine Alternative zur moralisch vollkommenen Tat, da dies Gott in einen „moralisch perfekten Automat[en]“ (51) verwandeln würde. Diesen Gedanken hatte bereits Oetinger gegen Leibniz Vorstellung von Gottes Wahl der besten aller möglichen Welten vorgebracht; dort heißt es, wenn „Gott keine Freiheit übrig [bleibt], als die beste Welt zu erwählen, [so] legt [man] Gott weniger Freiheit bei, als er bei sich empfindet“ (Oetinger 1999, 161). Es ist anzunehmen, dass Schelling dieser Gedanke durch Oetinger bekannt war (Dörendahl 2012, 230). Kutschera ist nun darin zuzustimmen, dass dieser Freiheitsentzug mangels Alternativen entsprechend des allgemein diskutierten Kriteriums der Wahl nur dann vermeiden werden könnte, wenn man Gott die Fähigkeit zu Alternativen zusprechen könnte, auch wenn er diese Fähigkeit kraft seiner Moralität nie verwirklichen würde. Diesen Weg geht Schelling, wie sich nun zeigen wird, zunächst lediglich in Hinsicht auf die Alternative der Unterlassung der Schöpfung (während die Alternativen einer schlechteren oder gar bösen Schöpfung bei ihm ausgeschlossen bleiben) und erweitert ihn dann auf inhaltliche variable Optionen mit dem Gedanken der Verstellung. 50

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Freiheit, das die Zurechenbarkeit seiner Handlungen gewährt, nämlich ein Vermögen des Guten und Bösen (AA I,17, 125/SW VII, 352) zu sein, auf Gott nur dahingehend anwendbar ist, dass in ihm das Böse schon mit seinem Wesen überwunden ist – als Gott kann er nicht böse sein.51 Gottes Freiheit im Schöpfungshandeln besteht bis hier also darin, dass sie negativ keiner Fremdbestimmung unterliegt, keine Folge von Wahl oder Willkür ist und nicht auf einem inneren Gleichgewicht basiert – und positiv, dass sie notwendig aus dem (seinerseits konstitutiv freien) Wesen Gottes als entschlossenem und bestimmtem Willen entspringt und alternativlos aus dessen Allgüte folgen muss.

II. Göttliche Freiheit in Schellings Spätphilosophie 1) Gott ist frei, die Schöpfung zurückzuhalten Die Frage, wie und weshalb die Welt als Folge der Schöpfung so ist, wie sie ist, ließ sich unter dem Kriterium der Verbindung von Gottes Wesen und Tat der Schöpfung erklären. Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, weshalb es die Welt überhaupt gibt. Denn dass Gott nach seinem Wesen keine andere Welt erschaffen konnte, bedeutet noch nicht, dass er überhaupt sich in einer Schöpfung offenbaren musste. In dieser wichtigen Frage, ob Gott im Angesicht der Möglichkeit der Schöpfung nicht auch hätte untätig bleiben können, hat Schelling zur Spätphilosophie hin seine Meinung geändert. Und gerade in dieser Änderung liegt das Moment des Neuen der positiven Philosophie, verstanden als eine Darlegung der Existenz der Welt aus der Freiheit Gottes. So war Schelling in der Freiheitsschrift noch der Meinung gewesen, dass aus dem sittlichen Wesen Gottes nicht nur das Was, sondern auch das Dass der Schöpfung folge. Um es nochmals zu wiederholen: Dort hieß es, es gelte „unleugbar der Satz: dass aus der göttlichen Natur alles mit absoluter Notwendigkeit folgt, dass alles was kraft derselben möglich ist, auch wirklich sein muss“ (AA I,17, 162/SW VII, 397). Zwar standen auch hier bereits als Charakteristika der göttlichen Freiheit fest, dass die 51   Damit verbindet Schelling den Gedanken Spinozas, dass Freiheit in der Wesensnotwendigkeit des Akteurs gegründet sein muss, mit der formalen Idee Leibniz‘, dass in ihr Optionalität gewahrt sein muss und Gott daher auf der Basis seines moralischen Wesens die bestmögliche Welt erschafft. Im Gegensatz zu Spinoza jedoch folgt die Welt nicht logisch (sondern durch freie Tat) aus dem Wesen Gottes; im Gegensatz zu Leibniz findet keine Wahl statt, da Gott von seinem Wesen der Liebe nicht absehen kann (zum Verhältnis Schellings zu Spinoza in dieser Frage vgl. Hüntelmann 1995, 94 und 99–103).

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Freiheit Gottes einerseits der einzige Erklärungsgrund der Existenz der Welt und andererseits selbst unerklärlich sei (AA II, 8, 86/SW VII, 429). Aber diese Freiheit war eine gewesen, zu deren Realisierung Gott in sich selbst keine Alternative gehabt hatte. 52 Im Gegensatz hierzu heißt es in der Philosophie der Offenbarung (ab 1834), dass es „in der Macht Gottes [gestanden habe], diese Möglichkeit [der Schöpfung] als eine bloß mögliche bei sich zu behalten“ (SW XIII, 304). Eine erste Einsicht auf diesem Weg findet sich allerdings schon im dritten Weltalterentwurf (1815): Würde Gott, heißt es dort, in Bezug auf seine eigene Seinskonstitution „genötigt, sich zu äußeren oder das Sein an sich zu ziehen, [dann wäre er] nicht die ewige Freiheit“ (SW VIII, 298). Diesen Gedanken führt Schelling in den Vorlesungen zur Grundlegung der positiven Philosophie (1832/33) weiter aus: „Geist ist im Allgemeinen nennen wir, was frei ist, sich zu äußern oder nicht zu äußern […]. Bei dem Menschen ist diese Freiheit eine relative. Schon die Bedürftigkeit seiner Natur nötigt ihn, sich zu äußern. Aber der absolut freie Geist ist notwendig auch der schlechthin bedürfnislose. Denn nur insofern ist er frei, sich zu äußern oder auch nicht zu äußern“ (GPP 112).53 Hierbei ist zweierlei beachtenswert: 1) ist hier nun mit der Alternativität nicht mehr lediglich eine formale Wahlmöglichkeit zwischen Alternativen im Sinne Leibniz‘, sondern eine echte Alternativität in Ansehung aller Umstände einer Handlung, zu welchen neben der äußeren Situation auch das Wesen und die Gründe des Handelnden selbst gehören, gefordert.54 Damit ist allerdings auch klar, dass der Grundgedanke einer Ver  Dass in der Freiheit Gottes in der Schöpfung das Moment der Positivität liege, wurde immer schon gesehen. Vgl. in etwa Fuhrmans‘ einflussreicher These, die Positivität der Spätphilosophie bestehe in der Freiheit Gottes im Gegensatz zur Negativität der Notwendigkeit (1940, 175), entsprechend Hüntelmann 1995, 95 der diese Positivität stiftende Freiheit gleichfalls explizit auf die Schöpfungstat bezieht. Aber es genügt nicht alleine der Hinweis auf diese Freiheit Gottes als Erklärungsgrund der Welt, da diese auch vor Ausarbeitung der positiven Philosophie schon gegeben war, sondern es bedarf zusätzlich des Aspekts der selbstlos-gleichgültigen, alternativoffenen Zielgerichtetheit dieser Handlung als das Eigentümliche der ‚positiven‘ Freiheit der Spätphilosophie. 53   Diese Alternativitätsforderung als „Freiheit zu sein oder nicht zu sein“ (SW XII, 33; XIII, 207), „sich zu äußern oder nicht zu äußern“ (SW XII, 33), die Welt bzw. das Sein „zu setzen oder nicht zu setzen“ (SW XIII, 291 und 311), „zu tun und nicht zu tun“ (SW XII, 111 Anm.) behält Schelling in der Spätphilosophie durchgängig bei. Die früheste Formulierung dieses Gedankens findet sich im zweiten Weltalterentwurf (W 131). 54   In der modernen Willensfreiheitsdebatte wird dieses hochumstrittene Kriterium das Prinzip der alternativen Möglichkeiten bzw. des Anders-Handeln-Könnens genannt. Es teilt die Debatte in das Lager der Kompatibilisten, die es für ein verzichtbares Relikt 52

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bindung von Freiheit und Notwendigkeit, wie ihn Schelling bis dahin in der Verbindung von freier Handlung und Wesen des Akteurs veranlagt hatte, neu gefasst werden muss. 2) bedeutet dies, dass mit dieser Freiheit von aller Bedürftigkeit schlechterdings alle inneren, in der Person des Akteurs liegenden Momente, eine bestimmte Handlung anzustreben, zumindest hinsichtlich ihrer determinierenden Funktion abgeschnitten sind. Daher bezeichnet Schelling diese Bedürfnislosigkeit auch als Gleichgültigkeit sich selbst und seinen Handlungen gegenüber (z. B. Initia 155) und erläutert: „wahre Freiheit erkenne ich erst da, wo es mir in Ansehung meiner selbst gleichgültig sein kann, so oder so zu sein, so oder so zu handeln. Hier also erst ist […] Gott“ (SW XIII, 269). Was hat Schelling zu der gezeichneten Verschiebung seiner Position bewogen? Offensichtlich wurde ihm bewusst, dass eine zu enge Bindung der Handlung an das Wesen einen seinerseits freiheitsausschließenden inneren Determinismus zur Folge hat, wodurch auch ein Zusammenhang zwischen der Freiheit Gottes und der Existenz der Welt in dem Sinn, dass diese aus der Freiheit Gottes heraus existierte, verschwände: Wer nur so handeln kann, wie er ist, dessen innere Freiheit ist beschränkt. Denn ihm bleibt keine Möglichkeit innerer Distanznahme, der Selbstkritik oder der gewollten Änderung seiner Charakterdisposition oder seiner habituellen Handlungen. Einem Gott, dessen freie Schöpfung wesensnotwendig wäre, würde seine Option zur Schöpfung durch sich selbst so eingeschränkt, dass – bei aller Erklärung der Freiheit und ihrer Unerklärlichkeit – zuletzt dennoch das Dass und Wie der Welt aus seinem Wesen ableitbar würde, wodurch im Grunde wieder die Spinozistische Position, gegen die Schellings gesamtes Konzept eines freien persönlichen Schöpfergottes gerichtet ist, erreicht wäre. Unter der Vorstellung eines festen Seins, z. B. der unwandelbaren Allgüte Gottes, würde sich so das Kriterium formeller Freiheit, sich selbst gemäß zu handeln, in eine Form der Unfreiheit verkehren. Hiergegen betont Schelling, dass Handeln aus „vollkommene[r] Freiheit“ bedeute, zu handeln „ohne irgendwie durch sich selbst darin genötigt zu sein“ (SW XIII, 125). Nun stellt sich zunächst die Frage, ob Schelling durch den Gedanken der Gleichgültigkeit Gottes nicht in das zuvor abgelehnte Modell des schlechter Metaphysik halten und derjenigen, die in ihm eine unverzichtbare Bedingung für einen vollen Freiheitsbegriff sehen oder gar der Ansicht sind, bereits der Begriff des Handelns beinhalte die Möglichkeit, so oder anders handeln zu können (zum Überblick siehe Kane 2002. Eine instruktive Verteidigung des Prinzips alternativer Möglichkeiten in Form eines „Zwei-Wege-Vermögens der Freiheit“ findet sich bei Keil 2013, 55–132).

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aequilibrium indifferentiae zurückfällt. Dort war der Kerngedanke der gewesen, Freiheit bestünde darin, dass es kein Übergewicht an Motiven in der Person geben dürfte, welches diese zu einer bestimmten Handlung veranlasste. Offensichtlich ist die Idee der Gleichgültigkeit Gottes, die eben eine Verursachung der Handlung durch innere Motive negiert, hiermit verwandt. Jedoch gibt es entscheidende Unterschiede: Die Gleichgültigkeit Gottes bedeutet für Schelling weder, dass er keine Willensregungen habe, noch dass diese sich wechselseitig ausglichen. Sondern, dass Gott sich selbst genügt und deswegen kein Eigeninteresse an der Schöpfung hat: „Es geziemt Gott, gleichgültig gegen sein Sein zu sein, nicht geziemt es ihm aber, sich um sein eigenes Sein zu bemühen“ (SW XIII, 225). Die herausgestellte Motivationslage Gottes in der Schöpfung, nicht durch sich, sondern durch die Schöpfung selbst motiviert zu sein, findet sich hier als Freiheitskriterium wieder. Schelling betont, dass Gott so oder so vollständig sei und daher durch die Schöpfung nichts für sich erwarten könne (GPP 469). Andererseits jedoch – und hierin besteht ein weiterer Unterschied zum inneren Gleichgewicht – hat Gott sehr wohl ein Interesse an der Schöpfung – allerdings ist dies kein Eigeninteresse, sondern ein allein objektorientiertes Interesse an der Schöpfung selbst: es hatte ich gezeigt, dass das ‚wahre‘ Motiv der Schöpfung die Schöpfung selbst ist. In dieser eigentümlichen Veranlagung der Motivationslage Gottes in der Schöpfung liegt zum einen, dass Schelling Gott nicht als einen denken möchte, der vor der Schöpfung unvollständig wäre und sich durch die Schöpfung erst noch vervollkommnen müsste. Gott ist immer vollkommen – deshalb muss er sich auch nicht um sein Sein bemühen. Zum anderen ist damit die der kantischen Ethik entsprechende Forderung verwirklicht, dass moralische Handlungen nicht durch egoistische Triebfedern zustande kommen dürfen. In der Freiheitschrift hatte Schelling dies mit dem Begriffspaar Eigenwille vs. Universalwille (AA I,17, 133 f./SW VII, 363) gefasst, wobei der Universalwille eben dem göttlichen Wille der Liebe, als „Wille, alles zu universalisieren“ (AA I,17, 149/SW VII, 381) entsprach.55 Aus universalem, von sich weg gerichtetem Willen der Liebe zu handeln, bedeutet aber, lediglich für die Sache, nicht aber für sich selbst motiviert zu sein.56 Entsprechend erwartet Gott von der Schöp  Buchheim 2009, 369 sieht auf die Freiheitsschrift bezogen „die Eigenart der Liebe“ darin, „sich selbst zu verbreiten, […] um weitere Empfänger und Erwiderer zu werben“. Dies passt trefflich zu einem Schöpfungsgeschehen aus Liebe, da dieses ja die Motivationslage des Schöpfers in den Geschöpfen vervielfältigt. 56   Diesem Zielmotiv kann dabei durchaus zudem ein ‚Motiv‘ in psychologischer Hinsicht entsprechen, wenn es eben dies ausdrückt, dass die Motivation aus dem Ziel-Motiv 55

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fung nichts für sich selbst, wohl aber für die Schöpfung selbst. „Er muss den wirklichen Vorgang um eines anderen willen wollen“ (GPP 355). Die selbstlose Liebe Gottes in der Schöpfung ist ausschließlich auf diese als ihr Ergebnis gerichtet. Darin fallen die teleologische und die moralische Struktur in der Schöpfung zusammen. Damit ist aber ein dritter und entscheidender Unterschied zu Indifferenz und Willkür gegeben: Die Entscheidung zur Schöpfung ist so nicht grundlos im Sinne des Zufälligen und Irrationalen, sondern sie hat lediglich keine (humeanischen) motivierenden Gründe des Eigeninteresses. Sie ist teleologisch und axiologisch begründet in der Schöpfung selbst und ihrem intrinsischen Wert als dem erwünschten Resultat der Schöpfungshandlung. 2) Die Positivität der Freiheit Gottes Dieser Aspekt der Freiheit Gottes, der die Tat nicht inhaltlich von seinem Wesen entkoppelt, sie aber auch nicht faktisch aus diesem ableitbar macht, ist die entscheidende Neuerung in der Spätphilosophie in der Konzeption der Freiheit Gottes und damit ein wesentliches Moment der Positivität in Schellings Spätphilosophie.57 Sie geht einher mit einer Position der Selbstdistanzierung, von welcher aus Gott auch Freiheit den Formen und Funktionen seines eigenen Wesens gegenüber erlangen kann. Dies hatte sich bereits darin gezeigt, dass die Gottwerdung des vollkommenden Geists im Verständnis der praktischen Schöpfungsmögselbst rührt, d. h. z. B. kein Bedürfnis ist, das durch die Handlung befriedigt sein soll. Deshalb wird Schelling nicht müde zu betonen, dass Gott bereits ohne Schöpfung in sich vollendet war und der Schöpfung in keinerlei Hinsicht bedurft hat. In diesem Sinne könnte die Liebe Gottes Motiv der Schöpfung sein. Umgekehrt liegt ein besonderes Problem der Liebe als Schöpfungsmotiv darin, dass Gott vor der Schöpfung, solange er nicht die Kreatur als einen wirklich Anderen außer sich gesetzt hat, auf sich selbst bezogen bleibt und seine Liebe eigentlich nur Selbstliebe wäre – die Liebe zum Spiel seiner Vorstellungen in sich. Hierauf hat Schulz 1955, 235 f. hingewiesen. Als Ex-ante-Beweggrund verstanden, könnte die Liebe als Motiv der Schöpfung so ihr Ziel gar nicht erreichen. Erst wenn Gott die Kreatur setzt, ist darin die Liebe zu einem anderen außer sich gegeben. Die Liebe kann also keine psychologische oder metaphysische Ex-ante-Bedingung, weder zeitlich noch logisch, der Schöpfung sein. Sie ist, was mit der Handlung gegeben ist, und wird so erst feststellbar in einer Ex-post-Beschreibung des Grundcharakters des Schöpfungsgeschehens. 57   Für Fuhrmans 1972, 19 ist es zentrales Merkmal der positiven Freiheit Gottes in der Schöpfung, dass sie das Sein nicht aus einem Absoluten logisch ableite, sondern es begreife „als ein in souveräner Freiheit gesetztes Sein“; daher sei die positive Philosophie wesentlich ein System der Freiheit.

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lichkeiten mit einer Befreiung von der Nötigung der unvordenklichen Seins einherging.58 Darüber hinaus kann Schelling jetzt auch von einer „positiven Indifferenz [als] positive[r] Gleichgültigkeit, welche wir in der absoluten Freiheit, zu sein und nicht zu sein, sich zu äußern und nicht zu äußern, denken müssen“ (SW XII, 59 Anm.; Herv. Vf.) sprechen.59 Mit dem Gedanken einer solchen Freiheit noch der Freiheit gegenüber, wie sie Schelling in der Freiheitsschrift ausgearbeitet hat (als dem unerklärlichen Grund alles Seins – jedoch nach der Güte Gottes in der Schöpfung notwendig), findet Schelling nun „die höchste Idee der Philosophie“ (UF 79) in einem absoluten Geist Gottes, der selbst „von seinem Geist sein freie[r] Geist“ ist und daher „Freiheit von sich selbst“ (UF 78) besitzt; „dies“, wie Schelling in der Philosophie der Offenbarung hymnisch ausführt, „auch an sich selbst nicht gebunden zu sein, gibt ihm erst jene absolute, jene transzendente, überschwängliche Freiheit, […] deren Gedanke erst alle Gefäße unseres Denkens und Erkennens so ausdehnt, dass wir fühlen, wir sind nun bei dem Höchsten“ (SW XIII, 256). Schelling charakterisiert dies im System der Weltalter als eine spezifische Haltung Gottes, die darin besteht, dass Gott nicht auf sich selbst bezogen ist, sondern ausschließlich in der Beziehung auf das Sein, dessen Herr er ist, lebt. Gott „ist ganz frei von sich“, heißt es da, „er ist ganz außer sich“ (SyWA 105). „Gott ist die einzige nicht in sich selbst beschäftigte freie Natur, die durchaus nichts mit sich selbst zu tun hat“ (ebd.). Und eben dies wiederum rührt von Gottes praktischem Wesen, nämlich zuallererst wesenhaft tätiger Schöpfer zu sein (und das bedeutet: tätig auf die Schöpfung als Motiv, Ziel und Gehalt der Tätigkeit bezogen zu sein), her: Gottes „Sein als Gott ist von seinem Tun nicht verschieden; […] er ist ganz von sich weggehend, […], wesentlich exzentrisch, […] ist lauter Beziehung und nur Beziehung“ (SyWA105 f.). Dieser Freiheit sich selbst gegenüber bedarf es, damit Gott als Herrscher des Seins in einer nicht-spinozistisch-pantheistischen Weise verstanden werden kann. Frei von seinem Sein zu sein, bedeutet nicht, dass   Zur Freiheit eines als Schöpfer verstandenen Gottes gehören also schon von Anfang an die zwei Freiheitsaspekte von Handlungen überhaupt: nämlich frei von Nötigung zu sein und andererseits frei zu sein, etwas beginnen zu können. In der ontologischen Sprache der Seinskonstitution Gottes sind dies die Freiheit vom Sein und die Freiheit zu Annahme eines anderen Seins. Beides gehört zusammen. Erst durch die Aufhebung der vollständigen Selbstbindung im unvordenklichen Sein ergibt sich die Möglichkeit, ein anderes Sein annehmen zu können (vgl. Meier 2004, 244). 59   Vgl. hierzu die Formulierung der unedierten Schelling-Nachschrift von 1833/4, nach welcher Gott gar „frei [ist] als Subjekt zu sein und nicht zu sein“ (Cod. Sm 1195 der UB Eichstätt, S. 1f; zitiert nach Erhard 2000, 133). 58

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die freie Handlung vollständig unabhängig von diesem ist und dass es gleichgültig für den Handelnden wäre, welche Art von Sein ihn selbst prägte. Sondern dass er auf der Basis dieses Seins souverän handeln kann: „Frei ist nur der, dem sein ganzes Sein bloßes Werkzeug geworden ist“ (W 85). Nur dadurch, dass er nicht in sein Sein eingebunden, sondern frei sich selbst gegenüber ist, kann Gott dieses Sein in der Schöpfung offenbaren und entäußern, ohne dass er selbst in seiner Gottheit davon berührt würde. 60 Denn die Forderung der Gleichgültigkeit als Interesselosigkeit sich selbst gegenüber in Bezug auf eine bestimmte Handlung kann nur erfüllt sein, wenn durch diese Handlung das eigene Sein substanziell unverändert erhalten bleibt. 61 Ein zentraler Punkt hierbei ist, dass die Freiheit sich selbst gegenüber nicht nur bedeutet, dass die Handlungen nicht durch die Art des Charakters Gottes prädeterminiert sind. Sondern, da jede Handlung zugleich denjenigen, der diese Handlung ausführt, mitprägt, bedeutet dies, dass auch Gott durch die Offenbarung sich selbst wandelt und wandeln muss – und dass dieses sich selbst durch freies Handeln prägen und bestimmen Können seinerseits ein zentrales Merkmal dieser Freiheit ist. Gott muss willentlich sein eigenes in sich als Geist beschlossen Sein in der Offenbarung durchbrechen können. Er muss ein „von seinem als Geist Sein wieder freie[r] Geist“ (SW XIII, 256) sein können. Kurz: die Freiheit Gottes in der Schöpfung muss darin bestehen, dass die Gestalt seines eigenen Wesens vollständig seinen Willen unterliegt; Gott als absoluter Geist „ist das, was er will“ (ebd.). Dass an freien Handlungen bei Schelling ein Moment des Unerklärlichen haftet, gilt bereits für die Freiheitskonzeption seiner frühen und mittleren Philosophie (vgl. SW VI, 52). Jedoch war dort die freie Handlung (des Menschen gleichermaßen wie die Gottes) aus seinem Wesen heraus erklärlich – während die Unerklärlichkeit jenes freien Wesens des Akteurs selbst zurückverlagert wurde in den inneren Zusammenhang von Notwendigkeit und Freiheit. Jetzt hingegen ist das Verhältnis von Gott zu seinem Wesen in der Tatsache der freien Schöpfung, die Gott auch hätte unterlassen können, allen Folgerungs- und Erklärungszusammenhängen in der Hinsicht entbunden, als es für das Dass dieser Handlung keine Erklärung mehr geben kann (während das Wie aus dem   Zu dieser Interpretation vgl. Krüger 2008, 178. Wesentlich ist hierbei, dass Gott durch die Freiheit der Schöpfung nicht zu einer bloßen Bedingung der Welt wird, sondern seinen Status als Unbedingtes, Absolutes behält (vgl. auch ders. 2007, 108). 61   Dass Gott sich durch die Schöpfung nicht verändert, ist für J. Halfwassen 2015, 390 auch aus dem Grund ein wesentlicher Aspekt seiner Freiheit, weil er nur so der Überseiende, d. h. frei von dem Sein sein kann, das er setzt. 60

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Sein Gottes erklärlich bleibt). Damit ist die höchste Idee der Philosophie nicht mehr diskursiv einholbar. Sondern diese Freiheit füllt, wie es in der Urfassung der Philosophie der Offenbarung heißt, „alle Gefäße unseres Denkens und Erkennens so aus […], dass wir fühlen, dass wir am Höchsten stehen – dass wir fühlen, dass wir das erreicht haben, worüber nichts Höheres mehr ist“ (UF 78, Herv. Vf.). Das ursprüngliche Gefühl der Freiheit des Menschen, welches diskursiv zu explizieren eine der selbstgestellten Aufgaben der Freiheitsschrift war (AA I,17, 111/SW VII, 336) ist nun in der positiven Philosophie selbst zum Zustand der Philosophie geworden – womit sich eine der zentralen methodischen Forderungen Schellings an die geschichtliche Philosophie verwirklicht hat: dass diese sich der Eigenart ihres Gegenstands angleichen müsse, weil „Gleiches nur von Gleichem“ erkannt werde (SW XII, 511) weswegen die „ewige Freiheit […] selbst in uns sein, selbst in uns das Erkennende von sich sein“ (SW IX, 221) müsse. 62 3) Teleologie der Freiheit Die positive Philosophie beschreibt die Schöpfung als Freiheit Gottes, auch in Ansehung des eigenen Wesens anders handeln zu können. Doch die Unerklärlichkeit der so gefassten Schöpfungstat bedeutet nicht, dass die Philosophie ihr gegenüber zum Verstummen verurteilt wäre. Daher sucht Schelling nach Möglichkeiten, diese freie Tat wenn auch nicht erklärlich, so doch verständlich zu machen. Der Unterschied liegt genau darin, dass eine Erklärung ein logisches oder kausales Folgerungsverhältnis voraussetzt, das aber umgekehrt alle Möglichkeit, anders zu handeln, als es tatsächlich geschieht, unterbindet. Eine Handlung verständlich zu machen, ohne ihren Entstehungszusammenhang zu erklären, kann hingegen dadurch geschehen, dass sie kohärent in den Sinn-, Wert- oder Absichtshorizont des Akteurs gestellt wird. 63   Die positive Philosophie ist daher eine freie, göttliche (da „alles Erkennen des Göttlichen nur dem Selbstgöttlichen des Menschen gegeben“ (SW XI, 511) ist) und geschichtliche, indem mit Hutter 1996, 341„die wesentlich diskontinuierliche […] Geschichtszeit der Struktur des philosophischen Gedankengangs zum Vorbild“ diene. Ihre Geschichtlichkeit ist auch ein wesentliches Merkmal ihrer Positivität im Gegensatz zur negativen Philosophie als rationaler, logischer und damit ahistorischer. Hierzu Bensussan 2012, 346 f. 63   Ich gebrauche hier diese Ausdrücke im moderneren Sinn. Sie ist verwandt mit Schellings Unterscheidung von Begreifen und Erkennen, bei welcher das Begreifen das (begriffliche) Verfahren der negativen Philosophie bezeichnet, das Erkennen dement62

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Eben einen solchen Schritt unternimmt Schelling in den Erlanger Vorlesungen: wenn es gleich unmöglich ist jenen Übergang des Seins entweder aus einem Begriff oder ursachlichen Zusammenhang zu erklären, so bleibt doch noch die endursachliche Betrachtung übrig (Initia 116).

In der Analyse der basalen Strukturen des göttlichen Handelns hatte sich bereits gezeigt, dass dieses teleologisch und finalistisch verfasst ist. Dies lässt sich nun mit Schelling für die Frage nach der Verständlichkeit des göttlichen Handelns in Anbetracht der scharfen Freiheitsforderung, dass das Geschehen oder Nichtgeschehen der Schöpfung weder auf das göttliche Wesen, noch auf sonstige Ursachen zurückführbar sein dürfe, fruchtbar machen, so dass bestehen bleiben kann, dass die Schöpfung ein „mit Weisheit […] entstehendes Sein“ (SW XIII, 203) sei und die Freiheit nicht als irrationales Moment aufgefasst werden muss, das in Widerspruch zur Weisheit gerät. In der endursachlichen oder teleologischen Betrachtungsweise wurden Ereignisse und Handlungen nicht nach den Bedingungen ihres Zustandekommens, sondern nach ihren Zielen befragt, nach dem, wozu sie sein sollen. Das ‚Sollen‘ zeigt dabei an, dass Ziele ihrerseits eine normative gegen das der positiven, weswegen positiv erkannt werden kann, was unbegreiflich ist (hierzu Jacobs 2008, 134). Hierbei gilt: „etwas a priori begreifen heißt, es von einem Prius zu begreifen“ (GPP 392), weswegen der höchste Begriff (Gott), der kein Prius haben kann, auch nicht begriffen werden kann. „Mit dem Letzten, dem a priori Begreiflichen, beschäftigt sich die negative Philosophie, die positive mit dem a priori Unbegreiflichen“ (SW XIII, 165). Der innere Zusammenhang besteht, wie noch näher zu zeigen sein wird, darin, dass gerade die positive Philosophie als eine Entfaltung der Schöpfungstat, dieses handlungsinhärente Moment des Unerklärlichen (= Unbegreiflichen) als Ganze tragen wird. Für Anscombe 2011 bestand das Erklären einer Handlung in der Angabe der (weiteren) Absichten-mit-denen der Akteur die Handlung ausführte – äquivalent mit der Angabe der in diesen Absichten enthaltenen Zielen. Dieses sprachliche Verfahren der Erklärung als Beantwortung der Frage nach den Handlungsgründen beinhaltete für Anscombe explizit keine kausale Relation des Akteurs zu seinen Gründen, wie sie dann in Davidsons (1985) Konzeption von Handlungserklärungen als der Angabe von als Ursachen verstehbaren Gründen entwickelt wurde. Vgl. zur Systematik dieser beiden Verfahrensweisen Von Wright 1974, der hierfür die Dichotomie von Erklären und Verstehen in die Handlungstheorie einführte. Danach verstehen wir, weshalb Peter die Bank überfiel, wenn wir wissen, dass er Schulden hatte und diese loswerden wollte, selbst wenn wir nicht erklären können, weshalb ihn seine Schulden dazu führten, eine Bank zu überfallen anstatt z. B. nach Arbeit zu suchen. Würden wir die Handlung in strengen Sinn erklären, so würden wir sie auf Ursachen zurückführen, die sie zugleich in deren Folge notwendig erscheinen ließen.

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Komponente haben. Ein Ziel zu setzen geht notwendig einher mit der Forderung, dass dieses dereinst verwirklicht sein soll.64 Endursachen können, wie gesehen, nähere oder fernere Ziele bezeichnen. Verschiedene Zielvorstellungen können aufeinander bezogen sein, indem ein näheres Ziel als Zwischenziel zu einem ferneren fungiert. Sie können hierarchisch gegliedert sein und in einem höchsten Ziel terminieren. Die teleologische Sicht auf Handlungen lässt sich daher auf zwei Haupt-Fragen reduzieren, die Schelling in denkbar knappster Art formuliert: „Was soll (an sich) sein? […] was sollte (zunächst) sein?“ (Initia 116). Diese Struktur gebraucht Schelling, um die Schöpfung als freie Tat verständlich werden zu lassen. Wiewohl Gott vor der Schöpfung sich selbst genügt und entsprechend keine bestimmenden Gründe in sich hat, die ihn zu einer Schöpfung drängen, versucht Schelling zu zeigen, dass Gott doch in seinen Zielen doch gute Gründe hat, ins Sein überzugehen.65 Schellings geschichtsphilosophisches Grundschema, nach dem der mit der Schöpfung initiierte Weltlauf zuletzt im einem Prozess sukzessiver Offenbarung in Gott zurückläuft, gibt so in gleichfalls denkbar knappster Form die Antwort auf die genannten zwei Fragen: an sich sein soll das Ende der Geschichte, „wo Gott alles in allem sein wird“ (SW XIV, 333); zunächst sein soll hierfür die Schöpfung und der geschichtliche Prozess auf die Vollendung hin, da dieser Prozess eine notwendige Bedingung für das letzte Sein Gottes ist, das den ganzen Weg in sich enthält (ebd.) und nicht übersprungen werden kann (AA I,17, 168/SW VII, 403). Mit der endursachlichen Betrachtung bietet Schelling eine teleologische und normative Lösung für ein freiheitstheoretisches Dilemma: Das Dilemma besteht darin, dass freie Handlungen zum einen nicht aus dem Wesen und den Gründen des Akteurs in einem strengen Sinn ableitbar sein dürfen, denn sonst wären sie alternativlos durch diese Gründe determiniert66 und der göttliche ‚Akteur‘ unterschiede sich in Hinsicht 64   Hinsichtlich der Normativität hatte Schelling dies im System des transzendentalen Idealismus bereits allgemein vorgeführt. Dort heißt es: „Und so sehen wir denn zugleich vollständig den Widerspruch aufgelöst, dass dieselbe Handlung der Intelligenz erklärbar und unerklärbar zugleich sein soll. Der Mittelbegriff für diesen Widerspruch ist der Begriff einer Forderung [=das Sollen], weil durch die Forderung die Handlung erklärt wird, wenn sie geschieht, ohne dass sie deswegen geschehen müsste“ (AA I,9.1, 240/SW III, 542). 65   Motive sind wie gesehen, Gründe, die ein Akteur hat und die erklären, weshalb er etwas getan hat, im Gegensatz zu rechtfertigenden (normativen) Gründen, die die angeben, ob es richtig oder falsch ist, etwas zu tun (Scarano 2016). 66   Dies bedeutet nicht, dass es keine Ableitungsbeziehung zwischen Gründen und Handlungen gibt. Im Gegenteil sind zumindest rationale Handlungen in der bestimmten Weise des praktischen Schließens Ableitungen aus den Gründen der Akteure; sie sind bei

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auf seine Handlungen bei aller erklärten Freiheit wiederum nicht von einem Vernunft-System à la Spinoza, bei welchem die Welt aus dem begrifflichen Wesen Gottes logisch folgte.67 Also muss ein freier Akteur auch Freiheit sich selbst und seinen eigenen Handlungsgründen gegenüber haben.68 Zum anderen darf der Akteur von seinen Gründen aber Kenntnis dieser Gründe daher auch für Dritte abschätzbar. Nur sind dies keine strengen und alternativlosen Ableitungen. Der Akteur kann sich dem Aufforderungscharakter seiner eigenen Gründe entziehen, indem er diese noch bei der Verwirklichungsbewegung seiner Handlungen unter ihren jeweiligen inneren (psychologischen) und äußeren Verwirklichungsbedingungen modifiziert – ganz zu schweigen von typisch irrationalen Handlungen, die den eigenen Gründen entgegen gehen. 67   Deshalb betont Schelling immer wieder, dass es in der freien Schöpfung einen Moment des Unerklärlichen geben müsse; einen Sprung, der verhindere, dass das Absolute einfach kontinuierlich ins Sein übergehe. Diese Position entwickelt Schelling zuerst in Philosophie und Religion, wo es heißt: „vom Absoluten zum Wirklichen gibt es keinen stetigen Übergang, der Ursprung der Sinnenwelt ist nur als ein vollkommenes Abbrechen von der Absolutheit, durch einen Sprung denkbar“ (SW VI, 38). Dabei ist die Forderung „vom Unendlichen zum Endlichen – kein Übergang!“ (SW I, 367) Schellings Philosophie von Grund auf eingeschrieben, er nennt dies gar mit Bezug auf Spinoza „die Forderung aller Philosophie“ (AA I,3, 84/SW I, 315). Der Unterschied von Schellings Frühphilosophie zur Spätphilosophie in diesem Punkt besteht darin, dass Schelling diesen fehlenden Übergang in der Frühphilosophie durch eine Identität des Endlichen und des Unendlichen im Ich (oder dem Absoluten) zu erreichen versucht, während er mit dem zitierten Einsatz von 1804 die Differenz durch einen Sprung charakterisiert; vgl. zur Charakterisierung dieses Sprungs von 1804 und zur Beibehaltung seiner Strukturelemente auch in der Freiheitsschrift erhellend Cabezas 2017. 68   Hierin kommt ein Reflex der Kant-Kritik Reinholds, die Schelling schon in der Freiheitsschrift rezipiert hatte, zum Zuge. Gegen Kants Modell einer Identifikation von Freiheit und Sittlichkeit in der Figur des freien Willens als praktisch-sittlicher Vernunft hatte Reinhold vorgebracht, dass die Selbstbestimmung des Willens darin liegen müsse, dass es eine Position im Menschen geben müsse – die Reinhold die Willkür nennt –, von der aus er dem eigenen sittlichen Gesetz „gemäß oder zuwider“ (1792, 281) handeln könne. Diese beinhalte das „Vermögen, einen von den veranlassenden Gründen zum bestimmenden zu erheben“ (280). Zur historischen Gedankenentwicklung in dieser Frage von Kant über Reinhold zu Schelling erhellend: Peetz 1995, 202 ff., Schmidt 2012, 25–35 und Noller 2015. Es sei zur Ehre Reinholds angemerkt, dass er in der zitierten Formulierung bereits eine m.E. zutreffende Freiheitsforderung dargelegt hat, die im Laufe des 20. Jhds. als ‚Davidsons Herausforderung‘ in die analytische Handlungstheorie eingegangen ist. Diese besteht darin, dass „es sein kann, dass man einen Grund für eine Handlung hat und diese Handlung auch ausführt ohne dass dieser Grund derjenige ist, weshalb man die Handlung vollzogen hat“ (Davidson 1985, 28). D. h., jemand kann vielerlei Gründe für eine Handlung x haben, aber nur aus einem von diesen handeln – was sich mittels der kontrafaktischen Analyse darlegen lässt: Hätte er diesen Grund nicht gehabt, so hätte er trotz aller anderen Gründe x nicht getan. Darin liegt zudem ein starkes Argument für die kausale Auffassung, dass Gründe Ursachen von Handlungen sind. (Davidson 1985, 19,

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auch nicht so entbunden sein, dass seine Handlungen zuletzt durch heterogene oder gar keine Gründe bestimmt würden – denn sonst wären sie wieder unfrei im Sinne des Fremdbestimmten oder Zufälligen. Eine endursachliche Betrachtung der Ziele des Handelnden hingegen belässt die Verbindung zwischen Akteur und Handlung, führt keine heteronomen Erklärungen ein und macht dennoch Entscheidung und Handlung verständlich.69 Zudem berücksichtigt sie die basale Freiheitsintuition, dass freie Handlungen zielgerichtet in dem Sinne sind, dass sie Absichten haben, deren Gehalte ihre Ziele angeben. Gott, der die Schöpfung inauguriert mit dem Ziel, dass sein Inwendiges zuletzt in der Wiederkehr zu sich selbst vollständig offenbar werde, wird auf diese Weise zur Causa finalis seiner selbst und alles Seienden, das im Weltprozess sich in der stufenweisen eschatologischen Entfaltung befindet. Indem Gott sich als „absolut letzte Endursache“ (SW XI, 400) setzt, setzt er die Schöpfung als Nahziel und sich als Träger und Inhalt des Fernziels, in welchem Alles in Allem in Gott zurückgekehrt sein und dieser „ganz verwirklicht sein wird“ (AA I,17, 168/SW VII, 404). Für die Frage der Freiheitsbestimmung Gottes bleibt festzuhalten, dass die Einführung der Perspektive auf die Ziele nicht lediglich einen Ausweg aus dem Dilemma von Determiniertheit und Erklärbarkeit von vgl. Horn/Löhrer 2010, 19). Dieses ‚Herauspicken‘ von Gründen stellt alternative nichtkausale Modelle, und solche, welche Handlungen unmittelbar aus den Gründen, die ein Akteur hat (oder die objektiv gegeben sind), erklären wollen, vor ein Problem. Und auch wenn Schelling keine elaborierte Theorie gründebasierten Handelns vorträgt, sondern das dem gegenüber einfachere und unflexiblere Modell des Handelns aus dem Wesen und Charakter der Person verfolgt, ist es doch eben diese Verschiebung von einer Theorie, bei der die innere Disposition des Akteurs unmittelbar zur Handlung führt zu einer, bei welcher der Akteur sich selbst (und seinen Gründen) gegenüber in ein Distanzverhältnis tritt und aus diesem heraus handelt, die sowohl Reinholds als auch Davidsons Besonderheit in dieser Frage ausmachen und der eben die Neuerung in Schellings Spätphilosophie in dieser Frage entspricht. 69   Systematisch trifft diese Frage genau die moderne Debatte zwischen Kausalisten und Teleologen in der analytischen Handlungstheorie. Kausalisten behaupten, dass sich Handlungen allein durch die Gründe des Akteurs als deren Ursachen erklären lassen, Teleologen bestreiten dies unter dem Hinweis auf die Irreduzibilität von Zielen (Hierzu: Horn/Löhrer 2010 und Gerlach 2014) – was nicht umgekehrt bedeutet, Teleologen behaupteten, Handlungen würden allein über ihre Zielsetzungen erklärt. Hier ist klar, dass zur notwendigen Angabe der Ziele von Handlungen noch motivationale Erklärungen z. B. über deren jeweiligen mentalen Zustände vor Ausführung der Handlung hinzukommen können. In jedem Fall zeigt diese Diskussion, dass die Frage nach der Überzeugungskraft der Eigenständigkeit der positiven Philosophie verbunden ist mit der handlungstheoretischen Frage, inwiefern teleologische Erklärungen einen Typus sui generis bilden, der nicht auf kausale Erklärungen zurückgeführt werden kann.

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Handlungen bietet, sofern in diesen Alternativität als die Möglichkeit, anders zu handeln, als Freiheitskriterium eingefordert wird, sondern dass mit der Einführung dieser Perspektive auch der Horizont der Absichtlichkeit, d. h. des Selbstverhältnisses des Akteurs auf seine Handlung, eröffnet wird. Wessen Freiheit darin besteht, nach Endursachen, d. h. Zielen zu handeln, der handelt mit Absichten; absichtlich zu handeln und überhaupt zu handeln, ist wie gesehen aber dasselbe. 4) Die Verstellung Gottes Die in der Gleichgültigkeit Gottes erreichte Entkopplung von Wesen und Handlung in der Schöpfung wird noch durch ein weiteres Element überboten, das Schelling von seiner ersten Münchner Vorlesung, dem System der Weltalter von 1827/28 an in seine Philosophie einführt (vgl. SyWA 148). Mit der Idee der Verstellung oder Ironie Gottes (SW XIII, 304) bezeichnet Schelling eine Handlungsweise, in der Gott nicht nur auf bestimmte Art unabhängig von seinem Wesen, sondern gar diesem entgegenhandelt. Damit radikalisiert Schelling die positive Freiheitsforderung, dass Gott „an nichts, auch nicht an sein eigenes Sein gebunden“ (SW XII, 305) sei. Denn diese Ungebundenheit betrifft jetzt nicht mehr nur das Dass der Schöpfung, sondern auch deren Inhalt. Als Grund für diese gewandelte Ansicht kann zweierlei gelten: zum einen möchte Schelling das Moment der Prüfung des Menschen in seine Theorie integrieren und damit den tieferen Sinn der Hiobs-Erzählung des Alten Testaments aufdecken: Gott stellt den Menschen dadurch auf die Probe, dass er sich verstellt (UF 136), d. h., dass er „dem Schein nach etwas tu[t], das er eigentlich nicht will“ (GPP 356)70. Zum anderen bildet die Idee der Verstellung einen Baustein zu einer teleologischen Theodizee, bei welcher die Zurechnung des „Widerwärtige[n], dem Guten Hinderliche[n] des Weltlaufs“ (SW XIII, 305) einerseits als nur scheinbar dem göttlichen Willen entsprechend relati  Damit setzt sich Schelling auch von Platons Gottesbild ab, dem er sonst in manchen Punkten nahesteht. Während er in Referenz auf Platon Gottes Neidlosigkeit anerkennt (SW VIII, 266, vgl. bei Plato, Timaios 29e), oder eine Untätigkeit Gottes ablehnt (GPP 353), gehört bei Platon zu den göttlichen Eigenschaften auch der Wille, nicht zu täuschen (vgl. Politeia 380d ff). Zur Illustrierung der von Schelling selbst konstatierten (SW XII, 42) Kühnheit, die in der Einführung des Moments der Verstellung liegt, sei zudem daran erinnert, dass es bei Descartes 2009, 59 f. zu Beginn der vierten Meditation ein zentrales Argument gegen die Vorstellung eines täuschenden Gottes ist, dass Täuschung mit dessen Güte unvereinbar sei. 70

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viert wird, und sich andererseits als notwendige Bedingung zur eigentlichen Endabsicht Gottes erweist.71 Es ist evident, dass diese Idee der Verstellung auch das Kernkriterium der Freiheit Gottes betrifft: In der Verstellung liegt „die Freiheit Gottes, äußerlich ein anderer zu scheinen, als er innerlich oder seiner wahren Absicht nach ist“ (SW XIII, 305), was Schelling ausdrücklich als einen „Akt freiesten Wollens“ (SW XIII, 304) charakterisiert und durch den Gebrauch des Superlativs anzeigt, dass hierdurch eine neue und letzte Stufe seiner Freiheitskonzeption im Handeln Gottes erreicht ist. Nun stellt sich auch hier die Frage, ob durch die Idee der Ironie Gottes die gesamte Freiheitslehre, wie Schelling sie ab 1800 mit der Grundidee der Verbindung von Wesen und Handlung entwickelte, substanziell angetastet wird. Auf den ersten Blick mag dies so scheinen: Wenn Gott nicht lediglich der Bindung an sein eigenes Sein enthoben ist, sondern diesem gar entgegen handeln kann, dann scheint die Verbindung von Wesen und Handlung Gottes vollständig aufgehoben – und der Aspekt formeller Freiheit suspendiert. Denn während in der Form der Selbstdistanzierung bei der freien Entscheidung, die Schöpfung zu tätigen oder zu unterlassen, zwar das Dass der Handlung aus Gottes Wesen unableitbar wurde, blieb doch bestehen, dass das Wie der Schöpfung gemäß Gottes allgütigem Wesen inhaltlich verfasst war. Das im Moment der Ironie weiter radikalisierte Freiheitskonzept sieht jedoch freie Handlungen vor, bei denen weder ihre bloße Ausführung, noch ihr Inhalt eine Entsprechung im göttlichen Wesen des Akteurs hat: Der Geist ist „ganz frei, [s]ich zu äußern oder nicht zu äußern, sich so oder anders zu äußern“ (SW XII, 33 Herv. Vf.); „wahre Freiheit [ist dort] erzielt, wo es mir selbst gleichgültig ist, ob ich so oder anders handle“ (UF 88). Also stellt sich hier die Frage, ob solche Handlungen zuletzt nicht auf das bis dato strikt abgelehnte Modell blo  Unter einer teleologischen, und zwar geschichtlich-teleologischen Theodizee kann man den Versuch einer Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt verstehen, bei dem diese „als unverzichtbare Mittel [angesehen werden], um den alles überragenden Endzweck der Geschichte zu erreichen“ (Hermanni 2002, 19). Während Schellings Darlegung des Bösen als „positive[r] Verkehrtheit“ (AA I,17, 137/SW VII, 366) in der Freiheitsschrift sich lediglich auf den Menschen bezog und eine entsprechende Theodizee dort daher primär das malum morale, das durch den Sündenfall des Menschen in die Welt kam, betraf, ist in der Idee der Ironie Gottes demgegenüber 1) Gott selbst in einem (freiwilligen) Verkehrungsverhältnis dargestellt, weswegen durch dieses 2) eine Alternative zur auch in der Spätphilosophie weiterhin vertretenen Erbsündenlehre zur Erklärung des Bösen (z. B. SW XI, 487 und XIII, 360 f.; vgl. Hermanni 1994, 246 und 252 ff.) gegeben wird, bei der 3) auch das physische und metaphysische Übel teleologisch gerechtfertigt werden können. 71

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ßer Willkür zurückführen, also zufällig im Sinne von grundlos sind, da in ihnen alle verbindenden Gründe zum Wesen der Person abgeschnitten sind. Die gezeichnete Motivlage der Prüfung und der Leitung des Weltprozesses ins Fernziel zeigt allerdings, dass dem nicht so ist. Denn Gott hat in der Verstellung keineswegs gar keine Motive, sondern lediglich andere als die, die sich unmittelbar zeigen. So ist Gottes Verstellung in Schöpfung und Weltlauf im Motiv der Prüfung und der Hinführung des Weltlaufs auf die Endabsicht wohlbegründet. Indem er dem Schein nach äußerlich seinem Wesen entgegen handelt, handelt er in relativer Unabhängigkeit von seinem eigenen Wesen – es ist hier der vordergründige Zwang aufgehoben, nach welchem die Bindung an sich selbst dazu führt, stets auf dieselbe Weise, nämlich entsprechend dem Gepräge des eigenen Charakters handeln zu müssen: der Gute immer gut, der Böse immer böse usw. Schellings Lehrstück von der Verstellung Gottes zeigt, dass die Bindung an den eigenen Charakter im Handeln nicht so eng sein kann. Sondern dass es möglich ist, diesem Charakter gegenüber einen distanzierten Standpunkt einzunehmen. Wenn Gott (absichtlich) anders handelt, als er ist, dann muss es Teil dieser Handlung sein, dass Gott sein eigenes, unmittelbar handlungsprägendes Wesen erkennt und auf der Basis dieser Erkenntnis neu entscheiden kann, ob er seinen Charakter unmittelbar handlungsleitend werden lassen möchte oder nicht. Er muss einen Standpunkt höherer Ordnung sich selbst gegenüber einnehmen können, der die unmittelbare Zuordnung guter Handlungen aus gutem Charakter aufhebt.72 Indem er Handlungen ausführt, die anders scheinen, als sie sei  Die Einnahme eines solchen Standpunktes höherer Ordnung ist für ein Wesen, das sich verstellen kann, systematisch zwingend. Bekanntlich hat Frankfurt 1981 in einem epochemachenden Aufsatz dargelegt, dass Freiheit gerade darin bestünde, Wünsche höherer Ordnung auszubilden, denen die unmittelbar handlungserzeugenden Wünsche entsprechen. In Schellings Konzept der Verstellung als Form höchster Freiheit ist dies noch pointierter angelegt, insofern hier der höherrangige Wunsch auch im direkten Widerspruch zum basaleren stehen kann, sofern das Gesamtverhältnis nur wiederum der Willensordnung des Handelnden entspricht. Noller 2015 hat eine attraktive Interpretation des Willensfreiheitsproblems im Deutschen Idealismus unternommen, welche dessen Konstellationen unter Frankfurts Schema höherer Willensstufen zu fassen versucht. So entspricht beim frühen Schelling (bis 1800) die Willkür als Erscheinung des Willens dem Bereich von Volitionen zweiter Stufe im Gegensatz zu den unmittelbar handlungsbezogenen Momenten des reinen Willens und der Neigungen (vgl. 307); in der Phase der Freiheitsschrift findet sich dieses Verhältnis nach Nollers Interpretation in der Relation von ahnendem Willen und lichtem Verstand (vgl. AA I,17, 130 f./SW VII, 359) wieder (317). Schellings Grundanlage reflexiv aufeinander bezogener und hierarchisch gegliederter Willensstufen lässt sich demnach 72

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ner „wahren Absicht“ nach sind, dokumentiert er die Fähigkeit, zugleich wahre und verstellte Absichten erzeugen zu können. Er befreit sich so von der Bindung an sein eigenes Wesen, als er unmittelbare Absichten erzeugen und diesen folgen kann, welche nicht seinem Wesen entsprechen. Andererseits gilt: Wenn Gott bei Weltentstehung und Weltverlauf „das Gegenteil darleg[t] von dem, was er eigentlich will“ (SW XII, 91), dann ist darin etwas enthalten, das er eigentlich will und demgegenüber dasjenige, das er zum Zweck dieses Eigentlichen zunächst tut, untergeordnet ist. So ergibt sich sowohl auf der Seite seines Wesens als auch auf der Seite seiner Handlungen ein Doppelverhältnis, bei welchem die offenbare Seite die dahinterstehende Position verdeckt, welche ihre eigentliche Wahrheit ausmacht. Was Gott eigentlich will, ist seine Endabsicht – und diese ist seinem Wesen gemäß. Sie zu kennen würde bedeuten, Gott und den Weltprozess zu verstehen (nicht: zu erklären), was eben der Aufgabe der positiven Philosophie entspricht. Auch in der Verstellung als höchster Form der Freiheit zeigt sich so die teleologische Struktur, in der Schelling Gottes Handeln konzipiert. Wenn Gott nähere Zwecke für fernere Zwecke setzt (das Übel zum Zwecke der Prüfung, die Prüfung zum Zwecke sukzessiver Offenbarung, diese zum Zweck der letzten Offenbarung als Rückführung des Weltlaufs in sich), dann erzeugt die zielgerichtete Veranlagung seiner Handlungen direkt die finale, eschatologische Struktur des geschichtlichen Weltverlaufs. Mehr noch: diese Konstellation einer Freiheit, welche zugleich als personale Freiheit die Selbstbindung der Handlung an das Wesen beinhaltet, andererseits jedoch in einer Divergenz von Handlung und Wesen besteht, welche den Begriff der Verstellung rechtfertigt, ist ein Resultat der teleologischen Handlungsweise Gottes und ihrer intrinsisch-instrumentellen Struktur, dass zur Zielerreichung Mittel notwendig sind und dass es sein kann, dass gewünschte Ziele nur durch an-sich unerwünschte Mittel erreicht werden können. In der Philosophie der Offenbarung legt Schelling diese instrumentelle Struktur im Handeln Gottes offen: „In jeder zusammengesetzten, nicht unmittelbar zu vollbringenden Handlung ist das, was bloß Mittel ist, nicht das eigentlich sein Sollende, unter der Perspektive von Volitionen höherer Ordnung interpretieren, wobei sich zumindest die Spur einer roten Linie findet, bei welcher Schelling über alle Wandlungen und Erweiterungen seines Freiheitskonzepts hinaus einheitlich interpretiert werden kann. In jedem Fall kann die erst mit der Entwicklung der positiven Philosophie ab 1827 auftretende Idee der Verstellung Gottes als Fortsetzung einer solchen Linie gestuft aufeinander bezogener Willensebenen als Freiheitsmomenten interpretiert werden.

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aber es ist doch das relativ nämlich in Bezug auf den Zweck sein Sollende und so kann auch jenes, obgleich zur Überwindung bestimmte Prinzip ein göttlichgewolltes sein; dies widersprechen wäre ebenso viel als widersprechen, dass Gott durch Mittel wolle“ (SW XIII, 285). Wenn die Mittel an-sich unerwünscht sind oder zumindest das sind, das nicht eigentlich gewünscht wird, dann heißt dies nicht, dass Gott diese an-sich ablehne, aber wider eigenen Willen dennoch einsetze, sondern lediglich, dass Gott den Einsatz dieser Mittel nicht selbst als einen Ziel setzen würde. Als Mittel jedoch, insofern sie zum Erreichen eines gewünschten Zwecks notwendig sind, sind sie selbst auch notwendig gewollt; hier gilt: wer den Zweck will, „muss […] auch die Mittel dazu wollen“ (AA II, 8, 85). Wenn Gott demnach in diesem Sinne nicht an sein eigenes Wesen gebunden ist, dass er sich umwillen des Erreichens letzter Absichten verstellen kann, dann ist darin keine Abschneidung seiner Handlung von seiner Person zu sehen, sondern die Möglichkeit einer souveränen Selbstdistanzierung in der Abwägung des in Kauf zu nehmendem Mittels gegenüber dem zu erreichenden Zweck in Ansehung der eigenen Person. Wer sich willentlich verstellt, muss wissen, wer er ist und sich demnach sich selbst gegenüber in eine Position bringen können, in der er sich mit seinen handlungsrelevanten personalen Eigenschaften gegeben ist – und dann die Möglichkeit haben, diesen entgegen zu handeln. Dennoch trägt Gott in der Verstellung zuletzt einen unausweichlichen Widerspruch in sich aus. So sehr es eine letzte selbsttreue Position geben mag, von der aus er mit Blick auf das nahe Ziel der Schöpfung in Hinsicht auf das fernere der Apokalypse eine einheitliche Grundrichtung seines Wesens im Handeln verwirklicht, so sehr muss er doch, wo er aus Verstellung dieser entgegenhandelt, die mit diesen Handlungen verbundenen Charakterkonsequenzen in sich austragen. Hier zeigt sich in Schellings Freiheitskonzeption die ins 20. Jhd. vorausweisende Kontur eines in sich divergierende Spannungen aushaltenden, wenn auch nicht zerreisenden Gottes. Es ist, so Schelling, eben dies das Verhältnis Gottes in der Schöpfung, dass er eben das setzt, was er unmittelbar auch wieder verneint. […] die Gottheit (d. h. die absolute Freiheit) Gottes besteht eben in der Kraft dieses Widerspruchs – dieser Absurdität, wenn man will, zugleich der bejahende und verneinende zu sein und doch dabei nicht auseinander zu gehen, sondern zu bleiben, der ER ist (SW XIV, 25).

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5) Die Selbstgestaltung Gottes Doch damit ist noch immer nicht die höchste Stufe der Freiheit in Form der Selbstentbindung von den Bestimmungen des Handelns durch das eigene Sein in der Schöpfung erreicht. Schelling führt aus, dass zum Begriff und zur Freiheit Gottes in ihrer höchsten Form es gehöre, dass dieser von sich sagen könne: „es hängt bloß von meinem Willen ab, dieser oder ein anderer zu sein“ (SW XIII, 269 f.); Freiheit in ihrer höchsten Form ist demnach als volle Selbstmacht des Willens dann gegeben, wenn Sein und Werden Gottes unter der Verfügungsgewalt seines Willens stehen. So ist einerseits erst dann ist das Absolute oder der Geist der volle, durch Freiheit ausgezeichnete Schöpfergott, wenn sein Gott-Sein sich lediglich seinem „innerste[n] Willen, Gott zu sein“ (SyWA, 136), verdankt. Gott „ist das, was er will“ (SW XIII, 256). Andererseits gilt: „ich werde sein […], der ich sein will – […] es hängt nur von meinem Willen ab“ (UF 89). Diese Stelle der Urfassung ergänzt Schelling mit einer freiheitstheoretischen Erläuterung: „Freiheit ist überall da, wo die Wahl des Seins völlig unbestimmt ist“ (UF 89). Diese Erläuterung scheint im Zusammenhang mit der Darlegung der Freiheit Gottes als voller Selbstgestaltungsmacht harmlos: Wodurch, wenn nicht durch sich selbst, d. h. den eigenen Willen, sollte Gott denn bestimmt sein? Es scheint zur Autonomie eines absoluten Geistes zu gehören, dass dieser nicht durch andere, externe Gründe, d. h. durch nichts außer sich selbst bestimmt wird. Andererseits ist damit zuletzt ein Freiheitsbegriff gegeben, bei dem es erneut einer genaueren Untersuchung bedarf, um die Frage zu beantworten, ob hiermit nun nicht gleichfalls ein zuvor strikt abgelehnter Freiheitsbegriff stillschweigend re-etabliert wird. Denn in der Freiheitsschrift hatte Schelling wie gesehen die Willkürfreiheit als „gewöhnlichen Begriff der Freiheit“ diskreditiert und sie als „ein völlig unbestimmtes Vermögen charakterisiert, „ohne bestimmende Gründe, das eine oder das andere zu wollen, schlechthin bloß, weil es gewollt wird“ (AA I,17, 150/SW VII, 382). Und diesen Typus von Freiheit hatte Schelling deswegen abgelehnt, weil die Unbestimmtheit des Willens „eine gänzliche Zufälligkeit der einzelnen Handlungen“ (AA I,17, 150/SW VII, 383) einführen würde, was jedoch einer Selbstaufhebung des Freiheitsbegriffes gleichkäme. Daher stellt sich die Frage, ob Schelling hier schlicht ohne nähere Begründung einen zuvor abgelehnten Begriff in höchster Form aufwertet, oder ob es – womöglich systematisch entscheidende – sachliche Differenzen zwischen diesen Begriffen gibt. Im Ergebnis wird sich beides zeigen: Auf der Basis von einer unbeachteten Differenz im Begriff des

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Handlungsgrundes bewertet Schelling in der Spätphilosophie ‚grundloses‘ Handeln anders. Zunächst: der subtile aber entscheidende Unterschied zwischen dem abgelehnten Begriff der Willkürfreiheit als einem Zufallsgeschehen und der hohen Freiheit einer unbestimmten Wahl des eigenen Seins durch den bloßen Willen liegt nicht in dem vordergründigen Unterschied, dass es einmal um die Wahl zwischen verschiedenen Handlungsoptionen und im anderen Fall um die Selbstwahl des Seins geht – dessen, was man ist. Denn auch hier wäre Schelling zuzustimmen, dass es grundsätzlichen Freiheitintuitionen entgegenliefe, wenn eine solche Selbstwahl zuletzt mangels bestimmender Gründe die Art eines Zufallsgeschehens annehmen würde, wenn das sich selbst Wollen als ein Bestimmter sich in der Art eines Münzwurfes vollziehen würde. Der Unterschied ist auch nicht darin zu sehen, dass sich Schellings Kritik an der Willkürfreiheit unter der Perspektive des Satzes vom zureichenden Grund vollzieht, die Perspektive auf die Freiheit Gottes in der Selbstbestimmung seines Wesens hingegen teleologisch ist. Zwar ist es richtig, dass sich hier die Perspektive ändert: während in der Konstellation der Willkürfreiheit die Antwort offenbleibt, wodurch der Wille sich bestimme, ist die letzte Freiheit Gottes darin gegeben, dass es ihm offensteht und unbestimmt ist, wozu er sich bestimme. Doch genügt der bloße Verweis auf diesen Unterschied noch nicht. Denn bestimmende Ziele, zu denen der Wille sich bestimmt, können zugleich die Gründe sein, durch die er sich bestimmt. So war in der Handlung Gottes in der Schöpfung, wie gesehen, die Antwort auf eben die Frage, wodurch Gott zu dieser bewogen wurde, die, dass die Schöpfung selbst das Ziel ihrer Ausführung war. Eben dieses Beispiel gibt aber den Hinweis auf eine Zweideutigkeit im Begriff der Willkürfreiheit, deren Auflösung darlegen kann, weshalb die Selbstbestimmungsfreiheit Gottes in der gezeichneten Form nicht als Zufallsgeschehen diskreditiert werden muss. Denn einerseits würde Schelling nach Maßgabe der Freiheitsschrift eben diesen Fall der Schöpfung als bloße Willkür qualifizieren. Gerade für die Schöpfung mit ihrem intrinsischen Ziel der Schöpfung gilt, dass sie gewollt wird, ‚bloß, weil sie gewollt wird‘; der Inhalt des Wollens hat in diesem Fall keinen anderen Grund als das Wollen selbst – und dieses ist stets zielgerichtet. Nun stellt sich aber die Frage, ob es berechtigt ist, ein solches Wollen dadurch als grundlos und zufällig anzusehen. Wenn Schelling dies tut, dann bedeutet dies, dass er das bloß intrinsische Handlungsziel nicht als (zureichenden) Grund für die Handlung gelten lässt, sondern nach einem weiteren Grund für die Handlung verlangt, und zwar nach einem weiteren internen Grund, den der Akteur selbst

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hat.73 Im Falle der Frage aber, wie Gott sich selbst will, kann es wie schon in der Frage, weshalb er sich offenbaren möchte, keine andere Antwort geben als eben die, welche der bloßen Angabe der Bestimmtheit seines Willens auf das Ziel hin gleich kommt.74 Tatsächlich hat sich demnach Schellings Einstellung zum Freiheitsbegriff hinsichtlich eines wichtigen Aspektes verschoben, wenn er in der Phase der Freiheitsschrift grundloses Handeln als unfrei-zufälliges diskreditiert und in der Spätphilosophie als höchste Form der Freiheit anerkennt. Zwar gibt es, wenn man den Unterschied zwischen intrinsischen Gründen in den handlungsbestimmenden Zielen und weiteren Gründen berücksichtigt, in beiden Fällen Gründe in den unmittelbar willensbestimmenden Zielen des Akteurs; die Forderung nach weiteren Gründen wird nun jedoch unterschiedlich bewertet. So war Schellings Augenmerk in bei der Ablehnung der Willkürfreiheit lediglich darauf gerichtet, dass ohne solche weiteren Gründe sich das Handeln nicht in einen rationalen Kontext einbinden lässt und in diesem Sinne „unvernünftig“ (AA I,17, 150/SW VII, 382) wird. Schelling bemerkte hier offenbar nicht, dass das Fehlen sonstiger Gründe eines nur durch sich selbst bestimmten Willens nicht bedeutet, dass dieser gar keine Gründe habe und in jeglicher Hinsicht unbestimmt sei. Denn ein Verhalten ganz ohne interne Gründe wäre überhaupt kein Handeln, sondern ein bloßes Geschehen (das jedoch   Wie Schelling in diesem Zusammenhang zur Rolle externer Gründe stehen würde, ist nicht klar. Wohl würde er in beiden Fällen solche der Situation oder objektiver Nötigung als heteronome Einflüsse auf die Willensbestimmung und somit der Freiheit entgegenstehend ablehnen. Andererseits geht die Vernünftigkeitsforderung wiederum auf einen externen Aspekt: auch bei denjenigen Gründen für eine Handlung, die der Akteur selbst hat, ist der ‚Raum der Gründe‘ objektivierbar und intersubjektiv zugänglich und in diesem Sinne extern. 74   So kann man sagen: Dass Peter das Ziel hatte, die Straße zu überqueren, war der Grund dafür, dass er sie überquerte. Eben dies ist aber der Fall, den Schelling als ‚etwas wollen, bloß damit es gewollt werde‘, disqualifiziert. Das bedeutet, dass Schelling als zureichenden Grund für eine Handlung nicht die bloße Willensbestimmung mit dem Ziel der Ausführung dieser Handlung selbst gelten lässt. Dies ist auch dahingehend einsichtig, als ohnehin jede Handlung ihr Ziel hat und das Haben dieses Ziels daher keinen besonderen Grund für die Handlung, der über die Handlung selbst hinausgeht, bezeichnet. Das Ziel ist der intrinsische Grund der Handlung – aber eben damit auch handlungsmotivational derjenige, der am meisten mit dem Willen verbunden ist. Dass Handlungen auch ohne weitere Gründe, ‚einfach so‘ ausgeführt werden können, ist allerdings offensichtlich. Wenn Peter also auf die Frage, weshalb er die Straße überquere, lediglich antwortete: „einfach so, ohne weitere Gründe“, dann stellt sich die Frage, ob man seine Handlung deswegen mit dem mittleren Schelling als Zufallsgeschehen bezeichnen müsste. M.E. ist dies nicht der Fall. Die Handlung einfach zu wollen, scheint Grund genug zu sein, sie zu tun. 73

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Teil 2: Das Handeln Gottes

seinerseits wieder determinierende Ursachen als zureichende Gründe haben könnte). Hingegen anerkennt Schelling nun die Selbstbestimmung des Willens in seiner direkten teleologischen Ausrichtung und rechnet es diesem als starkes Kriterium seiner Freiheit zu, dass er nicht nur keine äußeren heteronomen Gründe, sondern auch keine sonstigen inneren Gründe, d. h. keine weiteren Absichten, als derjenigen, sein direktes Ziel zu erreichen, hat. Daher kann man darin, dass Gott sein und werden kann, was er will, tatsächlich die höchste Form seiner Freiheit als Selbstmächtigkeit des eigenen Wesens erblicken ohne dieses Verhältnis zuletzt als ‚willkürlich‘ im abwertenden Sinne des bloß Zufälligen bewerten zu müssen. 6) Resümee Zusammenfassend lässt sich sagen: in Schellings Spätphilosophie, in welcher zunehmend die freie Schöpfungstat Gottes ins systematische Zentrum rückt, findet sich auch eine Theorie über die inneren Freiheitsmomente dieser Tat im Selbst- und Weltverhältnis des personalen Gottes. Diese bestehen zum einen in der Bindung der Handlung an das Wesen Gottes, das die Schöpfung Gott personal zurechenbar macht, zum anderen in der Konsequenz der Forderung, dass diese aus dessen Wesen zugleich nicht ableitbar sein darf, da sonst, wie sich in der Spätphilosophie zeigt, nicht nur Gottes Personalität fraglich würde, sondern auch das Freiheitskriterium alternativer Handlungen nicht gegeben wäre. Daher entwickelt Schelling ein spannungsreiches Konzept personaler Freiheit, bei welcher sowohl das Prinzip der personalen Bindung als auch das Prinzip der alternativen Möglichkeiten gewahrt bleiben. Indem Schelling die Handlung Gottes teleologisch motiviert konzipiert und Gott selbst in ein praktisches Selbstverhältnis versetzt, bei welchem er seiner eigenen Wesensveranlagung gegenüber einen souveränen Standpunkt einnehmen und diese zuletzt gar selbst gestalten kann, entfaltet er eine Handlungstheorie, die die systematische Forderung einer Verbindung von Freiheit und Notwendigkeit in Gottes Tun mit einer gehaltvollen, phänomengerechten Theorie der Freiheit verknüpft, welche in den Aspekten der Möglichkeit des Unterlassens der Schöpfung und der Verstellung in der Schöpfung dem Moment der Positivität dieser Freiheit verständliche Konturen gibt. Diese Aspekte der göttlichen Freiheit vervollständigen Schellings Theorie des göttlichen Handelns. Als dessen basale Struktureigenschaften hatten sich im ersten Kapitel die Willensmomente des praktischen Be-

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Kapitel 3: Die Freiheit Gottes

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wusstseins und ihre in sich gegliederten Steigerungsformen zur Ausführung einer tatsächlichen Handlung hin erwiesen. Diese ergänzten sich um die kognitiven Elemente des Voraussehens, Wissens und Beabsichtigens dieser Handlungen und der ihnen eingeschriebenen Zielstruktur, die im zweiten Kapitel dargestellt wurden. Zusammen lassen sie sich als ein Konzept göttlicher Praktizität fassen, bei welchem sich dessen Handeln unmittelbar, ohne deliberative Prozesse oder a priori vorgegebene Rationalitätsmomente aus einem inneren Willensbezug auf sein Handlungsziel speiste, das sich im Ausbilden direkter und weiterer Absichten in ein finalistisches Gesamtprogramm einbetten ließ. Die scheinbar disparaten Freiheitsmomente der Selbstbindung und der Freiheit sich selbst gegenüber fügen sich in diese Theorieanlage ein: Im Setzen des Vollkommenheitsziels als freiem Akt und der vorgeordneten Zwischenziele als Handlungssequenzen auf das Endziel hin erweist sich Gott als ein Akteur, dessen Taten zwar seinem (vollkommenen) Wesen und dessen spezifischer Willenskonstellation der Liebe gemäß sind, für deren letztes Zustandekommen er selbst aber in einem seinen inneren Momenten gegenüber souveränen Freiheitsakt wissentlichen und absichtlichen Handelns inhaltlich und faktisch dominant und in diesem Sinne frei bleibt. Die grundsätzlich teleologische Dimension, unter der Schelling die göttliche Praxis entfaltet, bildet dabei in hervorgehobener Weise das gemeinsame Moment, das dieses Handeln hinsichtlich seiner ekstatischen, auf Ziele gehenden Willensstruktur, seiner auf Ziele gehenden Absichten und seiner spezifischen, auf Endursachen bezogenen und daher in einer entscheidenden Hinsicht unerklärlichen Freiheit verbindet.

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3. TEIL DAS VERHÄLTNIS MENSCH-GOTT

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Vorblick Insofern die Handlungstheorie des späten Schelling göttliches und menschliches Handeln umfasst, muss eine Untersuchung dieser Handlungstheorie auch die komplexen Wechselverhältnisse, unter denen diese Handlungen stehen, aufklären. So ist einerseits klar, dass die menschliche Existenz und damit auch menschliches Handeln ontologisch von der Schöpfungstat abhängig sind. So gilt nicht nur: hätte Gott die Schöpfung zurückgehalten, hätte es nie einen Menschen gegeben, sondern wie sich erweisen wird, auch: würde Gott die – als kontinuierliche gedachte – Schöpfung heute zurückziehen, würde der Mensch augenblicklich ins Nichts zurückfallen. Andererseits ist göttliche und menschliche Praxis auch strukturell voneinander abhängig: die Strukturanalyse des praktischen Bewusstseins war für beide Seiten gültig und die Ebenbildlichkeitsthese verbürgt, dass zentrale Momente göttlicher Praxis sich in der menschlichen wiederfinden. Hinzu kommt, dass es auch eine umgekehrte Beziehung gibt: die Vollendung der Schöpfungspraxis im letzten Ziel ist vom menschlichen Handeln als Erzeuger der Geschichte abhängig; der Mensch ist durch sein geschichtliches Handeln in diesem Sinne Verwirklicher der Schöpfung. Um diese Relation, unter welcher menschliche und göttliche Praxis steht, zu fassen, müssen zweierlei Rahmenbeziehungen aufgeklärt werden. Der eine ist der metaphysische, von Gott in der Schöpfung ausgehende Rahmen der Zeit, unter dem menschliches, und spezifisch geschichtlich-menschliches Handeln steht (Kapitel 4). Hier ist es nicht nur so, dass sich im Zeit-Ewigkeitskontrast ein traditionelles ontologisches Gefälle zwischen Mensch und Gott auch in deren Handlungen spiegelt. Sondern es gibt zudem eine innere Verbindung von Zeitphilosophie und Handlungstheorie bei Schelling, die nicht nur die Erörterung des Zeitproblems hinsichtlich praktischer Fragestellungen attraktiv werden lässt, sondern unter der sich die Explikation des temporalen Rahmens als unverzichtbar für eine Frage nach den basalen Strukturen göttlichen und menschlichen Handelns erweist: Die Schöpfungstat selbst ist intrinsisch mit der Zeitproblematik verwachsen; in ihr und aus ihrem Horizont der Ewigkeit entsteht erst die Zeit. Es ist also nicht so, dass es einerseits eine Schöpfungshandlung gibt und andererseits noch eine spezifische Zeitstiftung. Sondern die Zeitstiftung ist eine innere Notwendigkeit dieser Handlung. Dies hat nicht nur zur Folge, dass die Zeitdimension in eine Handlungstheorie miteinbezogen werden muss, sondern dass sich auch

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in zeitphilosophischer Hinsicht zeigt, dass die Zeit selbst bei Schelling in ihren Grundmomenten praktisch ist, was dann auch unmittelbar für das menschliche Handeln durchgreift. Die zweite Rahmenbeziehung ist diejenige des religiösen Bewusstseins, d. h. des Bewusstseins des Menschen von Gott (Kapitel 5). Dies erfordert nicht nur die Vervollständigung der epistemisch-ontologischen Wechselbeziehung, nach welcher Gott den Menschen erschafft und dem Menschen Gott als sein Erzeuger bewusst ist. Sondern da der Mensch und eine bestimmte Form des menschlichen Bewusstseins sich als ursprüngliches Ziel der Schöpfung und Gott als erster, fundamentaler Bezug des menschlichen Bewusstseins und damit auch aller seiner praktischen Verhältnisse in der Form von Willens-, Absichts- oder Zielausbildungen erweist, bildet die Mensch-Gott-Beziehung, die sich im religiösen Bewusstsein des Menschen manifestiert, die eine Grundachse, auf der sich menschliche Handlungen in der Spätphilosophie Schellings überhaupt erst entfalten.

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KAPITEL 4: ZEIT UND EWIGKEIT

Es hat sich erwiesen: Schellings Auffassungen über die Elementarstrukturen von Handlungen sind in einer ausgezeichneten Weise seiner Konzeption der göttlichen Schöpfungshandlung zu entnehmen. Dies gilt insofern, als in der Schöpfungshandlung selbst bereits Handlungs-Strukturen in ihrer besonderen Elementarität ausgewiesen sein müssen, da die Schöpfungshandlung umgekehrt ihre Bedingungen aus ich selbst heraus erweisen muss. Die im engeren Sinne handlungstheoretischen Aspekte hiervon inklusive des Freiheitsmoments haben die Kapitel zum Handeln Gottes darzulegen versucht. Innerhalb dieser speziellen Theorielage erhält jedoch auch die Verbindung von Zeit und Handlung bei Schelling besonderes Gewicht.1 Denn einerseits hat das Ursprungsgeschehen der Schöpfungstat keine bereits vorgegebenen zeitlichen Voraussetzungen, weswegen es in eins, und das heißt: in einem ursprünglichen Strukturzusammenhang mit seinen handlungstheoretischen Bedingungen diese ausweisen muss, wodurch sich die Zusammenhänge von Zeit und Praktizität an ihrer fundamentalen Entstehungsstelle nachweisen lassen müssen. Andererseits entsteht nach Schellings Auffassung alles Zeitliche erst in der Schöpfung, weswegen sich zudem die Strukturen der geschöpften Zeit und der zeitlich-menschlichen Handlungen in ihrem Ursprung der Schöpfung bilden müssen. Hierdurch wiederum erhält die Beziehung der Ewigkeit Gottes in der Schöpfung zur geschöpften Zeit besonderes Gewicht. Die Schöpfung ist in sich göttlich-ewiges-praktisches Geschehen und alles menschliche Handeln enthält seine wesentlichen Eigenschaften aus ihr. Eine Darstellung der Zeit- und Ewigkeitstheorie Schellings in Bezug auf die Schöpfung steht aber unter der besonderen Problematik, dass es   Und dieser Zusammenhang ist auch systematisch und zudem in der Perspektive des 21. Jahrhunderts, von besonderem Interesse. Denn die Frage nach der spezifischen Zeitlichkeit von Handlungen ist bis dato ein Stiefkind sowohl der Handlungs- als auch der Zeittheorie. Einen ersten gewichtigen Versuch in dieser Hinsicht hat Rohs 1980 unternommen. Rohs hat die Bedeutung dieses Zusammenhangs zwischenzeitlich in einer Vielzahl von Publikationen ausgeführt; (zuletzt in 2016, wo es heißt: „die zeitlichen A-Bestimmungen […] bilden den ontologischen Kern der […] frei handelnden Wesen“ (53); Gerlach 2014 greift diesen Forschungsansatz auf; in der angelsächsischen Literatur findet sich erst 2016 ein Sammelband, der Zeit und Handeln explizit thematisiert (Altshuler/Sigrist 2016). 1

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Teil 3: Das Verhältnis Mensch-Gott

nicht nur Schellings Leistung ist, eine bereits vorhandene Theorie von Zeit und Ewigkeit auf die Sondersituation der Schöpfungshandlung anzuwenden, sondern dass er eine solche Theorie, die den besonderen Ansprüchen des Schöpfungsgeschehens standhält, allererst erschafft, da ihm offensichtlich die gegebene Theorie- und Traditionslage der kontemporären Zeitphilosophie zur Bewältigung dieses Problems nicht ausreicht. Dies macht eine Rekonstruktion der Zeitphilosophie Schellings in Hinsicht auf göttliches und menschliches Handeln besonders attraktiv, erfordert aber zugleich eine umfassendere Darstellung der Theorie- und Problemlage, die zur Entstehung und Entwicklung dieser Theorie geführt hat. Daher wird zunächst (1) die Situation der Zeitphilosophie zu Beginn des 19. Jahrhunderts skizziert und sodann (2) die Entwicklung der Ewigkeitsproblematik bei Schelling nachgezeichnet. Hierauf (3) lässt sich Schellings Theorie einer doppelten Ewigkeit als originelle Antwort auf das Schöpfungsproblem verstehen, mit Hilfe welcher (4) zugleich das Problem eines Anfangs der Zeit gelöst werden kann. Von hier aus ist weiter zu sehen, wie (5) diese Grundverhältnisse in das Modell der creatio perpetua eingehen, welche den beständigen Rahmen zwischen göttlich-ewigem und menschlich-zeitlichem Handeln bildet. Sodann (6) wird das Grundkonzept der Geschichtsphilosophie Schellings in der Periodisierung der Weltalter-Folge zu zeigen sein, um schließlich mit der (7) Zukunftsrichtung der praktischen Zeit den bedeutenden und originellen handlungstheoretischen Kern der Zeitphilosophie Schellings herauszuarbeiten, der sich abschließend an (8) Schellings zeitphilosophischer Interpretation des Namens Gottes nach Exodus 3, 14 als eines Zukünftigen schöpfungsontologisch bewährt. 1) Schelling und die traditionelle Zeitphilosophie In den Fragmenten zum ersten Weltalterentwurf von ca. 1810 findet sich eine vernichtende Kritik Schellings am Niveau der überlieferten Zeit-Philosophie, nebst der daraus für die Wissenschaft resultierenden Folgen: „Kein Begriff liegt seit langer Zeit in solcher Geringschätzung wie der der Zeit. Ohne Feststellung dieses Begriffes wird sich aber nie eine verständliche Entwicklung der Wissenschaft denken lassen, u. es liegt der Grund des allgemeinen Missverstehens aber in nichts anderem als in den ungewissen schwankenden oder völlig irrigen Begriffen von der Zeit“ (W 224).

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Kapitel 4: Zeit und Ewigkeit

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Noch 30 Jahre später ergänzt Schelling diese Einschätzung um den Begriff der Ewigkeit, nebst einer Hervorhebung seiner eigenen, zwischenzeitlich erbrachten Leistung, wonach das Verhältnis der Ewigkeit zur Zeit sowie die ganze Genealogie der Zeit früher überhaupt in der tiefsten Unbestimmtheit lag, und wir wohl sagen können, dass in dieses dunkelste Verhältnis auch erst Licht durch die positive Philosophie gekommen ist. Denn von je an war die Zeit gleichsam das böse Gewissen aller leeren Metaphysik, der Punkt, dem sie gern aus dem Wege ging (SW XIV, 108).

Diese zwar etwas grobe, aber doch historisch nachvollziehbare Diagnose wird verständlich, wenn man in Betracht zieht, dass Schelling das Theorieangebot der Philosophie der Neuzeit nicht darin helfen konnte, die in der Frage nach dem zeitlogischen Status der Schöpfung virulente Frage nach einem angemessenen Verhältnis von Zeit und Ewigkeit zu lösen. Sie ist grob in dem Sinn, als mit Plotin, Augustin und Boethius historisch ein Angebot an differenzierteren Ewigkeitsauffassungen gegeben war, das Schelling jedoch nicht über die tradierten Grundformeln hinaus beachtete2; zutreffend aber insofern, als die zeitgenössische Philosophie sich ebensowenig um den historischen Gehalt der überlieferten Ewigkeitsbegriffe kümmerte und kein feineres Schema als eine bloße Gegenüberstellung der Zeit als Modus des Veränderlichen und der Ewigkeit als Charakteristikum des Unveränderlichen gebrauchte. Die nachmittelalterlichen Zeittheorien zielten wesentlich darauf, den ontologischen und strukturellen Status der innerweltlichen Zeitphänomene zu deuten: Newtons absolute Zeit, Leibniz‘ relationale Zeit und Kants Auffassung von der Zeit als Form des inneren Sinns geben hierfür die sprechendsten Beispiele. Allen ist gemeinsam, dass sie den Zeitmodi der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft keine eigenständige Bedeutung beimessen und die Zeit als lineares, sukzessives Kontinuum auffassen, innerhalb dessen die Ereignisse der Welt mechanisch verlaufen. Kants Zeitbegriff in etwa, den Schelling zeitweilig selbst übernommen hatte,3 und nach dem die Zeit „nichts von unsrer Vorstellungsweise unabhängiges ist“ (W 121) nennt er nun „ein Abstraktum von Zeit, […] eine leere selbstgemachte Form“ (W 224 f.). Die Ewigkeit hingegen wurde lediglich als der platonische Gegensatz zwischen der Unveränderlichkeit und somit Zeitlosigkeit des   Schellings Ewigkeits- und Zeitauffassungen bis ca. 1810 sind wesentlich einer Parallelisierung der Dichotomien ewig-zeitlich, göttlich-weltlich, Einheit-Vielheit, Totalität-Partikularität, Identität-Differenz, Denken-Anschauung, Ideales-Reales geschuldet (vgl. Adolphi 2004, 359). 3   Vgl. AA I,9.1, 164/SW III, 466, wonach „die Zeit nicht etwas [ist], was unabhängig vom Ich abläuft“. 2

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Ewigen und der Wandelbarkeit der zeitlichen Dinge und Ereignisse gefasst; in Kants Dichotomie zwischen dem unveränderlich-ewigen Intelligiblen und der wandelbar-zeitlichen empirischen Welt ist dieser Kontrast in Reinform gegeben.4 Weder bei Kant noch bei Fichte, bei welchen der Status der Zeit je systematisch eine bedeutende Rolle spielte, findet sich ein differenzierteres Modell als eine bloße Gegenüberstellung der Zeitlosigkeit des Intelligiblen zu „der“ Zeit.5 Zu Schellings großen innovativen Leistungen gehört es, dass er es demgegenüber unternommen hat, traditionelle Gegenüberstellungen von Zeit und Ewigkeit zu überwinden und durch ein den Herausforderungen einer Schöpfungsontologie angemessenes Begriffspaar – genauer gesprochen: durch einen hoch ausdifferenzierten Begriffskomplex – zu ersetzen. Allerdings hat Schelling hierbei auch einen langen und bis zuletzt unabgeschlossenen Entwicklungsweg zurückgelegt, bei welchem er verschiedenste historische Theorieangebote zur Fassung der Problematik von Zeit und Ewigkeit angewandt hat, um in einem ständigen work-inprogress in immer neu variierenden Konstellationen aus ihnen eine plausible Theorie zur Erklärung der Ewigkeit zunächst des Ich, dann Gottes in Relation zur zeitlichen Objektwelt zu entwickeln. 6 Schellings Zeittheorie ist als Versuch zu verstehen, die traditionelle Dichotomie zwischen einer Ewigkeit, in der keine Veränderung stattfindet, und der physikalischen Zeit der Ereignisse aufzubrechen und durch Alternativen zu ersetzen. Seine Motivation hierzu rührte aus der Einsicht, dass das Ewigkeitsmodell der Unveränderlichkeit zu großen Schwierigkeiten führt, wenn man es auf göttliches (und in der ewigen Tat einer freien Charaktergründung, wie sie in der Freiheitsschrift veranlagt ist, auch menschliches) Handeln anwendet, das als Handeln Veränderung und als göttliches Ewigkeit impliziert. Schelling formuliert dieses Problem, dass demnach in der Ewigkeit kein Handeln möglich sei, schon im ersten Weltalterentwurf (W 88). Um diese Aufgabe zu bewältigen, versucht Schelling die Zeitmodelle ei4   Vgl. Echternach 1972, Sp. 840–43. Und Wiertz 2016, 307, der als „klassische Auffassung der Ewigkeit Gottes“ den sogenannten theologischen Eternalismus bezeichnet, der sich mit Thomas v. Aquin (Summa theologia Ia q. 10 a. 1.) durch die Thesen auszeichnet, dass 1) die Ewigkeit Gottes keine zeitlichen Grenzen habe, und 2) es in ihr kein zeitliches Nacheinander, d. h. keine Veränderung gibt. 5   Hierzu Rohs 1996, 12. 6   Man kann dies wohlwollend als „Meisterschaft der Aufnahme und Anverwandlung unterschiedlichster Einflüsse“ (Nikolaus 1999, 11) beschreiben; weniger wohlwollend ist es schwer, darin nicht eine bloß eklektizistische Haltung zu statuieren, die ohne systematische Auseinandersetzung mit den entsprechenden historischen Modellen diese in der Hauptsache nur nach Maßgabe ihrer Passgenauigkeit in die entsprechende Schellingsche Systemstelle übernimmt.

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Kapitel 4: Zeit und Ewigkeit

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ner Zeit und Ewigkeit übergreifenden ‚großen Zeit‘ (SW XIII, 309), einer zyklischen Zeit (SW XIII, 274), eines organischen Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit (W 81 f.) und einer Zeitenfolge (SW XIII, 308). Parallel hierzu prüft er die Ewigkeitsmodelle einer strikten Zeitlosigkeit und einer Ewigkeit, die alle Zeit in sich enthält. Diese soll ihrerseits entweder augenblickshaft, wie in einem magischen Schlag (AA I,17, 154/SW VII, 387) vollendet sein, oder aber als ewige Schöpfungshandlung im Sinne der creatio perpetua (SW XIII, 323) gelten. In Relation auf die Zeit schließlich postiert Schelling diese Ewigkeiten mal an den Anfang, mal in die Mitte der Zeit, mal durch die Zeit hindurch und kombiniert dies zuletzt mit den Ideen einer eschatologischen Ewigkeit als Ziel der Geschichte, und der Idee einer Priorität der Zukunft, ja einer Zukunft ohne Vergangenheit vom Standpunkt der Schöpfung aus.7 Eine Rekonstruktion der Zeit- und Ewigkeitstheorie Schellings steht zudem unter der Schwierigkeit, dass Schelling nicht nur disparate Theoriemosaiken gebraucht hat, sondern dass sich auch in der Entwicklung seines Werks immer neue Ausführungen zur Zeittheorie finden, die teils das Vorhergehende bloß referieren, teils modifizieren, teils jedoch stillschweigend erweitern oder umändern. Es gibt demnach keinen locus classicus im Werk Schellings, der den gültigen Bestand seiner Zeitphilosophie enthielte, auch wenn die Weltalterentwürfe diesem Thema sicherlich das größte Gewicht einräumen. Hinzu kommt, dass auch der systematische Ort seiner Erörterungen zu Zeit und Ewigkeit unklar ist: transzendentalphilosophische, naturphilosophische, schöpfungsontologische und weitere Motive überlagern sich in ihr. 8 Daher ist es angezeigt, zunächst Schellings Auffassungen über die Begrifflichkeit der Ewigkeit entwicklungsgeschichtlich von der Frühphilosophie bis zu dem Punkt nachzuzeichnen, an welchem sich die zentrale systematische Figur einer doppelten Ewigkeit für die Spätphilosophie herausbilden wird.

  Es ist erstaunlich, dass es zu diesem großen, auch philosophiegeschichtlich gewichtigen Thema kaum einschlägige monographische Untersuchungen gibt. Eine Ausnahme bildet Wieland 1956, dessen Monographie zu Schellings Zeitphilosophie allerdings sehr einseitig aus der Perspektive Heideggers rekonstruiert und Nikolaus 1999, der wiederum auf die Weltalter-Entwürfe beschränkt bliebt. Wenn diese auch die wichtigste Grundlage für Schellings Zeitphilosophie bilden, ist doch zu sehen, dass es von hier aus in der Spätphilosophie weitere wichtige Entwicklungen gibt. 8   Zu dieser Einschätzung auch Adolphi 2004, 357 f. und 378. Adolphi selbst sieht in Schellings Zeittheorie „das zentrale Metathema“ seiner Philosophie (358). 7

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2) Die Entwicklung der Ewigkeitsproblematik bei Schelling In der ersten Phase seines Philosophierens hatte Schelling die Auffassung eines strengen Exklusionsverhältnisses von Zeit und Ewigkeit vertreten und diese bis zumindest 1806 beibehalten. In der Ich-Schrift von 1795 heißt es, dass „Ewigkeit im reinen Sinne des Wortes […] Sein in keiner Zeit“ (AA I,2, 130/SW I, 202) sei, und „gar keine Dauer“ (ebd.) habe. Im Würzburger System (1804) legt Schelling dar, dass Gott in seiner Ewigkeit „überhaupt kein Verhältnis zu der Zeit“ (SW VI, 158) habe. Entsprechend in der zweiten Auflage der Weltseele (1806), dass das „Ewige[.] im Widerspruch mit dem Nichtewigen“ (SW II, 364) stehe. Und noch in der Freiheitsschrift (1809) setzt Schelling Ewigkeit mit „Unabhängigkeit von der Zeit“ (AA I,17, 123/SW VII, 350) gleich. Schellings frühe Ablehnung allen Zeitbezuges der Ewigkeit war in der Hauptsache seinem Widerstand gegen die Auffassung geschuldet, Ewigkeit bedeute „ein Dasein von unendlicher Zeit“ (SW VI, 158). Dieser bereits in der Antike für die Ewigkeit Gottes abgelehnte Begriff der Ewigkeit im Sinne der „Ewigkeit der Dauer“ (AA I,2, 130/SW I, 202), lässt sich höchstens als der Begriff einer Ewigkeit der Welt anwenden, insofern „Dauer […] nur in Bezug auf Objekte denkbar“ (ebd.) ist.9 9   In der Patristik wurde diese Ewigkeit auch terminologisch von der ‚eigentlichen‘ unterschieden: die ewige zeitliche Dauer wurde als sempiternitas gefasst, als „Ewigkeit“ der Welt im Gegensatz zur aeternitas, der zeitlosen Ewigkeit Gottes (Beierwaltes 2010, 158). In der angelsächsischen analytischen Zeitphilosophie wird dieser Ewigkeitsbegriff als everlastingness im Gegensatz zur Zeitlosigkeit als timelessness bezeichnet (Runggaldier 2016, 287). Bereits Boethius nannte sie die Ewigkeit der geschaffenen Welt und kritisierte die Ansicht, diese Ewigkeit sei der Ewigkeit Gottes gleich (Boethius 2013, 142). Diese Ewigkeit als bloße Unbegrenztheit der Zeit entspricht auf temporaler Ebene dem, das Hegel „schlechte Unendlichkeit“ (GW 21, 129) genannt hat: der „Progress ins Unendliche“ als das bloße über jede mögliche Grenze Hinausgehen – und das in dieser Form im Kontrast zu einer echten Unendlichkeit begriffsgeschichtlich Karriere in Deutschen Idealismus gemacht hat (vgl. hierzu: Unger 2015, der Schellings Aufnahme der Hegelschen Figur allerdings im Begriff der „scheinbaren Zeit“ lokalisiert, welche darin besteht, dass sie im Gegensatz zur wahren, geschichtlichen Zeit weder Anfang noch Ende findet und so auch nie eine Einheit bzw. Ganzheit bilden kann (164–168). M.E. verfehlt Unger hier allerdings den Begriff der schlechten Unendlichkeit bei Schelling, da die scheinbare Zeit gerade nicht beansprucht, Unendlichkeit durch Übersteigung der Grenzen zu sein, sondern es ihr in der Diagnose Schellings in der Hauptsache mangelt, die Vergangenheit von sich abzugrenzen, also überhaupt eine Grenze zu setzen. Unger entgeht, dass Schelling einen dem Hegelschen entsprechenden Begriff als „empirische Unendlichkeit“ im § 80 des Würzburger Systems (SW VI, 232) diskutiert). Der wesentliche Kritikpunkt an der Vorstellung unendlicher Dauer scheint für Hegel in dem begrifflichen Widerspruch zu bestehen, dass zeitliche Dauer ein Relationsbegriff ist (da

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Diese Ewigkeit der Welt ist für Schelling aus mehreren Gründen auf Gott unanwendbar. Erstens ist nach klassisch platonischer Auffassung die Zeit die Form der wandelbaren (vergänglichen) Dinge, die Ewigkeit hingegen die Form des Immerwährenden. Würde die Ewigkeit Gottes in unendlicher Zeit bestehen, so unterläge auch Gott zeitlicher Sukzession. Wandel und Vergänglichkeit in Gott sind aber nicht denkbar, da diese mit der Negativität eines Übergangs vom Sein zum Nichtsein einhergehen und demnach seiner Vollkommenheit widersprechen. Zweitens ist der Begriff der unendlichen Dauer stets auf eine Grenze bezogen, auch wenn sie diese zugleich negiert. In den §§ 13 –16 und 80 der Würzburger Vorlesungen erläutert Schelling, dass es eine Bedeutung des Unendlichen als etwas gebe, das in dem Sinn nicht begrenzt sei, dass es sukzessive alle denkbaren Grenzen übersteige. Dies entspreche den Unendlichkeitsformen des Raumes und der Zeit, die sich quantitativ in unendlichen mathematischen Reihen darstellen lassen. Sie seien allerdings deswegen keine wahren Unendlichkeiten, da sie „durch bloße Addition von Endlichem zu Endlichem gesetzt“ (SW VI, 232) seien. Für Schellings gesamte Zeitphilosophie bleibt daher die Position bestehen, dass „der Begriff der Dauer […] von der Ewigkeit toto genere unterschieden“ (SW VII, 242) sei. Gottes Unendlichkeit hingegen ist für Schelling eine nicht-sukzessive, welche auf gar keine Grenze bezogen ist. Sie ist eine ideale, begriffliche Unendlichkeit, eine „Unendlichkeit, welche einem Wesen kraft seiner Definition […] oder Kraft seiner Idee zukommt“ (SW VI, 160). Zur näheren Charakterisierung dieser Ewigkeit optiert Schelling für einen streng atemporalen Ewigkeitsbegriff, wie er in der philosophisch-theologischen Tradition in der Vorstellung der Ewigkeit als Zeitlosigkeit gegeben war. Diese Ewigkeit ist nicht nur keine, die als Eigenschaft der Zeit gedacht werden könnte, sondern eine, die überhaupt keine zeitlichen Eigenschaften hat. In ihr gibt es weder Sukzession, noch eine Ordnung nach früher und später, weder eine Form des Dauerns, noch die der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.10 Positiv zeichnet sich diese Ewigkeit durch Seinsfülle und Einheit aus. So heißt es von der Ewigkeit des Ich in der Ich-Schrift: „Seine Urform wie für Aristoteles Dauer Messbarkeit an anderem beinhaltet), Unendlichkeit aber solche Relation negiert (hierzu: Ostritsch 2017, 51). Anzumerken ist auch, dass schon historisch die begriffliche Bestimmung der Ewigkeit von Anfang an in der Konkurrenz von Nichtzeitlichkeit und ewiger Dauer bestand. Theunissen (1991, 89–130) zeigt, dass mit der frühesten Seinsbestimmung als Ewigen bei Parmenides (Fr. 8.5–6a) schon der Streit der Interpreten einhergeht, ob damit Zeitlosigkeit oder ewige Dauer gemeint sei. 10   Vgl. Hennigfeld 1991, 80.

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ist die des reinen, ewigen Seins; von ihm kann man nicht sagen, es war, es wird sein, sondern schlechthin: es ist“ (AA I,2, 130/SW I, 202, Herv. Schelling). Mit dieser Konzeption der Einheit des Seins im Kontrast zur Vielheit des Seienden knüpft Schelling in Hinsicht auf die Zeit/Ewigkeits-Dichotomie an die platonisch-idealistische Tradition an. Einerseits übernimmt er damit fast wörtlich die Ewigkeitskonzeption Plotins, nach der die Ewigkeit ist, „was […] weder war noch sein wird, sondern nur ist“.11 Andererseits versucht Schelling dieses Sein wie Plotin als Vernunftewigkeit und Eigenschaft des Ideellen im Gegensatz zum Realen der erscheinenden Welt (SW IV, 388), zu deuten. Diese Art der Zeitlosigkeit gilt sowohl für Gottes Innenrelation als auch für sein Verhältnis zur zeitlichen Welt. Für die Innenrelation bedeutet dies: Die Einheit Gottes widerspricht der Vorstellung eines Werdens in Gott. In ihm bewegt sich nichts; „er ist das ewig gleiche ruhige Zentrum“ (SW VI, 160). Mit der Deklarierung einer strikten Zeitlosigkeit der Ewigkeit, die nicht nur in sich alle zeitlichen Eigenschaften negiert, sondern auch „ohne alle Beziehung auf Zeit“ (SW V, 375) ist, wird allerdings die Außenrelation problematisch. Denn es wird so jede Möglichkeit einer Vermittlung zwischen Zeitlichem und Ewigem systematisch abgeschnitten. Ein ewiger Gott und die zeitliche Welt würden darin ebenso wie ein ewiges Ich und seine zeitlichen Objekte nicht lediglich beziehungslos, sondern auch ohne jegliche Möglichkeit, diese Beziehungslosigkeit zu überwinden, bloß nebeneinander verbleiben. Diese Konsequenz ist allerdings unhaltbar für eine Philosophie, bei welcher das Ewige als Prinzip für die reale, zeitliche Objektwelt fungieren soll. Mit der Positionierung Gottes bzw. des Absoluten als zentralem Prinzip der Philosophie ab 1801, einhergehend mit seiner dynamischen Veranlagung als handlungsfähigem, persönlichem und lebendigem Wesen, wie sie spätestens mit der Freiheitsschrift 1809 vollzogen ist, wird daher das Problem virulent, unter welchen Zeitbedingungen und innerhalb welcher Zeit- und Ewigkeitskonzepte sich ein Handeln Gottes, wie Schelling es insbesondere für die Schöpfung ausdrücklich konstatiert, überhaupt denken lässt. Es ist klar: die traditionelle Dichotomie einer 11   Plotin 2010, 99. Man kann, wie Beierwaltes 2010, 39–42 und 172 die reine Selbstpräsenz dieses Ist gleichfalls als ‚zeitlose Gegenwärtigkeit‘, die keine Vergangenheit oder Zukunft, kein Zuvor und Danach besitzt, verstehen und als ‚unendliches Jetzt‘ beschreiben, wodurch ein wichtiger historischer Bezug zwischen Plotin, Augustin und Boethius aufgedeckt wird. Allerdings entspricht dies nicht der traditionellen Plotin-Rezeption, die dessen Ewigkeit als strikte Zeitlosigkeit ansah, die auch keinen Bezug auf ein Jetzt bzw. eine Gegenwart hatte.

