Von der Natur [1. ed.] 9783837669770, 9783839469774

128 123 2MB

German Pages 357 [358] Year 2024

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Von der Natur [1. ed.]
 9783837669770, 9783839469774

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Eine Handvoll Natur
Mittel und Wege
Erster Teil
un/endlich
Synekdoche und Sein
Wirbel
Auslenkung: Lukrez
Der Beat des Seins
Schmetterlingsflügel
Abenteuer
Geburt
Im Auge
Methodenlehre – Kontemplation – Geheimnis
Zweiter Teil
Das Wirkliche I
Politisch verdächtig
Das Wirkliche II
In Scherben
Virtualität
Ablösung: Der Sturm
Elegie
Literaturverzeichnis

Citation preview

Robert Hugo Ziegler Von der Natur

Edition Moderne Postmoderne

Editorial Die Edition Moderne Postmoderne präsentiert die moderne Philosophie in zweierlei Hinsicht: zum einen als philosophiehistorische Epoche, die mit dem Ende des Hegel’schen Systems einsetzt und als Teil des Hegel’schen Erbes den ersten philosophischen Begriff der Moderne mit sich führt; zum anderen als Form des Philosophierens, in dem die Modernität der Zeit selbst immer stärker in den Vordergrund der philosophischen Reflexion in ihren verschiedenen Varianten rückt – bis hin zu ihrer »postmodernen« Überbietung.

Robert Hugo Ziegler, geb. 1981, lehrt Philosophie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Er hat mehrere Bücher zur Metaphysik, zur politischen Philosophie und zur Philosophie der frühen Neuzeit veröffentlicht.

Robert Hugo Ziegler

Von der Natur

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dn b.de/ abrufbar.

© 2024 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839469774 Print-ISBN: 978-3-8376-6977-0 PDF-ISBN: 978-3-8394-6977-4 Buchreihen-ISSN: 2702-900X Buchreihen-eISSN: 2702-9018 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

quid Corpus possit, nemo hucusque determinavit Spinoza, Ethik

Inhalt

Einleitung Eine Handvoll Natur ........................................................................... 11 Mittel und Wege ............................................................................... 15

Erster Teil un/endlich ................................................................................... 29 Synekdoche und Sein ........................................................................ 55 Wirbel ........................................................................................ 69 Auslenkung: Lukrez .......................................................................... 89 Der Beat des Seins........................................................................... 101 Schmetterlingsflügel......................................................................... 113 Abenteuer.................................................................................... 131 Geburt........................................................................................149

Im Auge Methodenlehre – Kontemplation – Geheimnis ................................................ 175

Zweiter Teil Das Wirkliche I ............................................................................... 215 Politisch verdächtig .........................................................................231 Das Wirkliche II ............................................................................. 253 In Scherben ................................................................................. 275 Virtualität ................................................................................... 295 Ablösung: Der Sturm ......................................................................... 317 Elegie ....................................................................................... 333 Literaturverzeichnis .........................................................................351

Einleitung

Eine Handvoll Natur

Dieses Buch setzt eine Tradition philosophischer Bemühungen fort, die es schon in seinem Titel zitiert: Von der Natur, Peri Physeos, De natura rerum. Es ist wichtig, dass es kein Buch über die Natur sein kann. Über die Natur kann man deshalb nicht handeln, weil man nicht über oder jenseits von ihr zu stehen kommt. Kein Denken ist über die Natur hinaus, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die Möglichkeit eines Buches, das von der Natur handelt, liegt in Wahrheit beschlossen in der Form des Partitivs, wie ihn beispielsweise das Französische kennt: un verre de vin – vom Wein kann man ein Glas trinken. Und von der Natur kann man schreiben, weil ein Mensch, ein Buch und sogar das Schreiben von der Natur ist: ein Teil davon, ein abgetrenntes Stücklein von einer unbestimmten, unbestimmbaren Ganzheit, die sich jeweils von diesen Stücklein aus als Reservoir darstellt, das noch nicht erschöpft ist, von dem man noch weiter nehmen und trinken kann, wie ein Glas Wein eben, das eine abgeteilte Menge ist vom Ganzen des Weins – nicht das Ganze repräsentiert oder symbolisiert, sondern in der schlichtesten Weise von ihm ist. Un brin de nature: ein Hälmchen Natur, ein Weniges und Kleines, das darum aber nicht weniger wirklich wäre oder die Natur nur unvollkommen abbildete. Wenn in mir also die Natur voll gegenwärtig ist, insofern ich von ihr bin – nicht vollständig, aber eine vollständige Gegenwart der Natur ist ohnehin eine der folgenreichsten widersinnigen Ideen der Philosophiegeschichte –, wenn ich ohne Abzüge im gleichen Sinn und im gleichen Grade Natur bin wie alles andere, dann steht der Möglichkeit, von der Natur zu sprechen, auch nichts im Wege. Von jedem Ort aus lässt sich mit dem gleichen Recht von ihr sprechen. Die Tradition, an die dieses Buch anknüpft, war lange unterbrochen und diskreditiert. Dafür gibt es Gründe in der Philosophie selbst, auf die ich im nächsten Kapitel der Einleitung eingehen werde. Die Philosophie hat sich von diesem Feld zurückgezogen, hat die Natur aus verschiedenen Gründen, nachdem sie sie doch längst kannte und wir alle sie nicht nicht kennen können, nachträglich zur terra incognita, vorsorglich zum unentdeckbaren Land und zur Sicherheit gleich ihren Namen zum unaussprechlichen erklärt. Aber vielleicht war sie auch nur eingeschüchtert. Denn die Wissenschaften, die die Natur im Namen tragen, hatten offenbar ohnehin viel erfolgreicher über sie sprechen gelernt, als es der Philosophie je gelungen war. Die Gefahr, sich lächerlich zu machen, war und ist, so muss es scheinen, groß. Dagegen halte ich es für ausgemacht, dass die Philosophie ganz allein aus ihren eigenen Mitteln heraus Zahlloses in und von der

12

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Natur herauszuheben vermag, was weder die Arbeit der Wissenschaften noch deren servile Kommentierung entdecken wird. In diesem Buch wird daher zwar immer wieder auch manches aus den gegenwärtigen Wissenschaften einfließen. Es werden aber nicht die Naturwissenschaften sein, die den Begriff und das Detail des Naturverständnisses bestimmen. Auch wird man eine ausführliche Diskussion naturwissenschaftlicher Erkenntnisse vergebens suchen. Angesichts der unerhörten Explosion dieser Erkenntnisse ist es wohl ausgeschlossen, dass heute jemand eine solche Arbeit in seriöser Weise leisten kann. Und wenn es doch jemanden gibt – ich bin es nicht. Mit den eigenen Mitteln der Philosophie werde ich arbeiten, das hatte ich eben gesagt. Doch sind diese Mittel in Wahrheit dieselben wie die des Denkens allgemein: erleben, zuschauen, nachdenken, ausprobieren, Wahrheiten verkünden, beim Irrtum ertappt werden. So etwas wie eine philosophische Methode gibt es nicht. Und was als solche durchgehen könnte, droht uns paradoxerweise von ihrer eigenen Mission zu entfernen; ich werde das im Achsenkapitel zeigen. Philosophie ist es, wenn sich das Denken vorantastet: nicht wie in der Dunkelheit, eher wie auf glattem Eis, auf das sich die Halbwüchsigen wagen, weil sie, um nicht als Feiglinge dazustehen, sich auf eine unvernünftige Wette eingelassen haben. Größe des möglichen Triumphs und Ausmaß der drohenden Peinlichkeit sind dabei genau aufeinander abgestimmt. Ebenso wie die Unverantwortlichkeit und der Ernst, die ohne Widerspruch darin nebeneinanderwohnen. Der Begriff von Natur, der hier leitend ist, ist so weit wie nur irgend denkbar genommen: Er umfasst alle Wirklichkeit, die uns begegnen kann und die wir auch selbst sind, das Belebte wie das Unbelebte. Die Überzeugung, die dem zugrunde liegt, ist, dass die starre Entgegensetzung des Lebens und einer toten bloßen Materie selbst ein Artefakt ist, das echte Klärung von Anfang an unmöglich macht. Da aber ein Erdklumpen und eine Menschenhand in der Tat nicht einfach dasselbe sind, muss der Naturbegriff zugleich so eng gefasst werden, dass er nicht nur das Vorliegen von Seienden umfasst, also gewissermaßen deren Summe bildet, sondern vor allem auch den Prozess ihrer Hervorbringung. Natur ist also wesentlich Produktivität und Wirkung, und zwar eine Wirksamkeit, deren Resultate sich von keiner Arithmetik kalkulieren lassen. In beiden Hinsichten knüpft der Naturbegriff vor allem an Lukrez und Spinoza an. Selbstorganisation, Dynamik, Produktivität wie auch Endlichkeit und schließlich die Unvermeidlichkeit absoluten Verlusts in der Natur sind vielleicht nirgends so eindrücklich zum Kranz gewunden worden, wie in dem Gedicht, das anhebt, indem es das Sein im Zeichen eines ontologischen Frühlings evoziert, von der Venus zum Tanz gerufen, und das sich aushaucht in der Erschöpfung des Lebens in der attischen Pest. Was entsteht, muss vergehen. Da das Wort nun schon einmal gefallen ist: wäre dieses Buch nicht besser als eine Ontologie beschrieben? In einigen Hinsichten mag das sein, und tatsächlich wird viel vom Sein und vom Seienden gesprochen werden. Doch impliziert der Begriff der Ontologie eine Formalität des Denkens und der Kategorisierung, die der Natur in ihrem Wirken ganz fremd bleibt. Alle Formeln dieses Buches – und schon und insbesondere die des folgenden Einleitungsteils – dürfen nur vorläufige Gültigkeit beanspruchen, solange nämlich, als sie uns erlauben, das Wirkliche in dem, was ihm zukommt und von ihm kommt, zu denken und wahrzunehmen. Erschöpfen sich die Formeln zur Gewohnheit, sprechen sie nurmehr von sich und unserem geordneten Nachdenken über sie. Der Begriff der Natur trägt schon seiner Herkunft nach die Durchbrechung der Kontinuitäten

Eine Handvoll Natur

und der Totalitäten in sich, insofern er Zeugung und Geburt zur Hilfe ruft, den Einsatz von etwas ganz Neuem also. Gleichwohl, auch »die Natur« kann Fetisch werden. Und in noch einer Weise ist dieses De rerum natura mit dem lateinischen verwandt: Auch das vorliegende versteht sich als eine materialistische Metaphysik. Die Natur ist im Wesentlichen und vielleicht sogar ausschließlich eine Welt von Körpern. Allerdings, damit ist noch nicht viel gesagt, und vor allem ist das kein Bekenntnis zu den Reduktionismen und Trivialitäten, die sich den Namen des Materialismus oft umhängen – wenn man nur klarstellt, dass uns ein brauchbarer Begriff von Materie noch völlig abgeht. Mit dem Materialismus ist deshalb noch nicht viel entschieden, weil wir noch nicht wissen, was ein Körper eigentlich ist. Und wir wissen nicht, was ein Körper ist, weil wir nicht wissen, was er schon als Körper vermag. Die Begriffe, die uns die Tradition darüber anbietet, fallen fast durchwegs beim ersten Gegenwind um. Dass das kein Zufall ist, dass die verzweifelte Bemühung um das Verständnis von Materie und Körper, oft auf eine verborgene und verleugnete Weise, eine der stärksten Triebfedern der Philosophie ist, wird sich noch zeigen. Was ein Körper ist, wird sich also frühestens am Ende sagen lassen, somit auch erst dann, was es genau meint, dass die Philosophie der Natur ein Materialismus ist. Spinozas mahnende Erinnerung, die diesem Buch als Motto dient, markiert folglich exakt das Fragwürdige an diesem Materialismus, das ihn auf jeder Seite weitertreibt. So kommt denn auch der Impuls, der uns dazu bringt, von ihr zu schreiben und zu sprechen, die Anrede, auf die wir Antwort suchen, von der Natur.

13

Mittel und Wege

Eine Philosophie der Natur zu schreiben, bedarf einer eigenen Rechtfertigung. Allein das ist schon ein bemerkenswerter Umstand: dass ausgerechnet das, was uns am Nächsten, Bekanntesten, Alltäglichsten ist, was uns von überall und immerzu umgibt und was auch wir sind, entweder unwürdig ist, von der Philosophie besprochen zu werden, oder aus prinzipiellen Gründen gar nicht von ihr erreicht werden kann. Und in der Tat müssen sehr besondere Vorbedingungen erfüllt sein, damit »Naturphilosophie« ein Ausdruck ist, der einen guten Sinn ergibt (zumindest eine Naturphilosophie, die mehr sein will als elaborierter Kommentar der Naturwissenschaften). Es sind besondere metaphysische Entscheidungen nötig, deren Ergebnis mindestens sein muss: 1) dass die Natur im vollen Sinne wirklich ist und dass sie 2) von uns ohne Hindernisse erkannt werden kann. Man muss sich schon eine ganze Weile in der Philosophie umgetan haben, um zu ahnen, dass dieses doppelte Ergebnis, das Ausgangspunkt einer Philosophie der Natur sein kann, aus irgendwelchen Gründen für professionelle Denker nicht feststeht, ja sogar: dass viele von ihnen beide Sätze entschieden ablehnen würden. Denn in Wahrheit sind diese Vorbedingungen und metaphysischen Entscheidungen besondere nur in Abgrenzung zu anderen metaphysischen Anschauungen. In sich sind sie nicht besonders, zumindest wenn man darunter versteht: spezifisch, selten, einen engen Bereich bewohnend und eine abgegrenzte Sichtweise umzirkelnd. Sie sind besonders, weil sie sich nicht mit anderen Theorien auf einer Ebene befinden – ja, weil das, was sie als Philosophie hervorbringen, vielleicht nicht mal Theorie im herkömmlichen Sinn ist. Wenn ich also in diesem Kapitel eine Reihe paradigmatischer Dichotomien bemühe und jeweils für eine Seite votiere, dann darf man das nicht mit einem Abstieg auf dem Baum der begrifflichen Hierarchien verwechseln, so dass am Ende die eine wohldefinierte Perspektive und Methode vor der Leserin steht, auf die sich diese Arbeit einschränkte; vielmehr ist der einzige Sinn dieser hinführenden Prinzipienentscheidungen, nach und nach Beschränkungen in der Idee von Philosophie und ihrem Gegenstand fallen zu lassen, so dass nach und nach das Wirkliche erst in seiner Fülle sichtbar wird, um das es der Philosophie nur gehen kann. Das Wirkliche, die Natur enthüllt sich nicht so sehr – wie eine beliebte Redeweise es will –, so als gälte es, in irgendwelche Geheimnisse einzudringen, die hinter den Erscheinungen und dem Anschein lägen. Wie es sich in Wahrheit verhält, ist in Goethes berühmtem Wort längst auf den Punkt gebracht: »Das Höchste wäre:

16

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

zu begreifen, dass alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre.«1 Nur ist es überraschenderweise sehr schwierig, das Erscheinende einfach sein zu lassen und von sich aus zu bedenken. Es wird genug Gelegenheit geben, auf diese Schwierigkeit immer wieder zurückzukommen. Man kann also, wenn man Schubladen liebt, den Kategorisierungen des vorigen Kapitels (Naturphilosophie, Materialismus) noch eine weitere hinzufügen, indem man bemerkt, dass dieses Buch eine dezidiert phänomenologische Perspektive einnimmt, ja sogar eine Erhebung der Phänomenologie in den Stand einer Metaphysik vollzieht. Man wird zurecht fragen, mit welchem Verständnis von Phänomenologie das zu machen ist. Ich werde darauf später noch eingehen, und zudem lässt sich dieses Verständnis sicher auch ablesen aus dem Gang und der »Methode« des Textes selbst. Als ein erster Hinweis mag es genügen, eben auf diese zentrale Überzeugung hinzuweisen, die sich in Goethes Diktum ebenso ausspricht wie in Husserls ganzer Philosophie: dass es gilt, das, was erlebt, wahrgenommen, erfahren wird, ohne Verringerung oder Verzerrung oder Abzüge als das Wirkliche selbst zu denken. Was sind nun aber die metaphysischen Entscheidungen, die das einerseits möglich machen sollen und andererseits schon aus dieser Überzeugung folgen? Ich habe den paradigmatischen Gegensatz in der Konzeption von Metaphysik, den ich zugrunde lege, an anderer Stelle ausführlicher dargelegt,2 so dass hier ein paar knappe Erinnerungen genügen werden. Der Eindruck des Holzschnittartigen, vielleicht sogar des Sektiererischen wird sich nicht ganz vermeiden lassen. Daher noch einmal die Erinnerung: Auch philosophische Kategorien und Formeln dürfen nicht zum Fetisch verkommen. Das, was uns tatsächlich begegnet, philosophisch zu fassen, scheint die schwerste Sache zu sein. Damit meine ich noch gar nicht, dass wir uns oft oder sogar meistens streiten über das, was vermeintlich vor uns liegt, den irritierenden Umstand, dass das, was uns doch allen gemeinsam und bekannt sein sollte, Gegenstand der erbittertsten Auseinandersetzungen und der divergierendsten Deutungen ist. Denn immerhin etwas ist da, wir kennen ein Gemeinsames, auf das wir uns beziehen, und wenn wir uns nicht auf es als auf ein Gemeinsames bezögen, dann hätten wir auch keinen Anlass, uns darüber zu streiten. Nein, die Schwierigkeit ist grundlegender. Denn die Philosophie hat stets die Tendenz gehabt, das, was uns begegnet, was wir erleben und erfahren, in der Welt wie in uns, auf etwas anderes zu beziehen, das man seinerseits nicht direkt erfahren kann, zumindest nicht in irgendeinem alltäglichen, unstreitbaren Sinn. Die Wirklichkeit schien der Philosophie nie wirklich genug zu sein. Oder noch genauer: Das Wirkliche, so der Verdacht der Philosophie, muss doch seine Wirklichkeit, sein Wirklichsein einer anderen Sache verdanken, von der her es Wirklichkeit und im Übrigen auch Erkennbarkeit erhält. Das Wirkliche als solches, das »nur Empirische«, die Welt des Werdens und Vergehens

1 2

Goethe: Maximen und Reflexionen. 69. Pointiert und programmatisch und als eine provokative Nebeneinandersetzung von Spinoza und Husserl in ›Metaphysik und Phänomenologie‹; und die Elemente einer Metaphysik der Immanenz stellen gewissermaßen eine erste Probe dieser Denkweise dar, die allerdings, wie mir heute scheint, noch zu stark von einigen transzendentalphilosophischen Vorurteilen abhängig ist.

Mittel und Wege

kann in dieser Sichtweise nicht für sich selbst einstehen, nicht seine eigene Wirklichkeit garantieren. Geschlagen ist es von Anfang an, a priori, mit einer Mangelhaftigkeit, die sich an dem Abstand zu den Prinzipien ermisst, von denen es sein Sein hat. Diese Denkfigur hat Schule gemacht, in gewisser Weise ist sie die Schule des Denkens selbst gewesen, und zweifelsohne hat sie dabei von einer doppelten Affinität profitieren können (die selbst nicht zufällig ist): Denn einerseits deutet das Denken darin seine eigene Struktur zu der des Seins um: Das Denken operiert mit Begriffen, und wenn es Prinzipien oder Gesetze oder Wahrheiten findet, dann sind sie ebenfalls in Begriffen und Relationen von Begriffen gebildet – so sehr, dass die Wahrheit dieser Wahrheiten davon abhängt, dass also den Begriffen etwas entsprechen muss, nämlich die Ideen oder Wesenheiten oder Gesetze usw., nicht aber dieser Tisch, meine Liebe, die flüchtige Erinnerung, die Schwere eines Körpers. Andererseits hat diese Denkfigur nicht von ungefähr eine Ähnlichkeit mit hierarchischen Strukturen, indem sie Begriffspyramiden aufeinanderschichtet, bis es nicht mehr weiter hoch geht – so sehr, dass diese Begriffssysteme selbst in Begriffen der Hierarchie, also der Politik formuliert sind (und gibt es ein dichteres Bild für die Verquickung von Politik, Metaphysik und Religion als eine Pyramide?) und dass andererseits die Ideologie des Hierarchischen eine Rechtfertigung auch durch die vermeintlich gottgegebenen, unveränderlichen, ewigen Strukturen des Denkens und der Wahrheit erhält. Diese Denkweise also, die ich unter dem Schlagwort der Metaphysik der Transzendenz zusammenfasse, betreibt, ontologisch, eine Übereinanderstapelung von Ebenen oder Schichten, von denen die jeweils niedrigere von der jeweils höheren abhängig ist. Von dieser erhält jene ihr Sein und ihre Erkennbarkeit. Und fast ganz unten steht dann die Welt unserer Erfahrungen, Erlebnisse, Gedanken, Gefühle, der Dinge und Menschen und Lebewesen, der Würmer, zerknüllten Bonbonpapiere und des Mondscheins – die Natur eben und mithin die einzige Welt, die wir aus erster Hand kennen. Niedriger steht nur mehr die Kopie dieser Welt des »nur Empirischen« in Erinnerung, Traum, Phantasie, Kunst und Wahn. Epistemologisch wird dadurch erklärt, weshalb der Zugang zum Wahren und Unveränderlichen so schwer fällt: In dieser Welt der Kontingenz, des Ungefähren und des Vorübergehenden befangen, in der er sich fast immer bewegt, kostet es unseren Geist eine fast übermenschliche Mühe, zu wahrer Erkenntnis zu gelangen. Denn dazu muss er aufsteigen, auf eine höhere Ebene des Seins als die, die er im Getriebe eines trivialen Immerzu gewöhnt ist. Wie aber soll ihm das gelingen? Es fehlen ihm doch alle Orientierungspunkte! Es bedarf in jedem Fall eines Saltos, sei es, dass der Geist irgendeinen Anker und ein Zeugnis des Höheren in sich trägt, um das er sich, wie ein Judoka, der mit sich selbst ringt, herumreißt und hinaufwirft, seine eigene Trägheit als Schwungkraft einsetzend; sei es, dass das Hohe sich zu ihm niederlässt, um ihn hinaufzuhieven. Aber so ein Manöver ist unvermeidlich, sobald man sich klar macht, dass diese Ontologie der Ebenen, von denen die untere einseitig abhängig von der höheren ist, zwischen jeweils zwei Ebenen eine Lücke klaffen lässt: Ist die höhere von ganz anderer Weise und Würde als die niedrigere, dann hat diese rein aus sich heraus keine Möglichkeit, zu jener vorzudringen. Jede Vermittlung ist von vornherein abgebrochen. Erst unter dieser Bedingung wird Erkenntnis in einem emphatischen Sinn zum Problem, zu einem prinzipiellen Problem: Wie ist es überhaupt möglich, das Wahre zu erkennen, wenn dieses von ganz anderer Art ist als das »nur Empirische«, mit dem unser Geist ständig zu tun

17

18

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

hat und zu dem vor allem dieser Geist selbst auch gehört? Ein Loch ist damit gerissen ins Gewebe der Intelligibilität, das man mühsam wieder stopfen muss; aber immer muss sich der Erkenntnisakt einem Wunder annähern, was in manchen Philosophien besonders augenfällig ist, in anderen aber kunstreich verdeckt wurde – aber was ist denn der Apriorismus der modernen Rationalisten und Transzendentalphilosophen anderes als ein Wunder, da ja offenbar von Anbeginn der Zeit (zumindest aber meiner Zeit) alles Erkennbare oder immerhin alle »Bedingungen der Möglichkeit« von Erkennen bereits in meinen Geist gelegt wurde? Wenn uns also aus dem Sein ein Loch entgegengähnt wie ein offener Mund, wenn das Erkennen nichts mehr ist, was sich mit natürlichen Mitteln erreichen ließe – dann ist es auch nicht mehr überraschend, dass, in einer charakteristischen Umkehrung, genau die Kopien der Kopien, in denen sich der Wesensmangel geradezu zum Definitionsmerkmal emporschraubt, zum Ort jener unbegründbaren Eingebungen werden können, die die Stelle einer echten und unmittelbaren Erkenntnis des Wirklichen einnehmen: Erinnerung, Traum, Phantasie, Kunst und Wahn – je nach Temperament. Es ist klar, dass diese Metaphysik den Menschen konsequent verfehlen muss. Der Mensch in seiner konkreten Wirklichkeit, als ein endlicher, sterblicher, fühlender, irrender, genießender existiert ja nur im »bloß Empirischen«. Seine Wirklichkeit wird er, wie alles andere auch, nach dieser Metaphysik auf einer anderen Ebene des Seins suchen müssen. Damit ist der Mensch einerseits radikal entwertet, indem er an einem Maß gemessen wird, das mit dem Maß des Endlichen nichts gemein hat; seine Unzulänglichkeit ist absolut, insofern der empirische Mensch und seine Wirklichkeit inkommensurabel sind. Andererseits wird man den Menschen dann verdoppeln müssen in irgendeine Existenzform, die seiner Wirklichkeit angemessener ist: Das hieß für lange Zeit »Seele«, später setzte sich ein anderer, nur scheinbar nüchternerer Sprachgebrauch durch und man nannte es »das transzendentale Subjekt«. Aber auch diese Verdopplung löst die Schwierigkeiten nicht, sondern verschiebt sie nur nach hinten, denn nun muss das Verhältnis der Seele bzw. des transzendentalen Subjekts zum Menschen erklärt werden. Der Mensch aber bleibt ohne Ort, verlorener als eine Ameise, die ihrerseits ganz genau das ist, was sie sein soll. Denn damit, mit normativen Ansprüchen an eine Essenz des Menschen, operiert diese Metaphysik fast zwangsläufig, und in keiner Spielart sind wirkliche Menschen diesen Ansprüchen gewachsen, nicht einmal in den Träumereien einer totalen Selbstermächtigung und Wirklichkeitsschöpfung des Subjekts – das dann wieder kein realer Mensch sein wird. Diese Metaphysik ist also stets bereit, einer Moral den Weg zu ebnen, in der der Mensch immer etwas schuldig bleiben muss, nämlich das Wichtigste, sein eigentliches Wesen. Diese Metaphysik beruht auf der Voraussetzung von etwas, das ganz anders als das »nur Empirische« ist und das diesem seinen Sinn und seine Wahrheit aufschließen wird. Dieses »nur Empirische«, also alles das, was wir wirklich kennen und erleben, gerade in seinem Ungefähr und seiner Vorläufigkeit, seiner Unsauberkeit und Wildheit, ist nicht das Wesentliche, nicht das Wirkliche – und wird so systematisch derealisiert. Nicht zuletzt ist es die Zeit, die so viel Unruhe stiftet und alle unsere Bemühungen, endlich das Wirkliche geistig zu bewältigen, zuschanden macht. Ganz anders als das Empirische, das bedeutet daher (fast) immer: nicht zeitlich, überzeitlich, ewig. Diese Denkweise hat sich, bewusst oder nicht, einer Liquidierung der Zeit verschrieben.

Mittel und Wege

Metaphysik ist am Ende des Tages keine Frage von wahr oder falsch, über Metaphysik kann man zwar streiten, aber man kann nicht hoffen, so geradehin zu überzeugen, zumindest nicht, wenn beim anderen nicht schon die Bereitschaft, vielleicht sogar die Sehnsucht, überzeugt zu werden, dem entgegenkommt. Nichts kann mich versichern, dass es diese höhere Ebene des Seins nicht gibt, nichts kann je beweisen, dass es keinen Gott gibt. Hier geschieht offenkundig anderes als ein theoretischer Beweis – daher auch die bemitleidenswerte Unbeholfenheit, die der sich chronisch selbst überschätzende militante Atheismus an den Tag legt. Wenn man schon nicht beweisen kann, dann kann man vielleicht aber Motive anbieten, die es plausibel machen, andere Wege einzuschlagen. Eins genügt mir hier: Genau der unerschöpfliche Reichtum, die unzähmbare Vielfalt, das Überraschende, das Abgründige wie die Schönheit dieser erfahrbaren Welt wird in dieser Metaphysik der Transzendenz, Stück um Stück und Schicht für Schicht abgetragen. Am Ende zählt nur das, was in Beziehung zu einer sauberen, geordneten, begriffsähnlichen Seinsebene steht und wie es mit ihr in Beziehung steht. Diese Sichtweise muss reduktionistisch werden, denn sie führt das mir Erreichbare zurück auf etwas anderes, auf Wesenheiten, die farblos und geruchlos sind, steril. Kein Begriff kann mir den Duft der Rose ersetzen, und warum sollte dieser nicht selbst für sich einstehen, seine eigene Wirklichkeit verbürgen können? Warum also sollten die Erscheinungen nicht schon selbst das Wesentliche, das Wirkliche im vollen Sinne sein? Es gälte dann, das »Empirische«, die Erscheinungen als das Wesentliche selbst zu retten. Und dazu müsste man als erstes begreifen, dass das, was sie klassischerweise für die Rolle des Wesentlichen disqualifizierte – ihre Unsauberkeit, ihre schlechte gegenseitige Abgrenzung, ihre Vergänglichkeit, ihr Ungefähr – exakt ihr Wesen ausmacht. Und erst dann wird auch so etwas wie eine Naturphilosophie möglich, die sich nicht mit Allgemeinheiten oder mit servilem Kommentar des jeweils aktuellen Stands dieser oder jener Naturwissenschaft begnügen will – denn niemand wird mehr in seriöser Weise alle Wissenschaften rezipieren und kommentieren können. Es ist leicht, jener Metaphysik Punkt für Punkt die Metaphysik entgegenzusetzen, die für eine solche Naturphilosophie die Voraussetzung ist. Der ontologischen Hierarchisierung antwortet das bedingungslose Bekenntnis zur Oberfläche: Es gibt nur eine Wirklichkeit, und zwar diese hier, und nichts in ihr, nicht der Staub und nicht der fast schon klischeeartige Beziehungsstreit ist unwürdig, die Aufmerksamkeit und mehr noch: die Zärtlichkeit des Philosophen zu erregen. Diese Zärtlichkeit, eine bittersüße bestimmt, muss in Wahrheit gar nicht erst geweckt werden; es müssen höchstens die Hindernisse aus dem Weg geschafft werden, die man in den besten Absichten aufgestellt hat, um sie zu kanalisieren. Alles in der »empirischen« Wirklichkeit ist wirklich und wertvoll, gleich wertvoll sogar, zumindest in einem strengen metaphysischen Sinn (der ethische Unterschiede freilich nicht ausschließt). Es gibt nichts, was unter, hinter oder über dieser Wirklichkeit der endlichen Dinge wäre. Deleuze hat das die »Univozität des Seins« genannt.3

3

In seiner großen Studie zu Spinoza (Spinoza et le problème de l’expression). Der Begriff ist gewählt als Gegenbegriff zur »Analogie des Seins«, die von Aristoteles (Metaphysik, Γ 2, 1003, a) kommend Schule gemacht hat.

19

20

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Dann aber muss zwischen dem Menschen und dem »wahren Sein« kein Abgrund mehr klaffen. Überhaupt ist die Endlichkeit, ganz unspektakulär genommen: die Tatsache, dass wir wie alles Seiende Anfang, Grenzen und Ende haben, nicht mehr ein Mangel, sondern die positive Charakteristik des Seienden als solchen,4 ebenso wie es die Ermöglichung eines erkennenden Zugangs zur Wirklichkeit ist. Mensch und Welt stehen einander nicht gegenüber, sondern gehören derselben Wirklichkeit an. Der Mensch muss als erkennender nicht erst zu seinem Gegenstand gelangen. Er ist längst dort. Das, was man zum Beweis der Mangelhaftigkeit der Erkenntnis erklären wollte, war in Wahrheit immer schon die positive Bedingung von Erkenntnis überhaupt. Erkennen und Denken brauchen in dieser Sichtweise nicht mehr als der verzweifelte Versuch eines nachgebildeten Verstandes gedacht werden, der es einfach nicht schafft, sein Urbild einzuholen. Das Rennen ist manipuliert, weil der Igel, der den Hasen angeblich überholt hat, nicht derselbe ist, der das Rennen begonnen hat. Der Fehler liegt in der Unterstellung eines ganz anderen Verstandes, eines göttlichen, rein intuitiven, schöpferischen, unfehlbaren, totalen, im Vergleich mit dem sich unserer als mangelhaft präsentiert. Diese Abkehr von einem wirkmächtigen und fatalen Paradigma wird vielleicht durch nichts pointierter illustriert als durch Husserls Feststellung, dass auch Gott einen räumlichen Gegenstand nur dadurch wahrnehmen kann, dass er ihn nacheinander von verschiedenen Seiten, abgeschattet, betrachtet.5 Abschattung, damit Perspektivität, Unvollständigkeit, Vorläufigkeit, Irrtumsmöglichkeit – all das sind dann keine Anzeichen einer prinzipiell defizitären Erkenntniskraft, der eine wahre und volle Einsicht ins unverhüllt Wahre gegenüberstünde; vielmehr sind das integrale Aspekte der einen Erkenntnisweise, die der Struktur des zu Erkennenden angemessen ist. Somit braucht man auch nicht mehr fürchten, dass der Mensch sich einer Aufgabe oder Ansprüchen gegenübersieht, die ihn prinzipiell übersteigen und somit disqualifizieren müssen. Natürlich kann nicht alles erkannt werden, wahrscheinlich schon deshalb, weil, wie zu zeigen sein wird, es »alles« nicht gibt. Und die Macht der Menschen ist auf so viele Weisen begrenzt, weil sie nun einmal nicht alleine auf der Welt sind. Nun aber können und dürfen sie sich aufgerufen fühlen zu einer Ethik der Interaktion mit dem Wirklichen, in der sich die Kräfte des Wirklichen und die der Menschen gegenseitig verstärken. Und auch das Glück, das so entstehen kann, ist eine ganz unspektakuläre Sache, denn es ist nicht als Subtraktion von irgendeinem kosmischen Orgasmus gefasst, sei es die Schau Gottes oder die untersagte »jouissance«, sondern exakt als die positive Möglichkeit des heiteren Zusammenwirkens und -stimmens mit anderen Menschen, Dingen und unwiederholbaren Augenblicken, die tatsächlich in unserer Reichweite ist. Wichtig 4

5

Die Endlichkeit (finita potestas) ist nicht Lösung vom Wirklichen, sondern im Gegenteil der Grenzstein (terminus), der ein jedes erst in der Wirklichkeit verankert. »finita potestas denique cuique/quanam sit ratione atque alte terminus haerens.« Epikur konnte uns sagen, »Wie eines jeden Dinges Kraft begrenzt ist und allem, was ist, ein Grenzstein tief eingepflanzt.« (Lukrez: De rerum natura. I, 76f., wortgleich wiederholt in VI, 65f.; Übersetzung von Klaus Binder) »Es zeigt sich also, dass so etwas wie Raumdingliches nicht bloß für uns Menschen, sondern auch für Gott – als den idealen Repräsentanten der absoluten Erkenntnis nur anschaubar ist durch Erscheinungen, in denen es ›perspektivisch‹ in mannigfaltigen aber bestimmten Weisen wechselnd und dabei in wechselnden ›Orientierungen‹ gegeben ist und gegeben sein muss.« (Husserl: Ideen I. 351)

Mittel und Wege

ist, was geschieht in den Ereignissen, in denen ich mit anderem verschränkt bin. Wirklichkeit ist nicht so sehr, als sie vielmehr gemacht werden muss – nicht im Sinn eines Konstruktivismus freilich. Deshalb haben auch Essenzen, Wesenheiten hier nur mehr eine begrenzte Relevanz, denn von ihnen mag man ausgehen, wenn man denn mit ihnen noch operieren will; aber niemandem wäre aus dieser Sicht damit geholfen, diese Essenzen zu den unverrückbaren Grenzen der Produktion von Wirklichen zu machen, anstatt auszuprobieren, wohin es einen verschlagen mag. Man gleicht sonst jenen Seefahrern, deren Karten irgendwo endeten und die daraus schlossen, dass man also dort nicht weiterfahren kann. Oder einem Autofahrer, der in einen Kanal fährt, weil er seinem Navigationsgerät, das ihm anzeigt, da sei ein Weg, mehr traut als seinen eigenen Augen. Es ist schon kurios, dass das exakte Maß einer wahrhaft menschlichen Philosophie die Entschlossenheit ist, den Menschen nicht zu etwas ganz Besonderem zu machen, ihn nicht aus dem Netz seiner lebendigen und natürlichen Beziehungen herauszulösen, »den Menschen in der Natur« eben nicht »wie einen Staat im Staate zu verstehen«.6 Das Motto dieser Sichtweise ist denn auch »nichts anderes als«: die Überzeugung, dass die Erscheinungen selbst die volle Wirklichkeit sind und dass es keinerlei »ganz andere« Wirklichkeiten gibt, die, höher oder niedriger, jedenfalls auf anderer Seinsebene stehend und anderen Gesetzmäßigkeiten gehorchend als diese Erscheinungen deren Gewebe zerstoßen und am Ende nichtig machen. Das heißt aber auch, dass das Wirkliche, oder »die Wirklichkeit« nicht einfach vorliegt, fertig ist, weder dort, im Ideenhimmel, noch auch hier, auf der Erde, der es, nach einem Wort von Nietzsche, die Treue zu halten gilt.7 Wirklichkeit ist immer vorläufig und unvollständig insofern, als sie nur als der Prozess existiert, an dem jedes Seiende mitzuwirken hat – ein Prozess, den ich als Philosoph wie als Mensch verfehlen oder verpassen kann. Daraus wird auch klar, dass in dieser Sichtweise die Zeit nicht straflos gestrichen werden kann: Wer die Zeit hinter sich zu lassen sucht, hat die Wirklichkeit selbst aufgegeben. Das ist eine grobe Skizze jener Verschiebung der Parameter, durch die sich die Wirklichkeit dieser einen »empirischen« Welt erst in solcher Deutlichkeit abzeichnen kann, dass eine echte Würdigung der, ja: eine Zärtlichkeit für die endlichen Dinge8 möglich wird und dass eine Naturphilosophie allererst in Reichweite rückt. Man findet diese metaphysische Grundhaltung denn auch nicht durch Zufall, wenn auch in bald mehr, bald weniger klarer Ausprägung, bei den Autoren, die bisher mit der »Natur« für die Philosophie ernstzumachen versucht haben: Spinoza, Lukrez, Bergson.9

6 7 8 9

Spinoza: Ethik. Vorwort zum Dritten Teil. 218f.: »Imo hominem in natura, veluti imperium in imperio, concipere videntur.« »Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden!« Also sprach Zarathustra. In: Werke. Zweiter Band. 280. Der Ausdruck ist Hegel nachgebildet, der in der Enzyklopädie einmal (freilich abschätzig) von der »Zärtlichkeit für die weltlichen Dinge« redet (126). Wenn Natur bei allen dreien verschiedene Bedeutungen hat, dann ist eben auch das kein Zufall: Spinoza artikuliert die allgemeine Struktur einer Wirklichkeit als Natur, die erstens nichts außer ihrer selbst kennt und die andererseits »göttlich« ist, nämlich vollkommen, unendlich und unerschöpflich produzierend. Lukrez fasst diese selbe Natur nach ihrer rein materiellen Seite, wobei am Ende der Materiebegriff zu rigide und unterbestimmt bleibt. Bergson setzt im Gegenteil auf die Elaboration der Geschichte des Lebens in ihrer metaphysischen Irreduzibilität – so sehr, dass er

21

22

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Dieser selbstverständlich ganz schematische Gegensatz zweier Paradigmen von Metaphysik ließe sich weiterverfolgen und auf seine Implikationen für die Metaphysik allgemein und für die der Natur im Besonderen abklopfen – wenn denn die Natur ein »besonderer Gegenstand« der Metaphysik wäre, so wie Gott, die Seele und die Welt (als »Schulbegriff«, wie Kant immer schreibt). Ich werde Gelegenheit haben, in den folgenden Ausführungen auf eine ganze Reihe von Gegensätzen einzugehen, die als Gegensätze überhaupt nur formulieren zu können bereits ein Verdienst der Umbettung der metaphysischen Grenzsteine ist (nicht umsonst ist übrigens die Versetzung von Grenzsteinen ein schweres Verbrechen). Wenn Philosophen Gegensätze bemühen, dann wissen sie normalerweise schon, welche Seite die richtige, welche die falsche ist. Vorläufig werde ich es mit ihnen halten; man muss sich aber doch erinnern, dass kein schematischer Gegensatz letzte Wahrheit sein kann. Solche Gegensätze sind z.B.: • • • • • •

Ein Denken nach Form und Inhalt, Wesen und Faktum – dagegen: Denken der konkreten Fülle/Dauer als Hervorbringung aller Wirklichkeiten. Überflug des Denkens über das Sein: Sein als Totalität – wesensmäßige Situierung alles Denkens: Sein in Lokalität und Pluralität. Die gerade Linie als das Erste für das Denken wie im Sein – eine Philosophie, die ihren Ausgang von der krummen Linie nimmt. Grenze zwischen zwei Entitäten als Gerade gedacht: Dimensionszahl 1 – Schwelle als Positivität und als Milieu der Produktion von Neuem. Prinzipielle vs. graduelle Unterscheidungen, Wesen vs. Größe – Eintritt der Größen und Grade ins Wesentliche selbst. Kausalität als momentane und oberflächliche Berührung – Kausalität als Gegenwart der Ursache in der Wirkung.

Für den Augenblick kann so eine Liste keinerlei anderen Zweck erfüllen, als die Lektüre des Folgenden um eine Reihe von Achsen zu strukturieren – sie ist also ebenso sehr Lesehilfe wie Zumutung: Denn wenn es stimmt, dass es keinerlei höheren Ebenen gibt, dass es auch ganz formal gesprochen kein Meta- gibt, dann ist auch jede »Lesehilfe«, mit der philosophische und andere Bücher oft anzuheben pflegen, stets ein weiterer Teil des Textes, den sie auszulegen vorgeben, und insofern widersprüchliche, fast schon übergriffige Interventionen. Es kommt daher nicht von Ungefähr, wenn ich beim Verfassen dieser Seiten eine wachsende Ungeduld verspüre. Wenn der Leser, die Leserin dieselbe verspürt, dann ist das zweifelsohne ein gutes Zeichen. Wollte man sich zuerst in aller Klarheit über die Bedingungen des Philosophierens verständigen, bevor man das Philosophieren beginnt, käme man nie zu einem Anfang. Aber auch wenn die Philosophie selbst das seit einiger Zeit vergessen zu haben scheint, ist die Erwartung, die von Laien an sie herangetragen

den Gedanken immerhin andeutet, dass vielleicht alle Materie die Erkaltung des ursprünglichen élan vital sein könnte (vgl. L’évolution créatrice. 240. 246). Vielleicht achtet man noch zu wenig auf solche besonders extremen Äußerungen, die man bei so vielen Autoren und Autorinnen findet, wie hingeworfen, ein Versuch mehr, ein Gedankenspiel, wie man es im Deutschen sagt – und die doch oft so viel über die Tendenz und innerste Richtung eines Denkens enthüllen.

Mittel und Wege

wird – dass sie doch über die Welt, die Wirklichkeit, uns Menschen und das, was uns nun einmal betrifft, spreche –, vollauf gerechtfertigt. Wem das Vorbereitende daher zu ermüdend wird, der mag den Rest dieser Einleitung überspringen, denn der betrifft ein Thema, das, sobald es sich nur im mindesten verselbständigt, zu vollkommener Belanglosigkeit erstarrt: das Selbstverständnis der Philosophie nämlich. Auch dieser Aspekt lässt sich anhand einer griffigen Entgegensetzung verdeutlichen – und auch diese Entgegensetzung darf nicht für die letzte Wahrheit genommen werden. Vor allem wird sich im Laufe des Buches zeigen, dass mindestens die eine, die »positive« Seite mit den hier angefügten Merkmalen noch deutlich unterbestimmt ist. Mit all diesen Kautelen lässt sich die Philosophie unter zwei grundverschiedenen Paradigmen verstehen: unter dem Paradigma der Kontemplation und dem der Performativität. Es geht dabei ganz einfach darum, was Philosophie ist und macht. Die klassische Idee ist,10 dass Philosophie, und Wissenschaft ganz allgemein die Wirklichkeit so zu beschreiben oder zu erklären haben, wie sie nun einmal ist. Die Voraussetzung für das Paradigma der Kontemplation – in dem allein im Übrigen auch über etwas gesprochen werden kann – ist die Trennung des erkennenden Subjekts einerseits und seines Erkenntnisgegenstands andererseits. Sie stehen einander distanziert gegenüber. Darin stecken manche Vorurteile. Eines ist die Konstruktion eines irgendwie abgeschlossenen oder abgeschiedenen Subjekts, ein anderes die Fiktion einer an sich bestehenden Wirklichkeit, die nur aufgenommen, hingenommen werden müsste. Paradigmatisch ist das Sehen: ein Erfassen der Gegenstände über eine Distanz hinweg (ja: allererst ermöglicht durch diese Distanz, denn – wie Aristoteles ausnahmsweise richtig bemerkt11  – wir können nur sehen, was nicht direkt auf dem Auge aufliegt), wobei diese Erfassung weder an der grundsätzlichen Konstitution des Erkennenden und gar nichts an der Natur des Erkannten ändert. Die drei Elemente dieses Paradigmas – abgeschiedenes Subjekt, für sich bestehender Erkenntnisgegenstand, Distanz – kreieren dabei noch eine weitere Illusion, nämlich die der Absolutheit der Wahrheit, der das An-sich des Erkannten entspräche. Wie steht der Erkennende zum Erkannten, zuletzt zur Welt? Man weiß es nicht recht, man weiß 10

11

»Klassisch« ist diese Idee, insofern sie, wie selbstverständlich, die allermeisten Auskünfte, die die Philosophen über ihr Geschäft zu geben hatten, bestimmt hat und insofern sie auch in der Durchführung den Großteil der philosophischen Tätigkeit ihrem Inhalt nach orientiert hat. Die einzige »Veränderung«, die Philosophie hervorzubringen imstande ist, ist nach dieser Sichtweise eine der Erkenntnis der Mit-Philosophierenden – und wie das wiederum möglich ist bzw. ob und wie das Konsequenzen über die Einsicht hinaus haben wird, das bleibt alles notorisch unklar. Soweit ich sehe, findet sich nur bei wenigen Autoren ein Verständnis von Philosophie, bei dem das Ergebnis der Philosophie bei den Mit-Denkenden in erster Linie etwas anderes als Erkennen ist; und das wiederum wäre ein klares Indiz auf eine Sichtweise, die von dem Paradigma der Kontemplation abweicht. Beispiele wären etwa Pascal (vgl. mein Buchstabe und Geist), Hobbes (vgl. mein Thomas Hobbes und der diskrete Charme der Großinquisition), Kants praktische Philosophie (aber bezeichnenderweise in hartem Bruch mit der Kritik der reinen Vernunft; vgl. mein ›Treibholz und Schwelle. Kants Konterbande‹, in: Vom Denken im freien Fall. 147–185), Marx, dessen ›Thesen über Feuerbach‹ klar mit der Idee der Kontemplation brechen, Deleuze und Guattari, deren Metaphysik der Maschinen ebenfalls keinerlei Raum mehr lässt für irgendeine angebliche Metaebene, auf der, man weiß nicht wie, die Philosophie sich breitmachen würde. Aristoteles: De Anima. Β. 419a.

23

24

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

nur, dass er nicht so ganz Teil davon sein kann. Er ist eben abgeschieden. Sonst könnte die Idee der Distanziertheit nicht mehr greifen. Schon von daher ist eine Verunsicherung gestiftet: Dem Erkennen ist dann vielleicht nicht so ganz zu trauen – zumindest dem »empirischen«, das also gewissermaßen distanzlos ist. Andererseits blicke ich auf den Gegenstand wie von außen. Ich erfasse ihn, und das heißt konkret: ich umfasse ihn. Ich habe ihn ganz. Die Welt aber als ganze habe ich gerade nicht. Es gibt sie aber als ganze. Und wenn es sie als ganze gibt, dann muss ihr ein An-sich und eine vollständige Erkenntnis als ganzer zumindest potentiell entsprechen. Nur diese selbst erreiche ich eben nicht. Ich bin unvollkommen. Man merkt, wie das schiefgehen muss. In letzter Konsequenz liegt also das Problem in der Distanz oder Differenz, die Grundlage dieses Paradigmas ist. Hier wird die Beziehung zum Wirklichen als etwas gedacht, was erst hergestellt werden müsste, weil man ja das Subjekt in dieser Beziehung als von Anfang an abgeschieden denkt. So wie das Sehen deshalb funktioniert, weil das Auge dem Gesehenen gegenüber transzendent ist, so ist auch das Erkennen dem zu Erkennenden gegenüber fremd, äußerlich. Allerlei Unglück kann auf dem Weg vom Menschen zum Sein geschehen. Und man denkt diesen Weg als einen des Denkens, so als müsste man erst denken und erkennen, um zu handeln, als müsste die Wirklichkeit erst erfasst werden, bevor man mit ihr interagieren könnte. Dabei lehrt die oberflächlichste Überlegung, dass das genaue Gegenteil der Fall ist.12 Aber dieses Paradigma verzerrt nun einmal systematisch das richtige Bild von Erkennen, Denken und Beziehung zur Wirklichkeit, damit untrennbar auch das des Subjekts wie des Wirklichen, mit dem das Subjekt es zu tun hat. Wenn man aber diesem Paradigma folgt, dann macht die Distanz oder Differenz zwischen Subjekt und Welt jede echte Erkenntnis von Grund auf unmöglich. Denn immer liegt also etwas zwischen mir und dem Ding oder der Welt.13 Das Zwischen muss

12

13

Eine weniger oberflächliche Analyse bietet Bergson an, mit dessen Hilfe eine systematische Umkehrung der Verhältnisse von Denken/Erkennen und Handeln möglich wird. Ich habe das entwickelt in ›Walzer und Löwenzahn‹. Von einer anderen Seite hat Wittgenstein ganz ähnliches bemerkt, als er die Sprache – auch so ein Kandidat für die unendliche Vermittlung – als etwas erkannt hat, das zuerst und irreduzibel gemacht werden muss. Es gibt keine übergeordneten Regeln, die dem Reden und Schreiben, dem Sprache-Produzieren selbst noch einmal transzendent wären. Und ebenso gibt es auch keine Kriterien, um jenseits des Sprache-Produzierens anzugeben, ob eine sprachliche Äußerung dem »Gegenstand« »angemessen« ist. Auch eine »Beschreibung« des Wirklichen ist insofern eine unmögliche Angelegenheit, als man, wenn man so spricht, immer voraussetzt, man könnte die Beschreibung noch einmal wie von außen mit dem Beschriebenen vergleichen. Aber wie genau sollte das geschehen? Welche Maßstäbe sollten hier zur Anwendung kommen? Wittgensteins Infragestellung der Idee der Beschreibung (vgl. etwa Philosophische Untersuchungen. 522ff.) ist daher durchaus geeignet, um der Phänomenologie noch ihre Reste an Idealismus auszutreiben. Das heißt aber nicht (der konsequent pragmatische Standpunkt schließt das aus), dass man hier in lauter Vermittlungen eingeschlossen bliebe. Trotzdem verweigert sich Wittgenstein natürlich allen ontologischen oder metaphysischen Fragen, und ist damit entgegen seiner eigenen klaren Positionsbestimmung (die man vielleicht am besten als philosophisch agnostisch bezeichnet) doch auch wieder prägend geworden für den Trend der neueren Philosophie, überall nur Vermittlungen ohne Ausweg und Ende aufzuspüren. »τι […] μεταξύ«, schreibt Aristoteles an der erwähnten Stelle: »etwas dazwischen«.

Mittel und Wege

allererst überwunden werden – doch was garantiert mir den Erfolg? Wann bin ich berechtigt zu sagen, dass ich nun wirklich dort bin? Es gibt im Prinzip zwei Arten von Zwischen: entweder einen Abgrund oder eine Wirklichkeit. Ist es ein Abgrund, dann hilft nur ein Sprung: Gnade und Glaube sind dann die einzigen Garanten des Erkennens. Solche Abgründe sind vor allen Dingen die Begrenztheiten des Subjekts, von denen die Philosophien sprechen. Das ist nicht nur eine qualitative Begrenztheit, sondern eine fundamentale Unzulänglichkeit. Ich bin also getrennt vom Wirklichen und Wahren, und zwar aufgrund eines Mangels, der nicht behoben werden kann, zumindest nicht von mir. Und so denkt denn die Tradition von Platon bis Kant das Unverhältnis, das echte Erkenntnis unmöglich macht. Anders Hegel, der meint, den Aporien zu entkommen, indem er die Ausgangssituation noch überspitzt. Denn für ihn ist es ein irgendwie selbst Wirkliches, was zwischen mir und der Wahrheit liegt. Es ist dieses Wirkliche, über das ich zum Wirklichen komme: »Vermittlung« wird damit die Parole der Philosophie. Das Problem nun aber: Wiederum kann ich nicht sagen, wann die Vermittlung denn jetzt wirklich angekommen ist. Und so ist es auch nur folgerichtig, wenn die Vermittlung immer weiter geht. Dann schiebt die Vermittlung das Erfassen des Wahren, das sie ermöglichen sollte, in eine unendlich ferne Zukunft hinaus. Eine Philosophie, die in der Vermittlung, im Mittleren ihr Heil sucht, ist dazu verdammt, niemals darüber hinauszukommen. Denn am Ende wird das Mittlere, das Weg hin zum Wirklichen sein sollte, immer nur über sich selbst Aufschluss geben.14 Solange man solchen philosophischen Bekenntnissen die Treue hält, muss die Idee einer Philosophie der Natur in der Tat anmaßend oder mindestens naiv erscheinen. Man muss daher dieses Paradigma, in dem die Philosophie sich und das Wirkliche (nicht) denkt, hinter sich lassen, und zwar in dem, was ich, hier nur andeutungsweise, als Paradigma der Performativität bezeichne. Es ist vor allem Bergson, der das Denken und Erkennen, konsequent ins Sein zurückversetzt hat, dorthin, wo es nun einmal hingehört. Und dann kann es auch keine prinzipielle Trennung zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten mehr geben. Vor allem erkennt Bergson – nicht nur aphoristisch, sondern in systematischer Strenge –, dass Erkenntnis selbst nicht abgekoppelte, interesselose Theorie (»Schau«) ist, sondern selbst Handlung, die eingebettet ist in Handlungs14

Und das ist denn auch das Schicksal so vieler Philosophien der vergangenen Jahrzehnte, die sich auf die ein oder andere Weise eingelassen haben auf etwas, was zwischen Menschen und Wirklichem steht und was, obgleich ursprünglich als Mittel der Kontaktaufnahme gedacht, diese alsbald unrettbar vereiteln muss. Man kann hier schlagwortartig nennen die Hermeneutik, die Dekonstruktion, den Strukturalismus, Psychoanalyse, Diskursphilosophie (Foucault), Theorie wissenschaftlicher Paradigmen, Gender-Theorie, Systemtheorie, Medienphilosophie. Sie alle haben, wenn auch mit verschiedenen Nuancen, der Diagnose zugestimmt, dass es entweder jenseits der Vermittlungen nichts gibt oder, wenn es doch etwas gibt, dorthin jedenfalls nicht zu gelangen ist. Warum eigentlich, fragt man sich. Von der Schwermut abgesehen, die sich unweigerlich auf so ein Denken senken muss, ist doch schon klar, dass auch die Vermittlung (Sprache, Episteme, Gesellschaft, Kultur, Medien…) in irgendeiner Weise gegeben, real sein muss. Komme ich etwa zu dem Medium der Vermittlung auch immer nur in vermittelter Weise? Aber was würde mir dann noch erlauben, auch nur ein weiteres Wort zu sprechen? So erweisen sich all diese Philosophien als Erben der rein dogmatischen Behauptung des Aristoteles (an derselben Stelle immer noch): »Wenn der Zwischenraum leer wäre, würde man nicht deutlich, sondern gar nichts sehen.« (Vgl. zur Kritik an diesen Konzeptionen der Vermittlung meinen Aufsatz: Die Rückkehr des Realen.)

25

26

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

zusammenhänge. Erkenntnis verändert das Erkennende und das Erkannte, weil es Teil oder Modalität einer Interaktion ist, die beides von vornherein ineinander verschränkt. Das Paradigma der Performativität lässt also keinerlei grundsätzliche (ontologische) Trennung zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten zu; es versteht Erkennen nur als eine Form der Begegnung mit Wirklichem, die in direkter Kommunikation mit anderen steht und die daher auch primär als eine Handlung (im gehörig weiten Sinn) begriffen wird. Eine »Erkenntnistheorie« – als eine Theorie, die davon handelt, wie das Erkenntnissubjekt den Graben überwindet, der es von der Welt trennt, oder wie diese ins Subjekt kommt – kann es in dieses Paradigma nicht geben. Denn Erkenntnis ist möglich und wirklich einfach dadurch, dass wir erstens in der Welt sind, diese zweitens unmittelbar berühren und diese Berührung drittens selbst Teil der Welt in ihrer Wirksamkeit ist – eine Wirksamkeit, die im Prinzip (und viertens) überall dieselbe ist (wie Spinoza erkennt). Es folgt daraus nicht schlichtweg ein neuer Realismus, der, ob neu oder alt, der Aufgabe der Philosophie nie gewachsen ist. Vielmehr steht, was Realität sein mag, damit erst überhaupt in Frage. Dürre Worte sind das, die eine lächerliche Figur abgeben müssen, weil ihnen ein solches Gewicht aufgebürdet wird. Was daraus entstehen soll, wie man sich so eine Philosophie vorzustellen hat, ist ja noch gar nicht klar. Diese aufgeblasenen Erklärungen über ganze Paradigmen der Philosophie haben denn auch nur eine Berechtigung, wenn das Ergebnis sie rechtfertigt.15 Und wenn es ihnen diesen Gefallen tut, braucht man sie wahrscheinlich nicht mehr.

15

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Meine ostensive Relativierung der vorangegangenen Ausführungen haben nichts mit Bescheidenheit zu tun oder gar mit Angst vor der eignen Courage, nichts mit einer etwaigen Unsicherheit in Bezug auf die »Wahrheit« des darin Ausgedrückten. Eine Unsicherheit aber besteht, es ist die, in die sich die Ungeduld fortsetzen musste, als ich wider besseres Wissen noch ein paar Seiten anfügen musste. Doch die Unsicherheit hat nicht den »Inhalt« als solchen zum Gegenstand, sondern lediglich seinen Status. Denn es kann sehr wohl sein, dass in der Philosophie, die dieses »Paradigma der Performativität« fordert, kein Platz für solche allzu sauberen Kategorien und Schemata ist. Noch weniger dürfen sie, als Formeln, für eine adäquate Beschreibung oder gar Kriteriologie der Philosophie genommen werden, als Fetisch des Denkens, der, wie der Fetisch im Sexuellen, das Begehren und die Heiterkeit – Aspekte der Kommunikation mit dem Wirklichen – stocken lässt wie ein Ei. Für diese Ausführungen also gilt sehr genau der berühmte vorletzte Satz Wittgensteins in seinem Tractatus.

Erster Teil

un/endlich

Verschränkungen. Unwiderstehlich ist die Versuchung, für die Spekulation zumindest, über kurz oder lang das Wirkliche, das uns begegnet und das wir sind, als das Endliche zu fassen und ihm einen Begriff des Unendlichen gegenüberzustellen, der, ist das eine einmal gesetzt, wohl zwangsläufig folgen muss. Von da ist der Weg nicht mehr weit: Wenn alles Wirkliche, das wir erfahren, Endliches ist, wenn es aber auch Unendliches gibt, dann wird in diesem die Wahrheit von jenem zu suchen und zu finden sein. Und dass es dieses Unendliche wohl geben muss, lässt sich, ist der Begriff des Endlichen einmal gesetzt, entweder begriffslogisch oder gleich metaphysisch zeigen – denn in Wahrheit liegt scheinbar, aber eben nur scheinbar schon im Begriff des Endlichen die Entwertung, die durch die Setzung des Unendlichen zugleich explizit gemacht und überwunden wird, aber überwunden nur auf einen »höheren Ebene«. Und schon hat man den Werkzeugkasten einer Metaphysik beisammen, die ihre eigenen Schwierigkeiten damit, diese eine Wirklichkeit zu würdigen, und die ihre Schwierigkeiten zugleich zu rechtfertigen weiß: Analogie der Seinsstufen, Entwertung und Entwirklichung des »nur« Endlichen, Transzendenz der wahren, nach dem Vorbild des Begriffs gedachten Wirklichkeit. Auch ist es unerheblich, ob »der Raum«, die Zahl der Sterne usw. endlich oder unendlich ist oder ob man nicht vielmehr einen dritten Begriff dafür braucht; so wie Descartes bekanntlich vorschlägt, alles Endliche, bei dem man in einer Hinsicht keine Grenzen finden kann, als »indefinit« zu bezeichnen, wohingegen nur Gott unendlich im engen Sinne ist, weil er in jeder Hinsicht grenzenlos ist und weil diese Grenzenlosigkeit (anders als etwa bei der Zahl der Sterne, wo ich nur nicht zum Ende des Zählens gelange) als eine positive Eigenschaft erkannt wird.1 Diese Frage ist aber deshalb unerheblich, weil sie bereits einen abstrakten Begriff des Unendlichen voraussetzt und daher nur selbst wieder begrifflich und spekulativ beantwortet werden kann. Es reicht vielmehr aus, die beiden Schritte voneinander zu trennen: Ja, alles, was uns begegnet, ist endlich. Daraus folgt aber nicht, dass das Endliche dem Unendlichen ontologisch unterlegen oder von ihm abhängig wäre. Auch ist es nicht so, wie eine allzu abgeklärte Metaphysikkritik meinen könnte, dass es kein Unendliches gäbe. Das gibt es

1

Descartes: Principia philosophiae. I, § 27. AT VIII. 15.

30

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

sehr wohl. Aber das Unendliche hat nirgends, außer in den Büchern mancher Philosophen und Theologen, die abstrakte Ungestalt eines »Absoluten«, »Göttlichen«, das jenseits des Endlichen stünde, gar als dessen Grund oder Ursache oder Quell. Vielmehr ist das Unendliche in konkreter Weise die Binnenstruktur des Endlichen selbst. Es ist das Endliche, das das Unendliche aus sich entlässt, es fordert, aber nicht als die begriffliche Ergänzung des begrifflich Unvollständigen, sondern als Fülle im Endlichen selbst. Und dies in mehr als einer Form. Das aktuell Unendliche. Eine erste Idee davon kann der Begriff einer unendlichen Zahl geben, einer Zahl also, die nicht nur im Sinn einer Annäherung, einer Formel zur Hinführung (n+1) oder einer nur potentiellen Unendlichkeit verstanden werden darf. Die unendliche Zahl ist die tatsächliche, die vorliegende Unendlichkeit im Bereich der Zahlen. Gleichwohl ist das nichts als eine erste Andeutung; schon näher an die Sache führt Leibnizens Idee der aktuellen Unendlichkeit der Monaden. Das Unendliche der Unabzählbarkeit.2 Das ist z.B. die Zahl – die dann eben keine mehr ist – meiner »Bewusstseinszustände«. Die muss unendlich groß sein, einfach deswegen, weil sie nicht einmal von einem allwissenden Beobachter gezählt werden kann. Denn meine Bewusstseinszustände sind ihrer Natur nach nur in gegenseitiger Durchdringung, wie Bergson gezeigt hat.3 Niemand könnte sie also zählen, auch kein Gott, weil ihre Unabzählbarkeit eine objektive Eigenschaft ist.4 Das Unendliche der Teilung. Das ist ein Unendliches, was als solches hervorgebracht wird. Wieder kann Bergson zum Verständnis leiten. Er beschreibt in der Schöpferischen Entwicklung die Bewegung, die zu einer bestimmten Gestaltung eines Organs führt, als eine einheitliche. So geht ein einziger Drang zu sehen durch die Materie hindurch und bleibt dabei, erschöpft, an einem bestimmten Punkt stehen. Dieser Punkt ist aber immer ein einheitlicher, weil er durch die Funktion selbst in ihrer Unteilbarkeit bestimmt ist, und das ganz gleich, ob es sich um das Auge eines Weichtiers oder eines Menschen

2

3 4

Sowohl der Begriff des Unendlichen als auch der der Abzählbarkeit bzw. ihres Gegenteils sind ganz wesentlich auch mathematische Begriffe. Abzählbarkeit ist sogar ausschließlich ein mathematischer Terminus technicus. Umso überraschender muss es sein, dass die mathematische Verwendung dieser beiden Begriffe hier keine Rolle spielt. Jedoch, es kann gar nicht anders sein. Was ich unter Unabzählbarkeit verstehe, wird durch die Ausführungen zu Genüge deutlich werden, und ich vermute wenigstens, dass mein Gebrauch dieses Begriffs eine mathematische Formulierung gar nicht zulässt. Was das Unendliche betrifft, so glaube ich gerade nicht, dass die Mathematik darüber den letzten Aufschluss geben kann; sie kann eine Gebrauchsweise definieren, die aber gerade nicht mit dem vollen Sinn und vor allem den verschiedenen Gestalten zusammenfallen wird, in denen uns das Unendliche anschaulich begegnet. Meine Vorgehensweise kann sich also auf die Phänomenologie stützen, und wenn der Begriff, der dabei zur Gegebenheit gebracht wird, um vieles ungenauer ist als der mathematische, dann ist das weder verwunderlich noch ein Argument gegen ihn. Er wird nämlich auch näher am Wirklichen sein – und das übrigens sowohl in Hinsicht auf seinen »Gehalt« als auch gerade durch seine Ungenauigkeit. Das ist eine der wichtigsten Einsichten des Essai (vgl. vor allem 90ff.). Man darf diesen zweiten Begriff des Unendlichen nicht mit dem des potentiell Unendlichen verwechseln (das gar kein Unendliches ist). Das potentiell Unendliche ist das, wo immer noch ein weiteres, und noch eines, und noch eines, und so weiter, hinzukommen kann. Nur Zahlen können potentiell unendlich sein. Bewusstseinszustände sind (weder potentiell noch aktuell) unendlich weil ontologisch unabzählbar.

un/endlich

handelt. Unlösbar hingegen ist die Frage, wie aus der unendlichen Komplexität der Physiologie eines Körpers eine einheitliche Funktion entstehen kann. Schon eine einzige gelungene Manifestation einer einheitlichen und funktionstüchtigen Organtätigkeit aus der Unendlichkeit der beteiligten Körperteile heraus würde eine unvorstellbare Unwahrscheinlichkeit zu ihrer Erzeugung erfordern; mehr als eine solche Tätigkeit, ja: mehrere, viele miteinander vergleichbare Tätigkeiten (also etwa funktionierende Augen bei verschiedenartigsten Tieren) wären so absolut unwahrscheinlich, dass man sie getrost unmöglich nennen kann. Bergson vergleicht das mit einer Hand, die sich in einen Haufen von Spänen drückt: Diese verändern an unzähligen Stellen ihre Verhältnisse zueinander und vielleicht auch ihre Gestalt; erklärlich aber ist diese mannigfaltige Veränderung nur unter Rückgang auf die Einheit der Bewegung.5 Die Übertragung auf die belebten Körper und ihre Organe ist schnell bewerkstelligt: Betrachte ich das Auge in einer seiner gegebenen, vorliegenden Gestalten (also etwa ein menschliches Auge, das wir der Einfachheit halber als »normal« funktionierend voraussetzen, also nicht mit Blindheit, Kurz- oder Weitsichtigkeit, Farbenblindheit oder einer anderen nicht allgemeinen6 Einschränkung geschlagen) und abstrahieren wir dann von der Einheit der Funktion (des Sehens), dann werden wir feststellen, dass der Aspekte und Seiten und Schichten und Teile kein Ende ist. Ich kann das Auge unendlich weiter unterteilen. Das Auge hat unendlich viele Teile. Nur weil meine physiologische Theorie von heute nur eine begrenzte Anzahl von Teilen des Auges anerkennt, heißt das ja nicht, dass ich damit am Ende angelangt bin. Ja, wenn ich alleine schon frage, woraus denn nun meine Teile, die ich im Auge unterschieden habe, zusammengesetzt bin, werde ich auf eine Vielzahl von neuen stofflichen Bestimmtheiten geführt, von Geweben, Flüssigkeiten, Zellen usw., deren Zahl sicher nicht so einfach festgelegt werden kann; und wenn ich schließlich auf die molekularen Strukturen zurückgehe, weiß ich ja auch nie, wann ein Ende ist. Meine theoretisierende, erklärende, intelligente Betrachtung eines einheitlichen Organs mit seiner einheitlichen Funktion erzeugt also eine Unendlichkeit von Teilen dieses Organs.7 Es wäre aber ganz unsinnig und in einem schlechten Sinn relativistisch, ja, es wäre ein billiger Skeptizismus zu behaupten, dass in dieser Erzeugung einer Unendlichkeit von Teilen irgendeine subjektive Willkür herrschte. Die Teile der Materie und ihre erzeugte Unendlichkeit sind wahr, die Unendlichkeit und ihre Erzeugung sind ontologisch. Die Relativität ist daher ebenfalls eine ontologische: Sie fragt nicht nach einem Subjekt oder dem Subjektiven oder einer Willkür oder Laune oder einem Zufall; sie drückt nichts aus als die schlichte Tatsache, dass eine jede Bezogenheit auf ein anderes als es selbst, das dann als »Subjekt« erscheint, diese Unendlichkeit erzeugen muss – und es wird sich noch zei-

5 6

7

Évolution créatrice. 95. Damit ist nur gemeint, dass das menschliche Auge eben nicht alles sehen kann, z.B., wie man so leichthin erklärt, gewisse »Wellenlängen« nicht, dass sich sein Blick nicht endlos erstreckt, vor allem nicht in gleichbleibender Schärfe usw. »Intelligent« hier im Sinn genommen, den Bergson dem Wort gibt, vgl. Évolution créatrice. 88ff. »[…] la nature n’a pas plus de peine à faire un œil que je n’en ai à lever la main. Son acte simple s’est divisé automatiquement en une infinité d’éléments qu’on trouvera coordonnés à une même idée, comme le mouvement de ma main a laissé tomber hors de lui une infinité de points qui se trouvent satisfaire à une même équation.« (92f.)

31

32

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

gen, dass die Natur gar nicht anders gedacht werden kann als so, dass jedes Seiende von sich aus bereits auf anderes als es selbst bezogen ist. Das heißt, in der teilenden Beziehung auf anderes erzeuge ich eine Unendlichkeit, und dies gemäß der ontologischen Struktur des Seins selbst, ohne dass man sagen darf, dass die Teile bereits im Ungeteilten drin sind. Das sind sie nicht; es bedarf in allem Ernst des Akts der Teilung, damit die Teile als Teile und als sie selbst zum Vorschein kommen. Es ist schlichtweg unsinnig zu sagen, es gäbe in meinem Auge eine Hornhaut, wenn sie nicht von meinem Auge abgetrennt wird – entweder in den Theorien der Ophthalmologen mit ihren schönen Schaubildern oder ganz praktisch in der Hornhautablösung. Ohne das aber besteht kein Teil meines Auges, das eine Hornhaut wäre. Im Gegenteil: In aller Evidenz ist mein Auge ja nur und ist es nur Auge, weil sich eben kein Teil davon abgelöst hat. Auch dieser Begriff des Unendlichen hat nichts gemein mit der Idee einer potentiellen Unendlichkeit. Wieder ist die Unendlichkeit weder potentiell noch aktuell (wenn auch der Begriff des Aktuellen eher noch zutreffen würde). Die Teile sind ja da: insofern sind sie aktuell. Sie sind aber nicht da als Teile: insofern könnte man sagen, sie sind potentiell. Während aber der Begriff des potentiell Unendlichen eine Aneinanderreihung von Bestehendem meint und daher ganz richtig in n+1 seinen Ausdruck gefunden hat, ist hier nur das Ganze schon da. Die Teile müssen sowohl als Teile als auch (und beides ist ein und derselbe Akt) in ihrer je besonderen Gestalt erst erzeugt werden. Das Unendliche des Antlitzes. Auch das Sein des Anderen ist ein konkretes Endliches, das als Umschlag einer Unendlichkeit fungiert. Das ist der Begriff des Unendlichen, den Levinas in seinem Hauptwerkt vorgelegt hat. Dieser Begriff des Unendlichen hat eine unmittelbare metaphysische Verbindung mit der hier zu entwickelnden Theorie, da Levinas – wie noch gezeigt werden wird – einer der wenigen Autoren ist, dem eine Annäherung an eine wahrhaft plurale Ontologie gelungen ist. Auch sein Begriff der Unendlichkeit beruht auf dieser Ontologie und bezieht all seine Kraft aus ihr. Die Unendlichkeit, das ist die »Wirklichkeitsform«, die Art und Weise, in der mir der Andere gegenübertritt. Dieses, dass hier von einer Art und Weise die Rede ist, in der »mir« jemand »gegenübertritt«, ist kein Subjektivismus. Wenn einmal anerkannt ist, dass Sein nur als plurales existiert, dann ist der Andere nun einmal so und zwar ganz genau so, wie er mir gegenübertritt. Natürlich ist der Andere noch anders, insofern er eben selbst auch wieder ein Selbst ist, wie ich auch. Das Entscheidende ist, dass diese Vertauschung der Positionen, dieses »den Anderen wie sich selbst betrachten«, diese Unterstellung einer Reziprozität unter der Voraussetzung einer pluralen und phänomenologischen Metaphysik rein abstrakte Möglichkeiten sind. Der Andere ist eben nun einmal anderer; das ist er, darin liegt sein Sein. Der Andere ist nicht Ich, zumindest nicht für mich, und Wahrheit gibt es hier wie überall nur durch und auf der Grundlage von und in der »Perspektivität«. Die panoramaartige Sicht auf die Welt und die Wirklichkeit ist grundlegend falsch, metaphysisch falsch (was im nächsten Kapitel ausführlich dargelegt wird). Dass der Andere noch mehr und anderes ist als nur Anderer für mich, das ist doch genau der »Inhalt« seines Andersseins: Das meint seine Unendlichkeit: dass er eben in keiner Weise reduziert werden kann auf irgendetwas, was ich von ihm weiß, glaube oder mit ihm mache. Er ist von sich aus, und seine Alterität drückt genau das aus. Er übersteigt mich, so wie die Idee Gottes bei Descartes immer mehr ist als das Denken, das sie denkt. Unendlichkeit ist

un/endlich

für Levinas also ganz konkret ein Ereignis in der Welt, das jede Totalität oder absolute Kohärenz oder apriorische Verfügbarkeit der Welt zerreißt. Sie spielt sich hier und jetzt ab, in der und durch die Endlichkeit, denn es ist ja immer ein bestimmter Anderer, mit dem ich zu tun habe, und einer, der sowohl zeitlich als auch räumlich »endlich« ist. Er ist begrenzt. Und doch ist er unendlich. Denn auch hier entfaltet sich die Unendlichkeit in der und durch die Endlichkeit. Levinas sagt dazu: Sie drückt sich aus, oder: sie spricht.8 Der Andere ist ein bestimmter Anderer, der vielleicht einen mir bekannten Namen trägt, von dem ich einiges, vielleicht sogar sehr viel wissen kann, der mir bekannte Züge trägt, den etwa ein Gesichtserkennungsprogramm am Flughafen sofort identifizieren wird – und der nun seine Unendlichkeit genau darin bezeugt, dass er beständig die Plastizität seiner Züge hinter sich lässt, sie auflöst wie ein fast fertiges Gewebe.9 (»défaire«, sagt Levinas). Ein Gesichtserkennungsprogramm mag daher noch so gut funktionieren, was es erkennt, ist eben nicht der Andere, sondern sind Parameter und »Selbes«. Der Andere ist genau das (und genau die Tatsache, dass), was sich nicht auf diese vermeintlichen Objektivitäten reduzieren lässt. Daher ist die Erscheinung des Anderen radikal abhängig von einer Materialität, die sich nur als begrenzte und begrenzende manifestieren kann. Den Anderen rein als Anderen, jenseits seines Ausdrucks in Formen, deren Plastizität mich verführen kann, ihn in seiner Andersheit zu verfehlen: diesen reinen Anderen als solchen gibt es nicht. Es ist aber in dieser Materialität und Begrenztheit, dass etwas aufscheint und sich ausdrückt, was Materialität und Begrenzung unendlich übersteigt. Unendlichkeit ist im Endlichen in einer ganz konkreten Weise. Immer ist es Endliches – wie ja unsere Welt überhaupt nur Endliches kennt –, das aber von sich aus und konkret das Unendliche hervorbringt. Alles Endliche ist Umschlag seiner eigenen Unendlichkeit. Es existiert nur als Endliches, insofern es Unendlichkeit hervorbringt. Das Unendliche, in seiner konkreten Existenz im Endlichen, liegt nicht einfach vor wie ein Ding, sondern es ist selbst eine lebendige, eine bewegliche, eine dynamische Wirklichkeit, ein Wirken. Man kann dagegen nur Einspruch erheben, wenn man Unendlichkeit als Totalität missversteht. Es gibt aber keine Totalität des Seins, wie später zu zeigen sein wird. Eine methodologische Warnung (wie man das in der Philosophie so nennt) ist vielleicht angebracht: Keineswegs dürfen die folgenden Zuordnungen als statische Begrenzungen verschiedener Bereiche, gar als regionale Ontologien missverstanden werden. Es braucht im Gegenteil nicht zu wundern, wenn die Unendlichen von allen Seiten her ihre Begrenzungen, selbst noch ihre Abgrenzungen zueinander überfluten – wobei zwar nicht die benennbare Eigentümlichkeit des jeweiligen Unendlichen verloren geht, wodurch aber jeder Traum einer säuberlich kategorisierenden Philosophie zuschanden wird. Das Unendliche der Unabzählbarkeit: Zeit und Bewusstsein. Der Einfachheit halber konzentriere ich mich auf das »Bewusstsein«, doch Bewusstsein und Zeit lassen sich ohnehin 8 9

Levinas: Totalité et infini. 61. Ebd.: »Le visage est une présence vivante, il est expression. La vie de l’expression consiste à défaire la forme où l’étant, s’exposant comme thème, se dissimule par là même. Le visage parle.«

33

34

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

nicht einmal abstraktiv voneinander scheiden. Der ontologische Status von Zeit (subjektiv, objektiv, absolut, relativ…) und »Bewusstsein« (natürlich, transzendental, empirisch, ideal, absolut, relativ…) und ihr Verhältnis zueinander braucht an dieser Stelle noch gar nicht diskutiert werden. Wir können rein phänomenologisch vorgehen, solcherlei Fragen einklammernd. Denken wir etwa an unser Denken oder an unser affektives Leben, denken wir an die Erinnerung, ja: denken wir auch an die scheinbar so »objektive« Vergangenheit. Wir stellen überall fest, dass es dort keineswegs chaotisch zugeht; es gibt eine Ordnung, es gibt Identitäten und Strukturen, sonst hätten wir hiervon ja überhaupt keinen Begriff. Mein Denken etwa, jetzt, in diesem Augenblick, ist kein wildes Durcheinander von Gedanken und Splittern und Fragmenten von Gedanken; ich erkenne es daran, dass ich mich ja ganz offensichtlich »auf einen Gegenstand richte« (wie der philosophische Jargon missverständlich erklärt): Mein Text legt davon Zeugnis ab. Und doch ist mein Denken, oder mein Bewusstsein, oder mein Geist (oder wie man es nennen will) nicht einfach nur auf meinen Text gerichtet. Daneben existieren vielfältigste gegenständliche Richtungen, die mehr oder weniger genau artikuliert und in den Vorder- bzw. Hintergrund gerückt sind. Überall hat das Denken (zumindest im »normalen« Fall) seine Fokussierung, seinen Gegenstand, seine Disziplin; überall aber ist das Denken auch schon überflutet von sich selbst und einer Fülle, Überfülle, die mit der Konzentration auf einen Gegenstand nicht einmal auf einer Stufe steht. Bewusstsein ist beständiges Débordement. Es gibt kein reines Denken. Denken, Bewusstsein explodiert von einem hellen Punkt her in alle Richtungen, allerdings nicht gleichmäßig und in gleicher Geschwindigkeit. Diese Explosion ergießt ihr Licht launenhaft ins Ungefähre. So ist Denken und Bewusstsein. Wir können zwar behaupten – wie es weite Teile der Tradition taten –, dass diese Explosion und Vieldimensionalität in Wirklichkeit eine Verunreinigung des eigentlich reinen Denkens sei; aber viele gute Argumente gibt es dafür nicht. Dann wären also Engel oder sogar gleich Gott Paradigma unseres Denkens, von dem aus gesehen das unsere nur ein billiger Abklatsch wäre (intellectus archetypus – intellectus ektypus). In Wahrheit ist ein reines Denken nicht einmal – denkbar. Das Denken ist in doppelter Hinsicht unendlich in seiner und durch seine Endlichkeit. Es ist einmal unendlich, weil es unendlich viele solcher Dimensionen und Richtungen gibt, weil also die Elemente in unserem Bewusstsein unendlich an Zahl sind (die »petites perceptions« von Leibniz); und sie sind das nicht nur real und aktuell, sondern vor allen Dingen auch der Abzählbarkeit nach. Denn einer der größten Irrtümer der Psychologie wie der Philosophie ist die Vorstellung, dass unsere Bewusstseinszustände in irgendeiner irgendwie räumlich gedachten Weise nebeneinander lägen, nur in äußerlicher Berührung verbunden; so dass es erstens verschiedene Bewusstseinsserien gäbe (sinnliche Eindrücke, Gegenstandserfassung, Denkakte, Urteilsakte, Willensakte, Affekte…) und zweitens innerhalb der Serien klar abgetrennte Einheiten (Eindruck 1, dann Eindruck 2, dann Eindruck 3…, Akt 1, Akt 2, Akt 3…). Beides ist schlichtweg falsch:10 Es

10

Es ist das Verdienst Bergsons, dem Atomismus in aller Entschiedenheit entgegengetreten zu sein – und ihm schließlich den Garaus gemacht zu haben, und das bereits im Essai. Selbst Husserl ist hier nicht so weit gekommen, weil seine philosophische Herkunft und sein methodisches Ideal eine Redeweise begünstigten, die sich vom Atomismus nicht scharf genug abgrenzen konnte. Beispiel-

un/endlich

gibt keine getrennten Bewusstseinsserien und es gibt keine getrennten Einheiten innerhalb der Serien (und auch nicht über die Seriengrenzen hinweg): Es gibt nur ein unendliches Spiel gegenseitiger Durchdringung. Die Mannigfaltigkeiten gegenseitiger Durchdringung sind deshalb nicht einfach die Chaostage im Geist; sie bilden ja gerade Inseln und Scharfstellungen und Abschattungen. Aber es gibt nun einmal überhaupt nur Inseln und scharfe Bilder und relative Stabilitäten und Einseitigkeiten, weil sich das Bewusstsein in jedem Augenblick neu artikuliert und moduliert. (Und auch die Augenblicke sind natürlich etwas, was es nicht in strenger Abgrenzung voneinander gibt) Die Unendlichkeit des Bewusstseins ist die positive Bedingung des klaren und deutlichen Denkens, wo es denn entsteht. Oder noch genauer: Die Unreinheit ist die Bedingung des reinen Denkens, wo man sich ihm annähert. Die Seinsweise des Bewusstseins lässt gar keine Abzählung seiner Elemente zu. Die »Elemente« meines Bewusstseins sind in gegenseitiger Durchdringung, und das heißt: sie geben einander beständig von ihrem Wesen ab, sie tauschen sich unablässig aus, so unablässig, dass sie dabei noch die Wege und die Prinzipien des Austausches mit verändern. Jeder Austausch ist nicht nur der Austausch eines Gehalts von A zu B und eines anderen von B zu A, sondern zugleich die Veränderung von A und B und die Modifikation der Regelhaftigkeit aller denkbaren Austausche – und natürlich ist schon diese Weise der Veranschaulichung gänzlich unangemessen; sie suggeriert wieder eine formale Ebene, wo es nur Konkretes und »Inhalt« gibt, die jede Form oder Struktur aus sich entlassen. Bergson spricht gelegentlich davon, dass ein Element den übrigen seine Tönung (nuance) mitgibt oder dass ein bestimmter Zustand eine Tönung annimmt.11 Es gibt »Gegenständliches«, Konzentriertes im Bewusstsein, keine Frage; aber es ist das stets erneuerte Produkt von solchem, was seiner Seinsweise nach nicht einmal möglicherweise gegenständlich, konturiert, abgegrenzt ist. Das Unreine ist die Bedingung des Reinen. Die Unabzählbarkeit liegt nicht an unserer Unvollkommenheit, sondern in der Seinsweise dessen, was da gezählt werden soll. Auch Gott könnte meine Gedanken oder Bewusstseinszustände nicht zählen. Das Unendliche der Unabzählbarkeit ist nicht dasselbe wie das Unendliche der Teilung. Es kann, wie bei den Gedanken und den Bewusstseinszuständen, in enger Kommunikation miteinander stehen: Diese ist die Umkehrung oder die andere Seite von jener. Das muss aber nicht in jedem Fall so sein. Man muss sich darauf gefasst machen, dass nicht immer von vornherein schon feststeht, welches der beiden Unendlichen das je andere bestimmt. So sind die realen Teile der Zeit die Zeiten der einzelnen Seienden (und auch ein Planet, ja ein Meer sind solche einzelne Seiende), die von sich aus Zeit erst als eine Verschränkung von Disparatem (oder als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen)

11

haft dafür steht seine Unterscheidung in verschiedene Aktstufen. Doch selbst wenn man letztlich die Vorstellung ablehnt, dass eine irgendwie reine Gegenstandsbeziehung Grundlage z.B. einer affektiven Beziehung ist: Sobald man sich überhaupt in diesen Jargon der Aspekte, Teile, Stufen, der Analyse mit einem Wort, begeben hat, wird man nicht mehr zur Integrität des Bewusstseinsakts gelangen. Z.B. Essai. 6f. Das ist die Intensität, von der noch zu sprechen sein wird.

35

36

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

bilden.12 Dagegen wäre eine Sicht auf Zeit, die diese als Totalität setzt, um sie dann in indifferente Zeiteinheiten zu zergliedern, ganz abstrakt. Das scheint freilich der Behauptung zu widersprechen, dass es in dieser Welt immer das Endliche ist, das das Unendliche hervorbringt. Schließlich hieß es, dass sich aus den Mannigfaltigkeiten gegenseitiger Durchdringung erst die Inseln relativer Stabilität herausheben, die wir dann als einen Gedanken z.B. ansprechen. Man muss hierbei aber lediglich zwischen einer abstrakten und einer konkreten Betrachtungsweise unterscheiden: Denn nur abstrakt betrachtet liegt hier schon eine Unendlichkeit vor, aus der sich dann nachträglich das Endliche aussondert, wie eine Einschränkung, so dass das alte, das klassische metaphysische Verhältnis wieder hergestellt wäre. Sobald man aber wirklich hinsieht, bemerkt man: Die vielfältigen Bewusstseinsrichtungen und -zustände sind zwar unendlich viele, aber das heißt doch nicht, dass es hier keine zumindest vorläufigen, relativen und unscharfen Abgrenzungen gäbe. Unendlich im Sinn der Unabzähbarkeit sind die Bewusstseinszustände zwar durchaus konkret, und doch fließt ja nicht alles ineinander, ohne dass noch irgendwelche Unterscheidungen möglich wären. Hier und jetzt sind mir unzählige Richtungen und Gedanken und Zustände gegeben, aber jeder einzelne von ihnen ist dennoch ein Endliches – auch wenn er nicht streng von seinen Nachbarn abgegrenzt werden kann. Die Elemente des Seins sind also doch tatsächlich immer endliche. Nur werden wir unseren Begriff des Endlichen eben doch ändern müssen. Nicht der scharf umgrenzte und von allem, was nicht er ist, abgesonderte Gegenstand ist das Paradigma des Endlichen, ja nicht einmal das Ich, das sich in seinem Ich-Sein von allem, was nicht Ich ist, abtrennt; endliches Sein ist vielmehr wesensmäßig solches, was sich nicht scharf von allem anderen abgrenzen lässt.13 Dann besteht hier kein Widerspruch mehr: Die Endlichen bilden sehr wohl die Elemente des Seins, und sie bilden dabei die Unendlichkeit des Seins selbst. Nur bilden die Endlichen eben die Elemente des Seins nur insofern, als sie Endliche mit unscharfen Grenzen sind, und daher bilden sie in jeder erdenklichen Form ihrer Organisation und Zusammenstellung automatisch Unendlichkeiten der Unabzählbarkeit. Es gibt keine scharfe und strenge Identität; das heißt nicht, dass es gar keine Identität gibt. Im Gegenteil: In dieser Welt gibt es überhaupt und konstitutiv Identität nur als eine unscharfe. Und in dieser Weise ist also das Unendliche (der Unabzählbarkeit) tatsächlich das Produkt der Endlichen. Aber, wird man einwerfen, gibt es nicht unendlich viele Endliche, so dass deren Unendlichkeit als eine Ganzheit allen Einzelnen/Teilen vorhergeht? In der Tat, in einem ge12 13

Vgl. zu dieser Konzeption von Zeit auch die Kapitel III, 5 und III, 6 meiner Elemente. Auch das haben Spinoza und Bergson schon klar erkannt: Spinozas ganze Metaphysik handelt ja davon, dass jedes endliche Sein in dieser Welt in ununterbrochener Kommunikation mit dem Rest des Seins steht und auch daraus erst sein Sein und seine mögliche Erkennbarkeit schöpft. Besonders deutlich wird das im Zweiten Teil der Ethik, wenn die Affektion, d.h. die reale Interaktion von Seienden, in der sich alles ereignet, was Sein ist, als eine Unschärfezone zwischen zwei oder mehreren Seienden konzeptualisiert wird (IIp16-IIp29). Bergson seinerseits fasst den Organismus in einer genialen Volte – in der er sich aller reaktionär-immunologischen Ideen entschlägt, die bis heute und auf so folgenschwere Weise unser Denken bestimmen – als die Organisationsform der Ströme von Energie und Materie, die ihn durchdringen: Organismus sein heißt: ein Kanalsystem bilden (Évolution créatrice. 94f., 111).

un/endlich

wissen Sinn ist es richtig, dass das Ganze seinen Teilen vorhergeht – soweit eine solche generelle Formel richtig sein kann. Wenn es um die Unendlichkeit der Seienden geht, stimmt diese Gleichsetzung jedoch nicht. Das Sein (im Singular) bildet keinen Singular, bildet keine Totalität oder Ganzheit. Es bildet eine endlose Reihe von Verknüpfungen, von Kupplungen und Koppelungen. Wendet man sich von diesem Gedanken ab, bleibt nur eine leere spekulative Figur. Denn was auch immer eine »Unendlichkeit« sein soll, die den Endlichen »vorhergeht« – sie kann doch gar nicht anders, als all ihre ontologische Würde aus genau den Endlichen zu beziehen, denen sie angeblich vorhergeht. Und das schon allein deswegen, weil es einzig diese sind, die in ihrer je einzigartigen und einzelnen und besonderen Verknüpfung und Verbindung und ihrem Spiel der Kombinationen bestimmen, was die Unendlichkeit konkret ist. Sieht man davon ab, bleibt nur noch ein ganz leerer Begriff von Unendlichkeit übrig, eine tote Hülle, in die man also offenbar alles Mögliche hineinpacken kann, ohne dass die Hülle davon noch weiter betroffen wird.14 Das aktuelle Unendliche: die Nicht-Totalität aller Seienden. Das Sein in seiner unmöglichen Ganzheit, die Welt als radikal nicht totalisierbar, die »Summe« der unendlich vielen Endlichen, die sich aber nie ziehen lässt, die in einer Hinsicht allen Einzelnen vorhergeht, die aber in einer anderen Hinsicht ihre Gestalt und Wirklichkeit erst aus ihnen empfängt: das ist nichts anderes als die aktuelle Unendlichkeit, wie sie konkret erfahren ist. Wir dürfen nur nicht den Irrtum begehen, die aktuelle Unendlichkeit als eine Ganzheit oder Totalität zu behandeln. Nur weil sie nicht potentiell ist, nur weil sie sich nicht sukzessive aufbaut, sondern in Unendlichkeit unmittelbar präsent ist, heißt das noch lange nicht, dass wir es mit einer Sache zu tun haben, die sich umgrenzen lässt, im Sinn einer Totalität. Die aktuelle Unendlichkeit ist keine Totalität – wie sollte sie es auch, da doch gerade ihr Charakter der Unendlichkeit jede Begrenzung (und sei es noch die des »Ganzen«) dementiert? Wenn man sich dessen erinnert, verschwinden alle Widersprüche, auf deren Aufspüren im Begriff des Unendlichen man so viel Scharfsinn verwendet hat: Diese Widersprüche können nur dort auftreten, wo man das Unendliche wie einen Gegenstand behandelt. Dabei hätten die Zahlen uns doch längst eines Besseren belehren können: Die Reihe der natürlichen Zahlen ist unendlich. Ist sie potentiell unendlich? Nein, wie sollte sie? Wir können zwar immer noch eine Zahl zur schon gegebenen hinzusetzen, aber wir wissen genauso fraglos, dass dieses »Können«, das hier in Rede ist, nur ein subjektives ist: Es ist das Können eines Zählenden, nicht das der Zahlen. Die Zahlen sind endlos, sie sind unendlich: nicht potentiell, denn das würde ja voraussetzen, dass irgendjemand noch irgendetwas machen müsste, damit die Zahlen ihre Unendlichkeit erreichen, bzw. dass sie eben ihre wirkliche Unendlichkeit nicht erreichen, weil das, was zu tun wäre, unsere Kräfte übersteigt (und die aller »endlichen Intellekte«). Die Zahlen sind also durchaus aktuell unendlich; sie bilden aber nicht eine Totalität aus. Der Irrtum besteht also nur darin, die aktuelle Unendlichkeit der Zahlen mit der Idee einer Zahl aller Zahlen zu verbinden. Das allerdings ist eine widersinnige Idee. Aber sie ist nun eben auch völlig unnötig. Und

14

»[…] Deum ante sua decreta [d.h. den konkreten Äußerungen seines Wirkens, darunter eben auch und besonders die endlichen Modi] non fuisse nec sine ipsis esse posse.« (Spinoza: Ethik. Ip33s2.)

37

38

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

natürlich ist die Unendlichkeit der Zahlen höchstens ein Bild (wie man so sagt) für die aktuelle Unendlichkeit der Seienden, die von sich aus das »Sein« bilden.15 Das Unendliche der Teilung: Materie. Zwar könnte man auch mit manchem Erfolg in Bezug auf die Bewusstseinszustände von der Unendlichkeit der Teilung sprechen, sie hat hier aber nicht ihren ursprünglichen Ort. Vielmehr bleibt sie augenfällig abhängig von der Unendlichkeit der Unabzählbarkeit, deren andere Seite sie damit bildet. Denn eine jede Unterteilung des Bewusstseins bleibt zwar möglich, aber eben immer auch künstlich. Zudem sind es sicher keine realen Bestandteile, auf die ich in der Teilung hier stoßen kann, allein deswegen schon nicht, weil die Idee gegenseitiger Durchdringung noch die bloße Konzeption realer Bestandteile desavouiert. Und wie weit ins Unendliche die Teilung hier geht, kann ebenfalls noch in Zweifel gezogen werden, da vielmehr die Einheitlichkeit erlebt wird: keine absolute Einheitlichkeit oder gar Einheit natürlich, denn Bewusstsein schließt so etwas nun einmal von vornherein aus, und selbst dann, wenn man an die »Gesamtheit« eines (z.B. meines) Bewusstseins denkt. Dieses nämlich bleibt letztlich Konstrukt: Der, der es als gesamtes erleben könnte, ist per definitionem von diesem Erlebnis im einzigen Augenblick seiner Erlebbarkeit ausgeschlossen, weil er dann tot ist. Aber auch rein phänomenologisch gibt sich das Bewusstsein eben nicht als ein ganzes, sondern stets abgeschattet: Es ist nun einmal Zeit. Das hindert aber keineswegs, dass ich einige Unterschiede, Einheiten, Schwerpunkte usw. usf. identifizieren kann. Ich verstehe also sehr wohl, was Einheit oder Einheitlichkeit oder ein Erlebnis ist, nicht obwohl, sondern weil es das immer nur mit unscharfen Grenzen gibt. Schließlich könnte man bei der Anwendung der Unendlichkeit der Teilung auf das Bewusstsein noch vermuten, dass es sich dabei um einige schlichte psychologische Beobachtungen handelt: So sähe dann also eine begrenzte und sonstig verumständete Psyche sich selbst. Unsere Behauptungen wären in diesem Fall psychologische Aperçus, aber keine ontologischen Aussagen. Man müsste also wissen, was eine Einheit ist oder welche Teile etwas Reales haben, jenseits aller Willkür der Trennung. Zurück zu Bergsons Analyse: Das Auge ist eine Einheit, die klar definiert ist durch ihre Funktion: Auge ist, was sieht. Aufgabe des Auges ist es zu sehen. Diese Einheit der Funktion ist etwas, was wir unmittelbar feststellen und verstehen, eine metaphysische Einheit, die nicht noch einmal abhängig von etwas anderem ist. Sehen gibt es entweder, oder eben nicht. Dass es verschiedene Weisen zu sehen gibt (entsprechend verschiedene Arten von Augen), widerspricht dem nicht, sondern bestätigt es nur: Die Einheit der Funktion ist eben nicht von der Vielfalt ihrer Umsetzungs- und Verwirklichungswege abhängig. (Diese Evidenz ist eines der großen Motive des Idealismus, schließlich ist eine Funktion, so scheint es, etwas Ideales.)16

15

16

Die aktuelle Unendlichkeit unterscheidet sich also dadurch von der der Unabzählbarkeit, dass jene – und mit einem gewissen Recht – die Seienden als Einzelne behandelt (als von-sich-selbstaus-Sein) und gerade nicht in ihrer gegenseitigen Durchdringung. Beides sind nur verschiedene Aspekte ein und desselben Seins. Hüten muss man sich natürlich davor, die Funktion/Aufgabe des Auges zu hypostasieren, d.h. die Funktionalität des Organs zu dessen Grundlage zu erklären. Die Natur kennt keine Zwecke.

un/endlich

Aber in der Tat sind es diese Einheit der Funktion und diese Endlichkeit des Organs – denn wenn man vielleicht auch nicht in letzter Strenge sagen kann, wo ein Auge endet: das eine wissen wir doch, dass es nicht nirgends endet –, die konkret eine Unendlichkeit hervorbringen. Denn das Auge kann unendlich unterteilt werden; der Forscher kann dem Zoom unbegrenzt folgen, kein Hindernis stellt sich ihm in den Weg; mag sein, dass er hin und wieder die Instrumente – die technischen wie die konzeptuellen – wechseln muss, die Arbeit kennt jedenfalls kein Ende. Und hat der fleißige Tischler am Ende auch das Holz so fein gefräst und geschnitzt, dass nur noch Späne übrigbleiben, dann führt er seine Kunst als Mikrohandwerker fort, und dann als Nanoingenieur, und dann als Physiker der subatomaren Ebene… Doch die Arbeit der Teilung ist keineswegs willkürlich, zumindest muss sie es nicht sein. Sie folgt und sollte folgen den Linien des Seins selbst, die sie hebt. Das Auge wird nicht einfach irgendwo unterteilt; die Teile, die der Anatom in ihm findet, sind wirkliche Teile, also solche, die als unterschiedene, wenn schon nicht als reale Teile im Organ liegen. Die verschiedenen Schichten, die unsere Linse bilden etwa, sind Anhalt für eine wirkliche und wahrheitsfähige Teilung; ein Schnitt quer hindurch ist es nicht. So verstehen wir, inwiefern wir hier, in einem Endlichen wie dem Menschenauge (oder dem Auge einer anderen Spezies), tatsächlich auf ein Unendliches stoßen. Denn die Teilung kennt kein Ende, gleichwohl ist das Unendliche, was ihr entspricht, kein potentiell Unendliches, weil es doch wirklich da ist. Auch in Organen, wie im Bewusstsein, gibt es keine realen Teile (wenn man darunter solche Teile versteht, die man ohne Veränderung der Teile auseinander nehmen und wieder zusammensetzen kann wie beim Lego); aber es gibt reale Linien der Teilung, und das durch diese Teilung Gefundene ist als Wirkliches da. Eine Formel gepresst: Es gibt keine realen Teile. Aber was die Teilung findet, ist real. Zumindest wenn man richtig teil. Mag also die Arbeit der Teilung faktisch immer endlich sein: Ihr Gefundenes ist ebenso faktisch unendlich. Das Unendliche bezeichnet gewissermaßen die Binnenstruktur, die intime Textur des Endlichen.Dass dabei das Endliche das Unendliche hervorbringt, lässt sich an einem anderen Beispiel besonders griffig demonstrieren: Man erinnert sich an die Paradoxien Zenons und an die Rolle, die sie in der Formierung der Metaphysik von Bergson spielen. Immer wieder kommt dieser auf sie zurück. Und immer wieder erinnert er an einen einfachen Tatbestand: dass nämlich der Schritt Achills eine endliche Größe, eine in sich und aus sich heraus bestehende Einheit und eine letzte Wirklichkeit ist – und all das bezeichnet ein und dasselbe. Wenn ich ausschreite, wenn ich diese einfachste Bewegung vollziehe, in der ich die paar Zentimeter überwinde, die ein Schritt nun einmal unter sich bringt, dann vollziehe ich eine einheitliche Handlung, die in sich abgeschlossen ist (relativ, wie alles andere auch) und die sowohl »zeitlich« als auch »räumlich« so endlich ist, wie etwas nur sein kann. Produziert wird Endliches, von mir wie von anderen Wesen und von der Natur allgemein. Sicher, unendlich viel Endliches, aber immer nur je und je Endliches eben. Doch dieses Intervall, das ich da überschreite in meinem Schritt, beinhaltet ebenso wie die Bewegung ein Unendliches möglicher Teilungen. Hier ist die Unendlichkeit sogar noch augenfälliger, weil ich in einer »reinen Ausdehnung« und einer »kontinuierlichen Bewegung« keine natürlichen Linien der Trennung ausmachen kann. Und in der Tat: Beim Schritt und seinem Intervall kennt die Arbeit der Teilung weder vorgegebenes (»natürliches«) Maß noch Grenze.

39

40

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Man sieht, worauf diese Betrachtung der Unendlichkeit der Teilung hinausläuft: Ihr spezifischer ontologischer Ort scheint die Materie zu sein. Materialität als solche bestimmt sich durch die Unendlichkeit der Teilung. Allerdings ist doch das letzte Beispiel ein ganz abstraktes und konstruiertes (und als solches taucht es ja schließlich auch schon bei Bergson auf). Gerade die Frage der Teilbarkeit »der Materie« oder »des Raumes«, die bei der Formulierung der unendlichen Teilung des Intervalls zwischen zwei Schritten durchschimmert, führt ganz in die Irre, denn sie legt das Konstrukt einer homogenen Materie oder eines indifferenten, absoluten Raums zugrunde. Beides geht nicht an. In der Wirklichkeit gibt es keine Materialität (und auch keinen Raum, denn den gibt es abseits der Materialität überhaupt nicht), die nicht bereits die Linien ihrer Teilbarkeit mit sich bringt. Diese mögen durchaus uneindeutig sein, sie werden es sogar immer sein; sie können vielleicht sogar Gegenstand einer Diskussion oder Ort historischer kultureller Verschiebungen sein; das ändert nichts daran, dass es eine »reine Materie« ebenso wenig gibt wie einen »homogenen« oder gar »leeren Raum«. Alle Materialität ist gemasert von den Linien ihrer Teilung, Materie ist Holz. Das führt schließlich und endlich zu einer noch konkreteren und präziseren Gestalt, in der wir die Unendlichkeit der Teilung erkennen müssen. Beschrieben ist sie von Benoît Mandelbrot in seinen Hinführungen zur Theorie der Fraktale. So fragt er dort etwa, wie lange die Küste der Bretagne genau ist.17 Der Witz ist nun, dass man das nicht so ohne weiteres sagen kann. Länge ist eine Größe, die auf Linien, Geraden und Kurven angewandt werden kann, die sich also in der Dimension = 1 findet. Eine Linie, das ist ihre Definition nun einmal, ist eine geometrische Form, die nur in einer Dimension liegt; die Figur kennt zwei Dimensionen, der Körper drei, der Punkt gar keine. Wenn ich also nach der Länge frage, dann frage ich nach einer Linie und daher nach einer Entität in der Dimension = 1. Es stellt sich aber heraus, dass die Küste der Bretagne dieser Forderung nicht genügt! Mandelbrot schlägt folgende Überlegung vor: Um herauszufinden, welche Länge die Küste der Bretagne hat, muss jemand sie ablaufen, am besten mit einer Vorrichtung, die automatisch den zurückgelegten Weg misst. (Bei der ganzen Betrachtung bleibt vollständig außer Acht, dass sich die Küste und ihre Längen verändern können, und das sowohl über sehr lange Zeiträume, etwa durch geologische Verschiebungen, die tatsächlich 17

Benoît Mandelbrot: Les objets fractals. Kapitel II. Zwei Bemerkungen: Erstens ist keineswegs sicher, dass ich die Ausführungen Mandelbrots in allen Einzelheiten richtig verstehe; vielleicht ist ja sogar mein Grundverständnis ganz falsch. Das muss ich mir dann anrechnen lassen. Dann lässt sich meine Auslegung und der Gebrauch, den ich von ihr mache, nur durch den Erfolg rechtfertigen, also durch die Plausibilität und die performative Kraft der daraus entstehenden Theorie. Zweitens tauchen mathematische und physikalische Theorien hier nirgends geradehin auf, in direkter Rede sozusagen, und als Stütze des Wahrheitsanspruchs meines Diskurses. Ich benutze diese Theorien, und das heißt: Ich lasse sie eintreten in einen Diskurs, der von ihnen wie durch eine Distanz getrennt ist und der doch nicht anders kann, als mit ihnen in einen Austausch zu treten. Auch hier gilt dann also, dass meine Rede eine philosophische ist und nur als solche beurteilt werden kann. Ihre »Wahrheit« hängt in keiner Weise von der Wahrheit der wissenschaftlichen Theorien ab, die ich verwende – ja, wie ich triumphierend feststelle: nicht einmal von der Richtigkeit meines Verständnisses dieser Theorien! Ob ich es mir damit nicht zu leicht mache, will man vielleicht wissen. Das mag sein. Dafür lastet die Verantwortung für das, was ich schreibe, aber nur umso ausschließlicher auf meinen Schultern.

un/endlich

ganze Kontinente in die Länge ziehen oder verkürzen; über lange Zeiträume, etwa durch Felsstürze oder Anspülungen; über kurze und regelmäßige Zeiträume, etwa bei Ebbe und Flut; oder bei sehr kurzen Zeiträumen: im Hin und Zurück der Wellen etwa – man sieht sofort, dass man auch hier eine jener »Kaskaden« hat, von denen Mandelbrot spricht und die also diese fraktale Strukturierung noch einmal in die Diachronie einschreiben. Gehen wir also vorerst davon aus – und die absolute Künstlichkeit dieser Annahme ist allein schon aussagekräftig –, dass die Küste der Bretagne für den Zeitraum unserer Messung wie festgefroren ist.) Es entsteht folgendes Problem: Nehmen wir z.B. an, ein großer, auf einen Meter eingestellter Zirkel wird benutzt, um jeweils von einem Punkt zum nächsten zu kommen, indem man als den nächsten Punkt den ansieht, wo der Zirkel auf die Küste trifft. Dann wird es zwischen zwei Punkten des Weges immer eine gewisse Abweichung geben. Nie wird man auf eine perfekte gerade Linie treffen. Ich muss also diesen Sinuositäten folgen. Ich kann aber gar nicht allen folgen. In der Praxis kann ich gar nicht anders, als mir einige Freiheiten zu nehmen. Warum? Nun, allein schon deswegen, weil meine Füße eine gewisse Größe haben, die es nicht erlauben, jede noch so kleine Biegung mitzumachen. Und hier setzt der Widerspruch ein, denn an dieser Stelle kollidieren die Metaphysiken ungebremst miteinander. Denn – so wird der Einwand lauten – es liegt doch bereits ein Fehler vor, wenn man in aller Selbstverständlichkeit auf die Größe der eigenen Füße verweist. Man setzt dann nämlich eine ganz empirische Sache an einen systematischen Ort, der nur reine Maße aufnehmen dürfte. Man darf von Metern und Zentimetern sprechen, weil die – in ihrer Willkürlichkeit, die den Weg zu dem öffnen, was allein sie der reinen Mathematik übergeben: der Verhältnisbestimmung – rein sind, absolut, nämlich losgelöst von allen empirischen Aspekten. Kann sein, dass ein anderes Land, ein anderes Volk, vielleicht auch die Marsianer andere Maße haben; aber wenn sie mathematische Maße haben, dann können wir sie eben ineinander umrechnen. Aber die Rede von Fußgrößen bei der Messung einer Länge führt doch unerlaubt reale und ganz zufällige Umstände in eine objektive Frage ein. Genau dieser Einwand ist der Kristallisationspunkt, an dem sich die Denkweise brechen muss, die auf der so wertvollen (weil nützlichen) aber leider metaphysisch grundirrigen Trennung des Reinen und des nur Empirischen beruht. Denn wenn ich ein Reales messen will, dann muss ich es eben messen. Es gibt keine andere Möglichkeit.18 Ich muss also sehr wohl der Küste folgen, wenn ich sie messen will, und das beinhaltet, dass ein Wesen ihr folgt, das selbst körperlich ist und deswegen eine bestimmte Größe hat. Ich kann von dieser Verwiesenheit an das »Subjekt« einfach nicht abstrahieren, wenn ich nicht in vollkommen falsche Metaphysiken geraten will. Alles, was ist, ist nur in Berührung mit anderem Seienden. Und alle wirklichen Dinge oder Wesen, die sich da treffen, müssen dabei in ihrer Kontingenz und selbst noch ihrem »Unwesentlichen« betrachtet werden. Dieses Unwesentliche, das meine Größe und die meiner Füße ist, kann aus der Suche nach dem

18

Im Übrigen gilt auch: Wenn ich etwas Nicht-Reales messen will (nämlich zum Beispiel eine Linie in einer rein geometrischen Problemstellung), dann muss ich es eben auch messen, oder aber mir stehen Wege der Rechnung zur Verfügung, um die Größe zu eruieren. Ich messe die geometrische Linie nicht mit meinem Lineal, oder, wenn ich es tue, dann nur behelfsweise; messen muss ich sie aber doch.

41

42

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Wesentlichen und Objektiven der Küste der Bretagne (ihrer Länge) nicht herausgestrichen werden: Es bliebe sonst nur ein Phantom. Es sei denn, man denkt, mit Leibniz und den Seinen, dass die Länge auch der Küste der Bretagne von Ewigkeit her vollbestimmt feststeht. Meinetwegen auch so, dass in diese Länge eine Art Zeitindex eingeschrieben ist, so dass also die Küste am 24.8.2017 so und so lang ist, am 12.4.2084 so und so, und so weiter. Es sei denn also, man kehrt zurück zur Vorstellung einer für sich bestehenden Wahrheit des Seins, die ganz und gar bestimmt ist, unabhängig davon, ob sie erkannt wird oder nicht. Da dafür nun aber nicht das Geringste spricht und diese Vorstellung vielmehr genauso viele Probleme und Widersprüche schafft, wie sie zu vermeiden sucht, gehen wir lieber andere Wege. Nehmen wir es also so hin, wie es sich uns aufdrängt: Um die Länge der Küste der Bretagne zu messen, ist die Größe der Messenden eine zwar für sich zufällige, im Vollzug der Messung aber wesentliche Bestimmung. Darin liegen schon zwei wichtige metaphysische Einsichten: Erstens gibt es nun einmal nichts, auch nichts »Objektives« unabhängig von seiner Erfassung oder Erfahrung; der »Beobachter« ist ins »Phänomen« eingeschrieben. Erkenntnis ist ein Akt, und in Wahrheit findet der nie in der stillen Abgeschiedenheit eines souveränen Geistes, nie »im Kopf« statt, sondern ist immer angewiesen auf vielfältige körperliche Tätigkeiten, die oft ganz handfest in das zu Erkennende eingreifen. Nur die Wahl besonders trivialer Beispiele kann diese Tatsache verschleiern (die Frage, die ironischerweise nur Stubenhockerphilosophen interessiert, die ohnehin nicht rausgehen wollen: ob es draußen regnet oder die Sonne scheint). Als Akt ist die Erkenntnis in derselben Realität angesiedelt wie das, was er erkennt. Er ist deshalb immer, in einem gehörig weiten Sinn, Modifikation des Wirklichen.19 Zweitens ist in der Realität die Größe sehr wohl entscheidend. Mag die Größe des Messenden auch zufällig sein, wie es oben formuliert wurde: Irgendeine Größe muss er oder sie doch haben, und welche Größe das ist, wird relevant für das Ergebnis sein, aber so, dass es ohne diesen Handgriff oder Fußtritt des Empirischen und Zufälligen auch kein Ergebnis gäbe. Eine reine Messung: ein Widerspruch in sich. Ganz anders in der Mathematik: Für sie, weil sie es nur mit Größenverhältnissen zu tun hat, ist es ganz gleichgültig, ob etwas einen Kilometer oder einen Meter lang ist. Es ist gar nicht denkbar, dass das in der Rechnung einen Unterschied macht. Es war denn auch die unbedachte Übertragung dieser puren Relationalität auf die Wirklichkeit, die zu dem Gedanken verleitete (der sich gut vertrug mit der Leugnung der Rolle des Erkennenden), dass die physische Welt ebenfalls ein Kontinuum sei, wo es keine Rolle spielt und keinen Unterschied macht, auf welcher Größenstufe man sich befindet.