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sinnlichen Welt im Werden vor dem Hintergrund einer unveränderlichen Ewigkeit als Zeitlosigkeit, ja strenger Zeitunbezüglichkeit Gottes reicht hierfür nicht aus. Eine strikt zeitlose Ewigkeit, so Schellings neue Einsicht, entspricht lediglich der Vorstellung eines Vernunftgotts in der Form eines platonischen Ideenraumes, den Schelling jetzt als „bloß logisches Abstraktum“ (AA I,17, 160/SW VII, 394) bezeichnet und dessen Bezug zur zeitlichen Welt maximal im Sinn der Emanationslehre als „ein ewig Ausquellen, Ausfließen“ (W 88) gedacht werden könnte. Ein Gott, der sich durch Leben, Bewusstsein und Handlungsfähigkeit auszeichnet, kann nicht in solcher Ewigkeit bestehen. Ein Gott, der handelt, muss zumindest Veränderungsbedingungen in sich haben, aus denen heraus erklärlich werden kann, wie ein Ereignis wie die Schöpfung zur ‚Ewigkeit‘ Gottes korreliert sein kann.12 Eine erste Neupositionierung in der Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Ewigkeit lässt sich in den Aphorismen über die Naturphilosophie von 1806 bemerken, in welchen Schelling im Einklang mit der Grundtendenz seiner sogenannten Identitätsphilosophie (1801–1807), Gegensätze zu vereinheitlichen, auch ein Einheitskonzept für Zeit und Ewigkeit darlegt. Statt strikter Zeitlosigkeit postuliert Schelling hier eine wahre Ewigkeit im Gegensatz zur bisherigen, nun als bloß abstrakte abgewerteten. Diese wahre Ewigkeit sei „nicht die Ewigkeit im Gegensatz zur Zeit, sondern die die Zeit selbst begreifende und in sich als Ewigkeit setzende Ewigkeit […] – nicht das Sein im Gegensatz zum Werden, sondern das Sein in der ewigen Einheit mit dem ewigen Werden“ (SW VII, 238 f.). Diese Erklärung, die Schellings vorherige Ansicht auf den Kopf stellt, steht im Zusammenhang mit Schellings Entdeckung der Zeitmodi, wel12   Vgl. zur Problematik einer zeitlosen Ewigkeitskonzeption Gottes: Mühling 2005, 158 und Jackelén 2002, 116. Systematisch folgt aus einer zeitlosen Ewigkeit Gottes, dass zwischen diesem und dem Menschen in beiden Richtungen kein kommunikativer Austausch stattfinden kann, dass Gott nicht personal, d. h., lebendig und individuell handelnd, ja auch nur am zeitlichen menschlichen Geschick teilhabend gedacht werden kann. Hinzu kommt noch das innertheologische Problem, dass die Vorstellung der Ewigkeit als Zeitlosigkeit aus dem Neuplatonismus, namentlich Plotins via Augustin in die Theologische Dogmatik eingegangen ist und keinesfalls eine biblische Vorstellung ist – die weder explizit zeittheoretische Erwägungen, noch einen strikten Dualismus von Zeit und Ewigkeit kennt (hierzu Jackelén 2002, 112 f.). In der gegenwärtigen Dogmatik wird sowohl an der Auffassung strikter Zeitlosigkeit der Ewigkeit Gottes festgehalten, als auch vehement für deren Aufgabe gestritten. Wie stark und nachhaltig auch einhundert Jahre nach Schelling für eine Aufgabe des atemporalen Gottesbildes gestritten werden musste, zeigt Karl Barth, der noch 1948 forderte, dass der theologische Ewigkeitsbegriff „aus der babylonischen Gefangenschaft des abstrakten Gegensatzes zum Zeitbegriff […] befreit werden“ (Barth 1948, 689) müsse.

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che in der Weltalter-Philosophie eine zentrale Stellung einnehmen werden. Bis dahin waren es nicht die Zeitmodi, sondern ihre Eigenschaften der Dauer, Sukzession und des Wechsels gewesen, welche Schelling im Einklang mit dem mechanistischen Zeitverständnis des 18. Jahrhunderts als Zeitcharakteristika im Gegensatz zur Ewigkeit gebraucht hatte. Eine erste Erörterung der Zeitmodi findet sich gleichfalls bereits in den Aphorismen von 1806. Dort referiert Schelling Grundzüge der Zeitlehre des Augustin, nach welcher Vergangenheit und Zukunft bloß minderwertige Aspekte der Zeit, lediglich subjektiv und illusorisch seien: „nicht anders denn die Zukunft ist auch die Vergangenheit […] bloß denkbar und lediglich Produkt der Imagination“ (SW VII, 239). Demgegenüber ist die Gegenwart als „die Einheit von Vergangenheit und Zukunft, Sein und Werden“ (ebd.) zwar eine lebendige Zeitform. Für sie gilt allerdings gleichsam, dass nicht im Realen der Natur, sondern lediglich „im abstrahierenden, d. h. vom realen absehenden Denken“ (ebd.) Realität habe. Die Zeitmodi bleiben so 1806 von einen gegenüber der sukzessiven Zeit in der Natur minderen Realitätsrang. Sie für real im Vollsinne zu halten, erzeuge, so Schelling, nicht mehr als ein falsches Scheinbild (vgl. SW VI, 232).13 Die Ewigkeit hingegen bleibt als solche, die die Zeit als Ganze in sich befasst, demnach von der Gegenwart der Dauer unberührt. Schelling fasst sie 1806 als Einheit des Augenblicks: sie ist „im Nu die Ewigkeit“ (SW VII, 215), „im Augenblick die Ganze“ (SW VII, 242); auch dieses Konzept der Ewigkeit des Augenblicks wird Schelling in das komplexe Konzept seiner späteren Zeitphilosophie integrieren. Immerhin zeigt diese Passage, dass Schelling 1806 bereit ist, seine bisherige Auffassung des Zeit-Ewigkeitsverhältnisses außer Kraft zu setzen und durch Alternativen zu ersetzen. Deren inhaltliche Entfaltung lässt sich in der Phase von 1809 –1815 sukzessiv anhand des zentralen Problems der Zeitlichkeit und Ewigkeit der Schöpfung verfolgen. In der Freiheitsschrift finden sich nicht mehr als knappe, konzeptionelle Bemerkungen, die erneut die Position der Frühphilosophie referieren. Dort erörtert Schelling die selbstkonstituierende Freiheitstat des Menschen und ordnet diese dem Bereich der Schöpfung und damit der Ewigkeit und nicht der Zeit zu. Diese Ewigkeit fasst Schelling hier wie in seinen Frühschriften noch als Unabhängigkeit von der Zeit: Die ewige Freiheitstat „fällt außer aller Zeit und daher mit der ersten Schöpfung 13   Die Ansicht, dass Vergangenheit und Zukunft nicht real seien, entspricht schon spätantiker Skepsis. Ihre Subjektivierung, d. h., ihre Zuordnung zu bestimmten Vorstellungsarten (der Erinnerung und Erwartung) von gegenüber der Gegenwart geringerem Seinsgehalt, vollzieht Augustin im XI. Buch der Confessiones.

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zusammen; [sie] gehört selbst nicht der Zeit, sondern der Ewigkeit an“ (AA I,17, 153/SW VII, 385). Diese Freiheitstat wie auch die Schöpfung selbst werden hierdurch mit der zeittheoretischen Schwierigkeit belastet, dass sie einerseits einer strikt atemporalen Ewigkeit zugerechnet werden sollen, andererseits als Handlungen dynamische Prädikate erfordern, die Zeitlichkeit nahelegen. In Schellings erläuterungsbedürftiger Formulierung einer „ewige[n] Tat“ (AA I,17, 131 und 153/SW VII, 359 und 386) wird diese Schwierigkeit offenbar. Man kann diesen Ausdruck, auch in Hinsicht darauf, dass Schelling sich in den folgenden Jahren intensiv mit der Zeitproblematik beschäftigt, daher weniger für eine Lösungsskizze als vielmehr für die Offenbarung des theoretischen Dilemmas halten: Wie muss eine Ewigkeit strukturiert sein, damit in ihr Handeln möglich ist? In ihr wird die Spannung ausgetragen, dass Schelling zu seiner Neufassung eines persönlichen, lebendigen Schöpfergottes noch keinen angemessenen Ewigkeitsbegriff entwickelt hat. In den 1810 gehaltenen Stuttgarter Privatvorlesungen entwickelt Schelling die Frage nach der Zeitlichkeit der Schöpfung am dort verfolgten Konzept einer Kontraktion Gottes als interner Schöpfungsvoraussetzung. Mit der Entfaltung der Schöpfungsontologie geht auch einher, dass eine strikte Unterscheidung eines temporalen Innen- und Außenverhältnisses Gottes (zu sich selbst bzw. zur Welt) nicht durchführbar ist: denn die Schöpfung ist eine Erzeugung der Welt aus Gott, so dass dessen Innenverhältnisse als Verhältnisse seines Wesens zur Welt und in der Welt unmittelbar wirksam werden. Schelling unternimmt es hier, die Zeitproblematik direkt aus der Dynamik des inneren Verhältnisses Gottes zu entfalten. Nach den Vorgaben der Freiheitsschrift besteht Gott in sich aus zwei Prinzipien (Potenzen), wobei er als ideales Geistwesen eine reale Seite in sich überwunden enthält. Zu einer Offenbarung in der Schöpfung muss Gott deren Gefüge aufbrechen und zur Unterscheidbarkeit bringen. Hierfür gebraucht Schelling in dieser Phase die der jüdischen Mystik entlehnte Idee einer Selbsteinschränkung oder Herablassung Gottes auf die erste, reale Potenz, durch welche ein Beginn der Zeit gesetzt wird: Vorher liegen die Potenzen in ihm in völliger Indifferenz der Ununterscheidbarkeit. Ebenso liegt die ganze Zeit implizite, als Einheit oder als Ewigkeit, in ihm. Dadurch, dass Gott sich freiwillig auf die erste Potenz einschränkt, […] macht er einen Anfang der Zeit (N[ota] B[ene] nicht in der Zeit)“ (AA II, 8, 84/SW VII, 428).14   Die Einschränkung, dass ein Beginn der Zeit nicht selbst wieder zeitlich sein darf, stellt das Grundproblem eines Anfangs der Zeit dar und darf als von Jacobi in die Diskus14

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Diese Beschränkung, erläutert Schelling weiter, ist allerdings in Ansehung des Wesens Gottes, das nicht eine, sondern die Einheit aller Potenzen ist, instabil. Daher entsteht durch die Kontraktion zugleich ein dynamischer Prozess des „Fortschreiten[s] von der ersten zur zweiten, und damit eine Zeit. Die Potenzen sind nun zugleich als Perioden der Selbstoffenbarung Gottes gesetzt“ (ebd.). Hiermit sind schon mehrere zentrale Elemente der Zeittheorie Schellings, die das Grundgerüst aller weiteren Zeiterörterungen bilden, ausgesprochen: 1) Fasst Schelling nun Zeit und Ewigkeit nicht mehr im Sinne strenger Ausschließlichkeit. Dabei transformiert er die 1806 zuerst formulierte Idee einer Einheit von Ewigkeit und Zeit dahingehend, dass die Einheit der Zeit in der Ewigkeit enthalten sei. Die in den Aphorismen über die Naturphilosophie abstrakt postulierte Idee einer Einheit von Ewigkeit und Zeit wird in die Schöpfung gelegt, in welcher sie sich dann in die Seiten der zeitlichen Welt und der göttlichen Ewigkeit ausdifferenziert. 2) „entsteht“ die Zeit der Sukzession in der Schöpfung, während die Schöpfung selbst nicht in der Zeit ist und es daher auch keine Zeit vor der Schöpfung gibt.15 Das Problem eines Anfangs der Zeit, der nicht in der Zeit sein kann, ist darin formuliert. 3) ist die in der Schöpfung entstehende Zeit ‚zuvor‘ in ewigen Wesen Gottes bereits enthalten und wird veräußert durch Trennung der Potenzen im Prozess des Nach-außen-Tretens des Wesens Gottes, d. h. der Offenbarung. 4) ist das ‚Zuvor‘ als Ausdruck dessen, dass die Zeit vor ihrer Entfaltung in die Sukzessivität der Ereignisse in Gott enthalten sei, nicht zeitlich zu denken. 5) werden aus der internen Folge der Potenzierung im ‚Leben‘ Gottes die Perioden der Geschichte, die dann als Weltalter bezeichnet werden (vgl. W 180). sion eingebracht verstanden werden. Bei Jacobi hießt es in der siebten Beilage der Spinoza-Briefe von 1789: „so ist auch die Veränderung in einer ewigen, in sich und durch sich allein bestehenden Intelligenz, einer Willensbestimmung in derselben, womit sie eine Zeit anfängt, vollkommen so unbegreiflich, als eine von selbst entstandene Bewegung der Materie“ (Jacobi 2000, 284). Schelling nennt den Abfall vom Absoluten 1804, die Differenz von Absolutem und Wirklichem, deren Form die Zeit sei (SW VI, 45); Cabezas 2017, 11 interpretiert dies bereits als nichtzeitliche Zeitsetzung. Carmo Ferreira 2012 weist zudem darauf hin, dass mit dem ewigen Anfang, dem Anfang in der Zeit und dem Anfang der Zeit selbst drei Vorstellungen des Anfangens in Schellings Konzept der Schöpfung in der Freiheitsschrift konvergieren. 15   Dass überhaupt mit der Schöpfung die Erschaffung der Zeit der geschaffenen Dinge einhergeht, dass also durch die Schöpfungstätigkeit Zeit entsteht, ist für Schelling selbstverständlich. Er nennt dies eine ‚gewöhnliche Redeweise‘ (vgl. SW XIII, 306).

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Mit der Ausarbeitung der Weltalterentwürfe zwischen 1810 und 1815 rückt schließlich für Schelling der bis dahin vernachlässigte, jedoch zentrale modale Aspekt der Zeit, ihre Eigenschaft, in den Formen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu erscheinen, ins Zentrum seiner zeitphilosophischen Erörterungen inklusive der Problematik einer angemessenen Fassung des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit angesichts der Schöpfungstat Gottes. Mit den Zeitmodi geht jedoch noch ein dritter traditioneller Ewigkeitsbegriff (neben der Zeitlosigkeit und der unbegrenzten Zeit) einher: die Ewigkeit aufgefasst als eine beständige Gegenwart, die keine Übergänge aus der Zukunft und in die Vergangenheit kennt16. Insofern Schelling jedoch, wie gesehen, jegliche Form der Dauer, auch die eines stehenden Jetzt (nunc stans) für die Ewigkeit ablehnt, muss er sich nun dreifach von den traditionellen Ewigkeitsbegriffen distanzieren; zusätzlich zur ewig dauernden Zeit der Welt und dem Plotinischen der Zeitlosigkeit nun auch zur Ewigkeitsvorstellung der ewigen Gegenwart: Die Metaphysiker stellen sich zwar an, als gäbe es einen von aller Beimischung der Zeitbegriffe völlig reinen Begriff der Ewigkeit. Sie mögen Recht haben, wenn sie von jener nach außen völlig wirkungslosen Ewigkeit reden, die gegen alles andere, wie wir gezeigt, als ein Nichts ist; von dieser ist der Begriff der Gegenwart so gut als der der Vergangenheit und der Zukunft ausgeschlossen. Aber sobald sie von einer wirklichen lebendigen Ewigkeit reden wollen, wissen sie nichts anderes, als dass sie ein beständiges Nun, eine ewige Gegenwart sei […]. Aber wenn sich keine Gegenwart denken lässt, die nicht auf einer Vergangenheit ruht, so auch keine ewige Gegenwart, der nicht ewige Vergangenheit zu Grunde liegt (SW VIII, 259 f.).17   Man kann die traditionellen Ewigkeitsbegriffe gemäß drei Hauptformen unterscheiden: Solche, die Ewigkeit als Zeitlosigkeit verstehen, solche, die Ewigkeit als Allzeitigkeit verstehen und Mischformen hiervon, die Ewigkeit als partielle Zeitlosigkeit oder partielle Allzeitigkeit verstehen. Unter diesen Mischformen ist die Vorstellung der Ewigkeit als dauerndes Jetzt (nunc stans), das nicht vergeht, kombiniert mit der Vorstellung, dass in diesem Jetzt die zeitliche Dauer der Welt enthalten oder zumindest epistemisch zugänglich ist, die wichtigste. Vgl. Mühling 2005, 154, der unterscheidet: 1) Ewigkeit als unendliche Zeit, 2) Ewigkeit als Zeitlosigkeit, 3) Ewigkeit als Allzeitigkeit – was aber systematisch unklar bleibt, insofern die unendliche Zeit selbst eine Art der Allzeitigkeit ist. Koch 2010, 84, unterscheidet die „landläufige Ewigkeit“ des in der Zeit Immerwährenden, die „mathematische Ewigkeit“ der Zeitlosigkeit und die „metaphysische Ewigkeit“ des nunc stans, der absoluten Gegenwart. Ein als zeitlose Ewigkeit verstandenes nunc stans findet sich zuerst bei Augustinus (Confessiones XI, XIV.18 = Flasch 2004, 251). Beierwaltes 2010, 170 weist allerdings darauf hin, dass es bereits bei Proklos die Vorstellung des Ewigen als „alles in dem Jetzt“ gebe. 17   Erst in der Georgii-Nachschrift zu den Stuttgarter Privatvorlesungen findet sich eine erste Erwägung zu einem Verhältnis der Zeitmodi zur Ewigkeit. Dort heißt es an16

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Beachtenswert an dieser Passage ist nicht lediglich die Selbstkritik hinsichtlich des abstrakten wirkungslosen Ewigkeitsbegriffs, den Schelling zuvor selbst vertreten hatte, sondern auch dies, dass Schelling die Figur des nunc stans, der ständigen Gegenwart hier nicht deshalb ablehnt, weil diese als Gegenwart oder Dauer zeitbehaftet ist, sondern deshalb, weil sie als Gegenwart ohne Vergangenheit unvollständig bliebe.18 Sondern die Schöpfung ist Erzeugung eines Wirklichen, in welchem seine Möglichkeiten enthalten sind.19 gesichts der Frage, welches Zeitbewusstsein nach dem Tode herrsche: „In jenem Leben, […] schauen wir Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich an: Vergangenheit und Zukunft als solche sind verschwunden, was war und was ist, schauen wir in gleichem Licht“ (AA II,8, 175). Diese Bemerkung ist insofern interessant, als Schelling hier die christlich-theologisch wirkungsmächtige Ewigkeitskonzeption des omni simul des Boethius skizziert, auf die er dann lediglich noch einmal zur Beschreibung der absoluten Ewigkeit Gottes zurückgreift. Boethius‘ Beschreibung der Ewigkeit ist: „Ewigkeit ist der vollständige und vollendete Besitz unbegrenzbaren Lebens“, was beinhaltet, dass ihm „weder etwas am Zukünftigen abgeht noch vom Vergangenen verflossen ist“ (Boethius 1990, 263); der erste Teil davon (aeternitas igitur est interminiabilis vitae tota simul et perfecta possessio, Boethius 1990, 262) galt dem gesamten Mittelalter als die paradigmatische Definition der aeternitas (Hierzu Beierwaltes 2010, 200). Die Ewigkeit Gottes ist also als ewige Gegenwart (nunc stans) ausgezeichnet, in welcher ihm Vergangenes und Zukünftiges epistemisch wie in einem momentanen Geschehen präsent ist (Gruber 2006, 396). Boethius expliziert die Differenz zwischen stehendem und beweglichem Jetzt der Sache nach in De Trinitate 4 (Boethius1988, 18), wenngleich Boethius selbst gar nicht die später kanonische und ihm zugeschriebene (schon Thomas v. Aquin, S. th.I q 10a. 2 ob. I, im 20 Jhd. z. B. Barth 1948, 689, selbst Ritter, Bd. 2, 841) Terminologie des nunc stans und fluens gebraucht, sondern vom „nunc permanens“ und „nunc movens“ spricht. 18   Bemerkenswert ist zudem, dass dies fast die einzige Stelle ist, an der Schelling sich überhaupt auf das historisch überaus wirkungsmächtige Modell der Ewigkeit als nunc stans bezieht. Dies mag historisch seinen primären Grund darin haben, dass die zeitgenössische Philosophie eher an linearen (B-reihigen) Zeitmodellen interessiert war, innerhalb derer sich in etwa die Newtonsche Physik formulieren ließ und die Zeitmodi weder zur Charakterisierung der Zeit, noch – wie im nunc stans-Modell – der Ewigkeit gebrauchte. Lediglich in einer exegetischen Fußnote zum von Paulus wiederholten Psalmisten-Wort „heute habe ich dich gezeugt“ (Ps 2,7; Hbr 1,5), bei welcher die Ewigkeit der Zeugung als „heute“ bezeichnet wird, bemerkt Schelling in Anknüpfung an die Tradition des nunc stans: „Man sagte nämlich, die Ewigkeit ist ein ewiges Heute, […] eine ewige Gegenwart ohne Vergangenheit und ohne Zeit“. Schelling lehnt dies aber als „eine ganz willkürliche Deutung“ (SW XIII, 330, Anm.) ab, da es einerseits keine biblischen Vergleichsstellen gebe, andererseits – und dies ist für ein Verständnis seiner Position relevant – der Ausdruck ‚Heute‘ auf die gegenwärtige Zeit verweise. Dies bedeutet, dass Schelling die Gegenwart immer als Zeitmodus sieht, nicht aber als (a-zeitlichen) Ewigkeitsmodus anzuerkennen bereit ist. 19   Vgl. SW XIV, 281: „Bloße Möglichkeiten aber werden nicht erschaffen, erschaffen

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Damit ist der Horizont umrissen, innerhalb dessen sich für Schelling selbst das Problem einer „ewigen Tat“, d. h. einer zeit- und welterzeugenden Schöpfungshandlung eines ewigen, doch lebendigen Gottes darstellt. Explizit als Problem hat Schelling dies innerhalb seiner Münchner Vorlesung Zur Geschichte der neueren Philosophie benannt. Demnach gilt entweder, dass das Geschehen der Tat in der Zeit sich vollzogen habe, wonach es auch eine Zeit gegeben hätte, welche vor dieser Tat gewesen wäre und in der Gott also nicht als solcher (sich offenbarender) gewesen wäre. Dies widerspräche jedoch dem allgemeinen religiösen Bewusstsein. Oder aber, „man leugnet, dass je eine solche Zeit gewesen, d. h. jene Bewegung, jenes Geschehen wird als ein ewiges Geschehen erklärt. Ein ewiges Geschehen ist aber kein Geschehen“ (SW X, 124). Die von Schelling angesichts dieser Problemlage diagnostizierte Lösung der Philosophie sei daher gewesen, den göttlichen Prozess als einen bloß illusorischen, als lediglich „eine Bewegung des Denkens“ (SW X, 125) aufzufassen. Für einen wirklich existierenden Gott, wie er in Schellings Philosophie veranlagt ist, bedarf es hingegen einer alternativen Lösung zur gegebenen Aporie. Das wesentliche Theoriestück zu ihrer Lösung besteht in Schellings Entwurf einer doppelten Ewigkeit Gottes – eben einer wirkungslosen und einer lebendigen –, das sich skizzenhaft schon in den Weltalterentwürfen findet und das Schelling mit seiner ersten Münchner Vorlesung von 1827/28 systematisch auszuarbeiten beginnt. 3) Die doppelte Ewigkeit Im ersten Weltalterentwurf entwickelt Schelling erstmals ein aufeinander bezogenes Begriffssystem zweier Ewigkeiten, von welcher die erste die plotinische Ewigkeit des absolut zeitlosen Seins bleibt, die zweite jedoch eine vermittelnde Ewigkeit ist, welche die Zeit nicht negiert, sondern in sich enthält. Diese Konzeption einer doppelten Ewigkeit wird Schelling von da an grundsätzlich beibehalten. In den Weltaltern nennt er den ersten Begriff ‚die Ewigkeit‘ und den zweiten ‚das Ewige‘. Dieses identifiziert er mit dem Schöpfergott, in welchen Schelling ja schon in den Stuttgarter Privatvorlesungen die Einheit der Zeit gelegt hatte:

wird nur das Wirkliche, das Konkrete – Aber allerdings mit jedem Wirklichen sind auch die Möglichkeiten mit zugelassen (ich sage zugelassen, also sind sie nicht Gegenstand der Schöpfung), aber sie sind als Möglichkeiten mit zugelassen, die nach der Hand, post actum, also nach der Schöpfung hervortreten können“.

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Das Wesen oder die eigentliche Kraft der Zeit liegt im Ewigen. Denn die urerste lautere Wesenheit ist nicht einmal als das Ewige anzusehen indem sie vielmehr die Ewigkeit selbst ist. In ihr ist auch nicht einmal eine Vorherbestimmung der Zeit, sie ist schlechthin über der Zeit. Aber das Existierende ist schon das Ewige; die Einheit, die in ihm ist, ist nicht mehr die lautere, stille, sondern die reale, die wirkende Ewigkeit. Denn in ihm sind bereits Vergangenheit Gegenwart und Zukunft verborgener Weise als Eins gesetzt (W 75).

Schellings Motivation zu dieser Differenzierung und Doppelfassung des Bereichs des Ewigen ist offensichtlich: einerseits möchte Schelling am traditionellen Ewigkeitsbegriff der Zeitlosigkeit festhalten, da gerade dieser über die Attribute des Unveränderlichen und Immerwährenden die höchste Einheit und Seinsfülle im Kontrast zu allem im zeitlichen Wandel Vergänglichen enthält. Zum anderen möchte er jedoch zugleich verständlich machen, wie das Zeitliche auf das Ewige bezogen sein kann und wie insbesondere in seiner Auffassung von einem persönlichen Schöpfergott die zeitliche Welt der Ewigkeit Gottes entspringen kann. Gott in einer zweiten, zeitbezüglichen Ewigkeit zu konzipieren, ist hierfür eine adäquate Lösung. Festzuhalten ist an diesem ersten Gedanken eines zweistufigen Ewigkeitssystems für das Weitere, dass 1) dem handelnden Schöpfergott die zweite, reale, mit der Zeit verbundene Ewigkeit zugeordnet wird und damit eine deutliche Abwertung der ersten, traditionellen, ‚lauteren und stillen‘, plotinischen Ewigkeit einhergeht. Und 2), dass der Schöpfergott als das Existierende und Ewige nun die Zeit in der Form der Zeitmodi enthält. War es in den Stuttgarter Privatvorlesungen noch die Sukzession gewesen, die Gott durch Kontraktion in sich erzeugt hatte, entfaltet Schelling nun eine ungleich reichere Zeit, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft enthält. Nur weil diese in ihm sind, ist er vermögend, die Zeit insgesamt zu erzeugen – und das heißt, eine Zeit und Welt zu erschaffen, die nicht nur das Charakteristikum der Sukzessivität und des Wandels beinhaltet, sondern auch die Zeitmodi als deren fundamentale Strukturen berücksichtigt. Mit seiner ersten Münchner Vorlesung System der Weltalter vom Wintersemester 1827/28 knüpft Schelling schon über die Wahl des Titels explizit an die Zeitproblematik der Weltalter an.20 Deren abschließende drei Vorlesungen enthalten Schellings ausführlichste zusammenhängende Abhandlung über Zeit, Ewigkeit und Schöpfung, wenngleich diese dort noch nicht die Form einer ausgearbeiteten, durchkomponierten Theorie

  Vgl. Peetz 1998, IX.

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angenommen hat, sondern deutlich die Spuren von Schellings noch unvollendeter Erarbeitung seiner Ewigkeitstheorie zeigt. In diesen Vorlesungen stellt sich Schelling der Aufgabe, den zeitlichen Modus der Schöpfung als eines Geschehens in und durch die Ewigkeit Gottes im Zusammenhang mit dem Problem eines Anfangs der Zeit (und eines zeitlichen Anfangs der Welt) erklärlich zu machen. Schelling greift dabei auf die im ersten Weltalterentwurf lediglich angerissene Unterscheidung zweier aufeinander bezogener Ewigkeiten zurück und versucht, diese in einer systematischen 3-Ebenen-Theorie von Zeit und Ewigkeit auszuführen. Damit soll zuallererst das Vermittlungsproblem von Zeit und Ewigkeit gelöst werden, das ja solange als unlösbar fortbestand, als die Ewigkeit einerseits als strikte Zeitunbezüglichkeit, andererseits als ontologisches Prius zu Zeit konzipiert war. In der Philosophie der Offenbarung formuliert Schelling deutlich das Problem, dass es zur Vermittlung von Zeit und Ewigkeit eines Mittelgliedes bedürfe, das an beidem partizipiere. Es sei, heißt es dort, notwendig, dass zwischen der Ewigkeit und der Schöpfung ein Interstitium, ein beide voneinander abhaltender, beide zugleich scheidender und vermittelnder Zwischenraum sei. Wenn man, wie es gewöhnlich ist, sagt, dass die Zeit erst mit der Schöpfung angefangen habe, so muss man demgemäß auch sagen, dass zwischen der absoluten Ewigkeit und der Zeit etwas in der Mitte sei, das sie zugleich trenne und verbinde. Dieses zwischen Ewigkeit und Zeit in der Mitte Stehende kann aber nur das sein, was noch nicht wirklich Zeit und insofern der Ewigkeit gleich ist, inwiefern es aber Möglichkeit der Zeit ist, insofern von der absoluten Ewigkeit unterschieden ist, aber doch in sich selbst noch keine Folge von Zeiten, also eine wahre Ewigkeit ist (SW XIII, 306).

Zur Bestimmung dieses Mittelgliedes, dessen Bedingungen Schelling hier präzise darlegt, insofern es zeitlich und ewig zugleich sein soll, steht mit der ersten Differenzierung zweier Ewigkeiten in den Weltaltern eine Ressource bereit. Hatte Schelling jedoch in den Weltaltern nur lose einen Unterschied zwischen einer stillen und einer realen Ewigkeit, welche die Zeitmodi enthalte und Gott in der Schöpfung charakterisiere, unterschieden, führt er jetzt in Gott selbst eine solche Unterscheidung zwischen einer zeitlosen und einer zeitbehafteten Ewigkeit detailliert und mit weitreichenden systematischen Folgen durch. Die erste Ewigkeit, die Schelling auch „reine“ (SW XIII, 320), „wesentliche“ (SW XIII, 308) oder „absolute Ewigkeit“ (SyWA 203) nennt, ist die Ewigkeit Gottes vor der Schöpfung. In ihr steht gemäß dem System der Weltalter Gott in Beziehung zur möglichen Schöpfung, während er in der Schöpfung in einer zweiten Ewigkeit in Beziehung zur wirklichen Schöpfung steht (SyWA 198). Die absolute Ewigkeit ist hier eine Ewig-

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keit, in welcher Gott die Schöpfung als Möglichkeit gegeben ist. Begrifflich zeichnet sich diese Ewigkeit nach bekanntem Muster durch strenge Zeitlosigkeit im Sinne strikter Zeitunbezüglichkeit aus und führt damit Schellings Ewigkeitsauffassung der Zeit vor 1806 weiter. Sie hat „keine Beziehung auf die Zeit“ (SyWA 203), womit Schelling meint, dass Gott weder von unendlicher Zeit21, noch mit „den aufeinanderfolgenden Momenten der Zeit parallel“ (SyWA 204) existiere, da seine Ewigkeit sonst dieselbe Art Ausdehnung wie die Zeit oder irgendeine Form der Dauer haben müsste. Schelling charakterisiert ihr Verhältnis zu Zeit als Koexistenz (SW VIII, 306 und XIII, 308), das sich daran zeigt, dass „sie durch die Zeit gar nicht berührt wird, sondern von der Zeit unangerührt durch die Zeit selbst hindurch unbeweglich bleibt und besteht“ (SW XIII, 308). Sie vereinigt in sich die klassischen Ewigkeitsmerkmale der Einheit, Stille und Unbeweglichkeit (vgl. Initia 115). Auch ontologisch beschreibt Schelling diese Ewigkeit im Sinne des Platonismus seiner Frühphilosophie als Ewigkeit des Idealraums der Gedanken. Der absolute Geist „ist eine ewige Idee, oder der Idee, der Natur nach ewig“ (SW XIII, 263), bzw. „der schlechthin einfache Gedanke, […], der nichts, was einem Geschehen, einem Vorgange ähnlich ist, in sich aufzunehmen vermag“ (SW XIV, 106 f.). In dieser stillen Ewigkeit wird Gott beschrieben als bloß theoretischer, vernehmender Geist, dem die gesamte Erscheinungsmannigfaltigkeit der Welt in „vorweltlichen Bildern“ (SyWA 199) offenbar ist. Für das „vorweltliche Bewusstseins Gottes“ (ebd.) gilt: „alle Dinge waren als ideale Vorstellungen, gleichsam als Visionen im göttlichen Bewusstsein; alle künftigen Dinge gingen ihm gleichsam wie in einem Gesichte vorüber“ (ebd.).22 21   In der abschließenden Vorlesung der Grundlegung der positiven Philosophie findet sich eine überraschende und scheinbar allen bisherigen Erklärungen in dieser Sache scharf widersprechende Passage, nach der „die reine Ewigkeit […] einer unendlichen Zeit gleich“ (GPP 486) sei. Der vermeintliche Widerspruch lässt sich aber m.E. zur Feststellung einer bloß hoch missverständlichen Formulierung mildern, wenn man die nachfolgende Erklärung betrachtet: „Gott ist ebenso ewig heute, als er es vor aller Zeit war“. Dann ist mit der vermeintlichen Gleichsetzung von absoluter Ewigkeit und unendlicher Zeit nicht gemeint, dass die absolute Ewigkeit Gottes selbst von unendlicher Zeit sei, sondern lediglich, dass sie sich in der zeitlichen Perspektive des Heute und Gestern nicht ändere, sondern mit allen Zeiten koexistent sei. 22   Hierzu zwei Anmerkungen: 1) Die künftigen Dinge gingen Gott in der absoluten Ewigkeit nicht als (zu-)künftige vorüber; denn sonst hätte Gott in ihr Zeitbezug, was nach Schellings Ewigkeitssystematik in dieser Fassung nicht sein darf. Um dieser Schwierigkeit zu entgehen, ordnet Schelling an anderer Stelle die Visionen Gottes der vorweltlichen Ewigkeit zu, welche er dort (SW XIII, 268) als „obwohl ohne Zwischenzeit eintretenden – der Ewigkeit unmittelbar

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Die zweite Ewigkeit in der Konzeption des Systems der Weltalter ist die Ewigkeit Gottes in der Schöpfung; diese ist zugleich das Prinzip der Zeit, wodurch die zweite Ewigkeit die Funktion der Vermittlung zwischen streng zeitloser Ewigkeit und der Zeit selbst erhält. Schelling kennzeichnet diese Ewigkeit durch den Ausdruck „von Ewigkeit“ und nennt sie ansonsten „die vorweltliche Ewigkeit“ (GPP 486 und SW XIII, 307) oder die „vorzeitliche Ewigkeit“ (SW XIV, 108): Dieser Ausdruck [‚von Ewigkeit‘] macht eine Grenzscheidung, wo auf der einen Seite die Ewigkeit ist. […] auf der anderen Seite […] kann nur das Prinzip der Zeit, die substanzielle Zeit sein; diese [ist] als von Ewigkeit, als Zeit, die selbst noch nicht Zeit ist (SyWA 203 f.).

Mit dieser Idee einer doppelten Ewigkeit Gottes versucht Schelling begreiflich zu machen, wie innerhalb der Ewigkeit Gottes Entscheidung und Tat zur Schöpfung sein können, wiewohl diese doch im gewöhnlichen Sinn nur innerhalb von Zeitprädikaten verständlich werden, bei welchen eine Zeit vor und nach der Entscheidung oder Tat zu unterscheiden wären. Eine Ewigkeit, in der es im zeitlichen Sinne eine Ordnung früherer und späterer Ereignisse gäbe, scheint aber unmöglich, da sie mit Sukzession, Wechsel und Dauer gerade die Zeitcharakteristika in die Ewigkeit einführen würden, welche diese im Kern von der Zeit trennt. Die Lösung des Problems einer scheinbar zeitlichen Differenz zwischen Gott vor und in der Schöpfung – und damit auch einer scheinfolgenden – Moment“ zu charakterisieren versucht. In der Perspektive des in absoluter Ewigkeit verharrenden Geistes würde eine Schau der möglichen Welten bedeuten, dass dieser simultan auf alle Inhalte seiner Geschichte bezogen wäre, welche ihrerseits (untereinander) zwar ein Ordnungsverhältnis haben könnten (eine atemporale Reihe, wie sie McTaggarts C-Reihe der Zeit entspricht (2007, 72 f.), jedoch kein Zeitverhältnis zur Ewigkeit Gottes, wie es der Ausdruck ‚künftig‘ nahelegt. 2) Schelling referiert hier erneut, ohne es beim Namen zu nennen, das traditionell Boethius zugeschriebene Modell des omni simul hinsichtlich der Zeitmodi. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden bei Boethius in der ewigen Gegenwart Gottes zugleich wahrgenommen. Allerdings ist Gott hier in keiner Gegenwart, sondern der Zeitlosigkeit und was er wahrnimmt, sind keine zeitlichen Ereignisse, sondern eine ideale vollständige nichtsukzessive Zeitreihe. Insofern Boethius diese Theorie im Zusammenhang mit der Frage nach der Freiheit des Menschen mit dem Vorherwissen Gottes entwickelt, ist diese epistemische Funktion explizit: Die Freiheit des Menschen kann für Boethius mit dem göttlichen Allwissen auch der Zukunft bestehen, insofern Gottes Ewigkeit keine (praktische) Vorherbestimmung bedeutete. Da es bei Schellings Ewigkeitskonzeption allerdings primär um Gottes Handeln in der Ewigkeit geht, ist Boethius‘ bloß epistemische Allgegenwart der Zeitmodi lediglich ein attraktives Angebot für die theoretische Perspektive der absoluten Ewigkeit Gottes vor der Schöpfung, nicht jedoch für die praktische Perspektive der vorweltlichen Ewigkeit in der Schöpfung.

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bar zeitlichen Differenz einer Ewigkeit vor und in der Schöpfung – besteht darin, dass Schelling Gottes doppelte Ewigkeit als „doppelte Relation“ (SyWA 202) zur Schöpfung interpretiert. Diese doppelte Relation besteht darin, dass Gott in modaler Hinsicht, „auf die wirkliche Schöpfung, oder aber auch auf die noch nicht ins Werk getretene, mögliche Schöpfung“ (SyWA 198) bezogen ist. Diese atemporale Doppelbeziehung kann Schelling als ein zeitloses, gleichsam ineinandergelegtes Gefüge zweier Ewigkeiten deuten, bei der die zweite der zeitrelationale Aspekt der ersten ist. Allerdings ist es diesen Ewigkeiten wesentlich, dass sie nicht substanziell verschieden sind, sondern nur zwei Aspekte desselben darstellen, da sonst Gott in zwei verschiedenen Ewigkeitsformen seine substanzielle Einheit verlieren würde. Hiergegen betont Schelling in der Fassung der ersten Münchner Vorlesung nachdrücklich, dass ein Unterschied „zwischen dem Sein, insofern es in dem göttlichen Willen steht und sich ihm als Möglichkeit darbietet und zwischen dem wirklich angenommenen und der Tat […] unmöglich“ (SyWA 202) sei. Dies hat zur Folge, dass „nichts anderes denkbar [sei], als dass dieses Sein, sowie es sich ihm darstellt, von ihm auch angenommen werde“ (ebd.) In der zeitlosen internen Relation dieser Ewigkeiten ist es nicht so, dass die Möglichkeit der Welt vor deren Wirklichkeit besteht, nicht logisch und schon gar nicht zeitlich.23 In dieser Frage, was die Möglichkeit der Schöpfung in Gott, welche zur Kennzeichnung der absoluten Ewigkeit gebraucht wurde, bedeute, und wie sie ewigkeitslogisch zu verstehen sei, lassen sich jedoch in Schellings Spätphilosophie zwei Entwicklungsstufen unterscheiden. Im   Hierbei muss eine einfache Missdeutung beiseite geräumt werden. Wirklichkeit und Möglichkeit verhalten sich zumeist so, dass etwas, das wirklich ist, zeitlich zuvor möglich gewesen ist. Wäre jedoch dies der Fall, dann hätten die absolute und die vorweltliche Ewigkeit Gottes eine zeitliche Relation und würden insgesamt ihren Ewigkeitsstatus verlieren. Zwei Ewigkeiten, von denen eine zeitlich früher ist als die andere, heben sich auf. Daher muss die Ewigkeit Gottes vor und in der Schöpfung so verstanden werden, dass Möglichkeit und Wirklichkeit der Welt logisch zugleich (aber nicht gleichzeitig) sind. Selbstverständlich gibt es zwischen beiden Ewigkeiten keinen zeitlichen Abstand. Der bloße Gedanke, führt Schelling in den Weltaltern aus, dass in Gottes Ewigkeit etwas zeitlich zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit der Schöpfung sein könnte, sei sinnlos (SW VIII, 306). Ihre Art, der vorweltlichen Ewigkeit vorauszugehen, ist nicht zeitlich, sondern logisch: die absolute Ewigkeit geht der tatsächlichen Schöpfung „nur in Gedanken voraus[…]“ (SW XIV, 108). Der entscheidende modalontologische Gedanke Schellings ist allerdings, dass die Möglichkeit nicht nur nicht zeitlich, sondern auch logisch nicht der Wirklichkeit Gottes und der Schöpfung vorangehen könne, sondern erst aus dieser Wirklichkeit folge, bzw. sich in ihr zeige. 23

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System der Weltalter ist die Möglichkeit der Schöpfung ohne weitere Differenzierung der Seite der absoluten Ewigkeit Gottes zugerechnet. Diese Möglichkeit ist hier bereits gegliedert in die zwei Aspekte einer bloßen Ansicht der möglichen Welt einerseits, in welcher in den Visionen Gottes vor der Schöpfung „in der göttlichen Imagination […] die Bildung der Geschöpfe gegeben [ist], vom Stein bis zum Menschen“ (SyWA 199), und andererseits in der „Möglichkeit des Wollens“ (SyWA 202) der Schöpfung. Beides zusammen steht im Kontrast zur Ewigkeit der Tat der wirklichen Schöpfung. Die weitere Einsicht das Spätphilosophie, dass es einerseits zu Gottes Freiheit gehöre, dass er die Schöpfung auch hätte unterlassen können, und dass andererseits bei Gott (der nicht willensschwach ist) Wollen und Handeln zusammenfallen, zwingt Schelling jedoch, weiter zwischen der bloßen Möglichkeit einer Schöpfung und der Möglichkeit des Wollens dieser Schöpfung zu unterscheiden, da sonst die bloße Möglichkeit einer Schöpfung schon mit der Wirklichkeit ihres Wollens und somit der Tat zusammenfiele. Das pure Möglichsein einer bloß theoretischen Welt, wie sie sich in den Visionen Gottes manifestierte, beschreibt so den Möglichkeitssinn der absoluten Ewigkeit, wird dann aber zusammen mit der Möglichkeit, die Schöpfung zu wollen, zur Modalform der vorzeitlichen Ewigkeit. Es hatte sich gezeigt, dass Schelling in der 13. Vorlesung der Philosophie der Offenbarung beschreibt, dass dem vollkommenen Geist Gottes zunächst zwar die Möglichkeit einer Welt erscheine, diese Möglichkeit aber zunächst den Status einer bloßen Erscheinung in der Zeitlosigkeit des göttlichen Geistes hat, eines Gesichts in der Art einer bloßen Phantasie, welche keinerlei Realisierungstendenzen mit sich führt. Und dass in einem zweiten Schritt von da an, da sich diese Erscheinung zudem als etwas erweist, das Gott selbst wünschen, beabsichtigen und hervorbringen kann, sie den Status einer praktischen Möglichkeit erhält, wodurch Gott erst zum Herrn der Schöpfung und damit in der Auffassung der Spätphilosophie zu Gott im eminenten Sinne wird. Dies legt eine Zuordnung nahe, nach welcher dem vollkommenen Geist in absoluter Ewigkeit theoretische Möglichkeiten der Welt (als Konfigurationen seiner selbst im Sinne der möglichen Stellungen der Potenzen in ihm) ansichtig sind, welche dann Gott als Schöpfer von Ewigkeit als praktische Möglichkeiten versteht. Allerdings gibt es für den Verlauf der von Schelling gezogenen Grenze zwischen diesen Ewigkeiten anhand der Möglichkeit der Schöpfung keine letztgültige Fassung. So heißt es einerseits zweideutig in der Urfassung, dass sich der „reine[n] Ewigkeit […] von Ewigkeit der zweite Moment an[schließt], wo sich ihm die Möglichkeit eines

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Seins außer ihm darstellt, das jedoch nur durch sein Wollen möglich ist“ (UF 160). 24 Andererseits legt Schelling in einer weiteren Fassung dieses Verhältnisses bereits die Visionen Gottes in die vorweltliche Ewigkeit, während von Gottes Seite in absoluter Ewigkeit lediglich sein vollkommener Geist, verstanden als in sich geschlossene Seinsfülle, verbleibt, die noch keinen, auch keinen internen Bezug auf eine Andersheit hat. Dies zeigt sich darin, dass Schelling die Visionen Gottes nun eindeutig als ‚zukünftige‘ bezeichnet, was nur in der vorweltlichen Ewigkeit möglich ist. Gott, heißt es schon in der GPP 448, gewahrt „alle möglichen Stellungen der Potenzen gegeneinander [und damit] zugleich die ganze Folge der möglichen zukünftigen Stellungen, das Vorspiel der ganzen künftigen Welt“. Zudem spricht Schelling mehrfach davon, dass die Urmöglichkeit der Schöpfung, die Gott als Gesichte sieht, „zwischen ihr [der Schöpfung] und der absoluten Ewigkeit […] in der Mitte“ (ebd.) liege. Hinzu kommt zuletzt, dass Schelling in der 14. Vorlesung der Philosophie der Offenbarung von dieser Möglichkeit sagt, dass sie einerseits „der erste Gegenstand des göttlichen Erkennens“ sei und sie andererseits „von Ewigkeit die Einförmigkeit seines Seins“ (SW XIII, 293) durchbreche. Entsprechend heißt es in der Anderen Deduktion: „Ewig ist das Sein, in dem Gott ist, sogar ehe er selbst es denkt. Gott selbst wird seine Ewigkeit erst gegenständlich im Ausgehen von ihr“ (SW XIV, 342). Wie es auch immer um die theoretische Möglichkeit der Welt und die Visionen Gottes bezüglich der Ewigkeit des absoluten Geistes bestellt sein mag, entscheidend für die Zwecke der gegebenen Untersuchung ist, dass Gott in der vorweltlichen Ewigkeit ein praktisches Verhältnis zur Schöpfung als Gegenstand einer möglichen Handlung einnimmt und in dieser zugleich der Bezug der Zeit der objektiven Welt hergestellt ist. Insofern mit dem urzeitlichen, die zeitliche Welt in ihre Wirklichkeit rufenden, möglichen Wollen zur Offenbarung die zweite Ewigkeit etabliert ist, ist sie auch eine, die „noch nicht wirkliche Zeit, aber doch schon mögliche Zeit“ (SW XIII, 307) ist und damit formal der Forderung eines Mittelglieds zwischen Zeit und Ewigkeit entspricht. Für alle Fassungen des Verhältnisses beider Ewigkeiten gilt, dass weder die beiden Ewigkeiten

  Dies lässt sich so auslegen, dass in der Ewigkeit ‚von Ewigkeit‘ die (theoretische) Möglichkeit erscheine, die Gott auch als praktische verstehen könne. Oder so, dass erst in der vorweltlichen Ewigkeit die Möglichkeit erscheine, die Gott als praktische verstehe (während die theoretische schon ‚zuvor‘ in absoluter Ewigkeit gegeben wäre). Eine solche Interpretation beließe den vollendeten Geist mit theoretischen Möglichkeiten der Welt als platonischen Ideen in absoluter Ewigkeit, wie dies SW XIII, 294 nahelegt. 24

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zueinander in einem zeitlichen Verhältnis stehen, noch in sich zeitliche Dauer haben. 4) Das Problem des Anfangs Mit der Statuierung der vorweltlichen Ewigkeit als eines Mittelglieds von Zeit und Ewigkeit ist allerdings noch nicht gezeigt, wie in der Schöpfung die Zeit aus der Ewigkeit der göttlichen Tat entspringt, ohne dass diese dadurch verzeitlicht würde. Schelling identifiziert dieses Problem mit der Aufgabe, eines der traditionell schwierigsten Zeitprobleme zu lösen, nämlich die Frage nach dem Anfang der Zeit. Dieses Problem eines Anfangs der Zeit ist für Schelling im Rahmen der traditionellen Theorie einer linearen gerichteten Zeit und eines mechanischen Ablaufs der Ereignisse in ihr unlösbar. Seine Lösung kann nur darin bestehen, dass zwar das Universum einen Anfang habe, „aber nicht einen Anfang in der Zeit: [denn] alle Zeit ist in ihm, außer ihm keine“ (AA II, 8, 90/SW VII, 431). Dabei fasst Schelling das bekannte, von Kant als erste Antinomie der reinen Vernunft formulierte Dilemma, dass das Statuieren eines beliebigen Anfangs als Grenze der Zeit die regressive Rückfrage nach einer Zeit vor der Zeit nicht stoppen kann, dahingehend auf, dass die Zeit des Anfangs zwar bereits nach Zukunft und Vergangenheit geordnet sein müsste, da dies zum Zeitbegriff gehöre. Andererseits jedoch dürfte der Zeitanfang eine Vergangenheit gerade nicht haben, da ein Anfang der Zeit eine bereits gewesene Zeit ausschließe (W 74 f.). Die Idee, die Schelling zur Lösung dieses Problems findet, ist die Setzung einer Vergangenheit durch Gott, und zwar einer Vergangenheit, die niemals gegenwärtig gewesen war: „Ein Anfang der Zeit ist also undenkbar, wenn nicht gleich eine ganze Masse als Vergangenheit, eine andere als Zukunft gesetzt wird“ (W 75).25 Diese verblüffende Lösung Schellings ist die Kombination dreier Schachzüge: Der erste ist, dass Gottes Setzung einer Vergangenheit mit dem Anfang der Zeit keine tatsächlich vergangene Zeit setzt, nichts also, das einmal gewesene, aber vorübergegangene Gegenwart wäre und das in linearer Perspektive die Zeitlinie über den Anfangspunkt in die Vergangenheit hinaus zu verlängern erlaubte. Die gesetzte Vergangenheit ist etwas, das erst mit dem Anfang der Zeit als Vergangenheit gegeben ist. Und dieses Etwas, das Schelling als Vergangenheit in den Anfang der Zeit setzt, ist, so der zweite Schachzug,   Explizit sieht Schelling darin auch „das einfachste Mittel“ (SW XI, 493), die Kantische Antinomie zu lösen. 25

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nichts neu von Gott Erfundenes, (keine spezifisch zum Zweck der Zeiterzeugung geschaffene Vergangenheit), sondern es ist seine eigene vorweltliche Ewigkeit, die mit dem Beginn der Welt zu deren semi-zeitlicher Vergangenheit wird. Der dritte Schachzug ist der, dass Schelling hierbei einen Perspektivenwechsel in Anspruch nimmt, in dem ex-post, aus der Perspektive der Welt, die vorweltliche Ewigkeit, sie sich ex-ante, vor der Schöpfung als Zeitlosigkeit präsentiert, als Vergangenheit erscheint. Die vorweltliche Ewigkeit ist also in dem Sinn semi-zeitlich, dass sie in der Ex-post-Perspektive der Zeit selbst eine zeitliche Erscheinungsweise hat, die sie in der Ex-ante-Sicht der Ewigkeit nicht besitzt.26 Die Ewigkeit Gottes bildet so aus der Ex-post Perspektive die Vorgeschichte der Menschheit und Gott in dieser Ewigkeit ex-ante den Grund, auf dem dann eine Gegenwart der Welt mit ihrem intrinsischen Vergangenheitsbezug möglich ist. Dieser konstruktive Gedanke Schellings wird noch deutlicher, wenn man ihn unter dem zweiten zeitlichen Zentralaspekt, der Sukzession, betrachtet. Denn zur Zeit im Vollsinne gehört neben ihrer Dimensionalität ihre Sukzessivität. Schelling benennt explizit beide Grund-Charakteristika der Zeit, die als solche auch bereits mit dem Anfang gegeben sein müssen. Einerseits gibt es „keine Zeit ohne Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ (SW XIII, 307), andererseits ist Zeit „nicht denkbar ohne ein Vor und ein Nach, ohne […] wirkliche Sukzession“ (ebd.).27 Dieser Aspekt der Nacheinanderfolge des Verlaufs der Welt besteht erst mit der früher-später Relation zweier Glieder, welche in einem bloßen vergangenheitslosen Anfangspunkt nicht gegeben wäre. Denkt man nun die vorweltliche Ewigkeit als Sukzessionsglied „A“ und die Zeit des Kosmos als zu ihr logisch folgende Sukzessionszeit „B“, so lässt sich mit Schelling argumentieren, dass   Klar ist hierbei, dass die Ausdrücke ‚ex-post‘ und ‚ex-ante‘ nicht ihrerseits zeitlich verstanden werden dürfen. Sie sind nicht Perspektiven von Zeiten, die früher oder später zu einem bestimmten Ereignis sind, sondern Perspektiven, die gleichsam simultan auf die ontologischen Bedingungen und Folgen dieses Ereignisses angewandt werden können. Schelling umschreibt sie mit den Ausdrücken „post actum“ oder „nach der Hand“ (vgl. SW XI, 293, XIV, 281) 27   Schelling benennt hier der Sache nach die zwei Charakteristika der Zeit, deren Verhältnisbestimmung für die Zeitphilosophie des 20. Jahrhunderts zur entscheidenden Aufgabe wurde. McTaggart (2007) hat für sie die technischen Ausdrücke einer A-Reihe (in der Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart in einander übergehen) und einer B-Reihe der Zeit (die nach Früher-später-Relationen geordnet ist) eingeführt, Heidegger z. B. hat sie als ekstatische Zeit der menschlichen Existenz unter dem Primat der Zukunft im Kontrast zur vulgären Zeit der Physik bezeichnet (GA I,2, 537–565 = Sein und Zeit §§ 79–81). 26

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die Zeit erst mit der Welt angefangen [habe], denn die Zeit fängt erst an mit A+B. Allein, es folgt daraus nicht, dass keine Zeit vor der Welt ist, denn eben, indem A+B gesetzt ist, wird A, das zuvor außer der Zeit war, selbst ein Element der Sukzession und also ein Element der Zeit (SW XIII, 307).

Die eigentliche Verbindung zwischen Zeit und Ewigkeit besteht nun darin, dass die Funktion von jenem Glied A, das „zuvor außer der Zeit“ war, durch die vorweltliche Ewigkeit Gottes in der Schöpfung übernommen werden kann. So verbindet sich Schellings Doppelkonzeption der Ewigkeit mit der Theorie des Anfangs der Zeit: die vorweltliche Ewigkeit wird in den Anfangspunkt der Gegenwart der Zeit als deren Vergangenheit gesetzt, wodurch die Zeit selbst sowohl ein ontologisches Fundament in der Ewigkeit, als auch Dimensionalität und Sukzessivität erhält.28 Dieser Zusammenhang erhält noch eine weitere systematische Dimension, wenn man ein weiteres Ewigkeitskonzept hinzunimmt, das Schelling gleichfalls der historischen Überlieferung entnommen und in seine Gesamtkonzept von Zeit und Ewigkeit zu integrieren versucht hat: die Ewigkeit des Augenblicks. Schelling fasst die Ewigkeit auch als Augenblick, da dieser das Hauptcharakteristikum der Zeitlosigkeit, die Negation der Dauer, enthält (In-

28   Dieser doch raffinierte Schachzug Schellings, über die Setzung einer vorweltlich-ewigen Vergangenheit einen Zeitanfang zu konstruieren, der einerseits zeitliche Folge ist, andererseits keine eigentliche Zeit vor diesem Anfang, und damit die gesamte Konstruktion einer großen Zeit der Weltalter ist allerdings einem schwerwiegenden zeittheoretischen Einwand ausgesetzt. Die Zeit besteht zwar, wie Schelling richtig bemerkt, sowohl aus Sukzession und der Verbindung der Zeitmodi. Deren Grundcharakteristikum besteht jedoch gerade darin, dass Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit ineinander übergehen können. Ein Ereignis ist nur dann sinnvoll als zukünftig zu bezeichnen, wenn es in eine zukünftige Gegenwart übergehen kann; ein gegenwärtiges Ereignis zeichnet sich dadurch aus, dass es dereinst vergangen sein wird; ein Vergangenes entsprechend, dass es einst gegenwärtig gewesen ist. Dieses Charakteristikum wird auch das ‚zeitliche Werden‘ (Bieri 1972, 16) bzw. das ‚Verfließen der Zeit‘ (Rohs 1980, 37) genannt. Mit der Konstruktion einer vorweltlichen Ewigkeit als einer Vergangenheit, die nie gegenwärtig gewesen ist, ist jedoch gerade dieser Wesenszusammenhang der Zeitmodi abgeschnitten. Immerhin ließe sich mit Schelling argumentieren, kann unter der vorweltlichen Ewigkeit Gottes als Vergangenheit des Menschen dessen Erinnerung an seinen Erzeugungsgrund verstanden werden und damit doch ein (augustinisches) Vergangenheitsmerkmal benannt werden. Entsprechend könnte man die Zukunft, die mit Schelling in der Dimension der großen Zeit keine zukünftige Gegenwart, sondern zukünftige Ewigkeit bedeutet (und als diese eben wieder nicht nunc stans, d. h. (zukünftig-) ewiges Gegenwarts-Jetzt, sondern bloße Zeitlosigkeit), als Modus der eschatologischen Erwartung auf der Seite des Menschen, korrespondierend zur Verheißung auf der Seite Gottes, verstehen.

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itia 105).29 Entsprechend gilt für das Wollen in der vorweltlichen Ewigkeit: zwar ist „die Möglichkeit der Kreatur […] schon von Ewigkeit in Gott als Möglichkeit“ (SyWA 198), aber er „verbleibt keinen Augenblick in dieser Ewigkeit“, die „nur ein Moment ist, eine Ewigkeit ohne Dauer“ (ebd.). Vom strikt atemporalen Punkt des „großen Augenblick[s] der Entscheidung“ (Initia 115) zur Schöpfung an ist so das zeiterzeugende zweite Ewigkeitsprinzip als „Grenze von Ewigkeit und Zeit“ (SW XIII, 309) situiert. Damit wird mit der Antwort auf das zeittheoretische Problem eines ersten Zeitpunktes auch die Antwort auf die Frage nach dem gesuchten Zusammenhang der Zeit mit der Ewigkeit Gottes gegeben. Die Ewigkeit Gottes, die außer der (sukzedierenden) Zeit ist, kann als ontologisch frühere der Schöpfung zum ersten, punktförmigen Glied der nach früher-und-später-Verhältnissen sukzedierenden Zeit werden, obwohl sie für sich betrachtet (ohne die spätere Schöpfung) überhaupt nicht sukzediert und somit auch nicht Teil der linearen Zeit ist. Aus der Position der Welt wird die vorweltliche Ewigkeit als Vergangenheit verzeitlicht. Aus der Position der Ewigkeit bleibt sie in sich zeitlos-ewiges Zeiterzeugungsprinzip. Sie ist erster Zeitpunkt als Grenze der Zeit, insofern sie sich als Ewigkeit des Augenblicks auffassen lässt. Mit der so konzipierten strikten Atemporalität der absoluten Ewigkeit   Vgl. hierzu auch Sollberger 1996, 315 ff., der zeigt, dass Schelling das Problem des Anfangs in den Weltaltern dadurch zu lösen versuchte, dass er diesen als zeitlosen Augenblick konzipierte. Das gegebene Argument erklärt die Herkunft der Auffassung einer Ewigkeit des Augenblicks sowohl historisch als auch bei Schelling. Dass der Augenblick als Zeitpunkt des Umschlags, der zwei Zeitphasen eines Ereignisses gegeneinander abgrenzt, selbst nicht zeitlich ist, stellt schon Plato im Parmenides klar (155e–157b). Der Schluss von der Zeitlosigkeit des Augenblicks auf die Zeitlosigkeit der Ewigkeit ist aber nur unter der Prämisse gültig, dass alles Zeitlose ewig ist. Bei Aristoteles in etwa, bei welchem das Nun des Augenblicks im Gegensatz zur Zeitdauer gleichfalls kein Teil der Zeit ist, gibt es keinen Schluss auf einen möglichen Status der Ewigkeit. Die ausdehnungslosen Zeitpunkte bleiben auf die Dauer bezogene Funktionen der Vermittlung und Unterteilung von Zeitphasen (Physik, 220a). Historisch kam dem Augenblick erst über seine Funktion als Jetzt-Punkt Ewigkeitsrang zu. Der nachantik kanonischen Fassung der Ewigkeit als bleibendem Jetzt, wie es von Plotin über Augustin zu Boethius gefasst wird, blieb das Problem der Zeitbehaftung, da es zwar keine Veränderung zuließ, aber als ständige Gegenwart doch eine Form von Dauer hatte. Bei Gilbert de Poreta wird daher aus dieser Form des ‚Jetzt‘ die zeitlich auf einen Nullpunkt der Dauer zusammengedrängte Ewigkeit des Augenblicks (hierzu: Beierwaltes 2010, 171); und eben dies nimmt Schelling auf, wenn er den problematischen Schluss von der Nichtzeit des Augenblicks zur „Nichtzeit oder Ewigkeit“ (Initia 106) macht, wodurch zuletzt der Augenblick selbst zur Form der Ewigkeit wird. 29

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steht auch eine der zentralen Thesen der positiven Philosophie, dass Gott die Schöpfung auch hätte zurückhalten können, nicht im Widerspruch. Denn die hierbei angenommene Situation Gottes vor der Schöpfung, in welcher es seiner Freiheit offenstand, sich zu offenbaren, oder die Schöpfung zurückzuhalten, muss gleichfalls nicht als zeitliche Phase verstanden werden, welche einer zeitlichen Entscheidung vorherginge. Sowenig die gegenteilige Vorstellung, die Schöpfung sei eine notwendige Emanation des Wesens Gottes kausal verstanden werden darf (so als gäbe es zuerst das Wesen Gottes als Ursache, dann die daraus entstandene Welt als Wirkung), so wenig darf die in Gott gelegte Freiheit zur Schöpfung als ein zeitlich ablaufender Handlungsprozess verstanden werden, bei welchem in etwa zuerst die Möglichkeiten erwogen würden und sodann eine Entscheidung getroffen und schließlich diese ausgeführt würde. Sondern die momentane Entscheidung gibt das (aus irdischer Perspektive) dauerhafte Gepräge der dauerhaften Tat der Offenbarung und ist in diesem Sinne immer mit dieser zugleich, d. h. logisches Element bzw. notwendige Bedingung ihrer. Gottes Entscheidung ist in diesem Sinne ein immer schon Entschieden-Sein als unwandelbares Charakteristikum seines Wesens. Erst der Inhalt dieses Entschiedenseins, die Schöpfung als raum-zeitliche Welt, innerhalb derer der Mensch geschichtlich existiert, ist selbst zeitlich. Die hierbei entstehende Frage, wie die Ewigkeit Gottes genau korreliert ist mit dem zeitlichen Verlauf der Welt, ist die Frage nach der Ewigkeit der Schöpfung nicht nur als Entstehungsgrund, sondern auch als Erhaltungsgrund der Welt. 5) Die creatio perpetua Wie ist der Zusammenhang von Zeit und Ewigkeit im Verlauf der Welt zu verstehen? Zunächst liegt es nahe, dass das Erzeugungsprinzip des Anfangs von Zeit und Welt auch das Prinzip der zeitlichen Fortsetzung der Welt ist, denn zum Wesen der anfänglich erzeugten Zeit gehört ja gerade die Dauer, d. h. die Fortsetzung ihrer zeitlichen Sukzession. Dadurch stellt sich jedoch die Frage, ob diese Fortfolge der Dauer mit dem Anfang von selbst gegeben sein soll, oder ob Gott für Schelling nicht nur als Erzeuger, sondern auch als Erhalter der Welt notwendig ist und wie entsprechend das Verhältnis der göttlichen Ewigkeit nicht nur zum ersten Zeitpunkt, sondern auch zur gesamten Zeitreihe der Welt gedacht werden muss. Die theologische Figur Gottes als Welterhaltungsprinzip, das auch Schelling verfolgt, heißt creatio perpetua (oder creatio continua) – fortwäh-

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rende Schöpfung.30 So legt Schelling wiederholt dar, dass die Schöpfung keine einmal abgeschlossene Tat sei, die bloß als erste Ursache am zeitlichen Anfang der Welt stehe, sondern dass sie zugleich auch der Erhaltungsgrund der Welt sei: „Jener Akt oder jenes Wollen, mit dem die Schöpfung anhebt, […] ist als ein bleibendes, immerwährendes und in diesem Sinn ewiges zu denken“ (SW XIII, 323).31 Die Schöpfung ist demnach zwar einerseits hinsichtlich des Anfangs der Welt, ex-post, ein vergangenes Geschehen am zeitlichen Anfang der Menschheit, andererseits jedoch bleiben ihre Strukturelemente dauerhaft die Schöpfung erhaltend bestehen. Die Aufgabe ist, systematisch zu sehen, inwiefern die hierfür in Frage kommende vorweltliche Ewigkeit, die ja im Gegensatz zur absoluten Ewigkeit zeitrelational und zeiterzeugend ist, sich als Konstruktionsprinzip der Schöpfung im Sinne der creatio perpetua denken lässt. Das Problem, das hierbei zeittheoretisch entsteht, ist, dass in einer immerwährenden Schöpfung die Ewigkeit als Prinzip der Zeit gewissermaßen mit der Zeit der Welt parallel gehen muss, so dass überhaupt die Rede von einer ‚dauer‘-haften, d.i. immer währenden Schöpfung die Rede sein kann. Andererseits darf dies aber nicht dazu führen, dass Gottes Ewigkeit nun doch als eine Form der Dauer aufgefasst wird. Sondern deren Beständigkeit muss darin bestehen, dass die Schöpfung als Akt Gottes ewiges a-zeitliches Prinzip bleibt, während lediglich die Schöpfung als Resultat dieses Aktes und ihre Abhängigkeit von ihrem Prinzip immerwährend in der Zeit sein kann. Die hierin sichtbar werdenden Schwierigkeiten einer dauerhaft-ewigen Schöpfung, deren Ewigkeit sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie nicht von der Art der Dauer ist, lassen sich mit Schelling nur dadurch beheben, dass man den Perspektivenunterschied berücksichtigt von der göttlich-ewigen Sicht auf die Dauer der Welt zur menschlich-zeitlichen Sicht auf die Ewigkeit Gottes. Dieser Perspektivenunterschied wurde bereits in Anspruch genommen, um zu verstehen, wie – nämlich ex-post – ein Zustand, der ex-ante, vor der Schöpfung als Ewigkeit zu verstehen war, als Vergangenheit aufgefasst werden konnte. Wenn vom Standpunkt der dauernden weltlichen Zeit die Schöpfung dauerhaft ist, d. h. alle weltliche Zeit umgreift, dann bedeutet dies nun gleichfalls nicht, dass die Ewigkeit selbst diese Zeitform der Dauer in sich tragen muss. So kann, da   Dass Erhaltung der Welt keine Selbsterhaltung, sondern eine fortgesetzte Schöpfung sei, ist traditionelles theologisches Gedankengut und findet sich in etwa bei Thomas v. Aquin, S.Th, 1q 104 a. 1 ad 4. 31   Vgl. z. B. AA I,17, 113/SW VII, 339, wonach die „Fortdauer [der Weltwesen] nur eine stets erneute Schöpfung ist“; entsprechend W 78 und 101, ebenso UF 163 und 167. 30

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zu aller irdischen Zeit die Ewigkeit ihr Erhaltungsprinzip sein soll, diese (vom zeitlichen Standpunkt aus) als der irdischen Zeit parallel gedacht werden: jede Sequenz weltlicher Dauer ist so von der Ewigkeit begleitet. Andererseits muss die Ewigkeit deshalb vom göttlichen Standpunkt aus nicht als der Zeit parallel und also dauerhaft gedacht werden, denn sie hat ja keine zeitlichen Prädikate, sondern kann als zur Zeit koexistierend dargelegt werden.32 Damit ist aber noch nicht die systematische Frage beantwortet, wie funktional ein Erhaltungszusammenhang der zeitlichen Welt durch eine zeitbezügliche Ewigkeit gedacht werden kann. Ein Modell, das Schelling hierfür anbietet, ist das der punktförmig zusammengedrängten Zeit, der Ewigkeit des Augenblicks, die einerseits die dimensionale Zeit in sich enthält und aus der andererseits im mathematischen Sinn die lineare 32   Die hierbei gegebene systematische Rekonstruktion eines Perspektivenunterschieds bewegt sich am Rande eigentlicher Exegese. Ob Schelling diese Interpretation mitgehen würde, ist zweifelhaft. Allerdings gibt es eine Passage in den nachgelassenen Fragmenten zu den Weltalterentwürfen, in denen Schelling selbst eben einen solchen Perspektivenwechsel zwischen Zeit und Ewigkeit erwägt. Zur Erläuterung des Begriffs eines „ewigen Anfangs“ führt er dort aus: „Man kann diese Bewegung als den Gegensatz der Ewigkeit die ewige Zeit nennen, nicht die unendliche, anfanglose, sondern vielmehr die ewig beginnende Zeit. […] Der Ewigkeit tritt also die Zeit als ein selbständiges Prinzipium entgegen; wollen wir genau reden, so müssen wir sagen, dass die Ewigkeit von sich selbst nicht ist, dass sie nur durch die Zeit ist; dass also die Zeit der Wirklichkeit nach vor der Ewigkeit; dass in diesem Sinn, nicht wie insgemein gedacht wird, die Zeit von der Ewigkeit gesetzt, sondern umgekehrt die Ewigkeit das Kind der Zeit ist“ (W 229 f.). Es mag allerdings sein, dass gerade das darin enthaltene Ergebnis nicht nur eines methodisch-perspektivischen Vorrangs der Zeit, sondern gar einer ontologischen Privilegierung derselben, Schelling dazu geführt hat, diesen lediglich skizzierten Gedanken nicht in die weitere Ausarbeitung der Weltalter zu integrieren. Zudem allerdings kann ins Feld geführt werden, dass Schelling selbst – womöglich versehentlich und ohne es zu bemerken – gelegentlich Formulierungen gebraucht, die zu einer dauerhaften Ewigkeit führen: Z. B. AA I,9.1, 89/SW III, 396 f., wo er in Bezug auf den ewigen, „außer aller Zeit“ stehenden Akt des Selbstbewusstseins schreibt, dieser „dauere […] immer fort“, obwohl Schelling wie gesehen, den Ausdruck der Dauer, auf die Ewigkeit bezogen, sonst strikt ablehnt. Auch der häufig von Schelling gebrauchte Ausdruck des „Immerwährens“ (vgl. XII, 42 und XIII, 323 f.) zur Charakterisierung der Ewigkeit impliziert Dauer und ist im Grunde nur aus der Perspektive des Zeitlichen auf das Ewige verständlich. Dies gilt in besonderem Maße für die Beschreibung der Selbstschöpfung Gottes in der Monotheismus-Vorlesung: Wenn ich, führt Schelling dort aus, „von einem Anfang des göttlichen Seins rede, [dann ist] hier nicht von einem äußeren, sondern von einem inneren Anfang die Rede […], der eben darum selbst nur als ein ewiger, d. h. als ein immer bleibender und immerwährender gedacht werden kann, […] als ein Anfang, […] der heute nicht weniger Anfang ist als er es vor unvordenklichen Zeiten war“ (SW XII, 42).

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Zeit als Mannigfaltigkeit der Jetzt-Punkte gebildet wird. Der Gedanke dieser Konstruktion lässt sich in vier Schritten entwickeln. Hierfür ist zunächst (1) zu berücksichtigen, dass Schelling die Nichtzeit der vorweltlichen Ewigkeit als Augenblick versteht, sodann (2), dass dieser Augenblick nicht nur als derjenige des Anfangs, d. h. der Grenze von der Nichtzeit zur Zeit aufgefasst werden muss, sondern auch als jeder mögliche Zeitpunkt innerhalb der sukzedierenden Zeit der Welt und dass (3) jeder solche Augenblick die Zeitdimensionen in sich trägt, wodurch zuletzt (4) durch die Verbindung aller Zeitpunkte zur Linie der linearen Zeit in diese auch die Dimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingehen. Schelling hat eine solche Theorie nirgendwo systematisch zusammenhängend vorgetragen. Aber alle diese Theoriebausteine sind bei ihm belegt, so dass sich die Figur der creatio continua auf der Basis dieser Theorieveranlagung rekonstruieren lässt. So hatte es sich gezeigt (1), dass Schelling die Ewigkeit unter anderem als punktförmigen Augenblick auffasst. Aus diesem Punkt lässt sich gemäß dem mathematischen Modell der Erzeugung der Linie aus dem Punkt als deren Grenze die lineare Zeit erzeugen. Die Zeit ist eine „Tätigkeit, die nur nach einer Dimension sich expandieren kann, aber jetzt auf einen Punkt zusammengezogen ist“ (AA I,9.1, 164/SW III, 466). Diese Dimensionierung der linearen (eindimensionalen) Zeit von einem Jetzt-Punkt aus verbindet sich nun mit (2) der Erwägung, dass in der Schöpfung ein Widerstandsprinzip enthalten sein müsse, das verhindere, dass die Ewigkeit der Vergangenheit sogleich in die Ewigkeit der Zukunft übergehe, d. h., dass sich die Welt bereits im ersten Augenblick ihres Entstehens wieder in ihrer Vollendung aufhebe. Im linearen Modell würde das bedeuten, dass der Anfangspunkt mit jedem möglichen Punkt der Zeitlinie zusammenfallen und die Zeit zurück auf ihre Punktform der Ewigkeit schrumpfen könnte. Daher müsse die Zeit in der Gegenwart „zurückgehalten, arrêtiert“ (SW XIV, 109) werden. Dabei gebe es, so Schelling, (3) in der Schöpfung ein „fortwährendes Ringen“, in dem „beständig“ und „in gewissem Grad“ (W 74) nicht nur die lineare Zeit, sondern auch die dimensionale Zeit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gesetzt seien. Hierdurch entstehe „in jedem Augenblick Zeit, und zwar als ganze Zeit, als Zeit, in der Vergangenheit, Zukunft und Zukunft dynamisch auseinandergehalten, aber eben damit zugleich verbunden sind“ (ebd.). Auf diese Weise bleibt (4) das zeiterzeugende Geschehen des großen Augenblicks der Entscheidung zur Schöpfung kontinuierlich in allen verlaufenden Zeitmomenten erhalten.33 Es ist dasselbe Prinzip,   Es bleibt allerdings zu beachten, dass das zeitrelationale Ewigkeits-‚Geschehen‘

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das den Anfang der Zeit setzt und die Struktur der Zeit erhält. Nur insofern die Zeitmodi gesetzt werden, ist ein Anfang der Zeit denkbar; nur insofern die Zeitmodi erhalten bleiben als entgegen gerichtete Dimensionen, welche das Zeitfeld aufspannen, bleibt die Zeit bestehen. Schelling nennt es treffend ein „polarisches Auseinanderhalten“ von Vergangenheit und Zukunft, durch das „jeden [!] Augenblick die Zeit“ entstehe (W 75). Polarisch auseinandergehalten wird diese Zeit von ihrem Mittelpunkt aus, d. h., von der Gegenwart als der Mitte zwischen Vergangenheit und Zukunft – einer Gegenwart allerdings, die als punktförmige keine Dauer hat und in diesem Sinne die Ewigkeit des Augenblicks in jedem Moment der sukzedierenden Zeit ist. Zusammenfassend: „Die Zeit [ist] in jedem Augenblick ganze Zeit; d. h., Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft […], die nicht von der Vergangenheit, von der Grenze, sondern vom Mittelpunkt anfängt und in jedem Augenblick der Ewigkeit gleich ist“ (W 80).34 Diese Mittelpunkte der Zeit lassen sich als die jeweilige indexikalische Gegenwart von individuellen Personen deuten.35 Auch dies ist in der Ewigkeit der Person Gottes angelegt; Schelling hat dies aber ebenso transzendentalphilosophisch für jedes mögliche Subjekt ausgeführt. Es ist dasselbe Modell, aus dem heraus Schelling die zeitrelationale Ewigkeit Gottes in der Spätphilosophie konzipiert, das bereits im System von 1800 zur Darstellung des zeitlichen Bewusstseins aus einem unzeitlichen, ursprünglichen Konstitutionsakt heraus gedient hat. Hier heißt es: Da durch das Selbstbewusstsein […] alle Zeit erst entsteht, so kann jener ursprüngliche Akt nicht in die Zeit selbst fallen; daher kann man […] so wenig sagen, es habe angefangen zu sein, als man sagen kann, es habe seit aller Zeit existiert, das Ich als Ich ist absolut ewig, d. h. außer aller Zeit (AA I,9.1, 88/SW III, 396). eben kein Geschehen und die ‚Entscheidung‘ keine Handlung im vollen Sinne sein kann, sondern es hier mangels Sukzessivität nur um Strukturmerkmale gehen kann, die sich im Geschehen der Welt wiederfinden lassen, und die gemäß der Zwei-Perspektiven-Interpretation aus der Sicht des Menschen die Erscheinung Geschehen oder einer Handlung annehmen können. 34   Vgl. schon Von der Weltseele, SW II, 365: „Das Wesen der Zeit ist überall Mittelpunkt, aber nirgends Umkreis. Jeder Augenblick ist daher von der gleichen Ewigkeit wie das Ganze“; das Zitat entstammt der der zweiten Auflage hinzugefügten Abhandlung über das Verhältnis des Realen und Idealen in der Natur von 1806. 35   Es gilt aber auch die subjekt-neutrale Lesart, nach welcher es zur Logik der Zeitmodi gehört, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht isoliert bestehen können, sondern in diesem Sinn immer die je ganze Zeit bilden. Vgl. Hennigfeld 1993, 415. Schelling selbst referiert im dritten Weltalterentwurf den Augustinischen Gedanken, dass vom Standpunkt der Gegenwart aus Vergangenheit und Zukunft weder im Vollsinn seiend sind, noch einfach nichtseiend (SW VIII, 302).

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Dieser zeitlose Augenblick lässt sich nach Schellings Modell von 1800 zugleich als die transzendentale Basis dessen verstehen, was ein empirisches Ich als Jetzt-Pol inmitten der Zeitreihe auffasst; der sekundäre Akt einer Selbstlokalisation in der Zeit als Jetzt-Setzung verdankt sich einem ursprünglichen absoluten Akt jenseits der Zeit.36 Erweitert man mit dem Schelling der Weltalter dieses grundsätzliche Modell um die Zeitmodi als Epochen, so gilt: In der Jetzt-Gegenwart jeden Augenblicks haben Individuen innerhalb ihrer kollektiven Gegenwartsepoche je ihre Vergangenheit und Zukunft. Auch für sie gilt so, dass sie nicht primär innerhalb einer bereits vorgegebenen Zeit existieren, sondern die Zeit in sich haben – jene Zeit, die sich von ihrer Gegenwart aus in die Vergangenheit und Zukunft ausfaltet und die ihrerseits erzeugt ist vom Brennpunkt der göttlichen Stiftung des ewigen Augenblicks aus.37 Insofern nun in jedem Augenblick die Zeit in dem Sinn vollständig enthalten ist, dass sie in der Form der ausgefalteten Zeitmodi darin gegeben ist, haben die Zeitpunkte (im Gegensatz zu den geometrischen Punkten der Mathematik) bereits Erstreckungstendenzen in sich, die sich zu einer kontinuierlich sich überlagernden stetigen Reihe verbinden lassen, welche dann das Phänomen der fließenden Zeit abbildet: Nur dadurch, dass die Zeit in jedem Augenblick die ganze ist und diese ganze stets der ganzen folgt, ist jene sanfte Stetigkeit zu begreifen, die man durch das Bild eines Zeitflusses auszudrücken suchte (W 80).

Diesen Zeitfluss der werdenden Welt charakterisiert Schelling dadurch, dass er selbst von immer gleichbleibender Form bei ständig wechselnden Inhalt ist: nur so kann es sein, dass die Zeit zugleich zu fliegen und zu ruhen scheint: „sie ruht, weil sie immer dieselbe = A ist, und sie fliegt, weil sie doch immer eine andere (nämlich ein anderes A) ist“ (SW XIV, 110   Klar ist: die Zeitsetzung kann selbst nicht zeitlich sein, da sie sonst ihr Resultat zur Voraussetzung hätte. Sie muss sich als eine Art performativer Akt verstehen lassen, bei welchem der Akt selbst dasjenige, das er hervorbringt, strukturell notwendig macht, d. h. die Bedingung für sich selbst mittransportiert. So setzt die Ich-Pol-Ewigkeit keinen Jetzt-Punkt in einer bestehenden Zeitreihe, sondern bringt eine solche im Zuge seiner Selbstsetzung erst hervor, innerhalb derer er sich dann als jeweiliges Jetzt, bzw. jeweilige Jetzt-Gegenwart lokalisiert. 37   Vgl. Schmied-Kowarzik 2015, 246. Andererseits lässt sich gleichfalls der als Ewigkeit konzipierte Augenblick auch für Individuen als Anfang der Zeit setzen – und damit als Anfangspunkt einer linear ihm folgenden Zeitreihe. Diese Auffassung passt mit Schellings organischer Auffassung zusammen, wonach auch in Hinsicht auf die Zeit die Teile (z. B. menschliche Individuen) ebenso wie das Weltganze 1) die Zeit in sich tragen und 2) die Ewigkeit des Augenblicks als Anfang der Zeit besitzen (vgl. Sollberger 1996, 316). 36

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Anm.). So kann es sein, dass die Zeit der Welt voranschreitet, und sich in ihr Epochen der (innerweltlichen) Vergangenheit und Zukunft ablösen, ohne dass sie selbst dadurch zu einer der Art nach verschiedenen würde. Auf diese Weise kann Schelling einerseits Heraklit Recht geben, dass die Zeit und alles in ihr ständig fließt (GPP 478) und daher von der Art radikaler Veränderung ist; und dennoch zugleich, wie sich zeigen wird, dem Prediger Salomo beipflichten in seiner scheinbar kontradiktorischen Einschätzung, dass es nichts Neues unter der Sonne gebe und der Weltlauf nur eine beständige Wiederholung des Immergleichen sei. Durch den beweglichen Inhalt der wechselnden Ereignisse in ihm ist der Zeitfluss ein immer anderer; durch seine Form immer derselbe.38 In Schellings Konzept der periodischen, organischen Zeit, die sich in die Weltalterabfolge ausbreitet, wird sich zeigen, wie sich die ewigkeitsbehaftete synchrone dimensionale Struktur der innerweltlichen Zeit über das organische Prinzip zuletzt wieder in der ewigkeitserzeugten Groß-Struktur der Weltzeit im Ganzen findet. Der äußere, die Welt im unabsehbar Großen diachron begrenzende Anfang erweist sich so als stehende Ewigkeit, die synchron im Unendlich-Kleinen eines jeden Punkt-Augenblicks die dimensionierende Zeit aufspannt und die Figur der creatio perpetua zeitphilosophisch rechtfertigt. 6) Periodisierung und Geschichtlichkeit: die Weltalter-Folge Mit der Ausarbeitung der Weltalterentwürfe entwickelt Schelling erst eine Geschichtsphilosophie im eigentlichen Sinne – eine Philosophie, die nicht nur den sukzessiven Ablauf einer immergleichen Zeit erläutert, sondern die Möglichkeit des grundsätzlich Neuen und damit grundsätzlich differenter Zeitalter erörtert. Dies geht einher mit dem Gedanken einer Periodisierung der Geschichte in voneinander abgegrenzten Epochen. Der entscheidende systematische Gedanke, der die historische Perspektive in einer zeitlichen Gliederung der Epochen mit der ahistorischen Perspektive der Ewigkeit Gottes und dem Gefüge der Potenzen als der ontologischen Momenten des göttlichen Geistes in dieser Ewigkeit verbindet und der die gesamte historische Philosophie der Mythologie und Offenbarung prägt, skizziert Schelling im ersten Weltalterentwurf: 38   Vgl. hierzu die doch erstaunliche Analogie zu Husserls späten Zeitkonzeptionen in den Bernauer Manuskripten, Hua XXXIII, 136: „Die Zeit selbst [hat] etwas immerfort Fließendes an sich, obwohl sie selbst ein Starres ist. Sie ist eben starre Identität im Fluss, und nichts ohne diesen Fluss oder neben diesem Fluss“.

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„Dieselben Stufen“, heißt es dort, „die sich in der Simultaneität als Potenzen des Seins betrachten lassen, erscheinen in der Sukzession als die Perioden des Werdens und der Entwicklung“ (W 24 f.).39 Diese zentrale konstruktive These nimmt bereits explizit den Perspektivenunterschied in Anspruch, nach welchem, was in Gott als simultan aufgefasst wird, aus der Sicht des Menschen sukzessive, im Werden sein kann. Sie bringt Schelling erst in die Lage, eine eigentlich dynamische Philosophie aus ihren logisch-statischen Bedingungen zu entfalten. Die Idee einer Offenbarung Gotts als einer Entfaltung seiner inneren, zeitlosen Momente in den geschichtlichen Prozess wäre ebenso undenkbar wie eine apriorische Wissenschaft der Geschichte, wie sie Schelling vorschwebt und bei der die Grundmuster ihrer Entwicklung aus letzten Prinzipien deduzierbar sein müssen, wäre nicht die Annahme einer Identität oder zumindest Strukturgleichheit der logischen und dynamischen Grundmomente gegeben. Die Dreizahl der Zeitmodi wird sich dabei bei zunehmender Entwicklung der Potenzenlehre im Spätwerk Schellings in die Dreizahl der Potenzen einfügen. Hinsichtlich der Entwicklung einer eigentlichen Geschichtsphilosophie war für Schelling hierbei zunächst die Einsicht ausschlaggebend, dass die Zeitmodi der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unabdingbarer Bestandteil einer Philosophie der Zeit und damit auch einer Philosophie der Geschichte sind. Schelling formuliert diesen Gedanken in geschichtlicher Hinsicht in Form einer Kritik an Zeittheorien, welche die Zeitmodi diskreditieren oder gar negieren. Eine bloß lineare, sukzessive Zeit sei ein „ungereimte[r] Gedanke [des] mechanischen System[s]“ (W 11). Und: „Wäre die Welt […] eine rück- und vorwärts ins Endlose auslaufende Kette von Ursachen und Wirkungen; so gäbe es im eigentlichen Verstande weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft“ (W 10 f.)40 und auch keine Geschichte, denn: „Wo Mechanismus ist, ist keine   Es ist klar, dass ein solches, aus Seinsprinzipien spekulativ entwickeltes Geschichtsbild einer empirischen Tatsachen- und Ereignisgeschichte diametral entgegensteht. Vgl. Neugebauer 2013, 193–207, der Schelling aber doch darin würdigt, dass er sich bemühe, „ein für eine sinnvolle Deutung geschichtlicher Ereignisse belastbares Kriterium aufzustellen“ (206). W. Jacobs weist zu Recht darauf hin, dass Schellings Geschichtsphilosophie den a-priorischen Versuch darstellt, die dem Prinzip des Werdens unterstellte Geschichte aus Vernunftprinzipien abzuleiten. Dabei muss er zugleich zeitlose Vernunftprinzipien und ein „Werden der Vernunft“ behaupten, das „vom puren Naturzustand in einen vollendeten Vernunftzustand“ (Jacobs 1975, 39) übergeht. 40   Es ist eine erstaunlich moderne Einsicht, die Theoretiker der Naturwissenschaft im 20. Jahrhundert wiederholt formuliert haben, dass der Zeitparameter t der Physik, in welchem die deterministischen Verlaufsgesetze formuliert sind, keine Zeitmodi kennen. Aus der Perspektive der positiven Naturwissenschaft folgt daraus, dass Gegenwart, 39

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Geschichte und umgekehrt, wo Geschichte ist, ist kein Mechanismus“ (SW I, 471). Da es aber umgekehrt die Zeitmodi in einem eminenten Sinn gibt, muss das bloß mechanische System der Welterklärung auch in zeittheoretischer Hinsicht falsch und eben dadurch eine Geschichte möglich sein. Eine strukturell immer gleiche Zeit, wie sie der Newtonschen oder Kantischen Auffassung entspricht, nach welcher die Zeit lediglich eine Form ist für die in ihr verlaufenden Ereignisse, von denen sie jedoch zugleich unberührt bleibt, nennt Schelling eine scheinbare Zeit. Sie ist unvermögend, sich selbst abzuschließen und in die Vergangenheit zu setzen: „Es bleibt ihr also nichts als eine Position ihrer selbst; und das Schema dieser scheinbaren Zeit ist A+A+A“ (Initia 160). Diese bloß formal zeitliche Bestimmung gebraucht Schelling direkt anschließend zu einer überraschenden Einschätzung: „in einer solchen bloß scheinbaren Zeit leben wir“ (ebd.). Diese merkwürdige Diagnose entnimmt Schelling dem alttestamentarischen Predigerwort Salomos, nach welchem „nichts Neues unter der Sonne“ (Pred. 1,9) geschehe.41 Schelling bezieht dies allerdings nicht auf eine bestimmte Epoche innerhalb der Weltgeschichte, sondern auf den Großkontext der Zeit der Welt im Ganzen. Denn die mit der Schöpfung gestiftete Zeit des Verlaufs der irdischen Menschheitsgeschichte ist grundsätzlich von der Art einer „bloß unablässigen Wiederholung einer und derselben Zeit“ (Initia 160), wenn man sie auf die Schöpfung als das ganz Andere zu dieser Zeit bezieht. Denn wenn das Universum bloß für sich betrachtet wird, dann gilt, dass dieses zwar alle Zeit (A) in sich habe, damit aber keine Abgrenzung zu einer andersartigen Zeit gegeben sei. Zur wahren Zeit bedürfe es jedoch der Ablösung der Zeiten, also die Sukzession eines zeitlich Ungleichartigen: „Die wahre Zeit ist die: A+B+C“ (GPP 89). Die Schöpfung, als Stiftung der innerweltlichen Zeit durch die Setzung der vorweltlichen Vergangenheit in ihrem Anfang, bringt eine solche ganz andersartige Zeit hinzu. Schelling ergänzt diese Folge einer vorweltlichen Vergangenheit und einer zeitlichen Gegenwart der Welt im Ganzen nun um eine nachzeitlich-ewige Zukunft, die gleichfalls nicht zeitlich sukzedierend ist, sondern „sich als zukünftige Ewigkeit verhält“ (XIV, 109). So reicht einerseits die zeitliche Welt nach Maßgabe des 90. Psalms „von Ewigkeit zu Zukunft und Vergangenheit keine Größen der Natur, sondern lediglich des subjektiven Bewusstseins sind. Vgl. v. Weizsäcker 1985, 48 f. 41   „Die alte Rede, dass nichts Neues in der Welt geschehe“ (W 120) gehört von den Weltaltern bis in die Spätphilosophie zum festen Repertoire Schellings in der Einschätzung der innerweltlichen Gegenwartszeit. Vgl.: SyWA 210, GPP 88 und 477, SW XI, 224 und XIV, 109.

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Ewigkeit“ (Ps 90,2). Andererseits lassen sich diese Ewigkeiten als Weltalter der Vergangenheit und Zukunft qualifizieren. Sol lassen sich die drei Zeitmodi Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft drei fundamentalen Epochen der als Heilsgeschichte verstandenen Weltgeschichte zuordnen: Die Vergangenheit als das Weltalter der vorweltlichen Ewigkeit der Schöpfung, die Gegenwart als die Zeit des Weltlaufs und der Realgeschichte der Menschheit in ihm, die Zukunft hingegen als die Ewigkeit der Apokalypse, des Eingangs der Menschheit in Gott. Alle drei Weltalter zusammen bezeichnet Schelling als „große Zeit“ (W 120, GPP 487, SW XIII, 309) oder „absolute Zeit“ (W 81, GPP 487) bzw. „ganze Zeit“ (W 81). Innerhalb dieser übergreifenden ‚großen‘ Zeit ist die Zeit der Welt als ganze geschichtlich, insofern sie auf dem tragenden Boden einer vorweltlichen Ewigkeit ruht, von der sie zugleich durch den Schöpfungsakt kategorial abgegrenzt ist. Diese Abgegrenztheit und damit auch Vollständigkeit der Zeit ist für Schelling auch eine Bedingung dafür, dass es überhaupt eine Philosophie der Geschichte, wie er selbst sie entwickelte, geben könne. Nirgendwo, so Schelling, finde sich „in dem, was sich bis jetzt für Philosophie der Geschichte gegeben hat, ein Gedanke, durch den ein wirklicher Schluss der Geschichte gegeben wäre“ (SW XI, 230). Seine apriorische Konstruktion der Weltalter hingegen gebe der Philosophie erst einen vollständigen Gegenstand der Geschichte und verhindere, „dass die Geschichte überhaupt keine wahre Zukunft hat, sondern ein Fortschritt ohne Grenzen [werde] – der oder aber eben darum zugleich sinnloser Fortschritt“ (ebd.) sei. Damit bleibt aber ein Problem für eine Philosophie bestehen, welche wie Schellings Spätphilosophie, auch die innerweltliche Geschichtlichkeit systematisch zu deuten versucht. Denn auf der Ebene des konstruktiven Status der Weltalterphilosophie, bleibt der Weltbegriff selbst ungeschichtlich; seine Geschichtlichkeit bezieht er lediglich aus Epochen, die außerhalb der Welt liegen.42 Daher bleibt die Aufgabe bestehen, zu zeigen, dass die strukturelle Geschichtlichkeit des Ganzen der Weltalter auch auf seine einzelnen Glieder, insbesondere jedoch die Zeit der Welt   Hierauf hat zu Recht Hutter 1996, 121 hingewiesen; ebenso ist Hutter darin zuzustimmen, dass der Neuansatz der Spätphilosophie als Versuch zu verstehen ist, dieses in den Weltaltern verbliebene Problem neu zu fassen. Allerdings bleibt der Ansatz dennoch idealistisch; Schellings Geschichtsphilosophie ist auch in der zweiten Münchener und Berliner Zeit primär „eine Theorie des geschichtlich zu sich kommenden Selbstbewusstseins“ (Halfwassen 2015, 388), und, da dieses theogonisch verfasst ist, d. h. in ihm sukzessive die sich entfaltenden Momente Gottes als Göttergestalten erscheinen, ist diese Geschichte dann primär Religionsgeschichte (Halfwassen 2015, 391). Und erst von dieser her ist dann die allgemeine, soziale, politische und kulturelle Geschichte zu deuten. 42

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und die menschliche Geschichte in ihr durchgreift. Dies lässt sich mittels Schellings Organismus-Gedanken der Zeiten, der ja als ein System der Weltalter im Titel der ersten Münchner Vorlesung erscheint, durchführen. Hierbei ist der Grundgedanke, dass die geschichtlichen Zeiten intrinsisch miteinander verbunden sein müssen: die Weltalter kleben nicht im losen Nacheinander aneinander. Sondern sie sind organisch aufeinander bezogen. Das Grundprinzip des Organismus liegt für Schelling in seiner spezifischen Teil-Ganzes-Beziehung begründet. Hier gilt, dass einerseits das Ganze kein bloßes Aggregat, sondern immer mehr ist als lediglich die bloße Summe der Teile und dass umgekehrt sich die Teile – holistisch – nicht ohne ihre Funktion und den Zusammenhang zum Ganzen, den sie innehaben, verstehen lassen. Und drittens gilt, dass sich das Verhältnis von Teil zum Ganzen in den Teilen wiederholt, so dass die Teile einen strukturellen Mikrokosmos des Ganzen enthalten, und in diesem Sinn „für sich selbst ein Ganzes, und nicht weniger als das Ganze“ UF 62) sind.43 Entsprechend gilt für die Zeit, dass sie „ein inneres im Großen wie im Kleinen immer ganzes und organisches Prinzip“ (W 84), sei, wodurch sich ein „System von Zeiten“ ergebe, bei welchem gilt: „jedes Glied dieses Ganzen ist eine eigene selbstständige Zeit“ (SW XI, 235).44   Vgl. z. B. AA I,17, 119 f./SW VII, 346. Den Organismus-Gedanke hat Schelling zuerst in der Naturphilosophie in Opposition zu einer mechanistischen Naturvorstellung gemäß der Newtonschen Physik entwickelt. Dort sind es folgende Hauptpunkte, die nach Schelling die organisch verstandene Natur auszeichnen: Die organisch verstandene Natur ist lebendig und dynamisch. Sie ist ursprünglich produktiv, d. h. selbsterzeugend. Dies kann sie nur, insofern sie einerseits Grund und Folge ihrer selbst ist und andererseits in ihr Prinzipien der Kraft, Hemmung und Überwindung wirksam sind, wodurch sich eine diskontinuierliche, stufenweise Entwicklung ergibt, welche nach immer höheren Organisationformen strebt, d. h. sich zunehmend zum Geist hin entwickelt (vgl. Gloy 2008, 47–55). Wesentliche Momente hiervon finden sich in Schellings Geschichtsphilosophie wieder. Ein biographisch interessanter Aspekt ist, dass Schelling mit einer organischen Naturauffassung schon sehr früh, nämlich in seinen Kindheitsjahren in Bebenhausen in Berührung gekommen ist, da der ebenfalls in Bebenhausen wohnende Tübinger Chemiker Carl Friedrich von Kielmeyer einerseits eine Theorie der organischen Natur entwickelt hat, andererseits mit Schellings Familie bekannt war; die Ähnlichkeiten zwischen Schellings und Kielmeyers organischer Naturauffassungen waren schon Zeitgenossen wie Cuvier aufgefallen (hierzu Mayer 2014, 222 f.). 44   In der historischen Entwicklung der Zeitphilosophie sieht Adolphi 2004, 360 f. (mit Anm. 6) in Schellings Idee eines Organismus der Zeit(en) nicht nur eine neue Perspektive seiner Zeitphilosophie gegeben, sondern eine radikale Änderung in seiner Phi43

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Das Organismusprinzip der Zeiten bestimmt demnach einerseits, dass jeder Zeitabschnitt, gleichgültig welcher Ausdehnung, von der Dimension der Ewigkeit bis zu der des Augenblicks, alle drei Zeitmodi enthält. Zugleich gilt, dass in der sukzessiven Fortfolge der Epochen die je spätere die je frühere als Vergangene enthält: „Weil also die Zeit im Ganzen und Großen wie im Einzelnen organisch ist, weil also jede folgende Zeit wieder die Einheit aller vorhergehenden ist: so reproduziert jede folgende Zeit die Werke der vorhergehenden, setzt sie aber als nichtseiend, als vergangen, d.i. als untergeordnet in Bezug ihre eigenen Hervorbringungen“ (W 87). In derselben Weise, wie dies durch eine Überordnung der Zeit im Ganzen gegen ihre Teile hinsichtlich der Vergangenheit geschieht, gilt es auch für die Zukunft: „Ginge ihr [=der einzelnen Zeit] nicht die ganze Zeit der Idee nach voran, so könnte sie diese nicht als zukünftig setzen, d. h., sie könnte sich selbst nicht setzen, indem sie ohne diese bestimmte Zukunft nicht diese bestimmte Zeit sein könnte“ (W 81).45 Das heißt, dass eine wahre und nicht bloß scheinbare Zeit je in ein Gefüge von Zukunft und Vergangenheit gestellt ist, welche sie in ihrer je eigentümlichen Charakteristik prägen; nur so können aufeinander bezogene Epochen entstehen, welche sich zugleich substanziell voneinander unterscheiden. Hierdurch ist gewährt, dass es auch innerhalb der Weltgeschichte eine Epochenabfolge, mithin geschichtliche Vergangenheit und Zukunft geben kann. Und ebenso ist auch erst hierdurch gewährt, dass das individuelle Bewusstsein Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kennt. Hierüber schließt sich die Argumentation: in der vorweltlichen Ewigkeit Gottes sind die Zeitmodi enthalten und bleiben als intrinsische Strukturen innerhalb der Modi der geschöpften, innerweltlichen Zeit: auch die kosmologisch beständige Gegenwart der Welt hat ihre geschichtliche, innerweltliche Vergangenheit und Zukunft; innerhalb dieser stehen wiederum die einzelnen Individuen unter allen drei Zeitmodi: Personen der geschichtlichen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden ihrerseits Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart kennen – und zwar sowohl als Perspektiven aus ihrer jeweiligen Gegenwart, als auch als Epochen ihrer Biographie – und diese wiederum individuell, kollektiv-historisch und in Hinsicht auf die Weltalter kosmologisch. Die eigentliche Geschichte der Menschheit kann demnach nicht in einer bloßen Abfolge von Ereignissen innerhalb einer homogenen, linearen losophie insgesamt eingeführt, von der aus „die ganze Struktur der philosophischen Theorie umgebaut“ (360 f.) wurde. 45   Vgl. hierzu Nikolaus 1999, 141–145.