19

Bevor man nun die Unschärferelation als Belege dafür herbeizieht, sollte man sich vergegenwärtigen, dass die nur deshalb so paradox erscheinen kann, weil zumindest in ihren verbreiteten Darstellungen genau die Zerfällung der Erfahrung in das, was dann als seine Bestandteile posiert (Erkenntnissubjekt – Objekt), vorausgesetzt wird. Die Unschärferelation adelt also nicht die philosophische These. Sondern jene verbliebe pures Kuriosum und letztlich anekdotisch (mehr ScienceFiction als Science, und genauso wird sie ja in der Popularisierung auch genommen), wenn Erkenntnis nicht immer schon Interaktion wäre.

un/endlich

Man findet diesen Gedanken etwa schön bei Leibniz ausgedrückt,20 und auch Pascals berühmtes Fragment von den zwei Unendlichkeiten basiert darauf:21 Egal ob man ins unendlich Große übergeht, also immer größere Größen ins Auge fasst, oder ob man bis zur Milbe hinuntersteigt und noch weiter: Immer herrschen die gleichen Verhältnisse, weshalb es gleichgültig ist, wo man sich befindet, ja: diese Gleichgültigkeit ist ja eben Teil des Schwindels, den der von Pascal imaginierte Denkende empfinden muss angesichts der doppelten Unendlichkeit.22 Dagegen lehrt ein Blick ins Wirkliche, dass dieses – ganz im Gegensatz zu einem Kontinuum – bedeutsame Größenschwellen kennt und fordert. Die Antike kannte bereits eine solche Schwelle, an der sich die sublunare von der supralunaren Welt schied. Die Schwelle war also der Mond, die launische Sphinx der Nacht. Auch der antike Atomismus kannte eine solche kritische Schwelle, die die Atome auf der einen Seite von den Formationen, die aus ihnen entstehen, auf der anderen Seite trennen. Die klassische neuzeitliche Metaphysik hat der Vorstellung einer relevanten Größenschwelle jeden Kredit entzogen. Heute kehrt sie wieder, etwa in der Gestalt der Unterscheidung von makrokosmischen Phänomenen und Gesetzmäßigkeiten einerseits und mikrokosmischen andererseits. Aber sicherlich gibt es mehr als nur zwei solcher Welten, mehr als nur eine Schwelle. Wenn ohnehin etwas so Empirisches wie die Größe plötzlich Wesensrelevanz haben soll – ja: Größe ist doch schließlich das Empirische par excellence –, dann sollten wir damit rechnen, dass die Schwellen, die es einrichtet, sich weder a priori vorhersehen noch nach schönen sauberen Theorien in ihrer Zahl herleiten lassen. Es lässt sich dann auch eine Vermutung formulieren, die äußerst elegant einige metaphysische Widersprüche zu lösen vermag: Wenn man nämlich behauptet, dass wir die Welt so wahrnehmen, wie sie wirklich ist, dann scheint man – und ausgerechnet wenn man sich einem Denken der Natur verschreibt – schnell in ein Dilemma zu geraten. Schließlich gehen die Biologen nicht ohne Grund davon aus, dass die Welt z.B. für Bienen anders aussehen muss – auch wenn man nicht so genau sagen kann, wie sie aussieht. Es scheint also, man muss entweder die Differenz der Sehwahrnehmung leugnen oder aber die Wirklichkeitstreue unserer Wahrnehmung fahren lassen. Wenn man hingegen auf die unterschiedliche anatomische Einrichtung des Auges eingeht, kommt man in Teufels Küche, denn dann ist es die Wissenschaft, in diesem Fall die Biologie und Anatomie, die letzten Aufschluss über die Wahrheit der Welt und der Wahrnehmung gibt. Dann nehmen wir also die Welt nicht so wahr, wie sie ist, sondern wie es unserer Physiologie entspricht – und über die klärt uns nicht die Wahrnehmung auf, sondern die Wissenschaft. Nun gibt es zweifelsohne anatomische Unterschiede zwischen meinem Auge und dem einer Biene. Aber vielleicht ist das gar nicht so sehr der Punkt. Zum einen sehen wir alle die Welt anders, und zwar bereits zwei Menschen

20

21 22

Wenn er vorschlägt, sich die Denkmaschinerie des Körpers so weit vergrößert vorzustellen, dass man darin wie in einer Mühle herumlaufen könnte, vgl. Monadologie. § 17. Man würde, das ist der argumentative Kontext, in einer solchen Denkmühle allerlei Maschinenteile unterscheiden können, aber nicht die kleinsten Perzeption finden. Pensées. L. 199. Pensées. L. 201.

43

44

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

mit halbwegs vergleichbarer anatomischer Einrichtung. Dass dabei immer auch Unterschiede in der körperlichen Disposition eine Rolle spielen, ist wohl unbezweifelbar. Wichtig ist aber zuerst einmal, dass jede Wahrnehmung ausschließlich aus Margen besteht. Nicht gibt es einmal die Norm und dann noch ein paar Abweichungen. Es gibt vielmehr nur Abweichungen. »Norm« ist dann wahlweise eine schlichte Unterstellung, ein konstruierter Durchschnittswert oder eine Art statistisches Mittel. Die Differenz ist das »Normale«. Vor allem aber ist es vielleicht gar nicht die unterschiedliche anatomische Einrichtung als solche, die die Unterscheidung zwischen meiner Wahrnehmung und der einer Biene verantwortet. Ist diese nicht vielmehr auf einen Unterschied im Größenregister zurückzuführen? Können wir daher Größenregister daran erkennen, dass sie je unterschiedliche und nur mehr schwer miteinander in Übereinstimmung oder nur Kommensurabilität zu bringende Wahrnehmungsweisen hervorbringen? Das wäre ganz folgerichtig und würde auch der Grundthese – dass wir die Welt so wahrnehmen, wie sie ist – nicht widersprechen, denn in der Tat wäre die Welt nun einmal anders für eine Biene, weil sie in einem anderen Größenregister lebt. Es ist nur angemessen, dass sie eine andere anatomische Form des Auges hat als wir. (Ich werde später noch einmal von einer etwas anderen Seite auf diese Problematik zurückkommen.) Mandelbrot (um aufs Thema zurückzukommen) nun schlägt versuchsweise drei Größenregister vor, wobei es sich wohl tatsächlich nur um eine Veranschaulichung handelt und nicht etwa um eine strenge Theorie. Nehmen wir an, ein Mensch vollzieht die Messung der Küstenlänge, dann könnten wir etwa als eine maximale Entfernung von der Küstenlinie einen Meter verlangen. Wollen wir eine schon genauere Messung, bei der die Abweichung nur einen Zentimeter betragen darf, dann kann das kein Mensch mehr erfüllen, weil er einfach zu groß ist; wir müssten z.B. eine Maus abstellen. Und bei einem Mikrometer? Und im atomaren und subatomaren Bereich? Aber wenn ich wirklich so weit gegangen bin, dass ich nach der Küstenlinie auf atomarem und subatomarem Level frage, dann haben sich doch sichtlich die Spielregeln geändert, denn eine wirklich starre Linienführung kann hier doch nicht einmal mehr theoretisch vorausgesetzt werden, und außerdem müsste man dann noch einmal neue Kriterien festlegen, welche Teilchen nun zum Lande und welche zum Wasser gehören! Natürlich ist das reichlich konstruiert. Es legt aber den Finger in die Wunde. Erstens stellen wir also fest, dass es so etwas wie eine schlichte und vorausbestimmte Objektivität nicht einmal bei einer scheinbar so einfachen Frage wie der nach der Länge einer Küste gibt. Auch Gott müsste sie messen, und das heißt: Er müsste irgendwie körperlich hingehen und die Küste ablaufen. Und er müsste sie ablaufen in einer bestimmten Größe. Der »Beobachter« gehört mitten hinein in die Objektivität als ein wesentlicher Garant ihres So-Seins. (Deswegen ist der Begriff »Beobachter« auch ganz unpassend.) Die Idee, dass z.B. in einem Reich der Wahrheiten oder Tatsachen die Länge der Küste der Bretagne im großen Buch niedergeschrieben sei, ist nicht einfach nur grundnaiv, sondern vor allem grundfalsch. Zweitens gibt es dabei kritische Größenschwellen, auf deren beiden Seiten nicht zwangsläufig dieselben Spiel- und damit auch Messregeln gelten. Drittens lässt sich die Länge der Küste der Bretagne überhaupt nicht mit letzter Genauigkeit angeben, denn ich muss schon im günstigsten Fall – in der letztlich absurden Unterstellung eines starren Küstensaums – einräumen, dass die genaue Bestimmung der Grenze zwischen Wasser und Land nicht eine mathematische Linie ist, sondern eine breite Gren-

un/endlich

ze, wiederum eine Schwelle also, die aber diesmal nicht zwei Größenordnungen voneinander trennt, sondern zwei Realitäten. Diese breite Grenze aber führt notwendig eine Ungenauigkeit in die Messung ein, und das selbst dann noch, wenn man die Messung durchgängig mit einer unveränderlichen Marge (z.B. 1cm) durchführen könnte. Denn a) wäre diese Marge selbst wieder eine unter mehreren möglichen und somit das Vehikel einer grundsätzlichen Unsicherheit, und b) stünde innerhalb dieser Marge nie fest, wo sich je und je der Messende befindet (am linken Rand, am rechten oder irgendwo dazwischen) – sonst bräuchte man die Marge ja eben nicht! Wir stellen also fest, dass es in der physischen Welt gar nichts Genaues gibt. Grundsätzlich ist die Welt der Körper eine ungenaue Sache. Das ist umso erstaunlicher, als doch seit Galilei und Descartes gerade in der Mathematisierung der Welt der Königsweg zur wissenschaftlichen Genauigkeit erblickt wurde. Körper rein als Körper betrachtet sollten diese Mathematisierung leisten. Bis heute wirkt dieser Gedanke fort, und doch sehen wir, dass er auf einem tiefgreifenden Irrtum beruht: Die Wahrheit ist, dass diese Welt, die Welt der Körper, des Stofflichen prinzipiell ungenau und unscharf ist. Die Unterstellung der Genauigkeit operiert mit einem falschen, wirklichkeitsfremden, durch und durch abstrakten Begriff der Materie. Viertens stoßen wir also auch hier auf eine Unendlichkeit, die konkret im Endlichen selbst sich auftut, als dessen intime Struktur gewissermaßen. Denn wie groß die Länge der Küste der Bretagne nun auch immer sein mag (und wir wissen ja, dass diese Länge wiederum von anderen Faktoren als nur von ihr selbst abhängig ist), sie ist auf jeden Fall größer als eine Linie. Das Frappierende an den Fraktalen, die Mandelbrot untersucht, liegt genau darin, dass sie grundsätzlich die schöne saubere Unterscheidung, auf der unsere Mathematik, ja: unser grundlegendes Verständnis von Mathematik beruht, unterlaufen. Eine Linie oder Gerade hat die Dimensionszahl 1, eine Fläche die Dimensionszahl 2, ein Körper die Dimensionszahl 3. Dies ist uns so vertraut, dass wir daran kaum noch zweifeln können. Und doch gibt es in der Wirklichkeit Unzähliges, das sich zwar vielleicht mathematisch beschreiben lässt, das aber grundsätzlich nicht unter diese saubere Trennung fällt. Denn die Fraktale stehen zwischen den Dimensionen: Eine fraktale Linie hat eine Zahl von Dimensionen, die zwischen 1 und 2 steht, eine fraktale Fläche hat eine Zahl, die zwischen 2 und 3 liegt, und auch ein fraktaler Körper »hat« nicht einfach 3 Dimensionen oder »besteht« aus ihnen, sondern überschreitet diese 3 Dimensionen. Es gibt aber doch einen Grund für die Faszination, die die Theorie der Fraktale seit ihrer Verbreitung in den 1970er Jahren ausgeübt hat. Sicher, das hat auch etwas damit zu tun, dass es sich dabei um komplexe Mathematik handelt, die man sich gleichwohl noch irgendwie anschaulich machen kann; auch damit, dass daher ein jeder, dank der eingängigen Beispiele, den Eindruck gewinnt, dass er es da mit hoher Wissenschaft zu tun hat, die dennoch unmittelbar mit seiner Lebenswirklichkeit zu tun hat. Und beides ist ja auch richtig. Das eigentlich Revolutionäre ist aber dies: Wenn die Fraktale eine neue Berührung von Mathematik und Wirklichkeit darstellen, dann doch nicht nur eine, in der die alten Beispiele um neue erweitert werden, sondern eine solche, die zugleich die realistischste von allen ist. Nicht dass die »Anwendung« der klassischen Mathematik auf die Wirklichkeit falsch oder illegitim wäre; aber ihre Voraussetzung ist jetzt, in der und durch die Mathematik selbst, als irrig erwiesen: die Voraussetzung nämlich, dass die saubere Scheidung der Einheiten, Zahlen, Dimensionen, Operationen nicht nur das Ambiente der Mathematik, sondern auch der Wirklichkeit ist – diese ist nur ein wenig

45

46

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

verunreinigt, vielleicht davon, dass die Materie so grob und schwer ist, oder weil unsere Erkenntniskräfte noch begrenzt sind. Jetzt aber wird klar: Nein, die Wirklichkeit besteht nicht aus sauberen Grenzen und Scheidungen. Die klare Unterscheidung ist der Grenzfall des Wirklichen, die gerade Linie das Extrem der krummen. Das ontologisch, das metaphysisch Erste und Absolute ist aber die unsaubere Welt der krummen Linien und uneindeutigen Dimensionen. Wenn die Küste der Bretagne D > 1 ist (aber D < 2), wenn der Umfang von Rügen D > 2 aber 3 ist, dann wird doch deutlich, dass es nicht erst, und sei es »logisch« oder »transzendental« oder »apriorisch« die Dimensionen 1, 2 und 3 gibt und dann noch ab und zu Sachen, die dazwischen liegen. Sondern das Dazwischen ist das Frühere, Wirklichkeit ist als Dementi jener Grenzziehungen und Grenzfälle, von denen Mathematik (und letztlich alle Wissenschaft) zehrt. Es sind die Grenzfälle und Unterscheidungen, die einseitig von der Unsauberkeit abhängig sind, nicht umgekehrt. Wohlgemerkt, es besteht nicht, bevor die Mathematik ihren großen Auftritt hat, pures Chaos in der Welt; es gibt durchaus einen Unterschied zwischen den Linien auf einem Blatt Papier und diesem Papier und zwischen dem Papier und dem Tisch, auf dem es liegt. Aber das sind eben keine strengen und grundsätzlichen Unterschiede. Nur ist das kein Beleg für die Unvollkommenheit der Wirklichkeit, eher noch für die der Wissenschaft, die Sauberkeit erwartete. Die Theorie der Fraktale hilft so, einen essentiellen Schritt in der Entfaltung einer Metaphysik des Wirklichen zu tun: Dieses ist immer unsauber. Und es ist eben immer die Produktion des Unendlichen im Endlichen. Das ist keine mathematische Beschreibung; die Mathematik dient nur als Veranschaulichung und kann auch ihrerseits zu anderen, für ihre Parameter »genaueren« Ergebnissen kommen. So lässt sich ja die Dimensionszahl durchaus noch näher bestimmen, und wichtige Teile von Mandelbrots Les objets fractals sind der Bestimmung der Dimensionszahl zwischen den ganzen Zahlen für bestimmte sowohl mathematische wie empirische Phänomene gewidmet. Das ändert aber nichts daran, dass hier Inkommensurabilität mit allen endlichen Zahlen herrscht und dass die Messung des Endlichen, das etwa die Küste eines Landstrichs ist, prinzipiell nicht abgeschlossen ist. Die reale Teilung endlicher Körper führt auf eine Unendlichkeit, die aber tatsächlich da ist – und nicht etwa nur den unvollkommenen Erkenntniskräften geschuldet. Auch ist diese These nicht mit den klassischen Erzählungen von der unendlichen Teilbarkeit zu verwechseln, denen Pascal den vielleicht schönsten Ausdruck in seinem Fragment von der doppelten Unendlichkeit und der »Disproportion des Menschen« gegeben hat. Denn es geht nicht um unendliche Teilbarkeit, sondern um eine Teilung, die Unendliches zutage fördert. Und vor allen Dingen: Diese klassischen Erzählungen finden bei jedem Schritt der Teilung immer wieder nur dasselbe, so dass auch Pascal noch in der Milbe das Universum wiederfinden kann. Das aber ist nun einmal das Kennzeichen der nur imaginären oder rein begrifflichen Teilung (die in Wahrheit eben keine Teilung ist, sondern nur der Gedanke der Teilung): Sie findet immer wieder nur dasselbe. Ihr Paradigma ist die Teilung einer Zahl, die immer wieder nur eine Zahl findet. Dagegen stößt eine reale Teilung auf Heterogenes: auf die Linien des Seins und die Größenordnungen, die sie definieren. Es kann keine Rede davon sein, dass es das Unendliche wäre, das das Endliche hervorbringt oder bedingt. Die Küste der Bretagne entsteht ja nicht aus den unendlichen Verzweigungen heraus, so wenig wie ein Schritt aus den überschrittenen Intervallen

un/endlich

oder eine Linie aus ihren Punkten entsteht. Das Endliche ist »zuerst« da, es ist vollgültig da. Zugleich handelt es sich aber nicht etwa um ein potentiell Unendliches, das man im Endlichen finden kann oder auch nicht. Es ist richtig, dass man nicht nach der Länge der Küste fragen muss; wenn man es aber tut, stellt man fest, dass diese Unendlichkeit da ist, »vorliegt«, wie nur etwas vorliegen kann, eine Wirklichkeit ist, also nicht etwa nur subjektiv durch die Messung wie aus Nichts geschöpft wird – und dass es doch hervor-gebracht werden muss, im Wortsinn: nach vorne gebracht werden muss, also eine positive Arbeit erfordert. (Denn Objektivität und subjektive Tätigkeit schließen sich nicht aus, sondern fordern einander.) Es ist also ganz konkret das Endliche, das einseitig das Unendliche bedingt, aber ohne dass dieses nur »potentiell« oder bloß »subjektiv« wäre. Das Erstaunliche an Mandelbrots Büchern ist ja die Vielzahl der konkreten Beispiele, die dem Leser tatsächlich die Augen öffnet: Überall sind solche fraktalen Phänomene zu finden. Das heißt aber nun einmal auch, dass Wirklichkeit allgemein unter diesen Theoremen begriffen werden muss. Die Küste, der Umfang einer Insel, die Oberfläche des Lungengewebes, die Topologie und Dynamik von Turbulenzen in Flüssigkeiten und Gasen, der Rhythmus von Interferenzen… zahllos sind die Beispiele, die alle in dieselbe Richtung zeigen: dahin nämlich, im Unsauberen und mit dem Unendlichen schwangeren Endlichen das Sein an sich zu erblicken. Jeder gesteht ein, dass es in der Realität immer ein bisschen komplizierter ist, dass noch ein paar Umstände mit hinzukommen, die die klare Gesetzmäßigkeit ein wenig verunreinigen, dass es vielleicht noch ein paar Abweichungen gibt oder aber dass einfach noch diese oder jene Einsicht fehlt oder ein Parameter noch nicht vollständig erfasst ist. Hinter diesem herablassenden Zugeständnis steht aber immer die gleiche Idee: In Wirklichkeit ist die Wirklichkeit sehr wohl präzise geordnet und folgt klaren Gesetzen, es sieht nur für uns nicht immer so aus, auch mit unserem mittlerweile ganz beeindruckend entwickelten Apparat an wissenschaftlichen Methoden. Es steht also immer das dahinter, was Merleau-Ponty das »Vorurteil der Welt« nennt: die Unterstellung einer vollständigen Bestimmtheit der Welt.23 Und dieses Vorurteil ist falsch. Die Wirklichkeit ist kein Chaos, doch ihre Bestimmtheiten verdanken sich positiv den unscharfen Grenzen des Bestimmten; ihre Regelmäßigkeit ist selbst Produkt, Wirkung, und nicht etwa der tautologische Ausdruck einer lückenlosen Determination; ihre Individuen erstehen auf einem Meer des Unabzählbaren. Wir räumen also nicht entschuldigend und vorläufig die Unschärfe der Welt oder unserer Kenntnisse von ihr ein, sondern erklären sie zum Wesen der Wirklichkeit. Der Norden windet sich aus den Abweichungen der Kompassnadel, nicht erklärt er ihr Zittern. Das Unendliche, das im Endliche eingedreht ist, derealisiert dieses Endliche nicht, sondern erschließt ihm die im Wortsinn absolute Fülle seiner Wirklichkeit und Vollendung. Diese Welt ist vollkommen, so vollkommen, wie etwas nur sein kann, da alle Kriterien, die über Vollkommenheit entscheiden können, wieder nur in dieser Welt geschöpft sind; und sie ist vollkommen, weil noch das begrifflich Vollkommenste, das Unendliche, die konkrete Textur seiner Endlichkeiten bildet.

23

Schon im ersten Kapitel (›La sensation‹) der Einleitung zur Phénoménolgie de la perception. Das Vorurteil lässt sich so zusammenfassen: »Dans le monde pris en soi tout est déterminé.« Dagegen hält Merleau-Ponty fest: »Il nous faut reconnaître l’indéterminé comme un phénomène positif.« (Phénoménologie de la perception. 678)

47

48

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Das Antlitz. Was aber begegnet im Unendlichen des Antlitzes genau? Was ist der Seinsbereich, der hierdurch in besonderer Weise ausgewiesen ist? Wenn man akzeptiert, dass das Unendliche der Unabzählbarkeit sich in paradigmatischer Weise auf Bewusstsein und Zeit bezieht, das Unendliche der Teilbarkeit auf die Materie, auf Körper, das aktuelle Unendliche auf die Pluralität der Seienden – welche Zuordnung gilt dann für das Unendliche des Antlitzes? Man kann sagen: der Mensch. Und diese Antwort ist ja auch die von Levinas. Und doch ist damit noch nicht viel gesagt. Denn es geht ja nicht um eine mysteriöse Auszeichnung, die, man weiß nicht woher, die Unterscheidung einer bestimmten biologischen Spezies betrifft. Es geht überhaupt nicht um eine theoretisch verstandene Erkenntnis, so wie im Antlitz ja auch keinerlei Wissen über den Menschen liegt, der mir begegnet, oder wenn doch, so ist es für die Begegnung eben irrelevant. Was relevant ist, ist einzig die Verantwortung, die mich im Antlitz ereilt und erst auf meine Identität in einem strengen, weil für die Praxis unbestreitbaren Sinn festlegt. Dann steht aber im Unendlichen des Antlitzes nicht ein Seinsbereich, sondern gleich zwei vor mir, und wie das so ist, so tendieren auch diese beiden dazu, sich gegenseitig zu verunsichern. Denn die Frage ist doch ganz unvermeidlich: Erstreckt sich meine Verantwortung denn nur auf Menschen? Kann nicht auch im Blick einer Kuh das Antlitz aufscheinen? Wäre man sonst nicht gezwungen, Descartes’ Brutalität wiederzubeleben, für die Tiere nur Verfügungsmasse sind? Levinas’ Antwort wäre wahrscheinlich diese: Es mag eine Verantwortung auch Tieren gegenüber geben, gar die Begegnung mit dem Antlitz in einem Tier – aber nur auf der Grundlage und unter der Voraussetzung einer Begegnung mit dem anderen Menschen, an dem ich die Unendlichkeit des Antlitzes gewissermaßen erst lerne. Das ist schlüssig und kohärent. In dem Zusammenhang, der sich der Naturphilosophie aber stellt, noch dazu einer, die materialistisch sein möchte, muss aber der ganze Rahmen dieser Frage neu bestimmt werden. Es lassen sich zwei symmetrische Zweifel anmelden: ob die »Einverleibung« von Levinas’ Philosophie in einen Materialismus und eine Philosophie der Natur nicht Levinas Unrecht tut? Und ob sie nicht diesem Materialismus schwer im Magen liegen muss? Was das erste betrifft: Es ließe sich wahrscheinlich zeigen, dass das Denken von Levinas mit dem Verständnis von Materialismus, das ich zu entwickeln suche, keineswegs inkompatibel ist. Allerdings wäre das eine eher historische Frage.24

24

Levinas streitet leidenschaftlich gegen die Denkweisen, die man herkömmlicherweise mit dem Namen des Materialismus belegt, auch wenn bezeichnenderweise dieser Name selbst bei Levinas nur selten fällt. Besonders deutlich und sicher nicht durch Zufall kommt dieser Positionierung in dem frühen Text zum Tragen, in dem er eine philosophische Diagnose des Nationalsozialismus vorlegt (Quelques réflexions sur la philosophie de l’hitlérisme, zuerst erschienen 1934). Was Levinas da zurückweist, sind immer entschieden grobe, reduzierte und reduktionistische (um nicht zu sagen: brutalistische) Konzeptionen. Die Einschätzung, dass die historischen Materialismen meistens bei einem ebenso schwerfälligen wie leichtfertigen Begriff der Materie stehenblieben, teile ich ausdrücklich. Es muss also nicht sein, dass man Levinas Unrecht tut, wenn man seine tiefe Einsicht einem anspruchsvollen Materialismus »einfügt« (wenn sowas überhaupt geht). Dass Levinas aber in jedem Fall ein Denker eines radikalen Empirismus ist, habe ich andernorts gezeigt,

un/endlich

Umso schwerer wiegt der zweite Zweifel: Welchen Platz kann Verantwortung, welchen (wie man so sagt) »ontologischen Status« kann Moral in einer Welt der Körper haben? Das ist überhaupt nicht klar. Sieht man das Universum als eine gesetzmäßige Verkettung von Ursachen und Wirkungen an, als eine ununterbrochene Interaktion von Körpern – dann ist nicht so leicht ersichtlich, woher so etwas wie eine Verantwortung, eine Verpflichtung hier hineinkommen soll, eine Verbundenheit durch etwas anderes als die bloßen kausalen Beziehungen. Mit der Moral, so scheint es, tritt unweigerlich eine andere, eine ideale Dimension ins Sein. Damit wäre der Materialismus aber auch schon erledigt. Natürlich kann man dann immer noch erklären, wieso Lebewesen oft miteinander kooperieren, warum die meisten gleich dauerhafte Verbände bilden, und der Mensch erst recht (weil es den Lebewesen nämlich nutzt); aber damit hätte man die Moral eben erklärt, und das bedeutet: in ihrer Eigenständigkeit erledigt, auf etwas anderes zurückgeführt. Wenn man Materialismus versteht als eine Theorie der kausalen Interaktion nackter Körper, dann wird man zu eben dieser falschen Alternative gezwungen: Leugnung oder Idealisierung des Moralischen, de Sade oder Scheler. Aber so muss und so sollte man Materialismus auch nicht verstehen. Akzeptieren wir trotzdem vorläufig, dass hier ein Problem besteht. Wie Verantwortung, wie Moral im Rahmen einer Naturphilosophie zu denken sind, ohne sie reduzieren, bleibt noch eine offene Frage. (Ich werde später, im Kapitel ›In Scherben‹, noch einmal ausführlich darauf zurückkommen.) Auffächerung. Es kann bei den Unendlichen, die hier unterschieden sind, gar nicht um Seinsbereiche gehen, erst recht nicht um regionale Ontologien. Sie bezeichnen nicht Verschiedenes, sondern verschiedene Seiten ein und desselben Seins. Die »Seinsbereiche« gehen ihren Aktualisierungen nicht vorher; wirklich real ist eben nun einmal immer nur das Endliche, und »Seinsbereiche« sind real nur als Kommunikationsfläche von Endlichen, die in einer bestimmten Beziehung miteinander kommensurabel sind. Es »gibt« diese Seinsbereiche aber nicht noch einmal. Man braucht nicht darauf zählen, dass es dabei immer ordentlich zugeht. Eine Theorie, die Kohärenz nicht einmal zu ihrem Ziel hätte, wäre wertlos; eine Theorie, die tatsächlich Kohärenz erreicht, Betrug und Selbstbetrug. Die Widersprüche sind nicht selten eine höhere Treue zum Gegenstand. Wir werden noch oft Gelegenheit haben, dieser Treue das Wort zu erteilen, widerwillig. Dies ist die erste davon: Denn es ist und bleibt dabei, dass die Moral etwas ist, was zweifelfrei »ist«, also seine eigene Weise der Wirklichkeit hat, und was doch quer zum materiellen Universum steht. Selbst dem anspruchsvollen Begriff der Körper, der hier gesucht wird, lässt sich die Moral, lässt sich die Verantwortung, Verpflichtung, jede Form einer Verbundenheit in Hingabe, nicht einfach integrieren, auch wenn es ihm jedenfalls nicht mehr widerspricht. Die Moral ist ein Überschuss in einem ohnehin schon überschüssigen Universum. Sie zeigt ein Fraktal selbst des körperlichen Universums an: eine Überbietung, die doch nicht auf irgendwelche neuen, und seien es ideale »Gegenstände« zu führen vermag. Und diese Überbietung

vgl. Ein empirischer Ursprung der Rationalität. Zum Begriff des radikalen Empirismus vgl. das Kapitel ›Im Auge‹.

49

50

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

liegt insofern auch quer zur Idee eines univoken Seins, als sie Unterschiede in es einführt, Wertunterschiede. Wertunterschiede gibt es nur um den Preis einer Analogie des Seins. Etwas ist schief, etwas ist unsauber. Man sollte nicht glauben, dass das nur vorläufig ist, oder dass das eine Theorie immer widerlegt. Manche ist dadurch geadelt. Die »Seinsbereiche« der Unendlichen sind also deutlich unterschieden von den klassischen ontologischen Kategorisierungen. Denn hier ist nicht entscheidend, was etwas schon längst ist, so dass es dann schön säuberlich in seine gehörige Kategorie eingereiht werden kann. Entscheidend ist einzig, welche Art der Unendlichkeit mir entgegenstrahlt, sobald ich mich einem »Gegenstand« zuwende oder von ihm in die Pflicht genommen werde. Es ist dann die Art der Unendlichkeit, die die Grenzen ihrer Anwendung und die Menge der »Gegenstände« bestimmt, die unter sie fallen, nicht eine vorgängige ontologische Bestimmung dieser Gegenstände, geschweige denn unser Wissen darum. Wie mir ein »Gegenstand« im Licht der Unendlichen begegnet, entscheidet darüber, als was er mir erscheint und in welche Seinsregion ich ihn einreihe; nicht hat er erst eine Essenz (die feststeht und am Ende immer eine transzendente Strukturierung erzwingt) und erscheint mir dann noch. Damit sind die herkömmlichen ontologischen Gliederungen automatisch unterlaufen. So kann die Gliederung der Welt in Unbelebtes, Pflanze, Tiere und Menschen nicht mehr ohne Weiteres gelten. Es kann sehr wohl sein, dass sie auch mal gilt. Es entscheidet aber immer wieder von Neuem nur der Brechungsfaktor des Unendlichen: Dieser legt fest, was je gesehen wird; dieser schafft damit einen Bereich mit unscharfer und variabler Grenze, die ein Innen und ein Außen immer nur vorläufig voneinander trennt – auch wenn es durchaus plausibel ist anzunehmen, dass es jeweils einen unverzichtbaren Kern gibt, der in einem Bereich wirksam werden muss. Man sieht den Unterschied: nicht eine vorgehende statische ontologische Gliederung nach essentiellen Differenzen, sondern eine Erfahrungsweise, die dynamisch eine eigene Strukturierung entwirft, der zufolge manches, was »eigentlich« (nämlich nach der Logik der Essenzen) zusammengehört, vielleicht auseinandergerissen wird, und anderes, was »eigentlich« streng ontologisch geschieden ist, sich nun in neuer Verwandtschaft präsentiert. Was ist, trägt offenbar in sich eine vielfältige (aber nicht beliebige oder gar selbst unendliche) Expansion und Auffächerung ins Unendliche, in die Unendlichen: Es ist als Explosion, die verschiedenartig geschnitten und abgefangen werden kann. Das zeigt sich, wenn auch die anderen Unendlichkeiten betrachtet werden. Die Unendlichkeit der Unabzählbaren gründet sichtlich eine von der Unendlichkeit des Anderen klar unterschiedene »ontologische Region« (um noch einmal so zu sprechen). Äußeres Zeichen für die Unterschiedenheit ist bereits, dass ich das Unendliche der Unabzählbarkeit als meines erleben kann. So war das erste Beispiel denn auch mit Bergson das Bewusstseinsleben. Noch grundlegender aber: die Zeit. Sie ist in ihrer unhintergehbaren Wirklichkeit eine solche Unendlichkeit, die nicht primär deswegen unendlich wäre, weil wir ihren Anfang und ihr Ende nicht nur nicht bemerken oder wahrnehmen, sondern nicht einmal denken könnten; das Unendliche der Zeit liegt vielmehr daran, dass sie eine unlösliche gegenseitige Durchdringung dessen ist, was dennoch voneinander unterschieden bleibt. Es gibt in der Zeit keine klare Unterscheidung, es gibt so etwas wie einen Augenblick nicht. Bergson beweist, dass unsere Zeiteinteilungen wie Stunden, Minuten, Sekunden, eigentlich nicht die Zeit als solche, sondern vielmehr ihre Veräußerung und damit Ent-

un/endlich

fremdung im Raum betreffen. Die Zeit ist nicht messbar, weil sie nicht abzählbar ist. Es ist zwar auch so, dass sie endlos teilbar ist, aber das trifft nicht wirklich ihre Essenz. Deswegen nicht, weil ihre unendliche Teilbarkeit wiederum nur eine theoretische Möglichkeit ist. »In der Wirklichkeit« ist die Zeit eben keineswegs unendlich teilbar, sondern nur die gemessene Zeit ist das, und nur auf einem Blatt Papier. Ihre Wirklichkeit besteht aber darin, dass sie eine gegenseitige Durchdringung von solchem ist, das nie aufhört, sich gegenseitig seine Tönungen zu geben, ohne aber einfach dasselbe zu werden. Sagen wir mit einem Wort, was das ist: das Vergangene und das Gegenwärtige, die Erinnerung und das Jetzt. Was wir einen Augenblick oder einen Moment oder ein Jetzt nennen – ein Absolutum im engsten Sinn, weil es auf nichts gründet und von nichts mehr abhängt, die Wirklichkeit, die als Transmissionsriemen des Seins fungiert oder als Kessel des Alchemisten, Stein der Weisen und Umschlagwerk: so ein Moment oder Jetzt ist genau das, dass hier geschieden wird, was niemals streng und sauber geschieden werden kann, dass hier eine Falte geschlagen ist oder ein Grat erklommen, der zweierlei trennt – welches es aber nur gibt, weil es immer und immer ineinander übergeht. Was ineinander übergeht, ist das Gegenwärtige ins Vergangene.25 Und da das Vergangene zudem als Erinnerung weiter gegenwärtig bleibt, ist die Ununterschiedenheit des Unterschiedenen noch einmal in zweiter Potenz gegeben. Sie geht in sich, in ihr Unterschiedenes zurück. Zeitlichkeit ist also wesentlich die Endlichkeit, in der »in jedem Augenblick«, d.h. im Sein der Zeit selbst (wenn hier noch von Sein gesprochen werden kann) sich solches voneinander scheidet, solches sich artikuliert, was unabzählbar ist, weil es in gegenseitiger Durchdringung nur ist. Zeit ist die Unabzählbarkeit ihrer selbst. Endlich ist diese Zeitlichkeit ganz einfach, weil wir doch hier und jetzt sind, weil alle Zeitlichkeit die Erfahrung einer begrenzten »Gegenwart« ist, und eben gerade nicht die Erfahrung der Ewigkeit oder der unendlichen Zeit als einer aktuellen Unendlichkeit, noch nicht einmal die Erfahrung einer unendlichen oder unbegrenzten (indefiniten) Ausdehnung der Zeit. Unendlich ist das aber dennoch, jedoch wiederum abhängig von der Endlichkeit, denn die Unendlichkeit liegt nun einmal genau darin, dass die Erfahrung der Zeit eine konkret nicht erschöpfbare, eine sich stets erneuernde Arbeit der Unterscheidung des Ununterscheidbaren ist, weil Zeit der nie endende Versuch ist, das Unabzählbare zu zählen. Es ist das Scheitern der Unterscheidung ins Vergangene und Gegenwärtige, das erst die Endlosigkeit der Zeit eröffnet. Nur in dieser Erfahrung ist die Zeit endlos, vielleicht sogar unendlich (allerdings nicht ewig – denn die Ewigkeit ist nicht die unendlich ausgedehnte Zeit, sondern das Andere der Zeit). Unendlich im Sinn der Unabzählbarkeit sind also jene Endlichen, die ihrem Wesen nach eine Mannigfaltigkeit gegenseitiger Durchdringung artikulieren – in ihrer 25

Und was ist mit der Zukunft? – Was soll damit sein? Wann ist denn je die Zukunft in die Gegenwart übergegangen? Das würde doch voraussetzen, dass die Zukunft schon irgendwie da wäre und dann auf die Gegenwart zutreibt wie in einem breiten Fluss, um sich dann in den Wasserfall der Vergangenheit zu ergießen. Aber das – dass die Zukunft schon da wäre – widerspricht nun einmal formell dem Begriff der Zukunft selbst, und ihrer Phänomenologie erst recht. Hier ist man tatsächlich den Symmetrien der Grammatik und der Begriffe aufgesessen. Da hat die chinesische Philosophie also recht, wenn sie »die Zukunft« (deren Wesen es ja gerade ist, dass es sie nicht gibt) aus diesem Spiel des »Verstreichens« ausschließt; vgl. dazu Jullien: Du ›temps‹. 152f. Im Übrigen spricht auch Jullien von der »indistinction«, die den Übergang als solchen ausmacht, vgl. etwa ebd. 111.

51

52

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

doppelten Bewegung der Unterschiedenheit und der Ununterscheidbarkeit (d.h. der Untrennbarkeit). Und das Paradigma dieser Unendlichen der Unabzählbarkeit ist die Zeit: Paradigma nicht nur in einem erkenntnistheoretischen Sinn, sondern ontologisch: Die Zeit ist Grundlage, Modell und innerste Natur aller anderen in diese Kategorie fallenden Seienden. Und dann wird sichtbar, was systematisch unter diese Kategorie des Unendlichen fällt, nämlich in allererster Linie das Bewusstsein und das Leben. Leben ist das – schreibt Bergson einmal –, wo sich an irgendeinem Punkt die Zeit einschreibt.26 Im Leben, im Bewusstsein, im Geist, in der Erinnerung: Hier ist das Unendliche des Unabzählbaren wirksam. Und nicht nur wirksam, sondern dieses Unendliche bestimmt eben konstitutiv das Sein und die Charakteristik dieser Seienden. Das Unendliche der Zählbarkeit: die Zahl. Welche Ironie: Eben dort, wo das Unendliche des Unabzählbaren seine konkurrenzlose Vollendung gefunden hat, im Bewusstsein, entsteht sogleich ein neues Unendliche, das diesmal das Unendliche der Zählbarkeit ist. Wenn man gerne zählt, kann man sagen, dass dies die fünfte Gestalt des Unendlichen ist. Dieses fünfte Unendliche beruht auf dem Endlichen par excellence, auf der Identität und Einzelheit als Ergebnis einer geistigen Leistung, die allzu leicht das für die Natur hält, was sie selbst geschaffen hat. In der Tat liegt hier eine hochkomplexe und hochartifizielle Operation vor, indem aus den Wirklichkeiten, die alleine uns begegnen und die ganz dezidiert unrein sind, mit unsauberen breiten Grenzen und voller gegenseitiger Durchdringung, alles ausgeschlossen wird, was vorgeblich nicht dazugehört. Natürlich ist es dieser Gedanke, dass etwas nicht dazugehört, der die erste Fiktion darstellt. Aus ihr entspringt dann die Aufforderung, das eigentlich nicht Dazugehörige nun auch faktisch auszusondern. Und so entstehen reine Identitäten, deren reinste die Zahl ist. Die Zahl ist genau das, was nur es selbst ist und in sich keinerlei Fremdes mehr trägt, ganz einfach weil sie kein »in sich« mehr kennen kann. Die Zahl ist per definitionem eine rein externe Beziehung. Zugleich ist sie endlich, denn jede Zahl kann – ihr Name sagt es – gezählt werden. Und wiederum ist es das Endliche, was das Unendliche hervorbringt. Denn während in den Gestalten, die wir bislang kennengelernt haben, das Unendliche sich in der Endlichkeit manifestiert, dessen Binnenstruktur anzeigend, haben wir es nun zu tun mit einer Endlichkeit, die gar kein Innen mehr hat. Wo soll da das Unendliche noch vorkommen? Nur außerhalb des jeweiligen Endlichen. Und wie anders sollte das geschehen als in der Möglichkeit, die in der Natur dieses Gegenstandes liegt, der nur äußerliche Beziehungen kennt, nämlich dass immer noch ein weiterer solcher Gegenstand hinzugesetzt werden kann. Das Unendliche ist nur möglich für die Zahl als die potentielle Unendlichkeit der Zahlenreihe – als solche aber ist sie auch notwendig. Denn ich kann hier doch gar nicht anders, als immer weiterzuzählen. Eine solche Frage stellt sich für keine anderen Seienden. Dass ich immer noch einen weiteren Menschen denken kann, ist ein Gedanke, auf den sicher keiner von sich aus kommen würde, einfach weil darin nichts sinnvoll oder motiviert ist – es sei denn, ich denke bereits an die Zahl, für die die Menschen dann nur als Illustrationen einstehen. 26

»Partout où quelque chose vit, il y a, ouvert quelque part, un registre où le temps s’inscrit.« (Évolution créatrice. 16)

un/endlich

Das Unendliche ist hier also in einem ersten Schritt außerhalb der einzelnen endlichen Seienden zu suchen, nämlich als potentielle Unendlichkeit des n+1. Hierher gehört endlich die Idee des potentiell Unendlichen: Äußerlichkeit des Unendlichen gegenüber dem Endlichen und Fortgang des Hinzuzählens korrelieren einander.27 Allerdings betrifft das nicht nur die Zahlen. In dem Augenblick, wo die strenge und klare Identität zum Paradigma des Seins erhoben ist, so dass die Zahl sich ganz natürlich als beste Präsentation des Seins und seiner Eigenschaften anbietet, wird alles, was für die Zahl gilt, auch für das Sein allgemein gelten. Alle logisch inspirierte Philosophie ist immer diesem Trugschluss erlegen, dass Sein und Seiende sich in irgendwelchen noch dazu wesentlichen Hinsichten verhalten wie Zahlen, einfach weil – wie es Leibniz so treffend ausdrückt – alles Seiende ein Seiendes sein muss, wenn es denn als seiend wirklich gelten will.28 Und so geht es dann plötzlich darum, die Gedanken zu zählen, was man aber nicht kann, wenn man darunter die empirischen psychischen Vorkommnisse, genannt »Gedanken« versteht, weil die ja schließlich konstitutiv ungenau, unsauber voneinander geschieden, ineinanderfließend sind. Es müssen also gemeint sein die idealen Wesenheiten, die man als den identischen (!) logischen Gehalt verschiedener psychischer Akte verstehen kann. Was passiert, wenn man deren Identität überschätzt, hat das grandiose Scheitern Freges zur Genüge gezeigt.29 Gleichwohl übt diese Sichtweise eine ungebrochene Faszination aus. Zu groß scheint die Versuchung zu sein, endlich sauber philosophieren zu können, sich endlich über die endlosen Verunreinigungen der empirischen Wirklichkeit zu erheben, um zu einer solchen Strukturierung zu gelangen, für die allein der Begriff »Wahrheit« einen Sinn hätte. Kein Wunder auch, wenn man dann im Rückschluss ständig versucht (und versucht ist), die Vielfalt und gegenseitige Durchdringung unseres Bewusstseinslebens anstatt für das Wesen der Sache selbst, nur für die nachträgliche Verunreinigung einer an sich reinen Reihe von Wesenheiten zu sehen, die nun eben die wissenschaftliche Psychologie, Philosophie und Logik untersuchen – wobei man sich nur noch über die Rangfolge dieser drei streiten muss. Aber so geht es eben nicht. Zum einen missachtet man die fundamentalste ontologische Wahrheit über die Wirklichkeit selbst, zum anderen bringt man genau diese Wirklichkeit, indem man sie kontrollieren wollte, erst recht zum Explodieren. Denn all die Unendlichkeiten und Unsauberkeiten, die man durch magische Beschwörung aus der Wirklichkeit ausschließen wollte, kehren nun, nachdem das Wirkliche auf die Essenz des Einen und Identischen zurückgeführt ist, wieder – als äußerliche: als die unendlichen Reihen der unendlich vielen Hinsichten, in denen das identische Wirkliche nun erscheinen muss. 27

28

29

Dass noch diese Sicht beschränkt ist, insofern die Zahlenreihe ihrem eigenen Sinn nach, der andererseits nur in und aus den Verhältnissen der endlichen Zahlen entsteht, aktuell unendlich ist (wie oben erwähnt), macht die Sache nur noch komplizierter. »[…] je tiens pour un axiome cette proposition identique qui n’est diversifiée que par l’accent: que ce qui n’est pas véritablement un être n’est pas non plus véritablement un être. On a toujours cru que l’un et l’être sont des choses réciproques.« (Discours de métaphysique et correspondance avec Arnauld. 165. Brief an Arnauld, 30. April 1687) Vgl. dazu vom Verf.: ›Möbiusband und Metaphysik: Frege.‹ In: Konstellationen. 163–219.

53

54

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Doch damit nicht genug. Denn das wissenschaftliche Denken, sofern es sich nur in Identitäten und ihren Summen bewegen kann, spürt das Ungenügen an den unendlichen Reihen der Unendlichen. Es muss doch möglich sein, das endlose Ausufern zu begrenzen. Diese potentiell unendlichen Reihen sind durch ihre Unabgeschlossenheit eine Provokation, sind sie doch die Folge des genau entgegengesetzten Bemühens, eine Identität zu schaffen, die in sich rein und gegen alles andere abgeschlossen ist. Und zumindest des zweite scheint hier grundsätzlich ausgeschlossen zu sein. Das Denken geht also tollkühn voran und erfindet sich ein neues Unendliches, das diesmal aber das aktuell Unendliche selbst ist: die Idee des Einen oder der Totalität. Es sind diese beiden künstlichen Begriffe des Unendlichen – der der unendlichen Reihe der Identischen und der der Totalität aller Reihen und aller Identischen –, die schließlich jene Vorstellung von Transzendenz legitimieren, in der sich Unendliches und Endliches als Gegensätze positionieren müssen. Dieses Unendliche – sowohl das den reinen Identitäten äußerliche potentielle Unendliche als auch und vor allem das Unendliche der Totalität des Seins als Einheit dieser Reihen – dieses Unendliche ist in der Tat dem Endlichen gegenüber transzendent. Dieses Unendliche bildet in der Tat ein ganz anderes gegenüber dem Endlichen. Und dieses Unendliche muss daher in der Tat die Entwertung und Derealisierung des Endlichen konsequenterweise befördern. Wir haben damit nichts mehr zu schaffen. Das Unendliche der Identischen ist »wirklich«, denn alles, was ist, kann auch in seiner Identität angesprochen und thematisiert werden. Doch Identität ist nicht nur rein philosophisch ein Grenzbegriff, dem man nicht ungestraft aufsitzt. Sie ist vor allem in der Wirklichkeit auch immer nur ein Produkt, weshalb der ihr korrespondierende Begriff des Unendlichen nur ein abgeleiteter sein kann. Die vier Unendlichen aber sind in konkretester Form die Entfaltung der Tatsache – denn nichts anderes ist das: eine Tatsache, die nicht weiter begründet werden kann –, dass alles, was ist, zeitlich, körperlich, plural und bedeutungsvoll ist.30 Die Unendlichen sind diese Züge des Endlichen selbst. Die Grenzen, die das Endliche als Endliches in seiner Prägnanz hervorbringen, sind Unendlichkeiten.

30

Und spätestens hier wird unübersehbar, welche massiven Probleme die »Einverleibung« des Unendlichen des Antlitzes mit sich bringt. Denn das Wort scheint passend: Wie alle Einverleibungen löst auch diese die Konturen und das eigene Bestehen des Einverleibten auf. Und das heißt hier: Sie relativiert die Philosophie des Anderen. Und das kann nichts anderes sein als eine himmelschreiende Ungerechtigkeit gegenüber Levinas. Das wäre freilich nicht so schlimm und nun tatsächlich nur die »bloß historische Frage«, wie es oben behauptet wurde, wenn es nicht zugleich der Ursprung aller Ungerechtigkeit gegenüber dem Anderen wäre. So zu sprechen, dass alles einfach irgendwie bedeutungsvoll ist, ist und bleibt eine Relativierung des Menschen und eine Verflachung jener Verantwortung, die keinerlei Schmälerung duldet. Der Widerspruch ist offensichtlich – und ich kann für jetzt nicht mehr tun als ihn einzuräumen.

Synekdoche und Sein L’être se produit comme multiple et comme scindé en Même et en Autre. C’est sa structure ultime. Il est société et par là, il est temps. Levinas, Totalité et infini

Schicksal eines Vorurteils. Ein Vorurteil steht dem Verstehen im Weg. Eines, das noch in unsere sprachlichen Gewohnheiten eingeschrieben ist. Es besteht darin zu meinen, es gäbe das Sein oder das Wirkliche oder die Welt in irgendeiner Weise im Singular.1 Es ist das Vorurteil des Alls. Wann immer wir über das Sein oder die Welt nachdenken, suchen wir nach einer Beschreibungsweise, die Sein und Welt als vollständige, als geschlossene und mit einer Hand zu ergreifende darstellt. Wir suchen nach dem All des Seins, nach dem, was dem Sein in seiner eigenständigen Gestalt zukommt. Sein, Welt, All: das sind uns Indikatoren für eine Ganzheit, von der Dinge, Menschen, Planeten, Staubkörner unselbständige Teile sind. Das Ganze, das wissen wir, ist nun aber mehr als die Summe seiner Teile. Die Welt muss eine Gestalt haben, einen »Sinn«, eine Umfassung, eine Grenze, sie muss kurz gesagt im Singular angesprochen werden können – sonst ist sie nicht wirklich Welt. Die Varianten dieser Vorstellung sind vielfältig. Kosmos, Schöpfung, Natur (im Sinn der Wissenschaft) sind ein paar Namen für die Welt als eine solche geschlossene. Auch das Sein verlangt, mag es auch in vielfältiger Weise ausgesagt werden, am Ende nach der einen wahren und eigentlichen Bedeutung, nach einer Domäne, in der es sich ursprünglich und absolut verwirklicht hat. (Das gilt auch von Heideggers Sein, das zwar nicht gegenständlich und »verbal« gedacht ist, das aber in Wahrheit vor allem negativ gekennzeichnet ist, in seiner Abgrenzung zu den Seienden, im Plural, nämlich.) 1

Nur weil die Sprache etwas nahelegt, ist man dem noch lange nicht ausgeliefert. Man hat allzu oft vergessen, dass das Denken zwar sprachlich ist, aber genau dadurch Denken über anderes als Sprache ist, und nur gelegentlich auch Denken der Sprache. Schon die Gewöhnung in andere Sprachen, die jederzeit möglich ist, ruft auch andere Denkmöglichkeiten wach. Wenn bspw. Lukrez dem Gedanken der Pluralität noch viel näher steht als viele Spätere, dann vielleicht auch deshalb, weil das Lateinische die »Summe«, das »Ganze« gerne mit einem Neutrum Plural ausdrückt (etwa »cuncta«). Im Übrigen verwende ich die Begriffe von Welt, Sein, All, Universum etc. ungefähr synonym; was damit gemeint ist, geht deutlich aus dem Zusammenhang hervor.

56

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Solche philosophiehistorischen Belege ließen sich beliebig ausweiten und differenzieren, ohne dass sich das Bild wesentlich änderte – und ohne dass damit viel zusätzlich gewonnen wäre. Denn schon unsere Denkgewohnheit fordert doch ganz offensichtlich, dass das, was wir mit diesen umfassendsten Begriffen ansprechen – also mit den Begriffen, die geradezu erfunden wurden, um alles zu umfassen –, dann auch gefälligst als solches Umfassendes einheitlich sein muss. Wäre es das nicht, so widerspräche es ja formal dem Begriff, der es bezeichnen soll. Wir können offenbar nur unter größter Anstrengung anders denken. Das liegt eben daran, dass die Struktur der Begriffe uns diese Idee selbst nahelegt: die Idee des Alls, d.h. der Vollständigkeit alles Seienden, der Ganzheit alles Wirklichen (eine Ganzheit, die in jedem Fall von anderer ontologischer Würde ist als die einzelnen Wirklichkeiten, und das sogar, wenn man davon ausginge, dass das Ganze doch nur die Summe seiner Teile sei: Es bliebe dann eben immer noch das Ganze seiner Teile und degradierte im gleichen Zuge alles Einzelne zu Teilen). Über dieses All wollen wir etwas erfahren, wir wollen etwas erfahren darüber in der Metaphysik natürlich und in der Ontologie, aber durchaus auch in den Wissenschaften: Ist denn die Suche nach den unveränderlichen Naturgesetzen, denen alles Sein unterliegt (oder, nur scheinbar bescheidener, denen das Sein einer bestimmten Region unterliegt, zum Beispiel das »Leben«), etwas anderes als die Anwendung der Idee des Alls? Die Idee des Alls fordert vom Sein, dass es einzeln (im Singular), vollständig, wohlbestimmt und geschlossen sein soll. Nur dann ist es All, nur dann ist es erkennbar, und nur dann ist das einzelne Seiende, was sich so als Teil des Alls entpuppt, seinerseits erkennbar. Die Ironie, die große Weisheitslehrerin des Denkens, will nun, dass exakt diese Forderung in sich widersprüchlich ist. Um genau zu sein: Diese Forderung, die dazu aufgestellt worden war, um den Selbstwiderspruch mit dem Sinn der Begriffe »Welt«, »All«, »Sein« zu vermeiden, produziert nun eine ganze Reihe von neuen Widersprüchen. Denn dieses Sein im Singular: Woher weiß ich denn, dass es vollständig ist? Um das wissen zu können, muss ich sichtlich ein Seiendes voraussetzen, das gerade nicht Teil des Seins ist. Ob etwas vollständig und abgeschlossen ist, kann man nun einmal nur von außen erkennen. Will ich eine Vollständigkeit konstatieren, so muss ich die Teile erst einmal für sich abzählen können und sie dann noch einmal innerhalb der Zusammenfassung im Ganzen abzählen. Der Erkennende also scheint nicht wirklich Teil des Ganzen zu sein, das er in seiner Vollständigkeit zur Voraussetzung des Erkennens selbst erhebt. Allerdings, Philosophie ist ebenso eine Strategie der Ausflüchte wie eine Suche nach der Wahrheit, die Prüderie, die sich von der Erotik der Weisheit nicht trennen lässt. Wir wissen wohl, dass wir das nicht können, zumindest nicht Du und ich. Ist aber diese Vorstellung einmal gesetzt, dann muss zumindest im Prinzip eine solche Transzendenz der Welt durch den oder die Erkennende vollziehbar sein. »Im Prinzip, wenn auch faktisch nie«: Dieser verquere Topos philosophischer Methodologie hat es geschafft, seine eigene Gegenstandslosigkeit eben zur Auszeichnung zu erklären, was vielleicht nur in der Philosophie möglich ist. Doch wenn wir Menschen, deren Endlichkeit nun zum Mangel wird, nicht fähig sind, das All als Vollständigkeit des Seins zu erkennen, wenn wir andererseits auf diese Idee nicht Verzicht leisten, dann bleibt es nur noch, uns Stellvertreter zu erfinden, die an unserer Statt die Erkenntnis des Alls als All vollziehen, zu der wir »nur faktisch« nicht in

Synekdoche und Sein

der Lage sind. Solche Stellvertreter haben Namen. Der bekannteste Name ist »Gott«. Doch gerade der bekennende Naturwissenschaftler (oder Bekenner zur Naturwissenschaft) mag sich nicht so ohne Weiteres mit dem Namen jenes unsicheren Kantonisten schmücken, von dem Gerüchte vorsätzlicher und wiederholter Sabotage der Naturgesetze durch die Geschichte geistern. Zum Glück gibt es immer noch den einen Ausweg: dasselbe einfach anders zu nennen. Sagen wir »Dämon« statt »Gott«, dann haben wir nicht nur erklärtermaßen eben nicht »Gott« gesagt, sondern wir können uns geradezu mit des Ruchs des Rebellischen rühmen. Der Dämon, das ist der, der, wenn er zu einem bestimmten Zeitpunkt alle Daten über alle Teile des Universums kennt, jede einzelne Konstellation und Bewegung des Universums zu allen erdenklichen Zeitpunkten errechnen kann.2 Der Dämon ist der Erkennende des Alls in Zeiten der Säkularisierung, der ebenfalls dem, was er erkennt, nicht angehören kann. Nicht so sehr, weil das eventuell zu logischen Problemen führen würde, sondern einfach deswegen, weil nur unter dieser Bedingung eine verständliche Idee von Vollständigkeit gesichert werden kann.3 Derselbe Gedankengang wandelt zugleich auch die Geschlossenheit als Bedingung des Alls: Denn konnte man zu Beginn vielleicht noch sagen, dass dieses All eine kompakte Entität sei, die topologisch ein Innen ohne Außen formt, so hat sich im Durchgang der Sinn der Geschlossenheit gewandelt. Die Grenzen, die das All abschließen und seine Vollkommenheit, Vollständigkeit, Allumfassung garantieren sollten, erweisen sich plötzlich als die Grenzen, die das All von dem abgrenzen, was nicht Teil des Alls ist – eines Alls, das doch dadurch definiert war, dass es nichts gibt, was nicht zugleich Teil seiner ist. Geschlossen ist die Welt jetzt also, weil sie von dem unterschieden ist, abgegrenzt, abgeschlossen, was außerhalb ihrer liegt. Und nun – ein Schicksal lenkt das Spiel der irrigen Gedanken – geraten wir in diesem Umweg exakt zu dem Punkt, den zu vermeiden das erste und alles bestimmende Ziel der Idee des Alls selbst war: Dieses All lässt sich gerade nicht im Singular aussagen. Der Versuch, ein All zu konstruieren, das nur im Singular existieren kann, führt von sich aus zu der Verdopplung des Alls. Das All lässt sich tatsächlich nur im Dual aussagen. Denn das All ist zugleich das, was Alles umfasst, und es ist das, was den Ort oder die Person ausschließt, die allererst die Stabilisierung als Ganzes ermöglichen. Das All ist nicht das Ganze.4 2 3

4

Berühmt auf den Punkt gebracht von Laplace: Essai philosophique sur les probabilités. 32f. Keine Frage, die Physik der vergangenen hundert Jahre ist von einer Konzeption abgerückt, die Platz hätte für einen solchen Dämon. Ob sie damit auch schon auf die metaphysischen Fragen, die sich damit stellen, befriedigend geantwortet hat, steht auf einem anderen Blatt. Denn es bleibt in jedem Fall dabei, dass die Artikulation der hier in Frage stehenden Verhältnisse Aufgabe der Philosophie ist. Sie kann sich nicht mit dem Hinweis auf die Physik ihrer Herausforderungen entledigen – wie die Physik, die sich diesen stellt, sogleich auch Philosophie wird. Einfach weil der Titel des Buches mit dem hier Vorgetragenen eine Verwandtschaft suggeriert, muss es wenigstens kurz erwähnt werden: Gabriels Warum es die Welt nicht gibt kann natürlich nicht beanspruchen, ernsthaft als ein nahestehender Entwurf gezählt zu werden. Was an diesem »Entwurf« stimmt, ist, a) dass wir die Welt erkennen, wie sie ist, b) dass es keine Totalität des Seins gibt und dass daher c) ein Erkennen von außen widersinnig ist. Zu einer wirklichen Begründung gelangt allerdings keine dieser Thesen. a) ist mehr logisch und nach dem Alltagsverstand plausibilisiert; hier macht sich das Fehlen jeder phänomenologischen Befragung genauso schmerzlich bemerkbar wie bzgl. c). Vor allem aber die titelgebende Formel, dass es die Welt (verstanden als letzter allumfassender ontologischer Rahmen) nicht gibt, ist nicht im Ansatz zu Ende gedacht. Es

57

58

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Man kann hier eine neue Übung in Dekonstruktion sehen, doch diese kann immer nur Anfang sein. Das Entscheidende spielt sich auf dem Boden der Metaphysik ab, der nicht von Ungefähr auch der Boden des Politischen ist. Es sind deshalb nicht Ähnlichkeiten, vage Reminiszenzen, nicht einmal »strukturelle Analogien«, die wirken, wenn etwa Rancière und Agamben einen solchen Effekt auch für die Konstitution politischer Gemeinschaften bemerken. Es ist ein und derselbe Effekt, hier wie dort. Materialismus heißt recht verstanden nicht: Reduktion auf einen abstrakten Körperbegriff, sondern: Identität der Prozesse, die in Natur, Geschichte, Kultur, Politik zu beobachten sind – auch und gerade der »widersprüchlichen« Prozesse, das heißt solcher, die ihre eigene Bewegung hemmen und damit von ihrem Ziel abführen. Und so zeichnen sich auch politische Gemeinschaften in ihrem Bemühen, eine Einheit herzustellen, wo nur Vielheit ist, dadurch aus, schließlich in einen Dual zu führen. Das »Volk« etwa ist bei Rancière die Doppeldeutigkeit zwischen dem Ganzen, das alle umfasst, und dem Teil der Anteillosen, der sich zum Ganzen aufschwingt und damit die Unvollständigkeit des Ganzen »Volkes« sichtbar werden lässt. Sichtbar werden lässt, d.h.: »Das Volk« war immer schon eine exklusive Angelegenheit, war immer schon – kurz und prägnant gesprochen – die Sache der Reichen, die zugleich erklärten, es sei die Sache aller. In ähnlichem Sinn beschreibt auch Agamben die Konstitution politischer Gemeinschaften als Behauptungen, ja geradezu als Obsessionen mit der Idee einer Einheit, die eben hierdurch einen Ausschluss hervorbringen, die also nur Einheit und abgeschlossen sind, insofern es solche gibt, die ihr nicht angehören, die sogar aktiv ausgeschlossen sind und die nur noch als Ausgeschlossene angehören können. Die Vollständigkeit ist also auch hier nicht gewährleistet:

bleibt bei der schmissigen Formel. Die Begründung in Kapitel III ist bloß formal und bleibt letztlich intellektuelle Spielerei. So vieles ist in diesem Buch unreflektiert geblieben. Vor allem ist ironischerweise die gesamte ontologische Situation ganz und gar ungeklärt. Existenz soll Erscheinen in einem Sinnfeld sein. Und Sinnfelder sind objektiv. Was sie aber sind, erklärt Gabriel nicht. Im Gegenteil, der Begriff des Sinnfelds wird schließlich völlig entleert: Irgendwie scheint alles ein Sinnfeld zu sein (z.B. 123). Dieser Beliebigkeit kontrastiert auf der anderen Seite eine unausgesprochene, aber überall wirksame realistische Naivität: Denn wenn auch alles irgendwie in Sinnfeldern erscheint und diese nicht miteinander verglichen werden können, so dass ein Relativismus in einem strengen Sinn folgen muss, bleibt doch in Wirklichkeit eine feste Überzeugung bestehen, dass es in allen Belangen, wo die moderne Wissenschaft Mitspracherecht hat, auch nur geben kann, was diese zulässt. Zwar ist es wahr, dass Gabriel richtigerweise die metaphysischen Alleinvertretungsansprüche von Wissenschaft kritisiert, aber was es wirklich geben kann, das steht für ihn fest. So gibt es Hexen eben nur in den Köpfen der spanischen Inquisitoren und dem Faust und ähnlichem, nicht aber jenseits dieser begrenzten Regionen (116f.). Überall ist ein ganz naiver Realismus am Werk, der unausgesprochen die Gegenstände, die ein modern-wissenschaftliches Weltbild zulässt für die wahren nimmt (bei aller Polemik gegen »Weltbilder«). Es passt dazu, dass Kulturalismus als eine Variante des (zurecht kritisierten) Konstruktivismus aufgefasst wird; dann nämlich muss Wahrheit in der Tat von allen Zeiten her feststehen – und die Wahrheit ist selbstverständlich unsere heutige, die von uns aufgeklärten modernen Menschen, im Zweifel: immer die des Autors. (Es gehört hierher auch die so leichtfertige Rede von Tatsachen: Diese sind ebenfalls ontologisiert bei Gabriel, wobei die Art und Weise ihres Seins aber auch ungeklärt bleibt. Er wird sagen: Ja, sie erscheinen halt im Sinnfeld der Wahrheitssuche o.ä. Dass das nur Parolen sind, ist offensichtlich.) Der Sinnfeld-Pluralismus ist letztlich Fassade.

Synekdoche und Sein

Man müsste beim Abzählen erst einmal erklären, wie viel ein ausgeschlossener Eingeschlossener zählt. Man muss offensichtlich zwischen zwei Arten der Unvollständigkeit unterscheiden. Paradigmatisch ist das bei Agamben auf den Punkt gebracht: Die politische Gemeinschaft konstituiert sich in einem doppelten Prozess des einschließenden Ausschlusses. Denn auf der einen Seite, an der »Spitze« der Gemeinschaft und als jener Scheitel, der ihre Einigung erst garantieren kann, ist der Souverän zugleich Teil der Ordnung und ihr transzendent, ist er zugleich in sie eingeschlossen, aber nur insofern als er sich von ihr auszunehmen vermag, als er über die Ausnahme entscheiden kann (wie Agamben mit und gegen Schmitt erklärt); und die erste Ausnahme, über die er entscheidet, ist, dass er von den Bindungen der Ordnung ausgenommen ist. Auf der anderen Seite, am anderen Ende der Gemeinschaft, schafft das aber die Möglichkeit eines Lebens, das nun den Ausschluss, die Aus-Nahme aus der Ordnung nur mehr passiv erleidet. Das ist das Schicksal des homo sacer. Der homo sacer ist derjenige, der über sich das Verdikt sprechen hört, dass er nicht als Teil der Gemeinschaft betrachtet wird, und der als solcher Nicht-Teil Teil der Gemeinschaft ist: als radikal tötbarer, der aber in keinerlei rituelle, d.h. soziale, gemeinschaftliche, politische Zusammenhänge eintreten kann (der weder als religiöses Opfer noch als zum Tode Verurteilter getötet werden kann). Dieselbe Verkomplizierung gilt nun aber auch für die Metaphysik. Das Sein, die Welt tritt in Differenz zu sich selbst, sie wird – im Bemühen, ihre Einheit zu festigen – dual. Es gibt dann das Sein, die Welt einerseits – dann gibt es das, was nicht Teil des Alls ist, nämlich den Erkennenden, der von außen auf die Welt blickt und sie durchschauen, abzählen und würdigen kann: die Position des Souveräns in der Analogie – und dann gibt es noch das Ausgeschlossene des Alls im anderen, im negativen, im abwertenden Sinn: nämlich das, was moralisch oder ontologisch oder erkenntnistheoretisch irrelevant oder nur von abhängiger Bedeutung ist, das, was der große Dämon nicht beachten braucht. Allerdings muss die vorige Einschätzung, die Welt trete im Kampf um ihren Singular in den Dual ein, damit nicht revidiert werden, denn was, was hier negativ ausgeschlossen ist, ist ja nun Nicht-Sein, das nur Zufällige der Welt, das bloß Subjektive des Alls. Es taucht also in der Großen Summe des Seins nicht mehr auf. Wir sind mitten in einem moralischen, moralisierenden Bild der Welt. Die Philosophie vor allem im 20.Jh. hat gegen diese großen Erzählungen vom All und von Allem wiederholt, bald nachdenklich, bald polemisch Einspruch eingelegt. In vielen Fällen war dabei vielleicht eher ein Affekt leitend, war es das große Misstrauen gegen das Absolute und den Glauben daran, gegen die Rücksichtslosigkeit des Allgemeinen gegen das Besondere, gegen die Gleichgültigkeit, mit der die Totalität das Nicht-Integrierbare, das Lästige, fortwischt… oder schlimmeres. Mag auch sein, dass gelegentlich, etwa bei Derrida, dann eben auch bei Rancière und Agamben, der begrifflichen Struktur nachgegangen wurde, in der diese Idee des Alls sich ausspricht, um sich zu widersprechen. Freilich, eine begriffliche oder nur theoretisch-architektonische Inkohärenz, ja, selbst eine ausgesprochene Widersprüchlichkeit hat noch nie ausgereicht, um einen Gedanken, eine Idee, eine Politik, eine Metaphysik zu widerlegen. Es gibt nur einen Weg, eine Metaphysik zu widerlegen: sie durch eine andere ersetzen. Genauer: ihr eine andere entgegensetzen, die vielleicht nicht besser oder stärker

59

60

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

ist – was mag das hier schon bedeuten? –, die aber vielleicht in der Lage ist, wie ein Judokämpfer Gewicht und Kraft der gegnerischen gegen sie selbst zu wenden. Draußen, drinnen. Die Philosophien des Alls sind fast zwangsläufig dem Paradigma der Kontemplation verbunden: Sie alle gehen aus von und setzen voraus die Idee des Alls, und indem sie das tun, erklären sie die Erkenntnis für eine Sache, die von außen geschieht. Erkenntnis ist nicht nur eine Relation, die den Termini, zumindest dem Erkannten, prinzipiell äußerlich bleibt. Sie ist vor allem eine Relation, die als solche auf der Äußerlichkeit der Termini zueinander beruht. Das Subjekt erkennt das Objekt, das meint dann: Hier steht das Subjekt, unberührt und in sicherer Entfernung; es bewahrt seine Souveränität und Abgeschlossenheit, seine Sicherheit, seine Abgeschiedenheit auch in dem Akt, in dem es sich auf anderes bezieht; und dieses andere ist ebenfalls vom Akt der Erkenntnis unberührt. Objektivität und Verlässlichkeit der Erkenntnis beruhen darauf, dass Erkenntnis eine Beziehung auf Distanz ist. Die Erkennende ist dem, was sie erkennt, äußerlich; und wenn es zufälligerweise doch mal sie selbst ist, die sie erkennt, dann bleibt ihr nichts anderes übrig – als sich selbst äußerlich zu werden. Im Umkehrschluss heißt das: es gibt keinen Gegenstand einer möglichen objektiven und stabilen Erkenntnis, der nicht in einer Äußerlichkeit, als abgeschlossen und vollständig begriffen wird. Der Abwendung von der Idee des Alls muss eine Umkehrung des leitenden Paradigmas entsprechen, wie es bereits in der Einleitung angedeutet wurde. Dieses neue Paradigma kehrt das Paradigma der Kontemplation an allen neuralgischen Punkten um. Denn in Wahrheit beruht ja die Möglichkeit des Erkennens darauf, dass gerade keine vollständige Äußerlichkeit zwischen Erkennendem und Erkanntem vorliegt. Vollständige Äußerlichkeit würde in letzter Konsequenz bedeuten: Mangel aller Beziehung – wie sollte da noch Erkenntnis möglich sein? Es ist sicher kein Zufall, dass in der Sichtweise der Kontemplation die Distanz sowohl Bedingung der Erkenntnis ist als auch der Ort einer unbeherrschbaren Verzerrung: Weil etwas dazwischen ist zwischen mir und dem Gegenstand, kann ich mir nie ganz sicher sein, ihn so zu erkennen, wie er wirklich, wie er »an sich« ist, und nicht etwa mehr das zu erkennen, was dazwischen ist (etwa die subjektiven Bedingungen der Erkenntnis, meine Sinnlichkeit oder aber, von der anderen Seite gedacht, die Weise, wie sich eine absolute Wahrheit im Endlichen manifestiert usw.). Kein Denken vergeistigt genug, um nicht in Double-Binds zu verfallen. Das Paradigma der Performativität zerschlägt diesen Knoten der überkommenen Erkenntnistheorie, indem es einfach feststellt, dass wir in unmittelbarer Berührung mit der Wirklichkeit stehen. Die Grade dieser Berührung mögen schwanken, und es gibt zweifelsohne Berührungsmodi, in denen diese Berührung als solche weniger bemerkbar ist. Das ist etwa im Fall des Sehens so, wo ich hier bin, der Gegenstand dort, und zwischen uns – die Luft, der Äther, die Sinne, die Anschauungsformen oder was auch immer. Doch hier suggeriert der Grenzfall ein Verhältnis, das so nie statthat. Wenn ich dorthin blicke, wenn ich jenen Gegenstand ins Auge fasse, dann doch nur, weil ich schon in irgendeiner Beziehung zu ihm stehe, die eben nicht selbst wieder »theoretisch« im vollen Sinn sein kann: Sie ist motiviert und sie ist eine der physiologischen Durchdringung. Und wieder ist beides dasselbe: moralische und physische Welt, unter dem Primat einer Praxis, die nur funktioniert, weil sie nicht zuerst gedacht wird.

Synekdoche und Sein

In jeder Erfahrung bin ich involviert, in dem Sinn, dass ich eben dem, was ich erfahre, nicht äußerlich bin, und das schon auf einer physiologischen Ebene (so dringt noch im Sehen etwas in mich ein: das Licht). Die unmittelbare Berührung mit dem Sein ist zugleich eine, in der nicht der eine Körper als klar abgegrenzter an den anderen stößt, wo sich die beiden Oberflächen für einen Augenblick berühren, vielleicht gar nur an einem infinitesimalen Punkt, sich im Nichts eines Augenblicks ihre Stoßwirkung weitergeben, um dann wieder getrennte Wege zu gehen. Sondern die unmittelbare Berührung ist nur, indem sie sich als eine gegenseitige Durchdringung der sich Berührenden realisiert: wohl nie vollständig und in vielfältiger Abstufung und Selektion; aber gleichwohl eine wirkliche Durchdringung. Daraus folgt, dass hier nicht das Subjekt in der Aseität eines Gottes (oder der Kälte des Gangsterbosses im Film) ungerührter Zeuge seiner eigenen Erkenntnis wird, die es in letzter Strenge nicht betrifft (weshalb es nur logisch ist, das erlebte Subjekt zu verdoppeln in eines, das nur gnadenhalber teilnimmt am Spiel der Welt und das wahrscheinlich nicht einmal vergehen kann und unter Namen wie »Seele« und »transzendentales Ego« herumgeistert). Dieses Verhältnis unmittelbarer Berührung und gegenseitiger Durchdringung beinhaltet zwingend, dass beiderseits eine Veränderung geschieht. Erkenntnis ist nicht eine abgetrennte Weise, von außen auf die Welt und die Dinge zu blicken. Sie ist ein Akt. Und wie jeder Akt verändert es den, der ihn vollzieht. Diese Veränderung kann gar nicht radikal genug gedacht werden: Nicht einfach dürfen wir an die Veränderung denken, die eben die Wahrnehmung oder Erkenntnis etc. selbst ist. Versteht man die Sache so, kommt die »Veränderung« zur reinen Zustandsänderung und also wieder Äußerlichkeit herab. Dies deshalb, weil man dann immer noch »das Subjekt« als das denkt, was seinen Veränderungen zugrunde liegt, und also selbst keiner Veränderung unterworfen ist. Die Veränderung ist nur dann im Ernst gedacht, wenn man sich darauf gefasst macht, dass sie das ganze »Subjekt« betreffen kann, das volle Ding. Ich finde in mir nichts, was nicht der Veränderung unterworfen wäre, sondern dieser zugrunde läge, auch keine Strukturen, Wesenheiten, keine Form, die man etwa den veränderlichen Inhalten entgegensetzen könnte. In dem Paradigma, das die Verabschiedung der Kontemplation und des Alls erzwingt, ist daher die Zeit die letzte metaphysische Dimension. In der Zeit und durch sie ist die Wirklichkeit meiner selbst wie die aller anderen Dinge. Jenseits davon gibt es nichts, zumindest aber nichts, wovon wir wissen könnten. Mit der Absolutheit der Zeit ist auch die Verlässlichkeit unserer Begegnungen mit der »zeitlichen«, »empirischen« Welt gewonnen. Eine spekulative Infragestellung – ist die Welt wirklich so, wie wir sie wahrnehmen – erweist sich als gegenstandslos und schließlich als kindisch. Da wir sie unmittelbar berühren, sie in uns eindringt und uns verändert wie wir sie, kann sie nicht mehr unter dem Verdacht stehen, dem die Distanz (im Paradigma der Kontemplation) den Boden bereitet hat. »Im Absoluten sind wir, bewegen wir uns leben wir. Die Erkenntnis, die wir davon haben, ist zweifellos unvollständig, nicht aber äußerlich oder relativ.«5 5

Bergson: Schöpferische Evolution. 229. Évolution créatrice. 200: »Dans l’absolu nous sommes, nous circulons et vivons. La connaissance que nous en avons est incomplète, sans doute, mais non pas extérieure ou relative.«

61

62

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Vom einen zum anderen zum nächsten… Die Aufgabe, das Sein angemessen zu denken, lässt sich nur dann bewältigen, wenn man lernt, es plural zu denken. Das ist keine modische Forderung, keine ideologische Entscheidung, keine weltanschauliche Laune, sondern eine strikt metaphysische Forderung. Jenes umso weniger, als die Ideologien und Weltanschauungen üblicherweise bei einem reichlich platten Verständnis von Pluralität Genügen finden. Der alles entscheidende Punkt ist hier aber, zu begreifen, dass die Pluralität (oder auch Lokalität) des Seins nicht eine vorläufige Sache ist, dass sie nicht abhängt von der Begrenztheit unseres Intellekts, dass sie nicht nur eine Formulierung ad hominem ist. Die Pluralität ist die positive und wahre Beschreibung des Seins selbst. So, in Pluralität, ist das Sein in sich selbst gekennzeichnet. Wo und wie gibt es Sein, gibt es Wirkliches, oder auch Welt? Es gibt Welt hier und jetzt, wo ich auf die Unzahl anderer Wirklichkeiten treffe (ein Haus, ein Raum, ein PC, ein Licht, ein Fenster, ein Tisch; auch: ein Gedanke und eine Anstrengung; auch: ein Leib und ein Empfinden usw. usf.). Mag sein, wird man sagen, aber das ist doch nicht alles Wirkliche. – Natürlich nicht. Denn das Wirkliche setzt sich ja unabsehbar fort. Unabsehbar, ja sogar unendlich. Doch immer besteht Wirklichkeit nur in dem jeweils begrenzten, endlichen, lokalen Ereignisnexus, der zudem je und je anders »erscheint«, je nachdem, welchen Ort innerhalb des Nexus ich versuchsweise als zentralen annehme.6 Man könnte das freilich als eine neue Variante der Idee des Alls missverstehen: Wenn man nämlich unterstellt, dass diese unendlich vielen Nexus überschaut werden könnten, und dass man innerhalb der Nexus in relativer Freiheit Zentralorte annehmen dürfte. Genau das ist aber nicht gemeint. Es gibt in der Tat unendlich viele Nexus. Das liegt ja allein schon daran, dass man zwei Nexus niemals (oder mindestens fast nie) streng voneinander abgrenzen kann, so dass schon jeder Versuch des Abzählens daran scheitern muss. Aber die unendlich vielen Nexus kann man eben nicht überschauen. Wir wissen von ihnen, wir können uns auch, in unserer Erkenntnisarbeit, hier und dort gezielt bestimmten unter ihnen zuwenden. Was wir aber nicht können, was prinzipiell ausgeschlossen ist, das ist der panoramaartige Überblick über alle Nexus, über das Gesamt der Seienden und ihrer Beziehungen untereinander. Grundsätzlich, und nicht etwa, weil wir Menschen einen so wenig leistungsfähigen Verstand hätten, grundsätzlich sind immer nur endlich viele Nexus oder zumindest immer nur verschiedene Nexus nacheinander überschaubar. Es gibt weder eine Erkenntnis aller Nexus noch eine der Gesamtheit aller Nexus noch gibt es überhaupt so etwas wie eine Metaebene, eine höhere Stufe des Erkennens, in der sich etwa das Geflecht aller Nexus als solcher gäbe. Das gibt es nicht deshalb nicht, weil die erkennenden 6

»Ereignis«, »Nexus«: Beide Begriffe treten hier rein hinführend auf. Ihr Zweck ist es, die metaphysische These sichtbar werden zu lassen und zu plausibilisieren. Sie haben keinen eigenständigen systematischen Status. Der Ereignisbegriff ist deswegen problematisch, weil, sobald man ihn zum Zentrum der Philosophie erhebt, alles irgendwie Ereignis ist, er also umso wertloser wird, je allgegenwärtiger er sein soll: Inflation. Bei einem Nexus von Ereignissen würde man gerne wissen, was seine Grenzen sind und wie er in sich organisiert ist; andernfalls bleibt auch er trivial. Auf diesen Seiten deutet »Ereignis« lediglich an, dass, was auch immer »Sein« ist, immer hier und jetzt, unwiederholbar und unwiederbringlich ist; und »Nexus« weist darauf, dass kein Seiendes als abgeschieden gedacht werden kann, dass vielmehr alles in Interaktion ist.

Synekdoche und Sein

Subjekte unzureichend wären, sondern weil es die Gegenstände, von denen diese angeblichen Erkenntnisse handeln, nicht gibt. Es gibt eben nicht alle Nexus (verstanden nun nicht als die unendlich offene Vielheit der Nexus, sondern als in sich geordnete Mannigfaltigkeit der nun abzählbaren, klar und deutlich erfassbaren Nexus, als geschlossenes System), es gibt erst recht nicht die Gesamtheit dieser Nexus (im Sinn eines Inbegriffs) und vor allen Dingen gibt es im Sein keine Metaebene. Es gibt nur hier dieses Geschehen, diesen Moment – und dort ein anderes Ereignis – einer schreibt, einer schläft, gleich wird jemand erwachen, bald ein Komet auf einen Planeten am anderen Ende der Milchstraße einschlagen. Und in diesen Geschehnissen lässt sich nicht nach Belieben das Zentrum, der Ort variieren. Zum einen muss es immer einen Ort geben. Ort ist das, von wo aus Sein geschieht und gegebenenfalls auch erkannt wird. Schon damit ist das Paradigma der Kontemplation erledigt: Für dieses nämlich ist Erkenntnis, wahre und objektive Erkenntnis erst da erreicht, wo es eben kein zentrales Wirkliches in der Wirklichkeit gibt. Das erkennende Subjekt, was dann vielleicht diese Rolle einnehmen müsste, zeichnet sich ja in diesem Paradigma regelrecht dadurch aus, dass es nicht zur Welt gehört, die es erkennt, dass es einen Standort im Nirgendwo, einen Blick von Nirgends einnimmt.7 Nur deswegen kann man im Körper eine Seele finden, die irgendetwas anderes zu sein scheint als alles, was man von der Welt her kennt; nur deswegen auch kann in der Neuzeit die Idee aufkommen, wonach das Subjekt nicht nur Subjekt ist, sondern noch einmal das Metasubjekt seiner selbst und damit der Welt selbst transzendent.8 Von nirgendwoher aber gibt es keine Erkenntnis, und ein Mensch ohne Ort sieht nichts. Daher mag das Paradigma der Kontemplation noch so sehr die Fiktion der »Neutralität« oder »Objektivität« pflegen: jeder Nexus kann nur erscheinen, indem zuvor ein Zentralort ausgezeichnet wurde, sei es in diesem Nexus oder in einem anderen, niemals aber ohne jede Verknüpfung. Erkenntnis ist Erkenntnis in der Welt. Zum anderen ist die Wahl dieses »Zentralseienden« eben nicht frei, nicht einmal relativ. Zuerst und unentrinnbar ist jedes Seiende, jedes Wirkliche eben das: es selbst, und damit ein Zentrum des Seins, von dem her sich alles Seiende gibt. Zu verlangen, man müsse das noch einmal wählen oder wählen können, ist nichts anderes als philosophische Mythologie betreiben. Denn das hieße, es gäbe zuerst die noch nicht inkarnierten Subjekte oder Dinge, die sich dann frei ihren Ort und ihren Körper wählen könnten. Und doch: genau diese Mythologie ist eben die, die das Paradigma der Kontemplation möglich macht (weshalb solche und ähnliche Ideen denn auch immer wieder aufgetaucht sind in der Philosophie, von Platons Wahlmythen bis Schopenhauers Wahl des eigenen Willens, um nur besonders explizite Beispiele zu nennen). Es gilt vielmehr:

7 8

Merleau-Ponty beschreibt eben diese Illusion eindrücklich bei Gelegenheit einer Auseinandersetzung mit der Malerei, vgl. Le langage indirect et les voix du silence. 80f. Dieses Subjekt nennt man dann, als wolle man karikaturhaft diesen Unterschied betonen und zugleich augenzwinkernd deutlich machen: »Eigentlich ist es natürlich dasselbe«, nicht mehr »transzendent«, sondern »transzendental«. Wahrscheinlich lässt sich erst da im engen Sinn von einem Subjekt sprechen, wo diese Verdopplung explizit oder implizit vorliegt, die das Erkennende vom Menschen trennt. Insofern sind jedes Mal, wenn hier vom Subjekt die Rede ist, Anführungszeichen mitzudenken.

63

64

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Sein gibt es überhaupt nur in diesem Ereignis, jetzt und hier. Sein gibt es nicht irgendwie als einen Hintergrund, auf dem sich Ereignisse abheben. Sein gibt es nicht als Basis, Grund, Fundament, als Kontinuum, nicht als (leeren) Raum oder (formale) Zeit oder (eigenschaftslose und ewige) Materie oder Kausalität oder Substanz (die ihren Akzidenzien zugrunde läge) oder sonst etwas, was sich der Dauer zu entziehen vermöchte. Und Sein gibt es nicht im Panorama. Sein gibt es nur lokalisiert. Es gibt überhaupt keinen Gegensatz oder Widerspruch oder auch nur ein Problem zwischen der Subjektivität, der Partikularität, der Besonderheit einerseits und andererseits der Objektivität, der Universalität, der Allgemeinheit, weil alle Kontraste, die dort konstruiert werden, darauf beruhen, dass man unterstellt, man könne in irgendeiner Weise das Objektive unabhängig von aller Verortung denken. Das kann man aber nicht. Sein gibt es nur relativ, und das heißt: indem es bezogen wird auf, gesehen wird von, erlebt wird aus einem Ort und dem (begrenzten, subjektiven, partikularen, besonderen, individuellen…) Seienden, das von diesem Ort definiert wird und das diesen Ort definiert. Sein, Wirklichkeit, Welt darf nicht gedacht werden als das Objektive, was »oberhalb« der einzelnen Seienden liegt und ihnen ihre Wahrheit entschlüsselt. Sein/Wirklichkeit/ Welt sind nur behelfsmäßige Namen, die im Gegenteil die endlose Verkettung von Seienden andeuten sollen. Diese Seienden in ihren Verkettungen sind endlich und damit weder Träger einer absoluten Wahrheit noch adäquater Ausdruck des Seins als solchen; lokalisiert, und damit bedingt, nicht zuletzt von allen Umständen, die in sie einfließen; vor allen Dingen niemals in letzter Strenge zu unterscheiden von dem, was sie umgibt, was auf sie wirkt und auf was sie ihrerseits wirken. Ich bin nicht mein Tisch und ich bin nicht mein Text. Ich bin von ihnen unterschieden, gerade insofern ich mich zum Zentrum des Seins mache. Ich mache mich zum Zentrum des Seins, das bedeutet nicht, ich verfälsche das Sein oder relativiere das an sich irrelative Sein oder ich führe irgendwelche subjektiven Aspekte in ein objektives, herumliegendes Sein ein; sondern das bedeutet: Ich vollziehe das Sein, auf die einzige Art und Weise, in der Sein vollzogen werden kann. Sein vollzieht sich, realisiert sich, wo und insofern es Zentren seiner selbst schafft. Und doch bin ich nur, wie auch alles andere Seiende ist, insofern ich in vielfältiger Interaktion mit allem Seienden um mich herum stehe, so dass es Seinszentren (wie z.B. Subjekte) überhaupt nur gibt, weil sie ihr Gebiet nicht streng von der Umgebung abgrenzen können. Diese Unschärfen am Rand sind die positiven Bedingungen dafür, dass es Seinszentren gibt, die nicht nur in der Fiktion Seinszentren sind (nämlich Fiktionen absoluter Selbstgenügsamkeit, in die wie nachträglich noch eine Interaktion tritt). Spinoza hat das im Begriff der Affektion klar benannt: Seinszentren sind nur, weil sie in Austausch und Interaktion mit allem Übrigen stehen, und die Unterschiede zwischen den Seinszentren liegen lediglich an der Komplexität möglicher Interaktionen. Mit anderen Worten: Die Seinszentren in ihrer Wirklichkeit konstituieren sich an den Rändern und von diesen her aufs Zentrum zu – bzw. konstituieren eben ein Zentrum durch ihre Ränder – und das heißt auch: immer nur im Austausch mit dem, was sie nicht sind. Alles andere sind die Chimären absoluter selbstgenügsamer Subjekte und ähnliche Magie. Bergson hat das ebenfalls klar benannt, als er geschrieben hat, dass die Organismen Maschinen sind, die auf je verschiedene Weise die Ströme von Materie und Energie kanalisieren, die sie umgeben und die nun also durch sie hindurchfließen. Ein Organismus

Synekdoche und Sein

ist nicht zuerst etwas, sondern er ist nur das System seiner Kanäle des Austauschs mit dem Fremden. Für Spinoza drücken alle Seienden auf je bestimmte Weise (modus: daher ihr Name) die Substanz und ihre Attribute, d.h. das Sein selbst oder die Natur aus. Man kann an dieser Redeweise dann weiter festhalten, wenn man sich erinnert, dass es das, was ausgedrückt wird, nicht unabhängig von und nicht vor dem Geschehen des Ausdrucks selbst gibt. DAS Sein, die Substanz des Seins, die Wirklichkeit als Ganze, die Welt: Sie werden von einem jeden Seienden ausgedrückt, aber nicht so, dass sie den einzelnen Seienden vorhergingen und diese nun dieses Vorhergehen des Seins vor den Seienden zum Ausdruck bringen, gewissermaßen als eine Huldigung vor dem Absoluten, das kein Seiendes sein kann; sondern es ist das Geschehen des »Ausdrucks« selbst, also die Kontraktion von Materie zum Seinszentrum,9 das erst das hervorbringt, was hier ausgedrückt wird: Sein. Auch ist bei Spinoza die Affektion im vollen Sinn eine letzte metaphysische Wahrheit, und zwar nicht nur »für mich«, sondern an sich: Affektion im vollen Sinn, der sowohl die Interaktionen der Seienden untereinander, als auch die »subjektive« Erfahrungsweise dieser Interaktion umfasst. Man könnte ja einwenden, dass hier wieder eine von diesen fragwürdigen Verdoppelungen vorliegt, dass man also nur illegitimerweise die Interaktion noch einmal in das »Subjekt« der Interaktion hineinprojiziert, wobei man gewissermaßen den Irrtum der Repräsentationstheorie wiederholt (die Verdoppelung des Gegenstands durch ein Bild von ihm). Aber das stimmt nicht. Der Fall liegt hier ganz anders. Denn die Erfahrungsweise – die Spinoza Affekt nennt in Abgrenzung zur Affektion – ist nichts als die eine Seite der Interaktion selbst. Es ist die Wirklichkeit einer Interaktion, insofern sie eben lokalisiert ist, sie ist genau der Rand, der das Zentrum konstituiert. Die Existenz von Seinszentren (die synonym mit dem Sein überhaupt ist: »Sein« ist die Verkettung der Seinszentren – und nichts anderes) ist gleich der Erfahrung von Ereignissen. Das ist radikal dasselbe. »Das Ereignis« ist ja nicht in irgendeiner absoluten objektiven Weise und wird dann noch erfahren. Es gibt überhaupt nur Ereignisse, insofern sie von einer Mehrzahl von Körpern erfahren werden. Daher muss es jedes Ereignis notwendig aus mehr als einer Hinsicht geben. Die Perspektivität ist Wesensmerkmal jedes Seienden und jedes Ereignisses – ohne jede Ausnahme. Und es gibt kein Sein oder Seiendes oder Wirkliches unabhängig von dieser Struktur. Absolut keines. Husserl hat dieser Struktur mit seinem Konzept der Abschattung bereits einen scharfen Ausdruck verliehen. Allerdings bleibt sie bei ihm unter der Dominanz des Paradigmas der Kontemplation, weshalb die Idee der Abschattung, diese revolutionäre Erkenntnis, nicht die gesamte Tragweite erreichen kann, die ihr zusteht. Sie bleibt bei Husserl letztlich in einer erkenntnistheoretischen Hinsicht befangen. Dem entspricht die Setzung eines transzendentalen Subjekts. Es gilt hingegen, der Idee der Abschattung

9

Und selbst diese Formulierung ist strenggenommen noch falsch: Es klingt doch wieder so, als gäbe es erst etwas, nämlich »die Materie«, und als bilde sich dann und wann in der und aus der Materie ein Seinszentrum, was dann noch etwas ausdrückt, nämlich die Wirklichkeit selbst. Dann gibt es also wieder eine substantielle Wirklichkeit jenseits der einzelnen, lokalen, relativen, nur im Plural existierenden Seienden. Das ist falsch. Richtig ist aber, dass jedem Seienden andere vorhergehen, die es verursachen. Aber für diese »vorhergehenden« gilt wieder, dass sie nur als lokale und plurale gedacht werden können. Erinnert man sich daran, dann ist der Satz nicht zu beanstanden.

65

66

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

ihre volle ontologische Tragweite zu erschließen. Sie ist die absolute und unhintergehbare Struktur des Seins selbst. Der scheinbare Gegensatz zwischen einer Philosophie des Subjekts einerseits und einer Ontologie andererseits erhält damit eine Rahmung, die diese beiden sonst inkommensurablen metaphysischen Konzepte immerhin in eine Beziehung zueinander zu setzen erlaubt. Man hat, so scheint es, die Wahl, sich entweder für eine Philosophie zu entscheiden, die das Leben und die Erfahrung des Subjekts zur Wurzel des Wirklichen erklärt: in diesem Fall muss man sprachlos bleiben gegenüber allem, was dieses Leben und diese Erfahrung konstitutiv übersteigt, nicht zuletzt gegenüber der Natur;10 oder aber sich für eine Philosophie der objektiven Welt zu entscheiden, in der jedoch die unersetzliche und absolute Realität und Bedeutsamkeit der Erfahrung eines jedes Subjekts nivelliert und getilgt werden wird. Die erste Wahlmöglichkeit geht mit einer kategorialen Scheidung zwischen dem, was Subjekt ist (Menschen und vielleicht noch manche Tiere), und dem Rest der Natur einher; die zweite hebt diese Scheidung auf, und mit ihr das Eigenrecht der Erfahrung als solcher. Philosophie des Subjekts und Ontologie stehen sich nicht wie zwei Gegensätze innerhalb eines theoretischen Systems gegenüber. Sie bilden im Gegenteil denkerische Versuche, die von radikal unterschiedlichen Prämissen ausgehen. Man braucht gar nicht zu hoffen, sie durch Hinzufügung irgendeiner weiteren Spitzfindigkeit miteinander zu versöhnen. Sie werden ihre Inkommensurabilität wahrscheinlich dauerhaft bewahren, und das Folgende wird davon zu Genüge Zeugnis ablegen. Immerhin ist aber durch die Radikalisierung der ontologischen Pluralität eine Brücke gebaut zwischen beiden Anstrengungen, der Weg eröffnet, der uns wie Alice auf die andere Seite des Spiegels führen kann – und wieder zurück, wenn wir den Weg wiederfinden. Denn immerhin muss dann das Auftauchen eines Subjekts für eine von der Pluralität informierte Naturphilosophie nicht mehr wie ein Wunder erscheinen. Die Lokalisierung, die Verwirklichung des Wirklichen in der Erfahrung der Interaktion ist das allererste, was Sein nur wirklich sein lässt. Genau das ist Sein. Das und nichts anderes. Ontologie und »Subjektphilosophie« finden damit zumindest im Grundsatz zueinander. Es ist die »Struktur« von Sein überhaupt, die fordert, dass alles Seiende und jedes Ereignis abgeschattet ist. Und wo etwas abgeschattet ist, da ist es eben »subjektiv«. Nur dass zwischen der »Subjektivität« und der »Objektivität« eben kein Widerspruch mehr besteht. Sein ereignet sich, indem es sich vervielfältigt in die Seienden (und nach Maßgabe der Seienden), die sein Ereignis erfahren (= das Ereignis machen); und es gibt genauso viele Seiende, wie es Weisen der Erfahrung gibt (nicht etwa: es gibt erst so und so viele Seiende, die dann noch erfahren).11 10

11

Meillassoux (Après la finitude) hat immerhin damit recht, dass er aufzeigt, wie hilflos die Antworten der Subjektphilosophie angesichts der schlichten Tatsache oft sind, dass es Wirklichkeit schon Jahrmillionen gab, bevor der erste Mensch oder auch nur das erste höherentwickelte Tier auf der Erde entstanden ist. Seine eigene Antwort auf die metaphysische Fragestellung bleibt freilich höchst unbefriedigend, weil er letztlich auf einen sehr naiven Szientismus zurückfällt. Es ist offensichtlich, dass Leibnizens Metaphysik der Monaden dieser Konzeption nahesteht. In der Tat ist die ontologische Pluralität bei Leibniz zum metaphysischen Prinzip erhoben und hat durch ihn eine Würdigung erfahren, der kaum etwas Vergleichbares in der Geschichte der Philosophie zur Seite steht. Es ist aber ebenso wahr, dass die Überwölbung dieser Pluralität durch die höchste,

Synekdoche und Sein

Sein, Wirklichkeit, Welt ist die Verkettung der Seinszentren, d.h. der Seienden miteinander, mit ihren unscharfen und überlappenden Grenzen und ihrer endlosen Stafette, immer aber ausgehend und zurückgebunden an ein Zentrum des Seins, an dieses eine Wirkliche, das eben mein Körper ist, so wie es auch alle anderen Körper sind, aber dann nicht mehr für mich; dieses Wirkliche, von dem Spinoza klar erkannt hat, dass es der Gegenstand eines »Denken« sein muss, wenn das Denken selbst wirkliches Denken sein will. Die Wirklichkeit ist die offen endlose Verkettung der wirklichen Seienden, die aber nur in dieser Verkettung ist, die ihr nicht transzendent ist, auch nicht ihr »Wesen«, ihre »Natur« oder »Struktur« ausmacht, sondern konkret und in Fülle dieser Verkettung ist; offen endlose Verkettung, die sich weder von außen betrachten lässt noch sich das eine Zentrum vorschreiben lässt, sondern die nur existiert, weil sie an jedem Schritt auf ein Zentrum stößt. Noch genauer: Zentrum ist eben dort, wo sie Etappe machen kann. Nirgends also kann sich »das Sein« lösen von der Abhängigkeit ans Endliche, Konkrete, Empirische, Lokale – das allein ist die Wirklichkeit der Wirklichkeit. Sein ist nur als die bebende Synekdoche eines Körpers. Und nichts anderes.12 »Subjektiv« ist dann nur das Wort, das die Blickrichtung hin auf das Zentrum der Ereignisse meint, das Zentripetale der Erfahrungen; »objektiv« meint hingegen die Blickrichtung, die auf die weitere Verkettung geht, das Zentrifugale, die Synekdoche eben. Allerdings, es gibt keine Metaebene, im Sein so wenig wie in der Erkenntnis oder Logik. Nie gelangt die Richtung der Objektivität auf eine neue, andere, reinere, »höhere« Ebene. Immer geht sie nur so und so weit die Glieder der Synekdoche ab, deren Spiel, Sprung und Lücke wir Wirklichkeit nennen. Die Ironie: Nur als unabgeschlossene und unabschließbare ist die Welt wirklich abgeschlossen, weil nichts außer ihr liegt, weil ihre Abgeschlossenheit also eine absolute ist, eine, die nur von der Welt selbst ausgeht, von innen her, und nicht die Grenze zu einem Äußeren und anderen ist. Nur als nicht-totalisierbare ist die Welt vollkommen, weil ihr nichts fehlen kann und nichts außerhalb ihrer liegt. Nur als eine plurale kann die Welt im Singular bestehen, weil sie dann die endlose Synekdoche der Seienden als solcher ist. Die große Ironie ist also, dass diese Philosophie der pluralen und lokalen »Welt« genau die Forderungen erfüllt, die die Idee des Alls unbedingt erfüllen wollte, aber nicht konnte.

12

die göttliche Monade, die Schöpferin, Architektin und Gesetzgeberin ist, ihr die letzte Radikalität wieder nimmt. Am Ende steht sie auf dem Boden einer Identität, die auch Einheit und Harmonie der Monaden untereinander garantiert. Zu dieser Verschiebung von einer Monadologie und Ereignisphilosophie, die ausschließlich mit konvergenten Reihen operiert bei Leibniz, hin zu der Öffnung auf die Möglichkeit divergenter Reihen und inkompossibler Welten in der (philosophischen wie künstlerischen) Moderne, vgl. Deleuze: Le pli. 110f. 188f. Derjenige, der, soweit ich sehe, am weitesten gekommen ist im Entwurf einer radikal pluralen Ontologie ist Levinas. Es wäre nur wenig überspitzt, wenn man behauptete, dass dieses Kapitel lediglich Totalität und Unendlichkeit in Hinsicht auf die ontologische Frage verdichtet. Warum eine Synekdoche und nicht die geläufigere Metonymie? Die Metonymie bezeichnet eine Verschiebung nach Maßgabe der Kontiguität, folgt also der Idee einer äußerlichen, punktuelle Berührung. Dagegen bringt die Synekdoche das Verhältnis von Teil und Ganzem ins Spiel. Und genau das erscheint hier, in dieser Metaphysik, in ständiger Umdeutung, als Kippbild gewissermaßen, dank der unscharfen Grenzen, der gegenseitigen Durchdringung, als der Wesenszug aller Seienden ist. Die Synekdoche ist also die präzisere rhetorische Entsprechung dessen, worum es hier geht. Aber auch rhetorische Figuren werden nicht immer mit letzter Strenge auseinandergehalten, deshalb ist es um den Namen nicht zu tun, zumindest nicht in erster Linie.

67

68

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Die Philosophie des Wirklichen als Synekdoche erfüllt diese Forderungen – und nichts könnte ihr gleichgültiger sein.

Wirbel Le tourbillon est donc le pré-ordre des choses, leur nature au sens de naissance. Serres, La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce

Alles fließt. Oder? Nein: Alles dreht sich und windet sich, um sich und umeinander. Was ist Materie? Ein Spiel von Wirbeln. Wie merkwürdig, dass es so schwer sein soll, ein einigermaßen angemessenes Verständnis von Materie zu entwickeln. So schwer, dass gerade die Philosophen gerne sofort kapitulieren, so wie Aristoteles, der unumwunden erklärt, dass die Materie an sich ohnehin nicht erkennbar ist. Viele sind ihm darin gefolgt. Überhaupt, es gibt, sobald es um Materie geht, nur eine begrenzte Anzahl von Beschreibungen, auf die die Philosophiegeschichte gekommen ist, und zwar eigenartigerweise sowohl bei ihren Denunzianten wie bei ihren Verteidigern. Da ist die Materie als passives Medium oder einfach Material einer Formgebung, durch die allein erkennbare, gestaltete Wirklichkeit entsteht – eben die aristotelische Antwort, die sich z.B. noch ausdrücklich bei Schopenhauer findet. An sich, also vor der Formung ist Materie dann reine Negativität, wortwörtlich formlos und daher undenkbar. Materie ist dann Wirklichkeit nach Abzug von allem irgendwie Bestimmten. Oder man fasst Materie als das, was den Naturgesetzen unterworfen ist, wörtlich die Materie ihres Wirkens. Aber dann sind diese eben wirklich, denn sie sind es, die wirken, nicht die Materie, und von dieser darf man die Wirksamkeit nur aussagen, insofern sie Träger oder Ansatzpunkt der Gesetze ist. Und die Gesetze sind das einzig Wirkliche, weil einzig sie bestimmt sind; alle Bestimmtheit, die die Materie hat, verdankt sie schließlich ihnen. Wieder lässt sich von den Körpern für sich betrachtet nicht ohne weiteres behaupten, dass sie seien. Oder man begreift die Materie als reine Ausdehnung. Doch dann spricht man wieder statt von der Materie von etwas anderem, namentlich von der Geometrie. Geometrische Begriffe und Verhältnisse bilden dann die Wirklichkeit von Materie, nur dass die Geometrie dort anfängt, wo die Materie um das gekürzt wurde, was ihre Materialität eigentlich ausmacht. Als Materie tritt sie auch hier nicht auf. Oder man bezieht sich spezifischer auf die Methoden und Ergebnisse der verschiedenen Wissenschaften von der Natur: Physik, Biologie, Chemie, mit ihren vielzahligen Überschneidungen und Fortschreibungen. Wiederum aber taucht eine Materie als sol-

70

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

che nicht auf, sondern nur das, was eine hochspezialisierte Sichtweise auf Natur noch zu sehen erlaubt. Es ist weder verwunderlich noch problematisch, dass die verschiedenen Konzeptionen von Materie, die diesen unterschiedlichen Disziplinen zugrunde liegen, nicht miteinander übereinstimmen. Überhaupt sind die notwendigen Begrenzungen der Wissenschaften nie für sich schon ein philosophischer Fehler. Sie können aber keine metaphysische Befragung ersetzen. Wie man es auch dreht und wendet, die Philosophiegeschichte war im Wesentlichen unfähig, einen angemessenen Begriff von Materie zu entwickeln. Stets erschien sie als ein Residuum, ein passiver Rest, an dem sich das eigentlich Wirkliche vollzieht und verwirklicht – und das von diesem Wirklichen den kleinen Anteil an Wirklichkeit entlehnt, auf das es bestenfalls noch Anspruch erheben kann. Die Materie selbst aber konnte dabei keine eigenständige Quelle von Wirklichkeit sein, und wenn doch, dann meist in einer so kursorischen und allgemeinen (und nicht selten von moralischen Urteilen motivierten) Weise, dass daraus weder für die Naturerforschung noch für die Metaphysik etwas gewonnen war. Materie als Materie ist offenbar in der Tat kaum vom Denken zu erfassen. Sie scheint der blinde Fleck der Metaphysik zu sein. Wenn Descartes erklärte, dass der Geist leichter erkennbar sei als der Körper, dann hat er im Grunde nur den common sense einer jahrhundertelangen Verwerfung ausgesprochen. Aber wie kann das sein, sind doch Körper genau das, womit wir es immerzu zu tun haben, so sehr, dass wir nie so ganz genau sagen können, wann wir denn nun etwas vor uns haben, das kein Körper ist? Natürlich spielen hier religiöse, weltanschauliche, ideologische Vorentscheidungen eine Rolle, die das Körperliche von Anfang an fortschieben, auf den zweiten oder letzten Rang verbannen. Diese Vorentscheidungen und ihre Prominenz sind aber selbst erklärungsbedürftig. Ohne das sofort erschöpfend zu klären, scheint immerhin sich eine Mutmaßung mit einiger Wahrscheinlichkeit anzubieten, dass nämlich die Tendenz des Denkens in ihrer doppelten Suche nach einem Allgemeinen und einem Wohlbestimmten dahinführt, sich der Materie zu entledigen. Denn das, was dieses Denken dann findet, ist irgendwas – sicher aber ist es kein Körper. Ein Prinzip, egal ob man es als Gesetz, Idee, Relation, Ursprung, Schöpfung, Form oder wie auch immer fassen will, ist eben etwas ontologisch von den Körpern Unterschiedenes. Es ist das, was alle Körper unter sich vereint, ohne dass man genau sagen könnte oder müsste, wie das geschieht und was damit genau gemeint ist. Körper sind weder allgemein noch wohlbestimmt noch auch überzeitlich. Aber nachdem das Denken sich, seiner eigenen sprachlichen Natur gemäß, auf diese Ebene verlegt hatte, viel es schwer, nicht mehr darin das Eigentliche zu sehen. Ein Denken wider die Neigung des Denkens ist also gefordert. Das ist nur in der Theorie unmöglich. Es ist fast einfach, wenn man es sich zur Aufgabe macht, nirgends die Berührung mit dem Wirklichen, das Körper ist, aufzugeben. Und dann finden wir es, ohne danach suchen zu müssen, denn es umgibt uns von allen Seiten. Und wir wissen sofort, was Körper als Körper ausmacht. Körper sind die konkrete Verschränkung des Endlichen mit dem Unendlichen – damit sowohl Ausgangspunkt für den spekulativen Begriff des Unendlichen wie auch seine ersatzlose Widerlegung: Es braucht keinen Ersatz, weil das Unendliche längst da ist (vgl. ›un/endlich‹). Körper sind weiterhin Wirklichkeiten, die nur existieren, indem sie nicht streng vonein-

Wirbel

ander abgrenzt sind. Sie sind in unablässiger gegenseitiger Durchdringung, immer nur teilweise und in wechselnden Graden, aber gleichwohl unaufhebbar. Sie sind aus demselben Grund auch im strengen Sinn unabzählbar. Das alles aber weitet sich erst dann zu einem vollständigen Bild der Materie – was soll das wohl sein: ein vollständiges Bild? Eine Chimäre, natürlich; aber immer noch besser als ein erschöpfender Begriff – ein vollständiges Bild der Materie jedenfalls ergibt sich erst dann, wenn man mindestens noch diese drei Aspekte anführt: Verwirbelung – Selbstorganisation – Regelmäßigkeit. Diese drei sind nur Seiten ein und derselben Wirklichkeit der Materie, und will man die Materie als wirkliche begreifen, in ihrer ihr eigenen ontologischen Schwere, dann nur auf dem Weg über diese drei. Nicht am trägen Stein, der gleichgültig am Wegesrand liegt, lassen sich die entscheidenden Eigenschaften der Körper am besten ablesen, sondern an Wasser, Baum, Feuer, Schneegestöber. Krumme Dinger. »Die gerade Linie ist gottlos und unmoralisch«, heißt es bei Hundertwasser einmal.1 In Wahrheit ist sie schlichtweg inexistent. Eine jede reale natürliche Bewegung ist eine, die in sich selbst und um sich herum Wirbel schafft und nur in ihnen ist. Und der Grund dafür ist denkbar einfach: Wenn Materie reale Materie ist und nicht nur gedachte, dann ist sie, als dichte und schwere, sich selbst immerzu Hindernis in ihrer eigenen Bewegung. Sie kann nur vorangehen, indem sie sich zugleich, ihrer eigenen Dichte und Schwere und Trägheit entsprechend, in sich selbst verdreht. Eine Trägheit allerdings, die nichts zu tun hat mit dem physikalischen Begriff der Trägheit, sondern einfach die Trägheit eines Seienden, das in sich und aus sich heraus besteht und sich nicht so einfach vom Fleck schaffen lässt, nicht einmal von sich selbst. Auch darf man diese Hinderlichkeit nicht verwechseln mit der beliebten Idee der Widerständigkeit der Materie oder des Realen. Diese Idee ist vor allem deshalb beliebt, weil sie in ihrer Unterbestimmtheit den Spagat erlaubt – wenn auch nur verbal – einerseits einen allzu rigiden Idealismus zu umgehen und andererseits doch an der transzendentalen Denkungsart festzuhalten, sich also metaphysisch alle Optionen offen zu halten. Nein, es geht um die konkrete, konkrete weil materielle, damit immer auch ganz spezifische und ganz individuelle Art und Weise, wie sich Körper einer Bewegung, und sei es ihre eigene, entgegenhalten – und nur in dieser Art und Weise sind sie. Es würde also keinerlei Sinn ergeben, in dieser Selbstbehinderung etwas Negatives zu sehen, ein Manko, ein Defizit. Das ist die einzige Art und Weise, wie Wirkliches sein kann. Man wird die ganze Pointe dieser Ausführungen nicht verstehen, solange man noch an der Idee festhält, dass eine Bewegung denkbar sei, die nicht eine solche Hinderung, die keine Reibungsverluste und keine Verwirbelung kennte. Ein Baum wächst nicht gerade nach oben, und gäbe es auch keine anderen Gründe, dann bliebe immer noch seine Natur als Körper, die ihn zwingt sich gegen sich selbst zu drehen, sich seiner selbst zu entwinden, wie die Zahnpasta aus der Tube. Und beide Beispiele verdeutlichen auch, dass Zeit für solche natürlichen Bewegungen nicht eine äußerliche Form ist, sondern die konkrete Rhythmik der Entwicklung selbst. Wieder ist nur für die gedachte Materie gleichgültig, mit welcher Geschwindigkeit und welchem Druck man sie bewegt. Bei wirklichen Körpern aber hängt alles davon ab, hängt vor allem davon ob,

1

Vgl. Hundertwasser: Verschimmelungsmanifest.