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und unbegrenzten Zeit bestehen. Sondern die Geschichte gliedert sich in verschiedene Epochen, welche durch eine Zäsur voneinander getrennt und in sich von einer je verschiedenen Art sind; sie stehen, so Schelling je „unter einem ganz anderen Gesetz“ (SW XI, 234), das ihren Sinn stiftet und die Art der Ereignisse in ihr grundsätzlich charakterisiert.46 „Es sind wirklich und innerlich voneinander verschiedene Zeiten, in die sich für uns die Geschichte absetzt und gliedert“ (SW XI, 232). Demnach sind die Epochen zugleich Epochen der Entwicklung des kollektiven Bewusstseins, d. h. des zu-Bewusstsein-Kommens im Sinne der sukzessiven Ausdifferenzierung und Neukonfigurierung der Potenzen als prägender Instanzen des Bewusstseins der Menschheit. Innerhalb dieser je verschiedenen Bewusstseinsstufen der Menschheit ist das je epochal bestimmende Prinzip eine bestimmte Auffassung des Göttlichen. Deswegen ist der „Prozess, in den sich die Menschheit mit dem ersten wirklichen Bewusstsein verwickelt, […] wesentlich ein religiöser Prozess“ (SW XI, 243). Und von hier aus ist auch Schellings Auffassung begründet, dass die Mythologie nicht dem Bereich des Unwirklichen zuzurechnen sei, sondern selbst eine „natürlich sich erzeugende Religion“ (SW XI, 245) sei.47 So unterscheidet Schelling in der zehnten Vorlesung der Historisch-kritischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie eine geschichtliche Zeit von einer vorgeschichtlichen anhand der Völkertrennung. Die vorgeschichtliche Zeit wiederum teilt Schelling in eine absolut-vorgeschichtliche und eine relativ-vorgeschichtliche, wobei die absolut vorgeschichtliche die in sich stillstehende Epoche des goldenen Zeitalters ist, während die relativ-vorgeschichtliche der sukzessiven Völkertrennung mit der biblischen Sintflut und dem Turmbau zu Babel beginnt. Allerdings sind dies nur äußere Kennzeichen des inneren, eigentlichen religiösen Prozesses. So ist erst mit der vollständigen Trennung der Völker ein Status des Bewusstseins erreicht, in welchem einzelne Völker eine je eigene Form der mythologischen Religion fertig ausgeprägt haben können. Beispielgebend hierfür steht die griechische Mythologie mit dem Auftreten Homers, der auf der Basis einer bereits entstandenen Mythologie diese als eine geschichtlich entstandene darstellen kann. Dementsprechend ist der wahre Inhalt der vorgeschichtlichen Zeit „die Entstehung der formell 46   Mit Kasper 1965, 264 f. ist zu sagen, dass die Zeiten sich bei Schelling nicht primär quantitativ, durch ihre relationale Lage zueinander, unterscheiden, sondern qualitativ, durch ihre sie prägenden Inhalte. 47   Das heißt, der theogonische (göttergeschichtliche) Prozess ist nicht in erster Linie als religionsgeschichtlicher Prozess zu begreifen, sondern als innere Konstitution des historisch sich entfaltenden Bewusstseins; für Jacobs 2015, 346 zudem „als innergöttliche Konstitution und Leben“. Zur Fundierung dieses Gott-Bezugs siehe Kap. 5.

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und materiell verschiedenen Götterlehren, also der Mythologie überhaupt“ (SW XI, 233). Diese natürliche Entwicklung des religiösen Bewusstseins in abgetrennten und durch Zäsur auseinander hervorgehenden Zeiten wird überlagert durch das übernatürliche Geschehen der Offenbarung, welche in diesem Sinne das „höhere Geschichtliche“ (SW XIII, 195), nämlich das geschichtliche Wesen des Christentums, ist. Sowohl die mythologische Religion als auch die christliche sind durch reale Bewusstseinsvorgänge entstanden; beide bestehen für Schelling entgegen den Vorstellungen einer Vernunftreligion nicht in einem rationalen Verhältnis zu Gott, sondern in einem realen; im Falle der Mythologie kommt dieses Verhältnis durch die natürliche Entwicklung der Potenzen im kollektiven Bewusstsein der Menschheit und der ausdifferenzierten Völker zustande, im Falle der Offenbarung durch den übernatürlichen, aber wirklichen Vorgang einer „von menschlicher Vorstellung unabhängige[n], ja sie übertreffende[n] Tat“ (SW XI, 247). Der innere Zusammenhang zwischen heidnisch-vorchristlicher und christlicher Epoche – und damit zugleich zwischen der irdisch-mythologischen Zeitenfolge und der göttlichen Weltalterepoche, in welcher die Zeit der Welt insgesamt als die Zeit des Sohnes als des Herren der Welt verstanden wird – wird wiederum dadurch gestiftet, dass Jesus im vorchristlichen Bewusstsein präexistent ist: „er existierte als natürliche Potenz, ehe er als göttliche Persönlichkeit erschien“ (SW XI, 249). Zwei wesentliche zeittheoretische Aspekte der Vergeschichtlichung der Zeit müssen hier festgehalten werden; beide greifen auf die praktische Stellung des Menschen im geschichtlichen Kosmos durch: 1) Erhält die Zeit – und zwar gleichermaßen die große der Weltalter, die erd- und menschheitsgeschichtliche und die individuelle persönlicher Biographien durch die Epochalisierung eine Richtung.48 Die asymmetrische Anordnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bereits der Weltalter-Epochen erzeugt einen eindeutig und einseitig gerichteten Verlauf der linearen (kleinen) Zeit der Weltgeschichte. Das Rätsel der Herkunft des Zeitpfeils, der in etwa in der symmetrischen Verlaufsrichtung, 48   Wieland 1956, 35 sieht in dieser Art von Scheidung von der Vergangenheit den Grund der Ausrichtung der Zeit. Wieland überzieht allerdings die Interpretation dahingehend, dass er diese Ausrichtung einer Individualhandlung zuschreibt – wofür gute systematische Gründe sprechen mögen (z. B. Koch 2006, 526–32), was bei Schelling allerdings nicht in dieser Form angelegt ist. Im eminenten Sinn erhält bei Schelling die Zeit ihre Ausrichtung durch die Schöpfungshandlung und die Individualhandlungen können dann ihre individuelle und biographische Zeitstruktur entsprechend dieser strukturell bereits vorgezeichneten Ausrichtung durchführen.

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in der die empirischen Naturgesetze formuliert sind, nicht vorkommt, hat bei Schelling eine Antwort: Mit der Setzung des Anfangs der Zeit durch die vorweltliche Vergangenheit ist bereits gegeben, dass jede Zeit eine Vergangenheit hat, in die sie nicht mehr zurück kann. Und auch dies gilt kosmologisch, historisch und individualgeschichtlich gleichermaßen: Die Schöpfung kann nicht mehr in die vorweltliche Vergangenheit des Schöpfers zurück, die Weltgeschichte kann ihre vergangenen Epochen und Ereignisse nicht mehr auslöschen (sondern höchstens deren Spuren und Wirkungen tilgen) und jedes individuelle Bewusstsein ist sein vergangenes Erleben zur Erinnerung geworden, die sich weder tilgen noch zu neuem Gegenwartserleben reaktivieren lässt. 2) ist die Richtung des Zeitpfeils von der Vergangenheit in die Zukunft zugleich die Richtung eines beständigen Fortschreitens. Schon die erste Entstehung der Zeit durch Scheidung der Potenzen in Gott entspricht einer ersten Differenzierung d. h., eines ersten Verständlich- und Offenbar-Werdens eines zuvor Verschlossenen. Die Epochalisierung der Geschichte ist demnach ein Prozess zunehmender Ausdifferenzierung in stufenweise aufsteigenden Epochen.49 Der in diese Zukunft führende Zeitpfeil ist ein Vektor vom Schlechteren zum Besseren. Da dessen Ende in der Zukunft der großen Zeit zugleich die göttliche Endzeit der Wiederkunft bedeutet, ist die Richtung des Zeitpfeils nicht nur eine Ausrichtung der Zeitmodi zu einer Fortschrittsgeschichte, sondern zugleich eine Ausrichtung auf das Ziels der Geschichte; der in die letzte Zukunft weisende Zeitpfeil verweist auf das Eschaton, das letzte Ziel. Historisch beinhaltet dies den Optimismus, dass die Geschichte voranschreitet.50 Individuell, dass jedes Leben zumindest das Potential 49   Dies ist der Grund, weshalb Schelling prähumane erdgeschichtliche Epochen für solche erklärt, die es in einem eigentlichen Sinne nie gegeben hat. Paläontologische Funde von Fossilien, die auf Tierarten deuteten, welche schon vor der Menschheitsepoche wieder ausgestorben waren, widersprechen der Vorstellung eines historischen Fortschritts, zumal eines solchen, der auf den Menschen als Ziel der Schöpfung zugeschnitten ist. Für die Annahme von Katastrophen, wie sie Cuvier nahelegte, die zum Aussterben prähistorischer Arten führten, gibt es für Schelling „keine Rechtfertigung, sie sind sinnund zwecklos, wenn sie keine Beziehung auf den Menschen haben“ (SW XI, 499). Nach Schellings Ansicht sind die Ur-Zeitalter durch Gott erst nach der Gegenwarts-Epoche der Menschheit als deren Vergangenheit gesetzt worden (SW XI, 497); und das Mammut, dessen Fossilien aufgefunden worden, hat es so immer nur im Zustand des Fossils, nie aber als lebendiges Tier gegeben. 50   Einen solchen Geschichtsoptimismus hat Schelling schon früher explizit dargelegt. Vgl. AA I,9.1, 291/SW III, 592, wonach „im Begriff der Geschichte der Begriff einer unendlichen Progressivität liege“. Allerdings bezieht Schelling hier im System von 1800 den Fortschritt ausschließlich auf „das allmähliche Realisieren der Rechts-Verfassung“

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in sich hat, durch Erfahrung und Bildung, d. h. zunehmende Ausdifferenzierung, den in ihm strukturell angelegten Weg zunehmenden Verstehens voll zu entfalten.51 Schellings Diagnose, die Menschheit lebte in einer scheinbaren Zeit, lässt sich hierdurch relativieren. Die Zeit der Welt ist nur dann scheinbar, wenn sie nicht unter ihrem Bezug auf die Ewigkeiten der Vergangenheit und Zukunft gesehen wird, die sie eingrenzen. Schellings Diagnose erhält hierdurch eine Kritik an der kosmologischen und historischen Zeitauffassung und eine existentielle Komponente: insofern die dominierende Zeitauffassung des 18. und frühen 19. Jahrhunderts die Zeit lediglich unter ihrem Sukzessionsaspekt betrachtete, und sie demnach für eine homogene in beide Richtungen unbegrenzt fortfolgende Linie ansah, verfehlte sie die volle (Sukzession und Dimensionalität beinhaltende) Zeit, da die Dimensionalität der kosmologischen Zeit sich der Grenze ihres Anfangs in der Schöpfung und die Dimensionalität der geschichtlichen Zeit ihrer epochalen Zäsuren verdankte. Hierdurch – und dies ist der existentielle Aspekt – wird jedoch zugleich bereits im Ansatz die Möglichkeit verstellt, die je gegenwärtige Zeit durch Abgrenzung einer Vergangenheit zu einer vollen Zeit zu machen. Eine solche Abgrenzung ist für Schelling aber nicht nur historisch angemessen, sondern auch individuell möglich. Hierin zeigt sich auch das organische Verhältnis zwischen individueller Vita, geschichtlicher Epoche und dem System der Zeiten im Ganzen. Dabei gilt: jede explizit von der Gegenwart abgegrenzte Vergangenheit bildet eine Basis, eine Tiefenschicht, welche die je nachfolgenden Zeiten prägt. Hierfür gebraucht Schelling das der Paläontologie entnommene Modell von Schichten, bei welchen sich wie im Prozess der geologischen Sedimentierung in den tieferen Schichten die je fernere Vergangenheit in den Versteinerungen ablagert.52 Und dies gilt wiederum für die kosmologische Dimension der großen Zeit, für die irdische Kollektivgeschichte der Menschheit und für die Individualgeschichte gleichermaßen. Denn alle lassen sich je als eine Geschichte des (göttlichen, kollektiven oder individuellen) Bewusstseins auffassen, das dieses je durchläuft und bei welchem die je aktuelle Gestalt (AA I,9.1, 291/SW III, 593) als eigentlichem Gegenstand der Geschichte, während er für Moralität, Künste und Wissenschaften keinen historischen Fortschritt diagnostiziert. Der hier entscheidende Punkt ist allerdings, dass Schellings Betonung der Progressivität gegen eine periodische Geschichtsvorstellung, wie der Mendelssohns angelegt ist (vgl. AA I,4, 184/ SW I, 467). 51   Vgl. hierzu Florig 2010 52   Vgl. zur Entlehnung des Schichtenmodells der Zeit aus der zeitgenössischen Geologie erhellend: Wirtz 2018

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nur verständlich werden kann als Folge des historischen Prozesses, das dieses zuvor durchlaufen hat.53 Auf der Mikroebene des Individuums spricht Schelling davon, dass der Mensch im echten praktischen Entschluss seine Vergangenheit hinter sich lassen könne und sie eben dadurch erst als Vergangenheit im Vollsinne erhalte: „Der Mensch, der sich nicht scheiden kann von sich selbst, sich lossagen von allem, was ihm geworden, […] hat keine Vergangenheit oder vielmehr kommt nie aus ihr heraus, lebt beständig in ihr“ (W 119). Und dies, etwas als Vergangenheit zu setzen, das heißt, hinter sich zu bringen, sei die Voraussetzung dafür, dass der Mensch echte Zukunft habe als eine, bei der er etwas vor sich bringe (ebd.). Der Gedanke Schellings hierbei ist offenbar der, dass es dem Menschen ebenso wie Gott möglich ist, durch Trennung der jeweils biographisch bestimmenden Elemente in sich, d. h. im Gefüge des eigenen Geistes (entsprechend der Scheidung der Potenzen in Gott), ein den Gegebenheiten der biographischen Epoche angemessenes Dominanzenverhältnis der lebensbestimmenden Prinzipien zu erreichen. Der Auffassung, dass es grundverschiedene geistige Konstellationen sein können, unter denen die verschiedenen Sequenzen eines individuellen Lebenslaufs stehen können, entspricht die Aufforderung, diese auch explizit in sich den ihnen entsprechenden Epochen zuzuweisen. Wer einer vorübergegangenen Lebensphase nachhängt, wer nicht wahrhaben möchte, dass in ihm durch fortschreitendes Alter, Änderung des sozialen Umfelds, der körperlichen Konstitution usw. etwas Neues begonnen hat und sich noch immer so verhält, als würde die alte Zeit ungebrochen weiterbestehen, der, so Schellings tiefe psychologische Einsicht, kann sich den Gegebenheiten und Anforderungen seiner jeweiligen Gegenwart nicht angemessen stellen und sie nicht als volle Lebenswirklichkeit in sich aufnehmen. Wer sich von seinen vergangenen Lebensepochen nicht trennen kann, der bleibt in ihnen befangen und kann auch nicht fähig werden, diese durch Distanznahme zu erkennen. Denn 53   Der historische Prozess muss dabei nicht notwendig in einer zeitlichen Abfolge bestehen; so wie Schelling die transzendentale Rekonstruktion der Bedingungen des Bewusstseins im System des transzendentalen Idealismus als eine Aufdeckung der transzendentalen (aber nicht zeitlich sukzessiven) Geschichte des Selbstbewusstseins versteht (vgl. GPP 182 f.) lässt sich auch die Potenzendeduktion des absoluten Geistes in der Spätphilosophie oder die Dynamik von Grund und Existierendem in Schellings mittlerer Philosophie als atemporale Geschichte des göttlichen Bewusstseins verstehen; hierzu gehört auch die begriffliche Parallele, dass Schelling bereits die Stufenfolge der Geistkonstitution in der Transzendentalphilosophie einerseits als Potenzen (AA I,9.1, 330/SW III, 631), andererseits als Epochen (AA I,9.1, 92/SW III, 399) bezeichnet; vgl. Durner 1979, 155.

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„der Mensch [begreift] ein früheres Moment seines Lebens erst besser […], wenn er aus demselben gegangen ist“ (UF 31). Und dies geht einher mit der existentiell und handlungstheoretisch bedeutenden Einsicht, dass aus einem Innenverhältnis, das durch abgelebte Dominanzen der Vergangenheit getrübt ist, auch keine tiefgreifende Wandlung des prospektiven Lebensprogramms in eine erneuerte Zukunft hinein möglich ist. Erst wer seine Vergangenheit nach Maßgabe der ihn ihr jeweils herrschenden biographischen Prinzipien epochalisiert, das heißt abgegrenzt und in ihrer Herrschaft beschränkt hat, erhält – um in Schellings Bild der Sedimentierung zu bleiben – in sich eine feste Basis in Form eines vielschichtigen Grundes, auf welchem er seine jeweils gegenwärtige Epoche angemessen gestalten kann.54 Auf diese Weise bewährt sich auch beim Individuum die organische Vorstellung eines Systems einander ablösender Zeiten und zeigt in einem ersten Aspekt, wie Schellings kosmologische Veranlagung seiner Zeitphilosophie unmittelbar auf Sein und Handeln des Einzelnen durchgreift. 7) Die Zukunftsrichtung der praktischen Zeit Entsprechend zur Problematik der Vergangenheit stellt sich die Frage nach dem Status der Zukunft. Diese ist einerseits das absolute Weltalter der Apokalypse – diejenige nachzeitliche Ewigkeit, die sein wird, wenn die Gegenwart der Welt überwunden ist. Andererseits ist die Zukunft je ein genereller relationaler Zeitmodus, der das zeitlich Spätere von einer zeitlich früheren Gegenwart aus charakterisiert: Von jeder Gegenwart aus ist das Spätere zukünftig.55 Insbesondere stellt sich die Frage, inwiefern es berechtigt ist zu sagen, dass vom Standpunkt der vorweltlichen Ewigkeit aus die Welt zukünftig sei und was dies bezogen auf den Schöpfergott bedeute. Die besondere Schwierigkeit, die in dieser Frage 54   Dabei bleibt individuell und kosmologisch gleichermaßen bestehen, dass, wie Wirtz 2018 in einer Analyse des Schichtenmodells der Zeit überzeugend herausgearbeitet hat, „eine Epoche in einer anderen gewissermaßen präsent ist, d. h., dass ein bestimmtes Nachleben der vergangenen Epochen in einer zukünftigen Epoche ‚anwesend‘ sein kann, oder umgekehrt die Zukunft in einem früheren Moment präformiert sein kann“ (45). Aber es gibt auf dieser Basis – unter der Voraussetzung der Einsicht in diesen Zusammenhang – die je individuelle Möglichkeit, die Dominanz und Herrschaft der Vergangenheit zu brechen und zu relativieren. 55   Die Modalverhältnisse der Zeit lassen sich in Früher-später-Relationen übersetzen: So ist das zu jeder Gegenwart (auch der vergangenen) Zukünftige später; bzw. das zu jeder Gegenwart Spätere zukünftig, das Frühere vergangen. Vgl. Aristoteles, Physik, 223a.

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liegt, wird durch einen Vergleich mit der Konstruktion der Vergangenheit augenfällig: Die vorweltliche Ewigkeit wurde lediglich aus der Ex-post-Perspektive der bereits geschaffenen Welt zur Vergangenheit, so dass sie (ex-ante) vor der Schöpfung als Ewigkeit mit atemporalen Attributen aufgefasst werden konnte. Die Zukunft hingegen ist grundsätzlich die Zeitform der Ex-ante-Perspektive – bzw., sofern man versucht, die Perspektivität in der Schöpfung strikt zeitlos zu denken, die Perspektive eines ontologisch Vorgängigen auf ein ontologisches Posterius. Das heißt, die Zukunft müsste, sofern sie eine Relation zwischen der vorweltlichen Ewigkeit des Schöpfers und der zeitlichen Welt abbilden sollte, in der vorweltlichen Ewigkeit selbst situiert sein – was geradeheraus der Forderung nach Zeitlosigkeit dieser Ewigkeit (nämlich unberührt von den Zeitmodi zu sein) zu widersprechen scheint. Allerdings ist evident, dass die Schöpfung in der Perspektive Gottes vor der Schöpfung irgendeine Form eines Späteren mit sich führen muss. Dies ist bereits in Schellings Formulierung der vorweltlichen Ewigkeit enthalten.56 Andererseits ist klar, dass es sich hierbei um keine Form 56   Entsprechendes gilt bereits für die Potenzendeduktion: Insofern Gott als absoluter Geist die Antwort auf die ontologische Ausgangsfrage, was vor dem Sein sei, gewesen ist, ist umgekehrt das Sein in Hinsicht auf Gott ontologisch nachgeordnet. Die ontologische Grundfrage nach dem, was vor dem Sein ist, lässt sich sowohl als sachlogische Rückfrage in die Prinzipien und Gründe, als auch als eine zeitlogische Rückfrage in die zeitlich früheren Bedingungen der Schöpfung verstehen. Sachlogisch ist dasjenige, das vor dem Sein ist, als erstes Prinzip „nur in Bezug auf dieses Sein zu bestimmen“ (SW XIII, 204). Schelling benennt es demnach auch mit dem atemporalen Ausdruck dessen, das „über dem Sein“ (SW XIII, 240) ist. Vgl. SW XIII, 203: „Sie [die Philosophie] muss über dieses Sein, das wirkliche, gewordene, das zufällige hinausgehen können, um es zu begreifen“ (Hervorh. von Schelling). Und die Parallelstelle in der Urfassung, in der Schelling formuliert: „Die Philosophie will hinter das Sein kommen“ (UF 23, Hervorh. Vf.); diesen Ausdruck erläutert Schelling in der Berliner Einleitung: „hinter der Sache ist nicht das Sein, sondern das Wesen, die Potenz, die Ursache (dies alles sind eigentlich gleichbedeutende Ausdrücke)“ (SW XIII, 75 f.). Anzumerken ist allerdings, dass Schelling sich in Hinsicht auf diese Ausdrücke zwar explizit um terminologische Klärung bemüht, diese jedoch nicht durchhält. So merkt er einerseits ohne Angabe eines Kriteriums an, dass ‚hinter das Sein‘ nicht dasselbe bedeute, wie ‚über das Sein‘, sondern vielmehr dasjenige meine, das „jenseits des Seins ist“ (SW XIII, 76), wiewohl Schelling auch innerhalb derselben Vorlesung die Formulierung „über dem Sein“ zur Charakterisierung des Gegenstandes der positiven Philosophie beständig beibehält (vgl. SW XIII, 132, 236, 240). Andererseits versucht Schelling folgende Zuordnung: die negative Philosophie frage nach dem, das vor dem Sein sei, die positive nach dem, das über dem Sein sei; Schelling schränkt dies allerdings sogleich darüber ein, dass ‚über dem Sein‘ „in diesem Sinn allerdings auch vor dem Sein“ (SW XIII, 151) bedeute; entsprechend finden sich auch häufig Formulierungen, in denen Schelling ohne Differenzierungen von dem spricht, das „vor und über dem Sein“ (SW XIII, 211, 218, 246) zu denken sei.

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eines Früher-Später-Verhältnisses im gewöhnlichen Sinn handeln kann, da eine Zeit, welcher diese Form entspricht, noch gar nicht gegeben ist. Daher stellt sich die Frage, ob mit diesen Ausdrücken eines Vorgängigen und Späteren lediglich begriffs- und sachlogische Verhältnisse dargelegt sind, oder ob diese auch eine zeitliche Komponente, wenngleich von einer besonderen Art, mit sich führen. Mit Schelling ist dies in Hinsicht auf die Zukunft dahingehend zu bejahen, dass er Gott selbst Zukunft zuschreibt: Gott ist „im Anfang absolute Zukunft – der sein wird“ (SW XIV, 72). So ist die Interpretationsaufgabe die, das ‚Vor‘ so aufzufassen, dass sich eine zeitliche und eine ontologische Lesart ergeben, die einander bedingen. Dies ist dann möglich, wenn auch die spezifische Zukünftigkeit, unter welcher die Schöpfung steht, in der Ewigkeit der Schöpfung prinzipiert ist. Das Strukturprinzip hierfür ist mit Schellings Veranlagung der doppelten Ewigkeit gegeben. Die absolute und die vorweltliche Ewigkeit sind von Schelling ausdrücklich atemporal konzipiert, so dass, was darin strukturell an früher-später-Bezügen aufweisbar ist, an-sich lediglich Vor- und Nachrangigkeit im ontologischen Konstituentengefüge des göttlichen Geistes bedeuten kann. Allerdings ist ein Teil dieser ontologischen Vorrangigkeit die vorzeitliche Ewigkeit in Relation zur ontologisch späteren Zeit, die ihrerseits im Schöpfergeist enthalten ist, ohne jedoch diesen zu konstituieren. Die ontologisch spätere Zeit zeigt sich so als ein Relat einer ontologischen Zeit-Ewigkeitsbeziehung, die nicht selbst in der Zeit spielt. Insofern Schelling nun das ontologische Später der Schöpfung als Zukunft im zeitlosen Geist Gottes bezeichnet, lässt sich diese ‚Zukünftig-

Zeitlich hingegen wird die Formulierung ‚vor dem Sein‘ dadurch charakterisiert, dass was vor dem Sein ist, „in Bezug auf [das] Sein aber ganz Zukunft [ist;] es ist das noch nicht Seiende, aber das sein wird“ (SW XIII, 204). Entsprechend lassen sich die von Schelling zur Beschreibung des Verhältnisses des Seins zu seinen Prinzipien gebrauchten Ausdrücke „später“ und „nachher“ (vgl. SW XIII, 211) auch zeitlich, d. h. in dem semi-zeitlichen Sinn, in welchem diese Ausdrücke als Relate innerhalb der Ewigkeit auftreten können, interpretieren. Diese Doppeldeutigkeit ist im Begriff des ‚Grundes‘ auch in der Dialektik von Grund und Existierendem in der Freiheitsschrift zu bemerken. Vgl. Hutter 2004, 85, der bemerkt, „dass sich Schelling in der Freiheitsschrift immer wieder dazu anschickt, die begriffs- und raumlogische Rede vom ‚Grund‘ auf eine zeitliche Logik hin zu überschreiten, in der der ‚Grund‘ zu einem Früheren wird, das einer späteren Gegenwart ‚zu Grunde‘ liegt“. Dies hat dann zur Folge, dass das Grund-Existierendes-Verhältnis sowohl als ursprünglich zeitliches interpretiert wurde (Wieland 1954, 68) als auch als ein strikt unzeitliches, insbesondere a-kausales, logisches (Fuhrmans 1950, 85 f.).

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keit‘ des absoluten Geistes als eine „ontologische Intentionalität“57 verstehen, als die Ausrichtung seines Geistes auf die zeitliche Welt, welche seins- und zeitstiftend ist, indem die Zeit des Weltlaufs überhaupt erst mit dieser ‚ins Sein kommt‘.58 In Relation auf die Ewigkeit ist das Später der Zukunft keine spätere Zeit im Verhältnis zu einer früheren Zeit, sondern das ontologische Später der Zeit im Verhältnis zur Nichtzeit der Ewigkeit. Daher zeigt sich diese Zukunft als ein Zeitverhältnis ganz anderer Art im Vergleich zu ihrem Status innerhalb der Zeit der sukzedierenden, in Früher- und Später-Zeitpunkte einteilbaren Welt der geschaffenen Dinge, in welcher ‚zukünftig‘ bloß das Spätere zu einem gegebenen Jetzt in einer je gegebenen Gegenwart bedeutet. Dass die Schöpfung im absoluten Geist zukünftig möglich ist, dieser jedoch keinen Zeitbedingungen unterliegt, heißt so viel wie: die Zukunft ist ursprungsidentisch mit der Möglichkeit der Schöpfung. Es gibt nicht zuvor eine Zukunft, in der für Gott alle zukünftigen Ereignisse (unter anderem die Schöpfung) sein können. Sondern erst mit der ausgezeichneten Möglichkeit der Schöpfung entfaltet sich der Raum der Zukunft, als der Raum, in dem überhaupt etwas anderes als er selbst sein kann. Diese Dimension einer ontologischen Intentionalität Gottes auf etwas, das erstens nicht er selbst und zweitens zeitlich ist, gilt es nun unter dem praktischen Aspekt der vorzeitlichen Ewigkeit zu sehen. Zur Charakterisierung der vorweltlichen Ewigkeit hatte sich gezeigt, dass die Möglichkeit der Welt erst dann als Möglichkeit einer wirklichen Welt zu verstehen ist, wenn Gott sie als praktische Möglichkeit, d. h., als etwas begreift, das er durch Handeln bewerkstelligen kann. „Jene […] Möglichkeit ist [ein] Mittelglied, das wir zwischen dem an sich ewi57   Mit diesem treffenden Ausdruck charakterisiert Halfwassen, 2012, 303 Schellings „Entfaltung des Seienden zur Aktualität seines vollen Wesens“. 58   Vgl. Gloy 2006, 98, die aus der Analyse des alttestamentarischen und des babylonischen Schöpfungsmythos in Hinsicht auf die Zeitstruktur der Schöpfung zu dem entsprechenden Ergebnis kommt, dass die Schöpfung „ein teleologischer, von einem Anfang auf ein Ziel gerichteter Vorgang ist, [bei dem] Welt und Zeit an den Ursprung gebunden [bleiben], ohne als Produkte eine abgelöste Existenz zu führen, was bedeutet, dass die Zeit teleologisch strukturiert ist, in einer Entwurfsstruktur von einem Anfang auf ein Ziel besteht“. Allerdings überträgt Gloy diese Einsicht nicht analog auf die (menschliche) Handlungszeit, so dass sie dort – m.E. unzutreffend – den Zusammenhang von Handlungsintentionalität und Zukunftsausrichtung explizit negiert. Sie sei „nicht einsinnig auf die Zukunft, auf das vor ihr liegende gerichtet“ (81), sondern ganz und gar Präsenszeit, also Gegenwärtigkeit“ (82). Da aber selbstverständlich auch die menschliche Handlungsintentionalität eine zielgerichtete ist, in der sich die Absicht, die Handlung auszuführen mit der Absicht, sie ins Ziel zu führen, sachlogisch verbinden, enthält die Zeitstruktur von Handlungen notwendig Gegenwart und Zukunft. Hierzu Gerlach 2014.

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gen Sein Gottes und der Schöpfungstat annehmen müssen“ (SW XIII, 303). Aus einer bloß gegebenen Möglichkeit im Sinne eines vorüberziehenden Gesichts des in ewiger Unveränderlichkeit verharrenden absoluten Geistes Gottes (einer Möglichkeit, die ihm bloß ansichtig ist, zu der er aber keine Stellung bezieht und für die sein Wille taub ist), wird eine durch eigenes Wollen praktisch realisierbare Möglichkeit, welche in einem konstitutiven Danach zu einem hierzu relativen Davor des göttlichen Willens situiert ist. Dies bedeutet aber zusammengefasst, dass in eins mit der praktischen Möglichkeit die hierfür notwendige Zukunft entsteht. Schelling führt aus: „Die wirkliche Tat, also das wirkliche Wollen setzt auch jene vorweltliche Ewigkeit voraus, in welcher […] die Welt nur noch als Zukunft in der göttlichen Imagination oder im göttlichen Verstande enthalten ist“ (SW XIII, 308 f.). Damit kommt ein ganz neuer, fundamentaler Aspekt in Schellings Zeitphilosophie. Die Symmetrie des omni simul, in dem Gott in absoluter Ewigkeit alle Möglichkeiten zugleich ansichtig waren, wird gebrochen in der asymmetrischen Ausrichtung des Geistes auf eine zukünftige Möglichkeit, welche der vorweltlichen Ewigkeit ihre eigentümliche asymmetrische Struktur einer nicht zeitlichen, aber doch zeitbezogenen Ewigkeit gibt. Gott, der die Welt will, erzeugt zugleich durch die Aktualisierung dieses Welt-Wollens diejenige Zukunft, in welcher die Welt als Schöpfung realisiert werden kann. Dieser transitive Grundzug im Wesen Gottes gemäß der ersten Potenz erweist sich so als praktisch-zukünftige Intentionalität. In Hinsicht auf diese praktisch-zukünftige Intentionalität gilt es festzuhalten: Zukunft besteht in der Perspektive des göttlichen Geistes allein darin, dass die Schöpfung als Handlung für ihn sein kann. Ohne die Schöpfung als seine eigene praktische Möglichkeit wäre auch Gott ohne Zukunft geblieben; der absolute Geist in absolut zeitloser Ewigkeit kennt eine solche nicht. Die Schöpfungshandlung ist also nicht nur zukunftsgerichtet, sondern auch zukunftsausrichtend. Hierdurch erweist sich diese Zukunftsausrichtung der Schöpfung einerseits als die fundamentale Zeitstruktur des ersten und einzigen Zeitmoments vor der Erschaffung der Welt, andererseits als konzeptionell identisch mit dem inneren Verhältnis der intentionalen Bezogenheit des Schöpfers auf seine Tat. Das heißt, die Zukunftsrichtung ist identisch mit der Absicht des Schöpfers im Sinne seiner Sicht auf die gewollte Schöpfungshandlung als ihr intrinsisches Ziel. So erweist sich der Schöpfungsakt als radikal zukünftige Handlung – als die erste, einmalige und einzige Handlung, welche (ex-ante) keine Vergangenheit und Gegenwart hat, sondern überhaupt nur die Zeitform der Zukunft in sich führt.

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Insofern Schelling im Gottesbezug auf seine bloß internen Gesichte und auf die Möglichkeit einer Schöpfung die zwei Ewigkeitsformen Gottes unterschieden hatte, erhält die Frage, in Bezug auf welche Ewigkeit Gott zukunftsbezüglich ist, ihre unmittelbare Antwort: In der absoluten Ewigkeit konnte es lediglich denkbare Seinsmöglichkeiten geben, aber keine Realisierungbedingungen hierfür, da alle Seinsrealisierung im absoluten Geist nur durch eine Entzündung (Aktualisierung) des Geistes, verstanden als ursprünglichem Willen, vonstattengehen konnte. Daher wird, was dem in statu potentia der absoluten Ewigkeit verbleibenden (nicht wollenden) Willen eine bloße Möglichkeit im Sinne einer erscheinenden Seinsalternative ist, zur Zukunft in der vorweltlichen Ewigkeit eines ins wirkliche Wollen potentialisierten Willens Gottes. Vom Standpunkt der absoluten Ewigkeit aus lässt sich daher sagen: Die Schöpfung war zuvor nicht eine Möglichkeit in der Zukunft, denn die absolute Ewigkeit hat keine Zeitmodi. Sondern erst mit der praktisch möglichen Schöpfung ist die Möglichkeit einer Zukunft – und zwar einer Zukunft in einer gewandelten, nämlich vorweltlichen Ewigkeit – überhaupt gegeben, und ohne sie nicht. Zwischen dieser praktischen Möglichkeit der Schöpfung und ihrer Realisierung in der Schöpfungshandlung vergeht keine Zeit. Die Einsicht Gottes in die Schöpfungsmöglichkeit ist mit ihrer Ausführung simultan. Der ‚praktische Schluss‘, der Gottes Erkenntnis der praktischen Möglichkeit und sein Ausführungswollen als Antecedensbedingungen in die Schöpfungshandlung überführt, wird momentan vollzogen. Die vorweltliche Ewigkeit ist der Augenblick des magischen Schlags, in dem Erkennen, Wollen und Ausführen der Schöpfung zugleich sind. Sie ist der momentane (nicht deliberative), praktisch durch Freiheit mögliche Umschlag des Vernunftraums in die wirkliche Welt. Für die Ontologie der Zeit lässt sich daher mit Schelling feststellen, dass unter allen ihren Phänomenen die praktische Zukunftsgerichtetheit das fundamentalste ist, das erste Zeitmoment der vorzeitlichen Ewigkeit.59 Es ist klar, dass in der Perspektive der Schöpfungsontologie dieser praktische Zeithorizont der Zukunft auch den anderen Zukunftsformen vorgelagert ist: ohne praktische Zukunft in der Schöpfung keine Schöpfung und keine innerweltliche Zeit und damit kein Nachher zu einem

59   Bereits im sog. Würzburger System heißt es in einem hierarchisierenden Sinn, wenngleich in ganz verschiedenem Kontext: „Die erste Dimension der Zeit ist die Zukunft“ (SW VI, 275); vgl. SW VII, 238: „Das in der Zeit eigentlich Zeitliche ist die Zukunft“; hierzu auch Kümmel 1962, 54–56.

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Vorher, keine Sukzession und keine über die Zeit der Welt hinausgehende Zukunft im Sinne einer nachzeitigen Ewigkeit. Damit hat sich gezeigt, dass die Strukturen sowohl der irdischen Zeit als auch der großen Zeit der Weltalter bei Schelling sich der Praxis der Schöpfung verdanken. Die im Schöpfungsakt enthaltene Zukunftsrichtung, der Wechsel des Umschlags dessen, das sein wird in das, das ist und die damit verbundene Sukzession, welche die vorzeitliche Ewigkeit als Zeitform der Vergangenheit mit der späteren Gegenwart verbindet, gehen als Wesensmomente in diese Zeit ein. Dass die Zukunft ex-ante eine Zeit bezeichnet, die noch nicht ist, aber sein wird, bezeichnet aus der Position der Ewigkeit das temporale Moment von Sukzession und Werden, das allerdings erst ex-post realisiert sein kann. Dass in der Konstruktion der Zeit die Zeitmodi im Schöpfungsakt entstehen, verbürgt, dass Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit nicht nur die große Zeit gliedern, sondern auch die Grundelemente der irdischen, verfließenden Zeit bleiben. Mit der primären Zukunftsausrichtung als Modus der praktischen Intentionalität der Schöpfung wird zuletzt auch die Zeitausrichtung fundiert. Denn der Übergang ins Sein, der die Schöpfungstat charakterisiert, ist unaufhebbar: „das außer sich […] Gesetzte [kann] nicht mehr zurück“ (SW XIII, 208). Dies bedeutet, dass die Zeitausrichtung der linearen Zeit, die von je früheren zu je späteren Zeitpunkten fließt, sich unmittelbar dem Seinsübergang der Schöpfung verdankt: Denn was sich ins Sein erhoben hat, kann nicht wieder dorthin zurück, woher es gekommen ist. Dies heißt aber, dass die darin liegende Asymmetrie der Asymmetrie von Ewigkeit zu linearer Zeit über den Berührungspunkt der Zielsetzung entspricht. Denn die Schöpfung als Verwirklichung der Schöpfungsabsicht ist ein Später, das zu seinem Früheren, der Ewigkeit als bloßer Schöpfungsmöglichkeit, nicht zurückkann. Demgegenüber scheint es sekundär zu sein, dass sich Handlungen wie andere physikalische Ereignisse auch nicht mehr aus der Vergangenheit der physikalischen Welt auslöschen lassen und auch in diesem Sinne irreversibel sind. Ja, umgekehrt lässt sich die Ausrichtung der linearen Zeit damit erklären, dass sie von einem Anfangspunkt, der Schöpfung, in den sie nicht wieder zurückkann, aus wegläuft. Der Pfeil der linearen Zeit vom Früheren zum Späteren wird ihr auf diese Art vom Pfeil der Absicht als intrinsischer Zukunftsstruktur der vorweltlichen Ewigkeit aufgeprägt. Auch die unter dem Aspekt der Epochalisierung festgehaltene asymmetrische Ausrichtung der geschichtlichen Zeit erhält hier ihre fundamentale Begründung. Im Modell der großen Zeit wird die lineare Zeit durch ein vorzeitlich-ewiges zukunftsgerichtetes Wollen gesetzt, und die Schöpfungsabsicht vermittelt zwischen den beiden Zeitreihen und verbindet sie zur

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postkreatürlichen Gesamtzeit. Dieser Grenz- und Verbindungspunkt ist nirgendwo sonst zu verorten als dort, wo in der Perspektive der vorweltlichen Ewigkeit die zeitliche Welt erscheint: als Inhalt der praktisch möglichen Zukunft, das heißt, als Gehalt der Absicht des absoluten Geistes. Die ontologische Intentionalität des absoluten Geistes Gottes ist vom Moment der Entzündung des Willens zur Schöpfung an gerichtet auf die zeitliche Welt als mögliches Produkt der Schöpfungshandlung – d. h., als Gehalt der Schöpfungsabsicht. In dieser Absicht zur Schöpfung verbinden sich Zeit und Ewigkeit: Die zwar fundamental zukunftsgerichtete, aber in sich als bloße Intention nicht-sukzessive Schöpfungsabsicht hat als ihr intentum die ganze sich im Wandel der sukzessiven Ereignisse entfaltende Zeit.60 Die Schöpfung als Gehalt der Schöpfungsabsicht ist gleichsam auf die Spitze des Zukunftspfeils der Schöpfungsintention gesetzt. Und zugleich ist sie als deren Inhalt, das heißt als das, was da intendiert ist, von sukzessivem Verlauf. Gottes Absicht zur Schöpfung erweist sich so als der ontologische Ort, an welchem Zeit und Ewigkeit systematisch auseinander entfaltet werden. Und an dem in der Schöpfungshandlung als Realisierung dieser Absicht sichtbar wird, wie die sukzessive Zeit aus dem Zukunftsbezug der Ewigkeit heraus erzeugt gedacht werden kann. Die Zukunft, als Weltalter verstanden, erhält so die merkwürdige Struktur, dass sie einerseits, als Zukunft, noch nicht ist, andererseits als Ewigkeit, zeitlich nicht erst werden kann, da sie sonst einem Übergang vom Noch-nicht zum Sein unterworfen wäre. Demnach muss die Zukunft einerseits so mit der Weltzeit verbunden sein, dass der Übergang von der Zeit zur zukünftigen nachzeitlichen Ewigkeit analog zur Setzung der Vergangenheit geschieht; andererseits muss die Zukunft als ewige entsprechend zur vorweltlichen Vergangenheit in der creatio perpetua eine beständige Funktion haben. Diese Art, wie die Zukunft auch das Weltalter der Gegenwart prägt, lässt sich daran ermessen, inwiefern Gott selbst die Gegenwart der Welt auf die Zukunft hin umgreift. Denn die durch Gott mit der Schöpfung gesetzte Zukunft beinhaltet nicht lediglich die Fundamentalstruktur zukunftsgerichteter Intentionalität, sondern ist zugleich auch eine Grenze. Die durch Gott mit der Schöpfung gesetzte Zukunft ist – als Weltalter verstanden – keine beliebig offene Zukunft, sondern Abschluss und Ziel der Geschichte. Die praktische Zukunft der Schöpfung entspricht, wie noch näher zu explizieren sein wird, der im Ziel des Weltalters der nachzeitlichen Ewigkeit terminierenden, und alle 60   Insofern man den Inhalt einer Absicht analog zur Bedeutung von Aussagesätzen als deren propositionalen Gehalt auffassen kann (Rohs, 1980, 15–36), lässt sich aus dieser Perspektive sagen: Die Zeit ist Sinn und Bedeutung der Ewigkeit.

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Weltzeit bis dahin umspannenden Absicht Gottes in der Schöpfung. Es wäre für Schelling überhaupt keine Wirklichkeit möglich, wenn sie nicht in ein sie zukünftig abschließendes Ziel führte. Denn „kein Wirken ist ohne einen Punkt, von dem es aus, und nach dem es hingeht“ (SW VIII, 225). 8) Schellings zeitphilosophische Interpretation des Namens Gottes nach Ex 3, 14 Die Fundamentalität der Zukunft in der Schöpfung prägt allerdings nicht nur die Charakteristika der Zeit, sondern auch das Wesen Gottes, in dem sie sich findet, selbst. Gott wird durch die Zukunftserzeugung qua Willensaktualisierung selbst zu einem Wesen, das nicht äußerlich auf eine (von ihm unabhängige) Zukunft bezogen ist, sondern dessen Wesen als Schöpfer gerade in diesem Zukunftsbezug sich entfaltet, der durch dieses Zukunft-Haben, ja Zukünftigsein erst zu dem wird, was er als Schöpfergott ist. Die Zukunft erhält hierdurch eine fundamentale Bedeutung nicht nur als Bedingung der Schöpfung, sondern als zentrale Selbstkonstituierungsbedingung des Schöpfergottes, d. h. desjenigen Gottes, der freiwillig das Sein der Schöpfung annimmt und vom Standpunkt der Selbstkonstitution nicht mehr zurück kann in die Unbeweglichkeit seines zu Grunde liegenden Wesens als in absoluter Ewigkeit verbleibenden Geistes. Insofern „Gott überhaupt Wille ist und nur Wille ist“ (SyWA 134) ist Gott als Schöpfer der durch seinen Willen Gewordene. „Gott ist […] Gott […] nur durch den Willen das zu sein was er ist und […] was er sein wird“ (ebd.); daher ist „der Begriff Gottes […] der Begriff seiner Zukunft“ (ebd.). Gott ist nicht nur insofern ein zukünftiges Wesen, als sein Ursein des Wollens zukunftsbezogen und zukunftserzeugend ist. Als solches vermag er die Welt und mit ihr das Weltalter der Gegenwart zu setzen. Nun ist es allerdings damit nicht getan, dass Gott die Welt erzeugt; sondern die Zukunftsprägung seines eigenen Wesens, durch welche er die Welt erschafft, prägt sich auch der Welt auf. Und dies im doppelten Sinn: einerseits so, dass Gott nicht nur die Weltalter der Vergangenheit und Gegenwart setzt, sondern auch das Weltalter der Zukunft. Die Schöpfung verstanden als Offenbarung ist eine Entfaltung des Wesens Gottes, und dies so, dass das geoffenbarte, die zeitliche Welt, von ihrem Offenbarungsgrund (Gott) umschlossen und begrenzt bleibt. In diesem Sinne ist die Zeit von der Ewigkeit umschlossen, da sonst die Welt gleichsam ins Unbestimmte von Gott abfließen würde. Gott muss, „sich zu offenbaren,

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schlechterdings etwas in sich auseinanderhalten, sich als Anfang und als Ende setzen“ (SW XIV, 72). In der Setzung dieses Endes enthält die Welt nicht nur einen Grund und eine Vergangenheit in Gott, sondern auch einen eschatologischen Horizont: eine Zukunft, welche das Vollendungsziel der Schöpfung beinhaltet.61 Umgekehrt geht diese Entfaltung des göttlichen Wesens in die drei Zeithorizonte mit einer Temporalisierung seines eigenen Wesens einher. Darin bestätigt sich nicht nur das in der Johannesoffenbarung wieder aufgenommene Prophetenwort, nach welchem Gott „das A und O, der Anfang und das Ende“ (SW XIV, 72, vgl. Jes 41,4; Apk 1,8 und 17) sei, denn in diesen vor- und nachweltlichen Ewigkeiten bleibt Gott in der zeitlosen Einheit seines Wesens. Sondern Gott erweist sich erst im Durchgang durch alle drei Weltalter als der vollständige Herr des Seins, als Einheit aller drei in den Zeithorizonten entfalteten Potenzen. Damit ist aber ein Durchgang durch die sukzessive Zeit der Welt als zum Wesen Gottes gehörig eingeräumt. Wenn Gott so als „der da Ist, der war und der da kommt“ (SW XIV, 72) verstanden wird, dann ist damit keine Passivität Gottes gegenüber diesen Zeiten gemeint wie in der Boethius-Ewigkeit, in welcher Gott lediglich synchrone Einsicht in die drei Zeitdimensionen hat. Sondern Gott wird nun von Schelling verstanden als einer, zu dessen Wesen die drei Zeitdimensionen – und damit auch die Zeit der Welt – explizit gehören. In welcher Form dies in Gott realisiert werden soll, wird verständlich, wenn man das trinitarische Gefüge in der Person Gottes berücksichtigt, das Schelling wiederum den Weltaltern zuordnet. Danach sind die Momente oder Potenzen des übergeordneten, absoluten Geistes Gottes als die drei Personen des Vaters, des Sohnes und des Geistes zu deuten, welche wiederum die Einheit Gottes bilden. (Die Potenzen sind insofern keine bloßen Teile oder Partikularien Gottes, als nach dem Organismusprinzip in jeder von ihr wiederum das Ganze des Potenzengefüges, nur in je spezifischer Konstellation, enthalten ist. Es ist damit aber auch kein Tri-Theismus behauptet, insofern die Potenzen doch nur Potenzen, d. h. Momente der Einheit des absoluten Geistes sind). Die umgreifende Einheit Gottes, deren Anfang und Ende von Ewigkeit ist, hat demnach die innere Potenzenfolge einer Zeit des Vaters, des Sohnes und des Geistes. Dabei gilt: „der Vater war vor aller Zeit, der Sohn ist in der Zeit als die während der Schöpfung herrschende Persönlichkeit. 61   Dieses eschatologische Moment einer selbst zielgerichteten Zeit als Spezifikum der Zeitphilosophie Schellings gegenüber anderen Entwürfen des Idealismus, auch Kierkegaards, hat Kaspar 1965, 264 f. betont.

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Der Geist wird nach der Zeit sein als letzter Beherrscher der vollendeten, in den Anfang zurückgekommenen Schöpfung“ (UF 211). Die Folge der Potenzen in den Weltaltern wiederum ist keine zeitliche Folge. Schelling vollendet den gedanklichen Ablauf seiner ersten Münchner Vorlesung, welche eine göttliche Ontologie als System der Weltalter konstruiert, mit der Bemerkung, dass in den Weltaltern zwar die „3 Herrscher als herrschend zu verschiedenen Zeiten“ erscheinen, dass jedoch „diese Sukzession im Begriff Gottes […] aufgehoben [wird] und dann […] sich Gott in seinem erhabensten Begriff als der, der war, der ist, und der sein wird derselbe Gott“ (SyWA 211) zeige. Daher besteht die volle Struktur des ewigen göttlichen Bewusstseins in der Einheit der Dreidimensionalität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Schelling charakterisiert das temporale göttliche Wesen durch eine spekulative Übersetzung des Namens, den Gott sich selbst Mose gegenüber gibt, als dieser ihn fragt, welchen Namen er dem Volk nennen soll. Gott antwortet: Eie asher eie, was Luther mit „ich bin, der ich bin“ (Ex 3, 14) übersetzt hat.62 Nun ist es aber auf der Basis des hebräischen Hilfsverbs, das keine Tempus-Festlegung beinhaltet, ebenso möglich, diesen Ausdruck in anderen Zeitformen zu übersetzen, in etwa „ich war, der ich war“. Schelling nutzt diese sprachliche Offenheit, um das Wesen Gottes aus dem Zusammenhang der Zeithorizonte zu deuten. Dabei greift er einerseits den Gedanken der Einheit der Weltalter wieder auf und übersetzt den Namen Gottes entsprechend der Formulierung der Apokalypse mit: „ich bin, der da war, der da ist, und der da sein wird“ (SW VIII 263, vgl. SyWA 211). Damit ist zunächst der Gedanke, dass die Zeit mit ihren drei Modi in Gott und seiner Ewigkeit beschlossen ist, reformuliert. Allerdings führt Schelling diesen Gedanken noch in dreifacher Form weiter: zunächst (1) spekuliert er darin über die Wechselbeziehung der Zeiten in Gott. Diesen Gedanken einer internen Temporalität Gottes, im dritten Weltalterentwurf formuliert, gibt Schelling dann aber wieder auf und ersetzt ihn in der Spätphilosophie durch die Idee der (2) Zukunftsgerichtetheit des göttlichen Wesens, die (3) auch innerhalb der Perspektive des menschlichen Bewusstseins auf Gott wirksam ist. (ad 1) Im dritten Weltalterentwurf variiert Schelling die grammatischen Möglichkeiten des im 2. Buch Mose gegebenen hebräischen Namens Gottes in Hinsicht auf das Selbstverhältnis Gottes in seiner 62   Dass Schelling den Namen unmittelbar für die Sache nimmt, wird aus einer Notiz Schellings im Jahreskalender 1815 klar, wo er Platon zitierend bemerkt: „wer die Namen ruft, versteht auch die Sachen“ (TB, 80).

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Ewigkeit. Die Frage, die Schelling hier aufwirft, ist: „wie das Ewige sich seiner Ewigkeit bewusst werden“ (SW VIII, 263) könne. Diese Frage fordert eine gesonderte Antwort, da sie aus der dargelegten Relation der göttlichen Ewigkeit zur zeitlichen Schöpfung heraus nicht beantwortet werden kann. Sie führt unmittelbar in die transzendentalphilosophische Problematik der Konstitution von Selbstbewusstsein und bedroht von dort aus die Auffassung von der intrinsischen Zeitlosigkeit des göttlichen Geistes, da nach Schellings Ansicht die Konstitution von Selbstbewusstsein mit seiner Zeitlichkeit, genauer gesprochen: einer Geschichte dieses Selbstbewusstseins, einhergeht. Bewusstsein muss, so das Argument, immer in einer Bewegung des Von-sich-weg-Gehens und Auf-sich-zurück-Kommens bestehen, das nur in einem Übergang von einem Zeitmodus zum anderen vollzogen werden kann. Dies ist so zu verstehen, dass Bewusstsein als Folge eines „Sich-bewusstwerdens“ (GPP 180/SW X, 93) aufgefasst werden muss; eines Bewusstwerdens allerdings, das seinerseits nicht bewusst ist. Das Bewusstsein erhält so eine „transzendentale Vergangenheit“ (GPP 181/SW X, 93), die allerdings wiederum nicht als wirklich-zeitliche aufzufassen ist, sondern als Momente, die das Bewusstsein sich selbst voraussetzen musste (GPP 182/SW X, 94), d. h. Schichten, auf denen es ruht. Daher kann Gott sich selbst (und für sich selbst) nur bewusst sein, indem er selbst den Übergang zwischen den Zeitmodi vollzieht. Reflexives Selbstbewusstsein lässt sich nur explizieren durch eine Distanz desjenigen, das dieses Bewusstsein hat, zu demjenigen, der ihm bewusst ist – und diese Distanz muss im Vollzug eine zeitliche sein. Die schwierige Konsequenz ist, dass Gott in seiner Ewigkeit sich dieser Ewigkeit so nur bewusstwerden kann als ein beständig zwischen den Zeiten Werdender. Schelling interpretiert demnach dieses Ewigkeitsbewusstsein so, dass Gott sich selbst in temporalem Wechsel gegeben ist, so dass für ihn in Auslegung des Namens Gottes nach Ex 3, 14 gilt: „Ich bin der ich war, Ich war der ich sein werde, Ich werde sein, der ich bin“ (SW VIII, 263 f.).63 Damit ist allerdings ein inneres dynamisches Zeitlichkeitsverhältnis   Eine Variation der zeitspekulativen Deutung des Namens Gottes gemäß Exodus 3 findet sich auf einem Blatt im Berliner Schelling-Nachlass in der Form eines Vierzeilers: „Ich bin der ich war. Ich bin der ich sein werde. Ich war der ich sein werde. Ich werde sein der ich bin“. (Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. NL Schelling 86, S. 20. Abgedruckt auf der Titelseite der Bände der Reihe „Schellingiana“, vgl. z. B. Bd. 4 Titelei und S. IV). 63

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im göttlichen Bewusstsein ausgesprochen, das weit über die Interpretation, Gott sei der, der ist, war und sein wird, hinausgeht. Gemäß dieser Auffassung kann Gottes Wesen verstanden werden als gleichbleibend-ewiges, das die Zeitmodi umgreift, ohne selbst deren Wandel zu unterliegen. Mit der Auslegung der Exodus-Passage im Weltalterentwurf jedoch scheint dies nicht mehr der Fall zu sein. Gott, der wird, der er ist, und war, der er sein wird, hat zugleich mit dem bleibenden Sein den zeitlichen Wandel in sich; sein Name verweist auf ein Wesen, dass der zeitlichen Dynamik des Übergangs der Zeitmodi unterworfen ist. (2) Allerdings hat Schelling, offenbar um die Konsequenz einer inneren Verzeitlichung des Wesens Gottes zu entgehen, diese Temporalisierung später abgeschwächt – ohne eine alternative Lösung für das Problem der Zeitlichkeit der Selbstanschauung des göttlichen Selbstbewusstseins zu bieten. In der Urfassung der Philosophie der Offenbarung referiert Schelling erneut die Stelle in Ex 3, 14: „Moses fragt: ‚Wie soll ich Dich dem Volke nennen?‘ – und es wird geantwortet: ‚Nenne mich: ich werde sein, der ich sein werde, dies ist mein Name‘“ (UF 88, entspr. SW XI, 171). Diese Übersetzung hat in der Urfassung eine praktisch-zeittheoretische, eine voluntative und eine freiheitstheoretische Motivation. Sie soll darlegen, dass das Wesen Gottes, das in dessen Namen zur Erscheinung kommt, zukunftsgerichteter, freier, sich selbst bestimmender Wille ist. Er ist praktisch-zukunftsgerichtet, insofern Schelling einerseits nun aus den drei möglichen tempora verbi explizit die Zukunft auswählt, und damit ausdrücklich die Zukunftsausrichtung als die dem göttlichen Wesen am meiste entsprechende kennzeichnet (1841, 135); sein Name deute „nur auf die Zukunft“ (SW XIV, 129). Praktisch-zukunftsgerichtet ist Gott deshalb, weil die strukturelle Rechtfertigung einer Privilegierung der Zukunft wie gesehen eben durch den Zukunftsbezug im Handeln Gottes in der Schöpfung gegeben ist. Dies verbindet sich mit dem volitionalen Aspekt der Zukunftsrichtung des göttlichen Wesens. Denn dessen Interpretation als entzündeter Wille, der auf etwas – nämlich etwas Zukünftiges – geht, wird nun erweitert um eine fundamentale These der Selbstgestaltungsmöglichkeit des sich selbst als etwas Zukünftiges erzeugen Könnens, welches Schelling hier dem Wesen Gottes als einem, das seine eigene Zukunftsausrichtung ist, zuschreibt. Denn Schelling ergänzt nun den Namen Gottes – ich werde sein, der ich sein werde – um den Zusatz, „d. h., der ich sein will“ (UF 89; entsprechend GPP 444 und SW XIII, 269)64. Dies bedeutet, dass Gott nicht nur praktisch ein zukünftiges   In einer weiteren Parallelstelle im System der Weltalter wird ‚Werden‘ und ‚Wollen‘ in diesem Kontext auch gleichgestellt. Dort heißt es: „ich werde sein, der ich sein werde 64

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Anderes zu sich wollen kann, sondern damit zugleich sich selbst als einen Anderen. Die Idee der Möglichkeit einer Selbstgestaltung und Selbstprägung des eigenen Wesens durch Handeln ist hier von der elementaren Konstellation der Schöpfungshandlung aus angelegt.65 Nicht nur tun zu können, was man will, sondern werden und sein zu können, was man will, ist aber ein Charakteristikum fortgeschrittener Freiheit, das mit einem Distanzverhältnis zu sich selbst einhergeht. Hier hatten die Erörterungen zur Freiheit Gottes bereits gezeigt, dass Schelling Gott eben diese als seine höchste Freiheit zuschreibt. In der zeitdimensionalen Spekulation über den Namen Gottes gemäß Ex 3, 14 wird dieser Gedanke von der Freiheit der Selbstgestaltung schließlich eingebunden in ein umfassendes metaphysisches Programm, in welchem Zeittheorie, Handlungstheorie und Freiheitstheorie der Schöpfung zur Deckung kommen. Hier lässt sich vorgreifend über den Zusammenhang von Zeit, Praxis und positiver Philosophie sagen: die Freiheit Gottes ist intrinsisch verbunden mit einer internen praktischen Zukunftsausrichtung, welche Schelling am Namen Gottes als dessen Wesenscharakteristikum der Selbstwerdung expliziert. Nicht zu übersehen ist hierbei, dass Schellings Übersetzung des Namens Gottes als eines bloß Zukünftigen systematisch die Stelle des Anfangs der Philosophie trifft. Der streng zukünftige Gott ist die Einlösung dessen, das Schelling generell als Ausgangspunkt der Philosophie angesehen hat, nämlich über das Sein hinauszugehen zu dem „was vor dem Sein ist“ (SW XIII, 204), zur „Quelle allen Seins“ (SW XIII, 205), welches Schelling wie gesehen formal charakterisiert hat als „das, was sein wird, [d. h. das] absolut Zukünftige[.]“ (SW XIII, 204). (3) Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass das hierbei angelegte Konzept eines werdenden Gottes diesen nicht seiner Ewigkeit enthebt und ontologisch verzeitlicht. So problematisch dieser Gedanke sein mag: Für Schelling verbleibt Gott in einer Ewigkeit, die keinen Wandel an sich hat, auch wenn ihr ein Zukunftsbezug als ontologische Tiefendimension eingeschrieben ist und Gott die Eigenschaft, ein Anderer sein zu können, zugebilligt wird. Insofern seine Ewigkeit die Zeiten umgreift, bleibt Gott als Gott zunächst absolut Ewig-Unwandelbarer, hat aber zugleich (will)“ (SyWA 136). Vgl. auch Schellings Anmerkung in der 13. Vorlesung der Philosophie der Offenbarung, in der er auf die alternativen Übersetzungsmöglichkeiten „ich werde sein, der ich will“, „was ich will“ und „der ich bin“ hinweist (SW XIII, 270 Anm.). 65   Es ist nicht zu übersehen, dass Schelling damit auch in Gott ein radikales Freiheitsprogramm der Selbstgestaltung anlegt, das sich bis in die Wortwahl im Existenzialismus des 20. Jahrhunderts wiederfindet. Vgl. Sartre 2002, 150, wo es heißt, dass der existenzialistisch verstandene Mensch „nichts anderes als das [sei], wozu er sich macht“.

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eine Seite an sich – nämlich der Bezug auf die ihm zugehörige Welt – in welcher er, vornehmlich in der Entwicklung menschlichen Bewusstseins, selbst sich entwickelt. Dieser schwierige Gedanke, bei dem Schelling zugleich einen lebendigen und einen überzeitlich-ewigen Gott in einem konzipieren möchte, findet im dritten Weltalterentwurf eine Formulierung, die einerseits deutlich zeigt, dass Schelling keinen sich fundamental wandelnden Gott will, andererseits aber auch, dass er eine Doppelkonzeption eines sich gleichbleibenden und wandelnden Gottes anstrebt: in sich gleichbleibend, in Relation auf anderes, nämlich die Welt, sich wandelnd. „In Gott ist kein Wechsel und Wandel“, stellt Schelling zunächst fest und erläutert: „Gott kann nicht aus dem Verborgenen dermaßen ein offenbarer werden, dass er aufhörte, der verborgene zu sein; nicht aus dem überseienden dermaßen ein seiender, dass er aufhörte, ein überseiender zu sein“ (SW VIII, 256). Das Problem, wie er aber zugleich beides sein könne, löst Schelling hier dahingehend, dass „Gott an sich selbst weder seiend noch nicht seiend ist […], sondern immer, auch nun wirklich existierend, an sich selbst das Überseiende blieben muss: so kann er überall nicht in sich, sondern nur beziehungsweise gegen ein anderes seiend sei oder (ewiger Weise) seiend werden“ (ebd.). Gott bleibt grundsätzlich, als Gott, was er ist, auch wenn es Aspekte an ihm (an seiner Außenrelation zum menschlichen Bewusstsein) gibt, die sich wandeln. Gemäß dieser Eigenschaft – und das wird Thema des nächsten Kapitels sein – zeigt er sich dem menschlichen Bewusstsein als Werdender. In seiner letzten Münchner Vorlesung 1841 führt Schelling aus, dass Gott dem Bewusstsein „nie eigentlich Seiender, stets nur Werdender ist“ (1841, 134). Dort heißt es: „In der Gegenwart ist Jehovah immer nur der werdende Gott; da er aber doch nicht unbedingt der nicht Seiende sein kann, und vielmehr die Forderung, dass er sei, vom Bewusstsein nicht aufzugeben ist, so verzichtet das Bewusstsein auf den Seienden nur für die Gegenwart, als Seiender ist er also ein – zukünftiger“ (ebd.).66 66   Der Status der Reichweite von Schellings These vom werdenden Gott ist umstritten; diese Frage bleibt „ein Stein des Anstoßes für die Schelling-Forschung“ (Rezvykh 2008, 179). Nach Gabriel 2009, 33 Anm. ist es auf Grund von „Schellings geschichtlicher und dynamischer Lesart des Monotheismus […] eindeutig […], dass Gott bei Schelling zu Gott wird“. Dem ist dahingehend zuzustimmen, dass auch Gott eine interne Konstitutionsgeschichte kennt – allerdings nicht, dass diese zeitlich zu verstehen ist. Gabriels Begründung, dass Schelling „nicht mit einer statischen Ewigkeit“ rechne, kann auf der Basis unserer Analysen nicht zugestimmt werden. Allerdings ist mit der Frage, ob Gott zu Gott wird, nur ein Teil der Vorstellung eines werdenden Gottes abgedeckt. Der andere Teil betrifft die Frage, ob Gott als Gott wird. Nach Gabriels Auffassung ist beides dadurch verbunden, dass Gott „nur aufgrund eines theogonischen Prozesses“ (ebd.) existiere. Dem widerspricht aber, dass es zu den zentralen Eigenschaften des positiven

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Damit ist eine fundamentale und immens weitreichende Erklärungsdimension für die historische Wirklichkeit der Religionen aus der zeitlichen Struktur des religiösen Bewusstseins gegeben. Weshalb, so ist zu fragen, ist religiöses Bewusstsein nicht immer schon erfüllt, d. h., weshalb ist religiöses Bewusstsein auf etwas bezogen, das es aber gleichzeitig nicht oder nicht vollständig erreichen kann? Und umgekehrt: weshalb gibt es überhaupt religiöses Bewusstsein, wenn es doch auf etwas geht, das es nicht erreichen kann? Als Antwort auf diese beiden Fragen wäre nun mit Schelling zu sagen: weil dem religiösen Bewusstsein in der Gegenwart der Welt zwar in dieser Gegenwart Gott als geoffenbarter erscheint – diese zeitliche Erscheinung aber ihrerseits intrinsisch auf den wahren, nichtzeitlichen Gott verweist, welcher als Ganzheit erst in der Einheit der Ewigkeit sein kann, die sich als nachzeitliche Zukunft darstellt. Deswegen, so Schelling, ist das religiöse Bewusstsein stets das Bewusstsein einer zukunftsgerichteten Erwartung: „Die wahre Religion ist die Religion der Zukunft“ (SW XIV, 129). Deswegen ist Gott nicht nur Werdender, sondern auch Zukünftiger, d. h., „jetzt nur Werdende[r], der einst sein wird“ (SW XI, 172). Überblickt man von hier aus Schellings Theorie von Zeit und Ewigkeit in Hinsicht auf das Problem des Verhältnisses göttlichen und menschlichen Handelns, so lassen sich drei wichtige Feststellungen treffen: 1) Schellings Entdeckung der Zeitmodi als zentrale philosophische Themen um 1810 sind ein bedeutendes, bisher kaum historisch ausreichend gewürdigtes Novum in der Geschichte der Philosophie. Dabei benennt Schelling bereits wesentliche Aspekte einer Philosophie der modalen Zeit, die erst in Zeitphilosophien des frühen 20. Jahrhunderts bei Husserl, Bergson, Heidegger und McTaggart zur vollen Geltung kommen werden. So ist nach seiner Auffassung die modale Zeit gegenüber der sukzessiven ontologisch vorrangig und die Dimensionalität der modalen Zeit von der Mitte, d. h., der Gegenwart aus zu denken. Moderne analytische Zeitauffassungen wie der Anti-Reduktionismus, demzufolge die temporalen Eigenschaften der Zeit irreduzibel fundamental sind, könnten Schelling als einen ihrer Ahnen bezeichnen.67 2) Dennoch ist Schellings Auffassung von der Funktion der Zeitmodi innerhalb des Ganzen des zeitlichen Weltverlaufs – und damit auch an zentralen Systemstellen seines Verhältnisses zur Ewigkeit Gottes – deGottes gehört, dass er die Schöpfung hätte unterlassen können. Ohne die Schöpfung wäre er so für Schelling Gott geblieben, auch wenn es gar keinen Prozess gegeben hätte. 67   Vgl. zum Tableau moderner analytischer Zeitauffassungen Sattig 2017.

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fizitär. Die vor- und nachweltlichen Ewigkeiten, als Zukunft und Vergangenheit der großen Zeit gefasst, besitzen das Verfließen der Zeit als wesentliches Charakteristikum der modalen Zeit gerade nicht. Schellings Zeitauffassung bleibt statisch. Bei Schelling geht die Zukunft nicht von selbst in die Gegenwart und diese in die Vergangenheit über. Sondern Vergangenheit und Zukunft, als in sich zeitlose Ewigkeiten, sperren sich gegen einen solchen Übergang durch die Auffassung, dass sie in sich nicht die Form der Gegenwart annehmen können. Eine Zukunft als eine Zeitdimension, die nie gegenwärtig werden kann, bleibt jedoch in einer stetigen statischen Entfernung zur jeweiligen Gegenwart und damit so unerreichbar wie die vorgespannte Karotte vor der Nase eines Lastesels. Dies ist in der Konstruktion der großen Zeit noch annehmbar, insofern deren Zukunft ohnehin nicht innerhalb menschlicher, zumindest irdischer Zeitdimensionen erreichbar ist. Schelling behält diese Auffassung, dass Zukunft und Vergangenheit nicht durch intrinsische Übergänge mit der Gegenwart verbunden sind, sondern ebenso wie die vorweltliche Vergangenheit sich ausdrücklichen Setzungen verdanken, jedoch auch für die innerweltliche Zeit bei. Dies führt in etwa zur missverständlichen Diagnose einer scheinbaren Zeit der Gegenwart, sofern es dieser einer ausdrücklichen Abgrenzung zur Vergangenheit mangelt. Missverständlich ist diese Diagnose deswegen, weil es so scheint, als wäre die Vergangenheit als Zeitdimension grundsätzlich erst durch eine Setzung gegeben und als würde ohne diese Setzung eine beständige Gegenwart in der Form eines mechanisch immer gleichen Zeitlaufs bestehen bleiben.68 Der dimensionale Unterschied zwischen einem je Gegenwärtigen und einem noch nicht bzw. nicht mehr Gegenwärtigen ist aber unabhängig von der inhaltlichen Frage, ob das nicht mehr Gegenwärtige dieselben Inhalte hat wie das Gegenwärtige. Dass umgekehrt die mechanische Zeitauffassung Vergangenheit und Zukunft nicht kennt, bedeutet noch nicht, dass dieser Mangel in einer fehlenden Scheidung von der Gegenwart beruht – denn 68   Genauer – und deutlich über Schelling hinaus – zu sprechen: der kritische Punkt an der nachgezeichneten Auffassung Schellings besteht darin, dass es so scheint, als wäre die Setzung der Vergangenheit ein Akt, der unter unserer Verfügungsgewalt stehe – so wie es das existentielle ausdrückliche sich Scheiden von einer eigenen Vergangenheit als biographischer Sequenz ist. Versteht man hingegen ‚Setzung‘ im eher Fichteschen Sinn als Akt einer ursprünglichen transzendentalen Spontaneität, und damit die dimensionale Zeitlichkeit als apriorische Veranlagung transzendentaler Subjektivität überhaupt (die als deren Bedingung dann auch nicht mehr unter der Verfügungsgewalt der Subjektivität stünde), dann lässt sich die These von der Setzung der Vergangenheit attraktiv weiterführen. Schelling hat eine solche Zeittheorie der Subjektivität (wie sie sich z. B. auf der Basis der Kantischen Transzendentalphilosophie bei Rohs (1980, 1996 und 2016) findet) allerdings nicht ausgeführt.

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der Mechanismus beruht auf gar keinen Zeitmodi, also auch auf keiner Gegenwart. 3) Die Hinsicht auf eine praktische Philosophie der Zeit und die These, dass in Schellings Schöpfungskonzeption mit ihrer Privilegierung der Zukunft aus der praktischen Perspektive heraus hierfür eine fundamentale Struktur gelegt ist, bleibt hiervon jedoch unberührt. Dass menschliches Handeln grundsätzlich teleologisch innerhalb des Rahmens einer gleichfalls zielgerichteten, ja eschatologischen Geschichte gefasst werden kann, verdankt sich diesem, in der ersten göttlichen Seinsbewegung zur Wirklichkeit bereits angelegten Zukunftsmoment. Dass Zukunft als Grundform praktischer Intentionalität verstanden werden kann und als solche die entscheidende Verbindungsstelle zwischen einer Metaphysik der Zeit und der praktischen Philosophie bildet und damit das ontologische Fundament des Praktischen aufzeigt, kann als bleibende – wenn auch in dieser Form nicht explizierte, sondern nur strukturell angelegte – Einsicht Schellings gewertet werden. Erst der Heidegger von Sein und Zeit wird die Fundamentalität der dimensionalen (von ihm ‚ekstatisch‘ genannten) Zeit und die Vorrangstellung der Zukunft aus dem Horizont eines praktischen Grundwesens des Menschen heraus wieder in ähnlicher Weise, wenn auch in einem anderen Fragehorizont, betonen.69 Das Defizit, dass Schellings Theorie der Zukunft deren zentrale Eigenschaft des Übergangs in zukünftige Gegenwart nicht berücksichtigt, ist zwar auch in praktischer Hinsicht schwerwiegend. Denn Zielsetzungen sind nur dadurch sinnvoll, dass die gesetzten Ziele sich in einer zukünftigen Gegenwart verwirklichen können. Allerdings ließe es sich hier leicht mit einer Theorie der verfließenden Zeit verbinden – was für die Weltalterkonstruktion mit der Zukunft als nachweltlicher Ewigkeit nicht so leicht zu bewerkstelligen ist.

  Vgl. Heidegger GA I,2, 563.

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KAPITEL 5: RELIGIÖSES BEWUSSTSEIN ALS MENSCH-GOTT-VERHÄLTNIS

Die doppelbezügliche Handlungstheorie des späten Schelling, die das Handeln Gottes und des Menschen umfasst, bedarf, wie gesehen, auch einer Untersuchung des inneren Verhältnisses dieser Akteure. Da göttliches und menschliches Handeln nicht einfach nebeneinander herlaufen, sondern wechselseitig reziprok aufeinander bezogen sind, gilt es, das Verhältnis Mensch-Gott in Schellings Spätphilosophie grundsätzlich zu fassen. Dieses Verhältnis lässt sich von vier Seiten betrachten, die sich ergänzen: je einseitig von Gott oder vom Menschen aus, oder von einem gemeinsamen metaphysischen Rahmen aus, oder in Hinsicht auf ihre Interaktion. Von Gott aus entspricht es der Theorie der Schöpfung, deren Motivation und Ergebnis der Mensch ist. Die Rekonstruktion dieser Seite wurde im II. Abschnitt der Untersuchung im Wesentlichen bereits vollzogen (Kapitel 2 und 3). Einen gemeinsamen metaphysischen Rahmen bildet sowohl die Theorie des praktischen Bewusstseins als auch der Theorie der temporalen Bedingungen, unter denen das Mensch-Gott-Verhältnis steht. Sie waren Gegenstände der Kapitel 1 und 4. Zusammenspiel und Wechselwirkung göttlichen und menschlichen Handelns wird Gegenstand des achten Kapitels sein. Das Mensch-Gott-Verhältnis von der Seite des Menschen aus zu rekonstruieren hingegen ist die Aufgabe dieses Kapitels. Sie ist gleichbedeutend mit der Aufgabe, Schellings Theorie des religiösen Bewusstseins zu entfalten. Denn der Bezug des Menschen auf Gott manifestiert sich in der Art, wie Gott dem Menschen bewusst ist. Die in der Schöpfung aufgezeigte reale Beziehung Gottes zum Menschen zeigt sich idealistisch im menschlichen Bewusstsein als dessen Beziehung zu Gott – das heißt, als das Grundphänomen des Religiösen. Auch für die Darstellung des religiösen Bewusstseins ist mit der Entfaltung der Potenzenlehre als Theorie der Konstitution des Bewusstseins, wie es in den ersten Kapiteln dieser Untersuchung dargelegt wurde, bereits ein wesentlicher Schritt geleistet. Sie ist hier lediglich zusammenzufassen und um die Aspekte der Ebenbildlichkeit und Interpersonalität zu ergänzen (I.), um von dort aus die Veranlagung des menschlichen Bewusstseins aus seinem fundamentalen Gottesbezug in drei Stufen zu rekonstruieren: Vom einem prähumanen Urbewusstsein (II.) und dem Be-

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wusstsein des Menschen vor dem Sündenfall (III.) aus wird das religiöse Bewusstsein des wirklichen, geschichtlichen Menschen (IV.) entwickelt, der dann Gegenstand der Untersuchungen zur humanen Handlungstheorie ist, die im anschließenden vierten Abschnitt durchgeführt wird.

I. Ebenbildlichkeit und Interpersonalität Die Deduktion der Potenzen als Prinzipien des Seins hatte einerseits die idealistische Position ergeben, dass das Prinzip des Seins Bewusstsein, und zwar in der Form eines absoluten Geistes Gottes ist, und dass andererseits die Potenzen als unselbständige Momente des Bewusstseins in dieses eingingen und sein dynamisches Innenverhältnis prägten. Dieses konstitutive Innenverhältnis ließ sich einerseits voluntativ als Gefüge verschiedener aufeinander bezogener Willensbildungen verstehen, andererseits im Kontext der theoretischen Philosophie als das System von Subjekt-Objekt Verhältnissen, welches göttliches und menschliches Bewusstsein gleichermaßen als seine transzendentale Voraussetzung hat. Schelling explizierte die Vollendung dieses Bewusstseins aus der Bewegung subjektivitätsphilosophisch gedeuteter Potenzen dahingehend, dass das Bewusstsein darin bestehe, dass in ihm „Subjekt und Objekt unzertrennlich vereinigt“ (SW XIII, 254) seien. Diesem Gedanken, nach welchem die Zweiheit des aufeinander bezogenen Subjektiven und Objektiven in der Einheit des Bewusstseins aufgeht, ohne darin zu verschwinden, entsprach die Dialektik, dass das Bewusstsein „als Subjekt sich selbst Objekt“ (SW XIII, 253) ist. In diesem Gedanken der notwendigen Selbstobjektivierung und der Rückbeziehung des objektivierten Selbst auf den Subjektivitätspunkt – d. h. des Bewusstwerdens dieser Selbstbeziehung – war die Grundstruktur des reflexiven Selbstbewusstseins beschrieben, und zwar jene transzendentale Grundstruktur, die aller expliziten und gewollten Beziehung eines Bewusstseins auf sich selbst bereits zugrunde liegt. Dass das Bewusstsein mit Schelling als Selbstverhältnis zu verstehen ist, als etwas, das unter der Grundform des sich-zu-sich-Verhaltens steht, bedeutete zugleich, dass das Bewusstsein als sich selbst bewusstes in sich selbst verwirklicht ist. Dasjenige, das bewusst ist, muss gleich demjenigen, dem es bewusst ist – bewusst sein. Sonst wäre es kein Bewusstsein seiner selbst, sondern von etwas anderem. Auf den absoluten Geist bezogen bedeutete dies: Gott wird durch die Vorstellung seiner selbst in sich wirklich. Als Vorstellung (Vorgestelltes) seiner selbst ist er sich zunächst als Objekt gegeben, als Selbstvorstellung ist dieses Objekt das selbst

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objektivierte Subjekt. Das hieß, erst in der Vorstellung seiner selbst als Gegenüber wird aus einer unhintergehbaren und bis dato bloß abstrakten, bewusstlosen Subjektivität Bewusstsein als Selbstbewusstsein in der vollen Subjekt-Objekt-Struktur. Damit sind die Voraussetzungen für einen wichtigen zweiten Schritt gegeben, den es nun in Bezug auf den Menschen zu vollziehen gilt und der sowohl die Möglichkeit des Handelns überhaupt als auch damit verbunden die Mensch-Gott-Beziehung im Kern betrifft: indem Selbstbewusstsein sich auf etwas anderes als sich selbst und auf sich selbst beziehen kann, kann es sich auch auf sich selbst als etwas Anderem beziehen; d. h. es kann sich als einen anderen anschauen. Im Fall des absoluten Geistes Gottes vor der Schöpfung heißt dies: Gott kann sich auf die mögliche Schöpfung als etwas Anderem beziehen und er kann sich selbst als Gott betrachten. Aber darüber hinaus kann er in der Kombination dieser beiden Elemente auch sich selbst, Gott, als einen anderen, (und zwar in oder außer sich), betrachten. In der Freiheitsschrift beschreibt Schelling diesen Vorgang so, dass mit dem entstehenden Reflexionsbewusstsein notwendig ein Selbstbild Gottes entstehe: [Es] erzeugt sich in Gott selbst eine innere reflexive Vorstellung, durch welche, da sie keinen andern Gegenstand haben kann als Gott, Gott sich selbst in einem Ebenbilde erblickt. Diese Vorstellung ist das Erste, worin Gott, absolut betrachtet, verwirklicht ist, obgleich nur in ihm selbst; sie ist im Anfange bei Gott, und der in Gott gezeugte Gott selbst (AA I,17, 132/SW VII, 360 f., Herv. Vf.).

Diese biblisch anspielungsreiche Passage ist hochbedeutsam: Zum einen legt sie deduktiv überzeugend dar, dass ein absoluter Geist als streng genommen erstes und einziges Sein zwar dank intentionalem Objektbezug sich auf ein anderes beziehen kann, dass dieses andere aber mangels existierendem anderen Sein nur wieder er selbst sein kann, und zwar er selbst als ein Anderer: ein Gott in Gott. Dass Schelling diese Art des Entstehens Zeugung nennt, zeigt, dass er mit dem ‚Gott in Gott‘ Jesus als den vom Vater gezeugten Sohn meint – dass er von einem Ebenbild seiner selbst spricht, zeigt, dass er damit zugleich sowohl gemäß 2. Kor. 4,4 Jesus als Ebenbild Gottes als auch gemäß Gen. 1, 26 f. den Menschen als Bild (und Gleichnis) Gottes meint. Dies ist insofern auch nicht widersprüchlich, als Jesus bekanntlich der Gott in Menschengestalt ist, der Gottessohn, der zugleich Menschensohn (Mk. 9,12) genannt wird. Als Gottessohn betrachtet Gott ihn als Ebenbild in sich, als Menschensohn ebenso wie den Menschen selbst als Ebenbild außer sich. Dass zuletzt diese Vorstellung im Anfang bei Gott ist, zeigt in Anspielung auf den Johannesprolog (Joh. 1,1), dass sie gleichursprünglich mit dem Wort ist,

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das Schelling dementsprechend als den „ewigen Geist“ (AA I,17, 132/SW VII, 361) interpretiert, wodurch sich in Gott das trinitarische Gefüge vollendet. Für die gegebene Fragestellung festzuhalten ist, dass zu Gott als absolutem Geist von Anfang an das Bewusstsein von einem anderen ihm gleichen Bewusstsein gehört, das als sein Ebenbild bezeichnet wird und worin im Aspekt von Christus als Menschen eben der Mensch erscheinen kann. Dies ist der innere systematische Grund, der rechtfertigt, den Menschen als Ebenbild Gottes aufzufassen. Ja, mehr noch: offensichtlich kann die Möglichkeit eines Anderen für Gott vor der Schöpfung nur auf die Weise gegeben sein, dass er sich selbst, aber als ein Anderer, sichtbar wird. Demnach ist das sich Zeigen der Möglichkeit der Schöpfung gleichsam der Spiegel, in dem der absolute Geist sich selbst als einen Anderen sieht. Die Schöpfung ist die Möglichkeit, „ein Bewusstsein seiner selbst außer sich [zu] setzen“ (SW XIII, 304).70 Damit ist zum einen die für das Verhältnis Gottes zum Menschen entscheidende Idee systematisch veranlagt, dass dieser in einer spiegelbildlichen Relation zu Gott stehen müsse. Dass „der Mensch das Ziel und in diesem Sinn alles des Menschen wegen sei“ (SW XI, 494), entspringt nicht einer willkürlichen Zielsetzung Gottes, sondern der strukturellen Notwendigkeit der Schöpfungssituation. Demnach müssen wir im Hinblick auf die Frage nach dem Zustandekommen des religiösen (Gott beinhaltenden) Bewusstseins im Menschen zunächst festhalten, dass es in Gott ein humanes, d. h. in der Gestalt des Sohnes notwendig auf den Menschen bezogenes Bewusstsein gibt; von hier aus ist es über die Ebenbildlichkeitsthese allerdings nur noch ein Schritt zum religiösen Bewusstsein des Menschen: wenn der Mensch das Ebenbild Gottes ist, ist Gott auch das Ebenbild des Menschen und wenn das göttliche Bewusstsein notwendig den Menschen als sein Ebenbild enthalten muss, muss auch des menschliche Bewusstsein Gott als sein Ebenbild enthalten: „In dem menschlichen Wesen ist Gott praeter se in einem ihm vollkommen gleichen Abbild verwirklicht“ (GPP 357). Die Redeweise von Schellings ‚Anthropomorphismus‘ ist gängig und zutreffend.71 70   Diese Idee des Ebenbilds als eines Anderen in Gott ist strukturell bereits 1804 in Philosophie und Religion im Modell des Gegenbilds im Absoluten entwickelt. Vgl. SW VI, 39 f. und Cabezas 2017, insb. 9–11 und 20. 71   Vgl. SW VIII, 167: „Entweder überall keinen Anthropomorphismus, und dann auch keine Vorstellung von einem persönlichen, mit Bewusstsein und Absicht handelnden Gott (welches ihn ja schon ganz menschlich macht), oder einen unbeschränkten Anthropomorphismus, eine durchgängige und […] totale Vermenschlichung Gottes“.

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Dabei geht Schelling methodisch zunächst den umgekehrten Weg der Schöpfung: er entwirft Gott als Geist entsprechend menschlicher Strukturen des Bewusstseins. Dies hat ihm den Vorwurf des Anthropomorphismus im abwertenden Sinn eingebracht, nämlich dass er Gott vermenschliche und ihn dadurch seiner besonderen Stellung und Würde weit über dem Menschlichen beraube. Gegen diesen Vorwurf hat sich Schelling mehrfach mit Vehemenz gewehrt: ein Gott, der in einer ungreifbaren Erhabenheit schwebe und kein menschliches Maß habe, sei keiner, zu welchem wir eine persönliche (und nicht bloß abstrakte) Beziehung haben könnten.72 Vom Standpunkt des aus der Perspektive des Menschlichen entwickelten Gottes kann Schelling dann umgekehrt über das Argument der Gottesebenbildlichkeit die Grundverfassung des menschlichen Bewusstseins darlegen: Gott wird menschlich (und dadurch auch ein Gott für die Menschen) und umgekehrt wird der Mensch göttlich – einer, der eine göttliche, Gott zugewandte Seite in sich trägt. Dieses Verfahren, Gott über die Ebenbildlichkeit zum Menschen und den Menschen über die Ebenbildlichkeit zu Gott zu beschreiben, ist nicht zirkulär. Denn zum einen bedeutet Ebenbildlichkeit nicht Identität: es gibt sowohl für Gott als auch für den Menschen zusätzliche Eigenschaften, die ihnen jeweils singulär zukommen, und die Asymmetrie der Ebenbildlichkeitsbeziehung besorgen. Insbesondere hat der Mensch im Vergleich zu Gott den „Unterschied des Gewordenseins“ (SW XIII, 349). Daher ist der Mensch „nur der äußerlich hervorgebrachte, der geschaffene, gewordene Gott […], der Gott in kreatürlicher Gestalt“ (SW XII, 124). In diesem Gewordensein liegt, dass der Mensch unter der Bedingung von Zeitlichkeit und Endlichkeit steht und dass die Asymmetrie der Zeit-Ewigkeitsbeziehung für das Mensch-Gott-Verhältnis dominant bleibt. Hinzu kommt, dass Fügung der Potenzen ist in ihm nicht unwandelbar, sondern zertrennlich ist (AA I,17, 134/SW VII, 364) und dass er im Gegensatz zu Gott die Möglichkeit zum Bösen hat. Zudem ist das Verfahren methodisch deswegen korrekt, weil das göttliche und menschliche Bewusstsein nicht lediglich aus sich selbst erklärt werden: der absolute Geist Gottes muss den Anforderungen einer Prinzipiendedukti-

Zu Schellings Anthropomorphismus verteidigend schon Heidegger GA II,42, 282 f.; instruktiv hierzu: Florig 2010, 57–63. 72   Vgl. AA II,8, 94/SW VII, 432: „[J]e mehr wir diesen Begriff von Gott hinaufschrauben, desto mehr verliert Gott für uns an Lebendigkeit, desto weniger ist er als ein wirkliches, persönliches, im eigentlichen Sinn, wie wir, lebendes Wesen zu begreifen. Verlangen wir einen Gott, den wir als ein ganz lebendiges, persönliches Wesen ansehen können, dann müssen wir ihn eben auch ganz menschlich ansehen“.

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on des Seinsursprungs genügen und das menschliche Bewusstsein muss phänomengerecht dem uns introspektiv bekannten entsprechen. Da das reflexive, gleichermaßen göttliche wie menschliche Selbstbewusstsein zudem als das Bewusstsein von Personen aufzufassen ist – wobei unter einer Person mit Schelling ein individuelles, geistiges, d. h. eben mit Selbstbewusstsein ausgestattetes Wesen zu verstehen ist73 – kann Schelling die interne Selbstbewusstseinsstruktur als ein personales Innenverhältnis, das zugleich ein Verhältnis zwischen identischen Personen ist, deuten. Das heißt, dass Bewusstsein automatisch mit mindestens einer Verdoppelung der personalen Bezugspunkte verbunden ist: Personsein, lässt sich mit Schelling sagen, besteht daraus, dass jemand sich selbst als Objekt haben, d. h. ein Ebenbild seiner selbst erblicken kann. Dieses Ebenbild ist jedoch nicht schlechthin identisch mit demjenigen, der dieses Ebenbild erblickt. Sondern in seiner Objektivierung fasst sich jemand als eine bestimmte Person auf. Dieses hierdurch entstehende fundamentale Selbstbild, das Personen entwickeln und in dessen Licht sie sich sehen, ist wiederum Teil ihrer Persönlichkeit selbst. Im Falle Gottes ist Jesus als Ebenbild Gottes Gott als ein anderer – als eine besondere Möglichkeit seiner selbst. Erst indem sich in Gott das Bild des Sohnes erzeugt, kann er sich selbst als Vater auffassen. Darin liegt aber eine weitere allgemeine personale Ebene begründet: Insofern jemand sich als jemand versteht, ist diese Person zuletzt diejenige Einheit, die diese beiden personalen Momente umgreift. Personen zeichnen sich u. a. dadurch aus, dass sie ein Bild in Form einer Deutung von sich haben. Hierbei kommt eine grundsätzliche drei-Personen-Dialektik zustande: Wenn x sich als y versteht, so ist er nicht mehr bloß x, sondern z als der sich als y verstehende x. Deshalb kann Schelling die Dreieinheitsstruktur nicht bloß als ein Spezifikum des christlichen Gottes, sondern als allgemeinen Charakter des personalen Bewusstseins überhaupt auffassen. Die Idee der Dreieinigkeit ist qua Bewusstseinsbinnenstruktur 73  Vgl. Freiheitsschrift: „Der Mensch ist Geist als ein selbstisches, besonderes [= individuelles] Wesen, welche Verbindung eben die Persönlichkeit ausmacht“ (AA I,17, 135/ SW VII, 364). Nach Hermanni 2004, 172 ist demnach Persönlichkeit bei Schelling durch die Verknüpfung der Selbstheit mit dem als Verstand zu verstehenden Geist ausgezeichnet; Buchheim 2004, 24 bezieht in der Interpretation derselben Stelle noch explizit den dunklen Grund der Natur ein (der in etwa der ersten Potenz der Spätphilosophie entspricht), so dass mit dem Schelling der Freiheitsschrift als Persönlichkeit „eine individuell gehaltene (‚selbstische‘) Natur, die denkt oder Bewusstsein von sich hat“ zu verstehen ist. Für die Spätphilosophie siehe zudem Danz 2005, 45–65, wonach zur Persönlichkeit Gottes zu den Strukturmomenten des Geistes noch deren Vollzug im Handeln, d. h. ihrer geschichtlichen Realisierung gehört (57).

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„eine allgemein menschliche, mit dem menschlichen Bewusstsein selbst verwachsene“ (SW XIII, 314).74 Das heißt, Bewusstsein genügt sich nicht in seiner Selbstbezüglichkeit. Indem es in sich einen anderen erblickt, ist es immer schon auf ein alter ego bezogen, das es benötigt, um sich selbst zu erkennen. Daher bedürfen Personen anderer Personen in und außer sich. Darin, dass „das Ich […] als selbst Persönliches Persönlichkeit verlangt, eine Person fordert“ (SW XI, 569), liegt der Ursprung der Intersubjektivität. Zur Idee von Personalität gehört demnach mit Schelling immer die Idee einer Pluralität (oder zumindest Dualität) von Personen und ihr interpersonaler Bezug.75 Darin ist die Idee sozialen Handelns und der Interpersonalität fundamental veranlagt. Wenn nach diesen Voraussetzungen Handeln zuallererst überhaupt nur so möglich ist, dass eine handlungsfähige Person auf etwas anderes ihm gleiches, d. h. auf eine andere handlungsfähige Person bezogen ist, dann ist damit festgestellt, dass jedes Handeln, auch das menschliche Individualhandeln, primär auf interpersonalen, sozialen Beziehungen beruhen muss. Die soziale Dimension des Handelns ist so bei Schelling nicht erst nachträglich einer in sich bereits bestehenden Konzeption selbstbezüglicher Handlungen angehängt. Sondern umgekehrt ist der interpersonale Bezug dem Handeln fundamental eingeschrieben. Handeln ist so das sich selbst Übersteigen eines Bewusstseins auf eine andere Person hin, ist die Suche nach dem alter ego als Befreiung aus der Einsamkeit des eigenen Geistes. „Person sucht Person“ (SW XI, 566) fasst Schelling dieses Verhältnis auf seinen spätesten Blättern knapp zusammen und betont, auch aus der Position des Menschen auf Gott, dass dieses Bedürfnis „praktisch entsteht“ (SW XI, 569), das heißt, der Struktur des Handelns selbst eingeschrieben ist: „Dieses Wollen“, fährt Schelling dort fort, „ist kein zufälliges, es ist ein Wollen des Geistes, der vermöge innerer Notwendigkeit und im Sehnen nach eigener Befreiung bei dem im Denken eingeschlossenen nicht stehen bleiben kann“. Der der erste Handlungsbezug des Menschen ist das personale Gegenüber. Von hier aus lässt sich nun auch über die Wechselbezüglichkeit der Ebenbildlichkeitsthese und der Interpersonalität das Motiv der Schöp74   Entsprechend kann Schelling sagen, die Idee der Dreieinigkeit sei „älter als das Christentum“; dieses sei nur „eine Folge dieses ursprünglichen Verhältnisses“ (SW XIII, 313). 75   Hierzu allgemein Spaemann 1996, insb. 191–208. Ad Schelling vgl. Sturma 2004, 55–70. Sturma hebt hervor, dass die vom Standpunkt des Menschlichen aus gesuchte göttliche Person gerade keine sein kann, die als Selbsterzeugte gilt, da eine als selbsterzeugt geltende Ewigkeit die Erwartung an sie trüben würde (vgl. SW XI, 567). Denn „die endliche Person strebe danach, sich rückhaltlos einer anderen Person anzuvertrauen“ (69).

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fung präzisieren. Bis dato hatte die Analyse der Zielstruktur des göttlichen Handelns in der Schöpfungssituation dargelegt, dass „das eigentliche Motiv […] nur die Kreatur sein“ (SW XIII, 277) konnte: „Nur durch die Vorstellungen der künftigen Kreatur konnte Gott bewogen werden, aus seiner Innerlichkeit herauszugehen und sich des Seins anzunehmen“ (Initia, 155). Jetzt lässt sich dies begründet dahingehend spezifizieren, dass diese Kreatur keine andere als der Mensch ist und sein kann, als der sich die Kreatur „Gott im Bilde“ (ebd.) zeigt. Der Mensch ist das eigentliche und einzige Motiv der Schöpfung – ja er ist der Inhalt der Schöpfung selbst. Diese Sonderstellung als einziges Motiv der Schöpfung hat der Mensch indes nicht nur deshalb, weil auch Gottes Handeln ursprünglich von interpersonalem Charakter ist und der Mensch als sein Ebenbild eben die erste Person ist, auf die er sich beziehen kann. Und auch nicht nur deshalb, weil der Mensch ein Spiegel Gottes ist und Gott sich selbst in diesem Spiegel gleichsam als sein Gegenüber erkennt (dazu könnte ihm die einfache Selbstanschauung gleichermaßen dienen – Gott „hat nicht nötig, sich gleichsam einen Spiegel zu verschaffen, worin er sich selbst beschaue; denn er ist sich selbst von Ewigkeit bekannt“ (GPP 355)). Sondern weil Gott im Menschen seinerseits gespiegelt vorhanden ist und Gott sich selbst im Menschen in dessen, nämlich der menschlichen Perspektive erkennen kann. Schelling nennt als sein einziges göttliches Verlangen in der Schöpfung, dass Gott „als das, was er ist, auch erkannt zu werden [wünscht], weshalb er ein Anderes von sich zu setzen, und es in das Erkennende von sich zu verwandeln“ (SW XIII, 304) veranlasst wurde.76   Zwei Anmerkungen: 1) Ist die Metapher des Spiegels eine Leibniz entnommene Gedankenfigur, die Schelling wiederholt verwendet; vgl. schon SW I, 358, wo er im Referat dieser Gedankenfigur an Leibniz gerichtet ausruft: „Unsterblicher Geist, was ist uns aus deiner Lehre geworden!“. In Leibniz‘ Monadologie sind die Monaden, die sich als Subjekte interpretieren lassen, je perspektivische Spiegel der gesamten Welt (vgl. Monadologie § 56 = Leibniz 2014, 133). Schelling referiert einerseits eben diesen Gedanken, erweitert ihn andererseits zu einer Theorie der Außenweltobjektivität und Intersubjektivität, wonach die Objektivität der Welt für ein Subjekt nur dadurch, „dass sie von Intelligenzen außer ihm angeschaut worden ist“ (AA I,9.1, 253/SW III, 556) möglich wird. Weiter heißt es hier, dass „die anderen Intelligenzen gleichsam die ewigen Träger des Universums [seien], und so viel Intelligenzen, so viel unzerstörbare Spiegel [!] der objektiven Welt“ (ebd.) seien. Es ist leicht zu sehen, das für die Wechselrelation von Gott und Mensch dieses Modell den Hintergrund bildet. 2) liegt darin unausgeführt der Aspekt einer sozialen Handlungstheorie, dass die Handlungsmotivation stets mit dem bestimmten Bild verbunden ist, das ein Akteur in seinem personalen Gegenüber von sich zu haben wünscht. Alle Motive, die auf private 76

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Damit ist das Motiv für die Schöpfung präzisiert und zugleich nicht weniger gesagt als dies, dass vom Standpunkt der Offenbarung aus der Aspekt des religiösen Bewusstseins, das heißt des menschlichen Bewusstseins, das Gott beinhaltet, der entscheidende für die Veranlassung der gesamten Schöpfung war. Dies lässt sich auch unmittelbar einsichtig machen: bedeutet ‚Offenbarung‘ ein Nach-außen-Treten und sichtbar-Werden des Wesens Gottes, so würde die Erschaffung der ganzen Welt inclusive des Menschen dieses Ziel verfehlen, wenn der Mensch kein Bewusstsein von Gott hätte, da es dann kein Bewusstsein davon geben könnte, dass Gott sich durch die Erschaffung der Welt und des Menschen in ihr geoffenbart hätte. Nur Gott allein hätte dann Bewusstsein von sich und seiner Tat, wodurch die Schöpfung als Offenbarung seines Wesens grundsätzlich misslungen wäre, da Gott ja ohnehin schon vor der Schöpfung vollständige Kenntnis von sich und allen seinen Seinsmöglichkeiten hatte. Gott offenbarte sich demnach, „nicht damit das Außergöttliche, Gott Negierende sei, sondern damit es als das wirklich Hervorgetretene offenbarer und sichtbarer, […] und in das Gottsetzende, Gottbewusste verwandelt werde“ (SW XIII, 304). Wenn die Existenz eines gottsetzenden Bewusstseins die Motivation zur Erschaffung des Menschen als eigentlichem Ziel der Schöpfung war, dann bedeutet dies, dass umgekehrt Gott zum elementaren Kernbestand des menschlichen Bewusstseins gehören muss. Schelling sagt ganz ausdrücklich: Im „erste[n] wirkliche[n] Bewusstsein der Menschheit […] ist Gott“ (SW XI, 189).77 Dies bildet demnach die Kernrelation des Menschen zu Gott, die nun im Folgenden in drei Schritten entfaltet werden wird.