71

72

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

ob es zu einer gleichmäßigen, kontinuierlichen Bewegung kommt oder zu einer abgebrochenen, unterbrochenen, stotternden, wie sich Geschwindigkeit, Druck, Größe und spezifische Materie zueinander verhalten. Und weil es diese Verhältnisse gibt, die man unter keinen Umständen als »Naturgesetze« missdeuten darf – allein schon deshalb, weil der Begriff selbst in etwa so sinnvoll ist wie »Kulturnotwendigkeit« –, bringt Materie ihre eigene Regelmäßigkeit hervor. Sie bringt sie selbst hervor, weil eine jede konkrete Materie, d.h. diese Materie (dieser Baum, diese Schneeflocken, der Ozean, der sich vor meinen Füßen breitet), so wie sie nun einmal ist, ihre eigenen Bewegungsformen bestimmt. Man könnte meinen, der Sache nach habe man das ja schon immer gewusst, und die »Naturgesetze« etwa seien doch nichts anderes als Ausdruck genau dieser Selbstbestimmung. Das ist aber nur dann wahr, wenn man in aller Strenge und Konsequenz daran festhält, dass die »Naturgesetze« nicht allgemeine und übergeordnete Gesetze sind, die sich an der und der Materie nur instantiieren oder veranschaulichen oder aktualisieren. Nur Materie aktualisiert sich, d.h. bringt sich hervor. Es ist die Art und Weise, in der sie das je und je tut, die man dann, abstrahierend, als »Gesetz« bezeichnet. Gesetze aber sind das nicht, denn diese Redeweise installiert selbst bei den besten Absichten eine »höhere Ebene«, die man in Wahrheit nirgends findet und die berufen sein soll, das Wirken der Materie zu regeln oder zu bestimmen. Man unterscheidet also künstlich zwischen der Materie einerseits und den Prozessen, in denen sie wirkt, andererseits, und weil man bemerkt, dass diese letzteren eine Gleichmäßigkeit aufweisen, fühlt man sich berechtigt, ihnen eine Reihe von Prinzipien überzustülpen, die diese Gleichmäßigkeit erst erzeugen sollen. Diese Ableitung aber ist Unsinn, und sie verkehrt sowohl die wirkliche Sachlage – deren charakteristische Einfachheit und Einfalt es so schwer macht, sie immer klar zu sehen – wie sie auch das Nachdenken darüber in lauter Widersprüche führt. So existiert z.B. nur unter der Bedingung von Naturgesetzen die Gefahr einer Notwendigkeit im Weltenlauf. Über eine Materie aber, die sich selbst aus ihrer eigenen und konkreten, immer einmaligen, aber niemals chaotischen Natur heraus organisiert, hat keine Notwendigkeit Macht. Sie selbst bringt das hervor, was man, von der anderen Richtung schauend, mit Notwendigkeit verwechseln musste, nämlich Regelmäßigkeit. Die materielle Welt, die wir kennen, ist sehr regelmäßig, und das aus gutem Grund, nämlich weil sie materiell ist. Jede Materie bringt ihre eigenen Bewegungsformen mit und hervor, eine jede anders als die andre, aber keine ohne jede Beziehung zum Rest, da sie alle doch Teil ein und derselben Natur sind. Die schiere Trivialität dieser Bemerkungen weist auf die Schwierigkeiten hin, die die Philosophie hier haben muss. Eine Regelmäßigkeit des Weltlaufs, die aus dem Wesen von Materie als Materie entsteht, ist aber das Gegenteil einer Welt, die von unerbittlichen Gesetzen als Notwendigkeit regiert wird. Oder genauer: Diese ist Zerrbild von jener. Dabei meint Regelmäßigkeit nicht Gleichförmigkeit und nicht starre Wiederholung des Immerselben, auch nicht symmetrische Verteilung von Materie und Formen, sondern schließt Abweichungen, Unvorhersehbares und Asymmetrien ausdrücklich ein – das alles baumelnd über einem Abgrund absoluten Zufalls. Es ist genau diese konkrete Wirklichkeit von Materie, ihre unverwechselbare, sich immer verwirbelnde Bewegungsweise und die daraus entstehende Regelmäßigkeit, die es erlauben, die körperliche Welt als eine Welt der Selbstorganisation zu begreifen. Dieses Bild von Materie bezeichnet den Standpunkt, von dem aus sich das Geschehen in der

Wirbel

Welt als eine Bildung von Strukturen und Formen begreifen lässt, die aus dem konkreten Sein von Materie selbst erstehen. Nur unter der Voraussetzung eines ganz abstrakten Begriffs von Materie (und im Übrigen auch von Leben) muss die Bildung höherer Komplexitätsstufen, die Etablierung von immer ausgreifenderen Regelmäßigkeiten, schließlich auch die Entstehung und Entwicklung von Leben wie ein wahres Wunder erscheinen. Die ganz nackte Materie und die sie regierende Notwendigkeit lassen in der Tat die Entstehung von Leben unendlich unwahrscheinlich werden. Zum Glück gibt es beides nicht. Es gibt eine volle und bestimmte Materie, die als solche schon Regelmäßigkeiten generiert.2

2

Man findet bei Leibniz einige Ahnungen dieser Idee von Materie, zumindest in der Rekonstruktion, die Deleuze davon gegeben hat. Auch hier wird Materie als wesensmäßig gebogen und verwirbelt aufgefasst, so dass das Flüssige als Paradigma von Materie erscheinen muss; von Deleuze ist das in das Bild der Falte gedrängt. Auch wird dann eine wirkliche Affinität von belebter und unbelebter Materie denkbar, auch wenn Leibnizens Präformationslehre hier noch eine absolute, eine metaphysische Schranke einschaltet. Es ist interessant zu sehen, dass in den vergangenen Jahrzehnten auch verschiedene Wissenschaftsbereiche die Idee der Selbstorganisation als ein grundlegendes Problem erkannt haben; so etwa für den Bereich der Biologie vor allem Stuart Kauffman (in einem Buch, das einen erstaunlich spinozistischen Titel trägt: At Home in the Universe) und mit einem Überblick über vielfältige Bereiche, in denen dieser Gedanke relevant ist, Hermann Haken (Erfolgsgeheimnisse der Natur). Ein wichtiger Initiator dieser Neuorientierung scheint Ilya Prigogine mit seiner Theorie dissipativer Strukturen gewesen zu sein. Kauffman weist nach, wie die Natur von Materie in Form von Molekülen von selbst zu einer katalytischen Schließung tendiert, womit geordnete Systeme möglich werden, die zugleich nicht zu starr sind, die also mit dem Außen kommunizieren und interagieren können. Das ist auch insofern wichtig, weil eine rein zufällige Entstehung wie auch Evolution des Lebens rein mathematisch betrachtet so unwahrscheinlich wäre, dass sie in der Praxis von einer Unmöglichkeit nicht mehr zu unterscheiden wäre. Eine kluge Problematisierung des ontologischen Status der Naturgesetze findet man schon in Émile Boutroux’ De l’idée de loi naturelle dans la science et la philosophie contemporaines: Es ist klar, dass nach mehr als 100 Jahren die wissenschaftliche Basis seiner Analyse überholt ist; seine philosophische Idee – die der Kontingenz und Geschichtlichkeit der »Naturgesetze« – ist es sicher nicht. In neuerer Zeit hat Quentin Meillassoux diesen Gedanken wieder aufgenommen, allerdings mit weitaus weniger philosophischer Besonnenheit: Bei ihm nämlich gerät er zu einer, im schlechtesten Sinn, spekulativen Idee, wonach sich zumindest rein theoretisch jederzeit die gesamte Struktur der physikalischen Wirklichkeit mitsamt ihren Naturgesetzen ändern könnte. Offenbar versucht Meillassoux mit diesem ganz unsinnigen Begriff einer radikalen Kontingenz der Naturgesetze die Ehre der Philosophie zu retten, nachdem er sich einem recht naiven Szientismus verschrieben hat. Eine systematische Infragestellung des Status der Naturgesetze wird man mit einer solchen überspannten These nicht bewerkstelligen können. Bunge und Mahner (Über die Natur der Dinge) binden die Naturgesetze richtigerweise an die Wirklichkeit der Körper zurück (41). Allerdings lassen sie sich dabei von einem ganz unbrauchbaren Begriff von Substanz leiten, der sich ausdrücklich nur auf Einzeldinge anwenden lässt. Sie verfehlen also die gesamte zugrundeliegende Dimension von Körperlichkeit, die es gerade herauszuarbeiten gilt – so wie ihr Buch überhaupt nirgends über die Gemeinplätze eines philosophisch parfümierten Szientismus hinauskommt. Eine viel tiefergehende Vorstellung von Materie und Leben findet sich dagegen bei Simondon ausgesprochen: »Mais si, dès le début, on estime que la matière constitue des systèmes pourvus d’un très haut niveau d’organisation, on ne peut aussi facilement hiérarchiser vie et matière. Peut-être faut-il supposer que l’organisation se conserve mais se transforme dans le passage de la matière à la vie.« (L’individu et sa genèse physico-biologique. 141)

73

74

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Flüssige Festkörper. Folgt man dieser Sichtweise, dann wird man nicht zögern, im Flüssigen das paradigmatische Bild der Körper zu sehen: Körper in ununterbrochener Bewegung, die von sich aus beständig Gestalten bilden und wieder auflösen, immer in Wirbeln und sich hin und her wendenden Strömungen, bestehend aus Körpern, die nur existieren, indem sie nicht voneinander getrennt sind. Denn so wie die Linie nicht aus ihren Punkten, so ist auch der Ozean nicht aus den H2 O-Molekülen zusammengesetzt. Hält man an dieser schlichten Einsicht fest, dann wird es möglich, eine philosophische Lehre von der Materie vorzulegen, die sich nicht in Banalitäten erschöpft und die nicht reduktionistisch ist. Denn dann lässt sich eine ganze Reihe von Eigenschaften von Materie allgemein benennen, die aber nicht der Materie als einer allgemeinen zukommen, sondern die vielmehr nichts anderes sind als ihre mannigfaltige innere Differenzierung. Welche Eigenschaften sind das? Materie ist zuerst zu denken als ein ontologisches Milieu von Flüssigkeit und gegenseitiger Durchdringung. Sowohl die Starrheit als auch die strenge Abgrenzung, erst recht die Vereinzelung sind Grenzphänomene von Materialität, die sich nur aus der Materie als Kontinuum erklären lassen, nicht aber das Ursprüngliche sind, von dem her sich Kontinuum, Bewegung und Durchdringung als Verunreinigungen oder auch nur nachkommende Komplikationen denken lassen. Das Kontinuum ist es erste; aus ihm bilden sich erst identische und abzählbare Entitäten – nach Prozessen, die zu denken gerade eine der Aufgaben einer selbstbewussten Metaphysik der Natur ist. Eine solche Materie als Kontinuum hat keine Löcher und Leerstellen, sie ist mal dichter, mal dünner, aber immer konkreteste materielle Fülle. Zugleich braucht man die alten Diskussionen darüber, ob es wohl einen leeren Raum geben mag, nicht wieder aufwärmen: Wenn Materie in konkreter Fülle gedacht wird, dann stellt sich diese Frage gar nicht. Sie kann nur unter der Voraussetzung gewälzt werden, dass Körper reine Ausdehnung oder kleinste absolut harte Teilchen sind. Beides sind aber ganz künstliche Begriffe von Materie und Körperlichkeit. Für die Wirklichkeit gilt einfach, dass Materie erstens nicht analytisch identisch mit dem Raum ist (wie Descartes gezwungen war es zu behaupten) und zweitens einfach dort Materie ist, wo man sie eben findet. Die Frage, ob es einen Raum ohne Materie geben kann, wirkt hingegen rein artifiziell. Materie ist dann immer konkret bestimmt durch ihre Eigenschaften, und zwar jeweils durch diese und jene, je nach dem Typ von Materie. Dazu gehören im selben Sinn die Eigenschaften, die man klassischerweise als sekundäre Qualitäten bezeichnet, wie die, die unmittelbarer Gegenstand der Physik sind. In Wahrheit ist diese Unterscheidung keine ontologische, sondern nur eine, die aus einem abstrakten Vorbegriff von Materie folgt. Wenn ich wissen will, was ein bestimmter Körper ist, dann muss ich ihn eben betrachten und studieren, und dabei stehen rein metaphysisch betrachtet die alltägliche Handhabung von Wasser oder Mehl auf derselben Stufe wie ein Experiment im Labor. Natürlich kann mir letzteres viel präzisere und allgemeinere Kenntnisse vermitteln und diesen vor allen Dingen auch noch Ursachen zuweisen. Aber erstens ist nicht sicher, wie weit diese Ursächlichkeit immer reicht; zweitens und grundlegender ist die metaphysische Gleichsetzung von phänomenaler und experimenteller Kenntnis eine entschiedene Abwendung von jeder Substantialisierung von Körpern.

Wirbel

Natürlich sind Körper Substanzen, wenn man darunter einfach wirkliche und wirksame, für sich bestehende Dinge meint. Es geht aber nicht an, die Substantialität der Substanzen hinter ihrer Phänomenalität zu vermuten. Was ein Körper ist, ist unmittelbar und ohne Abstriche das, was ich von ihm erfahren kann. Seine Eigenschaften sind nicht die Eigenschaften eines Dinges, genannt Substanz, das von diesen Eigenschaften, oder von einigen von ihnen, auch getrennt gedacht werden kann. Der Körper ist ganz und vollständig in seinem Erscheinen, und er ist darin wahrhaftig. Wenn Husserl das Ding an sich verabschiedet, mit der Erklärung, dass das Ding, wie es erscheint, bereits das Ding selbst ist, dann müssen wir diesen transzendentalphilosophischen Gedanken nur metaphysisch umdrehen: Die Substanz eines Körpers ist die Gesamtheit seiner Eigenschaften. Dahinter steht nichts mehr. Körper sind reine Oberfläche, und sie sind gerade in dieser Oberflächlichkeit volle Wirklichkeiten. Nur wenn es gelingt, das zu denken, hat man Aussichten, einen anspruchsvollen und adäquaten Begriff von Materie zu entwickeln. Man könnte meinen, das seien uralte Hüte, die ich da von den Köpfen meiner Pappmaché-Feinden schnippe. Doch in Wahrheit ist noch die moderne, szientistische Idee, die Eigenschaften der Dinge könnten verlustfrei auf ihre atomare oder molekulare Struktur zurückgeführt werden, eine Variante dieser Konzeption. Dabei ist es nicht einmal wichtig, ob eine Herleitung der phänomenalen Eigenschaften aus den molekularen gelingt oder ob diese »nur im Prinzip möglich« ist;3 in jedem Fall ist die Viskosität einer Flüssigkeit etwas, was eben nicht auf dem molekularen Niveau existiert: Die Behauptung, dieses Niveau sei die ontologische Wahrheit der Viskosität einer Flüssigkeit, ist dann eine pure Setzung, für die eine gewisse wissenschaftliche Berechenbarkeit (im Doppelsinn) und technische Verwertbarkeit spricht, gegen die aber spricht, dass durch sie eine ganze (und für uns ursprüngliche) Dimension von Wirklichkeit ontologisch degradiert wird. Damit ist Materialität also in sich vielfältig, nicht nur ihrer ontologischen Natur nach (insofern sie eben nicht aus abzählbaren Elementen zusammengesetzt ist), sondern auch ihrer Eigenschaften nach. Es ist eben diese Vielfalt, die verschiedene Materialien voneinander unterscheidet, d.h. verschiedene regelmäßige, aber nicht vollständig determinierende Weisen, in denen Körper auftreten. Die Materialeigenschaften sind gewissermaßen das Maximum an Apriorizität, das sich eine materialistische Metaphysik leisten

3

So Bestehorn in seinem Lehrbuch zu Hydrodynamik und Strukturbildung (2). Dieses ganz nüchterne Buch ist eine wahre Schatzgrube für eine Philosophie der Körper, wenn man den Standpunkt einnimmt, der für uns leitend sein soll. Der gegenwärtige Abschnitt verdankt ihm denn auch unschätzbare Anregungen, sowohl was die konkrete Würdigung von Materie angeht als auch in Hinsicht auf die Aufdeckung idealisierender Voraussetzungen in Bezug auf diese Materie, die, gerade als idealisierende, den Zugang zu ihr verstellt. Ich werde in den folgenden Seiten immer wieder auf dieses Buch zu sprechen kommen und auch Teile davon kritisieren. Es versteht sich dann, dass diese Kritik keine »wissenschaftliche« ist, sich also gar nicht anmaßt, auf der Ebene der Physik Fehler aufzudecken. Sie ist eine metaphysische, die nur zu zeigen versucht, dass in der Methode dieser Physik eine Verfehlung der Wirklichkeit von Materie selbst liegt, und das noch in einer Physik, die wie die Hydrodynamik näher an der phänomenalen Natur von Materie ist als die meisten anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Dass die physikalische Richtigkeit oder der technische Wert der Ausführungen damit nicht berührt ist, versteht sich von selbst.

75

76

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

kann. Sie sind Fakten, die zugleich mehr sind als bloßen Fakten. (Diese etwas umständliche Redeweise soll die irreführende, idealistische Konzeption von verschiedenen Allgemeinheitsstufen und letzten individuellen Differenzen umgehen.) Und es gibt eine irreduzible Relevanz der mittleren Größe: Die Eigenschaften, die wir an den Körpern erfahren, wie z.B. Viskosität, Temperaturempfindlichkeit, Farbe usw., sind absolut real; auch wenn sie sich regelmäßig verbinden lassen mit Änderungen auf molekularer Ebene, sind sie auf diese nicht ontologisch reduzierbar. Diese mittlere, menschliche Größenordnung gibt eine volle Wirklichkeit, die von keiner Analyse betroffen werden kann. Diese Wirklichkeit der Körper kann gar nichts jenseits ihrer Bewegung gedacht werden. Während man, denkt man an Steine oder Schreibtische und selbst an Blumen, immer noch eine Ursache ihrer Bewegung angeben zu müssen glaubt, die nicht in diesen Dingen selbst liegt (und sei es »das Leben«), erledigt sich diese Frage von selbst, sobald man nicht mehr sie zum Modell des Körperlichen macht, sondern Flüssigkeiten und Gase.4 Körper brauchen kein Prinzip der Bewegung, weil Bewegung Teil ihrer Natur ist. Nicht die Bewegung von Körpern muss erklärt werden, sondern ausschließlich das Unterbleiben von Bewegung. Es gibt nun einmal keine bewegungslose Flüssigkeit, höchstens unter sehr aufwändigen Laborbedingungen. Das Entscheidende ist aber nun, dass dann auch verständlich wird, wie Materie sich andauernd selbst organisiert. Der klassische Gegensatz zwischen Materie und Form ist nicht nur systematisch unbefriedigend, sondern er verfehlt auch vollständig die schlichte Tatsache, dass Materie als solche Formen generiert und diese nicht etwa wie von außen über die Materie kommen. Niemand könnte Materie formen, wenn sie nicht schon längst geformt wäre, und zwar aus sich selbst heraus.5 Diese Einsicht in die Fähigkeit von Materie, sich selbst zu organisieren, ist wahrscheinlich der Schritt, der es erlaubt, ein für allemal aus der Umklammerung transzendenter Denkweisen zu entkommen und die Wirklichkeit einer Welt aus Körpern in ihrer Absolutheit zu würdigen. Genaugenommen ist es auch keine Fähigkeit von Materie, sich selbst zu organisieren; das ist die Weise, in der sie existiert. Die Frage, ob das nun an einer intrinsischen Potenz 4

5

Es sind nicht geradehin die physikalischen Begriffe der Aggregatzustände, die ich hier bemühe. Die drei Aggregatzustände sind einerseits selbst höchst nützliche Abstraktionen (im Übrigen mit breiten Grenzen auch hier: denn der Übergang zwischen zwei Zuständen geschieht immer über einen Bereich der Ambivalenz, physikalisch gesprochen: in dem manche Teile des Körpers bereits in dem einen Zustand sind, andere noch im vorigen verharren). Vor allem sieht man, dass ich die Zustände des Flüssigen und des Gasförmigen zusammenziehe (unter der Anleitung des Flüssigen, und sei es auch nur, weil uns dieses unmittelbar anschaulich zugänglich ist), um aus dieser Gruppe das Modell auch für das Feste zu machen. Ich nehme also eine Hierarchisierung innerhalb der Aggregatzustände vor – ein Verfahren, das für den physikalischen Begriff sicher keinen Sinn ergeben würde. Das simplifizierte Schema, in dem man sich etwa die Formung von Lehm zu Ziegeln imaginiert, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine pure Behauptung: Da wird ein einziger Zustand und ein Operationsschritt aus einer unabsehbaren Kette herausgelöst und zum einzig entscheidenden Schritt erhoben Nur so kann das hylemorphistische Schema eine gewisse Plausibilität erwerben – vor allem für Menschen, die keine Ahnung von der Herstellung von Ziegeln haben, weil sie in luftigeren Höhen der Wahrheit verkehren. Zu einer systematischen Kritik des hylemorphistischen Schemas, gerade auch mit Blick auf das kanonische Ziegelbeispiel vgl. Simondon: L’individu et sa genèse physico-biologique. 27–64.

Wirbel

einzelner Körper oder an äußeren Kräften liegt, lässt den entscheidenden Punkt wieder verfehlen, denn erstens gibt es nun einmal keine Körper ohne umgebende Körper und zweitens (fast könnte man sagen: und deshalb) ist bei den Körpern, die hier als Modell fungieren, jene Unterscheidung gar nicht möglich: Gerade weil Flüssigkeiten nicht abzählbar sind, gerade weil Wasser nicht aus Molekülen zusammengesetzt ist, sondern eben Wasser ist, sind die Strukturbildungen innerhalb einer Wassermenge gar nicht nach der Unterscheidung verschiedener Körper und ihrer unterstellten »Kräfte« zu denken. Etwas anderes liegt etwa bei der Oberfläche des Meeres vor, dort wo es sich mit der Luft berührt. Aber diese Berührung ist eben niemals die von zwei cartesischen Körpern, die eine gemeinsame Oberfläche (mit der Dimensionszahl 2) bilden, die keinem von beidem gehört. In Wahrheit ist so eine Grenze immer selbst eine unscharfe Realität, die nur existiert, weil sie einen unendlich variierenden Bereich der gegenseitigen Überschreitung bildet. Materie bildet von sich aus Formen und Strukturen. Das sind das Blasen des Windes, die Strömungen im Wasser, die Windungen des Baumes, die Sandrippeln in der Wüste und am Strand, die »Tränen« im Cognac-Glas. »Selbstorganisierte Strukturen findet man aber auch außerhalb der Physik und der Hydrodynamik, etwa bei bestimmen chemischen Reaktionen oder in großen Ansammlungen von Nervenzellen, wie sie der Herzmuskel oder das Gehirn repräsentieren.«6 Spätestens da wird klar, wie bedeutsam das für eine Metaphysik der Natur ist. Bleiben wir noch bei den einfachen Beispielen, nämlich denen der Flüssigkeiten. Dann muss man feststellen, dass die Selbstorganisation wesentlich auf einer Bildung von Verwirbelungen und Störungen beruht. Es ergibt für die Flüssigkeiten einfach keinen Sinn, sie zuerst als reibungslose zu denken, um ihnen im Nachhinein noch, als Zugeständnis zu den Tatsachen, die Produktion von Störungen einzuräumen. In Flüssigkeiten, in Kontinua wirkt eine Art Selbstverstärkung von Bewegungen in divergierende Richtungen, eine ontologische Produktion von Störungen also. Die Abweichung ist das Primäre und Eigentliche, demgegenüber die Norm oder die gerade Linie nur eine Abstraktion oder ein Grenzfall ist, die Ausnahme eben. Diese muss von jener her begriffen werden, nicht etwa umgekehrt.7 Die Betrachtung von Kontinua erfordert von uns also eine radikale Umkehrung des Blickes: Wenn die Flüssigkeiten »einfache Beispiele« sind, wie ich eben geschrieben habe, dann sind sie immer noch so kompliziert, dass sie sich keiner weiteren linearisierenden Reduktion anbieten. Das soll nicht heißen, dass man sie nicht reduzieren könnte. Die gesamte moderne Wissenschaft beruht auf dem Bestreben einer Rückführung des Krummen aufs Gerade, ist also durchdrungen vom cartesischen Koordinatensystem, und in dieser Radikalität ist sie zu einigen ihrer schönsten Erkenntnisse gelangt. Es bleibt aber dabei, dass von einer reduzierten Realität kein Weg mehr zurück führt. Wenn man noch hinzufügt, dass die Kontinua nicht aus identifizierbaren einzelnen Teilen oder

6 7

Bestehorn: Hydrodynamik und Strukturbildung. 7. Ebd. 3. »Deshalb ist irreguläres, chaotisches Verhalten in Flüssigkeiten eher der Normalfall als die Ausnahme. Beliebig kleine Abweichungen in den Anfangsbedingungen oder in äußeren Parametern werden sich schnell zu großen Störungen entwickeln und das Strömungsverhalten vollkommen verändern. Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen!«

77

78

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Körpern bestehen, wird klar, weshalb es so schwer ist, dieses Modell durchzuhalten, geschweige denn es konsequent zum Paradigma der Betrachtung von Materie zu erheben. In doppelter Hinsicht unterspült dieses Modell die Voraussetzungen, unter denen wir meinen, klar denken zu können. (Und beide Hinsichten gehören zusammen.)8 Die erste Art der Formbildung ist eben die Turbulenz, die Verwirbelung, die in nichts anderem gründet als in der vollen materiellen Realität selbst, die sich (man kann es nicht anders ausdrücken, auch wenn das wieder irreführend sein kann) in ihrer Bewegung selbst im Weg steht. Viskosität und Reibung sind nur andere Namen der beiden zusammengehörigen Aspekte von Körperlichkeit: der gegenseitigen Durchdringung ihrer Teile, die ihre variable Kohäsion begründet, und ihre daraus resultierenden gegenseitigen Behinderungen, Bremsungen, die sie gegeneinander und um sich herum drehen lassen – Liebenden gleich, die sich trennen müssen und mit der Fingerspitze noch aneinander hängenbleiben und dadurch in einen schmerzlichen Tanz gezwungen werden, der sich erst auflöst, wenn andere Strömungen sie mitreißen.9 Diese Verwirbelungen sind aber nicht einfach chaotisch oder willkürlich, sondern folgen gewissen typischen Verläufen und bilden wiederkehrende Muster, die wiederum von verschiedenen Faktoren abhängig sind: Viskosität, Temperatur, Flüssigkeitstiefe, Geschwindigkeit, Dichte, Druck, Dauer der Krafteinwirkung, Scherbewegungen. Eine ganze geradezu phänomenologische Physik entfaltet sich so, in der Stoffe wie Zahncreme,

8

9

Das sind denn die Punkte, an denen ich Kritik üben muss an Bestehorns Methodik. Noch einmal: Diese Kritik bezieht sich in keiner Weise auf die physikalische Richtigkeit der Ausführungen, sondern lediglich auf die metaphysische Wahrheit, d.h. auf die Frage, ob es dieser Methode gelingt, wirklich das Körperliche als solches zu berühren. Da sie das wahrscheinlich nie vorhatte, braucht es nicht zu überraschen, wenn die Physik solche Kritik achselzuckend abtut: Sie hat damit recht. Gleichwohl ist selbst diese Physik, die so nah am Phänomenalen ist, durchzogen von lauter idealisierenden Gedanken: »Eine Teilchenkonfiguration befindet sich im Gleichgewicht, wenn sich für jedes einzelne Teilchen die daran angreifenden Kräfte aufheben.« (25, ähnlich auch 58) In der Realität von Kontinua gibt es nun einmal kein Gleichgewicht (höchstens in Grenzfällen), und Kontinua bestehen nicht aus Teilchen. Um Wirklichkeit berechenbar zu machen, ist der Ausgang von beidem nötig; um sie in einem philosophischen Sinn zu begreifen, darf beides aber nicht vorausgesetzt werden. Nicht zufällig beginnt die Durchführung der Kontinuumsmechanik mit »idealen Flüssigkeiten« (Kap. 5), also solchen, die keine innere Reibung und Viskosität besitzen. Aber genau solche Flüssigkeiten gibt es eben nicht: Wieder ist klar, warum man so ansetzt, doch keine noch so weitgehende »Annäherung« kann von hier zur Wirklichkeit von Flüssigkeiten führen. Die ideale Flüssigkeit, die die Physik braucht, um Flüssigkeiten zu denken, ist eben keine Flüssigkeit. Genauso lassen sich Oberflächen von Flüssigkeiten auch nicht sinnvoll zuerst eben denken (gegen 62). »Ein wichtiger Satz besagt jedoch, dass einmal wirbelfreie Bereiche einer idealen Flüssigkeit für alle Zeiten wirbelfrei bleiben.« (78) Dieser Satz ist zwingend, aber er ist eben niemals ein Satz, der für reale Flüssigkeiten gelten kann (nicht nur solche, die viskos sind, sondern solche, die in der Wirklichkeit begegnen). Diese Aufzählung genügt, um die Verschiebung zu markieren, die eine Physik der Natur von einer Metaphysik der Natur unterscheidet. Dann wird die Metaphysik im Übrigen frei zu einer Betrachtung der Natur, die sich in der Schuld gegenüber der Physik weiß und doch ihr gegenüber ganz eigenständig sein kann. Es ist klar, dass mein Begriff des Wirbels oder der Turbulenz weiter als der physikalische ist, der, wieder mit gutem Recht, als das Aufbrechen der relativ gleichmäßigen laminaren Bewegung gefasst ist (vgl. ebd. 7). Ich würde nur einwenden, dass letztere eben nur relativ laminar ist, dass also die ganz laminare Bewegung der Grenzfall der turbulenten ist und nicht etwa umgekehrt.

Wirbel

Stärkebrei, Joghurt, Treibsand oder Blut ihre unverwechselbare materiale Organisation manifestieren.10 Trivial kann man das nur finden, wenn man meint, dass diese Materialität irgendetwas Nachkommendes und von allgemeinen Gesetzen Abhängiges oder aber etwas vom Wesentlichen der Wirklichkeit Geschiedenes ist. Wenn aber unsere Wirklichkeit körperliche Fülle in endloser Selbstdifferenzierung ist, dann entspricht die Geringschätzung für diese Eigenschaften in etwa dem Versuch, Miles Davis’ Blue in Green zu beurteilen, indem man sich Akkordfolge und Melodie auf einem Blatt Papier ansieht. Wohin man blickt, sieht man nur diese Materialeigenschaften und ihre endlosen Rekombinationen, und wenn wir das oft nicht bemerken, dann liegt das nicht zuletzt auch daran, dass wir uns für die Fabrikation von Materialien entschieden haben, die ihre besondere Materialität in einer vorgeschützten Gleichförmigkeit und mittleren Elastizität verleugnen: Der Kunststoff ist das materiale Äquivalent zur Behauptung einer universalen Sprechposition, die keine Vorbedingungen mehr erfüllen müsste, nämlich gerade in der Einklammerung und Unsichtbarmachung dieser Bedingungen. Es zeigt sich aber noch mehr: Erstens haben alle Materialien kritische Schwellen. In der Wirklichkeit hat das Mehr oder Weniger immer einen qualitativen Aspekt. Wieder gilt, dass dieses Mehr oder Weniger nur dann eine halt- und bodenlose Angelegenheit ist, die dem Denken keine Stütze bieten kann, wenn man es (wie Platon zu oft) ganz abstrakt betrachtet. Das Mehr oder Weniger scheidet aber durch seine kritischen Schwellen diskrete Bereiche voneinander ab, die in ihrer klaren Physiognomie erkennbar und untersuchbar sind. Das Kontinuum schließt die Diskretion also nicht aus, sondern fordert sie vielmehr. Überhaupt wird das Diskrete, das Bündige, nur denkbar in dieser Rückbindung an das Kontinuum, aus dem es sich als innere Abgrenzung erhebt. Hier herrschen keine apriorischen Verhältnisse, und die Markierung kritischer Schwellen erfolgt nicht im Sinn einer sauberen Einteilung der Natur gewisser Körper; nein, diese kritischen Schwellen gehören wesentlich in diese Natur hinein. Genau diese Art von Körpern hat genau diese kritischen Schwellen; man kann diese jenen nicht als etwas Äußerliches entgegensetzen. Es sind Schwellen innerhalb der Materie, die aus sich heraus, wie das Bogenmaß, die Natur dessen bestimmen, wovon sie ein Teil sind, ohne dass es möglich oder nötig wäre, auf externe Referenzpunkte Bezug zu nehmen (wie auf ein cartesischen Koordinatensystem). Auf den beiden Seiten der Schwellen herrschen jeweils andere Spielregeln. Es ergibt sich hieraus aber noch ein zweiter wichtiger Punkt: Wegen dieser kritischen Schwellen kann es zu Prozessen kommen, die eine gewissermaßen selbstverstärkende Eskalation durchlaufen. Kleine Änderungen in den Ausgangsbedingungen können dann große Folgen haben. Gerät etwa ein wärmeres Teilchen eines Volumens in eine kältere Umgebung, so kommt es zu einem allmählichen Ausgleich, wenn Masse und Temperaturunterschied des Teilchens gering sind. Ist der Unterschied aber zu groß, dann verstärkt die Auftriebskraft noch die Auslenkung.11 Auch die Entstehung eines Tsunami ist so ein sich selbst verstärkender Prozess mit mehreren Eskalationsstufen: Anders als Sturmwellen entstehen Tsunamis am Meeresboden (z.B. durch Erdrutsche oder Seebeben). Wenn sie eine bestimmte Stärke überschreiten (eine kritische Schwelle also wieder, jenseits derer eine Eskalation der Selbstorganisation der Materie einsetzt), entstehen auf 10 11

Vgl. vor allem das Kapitel 7.5 (Nicht-Newton’sche Flüssigkeiten) bei Bestehorn. Vgl. ebd. 236.

79

80

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

der Oberfläche kleine Wellen mit einer Amplitude von 10–50cm. Diese bewegen sich aber mit rasender Geschwindigkeit fort und werden auch nicht wesentlich gedämpft, wegen ihrer kleinen Amplituden. Im Auftreffen auf die Küste greift nun das Green’sche Gesetz und die Wellen vergrößern sich. Und damit nicht genug, es gibt eine weitere Eskalationsstufe: »Erreicht die Amplitude aber eine bestimmte Höhe, so gelten die linearisierten Gleichungen nicht mehr und es kann zu einer weiteren Aufsteilung und Brechung durch Nichtlinearitäten kommen. So können die Wellenfronten leicht Höhen von vielen Metern erreichen.«12 Schließlich wird dadurch deutlich, dass das Kontinuum, von dem diese Physik und Metaphysik augenscheinlich handelt – denn dies ist nichts anderes als der Versuch, den Punkt zu finden, an dem sich beide treffen –, in seiner konkreten Wirklichkeit gar nicht so kontinuierlich ist, wie sein Name es suggeriert. Die Natur kennt überhaupt kein Kontinuum im Sinn gleichmäßigen Anstiegs bzw. Abfalls, nur kritische Schwelle, Sprünge, irrationale Stopps, Übergänge zu anderen Zuständen, plötzliche oder langsame Veränderungen, die aber selbst dann, wenn es kontinuierliche Veränderungen sind, immer noch Veränderungen zu einem anderen sind, dem gegenüber das Ausgangsmaterial eben nicht mehr in einer »Kontinuität« steht. Irrational sind diese Stopps einfach deswegen, weil es für ihre Positionierung nicht noch einmal irgendeinen zwingenden Grund gibt, und gäbe es ihn, etwa auf einer molekularen Ebene, so wäre erstens dieser Grund seinerseits wieder begründungsbedürftig, so dass man bald zu einem nackten Faktum kommen muss, und zweitens ist die Beziehung zwischen der molekularen und der mesoskopischen Ebene immer statistisch vermittelt, so dass eine regelmäßige, aber keine strikt determinierende Beziehung besteht. Das sind grundlegende Aspekte, die sich für die Metaphysik der Natur aus der Beobachtung selbst ableiten lassen, denn sogar wo ich den Darstellungen der Physik gefolgt bin, habe ich das nur soweit getan, wie sie das Phänomenale beschreiben konnten. Es erwies sich, dass die konkrete volle, nämlich eigenschaftsvolle Materialität in ihrer Selbstorganisation als Garant ihrer eigenen ontologischen Schwere und Valenz auftreten kann. Dazu ist es aber nötig, sie primär als unabzählbar, in gegenseitiger Durchdringung zu denken, als fundamental plural. Will man einen Materialismus haben, dann wird man nur unter diesen Bedingungen Hoffnungen haben, über Banalitäten hinauszukommen und sich nicht der Lächerlichkeit preiszugeben. Ethik und Physik. Es fehlt nur noch anzuerkennen, welch intime Beziehung diese Materialität mit der Zeit hat. Natürlich haben alle erwähnten Materialeigenschaften eine zeitliche Komponente, so wie das freilich für alle physikalischen Parameter gilt. Wichtiger aber ist, dass sich Zeit in Bezug auf reale Materie nicht beliebig manipulieren lässt. Vor allen Dingen ist der Beschleunigung eine Grenze gesetzt. Jede Beschleunigung muss zu weiteren Verwirbelungen führen, die die Bewegung, es kann nicht anders sein, bremsen werden, und das sogar, wenn nicht noch andere Hinderungsmechanismen wirken. Wenn man ungeduldig auf sein Ziel zustürmt, wird man überall Ereignisse provozieren, die sich genau der Erreichung des Ziels in den Weg stellen. Man hat damit gewisser-

12

Ebd. 145.

Wirbel

maßen auch eine ontologische Grundlage für eine spinozistische Ethik, nicht nur eine psychologische. Je gradliniger eine Bewegung ist, desto massiver werden die Verwirbelungen an ihren Rändern sein. Verwirbelungen, die genau diese Bewegung wieder bremsen müssen – so dass sie sich, will sie sich behaupten, mit noch größerer Macht dagegenstemmen muss: ein Teufelskreis. Zwei Kreise eigentlich, oder doch zwei Seiten desselben Kreisens: Einmal die Wirbel, die der Rücksichtslosigkeit des Wollens geschuldet sind. Eine erste Abkoppelung: Ein Körper bewegt sich in gerader Linie hin auf sein Ziel oder doch zumindest auf seiner Bahn. An den Rändern seiner Bewegung die Verwirbelungen, die Verheerungen, die zugleich, wenn auch schwächer, wieder auf ihn und seine Bahn zurückwirken werden. Keine Bewegung ohne Reibung, keine Bewegung ohne Reibungsverluste – und das Ganze, weil es keine Bewegung gibt ohne Widerstand, den schlichten Widerstand, der Materialität als solche ausmacht. In dem Grade also, in dem der Körper in seiner Bewegung sich von aller Interaktion mit dem übrigen Sein abkoppelt, schafft er Kreise, die aber in erster Linie zerstörerisch sind (insofern sie in die Bewegungsmöglichkeiten der benachbarten Körper eingreifen und insofern sie in Rückwirkung auf die Bewegungskraft des ersten Körpers hemmend Einfluss nehmen). Es ergibt sich hieraus eine ontologische Kritik des Willens und der Zwecke. Dort, wo ein Ziel, ein Zweck, eine Absicht bereits vor der Tat existieren, da besteht immer die Gefahr einer solchen Abkopplung vom Sein. Der Mensch – denn nur der Mensch kann diesen Fehler überhaupt begehen –, der sich ein Ziel vorsetzt und darauf zugeht, der verfällt einer metaphysischen Versuchung (insofern er sich einerseits an dem festhält, was ihn auszeichnet, und sich daran berauscht, insofern er sich andererseits der Derealisierung des Seins schuldig macht, denn jeder Zweck übersteigt die Oberfläche des Seins); der verfällt aber zugleich einer ontologischen Fatalität, indem er meint, die grade Linie sei die kürzeste: dieser Irrtum bringt die Verheerungen hervor, die wir kennen, in der großen Geschichte wie in der kleinen. An den Wegesrändern wächst bald noch weniger Gras als auf den Straßen selbst. Wer geht dergestalt direkt auf sein Ziel zu? Der große Reformer oder Revolutionär, also der Politiker (in einer gewissen Gestalt, gerade nicht nämlich in der Gestalt des alten Konservativen, für den die wahre politische Tugend das Nichtstun ist, also gerade die Verweigerung der Politik, ganz im Gegensatz zum neuen Konservativen oder dem Reaktionär). Aber auch der, der eine Agenda hat. Der, der ein persönliches oder berufliches oder sonstiges Ziel verfolgt. Vor allem auch der, der sich aus einer Ignoranz sich selbst gegenüber nicht aus den Zwängen befreien kann, in denen allein er zu leben und zu atmen können glaubt.13 Also etwa ein Narzisst, der aller Orten sucht und schnüffelt und 13

Schon diese Formulierung ist in Wahrheit viel zu intellektualistisch, da sie eine Bewusstheit unterlegt, die gerade dort nicht ist. Was dort ist, das ist ein Streben und ein Tun, das sich selbst ganz undurchsichtig ist, dessen »Ziele« immer nur unausgesprochen dem Streben und Tun selbst immanent sind, und die genau deswegen eine umso brutalere Transzendenz der Zwecke in der Praxis hervorruft. Die Notwendigkeit, das Ersehnte zu erfüllen, wird umso fataler – im Wortsinn –, als weder sie noch das Ersehnte durchschaut und erkannt sind. Anders formuliert und genauer: Der Narzisst etwa sucht nach einer unmöglichen Anerkennung und einer ihm auf ewig unerreichbaren Versöhnung mit sich. Genau das ist sein Tun. Ein Tun, das ihm aber nicht bewusst ist, und das

81

82

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

spürt nach der Anerkennung, die er bereits ihrer Natur nach nicht kennt und verkennt, um eine Leere zu füllen, die sich – genau darin liegt der tragische Missverstand – durch nichts füllen lässt, zumindest durch nichts, was von außen kommt. Wir können als ein allgemeines Gesetz statuieren: Je versunkener das Prinzip des Strebens in diesem selbst – je verfehlter die Theorie über das Prinzip dieses Strebens – desto transzendenter die Zwecksetzungen.14 Die zweite Art von Kreisen: die Kreise der Abkoppelung, die nun abhängig sind von diesem ersten und die sowohl in der Bewegung des ersten Körpers als auch in denen der betroffenen stattfinden können. Der, der direkt auf sein Ziel hingeht, der wird in den anderen, der wird in den Umständen etc. nur noch eine Seite sehen: die Seite der Hemmung und Verzögerung. Der wird also bei sich die Welt und ihren Reichtum verkürzen und vernichten. Die Hand, die zu sehr will, lässt, was sie ergreift, verdorren. Damit aber ist alle echte Interaktion unmöglich geworden. Die Reigen und Bewegungen, die hin und her gehen, dabei einander befruchtend und erneuernd und bereichernd, sind aufgegeben zugunsten von klaren und gradlinigen »Beziehungen«, in denen die Unvorhersehbarkeit echten Kontakts aufgegeben ist für eine Reziprozität von Geben und Nehmen (und das ist noch der beste Fall). Dieser Körper, dieser »Geist« ist zum einen nur in sich selbst befangen und in seiner Bewegung, er kreist dann also wirklich nur mehr um sich selbst; er kann daher vom anderen nur ein Zerrbild sehen und verwenden, gerade weil er es verwenden will. Die gerade Linie der Bewegung ist korrelativ zu einem Kreisen um sich selbst und einer gewaltsamen Reduktion alles anderen zu Satelliten des Einen. Auf der anderen Seite und in einer grausamen Ironie des Geschehens reproduziert sich genau dieser Effekt auch bei dem, was die Bewegung des Körpers mit Ziel berührt

14

ihm, wäre es ihm auch »bewusst« (also etwa »erklärt« und von ihm »verstanden«), nur das Sichselbstverfehlen auf ein neues Niveau heben würde. Er glaubt nämlich, das, was er sucht, sei dort draußen zu finden, etwa im Applaus der Menge oder in den Bekräftigungen der eigenen Macht dadurch, dass sich der andre beugen muss. Der Irrtum ist, dass Anerkennung und »Liebe« zu sich durch nichts erreicht werden können, was noch zu der Beziehung der Person zu sich selbst hinzukäme. Sie müssen bereits da sein. Der Narzisst glaubt, er habe sich längst anerkannt und liebe sich. Auch das ist falsch. Dieser doppelte Irrtum: zu glauben, er liebe sich selbst, und zu glauben, die Bestätigung (der Rechtmäßigkeit) dieser Selbstliebe wäre draußen irgendwo zu finden – dieser doppelte Irrtum also macht das Tun und Streben des Narzissten für ihn selbst opak. Die Unmöglichkeit seines Strebens ist diesem in absoluter Weise immanent (nämlich für ihn), deswegen ist er dem Streben und dessen Unmöglichkeit ja so ausgeliefert. Und genau diese Opazität, diese Unmöglichkeit, diese Schicksalhaftigkeit des Strebens (und die drei sind ein und dasselbe) verbünden sich und finden ihre höchste Erfüllung und erhalten das Siegel ihrer Unlöslichkeit eben in den Transzendenzen des Strebens des Narzissten: in seinen Zwecken. Menschen, die nicht in so offenkundig pathologische Kategorien fallen, sind wohl nur selten Zwecke bewusst. Man muss schon der Lebendigkeit seines Tuns beraubt sein, um sich beständig Zwecke zu setzen, geschweige denn Strategien entwerfen etc. Ich will also in zwei Jahren diese und jene Position erreicht haben, dazu muss ich eine gewisse Zahl und Menge von Leistungen vorweisen usw. Ich muss (muss?) in einer gewissen Zeit ein bestimmtes Einkommen vorweisen können, muss ein Auto einer bestimmten Klasse fahren usw., und dazu muss ich also dies und jenes tun. Auch das trifft sich präzise mit einem Gedanken Spinozas: dass unser Unglück, in jedem Fall unsere Täuschungen über uns und unsere vermeintliche Freiheit daher kommen, dass wir uns zwar unserer Strebungen bewusst sind, nicht aber ihrer Ursachen; vgl. Ethik. I Annex. 80f. Ebenso IIp35s. 170f.

Wirbel

oder in seinen Einflussbereich zieht. Denn auch die berührten Wesen werden nun eingenommen von dem Gradlinigen, sogar von dem Vollkommenen. Sie glauben in gewisser Weise, was er sagt, indem sie ihn auf die vollkommene Linie reduzieren, aber nicht auf die grade, die sie sehen, denn sie erkennen klar, dass dieser Zweck nur Ergebnis eines Selbstmissverständnisses ist, sondern auf die gerade Kreislinie der Besessenheit von sich selbst. Die Nachbarn erkennen sofort, weil sie es spüren, dass der gradlinige Körper ohne Rücksicht auf Verluste (und seien es die eigenen) nur um sich selbst kreist. So wahr das ist, so sehr ist auch das eine Reduktion und ein Abstraktum. Es ist dabei wie in der Frage Hegels, wer denn abstrakt denkt: Abstrakt denkt ein jeder, der den Verbrecher, der dort auf dem Marktplatz hingerichtet wird, darauf reduziert, Verbrecher zu sein.15 Und so auch hier: Die, die leiden unter dem Sog und der Kraft des Körpers, der dahinrauscht wie ein Zug im Bahnhof, die können nicht anders, als ihn genau darauf zu reduzieren, auf die Rücksichtslosigkeit einer gradlinigen Bewegung, die einem Kreisen um sich selbst die Erfüllung bringen soll. Dass darin ein Leiden noch bei jenem Körper liegt, eine Flachheit, eine Armut einerseits – eine endlose Variation, ein Reichtum, vielleicht sogar eine unvorstellbare Kraft und (im Ergebnis) Innovationsfähigkeit andererseits, das zu sehen, fällt ihnen schwer. Und so koppeln auch sie bald den anderen ab – mit dem wiederum ironischen Ergebnis, dass er nur umso mehr Raum einnimmt bei ihnen. So bildet sich ein jeder von dem Narzissten, unter dem er leidet, ein Bild. Und dieses Bild ist nicht das Wesen selbst. Es ist eine Abkehr von der Wirklichkeit mit ihrer Komplexität. Denn Komplexität bedeutet immer: eine Unzahl von Verwirbelungen, die alle ihre eigene Würdigung verlangen. Der Hass ist so ein Affekt und Effekt, in dem sich jemand verwirbelt und schließlich – im Glauben, jemanden zu hassen – doch wieder nur um sich selbst dreht, in einer ganz sterilen, ja zerstörerischen Weise. Eine Abkoppelung von der Wirklichkeit und ihren mannigfaltigen Strudeln. Eine Rückkehr auf sich, eine Verweigerung der Interaktion, eine Gradlinigkeit, die sich selbst verleugnet (weil sie ist, was sie hasst), eine Hilflosigkeit und eine Involution, die sich auf ewig von sich selbst nähren kann.16 15 16

Hegel: Wer denkt abstrakt? Dann also gar nichts mehr tun, auch und vor allem politisch? Ist die Untätigkeit im Politischen dann vielleicht eine Tugend, wie es manch chinesischer Kaiser sich auf die Fahnen schrieb? Oder wie es in einigen Spielarten des Liberalismus wie auch des Konservativismus propagiert wird? Sicher nicht. Immerhin aber müssen wir unser Verständnis von Handeln allgemein überdenken (das wir ja gerade unter der Prämisse der Zweckerfüllung denken) wie auch unser Verständnis von Politik: Vielleicht ist es nämlich in der Tat ganz und gar kontraproduktiv, sich die Politik als die Verwirklichung irgendwelcher großer Pläne vorzustellen. Wenn alle Pläne notwendig scheitern, wenn die »Demokratie« als Idee wie auch als unvollkommene Wirklichkeit ebenfalls eine Art Einsicht ist in den Mechanismus der Wirbelentstehung und des Faltenwurfs, die dort unter dem ungeliebten Namen des Kompromisses figurieren, dann gibt es zwei Weisen zu reagieren: Entweder sucht man umso vehementer, den Plan zu verwirklichen, um dessen Willen man doch angetreten war. Oder aber man nimmt im Gegenteil Abstand von der Idee, Politik sei die Verwirklichung von Plänen. Vielleicht müssen wir zuerst auf die Nebeneffekte, auf die Kollateralschäden (wie auf die Kollateralwohltaten) blicken lernen, darauf, dass jede (politische) Tat eine Unzahl an Nebenwirkungen und Nebenwirbeln hat, in denen sich ihr wahrer Sinn entfaltet. (Z.B. die progressive Zusammenstellung von Liberalismus und Nationalismus, deren Effekt eine neue Art von Nationalismus ist,

83

84

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Der Zweck ist nicht schlicht inexistent. Es gibt Zwecke in der Welt. Aber die Zwecke sind erstens eher seltene Phänomene (zumindest sehr viel seltener, als man meinen sollte, wenn man die Aufmerksamkeit betrachtet, die ihnen in der Philosophie entgegengebracht wurde); sie sind zweitens sehr fragwürdige Phänomene, indem sie – sobald sie sich von der reinen Pragmatik lösen – mehr als nur Staub aufwirbeln, sondern vielmehr in ihrer gradlinigen Bewegung jede Interaktion abbrechen und damit auch für Verheerungen sorgen; sie sind drittens – und das ist sehr bezeichnend – genau die Phänomene, die »typisch menschlich« sind, in denen sich also offensichtlich genau die Abgrenzung des Menschen vom Rest des Seins vollzieht, die sowohl der Erkenntnis als auch der Ethik (vor allen Dingen in der Moderne) so viele unnötige Schwierigkeiten wie auch (ausgerechnet) unmenschliche Brutalitäten verursacht. Zwecke sind Phänomene, die sich irgendwo im Mittelteil des Seins finden; zentral sind sie deswegen noch lange nicht. Physik und Ethik lassen sich dann unmittelbar ineinander überführen. Sie sind nicht dasselbe, sie sind aber sehr wohl Manifestationsweisen ein und derselben Wirklichkeit. Eine Schwelle, kritisch im Wortsinn, trennt das Erscheinen des Menschen von einer Welt ohne ihn. Doch solche Schwellen existieren nur als immanente Artikulationen des Kontinuums des Seins. Durch den Wirbel. Der Einwand, nein: der laute Protest wird sich unausweichlich Gehör verschaffen: Diese Engführung von Physik und Ethik, von Materie und Geist, von Bewegung und Affekt kann nur metaphorisch gemeint sein, nach Maßgabe einer fernen Analogie vielleicht; ernst kann und darf es mir damit nicht sein. Immerhin, eine Wasserströmung ist kein Streit und die Hydrodynamik kann die Psychologie nicht ersetzen. Der Versuch einer Rechtfertigung der Materie und des Materialismus in Ehren, aber er muss seine Grenzen doch finden an der radikalen Andersheit der menschlichen Realitäten. Andernfalls würde er werden, was er der Voraussetzung nach nicht sein darf: reduktionistisch. Mir ist es aber ernst mit dieser Beschreibung. Sie ist nicht »nur« metaphorisch, »nur« bildhaft, keine Umschreibung, keine Veranschaulichung (wovon auch?), keine geistreiche Provokation. Sie ist wörtlich gemeint. Das heißt aber nicht, dass das Verhalten von Wasser und Feuer einfach dasselbe ist wie die Handlungen von Menschen. Sie stehen jedoch im Verhältnis einer phänomenalen Äquivalenz zueinander, sie stehen dabei auf ein und derselben »Stufe« des Seins – einfach weil es nur eine gibt; und wenn es stimmt, dass das Phänomenale zugleich und unmittelbar das Metaphysische ist, dann ist die phänomenale Äquivalenz zugleich auch eine in der Sache selbst. Diese Thesen sind streitbar, sie machen sich aber immerhin vom offensichtlichsten Anschein philosophischer Naivität frei, wenn man sieht, dass das Phänomenale und seine Äquivalenzen gerade nicht so einfach fest- und dasteht. Nur und ausschließlich am Phänomenalen kann sich das Werk des Denkens messen, und doch kann man es nicht,

der sowohl ideologisch reaktionär, politisch konservativ wie auch ohne alle Ähnlichkeit mit der ursprünglichen Idee von Nation ist, und der doch das ist, was das 20.Jh. von dieser Bewegung aus dem 19. erbte. Ein Mitwirbel, der die Wahrheit – im Sinn von: historischer Prävalenz – der progressiven Bewegungen des 19.Jhs. darstellt.)

Wirbel

wie es noch Husserls Hoffnung war, als etwas Eindeutiges, etwas Vorliegendes annehmen – kein Wunder, sind wir doch Teil von ihm: Der Blick der Theorie, der das Phänomenale vor sich hin zu stellen vermeint, verfehlt es, indem er die metaphysische Grundsituation verfehlt. Die Zwei- und sogar Vieldeutigkeiten des Phänomenalen, seine selbst strittige Natur sind freilich nur die logische Folge davon, dass niemand sich aus ihm zurückzuziehen und herauszusetzen vermag. Deshalb sollte man aber nicht meinen, dass das Phänomenale nicht dazu taugt, dem Denken Richtung und Grenze anzuzeigen. Das Phänomenale ist das Wirkliche selbst, auch und gerade in seiner Uneindeutigkeit.17 Das bedeutet aber, dass das Phänomenale und phänomenale Äquivalenzen Gegenstand einer Arbeit sind, eben der des Denkens. Dabei ist das Denken eigenartigerweise Handwerk: Es erfindet nicht seinen Gegenstände wie die Phantasie und die Literatur, es fertigt sie nicht an und stellt sie nicht her, wie Industrie, Produktion mit Kunststoffen, es löst sich nicht (wenn auch nur zum Schein) ab von den materialen Bedingungen seiner Arbeit inklusive des Materials (höchstens im Selbstmissverständnis), wie die Produktion von und im Digitalen. Vielmehr kann es nur gelingen, wenn es der Textur des Materials die Ehre erweist, wenn es den Maserungen und Faserungen, den Falten des Seins folgt, sie heraushebt, sie nicht unbillig wider ihre Faltrichtung biegt, bis zum Brechen – und das noch in Bezug auf seine eigene Textur.18 Daher das unheilbar Altmodische, das der Philosophie anhängt, daher auch ihre inhärente Zeitlichkeit, denn anders als es die Industrie und das Digitale suggerieren, sind die Gegenstände eines Handwerks solche, die ihre eigene Zeit brauchen. (Das hindert nicht, dass die Philosophen immer wieder ihre eigene Zeitlichkeit zugunsten einer scheinbaren Zeitlosigkeit ihrer Gegenstände zu übersehen drohen – mich selbst nicht ausgeschlossen.) Phänomenale Äquivalenz ersteht aus der Bearbeitung und Vorbereitung eines Materials, das dann neu zusammengestellt werden kann. Heterogenes wird nebeneinandergestellt, und in dieser Nebeneinanderstellung werden die Grenzen der Heterogenität sichtbar, die nichts anderes sind als der Beginn der Äquivalenz. Doch was ist der Grund,

17

18

Wieder kann ein Theorem von Spinoza dienen, mindestens zur Veranschaulichung. Woher kommt die Unsicherheit in unseren Erkenntnissen? Nicht aus einer Unzulänglichkeit des menschlichen Geistes, sondern aus der Struktur von Wirklichkeit selbst, sagt Spinoza. Der Geist ist erkennbar nur mittels der Affektionen des Körpers (weil der Geist die Idee des Körpers ist und weil der Körper seinerseits nur mittels seiner Affektionen erkennbar ist). Eine Affektion aber involviert mindestens zwei Ideen: die meines Körpers (der mir direkt gegeben ist oder wovon mein Geist die Idee ist) und die eines oder mehrerer anderer Körper, zu denen ich keinen direkten Zugang habe. Da alle Wirklichkeit in unablässiger Interaktion ist, muss also bei jedem Ereignis ein Anteil von Unklarheit ins Erkennen eindringen, auch und gerade bei der Erkenntnis meiner selbst. Auch in Spinozas Argumentation ist die Uneindeutigkeit des Wirklichen ein integraler Teil dieses Wirklichen selbst und seiner Erkennbarkeit, nicht eine nachträgliche Verunreinigung von etwas an sich Wohldefinierten. Die Parallele zum phänomenologischen Gedanken der Abschattung ist unübersehbar, bis in die metaphysische Konsequenz hinein: Wie Gott bei Husserl einen Apfel nur erkennen kann, indem er ihn nacheinander von allen Seiten betrachtet, so gibt es bei Spinoza zwar einen Gott und eine Idee Gottes (als den Inbegriff des Wissbaren), aber Gott ist kein Subjekt und die Idee Gottes hat niemanden, der sie denken würde, so dass auch hier die zumindest teilweise Uneindeutigkeit des Wirklichen zur Textur dieses Wirklichen selbst gehört. Zur Textur vgl. auch Deleuze: Le pli. 51–53. 63: Die Textur ist auch bei Leibniz als die konkrete Realität der Materie gedacht.

85

86

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

was die Ursache solcher Äquivalenz, was macht die Zusammenstellung möglich? Ganz allgemein gesagt: die innere Zusammengehörigkeit alles Natürlichen. Doch wie alle ganz allgemeinen Antworten ist auch diese nutzlos. Man will ja wissen, was genau diese Zusammenstellung möglich macht. Doch darauf kann man keine Antwort geben, weil der Grund der Nebeneinanderstellung und der (philosophisch konstatierbaren) Äquivalenz notwendig abwesend, implizit bleiben muss. Weil er nicht als eigenes existiert, sondern nur als die nachträgliche Projektion eines Punktes, von dem aus sich zwei abweichende Richtungen als Effekte desselben ausmachen lassen. Ganz so wie die Stromlinie eine inexistente Gerade in jedem Strömungsgeschehen ist, das als Hauptachse von diesem Geschehen her einseitig bestimmt und entworfen wird und das doch die phänomenale Einheit begrifflich verständlich macht.19 Wo ist bei uns dieser Punkt, diese Hauptachse? Sie lassen sich eben nicht explizit benennen, nur umschiffen, bald von dieser, bald von der anderen Seite anpeilen, ohne sie zu berühren: um sie herum sprechen und denken. Das deshalb, weil diese Achse inexistent ist, aber nicht im Simm eines Fehlens, einer Lücke, eines Mangels, einer Leere, sondern weil es so etwas eben nicht gibt. Es ist dasselbe, als wollte man nach der bestimmenden Achse der Bewegung oder nach der Absicht der Handlung oder nach dem transzendenten Gesetz der Ereignisse fragen: All das existiert nicht und kann nicht existieren, und wenn es das gäbe, dann gäbe es eben Bewegung, Handlung und Ereignis nicht. Als Explizites kann so etwas zwar gedacht werden, aber nur gedacht, und sobald man dem Denken zumutet, Denken des Wirklichen zu werden, muss es auf diese Anmutung der ausdrücklichen Regel verzichten, sonst wird es sich auf Ewigkeit in Widersprüche und Labyrinthe verstricken. Alles, was man tun kann in der Philosophie, ist, solche Stromlinien zu berühren, weil sie selbst (als gedachte Tangenten) das Reale berühren. Sie sind nicht nutzlos, sie sind nicht aufzugeben, dann würde das Denken einfach ins Disparate abgleiten und aufhören, Denken zu sein. Aber sie können immer nur als das angedeutet werden (in der Durchführung des Denkens-von, nämlich von etwas anderem als sie selbst), was nicht da ist, als Privation, die sich aber, wenn man der Sache nachgeht, am Ende als bloße Negation herausstellen wird.20

19

20

Zur Stromlinie vgl. Bestehorn: Hydrodynamik und Strukturbildung. 61f. 81f. Am Ende sind die Stromlinien genau die Linien, von denen jedes reale Strömungsgeschehen unausgesetzt abweichen muss. Das ist die Unterscheidung, die Spinoza in seinem Brief an Blyenbergh ganz deutlich macht (Brief 21): So ist das Schlechte (in allen Gestalten) in Bezug auf uns oder unsere Handlungen eine Privation. Wer blind ist, ist des Sehens beraubt, wenn man ihn vergleicht mit Sehenden oder mit ihm selbst, etwa bevor er das Augenlicht verlor. Die Privation wird also konstatiert, wenn man Seiende vergleicht, wenn man sie nur mithilfe der imaginatio denkt, also sie vorstellt, anstatt sie begrifflich zu durchdringen, und wenn man sie vereinzelt betrachtet – und alles drei gehört zusammen. Derselbe Mangel ist aber in Bezug auf Gott, d.h. zurückversetzt in die Totalität des Seinsgeschehens mit seinen Ursachen und Wirkungen, bloße Negation: Da fehlt nichts, und das Fehlen selbst ist inexistent und irrelevant. Was in der Negation, so betrachtet, negiert wird, ist die gesamte Serie von Bedingungen, die auf ein bestimmtes Resultat führen würden und die einfach nicht erfüllt sind: Ja, Teiresias hätte auch nicht blind sein können – er war aber nun einmal blind. Spinoza: Tutte le opere. 1938f. Briefwechsel 99f.

Wirbel

Wie nennt man solchen Mittelpunkt des Geschehens? Das Auge des Orkans, den Mittelpunkt des Wirbels, den Scheitel: Vertex. Diese Philosophie der Natur kann daher nicht anders als eine charakteristische Bewegung zu beschreiben:21 Sie wird sich, immer schneller, als sei das Denken in einen Malstrom geraten, um diesen Vertex drehen, der nicht da ist und der zu fehlen scheint (Privation), der sich aber, wenn man an ihm angekommen ist, genauer: wenn man in der größtmöglichen Nähe zu ihm ist (im Achsenkapitel), als selbst positive Materie des Philosophieren erweisen muss, also als Teil dessen, was es vorgeblich nur erklären soll, was deswegen auch in ständiger Verschiebung und Veränderung ist, und was immer nur nachträglich die Vereinheitlichung seiner Gegenstände besorgt, nicht zuletzt: den Ausweis der Äquivalenz dessen, was als äquivalent gesetzt ist.

21

Und dabei wird sie die Bewegung eines vorangegangenen Buches wiederholen, nämlich der Elemente einer Metaphysik der Immanenz, aber aus anderen Gründen, diesmal nämlich aus einer bewussten und selbstbewussten materialistischen Überzeugung heraus.

87

Auslenkung: Lukrez

Die hier ausgearbeitete Konzeption von Materie kann nicht auf allzu viele Vorläufer zurückblicken. Einen Materialismus zu entwerfen, der sich über das Allertrivialste erhebt, ist keine einfache Aufgabe. Oft gelingen kaum mehr als einzelne Beobachtungen und Bemerkungen. Eine Ausnahme stellt zweifelsohne Lukrez dar. Eine umfassende Würdigung ist weder möglich noch nötig in diesem Zusammenhang. Ein paar Punkte sollen aber herausgehoben werden, um zu verdeutlichen, wie sensibel Lukrez für die Wirklichkeit von Materie war – und das sogar gegen seine selbst ambivalenten ontologischen Grundprinzipien – und wo sein Beitrag zur Naturphilosophie an eine Grenze gerät.1 Selbstorganisation der Materie. Kein Gott, kein Schicksal, keine ewigen Gesetze – Lukrez erkennt keine Instanzen an, die dem Wirken der sich selbst überlassenen Materie gegenüber transzendent wären. Es gibt nur die Leere und die Atome – und sonst nichts (I, 419ff.). Im Grunde hat De rerum natura überhaupt kein anderes Thema als eine materielle Welt, die sich von sich aus organisiert, Welten hervorbringt und wieder untergehen lässt: Frühling und Herbst der Zeiten sich endlos abwechselnd: »Mit unsichtbaren Körpern lenkt die Natur also die Dinge.«2 Und diese kleinsten Körper sind von Lukrez konsequent in einer irreduziblen Pluralität gedacht; es ergäbe keinen Sinn, sie zählen zu wollen, selbst wenn man sie, per impossibile, wahrnehmen könnte. Sie bilden eher »die vielen Kräfte eines einzigen Körpers« (III, 265; Übersetzung von Binder), also eine Vielheit, aus der das, was wir als Einheit, Einzelnes, Individuum, Zählbares erkennen und denken können, erst entsteht. Das gröbste Schema dieser Selbstorganisation ist durch die drei Bewegungsformen gegeben, die Lukrez unterscheidet: Fall, Stoß, Ablenkung. Die Atome fallen, weil 1

2

Lukrez ist der erste, es einzuräumen: seine theoretische Originalität ist begrenzt. Er ist massiv abhängig von Epikur. Allerdings sind von dessen umfangreichem Werk nur wenige Texte auf uns gekommen. So hat auch Epikur ein Von der Natur verfasst, von dem allerdings kaum Fragmente erhalten sind. Das Gedicht von Lukrez bleibt damit eine durch Breite und Ausführlichkeit wie durch literarische Schönheit unvergleichliche Quelle für den antiken Materialismus. »corporibus caecis igitur natura gerit res« (I, 328) Meine Übersetzung. Die Blindheit, die hier den Körpern zugesprochen wird, ist durchaus doppeldeutig: Blind ist, wer sie zu sehen versucht, denn zu sehen sind sie eben nicht. Aber blind sind sie auch, denn sie sind nirgends nach dem Vorbild sehender oder gar planender Wesen gedacht.

90

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

sie schwer sind, ein Gewicht haben (pondus). Und sie fallen in einem Raum, der offenbar, obgleich in alle Richtungen unendlich, in oben und unten orientiert ist. Das Gewicht lässt die Atome nach unten fallen – zugegeben ein Gedanke, der uns Heutigen schwerfällt; es fehlt uns sichtlich das Referenzsystem für dieses »unten«. Sobald Atome sich im Universum begegnen, gelten strenge Gesetze des Stoßes (unter anderem die Gleichheit von Einfallswinkel und Ausfallswinkel, IV, 346f.). Die Stöße (plagae) bilden also die äußere Notwendigkeit, so wie der Fall der Atome ihre innere Notwendigkeit bildet. Diese beiden Bewegungsformen bilden so ein Raster der Regelmäßigkeit, das, sich selbst überlassen, zum Diktat unentrinnbarer Kausalität degenerieren würde. In Wahrheit hängt aber die Interaktion der Atome wie die Regelmäßigkeit, die daraus entsteht, von einem ontologischen Zufall ab, d.h. von einem, der nichts damit zu tun hat, dass wir z.B. gewisse Faktoren nicht erkennen würden oder könnten. Der Zufall ist ein absoluter. Lukrez prägt, indem er die »parenklisis« des Epikur übersetzt, den Begriff des Clinamen, um diese minimale Ablenkung der Atome von ihrem geraden Weg des Falls zu bezeichnen. Es stimmt schon, ohne diese Ablenkung wäre die Schöpfung nichts als ein nicht enden wollenden trüber Oktobertag: ein Atomregen, soweit das Denken reicht. Aber dieses Bild ist ja selbst eine reine Abstraktion, denn das Clinamen lässt sich für Lukrez nicht einfach aus der Wirklichkeit und ihrer Struktur herauskürzen: Es gibt ihr erst ihre unverwechselbare Gestalt. Und das nicht etwa, weil man einmal eine Unterbrechung des Atomregens gebraucht hätte, sondern weil diese Unterbrechung der kausalen Determination für Lukrez beständig geschieht: nicht kontinuierlich und nicht in einer vorhersehbaren Rhythmik – der Zufall bleibt absolut. Aber diese Abweichung gehört zum inneren Wesen der Atome selbst. Sie können gar nicht anders, als immer wieder ihrem Lauf neue Richtungen zu geben – eine Konzeption, die angesichts neuerer physikalischer Einsichten, nämlich in die sogenannte Brownsche Bewegung, deutlich weniger naiv klingt, als das für viele Generationen der Fall gewesen sein mag. In der Systematik von Lukrez jedenfalls ergibt sich damit eine Antwort auf die Frage, woher das Clinamen denn kommt. Eine Sache ist nämlich klar: Nichts kann aus nichts entstehen (I, 149ff.; II, 287).3 Das Clinamen aber entsteht nicht aus nichts, sondern ist eine positive Eigenschaft der Atome: ihre Spontaneität. Als solches zeigt es die Grenze des Schicksals, des Determinismus an: »fati foedera rumpat« (II, 254); es verwandelt damit den Begriff der Ursache wie das Bild der Welt: Die Ursachen bewirken regelmäßig, aber nicht gesetzmäßig, die Welt ist nicht der Schauplatz, auf dem ein längst geschriebenes Stück abgespult wird, sondern Ort einer wirklich unvorhersehbaren Produktivität. Diese Produktivität bringt Regelmäßigkeiten hervor, das wird Lukrez nicht müde zu betonen (z.B. III, 787), aber eben nicht die schlichte Wiederholung der in der Notwendigkeit festgelegten Typen. Das Clinamen ist der ontologische, materialistische Bruch mit der Notwendigkeit, der sich immer wieder

3

Epikurs Brief an Herodot führt gegen Anfang drei metaphysische Grundprinzipien auf, deren Zweck darin besteht, die Konstitution einer Welt radikaler Immanenz sicherzustellen: Nichts entsteht aus nichts; nichts vergeht ins Nichts (sondern nur wieder in anderes); das All bleibt sich immer gleich (da es nichts gibt, woher oder wovon es eine Einwirkung erleiden könnte). Vgl. Epikur: Briefe. 7. (B 38f.).

Auslenkung: Lukrez

neu ereignet, und dadurch auch Prinzip und Ermöglichungsgrund der Freiheit.4 (Damit ist auch klar, dass die regelmäßigen Gestalten Differenzen untereinander nicht aus-, sondern einschließen, und dass diese Abweichungen nicht, wie in idealistischen Konzepten als metaphysischer Mangel gedeutet werden, sondern integraler Bestandteil des natürlichen Wirkens selbst sind.) Zusammen bilden Fall, Stoß und Clinamen das Schema, das die Selbstorganisation der Materie vom Kleinsten bis zum Großen hin besorgt. Metonymisches Erkennen. Wenn es keine übergeordneten Prinzipien der Welterklärung gibt, dann kann und darf die Philosophie niemals das Feld der konkreten materiellen Wirklichkeit verlassen. Natürlich ist der Einsatz von Bildern und Analogien auch ein literarisches Verfahren. Es ist aber vor allem die einzige philosophische Methode, die zur Verfügung steht, wenn das philosophische Erklären nicht die Ebene wechseln darf (weil es eben keine andere gibt). Philosophie ist dann weniger oder nur in einem ersten, naiven Verständnis eine Darlegung allgemeiner Theorien. Sie ist in ihren wirksamen Vollzug immer eine Nebeneinanderstellung von scheinbar Heterogenem. Die Methode ist rein lateral oder seriell, denn die einzigen »Prinzipien«, die Lukrez anerkennt, sind selbst Dinge. Es gibt keinen Umweg über ein vermeintlich Höheres. Je zwei beliebige Phänomene dürfen nebeneinandergestellt werden, um ihre evokative Kraft zu versuchen. Es kann hier keine apriorische Begrenzung geben, weil alle Seienden der einen und selben 4

Die erste und sehr erfolgreiche Veröffentlichung eines gewissen Henri Bergson war eine kommentierte Auswahl aus De rerum natura von Lukrez. Und es ist wirklich bemerkenswert, mit welcher Entschiedenheit Bergson den Gedanken des Clinamen verwirft; er kann darin nur eine nachträgliche und unpassende Hinzufügung zum System des Atomismus zum Zweck der Rettung menschlicher Freiheit sehen. Er schreibt, ungewohnt drastisch, zu Epikurs »Hinzufügung« der Theorie des Clinamen: »Cette addition à la doctrine de Démocrite est puérile, indigne de ce grand philosophe. Epicure, qui se souciait peu de la physique, n’aurait certes pas inventé le clinamen, s’il n’avait senti le besoin d’établir la liberté de l’homme.« (Extraits de Lucrèce. 32) Dabei übersieht er, dass der Gedanke des Clinamen in Wahrheit die gesamte Konzeption der physischen Welt tief modifiziert. Erst hierdurch kann der strenge Determinismus ausgehebelt werden, für den alle Zeit bloß externer und manipulierbarer Parameter der natürlichen Abläufe ist, für den Zeit also im strengen Sinne nicht existiert. Bergsons eigene spätere Metaphysik wird sich dem in vielem annähern. Auch findet sich bei Lukrez bereits die Andeutung, dass Freiheit als Streuung von Teilchen im Innern der menschlichen Körper interpretiert werden muss (II, 284ff., denn es sind ja die unzähligen Teilchen, die in unbestimmbarer Zahl und unvorhersehbarer Richtung sich auslenken, die den Grund unserer Freiheit legen). Bergson wird später eine ganz ähnliche Konzeption präsentieren, wonach nämlich die natürliche Bedingung von Freiheit, d.h. zuerst und grundlegend der Entkoppelung von zwingenden Reiz- und Reaktionsschemata die unzählige Verzweigung der Nervenbahnen in den höher entwickelten Tieren und noch mehr beim Menschen ist (Matière et mémoire. 249f. L’évolution créatrice. 127). Freilich ergibt es auch wenig Sinn, dem 25-Jährigen vorzuwerfen, dass er noch nicht wusste, was der 35-Jährige wissen sollte. Gerade unter einer bergsonianischen Perspektive kann dieser Vorwurf nur als der größte denkbare Unverstand erscheinen, ist damit ja eben die Wirksamkeit der Dauer als solcher übergangen. Es bleibt freilich wahr, dass Bergson in seiner Präsentation von Lukrez genau den entscheidenden Gedanken der Unterscheidung zwischen Notwendigkeit und Regelmäßigkeit (via Clinamen) übersieht. Das wird besonders deutlich in seiner Einleitung, wo er davon spricht, dass das große Verdienst von Lukrez darin bestanden habe, die Unverbrüchlichkeit der Naturgesetze offengelegt zu haben (VIf. XX-XXII)! Bergson scheint entschlossen, den Theorieteil bei Lukrez zu ignorieren, den er als Schwachstelle ausgemacht zu haben glaubt und den er nun, wie um Lukrez zu exkulpieren, allein Epikur zuschlägt (für den Bergson hier nur begrenzte Bewunderung verrät).

91

92

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Welt angehören. Dann aber ist Erkennen eine Erhellung der Welt de proche en proche, wo das eine das Licht entzündet, das das nächste beleuchten wird. Naturerkenntnis: eine kosmische Osternacht. Eines nach dem anderen [alid ex alio] wird klar vor dich treten, nicht blinde Nacht wird dir den Weg verdunkeln, dir nicht verwehren, auch die letzte Wahrheit, die Natur der Dinge zu verstehen: Die Dinge sind es, die einander beleuchten [ita res accendent lumina rebus]. (I, 1114–1117)5 Wenn ich dieses Erkennen eher als ein metonymisches bezeichne, in Abgrenzung von der Synekdoche, die im Titel des entsprechenden Kapitels auftaucht, dann deswegen, weil die letzten Prinzipien, die Atome nämlich, das restituieren, was der hier vorgeschlagene Materialismus nicht zulässt: Seiende, für die eine gegenseitige Durchdringung nicht mehr gelten darf. Wirbel. Soweit ich jedenfalls sehe, ist Lukrez der erste, und für lange Zeit der einzige abendländische Denker, der erkannt hat, dass die Bewegungsweise der Verwirbelung nicht ein Zufall und nicht eine unwichtige und abgeleitete Form ist, sondern im Gegenteil die Hauptform, von der alle anderen abhängen, mindestens wenn man die mittlere Region des Seins betrachtet.6 Auch ist Lukrez sich offenkundig schon der Ursache hierfür bewusst: die schlichte Tatsache nämlich, dass sich Materie in ihrer Bewegung immer selbst im Weg steht und also gar nicht anders kann, als sich um sich selbst herum zu drehen. So ist es kein Zufall, wenn auch bei Lukrez die Elemente des Flüssigen und der Luft, Wasser und Wind, zusammengehören, ein Paradigma des Seins bilden, und zwar eines, das ganz grundsätzlich dem Gesetz der Wirbelbildung untersteht (I, 271ff.; dort in 26 Versen nicht weniger als fünfmal »turbo«/»turbidus«/»vertice torto«). Zwar gilt für die Atome im leeren Raum eine maximale Geschwindigkeit (aber keine unendlich große, sonst wäre jede denkbare Bewegung immer schon längst vergangen), die als Maß aller anderen Bewegungen fungiert. In den Bereichen des Universums aber, die wie die Atmosphäre der Erde voller Teilchen verschiedener Art sind, gilt eben das Gesetz von Bremsung und Verwirbelung (II, 141ff.). Und auch wenn mir jedenfalls nicht alle Einzelheiten der Erklärung für die Bewegung der Himmelskörper klar sind: Klar ist so viel, dass die

5

6

Die deutsche Übersetzung ist die von Binder (70). Büchner übersetzt den letzten Satz noch genauer so: »So wird ein Ding das Licht dem anderen entzünden.« (83) Einig sind sich beide, das Syntagma »alid ex alio« als »eins nach dem anderen« zu fassen. Das ist nicht falsch; es ist aber deutlich impliziert, dass die Fortpflanzung der Erhellung aus dem jeweils Betrachteten geschieht, dass es sich also um eine echte Folge und nicht nur eine Abfolge handelt. Im Übrigen begegnet dieses Syntagma mehrfach im Text von Lukrez (I, 407f., III, 970, V, 1305, V, 1456). Wieder muss die Überlieferungslage solche Einschätzungen relativieren. In der Tat begegnet der Wirbel (»diné«) in dem wenigen, was von Leukipp erhalten ist, dann wieder bei Demokrit und auch bei Epikur. Es scheint, dass man, wenn man sich einmal vornimmt, eine rein auf die Materialität gestützte Naturphilosophie zu entwerfen, automatisch auf diese Organisationsform stößt, selbst wenn man sich die Gründe dafür nicht ganz durchsichtig macht. So ist das nur noch ausgedehnte Universum Descartes’ ja auch voller »tourbillons«.

Auslenkung: Lukrez

verschiedenen Hypothesen mit jeweils verschiedenen Strömungs- und Verwirbelungsverhältnissen operieren, auf denen der Mond etwa durchs All getragen werden kann (V, 621ff.). Wenn im Sechsten Buch die meteorologischen Phänomene, Winde, Stürme, Blitze, Donner, Windhosen, beschrieben werden, erweist sich die Wirbelbildung als die geradezu universale Gestalt einer Welt, in der die Materie ihre eigene Organisation besorgt. Der Donner etwa mag entstehen aus einer immer drängender werdenden Verdichtung der Wolken durch einen Orkan, der in sie fährt, sie zusammenwirft, durcheinanderwirbelt und eine Höhlung (cava) bildet – bis sie ohrenbetäubend zerreißen (VI, 121ff.). Der Wirbel mit seiner inneren Achse ist also das Produkt, aber das fast unvermeidliche Produkt der Interaktion der verschiedenen Körper, die den Himmel füllen. Außerdem ist diese unheimliche Beschleunigung, in der die Wolken immer schneller um sich selbst getrieben werden, zugleich eine Erhitzung im Inneren, die als Blitz entfahren wird (VI, 271ff.) – der Blitz, der selbst feuriger Wirbel ist: igneus vertex (VI, 297f.) Windhosen (versabundus turbo, VI, 438; vertex, VI, 444), Erdbeben (vis versabunda, VI, 577–582), Vulkanausbrüche (turbo, VI, 668; turbidus ardor, VI, 673; turbida vis, VI, 693) – sie alle unterstehen dem Gesetz der Wirbelbildung.7 Wo immer man also das abstrakte Bild eines gleichmäßigen Nieselregens der Atome hinter sich lässt und die Atome und ihre Komplexe in der realen Interaktion betrachtet, sind die geraden Linien nicht das Paradigma und nicht die Regel, sondern in Wahrheit die Ausnahme und letztlich eine theoretische Illusion. Selbstverstärkende Prozesse. Ein anderer grundlegender Aspekt der Selbstorganisation der Materie, auf den Lukrez großes Gewicht legt, sind solche Prozesse, die in ihrer Entfaltung sich selbst verstärken und damit verschiedene Phasen der Eskalation durchlaufen. Das ist vor allem deshalb so wichtig, weil damit auch ganz anschaulich die Konstitution von heterogenen Gestaltungen in einem überall aus dem Selben geformten All erklärlich wird. So ist die unheimliche Geschwindigkeit des Blitzes nicht das Ergebnis einer einzigen Ursache, sondern eine Verkettung von Ursachen, deren spätere bereits eine hohe Geschwindigkeit voraussetzen: Er entsteht aus der Explosion der zusammengedrängten Luft in den Wolken und wird aus ihr mir großer Wucht herausgeschleudert. Weil er vor allem aus besonders kleinen Partikeln besteht, kann ihn kaum etwas bremsen. Aber alle

7

Lukrez schreibt aber nicht »die Vulkane«: Er schreibt »der Ätna« (639ff.), so wie er auch nicht von großen Strömen handelt, sondern vom Nil (VI, 712ff.), und so wie auch nicht allgemein von Gewässern spricht, die giftige Gase aussenden, sondern vom Averner See (VI, 738ff.). Wo immer es möglich ist, beginnt Lukrez, ganz im Einklang mit der metonymischen Methode, an einem wirklichen Ort, Fluss, Vulkan usw., um an ihm eine Serie anzuknüpfen. Auch der Magnet ist so ein Phänomen, von dem sich eine Serie entspinnen lässt, in der allerlei Kleben, Leimen, Zementieren, Vermischen seinen Platz findet (VI, 1065ff.). So etwas wie ein Isoliertes, Einzelnes, Unzusammenhängendes kann es in dieser Wirklichkeit nicht geben. So entspannt sich ein Gewebe sich kreuzender Serien, die das Gewebe der Wirklichkeit selbst sind und die somit die systematische Stelle allgemeiner Begriffe einnehmen. Die serielle Reihung von Wirklichen hat weder mit der Besonderung von Begriffen noch mit den Fällen eines Gesetzes etwas gemein. Wie alle radikalen Philosophen der Immanenz ist auch Lukrez gezwungen, der Falle des Allgemeinen zu entgehen – und wie den größten unter ihnen gelingt auch ihm eine atemberaubende, elegante Lösung.

93

94

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Partikeln fallen ja ohnehin schon nach unten, und der Impuls, den die Explosion den Partikeln des Blitzes gibt, verstärkt also die Geschwindigkeit noch. Vor allem aber verstärkt sich die Geschwindigkeit durch sich selbst noch einmal, denn ihre pure Wucht zieht weitere Partikeln mit in dieselbe Richtung, die ihren Impuls der nun gemeinsamen Bewegung hinzufügen und somit die Geschwindigkeit des Ganzen weiter beschleunigen (VI, 323ff.). Der Magnet ist ein weiteres Beispiel eines Prozesses, bei dem ein Auslöser mehrere sich gegenseitig verstärkende Reaktionen in Gang bringt: Der Magnetstein ist von solcher Art, dass aus ihm Teilchen so stark und vielzahlig ausgestoßen werden, dass sie alle um ihn herum liegenden Luftteilchen vertreiben. Die Teilchen aus einem Stück Eisen, das in der Nähe liegt, drängen nach, und weil Eisen ein Stoff ist, dessen Bestandteile große Kohäsion aufweisen, ziehen die Eisenteilchen das ganze Eisenstück nach – weil ja eben keine Luft mehr dazwischen ist, die das verhindern könnte. Zugleich aber (zweite Reaktion) drängen von hinten unablässig allerlei andere Partikel an das Eisenstück heran, die es zusätzlich nach vorne, d.h. in Richtung des Magneten treiben (denn dort ist ja durch die Wirkung des Magneten zumindest ein relatives Vakuum erzeugt worden). Schließlich (dritte Reaktion) bringt dieser ganze Prozess auch die Luft in den Poren des Eisens in Bewegung; er erzeugt in und durch diese Luft ein weiteres Bewegungspotential, das sich wie natürlich in die einmal eingeschlagene Richtung der Bewegung des Eisenkörpers einreiht und diese verstärkt (VI, 1002ff.). Mag das auch nach modernen Maßstäben elaborierte Science-Fiction sein: Die Bedeutung des Gedankens selbstverstärkender Prozesse ist jedenfalls unübersehbar. Im Übrigen zeigt das Ende des Buches ein ganz analoges Geschehen im menschlichen Raum: Denn die Pest in Athen, auf der das Gedicht so eindrucksvoll endet, wird als eine Geisel der Stadt wie des ländlichen Raums beschrieben. Doch auch hier wirkt eine Verstärkung, da die erkrankten Bauern auf der Suche nach Hilfe die Krankheit wieder in die Stadt einschleppen und dort, wie die Eisenteilchen beim Magneten, jeden freien Raum besetzen – bis die Krankheit ihre Ernte eingefahren hat (VI, 1252ff.). Zwar nicht im Detail der Darstellung, wohl aber im Grundzug der Verstärkung und Eskalation einer solchen Krankheit entspricht das durchaus modernen Befunden der Epidemiologie. Bemerkenswert ist schließlich die Beschreibung der Entwicklung der Kriegstechnik als ebenso viele Stufen der Eskalation: »So brütete finsterer Streit ein Ding nach dem anderen aus, um in den Heeren der Völker Entsetzen zu säen und Tag um Tag die Schrecken des Krieges zu vergrößern.« (V, 1305–1307; Übersetzung von Binder). Und das ist vor allem deshalb so bedeutsam, weil, wie die folgenden Verse deutlich machen, niemand diese todbringende Technik beherrscht, ebenso wenig wie die Löwen und Bullen, die man versucht hatte, für den Krieg einzusetzen. Krieg, Gewalt und die Technik, die ihnen dient, verselbständigen sich und bleiben in dieser Eskalation unzähmbar. Überfülle des Wirklichen. Zwar ist die Leere ein integraler Bestandteil atomistischer Systematik, doch diese Systematik hat schließlich keinen anderen Sinn, als zu erweisen, dass die Wirklichkeit nicht nur keinen Mangel leidet, sondern beständig Neues hervorbringt und damit sich selbst gegenüber überschüssig ist. Sie ist das schon für uns: Alle Zeit umdrängt uns das Sinnliche von allen Seiten in unbändiger Fülle (IV, 217ff. Vor allem 225–229: »Und so tatsächlich bei jedwedem Ding: Alle strömen ihr Eigenes aus, und es verteilt sich in jede Richtung ringsum. Weder Aufschub ist diesem Strömen gegönnt noch Pause, ununterbrochen regt sich ja auch unser Empfinden, immerfort können wir

Auslenkung: Lukrez

Dinge sehen, sie riechen, tönen hören.«; Übersetzung von Binder) Die Erde ihrerseits ist nicht nur Produkt der Interaktion der Atome, sondern Produzentin, Erfinderin, Mutter von zahllosen Geschöpfen (daedala tellus: I, 7; mater: II, 598f.; II, 998), was im Fünften Buch ausführlich geschildert wird (V, 783ff.). Die Wirklichkeit selbst ist also nichts anderes als eine Abfolge von Produktivitätsstufen und -schüben, die daher nicht umsonst den Namen der Natur trägt: Sie ist der Prozess des Gebärens selbst, zum Prinzip erhoben. Dabei verschränken sich die Eine Oberfläche allen Seins (das, was Deleuze »Univozität des Seins« nennen wird) und die Produktion von Differenzen: Letztlich sind wir doch alle himmlischem Samen entsprossen, alle haben wir den gleichen Vater, von ihm empfängt die gütige Mutter die feuchten Tropfen des Regens, sie nimmt die Erde auf und bringt aufblühend schimmernde Früchte hervor, üppige Bäume, auch der Menschen Geschlecht, gibt Lebenskraft den wilden Tieren aller Arten, stillt, für Nahrung sorgend und Futter, den Hunger aller, lässt sie ein wohlausgestattetes Leben führen und ihren Nachwuchs aufziehen: Mit Recht bekam die Erde den Namen Mutter. (II, 992–998)8 Und all dies geschieht »sponte sua«, aus eigener Kraft heraus, ohne die Notwendigkeit, noch irgendwelche höheren Mächte oder Prinzipien zugrunde zu legen: »Die Natur ist frei, ledig ist sie ihrer stolzen Tyrannen. Aus eigener Macht [sua per se sponte] regelt sie alles, ohne Zutun der Götter.« (II, 1090–1092; Übersetzung von Binder) Natur als Natura: Gebären/Geburt, als realer Anfang von immer Neuem – das ist die tiefe Intuition, die Lukrez in den ersten Versen die Feder führt. Denn im Proömium des Ersten Buches tritt die Natur, allegorisch geleitet von Venus, als eine Welt im Frühlingstaumel auf: Alles grünt, blüht, sprießt und ist umfangen und getragen von einer Macht des Lebens, einer Fruchtbarkeit, die in Wahrheit tiefer geht als die des Lebens, weil es die des Seins als solchen ist. Zugleich ist diese Fruchtbarkeit Ort einer Lust am Sein, die keines Trägers mehr bedarf, sondern die gerade in der ununterbrochenen Fortführung des Seins selbst aufscheint (voluptas, I, 1; cupide, I, 16 und 20; amorem, I, 19). Dynamik, Affekt, Produktivität sind die Aspekte eines Seins in Überfülle, eines Seins als Frühling. Man braucht sich nicht zu wundern, wenn dieses Gedicht, in scheinbar so eklatantem Widerspruch mit den Eingangsversen, in einer drastischen Schilderung der Pest in Athen endet. Es folgt damit doch nur dem Parcours des Seins selbst, denn wie alle ernstzunehmenden Materialisten ist auch Lukrez von dieser einfachen Wahrheit überzeugt: Was entsteht, muss auch enden. Mehr noch: Der Materialismus ist eben die Philosophie, die aus diesem Satz kein Argument zur Diskreditierung des Endlichen ableitet. Überfülle und Lust am Sein einerseits, Schmerz oder doch Wehmut des Vergänglichen gehören intim zusammen. Wenn die Welt ein Fest ist, so muss es doch enden, wenn ich geladen bin mitzufeiern, so werde ich mich doch eines Tages erheben müssen; es liegt dann nur an mir, nämlich an meiner Fähigkeit, dieses Enden anzunehmen, wirklich anzunehmen,

8

Übersetzung von Binder. Der »himmlische Same« ist wortwörtlich himmlisch, denn alle Atome entstammen ja dem All. Und der gemeinsame Vater aller Erdenwesen ist in einem bildhaften Sinn der Vater, der die bildhafte Mutter Erde befruchtet; viel grundlegender ist aber die Einheit des Seins in seinem Grundsatz, die damit ausgesprochen ist.

95

96

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

ob das Ende des Festes wie Verrat und Desillusionierung erscheint oder wie der gelassene Abschied von einer ausgelassenen Party, die ich genossen habe – nicht zuletzt deshalb, weil ich wusste, dass es keine zweite geben wird (III, 912ff.). Die Endlichkeit (finita potestas, terminus, I, 76 f; VI, 65f.) ist keine Einschränkung, kein Urteil, kein Weniger, sondern die positive Bedingung des Seins selbst.9 Der Tanz der Teilchen. In einer Philosophie, die lateral, metonymisch fortschreitet, die eines nach dem anderen zeigt, um Serien zu knüpfen, entstehen wie von selbst an manchen Stellen Knoten, in denen sich die Serien treffen und umschlingen. Und das sind keine theoretischen Knoten, sondern Schilderungen von Wirklichkeit, die eine bornierte Sicht auf philosophische Methode nur als »Bilder« auffassen kann – während sie in Wahrheit so viel »Argument« in sich enthalten, wie es nur sein kann. Ein solcher Knoten ist die zurecht berühmte Beschreibung des Tanzes der Teilchen im Licht. In ihr treffen sich die Aspekte der Selbstorganisation der Materie und werden sichtbar: als Irren, Tanzen, Wirbeln, unbeherrschbare Bewegung, sich fortpflanzendes Chaos, das Strukturbildung nicht ausschließt, sondern erst ermöglicht. Sieh nur genau hin, wenn die Sonne in einen dunklen Raum zu dringen vermag und ihr Licht in einzelnen Strahlen durch diesen sendet: Viele winzige Stäubchen wirst du sehen, wie sie sich im leeren, vom Licht hellen Raum auf vielerlei Weise mischen: als lägen sie in endlosem Streit, kämpften miteinander, pausenlos, in immer neuen Verbänden, angetrieben zu immer neuer Verknüpfung und wieder Trennung. Dies mag dir eine Vorstellung davon geben, wie es sich verhält mit den Urelementen, die im leeren Raum in unaufhörlicher Bewegung begriffen sind. So kann dir alltäglich Kleines großes Geschehen vorstellbar machen, dich zu erstem Begreifen führen. (Übersetzung von Binder) contemplator enim, cum solis lumina cumque inserti fundunt radii per opaca domorum. multa minuta modis multis per inane videbis corpora misceri radiorum lumine in ipso et velut aeterno certamine proelia pugnas edere turmatim certantia nec dare pausam, conciliis et discidiis exercita crebris; conicere ut possis ex hoc, primordia rerum quale sit in magno iactari semper inani. dumtaxat rerum magnarum parva potest res exemplare dare et vestigia notitiai. (II, 114–124)

9

Dazu passt, dass es eine kritische Grenze des Wachstums gibt: Es gibt einen Zenit, ein Maximum des Aufnehmens von Teilchen. Diesseits dieses Grates nimmt mein Körper mehr auf, als er abgibt; jenseits davon, gibt er wieder mehr ab. Und nur auf diesem einen großartigen Moment der Homöostase kommt es zu der absoluten Gleichmäßigkeit von Zustrom und Abstrom. Ein durch keine Theorie bestimmbarer und in keiner Erfahrung erlebbarer Scheitelpunkt der Welle, die mein Leben ist (II, 1112f.) Auch die Welten haben so ein Alter – und unsere Welt hat ihren Zenit schon überschritten (II, 1160ff.).

Auslenkung: Lukrez

So groß die Verdienste von Lukrez sind, meine Anlehnung kann nicht ohne Einschränkungen bleiben. Drei Punkte sollen nur genannt sein, in denen Lukrez’ Naturverständnis problematisch bleibt. Ambivalenz der sinnlichen Erfahrung. Lukrez betont mehrfach, dass eine Philosophie, die nicht der sinnlichen Erfahrung das volle Recht einräumt, die den Sinnen misstraut, sich selbst jeder Grundlage beraubt. Den Sinnen nicht zu trauen, ist geradezu Wahnsinn (perdelirum, I, 692; dementia, I, 704). Die Sinne sind die eine große Basis, der Rahmen, die Referenz unserer Wirklichkeitserkenntnis, und wenn sie nicht mehr als verlässlich gelten, hat man sich um alle Verlässlichkeit gebracht: Woran soll man sich dann noch halten? »Quo referemus enim?« (I, 699; allgemein hierzu I, 422–425; I, 693–704; IV, 469ff.) Doch Lukrez bleibt hierbei nicht stehen. Zwar setzt alle Einsicht bei den Sinnen an und keine kann den Sinnen widersprechen: »Hier aber geben wir nicht im mindestens zu, dass das Auge trügt.« (IV, 379; Übersetzung von Büchner) Aber welche der widerstreitenden Erklärungen für ein Naturphänomen die richtige ist, lässt sich nicht mehr durch die Sinne klären, »das kann allein der denkende Geist [ratio animi] entscheiden; schließlich können die Augen auch die Natur der Dinge nicht erkennen.« (IV, 384f.; Übersetzung von Binder) Und das Denken gelangt nun dahin, als reale Grundlage aller Ereignisse und Dinge etwas anzunehmen, was selbst per definitionem nicht sinnlich erfahrbar ist! Dahinter steht eine metaphysische, eine physikalische und eine psychologische These: Die metaphysische These lautet, dass in allem, was ist, etwas sein muss, was dem Vergehen widersteht, weil sonst alles Sein ins Nichts fallen müsste – nein: längst gefallen wäre! Die physikalische These lautet, dass die Atome, als letzte Bausteine des Seins, diese Unveränderlichen sein müssen; sie können weder etwas hinzugewinnen noch etwas verlieren von ihrer Masse. Und die psychologische These lautet, dass sinnliche Wahrnehmung der Effekt einer Vielzahl von kleinsten Teilchen ist, die von dem wahrgenommenen Gegenstand ohne Unterbrechung absplittern und auf unsere Sinnesorgane treffen – woraus zwingend folgt, dass die Atome, obgleich rein körperliche Grundlage des Sinnlichen, selbst nicht sinnlich wahrnehmbar sind. Damit ist aber die Rolle der Sinnlichkeit, die so eindrücklich von Lukrez in den Mittelpunkt gerückt wurde, wieder relativiert: Die letzte Basis des Körperlichen ist nur mehr dem Denken zugänglich – und das Denken ist dann immer in der Gefahr, über das, was ihm ohne die Disziplinierung durch die Sinne alleiniger Gegenstand ist, nach freien Gutdünken zu urteilen. Isolierte Atome. Und das Denken erfindet sich dann letzte Urelemente, die zwar in irreduzibler Pluralität auftreten, die dabei aber ihre gegenseitige Isolierung wahren: Sie durchdringen sich nicht. Damit ist ein Konzept von Materialität retabliert, das letzten Endes auf einer Abstraktion beruht. Systematischer Grund ist wieder die Forderung, die eine unzerstörbare Grundlage des Seins zu finden. Die Atome sind absolut hart, keine Kraft der Welt kann ein Atom zerteilen oder gar vernichten. Es ist für Lukrez ein besonders starkes Argument für seine Theorie, dass mit den absolut harten Atomen die Entstehung des Weichen leicht erklärt werden kann, nämlich als Verdünnung. Wie hingegen aus einer ursprünglich weichen Materie eine härtere entstehen sollte, ist offenbar nicht einzusehen (I, 565ff.). Die Flüssigkeit, Durchdringung, Verwirbelung ist also für das, was aus den Atomen gebildet wird, paradigmatisch; für die grundlegendste ontologische Ebene gelten diese Beschreibung aber nicht mehr. Denn Atome sind zwar un-

97

98

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

unterbrochen bewegt, aber nicht selbst flüssig, sie durchdringen sich nicht gegenseitig, sondern sind in unberührbarer Vereinzelung (selbst wenn sie immer in unabzählbarer Pluralität auftreten); sie bilden Wirbel und Ströme, sie sind aber keine. Damit lässt Lukrez eben doch wieder die konkrete materielle Fülle realer Körper hinter sich, um an ihre Stelle ein Schema oder ein Modell zu setzen. Dagegen meine ich, dass genau darin, in diesem Weichen, Flüssigen, Nachgiebigen, sich gegenseitig Durchdringenden die volle und letzte Wirklichkeit des Wirklichen zu suchen ist. Wenn wir unseren Sinnen vertrauen, wie es Lukrez zurecht fordert, dann kommen wir nicht umhin zuzugestehen, dass diese erfahrbare Wirklichkeit des Materiellen auch das letzte Wahre ist, was wir von der Welt aussagen können. Dann aber erweisen sich die Ideen der absolut harten Körper und der absolut durchdringlichen Leere als reine Grenzideen, an die das Denken stößt wie an einen Endpunkt, wenn sie die Richtungen des Seins bis in die letzte Konsequenz verfolgt. Es gibt freilich nur materielle Wirklichkeit, die sich aber in zwei entgegengesetzte Richtungen aufspannt. Die Extreme aber existieren nicht, weder das unzerstörbare Teilchen noch der völlig leere Raum. Sie sind die Abstraktionen eines Denkens, das, hat es sie erst erreicht, sich einredet, darin die letzte Struktur des materiellen Seins selbst erfasst zu haben – und es nimmt damit die Produkte seiner Imagination für die Wirklichkeit. Unendlichkeiten ohne Halt. Diese Schwierigkeiten führen letztlich darauf, dass auch bei Lukrez eine panoramatische Sicht auf das Sein bestimmend bleibt. In Raum und Zeit dehnt sich die Welt ihm in alle Richtungen aus, ohne irgendwo auf eine Grenze zu stoßen. Damit ist aber auch die Möglichkeit eines Orts innerhalb dieser Welt zumindest für den Philosophen aufgegeben: Dieser betrachtet die Welt von außen, und von diesem Blickpunkt aus muss die räumliche und zeitliche Unendlichkeit eine neuerliche Entwirklichung ins Werk setzen. Zeitlich gesehen kommt das in der öfters wiederholten Argumentation zum Ausdruck, dass ein Naturkonzept, das auch nur implizit die Auflösung alles Wirklichen zuließe, darauf führen müsste, dass es schon heute keine Wirklichkeit mehr gibt – ist uns doch schon eine Unendlichkeit von Zeit vorangegangen (vor allem I, 540–583). Räumlich gesehen wäre unter diesem Blickwinkel dem Fallen in einem konkreten Sinn keine Grenze gesetzt: Das Denken fiele immer weiter ins unendlich Kleine hinab, so dass es nirgends einen festen Halt finden würde. Wie Leibniz feststellen wird, ließe sich unter diesen Bedingungen eine Wirklichkeit der Körper nicht mehr streng behaupten. Auf beide Probleme antwortet das Konzept der Atome. (Und Leibniz nennt ja regelmäßig den Atomismus als eine, wenn auch falsche Lösung für das Problem der Entwirklichung der Körper kraft ihrer unendlichen Teilbarkeit.) Die Atome sind das, was die Wirklichkeit als solche garantiert, denn sie sind die Entitäten, die die Forderung erfüllen, die sich in Lukrez’ Konstatierung ausdrückt: Es muss etwas geben, was von keiner Veränderung betroffen ist, weil sonst der Veränderung und damit der Vernichtung kein Ende gesetzt wäre (I, 790f.) – und da bereits eine Ewigkeit an Zeit verstrichen ist, wäre schon heute nichts mehr, nicht einmal mehr ein Heute. Dann versteht man auch, dass die Atome ein Gewicht haben müssen, denn an nichts anderem kann man so unmittelbar das Wirkliche erkennen: es wiegt schwer. (Dem korrespondiert eben die Idee, dass die Atome fallen müssen, und damit die Idee, dass der Raum zwar unendlich, aber dennoch in oben und unten orientiert ist, II, 184ff.)

Auslenkung: Lukrez

Wenn man aber diese abstrakte Sichtweise verlässt, die auf die Welt von außen zu blicken vermeint, dann stellen sich gewisse Fragen eben nicht mehr. Dann ist die Positionierung im Wirklichen selbst eine absolute Angelegenheit, zwar nicht genau diese, aber die Tatsache einer Positionierung überhaupt. Ich muss nicht hier und heute sein, aber irgendwann und irgendwo muss ich sein. Und diese Positionierung trägt in sich die gesamte Schwere des Wirklichen, weil es eben keinen Standpunkt jenseits des Seins gibt. Das Fallen und Gleiten angesichts der unendlichen Teilbarkeit der Materie ist nur dann Operator ihrer Entwirklichung, wenn man glaubt, diese Situierung im Sein zugunsten einer denkerischen Abstraktion abgeben zu dürfen. Diese »mittlere« Größenordnung hat dann durchaus absoluten Charakter – und mit ihr die Gestalt, in der uns Materie in dieser Größenordnung begegnet. Es gibt keine letzten, unzerstörbaren und unveränderlichen Bausteine, sondern es ist die wogende Wirklichkeit der Mitte, die ihrerseits, in den Gestaltbildungsprozessen, immer neu die Elemente kombiniert, dabei auch erst bestimmt und verändert. Die Elemente gehen ihren Produkten nur in einer Hinsicht vorher; in einer anderen, wichtigeren, folgen sie aus ihnen. In einem gewissen Sinn ist Materie also in der Tat unzerstörbar; aber dafür braucht kein einzelnes Materieteilchen unzerstörbar sein. Es ist ja in Wahrheit nicht einmal sicher, dass Materie aus Teilchen besteht. Unzerstörbar (bis auf weiteres jedenfalls) ist die materielle Welt in ihrem grenzenlosen Spiel von Konjunktion, Interaktion und Widerstand. Das reicht vollkommen aus. La nature est naissance au lieu différentiel de la déclinaison […] Michel Serres’ 1977 erschienenes Buch über die Geburt der Physik aus dem Text von Lukrez ist weniger eine Auslegung von Lukrez als vielmehr eine leidenschaftliche und brillante Neufassung des Gedichts. Serres schreckt dabei vor provokanten Thesen nicht zurück: Die Naturwissenschaft kommt heute so langsam wieder auf das Niveau, das sie mit Archimedes, Epikur und Lukrez schon einmal erreicht hatte – so umschreibt Serres die Situation der Wissenschaftsgeschichte, deren Status als Geschichte eben damit erst neu verhandelt werden muss. Serres verbindet konsequent die Mathematik des Archimedes mit der Philosophie des Epikur. Und dann ist das Clinamen ein Differential der Bewegung (11).10 Serres’ ré-écriture ist nicht nur packend und imposant; sie trifft sich vor allen Dingen in allen entscheidenden Punkten mit der Metaphysik, die hier vorgeschlagen ist: der unhintergehbare Primat des Flüssigen für die Physik wie für die Metaphysik als Physik (z.B. 13–15, 112, 124, 139f., 237: die letzten Worte des Buches nehmen diesen Gedanken noch einmal auf); die Verwirbelung als natürlichste Bewegungsform der Materie (passim); die Strukturbildung im flüssigen Milieu, die also keinerlei externe oder transzendente Faktoren, Prinzipien oder gar Planer braucht (38f., 97, 104); die »Univozität des Sein« (Serres verwendet den Ausdruck nicht): die eine Operation, die sowohl für alle Prozesse des Seins gleichermaßen gilt, so dass zwischen Physik, Moral und Geschichte keinerlei kategorialer Unterschied besteht (zu Physik und Moral: z.B. 51, 68, 93, 116,

10

Denselben Gedanken spricht schon Deleuze aus (Logique du sens. 311: »une différentielle de la matière«). Er ist dort aber mehr Aperçu und bleibt folgenlos.

99

100

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

158, 162; zu Physik und Semiotik: 179, 182–186; zu einer materialistischen Theorie der Geschichte: 81, 202, 217f., 222f.), als auch als eine für die Bildung wie für die Auflösung der konkreten Gestalten und Wirklichkeiten verantwortlich ist (z.B. 40f., 45f., 62, 70, 73, 113f., 123…); dies alles als Ausdruck einer entschiedenen Metaphysik der Abweichung (31f., 37, 130) und gipfelnd in einer Philosophie der Pluralität,11 Lokalität, Singularität der Zeiten und Seienden (169f., 201f., 233f.) – das alles sind Grundzüge, die eine philosophische Physiognomie umreißen, der ich mich vorbehaltlos verpflichtet fühle – und die mir zudem im höchsten Maß sympathisch ist!12 Hinzukommt etwas, was man nur als eine absolute Phänomenologie der Körper beschreiben kann: Die Sache ist das Gewebe ihrer Entstehung, ihre Wahrheit ist ihr eingeschrieben, im aller wörtlichsten Sinn, so dass sich die Wahrheit der Dinge von ihnen selbst ablesen lässt, ein »Text«, der nicht wie Symbole, für die man erst noch den Schlüssel braucht, auf eine verborgene Wahrheit verweist, sondern der in der informellen Umgangssprache zu jedermann und jederfrau spricht: der alles offenlegt, nichts verheimlicht, der von der Erfahrung mit dem Ding selbst entnommen werden kann, der diese Erfahrung ist (213).

11

12

Auch Deleuze betont, dass die Naturphilosophie bei Lukrez (und im Gegensatz zu den Stoikern) eine Philosophie irreduzibler Pluralität ist, in der zwar sinnvoll von der Summe der Teilchen gesprochen werden kann, nicht aber von einer Totalität der Welt, ebd. 308f. Eine Abweichung immerhin zwischen Serres’ Wiederherstellung von Lukrez und meinen obigen Ausführungen liegt darin, dass ich Lukrez in seinem Atomismus beim Wort nehme: Letzte Grundlage der Materie sind zwar unendlich viele, aber in sich jeweils identische Teilchen. Dagegen setzt Serres den Atomismus, mit einer schlichten Verschiebung des Akzents, von Anfang an in den Kontext einer Physik des Flüssigen zurück, indem er die Rede von den Atomen nur im Medium einer Mathematik und Physik der »großen Zahl« zulässt, also im Sinn der unabzählbaren Elemente, die nur gemeinsam eine Realität bilden, die dann konstitutiv an statistische Regelmäßigkeiten gebunden ist. Ich wage nicht zu entscheiden, ob das beim Wort Nehmen in diesem Fall auch einem besseren Verstehen entspricht. Es ist aber wohl inzwischen klar, dass Serres’ Position ohnehin meine eigene ist: Sollte er also in Hinblick auf Lukrez »recht haben« (was auch immer das sein könnte), dann soll mir das recht sein: und was das heißt, versteht man immerhin.

Der Beat des Seins La nature agit par progrès. Itus et reditus, elle passe et revient, puis va plus loin, puis deux fois moins, puis plus que jamais etc. AAa. Le flux de la mer se fait ainsi aAaaAaa, le soleil semble marcher ainsi. Pascal, Pensées Du denkst, du wärst nur der MC, doch in Wahrheit bist du der Beat. Käptn Peng und die Tentakel von Delphi, Spiegelkabinett

Zeit. Alles Wirkliche ist Zeit. Die Zeit ist eine absolute, eine letzte Dimension des Seins. Jenseits der Zeit, außerhalb der Zeit – nichts. Nicht das Nichts, sondern einfach nichts. Zeit ist aber nicht eine Form, ist kein ebenes Maß der Veränderungen, nicht serener Takt des Beweglichen, Metronom des Universums. Man geriete denn wieder in jene Theorien, wonach die Zeit, als Form, selbst zeitlos sei. Das lockt, wie alles Paradoxe, mit dem Versprechen des Tiefgründigen; ist aber in diesem Fall jedenfalls ohne alle Substanz, denn es setzt bereits die Entleerung und Abstraktion des Zeitbegriffs voraus. Zeit ist nur als immanentes Maß des Wirklichen oder anders: als die Rhythmik des Wirklichen. Zeit ist voll, produktiv, unabkürzbar, sie fällt als solche ins Gewicht.1 Und sie ist nur, indem sie sich selbst rhythmisiert. Ihre Rhythmik ist die der Existenz der Dinge wie ihrer Phasen, ihrer Kontinuitäten und Brüche, ihrer leisen Wandlungen und lauten Exzesse. Und weil es nicht nur ein Ding gibt, und weil jedes Ding unzählige solcher Rhythmen in sich trägt – exakt ausgedrückt: weil jedes Ding im Durcheinander unzähliger solcher Rhythmen ist –, ist der Beat des Seins eine unendliche Verschränkung: ein

1

Bergson nennt diese wirkliche Zeit in Abgrenzung zum objektivierenden, zum verräumlichenden Zeitbegriff die Dauer. In den Elementen habe ich diese Zeit in derselben Abgrenzungsabsicht als »logische Zeit« bezeichnet. Ich kehre hier zum einzigen gängigen Wort zurück, indem ich aber unter Zeit immer genau die wirkliche Zeit wirklichen Seins verstehe.