II. Das prähumane religiöse Urbewusstsein Noch vor der Entstehung des ersten wirklichen menschlichen Bewusstseins in der absolut-vorgeschichtlichen Zeit, die sich in der negativen Philosophie prinzipienontologisch darstellen ließ, etabliert Schelling ein ahistorisches Urbewusstsein des Menschen.78 Dieses menschliche Präbeoder öffentliche Reputation gehen (der Achtung, Bewunderung, des Ansehens usw.), lassen sich hierauf zurückführen. 77   Damit zeigt sich schon im Ansatz, dass Schelling das religiöse Bewusstsein ganz anders verortet, als dies in etwa bei Kant und Fichte der Fall war. Bekanntlich ist bei Kant Gott ein Postulat der praktisch-moralischen Vernunft während Fichte dies dahingehend weiterentwickelt, dass das religiöse Bewusstsein im moralischen enthalten, ja eine analytische Implikation des moralischen ist. Vgl. hierzu: Stolzenberg 2011, 161. 78   Vgl. Gabriel 2006, 35, der auf den für die gesamte Fragestellung der positiven Phi-

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wusstsein „jenseits des ersten wirklichen Bewusstseins […] ist das Bewusstsein in seiner reinen Substanz“ (SW XI, 189). In dieser Substanz des Bewusstseins ist nicht mehr enthalten als dasjenige, das aus dem Motiv zu seiner Existenz unmittelbar folgt. Da es Gottes Wille war, es möge ein Bewusstsein seiner selbst außer ihm als ein Erkennendes von ihn sein, ist das menschliche Bewusstsein in seiner Substanz lediglich und ausschließlich Bewusstsein von Gott. Es ist „seiner Natur nach, wesentlich, und so, dass es nichts anderes, nichts außer dem ist […] das Gott-setzende“ (SW XI, 189). Das Wesen des menschlichen Bewusstseins besteht demnach für Schelling fundamental und vor allem anderen darin, gottbewusst, d. h. religiös zu sein. Dieses erste religiöse Bewusstsein lässt sich nun hinsichtlich seiner Ursprünglichkeit näher charakterisieren: es ist 1) zeitlich ursprünglich in dem Sinn, dass es das Bewusstsein des Menschen im Anfang der Schöpfung ist. Das bedeutet, dass es nicht nur noch nicht Eingang in die geschichtliche, sukzessive Zeit erlangt hat, sondern dass es den Zustand vor dem Sündenfall darstellt. Es ist 2) genetisch ursprünglich in dem Sinn, dass es sich unmittelbar Gott als seinem Ursprung verdankt. Dies bedeutet auch, dass in diesem ursprünglichen Bewusstsein noch nichts liegt, das der Mensch selbst an ihm gemacht hat; das Setzen Gottes ist kein aktives, kein gewolltes oder auch nur gewusstes, sondern ein lediglich hingenommenes, „ohne eigenes Zutun, ohne eigene Bewegung“ (SW XII, 126). Damit ist auch gesagt, dass die Religiosität nichts ist, das das menschliche Bewusstsein sich erst im Lauf der Zeit zugezogen hätte – weder individuell durch Erziehung, Erfahrung, Reflexion oder kulturelle Prägung, noch kollektiv durch Offenbarung, kultisches Handeln, Tradierung usw. – sondern dass mit der Entstehung des menschlichen Bewusstseins die Religiosität bereits gegeben war. Es gibt demnach für Schelling keinen ursprünglichen Atheismus des Menschen, welcher dann erst durch die Erwerbung religiöser Begriffe (sei es durch eigene Tätigkeit, sei es durch Offenbarung) in einen Theismus umgewandelt würde. 3) Gott ist darin ursprünglich in dem Sinn gegeben, dass der Bezug des Bewusstseins auf ihn unmittelbar (und nicht etwa diskursiv) ist. Ja, das fundamentale Verhältnis des menschlichen Bewusstseins zu Gott ist im losophie wesentlichen Umstand hinweist, dass bei Schelling das Bewusstsein als Fall des Seins aufgefasst werden muss und nicht umgekehrt. Dies mag hier für das menschliche Bewusstsein in Abhängigkeit vom seinem göttlichen Bezugspol gelten, wird jedoch problematisch hinsichtlich Gott selbst, der als Absolutes eben absoluter Geist und damit – ausdrücklich seinslogisch vor den in ihn eingehenden Potenzen – Bewusstsein ist.

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Grunde gar keine Beziehung, bei der auf der einen Seite der Mensch, auf der anderen Gott stünde. Gott ist im menschlichen Bewusstsein durch dessen Konstitution bereits enthalten. „Das menschliche Bewusstsein ist […] ursprünglich mit dem Gott gleichsam verwachsen“ (SW XII, 120). Religiöses Bewusstsein ist demnach an seiner ursprünglichsten Stelle kein Wissen von Gott und kein Wollen Gottes (ebd.) und auch kein religiöses Gefühl (SW XIII, 190); Gott ist keine Vorstellung und kein Begriff (SW XII, 126).79 Sondern „das Prinzip der Religion setzt […] ein […] reales Verhältnis des menschlichen Wesens zu Gott voraus“ (SW XIII, 191). „Das menschliche [Bewusstsein] hat den Gott an sich, nicht als Gegenstand vor sich“ (SW XII, 120). Es ist „schon durch seine Natur, durch die Substanz seines Bewusstseins selbst ist es das […] Gott setzende Prinzip“ (SW XII, 119). Die Religiosität ist dem menschlichen Bewusstsein nach Schelling in seine tiefsten Konstitutionsschichten eingeschrieben. Es ist gewissermaßen von Grund auf religiös, vor allem anderen. 4) Das bedeutet auch, dass dieses Bewusstsein ursprünglich in dem Sinn ist, dass es nur auf Gott als seinen Ursprung bezogen ist; es hat Gott in dem strengen Sinn als einziges Objekt, dass es bis dahin noch nicht einmal sich selbst als Objekt hat. Es ist kein reflexives, sondern sich selbst nicht kennendes Bewusstsein; ein ausschließlich auf Gott bezogener (oder eher: in Gott aufgehender) Bewusstseinspol. Schelling charakterisiert dies treffend als „Versenktsein in Gott“ (SW XI, 189). Sein einziger nicht-diskursiver ‚Wissens‘-Gehalt ist Gott, und zwar so, dass es in diesem Wissen von Gott weder von sich selbst noch von seinem Gott-Wissen weiß. Dieses Wissen hat keinen Bezug auf Gott intentio recta, sondern man muss es sich eher in der Art einer inneren Selbstgefühlsqualität denken. Dieses erste Bewusstsein ist das Gott Wissende – aber so, dass es auch ganz nur dieses ist, gleichsam ganz hingerissen und, dass ich so sage, völlig verzückt in Gott (durchaus nichts für sich selbst), insofern also nicht das wissend-Wissende, sondern eben auch nur das unbeweglich, substantiell Wissende Gottes (SW X, 264).

5) ist das menschliche Bewusstsein ein notwendig Gott-setzendes (vgl. SW XI, 189). Das heißt nicht nur, dass menschlichem Bewusstsein mit faktischer Notwendigkeit Gott durch seine Genese anhängt, sondern dass Gott mit Seinsnotwendigkeit in jedes menschliche Bewusstsein als 79   Vgl. SW VI, 392, polemisch: „Wir verstehen [unter Religiosität] nicht, was ein krankhaftes Zeitalter so nennt, müßiges Brüten, andächtelndes Ahnden, oder Fühlen-Wollen des Göttlichen“. Hierzu auch SW XI, 142.

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dessen reale Ermöglichungsbedingung eingeschlossen ist. 80 Bewusstsein könnte mit Schelling ohne diesen ursprünglichen Gottesbezug überhaupt nicht sein. 6) ist das religiöse Präbewusstsein zuletzt ursprünglich in dem Sinn, dass darin der Ursprung des wirklichen menschlichen Bewusstseins liegt. Sofern wir das menschliche Bewusstsein mit gutem Recht als Selbstbewusstsein charakterisieren und erst darin auch seine Gottesebenbildlichkeit gründet, lässt sich die Substanz des Bewusstseins des ursprünglichen Menschen in der Schöpfung in seiner frühesten Entwicklungsstufe auch als dessen „Urbewusstsein“ (SW XI, 187) bezeichnen. Daher gilt: „Der Mensch (versteht sich immer der ursprüngliche wesentliche) ist an und gleichsam vor sich selbst, d. h. ehe er sich selbst hat, ehe er also etwas anders geworden ist – denn ein anderes ist er schon, wenn er auf sich selbst zurückgehend, sich selbst Objekt geworden ist – der Mensch, sowie er nur eben Ist und noch nichts geworden ist, ist er Bewusstsein Gottes, er hat dieses Bewusstsein nicht, er ist es, und gerade nur im Nichtactus, in der Nichtbewegung ist er das den wahren Gott Setzende“ (SW XI, 186 f.).

III. Das religiöse Bewusstsein des Ur-Menschen und der Sündenfall Von diesem religiösen Urbewusstsein zum wirklichen religiösen Bewusstsein des Menschen bedarf es zweier Schritte: (1) Den Schritt vom Urbewusstsein zu demjenigen Bewusstsein, das als schon menschliches noch der absolut-vorgeschichtlichen (prälapsarischen) Zeit in der Schöpfung angehört. Und (2) den Schritt des Sündenfalls, der die Transformation dieses Bewusstseins zu dem des wirklichen postlapsarischen Menschen bedeutet.

  Es liegt nahe, das Gott-Setzen „gleichsam transzendentalphilosophisch [als] die Bedingung der Möglichkeit jedes erdenklichen Gottesbewusstseins“ zu deuten (Reikerstorfer 2006, 233) – aber dies wäre eine Kategorie, die der negativen Philosophie angehörte, welche zuletzt zum Vernunftgott führt. Schellings Gott ist reale Seinsbedingung, nicht Denkbedingung, weswegen auch das Gottsetzen Seinsbedingung des religiösen Bewusstseins ist. 80

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1) Der prälapsarische Urmensch Die bloße Substanz des Bewusstseins, deren Wesen sich in der Gottbehaftetheit zeigte, ist als solche noch kein menschliches Bewusstsein. Aber es ist dessen zentrale ontologische Voraussetzung. Zu einem tatsächlichen menschlichen (wie göttlichen) Bewusstsein gehört Bewusstsein seiner selbst. Als bloß gottbezügliches Bewusstsein ist das Präbewusstsein außer sich, in einem extatischen Verhältnis, in dem es nicht verbleiben kann, da es sich als bloß transitives sonst in Gott verlieren und verströmen würde. Ein solches extatisches Urbewusstsein muss demnach auf sich zurückkommen, um bleibendes Bewusstsein sein zu können. Hierdurch verwandelt sich das Urbewusstsein in ein eigentlich menschliches, nämlich „das Bewusstsein des urspünglichen Menschen“ (SW XII, 188), das hierdurch ein „sich selbst Bewusste[s]“ (SW XII, 118), „sich selbst Objekt geworden[es]“ (SW XI, 187) wird. Zugleich verwandelt sich sein Verhältnis zu Gott, aus der ursprünglichen Versenkung zurückgenommen, „in ein freies Verhältnis“ (SW XI, 189). Hierin bleiben die Potenzen, welche das Sein Gottes formten, erhalten: das menschliche Selbstbewusstsein lässt sich von diesen her beschreiben als das in sich zurückgekehrte Außer-sich-Seiende, d. h. „das zu sich selbst wiedergebrachte“ (SW XII, 120). Es ist darin nicht nur frei gegenüber Gott, indem der einseitige und unwillkürliche Gottesbezug des Urbewusstseins überwunden ist, sondern es ist auch frei gegenüber den Einseitigkeiten der beiden ersten Potenzen, insofern diese in ihm ineinander aufgegangen sind. Der „Ur-Mensch“ (SW XIII, 348), wie ihn Schelling treffend nennt, ist so vollkommenes Spiegelbild Gottes: Er ist, „was Gott ursprünglich ist, [er] ist der wahrhaft gewordene Gott, [er] ist wie Gott, [er] ist also auch in der Freiheit wie Gott, denn [er] ist […] ein Gleichgewicht zwischen den beiden Potenzen, ein zwischen beiden [Potenzen] Schwebendes und frei Bewegliches“ (SW XIII, 347). 81 In diesem ersten menschlichen Zustand, der vom ursprünglichen Gottbezug des Ur-Bewusstseins in das Selbstverhältnis eines menschlichen Bewusstseins transformiert wurde, bleibt der substanzielle Gottbezug jedoch bestehen; das Urverhältnis zu Gott ist unaufhebbar. Es bleibt Substanz und Zentrum des ur-menschlichen Bewusstseins. Allerdings ist der Mensch auf der nun erreichten Ebene des Selbstbewusstseins sich dessen nicht mehr unmittelbar be81   Dass in der Freiheit des Willens das Ebenbild Gottes im Menschen zu finden sei, ist ein alter theologischer Gedanke, der durch B. v. Clairvaux in die dogmatische Tradition eingegangen ist (vgl. 1990, Bd. 1, 171–255, insb. 213 ff.; hierzu auch Schwöbel 2002, 245 f.).

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wusst. Weshalb? Im Zustand des Bewusstseins in der Schöpfung vor dem Fall, im Zustand der Gottgleichheit bewegt der Mensch sich in vollkommener innerer Harmonie, da die selbstbewusste Einheit der Potenzen in ihm derjenigen gleich ist, die den absoluten Geist Gottes ausmacht und er demnach auf der Stufe der Bewusstheit im Einklang mit seiner unbewusst-substanziellen Grundausrichtung auf Gott bleibt. Oder anders ausgedrückt: der Mensch, der von seiner Konstitution her streng wie Gott ist, kann den Gott, den er an sich hat, nicht als solchen erkennen, da er von ihm ununterscheidbar ist. Er muss den göttlichen Bezugspol in seiner eigenen Substanz für etwas halten, das er selbst ist. Hierdurch erhält die Gottesebenbildlichkeit zwei zusätzliche Dimensionen. Der Mensch ist nicht nur in der Hinsicht Spiegel Gottes, dass sich die drei göttlichen Potenzen in ‚Bauplan‘ des Menschen wiederfinden und dass der Urmensch in denselben Potenzenkonstellationen lebt wie Gott. Sondern Gott spiegelt sich auch im Menschen selbst, indem der selbstbewusste Mensch Gott als seine eigene Substanz findet. Andererseits findet sich Gott auch als Komponente im Selbstbewusstseinsverhältnis des Menschen. Denn der Ur-Mensch ist gegenüber den sein eigenes Bewusstsein prägenden Potenzen in Freiheit gesetzt. Schelling führt aus, dass sein Bewusstsein „frei [ist] von den Potenzen wie Gott, und in demselben Verhältnis zu ihnen wie Gott“ (SW XIII, 357), d. h., dass er „zwischen den 3 Potenzen als ein frei-sich-bewegen-Könnendes in der Mitte“ (GPP 475) ist. Wenn aber Selbstbewusstsein aus der Einheit der drei Potenzen gefügt ist, dann muss man ein Bewusstsein, das dem gegenüber frei ist, als ein Reflexionsbewusstsein höherer Stufe auffassen, nämlich als eines, das sich als Selbstbewusstsein präsent ist. Da dieses Selbstbewusstsein zweiter Stufe ein Verhältnis zu der Potenzentotalität als Geist ist, ist es zugleich ein bewusstes Verhältnis zu Gott, der als absoluter Geist ja in eben dieser Potenzentotalität bestand. Indem der Mensch das gottgleiche Verhältnis in sich ansieht, ist er auch hierin gottgleich, da auch Gott als reflexives Selbstbewusstsein sich selbst im inneren Spiegel ansehen kann. In dieser distanzierten Eigenperspektive entsteht nun im Gegensatz zum direkten und unreflektierten Urbewusstsein ein erstes ‚Wissen‘ um Gott und sich selbst, das notwendig mit einem sich distanzierenden Herausnehmen aus der ursprünglichen Gottesbeziehung einhergeht. 82 Und zwar   Gabriel 2006, 305 nimmt an, dass Schelling bereits in der „Selbstkonstitution der Subjektivität“ wegen der damit verbundenen Rückwendung auf sich selbst (Egoität) und Abwendung von Gott „eine Diagnose des Sündenfalls“ gesehen hätte. Demgegenüber wäre einzuwenden, dass der Mensch bereits ein bewusstes Verhältnis zu Gott haben musste, das sich in einer distanzierten Position zu den Potenzen äußerte, um sich von Gott abwenden und die Potenzen in Spannung versetzen zu können. Auch wäre 82

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ein Wissen, das sich und Gott noch gar nicht unterscheiden kann, sondern wegen der vielfältigen Ebenbildlichkeitsrelationen sich selbst wie Gott sieht. Dabei ist klar: So wie sich in Gott ein Bild seiner selbst als Mensch erzeugt, muss sich im Menschen als Ebenbild Gottes dank derselben reflexiven Selbstbewusstseinsverhältnisse, die in Gott wach sind, ebenfalls ein Bild seiner selbst erzeugen, und zwar als Ebenbild Gottes. Indem der Mensch sich selbst als Ebenbild Gottes in sich erblickt, erblickt er Gott als Objekt in sich. 2) Der Sündenfall Auch der Mensch kann also qua Selbstbewusstsein sich als einen anderen ansehen. So wie Gott in Jesus sich als Mensch ansehen kann, ist der Mensch sich in einem reflexiven Ebenbild gegeben, in welchem er sich umgekehrt als Gott ansehen kann. Damit sind die Voraussetzungen des Sündenfalls gegeben: indem der Mensch sich als Gott ansieht, kann er auch als Gott sein und wie Gott handeln wollen. Kurz: Der Mensch, der vor der Sünde ganz ist wie Gott, möchte als Gott handeln, worin eben die Versuchung besteht. 83 Hierbei kommt es zu der verhängnisvollen Täuschung, dass der Mensch sich gegenüber den Potenzen nicht nur in der Position dessen wähnt, der diese erkennt und bewahrt und sich in ein freies Selbstverhältnis zu ihnen (so wie sie sind) setzen kann, sondern dass er annimmt, sie auch zu beherrschen und frei gestalten zu können. „Er möchte eben das tun, was Gott getan hat, nämlich die Potenzen auseinandertun, […] um mit ihnen als Herr und als Schöpfer zu walten und zu wirken“ (SW XIII, 349). Hierdurch übergeht er in seiner Gottgleichheit die entscheidende Differenz zu Gott, nämlich sein Geworden-Sein. Denn nur Gott, als Schöpfer, kann sein eigenes Wesen aus sich hinauswenden (und eben dies heißt: sich offenbaren) und dennoch zugleich die kollektive Zurechnung des Sündenfalls problematisch, da diese Personalität und Selbstbewusstsein bereits voraussetzt und nicht bloß zur Folge haben kann. Daher muss der Übergang vom Urbewusstsein zum postlapsarischen Menschen mit einer doppelten Abwendung von Gott einhergehen: der unwissentlichen (und schuldlosen) vom bloß Gott-setzenden Urbewusstsein zum Selbstbewusstsein des Urmenschen (d. h. zum Sein wie Gott) und der wissenden und schuldhaften des Sein- und Handelnwollens als Gott. 83   Vgl. SW XIII, 357. Und treffend Gabriel 2006, 294: „Als Gott kann er [der Mensch] aber nicht sein, da er nicht selbst das Ganze ist, sofern es sich zu sich verhält. Während Gott sich als Ganzes zu sich verhält, verhält sich der Mensch zum Ganzen, indem er sich zu sich verhält, wobei das Ganze von ihm unterschieden ist“.

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er selbst bleiben. Dem Menschen als bereits geschaffenem ist dies nicht möglich. Daher schlägt der Versuch, an sein eigenes Wesen Hand zu legen, beim Menschen gegen ihn dahingehend um, dass das Potenzengefüge seines Bewusstseins, das er selbst in Spannung zu setzen versuchte, sich ihm nun als ein Zertrennliches zeigt, als eines, das hierdurch die ursprüngliche (paradiesische) Einheit für ihn verliert. Denn dem Menschen gelingt es zwar, in der Position der Freiheit die Potenzen in Spannung zu setzen und so ihre inneren Verhältnisse zu verschieben. Es gelingt ihm aber nicht, sie zu beherrschen. Indem die Potenzen ihre göttliche Konfiguration verlieren, werden sie von nun an bloß noch kosmische Potenzen sein, in denen Gott nicht mehr ist, und die als solche wirken und sich des Menschen bemächtigen. 84 Der Sündenfall als Abkehr von Gott ist demnach die erste eigentliche Aktivität, die erste selbstständige Bewegung, die das menschliche Bewusstsein in seiner Konstitutionsgeschichte ausführt. Schon sehr früh hat Schelling den Sündenfall „die erste willkürliche Tat“, mit der „die ganze Geschichte unseres Geschlechts“ (SW I, 439) beginne, genannt. 85 Daher ist des Menschen „erste Bewegung nicht eine Bewegung, durch die es den Gott sucht, sondern eine Bewegung, durch die es sich von ihm entfernt“ (SW XII, 120). Er entfernt sich deswegen von Gott, weil er sein Bewusstsein aus der ursprünglich göttlichen Potenzenharmonie gebracht hat. Allerdings ist diese abwendende Bewegung von Gott wiewohl nachvollziehbar, so doch nicht zwingend. Schelling beschreibt die Situation des Menschen vor dem Sündenfall in sondern späten Berliner Schriften als die Situation einer Seele, die „ein doppelter Wille (zwei Menschen)“ (SW XI, 419) beinhaltet, deren einer sich Gott zuwendet und die Seele so zu der machte, „die sein soll, d. h. die das Göttliche berührt“ (ebd.), während „nach dem anderen Willen […] sich die Seele Gott [versagt … und] macht, dass auch alles andere hinter dem Ziel zurückbliebt“ (ebd.). Die Entscheidung schließlich nach der Seite das Außergöttlichen ist eine Sache des Wollens – und zwar eines Wollens in seiner ursprünglichsten Form, die für Schelling wie schon in der Freiheitschrift (vgl. AA I,17, 152/ SW VII, 385) „nur Tat, reine Tat“ (SW XI, 419) sein kann.   Hierzu: Koslowski 2001, 628.   Eine zeitliche Lokalisierung des Falls ist allerdings mit Schelling schwierig. Gab es schon eine Zeit vor dem Fall, entsprechend der Erzählung der Genesis, in der die zeitliche Konstitution des Kosmos angeschlossen ist, da der Mensch sich im Paradies befindet? Schellings Formulierung, dass „die Katastrophe eintritt, sowie die Schöpfung vollendet ist“ (SW XIII, 375) scheint den Sündenfall eher in den Anfang der Weltzeit selbst zu legen. 84 85

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Diesen Vorgang versteht Schelling in unmittelbarer Interpretation des Sündenfalls in Gen. 3 zugleich als Erwachen der Erkenntnis des Unterschieds von Gut und Böse. Die Potenzen „bemächtigen sich […] des Menschen und seines Bewusstseins; […] für ihn – und für ihn zuerst – ist der Gegensatz der Potenzen ein Unterschied von Gut und Bös“ (SW XIII, 350). Der Sündenfall wird so auch zur Beschreibung der systematischen Stelle des Ursprungs des moralischen Bewusstseins des Menschen als einer Entfernung des Menschen von Gott. Hierdurch erhält die naheliegende Frage, weshalb das Erwachen der Erkenntnis des Guten und des Bösen in sich etwas Böses (und nicht etwas Gutes) sein soll (da hierdurch der Mensch erst zu einem moralischen Wesen wird), eine Antwort: die Erkenntnis des Guten und Bösen geschieht erst durch die Ausrichtung des Menschen vom (unbewusst) Guten zum nun im Kontrast hierzu sichtbar Bösen. Erst der Gegensatz lässt die Dinge erkennbar werden (vgl. AA I,17, 143/SW VII, 373). Das Gute bestand in Gott ontologisch zuvor; sichtbar als Gutes im Gegensatz zum Bösen wurde es erst mit der ersten bösen Tat im Sündenfall. 86 Deshalb muss der Sündenfall ex-post böse sein. Wäre er gut, gäbe es keine Gut-böse-Differenz und kein moralisches Bewusstsein. Aus der Ex-ante-Sicht des Akteurs vor seiner Handlung, welche gängig die Grundlage der moralischen Zurechnung bildet, ist er aber nicht moralisch vorwerfbar, sondern hat den Status einer inneren Notwendigkeit87, zumal einer solchen, die aus der Sicht der gesamten Geschichte eine positive Funktion erfüllt, da die durch den Sündenfall inaugurierte Entzweiung von Mensch und Gott zugleich der „Endabsicht der Geschichte [dient, die] die Versöhnung des Abfalls“ (SW VI, 63) ist. Das religiöse Bewusstsein auch des wirklichen Menschen erweist sich so als grundsätzlich moralisch-religiöses. Erst durch die Übertretung des göttlichen Gebots kommt dem Menschen zu Bewusstsein, Böses getan zu haben. Und dieses Bewusstsein bleibt dem postlapsarischen Menschen von da an kollektiv. 88   Die Kontrastierung von Gut und Böse wird durch die zweite Offenbarung in der Person Christi nochmals verschärft. Jetzt tritt das Gute in persönlicher (und nicht mehr bloß abstrakter wie in der Gesetzesreligion) Gestalt hervor und kommt erst dadurch für Personen zum vollen Bewusstsein (vgl. Jacobs 1993, 262 f.). 87   Entsprechend: Sandkühler 2013, 121 f. und Piper 1985, 203. 88   Es gibt eine alte, von Iräneus herrührende theologische Unterscheidung zwischen zwei Aspekten der Ebenbildlichkeit: der Gleichheit mit Gott (similidudo dei), welche durch den Sündenfall verloren geht und des Bildes Gottes (imago dei), das von diesem unberührt bleibt (vgl. hierzu: Hermanni 1994, 205 f. und Leonhardt 2009, 264 ff.). Diese Unterscheidung scheint systematisch sinnvoll: denn wäre die Ebenbildlichkeit vollstän86

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Mit dem Entstehen moralischer Vorstellungen wird der Mensch in einem zweiten Schritt auch individuell vor die Frage gestellt, auf welche der beiden Seiten des Guten und des Bösen er seine Existenz ausrichten will. Diese Frage nach der Herkunft des Bösen, das in individuellen menschlichen Handlungen wirksam ist, ist eine der zentralen Fragen der Freiheitsschrift. Schelling verknüpft sie dort fundamental mit der Frage nach dem Charakter und „Wesen der menschlichen Freiheit“ (AA I,17, 111/SW VII, 336), die im folgenden Kapitel Thema sein wird. Zur Verortung des systematischen Zusammenhangs mit dem religiösen Bewusstsein ist zunächst jedoch festzuhalten, dass der Mensch sich hinsichtlich seiner Moralität gemäß der Freiheitsschrift in einer freien Urentscheidung, die zeitlich-systematisch bis in die Schöpfung zurückreicht, einmalig festlegt. Damit wird verständlich, dass man sich die Entstehung des konkreten moralisch-religiösen Bewusstseins des Individuums als ein dreifaches Schöpfungs- (d. h.: Ewigkeits-) geschehen vorstellen muss: als passive Entstehung des mit Gott behafteten Ur-bewusstseins, als aktive Entstehung des (kollektiven) Ur-Menschen im Sündenfall und als Entstehung des moralischen Ur-Individuums.

IV. Das religiöse Bewusstsein des wirklichen geschichtlichen Menschen Betrachten wir von hier aus den geschichtlichen Menschen in seiner uns bekannten Form, so zeigt sich, dass das rekonstruierte Schöpfungsgeschehen in zweifacher Hinsicht in ihm wirksam ist: Es zeigt sich in ahistorisch-moralischer Perspektive als das dauerhafte Konstitutionsgefüge des religiösen Bewusstseins. Und es zeigt sich in Hinsicht auf seine tatsächliche Entwicklung in historischer Perspektive.

dig resistent gegen den Sündenfall, dann würde sich im Menschen in Hinsicht auf Gott durch die Sünde nichts ändern. Würde die Ebenbildlichkeit aber vollständig durch die Sünde des Menschen erlöschen, so wäre der postlapsarische Mensch wegen seiner totalen Differenz zu Gott als Adressat der Offenbarung möglicherweise nicht mehr zugänglich – Luther jedenfalls hat letzteres vertreten, weswegen der Mensch bei ihm auch keinen Eigenbeitrag zur Gnade leisten kann. Bei Schelling lassen sich mittels dieser terminologischen Differenzierung zwei Aspekte der Ebenbildlichkeit unterscheiden. Der Mensch ist imago dei hinsichtlich seiner Geist-Art als trinitarisch konzipiertes Selbstbewusstsein und der darin enthaltenen Interpersonalität. Seine ursprünglich gottgleiche Potenzenharmonie in sich war jedoch hinsichtlich ihres Status als aktuellem Bewusstsein similidudo dei.

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1) Die ahistorische Perspektive Unter ahistorischer Perspektive bestimmt die Schöpfung die dauerhaften Bedingungen des menschlichen Bewusstseins: dieses ist in der Sicht des Menschen immerwährend so, wie es der Schöpfungsmythos der Genesis und die Prinzipienrekonstruktion der positiven Philosophie sukzessive dargestellt haben. 89 Denn die Ewigkeit der Schöpfung ist, wie gesehen, keine bloß vorzeitige, sondern aus der Perspektive des Irdischen eine invariant-immerwährende, d. h. eine solche, die in dieser Geschichte unaufhörlich dauert (während sie aus der Perspektive Gottes das punktförmig-ausdehnungslos zusammengedrängte Prinzip war, dem die Zeit entsprang, indem es die Zeit enthielt und andererseits selbst als strukturprägendes Glied der Zeit in dieser enthalten war und so ontologisch mit der Geschichtszeit koexistierte). Aus der Perspektive des religiösen Bewusstseins ist daher das Geschehen der Schöpfung niemals vergangen; sie ist creatio perpetua, in einer Ewigkeit, die aller sukzessiven geschichtlichen Zeit zugrunde liegt. Dies bedeutet, dass die als sukzessive Entwicklungsstufen des menschlichen Bewusstseins in der Schöpfung beschriebenen Ebenen tatsächlich dessen dauerhafte Bewusstseinsschichten in hierarchisch-systematischer Bildung bleiben. Demnach hat der Mensch im Kern immer Gott an sich; sein Bewusstsein ist getragen von einem ewigen Grundzug zu Gott hin, ohne sich dessen allerdings explizit bewusst zu sein. Zugleich trägt er das verlorene Paradies in sich. Die ‚Erinnerung‘ an jenen Zustand seines Bewusstseins, der in der Harmonie mit Gott vor dem Sündenfall bestand, bildet die Tiefenschicht des Gewissens in uns. Es fungiert als Aufruf zu einer moralischen Umkehr, die zugleich Rückkehr in den prälapsarischen paradiesischen Zustand und in die innere Harmonie mit der eigenen Substanz bedeuten würde. Es ist „der potentielle Gott, [der den Menschen] vom sich selbst Wollen abzieht“ (SW XI, 556), um seinen Egoismus dem universellen Willen unterzuordnen. Folgt er dem Gewissen, tritt er „auf Gottes Seite hinüber: ohne von Gott zu wissen, sucht es [das Gewissen] ein göttliches Leben in dieser ungöttlichen Welt“ (ebd.). Demnach ist das Gewissen zugleich moralisch und religiös. Es ist phänomenal eine Erinnerung an ein ursprünglich Gutes als des Seins Gottes in uns; eine Erinnerung, die sich weniger auf die ferne Vergangenheit 89   Vgl. AA I,17, 154/SW VII, 387, wo Schelling ausführt, dass „in der Schöpfung der höchste Zusammenklang und nichts so getrennt und nacheinander ist, wie wir es darstellen müssen, sondern im Früheren auch schon das Spätere mitwirkt“.

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der Weltschöpfung lange vor unserer Geburt bezieht, sondern vielmehr eine immerwährende Gegenwartsvergegenwärtigung der beständigen Ewigkeit in uns ist. Das religiöse Gewissen präsentiert uns mit dem ursprünglichen Sein in Gott (in uns) auch unsere wesentliche, reale Bindung an Gott – welche ontologisch die Substanz unseres Bewusstseins bildet. „Religiosität bedeutet schon dem Ursprung nach ein Gebundensein“ (SW VI, 558). Dieses Gebundensein ist doppelt: es bindet den Menschen an Gott und es bindet ihn (da Gott seiner Substanz anhaftet) an sich selbst. Von dieser doppelten Bindung her lässt sich schließlich auch die epistemische und ontologische Herkunft des religiös-moralischen Bewusstseins bestimmen, des präskriptiven Bewusstseins, das durch diese doppelte Bindung den Menschen zu bestimmtem Handeln auffordert:90 (i) In der Selbstbindung liegt der phänomenale Ursprung der Moralität, welche als Gebot, sich selbst gemäß zu handeln, sich äußert. Demnach ist „Gewissenhaftigkeit, […] dass man handle, wie man weiß und nicht dem Licht der Erkenntnis in seinem Tun widerspreche. Einem Menschen, den dies nicht auf eine menschliche, physische oder psychologische, sondern auf eine göttliche Weise unmöglich ist, nennt man religiös, gewissenhaft im höchsten Sinne des Worts“ (AA I,17, 158/SW VII, 392).91 Also ist das ursprünglich gottgleiche Bewusstsein in uns durch den Sündenfall nicht vollständig verloren gegangen, sondern geblieben als Sediment des Gewissens, das den, dessen Potenzenverhältnisse in der Verkehrung der Sünde verblieben sind, zur Umkehr gemäß den göttlichen Verhältnissen, die in ihm verborgen sind, auffordert. (ii) In der Gottesbindung liegt hingegen der ontologische Ursprung der Moralität. „Ursprünglich“, führt Schelling aus, ist alle Verpflichtung nur Verpflichtung gegen Gott, und alle formelle Verpflichtung schreibt sich, […] von jener […] Verpflichtung her. […] Durch dieses Prinzip [der ursprünglichen Gott-Setzung] ist allein der Mensch eigentlich, ursprünglich und zwar dem Gott verpflichtet. Diese Urverpflichtung kann nun nicht und nie aufgehoben werden (SW XII, 524).

Wozu bedarf es aber in Hinsicht auf die Moralbegründung zusätzlich zur phänomenalen (göttlichen) Stimme in uns noch dieser ursprünglichen Verpflichtung? Die Antwort ist darin zu suchen, dass das Gewissen allein   Krüger 2008, 284 nennt das Bewusstsein des Ur-Menschen „supralapsarisch“, d. h. unabhängig vom folgenden Sündenfall. Dem ist nur insofern zuzustimmen, als es in sich erhalten bleibt; es ändert allerdings seine Stellung vom vollen Bewusstsein zur Schicht des Gewissens innerhalb des postlapsarischen Bewusstseins deutlich. 91   Jacobs 1993, 264 weist zu Recht auf die Nähe dieser Bestimmungen des religiösen Gewissens zu Kant (besonders AA V, 129) hin. 90

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zu einer letzten Rechtfertigung der Moral nicht genügt. Da der Mensch durch seine Reflexivität sich von allen Ebenen seines phänomenalen Bewusstseins distanzieren kann, kann er auch die Frage stellen, weshalb er einer Aufforderung des Gewissens zur Umkehr überhaupt folgen sollte, bzw. wie sich der Anspruch seines Gewissens an ihn rechtfertigen lässt. Im Grunde ist dies gleichbedeutend mit der metaethischen Grundfrage „Weshalb überhaupt moralisch sein?“92 Zur Überwindung einer solchen skeptischen Haltung den eigenen Bewusstseinsforderungen gegenüber bedarf es eines externen Grundes, dem das Bewusstsein samt Gewissen und Skepsis sich verdankt. Dieser Grund ist mit der Substanz des Bewusstseins, dem präbewussten Gott-Setzen (als einem realen, wenngleich unbewussten Verhältnis zu Gott) gegeben. Aus der Einsicht darin, dass das Gewissen sich unmittelbar dieser ursprünglichen Gott-Bindung verdankt, die Skepsis als selbsterzeugte Haltung jedoch nicht, lässt sich die verpflichtende Erkenntnis gewinnen, dass das Gewissen auch dem Inhalt nach kein Selbsterzeugtes ist, sondern in ihm die Stimme des realen Gottes zur Gegebenheit kommt, dessen ontologische Priorität im ursprünglichen Gott-Setzen bereits ‚anerkannt‘ wurde. 2) Die historische Perspektive Im Kapitel zur Geschichtlichkeit und Periodisierung der Epochenfolge hatte sich gezeigt, dass es für Schelling dieselben Prinzipien sind, die einerseits immerwährend das Sein des Menschen ausmachen, und die in historischer Perspektive andererseits zugleich dessen sukzessive Epochen in der kollektiven Geschichte seines Bewusstseins bilden. Auf das religiöse Bewusstsein bezogen bedeutet dies nun: der seinslogische Aufbau des (religiösen) Bewusstseins entfaltet sich im Nacheinander der Zeit zu den Epochen der tatsächlichen (Religions-) Geschichte, in denen sich die Grundkonstellationen des kollektiven religiösen Bewusstseins der Menschheit spiegeln.93 Diese hat zwei Hauptzeitalter: die   Vgl. Scarano 2006a, 25–35, insb. 30 f. Auch bei Kant ist es neben der Frage nach der Herkunft und dem Inhalt der Moral noch einmal eine eigene Frage, „woher das moralische Gesetz verbinde“ (AA IV, 450). 93   Buchheim 2015 hat die hier als ‚ahistorische‘ und ‚historische‘ bezeichnete doppelte Beziehung des Bewusstseins auf Gott seine ‚ideale‘ und ‚reale‘ Beziehung genannt. Danach ist die ideale die inhaltliche, und damit historisch sich wandelnde Beziehung auf verschiedene Gottes- und Göttervorstellungen; die reale deren ursprünglicher Bezug auf das Göttliche unter Absehung aller spezifischen Inhalte. Buchheim ist darin zuzustimmen, dass diese doppelte Seite erfasst zu haben zu den „größten Verdienste[n] Schellings 92

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polytheistische Periode der Mythologie und die monotheistische Periode der Offenbarung. Diese Perioden werden durch das zentrale Ereignis der eigentlichen (zweiten) Offenbarung, der Menschwerdung Gottes in Christus getrennt, durch welchen die außergöttlichen kosmischen Potenzen, die bewusstseinsprägend den Prozess der Mythologie bestimmten, wieder zur Einheit gebracht werden sollen.94 Deswegen konnte die Mythologie für Schelling als Epoche in der Geschichte des religiösen Bewusstseins Religion sein, aber eine bloß „notwendige, […], blinde, […] unfreie Religion“ “ (SW XIII, 194). Erst mit der (zweiten) Offenbarung tritt der Mensch in „die freie, geistige Religion [ein] – die Religion der freien Einsicht und Erkenntnis“ (ebd.). Auch die Einrahmung dieser Weltzeitalter von zwei prä- und posthistorischen Epochen lässt sich nun aus der Grundkonstellation des religiösen Bewusstseins verstehen: das goldene Zeitalter vor dem Sündenfall, in welchem das ur-menschliche Bewusstsein noch im impliziten Gott-Wissen aufging, und das Zeitalter der zukünftigen Erfüllung, in welchem dem Menschen in der Rückkehr zu Gott der gesamte historische Prozess zugleich offenbar würde, bilden die Bezugspole, zwischen welchen das historische religiöse Bewusstsein des geschichtlichen Menschen sich bewegt. Demnach gliedern die Tat Gottes als Schöpfung, die Tat des Menschen als Abfall von der Schöpfung und die Tat des menschgewordenen Gottes als Aufhebung der Tat des Menschen gegen die Tat Gottes und als Perspektive auf eine All-Versöhnung die Geschichte grundsätzlich als je spezifischen Konstellationen des religiösen Bewusstseins, d. h. des kollektiven Verhältnisses der Menschen zu Gott.95 In diesem Gedanken einer Rückkehr zu Gott liegt auch das eschatologische Moment des religiösen Bewusstseins, das zugleich die Perspektive auf Wiederherstellung einer ursprünglich verloren gegangenen Einheit und eine Rückkehr zum eigenen Wesen beinhaltet: „Ist [das Wesen des Menschen] der zurückgebrachte Anfang, so ist [es] wieder das, was im Anfang der Schöpfung war, es ist nicht mehr dem Erin Sachen Religion“ (430) gehört, da sie das erstaunliche Phänomen erklären kann, dass es einerseits eine historische Mannigfaltigkeit an religiösen Vorstellungen gibt und in Kontrast dazu eine durch diese nicht erklärbare, aber „darin beständig zum Ausdruck kommende Konstanz der Bindung des menschlichen Bewusstseins an Gott“ (431). 94   Vgl. P. Koslowski 2001, 625 und 660. Vgl. auch Hutter 1996, 307–312 der zu Recht auf die Bedeutung aufmerksam macht, die generell in der Trennung der geschichtlichen Epochen und gerade hier in der Zäsur als einer Zeitenwende, dem durch die Menschwerdung Gottes eintretenden „qualitativen Sprung zwischen Vorher und Nachher“ (308) liegt. 95   Vgl. Baumgartner/Korten 1996, 165.

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schaffenen, sondern es ist wieder der Quelle der Schöpfung gleich – das menschliche Bewusstsein ist also, indem es das Ende ist, zugleich auch wieder der Anfang der Schöpfung“ (SW XI, 85). Aber eine solche Rückkehr in den Anfang ist keine bloße Wiederholung eines vergangenen Zustands. Sondern die geschichtliche Bewegung geht einher mit einem umfassenden Bildungsprozess, einer fortschreitenden Selbst- und Gotteserkenntnis. Indem es die Perioden der Fort- und Zurückbewegung zu Gott durchlebt, durchläuft das menschliche Bewusstsein in zunehmender Selbsttransparenz und begrifflicher Durchdringung die Schichten und Potenzenkonstellationen, die sein eigenes je aktuelles Dasein bedingen. Das ursprünglich mit dem Einsetzen der Reflexion entstehende rudimentäre ‚Wissen‘ um Gott wird sukzessive in ein explizites, theoretisches Wissen transformiert, das am Ende des Prozesses eine Philosophische Religion oder ein Wissen des Wissens sein würde: „Soll es [das Gott-Wissende Selbstbewusstsein] das wissend-Wissende Gottes sein […], so muss es erst ausgehen von Gott, um in der Wiederkunft und Wiederkehr in Gott das ihn aktuell Wissende zu sein“ (SW X, 264).96 Bei Vollendung des Prozesses schließlich müsste dem menschlichen Bewusstsein „die ganze Bewegung von Anfang bis zu Ende durchsichtig sein, es wäre eingeborene Wissenschaft, gleichsam von Natur schon, durch eigenes Werden das universell Wissende“ (SW XI, 85). Diese Parallelität der äußeren Periodisierung der Geschichte des religiösen Bewusstseins (als objektiver Religionsgeschichte) mit dem seinslogischen Aufbau des Bewusstseins überhaupt ist keine bloß äußere Analogie. Sie verdankt sich der dialektischen Entwicklung der durch den Fall des Menschen in die Spannung ihrer Verkehrung versetzten Potenzen, die gleichermaßen das subjektive Bewusstsein wie die universelle Geschichte als die objektive Seite des Bewusstseins bestimmen. Der im Menschen

  Mit dem erstmals in der Urfassung gebrauchten Ausdruck ‚Philosophische Religion‘ (UF 15) bezeichnet Schelling eine „Philosophie […], die im Stande wäre, begreiflich zu machen, d. h. als möglich darzutun, was wir in der Mythologie, und mittelbar auch in der Offenbarung, erkannten – ein reales Verhältnis des menschlichen Bewusstseins zu Gott“ (SW XI, 250). Der Ausdruck ist schillernd, da Schelling hier einerseits genau das Projekt der Philosophie der Mythologie und Offenbarung beschreibt, andererseits den Konjunktiv verwendet und an derselben Stelle betont, die Philosophische Religion existiere nicht. M.E. bezeichnet Schelling damit nicht, wie W. Schulz 1955, 269 meint, den eigenen Standpunkt seiner geschichtlichen Philosophie als „Wissen um das jetzt noch ausstehende Ende“ – sie ist nicht mit dem Projekt der positiven Philosophie gleichzusetzen –, sondern das erst in der Apokalypse vollendbare Projekt einer wissenden Wiederkehr des Menschen in Gott. Vgl. hierzu Buchheims (2016) acht Thesen zu Schellings Programm einer philosophischen Religion. 96

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ausgetragene Kampf der Potenzen erhält in der Geschichte des religiösen Bewusstseins sein objektives Gepräge.97 Die Entwicklungsgeschichte des religiösen Bewusstseins ist so im Ganzen der Prozess eines sukzessiven Offenbarwerdens Gottes. Indem die Menschheit nach und nach ihre eigenen inneren Entwicklungsstufen durchläuft, bringt sie sich diese sukzessive zu Bewusstsein. Darin ist ein Aufstieg des Wissens um Gott enthalten, da dieser nicht nur der Urquell des menschlichen Seins und der erste Bezugspunkt seines Bewusstseins ist, sondern Gott als Geist die grundsätzlich selben Innenverhältnisse des Bewusstseins hat wie der Mensch. In der sukzessiven Selbst- und Gotterkenntnis des Menschen bleibt schließlich auch der ursprüngliche Schöpfungswille Gottes erhalten: die Offenbarung unter dem Motiv des Erkannt-Werdens Gottes ist erst dann vollendet, wenn der Mensch als das zunächst zwar substanziell, aber unverstanden gottsetzende, gottbewusste Wesen, zu einem gehaltvollen Gottesbewusstsein als geschichtlich reflektiertem Wissen von Gott kommt. In der ursprünglichen Gottesversenkung des Präbewusstseins war kein Wissen um Gott, da weder das religiöse Urbewusstsein des Menschen noch Gott als sein Objekt in ihren je vollen Gehalten gegeben waren. Mit dem Sündenfall jedoch beginnt eine Entfernungsbewegung des Menschen von Gott, welche erst in der Offenbarung der Menschwerdung Gottes in Christus zur Umkehr kommen kann. Von dort aus, aus der Distanz, ist dem Menschen die Perspektive gegeben, durch Aufhebung der Ursünde zu Gott zurückzukehren, was hinsichtlich der bewusstseinsprägenden Potenzenkonstellation in ihm bedeutet: in der monotheistischen Religion des Christentums ist die Möglichkeit enthalten, durch Hinwendung zu Gott diesen als Prinzip der Liebe und des Allgemeinwillens ins Zentrum des menschlichen Bewusstseins zurückzubringen und dadurch die ursprüngliche Harmonie der Potenzen wiederherzustellen.98 Die darin sich sukzessive vollendende Offenbarung ist zugleich die Erfüllung des „höchste[n] über allem schwebende[n] Weltgesetz“, das fordert, „das nichts verborgen bleibe, [sondern] alles offenbar werde, alles klar, bestimmt und entschieden sei“ (SW XII, 142).   Vgl. Wilson 1993, 52.   W. Schulz macht darauf aufmerksam, dass zwar die grundsätzliche Religiosität des Menschen in der ursprünglichen Bindung des Menschen an Gott gründet, dass aber die reale geschichtliche Religion die Abwendung des Menschen von Gott zur Bedingung hat: „Religion als ausdrückliche [Hervorh. Vf.] Bindung des Menschen an Gott setzt die Aufhebung der Unmittelbarkeit voraus, in der sich der ‚Urmensch‘ […] auf Gott bezieht. […] Erst die Entfremdung gibt die Möglichkeit einer bewussten Zuwendung zu Gott“ (Schulz 1955, 261). 97

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Kapitel 5: Religiöses Bewusstsein als Mensch-Gott-Verhältnis

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V. Zusammenfassung Fassen wir die Grundzüge von Schellings Theorie des religiösen Bewusstseins zusammen: 1) Inhalt: Das religiöse Bewusstsein beinhaltet für Schelling wesentlich die Vorstellung eines personalen Gottes. Gott ist kein vager Gegenstand einer Ahnung, Sehnsucht, eines Gefühls oder Intuition. Gott als der Gegenstand des religiösen Bewusstseins ist auch keine Vorstellung einer bloß unbestimmten Transzendenz und es ist keine bloß begriffliche Vorstellung eines all-vollkommenen Wesens. Er ist das persönliche Gegenüber des Menschen. Nur als solches kann er auch dem Menschen gegenüber verpflichtend sein. Als Vorstellung von einem Gott ist es auch keine Vorstellung von vielen Göttern wie in der Mythologie. Religiöses Bewusstsein ist für Schelling in der Substanz monotheistisch. Der Polytheismus ist eine bloß historische (und als solche durch die zweite Offenbarung Christi bereits wieder überwundene) Folge hiervon. 2) Herkunft: In der Vorstellung Gottes wird Gott als einer gedacht, dem das Bewusstsein seine Herkunft verdankt, das also die Seinsursache seiner selbst ist. Das heißt für Schelling, dass das Bewusstsein als eine Form des Seins (Gottes) angesehen werden muss (und nicht umgekehrt) und dass es in Gott als ontologischem Prius gründet. Das religiöse Bewusstsein wurde durch die Offenbarungstat Gottes geschaffen und besteht in der fortgesetzten realen Beziehung zu ihm. 3) Status: Auf Grund seiner Herkunft und inneren Konstitution ist jedes personale Bewusstsein notwendig religiös. Diese Religiosität ist weder nachträglich erworben, noch in der Zukunft wieder aus dem Bewusstsein suspendierbar. Sondern sie gehört dem Bewusstsein als seine ontologische Bedingung an, als eine, ohne welche mit Schelling Bewusstsein überhaupt nicht möglich wäre. Herkunft, Status und Inhalte des religiösen Bewusstseins begründen sich so als Bedingungen des menschlichen Selbstbewusstseins mit hoher innerer Notwendigkeit wechselseitig. Zentrales systematisches Verbindungsglied ist hierbei die Ebenbildlichkeit, die durch die Schöpfungsmotivation Gottes begründet ist und die dazu führt, dass das menschliche Bewusstsein als reflexives Selbstbewusstsein von drei-einheitlicher interpersonaler Art ist, zu welcher notwendig gehört, dass Gott als personales Gegenüber in ihm erscheinen kann. Von hieraus ist nun zu sehen, wie menschliches Handeln unter der zeitlichen und religiösen Konfiguration der Spätphilosophie Schellings sich vollzieht. Hierbei ist zunächst der Aspekt der Freiheit zu bedenken, wie ihn

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Schelling in Hinsicht auf den Menschen insbesondere in der Phase seiner mittleren Philosophie von 1809 –1815 entwickelt hat (Kapitel 6) und sodann die Hauptaspekte und Grundstrukturen einer Theorie freien, teleologischen Handelns des Menschen zu entfalten (Kapitel 7).

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4. TEIL DAS MENSCHLICHE HANDELN

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KAPITEL 6: DIE FREIHEIT DES MENSCHEN Aufgabe des nachfolgenden Kapitels ist, die Sache der menschlichen Freiheit in Schellings mittlerer Philosophie in handlungstheoretischer Hinsicht zu rekonstruieren. Ziel ist es, herauszufinden, wie sich Schelling menschliche Individualhandlungen unter ihrem Freiheitsaspekt denkt, d. h., wie humane Handlungen funktionieren, die mit Schellings Freiheit ausgestattet sind. 1 Dies erfordert einige klärende Vorbemerkungen. Ein Rückgriff auf Schellings mittlere Philosophie mit einem Schwerpunkt auf der Werkphase von der Freiheitsschrift bis zum dritten Weltalterentwurf (1809 –15) erweist sich in dieser Frage deshalb als sinnvoll und notwendig, weil Schelling in dieser Zeit wie in keiner anderen Schaffensphase eine anthropologische Perspektive einnimmt und den Menschen insgesamt stärker als sonst ins Zentrum seiner Erörterungen rückt, weswegen Schellings grundsätzliche Auffassungen zum menschlichen Handeln in den Schriften dieser Zeit gesucht werden müssen – von der Strahlkraft der Freiheitsschrift in der Schelling-Rezeption seit Heideggers Vorlesungen von 1936 einmal ganz abgesehen. Zugleich bleiben die Ergebnisse dieser Untersuchungen erhalten, da Schelling sie unter den je entsprechenden Systemmodifkationen auch in die Spätphilosophie weiterträgt. Allerdings divergiert eine Untersuchung handlungstheoretischer Elemente der Freiheit von einer Untersuchung ‚über das Wesen der menschlichen Freiheit‘, wie Schellings sie in der Freiheitsschrift und den nachfolgenden Jahren konzipiert. Es geht dabei nicht darum, die Freiheit menschlicher Handlungen unter dem Systemgedanken zu verstehen, selbst wenn Schelling hervorhebt, dass der Begriff der Freiheit erst durch den Nachweis seines Zusammenhangs mit dem Ganzen seine Vollendung erhalte, zumal er innerhalb des Systems den „herrschenden Mittelpunkt“ (AA I,17, 111/SW VII, 336) bilde. Schelling sieht seine Aufgabe darin, zu zeigen, was unter Freiheit begrifflich zu verstehen sei, was für ihn pri1   Eine Untersuchung dieser Frage ist ein gewisses Desiderat in der Schelling-Forschung. Vgl. hierzu zutreffend Buchheim 2012, 187, der konstatiert, dass der Freiheitsbegriff Schellings „so gut wie unbekannt und von der Forschung […] bisher noch nicht klar und in ganzem Umfang herausgestellt worden“ sei. Insbesondere fehlten Arbeiten, die sich um das „Gesamtkonzept der Willensfreiheit gemäß Schellings ‚Untersuchungen‘ bemühen und dieses […] ins Verhältnis zu den Standardanforderungen der heutigen Freiheitsdebatte setzen“ (188, Anm.).

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mär bedeutet, zu erklären wie sie in die Welt im Ganzen passe. Deshalb fragt die Freiheitsschrift schon im Titel nach dem „Wesen der menschlichen Freiheit und [den] damit zusammenhängende[n] Gegenständen“ (Herv. Vf.). Hierzu gehört auch der zentrale Zusammenhang zwischen der menschlichen und der göttlichen Freiheit, welche in der vorliegenden Untersuchung erst abschließend im Kontext der positiven Philosophie erörtert werden wird. Zunächst geht es um die direkte Frage, wie Freiheit in menschlichen Individualhandlungen sich realisiert, d. h. analog zur Frage nach der Freiheit Gottes darum, mit welchen Merkmalen Handlungen des Menschen ausgestattet sind, die ‚frei‘ im Sinne Schellings genannt werden können. 2 Dabei ist Schelling darin zuzustimmen, dass philosophische Untersuchungen eine begrifflich-terminologische und eine sachlich-systematische Seite haben; doch sind beide zu trennen. Terminologisch geht es darum, Schellings explizite Äußerungen zur Begrifflichkeit der Freiheit insbesondere in der Freiheitsschrift zu explorieren. Doch decken Schellings Begriffsdarlegungen seine Sacherörterungen zur Freiheit bei Weitem nicht ab. Demnach muss es, zur Darstellung der Sache der menschlichen Freiheit darüber hinaus darum gehen, Schellings handlungstheoretisch relevantes Freiheitskonzept aus dessen Sacherörterungen zu rekonstruieren. Dass zuletzt bei einer gelingenden Theorie Begriff und Sache sich wechselseitig bestätigen müssen, gilt für den Systemzusammenhang eines Begriffs mit dem Ganzen ebenso wie für jedes systematische Teilgebiet desselben. Den gedanklichen Kern der Freiheitstheorie Schellings in der Freiheitsschrift kann man in einem Satz darlegen: Der Mensch gründet in einem freien Akt sein eigenes Wesen im Sinne seines spezifischen moralischen Charakters zum Guten oder Bösen und seine konkreten Handlungen folgen aus diesem mit Notwendigkeit. Das vorliegende Kapitel wird dreierlei zeigen: erstens, dass es dieser Zusammenhang von Charakter und aus ihr folgender Einzelhandlung ist, die Schelling mit dem in der Literatur bis dato nicht klar genug gefassten formellen Freiheitsbegriff bezeichnet. Zweitens, dass Schelling im Zusammenhang damit die Idee des je neuen Auswählens aus Handlungsoptionen als Freiheitskriterium ablehnt und dass Schelling drittens schon in der Freiheitsschrift, besonders aber in den nachfolgenden Stuttgarter Privatvorlesungen und den Weltalterentwürfen Bausteine zu 2   Allerdings betont auch Schelling die hier in Frage stehenden „einzelnen Handlungen“ (AA I,17, 150/SW VII, 383) in der Freiheitsschrift mehrmals. Vgl. AA I,17, 152 und 154/SW VII, 384 und 387.

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einem zweistufigen Freiheitskonzept darlegt, welches die ursprüngliche Anlage einer unabänderlichen Selbstfestlegung des menschlichen Wesens attraktiv flexibilisiert, indem sie in diesem Wandlungsdispositionen für den menschlichen Charakter zulässt, welche sich dann in variablen Entfaltungsstufen in den Einzelhandlungen verwirklichen können. Es wird demnach zu unterscheiden sein zwischen einer Fundamentalebene des (ewigen) unabänderlich freien Wesens des Menschen und einer zeitlichen Realisierungsebene dieser Freiheit, in welcher der empirische Mensch seine ursprüngliche Freiheit mehr oder weniger in Einzelhandlungen verwirklicht. Methodisch wird die Durchführung der Analyse zunächst Schellings unmittelbar menschliche Handlungen betreffende begriffliche und sachliche Erörterungen evaluieren (I.), sodann die Frage nach dem systematischen Inhalt der von Schelling angelegten ursprünglich freien Tat der Wesensgründung erörtern (II.) und schließlich (III.) das zweistufige Gesamtkonzept freier Handlungen in ihrem Zusammenhang mit dieser ursprünglichen Tat diskutieren.

I. Begriffe und Momente menschlicher Freiheit Schelling erörtert in der Freiheitsschrift menschliche Freiheit unter zwei zentralen Begriffen, die aufeinander bezogen sind: den ‚realen und lebendigen Begriff der Freiheit‘ (1) und den ‚formellen Begriff der Freiheit‘ (2), der erst gemeinsam mit dem realen Begriff zur vollen Begrifflichkeit der Freiheit führt.3 1) Der reale und lebendige Begriff der Freiheit Zu den zentralen Passagen der Freiheitsschrift gehört Schellings Erklärung, wonach „der reale und lebendige Begriff [der Freiheit] aber ist, dass sie ein Vermögen des Guten und des Bösen sei“ (AA I,17, 125/SW VII, 352).4 3   Ich folge mit dieser Auffassung Buchheim 2012, 190 f. Entsprechend bei Hennigfeld 2001, 94. Anders z. B. Sturma 1995, 154, demzufolge „in der konsequenten Ersetzung des formellen Begriffs durch den realen und lebendigen Begriff der Freiheit [die Freiheitsschrift erst] ihr eigentümliches Profil“ gewinne. 4   Diese griffige und plakative Formulierung hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass Untersuchungen zur Freiheitsschrift fast ausschließlich von dieser Darlegung ausgehen und von da aus – mit Schelling – nunmehr noch untersuchen, wie eine solche

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Dass Schelling diese Bestimmung den „realen und lebendigen Begriff der Freiheit“ nennt, erfordert eine weitergehende Erklärung hinsichtlich der Grundrichtung der Freiheitsschrift (2) und der anthropologischen Bestimmung des Menschen (1). (1) Schellings grundsätzliche Charakterisierung des Wesens des Menschen ist die der Person; wir hatten gesehen, das dies mit Schelling bedeutet, dass er ein individuelles Geistwesen ist: In seiner mittleren Philosophie entwickelt Schelling diesen Personbegriff aus der Verbindung zweier ontologischer Fundamentalprinzipien, nämlich „der Verbindung des idealen Prinzip in [der Person] mit dem (relativ auf dieses) unabhängigen Grunde“ (AA I,17, 160/SW VII, 395). Diese zwei Seiten des Realen und Idealen fasst Schelling entsprechend der daraus später entwickelten Potenzenlehre als universales ontologisches Verhältnis, das sich auf vielfältige Weise realisiert. So ist hinsichtlich der Grundstruktur zu unterscheiden zwischen dem „Wesen, sofern es existiert und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist“ (AA I,17, 129/SW VII, 357).5 Dies lässt sich als eine bipolares Gefüge verstehen. 6 Der Mensch hat in sich einen dunkeln Grund und einen lichten Verstand. Er hat zwei Zentren. „Im Menschen ist die ganze Macht des finsteren Prinzips und in eben demselben zugleich die ganze Kraft des Lichts. In ihm ist der tiefste Abgrund und der höchste Himmel, oder beide Centra“ (AA I,17, 134/SW VII, 363). In ihm kommen die Realität der Natur und die Idealität des Geistes zusammen.7 In geistiger Hinsicht hat er einen mit Bewusstsein und ReflexiFreiheit möglich ist. Auch die sehr breite Schicht werkvergleichender Untersuchungen ist auf diesen Freiheitsbegriff als die scheinbar entscheidende Neuerung der Freiheitsschrift – fixiert (vgl. z. B. Courtine 2012, 34, wonach durch die thematische Einführung des Bösen in den Freiheitsdiskurs ein „wahre[r] Bruch“ in Schellings Behandlung des Freiheitsthemas im Gegensatz zu seinen früheren Schriften entstehe). Die Gründe sind leicht einzusehen: diejenige Freiheit, die ‚aber‘ ‚real und lebendig‘ ist, muss gegenüber jeder anderen Freiheitsvorstellung als richtige dominieren. 5   Hermanni 1994, 73 nennt dies treffend Schellings „internen Dualismus“. Mit ihn versucht Schelling zugleich die Probleme der Identitätsphilosophie zu vermeiden, nach welchem dem Einheitsprinzip auch stets eine phänomenal unangemessene Einerleiheit des Prinzipierten zu folgen droht, ohne einen echten Dualismus postulieren zu müssen. Dieses universale Verhältnis konstituiert gleichsam Wesen und Geist des Menschen und Gottes. Historisch hat Schelling die Idee einer Doppelwesenheit Gottes (aus Verstand und Willen) der Philosophie Leibniz‘ entlehnt. Vgl. AA I,17, 138/SW VII, 368 und Leibniz 1996, 236 (= Theodicée § 191); hierzu auch Buchheim 2009, 367. 6   Zu den Bezügen dieses Gedankens einer ursprünglich bipolaren Veranlagung des Menschen zu Oetinger vgl. Dörendahl 2012, 231. 7   Der Grund ist gekennzeichnet durch die Eigenschaften, materiale Basis des Wirklichen und dabei selbst dunkel, verschlossen und irrational zu sein, und aus seiner Tendenz, aus dieser Unbestimmtheit herauszutreten. Spinelli 2016 hat gezeigt, wie Schelling

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on verbundenen Willen (AA I,17, 161/SW VII, 395), der nichts anderes als der Verstand ist. Dieser hat einen dunklen, ahndenden, blinden Willen, in dem kein Verstand ist, zur Basis (AA I,17, 134/SW VII, 363). Hier werden bereits wie in der späteren Potenzenlehre die beiden Grundprinzipien, in deren Einheit das Bewusstsein besteht, auch als zwei Grundrichtungen des Wollens interpretiert, welche zusammen die voluntative Seite des Bewusstseins ausmachen. Diese bestehen auch hier schon in einem auf sich selbst zentrierten Eigenwillen und einem nicht sich selbst wollenden, auf das Ganze gehenden Universalwillen (ebd.). Beide Willensrichtungen sind nicht an sich gut oder böse, sondern das Gute oder Böse entsteht dadurch, dass sich deren inneres Gefüge durch einen Akt der Freiheit zu Gunsten der einen oder anderen Seite verschiebt, d. h., dass eine oder andere Seite die Dominanz im Gesamtwillen des Menschen übernimmt. 8 Dominiert der Universalwille, so ist das Prinzip des Guten gegeben. Dann werden das Allgemeine zum Zweck des Willens und der Eigenwille zu dessen Mittel. Dominiert der Eigenwille, so gilt das Umgekehrte. Der Mensch wird dann böse, indem er das Allgemeine für seine egoistischen Interessen benutzt.9 „Die allgemeine Möglichkeit des Bösen besteht“, wie Schelling erläutert, „darin, dass der Mensch seine Selbstheit, anstatt sie zur Basis, zum Organ zu machen, vielmehr zum Herrschenden und zum Allwillen zu erheben, dagegen das Geistige in sich zum Mittel zu machen strebt“ (AA I,17, 156/SW VII, 389).10 (2) Grundanliegen der Freiheitsschrift ist es, einem von Schelling als einseitig bemängelten Idealismus gegenüber die (reale) Natur-Basis des Menschen (als auch Gottes und der Welt im Ganzen) in die systematischen Erörterungen einzubeziehen, da ein bloßer Idealismus, „wenn er nicht einen lebendigen Realismus zur Basis erhält, […] ein […] leeres diesen Gedanken aus seiner Platon-Lektüre in einer Kombination aus der ‚dritten Gattung des Raumes‘ im Timaios und der Idee eines apeiron im Philebos entwickelt und ihn dann bis in die Spätphilosophie fortträgt. 8   Vgl. hierzu instruktiv: Hermanni 1994, 127 ff. 9   Diese Idee, dass die moralische Grundausrichtung des Menschen nicht in einer einseitigen Bestimmung durch das nur Gute oder das nur Böse besteht, sondern in einem Unterordnungsverhältnis zwischen den beiden, ist die Pointe von Kants Religionsschrift und zugleich der wesentliche Fortschritt dieser im Problem einer Freiheit zum Bösen gegenüber seiner eigenen bisherigen Moralphilosophie wie er sie in der Kritik der praktischen Vernunft und der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten dargelegt hat (vgl. AA VI, 36). 10   Zur Freiheit als Verkehrung, anthropologischem Vermögen zum Bösen und als Gegenprogramm zu den Lehren transzendentaler und moralischer Freiheit bei Kant und Fichte einerseits und den Privationstheorien des Bösen andererseits instruktiv Oesterreich 2008, 138.

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und abgezogenes System“ (AA I,17, 128/SW VII, 356) bliebe. Im Idealismus trete Freiheit als bloße Vernunftidee auf. Da aber nur Realismus und Idealismus zusammen „ein lebendiges Ganzes“ (ebd.) ausmachten, bedürfe es eines Freiheitsbegriffs, der die Naturseite des Menschen berücksichtige und diesem als einem lebendigen Wesen gerecht werde. So gehen zuletzt Ontologie, Wissenschaftssystematik, Freiheitsbegriff und Anthropologie konform: wegen des realen Grundes, auf dem Gott, die Welt und der Mensch beruhen, bedarf es eines Idealismus, der den Realismus zur Basis hat und eines Begriffs der Freiheit, der dem Menschen als einem lebendigen Wesen mit dieser realen Basis entspricht. Der Begriffsinhalt der Freiheit als eines Vermögens „des Guten und des Bösen“ verweist auf die moralische Dimension, unter der Freiheit steht, ja die diese womöglich erst eröffnet. Darin der Tradition von Kant folgend, sieht Schelling in dieser Werkphase die Frage nach der menschlichen Freiheit und der menschlichen Moralität als im Kern miteinander verbunden an.11 Zuletzt: dass Freiheit nach diesem Begriff „ein Vermögen des Guten und des Bösen“ ist, drückt das Besondere der Schellingschen Freiheitstheorie aus: bei Schelling sind das Gute und das Böse als zwei gleichermaßen wirkungsmächtige Pole etabliert, unter denen menschliches Handeln steht. Privationstheorien hingegen, nach denen das Böse nur ein Mangel am Guten ist, führen für Schelling zu einer Verharmlosung des Bösen, die „die Realität des Bösen [.]leugnet“ (AA I,17, 125/SW VII, 353).12 2) Der formelle Begriff der Freiheit Mit dem „formelle[n] Begriff der Freiheit“ (AA I,17, 125/SW VII, 352) ist der zweite zentrale Freiheitsbegriff in Schelling mittlerer Philosophie genannt. Schelling nennt den formellen Begriff gar den „eigentliche[n] Begriff der Freiheit“ (AA I,17, 118/SW VII, 345), auch wenn er zugleich den realen Begriff vom „bloß formellen“ (AA I,17, 125/SW VII, 352) absetzt, da dieser qua Abstraktheit sich nicht eigne, „das Bestimmte der menschlichen Freiheit zu zeigen“ (AA I,17, 124/SW VII, 352), das in der 11   Vgl. Kant AA Bd. IV, 447, wonach „ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei“ seien. Und Schelling W 95, wo er von „der menschlichen oder moralischen Freiheit“ spricht. 12   Den historischen Hintergrund für Schelling in dieser Frage bildet hauptsächlich Leibniz und dessen Privationstheorie, der Schelling in seiner identitätsphilosophischen Phase selbst zugestimmt hatte (vgl. SW VII, 195). In der Freiheitsschrift selbst ordnet Schelling die Privationslehre Spinoza zu (AA I,17, 126/SW VII, 354).

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moralischen Dimension liege. Doch bedeutet dies nicht, dass der formelle Begriff für Schellings Untersuchung dadurch minderwertig oder gar obsolet wäre. Im Gegenteil: Wenn Schellings Philosophie Realismus und Idealismus verbinden will, bedeutet dies für den Freiheitsbegriff, dass weder der bloß formelle noch der bloß ‚reale und lebendige‘ genügen, sondern dass der volle Sinn der Freiheit erst in der Durchdringung beider erreicht wird. Was für Schelling unter den Begriff der formellen Freiheit fällt, ist bemerkenswert unklar.13 Dies hat seinen Grund darin, dass Schelling nirgendwo in einer expliziten Begriffsdarlegung sagt, was unter diesen Freiheitsbegriff fällt. Hinzu kommt Schellings mäandernde Textanlage der Freiheitsschrift, in der „alles wie gesprächsweise“ (AA I,17, 174/SW VII, 410 je Anm.) entstehen soll und bei der Themen angerissen, verschoben und neu aufgegriffen werden, wenn die ‚damit zusammenhängenden Gegenstände‘ berührt und erörtert werden. So bezeichnet Schelling die formelle Freiheit zunächst als Freiheitsbegriff des Idealismus (AA I,17, 124 f./SW VII, 351 f.) ohne anzugeben, was darunter inhaltlich zu verstehen sei, noch welche Form des Idealismus‘ er damit meine.14 Erst zu Beginn des letzten Drittels der Freiheitsschrift kündigt Schelling an, nun „das formelle Wesen der Freiheit“ (AA I,17, 150/SW VII, 382) zu untersuchen. Systematisch führt Schelling aus, dass idealistische Freiheit intelligibel sei, was bedeute, dass sie „außer allem Kausalzusammenhang, wie außer oder über aller Zeit“ (AA I,17, 151/SW VII, 383) stehe. Daher gelte: „Die freie Handlung folgt unmittelbar aus dem Intelligiblen des Menschen“ (AA I,17, 151/SW VII, 384).15 Der Zusammenhang zwi  Jaeschke/Arndt 2011, 491 halten die formelle Freiheit für Autonomie und Autarkie, Buchheim 2011, 103 für „Entscheidungsfreiheit oder Willensfreiheit“ oder für „selbstbestimmtes Wollen, d. h. Willkürfreiheit“ (2012, 191); für Heidegger GA II, 42, 145 ist sie „Selbstständigkeit als Eigenständigkeit im eigenen Wesensgesetz […] im idealistischen Sinn“, für Eidam 2007, 356 ist mit der formellen Freiheit die transzendentale Freiheit Kants und Fichtes gemeint. Jacobs 1995, 127 fasst sie entsprechend als Zeitlosigkeit und Unabhängigkeit vom Kausalzusammenhang, Köhler 2006, 133 als „höhere Notwendigkeit im Prinzip des intelligiblen Determinismus“. 14   Jaeschke/Arndt 2011, 490 denken, dass Schelling mit dem ‚Idealismus‘, in welchem der formelle Freiheitsbegriff gründet, seine eigene frühere Philosophie meine – wofür sicher die Edition der Erstauflage der Freiheitsschrift spricht, die 1809 zusammen mit einer Neuauflage idealistischer Schriften Schellings herausgegeben wurde. Dagegen spricht allerdings, dass Schelling in diesem Zusammenhang wörtlich Schlegel zitiert (AA I,17, 123, vgl. Anm. S. 243/SW VII, 351) und auf Kant referiert (vgl. SW VII, 347 und 352). 15   Die Idee, dass freies Handeln in einer Relation zwischen einem intelligiblen Wesen des Menschen und sinnlichen Erscheinungen als Wirkungen dieses Handelns bestünde, ist Kant geschuldet, und bildet eine der zentralsten Konstellationen, die Schelling 13

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schen der freien Handlung und dem intelligiblen Wesen des Menschen, führt Schelling aus, sei ein notwendiger: „Das intelligible Wesen kann […] nur seiner eignen innern Natur gemäß handeln, oder die Handlung kann aus seinem Innern nur nach dem Gesetz der Identität und mit absoluter Notwendigkeit folgen, welche allein auch die absolute Freiheit ist“ (AA I,17, 152/SW VII, 384). Daher kann Schelling schließen: „denn frei ist, was nur den Gesetzen seines eignen Wesens gemäß handelt und von nichts anderem weder in noch außer ihm bestimmt ist“ (ebd.).16

Zeit seines Lebens beibehält. Noch in seinen spätesten Manuskripten findet sich eine diesbezügliche Huldigung an Kant, in der Schelling „Kants Andenken feier[t], dem wir es verdanken, mit solcher Bestimmtheit zu sprechen von einer nicht in das gegenwärtige Bewusstsein hereinfallenden, ihm vorausgehenden, noch der Ideenwelt angehörigen Handlung, ohne welche es keine Persönlichkeit, nichts Ewiges im Menschen, sondern nur zufällige, in ihm zusammenhanglose Handlungen geben würde“ (SW XI, 483). 16   Vgl. hierzu bereits die Definition im Würzburger System: „Eine freie Ursache kann nur diejenige heißen, welche, kraft der Notwendigkeit ihres Wesens, ohne alle andere Bestimmung, nach dem Gesetz der Identität handelt“ (SW VI, 538). Irreführenderweise befindet sich Schelling sowohl mit dieser als auch mit der abschließenden Formulierung der Freiheitsschrift zum Referat formeller, idealistischer Freiheit sprachlich nahe bei Spinozas Freiheitsdefinition (vgl. Ethik I, Def. 7: „Dasjenige Ding heißt frei, das allein aus der Notwendigkeit seiner Natur heraus existiert und allein von sich her zum Handeln bestimmt wird“ 2010, 7); in der Literatur findet sich vielfach die Einschätzung, Schellings Formulierung der Freiheitsschrift (z. B. Buchheim 2011, 146) wie auch des Würzburger Systems (z. B. Hermanni 2016, 38) entspreche der Definition des Spinoza. Möglicherweise hat die Ähnlichkeit zu Spinozas Definition in der Schelling-Forschung dazu geführt, die angeführte Passage nicht für Schellings Darlegung seines Begriffes formeller Freiheit zu halten, da er diese ja einerseits dem Idealismus zugerechnet hatte und andererseits von Spinoza behauptet, dass diesem der Begriff der Freiheit des Idealismus gerade fehle (AA I,17, 118/SW VII, 345). Aber: Schellings Begriff formeller Freiheit differiert zu dem des Spinoza in mehreren Hinsichten: 1) spricht Spinoza im ersten Teil seiner Definition von der Existenz von Dingen/Sachen (res), Schelling hingegen in beiden Formulierungen weder von ‚Existenz‘ noch von ‚Dingen‘. Für Schelling war es umgekehrt gerade die Tatsache, dass Spinoza in seinem System von Dingen handelte, die in Gott seien, dass ihm selbst die unendliche Substanz ein Ding sei und er „auch den Willen als eine Sache“ (AA I,17, 122/SW VII, 349) behandle, welche er ablehnte und wegen welcher er Spinozas Philosophie „ein einseitig-realistisches System“ (AA I,17, 123/SW VII, 350) nannte. Insofern Schellings Begriffsdarlegung nicht einem Ding, sondern einem intelligiblen Wesen gilt, ist es auch immun gegen Einwände, die er selbst gegen Spinoza vorbringt. Hinzu kommt, dass es bei Spinozas erstem Teil seiner Definition sich um einen Existenzgrund handelt, bei Schelling hingegen um einen Handlungsgrund. Demnach bleibt mit der Selbstbestimmung nur eine Übereinstimmung in den je zweiten Teilen dieser Begriffsexplikationen. Hier ist zu unterscheiden zwischen der Idee einer Selbstbestimmung des Willens und einer Selbstbestimmung des Handelns gemäß diesem Willen; d. h. zwischen Willensfreiheit und Handlungsfreiheit. Die Selbstbestimmung des Handelns als Freisein von Fremdbe-

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Nach der gegebenen Interpretation ist in dieser abschließenden Darlegung Schellings Bestimmung des formellen Freiheitsbegriffs zu sehen.17 Formelle Freiheit des Handelns ist demnach Selbstgemäßheit (Autonomie) bzw. Selbsttreue als strenge Übereinstimmung der Handlung mit dem Wesen der Person. Für diese Interpretation sprechen drei Gründe: 1) Dieser Freiheitsbegriff verbindet Freiheit und Notwendigkeit und löst damit eine der zentralen systematischen Forderungen der Freiheitsschrift (vgl. AA I,17, 26, 112 und 152/SW VII, 333, 338 und 385) ein. Indem formelle Freiheit selbst einen Gesetzeszusammenhang (der Identität des Wesens mit der Handlung) beinhaltet, ist in ihr diese Verbindung begrifflich angelegt. 2) passen zu diesem Begriff die Argumente, mit denen Schelling mit dem Determinismus und der Willkürfreiheit zwei Alternativen ablehnt: So hatten die Erörterungen zur Freiheit Gottes gezeigt, dass Schelling Willkür und Determinismus als grundsätzlich mit der Freiheit unverträglich ablehnt. Denn mit der Willkürfreiheit als einer, „sich ohne alle bestimmenden Gründe für A oder -A entscheiden zu können“ (AA I,17, 150/SW VII, 382), wäre das Prinzip der Notwendigkeit aufgehoben, weil kein Zusammenhang zwischen dem Wesen der Person und ihrer Handlung mehr gegeben wäre, welche der erste Teil der ‚Definition‘ fordert. Eine solche Handlung wäre nicht frei, sondern zufällig. Mit dem Determinismus hingegen, und zwar sowohl dem empirischen Naturdeterminismus als auch dem logischen Determinismus, wäre die Handlung zwar notwendig, aber nicht durch das eigene Wesen, sondern genau aus den heterogenen Ursachen „außer ihm“, von denen der zweite Teil der Begriffsdarlegung spricht.18 Allen diesen Positionen ist gemein, dass sie die stimmung i.S. von Zwang und Gewalt ist jedoch keine Besonderheit Spinozas, sondern eine ganz traditionelle Freiheitsvorstellung, die sich im Grunde bereits bei Homer findet: „hat er dir gegen deinen Willen mit Gewalt das schwarze Schiff genommen oder gabst du es ihm aus freien Stücken?“ (1966, 469) und bei Spinoza und den Idealisten gleichermaßen gebraucht wird. Spinoza bejaht diese Art der Freiheit, nicht gezwungen, sondern dem Willen gemäß zu handeln; er bestreitet allerdings hingegen eine freie Selbstbestimmung des Willens im Sinne freier Entscheidungen (Spinoza 1925, Bd. 4, 265 und 267). 17   Dieser Begriff ist auch insofern idealistisch und kantisch, als sich darin dessen zentrale Autonomie-These in der Form wiederfindet, dass Freiheit als Autonomie des Willens darin bestehe, sich selbst zu bestimmen bzw. sich selbst ein Gesetz zu sein. Vgl. Kant AA IV, 447: „was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein, als Autonomie, d.i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein?“ 18   Eine weitere, nicht minderbedeutende Freiheitsauffassung, die Schelling ausdrücklich ablehnt, ist die, dass sie „in der bloßen Herrschaft des intelligenten Prinzips über das sinnliche“ (AA I,17, 119/SW VII, 345) bestehe. Der Grund für diese Ablehnung

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Möglichkeit des Handelns durch sich selbst – durch Gründe, die in der Person selbst liegen, bzw. die das Wesen der Person bilden – ausschließen. Eben dieser Zusammenhang ist es jedoch, auf dem für Schelling formelle Freiheit basiert. 3) Hinzu kommt, dass auch die Textkomposition der Seiten AA I,17, 150 –152/SW VII, 382–385 eindeutig auf die angeführte Passage als dem formellen Begriff der Freiheit zuführt: Schelling beginnt die Erörterung mit dem Satz: „Wir haben überhaupt bis jetzt das formelle Wesen der Freiheit weniger ins Auge gefasst, obgleich die Einsicht in dasselbe mit nicht geringeren Schwierigkeiten verbunden ist, als die Erklärung ihres realen Begriffs“ (AA I,17, 150/SW VII, 382). Der dann folgende Absatz beginnt mit: „Denn der gewöhnliche Begriff der Freiheit […] führt […] zu den größten Ungereimtheiten“ (ebd.). In diesem Absatz werden die Schwierigkeiten des gewöhnlichen Begriffs dargelegt, welcher als die Auffassungen, Freiheit sei Willkürfreiheit und Freiheit sei mit dem System des Determinismus zu verbinden, vorgetragen werden. Mit beiden ist Freiheit „überhaupt nicht zu retten“ (AA I,17, 151/SW VII, 383). Erst mit dem folgenden Abschnitt beginnen die affirmativen Erörterungen eines idealistischen Freiheitskonzepts, das „allein verständlich“ (ebd.) sei. Von den Charakterisierungen dieses Konzepts führt Schelling die Argumentation zur gegebenen Formulierung, die den Abschnitt der positiven Erörterungen zum formellen Begriff der Freiheit abschließt. Der nachfolgende Absatz beginnt schließlich mit: „Es ist mit dieser Vorstellung der Sache wenigstens Eines gewonnen […]“ (AA I,17, 152/SW VII, 384 kursiv Vf.) – was nochmals bestätigt, dass erstens die Erörterungen zum Begriff abgeschlossen sind und zweitens die unmittelbar vorangegangene Darlegung das Resultat beinhaltet.

ist systematischer Art und darin der Ablehnung der Privationslehre verwandt: Ein solcher Freiheits-Begriff legte diese von vornherein auf den Bereich der ratio fest, wonach entweder auch das Böse aus der Vernunft käme oder aber es „für das Böse keine Freiheit“ (AA I,17, 141/SW VII, 371) gäbe, sofern diese dann dem sinnlichen, bloß naturhaften Prinzip entstammte. Dabei würde aber übersehen, dass in der menschlichen Natur auch die Kraft zum Guten liege und umgekehrt das Böse oft mit hoher Intelligenz gepaart auftrete. Zudem führe eine solche Position zum Problem der Verantwortlichkeit für das Böse, indem dieses auf solche Weise gerade dem Bereich menschlicher Freiheit und damit Beherrschbarkeit entzogen würde. Hintergrund hierfür ist Kant und dessen Lehre von der Vernünftigkeit des Guten und der Freiheit, die durch Jacobi wieder vertreten wurde. Für Schulz 1977, 304 liegt in der Entdeckung, „dass Freiheit gar nicht mit praktischer Vernunft im Sinne Kants identisch ist“, das eigentliche Novum der Freiheitsschrift.

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3) Die Ablehnung der Wahlfreiheit Zu den Besonderheiten der Freiheitstheorie Schellings in der Phase der Freiheitsschrift gehört, dass Schelling die Vorstellung, zur Freiheit würde die Wahl zwischen alternativen Handlungsoptionen gehören, auch für menschliches Handeln für verfehlt hält. Hintergrund für die Ablehnung eines Wahlmomentes innerhalb Schellings Auffassung von göttlicher Freiheit war es gewesen, dass Gott aus der moralischen Vollkommenheit seines Wesens heraus ohnehin bereits auf die bestmögliche Handlung festgelegt ist, welche zu erkennen er auf Grund seiner kognitiven Vollkommenheit auch keiner Abwägung mehr bedürfe. In Hinsicht auf den Menschen nun korrespondiert der formelle Freiheitsbegriff mit einem Ideal höchster Entschiedenheit, nach welchem der Mensch in einer gegebenen Situation durch die Bindung an sich selbst je „gar nicht anders […] handeln“ (AA I,17, 159/SW VII, 393) kann, als er tatsächlich handelt, dies jedoch nicht als Zwang empfindet, da er seine Handlungen „mit Willen, nicht gegen seinen Willen“ (AA I,17, 153/SW VII, 386) vollzieht. Der Ausschluss des Wahlmoments aus einer solchen Vorstellung eines entschiedenen Willens und unmittelbar aus diesem resultierenden Handlungen als Freiheitskriterium enthält jedoch zwei Schwierigkeiten: (1) Zum einen droht der Ausschluss aller Optionalität zu einem inneren Determinismus zu führen, der seinerseits zentralen Freiheitsmomenten widerspricht, da nicht nur Wahl, sondern auch Entschiedenheit grundsätzlich der Alternativität bedarf. Zu etwas entschieden zu sein ist nur sinnvoll vor dem Kontrast zu etwas anderem, gegen das man hierdurch zugleich entschieden ist. Entsprechend führt ja auch der reale Begriff der Freiheit unmittelbar eine Alternative, nämlich die zwischen Gut und Böse, mit sich. Wenn Freiheit aber in einer Entschiedenheit besteht, welche alle Wahl ausschließt, dann kann auch hier der Ausschluss der Wahl als Freiheitskriterium nicht in dem letzten Sinn gemeint sein, dass eine Wahl und Entscheidung zwischen Alternativen grundsätzlich unmöglich wäre. Denn eine Entschiedenheit zum Guten und Bösen oder zu einer einzelnen Handlung, die alle Wahl ausschließt, ist nur sinnvoll, wo überhaupt die Möglichkeit einer Wahl bestanden hat; wo es gar keine Alternativen gibt, da gibt es auch nichts zu entscheiden und nichts auszuschließen. Nun etabliert Schelling in der Freiheitsschrift nirgendwo eine solche Wahlmöglichkeit für menschliche Einzelhandlungen.19 Aber es hatte sich   Die beiden Stellen, an denen Schelling von einer Wahl des Menschen spricht, beziehen sich auf die „Wahl“ der ursprünglichen Wesensgründung, die nachfolgend be19

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gezeigt, dass er diese Konstellation in Bezug auf das Handeln Gottes diskutiert und hierbei eine der göttlichen Entschiedenheit zugrunde liegende Wahlmöglichkeit einräumt, auch wenn dies gleichfalls nicht bedeutete, dass Gott tatsächlich wähle. Für den Menschen, der mangels Vollkommenheit nicht nur Eines wollen kann, sondern z. B. Gutes und Böses, muss demnach umso mehr gelten, dass seine Entschiedenheit auf einer modalen Basis der Alternativität beruhen muss. Wenn menschliche Freiheit also damit einhergeht, nicht anders handeln zu können, so ist damit bei Schelling gemeint: nicht anderes auf der Basis des eigenen Wesens – und nicht mangels objektiver Alternativen durch z. B. determinierte Weltläufe.20 (2) Damit bleibt aber ein zweites Problem darin bestehen, dass bei Ausschluss der Wahl als Freiheitskriterium zuletzt eine solche Freiheitstheorie an der empirischen Wirklichkeit scheitern müsste, in der rationale und emotionale Deliberationsprozesse sehr häufig praktischen Entscheidungen und Handlungsausführungen vorgelagert sind. So müsste einerseits, wer abwägt und in der Folge eines Abwägungsprozesses handelt, seine Freiheit preisgeben, während es andererseits qua Wesensveranlagung gar nicht möglich zu sein scheint, diese abzulegen. Folgende Passage aus den Stuttgarter Privatvorlesungen zeigt, dass Schelling zwar tatsächlich das Wahlkriterium als Freiheitsbedingung

sprochen wird. Sowohl in früheren als auch in späteren Werken kann man allerdings Belege für Schellings Ansicht finden, dass zur Freiheit des Willens auch des Menschen grundsätzlich die nun vehement bestrittene Wahl zwischen Alternativen gehört. Frühere Stellen: „wir [können] uns das Entstehen einer Handlung vom Standpunkt des Bewusstseins aus nicht weiter erklären als aus einer freien Wahl, der wir den Namen Willkür geben“ (SW I, 436), wobei Schelling mit ‚Willkür‘ in dieser Schrift, (den Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre von 1797/8) den Willen, sofern wir ihm bewusst sein können, d. h. den Willen in der Erscheinung (vgl. SW I, 438) bezeichnet. Und: System des transzendentalen Idealismus (1800): „Dass es eine Freiheit des Willens gibt, davon lässt sich das gemeine Bewusstsein nur durch die Willkür überzeugen, d. h. dadurch, dass wir in jedem Wollen uns einer Wahl zwischen Entgegengesetzten bewusst werden“ (AA I,9.1, 275/SW III, 576). Vgl. hierzu auch: Schmidt 2012. Spätere Stellen: im zweiten Weltalterentwurf von 1813 (W 131): „Schon das ist freier Wille, Etwas sein zu können und es nicht sein zu können“. Oder in der Philosophie der Offenbarung (1831–44), SW XIII, 208, wonach „nicht frei“ das hieße, das „gar keine Wahl [hätte], ins Sein überzugehen oder nicht überzugehen“. 20   In gewisser Weise hat sich in Schellings Auffassung die Konstellation des Determinismusproblems umgekehrt. Bei diesem ist es die Frage, wie angesichts objektiver Alternativlosigkeit durch determinierte Weltläufe den inneren Freiheitskriterien der Wahl und Alternativität noch entsprochen werden kann. Schellings Freiheit hingegen gewährt äußere Alternativen, bedarf aber keiner innerer.

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ablehnt und einen voluntaristischen im Gegensatz zu einem rationalistischen Freiheitsbegriff zu etablieren versucht: Gewöhnlich will man die Freiheit nur da sehen, wo eine Wahl stattgefunden hat, ein Zustand des Zweifels vorangegangen, endlich die Entscheidung erfolgt ist. Aber wer weiß, was er will, greift zu ohne Wahl. Wer wählt, weiß nicht, was er will, und will daher auch nicht (AA II, 8, 88/SW VII, 429).

Die Konsequenz, dass hierdurch umgekehrt durch praktische Deliberation die Freiheit erlösche und überhaupt kein Wollen mehr vorliege, zieht Schelling allerdings nicht. Denn Schelling setzt fort: „Alle Wahl ist Folge eines unerleuchteten Willens. […] Zu wählen, heißt, […] den geringsten Grad der Freiheit lassen“ (ebd.). Hieraus ergeben sich jedoch systematische Schwierigkeiten. Denn eine graduierbare Freiheit, wie Schelling sie hier diskutiert, die geringer oder größer ausfallen kann, ist etwas anderes, als eine, die dem Menschen grundsätzlich entweder zu- oder abgesprochen werden muss, sofern er ein sittliches Wesen ist und deren formeller Aspekt darin besteht, dass die Handlungen identisch mit dem Wesen des Menschen sind, was gleichfalls kein Mehr und Weniger zulässt. Wenn Handlungen gemäß dem formellen Freiheitsbegriff notwendig aus dem Wesen des Menschen entstehen und dieses Wesen durch eine ursprüngliche Ausrichtung festgelegt ist, dann müssen Wille und Handlung je unmittelbar durch das Wesen bestimmt sein. Daraus folgt aber, dass es entweder keine faktische Unentschiedenheit geben dürfte, oder aber die Unentschiedenen entweder nicht ihrem Wesen gemäß handeln würden oder gar keine ursprüngliche Wesensfestlegung aus Freiheit durchgeführt hätten. Nun gibt es aber einerseits faktisch schwer entschlossene, räsonierende oder willensschwache Menschen. Andererseits sind die systematischen Alternativen inakzeptabel, denn sie würden den Kern der Schellingschen Freiheitslehre suspendieren, der ja darin besteht, dass es eine freie Wesensgründung gab und die Handlungen mit Notwendigkeit aus ihr folgen. Will man demnach grundsätzlich denjenigen, die für praktische Entscheidungen abwägen und auswählen, nicht ihr freies Wesen absprechen, und dennoch die These vertreten, dass Deliberation der Freiheit entgegen sei, und mehr oder weniger Zweifel im Handeln mit größerer oder kleinerer Freiheit einhergeht, dann muss man eine Unterscheidung einführen zwischen einer fundamentalen Konstitutionsebene, in der keine Wahl stattfindet, sondern ursprüngliche Entschlossenheit herrscht und einer empirischen Ebene, in welcher tatsächlichen Handlungen angesiedelt sind, die ebenso sehr unmittelbar aus direkter Willensbestimmung

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als auch in Folge eines Abwägungsprozesses stattfinden können. Und es muss sich zeigen lassen, in welchem Verhältnis diese beiden Ebenen zueinanderstehen. 4) Wesen und Charakter. Eine Zwei-Ebenen-Unterscheidung der Freiheit Tatsächlich gibt es erneut in den Stuttgarter Privatvorlesungen eine Passage, die zeigt, dass Schelling selbst auf die gezeichnete Problemlage gestoßen ist: Der Geist des Menschen nämlich ist notwendig ein Entschiedenes (mehr oder weniger entschieden freilich, inzwischen ist die Unentschiedenheit selbst wieder Entschiedenheit, nämlich das Gute doch nur bedingungsweise zu wollen) (AA II, 8, 170/SW VII, 474 f.).

Diese Passage lässt sich in drei Elemente aufgliedern: Der Satz vor der Klammer gibt die grundsätzliche Position wieder, nach welcher der Mensch in seiner Freiheit notwendig entschieden ist. Die Klammer registriert zunächst das empirische Faktum, dass es hier allerdings doch auch graduelle Abstufungen, ein Mehr oder Weniger zu verzeichnen gibt. Der zweite Teil in Parenthese gibt dann einen Lösungsvorschlag für den darin sich abzeichnenden Widerspruch, indem sie faktische Unentschiedenheit in der grundsätzlichen Entschiedenheit des Menschen verankert. Diese Einschränkung in der Klammer reagiert demnach auf das Faktum der Entscheidungsschwachen und bietet eine annehmbare Lösung für das systematische Problem. 21 Durch die Idee, faktische Unentschiedenheit als auf Bedingungen bezogene Entschiedenheit zu interpretieren, muss Schelling durch das Phänomen der Schwerentschlossenen nicht   Faktisch ist menschliches Handeln oft genug auch nicht eindeutig gut oder böse, sondern unter verschiedenen Hinsichten sowohl das eine als auch das andere – fast gleichgültig, welches Moralsystem man zugrunde legt. Daher lassen sich in Schellings Einschränkung epistemische Probleme der Moralanwendung und der moralischen Dilemmata integrieren, welche für puristische Moralkonzeptionen wie Kants Ethik des Kategorischen Imperativs, die davon ausgehen, dass es immer eindeutig moralisch richtige Handlungen gebe, notorisch problematisch bleiben: Auch wer generell zum Guten entschlossen ist, muss im Einzelfall nicht immer erkennen, welche Handlung die moralisch richtige ist, da in etwa nicht in jeder Situation alle für deren Beurteilung relevanten Umstände bekannt sind. Im Fall der moralischen Dilemmata ist es so, dass eine gute Handlung eine böse notwendig impliziert. In einer solchen Situation gibt es keine bedingungslos gute Handlung; wohl aber eine Entschiedenheit, unter den gegebenen Bedingungen vom Standpunkt eigener Erkenntnis das maximal Gute zu tun. 21

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seine grundsätzliche Theorieanlage aufgeben, dass der Geist des Menschen notwendig ein entschiedener ist, an der Schelling in moralphilosophischer und moraltheologischer Hinsicht als einem Entschiedensein zum Guten oder Bösen interessiert ist. Wer etwas nur bedingungsweise will, der ist zur Einhaltung seiner einschränkenden Bedingungen, die individuell sehr unterschiedlich sein können, entschieden, auch wenn er in etwa unentschieden darüber sein kann, ob diese Bedingungen faktisch gegeben sind. Dies erklärt, weshalb es ein „mehr oder weniger“ des faktischen Entschiedenseins gibt, je nachdem wie anspruchsvoll, präzise oder komplex die individuellen Bedingungen sind und wie stark die individuelle Urteilskraft, sie in realen Handlungssituationen anzuwenden. Wer etwas nur bedingungsweise möchte, der muss im Zweifel abwägen, welche Bedingungen im je gegebenen Fall eingehalten werden und welche er um den Preis seines Ziels suspendieren kann. Ein solches Räsonieren ist aber etwas ganz anderes, als ein je neues Auswählen aus völlig offenen Handlungsmöglichkeiten, so als würde sich der Mensch bei jeder Handlung auch neu zu seiner inneren Ausrichtung entscheiden. Sondern sein Abwägen ist von vornherein gebunden an innerlich feststehende Kriterien. Nur der kategorisch entschlossene, d. h. auch psychologisch völlig freie Charakter braucht (mit Schelling) in der konkreten Handlungssituation gar keine Überlegung mehr. 22 Am Problem der unbedingten Entschiedenheit unter Bedingungen zeigt sich eine zwei-Ebenen Veranlagung des Wesens des Menschen: Es ist einerseits grundsätzlich ein entschiedenes und damit freies, kann aber 22   Dies heißt jedoch nicht, dass seine Entscheidung bloß intuitiv im Sinne des Irrationalen wäre. Vgl. nochmals die aufschlussreiche Stelle W 177, wo Schelling von der Freiheit als einer spricht, „bei der (explizite) keine Überlegung, keine Wahl stattfindet“. Das einschränkende ‚explizite‘ macht deutlich, dass implizit durchaus Wahl und Überlegung stattfinden können. Dies könnte in etwa bedeuten, dass der Entschlossene im Vorhinein durch Überlegung bereits aus Gründen zwischen abstrakt möglichen Handlungen ausgewählt hat, so dass er bei Eintritt der konkreten Situation nur noch entschlossen im Tun zuzugreifen braucht. Wer weiß, was er will, weiß im Voraus, wie er dies in allen möglichen Situationen anwenden kann. Er hält die Subsumptionsschemata möglicher konkreter Lebenssituationen unter die Begriffe des Guten und Bösen schon bereit. Ob diese Konzeption allerdings ausnahmslos angewendet werden kann, darf bezweifelt werden, da das Leben doch bunter und überraschender ist als alle antizipierende Phantasie und Urteilskraft erfassen können. Deshalb ist auch bei aller Entschlossenheit der inneren moralischen Ausrichtung rationales Deliberieren in etwa in der Wahl der Mittel zur Bewältigung je neuer Situationen unabdingbar und aus einer Freiheitstheorie nicht auszuschließen. Die m.E. richtige Intuition, dass Entschlussfreudigkeit von höheren Freiheitsgraden begleitet ist als Unentschlossenheit, verkehrt Schelling jedoch völlig, wenn er zuletzt die Auffassung vertritt, rationale Wahl und Abwägung seien der Freiheit entgegen.

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andererseits faktisch unentschieden und hierdurch mehr oder weniger frei sein. Beides ist aufeinander bezogen: die Unentschiedenheit gründet in der Entschiedenheit, sofern diese Bedingungen vorsieht. Zur begrifflichen Differenzierung dieser beiden Ebenen soll im Folgenden die Fundamentalebene mit dem Schelling der Freiheitsschrift als ‚das Wesen des Menschen‘ bezeichnet werden, die darauf aufgesetzte Ebene, welche den reellen (phänomenalen), unmittelbar zu den wirklichen Handlungen führenden Geist des Menschen zeigt, soll mit dem Schelling der Stuttgarter Privatvorlesungen und der Weltalter ‚der Charakter des Menschen‘ genannt werden. 23 Dieser psychologische Freiheitscharakter zeigt sich auch in religiöser Hinsicht, ist dort aber um einen wichtigen Aspekt erweitert. Schelling betont, dass Religiosität gleichfalls in dem psychischen Zustand einer 23   Zur Rechtfertigung dieser terminologischen Zuordnung: Den Ausdruck „Charakter“ gebraucht Schelling in der Freiheitsschrift nicht auf das menschliche Sein bezogen. Hier ist eben vom „Wesen des Menschen“ (AA I,17, 152/SW VII, 385) die Rede, das durch die ursprüngliche Tat geprägt ist. Eine Analogisierung dieses Ausdrucks mit dem des ‚Charakters‘ findet in etwa im ersten Weltalterentwurf (W 93) statt, wo die Bestimmung des Wesens des Menschen als das bezeichnet wird, „was wir Charakter an ihm nennen“. Im zweiten Weltalterentwurf (W 177) heißt es, „unter dem Charakter des Menschen [sei] das Gepräge, die Eigentümlichkeit seines Tuns und Seins“ zu verstehen – was für sein Wesen gleichermaßen gilt. Ebenso spricht Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen von einer Charaktergründung durch die absolute Tat (AA II,8, 88/SW VII, 429 f., vgl. VIII, 304), welche in der Freiheitsschrift das Wesen gründet. Im zweiten Weltalterentwurf heißt es allerdings weiter: „Von dem Menschen, der zweifelt, eins oder das andere ganz zu sein, sagen wir, dass er charakterlos ist; von dem Entschiedenen […] sagen wir, dass er Charakter hat“ (W 177). Hier wird der Ausdruck des ‚Charakters‘ nicht mehr im Sinn von ‚Wesen‘ genommen, denn wesenlos ist keiner, auch nicht der, der nicht weiß, worin sein Wesen besteht. Vgl. auch AA II,8, 88/SW VII, 430, wo Schelling ein graduelles Mehr und Weniger des Charakters am Maßstab der Bestimmtheit erklärt: „je intensiver dieselbe, desto mehr Charakter“. Schelling gebraucht den Ausdruck des ‚Charakters‘ also nicht einheitlich, sondern teils im Sinne des ‚Wesens‘ teils in einem quantitativen und auch veränderlichen Sinne. Damit ergibt sich aber die Möglichkeit einer Differenzierung, welche die Tiefenstruktur der Wesensgründung beibehält, ihr aber phänomengerecht die flexiblere Art eines Charakters zuschreibt. Hierbei wird kein Anspruch erhoben, Schellings Terminologie eindeutig zu erfassen – es scheint eher, dass Schelling nach Abfassung der Freiheitsschrift den Ausdruck des ‚Wesens‘ durch den des ‚Charakters‘ ersetzt hat und mit diesem zugleich das Themenfeld um stärker empirische Charakterphänomene erweitert. Nach der vorgeschlagenen Differenzierung ist dasjenige, das der Mensch in der ursprünglichen Tat festlegt, sein bestimmtes Wesen. Die Art dieses Wesens ist der Charakter. Dieser kann offener oder geschlossener sein, bestimmter oder unbestimmter, mehr oder weniger, stärker oder schwächer. Es kann demnach ein z. B. zum Guten entschiedenes Wesen mit einem (mangels Urteilskraft) unentschiedenen Charakter geben oder einen Menschen, der von beständiger Unbeständigkeit ist.

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Form höchster Entschiedenheit bestehe, also diese Art der Freiheit mit sich führe: Sie lasse „keine Wahl zwischen Entgegengesetzten zu, kein aequilibrium arbitrii […]; sondern nur die höchste Entschiedenheit für das Rechte, ohne alle Wahl“ (AA I,17, 159/SW VII, 392). Und weiter: „Die wahre Freiheit ist im Einklang mit einer heiligen Notwendigkeit, […] da Geist und Herz […] freiwillig bejahen, was notwendig ist“ (AA I,17, 158/SW VII, 391 f.). Bemerkenswert an dieser Passage ist, dass die hier ausgesprochene Notwendigkeit der Bindung im Handeln eine andere ist als die zwischen Wesen und Handlung, nach welcher die Handlung notwendig aus dem Wesen des Menschen folgt, gleichgültig welcher Art dies ist. Die hier ausgesprochene Bindung ist eine inhaltliche, nämlich ‚für das Rechte‘, wozu es keine symmetrische Beziehung beim Unrechten gibt. Darin spricht sich der fordernde normative Charakter des Moralischen und Religiösen aus, der keine Entsprechung zum Bösen hat. Dennoch muss es auf der systematischen Fundamental-Ebene des freien und religiösen Wesens eine, wenn auch asymmetrische Entsprechung auf der Seite des Bösen geben. Denn es handelt „entweder der gute Geist oder der böse Geist“ (AA I,17, 156/SW VII, 389) in einem. In wem der böse Geist handelt und wer sich dem Bösen zu- und von Gott abgewandt hat, der handelt aber nicht aus „wahrer Freiheit“, sondern aus einer „positiven Verkehrtheit […] der Prinzipien“ (AA I,17, 137/SW VII, 366) in ihm, welche der göttlichen Ordnung widerspricht und demnach Unfreiheit mit sich führt. Denn „nur das Freie, und soweit es frei ist [, ist] in Gott […], das Unfreie, und soweit es unfrei ist, notwendig außer Gott“ (AA I,17, 120/SW VII, 347). Auch die hier sich ergebenden Schwierigkeiten können mittels der Ebenendifferenzierung gelöst werden. Wenn Schelling den, der außer Gott steht, ‚unfrei‘ nennt, dann betrifft dies nicht den fundamentalen Sinn der Wesensgründung, denn sonst würde es keine ‚Freiheit des Bösen‘ nach ihrem Realbegriff geben. Auch der Böse ist grundsätzlich frei. Jedoch hat er sein in dieser Freiheit liegendes volles Potential zur ‚wahren Freiheit‘ durch Verkehrung der Prinzipien nicht erreicht. Daher ist der unfreie Mensch auch nicht bar aller Freiheit, sondern nur graduell, „soweit [er] unfrei ist“, von der wahren Freiheit entfernt und insofern nicht unfrei im strengen Sinn, sondern eher in unwahrer oder uneigentlicher Freiheit. Zu den fundamentalen Freiheitsbestimmungen des Wesens gibt es die variablen des Charakters, welche das gesamte Spektrum von der Freiheit zur Unfreiheit abdecken. Der Böse hat als Mensch ein freies Wesen und als Böser einen unfreien Charakter. Die Frage bleibt allerdings, was damit gemeint ist und wie es sein kann, dass die Freiheit zum Bösen sich als Unfreiheit realisiert? Eine

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zureichende Erklärung hierfür liefert Schellings Theorie des Gewissens, mittels welcher sich Schellings Freiheitstheorie mit seiner Theorie des religiösen Bewusstseins verbinden lässt: Denn das religiöse Gewissen, das sich gezeigt hatte als der ursprünglich Gott-setzende Bezug des menschlichen Bewusstseins ist wie die ursprüngliche Freiheit im Wesen des Menschen angelegt: Schon im Würzburger System von 1804 führt Schelling aus: Die erste Bedeutung dieses oft missbrauchten Worts [der Religion] ist Gewissenhaftigkeit, es ist Ausdruck der höchsten Einheit des Wissens und des Handelns, welche unmöglich macht, seinem Wissen im Handeln zu widersprechen (SW VI, 558).

Dieses Gewissen hat auch der durch seine Zuwendung zum Bösen Unfreie. Es ist die „innere Stimme seines eigenen, in Bezug auf ihn, wie er jetzt ist, besseren Wesens“ (AA I,17, 156/SW VII, 389), das den Bösen zur Umkehr, d. h. zur Aufhebung der Verkehrung seiner Prinzipien in ihm auffordert. Das bedeutet aber, dass Schelling das Wesen des Menschen nicht lediglich so konzipiert, dass es sich durch die entsprechenden Konstellationen von Grund und Existierendem als Gutes oder Böses erweist, sondern dass in diesem Wesen der Archetypus des Guten, nämlich die ursprüngliche Bindung an Gott als die Seinsweise der nicht pervertierten Prinzipien, erhalten bleibt. Dies erklärt dann zugleich, weshalb es keine höchste Entschiedenheit zum Bösen geben kann; und weshalb Handlungen aus bösem Wesen ein verminderter reeller Freiheitsgrad zugeschrieben werden muss. Denn der Böse handelt nicht aus seinem vollen Wesen, da er den Anteil ‚seines besseren Wesens‘, das sich in seinem Gewissen ausspricht, in seinen Handlungen nicht realisiert. In wessen Wesen mit der Ausrichtung zum Bösen und dem Gewissen zum Guten widersprüchliche Prinzipien wach sind, der kann auch nicht eindeutig die ‚gesetzlich‘ notwendigen Handlungen aus diesem Wesen ableiten und demnach nicht die volle psychologische Freiheit erreichen; er kann es nicht zu gleicher Charakterstärke bringen wie der Religiöse, dessen Handlungen seinem Gewissen, d. h. der verborgen seine Tiefenschicht prägenden Achse seines Ur-Bewusstseins zu Gott, wie Schelling es in der Spätphilosophie ausgeführt hat, folgen.24 Denn Handlungen, die aus diesem Charakter folgen, haben notwendig etwas Zweideutiges, Unklares an sich. Der Böse 24   Dass der Böse so psychisch weniger frei ist als der Gute, führt nicht durch die Hintertüre den Privationsgedanken wieder ein, wonach dem Bösen lediglich etwas mangelt – nämlich die Freiheit zum Guten. Denn hier ist die mangelnde psychische Freiheit eine

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handelt böse aus seiner Grundausrichtung zum Bösen, aber er kann dies nicht mit derselben Entschiedenheit tun wie der Gute, weil in seinem Wesen mit dem Gewissen eine seiner Grundausrichtung widerstrebende Tendenz stets wach bleibt. Zusammenfassend ergibt sich von hier aus folgendes Bild: Die Forderung nach Entschiedenheit, die Ablehnung von Zufall, Zwang und Fremdbestimmung als Freiheitskriterien, sowie die Bindung der Handlung an Wesen und Charakter des Handelnden, ergeben einen engen Zusammenhang zwischen der Person und ihren Handlungen, den Schelling als Verbindung von Notwendigkeit und Freiheit ansehen kann. Allerdings genügt eine solche Freiheit, seinem eigenen Wesen gemäß zu handeln, noch nicht. Sie wäre bloß eine anspruchsvollere Variante humeanischer Handlungsfreiheit als Freiheit zu tun, was man will – bzw. wie man ist. Er kommt jedoch zudem darauf an, dass der Mensch sich sein Wesen selbst gibt – und zwar seinerseits in einem Akt der Freiheit. Denn „wäre“, wie Schelling zu Recht bemerkt, „jenes Wesen […] in Ansehung des Menschen ein ihm bloß gegebenes, so wäre, da die Handlung aus ihm nur mit Notwendigkeit folgen kann, die Zurechnungsfähigkeit und alle Freiheit aufgehoben“ (AA I,17, 152/SW VII, 385). Wir wären uns selbst im Handeln zwar gemäß, aber fremd. Daher gilt es für Schellings Auffassung von menschlicher Freiheit zu verstehen, worin die Freiheit der ursprünglichen Tat besteht (II.) und wie diese ursprüngliche Freiheit zuletzt sich in den freien Einzelhandlungen realisiert (III.).

II. Die Freiheit der ursprünglichen Tat Jene ursprüngliche Handlung, durch welche sich der Mensch sein Wesen gründet, ist eine „freie Tat“ (AA I,17, 153/SW VII, 386). Allerdings muss diese Freiheit anderer Art sein, als die Freiheit innerweltlicher Einzelhandlungen. Dies ist schon dadurch klar, dass letztere aus der notwendigen Verbindung mit dem individuellen Wesen der Person resultieren, welche durch die ursprüngliche Tat erst geprägt werden soll. Hinzu kommt, dass auch die ‚Tat‘ etwas anderes sein muss als eine äußere empirische Handlung einer individuellen Person. Dies ist schon dadurch klar, dass sich Individualhandlungen in der sukzessiven Zeit vollziehen, während für die ursprüngliche Wesensgründung des Menschen gilt: „Die Tat, Folge des durch die ursprünglich uneingeschränkte Freiheit erwirkten Böse-Seins und nicht dessen Ursache oder dessen bloßes Merkmal.

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wodurch sein Leben in der Zeit bestimmt ist, gehört selbst nicht der Zeit, sondern der Ewigkeit an“ (AA I,17, 153/SW VII, 385).25 Demnach ergeben sich für die Interpretation vier wesentliche Aufgaben: 1) zu verstehen, was es heißt, sich selbst zu Etwas zu machen, d. h. sein Wesen zu gründen. 2) zu verstehen, was eine Tat außerhalb der Zeit sein soll. 3) zu verstehen, wie das in Hinsicht auf reale Handlungen erörterte Wahlkriterium in Hinsicht auf die ursprüngliche Tat angelegt ist. Und 4) zu sehen, was diese sachlichen Bestimmungen in Hinsicht auf die Freiheitsbegrifflichkeit bedeuten. (1) Das zentrale Problem der ersten Aufgabe liegt in der Frage, ob bei der freien Setzung des eigenen Wesens zwei Wesen im Spiel sind – ein bestimmendes und ein bestimmtes – oder nicht. Denn insofern das je bestehende Wesen einer empirischen Person der zureichende Grund für deren freie Handlung in einer gegebenen Situation ist, bleibt für die Tat der Wesensgründung ein offenbares Dilemma. Entweder der gründende Akteur hat bereits ein Wesen oder nicht. Hat er bereits eines, so bedarf es für dessen Herkunft einer gesonderten Erklärung und das Problem kehrt wieder; es droht ein Regress. Gibt es jedoch für das gründende Wesen kein weiteres, das die Art seiner Gründung erklärte, dann scheint es für die ursprüngliche Tat auch keinen zureichenden Grund zu geben – sie scheint ‚einfach so‘ zu geschehen. Schelling schließt diese Variante, nach der „das intelligible Wesen aus purer lauterer Unbestimmtheit heraus ohne allen Grund sich selbst bestimmen sollte“ (AA I,17, 151/SW VII, 384), und die Selbstgründung ein Zufallsgeschehen wäre, kategorisch aus. Der Grund liegt auf der Hand: eine Zufallsbestimmung eines Wesens, aus welchem mit Notwendigkeit empirische Handlungen entsprängen, entbände den Akteur von aller Moralität und Verantwortlichkeit, da man ihm weder seine Handlung noch seinen Charakter zurechnen könnte. Er könnte ganz im Sinne Schellings seine Handlungen je dadurch rechtfertigen, dass er sagte: „so bin ich eben“ – und, entgegen den Intentionen Schellings, darauf bestehen, dass er auch dafür, wie er eben sei, nichts könne. Demnach bleibt für Schellings Ansatz das Problem, wie ein freier Akteur mit einem schon bestimmten Wesen sein eigenes Wesen bestim25   Mit diesem Konzept einer zeitlosen ursprünglichen Tat knüpft Schelling einerseits an den Begriff transzendentaler Freiheit Kants als einer intelligiblen, zeitlosen Tat an. Zugleich wird dieses Konzept auch von Kant über Schelling in der christlichen Sündenlehre des 19. Jahrhunderts weitertradiert. Vgl. Julius Müller 1867, Bd. 2, 562, wo Müller die Notwendigkeit der „Zurückführung des peccatum originale auf einen dem Zeitleben aller Menschen auf zeitlose Weise vorangehenden Fall“ betont. Hierzu umfassend auch in der Analyse der historischen Bezüge in Weiterführung Schellingschen Gedankenguts: Willi 2003.

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men können soll, ohne dass es für das bestimmende Wesen eines weiteren Wesens bedürfte, der dessen Bestimmung erklärte. 26 Schelling sucht dieser Situation mit folgender Überlegung Herr zu werden: Um sich selbst bestimmen zu können, müsste es [das intelligible Wesen] in sich schon bestimmt sein […]; es selber als sein Wesen, d. h. seine eigene Natur, müsste ihm Bestimmung sein. [Die Bestimmung ist] mit der Position und dem Begriff des Wesens selbst Eins, also eigentlich das Wesen in dem Wesen […]. Das intelligible Wesen kann daher, so gewiss es schlechthin frei und absolut handelt, so gewiss auch nur seiner eignen innern Natur gemäß handeln (AA I,17, 152/SW VII, 384).

Um dieses durchaus nicht aus sich selbst heraus verständliche Kernstück des Schellingschen Arguments im Sinne des principle of charity maximal zu Schellings Gunsten interpretieren zu können, ist zuerst darauf hinzuweisen, dass Schelling hier explizit auf die Fichtesche Denkfigur seiner eigenen Anfänge zurückgreift, nach welcher „das Ich […] seine eigene Tat [und] Bewusstsein […] Selbstsetzen“ (AA, I,17, 152/SW VII, 385) sei, wobei insbesondere gelte: „das Ich ist nichts von diesem Verschiedenes, sondern eben das Selbstsetzen selber“ (ebd.). Demnach muss man sich auch die Selbstsetzung des Wesens als ein in einem mehrfachen Sinne intrinsisches Geschehen einer Selbstaffektion vorstellen, bei dem es nicht ein bestimmendes und ein bestimmtes, davon verschiedenes Wesen gibt, sondern bei dem das Bestimmtsein des bestimmenden Wesens sein Bestimmen selbst ist. Das Wesen ist nicht bestimmt in Folge seiner Bestimmung, sondern im Zuge seiner Selbstbestimmung – indem es sich bestimmt. Ausführung und Ergebnis sind hier entsprechend dem Fichteschen Urprinzip der Tathandlung dasselbe. Es ist also nicht so, dass zwei unterscheidbare Personen beteiligt wären, eine gründende und eine gegründete, weder in- noch auseinander. Es ist derselbe Standpunkt, von dem aus eine Person ihr Wesen bestimmt, dieses Wesen ist – und schließlich durch dieses Wesen empirisch handelt. Wie lässt sich dies sachlich verstehen? Wenn die Wesensgründung in der Ausrichtung der Grundkonstellation der Willensprinzipien besteht, dann findet sich das Subjekt immer schon in einem so und so gearteten Wesen vor, das jedoch zugleich seine eigene Ausrichtung, d. h. sein eige26   Vgl. Hermanni 2011, 108 f., für welchen das Schellingsche Konzept der ewigen Tat in die aporetischen Alternativen des Regresses, des Zufalls oder der causa sui mündet. Meine nachfolgenden Überlegungen versuchen diese Konstellation so zu denken, dass sie hiervon nicht betroffen ist.

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nes sich-Ausrichten ist. Es gibt nach dieser Lesart nicht zunächst eine aktive Tat der Wesensprägung und danach ein starres Verweilen in diesem Wesen, sondern der Mensch ist mit Schelling im Innersten Aktivität: „das Wesen des Menschen ist wesentlich seine eigene Tat; […] es ist reales Selbstsetzen, […] das sich selbst zu Etwas macht“ (AA, I,17, 152/SW VII, 385, Herv. Schelling). Die Tat der Wesensgründung ist dieselbe Tat, welche das gegründete Wesen ist. Die Schwierigkeit, dass in dieser Konstellation zuletzt etwas zugleich Ursache und Wirkung (bzw. Grund und Folge) seiner selbst sein soll, lässt sich mittels folgender Überlegungen beheben: Der Mensch handelt (ursprünglich und empirisch) wie er ist, denn er ist zugleich wie er handelt; Sein und Handeln bestehen hier in einem Wechselverhältnis, bei dem gilt: „Sein Handeln ist sein Sein selbst, und sein Sein sein Handeln“ (SW VI, 548). 27 Eben dies besagt das Gesetz der Identität gemäß dem formellen Freiheitsbegriff: Freiheit besteht, wo Handeln und Wesen in einer Identitätsbeziehung stehen. Wo das Sein nicht der Praxis vorhergeht, sondern selbst praktisch ist, werden Sein und Handeln zu einer wechselbegründenden Relation unter verschiedenen Perspektiven. Das Wesen ist, indem es handelt, und nicht als Folge hiervon. Die Verbindung im menschlichen Handeln zwischen Freiheit und Notwendigkeit rührt also nicht lediglich daher, dass Einzelhandlungen auf der Basis des festgelegten Wesens notwendig sind – der Akt der Festlegung dieses Wesens zugleich jedoch frei ist. 28 Der handlungsprägende Charakter des Menschen hat nicht lediglich die Form einer kausalen Disposition, welche zuerst besteht und aus der sodann die Handlungen folgen. Dem widerspricht bereits die Vorstellung der Ewigkeit der ursprünglichen Tat, die kein zeitliches Zuvor zu den empirischen Handlungen kennt. Sondern in der absoluten Handlung der Charaktergründung kommen Freiheit und Notwendigkeit bereits zur Deckung. (2) Wie aber ist es zu verstehen, dass die ursprüngliche freie Tat ewig sein soll? Diese Frage verknüpft die Problematik menschlicher Freiheit unmittelbar mit der Zeit-Ewigkeits-Problematik des göttlichen Han  Vgl. die Reformulierung Tilliettes, welche sichtbar macht, dass hierbei auch eine überzeitliche Wechselprägung von Vergangenheit und Zukunft gedacht werden kann: „Was der Mensch ist, ist seine Tat. Wie er sich macht, hat er sich gemacht“ (Tilliette 1975, 104). Sturma 1995, 167 weist zu Recht darauf hin, dass die Menschen hierdurch auch verantwortlich sind für das, das sie sind, „für ihre moralische Disposition und Handlungstendenz“. 28   Diese Ansicht entspricht einem Grundzug der älteren Schelling-Forschung, hat aber Text und Sache gegen sich. Vgl. Florig 2010, 160 f. 27

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delns. Denn hier wie dort soll gelten, dass ein als ewig gedachter geistiger Bezugspol einem zeitlichen Handlungsgeschehen korrespondiert: im Fall Gottes einem zeiterzeugenden, im Falle des Menschen einem in der Zeit verlaufenden. Dass Schelling die Frage nach der menschlichen Freiheit an einer entscheidenden Systemstelle der Freiheitsschrift mit der Zeit- und Ewigkeitsproblematik verknüpft, ohne die dabei dargelegte Position an späteren Stellen hinsichtlich der Freiheit menschlichen Handelns nochmals zu revidieren oder zu erweitern, obwohl, wie gesehen, die Zeit-/Ewigkeitsproblematik in Hinsicht auf das Handeln und die Freiheit Gottes in späteren Schriften eine deutliche Weiterentwicklung erfahren hat, eröffnet für die Interpretation eine Sicht, die es erlaubt, der aporetischen Position der Freiheitsschrift mittels späterer Modelle zu entkommen zu versuchen. Schellings wesentliche Antwort auf die Frage nach der Ewigkeit der ursprünglichen Tat in der Freiheitschrift ist: Die ‚Ewigkeit‘ der ursprünglichen Tat bedeutet, dass diese dem Leben „nicht der Zeit nach voran[geht], sondern durch die Zeit (unergriffen von ihr) hindurch“ (AA, I,17, 153/SW VII, 385 f.). Tat und Wesen gehen keine zeitliche Folge ein, sondern geschehen „in Einem magischen Schlage zugleich“ (AA, I,17, 154/ SW VII, 387). Abgesehen von den Schwierigkeiten, die darin liegen, die beiden von Schelling hier ausgesprochenen Ewigkeitsmodelle der zeitlosen Koexistenz und der auf den Nullpunkt zusammengedrängten Zeit zusammenzudenken, kommt hier erneut die Schwierigkeit zum Tragen, dass Schelling bis dato Ewigkeit als strenge Zeitlosigkeit, ja Zeitunbezüglichkeit denkt, in ihr aber Aktivitäten wie eine ursprüngliche Tat situiert, welche in strikter a-Zeitlichkeit nicht zu denken sind. 29 Daher war im Kapitel zur Entwicklung von Schellings Ewigkeitsbegriff die Konzeption einer ‚ewigen Tat‘ in der Freiheitsschrift eher als Offenbarung eines Dilemmas denn als systematisch tragfähige Lösung aufgefasst worden. Eine solche könnte allerdings auch hier erreicht – und Schellings Modell menschlicher Freiheit in die Ewigkeits- und Zeitkonzeption der Spätphilosophie integriert werden, wenn man Schellings Vorstellung strikter Unzeitlichkeit des Ewigen durch seine eigenen späteren Modelle einer „lebendigen Ewigkeit“ (SW VIII, 260), welche nicht „nach außen völlig wirkungslos[.]“ (ebd.) ist, ersetzt. Hierfür lässt sich Schellings Einsicht aus dem ersten Weltalterentwurf als Ausgangspunkt nehmen, nach welchem gilt: „In […] der reinen Ewigkeit lässt sich keine Handlung, 29   Die systematische Unmöglichkeit einer Tat außerhalb der Zeit hatte auch schon Jacobi 1789 (2000, 283) hingewiesen, nach dem gilt: „eine Handlung, die nicht in der Zeit geschähe, ist ein Unding“.

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keine Tätigkeit denken“. Insbesondere lässt sich Schellings Auffassung systematisch fruchtbar interpretieren, wenn man den Perspektivenunterschied in Anspruch nimmt, der zu einer angemessenen Interpretation der creatio continua gebraucht wurde, nach welchem das Ewige aus der Perspektive des Ewigen zwar zeitlos, mit der Zeit lediglich koexistierend, aus der Perspektive des Zeitlichen jedoch als zu dieser parallel dauernd gedacht werden konnte. Dies würde bedeuten, dass die ursprünglich-freie Tat der Wesensgründung weder strikt a-zeitlich, noch in einer vorzeitlichen Vergangenheit abgeschlossen, noch in einem bloß punktförmig zusammengedrängten Moment in der Zeit situiert ist, oder als bloß logischer Grund der Zeit angesehen werden kann, sondern dass sie sich als eine zugleich kontinuierliche Handlung auffassen lässt, die das Leben des Menschen ununterbrochen begleitet, so wie man in sinnvoller Redeweise sagen kann, dass der Mensch seinen Charakter durch sein Leben hindurch trägt, bzw. von ihm getragen wird. Da das menschliche Wesen im Innersten Tätigkeit ist, muss man sich den ‚magischen Schlag‘ über die gesamte Zeit von der tiefsten Vergangenheit bis in die fernste Zukunft hinein invariabel bestehend vorstellen als dynamisches Offengehaltenwerden eines individuellen Bewusstseins in seiner spezifischen Art; als seine stehende gleichbleibende Form im Fluss seiner Bewusstseinsinhalte.30 In Schellings Kosmologie fällt die ursprüngliche Tat gar „mit der ersten Schöpfung […] zusammen“ (AA, I,17, 153/SW VII, 385). Diese Schöpfung ist jedoch bereits in der Freiheitschrift nicht nur eine, welche am zeitlichen Anfang der Welt liegt, sondern sie bildet zugleich als creatio continua den beständigen ontologischen Grund der Welt als „dauernde [!] Schöpfung“ (AA, I,17, 147/SW VII, 378). Versucht man, die temporalen Verhältnisse der ursprünglichen Tat nach Maßgabe der reifen Ewigkeitstheorie zu fassen, so zeigt sich, dass sich dieser gleichfalls zwei Ewigkeitsseiten zuschreiben lassen: sie ist zum einen zeitlich-ontologisch früher als unser irdisches Leben, zum anderen jedoch mit diesem zugleich, verbunden mit ihm in einer dauerhaften   Ein Modell, dass Schelling in seiner Naturphilosophie gebraucht und das diese Verhältnisse innerhalb der weltlichen Zeit zu illustrieren geeignet ist, ist das Beispiel eines Wirbels im strömenden Wasser: „Der Wirbel ist nicht etwas Feststehendes, sondern beständig Wandelbares – aber in jedem Augenblick neu Reproduziertes“ (AA I,7, 276/SW III, 18, Anm.). Man könnte im Falle des Wirbels von dynamischer Invarianz sprechen. Dieses ist geeignet, das Verhältnis des beständigen intelligiblen Wesens des Bewusstseins zu seinen sich wandelnden Inhalten darzustellen. Meine Reformulierung ist bewusst nahe bei Husserl, nach welchem dem Fluss der Bewusstseinsinhalte eine absolute zeitlose Form zugrunde liegt. Vgl. Gerlach 2013b. 30

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Selbst-Schöpfung, die als Seins-Grund (und als nicht zeitliche Ursache) nur ontologisch früher zu ihr ist.31 Beide Seiten spricht Schelling auch bereits in der Phase seiner mittleren Philosophie explizit aus. So ist die Wesensgründung „von der Geburt“ (AA, I,17, 155/SW VII, 388) und verweist auf „ein Leben vor diesem Leben“ (AA, I,17, 154/SW VII, 387). Zum anderen ist sie, wie es im zweiten Weltalterentwurf heißt, „eine ewige (nie aufhörende, beständige) Tat“ (W 177). Es ist diese zweite, das tätige Leben betreffende Seite, die handlungstheoretisch relevant ist, da unsere empirischen Handlungen sich innerhalb unserer Lebensspanne vollziehen. Unter dieser Perspektive ist es nicht so, dass der Mensch zuerst, womöglich in einem pränatalen Bewusstsein, sich aktiv für ein Wesen entschiede und damit sein Leben auf ein bestimmtes Gleis festlegte, auf dem es fortan passiv unabänderlich weiterliefe.32 Sondern das beständige intelligible Wesen des Menschen lässt sich aus der Perspektive zeitlich-irdischen Lebens fassen als das immer gleiche Hintergrund- oder Horizontbewusstsein der je eigenen Individualität – dessen, wie man ist. Wenn gelten soll: „wie der Mensch hier handelt, so hat er schon von Ewigkeit und im Anfang der Schöpfung gehandelt. Sein Handeln wird nicht, wie er selbst als sittliches Handeln nicht wird, sondern der Natur nach ewig ist“ (SW VIII, 387 f., Herv. Schelling), so ist dies zu verstehen als kontinuierliche Selbstgründung des eigenen Wesens im Sinne der creatio continua. Der Mensch, der von Ewigkeit und im Anfang der Schöpfung selbst handelt, hat daher densel31   Die hier genannte theologische Figur ist die des concursus Dei (oder concursus divinus), der Mitwirkung Gottes, nach welcher alles Geschehen in der Welt nur in sekundärer Hinsicht von weltlichen Ursachen abhängig ist, primär sich jedoch Gott als Erstursache verdankt (RGG, 2, 444 f.; LThK, 7, 348 f.). 32   In der Schwierigkeit einer angemessenen Deutung des Gedankens Schellings, die Ewigkeit der ursprünglichen Tat reiche bis in die Schöpfung zurück, spiegelt sich das Problem des zeitlosen Ewigkeitskonzepts Schellings: Schelling rechnet sich diese Theorie als Stärke zu, da nur durch sie das Prädestinationsproblem in Hinsicht auf die Theodizeefrage gelöst werden könne. Wenn der Mensch sich selbst von Ewigkeit auch auf das Böse festgelegt hat, kann Gott aus der Perspektive dieser Ewigkeit das Folgende vorhersehen, ohne selbst verantwortlich für das Böse zu sein. Aber eine solche, aus der Ewigkeit des Vergangenheitsäons herrührende Wesensprägung führt moralphilosophisch zu den Aporien moralischer Unzurechnungsfähigkeit einzelner Taten, denen alle Handlungslehren, die eine Prädestination einzelner Handlungen aus einem Bereich, der außerhalb der empirischen Lebensspanne liegt, anheimgegeben sind. Es gibt dann, juristisch gesprochen, nur Täterschuld, keine Tatschuld, und eine Zurechnung primär des Charakters (bzw. der Gesinnung) des Täters, nicht aber seiner Tat, die aus diesem notwendig folgt. Hierfür spielt es auch keine Rolle, ob eine solche Prägung aus einer pränatalen Zeit oder einer koexistierenden Ewigkeit herrührt, insofern in beiden Fällen die Veränderungsbedingungen seiner Handlungen außerhalb der Gewalt des Akteurs liegen.

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ben Ewigkeitshorizont der zeitbezüglichen zweiten Ewigkeit, in der auch Gottes Welterschaffung und -erhaltung sich realisiert. Gottes Schöpfungshandeln und menschliches Selbstschöpfungshandeln hinsichtlich seiner Wesensgründung gehen hier zeitontologisch parallel. Wenn man hier den Perspektivenunterschied berücksichtigt, nach welcher die vorzeitliche Ewigkeit aus der Sicht Gottes lediglich mit der Zeit der Welt koexistiert (und nicht in zeitlicher Dehnung dauert), aus der zeitlichen Sicht des Menschen jedoch parallel zu dieser dauert, so lässt sich auch Schellings ansonsten in Widersprüche führende Erläuterung in Parenthese verstehen, nach welcher die ewige Tat ‚nie aufhörend‘ und ‚beständig‘ sein soll – denn eben dies sind Charakterisierungen der von Schelling auf Gottes Ewigkeit bezogen strikt abgelehnten, aus der irdischen Position jedoch verständlichen Ewigkeitsform der ewigen Dauer. Dies erklärt, weshalb der Mensch keine Erinnerung an diese freie Tat haben kann, da sie ihm „vorangeht, es [sein Wesen und Bewusstsein] erst macht“ (AA, I,17, 153/SW VII, 386, Herv. Schelling). Aber insofern dieses nicht zeitliche, sondern wesensmäßige Vorangehen zugleich den Rahmen des persönlichen Bewusstseins in seiner individuellen Ausprägung bildet, innerhalb dessen seine psychischen Bewusstseinsinhalte auch praktischer Art vorkommen, hat umgekehrt der Mensch sehr wohl Bewusstsein von seiner ursprünglichen Tat im Handeln. Sie ist die Art und Weise, wie der Mensch sich in sich selbst vorfindet, insbesondere in Hinsicht auf seine Grundveranlagung zum Guten oder Bösen.33 In moralischer Hinsicht ist dieser spezifische individuelle Horizont des Daseins der moralischen Grundausrichtung des individuellen Menschen treffend die ‚Gesinnung‘ zu nennen.34 (3) Wie schon bei der Charakterisierung der Freiheit im Handeln Gottes und des innerweltlichen Tuns des Menschen, betont Schelling auch hinsichtlich der Tat der Wesensgründung, dass diese keiner Wahl entspringe. In den Stuttgarter Privatvorlesungen heißt es: „Niemand

  Man kann hier deutlich nachverfolgen, woher dieses Problem rührt: in der Frühphilosophie hat Schelling das Modell einer intelligiblen, zeitlosen, absoluten Tat als metaphysisches Bewusstseinskonstituens (absoluten Akt des Selbstbewusstseins) gebraucht; dieses war jedoch notwendig von allgemeiner, überindividueller Art. Dieses Modell überträgt Schelling in der Freiheitsschrift aber auf einen Akt individueller Charaktergründung und kann dann nicht mehr, wie zuvor, das empirische (individuelle) Bewusstsein erst auf diesen Akt aufsitzen lassen. Eine individuelle Charaktergründung muss man sich als individuelle vorstellen können. 34   Buchheim 2011, 147. Buchheim weist zu Recht auf Kants Religionsschrift als Quelle auch dieses Gedankens hin (vgl. Kant AA VI, 25 f.). 33

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wird behaupten, dass sich ein Mensch seinen Charakter [hier = sein Wesen] gewählt habe“ (AA II, 8, 88/SW VII, 430). Das ist schon insofern einsichtig, als eine Wahlsituation beinhalten würde, dass es zuerst ein wählendes, bestimmendes Wesen und danach ein gewähltes, bestimmtes gäbe – während eben dies in der gegebenen Interpretation durch die Wechselbeziehung der Selbstgründung und die Unzeitlichkeit des ständigen Gründungsgeschehens ausgeschlossen sein soll. Andererseits ergibt sich die interpretatorische Schwierigkeit, dass Schelling gleich an zwei Stellen der Freiheitsschrift hinsichtlich der ursprünglichen Wesensfestlegung von einer Wahl spricht: Zum einen „steht [der Mensch] am Scheidepunkt. Was er auch wähle, es wird seine Tat sein“ (AA, I,17, 143/SW VII, 374), zum anderen „bleibt das Böse immer die eigene Wahl des Menschen“ (AA, I,17, 150/SW VII, 382; Herv. beides mal Vf.).35 Die Frage kann offenbleiben, ob Schelling in dieser Frage in der Phase nach der Freiheitsschrift seine Meinung geändert hat36 – entscheidend ist die Frage, ob ein hier auftretender systematischer Widerspruch zur gegebenen Interpretation ausgeräumt werden kann. Dies scheint allerdings nur dadurch möglich, dass man den Ausdruck der ‚Wahl‘ an diesen beiden Stellen relativiert. Die ‚Wahl‘ am Scheidepunkt zum Guten und Bösen muss eine solche sein, bei der kein Abwägen und kein räsonierendes Auswählen stattfinden, sondern ein unmittelbar zugreifendes Entschiedensein zwischen alternativen Optionen, d. h. in einer gegebenen Wahlsituation. Das Bild des Scheidepunkts, an dem der Mensch sich bereits an der Weggabelung befindet (und nicht auf dem Scheideweg darauf zu), und sich unmittelbar entscheiden muss, bestärkt diese These.37 Zugleich 35   Peetz 1995, 196 hält auf der Basis dieser beiden Stellen die Wahlfreiheit für die „Spezifität der menschlichen Freiheit“ bei Schelling, kommt dadurch jedoch konsequent zu dem Ergebnis, dass so „die Autonomie des Willens […] zerstört“ (202 f.) werde und diese „Voraussetzung der Wahlfreiheit […] selbstwidersprüchlich“ (211) sei. Auch Jacobs 1995, 127 hält die freie Handlung bei Schelling für eine „gewollte und gewählte“. 36   Im dritten Weltalterentwurf heißt es: „Und doch ist anerkannt, dass keiner sich nach Gründen oder Überlegung seinen Charakter gewählt hat; er war nicht mit sich selbst zu Rat gegangen“ (SW VIII, 304). Vgl. entsprechend W 92, 96 f. und 177. Die eindeutige Haltung dieser und vieler anderer Stellen im zeitlichen Umkreis der Freiheitsschrift, welche einen Vorgang des Wählens ausdrücklich als der Freiheit zuwider bezeichnen, lassen daher die Vermutung nahe liegen, dass Schelling an den genannten zwei Stellen der Freiheitsschrift mit dem Ausdruck der „Wahl“ keinen Akt des (Aus-)Wählens gemeint hat, sondern entsprechend der Freiheit Gottes ein unmittelbares Entscheiden (oder Entschiedensein), ein Sich-Festlegen in einer Alternativsituation, d. h. einer Situation mit einer formalen Wahlmöglichkeit. 37   Die für Schelling richtige innere Haltung im Handeln ist daher die unmittelbar

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basiert Entschiedensein wie gesehen notwendig auf Alternativität, also auf einer formalen Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Entscheidungsoptionen.38 Demnach muss man die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der menschlichen Freiheit und dem Leibniz‘schen Freiheits-Kriterium der Wahlmöglichkeit auf doppelte Weise zweistufig beantworten: Denn sowohl für die ursprüngliche Tat als auch die real ausgeführte Einzelhandlung gilt, dass eine formale Wahlmöglichkeit vorliegen muss, damit der Ausdruck des Sich-Entscheidens nicht in semantische Widersprüche gerät, da Entschiedenheit für etwas zugleich Entschiedenheit gegen etwas Alternatives impliziert – ansonsten verliert der Ausdruck des Sich-Entscheidens und des Entschieden-Seins seinen Sinn. Dann aber bildet die tatsächliche Entscheidung eine Form des bereits Entschieden-Seins kraft der eigenen Wesensausprägung oder des eigenen Charakterausprägens. Die ursprüngliche Tat beinhaltet einen Akt der Entscheidung, in welchem der Mensch aus einer ursprünglichen Unentschiedenheit heraustritt; diese Entscheidung kann dem Menschen nicht abgenommen werden: „nur er selbst kann sich entscheiden“ (AA, I,17, 153/SW VII, 385). Sie ist des individuellen Menschen erste eigene zurechenbare Tat. Hierzu wird nach der Konzeption der Freiheitsschrift der Mensch durch den dunklen Grund in ihm angestoßen, welcher seinen Eigenwillen erregt und überhaupt erst den Menschen als Person, d. h. als Individualwesen begreiflich werden lässt. Diese Erregung des Eigenwillens ist zugleich eine Versuchung zum Bösen – nämlich den Eigenwillen dominant werden zu lassen. Sie erklärt, dass der Mensch sich entscheiden muss, nicht aber, wie (zum Guten oder Bösen) er dies tut.

auf das Objekt des Willens bezogene intentio recta, bei welcher der Akteur nicht zugleich auch auf sich bezogen ist, sondern für sich gleichsam hinter dem Zielobjekt verschwindet. Vgl. hierzu AA I,2, 71/SW II, 13, wonach gilt: „Je weniger er [=der Mensch] aber über sich selbst reflektiert, desto tätiger ist er. Seine edelste Tätigkeit ist die, die sich selbst nicht kennt. Sobald er sich selbst zum Objekt macht, handelt nicht mehr der ganze Mensch, er hat einen Teil seiner Tätigkeit aufgehoben, um über sich reflektieren zu können“. 38   Allerdings ist zu berücksichtigen, dass entsprechend der Komplexität von Handlungsfunktionen im einzelnen Fall viele Hinsichten von Optionalität auftreten können: Man könnte in einer Handlung zuerst über seine moralische Orientierung entscheiden (was Schelling ausschließt), man könnte seine moralischen Fernziele wählen (was Schelling ebenfalls als der Freiheit entgegen ausschließen würde), man könnte aber auch die solchen Fernzielen entsprechenden Nachziele als Mittel hierfür wählen oder zuletzt konkrete Einzelhandlungen als Mittel zu diesen. Diese Wahlarten müssen wirklich vollzogen werden können, damit freie Handlungen geschehen, und nicht bloß die formale Basis zu bestehender Entschiedenheit bilden.

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Eine Beantwortung dieser Frage, weshalb ein spezifischer Mensch sich zum Guten oder Bösen wendet, ist mit Schelling ausgeschlossen. Sie beruht auf dem Missverständnis, der Entscheidung würde in zeitlicher Hinsicht etwas vorausgehen, worin die Gründe für die Entscheidung zu suchen wären.39 Das Nacheinander der Reihe von ursprünglicher Unentschiedenheit und Entscheidung ist, wie Schelling ausdrücklich betont, nur der sukzessiven Darstellung geschuldet (AA, I,17, 154/SW VII, 387). In Wirklichkeit ist es eine dauernde Ausrichtung, ein immer schon Entschieden-Sein, in das die vorgängige Unentschiedenheit und der ‚Moment‘ der Entscheidung nur als Strukturelement eingehen.40 (4) Durch die doppelte Freiheit – der ursprünglichen Tat und der realen Handlung – lässt sich auch eine Doppeldeutigkeit im ‚realen und lebendigen‘ Begriff der Freiheit als ‚Vermögen des Guten und des Bösen‘ systematisch zuordnen, auch wenn diese von Schelling gar nicht beabsichtigt gewesen sein mag.41 Als genitivus objectivus gelesen ist sie ein Vermögen zum Guten und Bösen; und eben dies entspricht der Wesensausrichtung und -hinwendung der ursprünglichen Tat. Auf deren Basis ist sie jedoch auch ein Vermögen, durch das gute oder böse Wesen (gentivus subjectivus) gute oder böse Handlungen auszuführen, was der Situation des Menschen innerhalb seiner irdischen Lebensspanne entspricht, wo er die 39   Vgl. W, 93: „Von der aus jener Tiefe kommenden Handlung ist kein Grund anzugeben; sie ist so, weil sie so ist, sie ist schlechthin und insofern notwendig“. Das heißt auch, dass sich freie Handlungen zwar über das Wesen des Menschen erklären lassen, dass es für die Art dieses Wesens aber keine Erklärung mehr gibt. Ein (m.E. notwendiges) Moment des Unerklärlichen freier Handlungen bleibt so erhalten, wenn es auch zurückverlagert wird von der direkten Unerklärlichkeit einer freien Handlung in die Tiefe der Ewigkeit der ursprünglichen Tat. Diese Unerklärlichkeit ist so gesehen kein Mangel der Theorie Schellings, die „volitive Selbstbestimmung verständlich zu machen“ (Klotz 2013, 144), sondern eine intrinsische Sacheigenschaft der Freiheit. 40   Allerdings ist zu beachten, dass der individuellen Charaktergründung bei Schelling eine kollektive Wesensausrichtung der Menschheit vorgeordnet ist, welche den Sündenfall beschreibt: „Nachdem einmal in der Schöpfung […] das Böse allgemein erregt worden; so hat der Mensch sich von Ewigkeit in der Eigenheit und Selbstsucht ergriffen“ (AA I,17, 155/SW VII, 388). Vgl. Buchheims 2011, 148 (Anm. 254). Für Hennigfeld 2001, 207 bedarf es gar der Zweistufigkeit, da das ursprünglich Böse erst durch das komplementär Gute „zu einer moralischen Kategorie“ werde – eine Interpretation, die allerdings übersieht, dass das Gute zuvor schon durch Gott gegeben (wenn auch nicht vom Menschen erkannt) ist, weswegen der Sündenfall selbst mit Schelling bereits moralisch böse ist. 41   Immerhin mag man sich fragen, weshalb Schelling die genitivische Form wählt. Schließlich wäre die Formulierung einer Freiheit zum Guten oder Bösen sprachlich viel naheliegender und eindeutiger gewesen, wäre es Schelling lediglich um die objektive Seite zu tun gewesen.

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Bühne der Welt bereits mit moralischem Wesen betritt. Auf diese Weise werden der reale und der formelle Freiheitsbegriff verbunden. Denn die reale Freiheit zum guten oder bösen Wesen realisiert sich genau dann in entsprechenden Handlungen, wenn nicht nur die ursprüngliche Handlung, sondern auch die empirischen Handlungen mit dem Wesen identisch sind – was genau der formelle Freiheitsbegriff fordert.

III. Ursprüngliche Tat und menschliche Handlung innerhalb der Zwei-Ebenen-Unterscheidung Von hier aus lässt sich nun der Zusammenhang zwischen der Freiheit der ursprünglichen Tat und des empirischen Handelns des Menschen und somit Schellings handlungsbezügliche Theorie menschlicher Freiheit im Ganzen darstellen. Dabei galt: der Mensch ist in doppelter Hinsicht praktisch. Sein Wesen ist Tat und dieser entspringen die empirischen Handlungen. Demnach gilt auch die Wechselbegründung von Sein und Handeln in doppelter Hinsicht. Das Wesen ist über die Identitätsbeziehung innere und äußere Tat. Dennoch sind innere und äußere Tat nicht einfach numerisch identisch, sondern die äußere muss entsprechend der Zwei-Ebenen-Unterscheidung von Wesen und Charakter als Anwendungsfall der inneren angesehen werden. Die äußere (empirische) Handlung ist unmittelbar die Außenseite der inneren.42 Das heißt, der Mensch ist kein Gegenstand mit einer statischen Disposition, die sich zu bestimmten Anlässen, z. B. Handlungssituationen auf bestimmte Weise mechanisch realisierte. Sondern sein Wesen und Charakter, d. h., seine Disposition ist eine praktische. Er ist das, was er in der Mannigfaltigkeit möglicher gegebener Fälle gemäß seinen Absichten, Wünschen und Plänen tun würde und das er dann in den tatsächlichen Situationen tatsächlich tut. 43 Seine Eigenart entspricht seinem dispositionalen Pool möglicher Handlungen und seinem Charakter, durch dessen Art er in der konkreten Situation mehr oder weniger bestimmt auf diesen Pool zurückgreift.44   Deswegen kann ein Akteur in einem letzten Sinn sich auch nicht über seine Handlungen täuschen. Der Akteur bestimmt selbst, was sein Tun ist. Er weiß immer, was er tut, d. h. welcher Typ von Handlung sein Tun als Absichtsrealisierung ist. Vgl. Horst 2012, 190: „Wenn ich praktisch denke ‚ich tue gerade A‘, dann heißt das […], dass ich bereits dabei bin, A zu tun“. 43   Vgl. Baumgartner/Korten 1996, 134. 44  Dementsprechend zeigt sich das Wesen des Menschen auch durch die Art, wie die Person handelt. In dieser spezifischen Art liegt zugleich eine Abgrenzung zu allen anderen Arten zu handeln, die diese Person nicht ergreift und die dann als Möglich42

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Schellings Theorie, nach welcher das menschliche Wesen in einer ursprünglich-ewigen Tat durch Freiheit festgelegt wird und die realen menschlichen Handlungen mit Notwendigkeit aus diesem Wesen und seinem entsprechenden Charakter folgen, beinhaltet allerdings das Problem, dass auf der Basis einer zwar freien Tat, auf die der empirische Mensch jedoch keinen Einfluss hat, ja zu welcher er nicht einmal einen introspektiven Zugang hat, sein gesamtes Tun innerhalb der zeitlichen Spanne seines Lebens auf der Basis des Identitätsgesetzes von Wesen und Handlung festgelegt zu sein scheint. 45 Er scheint innerhalb seines Lebens seinem eigenen Charakter ausgeliefert, mag ihm dieser gefallen oder nicht. Es scheint so zu sein, dass „kein Zwang, ja selbst die Pforten der Hölle nicht imstande wären, [eines Menschen] Gesinnung zu ändern“ (AA, I,17, 153/SW VII, 386).46 Daran ändert auch nichts, dass die Ewigkeit durch unser Leben hindurch geht. Auch nicht in der Form, dass dies aus der Perspektive des Irdischen als eine Form ewiger Dauer zu verstehen ist. Denn so scheint noch immer der Fall zu sein, dass keine Charakteränderungen möglich sind, da Änderung Varianz bedeutet, die invariable Ewigkeit jedoch keine solche bereitstellt – und die Form ewiger Dauer sich gerade darin vom Zeitlichen unterscheidet, dass sich in ihr nichts verändert. Auch die Unterscheidung der Fundamentalbedingung des Wesens von der Realisierungsbedingung des Charakters hilft bis dato nicht, da der Charakter im Gegensatz zum Wesen zwar ein Mehr oder Weniger an Bestimmtheit haben kann, auf Grund seiner Bindung an das invariante Wesen jedoch keine Möglichkeit einer Änderung zu sehen ist. So bleibt allerdings das Problem eines inneren Determinismus, dergestalt dass es durch die ‚ewige‘ Wesensfestlegung innerhalb unseres tatsächlichen irdischen Lebens keine Möglichkeit zu geben scheint, der moralischen Eigenprägung unseres Bewusstseinshorizontes zu entkommen oder auch nur einmal anders zu handeln als wir es nach Art unseres Wesens schon von Kindheit an tun – mögen wir uns darin auch unserer selbst überdrüssig sein, wie keiten einer anderen Persönlichkeit gewissermaßen im Grund verborgen bleiben. Hierzu: Buchheim 2006, 193. 45   Schopenhauer 1967, 313 hat dies folgendermaßen kommentiert: „Überhaupt wird durch Schellings Theorie der Freiheit das Leben ein Schauspiel, dessen Szenen und Ausgang man vorher weiß, dessen Zweck daher keiner begreift“. 46   Schelling zitiert hier einigermaßen direkt Luthers De servo arbitrio (vgl. Luther WA 18, 634 f.) dessen Auffassung vom unfreien Willen des Menschen er auch in der Hinsicht übernimmt, dass der moralische Charakter des Menschen von Ewigkeit festgelegt sei – nur dass bei Luther diese Festlegung von Gott herrührt (hierzu Hermanni 2017), während es bei Schelling eine moralische Selbstfestlegung gibt.

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wir wollen. Wir könnten so unserer eigenen Gesinnung nicht entkommen.47 Damit verbunden ist das moralphilosophische Problem, dass alle moralischen Gebote ihren eigentlichen Sinn verlören, wenn gälte: einmal böse – immer böse.48 Imperative als Aufforderungen, moralisch richtig zu handeln, würden sinnlos, weil kein böser Charakter ihrer Aufforderung folgen könnte. Alle Erziehung, Therapie, Sozialisierung in etwa von Straftätern wäre im Ansatz schon zum Scheitern verurteilt, wenn nicht die Möglichkeit der Wandlung der moralischen Grunddisposition im Sinne der Besserung bestünde. Schelling hat dieses Problem seiner Theorieanlage gesehen und hierfür folgende Lösung angeboten: Es scheint nur Ein Grund zu sein, der gegen diese Ansicht angeführt werden könnte: dieser, dass sie alle Umwendung des Menschen vom Bösen zum Guten, und umgekehrt, für dieses Leben wenigstens abschneide. Allein sei es nun, dass menschliche oder göttliche Hilfe […] ihn zu der Umwandlung ins Gute bestimme, so liegt doch dies, dass er dem guten Geist jene Einwirkung verstattet […], ebenfalls schon in jener anfänglichen Handlung, durch welche er dieser und kein anderer ist (AA, I,17, 156/SW VII, 389).49

Diese Lösung modifiziert Schellings Theorie freier menschlicher Handlungen auf attraktive Weise. Sie bestätigt zugleich exegetisch und systematisch den Sinn einer Zwei-Ebenen-Unterscheidung zwischen fundamentalem Wesen und reellem (empirischem) Charakter. Der Entscheidungscharakter der freien Urtat pflanzt sich so über spätere Charakterwahl und Handlungsentscheidungen fort. Wenn die ursprüngliche 47   Auf Grund dieser Schwierigkeiten stimme ich Hay 2012 zu, die anmerkt, dass Schellings Idee einer in die Schöpfung zurückverlagerten Freiheitstat des Menschen, aus der dann seine Handlungen resultierten, „une argumentation assez paradoxale“ (68) beinhalteten, welche einerseits dem existenzialistischen Programm vollständiger Selbstgestaltung des Menschen nahestehe, andererseits alle Selbstgestaltung für die Zeit des irdischen Lebens gerade ausschließe. 48   Entsprechend ist Peetz‘ scharfer Kritik darin zuzustimmen, dass Schellings Veranlagung einer „Prädestination des Menschen durch sich selbst in einer unvordenklichen Grundentscheidung […] mit idealistischer Autonomie des Willens nichts mehr zu tun“ (1995, 215) hat, da diese nicht in der jeweiligen Handlungssituation neu entscheiden kann, ob er sie nach den Prinzipien des Guten oder Bösen gemäß ausführt. 49   Auch für diesen Gedanken Schellings ist Kants Religionsschrift die sehr direkte Quelle (vgl. Kant AA VI, 44 f.). Diese betrifft sowohl die Möglichkeit des Charakterwandels, als auch die hierfür nötige göttliche Hilfe auf der Basis einer entsprechenden Empfänglichkeit zur Gnadenannahme im Menschen als auch die Funktion des Gewissen und dessen dauerhafte moralische Aufforderung an uns, bessere Menschen zu werden.

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Wesensfestlegung des Menschen dessen zukünftige Moral-Dispositionen nicht in Stein meißelt, so dass zukünftige Handlungen dann unausweichlich mit quasi naturgesetzlicher Konsequenz aus ihr folgten, sondern in die Wesensfestlegung Offenheitsgrade bezüglich des Charakters eingeschrieben werden, die zukünftige Umorientierung oder Neufestlegung ermöglichen, dann scheint dies dem offensichtlichen Phänomen gerecht zu werden, dass zumindest manche Menschen gelegentlich einige Aspekte ihres Charakters im Sinne ihrer Handlungsdispositionen grundsätzlich verändern. Für Menschen gilt nicht, dass sie sich in strukturell gleichen Situationen ein Leben lang gleich verhalten. Der Gedanke der Weltalter, dass manche Menschen „die Kraft [haben], sich über sich selbst zu erheben“ (W 119) und von diesem über sich selbst erhobenen Standpunkt aus Charakterdominanzen in sich zu ändern, scheint diese Einsicht zu spiegeln. Dass Schelling ausdrücklich betont, dass es eines äußeren Anstoßes, einer ‚Hilfe‘ bedürfe, damit eine Charakterwandlung geschehe, leuchtet unmittelbar ein. Denn wäre der Grund für die Wandlung im Wesen des Menschen selbst verfügbar, dann ließe sich nicht erklären, weshalb dieser seinen Charakter nicht immer schon gewandelt hätte. Eine Wandlung zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb des Lebens wäre hierdurch willkürlich und zufällig. Wenn es jedoch eine Disposition zur eigenen Gesinnungsrevolution (oder auch nur partieller Gesinnungsveränderung) gibt, welche im ursprünglichen Wesen selbst angelegt ist, dann kann diese durch äußere Hilfe, bzw. durch die Stimme des Gewissens als der göttlichen Stimme in einem aktiviert werden. Anderseits leuchtet auch ein, dass fremde Hilfe einen solchen Wandel lediglich anstoßen kann. Denn die eigentliche Charakteränderung muss die Person selbst bewirken, da ansonsten der hierdurch gebildete Charakter wiederum kein freier und eigener wäre. Deshalb bestimmt nicht die fremde Hilfe direkt den Wandel, sondern der Mensch selbst kann je darüber verfügen, ob er gemäß seiner Grundoffenheit die nun gegebene Anregung aufnimmt und ihre Einwirkung zulässt. Auf diese Weise behielten auch moralische Gebote ihren Sinn, denn gerade in der imperativischen Aufforderung ist ein Geist enthalten, durch welchen das Bessere in uns einwirken will. Das moralische Gebot selbst könnte daher eine ebensolche Hilfe sein. Eine deontische Ethik müsste bei Schelling an dieser Systemstelle verankert werden. Dem Lehrstück von der Wandelbarkeit des Charakters bleibt allerdings noch ein Problem: wie kann man sich Entschiedenheit der ursprünglichen Tat und des Menschen durch sie vorstellen, wenn dabei zugleich eine mögliche Entscheidung für das Gegenteil impliziert ist?

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Widerspricht der Ausdruck des ‚Entschiedenseins‘ nicht schon einer inneren Option für eine mögliche entgegengesetzte Haltung?50 Eine Überlegung hiergegen wäre, dass eine ursprüngliche Entscheidung, welche sich offen für eine spätere Wandlung zeigt, sich nicht für ihr direktes Gegenteil, sondern in etwa für einen jetzt wirklich bösen und einen doch später möglichen guten Charakter entscheidet. Es scheint problemlos möglich, dass eine Entscheidung sich eine mögliche andersgeartete, auch diese Entscheidung inhaltlich revidierende, Zukunft vorbehält.51 Dasselbe gilt jedoch auch für gegenwartsbezogene Entscheidungen: sich für ein wirkliches A und zugleich ein mögliches Nicht-A zu entscheiden, ist ohne internen Widerspruch dann möglich, wenn dieses Nicht-A an eine Bedingung geknüpft ist.52 Und eben eine solche Bedingung nennt Schelling mit der Einflussnahme fremder Hilfe – jetzt oder später. Hierdurch bleibt die Entschiedenheit des Wesens empfindlich für bessere Einsicht, ohne dass sie unsicher oder schwankend sein müsste. Ja, umgekehrt wäre eine Entschiedenheit, welche mit der Grundentscheidung zugleich sich resistent gegen alle gegenteiligen Einflüsse machte, eigentlich Borniertheit. Dabei ist klar, dass sich die Vorstellung eines Gesinnungswandels auf der Basis der Ewigkeit nur durchführen lässt, wenn ein zweistufiges menschliches Wesen angenommen wird, dessen innerer intelligibler Kern zwar unwandelbar ist, auf welchem aber ein wandelbarer Charakter aufsitzt, der dem ursprünglichen Wesen entspricht mit dem Unterschied, dass dessen logisch-gleichzeitige Verhältnisse in zeitlich-sukzessive transformiert werden können. So könnte die ewige Wesensanlage, unter Bedingungen sich zu Nicht-A zu entscheiden, auf der realen Seite des Wesens eine tatsächliche Wandlung in der Zeit vollziehen.53 50   Vgl. Hermanni 1994, 154 f. Florig 2010, 137 f. versteht die Möglichkeit einer Selbstformierung auf der Basis der grundsätzlichen Entscheidung zu Gut oder Böse daher als Charaktermodifikation im Sinne der Bestärkung und Einübung (nicht aber der Umänderung). Er fasst die ursprüngliche moralische Tat als Grundorientierung des Menschen auf, welche dann in der konkreten Einzelhandlung wiederholt, verinnerlicht und bestärkt wird, wodurch sich eine sukzessive Verfestigung des moralischen Charakters ergäbe. 51   Peter kann sich dafür entscheiden, in Frankreich zu leben, sich aber vorbehalten, falls ihn später neuer Sinn anwandle (oder neue Bedingungen oder Anregungen auftauchen), dann doch nach Finnland zu ziehen. 52   Peter kann sich auch ohne Widersprüche dafür entscheiden, in die Berge zu fahren oder, falls Maria mit ihm ginge, stattdessen mit ihr ans Meer. 53   Schlagartig durch Gesinnungsrevolution oder sukzessive – und zwar durch die Person selbst, wenn eine Grundbereitschaft hierzu im Wesen angelegt ist. Vgl. hierzu z. B. Stuttgarter Privatvorlesungen, AA II,8, 96/SW VII, 433, wo Schelling vom „Prozess unserer Selbstbildung“ spricht, bei dem wir versuchen „uns in Ansehung der Erkenntnis

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Hierdurch ließen sich phänomengerecht nicht nur gute und böse Menschen erfassen und nicht nur darüber hinaus das allgemeine Phänomen der Wandlungsfähigkeit vom Guten zum Bösen und umgekehrt, sondern zudem das offensichtliche Phänomen, dass es erfahrungsoffene und erfahrungsresistente Menschen gibt, einsichtsfähige und bornierte, wandelbare und unverbesserliche. Durch diese Erweiterung flexibilisiert sich Schellings Theorie von der ewigen Urtat und den aus ihr resultierenden Handlungen auf gewichtige Weise, ohne dass dadurch seine grundsätzliche Theorieanlage freier und wesensnotwendiger menschlicher Handlungen gefährdet würde. Es bleiben die Erklärungsmacht des Identitätsprinzips der Handlung mit Wesen und Charakter: Der Mensch handelt so, wie er ist und er ist so, wie er handelt, der Ausdruck ‚Charakter‘ als „Eigentümlichkeit seines Tuns und Seins“ (W 177, Hervh. Vf.) meint eben dies.54 Aber es lässt sich mit Schellings Überlegung zur Möglichkeit des Charakterwandels mithilfe der Differenzierung von Wesen und Charakter zusätzlich zum Charakter als der Art, wie der Mensch über längere Zeiträume seines Lebens ist und handelt noch eine zusätzliche Position denken, ein Standpunkt gleichsam vom Mittelpunkt des Menschen, nämlich seinem intelligiblen Wesen aus, von dem aus dieser seine grundsätzliche Disposition in Frage stellen und seine in ihm angelegte Bereitschaft zur Änderung bei Gelegenheit aktivieren kann. Für die Freiheit ergibt sich hieraus ein differenziertes Verhältnis. 1) ist jeder Mensch grundsätzlich frei, da jeder sein Wesen frei zum Guten und Bösen gründet und mit Notwendigkeit aus seinem Wesen handelt. 2) realisiert jeder diese Freiheit stärker oder schwächer, je nachdem, ob er einen entschlossenen (zum Guten oder Bösen hin gewendeten, religiösen, gewissenhaften) Charakter hat oder nicht. 3) ist der Mensch frei, diesen Charakter bei Gelegenheit zu ändern, sofern er sich nicht ursprünglich gegen alle Selbstentwicklung verschlossen hat. Dem entspricht auch, dass die menschliche Freiheitsveranlagung in ihren Grundstrukturen der göttlichen gleich ist – abgesehen von den Bedingungen ihrer Geschöpflichkeit. Es hatte sich gezeigt, dass Schelling in der Spätphilosophie die höchsten Formen der göttlichen Freiheit darin und der Wissenschaft, oder sittlich [!], oder auch ganz unbeschränkt durch das Leben und für das Leben zu bilden“. Zu den Weltaltern vgl. Florig 2010, insb. 178–211. 54   Demnach lässt sich auch aus den vorhergegangenen Handlungen eines Menschen auf seinen Charakter schließen und von diesem aus eine konkrete Handlung erklären. Die zutreffende, aber inhaltsleere Erklärung, x habe y getan, weil er eben so sei, wird gehaltvoll darüber, dass der Betreffende in vergleichbaren Situationen bereits vergleichbare Handlungen ausgeführt hat – und deshalb sein Charakter so sei.

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sah, dass dieser auch seinem eigenen substantiellen Sein, in etwa seinem Geist-Sein gegenüber frei sein können muss und sein Sein zuletzt in radikaler Art als Folge seines Willens angesehen werden muss gemäß der angeführten Formel: Gott „ist das, was er will“ (SW XIII, 256). Unter den Bedingungen der Geschöpflichkeit steht eine solche Art totaler Selbstbestimmung nicht unter der Verfügungsgewalt des Menschen; er bleibt an die geschichtlichen, physikalischen, leiblichen und – hinsichtlich ihrer Grundkonstitution gemäß Schellings Vorstellungen in der mittleren Philosophie – auch charakterlichen Bedingungen seines Daseins gebunden. Aber in diese Bedingungen müssen angesichts der Spiegelbildlichkeit seiner Freiheit zur Freiheit Gottes Spielräume der Selbstprägung und Charakterwandlung eingeschrieben sein. Die verstreuten Stellen der Spätphilosophie, in denen sich Schelling inhaltlich zur grundsätzlich anerkannten (vgl. UF 89) Parallelität der menschlichen Freiheit zur göttlichen äußert, zeigen, dass Schelling zunehmend auch für den Menschen eine Entbindung von allen prädeterminierenden Faktoren, auch solchen des eigenen Charakters, als Freiheitskriterium ansieht.

IV. Eine Perspektive in die Spätphilosophie In welcher Weise und in welchem Umfang Schelling sein Konzept freien menschlichen Handelns, das wesentlich in der Phase von 1809 bis 1815 entwickelt wurde, in der Spätphilosophie beibehalten hat, lässt sich nicht einfach beantworten. Denn mit der Verschiebung seines Interesses zur Freiheit Gottes hin entschwindet die Frage nach der menschlichen Freiheit aus dem Brennpunkt seines Philosophierens. Dennoch kann angenommen werden, dass Schelling analog zur Freiheit Gottes auch die menschliche Freiheit zunehmend als eine angesehen hat, welche ihre eigentümliche Kraft weniger aus selbstbindenden Momenten wie solchen eines notwendigen Wesenszusammenhangs gemäß dem formellen Freiheitsbegriff erhielt, sondern bei welcher vielmehr Aspekte der Entbindung von allen prädestinierenden Faktoren, auch solchen des eigenen Charakters als Freiheitskriterien angesehen wurden. Hierfür lassen sich vier Gründe anführen: 1) konzipiert Schelling in seiner mittleren Philosophie die Freiheit Gottes und des Menschen in vielerlei Hinsicht analog: Personalität des Akteurs, Selbstbindung der Handlung an den Charakter, Entschiedenheit des Entschlusses und der Ausführung unter Ablehnung wählenden Räsonierens bilden hier wie dort das Grundgerüst seiner handlungstheoretisch relevanten Freiheitskonzeption. Also ist zumindest anzu-

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nehmen, dass auch für die Spätphilosophie unter dem grundsätzlichen Verdikt der Ebenbildlichkeit und dessen, dass der Mensch, wie gesehen, explizit „auch in der Freiheit wie Gott“ (SW XIII, 347) sei, Schelling die neu entwickelten Freiheitsmomente Gottes zumindest in gewandelter Form auch als für den Menschen gültig ansah. Hierzu gehören insbesondere Momente der Selbstdistanzierung und Entbindung der Handlung von einer unmittelbaren Dominanz des eigenen Wesens, wie Schellings dies im Fall der Möglichkeit der Unterlassung der Schöpfung, der Verstellung Gottes und der These von der Gleichgültigkeit Gottes vorgeführt hatte. 2) gibt es Passagen, bei welchen Schelling zur Erläuterung der Momente göttlicher Freiheit allgemeine Charakteristika der Freiheit nennt – welche sich dann auch auf die Freiheit des Menschen übertragen lassen müssen. So ist es insbesondere das vielfach genannte Moment der Alternativität, das in scharfem Widerspruch zu denjenigen Passagen steht, in denen Schelling im Umfeld der Freiheitsschrift davon gesprochen hatte, dass der Mensch auf der Basis seiner ewigen Charakterwahl in der konkreten Situation keine Alternativhandlung ausführen könne (da dies eine Handlung entgegen der Bindung an den eigenen Charakter wäre) – auch wenn äußere Alternativität als Bedingung freien Handels zugegeben war. Hiergegen hatte bereits das Zwei-Stufen-Modell der Charakterwahl und die Möglichkeit, in die ursprüngliche Wahl Offenheitsgrade für spätere Wandlungen einzuschreiben, eine gewisse Flexibilisierung erwirken können. Wenn Schelling nun in der Spätphilosophie in etwa sehr allgemein davon spricht, dass „das reine Freiheit [sei], zu tun und nicht zu tun“ (SW XII, 111 Anm.) oder im Zusammenhang mit der Entwicklung der ersten Potenz davon spricht, dass diese nicht „ein zu sein oder nicht zu sein Freies“ (SW XIII, 207) sei, da sie „gar keine Wahl ins Sein überzugehen oder nicht überzugehen“ (SW XIII, 208) hätte, so lässt sich daraus rückschließen, dass Schelling nun allgemein, und somit auch für menschliche Freiheit gültig annimmt, dass Freisein mit Alternativität und Wahlmöglichkeit einhergeht. 3) Hinzu kommt, dass Schelling zur Erläuterung solcher auf die Freiheit Gottes bezogenen Passagen gelegentlich explizit Beispiele aus dem Menschlichen anführt. So spricht er vom Moment der Zurückhaltung allgemein von einer „eigentliche[n] Freiheit […] im nicht-sein-, im sich nicht äußern-Können“ (SW XIII, 209) und gebraucht als Beispiel hierfür den Besonnenen, dessen Besonnenheit eben nicht in dem besteht, was er tut, sondern in dem, „was er nicht tut“ (ebd.) – worauf dann auch der Rat an den Menschen ergeht, sein Können nicht zu erschöpfen. Ebenso nennt er das Kriterium der Alternativität im Zusammenhang mit der Möglich-

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keit Gottes, sich in einer Offenbarung zu äußeren als Kriterium seiner Freiheit und erläutert dann in der Perspektive der ersten Person, dass „ich [!] als Geist ganz frei bin, mich zu äußern oder nicht zu äußern“ (SW XII, 33). Ebenso wendet Schelling bei der These von der Gleichgültigkeit Gottes gegenüber der Schöpfung als Freiheitskriterium die Perspektive der ersten Person an und zeigt damit, dass dieses Kriterium auch auf die Freiheit des Menschen Anwendung finden kann: „Da aber ist erst wahre Freiheit, z. B. für mich selbst, wo es mir nichts verschlägt, sondern in Ansehung meiner selbst vollkommen gleichgültig ist […], so oder so zu handeln“ (SW XIII, 269). Und zuletzt findet sich auch für die These der Selbstgestaltung des Seins, welche als die höchste Freiheitsstufe Gottes im Sinne einer völligen Entbindung von aller Notwendigkeit auch des eigenen Wesens dargelegt wurde, auch für den Menschen eine entsprechende Beispielformulierung – und zwar nicht nur hinsichtlich seiner ursprünglich ewigen Wesensprägung, sondern auch bezogen auf seine Existenzbedingungen innerhalb der empirischen Lebenszeit: „Nur dem gebührt der Name Gott“, heißt es in einer bereits angeführten Stelle der Urfassung, in Referenz auf die Spekulation über den Namen Gottes nach Ex 3, 14, „der sagen kann: ich werde sein, der ich sein werde, d. h. der ich sein will – es ist nichts über mein Sein vorausbestimmt – niemand kann es vorausbestimmen, was ich sein werde – es hängt nur von meinem Willen ab. So kann auch kein Mensch von einem Menschen, als freiem Wesen voraussagen, was er im nächsten Augenblicke tun werde“ (UF 89). Dies scheint die Position nahezulegen, dass Schelling in der Spätphilosophie auch dem empirischen Menschen eine Selbstgestaltungsmacht durch den eigenen Willen innerhalb seiner irdischen Lebenszeit zugesteht. Denn die Nichtprognostizierbarkeit fremder Handlungen führt Schelling hier nicht auf die epistemische Verborgenheit des Wesens anderer Personen zurück, sondern darauf, dass über deren Sein nichts vorausbestimmt sei – und zwar auch nicht durch ihr je bestehendes Wesen. Hierdurch wird, wie schon bei der Freiheit Gottes, auch beim Menschen das Freiheitskriterium der Bindung der Handlung an ein beständiges Wesen des Akteurs weiter aufgeweicht zugunsten einer flexibleren Konzeption freien Wollens und Handelns, bei welcher die Freiheit der Entscheidung über künftige Taten so weit reicht, dass dem Akteur die Möglichkeit zugesprochen wird, mit diesen zugleich das eigene Wesen abzuändern. 4) schließlich gibt es, wenn auch auf den spezifischen Kontext des Sündenfalls bezogen, zwei kurze Bemerkungen, die diese Lesart ausdrücklich bestätigen. So spricht Schelling in der Philosophie der Offenbarung vom „freien Willen des Geschöpfs“ (SW XIII, 359), von welchem Gott die Schöpfung abhängig gemacht habe und charakterisiert dieses Geschöpf,

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den Menschen, anschließend „als ein seiner selbst mächtiges Wesen“. Ebenso erklärt er zunächst die geschichtliche Zäsur des Sündenfalls als eine neue Bewegung, die der Mensch veranlasst habe; durch diese Handlung wurde, so Schelling, „der Mensch ein wirklich zweiter Anfang“ (SW XIII, 360) und zwar ein „zweite[r] Anfang, zu dem der Mensch sich gemacht“ (ebd.) habe. Die hierin aufscheinende Steigerung, dass der Mensch zunächst einen Anfang machen könne, sodann selbst ein Anfang sein könne und schließlich sich selbst zum Anfang machen könne, entspricht sehr genau der Steigerung in der Freiheitsauffassung Schellings von einem Vermögen des Hinauswirkens über eine hierbei zugestandene Rückwirkung auf das eigene Wesen zu einer abschließend eingeräumten Möglichkeit, sich selbst unmittelbar zu machen. Noch deutlicher ist diese Figur des sich selbst zu etwas anderem, als man ist, Machenkönnens, ebenfalls im Kontext des Falls, in der Philosophie der Mythologie ausgesprochen: dort heißt es, dass Gott „dem Menschen die Möglichkeit des Gegenteils [eingeräumt habe], die Möglichkeit, das, was er ist, auch nicht zu sein, aber darum es mit seinem Willen zu sein“ (SW XII, 144). Zusammenfassend lässt sich sagen: Schellings Theorie der Freiheit, wie er sie von der Freiheitsschrift bis zu den Weltaltern unter dem Systeminteresse einer Integration eines angemessenen moralischen Freiheitsbegriffs (zum Guten und Bösen) in das wissenschaftliche Weltbild entwickelt hat, enthält zugleich eine originelle und gehaltvolle Theorie freier menschlicher Handlungen in Hinsicht auf die Frage, was in diesen liege und wie diese zustande kommen und erklärt werden können. Kern dieser Theorie ist die Annahme einer ursprünglich freien, wesens- und bewusstseinsprägenden Tat, deren Freiheit sich auf die von ihr her erklärbaren realen Handlungen in der Weise überträgt, dass das Fundamentalprinzip der freien Tat sich zugleich in verschiedenen wandel- und graduierbaren Freiheitsformen realisiert. Dabei erweist sich der Mensch zum einen als fundamental unwandelbar und ungraduierbar frei, und durch diese Freiheit zum Guten oder Bösen entschieden, zum anderen jedoch real als ein Wesen, dass nicht nur mehr oder weniger frei sein kann, mehr oder weniger entschieden, selbsttreu, beständig, von stärkerem oder schwächerem Charakter, gewissenhafter oder gewissenloser, sondern darin im Laufe seines Lebens auch noch wesentliche Wandlungen vollziehen kann. Die Weite dieser Wandlungsmöglichkeiten erfährt in der Spätphilosophie noch eine zusätzliche Dimension dadurch, dass Schelling nun in Analogie zur Freiheit Gottes beim Menschen nicht nur das Kriterium des Anders-Handeln-Könnens stärker ins Zentrum stellt, sondern damit

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zugleich auch eine reflexive, auf das eigene Wesen und die aus ihm entspringenden Handlungen bezogene Alternativität als Mächtigkeit, sich selbst dem eigenen Willen gemäß zu machen, etabliert.

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KAPITEL 7: HANDLUNGSTHEORETISCHE MOMENTE

Schellings Theorie der menschlichen Freiheit, in handlungstheoretischer Perspektive verstanden als Theorie darüber, wie freie menschliche Handlungen zustande kommen und was in ihnen liege, erfordert eine Ergänzung hinsichtlich des Aspektes ihrer Zweck- oder Zielsetzung. Denn es ist eine Frage, wodurch der Wille sich zu etwas bestimme, bzw. woher die Grundausrichtung des Strebens rühre. Eine andere, die Theorie vervollständigende Frage ist die, wie Zwecke oder Ziele dann im Handeln fungieren und was es für den Vollzug des tätigen menschlichen Daseins bedeute, dass dieses eine zweckbezogene Grundrichtung des Strebens habe. Solche teleologischen, ziel- und zweckbezogenen Strukturen hatten sich am göttlichen Handeln bereits in zweierlei Hinsicht gezeigt: Einerseits als Grundmoment der Handlungskonzeption göttlicher Schöpfung, andererseits als spezifisches Moment der göttlichen Freiheit. Für das menschliche Handeln sind hierdurch bereits zwei teleologische Momente präfiguriert: insofern seine Freiheit sich in der gezeigten Art der göttlichen verdankt und diese sich in jener spiegelt, müssen auch die teleologischen Freiheitsmomente ins menschliche Handeln eingehen. Insofern andererseits irdisches menschliches Handeln unter den Bedingungen der Schöpfung steht, dieses somit in einen geschichtlich-teleologischen Weltverlauf auf ihr höchstes Ziel hin eingebunden ist, stehen menschliche Tätigkeiten auch unter diesem äußeren Ziel der Geschichte. Auch sie sind demnach mit ihren teleologischen Innenmomenten individueller Zielsetzungen in einen äußeren, finalistischen Rahmen eines eschatologischen Weltgeschehens, deren Teil sie sind, eingebunden. Daher stellt sich nun die Frage nach den Grundmomenten menschlichen Handelns dahingehend, welchen Stellenwert und welche Funktion in der praktischen Terminologie des Wollens, Beabsichtigens und Entscheidens den Zielen und Zwecken zukommt und wie Handlungen auf das kosmische geschichtliche Ziel hin mittels dieser Momente von Schelling konzipiert sind? Als Ausgangspunkt hierfür können Erwägungen dienen, die Schelling im dritten Weltalterentwurf über den Anfang und das Ende von Handlungen in Hinsicht auf Prozesse überhaupt darlegt. „Aller Anfang“, heißt es dort, „ist seiner Natur nach nur ein Begehren des Endes oder dessen, das zum Ende führt, und verneint sich also als das Ende“ (SW VIII, 224).

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Als Charakterisierung von Handlungen als willensgetragenen Vorgängen verstanden, bei welchen etwas begehrt wird, stellt diese kurze Erwägung über das Verhältnis von Anfang und Ende von Bewegungen das Grundmuster der Handlungstheorie Schellings dar, das nachfolgend zu explizieren ist. Darin ist gegeben: 1) Die Bedeutung des Anfangs als Grund und Ausgangspunkt von Handlungen, 2) dessen notwendiger intrinsischer Bezug auf das Ende, d.i. das Ziel der Handlung zu, 3) die hierarchische Nachordnung des Anfangs gegenüber dem Ende, insofern dieser nicht selbstständig ist, sondern „das Ende begehrt“ und sich als das Ende „verneint“ 4) die Zweck-Mittel-Spannung in der Differenz des Endes und desjenigen, „das zum Ende führt“; und 5) die Einheit einer Handlung, die durch die ihre gesamte Vollzugsphase überspannende Beziehung von Anfang und Ende gegeben ist. Hinzu kommt, dass Schellings Rede vom Anfang und Ende einer doppelten Sichtweise zugänglich ist. Sie lässt sich sowohl zeitlich als auch sachlogisch verstehen. Zeitlich ist damit die Zeitspanne einer Handlung bezeichnet, die zwischen der Zielsetzung (bzw. der konkreten Entscheidung zu ihrer Ausführung als ihrem zweiten Entschluss) als ihrem Anfang und der Zielverwirklichung als ihrem Ende liegt. Sachlogisch jedoch bezeichnet der Anfang Ursprung und Grund der Handlung und damit auch etwas, das mit Beginn der Handlung nicht seinerseits bereits wieder zu Ende ist: der so verstandene Anfang bildet nicht nur den mit Einsetzen der Aktivität schon vorübergegangenen zeitlichen Ausgangspunkt, sondern auch das dauerhafte Sediment, den verborgenen Ursprung, von dem her sich eine Tätigkeit mit Schelling weitererzeugt. Es ist klar, dass diese Unterscheidung für das göttliche und menschliche Handeln in aufschlussreicher Weise auf unterschiedliche Art behandelt werden muss. Unter der göttlichen Bedingung zeitloser Ewigkeit inklusive ihrer ‚ewigen‘ Zukunftsausrichtung konnte im göttlichen Handeln der Anfang nur der atemporale Grund sein, dessen simultane logische und ontologische Folge dann Handlung und Ziel waren, präfiguriert durch die intentional-teleologische Zukunftsausrichtung der göttlichen Ewigkeit in Schellings Spätphilosophie. Für das menschliche Handeln muss gelten, dass es unter denselben strukturellen Bedingungen steht, allerdings erweitert um deren Vermittlung im geschichtlichen Ablauf der Welt. Das Kapitel gliedert sich wie folgt: zunächst werden mit der ‚Akteurskausalität‘ (1) und dem Nach-außen-Treten (2) Aspekte untersucht, welche mit dem Anfang von Handlungen verbunden sind, sodann das zentrale teleologische Ziel-Moment expliziert (3) und mit der Zweck-Mittel-Beziehung die Charakterisierungen ihres Zusammenhangs gegeben

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(4). Anschließend werden Schellings Positionierung dieser Theorie und seine Abgrenzung gegen den Mechanismus dargestellt (5) und schließlich Schellings Ethik skizziert und ihr handlungstheoretischer Zusammenhang erläutert (6). 1) Akteurskausalität Zur Erläuterung von Schellings Auffassung der Akteurskausalität bietet es sich an, die Übernahme und Entwicklung dieses Konzepts von Kant herkommend nachzuzeichnen: zur Freiheit gehört nach Kant, dass diese in kausaler Hinsicht ein Vermögen ist, nichtempirische Ursachen für empirische Wirkungen zu setzen.55 Schelling übernimmt und erweitert Kants Konzept in seiner Frühphilosophie, indem er dort das menschliche Handeln im Sinne des Bewirkens aus einem Wechselverhältnis zwischen einem absoluten Ich und einem empirischen Ich begründet. Dabei hat das absolute Ich absolute, d. h. selbstreferentielle, nichtempirische Kausalität, das empirische Ich hingegen, das sich selbst und seine Kausalität dem absoluten Ich verdankt, entspricht der Anwendung dieser absoluten Kausalität auf empirische Objekte, womit Schelling eben der Sache nach an Kant anknüpft: „Dass sie [= die Kausalität des empirischen Ichs] Kausalität durch Freiheit ist, verdankt sie ihrer Identität mit der absoluten, dass sie transzendentale (empirische) Freiheit ist, nur ihrer Endlichkeit; sie ist also im Prinzip, von dem sie ausgeht, absolute Freiheit und wird nur erst, wenn sie auf ihre Schranken stößt, transzendental, d. h. Freiheit eines empirischen Ichs“ (AA I,2, 169/SW I, 236 f.). Eine solche Konzeption wird mit einem Ausdruck, der sich R. Chisholms Rehabilitierung dieses Konzepts im 20. Jahrhundert verdankt, Akteurskausalität genannt.56 Das wesentliche Kennzeichen der Akteurs-

  Vgl. Kant KrV, B 561.   Vgl. Chisholm 1985, 359: „Wir sollten sagen, dass mindestens eines der in die Handlung involvierten Ereignisse nicht durch irgendwelche Ereignisse, sondern stattdessen durch irgendetwas anderes verursacht wurde. Und dieses Andere kann nur der Handelnde sein – der Mensch“. Chisholms Ansatz, der auf die Aristotelische Auffassung, Handlungen zeichneten sich dadurch aus, dass ihre Ursprünge im Handelnden selbst liegen müssten (Nikoma55

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kausalität ist, dass die Kausalrelationen, deren Wirkung die empirischen, körperlichen Handlungen des Menschen sind, sich nicht im Sinne der Ereigniskausalität ihrerseits beliebig auf Ereignisse zurückführen lassen, sondern dass der Akteur selbst Ereignisse, welche Bestandteile des Gesamtkomplexes kausaler Bedingungen von Handlungen sind, verursacht. Kurz: dass der Handelnde selbst zumindest partiell seine Handlung verursacht, ohne dass er selbst in Hinsicht auf ebendiese Verursachung seinerseits kausal determiniert wäre. Diese, in den Erörterungen zur transzendentalen Freiheit in Schellings Frühphilosophie angelegte Auffassung bildet den beibehaltenen Hintergrund für Schellings kausale Grundkonzeption des Handelns bis in die Spätphilosophie. So fasst er im System von 1800 entsprechend der absoluten Freiheit von 1795 den Anfang des Bewusstseins als eine Handlung, die „durch keine der vorhergehenden Handlungen bedingt sein“ (AA I,9.1, 230/SW III, 533) könne, sondern „eine neue Reihe“ begänne, welche dann bei äußeren Handlungen, „eine Veränderung in der Außen-

chische Ethik III, 1, 1110b), zurückzuführen ist, ist in der Literatur breit kritisiert worden wegen der naturalistisch nicht vertretbaren Einführung einer Kausalität sui generis in Ergänzung zur Ereigniskausalität. Diese scheint nicht nur dem Prinzip der kausalen Geschlossenheit der Physik zu widersprechen, sondern es ist auch nicht zu sehen, wie sie mit der gewöhnlichen Kausalität in der Erscheinungswelt vermittelt sein soll (Keil 2013, 110). Hinzu kann als weiteres Argument gegen die Akteurskausalität die Tatsache angeführt werden, dass für Chisholm auch die Wünsche und Überzeugungen, d. h. überhaupt die handlungsrelevante psychische Disposition des Akteurs zu den verursachenden Ereignissen im gewöhnlichen Sinn gehören (Chisholm 1985, 355), weswegen die akteurskausale Komponente phänomenal nicht nachweisbar und so auch für den Akteur selbst rätselhaft bleibt. Da akteurskausale Verursachung so notwendig unbestimmt bleibe, sei sie sowohl aus Akteursperspektive als auch in metaphysischer Hinsicht von Zufall nicht zu unterscheiden und daher als Freiheitsmoment untauglich, denn sie beinhalte die Vorstellung, ein Akteur könne unter denselben inneren und äußeren Bedingungen alternativ handeln (Hermanni 2011, 100 f.). Ein weiteres Argument gegen die Akteurskausalität folgt aus der gegenteiligen Vorstellung, nämlich dass Handlungen überhaupt nicht verursacht seien, weder durch einen Akteur, noch durch Ereignisse, sondern dass der Akteur sie vollzieht und die Handlungen selbst daher bereits die letzten Glieder der kausalen Analysekette bilden (Keil 2000, 458 ff.). Attraktiv hingegen ist die Position Chisholms aus zwei Gründen: Erstens bedarf es einer eigenen Kausalität für Handlungen, wenn man davon ausgeht, dass einerseits alle ereigniskausalen Verbindungen streng nomologisch determiniert sind und andererseits es unabdingbares Freiheitskriterium ist, dass alternative Handlungsverläufe möglich sind (hierzu: Gerlach 2010, 66). Zweitens – und dies ist der Punkt, der ein akteurskausales Modell für Schelling attraktiv werden lässt – passt die Akteurskausalität zur Vorstellung, dass der Akteur die Quelle bzw. der Urheber seiner Handlung ist, bzw. dass Urheberschaft ein notwendiges Kriterium für Handlungen ist (vgl. ausführlich: Keil 2000, 319–383).

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welt […] durch meine Kausalität“ (AA I,9.1, 267/SW III, 568) bedeute.57 Und er fasst in der Freiheitsschrift Handlungen als aus dem intelligiblen Wesen des Menschen folgend auf, das seinerseits „außer allem Kausalzusammenhang“ (AA, I,17, 151/SW VII, 383) stehe. Damit verbindet sich im Moment der Akteurskausalität Schellings spezifische Freiheitslehre mit einer Handlungstheorie, die wie zu zeigen ist, Handlungen aus ihren metaphysischen und kausalen Anfängen als Einheit auf ihre jeweiligen Ziele hin entwickelt. Von hier aus gilt es nun zu sehen, inwiefern Schellings allgemeine Erörterungen über die Anfänge von Prozessen mit eben dieser spezifischen Kausalauffassung von Handlungen koinzidiert und welche Charakteristika für tatsächliche menschliche Handlungen hieraus resultieren. Dies lässt sich von einer Explikation des Unterschieds zwischen intrinsischen und extrinsischen Anfängen aus nachzeichnen, wie Schelling ihn im dritten Weltalterentwurf entwickelt: „Ein anderes ist […] der Anfang, den ein Wesen außer sich und den es in sich selbst hat“ (SW VIII, 225). Denn auf Anfänge von Handlungen in Hinsicht auf ihr Wirken bezogen, trifft eben dies den Unterschied zwischen einer Auffassung, welche grundsätzlich alle kausalen Anfänge von Handlungen in externen Bedingungen manifestiert sehen und solche, für die dies nicht gilt. Letztere verstehen Akteure als Wesen, die den Ursprung ihres praktischen Wirkens in sich selbst haben. Ein wichtiger gedanklicher Schritt ist es nun, zu sehen, dass diese Anfänge nicht nur Punkte des Beginnens sein dürfen, die in der zeitlichen Fortfolge der Handlung schon wieder vorübergegangen sind. Wäre mit einem Anfang lediglich ein solcher Beginn gemeint, so wäre der kausale Beitrag des Akteurs mit dem Einsetzen seiner Handlung bereits abgeschlossen; die Verursachung der Handlung durch den Handelnden bestünde dann lediglich darin, dass sie (sei es in der Entscheidung zu ihr, sei es mit dem Ausführungsbeginn) einen Anstoß durch ihn erhielte, während ihr weiterer Verlauf lediglich durch die nachfolgenden Ereignisse, welche aus dem ursprünglich akteurskausalen Beitrag fortfolgten, bestimmt wäre. Menschliches Handeln wäre so das Abbild eines deistischen Gottes, der die Mechanik des Weltverlaufs ledig57   Bemerkenswert für das Weitere ist nicht nur, dass hier das Bewusstsein als kausaler Anfang sichtbar wird, sondern auch, dass umgekehrt auch für das Bewusstsein gilt, dass sein kausaler Anfang unbedingt sein müsse. Hierin verbinden sich handlungstheoretische Prämissen über den (zeitlichen und kausalen) Anfang von Tätigkeiten mit der von Jacobi übernommenen Grundannahme der theoretischen Philosophie des frühen Schelling, dass ein Unbedingtes als Anfang der Philosophie gesetzt werden müsse. Bei Jacobi heißt dies knapp, dass „die Vorstellung des Bedingten die Vorstellung des Unbedingten voraussetzt“ (GA IV, 2, 152). Hierzu auch Horstmann 2004, 34 und 94.

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lich in Gang setzte, nicht aber des Schellingschen Schöpfergottes, der zugleich das Weltgeschehen lenkt. Menschliche Handlungen wären also nur die mechanische Folge von kurzen Momenten der Selbstdisposition in der Inaugurierung von Wünschen und Überzeugungen, aus denen dann die Handlungen folgten, und somit eines je punkthaften Eingriffs in das kausale Naturgeschehen, wodurch ihre jeweiligen Anfänge gekennzeichnet und gegeneinander abgegrenzt würden. Jede weitere Einflussnahme auf so initiierte Handlungen müssten dann als neuer Anfang, d. h., als Beginn einer weiteren Handlung bewertet werden. Dem entgegen stellt Schelling jedoch fest: „Wahrer Anfang ist der, der nicht immer wieder anfängt, sondern beharrt“ (SW VIII, 229). Das bedeutet: ein Wesen, das im Sinne der Akteurskausalität selbst der Ursprung seiner Handlungen ist, muss im Verlauf dieser Handlungen in dieser Ursprungsbeziehung bleiben können, d. h., den Anfang seines Handelns als etwas Dauerhaftes beibehalten. Der akteurskausale Anfang ist so nicht lediglich als ein Anstoß, sondern als eine den gesamten Verlauf der Handlung stetig speisende Quelle zu verstehen. Darin liegt auch, analog zur kausalen Bedeutung der Beharrlichkeit des Anfangs, ihr zeitlicher Sinn: Würde der Beginn einer Handlung lediglich darin bestehen, dass von einem gewissen Zeitpunkt an ein Akteur eben diese Handlung vollzöge, dann wäre dieser zeitliche Anfang im weiteren Verlauf der Handlung nicht mehr gegeben (weil vergangen) und es könnte sich dessen bestimmende Funktion für den Verlauf der Handlung lediglich in dem allgemeinen Sinn kausal erklären lassen, als nach mechanistischer Auffassung alle vergangenen Zustände (und so eben auch der Zustand des Beginns der Handlung) für die je späteren Zustände prägend sind. Der Bezug des Akteurs zu seiner Handlung in ihrem zeitlichen Ablauf jedoch bliebe dann notwendigerweise passiv, insofern dem Akteur nichts bliebe, als die einmal begonnene Handlung einfach weiterlaufen zu lassen. Denn jeder Versuch des Akteurs, seine bereits begonnene Handlung zu steuern, würde diese Handlungsontologisch zerstören, insofern das neuerliche Eingreifen in den Kausalmechanismus einen neuen Anfangspunkt – und somit eine neue Handlung setzen würde. Der zentralen Intuition, dass ein Akteur seine Handlung nicht nur beginnt, sondern auch selbst durchführt, d. h., dass im Vollzug der Handlung die kausalen Ursprünge beharrlich bei diesem liegen und er hierdurch diese Handlung kontinuierlich ausführen kann, wäre so nicht entsprochen. Schellings Gedanke vom bleibenden Anfang im Handeln lässt sich hiergegen sachgerecht mit der Auffassung von Handlungen verbinden, welche diese als eine kontinuierlich durch den Akteur begonnene und kontinuierlich durch diesen erhaltende Einheit versteht, welche – wie

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noch näher zu zeigen sein wird – eben aus dem Wechselbezug von Beginn, Durchführung und Ende besteht. So wie die Schöpfung selbst mit Schelling nicht lediglich als zeitlicher Anfang eines dann sich selbst überlassenen Kosmos‘ verstanden werden kann, sondern als innerwährender Anfang in Sinne der creatio continua verstanden werden muss, so sind menschliche Handlungen zeitlich dauernd mit ihren Akteuren als ihren kontinuierlichen Erhaltungsursprüngen verbunden. 2) Handeln als Nach-außen-Treten Die akteurskausale Behauptung, dass die kausalen Anfänge der Handlung im Akteur selbst liegen, lässt sich bei Schelling mit Thesen verbinden, welche die Veräußerung als Grundmotivation des Handelns überhaupt betreffen. Es ist dieselbe Struktur einer vom Kern des Akteurs ausgehenden und in die physikalische Welt hineinreichenden Bewegung, welche einerseits sinnliche Wirkungen in der Welt mit nichtsinnlichen Ursachen im Akteur verbindet und andererseits die dynamische Spannung beschreibt, die den Akteur überhaupt erst antreibt, handelnd seine Wünsche zu erfüllen, indem er seine Ziele zu verwirklichen sucht, d. h. ihn antreibt, handelnd sein Inneres in der äußeren Welt darzustellen. So war Gottes Handeln in der Schöpfung von Grund auf als Offenbarung, d. h. als Nach-außen-Treten und Gesehen-Werden seines Wesens zu verstehen gewesen mit der einzigen Motivation, dass sein Handeln eben eine solche Offenbarung sei. Auch in Bezug auf den Menschen hat Schelling diesen zentralen Aspekt des Handelns, durch den der Mensch aktiv seine geistige Seite mit der empirisch-körperlichen Welt verbindet, seine gesamte Schaffenszeit hindurch – wenn auch unter den verschiedenen Akzentsetzungen der jeweiligen Anlage seiner philosophischen Grundpositionen – betont. So fragt Schelling 1796/7: „Was ist denn nun also jenes Ich, dem seine Handlungen, obgleich sie frei sind, […] erscheinen? Offenbar ein Wesen, das seinen Handlungen selbst eine äußere Sphäre gibt, das sich selbst erscheint, für sich selbst und durch sich selbst empirisch wird“ (SW I, 397). Dieses Selbst-Empirischwerden ist hier noch von einem deutlich idealistischen Grundzug getragen, nach welchem das Subjekt als die generelle Erzeugungsinstanz der äußeren Welt verstanden wird, als etwas, das sie sich selbst gibt. Hier wird noch in rein-idealistischer Weise eine äußere Sphäre durch ein inneres Handeln gegeben, dessen Erscheinungsweise die äußeren Handlungen und ihre weltlichen Konsequenzen sind. Darin

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enthalten ist aber ein Gedanke, den Schelling modifiziert auch in späteren Phasen seines Philosophierens, in denen ein subjektunabhängiges Realitätsmoment der sinnlichen Welt einen zentralen Stellenwert erhalten wird, beibehält. Der entscheidende Punkt ist hierbei weniger, dass ein inneres Handeln ein äußeres erzeugt, sondern dass Handeln überhaupt in einer Veräußerungsrelation steht, dass in ihm ein „Übergang aus dem (rein) Ideellen ins Objektive“ (AA I,9.1, 258/SW III, 560) stattfindet, ein Objektives, das hierdurch zugleich ideelle und reelle Anteile erhält. Allerdings ist unter den Voraussetzungen der Transzendentalphilosophie von 1800 noch kein volles Nach-außen-Treten eines Inneren möglich, da es in dieser keine von der eigenen Setzung unabhängige Realwelt geben kann.58 Dies bedeutet aber auch, dass der Mensch im Handeln seine Position gegenüber der empirischen Welt ändert: er wird vom Zuschauer zum Teilnehmer, vom Betrachter zum Akteur. Im Handeln verlässt der Mensch seine rezeptiv-wahrnehmende Position und wird in ausgezeichneter Weise Teil der sinnlich erscheinenden realen Welt. Schelling hat diese Art des Eingebundenseins und der Teilhabe des handelnden Menschen in die Wirklichkeit innerhalb der einleitenden Erörterungen zu den Ideen zu einer Philosophie der Natur skizziert: „Der Mensch ist […] einer Welt gegenüber, die auf ihn Einfluss hat, ihre Macht ihn empfinden lässt, und auf die er zurückwirken kann, alle seine Kräfte zu üben; zwischen ihm und der Welt […] muss Berührung und Wechselwirkung möglich sein, denn nur so wird der Mensch zum Menschen“ (AA I,3, 71/SW II, 13). In dieser Passage spricht Schelling deutlich die sinnlich-empirische Doppelrelation als anthropologisches Grundkriterium aus: in der Wahrnehmung wirkt die Welt auf mich, im Handeln hingegen wirke ich auf die Welt.59 Auf der Basis eines dynamischen ontologischen Grundgefüges unternimmt es Schelling, auch die basalen Handlungsrelationen wie die des Nach-außen-Tretens aus diesem inneren Gefüge heraus zu entfalten. So denkt Schelling im zweiten Weltalterentwurf diese Bewegung aus der dynamischen Wechselrelation eines universalen ontologischen Verhältnisses von kontraktivem Sein und expansivem Seiendem, der Grund/Existierendes-Unterscheidung entsprechend. Hier gilt zunächst in allgemeiner Form, dass „alles was ist   Denn nach dem System von 1800 ist „die Welt selbst nur eine Modifikation des Ichs“ (AA I,9.1, 261/SW III, 564). Vgl. auch Schulz 2000, XL. 59   Dementsprechend muss, damit die Wahrnehmung glückt, diese zur Welt passen und für eine erfolgreiche Handlung die Welt zur Absicht. Searle 1987, 118 f. hat treffend letztere als eine „Welt-auf-Geist“ Richtung bezeichnet. 58

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[…] zugleich in sich und aus sich“ (W 122) sein will. Dem in sich Wollen entspricht dabei die Bewegung der Egoität, des bei sich Bleibens und sich Verschließens. Notwendig ist dieses jedoch eingebunden in eine komplementäre Bewegung des Nach-außen-Tretens, da ansonsten überhaupt das Sein verschlossen bliebe und keine das Leben allgemein kennzeichnende Ausbreitung im Raum möglich wäre. Schellings Beschreibung einer universalen Motivation zum Handeln entspricht hier zugleich einem allgemeinen Lebensprinzip alles Biologischen, nachdem das Seiende „aus sich [sein will], indem es das, was es in sich ist, auch wieder, nämlich äußerlich, zu sein begehrt“ (W 122). Dies gilt hier zunächst für die Entfaltung der Pflanze aus dem Keim in derselben Weise wie für die Realisierung einer Handlung aus einem inneren Motiv. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass es bei der Pflanze in der entsprechenden Entwicklungsphase ein Übergewicht in etwa der ausbreitenden Tendenz gibt, welche dann ihr tatsächliches Wachstum im Raum erklärt; die kontraktive Kraft sorgt dann lediglich dafür, dass ihre Ausbreitung sukzessive erfolgt und sich nicht ins Unabsehbare erweitert. Bei menschlichen Handlungen hingegen entlädt sich nicht einfach ein Übergewicht der inneren Spannung. Sondern es ist gerade der interne Widerspruch eines Wesens, das zugleich in sich zurück und außer sich hinausdrängt, das „die Menschen […] zum Handeln zwingt“ (W 123). Im Handeln verlässt der Mensch die Traulichkeit seiner privaten Innenwelt und wird zum Teil der öffentlichen Sozialwelt. „Wer handelt, tritt damit aus sich heraus und […] verfängt sich mit der wirklichen Welt und ihren Bedingungen“ (SW XII, 488). Das Nach-außen-Treten des Menschen im Handeln ist demnach nicht nur ein wesentlicher Aspekt seines intentionalen, transitiven Wesens. Sondern es ich auch die Bedingung dafür, dass er in echter Weise mit der Welt verbunden sein kann; als ihr Teilnehmer und nicht lediglich als ihr Zuschauer. 3) Zwecke Nach dieser ersten handlungstheoretischen Explikation derjenigen Momente, die sich mit Schelling auf der Ebene des Anfangs der Handlung lokalisieren lassen, gilt es nun diejenigen zu entfalten, die ihren Bezugspol im Ende der Handlung haben und die zuletzt Ende und Anfang der Handlung zu einen Ganzen verbinden. Dies verlangt an erster Stelle eine detaillierte Erörterung der zentralen handlungstheoretischen Begriffe der Zwecke und Ziele als denjenigen, in denen in der Perspektive des Handelnden sein Tun zu einem Ende gelan-

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gen soll. Die Bedeutung des Zweckbegriffs für die Theorie des Handelns bei Schelling ist bereits an mehreren Stellen zum Ausdruck gekommen: in der teleologischen Dimension der Freiheit Gottes und – ergänzend hierzu – in der finalistischen Ausrichtung des geschichtlichen Prozesses der Schöpfung, und darin insbesondere im Motiv der Handlungslenkung gemäß Schellings Feststellung, dass Gott stets durch Mittel handle. Aufgabe des gegebenen Abschnittes ist es nun, diese praktische Zweckstruktur in ihrer Genese und allgemeinen Funktion insbesondere für das menschliche Handeln bei Schelling zu rekonstruieren. Formal lassen sich Zwecke fassen als „Gegenstände des menschlichen Wollens“ (SW XI, 522); dieser offenbare Zusammenhang ist schon deswegen darzulegen notwendig, weil nicht zuletzt im Deutschen Idealismus, ausgehend vom zweiten Teil von Kants Kritik der Urteilskraft, die Problematik der Teleologie primär als Problematik des Status der Naturzwecke verhandelt wurde. Die Frage, ob die Natur zweckmäßig verfasst sei und inwiefern man sich in der Erforschung der Natur des Zweckbegriffs bedienen dürfte und sollte, ist aber nur eine abgeleitete Problematik: im Kern ist sie der Frage gleich, inwiefern man die Natur so ansehen dürfe, als ob ihre Prozesse gewollt und damit menschlichen Handlungen analog seien – denn hier, im Handeln, als Gegenstand des menschlichen Wollens, hat der Zweckbegriff seinen Ursprung. Dass Zwecke Gegenstände des Wollens sind, bedeutet, dass dasjenige ein Zweck ist, das auf der Basis des menschlichen Wollens in dessen Realisierung durch Handeln erreicht werden soll. Diesem Begriff des Zwecks korrespondiert der des Mittels als demjenigen, durch welches der Zweck erreicht werden soll. Im Gegensatz hierzu referiert der Zielbegriff nicht automatisch auf Mittel zur Zielerreichung. Praktische Ziele sind demnach Zwecke unter Abstraktion von den Handlungen, durch die sie verwirklicht werden sollen. Zwecke sind umgekehrt Ziele unter dem Mittel-Aspekt. Diese Mittel sind im Falle praktischer Zwecke die jeweiligen Durchführungen der Handlung. Die Handlung ist das Mittel zur Erreichung des in ihr angezielten Zwecks bzw. Ziels. Deswegen sind auch Handlungen zu Ende, wenn ihr Zweck verwirklicht ist. Diese relationale Gebundenheit des Zweckbegriffs an den Begriff des Mittels ist der tiefere Sinn von Schellings lapidarer Bemerkung: „Sowie der Zweck erreicht, wird das Mittel ein zweckloses“ (SW XIV, 150). Diese einfache formale Anzeige des Zwecks als Gegenstand des Wollens lässt sich auf eine reiche Struktur hin ausdeuten, bei welcher nicht nur zutage tritt, dass Zwecke als gesollte mit der Stiftung von Normativität unmittelbar verbunden sind, sondern dass mit ihnen zugleich eine eminent bedeutende innere dynamische Struktur von Handlungen als

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Mitteln von Zielverwirklichungen sichtbar wird. Dies lässt sich gleichfalls von den bereits beanspruchten Passagen zu Beginn des 3. Weltalterentwurfs aus zeigen, in denen Schelling erörtert, was es bedeute, Anfang und Ende einer Folge oder eines Prozesses zu sein. Dabei expliziert er die spannungsvolle Beziehung zwischen den beiden Polen von Handlungen: dem Ziel als ihrem Ende und dem Wollen als ihrem Anfang: Im Wollen überhaupt liegt auch allein die Kraft eines Anfangs. Denn das, was gewollt wird, was also der Intention nach eigentlich sein soll, wird eben in dem, dass es gewollt wird, als nicht seiend gesetzt. Aber aller Anfang beruht darauf, dass das nicht sei, das eigentlich sein soll (SW VIII, 224).