102

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

stets erneuerter Puls, der bald hier, bald dort pocht, umgeben und umschrieben von Rubato, Accelerando, Rallentando, ein Puls, der sich herausschält, im Dröhnen der zahllosen Überschneidungen, Duolen, Triolen, Quintolen, phantastische Kombinationen, die keinem Lachenmann eingefallen wären. Ein Puls, der nur zu spüren ist, für ein Wesen, das selbst Puls ist, das zu dem Beat des Seins beiträgt. Wiederholung – Wirbel – Welle. Wiederholung. Rhythmus ist nur, wo Wiederholung ist. Hätte das Pulsieren der Zeit nicht einen Aspekt der Wiederholung, genauer: ließe es sich nicht auch unter diesem Aspekt spüren und lesen (denn Wiederholung, Wirbel und Welle sind ein und dasselbe), nie hätte der abstrakte Zeitbegriff, der bis Bergson die Metaphysik dominierte, jemandem mehr als ein müdes Lächeln entlockt. Die Wiederholung, das Regelmäßige, wie der Puls im Kleinen und die Gestirne im Großen, geben das Schema für ein Verständnis von Zeit, in dem man diese ihren »Inhalten« entgegensetzen könnte, als Schema oder Maß der Bewegung vor allem. Dem korrespondiert wie natürlich die Ansetzung von Entitäten, die »zumindest im Prinzip« auch jenseits der Zeit gedacht werden könnten, so meint man jedenfalls. Die Wiederholung: eine Gleichmäßigkeit im Rhythmus, der zufolge in nahezu gleichen Intervallen eine Bewegung sich wiederholt, d.h. die Körper (oder ihre Substitute) wieder am selben Platz sind. Der Kreis als Symbol einer Zeit, die, weil sie in ihren Anfang zurückgeht, ihrem Wesen und Sinn nach selbst nicht zeitlich ist2  – und damit die Abwertung der Zeit für das Auge schon vollzogen hat, bevor das Denken auch nur dortgewesen ist. Dabei immer unterschlagen: dass die Bewegung immer nur fast in ihren Anfang zurückführt, dass im Wirklichen kein Kreis und keine absolute Regelmäßigkeit besteht, dass diese Projektion aus dem wechselnden Gleichmaß des Pulsierens ist. Und so sucht der wissenschaftliche Geist nach dem absolut verlässlichen, sich immer gleichbleibenden Rhythmus, nach der Regelmäßigkeit, die keine Ausnahme und kein Schwanken kennt, und er gibt erst Ruhe, wenn er ihn gefunden hat, und wenn es im Zerfall von Atomen liegen sollte – und er übersieht dabei, dass ihm die Rechtfertigung des Kreises nur gelingt um den Preis, den absoluten Verlust, den letzten Sturzbach des Zerfalls zum Maßstab erklärt zu haben, das also, was seiner Definition nach nicht in den Anfang zurückkehren kann. Wirbel. Es gibt keine absolute Zeit, es gibt keine objektive, erst recht gibt es eine universale. Solche Konzepte gelten nur für Begriffe, und nur solange man über Begriffe nachdenkt, sind sie überzeugend, ja sie wirken gar unwiderstehlich: »selbstverständlich«. Wo diese Zeit wohl sein könnte, wie sie existiert, ob wir in ihr oder sie in uns ist – das bleibt nicht zufällig unbeantwortet. Zeit ist immer die Zeit von Seienden. Wo eine Bewegung so in sich zurückfließt, dass sie eine Stabilität ausbildet, sei es eine ephemere, sei es eine dauerhaftere, dort entsteht Zeit. Es ist die Zeit dieser Stabilität, dieses Seienden, dieser

2

Die Figur von Matthew McConaughey erklärt in True Detective ganz sachlich diese erschütternde Idee, umso erschütternder, je sachlicher einer sie sagen kann – denn dann muss sie bereits tiefe, tiefe Wurzeln geschlagen haben, den ganzen Untergrund einer Seele durchkreuzen: »Time is a flat circle.«

Der Beat des Seins

Singularität. Involution. Wirbel. Wo das Ufer die Strömung so verwirbelt, dass das Wasser sich im Kreis dreht, (aber eben nie wirklich im Kreis); wo ein Wesen auf sich bezogen ist, nicht dank eines mythischen Bewusstseins, sondern dank seiner Konstitution als eines der Entropie abgerungenen lebendigen Wesens – da ist Zeit. Wieder ist wahr, was Momo sagt, als man sie fragt, wann sie geboren wurde: »Soweit ich mich erinnern kann, war ich schon immer da.«3 Es ist wahr, nicht psychologisch, sondern ontologisch. Michel Serres hat diesen Punkt auf der Basis des antiken Atomismus in aller Klarheit bezeichnet: Wenn alles in eine Richtung fällt wie die Atome; wenn alles wild durcheinanderfliegt, wie die Atome in einem »Wolkenchaos«, gibt es weder Sein noch Sinn noch Zeit. Es ist die Verwirbelung der Bewegung, die Sein und damit Zeit entstehen lässt. Und wir wissen schon, dass Materie als solche diese Verwirbelung unausweichlich macht. (Ein Umstand, der allerdings bei Serres nicht ausgesprochen ist.) Was man so leichtfertig Individualität nennt – und sich dann wundert, dass man aus den Problemen nicht herauskommt –, ist eine Verwirbelung, eine Involution.4 Und eine jede Involution beginnt allererst eine Zeit, die es ohne sie nicht gäbe, die nicht eine messbare Länge unter dem Maß der einen objektiven (oder subjektiven, jedenfalls absoluten) Zeit wäre, sondern die eintritt als Zeit ins Gewebe der Zeiten, die von sich aus die »Gesamtheit« der Zeit verfertigen – wobei, man ahnt es schon, es diese Gesamtheit nicht noch einmal gibt.5 Eine Zeit, die enden wird, wenn die Verwirbelung dem Ansturm der Atome, dem Drängen der anderen Körper und der Abnutzung durch pures Bestehen nicht länger Widerstand leisten kann.6

3 4 5

6

Michael Ende: Momo. 9. Serres: La naissance de la physique. 184. Auch der Begriff der Involution ist bei Serres nicht zum Terminus technicus erhoben, zumindest nicht in prominenter Position. Wie aber gibt es dann noch Gegenwart, wieso treffen wir uns eigentlich? Wenn wir in verschiedenen Zeiten leben, müssten wir dann nicht ständig aneinander vorbeileben, vorbeidauern? Genau nicht! Gegenwart, das ist ein Produkt. Es ist Produkt (bis zu einem Grad) der Vergangenheit. Es ist aber vor allem Produkt des unvermittelten Kontakts, in dem die Seienden zueinander stehen. Mit anderen Worten: Es gibt überhaupt nur Gegenwart im vollen Sinn, weil und insofern es viele Seiende mit ihren je eigenen Zeiten gibt. Gegenwart ist die Resultante aus den Vektoren, die die Zeiten der Seienden sind. Und dort wird dann auch die Fiktion einer historischen Zeit konstruiert. Das heißt: Wir müssen gerade nicht erst in irgendeiner Form von Einheit zusammengefasst sein, in irgendeinem System, einer Struktur oder sonst etwas, um dann voneinander noch abzuweichen, um nebenbei auch noch ein »subjektives Zeiterleben« zu haben oder Ähnliches. Nein: Objektivität generiert sich in einem ganz wörtlichen Sinn in der Konfrontation von Einzelnen, die gerade nicht in einem System oder einer Struktur oder einer Totalität verbunden sind – was aber exakt nicht heißt, dass sie nicht schon in Beziehungen zueinander stehen. Serres: A.a.O. 169f. »Or le temps n’est rien sans chacune des choses, et chacune a le sien. L’atomisme est un pluralisme, et singulièrement, un polymorphisme chronique. Toute conjonction d’éléments décrit sa propre courbe ou descend sa propre chréode. Pour elle, née, commence un temps qui s’évanouit à son retour à la cascade, lorsque son tourbillon se défait le long du torrent. Ainsi des autres, çà et là. Le temps n’est le même qu’après sa dissémination. Et celui qui est mort hier n’est plus depuis aussi longtemps que celui dont la fin date de mois ou d’années longues. […] Il n’y a pas de temps zéro, pas d’origine. L’instant de la naissance est propre à chaque tourbillon, ici et là, jadis, demain, naguère, c’est ainsi que fonctionne le clinamen.«

103

104

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Welle. Die Natur kennt nur wellenartige Bewegungen, auch und vor allem solche, die in eine bestimmte Richtung oder Steigerung führen. Falsch ist die Idee eines Zyklus oder einer ewigen Wiederholung, die nur dem Vorurteil des Ewigen und Zeitlosen in die Hände spielen (und das einzige wahrhaft Ewige scheint das Vorurteil des Ewigen zu sein). Nein, wenn die Natur gewisse Prozesse als Steigerungen, Verringerungen, Vergrößerungen, Verkleinerungen und auch als unumkehrbare Zustandsänderungen inszeniert, kennt sie keinen geraden Weg. Es ließe sich nicht ein einziger natürlicher Prozess finden, der nicht in Anläufen und Schwankungen, in Wiederholungen, Versuchungen und Links- und Rechtsausscheren abläuft. Man darf sich von dem Bild der Welle nicht irreführen lassen. Nicht das Vor und Zurück ist das Entscheidende, ein Hin und Her, das sich schematisch mit einem Pfeil, der in zwei Richtungen zeigt, andeuten ließe. Das ist deshalb irreführend, weil es suggeriert, dass es immer dieselbe Materie ist, die vor- und zurückwogt. Das kann sein und wird meistens zu einem guten Teil so sein; aber das ist nicht das Entscheidende. Wichtig ist, dass stets Materie nachdrängt, nachdrängen muss, wenn Wiederholung und Wirbel stattfinden sollen, wenn also Natur eine körperliche Regelmäßigkeit ausbilden soll. Dieses Nachdrängen ist aber nie kontinuierlich, nie gleichmäßig, es macht Pause, stolpert, stottert, prescht vor, überschlägt sich, hält wieder inne, strömt zurück, und sei es auch nur ein klitzekleines Bisschen, setzt wieder an… Die Materie, die sich so bewegt, die wogt und pulst, bleibt zu großen Teilen gleich, sicher. Aber nie absolut. Sie wird mehr oder weniger. Sie wird ersetzt durch gleichartige, aber andere. Sie wird verwandelt, tauscht sich aus mit dem, was sie an ihrem Wege findet, bereichert sich durch fremde Körper, gibt eigene ab. Allerdings, ganz ohne Grund geschah es nicht, dass die Kreisbewegung und der gleichmäßige, kontinuierliche Lauf zum Paradigma der Bewegung erhoben wurden. Sie sind nicht nur einfacher denkbar, sondern scheinen auch besser die Phänomene zu beschreiben, die durch ihre Größe, Regelmäßigkeit und wortwörtliche Erhabenheit nicht zufällig das Urbild aller natürlichen Bewegung sind: die Läufe der Himmelskörper, in denen sich das Alltägliche mit dem Wunderbaren unentwirrbar vereint. Der Gang der Sterne und Planeten und Trabanten ist Kreisbewegung, und wenn dieser Kreis ein wenig in die Länge gezogen ist, so tut das am Ende seiner Regelmäßigkeit, in der ihr Ende ihr Anfang ist, keinen Abbruch. Dort sehen wir nichts, was an das Stocken des Atems und der Welle erinnert. Alles geht hier seinen kontinuierlichen Gang. Das ist richtig, und es liegt doch nur daran, dass in den Sphären der Himmelskörper das Gegeneinander einer sehr großen Masse mit einem sehr kleinen materiellen Widerstand kaum Verwirbelung aufkommen lässt. Das Gleichmaß der Bewegung ist also nicht verwunderlich. Aber es müssen nur drei massereiche Körper zusammenkommen, und das System verliert seine Gleichmäßigkeit und Vorhersehbarkeit (das sogenannte Dreikörperproblem). Die Gravitation verursacht dann einen Malstrom über den (mehr oder weniger) leeren Raum hinweg, einen aleatorischen Wirbel, der der Charybdis nicht nachsteht. Die Gleichmäßigkeit der Bahnen am Himmel – die ohnehin keine absolute ist – ist daher Produkt der spezifischen Verteilung von Materie; sie ist ein Grenzphänomen, an denen das Wirken von Wirbel und Welle minimisiert ist, so dass es dort nicht mehr als das Wesentliche materieller Abläufe erkennbar ist.

Der Beat des Seins

Wellen, Gezeiten. Der Wasserspiegel steigt weder schlagartig an noch in einer geraden Linie. Geduldig und scheinbar ohne Hintergedanken züngeln die Wellen immer mal wieder höher ans Gestade; wenn ein Verdacht entsteht und sie sich unter genauerer Beobachtung wissen, weichen sie noch ein-, zweimal zurück, tun so, als wollen sie gar nicht steigen – bis sie den Punkt erreicht haben, wo ihre Kraft so groß ist, dass sie ihre wahre Absicht nicht mehr verschleiern müssen. Man könnte sagen, die Wellen und, wenn auch in komplexerer Form, die Gezeiten seien klassische Beispiele von zyklischen Prozessen. Aber das ist nun einmal eine abstrakte Betrachtungsweise, denn sie reduziert das Wirkliche und Konkrete auf ein Ergebnis, das noch aussteht, und dies mithilfe einer Betrachtungsposition, die dem Geschehen gezielt fremd bleibt, weil sie ja mehr über es wissen will als es selbst. Und es ist auch faktisch falsch, denn diese anscheinend so zyklischen Prozesse sind wichtige Agenten in der Herstellung neuer und unverwechselbarer Wirklichkeiten, z.B. die allmähliche, aber weitreichende Konsequenzen mit sich bringenden Veränderung der Küstenlinie usw. So etwas lässt sich in keiner Weise mehr als zyklisch beschreiben. Das Spiel des Meeres am Gestade ist Bild der Anfänge einer jeden Entstehung von Neuem: einer Genese ohne Ränder, Rahmungen, Kanäle. Die spezifische Materialität des Meeres lässt daraus nicht viel mehr entstehen, die Genese scheint abortiv. In der Tat reicht sie nicht so weit, um daraus unmittelbar ein Schema für die Entstehung z.B. eines Lebewesens zu bilden. Doch ganz ohne festes und beobachtbares Resultat ist auch sie nicht, und vielleicht ist es gar nicht überraschend, dass darunter auch gerade Ränder sind: So findet man doch an jedem Strand einen Streifen, parallel zur Meereslinie, an dem die Wellen die größeren Steine abgelegt haben – und das nur in dem simplen Zusammenspiel der Wellen und Strömungen einerseits und der schwereren und leichteren Steinchen andererseits. Wehen. Die Geburt eines neuen Lebewesens ist das paradigmatischste Beispiel eines irreversiblen, und zugleich entropieverringenden Prozesses. Wir brauchen hier gar nicht mehr über zyklisch oder nicht diskutieren. Und keiner der Teilprozesse dieser Geburt oder allgemeiner Entstehung des neuen Organismus lässt sich mit gradlinig an- oder absteigenden Bewegungen beschreiben.7 Ein gutes Beispiel hieraus sind die Wehen, die langsam anfangen, leicht, fast unmerklich, mit Monatsschmerzen fast zu verwechseln, sich dann steigern, unerträglich werden können, aber dabei einer Logik der Gezeiten folgen, eine erstaunliche Regelmäßigkeit beachtend, sich versuchsweise steigernd, sich sogar plötzlich unterbrechen können (denn auch diese Betrachtung der Natur unter dem Zeichen der Gezeiten darf nicht wieder einer Idealisierung verfallen), dabei das Kind hinunterschie7

Der Blick auf die Geburt bleibt abstrakt, insofern diese nur eine Etappe in einem hoch komplexen Prozess darstellt, der mit ihr keineswegs zum Abschluss kommt. Es lässt sich schlichtweg nicht bestimmen, wann ein Lebewesen eigenständig ist (das Wort im strengsten Sinn genommen). Und es herrschen hier offenkundig große Unterschiede zwischen den Spezies. Ein siebenjähriges Menschenkind könnte vielleicht schon alleine überleben; ob ihm damit aber nicht eine Härte zugemutet wird, die viele Vektoren menschlicher Existenz dauerhaft beschneiden muss, ist eine andere Frage, die nicht weniger die Selbständigkeit betrifft wie die des reinen Überlebenkönnens. Nichtsdestotrotz ist die Bedeutung, die die Geburt als Ereignis hat, keine Willkür, ihre Zäsur – in einem durchaus wörtlichen Sinn! – ist massiv; sie leitet eine neue Phase ein, erkennbar an den veränderten Spielregeln.

105

106

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

bend, die Position und Ausrichtung des Kindes verändern, die Gewebe erweiternd usw. usf. Es können nun einmal keine Veränderungen in der Natur, nicht einmal diese radikalsten überhaupt mit einem Schlag erfolgen. Die Natur kennt das gar nicht: auf einen Schlag. Wieder macht sich die Eigenmacht der Materie bemerkbar, die sich nicht zwingen und hetzen lässt. (Gerade die banalsten Beispiele sind gut genug: Wenn man den Deckel einer Pappschachtel heben will, bemerkt man das: Die schnellste Bewegung ist nicht die, die den besten Erfolg bringt, da der untere Teil der Schachtel mit hochgehoben werden wird. Eine mittelschnelle ist es, in der das beste Ergebnis erzielt wird.) Sturm. Auch er schlägt nicht mit einem Male zu: Er baut sich auf, versucht seine Kräfte, wird drängender, gewaltsamer, lässt nach, atmet und lässt atmen, für Momente (die berühmte Ruhe vor dem Sturm, die in Wahrheit mehrfach eintritt, aber einmal, nämlich vor dem letzten und härtesten und nicht mehr abgeschwächten Schlag am tiefsten und bedrohlichsten), kehrt zurück, doppelt so stark, bis er sich im Wirbel, der er ist, voll manifestiert. Der Wirbel ist weder Mangel an Realität noch irgendeine Form von Entrealisierung, die etwa darin bestünde, dass etwas sich immer nur im Kreis dreht, sinnlos, ziellos, haltlos – so wie in den Filmen der Postmoderne einer gefangen zu sein scheint in einer ewigen Wiederholung des Selben, wovon der Groundhog Day nur die komödiantische Variante bildet (aber mit welch grausamen Humor). Wirbel sein heißt ja eben nicht: auf der Stelle treten und immer dasselbe tun, heißt nicht: Mangel an Realität, Dauer, Entwicklung, Macht, Beziehung auf ein Außen. Wirbel sind im Gegenteil in intensivstem Austausch mit dem Außen – man muss nur einmal einem Sturm zugeschaut haben. Und der Wirbel bewegt sich und er bezieht ein und er wirft aus und er bricht sich bald und er bricht bald anderes… Wenn also die Rhythmik der Wehen das Sein in seiner Dauer und Zeitlichkeit charakterisiert, dann der Wirbel in seiner momentanen Kraft und Wirksamkeit, die im Rhythmus der Wehen sich ausdehnt und einfaltet, an den Grenzen sich in unendliche Verwirbelungen fraktal auseinanderfaltend. Vormenschlich und unmenschlich ist dieses Schauspiel. Doch deshalb nicht weniger schön. Es gibt gar keine sinnlosen, dumpfen, immergleichen Wiederholungen. Kreisläufe sind immer Wellen, die sich verschieben. Sie verschieben sich in zwei Richtungen: intensiv (im Sinn der Wellen oder Wehen) und extensiv, in eine bestimmte Richtung, entweder indem sie sich tatsächlich bewegen wie etwa ein Sturm oder indem sie das, was sie berühren, ununterbrochen modifizieren wie das Blut. Blut. Auch das bildet doch nur einen Kreislauf unter der Bedingung, dass das, was es berührt, belebt, beliefert, »bewässert«, sich in eben dieser Kreislaufbewegung ändert. Nicht nur durch das Blut natürlich, aber ganz wesentlich eben dadurch auch. Und zugleich wird das Blut von ihm, von den Organen, den Blutbahnen, den Nervenenden, von den Vorgängen im Körper wie seinem Austausch mit dem, was draußen ist, verändert. Insofern ist das Blut ein Wirbel, der sich in sich selbst zurückneigt, indem er das, was er nicht ist, berührt und verändert und davon verändert wird (und der also nicht in einer autistischen Selbstbezogenheit, einem ontologischen Narzissmus verharrt). Aber es ist ebenso der Rhythmik der Wellen unterworfen: Denn die Stärke, mit der das Blut hineingepumpt wird, unterliegt beständigem Wandel. Es ist wahr, es gibt hier gelegentlich den sprunghaften Anstieg oder auch das erstarrende Aussetzen, aber diese im engen Sinn

Der Beat des Seins

unnatürlichen (weil der Tendenz von Natur entgegenlaufenden) Phänomene, setzen sich unweigerlich fort in abebbende oder ansteigende Wellen. Unterschieden sind all diese Phänomene an ihren Rändern. Die Welle bricht und fällt in sich zurück. Ihren Rand bildet sie selbst, für einen Wimpernschlag nur, und hier und da treibt sie Steinchen an den Strand und lässt sie, wie einen vergessenen Teil ihrer selbst, liegen. Der Sturm dreht seinen Rand in sich hinein, er wird dadurch stabiler als eine bloße Welle. Aber auch er bringt nichts hervor, was ihn, als seine Produktionsbedingung, überdauert. Er wird nur sich selbst geschaffen haben, anderes höchstens zerstört. Das Blut aber wird in festen Kanälen gepumpt, als Transportmittel in Straßen, für deren Reproduktion auch das Blut seinen Beitrag leistet. Während also Welle und Sturm es nicht zur Hervorbringung eines Seienden bringen, das von ihnen, einmal hervorgebracht, unabhängig wäre, ist das Blut Funktionselement eines Lebewesens, das »schon« da ist, das wenigstens nicht vom Blut hervorgebracht wird. Die materielle Verwandtschaft aller Phänomene verrät sich spätestens in den Verästelungen, in die alles Materielle sich fortzusetzen verurteilt ist – in Welle und Sturm ist die fraktale Brechung die der Phänomene selbst; die Bezogenheit des Blutes auf einen aus sich selbst seienden Organismus bezeugt sich hingegen darin, dass diese Brechung nicht vom Blut selbst besorgt wird, sondern von den immer kleiner werdenden Verästelungen der Gefäße, der Kanäle also. Zwischen dem Rand, der mit dem Ansturm der Materie wieder in sich fällt, und dem festen Rand, in dem sich Materie allerlei Arten bewegt, ist das Rätsel. Das Rätsel der Entstehung von etwas Neuem. Von einem Seienden, das aus sich selbst sein kann und die Situation, Bedingungen und Agenten seiner Produktion überdauern wird. Solche Produktion von Seienden kann nur stattfinden, wo die Wege der Materie nicht schon fest vorgegeben sind. Dem Kind mag genetisch ein Weg vorgegeben sein, wie man oft hört und was nun wirklich nur und ausschließlich mit dem sprichwörtlichen Salzkorn stimmt; seine Möglichkeit zu wahrhafter Neuheit aber – die allen genetischen Determinismus leichthändig übertrumpft – liegt auch darin, dass es materiell nicht in Kanälen, sondern in einer Blase, einem Frei-Raum entsteht. Trotzdem ist hier eine Umgrenzung vorgegeben, ein Rand, der verhindert, dass sich, wie im Flüssigen, wie in Gasen, die Körper mit ihren Kräften verlieren, diffundieren; der dafür sorgt, dass sie sich dauerhaft ineinander drehen, aufeinander anwenden. Dasselbe leistet bei anderen Lebewesen das Ei. Denn die ganze Schwierigkeit besteht darin, eine Formung an einer expandieren Grenze zu denken. Sind die Kanäle schon da, ist nur Reproduktion möglich – und damit ist hier gerade nicht die »Fortpflanzung« gemeint, sondern die immer von neuem erforderliche Ausbesserung, Erneuerung, Restauration dessen, was schon ist und was lebt. Gibt es aber andererseits keinerlei Kanalisierung, keine Vorgabe von Wegen, dann wird sich das Materielle verloren haben, bevor sein Potential einer Produktion von Sein ausgeschöpft ist. Die materielle Wirklichkeit steht daher überall vor der Herausforderung, genau solche Wege, Kanäle und Ränder allererst zu schaffen, und mit ihnen differenzierte Orte. Wie geschieht denn konkret die Genese eines Lebewesens? Wir wissen heute mehr darüber als je zuvor. Und doch entkommt man nur mit Mühe der Gefahr, diese Genese zu leicht zu nehmen – nämlich eben als »Reproduktion«. Wenn schon ein Pferd existiert, oder mindestens zwei, so meint man vielleicht, dann ist es ja nicht mehr so schwer, noch

107

108

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

eines herzustellen. Das Detail der biologischen Kenntnisse und Konzeptionen ist dann gar nicht entscheidend gegenüber der allgemeinen Idee, dass die Vorhandenheit eines Exemplars die Entstehung eines weiteren zumindest prinzipiell verständlich macht. So oder so denkt man sich den Vorgang dann als eine Kopie, Verdopplung, Reproduktion eben. Eigenartig mechanistisch stellt man sich das vor. Dem korrespondiert am anderen Ende der Skala die Erklärung, dass die Entstehung eines neuen Lebewesens ein Wunder sei. So ungenau diese Redeweise auch ist, sie ist gleichwohl näher an der Sache, weil sie sowohl die radikale Neuheit des Kindes als auch die Unvorhersehbarkeit, die Unbeherrschbarkeit des Prozesses ernstnimmt. Wir beziehen uns bei der Frage nach der Genese des Lebewesens üblicherweise auf die DNA. Das ist nicht falsch. Falsch ist nur die Vorstellung, die man sich oft davon macht: die DNA als ein Programm, das aktiviert, abgelesen und umgesetzt wird. Schon der Jargon sollte stutzig machen: Als sei die Natur eine semiotische Angelegenheit. Die Idee ist alt, und doch kann man knapp festhalten, dass jede Konzeption, die meint, die Natur müsse gelesen werden, die Natur als Natur verfehlt. Das Paradigma ist ein zutiefst idealistisches, das den Menschen auffordert, zum Leser zu werden, und dann noch vom schnöden Wortlaut zu abstrahieren, um sich der Reinheit der Signifikate (wenn die Sprache die der Mathematik oder die eines Codes ist) oder gleich der Durchsichtigkeit des Signifikats zu öffnen. Die Natur kann nicht gelesen werden, nur erlebt, und das in aktiver Auseinandersetzung mit ihr. In der Konzeption der DNA als eines Programms liegt weiterhin das Vorurteil einer Teleologie der Natur, zumindest insofern als das Programm eine codierte Vorgabe zu weiterem Handeln ist, ein Plan also, der seiner Realisierung vorausgeht. Die Bezugnahme auf die DNA als Programm und Code zur Herstellung von Lebewesen ist daher nicht nur eine besonders subtile Variante der Verflüchtigung des Problems der Genese im Sinn einer Reproduktion, sondern auch eine entschieden idealistische, entmaterialisierte Erklärungsweise. Doch gibt es nun einmal keine Genese ohne Epigenese, kein Programm ohne Rückkopplung, keine Entstehung ohne Materie und ihr Eigengewicht. Und vor allem scheitert die Konzeption der Programmierung an den biologischen Realitäten selbst: In Wahrheit nämlich codiert und decodiert sich die Materie in der DNA selbst, und das in einer nicht formalisierbaren Weise8 8

Die Aktivierung der Gene ist nicht nur selbst von einer »Information« abhängig, die nicht festgenagelt werden kann, deren biologische Grundlage also nicht identifizierbar ist (»Aber die entscheidende Information zum Verständnis der Lebensdynamik bleibt ein Geheimnis – so offen die Sequenz vor uns liegt. Gemeint ist die Sequenzinformation, die festlegt, wann und wo, für wie lange und unter welchen Umständen ein Gen ein- oder ausgeschaltet ist. Diese Steuerinformation kann den Sequenzdaten nicht entnommen werden […].« Fischer: Das Genom. 58f.); die Gene liegen nicht nur auf den Chromosomen »mosaikartig« vor, so dass die relevanten genetischen Informationen eines Gens durch »junk« voneinander getrennt sind, dessen Menge an Aminosäuren die der relevanten Abschnitte um ein Vielfaches übersteigt (lauter Nutzloses also, das als Träger, Milieu, Meer der »Informationen« fungiert); die Gene können sogar ineinander geschoben sein, so dass ein und dieselbe Sequenz von Säuren je nach Leseraster die verschiedensten Effekte haben kann. Zwar lassen sich Start- und Stoppsignale innerhalb der Säurensequenzen identifizieren; aber offenkundig hat man damit nur einen kleinen Teil der Decodierungsmaschinerie erfasst. Eine apriorische, selbst eine empirisch erschöpfende Kenntnis aller Start-, Stopp- und Verschiebungssignale ist offenbar unmöglich. Es kann immer noch ein weiteres Gen geben, das sich als eine neue Lesemög-

Der Beat des Seins

Andererseits ist es ja richtig, dass die Entstehung eines neuen Lebewesens kein mechanischer Prozess ist. Die Natur fängt ja nicht jedes Mal wieder von vorne an. Es ist ja aus der Mutter, sowohl in ihrer biologischen Organisation als auch in ihrer individuellen Gestalt, dass sich das Kind entwickelt: Aus einem Pantherweibchen kommt ein Pantherkind, aus einer Frau ein Menschenkind, und beide Kinder werden zudem Ähnlichkeiten mit der Mutter aufweisen – die im Übrigen meist gar nicht so einfach zu bestimmen sind. Die Entstehung eines neuen Lebewesens zu denken, ebenso wie die Entstehung von Neuem überhaupt (und dazu gehören auch, wenn man solche schematischen Kategorien liebt, das Leben selbst und die Arten und Gattungen), wird erst gelingen, wenn man einen neuen Begriff von Materie in Händen hält: der Begriff einer Materie, die immer schon und von sich aus »informiert« ist (im doppelten Sinn). Solche informierte Materie, z.B. eine Zelle, kann dann an die Arbeit der Akkumulation, Anverwandlung, Transformation, Kopie, Teilung, Vervielfältigung, Ausdifferenzierung usw. schreiten. Eine Materie also, die von sich aus über ihre jeweiligen Begrenzungen hinaus strebt. (Ohne, versteht sich, etwas zu »wollen«.) An den Rändern dieser Expansion entscheidet sich jeweils das Gelingen, d.h. die Dauerhaftigkeit und die Zukunftsträchtigkeit. Es entscheidet sich dort die Möglichkeit eines Seienden, das von sich aus ist. Die DNA ist das Extrem einer solchen Materie, scheinbar ihre formale Ausdifferenzierung, Wellenkamm der organischen Materie; aber sie ist nicht die Herrscherin und Lenkerin dieses Prozesses, sondern ganz konkreter Teil der sich organisierenden Materie: ihr eingestülpter Rand. Lärm und Melodie. Die Welle hat ihren Ort im Elementaren und seiner ontologischen Unabzählbarkeit, der »reinen Vielheit« (»multiple pur«).9 Wo Einzelnes entsteht und sich aus dem Anonymen des Elementaren erhebt, geschieht das in einem Prozess der Verwirbelung, dessen Ausgang von vielem abhängt, darunter von der spezifischen Art der elementaren Materie, den Bedingungen des Randes und nicht zuletzt vom Zufall. Einzelnes, von sich aus Seiendes ist, insofern ihm die Wiederholung eingeschrieben ist. Wenn in den bisherigen Beispielen diese schematische Zuordnung nicht eingehalten wurde, dann nicht deshalb, weil sie nur schematisch wäre, sondern weil sie abstrakt

9

lichkeit »hinter« den anderen, den »offensichtlichen« versteckt. Die Mosaikstruktur durchbricht die Linearität der »Information« und setzt eine neue Dimension hinzu, in der die DNA ihre schlichte Eindeutigkeit verliert, überbelichtet, überdeterminiert wird: überall ein ontologischer Luxus, eine Vervielfältigung der Wege und Produkte, die nur noch nachträglich als funktional beschrieben werden können. Und wenn die DNA nur die Art und Weise ist, wie sich Materie selbst zu ihrer eigenen Formung bestimmt, dann kann das auch gar nicht anders sein – zumindest wenn man endlich einen Materiebegriff gewonnen hat, der Aktivität, Produktivität, Veränderung, Selbsttätigkeit, Überschuss nicht mehr ausschließt. Wie es Badiou in seiner erstaunlichen Metaphysik nennt. Ontologie ist dabei für ihn Mathematik; es gibt mithin keine philosophische Ontologie für sich. Diese Ontologie hat es mit reinen Vielheiten zu tun, Vielheiten von Vielheiten. Solche Vielheiten ohne Eines/Eins sind der ontologische Grundbegriff, ja einziger Gegenstand der Ontologie. Das Eine/die Eins ist nur als Produkt der Vielheiten denkbar. Natur als Totalität ist formal ausgeschlossen. Man sieht, wie diese Metaphysik, obzwar sie aus einer ganz anderen Richtung kommt, doch einige überraschende Nähen zu dem hier Entwickelten verrät.

109

110

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

ist: Elementares, Verwirbelung, Seiendes existieren in diesem Universum nur miteinander, in gegenseitiger Bedingung, weshalb eine einfache Veränderung des Blickpunkts den Wirbel im Fluss und die Welle im Lebewesen finden lässt. Es gibt nun mal kein Elementares an sich; das wäre der Atomregen ohne Clinamen. Und keine Einzelwesen ohne Milieu und Nährlösung; das wäre die Substanzenwelt der Alten und Mittelalten. Und beides nicht ohne Prozesse der Überführung des einen ins andere; das wäre die statische Nebeneinanderstellung zweier Unverbundener. Im Elementaren rauscht die Welt, brummt das Sein, im Einzelnen hat sich das Brausen zu einer Invention und Sinfonie geordnet. Beides zusammen, in der unendlichen Verschränkung der Seienden, macht erst den Beat des Seins. Knallkörper. Nicht alles scheint dieser Beschreibung zu folgen. Lassen sich z.B. Entzündungsprozesse in diesen Kategorien fassen? Wenn ein brennbares Gemisch durch eine Flamme so erhitzt wird, dass es seine Metastabilität verliert und sich entzündet, lässt sich das dann noch als ein solcher Prozess des Pulsierens beschreiben? Pulsieren, Welle: das meint nicht in erster Linie ein Hin und Her, sondern ein Nachdrängen von Materie, das nicht kontinuierlich abläuft, sondern in Schüben, bald hier drängend, bald sich zurücknehmend, unvorhersehbar, durch keine Mathematik errechenbar, aleatorisch. Und das geschieht auch bei jeder Verbrennung. Man muss nur fünf Minuten in das Lagerfeuer blicken, um das zu wissen. Dass das alles trivial ist, ist ja eben der Grund, weshalb man es schreiben muss: weil eine gewisse Idee von Wissenschaft meinte, nur das Ideale sei das Eigentliche, und die Ungenauigkeiten und Unsauberkeiten des Wirklichen – die man nie bestritt – seien Verunreinigungen der idealen Verhältnisse. Es ist also eine metaphysische Parteinahme für das Wirkliche, demgegenüber zu erklären, dass das Ungenaue, Unsaubere, ganz Unideale das Eigentliche und Wirkliche, ja: das Einzige ist, und dass nur diese Sichtweise dem Wirklichen als solchen auch gerecht zu werden vermag. Diese Wellennatur des Feuers liegt bereits in seiner chemischen Natur begründet. Kein brennbares Gemisch geht »auf einen Schlag« in den neuen Zustand über; vielmehr sind es einige Moleküle, Materieteile, die sich zuerst soweit erhitzen, dass sie in Flammen übergehen; vor allem muss immer erst einmal die Grenze der Aggregatzustände überwunden werden, denn nur Gase sind brennbar. (So ist es beispielsweise bei einem Ölfilm immer nur die Oberfläche, die brennt, nie die »tieferen« Schichten, und die Flammen selbst bilden ja solche züngelnden Pulse, die nach außen und oben drängen. Und dieses Pulsieren ist es auch, was neue, zuerst tieferliegende Schichten des Öls freilegt und für das Verbrennen zur Verfügung stellt. Nachdrängen von Materie in concreto.) Und diese Übergänge sind selbst schwankende, unsichere Grenzen, auf denen viele der Moleküle lange tanzen können, bis sie endlich fallen. Dann aber, das ist wahr, geschieht es meist in einer Kaskade, einem Dominoeffekt. Explosionsartige Entzündungen scheinen nicht dieser Logik der Expansion, des Nachdrängens zu folgen. Und hier scheint das »auf einen Schlag«, die höchste Plötzlichkeit, welche Zeitlichkeit, Welle, Wirbel zuschanden macht, tatsächlich erreicht. Das ist richtig, und doch ist die Explosion nur ein Grenzphänomen des Pulsierens. Das zeigt sich zum einen daran, dass sie eben plötzlich, zeitlich maximal umgrenzt ist; dann daran, dass sie radikal unwiederholbar ist, d.h. dass in ihr gerade kein Pfad für künftige

Der Beat des Seins

Bewegungen entworfen wird; dann daran, dass sie keinerlei feste Gestalt herstellen kann, dass ihr Rand im Gegenteil nur den Radius ihrer Wirksamkeit abmisst; und schließlich daran, dass die Explosion konstitutiv ein Nachdrängen gar nicht vorsieht, sondern auf der vorgängigen Verknappung und Verdichtung des Ausgangsmaterials beruht. Und alle diese Aspekte besagen dasselbe: dass die explosionsartige Entzündung nicht die Wiederlegung der Natur als Prozess, als Wirbel, Wiederholung und Welle ist, sondern ihre Grenze anzeigt. Natur ist das, was nur im Kommen und Gehen, im va-et-vient, im Schwanken, wie im Tanz sich bewegt, nie wie im Sprint, und selbst der Sprint hat mehr vom Walzer als vom Pistolenschuss, und selbst der Pistolenschuss ist einer geraden Linie radikal, nämlich ontologisch unähnlich. Wiederholung entsteht schlicht aus der Natur von Materie, ihrem ontologischen wie physischen Eigengewicht, ihrer Selbstwiderständigkeit. Dass Wiederholung und Schaffung von Differenzen zusammengehören, ist dabei nicht nur in einem ganz allgemeinen Sinn klar. Es ist ganz einfach so, dass die Wiederholung eine Richtung definiert, ein Woraufhin. Und was für eines? Nun, einfach das, was die Wiederholung, das An- und Abschwellen und langsame sich Vergrößern, anpeilt. Es sind die materiellen Wiederholungen selbst, die alle Richtungen aus sich entlassen. Das ist auch der einzige mögliche Begriff von »Zwecken«. Die Ziele der Bewegungen, ihre Richtungen lassen sich nicht unabhängig, schon gar nicht als vorgeordnet oder vorgängig definieren. Sie entstehen einzig und allein aus der Wiederholung selbst. Es gibt eine Art Zyklik, es gibt einen Aspekt der Kreisbewegung, die auf sich selbst zurückkommt. Und weil es diesen Aspekt gibt, konnte man ihn fälschlich zum vollständigen Ausdruck des Ganzen erheben. Darin lag eine eigenartige Doppelung: Einerseits konnte man die Vollkommenheit und Subtilität der Schöpfung bewundern, die unbedingt – da man ja von allen genetischen Fragen Abstand genommen hatte, aus Prinzip – einen Schöpfer brauchte; andererseits aber war die Natur dann, solange sie nur sich selbst überlassen war, eine eigentümlich sinnlose, weil um sich kreisende, autistische, sterile Sache. Solange der Kreislauf ein Kreislauf war, der sich nicht oder nicht nennenswert bewegte, der auf der Stelle trat, war der Verweis auf den Schöpfer nicht nur die Behebung einer explikatorischen Lücke (die daher kam, dass man eben nicht nach der tatsächlichen Entstehung richtig zu fragen wusste), sondern sie antwortete auch auf die stumme, unausgesprochene Sinnlosigkeit, die in der Kreisbewegung natürlicher Prozesse lag: Gezeiten, Tage Monate Jahre, Sonne und Mond, Sterne, Geburt Reife Alter Tod Blut usw. usf. Wenn das alles wäre, dann hätte die klassische Konzeption recht, dann wäre die Welt, sich selbst überlassen, sinnlos, die Natur von brutaler Gleichgültigkeit. Aber so ist es nun mal nicht. Denn das Pulsieren der natürlichen Vorgänge ist nur in einer Hinsicht eine Wiederholung und ein Kreislauf. Es ist auf der anderen Seite und zugleich auch eine Expansion, die alles Sein mitreißt und verändert. Die Gezeiten treiben das Meer, die Tiere, den Boden, das Treibgut mit sich und lecken so lange am Land, bis dieses sich, ermüdet vom Angriff, ergibt und als Gefangener fortführen lässt, zu anderen Gestaden. Das Blut pumpt durch meinen Körper und treibt eigenartige Blüten, nämlich in all den kleinen und kleinsten Gefäßen, in die es sich verliert, um dort zu etwas anderem zu werden, zu neuer Bewegung, neuer Richtung; so wie auch die Entstehung und Erneuerung der Ner-

111

112

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

ven ein beständiges Hinausdrängen, eine schrittweise Expansion ins noch nicht nervlich Erschlossene ist. Und all die Wesen, die geboren werden, aufwachsen und irgendwann sterben: Ihr Dasein ist sinnlos nur von außen, ihre scheinbare Tautologie gilt nur für die hohle Abstraktion; in Wahrheit ist ihr Sein nichts anderes als eine unablässige Expansion, die sich irgendwann zwar erschöpft, nicht aber ohne zuvor so vieles, so Wunderliches geschaffen und verwandelt zu haben. Und im Großen ist auch die Evolution der Lebewesen nichts anderes als ein Pulsieren des Wiederholens – noch ein Einzeller, noch ein Einzeller, noch ein Einzeller –, das gerade durch dieses Pulsieren und Wiederholen Neues schafft, in vielen Anläufen, in Geburtswehen das Unerhörte in die Welt pressend, sie wird schon Platz dafür schaffen, weil sie es muss. Zeit ist keine Form, ist nichts Allgemeines oder Äußerliches oder Leeres. Zeit ist immer schon gefüllt, gefüllt mit Bewegungen. Mehr noch: Zeit ist immer Zeit der Bewegungen und der Seienden. Und zwar nicht in einem puren Chaos, sondern mit solchen Bewegungen, die sich wiederholen und damit eine Ordnung bilden, die pulsieren und damit einen Rhythmus bilden, den Beat des Seins, den man, im Gegensatz zur Sphärenharmonie, auch vernehmen kann. Diese Bewegungen in Wiederholung sind zugleich und ihrem Wesen nach Ausdehnung, Hinausgreifen, Expansion, Veränderung der ganzen Welt: denn jeder gute Beat ist ansteckend. Dauer in der Natur: das kreisende Pulsieren, das seinen Radius vergrößert und damit hinausdrängt und mit anderen Pulsen interferiert. Und jeder Puls muss einmal abbrechen, jedes Instrument verstummen, kaputtgehen. Nur der Beat als ganzer ist ewig.

Schmetterlingsflügel On a tort de dire la nuit tombe; on devrait dire la nuit monte; car c’est de terre que vient l’obscurité. Victor Hugo, L’Homme qui rit Das Licht kam nicht mehr von oben, es hing in sich selber, und in sich selber hängend leuchtete es zwar noch, aber es beleuchtete nichts mehr, so dass auch die Landschaft, über der es hing, auf ein seltsames Eigenlicht beschränkt schien. Hermann Broch, Der Tod des Vergil

Den Körper denken. Die Materie denken. Nichts einfacher, nichts schwieriger. Der Weg zu einer Philosophie der Natur muss durch dieses Nadelöhr führen. An ihm wird, wenn man hindurchgelangt, die Passage zu einem Materialismus durchschritten, der seinen Namen verdient. Die Schwierigkeit: Unter dem Denken verstehen wir eine Anordnung von Begriffen, die durch ihr gegenseitiges Verhältnis und ihre klaren Abgrenzungen bestimmt sind. Die Definition ist das Abrakadabra dieser Konzeption des Denkens. Ist das Denken, zumindest idealerweise, die Domäne klarer Ordnung, sauberer Aufteilung, eindeutiger Verhältnisbestimmung, dann kann die Welt der Körper nur eine Enttäuschung sein. Ist das Denken das Reich der Transparenz – wo alles, was am Denken und am Begriff noch körperlich, undurchsichtig, dunkel ist, sich auflöst, bis sich die Ideen in ihrer Lauterkeit erblicken lassen –, dann muss Materie das Reich der Finsternis sein. Die Schwierigkeit entsteht einfach dadurch, dass die Körper, dass allgemein unsere leibliche, körperliche, bunte, unsaubere Wirklichkeit genau das nicht ist, was das Denken, zumindest das unserer westlichen Philosophie, am liebsten hat: kategorial sauber geordnet und aufgeteilt. Wie nach Jean Paul das Lächerliche nicht in die Definitionen der Philosophen eingehen wollte, ausgenommen unwillkürlich1  – so auch der Körper. Der Körper ist eben das exakte Gegenstück von dem, was allein man definieren kann: der Begriff. Der Körper ist dabei das Wirkliche, seine Defizienz gegenüber dem Begriff qualifiziert in Wahrheit 1

Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. 102.

114

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

sein Wirklichsein und das Wirkliche selbst. Wenn der Körper nicht in den Begriff einging, dann waren die Philosophen meist schnell damit zur Hand, die Schuld dafür beim Körper zu suchen. Aber vielleicht ist es ja noch nicht einmal ganz sicher, dass es Begriffe anders gibt denn als Organe einer reinen Pragmatik des Denkens – in diesem Fall aber wäre jede Einzelstellung, Isolierung, Umgrenzung, Festsetzung, Definition eben Ausdruck eines tiefen Missverständnisses gegenüber der Existenzweise von Begriffen. Dann aber würde auch die Entgegensetzung von Begriff und Körper und jedes Motiv für eine Abwertung von diesem gegenüber jenem fallen. Denn wie das Lächerliche (wieder nach Jean Paul) die Anzahl der krummen Linien zu ihrem Stoff hat (also zahllose), so ist ja eben auch der Körper, so ist Materie primär und fundamental gebogen, verwirbelt, ungerade; der scheinbare Primat der geraden Linie hingegen nur das Produkt einer sehr exzentrischen und überhaupt nicht selbstverständlichen Auffassung über die Natur des Denkens. Die Beharrungskraft einmal verbreiteter Ideen aber ist stark. In der Tat ist Denken zuerst Bewegung, und wie jede Bewegung braucht auch sie für den schnellsten Lauf die festeste Grundlage. So hat man an einer idealistischen Auffassung von Denken festgehalten und gnadenlos die Schlüsse für die Materie daraus gezogen. Die Materie ist dann entweder gleich das Nicht-Seiende, das grundlegend Eigenschaftslose oder aber »reine Ausdehnung«: dies letztere von besonderer Wirkungsmacht in der Neuzeit. Reine Ausdehnung bedeutet: bloße geometrische Quantität (Descartes) bzw. (in späterer Zeit) das, was von den »sekundären Qualitäten« ins Quantitative, Mathematisierbare »übersetzt« werden kann. Immer aber ist Materie an sich tot, bewegungslos (sie muss ständig bewegt werden von irgendwelchen Bewegern und Nasenstübern), unproduktiv (es gibt dort nur Wiederholung des Selben und Rekombination der Teile), geschichtslos (Zeit hängt der Ausdehnung nur äußerlich, als Parameter an) und durch einen Abgrund von allem Geistigen oder auch nur Empfindenden getrennt. Keine Frage, der Dualismus ist geschlossen und kohärent. Doch schafft er sofort zahllose Ungereimtheiten und Mysterien, selbst noch in seinen subtileren Varianten, und er stülpt vor allen Dingen den Körpern, die wir tatsächlich kennen, erfahren und sind, ein »Ideenkleid« (Husserl) über, unter dem sie nicht mehr zu erkennen sind. Die Dauer der Dinge. Es fällt uns oft schon schwer zu begreifen, wie tief die Zeit in die Dinge selbst eingelassen ist. Und das liegt auch daran, dass wir gerne die falschen Beispiele wählen. Wir denken meistens an Artefakte, und die inhärente Tendenz der Kultur und ihrer Artefakte – zumindest der modernen – ist exakt der Ausschluss aller Spuren von solchen Zeiteinschreibungen und vom Konkreten, Einmaligen, Widerständigen überhaupt. Das Symbol dieser Tendenz ist das Plastik. Nicht nur ist hier zum ersten Mal die aristotelische Behauptung von Form und Materie wahr gemacht worden (denn für die Natur ist diese Behauptung Unfug); nicht nur ist hier die Individualität des Dings zum Verschwinden gebracht worden, zumindest ist das die Absicht – nein, vor allem ist hier die Zeitlichkeit des Dings eliminiert: Plastik altert nicht. Es steht immer gleich vor uns. Daher altert auch das Ding nicht. Es scheint daher, dass nicht-seelisches Sein tatsächlich keine Zeitdimension hat. Dass in Wahrheit auch Plastik altert, selbst noch von äußeren Vernichtungen abgesehen, dass auch Kunststoff seine Geschichtlichkeit hat, seine Poro-

Schmetterlingsflügel

sität, wird dadurch weggesprochen, dass man sagt, das Ding sei dann »kaputt« – so als würde es damit in eine andere ontologische Kategorie fallen. Echte Dinge aber haben immer ihre Zeitlichkeit und dadurch Individualität. Eine Spur davon existiert noch bei Leibniz mit seiner Idee des vollständigen Begriffs, aber die Kategorien sind viel zu abstrakt und intellektualistisch, zu kalt rechnerisch.2 Man muss nur an das denken, was wir tun: Wir haben unsere Lieblingsstifte, -stühle, -bücher (also individuelle Drucke), -löffel usw. usf. Wir leben in einer Welt, die von zeitlichen und individualisierten Dingen bevölkert ist. Die Heldengeschichten, in denen die Schwerter eigene Namen haben, sind nur die spektakulärsten Formen hiervon. Dinge haben Geschichte. Das ist es, was wir tatsächlich praktizieren. Manche Kulturen, weit davon entfernt, sich von diesem praktischen Vollzug in der Theorie abzuwenden, erheben genau das zum Kriterium der Schönheit der Dinge. So führt Tanizaki in seinem Lob des Schattens aus, dass die japanische Kultur im Gegensatz zur europäischen nicht den Glanz und die makellose Helle sucht, sondern im Gegenteil in den Spuren des Alters und Gebrauchs die Zeichen einer nicht mehr auf den Begriff zu bringenden individuellen Schönheit erblickt. Schmutz, Schweiß, Unreinheit, die Spuren der Zeit sind für den ostasiatischen »Geschmack« (der aber eben auch eine Ontologie ist) Zeichen einer besonderen Schönheit, in ihnen ist die Zeit in die Dinge eingedrungen, denn auch die »unbelebten« Dinge sind etwas, wovon Bergsons Satz gilt (den dieser nur für Lebewesen gelten lassen wollte), dass sie ein Register haben, in das sich die Dauer einschreibt. Tanizaki schreibt etwa, die Japaner schätzten besonders solche Dinge, die einen gewissen Glanz haben, den Glanz, der entsteht, wenn eine Stelle von Menschenhänden während langer Zeit angefasst, glatt gescheuert wird und die Ausdünstungen allmählich ins Material eindringen. Es handelt sich also, anders gesagt, zweifelsohne um den Schweiß und Schmutz der Hände. […] Während die Abendländer den Schmutz radikal aufzudecken und zu entfernen trachten, konservieren ihn die Ostasiaten sorgfältig und ästhetisieren ihn, wie er ist […] es ist unser Schicksal, dass wir nun einmal Dinge mit Spuren von

2

Deleuze betont in seiner Leibniz-Lektüre eine in der Tat bemerkenswerte Textstelle (Nouveaux Essais. IV. Kapitel 16. § 12), in der Leibniz feststellt, dass es gar nicht so leicht ist zu sagen, wo das Sinnliche aufhört und wo das Geistige anfängt! (Deleuze: Le pli. 89. 162). Nicht weniger bemerkenswert ist der Versuch von Anne Conway, den cartesischen Dualismus hinter sich zu lassen. Körper und Geist sind bei ihr nur die Namen für die beiden Pole des Geschöpflichen, das in Wahrheit ein Kontinuum bildet. Körper und Geist sind also nicht voneinander geschieden, aber auch nicht geradehin dasselbe, sondern vielmehr relative Begriffe, indem sie Abstufungen im endlichen Sein bilden. »Truly, every body is a spirit and nothing else, and it differs from a spirit only insofar as it is darker. Therefore the crasser it becomes, the more it is removed from the condition of spirit. Consequently, the distinction between spirit and body is only modal and incremental, not essential and substantial.« (The Principles. 39f.) Körper ist verdichteter und verfestigter Geist, Geist ist verdünnter und beweglicher gemachter Körper (61). Demnach gilt für Conway auch nicht, dass Körper gegeneinander undurchdringlich sind (49f.). Jeder Körper hat von sich aus Bewegung und daher auch Leben (51). Geist gibt es nur in Pluralität: »I, for example, am a multiple being« (54). Mag das alles auch eingebettet sein in eine eher konventionelle Metaphysik: Die Art und Weise, in der Conway die Grundideen des Dualismus untergräbt, ist eindrucksvoll und reich an Impulsen.

115

116

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Menschenhänden, Lampenruß, Wind und Regen lieben oder auch daran erinnernde Farbtönungen und Lichteinwirkungen.3 Das steht natürlich in direktem Gegensatz zur abendländischen und modernen Bevorzugung des Makellosen, sogar der Stoffe, die keine Spuren aufnehmen und zeigen (etwa Stahl, Edelstahl, deren Anfälligkeit für Fingerspuren gerade ihre auffallendste Schwäche ist), der Materialien, die keine Abnutzung kennen und immer glatt und gleich bleiben (Kunststoff), damit eine Bevorzugung von Dingen, aus denen jede Zeitlichkeit gewichen ist. Daher kommt es, dass es uns so schwer fällt (selbst noch Bergson!), die intimste Einschreibung der Zeitlichkeit in jeden Gegenstand, bis hin zu Fels und Artefakt in aller Konsequenz zu denken. Die »japanische Ästhetik«, die Tanizaki umreißt, ist daher als Wink in die Richtung einer anderen Ontologie der Materie zu verstehen – so wie letzten Endes wohl keine ernstzunehmende Ästhetik gedacht werden kann, die nicht Beziehung zur Wahrheit hat. Trägheit der Masse. Der unverrückbare Grundsatz abendländischer Physik ist, dass ein Körper sich nur bewegt, wenn er bewegt wird. Zumindest für die makrokosmischen Phänomene gilt dieser Grundsatz ausnahmslos, und damit für den Bereich der klassischen neuzeitlichen Physik. Körper erhalten ihre Bewegung von außen, und ein jeder Körper wird den Zustand, den er einmal hat (egal ob Bewegung oder Ruhe), solange bewahren, wie ihn anderen Ursachen nicht daran hindern. Der Mechanismus, der sich aus dieser Idee speist, mündet schließlich im toten Gewässer des Determinismus. Absolute Bewegtheit und absolute Ruhe sind dort dasselbe, aber nicht mehr, wie bei Bruno, weil sie von der Quelle allen Seins und Lebens unablässig gespeist werden,4 sondern im Gegenteil weil alles, was in der determinierten Welt geschehen kann, längst geschehen ist, von außen betrachtet werden kann und damit der Sinnlosigkeit preisgegeben ist. Wenn alle Körper ihre Bewegung (und mit ihr ihre Wirkungskraft) immer nur von einem anderen Körper bzw. mehreren anderen Körpern erhalten, dann ist das ontologische Eigengewicht der einzelnen Körper genichtet. Das Denken findet keinen Anhalt mehr in dem Universum, das es sich mit den dünnen Fäden des Begriffs gesponnen hat, nirgends kann es Fuß fassen in einer Welt, in der ein jedes, was befragt wird, ans nächste verweist, es gleitet und fällt – bis es aus der Welt gekippt ist und desillusioniert feststellen muss, dass in ihr nichts von Wert, Gewicht, Mächtigkeit ist. Alles fällt ins Boden- und Sinnlose.5 Die Alternative: Die Bewegungen kommen von innen her, ein jeder Körper trägt in sich das Prinzip seiner Bewegung. In der Tat hat die klassische physikalische Denkweise davon, um der Wahrheit die Ehre zu geben, eine Spur erhalten, indem sie den Körpern Kräfte zusprach. Doch schon melden sich Zweifel, sind Prinzipien und Kräfte doch die paradigmatischen Kandidaten einer philosophischen Verdopplung: Statt von den Körpern spricht man endlich doch wieder über das, was hinter ihnen steht und ihnen Sein

3 4 5

Tanizaki Jun’ichirō: Lob des Schattens. 25f. Bruno: De l’infinito, universo e mondi. 341–343. Also in formellem Gegensatz zur Erkenntnis nach Lukrez: Denn bei ihm erklärt sich nicht jedes Einzelne für unzuständig und verweist darum weiter; sondern ein jedes hat von sich und über sich etwas zu sagen – so vieles gar, dass es immer zugleich auch etwas über anderes zu sagen hat.

Schmetterlingsflügel

und Wirkkraft gibt. Nicht überall ist dieser Zusammenhang so deutlich ausgesprochen wie bei Leibniz, doch überall wirkt er. Auch liegt nun die Bezugnahme auf eine weitere Kandidatin für Verdopplungen nicht mehr fern: die Seele. So landet man entweder im Dualismus beseelter und unbeseelter Körper – und für letztere gesteht man dann die rein äußerliche Verursachung zu – oder in einem radikalen Animismus, in dem alles, selbst die Berge und Planeten beseelt sind. Im ersten Fall steht man vor all den Abgründen des Denkens, die Dualismen so mit sich bringen; im letzteren ist man es schuldig zu plausibilieren, was es heißen mag, dass ein Planet Seele und Empfindung hat – und man wird es wohl bleiben. Beides ist falsch. Körper werden nicht geradehin von außen bewegt und sie bewegen sich nicht einfach nur von sich aus, schon gar nicht dank einwohnender Prinzipien. Bewegung ist immer von außen und von innen zugleich, d.h. Produkt eines Aufeinandertreffens von einem Seienden, das von sich aus ist und ein ontologisches Eigengewicht hat, mit einem anderen, von dem das Gleiche gilt. Damit ist nicht gemeint, was jeder Physiker, jeder Gymnasiast in der Mittelstufe weiß, dass sich eine Wirkung als das Produkt der in sie eingehenden Faktoren darstellt (wie in der Berechnung der Kräfte, die in einem Aufprall wirken). Das ist natürlich richtig, diese Konzeption praktiziert aber selbst den Blick von außen, den sie als ontologische These bewahrheitet, insofern sich ihre Berechnungen als wahr erweisen. Das Von-sich-selbst-aus-Sein, das es allererst ermöglicht, einem Körper eine Bewegung zuzuschreiben, die in einem engen Sinn ihm zugehört, selbst dann, wenn sie von einem oder mehreren anderen verursacht ist, ist ein ontologischer Grundverhalt, der in den Theorien der Physik gar nicht auftauchen kann. Das erklärt auch, weshalb diese sich auf Konzepte wie die der Kraft oder Energie stützen müssen. Wieder gilt, dass daran nichts falsch ist; die Kritik, die hier zum Ausdruck kommt, meint gar nicht die Physik – und wenn sie es täte, wäre sie nur besonders vergeblich, denn warum sollten die Physiker auf sie hören? Ihr Ziel ist einzig die ontologische Perspektive, unter der sich Körper als Seiende zeigen, denen Bewegungen als rein äußerliche Bestimmtheiten zukommen können. Der Irrtum ist einer, der nur die Metaphysik betrifft. Körper, auch wenn sie von außen bewegt werden, eignen sich gewissermaßen ihre Bewegtheit an und sie führen sie fort und weiter, indem sie ihre Bewegung mit anderen Bewegungen in Wechselwirkung treten lassen. Die Berechnungen der Physik lassen hinter den Kräften, Energien, Geschwindigkeiten, Massen wieder das verschwinden, was ihr eigentlicher Gegenstand ist: die Körper. Gegenstand der Physik sind aber die Körper, insofern sie als Gegenstände betrachtet werden und insofern sie in Theorien eingehen. Aufgabe der Metaphysik ist es, das Versäumnis der Physik – ein Versäumnis ohne Verschulden – zu begleichen: Ihre Aufgabe ist es, die Körper als Körper zu denken. Und dazu muss ein jeder Körper, ein Planet wie ein Sandkorn, eine Feder wie eine Feuerzunge, als eine Lokalität verstanden werden, in der und von der her sich Wirklichkeit konkret vollzieht. Bildhaft gesprochen gilt es, sich an den Platz von Feder und Blatt zu setzen – ohne ihnen eine Seele zuzuschreiben, für die es keine verlässlichen Anzeichen gibt. Das hat massive Auswirkungen, nicht zuletzt auf die Konzeption von Kausalität. Berechenbar ist das Verhältnis von Ursache und Wirkung nur unter der Voraussetzung, dass die Ursachen (in Form bestimmter Körper und ihrer Veränderungen, Bewegungen etc., also physischer Ereignisse) und die Wirkungen (in derselben Form) klar voneinan-

117

118

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

der unterschieden werden können. Vermittelt sind beide über die Regelmäßigkeiten, die in einer komplizierten Verquickung von geschulter Beobachtung und begrifflicher Phantasie festgestellt und in den Status der Naturgesetze erhoben werden. Es ist kein Zufall, wenn die Philosophen und Wissenschaftler des 18.Jhs. am Billardtisch die Physik erlernt haben. Bei Descartes etwa sind die Naturgesetze im Wesentlichen die Gesetze aufeinandertreffender unelastischer Körper. Dieses Bild drückt das Wesen des objektivierenden Verständnisses von Kausalität aus: Ein Körper stößt auf einen anderen. Ihre Oberflächen berühren sich, ohne dass es an irgendeiner Stelle zu einer Vermischung käme. Geschwindigkeit und Richtung der Körper modifizieren sich gemäß nicht allzu komplizierter Regeln (was nicht heißt, dass man nicht über sie streiten könnte). Die Körper entfernen sich fast augenblicklich wieder voneinander. Eine Verursachung hat stattgefunden, die sich beobachten, messen und berechnen lässt. Das ist sicher das einfachste Konzept von Kausalität, einfach im Sinn der simplicitas, und ihre Prominenz und Leitfunktion kommen nicht von ungefähr. Diese Kausalität lässt sich als eine vollständige Determination von Wirklichkeit extrapolieren, in dem doppelten Sinn der Wohlbestimmtheit der Welt wie der Durchbestimmtheit des gesamten Weltlaufs, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Das berühmte, von Laplace formulierte Gedankenspiel einer unbedingten und absolut weiten Intelligenz, die an einem beliebigen Zeitpunkt über alle Körper und Kräfteverhältnisse und Naturgesetze im Universum informiert würde und die davon ausgehend den Zustand des Universums zu jedem beliebigen anderen Zeitpunkt errechnen könnte – dieses Gedankenspiel gehört hierher.6 Das Gedankenspiel ist aber nur so wahr wie seine Prämisse: dass man, und sei es eine quasi-göttliche Intelligenz, die Wirklichkeit von außen betrachten könnte. Es ist bemerkenswert, dass gerade Spinoza, dem sein vorgeblicher »Determinismus« gerne vorgehalten wird, mal ratlos, mal hämisch, und auch nicht selten in offenem Hass, zwar unentwegt die Notwendigkeit der Wirklichkeit betont, zugleich aber immer erklärt, dass es kein Subjekt einer absoluten Erkenntnis dieser notwendigen Wirklichkeit gibt. Niemand, auch Gott nicht, kann vom Lauf der Welt wissen, ihn vorhersehen;7 er ist somit in einem ganz anderen Sinn »determiniert« wie bei Laplace. Er steht nicht schon fest. Spinozas Notwendigkeit ist jeder Fatalismus fremd. Bei Spinoza hat das zwei Gründe, die einander über den deduktiven Abgrund zwischen Gott mit den unendlichen Modi und den endlichen Modi hinweg die Hand reichen: Einerseits ist Gott eben kein Subjekt, keine Intelligenz in dem Sinn eines personalen Bewusstseins. Was auch immer der, zugegebenermaßen rätselhafte unendliche Intellekt ist: Er ist keine Person, kein Ich, kein Bewusstsein, kein Subjekt. Gott ist nicht nur der Welt gegenüber nicht transzendent, spitzt nirgends über ihren Rand hinaus; er ist vor allem selbst keine Totalität, sondern die nicht-totalisierbare Gesamtheit aller Singularitäten des Seins: Dies ist die Funktion des Begriffs des Ausdrucks.8 Andererseits aber 6 7 8

Vgl. Laplace: Essai philosophique. 32f. Das ergibt sich allein schon daraus, dass Gottes Schaffen sein Denken nicht vorausgeht. Auch der unendliche Intellekt gehört der Natura naturata an (Ip31). Genauer gesagt ist Gott sicher die Totalität des Seins oder auch einfach unendlich, wie Spinoza oft schreibt. Er ist dies aber nur, insofern er zugleich als alle einzelnen Singularitäten ist. Spinoza schreibt dann: Gott, nicht insofern er unendlich ist, sondern insofern dieses oder jenes Ding ihn ausdrückt. Beides gehört zusammen, und der Begriff der Unendlichkeit Gottes wäre leer und steril,

Schmetterlingsflügel

liegt die widerspruchsfreie Konjunktion von Notwendigkeit und Unvorhersehbarkeit der Welt in der Reformulierung begründet, der Spinoza den Begriff der Verursachung unterwirft. Spinoza spricht bezeichnenderweise auch sehr wenig von Ursachen (und wenn, dann meistens in Bezug auf Gott, der Ursache seiner selbst und alles anderen sei), sondern von Bestimmtheit und vor allem von Affektion. Betrachtet man die Verursachung als Affektion, dann fällt die Äußerlichkeit von Ursache und Wirkung. Affektion heißt bei Spinoza: Das eine dringt ins andere ein, und auch umgekehrt; die Wirkenden bilden Bereiche der Ununterscheidbarkeit, der Unentscheidbarkeit aus, echte, volle, ontologische Zwischenreiche, die nicht einem der Wirkenden exklusiv oder auch nur »mehr« zugehören würden. Zwischenreiche allerdings ohne jede »Vermittlung«. Und solche Zwischenreiche lassen sich von keiner Intelligenz berechnen, nicht von Dämonen und nicht von Quantencomputern.9 Wem das allzu mystisch klingt, möge sich an das letzte ernsthafte, aufrichtige Gespräch erinnern, das er oder sie geführt hat. Und wem es dann immer noch mystisch klingt – nun, an den oder die wird dieses Buch wie eine Billardkugel an- und abprallen, wenn er oder sie es bis zu dieser Seite geschafft hat. Um das richtig zu denken, muss man aber dieses Zwischenreich auch ontologisch möglich werden lassen. Und das geht nur, indem man die Doktrin von der Undurch-

9

wäre letztlich unspinozistisch, wenn er nicht getragen wird von der unmittelbaren Präsenz Gottes in jeder Singularität, welche Präsenz zugleich Aktualisierung, Seinsvollzug Gottes ist. Weil jede Affektion ein Ereignis ist, das zugleich meine Natur und die des oder der anderen Seienden ausdrückt, kann es von ihr nur konfuse Ideen geben, und zwar radikal (IIp28). Es gibt bei Spinoza keinerlei Platz mehr für irgendwelche Subjekte, die alles in völliger Klarheit erfassen könnten; es gibt nicht einmal, und zwar ontologisch, ein solches ganz klares und deutliches Wissbares. Die schiere Idee einer solchen Durchsichtigkeit des Seins ist in sich widersprüchlich für Spinoza. Jedes Wissen ist, weil es immer nur Wissen situierter Einzelner in Interaktion mit allen anderen ist, fundamental getragen von einer Opazität, die sich nicht aufheben lässt. Die Opazität gehört dem Denken konstitutiv zu. Es ist davon getragen im allerstrengsten Sinn, denn wir wissen nur von uns, sowohl in körperlicher wie in geistiger Hinsicht, über die Affektionen, denen wir unterliegen (IIp19 und p23). Diese geben uns erst uns selbst, auf dem Grundstock einer Dunkelheit, die auszuleuchten dem Versuch entspricht, dem eigenen Schatten zu entgehen. Damit ist auch klar, dass es ein unsinniges Ansinnen wäre, sich der Affektionen entschlagen zu wollen und ebenso ihren Verlängerungen im Seelischen: den Affekten. (»Verlängerung« ist hier durchaus auch zeitlich gemeint, da ein Affekt länger andauern kann als seine Affektion, d.h. als die reale Interaktion, die ihn auslösen mag.) Ethik meint nicht: sich von den Affekten befreien im Namen einer reinen Vernunft, sondern jene Affekte zu kreieren und zu kultivieren, die mit dem Glück, der Tugend, der Vernunft, der Einsicht der Menschen am meisten übereinstimmen (und diese vier Termini meinen dasselbe). Nur ein Affekt kann einen Affekt überwinden (IVp7). Auch wird die in der Tat reichlich schwer verständliche Verwendungsweise des Ursachenbegriffs in Bezug auf Gott dadurch klarer: Denn die Durchdringung von Ursache und Wirkung, die bei allen endlichen Modi wirkt, aber nur partiell, ist eben bei Gott, sowohl in Bezug auf sich selbst als auch in Bezug auf die Natur, auf die Spitze getrieben. Noch mehr: Diese Innerlichkeit von Ursache und Wirkung ist doch nichts anderes als die Doppeltheit von natura naturans und natura naturata, und dass Gott Ursache seiner selbst ist, ist streng dasselbe, nur von der Seite der natura naturans her betrachtet, wie dass er Ursache aller Seienden ist. Kein Wunder also, dass Spinoza bemerkt, dass Gott »in demselben Sinn« Ursache seiner selbst wie der Natur ist (Ip25s): Ursache seiner selbst sein heißt eben nichts anderes als Ursache der Natur sein.

119

120

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

dringlichkeit verabschiedet. Man muss nach dem konkreten, realen Zwischenreich suchen. Durchdringung. Zwei Körper können sich nicht gleichzeitig an demselben Ort befinden. Die Evidenz dieses Satzes ist erdrückend. Hier ist kein Widerspruch möglich. In der Tat ist ein Widerspruch auch gar nicht nötig. Er genügt zu zeigen, dass die Denkweise, die ihn ins Leben gefunden hat, um sich auf ihn berufen zu können, sich die Aufgabe der Physik falsch gestellt hat. Eine richtig gefasste Physik würde gar nicht auf die Idee kommen, dass so ein Satz statuiert werden müsste. Körper durchdringen einander. Es ist immer eine nachträgliche Abstraktion, die erklärt, inwiefern zwei Körper einander in Wahrheit nicht durchdringen, weil die Teile des einen Körpers nur die des anderen verdrängen oder sich in seine Zwischenräume einschleichen. Diese Erklärungen wiederholen einerseits nur die Voraussetzung, Körper seien undurchdringlich, anstatt sie zu beweisen oder auch nur plausibler zu machen; andererseits ist ihr Ausweichen ins immer Kleinere Indiz ihrer Hilflosigkeit: Sie fliehen vor dem Zugriff, physikalischer Whataboutism. Denn die Wassermoleküle sind nicht mehr das Wasser, und ihre unterstellten Tänze mit den Molekülen der Tinte oder des Zuckers bei Wahrung der respektiven Tanzbereiche sind nun einmal Erfordernisse der Theorie und nicht Konstatierungen der Beobachtung. (Noch einmal: Das wissenschaftliche Experiment mag der Theorie recht geben, und es mag dabei ganz und gar richtig sein. Nicht einmal auf die Tatsache will ich mich berufen, dass dieses Experiment bereits im Bannkreis der Theorie steht, die es deshalb ontologisch fast zwangsläufig bestätigt – wenn diese Zurückhaltung auf nichts anderem beruht, dann doch immerhin auf diesem »fast«. Was aber ebenso wahr bleibt: Die konkreteste Realität der Körper bezeugt tausendfach und in jedem Augenblick die schlichte Tatsache, dass Körper einander durchdringen. Diese Realität kann betrachtet und beobachtet werden. Sie allein kann und muss letzter Referenzpunkt der Physik sein – der Physik in einem philosophischen Verstande jedenfalls, denn die Physik im geläufigen Sinn braucht die guten Ratschläge der Philosophie nicht. Sie weiß sehr genau, was sie zu tun hat; und sollte sich eine teure Überzeugung als falsch erweisen, dann nur nach ihren Spielregeln und in ihrem Tempo.) Ein Tropfen Tinte, der ins Wasser fällt, zeigt für alle Augen, wie sich zwei Körper vermischen: Die Kompaktheit des schwarzen Kleckses zerrinnt in wunderschönster Ordnung, in einem Wirbel, vielen Wirbeln, nach und nach löst sie sich auf – aber nicht ohne dem Wasser selbst eine Nuance mitzuteilen, die dieses nicht kannte. Das Stückchen Zucker, das sich im Wasserglas auflöst, war Bergson bekanntlich Beispiel für den Charakter der Dauer: dass sie vielleicht hie und da beschleunigt, nie aber gestrichen werden kann, dass sie unumgänglich ist. Es ist zugleich Beispiel einer Durchdringung der Körper, wo noch der Versuch, die Grenzen der verschiedenartigen Körper zueinander zu bestimmen und an ihnen festzuhalten, deplatziert wirken muss und auch zunehmend verzweifelt, je weiter der Prozess der Auflösung des Zuckers vorangeschritten ist, desto verzweifelter nämlich – auch ein Hinweis auf die intime Beziehung der Körper auf die Zeit. Am Anfang wird man noch sagen können: Hier ist das fast quadratische Stückchen Zucker; nun ist es zum ersten, zum zweiten Mal auseinandergebrochen, jetzt brechen auch Teile aus den Teilen ab – so wird das Ganze spätestens witzlos, wenn man bemerkt, wie das Wasser an den Rändern der Zuckerfragmente leckt wie an einem Küstenstreifen, und eben

Schmetterlingsflügel

nicht nach und nach ein Teilchen fortträgt, sondern sich und das Zuckerstück gleichzeitig verändert. Das ist denn das sichtbare Signal einer Durchdringung der Körper: Sie bilden ein Drittes aus, das in jedem einzelnen für sich noch nicht gelegen hatte. Die gegenseitige Durchdringung der Körper produziert etwas, was zwar mit den Ausgangskörpern in einer Beziehung der Verwandtschaft steht, was aber doch etwas ist, das sich weder aus dem einen, noch aus dem anderen, noch auch aus einer schlichten Addition oder Kombination beider erklären lässt. Ganz so wie es das Konzept der Affektion von Spinoza voraussagt.10 Das Essen, das ich zu mir nehme, die Luft, die ich atme. Der Regen, der in die Erde fällt, der auf den harten Stein des Berges prallt. Immer findet eine echte Durchdringung statt, konstituiert sich ein Zwischenreich, in dem eigene Gesetze gelten und von dem her sich die Körper modifizieren können. Nicht immer sind die Grenzen dabei außen, wie das Beispiel des Atmens zeigt. Dessen Grenze verläuft vielmehr von meinem Mund bis in die kleinsten Verästelungen der Oberfläche meiner Lunge. Nicht jede Interaktion von Körpern transportiert Durchdringung im selben Maße. Das Schwert, das den Torso des Feindes durchstößt, dringt zwar ein in ihn, vermengt sich aber nicht mit ihm, zumindest ist das nicht die vorwiegende Weise der Wirkung. Es ist im Gegenteil so, dass die solide Weigerung der gegenseitigen Durchdringung Korrelat der puren Durchtrennung, also der Gewaltsamkeit ist, der Nicht-Produktivität. Hier kann nichts Neues entstehen, weil der eine Körper, der den anderen durchstößt, einen Bereich der unscharfen Durchmengung

10

Man könnte einwenden, dass Spinoza ja das Wesen einer Affektion in einer Art Summation ihrer Mitwirkenden setzt. Das ist richtig, und es unterliegt keinem Zweifel, dass gerade die im Zweiten Teil der Ethik skizzierte Physik am meisten die Grenzen und die Zeitabhängigkeit Spinozas aufzeigt. Auf der anderen Seite liegt freilich eine wichtige Bemerkung auch in dieser Summationsidee: Das Zwischenreich, die konkrete Durchdringung der Körper mag etwas hervorbringen, was weder in dem einen noch in dem anderen enthalten war und was sich auch nicht so ohne weiteres deduzieren lässt – sie ist doch nicht ohne Beziehung zu den Ausgangskörpern. Andernfalls wäre unsere Wirklichkeit nicht regelmäßig, so wie auch eine Wissenschaft wie die Chemie schlichtweg undenkbar wäre. Schließlich verkompliziert sich die Lage bei Spinoza noch zusätzlich, wenn man seinen Begriff des Individuums berücksichtigt: Dann ist ein Individuum ein komplexer Körper, der durch eine konstante Beziehung der Bewegung bzw. Ruhe seiner Teile zueinander gekennzeichnet ist. So ein Individuum ist z.B. der menschliche Körper. Gleichwohl ist dieser Körper so überkomplex, dass die Idee einer beweiskräftigen Physik der menschlichen Interaktionen von vornherein zuschanden gemacht wird. Zweitens verändert er sich ja sehr wohl durch eine solche Interaktion, um nichts anderes geht es in der Ethik, so dass jede physikalische Feststellung immer nur für Augenblicke gelten dürfte. Und drittens zeigt genau der Begriff des Individuums die Grenze realer Individuen als Grenze ihrer Intelligibilität an, und das im doppelten Sinn: Ob und inwieweit der Begriff des Individuums noch auf diese Grenzen Anwendung finden kann, ist radikal unklar, und zwar im strengsten Sinn: Es (vor allem das »inwieweit«) lässt sich objektiv nicht klären. Zum anderen entwirft sich ein Individuum immer von seinen Grenzen her: Es sind die Affektionen, die ein Ding machen; nicht geht dieses in mysteriöser Weise, einer aristotelischen Substanz gleich, den Affektionen vorher. Damit ist zugleich erklärlich, dass alle Dinge, auch Menschen, entstehen, und zwar in und aus anderen Dingen (eine Tatsache, die fast jeder Philosoph anerkennt, aber kaum einer auch erklären kann), und dass diese Entstehung prinzipiell unerkannt bleiben muss: Die Grenze der Intelligibilität ist ein Ursprung, der sich, nicht religiös, nicht metaphysisch, sondern ganz natürlich der (vollständigen oder auch nur überwiegenden) Erfassung entzieht.

121

122

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

gerade nicht zulässt. Seine Härte ist die Brutalität eines Körpers, der sich auf den anderen nicht einlassen muss, seine Tödlichkeit ist die Kompromisslosigkeit eines Wesens, das für das andre keinen Platz lässt. Eine Affektion, würde Spinoza sagen, die fast nur noch die Natur des Schwertes, und fast gar nicht mehr meine zum Ausdruck bringt. Die gegenseitige Durchdringung der Körper hängt also davon ab, dass diese nicht vollständig solide sind. Noch einmal bewahrheitet sich, dass es das Flüssige ist, das als Paradigma der Körper dienen muss, und nicht der Festkörper. Und es bestätigt sich, dass die metaphysischen Irrtümer des Nachdenkens über die Physik mit der Bevorzugung der (noch dazu abstrakt betrachteten) Festkörper zusammenhängen. Eigenartig genug, kennen Körper nicht nur Nahwirkungen, sondern auch ein Ausgreifen in die Ferne: im Licht, im Klang, im elektromagnetischen Feld, in der Schwerkraft. Solche Ausstrahlungen teilen das Charakteristische der gegenseitigen Durchdringung, indem sie ganz und gar materiell sind, zugleich aber durch andre Körper hindurch gehen. Wie diese Materialität dabei gefasst wird, ist von nachgeordneter Bedeutung. Ob man glaubt, dass das Licht »eigentlich« ein unablässiger Strom von Wellen/Teilchen ist oder ob man es als eine feurige Substanz oder einfach als Element begreift, ist in der Tat nicht so wichtig, wenn man es nur als natürlichen Teil der natürlichen Welt ansieht. Und dann wird es so oder so materiell sein müssen oder (um es ganz vorsichtig zu formulieren) eine solide materielle Grundlage vorweisen können. Denn eine Natürlichkeit, die nicht im Materiellen gründet, ist ebenso unsinnig, bodenlos, grundlos, wie eine Metaphysik ohne Physik. Dasselbe gilt für den Klang, für das magnetische Feld z.B. der Erde (das, so nimmt man an, einige Tiere wahrnehmen können, und vielleicht sogar, rudimentär, der Mensch),11 die Schwerkraft: Jeder Versuch, diese und verwandte Typen von Fernwirkung verständlich zu machen, muss auf der doppelten Grundlage fußen, dass diese Wirkungen zugleich materiell sind und durchdringend. Niemals absolut durchdringend: Dichte Körper blockieren das Licht wie auch den Schall; zudem können Interferenzen der Fortpflanzung im Raum eine Grenze ziehen: Die Gravitation eines massehaltigen Körpers mag der eines anderen, dichteren unterlegen sein. Doch wo gäbe es auch Wirkungen, die sich absolut und ausnahmslos durchsetzten? Das könnte nur für Wirkungen einer unendlichen Kraft gelten – und eine solche wäre wieder von aller Bindung ans Zeitliche befreit, denn sie könnte sich alles in einem Wimpernschlag unterwerfen: Die Welt wäre an ihrem Ende, im Augenblick ihrer Hervorbringung.12 Wie auch immer man also solche Fernwirkungen versteht, das Grundschema wird dasselbe bleiben, weshalb diese Philosophie der Körper nicht abhängig ist von der Wahrheit, den Details und den subtilen wie revolutionären Fortentwicklungen einer bestimm11 12

Hansson, Åkesson: Animal Movement. 163. Das ist der Grund, weshalb Bergson erklärt, dass der élan vital eine endliche Kraft sein muss (Évolution créatrice. 254): Wäre er eine unendliche, dann würde die gesamte Bestimmung des Lebens in der Schöpferischen Entwicklung zusammenbrechen – und dieses Buch wie die philosophische Anstrengung Bergsons allgemein wären ad absurdum geführt. Denn wenn die »Aufgabe« des Lebens darin besteht, die Hindernisse des Materiellen zu überwinden und das größtmögliche Maß an Unbestimmtheit in die Welt der Körper einzuführen, dann wäre das, bei unendlichem élan vital, instantan erledigt. Für eine Dauer wäre weder Platz noch bräuchte man sie. Die Welt wäre schon an ihrem Endzustand angekommen, eine Zeit hätte es nie gegeben, es sei denn als die eine kleine flüchtige Sekunde, in der es fast so schien, als ob etwas geschehen wäre.

Schmetterlingsflügel

ten Physik.13 Solche Phänomene aber führen noch sichtbarer als die der gegenseitigen Durchdringung auf den wichtigen Punkt, dass es keineswegs klar ist, wo ein Körper endet. Wir gelangen zu dem höchst eigenartigen Ergebnis, dass Körper zwar offensichtlich an einem bestimmten Ort im Raum sind, zum allermindesten bestimmbar in Relation zu anderen Körpern, dass sie aber zugleich, untrennbar davon, nicht vollständig lokalisiert werden können. Im Nächsten wie im Fernsten fasern ihre Grenzen aus, und zwar gerade dort und in dem Maße, wie sie mit anderen Körpern in Interaktion treten, d.h. im strengsten Sinn wirklich sind. Die bleiche Scheibe, die den Gezeiten gebietet und dem matten Mondsüchtigen den Schlaf verbietet, ist sie nicht auch hier, hier unten, in Meer und Schreibstube? Die Grenzen eines Körpers lassen sich nicht exakt bestimmen. Körper durchdringen einander, zwei Körper können sehr wohl am selben Ort sein. Und Körper greifen weit über sich hinaus, nicht alle in gleicher Weise und gleichem Maß, aber alle solche Wirkungen fließen aus der Natur der Körper, die allen gemeinsam ist. So ist der Körper, das Paradigma konkretester Räumlichkeit und Lokalisierung, seinem Wesen nach nicht vollständig lokalisierbar. Man kann sicher sagen, wo ein Körper ist; aber man kann nie ganz sagen, wo genau er ist, bis wohin er sich erstreckt und wo er endet. Er ist virtuell. Licht und Dunkelheit. Das abendländische Denken kennt fast nur die Undurchdringlichkeit, die wortwörtliche Dunkelheit der Körper. Körper sind entweder glänzend, und das heißt: Licht reflektierend, den Strahl zurückwerfend, von einer Härte und Undurchdringlichkeit, die dem Licht entgegenkommt und es spiegelt – oder aber sie sind nur Hindernisse für den Blick, undurchdringlich im Sinn der Absorption, dunkle blinde Materie. In beiden Fällen ist der Körper aber von sich aus dem Licht entgegengesetzt, er ist Feind oder Untertan des Lichts, des Blicks, des Sehens, der Sichtbarkeit, der Intelligibilität. Körper sind als massiv, solide gedacht. Von daher wird auch erst die Hypostasierung des Lichts zu einem selbst nicht mehr physischen Phänomen verständlich: Licht, das ist das, was von, man weiß nicht wo her in die Welt einstrahlt, die dunklen Körper aus ihrer namenlosen Einkerkerung erlöst, ohne sich aber mit ihnen gemein zu machen. Licht, soviel immerhin stand fest, Licht ist kein Körper. Diese Denkweise, die die Körper zu ewig verschlossenen Soliden macht, kommt im Axiom zum Ausdruck, wonach nicht zwei Körper am selben Ort sein können. Solche Körper haben keine Geschichte oder Zeit, jedenfalls bleiben diese ihnen ganz äußerlich. Zeit ist etwas, was den Körper nur von außen zukommt, an sich kennen Körper keine Zeitlichkeit, Geschichte, Erfahrung. Fällt von einem Felsen ein Stück ab, dann sieht er vielleicht anders aus als vorher, aber da er ohnehin nur im Jetzt existiert und keine Zukunft und keine Vergangenheit kennt, 13

Solange man, versteht sich, keine geistigen Ursachen für natürliche Phänomene angibt, also z.B. den Körpern Bewusstsein, Absicht oder zumindest »Sympathien« zuschreibt (wobei sich letztere auch rein materiell interpretieren lassen) oder dem Licht eine Existenzweise zuschreibt, die dem Materiellen gegenüber transzendent ist. Doch dann hat man freilich den Boden der Physik verlassen, um in den weiten Ödlandschaften der Metaphysik herumzustreifen, dort wo sie sich verdünnt, entkörperlicht, die Zwänge nachlassen, aber eben auch die Orientierungspunkte, wo man sich leicht verliert, gerade weil man überall hin gehen könnte, wo der Boden vielleicht nicht geradehin unfruchtbar ist, aber nur mehr anspruchslose Monokulturen trägt, wo schließlich alle Differenzen verblassen und nur noch eine weite gleichmäßige Erstreckung ins Vage übrig bleibt.

123

124

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

hat er sich in Wahrheit, soweit es nur ihn selbst angeht, nicht verändert. (Denn ihn selbst geht ohnehin nichts an.) Dann mag es noch solche Körper geben, die irgendwie durchsichtig sind, wie z.B. Glas oder gewisse Edelsteine, eventuelle sogar solche mit Einschlüssen. Aber noch die Mücke im Bernstein ist ein Solides, und von den Edelsteinen lassen sich die Brechungswinkel angeben, so dass am Ende wieder alles zurückgeführt ist auf die Dualität von träger dunkler dumpfer Materie und Licht. Dieses Licht muss dann, es geht ja nicht anders, an sich als schattenlos gedacht werden, als absolut rein, leuchtend, vollkommen. So als gäbe es eine Wirklichkeit ohne Abschattung. Und so ist wieder der Kreis geschlossen, der uns an die Metaphysik der Transzendenz bindet und jede realistische Würdigung der Materie von vornherein ausschließt.14 Es ist aber nicht sicher, dass das die einzige Weise ist, die Dinge zu betrachten. Noch einmal Tanizaki: Er erklärt, dass die japanische Ästhetik solche Steine bevorzugt, die einen gewissen Schleier, wie Wolken, oder undurchsichtige Einschlüsse enthalten. Die Glasproduktion war zwar bekannt in Japan, konnte sich aber nicht durchsetzen gegenüber den Keramiken, die, so Tanizaki, mehr dem japanischen Empfinden entgegenkommen. Man kann nicht sagen, dass wir ganz allgemein glänzende Dinge ablehnen; doch einem seichten, hellen Glanz ziehen wir ein vertieftes, umwölktes Schimmern vor. Sei es ein natürlicher Stein oder ein künstlich geschaffenes Gerät, es geht uns um einen von Trübungen gedämpften Glanz, der unfehlbar mit der Vorstellung einer Alterspatina zusammenhängt.15 Was Tanizaki also für die japanische und allgemein fernöstliche Ästhetik, der eine Ontologie entspricht, feststellt, ist, dass sie gerade nicht auf der einen Seite eine absolute Helle und Ausleuchtung sucht, der auf der anderen Seite eine Verschlossenheit und ein Abweisen, eine Dunkelheit der Körper entsprechen müsste. Stattdessen wird ein Spiel aus Licht und Schatten gepflegt, das nie die Ebene des Materiellen, Sinnlichen verlässt. Licht ist eingelassen in die Welt der Körper, denn sein Auslaufen in Schatten und Dunkelheit ist nicht sein Anderes, ein Gegensatz, der metaphysisch, physisch oder dialektisch, jedenfalls absolut oder kategorial gedacht werden müsste; auch ist die Zusammenstellung von »Licht und Schatten« nicht eine bloße verbale Trivialität (so etwa, dass sie eben einander begrifflich forderten). Vielmehr lassen sich Dunkelheit und Abschattung als Teil, Aspekt, Wirkungsform des Lichts selbst erfahren. Licht wird nicht nur gesehen, wenn es in Absetzung von Dunkelheit erscheint, sondern es gibt Licht nur, insofern es übergeht in und sich stemmt gegen das Dunkel, und dieses Zusammen und Gegeneinander ist eben der Schatten, der als Übergang und unsichere Mitte das ontologische Zentralphänomen darstellt, mit allem, was daraus für die Ontologie der Körper folgen muss. Das ontologisch Grundlegende ist der Schatten, d.h. eine gewisse Undurchsichtigkeit, eine gewisse Grenze des 14

15

Deutet man im Gegenteil das Licht physikalisch als etwas, was »eigentlich« körperlich ist, was z.B. aus Photonen besteht, bleibt dabei der reduzierte Begriff von Körper und Materie leitend, der Korrelat der Licht-/Ideen-/Formmetaphysik ist. Und dann ist zwar der Dualismus aufgehoben, aber um den Preis, dass es Licht als Licht nicht gibt. So erhellt das wissenschaftliche Denken ein Universum, das, je strahlender die Erkenntnis, nur umso lichtferner erscheinen muss. Tanizaki: Lob des Schattens. 25.

Schmetterlingsflügel

Sichtbaren, eine gewisse Ungenauigkeit, ein gewisses Ineinanderlaufen der Grenzen, ein metaphysisches Chiaroscuro. Wichtig ist, dass in diesem Satz das »gewisse« immer andeutet, dass der »Grad« oder die »Gestalt« etc. dieser gegenseitigen Durchdringung nicht exakt und objektiv bestimmt werden kann.16 Körper sind, insofern sie ineinander (über-)gehen. Körper sind nicht feste und rigide Solide, die immer nur ihre teilnahmslosen Oberflächen dem Blick anbieten, und immer nur weiter Oberfläche im negativen, privaten Sinn sein können (so dass sie automatisch als Ergänzung eine »ganz andere« Tiefe fordert); sondern Körper sind bewegliche und aus ihrer Tiefe heraus wirkende und leuchtende, selbstleuchtende Wirklichkeiten. Sie vibrieren mit ihrem ganzen Wesen mit, wenn sie interagieren. Die wolkigen Edelsteine, das merkwürdige Versprechen machende Jade, die matt glänzende, eine Lichtchoreographie fordernde Keramik sind Beispiele einer Ästhetik, die damit ernst macht, dass Materie sich öffnet und ihre eigene Tiefe beständig einbringt, wenn man sie nur sehen will. Luft, Licht, Feuer, Wasser, Edelsteine, Milch, Glas, Wein, Haut usw. fungieren als Beispiele für ein Denken der Natur, das damit ernst macht, dass Materie immer schon offen ist, geöffnet wie eine Blüte und wie eine Vulva, und ihre eigene Tiefe und Vergangenheit heraus wirkt. Der absolut solide Körper, der keinen Lichtstrahl absorbiert oder der keinen durchlässt, einerseits und das ätherische, in Wahrheit überphysische Licht sind nur Abstraktionen aus diesem Spiel, das die Materie in sich selbst beginnt und treibt und für das die »gewisse Undurchsichtigkeit«, die zugleich eine gewisse Durchsichtigkeit ist (oder eine gewisse Undurchlässigkeit/Durchlässigkeit), das Bild abgeben. Zwischen Materie und Licht besteht kein Gegensatz, aber nicht deshalb, weil das Licht ebenfalls Materie wäre (unter Anwendung eines reduktiven Begriffs von Materie), sondern weil Körper-Sein bedeutet: sich selbst überschreiten, ausstrahlen, Nicht-Lokalisierbarkeit, Virtualität. Das Licht macht nicht nur die Körper in einem trivialen Sinn sichtbar, sondern macht an den Körpern dieses Strahlen sichtbar, das in ihm sein paradigmatisches Bild gefunden hat. Die Maschinen, die die Wirklichkeit weben. Das Denken tut sich schwer mit einer solchen Fassung der Materie, nicht weil sie falsch oder unsinnig wäre, ist sie doch allgegenwärtig. Es tut sich schwer damit, weil sie begrifflichen Scheidungen, Dualismen, Reduktionen, Simplifikationen widerstreitet, die den Erfolg der theoretischen und praktischen Bewältigung des Wirklichen in der (vor allem westlichen und westlich geprägten) Geschichte gewährleistet haben – eine Bewältigung, die auch Überwältigung ist. Nichts daran ist falsch, und wer wollte schon entscheiden, welche Seite am Ende die Oberhand behalten 16

Merleau-Ponty spricht mit Blick auf Wesen und Textur der sinnlichen Wirklichkeit von »Ideen«: der musikalischen, der literarischen, der Idee der Liebe, der Idee der Artikulationen des Lichts, der Idee der Erscheinungsweisen von Ton und Berührung. Diese »Ideen« sind eingelassen in die Oberfläche/Tiefe des Sinnlichen selbst. Sie mögen »verborgen« liegen hinter dem Sinnlichen verstanden als einer Ansammlung von Eindrücken oder Reizen; aber sie lassen sich niemals unvermittelt, d.h. ohne oder jenseits der Sinnlichkeit erfassen. Wesen, Textur, Natur von Musik, Licht, Klang, Liebe…sind in irreduzibler Halbsichtbarkeit: »[…] elles sont en transparence derrière le sensible ou en son cœur.« (Le visible et l’invisible. 1774) (Mir scheint freilich, dass es für die Erfassung dessen, dem Merleau-Ponty in diesem späten Text auf der Spur ist, sinnvoller wäre, auf einen so überfrachteten Begriff wie den der Idee zu verzichten.)

125

126

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

wird: ob die Vorteile dieser Entwicklung die Nachteile aufwiegen oder diese jene verschlingen? Dass die moderne Naturwissenschaft und die aus ihr hervorgegangene Technik etwas Gewaltsames (theoretisch wie praktisch) haben, darf nicht blind machen für all ihre heilsamen Wirkungen, vor allen Dingen in der Medizin. Nichts an diesen Gewohnheiten des Denkens und Disziplinen des Forschens ist falsch – außer ihre Metaphysik. Spuren einer anderen Würdigung der körperlichen Welt wird man daher in entlegeneren Bezirken suchen müssen, in einer Ästhetik aus dem Fernen Osten etwa oder in der Literatur. So einer Würdigung bereitet das schriftstellerische Schaffen von Mircea Cărtărescu den Weg. In den Bänden der Orbitor-Trilogie geht es immer wieder, fast obsessiv, um Körper, die durchsichtig sind oder werden oder die auf dem Wege sind, undurchsichtig zu werden, es geht um Körper, die sich nach und nach zusammenfalten, wo sich die Schichten der Knochen, Nerven, Muskeln, Häute, Gewebe, Lymphen nach und nach und sichtbar aufeinander legen; es geht um dritte Augen, die sich ihre eigenen Körper dergestalt um sich herum basteln; es geht immer wieder um die Haut, die durchsichtig ist und die Organe erkennen lässt, es geht um die Flügel der Schmetterlinge, die das Licht und die Formen durchscheinen lassen… Der zweite Band der Trilogie trägt den Titel Der Körper. Wenn man das Buch liest, fragt man sich vielleicht noch, wo denn nun der Körper ist, welchen Körper Cărtărescu meint. Dabei ist das ganze Buch, die ganze Trilogie ein einziger literarischer Versuch in dem Materialismus, der noch aussteht: Jeder einzelne Satz hat es überhaupt nur mit dem Körper zu tun. Der Schmetterling ist das Emblem dieses Materialismus, in dem sich die Halbdurchsichtigkeit mit der Tiefe der Zeit vermählt.17 Denn jeder einzelne Satz hat es zugleich noch mit etwas anderem zu tun, mit etwas, was nach Bergson das Gegenteil des Körpers sein soll und was vielleicht doch nur seine Rückseite ist: die Erinnerung. Die Bücher sind Exerzitien in Materialismus und in Erinnerung zugleich. Und sie erlauben es, beides zusammenzuführen. Denn was ist Erinnerung als eine Einschreibung in einen Körper, ein Durchsichtigwerden, ein Blick in eine Vergangenheit, der sich im und von dem Körper aus auftut? Die Erinnerung ist die Tiefe der Zeit, die sich in der Tiefe des Körpers eröffnet.18 Das Vibrieren der Zeiten und Körper aus ihrer Tiefe ist die Intensität. Der Körper, jeder Körper präsentiert sich als die Einschreibungsfläche einer Erfahrungswelt, seine Tiefe ist auf der Oberfläche. Das heißt, es gibt sehr wohl eine tiefe, eine

17

18

In der deutschen Übersetzung – die im Übrigen brillant ist – tragen die drei Bände die Titel: Die Wissenden; Der Körper; Die Flügel. Damit wird im ersten Band ein Element ins Zentrum gerückt, das zu den eher konventionelleren des Werkes gehört, nämlich das Motiv einer Geheimgesellschaft von Initiierten, die immer wieder in die Handlung eingreift (wenn man bei diesem überschäumenden und jeder narrativen Stringenz baren Buch von einer Handlung sprechen kann). Dieser Geheimbund trägt das »Wissen« durch die Zeiten, wonach die Wirklichkeit in Wahrheit ein Roman sei, der gerade jetzt geschrieben werde. Wenn es einen Punkt gibt, an dem Cărtărescu in einem eher kritischen Sinn seiner Zeit verhaftet ist, dann in diesem »postmodernen« Motiv. Die rumänischen Originaltitel machen hingegen ganz klar, worum es geht, indem sie auf das Emblem verweisen: Linker Flügel; Körper; Rechter Flügel. Und der Titel der Trilogie konstatiert lakonisch die Einheit von Körper und Licht: »Orbitor« bedeutet »blendend«. Vgl. zum Verhältnis von Zeit und Topologie, von Präsenz und Oberfläche auch die eindrucksvollen Seiten bei Simondon: L’individu et sa genèse physico-biologique. 263–265.

Schmetterlingsflügel

wirkliche Tiefe; sie ist aber nicht verborgen, sondern sichtbar, tastbar, wirksam. Es ist dieselbe Tiefe, die das Licht im Edelschein schimmern lässt. Mein Gesicht und das des Berges sind die Oberflächen, die eine Tiefe vor sich her tragen, die von meinem Leben, von der Geschichte des Berges zeugt, und es wäre sinnlos, wollte man mich und mein Gesicht, den Berg und seine Wand einerseits und unsere jeweilige Geschichte und Erfahrung als zweierlei ansehen wollen. Es ist ein und dasselbe. Mein Gesicht ist meine sichtbar gemachte Geschichte. (Es versteht sich: in einem Sinn, der jede schlichte oder auch komplizierte Zuordnung und Deutung ausschließt.) In der Oberfläche ist unmittelbar die Geschichte gegenwärtig. Und dasselbe gilt selbstverständlich auch für meinen Körper als ganzen. Meine Erinnerung ist eingelassen in meinen Körper, es ist die Tätowierung meines Leibes durch das Erfahrene, die meine Erinnerung ausmacht. Ich bin als ganzer (dem Protagonisten aus Memento nicht unähnlich) ein Tattoo meiner eigenen Geschichte. Ich erinnere mich, indem ich körperlich handle, gehe, kaue, spreche, denke.19 Noch die Träumerei und die zweckfreie Erinnerung, das »Schwelgen in Erinnerungen« sind körperliche Aktivierungen, Anfänge von Handlungen, ein Einschwingen, die kurz vorm Tun Halt machen; in ihnen hält sich ein Körper bereit, unbestimmt, undifferenziert, für den Moment, in dem sich das Vergangene nach außen tragen soll. Und es muss nicht überraschen, dass die Vorbereitung dem Handeln oft so konsequent entgegengesetzt ist: Die Angst des Pianisten vor dem ersten Ton ist abgründiger als die des Tormanns vor dem Elfmeter; den Elfmeter schießt ein andrer, der Übergang zum Akt wird von außen erzwungen. Der Abgrund aber, der die Bereithaltung vom Handeln trennt, ist ein absoluter, die Angst des Pianisten deshalb die vor der Unmöglichkeit des ersten Tons. Ein Sprung ist nötig, umso abrupter, je mehr sich die Bereitung in die Mitte geschoben hat. Solche Bereitung, und noch die Träumerei stehen im Zeichen der Handlung, auch wenn sich in ihnen Hinführung zum Tun und Verhinderung des Tuns nicht mehr unterscheiden lassen. Zeit und Körper ziehen sich hier auf sich selbst zurück, um die Intensität, die ihre Interferenz macht, als solche zu genießen. Steril, folgenlos kann das sein: der Moment vorm Einschlafen. Oder die Zündschnur für eine unerhörte Explosion von Zeit, Körper, Intensität ins Außen – in einem unendlichen Roman über Zeit, Körper und Intensität zum Beispiel. Literatur als Übung in Materialismus: Stufe um Stufe um Stufe stieg er die Eisentreppen hinunter, die zu hoch für seine Beine waren, bis er in die Maschinenhalle gelangte. Dort waren die Maschinen, die die Wirklichkeit webten. In dem Maße, in dem sich die Dinge abnutzten, webten sie aus einem spinnfadendünnen Stoff rasch Flicken, Notbehelfe, Ersatzteile dafür. Zunächst waren die Formen schemenhaft und durchscheinend, doch wenn sie in die Welt, in die scharfe Luft der Häuser, der Straßen, des blauen Himmels gehoben wurden, blieben sie über den in immerwährendem Schwund begriffenen Gegenständen kleben, und langsam, langsam wurden sie undurchlässig, bunt und fest wie Blech, wie Sand, wie die Haut der Wangen, wie der Flaum auf der Brust der Vögel. Wenn ein Blatt vom Baum abfiel,

19

Und die Haut ist ein konkreter Ort der Interaktion des Dings, das ich bin, mit anderen Dingen: der Ort der Affektion im spinozistischen Sinn. Die materiale Textur der Dinge ist nichts anderes als die Spur der Zeit, die sich in sie eingeschrieben hat.

127

128

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

stellten es jene schmierigen schwarzen Maschinen mit einer Menge Zahnrädern, Ritzeln, Hebeln, Malteserkreuzen und Zahnstangen, glotzäugigen Linsen und fingerdünnen Kolben sofort wieder her, zuerst wie eine grüne Knospe unter der Achsel des Baumes, dann wie ein zusammengekrampftes Händchen, schließlich glatt und von Adern durchzogen. Wenn sich das Lächeln im Gesicht der Verkäuferin aus dem Brotladen verwischte, erzeugten die Maschinen rasch ein anderes, das Mircişor im Halbschatten des Kellergeschosses glitzern sah, bevor es hinaufstieg, wie eine Feder von den großen Lüftern im Fußboden fortgeweht, und sich erneut auf das Gesicht und die Augen der zwischen den heißen, soeben aus dem Backofen geholten Weißbroten und geflochtenen Wecken stehenden Frau legte. Wenn ein Gebäude abgerissen wurde, wenn ein Zahnarzt jemandem einen Zahn zog, wenn ein alter Mann schrumpfte, wenn Mircişor ein Jäckchen zu klein wurde, zeichneten jene Maschinenarme alle diese Dinge mit präzisen, unpersönlichen und magischen Bewegungen in der Luft nach, ergänzten, glichen sie aus, erhoben und kosten sie mit der kalten und wirksamen Zärtlichkeit des Insekts, das zwischen den scharfen Kiefern seine Puppen von einer unterirdischen Kammer zur andern sachte spazieren führte. Es gab unzählige solcher Maschinen. Das Kind ging zwischen ihnen so hin und her, wie sich seine Mutter in der Donca-Simo-Weberei um acht Webstühle gleichzeitig gekümmert hatte, wobei sie zwischen ihnen hin und her sauste, die gerissenen Litzen verknüpfte, die Spulen auf die Halter setzte, in dem milchigen Licht, das durch die Glasscheiben der Werkstatt kam. Alle Maschinen, hatte er bemerkt, zogen ihre Substanz, jenen klebrigen Stoff, den sie in Fäden webten, aus einem einzigen großen Kristallbehälter, einer Halbkugel, größer als alles andere, was der kleine Junge bis dahin gesehen hatte, außer dem riesenhaften Gewölbe, unter dem das in ewigen Sommer getauchte Stadtviertel Floreasca untergebracht war. Das Kind in dem mit kleinen Elefanten bedruckten Schlaganzug ging barfuß auf dem warmen Mosaik dahin, zwischen Getrieben, die zehnmal höher waren als es und den ganzen weiten und schwach beleuchteten Raum vibrieren ließen. Nach einer verschlungenen, immer wieder durch unerwartete Verflechtungen zwischen den Maschinen versperrten Wegstrecke – Transmissionsriemen, Laufbänder und vor allem Kabel, wie der Schlauch ihrer Dusche in Metallspiralen gewickelt – gelangte es neben die große durchsichtige Kuppel, in der die perlmuttsilbrige, regenbogengleiche Substanz rauschte, aus der die Welt gebildet wurde. Städte, Straßenbahnen, Menschen, Wolken – alles, alles, was man an der Oberfläche der Erde sah (Mircişor selber konnte sehen, wie jede von seiner dünnen Oberhaut abgeschuppte Schicht sofort durch einen spukhaften Schleier lebendiger Zellen ersetzt wurde), ja sogar die Maschinen selbst, die ebenfalls der Korrosion in der toxischen Umgebung der Zeit ausgesetzt waren, und die sich unausgesetzt wiederherstellten, indem sie sich untereinander blankpolierten und umgestalteten – alles war aus jenem honigseimigen, zu glänzenden Fäden gezogenen Perlmutt gebildet. Sehr viel später sollte das Kind erfahren, dass es dennoch zwei Dinge auf der Welt gab, die nicht wiederhergestellt werden konnten, weil sie, von allem Anfang an, aus jenem Perlmutt selber geschaffen waren: die Neuronen und die Spermien, die Wirkstoffe des Raumes und der Zeit, die animalischen und die vegetativen Engel unseres Lebens. Wenn sie alterten und starben, erwartete sie weder Ersetzung noch Instandsetzung, noch Prothese, noch Erlösung. Deren Ziel war ein Einziges, Gott oder die mystische Eizelle, ein und dasselbe, lediglich unterschieden durch den erwählten Weg hin

Schmetterlingsflügel

zum ewigen Palast, dem Königreich, zu dem wir alle zurückzukehren trachten. Und ihre Herrlichkeit war die Auflösung in jenem zerstörenden Licht.20

20

Cărtărescu: Die Flügel. 182–184.

129

Abenteuer Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Kohelet

Nichts Neues. Kohelet nimmt einen guten Teil der Metaphysik vorweg, wenn er erklärt, dass es nichts Neues unter der Sonne gibt. Und wie Kohelet waren die meisten Philosophen auch recht froh darüber. Selbst die, denen das eher Beklemmungen bereitete, wussten keinen Ausweg zu finden: Sie vermochten es nicht, der Metaphysik eine solche Drehung zu geben, dass die Entstehung von Neuem im strengen Sinn denkbar wird. Das Problem ist eng gekoppelt mit der Dominanz des Idealismus in seinen verschiedensten Spielarten.1 Wie auch immer man das »Ideale« im Einzelnen fasst: Wenn es wirklich ein Ideales sein soll, dann kann es nicht entstehen, zumindest nicht auf die vulgäre Weise, so wie Babys und Zahnbürsten. Wesen, Gott, die Seele, Ideen, der Geist, Gesetze, Formen…: Sie gehen allem Entstehen und Vergehen im vulgären Sinn vorher und können ihm daher nicht unterworfen sein. Was entsteht und vergeht, ist einzig das Unwesentliche – und kaum ist man an diesem Gedanken angekommen, ergibt sich die Umkehrung wie von selbst: Das Unwesentliche ist dadurch gekennzeichnet, dass es entsteht und vergeht. Das idealistische Denken kann letztlich nicht einmal verstehen, wie jemand die Frage nach der Entstehung für philosophisch relevant halten kann. Zum Unglück des Denkens waren die Gegenentwürfe zum Idealismus oft nicht besser auf diese Frage vorbereitet. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie sich meist ihre Voraussetzungen eben von ihrem Gegner haben unterjubeln lassen. Was auch immer das ist, was nicht das Ideale sein soll (also das andere des Denkens, der Form, der Ideen, Gottes, der Naturgesetze…), man hat es viel zu oft nur so zu denken gewusst: als das andere von… und also nicht aus sich selbst heraus bestimmt. Damit sind die beiden Überzeugungen, die man immer wieder liest, nur die Kehrseiten ein und derselben Verdrehung des Problems: dass nämlich das Materielle zum Beispiel an sich ganz unerkennbar sei (oder die Materie an sich eigenschaftslos) und dass (die nur scheinbare Alternative hierzu) das Materielle ganz einfach sei, nämlich etwa eine Interaktion von geometrischen Körpern 1

Teile dieses Kapitels wurden, leicht verändert, bereits unter dem Titel ›Walzer und Löwenzahn‹ veröffentlicht. Dort findet sich auch eine ausführlichere Darstellung der Theorie Bergsons, von der ich hier nur das für diese Untersuchung wichtige Ergebnis mitnehme.

132

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

oder von undurchdringlichen Atomen oder von Machtkämpfen um Fabriken und Maschinen. Auch der »empiristische«, d.h. psychologische Atomismus gehört in diese letztere Kategorie, auch wenn er freilich nicht vom Materiellen spricht, sondern die letzten Elemente des Psychischen aufzufinden meint, wenn er verschiedene Arten von Eindrücken, Ideen, Vorstellungen usw. unterscheidet und dann die Gesetze ihres Wirkens aufeinander sucht. Wie man die Sache auch anpackt, immer sitzt man dergestalt der vorangegangenen (selbst eben idealistischen) Reduktion der ganzen Problemstellung auf. Die Wirklichkeit ist schon längst zurechtgestutzt worden, und im Garten von Versailles findet man die Natur eben nicht mehr. Das Bild des anderen-von (wenn der Idealismus überhaupt eines zulässt) ist dann bestimmt durch Einfachheit der letzten Elemente: in ihnen liegt nichts mehr als ihre bloße Identität, und wenn man noch etwas anderes, z.B. so etwas wie »Kraft« zulässt, dann wird sie von Anfang an der Seite des Idealen zugeschlagen sein; das Bild ist weiterhin bestimmt durch die klare Getrenntheit der letzten Elemente: sie stehen für sich und sind scharf von allem anderen (von anderen Elementen ihrer Art wie von dem Idealen) geschieden, was es an Beziehungen zwischen ihnen gibt, bleibt ihnen ganz äußerlich und wie nachträglich; das Bild der Abzählbarkeit der letzten Elemente: sie bestehen für sich und können durchnummeriert werden, wenn nicht faktisch, dann doch immer im Prinzip – mögen sie auch gerade in ihrer Vielheit relevant werden (wie die Atome), dann hebt das nicht ihre grundsätzliche Abzählbarkeit, nicht die Identität der einzelnen Elemente mit sich auf: dass sie in Wahrheit vielleicht gar nicht so isoliert, identisch und abzählbar sind (wie schon gezeigt wurde), ist damit nicht mehr zuzugestehen; das Bild ist daher bestimmt durch eine fundamentale Statik bei gleichzeitiger Rastlosigkeit:2 da die letzten Elemente unveränderlich sind und da alle Interaktion dieser Elemente immer nur mehr vom Gleichen produzieren kann, mag in diesem Teil der Welt alles durcheinander wirbeln, wie es will, etwas Höheres und Stabiles kann es nicht produzieren; das Bild ist bestimmt (soweit es sich nämlich als Bild einer materiellen Welt versteht) von einem ganz abstrakten Konstrukt einer materiellen Ausdehnung: beispielhaft ist das ausgesprochen bei Descartes, der der ausgedehnten Welt nur zugesteht, was nicht Denken ist, und der ausdrücklich die Geometrie zur Wesenswissenschaft der Körper, auch der wirklichen, erklärt. Es folgen aus diesem Triumph des Idealismus, der die Karten gezinkt hatte, drei lupenrein idealistische Schlüsse: Erstens ist wieder die Zeit ausgebotet: Sie kann nur die leere Wiederholung des immer Selben sind. Zweitens die Möglichkeit der Entstehung von Neuem von Anfang an gestrichen: Das Neue in der Welt der Materie, der bloßen Wirklichkeiten usw. ist immer nur die Rekombination dessen, was dort schon besteht. Beispielhaft ist das in den klassischen Theorien der Einbildungskraft zum Ausdruck gebracht: Diese, so heißt es, sei nur die Zusammenfügung von Teilen, die als Teile von anderen Dingen bereits einmal erfahren worden sind. Was beim Zentaur (Körper eines Pferdes + Oberkörper eines Mannes) noch halbwegs einleuchten mag, wird schon fragwürdig,

2

Das ist exakt das Bild, das Kohelet zeichnet, freilich in einem denkbar anderen Zusammenhang: »Eine Generation geht, eine andere kommt. Die Erde steht in Ewigkeit. […] Alle Dinge sind rastlos tätig, kein Mensch kann alles ausdrücken, nie wird ein Auge satt, wenn es beobachtet, nie wird ein Ohr vom Hören voll. Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne.« (1, 4 und 1, 8–9)

Abenteuer

wenn es etwa um den Don Quixote geht. Irgendwie scheint die Theorie dann nicht mehr allzu viel zu besagen. Drittens ist die Möglichkeit eines Lernens dann nur noch schwer zu verteidigen. Lernen kann ich ja nur, was ich nicht schon weiß. Aber wenn lernen mehr sein soll als das Hinzufügen von »Informationen« (also geistigen Elementen, einfach, identisch, isoliert, abzählbar) in eine irgendwie schon bestehende Struktur oder Organisation, wenn lernen vor allem heißen soll: eine Wahrheit erkennen, die nicht von gleicher Art ist wie das bereits Gewusste, die »höher« ist oder immerhin deutlich komplizierter, dann wird es wohl kaum ein Lernen geben. Hat Platon nicht doch recht gehabt, als er die vielbelächelte These des Lernens als eines Wiedererinnerns aufstellte? Denn wie sollte mir ein Lehrer etwas in den Kopf bringen, was mit dem, was ich weiß, ganz inkommensurabel ist oder mindestens von anderer Art? Es ist richtig: Es gibt keine gute evolutionäre Erklärung der Entstehung von Sprache, der Bildung des Menschen, dieses vielgestaltigen Ungeheuers, seiner Ängste und Vorlieben. All das ist in der näheren Durchführung immer ganz außerordentlich lächerlich. Der Idealismus ist jene Denkweise, die darauf gelassen erwidert: Wie sollte die Evolutionstheorie auch gelingen können, wenn es sich um den Menschen handelt, da Menschsein doch gerade in einem Abgrund zur übrigen Schöpfung besteht? Für den Idealismus muss es gar nicht unbedingt eine Essenz des Menschen geben (oder was an die Stelle des Idealen rückt), es genügt voll und ganz, dass es eine Grenze gibt, jenseits derer etwas ganz anderes besteht. Das Metaphysische ist für ihn das Übersinnliche, das von der sinnlichen Welt und ihren Veränderungen oder Geschichte gar nicht betroffen werden kann, da es von anderer Art ist, von ganz anderer Art. Das Ideale besteht längst und immer schon, auch wenn man über die Art dieses Bestehens und über die genauere Fassung der damit verbundenen Unzeitlichkeit oder Überzeitlichkeit uneins sein mag. Daher kann man auf die Frage danach, weshalb ein Menschenkind Chinesisch lernen kann, ungerührt antworten: weil es bereits in der Sprache steht, weil es immer schon ein sprachliches Wesen ist, weil es in der oder aus der Sprache lebt, weil die Struktur seines Bewusstseins der Struktur von Sprache entspricht oder anders herum – diese Formulierungen unterscheiden sich zweifelsohne, sie teilen jedoch die unerschütterliche Überzeugung, dass es da nichts zu erklären gibt, weil das Fragliche als »Wesen« oder »Struktur« usw. längst vorausgesetzt ist. Und es ist vorausgesetzt, weil es vorausgesetzt sein muss. Etwas Neues. Für den Idealismus sind die Liquidierung der Zeit, die Unmöglichkeit des Neuen und die Unfähigkeit zum Lernen kein Mangel. Was mit ihnen verloren ist, ist lediglich das Unwesentliche. Die Seligkeit ist, wie jeder weiß, ein Zustand, der sich ewig gleich bleibt, wie könnte man bedauern, wie könnte man vermissen, was sich als unwürdig erweist, in ihn einzutreten. Ein konsequenter Materialismus hingegen, der aus der »Zärtlichkeit für die weltlichen Dinge« denkt, kann das nicht akzeptieren. Für so einen Materialismus ist die Zeit das, was vom Wirklichen nie abgezogen werden kann, ohne das Wirkliche selbst zu verlieren. Jede Philosophie, die die Liquidierung der Zeit zulässt, ist für einen Materialismus, der sich zur Aufgabenstellung einer rein immanenten Würdigung des Seins bekennt, gleichbedeutend mit der Kapitulation des Denkens. An der Möglichkeit, die Entstehung von Neuem zu beschreiben, entscheidet sich die Stärke eines solchen Materialismus – so wie andererseits das Neue in einem emphatischen Sinn nur in der Perspektive, die dieser Materialismus begründet, denkbar wird. Damit die

133

134

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Entstehung von Neuem in einem strengen Sinn gedacht werden kann, muss aber die Fragestellung modifiziert werden, um den idealistischen Vorentscheidungen zu entgehen, die nicht nur die Beantwortung unmöglich machten, sondern noch die Frage als solche von Anfang an diskreditierten. So muss die Idee unveränderlicher Elemente, egal welcher Art, fallengelassen werden. Die Suche nach dem letzten, integren, unberührbaren Bestandteil des Körperlichen ist vielleicht nicht unter allen wissenschaftlichen Hinsichten fruchtlos; sie ist aber metaphysisch unsinnig: Zum einen ist alle Materie in und aus gegenseitiger Durchdringung (wie schon dargelegt wurde); zum anderen führt exakt, wie gleich zu sehen sein wird, die Würdigung der Zeit eine echte Rekonfiguration, eine wirkliche Umgestaltung aller »Elemente« mit sich, die sich nicht mehr nach dem Modell der Rekombination denken lässt. Zweitens wird die Genese von Neuem nur denkbar, wenn man radikal von dem absoluten, ontologischen Primat der Praxis ausgeht. Aus dieser Perspektive fallen dann auch alle scheinbar so unumgänglichen, so »natürlichen« Gedanken an eine Teleologie, einen Plan, ein Design der Wirklichkeit in sich zusammen: Eine geplante Wirklichkeit hätte niemals errichtet werden können. Die angebliche Analogie göttlicher Bautätigkeit mit der menschlichen (oder umgekehrt) hat den kleinen Fehler, dass Menschen nur deshalb etwas hervorbringen können, weil sie es eben nicht erst denken. Die Entstehung von Neuem ist eine Gretchenfrage für den Materialismus. Nur wenn diese Entstehung im Prinzip denkbar wird, kann diese Naturphilosophie an Plausibilität gewinnen. Man darf sich aber keinen Illusionen hingeben: Erstens ist die Denkbarkeit »im Prinzip« nicht identisch mit einer vollständigen, lückenlosen »Erklärung«: So eine ist überhaupt unmöglich, denn die kann es nur in einer Welt geben, in der ein ausnahmsloser Determinismus klar voneinander abgegrenzter Entitäten herrscht. Die Lückenhaftigkeit der Erklärung ist somit weder Koketterie noch Appell ans Mysteriöse noch Faulheit: Sie ist Zugeständnis an eine Wirklichkeit, die wirklich und wahrhaftig Neues hervorbringt. Zweitens werden wir auf eine Produktion stoßen, die zwar im gleichen Sinn »im Prinzip erklärbar« ist, die aber in ihrem Produkt genau diese Erklärbarkeit in einer anderen, in viel grundlegenderen Weise dementieren wird: das Subjekt. Wir werden sehen, dass hier etwas anderes geschieht, was alle glatten Kontinuitäten endgültig zersprengt. Die Aufgabe muss es allerdings sein, wenigstens einen verstehbaren Zusammenhang zwischen dem Subjekt und dem Rest der Welt aufrechtzuhalten. Drittens darf man auch aus der Fähigkeit des Wirklichen, unablässig Neues zu produzieren, keinen Fetisch machen: Diese Fähigkeit ist ein Aspekt dieses Wirklichen, sicher einer seiner imponierendsten; in ihm drückt sich die Überfülle des Wirklichen in einer besonders augenfälligen Weise aus. Und doch bliebe diese Produktivität leer, eitel, kalt, wäre ihr nicht eine Zuwendung zu dem Wirklichen, eine Sorge um es, seine Pflege beigesellt: Das Neugeborene mag ein Wunder sein; die Liebe zu ihm fordert aber mehr als nur die Begeisterung für das Neue, sondern auch die Bereitschaft für die tägliche sich wiederholenden Pflichten in all ihrer scheinbaren Banalität. Die Metaphysik darf auch das nicht vergessen.3 3

Die Wahl des Beispiels ist kein Zufall: Nicht nur seine besondere Anschaulichkeit empfiehlt es, sondern auch seine politischen und geschlechtlichen Implikationen: Denn es ist in der Tat eine entschieden feministische Idee, die den Fetisch des Produzierens erschüttert und auch für die Me-

Abenteuer

Das dynamische Schema. Bergson gibt mit der Theorie des dynamischen Schemas (oder auch: motorischen Schemas) dem Bemühen um ein Verständnis einer echten Genese des Neuen einen unschätzbaren Ausgangspunkt. Er verfolgt in seiner Ausarbeitung ein Wirken reiner immanenter Selbstorganisation auf mehreren Ebenen: von der Wiedererinnerung und dem Wiedererkennen über das Verstehen und das Erlernen bis zur Möglichkeit der Erfindung oder Schaffung von Neuem.4 Wie all das im engen Sinn unmöglich wäre, wenn die herkömmlichen, die idealistischen Theorien recht hätten, zeigt sich ohne Umschweife, wenn man nur eines dieser Phänomene in ihren Termini formuliert: Wenn Lernen in der Aneignung einer Regel oder eines Gesetzes besteht, gleich ob eines theoretischen Leitfadens oder einer Handlungsregel, dann hieße Lernen also: die abstrakte Regel einzusetzen, und das heißt: je und je mit ihren Instanziierungen in Beziehung zu setzen lernen. So im Erlernen eines neuen Begriffs: Ich weiß dann, was der Begriff bedeutet, und das impliziert automatisch, dass mir die Unterordnung der Gegenstände oder tieferstufigen Begriffe unter ihn regelmäßig gelingt. Nur, wie genau gelingt mir das? Ist die Unterordnung irgendwie in dem Begriff selbst enthalten? Das kann sein. Dann ist ein Begriff also nicht einfach nur ein Begriff, sondern zugleich die Regel seiner Anwendung. (Auf dieser Doppelseitigkeit beruhen die fruchtlosen Diskussionen über Extension oder Intension der Begriffe.) Nun war es Kant, der in aller Klarheit ausgesprochen hat, warum man sich hier ewig im Kreis zu drehen droht: Gäbe es die Urteilskraft (so Kant) nicht, dann müsste mir jeder Begriff und jedes Gesetz, jede Kategorie in ihrer Reinheit und vor allem Fremdheit den Einzeldingen der Welt gegenüber erscheinen, so dass von einer Subsumtion keine Rede sein kann. Zugleich, hätte die Urteilskraft selbst wieder eine Regel, eine abstrakte, eine explizierbare (oder wie Kant sagt: eine objektive), dann würde sich das Problem wiederholen und ich bräuchte eine neue Urteilskraft, die die erste auf den richtigen Weg bringt usw.5 Was Kant hier unter dem Begriff der Urteilskraft anspricht und zugleich, wohl etwas vorschnell, löst, ist die logische Schwierigkeit, nein: Unmöglichkeit, das Allgemeine eines Gesetzes, einer Regel, einer Handlungsanweisung, eines Begriffes mit den immer einzelnen Dingen und Handlungen in Beziehung zu setzen. Das Problem besteht deshalb, weil beide ontologisch ganz offensichtlich inkommensurabel sind. Da wir es aber können, muss es eben doch schon gelöst sein. Und da Kant eben bei der Konstatierung

4 5

taphysik erschüttern muss. Es waren feministische Autorinnen (z.B. prominent Silvia Federici), die seit den 70er Jahren darauf hingewiesen haben, dass vieles an »reproduzierender« Arbeit als unbezahlte, »natürliche« Tätigkeit der Frauen sowohl aus der politischen wie der ökonomischen Diskussion ausgesondert worden war, in aller Selbstverständlichkeit – und dass auf dieser Blindheit das Funktionieren des Kapitalismus wesentlich mit beruht. Nicht selten teilten die Gegner des Kapitalismus eben diese Blindheit, zumindest insofern es männliche Antikapitalisten waren. Aus dieser wichtigen Erinnerung speiste sich bald auch ein anderer Begriff von Arbeit, der den Aspekt von »Care« in den Mittelpunkt rückte. In der Tat sind auch heute Berufe, die primär in solchen Tätigkeiten der Sorge um den anderen bestehen, notorisch unterbezahlt, obwohl es kaum welche gibt, die wertvoller wären. Wahrscheinlich machte die Produktionstätigkeit nie den größten Teil von Arbeit aus. Die Gleichsetzung von Arbeit mit Produktion birgt in mehr als einer Hinsicht Gefahren, philosophische wie politische (vgl. dazu auch Graeber: Bullshit Jobs. 337–342). Ich werde später darauf zurückkommen. Das geschieht vor allem in Materie und Gedächtnis und in dem Aufsatz ›L’effort intellectuel‹: Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft. B VIf.

135

136

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

stehen bleibt, dass es möglich ist, schon möglich ist, kann er diese Gegebenheit mit der Vorgegebenheit eines Vermögens identifizieren: der Urteilskraft eben. Sosehr also Kant ein wirkliches Grundproblem aufdeckt, so schnell ist er leider mit einer allzu griffigen Erklärung zur Hand. Diese Erklärung hat vor allem, wenn wir auf unsere Erfahrung blicken, einen ganz offensichtlichen Nachteil: Wenn das logische Vermittlungsproblem also immer schon gelöst ist, warum brauchen wir dann oft überhaupt noch Zeit, um etwas zu lernen? Die Konzeption, die in diese Sackgasse führt, beruht auf zwei völlig irrigen Annahmen: Erstens treten hier die Elemente der Interaktion als festumrissene und unveränderliche Größen auf: Der neue Begriff tritt zu bereits existierenden hinzu und tritt den Vorstellungen der Dinge entgegen; er ordnet diese, auf unerklärliche Weise, in einem noch zu bestimmenden Verhältnis zu jenen. Zweitens ist dieser ganze Prozess als etwas Theoretisches imaginiert. Es gibt da also einen Begriff, es gibt (mit ihm identisch oder nicht) eine Anwendungsregel, es gibt die anderen Begriffe und die Vorstellungen, und dann muss irgendein Homunculus sich all das vor Augen legen, es kontemplieren, miteinander vergleichen und die richtigen Schlüsse ziehen. Mit einem Wort: Er muss das zu Denkende gedacht haben, bevor er es denken kann. Nie und nimmer wird man aus diesem Bannkreis herauskommen – es sei denn, man ist bereit, eine Metaphysik purer Praxis an die Stelle dieser kontemplativen Idee von Denken zu setzen. (Kants Urteilskraft ist faktisch genau das: ein rein praktisches Fungieren, aus dem sich alle expliziten Regeln entspinnen. Sie steht aber inmitten einer zutiefst kontemplativ geprägten Philosophie.) Bergson macht diesen Schritt.6 Was er »dynamisches Schema« nennt, ist eine Handlungsanweisung. Erinnere ich mich etwa an den Argumentationsgang von Materie und Gedächtnis, dann doch nicht an die »objektive Struktur« des Buches – wie sollte die existieren? Ich habe aber auch nicht ein vages Bild oder eine Vorstellung in irgendeinem gängigen Sinn vor den (am besten noch: inneren) Augen – wie ließe sich diese Vorstellung beschreiben? Bergson spricht zwar von einer »vue schématique de l’ensemble«;7 doch dieser »Blick« ist eben Handlungsanweisung, und nichts anderes: »[…] cette représentation contient moins les images elles-mêmes que l’indication de ce qu’il faut faire pour les reconstituer.«8 Das Entscheidende ist nun aber, dass diese Handlungsanweisung nicht als explizite oder auch nur explizierbare Regel besteht und auch nicht bestehen kann. An diesem Punkt hängt das gesamte Verständnis des dynamischen Schemas. Der einzige Weg, das Schema zu explizieren, ist, es wirklich und wahrhaftig zu explizieren, d.h. auseinanderzulegen, d.h. seiner Anleitung Folge zu leisten. Andernfalls müsste man also doch wieder die Tätigkeiten, die man vollziehen und lernen soll, erst begriffen haben, bevor man sie begreift, sie geistig in irgendeiner Weise vorweggenommen haben, bevor man sie in der Tat vollzieht, mit einem Wort: man müsste sie vollziehen, bevor man sie vollzieht, man müsste sie lernen,

6

7 8

So ist das Wiedererkennen eines Objekts zuerst seine Verwendung: »Reconnaître un objet usuel consiste surtout à savoir s’en servir. […] savoir s’en servir, c’est déjà esquisser les mouvement qui s’y adaptent […].« (Matière et Mémoire. 101. Ebenso: Effort intellectuel. 168) »[…] nous jouons d’ordinaire notre reconnaissance avant de la penser.« (Matière et Mémoire. 105) Effort intellectuel. 160. Ebd. 161.

Abenteuer

bevor man sie lernt – was uns nicht so sehr in einen endlosen Regress als vielmehr in die logische Unmöglichkeit einschließt, jemals etwas zu lernen oder zu tun, was man nicht schon weiß oder kann. Existenz wäre dann gleichbedeutend mit einer Wiederholung des exakt Selben ohne Aussicht auf Erlösung. Das Schema ist also kein Gegenstand des Denkens, sondern die innere Logik des Tuns; es gibt dieses Schema nur in dem Maß, wie es zum immanenten Vektor einer Handlungsvielfalt wird, wie es sich also in Vollzüge auseinanderfaltet. Das Schema ist daher durchaus eines, aber seine »Einheit« ist von besonderer Art: »Cette représentation abstraite est d’ailleurs une. Elle implique une pénétration réciproque de tous les éléments les uns dans les autres.«9 Hier zeigt sich, wie sich die beiden Aspekte der ontologischen Revision (das Dementi der identischen Elemente und die Abkehr vom kontemplativen Paradigma) gegenseitig fordern. Das Schema ist die Einheit einer komplizierten, einer verdichteten Kraftrichtung, die, sobald sie zur Freisetzung ihrer potentiellen Energie losgelassen wird, sich von selbst in verschiedene Richtungen auffalten, differenzieren, expandieren und somit eine jeweils charakteristische Gestalt bilden wird. Es gilt daher: Erstens gibt es das dynamische Schema überhaupt nur in beständig wechselnder Beleuchtung, seine »Einheit« ist ausschließlich in einer Variation: Das Schema und die Bilder/ Wahrnehmungen/einzelnen Erinnerungen/Bewegungen sind ontologisch klar voneinander geschieden; schon deswegen ist das Schema selbst nicht von der Art eines (angeblich stabilen, identischen, abzählbaren) Bildes/einer Vorstellung. Doch da andererseits das Schema ja nur die Dynamik seiner eigenen Entfaltung und Realisierung ist und anzeigt – so sehr, dass seine vollkommene »Realisierung« sich an die Stelle des Schemas setzen wird10  –, lässt es sich auch nicht irgendwie für sich bestehend und in sich ruhend denken. Es ist in der beständigen Aus-Einander-Setzung mit den Bildern/Bewegungen. Es ist diesem Prozess immanent, als eine Richtung und ein Vektor, der aber aus nichts anderem stammt als wieder aus solchen Prozessen. Das Schema ist das immanente Produkt eines Prozesses, den es zugleich auch anleitet. Zweitens gibt es dieses Schema nur in einem und durch ein Tun. Das Schema ist reine Praxis. Wenn es stimmt, dass das Schema gerade nicht von der Art des Seins sein kann und darf, die ausdrücklich gedacht werden kann (weil sonst vor dem Denken gedacht, vor dem Verstehen verstanden werden muss; weil sonst Lernen von Neuem ausgeschlossen ist; weil sonst alles Sein nur atemlose Rekombination des Immergleichen ist), wenn das Schema also nur dadurch ist, dass man es »macht« und das heißt »realisiert«, dann darf man nun aus einem ganz präzisen philosophischen Grund mit einer »Intelligenz des Körpers« rechnen.11 Was bei Nietzsche mehr Aperçu war, hier gewinnt es eine unabweisbare metaphysische wie phänomenologische Strenge: dass der Körper die große Vernunft ist.12 (Man begreift nun auch, weshalb Bergson denselben »Gegenstand« bald als 9 10 11 12

Ebd. 163. Es geht an dieser Stelle um die Art von Schema, in der sich erfahrene und hochklassige Schachspieler beim Parallelspiel die verschiedenen Partien vergegenwärtigen. Ebd. 179. Matière et Mémoire. 122: »En ce sens, un mouvement est appris dès que le corps l’a compris.« Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: Nietzsche: Werke. Zweiter Band. 300. Damit ist klar, dass man das dynamische Schema unter keinen Umständen mit einer transzendentalen Funktion verwechseln kann: Erstens ist es immer ein bestimmtes, konkretes, z.B. das eines Buches, über das ich nachdenke, eines Tanzes, den ich erlernen will usw. Zweitens ist es eben ein motorisches Schema:

137

138

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

dynamisches, bald als ein motorisches Schema bezeichnen kann – und man begreift auch, wie Bergson in mehrere Richtungen zugleich über die Begrenzungen des Kantischen Begriffs des Schemas hinausstürmt.) Das Schema ist der Überschuss über ein Tun, das selbst wieder einem Tun entspringt und das zugleich als Ausgriff fungiert, von dem her sich die Elemente und Teile meines Tuns neu zusammenfügen können. Gleich einem Seil, das man an einen Felsen wirft, um von dort her den Kurs des Schiffes, auf dem man treibt, zu verändern. Das Schema, als Vorgriff, setzt sich aus den Gewohnheiten körperlicher Handlungen hinaus, um so als Hebel der Dekomposition und Rekomposition dieser körperlichen Gewohnheiten zu dienen. Deshalb braucht das Lernen ebenso wie das Erfinden Zeit. Es ist die Zeit, die nötig ist, um den Abstand zwischen dem Schema und den Gewohnheiten zu verringern – bis beide wieder zusammenfallen können, in der Flüssigkeit einer Bewegung. Die Zeit, die hier gebraucht wird, ist die, in der sich der Konflikt zwischen dem Überschuss, dem Ausgriff, dem Schema und den Gewohnheiten und Bewegungen klärt, und in dieser Klärung wird keine der beiden Seiten unverändert bleiben. Will ich lernen, Tango zu tanzen, dann habe ich zuerst ein relativ undifferenziertes Bild, mehr einen vagen Eindruck: Das ist Tango! Denn selbst noch die genauere Betrachtung, das Sehen selbst des Tangos in seinen Besonderheiten, die individuellen Charakteristika der Choreographie und der Tänzer, ihr Können usw., all das setzt bereits die Arbeit voraus, die sich im Vorgriff des ersten Bildes nur andeutet: das Tango-TanzenLernen eben. Die Lehrerin fordert mich dazu auf, diesen oder jenen Schritt zu machen, dabei die Hüfte gerade zu halten, die Wirbelsäule gerade gereckt, das Kinn nach oben, nun eine Drehung nur aus der Hüfte… Ich muss mit Hilfe der Lehrerin die Bewegungsgewohnheiten, die mir in Fleisch und Blut übergegangen sind, in Einzelteile zerlegen und neu zusammensetzen.13 Das ist es, was Zeit braucht. In dieser Konzeption ist kein Platz für ein Geistiges, das dem Körper wie ein Fremdes gegenüberstünde: Der Fehler der Theorie ist es, seine Kategorien in die Praxis zu projizieren und sich dann zu wundern, dass die Sache nicht klappen will.14 Dabei ist hier alles

13

14

Es ist entstanden aus Bewegungen und leitet wieder Bewegungen an. Und in diesem Prozess wird es drittens sich selbst verändern, bis es geradezu aufgeht im einmal beherrschten Bewegungsmuster (aber nie ganz), und zugleich die Einheiten, die Identität der Bewegungen, letztlich des Körpers selbst, auseinanderbauen und neu zusammensetzen. Hier sieht man, dass man mit irgendwelchen atomistischen Vorstellungen nicht weiterkommt. Denn was genau die »Einzelteile« sind, in die ich meine Bewegungsgewohnheiten zerlege, hängt einzig und allein von den neuen Gewohnheiten ab, die ich erreichen will und die von sich aus die Zerlegung der Bewegungsmuster veranlassen. Weder gibt es die eine Teilungsart noch braucht man hier nach kleinsten Einheiten suchen. Was die kleinsten Einheiten sind, bestimmt sich je und je aus dem Schema, das mein Handeln anleitet. Anscombe hat dieses Scheinproblem in exemplarischer Weise als solches entlarvt: »People sometimes say that one can get one’s arm to move by an act of will but not a matchbox; but if they mean ›Will a matchbox to move and it won’t‹, the answer is ›If I will my arm to move in that way, it won’t‹, and if they mean ›I can move my arm but not the matchbox‹ the answer is that I can move the matchbox – nothing easier.« (52) Das ganze Buch über die Absicht ist eine einzige Wanderung auf gewundenen Pfaden zu einer Konzeption reiner Praxis. Anscombe spricht ausdrücklich von zweierlei Wissen, einem kontemplativen und einem praktischen (§ 32), sie gibt rein praktische Reformulierungen von Wissen (»sagen können«, 48, »doing things with objects«, 68) und

Abenteuer

reine Praxis: Es ist gerade der nicht-geistige Charakter der Handlung, es ist die Tatsache, dass Tun nicht Denken, nicht Intellektion, nicht Kontemplation ist, die all diese Scheinprobleme lässig hinter sich lässt. Und es gibt keine letzten oder ersten Einheiten, weder im »Geistigen« noch im Körperlichen. Der Körper ist in erster Linie Bewegung, und seine Existenz besteht – sobald nur die trägste und einförmigste Bewegung überschritten ist – in einer schöpferischen Neuanordnung der Bewegungen. Nur die abstrakteste Redeweise kann dann noch erklären, dass auch die neuen Bewegungen schon vorher »möglich« waren: Dass diese abstrakte Möglichkeit nicht einmal in Sichtweite der Realität ist, merkt man spätestens, wenn man versucht, ein Instrument zu lernen. Richtigkeit und Eleganz. Aber der Tanz ist ja nicht beherrscht, wenn ich in der Lage bin, die kanonischen Bewegungsmuster mechanisch zu wiederholen. Von sich aus drängt diese wie jede Tätigkeit über sich hinaus, auf einen neuen Überschuss, der sich als das Eigentliche des Tanzes präsentiert und der selbst in keiner verrechenbaren Weise »in« den Bewegungen ist, obwohl er auch nirgends anders ist. Nennen wir ihn die Eleganz des Tanzes, und konstatieren wir, dass sich in ihm erst der Tanz vollendet.15 Eleganz ist entgegen einer naheliegenden Reaktion nichts Subjektives oder Ungenaues. Das wird deutlich, wenn man auf das Beispiel der Erlernung einer Fremdsprache zurückkommt. Bereits wie man einen Laut auszusprechen lernen kann, den es in der eigenen Muttersprache nicht gibt (das englische »th«, die bedeutungsrelevante Unterscheidung von stimmhaftem und stimmlosem »s« im Französischen, die Töne in vielen asiatischen Sprache), ist unerklärlich, solange man an einem kontemplativen Paradigma festhält. In Wahrheit ist es aber eben nur für die Theorie unlösbar (denn man müsste schon hören und sprechen können, was man hören und sprechen lernen soll); die Praxis hat die Lösung längst gefunden: im Nachsprechen. Durch die schiere Kraft einer Wiederholung, die selbst nicht weiß, wohin sie will und soll, und der die Korrekturen des Lehrers ganz unverständlich sind, beginnt der Körper nach und nach, einen Lautunterschied zu

15

(Haben-)Wollen (»trying to get«, 68), sie entwirft das Schema eines wirklich praktischen Syllogismus’, der fast wie die Parodie des klassischen theoretischen wirkt (§ 38) – und doch flacht gegen Ende (etwa ab § 45) die Verve ihrer Entdeckungen wieder ab: So wird § 33 erklärt, das praktische Schließen ende in der Handlung (im Gegensatz zum theoretischen Schluss, der es auf Wahrheit abgesehen hat), während alle Beispiele für das praktische Schließen oder den praktischen Syllogismus sich nur sinnvoll auf Erklärungen auf Nachfrage, also im Nachhinein beziehen können. Ebenso soll das praktische Wissen eines sein, was die Handlung begleitet, das Wissen ohne Beobachtung eben; aber in § 48 werden gleich zwei, miteinander überhaupt nicht deckungsgleiche Begriffe des praktischen Wissens vorgeschlagen: ein Wissen, das Ursache des Gewussten ist – bzw. ein Wissen als Teil der Praxis. All diese verschiedenen Aspekte finden keine Systematisierung bei Anscombe, vielleicht auch, weil sie dann gezwungen wäre, in ganz grundlegenden Fragen Farbe zu bekennen. Es ist wohl die sprachphilosophische Einhegung, die es ihr nicht erlaubt, die gesamte Reichweite ihrer radikalen Entdeckung selbst zu würdigen. Ganz so, wie sie auch nie den Schluss ausspricht, der sich doch zwingend aus ihrer Deutung der Absicht (als einer Antwort auf die Frage »Warum (hast du das getan)?« – im Präteritum!) ergibt: dass es nämlich eine Absicht in der Handlung selbst nicht gibt. Von außen betrachtet. Mir kann es freilich völlig genügen, dass ich Spaß habe. Aber für den Spaß gilt dasselbe wie für die Eleganz.

139

140

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

hören, der zuvor nicht existierte; ja: er vermag ihn nicht mehr nicht zu hören! Und im selben Zuge lernt er, diesen Lautunterscheid geregelt selbst zu produzieren. Diese theoretische Unmöglichkeit, dieselbe praktische Überwindung wiederholt sich auf allen Ebenen sprachlicher Produktion, in Grammatik, Syntax, Semantik, Idiomatik. Bei all dem muss man sich eines vergegenwärtigen: Die Regeln, die wir abstrakt lernen können, sind eben nur Abstrakta. Sie sind wertvoll, für manche Schüler (aber offenbar nicht für alle!) unverzichtbar – aber es gibt sie in der Wirklichkeit der gesprochenen und geschriebenen Sprache nicht. Etwas, das »Eigentliche« der Sprache, die wir lernen wollen, geht nicht in sie ein. So gibt es Ausdrucksweisen, die weder falsch sind noch idiomatisch im engen Sinn unpassend, und die doch für eine Muttersprachlerin eigenartig klingen, der sie nicht von sich aus verwenden würde. Wie ist das möglich? Lernen wir die Grammatik einer Fremdsprache, dann stammen die Erklärungen, mit denen wir uns diese Grammatik plausibel zu machen suchen, immer nur aus dem Vergleich mit dem, was uns in unserer Sprache längst plausibel ist. Eine grammatische Erklärung im Schulbuch muss rekurrieren auf Sinnstrukturierungen, die in unserer Sprache formulierbar sind. Sie sucht also eine Regel zu benennen, der die fremde grammatische Struktur folgt, damit der Fremdsprachler ihren richtigen Einsatz lernt. Das Problem ist nun aber, dass der Muttersprachler nie eine Regel erlernt hat. Angesichts der Tatsache, dass es im Deutschen keinen semantischen Unterschied zwischen Perfekt und Imperfekt gibt – der Unterschied ist in den allermeisten Fällen nur noch einer des Sprachniveaus –, ist es kein Wunder, dass es so schwer ist, deutschen Schüler*innen die semantische Differenz der Vergangenheitsformen im Englischen nahezubringen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Schüler eine abstrakte Regel lernen, wo die Sprache nur eine konkrete Verwendungsweise kennt. Denn es gibt keine abstrakte Regel der Grammatik des Englischen, und deswegen kann die Kenntnis und der Einsatz einer abstrakten Grammatikregel auch nicht identisch mit der richtigen Verwendung einer Sprache sein. Er kann aber, und das ist das Erstaunliche, dahin führen. Daher folgt für die Metaphysik (und die Ontologie von »Gegenständen« z.B. Sprachen), dass es gar keine allgemeinen Regeln oder Gesetze gibt, die dem, was sie regeln oder »beherrschen«, äußerlich oder transzendent wären. Solche »Regeln« oder »Gesetze« erwachsen einer Praxis und regeln sie dann, einmal entstanden, auch wieder. Sie existieren aber ausschließlich in dieser dynamischen, gelebten Beziehung auf die Praxis, die gerade keine Anwendung ist und sein kann. Es gibt keine Regel, die ein Verhalten beherrschen würde und die für sich formulierbar wäre.16 Genau diese Unterstellung einer zumindest implizit wirksamen Regel, die man 16

Ich habe mich auf Bergson konzentriert. Die historische Gerechtigkeit verlangt, mindestens noch einen anderen Autor zu nennen, der diesen Gedanken gerade in Hinsicht auf die Sprache ins Radikalste nachverfolgt hat: Wittgenstein. Seine Reflexionen sind immer wieder dem Versuch gewidmet, der radikal praktischen Natur unserer Handlungen und unseres Sprechens nachzuspüren, ohne es durch die Anwendung kontemplativer Schemata zu verfälschen und verlieren. Weder in irgendeiner höheren Ebene noch im Innern der Sprechenden gibt es die Regeln, den Sinn, das Verständnis etc. Sie sind ganz im Tun selbst: »[…] Denk doch einmal garnicht an das Verstehen als ›seelischen Vorgang‹! – Denn das ist die Redeweise, die dich verwirrt. Sondern frage dich: in was für einem Fall, unter was für Umständen sagen wir denn ›Jetzt weiß ich weiter‹? ich meine, wenn mir die Formel eingefallen ist.« (Philosophische Untersuchungen. § 154) Daher zweifelsohne auch der »unsystematische« Charakter seiner späteren Texte. Es gilt, auf Schritt und Tritt den Verlockungen

Abenteuer

auch ausdrücklich aussagen und lernen könnte, ist die intellektualistische Fehldeutung der Situation, die sich durch weite Teile der Philosophie zieht. Wäre es so, dann könnten wir tatsächlich nichts lernen. Stattdessen stehen wir vor der Möglichkeit einer rein immanenten materiellen Genese. Was wir Richtigkeit, Eleganz, vielleicht auch Schönheit der Sprache nennen, ist in einem Überschuss, der von den Sprachhandlungen (als Wiederholungen) selbst hervorgebracht wird, der von Sprecher zu Sprecher variiert, in unbestimmbarer Weise, und der eigentlich Sprache ausmacht. Dieser Überschuss kommt nicht, wie ein Luxus, hinzu, er entsteht zwangsläufig, natürlich aus dem Wiederholen selbst – so wie er erst ermöglicht, dass etwas anderes gesagt wird als das, was immer schon gesagt wurde. Und dasselbe gilt für die Eleganz des Tanzes, für die Aufrichtigkeit der Liebeserklärung, für die Vollkommenheit der Komposition, für die Wahrheit des Beweises. Bergson nennt diesen Überschuss das dynamische Schema. Ich habe ihn als Vertex bezeichnet. Er ist der Wirbel, der im Stürmen der Handlungen selbst entsteht, als ihre Achse, ihr geheimes Zentrum, als zitternder Norden. Objektivität. Es fehlt aber noch ein wichtiger Punkt, vielleicht der wichtigste, wenn diese Theorie eine Verbindung mit der Ontologie, mit der Philosophie der Natur haben soll – was bis hierher keineswegs offensichtlich ist. Die bisherigen Beschreibungen gaben dem Beitrag des Einzelnen den Vorrang: Da ist jemand, der oder die z.B. etwas lernen oder jemanden verstehen will: Wie geschieht das? Wäre das aber das letzte Wort, dann müsste sich alle kulturelle Tätigkeit unverzüglich in ein Chaos auseinanderstrebender Anwendungen von Regeln, die es nirgends gibt, ausarten. Mit einem Wort: es gäbe keine Kultur, keine Gesellschaft, nicht so etwas wie Verständigung, weder Gemeinschaft noch Geschichte, und erst recht keine Philosophie. Die theoretisierende Konzeption kann, wenn auch sonst nicht vieles, immerhin dies erklären: Wie es zu wenigstens partieller Übereinstimmung kommt (nämlich durch Annäherung an das Wahre, das von seiner Erfassung unberührt bleibt) und wie die kulturellen Tätigkeiten Gemeinschaft stiften und vollziehen (nämlich durch Teilhabe an dem Objektiven, das alles Einzelne übersteigt). Um diese Konzeption endgültig aus dem Feld zu schlagen, muss also auch dieser Aspekt befriedigend erklärt werden. In Wahrheit ist das gar nicht so schwierig, und wir sind längst auf der Spur. Denn dieser gesamte Prozess, in dem sich der Vertex, das Schema herausschält, als meine Weise der Aktualisierung von Sprache, Tanz, Philosophie…, dieser Prozess ist ein zutiefst und konstitutiv sozialer Prozess. Unablässig wird meine Aneignung des Vorexerzierten, die einer Theorie der reinen Praxis zu widerstehen. Die große Schwierigkeit liegt gerade darin, dass das, was es zu denken gilt, das Naheliegendste, das Einfachste ist. Wittgenstein schreibt, unter Bezugnahme auf Augustins berühmtes Wort der Ratlosigkeit hinsichtlich der Zeit: »Wir wollen etwas verstehen, was schon offen vor unsern Augen liegt. Denn das scheinen wir, in irgendeinem Sinne, nicht zu verstehen. […] Das, was man weiß, wenn uns niemand fragt, aber nicht mehr weiß, wenn wir es erklären sollen, ist etwas, worauf man sich besinnen muss. (Und offenbar etwas, worauf man sich aus irgendeinem Grunde schwer besinnt.)« (§ 89) Es ist dieser Impetus, den Anscombe in Intention weiterträgt, wenn auch nicht mit derselben Kraft. Und es ist nicht sicher, dass die analytische Philosophie, die sich auf Wittgenstein berufen hat, wirklich immer erfasst hat, welche Radikalität hier am Werk ist.

141

142

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Nachahmung des Unverstandenen von verschiedenen Seiten her korrigiert, unter Druck gesetzt, eingehegt, sanktioniert, normalisiert. Um nur die wichtigsten Faktoren in diesem Prozess zu nennen: Lehrer leiten mich an. Autoritäten und Koryphäen wirken als Vorbilder. Institutionen formulieren Verbindlichkeiten. Kanons (selbst von Institutionen oder Gremien oder Autoritäten zusammengestellt) stecken das Feld des Richtigen und Guten ab. (Und jeder Kanon ist wieder nur die Exaltation beispielhafter Leistungen.) Und niemals zu vernachlässigen: Die Vielen gehen Wege, die von Lehrern, Autoritäten, Institutionen, Kanons nie vorgesehen waren; sie schaffen dadurch Realität durch den schieren gegenseitigen Druck der alltäglichen Verwendung und Kommunikation. (Das ist besonders deutlich bei der Sprache, aber es gilt für alle Bereiche sozialen Lebens, von Aussehen und Kleidung bis hin zu den Arbeitswelten. Und auch diese Vielen sind keine homogene Masse, sondern vielfältig gegliedert in Klassen, Schichten, Interessen, »Subkulturen«…) Es sind die zahllosen, aber beschreibbaren Verhältnisse zwischen den exoterischen und den esoterischen Kreisen eines Kollektivs, das Gemeinsamkeit in Denken, Handeln und Wahrnehmen durch gemeinsame Kommunikation stiftet und durchsetzt.17 Aber in allen Aspekten dieser sozialen Disziplinierung wirkt nicht eine ausdrückliche Anweisung, sondern im Gegenteil eine unmittelbare Vorbildhaftigkeit, der, als angemessene Reaktion, eine ebenso unmittelbare Nachahmung entspricht. Wenn es noch eine Anweisung gibt, dann eine der Art: »Schreibe gutes Deutsch! So gutes wie Thomas Mann!« Freilich, wenn ich im Gespräch nach dem Kinobesuch meine, sprechen zu müssen, wie Thomas Mann schreibt, werde ich mich lächerlich machen. Die Wirkungslinien der gegenseitigen sozialen Lenkung sind vielfältig differenziert, nach Situationen und Partnern. Diese verschiedenen Disziplinierungen besorgen von ganz alleine die relative Kohärenz aller Diskurse und Akte. Wir brauchen uns meistens keine Sorgen zu machen, ob unsere Welt auseinanderbricht. Damit das möglich wird – und in unseren Zeiten ist das plötzlich wieder eine reale Drohung –, müssen erst massive gesellschaftliche Fehlentwicklungen und zynische politische Weichenstellungen vorangegangen sein. Aber auch dann atomisiert Gesellschaft gerade nicht, sondern im Gegenteil scheiden sich oppositionelle Großgruppen voneinander ab, mit einem mehr oder weniger scharf umrissenen Halo von ambivalenten kleineren Gruppen. Dann, wenn dieser Punkt erreicht ist, wird tatsächlich Zuflucht in der direkten Anweisung gesucht: Mache dies und sag jenes – und nichts anderes! Doch genau dieser Moment, wenn die implizite Nachahmung einer ausdrücklichen Disziplinierung weicht, kündigt ein Versagen an, das längst geschehen ist und, vielleicht, nicht mehr geheilt werden kann.18 Die Hysterie der Kontrol17 18

Vgl. zu den verschiedenen Kreisen, die die Binnenstruktur der Denkkollektive ausmachen, Fleck: Entstehung und Entwicklung. 138ff. Konfuzius siedelt sich exakt auf dieser Schwelle an: Im Angesicht sozialer und politischer Fliehkräfte sucht er das Prestige der Riten zu erneuern, wissend, dass diese Riten letztlich eine gewisse menschliche Willkür ausdrücken, wissend auch, dass nur unmittelbare Nachahmung die Riten lebendig wirken lässt, und nicht »Verstehen« oder theoretische Durchsichtigmachung. Daher lehnt er alle Erklärung der Riten ab, alles, was hinter, unter oder über ihnen stehen könnte, wird als unwichtig oder unerkennbar verworfen, um die Riten als Riten, als unmittelbare Vorbilder des Handelns wirksam werden zu lassen. Konfuzius steht also vor der herkulischen Aufgabe, in Denken und Lehre das Unhintergehbare und Unhinterfragbare sozialer Vorbildhaftigkeit und Nachahmung zu propagieren.

Abenteuer

le des konformen Betragens und Sagens ist nur sichtbares Symptom eines Krebses, der schon vor einiger Zeit gestreut hat. Diese Hysterie macht daneben auch allzu leicht blind für die ontologisch notwendige Abweichung, die in aller Nachahmung liegt.19 Die zentrifugalen und die zentripetalen Kräfte sind beide zwangsläufige Aspekte ein und desselben sozialen Prozesses, der aus sich selbst heraus beständig Verschiebungen, Wandlungen und Neuschöpfungen produziert. Und zwar nur, weil es keine übergeordnete Regel gibt. Es gibt keine transzendente Regel des Sprechens, daher kann es auch nicht eine Regel des guten Sprechens im Singular geben. Sprechen, lebendige Sprache ist ja nur das breite Delta einer in alle Richtungen ausfasernden Praxis, die nicht einen Hauptarm hat, sondern mehrere, viele (die teilweise ineinander übergehen, sich kreuzen, sich vereinigen, sich wieder trennen), und für die ich wiederum die implizite Regel der richtigen Verwendung entwerfe, indem ich spreche. Jede einzelne Vorstellung, nein: normativ informierte Praxis eines richtigen oder guten Sprechens einer Sprache ist von der gleichen Art wie die Entwindung des dynamischen Schemas aus dem Erlernen der Praxis selbst; sie projiziert einen Hauptarm, einen Zentralnerv, eine Achse, einen Vertex zurück in die breite undisziplinierte ausufernde Masse der Handlungsweisen und »findet« so ein Kriterium des Richtigen/Guten (im Gebrauch), das aber selbst wiederum nicht expliziert werden kann. Es ist wieder dem Tun ganz immanent: Stammt aus ihm, übersteigt es, und kann sich doch nirgends davon lösen. Gleichwohl gibt es all das nur als eine Abweichung. Es gibt eine Art Gravitation der Masse der Sprechenden und es gibt eine Art Selektion im Prozess sozialer Hierarchisierung. Es gibt aber, trotz Duden, trotz Académie française, keine eine Regel richtiger Sprache. Die Realität einer lebendigen Sprache ist das Wuchern der Sprachverwendung in alle möglichen Richtungen. Und deshalb lerne ich die Sprache durch Versuch, Nachahmung und Wiederholung; ich lerne die richtige Sprache durch die Nachahmung und Wiederholung einer irgendwie als paradigmatisch bestimmten Gestalt dieser Sprache. Doch bilde ich in eben diesem selben Prozess selbst eine implizite Kriteriologie der guten Sprache aus, die sich aus all den Quellen speist, die auf mich Einfluss gewonnen haben, ohne dass diese Quellen aber letztlich die konkrete Gestalt meines eigenen dynamischen Schemas der Sprache erklären. Was sich da bildet, als mein Vertex des Deutschen, des Französischen, ist noch einmal etwas anderes als alle Einflüsse und alle Kanons. Das liegt daran, dass die Interaktion von Einflüssen ohnehin immer Unvorhersehbares produziert; dann auch daran, dass ein jedes Subjekt qua Subjekt schon das Clinamen seiner Geschichte ist; und dann auch daran, dass ich halt nicht einfach nur spreche, sondern etwas spreche, und das, was ich spreche 19

Auch hierfür ist unsere Gegenwart taub geworden: Sie hat zu laut nach Individualität geschrien. Es ist geradezu verrückt: Je mehr offiziell Individualität, Besonderheit, Abweichung zum Wert an sich erhoben wird, desto weniger wird das auch tatsächlich goutiert. Im Gegenteil geht es darum, dass Schwarze, Weiße, Homos und Heteros und alles dazwischen und daneben, Langweilige und Schrille am Ende immer wieder dasselbe sagen: dass sie alle Individuen seien, einzigartig, mit ihrem eigenen Weg, und dass man das unbedingt respektieren müsse. Will man ein Bild für diesen tiefen Widersinn unserer Zeit, dann sind es die endlosen Castingshows, in denen verzweifelt nach Originalen und Persönlichkeiten gefahndet wird, die dann aber bitteschön nur wieder die immer gleichen Popdudeleien herträllern und ansonsten irgendwie wiedererkennbar, aber unbedingt ganz konform sein sollen.

143

144

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

oder sagen will, eben von Grund auf inkommensurabel ist mit dem, was schon gesagt wurde. Noch ein Vertex also, der sich der Praxis entwindet und der sie dann (mit)orientiert. So gibt es die Wirklichkeit von Sprache nur als die Summe aller Abweichung von einer Regel, die es erstens nicht gibt, die zweitens daher erfunden werden muss, die drittens nur je und je implizit funktioniert und die viertens, wo sie explizit gemacht werden soll, eine reine Abstraktion ist. Und ich trage nun einmal meinen Teil zu dieser Abweichung bei. Und all das gilt ganz ebenso, wenn wir uns dem Tangotanzen zuwenden, der Philosophie, der Mode, der Religiosität, dem Golfspielen oder jeder beliebigen anderen kulturellen Tätigkeit. All das sind auch nur andere Weisen, um das zu umschreiben, was ich den Vertex genannt habe: die immanente Regel, die nicht vor dem oder über dem liegt, was sie regelt, sondern nur darin und die davon erzeugt wird, die sich im Nachhinein aber – obwohl nur Produkt – als Ursache präsentiert. Als die gerade Linie, von der ausgehend sich die Gestalt als Verkomplizierung verständlich machen ließe, wo sie selbst doch die Begradigung des unendlichen Krummen ist: die Achse in der Mitte des Wirbelsturms. Es ist dann möglich, in allem Ernst eine echte Entstehung von Neuem zu denken: eine Entstehung, die nicht nackte Wiederholung ist, nicht Abbild, nicht Kopie und Abfall, nicht Verzerrung und Konstitution. Dieser Welt geht kein Modell vorher, keine Idee, keine Struktur, und noch nicht einmal ein Ensemble von »Naturgesetzen«. Es ist das Seiende selbst, das das Neue produziert, und es ahmt dabei nichts nach und es verwirklicht nicht irgendwelche apriorischen Strukturen. Die philosophische Sichtweise, die so möglich wird, lässt sich wohl am besten als ein radikaler als ein kompromissloser Empirismus beschreiben. Dem korrespondiert, dass in dieser Sichtweise für den Begriff einer »nackten Materie«, einer Materie, wie sie der Idealismus immer und der Materialismus oft gedacht hat, kein Platz ist. Materie. Man stößt so auf den vollen Begriff von Materie: Diese ist die nicht-identische, d.h. nicht-abzählbare Vielfalt einer vollen, wirklichen, pulsierenden Dichte und Bewegung, aus der sich beständig unzählige Vertices entwinden, die nicht bloße Materie sind, die sogar »mehr« sind als die Fülle der sich bewegenden Körper, ohne deshalb aber anderes (also bestimmbar anderes) oder gar »Höheres« zu sein, ganz zu schweigen von: »Geistigem«. Die volle Materie sind die produktiven Körper und die Vertices, die sie und in die sie sich entwerfen. Es ist völlig klar, dass es keinen Anlass gibt, dieses Konzept nur auf Soziales, auf Menschliches oder selbst: auf Lebendiges einzuschränken. Es ist überall ein und dieselbe Materie, die von sich heraus die divergenten Wirklichkeiten erzeugt, die wir finden. Das dynamische Schema, der Vertex sind ontologische Funktionen. Schematisch stellt sich der Vorgang der Entstehung von Neuem dann so dar: a) die nicht-abzählbare, nicht-identische, nicht-statische Vielheit im Körperlichen, die in Bewegung, Interaktion und Wiederholung wirkt und seine Dichte und Schwere realisiert; b) die Antizipation, das »Projekt«, das Schema, der Vertex, in das hinaus – als auf eine selbst mannigfaltige »Einheit« – sich die Bewegungen in Wiederholung entwerfen: virtuell, nicht reduzierbar auf die Körper, nicht einfach dasselbe wie die Körper (aber doch Produkt der Selbstorganisation konkreter Materie), etwas anderes, das aber nicht eine andere, »höhere« Seinsstufe mit dort herrschender ontologischer Abzählbarkeit und

Abenteuer

Identität bildet, das aber auch nicht einfach nur Zwischenstation oder Hegel’sche Vermittlung ist, sondern selbst vollwertig und vollgültig; c) die neuen Gestalten, die sich in diesem Widerspiel bilden: Bücher, Tänze, Häuser, Staaten, organisierte Strukturen, die weder auf ihre Elemente, auf ihr »Ausgangsmaterial« reduzierbar noch die Verwirklichung eines transzendenten, eines der Materialität äußerlichen Planes sind, die selbst wieder Materialität und Vertex bilden, selbst nicht feststehen, selbst nicht der Abzählbarkeit unterstehen: und warum sollte dieses Schema (also nicht das dynamische, sondern das Schema dieser drei »Schritte«) noch eingeschränkt sein auf die »kulturellen« Realitäten?20 Abenteuer. Wenn das stimmt, dann ist die konkrete Möglichkeit der Entstehung von Neuem in der Natur gesichert. Dann ist Natur als etwas erkannt, das wesensmäßig Geschichte hat. Als etwas, das ebenso wesensmäßig selbstgenügsam ist: nicht »vollständig« oder in einem unkritischen Sinn »vollkommen«. Aber unbedürftig aller Interventionen von außen, seien es Gesetze, Götter oder Strukturen. Dann gilt kein Apriori mehr, weder ein metaphysisches noch ein transzendentales. Dann ist Wirklichkeit eine im radikalsten Sinn empirische Angelegenheit. Wirklichkeit ist dann ein Abenteuer. Dieses Wort hat den unschätzbaren Vorteil, dass es, unbelastet von aller Schwerfälligkeit der Theorie, einen ursprünglichen Sinn aufbewahrt hat, den man nur herausstellen braucht: Ein Abenteuer ist ein Tun, nicht nur mit ungewissem Ausgang, sondern mit unbekanntem Inhalt. Dem Abenteurer ist nicht nur nicht klar, ob er seine Heimaterde wiedersehen wird; er weiß noch nicht einmal genau, wohin sein Weg ihn führt und was ihm dabei begegnen wird. Das Abenteuer ist ein Tun, dem keine gedachten und keine denkbaren Regeln oder Gesetze vorhergehen (bzw. wenn solche Gesetze oder auch Theorien oder auch nur Phantasien vorhergehen, werden sie schnell genug von der Wirklichkeit des Geschehens zuschanden gemacht werden). Das Abenteuer ist durch das Allgemeine weder erklärbar noch zu legitimieren. Es ist es seinerseits, was Erklärungen und Legitimationen (und irgendwann vielleicht auch die Philosophie) herausfordert, d.h. fordert und zugleich infragestellt. Abenteuerlich ist die Wirklichkeit, in der die Seienden in Nachahmung und Abweichung – und beides gehört wesensmäßig zusammen, bezeichnet nur die beiden Seiten eines Prozesses –

20

Es ist deshalb auch kein Wunder, dass etwa Kauffman in seinem schon erwähnte Buch At Home in the Universe – der darin systematisch die Selbstorganisation von Materie und Leben als unerlässliche Ergänzung und sogar Voraussetzung von Evolution durch Mutation und Selektion etabliert – nicht nur eine Geschichte des Lebens ins Auge fasst, sondern alle Phänomene der erforschbaren Welt unter derselben Perspektive als solche Selbstorganisationen begreift. Zwischen dem ersten Zusammenschluss von Molekülen und der Erfindung neuer Techniken und der Gründung von Unternehmen besteht rein strukturell dann kein wesentlicher Unterschied mehr. So sind zwei der wichtigsten Kriterien einer Theorie der Natur erfüllt: Univozität und Geschichtlichkeit. In die gleiche Bresche schlägt bereits Erich Jantsch (Die Selbstorganisation des Universums), bei dem man diesen Parcours schon im Inhaltsverzeichnis ablesen kann: Es ist eine Bewegung, die von chemischen Reaktionen zum Kunstwerk führt – oder wie der Untertitel lautet: vom Urknall zum menschlichen Geist. Das heißt nicht, dass es da keine Unterschiede mehr gäbe. Das heißt nur, dass die Selbstorganisation zugleich immer Schaffung von Neuem ist: immer über sich selbst hinaus, den Bruch mit sich selbst hervorbringend.

145

146

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

ein Terrain erkunden, das sie dadurch mitschaffen. Uns ist der Sinn für Abenteuer verlorengegangen: Nicht etwa, weil es keine mehr gäbe, sondern weil die Organisationsweise unserer Kultur das alte Abenteuer im gleichen Zuge unmöglich gemacht und durch die Ware ersetzt hat, und alles, was man für die Zwecke der Vermarktung wiederbelebt, ist nun einmal nur die Karikatur des Ersetzten. Für unser Erleben hat sich die Abenteuerlichkeit des Seins, die einstmals in der Fahrt in ferne Länder (die oft schon jenseits der nächsten Bergkette anfingen) ihr Emblem hatte, in die Trias aus Exotismus, Tourismus und Risk-Seeking aufgesplittert: Der Tourist reist in ferne Länder, in denen die Hotels aber mit den gleichen Annehmlichkeiten wie zuhause ausgestattet sind und in denen es dieselben Schnellrestaurants gibt; und er weiß im Voraus, wann er wieder nach Hause kommt. Je mehr sich das Fremde unter dem Druck der merkantilen Nivellierung zurückzieht, desto angestrengter wird es gesucht, als Fremdes: im Exotismus. Es gibt keinen guten Grund, warum das Fremde als solches reizvoller sein sollte als das Bekannte als solches. Beide Orientierungen sind symptomatisch für eine Veränderung der Verhältnisse, denen die Bildung der Gefühle offenbar noch nachhinkt. Was bleibt, ist die unsinnige Suche nach immer neuen Reizen und immer neuen Rekorden, die Bereitschaft, Risiken um ihrer selbst willen einzugehen, weil man sich davon einen Hauch von Lebendigkeit und von Abenteuerlichkeit erhofft. Dabei muss man gar nicht die letzten Eingeborenendörfer mit der zivilisierten Reinlichkeit beschmutzen, um ein Abenteuer zu erleben. Was tut es schon, dass die Erde, wenigstens scheinbar, durchkartographiert ist? Abenteuer ist nicht der Name einer Unternehmung, sondern des Seins, das wir auf uns nehmen, sobald wir eine Praxis eingehen, die reine Praxis ist, die aus ihren Entscheidungen ohne Kriterien lebt,21 aus ihrem Umkartographieren der Körper um uns herum und unseres eigenen Körpers, aus ihren zufälligen Begegnungen, die durch nichts verbunden sind, aus der Treue zu einem Vorbild, die unbemerkt zum Verrat wird.22 So weit, so gut. Bis hierher kann eine Philosophie der Natur gehen. Zumindest in allen herkömmlichen Bedeutungen von »Philosophie«. Betrachtet und praktiziert als eine Theorie dessen, was ist, unterhält die Philosophie allerlei Beziehungen zu anderen Wissenschaften und unterhält sich mit ihnen, wenigstens gelegentlich. Als solche Theorie 21 22

Es sollte nicht mehr nötig sein zu erwähnen, dass darin kein Irrationalismus und kein Dezisionismus liegt, sondern nur die Anerkennung der rein körperlichen Logik des abenteuerlichen Seins. Man kann die beiden Regime, deren Opposition die Struktur von Badious Das Sein und das Ereignis ausmacht (Sein-Leere-Vielheit-Enzyklopädie-Wissen vs. Ereignis-Intervention-Subjekt-TreueWahrheit), als die Abbildung der Opposition und gegenseitigen Verschränkung des Kontemplativen und des Praktischen lesen. Und auch bei Badiou hat das Praktische einen Primat und ist irreduzibel auf das Theoretische. Das zeigt sich etwa im Begriff des Treueoperators, der nichts anderes als die Anerkennung einer »Logik«, einer Wahrheit eben ist, die erstens durch keine noch einmal explizierbaren Gesetze definiert ist, sondern rein in der zufälligen Folge der Begegnungen und ihrer Evaluation in Hinsicht auf das Ereignis besteht und die zweitens in allem Ernst gemacht werden muss: Ein Subjekt muss dieses Abenteuer der Begegnungen auf sich nehmen und im Anspruch der Treue die Entscheidungen machen, ob etwas zum Ereignis in Beziehung steht oder nicht; und diese Entscheidung ist eben nicht in erster Linie etwas Theoretisches, sondern sie ist Militanz: die Bewahrheitung der Wahrheit in der Treue zum Ereignis: »[…] le trajet du vrai est pratique […].« (469)

Abenteuer

ist sie zudem in einem mindestens grundsätzlichen Sinn kohärent: nicht widerspruchsfrei – welche Theorie wäre das schon? Welche interessante vor allem? Aber kohärent in dem Sinn, dass ihre theoretische Position, ihre Position als Theorie nicht fraglich wird. Schließlich steht sie als Theorie dem, was sie untersucht, gegenüber: dort der Gegenstand, hier das Nachdenken darüber. Natürlich ist auch Lukrez, ist auch Spinoza ein Teil der Natur – beider Philosophien legen darauf größten Wert. Aber sie sind im gleichen Sinn Teil wie alles andere, und das heißt: das Teil-Sein lässt sich von außen beschreiben. Philosophie der Natur kann sich, in diesem Verständnis, erschöpfend realisieren als eine Betrachtung von Wirklichkeit wie im Panorama: Das Sein ist vor unseren Augen ausgebreitet.23 Wir haben aber schon vorher festgestellt, dass mit dieser Panorama-Sicht etwas nicht stimmt. Ihr entgeht etwas, ohne das kein Wirkliches als Wirkliches gedacht werden kann: das aus-sich-selbst-heraus-Sein, das von-sich-selbst-her-Sein. Ihr entgeht das so grundsätzlich, dass all die eigenartigen Fragen, wie wirklich denn die Wirklichkeit ist, mit der wir zu schaffen haben, woher ein Stein etwa seine Wirklichkeit, die Garantie seiner Wirklichkeit bezieht, genau hieraus entstehen: Ist Wirklichkeit einmal Gegenstand einer Theorie geworden, kommt in ihr ein von-sich-selbst-aus-Sein nicht mehr vor. Aber wenn etwas nicht von sich selbst her ist, nicht aus sich her zu sein vermag – woher hat es dann sein Sein? Hat es überhaupt Sein, in einem anspruchsvollen Sinn? Das Problem: Und wenn wir noch so elaborierte und brillante Theorien über die Entstehung von Neuem in einem materiellen Universum vorgelegt haben; wenn wir Zeit, Geschichte endlich in einem strengen, aber nicht-reduktionistischen Materialismus als unhintergehbare Dimension erfasst haben; wenn wir gelernt haben zu sehen, wie diese Welt im engsten Sinn schöpferisch ist, ohne dass sich ihre Hervorbringungen kalkulieren oder domestizieren ließen, so sehr, dass die Welt uns in einem neuen Sinn als göttlich erscheinen muss – dann sind wir der Herstellung von Seienden, die von sich selbst her sind, noch keinen Millimeter näher gekommen. Die Entstehung von Dingen, die von sich selbst her sind, in einem Universum, das ich befriedigend von außen theoretisieren kann, ist nicht so sehr unerklärbar, als vielmehr der Bruch mit der Theorie in dieser Theorie selbst. Ein Abgrund tut sich auf. Eine Inkommensurabilität, die in die Auseinandersetzung mit Natur, die wir immer auch selbst sind, eingelassen ist. Hier stößt die Philosophie an eine Grenze, und das gerade dann, wenn sie ihrer Aufgabe in exzessiver Treue nachkommt. Sprünge, Hin und Her, Schuss und Gegenschuss, schnelle Beleuchtungswechsel, geistige Stroboskopie: das ist hier noch möglich. Der gemächliche Strom ergießt sich in einen verhängnisvollen Strudel – dessen Bild man wohl erst dann exakt wiedergibt, wenn man die Erde flach und aufgehängt über dem Nichts denkt, in die sich die Wasser dann ergießen. Das Schicksal der Philosophie der Natur entscheidet sich dort, wo Subjekte geboren werden.

23

Dass die Sachlage bei Spinoza komplizierter ist, werde ich bei anderer Gelegenheit ausführlich bearbeiten.

147

Geburt nātūra, ae,f. (nascor), I. die Geburt… Der Neue Georges … que les animaux ne naissent et ne meurent point, et que les choses qu’on croit commencer et périr, ne font que paraître et disparaître. Leibniz, Système nouveau

Ungeboren. »[…] die Lebewesen werden nicht geboren und sterben nicht, und wovon man glaubt, dass es beginnt oder vergeht, erscheint in Wahrheit nur und verschwindet.«1 Die »Seelen«, oder die »Monaden«, jedenfalls das, was unser Ich wirklich ausmacht und gründet, das kann nicht geboren werden. Denn es ist überhaupt nicht einsichtig, wie dieser metaphysischen Realität, die die Aufgabe hat, die Realität der Körper zu begründen, eine Entstehung in der Welt der Körper, der Zeit, des Raums, der Veränderungen zuteilwerden kann. Woraus sollte sie denn auch entstehen? Aus Körpern ja sicher nicht. Aber dann muss eine Entstehung im anderen Reich, in dem Reich des rein Geistigen möglich sein. Wie? Darauf gibt es nur eine Antwort, nämlich dass Gott eben die Seelen geschaffen hat, man kann sich dann nur noch vernünftig darüber streiten, ob er das von Anbeginn der Welt an getan hat (wie Leibniz glaubt) oder ob er jeweils beim Akt der Zeugung seine übernatürlichen Muskeln spielen lässt. Jedenfalls aber ist das, was eigentlich und in Wahrheit die Würde und das Sein des Menschen ausmacht, erstens nicht von der Art der Körper, in denen wir uns finden, und zweitens nicht etwas, was entstehen kann, zumindest nicht so, wie wir das z.B. von Bergen, Schimmel oder Tischlampen sagen können. Menschen mögen geboren werden, Seelen aber sicher nicht. Diese Auffassung hat einen sehr offensichtlichen Vorteil und einen weniger offensichtlichen. Der offensichtliche ist, dass damit zugleich etwas etabliert ist, das durch den Verfall des Körpers nicht vergehen kann; immerhin die Möglichkeit ist damit gegeben, dass etwas von mir oder etwas an mir oder – »ich«? – nach meinem körperlichen Tod

1

»[…] que les animaux ne naissent et ne meurent point, et que les choses qu’on croit commencer et périr, ne font que paraître et disparaître.« Leibniz, Système nouveau. 70. Meine Übersetzung.

150

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

weiterbestehen kann. Die Unsterblichkeit ist mindestens im Grundsatz möglich geworden. Nun ist aber Philosophie nicht immer so natürlich einer religiösen Denkungsart verschwistert, wie das bei Leibniz der Fall ist. Einige Philosophie bestreitet alles Göttliche inklusive der Engel und Seelen, andere wollen zumindest methodisch auf solche Unterstellungen Verzicht leisten – wobei nicht alle dabei auch ehrlich zu Werke gehen: Manchmal findet man ganz zufällig am Ende einen Gedanken, der exakt die Eingangsfragen zu beantworten weiß und zugleich dem Göttlichen wieder seinen Platz gibt – so viel Zufall, es muss wohl göttliche Fügung im Spiel gewesen sein. Aber selbst Philosophien, die in der Tat und konsequent auf religiöse Voraussetzungen verzichten, sind in vielen Fällen nicht so weit von dem entfernt, was man bei Leibniz ohne Scheu vor einer gewissen Naivität ausgesprochen findet. Das hängt mit dem weniger offensichtlichen Vorteil des Gedankens zusammen, der sich nämlich rein säkular formulieren lässt. Man kann zwar von Menschen sagen kann, dass sie geboren werden, sind sie doch nicht zuletzt auch biologische Wirklichkeiten, für die daher auch biologische Prozesse wichtig sind. Aber das, was den Menschen ausmacht, ist nicht von der gleichen Art, ist weder körperlich noch biologisch. Was ist das denn, was den Menschen ausmacht? Die philosophische Moderne hat ein Gespenst erfunden, das die Aufgabe hatte, die Stärken, die Hoffnungen und die unbestreitbaren theoretischen Vorteile der alten Seele hinüberzuretten, dorthin, wo man nur noch verschämt und verbrämt vom Reich Gottes und seinen Seligen sprechen mag, wo aller letzte Sinn angeblich gewichen ist, um der Unbehaustheit oder gleich der Sinnlosigkeit Platz zu machen, und wo die Nüchternheit oberstes Gebot ist, auch wenn sie unglücklich macht und der Messwein immer noch besser schmecken würde als pures Wasser. Dieses Gespenst ist das Subjekt. Das Subjekt ist in dieser Perspektive ein Ersatz für die Seele, die forthin als unanständiges Wort gilt und nur noch zu besonders feierlichen Gelegenheiten und nur unter der Einschränkung des poetischen Gebrauchs herausgeholt werden darf. Natürlich ist das reichlich überspitzt. Solange die Überspitzung etwas sichtbar macht, ist sie erlaubt. Und das ist hier dies: Wie die Seele, so wird auch das Subjekt nicht geboren. Wenn man einen Philosophen fragt, fast schon egal, welcher Denomination er sich zurechnet, wird man unweigerlich eine der folgenden Antworten auf die Frage, ob Subjekte geboren werden, erhalten: a) Subjekte können geboren werden, denn sie sind Menschen. Aber das wiederum ist keine philosophische Frage, denn (Variante A: Idealismus) was den Menschen ausmacht, ist eben gerade nichts Biologisches bzw. (Variante B: Materialismus) es gibt nichts Auszeichnendes des Menschen, daher stellt sich die Frage der Geburt zwar vielleicht, nicht aber die der Geburt des Subjekts. Oder: b) Subjekte können nicht geboren werden, denn sie sind gerade nicht identisch mit den Menschen. Sie mögen zwar »in« ihnen sein oder sogar in einer bestimmten Hinsicht diese Menschen selbst sein, in einer wichtigeren, grundlegenderen Hinsicht aber sind sie eben nicht identisch mit den Menschen.

Geburt

Alle zwei oder drei Antworten, je nachdem, wie man zählen will, haben zweierlei gemein: Erstens gehen sie selbstverständlich davon aus, dass es etwas »hinter« dem wirklichen Menschen gibt, das die Frage nach der Geburt disqualifiziert. Das kann etwa ein emphatisch verstandener Begriff des Menschen sein, wobei damit wohl irgendeine Essenz gemeint ist. Oder es ist eben das Subjekt. Oder aber, in der materialistischen oder realistischen Variante, eine Wirklichkeit, die ohnehin so oder so besteht und von der angebliche Subjekte nur kleine Variationen, jedenfalls aber nicht einen eigenen Seinstyp konstituieren. Zweitens ist damit exakt diese Frage disqualifiziert: Nach der Geburt des Subjekts kann ich eben nicht fragen. Vielleicht nach der Geburt von Menschen oder aber nach der Entstehung von Seienden, die sich restlos realistisch, d.h. von außen beschreiben lassen. Genau dieses Syntagma aber – die Geburt des Subjekts – ist gegenstandslos. Für den Materialismus naiver Couleur, für den Szientismus, für die Transzendentalphilosophie: ja. Aber für eine Philosophie der Natur ist dieses Syntagma nicht nur nicht gegenstandslos, sondern zentral. Ein Missverständnis ist sogleich abzuweisen: Es soll hier nicht um das gehen, was man mit einem wenig schönen Kunstwort die »Gebürtlichkeit« genannt hat, also die Tatsache, dass wir geboren sind, sowie die Frage, was dieses Wissen und dieser Selbstbezug als geborenes Wesen mit uns macht. Diese Frage setzt den Standpunkt schon voraus, der hier erst einmal geklärt werden soll, nämlich der Standpunkt des Subjekts. (Wie fühlt es sich an, was folgt daraus, was bedeutet es, wie prägt es das Wesen eines Subjekts, wenn dieses ein geborenes ist.) Wie aber das Subjekt ein geborenes sein kann, ist damit ja noch nicht geklärt, und allein darum geht es hier. Die Frage ist eine dezidiert metaphysische, die nach Entstehungsprozessen fragt, und zwar nach den metaphysischen oder realistischen oder materialistischen Entstehungsprozessen von Wesen, die man Subjekte nennt. Wenn das wie ein Widerspruch klingt: genau in diesem Widerspruch liegt das Entscheidende. Was sollte man auch anfangen mit den Philosophien, die erklären, dass das Subjekt natürlich nicht geboren sei, da es doch von anderer Art sei als der Mensch, da es selbst vielleicht eine Geschichte habe, nicht aber einen Ursprung in irgendeinem »empirischen« oder sogar biologischen Sinn? Diese Auskunft ist eine Ausflucht: Man unterscheidet das Wesentliche vom Unwesentlichen, indem man aber beides erst erfindet und damit die Einheit des Gegebenen künstlich zerreißt, und danach erklärt man, dass für das Wesentliche die meisten Eigenschaften nicht mehr gelten, die für das Unwesentliche gelten, und dass man daher auch viele Frage nur an das eine oder das andere stellen kann, nicht aber an beide im gleichen Sinn. Das Wirkliche wird in dieser Denkweise auseinandergerissen, es werden verschiedene Bereiche oder Schichten konstruiert, von denen einige grundlegend, andere abkünftig sind, und diese letzten sind immer nur: nur empirisch, nur faktisch, nur zufällig, nur inhaltlich usw. Damit sollen sich andere beschäftigen, sagen sich die Philosophen, wir wollen es nur mit dem Wesen zu tun haben. Und dieses Wesen ist, sonst wäre es eben kein Wesen, nicht von derselben Art wie das, wovon es Wesen ist: Es ist vor allen Dingen nicht selbst der Zeit, damit der Veränderung unterworfen und daher kann es nicht entstehen und schon gar nicht geboren werden. In Wahrheit ist es so: Eine Philosophie, die sich damit aus der Affäre zieht, hat noch lange nicht die Höhe erreicht, die ihrem Anspruch angemessen wäre. Wenn das Subjekt nicht entsteht, wenn es nicht geboren wird, wie soll es denn dann in die Welt kommen?

151

152

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Und wenn man einwendet, es komme ja eben nicht in die Welt, sondern sei seinerseits Gründung, Konstitution, Voraussetzung oder was auch immer von Welt bzw. Weltlichkeit, dann hat man die Drehung nur noch einmal gemacht. Nein: Wesen, die wir Subjekte nennen können, werden unzweifelhaft geboren. Wenn man das nicht zugesteht und wenn man das nicht zu einem grundlegenden philosophischen Problem erklärt, dann ist man über Leibniz noch keinen Schritt hinausgekommen. Dann hat man auch keine andere Wahl als zu sagen: Die Entstehung oder einfacher noch: die Existenz von solchen Subjekten ist ein Wunder, von dem keine rationale Erklärung Rechenschaft ablegen kann. Es muss also irgendeinen Akt der Schöpfung gegeben haben, oder aber man steht hier über der Felsscharte, die ins Bodenlose führt: pures Mysterium, ein irrationales Faktum. Ein Wunder. Diese Denkweise hat etwas Unwiderstehliches an sich. Ob es der Schwindel über dem Abgrund ist oder der Dampf, der dem Orakel wie seinen Besuchern zu Kopf steigt, weiß ich nicht. Aber all die großen Worte und Fragen, die sich dann aufdrängen, zeigen einerseits an, dass sich die Philosophie mühelos an ihre große Tradition anschließen kann: Dann kann ich über die Ewigkeit des Subjekts, z.B. auch des transzendentalen spekulieren, über Unsterblichkeit, über absolute Anfänge, über bedingungslose Freiheit, über die unvergleichliche metaphysische Würde dieses Subjekts, von dem, wie man bald merkt, alles übrige Sein abhängig ist usw. usf. Man kann zweitens sich umnebeln lassen von dem Pathos und dem Ahndungsvollen, das in solchen Auskünften wabert. Und da man ganz nüchtern begonnen hatte, kann man sich zugleich gratulieren, dass das alles doch wohl nun in einiger Strenge bewiesen sei, gewollt hatte man es ja nicht, und man hätte nie gedacht, dort anzukommen, wo man sich unversehens findet. Entwurzelung. Es soll genügen, hier drei Aspekte zu nennen, die aus einer solchen Konzeption des Subjekts folgen und die zweifelsohne zu kritisieren sind. Diese Aspekte sind bereits an einigen Stellen angeklungen. Im Übrigen kann es sein, dass auch die Konzeption eines Subjekts, das in allem Ernst geboren wird, am Ende wieder in ein absolutes Rätsel mündet. Meine Polemik trifft mich dann selbst, und ich werde das aushalten müssen. Erstens ist in der Konzeption eines Subjekts, das nicht geboren wird, eine Isolation desselben gesetzt, die nachher nicht mehr überwunden werden kann. Dieses Subjekt ist scharf geschieden von allem übrigen Sein. Es ist sowohl seiner Seinsweise wie auch seiner Wirklichkeit nach etwas ganz anderes als z.B. das, was es wahrnimmt. Das Sein des Subjekts ist z.B. sein Bewusstsein, wie, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, Descartes, Kant und Husserl erklären. Und als solches Bewusstsein ist es strikt getrennt von dem Ausgedehnten, von der Wirklichkeit, wie sie an sich selbst ist, von den Gegenständlichkeiten, die es konstituiert. Von diesen dreien hat nur Husserl eine Chance, der totalen Isolation zu entgehen, denn er lehnt die Idee einer Repräsentation des Wirklichen im Bewusstsein ab, die bei Descartes und bei Kant unhinterfragt bleibt; diese beiden, Descartes und Kant, können daher nur feststellen, dass ich Vorstellungen von einer Wirklichkeit habe, die erstens von anderer Seinsweise als mein Ich ist und die zweitens auch ganz anders aussieht als meine Vorstellungen von ihr. Weil Husserl die Verdopplung in Ding und Vorstellung streicht, kann er immerhin den zweiten Satz ablegen: Nein, die Wirklichkeit ist so, wie ich sie wahrnehme, weil diese Wahrneh-

Geburt

mung nicht »im Geist«, »im Bewusstsein« stattfindet. Dennoch sind Bewusstsein und Gegenständlichkeiten radikal voneinander geschieden, denn es ist allein die Arbeit des Bewusstseins, die die Gegenständlichkeit konstituiert. Das wird spätestens dann problematisch, wenn Husserl erklären soll, wie sich sein konstituierendes Bewusstsein zu anderen konstituierenden Bewusstseinen konkret verhalten soll. Denn dann hat dieses offenbar etwas konstituiert, »in dem« etwas ist, was seinerseits die Wirklichkeiten und damit z.B. doch auch irgendwie meinen Körper mitkonstituiert. Was ist die Lösung auf dieses Dilemma? Es ist dieselbe wie beim Subjekt, nur noch einmal umfassender: Denn so wie man sich das Subjekt »tout fait« gibt, als etwas, das es nur als Ganzes gibt, nur eine Sache, die man einfach hinnehmen muss und nach deren wirklicher und wahrhaftiger Entstehung in dieser Welt man nicht mehr fragen kann, so gibt man sich nun also gleich die Intersubjektivität als Dreingabe mit. Dann heißt es eben, dass »das Subjekt« »von Anfang an«, also kraft seines Subjekts-Seins, also a priori, also irgendwie zeitlos, den Verweis auf und den Appell an die anderen Subjekte mit beinhalte. Alles, was man wissen will, ist immer schon dagewesen. Das zweite Problem ist, dass diese Sichtweise das Subjekt von dem entfremdet, was es erkennen will, und das schon in einer ontologischen Sichtweise. Nehmen wir an, wie billig, dass mindestens ein großer Teil dessen, was uns betrifft in unserer Existenz, körperlich ist. Aber was ist das denn, die Materie, der Körper? Diese Philosophie beraubt sich von Anfang an aller Mittel, über das Wesen der materiellen Welt etwas auszusagen. Das, erklärt sie, kann keine Frage der Philosophie sein. Denn das Subjekt bleibt der Materie gegenüber eigenartig fremd. Bald erklärt diese Philosophie, dass sie das An-sich der materiellen Welt nicht ergründen könne, aus methodischer Zurückhaltung, bald, dass es gar keines gebe. Und so schwankt eine Philosophie des Subjekts oft unentschlossen zwischen einer rein methodischen und einer metaphysischen Formulierung hin und her. Man muss aber noch weiter gehen: Nicht nur der Materie insgesamt ist und bleibt dieses Subjekt fremd, sondern sogar noch seiner eigenen. Die Phänomenologie hat ein Begriffspaar geprägt, dessen Nutzen und Produktivität unbestreitbar ist und das doch, wie alle ordentlichen philosophischen Begriffsunterscheidungen, irgendwann an den Punkt geraten muss, an dem es sich als gegenstandslos erweist: Der Körper, sagt die Phänomenologie, ist das Materielle, auch mein Materielles, insofern es von außen oder (von mir) wie von außen betrachtet wird, als eine objektive körperliche Gegenständlichkeit neben anderen. Der Leib hingegen ist dieses selbe Materielle – und man merkt: in diesem »dasselbe« liegt das ganze Problem –, nun aber betrachtet aus der Sicht dessen, der in ihm wohnt, als gelebter Körper, als etwas, das ich erfahre, von innen, als Subjekt also. So richtig und nützlich diese Unterscheidung auch ist: Sie hat neben manchem anderen die Konsequenz, dass zwischen einer objektivierenden und einer phänomenologischen Betrachtung der Körper kein Übergang mehr denkbar ist. Ich selbst, ich bin doch ein Körper. Kann dann die Phänomenologie noch irgendetwas sagen zu solchen massiven körperlichen Ereignissen wie Krankheiten? Sie kann zwar beschreiben, wie es sich anfühlt, Zahnschmerzen zu haben, aber das will ich ja nicht wissen, wenn ich Zahnschmerzen habe. Ich will wissen, wie ich sie loswerde! Und das wiederum weiß nur der Zahnarzt, also einer, der von Berufs wegen nur Körper und keine Leiber kennt. Sagt uns also die Naturwissenschaft mit ihren Anwendungen (z.B. in der Medizin) doch die Wahrheit über die Körperwelt und damit über einen sehr großen Teil unserer Wirklichkeit?

153

154

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Man kommt zum einen in die theoretische Zwickmühle, denn man ist nun eingeklemmt zwischen den unbequemen Alternativen einer schieren Ignoranz aller wissenschaftlichen Forschung gegenüber (denn die hat es ja angeblich nicht mit der Sache selbst zu tun, auch wenn sie z.B. Entzündungen heilen kann) oder der faktischen Kapitulation, d.h. einer Übernahme eben jener szientistischen Thesen, die man doch eigentlich kritisch auf Abstand halten wollte. Diese Entfremdung von der eigenen Materialität aber führt zum anderen in eine eigentümliche Trennung zwischen mir und der Wirklichkeit, zwischen mir und den anderen, zwischen mir und meinem Körper, zwischen mir und der Körperwelt allgemein etc. Etwas ist zerschnitten worden, und dieser Gewaltakt, der uns zurückwirft in ein Subjekt, das erst getrennt ist von der Welt, um dann mühsam wieder in seine Nähe bugsiert zu werden, dieser Gewaltakt wird als Ergebnis eines besonders kritischen Denkens gefeiert, das sich erfolgreich angeblicher Naivitäten entledigt hat. Die Wahrheit ist vielmehr, dass damit eine Fremdheit in die Wirklichkeit und das Weltverhältnis des Subjekts eingeschrieben wird, die nicht mehr gut geheilt werden kann. Ein Abgrund trennt mich fortan von der Wirklichkeit. Wie diesen Abgrund überwinden? Die Philosophie hat das immer nur mit den Mitteln denken können, die sie eben ohnehin immer benutzt, nämlich als Theorie. Sie konnte gar nicht anders, als das Subjekt als ein primär theoretisches zu fassen, das sich den verlorenen Kontakt zur Wirklichkeit nachträglich erdenken muss. Man muss dann mühsam erklären, wie ein Subjekt etwas erkennen kann, wie es etwas erlernen kann, wie es etwas erfinden kann, wie es kommunizieren kann, wie es wertschätzen kann, und all das wird als eine Frage theoretischer Bewältigung verstanden. (Spätestens im vorigen Kapitel wurde klar, dass dieser Versuch ein hoffnungsloses Unterfangen ist.) Das führt auf die dritte Schwierigkeit: Denn diese Sichtweise auf das Subjekt, das dieses als einen Typus beschreibt, der nicht geboren werden kann, verrät sich durch ein Merkmal, das in der Philosophie immer die Alarmglocken schrillen lassen muss. Sie verdoppelt das Subjekt nämlich. Denn für sie gibt es das wahre Subjekt und dann noch einmal seine Projektion oder Abbildung in der nur empirischen Welt. Bleiben wir bei den kanonischen Autoren: Descartes unterscheidet terminologisch zwischen dem »cogito«, das in den Meditationen den systematischen Ort eines »transzendentalen Bewusstseins« einnimmt, und der »mens«, dem Geist also, der seinerseits dieses selbe Bewusstsein ist, insofern es in einer Welt vorkommt und mit einem Körper verbunden ist – wie, das weiß man freilich nicht.2 Bei Kant findet sich das Subjekt vor in einer Welt der kausalen Bestimmtheiten, der es sich nur zu entziehen weiß, indem es sich selbst, durch die beängstigende Spannkraft der Verantwortung, hinauskatapultiert ins Reich intelligibler Wesen, wo es endlich frei sein kann – und nicht zuletzt frei von dem Körper. Und bei Husserl schließlich findet das Ganze seinen klassischen Ausdruck in der so schwierigen 2

Entsprechend dieser Verdopplung muss, genauer gesagt, auch die Verbindung von Geist und von Körper, von Bewusstsein und Realität eine doppelte sein, denn sie wird mal von der einen, mal von der andren Seite betrachtet. Und es offenbart das Scheitern dieser Konzeption, dass diese doppelte Antwort erstens eine Konjunktion bildet, die in keiner denkbaren Ordnung der Signifikanten eine rationale Kohärenz bilden kann, und dass zweitens beide Antwortseiten schon in sich völlig unzureichend sind: Von Seiten des Körpers aus ist es bei Descartes die berüchtigte Zirbeldrüse, die die Vermittlung leisten soll; von Seiten des (man muss sagen) Nicht-Körperlichen aus ist es »die Natur«, die in der Sechsten Meditation als Scharnier für exakt diesen Zweck eingeführt wird.

Geburt

Unterscheidung zwischen einem empirischen und einem transzendentalen Subjekt, die zwar in gewisser Hinsicht »dasselbe« sein sollen – so sehr, dass sich die Wissenschaft, die von dem einen handelt, durch eine einfache »Einstellungsänderung« in die Wissenschaft verwandeln lässt, die von dem anderen handelt (aber was genau ist der Status einer solchen Einstellung und ihrer Änderung?) – und die doch von einem Abgrund getrennt sind, der nicht mehr überbrückt werden kann, da in ihm erst das, was Wirklichkeit für mich bedeuten kann, entstehen muss. Welches Subjekt ist jetzt das wahre? Und wie kann man diese Verdopplung am Ende rechtfertigen? Ist das nicht ein großartiger Mythos?3 Ganz egal also, ob man das Subjekt als einen gewissen, eigenen Gesetzen unterstehenden Seinsbereich ansieht (wie z.B. Descartes, aber auch Husserl oder Sartre und viele andere) oder als eine Art individuellen Kern (wie etwa bei Leibniz) oder als eine Struktur (wie bei Kant oder auch Lacan) oder als eine fungierende Wirklichkeit, die der Welt gegenüber aber transzendent ist (wie bei Husserl) – immer hat man mit dem Subjekt etwas gesetzt gesetzt, was von anderer Art ist als der Rest des Seins, inklusive lebendiger Wesen, was nicht in derselben Weise mit der Zeit und den übrigen Seienden in Berührung ist, so dass also eines ihm nicht passieren kann: es kann nicht geboren werden. Die Einzigkeit ohne Eigentum: das Subjekt. Wir brauchen also einen Begriff des Subjekts, der die vielen Bedeutungen des Ausdrucks »Mensch« und nicht zuletzt auch seine biologischen Aspekte nicht unbedingt integrieren kann, der aber mit ihnen prinzipiell in Kontakt bleiben kann. Wir brauchen ein Subjekt, von dem man sagen kann, dass es geboren wird. Dazu ist erstens erforderlich, dass das Subjekt radikal individuell gedacht wird. Wobei schon dieser Ausdruck ganz unpassend ist. Die philosophische Terminologie ist heillos überfordert, wenn sie die einfachen Verhältnisse des Wirklichen sagen will. Dass ein gewisser gesellschaftlicher Mainstream den Begriff der Individualität zum Slogan und Glaubensartikel erhoben und ihn damit allen präzisen Sinnes entkleidet hat, macht es nicht leichter. Gemeint ist dies: Das Subjekt existiert nicht als eine eigenständige feststehende allgemeine Organisationsform, nicht als Struktur, nicht als Form, nicht als Wesenheit. All diese Texturen, um deren Sichtbarmachung sich die Philosophie nicht zu Unrecht bemüht, sind einzig und allein Abstraktionen von dem einzigen, was es wirklich gibt: individuelle Subjekte,

3

Die Verdopplung des Subjekts hat noch ein paar Folgeverdopplungen: Denn alles, was dem angeblich grundlegenden Subjekt ebenso grundlegend zukommen soll, das kann nicht einfach so sein, wie es unsere alltägliche Erfahrung uns gibt, sondern muss selbst in den Rang des Wesentlichen erhoben werden, und dazu muss man es eben, gegenüber seinem nur faktischen Vorkommen, verdoppeln. So sagt man dann, dass das Subjekt nicht nur in der Geschichte lebt, sondern dass ihm Geschichtlichkeit zukommt – ein besonders aussagekräftiges Beispiel, denn im Gegensatz zur Geschichte ist ja die Geschichtlichkeit, also eine Art wesensmäßiger Qualität, mit einer Geschichte in intimer Beziehung zu stehen, gerade nichts Geschichtliches! Wieder hat man eine Qualität des Subjekts, die zwar von Entstehen und Vergehen handeln mag, die aber selbst nicht entstehen und vergehen kann. Dasselbe gilt dann für solche Sachen wie die Verdopplung von Welt und Weltlichkeit, von Gegenstand und Gegenständlichkeit und von einigen anderen -keiten.

155

156

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Subjekte, die in Inhalt und Form unvergleichbar bleiben (wenn solche Kategorien noch gebraucht werden sollen). Die Rede von Subjekten im Plural scheint dabei allerdings doch eine Verwandtschaft und eine gewisse Identität des Wesens vorauszusetzen. Der Schein trügt, zumindest teilweise. Alles Allgemeine muss hergestellt werden. Und das gilt in zwei Hinsichten: Es gilt für die Theorie, und dann meint es den vielleicht nicht so provokativen Satz, dass eine jede philosophische Theorie nun einmal eine Allgemeinheit postuliert, aber immer dem Einwand und der Widerrede unterworfen ist, womit also faktisch diese Allgemeinheit noch nicht erreicht wurde. Aber, sagt der Philosoph, wenn ich mich vielleicht auch noch ein wenig vertan habe in meiner Suche nach dem Allgemeinen, so muss es doch da sein, es muss existieren, nämlich als die Struktur des Subjekts als eines solchen, denn wäre es anders, dann könnte man erstens auch nicht über die Wahrheit oder Unwahrheit meiner Theorien streiten und zweitens würde damit die Welt, und die Welt der vielen Subjekte zuerst, in ein Chaos disparater Teile zerfallen, die nichts mehr gemein haben. Beide Thesen sind falsch: Auch in der Realität muss das Allgemeine erst hergestellt werden. Subjekte werden hergestellt und ihre Allgemeinheit wird hergestellt. Diese besteht nicht schon im Vorhinein. »Die Menschen sind verschieden«, diese Trivialität meint zuletzt dies: Es gibt realiter zwischen unterschiedlichen Menschen Strukturierungsdifferenzen ihres Subjekts oder ihres Ichs, die sich nicht mehr als Variationen ein und desselben Wesens auffassen lassen. Wo wäre auch dieses Wesen? Oder gibt es das Wesen nur in seinen Variationen? Aber was schreibt dann die Grenzen der Variationsweite vor? Auch diese Theorie ist doch in Wahrheit nur ein Versuch, das Apriorische des Subjekts im Nachhinein als bewegliche Struktur zu retten; dann kann man immer, wenn etwas Neues, bisher nicht Bedachtes, nicht einmal Gesehenes aufgetreten ist, sagen, es sei ja schon vorher als Variationsmöglichkeit im Wesen des Subjekts vorgesehen gewesen. Auch der zweite Einwand geht fehl: Wenn es nicht, argumentiert er, ein solches Wesen, eine gewisse vorgängige mindestens strukturelle Identität gäbe, dann müsste doch die Welt der Subjekte zerbrechen und zerschellen – ein Chaos, vollkommener als das der Atome oder der unbeherrschten Materie müsste daraus folgen. Dieser Einwand unterstellt etwas, was ebenfalls nichts mit realen Subjekten zu tun hat: dass man sie irgendwie für sich, diesseits der Gemeinschaften und anderen Menschen, denen sie ausgeliefert sind, betrachten könnte. Wenn diese Wesen dann keine vorgängige Struktur teilen, müsste in der Tat jede Beziehung zwischen ihnen unmöglich sein. Reale Subjekte aber, solche, die geboren werden, sind zuerst und sehr lange abhängig und geformt von anderen Subjekten, in denen sich aber nur zum Teil persönliche, private, idiosynkratische Vorlieben, Handlungsweisen und Gestaltungen manifestieren. Vielmehr ist ein Gutteil dessen, was in die Formierung eines Subjekts eingeht, eine anonyme Wirklichkeit, die niemandem gehört, auf die niemand gezielt Einfluss nehmen kann und die deswegen eine Allgemeinheit schafft, von der alle zehren können. Das wichtigste Beispiel hierfür ist natürlich die Sprache, aber auch soziale Konventionen, Sitten, Verhältnisse von Generationen und Geschlechtern zueinander usw. sind von dieser Art. Die Sprache ist eben in dem Maße allgemein und Allgemeinheit produzierend, als die Sprechenden in gegenseitiger Disziplinierung eine Regel durchsetzen, die niemand nennen kann. Sie ist Produkt

Geburt

eines Kollektivs (das sich genau durch sie definiert), wie sie auch Mittel zu seiner Reproduktion ist. Die erste Allgemeinheit,4 die zwischen den Subjekten hergestellt wird, ist also eine, die aus einem sozialen »Druck« (im nicht wertenden Sinn) erwächst, von dem niemand der Urheber ist. Damit sind die Subjekte, die so entstehen, selbst »allgemeine«, denn in die Formierung von ihnen allen ist eine Dimension der Anonymität und Allgemeinheit eingegangen, die zumindest so weit eine Ähnlichkeit oder Verwandtschaft produziert, dass dann eine grundsätzliche Kommunikation möglich ist. Wie weit die reicht – das lässt sich nur durch den Versuch feststellen, es ist jedenfalls kein Gegenstand einer apriorischen Erkenntnis (weil es von jedem Subjekt zu jedem anderen variieren kann) und es ist kein Gegenstand einer theoretischen Erkenntnis (denn wir können eben die Übereinstimmung unserer Welten nicht noch einmal überschauen und wie von außen konstatieren) – es ist also gar kein Gegenstand von Erkenntnis. Aber die Tatsache, dass wir miteinander in Kontakt treten können, zeigt an, dass wir bereits in einem Milieu von Allgemeinheit existieren, und zwar ohne dass wir dazu irgendwelche apriorischen Strukturen zur Erklärung anwenden müssen. Wir lernen die Sprache nicht etwa, weil wir bereits der »Sprachlichkeit« teilhaftig wären, sondern weil wir Handlungen und eben auch Sprachhandlungen nachahmen, die wir noch nicht verstehen. Allgemeinheit wird also konkret produziert durch körperliche Akte, die nur möglich sind, weil ihnen keine (als) theoretisch beschreibbare Allgemeinheit vorhergeht. Was hier so verhängnisvoll gewirkt hat, ist die Trennung in Form und Inhalt. Kaum eine Denkfigur ist auf der einen Seite derartig produktiv für das philosophische und wissenschaftliche Denken gewesen, kaum eine hat so massiven Irrtümern Vorschob geleistet. Denn in der Wirklichkeit gibt es keine Trennung, nicht einmal eine Unterscheidung von Form und Inhalt, oder gar: Form und Materie. Nur und ausschließlich im Denken und für die Zwecke des Denkens lässt sich diese Unterscheidung einführen, und sobald das Denken vergisst, dass es selbst es war, das die Unterscheidung erfunden hatte, muss es blind für die Wirklichkeit werden.5 Auf das »Subjekt« angewandt: Wir können ganz einfach bei Menschen nicht auf der einen Seite eine Struktur oder Form oder Wesenheit annehmen und auf der anderen Seite deren je konkrete Füllung nur noch achselzuckend registrieren. Nein, in allem Ernst unterscheidet sich mein Ich in Form und Inhalt von dem der anderen. Daraus folgt unter anderem, dass die psychologische Rede von einer ungenügenden Ichbildung wortwörtlich genommen werden muss: Es gibt Menschen, die weniger »Ich« sind als andere oder zumindest auf eine entschieden andere Weise. Es gibt Menschen, die tief eingetaucht bleiben in eine treibende, unpersönliche, vielleicht auch anonyme

4 5

In Wahrheit nicht ganz die erste. Es gibt, wie sich bald zeigen wird, eine grundlegendere, eine ganz natürliche Allgemeinheit. In der Tat ist in der Metaphysik das Urteil bereits zugunsten des Idealismus gefallen, sobald man nur diese Trennung akzeptiert hat. Die schiere Unterscheidung dieser beiden Aspekte ist bereits eine Parteinahme und eine Metaphysik: auf der einen Seite die unsaubere, unordentliche, am Ende immer undenkbare, sogar unsichtbare Materie bzw. purer Inhalt, der für sich irrelevant ist und nur gilt, insofern er als Ausfüllung, Instanziierung, Statthalter oder Verwirklichung der einzig entscheidenden Form ist, auf der anderen eben diese, geläutert und rein, nicht der Zeit unterworfen, wahr, unvergänglich und ungeboren.

157

158

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Welt von Gefühlen, Affekten, Reizen, deren »Ich« sich eben nicht scharf abhebt und vereinzelt; es gibt Menschen, die im Gegenteil sich und anderen als Inseln erscheinen wollen, die fast schon den Alpträumen genügen könnten, die gewisse idealistische Philosophen für Utopien ausgeben mochten; es gibt Menschen, die ein Gegenüber suchen und brauchen, die aus dem anderen leben, ihr Ich im Du finden (und nicht nur wie bei Buber, demzufolge der Mensch am Du zum Ich wird);6 es gibt Menschen, die zwar ganz reflektiert sind, aber so leer wie eine transzendentale Form; es gibt Menschen, die eine Gruppe brauchen, einen gewissermaßen ontologischen Hintergrund, auf dem sie erst so etwas wie ein Ich sein können usw. usf.7 Was es wahrscheinlich nicht gibt, sind Menschen, die über ihr eigenes Ich und die konkrete Gestaltung dieses Ich Aufschluss geben können. Die Beschreibung des Subjekts ist damit noch nicht abgeschlossen. Denn wenn dieses sich auch lediglich in der Nachahmung von Akten bildet, die es nicht versteht, dann ist es keineswegs nur passives Ergebnis, schlichter Kreuzungspunkt einiger Vektoren. Es ist vielmehr von Anfang an aktiv. Und seine erste Amtshandlung ist: alle vorgegebenen, angebotenen Handlungen und Normierungen abzulenken, ihnen einen Twist zu geben, der nie vorgesehen war, sie in einem optischen Sinn umzulenken, oder in einem physikalischen. Das Subjekt ist zuerst ein Clinamen. Es wirkt zuerst als eine unvorhersehbare Abweichung aller Wirklichkeiten. Damit ist im Übrigen nicht nur die Möglichkeit, sondern die alltägliche Wirklichkeit eines objektiven Zufalls erwiesen. Was hier geschieht, ist ein radikaler Bruch mit allem Dagewesenen, aber nicht als ein purer Neueinsatz, ein souveräner Anfang aus dem Nichts, gleich einer intelligiblen Freiheit; sondern dieser Bruch vollzieht sich ganz unspektakulär und eben nicht aus einer Souveränität des Subjekts heraus, für die man eine Welt über den Himmeln braucht, sondern im Tun und Nachahmen ohne Verständnis, was eine rein körperliche Rekonstruktion dieser Entstehung von Neuem erlaubt.8 6 7

8

Buber: Ich und Du. 28. Es versteht sich, dass man nach einer erschöpfenden Typologie der Menschen nicht zu suchen braucht. Selbst wenn man es, per impossibile, könnte: Wozu wollte man das tun? Welchen besseren Weg, um genau alles zu vergessen und zu übersehen, was mir die anderen als ihr Unvergleichliches, als ihr Menschlichstes darbringen können, im Guten wie im Schlechten? So eine Typologie wäre ein neuer Triumph der Form über die Wirklichkeit. Die Analyse des Subjekts, das sich als Clinamen erweist, lässt demnach die Idee eines universalen Determinismus als ganz abstrakt, als nur gedacht erscheinen (wenn man nach Bergson noch Bedarf an einer Widerlegung des Determinismus hätte). Levinas spricht, wenn es um diesen Bruch mit allem Vorigen geht, das jedes Subjekt als solches bereits vollzieht, von der Jugend, die damit zur Würde eines metaphysischen Grundbegriffs erhoben wird. Schon bei Lukrez sind Zufall und Freiheit auf ihren gemeinsamen Ort im aktiven Körper zurückgeführt (II, 251ff.). Diese Konzeption des Subjekts ist nicht ohne Beziehung zu dem, was Butler als die performative Natur gegenderter Körper und Subjekte beschreibt, denn auch bei ihr fehlt das Subjekt ja nicht etwa, sondern es entsteht ganz konkret in den Akten körperlichen Verhaltens, die zuerst und zumeist mehr oder weniger gelingende Nachahmungen sind (d.h. in die automatisch eine Ablenkung eingeschrieben ist). Auch hat Butler recht, wenn sie auf der Fragwürdigkeit unserer gängigen Begriffe von Körpern und vor allem geschlechtlichen Körpern beharrt: »[…] the body is not a ›being,‹ but a variable boundary, a surface whose permeability is politically regulated, a signifying practice wihtin a cultural field of gender hierarchy and compulsory heterosexuality […].« (Gender Trouble. 189) Es liegt aber in der Natur einer Philosophie der Natur, dass sie die Materie als solche für einen gültigen Gegenstand der Untersuchung halten muss, weshalb aus ihrer Perspektive der gegen Butler erhobene

Geburt

Man könnte einwenden, dass diese Aktivität des Subjekts doch lediglich negativ formuliert sei; dann ist das Subjekt, wie man heute gerne sagt, vor allem »im Entzug« seiner selbst. Doch es wäre ganz ungenügend, da stehen zu bleiben. Denn es stimmt ja einfach nicht, dass das Subjekt sich nur negativ und im Entzug kundgibt. Wir nehmen doch positiv Kenntnis von uns selbst, wir erleben uns und haben einen vorzeigbaren »Gehalt«. Mehr noch: Unser Subjektsein ist doch immer auch zugleich eine Aneignung, und zwar untrennbar die Aneignung der Wirklichkeit und unserer selbst. Diese Aneignung, in der sich konkret ein wirkliches Subjekt erst ausbildet, ist die Empfindung. Die Empfindung hat mindestens drei miteinander verschränkte Aspekte. Sie ist erstens eben Aneignung des anderen. In diesem Sinn spricht Levinas von der Affektivität, der Empfindung, dem Genuss:9 Wenn wir einen Hammer verwenden, wenn wir spazieren gehen und die frische Luft einatmen, wenn wir essen und genüsslich kauen und schlucken – immer ist die erste, die grundlegende Begegnungsweise mit der Welt ein Genuss. Dieser Genuss ist aber zugleich eine mit nichts vergleichbare Umwandlung von einer Abhängigkeit in eine Unabhängigkeit: Was sich da vollzieht, ohne Gedanke, ohne Reflexion, ohne alle Theorie, ist die Verwandlung des Bedingten zum Unbedingten. Bedingt finde ich mich vor, bedürftig und hungrig. Das Ich ist ein ganz prekäres Ding, der Mensch eine ganz unsichere Angelegenheit. Er behauptet aber nun im Genuss seine Unabhängigkeit und Unbedingtheit, nämlich eben als Ich, als Subjekt. Und das Verrückteste ist: Genau dadurch bewahrheitet er sie – soweit eben eine Unabhängigkeit in dieser Welt reichen kann, die aus nichts anderem besteht als aus gegenseitigen Abhängigkeiten. Die Empfindung selbst ist der Vollzug dieser Unabhängigkeit. In ihr dreht sich eine Wirklichkeit so in sich selbst hinein, dass erst eine Innerlichkeit geschaffen wird, die zuvor nicht bestanden hat. Die Empfindung ist die konkrete Bildung des Ich, oder, wie Levinas es formuliert, »das eigentliche Erbeben des Ich« (»le frisson même du moi«).10 Die Affektivität ist »Involution«, eine Bewegung nach innen – die also das Außen, die öffentliche Welt voraussetzt –, hin auf ein Selbst, das aber erst in dieser Bewegung selbst entsteht.11 Damit ist dieses Innen immer abhängig von den konkreten Erfahrungen (und nicht als Struktur

9 10 11

Einwand, bei ihr würde am Ende alle körperliche Realität als solche verschwinden, berechtigt ist. Wenn Butler selbst auf diesen Einwand reagiert (etwa in dem titelgebenden Aufsatz der Sammlung Körper von Gewicht, dort 51–87), dann nur um immer wieder zu erläutern, dass die schiere Frage nach der Materie oder dem Körper bereits ein Missverständnis und eine selbst sexualpolitische Parteinahme liegt. Die Ironie will es, dass dieser Ausschluss des Körpers als solchen eine dezidiert idealistische Denkfigur wiederholt. Eine systematische Kritik des Irrtums, dem Butler dabei aufsitzt, findet sich in meinem Aufsatz ›Die Rückkehr des Realen‹. Sie ist mit diesem Irrtum übrigens in bester Gesellschaft. Vgl. Totalité et infini. 112ff. Ebd. 116. Wichtig auch 123, wo die Figur der Involution aufgerufen wird. Das Ich als Involution: Der Sache nach ist dieser Gedanke bereits von Spinoza ausgesprochen: Der menschliche Geist ist die Idee des Körpers. Ich weiß von meinem Geist nur dadurch, dass ich mir dieses Körpers bewusst bin. Und die Bewusstwerdung des Körpers geschieht ausschließlich durch Affektionen, also in den Zonen, in denen die Grenze zwischen Welt und Ich, zwischen Außen und Innen verwischt (denn die Affektion ist das Produkt der Natur des affizierenden und des affizierten Körpers), genauer: in den Zonen, aus denen sich diese Scheidung erst nach und nach herauskristallisieren muss. Auch hier also eine Genese des Subjekts von außen nach innen, und das nach Maßgabe der zufälligen Begegnungen meines Körpers mit der Welt.

159

160

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

vorgängig), es ist zusammengefügt aus Handlungen, die man nicht versteht, und Empfindungen, die mit einem idealistischen (oder transzendentalen) Ich kein gemeinsames Maß haben. Ich sein heißt: den Ort des konkreten Umschlags eines Außen in eine rätselhafte und nie ganz bewältigte Erfahrung zu sein, Schnittpunkt von tausend Erfahrungen und Empfindungen, ein Vertex, der durch die vielfältigen Kräfte an diesem Ort hinausgeschleudert wird; Ich sein heißt: seine eigene Unabhängigkeit behaupten, dadurch vollziehen und zugleich ihre Vorläufigkeit und relative Unwahrheit erfahren. Diese drei Aspekte der Empfindung – Aneignung von Wirklichkeit, Umschlag von Abhängigkeit in Unabhängigkeit, Bildung der Innerlichkeit, des Ich – werden durch einen vierten erst zu vollem Austrag gebracht, der nämlich das erlaubt, was alle klassische Vorstellung vom Subjekt von Anfang an verweigert hat: das Subjekt in die Verwandtschaft, in die Solidarität mit dem übrigen Sein einzureihen. Denn wir brauchen, um eine Empfindung zu denken, entgegen aller gängigen Vorstellungen keinerlei übergeordnete Instanz, keine Zentrale, keinen Hegemon des Bewusstseins. Wenn wir auch nicht sagen wollen, dass eine Qualle, eine Seeanemone, eine Koralle, ein Pilz Schmerzen hat, so werden wir kaum darum herumkommen, ihnen Empfindungen zuzuschreiben, und seien sie noch so rudimentär oder einfach anders orientiert als unsere, gewissermaßen erkaltete Empfindungen. Es gibt nicht das eine Zentrum, das da empfindet, aber anstatt deshalb die Empfindung zu bestreiten, sollte man besser die Idee bezweifeln, wonach die Empfindung ein solches einiges Zentrum braucht. Es sind eben, wie man annehmen kann, lokale, disparate und miteinander kommunizierende Empfindungen – die für ihre Kommunikation keiner transzendenten Instanz bedürfen –, die das Leben dieser Tiere bestimmen. Damit können sie zu Modellen jener Naturdinge werden, die wir Subjekte nennen. Denn Subjekte, mit ihrer »Einheit« des Empfindens, Denkens, Erinnerns (die niemals eine vollkommene Einheit ist und sein kann), sind die Produkte der lokalen, disparaten, ohne transzendente Instanz miteinander kommunizierenden Empfindungen, Gedanken, Erinnerungen. Es wird so zugleich die wirkliche und reale Genese eines konkreten Subjekts denkbar wie auch die Verwandtschaft dieses Subjekts mit anderen Seienden, so dass Subjekt und Welt nicht mehr stumm einander gegenüberstehen, sondern auch für die philosophische Theorie das erreichen, was sie in der Wirklichkeit, unbekümmert um die Aporien der Philosophie, immer schon tun: direkt und unvermittelt – ohne höhere Instanz – miteinander zu kommunizieren. Alles, was ist, durchdringt sich wechselseitig. Und für nichts gilt dieser Satz umfassender als für das Subjekt. Das Subjekt ist so wenig ein Souveränes und Autonomes, dass es vielmehr das am wenigsten Widerstandsfähige der Welt ist. Ein Stein, der arme Repräsentant der trägen unbelebten Materie, die so ganz anders als das Subjekt ist und vor allem: weit unter ihm steht in der Hierarchie des Seins; ein Stein lässt nicht alles einfach rein, leistet der Durchdringung Widerstand. Das heißt aber nicht, dass er darin letztlich erfolgreich ist. Auch in den Stein dringt vielerlei »fremde« Materie ein, und zwar selbst solche, die ihn nicht geradehin zerstört oder zersprengt. Das Subjekt ist im Gegenteil dasjenige Seiende, das fast ausschließlich in der Durchdringung durch anderes besteht. Da haben die Träumer unter den Idealisten aus der Tatsache, dass jede Wahrnehmung meine Wahrnehmung, jede Empfindung meine ist, den Schluss ziehen wollen, dass also das Subjekt das alles aus sich heraus entlässt. Dabei ist doch offensichtlich das exakte Gegenteil der Fall: In der Subjektivität ist die Durchdringung des Seienden durch anderes als es selbst zum Prinzip erhoben. Damit ist ganz einfach und wortwörtlich gemeint, dass das Subjekt ganz drau-

Geburt

ßen ist, ganz von anderem durchdrungen, keine Innerlichkeit hat (zumindest nicht im naiven Sinn einer psychischen Innerlichkeit). Das Subjekt ist also gerade nicht dasjenige Seiende, bei dem eine Identität oder Abgeschlossenheit im Sinn der Selbständigkeit, der Autonomie, der Abgrenzung in eminenter Weise besteht. Es ist vielmehr jene Wirklichkeitsgestaltung, bei der die gegenseitige Durchdringung – dieses Grundprinzip einer jeder Metaphysik der wirklichen Welt – am weitesten fortgeschritten ist. Wenn es also eine »Fortentwicklung« oder sogar eine »Höherentwicklung« des Seins gibt, die im Menschen gipfelt, dann ist diese Linie des »Fortschritts« bestimmt durch die zunehmende Durchdringung von Sein durch Sein. Es zielt nicht ab auf weniger Durchdringung, sondern auf maximale Durchdringung. Der Vorteil dieser These ist, dass sie sich ebenfalls in einem guten biologischen Sinn interpretieren lässt. Denn alle Lebewesen sind je verschiedenartige Organisationsformen von Kanälen, von Durchlässigkeit und Abstoßung. Manches, was geschieht, bleibt unsichtbar für diese oder jene Spezies, manch anderes geht unbemerkt durch sie hindurch, hinterlässt aber Spuren, die später spürbar werden, anderes wiederum wird empfunden und wahrgenommen und leitet das Verhalten. So lässt sich das Subjekt wiederum als eine Wirklichkeit begreifen, die zwar nicht mit der biologischen Definition eines Menschen z.B. zusammenfällt, sondern in Individualität, Ablenkung, Empfindung, Durchlässigkeit phänomenologisch unverwechselbare und naturwissenschaftlich nicht einmal berührbare Verdichtungen von Wirklichkeit vollzieht (oder sich in ihnen vollzieht); die aber doch in einer Verbindung zu den Realitäten steht, die in der Biologie, der Physik, in den Naturwissenschaften allgemein erkundet werden. Skandal. Das sind kaum mehr als Andeutungen über die Natur des Subjekts. Vielleicht ist mehr als das aber weder gut möglich noch auch wirklich nötig. Es ist keineswegs so, dass hiermit alles über das Subjekt gesagt wäre. Vielmehr ist wahrscheinlich noch die Idee, alles oder auch nur das »Wesentliche« über das Subjekt zu sagen, nicht nur unsinnig, sondern geradezu Ausdruck einer nicht untypischen philosophischen Pedanterie – zumindest wenn das Wenige stimmt, was eben umrissen wurde. Der Skandal entzündet sich aber vielleicht am Letzten: Wird mit der Annäherung an die Realitäten, die von der Biologie und der Physik erforscht werden, so fragt man, nicht einer Naturalisierung des Subjekts Vorschub geleistet? Naturalisierung, das heißt in vielen philosophischen Jargons, soweit das Subjekt betroffen ist: Leugnung, Streichung, Aufhebung. Eine solche Naturalisierung liegt hier selbstverständlich nicht vor. Eine solche Naturalisierung ist schon deshalb unmöglich, weil der naturwissenschaftliche Diskurs und der naturphilosophische mit ihm gerade das (fast) nie in sich aufnehmen können, was jedes Subjekt als solches und zweifellos tut: den Vollzug von Wirklichkeit in einer Lokalität. Das Subjekt ist aus sich selbst heraus, gerade nicht in seinen erforschbaren natürlichen Bedingungen, sondern in dem, was es als Einzigkeit, Ablenkung und Empfindung ist und tut. Die Abkehr vom panoramatischen Blick macht es unmöglich, diese Philosophie der Natur mit irgendwelchen leichtfertigen Anleihen an den vermeintlich neuesten Erkenntnissen der Wissenschaften zu verwechseln. Diese Verwechslung ist außerdem unmöglich, weil sich aus dieser Perspektive die Frage vielmehr an die Wissenschaften selbst zurückwendet. Die Frage lautet: Was ver-

161

162

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

mag eigentlich ein Körper als Körper? Es ist, trotz aller »Erfolge« und aller systematischen Macht, nicht sicher, dass die Wissenschaften der Natur – Biologie, Chemie, Physik, um nur die heute klassischen zu nennen – über einen Begriff von Körper und Materie verfügen, der den philosophischen Ansprüchen genügt. Es wäre daher für die Philosophie unverantwortlich, sich ihre Thesen von den Wissenschaften vorgeben zu lassen, denn Aufgabe der Philosophie ist ja eben die Durchleuchtung der Begriffe und Kategorien, die im Alltag wie in den Wissenschaften als klar vorausgesetzt werden. Es geht also nicht um eine Naturalisierung des Subjekts im Sinn einer naiven Wissenschaftsgläubigkeit und auch nicht so, dass man ad hoc die verschiedensten und nicht selten methodisch höchst fragwürdigen »Ergebnisse« der empirischen Psychologie mit der Philosophie zusammenbringt. Es geht aber sehr wohl um eine Naturalisierung des Subjekts, wenn man darunter die schlichteste aller Tatsachen versteht – und man muss schon Philosoph sein, um sie vergessen zu haben: dass Subjekte nun einmal Teil der Natur sind. Der Stein des Anstoßes ist deshalb doch in Wahrheit ein anderer: dass es überhaupt neben der Philosophie noch andere wissenschaftliche Zugänge zur Wirklichkeit und zu den Körpern gibt. Und als wäre das nicht schon unerhört genug, können Philosophen diese Zugänge immer nur in ihren Arbeitsstunden kleinreden: Wenn sie Autofahren, zum Zahnarzt gehen, Antibiotikum einnehmen oder auch nur ihren PC einschalten, immer bestätigen sie durch das Faktum, dass diese anderen Zugänge etwas vom Sein treffen, was sie noch nicht einmal ahnen. Wenn man ehrlich ist, muss man eine gewisse Unehrlichkeit der Philosophie anerkennen. Und ein gewisses Scheitern. Die Philosophie ist nicht in der Lage, alleine der Überfülle Herr zu werden. Die schiere Existenz der empirischen Wissenschaften ist für die Philosophie die Erinnerung daran, dass sie allein unfähig ist, die körperliche Wirklichkeit zu denken. Wir wissen noch gar nicht, was der Körper vermag. Wir werden es weiterhin nicht wissen, nicht in einer abschließenden Weise. Denn es ist die Natur des Körpers, solche Abschlüsse auszuschließen. Die Perplexität der Philosophie ist die vor der verschütteten Grundfrage, deren augenscheinliche Einfachheit einen tiefen Abgrund in sich birgt: den Körper als Körper zu denken, nicht als das andere des Geistes, nicht als geformte Materie usw. Den Körper denkt die Philosophie eben nicht; es sind die Wissenschaften, die den Körper denken, verschiedene Körper, verschiedene Arten von Körpern, dabei aber Verzicht leistend auf die Frage, was diese Körper als Körper auszeichnet. Dieser Verzicht der Wissenschaften macht eben ihre Produktivität aus, denn indem ihnen gewissermaßen ein Ende fehlt, bleiben sie für die Erfahrungen offen, in denen sie immer neues von diesen Körpern lernen. So neu ist das, dass es nicht selten dazu zwingt, eine neue begriffliche und methodische Ausrichtung des Forschens zu etablieren, mit anderen Worten: eine neue Wissenschaft. Nicht nur die Rivalität zwischen Philosophie und Wissenschaften, sondern auch deren innere Dispersionstendenz legen Zeugnis ab von der Überforderung, vor die uns die Körper stellen. Die Verzweigung des Denkens in disparate Wege ist unmittelbares Ergebnis der Zentrifugalkraft der Körper selbst. Philosophie und Naturwissenschaften bilden beide ungesättigte, an einer Seite offene Moleküle. Sie suchen Anschluss. Den finden sie nicht so recht, zumindest nicht zueinander. Sie finden aber immer allerlei anderes auf der Suche. Die Philosophie kann es

Geburt

anpacken, wie sie will: Sie kann die Wissenschaften leugnen oder metaphysisch überhöhen – sie kann sie aber nicht guten Gewissens ignorieren, weil sie inkommensurable Teile desselben Unterfangens sind. Rivalen und Kollaborateure. Es sind die Wissenschaften, die den Körper studieren. Es ist die Philosophie, die sich, wissend oder nicht, daran macht, ihn als Körper zu begreifen. Es stellt sich aber heraus, dass der Körper als Körper mehr ist als der nackte, der bloße Körper. Alle begrenzten weil begrenzenden Begriffe, die die Wissenschaften einsetzen, um den Körper zu untersuchen, erweisen sich als vorläufig und, am Ende, hinfällig. Der Körper als Körper ist das, was über alles »nur« und »bloß« und »nackt« eines reduktionistischen Körperbegriffs weit hinaus ist – bis dorthin, wo es Geister, Subjekte gibt. Der inhärente Idealismus, der die großen Straßen der Philosophie flankiert, ist die richtig-falsche Würdigung des Mehr, das der Körper als Körper ist. Die Lektion: Es geht nicht an, sich von der Physik, der Biologie, der Chemie, der Psychologie… die Arbeit abnehmen und die Wahrheit diktieren zu lassen. Sie kennen auch nicht mehr Wahres als die Philosophie. Es geht nicht an, sie zu ignorieren und geringzuschätzen, denn sie wissen Wahres vom Körper. Sie wissen aber anderes Wahres von einem Körper, der dennoch immer einer ist. Der disparates, inkommensurables Wissen von sich generieren kann, und doch Körper bleibt. Man sieht, mit leichtfertigen Forderungen an die Kohärenz und Konsistenz der Theorien und dem erhobenen Zeigefinger des »Tertium non datur« wird man hier nicht weiterkommen. Es ist der Körper als Körper, der sich darum nicht schert. Recht hat er. Mann aus Mauern. Eine Theorie des Subjekts, das Subjekt bleibt, unverwechselbar in dieser Funktion und Seinsweise, und das doch in Berührung mit dem Wirklichen, das mit einem Wort natürlich ist – bei aller Nachsichtigkeit gegenüber alternativen Vorstellungen von Theorie scheint dieser Versuch den Bogen doch zu überspannen, ganz zu schweigen davon, dass er sich zwischen zwei Stühle setzt. Vor allem wird man von idealistischer Seite hören: Die Behauptung, das Subjekt unterhalte eine ungebrochene Beziehung zum Natürlichen, indem es selbst Natürliches bleibe, unterschlägt die offensichtliche kategoriale Differenz zwischen Subjektsein und Dingwelt. Ein Subjekt ist kein Stein, kein Meer, kein Virus und noch nicht einmal ein Baum. Zum einen: Nur weil das Subjekt natürlich bleibt, heißt das noch nicht, dass es einfach dasselbe sei wie Stein, Meer oder Baum. Die Tatsache, im gleichen Sinn Teil ein und derselben Natur zu sein, präjudiziert noch nicht über die Identität oder Differenz der Teilnehmenden. Das wäre ein offenkundiger Fehlschluss: So als müssten alle Wesen, die Sauerstoff für ihren Metabolismus gebrauchen, von derselben Art sein. Zum anderen ist die Verwandtschaft aber näher, als es die Philosophie gerne glauben will. Das wird in dem Augenblick sichtbar, in dem man sich nicht mehr an abstrakte Subjektbegriffe klammert, die deren einzigartige Seinsweise oder Form oder Struktur feiern, sondern sich im Gegenteil echten Menschen zuwendet. Wie sollte man nicht sehen, dass in der Beschreibung eines echten menschlichen Wesens, auch und gerade in seinen Abgründen, seinem Scheitern, seiner Traurigkeit, Wirklichkeiten zum Tragen kommen müssen, für die man Begriffe aus dem Natürlichen einsetzen muss. Man muss das nicht, weil es keine anderen gäbe, sondern weil das die einzig adäquaten sind. Die Metaphorik ist keine, sie ist strenge Wissenschaft – genau so streng, wie es der Gegenstand erlaubt.