Wenn man diese Ausführungen noch deutlicher in die Sprache des Handelns übersetzt, lassen sich ihnen neben der Präskriptivität des Sollens, die nachfolgend gesondert diskutiert werden wird, mehrere zentrale Strukturmomente des Handelns entnehmen, die unmittelbar mit dem Zweckbegriff verbunden sind: seine intrinsische Verbindung von Anfang und Ende, seine Anlage auf Veränderung, seine Mittel-Beziehung und damit verbunden sein inneres Widerspruchsmoment. Die Einsicht, dass Handlungen etwas bewirken und damit etwas verändern können, kann auf eine lange philosophische Tradition zurückgreifen, auch wenn damit nicht behauptet sein soll, dass alle Handlungen etwas verändern.60 Dennoch lassen sich Schellings Ausführungen an dieser Stelle auf ein sehr weittragendes Verhältnis hin deuten: Am Anfang einer Handlung liegt immer die Sicht auf ihr Ende, bzw. auf ihr Ziel als dasjenige, das ihr Ende sein sollte, sofern sie planmäßig verläuft. Hier wird erneut die zentrale Rolle deutlich, die Ziele in Handlungen spielen: Handlungen sind fundamental von Zielen getragen und von diesen her 60   Etwas zu erhalten ist gleichfalls eine Handlung, auch wenn sie Veränderung gerade verhindert. Ebenso werden heute gängig geistige Handlungen wie Rechnen, Nachdenken usw., die gleichfalls keine äußere, wohl aber eine innere (psychische) Wirkung in der Bildung spezifischer Bewusstseinsgehalte haben, als Handlungen gezählt. Ebenso gelten auch Unterlassungen als Handlungen, bei denen keine spezifische körperliche Veränderung des Akteurs vorliegt, die aber dennoch soziale Veränderungen zeitigen, bzw. sozialerhebliches Verhalten sind. Antik wurde Handeln als Verändern im Kontrast zu einem zweiten Typus von Handlungen gesehen, dem die Veränderung nicht wesentlich war. Vgl. Platon, Sophistes 219b, wo Handeln als Hervorbringen (im Gegensatz zum Erwerben) bedeutet, dass „jemand, was zuvor nicht war, hernach zum Dasein bringt“. Diesen Aspekt hat Schelling offenbar im Fokus. Hierzu gehört auch, dass in zeitlicher Nähe zu Schelling, und mit Sicherheit von diesem rezipiert, sich an zentraler Stelle im ersten § der Grundlage des Naturrechts bei Fichte die Feststellung findet, dass „die freie Tätigkeit […] Wirksamkeit auf die Objekte“ (GA I,3, 331) sei.

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zu deuten. Die Sicht des Akteurs durch die Handlung als Vorhaben hindurch auf ihr Ziel, d. h., die Absicht im engeren Sinn, ist das konstitutionelle Schlüsselmoment in Handlungen, dasjenige, das Handlungen von allem anderen Geschehen unterscheidet. In Schellings Ausführung ist es darin enthalten, dass das Wollen eines Anfangs nur dadurch möglich ist, dass im Wollen dieses Anfangs zugleich ‚eigentlich‘ etwas anderes gewollt wird, nämlich das Ziel als Ende der Handlung. Deswegen gibt es bei Handlungen keinen Anfang ohne ein Ende: nicht, weil real alle Handlungen auch immer zu Ende gebracht würden, sondern weil eine Handlung Beginnen notwendig bedeutet, dass der Akteur von Anfang an eine Absicht, d. h. eine Verwirklichungsvorstellung bezüglich des Endes der Handlung hat.61 Hiermit verbunden ist die Anlage auf Veränderung. Am Ende der Handlung soll etwas anders sein als an ihrem Anfang; eben dies bedeutet, dass die Handlung etwas verändern soll. Anfang und Ende werden demnach in einem doppelten Kontext ausgedrückt: aus der Perspektive des Anfangs ist das Ende einer Handlung deren Vollendung und zeitlicher Abschluss zugleich. In zeitlicher Hinsicht gilt: Die Handlung als Mittel zum Zweck ist notwendig zu Ende, wenn der Zweck erreicht wird, da dann sie selbst als Mittel „ein zweckloses“ wird, d. h. ihren Sinn als Handlung verliert, ja aufhört, eine Handlung zu sein. Dies ist der zweite nicht-triviale Sinn von Schellings Bemerkung, das Mittel werde zwecklos, sobald der Zweck erreicht sei. Dieses Ende der Handlung enthält nun etwas, das im Anfang noch 61   Fraglich scheint die Ausschließlichkeit dieser These in Hinsicht auf Tätigkeiten wie Spazierengehen, Tanzen und Spielen zu sein, die gängig als Beispiele für Handlungen gebraucht werden, die gemäß der Aristotelischen Praxis/Poiesis-Unterscheidung (Nikomachische Ethik, 1140b) nicht auf ein abschließendes Ziel bezogen sein, sondern ihren Zweck in sich selbst haben sollen. Ohne die damit verbundene Diskussion um die terminologische Unterscheidung des Aristoteles an dieser Stelle führen zu können, kann doch zugunsten der Position Schellings der Umstand hervorgehoben werden, dass auch gewünschte psychische Zustände der Erhebung, Entspannung, Genugtuung, Freude usw. zu den Zielen gerechnet werden können, die einen Akteur zu einer Handlung motivieren, und dass ein gewisses – möglicherweise auch vages – Maß der Erreichung dieser Zustände durchaus je den Zielabsichten der Akteure entspricht, auch wenn keine handgreiflichen physischen Veränderungen durch die Handlungen hervorgebracht werden sollen wie bei typisch produktiven Tätigkeiten als Beispielen für poiesis – zumal auch Aristoteles selbst Tätigkeiten mit mentalen Zielen wie das Lernen zu den hervorbringenden rechnet (Metaphysik 1048b). Denn auch Tanzen und Spielen wird nicht mit der Vorstellung begonnen, es je ins Unabsehbare weiterzuführen, sondern mit einer Vollendungsvorstellung, die in etwa darin bestehen kann, es so lange zu tun, bis es unter bestimmten psychischen Aspekten genug ist und z. B. eine bestimmte Schwelle der Zufriedenheit, Angeregtheit oder Lust sich einstellt.

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nicht gegeben ist. Dies zeigt sich auch in der Perspektive des Zweck-Wollens: wäre die angezielte Veränderung bereits im Anfang des Wollens als Wirklichkeit gegeben, so gäbe es zumindest in Hinsicht auf sie nichts zu wollen mehr. Demnach liegt im Anfang immer eine Negation von Momenten oder Merkmalen vor, welche das Ende bezeichnen. Das Wollen im Anfang ist durch einen Mangel charakterisiert, welcher durch das begehrte Ziel aufgehoben werden soll. Schellings auch in die Struktur des Wollens eingeschriebenen Momente der Sehnsucht und des Hungers (vgl. AA, I,17, 130 und 169/SW VII, 359 u. 405) nach Wiederherstellung einer ursprünglichen Einheit sind in dieser Sache die Korrelate in der ontologisch-dynamischen Tiefenstruktur zur handlungstheoretischen Oberfläche, auf welcher sich diese im Handlungsbeginn als Sucht und Hunger nach der Zielverwirklichung und deren Inhalten, d. h., als Verlangen nach einer vereinheitlichenden Synthese der individuellen Absicht mit dem äußeren Sein beschreiben lässt. In diese Struktur von Anfang und Ziel ist die Handlung selbst im Sinne ihres körperlichen Vollzugs eingebettet. Sie ist das Mittel, durch welches das Ziel erreicht werden soll. Nun stellt sich die Frage, inwiefern und auf welche Weise die Bezüge der Negation und des Begehrens des Ziels, welche die Pole des Anfangs und Endes der Handlung verbinden, in den Vollzug der Handlung eingehen, ja diesen selbst strukturieren? Muss, insofern das Ziel begehrt wird, die Handlung mitbegehrt werden, da nur durch sie das Ziel erreicht werden kann? Oder müsste es nicht vielmehr die Intention des Akteurs sein, seine eigene Handlung gleichsam zu überspringen, da sie sich zwischen ihn und die begehrte Veränderung stellt? Schellings Antwort hierauf findet sich in einer Passage der Münchner Vorlesung zur Grundlegung der positiven Philosophie, in welcher Schelling wie schon in den Weltalterentwürfen, die Mittel-Zweck-Beziehung im Handeln aus Erwägungen über die Abläufe von Prozessen gewinnt: dass [etwas] im Prozess Mittel, d. h., relativ nicht Seiendes, und doch seiend ist, dies zeigt also an, dass es von einer Ursache gesetzt ist, die überhaupt Mittel und Zweck festhalten, die das eigentlich nicht Gewollte (dies ist das Mittel) dennoch wollen, in diesem Widerspruch (das zu wollen, das sie eigentlich nicht will) ausdauern kann – kurz die eine freie, nach Absicht handelnde Ursache (GPP 302/ SW X, 258),

ist, d. h., etwas, das als ein Akteur aufgefasst werden kann. Dies bedeutet, dass einerseits die Handlung als Mittel mitgewollt im Sinne einer notwendigen Bedingung zur Zielverwirklichung ist, andererseits jedoch in ihr das Ziel noch nicht erreicht wird, weswegen die Negation des An-

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fangs in ihr erhalten bleibt. Dementsprechend bleibt das Mittel in einer gegenüber dem Ziel subordinierten Stellung. Hiermit zeigt Schelling auch an, wie die Spannung zwischen Anfang und Ende in der Handlung als das Mittel zum Zweck ihres Ziels weitergetragen wird. Die Handlung als Mittel ist in Hinsicht auf das Ziel etwas zwiespältig-Widersprüchliches. Sie ist als Mittel gewollt, aber an sich nicht gewollt, d. h. nicht so gewollt wie das Ziel selbst gewollt ist.62 Damit lässt sich Schellings teleologische Handlungsauffassung auch über das Mittel-Zweck-Verhältnis näher charakterisieren, indem sich mehrere alternative Auffassungen vom Handeln ausschließen lassen. Erstens gibt es in dieser Konzeption Schellings keinen Raum für die Vorstellung, es gäbe Handlungen, welche ohne ein bestimmtes Ziel begonnen, oder ohne Hinblick auf ein Ziel ausgeführt würden.63 Insofern Schelling darlegt, dass „aller Anfang […] seiner Natur nach nur ein Begehren des Endes oder dessen, das zum Ende führt“ sei, schließt er die Existenz von Handlungen aus, deren Durchführung strikt nur um ihrer 62   In dieser doppelten Beziehung eines Akteurs zu seiner Handlung als Mittel ist auch ein Fortschritt gegenüber der Behauptung Kants zu sehen, dass das Zweckwollen das Mittelwollen schlicht impliziere (vgl. Kant AA IV, 417). Mit Kants Auffassung waren Widersprüche des Wollens zwischen Mitteln und Zwecken prinzipiell ausschließbar, wenn nur die Mittelwahl korrekt war; Zweck-Mittel-Rationalität bedeutete dann, dass Handlungen und Ziele sich angemessen ins Zweck-Mittel-Schema fügten. Ein Wert-Widerspruch zwischen Zweck und Mittel in der Form ethischer Dilemmata, nach welchen es sein kann, dass moralisch wertvolle Ziele nur durch an sich verwerfliche Handlungen erreicht werden können, ist in Kants Ethik so nicht möglich. In Schellings Auffassung hingegen ist ein solcher Widerspruch nicht nur erklärbar, sondern auch systematisch als Charakteristikum jeder Handlung, ja jedes Prozesses, angelegt: „In jeder Bewegung, die ein gewisses, sich vorgesetztes Ziel erreichen will, ist dieses Ziel das eigentlich Gewollte, demnach der eigentliche Sinn, d. h., die Wahrheit dieser Bewegung. Alle Momente der Bewegung also, die der Erreichung dieses Ziels vorrausgehen, verhalten sich eben darum als bloße Mittel zum Zweck“ (SW XIII, 182). 63   Zwischen dem Beginnen und dem Ausführen liegt in dieser Frage kein Unterschied. Denn man kann eine Handlung nicht bloß beginnen, ohne zugleich das Ziel zu haben, sie über den Zeitpunkt des Beginnes hinauszuführen. Sonst wüsste der Akteur gar nicht, was er da begänne. Dass es Handlungen (wie die Schöpfung) gibt, die keine weiteren Ziele als die Handlung selbst haben, bedeutet ja nicht, dass die Handlung selbst deshalb ziellos sei. Im Gegenteil: da Handlungen notwendig Absichten beinhalten und diese ebenso notwendig Ziele als ihre Gehalte, kann es keine strikt ziellosen Handlungen geben. Die Behauptung, dass eine Handlung ziellos sei, bedeutet also stets, dass sie keine weiteren Ziele als ihren (ihrerseits von Zielen getragenen) Vollzug hat. Es ist eine Täuschung, zu meinen, es gebe Handlungen, die im strikten Sinn lediglich ihren Vollzug selbst als ihr Ziel haben, so als wäre der Vollzug nicht seinerseits auf ein Ziel gerichtet. Denn eine solche im Vollzug ziellose Handlung wäre ein lediglich blindes Geschehen.

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selbst willen geschieht und bei denen gerade nicht ihr Ende im Sinne ihres zeitlichen Abschlusses oder ihrer inhaltlichen Erfüllung begehrt wird, so als könne es Handlungen geben, die strikt kein Ziel in sich führten: „Nichts kann sich selbst bloß als Mittel wollen, alles will so viel möglich selbst Zweck sein“ (GPP 302/SW X, 258). Menschliches Handeln ist demnach nicht lediglich strukturell zweckgerichtet, sondern der Zweck ist auch das primär Begehrliche darin; der Vollzug der Handlung ist begehrlich nur dadurch, dass er zum Zweck führt. Im Gegensatz zum Zweck sind die Momente der Bewegung auf ihn zu „das bloß Scheinbare, nicht das Wahre, und inwiefern sie gleichwohl für den Zweck oder das Wahre genommen werden können, sind sie Ursache einer möglichen Täuschung, eines möglichen Irrtums“ (SW XIII, 182).64 Der populäre Ausspruch, nach dem ‚der Weg das Ziel‘ sei, ist Ausdruck eines solchen Irrtums. Denn er legt einen Kontrast nahe, den es so nicht gibt, da der Weg (= das Handeln) überhaupt nur dadurch Handeln ist, dass es auf ein Ziel führt. Der Weg ohne Ziel wäre kein Weg, sondern ein Irrgang, die Handlung entsprechend ein bloß sinnloses Geschehen. Alles Wollen des Wegs und aller Genuss am Vollzug einer Handlung lebt aus der Abhängigkeit von ihrer Zielsetzung.65 Hierdurch ist auch die Auffassung ausgeschlossen, dass Zwecke zwar faktisch, jedoch lediglich kontingenterweise mit Handlungen verbunden sind und solche auch ohne Zwecke sein könnten; damit verbunden drittens, dass Handlungen zwar immer und notwendigerweise Zwecke beinhalten, diese jedoch nur ein sekundäres Phänomen sind, das sich z. B. naturalistisch auf die Wünsche eines Akteurs oder gar dessen physiologische Basis reduzieren ließen. Zwecke sind bei Schelling irreduzibel konstitutives Moment von Handlungen.66 64   Diese Passage ist einem Kontext entnommen, in dem es Schelling nicht unmittelbar ums Handeln geht, sondern in der Schelling erklärt, weshalb im geschichtlichen Prozess die Mythologie eine Voraussetzung der Offenbarung sei. Eine handlungstheoretische Deutung dieser Passage rechtfertigt sich jedoch dadurch, dass Schelling hier allgemein von zielgerichteten Bewegungen spricht, zu welchen auch menschliche Handlungen gehören, und zudem der Geschichtsprozess selbst ja als Handlung Gottes angesehen werden kann. 65   Darin kann auch eine durchaus tragische Komponente der conditio humana liegen. Handlungen, und seien sie noch so angenehm, erhebend, erfüllend, lassen sich nicht beliebig verlängern, weil sie nur dann sinnstiftend sind, wenn sie auf das Ziel zugehen und dieses auch zu erreichen suchen. Sie haben also eine Innentendenz zu ihrer eigenen Aufhebung. Daher besteht eine lebenspraktische Spannung zwischen je dem Versuch, sich in angenehmen usw. Handlungen zu halten und ihrer Tendenz, eben diesen Gehalt zu verlieren, sofern der Versuch, sie zu verlängern, den Fokus auf ihr Ziel bricht. 66   Der Unterschied wird klarer durch einen Vergleich mit der Auffassung, die Kant

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Von hier aus lässt sich nun die wichtige konzeptionelle Einsicht Schellings näher erläutern, dass in jeder Handlung ein zentrales Moment der Negation und des Widerspruchs liegt und dass die Durchführung der Handlung als Mittel zum Erreichen des Ziels als seinem Zweck bedeutet, dass etwas Hinderliches und Widerständiges überwunden werden muss. Diese Einsicht war auf der Ebene der Potenzendeduktion als Momente des in Spannung getretenen und damit überhaupt erst handlungsfähig gewordenen absoluten Geistes bereits aufgewiesen worden. Dort hatte sich in der Konstitution des Schöpfergottes bereits gezeigt, dass zu einem praktischen Wesen notwendig innere Momente der Negation, Hemmung und Überwindung gehören. Jetzt lassen sich diese auch auf Einzelhandlungen bezogen ausbuchstabieren. Schelling formuliert drastisch: „Was zum Handeln treibt, ja zwingt, ist allein der Widerspruch“ (SW VIII, 219). Die Frage ist allerdings, was hiermit präzise gemeint ist und in welcher Form dies bestimmend für konkrete Handlungen wird? Zunächst liegt in handlungstheoretischer Perspektive der Inhalt des Widerspruchs in der gezeichneten Differenz des Inhalts des Ziels einer Handlung zu dem, das zum Zeitpunkt der Zielsetzung gegeben ist.67 In der subjektivitätsphilosophischen Sprache des Systems von 1800 ist damit ein Widerspruch zwischen der Anschauung und der frei entworfenen Vorstellung eines Ichs bezeichnet: „Im Objekt sei eine Bestimmung = a, nun verlangt die Freiheit die entgegengesetzte Bestimmung = -a“ (AA I,9.1, 259/SW III, 562). D. h., dass mit einer Zielsetzung zugleich das Wirklichsein dessen, das Inhalt des Ziels ist, verneint wird. „Nur in der Verneinung,“ kann Schelling konstatieren, „liegt der Anfang“ (SW VIII, 224). Sich ein Ziel zu setzten, sich zu entscheiden, eine Absicht zu fassen, all dies geht einher mit der Feststellung eines Mangels. Es ist klar: wenn ein solcher Widerspruch nicht wäre, würde dies bedeuten, dass keine Differenz gegeben wäre zwischen der je gegenwärtigen Wirklichkeit und dem Inhalt praktischer ‚Ziele‘ – d. h., die Ziele wären bereits verwirklicht. Wer aber seine Ziele bereits verwirklicht sieht, der hat diese Ziele nicht mehr in der Religionsschrift darlegt, welche Schelling ja bekanntermaßen intensiv rezipiert hat. Dort heißt es zwar, „ohne alle Zweckbeziehung kann gar keine Willensbestimmung stattfinden, weil sie nicht ohne alle Wirkung sein kann“ (Kant AA VI, 4). Diese Zweckbeziehung ist aber in der Hinsicht sekundär, dass die Willensbestimmung primär durch die Maxime (bzw. das moralische Gesetz) geschieht und die Zweckbeziehung als Vorstellung der Wirkung einer Handlung nur „als Folge von ihrer Bestimmung durchs Gesetz“ (ebd.) fungiert. Bei Schelling hingegen ist die Zweckbeziehung primär. 67   Mit diesem Widerspruch, der zum Handeln zwingt, ist also keinesfalls etwas wie die innere Zerrissenheit der romantischen Existenz gemeint, sondern eine konkrete handlungstheoretische Bedingung aufgezeigt.

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und handelt dementsprechend auch nicht; ohne die in der Zielsetzung liegende Spannung gibt es kein Handeln.68 Ist aber umgekehrt die Zielsetzung gegeben, dann ist die Handlung auch bereits motiviert. Durch den Widerspruch „ist unmittelbar die Bedingung zur Tätigkeit gegeben, die Tätigkeit entspringt, so wie nur die Bedingung gegeben ist, ohne alle weitere Reflexion“ (AA I,9.1, 258/SW III, 560).69 Dieser Widerspruch, der bereits Voraussetzung des Handelns und Bedingung seines konkreten Anfangens ist, muss in je modifizierter Form im Verlauf der Handlung erhalten bleiben – wenn er sich auflöste, würde das bedeuten, dass das Ziel erreicht und die Handlung zu Ende wäre. Zugleich muss der Widerspruch so veranlagt sein, dass er nicht einfach dauerhaft bestehen bleibt: denn das würde bedeuten, dass die Differenz zwischen A und -A nicht aufgelöst werden könnte und die Ziele prinzipiell unerreichbar wären. Also muss der Wiederspruch in die prozessuale Ordnung eines Übergangs gesetzt werden. Dieser Prozess des Übergehens muss so gefasst sein, dass darin deutlich wird, dass es Ziele gerade auszeichnet, verwirklicht werden zu können – was weder der Fall wäre, wenn sie immer schon verwirklicht wären, noch, wenn sie unerreichbar blieben. Daher lässt sich die Darstellung der Bedingung des Übergangs auch in der Form der Frage verstehen, weshalb überhaupt etwas getan werden muss, um ein Ziel zu erreichen, weshalb dieses sich nicht schlag  Womit nochmals ein Argument gegen die Vorstellung von reinen Selbstzweckhandlungen, sofern darunter solche verstanden werden, die in jeder Phase ihres Vollzugs ihre eigene Zielerfüllung wären, gegeben ist. Eine Handlung, die sich je selbst erfüllte, müsste Stillstand sein, da sie keinen Bezugspol einer ‚Ziel-Bewegung‘ hätte. Und dies gilt auch für Handlungen, bei denen keine körperliche Bewegung, sondern äußerer Stillstand stattfindet: auch wer sich ausruht, und keine anderen Ziele hat, als sich auszuruhen, hat dennoch ein Ziel, das in jeder Phase seines Ausruhens je noch nicht verwirklicht ist: nämlich zuletzt in einer Weise ausgeruht zu sein, die den je gegenwärtigen Status übersteigt. Wer behauptet, ‚Ausruhen‘ als Vollzug habe ‚Ausruhen‘ zum Ziel, sitzt einer sprachlichen Ungenauigkeit auf, die verschleiert, dass der (ausruhende) Akteur mit Schelling gesprochen einen Widerspruch austrägt zwischen seinem je gegenwärtigen Zustand und seiner Zielvorstellung des Ausgeruht-Seins (nicht das Ausruhens selbst), und dass er diese Zielvorstellung nicht instantan verwirklichen kann, sondern den zeitlichen Prozess des sich Ausruhens durchlaufen muss, bis er sich entsprechend seiner Zielvorstellung als genügend ausgeruht (erholt) empfindet und sein Ausruhen als Tätigkeit beendet – womit die gesamte handlungstheoretische Fundamentalspannung expliziert wäre, auch wenn der Akteur nur auf dem Sofa liegt. 69   Dies zeigt erneut, dass Schelling das rationale Element des Erwägens und Wählens aus Optionen aus seiner basalen Handlungskonzeption ausschließt. Die ganze Dimension der Zweckrationalität und ihrer Forderung, die geeignetsten Mittel zur Erreichung des Ziels zu wählen, ist von Schelling ausgeklammert. In seiner Perspektive geht der Blick des Akteurs im Handeln direkt auf das Ziel. 68

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artig, sobald es nur festgelegt ist, verwirklichen lässt. Diese findet ihre Antwort in der allgemeinen Widerständigkeit des Seienden, die bewirkt, dass durch Handeln erstrebte Veränderung innerweltlicher Eigenschaften nur sukzessive in der Zeit geschehen kann. Deshalb ist der Widerstand der veränderlichen Eigenschaften gegen ihre unmittelbare Abänderung eine Bedingung des Handelns: „Jene zufälligen Bestimmungen [der Eigenschaften der Dinge] müssen also nicht ohne Widerstand veränderlich sein, damit das freie Handeln […] geschehe“ (AA I,9.1, 260/SW III, 562 f.).70 Der Widerspruch zwischen Anfang und Ziel der Handlung erklärt so einerseits, weshalb die Handlung überhaupt zustande kommt und andererseits, weshalb zum Handeln ein Moment des Widerständigen gehört, das verhindert, dass sie augenblicklich ihr Ende erreicht.71 Denn im Handeln manifestiert sich der ursprünglich angelegte Widerspruch gerade in der Überwindung des darin enthaltenen notwendigen Widerstandes in der Zweck-Mittel-Differenz. Stünde der Zielsetzung kein Widerstand entgegen, würde der Akteur je unmittelbar in den Zielen sein oder diese nie erreichen können. In beiden Fällen bedürfte es keiner Mittel und es wäre eben deswegen kein Handeln möglich. Umgekehrt bedeutet Han  Auch diese Passage ist leicht entstellt, da der unmittelbare Kontext, in dem Schelling diesen Gedanken entwickelt, der transzendentalphilosophische des Systems von 1800 ist und Schellings Begründung der Widerständigkeit der Zielerreichung im Handeln eine Reflexionsbedingung beinhaltet, die für den allgemeinen praktischen Kontext, in dem die Frage in der gegenwärtigen Untersuchung nachgezeichnet wird, nicht von spezifischer Bedeutung ist. Diese Passage dennoch zur Erläuterung auch der Auffassung des späten Schelling heranzuziehen, rechtfertigt sich dadurch, dass Schelling den Gedanken, dass freies Handeln (auch Gottes) notwendig die Überwindung von Widerständigem zur Zielerreichung beinhaltet, beibehält, ohne dass er alternative Begründungen auf einer vergleichbar tiefen Fundierungsebene hierfür heranführt. Der Gedanke der notwendigen Handlungsrealisierung durch Widerstand hat seine Wurzeln bei Fichte, welcher von „gehemmter“ Tätigkeit spricht (GA I,3, 346) und dieses Hemmungsprinzip als notwendiges Element aller Tätigkeit ansieht. Vgl. Fichte GA I,5, 25, bei dem diese Widerständigkeit bereits Bedingung der bewusstseinskonstituierenden Tätigkeit ist: „Was heißt nun das: eine bestimmte Tätigkeit, und wie wird sie zur bestimmten? Lediglich dadurch, dass ihr ein Widerstand entgegengesetzt wird […]. Wo und inwiefern du Tätigkeit erblickst, erblickst du notwendig auch Widerstand“. Und weiter: „alles Bewusstsein ist bedingt durch das Bewusstsein meiner selbst, dieses ist bedingt durch die Wahrnehmung meiner Tätigkeit, dies durch das Setzen eines Widerstands“ (ebd.). 71   Und eben dieser Gedanke der notwendigen Widerständigkeit des Gegebenen für die Freiheit, deren Realisierung in der Überwindung solcher Widerstände besteht, findet sich im 20. Jahrhundert bei Sartre wieder. Vgl. Sartre 1994, 837, wonach „der Widrigkeitskoeffizient der Dinge und ihr Hindernischarakter […] etwas wie eine ontologische Bedingung der Freiheit an[zeigt]“. 70

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deln gerade die Auflösung des Widerspruchs als das sukzessive Zur-Deckung-Kommen von Handlungsziel und Handlungsmittel. 4) Ziele als ideale Finalursachen Wenden wir uns von hier aus den Handlungszielen selbst, d. h., ihrer Funktion und ihrem Status in Absehung von ihrer Zweck-Mittel-Beziehung zu. Sie lassen sich zunächst Schellings Ausführungen über die causa finalis, die Zielursache innerhalb der Vier-Ursachen-Lehre des Aristoteles, entnehmen und unmittelbar auf ihre spezifische Funktion von Zielen in Absichten übertragen. Die causa finalis ist die Ursache, „zu welcher oder in welche als Ende oder Zweck alles wird“ (SW XII, 112). Schelling versteht sie eben als das Zielmoment in absichtlichen Handlungen; sie ist die „nach Zweck und Absicht Handelnde“ (SW XI, 396). Schellings Darlegungen zur Struktur und Funktionsweise der causa finalis lassen sich dementsprechend unmittelbar verstehen als Darlegungen Schellings über die Zielstrukturen von Handlungen. So ist in etwa die Finalursache „zu welcher hin als Ziel alles geschieht“ (SW XIII, 290) so strukturiert, dass im Erreichen des Ziels dasjenige zum Stillstand kommt, das auf es zu entsteht. Schelling spricht in diesem Zusammenhang von einem „bleibenden Entstehen“ (SW XIII, 288), bei welchem der Prozess eines Entstehens auf der Stufe seiner Vollendung, d. h. der Erreichung seines Ziels „stehen bleib[t]“ (SW XIII, 289). Deshalb ist die Finalursache „die jedes vollendende, beschließende, […], die jedes Gewordene gleichsam besiegelnde, es eigentlich fertig machende“ (SW XIII, 288 f.). Damit ist ein wichtiges Charakteristikum von Zielen bei Schelling dargelegt. Doch wie ist es insbesondere handlungstheoretisch zu deuten? Die zentrale und bedeutende Einsicht, die Schelling hier ausspricht, ist, dass Ziele nicht nur als Gegenstände des Wollens im Verlauf der Handlung, sondern auch als verwirklichte Ereignisse danach invariant-bleibende Idealitäten sind. In Hinsicht auf ihre Funktion als Gegenstände des Wollens hatten sie sich schon in der Analyse der handlungstheoretischen Momente der Schöpfung als solche Idealitäten erwiesen, insofern Schelling Gottes praktische Möglichkeiten als Ideen im Sinne Platons beschrieben hatte. Diese lässt sich nun ergänzen durch die Perspektive auf Handlungen unter ihrem Verhältnis von Anfang und Ende. Hier hatte sich bereits gezeigt, dass mit Schelling die Anfänge von Handlungen nicht nur als deren zeitliche und kausale Einsatzpunkte aufzufassen sind, sondern als ‚beständige Anfänge‘, die innerhalb der Handlung kontinuierlich erhalten bleiben – dem entschiedenen Willen entsprechend, der nicht nur den

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Einsatz der Handlung verbürgt, sondern als entschiedener die Handlung hindurch bestehen blieben muss. Hierüber ergibt sich bereits, dass der Beständigkeit des Anfangs auch ein beständiges Ziel entsprechen muss, da der Anfang ja gerade beständig auf ein Ziel bezogen ist. Der Beständigkeit des Anfangs muss die Beständigkeit des Ziels in der Handlung – und über diese hinaus – entsprechen. Hier kommen die Kontinuität des Anfangs und diejenige des Ziels zusammen: das Beharrende des Anfangs bestimmt dem Sinn und Inhalt nach die Handlung als diejenige, die sie ist, darüber, dass dieser Anfang als wirkendes Nach-außen-Treten einen kontinuierlichen Bezug auf das Ziel hat. Auch hierfür findet sich der entsprechende Gedanke in Schellings Explikation zu Prozessverläufen im dritten Weltalterentwurf: „ein Wirken, das weder etwas Festes hätte, auf das es sich gründete, noch ein bestimmtes Ziel und Ende, das es begehrte, wäre eine völlig unbestimmtes, kein wirkliches […] Wirken“ (SW VIII, 225). Dies muss noch nicht bedeuten, dass Handlungen in jeder Hinsicht starrer Ziele bedürfen, bei welchen alle relevanten Aspekte gleichsam in Erz gegossen wären. Im Gegenteil können Ziele modifiziert und den im Lauf der Handlung sich ändernden Bedingungen sowohl der äußeren Situation als auch der Einschätzung dieser Situation und der voluntativen Seite des Akteurs angepasst werden; sie müssen aber einen idealen Kernbestand beibehalten, soll die Handlung nicht als diejenige, als die sie begonnen wurde, aufgegeben werden. Hier zeigt sich erneut die allgemeine Bedeutung der darin enthaltenen Einsicht, dass Ziele Idealitäten sind, deren spezifischer Sinn darin besteht, dass sie auf eine präzise zu explizierende Art der Verwirklichung in der Tatsachen-Welt hin angelegt sind. Schelling nannte sie zutreffend in der Beschreibung der Schöpfung ‚Muster‘ und ‚exemplar‘ (SW XIII, 288) der durch sie zu erzeugenden Welt und ihrer Verhältnisse. Die Inhalte von Zielen als Zielen sind stets von allgemeiner Art. Modern gesprochen sind sie invariante propositionale Satzgehalte.72 Schelling hat sich immer wieder um eine genaue Darlegung dieser Verhältnisse bemüht. Einerseits ist es so, dass wir mit Zielsetzungen über die gegebene Wirklichkeit hinausstreben und sie in diesem Sinn negieren, andererseits so, dass der Gegenstand der Zielsetzung in der Erfahrung   Dass jemand ein Ziel hat, lässt sich stets in der propositionalen Form ausdrücken: Der Akteur hat das Ziel, dass x der Fall ist. Zielbenennungen, die lediglich einen Gegenstand oder einen Zustand beinhalten, sind nur verkürzende sprachliche Formen. Wer einen Universitätsabschluss oder ein neues Fahrrad zum Ziel hat, der hat, präzise gesprochen, die Ziele, dass er die Universität erfolgreich beende oder dass er ein neues Fahrrad besitze. Vgl. hierzu Rohs 1980, 15–34 oder Gerber 2012, 99 f. 72

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realisiert werden soll. Die Ziele selbst mit ihren Gehalten müssen dabei zunächst ideell, d. h. begrifflich sein. Schelling spricht von einem „Begriff des Objekts [, der] dem Objekt selbst vorangeht“ (AA I,4, 158) und welcher durch die Einbildungskraft als „Idee dessen, was die Freiheit realisieren soll“ (ebd.) erzeugt ist.73 Diese Ideen wiederum müssen unaufhörlich neu erzeugt werden, da mit der Verwirklichung eines Ziels eine Handlung zu Ende ist und ohne neue Ziele der Mensch seine Tätigkeit insgesamt einstellen müsste. Im Gegensatz zur Idee des Ziels ist das verwirklichte 74 Ziel ein konkretes zeitliches Ereignis bzw. ein konkreter zeitlicher Zustand, der als verwirklichtes Ziel seine inhaltliche Bestimmung eben von diesem Ziel her bekommt: „die Zielursache bestimmt die Idea, den Begriff jedes Dings“ (GPP 359). Deswegen geht das Verwirklichen eines Ziels auch immer mit einer Subsumtionsleistung einher: Ein konkretes Ereignis wird als ein Fall des Ziel-Musters anerkannt und als dieses verstanden.75 Schel  Vgl. hierzu Fichtes Begriffsdarlegung in der Grundlage des Naturrechts, nach der ein Zweck der „Begriff[.] von einer vorgesetzten Wirksamkeit außer uns“ (GA I,3, 331) ist. Den vollen Zusammenhang legt Fichte präzise folgendermaßen dar: „eine vernünftige Ursache, so gewiss sie dies ist, entwirft sich den Begriff vom Produkte, das durch ihre Tätigkeit realisiert werden soll, und nach welchem es sich im Handeln richtet und gleichsam auf denselben unablässig hinsieht. Dieser Begriff heißt der Begriff vom Zwecke“ (GA I,3, 346). 74   Deswegen ist auch die Bezeichnung der Verwirklichung von Zielen derjenigen vorzuziehen, nach welcher Ziele erreicht werden. Denn die Ausdrucksweise des ‚Erreichens‘ von Zielen rührt klarerweise von räumlichen Zielsetzungen her, bei welchen das Erreichen im Sinne des Ankommens an einem bestimmten Punkt den Sachverhalt verschleiert, dass hier eine Subsumption stattfindet. Wer sein räumliches Ziel erreicht, betrachtet dies als den Endpunkt einer gleichrangigen Reihe von Raumpunkten, welche eben den Weg zu diesem Ziel bilden. So wird München als Ziel der Fahrt nach München erreicht, ohne dass bei dieser Ausdrucksweise der kategoriale Unterschied zur Reise dorthin sichtbar würde, welche über ontologisch gleichartige Raumpunkte führt, bei welchen jeder Durchgang durch eine solche Raumstelle eine ebensolche Tatsache ist, wie das Erreichen des Ziels. ‚München‘ ist aber keine Satzbedeutung und daher auch kein Handlungsziel. Präzise gesprochen ist nicht eine Stadt, sondern das Erreichen einer Stadt das Ziel einer Reise. München zu erreichen bzw. in München zu sein sind als Handlungsziele aber eben solche propositionalen Satzbedeutungen, die durch raum-zeitliche Tatsachen, z. B. dass der Akteur sich nun in München befindet hat, verwirklicht (und nicht ihrerseits erreicht) werden. Wenn hier dennoch vom Erreicht-Werden von Zielen gesprochen wird, so hat dies lediglich stilistische Gründe. 75   Wenn Peter das Ziel hat, die Lampe zu reparieren, so kann er dies auf vielerlei Arten tun, sofern er selbst jede dieser möglichen Handlungen unter dem Ziel, die Lampe zu reparieren, sieht. Der Gehalt des Ziels, dass die Lampe brennt, ist deswegen ideal, weil er selbst 1) kein raum-zeitliches Ereignis ist, aber 2) von raum-zeitlichen Ereignissen instanziiert werden kann. Die schließlich tatsächlich zu einem bestimmten Zeitpunkt mit 73

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ling hat im System von 1800 diese Subsumptionsleistung im „Übergang von der Idee zum bestimmten Objekt […] das Ideal“ (AA I,9.1, 257/SW III, 559) genannt.76 Mit der Idee, dass die causa finalis im Sinne des verwirklichten Handlungsziels etwas zum Stehen bringe, deckt Schelling somit einen bedeutenden, wenn auch wenig offensichtlichen Aspekt von Handlungen auf. Allerdings ist die Frage noch nicht beantwortet, wie das ‚Stehen-Bleiben‘ genau zu verstehen sei. Denn prima facie scheint die These von einem Stehen-Bleiben verwirklichter Ziele wenig plausibel. Gehen verwirklichte Ziele als Ereignisse in der Welt nicht ebenso in den Prozess des Werdens und Vergehens ein wie andere Ereignisse auch? Wie soll es also zu verstehen sein, wenn Schelling ausführt, dass durch die causa finalis etwas zu Stande komme und dies buchstäblich bedeute: „zum Stehen kommen, […], d. h. es bleibt stehen, es entwickelt sich nicht weiter“ (SW XII, 112). Ereignisse und Tatsachen in der Welt, die durch Handlungen entstanden sind, sind nach Beendigung der Handlungen schließlich denselben Naturbedingungen unterworfen wie Ereignisse und Tatsachen, welche durch lediglich natürliche Ursachen zustande gekommen sind.77 Mit der Idee, dass die Finalursache, und d. h. hier, das Verwirklichen von Zielen im Handeln, etwas zum Stehen bringe, muss also etwas anderes gemeint sein, als die wenig plausible Ansicht, Produkte von Handlungen wären per se unvergänglich. Einen Hinweis auf den Hintergrund des Schellingschen Gedankens gibt die Formulierung, dass nur dadurch, dass etwas der causa finalis entsprechend stehen bleibe, es „dieses, dieses Bestimmte, nichts Anderes“ (ebd.) sei. Die hierbei gemeinte spezifische Bestimmtheit muss also eine sein, einer bestimmten Helligkeit usw. wieder brennende Lampe ist dann ein bestimmter Fall des Ziels, dass die Lampe brenne. Eine zweite, damit verbundene Subsumptionsleistung besteht darin, dass der Akteur seine konkrete Handlung selbst als Fall eines bestimmten Handlungstyps versteht. Wenn Peter die Lampe reparieren möchte, bedeutet dies, dass er eine Handlung von Typ „die Lampe reparieren“ ausführen möchte und der Überzeugung ist, dass seine konkreten Tätigkeiten ein Fall dieses Handlungstyps sind. Vgl. hierzu Davidsons berühmte Kennzeichnung eines Handlungsgrundes, nach der der Akteur „zu Handlungen einer bestimmten Art so etwas wie eine Proeinstellung hat und […] glaubt […], dass seine Handlung von dieser Art ist“ (Davidson 1985, 20, Herv. Vf.). 76   Die Begriffsbildung wird klarer unter Verweis auf Kants Kritik der Urteilskraft, wo es heißt, Ideal bedeute „die Vorstellung eines Einzelnen als einer Idee adäquaten Wesens“ (AA V, 232). 77   Wenn Peter einen Baum gepflanzt hat, dann kann das nicht bedeuten, dass nach vollendeter Tat dieser Baum auf der immer selben Entwicklungsstufe stehen bliebe. Sondern er wird sich in derselben Weise weiterentwickeln, wie wenn er natürlich an dieser Stelle bis zu dieser Entwicklungsstufe gewachsen wäre.

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welche erst dadurch, dass etwas Gegenstand der Finalursache ist, zustande kommt. Sie muss sich demnach unterscheiden von der gewöhnlichen Bestimmtheit, die jedes Einzelding und jedes individuelle Ereignis als solches hat. In welcher Hinsicht ist nun etwas erst dadurch bestimmt, dass es als Ziel zustande kommt? Die Antwort muss offenbar lauten: dadurch, dass es als Verwirklichung eines Ziels – und nicht auf andere Weise – entstanden ist. Dann allerdings wird auch verständlich, inwiefern eine solche Sache nicht nur zustande, sondern auch zum Stehen kommt. Denn als Ziel, d. h. genau gesprochen: als Gehalt einer Zielsetzung hat es bereits eine Bestimmung, ehe es in Form seiner Verwirklichung zustande kommt – eine Bestimmung gar im doppelten Sinn von ‚Widmung‘ und ‚Festlegung‘. Der ideelle, nichtsinnliche Inhalt der Zielvorstellung ist die Bestimmung dessen, das dann, wenn das Ziel verwirklicht ist, als solches dem Ziel entsprechend bestimmt ist. Eben dadurch erhalten Gegenstände als Produkte von Handlungen eine ganz andere Bestimmung als bloße Naturprodukte. Was sie auszeichnet, nämlich verwirklichte Ziele zu sein, behalten sie auch über den bloßen Moment ihrer Verwirklichung hinaus bei.78 Dem entspricht, dass in der Ex-ante-Perspektive die Ziele des Akteurs über das Ende seiner Handlung hinaus Bestand haben sollen. Dies bedeutet auch, dass Handlungsziele nicht sofort, von dem Zeitpunkt an, in dem sie erreicht werden, wieder erlöschen sollen. Sondern Ziele sollen eine beständige Veränderung in der Welt erreichen und in diesem Sinne stehen bleiben. Das Handlungsziel und Ende können nicht lediglich in dem diskreten Punkt einer Zeitgrenze von Handlungen bestehen, vor denen eine je Handlung stattfindet und nach der sie eben zu Ende ist. Das Erreichen des Ziels kann kein bloßes Ereignis sein, das abläuft und erlischt. Sonst würden Ziele je nur als noch nicht verwirklichte, d. h. als bloße Vorhaben des Akteurs bestehen, während sie in ihrer Verwirklichung nicht über den Verwirklichungsaugenblick hinaus Dauer hätten. In der Verwirklichung von Zielen berühren sich demnach die ideale Perspektive der Zielsetzungen (dessen, das sein soll) mit der realen Tatsachenwelt (dessen, das ist). Schellings zunächst dunkler Bemerkung, dass durch die Verwirklichung von Zielen nicht nur etwas zustande, sondern 78   In dieser Hinsicht ist der gepflanzte Baum eben immer als gepflanzter ausgezeichnet; und diesen Status behält er auch über seine weitere tatsächliche Entwicklung hinweg bei. Wer den Baum gepflanzt hat, hat diesen Baum als beständiges Produkt seines Tuns in die sich beständig wandelnde Welt gesetzt. Den Status, dass dieser Baum durch den Akteur gepflanzt worden ist, wird der Baum auch in Jahrzehnten weiteren Wachstums nicht wieder verlieren; der Akteur wird entsprechend diesen Baum immer als durch ihn gepflanzt bestimmen – und der Vergleichsbaum, der natürlich gewachsen ist, wird diesen Status niemals erhalten.

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auch zum Stehen kommt, lässt sich so ein weitreichender Sinn unterlegen: In der Ex-ante-Perspektive des Akteurs auf sein Handeln ist das Ziel als das ideelle Muster eines erwünschten zukünftigen Sachverhalts der beständige Ausrichtungspol seines Handelns; dasjenige, an dem er sein Handeln orientiert, indem er es auf es hinsteuert. Es ist mit Schelling der feste Bezugspol des auf ihn zulaufenden Prozesses seines Handelns. Schon für den Zusammenhalt der Schöpfung galt daher: „Kein Wirken ist ohne einen Punkt, von dem es aus- und nach dem es hingeht“ (SW VIII, 225). Von diesem Ziel und Ende wird sich sein Handeln dereinst als erfolgreich oder vergeblich qualifizieren lassen. Entscheidend ist, dass dieser Bezugspol auch über den Abschluss der Handlung hinaus bestehen bleiben soll. Er ist das, was nach vollbrachtem Tun bleiben soll. Das Erfolgreichsein der erfolgreichen Handlung soll bestehen bleiben, auch wenn diejenige Tatsache, in der der Erfolg sich verwirklicht, augenblicklich wieder erlischt.79 Und eben dies ist der bedeutungsvolle Aspekt an Handlungen, der auch ex-post, in der Perspektive auf vergangene Handlungen bestehen bleibt: die Ziele vergangener Handlungen bilden, so lässt sich Schellings Idee des Stehenbleibens dessen, das ein Ende ist, ausführen, ex-post die biographischen Orientierungspunkte und die historischen Gliederungsebenen individuellen und kollektiven Handelns. Historische Prozesse und personale Entwicklungen werden ex-post nur verständlich in Licht der sie einst motivierenden und leitenden Ziele ihrer Akteure. Diese Ziele verknüpfen eine heterogene, komplexe Abfolge körperlicher Aktivitäten zur beständigen Einheit einer Handlung.80 Hierdurch unterscheiden sich Handlungen ex-post auch entscheidend von bloßen Naturereignissen, die faktisch von je späteren Ereignissen abgelöst und überformt werden und die nur in der Hinsicht bestehen bleiben, dass sie kausale Bedingungen für spätere Ereignisse darstellen und gelegentlich ihre Folgen über längere Zeit sichtbar sind. Der Un  Zu Illustration: Das Ziel des Akteurs, den 100-Meter-Lauf zu gewinnen, wird in dem Augenblick verwirklicht, in dem der Akteur als erster die Ziellinie überquert. Diese Augenblickstatsache selbst hat keinen Bestand: eine Sekunde später befinden sich bereits alle hinter der Ziellinie. Dass der Akteur den Lauf gewonnen und damit sein Ziel verwirklicht hat, bleibt aber darüber hinaus bestehen. Und eben dies war auch ex-ante so gewollt. 80   Wenn Peter durch den Garten seines Nachbarn schleicht, dann kann er den entwichenen Hasen seiner Kinder suchen oder die räumliche Situation mit Blick auf einen Einbruch in das Haus des Nachbarn ausspähen – je nachdem, welche Ziele er dabei verfolgt. Klar ist allerdings, dass der Unterschied dieser Ziele Peters Selbstverhältnis, sein Verhältnis zum Nachbarn und insbesondere das wechselseitige zukünftige nachbarliche Verhältnis prägen würde, wenn der Nachbar wüsste, was Peter dort triebe, auch wenn sonst nichts geschähe, d. h. Peter weder einen Hasen fände noch in das Haus einbräche. 79

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terschied zwischen einer Naturgeschichte und einer Humangeschichte besteht zentral darin, dass die Ereignisverläufe in der Geschichte des Menschen a priori in Sinneinheiten gegliedert sind, welche die durch Zielsetzungen formierten Handlungen bilden.81 Es ist demnach kein Widerspruch, dass die finale Struktur in Handlungen diese einerseits zum Abschluss und andererseits zum Stehen bringt, auch wenn das erste den Gedanken einer zeitlichen Grenze und das zweite das Moment zeitlicher Fortdauer beinhaltet. Denn bei vollendeten, d. h. erfolgreichen Handlungen besteht die Vollendung gerade darin, dass ihr Ziel verwirklicht werden konnte. In diesem Wirklichwerden liegt aber einerseits, dass der Prozess des Wirklichwerdens zugunsten des Wirklichseins des Verwirklichten zu Ende kommt; andererseits, dass dieses nun Wirkliche als solches (nämlich nicht lediglich als möglicherweise physikalisches Ereignis oder materieller Gegenstand, sondern als Produkt eines praktischen Verwirklichungsprozesses, kurz: als realisiertes Ziel) weiterbesteht. Was in verwirklichten Zielen zum Stehen kommt ist der seinerseits ideelle Status, der die Verwirklichung des Ziels selbst errichtet. Der Status, etwas erreicht oder verfehlt zu haben, ist, wie Schelling sagt, dann das Sigel (vgl. SW XII, 112), das die beständige biographische Prägung des Menschen durch sein eigenes Handeln ausdrückt. Schellings spekulative Erwägung, dass etwas zustande Bringen etwas ‚zum Stehen Bringen‘ bedeute, beinhaltet, dass auf bestimmte Art im hervorbringenden Handeln der Verlauf der Welt partiell zum Stillstand kommt. Aus der Perspektive des Akteurs auf sein eigenes Tun wird dies verständlich: denn wer ein Ziel im Handeln zu verwirklichen versucht, der arrangiert die sich ständig verändernde Wirklichkeit so, dass zuletzt sein in diesem Wechsel beständiges Ziel ein Teil dieser Wirklichkeit wird, und über den Zeitpunkt der Zielverwirklichung hinaus bleibt. Damit sind eine Reihe handlungstheoretischer Momente entfaltet, die das schon in der Explikation der teleologischen Momente des Handelns Gottes bei Schelling angelegte teleologische Handlungskonzept weiterführen und präzisieren. Ihre systematische Eigenheit lässt sich noch ge  Vgl. zum Zusammenhang von Handlungsstruktur und Geschichte auch Gerber 2012, die ebenfalls betont, dass historische Erklärungen sich wesentlich auf die Intentionen ihrer Akteure beziehen (172), und dass nur Handlungen eine Geschichte haben und eine Geschichte hervorbringen können. Gerber nennt hierfür zwei Merkmale, die nur Handlungen und nicht Naturereignisse haben: sie sind „mit intentionalen Fähigkeiten verbunden und besitzen […] das Merkmal einer kausalen Wirksamkeit, die nicht unbeabsichtigt ist, [d. h.,] im Zusammenhang mit den intentionalen Fähigkeiten steht“ (190 f.). Hier ist mit Schelling das Stehen-Bleiben des Ziels hinzuzufügen, das ex-post das Antlitz der Welt als Sinngefüge vergangener Handlungen sichtbar werden lässt. 81

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nauer konturieren, wenn man sie im Kontrast zur mechanistischen oder kausalistischen Handlungsauffassung setzt, die für Schelling wie für die Gegenwart das zentrale Konkurrenzmodell zur teleologischen Auffassung bildet. Daher ist auch zu sehen, wie sich die nun explizierten Momente der Handlungsteleologie mit den in Kapitel 2 anhand von Schellings Erörterungen zur Handlung Gottes explizierten Momenten zu einer Gesamttheorie zielgerichteter Handlungen bei Schelling verbindet. 5) Gegen die kausalistische Handlungsauffassung. Zur Verortung der Handlungstheorie Schellings Nach einer kausalen Auffassung von Handlungen, die es nun im Kontrast zu Schellings Auffassung zu skizzieren gilt, ist der Anfang eines Prozesses wie einer Handlung stets ein momentanes Ereignis, das diesen Prozess verursacht, und der weitere Ablauf wäre die kausale Folge dieses Ursachenereignisses (der causa efficiens oder Wirkursache); das Ende einer so verstandenen Handlung bestünde dann wiederum in einem Ereignis, welches lediglich die Sequenz der bisherigen kausalen Folge zeitlich abschlösse. Verschärft man dieses Modell um die Annahme, dass alle Ursachen und Wirkungen in einem gesetzlichen Zusammenhang stehen, so erhält man eine mechanistische Auffassung von Handlungen, gemäß welcher Handlungen als Wirkungen aus ihren Ursachen ableitbar sind.82 Dass Schelling eine solche mechanistische Auffassung von Handlungen nicht verfolgt, ist schon dadurch klar, dass er den Mechanismus als alleinige Erklärung selbst für Naturgeschehnisse ablehnt. Seine hiergegen immer vertretende Auffassung war die, dass die Natur aus dem Konzept eines lebenden Organismus heraus verstanden werden müsse, welcher „früher […] als der Mechanismus“ (AA I,6, 69/SW II, 349) und eine Voraussetzung desselben sei. Doch ist die Ablehnung der mechanistischen Auffassung bei Schel  Schellings Gebrauch des Ausdrucks ‚Mechanismus‘ rührt von Jacobi her und meint genau den kausalen Determinismus der Erscheinungswelt, den Kant vertreten hat (hierzu: Horstmann 2004, 96 ff.). Alternative Theorien, wie etwa Davidsons anomaler Monismus, negieren zwar eine solche gesetzesmäßige Verbindung in Handlungen, verstehen deren Ursächlichkeit aber dennoch nach dem kontrafaktischen Modell der Kausalität, nach welchem all das Ursache a eines Ereignisses b ist, für das gemäß der Humeschen Formel gilt: „wenn der erste Gegenstand nicht bestanden hätte, [wäre] der zweite nie ins Dasein getreten“ (Hume 1984, 93; zu kontrafaktischen Kausalmodellen Hüttemann 2013, 99–118). 82

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ling nicht lediglich der generellen Ablehnung eines kausal-deterministischen Alleinerklärungsprinzips geschuldet. Sondern es gibt für sie auch spezifische handlungstheoretische Argumente, die für ein kausales, aber nicht mechanistisches Erklärungsmodell von Handlungen gleichermaßen gelten. Denn eine lediglich von der causa efficiens ausgehende Auffassung von Handlungen hat drei wesentliche Defizite hinsichtlich ihrer zeitlichen Bezugspunkte von Beginn, Verlauf und Ende von Handlungen, die Schellings integrative Auffassung von Handlungen als Einheiten von Anfang, Mittel und Ende (= Ziel) nicht besitzt: 1) verlagert sie das entscheidende Erklärungsmoment, nämlich das Auslösungsereignis, auf einen Zeitpunkt, der bereits vergangen ist, wenn die Handlung beginnt.83 Dies gilt für physikalistische Positionen, welche die kausalen Anfangsbedingungen für Handlungen in den Gehirnzuständen des Akteurs sehen, ebenso wie für mentalistische (humeanische) Auffassungen, welche die Überzeugungen und Wünsche des Akteurs für die Ursachen seines Tuns erachten. 2) kann sie dadurch das zentrale Handlungsmoment nicht erklären, dass der Handelnde seine Handlung steuert, was beinhaltet, dass der Akteur nicht nur zu Beginn seine Handlung in Gang setzt, sondern dass auch die Fortführung der Handlung nach Maßgabe dieser ursprünglichen Entscheidung geschieht.84 Damit verbunden ist auch, dass durch die Ansicht, der Anfang einer Handlung sei lediglich ein nach diesem zeitliche Anfang schon wieder erloschenes Ereignis, nicht verständlich werden kann, dass der Akteur seine Handlung als ein sinnvolles Geschehen unter der fortwährenden Bedeutung der ursprünglichen Sinnstiftung des Entschlusses sieht.85 Menschliche Handlungen bestehen darin, dass die im Entschluss zu ihnen gegebene Sinnstiftung erhalten bleibt und nur im Ausnahmefall darin, dass ein Akteur sich selbst im Anfang der Handlung in einen Zustand bringt, dessen bloße kausale Folgen dann die Handlung bilden.86 3) kann eine solche Auffassung das eigentlich tele  Dies ist der berechtigte Haupteinwand, den H. Frankfurt gegen die kausalen Handlungstheorien vorgebracht hat (vgl. Frankfurt 2002, 66). Auf ihn basiert auch das notorische Problem der abweichenden Kausalverläufe, nach dem es sein kann, dass ein Wunsch kontrafaktisch ein Ereignis auslöst und dieses auch dem Wunsch entspricht, aber dennoch keine Handlung vorliegt (hierzu z. B. Horst 2012, 79), weil der Wunsch das Ereignis auf eine atypische und ungesteuerte Weise verursacht. 84   Dieses Moment der Handlungslenkung hatte sich bereits in der Schöpfung in der Zuführung der Gesamthandlung auf ihr Gesamtziel der Vollendung gezeigt. 85   Vgl. Rohs 1980, 42: dass eine „Handlung in allen ihren Phasen durch dasselbe Motiv, dieselbe Intention, denselben Zweck bestimmt sein [kann,] ist eine sehr wesentliche Bedingung [für Handlungen]; auf ihr beruht, was man Willen nennt“. 86   Ein solcher Fall wäre wohl Fallschirmspringen. Wenn man Fallschirmspringen als Handlung gelten lässt, dann ist es hier so, dass es mit dem Absprung einen klaren kausa83

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ologische Moment von Handlungen, nämlich, dass diese einem als Ziel verstandenen und daher inhaltlich präfigurierten Ende entgegensteuern, nicht verständlich machen. Wenn das Ende die Handlung lediglich abschließt und nicht vollendet, dann ist darin der Zusammenhang zwischen dem Handlungsvollzug und dem Handlungsziel, das sich im Moment der Zielführung zeigt, abgeschnitten. All diese Schwierigkeiten sind in Schellings teleologischer Handlungstheorie nicht gegeben. Indem Schelling Handlungen nicht nach dem Muster bloß zeitlicher Folge von Beginn, Verlauf und Abschluss, sondern unter Sicht auf ihre inneren Bezüge des Anfangs, Mittels und Ziels konzipiert, deckt er deren intrinsischen ziellogischen Strukturen auf, welche Sinn und Einheit der Handlung stiften und sich zuletzt dennoch zeitlich deuten lassen. In ihnen bleibt 1) der Anfang über die zeitliche Dauer der Handlung hinaus erhalten, indem 2) das Ziel als Ideal invariant den Sinn der Handlung stiftet und ihre inhaltliche Bedeutung festlegt. Und 3) kann, wie gesehen, die Wechselbezüglichkeit von Anfang und Ende bei Schelling erklären, inwiefern das Ziel des Akteurs sein auf es ausgerichtetes Tun auf sich zu – ja im gewünschten Zustandekommen seiner Verwirklichung gar über sich hinaus – zieht. Diese Elemente hatten sich in der Schöpfungshandlung bereits als Momente des Beabsichtigens, Ziel-Setzens und Wissens in Handlungen erwiesen. Insbesondere hatten sich die Dimensionen der Absicht Gottes bereits als solche erwiesen, die entsprechend den allgemeinen Ausführungen zu Anfang, Mittel und Ende von Handlungen sich wissend und sehend auf eben diese drei Dimensionen des Vorhabens, der Durchführung und des Resultates der Schöpfung bezogen hatten. Ehe wir ergänzend nun zur Frage nach der grundsätzlichen Verbindung von Handlungstheorie und Moraltheorie bei Schelling übergehen (Abs. 6) und zuletzt die Bedeutung der rekonstruierten Handlungstheorie für den Zusammenhang des Gesamtprogramms der Spätphilosophie belen Anfang und mit der Flugphase eine klare kausale Folge gibt, die man dann zusammen als die Handlung des Fallschirmspringens auffassen kann. Aber auch hier ist fraglich, ob nicht die Übernahme des Sinnmusters des Anfangs eine Bedingung dafür ist, dass der Vollzug überhaupt noch als Handlung gilt: Nehmen wir an, der Fallschirmspringer bereut während der Flugphase, dass er abgesprungen ist. D. h., er gibt in diesem Fall sein ursprüngliches Ziel, Fallschirm zu springen im Sinne einer eigenen Handlung, auf. Dann ist er für die Phase des Falls nicht mehr Akteur, sondern nur noch Oper seiner ursprünglichen Handlung, obwohl sich dadurch an den kausalen Verhältnissen im Vergleich zu demjenigen, der dem Flug als seinem Tun zustimmt und ihn als seine eigene Handlung auffasst, nichts ändert.

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trachten (Kapitel 8), gilt es, den wesentlichen Grundzug der Handlungstheorie Schellings zum Abschluss der Untersuchungen zu den spezifisch handlungstheoretischen Momenten der praktischen Perspektive Schelling zu benennen. Auf eine Kurzformel gebracht, ist Schellings Auffassung vom Handeln libertarisch, teleologisch und voluntaristisch zugleich. Sie ist libertarisch schon insofern Schellings gesamte Philosophie als eine Entfaltung des Freiheitsbegriffs angesehen werden kann, der dann im Handeln eine zentrale Rolle spielt. Konkret ist sie libertarisch in Konkurrenz zu deterministischen Systemen der Notwendigkeit. Das Grundmoment der Freiheit im Handeln bei Schelling betrifft seine metaphysische Selbstkonstitution als Wesen und die Verbindung der daraus resultierenden Handlungen – verbunden in der Spätphilosophie mit einer zunehmenden Selbstmacht gegen die Vorprägungen auch des eigenen Selbst. Sie ist teleologisch im hier dargelegten Sinn in Kontrast zu mechanistischen und kausalistischen Auffassungen, was positiv beinhaltet, das Handlungen notwendig auf Ziele bezogen sind und dieser Zielbezug auch hinreicht, die Eigenart und Funktionsweise von Handlungen zu klären. Schellings Handlungstheorie ist zudem voluntaristisch, insofern ihre metaphysische Grundlage in der als Willensgefüge interpretierbaren Potenzenveranlagung des Geistes zu sehen ist, welche auch zu erklären vermag, weshalb es überhaupt zum Handeln kommt. Darin, diese voluntaristische Seite ihrerseits als hinreichend für diese Frage anzusehen, steht sie insbesondere in Kontrast zu rationalen Handlungstheorien, welche Abwägungsprozesse insbesondere hinsichtlich der instrumentellen Wahl der Handlungsmittel, die Gewichtung von Gründen in der Wahl der Handlungsziele und die Ableitung einzelner Handlungen aus allgemeinen Prinzipien als unverzichtbare Elemente von Handlungen ansehen. 87 Zugleich setzt sie sich hierdurch von empiristischen und materialistischen Theorien ab, welche die Handlungsmotivation in Gefühlen, Wünschen und physischen Bedürfnissen von Personen gegründet sehen. Schellings voluntaristische, teleologische und libertarische Hand  Es ist beachtlich, dass in Schellings hier nachgezeichneter Handlungsauffassung die gesamte Dimension des Diskursiven fehlt. Bei ihm ist Handeln nicht primär ‚Verhalten aus Gründen‘, wie es die Standartdefinition der modernen analytischen Handlungstheorie will, und auch kein „Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d.i. nach Prinzipien zu handeln“ (Kant AA IV, 412), wie es der Kantischen Tradition entspräche. Das heißt, die Vorrangigkeit des Praktischen gegenüber dem Theoretischen bei Schelling zeigt sich auch darin, dass Schelling das Handeln selbst nicht wieder auf theoretische Einsichten (der instrumentellen Vernunft) oder rationale Verfahren des Abwägens in Entscheidungsprozessen gegründet sehen will. 87

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lungsauffassung erklärt hiergegen das Dass und Wie des Zustandekommens von Handlungen aus der Willensstellung der Potenzen, welche sich in Absichtsbeziehungen auf Ziele hin entäußern. 6) Zu Schellings Moralphilosophie Schelling hat keine eigenständige materiale Ethik verfasst, d. h. keine Ethik, die inhaltliche Anweisungen zum moralischen, gerechten, wertvollen, tugendhaften oder glücklichen Leben systematisch entwickelt enthielte. Er war der einzige unter den Großen des Deutschen Idealismus, von dem er keine Schrift gibt, die sich explizit der Moral, Ethik und Sittlichkeit widmete. 88 Dies hat seinen Grund darin, das Schelling zumindest in der ersten Phase seines Philosophierens einerseits Kants Ethik des Kategorischen Imperativs für im Grunde zutreffend, wenn auch für zu formalistisch hielt, weshalb für ihn keine Notwendigkeit bestand, eine eigenständige Ethik auszuarbeiten. Sein systematisches Interesse in moralischer Hinsicht galt daher nicht der Ausarbeitung einer Ethik, sondern der Begründung einer solchen Ethik und des Nachweises ihrer Stellung innerhalb des jeweiligen systematischen Ganzen und insbesondere – ab etwa 1804 – ihrer Stellung zur Religion. Hier hat sich Schelling deutlich von Kants Ethikotheologie, in der Gott aus Sicht Schellings zum bloßen Postulat der praktischen Vernunft geworden war, distanziert und zugleich eigenständige Konzepte zur Grundlegung der Ethik ausgearbeitet. Hierfür lassen sich zwei zeitlich weit auseinanderliegende Erörterungen Schellings namhaft machen, die beide zwar mit weitreichenden Konsequenzen verbunden sind, vom Status ihrer Ausarbeitung her jedoch beide eher fragmentarischen Charakter haben. Es ist dies einerseits die bereits im Kapitel zur Freiheit des Menschen besprochene Freiheit zum Guten und Bösen von 1809 und andererseits die im Zusammenhang mit der Entwicklung der Potenzenlehre in der Spätphilosophie verfolgte Idee, dass die dritte, vollendende Potenz, die causa finalis, die Sein-Sollende sei – womit der zentrale Begriff deontischer Ethiken, deren Prototyp wiederum in Kants Ethik besteht, in einer letzten ontologischen Basis etabliert werden soll. Hierbei ist für die gegebene Untersuchung die Frage von Interesse, inwiefern Schelling mittels des Begriffs des Sein-Sollenden als Charakterisierung der causa finalis, deren zentrale handlungs-

  Entsprechende Einschätzungen finden sich bei Knatz 2005, 265 und Sandkühler 2005, 156. 88

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theoretische Funktion sich im Zweck- und Zielbegriff erwiesen hatte, eine Grundlegung der Ethik gelingt. Diese Frage wird zwei Antworten finden: innerhalb der expliziten Fragestellung dieses Kapitels, das die menschlichen Individualhandlungen zum Gegenstand hat, wird eine solche Grundlegung nicht gelingen: hier gilt es vorderhand zu zeigen, welches Verhältnis Schelling zur (paradigmatisch deontischen) Ethik Kants hatte (i) und weshalb eine Ableitung eines moralischen Sollens allein aus dem teleologischen Handlungskonzept nicht erfolgreich sein kann (ii). Dies bereitet allerdings bereits die zweite Antwort vor, nach welcher eine Grundlegung der Ethik nur innerhalb des Gesamtkonzepts der positiven, geschichtlichen Philosophie gelingen kann, in welcher die causa finalis im Handeln Gottes und damit verbunden im finalen Ablauf des geschichtlichen Prozesses sich zugleich als das Sein-Sollende für den Menschen erweist (iii). Dies wird zugleich zum letzten Kapitel dieser Untersuchung überleiten, welches die Bedeutung der Handlungstheorie für den Gesamtzusammenhang der Spätphilosophie Schellings, und insbesondere des Aspekts des Positiven in ihr, beleuchten wird. Für das systematische Interesse der vorliegenden Untersuchung steht dabei je die Frage im Mittelpunkt, worin der genaue Zusammenhang zwischen der Potenz des Sein-Sollenden und den handlungstheoretischen Momenten des Zweckbegriffs bestehen soll. i) Schellings Verhältnis zur Ethik Kants Dass Schelling zumindest im ersten Jahrzehnt seines philosophischen Schaffens der Kantischen Ethik affirmativ gegenüberstand, bedeutet nicht, dass Schelling die Kantische Ethik schlicht übernommen hätte. Im Gegenteil hat er einerseits Kants differenzierte Ethik des Kategorischen Imperativs dramatisch auf wenige Hauptpunkte verkürzt und sich andererseits von wesentlichen Aspekten derselben immer wieder deutlich distanziert. Verkürzt hat Schelling Kants Ethik schon dadurch, dass er dessen vielgestaltige Ausführung auf den Grundgedanken des Universalisierungsprinzips reduzierte und für die von Kant als gleichursprünglich angesetzten Gedanken der Autonomie, Selbstgesetzgebung, des Menschen als Selbstzwecks usw. eher marginal behandelt hat. Frühe Formulierungen Schellings zeigen, dass er von Kant in der Hauptsache dessen Prinzip der Universalisierung übernommen hatte, nach welchem „der individuelle Wille mit dem allgemeinen identisch“ (AA I,3, 150/SW I, 257) sein solle, bzw. „das absolute Ich […] schlechthin fordert, dass das endliche

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Ich ihm gleich werde“ (AA I,2, 125/SW I, 198). Im System von 1800 soll dann eine systematische Begründung des Kategorischen Imperativs in ausdrücklicher Referenz auf Kant stattfinden: „das Sittengesetz wird […] deduziert als Bedingung des Selbstbewusstseins“ (AA I,9.1, 272/SW III, 574), heißt es dort. Der Kategorische Imperativ wird daher verstanden als „das Subjektive, auf die Gesetzmäßigkeit an sich Gerichtete, als absoluter Wille“ (AA I,9.1, 333/SW III, 633); inhaltlich fasst Schelling Kant hier dergestalt zusammen, dass dieser den Kategorischen Imperativ folgendermaßen formuliert habe: „du sollst nur wollen, was alle Intelligenzen wollen können“ (AA I,9.1, 272/SW III, 574). Im System von 1800 hält es Schelling noch für eine Stärke des Sittengesetzes, dass dessen Universalisierungsforderung nicht nur inhaltlich eine überindividuelle Perspektive etabliert, sondern auch systematisch der überindividuellen, intelligiblen Seite des Menschen entspricht: „Dieses Gesetz wendet sich ursprünglich nicht an mich, insofern ich diese bestimmte Intelligenz bin – es schlägt vielmehr alles nieder, was zur Individualität gehört, und vernichtet sie völlig – sondern es wendet sich vielmehr an mich als Intelligenz überhaupt“ (ebd.). Analog zur Kantischen Ethik stellt Schelling dieser Vernunftforderung den empirischen (egoistischen) menschlichen Naturtrieb zur Glückseligkeit (AA I,9.1, 273 f./ SW III, 575) gegenüber und etabliert mit der Willkür entsprechend Kants später Konzeption in der Religionsschrift 89 eine beiden Seiten gegenüber offene Position der Entscheidung für oder wider Alterität oder Egoität, Universalismus oder Partikularismus (vgl. AA I,9.1, 275/SW III, 576). Es ist diese Denkfigur, welcher in der Freiheitsschrift die ewige Entscheidung als Charakterveranlagung zum Guten oder Bösen entspricht. Auch hier ist noch der Grundgedanke des Kategorischen Imperativs in Schellings Lesart enthalten, nach welchem das Gute darin liege, „alles zu universalisieren“ (AA I,17, 149/SW VII, 381). Mit der Ausarbeitung des neuen Konzepts von Personalität als der Verbindung von Grund und Existierendem in der Freiheitsschrift ändert sich jedoch Schellings Einstellung zur Formalität des Kategorischen Imperativs entscheidend. Statt des formalen Gesetzescharakters, der Handlungen eines bestimmten Motivationstyps gebietet, geht es Schelling nun um die dauerhafte Charakterdisposition von Personen zum Guten oder Bösen. Die Universalisierung ist dabei nicht mehr eine formale Regelvorschrift möglicher Verallgemeinerungsfähigkeit individueller Maximen, sondern eine grundsätzliche Persönlichkeitsprägung in der Grundausrichtung des Strebens einer Person zum Guten oder Bösen, das seine on  Vgl. Kant AA VI, 23 f.

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tologische Disposition aus der Dominanz-Konstellation der seine Person insgesamt prägenden Verhältnisse von (individualisierendem) Grund und (universalisierendem) Existierenden hat. Von dieser Position her wird verständlich, weshalb Schelling schon im sogenannten Würzburger System von 1804 mit ungewöhnlich scharfer Polemik vorbringt, dass es „der größt mögliche Wahn [sei,] alles unter ein Gesetz beugen zu wollen und die Mannigfaltigkeit der göttlichen Schöpfung […] unter eine Formel zwingen zu wollen, Sittengesetz genannt“ (SW VI, 548). Ein zweites, damit zusammenhängendes Motiv der Distanzierung Schellings von der Kantischen Ethik liegt in deren Verhältnis zur Religion. Hier besteht der zentrale Punkt darin, dass Kants Ethikotheologie Gott der Moralität systematisch nachordnet. So ist Gott für Kant einerseits (in theoretischer Perspektive) eine kosmologische Vernunftidee, andererseits ein praktisches Postulat. Für Schelling zeigt sich darin nicht nur der vielfach beklagte Mangel der Kantischen Philosophie, theoretische und praktische Vernunft nicht zur Einheit bringen zu können. Nachdem Kant, so Schelling 1803, „in der theoretischen Philosophie die Idee Gottes, der Ewigkeit, der Seele usw. zu bloßen Ideen gemacht hatte, [habe er versucht] diesen [Ideen] dagegen in der sittlichen Gesinnung eine Art von Beglaubigung zu geben“ (SW V, 276). Für Schelling hingegen nimmt Gott ab 1804 die zentrale Position des Absoluten ein und wird von 1809 an explizit als Person verstanden. Diese Person lässt sich dann auch nicht mehr lediglich als Gewährsmann eines abstrakten Gesetzes verstehen. Sehr deutlich formuliert Schelling seine von da an beibehaltene Position bereits in Philosophie und Religion (1804): Die Realität Gottes ist nicht eine Forderung, die erst gemacht wird durch die Sittlichkeit, sondern nur, [derjenige,] der Gott […] erkennt, ist erst wahrhaft sittlich. Nicht als ob die sittlichen Gebote dann auf Gott als Gesetzgeber bezogen und darum erfüllt werden sollten, […] sondern, weil das Wesen Gottes und das der Sittlichkeit Ein Wesen ist […]. Es ist überhaupt erst eine sittliche Welt, wenn Gott ist, und diesen sein zu lassen, damit eine sittliche Welt sei, ist nur durch vollkommene Umkehrung der wahren und notwendigen Verhältnisse möglich (SW VI, 53).

Demnach vollzieht Schelling in den Jahren bis 1809 eine zusammenhängende doppelte Absetzung von Kantischen Vorgaben. Gegen die Abstraktheit der Vernunftidee Gottes und gegen die Abstraktheit des Moralgesetzes. Beides wird ersetzt auf der Basis des neu geschaffenen Modells der Persönlichkeit sowohl Gottes als auch des Menschen, in dessen Relationen (je zu sich selbst und zum je anderen) als persönlichen

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Verhältnissen sich zuletzt Moral realisiert; in der Freiheitsschrift war dies, wie gesehen, die charakterstiftende Urtat des Menschen, in welcher dieser seine innere Grundstellung zum Guten und Bösen in einem Akt ursprünglicher Freiheit festlegte. ii) Eine Ethik des Sein-Sollens? Wie aber ist hierbei die Bezeichnung der dritten Potenz als einer Sein-Sollenden, wie Schelling sie in seiner Spätphilosophie wiederholt nennt (z. B. SW X, 248; XII, 110 ff.; XIII, 202), zu verorten? Dies legt einen Zusammenhang nahe, der nicht nur handlungs- und moraltheoretisch hochbedeutsam wäre, sondern der auch innerhalb des Schellingschen Systems zumindest der Spätphilosophie zentrales Gewicht hätte: dass mit der dritten Potenz als causa finalis und Sein-Sollender Ziel und Sollen in Handlungen ontologisch strukturgleich seien oder zumindest eine gemeinsame ontologische Basis besäßen. Liese sich dies nachweisen, so würde sich damit nicht nur zeigen lassen, weshalb Handlungen überhaupt moralisch erheblich sein sollen (weil zielgerichtete Handlungen unter präskriptiven Forderungen des Sollens stehen), sondern auch, weshalb eine finalistische Weltordnung zum moralisch Guten hin gerichtet sein muss und weshalb zuletzt umgekehrt unter einer solchen sittlich-ontologischen Ausrichtung Handlungen zielgerichtet sein müssen. Es wäre damit ein gewichtiger metaethischer Zusammenhang zur Begründung einer Sollens-Ethik überhaupt aufgewiesen. Allerdings führt Schelling den Gedanken, welcher der Bezeichnung der dritten Potenz als Sein-Sollender zu Grunde liegt, nicht dahingehend aus, dass sichtbar würde, er selbst verfolge mit diesem Begriff eine systematische Grundlegung der Ethik – vergleichbar in etwa mit den Ansprüchen der Freiheitsschrift und ihrer Neuverortung des Guten und Bösen; Schellings Ausführungen zum Sein-Sollenden bleiben skizzenhaft. Andererseits zeigen die Stellen, an denen Schelling die dritte Potenz als Sein-Sollende benennt, dass der Ziel-Sollen-Zusammenhang bei ihm außerordentlich eng angelegt ist. So gilt einerseits für jeden Prozess, dass „das Sein-Sollende die End-Ursache, die causa finalis des Prozesses“ (SW XIII, 279) sei. Entsprechend ist „die dritte Potenz gesetzt als das, was […] sein soll, dem es gebührt zu sein“ (SW XII, 82). Explizit spricht Schelling nicht nur den Gedanken eines sachlichen Zusammenhangs zwischen Ziel und Sollen, sondern gar ihre begriffliche Gleichsetzung aus: Die dritte Potenz ist „Ziel oder Ende, was ja dasselbe sagt wie das Sein Sollende“ (SW X, 248).

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Diese potenzenontologische Sicht wird ergänzt durch eine Perspektive auf Handlungen. Zwecke als Gegenstände des Wollens sind das, das „der Intention nach eigentlich sein soll“ (SW VIII, 224). Damit ist ein Strukturzusammenhang zwischen Ziel, Sein und Sollen bei Schelling zumindest hinsichtlich seiner Textbasis gesichert. Er kann demnach unter zweierlei Hinsichten untersucht werden: Prinzipienontologisch als Momente der dritten Potenz. Und handlungstheoretisch in Hinsicht auf einen genuinen Ziel-Sollens-Zusammenhang in Individualhandlungen. Betrachten wir zunächst die handlungstheoretische Seite. Hier ist allein durch die begriffliche Gleichsetzung von Sein-Sollen und Ziel ein sachlicher Zusammenhang noch nicht gegeben. Eine handlungstheoretische Fundierung des Sollens im Telos ist nicht schon dadurch erwiesen, dass, wie Schelling darlegt, Handlungen einerseits zielgerichtet, andererseits aufs Gute bezogen sind; zu zeigen wäre hier zudem, dass und wie ein innerer Zusammenhang zwischen Ziel und Sollen gegeben ist, der die begriffliche Gleichsetzung Schellings rechtfertigte, und worin dieser besteht. Zwar ist aus der Perspektive eines individuellen Akteurs der Zusammenhang von Ziel und Sollen phänomenal offenbar: Zwecke als Handlungsziele sind für den Akteur nicht neutral. Wer etwas zielgerichtet tut, dem liegt etwas an der Verwirklichung seines Ziels und in diesem Sinn soll für ihn das Ziel sein. Die Frage ist allerdings, woher der Wert dieser Verwirklichung eines Ziels für den Akteur rührt. Hier sind zwei Fälle zu unterscheiden: entweder er rührt vom Wert, den die Sache für den Akteur ohnehin besitzt, und auf Grund dessen er diese Sache verwirklicht haben möchte. Oder er rührt davon, dass der Akteur sich diese Sache zum Ziel gesetzt hat. Im ersten Fall liegt der Wert im Inhalt des Ziels, im zweiten Fall an seiner Form, Inhalt eines Ziels zu sein. Im ersten Fall geht die Begründungsrichtung vom Wert der Sache zum Zweck. Etwas ist in diesem Begründungszusammenhang noch nicht deswegen werthaft oder gut, weil es Zweck ist, sondern jemand setzt sich etwas zum Zweck, weil seine Verwirklichung begehrenswert für ihn ist. Dieser offensichtliche Zusammenhang des Werts eines Ziels für einen Akteur als Begründung dafür, dass er sich seine Verwirklichung als Ziel setzt, wurde historisch immer schon gesehen.90 Da jedoch auf diese Weise eine Wertsetzung bereits gegeben ist, ehe etwas in den praktischen Zusammenhang der Zielsetzung rückt, ist dieses Verhältnis von Wert und Ziel nicht geeignet für eine mögliche Grundlegung der Ethik aus dem 90   Vgl. z. B. Platon Georgias 468bc, nach welchem wir als Ziele immer etwas für uns Gutes wählen. Auch hier ist bereits das Problem gestellt, die aus der Sicht des Akteurs guten Ziele von objektiv Guten abzugrenzen.

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Ziel-Sollens-Zusammenhang; sie bliebe auf eine vorgängige Wert- oder Moraltheorie zurückverwiesen.91 Daher ist an dieser Stelle der zweite Fall der systematisch interessantere. Hier kommt ein umgekehrter Mechanismus zum Tragen, der sich bereits in der voluntativen Interpretation der Potenzen gezeigt hatte: Weil jemand etwas beabsichtigt, liegt ihm etwas daran. Oder noch schärfer: Es entsteht ein normativer Anspruch, das gesetzte Ziel auch zu verwirklichen, selbst wenn es für den Akteur an-sich keinen Wert hat. Dass etwas Bezwecktes sein soll, ist in diesem Fall nicht nur der Ausdruck dessen, dass die Verwirklichung dieser Sache ohnehin Wert für den Akteur hat, sondern auch dessen, dass der Akteur durch sein Ziel-Setzten dieser Sache einen besonderen Wert erst zueignet. Diese aktive Wert-Zueignung des Akteurs in der Entscheidung für eine Handlung führt zugleich dazu, dass das nun gesetzte Ziel als solches den Akteur auf seine Verwirklichung verpflichtet, d. h., dass durch die Zwecksetzung zugleich eine Verwirklichungsaufforderung an den Akteur ergeht. Kurz: jemand setzt sich einerseits etwas als praktisches Ziel, weil ihm an der Sache liegt; andererseits liegt ihm auch an der Verwirklichung der Sache, weil er sie sich als Ziel gesetzt hat. Die Widmung eines zukünftig möglichen Sachverhalts zum Ziel einer Handlung erzeugt nicht nur einen zusätzlichen Handlungswert hinsichtlich des Verwirklichens dieser Sache als Ziel, sondern sie bindet den Akteur in Form einer Selbstfestlegung an dieses Ziel gemäß der Formel: was ich im Handeln will, das soll durch dieses Handeln sein. Beide Fälle gehen für gewöhnlich eine so enge Verbindung im Handeln ein, dass im Ausdruck des Sollens nicht mehr kenntlich ist, dass sich hier eine doppelte Wertsetzung überlappt. Schelling hat diesen Punkt in seiner Theorie von den Folgen der bloßen Entzündung des Willens im Fassen einer Absicht dargelegt. Hier galt, dass diese Entzündung des Willens als das Fassen einer Absicht einer Potentialisierung des Willens in Form einer ontologischen Willenssteigerung entsprach, welche den Handelnden invers auf seine gesetzten Ziele verpflichtend festlegte. 92   In dieser bloß negativen und skizzenhaften Rekonstruktion zum Aufweis der Grenzen von Schellings gleichfalls skizzenhaften Ausführungen zum Sein-Sollenden bleiben die analytischen Unterschiede von Wertethiken, Moraltheorien (des Guten und Bösen) und deontischen, normativen Ethiken (des Sollens) zunächst unberücksichtigt. Sie lassen sich nach der Faustformel zusammenführen: Was wertvoll ist, ist für den Akteur zu erstreben gut und soll deswegen für ihn sein; umgekehrt gilt: es ist gut/wertvoll für den Akteur, der Norm (dem Sollen) zu folgen. Das eigentlich ethische Problem der objektiven Geltung, weshalb, was für mich gut/wertvoll/gesollt ist, auch für andere gut, wertvoll oder gesollt sein soll, ist hiermit noch gar nicht berührt. 92   Modern kehrt dieses Problem in der Form wieder, dass es gar eine rationale Forde91

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Nun fragt sich, ob durch diesen in Handlungen intrinsisch angelegten Werterzeugungs- und Selbstverpflichtungsmechanismus allein sich bereits eine Ethik begründen lässt. Mit Schelling muss die Antwort negativ ausfallen – und dies ist ebenso sachlich richtig. Denn im Ergebnis müsste eine solche Theorie einerseits eine interne Relation nachweisen, die rechtfertigte, dass die durch den Akteur gesetzten Ziele nicht nur für diesen notwendig als gewollte gegeben sind, sondern die auch rechtfertigte, dass sie durch dieses tatsächlich – und zwar unabhängig von dem vorgängigen Wertzusammenhang ihres sachlichen Inhalts – auch verwirklicht werden sollen. Hier wird aber sofort klar, dass dieser Zusammenhang objektiv nicht gegeben sein kann, da dies bedeuten würde, dass alle Ziele, die sich jemand setzt, selbst die verwerflichsten, bloß weil sie gesetzt sind, auch objektiv verwirklicht sein sollen. Die Spannung zwischen den beliebigen individuellen Zielen und einer Ethik, die nur bestimmte, aber nicht beliebige Ziele als moralisch akzeptabel ausweisen soll, muss in einer Theorie des Strukturzusammenhangs von Ziel und Sollen deutlich werden. Hier ist zunächst festzuhalten, dass Schelling den Unterschied zwischen einem je individuell für mich Guten und einem überindividuell an sich Guten, selbstverständlich sieht und benennt. Denn Schelling unterscheidet selbstverständlich zwischen beliebigen Zwecken, die jeder Akteur sich setzen kann und die dann lediglich als solche für ihn Gesollte sind und solchen, die an sich und für jeden Akteur, unabhängig von dessen individuellen Wertsetzungen, Absichten und Zielen Gesollte sind. Im Anlehnung an die Lehre von den hypothetischen Imperativen als Regeln der Geschicklichkeit, die geeigneten Mittel zu beliebigen Zwecken zu wählen, trägt Schelling vor, dass Klugheit sich „auch mit Zwecken, die an sich keine Zwecke sind“ (SW XIII, 202) vertrage.93 Hingegen bilden rung zu sein scheint, das je individuelle Ziel zu verfolgen: Weil beliebige Zwecke, als bloß gesetzte, Verwirklichungswert für den Akteur besitzen, scheint es auch vernünftig, ihre Verwirklichung mittels der Ausführung der Handlung zu erreichen versuchen; irrational hingegen, ein Ziel zu haben und es nicht zu erreichen zu versuchen, auch wenn es keine Gegengründe gibt. Das letztgenannte Phänomen wird in der modernen Handlungstheorie als bootstrapping bezeichnet und benennt ein zentrales Problem der Metaethik: Es besteht darin, dass auch offenbar verwerfliche Zwecke, wie die Absicht, eine Bank auszurauben, sind sie erst einmal gesetzt, objektiv, d. h., nicht nur für den Täter selbst, einen rationalen Verwirklichungswert zu bekommen scheinen, insofern allgemein gilt: Wer x will und x durch y erreichen kann, der soll y tun (hierzu: Halbig/Henning 2012). 93   Bei Kant sind diese Ratschläge der Klugheit solche, die sich auf den Zweck der eigenen Glückseligkeit beziehen und solche der Geschicklichkeit, die sich auf die Mittelwahl für beliebige Zwecke beziehen (Kant AA IV, 416). Dass Schelling hierin nicht differenziert, ist für den gegebenen Erörterungskontext unerheblich, insofern für beide auch der Bezug auf Glückseligkeit noch keine Moralität der Mittel begründet.

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sittliche, ‚löbliche‘ Zwecke „das wahre Ende, […] das eigentlich zuletzt oder in letzter Instanz sein Sollende“ (SW XIII, 202). Damit ist zunächst klar, dass mit Schelling keine Ethik aus der bloßen Zielstruktur von Individualhandlungen über das Ziel-Sollen etabliert werden kann, sondern dass hierfür die Frage, was denn ein „wahrer Zweck“ (ebd.) im Gegensatz zu unmoralischen und bloßen Individualzwecken seien, beantwortet werden müsse. Zugleich verweist Schellings Formulierung eines ‚in letzter Instand sein Sollenden‘ auf die kosmologische Dimension des Ganzen der Geschichte. Denn das ‚in letzter Instanz sein Sollende‘ ist Schellings Theogonie gerade die dritte Potenz in ihrer kosmologischen Vollendungsgestalt, d. h. Gott im Zustand der letzten Wiederbringung. Damit ist aber eine entscheidende Perspektivwende gegeben. Denn dies bedeutet, dass dieses wahre Ende zugleich den Inhalt des eigentlich sittlich Sein-Sollenden bestimmt – und dass die moralische Forderung an den Menschen, sein Handeln diesem Ziel gemäß auszurichten, einhergeht mit der intellektuellen Aufforderung, die teleologische Struktur der Geschichte als eine solche einzusehen, die von einem zwecksetzenden Wesen, das Einsicht in die höchsten Ziele hat, und dessen Vollendung selbst das höchste und letzte Ziel ist, erzeugt wurde – was nichts anderes als eine Beschreibung des Programms der positiven Philosophie ist. Und das bedeutet zugleich, dass der Ziel-Sollens-Zusammenhang im menschlichen Handeln in Hinsicht auf eine Grundlegung der Ethik in Schellings Spätphilosophie nur so rekonstruiert werden kann, dass die menschlichen Zwecke sich gemäß der göttlichen ausrichten sollen, wozu der Mensch Einsicht in die Weisheit der geschichtlichen Ordnung benötigt – was wiederum dem Inhalt der positiven Philosophie entspricht. Zugleich ergibt sich hieraus die existenzielle Aufforderung, sein Leben auf dieses in letzter Instanz Sein-Sollende auszurichten, was nichts anderes bedeutet, als dass der Mensch sein Leben aus der in ihm angelegten Grundachse seines ursprünglichen Gottesverhältnisses heraus vollziehen soll – was der Verfolgung eines existentiellen Bedürfnisses, seinem innersten und eigensten Wesen gemäß zu leben entspricht, womit zugleich die existentielle Motivation der positiven Philosophie benannt ist. Zuletzt beschreibt dies nichts anderes, als eine Entfaltung des ursprünglich religiösen Verhältnisses des gottsetzenden Bewusstseins in der Ausrichtung auf das letzte Ziel der Geschichte, der Wiederbringung einer geläuterten Offenbarung in Gott, was einer Ersetzung der Ethik durch Religion gleichkommt. Damit ist die eigentlich religiöse Ethik der Spätphilosophie Schellings benannt. Diese gilt es nun näher zu erläutern.

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iii) Die Unterordnung des Ethischen unter das Religiöse in der Spätphilosophie Es hat sich gezeigt: eine Rekonstruktion einer Grundlegung der Ethik Schellings im Begriff des Sein-Sollenden kann unter den ontologischen Voraussetzungen seiner Spätphilosophie nur im Horizont des Begriffs des Sein-Sollenden als der dritten Potenz in ihrer Vollendungsgestalt gelingen. Hierfür allerdings sind die Theorievoraussetzungen günstig. Denn ausdrücklich etabliert Schelling die Moralität schon auf der basalsten Ebene der Potenzen im modalen Raum der negativen Philosophie, gemäß der Formel: „Die ersten spekulativen Begriffe sind auch die ersten sittlichen“ (UF 39). Das heißt aber, dass, wenn wir Schelling hier beim Wort nehmen, die Moral nicht erst als Status der Vollendung in einem höchsten Gut am Ende eines ansonsten neutralen Weltprozesses aufleuchtet, und auch nicht erst in der Hinwendung des Menschen auf dieses Ende zu, sondern dass der gesamte Prozess, ja selbst die mit ihm verbundene Bewusstseinskonstitution, von dieser sittlichen Begrifflichkeit durchdrungen ist. Für die Schöpfungstat ließen sich als deren hierfür relevante Momente bereits benennen: Da die Schöpfung nicht nur Handlung, sondern sowohl auf der Basis der Liebe Gottes auch moralische Handlung ist, als auch auf der Basis der Weisheit und Voraussicht Gottes final ausgerichtet, ist die geschichtliche Erfahrungswelt (das Weltalter des Irdischen, innerhalb dessen menschliche Individualhandlungen sich vollziehen) teleologisch-moralisch, auf ein sukzessiv aufsteigendes Sinnmoment hin gefügt. Und eben diese teleologisch-moralische Fügung hat ihr potenzenontologisches Fundament darin, dass die dritte Potenz als Vollendungseinheit der Potenzen sowohl jene teleologische Ausrichtung ontologischer Intentionalität mit sich führt, die es berechtigt sein lässt, sie causa finalis zu nennen, als auch jenen Zielgehalt des Guten, um dessen willen das Ziel auch erreicht werden soll. Dies bedeutet nun aber so viel: Es ist nicht nur derselbe prozessual-dynamische Strukturzusammenhang des Absoluten, welcher einerseits die inneren Momente des göttlichen Wesens als Schöpfungsvoraussetzung bildet und andererseits den wirklichen Welt-Prozess erzeugt und leitet. Sondern es ist auch ebenderselbe prozessual-dynamische Strukturzusammenhang, welcher in Individualhandlungen innerhalb dieses Prozesses wirksam ist und sie moral-teleologisch ausrichtet. Demnach ist die Forderung nach einer Hinordnung seiner individuellen Ziele auf das ‚in letzter Instanz sein Sollende‘ weder eine der menschlichen Handlungsstruktur (oder praktischen Vernunft) bereits

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inhärente Pflicht, noch ist sie lediglich von außen, durch einen von ihm unabhängigen Weltprozess oder einen von ihm unabhängigen Gott an ihn herangetragen. Sondern in dieser Forderung zeigt sich gerade die wechselseitige Verwebung des Menschen mit dem kosmischen Geschick und seinem göttlichen Schöpfer in Schellings Spätphilosophie, insofern es die strukturell selben Potenzen sind, welche sein Bewusstsein prägen, sein Handeln tragen, seine Stellung im geschichtlichen Prozess festlegen und sein erstes und letztes personales Gegenüber (in ihm und außer ihm) bilden. Der Ort, an dem Schelling diese Verhältnisse wesentlich entwickelt, ist die 24. und letzte Vorlesung der Darstellung der reinrationalen Philosophie.94 Dort entfaltet er erneut die für die Spätphilosophie gültige Dimension des Religiösen in Absetzung zu einer als bloß formal verstandenen Gesetzes-Ethik. Anders als im ersten Jahrzehnt nach 1800 macht Schelling hierfür nun die Dimension eines existenziellen sittlichen Bedürfnisses geltend, dem eine formale Ethik kein Genüge leisten könne. Denn die bloße Befolgung des Sittengesetzes, wie es der Kantischen Ethik entspricht, führt für Schelling nun gerade nicht dazu, dass das Individuum sich hinsichtlich seiner Persönlichkeit entfalten kann, da das Gesetz seine Individualität nicht spiegle, insofern Gesetzestreue stets bedeute, dass sich etwas Individuelles unter die Herrschaft von etwas Allgemeinem stelle – und eben dies war der Punkt gewesen, in welchem Schelling Kant bis in seine mittlere Philosophie hinein gefolgt war. Der Abstand dieser späten Einstellung Schellings zu Kant könnte kaum größer sein. Es zeigt sich auch darin, dass Kant das Vernunftgefühl der Achtung vor dem Gesetz als ein „Gefühl des Erhabenen“95 und der Ehrfurcht vor dessen Majestät beschreibt und Schelling hiergegen nun fast rüde konstatiert: „Moral in Kants Sinn aus bloßer Achtung gibt es nicht“ (SW XI, 555 Anm.). Andererseits folgt Schelling Kant weiter darin, dass das Sittengesetz mit der Struktur des Willens unmittelbar verbunden sei. Es sei, wie Schelling drastisch formuliert, „in seinen Willen gleichsam eingewebt und eingestochen“ (SW XI, 554). Daher kann sich der Mensch dem moralischen Gesetz nicht einfach entziehen. Die Folge ist, so Schellings Diagnose, dass der Mensch „seiner selbst [nicht] froh unter dem 94   Ich behalte die Nummerierung nach Maßgabe der Ordnung der Sämmtlichen Werke bei, auch wenn zwischenzeitlich klar ist, dass es sich bei der Darstellung der reinrationalen Philosophie nicht um eine in dieser Folge gehaltenen Vorlesungszyklus handelt, sondern um einzelne Vorlesungen, Vorträge und Manuskripte, die erst von Schellings Sohn zu einer 24-teiligen Vorlesung zusammengefasst wurden (Schmied-Kowarzik 2015, 289). 95   Kant AA VI, 23, Anm.