163

164

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Man könnte andere Worte finden, aus anderen Bereichen des Natürlichen; wenn man diese Ersetzbarkeit als Kriterium nimmt, dann sind die Ausdrücke vielleicht »Bilder«. Sie sind aber nicht nur Bilder. Sie sind die Beleuchtung einer Sache durch eine andere: Synekdoche. Ein Mann ist kein Stein, heißt es. Doch, manchmal ist ein Mann ein Stein, aus Stein, ein Wesen aus Mauern. Und mit Formen oder Strukturen kommt man hier nicht weiter. Er hat nie verstanden, was es heißt, dass Menschen miteinander umgehen. Was dort geschieht. Die intrikaten Kleinigkeiten, das Nicht-Gesagte. Das, was sich nicht ordentlich benennen lässt. Was unterhalb oder oberhalb dessen ist, worüber es ausdrückliche Übereinkunft geben kann. Warum halten die Leute sich nicht an das letztere? Es würde doch allen das Leben erleichtern. Dort, wo er auf die anderen trifft, haben sich Bollwerke, Abwehrpalisaden, Mauern aufgetürmt. An sie hält er sich, wann immer es unvermeidlich ist, mit den anderen zu sprechen und zu interagieren. Es ist nicht nur unvermeidlich. Er hat, Mensch unter Menschen, Sehnsucht danach. Er ist nicht zu stolz, sich das einzugestehen. Überhaupt, er ist nicht ohne Sympathie. Seine Mauern sind auf der einen Seite mit dem Kehricht des Ressentiments, auf der andren mit den Dornen der Angst errichtet. Wenn er auf sie klettert und einen Blick darüber wagt, dann auch mit Zuneigung. Seine Sackgasse: dass er nur auf andre zuzugehen weiß, indem er zugleich die Zinnen seiner Festung patrouilliert. Einladung und Abwehr sind zusammengewachsen, weil er keine Existenz außerhalb dieser Mauern denken kann, es sei denn im Modus der Panik. So werden alle auf derselben unbefriedigenden mittleren Distanz gehalten. Oder fast. Er glaubt, dass er Humor besitzt. Er lacht gerne und macht Scherze. Und es ist nicht zu sagen, ob er weiß, dass es immer ein wenig falsch ist, wie er es macht. Nicht viel. Aber genug, um die Distanz sogar dann wieder herzustellen, wenn er sich einmal über die Brüstung lehnt. Es muss ein Humor sein, der sicher ist, es müssen Scherze sein, bei denen Reaktion und Wirkung keine Überraschungen bergen. Vorhersehbar. Belanglos. Humorlos. Jeder Witz die Bestätigung der Mauern. Er spielt Heiterkeit und Aufgeschlossenheit. Es ist das Theaterstück von jemandem, der ganz offensichtlich keine Beziehung zu Menschen haben kann, der sie nicht »versteht«, dem alles wie ein Minenfeld vorkommen muss und der irgendwann entschieden hat, nur auf ein paar einmal gebahnten Wegen darin zu verkehren. Er kann aber auch anders. Er kann auch mit sich im Reinen sein. Mit sich im Reinen ist man, wenn man nur solche Unternehmungen anstrengt, die mit der eigenen Natur übereinstimmen. Angst und Ressentiment atmen am besten in passiver Aggressivität. Er kontrolliert. Er kontrolliert, ob die offiziellen Regeln eingehalten werden. Jeder muss die einhalten. Die offiziellen Regeln sind die Atempausen seiner Existenz. Offizielle Regeln: das besagt: Mauern, die alle einschließen. Das besagt: Alle leben in Wahrheit in Mauern. Die Hoffnung, dass das, was ihm fehlt, ihm gar nicht fehlt, weil es es nicht gibt oder zumindest nicht geben darf. Weil das Normale das Eingemauerte ist. Es scheint, jenseits der Mauern herrscht eine ungehemmte Lust. Die kann, die darf man niemandem gönnen. Sie ist ungerecht. Gegen ihn. Er kann sich ungeheuer erregen, wenn einer schlecht eingeparkt hat. Dem wird er es zeigen. Er schreibt ihm einen Brief, den er hinter den Scheibenwischer klemmt. Ohne Unterschrift. Aber mit Schmackes. Er würde gerne leben ohne Mauern. Denkt er vielleicht. Es geht die Mär, dass es dort ein Leben gäbe. Ein Leben, das glücklich machen kann. Aber immer wenn die Mauern in allem Ernst angenagt wer-

Geburt

den, steigt die Angst in ihm. Es ist schlimmer als die Angst vor dem Tod. Die Angst lässt ihm nur einen Ausweg: ihre Umwandlung in brutale Aggression. Die gärt in ihm, denn um sie rauszulassen, müsste man doch die Tore öffnen. Was für eine grausame Ironie. So kann sie sich nur heimlich ihre Wege suchen, nur solche, die nicht darauf schließen lassen, woher sie kommt. Und der große Teil der Wut und Aggression wird drinnen bleiben müssen. Nur reale Aggression ist reale Auseinandersetzung ist reales Fertigwerden mit ihr. Zumindest der Möglichkeit nach. All die Impulse zuzuschlagen, zu spucken und zu zetern, schlagen jetzt immer nur von innen an die Mauern, prallen zurück, und spielen im Innern der Burg Flipper, alles abwetzend, lauter Verheerungen anrichtend, die in einer nicht ungewöhnlichen Umkehrung nicht der Aggression und der Mauer, sondern der Notwendigkeit der Mauer, nämlich der Unberechenbarkeit des Außen zur Last gelegt werden. Die giftigen Dämpfe der grünen und roten Wut benebeln ihn. Die andren gehen ungerührt ihren Verrichtungen nach, auch ihren Grenzüberschreitungen, so als würde sie das Drama, vergleichbar der Pest in Athen, nicht betreffen. Weil es sie nicht betrifft. Die Mauern, aus denen sein Leben erbaut ist, sind fundamental ambivalent: Sie schützen ihn, um den Preis, ihm täglich Schmerzen zuzufügen. Ihn abzuschneiden. Sie ähneln den Tyrannen in 1984, die einen endlosen Krieg aufrechterhalten, nicht weil sie den Krieg gewinnen wollen, sondern weil er ihnen erlaubt, die Knechtung des Volkes zu verstetigen. Das meint, es kämpfe gegen den Feind und für die Befreiung, dabei ist der Kampf selbst die dauerhafte Verunmöglichung der Befreiung. So meint er, die Mauern würden ihn schützen. Er meint, sie sind sein Leben. Er hat recht. Er hat aber unrecht, wenn er meint, die Schleifung der Mauern wäre das Ende des Lebens. Es könnte der Anfang eines anderen sein. Aber das ist graue Theorie. Die Mauern seines Lebens lassen vielleicht solche Worte hindurch: Anhören kann man sie alle, auch die Botschafter der Feinde. Aber was nötig wäre, um ihnen Glauben zu schenken, nein: zu vertrauen, so sehr zu vertrauen, dass er sein Leben riskierte, das kann niemand sagen. Am wenigsten er, der es »nie im Leben« ernsthaft ins Auge fassen würde, das zu tun. Der Mann aus Mauern ist eine tragische Figur. Er ist ohne Freund, er stößt die anderen ab, obwohl er nicht böse ist, und selbst dann, wenn er ihre Nähe sucht. Und dass sie dauerhaft auf Distanz bleiben, gibt ihm wieder recht. Angst und Ressentiment bilden seine Mauern, ja. Aber das Material der Mauern stammt woanders her. Zuerst sind die Mauern die Erfahrungen einer opaken Materialität. Die Materialität der Bewegungen und Reaktionen der anderen. Der Mann aus Mauern trifft in allen Richtungen auf Undurchdringliches. Es ist aber nicht geraten, diese Sackgassen hermeneutisch oder kognitiv zu formulieren. Man kommt damit nicht weiter. Das, was die anderen treiben, ist ihm unverständlich, in Ordnung. Aber in Wahrheit stimmt schon das nicht. Viel tiefer sind sie als stumme Akte (selbst noch die Worte sind zuerst stumme Akte für den, der ihnen zuerst begegnet) jenseits der Alternative von Verstehen und Nicht-Verstehen. Was wir für ihren Sinn, die Dimension, die sich verstehen lässt, halten, muss wie immer durch Wiederholung und Nachahmung erst aus ihnen selbst, aus ihrer »Sinnlosigkeit« entstehen. Die Opazität der Bewegungen (Handlungen, Gepflogenheiten, Worte usw.), die zwischen Menschen zirkulieren, steht uns zuerst und meistens wie eine Wand gegenüber. Wir tasten uns an ihr entlang. Reife, wenn es so etwas gibt, meint nichts anderes als dies: zu lernen, unsere Schritte nicht nach der Wand auszurichten, sondern sie, wenigs-

165

166

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

tens hier und da abzulenken, um ihr eine neue, günstigere Neigung zu verleihen. Reife heißt im übrigen auch einzusehen, dass man nicht die ganze Wand abtragen und neu setzen kann: Sie gehört uns nicht, und andere wollen sie auch noch benutzen können. Wer meint, die Mauer vollständig umsetzen zu können, der zäunt in Wahrheit nur einen Garten ab, in den niemand Einlass erhält. Mag sein, dass die Wand jetzt ganz seinen Vorstellungen entspricht: Er wird ihre Vollkommenheit mit niemandem teilen können. Er muss einsam bleiben. Dem Mann aus Mauern ist diese Mauer immer so unverrückbar wie grundlos geblieben. Die Bewegungen der anderen haben keinerlei Kredit für ihn jenseits der schieren Faktizität und den rein statistischen Regelmäßigkeiten von Aktion und Reaktion, die er beobachten konnte. Es gibt für all das keinen Grund, zwingend ist offenbar nur, dass es irgendeine solche Ordnung der Aktionen und Reaktionen gibt. Damit hat er seinen Frieden gemacht, deshalb seine Schauspielerei, die doch – eigenartige, bittere, traurige Ironie – seine tiefste mögliche Aufrichtigkeit dem anderen gegenüber ist. Und vielleicht spielt nun in diese Schauspielerei tatsächlich Angst hinein, vielleicht auch eine Art Hoffnung, von der er selbst keine Rechenschaft ablegen könnte: die Angst, endgültig ausgeschlossen zu werden, und die Hoffnung, ach so leise, doch eines Tages noch durch die Mauer hindurchschauen zu können, wie es – so scheint es ihm, und zurecht – so vielen anderen um ihn herum gelingt, die offenbar keine Mauer, sondern nur ein Instrument sehen, deren Benutzung der Mauer einem Technik verrät, der es ihnen erlaubt, über sie hinweg zu lugen. Und wenn er nun an den äußeren Gepflogenheiten des Umgangs festhält, so gut es eben geht, wenn er sich unfehlbar entlangtastet an dieser Wand aus Wort und Witz und Tat, dann würde er im Umkreis, in der Nähe wenigstens der anderen verbleiben, für den Tag, an dem er sehen lernt und – frei wird. Dieser Mensch ist also umgeben von einer Materialität, von undurchsichtigen Bewegungen, die seine Bewegungen beschränken, seine Wege bestimmen, seine ganze Lebensform in enge Grenzen bannen. In einer gewissen Hinsicht ist er nicht über das Niveau eines Babys hinausgelangt. Oder eines Hundes, der fixe Befehle erlernt. Das ist nicht gemeint, um dem Mann aus Mauern zu seiner Schwermut noch die Schande der Geistlosigkeit, der Niedrigkeit bei zu gesellen. Es soll darauf hinweisen, wie alle Geistigkeit aus konkreten Begegnungen mit Materialität und Bewegungen entstammt, die als solche, in ihrer opaken Materialität, zuerst wirksam sein müssen, wenn sie, unter günstigsten Umständen, noch ihre eigene Überschreitung ins Freie und Geistige ermöglichen sollen. Eine Mauer aus Gedanken kann man nicht übersteigen, schon gar nicht mit einer Räuberleiter aus Erklärungen. Am Anfang steht nicht Unverständlichkeit, sondern Undurchdringlichkeit. Wir sind noch als Geister Körper. Die Rede von den Mauern ist deshalb keine Metaphorik. Deshalb kommen auch alle psychologisierenden und erst recht alle psychopathologischen Begriffe viel zu spät. Was sollen die auch helfen. Er ist kein Soziopath, kein Psychopath, kein Autist, er ist kein Querulant, kein Neurotiker. Er ist Mensch. Eine bestimmte Ausformung der Realität Mensch, von der es kein Muster, kein Ideal, keine perfekte oder vorbildliche Gestalt gibt. Von der es keine Form gibt. Er ist und bleibt Mensch, hat es geschafft, dass seine Mauern nicht in blinde Brutalität umschlagen. Sie bleiben defensiv, zumindest zum größten Teil. Er ist vielleicht verheiratet. Es ist, als wäre er das Wagnis eingegangen, immerhin einem anderen Menschen näher zu sein. Zwei Städte, die

Geburt

sich zu einer Festung zusammengeschlossen haben, unter eindeutiger Führung seiner Stadt, aber trotzdem. Ist das schon Liebe? Wer will das sagen? Und warum sollte es nicht Liebe sein: Es gibt so viele Affekte wie individuelle Dinge, die aufeinander wirken.12 Es gibt deshalb nicht eine Liebe. Es gibt so viele Lieben, wie es Menschen gibt, die einander lieben: jedes Mal auf die eine unverwechselbare Weise, die Produkt dieser beiden Menschen ist. So wie es keine Form des Subjekts gibt, so gibt es auch keine Form der Liebe. Oder: Wenn es solche Formen gibt, sagen sie uns am Ende nichts, zumindest nichts von Interesse. Er ist Wissenschaftler. Das hat ihm immer die Aussicht auf eine überpersönliche Ebene eröffnet, wo also genau das unüberwindlich Unverständliche und Unberechenbare menschlicher Interaktionen überwunden wäre. In der Wissenschaft ist alles berechenbar. Im Wortsinn. Es herrschen Gesetze. Im Wortsinn. Vor allem herrschen sie im Wortsinn. Es ist beruhigend, sich an die Wissenschaft zu halten, an ihre Ergebnisse, die echte Ergebnisse sind, weil sie feststehen. Die Wissenschaften rechtfertigen die Mauer, weil sie ihre Statik begründen. Er ist Beamter. Vielleicht ist er das geworden, weil es ihm Zuflucht, Sicherheit versprach. Weil in der Unpersönlichkeit des Staates das Unwägbare des Persönlichen aufgehoben ist. Und schließlich sind auch Staaten wie er: von klaren Grenzen umgebene Territorien. Der Mann aus Mauern ist Mensch, ist »Subjekt«. Seine Sehnsucht, seine Liebenkönnen, zum mindesten sein Liebenwollen bezeugen das, genauso wie seine Angst, sein Ressentiment, seine Aggression. Und doch ähnelt er in einem ganz strengen Sinn einer Konstruktion aus Stein oder Metall. Es ist hier mit psychologischen wie mit philosophischen Theorien über eine Form oder Struktur des Subjekts nichts zu holen. Der Mann aus Mauern ist nicht eine bestimmte Spielart, Variation, Modifikation eines an sich denkbaren Prototyps, einer Grundstruktur, eines Ideals, sondern er ist das konkrete, einzigartige Produkt einer Herstellung, die aus nichts als aus den zufälligen Begegnungen seines Lebens besteht und die eine Herstellung im Natürlichen ist. Er ist in allem Ernst in fast alle Richtungen aus Steinen errichtet. So ein »Subjekt« kann schon deshalb seine ontologische Solidarität mit dem Rest der Natur nicht verleugnen, weil es in großen Teilen seiner Existenz wirklich und wahrhaftig ist wie ein Stein, aus Stein. Ontologische Solidarität heißt nicht Ununterschiedenheit, heißt nicht Kontinuität. Ein Mensch, auch einer aus Mauern, ist keine Mauer. Er gehört aber auch nicht einer anderen Seinsregion an. Er ist nicht aus der Welt gefallen. Man kann bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehen, wie ein Mensch zu dem geworden ist, der er ist. Seine Bildung, Formung ist einem anderen zwar niemals ganz verständlich, ja nicht einmal ihm selbst; und in Wahrheit wäre hier wie so oft noch die Forderung eines restlosen Verstehens ein Missverständnis der Sache: Anders als geometrische Lehrsätze gehören Menschen nicht zu den Dingen, die man restlos verstehen kann, ihre Seinsweise schließt das aus (nicht zuletzt die Seinsweise von Realitäten, die in gegenseitiger Durchdringung existieren), nicht etwa unsere beschränkte Fassungskraft. Aber es besteht immerhin eine gewisse ontologische Konsistenz einer Geschichte, in der sich ein Mensch formt und geformt wird. Ganz anders ist die Geburt selbst. Es bleibt eine nicht 12

Vgl. Spinoza: Ethik IIIp56.

167

168

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

mehr weiter aufklärbare Sache, wie im Sein Zentren entstehen, Orte, an denen ein Seiendes von sich aus ist. Ja, diese Seienden, die von sich aus sind, entstehen nicht aus dem Nichts, sondern wieder aus Seienden, von denen das gleiche gilt. Aber das ist nur eine ganz verbale Annäherung an das Rätsel, das unberührt bleibt. Unberührt bleiben muss, weil eine Umkehrung der gesamten Idee von Ontologie ins Spiel kommt, wann immer wir uns der Entstehung solcher Zentren gedanklich nähern wollen: Immer muss das, was eben nur als ein Äußerliches existierte, was nur von außen betrachtet werden konnte, irgendwann als etwas auftreten, das uns gebietet, es von sich selbst aus zu denken. Nicht einmal der Zeitpunkt dieses Umschlags lässt sich genau bestimmen, weshalb die Rede von der Geburt in Wahrheit nur die Kurzschrift für ein Ereignis ist, das ebenso alltäglich wie mysteriös, ebenso unerklärlich wie grundlegend ist: indem es nämlich das Sein selbst grundlegt. Mysteriös und unerklärlich, ein Umschlag des Seins und im Sein, ohne weiteren Grund – waren wir angetreten, der Philosophie den Mythos auszutreiben, der vor allem ein Mythos der Transzendenz und der mit ihr einhergehenden Abgründe des Denkens ist, der »ignorantiae asyla«, so sind wir deshalb nicht berechtigt, dort, wo das Verstehen an eine Grenze gerät, das Unverständliche zu leugnen. Es ist aber ontologisch unverständlich. Nicht wir sind das Problem, sondern was dort geschieht, im Sein und für das Sein, das ist in sich selbst nicht kohärent, in einer Theorie, zumindest nicht in einer Theorie zu fassen, das führt Inkommensurables ins Feld, ohne dass wir uns eine Auflösung, eine »Aufhebung« erlauben dürften. Der Respekt vor dem Wirklichen, an dem sich die Philosophie abarbeitet, fordert zweierlei: das Wirkliche, so weit es irgend möglich ist, zu durchdringen – aber auch nur so weit, wie das möglich ist, und dort stehenzubleiben, wo kein Weg weiterführt. So stößt auch diese Metaphysik an das Unerklärliche, das die Metaphysik der Transzendenz in Wahrheit nicht akzeptieren wollte: Gab sie doch stets die Tatsache, dass ihre Erklärungen (etwa die Infusion von Seelen bei der Geburt) nicht besonders überzeugend waren, als Respekt vor dem Unerklärlichen aus, das in Wahrheit nur für uns, nicht aber für Gott unerklärlich war. Eine gewisse Konvention hat es zur Banalität werden lassen, dass die Geburt eines Menschenkindes ein Wunder sei. Diese Konvention hat recht, trotz aller Banalität. Es ist ein Wunder ohne Autor. Das konkrete Allgemeine. Nominalismus werft ihr mir vor. Und ihr habt recht. In der Perspektive, die hier eingenommen ist, erweisen sich die meisten Begriffe, die Allgemeines bezeichnen, als bloße Konstrukte und Fiktionen. Es gibt aber Allgemeines, und das ganz konkret. Das Allgemeine hat zwei Quellen, deren eine im vorigen Kapitel begegnet ist: die Prozesse sozialen Drucks, d.h. der oft unmerklichen Sanktion und der Unvermeidlichkeit von Nachahmung, die all jene Realitäten sowohl herstellen wie unablässig modifizieren, an denen wir alle teilhaben, ohne dass irgendjemand sie erfunden oder mit dem unwiderstehlichen Prestige versehen hätte, mit dem sie uns unmittelbar erscheinen – es sei denn die Vielen selbst (das »Denkkollektiv« von Fleck). Die Sprache ist die offensichtlichste dieser Realitäten, aber bei weitem nicht die einzige. Es gibt aber noch eine grundlegendere Figur des Allgemeinen, ein Allgemeines, das in allem Ernst von der Natur selbst hervorgebracht wird und das deshalb als das Paradigma aller Allgemeinheit auftreten darf. Zugleich ist die Besinnung auf dieses konkrete und natürliche Allgemeine dazu geeignet, die völlig abstrakten, blutleeren Vorstellungen zu korrigieren, die man sich vom Allgemeinen macht, wenn man bei dem Vergleich von

Geburt

Begriffen stehenbleibt, und aus der der Idealismus eine seiner tragenden Wände gefertigt hat. Das konkrete Allgemeine, das die Natur selbst hervorbringt, ist die Gattung. Die Gattung ist sicher ein logischer Begriff; sie ist auch eine eher vage Zusammenfassung von Wesen mit einer ähnlichen biologischen Organisation, d.h. mit verwandten Kanalisierungssystemen. Sie kann dieses wie jenes aber nur sein, weil sie grundlegend die Realität ist, die unablässig erzeugt wird durch die Fortpflanzung jener Wesen, die sich eben im Erfolg ihrer Fortpflanzung als miteinander verwandt erweisen. Die Gattung wird produziert, sie ist das, was sich je und je, nach und nach, aus den Akten der Fortpflanzung ergibt, mit allen Zufällen, Sackgassen, Fehlern und gemächlichen wie sprunghaften Modifikationen, die aus diesem Prozess nicht als Unwesentliches herausgestrichen werden können. Es ist das Abenteuerliche der Fortpflanzung, das sein Wesen ausmacht. In der Produktion der Gattung aus den Akten der Produktion neuer Lebewesen lässt sich in anschaulichster Weise ablesen, wie in der Natur die Herstellung von Regelmäßigkeiten, die Hervorbringung unvorhersehbarer Abweichungen und die unkontrollierbaren Glücksfälle wie Aborte in der Erzeugung eines konkreten Allgemeinen zusammenwirken – des einzigen echten Allgemeinen, das wir kennen. Und nur so dürfen wir Allgemeinheit im engen Sinn denken: Allgemeinheit ist nicht die sich gleiche Identität eines Wesens, das über den Dingen schwebt; nicht der Kreis, aus dem alle Unsicherheiten und Zufälle gewichen sind; sie ist nur als unordentliche und selbst prozesshafte Koordination von Abweichungen. Der logische Begriff des Allgemeinen ist wahrhaft abstrakt, weil er meint, von diesem Prozess und seinen Begleiterscheinungen absehen zu können. Was bleibt, ist leere Hülle. Es gibt freilich eine Regelmäßigkeit. Zwei Menschen haben noch kein Leopardenjunges gezeugt und zur Welt gebracht. Ein Mensch hat noch keine Löwendame geschwängert. (Der Versuch immerhin sollte einen Sonderpreis für Originalität und Tapferkeit einbringen, zumindest in Vorgentechnikzeiten.) Pferde und Esel sind in der Lage Nachkommen zu zeugen, diese aber sind ihrerseits mit Unfruchtbarkeit geschlagen. Die Regelmäßigkeit des Allgemeinen drückt sich vor allem negativ aus: darin, dass »die Natur« bestimmte Wege ausschließt. Das alleine ist vorgegeben. Mensch + Jaguar = 0. Esel + Pferd = Maultier/Muli (aber keine weitere Kombination). Mensch + Mensch = Mensch. Es gibt bestimmte Koppelungen von Wesen, aus denen nichts folgt. Mehr noch: Aus den meisten Koppelungen folgt nichts. Dort, wo Koppelungen produktiv möglich sind, ist damit noch nicht viel über das Produkt ausgesagt. Dass natürlich eine gewisse »Ähnlichkeit« zwischen den Ausgangsmaterialien und dem Produkt besteht, braucht nicht zu überraschen: Handelt es sich hier doch ausdrücklich um die Urgestalt der Ähnlichkeit, die Verwandtschaft. Entscheidend ist aber, dass die rein negative Natur der Bestimmung durch die Regelmäßigkeiten im Sein sich noch in zwei Richtungen fortsetzt. Denn einerseits ist ja noch die allgemeine, die selbst spezifische Formulierung der Verhältnisse falsch. Es ist doch gar nicht so, dass die einzige Voraussetzung für gelingende Fortpflanzung das ArcheNoah-Prinzip ist. Sollte es diese Arche so gegeben haben, wie die Bibel sie beschreibt, kann man davon ausgehen, dass damals eine ganze Reihe von Tierarten ausgestorben ist. Denn realiter steht immer ein »Individuum« einem anderen gegenüber, und dabei ist eben gerade nicht gewährleistet, dass daraus ein drittes entstehen wird. »Individu-

169

170

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

um« 1 kann dazu aus irgendwelchen Gründen nicht in der Lage sein, oder »Individuum« 2 hat irgendwelche Mängel, oder aber es ist schlichtweg die Interaktion dieser beiden, die nicht funktioniert. Es klappt eben einfach nicht immer, nicht mit jedem. Auch aus dieser Perspektive stellt »die Natur« lediglich die Koordinaten bereit, innerhalb derer überhaupt etwas passieren kann: mehr aber auch nicht. Was wir als Gesetze kennen, erweist sich spätestens im Biologischen vor allem als eine bloß negative Bestimmung von Grenzen, innerhalb derer sich Realität vollzieht. Ob eine Zeugung, die Entwicklung des Embryos, sein Wachstum, die Geburt, die ersten prekären Lebenswochen und -monate »gelingen«, ist und bleibt ein Abenteuer – womit auch klar wäre, dass dieser Ausdruck nicht leichtfertig als Ode an das Unbekannte missverstanden werden darf. Abenteuer bedeutet Wagnis, und eines, das im Ernstfall alles fordern kann, bis hin zum Tod. Ein Kind, das nicht zum Leben kommt, hat nichts Heroisches. Sein Tod ist pure, ungebremste Tragik. Das aber, nur darauf kommt es hier an, ist der Normalfall: dass der Ausgang nicht schon feststeht. Wir leben glücklicherweise in Zeiten, in denen die atemberaubenden Entwicklungen der Medizin in den vergangenen Jahrhunderten sowohl die Lebenschancen des Embryos massiv erhöht als auch die Kindersterblichkeit in unbekanntem Maß verringert haben. Das sollte uns aber nicht zu dem Fehlschluss verleiten, dass das alles in Wahrheit von alleine und automatisch funktioniert. Es funktioniert nur, insofern es auch nicht funktioniert.13 In allen realen Prozessen, ist der »Fehler«, das Knirschen, das Widerständige integraler Bestandteil. Nur in den gedachten Prozessen geht eigentlich immer alles ganz glatt, und man wundert sich, warum die Realität so beschämend weit hinter dem Denken zurückgeblieben ist. Andererseits ist auch das, was dabei herauskommt, in keiner Weise schon determiniert. Es ist weder aus dem einen Elternteil rekonstruierbar, noch aus dem anderen, noch aus beiden, noch aus einer irgendwie komplexen Kombination plus weiterer Ursachen (z.B. Umweltfaktoren). In der Ankunft eines neuen Lebewesens haben wir ganz konkret die Entstehung einer neuen Realität vor uns, die zwar in einem Verhältnis mit dem vorigen steht (und also nicht, wie das alte Subjekt, mit seiner Geburt nichts zu schaffen hat), die aber in keiner Weise auf dieses Vorige zurückgeführt werden kann. Das Subjekt, der neue Mensch ist ein Clinamen der Welt: eine nicht berechenbare, nicht kontrollierbare, weder vorhersehbare noch im Nachhinein erklärbare Abweichung von dem, was schon war. Die Natur, oder das, was die Wissenschaft unter dem Namen erforscht, hat dazu Bedingungen geliefert, d.h.: Es gibt benennbare Bedingungen, die (meistens) erfüllt sein müssen, damit die Entstehung eines solchen Clinamens gelingen kann; und diese Bedingungen sind zu einem guten Teil negative Bedingungen. Mehr aber kann die objektivierende Wissenschaft hier nicht beisteuern. Im Gegenteil: Wer ihr blind vertraut, der verkennt schnell die wahren Verhältnisse. Dann ist da z.B. von den Genen die Rede, und die DNS ist ja bekanntlich zur Hälfte vom Vater, zur anderen von der Mutter. Aber daraus zu schließen, dass ein einmal entstandenes Wesen in gewisser Weise mit der in den Genen niedergelegten Kombination aus Vater und Mutter gleichzusetzen wäre, müsste ganz irrsinnig erscheinen – wenn man nicht wüsste, dass die Menschen eine eigentümliche Fähigkeit haben, sich gerade den 13

Das ist einer der Fundamentalsätze über das Wirken der Maschinen im Anti-Ödipus – mit gutem Grund.

Geburt

Theorien am vehementesten zu verschreiben, die am offensichtlichsten mit der Wirklichkeit auf Kriegsfuß stehen. Betrachten wir einen realen Menschen und seine oder ihre Eltern, dann merken wir sofort, dass uns die Erklärung der Genetik über die Vererbung des Genmaterials nichts über diesen Menschen sagt.14 Dass die »Natur« nur die negativen Bedingungen formuliert, zeigt sich gerade in der Wirklichkeit des Lebendigen. Ich habe in meinen Elementen dieses neue Subjekt, das nicht anders denn als Clinamen von Welt und Geschichte entstehen kann, auch als Monstrum bezeichnet. Und solche »Monster« sind ja gerade die Abweichungen von einer »Spezies«, die in der Fortpflanzung aufkommen. Es gibt eben keine Garantie in der Fortpflanzung, und es gibt keine Berechenbarkeit des Entstehenden. Es können »normale« Kinder entstehen – aber was heißt schon normal? –, es können aber schon rein biologisch oder medizinisch formuliert auch solche Kinder entstehen, die irgendeine Beeinträchtigung haben, eine Behinderung, eine Entstellung, eine Deformation, die nicht lebensfähig sind oder nur unter beträchtlichen Einschränkungen, die von Anfang an ärztliche Hilfe benötigen oder die von Beginn an einer psychischen Modifikation unterliegen; ja, es gibt sogar solche erstaunlichen Phänomene wie die der siamesischen Zwillinge, die all unsere Konzepte von Identität auf eine harte Probe stellen. Die Monstrosität, von der ich spreche, ist denn auch nicht wertend gemeint, sondern rein systematisch: es meint die Abweichung, die ein Neues hervorbringt, was auf keine schon existierenden Maßstäbe reduziert werden kann – und was in den Fällen biologischer »Monstrosität« lediglich besonders augenfällig wird. In Wahrheit ist doch die Monstrosität noch tiefer ins Körperliche selbst eingeschrieben, als es oft den Anschein hat. Die Vorstellung einer stabilen Art, die sich von Individuum zu Individuum, von Generation zu Generation perpetuiert, wird auch von der Tatsache der Mutation in Frage gestellt. Mutation, das ist ja nur der biologische Name für das Phänomen des Clinamen. Es gibt, heißt das, Veränderungen im Erbgut und in der Verwirklichung des Lebens in einzelnen Individuen (und dann vielleicht auch in ganzen Gruppen von Individuen), die spontan auftreten, keiner benennbaren Regel folgen und die keine positive und determinierende Ursache haben (höchstens wieder eine negative, d.h. bedingende, aber nicht bestimmende). Solange die Biologie die Mutation in die Geschichtlichkeit des Lebens einschreibt, kann ihr Art- bzw. Gattungsbegriff nur als ein Produkt von einzelnen Wirklichkeiten (fälschlich als Individuen bezeichnet) gelten. Nicht existiert in irgendeiner Weise eine Art oder Gattung, mit scharfen Eigenschaften, als Idee oder Wesen über der Geschichte schwebend, von der aus sich dann Lebewesen »individuieren«; sondern es ist die Fortpflanzung selbst, die allein Arten und Gattungen hervorbringt, inklusive der fundamentalen Unvorhersehbarkeit, die dabei im Spiel ist, und der unausweichlichen Verschiebung, die der Philosoph als Clinamen, der Biologe als Mutation und beide als Monster bezeichnen können.15 Es sind al14

15

Auch Simondon macht deutlich, dass die Vererbung nicht als Zauberwort zur Erklärung aller Fragwürdigkeiten herangezogen werden kann, ganz einfach weil sie selbst Chiffre unzähliger kleiner und großer Problemstellungen ist, deren Lösung identisch mit der Herstellung des Individuums selbst ist. »Un caractère héréditaire serait non pas un élément prédéterminé, mais un problème à résoudre, un couple de deux éléments distingués et réunis, en relation de disparation.« (L’individu et sa genèse physico-biologique. 227). Wenn hier die Begriffe von Art und Gattung ohne deutliche Abgrenzung verwendet werden, dann ist das eine Ungenauigkeit, die vom Standpunkt der Biologie aus zurecht kritisiert werden muss. Es

171

172

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

so immer Einzelne, die aufeinandertreffen und alle »überindividuellen« (biologischen) Realitäten dabei erst schaffen.16

16

ist aber nur die Ungenauigkeit, die in den Verhältnissen des Lebens selbst liegt, die hier, nicht: gegen die Biologie, aber: gegen ihre naive Ontologisierung ins Feld geführt werden. Art und Gattung bezeichnen verschiedene Sedimentierungsschichten oder auch verschieden schnelle Rhythmisierungen des Prozesses, in dem sich die konkrete Allgemeinheit des Lebens absetzt; einen prinzipiellen Unterschied wird man vergebens suchen. Überhaupt setzt dieses konkrete Allgemeine immer das gesamte Feld des Lebendigen ein, wenn es sich formiert, insofern nämlich als zwischen allem Leben eine Verwandtschaft im konkreten Sinn einer gemeinsamen Vorgeschichte besteht, aus der sich verschiedene Pfade ausdifferenziert haben; und dies dank der Abweichungen, in denen sich das konkrete Allgemeine vollzieht. Man ist vielleicht versucht einzuwenden, dass es doch auch im Anorganischen Phänomene der Verwandtschaft und also der Allgemeinheit gebe, die sich nicht mithilfe der Fortpflanzung erklären lassen: So gebe es doch verschiedene Typen von Gestein, Metall, Kristall, die eine Allgemeinheit bilden, ohne auf Fortpflanzung angewiesen zu sein – was der gesamten These vom konkreten Allgemeinen den Boden entziehen würde. Aber dem ist nicht so: Im Reich der Steine gibt es keine Allgemeinheit, weil ganz einfach Identität herrscht. Ein Amethyst und ein zweiter sind nicht dasselbe, aber das Gleiche: voneinander nicht zu unterscheiden. Ihre Struktur in einem ganz materiellen Sinn, d.h. die Auswahl und Anordnung ihrer Elemente, ist identisch. Wo aber eine materielle Struktur identisch ist, da ist weder Platz noch Notwendigkeit für ein Allgemeines: Alles, was man wissen kann, ist ja da, in jedem beliebigen »Exemplar«. Man sieht wiederum die Differenz zu einem logischen Begriff von Allgemeinheit: Es ist kein begrifflicher Gehalt oder ein sonstwie gedachtes Wesen, das sich gleich wäre und wovon die Einzeldinge nur Beispiele wären, die »unter es fallen«. Nein, was sich gleicht, ist das konkrete materielle Dasein der Dinge. Wieder gilt nur die eine Erinnerung, die diesmal aber, eben weil das »Wesentliche« ganz schlicht materiell gedacht ist, keinerlei Schwierigkeiten und Unverständlichkeiten herbeiführt: dass kein Ding in einer unberührten Reinheit existieren kann, weil jede Existenz Interaktion und Durchdringung mit anderen Seienden notwendig beinhaltet.

Im Auge

Methodenlehre – Kontemplation – Geheimnis

Was wird hier gespielt? Welche Absicht kann ein Buch, das von der Philosophie der Natur handelt, sich sinnvoll vorsetzen? Wenn die Einheit der Natur bejaht wird, geht es dann darum, eine Theorie vorzuschlagen, in der die innere Gleichartigkeit, die Gleichnamigkeit allen Seins erwiesen wird? Ist eine Ebene zu erreichen, die nur formal oder allgemein genug ist, um den Stein, das Atom, den Geist und die Libelle mit gleichem Recht aufzunehmen? Ist die Vielheit der Seienden in die Einheit der Natur zu überführen? Oder wenigstens in eine Kontinuität, in der man wie billig noch ein paar Stufen einfügen kann, vom Unbelebten über das Belebte zum Menschen? Nichts leichter als das. Nun ist das Leichte aber gerade nicht die Domäne der Philosophie. Es ist die Leichtigkeit, mit der man solche Theorien fabrizieren kann, die sie verdächtig macht. Natürlich kann man das. Aber hat man nicht alles, worum es ging, geopfert, um als Preis nicht viel mehr als den Stolz auf ein geschlossenes System einzuheimsen? Abstrakter Lorbeer ist trostlos – gerade wenn er sich zum Kranz windet. Auf der anderen Seite: Ist man mit der Theorie der Seienden, die sich in einem letztlich nicht erklärlichen Prozess aus anderem Sein herausschälen, so dass sie schließlich von sich aus sind, denn auch nur einen Fußbreit hinausgelangt über den klassischen Dualismus, der das Materielle und das Geistige einander entgegensetzt? Ist die Sachlage nicht in Wahrheit noch aussichtsloser geworden, weil man nicht nur einfach Seinsprädikate so verteilt hat, dass sie sich per definitionem gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr zwei radikal inkommensurable Vollzugsformen und in der Folge Auffassungsweisen von Sein umgrenzt hat: ein Sein, das in anonymer Weise und ohne Zentrum das Elementare bildet, und das Sein, das von sich aus ist, zwar nicht in erschöpfender Weise, aber so, dass der Verzicht auf dieses Von-sich-selbst-aus-Sein die adäquate Erfassung zwangsläufig unmöglich macht? Der Monismus der Natur; der Dualismus der Vollzugsformen von Sein; der behauptete Pluralismus von Seienden: kann das in einer Theorie zusammengehen? Ja. In einer Theorie kann das zusammengehen. Genau darin liegt Glorie und Gebrechen der Theorie. Philosophie beginnt vielleicht dort, wo sie aufhört, Theorie zu sein, wenigstes für Momente. Wo sie sich ergibt: einem Hin und Her, einer wilden Drehung der inkommensurablen Vektoren, wo man gar nicht so schnell den Kopf wenden kann, um einen der Gegenstände, die da durcheinandergewirbelt werden, lange genug zu be-

176

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

trachten, wo bei maximaler Geschwindigkeit die Hoffnung auf eine dauerhafte Synthese zerschellt. Sie muss sich entschlossen zum Ort der größten Beschleunigung, zur Augenwand des Wirbelsturms, begeben. Darin, jenseits der Wand, wird sie eine Ruhe finden, sie wird sich als Theorie finden, als die Schau, die sie immer sein wollte. Sie wird wissen, dass sie diese Ruhe nur bewahren kann, wenn sie der Bewegung des Sturms folgt – und wenn sie vor lauter Geschmeidigkeit dieses Mitgleitens nicht vergisst, wo sie ist. Natur. Nichts darf zum Fetisch werden. Nicht einmal die Natur. Meint man, man müsse diesen Begriff nur gehörig ausweiten, um dann endlich das Gefäß getöpfert zu haben, in das alles passt, dann hat man die Sache schon verfehlt. Man hat die Natur, die Vielheit des Seins und nicht zuletzt seine »Einheit« verraten. Es ist zwar richtig, dass man mit den Denkweisen nicht weiterkommt, die die Welt auseinanderreißen in solches, was nichts miteinander gemein hat, so dass überall Abgründe und Leerstellen und Mysterien entstehen. Es ist andererseits aber auch wahr, die Suche nach dem Einen, in dem sich die Getrennten wiederfinden, ebenfalls etwas ganz Naives an sich hat. Es gilt, eine Denkfigur zu entwerfen, die in der Lage ist, verschiedene ontologische Verfassungen als miteinander verwandt sichtbar zu machen, die sie so artikulieren kann, dass deutlich wird, dass sie wirklich demselben Universum angehören, und die doch nicht eine billige Einheit sucht. Mit anderen Worten: Man wird sich von der Idee einer Natur im Singular und als das Übergeordnete und Umfassende verabschieden müssen. Es gibt die Natur nur in ihrer Uneindeutigkeit, Vielgestaltigkeit, und zwar auch in ihrer Vielfalt an »Seinstypen«. Es gibt keine Natur von allem, nur die Natürlichkeit von allem, und das heißt: die Verwandtschaft von allem miteinander, die, will man sie ausformulieren, nur solche dürren Worte liefert wie Materialität, Räumlichkeit, Vergänglichkeit, die aber – gerade weil die Materialität selbst intensiv ist – nur abstrakte und ganz leere Zugriffe auf eine Fülle sind, die sich eben nicht in die sauberen Schubladen des Denkens fügt.1 Die Verwandtschaft kann selbst nicht noch einmal expliziert werden. Versucht man es doch, dann um einen hohen Preis: Es geht entweder verloren, was sie ausmacht, oder das, was sie zum Verbindenden von allem macht: Sie wird dann entweder Auflistung von Gemeinplätzen oder Auseinandersetzung von Trennendem. Sie selbst lässt sich deshalb nicht aussagen, weil sie dem Wirklichen in seinen Differenzierungen nicht noch einmal vorhergeht, nicht eine tiefere oder eine höhere, keine grundlegende Schicht oder Ebene

1

Der berüchtigste Monismus ist der, der diese Verzahnung von Einheit und irreduzibler Pluralität am entschiedensten behauptet hat: Spinoza lehnt alle Spekulation über die von der metaphysischen Tradition so geschätzten göttlichen Attribute wie Selbstursächlichkeit, Ewigkeit, höchstes Gut-Sein usw. gnadenlos ab. Solche Namen nennen in Wahrheit keine echten Attribute, sondern sind wie Adjektive, die ohne das Substantiv unverständlich bleiben. Wir erfahren durch sie nichts über Gott in seiner Essenz! Will man etwas über diese Essenz, über die substantielle Wahrheit Gottes, d.h. der Natur wissen, dann muss man sich den echten Attributen zuwenden, und die gibt es nur in unendlicher Vielheit, auch und gerade dann, wenn sie Vielheit von »demselben« sind – so aber, dass die unendliche Vielheit unmittelbar in die »Einheit« der Natur eingeschrieben ist. Vgl. Kurze Abhandlung 20. 38. 48. »[…] Gott wäre wohl ohne sie [die irrtümlich Attribute genannten Eigenschaften] nicht Gott, aber dennoch ist er nicht durch sie Gott, denn sie lassen nichts Substantielles erkennen, durch das Gott allein existiert.« (38)

Methodenlehre – Kontemplation – Geheimnis

davon ausmacht. Die Verwandtschaft allen Seins ist nicht seine gegenseitige Interaktion, ist nicht die Möglichkeit der gegenseitigen Interaktion, aber sie ist in der allseitigen gegenseitigen Interaktion von allem. Und nirgendwo sonst. Das heißt aber auch: Man muss sich anfreunden mit dem Umstand, dass die Philosophie selbst disparat ist und dass es in ihr keine letzte Einheit gibt, weder begründend noch beschreibend noch erklärend. Methodenlehre: Absoluter Empirismus. Divergenz und Verwandtschaft gehören zusammen. Weder schwächt die Verwandtschaft die Heftigkeit der Divergenzen; noch dementieren diese jene. Sie treffen sich in der Genese, in der und aus der Divergenz entspringt. Es ist dabei nicht nötig, wie Bergson, noch einmal die schlussendliche oder besser die vorhergehende Einheit des Prozesses aller Genesen anzunehmen. Wir können die Fragen nach dem Ersten und nach dem Letzten getrost beiseitelassen. Wenn alles Sein ein Abenteuer ist, dessen Pfade zwar nicht chaotisch, aber positiv durch nichts bestimmt sind, dann kann nur ein absoluter Empirismus dieser Sachlage gerecht werden.2 Seine Grundsätze sind denkbar einfach: Alles, was existiert, muss entstanden sein. Und alles, was ist, trägt seine Spuren aus dieser Entstehung. Und keine noch so lautere Allgemeinheit kann diese Spuren aus sich tilgen, erhebt sie sich doch zum Allgemeinen (d.h. zu dem, was keine Spuren einer Entstehung trägt, entweder weil es unentstanden ist oder weil es, egal woher entstanden, sich immerzu gleichbleibt) aus dem unheilbar Besonderen und Einzelnen, das zugleich das unwiederbringlich Verlorene ist. Der Gedanke ist vollkommen schlicht. Dennoch ist er radikal. Denn er lässt sich auch so formulieren: Nur Werden und Vergehen sind Herr über das, was ist. Oder so, mehr philosophisch: Erlaubt ist einzig eine Philosophie strengster Kontingenz. Alles, was uns begegnet, hätte auch nicht sein und vor allem anders sein können; jede kleine und kleinste Abweichung im Prozess der Entstehung verändert das Ergebnis, das doch Anspruch auf eine Unabhängigkeit von dieser Entstehung erhebt, die wirksam wird. Anders gesagt: Alles, was ist, behauptet von sich, von seiner eigenen Entstehung unabhängig zu sein. Und das stimmt. Als solches, als Unabhängiges, nämlich wirkt es auf anderes ein, und nur Wirkendes existiert in einem strengen Sinn. Gleichwohl würde das so Wirkende eben nicht oder ganz anders wirken, wenn es tatsächlich von seiner Entstehung unabhängig wäre. Wir kennen die Momente des Missverstehens, der Unaufmerksamkeit, der Erschöpfung, Ermüdung, Ermattung, in denen wir z.B. entscheiden, ein Wort in einem fremdsprachigen Text nicht mehr nachzuschlagen und uns mit unserer Vermutung zu begnügen. In denen wir die schwierige Lektüre abkürzen, indem wir uns, aus purem Überdruss, für eine Auslegung entscheiden, die uns halbwegs zu passen scheint. Es gibt tausend Möglichkeiten, einen Prozess zu unterbrechen, und keine (oder fast keine) hat etwas damit zu tun, dass der Prozess nun tatsächlich zum Ende gekommen wäre. Jede Un-

2

Ich entlehne den Begriff des absoluten Empirismus einem späten Aufsatz von Rosenzweig (Das neue Denken. 450). Während ich es dahingestellt lasse, ob meine Verwendung des Begriffs mit der von Rosenzweig viel zu tun hat, werde ich später immerhin einen Hinweis geben, warum es kein Zufall sein wird, dass man ausgerechnet bei ihm auf diesen Gedanken überhaupt trifft.

177

178

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

terbrechung ist eine zufällige, äußerliche, »sachfremde«, unwesentliche Festsetzung: Die Identifizierung, die in ihr stattfindet, folgt nicht dem Wesen der »identifizierten« Sache, sondern einer schlichten Kontingenz. Man kann das kritisieren. Und bestimmt gibt es auch andere, sehr viel produktivere Wege des Umgangs mit der Frage, wann und wie aufhören. Es gibt so etwas wie: einen Prozess zu seinem Ende führen. Aber nichts garantiert, dass darin nicht in Wahrheit nur eine andere Kontingenz, Äußerlichkeit, Unwesentlichkeit liegt, etwa die meiner Ansichten, meiner Fassungskraft, meiner Vorurteile usw. Aha, sage ich dann, so ist das also, das verstehe ich, das ist für mich plausibel. Aber ist es deshalb auch die Sache, um die es geht? Wer weiß das? Es ist aber auch egal. Wichtig ist nur dies: Immer wirkt eine Unterbrechung, die als solche schöpferisch ist und die wesentlich unwesentlich ist, d.h. nicht dem Wesen der Sache, sondern im Gegenteil irgendwelchen Vektoren folgt, die dem Prozess inhärent sind, nicht der zu schaffenden Sache, und die in Wahrheit das Wesen dieser Sache aus sich entlassen. Das Maß der Philosophie: die Müdigkeit des Denkers.3 Am Ende des so unterbrochenen Prozesses steht also eine halbwegs umrissene Gestalt. Und diese Gestalt ist nicht nur da, sondern in ihrer unwiderstehlichen Positivität ist sie zugleich Maßstab ihrer selbst und all dessen, was ihr ähnlich ist. (Oder aber, sie ist Maßstab ihrer Nachahmung ihrer Vorbilder und ihres Versagens darin.) Sie stellt also etwas dar, und zwar das Wesen dessen, was sie ist. Sie verdoppelt sich von sich aus in sich selbst als etwas Empirisches und als das Wesen des Empirischen, das sie ist. Sie wird paradigmatisch für alles, was sie ist und was ihr ähnlich ist (und nur in dieser Selbstvergrößerung zum Paradigmatischen wird Ähnlichkeit möglich). Sie wird wirksam, indem sie sich so verdoppelt. Sie macht damit Geschichte – und nur von diesem Punkt aus lässt sich Geschichte denken. Plötzlich ist etwas da, was etwas ist und zugleich darstellt, ohne dass es das, was es darstellt, noch einmal sonst irgendwo gäbe. Will man es »ausdrücken«, muss man wieder etwas hinstellen, und so weiter. Methodenlehre: Ursprung. »Ursprung, wiewohl durchaus historische Kategorie, hat mit Entstehung dennoch nichts gemein. Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Entgehen Entspringendes gemeint.« Ursprung deutet den Moment an, wo eine Konstitution in einem anonymen Prozess etwas hervorbringt, das auf rätselhafte Weise aus einer urtümlichen Passivität in eine Mitwirkung am Sein und am (eigenen) Schicksal umschlägt. Ursprung meint den Moment, in dem etwas eine solche innere Kohäsion gewinnt, dass es nun wirklich »etwas« ist, ein Benennbares, das als »force to be reckoned with« Geschichte mitweben wird. Der Moment, wo das Spiel von Werden und Vergehen – das immer nur von außen konstatiert wird – in ein Sein mündet, das nur noch von sich aus gemeint werden kann. Und dann stimmt es natürlich, dass der Ursprung mit dem Entstehen nichts zu tun hat, weil es der Umschlag vom Außen (vom Elementaren) zum Von-sich-Selbst-aus (zum Pfad) ist.

3

»Un ouvrage est fini quand on ne peut plus l’améliorer, bien qu’on le sache insuffisant et incomplet. On est tellement excédé, qu’on n’a plus le courage d’y ajouter une seule virgule, fût-elle indispensable. Ce qui décide du degré d’achèvement d’une œuvre, ce n’est nullement une exigence d’art ou de vérité, c’est la fatigue et, plus encore, le dégoût.« (Cioran: De l’inconvénient d’être né. 1301)

Methodenlehre – Kontemplation – Geheimnis

Und dieser Vorgang ist radikal unerklärlich, sicher nicht mit Begriffen wie Entstehung. Absolute ontologische Inkommensurabilität und faktische gegenseitige Durchdringung wirbeln umeinander, um eine leere Stelle, die aber ihrerseits in dem vollen materiellen Prozess konstituiert wird, das Auge des Wirbelsturms, im Strudel der Zeit, das zu denken der Philosophie schwerfällt. »Der Ursprung steht im Fluss des Werdens als Strudel und reißt in seine Rhythmik das Entstehungsmaterial hinein.«4 Methodenlehre: Dinge umstellen. Fragt man, was die Philosophie ist, dann wird man unweigerlich an die Theorie verwiesen. Nehmen wir an, dass wir nicht wissen, was eine Theorie ist. Ersetzen wir also die Frage durch eine andere: Was macht die Philosophie? Eine einfache Antwort ist diese: Die Operation der Philosophie besteht darin, dass sie die Dinge der Welt umstellt. Und da »die Welt« nun einmal nur ein unbeholfener Ausdruck für die Dinge selbst ist, wird die Welt dadurch gehörig durchgerüttelt. Was ist damit gemeint? Für eine Philosophie der Natur, die sich aus einer strengen Immanenz herleitet, gibt es keinerlei vertikalen Beziehungen zwischen den Dingen. (»Ding« mal ganz grob für alle Seienden genommen.) Ein Gesetz ist im selben Sinn und auf derselben Ebene ein Ding wie ein Apfel, das Yjing und Charlie Chaplin. (Ein »Gesetz« gibt es nur ausgesprochen, niedergeschrieben, durchgesetzt, und zwar selbst ein »Naturgesetz«.) Ein Ding steht neben dem nächsten, keines steht über dem anderen. Nichts ist »allgemeiner« als etwas anderes. Was die Philosophie nun macht, ist immer dies: Sie findet eine Sache, ein Ding, ein Objekt, eine Handlung, ein Phänomen, ein Ereignis, das ihr zum Nabel der Welt wird. Bergson hat von der philosophischen Intuition gesprochen, die jedem Philosophen eigen ist, diese eine unverwechselbare »Einsicht«, diese maximale Verdichtung, deren Kraft sich entfalten zu lassen die Aufgabe des Philosophen ist. Bergsons Wortwahl macht deutlich, dass diese Intuition mit dem dynamischen Schema verwandt ist:5 Sie ist eminent praktisch, ist Motor ihrer eigenen Entfaltung in Bilder und Theorien. Wirklich greifbar aber wird sie erst im Bild. In einem konkreten Sinn ist dies erst der Anfang der Philosophie, und zwar sowohl im Sinn ihrer Manifestation als auch im entschieden genetischen Sinn: der Moment, an dem sie beginnt, und der in genau dieser Gestalt seinen Charakter der gesamten Philosophie aufgeben wird. Absoluter Empirismus auch hier. Mit anderen Worten: Am Anfang der Philosophie steht das Beispiel. Es ist nie irgendein Beispiel, sondern eben ein bestimmtes. Und es ist darin immer doppeldeutig: Zwar könnte jedes andere Beispiel an seine Stelle treten (die Austauschbarkeit des Beispiels, ohne die kein Beispiel denkbar ist); aber nur, weil es selbst beispielhaft für alles geworden ist (die Vorbildhaftigkeit des Beispiels, die es gerade unersetzlich macht).

4 5

Beide Zitate aus Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. 28. Bergson: L’intuition philosophique. Dass diese Intuition das dynamische Schema ist, insofern dieses im Reich der Philosophie auftritt, zeigt ein Vergleich der Formulierungen auf 119, 123 und 132f. mit den Texten, die das dynamische Schema zum Gegenstand haben, vor allem ›L’effort intellectuel‹.

179

180

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Die erste Operation besteht also darin, etwas, und zwar etwas Bestimmtes so zu positionieren, dass es an alle anderen Seienden angrenzt. Oder so, dass alle anderen Seienden im Licht dieses einen erscheinen müssen. Und wo das Licht nicht hinreicht, da reicht bald auch das Sein nicht mehr hin. Kaum einer hat das so klar erfasst wie Lukrez. Seine gesamte Methode ist darauf gegründet, dass das eine dem anderen das Licht aufsteckt, wie er es selbst sagt: »ita res accendent lumina rebus.« (I, 1117) Immer geht das Denken metonymisch vor, de proche en proche, transduktiv, wie Simondon sagt. Man kann mit Bezug auf Lukrez behaupten, dass das nun mal die »Methode« des Dichters ist, der ansprechend und anschaulich beschreibt. Man kann auch von Analogie reden, indem das Nicht-Wahrnehmbare (die Atome) durch das Wahrnehmbare erläutert werden muss. Kein Zweifel. Aber wichtiger ist doch, dass das Ganze nun mal in der Ontologie von Lukrez selbst angelegt ist: Es gibt eben nur Einzelnes, und wenn ich das erhellen will, muss ich immer von einem anderen Einzelnen dahin greifen. Es gibt schlicht und ergreifend keinen anderen Weg. Das Beispiel ist nicht Hilfe zur Veranschaulichung oder Plausibilisierung der philosophischen Theorie. Das Beispiel ist die philosophische Methode selbst, und zwar im Sinn einer metonymischen Reihe, die in den Beispielen selbst hergestellt wird. Daher kommt es, dass eine der häufigsten Wendungen in Lukrez’ Text diese ist: »ali(u)d ex alio«. Methodenlehre: Hodos. Unter dieser Hinsicht ist schon der altehrwürdige Name falsch: Die Methode suggeriert in ihrem »Meta-«, dass es irgendeinen Weg gäbe, der vor oder neben dem faktischen Weg des Denkens und Forschens liegt. Es wäre also schon gedacht worden vor allem Denken, in einem höheren oder allgemeineren und vollkommeneren Denken. Mindestens braucht dieser Weg schon einen Handlauf oder zumindest regelmäßige Wegmarken. Und Wege mit Handläufen und Wegmarken sind schon hundert Mal begangen worden. Erschlossenes Land.6 Es gibt eine Methode nur im Nachhinein. Methode ist nur der Name der Anweisungen, die jemand befolgen muss, um zwischen zwei schon bekannten Orten eine Verbindung herzustellen – und nichts garantiert, dass der Weg, den die Folgenden gehen, derselbe ist, den die Pioniere erspäht hatten. Kein Forscher, keine Philosophin, keine Künstler sind in Wahrheit je Methoden gefolgt, die wie ein Set von Regeln noch einmal ihrem Tun gegenüber äußerlich oder transzendent wären. Die Kontrollen, Routinen und Gewohnheiten, die in jeder Praxis tief verankert sind, und mehr als in anderen in wissenschaftlichen Praktiken, sind ebenfalls nicht Methoden in diesem Sinn, sondern umgrenzen und definieren vielmehr erst diese Praktiken. Natur. Die »Univozität des Seins« ist selbst körperlich und praktisch, und beides gehört zusammen. Sie lässt sich nicht noch einmal aussagen. Jeder Versuch, eine letzte, übergeordnete Wahrheit »des Seins« philosophisch aufzufinden und auszusagen, ist zum Scheitern verurteilt. Er führt in die Leere. Denn alles, was man noch finden kann, ist eine rein verbale Einheit. Auch der Körper darf kein Fetisch werden. Der Materialismus 6

Dota Kehr hat dieser Perplexität, wenn man wider Erwarten doch wieder vor dem längst Bekannten steht, ein eindringliches Lied mit dem Titel ›Erschlossenes Land‹ gewidmet.

Methodenlehre – Kontemplation – Geheimnis

ist genau in dem Maße wahr, wie uns die Körper selbst fragwürdig werden. Er ist also nicht dann gelungen, wenn er zu sagen vermag, was ein Körper ist, sondern wenn er unser Verständnis von dem erweitert, was ein Körper vermag. Und dafür ist keine allgemeine Theorie nötig, sondern ein Durchgang durch das Wirken der Körper. Ein Körper besteht wesentlich in einer Praxis, für die es keine ausdrücklichen, formulierbaren Regeln geben kann. Das ist es, was die Anmaßung einer Einheit der Theorie über die Natur zerschlägt. »Das Sein«, »die Welt« und ähnliches, selbst »die Natur« und »die Körper« können demgegenüber nur eine heuristische Funktion erfüllen. Man darf sie nie mit wirklichen Dingen verwechseln. »Natur« ist nichts als der Fingerzeig in die Verwandtschaft von allem mit allem durch die Praxis, die jeder Theorie vorhergeht.7 Methodenlehre: Affekt. Es gibt nichts Nutzloseres als die Beschäftigung der Philosophie mit sich selbst. Und es gibt nichts Unverzichtbareres. Wenn die Philosophie fragt, was sie ist und was sie macht, wenn sie sich von den Missverständnissen zu reinigen sucht, durch die sie ihre eigene Arbeit erschwert, wenn sie sich also zur Methodenlehre versteigt – dann ist das eine dröge, sterile Arbeit, dröge und steril, wie alles, was selbstreferentiell ist. Philosophie in diesem Verstande ist zugleich ein Affekt: eine immer tiefer in alle Glieder einsinkende Ermattung. Und doch ist diese Frage nach sich selbst schon Philosophie, sie ist unmittelbar Auseinandersetzung mit ihrem »Gegenstand«, denn diese Frage fragt doch eben, wie die Philosophie ihrem Gegenstand und ihrer Aufgabe gerecht werden kann. Die Selbstreflexion der Philosophie ist anders als bei anderen Wissenschaften unmittelbar Philosophie selbst. Und als solche stößt sie andere Affekte an, andere Prozesse der Intensität. In der Philosophie, betrachtet nach ihrer Seite als Methodenlehre wie nach ihrer Seite als Gegenstandslehre, wirkt beständig eine affektive Ambivalenz. Philosophie fühlt sich sehr wohl in einer bestimmten Weise an, aber nie in einer eindeutigen Weise. Sie bewegt sich in einem schillernden Feld, lebt von einem Gemisch, das bald in die eine, bald in die andre Seite kippt. Wie eine jener Delikatessen, deren salziger und süßer Geschmack miteinander streiten. Die »positive« Seite der Philosophie als Methodenlehre ist nun unmittelbar dasselbe wie die »negative« Seite, und doch von ihr unterschieden. Es sind gewissermaßen die beiden Pole, in denen sich diese eine Arbeit bewegen kann. Man kann sich verlieren im Autismus der Selbstverständigung. Oder man kann sich einer Fülle der Philosophie (als Vollzug, als Praxis) zuarbeiten, in der andere Intensitäten an ihre Stelle treten werden. Aber schon diese Arbeit hat ihre eigene Intensität, auch wenn es keine besonders spezifische ist. Es ist die Intensität der Spannung als solcher, nicht irgendeiner natürlich, aber die Spannung von etwas, das aus sich selbst auszubrechen sucht und an allen Wänden nach Hohlräumen klopft. Oder die Spannung der Geburt. Die Methodenlehre ist eben nicht unbedingt steril, dann nämlich nicht, wenn sie aus ihrer Selbstinquisition zuerst

7

Was Deleuze und Guattari »Maschinen« nennen, ist genau das: die Vielfalt von Dingen, die erstens unter keinen Begriff zu bringen sind, zweitens niemals als abgeschlossen gedacht werden können, sondern ontologisch ungesättigt bleiben und drittens primär und in Wahrheit immer für eine Praxis existieren.

181

182

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

die Notwendigkeit und dann die Kraft gewinnt, aus den Grenzen, in denen sich das Denken eingeschlossen hatte (in Bequemlichkeit, aber auch aus systematischen Gründen), auszubrechen. Es erfordert die allerhöchste Konzentration, diese Arbeit durchzuhalten, ohne abzuspannen. Und diese Konzentration kann man gar nicht anders als spüren. Es ist die Konzentration der Denkmaschine, die sich der paradoxesten Aufgabe stellt: (nicht zu erkennen, sondern) zu tun, dass es die Denkmaschine nicht gibt, damit die Hirnmaschine an die anderen Maschinen ohne Verzerrungen gekoppelt wird – und gleichzeitig diese Koppelung nicht zum Automatismus verkommen zu lassen. Es ist sogar so, dass gerade die Konzentration als solche schon widersprüchlich ist: Sie ist unverzichtbar, will sich die Philosophie von ihren eigenen Verknöcherungen freimachen; und doch ist sie als Kon-Zentration Selbstbezogenheit der Denkmaschine selbst. Und wie oft muss die Anstrengung nicht scheitern, vor der Zeit abgebrochen werden. Es gehen die Kräfte aus, die Ermattung nimmt überhand, eine kleine Ablenkung, ein ausgetretener Pfad, den ein Begriff darbietet, ist allzu verführerisch. Und schon ist man zurück in der Sterilität der Selbstbefangenheit des Denkens, in der alles tot ist, weil das Denken nicht mehr denkt (nicht mehr echter, offener, zeitlicher Prozess ist), sondern nur noch Rekombination von Begriffen. Der Unterschied ist leicht gefasst: Denken als echter Prozess ist unumkehrbar, daher in einem strengen Sinn zeitlich (als logische Zeit/Dauer). Denken als Rekombination ist von aller Zeit entblößt, denn die Rekombination von Elementen lässt sich, wie das astronomische Modell und anders als die wirklichen Bahnen der Himmelskörper, beliebig beschleunigen, verlangsamen, wiederholen, zurückspulen, einfrieren.8 Philosophie in ihrer Frage nach sich selbst (die sie zwangsläufig begleiten muss: als Methodenlehre also) ist daher schon in sich, als der Prozess, der sie ist, durch eine affektive Ambivalenz gekennzeichnet: durch Entleerung und Anspannung, beides jedoch (wiederum: nur insofern wir hier abstraktiv diese »Seite« der Philosophie für sich betrachten) gewissermaßen vor aller »Beziehung auf einen Gegenstand«. Da es so etwas nicht gibt, kann dieser Ausdruck hier natürlich nur meinen, dass diese affektive Struktur für alle Philosophie gelten wird, sie ist – wenn es so etwas gibt – die affektive Form der Philosophie als solcher. Die Philosophie ist aber nie Frage nach sich selbst, ohne zugleich Frage nach dem Wirklichen zu sein. Sollte ersteres doch mal ohne letzteres vorkommen, kann man getrost diese »Philosophie« beiseitelegen und etwas anderes machen. Philosophie ist also immer zugleich ein Abarbeiten an einem Wirklichen. Sie ist Reibung an einem Beispiel. Wie alle Intensitäten, so entspricht auch die der Philosophie einer Reibung zwischen zwei Prozessen. Die Reibung am Beispiel ist immer das Erste gegenüber der Selbstvergewisserung der Philosophie. Erst diese Reibung gibt der Beschäftigung der Philosophie mit sich selbst sowohl ihren Bewegungsimpuls als auch ihre spezifische Textur: rau oder sanft, gezackt und klemmend, glatt und pockennarbig. Die Intensität, die die Philosophie in ihrer Frage nach sich selbst erlebt, stammt noch aus dem Beispiel, an dem sie sich aufgerieben hat. Daher ist die Behauptung von eben, es gebe so etwas wie eine allgemeine affektive Form der Philosophie natürlich falsch oder zumindest ganz vorläufig zu nehmen; sie ist wahr nur unter der abstraktiven Scheidung der Selbstbefragung von der Wirklichkeitsbefragung. 8

Vgl. Bergson: L’évolution créatrice. 9.

Methodenlehre – Kontemplation – Geheimnis

Es ist das besondere Beispiel, das eine Philosophie ausmacht, um das sie sich bemüht, bald gewaltsam, bald lockend. In Bezug auf dieses Beispiel nun gilt wieder eine affektive Ambivalenz. Denn einerseits ist das Beispiel der Quell von Lebendigkeit und Kraft. Seine Widersprüche, Abgründe, ungeklärten Spannungen, seine zum Bersten gespannte Fülle und Paradoxie, seine unerhörte Gravitation treiben die Philosophie an wie einen Satelliten. Die Philosophie kann nicht anders als seine Vibrationen aufzunehmen und fortzutragen und überhaupt nur zu tragen, solange sie diese Vibrationen spürt und mobilisieren kann. Daher teilt das Beispiel, als ein Stück ungefilterter Wirklichkeit, das die Frage der Wirklichkeit erst stellen wird, der Philosophie vielleicht ein Gefühl der eigenen Kraft, Lebendigkeit mit – und macht aus ihr, wenn Spinoza recht hat, ein Exerzitium der Freude. Andererseits kann die Philosophie nicht anders: Sie muss ihr Beispiel töten. Die Philosophie tötet das Beispiel, indem sie es an heiliger Scheu mangeln lässt, wenn sie es immer wieder in Hand und Mund nimmt, bis aller Geschmack aus ihm gewichen ist, und der Philosoph macht weiter, als sei nichts gewesen, weil er sich erinnert, dass das Beispiel ihm doch einstmals soviel Rätsel auf- und Kraft mitgab. Die Philosophie tötet sodann das Beispiel, indem sie es in Kategorien und Theorien einpasst. Etwas, das seinen Ort gefunden hat, hört auf zu existieren. Es ist nur mehr Platzhalter oder Fall eines Allgemeinen oder Teil eines Ganzen (eines »Systems«). Als das, was es ist, existiert es nicht mehr. Die Philosophie tötet schließlich das Beispiel, indem sie es aus der Zeit herauslöst. Meint der philosophische Blick zu lange, auf sich allein bauen zu können, wird er glasig, Ermattung und Überdruss – das Immergleiche, die Leere der Formen – drücken die Lider herab. Philosophie endet in Schwermut. Es geht nicht darum, sich für die Freude und gegen die Schwermut zu entscheiden. Das hieße, die Philosophie ihres Ernstes zu berauben; es hieße, das Gelingen zu fordern, das nur über das Versuchen auf eigenes Risiko erreicht werden kann. Es geht darum, die Amplitude des Affekts zu ermessen, in dessen Bergen und Tälern sich das philosophische Denken bewegt. Auf Wellen. In Wirbeln.9 Geist. Die Maske ist gefallen, die Philosophie der Natur hat Farbe bekannt, und dadurch ihr eigenes Urteil gesprochen: Alles ist eine Praxis, die keine leitenden Regeln oder Ge-

9

Wenig verwunderlich verfügt die moderne psychologische Terminologie über keinen Begriff, der dieser Breite Rechnung tragen kann. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob das ein Affekt ist oder mehrere. Wichtig ist doch nur, dass es ein affektiver Pfad ist, der von ein und derselben Aktivität durchlaufen werden muss, wenn man sich von allen idealistischen Konzeptionen verabschiedet und zugibt, dass die Ermüdung, die Leichtfertigkeit, der Irrtum, die Konzession ans Vorurteil usw. wesentliche Aspekte des Denkens sind, und nicht seine Beeinträchtigungen. Der Begriff der Melancholie, der in Burtons Gedicht ›The Author’s Abstract of Melancholy‹ zu Beginn seiner Anatomy of Melancholy (11–13) zum Tragen kommt, drückt hingegen diese Ambivalenz und Weite gut aus. Und es ist vielleicht kein Zufall, dass der moderne wissenschaftliche Diskurs sich gerade von dem Begriff der Melancholie vollständig verabschiedet hat. Allerdings, das Gedicht von Burton inszeniert ein lyrisches Ich, das alleine ist und sich ganz den eigenen Gedanken, Erinnerungen, Wünschen und Phantasien hingibt. Das scheint einer Konzeption von Philosophie zu widerstreiten, die es mit dem Wirklichen zu tun haben will. Der Widerspruch liegt aber in der Sache selbst, die wir Philosophie nennen, wie gleich noch klarer wird, wenn diese ihren Begriff erhält.

183

184

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

setze kennt, ja nicht einmal zulässt. Alles ist ein Tun, das von keiner Theorie rekonstruiert werden kann. Alle Labyrinthe der Philosophie sind im Gegenteil die Produkte genau dieses Versuches;10 sie beruhen auf dem Irrtum, die Struktur der Theorie in eine Praxis hineinzuprojizieren, die von der Theorie nichts weiß und nur deshalb funktioniert. Alles ist ein Wirken, dem keine anderen Kriterien und Normen entgegengesetzt werden können als die, die sich in diesem Wirken selbst manifestieren. Alles ist Spiel von Körpern, in denen der Verstand vergebens nach Zwischentönen sucht und die unbeeindruckt ihre massive Wirklichkeit hinstellen. Wenn das stimmt – und wenn das das letzte Wort ist –, dann ist Philosophie ganz und gar nutzlos und sogar schädlich; dann ist die einzige Parole die Aufforderung zum wilden Treiben; dann sind alle Reflexionen, Gedanken, Theorien, vor allem auch moralische Hemmungen nichts als blasse Halbwesen, die es zugunsten der Realität einer treibenden Körperlichkeit hinter sich zu lassen gilt. Wenn der Körper die große Vernunft ist, was sollte die kleine dann noch dazu zu sagen haben? Dann wäre auch diese Philosophie gegenstandslos, so viele Worte, nur um zu sagen, dass niemand das Denken und die Kontemplation braucht und in einer reinen Praxis besser aufgehoben wäre. Dann wäre man im Übrigen wieder bei einer Idee »reiner Praxis«, eines »reinen Tuns«, einer »reinen ursprünglichen Natur«, die von den dekadenten Gedanken und Rücksichten nur überdeckt und verfälscht wäre, ein neuer alter Bruch im Sein.11 Mit anderen Worten: Wenn das der Weisheit letzter Schluss sein soll, dann führt die Weisheit offenbar auf die Apotheose der Geist- und Verantwortungslosigkeit. Die große Sehnsucht ist der reine Automatismus. Der Materialismus hat erfolgreich alles Geistige fortgewischt. Er ist Reduktionismus geworden. Das kann nicht das letzte Wort sein. Nicht nur wegen der verheerenden Folgen, sondern schon deshalb, weil ein Materialismus, der das ganze Konzept von Materie und Körper allererst zu erschließen sucht, gar nicht reduktionistisch sein kann. Es gibt das Geistige. Das Geistige aber ist keine eigene Seinsregion und keine höhere (transzendente oder transzendentale) Instanz. Geist muss aus dem Wirklichen von lebendigen Körpern hervorgehen, ohne auf sie reduziert werden zu können. Als Möglichkeit, Wirklichkeit und Vollzug ist er vom selben Sein wie Stein und Nebel. Er muss aber wesentlich graduell sein: Das, was dem Sein hinzugefügt wird (und was wir als Geist bezeichnen), ist selbst Produkt einer graduellen Steigerung, die plötzlich in etwas Ungeahntes umschlägt, und sein konkreter Vollzug ist in sich stets graduell (als Übergang, wie Spinoza schreibt), d.h. Intensität. Es gibt keine einheitliche Art oder Form des Geistigen, es gibt nicht so etwas wie »die Vernunft«, mit bestimmtem Artikel und im Singular. Das »Geistige« ist einzig dadurch charakterisiert, dass es etwas Bestimmtes macht, nämlich genau die Distanznahme besorgt, die »Rela10

11

Wenn Leibniz zu Beginn der Theodizee (29) bemerkt, es gebe zwei Labyrinthe, in denen sich der menschliche Verstand zu verlieren pflege, das der Unendlichkeit und das der Freiheit, dann wäre es vielleicht sogar noch genauer zu sagen, dass diese beiden in Wahrheit ein und dasselbe sind, indem noch die Frage nach der Freiheit im philosophischen Sinn entsteht, wenn man die Rekonstruktion des Bündigen aus seinen unendlich vielen »Teilen« versucht. Dieser Bruch im Sein, der einen leichtfertigen Vitalismus kennzeichnet, hat zudem nicht zufällig immer wieder dem reaktionären und faschistischen Denken, wenn es denn eines war, Material gegeben: als Brutalismus.

Methodenlehre – Kontemplation – Geheimnis

tivierung«, die Entdringlichung, in der sich Freiheit artikuliert. Und wie geschieht das? Nicht etwa durch den Eintritt Ihrer Hochwürden der Vernunft ins Spiel – so als gebe sie den Joker ab, den Trumpf, eine höherstufige, transzendente Entität, die Richterin in einem Spiel der Aktivitäten, über das sie erhaben bleibt. Nein. Die Konstruktion solcher transzendenter Vermögen ist überhaupt nicht nötig. Geistigkeit geschieht durch die Interposition verschiedener heterogener Tätigkeiten. Geistigkeit ist Unterbrechung, Interferenz. Es gibt auch eine ganz und gar geistlose Weise zu philosophieren, wenn man nämlich nichts anderes macht als das: eine Theorie entwickelt, Konsequenzen aus einer Prämisse zieht, Einwände entkräftet – sich also nicht mehr aus der einmal gewählten Ebene herausbewegt, in der man wohl Begriffe miteinander kombinieren und austauschen kann, in der also eine Tätigkeit stattfindet, die bestimmten »Gesetzen« gehorcht, in der aber sicher nicht »nachgedacht« wird. Wann wird nachgedacht? Wenn in die Serie dieser Tätigkeiten eine andere Serie einbricht: Wenn Erfahrungen, Erinnerungen, Einwände von realen Menschen, Ablenkungen, Affekte usw. die Selbstgenügsamkeit des Philosophierens unterbrechen – auf die Gefahr hin, sie abzubrechen und sogar kaputtzumachen. Echte Geistigkeit besteht also erstaunlicherweise gerade nicht in der ausschließlichen Konzentration auf eine Form von Tätigkeit (»Nachdenken«) (es gibt keine einheitliche Form des Geistigen, es gibt nicht die eine Instanz des Denkens); sie besteht exakt in der Konfrontation einer Serie mit einer anderen, die mit ihr nichts zu tun hat. Daher die Prekarität des Geistigen, denn es existiert überhaupt nur am Rand der eigenen Auflösung, in der Gefahr des Zerbrechens. Das Geistige hat gerade keine Form, kein Wesen, keine harmonische Folgerichtigkeit, sondern ist ein potentiell destruktives Aufeinanderprallen von Heterogenem, ohne jede noch einmal übergeordnete und vereinigende Instanz oder Tätigkeitsform. Was dadurch aber immerhin erreicht wird, ist die Distanzierung. Die Serien bringen einander ins Schlingern. Ich halte inne. Es handelt sich nicht um die Ablösung einer Serie durch eine andere: Wenn ich Auto fahre und über den kommenden Tag nachdenke, wenn plötzlich jemand auf die Straße läuft und ich sofort reagieren muss, wenn ich mich erschrecke, verärgert bin, besorgt, wenn ich schwitze und zittere – dann habe ich meine Pläne, für den Moment wenigstens, vergessen. Eine Serie hat die andere überdeckt. Ebenso können verschiedene Serien vollkommen kontaktlos nebeneinander herlaufen: Wenn ich mir die Zähne putze, kann ich zugleich an den Film des Vorabends zurückdenken, ohne dass je eine Berührung zwischen beidem stattfinden muss. Was das Geistige aber ausmacht, ist, dass die beiden Serien in eine Verwirbelung zueinander geraten. Sie spielen, bald näher, bald ferner – manchmal, selten, sich berührend, umfangend, zu etwas Neuem vereinigend – aufeinander zu, umeinander her, miteinander. Wie zwei Boote, die sich knapp kreuzen und die jeweils die Welle des anderen spüren. Hier wie sonst auch ist die Ansetzung einer höheren Instanz, selbst eines Ichs, die über das Spiel der Serien wacht, überflüssig und in der Tat eine Hinzuerfindung. Das Ich entsteht aus den Serien, die einander begleiten, behindern, kreuzen, anstoßen. Es ist nicht Herr oder Richter über das Zusammenspiel der Serien. Damit ist auch klar, weshalb alles Denken affektiv ist. Denn der Affekt, so sagen wir, entsteht immer aus der Reibung zweier Bewegungen. Eine Tätigkeit, die sich selbst überlassen bleibt, wird über kurz oder lang, ermüden, leer werden, flach. Dann kommen wir uns vor, als ob wir Roboter wären, und das gilt für das Philosophieren wie für die Fabrikarbeit.

185

186

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Es ist die Interferenz der Serien, die jedem Innehalten und jeder Reflexion ihre eigene Nuance verleiht. Keine Serie kann Anspruch auf irgendwelche Sonderrechte erheben, keine steht über den anderen, es gibt keine »Meta-Serie«. Und das gilt sogar für die Serien der Sprache – Serien im Plural, denn es gibt nicht nur eine Sprache, denn, wie Wittgenstein gezeigt hat, ist Sprache zuerst und zumeist Praxis, mit den verschiedensten Ansprüchen und Spielregeln (schimpfen, spielen, sich selbst rechtfertigen, beten, singen, dichten, schleimen, befehlen, verkünden, kaufen, vergleichen, protestieren…). Nun gibt es aber eine Sprachverwendung, die, so scheint es, nicht in der Praxis aufgeht. Oder noch genauer gesagt: Die Sprache hat eine Seite, von der aus betrachtet sie keine Praxis zu sein scheint. Was macht diese spezifische Praxis (als Praxis eine neben anderen), die in der philosophischen Kontemplation gipfelt? Was ist das für eine Praxis, die Theorie ist? Karussell. Geist gibt es, aber ein Ich braucht man nicht. Oder es entsteht erst daraus. Damit wäre die naturphilosophische Kontinuität mit dem Rest des Seins hergestellt. Es drängt aber immer wieder ein Einspruch heran, den man schwer abweisen kann. Der erinnert lakonisch daran, dass ich von mir selbst aus bin. Dass es Zentren, Knoten des Seins gibt, die sich nicht von außen betrachten lassen (auch nicht von innen), sondern die von sich selbst aus sind und die als solche dem Sein einen unverzichtbaren Vollzug bereitstellen, ist so offenkundig, dass Idealismus und Transzendentalphilosophie leichtes Spiel hatten, den Metaphysiken und Materialismen die Grenze aufzuweisen. Man dreht sich im Kreis. Der Materialismus, die Philosophie der Natur fordern eine Verwandtschaft im Sein und vollziehen sich letztlich als Panorama, sie wären aber unvollständig, ließen sie diese Zentren, das von-sich-selbst-aus-Sein, das Ich nicht eintreten – und mit ihnen eine Diskontinuität, Zerfällung und Lokalisierung. Eine Theorie reicht offenbar nur bis zu einem bestimmten Punkt. Entweder ist das ein Scheitern oder es ist selbst der Vollzug der Philosophie: Dann ist diese ständige Wiederholung, dieses im-Kreise-Drehen, zugleich die Beschleunigung, die aus sich Einsichten entlässt, die es anders nicht zu haben gibt. Kreisen und Kreißen. Das Problem ist nicht, dass da verschiedene Aussagen oder Überzeugungen aneinanderstoßen, die nicht zusammenpassen. Eine Synthese für Widersprüche zu finden ist eine Aufgabe, die keinen Geist fordert, höchstens ein wenig sprachliche Gewandtheit. Das Problem ist viel grundlegender, denn das, was hier aufeinanderstößt, ist selbst seiner Verfasstheit nach so unterschieden voneinander, dass gar kein gemeinsames Maß einer Theorie dafür erdacht werden kann, es müsste denn die Theorie sofort ihren ganzen Sinn verändern. Das, was die Theorie erklären soll, ist eine Veränderung, nicht nur im Sein (das wäre ja kein Problem), sondern in der Verortung und dem Vollzug von Sein: von einer Situation und einem Prozess, den man (vielleicht) von außen beschreiben kann – auf den also eine Theorie »passt« – zu einer Wirklichkeit, die nur ist, indem sie sich selbst, von sich selbst aus Wirklichkeit vollzieht. Eine Wirklichkeit, die deshalb nur insofern angemessen »gedacht« werden kann, als man sich »in sie«, zumindest »in ihren Ort« versetzt und für die daher keine Theorie, sei sie noch so schlau, angemessen ist: eine Wirklichkeit, die als die Wirklichkeit, die sie ist, alle Theorie »über sich« dementiert.

Methodenlehre – Kontemplation – Geheimnis

Das Problem besteht also darin, dass exakt der Prozess und genau das Ergebnis, die beschrieben werden sollen, jede Beschreibung, jede Theorie, im Verlauf ihres Vollzugs und im Verlauf der Theorie, in die Luft jagen, unmöglich machen, verscheuchen, aus ihrem Ort vertreiben. Und so kreuzen sich zwei Linien, die damit keinen Punkt bestimmen, sondern einander die Fahrwasser durcheinanderwirbeln, so dass eine gerade Fahrt nicht mehr möglich ist. Das, worum es dabei geht, ist nichts Mysteriöses. Keine Esoterik, nirgends. Die alltägliche, gleichwohl wunderschwere Tatsache der Geburt gehört hierher. Schwindelerregend ist es darum nicht weniger. Freiheit. Die Unterbrechung der Serien des Handelns als Geist ist deshalb so einschneidend, weil sie die Dringlichkeit der Reaktion als Schein entlarvt. Es gibt immer noch Zeit. Es gibt dann Zeit, wenn ich Zeit lasse. Und ich lasse Zeit, indem ich eine Serie eintreten lasse, die alles entgegen der Zeit »betrachtet«, die den Fluss nach oben schwimmt, die nicht so sehr über etwas nachdenkt, sondern vielmehr das, was man gemacht hat, nun rückwärts macht oder rückgängig macht (aber nicht ungeschehen), die das Sein gegen den Strich kämmt. Diese Bewegung wird in der Philosophie zum Prinzip erhoben. Geist, so genommen, räumt auf, schafft Platz und Raum und Zeit. Und damit Freiheit. Freiheit nicht in einem abstrakten Sinn, sondern konkret als: Sich-Befreien von der Unausweichlichkeit der Verkettungen, von der Gehetztheit des Handelns, vom Zwang zur sofortigen Reaktion, von der Tyrannei der Leidenschaften und der Blindheit des Impulses. Das nennt man dann Weisheit.12 Die Philosophie macht in der Tat weise, aber nicht, weil sie ein besonderes Wissen vermittelt oder weil ihr Diskurs irgendein Privileg gegenüber anderen hätte; in Wahrheit ist sie eine Serie neben anderen, nicht über anderen, eine Art zu handeln. Doch wie sie handelt, ist erstaunlich: die Umkehrung der Zeitlinie, und ihr Effekt ist eine Neutralisierung der Zwänge: Die Philosophie macht, dass alles, was geschehen ist und hierher geführt hat, zu diesem Moment, mit diesen Imperativen, nicht geschehen ist. Man ist wieder wie vor der Situation, aus der man doch nicht entkommen kann. Man ist gewissermaßen in die Zeit vor der eigenen Geburt zurückgekehrt, wie Cioran das formuliert. Und da gab es eben noch keinen Zwang. Freiheit muss aktiv erzeugt werden, indem die Zeit selbst, die logische Zeit, die Rhythmik des Seins manipuliert wird: Freiheit wird erzeugt, indem die Unfreiheit hinwegräumt wird. So wie man Stühle und Tische an die Wände schiebt, um Platz zum Tanzen zu haben. Natürlich hat diese Weisheit eine Kehrseite. Es ist die abschüssige Bahn der Passivität, der Trägheit, Unentschlossenheit, Ohnmacht, die Unfähigkeit zu irgendeinem Tun: praktische-unpraktische Erscheinungsform der Tötung der Beispiele und noch ein Anlass zur Schwermut, die den Philosophen eigen bleiben muss.13 Die Freiheit als Unterbrechung des Zwangs ist Muse. Das heißt: eine Zeit als Zeit, Zeit, die »ungefüllt« ist, die nicht von unmittelbaren Imperativen beherrscht ist, nicht

12 13

»Ce qu’on appelle ›sagesse‹ n’est au fond qu’une perpétuelle ›réflexion faite‹, c’est-à-dire la nonaction comme premier mouvement.« (Cioran: De l’inconvénient d’être né. 1282f.). Faust kennt dieses Problem. Damit beginnt Goethes Stück ja. Und wenn Faust die Tat am Anfang vermutet, dann ist das vor allem Ausdruck einer Sehnsucht: der Sehnsucht dessen, der zu keiner Tat mehr fähig ist.

187

188

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

von Zwängen, in der eine Unterbrechung möglich wird, ein Atemholen, ein Warten, Zögern, oder gar: eine Ablenkung, ein Nichtstun. Wie immer ist das auch voll und ganz natürlich zu verstehen, sogar »biologisch«: als Stopp, der sich zwischen Reiz und Reaktion einschiebt. Diese Fähigkeit, die Reaktion aufzuschieben, Zeit als Zeit zu gewinnen, macht Geist erst möglich und ist damit die natürliche Bedingung der evolutionären Entstehung von Geist wie auch sein erstes Anzeichen selbst.14 Die ethische und anthropologische oder politische Bedeutung der Muse ist nur der späte Nachhall dieser natürlichen Freiheit (denn um nichts anderes handelt es sich). Methodenlehre: Drei Forderungen. Was sich für eine Philosophie der Natur ergibt, sind drei Aspekte, die einander umgreifen, aber dennoch voneinander unterschieden werden können. Sie bilden zugleich drei Forderungen, denen die Philosophie gerecht zu werden hat. Performativität: Dadurch ist die Eigenschaft allen Seins angesprochen, dass ein jedes hervorgebracht und hervorbringend ist, dass Sein und Wirken identisch sind. Dem entspricht die Abkehr von allem Essentialismus, denn die Essenz geht ja als das Wesen, das Invariante, das Ziel aller Genese und als ihre Vollendung den Prozessen des Wirklichen vorher; und die Abkehr von allem Apriorismus, denn es gibt eben nichts, was schon irgendwie gegeben wäre oder feststünde, und zwar egal ob es sich um apriorische Entitäten, z.B. Egos, oder Strukturen handelt. Sein ist dynamisch, jedes Seiende muss wieder im Ernst hervorgebracht werden, auf alle Risiken hin. Pragmatik: An der Frage der Entstehung, Entwicklung und Erlernung von Neuem und Anderem verzweifelt das Denken – aber nur solange, wie es darauf besteht, diese Frage mit den eigenen Mittel zu beantworten. Dann ist sie nämlich in der Tat nicht zu beantworten. Man muss im Gegenteil von einer Pragmatik im metaphysischen Sinn ausgehen: einer Tätigkeit, die nur deswegen funktioniert, weil sie nicht zuerst und zuvor Gegenstand einer Überlegung war. Mit anderen Worten: Mag es selbst einen göttlichen Schöpfer der Welt geben – gerade dann kann die Welt keinem Design folgen, und seien Schöpfer und Design noch so intelligent. Da all diese Prozesse grundlegend materielle sind, wird hierdurch auch der Begriff der Materie eine Verwandlung durchmachen müssen. Absoluter Empirismus: Das besagt, dass Sein nicht einfach nur hervorgebracht ist; weder als Erfüllung eines Wesens noch eines Plans; nicht einfach nur als Stiftung einer allgemeinen Geltung, wie in den klassischen Beispielen der Performativität als Sprechakt. Vielmehr ist Sein in all seinen Teilen hervorgebracht, nach einem abenteuerlichen Parcours, der nirgends sonst als in ihm selbst besteht. Jede noch so kleine Abweichung, jeder Zufall, jeder Fehler kann relevant sein und Wirksamkeit entfalten, indem er sich als maßgeblich, weil existierend, setzt. (Kann – muss aber nicht. Es können Abweichungen auch ganz folgenlos bleiben. Doch wieder gibt es keinen apriorischen Weg zu entscheiden, was was ist. Nur die Erfahrung, nur das Faktum kann darüber belehren.) Das

14

Dass dieser Gedanke bei Bergson begegnet, wurde schon erwähnt. Bei Simondon findet man ebenfalls eine Konzeption von Psyche als Aufschub, Verzögerung: »[…] l’appel à la vie psychique est comme un ralentissement du vivant qui le conserve en état métastable et tendu, riche en potentiels.« (L’individu et sa genèse physico-biologique. 152)

Methodenlehre – Kontemplation – Geheimnis

deshalb, weil es nur Abweichungen, Zufälle und Fehler gibt. Die Regelmäßigkeit, die uns entgegentritt, ist selbst Produkt. Jede konkrete Gestalt des Seins bildet sich um ein Sandkorn, das durch Zufall in die Muschel eingedrungen ist. Kontemplation. Philosophie ist eine Serie unter anderen. Sie ist nicht die Meta-Serie, nicht die Serie aller Serien. Auch sie ist eine Serie von Tätigkeiten, eine bestimmte Disziplin, im vollen Sinn des Wortes. Denn sie muss eingeübt werden, sie folgt gewissen Regeln, deren Einhaltung streng überwacht wird durch die berufenen Experten, in ihr sind gewisse Operationen erlaubt, andere verboten, und wenn das auch eine unbestreitbare historische Beweglichkeit hat, so ist doch nicht alles so ohne weiteres verhandelbar. Vor allem ist Philosophie (und Theorie allgemein) dadurch ausgezeichnet, dass sie die Reihe der Handlungen entgegen ihrer realen Abfolge betrachtet. Sie geht rückwärts, im Krebsgang. Sie ist eine in sich paradoxe Angelegenheit, weil sie als Tätigkeit wie alle anderen auch nach vorne geht, das eine an das andre ankoppelt; weil sie aber in ihrer Tätigkeit, die nach vorne geht (was nichts anderes heißt als: die Artikulation der logischen Zeit ist), zugleich vorgibt, man könne den Weg auch rückwärts gehen (also entgegen der logischen Zeit, deren Knoten auflösend). Exakt darin besteht das Eigentümliche, das Theorie von allen anderen Tätigkeiten unterscheidet: die Inszenierung einer Welt, in der die Handlung nicht alles ist. Daher die Probleme, die die Philosophie klassischerweise immer mit der Zeit hatte und mit dem Werden und Vergehen – sie hat beides immer falsch angepackt, falschherum. Daher die Probleme, die die Philosophie mit der Handlung hatte, denn sie meinte immer, sie nach ihren eigenen Maßstäben rekonstruieren zu können. Wenn aber die Handlung nicht unbekümmert nach vorne preschen würde, käme sie nie irgendwo an. Handlung, und auch Philosophie als Handlung gibt es nur, weil gerade nicht darüber nachgedacht wird, d.h. weil gerade nicht das, was die Philosophie als Denken denkt (nämlich ihre eigene Widerspenstigkeit gegen die Zeit und ihren Krebsgang), im Handeln eine Rolle spielt, und zwar egal in welchem. Daher auch die trotz allem eindrucksvolle Fähigkeit der Abstraktion der Philosophie: Abstraktion nicht von allgemeinen Wahrheiten aus partikularen Ereignissen, sondern die Abstraktion des Denkenden aus der Situation: ganz Auge sein, theoria, Kontemplation. Denn es stimmt ja: Solange man im Krebsgang läuft, ist man nicht Teil der Wirklichkeit. Die kann das nämlich nicht und die lässt es nicht zu. Und es ist sicher, dass die Philosophie, wenn sie auch keinerlei Garantie auf »Weisheit« geben kann, doch eines der wirkungsvollsten Instrumente zur Unterbrechung der Ketten des Seins und damit der Notwendigkeit ist, denn sie entsetzt (im militärischen Sinn) den Menschen aus der Situation der Belagerung durch den Zwang, indem sie ihn umwirkt zu einem Seienden, das es in einer Welt der Zwänge nicht geben kann. Philosophie ist eine Art von Fiktion, aber eine mit realen Konsequenzen. Daher schließlich und endlich die philosophische Obsession mit dem Ewigen, Unzeitlichen, Überzeitlichen, dem Wesen, dem Wahren, dem Wirklichen, dem Sein: alles Ausdrücke, die nur dann einen Sinn bekommen können, wenn man zuvor die Zeit als die eine unumgehbare und unumkehrbare Dimension »des Seins« zertrümmert hat. Es ist daher nicht so, dass diese Metaphysik der Performativität und Pragmatik und des Empirismus zu der absurden Position führen muss, dass es gar keine Theorie gibt. Es gibt Theorie. Sie ist eine besondere Form der Praxis. (Und natürlich hat sie ihre Einschreibungen in Texten, Institutionen, Hierarchien, Traditionen, Sprachen; es gibt kei-

189

190

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

ne menschliche Praxis ohne geschichtliche Einschreibung.) Und diese Praxis hat eine beschreibbare Eigentümlichkeit, die sie von allen anderen Praxen streng unterscheidet. Sie hat zudem eine besondere, wenn auch nicht exklusive Wirkungsmacht, nämlich der Abkoppelung vom Zwang. Theorie ist nichts ganz anderes als Praxis, weil sie ebenfalls eine Praxis ist; es ist aber eine besondere Praxis – anders, aber nicht total anders, sondern anders als andere Praxen. Theorie ist eine Art Phasenverschiebung gegenüber dem Tun. Sie kommt immer zu früh oder zu spät oder beides. Man kann diesen Satz formulieren, der für eine Methodenlehre der Philosophie (also für die Frage, was genau die Philosophie eigentlich treibt und was deshalb mit gutem Grund von ihr erwartet werden kann, nicht zuletzt in Hinsicht auf ihre affektiven Dimensionen) grundlegend ist: Philosophie ist die Erinnerung an die Gegenwart. Philosophie ist die Erinnerung an die Gegenwart. Wohlgemerkt nicht an eine gewesene, aber jetzt vergangene Gegenwart. Sie ist im Gegenteil das paradoxe Unternehmen, von der Gegenwart selbst zu sprechen, vom Aktuellsten; doch ihr Modus ist der der Umwandlung des Aktuellsten ins Vergangene. Sie vertut sich gewissermaßen, sie vergreift sich im Register der geistigen Bezugnahmen. Daher ihr Scheitern und ihre Vorläufigkeit. Daher vor allen Dingen ihre unlösbare innere Spannung. Ihre Weisheit ist Erinnerung an das, was gerade geschieht. Man sieht jetzt schon, zwischen welchen Polen, die beide Schiffbruch bedeuten, sie sich bewegen muss: Entweder ist der Philosoph so weise, dass er bei allem, was gerade geschieht, schon längst weiß, was es ist. Dann geschieht in Wahrheit nie etwas, und seine Weisheit ist pure Erinnerung, Aufwärmen des Gewissesten – von jener Gewissheit, die nur die Stereotypie und das Klischee beschaffen können.15 Oder es bleibt ihm das Wort im Munde hängen, der Mund hängt offen, kein Wort kommt über die Lippen. Das Aktuelle fordert sein Recht ein, doch der Philosoph erinnert sich an nichts mehr, sein Denken ist nicht jugendlich, sondern seine Perplexität ist die des Neugeborenen. Beides ist weder Weisheit noch Philosophie. Wenn die Philosophie die Erinnerung an das ist, was gerade geschieht, dann »denaturiert« sie damit sowohl die Arbeit des Geistes – oder ist das »Geist«? – als auch das Geschehen des Gegenwärtigen. Aber beidem gibt sie eine Beleuchtung, in Farben, die es in der »Natur« nicht gibt. Die Spannung, in der Gegenwärtiges unmittelbar als Erinnertes erscheint, ist zugleich strukturell auch für die Obsession der Philosophie mit dem Möglichen verantwortlich. Damals, vor der Schöpfung der Welt, war alles möglich. Ich erinnere mich noch. Und selbst wenn nicht alles wirklich ist, so ist das Wirkliche doch auch nur ein Mögliches, betrachtet nämlich wieder von demselben Standpunkt des Rücksprungs aus. Eigentlich fragt die Philosophie doch immer so: Dies ist jetzt wirklich. Wie aber war es möglich? Die Möglichkeit muss in seinem Prinzip angelegt sein, und damit müssen Möglichkeit und Prinzip ihm vorhergehen, ewig vorhergehen, in einer »transzendenta-

15

»Il existe une connaissance qui enlève poids et portée à ce qu’on fait: pour elle, tout est privé de fondement, sauf elle-même. […] Une telle connaissance mériterait d’être appelée posthume: elle s’opère comme si le connaissant était vivant et non vivant, être et souvenir d’être. ›C’est déjà du passé‹, dit-il de tout ce qu’il accomplit, dans l’instant même de l’acte, qui de la sorte est à jamais destitué de présent.« (Cioran: De l’inconvénient d’être né. 1271)

Methodenlehre – Kontemplation – Geheimnis

len Vergangenheit«. Also heißt erkennen, sich an Prinzip und Möglichkeit des Aktuellen erinnern. Die Bewegung im Krebsgang führt die Philosophie auf die Zeit vor meiner Zeit und schließlich vor aller Zeit.16 Der Anfang ist deshalb das natürliche Thema der Philosophie. Nur hat sie es in einen Ursprung im absoluten Sinn (nicht in dem Benjamins) umgedeutet: Sie hat sich geweigert, sich dem Strom, der ins Gegenwärtige führt, wieder anzuvertrauen. Der Anfang als metaphysischer, absoluter Ursprung ist oft nicht mehr als die Feststellung des Bestehenden ins Ewige. Da entspringt nichts dem Werden und dem Vergehen, weil man meint, den Ursprung von Werden von Vergehen erklären zu müssen. Auf diesem Weg hat die Philosophie die Frage nach dem echten Anfang, dem Ursprung aus Werden und Vergehen, verloren gegeben.17 Zuerst ist die Philosophie also ein Missverständnis. Ihre Erkenntnis ist ein performatives Scheitern. Und doch erkennt sie. Aber was und wie? Philosophie führt strukturell in ein Zwischenreich, in einen Limbo, wo nicht sicher ist, ob etwas ist und was wie ist. Ihre beiden Seiten – Gegenwart und Erinnerung – verunsichern sich beständig gegenseitig. Diese Verunsicherung und ihr Produkt, das Zwischenreich sind wahr in einem sehr strengen Sinn, denn sie inszenieren die radikale Uneindeutigkeit des Wirklichen, sogar ohne es auszusprechen, manchmal gar aller Aussage entgegen. Diese Uneindeutigkeit meint nicht irgendeinen vergeblichen »Sinn«, meint nicht die Eigenschaften oder die »Wahrheit« des Wirklichen. Sie liegt zuerst und grundlegend in der Wirklichkeit als Wirklichkeit. Wirklichkeit ist selbst paradox: Das einzige Feste, Harte, Verlässliche, Maß und Grenze all dessen, was sich anmaßt, nicht Wirkliches zu sein. Unnachgiebig fordert sie uns und kompromisslos ihr Recht. Sie ist aber gerade nicht selbst fest, kein Monolith, sich nicht immer und an allen Stellen gleich. Der eine Name »Wirklichkeit« deckt die unendliche Vielfalt der Modulationen zu, die nicht nachträglich zur Härte des Wirklichen als Ausschmückungen hinzukommen, sondern noch diese Härte ausmachen. Modulationen, die bis hin zur Entleerung reichen können: kein Zufall im Übrigen, dass noch diese Entleerung ambivalent auftreten kann: heiter im Spiel, unerträglich in der Verzweiflung. »Alles ist Spiel.« Ja, das stimmt. Aber so wie etwas »Spiel hat«: wie es also nur funktioniert, weil es zwar gerahmt ist, aber nicht ganz eingeklemmt ist, atmen kann und atmen lassen kann. Irgendwo zwischen »Alles ist eine unüberwindliche, unbefragbare, überwältigende, positive Realität« und »Es gibt gar nichts«. Gegen das letzte spricht die einfachste Erfahrung (eine sensation quotidienne), gegen das erstere ein Schauern, das uns plötzlich überkommt und uns anzeigt, dass da etwas Unheimliches am Werk ist (frisson brusque).18  – oder auch umgekehrt (Cioran, 1276f.). Wo nur eine der beiden Seiten besteht, wird man krank, mit einem Unbehagen, das nur so tut, als wäre es eine metaphysische Erfahrung.

16 17

18

»Il fut un temps où le temps n’était pas encore… Le refus de la naissance n’est rien d’autre que la nostalgie de ce temps d’avant le temps.« (Ebd. 1281) Und dieser Ursprung ist nur, weil er nicht gedacht ist: »Le non-savoir est le fondement de tout, il crée le tout par un acte qu’il répète à chaque instant, il produit ce monde et n’importe quel monde, puisqu’il ne cesse de prendre pour réel ce qui ne l’est pas.« (Ebd. 1280) »La vision de la non-réalité, de la carence universelle, est le résultat combiné d’une sensation quotidienne et d’un frisson brusque. Tout est jeu […].« (Ebd. 1276f.)

191

192

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Der Scheidepunkt dieser nicht zu behebenden (d.h. konstitutiven) Ungewissheit, Unsicherheit hinsichtlich des Realen ist die Frage des Definitiven, seiner Möglichkeit und seiner Identifizierung. Es kann alles »definitiv« sein, es ist in gewisser Hinsicht alles definitiv, aber in einer anderen Hinsicht kann alles als noch vorläufig, ungebunden, irrelevant erscheinen. Dabei ist aber das Definitive erst der Punkt, an dem sich das Reale als solches, d.h. als etwas, das wiegt, heraushebt, am Definitiven entscheidet sich im eigentlichen Sinn die Frage des Realen: der Kamm der Welle, wo sich die Bedeutung zum Monument auftürmen will – und wo, gelingt es nicht, die Lächerlichkeit droht.19 Wie bei jeder echten metaphysischen Frage kommt das Abgründige unmittelbar zum Vorschein, praktiziert man nur die Rückanwendung des Fraglichen auf sich selbst: Was definitiv ist, ist eben selbst nicht definitiv zu sagen. Indem sich die Philosophie an das Gegenwärtige erinnert, bringt sie genau das Definitive des Wirklichen in die Schwingung. Oder sie bringt uns in Schwingung, in dieselbe, in der das Definitive des Wirklichen längst ist. Das ist Wahrheit.20 Das Erste, die Bündigkeit der Handlung bleibt unantastbar. Jeder Versuch, sie in Frage zu ziehen, verliert sich in totaler Erschlaffung. Wo Philosophie sich dazu verleiten lässt, die Bündigkeit in Frage zu ziehen, um sie dann zu »erklären«, da hat sie den Abgrund aufgerissen, der sie in einer endlosen Spirale ins Bodenlose zieht. Denn der einzige Boden, den das Denken hat, war eben diese Bündigkeit, der sie meinte, entsagen zu können.21 Ist Theorie, Kontemplation, Philosophie, Nachdenken dergestalt eine Umkehrung der natürlichen, der einzig »möglichen« Zeitfolge (und der Begriff der Möglichkeit eine Folge dieser Umkehrung), dann bedeutet das aber auch, dass das Denken keine Abbildung oder Verdopplung ist, sondern eine Drehung, eine unmögliche Krümmung des Realen – die genau dadurch, durch die Untreue, nicht durch die Treue, »Erkenntnis« wird. Erkenntnis wird nicht produziert durch eigendeine Nachahmung oder sonstiges, sondern im Gegenteil in der größtmöglichen Fremdheit. Das einzige, was sie nachahmt, ist die strukturelle Uneindeutigkeit des Seins selbst. Jede Wahrheit weicht damit konstitutiv von der Wirklichkeit ab, weil sie das Wirkliche gegen den Strich kämmt, »rebrousse chemin«, einen Weg in umgekehrter Richtung zurücklegen will, den man nur in eine Richtung gehen kann. Objektivität ist dann, das Wirkliche wie ein längst Vergangenes

19

20

21

So fällt Cioran zu nächtlicher Stunde in einer Allee eine Kastanie vor die Füße, die ihm von allem Definitivem dieser Welt zu künden scheint. Er findet sich wie in einem Wunder, »dans l’ébriété du définitif, comme s’il n’y avait plus de questions, rien que des réponses. J’étais ivre de mille évidences inattendues, dont je ne savais que faire…« In der Tat ist er dieser Ankündigung nicht gewachsen. »C’est ainsi que je faillis toucher au suprême. Mais je crus préférable de continuer ma promenade.« (Ebd. 1279) Und 1282: »A l’égard de la mort, j’oscille sans arrêt entre le .mystère‹ et le ›rien du tout‹, entre les Pyramides et la Morgue.« Ambiguität des Wirklichen, Ambiguität des Denkens. Denken heißt dann: in der Nachbarschaft seines eigenen Skeletts leben. »Personne n’aura vécu si près de son squelette que j’ai vécu du mien: il en est résulté un dialogue sans fin et quelques vérités que je n’arrive ni à accepter ni à refuser.« (Ebd. 1285) Vgl. Buber: Ich und Du. 90: »[…] wer die letzten Einheiten nicht ehrt, vereitelt den nur begreifbaren, nicht begrifflichen Sinn.«

Methodenlehre – Kontemplation – Geheimnis

betrachten, das Lebendige wie ein Totes, nur den Kadaver des Realen zurückbehalten – und sich wundern, dass da was fehlt.22 Was fehlt ist die Mitte, aus der heraus das Wirkliche nicht irrelevant ist. Die Bedeutsamkeit des Wirklichen ist in der Erkenntnis zwar »aufgehoben«, aber (weil die Erkenntnis das Wirkliche selbst verdreht) nur noch als ihr eigenes Zitat. So schwankt man rettungslos hin und her zwischen absoluter Bedeutsamkeit und absoluter Irrelevanz. Weil es Zeit gibt, gibt es keine absolute Bedeutsamkeit. Aber nur deshalb gibt es auch überhaupt Bedeutsamkeit.23 Methodenlehre: Ellipse. Alles philosophische Denken ist auf eine eigentümliche Weise elliptisch ist. Große Philosophie: Wenn man die sucht, wird man immer Werke finden, die mehr von einem Entwurf haben, die die großen Linien ziehen, die Umrisse der Theorie, und die zugleich versichern, dass eine Ausarbeitung bis in die Details möglich und wünschenswert ist, ja: dass diese Ausarbeitung sogar zwingend geboten ist und die Wahrheit der Theorie erst restlos erweisen wird – und die diese Ausarbeitung mit einiger Zuverlässigkeit immer wieder aufschieben. Wie kommt es, dass die Philosophinnen und Philosophen sich nur selten daran wagen, ihre Theorien bis in alle Details zu verfolgen, geschlossene und erschöpfende Gebäude vorzulegen? Ist das nur dem Umstand geschuldet, dass das zu viel Arbeit wäre? Dass die Beschränktheit menschlicher Lebenszeit und -kraft dem einen natürlichen Riegel vorschiebt? Stattdessen fangen die Philosophen immer wieder von vorne an, als gälte es, sich noch einmal der Grundlagen zu versichern; ein besonders eindrucksvolles Beispiel hierfür ist Husserls Werk, das aus lauter Einleitungen in die Phänomenologie besteht. Offenbar muss man sich immer wieder der Grundlagen versichern. Und offenbar ist die detaillierte Ausarbeitung etwas anderes als die bloße Ausfüllung der leeren Stellen, die sich zwischen den Vektoren der großen Theoriesätze auftun. Man könnte vielmehr den Eindruck erhalten, dass diese Ausfüllung, die doch eigentlich die Aufgabe hatte, die 22 23

»Être objectif, c’est traiter l’autre comme on traite un objet, un macchabée, c’est se comporter à son égard en croque-mort.« (Cioran: De l’inconvénient d’être né. 1294) »Cette seconde-ci a disparu pour toujours, elle s’est perdue dans la masse anonyme de l’irrévocable. Elle ne reviendra jamais. J’en souffre et n’en souffre pas. Tout est unique – et insignifiant.« (Ebd. 1294) Wie es kommt, dass dieser Abschnitt zu einem Palimpsest des berühmtesten Buchs von Cioran geworden ist, könnte ich nicht sagen. Vielleicht ist das aber auch nicht wichtig. Im Übrigen ist Ciorans Irrtum freilich offenkundig: Er meint, man könne diese Distanzierung vom Sein, diese Entkoppelung von aller Handlung ins Extrem treiben. Er unterliegt derselben Illusion, die die Philosophie immer schon angetrieben hat und die für ihre konstitutive Schwermut verantwortlich ist: zu glauben, dass die Welt etwas ist, was betrachtet werden will – und dann dabei zuschauen müssen, wie diese Welt in der Betrachtung, in ihrer Erinnerung eben, immer mehr an Leben und Farbe einbüßt. Die Philosophen, und Cioran ist eben einer von ihnen, überspringen wie immer auch diesen Prozess, ungeduldig wie sie sind, endlich zum Anfang (=Ende) zu kommen, und setzen sich an seinen Endpunkt: Dann wäre die Welt etwas ganz Durchschaubares, dann wäre alles darin längst geschehen, dann wäre es egal, ob etwas geschieht oder nicht, denn im Maßstab des Ganzen ist alles Einzelne irrelevant, dann hat die Welt keinerlei Bedeutung, das Leben keinen Ernst, die Zeit nichts Definitives, und dann gilt eben der Satz von Wordsworth, den Cioran zustimmend zitiert: »Eternal activity without action.« (Ebd. 1298)

193

194

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Theorie in ihrer ganzen Erklärungskraft und -weite zu bewahrheiten, an deren Aushöhlung arbeitete. Wenn man eine philosophische Theorie so in ihre kleinsten Verästelungen verfolgen will, führt das regelmäßig auf eine charakteristische Erschöpfung dieser Theorie: Sie wird nicht im engen Sinn falsch, widersprüchlich oder zwangsläufig unplausibel; aber ihre Erklärungskraft dringt bei der Erkundung des Gebietes des Denkbaren und zu Denkenden in Bereiche vor, in der sie blass wird, nur mehr an den Worten der Theorie zu hängen scheint. Die Theorie kann dann noch die Phänomene integrieren, die auf den ersten Blick nicht recht in sie zu passen scheinen; diese Integration braucht aber den letzten Rest ihrer Kraft auf, so dass sie plötzlich in ihrer Nacktheit dasteht: als das, was sie ist, nämlich eine Behauptung. Theorien haben offenbar, wie der élan vital, eine endliche Kraft. In Wahrheit ist die Sachlage noch aussichtsloser: Eine Theorie, die man bis in alle Einzelheiten und Phänomene hineinverfolgt, macht sich lächerlich. Es ist diese Gefahr, die wohl alle Philosophinnen und Philosophen an einem bestimmten Punkt deutlich gespürt haben, über die sie sich aber nicht allzu oft Rechenschaft abzulegen verstanden, die die Vollständigkeit der philosophischen Theorie mit ihrer Aufhebung (ganz unhegelianisch) zusammenfallen lässt. Das Nahen der Peinlichkeit, sich lächerlich zu machen, hält die Philosophinnen von alleine von einer restlosen Ausarbeitung ab. Das ist freilich nur die negative Seite des philosophischen Prozesses, die einseitig von der positiven abhängig ist (weil es sonst gar keine Philosophie gäbe): Diese Abwendung von einer gleichmäßigen, gleichsam flächendeckenden Philosophie ist nur die Kehrseite der eigentlichen »Methode«, die man aber nicht lernen, lehren oder abstrahieren kann, weil sie in der (endlichen) Verkettung paradigmatischer Beispiele oder sogar in der Extraktion der Quintessenz aus einem beispielhaften Phänomen besteht. Ein Ding erhellt aus dem anderen und entzündet dem nächsten das Licht (»ita res accendent lumina rebus«): Der Satz von Lukrez ist präziser Ausdruck des Vorgehens philosophischen Denkens, wenn man darin die volle Konkretion, Zufälligkeit und Abenteuerlichkeit wirken lässt. Wie aber kommt es dazu, dass eine Philosophie, die alles gleichermaßen erklären will, sich lächerlich macht? Es ist nicht so, dass sie lächerlich wird, weil ihre Aussagen dann nicht mehr stimmen würden oder weil, was sie sagt, verstiegen wirken müsste, weltfremd. Es ist nicht einmal die tatsächlich schwer zu vermeidende Trivialisierung, der ihre Theorien und Begriffe auf diesem Wege verfallen, die sie lächerlich werden lässt. Was lächerlich ist, ist der schlichte Versuch, alles mit Theorie auszufüllen. Darin, in diesem Bestreben, liegt bereits ein ontologischer Irrtum, der sich uns, die wir mit dem Sein nun mal vertraut sind, so unmittelbar kundtut, dass wir Irrtum und Wahrheit nicht mehr selbst denken brauchen: Es kündigt sich in der Lächerlichkeit unmittelbar an, geradezu körperlich. Anscombe bemerkt, dass es schnell absurd wird, wenn man anfängt, die verschiedenen Schritte eines »praktischen Syllogismus« aufzuführen:24 »Ich bin ein Mensch.« »Vitamine sind wichtig für Menschen.« »Orangen haben Vitamin C.« »Also esse ich eine Orange.« Selbst wenn wir in der Wahl unserer Nahrungsmittel Wert legen auf gesunde,

24

Vgl. Anscombe: Intention. § 42.