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Gesetz [sei, sondern] Unlust und Widerwillen gegen das Gesetz seine erste und natürliche Empfindung“ (SW XI, 554) seien; eine Empfindung, die sich dahingehend steigern kann, dass der Mensch zuletzt das Gesetz „als Fluch empfindet, und so, völlig niedergebeugt, anfängt, den Unwert seines ganzen Daseins einzusehen“ (SW XI, 556).96 In dieser Krise kann es zu einer Gegenbewegung kommen, bei der der Mensch versucht, sich dem moralischen Gesetz dadurch zu entziehen, dass er sich von der vita activa in die vita contemplativa zurückzieht. Ihr entspricht als wissenschaftlich-theoretische Einstellung die negative oder reinrationale Philosophie. Aber diese Haltung wiederum basiert auf einer Verkehrung, insofern das theoretische, aufs Allgemeine bezogene Leben gerade nicht der Individualität und Persönlichkeit des Menschen gerecht wird und es sich zudem als unmöglich (SW XI, 560) erweist, dass der Mensch das Handeln aufgibt und sich in völlige Kontemplation begibt. Zugleich kann die negative Philosophie, wie Schelling sie exemplarisch in der Vernunfttheologie Kants und Hegels sah, in ihrem Resultat je nur einen Vernunftgott, d. h. einen Gott, der „doch nur Idee, bloß im Begriff, nicht im aktuellen Sein“ (SW XI, 562) ist, haben.97 Das existenzielle Defizit der formalen Ethik kann so nicht durch Religion ausgeglichen werden. Denn der Vernunftgott führt in Schellings Diagnose seinerseits ein dreifaches Defizit mit sich, durch das auf der Seite des Menschen „die letzte Verzweiflung sich seiner bemächtigt“ (SW XI, 566) und auf der Seite der Philosophie die Vernunftwissenschaft in ihre „letzte Krisis“ (SW XI, 565) geführt wird: er ist nicht existent, nicht persönlich-tätig und nicht befähigt, das Glückseligkeitsbedürfnis des Menschen zu erfüllen. Der Mensch „verlangt, dass Gott nicht bloße Idee sei“ (SW XI, 565). Denn „Vernunft und Gefühl befriedigt kein Gott, der ein lauteres Es ist, sie verlangen einen, der Er ist“ (SW VIII, 255). Der Mensch will den ihm gleich existierenden Gott, d. h. an Gott „das ganz Idee-Freie […] reine[.] Dass“ (SW XI, 570). Der Mensch will zugleich, dass der existierende, per  Mit Jacobs 2007, 325 kann man in der „Negation dieses [persönlichen] Ichs als Sinn des Gesetzes“ den zentralen Punkt der Schellingschen Kantkritik in Hinsicht auf den Kategorischen Imperativ sehen. 97   Der wesentliche Unterschied zwischen Kant und Hegel liegt für Schelling in diesem Punkt allerdings darin, dass Kant sich auch in den Grenzen der negativen Philosophie gehalten und Gott lediglich als Vernunftidee dargelegt habe, während es Hegels „Grundfehler“ gewesen sei, zwar im Verfahren der negativen Philosophie, d. h. der reinen Begriffswissenschaft zu verblieben, aber zugleich den Anspruch zu erheben, „die volle wirkliche Erkenntnis des göttlichen Daseins“ zu bieten. Hegel habe daher seine Philosophie „zur positiven aufgebläht“, weil „über ihre Schranken getrieben[.]“ (SW XIII, 80). 96

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sönliche Gott ihm als wesentlich tätige Person angemessen ist. Deswegen entsteht „das Bedürfnis, Gott außer der Vernunft […] zu haben, durchaus praktisch“ (SW XI, 569). Der Mensch, dessen Wesen wesentlich praktisch ist, sucht ihm entsprechend „den Gott, der handelt“ (SW XI, 566); er verlangt, wie Schelling hymnisch schreibt „ein Herz, das ihm gleich sei“ (SW XI, 569). Hinsichtlich des dritten Defizits der negativen Philosophie, des menschlichen Verlangens nach Glückseligkeit, formuliert Schelling eine abschließende Kritik an der Kantischen Idee, es sei ein Postulat der praktischen Vernunft, anzunehmen, das Maß der jenseitigen Seligkeit werde der Sittlichkeit der vergangenen Lebensführung entsprechend genommen. Eine solche, wie Schelling ironisch formuliert, „proportionierte Seligkeit“ (SW XI, 567), entspreche aber aus doppelten Grund nicht dem existenziellen Bedürfnis „nach eigner Befreiung“ (SW XI, 569): als Vernunftpostulat gehe es wieder bloß vom Allgemeinen im Menschen aus und die Vorstellung verdienstlicher Seligkeit entspricht nicht dem Bedürfnis des Menschen, als Ganzer erlöst zu werden. Das persönliche Seligkeitsverlangen geht, so Schelling auf eine „unverdiente, eben darum inkalkulable, überschwängliche […] Einheit mit Gott“ (SW XI, 567). Nicht die Sittlichkeit, sondern nur die Religion als reales Verhältnis des Menschen zu Gott, kann daher des Menschen existentielle Bedürfnisse befriedigen. Demnach lässt sich die Ersetzung einer Moralphilosophie durch Religion beim späten Schelling von zwei Seiten betrachten: in der Beziehung zu einem realen Gott als den menschlichen Grundbedürfnissen adäquates existentielles Verhältnis. Und als die Vollendung des Weltprozesses in Gott als höchstem Ziel, das als ‚wahres Ziel‘ die moralische Orientierung aller individuellen Zwecksetzungen beinhaltet. Beide Seiten konvergieren in der Gesamtveranlagung der positiven Philosophie als „geschichtliche[r] Philosophie“ (SW XI, 571), insofern das sittliche Bedürfnis der je existentiellen Zuwendung des Menschen zu Gott seine volle Erfüllung erst dann erlangen kann, wenn die Trennung des Menschen von Gott wieder aufgehoben ist. Wie schon in der Interpretation des Sündenfalls, dessen eigentlich Böses für Schelling nicht in der Gesetzesübertretung, sondern in der Abwendung von Gott bestand, besteht auch das Gute nicht in der Verwirklichung des Universalisierungsprinzips und auch nicht in der Willensmotivation hierzu, sondern in der Zuwendung zu Gott selbst. Darin kommt zugleich zusammen, was Movens des gesamten Prozesses ist: dass dieser als Tat Gottes praktisch-zielausgerichtet ist und die ihrerseits zielausgerichteten menschlichen Tätigkeiten an jenem ‚wahren‘ Ziel nicht nur den sittlichen Maßstab ihrer Zielsetzungen findet,

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sondern im kollektiven Prozess diese zugleich aktiv auf dieses wahre Ziel hin zu führen vermag. Die Ausdeutung des genannten Strukturzusammenhangs inklusive Schöpfung und menschlichen Individualhandlungen umfasst also den Gesamtzusammenhang der Spätphilosophie Schellings. Sie kommt darin der Aufgabe gleich, die Bedeutung der praktischen Philosophie insbesondere für die positive Philosophie überhaupt darzustellen und damit auch, die in der gegebenen Untersuchung herausgearbeiteten relevanten Strukturglieder des Praktischen bei Schelling zusammenzuführen und in einer Gesamtschau als Deutung der positiven Philosophie zu bewähren. Dies ist dem letzten Kapitel dieser Untersuchung vorbehalten.

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5. TEIL DIE GESAMTANLAGE DES PRAKTISCHEN IN DER SPÄTPHILOSOPHIE

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KAPITEL 8: HANDLUNGSTHEORIE UND POSITIVE PHILOSOPHIE

Schellings zentrale spätphilosophische Unterscheidung zwischen einer negativen und einer positiven Philosophie wurde im Rahmen der gegebenen Erörterungen zu Schellings Konzeption des Handelns bereits mehrfach gebraucht. Dabei ging es je darum, zu sehen, innerhalb welches Hintergrundkontextes Schelling jeweils seine handlungsrelevanten Theoriemomente entfaltete und zu berücksichtigen, welche systematischen Voraussetzungen darin je gegeben waren. Jetzt hingegen geht es umgekehrt darum, zu sehen, wie Schellings Theorie des Handelns innerhalb seiner Spätphilosophie fungiert, d. h., wie Schelling „zugleich ein allgemeines Gesetz der göttlichen Handlungsweise auf das höchste Problem aller Wissenschaft, auf die Erklärung der Welt“ (SW XII, 91) anwendet; insbesondere ist hierbei ihre spezifische systemtragende Funktion für die positive Philosophie von Bedeutung. Die Aufgabe ist daher, zunächst den Rahmen der positiven Philosophie in ihrem Kontrast zur negativen zu skizzieren (I.), dann die Bedeutung von Schellings Theorie des Handelns für diese positive Philosophie nachzuzeichnen (II.) und schließlich (III.) Aspekte der Einheit der positiven Philosophie im Zusammenhang mit ihren praktischen Grundelementen zu zeigen. Demnach gilt es zunächst, den Ansatz der positiven Philosophie im Kontrast zur negativen als eine spezifische Philosophie freier und geschichtlicher Handlungen zu fassen, und sodann die Durchführung dieser Philosophie als die Entfaltung des gesamten geschichtlichen Prozesses aus seinem in den Ansatz gelegten spezifischen handlungstheoretischen Bedingungen heraus zu verstehen. Das heißt, es ist nicht nur zu sehen, dass die positive Freiheit Gottes in der Schöpfung als apriorische Voraussetzung für die Existenz der Welt unabdingbar ist, sondern zu rekonstruieren, wie die geschichtliche Gesamtschau des Wirklichen als eines organischen Zusammenspiels freier Wesen aus dieser Schöpfung heraus verstanden werden kann. Der erste Teil (I.), der die Darstellung der Grundzüge des Programms der positiven Philosophie zu Aufgabe hat, wird dies auf den Kontext der Abhandlung bezogen in zwei Schritten vollziehen. Zuerst (1) wird Schellings allgemeine Charakterisierung der positiven Philosophie als einer Philosophie, welche sich dem Rätsel der Existenz der Welt stellt, darge-

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legt. Sodann (2) gilt es, das zentrale Motiv der freien Schöpfungshandlung Gottes präzise als Moment der positiven Philosophie zu deuten und von dort aus den Zusammenhang der positiven Philosophie als geschichtlicher darzulegen. Im zweiten Teil (II.), der die sachliche Durchführung der positiven Philosophie auf der Basis der herausgearbeiteten Handlungstheorie beleuchten möchte, wird dies anhand von zwei konkreten Fragen an die positive Philosophie vollzogen, welche das in ihr angelegte Wechselverhältnis göttlichen und menschlichen Handelns zeigen und zugleich demonstrieren, inwiefern die hierauf zu gebenden Antworten eben Schellings spezifischer Handlungsauffassung geschuldet sind. Die Fragen lauten: (1) Weshalb wird unter der Voraussetzung einer zielgerichteten Schöpfung das Ziel der Schöpfung nicht sogleich erreicht? Wozu der Zwischenschritt des Weltprozesses? (2) Wie, insofern sich der Zwischenschritt des Weltprozesses als notwendig erweist, wird dann dieser Prozess arbeitsteilig zwischen Mensch und Gott vollzogen? Nach der Beantwortung dieser Fragen wird in einem dritten Schritt (III.) die Einheit der als praktischer ausgewiesenen positiven Philosophie gewürdigt. Dabei wird zunächst (1) der organische Zusammenhang des Weltprozesses als wechselseitiger Bezug verschiedener integrativ verwobener Handlungsschichten von der göttlichen Schöpfung herab zu individuellen Einzelakten rekonstruiert und gezeigt, dass es Schellings teleologische Handlungs-Auffassung ist, welche diesen organischen Zusammenhang verbürgt. Sodann wird (2) die Zukunft als die Zeitform, die die praktisch-positiven Momente dieser Philosophie trägt, dargestellt werden. Von hier aus kann schließlich zuletzt (3) die von Schelling kosmologisch veranlagte Grundbewegung des Praktischen, der Zirkel von Ausgang und Rückkehr als inneres Moment von Schellings strikt teleologischem Handlungskonzept nachgewiesen und als Grundmotiv seiner Spätphilosophie im Ganzen im Zusammenhang gewürdigt werden.

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I. Zur Charakterisierung der positiven Philosophie 1) Die positive Philosophie als Philosophie des Wirklich-Existierenden In der einfachsten Form lässt sich die positive Philosophie aus dem Kontrast zur negativen Philosophie über deren Existenzbezug darstellen:1 die negative Philosophie fragt nach dem Wesen, dem Was des Seienden, und vollzieht dies im apriorischen Rahmen einer begrifflichen Vernunftwissenschaft. Dort wird „nur die Möglichkeit der Dinge, nicht die Wirklichkeit, begriffen“ (SW XIII, 75). 2 Die positive Philosophie hingegen fragt nach der Existenz, dem Dass, und kann dies nur im Rahmen eines ‚philosophischen Empirismus‘, d. h. einer Philosophie, die die Existenz des Absoluten voraussetzt, und die Struktur der Erfahrungswelt als eine Be1   Gängige Charakterisierungen der positiven Philosophie in der Schelling-Forschung sind die über die Frage nach der Existenz der Welt, ihres Grundes in der freien Tat Gottes und ihrer Entfaltung in der Geschichte. Vgl. z. B. Schulz 1968, 49 und Schmied-Kowarzik 2015, 314. Alle drei Aspekte werden nachfolgend behandelt. Doch ist damit weder gesagt, dass dies bereits ein erschöpfendes Verständnis des Spezifischen der positiven Philosophie biete, noch, dass dies alleiniger Standpunkt in der Forschung sei. Hierzu gehört einerseits eine genauere Darlegung, inwiefern diese Themen nicht auch Gegenstände der negativen Philosophie sein können, wie es im Folgenden verfolgt wird. Andererseits ist die historische Frage zu klären, inwiefern die Entwicklung der positiven Philosophie primär als spezifische Hegel-Kritik zu verstehen sei (vgl. hierzu Peetz 1995, 299); hierauf wiederum stützen sich Interpretationen, die Schellings Spätphilosophie eher aus den Problemen des Idealismus erwachsen ansehen (Schulz 1955) im Gegensatz zu solchen, welche eher das theologische Programm in den Mittelpunkt stellen (Fuhrmanns 1940) und den Erweis Gottes als zentrales Thema der Spätphilosophie ansehen (Meier 2004, 105). Zuletzt ist auch die Abgrenzung über den Methoden-Aspekt zu berücksichtigen, nach welchem das Positive weniger einen Gegenstand oder ein Resultat der Philosophie, als vielmehr ein Verfahren derselben bezeichnet (z. B. Buchheim 1992, 65 ff., der Positivität bei Schelling primär als „Denkweise“ versteht; bei Peetz 1995, 307, der gleichfalls Positivität als Methode auffasst, geht dies allerdings wieder mit den Themen dahingehend zusammen, dass die „positive Philosophie […] diejenige Form der Philosophie ist, die auf praktischem, d. h. auf die reale Geschichte des Seins angewandtem Vernunftgebrauch beruht“). Hierzu gehört auch der Kontrast zur Stellung der philosophischen Ergründung des höchsten Prinzips, wofür der ontologische Gottesbeweis das Paradigma der negativen Philosophie im Kontrast zu Schellings positivem Erweis angesehen werden kann. Den letztgenannten Aspekten kann im Rahmen der gegebenen Fragestellung nur eher skizzenhaft Rechnung getragen werden. 2   Schick 2012, 386 weist darauf hin, dass die Charakterisierung des Negativen der negativen Philosophie zwei Aspekte umfasst: sie ist negativ, indem sie als „absolut anfangende Wissenschaft“ voraussetzungslos ist. Sie ist jedoch auch negativ, insofern sie einen Mangel beinhaltet, der darin besteht, dass sie ihr Ziel, das Prinzip des Seins zu setzen und zu sagen, dass es ist, nicht erreicht.

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währung dieser Voraussetzung versteht, vollziehen. Dieser ‚Empirismus‘ hat keine Erfahrungsbasis in der Sinnenwelt, sondern er ist die Erfahrung eines Denkens selbst, das über die Welt in dem Sinne hinausdenkt, dass es sie als frei hervorgebrachte Tat Gottes versteht (vgl. SyWA 75 und SW XIII, 113).3 Der subtile Unterschied zu einer rationalen Wissenschaft, welche die Wirklichkeit aus ihren apriorischen Bedingungen ableitet, ist, dass es bei einer solchen einen notwendigen Fortschritt von den Bedingungen zu den Folgen gibt und dass daher die Erfahrung die apriorischen Prinzipien bestätigen kann, während es bei der als philosophischem Empirismus verstandenen positiven Philosophie keinen notwendigen Übergang von ihrem Prinzip, der freien Tat Gottes, zur Erfahrungswelt als ihrer Folge gibt (SW XIII, 128 f.).4 Darin zeigt sich auch eine reziproke Verfahrensweise: während die negative Philosophie Gott als das Absolute zu ihrem Resultat hat, setzt die positive Philosophie Gott als ihren Anfang (vgl. SW XIII, 150).5   Diese Erfahrung beschreibt Wilson 1993, 33 als Charakteristikum der positiven Philosophie als eine tatsächliche, quasi mystische Erfahrung Gottes, die dort einsetzt, wo das begriffliche Denken die Grenzen der Vernunft erreicht: hier verliere sich der Mensch in das Erfahrene und erstarre und verstumme vor Gott als reinem Dass. M.E. verfehlt diese Interpretation die Intentionen Schellings jedoch an einer entscheidenden Stelle. Die positive Philosophie kann keine Explikation tatsächlicher (und damit kontingenter) Erlebnisse an der Grenze der Vernunft sein, sondern ist eine Explikation der Vernunft und ihrer notwendigen Bedürfnisse unter Berücksichtigung der Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Zu ihren Bedürfnissen gehört ein Verständnis des Dass des Höchsten als Korrelat zu ihrer Erfahrung, dass dieses nicht innerhalb ihres diskursiven Verfahrens erreichbar ist. Diese Erfahrung der Grenze ist aber nur der Stein des Anstoßes für die Erfahrung des Denkens, die der positiven Philosophie eigen ist; diese ist die Erfahrung des Denkens als eine Explikation des Ganzen, das anfangs als unbegreiflich erscheint, die Erfahrung der Umwandlung eines a priori Unbegreiflichen in ein a posteriori Begreifliches (vgl. SW XIII, 165). Als Erfahrung des Ganzen, „von Anfang bis zu Ende“ (SW XIII, 130) ist sie auch eine Erfahrung nicht nur der Existenz der Welt und ihrem möglichen Grund in einem existierenden Gott, sondern damit zugleich die Erfahrung des eigenen Existierens als Ganzem, und die darin angelegte Denkerfahrung diejenige, wie Schmied-Kowarzik 2015, 315 hervorhebt, die anstrebt, „im Durchgang ihrer Klärungen zu erweisen, dass dieser Existenzzusammenhang sich uns als ein durch Gott gestifteter Sinnzusammenhang erweist“. 4   Daher nennt Schelling die positive Philosophie auch gelegentlich die „höchste[.] Wissenschaft“ (SW XIII, 151), da sie über das Sein hinaus fragt, während er die negative in Anlehnung an Aristoteles und die metaphysische Tradition im Gegensatz hierzu die „erste[.] Wissenschaft“ (SW XIII, 151) oder „erste Philosophie“ (SW X, 157, XI, 562) nennt, um ihre Begründungsfunktion hinsichtlich der einzelnen Wissenschaften zu zeigen; eine Variante hierzu findet sich in SW XI, 267, wo die positive Philosophie auch die „zweite Philosophie“ im Gegensatz zur ersten und negativen bezeichnet. 5   Als „schärfste und kürzeste“ Formulierung für diesen Unterschied wählt Schelling 3

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Es ist jedoch nicht Gott im selben Status: denn der Gott, den die negative Philosophie beweisen möchte, ist nur gleichsam deren höchster Begriff; er bleibt für Schelling ein Gott in Gedanken. Die positive Philosophie setzt hingegen einen wirklich existierenden Gott als ihr ontologisches Prius voraus.6 Ihr „Ausgangspunkt ist das allem Denken zuvor, das unbedingt Existierende“ (SW XIV, 337). Ihre Aufgabe kann daher kein Beweis Gottes sein, sondern, wie Schelling formuliert, ein Gotteserweis als eine Bewährung dieser Voraussetzung. Es geht darum, „das, was das letzte der negativen Wissenschaft war, und was in Bezug auf alles andere Existierende das Überexistierende ist, eben dieses nicht bloß als höchste Idee, sondern als das wirklich Existierende zu erweisen“ (SW XIII, 150). Gott wird als prius gesetzt, aber „nicht a priori, sondern a posteriori erkannt“ (SyWA 87). In komprimiertester Form hat Schelling den gesamten Zusammenhang am Ende der Darstellung der reinrationalen Philosophie als Übergang zur positiven Philosophie folgendermaßen beschrieben: Die positive Philosophie geht von der Existenz aus, von der Existenz […] des in der ersten [= negativen] Wissenschaft als notwendig existierend im Begriff […] Gefundenen. Dieses hat sie zuerst nur als reines Dass […], von welchem zum Begriff, dem Was (dem Seienden) fortgegangen wird, um das Existierende so bis an den Punkt zu führen, wo es sich als wirklichen (existierenden) Herrn des Seins (der Welt), als persönlichen, wirklichen Gott erweist, womit zugleich auch alles andere Sein, als von jenem ersten Dass abgeleitet, in seiner Existenz erklärt, und also ein positives, d. h. die Wirklichkeit erklärendes System hergestellt wird (SW XI, 563 f.).

Ein wesentlicher Punkt in der Charakterisierung der positiven Philosophie im Gegensatz zur negativen ist hierbei ihre eigentümliche modale Verkehrung: während die negative Philosophie in der Potenzendeduktion Bedingungen des Wirklichen und damit Seinsmöglichkeiten expliziert, beginnt die positive Philosophie mit einer Wirklichkeit, die aller in der Berliner Einleitung folgende: „die negative Philosophie ist apriorischer Empirismus, sie ist der Apriorismus des Empirischen, aber darum nicht selbst Empirismus [also Vernunftergründung der Voraussetzungen des sinnlich Erfahrbaren]; dagegen umgekehrt ist die positive Philosophie empirischer Apriorismus, oder sie ist der Empirismus des Apriorischen“ (SW XIII, 130); also Erfahrung des Mediums der Vernunft. 6   Die reinrationale, negative Philosophie stellt die Begriffe bereit, doch kann sie deren Anwendungsberechtigung in Bezug auf das Wirkliche nicht legitimieren. Die positive Philosophie nimmt diese Begriffe auf und verlässt mit ihnen den reinen Vernunftraum des Begrifflichen, um zuzusehen, inwiefern sie sich an der Erfahrung bewähren, sofern von ihnen entsprechenden wirklichen Wesen ausgegangen wird (hierzu erneut Buchheim 2013, hier: 141).

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Möglichkeit zuvorkommt (SW XIII, 262). Die hierin aufscheinende Schwierigkeit, dass dies dem logischen Grundsatz zu widersprechen scheint, nach welchem das Wirkliche zuvor möglich gewesen sein muss, kann mit Schelling dahingehend begegnet werden, dass die Wirklichkeit und Existenz des Absoluten eben die Setzung der Existenz eines Unbedingten bedeutet, welches nach Voraussetzung gerade keine Realisierung zuvor schon gegebener Möglichkeiten als seine Existenzbedingungen beinhalten kann.7 Bei Gott als einem radikal Ersten tritt sein Möglichsein erst mit seiner Wirklichkeit zutage. Dies bedeutet auch, dass weder Gott noch die Schöpfung aus ihren Möglichkeiten deduzierbar sind.8 2) Die positive Philosophie der freien Tat Wesentlich hierbei ist, dass der vorausgesetzte existierende Gott der positiven Philosophie eine Person ist, die handelt und dass die Gesamtheit des Wirklichen als eine Folge dieses Schöpfungshandelns angesehen werden kann. Dabei ist das zentrale Moment der Abgrenzung zur negativen Philosophie noch nicht allein das Handeln, sondern dies, dass Gottes Schöpfungshandeln nicht notwendig ist; es kann aus keinen Vernunftvoraussetzungen deduziert werden. In diesem Sinne gehören „Freiheit und Tat [zur] außerlogische[n] Natur der Existenz“ (SW XIII, 95); „eine freie Tat ist etwas mehr, als sich im bloßen Denken erkennen lässt“ (SW XIII, 114). Deswegen ist die Freiheit Gottes konstitutives Moment der positiven Philosophie und es ist konstitutives Moment der positiven Freiheit Gottes, dass dieser ebenso gut hätte die Schöpfung unterlassen können. So kann es auch für die Schöpfung keine vorgängigen Beweggründe   Eben diesen Gedanken führt Schelling in der Anderen Deduktion der Prinzipien der Positiven Philosophie (SW XIV, 335–356) aus. Dort heißt es: „ich habe gegen dieses Sein, das, so früh wir kommen, immer schon da ist, oft einwenden hören: eine solche aller Möglichkeit zuvorkommende Möglichkeit sei nicht zu denken. Allerdings […] das Denken setzt sich eben dieses Sein zu seinem Ausgangspunkt, […] und wirkliches Denken ist erst ein Weggehen von diesem Punkt“ (SW XIV, 341) 8   Vgl. hierzu: SW XIII, 263: „Wäre dem absoluten Geist seine eigene Möglichkeit […] seiner Wirklichkeit vorausgegangen, so wäre er nicht wahrhaft ursprünglich. […] ursprünglich (original) nennen wir niemals, was schon als ein Mögliches voraus begriffen worden, eh‘ es wirklich wurde“. Vgl. SW XIV, 342, wo Schelling ausführt: „Original ist, wovon man die Möglichkeit erst zugibt, wenn man die Wirklichkeit vor Augen hat“. Bezeichnenderweise nennt Schelling als Beispiele hierfür die Praxis: „Hervorbringungen, Taten, Handlungen, deren Möglichkeit erst durch ihre Wirklichkeit begreiflich wird“ (SW XIV, 341). 7

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des göttlichen Willens geben, die irgendeine nötigende Wirkung auf den göttlichen Willen hätten, sondern die „völlige[.] Freiheit“ (SW XIII, 270) Gottes zeigt sich darin, dass die Schöpfung „durch den bloßen Willen Gottes“ (SW XIII, 271) erzeugt wird. Die Darlegung willensbestimmender Beweggründe oder Motive, die in etwa erklären könnten, weshalb der Wille so und nicht anders wolle, ist damit grundsätzlich ausgeschlossen. Das Abgrenzungskriterium von positiver und negativer Philosophie liegt also nicht darin, dass die negative Philosophie eine (theoretische) Philosophie der Vernunft und die positive eine (praktische) der Tat sei – auch wenn die Tat der Schöpfung eben der Grund ist, aus dem heraus Schelling die positive Philosophie im Kontrast zur negativen entwickelt. Aus dem bloßen Gegenstand der Philosophie, dem Erkennen im Gegensatz zum Handeln, ergibt sich noch keine Gegenüberstellung des Negativen und Positiven. Denn es ist ebenso möglich, auch das Handeln im Rahmen einer apriorischen Vernunftwissenschaft zu erfassen – wäre dem nicht so, so könnte die negative Philosophie, die Schelling in etwa in seinem eigenen System von 1800 oder paradigmatisch in Hegels Philosophie verwirklicht sah, überhaupt keine praktischen Teile haben. Der entscheidende Punkt ist, dass die Praktizität der positiven Philosophie einhergeht mit einer bestimmten Auffassung vom Praktischen – der Auffassung nämlich, dass Handeln grundsätzlich nicht in allen seinen Momenten erklärlich ist, dass deshalb der Versuch einer begrifflichen Fassung desselben scheitern muss und dass in diesen im kausalen und logischen Sinn unerklärlichen Momenten gerade die wesentlichen Charakteristika des Praktischen liegen. So können inhaltliche Bestimmungen der Freiheit Gottes nicht aus deren Vorbedingungen, sondern nur aus deren Realisierungsweise erfolgen; so war in etwa der Mensch als Motiv der Schöpfung so wenig Beweggrund im Sinne einer Erklärung der Willensbestimmung durch etwas diesem Vorhergehenden wie das Moment der Liebe. Sondern das Motiv der Schöpfung war für Schelling ausdrücklich eines, das erst als Folge der Selbstbestimmung des Willens sein konnte. Nun ist es auch noch nicht die bloße Erkenntnis, dass in der Freiheit des Handelns etwas Unergründliches liege, das sich dem Zugriff des erklärenden Verstandes entzieht, welche als Novum von Schellings positiver Philosophie ab 1827 in Hinsicht auf das Freiheitsmoment gelten kann. Denn dass die Freiheit Gottes in der Schöpfung einerseits der letzte Seinsgrund des Wirklichen sei und andererseits ein Moment des Unerklärlichen mit sich führe, hatte Schelling schon viel früher festgestellt (vgl. AA II,8, 86, 88/SW VII, 429). Neu ist, dass Schelling dieses mit der freien Tat Gottes einhergehende Moment nun als zusätzliche Explikationsdimension für den gesamten Wirklichkeitsraum, d. h. den gesamt-

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en geschichtlichen Weltprozess gebraucht und dass er gerade in diesem Moment des Unerklärlichen der freien Schöpfungstat das Korrelat zur ihrerseits erklärungsbedürftigen Existenz der Welt sieht. Dies lässt sich an einer Formulierung aus den Erlanger Vorlesungen von 1820/1 festmachen. In dieser benennt Schelling erstmals die Bedeutung des grundsätzlich Anderen, das in der Annahme einer Weltentstehung durch eine freie Schöpfungstat enthalten ist – jenes ‚Mehrs‘, dessen Deutung wenige Jahre später den Namen der positiven Philosophie erhalten wird und das er hier bereits als den Schlüssel zu einem Reich sui generis bezeichnet; und die Emphase seines Vortrags gibt der Vermutung Nahrung, dass Schelling hier im Bewusstsein referiert, auf etwas grundlegend Neues gestoßen zu sein:9 Wir werden alles aufbieten, uns den Übertritt des Seinkönnenden begreiflich zu machen; wie das Seinkönnende dazu gebracht worden ist, in das wirkliche Sein überzutreten. Hier lässt sich nichts mehr aus Notwendigkeit erklären, sondern der Übergang ins Sein ist freie Tat. Hier hört alle Deduktion, sofern sie nämlich Herleitung eines schlechthin Gegebenen aus vorher bestimmten Prämissen ist, auf. Hier trennen wir uns vom Begriff des Dialektikers. Hier ist der Punkt, wo nicht der Begriff, wo nur die Tat entscheidet. Das Reich der Begriffe ist zu Ende u. das Reich der Tat fängt an (Initia, 116).

Die Deutung des Reichs der Tat ist demnach zugleich positive Philosophie – und Handlungstheorie – eine Handlungstheorie jedoch, die nach Voraussetzung weder mechanistisch sein kann, noch einen intelligiblen Determinismus zugrunde legen darf. Ihre Aufgabe ist es nicht, Handeln aus seinen Vorbedingungen zu erklären, sondern lediglich begreiflich zu machen, wie es überhaupt zum Handeln als der Umsturzbewegung eines Seinkönnenden ins Sein kommen kann. Also verbürgen diejenigen Momente der Schöpfungshandlung, welche notwendig zu dieser freien Tat gehören, ohne ihre ableitbaren Bedingungen zu sein, eben die Positivität der Welt als Schöpfungsgeschehen. Und eben hier ist der Punkt, an welchem sich eine rekonstruierte Handlungstheorie bezüglich der Spätphilosophie Schellings als entscheidendes Moment zu einer gehaltvollen Explikation derselben erweist. Denn, auch wenn man Schellings Diagnose zustimmt, dass lediglich Art und Wesen des Wirklichen, nicht aber das eigentliche Wirklichkeits- und 9   Entsprechend Fuhrmans 1969, der es in der Kommentierung der entsprechenden Erlanger Vorlesung für deren Bedeutsamkeit hält, dass Schelling „sich darin zu Thesen vortastet, die zum entscheidenden Anlass seiner Spätzeit geworden sind, eine neue (die ‚positive‘) Philosophie zu fordern“ (243).

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Existenzmoment desselben aus Begriffen expliziert werden kann und es daher einer positiven Philosophie der Existenz und Freiheit als Ergänzung zur negativen bedarf, um das Wirkliche hinsichtlich der Art seines Wirklichseins zu erklären, so bleibt doch diese Diagnose so lange negativ im Sinne des bloßen Hinweises auf einen Mangel und mit der Freiheit Gottes als einem Platzhalter für diesen Mangel, so lange nicht auch diese Freiheit im Handeln Gottes und damit das Spezifikum des Existierens der Welt inhaltlich charakterisiert werden können. Eine inhaltliche Charakterisierung der Freiheit Gottes in der Schöpfung ist aber nichts anderes als eine Explikation derjenigen inneren Momente dieser freien Tat, welche ihrerseits keinem logischen oder gar kausalen System entspringen; eben dies sind aber die praktischen Momente, d. h. die eigentliche Praktizität der Schöpfung. Deswegen entspricht eine Darlegung der Handlungstheorie als Explikation dessen, das im Praktischen notwendig liegt (und zwar einem Praktischen, das Handlungen als notwendig freie versteht), zugleich einer Explikation des deswegen praktischen Grundzugs der positiven Philosophie. Dies soll an zwei Aspekten demonstriert werden. Eine Seite dieser irreduziblem Praktizität liegt in im Moment des Widerstands und der Überwindung, das sich in der praktischen Zweck-Mittel-Struktur zeigt (1), eine andere in jenem positiven Attribut der Vorsehung, unter welchem sich das Zusammenwirken göttlicher und menschlicher Freiheit in der Geschichte verständlich machen lässt (2).

II. Aspekte des praktischen Grundzugs der positiven Philosophie 1) Die Verzögerung des Weltprozesses Die Eigentümlichkeit der geschichtlichen positiven Philosophie lässt sich mit Schelling an einer Frage explizieren, welche zugleich aufzeigt, weshalb die positive Philosophie im Kern eine Explikation der Grundmomente des Handelns ist: Weshalb zögert der Weltprozess in Hinsicht auf die Erreichung seines letzten Ziels? Weshalb, wenn dieses Ziel schon gesetzt ist, wird es nicht sofort erreicht?10   Diese Frage ist verwandt mit dem theologischen Problem der Parusie-Verzögerung, also der Frage danach, weshalb die versprochene Wiederkehr des Messias auf sich warten lässt. Dabei sind allerdings zwei Unterschiede beachtlich: Ein Unterschied besteht darin, dass es bei Schelling nicht um eine Wiederkehr Gottes zu den Menschen, sondern um eine Rückbewegung der Menschen zu Gott geht, womit den Menschen eine wesentlich aktivere Rolle innerhalb dieses Prozesses zugebilligt wird, als in einer auf die 10

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Die Frage nach der Verzögerung des geschichtlichen Prozesses und nach dem Grund für das Ausstehen des Endes dieses Prozesses wirft ein Schlaglicht auf den Unterschied von positiver und negativer Philosophie. Denn im bloß logischen Vernunftraum, als dessen Entfaltung Schelling das Charakteristikum der negativen Philosophie gesehen hatte, gibt es keine Verzögerungen: Prämissen und Folgerungen sind zugleich gegeben. Die Einsicht in die begriffliche Struktur von Zielen ist für das Denken dasselbe wie das Erreichen dieser Ziele; wer Ziele als Ziele festlegt, hat diese im gedanklichen Raum der Begriffe schon inhaltlich erreicht. Sehr deutlich lässt sich dies an Schellings Kritik an Hegel ablesen, deren Generalthese für Schelling darin besteht, dass für Hegel „der Begriff alles sei und nichts außer sich zurücklasse“ (SW X, 126 f.).11 Schelling belegt dies aufschlussreich, indem er eine Passage aus der Wissenschaft der Logik zitiert, nach welcher „die Methode […] nur die Bewegung des Begriffs selbst, aber mit der Bedeutung, dass der Begriff alles [sei und] die unendliche Kraft zu erkennen, der kein Objekt, sofern es sich als ein äußerliches, der Vernunft fernes und von ihr unabhängiges darstellt, Widerstand leisten kann“ (SW X, 127).12 Allerdings bedeutet die Simultaneität im logischen Raum noch nicht, dass es deswegen in der negativen Philosophie keine Zeit geben könne und zeitliche Erstreckung oder Geschichtlichkeit überhaupt ein Exklusiv-Kriterium der positiven Philosophie wäre. Auch Hegels Geschichtsphilosophie berücksichtigt selbstverständlich die Dimension der zeitlichen Erstreckung der Geschichte. Für Hegel ist „die Weltgeschichte […] überhaupt die Auslegung des Geistes in der Zeit“13. Sondern es bedeutet, dass für Schelling die bloße Entfaltung des begrifflichen Vernunftraums in der Zeit im Sinne einer notwendigen Verzögerung durch seine physikalisch-zeitlichen Realisierungsbedingungen nicht ausreicht, um die Parusie bezogenen, stark von Erwartung geprägten Haltung. Der zentrale Unterschied liegt allerdings darin, dass es bei der Frage nach der Parusie-Verzögerung um eine Verzögerung innerhalb der Geschichte geht, da die Wiederkehr Christi bereits den geschichtlich erschienenen Christus voraussetzt, während es in der Frag nach der Verzögerung des Weltprozesses primär darum geht, weshalb es überhaupt eines Weltprozesses in einem zeitlichen Nacheinander, welcher das Erreichen des Ziels verzögert, bedarf. 11   Damit ist auch der Kern von Schellings Hegel-Kritik ausgesprochen: dass dieser das Logische für das Wirkliche nehme, „nämlich bloß logisch genommene wahre Verhältnisse in wirkliche“ (SW X, 161) umsetze. Hierzu erhellend Schick 2012, 390–392. 12   Vgl. Hegel GW Bd. 12, 238. Schelling zitiert Hegel im Übrigen gekürzt und ungenau, wenn auch nicht sinnentstellend. U. a. ist bei Hegel in der angeführten Stelle nicht von der Methode als einer Erkenntniskraft die Rede, sondern davon, dass die Methode als Kraft „anzuerkennen“ sei. 13   Hegel TWA 12, 96 f.

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Frage nach der Prozessverzögerung im Sinne der positiven Philosophie als eine Freiheitsfolge aus handlungsspezifischen Gründen zu erklären. Denn Hegels Auslegung, so Schellings Kritik, sei nichts anderes als eine bloße Projektion der Entwicklung des Begriffes in eine bereits vorgegebene Zeit. Dadurch ist noch nicht geklärt, weshalb es einer solchen Zeit überhaupt bedarf und wie sie in ihren gegebenen Strukturen zustande komme. Wirkliche Geschichte hingegen habe ihren Anfang in einer freien, unableitbaren Setzung, welche sich über die menschlichen Handlungen als ebensolche freien Anfänge ebenso unableitbar entwickle. Der Widerstand, den der Weltprozess gegenüber einem bloß begrifflichen Fortschritt tatsächlich leistet, lässt sich mit der begrifflichen Methode nicht mehr fassen.14 Schelling hat diesen wichtigen Punkt im Auge, wenn er Hegel in der angeführten Stelle gerade dort zitiert, wo dieser vorbringt, kein Objekt könne dem Begriff Widerstand leisten. Denn es ist für Schelling eben dieser Widerstand des Realen gegenüber dem Geistig-Begrifflichen und seine nur sukzessiv zu vollbringende Überwindung durch freie Handlungen, welche die Grundbedingung des gesamten Weltprozesses ist. Deshalb ist für Schelling „mit der Vernunftwissenschaft […] eine Philosophie der wirklichen Geschichte unmöglich“ (SW XI, 568 Anm.) – und deshalb ist, so die Interpretationsthese, der Widerstand, der sich in der verzögerten Geschichte zeigt, weder begrifflich, noch physikalisch, noch bloß zeitphilosophisch zu erklären. Sondern es bedarf zu seiner Fassung einer positiven Philosophie, welche darlegen kann, dass dieser Widerstand eben aus der praktischen Grundveranlagung des Weltprozesses herrührt. Das Ziel ist demnach, zu zeigen, dass wenn Gott unter der Voraussetzung der positiven Philosophie tätiger Schöpfer und die Geschichte Kraft dieser Tat finalistisch ausgerichtet ist, d. h. Gott in der Schöpfung ein Endziel hat, es ihm selbst nicht möglich ist, sein Endziel sofort zu erreichen, und zwar gerade deshalb, weil seine Schöpfung Tat (und weder ein bloßer Gedanke, noch ein bloßes Ereignis) ist. Hierfür ist zu zeigen, dass wenn Gott in der Schöpfung diese finalistisch ausrichtet auf das eigentlich sein Sollende, er zudem nicht nur in der Lage sein muss, sondern gar nicht umhin kann, gleichfalls Zwischenziele, welche nicht unmittelbar 14   Vgl. Hutter 1996, 268. Hutter macht auch darauf aufmerksam, dass es schon bei Schellings Kritik an Fichte ein entscheidender Punkt gewesen sei, dass dieser „das widerständige Moment der Objektivität“ (ebd., 255) völlig verkannt habe, wenn er behauptete, „dass das Ich die Dinge außer sich frei und mit Wollen setzte“ (SW X, 92). Allerdings ist zu fragen, inwiefern diese Kritik Schellings berechtigt ist, da, wie gesehen, gerade bei Fichte (GA I,5, 25) sich zuerst eine Negativität als Bedingung aller Tätigkeit gezeigt hatte, die Fichte selbst als Widerständigkeit aufgefasst hatte.

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dem Endzweck des eigentlich sein Sollenden gleich sind, zu setzen. Die Annahme der positiven Philosophie, dass der Wirklichkeit der Welt ein Gott, der handelt, zugrunde liegt, soll so zugleich erklären, weshalb Gott stets durch Mittel (SW XIII, 285) handelt und weshalb der Weltprozess sich daher verzögert. Dieses Beweisziel kommt nicht der Aufgabe gleich zu zeigen, dass die Mittelwahl für Gott in dem Sinn notwendig ist, dass er sich in der Schöpfung auch gar nicht anders hätte verhalten können, als durch verzögernde Mittel zu handeln. Denn zur Positivität der Freiheit Gottes gehört es gerade, dass er die Schöpfung auch hätte unterlassen können. Die ‚Beweisverfahren‘ der positiven Philosophie sind keine Ableitungen aus notwendigen Prämissen, sondern sie sind Verfahren der Bewährung nicht-notwendiger Setzungen. So kann als Antwort auf die Frage, weshalb der Prozess zögere, im Rahmen der positiven Philosophie kein Beweis der Unmöglichkeit seines Gegenteils erwartet werden – denn eben das Gegenteil des Weltprozesses war sehr wohl möglich. Sondern es gilt, zu zeigen, dass die Voraussetzung eines frei handelnden Gottes in der Schöpfung sich dahingehend am komplexen Phänomen der Verzögerung des Weltprozesses bewährt, dass diese sich alternativen Theorien gegenüber als die überlegene, weil phänomengerechtere und erklärungsmächtigere erweist. Hierzu allerdings gehört wiederum, dass die Strukturen der Welt sich als unmittelbar mit der Voraussetzung der positiven Philosophie, der freien Schöpfungshandlung, verbunden zeigen. In diesem Sinne muss sich die Verzögerung als eine Folge des an sich nicht notwendigen Handelns Gottes darstellen lassen, so dass deutlich wird: wenn Gott frei handelt, dann nur auf diese Weise. Betrachten wir, um diesen Weg nachzuzeichnen, zunächst die Antwort Schellings auf die Frage nach dem Grund der Verzögerung des Heils in der Geschichte, die er in den Erlanger Vorlesungen gegeben hat.15 Dort findet sich das Argument, dass es besser sei, nämlich „eine weit größere Verherrlichung des ganzen Lebens gesetzt wird, wenn jene […] Einheit nicht gleich gesetzt“ (Initia 123) werde. Schelling argumentiert hier, dass es einerseits des Durchgangs durch 15   Die Frage nach dem Grund der Verzögerung wird bereits in der Freiheitsschrift gestellt. Dort beantwortet Schelling diese Frage dahingehend, dass „Gott ein Leben [sei] und nicht bloß ein Sein“ (AA I,17, 168/SW VII, 403), „alles Leben aber […] ein Schicksal [habe] und […] dem Leiden und Werden untertan“ (ebd.) sei. Dieses Argument verfolgt Schelling später nicht weiter, da zwar gültig bliebt, dass Gott ein Leben habe und nicht nur ein Begriff sei, hieraus, wie gesehen, jedoch für Schelling nicht mehr folgt, dass deswegen überhaupt eine Offenbarung hätte geschehen müssen. Der lebendige Gott der positiven Philosophie hätte untätig blieben können.

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eine stufenweise prozessuale Entfaltung bedarf, um ein Sein voll zu aktualisieren, und dass andererseits dieser Durchgang nur auf dem Weg der Überwindung von „Sein Negierende[m], also […] Sein Widerstrebende[m]“ (Initia 123) geleistet werden kann. Es ist, so Schelling im Ergebnis, „kein geringer Unterschied, [ob etwas] gleich ursprünglich […] das wirklich Seiende, das Offenbare, das Äußere ist oder ob es aus der Dunkelheit als das Alles-Überstrahlende hervortrete, wie die Sonne aus Wolken, und das, was ihm in seinem Sein widerstreben wollte, in das bloße Sein […] von sich verwandelt“ (Initia 124). Hierdurch ist schon eine gültige Antwort auf die Frage, ob für Gott der Weg über die Zwischenziele des Weltprozesses als Mittel zum Endziel notwendig sei, gegeben: Die Zwischenziele sind an sich überspringbar – Gott könnte die Welt augenblicklich vollenden.16 Es wäre dies aber nicht derselbe, wirklichkeitsgesättigte Endzustand, insofern in ihm „die Momente des Prozesses […] bloß logische, [nicht aber] auch reelle“ (SW XIII, 286) wären. Um dies näher zu erläutern, ist zu berücksichtigen, dass der erstrebte Endzustand des wirklichen Prozesses in einer bestimmten Form des menschlichen Bewusstseins liegt, welcher seinerseits nur durch das tatsächliche Durchlaufen dieses Prozesses erreicht werden kann. Da Bewusstsein bei Schelling zumindest ab 1800 geschichtlich konzipiert ist, d. h., nur als Resultat einer bestimmten historischen Genese in seiner spezifischen Ausprägung verstanden werden kann, bildet dasjenige Bewusstsein, das sich mit einem Durchlaufen aller Schichten eines aufsteigenden Weltprozesses bilden würde, einen höchstmöglichen Zustand vollständiger erfahrungsgesättigter Selbsttransparenz: „Nur indem das Bewusstsein durch alle zwischen Anfang und Ende möglichen Stufen hindurchgeführt wird, kann die letzte Erkenntnis, um die es zu tun ist, ein Erzeugnis vollständiger […] Erfahrung sein“ (SW XII, 263). Darin liegt die Beschreibung einer Fortschrittsgeschichte des menschlichen Wissens und ein philosophisches Programm, das diese zugleich archivierend rekonstruiert. Der Mensch muss sich gemäß der darin enthaltenen Aufgabe als geschichtliches Selbstbewusstsein transparent werden. Es ist nicht zu übersehen, dass Schellings Philosophie der Mythologie und Offenbarung als eigenständige Einlösung dieses Programms im Sinne einer positiven Geschichtsphilosophie fungieren soll.17   Ob dieses Argument zuletzt dem gleich ist, dass Gott die Schöpfung auch zurückhalten könnte, ist unklar. Denn die Schöpfung als bloß negative ist im Geiste Gottes bereits vor der Tat der Schöpfung vollendet. Worin sollte also der Unterschied zu einer zusätzlichen Vollendung einer nicht-realen, nicht in die Physikalität einer raum-zeitlich-materiellen Welt ausgebreiteten Schöpfung bestehen? 17   Zudem koinzidiert dieses Programm mit Hegels geschichtsphilosophischem Te16

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Da es demnach besser im Sinne von ‚gehaltvoller‘ ist, den Prozess zu durchlaufen, erweist sich die Schöpfung als Tat und der Durchgang durch den Prozess als Mittel in Hinsicht auf ihr Ziel unter der Prämisse der Liebe Gottes als (bedingt) notwendig. Hierin kommt die motivationale Grundkonstellation der Schöpfung erneut zutage: Gott muss sich nicht offenbaren und es gibt kein Erkenntnis-Interesse in Gott für die Offenbarung. Wie sich die Offenbarung in der Realität vollzieht, ist im Denkraum des absoluten Geistes bereits enthalten. Hierbei ist die Liebe, mit der Gott in Hinsicht auf das Bessere einer geoffenbarten Schöpfung im Zielzustand sich entschließt, keine psychische Disposition, noch eine Neigung, noch ein Zwang, sondern eine Beschreibung dessen, dass Gott moralisch und endursachlich in Hinsicht auf das bessere Ziel handelt. Es ist eine Beschreibung der Transitivität seines Handelns auf das Endziel hin und der damit verbundenen altruistischen Willenshaltung, welche als Wollen eines anderen ganz von sich weg gerichtet ist. Als freie Tat jedoch, welche gerade den Prozess zum Endziel hin als Qualitätsgewinn durchlaufen soll, muss sie umgekehrt auch die notwendigen prozessualen Stufen als Handlungsmittel zum eigentlich sein Sollenden gebrauchen. Hierdurch ist das Moment der Negation und seiner Überwindung in das göttliche Handeln mit eingeschrieben: wenn Gott 1) stets instrumentell, durch Mittel, 2) stets final, auf ein Endziel hin bezogen handelt, dann sind diese Mittel in Relation auf das Endziel negativ. Denn generell gilt: „Was bloß Mittel ist, [ist] das nicht eigentlich sein Sollende“ (SW XIII, 285). Wenn nun Gott, wenn er handelt, nur durch Mittel handeln kann, dann gilt auch, dass zuerst „durch bloßes göttliches Wollen das nicht sein Sollende […] gesetzt“ (GPP 302/SW X, 259) wird. Und hieraus resultiert zuletzt, dass „Gott stets durch das Gegenteil […] seine Absichten ausführe“ (SW XIII, 272), was nichts anderes als das Freiheitsmoment der Verstellung bedeutet. Die Verzögerung des Prozesses ist aus dieser Perspektive auf das Handeln Gottes als Folge der notwendig instrumentellen Struktur erklärlich, bei welcher jedes Handlungsziel eine Handlung als Mittel braucht, welche ihrerseits, als Zwischenziel verstanden, neuer Mittel zu ihrer Verwirklichung bedarf. Doch damit ist erst der Rahmen einer Erklärung für den verzögerten Prozess gegeben und noch nicht ihr eigentlicher Grund offengelegt. Die so gefasste bedingte Notwendigkeit des Prozesses in Hinsicht auf eine los. Vgl. z. B. Hegel TWA 18, 42: „Alles, was im Himmel und auf Erden geschieht […], das Leben Gottes und alles, was zeitlich getan wird, strebt nur danach hin, dass der Geist sich erkenne, sich selber gegenständlich mache, sich finde, für sich selber werde, sich mit sich zusammenschließt“.

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Tat der Schöpfung erhält ihren eigentlichen Gehalt dadurch, dass sich die Durchführung des Prozesses wiederum praktisch, nämlich durch das seinerseits freie Handeln des Menschen vollzieht. Einerseits bietet die Schöpfung als Mittel zu ihrer Vollendung durch die Zeiterstreckung überhaupt erst einen „Raum für das geschöpfte Dasein“ (Initia 124), d. h., den Menschen, und dieser wiederum muss diesen ihm gewährten Raum im Vollzug der Geschichte bis zu seinem Ende hin tätig durchschreiten. Andererseits ist daran zu erinnern, dass der Raum, den die Schöpfung für den Menschen lässt, nicht gleichsam ein Nebenprodukt der Schöpfung ist, sondern dass der Mensch ursprüngliches Motiv und Inhalt der Schöpfung war, so dass auch die ferneren Ziele der Schöpfung, insbesondere deren Endziel, nur für den Menschen erzeugt worden ist und nur durch den Menschen verwirklicht werden können, da mit dem letzten Ziel des vollendeten menschlichen Bewusstseins „die Absicht, welche durch das Sukzessive des Prozesses erreicht werden soll, […] nur eine in der Kreatur zu erreichende sein“ (SW XIII, 286) kann. Wenn also Gott die Schöpfung veranlasst und der Mensch ihr Inhalt und die Wiederbringung ihr Ziel ist, dann kann dieses nicht augenblicklich erreicht werden, da dies nur im Menschen bewerkstelligt werden kann und der Mensch selbst unter den zeitlichen Bedingungen seines Daseins und den praktischen Notwendigkeiten seines Handelns nur sukzessive, nämlich seinerseits in der Überwindung der Negativität seines Mittelwirkens handeln kann. Demnach ist klar: mittelbar ist nicht Gott, sondern „der Mensch […] Ursache der Verzögerung, [denn] durch den Menschen sollte das Ziel des Fortgangs erreicht werden“ (UF 212).18 Betrachten wir zunächst auch für das menschliche Handeln die inneren Bedingungen seiner verzögerten Ausführung. Hier könnte – abgesehen von dem über die Körperlichkeit seines Tuns gegebenen bloß physikalischen Zeitaspekt – in Hinsicht auf sein notwendiges Mittelhandeln   Schelling argumentiert also von zwei Seiten, die sich im Resultat wieder decken. In der Philosophie der Offenbarung schließt er ex-post aus der Tatsache der Verzögerung unter den Prämissen, dass 1) alles nach Gottes Absicht sei und 2) der Mensch den Prozess verzögere: dass einerseits auch die Sukzession Absicht Gottes sein müsse und dass eben diese Absicht nur im Menschen erreicht werden könne. In der Philosophie der Mythologie hingegen geht es darum, dass Gott den Fortschritt des Prozesses nicht erzwingen möchte, sondern die Umwandlung des Prozesses im Menschen freiwillig erfolgen soll (SW XII, 263). Mit dieser Freiwilligkeit ist als Folge eine stufenweise Entwicklung verbunden, da das je bestimmende Prinzip des menschlichen Bewusstseins einer unmittelbaren, zwangsweisen Umwandlung widerstehe und sich nur sukzessive überwinden lasse. Also einmal: weil alles Gottes Absicht und der Prozess sukzessive ist, muss Gott ihn durch den Menschen gewollt haben. Das andere Mal: weil Gott den Prozess durch den Menschen (seine Freiheit) will, ist er notwendig sukzessiv. 18

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von einer doppelten Sperrigkeit die Rede sein: eine Sperrigkeit des Bewusstseins in objektiv-historischer und in individual-praktischer Hinsicht. Denn einerseits gilt: „das Prinzip des Bewusstseins […], welches Gegenstand der Überwindung ist, soll und muss widerstehen“ (SW XII, 264). Das bedeutet, dass der geschichtliche Fortschritt und das geschichtliche Ziel des Fortschritts in einer je höheren Stufe des Bewusstseins konstituiert ist, welches erst durch Überwindung zu Wandlung und Aufstieg gebracht werden kann. Deswegen kann selbst Gott ein vollumfänglich gehaltvolles Bewusstsein des Menschen, wie es Ziel des positiven Prozesses ist, nicht auf einen Schlag erschaffen. Umso mehr muss ein innerer Fortschritt des individuellen Bewusstseins, welcher im Erreichen privater Handlungsziele (als noch nicht seienden Bewusstseinsgehalten) erstrebt wird, den Menschen durch einen Prozess von Widerstand und Überwindung führen. Auch in individuellen Handlungen bedeutet die Überwindung des Widerstands nichts anderes, als dass das Ziel nur instrumentell, in Überwindung der an sich negativen, in Relation auf die Ziele nicht sein sollenden und doch unumgänglichen Handlungen als Mittel erreicht werden können. Daher erfolgt der Fortschritt der Geschichte in der Potenzendynamik gerade praktisch: das geschichtliche Bewusstsein entwickelt sich nicht durch Denken (und auch nicht durch eine Selbstentfaltung der begrifflichen Vernunft), sondern durch Handeln; die Epochenzäsuren sind durch Taten (und nicht durch wissenschaftliche Erkenntnisse) markiert. Selbst das epochenprägende religiöse Bewusstsein in seiner je spezifischen Stellung ist je Folge solcher Taten. Deswegen besteht die Positivität der Geschichte nicht lediglich darin, dass Gott durch Freiheit eine geschichtliche Welt geschaffen hat, sondern darin, dass diese geschichtliche Welt sich ihrerseits durch Freiheit – nämlich menschlicher Taten – forterzeugt. In diesem menschlichen Handeln als Träger der Geschichte liegt nun aber seinerseits ein Prinzip des Widerstands. Diese scheinbar triviale Feststellung, dass im Handeln ein nicht instantan aufzulösender Widerspruch zwischen Zielinhalt und Wirklichkeit sukzessive, in der Überwindung von Widerständen, als Fortschritt des Bewusstseins auf das Ziel hin, aufgelöst werden muss, wenn die Handlung Erfolg haben will, beinhaltet demnach einen zentralen Aspekt der kosmologischen Frage, weshalb aus der Position der Schöpfung als Handlung deren Ziel nicht sogleich im Anfang erreicht werden kann. So erweist sich der Weltprozess als ein Zusammenwirken göttlicher und menschlicher Freiheit in ihren Funktionen des Durchdringens und Überwindens von Widerständen. Von hier aus lässt sich der argumentative Gang einer Bewährung der Voraussetzung der positiven Freiheitstat anhand der verzögerten Ge-

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schichte weiterführen, wenn zuletzt gezeigt wird, dass auch die Zeit selbst nicht unberührt von dieser Struktur prozessualer Widerständigkeit und sukzessiver Entwicklung ist, und dass deswegen eine Vorstellung wie die, dass die Verzögerung nur aus einer an sich bestehenden Dauer der Zeit resultierte, für Schelling falsch sein muss. Hierfür finden sich im zweiten Entwurf zu den Weltaltern Hinweise, dass Schelling die Struktur einer eng mit der Praxis verbundenen Zeit gerade aus ihren Momenten des Fortdrängens und der Hemmung heraus denkt. Die Zeit selbst, hießt es dort, besteht aus einem „Widerstreit zweier Prinzipien; eines das vorwärtsstrebt, zur Entwicklung treibt und eines anhaltenden, hemmenden, der Entwicklung widerstrebenden“ (W 122). Die Begründung hierfür zeigt, dass Schelling in der Konzeption der Zeit dieser selbst genau das Moment der raumgebenden Verzögerung einschreibt, welches Gott zur weltschöpfenden Handlung motiviert und welches die menschlichen Handlungen in der Zeit notwendig tragen: Leistete dies andere nicht Widerstand, so wäre keine Zeit, weil die Entwicklung im Nu, ohne Absatz und Folge geschähe; würde aber auch nicht dieses andere beständig von dem ersten überwunden, so wäre absolute Ruhe, Stillstand und darum wieder keine Zeit (ebd.).

Es ist demnach derselbe Widerspruch und dieselbe Auflösung eines den Widerstand der Negativität des Anfangs Überwindenden, welches die Zeit selbst, das Handeln in ihr, und die dadurch entstehende sukzessive und in Epochen gestufte Geschichtlichkeit erzeugt – und in der Ausgangsstellung der positiven Philosophie in der Schöpfungstat gegeben ist. Damit ist mit Schelling eine gültige Antwort auf die Frage, weshalb der Prozess zögere, gegeben. Die Bedeutung dieser Antwort für den Gesamtzusammenhang der positiven Philosophie lässt sich zuletzt über ein auf den ersten Blick merkwürdiges Argument verdeutlichen, welches Schelling in der Philosophie der Mythologie auf die Frage, weshalb das Ende der Geschichte als deren Ziel nicht unmittelbar eintrete, anführt. Die Entwicklung zögert, heißt es dort, „aus demselben Grunde, aus welchem es überhaupt eine Entwicklung gibt“ (SW XII, 263). Diese Antwort ist zunächst überraschend, weil sie trivial zu sein scheint: Selbstverständlich gäbe es ohne Verzögerung keine Entwicklung, da Entwicklung ein Vorgang in der Zeit ist und nicht „gleichsam mit Einem Schlag“ (SW XII, 262 f.) geschehen kann. Die Pointe liegt aber darin, dass Schelling für die Entwicklung und deren Verzögerung dieselben Gründe proklamiert – Gründe, aus denen heraus sich dann auch weitere Spezifika der Entwicklung des historischen Prozesses verstehen lassen. Welche Gründe damit gemeint sein können, wird deutlich, wenn man Schellings Ansatz nochmals mit der aus seiner Sicht konkurrierenden

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Theorie, welche den Weltprozess als in eine an sich bestehende sukzessive Zeit hineingelegte begriffliche Entwicklung auffasst, vergleicht. Denn diese beschreibt die prozessuale Entwicklung ohne eine eigentliche Erklärung ihrer Verzögerung, indem sie die zeitliche Dauer schlicht zugrunde legt, ohne deren intrinsische Struktur, welche überhaupt erst zu Dauer und Verzögerung führt, offenzulegen. Schellings Theorieveranlagung hingegen zeigt nicht nur, dass Entwicklung notwendig verzögert sein muss und dass diese Verzögerung durch das Wechselspiel von Widerstand und Überwindung nicht lediglich linear sein kann, sondern zu einem stufenweisen Prozess (und einer epochalen Zeit) führt, sondern sie deckt als den gemeinsamen Grund für Entwicklung und Verzögerung ein universales Prinzip auf, das in der unmittelbaren Praxis-Verschmelzung mit der geschichtlichen Zeit und dem Wechselverhältnis von göttlichem und menschlichem Handeln und dem kosmischen Potenzenprozess im Kern inbegriffen ist: das in das innerste Zentrum der Potenzenentwicklung eingeschriebene Moment des gehemmten Fortdrängens als einer Bewegung von Transitivität, Widerstand und dessen Überwindung. Denn dieses hatte sich nicht nur als eine Beschreibung des inneren metaphysischen ‚Kräftegefüges‘ der Potenzen und der ihnen innewohnenden Möglichkeit einer dynamischen Entwicklung erwiesen, sondern es hatte sich zugleich als Fundamentalprinzip des Bewusstseins und damit des Willens gezeigt, worin die Gesamtbewegung des Weltprozesses von Ausgang und Rückkehr in den als metaphysischen Letztprinzipien zu verstehenden Potenzen bereits vorgeformt war. Und dies wiederum hatte sich als das strukturgleich Selbe in handlungstheoretischer Perspektive gezeigt in der Spannung notwendiger Negativität der Absichten und ihrer Überwindung durch die Handlungen als Mittel zu den intendierten Zwecken, insofern Handlungen als Mittel Nichtseinsollende in Relation zu den eigentlich seinsollenden Zwecken sind und daher in der Überwindung ihrer selbst auf die Ziele hin bestehen, worin eben jene Verzögerung intrinsisch gegeben ist, welche Schelling als Grund des gesamten Weltprozesses diagnostiziert. An dieser Stelle wird die handlungstheoretische Fundierung der positiven Philosophie in der Frage nach der Verzögerung des Eintretens des letzten Ziels klar: Weil gemäß der These der positiven Philosophie der letzte Grund der Welt in der freien Handlung Gottes besteht, muss diese ihrerseits als Mittel zu ihrem Zweck in einer Überwindung ihrer inneren Negativität bestehen, welche in der zeitlichen Dehnung des Weltprozesses abgebildet ist. Und weil andererseits gemäß der These der positiven Philosophie der letzte Grund der Welt in der freien Handlung Gottes besteht, ist keine der gegebenen Beschreibungen mechanistisch oder deterministisch zu verste-

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hen: sie zeigen nichts, das gleichsam von selbst abläuft und nichts, das durch die Macht vorgängiger Gründe erzwungen ist. Sondern sie sind Realisierungsarten eben dieser freien Handlung Gottes, wie auch der freien menschlichen Handlungen, zu deren Grundbedingungen gehört, dass sie vollzogen und ebenso gut unterlassen werden können. In der Wirkungsmacht dieses Prinzips liegt es demnach, dass durch das Schöpfungshandeln der Weltprozess zeitlich so vorstrukturiert wird, dass das menschliche Handeln dieser präfigurierten Zeit ihren Inhalt und damit ihr konkretes dynamisches Gepräge geben kann. Diese temporale Präfiguration betrifft die generelle Zukunftsausrichtung wie die organische, in Schichten sich entwickelnde Binnenstruktur der Zeit gleichermaßen. So kann dieses Gepräge als stufenweise, verzögerte Entwicklung des teleologischen, ja finalistischen Weltprozesses beschrieben werden, weswegen umgekehrt die Frage, weshalb dieser in Hinsicht auf das Erreichen seines letzten Ziels zögere, eine aus den Innenmomenten menschlichen wie göttlichen Handelns bestehende Antwort erhalten muss, welche zugleich aufzeigt, weswegen die Erklärungsmacht der positiven Philosophie in Hinsicht auf das Ganze des Weltprozesses einer bloß logischen überlegen ist. Schellings direkte Antwort auf die in der Philosophie der Mythologie gestellte Frage „Warum überhaupt zögert alle Entwicklung?“ (SW XII, 263) nennt den gezeichneten Grund der Bewusstseinstransformation via Überwindung der widerstehenden Potenzenkonstellationen und stellt die Frage danach, wer diesen Prozess eigentlich führt: Von Anfang an ist alles auf die höchste Freiwilligkeit berechnet. Es soll eben nichts mit bloßer Gewalt durchgesetzt werden. Es soll zuletzt alles aus dem Widerstehenden selbst kommen, welches eben darum seinen Willen haben muss bis zur letzten Erschöpfung. Die Umwandlung, die ihm zugedacht ist, soll nicht von außen, gewaltsam, sondern von innen, und so erfolgen, dass es stufenweise dazu gebracht wird, sich ihr freiwillig hinzugeben (SW XII, 263).

Daher leitet Schellings Antwort auf die Frage nach der Verzögerung über zur zweiten Frage nach dem Wechselspiel göttlicher und menschlicher Freiheit in der Geschichte. Denn an die durch die Handlung Gottes grundsätzlich geschaffene und durch das menschliche Handeln realisierte Geschichte ist die Frage zu stellen, wie diese „Umwandlung von innen“ einerseits freiwillig und andererseits doch so vollzogen sein soll, wie sie dem Menschen von Gott „zugedacht“ ist. Die Frage ist daher: in welcher Weise genau greifen göttliches und menschliches Handeln ineinander und wer ist eigentlich hinsichtlich des Inhalts und Fortschritts der Geschichte der zuletzt verantwortliche Akteur?

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2) Die Vorsehung und die Frage nach dem Akteur in der Geschichte In der gegebenen Antwort auf die Frage nach dem Grund der Verzögerung des Weltprozesses beschreibt Schelling auf aufschlussreiche und doch erklärungsbedürftige Weise das Wechselspiel zwischen dem finalen Handeln Gottes und der menschlichen Freiheit in dessen Dienst. Das Widerstehende, von dem hier ist Rede ist, ist das geschichtliche menschliche Bewusstsein entsprechend der Stellung der Potenzen im kosmischen Prozess. Denn diese, die kosmischen Potenzen sind es, in denen sich Gott geschichtlich offenbart; sie sind es, die sich prozessual und stufenweise auf je höhere Stufen bis zur letzten Einheit hin entwickeln und die in der voluntativen Interpretation als außergöttliche nichts anderes als menschliches Bewusstsein entsprechend seiner historischen kollektiven Stufe sind. Denn nur so kann Schelling sagen, dass das Widerstehende selbst einen Willen haben müsse, aus welchem heraus die Umwandlung – und das heißt die Umwandlung seiner selbst – kommen müsse. Dies wird deutlicher, wenn man einem Tagebucheintrag von ca. 1815 hinzunimmt, in dem Schelling die Geschichte als ein gemeinsames Werk von Mensch, Gott und kosmischem Prozess darstellt, dergestalt dass „der Lebensgang eines einzelnen Individuums[,] das Leben des Weltalls und das Leben Gottes […] offenbar miteinander verflochten sind und eigentlich das ganze Schauspiel des Lebens miteinander erzeugen“ (TGB 2, 103). Darin wird offenbar, dass die Frage nach dem Akteur in der Geschichte mit Schelling nicht in der einfachen Dichotomie Mensch oder Gott beantwortet sein kann, sondern eine differenziertere Antwort fordert, bei der zugleich sichtbar wird, inwiefern die Potenzenentwicklung Ursache, Medium, Teil oder Folge dieses Handelns ist. Das ursprüngliche Dilemma, das in dieser Frage nach einer Alternative lediglich zwischen Mensch und Gott offenbar wird, ist augenfällig: Bestimmte lediglich Gott den Lauf der Geschichte dergestalt, dass dem Menschen nichts bliebe als die Erfüllung seiner göttlichen Prädeterminierung, so müsste sich Gott den gesamten Vorgang der Geschichte inklusive des Bösen zurechnen lassen; der Mensch wäre dann lediglich ein Zahnrad im quasi mechanischen Ablauf des Weltgeschehens. Wäre hingegen der Mensch der alleinige Akteur in der Geschichte, dann wäre Gott zwar vom Bösen entlastet, es wäre dann aber nicht mehr erklärlich, inwiefern der Lauf der Geschichte noch göttlicher Voraussicht oder gar göttlicher Vorherbestimmung entsprechen sollte. Gott hätte mit der Schöpfung am zeitlichen Anfang des Weltverlaufs das weitere Geschehen aus der Hand gegeben. Um Schellings differenzierte Antwort auf die Frage nach dem Ak-

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teur in der Geschichte in seiner Spätphilosophie zu verstehen, muss als eine zweite Problemkonstellation diejenige herangezogen werden, unter welcher sich Schelling das Problem der Geschichte zunächst stellte. Denn wie es gängiges Verfahren bei Schelling ist, sollte auch hier eine ursprüngliche Problemlage in der späteren Theoriebildung – auch wenn sich das Kernproblem zwischenzeitlich verschoben hatte – integriert bleiben. Denn werkgenetisch ersetzt die Dichotomie von menschlichem und göttlichem Handeln eine ursprünglichere Problematik, unter welcher Schelling seine Geschichtsphilosophie zunächst konzipiert hatte: nämlich eine Alternative zu finden zu den unhaltbaren Vorstellungen, nach welchen die Geschichte entweder notwendig oder zufällig sei. Mit dem Notwendigkeitsbegriff sind Vorstellungen verbunden, nach denen der geschichtliche Prozess mechanistisch oder deterministisch verfasst sei. Aber für Schelling war immer schon klar, dass die Geschichte kein bloßes Uhrwerk ist, das nach gegebenen Antecedensbedingungen in festgelegter Weise (mechanisch) abläuft, und dass sie auch keine bloß a priori deduzierbare Folge eines anfänglichen Schöpfungshandelns im Sinne eines intelligiblen Determinismus‘ sein kann. Schelling hat dies schon früh gesehen und diese grundsätzliche Auffassung immer beibehalten: „nur was keine Theorie a priori hat, hat Geschichte“ (SW I, 471) heißt es bereits 1798 in Schellings Abhandlung Über die Frage, ob eine Philosophie […] der Geschichte möglich sei. Es ist derselbe Gedanke, den Schelling in der Spätphilosophie als Kriterium des Positiven der Geschichte einsetzt: „mit der Vernunftwissenschaft“, heißt es dort, „ist eine Philosophie der wirklichen Geschichte unmöglich“ (SW XII, 568 Anm.). Dies geht damit einher, dass „der Mensch […] nur deswegen Geschichte [hat], weil, was er tun wird, sich nach keiner Theorie zum Voraus berechnen lässt“ (AA I,9.1, 288/SW III, 589); eben dies entspräche aber für die Frage nach dem Akteur in der Geschichte, wie sie Schelling in der Spätphilosophie formuliert, der Auffassung, dass Gott alleine handelte. Geschichte wäre für Gott vorausberechenbar und für den Menschen notwendig, wenn alles bereits durch Gott vorherbestimmt wäre. Andererseits ist für Schelling ebenso klar, dass das Handeln des Menschen keine Geschichte hervorbringen würde, wenn dieses in jeder Hinsicht zufällig im Sinne des absolut Regellosen wäre: „Das absolut Gesetzlose [verdiente nicht] den Namen der Geschichte“ (AA I,9.1, 288/SW III, 590) notiert Schelling 1800 und zu Beginn der zweiten Münchner Zeit, 27 Jahre später, heißt es entsprechend, „dass eine schrankenlose Freiheit die durch keine Gesetzmäßigkeit gezügelt wäre, zu einer trostlosen und verzweiflungsvollen Ansicht der Geschichte führe“ (SW X, 116). Hier ist zu sehen, dass Schelling den Gedanken von individueller Freiheit im Han-

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deln mit der Geschichtlichkeit des Handelns verbindet. Denn in der Ablehnung der bloßen Indifferenzfreiheit für Einzelhandlungen hatte sich bereits gezeigt, dass Schelling Handeln nicht einmal so nennen würde, wenn es bloß zufällig wäre. In der Perspektive der Spätphilosophie wäre demnach eine zufällige Geschichte eine solche, die von bloßer menschlicher Willkür im Sinne der Indifferenzfreiheit abhinge. Demnach ist jetzt die gegebene Aufgabe die, ein Zusammenwirken von Mensch und Gott so verständlich zu machen, dass zugleich die Bedrohungen von Notwendigkeit und Zufall aus der Geschichte verbannt sind. Hierfür hat Schelling schon um 1800 ein Modell skizziert, auf das er indirekt in der Spätphilosophie zurückgreift und das beide – Mensch und Gott – als gemeinsame Akteure im Prozess des Weltgeschehens beinhaltet.19 Von diesem Modell aus soll Schellings auch für die Spätphilosophie gültige Auffassung rekonstruiert werden. In denkbar knappster Form legt Schelling in Philosophie und Religion (1804) sein geschichtsphilosophisches Programm hinsichtlich des Mensch-Gott-Verhältnisses dar: „Die Geschichte“, heißt es dort, „ist ein Epos, im Geiste Gottes gedichtet; seine Hauptpartien sind: die, welche den Ausgang der Menschheit von ihrem Zentro bis zur höchsten Entfernung von ihm darstellt, die andere, welche die Rückkehr“ (SW VI, 57). Abgesehen von der Bedeutung der bis zuletzt beibehaltenen geschichtsphilosophischen Vorstellung, der Weltprozess entspräche der zirkelhaften Bewegung von Ausgang und Rückkehr, auf welche im letzten Abschnitt dieses Kapitels nochmals gesondert eingegangen wird, ist hier das Bild Gottes als eines epischen Dichters von Relevanz. 20 Denn in ihm ist enthalten, dass die ausführenden Figuren des Epos‘ zwar einerseits einen bereits vorgegebenen Ablauf des Geschehens nachvollziehen, 19   Zeitlich zwischen der Entstehung des nachfolgend skizzierten Modells des Epos um 1800 und der Spätphilosophie findet sich in der Freiheitsschrift ein alternatives Argument zum Prädestinationsproblem, das oben im Zusammenhang mit der Freiheit des Menschen bereits besprochen wurde. Die dort gegebene ‚Lösung‘ besagt, die eigentliche Prädestination bestehe in der ewigen Selbstgründung des Menschen und löse das moralische Prädestinationsproblem, da diese Selbstgründung und die ihr entsprechenden Handlungen des Menschen zurechenbar seien. Gründe gegen die Überzeugungskraft dieses Arguments waren neben der durch ein differenzierteres Ewigkeitsmodell partiell behebbaren aporetischen Vorstellung einer strikt zeitlos-ewigen Tat die Nicht-Zurechenbarkeit einer epistemisch nicht zugänglichen Selbstprägung und die hierdurch verwehrte Möglichkeit der Charakteränderung – beides Punkte, die Schelling in den 1809 nachfolgenden Jahren zu korrigieren versucht hat. 20   Die Metapher der Geschichte als Bühnenspiel, das dem Weltplan entsprechend aufgeführt wird, der göttlicher Dichtung entstammt, findet sich bereits bei Plotin (Enneaden III, 2, (47) = 1960, V, 47).

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sie andererseits dies jedoch aus Freiheit, Kraft ihrer eigenen Persönlichkeit als Akteure tun. Daher stellt sich nun die Frage, wie dies genau zu verstehen ist, so dass einerseits gelten kann, dass der Mensch „seine Geschichte […] selbst erst hervorbringt“ (SW I, 472), diese andererseits aber sich gemäß der präfigurierten Potenzenentwicklung und des göttlichen Schöpfungsplanes verwirklichen soll. 21 Diese Frage nach Freiheit und Prädestination betrifft die Gesamtkonzeption der positiven oder geschichtlichen Philosophie, insofern diese die Wirklichkeit der Welt zugleich aus dem Handeln Gottes, zu welchem wesentlich Freiheit und Voraussicht gehören und dem geschichtsprägenden Handeln des Menschen erklären will. Betrachten wir die geschichtsphilosophische Skizze aus Philosophie und Religion unter dieser Frage, dann wird schnell klar, dass mit der Aufgabenverteilung von Dichter und Schauspieler im Bild der Epos-Dichtung allein das Prädestinationsproblem nicht behoben werden kann. Zwar haben die Schauspieler darin einen gewissen Gestaltungsspielraum hinsichtlich der Art der Ausführung ihrer Rollen, aber deren wesentlicher Aspekt, der Inhalt dieser Rollen ist vorherbestimmt. Schauspieler können in einem gewissen Grad bestimmen, wie, nicht aber was sie spielen. Kein Schauspieler könnte in diesem Modell die Figur, die er repräsentierte, noch den Inhalt seines Spieles selbst festlegen. Auf die Geschichte übertragen bedeutete dies: sowohl das Wesen des Menschen als auch seine Vita wären durch den vorgegebenen Geschichtsplan festgelegt. Der Mensch, der seine Geschichte selbst hervorbringt, wäre hier lediglich

  Es sind in Schellings Werk über Jahrzehnte hinweg immer wieder dieselben Grundgedankenfiguren, die er in verschiedenen Transformationen zur Beurteilung oder Lösung bestimmter Problemkonstellationen gebraucht. So ist es für die Frage nach menschlicher Freiheit und göttlicher Macht und Fügung eine bestimmte Konstellation von Schicksal, die darin besteht, dass zugleich der Mensch in Freiheit handelt und doch einem vorherbestimmten Schicksal nicht entgeht, die sich im Bild des Epos und der Konstellation der Vorsehung finden. Diese Schicksalskonstellation bespricht Schelling zuerst im Zusammenhang mit der griechischen Tragödie, die ja einen bekannten Höhepunkt darin findet, dass Götter den Menschen ein Schicksal prophezeien, das diese dann zu vermeiden versuchen, um ihm letztendlich doch nicht zu entgehen. Diese Konstellation hatte Schelling zunächst allerdings nicht als eine aufgefasst, bei welcher die Freiheit des Akteurs im Schicksal erhalten blieb – sondern der nur solange frei war, bis das Schicksal sich erfüllte, das als Verlust der Freiheit zu beklagen war (vgl. AA I,3, 106 f./SW I, 336 f.). Als Lösung der Aufgabe, göttliche Allmacht und menschliche Freiheit zu denken, erwies sich die Tragödienkonstellation für Schelling als untauglich (vgl. Hermanni 2000, 201). Sie kehrt aber wieder in den elaborierteren Varianten eines episch verstandenen Weltverlaufs und in einer Geschichte, in der Gott Vorsehung ist. 21

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als Realisierungsinstanz dieser Geschichte zu verstehen, nicht aber als Entscheidungsinstanz darüber, wie diese Geschichte verliefe. Diese Defizite lassen sich zumindest partiell beheben, wenn man eine ausführlichere Darlegung der Analogie des Schauspiels zum geschichtlichen Prozess hinzunimmt, die Schelling bereits im System des transzendentalen Idealismus von 1800 dargelegt hat. Dort erweitert er die Analogie von Geschichte und Schauspiel in drei entscheidenden Hinsichten, welche, so die Interpretationsthese, auch seine Grundauffassung vom Verhältnis der Rollen des Menschen und Gottes wiedergeben, die sie noch in der Spätphilosophie haben. Erstens ist dem Menschen der Heilsplan weder a priori bekannt, noch lässt er sich empirisch rekonstruieren. Nirgendwo in der Geschichte, so Schelling, lässt sich eine Stelle zeigen, „wo die Spur der Vorsehung oder Gott selbst gleichsam sichtbar ist“ (AA I,9.1, 301/SW III, 603) – nur die positive Philosophie kann schließlich darlegen, dass es einen Heilsplan überhaupt geben muss, da die Vorsehung, wie zu zeigen ist, zum Wesen des positiv verstandenen Gottes gehört. Im Gegensatz zur einfachen Konstellation des Menschen als Schauspieler, der eine ihm bereits vollständig bekannte Rolle im Epos nachspielt, ist in dieser Variante der konkrete Fortgang der Geschichte ein Geheimnis Gottes – eben des ‚Geheimnisses Gottes‘, das Schelling in der Spätphilosophie wiederholt benennt (GPP 355, SW XIII, 305; XIV, 11). Zweitens – und dies ist der raffiniertere Schachzug – entwickelt sich für den Menschen Gott selbst und sein Heilsplan erst durch sein irdisches geschichtliches Handeln: „Die Geschichte als Ganzes“, führt Schelling aus, ist „eine fortgehende, allmählich sich enthüllende Offenbarung des Absoluten“ (AA I,9.1, 301/SW III, 603). Des Menschen Tun geht hierbei mit der Aufdeckung dieses Geheimnisses einher – und zwar eines Heilsplans, der durch diese Aufdeckung erst seine eigentümliche Entwicklung erfährt. Die raffinierte Wendung dieser Passage liegt darin, dass durch das menschliche Handeln nicht lediglich ein bereits gegebener Plan sichtbar wird, sondern dass das Aufdeckungsgeschehen (und das heißt nichts anderes als: die Offenbarung) selbst ein Teil des Plans ist. Es hatte sich in der Frage nach dem Grund der Verzögerung des Weltprozesses gezeigt, dass es ein grundlegendes Element der Schellingschen Geschichtsphilosophie ist, dass der zentrale Sinn der Geschichte darin liegt, dass des Menschen Wissen um Struktur und Inhalt dieser Geschichte sukzessive wächst – d. h. dass Geschichte in diesem Sinn eine universale reflexive Bildungsgeschichte ist. Dieses Enthüllungsgeschehen als Offenbarung ist ein prozessuales Nach-außen-Treten nicht eines bereits Feststehenden, sondern eines durch dieses Offenbarungsgeschehen erst Werdenden.

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Der Offenbarungsgott ist so von seinem Offenbartwerden durch uns von uns abhängig. Und diese Abhängigkeitsbeziehung wiederum ist für den Menschen bemerkbar. Denn „das Bewusstsein [empfindet] seine eigene Bewegung als eine Bewegung Gottes“ (SW XII, 130). In dieser Idee ist auch bereits der für das Konzept der philosophischen Religion der Spätphilosophie zentrale Gedanke vorformuliert, dass die Geschichte zugleich einen sukzessiven a posteriori ‚Beweis‘ ihrer Voraussetzung des existierenden Gottes erbringt – den Schelling, wie gesehen, im späten System, um allen Gedanken einer Ableitbarkeit von Folgen aus Prämissen auszuschließen, einen Erweis Gottes nennt und welcher hier hinsichtlich seiner geschichtlichen Dimension sichtbar wird. 22 Es ist derselbe Gedanke des Systems von 1800, dass „der Mensch durch seine Geschichte einen fortgehenden Beweis von dem Dasein Gottes [führe], einen Beweis, der aber nur durch die ganze Geschichte vollendet sein kann“ (AA I,9.1, 302/SW III, 603), welcher sich in Schellings spätesten Aufzeichnungen zur positiven Philosophie wiederfindet: jener Erweis der Existenz des persönlichen Gottes, heißt es dort, sei „ein durch die gesamte Wirklichkeit und durch die ganze Zeit des Menschengeschlechts hindurchgehender […], der insofern nicht ein abgeschlossener, sondern ein immer fortgehender ist, und ebenso in die Zukunft unseres Geschlechts hinausreicht, als in die Vergangenheit desselben zurückgeht“ (SW XI, 571). Insofern kommt die positive Philosophie, als die Deutung der Erfahrung des Ganzen der geschichtlichen Wirklichkeit mit diesem Erweis Gottes sachlich zusammen: sie ist „nichts anderes als der fortgehende, immer wachsende, mit jedem Schritt sich verstärkende Erweis des wirklich existierenden Gottes“ (SW XIII, 131). Und „in diesem Sinne 22   Dass klassische Gottesbeweise scheitern und es daher eines alternativen Verfahrens bedarf, liegt nach Schellings subtiler Analyse daran, dass in den Vorträgen namentlich zum ontologischen Argument, paradigmatisch bei Anselm und Descartes, je eine Zweideutigkeit im Begriff des ‚Existierens‘ vorliegt, wonach zwar eine notwendige Existenzweise zum Begriff Gottes gehören kann, daraus aber nicht geschlossen werden kann, dass er tatsächlich existiert, sondern nur: „Gott [existiert] notwendiger Weise, nämlich wenn er existiert, was also noch immer unentschieden lässt, ob er oder ob er nicht existiert“ (SW XIII, 158); hierzu akribisch Buchheim 2013, 125–129. Neben dieser Inkonsistenz in der Beweisführung ist es für Schelling aber namentlich die Stoßrichtung der Gottesbeweise, die Schelling für unangemessen erachtet: würden die mit dem Begriff des ‚notwendig existierenden‘ argumentierenden Beweise (der ontologische und der kosmologische) gelingen, dann wäre das bewiesene Wesen noch gar nicht der Gott, um den es uns zu tun ist, da das notwendig Existierende zugleich gegen sich selbst unfrei wäre. Es ergäbe sich demnach, so Schelling „eine Antinomie zwischen dem, was aus der Vernunft mit Notwendigkeit folgt, und dem, was wir eigentlich wollen, wenn wir Gott wollen“ (SW X, 21); hierzu nochmals Buchheim 2013, 136–138.

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auch vorzüglich ist die positive Philosophie geschichtliche Philosophie“ (SW XI, 571). 23 Drittens nun – und dies ist der systematisch entscheidende Punkt – stehen Gott und Mensch in der Entwicklung, Enthüllung und Erfüllung des geschichtlichen Geschehens auf diese Weise in einem ontologischen Wechselverhältnis: Wäre […] der Dichter unabhängig von seinem Drama, so wären wir nur die Schauspieler, die ausführen, was er gedichtet hat. Ist er aber nicht unabhängig von uns, sondern offenbart und enthüllt er sich nur sukzessiv durch das Spiel unserer Freiheit selbst, so dass ohne diese Freiheit auch er selbst nicht wäre, so sind wir Mitdichter des Ganzen, und Selbsterfinder der besonderen Rolle, die wir spielen (AA I,9.1, 301/SW III, 602). 24

Die Offenbarung Gottes als das Geoffenbartwerden Gottes durch das geschichtliche Handeln des Menschen ist so nicht nur eine Entwicklung Gottes aus der Perspektive des Menschen, sondern, insofern die Offenbarung wesentlicher Teil Gottes selbst ist, auch eine Veränderung Gottes durch den Menschen – unter den dargelegten Einschränkungen der Vor-

23   Der Status und die ‚Erweis‘-kraft dieser Argumentation ist umstritten. Sie zu überprüfen ist nicht Aufgabe dieser Untersuchung. Klar ist zumindest, dass wegen der Unabgeschlossenheit dieses Beweisverfahrens dieses sich seinerseits schwerlich einer abschließenden Prüfung unterziehen kann; immerhin basiert Schellings Gotteserweis, wie Hermanni 2012, 382 treffend bemerkt, u. a. „auf Tatsachen, die noch gar nicht eingetreten sind“. Buchheim 2001, 139 weist hierbei auch auf den wesentlichen Aspekt hin, dass die positive Philosophie als prozessual wachsend angelegte auf die geschichtliche und existenzielle Situation des Philosophierenden zurückverweist und daher „immer zugleich ein praktisches Unterfangen [sei]: ein sich kontinuierender Versuch, die Welt aus der Lage zu begreifen, dass der Denkende sich zugleich in ihr an kontingenter Stelle befindet und ein Stück von ihr mit einem je bestimmten Geschick ist“. 24   Dass Schelling hier vom Drama, in der Passage von 1804 vom Epos spricht, um das Gott-Mensch-Verhältnis zu illustrieren, kann seinen Grund darin haben, dass hier der Fokus stärker auf die Rolle des Einzelnen, der Individualvita, in der Passage der Philosophie und Religion auf das Ganze der Geschichte gelegt wird. Dies entspräche zumindest der zeitgenössischen Unterscheidung dieser Gattungen, wonach das Epos den Einzelnen in Abhängigkeit von der Weltgeschichte, im Drama die Geschichte in Abhängigkeit vom Einzelnen darstellt. Vgl. hierzu, ebenfalls von 1804, Jean Pauls Charakterisierungen aus der Vorschule der Ästhetik: „im Epos trägt die Welt den Helden, im Drama trägt ein Atlas die Welt“ (1990, 233). Für unseren Zusammenhang ist zudem bedeutsam, dass Schelling in seiner Kunsttheorie selbst darauf hinweist, dass der Erzähler im Epos den Leser bzw. das Publikum „von der allzugroßen Teilnahme an den handelnden Personen beständig zurückrufe, und ihre Aufmerksamkeit auf den reinen Erfolg [!] spanne“ (SW V, 692).

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stellung eines werdenden Gottes durch Schellings Doppelkonzeption der Ewigkeit. Damit ist die entscheidende Rollenverteilung zwischen Mensch und Gott auch für die Spätphilosophie bereits 1800 dargelegt. Die Abhängigkeit von Mensch und Gott ist wechselseitig; auch Gott ist vom Menschen abhängig. Diese beiden Seiten lassen sich aus der ontologischen Veranlagung der Spätphilosophie heraus verstehen: der Mensch ist in Gott als ein Teil der Offenbarung des Wesens Gottes. 25 Und Gott ist im Menschen als dessen ursprünglichstes Wesen, dargelegt in der Theorie des Urmenschen und des ursprünglich göttlichen Gewissens im Menschen. Hinsichtlich des geschichtlichen Prozesses bedeutet dies nun so viel: Gott ist dadurch, dass der Mensch in ihm ist, selbst im geschichtlichen Prozess verfangen. Er „steht in unmittelbarer Beziehung zu einem Endlichen und Begrenzten, dem menschlichen Wesen, und indem e[r] nicht umhin kann, zur unmittelbaren Seele [=dem Gewissen] desselben zu werden, ist e[r] auch genötigt, an allen Bestimmungen, Verhältnissen und Begrenzungen desselben teilzunehmen und auf diese Weise, indem e[r] in alle Formen der Endlichkeit eingeht, sich selbst zu verendlichen“ (SW X, 114). Auf diese Weise zeigt sich die wechselseitige Doppelrelation zwischen Mensch und Gott im geschichtlichen Prozess: wegen der Abhängigkeit Gottes vom Menschen bewirkt der geschichtlich handelnde Mensch eine sukzessive Offenbarung Gottes. Andererseits manifestiert sich Gottes Handeln im Bewusstsein und Handeln des Menschen in der Leitung seiner Folgen auf das Gesamtziel hin: indirekt handelt so Gott selbst durch den Menschen hindurch (vgl. SW X, 117). Was bedeutet dies nun für die Frage nach dem Akteur der Geschichte konkret? Es bedeutet, dass die Grundveranlagung des geschichtlichen Prozesses durch das göttliche Handeln präfiguriert sein kann. Die „Hauptpartien“, wie es schon 1804 hieß, von Ausgang und Rückkehr in  Der systematisch-ontologische Rahmen hierfür manifestiert sich erst 1809 für das Weitere bleibend. Hatte Schelling in seiner frühesten Phase das Problem der Unabhängigkeit der menschlichen Freiheit von einer äußeren Mächtigkeit wie der Gottes noch dadurch zu lösen versucht, dass er auf Gott zugunsten der Freiheit verzichtete, und war es die pantheistische Lösung in der Phase der Identitätsphilosophie gewesen, dass Schelling den Menschen in Gott verortete, so ist die in dieser Hinsicht bleibende Konstellation der Freiheitsschrift die, dass einerseits der Mensch in Gott und ins göttliche Handeln eingebunden ist, andererseits es eine „von Gott unabhängige Wurzel“ (AA I,17, 126/SW VII, 354) in ihm geben muss, welche die zu seiner Freiheit notwendige relative Unabhängigkeit von der Allmacht des Absoluten gewährt. Zur Entwicklung des Mensch-Gott-Verhältnisses anhand der Freiheitsfrage instruktiv Hermanni 2016. Zur ab 1809 feststehenden Gedankenfigur, dass „das Absolute sich wesentlich offenbart und dass seine Offenbarung sich im Menschen ereignet oder vollendet“ siehe Klotz 2013. 25

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nerhalb der großen Zeit stehen durch das Schöpfungshandeln fest. Aber es bedeutet auch, dass der Mensch zugleich frei sein kann, individuell und kollektiv innerhalb dieses weiten bewusstseinsprägenden Rahmens seine konkreten Handlungen nach eigenem Dafürhalten auszuführen. Dass diese Handlungen dann zuletzt eine aufsteigende Bewegung der sukzessiven Rückkehr zu Gott bilden, liegt daran, dass die Figuration der Potenzen, welche das kollektive Bewusstsein der Völker je epochenbildend dominieren, nur in bestimmter vorgegebener, und (innerhalb der negativen Philosophie) a priori deduzierbarer Weise sich entwickeln kann, dass aber dies, wann und durch welche konkreten Taten diese Entwicklung voran getrieben wird, der Freiheit des Menschen überantwortet ist. Schelling hatte bereits 1800 eine Lösung für das Problem der Koinzidenz der je relativ freien Handlungen des Menschen und Gottes vorgeschlagen, die es nun zu erweitern gilt. Hinsichtlich der Analogie des Schauspiels führte er dort aus, dass der Geist des Dichters in der Weise in den Schauspielern wirken müsse, dass „der objektive Erfolg des Ganzen mit dem freien Spiel aller Einzelnen schon zum Voraus […] in Harmonie gesetzt“ (AA I,9.1, 301/SW III, 602) werde. Mit der Einführung dieses Harmonie-Gedankens ist allerdings eine Gefahr verbunden: Die Harmonisierung menschlicher Handlungen mit den göttlichen Plan darf nicht so verstanden werden, dass der Harmonie Stiftende die Harmonie zwischen seinem Plan und dessen Ausführung schlicht durch Gleichsetzung erzwingt und schon gar nicht so, dass die Harmonisierung den Verlauf der Ausführung in jedem Detail beträfe. Denn sonst würden die Mitspieler zu Marionetten und die Antwort auf die Frage nach dem eigentlichen Akteur in der Geschichte wäre doch allein bei demjenigen zu suchen, welcher diese Harmonie ‚zum Voraus‘ etabliert hätte. Der Mensch wäre so kein ‚Selbsterfinder‘ seiner Rolle mehr. Daher kann eine Vereinigung menschlicher Freiheit und göttlicher Vorsehung im wechselwirkenden Handeln nur dann gelingen, wenn die zweideutige Forderung der Freiheitsschrift, Gott müsse den Geschichtsprozess in „alle[n] Folgen […] vorgesehen“ (AA I,17, 162/SW VII, 396 kursiv Vf.) haben, auch nur auf die Folgen des Prozesses im Sinne der Endpunkte, auf die er zuläuft, eingeschränkt wird. Denn es ist nicht möglich, den Prozess selbst en detail vorherzubestimmen und zugleich zu fordern, dieser würde gerade so durch freie und unabhängige Wesen vollzogen. Hingegen ist es möglich, die Grundstruktur des Prozesses inklusive seines Endes festzulegen und die konkrete Ausgestaltung der Freiheit des Menschen anheimzugeben. Dies entspricht der vorausbestimmenden Voraussicht auf die Folgen im Sinne des Ziels und Endes des Prozesses und

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stimmt mit der Forderung von 1800 überein, nach welcher nicht der Verlauf des Schauspiels, sondern der „objektive Erfolg des Ganzen“ durch Harmonisierung mit dem freien Spiel Aller gewährleistet werden soll. Eine solche eingrenzende Führung freier Handlungen über ihren allgemeinen Rahmen in ein vorgegebenes Ziel ist es, was Schelling mit „Vorsehung“ meint. Mit dieser zentralen Charakterisierung des Handelns Gottes in die Spätphilosophie ersetzt und erweitert Schelling den im System des transzendentalen Idealismus ausgesprochenen Harmonie-Gedanken und lässt die Geschichte als ein Zusammenwirken von Gott und Mensch mittels der Potenzen verständlich werden. Die Geschichte der positiven Philosophie erhält ihrem Sinn dadurch, dass sie „eine Geschichte [ist], in der Gott Vorsehung ist“ (SW XI, 568). Hier ist zunächst zu bemerken, dass ‚Vorsehung‘ auf dem begrifflichen Tableau der Spätphilosophie Schellings eine zentrale, in ihrer Bedeutung bisher kaum gewürdigte Stellung zukommt. Sie ist ein, wenn nicht gar der zentrale Begriff Schellings zur Charakterisierung der positiven Attribute Gottes, da Schelling sie in allen Parallelformulierungen nennt. 26 Sie ist direkt mit der göttlichen Freiheit verbunden, insofern gilt: „ohne eine göttliche Freiheit in der Schöpfung gäbe es auch keine Freiheit in der Weltregierung, keine Vorsehung“ (SW XIII, 305 f.; entspr. UF 136). Zweitens erfüllt die Vorsehung begrifflich eine mittlere Funktion zwischen bloßer Voraussicht als schlichtem Vorherwissen dessen was geschehen wird (ohne dass dieses durch den Vorherwissenden beeinflusst würde) und voller und freiheitsausschließender Vorherbestimmung oder Prädetermination. 27 Dies wird begrifflich bereits dort deutlich, wo Schel  Vgl. zu den positiven Attributen Gottes SW XIV, 350: „Vorsehung, Weisheit, Güte“, GPP 165: „Freiheit, Intelligenz, Vorsehung“ und SW X, 70: „Freiheit, Intelligenz, Willen und Vorsehung“. Vorsehung ist das einzige Attribut, das Schelling immer nennt. Daher ist es bemerkenswert, dass es in der Literatur zur positiven Philosophie im Vergleich zur Freiheit Gottes kaum Beachtung findet. Vgl. hierzu auch schon die Definition der „Religion, in der einzig wahren Bedeutung des Worts“ als „System der Vorsehung“ im System von 1800 (AA I,9.1, 300/SW III, 601). Von hier ist die begriffliche Linie vom positiven Gott der Vorsehung zur philosophischen Religion, in welche die fortschreitende positive Philosophie unabschließbar konvergiert, leicht zu ziehen. 27   Diese These kann sich exegetisch auf AA I,17, 154/SW VII, 387 stützen, wo Schelling ‚Präscienz‚ und ‚Prädestination‘ von „eigentlicher Fürsehung“ unterscheidet. Allerdings sind Prädestination und Prädetermination nicht dasselbe: die Prädestination betrifft die Vorherbestimmung des Endes/Ziels/Schicksals (und nicht unbedingt des Weges dorthin, sofern dieser nicht selbst als Teil des Ziels verstanden wird) und ist insofern wieder nah mit der Vorsehung nach hier vorgeschlagener Auslegung verwandt; die Prädetermination betrifft hingegen auch jede einzelne Sequenz des Weges. 26

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ling die Vorsehung zunächst in einer ganz anderen Funktion, nämlich als eine geschichtliche Epoche einführt. Im System von 1800 findet sich bereits eine Dreiteilung der Geschichte, gemäß welcher nach einer Periode des Schicksals und der Natur zuletzt eine Epoche der Vorsehung eintreten wird. Diese Periode entspricht in der historischen Gliederung derjenigen der Erfüllung, die in der späteren Unterteilung die nachzeitliche Ewigkeit einnehmen wird, in der „Gott sein“ (AA I,9.1, 303/SW III, 604; Herv. Schellings) wird. Ein wichtiger Aspekt für die weitere begriffliche Verwendung ist allerdings der, dass Schelling die Vorsehung hier nicht nur als den eschatologischen Endzustand der letzten Periode betrachtet, sondern als Entwicklung auf diesen Zustand hin: Sie ist die Periode, wo das Frühere „sich als Vorsehung entwickeln, und offenbar werden wird, dass selbst [die früheren Perioden] schon der Anfang einer auf unvollkommene Weise sich offenbarenden Vorsehung war[en]“ (ebd.). Die Vorsehung tritt hier bereits in der Doppelfunktion eines bestimmten Ziels und einer allgemeinen Leitung auf dieses Ziel hin auf. Demnach kann die Vorsehung als Fügung des Weltprozesses hinsichtlich seiner aufsteigend-zirkulären Bewegung von Ausgang und Rückkehr und die aufsteigende Bahn dieser Bewegung in das Ziel der Rückkehr auf höherer Ebene bedeuten, dass eben diese Momente, welche Schelling schon 1804 als die Hauptpartien des Epos beschrieben hat, die die Weltzeit umgreifende Schöpfung festlegen können, ohne dass der Freiheit des Menschen innerhalb dieses Rahmens seine eigentliche Gestaltungrolle als autonomem Akteur beschnitten wird. Die Vorsehung betrifft nicht die Partikularien einzelner menschlicher Handlungen, sondern den Rahmen ihrer Historizität innerhalb der „Einheit des Weltganzen“ (AA I,17, 154/ SW VII, 387); sie ist das „Geheimnis Gottes […], das sich nur sukzessive enthüllt“, den „Weltprozess selbst im Ganzen“ (SW XIII, 305) betreffend – und sie enthält konkret die Finalität, denn „das Ziel [der Menschheit] ist das von der Vorsehung gewollte“ (SW XI, 177). 28 Der so rekonstruierte 28   Dass Schelling entgegen einer großen Alternativtradition das Problem von Vorsehung und Freiheit dadurch löst, dass er einzelne Partikularhandlungen in ihrer vollen Konkretion vom Vorherwissen Gottes ausnimmt, ist meines Erachtens eine Stärke, kein Mangel seiner Theorie. Alternativen wie sie prominent etwa Leibniz in den §§ 39–49 der Theodicée (1996, 116–122) vorträgt, nach welchen Gottes Wissen die Gründe umfasst, auf Basis derer die Menschen dann diesem Wissen gemäß und dennoch frei (weil gründebasiert) handeln, belässt dieses Handeln in einer bedingten (hypothetischen) Notwendigkeit, die mit den entscheidenden Freiheitsmoment des Anders-Handeln-Könnens unverträglich ist und lediglich eine kompatibilistische Freiheit des den eigenen Gründen gemäß Handelns belässt. Hiergegen hilft auch nichts, dass die einzelnen Handlungen des Menschen mit Leibniz nicht metaphysisch notwendig, sondern kontingent sind und in einer anderen möglichen Welt auch anders sein könnten. Denn in der wirklichen Welt,

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Zusammenhang zwischen dem Handeln Gottes, der positiven Philosophie und dem bedeutenden Moment der Vorsehung ist bei Schelling eindeutig belegt; auch hiervon geben die wohl spätesten Aufzeichnungen, die in den Sämmtlichen Werken publiziert wurden, Zeugnis. So nennt er in der abschließenden Vorlesung der Darstellung der reinrationalen Philosophie „den Gott, der handelt [den], bei dem eine Vorsehung ist“ (SW XI, 566) und stellt fest, dass es „ohne einen aktiven Gott […] keine Geschichte [gäbe], in der Gott Vorsehung ist“ (SW XI, 568). Dies zeigt, dass die bereits im System von 1800 ausgesprochene Idee einer Wechselabhängigkeit göttlichen und menschlichen Handelns und eines hierdurch gemeinsam hervorgebrachten Geschichtsprozesses unter Wahrung der Freiheit beider Akteure im Bild des epischen Schauspiels einen Grundgedanken formuliert, der die positive Philosophie als geschichtliche Philosophie mittels des Begriffs der Vorsehung an zentraler Stelle tragen wird. Damit ist die Grundveranlagung einer positiven Geschichte der Vorsehung dargelegt. Doch die Frage ist nun, wie es mittels der Vorsehung vonstattengehen soll, dass zuletzt der geschichtliche Weltprozess durch freies menschliches Handeln in einem vorgesehenen Ende kulminiert? Der wesentliche konstruktive Punkt hierbei ist, dass die allgemeine Struktur des Weltprozesses durch die Schöpfung in das menschliche Handeln eingeht, das von daher dann diesen Weltprozess gemäß der Vorsehung tragen kann. Wenn Gott durch Einsicht in die grundsätzlichen Entwicklungsmöglichkeiten der Potenzenverhältnisse (und das bedeutet: durch Selbsteinsicht) und das Wollen des Weltprozesses gemäß dieser allgemeinen Einsicht den Weltprozess inauguriert, dann sind hierdurch die positiven Grundverhältnisse des Geschichtsprozesses selbst vorherbestimmt. Zu diesen gehören neben der Freiheit aller Akteure die Moralität im Sinne eines sittlichen Fortschritts und die Finalität des Prozesses. Zu diesen gehören von Grund auf auch die positiv-zeitlichen Strukturen, nach welchen die historische Zeit keine symmetrische Sukzessionszeit, die Leibniz zufolge Gott aus dem unendlichen modalen Universum möglicher Welten als die beste ausgewählt hat, beruht Gottes Vorherwissen auf der inneren Verknüpfung aller späteren Ereignisse, welche im Fall einzelner Handlungen so dazu führt, dass die Taten des Menschen „jedes Mal durch ihren vorangehenden Zustand prädeterminiert“ (Leibniz 1996, 121 = Theodicée § 47) sind. Historisch lässt sich die Position Schellings daher eher bei Plotin finden, der bereits die Ewigkeit des Alls als mit einer Vorsehung auch der Teildinge unverträglich dargelegt hatte (Enneaden III, 2, (47), I,1,19ff. = 1960, V, 41) und betont hatte, dass eine alles dominierende Vorsehung bedeuten würde, dass nur noch das Göttliche bliebe und wir zu Nichts würden (Enneaden III, 2, (47), I,9,1ff. = 1960, V, 47).

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sondern eine zukunftsgerichtete, organisch in Epochen voranschreitende ist. Hierzu gehört zudem, dass diese Zeitform nicht an-sich besteht, sondern erst durch reale Handlungen ausgeformt und gefüllt werden muss, da die Geschichtszeit nicht unabhängig von ihren Inhalten, nämlich den geschichtlichen handelnden Personen ist. Insbesondere gehört hierzu aber der metaphysische Entwicklungsgang der Potenzenkonstellationen, die zugleich das menschliche Bewusstsein und Handeln prägen und durch dieses weiterentwickelt werden. Für die Frage, wie die Freiheit des Individuums mit der Notwendigkeit des geschichtlichen Prozesses zusammen bestehen kann, liefert nun Schelling in der Spätphilosophie noch zwei weitere Erläuterungen, die geeignet sind, das System der Vorsehung näher zu illustrieren. Einerseits argumentiert Schelling, dass die Freiheit des Menschen niemals mit einer vollständigen Beherrschung der Folgen seiner Handlung einhergehen könne. Nur der Wille und die unmittelbare Ausführung der Handlung könne durch Freiheit bestimmt sein, die Folgen der Handlung jedoch seien stets schicksalhaft. Daher könne die Verbindung von individueller Freiheit und geschichtlicher Vorsehung so gedacht werden, dass des Menschen „Handlung zwar von ihm, von seiner Freiheit, die Folgen aber oder das, was aus dieser Handlung für sein ganzes Geschlecht sich entwickelt, von einem anderen oder Höheren abhängig ist“ (SW X, 116). Dieses Argument fällt zwar hinter das dialektische Niveau der Erwägungen von 1800 zurück, lässt sich aber in die rekonstruierte Theorie der Vorsehung integrieren. So ist dem zuzustimmen, dass in einem letzten Sinn die Folgen des Handelns nicht in des Menschen Hand liegen und Handlungen stets entgleiten können. Insbesondere gilt, dass die mittelbaren Handlungsfolgen, je weiter sie sich zeitlich von der ursprünglichen Handlung entfernen, allein durch ihre ständige Wechselwirkung mit weiteren Ursachen, je weniger vorhersehbar sind. Deshalb sind solche fernen Folgen auch keine unmittelbaren Gegenstände von Absichten. Entscheidend hierbei ist, dass die Beherrschbarkeit der Folgen einzelner Handlungen hierbei grundsätzlich von Schelling bestritten und durch den Aspekt des Vertrauens auf die Lenkung des Ganzen der Geschichte im Sinne der Vorsehung ersetzt wird: „Ohne diese Voraussetzung würde nie ein um die Folgen seiner Handlung ganz unbekümmerter Mut, zu tun, was die Pflicht gebietet, ein menschliches Gemüt begeistern, ohne diese Voraussetzung könnte nie ein Mensch wagen, ein Handlung von großen Folgen zu unternehmen“ (SW X, 116). 29   Schellings Erwägungen an dieser Stelle ließen sich daher kausalitätstheoretisch so rekonstruieren, dass in Hinsicht auf das komplex wechselwirkende Ganze der Geschich29

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Zweitens entwirft Schelling in der Philosophie der Offenbarung das Bild des in einen Strom geworfenen geschichtlichen Menschen, „dessen Bewegung eine von ihm [=dem Menschen] unabhängige ist, der er unmittelbar nicht widerstehen kann, und die er zunächst bloß leidet“ (SW XIII, 202). Im Gegensatz zur Unbeherrschbarkeit der Handlungsfolgen problematisiert diese Analogie nun die Tatsache, dass der Mensch je situativ Handlungsumständen überantwortet ist, die nicht in seiner Hand liegen, die aber vorab den Rahmen der Handlungsmöglichkeiten entscheidend prägen.30 Hierbei ist es allerdings nicht so, dass die situativen Umstände die Handlungen des Einzelnen alternativlos determinieren. Schelling betont, dass der Mensch „nicht bestimmt [ist], sich von diesem Strom wie ein totes Objekt bloß fortziehen oder fortreißen zu lassen“ (ebd.). Dem Menschen bleibt innerhalb dieser Situation Gestaltungsspielraum in Abhängigkeit von den sie prägenden dynamischen Bedingungen. Der Mensch, so Schelling, „soll den Sinn dieser Bewegung verstehen lernen, um ihr selbst in diesem Sinn förderlich zu sein und nicht etwa mit vergeblicher Anstrengung sich entgegenzustemmen“ (ebd.). te einzelne Handlungen immer den Status von Ursachen in einem komplexen System sensibler Anfangsbedingungen haben, bei welchen gilt, dass kleinste Veränderungen eines Parameters große und unvorhersehbare Folgen zeitigen können, aber nicht müssen und dass erst die Gesamtheit der Ursachen (das kausale Feld) zusammen hinreichend für eine bestimmte Wirkung sind (zu komplexen Ursachen und kausalen Hintergrundfeldern Mackie 1980; zusammenfassend Hüttemann 2013, 71–77). Allerdings kann Schellings Argument in Hinsicht auf die Geschichte nicht recht überzeugen. Zwar mag es stimmen, dass es zuhauf Handlungen gibt, deren geschichtliche Reichweite nicht absehbar ist und dass keine Handlung alle ihre Folgen in ihrer Gewalt hat. Der Umkehrschluss, dass insbesondere politisches Handeln, das kollektive und historisch weitreichende Folgen hat, nicht über den Nahebereich der unmittelbaren Individualhandlung beherrschbar ist, und sich im Ganzen hinsichtlich seiner Folgen einem Höheren überantwortet, ist in dieser Allgemeinheit nicht zuzustimmen. Auch wenn stets wegen der alle Berechenbarkeit übersteigenden Komplexität wechselwirkender sozialer und natürlicher Bedingungen ein gewisser Grad an Unvorhersehbarkeit der Handlungsfolgen bleibt, gibt es doch ebenso sehr einen Teil, der nicht nur der Vorsehung des Schicksals, sondern der Voraussicht des Akteurs unterliegt und somit von seiner Absicht gedeckt ist. Sonst könnte nie ein Parlament ein Gesetz erlassen, um bestimmte soziale Veränderungen herbeizuführen und keine Regierung könnte die Geschicke seines Landes in die Zukunft hineinsteuern. Verantwortliches politisches (d. h. ex-post: historisches) Handeln ist mehr als Pflichterfüllung im Vertrauen darauf, dass das Schicksal demjenigen gnädig ist, der aus moralischen Prinzipien heraus agiert. 30   Eine Lehre von den Handlungsumständen im Sinne allgemeiner Handlungscharakterisierungen, welche die Situation der Handlung mitzuerfassen versucht und insbesondere ihrer Rolle für die moralische Beurteilung von Handlungen findet ausführlich sich bei T. v. Aquin, spielt aber in der neueren handlungstheoretischen Diskussion kaum eine Rolle. Hierzu erhellend Lutz 2017.

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Schelling betont hier weniger die wenn auch nur partikulare Selbstgestaltungsmacht des Menschen als vielmehr dessen Ohnmacht gegenüber der Großstruktur des geschichtlichen Verlaufs im Bild des Stroms, durch welchen Richtung und Ziel dieses geschichtlichen Verlaufs festgelegt sind. Erhellend an dieser Analogie ist jedoch einerseits, dass der Strom selbst nicht völlig unberührt durch das menschliche Handeln dahingeht, sondern von diesem ‚gefördert‘ oder ‚gehemmt‘ werden kann, und dass der Mensch durch die Art seiner Einfügung in den Strom selbst gefördert oder in seiner Entwicklung gehemmt wird. Andererseits ist in der Analogie von Strom und Geschichte enthalten, dass zur Einflussnahme des Menschen auf den historischen Prozess auch ein Verständnis des Prozesses selbst gehört. Der Mensch kann dem Geschichtsprozess und sich selbst in ihm nur förderlich sein, wenn er diesen versteht. Diese Einsicht nennt Schelling zuletzt Weisheit, da sich in ihr die Klugheit der Lebensführung eines gelingenden Daseins mit der Einsicht in die metaphysischen Verhältnisse des Weltganzen verbindet. Schelling weist so die beiden Seiten der Philosophie als eines „Streben[s] nach Weisheit“ (SW XIII, 203), nämlich weise in der Einrichtung der individuellen Lebensführung zu sein und das Weltganze selbst als ein mit Weisheit eingerichtetes zu verstehen, aus. An dieser Stelle zeigt sich auch, dass Schellings Theorie des Handelns eine für die positive Philosophie weit über das bloße Moment der Existenz der Welt aus der Freiheit Gottes hinaus tragende Rolle dahingehend spielt, dass Art der inneren, strukturellen Momente des Weltprozesses ihre Begründung aus Schellings Auffassung vom Handeln gewinnen kann. Die Voraussicht Gottes auf die Welt als Resultat seines Tuns, handlungstheoretisch verstanden als Absichtlichkeitsmoment des Schöpfungsakts, erweist sich in ihrer Anwendung auf den mittels des freien Handelns des Menschen durchgeführten Geschichtsprozess als Vorsehung, die überhaupt erst verständlich machen kann, wie unter der selbstbegrenzten Macht Gottes zugunsten der Freiheit des Menschen ein gemeinsames Werk entsprechend dem allmählich sich offenbarenden Geheimnis Gottes vollzogen werden kann. Damit ist ein wesentlicher Teil der Frage nach dem Akteur in der Geschichte und der Möglichkeit freien menschlichen Handelns im Angesicht göttlicher Vorsehung beantwortet. Einen Aspekt allerdings gilt es noch hervorzuheben: eine Antwort auf die Frage, weshalb das menschliche Handeln sich innerhalb des abstrakt vorgegebenen Rahmens der göttlichen Schöpfung hält, d. h. wie Gottes Vorsehung instrumentell den Rahmen des Geschichtsprozesses bildet. Könnte der Mensch, so ist zu fragen, diesen Rahmen nicht sprengen (den Strom nicht verlassen), in-

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dem er sich Kraft seiner Freiheit in eine grundsätzlich andere Richtung bewegt? Hierfür ist auf eine zweite Abhängigkeit des Menschen von Gott, die nicht den äußeren Rahmen seiner Geschichte, sondern seine innere Konstitution betrifft, zu verweisen: es hatte sich gezeigt, dass Schelling den Menschen geschöpflich so in Abhängigkeit von Gott konzipiert, dass der Mensch als Bild Gottes einerseits dessen Selbstständigkeit erhält (vgl. SW VI, 39), andererseits seine Urkonstitution darin besteht, dass er selbst in sich ein ursprünglich gottbezogenes Bewusstsein ist. Eben dieses jedoch bildet seinen inneren Fluchtpol, nach welchem der Mensch in letzter Instanz auch seine äußeren Ziele teleologisch ausrichtet. Hierdurch ist nun gewährt, dass das menschliche Handeln nicht nur als Handeln zielgerichtet ist, sondern dass der Inhalt der Ziele auch mit jenem letzten Ziel konvergiert, das den äußeren Rahmen der Geschichte vollendet. Mit dieser Ausrichtung auf das Gesamtziel wird eine belastbare Antwort auf die Frage, wie es zuletzt sein kann, dass göttlicher Plan und menschliches Handeln übereinkommen, gegeben. Hierdurch wird schließlich auch die Rolle der Potenzen im Geschichtsprozess, als einem dritten Faktor der geschichtlichen Entwicklung, deutlich. Die Potenzen sind einerseits als Bewusstseinskonstituenzien das unmittelbare Verbindungsglied des Menschlichen und Göttlichen: denn nur darüber, dass der Mensch als Potenzengefüge Bewusstsein hat, kann ihn Gott als sein Ebenbild erschaffen. Andererseits weichen die Potenzen in ihrer je spezifischen historischen Stellung als epochale Geistprägungen des Menschen gerade von Gott ab und bilden die jeweiligen Stufen des historischen, je mehr oder weniger gottnahen und -fernen mythologischen und Offenbarungs-Bewusstseins. Ihre je eigene Widerständigkeit und dynamische Präfiguration ist es dabei, an der der Fortschritt durch Freiheit sich manifestieren kann und durch welche die Art dieses Fortschritts vorgezeichnet ist. In der komplexen Veranlagung der Geschichtsphilosophie Schellings sind die Potenzen so Mit-Ursache, Medium und Folge des freien, wechselbezogenen Handelns Gottes und des Menschen.31 31   In der Bewegung vom Dunkeln zum Hellen, die Schelling wesentlich in seiner mittleren Philosophie mit der Veranlagung von dunklem Grund und lichtem Existierendem konzipiert, liegt, dass der Weltprozess auch deswegen nicht unter der einfachen Alternative von göttlicher oder menschlicher Freiheits-Kausalität gesehen werden darf, weil in ihn wesentlich irrationale Elemente eingehen – solche, bei denen erst die Überwindung im Prozess eine Steigerungs- und Selbstermächtigungsform der Vernunft darstellt. Vgl. Hogrebe 1989, 118, nach dem es in etwa das Anliegen der Weltalter sei, „den Nachweis dafür zu erbringen, dass die Genesis des Universums eben sowohl von bejahenden

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Wir haben gesehen: die positive Philosophie, die das Mehr der Existenz der Welt gegenüber ihrem Was-Sein zum Gegenstand hat, führt als korrelative Begründung hierfür jenes Mehr an, das freie Taten wie die Schöpfungstat Gottes gegenüber allen logisch-mechanischen Erklärungen besitzt. Diese Eigenartigkeit im wörtlichen Sinn, die Handlungen als freie, absichtliche und zielgerichtete gegenüber allen logischen und mechanischen Verhältnissen haben, konnte sich nun auch an zwei partikularen, aber spezifischen Aspekten bewähren, welche in der Hinsicht der positiven Philosophie eigentümlich sind, als sie für Schelling keine Erklärung aus den Voraussetzungen der negativen Philosophie heraus finden; bewähren konnte sich dabei die Interpretationsthese, dass die auf Praktizität gegründete positive Philosophie gerade diese Eigentümlichkeiten auf spezifische Momente des Handelns zurückführen konnte. So hatte sich gezeigt, dass die Verzögerung des Weltprozesses im notwendigen Zusammenhang mit den in der instrumentellen Struktur von Handlungen veranlagten Momenten des Widerstands und der Überwindung verbunden sind und dass auch das Phänomen der Zielgerichtetheit des Weltprozesses im Ganzen erst aus der rekonstruierten Veranlagung des Praktischen bei Schelling seine vollständige Verständlichkeit erhält. Von hier aus sollen nun abschließend Momente der Einheit der positiven Philosophie dargestellt werden. Hierbei ist zunächst der Organismus-Gedanke zu berücksichtigen, unter welchem Schelling, wie gesehen, schon in seiner mittleren Periode die Einheit von Teil und Ganzem gewährt sehen möchte, und welcher auch für das Weltganze der Spätphilosophie greifend sein soll. Sodann soll Schellings Konzept der grundlegenden Zeitform der Zukunft auf das Gesamte der positiven Philosophie bezogen und abschließend die Gesamtbewegung von Ausgang und Rückkehr der geschichtlichen Philosophie unter ihren handlungstheoretischen Voraussetzungen gewürdigt werden.

wie verneinenden, von rationalen wie irrationalen Energien durchpulst ist“. Klar ist, dass Schelling diesen Gedanken bis in die Spätphilosophie in der Steigerungsbewegung des Wissens zum Lichten, Rationalen hin beibehält, auch wenn nicht eindeutig anzugeben ist, wie Schelling das Prinzip des Grundes der mittleren Philosophie genau in die Potenzenlehre transferiert. Jedenfalls erhält der gesamte Fortschritt des mythologischen Prozesses seinen Sinn erst dadurch, dass er als Austragung der Spannung zwischen Dunklem und Hellem, rationalen und irrationalen Kräften verstanden werden kann.

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III. Aspekte der Einheit der praktisch-positiven Philosophie 1) Die organische Fügung der geschichtlichen Philosophie Auch wenn Schelling den zentralen System-Begriff der Frühphilosophie nach seiner ersten Münchner Vorlesung nicht mehr im Titel seiner Vorträge nennt, bleibt doch ein mit der Idee der Systematizität des Philosophierens verbundener Gedanke erhalten. So beschreibt er noch in der späten Darstellung der reinrationalen Philosophie die positive Philosophie als „ein positives, d. h. die Wirklichkeit erklärendes System“ (SW XI, 564, Herv. Vf.). Zentraler Gedanke Schellings ist hierbei das der Einheit und Einheitlichkeit: die Philosophie muss sich aus einem einheitlichen Prinzip heraus in einheitlicher Weise methodisch entwickeln lassen, mit der Zielsetzung, die Wirklichkeit vollständig erfassen.32 Diese einheitsstiftende Methode ist, wie sich bereits in der Darstellung des Gefüges der Zeiten gezeigt hat, die organische: „eine organische Einheit aller Dinge“ (AA II, 8, 68/SW VII, 421 f., Herv. Schelling) kommt dadurch zustande, dass die Strukturen des Kleinen und Partikularen in denen des Großen und Allgemeinen enthalten sind und umgekehrt: „eines muss durch Alles und Alles durch eines bestimmt werden“ (AA II, 8, 69). Der innere Zusammenhalt soll gemäß Schellings Organismusgedanke also dadurch zustande kommen, dass die essentiellen Strukturen des Kleinen, Einzelnen und Zeitlichen und aller seiner Vermittlungsstufen dieselben sind, wie die des Ganzen, Ewigen und Höchsten.33 32   Im Unterschied zur Frühphilosophie wie auch zur negativen Philosophie ist die positive Philosophie aber von Grund auf nicht abschließbar, und in diesem Sinne auch kein System in der Art der Systemphilosophie. Vgl. SW XIII, 133, wo Schelling zwei Bedeutungen von ‚System‘ unterscheidet: das System der negativen bezeichnet eine „in sich geschlossene, zu einem bleibenden Ende gekommene Wissenschaft“ – die positive Philosophie ist System im Sinne eines „Ganze[n] von Erkenntnissen, dem eine ausgezeichnete Behauptung zu Grunde liegt“, eine Behauptung, die nicht bewiesen sein kann, sondern sich im Fortgang ihrer Entwicklung bewährt. 33   Habermas 1954, 229 hat diese „Mikrokosmos-Makrokosmos-Analogie“ in Hinsicht auf Schellings Anthropomorphismus ab 1809 gesehen und die damit einhergehende Methode als auf einer „Korrespondenz der Perspektiven“ fußend benannt und sie als „ein Hin- und Hergehen von einem zum anderen, wobei die Proportionalität beider als erkenntnisbestätigendes oder als erkenntnisführendes Mittel fungiert“ beschrieben. Habermas ist zwar dabei zuzustimmen, dass bloße Strukturanalogie noch nicht ausreicht, um Einheit zu gewinnen. Allerdings ist dem zugleich zu entgegnen, dass Schellings Vorgehen sich zwar auf solche Analogien stützt, sich aber bei Weitem nicht darin erschöpft. Insbesondere lässt sich durch die These von der Praktizität der positiven Philosophie mit Schelling ein innerer Zusammenhang der jeweiligen Perspektivenkorrespondenzen aufzeigen.

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Versucht man die positive Philosophie Schellings als von Handlungen getragene einheitlich Ganze zu sehen, so zeigt sich, dass unter der organischen Forderung die partikularen menschlichen Handlungen und die umfassende göttliche über zwei Zwischenstufen miteinander zum organischen Ganzen der positiven Philosophie vermittelt sein müssen. Erstens erweisen sich die einzelnen Individualhandlungen als Teile menschlicher Biographien, die das jeweilige Ganze der Individualhandlungen einer Person bilden – ohne deren bloße Summe zu sein. Und zweitens verbinden sich die Handlungen Einzelner zu den Handlungen Vieler, d. h. zur Geschichte gleichfalls nicht lediglich nach einem additiven Prinzip. Unter einer solchen organischen Betrachtungsweise müssen also (1) das göttliche Handeln, (2) der geschichtliche kollektive Weltprozess, (3) die Individualviten einzelner Menschen als Ausführende dieses Weltprozesses und zuletzt (4) das individuelle Einzel-Handeln sich wechselseitig begründend aufeinander bezogen sein. Dies geht einher mit der Forderung nach einer spezifischen Perspektivenkohärenz: denn diese Betrachtungsweise muss sowohl ‚von oben‘, aus der Perspektive der Schöpfungstat als auch ‚von unten‘, aus der Perspektive des menschlichen Handelns und Erkennens sichtbar sein und wechselseitig übereinstimmen. D. h., die ‚positive‘ ontologische Prinzipienperspektive mit Gottes ewiger Schöpfungstat als letzter seinsverbürgender Instanz muss mit der irdisch-zeitlichen Perspektive des Menschen auf sein eigenes Handeln und seine Stellung in der geschichtlichen Welt übereinkommen. Nach der gegebenen Interpretation muss sich hierbei gerade die praktische Grundveranlagung der positiven Philosophie durch alle Ebenen hindurch als Bürge der strukturellen Einheit des Ganzen dieser Philosophie erweisen lassen. Es muss sowohl verständlich werden können, wie Individualhandlungen aus der Gesamtveranlagung der Geschichte folgen, als auch, wie sich die geschichtliche Totalität aus Einzelhandlungen aufbaut. Daher müssen sich als zentrale, alle Ebenen umgreifende und verbindende Strukturelemente neben der Teleologie die fortschreitende Sukzessivität und die Widerständigkeit und die Begrenztheit zwischen Anfang und Ende als die analytischen Hauptmomente von Schellings Auffassung vom Handeln wiederfinden lassen; der Teleologie kommt dabei insofern ein Vorrang zu, als sie selbst wiederum genau dann ein Prinzip des OrgaAls Hintergrund für Schellings Mikrokosmos-Makrokosmos-Analogie ist sicherlich Leibniz zu nennen und dessen Thesen, dass einerseits jede Monade – d. h. jedes einzelne Subjekt – „ein Spiegel Gottes oder vielmehr des ganzen Universums“ (Leibniz 2014, 23 = Metaphysische Abhandlung § 9; vgl. Monadologie §§ 56 f. = 2014, 133 ff.) ist und der damit verbundenen eigentlichen Organismus-These, dass in jedem Teil, auch der Natur, das Ganze strukturell enthalten ist (Monadologie §§ 63, 67 f. = 2014, 137 ff.).

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nismus ist, wenn sie als innere Teleologie nach dem Teil-Ganzes Prinzip in jedem Teil enthalten ist.34 Beginnen wir ‚von oben‘. Hier gilt: weil Gott handelt und Handeln grundsätzlich teleologisch strukturiert ist, ist Gottes Handeln in der Schöpfung finalistisch ausgerichtet. Denn in der Einheit des absoluten Geistes vor der Schöpfung gibt es nicht vielerlei Ziele für den Verlauf der Schöpfung, sondern nur ein Endziel, das die Schöpfung haben kann. Die Schöpfung ist zwischen nachzeitlicher und vorweltlicher Ewigkeit in wohldefinierten Orten ihres Anfangens und Endens situiert und schreitet durch göttliches Mittelhandeln in abgetrennten Stufen fort. Daher ist zweitens das finalistisch ausgerichtete und durch Zäsuren epochal gegliederte Panorama der Universalgeschichte dessen Ergebnis. Drittens müssen demnach die individuellen Viten, die innerhalb dieser Geschichte verlaufen, der Prägung der Universalgeschichte entsprechen und ihrerseits grundsätzlich finalistisch ausgerichtet sein. Diesen organischen Zusammenhang, in dem sich der Mensch im eminenten Sinn als Mikrokosmos zeigt, hat Schelling explizit ausgesprochen: „Gewiss ist, dass, wer die Geschichte des eigenen Lebens von Grund auf schreiben könnte, damit auch die Geschichte des Weltalls in einen kurzen Inbegriff gefasst hätte“ (SW VIII, 207). Der strukturelle Grund der Individualgeschichte und der Inbegriff der Weltgeschichte fallen zusammen. Daher sind auch Individualbiographien untergliederbar in Abschnitte, deren Begrenzungen durch einschneidende Handlungen geformt werden, von der Begrenztheit der biographischen Lebenszeit zwischen Geburt und Tod als deren Anfang und Ende ganz zu schweigen. Viertens schließlich müssen daher auch die einzelnen menschlichen Handlungen als Mikrobausteine der Geschichte teleologisch strukturiert sein. Denn weder der Einzelne noch 34   Dass der Organismus in der Natur teleologisch gegliedert ist und dadurch zustande kommt, dass „alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist“, hat Kant in der Kritik der Urteilskraft festgestellt (Kant, AA V, 376 = KU § 66). Schelling hat darauf aufmerksam gemacht, dass eine teleologische Ordnung allein noch nicht zureicht, um einen Organismus zu begründen, da sonst auch Maschinen, deren Teile auf den Gesamtzweck hin geordnet sind, Organismen wären und daher die äußere Zweckmäßigkeit von Maschinen von der inneren von Organismen der Natur unterschieden (SW VI, 378). Bei der inneren, organischen Zweckmäßigkeit gilt nun für Schellings Naturphilosophie auch noch in der Berliner Zeit ganz im Kantischen Sinn: „jeder Teil eines Organismus ist zugleich Mittel und Zweck“ (SW X, 370; hierzu auch Sollberger 1996, 144 f.). Dies lässt sich direkt von der organischen Naturauffassung auf Schellings Auffassung von einem praktisch-geschichtlichen Organismus des Ganzen der Wirklichkeit übertragen. Insofern Individualhandlungen als kleinste Bausteine eines organischen praktischen Weltganzen zielgerichtet, d. h. in sich nach Mittel-Zweck-Verhältnissen aufgebaut sind, kann die nachfolgende Rekonstruktion sich dieser systematischen Voraussetzung sicher sein.

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die Geschichte könnten ein sinnvolles Gesamtziel haben, und sinnvoll in eine kosmologische Teleologie eingefügt werden, wenn die singulären geschichtserzeugenden Handlungen sich nicht überhaupt auf Ziele beziehen würden und im Mittelhandeln über eine auf das Ziel hin ausgerichtete Entwicklung verfügten, die mit dem Entschluss zur Handlung und ihrem Abschluss im Erfolgsfall wohldefinierte, bleibende Grenzen des Beginnens und Endes haben, welche darin, dass bei erfolgreichen Handlungen zuletzt der Gehalt des Entschlusses (die inhaltliche Absicht) sich verwirklicht, zur Deckung kommen. Die Lesart ‚von unten‘, in welcher die Gesamtgeschichte sich als eine Folge von Einzelhandlungen darstellt, bestätigt dieses Bild. Auch hier steht das Hauptresultat der Handlungsanalyse, die intrinsisch teleologische Struktur von Handlungen am Anfang: weil menschliche Handlungen in sich notwendig auf Ziele ausgerichtet sind, kann auch das menschliche Leben als Produkt dieser Handlungen zielgerichtet sein. Wir verstünden überhaupt nicht, was Ziele sein sollten, würden wir nicht immer schon in diesen praktisch leben. Nun gilt zwar nicht automatisch, dass die Einzelziele partikularer Handlungen inhaltlich in einem Gesamtziel (des gelingenden Lebens) konvergieren. Die Disparatheit menschlichen Handelns und Planens zeigt vielmehr, dass es möglich ist, seine Individualziele unabhängig voneinander und einer übergeordneten finalistischen Instanz zu wählen. Dennoch muss gelten, dass Einzelziele unter der Perspektive auf ein Gesamtziel stehen. Denn dass eine nicht-Konvergenz von Einzelzielen für das Individuum als spannungsreich empfunden wird, und dass Individualziele sich als Stufen und Schritte zu höherrangigen Zielen innerhalb größerer Handlungspläne verstehen lassen, zeigt, dass es eine Innentendenz von Personen gibt, ihre Einzelziele unter übergeordneten Zielen kohärent zu subsumieren und den innerpersonalen und interpersonalen Widerstreit von Einzelzielen zugunsten eines Zusammenwirkens von Zielen zu eliminieren.35 Mit Schelling erhält diese Sichtweise eine zusätzliche Kraft dadurch, dass nach seiner anthropologischen Auffassung ohnehin jeder Mensch im Gewissen eine urmenschliche Erinnerung an seinen Zustand in Gott in sich trägt und daher das Allgemeinziel der Wiederbringung in ihm angelegt ist, unter dessen (unbewusster) Leuchtkraft auch seine Einzelhandlungen stehen. Wenn in menschlichen Handlungen und der durch sie gefügten Geschichte ein überindividuelles Ziel enthalten ist, dann muss dies von einem überindividuellen Wesen gesetzt sein. Eben dies nun gilt für die   Ich verweise nochmals auf Bratman 2007, der diesen Zusammenhang systematisch herausgearbeitet hat. 35

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Geschichte als Kollektivform menschlichen Handelns entsprechend, insofern sich ein Bündelungszusammenhang der Einzelziele und des Gesamtziels konstatieren lässt. Dafür, dass sich menschliche Ziele nicht lediglich wechselseitig aufheben und neutralisieren, sondern so bündeln, dass es Geschichte als kollektive geben kann, bedarf es zweierlei: erstens der Möglichkeit, dass Ziele überhaupt in der Welt verwirklicht werden können. Zweitens der Möglichkeit, Individualziele zu gemeinsamen zu bündeln. Hinsichtlich des ersten Punkts hat Schelling schon 1800 dargelegt, dass es nicht zu begreifen wäre, „wie je ein Realisieren unserer Zwecke in der Außenwelt durch bewusste und freie Tätigkeit möglich wäre, wenn nicht in die Welt, noch ehe sie Objekt des bewussten Handelns wird, […] die Empfänglichkeit für ein solches Handeln gelegt wäre“ (AA I,9.1, 306/SW III, 606). Also bedarf es auch aus dieser Perspektive einer intelligenten Schöpfung, deren Zweckhaftigkeit in die geschichtliche Veranlagung des kosmologischen Prozesses eingeht, da eine bloß mechanische Natur keine Zwecke kennt. Zweitens bedarf es eines Ziels, das allen Individualwesen gemeinsam ist. Ein solches Kollektivziel, das dennoch jedes Individualwesen hat, nennt Schelling im System des transzendentalen Idealismus ein Ideal und führt aus: „dass Geschichte […] nur da ist, wo ein Ideal unter unendlich vielen Abweichungen so realisiert wird, dass zwar nicht das Einzelne, wohl aber das Ganze mit ihm kongruiert“ (AA I,9.1, 287/SW III, 588) und das es daher „nur eine Geschichte solcher Wesen gibt, welche ein Ideal vor sich haben, das nie durch das Individuum, sondern allein durch die Gattung ausgeführt werden kann“ (AA I,9.1, 288/SW III, 589). Eine finalistische Geschichte braucht aber (menschlichen Individualhandlungen entsprechend) ein Ziel, das über den Verlauf dieser Geschichte hinaus geht; ein solches Ziel kann demnach nur göttlich sein. Dass der Mensch von selbst eine Geschichte hervorbringt, die dem göttlichen Heilsplan entspricht, kann – von unten betrachtet – nur gelingen, wenn die Menschheit als Ganze, realisiert in jedem einzelnen Individuum, ein gemeinsames Ziel als Beschränkung und Ausrichtung einer sonst blinden Willkür hat, selbst wenn dies ein solches wäre, das den geschichtlichen Akteuren verborgen bliebe (AA I,9.1, 297/SW III, 598). Der gemeinsame Bezugspunkt des religiösen Bewusstseins und seine kollektive sukzessive Entwicklung in den Epochen der Mythologie und Offenbarung gewährt und bestätigt mit Schelling diesen gemeinsamen geschichtsstiftenden und -tragenden Bezugspol. Denn Ziele sind keine Naturprodukte. Also – so der letzte Schritt in der Rekonstruktion von unten – gehört zu einem göttlichen Ziel eine göttlich handelnde Person, deren Handeln zuletzt wiederum zielgerichtet sein muss.

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Betrachten wir von hier aus die normative und moralische Seite der positiven Philosophie als letztes praktisches Strukturmoment, das sich einheitsstiftend in allen organischen Ebenen der geschichtlichen Philosophie finden lassen muss. Der organischen Auffassung der teleologischen Grundausrichtung von Praxis und Geschichte entspricht die Vorstellung Schellings, dass der zielführende Prozess auf allen vier Ebenen gleichermaßen aufsteigend ist. Auch dies liegt bereits in der allgemeinen Struktur vom Anfang und Ende in Handlungen begründet. Da der Anfang von Handlungen als deren Grund ihre auf das Ziel zuführende Absicht ist, die dementsprechend auch nur diese eine Richtung kennt, ist der wahre Anfang, so Schelling „was Grund eines stetigen Fortschreitens ist, nicht einer abwechselnd vor- und zurückgehenden Bewegung“ (SW VIII, 229). Jedes Handeln, göttliches wie menschliches, die Geschichte im Ganzen und das einzelne menschliche Leben, ist als Fortschrittsprozess angelegt: vom Dunkel zum Licht, vom Chaos zur Ordnung, von der Unvernunft zur Vernunft, vom Bösen zum Guten. Diese optimistische Weltsicht trägt Schelling nicht von außen an den geschichtlichen Prozess heran, sondern er ist eine notwendige Folge der Praktizität des ontologischen Geschehens: weil dieses teleologisch ausgerichtet ist, und weil Ziele als sein Sollende einen Wertüberschuss in Relation zu der Negativität ihrer Setzungen haben, muss ein praktisch initiierter Prozess von seiner Grundausrichtung her fortschrittlich sein. Göttliches und menschliches teleologisches Handeln bildet so den Rahmen für den gesamten geschichtlichen Weltprozess, d. h., die gesamte positive Philosophie. Allerdings besteht ein entscheidender Unterschied zwischen göttlichen und menschlichen Zielsetzungen: während die göttliche notwendig auf das wahrhaft Gute ausgerichtet ist, kann menschliches Handeln dies doppelt verfehlen: der Mensch kann einerseits scheitern, d. h. seine eigenen Ziele faktisch nicht treffen. Er kann jedoch andererseits jedoch auch in seinen Zielsetzungen die Dimension wahrer Moralität verfehlen, welche in der normativen Forderung des Gewissens und den überindividuellen Zielen des Weltprozesses zu finden ist, die die gesamte teleologische Ordnung durchzieht und hinsichtlich seiner moralischen Dimension verständlich macht. Von oben, d. h. in der Perspektive ontologischer Rekonstruktion gemäß dem Verfahren der positiven Philosophie, steht die Schöpfungstat am Anfang; ihr ist nicht nur die finale Zielsetzung, sondern auch deren überragender Wert intrinsisch eingeschrieben. Das Ziel der Schöpfung ist das ‚in letzter Instanz sein Sollende‘. In Hinsicht auf diese Zielsetzung hat Gott auch keinen Entscheidungsspielraum – er ist frei, sich zu offenbaren oder nicht; wenn er sich aber offenbart, dann ist das Ziel der Schöpfung

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durch ihn selbst gegeben. Die Schöpfung kann für Schelling, da in der Position des Göttlichen vor der Offenbarung in ein Außergöttliches vollzogen, nur die Wiederherstellung des Göttlichen zum Endzweck haben (vgl. GPP 469). Entsprechend ist auch die Finalität der Geschichte auf ihre moralische Vollkommenheit hin ausgerichtet: „Nie kann das Unsittliche ein wahrer Zweck sein“ (SW XIII, 202). Dies spiegelt sich in der Individualanlage des Menschen zur moralischen Selbststeigerung wider. Hierfür wiederum ist Bedingung, dass der Mensch im Handeln sich Ziele entsprechend dem an sich sein Sollenden setzen kann. Da nun allerdings der Mensch im Gegensatz zu Gott beliebige Ziele setzen kann, gibt es keinen Automatismus des Geschichtsprozesses auf das Endziel hin. Es wird nicht von selbst durch die Summe der Verwirklichungen bloßer Zielsetzungen eines notwendig sein Sollenden erreicht; ebenso wenig garantiert die Individualanlage zur moralischen Selbststeigerung, dass diese auch individuell verwirklicht wird. Lebensläufe moralischen Verfalls, die sich faktisch kaum bestreiten lassen, wären sonst ausgeschlossen. Sondern hierin manifestiert die freie Veranlagung des Menschen als eines Vermögens zum Guten und Bösen ihre kosmologische Funktion. In der moralischen Fortschrittsperspektive zeigt sich auch eine wichtige innere Verbindung zwischen der Freiheitskonzeption und der Handlungsteleologie. Freisein und zweckorientiert zu handeln sind in dem Sinn dasselbe, dass in beiden eine analoge Alternativität angelegt ist. Ausrichtungen zum Guten oder Bösen entsprechen Zwecksetzungen zu dem, das bloß für mich oder zu dem, das an sich sein soll, wenn man Schellings Ethik der mittleren Philosophie in dem Punkt folgt, dass die Ausrichtung zum Guten einer Unterordnung des egoistischen Prinzips unter das Prinzip des Allgemeinen entspricht. Wäre diese Alternativität im menschlichen Handeln nicht gegeben, dann müsste der Mensch als Geschöpf Gottes wohl je nur das Gute entsprechend der göttlichen Zielvorgabe tun und erreichen. Der Weltprozess wäre dann kein Prozess im geschichtlichen Sinne mehr, sondern lediglich eine spannungsfreie, mechanisch-sukzessive Abfolge von Geschehnissen gemäß dem göttlichen Weltplan. Die ‚Weltgeschichte‘ wäre dann nur äußerlich zweckmäßig und damit tatsächlich nicht mehr als eine Maschine, die nach ihrem Konstruktionsmechanismus auf das vorgegebene Ziel ihres Produktes hin wie ein Uhrwerk abliefe – und eben ‚Geschichte‘ im eigentlichen Sinne nicht mehr zu nennen. Demgegenüber hat Schellings Philosophie der Freiheit den entscheidenden Vorteil, dass sie hinsichtlich zentraler Erklärungsmomente mit unserer Erfahrungswelt übereinstimmt. Denn ohne Alternativität ist weder verständlich zu machen, weshalb es das Böse als positive Kraft

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gibt und weshalb das Ziel der Geschichte nicht gleich am Anfang erreicht wird, noch ist angemessen zu explizieren, was Schelling das „Gefühl der Freiheit“ (AA I,17, 113/SW VII, 339) nennt: die moralische Einspannung des Menschen zwischen den Polen des Guten und des Bösen und seine Fähigkeit, durch Zielsetzung und Mittelwirkung im Handeln, d. h., praktisch, sich auf einen dieser Pole auszurichten. Eine Freiheitstheorie ohne Alternativität könnte nicht darlegen, weshalb der Mensch die moralische Dimension überhaupt als Aufforderung, d. h. als ein Sollen versteht, da das Sollen in einer Welt ohne Alternativität keine Bedeutung haben kann. Mit der Alternativität im menschlichen Zwecksetzen und Handeln als der Möglichkeit einer existenziellen, nicht rationalen Wahl und Entscheidung zwischen Alternativen wird hingegen eine Erklärungsperspektive für den tatsächlichen geschichtlichen Prozess eröffnet, welcher diese Momente berücksichtigt. Da so im Vier-Stufen-Modell der Geschichte der Prozess ontologisch von der göttlichen Offenbarungstat präfiguriert und vom geschichtlichen menschlichen Handeln realisiert wird, erhält dieser eine praktische Rahmung, die einerseits verständlich machen kann, weshalb überhaupt menschliches Handeln göttlichem gemäß sein kann, andererseits aber, weshalb es (angefangen beim Sündenfall) auch von diesem abweichen kann und weshalb es, sofern Schellings Rekonstruktion an diesem Punkt stimmt, ein langer, verzögerter, spannungsreicher, sukzessive aufsteigender Weg der individuellen und kollektiven Geschichte ist, auf dem schließlich das letzte Ziel des eigentlich Sein-Sollenden realisiert werden kann. 2) Praktische Zeit und positive Philosophie Die bisherige Rekonstruktion der positiven Philosophie Schellings als einer Entfaltung fundamental und irreduzibel praktischer Aspekte erlaubt es nun auch, die in Schellings Spätphilosophie veranlagte Theorie einer praktischen Zeit im Kontext des Ganzen der positiven Philosophie zu würdigen. Gehen wir hierfür noch einmal auf das Moment der Gottwerdung Gottes in der Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie zurück. Hier hatte sich in der Bewegung der Potenzendeduktion zunächst der absolute, in sich beschlossene Geist als Endpunkt der negativen Philosophie erweisen, als der Punkt, von dem aus er sich wegen seiner Vollendung „nicht mehr als eine mögliche Quelle oder Ursache eines künftigen Seins“ (SW XIII, 240) ansehen ließ und daher die Betrachtung, welche eben diese Quelle des Seins aufdecken wollte, sich umkehren und

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den vollkommenen Geist, den Endpunkt der negativen Philosophie, als Gott verstehen und somit als Ausgangspunkt der positiven Philosophie setzen musste. Mit der Aufdeckung des gesuchten positiven Gottes als des „Gott[es], der handelt“ (SW XI, 566) wurden von Schelling mehrere Attribute Gottes dargelegt, welche als Spezifika einer positiven, auf dieser Tat Gottes basierenden Ontologie sowohl die Letztprinzipien der positiven Philosophie als auch die Wesensmerkmale des Handelns selbst zu sein beanspruchen dürfen. In den Kontexten der jeweiligen Erörterungen zur Potenzendeduktion und Bewusstseinskonstitution, zur Freiheit und Zeit Gottes hatten sich diese in der Transformation des vollkommenen Geistes zum positiven Gott als Momente des In-Spannung-Tretens der Potenzen, des Verstehens praktischer Möglichkeiten als Möglichkeiten, über sich hinaus zu gehen und ein anderes Sein anzunehmen, als die damit verbundene Freiheit von der Bindung an das eigene Sein zugunsten der Möglichkeit willentlicher Selbstgestaltung, als Entzündung des Willens zum Wollen, als die zielorientierte und zugleich normative Perspektive der Vorsehung und zuletzt als die strikt zukünftige Zeitausrichtung in der schöpfungsbezogenen Ewigkeit erwiesen. Dass Schelling diesem Gott der Handlung, dessen Namen die Inschrift ‚ich werde sein, der ich sein werde‘ trägt, als primäres Wesenscharakteristikum das Zukünftigsein zuschreibt, nach welchem sein Name „nur auf die Zukunft“ (SW XIV, 129, Herv. Vf.) deute, darf hierbei als exegetische Aufforderung verstanden werden, den Grundzusammenhang des Fundaments der positiven Philosophie von diesem privilegierten Merkmal des Zukünftigen aus zu deuten. Es müsste sich zeigen lassen, dass und inwiefern die anderen Fundamentaleigenschaften des Praktischen, welche Schelling in der Verwandlung des absoluten, in sich ruhenden, theoretischen Geistes zum handlungsfähigen Gott nachweist (Freiheit, Wollen, Negativität, Spannung, Transitivität, praktisches Möglichkeitsverstehen und Finalität) in oder mit der ursprünglichen Zukunftsveranlagung angelegt sind. Gelingt dies, dann ist damit auch nachgewiesen, dass die Zukunft conditio sine qua non allen Handelns ist. Beide handlungstheoretisch höchst bedeutsamen Nachweise sind auf der Basis von Schellings ontotheologischen Spekulationen über das Wesen eines positiven Schöpfergottes möglich. Hierzu ist zu zeigen, dass die Ausrichtung, die der in sich beschlossene Geist in dem Moment erfährt, in dem er handlungsbefähigt wird, eine ist, in der einerseits die temporale Dimension der Zukunft verständlich wird und die zugleich die anderen handlungswesentlichen Momente transportiert. Schelling beschreibt, wie gesehen, diese Ausrichtung räumlich als

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den Übergang einer rotatorischen in eine lineare Bewegung: während der in sich beschlossene (theoretische) Geist im steten Sich-selbst-gleich-Sein unveränderlich kreis- oder punktförmig auf sich selbst bezogen bleibt, geht der göttliche Geist, sofern er des Möglichseins von einem Andern zu sich (oder sich als einem Anderen) gewahr wird, von sich weg; die kreisförmige Bewegung wird so aufgebogen zu einer Linie, die einen Ausgangspunkt, eine Erstreckung und einen Abschluss hat; „denn die gerade Linie“, so Schelling, „ist eben die, in welcher Anfang und Ende auseinander sind“ (SW XIII, 274). In diesem geometrischen Bild der Bewegung Gottes sind mehrere Elemente enthalten, die Schellings spezifische Auffassung von der Zukunft illustrieren: sie hat einen Anfang, dem sie aber als etwas, auf das man sich transitiv und geradlinig ausrichtet, ungleich ist; als dieser Anfang wäre die jeweilige Gegenwart zu verstehen, in die sie hineinsteht, bzw. von der sie ausgeht. Zudem hat sie eine Erstreckung, d. h. eine je spezifische Entfernung zum Anfang. Mit dieser Art der Zukunft ist also nicht die bloß allgemeine Form eines ins Unabsehbare verlängerbaren Zeitstrahls gemeint, in dem dann zukünftige Ereignisse ihren Platz finden können. Sondern eine mit Schelling verstandene Zukunft besteht in der jeweiligen Relation auf ein bestimmtes Ende. Insofern Anfang und Ende sich ungleich sind, ist in Schellings Analogie der Linie auch die Asymmetrie der Zeit enthalten: sie ist vom Anfang auf das Ende hin ausgerichtet, nicht umgekehrt.36 In diese Strukturen lassen sich nun die Grundelemente des Positiven als eigentliche Handlungsvoraussetzungen einzeichnen und in ihrem zeitlichen Sinn deuten: Sehr eindeutig sind hierbei die dargelegten Handlungsauffassungen Schellings, dass Handlungen Anfang und Ende haben und dass dieses Ende in der Ex-ante-Perspektive das Ziel der Handlung ist, in das zeitlich   In der Diskussion der Ewigkeitsformen wurde bereits darauf hingewiesen, dass dieses Modell der Zukunft zwar die Ausrichtung insbesondere eines in der jeweiligen Gegenwart zu lokalisierenden Subjektes treffend beschreibt, aber die eigentliche Zeitdynamik, nämlich die entscheidende Qualität der Zukunft, dass die in ihr lokalisierten Ereignisse dereinst gegenwärtig und gar vergangen sein werden, nicht abbildet. Demnach lassen sich ihre Strukturen auch treffend auf die Situation des Akteurs vor der Handlung (Gottes vor der Schöpfung) oder bei Beginn der Handlung übertragen, der dynamische Handlungsverlauf jedoch ist in der starren Linearität der geradlinigen Bewegung nicht enthalten. Dies zeigt sich auch darin, dass Schellings zusätzliche Beschreibung der Handlungsbewegung, nämlich Ausgang und Rückkehr zu sein, von der der abschließende Abschnitt handelt, und damit ein Ende zu haben, das in seinen Ausgang zurückkehrt, ohne damit ihm bloß gleich zu sein, im Bild des gleichförmig geraden Weges keinen Platz findet, sondern diesen erweitert. 36

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verstandene Schema der Linie eingefügt: zeitlicher und substanzieller Anfang kommen hier zusammen; das zeitliche Ende ist im Zielpunkt fokussiert. Subtiler ist die Einsicht, dass das Anderssein von Anfang und Ende dem entsprechen muss, dass Ziele Zustände und Ereignisse bezeichnen, die so noch nicht gegenwärtig sind und daher mit einer Negation des Anfangs einhergehen; noch subtiler, dass dies für den Akteur selbst auch gilt: die Möglichkeit zu handeln beinhaltet die Möglichkeit, etwas Neues und damit Anderes zu tun und damit sich selbst in einen Zustand des Andersseins zu bringen.37 Es ist eine tiefe Einsicht Schellings, dass Akteur-Sein für Mensch und Gott gleichermaßen bedeutet, sich selbst in der Ausrichtung auf ein (zukünftiges) Ziel zu negieren und zu transzendieren, und in der Bewegung auf dem Weg zum Ziel eine kontinuierliche Veränderung seiner selbst zu erzeugen. Die Konstitution des positiven Gottes als eines ekstatischen Wesens, das aus der Spannung auf etwas in ihm Veranlagten lebt, das es selbst noch nicht ist, auf das hin zu es sich aber bewegt in der ständigen Überwindung dessen, das es bis dato ist, zeigt diesen Aspekt im Kontrast zu der Vorstellung eines bloß in sich ruhenden und sinnenden Wesens, wie es Schelling als den Gott der negativen Philosophie zeichnet, deutlich. Diese Möglichkeit, sich auf sich selbst als eines Anderen beziehen zu können, die so mit jeder Zielsetzung als Voraussetzung aller Praxis gegeben sein muss, ist auch die von Schelling als Attribut des Positiven gezeichnete Freiheit, „an kein Sein – auch nicht an sein eigenes[.] gebunden[.]“ (SW XIII, 269) zu sein. Von hier aus erweist sich die Fundamentalität der Zukunftsausrichtung des positiven Gottes als gleichursprünglich mit den Momenten der Freiheit, der Andersheit, der Zielhaftigkeit und des Endes. Die Antwort auf die Grundfrage der positiven Philosophie nach der Existenz der Welt wurde von Schelling verstanden als die Aufgabe, zu zeigen, „wie das, was ursprünglich, nämlich in Gott, nur […] als lauterstes geistigstes Leben gedacht werden kann, wie eben dieses sich materialisieren, substantialisieren, gleichsam entgeisten, zu etwas von Gott Verschiedenem, zu einem   Damit ist nicht gesagt, dass mit jeder Handlung etwas Neues geschaffen wird, oder der Akteur sich verändert. Denn es gibt auch Erhaltungshandlungen, deren Ziel gerade darin besteht, dass etwas gleichbleibt. Ebenso gibt es vielerlei Handlungen, die darauf abzielen, dass der Akteur selbst gleichbleibt – von der Körperpflege bis zu geistigen Hygienemaßnahmen ist hier ein breites Spektrum gegeben. Der entscheidende Punkt ist aber, dass Handlungsfähigkeit immer mit der Möglichkeit zur Veränderung des Ereignisablaufs (d. h. eines interventionistischen Eingriffs in den kontrafaktischen Ereignisverlauf ohne die Handlung) einhergehen muss. Erhalten in diesem Sinne bedeutet: Verhindern, dass sich etwas ändert, das sich ohne die Handlung geändert hätte. Auch dies ist so verstanden ein: Anders-Machen. 37

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außergöttlichen Leben werden könne“ (SW XIII, 281). Nun ist dargelegt, dass diese Möglichkeit des Übertritts eines Geistigen in ein Anderes, das Nach-außen-Treten, das im ursprünglichsten Sinn Handeln heißen kann, einer intentionalen Ausrichtung aus sich heraus auf dieses Andere als Möglichkeit seiner selbst bedarf, welche in der Struktur einer Linie im Sinne eines gerichteten Pfeiles mit einem stehenden Anfang, einem stehenden Ende und der Möglichkeit, sich vom Anfang zum Ende zu bewegen, veranschaulicht werden kann. Schelling nennt diese ursprüngliche Intentionalität in Gott Zukunft und weist diese damit zugleich als die ursprünglichste Form einer praktischen Zeit aus, in welcher alle Grundelemente des Handelns, sein Bezug von der Basis des Anfangs auf einen Abschluss im Ende, seine Zielgerichtetheit auf dieses Ende hin, sein Mittelwirken auf das als Zweck zu verstehende Ziel und seine Normativität im Sein Sollenden dieses Endes enthalten sind. Daher ist die Zukunft in Schellings Spätphilosophie nicht nur eine in der Ferne einer nachzeitigen Ewigkeit liegende Epoche, sondern der zeitliche Pol, auf den hin sich alles zeitliche Geschehen aus seiner praktischen Intention heraus bezieht. Dieses Konzept ursprünglicher Zukunftsausrichtung wird schließlich von Schelling komplementär ergänzt von einer Gegenbewegung, die zugleich gewähren soll, dass das Auseinander von Anfang und Ende wieder zur Deckung kommen kann, worin sich die positive Philosophie vollenden soll. Diese Doppelbewegung eines Von-sich-weg-Gehens und Auf-sich-Zurückkommens zugleich, ist die Gesamtform der praktischen Dynamik der geschichtlichen Philosophie. Sie zusammenfassend nachzuzeichnen ist die Aufgabe des letzten Abschnitts. 3) Die praktische Bewegung der positiven Philosophie Unter der Leitidee der Ziel- und Zukunftsausrichtung kam bereits der geschichtliche Prozess als eine einheitliche, sukzessiv aufsteigende Bewegung innerhalb aller Beschreibungsebenen der positiven Philosophie in den Blick. Diese ‚Bewegung‘ im Sinne einer praktisch-dynamischen Ausrichtung der positiven Philosophie gilt es nun von ihrer inneren Dynamik her, als Bewegung des Ausgangs und der Rückkehr zu fassen. Gehen wir hierfür noch einmal auf die Textstelle der Initia zurück, in welcher Schelling als das nicht begriffliche und genuin Eigene des Reichs der Tat, welches später die Dimension der positiven Philosophie sein

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wird, den Übertritt ins Sein beschreibt – den nicht-zeitlichen Moment, in dem überhaupt der Geist praktisch wird, indem er handelnd aus sich herausgeht. Diesen Punkt des praktischen Übergangs gilt es nun in seiner einheitsstiftenden Bedeutung hinsichtlich einer Bewegung von Ausgang und Rückkehr begreiflich zu machen. Hierbei ist zuerst auf das praktische Urmoment in Schellings Beschreibung des Hergangs der Schöpfung zurückzukommen: die für den Gesamtzusammenhang der Philosophie Schellings höchst bedeutsame Darstellung der Strukturänderung im absoluten Geist in der Verwandlung der theoretischen Möglichkeit einer Welt als Variation seines eigenen Geistes zur praktischen Möglichkeit der Schöpfung dieser Welt, welche die fundamentalen Strukturmomente der positiven Philosophie bildet. Explizit resümiert Schelling diesen Moment als den Ausgang des Eigenen der positiven Philosophie: „durch die am rein Geistigen Gottes nachgewiesenen Möglichkeiten ist gezeigt, was bis jetzt keine Philosophie […] zeigen konnte“ (SW XIII, 281). Indem Gott versteht, dass ihm die Welt praktisch möglich ist, versteht er sich selbst als willensbefähigter, freier, möglicher Schöpfer einer ihm selbst zukünftigen Welt. Wille, Freiheit, Handlung, praktisches Selbstbewusstsein und Zukunftsausrichtung gehörten hierin untrennbar zusammen. Hierin liegt nun auch der Ursprung einer praktischen Bewegung Gottes, die zuletzt den gesamten Weltprozess trägt. Denn dass Gott versteht, dass die Welt praktisch möglich ist, bedeutet zuallererst fundamental, dass ihm mit dieser Möglichkeit ein neuer Bezugspol gegeben ist, ein Bezugspol seiner selbst außerhalb seiner selbst, ein Bezugspol, auf den zu er von sich selbst (in seiner Gestalt des in der absoluten Ewigkeit in sich Seienden) weggehen muss. Erst hierdurch kommt in Gott die Bewegung des Weggangs von sich und dann auch der Rückkehr zu sich in der Widerbringung der geschöpften Welt zustande, welche zugleich die kosmologische Bewegung von Ausgang und Rückkehr beinhaltet, welche für Schelling schon die Hauptakte im göttlichen Epos der Welt von 1804 bildeten. Entsprechend handelt der Mensch einerseits seiner selbst gemäß, andererseits aber auf etwas zu, das er nicht – zumindest so noch nicht – ist. Hierzu bedarf der Mensch eines Bezugspols in sich selbst, der etwas enthält, das er, der Mensch, so (noch) nicht ist. Ansonsten könnte Handeln immer nur bedeuten, dass der Mensch entweder eben so handelt wie er ist, wodurch jedoch keine Veränderung seiner selbst möglich wäre.38   Die scheinbar harmlose Forderung, dass man immer so handle wie man sei, da es den personalen Zusammenhang und die Zurechnungsmöglichkeit der Handlung zur 38

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Oder aber er so handeln würde, wie er nicht ist, wodurch jedoch die Zurechnung der Handlung zu ihm selbst verloren ginge und er sich im Handeln unentwegt verlieren würde. Beides kann ausgeschlossen werden. Nun hatte die Diskussion um Schellings Freiheitsbegriff nach 1809 jedoch gezeigt, dass Schelling auch von der einfachen Konzeption der Freiheit als bloßer Selbstgemäßheit (so zu handeln wie man ist) Abstand genommen hat zugunsten einer Veranlagung, bei welcher das Wesen, auf dem freie Handlungen basieren, selbst durch diese geprägt und entwickelt werden kann. So kann bestehen blieben, dass einerseits gilt: handelt der Mensch diesem Bezugspol in ihm selbst gemäß, so handelt er frei im Sinne des Nicht-Fremdbestimmtseins. Gleichzeitig jedoch muss dieser Bezugspol in ihm etwas enthalten, das nicht er selbst ist. Daher geht der Mensch, insofern er ihm folgt, von sich selbst weg. Nur so ist individuelle und kollektive Entwicklung überhaupt möglich. Die Richtung dieser Entwicklung konvergiert genau dann mit der kosmologischen Vorgabe, wenn der Inhalt dieses Bezugspols das göttliche fines ist. Hierdurch ist die praktische Grundstellung eingeholt, die der ursprünglichen Zukunftsausrichtung im Handeln entspricht. Nun gibt es zu dieser teleologischen Bewegung von sich weg allerdings eine Komplementärbewegung des Auf-sich-zurück-Kommens, die von Schelling nicht lediglich so veranlagt ist, dass der Mensch zuerst von sich weggeht und dann, um sich nicht zu verlieren, wie ein Bumerang auf sich wieder zurückkommt. Sondern beide Bewegungen sind intrinsisch ineinandergefügt: Im Weggehen ist zugleich das Zurückkommen veranlagt. InsoPerson zerreißen würde, würde man anders handeln, als man sei, führt ihrerseits zu absurden Konsequenzen. Könnte man nur so handeln wie man wäre – und wäre ‚wie man ist‘ hierbei eine statische Disposition – dann könnte das Handeln auch immer nur bestätigen, wie man ist. (Hierdurch wäre auch, wie G. Strawson 2002, 443 gezeigt hat, eine Verantwortlichkeit sowohl für sich selbst als auch seine Handlungen ausgeschlossen, da beides nicht unter der Verfügungsgewalt des Akteurs stünde: das Sein wäre dem Akteur nur vorgegeben und das Handeln folgte daraus zwangsläufig). Es wäre durch Handeln keine Veränderung seiner selbst möglich. Da aber Handeln immer eine Veränderung des Akteurs anzielt, nämlich dass seine Ziele für ihn verwirklichte seien (eine Person mit verwirklichten Zielen vom Typ x, y, z ist eine andere als diejenige, deren Ziele sich nicht oder noch nicht verwirklicht haben – und eben dies will der Akteur gerade), ist Handeln als ein dialektischer Prozess der (zumindest partiellen) Selbstbildung zu beschreiben, in welchem die Handlungen des Akteurs zu einer Veränderung seiner selbst führen und die Veränderung seiner selbst wiederum zu veränderten Handlungen. Man handelt also so, wie man durch eben dieses Handeln selbst ist. Für diese komplexe und attraktive Konstellation liegen bei Schelling auch theoretische Ressourcen bereit, insofern er das Wesen des Menschen selbst als Handeln begreift und hierdurch eine Wechselprägung von Handeln und Sein zulässt.

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fern der Bezugspol des Andersseins im Menschen liegt, also Teil seiner selbst ist, kommt der Mensch im Von-sich-Weggehen zugleich wieder auf sich zurück. Hierin verbindet sich die praktische Veranlagung des Menschen mit seinem religiösen Wesen. In Schellings anthropologischer Konzeption der Spätphilosophie, welche die Wesensprägung des Menschen durch dessen Urveranlagung als gottsetzendem Bewusstsein beinhaltet, fügt sich eben diese praktisch-notwendige Ausrichtung auf ein im Menschen selbst liegendes und doch über ihn hinausgehendes Ziel in die ontologische Grundstellung des als religiöses Bewusstsein aufzufassenden Verhältnisses des Menschen zum Sein überhaupt.39 Die in ihm veranlagte Ausrichtung auf die Wiederbringung des Göttlichen als einem Zustand seines eigenen (des Menschen) Bewusstseins, weist demnach auf das urmenschlich in ihm veranlagte Gewissen hin. Dieses Gewissen als ursprünglich gottsetzendes Bewusstsein ist nun deshalb nicht lediglich ein Erinnerungsort für einen vergangenen oder ersehnten paradiesischen Zustand der Einheit, sondern ein handlungswirksames Ziel, weil es dem Menschen zugleich die Möglichkeit seiner Wiederbringung vor Augen stellt. Die kosmologische Bewegung von Ausgang und Rückkehr muss demnach doppelt im Menschen veranlagt sein. Einerseits ist der Mensch aus der Perspektive Gottes Motiv und Ziel der Schöpfung – deren Anfang und Ende –, wodurch der Mensch die Funktion desjenigen übernimmt, mit dem Ausgang und Rückkehr geschieht. Andererseits wird dieser Prozess auch durch ihn selbst vermittelt, was bedeutet, dass in ihm selbst die Bewegung von Ausgang und Rückkehr angelegt sein muss. Der Mensch als unmittelbares Motiv der Schöpfung und Verwirklicher der göttlichen Endabsicht muss also seinerseits mit einem eben der göttlichen Endabsicht entsprechenden Final-Bewusstsein ausgestattet sein; dessen Verankerung im Menschen konnte im religiösen Bewusstsein nachgewiesen werden. Dass sein Ziel das göttliche Ziel, aber unter menschlichen Bedingungen ist, bedeutet, dass in seinem Bewusstsein einerseits der gesamte Schöpfungsprozess strukturell angelegt ist und dieser andererseits gerade in ihm zur Vollendung kommen soll. Dies kann mit Schelling dadurch geschehen, dass die kosmologische Bewegung von Offenbarung und Wiederkehr – Außer-sich-Sein und Auf-sich-Zurückkommen – sich überhaupt als identisch mit dem bewusstseinsstiftenden Selbstbezug er39   Ich folge hierin Gabriel 2006, 33, nach welchem „die anthropologische Generalthese der Spätphilosophie […], dass der Mensch das natura sua gottsetzende Wesen ist, […] die ontotheologische Suche nach dem wahren Sein, das Gegenstand der philosophischen Vernunft ist“, leite.

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weist: „Das Außersichseiende, das wieder in sich selbst zurückgebracht wird, ist […] eben darum das zu sich selbst Gekommene, seiner selbst Bewusste“ (SW XIII, 287).40 Die kosmologische zirkelhafte Bewegung erweist sich unter dieser Perspektive als die reflexive Struktur von Selbstbewusstsein überhaupt. Über diese gemeinsame Bewegung von Weltprozess und Bewusstseinsbildung lässt sich nun der entscheidende einheitsstiftende Zusammenhang konstruieren: Dieses sich selbst Bewusst-Haben ist kein statisches Kriterium des Bewusstseins, sondern einerseits in Sinne der transzendentalen Konstitutionsvergangenheit des Bewusstseins der Prozess des zu-sich Kommens, an dessen Ende überhaupt erst ein sich Bewusstes steht. Andererseits ist es der historische und wissenschaftliche kollektive Prozess menschlicher Erfahrung, welcher die Tiefenkonstitution des geschichtlichen Bewusstseins ausmacht. Schellings Gedanke ist nun, dass die Selbst-Aufklärung der transzendentalen und historischen Konstitutionsgeschichte des Bewusstseins Aufgabe der positiven Philosophie sei und zugleich die Vollendung dieses Bewusstseins bilde, wodurch die Ausführung dieser Philosophie selbst das Ziel der Geschichte darstellt. Denn „dieses letzte seiner selbst Bewusste sollte sich […] dieses ganzen Wegs, aller Momente, gleichsam aller Leiden und Freuden dieser Wiederbringung bewusst sein“ (SW XIII, 287) – ein Ziel allerdings, das nie abschließend erreicht werden kann, da der Prozess der Aufklärung als Teil der Geschichte, die zugleich Gegenstand dieses Prozesses ist, sich selbst notwendig fortschreiben muss. Die Philosophie als die Wissenschaft, in der sich der historische Prozess, seine Inhalte, Voraussetzungen und Ziele selbsttransparent wird, wird für Schelling nicht unter die bloß theoretische Seinsweise gerechnet oder gar lediglich als eine wissenschaftliche Disziplin, als ein Bestand von Thesen und Erkenntnissen gefasst. Die Philosophie bezieht keinen bloß betrachtenden Standpunkt außerhalb der Geschichte, sondern sie ist ihrerseits eine Aufgabe und Tätigkeit, etwas nach dem wir „ringen und streben“ (ebd.). Nur so, als Tätigkeit, kann die positive Philosophie als Selbstaufklärung der Vernunft Teil des praktischen Weltprozesses sein. Insofern sie dies jedoch ist, müssen sich nach Voraussetzung in ihr als Tätigkeit die Bewegungen des Ausgangs und der Rückkehr finden, die den Geschichtsprozess tragen. 40   Vgl. die Alternativformulierung aus der GPP, die deutlich macht, dass dies zugleich für den kosmologischen Prozess gilt: „Wir müssen überlegen, dass jenes in der universo außer sich gesetzte, aber durch den Prozess wieder zurückgebrachte Prinzip in der Rückkehr in sich selbst zum Wissenden, zum Bewussten wird“ (360).

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Daher bedarf es, als letztem Baustein einer organischen Bewegung von Ausgang und Rückkehr, auch hier des Nachweises, dass diese Bewegung zugleich fundamental in Einzelhandlungen veranlagt ist und sich deshalb in der ontologischen Großperspektive der Schöpfungshandlung und der Mikroperspektive aus menschliche Individualhandlungen gleichermaßen findet. Dies gilt es nun abschließend zu zeigen. Betrachtet man die teleologischen Grundverhältnisse von Handlungen, so zeigt sich, dass die Bewegung des Außer-sich und Zu-sich-zurück in den Zielen der der Zielsetzung und Zielverwirklichung eines Akteurs entspricht: Wer eine Absicht fasst, setzt ein Ziel als etwas, das dem Inhalt nach noch nicht ist, d. h. eine Vorstellung von etwas, das einerseits so, als Ziel in ihm gegeben, andererseits so in ihm (als Wahrnehmung, d. h. als etwas, das als gegenwärtig gesetzt werden kann) noch nicht gegeben ist. Das Ziel ist als Gegenstand im Bewusstsein zunächst dessen bloßer intentionaler Gehalt. Zu diesem Gehalt gehört es jedoch, dass er zugleich als außerhalb des Bewusstseins sein sollend gesetzt ist. Die Bewegung der Zielverwirklichung im Handeln ist demnach eine Bewegung, die darauf hinzielt, diesen Gehalt außer sich zu verwirklichen, das heißt, ihn von einem außerhalb des Bewusstseins wirklich sein Sollenden zu einem dem Bewusstsein als Wirklichem Gegebenen in einer Wahrnehmung zu überführen. Beide Bewegungen sind demnach zugleich gegeben: „Wird das Innere äußerlich, so muss ja wohl auch das zuvor äußere innerlich werden“ (W 247), stellt Schelling schon in den Weltalterfragmenten fest. Damit ist nicht nur die Entäußerungsbewegung Gottes in der Schöpfung, sondern auch der Aneignungsprozess, der überhaupt die Stellung des Menschen in der Welt als Teil dieser verbürgt, formuliert. Jetzt zeigt sich, dass diese Aneignung zwischen Personen und der Welt, dieses eigentliche In-der-Welt-Sein, sich fundamental praktisch vollzieht. Denn diese Bewegung der Zielverwirklichung, in sich ein Ziel außer sich zu sehen, das dann eingeholt, d. h., in höherer Wirklichkeitsstufe in sich zurückgebracht werden soll, ist eben die Grundstruktur allen absichtlichen Handelns und bildet zugleich die Grundbewegung des kosmologischen theogonischen Prozesses der Spätphilosophie Schellings ab, welche gerade deswegen eine positive Philosophie genannt werden kann, weil die Grundverhältnisse ihrer Wirklichkeitsentfaltung praktisch sind und deswegen aus keiner anderen Perspektive adäquat sich theoretisch einholen lassen als aus derjenigen, in welcher dieser gesamte geschichtliche Weltprozess zugleich eine Handlung, und zwar die absichtliche Tat eines zielsetzenden Akteurs ist. Das Ziel selbst besteht darin, dass aus der Perspektive des Schöpfers der Mensch als das Motiv des Anfangs durch den ganzen sukzessiven

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Teil 5: Die Gesamtanlage des Praktischen in der Spätphilosophie

Prozess der Schöpfung hindurch zum Ende geführt wird – was nichts anderes bedeutet, als dass er selbst sich in zunehmender Selbsttransparenz innerhalb einer als ‚philosophische Religion‘ zu bezeichnenden Tätigkeit, diesem Ende entgegenführt. Da sich im Unterschied zu Gott das menschliche Bewusstsein nur sukzessive, in der stufenweisen integrativen Akkumulation von Erfahrung und Wissen entfaltet, muss es die Absicht Gottes sein, dass der Mensch den gesamten Prozess der Schöpfung als einen Prozess der sukzessiven Bewusstseinsbildung durchläuft, in welcher zuletzt „der höchste Verstand, die vollendete Wissenschaft wohnen“ (SW XIII, 287) soll. Die Bewegung des gesamten kosmischen Prozesses der Menschheitsgeschichte beschreibt Schelling so als eine Rückkehr in das (göttliche) Prinzip ihres Anfangs: „jenes Prinzip, das die veranlassende Ursache des Prozesses und während des ganzen Prozesses das außer sich seiende ist, [soll] wieder in sich, in sein An-sich zurückgebracht“ (ebd.) werden. Diese Bewegung eines Außer-sich, die in sich zurückgeführt wird, entspricht aber, wie gesehen, nicht nur dem kosmologischen Prozess, sondern der Struktur von Bewusstsein als Selbstbewusstsein überhaupt und zugleich der Fundamentalstruktur des Handelns, weshalb, wie gleichfalls gesehen, die Bewusstseinskonstitution bei Schelling durch Handlungen vollzogen, d. h., von Grund auf praktisch sein muss. Daher kann Schelling schließen: Obgleich nun aber der eigentliche Moment dieses Zu-sich-selbst-Kommens nur das Ende des Prozesses ist, oder nur in das Ende des Prozesses fällt, so können wir doch sagen: der ganze Prozess sei nur ein sukzessives Zu-sich-Kommen dessen, was im Menschen (als dem höchsten und letzten Geschöpf) das seiner selbst Bewusste ist […]. [Und weiter:] Ein solches vollkommenes, alle Momente seines Wegs oder seines Werdens in sich bewahrendes und unterscheidendes Bewusstsein des Menschen [war] die ursprüngliche Absicht (SW XIII, 287).

Damit ist der Gehalt der Absicht Gottes in der Schöpfung ausbuchstabiert: Von der Endabsicht des vollendeten Menschen aus hat Gott die unmittelbare Absicht der Kreatur im Anfang und beabsichtigt zugleich die Entwicklung aller vom Anfang zum Ende führenden Stufen als notwendige Mittel zur Erreichung der Endabsicht. So erweist sich die Bewegung von Ausgang und Rückkehr als die gemeinsame Urbewegung aller relevanten Beschreibungsebenen der positiven Philosophie. Vom ersten Moment der Entstehung eines praktischen Bewusstseins in Gott vor der Schöpfung bis zur noch ausstehenden Vollendung des Weltlaufs steht alle praktische Dynamik in der Spannung von Ausgang und Rückkehr, die handlungstheoretisch grundsätzlich darin veranlagt ist, dass jedes Handeln in einem geistigen Akt des Wollens,

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Wünschens, Beabsichtigens basiert, welcher ein Ziel zum Gehalt hat, das noch nicht ist, aber durch Handeln sein soll, und auf das zu der Handelnde demnach von sich weggehen muss, um es schließlich als Wirklichkeit in sich zurück zu bringen.

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Schick, Friedrike 2012: „Logik, Wirklichkeit und ihre Verwechslung. Schellings Hegel-Kritik“. In: „Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!“ Schellings Philosophie in der Sicht neuerer Forschung, hg. v. Friedrich Hermanni / Dietmar Koch / Julia Peterson. Tübingen, 383–401. Schlösser, Ulrich 2001: Das Erfassen des Einleuchtens. Fichtes Wissenschaftslehre von 1804 als Kritik an der Annahme entzogener Voraussetzungen unseres Wissens und als Philosophie der Gewissheit. Berlin. Schmidt, Andreas 2012: „Wille und Willkür. Zum Begriff der Willensfreiheit in der Frühphilosophie Schellings“. In: ‚Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!‘ Schellings Philosophie in der Sicht neuerer Forschung, hg. v. Friedrich Hermanni / Dietmar Koch / Julia Peterson. Tübingen, 24–45. Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich 2015: Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk. Freiburg / München. Schopenhauer, Arthur 1967: Der handschriftliche Nachlass, hg. von A. Hübscher, 2. Bd., Frankfurt / Main. Schulz, Walter 1955: Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. Pfullingen. – 1968 (Hg.): Fichte – Schelling Briefwechsel. Mit einer Einl. v. dems. Frankfurt / Main. – 1977: „Die Wandlungen des Freiheitsbegriffs bei Schelling“. In: Freiheit. Theoretische und Praktische Aspekte eines Problems, hg. v. Josef Simon. Freiburg / München, 299–314. – 22000: Einleitung. In: F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, mit einer Einl. v. dems. hg. v. Horst D. Brandt / P. Müller. Hamburg, IX–XLIV. Schwarz, Justus 1935, „Die Lehre von den Potenzen in Schellings Altersphilosophie“. In: Kant-Studien 40, 118–148. Schwenzfeuer, Sebastian 2012: „Die Funktion der praktischen Philosophie im System des transzendentalen Idealismus“. In: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Neue Wege der Forschung, hg. v. Reinhard Hiltscher / Stefan Klingner. Darmstadt, 207–220. – 2013: „Der ontologische Begriff der Freiheit. Über eine systematische Voraussetzung von Schellings Freiheitsschrift“. In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus / International Yearbook of German Idealism Bd. 9: Freiheit, 169–190. Schwöbel, Christoph 2002: Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik. Tübingen. Searle, John 1987: Intentionalität. Eine Abhandlung zur Philosophie des Geistes. Frankfurt / Main.

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Siep, Ludwig 1992: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus. Frankfurt / Main. Simon, Josef (Hg.) 1977: Freiheit. Theoretische und Praktische Aspekte eines Problems. Freiburg / München. Simon, Robert 2014: Freiheit – Geschichte – Utopie. Schellings positive Philosophie und die Frage nach der Freiheit bei Kant. Freiburg / München. Smith, Michael 2004: „Die humeanische Theorie der Motivation“. In: Handlungen und Handlungsgründe, hg. v. Ralf Stoecker. Paderborn. 125–156. Sollberger, Daniel 1996: Metaphysik und Intervention. Die Wirklichkeit in den Suchbewegungen negativen und positiven Denkens in Schellings Spätphilosophie. Würzburg. Spaemann, Robert 1996: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwas‘ und ‚jemand‘. Stuttgart. Spinelli, Antonino 2016: „‚Die unergreifliche Basis der Realität‘. Schellings Begriff des ‚Grundes‘ und die ‚dritte Gattung‘ in Platons Timaios“. In: Schelling-Studien, Internationale Zeitschrift zur klassischen deutschen Philosophie 4, 21–42. Spinoza, Baruch 1925: Opera. 4 Bde. Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hg. v. Carl Gerhardt. Heidelberg. – 2010: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, lat.-dt., hg. v. Wolfgang Bartuschat, Hamburg. Stoecker, Ralf (Hg.) 2004: Handlungen und Handlungsgründe. Paderborn. Stolzenberg, Jürgen 2003: „‚Geschichte des Selbstbewusstseins‘. Reinhold – Fichte – Schelling“. In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus, Bd. 1: Konzepte der Rationalität im Deutschen Idealismus, 93–113. – 2011: „Religiöses Bewusstsein nach Kant, Fichte und Friedrich von Hardenberg“. In: Philosophie und Religion, hg. v. Jens Halfwassen / Markus Gabriel / Stephan Zimmermann. Heidelberg, 155–170. Strawson, Galen 2002: „The Bounds of Freedom“. In: The Oxford Handbook of Free Will, hg. v. Robert Kane. New York. 441–460. Sturma, Dieter 1995: „Präreflexive Freiheit und menschliche Selbstbestimmung“. In: F. W. J. Schelling. Über das Wesen der Menschlichen Freiheit, hg. v. Ottfried Höffe / Annemarie Piper (= Klassiker Auslegen 3). Berlin, 149–172 . – 2004: „‚Person sucht Person‘. Schellings personalitätstheoretischer Sonderweg“. In: „Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunklen Grun-

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PERSONENREGISTER

Adolphi, Rainer  133, 135, 167 Altshuler, Roman  131 Anscombe, G.E.M.  55, 72ff., 86f., 90, 112 Anselm von Canterbury  331 Aristoteles  29, 34, 74, 85, 87, 137, 156, 174, 263, 272, 279, 310 Arndt, Andreas  227 Augustin  133, 138ff., 143, 155f., 161 Barbarić, Damir  34, 38 Barth, Karl  139, 144 Baumgartner, Hans Michael  214, 250 Beierwaltes, Werner  136, 138, 143f., 156 Bergson, Henri  189 Bensussan, Gerhard  111 Bieri, Peter  155 Boethius  133, 136, 138, 144, 149, 156, 183 Brachtendorf, Johannes  95 Bratman, Michael  58, 73, 88, 346 Brentano, Franz  40 Buchheim, Thomas  9, 34, 39f., 45, 57, 94, 96, 107, 198, 213, 215, 221, 223f., 227f., 246, 249, 251, 309, 311, 331f. Cabezas, Sebastián  114, 142, 196 Carmo Ferreira, José Manuel do  142 Chisholm, Roderick M.  263f. Clairvaux, Bernhard von  205 Corcilius, Klaus  85

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Courtine, Jean-François  224 Cruz Cruz, Juan  33 Cuvier, Georges  167, 171 Danz, Christian  33, 98, 198 Davidson, Donald  30, 86, 90, 112, 114f., 282, 286 Descartes, René  116, 331 Dörendahl, Roswitha  45, 60, 103, 224 Durner, Manfred  31, 46, 173 Ehrhardt, Walter E.  81 Echternach, Helmut  134 Eidam, Heinz  227 Fichte, Johann Gottlieb  59f., 68, 74, 93, 95f., 100, 134, 190, 201, 225, 227, 241, 271, 278, 281, 317 Flasch, Kurt  143 Flashar, Hellmut  85 Florig, Oliver  172, 197, 242, 254f. Ford, Anton  75 Frankfurt, Harry  52, 87, 89, 118, 287 Franz, Albert  32, 42f., 49 Fuhrmans, Horst  43, 47, 105, 108, 176, 314 Gabriel, Markus  11, 32, 39, 188, 201, 206f., 357 Gerber, Doris  280, 285 Gerhardt, Volker  30 Gloy, Karen  167, 177 Gruber, Joachim  144

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Personenregister

Halbig, Christoph  86, 297 Halfwassen, Jens  42, 110, 166, 177 Hay, Katia  252 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  15, 29, 40f., 93, 136, 301, 309, 313, 316f., 319f. Heidegger, Martin  60, 93, 135, 154, 189, 191, 197, 221, 227 Henning, Tim  297 Hennigfeld, Jochem  137, 161, 223, 249 Henrich, Dieter  41 Heraklit 163 Hermanni, Friedrich  97, 117, 198, 209, 224f., 228, 241, 251, 254, 264, 329, 332f. Hogrebe, Wolfram  341 Homer  169, 229 Horn, Christoph  115 Horst, David  73, 250, 287 Horstmann, Rolf-Peter  265, 286 Hübner, Dietmar  80 Hume, David  52, 86, 91, 108, 239, 286f. Hüntelmann, Raphael  104f. Husserl, Edmund  163, 189, 244 Hüttemann, Andreas  286, 339 Hutter, Axel  11, 16, 21, 111, 166, 176, 214, 317

Kane, Robert  106 Kant, Immanuel  30, 39, 41, 46, 56, 59f., 91, 99, 107, 114, 133f., 153, 165, 190, 201, 212f., 225– 230, 234, 240, 246, 252, 263, 270, 274ff., 282, 286, 289–293, 297, 300ff., 345 Kasper, Walter  82, 169 Keil, Geert  106, 264 Kielmeyer, Carl Friedrich von 167 Kierkegaard, Sören  41, 183 Klotz, Christian  249, 333 Knatz, Lothar  290 Koch, Anton Friedrich  143, 170 Köhler, Dietmar  229 Korten, Harald  214, 250 Koslowski, Peter  208, 214 Krüger, Malte Dominik  110, 212 Kümmel, Friedrich  179 Kutschera, Franz von  103

Jackelén, Antje  139 Jacobi, Friedrich Heinrich  97, 141f., 230, 243, 265, 286 Jacobs, Wilhelm G.  42, 112, 164, 169, 209, 212, 227, 247, 301 Jaeschke, Walter  227 Jesus v. Nazareth (= Christus)  170, 195f., 198, 214, 216, 207, 316

Mackie, John L.  339 Mayer, Matthias  167 McTaggart, John Ellis  149, 154, 189 Meier, Frank  109, 309 Mendelssohn, Moses  172 Moses 186 Mühling, Markus  139, 143 Müller, Julius  240

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Langthaler, Rudolf  11 Leibniz, Gottfried Wilhelm  33, 100–105, 133, 200, 224, 226, 248, 336f., 344 Leonhardt, Rochus  209 Löhrer, Guido  115 Luther, Martin  93, 184, 210, 251 Lutz, Ralf  339

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Personenregister

Müller-Bergen, Anna Lena  39, 187 Neugebauer, Georg  164 Nikolaus, Hendrik  134f., 168 Noller, Jörg  94, 99f., 114, 118 Oesterreich, Peter  225 Oetinger, Friedrich Christoph  103 Ostritsch, Sebastian  137 Parmenides 137 Paul, Jean  332 Paulus 144 Peetz, Siegbert  114, 146, 247, 252, 309 Piper, Annemarie  12, 209 Philon von Alexandrien  93 Platon  33, 69, 75, 116, 133, 137ff., 148, 152, 156, 184, 225, 271, 279, 295 Plotin  133, 138f., 143, 145f., 156, 328, 337 Reikerstorfer, Johann  204 Reinhold, Christian  114f. Rezvykh, Petr  97, 188 Rödl, Sebastian  41 Rohs, Peter  75, 131, 134, 181, 190, 280, 287 Runggaldier, Edmund  136

383

Schick, Friedrike  309, 316 Schlösser, Ulrich  68 Schmidt, Andreas  100, 114, 232 Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich  300, 309f. Schopenhauer, Arthur  251 Schulz, Walter  28, 34, 43, 81ff., 93, 108, 215f., 230, 268, 309 Schwarz, Justus  31 Schwenzfeuer, Sebastian  11, 29 Schwöbel, Christoph  93, 205 Searle, John  73, 268 Siep, Ludwig  15 Sigrist, Michael J.  131 Simon, Robert  43 Smith, Michael  52, 86 Sollberger, Daniel  80, 156, 162, 345 Spaemann, Robert  199 Spinelli, Antonino  224 Spinoza, Baruch  93, 95, 97, 104, 114, 142, 226, 228f. Stoecker, Ralf  30 Stolzenberg, Jürgen  41, 201 Strawson, Galen  356 Sturma, Dieter  94, 199, 223, 242 Tilliette, Xavier  16, 74, 242 Theunissen, Michael  21, 137 Thomas von Aquin  134, 144, 158 Tugendhat, Ernst  41 Unger, Daniel  136

Salomo  163, 165 Sandkaulen-Bock, Birgit  31 Sandkühler, Hans Jörg  96, 209, 290 Sartre, Jean-Paul  187, 278 Sattig, Thomas  189 Scarano, Nico  86, 113, 213

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Vetö, Miklos  17 Wetz, Franz Josef  70, 95 Wieland, Wolfgang  21, 135, 170, 176 Wiertz, Oliver  134

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384

Willi, Hans-Peter  240 Wilson George  87 Wilson, John Elbert  310 Wirtz, Fernando  172, 174

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Personenregister

Wright, Georg Henrik von  102, 112 Zöller, Günter  93

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SACHREGISTER

Kursive Seitenzahlen beziehen sich auf die Fußnoten der jeweiligen Seite.

Absicht  30, 49 f., 55, 57 f., 65, 67f., 70–79, 85–91, 111f., 115–120, 124f., 177f., 180–182, 272ff., 279, 296f., 359ff. Actus  35, 37, 44f., 51, 204 Aggregat 167 Alternativität  38f., 105, 116, 231f., 248, 257, 260, 349f. Analogie  259, 330, 334, 339f., 343, 344, 352 Andersheit  81, 152, 353 Anders-Handeln 100, 105, 259, 336 Augenblick  73, 78, 135, 140, 155f., 159–163, 168, 179, 258, 278, 283, 319, 321 Begierde  45, 47, 52 Beweggrund (Motiv)  67, 76, 83–89, 91, 107ff., 113, 118, 124, 186, 193, 199–202, 267, 269, 277, 289, 292, 302, 308, 313, 320f., 323, 357, 359 Bewusstsein – praktisches  32, 49, 51, 59, 67, 193 – reflexives (Selbstbewusstsein)  39, 30, 31, 40, 41, 46, 51, 59f., 77, 161, 185f., 194f., 198, 203, 205–207, 213, 215, 217, 260, 292, 319, 355, 358, 360 böse/böse  98, 104, 117, 118, 197, 209f., 222–226, 230, 231f., 235,

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237ff., 246–250, 252, 254f., 292, 294, 326, 348ff. causa efficiens  286f. causa finalis  34, 37, 113, 115f., 125, 279, 282f., 290f., 294, 299 Charakter  41, 118, 198, 200, 210, 222f., 235ff., 239f., 242, 244, 247, 250–255, 257  creatio perpetua (continua)  85, 135, 157f., 160, 163, 181, 211, 244f., 267 Deduktion (der Prinzipien/ Potenzen)  32, 36, 39, 42, 46, 47, 67, 69, 79, 81, 194, 276, 314, 350 Denken  15f., 109, 111, 140, 145, 199, 310–312, 322 Determinismus  99, 229–231, 314, 327 – innerer  106, 251 Deutscher Idealismus  27, 41, 270 Dialektik  194, 198, 314 Drama 332, 332 dynamisch  31f., 43f., 59, 164, 185, 244, 267f., 270, 273, 299, 324f., 354 Ebenbild  76, 98, 129, 193–200, 204–210, 217, 257, 341 Egoität 44, 46, 269, 292 Eigeninteresse 107f.

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Sachregister

Eigenwille  44ff., 107, 225, 248 empirisch  134, 162, 171, 223, 229, 232ff., 240ff., 245, 250ff., 258, 263f., 267f., 292, 330 Endursache s. causa finalis Entscheidung/Entschluss 51f., 54–58, 79, 86, 101, 115, 149, 156f., 160, 173, 208, 231, 233f., 248f., 252ff., 256, 258, 262, 265, 287, 292, 296, 330, 346, 348 Epos 328ff., 332, 336, 355 Erinnerung 57, 155, 171, 211, 246, 357 Erweis  309, 331, 332 Ethik  107, 253, 263, 290–301, 349 Ewigkeit  – absolute  78, 144, 147, 148, 150ff., 156, 178f., 182, 355 – doppelte  132, 135, 145, 149f. – ewige Dauer  137, 151, 246 – von Ewigkeit  54, 82, 84, 142, 149, 151f., 156, 165, 183, 200, 245 – vorweltliche/vorzeitliche  149, 150, 151ff., 154ff., 158, 166, 168, 174–181, 345 – zeitlose  136, 139, 143, 149, 178, 190, 245 ex-ante  108, 154, 158, 175, 178, 180, 209, 283f., 352 ex-post  29, 154, 158, 180, 209, 284 Existenz  19f., 23, 33, 69, 70, 93f., 104ff., 129, 201f., 210, 224, 228, 258, 274, 307, 309, 311, 312, 314f., 331, 340, 342, 353 Finalursache s. causa finalis Freiheit – formelle  97, 100, 106, 117, 222, 227, 229, 231, 233, 250

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– Indifferenzfreiheit/libertas indifferentiae  94, 101, 102, 328 – reale  250 – transzendentale  240, 264 – Wahlfreiheit  94, 101, 231, 247 Gefühl  86, 111, 203, 217, 289, 300f., 350 Gegenwart  57, 133, 137, 140, 143f., 146, 149, 153, 154f., 160ff., 164ff., 168, 170–174, 177f., 180ff., 184, 188–191, 212, 254, 286, 352 Geheimnis  330, 336 Geist  – absoluter  27, 32, 43, 59, 60, 67f., 69, 70, 77, 79f., 81, 82, 83, 109f., 121, 148, 152, 177f., 181, 183, 194ff., 202, 206, 276, 320 – vollkommener  40, 80, 82, 151, 351 Geschichte – Fortschritt  166, 171, 317, 319, 322, 325, 337, 341, 348f. – Richtung  170ff., 270, 298 Gesetz 97, 114, 171, 213, 229, 253, 292f., 300f., 307 – Gesetz der Identität  96, 228, 242 Gesichte  68, 70, 148, 152, 178f. Gesinnung  246, 251–254, 293 Gewissen  133, 211ff., 238f., 253, 255, 259, 333, 346, 348, 357 Gleichgültigkeit  78, 106f., 109f., 116, 257f. Gleichgewicht  54, 99, 101f., 104, 107, 205 Gott  – Attribute  98, 146, 175, 335, 351 – Namen  80, 81, 132, 182, 184–187, 258, 351

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Sachregister

Grund – vs. Existierendes  27, 31, 35, 42, 46, 176, 238, 268, 292f. – externer  121, 123, 213, 265 – des Handelns  30, 51, 114, 122, 249, 262 – zureichender  122, 124, 240 Gute/gut  95, 101, 104, 113, 118, 209ff., 222f., 225f., 231f., 234– 239, 246–250, 254f., 259, 290, 292, 294–297, 299, 302, 348ff. Handlung – instrumentelle  119, 342 – rationale  113, 232, 289 Handlungstheorie  12ff., 16, 21f., 24, 27, 30, 41, 52, 72, 87, 114, 115, 129, 187, 193, 262, 265, 286, 288f., 291, 307f., 314f. Harmonie  206, 208, 211, 216, 334f. Hemmung 79, 80, 276, 278, 323 Herr  81, 109, 151, 170, 183f., 207, 311 Ich  27ff., 31f., 40, 93, 97f., 121, 134, 136f., 161, 184ff., 199, 241, 258, 263, 276, 291 Idealismus  51, 225ff., 330, 335, 347 Ideal 231, 282, 288, 347 Identität  40, 96, 98, 139, 288, 229, 242, 250f., 255, 263 Imperativ  234, 252f., 290ff., 297, 301 intelligibel  96, 134, 227f., 240f., 245, 254f., 265, 292, 314, 327 Intentionalität  40, 48, 177f., 181, 191, 354 Interesse  107f., 110, 225, 320 intransitiv  34, 45

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Ironie 116f. Irrtum/Täuschung  57, 74, 116, 207, 275 Jetzt (nunc)  138, 143f., 155, 156, 160, 162, 177 Kausalität – Akteurskausalität  14, 263, 264, 265f. – kontrafaktische  114, 286, 287, 353 Leben  54, 139–142, 173f., 226, 243ff., 249, 251ff., 255, 258f., 269, 290, 298, 301f., 318, 326, 340, 345f., 348f. Lenkung  89, 90, 270, 287, 338ff. Liebe  103, 107f., 125, 216, 299, 313, 320 libertarisch 289 Mikrokosmos 167, 343, 345 Mittel – Handlungsmittel  49, 52, 76, 90, 119, 248, 270, 273f., 276, 279, 289, 320, 324, 345f., 350 – Zweck/Mittel-Relation  56, 75, 89f., 225, 248, 262, 271–276, 278f., 297, 315, 319, 360 mittlere Philosophie  47, 95, 102, 110, 218, 221, 224, 226, 245, 256, 300, 341, 342, 349 Möglichkeit – praktische (Option) 70, 76, 80, 82, 100–103, 104, 106, 122, 151, 177ff., 222, 231, 247, 248, 254, 279, 351, 355 – theoretische  60, 82, 151f., 355 Monotheismus  19, 188 Motiv s. Beweggrund

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Sachregister

Mythologie  169f., 214, 217, 275, 347 Natur 38, 80, 98, 140, 167, 224ff., 229, 266, 270, 282–286, 336 Negative Philosophie  33, 43, 81, 11, 112, 175, 299, 301f., 309ff., 313, 316, 334, 342, 351, 353 Neigung  118, 320 normativ  102, 112f., 237, 296, 348, 351, 354 Notwendigkeit  57, 69, 94–100, 106, 110, 124, 203, 209, 222, 228f., 237, 239, 242, 258, 289, 327f. nunc s. Jetzt Objekt/objektiv  27, 39–42, 46, 48, 53, 134, 138, 194f., 198, 203ff., 207, 215f., 268, 316f., 339 Offenbarung  9, 17ff., 22, 71, 74, 76, 82, 94, 98, 102f., 110, 113, 119, 147, 157, 164, 170, 182, 201f., 214, 216f., 267, 298, 320, 330–333, 341, 349f. omni simul  144, 149, 178 Option s. prakt. Möglichkeit Organismus  167f., 286, 343, 344, 345 Person/Persönlichkeit  78, 95ff., 120, 124, 168, 183, 198ff., 217, 224, 292 Positive Philosophie  59, 104, 111, 157, 298, 302f., 307, 314, 330ff. Posterius 19, 175 Potenz – erste  33–37, 39, 44, 46, 49f., 53, 69, 78, 178, 257 – zweite  35f., 39, 47f., 79 – dritte  37, 47f., 52, 294f., 298f.

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Präbewusstsein  204, 216 Prius  20, 23, 49, 147, 217, 311 Prozess  57, 75, 88f., 113, 171ff., 214ff., 277, 284ff., 299f., 307f. 314–330, 347–350 Punkt  83f., 156f., 159–161, 211, 244, 283, 352 Realismus/real  141, 225ff., 303 Religion  169f., 189, 213–216, 302, 360 Rolle  329f., 333f. Rückkehr  214f., 308, 324, 328, 333f., 336, 354f., 357–360 Schauspieler  329f., 332, 334 Schicksal 57, 329, 336, 338 Schöpfung – dauerhafte s. creatio perpetua/ continua Seinkönnendes 33–37, 35, 44f., 47, 69, 314 Sein Sollendes  119f., 294, 298f., 317f., 320, 348f., 354, 359 Sehnsucht  217, 273 Selbstbestimmung  122, 124, 228, 241, 313 Selbstbewusstsein s. Bewusstsein Selbstsetzung  162, 241 Sittlichkeit  290, 293, 302 Spannung  76–79, 208, 215, 262, 269, 274–277, 351 Spätphilosophie  12f., 20–24, 27ff., 31ff., 93, 124, 150, 294, 298ff., 327f. Spiegel  20, 95, 196, 200, 205f. Stufen  56, 58, 115, 169, 319, 320, 326, 345, 360 Sucht  46, 249, 273 Substanz  36, 38, 95, 150, 202– 206, 211ff., 217

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Sachregister

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Subjekt/subjektiv  27, 39–42, 98, 161, 194f., 267 Sukzession  51, 137, 140, 142, 149, 154f., 157, 165, 172, 180, 337 Sünde  76, 202, 207–212, 259, 302, 350 System  114, 145, 165, 172, 184, 194, 230, 315, 338

Verzögerung  315–318, 320–325, 330, 342, 350 Visionen  68, 70, 75, 77, 148, 151f. voluntaristisch  233, 289 Voraussicht/Vorherwissen 70, 72ff., 77, 299, 326, 329, 335, 340 Vorsehung  76, 315, 330, 335–338, 340, 351

Tat  22f., 56, 60, 84, 94, 96, 145, 149ff., 214, 239–244, 246–251 Tathandlung 29, 74, 241 Täuschung s. Irrtum Teil/Ganzes  41, 167f., 183, 342, 345 Teleologie  87, 270, 286, 344ff., 349 Theodizee 116, 117 Theologie  137, 157, 235, 290, 301, 351 Transitivität  35, 45, 49, 76, 78, 320, 324 Transzendentalphilosophie 161, 173, 185, 268 Trinität  34, 42, 183, 196

Wahl  50, 94, 100ff., 105, 121f., 231ff., 346ff., 257, 289, 318, 350 Wesen  15, 21f., 29, 61, 84, 94– 114, 116–120, 124, 157, 182ff., 186f., 221–224., 226–260, 269 Weisheit  101, 112, 298f., 340 Widerstand  136, 160, 278, 315, 317, 322ff., 342 Willkür  94, 99–102, 104, 108, 122ff., 299f., 328, 347 Wirklichkeit  37, 43, 57, 67, 69, 77ff., 150ff., 191, 232, 273, 285, 312ff. Wissen 70, 71, 73, 203, 215f., 360

unbewusst  51, 206, 209, 213, 346 Universalwille  107, 225 Unentschiedenheit  223f., 236, 248f. Unterlassen  94, 110, 117, 124, 151, 312, 318, 325 Urmensch 206, 216, 346, 357 Ursein  33, 45, 182 Vergangenheit  51, 57, 140, 143f., 154f. 156, 160–166, 172–175, 180–184, 190, 244 Vernunft  44, 59, 61 77, 95, 114, 139, 170, 290, 293, 299–302, 313 Verstand  31, 44, 224f., 360

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Zeit – Anfang der  58, 142, 145, 153–157 – dimensionale (= A-Reihe, Zeitmodi)  139f., 143, 146f., 161f., 164ff., 168, 185f., 189 – geschichtliche  80, 167, 169, 172, 180, 201, 324 – große  155, 166, 171f., 180, 190 – lineare (sukzessive=B-Reihe) 51, 140, 142, 154, 164, 202 – Perioden (Epochen) der 142, 162f., 168–171, 173f., 213ff., 322f., 336, 347, 354 – praktische  54, 350–354, 174–182 – scheinbare  136, 165, 172, 190

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Sachregister

Ziel  53, 56, 75f., 85–91, 117–125, 177f., 181ff., 191, 261ff., 270– 290, 294–303, 315–325 Zufall  100, 102, 121–124, 240, 327f. Zukunft  56f., 133, 135, 140, 152–155, 160–166, 170–184, 186–191, 351–356

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Zurechnung  89, 104, 116, 124, 209, 239f., 326 Zweck  89f., 119f., 269–279, 295–298, 324, 349f. Zweiheit  48, 194

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