Methodenlehre – Kontemplation – Geheimnis

vitaminreiche Kost, werden wir niemals solche oder ähnliche »Syllogismen« in unserem Geist vorfinden. Warum ist das so? Weil unser Handeln immer eine gewisse Kopflosigkeit haben muss, sonst wäre es nicht möglich. Selbst die Handlungen, in die Erwägungen wie die des Vitaminreichtums integriert sind, enthalten diese nur selten in einer expliziten Form und niemals in Form einer geordneten Schrittfolge von Überlegungen. Alles Handelns drängt von sich aus aus dem Umkreis des Theoretischen, Geistigen, Gedachten heraus, selbst wenn dieses es mitbestimmt. Alles Handeln ist von sich aus schon längst aus diesem Umkreis heraus, weil die schiere Unmöglichkeit, das Handeln zu denken, bevor man es tut, die Praxis zu einer Sache macht, die sich nicht in eine theoretische Fassung übertragen lässt, ohne dass damit das Wesen des Praktischen selbst verloren und verzerrt würde. So wie man nicht in einer expliziten Weise den Arm heben wollen kann, um ihn zu heben, so kann man nicht das Handeln erst denken, um es dann zu realisieren. Der »praktische Syllogismus« existiert, aber ausschließlich als eine nachträgliche Rekonstruktion der Ordnung von Gedanken, nicht etwa: die einen tatsächlich in der Handlung angeleitet haben, sondern: die in einem theoretischen Verstande die Erklärung oder Rechtfertigung der Handlung liefern.25 Die Lächerlichkeit, in die sich die Philosophie begibt, ist von ganz ähnlicher Art. Kurz gesagt liegt sie daran, dass die Wirklichkeit nun einmal nicht aus den Schritten zusammengesetzt ist, die die Philosophie ihr nachträglich andichten muss. Wenn die detaillierte Ausarbeitung der Philosophie die leeren Flächen oder dunklen Räume erschließen und füllen müsste, die sich zwischen den großen Linien des Denkens oder zwischen den paradigmatischen Beispielen auftun, dann würde sie die unsinnige und undankbare Aufgabe übernehmen, die Konkretion und das Kontinuum des Wirklichen nachträglich aus den diskreten philosophischen Begriffen aufzubauen. Es ist, als wolle man die Linie aus den unendlich vielen Punkten, die man in ihr finden kann, aufbauen. Philosophische Begriffe sind nicht Abstraktionen im geläufigen Sinn. Sie sind gewonnen an der Betrachtung und der Vertiefung in ein oder mehrere grundlegende Phänomene. Sie sind davon abgelöst. Das Abgelöste, »Abstrakte« philosophischer (wie al25

Das Beispiel des Hebens des Arms ist ebd. § 29. Im Übrigen schillert in Anscombes Buch der Begriff des »praktischen Schließen« bzw. des »praktischen Syllogismus« selbst und erscheint eigenartig widersprüchlich; er schwankt zwischen einer radikal pragmatischen und einer intellektualistischen Deutung. Das kommt daher, dass Anscombe manches Mal das elliptische Handeln selbst als praktischen Schließen bezeichnet, dann wieder die nachkommende Rekonstruktion der »Gründe«. Will man wissen, wie tief die Verwechslung einer geistigen Rekonstruktion mit der Kopflosigkeit des Tuns in unsere Weltauffassungen eingesunken ist, muss man nur einen Blick in die Populärkultur, vor allem die der Unterhaltungsfilme werfen: Die quellen über von Helden und Heldinnen, die immer vorher ganz genau wissen, was das Gegenüber tun wird und durch dieses Wissen die Oberhand behalten. Am prägnantesten ist dies in dem Film Sherlock Homes: A Game of Shadows vom Guy Ritchie zum Ausdruck gebracht: Der beginnt mit einem Boxkampf, in dem der Held – die Dringlichkeit der Situation, die Zeit anhaltend – seine nächsten Schläge und deren Wirkungen genau vorrechnet und dem Publikum aus dem Off erklärt; und der Film endet mit dem Kampf des Helden gegen seine Nemesis Moriarty, in der sich herausstellt, dass diesmal beide Gegner diese Technik der intellektuellen Durchdringung und Vorwegnahme des Körperlichen beherrschen, was sie in einen Patt einschließen müsste, aus dem sich Holmes schließlich mit einer ebenso verzweifelten wie heroischen Wendung befreit. Das ist höchst amüsant, aber eben vollkommen falsch.

195

196

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

ler) Begriffe liegt deshalb daran, dass sie diskrete Steine sind, auf denen man sich sicher über dem Fluss des Wirklichen, Materiellen, Körperlichen bewegen kann. Sie nehmen hier etwas auf, stoßen sich dort ab, springen dann wieder über einige Meter und bilden so vielleicht ein Netz, können aber die grundlegende Gefülltheit des Körperlichen nicht nachträglich anfüllen. (Wohlgemerkt: Sie sind nicht von der Art dimensionsloser Punkte, was eine Nachahmung der Fülle logisch unmöglich macht. Sie sind durchaus »ausgedehnt«, in ihrer Materialität wie in ihrem »Sinn«. Sie funktionieren aber nur als Begriffe, indem sie Abstand zueinander halten. Ganz gefüllt ist eine Rede, die alles abdeckt, »all over the place«, wie das Englische so schön sagt, d.h.: sinnlos und paradoxerweise: unzusammenhängend.) Es wäre also ein ontologisches Missverständnis, wollte man allen Ernstes die Wirklichkeit vollständig durch die Philosophie erfassen wollen: nicht weil die Philosophie dazu nicht »in der Lage wäre« (was auch immer das bedeutet), sondern weil Philosophie und allgemein Sprache durch ihre Andeutungen, ihre Winke funktioniert. Philosophie ist wie das Dame-Spiel: Sie gewinnt, was sie kontrolliert zu überspringen vermag. Wieder ist es Bergson, der diese Eigenheit von Sprache und ihre Abgrenzung vom Körperlichen auf den Punkt gebracht hat. Wenn wir uns etwa fragen, wie sprachliches Verstehen funktioniert, dann erinnert Bergson daran, dass wir keineswegs von einzelnen Silben oder Worten oder Sätzen ausgehend einen »Sinn« rekonstruieren, ebenso wenig wie wir beim Lesen die einzelnen Buchstaben nacheinander »lesen« und dann miteinander verbinden. Wir sind immer längst über die einzelnen Elemente der Sprache hinaus, immer schon über das (sichtbare, greifbare, hörbare) Material der Sprache bei dem, was wir hilflos als »Sinn« oder »Bedeutung« zu bezeichnen pflegen. Die einzelnen Worte sind nur wie Steine, die hier und dort den Weg weisen, an denen wir uns orientieren, die aber keineswegs von sich aus die Richtung des Sprechens und Schreibens sind oder erschöpfen. […] raffiniert oder plump, eine Sprache lässt stillschweigend viel mehr mitverstehen, als sie aussprechen kann. Wesensmäßig diskontinuierlich, da sie durch nebeneinandergereihte Wörter vorgeht, kann die Rede nur in Abständen die Hauptetappen der Denkbewegung abstecken.26 Sprache funktioniert per sous-entendu: Sie lässt hören und verstehen, indem sie die Töne trifft, die, im Zusammenklang, anderes mithören machen. Sie ist abstrakt, wenn man darunter versteht, dass sie nicht das Gesamt der Wirklichkeit abbildet, aber Abbildung ist ja ohnehin nicht ihre Aufgabe. Sie ist selbst materiell, doch in ihrer Materialität geht sie über diese hinaus, in einen Bereich, in dem Lücken entstehen können, echte Diskontinuitäten. Es ist das im engen Sinn Unverbundene der Worte, ihr Nebeneinanderstehen, das die Potenz der Sprache ausmacht. Sie ist ärmer als die Wirklichkeit, weil sie nicht den Raum ausfüllt, sondern wie ein sich ausdehnender Körper an verschiedenen Stellen

26

Materie und Gedächtnis. 158f. Matière et mémoire: »[…] raffinée ou grossière, une langue sous-entend beaucoup plus de choses qu’elle n’en peut exprimer. Essentiellement discontinue, puisqu’elle procède par mots juxtaposés, la parole ne fait que jalonner de loin en loin les principales étapes du mouvement de la pensée.« 139.

Methodenlehre – Kontemplation – Geheimnis

auseinanderreißt, sich verdünnt, Risse bildet; sie ist reicher als die Wirklichkeit, weil sie diese Risse nutzt, um in sie hinein eine selbst nicht abzählbare, nicht im Materiellen aufgehende, nicht ganz kontrollierbare neue Art von Fülle einsickern lässt: »Sinn«, »Bedeutung«, die Virtualität des Sagen-Wollens. Die Sprache als etwas Virtuelles ist Ablösung von der Oberfläche (erster Riss) und Erstellung echter Diskontinuitäten (zweiter Riss, ein »horizontaler« Riss). Dass »das Verstehen« oder (wenn man auf diese psychologische Terminologie verzichten will) die sprachliche Praxis diese Risse miteinander verbindet, ist kein Argument gegen die echte Diskontinuität der Worte, sondern im Gegenteil ihr Beweis. Sprache ist Virtualität und damit über die körperliche Wirklichkeit hinaus. Und Sprache ist körperliche Wirklichkeit. In dieser Doppelung sind zwei verschiedene Stufen der Sprachpraxis begründet: das passive Verstehen und die aktive Ausübung, Vernehmen und Sprechen. Als Vernehmen ist die Sprache radikal diskontinuierlich. Und es ist klar, dass auch im Sprechen dieser Aspekt immer mitwirkt – die beiden »Stufen« bezeichnen natürlich nur zwei Hinsichten ein und desselben Prozesses. Das Diskontinuierliche der Sprache macht die Lücken auf, in die das Verstehen eintritt. Die Steine im Bach fordern zum Sprung, die Abgerissenheit des Vernommenen impliziert die Unumgänglichkeit, unter dem Vernommenen weiteres zu vernehmen. Als Virtualität ist die Sprache aufgespannt zwischen Worten und dem, was sie nicht sagen. Es ist die Diskontinuität, die das Verstehen aktivieren muss; die Materialität der Sprache spielt dabei nur als schematische eine Rolle, d.h. die Vernehmende muss nur die groben Züge des Wortes wiedererkennen. Wiedererkennen ist das Nachzeichnen der Umrisse, ist Skizze einer Bewegung, die man nicht ganz ausführen muss. Sie setzt den motorischen Apparat ins Werk (ist also keine »innerliche«, »innerpsychische« Tätigkeit), doch es genügen ihr die Anfänge von Bewegungen, ihre Skizzierung, eine Tendenz zur Bewegung, eine erste Aktivierung des Körpers.27 Insofern die Sprache aber, wie alle Wirklichkeit, auch volle Materialität ist, fordert sie zu ihrer Hervorbringung die Ausführung aller Bewegungen im Einzelnen. Und dann herrscht eine ganz andere Logik, die Bergson treffend auf den Punkt bringt: »Nun aber erlaubt die Logik des Körpers nichts Unexplizites.« »[…] la logique du corps n’admet pas les sous-entendus.«28 Sprache, auch und gerade philosophische Sprache, ist eine Ellipse,

27 28

Vgl. Matière et mémoire. 96–128. Materie und Gedächtnis. 141. Die ganze Passage lautet so: »C’est que le schème au moyen duquel nous scandons la parole entendue, en marque seulement les contours saillants. Il est à la parole même ce que le croquis est au tableau achevé. Autre chose est, en effet, comprendre un mouvement difficile, autre chose pouvoir l’exécuter. Pour le comprendre, il suffit d’en réaliser l’essentiel, juste assez pour le distinguer des autres mouvements possibles. Mais pour savoir l’exécuter, il faut en outre l’avoir fait comprendre à son corps. Or, la logique du corps n’admet pas les sousentendus. Elle exige que toutes les parties constitutives du mouvement demandé soient montrées une à une, puis recomposées ensemble. Une analyse complète devient ici nécessaire, qui ne néglige aucun détail, et une synthèse actuelle, où l’on n’abrège rien.« (Matière et mémoire. 123.) Das lässt sich beispielsweise auch an einem anderen Phänomen deutlich machen: So kann jemand vielleicht einen bestimmten Dialekt oder die Stimme einer anderen Person zuverlässig erkennen, ohne zugleich in der Lage zu sein, den einen oder die andere nachzuahmen.

197

198

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

die möglich wird auf der Grundlage – aber dieses Wort einmal ganz konkret, nämlich ganz materiell genommen – einer Fülle. Und mit diesen beiden Sätzen ist die ganze Problemlage der Philosophie ausgesprochen: Die Logik des Körpers kennt nichts Mitgedachtes, Mitgemeintes, Implizites. Diese Logik des Körpers zu erkunden ist die Aufgabe der Philosophie. Insofern sie aber nur im Medium der Sprache existieren kann, ist sie selbst eine »Abstraktion« aus dieser Logik des Körpers: Als Sprache und in ihrer Materialität hält sie die Verbindung zum Sein, die es ihr erlaubt, von diesem etwas zu sagen. Sie muss ebenfalls durchgeführt, ausgeführt werden, wie eine körperliche Bewegung. Die vielversprechende Idee oder das leise Unbehagen sind bloß die Skizzen einer Bewegung, genannt Philosophie, deren Reichweite sich nur im Durchgang erweisen kann. Als Virtualität aber hat sie sich von dieser Grundlage abgelöst, sie ist Ellipse des Seins geworden, das weniger in ihren Worten als zwischen ihnen zu finden ist. Da aber die Worte keine Ideen sind, da die Begriffe keine Abstraktionen in immer höhere, verlässliche Allgemeinheiten sind, sondern die zufälligen Erhebungen, die der Fluss aufgetragen hat, die Produkte unvorhersehbarer Begegnungen und der rein »horizontalen« Verbindung von einem Ding zum nächsten, kann man hier keine Hoffnung auf eine geregelte Aufhebung (diesmal à la Hegel), eine umfassende Synthese, eine Erschöpfung, zumindest des Wesentlichen, kurz: auf ein System des Denkbaren setzen. Nur Systeme lassen sich methodisch erforschen. Zu meinen, die Wirklichkeit sei ein System: eine rührende Idee. Unter der Annahme eines Systems wird auch die Repräsentationsidee von Philosophie verständlich, denn dann würde sie eben das Wesentliche des Wirklichen identifizieren und herausheben. Ihre Darstellung/ Ausführung wäre zugleich Darstellung/Abbildung des Wirklichen. Wenn man aber die Begriffe der Philosophie als Bilder in einem anderen Sinn versteht, nämlich als die fast zufälligen paradigmatischen Dinge, deren Namen zu Leitbegriffen erhoben werden, von einem zum nächsten und weiter, dann fällt sowohl die Idee einer Systematik wie die einer Methode und auch die einer Wiedergabe oder Abbildung oder auch nur Darstellung des Wirklichen in sich zusammen. Die Wirklichkeitspotenz der Philosophie ermisst sich an dem, was sie zu verstehen gibt durch die Wahl der Steine, die ihren Weg über den Strom bezeichnen wird, und dieser Strom rauscht ohrenbetäubend weiter, man kann nicht umhin, ihn zu vernehmen; man gibt sich aber Mühe, völlig zurecht in diesem Fall, nicht in ihn zu treten, schon gar nicht in ihn zu fallen. Diese Vorsicht ist es eben, die man Wissenschaft nennt. Philosophie muss selbst Abenteuer bleiben, die Klangquellen über Distanz miteinander verkoppeln, einen Hektar Brachland überspringen, um auf einem zufälligen Flecken köstliche Nahrung zu finden. Weil die Sprache, weil erst recht die Philosophie Ellipse ist, ist die Vorstellung, es gäbe eine philosophische Methode, bodenlos. Sie wäre sogar inadäquat, gäbe es sie auch. Und eine durchgeführte Philosophie, die meinte, über alles die Wahrheit entdecken zu können, müsste sich lächerlich machen und damit die fundamentale ontologische Diskrepanz zwischen der Ellipse und der Materie aufdecken. Der Anfang ist in einem so radikalen Sinn kontingent, dass er eben nicht gedacht werden kann. Gedacht wird eben nur ein Gedanke. Der Anfang ist aber die jugendliche Elision, die erst einen Platz besetzt, ein Territorium erobert, ein Wirkliches macht, von der ausgehend gedacht werden kann. Von der Undenkbarkeit des Anfangs geht alles Denken aus, ohne sie je zu erreichen. Nicht mal berühren wird das Denken sie. Ein Abgrund

Methodenlehre – Kontemplation – Geheimnis

trennt beide, der Abgrund der Elision, den nur »erreicht«, wer ihn überspringt, also ignoriert. Es gibt daher nur eine Reaktion auf die Kontingenz und ihre Undenkbarkeit, nämlich eine körperliche: ein albernes Lachen. »Il y a dans le fait de naître une telle absence de nécessité, que lorsqu’on y songe un peu plus que de coutume, faute de savoir comment réagir, on s’arrête à un sourire niais.«29 Deshalb fängt die Philosophie immer aufs Neue an. Sie umkreist einen Anfang, der unmöglich wäre, ließe er sich aussprechen. »Das Sein«. Jenseits der Forderung nach einer univoken Ontologie wird man keine Philosophie erwarten können, die dem Wirklichen gerecht wird. Doch ist diese Einnamigkeit nur der Anfang, das erste Wort. Einnamigkeit ist nicht Eindeutigkeit, der Zusammenhang aller Seienden fordert zugleich ihre Diskontinuität. Auch die Materie oder der Körper können nicht wie Zauberworte eine Einheitlichkeit herstellen, die alles Disparate des Seins vergessen ließen. Sie sind nicht Zauberworte, sondern Rätselworte. Das relative Recht des Monismus wie seine Grenze liegen in dieser doppelten Beobachtung. Andererseits waren viele der vorangegangenen Ausführungen von einem Dualismus bestimmt, der sich eingeschlichen hatte. Ein Sein, das von sich aus ist, wie etwa die Menschen, und Seiendes, das von anderem her ist und eine Auffassung von außen erforderte, war einander entgegengesetzt worden. Weniger grob als ein Monismus, ist so ein Dualismus deshalb nicht wahrer. Er wird auch nicht wahrer dadurch, dass man versucht, die Menschen zu dezentrieren und die Zentrumslosigkeit von Sand und Nebel zu relativieren. Die Annäherung der beiden einmal kategorial unterschiedenen »Seinsweisen« macht die Theorie zwar weicher, geschmeidiger; sie hat sich aber von der Vergröberung der Welt in zwei Bereiche in Wahrheit nicht losgemacht und sie zehrt immer noch von einem falschen Konzept philosophischer Erklärung: Man glaubt dann, erklärt sei erst, wenn eine Identität hergestellt wäre, wenn wir also etwa einen glatten, bruchlosen, lückenlosen Übergang vom einen zum anderen und am Ende zur ganzen Welt herstellen könnten. Dass sich diese beiden Fehler formal widersprechen, macht nur die Aussichtslosigkeit der Lage deutlich. Auch braucht man nicht nach einem allgemeinen Begriff von Materie zu fahnden, der so Disparates und Inkommensurables gleichermaßen erlauben würde. Am Ende wird gar kein Begriff von Materie stehen, sondern nur eine nackte Feststellung: In einer Welt, die nichts Unkörperliches kennt, zumindest nichts, was nicht wieder an einem Ende auf Körpern fußt, entsteht tausendfach Divergentes. Der Begriff der Materie oder des Körpers wird nicht als vereinheitlichende Überwölbung dienen können; was Materie, was Körper sind, lernen wir im Gegenteil nur aus dem, was sie machen, und dieses Wissen wird fundamental anekdotisch bleiben, weil sie, obgleich Grundlage, nicht als Prinzip des Seins fungieren. Wir mögen im Nachhinein alle Phänomene, die wir betrachten, wieder unter einem Namen zusammenfassen. Doch dieser Name verrät uns nichts mehr über diese Phänomene – außer ihrer paradoxen und unaufhebbaren Verwandtschaft. Wollte man selbst die verschiedenen Betrachtungsweisen, die der Dualismus von Sein-von-sich-aus und Sein-von-anderem nahelegt, noch miteinander verschränken 29

Cioran. A.a.O. 1281. Und auch 1282: »L’appesantissement sur la naissance n’est rien d’autre que le goût de l’insoluble poussée jusqu’à l’insanite.«

199

200

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

und in ihrer Ambivalenz offenbar machen, dann hätte man zwar Wahres gesagt, aber merkwürdigerweise nicht sehr viel. Ja, es gilt die doppelte Wahrheit: Alles ist von sich aus – weil alles nun einmal ist. Alles ist vom anderen her – weil alles nun einmal in einem Zusammenhang ist, der »früher« ist als jedes Einzelne. Aber so wahr das ist: Belässt man es dabei, ist man noch keinen Schritt weitergekommen. Was man akzeptieren muss, ist, dass man hier keinen Schritt weiterkommen kann. Diese Frage und das Insistieren auf ihr ist schon falsch. Wieder lässt man sich verleiten von der Forderung, man müsse doch auf Biegen und Brechen das Sein als Eines, als Ganzes, als Identisches denken müssen. Doch warum sollte man? Ein Stein – ist der von sich aus? Nein, »ein Stein« ist nicht von sich aus. Aber der, den ich in die Hand nehme, beschaue, zertrümmere, bearbeite, werfe, der ist von sich aus. Dieser Stein, den ich in der Hand drehe und wende und den ich betrachte, erforsche, der ist in so konkreter, fast schon überkonkreter Weise von sich aus, wirklich, voll, dass jede theoretische Frage nach diesem Sein sich lächerlich macht. Aber ist sie denn etwa nicht berechtigt? Der Blick und das Denken, die dort, in oder an dem Stein nach dem Prinzip seiner Identitäten suchen, die wissen wollen, wie und wo dieser Stein von sich aus ist, gleiten ab. Sie finden keinen Halt. (Ohne Zweifel ist das die Erfahrung, auf der Leibniz seine Problematisierung der Realität der Körper aufbaut.) Es war aber eine optische Illusion zu meinen, das sei ein Hinweis auf einen Mangel, auf ein Weniger-Sein, auf das Fehlen eines Prinzips. Man hatte die falsche Frage an das Ding herangetragen. Man »suchte« »mit den Augen (des Geistes)« nach einem »Prinzip« von Identität und von Aus-sich-selbst-Sein. Dabei könnte man so ein Prinzip nicht sehen, wenn es existierte; und wenn es existierte und man es immerhin denken könnte, dann hätte man in Wahrheit endgültig das Urteil über den Stein (diesen Stein) gesprochen, denn dann wäre es eben jenes Prinzip, das macht, dass der Stein (von sich aus) ist – und nicht der Stein selbst. Es gibt nun einmal kein Prinzip des Materiellen, nicht einmal ein materielles. Es sind eigenartige Abwege, in die sich das Denken verirrt, wenn es beständig auf die eigenen Füße achtet statt auf den Weg. Ein solches Abgleiten von Blick und Denken an dem Stein in meiner Hand ist das konkreteste denkbare Beispiel für den Mechanismus der Philosophie: Sie sucht auch hier nach einem Prinzip, sie geht dem Strom der Zeit also entgegen, versucht zur Quelle aufzusteigen. Damit aber dementiert sie doch gerade, was sie vor Augen hat: diesen Stein, in aller Konkretheit. Sie tut dies, indem sie sich gewissermaßen an den Moment vor seiner Entstehung versetzt und nun fragt, wie er hat entstehen können. Aber um sich in diesen Moment zu versetzen, muss man die betreffende Sache eben erst einmal zerstört haben. Kein Wunder also, dass man nirgends was findet, dass man nichts findet (wie bei Leibniz) und am Ende sogar das Nichts findet, wo in Wahrheit ein schöner glänzender Stein ist. Element und Bündiges. Wenn der erste Frühlingstag des Jahres sich zum Abend neigt, umfängt er die Welt mit einer Tönung, die sich nicht in Worte bringen lässt und die doch jedes Einzelne durchzieht. Man kann das »Atmosphäre« nennen oder »Stimmung«. Wich-

Methodenlehre – Kontemplation – Geheimnis

tig ist aber, dass das etwas in der Welt selbst ist (also nicht etwa nur »in mir«);30 dass es absolut wirklich ist, so wirklich wie nur jeder Stein und jeder Grashalm; und dass es radikal nicht objektivierbar ist: Keine Messung von Temperaturen oder Luftdruck könnte jemandem, der nie einen Frühlingsabend erlebt hat, einen Eindruck vermitteln, was das ist. Ein Frühlingsabend ist nicht aus seinen »Einzelteilen« zusammengebaut, er geht ihnen gleichsam vorher. Er ist nicht ein »Rahmen« für das Erscheinen der Einzeldinge und Einzelvorkommnisse, sondern er ist in jedem von ihnen voll gegenwärtig, in einer überwältigenden affektiven Kraft. Diese Wirklichkeit ist nichts, was sich irgendwie in Konzepten von Identität, Einheit, Individualität, Einzelheit, Abzählbarkeit fassen ließe. Es ist eine Wirklichkeit wie ein Fluss eine ist oder eine Improvisation. Sie ist intrinsich plural oder unabzählbar.31 Die ontologische Ambivalenz, die so in den Mittelpunkt rückt, liegt nicht zuerst daran, dass die Dinge irgendwie für sich ambivalent sind und wir sie deshalb so »sehen« müssen. Sie ruht darin, dass die Dinge einander ambivalent machen. Diese Ambivalenz ist etwas Elementares. Das Elementare ist das Sein, betrachtet als eines, dem das Zentrum fehlt. Ein materielles Sein, das voll und ganz real ist, das in sich differenziert ist (aber nie total bestimmt), das nicht beliebig ausgedehnt ist, wie es nur die gedachte Materie sein kann, das als Gefüge ohne Zentrum Grund und Milieu aller sich zentrierenden Einzeldinge ist: Pluralität vor aller Einheit. Wir haben den Geschmack verloren für diese Dimension der Natur. Gepflegt wird er noch in Poesie und Klischee, und oft in beidem zugleich. Es gibt für diese Ignoranz auch politische Gründe. Der Hauptgrund liegt darin, dass sich eine elementare Natur eben nicht so ohne weiteres beherrschen, domestizieren lässt. Als man sich entschloss, dass darin die Hauptbeziehung zur Natur bestehen solle, musste man Natur anders fassen, musste man an ihr herausheben, was sich beherrschen lässt. Heute kommen wir wieder dahin, mehr notgedrungen, genau das anzuerkennen. Wir müssen Natur als das Elementare denken, und dieses wiederum als ein konstitutiv Unbeherrschbares. Noch die philosophischen Lehren von den Elementen sind, sosehr sie von der Anerkennung einer unabzählbaren, in sich pluralen Verfasstheit des Natürlichen zeugen (von Anaximander auf den formalen Begriff gebracht), Versuche der Domestizierung. Allein schon die Elemente zählen zu wollen, stellt das Missverhältnis auf einer höheren Ebene wieder her. Wie das Elementare in sich selbst unabzählbar ist, so ist auch nicht anzugeben, »wie viele Elemente« es gibt. Zudem tendieren diese Lehren unausweichlich dazu, ein vielfältiges Geschehen in handliche Allgemeinbegriffe zu schleusen. Sie sind in dieser Hinsicht erste Schritte auf dem Weg zu der maximalen Verkennung, die sich in der These von der Undifferenziertheit der Materie ausspricht.

30

31

Noch die Vermutung, es könne doch vielleicht nur in meinem Kopf oder meiner Wahrnehmung gewesen sein, stellt eine Rückkehr zum kontemplativen Paradigma dar. In Wahrheit gehört doch mein Gegenschwingen zu dieser Realität dazu wie das aller anderen auch, und ein falscher Ton könnte die Unentschiedenheit der Melodie kippen lassen. Sie ist vielleicht das, was Deleuze als »Ereignis« bezeichnet oder Deleuze und Guattari als »Gefüge« (agencement), oder das, was Richir »wilde Wesen« nennt.

201

202

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Es genügt nicht, vom Wasser zu sprechen; auch nicht, ihm vielleicht diese oder jene groben Eigenschaften aus einem praktischen Begriffsviereck zuzuweisen. Wenn ich wissen will, was Wasser ist, muss ich die zahllosen Weisen aufzählen und beschreiben, in denen sich Wasser konkret Wirklichkeit gibt: als Meerwasser, Teich, Fluss, See, Regen, kochendes Wasser, sumpfiges Wasser, Verdampfen, Gefrieren… Keine dieser und all der anderen Existenzweisen von »Wasser« kann für sich beanspruchen, das Wesen des Wassers auszudrücken. Solche Wesenszuschreibungen ergeben beim Element keinen Sinn, denn das Wesen des Elements liegt in nichts anderem als in einer möglichst vollständigen Beschreibung seiner konkreten materiellen Existenz- und Wirkungsweisen. Gleichwohl ist die Zusammenfassung in einem Namen nicht willkürlich, denn diese Existenz- und Wirkungsweisen sind ja konkret miteinander verwandt und können ineinander übergehen.32 Das Elementare lässt sich im Ozean so wiederfinden wie in jedem Morgen oder im Liebesrausch. Was alle Elemente gemein haben, ist eine gewisse Schrankenlosigkeit, eine Weite und Gleichförmigkeit, die aber gerade eine Differenzierung einschließt und fordert. Elemente lassen sich zudem nur in einer ursprünglichen Pluralität denken. Sie sind solches, was weder Eines noch Viele (im Sinn der Summe von Einzelnen) ist. Elemente haben ein Zahlenregime, das von keiner Arithmetik gefasst werden kann. Denn Elemente sind die dynamische, »gelebte«, wirksame, reale, materielle gegenseitige Durchdringung. Es ergibt schlicht und ergreifend keinen Sinn, das Wasser dadurch erklären und beherrschen zu wollen, dass man seine Moleküle abzählt. Das Wasser ist nicht aus seinen Molekülen zusammengesetzt, diese sind die Abstraktionen aus dem Wasser – und wie alle Abstraktionen, sind sie der Tod dessen, woraus sie abstrahiert sind. Es gibt nicht so und so viel Moleküle, es gibt nur den Ozean, den Teich, das Wasserglas. Ein Windstoß ist eine konkrete Erscheinungsform des Elements Luft, und es gibt ihn nur, insofern er weder irgendwie streng abgrenzbar von anderen benachbarten Erscheinungsformen wäre noch in sich eine abzählbare Struktur besäße. Und dennoch ist er real. Nein: Deswegen. Denn nur dadurch bildet er das, was echte Realität nun mal auszeichnet: Bündigkeit. Ein Windhauch ist bündig, nicht obwohl er unscharf abgegrenzt ist und unabzählbar Vieles ist, sondern deswegen. Und das gilt für alles Reale. Alles Reale ist bündig, und das bedeutet, in direkter Umkehrung der cartesischen Forderung, dass es erstens obskur ist: unscharf vom Benachbarten abgegrenzt, und zweitens konfus: denn es besteht nur aus Obskurem, ontologisch Obskurem. (Man muss daher streng zwischen dem Bündigen und dem Identischen unterscheiden.) Das Bündige ist eine reale Bildung aus dem Elementaren heraus, rein mit den Mitteln des Elementaren selbst, d.h. eine Selbstorganisation der Materie ohne transzenden32

Will man noch bei den alten (abendländischen) Elementen verweilen, dann scheint das Feuer noch einmal aus der Reihe zu fallen. Erde, Wasser, Luft sind gewissermaßen die Synoptiker der Elemente; Feuer das Johannesevangelium. Denn das Feuer ist nicht so sehr Sein als es vielmehr Tun ist: Es ist nicht nur Streben ins Hohe, was seine Assoziation mit dem Geist motiviert hat; es ist vor allem auch wesentlich Stoffwechsel. Luft, Wasser und Erde sind primär Materien; das Feuer ist eine Materie, die paradoxerweise die Entmaterialisierung aller anderen Materien betreibt, ihre Entdifferenzierung, es ist gewissermaßen die Entropie, die Körper geworden ist. (In Wahrheit ist natürlich die Entropie, betrachtet als ein »Prinzip«, das Feuer, das Gedanke geworden ist.)

Methodenlehre – Kontemplation – Geheimnis

te Regel. Das Bündige ist die »erste« Form von »Identität« oder »Gestalt«, wobei dieses »erste« nicht so gemeint ist, als entstünde diese Gestalt oder Identität irgendwann aus einem urtümlichen Chaos. Wie schon bei den Epikureern muss die autonome Strukturbildung als gleichursprünglich mit der materiellen Natur selbst angesehen werden. Natürlich gibt es hier kein »Zentrum«, und deshalb gibt es hier, bei einer Windböe, einer Welle, einer Feuersbrunst, einer Lawine auch keine Empfindung. Das ist aber auch ganz unnötig. Denn die Frage, ob oder wie wir vom Sein dieser Phänomene sprechen können, erledigt sich, sobald wir akzeptieren, dass nicht das Zentrum am Anfang steht, sondern ein Bündiges ohne Zentrum. Mit anderen Worten: Wir verlieren nur dann den Halt unter den Füßen, wenn wir die Welle betrachten und uns fragen: »Wo ist denn nun die Realität der Welle? Welcher Teil der Welle ist das Reale? Wo mag sich ein Zentrum verstecken, von dem aus man sie verstehen und als Identisches auffassen kann?« Solcherlei Fragen wendet sich ab von der Realität, die vor ihm liegt, von einer Realität, die gesehen, gespürt, gerochen werden kann, und es fragt nach dem, was hinter ihr steht. Aber hinter der Realität der Welle steht nichts. Gar nichts. Es ist eine phänomenologische Forderung, anzuerkennen, dass die Welle, der Windstoß, genau das sind, was sie sind, und als bündige, und also sehr wohl von sich aus eine Realität haben. Es gibt nun mal, wie Goethe es sagt, nichts hinter den Phänomenen, sondern diese sind die Lehre selbst. Es ist daher nicht nur der Gegebenheit des Seins absolut zu vertrauen, sondern auch der Größenordnung, in der es sich gibt. Es gibt keine guten Gründe dafür, unser Größenregime in Frage zu stellen und nach dem Größeren oder Kleineren zu fragen, in denen dann, man weiß nicht wie, die Wahrheit der Phänomene enthalten wäre. Diese Versuchung ist groß, und nicht alle Philosophien und vor allem nicht alle Materialismen wussten sich ihrer zu erwehren. Nein, die Welle ist schon real, ich brauche nichts über die biochemische oder gar mikrokosmische »Zusammensetzung« der Welle wissen.33 Alles, was ich über eine Welle, eine Windböe, ein Feuer wissen kann – im metaphysischen Sinn, nicht im physischen, auch nicht im alltäglichen oder praktischen Sinn natürlich –, weiß ich aus der unmittelbaren Erfahrung mit ihnen. Zwei Folgesätze: Erstens könnte man nun fragen, wo genau im Bereich der »mittleren Sichtbarkeit« (d.h. im Bereich menschlicher Wirklichkeitserfahrung) die Wahrheit des Wassers läge. Man kann diese eine kleine Welle betrachten, man kann sie im Perlen des Meeres sehen, man kann sie einreihen in die Flut, deren »Teil« sie ist (man merkt schon, wie problematisch die Verwendung von »Teil« und »Ganzem« schnell wird); und kann ich nicht auch von »dem Ozean« sprechen und von seinen Launen? Haben nicht verschiedene Gewässer, die ja notorisch schlecht voneinander abzugrenzen sind, ihre eigenen Charaktere, von denen die Seeleute wissen? Wo genau also liegt nun diese bündige Realität, von der die Rede war? Nun, in allem zugleich! Es gibt, selbst »beschränkt« auf unser Größenregime (und das ist eben keine Beschränkung, weder epistemologisch noch metaphysisch), nicht das eine Bündige, sondern es gibt alles Bündige nur in tausendfacher Überlappung. Mehr noch: Es würde ja gar keinen Sinn machen, von einem Ozean oder dem Kaspischen Meer zu sprechen, wenn die Wirklichkeit seiner Wellen, Gezeiten, 33

Eine Welle ist nun einmal nicht zusammengesetzt. Es ist im Gegenteil erst ein gewisses Denken, das sie auseinandernimmt und dann behauptet, sie sei in Wahrheit zusammengesetzt. Wie das konkret geschehen soll, bleibt dabei allerdings ganz mysteriös.

203

204

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Strömungen, Witterungen usw. usf. nicht dabei impliziert wäre. Jedes Bündige »setzt sich« aus anderem Bündigen »zusammen«, aber nun einmal nicht bis ins Unendliche – zumindest nicht, wenn dieses Unendliche ein sich Verlieren im Konturlosen impliziert, als hielte man das Messer so lange an den Schleifstein, bis nichts mehr von ihm übrig bliebe. Jedes Bündige ist Produkt von Kon-Kurrenz und Interferenz anderer Bündiger. Verfolgt man diese Bündige weiter in seine »kleineren« Einheiten, dann führt das nicht auf »Bündigkeitsatome«, weil am Ende jeder Serie geschieht, was ohnehin immer geschieht; der Sprung in eine andere Serie, der Wechsel des Registers. Zweitens erscheint es sinnvoll, auch das »Subjekt« nach Maßgabe des Bündigen zu denken anstatt nach der der Identität. Bündiges ist solches, das nicht scharf von anderem abgegrenzt ist (aber eben doch abgegrenzt) und das zugleich in sich obskur ist, d.h. aus unabzählbar Vielem besteht. Und in der Tat ist das, was man faute de mieux Subjekt nennt, so ein Bündiges: Es ist ganz zweifelsohne abgegrenzt von allem anderen, aber keineswegs so scharf, wie die Philosophie das immer gerne gehabt hätte: von anderen Subjekten, von der umgebenden Natur, noch vom eigenen Körper. Und auch das zweite Erfordernis für den Begriff des Bündigen ist bei dem »Subjekt« offensichtlich erfüllt: Sowohl in natürlicher wie in »geistiger« Hinsicht sind wir ein Ozean des Indistinkten, des Dunklen, aus dem sich hier und da Inseln des Dämmerlichts erheben. Und wahrscheinlich gehören beide »Seiten« zusammen, sind sie nun einmal irgendwie »dasselbe«. Das Geheimnis: Die Divergenz der Pfade. Es gibt Orte des Geheimnisses. Orte, die nicht per se geheimnisvoller sind als andere, denn das gibt es wohl kaum. Aber Orte, an denen wir erinnert werden an eine fundamentale Rätselhaftigkeit des Seins. An sein Geheimnis, das von anderer Art ist als die geläufigen Gegensatzpaare der Philosophie (erkennbarunerkennbar, verständlich-unverständlich, immanent-transzendent usw.). Was ist das Geheimnis? Es ist offenbar keines, dessen Verbreitung verboten wäre. Es ist noch nicht einmal besonders verborgen. Jedes Kind kennt es. Wortwörtlich. Das Kind findet überall solche Orte, ist von den kleinsten Dingen vollkommen fasziniert. Ein kleiner roter Käfer läuft über einen metallenen Zaun. Unerschöpflich kann die Faszination dieses Ereignisses sein. Wieder und wieder muss man an den Ort zurückkehren, selbst wenn der Käfer längst seiner Wege gegangen ist. Es gibt da eine Versenkung, eine Versenkung ohne Reflexion und ohne Begriff. Da wird nichts begriffen. Wer begreift, sagt: Es gibt kein Geheimnis. Die Versenkung sagt: Es gibt ein Geheimnis, und das Geheimnis ist nichts anderes als das: dass da ein kleiner roter Käfer auf einem Zaun krabbelt. Das Geheimnis besteht nicht in etwaigen Gründen oder Prinzipien oder der Biologie oder der Evolution oder der Frage, was für eine Art von Bewusstsein der Käfer hat, oder was genau seine Bewegungen auslöst oder verursacht. All das und alles Ähnliche an Fragen kommt zu spät und deutet sowohl das Phänomen als auch das Geheimnis, das in ihm liegt, in eine theoretische Frage um. Der Witz ist, dass das Geheimnis nichts Verborgenes hinter dem Sichtbaren ist. Kein Prinzip, keine Wahrheit. Was ist das Geheimnis? Warum von »Geheimnis« sprechen? In diesem Fall hat das Geheimnis mit der Kleinheit zu tun. Da ist ein Wesen, das durch seine Größe, seine Organisation, seine Ausstattung vollkommen von mir unterschieden ist – und das dennoch in aller Selbstverständlichkeit herumspaziert, offenbar auf der Suche nach irgendetwas. Da ist ein Abgrund, zwischen mir und dem Käfer. Leben

Methodenlehre – Kontemplation – Geheimnis

wir noch in derselben Welt, er und ich? Es ist vielmehr so, dass dieser Abgrund die Selbigkeit der Welt fragwürdig werden lässt. Das Wirkliche, »in dem« wir uns bewegen, lässt sich offenbar nicht mehr im Singular aussagen. Die Selbigkeit oder die Berührung sind von lokaler Art: dieser Zaun etwa. Dessen »Objektivität« besteht paradoxerweise darin, dass er der Ort ist, an dem verschiedene Leben vorkommen, aber solche, die derartig unterschieden sind, derartig divergent in ihren Pfaden, dass für diese beiden der eine Zaun nicht dasselbe sein kann. Und genau darin besteht die Objektivität des Zauns: Grundlage (wenn man so sprechen kann) seiner eigenen Auflösung ins Plurale zu sein. Keineswegs handelt es sich da um ein Problem, das sich mit dem Mitteln des kritischen Denkens einfach beherrschen ließen. Was dort geschieht, lässt sich nicht wirklich »verstehen«, weil das Geschehen das Auseinanderstreben der Pfade selbst ist, das dem Verstehen die Grenze vorschreibt. (Aber nicht eine prinzipielle, apriorische Grenze, sondern eine, die im Auseinanderstreben gezogen wird.) Das Geheimnis: Jeder Ort ist eine Abzweigung in Wirklichkeiten, die miteinander nicht zur Deckung kommen können, die, ausgehend von »demselben« Ort, sich nahezu voneinander entkoppeln können. Das Wirkliche strebt auseinander. Kinder wissen das, in dem ursprünglichen, rein fungierenden Wissen, das ihres ist und das auch unseres wäre, würden wir uns nicht ständig selbst im Weg stehen. Kinder finden überall dieses Geheimnisvolle, dass die Oberfläche des Wirklichen (also nicht irgendwelche Hinterwelten) lauter Wege schafft, die nicht mehr miteinander kommensurabel sind. Die Erwachsenen sind verblendet von Begriffen, Theorien und mehr noch von Gewöhnung und Selbstverständlichkeiten. Als ich ein Kind war, habe ich mehrere Male meine Mutter in ein Bekleidungsgeschäft in der nächsten größeren Stadt begleitet. Es hatte ein Untergeschoss, das durch eine Wendeltreppe zu erreichen war. Schon das war etwas ganz Besonderes, wie ein Abstieg in eine andere Welt, nicht ins Groteske der Unterwelt, aber in die Keller eines etwas in die Jahre gekommenen Luxus. Die eigentliche Attraktion war aber in diesem Untergeschoss ein wenig versteckt, wo es in einer Ecke des weitläufigen Geschäfts – zumindest kam es mir so vor, weitläufig und verwinkelt – eine Art Halb- oder Dreiviertelrund gab, dessen Wände mit Kleidern irgendwelcher Art behängt waren (nicht wie heute in demonstrativ platzverschwenderischer Präsentation, sondern ganz klassisch, eins am andern, auf Stangen), dessen Wände und Böden aber sämtlich mit einem weichen dunkelgrünen Stoff ausgeschlagen waren. Das alles machte bereits einen starken Eindruck. Doch das, was diese ganze Anordnung so gegen alles mir Bekannte verschob, dass sie aus ihrer Alltäglichkeit heraus eine ungreifbare Fremdheit erhielt, war der Springbrunnen, der in der Mitte des Runds stand, sich aus dem Stoffboden erhebend, auf breiter Basis und schlankem Bein eine Schale, aus der ein Wasserstrahl emporstieg und sich leise plätschernd zurückfallen ließ. Diese Szenerie, vor der ich jedes Mal wie gebannt gestanden habe, war für mich ein ebenso voll konkreter wie allgemeiner, unbestimmter Index auf eine Fremdheit, die in das Wirkliche selbst eingeschrieben ist. Hier verkehren Wesen, die anders sind als ich.34 Das war ein Ort des Geheimnisses, weil sich dort konkret, sichtbar Pfade des Seins kreuzten, die radikal voneinander divergieren. 34

Das ist nichts Mysteriöses. Was sich in dieser Erfahrung nicht zuletzt auch (wenn auch nicht ausschließlich) im Modus des Unverständlichen kommuniziert hat, war die Konfrontation mit der Existenz einer anderen sozialen Klasse. Der große Andere, das sind vor allem die andere Klasse

205

206

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Oder ich bin mit Spielzeugautos an einen Hang nahe unserem Haus gegangen, eine steile baumbestandenen Erhebung, an der ein Zickzack-Weg nach oben führte. Dort habe ich die Autos hinunterfahren lassen, immer auf direktem Weg, so dass sie, im besten Fall, so weit über die unebene Erde, die Wurzeln, die kleinen Pflanzen holperten, bis sie wieder auf dem Weg herauskamen, wo sie ausliefen. Was genau war der Reiz dieses Spiels? Es ist wie eine ontologische Sympathie, die das Kind ganz mühelos aktiviert. Diese Sympathie lässt das kleine Auto und den Waldboden wie ein echtes Auto und eine Crosscountry-Strecke erscheinen. »Wie«: Denn es ist ja keineswegs so, dass ich nicht gewusst hätte, dass das nicht ein echtes Auto ist. Das Entscheidende war immer, dass es eben nicht dasselbe ist, aber fast. Nicht um Ähnlichkeit, nicht um Nachahmung ging es da, oder nur sehr entfernt. Vielmehr darum, mithilfe des Miniaturautos den Erdboden zu einer Strecke zu machen, auf dem auch wir uns bewegen könnten, wie sonst nur ein kleines Tier es kann; darum, in das Kleine einen Pfad einzuschreiben, der unserer Größe entspräche – und zugleich die echten Autos im Rückstoß zu Territorien von Pfaden zu machen, die von Käfern oder Fliegen bewohnt werden könnten. Aber das Wichtigste ist eben, dass diese Verschränkung nicht zur Deckungsgleichheit führt, dass die Diskrepanz der Größenordnungen sich in ihrer Annäherung aneinander nur verstärkt, so, wie die beiden gleichnamigen Magnetpole einander umso unnachgiebiger abstoßen, je näher man sie einander bringt. Genau die Überblendung der Größenordnungen, die aber keine kontemplative, spekulative, sondern praktische, nämlich gespielte ist, lässt die ontologische Divergenz der Pfade nur umso mehr hervortreten. Es handelt sich um nichts anderes als um eine Reinszenierung der Faszination für den kleinen Käfer, der auf dem Zaun seine Wege geht. Der gesamte Reiz des Spiels liegt in der ontologischen Kluft, die es aufreißt und in die es sich fallen lassen kann – wie in einen Abgrund totaler Freiheit. Zwischen den Größenordnungen ist realiter nichts. Genau deshalb kann sich die Imagination da hineinwerfen, als in die Leere, die die Abwesenheit aller Bedingungen wäre. Das Scheitern des Spiels ist gerade sein Erfolg. Das Kind kann gar nicht genug davon kriegen, weil die Divergenz unerschöpflich und unergründlich ist. Sie kann nicht alt werden. Sie ist Operator einer ontologischen Jugend, und es ist nur billig, dass es die Jungen sind, die ihre Resonanz besonders ungeschwächt spüren. Groß und Klein sind dabei nur besondere Erscheinungsformen dieser Pfaddivergenz, aber sicher solche, die nicht zufällig für uns so früh wichtig werden. In den Größenordnungen lassen sich die Divergenzen der Pfade besonders fühlbar machen, allein schon weil wir sehen können, wie Katzen, wie Mäuse, wie Ameisen usw. auch ganz wortwörtlich Wege zu gehen vermögen, die uns verschlossen sind. Die Divergenzen werden augenfällig und sie werden zugleich als das erkennbar, was sie auch immer sind: als Freiheiten, die nicht jedem gleichermaßen möglich sind. Wenn das Wirkliche das Geflecht der Pfade ist, in denen es sich als »dasselbe« und als radikal divergent zugleich aktualisiert, dann ist in ganz konkretem Sinn das Antlitz des Wirklichen unmittelbar abhängig von den Pfaden die möglich sind. (Und möglich ist, was gegangen wird.) Ich kann nicht den Hang hinabpoltern, in einem Miniaturauto sitzend. Es läge darin aber eine vollkommen legitime Aktualisierung dieses kleinen und ihre Mitglieder: Diese Erdung, die Deleuze und Guattari an Lacans Theorie vornehmen (vgl. Anti-Œdipe. 425), erlaubt eine konkrete, materialistische Deutung der Psychoanalyse.

Methodenlehre – Kontemplation – Geheimnis

Stückleins Erde. Was mir diese Faszination für die Pfade und ihre Divergenzen und das gleichzeitige Bewusstsein der Selbigkeit ihres Territoriums also anzeigt, ist nicht zuletzt die radikal empirische Natur des Seins selbst. Denn das Geheimnis zeigt mir, gemäß seiner Doppelrichtung, zugleich die prinzipielle Offenheit der Orte und Territorien an (denn wir alle haben Teil an »derselben« Welt) und die faktische, aber unüberwindliche Begrenzung dieser Offenheit durch die empirischen, die körperlichen Bedingungen: Nicht jedes Wesen kann jeden Pfad einschlagen. Damit ist aber das Antlitz des Wirklichen ein für allemal abhängig von den realen Pfaden, die es formen. Die »Selbigkeit« des Wirklichen impliziert unmittelbar eine Divergenz, Inkommensurabilität, Uneindeutigkeit, und das, ohne dass man irgendwelche zusätzlichen »Prinzipien« oder gar irgendeinen Bruch mit einer ursprünglichen Einheit einführen müsste. Es ist die beobachtbare Struktur des materiellen Wirklichen selbst, die diese Verschränkung in sich trägt: einem nur theoretischen Denken unerreichbar, der Philosophie ihre Widersprüche aufgebend, und doch ein Kinderspiel.35 Es ist nicht richtig, dass es verschiedene Welten gibt; eine solche Redeweise führt in lauter Widersprüche. Der wahre Sachverhalt ist dieser: Es gibt verschiedene Pfade des Seins. Und die Pfade des Seins divergieren unaufhaltsam. Sie mögen eine lange Zeit parallel zueinander verlaufen, sie müssen aber abbiegen, sie können sich kreuzen, sie können sich aber nicht gegenseitig durchdringen. Das ist das Eigenartigste in der Selbstorganisation der Materie, die wir Natur nennen: In ihr erhebt sich aus einem Elementaren, das nur in unscharfer Abgrenzung ist und das in sich in Durchdringung der Teile existiert, ein Pfad des Seins, der selbst diese Eigenschaften teilt, der aber gegen die anderen Pfade nicht

35

Der Zusammenprall verschiedener Größenordnungen scheint besonders wirkungsvoll zu sein, um die Faszination des Geheimnisses zu aktivieren. Und wahrscheinlich erklärt sich hieraus zu einem guten Teil auch die Attraktivität von Modellbau und Miniaturwelten für erwachsene Männer – denn Männer sind es zumeist, die ihr erliegen. Man kann sich freilich des Eindrucks nicht erwehren, dass gerade in der planvollen, geduldigen, kontrollierten Arbeit an solchen Welten des Kleinen eine Kompromittierung des eigentlich Geheimnisvollen besteht, so dass dieses zum Vorwand für folgenlosen Eskapismus wird. Dasselbe gilt nicht, so scheint es, für eine andere Spielart dieser Reibung der Größenordnungen: Es sind dies die Reisen, die man mit dem Finger machen kann. Es liegt eine eigenartige Zauberkraft in Karten, am allermeisten in Karten von fiktiven Orten und Ländern. Hier kommt zweierlei zusammen: das Knirschen der Größenordnungen und das Chiaroscuro von Real und Fiktiv. Und es kommt beides zusammen im Lichte des Geheimnisses, das den letzteren Gegensatz an seine Grenze führt, an der er zusammenzustürzen droht – aber nur droht. Zweierlei Spiel: Das Spiel des Kindes ist von innerem Ernst, insofern in ihm die Grenze zum NichtSpiel ausgehandelt, »erlernt« wird. Das Kind spielt ganz einfach das Wirkliche. Dagegen hat das Spiel der Erwachsenen seinen Ernst außer sich, im »echten Leben«, also dem, was jenseits des Spieles steht: von dort kommen die Motivation oder der Ehrgeiz, die sich im Spiel zeigen, dort auch wirken die echten oder unterstellten Zwecke und Situationen, aus denen sich das Spiel ergibt: Erholung, Gegengewicht zur Arbeit, Eskapismus, Übung, Unterhaltung, Geselligkeit… Nur dank der Abgeschlossenheit zum »echten Leben« und dessen Ernst – eine Abgeschlossenheit, die fast nie fragwürdig wird – kann das Spiel der Erwachsenen seine Leichtigkeit entwickeln. Zu viel Ehrgeiz etwa wird zurecht als unangemessenes Hinüberreichen des »echten Lebens« in das Spiel gesehen und verurteilt. Erwachsenwerden bedeutet: das langsame Ausscheiden des Ernstes aus dem Spiel nach außen, die Scheidung von Spiel und Ernst, wonach sich das Spielerische als die Insel von Leichtigkeit im Eismeer des Ernstes erhebt.

207

208

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

durchdringlich ist, der ihnen wohl in Interaktion verpflichtet ist; gleichwohl aber sind alle Pfade einander immer nur äußerlich. Das Geheimnis ist die schiere, unbegreifliche Tatsache der Vielfalt, der Reibung und der Divergenz der Pfade. Was das Kind also im Käfer oder im Spielzeugauto, was einige Erwachsene in den Miniaturwelten bewundern ist dies: Dass das Wirkliche sich für andere Wesen ganz anders darstellt, weil ein jedes Wesen seinen Pfad hat – und dass es in dieser Andersheit, in der Divergenz der Pfade, die durch keine Ordnung, Harmonie, Transzendenz aufeinander ein- und abgestimmt sind, die sich zu keiner Totalität, Ganzheit verbinden, sondern radikal Divergenz bleiben: dass es in dieser Divergenz geschieht, dass »ein und dieselbe« Wirklichkeit ihre Aktualität erhält, also erst wirklich wird. Und dieses »ein und dieselbe« ist das wahre Geheimnis, dem Worte nicht näher kommen können, das also unberührt bleibt und das sich, wenn einer meint, es nur rasch und feste packen zu müssen, verflüchtigt – zum Begriff. Und in Wahrheit bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich nicht schon zu gewaltsam war, ob ich, meinend, das Geheimnis zu umwerben, nicht schon sein Vergewaltiger wurde. In einem früheren Buch habe ich mich dieser Divergenz angenähert in der Beschreibung des eigentümlichen Schauers, der einen ergreifen kann, wenn man, etwa des Abends durch die Straßen gehend, einen Blick in fremde Wohnungen erhascht: Da wird gelebt, so wie ich lebe, in aller Alltäglichkeit – und doch ganz anders.36 Es ist dasselbe Geheimnis, das dort wie im Kinderspiel wirkt. Doch kann man nicht bestreiten, dass die Kinder in ihrem Spiel mehr davon verstehen als der Philosoph: Dieser folgt seinem naturgegeben Laster: Er ist Voyeur. So war denn die dortige Theorie auch noch zu großen Teilen dem Paradigma der Kontemplation verpflichtet. Aber die Faszination des Kindes will das Geheimnis verfolgen, mitmachen, es spielen – und anders wird man es nicht berühren können. Im Übrigen sind es nicht nur die Größenunterschiede, vor allem das Kleine, in dem sich die Begegnung mit den Pfaden vollzieht. Noch genauer: Im Spiel mit dem Kleinen erfahre ich die Divergenz der Pfade als solche. Im Angesicht des Großen bin ich niedergedrückt vom Erhabenen des Elementaren. Damit aber ist das Kleine nicht zwangsläufig der Ort des Lächerlichen. Das wird es nur, wenn es aus dem Ernst der ontologischen Verbindung gelöst wird, wenn der Schauer, der mich angesichts der Divergenz der Pfade erfüllt, zum Reiz degradiert wird, als eine manipulierbare Lust. Eine, auf die man zählen kann, die man »in seiner Freizeit« gezielt erzeugt. Behalten wir dieses Wort bei: ein Schauer ist das nämlich, um den es hier geht. Er ist durchaus lustvoll. Aber er ist nicht die reine Lust an etwas Angenehmen, so wie ein sinnlicher Genuss. Er ist Lust, die paradoxerweise ersteht aus der Erfahrung einer Begegnung mit einem absolut Unbekannten, mit dem »Prinzip« einer absoluten Unbekanntheit – die dennoch »ein und dieselbe« Welt wie ich bewohnt. Es ist also nicht einfach nur eine Lust an einer Abwesenheit, einem Entzug und wie die Floskeln alle heißen, die eine verzagte Philosophie sich hat angelegen sein lassen, um bloß nicht in die Gefahr zu kommen, den Kontakt zum Realen denken, geschweige denn etwas über ihn sagen zu müssen. Nein, es ist eine Lust an einer Fülle, die so überwältigend ist, so unabschätzbar, sich uns nur in kurzen Momenten im Augenwinkel zu erkennen gibt, dass sie zugleich Ehrfurcht und Melancholie hervorruft: So viele Pfade, 36

Vgl.: Elemente einer Metaphysik der Immanenz. 99f.

Methodenlehre – Kontemplation – Geheimnis

die wir nicht werden gehen können, so viele Wege (= das, was Pfade in der Welt erkunden, gewissermaßen die »objektive« Seite des Pfades), die wir nie kennenlernen werden. Die Welt ist ohne Zweifel ein Ort absoluter Verschwendung: Mag sein, dass weder Masse noch Energie verloren geht. Aber vom Wirklichen, vom realen Gehalt der Pfade – den wir in seiner domestizierten Gestalt als Erinnerung kennen – bleibt nichts erhalten. Die Welt: ein Gestöber von Versprechen, von denen jedes einzelne mich fast überfordern würde – weil es mich ganz will und mir so viel verspricht, die ganze Welt nämlich, dass es mir Angst machen muss; wie muss ich mich erst fühlen angesichts der unendlichen Vielzahl dieser Versprechen, von denen ich zudem die allermeisten absolut nicht gehen kann und die mir trotzdem, wie zum Hohn, alle präsentiert werden? Nicht nur das Kleine ist privilegierter Ort dieser Begegnung mit der Divergenz der Pfade. Auch Löcher aller Art sind das. Auch das kann man an Kindern bemerken, oder man kann sich gleich anstecken lassen: Die sitzen um Gullideckel und lassen unermüdlich kleine Holzstöckchen, Blätter, Steinchen in die runden Löcher fallen. Und keine Frage, diese Hölzchen, Blätter und Steine sind Statthalter für sie, ihre Sonden, ihre Stellvertreter, die, die jene Kanäle für sie erkunden. Die Philosophen hatten immer eine besonders ungesunde Faszination für Löcher und Leere und Nichts und Abgrund. Ihr Irrtum lässt sich jetzt klar fassen, so wie auch das relative Recht dieser Faszination. Denn die Lust an Löchern, Kanälen, Röhren, Höhlen, Gängen ist real und ontologisch gegründet. Der Fehler beginnt dann, wenn man annimmt, das Loch würde auf nichts führen, der Abgrund wäre der Anfang des Nichts, wenn man also den lächerlichsten kategorialen Fehler macht und meint, einen Begriff, der den Teil eines realen Gefüges bezeichnet (und nur so Sinn macht), absolut setzen zu können. Wieder wird in dieser klassischen Liebe zum Nichts das wirkliche Verhältnis auf den Kopf gestellt: Was eine Faszination für die unaussprechliche Überfülle des Seins dank der zahllos vielen auseinanderstrebenden Pfade ist, wird umgedeutet in eine Ergebenheit ins Nichts. Pfade haben einen absoluten Anfang, aber einen, den niemand erleben kann; sein »Zeitpunkt« ist nicht präzise bestimmbar und zu ihm ist noch niemand da, der ihn erleben könnte; dieser jemand entsteht aus dem Pfad selbst, insofern er zurückgelegt wird – wobei sich der Pfad von seiner Zurücklegung natürlich nicht unterscheidet. Das Geheimnis: dass es dasselbe Wirkliche nur gibt für Pfade, die unaufhaltsam divergieren und einander rein äußerlich sind. Und diese Divergenz ist ein konkretes körperliches Geschehen, es sind Körper, die werden, indem sie Pfade nehmen. Das ist der Punkt, wo sich diese Konzeption endgültig von allen hermeneutischen und transzendentalphilosophischen Annahmen und Begrifflichkeiten löst. Denn sie hat nichts mit »Konstitution«, »Zugang«, »Perspektive«, »Wahrnehmung«, »Erscheinung« zu tun. Noch die Redeweise, dass alles Seiende seine eigene Zeit habe, die ich verwendet habe, ist zu idealistisch, bleibt man bei ihr stehen. Erst diese Einsicht in das Geheimnis, d.h. in seine »Struktur« (denn in es selbst als solches kann es keine Einsicht geben), löst die Spannung zwischen einem naiven Realismus einer eindeutigen und wohlbestimmten Welt einerseits und dem Idealismus der Sichtweisen und Perspektiven endlich auf. Das Geheimnis spricht nichts aus als das Allereinfachste: dass wir eben nicht in verschiedenen Welten leben, sondern in einer, dass diese eine Welt aber nur ist, in und aus der Inkommensurabilität der Pfade: leibliche Pfade, für die wieder dasselbe gilt, dass ihre Selbigkeit gemacht ist aus einer Inkongruenz,

209

210

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

aus einem Nicht-zur-Deckung-Bringen, einer ontologischen Divergenz, so dass keine Arithmetik der Welt in der Lage ist, die Selbigkeit, die »Einheit« des Wirklichen zu nennen. Es ist derselbe Körper, derselbe Zaun, derselbe Raum, und Körper, Raum, Zaun sind von sich aus – und in ihre Existenz wie in ihre Essenz ist einschrieben, als Tiefentextur, dass an ihnen Pfade sich verfehlen, sich kreuzen, sich ähneln, sich voneinander entfernen, so aber, dass dieses nicht weiter formalisierbare (weil nicht von außen betrachtbare) Spiel der Pfade Essenz und Existenz von Körper, Zaun, Raum mitbestimmt; sie sind nur in dieser Divergenz – und sie selbst sind solche Pfade, für die wieder dasselbe gilt –, so dass am Ende alle Pfade Gegenstand wie Akteur der ontologischen Divergenz sind.37 Die konzise Formel für die Bewegung des Seins: die Riefung des Elementaren durch die Pfade der Wesen. Wer denkt empirisch? Der Begriff des absoluten Empirismus ist Rosenzweig entliehen. Oben wurde Benjamins Begriff des Ursprungs angeführt. Levinas ist eine beständige Bezugsgröße in diesen Darstellungen.38 Und Bubers Ich und Du ließe sich gar als ein erstes Manifest eines solchen Empirismus lesen.39 Ganz zufällig ist das nicht, dass einige der zentralen Quellen dieses Gedankens jüdische Denker des 20.Jhs. sind, solche, die sich nach den Weltkriegen auf die eine oder andre Weise mit diesem jüdischen Erbe auseinandersetzten und es so, behutsam, für die Philosophie fruchtbar werden ließen. (Behutsam, denn mit der Ausnahme von Rosenzweig hat jeder der genannten Autoren eine klare Trennung zwischen dem philosophischen Schreiben und dem religiösen beachtet. Sicher liegt dem auch eine Sorge um die Strenge, die »Objektivität« der Wissenschaft Philosophie zugrunde. Ebenso sehr aber, 37 38 39

Simondon: L’individu et sa genèse physico-biologique. 234: »[…] le chemin est à la fois monde et sujet […].« Zu einer konsequent empiristischen Auslegung von Levinas vgl. vom Verfasser: Ein empirischer Ursprung der Rationalität. Dort bestimmt immer der konkrete Vollzug jede »höhere« Gestalt, ohne dass eine rein allgemeine oder formale Fassung möglich wird. So gilt schon von den »Grundworten«: »gesprochen stiften sie einen Bestand« (3). Alle geistige Realität erhebt sich aus der körperlichen: Das Geistige ist nicht identisch mit dem Körperlichen, aber von diesem abhängig; dennoch bringt seine Stiftung etwas radikal Neues ins Sein, das noch in keiner Weise vorgesehen war (25). Auch das Allgemeine der Wissenschaft kann seinen zufälligen Ursprung nirgends abschütteln (38f.). Das Ethische ist das reine Wirken eines Vorbildhaften, das keinen »Sinn«, keine Regel und keine Erklärung beinhaltet, sondern nur diesen »Inhalt« hat: »wie im Geist, im Angesicht des Du, gelebt wird« (40). Der Sinn meines Lebens schließlich ist ganz strenge nur, insofern ich (der Einzige, der das vermag) ihn bewähre: »er kann getan werden« (106). Und das Ganze spannt sich auf zwischen den beiden scheinbar unvereinbaren Bekenntnissen: dem Bekenntnis zu dieser einen Welt (»Wir aber wollen das heilige Gut unserer Wirklichkeit, das uns für dieses Leben, und vielleicht für kein anderes, wirklichkeitsnäheres, geschenkt ist, heilig pflegen.« 85) und dem Bekenntnis zu einem Gott, der irreduzibel plural gedacht werden muss und »über« den man im Übrigen nicht sprechen kann, sondern zu dem man sprechen muss (7, 71). Die Offenbarung ist nichts, was abgeschlossen wäre, sondern sie ist eine Fortgestaltung der Welt und genau dadurch angewiesen auf den Menschen in seiner Besonderheit, mit all seinen Einseitigkeiten, Irrtümern, Idiosynkrasien usw.: »schauend bilden wir ewig Gottes Gestalt« (113). Und so gilt: »In der gelebten Wirklichkeit gibt es keine Einheit des Seins.« (85) Trivialität und Mysterium sind für dieses Denken ein und dasselbe (106). Gott ist das »Geheimnis des Selbstverständlichen« (75).

Methodenlehre – Kontemplation – Geheimnis

oder mehr, wird man die Scheu vor einer möglichen Profanisierung des Religiösen darin sehen müssen.)40 Es gibt historische Situationen, die eine Sensibilität für den absoluten Empirismus begünstigen. Diese Autoren sehen sich einer tiefen Krise gegenüber, die gegenüber der Desillusionierung aller Fortschritts- und Vernunftträume im Gefolge des Ersten Weltkriegs potenziert ist. Im 19. Jh. hatte sich das Judentum in Deutschland, zumindest in seinen gebildeten und privilegierten Schichten, begünstigt durch politische Emanzipation und durch die Verbindung zu »aufgeklärten« Ideen säkularisierter politischer Gemeinschaft, bemüßigt gesehen, sich in einem vorgeblich rationalen Sinn immer weiter zu »bereinigen« – wofür vielleicht Cohens Buch Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums beispielhaft stehen kann. Nun war dieser Optimismus der Vernunft in den Schützengräben als Blut einer Generation versickert. Und wenn die Idee, dass sich in der Vernunft alle Wahrheitssuche wie in ihrer ursprünglichen Heimat versöhnlich zusammenfinden werde, diskreditiert ist, wenn also auf eine umfassende Harmonie im Sinn der Wahrheit nicht zu hoffen ist – dann folgt daraus, dass das Judentum nur dann etwas von irgendeinem Wert sein kann, wenn es einen irreduziblen Zugang zum Wahren oder zur göttlichen Wirklichkeit (und damit zur irdischen) eröffnet, der von keinem anderen Zugang (Christentum, Islam; Philosophie, Wissenschaft, Kunst) eröffnet werden kann. Dieser Gedanke, der einer Pluralität der Zugänge zur Wahrheit, ist bereits nicht selbstverständlich. Er lässt sich aber noch mit dem philosophischen Gedanken der Einen Wahrheit zusammenführen, wie im grandiosen Entwurf Leibnizens. Die jüdische Situation ist aber besonders, denn es ist die Situation einer marginalisierten Besonderheit. Jede christliche Perspektive, innerhalb einer christlichen Gesellschaft, Kultur und Geschichte, weiß sich bruchlos als beheimatet, als mit gewissen Rechten ausgestattet (selbst wenn und gerade dann wenn die bestritten werden), m.a.W.: Sie weiß sich als bruchlos. Aber die jüdische Position ist, mit einem Ausdruck der neueren Theorie, markiert: So wie das männliche Geschlecht in seiner Hegemonie sofort als Geschlecht verschwindet und den Blick aufs Wahre freigibt, während das weibliche Geschlecht immer an seine geschlechtlichen Bedingungen gebunden bleibt, also immer Geschlecht bleibt, immer nur auf halbem Weg zur Verallgemeinerung stehenbleibt, konstitutiv einen Rest von Besonderheit bewahrend, der nicht mehr verdaut werden kann – so verschwindet auch das Christentum als religiöser Hintergrund, einfach weil es der »normale« Hintergrund ist, über den man nicht sprechen braucht. Man spricht höchstens ausnahmsweise von dem »christlichen Philosophen Leibniz«, regelmäßig aber von dem »jüdischen Philosophen Buber«. Diese Situation hat eine philosophische Konsequenz. Denn die jüdischen Denker müssen, ist der Kredit der einen Vernunft einmal aufgebraucht, über die bloße Perspektivität und Pluralität der Zugänge zur

40

In den Konstellationen habe ich Benjamin konsequent als säkularen Denker gelesen. Dass das eine interpretative Entscheidung war, habe ich dabei nicht verhehlt. Wenn Gershom Scholem seinem Freund immer wieder klarzumachen suchte, dass er sich täusche, wenn er sich für einen politischen Philosophen hielte, und dass er stattdessen sein Erbe jüdischer Mystik ernstnehmen solle, dann spricht diese Mahnung die andere Seite Benjamins aus. Dass zwischen beiden am Ende keine Entscheidung möglich ist, dass nicht einmal die Maße ihrer gegenseitigen Rechte bestimmt werden können, das macht wahrscheinlich Benjamins geistige Physiognomie aus.

211

212

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Einen Wahrheit hinausgehen, wenn dem Judentum eine Würde zugeschrieben werden soll, die streng unersetzlich ist. Sie müssen, die Situation zwingt sie dazu, die Irreduzibilität des jüdischen Zugangs mit der Behauptung verknüpfen, dass diese »Zugänge« nicht in einem Meta-Zugang, nicht in einem übergeordneten Zusammenhang, nicht in einer höheren Wahrheit, die alle einzelnen umfasst, vereint und versöhnt werden. Der irreduzible Zugang ist nicht Zugang zur Einen Wahrheit, sondern Wahrheit gibt es nur in einer Pluralität von Zugängen, die weder aufeinander reduzibel sind noch in irgendeiner Einheit zusammenfinden. Und das darf man nicht »epistemologisch« interpretieren – dann sind es wieder unsere begrenzten Erkenntniskräfte, die uns die Einsicht in die Eine Wahrheit versagen –, sondern ontologisch: Wahrheit ist nur als gebrochene, zersplitterte, zufällige, aber eben auch produktive. Nur unter dieser Voraussetzung ist dafür gesorgt, dass tatsächlich jeder einzelne Zugang zur Wahrheit unersetzlich und absolut wertvoll ist. (Man verzeihe den denkbar schlechten Ausdruck »Zugang zur Wahrheit«.) Diese jüdischen Denker müssen so denken, weil ihr partikularer Weg, der jüdische eben, vom »Mainstream«, von der hegemonialen Tradition und Denkweise konstitutiv ausgeschlossen bleibt. Da aber auch hier keine höhere Vernunft oder gar ihre List herrscht, ist zugleich klar, dass dieses Denken nicht auf diese eine historische Situation angewiesen ist. Die Spuren eines absoluten Empirismus lassen sich bei verschiedensten Denkern auffinden, hat man erst einmal gelernt, sie zu erkennen. Offensichtlich ist, dass dieser Empirismus die extreme Gegenposition zur Hegelschen Philosophie ist (und ihre konsequenteste wie auch rätselhafteste Durchführung ist vielleicht der Stern der Erlösung): Hegel nennt z.B., wenn er von der Französischen Revolution spricht, diese nicht. Das deshalb, weil es nicht so wichtig ist, dass diese Revolution in Frankreich ausbrach, oder im Jahr 1789, oder dass ein gewisser Robbespierre darin eine gewichtige Rolle spielte etc. Wichtig ist für Hegel nur, dass ein Ereignis eintrat, das exakt diesen Wesenssinn hatte. Wäre es nicht 1789 in Frankreich gewesen, dann wäre es irgendwann anders irgendwo anders mit irgendwelchen anderen Protagonisten geschehen. Das Vertrauen ins Wesentliche löscht die Relevanz der Umstände und Singularitäten aus. Was zählt, ist die Funktion, die Rolle, der Schritt, der gemacht werden muss. Irrelevant ist, von wem genau, wann, wie im Einzelnen. Alles und jeder ist hier ersetzbar, solange nur der Ablauf des Wesentlichen – der dann Geschichte heißt – gesichert ist. (Natürlich ist es für Hegel nie eine Frage, ob der gesichert ist: Die Gewissheit dieses Ablaufs ist ja das Erste für Hegel.) Der absolute Empirismus hingegen ist das gerade Gegenteil hiervon, denn in ihm ist alles relevant, oder alles kann relevant werden. Das Wesentliche ist das Hervorgebrachte, so dass der Geschichte ihre fundamentale Kontingenz rückerstattet ist. Es ist eben nicht egal, wer wann was wie macht. Manchmal erwächst aus einem hingeworfenen Wort oder nur aus einem falsch verstandenen eine ganze Kultur – dieses Sandkorn wahrend und mit immer neuen Schichten aus Perlmutt umgebend, bis man es darunter nicht mehr zu erkennen meint.

Zweiter Teil

Das Wirkliche I

Realismus. Die Philosophie der Natur kann nichts anderes sein als eine Metaphysik des Wirklichen. Das Wirkliche ist ihr erstes und letztes. Sie ist getragen von einem tiefen Vertrauen in das, was sich zeigt. Ist sie deshalb ein Realismus? Sie kann es nicht sein, und das aus einem einfachen Grund: Den Realismus gibt es nicht, zumindest nicht als eine philosophische Theorie. Wenn man sich den großen Kämpfen zuwendet, deren Aufflammen und Einschlagen die Philosophiegeschichte skandieren, so muss man sofort konstatieren, dass »Realismus« für sich genommen keine valable philosophische Kategorie ist. Es gibt einfach deswegen keinen Realismus in der Philosophie, weil ihm jeder Gegenbegriff fehlt. Wenn es darum geht, das zu erkennen, was real ist, so wird jede Philosophie Realismus in diesem Sinn sein. Die Frage ist aber doch vielmehr, was genau das Reale nun ist. Darauf kann die Antwort ja nicht noch einmal »das Reale« lauten, sondern wird vielleicht solche Töne annehmen: der Geist, Gott, die Ideen, die Materie, der Überlebenstrieb, die Liebe usw. usf. Daher gibt es in der Philosophie sehr wohl einen Vitalismus, einen Idealismus, einen Materialismus, eine rationale Theologie, eine Kosmologie etc., nicht aber einen Realismus. Wo dieser Begriff Anwendung findet, da bezieht er sich stets auf vorher vereinbarte Kategorien, deren eine er also als (exklusiv) real behauptet – und die Leere des Begriffs wird gut dadurch illustriert, dass er im Laufe der Geschichte geradezu Entgegengesetztes meinen konnte, nämlich ebenso die »idealistische« Behauptung der Wirklichkeit logischer Kategorien (im späten Mittelalter) wie, in der heute vorherrschenden Bedeutung, die Wirklichkeit und Geistunabhängigkeit der materiellen Natur. Diese simple Beobachtung sollte zugleich gegenüber denjenigen skeptisch stimmen, die meinen, eine Wiederbelebung des »Realismus« sei an der Zeit.1 Nehmen wir »Realismus« für einen Augenblick in der Bedeutung, die heute vorherrscht: Dann meint das Wort eine philosophische Doktrin, die davon ausgeht, dass die Wirklichkeit der Körper, der Dinge, der Ereignisse unabhängig davon besteht, ob jemand sie wahrnimmt oder denkt. In dieser scheinbaren Schlichtheit stecken einige

1

Es ist vielleicht kein Zufall, wenn Clément Rosset, der Autor, der scharf- und tiefsinniger als die meisten anderen im 20.Jh. dem Realen zu seinem Recht verhelfen wollte, deswegen nicht in der Versuchung war, seine Arbeit als Realismus zu etikettieren.

216

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

hoch fragwürdige Voraussetzungen, die in vielen Fällen auch jene Positionen kritiklos hinnahmen, die sich hiervon abzugrenzen suchten, indem sie gegen diesen »Realismus« (der in Wahrheit bald ein Materialismus, bald ein Physikalismus, Objektivismus, Determinismus oder was sonst nicht ist) ankämpften: Kein Wunder also, wenn man aus dem Kreislauf der gegenseitigen Anwürfe und Entlarvungen nicht herauskam. Erstens behandeln fast alle klassischen metaphysischen Doktrinen die Welt oder Wirklichkeit als eine Totalität, auf die man wie von außen blicken könnte. Das können wir aber nicht, weil wir nun mal drin sind. Der Blick von außen ist und bleibt der feuchte Traum der Philosophen. Man muss das Ganze jedoch noch radikaler denken: Nicht nur können wir die Wirklichkeit nicht in ihrer Totalität erfassen – die Wirklichkeit ist gar keine Totalität, und sobald wir versuchen, sie als eine solche zu denken, sind wir schon in die Irre gegangen und haben uns den Zugang zu ihr verstellt. Husserl hat das auf den Punkt gebracht, als er noch Gott ein Erkennen ohne Abschattung, Dauer, Horizonte abgesprochen hat: Es zeigt sich also, dass so etwas wie Raumdingliches nicht bloß für uns Menschen, sondern auch für Gott – als den idealen Repräsentanten der absoluten Erkenntnis – nur anschaubar ist durch Erscheinungen, in denen es »perspektivisch« in mannigfaltigen aber bestimmten Weisen wechselnd und dabei in wechselnden »Orientierungen« gegeben ist und gegeben sein muss.2 Die zweite Voraussetzung, an der die Debatte zwischen »Realisten« und ihren Gegnern krankt, ist der Begriff der »wirklichen Welt«, der dabei in Anschlag gebracht wird. Eigenartigerweise waren sich die »Realisten« und die »Idealisten« hierin oft einig, so sehr, dass die Gründungsfigur dieser Debatte in der Neuzeit, Descartes, widerspruchslos beide Seiten gleichzeitig bedienen konnte. Denn das Paradigma der »wirklichen Welt« jenseits der Subjekte wird in träger Materie gesucht, in einer von allen Eigenschaften gereinigten Stofflichkeit; bevorzugte Beispiele sind dann Steine und Tische usf. Dass in all diesen Debatten ein Begriff von Körper oder Materie zum Tragen kommt, der nichts mit wirklichen Körpern zu tun hat, wurde ebenfalls schon dargetan. Drittens ist der Begriff des Geistes (oder was man als Gegenbegriff zum nackten Körper haben wollte) keineswegs klarer als der der Materie. Um genau zu sein, ging es am Ende immer nur darum, zwei sauber voneinander getrennte Bereiche zu erhalten. Selbst in der phänomenologischen Tradition, die es sich von Anfang an zur Aufgabe gemacht hat, das Bewusstseinsleben unvoreingenommen zu beschreiben, traten bald an die Stelle einer bloßen Beschreibung solche theoretischen Ungetüme wie transzendentale Subjekte mit allem, was sie an Ballast mit sich herumtragen. Sicher war man sich spätestens seit Husserl, dass diese Subjekte zwar gut und gerne Körperliches zum Bewusstseinsgegenstand haben können, ja sogar, dass sie ihr eigenes Körperliches haben, das, insofern als es ihres ist, dann Leibliches heißt; dass sie selbst aber nicht körperlich sein können. Ein transzendentales Subjekt hat nun mal keinen Körper, und wenn doch, dann bleibt es fraglich, wie es genau zu ihm steht.

2

Husserl: Ideen I. 351.

Das Wirkliche I

Das alles führt schließlich darauf, dass wohl die gesamte Fragestellung etwas Erzwungenes an sich hat. Man fragt, Gretchen gleich, ob denn nun die »Außenwelt«, das Wirkliche, von dem Subjekt abhinge oder nicht, ob die Wirklichkeit auch wirklich bleibt, wenn es keine Subjekte mehr gibt, sie wahrzunehmen und zu denken. Dabei ist die Sachlage doch denkbar einfach: Der Tisch vor mir und der Planet Erde, ich habe sie nicht erfunden, nicht geschaffen, nicht entworfen, sie brauchen mich nicht. Aber sie haben mich nun einmal. Und dieser Umstand kann weder an ihnen noch an mir spurlos vorübergehen. Zu meinen, die Subjekte seien irgendwie aus der Summe des wahren Seins abzuziehen, perpetuiert nur die selbst idealistische Vorstellung, dass es mit den Subjekten eine ganz besondere Bewandtnis habe, dass sie ganz anders seien als die übrigen Seienden. Man spricht so, als müsse man sich entscheiden, was denn nun von beidem das Wirkliche sei; man spricht vor allem so, als seien die Subjekte nichts Wirkliches, als gäbe es sie entweder nicht oder zumindest nicht in derselben Welt oder derselben Weise wie Steine, Bücher, Planeten, Melodien. Aber die Realität, um die es dem Realismus angeblich geht, kennt eben auch Menschen, Erkennende. Es besteht kein Zweifel, dass eine Wirklichkeit ohne Subjekte nicht dieselbe wäre wie eine mit. Und wenn man Wirklichkeit nicht als eine Summe von Einzelseienden (und nicht als Totalität) auffasst, sondern in der ununterbrochenen Interaktion der Seienden miteinander, dann ist diese »Veränderung« auch nicht eine der puren Subtraktion, sondern eine des Gewebes des Seins selbst. Mit dem Realismus ist es daher nicht nur begrifflich nicht weit her; er hat in Wahrheit auch inhaltlich nicht viel zu bieten. Er wähnt sich der eigentlichen philosophischen Frage, was das Wirkliche denn ist, überhoben. Wovon die modischen Realismen beredtes Zeugnis ablegen. Phänomenologie. Es wurde nicht zufällig eben Husserl erwähnt. Kaum eine philosophische Tradition hat so konsequent ernstgemacht mit der Forderung, das Wirkliche, so wie es sich uns darbietet, voll zu würdigen. Es erwächst daraus ihre beeindruckende Fähigkeit, für die ganze Fülle des Wirklichen offen zu bleiben – so dass es für sie keinen Gegenstand, kein Phänomen gibt, das nicht der philosophischen Betrachtung wert wäre –, so wie sie auch einer Metaphysik des Wirklichen wichtige Winke gegeben hat. Dabei bleibt ihre Position aber ambivalent. Die Zurückhaltung vieler Phänomenologen hinsichtlich des Wirklichen als solchen hat einerseits zu einer Immunisierung gegen die unbefriedigenden Realismen geführt. Sie hat andererseits aber die Perpetuierung spekulativer Erbstücke befördert wie etwa den cartesischen Dualismus, aus dem sich die Phänomenologie oft nicht zu befreien wusste. Das fängt schon bei Fragen der phänomenologischen Methode an. Es ist bekannt, wie wichtig für Husserl der methodische Aspekt der Phänomenologie war: Wo er nicht beherrscht ist, so kann man Husserls Ansicht hierüber guten Gewissens zusammenfassen, ist keine Phänomenologie möglich. Und es ist auffällig, dass in den methodischen Grundsätzen und Praktiken der beginnenden Phänomenologie gerade Handgriffe dominieren, die sich auf Nicht-Wirkliches gründen. So klammert die Epoché die Generalthesis der natürlichen Einstellung, also kurz die Wirklichkeitsunterstellung in Bezug auf das Erfahrene ein, um die Wirklichkeit als ein Problem allererst sichtbar werden zu lassen und um im gleichen Zug einen Bereich zur Erscheinung zu bringen, der zwar auch »wirklich« ist, mit den Wirklichkeiten der räumlichen-zeitlichen-körperlichen Realitä-

217

218

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

ten aber nichts mehr zu tun hat (dies in der Gestalt der transzendentalen Reduktion). Auch die eidetische Variation hat es in doppelter Hinsicht mit etwas zu tun, was »hinter«, zugleich »über« und »unter« dem Wirklichen, der Realität in ihrem gängigen Verständnis liegt: Einerseits sucht sie, Strukturen, Wesenheiten aufzuspüren, die die Kohärenz der Erfahrung garantieren, aber mit Kohärenz und mit Erfahrung selbst nicht identisch sind, einer anderen, nicht-realen Ebene also angehören müssen; andererseits wird dabei gezielt die Phantasie eingesetzt, die ja geradezu definitorisch nicht an das Reale gebunden ist. Und wenn sich die Methodik Husserls dann gar in solche Grenzbetrachtungen wie die Idee der Weltvernichtung versteigt, dann ist endgültig klar, dass hier das Reale, wie wir es in der alltäglichen Erfahrung zu kennen scheinen und glauben, auf seine Quellen und Untergründe (die als Quellen nicht von derselben Natur sein können) befragt werden soll. Diese Verzögerung gegenüber dem Wirklichen, eine Art Zurückhaltung, eine selbstauferlegte Askese – mit dem Zweck freilich, das Wirkliche umso schärfer in seinem Wesen, in seiner Struktur, seinen Bedingungen, seiner Quelle zu erfassen – und der methodische Appell ans Imaginäre/Mögliche, der den Umweg öffnen soll, auf dem sich das Wirkliche erst in geläuterter Klarheit zeigen wird, ist in Husserls berühmten Satz auf den Punkt gebracht: So kann man denn wirklich, wenn man paradoxe Reden liebt, sagen und, wenn man den vieldeutigen Sinn wohl versteht, in strikter Wahrheit sagen, dass die »Fiktion« das Lebenselement der Phänomenologie, wie aller eidetischen Wissenschaft, ausmacht, dass Fiktion die Quelle ist, aus der die Erkenntnis der »ewigen Wahrheiten« ihre Nahrung zieht.3 Und noch bündiger ist das Ganze von Heidegger ausgedrückt worden: »Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit.«4 Ich bin anderer Meinung, und zwar sowohl in metaphysischer wie in methodischer Hinsicht. In metaphysischer Hinsicht: Es kann sein, dass die phänomenologische Methode, wenn sie sich auf das Mögliche oder die Imagination stützt, auf Sand gebaut ist. Sowohl bei Husserl als auch bei Heidegger wirken Sichtweisen fort, die eine Art Verwebung oder Schichtung von Möglichem und Wirklichen unterstellen. Sie argumentieren nicht mit irgendwelchen menschlichen Erkenntnisschwierigkeiten, die einen Rückgriff aufs Imaginäre empfehlen würden, sondern mit der systematischen Zusammengehörigkeit des Möglichen und des Wirklichen. Dabei bleibt aber der ontologische Status des Möglichen nach wie vor zweifelhaft – und mehr als nur zweifelhaft. Denn das Mögliche gibt es in einem strengen Sinn nicht. Was möglich ist, wissen wir oft erst im Nachhinein. Allgemeine Aussagen über die Grenzen des Möglichen enden meist in problematischen bis trivialen

3

4

Husserl: Ideen I. 148. Immerhin, Husserl wusste, dass so ein Satz sich besonders gut zum Ziel unfairer Angriffe machen lässt – er schreibt es in einer Fußnote zu selbigem. Ob mein Angriff unfair ist, kann ich nicht entscheiden. Er kommt aber aus anderer Richtung als die Kritiken, denen Husserl zuvorkommen wollte (er spricht dort vom Naturalismus). Heidegger: Sein und Zeit. 38.

Das Wirkliche I

Formalismen. Die Idee einer Liste aller Möglichkeiten schließlich, die sich gewissermaßen a priori abfassen ließe, unterstellt wieder einen göttlichen Standpunkt, eine Idee von Erkenntnis, die keinen Rest, keine Abschattung, keine Unbestimmtheit und letzten Endes keine Zeit zulässt; sie ist selbst reine Fiktion, auch wenn sie die Wahrheit über die Fiktion zu sagen meint – wozu es im Übrigen passt, dass ihr prominentester Vertreter eine Romanfigur ist. Die Möglichkeit hat letzten Endes keinerlei ontologische Konsistenz. Sie nimmt keine eigene Ebene im Sein ein, sie ist kein Hintergrund und kein Untergrund, vor dem oder auf dem sich das Wirkliche erhebt. Vielmehr ist rein metaphysisch betrachtet das Mögliche immer der lokale, vereinzelte Abglanz des Wirklichen (durchaus in einem optischen Sinn: eine Art Reflexion): die nachträgliche Besinnung auf die Unbestimmtheit, aber im Modus ihrer Unverfügbarkeit, weil sie als vergangene eben nicht mehr voll wirken kann. Die Unbestimmtheit des Seins ist selbst wirklich, aber eben immer nur in der Gegenwart seines Vollzugs.5 Die phänomenologische Parteinahme für die Möglichkeit ist also schon aus metaphysischen Gründen fragwürdig. Sie ist es aber auch aus methodologischen Gründen, und das wiegt schwerer, weil die Parteinahme ja zumindest offiziell nur die Methode betrifft. Das Problem ist von Spinoza auf den Punkt gebracht worden: Nur das Denken von Bestimmtem ist ein bestimmtes Denken, erst die Kontur des Wirklichen gibt dem Denken jene Verankerung, durch die es selbst konturiert wird, eine Physiognomie, eine Gestalt, Grenzen gewinnt, mit denen man arbeiten kann. Oder noch prägnanter: Nur Denken von Wirklichem ist wirkliches Denken.6 Wo das Denken es nicht mit solcherart Bestimmtem zu tun hat, bleibt es auch selbst unbestimmt, treibt bald hierhin, bald dorthin, schneidet zu Denkendes an, nur um sofort zum nächsten zu gleiten, ohne doch das eine und das andere und ihre Grenze benennen zu können. Es bleibt das Denken desjenigen, der meint, alles zu können und zu wissen, weil er es schon mal gehört hat oder zumindest daran denken kann – und der allmächtig genau so lange ist, als er sich der Probe der Wirklichkeit verweigert. Meine Träumereien, auch die am Tage, meine Phantasien sind nicht deshalb nicht wahrheitsfähig, weil sie subjektiv wären, sondern ihnen fehlt noch die Stabilität und Identität, die

5

6

Dem entspricht, dass sich die Philosophie der Möglichkeiten mit einem radikalen Determinismus hervorragend vertragen kann, weil beide das Unentschiedene immer nur im Rückblick wahrnehmen. Bergson hat in Zeit und Freiheit gezeigt, dass die gesamte Fragestellung der Freiheit in dem Augenblick verfehlt ist, in dem man auf die Entscheidung zurückblickt oder sie als noch bevorstehend betrachtet. In beiden Fällen kann ich die Freiheit gar nicht finden, ebenso wenig wie die Unbestimmtheit des Seins. Diese Formulierung lässt daher zwingend den Determinismus plausibler erscheinen, weil er noch der gegnerischen Behauptung der menschlichen Freiheit die Bedingungen vorgibt. Es sind vor allem der Lehrsatz 8 des Zweiten Teils der Ethik und sein Scholium, in denen diese Einsicht sich ausdrückt: Die Ideen von nicht-existierenden Dingen sind zwar in Gottes Idee enthalten, aber nur ganz formal, so wie das Sein von Einzeldingen in den Attributen enthalten ist oder wie Rechteckte (die man zeichnen könnte) in einem Kreis enthalten sind (in den noch nichts eingezeichnet ist). Erst wenn wirklich etwas in einem Attribut existiert, erst wenn ein Rechteck in einen Kreis gezeichnet wurde, unterscheiden sich auch die entsprechenden Ideen (Gedanken) voneinander: »quo fit, ut a reliquis reliquorum rectangulorum ideis distinguantur.« Wo sich das Denken also nicht auf etwas Wirkliches und damit Wohlbestimmtes bezieht, bleibt es ununterschieden, obskur, ungefähr, identitätslos.

219

220

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

sie auch nur zu Phantasien von etwas machen könnten. Dazu muss man sie schon artikulieren, also der Wirklichkeitsprobe, die sich Sprache nennt, aussetzen. Das Wirkliche ist nicht irgendeine besondere Gestaltung, z.B. eben eine besonders weitgehende Bestimmung im großen Feld der Vorstellungen. Wenn man die Sache von dieser Seite anpackt, schließt man das Subjekt von Anfang an in eine Welt subjektiven Vorstellungen ein, aus der es kein Entrinnen mehr geben kann. Ich muss vielmehr in allem Ernst »von außen«, vom anderen, Wirklichen affiziert werden können, und zwar unmittelbar, wenn das Subjekt nicht eine autistische Existenz führen soll. Und noch einmal: Es hieß eben, nur das Wirkliche sei so wohlbestimmt ist, dass es als Anker und Boden eines bestimmten, eines nicht-vagen (=herumirrenden) Denkens dienen kann. Man darf nun aber nicht glauben, dass dieses wohlbestimmte Wirkliche ein vollbestimmtes wäre, in dem Sinne, in dem die klassische Metaphysik die Wirklichkeit als Korrelat einer totalen, nicht abgeschatteten, nicht zeitlichen Erkenntnis ansehen wollte. Nur das Wirkliche ist bestimmt; es ist aber weder determiniert noch auch der Zeit enthoben; es ist nicht vollbestimmt, sondern hat seine Seite der Unbestimmtheit, wie es einem zeitlichen Sein ansteht, es ist zudem lokales Sein, eingerahmt und beeinflusst und erkannt von anderem lokalen Sein – was wiederum zu der phänomenologischen Einsicht passt, dass noch die Idee einer totalen Erkenntnis sinnlos ist. Wenn nur Denken von Bestimmtem bestimmtes Denken ist, wenn nur Wirkliches auch Bestimmtes ist, wenn zugleich kein Wirkliches auch Vollbestimmtes ist: kein Wunder, wenn kein Denken vollbestimmt sein kann! Schließlich muss ein rundweg praktisches Bekenntnis in einer Philosophie, die sich wie die Phänomenologie als eine Praxis des Denkens versteht, auch Gehör verschaffen dürfen. Ich kann, auf meine Erfahrung phänomenologischen Philosophierens zurückblickend, sagen, dass ich es durchaus für möglich halte, die Epoché zu vollziehen, weil man dabei eben nicht vom Wirklichen absieht, sondern lediglich seinen Charakter ändert. Ich halte das für möglich, aus dem einfachen Grund, weil ich glaube, dass es mir oftmals gelungen ist. Hier wie sonst ist also ausschließlich das Wirkliche das Maß des Möglichen. Hingegen muss ich für mich immerhin bekennen, dass ich niemals eine eidetische Variation durchgeführt habe und auch nie verstanden habe, wie das ablaufen soll. Eine jede und ein jeder muss mit sich selbst ausmachen, ob ihm oder ihr das besser gelungen ist. Ich jedenfalls bin dabei so verloren gewesen wie nur jemand, der sich seiner Phantasie überantworten solle, um aus ihr systematische Schlüsse zu ziehen. Die Phänomenologie hat es deshalb nicht mit dem Möglichen zu tun, nicht einmal in einem methodischen oder heuristischen Sinn, nicht als Umweg und nicht als Versicherung gegen einen allzu leichtfertigen »Realismus«. Phänomenologie hat es mit nichts anderem zu tun als mit der Aufgabe, die die unvermittelte Konfrontation mit dem Wirklichen uns stellt. So formuliert, ist über den Charakter oder metaphysischen Sinn dieses Wirklichen noch nichts ausgesagt. Methodenlehre. Ist dieser zweite Teil des Buches also eine Rückkehr zur Phänomenologie, wenn diese plötzlich so prominent in den Vordergrund drängt? Nach den »objektiv« formulierten ersten Kapiteln also ihre subjektive Ergänzung oder gar Grundlegung? Das wird man nicht erwarten dürfen. Das Hin und Her des vorangegangenen Kapitels, das als Scharnier der beiden Teile fungiert, hat wohl deutlich gemacht, dass wir auf eine letzte Einheit, eine systematische Zurückführung, eine Aufhebung oder Versöhnung, auf ei-

Das Wirkliche I

ne saubere Kodifizierung mit Zuteilung der jeweiligen Rechte nicht zu hoffen brauchen. Das Disparate ist ein ontologisches, die Distanz eine unaufhebbare. Man kann sich damit trösten, dass Disparates und Distanz immerhin einer Natur angehören. Aber damit ist dann nicht mehr viel gesagt. Die Phänomenologie ist unverzichtbar. Sie ist wahr, wahrer als sie selbst oft verstand, denn sie trägt noch die Wahrheit der Metaphysik und der Naturphilosophie in sich. Dazu wird sie aber ihr Selbstverständnis deutlich revidieren müssen. Vor allem wird sie wohl nicht als eine Philosophie des Subjekts auftreten können – so paradox das erscheinen mag. Dieser zweite Teil wird also keine Grundlegung oder Auflösung, keine Versöhnung und keine sauberen Abschlüsse bieten können. Er wird sich höchstens noch tiefer ins Widerstrebende, Disparate, Inkommensurable eingraben. Das Subjekt glänzt durch Abwesenheit. Der metaphysische Sinn des Wirklichen lässt sich noch näher bestimmen. Vieles wurde dazu bereits angeführt. Eine Voraussetzung, um die sich eine Philosophie der Natur nicht drücken kann, ist die, dass Subjekte derselben Wirklichkeit angehören wie Steine, Nebel, Viren, das Licht, die Asche. Auch diese Voraussetzung hat ihren guten phänomenologischen Sinn (von all den anderen Gründen, die dafür sprechen und die bereits früher angeführt wurden, abgesehen). Entfernt man den idealistischen Ballast aus dem phänomenologischen Unternehmen, dann kann man in einer ersten Annäherung ganz schlicht sagen: Wir erleben uns Tag für Tag, Stunde um Stunde in Ein- und Missklang mit einer Welt aus physischen Dingen, wir nehmen an ihr Teil und sie an uns, und wenn wir Zahnschmerzen haben, dann fällt uns das Philosophieren schwer, und wenn unsere Liebsten bedroht sind, entwickeln wir Körperkräfte, die wir nie für möglich gehalten hätten. Es ist wahr, dass wir Schwierigkeiten haben, das Sein der Körper und das Sein der Subjekte verständlich zusammenzubringen. Deshalb wird es aber nicht weniger wahr, dass faktisch die »Körperwelt« und die Subjekte immer beisammen sind. Gehen wir also von der einfachen Konstatierung aus, dass natürlich ein Subjekt nicht ein Stein ist, dass aber Stein und Subjekt ohne Vermittlung und ohne Abgründe an ein und derselben Wirklichkeit teilhaben. Dann müssen wir als eine erste Kennzeichnung des Subjekts dies festhalten: Das Subjekt ist ganz draußen. Das steht im Widerspruch zur traditionellen Einschätzung und ist doch wahrscheinlich die einzige phänomenologisch richtige Beschreibung. Die Suche nach einer Innerlichkeit ist nicht deswegen ein so dorniger Pfad, weil es aus irgendwelchen Gründen schwierig wäre, sein eigenes Innerstes zu erkennen, sondern deshalb, weil es so ein Inneres nicht gibt. Je weiter man hinabsteigt, ins »Innere der Seele«, desto ungreifbarer wird alles, den Nebelschwaden gleich, die man auf Berggipfeln glaubt erhaschen zu können. Denn »im Innern der Seele« durchdringen sich mannigfach die Zustände, Erinnerungen, Affekte, Stimmungen, die nicht nichts sind, die aber ihre Auseinanderteilung, Identifizierung (immer nur näherungsweise) und Kontur erhalten in der Auseinandersetzung mit dem Wirklichen, an dem sie sich reiben. Entkoppelt von diesem Wirklichen steht der Seelenerkunder vor den Geistern des Imaginären, die jedem Appell ohne Verzögerung gehorchen, aber nur beibringen können, was der Rufer schon wusste. Eine endlose Selbstbespiegelung, aus der es kein Entrinnen mehr gibt. Dass das nicht nur ein theoretisches Problem ist, zeigen sowohl die religiös motivierten Versuche, in die Tiefe der eigenen Seele hinabzusteigen, um herauszufinden, ob man auch wirklich

221

222

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

glaube (es ist tragisch: aber man wird da nichts finden), als auch ihre säkularen Erben, in denen man in sich nach sich selbst suchte. Als Subjekte sind wir aber nicht bei uns, schon gar nicht in uns, sondern draußen, in der Welt, in der Wirklichkeit, beschäftigt mit allerlei Dingen und Menschen – und dann auch uns selbst. Eine Innerlichkeit haben im wörtlichen Sinn nur Körper, insofern man sie eben aufmachen und hineinschauen kann. Noch mehr als das: Das Subjekt glänzt durch Abwesenheit. Das ist ganz wörtlich gemeint. In einer lebendigen Situation bin ich überhaupt nicht dabei. Das heißt nicht, dass ich ihr ausgeliefert bin oder wie ein Automat agiere. Keineswegs. Aber ich bin da eben in einer beständigen Interaktion mit den Erfordernissen, Erwartungen, Hürden, Unmöglichkeiten, Dingen, Menschen. Das Subjekt vermag nur und ausschließlich zu glänzen, wenn es sich als Subjekt verabschiedet hat: wenn es alle Ansprüche auf eine souveräne Herrschaft über oder eine rationale Interpretation der Situation aufgibt, wenn es sich aufgibt, um sich einzulassen auf ein Geschehen, dessen Ausgang unsicher ist. »Das Subjekt« (oder wie man es nennen will) ist und bleibt eine Funktion oder Instanz, die sich lediglich im Nachhinein einstellt, zuerst wohl in der Erzählung eines Geschehens und dann auch in der Reflexion darüber. Es bleibt aber Fiktion, solange man unter dem Subjekt irgendeine kohärente und vor allem selbstbewusst agierende Instanz versteht. Allerdings zeigen Begriffe wie »Subjekt«, »Bewusstsein«, »Ich« sehr wohl etwas Wirkliches an. Sie zeigen an, dass es da einen Knoten des Seins gibt, der wirklich ist, insofern er Wirklichkeit vollzieht/erlebt/erfährt/wahrnimmt/denkt, und der dazu eine Funktion einsetzt, dank derer er aus sich heraus und auf sich zurück zu denken vermag. Wir nennen das eben Reflexion und sind gewohnt, darin eine besonders grundlegende und prominente subjektive Fähigkeit zu sehen. Mit Buber und Levinas aber können wir annehmen, dass auch dies, das »auf sich Zurückkommen«, nicht von mir aus geschehen kann, sondern im Gegenteil den Anderen erfordert: Meine »Reflexion« auf mich geht nicht von mir aus, sondern von dem Anspruch, den der andere an mich stellt – so wie ja auch kein Subjekt in der Lage ist, sich die Welt selbst zu geben: Dazu bedarf es der Anderen, die sie mir (wiederum mit Levinas gesprochen) zum Geschenk machen.7 »Subjekt« ist also eine Hindeutung auf eine spezifische Weise des Seinsvollzugs, der aber eigenartigerweise, obwohl er von einem »Zentrum« aus erlebt wird, nicht von diesem Zentrum aus gedacht werden kann, dem gewissermaßen eine Paradoxie in den Leib eingeschrieben ist. »Reflexion« ist der Name einer Funktion, die ein Zurückkommen von sich auf sich verwirklicht, dies aber nur kann, weil sie zuerst und immer wieder von einem Anderen her kommt. (D.h. natürlich auch, dass das, worauf in der Reflexion »zurückgekommen« wird, nicht schon vorher einfach feststand.) Und schließlich können wir im selben Sinn anfügen, dass noch die Identität des Subjekts zuerst eine soziale Angelegenheit ist. Wer in sich, und sei es in seinen Erinnerungen, seinem »Selbstgefühl« oder worin auch sonst, nach dem letzten unerschütterlichen Grund seiner Identität su-

7

Vgl. Totalité et infini. 230. Ohne jeden Zweifel hätte Levinas Milton zugestimmt, wenn dieser dem Teufel den Ehrgeiz in den Mund legt, sein eigener Ursprung zu werden: eine wahrhaft dämonische Idee. Vgl. Paradise Lost. V, 853ff.

Das Wirkliche I

chen will, wird enttäuscht werden. Die einzige fixe und verlässliche Garantie unserer Identität ist ihre soziale Bestätigung, ihr Urbild ist das Ausweispapier.8 Als Aktualität ist das Subjekt also gerade dort am meisten, wo es am wenigstens als Subjekt anwesend ist. Aber wie kann das sein? Die Antwort ist ganz einfach: Das Subjekt ist ein Körper, und es ist ein Körper bevor es ein Subjekt ist. Dieser Satz wurde bereits ausführlich im Rückgriff auf Bergson belegt. Das ist auch der Grund, weshalb ich mich nicht an die phänomenologische Unterscheidung in Körper und Leib halte: So wertvoll dieser Unterscheidung in vielen Bereichen ist, sie kann hier nicht mehr greifen. Denn der Körper, der wir sind, ist sicher »meiner«, insofern als er eben nicht der Körper z.B. meines Fernsehers ist, er ist auch »gelebter« Körper, aber das Subjekt, das ihn lebt, entsteht allererst durch ein Erleben des Körpers, das zuerst orientierungslos und ungeordnet ist. Am Anfang – ein Anfang, der nichts Mythisches hat, sondern durchaus als Anfang des Lebens gemeint ist und der in vielfachen Lernerfahrungen aufs Neue aktuell wird – ist er niemandes Körper. Nur deshalb kann er jemandes Körper, der Körper von jemandem, der »Ich« sagen wird, werden. Metaphysik des Wirklichen. Es lassen sich dann einige Grundzüge so einer Metaphysik formulieren, und das, ohne dass man fürchten müsste, in die Halbheiten und Naivitäten der »Realismen« zu verfallen. Erstens ist das Wirkliche genau so, wie es mir erscheint. Das betrifft vor allen Dingen und zuerst die sinnlichen Qualitäten. Die Rose ist rot, und der Camembert schmeckt so, wie nur er schmeckt, und lässt der Dirigent den Taktstock fallen, erklingt Beethovens Fünfte. Eigenartig genug muss man diese Behauptung allererst rechtfertigen. Denn sie widerspricht dem, was wir heute als ein popularisiertes Wissen mit uns herum und durch unseren Alltag tragen. Danach etwa ist Farbe die Wellenlänge von Licht, also etwas »Ausgedehntes« (in Wahrheit freilich nur geometrisch, nicht real ausgedehnt) und Messbares. Und in diesem Sinne muss die Theorie schließlich dazu kommen zu erklären, dass die Welt an sich gar keine Farben kennt, nicht einmal Schwarz und Weiß und Zwischentöne, sondern rundweg farblos ist. Descartes und Hobbes und viele ihrer Zeitgenossen sprechen den Schluss ungerührt, sogar stolz aus (stolz auf die vermeintliche Abgeklärtheit, die darin steckt), gegenwärtige Physiker würden vielleicht nicht widersprechen. Mir scheint vielmehr, die Bereitschaft, eine solche verrückte und noch dazu deprimierende Idee zu akzeptieren, bedarf eher der Erklärung als die Existenz von Farben. Eine phänomenologische Metaphysik kann sich solcher Probleme entschlagen: Es gibt Farben, es gibt Hitze und Kälte, es gibt Geschmack, Geruch. Es gibt sie in der Wirklichkeit. Es gibt sie so, wie wir sie erfahren. Was man »Qualitäten« nennt, sind solche Seinsvektoren, die, wenn man sie teilt, ihre Natur ändern (wie es Deleuze, Bergson paraphrasierend, auf den Punkt bringt).9 Das heißt, dass sinnliche Qualitäten durchaus einen quantitativen Aspekt haben, der es auch

8 9

Vgl. dazu äußerst eindringlich und, unter Philosophen seltene Tugend, humorvoll Rosset: Loin de moi. Vgl. Deleuze: Le bergsonisme. 35f. In Wahrheit spricht Deleuze dort von der Dauer bei Bergson. Dauer wie Qualitäten aber sind beide durch ihre Natur als Intensitäten gekennzeichnet. Wenn ich auch Deleuzes Bestimmung dem Wortlaut nach überdehne, dann bleibe ich ihr doch treu.

223

224

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

erlaubt, sie zu messen. In ihrer letzten Wirklichkeit sind sie aber eben qualitativ distinkt und nicht quantitativ gestuft. Und die sinnliche Qualität ist an sich bereits ein Letztes, ein echtes Absolutum, weil es auf nichts anderes mehr zurückgeführt werden kann. Man kann (wie Deleuzes Definition anzeigt) Qualitäten durchaus »teilen«. Man teilt sie aber nicht willkürlich, zumindest nicht ganz willkürlich. Qualitäten haben die eigenartige Eigenschaft, dass sie Kontinuitäten ausbilden, in denen dennoch diskrete Einheiten erstehen. Dabei sind diese Einheiten aber niemals streng voneinander zu scheiden. Sie gehen ineinander über, an ihren Rändern wird es immer Zweifelsfälle geben, die so oder so entschieden werden können (so etwa im Fall der Farbe Türkis, sozusagen die Hasenente der Farben, die mit gleichem Recht ins Blaue wie ins Grüne kippen kann). Diese Trias ist entscheidend zur Kennzeichnung sinnlicher Qualitäten, und da sinnliche Qualitäten absolut sind, ist es eine Trias, die für die gesamte Erkenntnis der Wirklichkeit grundlegend ist: Sie bilden ein Kontinuum, das dennoch diskrete Einheiten ausbildet, die aber stets ineinander übergehen. Das ist ein Hinweis darauf, dass die Wirklichen, mit denen wir es zu tun haben, oft, in Wahrheit immer genau in dem Maße Einheiten, Identitäten sind, wie sie nicht völlig abgeschlossen sind, wie sie unscharfe Ränder haben, ausfasern, in anderes übergehen und von anderem durchdrungen werden. Der schiere Gedanke einer Identität, die ganz oder eindeutig von anderem abgegrenzt wäre, ist ein Widersinn, oder so: Es wäre der Gedanke des Einen Wesens, das alleine die Wirklichkeit ist, das also nur vollständig abgegrenzt sein kann, weil es kein Außen hat – in jedem Fall wäre es ein rein spekulativer Gedanke. Zugleich spielt diese Identität auf dem Hintergrund und Untergrund eines Kontinuums des Seins, was nicht unbedingt heißen muss, dass alles gleichermaßen »erfüllt« ist, was aber meint, dass alles ineinander eingreift und eindringt, zumindest eindringen kann. Für die Natur der Körper haben wir das schon dargetan. Bemerkenswert ist auch, dass wir durchaus in der Lage sind, die diskreten Einheiten zu identifizieren. Es gibt eine Artikulation im Sein selbst, d.h. eine Gliederung und ein Ineinandergreifen der Körper und Bewegungen, die wir auffassen, weil sie unscharf begrenzt sind, weil ihre Identifizierung und Handhabung nicht Sache einer geistigen Arbeit, sondern einer Antwort der Körper aufeinander ist. Handelte es sich z.B. bei der Identifizierung einer Karikatur um einen geistigen Akt des Wiedererkennens, wie man sich das meist (implizit) vorstellt – mit der Vergleichung von Bild und Original oder Bild und Erinnerung an das Original, mit dem Aufspüren der Ähnlichkeit als einem Dritten zwischen Original und Bild, so dass diese Ähnlichkeit dementsprechend auch Gegenstand einer eigenen Diskussion werden könnte –, dann hätte nie jemand eine Karikatur als verzerrte Darstellung irgendeines Prominenten erkannt. In Wahrheit wird nichts miteinander verglichen, es wird nichts eingeschaltet, sondern es ist die Karikatur selbst, das Abbild selbst, das die Ähnlichkeit stiftet, und schafft es das nicht, dann schafft es keine Vergleichung; die Ähnlichkeit ist kein Drittes, sie kann nur bestritten oder bejaht werden, aber für sich lässt sie sich nicht diskutieren, weil sie rein in dem Bild selbst liegen muss oder nirgends liegen kann. Der Unterschied zwischen einem 6/8-Takt und einem Walzer, der zwischen einem impressionistischen und einem pointillistischen Gemälde, der zwischen Pulverschnee und Nassschnee, sie sind ebenso Zeugen einer Bündigkeit der Wirklichen, auf die Körper antworten, wie die Fähigkeit, ein Auto seitlich einzuparken oder auf einer Welle zu reiten. Natürlich muss man all das erlernen; aber der Witz ist

Das Wirkliche I

doch gerade, dass man alles erlernen muss. Und dass es für keines eine transzendente Regel oder eine noch einmal für sich (jenseits der Phänomene) benennbare und diskutierbare Wahrheit oder Anwendungsprotokoll geben kann: Erlernt wird anhand der Phänomene, das Erlernte wird anhand der Phänomene überprüft und anhand der Phänomene werden schließlich Uneinigkeiten verhandelt. Ein Meta- gibt es nicht. Damit ist klar, dass die Metaphysik des Wirklichen, auf die auch die Phänomenologie hinsteuert, eine in sich paradoxe Angelegenheit ist. Wenn Metaphysik schon dem Wortsinn nach die Erkenntnis ist, die hinausstrebt über das Sinnliche, die das Physische hinter sich lässt, um seine Gründe und sein Wesen zu entdecken – dann ist diese Metaphysik die Umkehrung der Bewegung: Es ist die Erneuerung des Vertrauens in eine Welt, die uns vertraut ist und der wir doch nicht trauen wollen. Eigenartigerweise ist das keine Trivialität: Es ist gar nicht so einfach bei der Sache zu bleiben! Der beispiellose Erfolg der modernen Naturwissenschaft scheint die Tendenz zur Ersetzung des Wirklichen im Denken (und bald auch im Erfahren selbst!) noch befördert zu haben. Nicht, dass die Naturwissenschaften falsch wären oder dergleichen. Ich hatte es gesagt: Auch in den Qualitäten liegt ein Aspekt des Quantitativen, der das Vorgehen der physikalischen Wissenschaften rechtfertigt. Das metaphysisch Letzte ist aber die Qualität. Wir können sagen: Wir stehen in einem unmittelbaren Kontakt zu dem Wirklichen. Nichts, aber auch wirklich gar nichts schiebt sich grundsätzlich dazwischen. Die Versuchung, hier etwas anderes, eine fundamentale Unwahrheit zu erblicken, rührt vielmehr aus einer enttäuschten Erwartung: Man meinte, die Wirklichkeit müsse doch eindeutig und vollbestimmt sein, stabil und wie in einem Panorama zu überschauen. Man fand es nicht – und suchte die Schuld bei sich: in der eigenen Erkenntnisorganisation statt in den Voraussetzungen der Enttäuschung. Natürlich, wir können uns verlieren, in unseren Theorien, in Wahnsinn, Paranoia (die beides ja als ein ganz übertriebener Glauben an Theorien auftreten können), in Krankheiten, Behinderungen oder in der schwarzen Verzweiflung, in der das Wirkliche nichts mehr gilt. Aber deshalb berühren wir nichtsdestotrotz das Wirkliche so unmittelbar, wie man ihm nur nahekommen kann. Weder angebliche subjektive Funktionen oder Vermögen noch körperliche Organe schalten sich ein in der Berührung des Wirklichen. Sind sie auch Bedingungen, so doch nur, indem sie im selben Sinn Wirkliches sind wie das Wahrgenommene oder Erkannte. Nach der Wahrhaftigkeit oder der Verzerrung unseres Geistes oder unserer Sinnesorgane zu fragen, ist schlicht und ergreifend bodenlos: Es gibt keinen Grund für eine solche Frage und diese Frage entzieht allem weiteren Fragen den Grund.10 Hingegen ist diese Metaphysik eine Physik in einem neuen Sinn: eine Wertschätzung des Physischen, die in dieser Weise vielleicht noch aussteht. Bedeutet das aber auch, dass wir alles erkennen? Selbstverständlich nicht. Wie sollten wir auch? Wir erkennen eben, womit wir Umgang haben, und dies deutet zugleich auf weiteres voraus. Aber Unzähliges wird nie in meinen Umkreis treten. Nur wenn man die metaphysischen Grundverhältnisse missversteht und ein absolutes und totales Wissen als Ideal ansetzt, kann man diese Begrenzung für einen Mangel halten. Ein solches metaphysische Bekenntnis zur Erfahrung und Sinnlichkeit erlaubt ein Verständnis des Wirklichen, das den ganzen Reichtum unserer Erlebnisse einlässt. Es 10

Die scheinbar so evidenten Gegengründe werden im Kapitel ›Das Wirkliche II‹ entkräftet.

225

226

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

gibt eine gewisse Mode, auch und gerade in der Phänomenologie, zur Beschreibung der Begegnung mit dem Wirklichen Begriffe wie »Widerstand« oder »Entzug« zu verwenden. Das führt in die Irre: Nicht nur verliert man so eben die unendliche Weite und Fülle der Erfahrungen als legitime Quelle des Wissens vom Sein (man degradiert sie eben zu »bloßen« Erscheinungen), sondern man wärmt am Ende wieder die Entrückung des Wahren und Absoluten und Wirklichen auf, die bei Kant einen Höhepunkt erreicht hat – und denkt also entschieden unphänomenologisch. Und doch, wir erfahren die Wirklichkeit alle anders. Diese Unterschiede sind manches Mal solches des Geschmacks, sie lassen uns schmunzeln, oder sie steigern sich zu einer entschiedenen Uneinigkeit, bis hin zu Mord und Totschlag. Wie lässt sich das zusammenbringen mit der Behauptung, dass wir die Welt so erkennen, wie sie ist? Wer von uns beiden Streitenden erkennt sie denn nun richtig, wer falsch? Es gibt zweifelsohne Gelegenheiten, wo eine etwas eindeutig falsch erkennt. Der Verfolgungswahn ist z.B. so eine Gelegenheit oder der religiöse Fanatismus. Aber schon die Art und Weise der Sanktion dieser Unrichtigkeit führt auf das Problem zurück: Denn am Ende ist und bleibt es eine soziale, eine »intersubjektive« Debatte und Sanktion. Alle behaupten, Sprecher der Wahrheit zu sein, niemand kann seine Ausweispapiere vorweisen. Diese soziale Sanktion ist aber nicht nichts, und sie ist auch keine »zweitbeste Fahrt«, kein »faute de mieux«. Sie ist ontologisch die einzig denkbare Weise der Erstellung von Wahrheit. Denn wenn es keine transzendente Wahrheit gibt, wenn es nur das unvermittelte Aufeinandertreffen der Wirklichen gibt, dann muss es doch so sein, dass wir sie alle anders erfahren. Ein jeder erfährt das Wirkliche in seiner Dauer, seinem Altern, seinen Erfahrungen und Erinnerungen, seinem Körper, die alle an die Oberfläche drängen, an der sie an das Wirkliche stoßen – eine Oberfläche, die wir Subjekt nennen. Damit ist nach der unbezweifelbaren Verlässlichkeit unserer Weltbegegnungen der zweite Aspekt einer Metaphysik des Wirklichen berührt: die irreduzible Pluralität der Wirklichen. Damit erklärt sich auch meine terminologische Entscheidung für die Wirklichen und gegen die Wirklichkeit. Während letzteres eine Überschau und Totalität suggeriert, die eben unmöglich ist, meint der Ausdruck »das/ein Wirkliches« nur dieses oder jenes Wirkliche, mit dem ich es zu tun habe, mich selbst eingeschlossen. Und es gibt nun einmal nur Einzelnes in der Welt.11 Von dieser Einzelheit her ist die Welt zu denken. Es gibt radikal keinen transzendenten und auch keinen privilegierten Standpunkt des Seins. Sein ersteht ja erst aus den »Standpunkten«, an denen es erfahren und von denen aus es entworfen und vollzogen wird. Es gibt nicht erst die Welt und darin dann Menschen und Dinge; diese Auffassung würde wieder dem Gedanken der Totalität huldigen. Vielmehr ist das Sein etwas, was entsteht, wenn unzählige lokale Seiende miteinander in Kommunikation treten, aber immer nur jedes von seinem Ort und Körper aus. »Die Wirklichkeit« gibt es nicht noch einmal neben oder über den Interaktionen der

11

»Einzelnes« heißt aber nicht automatisch »streng identisch«. Es wurde schon angedeutet, dass das Seiende ganz im Gegenteil immer seine unscharfen Grenzen hat, die seine Einbettung in eine irreduzible Anonymität anzeigen; es gibt aber auch hier eine Art Kontinuum, denn einige Seiende sind stärker geprägt vom Anonymen, ohne aber deshalb ihr »tode ti« ganz einzubüßen; vor allem gehören die »Elemente« hierher: Wasser, allgemein Flüssigkeiten, Luft, allgemein Gase, Erde, Feuer, aber auch z.B. Pilze.

Das Wirkliche I

Wirklichen. Diese Interaktion ist das ganze Wirkliche, das wir haben können. Will ich mehr über das Wirkliche wissen, muss ich mehr erfahren und handeln, mich und meine Handlungsmacht ausdehnen. Doch für sich gibt es die Wirklichkeit eben nicht, alles Wirkliche ist und bleibt lokal, begrenzt, endlich, einseitig, abgeschattet, dadurch aber auch dynamisch und in einem emphatischen Sinn zeitlich. Man kann allerdings für den Begriff der Wirklichkeit doch noch einen guten Sinn reservieren, und das diesseits aller metaphysischen Hypostasierungen. Dieser Vorschlag deutet zugleich den dritten Aspekt der Metaphysik des Wirklichen an. Denn in Wahrheit ist unsere Erfahrung des Wirklichen nicht nur eine Erfahrung mit voneinander getrennten Dingen, Menschen, Ereignissen, nicht nur die gegenseitige Verschränkung dieser Erfahrungen mittels der in sie eingeschriebenen Horizonte, sicher nicht ein Pointilismus sinnlicher Qualitäten; sondern diese Erfahrung ist selbst durchzogen oder getragen von einer Qualität, die nicht mehr Qualität von etwas Bestimmten ist, sondern die Qualität der Erfahrung und der ihr zugehörigen Welt selbst. Es ist diese Qualität, die man in einem guten Sinn als Wirklichkeit bezeichnen kann: als die Intensität, mit der uns Wirkliches nicht mehr nur als dieses oder jenes, sondern Wirkliches als Wirkliches begegnet. Diese Intensität ist dabei selbst unablässig dabei, sich zu modifizieren, zu modulieren, von einer Tönung in eine andere überzugehen, ohne dass es möglich wäre, scharfe Grenzen zu benennen, es sei denn im Fall brutaler Eingriffe, die als Schock, Trauma oder auch Glück uns aus dem Verlauf einer sich langsam modulierenden Intensität reißen, die also deren Tempo verändern. Die Intensität handelt vom Wirklichen als Wirklichen, und das heißt: Sie qualifiziert, wie wir das Wirkliche als solches erfahren. Wirklichkeit ist also vorausgesetzt als die erlebte Einheit der Wirklichen. Wir kennen solche Modulationen: Es gibt Zeiten – Augenblicke oder ganze Epochen in einem Leben –, in denen ich voll in einem Leben stehe, das offen und voller Versprechungen vor mir liegt. Ich kann jäh erinnert werden an eine Bedeutsamkeit, einen Ernst meines Lebens und das meiner Lieben, dann werde ich wie aus einem Schlaf gerissen und blicke, die ich liebe, mit neuem Sehnen an, flehentlich bittend, dass sie mir diese Fülle gewähren werden und dass ich zu ihrer Aufnahme bereit mich finden werde. Lange Perioden anstrengender Arbeit, kraftzehrender Sorgen, stupider Wiederholungen können meinen Handlungen die Wirklichkeit nehmen, saugen sie aus, bis sie nur noch leere Hülle einer Wirklichkeit sind, von der man sich noch vage zu erinnern glaubt, dass sie einmal dagewesen sei. Eine Reihe unerwarteter Unglücksfälle, das groteske Zusammentreffen von Kuriosa, die einander verborgen zu antworten scheinen, lässt mich an der Wirklichkeit meiner Erfahrungen und sogar meiner selbst zweifeln. Der Traum, der noch über mir zögert, ob er sich vergessen lassen soll oder lieber bleiben möchte, färbt meinen Tag ein, gibt ihm eine Tönung mit, die ihm nicht entstammen konnte und ihn doch unverwechselbar macht. Die Müdigkeit verschiebt mein Empfinden ins Undeutliche, lässt es schillern zwischen einer Aufdringlichkeit der Reize und ihrer Irrealität. Der kurze Moment vor dem Einschlafen gibt mir eine Erinnerung ein, längst vergessen und nur immer in diesem flüchtigen Augenblick zu erleben, und

227

228

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

doch auf geheimnisvolle Weise versehen mit einer Wahrheitskraft: als sei es eine Erinnerung an das Wichtigste, vielleicht sogar an solches, das ich noch gar nicht erlebt habe.12 Die Wirklichkeit, verstanden als eine Intensität in beständiger Modulation, ist nichts, was die Welt der Wirklichen noch einmal übersteigen würde, sie ist nicht ihr Prinzip, nicht eine Antwort auf die Frage nach der Totalität des Seins.13 Denn die Wirklichkeit ist von ganz anderer Art als alles Wirkliche, das begegnen kann, ohne doch deren Zusammenhang, Struktur oder Wesen zu sein. Es ist auch nicht die Ersetzung einer Substanz durch eine Relation, sondern die Beschreibung der unverwechselbaren Weise, wie Wirkliches vibriert. Es ist die Beschreibung des Klanges, den die Sphärenharmonie je und je in einem gegebenen Augenblick macht – und diese Sphärenharmonie, die ist eben nichts anderes als die Klangfarbe, die entsteht, wenn das Seiende aufeinander wirkt, und dies immer lokal und konkret. Sein ist Wirkung und diese Wirkung ist – insofern sie eben nie die isolierte Einwirkung von einem Ding auf ein anderes ist, sondern insofern sie Verdichtung und Reibung von tausend Wirkungen in einem Ding ist, das seinerseits als Clinamen fungiert – eben Intensität. Auch wenn ein paar der Beispiele das nahezulegen scheinen, wirkt hier keine Kausalität zwischen Ereignissen und der Intensität, z.B. zwischen einem Traum, den ich nicht abschütteln kann, und der eigenartigen Verfärbung, die er in meinen Tag zieht. Zumindest darf man nicht irgendwelche simplistischen, gar deterministischen Ideen von Kausalität zugrunde legen. Der Traum wirkt, er wirkt vielleicht stärker als anderes in diesem Augenblick, doch er wirkt in einem Netz aus Wirkungen, das von keiner Wissenschaft zu entwirren ist, und das nicht nur aufgrund der schieren Überzahl der Wirkungsstränge, sondern auch weil sie in Wahrheit unabzählbar und nicht quantifizierbar sind, denn sie sind eben Qualitäten (also nicht quantifizierbar) und sie sind in beständiger gegenseitiger Durchdringung. Diese Intensität entsteht an der Oberfläche der Seienden und sie wird dort moduliert. Die Frage zu stellen, ob sie subjektiv oder objektiv ist, heißt missverstehen, dass sie eben ein Produkt des unvermittelten Aufeinandertreffens eines wirklichen Subjekts mit den Wirklichen um es herum ist. Vielleicht ist ihre Rückseite, die du erfährst, eine andere, mit anderen Qualitäten und Eigenschaften ausgestattet, mit einem anderen Wirklichkeitscharakter, aber das ist ja auch wenig verwunderlich, weil du sie ja mitschaffst. Dennoch spielt sich das nicht »im Herzen« und schon gar nicht »im Kopf« der Einzelnen ab. Es ist und bleibt Auseinandersetzung eines Wirklichen (mit seiner Tiefe der Zeit, die wir Geschichte und Erinnerung nennen) mit anderen Wirklichen. Die Oberfläche, an 12

13

Ein ähnliches Erlebnis ist für die Poetik von Borges von zentraler Bedeutung. »Die Musik, die Zustände des Glücks, die Mythologie, die von der Zeit gewirkten Gesichter, gewisse Dämmerungen und gewisse Orte wollen uns etwas sagen oder haben uns etwas gesagt, was wir nicht hätten verlieren dürfen, oder schicken sich an, uns etwas zu sagen; dieses Bevorstehen einer Offenbarung, zu der es nicht kommt, ist vielleicht der ästhetische Vorgang.« (Borges: Die Mauer und die Bücher. 14). Auf einen ähnlichen Gedanken trifft auch Maimon, wenn er die spinozistische These, wonach alles Einzelne nur Modus der einen Natur ist, in Begriffen der Differentialmathematik reformuliert: »Ferner folgt hieraus, dass Dinge überhaupt nicht durch die Anzahl der Realitäten, die sie enthalten, sondern bloß durch die Intension eben derselben Realität unterschieden sein können.« (Maimon: Versuch über die Transzendentalphilosophie. 111).

Das Wirkliche I

der die Intensität entsteht, ist eben selbst eine unscharfe Grenze, daher können wir problemlos sagen, dass wir »dieselbe« Intensität, aber doch ganz anders erfahren. Schließlich sind wir oft bereit, diese Andersheit des Selbigen für hunderte von anderen Sachen ebenfalls zuzugestehen: für die Schönheit und Hässlichkeit von Gesichtern und Kunstwerken, für die Sinnhaftigkeit von Reden und Vorträgen, für den Geschmack von Linsen und Kalbsbrie, für das Verstreichen der Zeit, für die Berührung, für die Liebe, für die politischen Ideologien und Ideale, und in Wahrheit: für ein jedes Wirkliche, mit dem wir in Berührung kommen. Dennoch oder deshalb besteht hier weder völlige Willkür noch radikaler Solipsismus. Wir können darüber sprechen und wir können gar nicht anders, als darüber zu sprechen. Und wir können das, obwohl wir uns radikal nicht verstehen. Die Möglichkeit, dennoch zu sprechen, sowie die Tatsache, dass das nicht vollkommen aussichtslos ist, liegt schlicht daran, dass noch die unendlichen, infinitesimalen, kontinuierlichen oder brüsken Modulationen der Intensität eine gewisse Allgemeinheit hervorbringen. Es gibt sozusagen Typen der Intensität, die ganz einfach darauf zurückzuführen sind, dass sich gewisse Konstellationen wiederholen, nie ganz identisch, aber immer mit einiger Ähnlichkeit. Dazu gehören etwa die Lebensalter: So lebt die Intensität der Jugend von einer endlosen Zukunft; in ihr schlägt die Nadel des Kompasses wie losgelassen in alle Richtungen aus. Jung sein bedeutet: leichtfertig alle Möglichkeiten berühren, sich wie ein Schmetterling für Augenblicke hier niederlassen, zu schnuppern, probieren, um dann weiterzufliegen. Das Probieren, das Ausprobieren, ohne sich festzumachen, ohne eine Verantwortung zu übernehmen, die fortan für immer binden wird – das ist der wahre Sinn dieser Jugend. Und es ist ein guter Sinn, zeigt er doch an, wie das Seiende sich von der Verkettung ans Gewesene löst, wie die Last und die Verantwortung, wie das Unabschüttelbare der Eltern nicht seines und ihres sein muss, wie ein neuer Anfang immer wieder möglich wird, eine Diskontinuität im Sein, die von Levinas so eindrucksvoll beschrieben wird. Es ist die Intensität der Freiheit selbst: der unschuldigen, unbekümmerten. Dagegen kennt die Intensität des Erwachsenenlebens etwas, was der Jugend im besten Fall ganz einfach unbekannt ist. das Definitive. Weil es das Definitive gibt, das lastet, kann zugleich anderes »leicht« genommen werden in einem neuen Sinn: es kann achselzuckend ignoriert oder akzeptiert werden, als nicht fragwürdig, selbst wenn man sehr wohl weiß, dass es das ist. Die Last des Definitiven ist die Schwungkraft, die uns auf entschiedene Weise freisetzen kann von der Beliebigkeit und Endlosigkeit der Sorgen. Drei Bemerkungen noch: Erstens hat diese Theorie der Intensität einen handfesten Vorteil gegenüber den Reden vom »Sinn«: Sie kann auf das Luftige und Ungreifbare des Sinnes, aller idealen Entitäten verzichten, weil sie es lediglich mit dem Produkt von Körpern zu tun hat, die aufeinander wirken: immer meiner auf die anderen und umgekehrt. Damit ist aber einerseits eine Verwandtschaft zwischen den Menschen und dem Rest der Natur wiederhergestellt, der in den phänomenologischen Theorien des Sinnes verleugnet werden musste: der Sinn und sein Subjekt erschienen als radikal verschieden von dem Sein der Steine und Bäume und Planeten. Andererseits sind damit die epistemologischen Aporien überwunden, denn die Theorien des Sinnes mussten sich diesen immer fertig geben, während wir schon gesehen haben, dass er (wenn man unbedingt an seinem Begriff festhal-

229

230

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

ten will) immer nur aus Nachahmung und Wiederholung entsteht, ohne jede Garantie auf »Wahrheit«, nicht einmal auf Übereinstimmung. Und auf genau dieser Ebene siedelt sich die Intensität an. Sie ist einfach: Jedes Kind kennt sie. Anders als den Sinn. Zweitens könnte man fragen, wie sich diese Intensität zu den sinnlichen Qualitäten verhält? Steht sie neben ihnen? Diese Rede ist insofern berechtigt, als die Intensität nicht irgendeine Grundlage abgibt und auch kein Prinzip ist. Sie ist und bleibt Produkt, auch der sinnlichen Qualitäten. Sie ist aber selbst eben keine sinnliche Qualität, sie ist die Qualität des Wirklichen als solchen. Und insofern ist sie »grundlegender«, weil sie nun einmal immer mitschwingt. Sie ist das Wogen im Gewebe des Seins, seine Ruhe, sein Flattern, sein Anspannen im Wind der Zeit. Und schließlich gibt es noch eine erstaunliche Eigenschaft dieser Intensität. Denn sie kann willentlich beeinflusst werden. Man kann sie nicht schlechthin herstellen, wie man will, weil man eben nur ein Teil des Gewebes ist, in dem sie klingt; aber es gibt die Möglichkeit einer gewissen Manipulation. Ein Beispiel hierfür ist bereits erwähnt worden, es gehört in den Umkreis des phänomenologischen Philosophierens. Denn die Epoché ist so eine Manipulation der Intensität des Wirklichen als Wirklichen, aus der dieses herabgedimmt, entfärbt hervorgeht: Es bleibt alles erhalten, es ist alles wie vorher – und doch nicht, denn die Vielfarbigkeit der Welt erscheint plötzlich als bloße Reflexion im Licht der transzendentalen Subjektivität.14 In dieser Manipulierbarkeit liegt die Möglichkeit aller Weisheitslehren begründet, wie auch ihre Grenze. Mechanisch herstellbar ist hier nichts, jede Anstrengung von mir ist nur ein Faden in einem unendlichen Gewebe, deren andere Fäden teilweise von den Dingen und Menschen und Verhältnissen und mich herum gebildet werden; teilweise aber auch von dem Wirklichen, das ich bin, ohne es in meiner Gewalt zu haben. Was sich vor den Spiegel stellt, um sich positive Botschaften selbst zu schreiben, ist nun mal kein Subjekt im Sinn einer letzten Instanz, kein Mensch als organische und organisierte Einheit – sonst hätte er oder sie die lächerliche Übung nicht nötig. Was seinem Spiegelbild Komplimente macht, ist nur eine Maschine neben anderen, die gemeinsam – mich bilden. »Ich« bestimme nicht die Musik. Aber ohne mich klänge sie anders. Und ohne mein Wissen darum auch.

14

Ich hatte oben gesagt, dass mir persönlich die Epoché als Methode erreichbar war, im Gegensatz zur eidetischen Variation, und dass das wahrscheinlich daran lag, dass sie weiterhin vom Wirklichen handelt. Man sieht nun, dass die Phänomenologie, wenn sie sich als Metaphysik des Wirklichen verstehen lernt, nicht nur recht eigentlich zu sich kommt, sondern in der sich daraus ergebenden Theorie der Intensität erst die Grundlage ihrer eigenen Möglichkeit findet.

Politisch verdächtig

Eskapismus I. Ja, ich bin ein Liebhaber der Musik, – womit nicht gesagt sein soll, dass ich sie sonderlich achte, – so etwa, wie ich das Wort achte und liebe, den Träger des Geistes, das Werkzeug, die glänzende Pflugschar des Fortschritts… Musik… sie ist das halb Artikulierte, das Zweifelhafte, das Unverantwortliche, das Indifferente. […] Die Musik ist scheinbar die Bewegung selbst, – gleichwohl habe ich sie im Verdacht des Quietismus. Lassen Sie mich die Sache auf die Spitze stellen: Ich hege eine politische Abneigung gegen die Musik. […] Aber die Literatur muss ihr vorangegangen sein. Musik allein bringt die Welt nicht vorwärts. Musik allein ist gefährlich. […] Die Kunst ist sittlich, sofern sie weckt. Aber wie, wenn sie das Gegenteil tut? Wenn sie betäubt, einschläfert, der Aktivität und dem Fortschritt entgegenarbeitet? Auch das kann die Musik, auch auf die Wirkung der Opiate versteht sie sich aus dem Grunde. Eine teuflische Wirkung, meine Herren! Das Opiat ist vom Teufel, denn es schafft Dumpfsinn, Beharrung, Untätigkeit, knechtischen Stillstand… Es ist etwas Bedenkliches um die Musik, meine Herren. Ich bleibe dabei, dass sie zweideutigen Wesens ist. Ich gehe nicht zu weit, wenn ich sie für politisch verdächtig erkläre.1 So spricht der große Aufklärer Settembrini. Von der Musik hat er es hier, sie erklärt er für politisch verdächtig. Was nun aber, wenn wir sein Vertrauen ins Wort nicht mehr so ohne Weiteres teilen können? Was wenn im Gegenteil die Kunstformen, die das Wort, das helle und klare, bevorzugt verwenden, ganz ebenso der Zweideutigkeit und Unverantwortlichkeit unterliegen wie die Musik? Es könnte doch sein, dass es einen Quietismus auch der Romanliteratur gibt? Liegt nicht in der Fiktion als solcher bereits eine Beruhigung und Beharrung, ein mehr als fragwürdiger Eskapismus, den eine neue, eine noch einmal aufgeklärte Aufklärung, eine über ihre eigene Dialektik aufgeklärte, nicht hinnehmen darf? Ist sie nicht ihrer Natur nach genauso gefährlich, so dass man, würde unsere Metaphysik noch in Verboten handeln, das Schreiben von Romanen untersagen müsste?

1

Thomas Mann: Der Zauberberg. 160–162.

232

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Jedenfalls haben von einem philosophischen, von einem metaphysischen Standpunkt aus Literatur, Kunst, Fiktion nicht nur ein Problem; sie sind eines. Das natürlich nicht im Sinn der bekannten Kritik Platons, dass es mit der Kunst oder der Welt der Abbilder deswegen nicht so weit her sei, weil sie ja der ontologisch bereits defizitären Sinnenwelt huldige und weil sie dadurch eine weitere, noch mangelhaftere Serie von Kopien anfertigte. So ein Problem ist der Metaphysik, die nur Oberflächen zugibt, unbekannt. Ich will auch nicht unmittelbar auf die verderbliche Kraft der Betäubung eingehen, wie sie Settembrini beschwört – auch wenn sich zeigen wird, dass meine Ausführungen vielleicht einige Verbindungen hierhin wie dorthin unterhalten. Plakativ formuliert lässt sich die Aufgabe der Metaphysik so beschreiben: die Welt in ihrem Sein fassen, das Wirkliche als solches beschreiben, es dabei von aller Beimischung befreien, die aus dem Nicht-Seienden stammt, die aus dem Land der Schwärmerei kommt und nur provisorische Aufenthaltsgenehmigung in der Realität beanspruchen darf, das Ressentiment und den Aberglauben tilgen, in der Nacktheit des Wirklichen dessen Fülle aktivieren. Diese Aufgabe ist schon für sich besehen schwer genug. Man muss sich an jeder Ecke dessen versichern, dass man nicht einer Hypostasierung unterliegt, dass nicht eine Jenseitsidee sich einschmuggelt (und sei es unter dem nur scheinbar harmlosen Gewand der Erlösung in der Geschichte), dass nicht ein Fetisch eine Beziehung repräsentiert, die man nicht mehr sieht (etwa »Materie«, »Körper«, »Produktion«), dass man nicht vorgefertigten Schemata vertraut und dabei das Wirkliche als solches aus dem Blick verliert. Es gibt bereits einige »erkenntnistheoretische« Gründen, weshalb die Aufgabe der Metaphysik so schwierig ist. Es gibt aber – so scheint es jedenfalls – noch einen weiteren, diesmal keinen »theoretischen«, auch keinen erkenntnistheoretischen, sondern einen eminent praktischen, der – so scheint es wiederum – in der Natur des Menschen, gemeinsam mit seinen Trieben und Neigungen, wurzelt: Der Mensch hat einen ausgesprochenen Hang zum NichtWirklichen. Liebt er es nicht, über das zu philosophieren (wie wir gerne sagen, und wie bezeichnend!), was es gar nicht gibt, aber wohl geben kann; ist er nicht allezeit damit beschäftigt, nicht nur das Kommende vorwegzunehmen, um eine einfältige Kontrolle darüber auszuüben (zumindest glaubt er das), nicht nur im Vergangenen zu schwelgen (das er in seiner Schwelgerei ununterbrochen verfälscht, wie wir nur allzu gut wissen), sondern vor allem auch in Phantasie und Träumerei, in Spiel wie in Ernst das Wirkliche und Wahre zu überschreiten hin auf solches, was nie wirklich war und es auch nie sein wird. Das Wissen darum schränkt die Lust an der Träumerei nicht ein, im Gegenteil: Es scheint gerade das Phantastische des Phantasierten zu sein, was seine Lust ausmacht. Wenn ich mich zum König von Deutschland träume oder wildeste sexuelle Abenteuer bis ins Details ausmale, dann ist genau die freieste Verfügung über diesen Raum der Phantasie eben das, was mir den mit nichts vergleichbaren Genuss erlaubt. In der Wirklichkeit, die immer »idiotisch« ist, simpel, einfältig, eben nicht ins Mögliche verdoppelt,2 die ist, was sie ist, scheitert mein royaler Ehrgeiz schon an der Verfassungsform und mein sexueller wahrscheinlich noch früher. Die Phantasie jedoch lässt mich gleichgültig alle Schranken überschreiten, ins Reich absoluter Freiheit. Dort bin ich Mensch, da kann ich sein – oder so bilde ich es mir ein. 2

Vgl. dazu Clément Rosset: Le réel.

Politisch verdächtig

Und anstatt dass wir diese verderbliche Neigung zu domestizieren, vielleicht sogar auszurotten versuchen und damit – wer weiß? – eine neue Stufe des Bewusstseins erklimmen, feiern wir sie noch, diese Blendung, verlieren wir uns ganz im Spiel der Spiegelbilder, die nichts vorstellen, indem wir sie zur Kunst verklären und ihr unsere schönsten Stunden widmen. Uns ist offenbar nicht zu helfen… Diagnosen. Woher kommt diese Neigung, sich dem zu widmen, was es nicht gibt? Ist das eine tiefsitzende Faulheit, sich mit der Welt, wie sie ist, zu beschäftigen? Denn das setzt ja schließlich eine geduldige Arbeit voraus, die sich nicht so mir nichts dir nichts erledigen lässt, wie eine Skizze vom Aufbau des Todessterns. Mag schon sein, aber wie alles psychologische Denken ist auch diese These bloße Behauptung. Es ist in Wahrheit immer bedenklich, wenn man eine Neigung oder ein Prinzip einführt, das haargenau auf die Frage passt, die man gerade zu beantworten hat. Die Wiederholung der Frage in der Verkleidung eines Prinzips ist zwar eine weitverbreitete, aber deshalb noch lange nicht akzeptable Methode. Über die uhrzeitanzeigende Kraft der Uhr, die man den Scholastikern untergeschoben hat, braucht man sich dann jedenfalls nicht mehr lustig machen. Einen fruchtbareren Hinweis gibt Whitehead.3 Metaphysik hat es mit der Textur von Wirklichkeit zu tun, mit der Struktur von Welt/Erfahrung, also mit dem, was immer ist, wie es ist, und niemals anders sein kann. Wir erkennen, ja: wir bemerken aber fast nur in Differenz. Es ist wohl ein wenig wie mit der Sphärenharmonie, die man ja auch nicht hören kann, weil man sie immer hört. Wir müssen, so scheint es, das Unentrinnbare auf Abstand halten, das Immer negieren. Das leistet die Negation/Fiktion/Variation… Und deswegen ist sie dann auch unverzichtbar. Daher auch sehnt man sich nach ihr, denn sie schenkt Wirklichkeit. Sie ist Heimweh: ein Fernweh nach einer Heimat, die es noch zu entdecken gilt. Die These von Whitehead hat einige augenfällige Stärken. Die wichtigste ist vielleicht die, dass sie ohne alle Psychologie auskommt. Freilich, wir bemerken die »Unverzichtbarkeit« der Fiktion und der Negation auch und nicht zuletzt affektiv, eben durch eine Sehnsucht. Aber man kommt dort wohl ohnehin nur weiter, wenn man das Affektive nicht als eine Frage der Psychologie, sondern als eine der Ontologie denkt. Und Whiteheads Erklärung dieser Sehnsucht leistet immerhin das, denn hier transzendiert der Mensch das Wirkliche, um es freizusetzen. Dieses Ereignis ist der Grund der Sehnsucht. Nicht wird eine Situation überschritten hin auf alle Möglichkeiten, die sie eröffnet, und selbst noch auf die, die sie übersteigen, sondern die Situiertheit selbst, das Prinzip der Situiertheit und die Grenze von Möglichkeit und Unmöglichkeit selbst werden überschritten. Aber warum genau ist diese Sehnsucht so stark, wenn es nicht einfach nur um die Überschreitung des Gegebenen geht, sondern um die Überschreitung noch der Gesetze aller Gegebenheit? Nicht jede Fiktion ist gleich. Wenn ich eine Liebesgeschichte erzähle, dann liegt darin – zuerst einmal – nichts Transzendentes: Es mag sein, dass ich eine Geschichte erzähle, die sich so nie zugetragen hat, ich bin darin dennoch der Struktur und den Gesetzmäßigkeiten einer Welt gefolgt, die ich kenne: Die Geschichte hätte sich ohne Weiteres so zutragen können. 3

Vgl. Alfred North Whitehead: Process and Reality. 4f.

233

234

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Ganz anders ist es aber, wenn ich eine Geschichte von Zombies und Vampiren erzähle. Freilich, diese Wesen »stehen für etwas«, und »irgendwie« sind wir alle Zombies, und wir sind das nicht zuletzt, weil es Vampire gibt. Das stimmt alles, aber es besteht doch kein Zweifel daran, dass es Zombies und Vampire eben nur »in gewisser Weise« und »irgendwie« gibt, nicht aber in Wirklichkeit (bis auf Weiteres und soweit ich weiß). Wir dürfen nicht so tun, als gäbe es hier keinen Unterschied, wenn wir die Verlockung des Fiktionalen richtig einschätzen wollen. Denn man kann nun sehr wohl argumentieren, dass die Fiktion, die das einbringt und vorstellt, was es nicht nur nicht gibt, sondern nicht geben kann, in allen Belangen wirkungsvoller ist. Diese These hat, so scheint es, zwei Probleme: Erstens scheine ich ja ziemlich genau zu wissen, was Wirklichkeit ist, um das, was es nicht geben kann, davon zu unterscheiden. Und zweitens mache ich damit ja vielleicht nur meine persönlichen Vorlieben zu philosophischen Wahrheiten: Das ist ein zwar nahezu universaler Vorgang, auch und gerade unter Philosophen, sollte trotzdem aber nicht unwidersprochen bleiben. Zunächst zum Zweiten: Ob man nun Zombiefilme oder Liebesfilme bevorzugt, ist wohl gar nicht so entscheidend. Denn der Witz ist, dass die Situation dort doch keineswegs anders ist. Liebesgeschichten geschehen in unserer Welt, Zombiegeschichten nicht (hoffentlich!). Keine Frage. Aber die Art und Weise, wie die Liebe in der Liebesgeschichte erscheint, macht einen großen Unterschied. Richtig knallt eine solche Story doch nur, wenn die Liebe nicht einfach nur eine Liebe ist, sondern Schicksal: Wirkung einer alles Endliche übersteigenden Lenkung und Leitung der »Geschicke« der Einzelnen. Damit ist nicht das Geringste ausgesagt über die künstlerische Qualität solcher Erzählungen, die ja vielleicht sogar bei dieser Transzendenz eher leidet. Es ist auch nichts gesagt darüber, dass es keine intensiven, überwältigenden Liebesgeschichten geben kann, die sich nicht auf dieses Mittel stützen. Immerhin ist der vielleicht berührendste Liebesfilm, Hanekes Liebe, völlig frei davon. Aber knallen tut es schon. Es macht Effekt, und weil das jeder weiß, kann es auch schnell mal zur Effekthascherei kommen. Man kann deshalb sagen, dass der Effekt des Schicksalhaften und der des Monströsen gleich sind, oder so: dass sie zwei Seiten ein und derselben Tendenz zur Überschreitung des Wirklichen sind. Auch ihre jeweilige Lust muss dann verwandt oder sogar dieselbe sein, wie die helle und die dunkle Seite des Mondes.4 Unterscheiden wir also sehr vorläufig: Wirklichkeit – Fiktion im Rahmen des Möglichen – Fiktion jenseits aller Wirklichkeit. Die größte Sehnsucht geht von der letzteren aus, auf sie zielt unsere Fabulation hin, und damit auch unsere Metaphysik. Nur haben wir immer noch nicht erklärt warum. Whiteheads Erklärung gelingt es, diese Tendenz sowohl in ihrer Funktion für die Erkenntnis als auch als ontologisches Ereignis verständlich zu machen. Aber das Eigenartige ist doch dies: Selbst angenommen es stimmt, dass die Überschreitung der Grenzen des Möglichen uns die Welt als wirkliche erst schenkt,

4

Es gibt auch eine philosophische Erwirkung von Affekten, die sich gelegentlich zur Effekthascherei versteigt. Ich habe in der ›Abendländischen Erd- und Himmelskunde‹ diese Prozesse näher analysiert (in: Vom Denken im freien Fall. 219–303). In einer kommenden Arbeit werde ich zu zeigen versuchen, dass man das reaktionäre Schreiben als eine Systematisierung der Affekthascherei auffassen muss.

Politisch verdächtig

wie kommt es dann, dass wir uns im Unmöglichen am liebsten häuslich einrichten würden? Wir wollen ja gar nicht mehr zurück, wir wollen uns ja gerade nicht die Welt als das andere des Fiktiven schenken lassen, sondern die Welt, die ist, wie die fiktive. Und wenn meine Liebe sich so gar nicht nach Schicksal anfühlt, dann ist es wohl noch keine wahre Liebe – oder?5 Wenn also die Aufgabe der Fiktion darin besteht, die Welt zu überschreiten, um sie uns zu schenken, dann muss man wohl sagen, dass sie ziemlich versagt, weil sie alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Vielleicht ist es ja genau umgekehrt: Muss unser Leben nicht im Vergleich mit all den wundersamen Dingen – Schicksal, Zombies, das Böse, oder auch: das Vaterland etc. – reichlich angestaubt und langweilig, nichtssagend erscheinen? Wenn das Drama, wie Hitchcock sagt, das Leben ist, nachdem man die langweiligen Teile rausgeschnitten hat,6 ist dann das Leben nicht im Wesentlichen die Restesammlung der langweiligen Teile, nachdem man das Drama offenbar hauptsächlich anderswo verwendet hat? (Hauptsächlich, denn manchmal gibt es dann sehr wohl Drama, und meistens werden wir wünschen, es hätte keins gegeben.) Also nicht nur blickt unsere Sehnsucht ins Fernste, jenseits der Horizonte alles Möglichen, immer auf der Suche nach dem Ort, wo der Regenbogen den Boden berührt; sie verliert sich nicht selten auch da, will sich nicht mehr losreißen, verweigert die Komplizenschaft mit einer Realität, die langweiliger, enervierender, auszehrender ja nun wirklich nicht sein könnte – sie schenkt gerade nicht die Wirklichkeit, wie sie ist, sondern entwertet diese. (Man sehe einmal zu, wie schwer es ist, sich aus einem Computerspiel zu lösen, und wie lange man danach oft braucht, bis man wieder zurück ist in dieser Wirklichkeit.) Woher also die Tendenz zur Überschreitung? Man könnte wohlwollend immerhin so argumentieren: In der Überschreitung über alles Mögliche hinaus vollziehe ich die Wahrheit, auf die alle Politik sich gründen muss: dass es nämlich keine endgültige und natürliche Grenze zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen gibt. Daher ist die fiktionale Vernichtung der Grenze die Antizipation und der Vollzug jener Befreiung im Modus des Spiels, die letztes Ziel und größte Macht des Menschen ist. Auch darin liegt nun wieder etwas Wahres. Aber erstens scheint die Verliebtheit ins Fiktionale keineswegs so ohne Weiteres eine Feier der Befreiung und der Mächtigkeit des Menschen zu sein; darin liegt doch im Gegenteil eine unzweifelhafte Trägheit und Passivität. Sicher, man kann den Impuls aufnehmen und weitergeben, selber schreiben und spielen, oder auch nur träumen; aber garantiert ist das nicht.7 Und zweitens schießt das 5

6 7

In der Komödie The Mirror has two Faces mit Barbra Streisand und Jeff Bridges ist das einmal auf den Punkt gebracht: Da kritisiert die Literaturwissenschaftlerin, die Streisand spielt, in ihrer Vorlesung genau die romantisierenden Klischees von Liebe in ihrer Vorlesung und ruft schließlich aus: »When my date takes me home and kisses me good night, if I don’t hear the philharmonic in my head, I dump him?« Die Pointe ist, dass am Ende, wenn sich das Paar dann final in den Armen liegt auf abendlicher Straße in New York, der italienische Nachbar, der Zeuge der leidenschaftlichen Versöhnung wurde, den Plattenspieler anwirft und eine romantische Arie in die Straße schallen lässt. Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? 91. Im Gegenteil: die fatale, aber naheliegende Tendenz vieler fiktionaler Produkte führt zu einem Maximum an Drama: Angst, Bedrohung, Katastrophe, Weltuntergang – und all das sind intrinsisch

235

236

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Ganze doch über das Ziel hinaus: Es ist (in gewissen Grenzen) wahr, dass der Mensch sich seine Welt macht und dass emanzipatorische Politik von der Prämisse ausgehen muss, dass es nichts gibt, was nicht möglich ist – zumindest, dass wir nicht sicher sagen können, wie die Grenze ist. Aber das kann wohl nicht so leichthin auch für solches gelten, was nur der Domäne des Physischen angehört. Wie kann ich mich in der Idee von Zeitreisen verlieren, von Labyrinthen, die keinen Ausgang kennen und mit jeder Biegung sich vergrößern, von Spiegeln, die die einschließen und in eine neue, andere Welt entführen, die in sie schaut? Keine Revolution der Welt wird etwas daran ändern können, dass das Vergangene nicht mehr nachträglich verändert werden kann, zumindest nicht in einem naiven, empirischen Sinn,8 dass also eine Zeitreise nicht einfach nur ein wenig unmöglich ist, sondern der gesamten Struktur von Zeit selbst widerspricht. Was sollte diese Fiktion zu tun haben mit der Fähigkeit des Menschen, die Grenzen des Möglichen und Unmöglichen zu verschieben, da sie sie hier doch geradezu abzuschaffen scheint? Aber vielleicht ist das ja gerade der springende Punkt: Haben all die Sachen, die den meisten Eindruck machen, die »Eindruck schinden«, nicht gemein, dass in ihnen eine Wirksamkeit aus dem Nichts entsteht? Immer ist das Gesetz der Kausalität gebrochen, immer tritt eine Macht auf, die in keiner Weise auf die empirische Welt zurückgeführt werden kann, immer klafft ein Abgrund. Das Schicksal ist nichts anderes als die Durchbrechung und höhere Order der kausal verknüpften Geschehnisse selbst, eine Macht, die ständig eingreifen kann (auch wenn sie es vielleicht nicht immer tut), um die Einsinnigkeit und Plattheit von Wirkung und Ursache aufzuheben. Der Zombie ist ein Wesen, das zu »leben« beginnt, wenn es stirbt, das also den Zusammenhang und Gegensatz von Leben und Tod durcheinanderwirbelt – immerhin eine nicht ganz unwichtige Sache für uns. Vampire nehmen es mit der Sterblichkeit ebenfalls nicht so genau. Zeitreisen drehen die Zeit um, das Einzige auf der Welt, was man per definitionem nicht umdrehen kann. Die Schauplätze von Gruselgeschichten – die Orte, zu denen man hinkommt, von denen man aber nicht mehr wegkommt – setzen die nüchternste Logik des Raums Schachmatt: »You can check out any time you want, but you can never leave.« Wir kennen das nur aus dem Traum. Der Traum wiederum ist, das scheinen wir doch eigentlich zu wissen, der Wirklichkeit ontologisch nach- und untergeordnet, aber genau aus der Bestreitung dieser Gewissheit entstehen die drolligsten Möglichkeiten für die Schauergeschichte: Und wenn Freddy Krueger einen im Traum tötet, stirbt man auch in der Wirklichkeit. Und das Böse, nun, das steht schließlich ganz für sich – wie das Gute

8

antidemokratische Szenarien. Sei es, weil dann wirklich nur noch das blanke Überleben zählt (und Hobbes also recht gegeben wird), sei es, weil auf solcher Bühne der nachdenkliche Mahner nur als Witzfigur auftreten kann, sei es, weil für die geduldige Aussprache über das, was nun zu tun wäre, unter der maximalen Bedrohung nie Zeit ist, sei es, weil jedes Bild absoluter, abgrundtiefer Schlechtigkeit (wie gerne im Horrorfilm) die Idee angeborener Dispositionen verstärkt. Dagegen, welche Meisterschaft wäre nötig, um einen nicht-katastrophischen, nicht-alarmistischen Horrorfilm zu drehen. Unmöglich, müsste man sagen. Gäbe es nicht den Babadook. In einem anderen, tieferen Sinn ist diese Forderung aber merkwürdigerweise nicht ohne einen zwingenden Sinn. Es ist Benjamin, der diesen Imperativ, die vergangenen Geschlechter zur »retten«, als eine dezidiert politische Forderung formuliert; vgl. dazu meinen Kommentar: Konstellationen. 349ff.

Politisch verdächtig

übrigens auch, womit wir fast schon wieder beim Schicksal wären, das sich ja oft nicht entscheiden kann, was es ist.9 Ist die Verführung also unwiderstehlich? Gibt es kein Entrinnen: Muss Literatur, muss Fiktion letztlich eine Transzendenz entwerfen, in der andere Gesetze herrschen und die von dieser Welt unserer Erfahrung durch einen Abgrund getrennt ist? Dann wäre es in der Tat moralisch kaum vertretbar, noch Romane zu schreiben. Zumindest wäre jeder Roman Propaganda für eine falsche Metaphysik… Eine Propaganda, die deshalb so verführerisch ist, weil sie lustvoll ist. Es gibt eine besondere Lust und Effektivität der Überschreitung. In ihr liegt etwas Pathetisches, Erhabenes. Dagegen ist die Philosophie der Immanenz in gewisser Weise zur Nüchternheit verdammt. Man kann sich vielleicht im Prinzip einen spinozistischen Horrorfilm denken; eine wirkungsvolle Umsetzung, die mit den Fiktionen vom Bösen, Dämonischen, Grundlosen mithalten kann, wird aber schwer werden. Nicht selten verpufft ja auch der Effekt einer Erzählung, gerade einer Erzählung, die es mit dem Unerklärlichen und dem Unheimlichen zu tun hat, mit Horrorgestalten und Serienmördern, mit der »Aufklärung«: Wird die Abfolge beängstigender Geschehnisse, die einer eigenen Logik – des Dämonischen oder des Bösen – zu folgen scheint, so geordnet, dass sie zumindest formal der Logik der Erklärungen in unserer Welt entspricht (so dass man etwa erfährt, was das Monster »will« oder wie der Mörder »böse« geworden ist), dann bleibt von der Grundlosigkeit nichts mehr übrig. Der Effekt ist dahin. Grundlosigkeit und Transzendenz gehören natürlich zusammen: Die Grundlosigkeit ist der Abgrund, der unsere Welt von der anderen trennt, die in der Erzählung imaginiert und ausgesponnen wird. Dann gälte, dass man zwar weiter Romane schreiben darf, dass man es bei ihnen aber gleichwohl mit einer tendenziell metaphysisch täuschenden Sache zu tun hat: Man darf ihnen nicht vertrauen. Literatur wird sehr wohl moralisch verdächtig. Außerdem scheint das Medium der Fiktion eine Art Eskapismus geradezu nahezulegen: Hat man je gehört, dass ein Roman oder ein Film eine Revolution ausgelöst hätte? Natürlich gibt es Propaganda, teils mit widerlicher Effizienz. Und doch scheint sie nur im Kontext einer auch sonst schon vergifteten Umgebung zu wirken, scheint sie vielleicht sogar die Macht des Staates zu brauchen, um Wirksamkeit entfalten zu können. Wie ist es sonst zu erklären, dass z.B. die tausend Filme, in denen gierige Industrielle oder andere Kapitalisten die Bösewichte sind, und nicht selten auch strukturelle Bösewichte (wenn es so etwas gibt), noch nie zu irgendeiner politischen Aktion geführt haben? Markiert vielleicht jede noch so kleine Metapher einen zu weiten Weg zur Wirklichkeit, als dass das derart Kompromittierte (mit der Möglichkeit des Kompromisses Kompromittierte) noch in ihr wirken könnte? Was könnte hierzu noch die Alternative abgeben? Agitprop etwa?

9

Man sieht diese Faszination für das Grundlose auch in vielen verbreiteten Redeweisen und Ideologien. Wenn man etwa einem grausamen, sadistischen, skrupellosen Mörder bescheinigt, er sei böse, oder vielleicht sogar abgrundtief böse, dann hat man damit noch nichts erklärt oder verstanden – und offenbar geht es auch nicht primär um ein Verstehen und Erklären. Man hat aber dem Kitzel der Grundlosigkeit nachgegeben, und das entschädigt für fast jeden Erkenntnisverlust, von dem wohligen Gefühl moralischer Überlegenheit ganz zu schweigen.

237

238

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Intermission. Kurze Liste fiktionaler Motive (metaphysisch fragwürdig, ästhetisch wirkungsvoll) (unvollständig). Die Durchbrechung der Zeit, als ein Ausgriff aufs Ewige, Zeitlose, als Einfall des Ewigen und Zeitlosen in die Zeit, als das Aufbrechen des Zeitlichen mithilfe des Ewigen, ins Zeitlose hinaus, als paradoxe »Gleichzeitigkeit« des Ewigen und Zeitlichen, das Anhalten der Zeit, die Umkehrung der Zeit, die Zeitreise, die Nichtexistenz der Zeit… Die Einebnung des Unterschieds von Realität und Fiktion oder Realität und Traum. So dass sich beide nicht mehr unterscheiden lassen. Etwa in einem Horrorfilm, in dem der Protagonist bald nicht mehr weiß, ob er träumt oder wacht, ob er in einer fiktiven Welt lebt oder in einer realen, wo aber zugleich das Fiktive und der Traum handgreifliche Effekte auf die Realität haben. Damit verbunden ist oft (aber nicht zwingend) die Idee einer tieferen, wahreren Seinsebene als die, die wir kennen. Beides hat auch zu tun mit der Idee der Inspiration, einer Botschaft von oben oder aus dem Jenseits, einer Dechiffrierung eines Textes, in dem eine andere Wahrheit geschrieben ist. In Filmen kommt das zum Beispiel dann zum Tragen, wenn eine Aufzeichnung (ein Text, ein Bild, eine Tonbandaufnahme oder ein Video) immer wieder neu bemüht wird, um ihr ihre Wahrheit zu entlocken – eine Wahrheit, die dann am Ende noch einmal ganz anders sich darstellt. Dieses Prozedere verfehlt fast nie seine Wirkung. Wahrscheinlich deswegen, weil es dann fast so ist, als spräche eine Vergangenheit mit uns, direkt mit uns, als wäre das Intervall übersprungen. Es ist aber noch mehr: Denn es spricht auch eine Wirklichkeit mit uns, die erst gebeten werden muss, sich zu offenbaren, deren Wahrheit sich nicht einfach so gibt, sondern wie eine Gnade, plötzlich, und fast zu spät. Kapriziös. Wie willentlich. Dabei war die Wahrheit, die erst spät lesbar wird, immer schon da, und man untersucht die Aufzeichnung auch in genau diesem Bewusstsein. So wird die Aufzeichnung zu einem mystischen Text, den eine Wirklichkeit geschrieben hat, um uns ihre Überlegenheit zu demonstrieren, ihre Verbergung und ihre Launenhaftigkeit. Kein Wunder also, wenn oft in diesen Momenten das Motiv mit eintritt, dass eine Person z.B. in einer Videoaufzeichnung plötzlich direkt in die Kamera blickt, den Zuschauer anblickt, sowohl den des Films als auch den, der im Film der Aufzeichnung ihr Geheimnis zu entlocken sucht. Es ist auch eine Bedrohlichkeit des Seins, die sich da ausspricht. Tod und Leben: Der Tod nicht als Ende, sondern als eine Zwischenstufe, auf der man verharren kann (wie in Gespenstergeschichten), in der man sich gar verlieren kann (so dass die Toten vielleicht nicht einmal verstanden haben, dass sie tot sind, wie gelegentlich in Horrorfilmen), als Übergang zu einem anderen Leben (wie in vielen Religionen) oder in ein Nichts (das ganz genauso ungreifbar wie ein jenseitiges Leben ist), als eine Transmutation oder eine Metempsychose, als »Weiterleben« als Zombie, als eine Wiederkehr als Vampir, Geist etc. Immer geht es um eine Umdrehung des Todes in eine (geheimnisvolle) Art von Leben.10

10

Motive der Religion können offenbar in solche des Horrors übergehen, ohne dass beides geradehin dasselbe ist, wenn es auch beides von der Durchbrechung der Immanenz zehrt. Der Übergang ist im Grunde einfach erklärt. Nach Freuds Hypothese kann uns nur solches unheimlich werden, das uns einst vertraut war, unser »Heimlichstes«. Somit entsteht die Möglichkeit des Horrors gerade aus dem Untergang der Religion: Was nicht mehr als eine Realität glaubwürdig sein kann, kehrt

Politisch verdächtig

Die Durchbrechung von Raum und Bewegungslogik. So etwa wenn einer gefangen ist in einem Labyrinth, das keinen Ausweg kennt. Auch das ist in Horrorfilmen besonders pointiert ausgedrückt, etwa in Cube oder in Filmen, wo es darum geht, dass einer nicht mehr aus einem Hotel, einem Haus etc. rausfindet. In der Wirklichkeit finden wir aber immer einen Ausweg, zumindest aus Räumen. Varianten davon sind die Einmauerung bei Poe (Das Fass Amontillado) und vor allem eben das Labyrinth: Auch das Labyrinth ist also schon verdächtig. Es mag zwar in der Praxis meistens recht schlicht sein und einen Ausweg kennen, den man sogar, ist einem der Trick bekannt, immer leicht finden wird. Es tendiert aber auf eine Anordnung, in der jemand sich unversehens so wiederfindet, dass er idealerweise weder weiß, wie er hineingekommen ist, noch wo es hinausgeht – ja: idealerweise ist das Labyrinth der Ort oder die Konfiguration von Ort/Räumlichkeit, in der man sich findet, ohne hineingeraten zu sein, und aus der es keinen Ausweg gibt, nur Irrwege (also objektiv, und nicht nur für das Subjekt).11 Die Ideen der Magie, der Glätte, der Perfektion, der Aufhebung der Widerstände. Es gehört hierher all das, was eine solche Beherrschung eines Tuns in Szene setzt, dass die damit noch verbundene »Anstrengung« reine Behauptung bleibt. Das ist eine dezidiert idealistische Fiktion, die darin gründet, dass man die Absicht, die Intention und die reibungslose Abfolge von Prozessen für das Erste und Wahre hält, das nur im Nachhinein verunstaltet wird, meistens, indem es auf den unbotmäßigen und unvollkommenen Körper angewiesen ist. Die Zauberer und Magier gehören hierher, die Exorzisten und Hohepriester sowieso; aber auch die genialen Detektive, die alles sofort sehen, genauso wie die geduldigen Wissenschaftler, denen sich immer die Antwort auf eine Frage in schlichter Eindeutigkeit – Eins oder Null – gibt; die Sportler und Künstler, wie sie eine gewisse Phantastik imaginiert; und besonders bildhaft die Superhelden, deren Bewegungen keine Fehlgriffe und keine Verzögerungen, kein Zuspät und kein Daneben mehr

11

wieder als Unheimliches. Für ein Bewusstsein, dem eine Volksreligiosität unbefragte Gewissheit ist, sind Geister, Teufel, Widergänger usw. ganz einfach Gegenstände einer Realangst (wie wiederum Freud das nennt): Man muss sich vor ihnen hüten, so wie vor Schlangen oder Viren. Wo diese Gewissheit aber nicht mehr besteht, da können gleichwohl die Gegenstände und der auf sie bezogene Affekt fortbestehen; sie werden aber ihren Charakter ändern müssen. Das ist ein Motiv, das in verschiedenen Variationen von Borges durchgespielt wird. Überhaupt gibt es kaum einen Autor, der derart kunstvoll die seit der Renaissance beliebte Idee des Lebens als Traum, Theaterstück, als Fiktion, als Labyrinth wieder und wieder zum Quell wirkungsvoller Schöpfungen gemacht hat. Borges ist der große Fiktionalist: ein Schriftsteller, der nicht nur Fiktionen erfindet wie alle, sondern der das Erfinden der Fiktionen für die Herstellung der Wirklichkeit ausgibt, zumindest in seinen Fiktionen. Damit ist er Vorläufer der Idee, die die sogenannte Postmoderne totgeritten hat; aber vorwerfen kann man es ihm nicht. Denn Borges ist Autor grandioser, unvergesslicher, origineller, komischer, bewegender, unheimlicher, faszinierender Fiktionsfiktionen. Und genau damit ist er ein paradigmatisches Beispiel für die Verbindung des künstlerisch Eindrücklichsten mit dem metaphysisch Falschesten. Borges gibt selbst darüber Auskunft, wenn er seine Bewohner von Tlön, die doch Statthalter genau der Idee sind, Denken und Imagination erschüfen Wirklichkeit, die Metaphysik so einschätzen lässt: »Der Umstand, dass jede Philosophie von vornherein ein dialektisches Spiel, eine Philosophie des Als Ob ist, hat zu ihrer Vervielfältigung beigetragen. Es wimmelt von unglaublichen Systemen, deren Struktur jedoch angenehm oder sensationell ist. Die Metaphysiker auf Tlön suchen nicht die Wahrheit, nicht einmal die Wahrscheinlichkeit: Sie suchen das Erstaunen. Sie halten die Metaphysik für einen Zweig der phantastischen Literatur.« (Borges: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius. 23)

239

240

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

kennen, sondern nur perfekten, harmonischen, niemals unterbrochenen und jederzeit gelingenden Fluss; und auch die Faszination für solche Wesen, die selbst noch in ihrer moralischen Gleichgültigkeit oder Verkommenheit eine makellose Präzision verraten, deren Grausamkeit gleichsam ein einziges Kunstwerk ist, egal ob es ein Hannibal Lecter ist, der offenbar auf Jahre im Vorhinein die Handlungen, Gedanken und Schlüsse aller anderen vorhersagen kann, oder das Alien, das einmal das perfekte Raubtier genannt wird (und das in dem Science-Fiction-Thriller Life einen würdigen Nachfolger gefunden hat). Nicht weniger faszinierend sind die Fiktionen der Physik, etwa wenn sie von 11 Dimensionen spricht oder Materie auflöst in Strings, in unendlich dünne Fädchen. Und daran kann natürlich wieder die Science-Fiction anknüpfen, etwa in Liu Cixings Spiegel, wo an diese Theorie der Strings einerseits die Idee eines Stringcomputers geknüpft wird, der zu einer grenzenlosen Rechenleistung fähig ist, und wo andererseits die Idee des Determinismus wiederbelebt wird: Beides sind natürlich ebenfalls reine Fiktionen, reines Nicht-Sein. Apropos Determinismus. Eine Lektüreerfahrung: Als ich Schopenhauers Freiheitsschrift zum ersten Mal gelesen und das Buch zugeschlagen hatte, lief ich wie betäubt durch die Stadt, und es wollte mir scheinen, als sähe ich die Fäden (vielleicht ja auch Strings), die über einem jeden Menschen gespannt waren, dem ich begegnete, und die auf einen unsichtbaren, kaum denkbaren (weil gerade nicht personalen) Puppenspieler hinführten, der sie tanzen und eifern ließ, so als ob sie ihr Schicksal selbst in den Händen hätten. Das ist freilich in mehr als einer Hinsicht eine völlige Unwahrheit: Erstens wird wieder eine absolute, eine abgekoppelte Seinsebene erfunden, die mit dieser Welt hier nichts zu tun hat, die Welt des An-sich, bei Schopenhauer: des Willens, der außerhalb von Raum und Zeit steht, wo man dann noch wunderbare Charakterwahlmythen schreiben kann etc. Zweitens wird die für uns ganz unbezweifelbare Gewissheit bestritten, dass Menschen selbst über sich und ihr Tun entscheiden. Es gibt keine absolute Freiheit, d.h. keine schrankenlose und bedingungslose Entscheidungsfähigkeit der Menschen über sich. Aber es gibt eben sehr wohl eine Entscheidungsfähigkeit, oder noch genauer: Menschen sind von sich aus, handeln daher »spontan« (sponte sua), wenn auch nie in totaler Selbstbestimmung (dazu gleich), sie wirken aus sich selbst heraus, ohne »Hintergedanken«. Aber gerade der Determinismus ist unerschöpflicher Quell von solchen kontrafaktischen Erzählungen, seien sie biologistisch inspiriert oder theologisch oder sei es eine Matrix oder ein Schicksal oder die Bosheit des Menschen usw. usf. Alle diese Erzählungen sind höchst eindrucksvoll. Und alle sind höchst falsch. (Es gehört in diese Reihe auch der Unfug eines absoluten Wissens, der ebenfalls im Spiegel von Liu auftaucht.) Ist es vielleicht also besser, einer radikalen Freiheitslehre das Wort zu reden? Oder einem konsequenten Indeterminismus? Die Freiheitslehre hat aber ihr eigenes Problem: Sie trennt schon wieder das Subjekt von sich selbst, schafft einen Spalt im Sein, wo keiner ist, zumindest nicht der, den sie unterstellt. Und genau diese Spaltung, oder noch genauer: diese Verdoppelung schafft ja erst die Möglichkeit, die konzeptuelle Möglichkeit, eine metaphysische Entfremdung des Menschen zu denken. Leibniz, Kant, Sartre, Schopenhauer teilen also die Voraussetzung des Determinismus und der ganzen falschen Fiktionen. Der radikale Indeterminismus ist ebensolcher Unfug, wenn er wirklich

Politisch verdächtig

radikal gedacht ist. Dann gäbe es ja gar keine Abfolge von Ursache und Wirkung, von Heute und Morgen, von Wort und Gedanke etc. Sein ist nun einmal nicht Chaos, nur wieder in Erzählungen, vor allem in solchen moralischer und moralisierender Natur – als Schreckgespenst für Ängstliche. Doppelgänger und die Entpersonalisierung (oder Depersonalisierung). Der Doppelgänger ist ganz fraglos unheimlich, und Literatur und Film haben daraus nicht selten die schauderhaftesten Geschichten gewoben (E.T.A. Hoffmann, Hofmannsthal, Dostojewski; Hitchcock; Us…). Doppelgänger, das bedeutet: Ich selbst bin plötzlich noch mal da, aber nicht als ich. Aber ich bin doch nur einmal da, und das weiß ich auch. Das vielleicht gegenteilige, vielleicht aber auch einfach verwandte Phänomen ist das des Verlusts des Ich, der Person, des Selbst. Auch das wird gerne in Erzählungen und Filmen verwendet, wenn eine nicht mehr weiß, wer sie ist, aufhört, sie selbst zu sein. Das kann den »harmlosen« Fall einer totalen Veränderung der Persönlichkeit ausmachen (etwa in Bekehrungen, in radikalen Positionswechseln, oder in der »Reformierbarkeit des Menschen«), das kann aber auch noch radikaler gedacht sein, z.B. in Dark City und vergleichbaren Filmen. Oder in Blade Runner, wenn die Leute nicht mehr wissen können, ob sie Menschen oder Androiden sind. Eine weitere Variante sind die Geschichten der »Persönlichkeitsspaltung«, der dissoziativen Persönlichkeitsstörung: An die Stelle der einen Person treten plötzlich viele, die unterschiedliche Eigenschaften, Charaktere, sogar Kenntnisse und physiologische Merkmale haben (z.B. Unverträglichkeiten), die miteinander um die Führung »im Menschen« konkurrieren und die vielleicht nicht einmal voneinander wissen. Man sieht: Alles, was hier aufgeführt ist (Verdoppelung, Depersonalisierung, Persönlichkeitsspaltung), ist ja unzweifelhaft real, und zwar kennt die Psychopathologie solche Phänomene. (Allerdings ist umstritten, wie weit gerade das dritte hiervon tatsächlich reichen kann.) Wir sprechen also in der Tat von Vektoren des Wirklichen: So ist »Person« oder »Ich« oder »Selbst« der je neu verhandelbare, auszurechnende Schnittpunkt eines zentrifugalen und eines zentripetalen Vektors. Es ändert aber nichts daran, dass es »reale« Doppelgänger einfach nicht gibt. Dennoch verschaffen diese Erzählungen eine ganz eigentümliche Lust. Das Schicksal. Das Schicksal ist der blinde Puppenspieler des Weltlaufs oder eine Macht, die nur in Rätseln spricht, die aber sehr wohl zu ihrer Dechiffrierung auffordert. Auch hier übertreten wir die Grenzen der Wirklichkeit und erfinden uns eine neue, eine höhere Wirklichkeit, in der andere Gesetze gelten und in der es um mich geht. (Dagegen, kein Zweifel, in der Wirklichkeit geht es mir um mich, und auch noch ein paar anderen, aber der bei weitem größte Teil des Seins steht mir völlig gleichgültig gegenüber.) Etwas denkt an mich. So ist das Schicksal ein Mythos des Romantikers wie des Spielers. Wenn dieses Etwas eine Person ist und wir mehr darüber wissen, nennen wir es Gott. Und ganz schnell wird Gott zum Inbegriff all dessen, was über die Wirklichkeit hinausgeht bzw. was nicht ihrer Gesetzmäßigkeit untersteht. Und da es so viele verschiedene Richtungen gibt, in denen man von Gott sagen kann, dass er ganz anders ist als die Wirklichkeit, die wir kennen (und weil daher jede Theologie zumindest als ein unverzichtbares Moment eine negative Theologie beinhaltet), gibt es auch so verschiedene und untereinander ganz inkohärente Begriffe von Gott. Andere Beispiele: Das Nichts, der Abgrund, der Ungrund, die Dunkelheit, die Nacht usw. – alles natürlich irrelativ gedacht, also aus den Umständen gelöst, in denen es in der Wirklichkeit auftritt. So gibt es die Nacht rea-

241

242

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

liter nur als Gegenstück zum Tag. Aber in einer gewissen literarischen oder philosophischen Überhöhung gibt es dann plötzlich die absolute Nacht, die sich eben nicht mehr durch ihren Unterschied zum Tag definiert, sondern durch sich selbst. Die Nacht ist selbstbezüglich geworden. Die Rekurrenz des Endlichen und das Ganze des Seins. Das Letzte führt auf den Beginn einer Antwort auf die Ausgangsfrage (was das ist am metaphysisch Falschen, das es so hervorragend geeignet macht zu einer wirkungsvollen Inszenierung): Vielleicht geht es nicht so sehr darum, das Wirkliche zu relativieren, indem es in einen Horizont des Möglichen gestellt wird, indem es so gewissermaßen ins Vibrieren gerät und intensiv wird, erlebbar wird (wie es Whitehead beschreibt). Vielleicht geht es vielmehr um die Struktur der Rekurrenz selbst. Auch die Rekurrenz ist ein Motiv, das sich vielfach in den gemeinten Fiktionen findet. So z.B. in der prinzipiell endlosen Verschachtelung des Traums, der nur wieder einen neuen Traum beherbergt, und woraus der Horrorfilm so wunderliche Effekte ziehen kann. Es ist die berühmte Matroschka, die man findet, wenn man eine Matroschka öffnet, und die wieder eine neue, eine noch kleinere enthält, und so weiter ins Unendliche Auch in der erwähnten Novelle von Liu kommt das Motiv vor: Da wird dann erklärt, dass der Computer, der alles weiß, nicht in die Zukunft blicken kann, weil in der Gegenwart etwas geschieht, was auch dieser Computer nicht mehr zu bewältigen in der Lage ist: eine unendliche Rückkopplung. Die entsteht daraus, dass jemand jetzt den Computer benutzt und jetzt den Punkt der Simulation auf Jetzt stellt und versucht, den Regler über Jetzt hinauszuschieben. Da verdichtet sich Realität zu einer problematischen Schwelle: Denn dann betrachtet jetzt jemand die Simulation, in der er die Simulation betrachtet, in der er die Simulation betrachtet usw. Diese unendliche Rückkopplung überfrachtet nun sogar den Arbeitsspeicher des Superstringcomputers, da ganz einfach radikal unendlich vieles auf einmal abgelegt werden muss. Der Computer kommt über diese Schwelle, wo sich Wirklichkeit mit unendlicher Dichte auflädt nicht hinaus. (Allerdings schafft es der Ingenieur dann doch noch, in die Zukunft zu schauen, und bezeichnenderweise muss er die Gegenwart dafür überspringen.) Zwei Momente sind hier zu betrachten. Denn was hier aufgefunden wird, bildet einerseits eine Unendlichkeit im endlichen Sein,12 andererseits ein Möbiusband des Seins.

12

Es ist aber eine andere Unendlichkeit des Seins oder im endlichen Sein als die, die wir im Kapitel ›un/endlich‹ aufgewiesen haben. Dort ging es um den Aufweis einer Unendlichkeit, die gründet in der gegenseitigen Durchdringung und der daraus folgenden Unabzählbarkeit des Seins. Hier hingegen wirkt ein anderer, ein sehr viel klassischerer Begriff des Unendlichen, indem die Unendlichen als einander äußerlich gedacht werden. Ist das Bild der Wirklichkeit, in dem alles einander äußerlich sein muss und sich schon deshalb einer im Grundsatz möglichen vollständigen Durchnumerierung und Determination anbietet, ohnehin eines, in der vor allem die Tristesse unendlich ist – so sagen diese Fiktionen auf eine bemerkenswerte Weise die Wahrheit über diese Tristesse aus (oder diese in ihrer Wahrheit); denn was die Deterministen zumindest implizit immer erklärten – dass es nichts Neues unter der Sonne gebe –, wird hier wortwörtlich wahr. An die Stelle der lebendigen, unvorhersehbaren, produktiven Durchdringung der Realitäten tritt, in erstickender Sterilität, die unendliche Wiederholung desselben.

Politisch verdächtig

Hier, in der unendlichen Rekurrenz oder Rückkopplung, verdichtet sich das Sein zu einem Möbiusband. Freilich, in jeder Metaphysik findet sich, wie eine empfindliche Zentralnervenbahn, ein Möbiusband. Und hier ist ja tatsächlich eine immanente Metaphysik am Werk, denn es ist die Gegenwart dieser Welt, die ihre Überschreitung auf die Zukunft verbietet – es sei denn eben im Durchgang durch diese Gegenwart. In der Tat ist diese Episode diejenige, die (im Kontext der Erzählung) am meisten mit einer realistischen Metaphysik in Übereinstimmung ist. Diese Struktur findet sich nun aber z.B. auch in der unendlichen Verschachtelung des Traums, und dort ist sie im Gegenteil klarster Ausdruck einer Metaphysik, die der Wirklichkeit grundsätzlich misstraut. Es scheint also nicht am Möbiusband als solchem zu liegen, auch wenn es hier eine wichtige Rolle zu spielen scheint.13 Ich hatte gesagt, dass die Besonderheit etwa der Rede von der Nacht ohne Tag darin liegt, dass sie die Nacht, dieses Relative und Bedingte, zu etwas Irrelativem, Unbedingten und Selbstbezüglichen befördert. Sie setzt eine Rekurrenz im Endlichen. Der Witz ist nun, dass in dieser eigentlich ganz unberechtigten, ja: fast willkürlichen Setzung in einer doppelten Hinsicht eine Wahrheit liegt: Erstens bedeutet Sein immer die Irrelativisierung des Relativen. Das meint etwas ganz Einfaches. Alle Seienden sind bedingt. Wer könnte daran zweifeln? Die philosophische Tradition hat ja fast keinen anderen Inhalt, als vom Bedingten zu seiner Bedingung und schließlich zum Unbedingten aufzusteigen, wie es Kant besonders eindrücklich beschreibt. Nun sind aber die Seienden nicht nur bedingt; nicht nur wissen ein paar Seiende, die wir Menschen nennen, im Allgemeinen von dieser Bedingtheit. Die eigentliche Überraschung ist dies: Alle Seienden verhalten sich so, als seien sie nicht bedingt. Und das nicht, weil sie etwas noch nicht ganz verstanden hätten. Sondern weil rein ontologisch gesprochen ein jedes Seiende sein eigenes Zentrum ist – und weil es darüber hinaus nicht noch einmal das Zentrum aller Zentren gibt, von dem aus sich die Irrigkeit dieser Überzeugung einlösen ließe. Mein Los ist wichtig,14 und so spricht ein jedes Seiende, und noch der Stein. Jedes Seiende ist, insofern es sich zum Zentrum macht, insofern es so tut, als ob es nicht bedingt wäre, nicht abhängig, nicht Teil eines Zusammenhangs. Und damit haben wir bereits eine erstaunliche Diagnose: Als ob – diese Formel der Fiktion, der Umdeutung, der Irrealisierung erweist sich als tief eingeschrieben in die Textur von Wirklichkeit als solche. Nur durch dieses Als ob gibt es Wirklichkeit, weil es die Lokalisierung/Endlichkeit der Seienden anzeigt bzw. die Mechanik dieser Lokalisierung/Endlichkeit darstellt, und weil es andererseits nun einmal nur lokales, endliches Sein gibt. Diese Abkopplung der Seienden von ihren Bedingungen, Rückkopplung, Rekurrenz, Möbiusband, Involution ist also

13

14

Auch an der Unendlichkeit als solcher scheint die affektive Dimension dieser Fiktionen nicht zu hängen, zumindest greift dieser Hinweis zu kurz. Denn erstens ist mit der schieren »Unendlichkeit« noch nicht viel gesagt, denn die Unendlichkeit kann ebenso auch im Sinn einer Immanenz zum Tragen kommen wie als Transzendenz, und sie kann auch ganz einfach affektiv unwirksam, weil rein technisch sein: Wen würde schon die Mathematik per se, das n+1 oder selbst noch der abstrakte Begriff einer aktuell unendlichen Zahl, oder auch transfiniten, zum Innehalten und Nachspüren bringen? Zweitens ist der Verweis auf die Unendlichkeit sicher zu schmal: Ja, auch die Ewigkeit zum Beispiel lässt sich als eine Unendlichkeit interpretieren; aber schon hier ist man eher im Bereich der abstrakten begrifflichen Übereinkunft als in dem einer wirklich substantiellen Affinität (zwischen der Unendlichkeit und der Ewigkeit). Wie es Levinas mal ausdrückt, vgl. Levinas: Autrement qu’être ou au-delà de l’essence. 250.

243

244

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

die erste Fiktion, die zugleich zusammenfällt mit der Stiftung von Wirklichem selbst. Damit hat sich aber schon der Begriff von Fiktion und Irrealität gewandelt: Er kann gar nicht mehr das starre Gegenüber und das ganz Andre einer scheinbar selbstgenügsamen Wirklichkeit sein. Zweitens ist damit schon gesagt, dass die Lokalität und Lokalisierung des Seins aufgewertet wird durch die Rekurrenz der Seienden. Jedes Seiende kann also auch für die Philosophie, die Literatur etc. zum Gegenstand einer solchen Beförderung werden, jeder einzelne Ort hat die Würde, das Ganze des Seins zum Ausdruck zu bringen, sich in einer Verdichtung zum Paradigma des Seins als Ganzem zu erheben – eine Ganzheit, die es eben nur in dieser Verdichtung selbst gibt. Insofern sind sich alle Orte gleich (im Französischen würde man sagen: ils se valent), doch nur in der unvergleichlichen Gleichheit, dass ein jedes in der Fiktion seiner Irrelativität, seiner Unbedingtheit, seiner Absolutheit zugleich die einzig mögliche Weise bildet, das Ganze des Seins zur Darstellung zu bringen. Die »Fiktion« der Literatur, der Philosophie etc. wiederholt also nur die erste Fiktion, die das Sein des einzelnen Seienden stiftet, indem sie nun noch einmal dieses nicht bloß als unabhängig setzt, sondern sogar als paradigmatisch für das Ganze, das lediglich in dieser »Fiktion« auftauchen kann. So gesehen, erfüllt die Fiktionalität (im Sinn der Irrelativierung des Einzelnen) in der Tat eine wichtige Funktion, denn sie realisiert erstens das Sein der Seienden selbst und stellt zweitens die einzige denkbare Weise dar, in der das »Ganze des Seins« gegeben werden kann. Dem entspricht nun einmal, dass diese Rückbezüglichkeit und damit die Verdichtung des Lokalen im strengsten Sinn überall stattfinden kann. Jedes einzelne Seiende, jede erdenkliche Wirklichkeit kann so die Schwere des ganzen Seins auf sich vereinen. Probe. Eine erste Antwort also. Aber kann man mit dieser wohlfeilen Theorie etwa solche Unmöglichkeiten samt ihrer ästhetisch-affektiven Wirksamkeit erklären wie »Gott«, »die Ewigkeit«, »den Abgrund«, die Vermengung von Traum und Wirklichkeit? Ewigkeit: Man kann in der Tat behaupten, dass die Ewigkeit nichts ist als die Fiktion jener Fiktion, in der ein jeder Augenblick sich ohne Zurückhaltung als den einzigen Augenblick setzt – in der jeder Augenblick wiegt. So nennt eine gewisse Tradition die Ewigkeit ja auch das »nunc stans«. Traum und Wirklichkeit, Realität und Fiktion: In einem ersten Sinn beruht der Anschein der Eindeutigkeit solcher Entgegensetzungen auf einem hoch naiven und reduktiven Verständnis der Wirklichkeit. Wirklichkeit ist im Gegenteil mindestens abhängig vom jeweils lokalen Vollzug eines Seins, das sich als unabhängiges setzt, selbst schon fiktionalisiert. Daher kommt auch die Möglichkeit (Gefahr wie Verlockung) sich in der eigenen Rückbezüglichkeit zu verlieren, darin, die Fiktionalität, die die Materie des eigenen Seins ausmacht, zum Ganzen dieses Seins zu befördern. Positiv beschrieben kann man dasselbe aber auch so ausdrücken: Unsere Fiktionen – ein Roman, ein Film, ein philosophisches Buch? – sind nur Wiederholungen der ersten Fiktion aller Seienden, eine unauflösliche Mischung aus Wirklichkeit und Fiktion, denn Wirklichkeiten sind sie ja doch (wie sollte man sonst jemandem für ein Buch guten Gewissens Geld abknöpfen wollen?), Wirklichkeiten aber, die eine Fiktion zelebrieren. Erst in dieser zweiten Stufe der Rückbezüglichkeit trennt sich in klarer Weise das, was in der Rekurrenz der Wirklichen noch ununterscheidbar miteinander vermischt war, nämlich

Politisch verdächtig

Realität und Fiktion. Unsere Fiktionen sind Rekurrenzen zweiter Ordnung, in denen die erste Rekurrenz (die Realität und Fiktion ineinander übergehen und einander konstituieren lässt) thematisch, zumindest aber explizit wird und somit ihre Aspekte voneinander getrennt werden. Der Abgrund: Da wird eben etwas, was es nur ganz prosaisch als Spalt in einer Erde geben kann, den man überbrücken, umgehen oder von dem man sich abwenden kann, zu etwas Absolutem erhoben, aus seiner natürlichen Relativität gelöst. Das Böse: Da wird eine Handlung zur diamantenen Dichte eines überzeitlichen Wollens transformiert. Auch eine Art Alchemie. Gott: Was ist denn Gott, wenn nicht das Seiende/Nicht-Seiende, das sich par excellence auf sich selbst zurückbezieht und das alles andere erfindet, das also eine Welt von Realitäten fingiert? Die geheime Botschaft: Sie ist ja ganz dezidiert eine Verdichtung des Seins, oder seines Sinnes, seiner Wahrheit auf einen Moment, die Abbildung des globalen Seins in ein Fragment des Seins. Labyrinth: Da geht es darum, dass jemand einem Raum nicht entkommen kann, dass also eine gewisse räumliche Anordnung immer wieder auf sich selbst zurückführt. Die Absurdität, die darin liegt (z.B. wenn man im Traum oder im Horrorfilm durch eine Tür geht, um auf der gegenüberliegenden Seite desselben Raumes wieder herauszukommen), deutet ja nur an, dass die Rekurrenz der Seienden in Wirklichkeit eben keine echte, oder zumindest keine vollständige ist, sondern gebunden bleibt an die Bedingungen, unter denen sie steht, und das heißt immer konkret: an die Lokalitäten, die sie umgeben. Leben und Tod: Das Leben muss sich als ohne Anderes setzen. So wie ein jedes Seiende sich selbst zum Zentrum des Seins macht, so leugnet das Leben als Leben noch die Möglichkeit des Todes. Selbst aus der Prüfung des Todes ersteht das Leben erneut, als Leben, wenn auch vielleicht als ein anderes Leben. Leben ist Rekurrenz mit besonderer Hartnäckigkeit. Dem Leben ist einfach nicht zu entkommen, nicht einmal mit dem Tod – wie ebenfalls Levinas immer wieder bemerkt. Epikur brachte die Rekurrenz des Lebens gar selbst zum Sprechen: »[…] wenn wir sind, ist der Tod nicht da; wenn der Tod da ist, sind wir nicht.«15 Eskapismus II: Flucht für Fortgeschrittene. Wenn es stimmt, dass alle diese Mechanismen sich der Logik der Verdichtung und Rekurrenz gemäß auffassen lassen, dann stellen sich noch einige Fragen: Ist damit wirklich alles gesagt? Muss die Welt also zwangsläufig als ganz prosaisch erscheinen, ohne Magie, ohne Heiligkeit, entzaubert? Ist das nicht eine fast schon traurige Aussicht? Und dann: Kann man das harsche Urteil, wonach das Schreiben von Romanen im Grunde moralisch unzulässig sei, noch aufrechterhalten? Muss man also von einer Art Erziehung zur Unmündigkeit durch die Fiktionen ausgehen? Gewöhnen wir uns so leichtfertig ans Übersinnliche und damit Unvernünftige, Unwirkliche, Unfreie? Und kann man die Pädagogik des Wirklichen zur Moral der Fiktionen erheben? Wie kommt 15

Epikur: Brief an Menoikeus. In: Briefe, Sprüche, Werkfragmente. 40–51. 45. Der Übersetzer hat das »wir« beide Male mit Anführungs- und Schlusszeichen versehen. Mir scheint, dass diese Entschärfung nicht der Direktheit von Epikurs Text entspricht.

245

246

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

es, dass die Metaphorik offenbar keinerlei Wirkung auf uns hat? Und noch beängstigender: Wie kommt es, dass noch nicht einmal die unmetaphorische Wahrheit eine Wirkung auf uns hat (wenn man also z.B. nicht eine Parabel über die Unmenschlichkeit des Kapitalismus verfasst, sondern diesen ungeschminkt selbst darstellt) – zumindest nicht so, dass hieraus regelmäßig wirksame Veränderungen folgen würden? Schließlich: Gibt es nicht vielleicht doch auch eine andere, eine »höhere«, eine »wahrere« Rechtfertigung der Inszenierungen, deren Reduktion ich mir hier vorgenommen habe? Es ist für mich selbst im höchsten Maße erstaunlich, dass es mir nicht gelingt, auf die »Wahrheit«, die gewissermaßen wörtliche Wahrheit dieser Motive der Fiktionen ganz zu verzichten! Schwäche einer endlichen Psyche oder Hinweis auf etwas anderes?… Ich kann es nicht gut verleugnen: Meine eigene Theorie fasst mich manchmal kalt an, sie ist es nicht selbst, aber sie macht die Welt, die sie würdigen wollte, schal. Die Welt erscheint ganz leer und stumm, betrachtet durch die Insektenaugen dieser Klärung. Woran liegt das? Gehen wir, wie immer, so auch hier davon aus, dass der Hinweis auf eine Endlichkeit, Schwäche, Verfallenheit des menschlichen Geistes keine echte Antwort ist. Suchen wir eine positive Ursache für den Effekt, den ich – der Autor, der doch regelmäßig seinem Werk in scheuer Liebe verbunden ist – empfinde, den Effekt leiser Enttäuschung und Ernüchterung. Wie wirkt die Welt nun? Sie wirkt wie eine durchsichtige Konfiguration, über die wir alles wissen können, die Unumkehrbarkeit der Zeit, die unbeugsame Macht der Ursachen, die Immanenz aller Seienden, und bis hin zu genau dem Mechanismus, den ich zuletzt beschrieben habe, nämlich den der Verdichtung in Rekurrenz, den wiederum die Philosophie heraushebt und kopiert. Diese Welt ist wie gläsern, aus ihr ist das Rätsel gewichen und das Mysterium, sie ist rational im schlechtesten Sinn, den das Wort annehmen kann, keine Lücke, keine Abgründe, keine Überraschungen tun sich noch auf. Alles ist gleich, und bietet sich dem Panoramablick des Philosophen an. Alles ist gleich, noch die lächerlichen Versuche zu entwischen, in der Fiktion, in der Möglichkeit und Unmöglichkeit, selbst noch im tragischen Fluchtversuch, der der Wahn ist. Alles ist gleich, noch die Verdichtungen und Rekurrenzen selbst. Und da haben wir auch schon das Problem: Wieder haben wir vergessen, was das erste Wort der Ontologie sein muss; wir haben es vergessen, wenn wir auf die Welt oder das Sein wie von außen und oben und wie unbeteiligt blicken. Wir haben es vergessen, weil wir das als Philosophen nun einmal die ganze Zeit tun, dieser Vergesslichkeit verdanken wir unsere wichtigsten Einsichten wie unsere schwerwiegendsten Irrtümer. Denn plötzlich, in der Welt, in der alles gleich ist, wo jeder Ort das allgemeine Prinzip bestätigt und darin mit jedem anderen Ort ausgetauscht werden kann, auf dieser Stufe der Betrachtung und Reflexion schafft die Philosophie doch nichts anderes als eine Rekurrenz dritter Ordnung: dritter Ordnung nach der des Seins selbst und der der Fiktion. In dieser Rekurrenz dritter Ordnung bezieht sich ein jedes Seiendes auf sich selbst, und alle Seienden beziehen sich auf sich selbst, und das Ganze ist also durch die Struktur der Rekurrenz allgemein definiert. Und dort, von der hohen Warte Gottes aus, verblassen noch die Sterne, und wo alle das Gleiche tun, da kann keines mehr erreichen, was es eigentlich erreichen sollte: nämlich das Sein zu vollziehen. Wenn Sein immer Lokalität und Endlichkeit und Materialität bedeutet, wenn Sein nur im Vollzug ist, dann ist, unter dem Blick der Philosophen, soeben das Sein selbst gegangen und hat seine Wirksamkeit,

Politisch verdächtig

seine Intensität und seine Wirklichkeitsmacht, seine unaufhebbare Differenz und Pluralität mitgenommen: The being has left the building. Deswegen findet der Philosoph plötzlich, wo er eben noch fasziniert dem Spiel des Seins folgte, nur mehr Papier, Schwarz und Weiß, und bald nur noch Schwarz. Es geht ihm wie dem Kind, das nach der Seifenblase greift, weil die Reflexe und das vielfarbige Schillern und die Schwerelosigkeit einfach unwiderstehlich sind, weil man es haben muss – und das nichts in Händen halten wird als nur ein paar Tropfen Seifenwasser. Philosophie ist also nicht nur nutzlos. Sie ist sogar zerstörerisch und grausam. Ja: Sie ist es doch, die in Wahrheit politisch verdächtig ist! Ihre Praxis der Entzauberung im Namen der Aufklärung und Menschlichkeit – war das vielleicht nur gut gemeint, mit dem Ergebnis allerdings, dass alles viel zu hell ist, unerträglich hell, rein gewaschen von einem kalten weißen Licht? War das nicht einfach unzumutbar, wie wir jetzt feststellen? Hätten wir auf den Großinquisitor hören sollen? Was bleibt uns jetzt noch als Resignation? Hat die Aufklärung, als sie die Demokratie einführen wollte, nicht alles Maß verloren, ein Maß, das nun nur noch mit den härtesten Mitteln wieder eingeführt werden kann, immer zum Wohle der Menschheit? Hat sie die Menschen überfordert? Dann wäre in der Tat die Philosophie das Einzige, was man unter Observation stellen muss, nicht aber die Erzählungen und Filme, die die Verzauberung der Welt noch einmal versuchen wollen? Tritt dann, wie es die Romantiker wollten, die Poesie an die Stelle, die die Philosophie freigemacht hat, nachdem sie erst die Welt und dann sich selbst jedes metaphysischen Kredites entkleidete? Das Problem an der Sache ist nun dies: Es gibt kein Zurück. Es gibt ja nie ein Zurück, wie jeder nun einmal weiß, weil das die ganze Misere mit der Zeit ist! Man kann nicht zurück in die selige Zeit vor aller Aufklärung, die alten Götter kommen nicht wieder, und wenn sie doch wiederkommen, dann in anderer Gestalt, als Horror, Spielerei oder Ansatzpunkt einer fiktionalen Rekurrenz. Denn in der Tat: Bevor die Philosophie sie entmachtete, waren die Götter nun einmal Teil dieser Welt, und deshalb gar nicht geeignet für solche Fiktionalisierungen, zumindest nicht solche, in denen sie heute auftreten können. Oder genauer: Sie waren dazu geeignet ganz in derselben Weise wie heute ein Sportwagen oder der Körper einer Popsängerin. Aber die Götter als Teilnehmer in einer gemeinsamen Welt wird man nicht wiederbeleben können. Es ist der gnadenlose Exorzismus der Philosophie, der die Götter tötete und erst die Idee eines wahrhaft transzendenten Gottes möglich machte – und der später dann noch diesen Gott ohne großes Aufhebens verabschiedete. Was bleibt, ist eine nüchterne Welt, voller Biederkeit und Klarheit, doch ohne Zauber. Nun denn, was bleibt uns noch übrig? Es bleibt sicher der Weg der Resignation, der politischen wie der existenziellen. Das geht immer. Was nicht unbedingt für diesen Weg spricht. Ich spare mir die Mühe der Widerlegung, da die Müden meiner Widerlegung nicht lauschen würden, und die anderen, die vielleicht auch müde sind, aber noch nicht so weit sind aufzugeben, eine Widerlegung hoffentlich nicht brauchen. Es bleibt dann der Weg des Zynismus. Zynisch ist der Weg, weil er um die Falschheit seiner Mittel weiß. Weil er weiß, dass er lügt, oder zumindest der Wahrheit gegenüber

247

248

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

gleichgültig ist.16 Dann gälte es also neue Mythen zu erfinden, von denen es nicht mehr sicher ist, ob ihnen irgendwas entspricht, was aber auch ganz unwichtig ist, solange sie ihren Zweck erfüllen: die Menschen zu aktivieren, zu versammeln, ihnen Richtung und Gemeinschaft und Motivation zu geben. Da es nicht wichtig ist, ob die Mythen etwas Wahres zum Ausdruck bringen, ja: da sie ganz und gar unempfindlich gegen die ganze Frage nach der Wahrheit sind, braucht es nicht zu wundern, dass sich diese Sichtweise nicht nur hervorragend verträgt mit allerlei Bevormundung und Unterwerfung, sondern sie sogar eigentlich fordert. Es sind eben die Erfinder und Propagandisten der neuen Mythen, die entscheiden, was gespielt wird – sicher, dass es dem Rest gefallen wird, und wenn man ihn dahin würde prügeln müssen. Der Großinquisitor ist der oberste Repräsentant dieses Weges, noch bevor Sorel aus ihm (immerhin halb aufrichtig noch) eine Philosophie machen wollte – die wiederum heute bei vielen im Schwange ist, deren Mythen sich um das eigenartige Gespenst der Nation drehen. Diese beiden Wege sind sich darin einig, dass die Moderne, die Aufklärung, die Philosophie eine Zumutung war, eine Überforderung, eine Hybris und Grausamkeit, der eigentliche Verstoß gegen die Menschlichkeit im Namen einer Menschlichkeit, die eben nie eine war. Ich teile diese Auffassung nicht. Es gibt diese Überforderung nicht. Diese Auffassung unterstellt ja, es gäbe so etwas wie eine ursprüngliche, eine natürliche Fassungskraft der Menschen, oder eine apriorische Grenze der Freiheit, die man nicht ungestraft überschreiten darf. Vieles spricht gegen diese Unterstellung, vor allem der ontologische Grund, dass es wohl keinen Weg gibt, solche apriorischen Grenzen zu bestimmen, dass vielmehr jede solche Unterstellung immer schon mit einem Begriff von Natur, menschlicher vor allem, operiert, der nie mehr sein kann als pure Behauptung – wie es den selbstbewusst auftretenden essentialistischen Naturbegriffen so geht. Und es spricht dagegen der andere Grund, der Settembrini-Grund: dass dies nun wahrhaft die Kapitulation des Politischen wäre. Diese Philosophie ist nicht mehr nur politisch verdächtig, sondern ausgewiesener Verfassungsfeind. Wir brauchen also einen dritten Weg. Auf Messers Schneide wird der führen. Denn er müsste ganz widersprechende Erfordernisse in sich vereinigen. Aber unmöglich ist er nicht. Dieser Weg, der Weg der Philosophie, muss sich stets dessen erinnern, dass seine Aussagen eine zwangsläufige Verfälschung der Wahrheit darstellen, auch dann und gerade dann, wenn sie das Wahre aussagen. Denn sie tun es im Element des Allgemeinen, und das Allgemeine ist genau das, was es nicht gibt. Alles, was es gibt, alles, was ist, ist lokal, endlich, materiell, Singularitäten, Knoten, Wirkliches.17 Diese erste Spannung führt zur zweiten, denn dieser Weg muss sich seinen Respekt vor genau diesem Wirklichen bewahren und vor der Verdichtungskraft jedes Wirklichen. Jedes Wirkliche als mögliche

16 17

Wie es Frankfurt eindringlich für den Bullshitter beschreibt, vgl. Frankfurt: Bullshit. Spinozas Lösung für dieses methodische Dilemma des Philosophierens als solchen ist die Einführung der »notiones communes«, die nicht Allgemeinheiten ausdrücken, sondern solches, was sich überall und im Ganzen wie in den Teilen gleichermaßen findet. Sie bezeichnen das, was überall gleich ist, egal wo man hin greift, und das schon auf der ersten und einzigen Ebene des im Wirklichen Gegebenen.

Politisch verdächtig

Verdichtung des Ganzen des Seins – diese radikale Position ist ganz eigentlich die revolutionäre Neuerung der Philosophie der letzten hundert Jahre. Doch worin genau liegt der Unterschied zwischen der Verdichtung der Welt im Einzelnen und dem Mythos der Zyniker? Vielleicht nur darin, dass die Verdichtung zwar hinausstrahlt, wie ein heller Schmerz oder ein warmer Stern, über alle Seiende, ohne aber letzten Endes deren Andersheit und Pluralität zu dementieren, im Respekt für die unaufhebbare Pluralität des Seins – während der Mythos der Pluralität den Krieg erklärt hat. Die einzige Pluralität, die der Mythos noch zulässt, ist der Dualismus, der es erlaubt, im Anfeuern der Eigenen deren Gemeinschaft und Einheit recht herzustellen. Der Zynismus kann nur bis zwei zählen. Eins oder Null, Licht und Dunkel, Gut versus Böse. Wird er philosophisch, nennt er sich Dualismus. Hält er sich für feiner, auch Dialektik. Es ist aber wohl möglich, dass die Grenze zwischen dem Weg der Philosophie und dem des Zynismus nicht immer so scharf ist, wie man sie gerne hätte. Auch ist die Philosophie nie gegen die Verlockung des Zynismus versichert. Es könnt‹ alles so einfach sein, säuselt er, und: Vertraue mir, wie die Schlange Ka. Und was ein guter Philosoph ist, der findet auch Gründe, weshalb sein Verrat keiner war. Es wird immer am Ende abgerechnet, und das Ergebnis wird entscheiden, ob ein Denken und Handeln den Respekt vor der Vielheit und der Wahrheit und Wahrhaftigkeit hat bewahren können oder nicht. Gewagt muss es doch werden.18 Schließlich, wenn die Philosophie es wagt, wird sie vielleicht eine eigenartige Erfahrung machen. Nicht nur ist die Welt, die sie beschwört, keineswegs verdammt zur Leere und Stummheit. Gibt sie den Verdichtungen allen Raum, der ihnen zusteht, dann wird sie der Welt auch stets einen neuen Stubser geben können, nicht wie der des cartesischen Gottes, damit die Welt ein für alle Mal nach den unveränderlichen Gesetzen abläuft, wie Pascal es spitzzüngig angemerkt hat.19 Sondern eher so, wie man ein Wasser in Bewegung versetzt oder ein Netz in Schwingungen. Doch die Welt ist mehr als das. Denn wer sagt, dass das, was oben als unmöglich und als Gegenstand einer freiflottierenden und unverantwortlichen Phantasie beschrieben wurde, tatsächlich so geradehin unmöglich ist? Die Zeit ist nicht umkehrbar. Das ist unzweifelhaft wahr. Aber deshalb ist die Zeit doch auch keine Linie und überhaupt kein Gegenstand. Und weil sie, und weil alles, was relevant ist, vielleicht sogar alles, was ist, nicht dem Bild gehorcht, das sich eine noch nicht voll über sich selbst aufgeklärte Denkweise davon macht, weil all das nicht dem scheinbar natürlichen Paradigma des Seins genügt – nämlich dem der Trägheit und Wohldefiniertheit und scharfen Konturierung und durchgängigen Bestimmt-

18

19

Es ist dieses Wagnis, das Badiou unter dem Namen der Treueprozeduren beschrieben hat. Diese Prozeduren sind das Werk, nicht des Subjekts, sondern in dem sich ein Subjekt allererst herstellt oder hergestellt wird, und weil dessen Verknüpfungspraxis janusköpfig ist – mit einem Gesicht zum Ereignis und dem Eingriff (intervention) gerichtet, mit dem anderen zur Situation, die es vorfindet und die es zur Einschreibungsoberfläche des Ereignisses und des Eingriffs macht –, ist der Verrat die ständige Möglichkeit der Treue. Ja, in Wahrheit gibt es auch keinerlei Maßstab, um objektiv die Grenze zu ziehen, ist doch das durch kein Gesetz bestimmte und bestimmbare, rein immanente Geschehen der Verknüpfung (connexion) in Treue das einzige Kriterium der Treue selbst – und somit die Wegscheide, die unablässig Divergenzen und Streit aus der Treue um die Treue produziert. Vgl. vor allem die Meditationen 23 und 35 von Das Sein und das Ereignis. Pensées. L. 1001. (Es handelt sich um eine Pascal zugeschriebene Äußerung, die von seiner Nichte überliefert wurde.)

249

250

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

heit und Festigkeit –, weil diese Sicht auf das Sein wahrscheinlich ganz irreführend ist: deswegen ist mit dem Hinweis auf das Unveränderliche und Notwendige bzw. auf das davon abgegrenzte Unmögliche nur allererst ein Anfang der Philosophie gemacht. Sie findet dort nicht ihre Ruhe, den seligen Endpunkt anstrengender Arbeit, wohlverdienten Frieden. Sie hebt dort erst an. Denn eine Reifizierung der Gewissheiten, die sich dann wie ewige Protokollsätze in den Marmor meißeln ließen, würde genau dem Sein widersprechen. »Die Zeit« ist nicht ein Ding oder ein Gegenstand, über den man zwei, drei sichere Aussagen machen kann. Die Zeit ist ein absolut Ungreifbares, über das man einiges sagen kann. Es ist vor allem Levinas, der nicht müde wird, daran zu erinnern, wie die Philosophie – gerade dann, wenn sie sich aus der Plattheit einer Welt von Dingen lösen will, wenn sie also mehr sein will als eine formale Ontologie, wenn sie etwas sucht, was über das stupide Gleichzeitig und Gegeneinander der Körper hinaus geht – stets in der Gefahr ist, entweder ganz ins Mystische zu stürzen, wo sie gar keine Unterschiede mehr machen kann (und auch nicht mehr will), oder aber die alte Leier auf einer angeblichen höheren Stufe noch einmal zu dudeln. So wenn man aus Gott z.B. eine Person machen will, die irgendwie jenseits der Welt ist, oder auch eine, die in der Welt ist. So aber auch schon, wenn ich glaube, den Anderen auf einen Körper, oder ein Verhaltensmuster, oder einen Charakter etc. reduzieren zu können. Der Andere, das ist genau das, was ganz konkret unablässig über alle Formen, über alles Gegenständliche hinausgeht – ohne eine neue Gegenständlichkeit zu bilden, in der die Transzendenz dann doch wieder nur wie festgefroren wäre. Der Andere, das ist die Bewegung dieser Transzendenz, die nirgends ankommen kann, das aber auch gar nicht braucht. Deren Nicht-Ankommen gerade der Witz an der Sache ist. Diese Sichtweise müssen wir uns zu eigen machen, wenn wir die Welt und ihre scheinbaren Unmöglichkeiten betrachten. Die Zeit geht nur in eine »Richtung«. Und doch, die Zeit ist selbst schon die Tendenz, diese ihre Begrenzung auszuhöhlen – eine »Begrenzung«, die sie nicht aufgeben könnte, ohne aufzuhören, eben Zeit zu sein. Doch ist die Zeit zugleich immer auch die Transzendenz über sich selbst hinaus. So strebt die Zeit in der Erinnerung bereits danach, ihr eigenes Schicksal zu besiegen. Fast schon hat sie alles gerettet, im Siegestaumel übermannt vom eigenen Triumph – vergisst sie nur eben, worum es eigentlich ging! Süßes bitteres Vergessen, Erlösung und Fluch zugleich. Doch egal, die Aufforderung, das Schicksal der Zeit – meine Herren und deine – zu besiegen, kann nicht ungehört bleiben. Wenn Elias Canetti sich, ja: albern, ja: kindlich, aber nur desto standfester weigert anzuerkennen, dass Menschen sterben müssen;20 wenn Levinas ganz treffend erklärt, dass die Vergebung auf das Vergangene zurückkommt, es nicht löscht oder vernichtet, es aber nachträglich ändert, und zwar als Vergangenes;21 wenn Benjamin erklärt, dass die Pflicht der Geschichte (der Geschichtsschreibung, des geschichtlichen Erinnerns) darin besteht, nachträglich das Leid der Unterdrückten zu ändern – und wenn es ihm dabei gelingt, einen starken,

20 21

Besonders konzentriert kommt das zum Ausdruck in der erst 2014 veröffentlichten Sammlung größtenteils noch unveröffentlichter Notizen, die den treffenden Titel Das Buch gegen den Tod trägt. Totalité et infini. 315f.

Politisch verdächtig

verständlichen und tragfähigen Begriff von Geschichte auch im Sinn des geschichtlichen Geschehens aufzustellen – dann liegt hier überall dieselbe Doppeltheit zugrunde: die Doppeltheit der Unmöglichkeit, das Vergangene zu ändern, und die genau damit gesetzte Forderung, es doch zu tun. Das Wichtige ist, dass das nun wirklich keine Spielerei mehr ist, nicht einfach nur »Fiktion« oder gar Schöngeisterei. Nein, das ist Wirklichkeit, weil diese Forderung Wirklichkeit produzieren wird, eine Wirklichkeit im vollen Ernst, schwer, dicht, wahr… und vielleicht auch ein wenig heiter. Die Härte der Welt im Rahmen ihrer unveränderlichen Gesetze ist also nur dann Aufforderung zur Kapitulation, wenn man vergisst, dass alle »Gesetze« oder »Strukturen« nichts sind als eben nur die abgeleiteten und damit in sich unwesentlichen Aspekte der Interaktion der Singularitäten; wenn man, kurz gesagt, diese Gesetze hypostasiert. Geht man dieser Fehldeutung nicht auf den Leim, dann wird sie zum Auftrag: zum Auftrag, diese vorgeblichen Gesetze zu transzendieren, nicht in eine neue Welt voller Dinge und Gesetze, sondern zurück in diese eine, sie transformierend, vielleicht: sie läuternd. Es gibt das Problem des Eskapismus. Es gibt die Gefahr, sich in den Fiktionen und Unmöglichkeiten einzurichten. Es gibt einen Quietismus der Phantastik. Wahrscheinlich muss man dagegen ankämpfen, mit einer Pädagogik des Prosaischen und einer Philosophie des Wirklichen. Nur das Wirkliche ist Gegenstand einer verantwortlichen Philosophie. Doch ebenso wahrscheinlich muss man sich damit abfinden, dass erstens die Verführung der wundersamen Rekurrenzen nicht durch die Belehrung über ihre Entstehung und ihren Sinn gebrochen wird, so wenig wie das Wissen um die Brechungsverhältnisse unterschiedlicher Milieus die Illusion des Stocks im Wasser, der plötzlich in anderem Winkel absteht, beendet. Zweitens muss man dafür wahrscheinlich sogar dankbar sein. Besteht doch schon wieder die Gefahr einer reanimierten alten Aufklärung, die jede Magie aus der Welt vertreibt und auch nicht in der Lage ist, eine neue Wärme in die nun kalt ausgeleuchteten Räume eines rational konstruierten Hauses zu setzen. Drittens wäre die einzige konsequente Austreibung dieses Dämons des Quietismus nur im Terror zu finden, der aber bekanntlich seine eigenen Dämonen mitbringt: Teufel und Beelzebub. Begleiten, das ist eine sinnvolle, eine nicht-konsequente, dafür aber menschliche Weise. Kritische und sympathetische Begleitung der Eskapaden der Phantasie. Und selbstverständlich: Selbst Geschichten erzählen. Geschichten, die konkurrieren können mit den anderen, die aber geleitet sind von der Sorge um das Wirkliche, die sich immer wieder der Berührung mit dem Wirklichen versichern, in Wind und Wetter. Denn es bringt ja nichts, wir lieben nun einmal den Eskapismus. Und als ein ontologischer verstanden, als Überschreitung des nur Seienden, des Möglichen und Feststehenden, ist er notwendig, heilsam und eröffnend zugleich. Es gibt auch einen Eskapismus, der politische Hoffnungen bringt, der als einziger diese bestimmten politischen Hoffnungen bringen kann. Manches sieht man nur, wenn man vom Sturm getragen mit seinem Hut schon an die Wolken stößt. Utopien des Fliegenden Robert, aber der von Enzensberger:22

22

Enzensberger: Die Furie des Verschwindens. 85.

251

252

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Eskapismus, ruft ihr mir zu, vorwurfsvoll. Was denn sonst, antworte ich, bei diesem Sauwetter! –, spanne den Regenschirm auf und erhebe mich in die Lüfte. Von euch aus gesehen, werde ich immer kleiner und kleiner, bis ich verschwunden bin. Ich hinterlasse nichts weiter als eine Legende, mit der ihr Neidhammel, wenn es draußen stürmt, euern Kindern in den Ohren liegt, damit sie euch nicht davonfliegen.

Das Wirkliche II …das voraussetzungslose Beobachten – psychologisch ein Unding, logisch ein Spielzeug… Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache …Corpus humanum, prout ipsum sentimus, existere. Spinoza, Ethik

Zwickmühle. Die philosophische Betrachtung der Natur kommt früher oder später an den Punkt, wo sie sich die Gretchenfrage stellen muss: Wie hältst du’s mit der Erkennbarkeit des Wirklichen? Ist das Wirkliche wirklich erkennbar? Hat unsere Erkenntnis Beziehung zum Wirklichen, wie es selbst ist? Man muss sich entscheiden, so scheint es. Leider sind beide Optionen, die zur Wahl stehen, gleichermaßen berechtigt. Man muss wohl beide gleichzeitig ergreifen, will man nicht in wenig wünschenswerte Sackgassen geraten. Der erste Satz lautet: Die Materie, die körperliche Welt, die Wirklichkeit sind so, wie wir sie erfahren. Dieser Grundsatz, der von Lukrez über Spinoza bis hin zu Bergson die Naturphilosophie in ihren lichteren Momenten bestimmt, muss am Anfang aller Reflexion über Natur, über Wirklichkeit allgemein stehen. Denn nur wenn er vorausgesetzt wird, ist überhaupt eine Erkenntnis möglich. Bei Lukrez wird es etwa ausdrücklich zum Kennzeichen des Wahnsinns, dass man nicht mehr den eigenen Sinnen traut – wohlgemerkt nicht: nicht mehr trauen kann; sondern dass man absichtlich das Vertrauen einstellt, wie ein Zeitungsabonnement. Ist die Welt nicht, wie wir sie erfahren, dann gibt es keine Erkenntnis von ihr – und das unabhängig davon, welche schlauen Konstruktionen die Konstruktivisten der Wirklichkeit dann entwerfen. Das einzige Problem: Man kann hier nicht stehenbleiben. Denn es gilt zugleich der andere Satz: Die Materie ist nicht so, wie wir sie erfahren, zumindest nicht genauso.

254

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Andernfalls gäbe es keine Erkenntnis von ihr. Benennt der erste Satz die unerlässliche Bedingung einer jeden Erkenntnis, so wendet sich der zweite ihrer konkreten Verwirklichung zu. Denn schnell merkt man: Es muss eine Differenz, eine Diskrepanz, einen Abstand geben zwischen meiner Erfahrung von der Welt und dieser selbst. Es gibt in meinem Erfahren Phänomene, die doch offenkundig nicht direkt mit der Wirklichkeit des Wirklichen identifiziert werden können; meine Erfahrung ist eine begrenzte, situierte, selektierende; meine physiologische Organisation stellt Erfahrung und damit die mir erscheinende Wirklichkeit doch in einem gewissen Sinn erst her; schließlich (oder vielmehr: zu allererst) gehen tausend Vergangenheiten, individuelle und noch viel mehr kollektive, in meine Erfahrung und das Wissen, das ich von ihr und dem Erfahrenen zu haben meine, ein – Vergangenheiten, die sich nicht einfach subtrahieren lassen, um das Wirkliche in Reinform zu finden: Es gibt sehr wohl eine Vermittlung, eine historische und kulturelle Vermittlung, ohne die die Erfahrung des Wirklichen nicht einmal gedacht werden kann. Und so ist man, nach ein paar Sätzen, wieder aufs Kantische Gleis gesetzt, in dem die Schienen der Erfahrung und des wirklichen Seins immer nur parallel laufen können und doch ewig getrennt bleiben müssen. Mit den besten Absichten gestartet, weiß man doch wieder nicht, ob man den eigenen Sinnen trauen kann. Das eigentlich Paradoxe, Erstaunliche ist dabei: Es ist in dem Erscheinen der Welt für uns, in unserer Erfahrung mit den Dingen, dass sich ankündigt und bemerkbar macht, dass unsere Erfahrung uns nicht alles von diesen Dingen verrät, dass ihre Wirklichkeit über dieses Erscheinen hinausgeht, und zwar offenbar in einer Weise, die anders ist als das Erscheinen selbst. Die Erfahrung des Wirklichen ist in sich widerstrebend, explosiv, auseinanderdrängend. Sie hat in sich den Bruch, der zugleich über sie hinausführt. Sie trägt ihren äußeren Rand in ihrer Mitte. Welt und Erfahrung von Welt, Wirklichkeit und ihr Erleben können nicht deckungsgleich sein. Erfahrene Wirklichkeit ist nicht identisch mit der Wirklichkeit tout court.1 Aber wie kann man diese beiden auseinanderdriftenden Prinzipien zusammenhalten? Gibt es irgendein Maß oder eine Grenze, bis zu der den Sinnen zu trauen ist, und danach hört es auf – wie die Theorie der primären und sekundären Qualitäten zu beweisen suchte? Aber selbst dann müsste man doch sofort ins Rutschen kommen, und am Ende steht man wieder mit leeren Händen da, vor sich nur mehr die Unerkennbarkeit der Welt. Lässt sich das Verhältnis dieser beiden Sätze näher fassen, lassen sich ihre Behauptungen in eine verständliche Beziehung zueinander setzen? Gibt es einen Ausweg aus dieser Zwickmühle?

1

Es gibt daher kein ungebrochenes Verhältnis der Phänomenologie zur Metaphysik, denn dieses Verhältnis ist eben nichts anderes als die Schwelle selbst zwischen dem tatsächlich Gegebenen, dem unmittelbar Bewussten oder Erfahrenen, der sinnlichen oder meinethalben auch kategorialen Anschauung einerseits und der Überschreitung dieser Anschauung ins Ungebundene andererseits, ins Meta des Physischen eben. Phänomenologie wollte diesseits einer Grenze bleiben, hoffte gar, im Diesseits der Grenze das Ganze des Seins selbst finden zu können. Sie musste erfahren, dass sie stattdessen selbst zur Schwelle wurde, zu einer neuen Gestalt von Schwelle.

Das Wirkliche II

Lösungsversuche. Dieses Grundproblem der Metaphysik kann an verschiedenen Stellen angepackt werden. Zudem zeugen die unterschiedlichen Versuche, ihm eine Lösung zu geben oder es gar als verfehlt zu erweisen, immer auch von gewissen metaphysischen Sensibilitäten. Auf Entzug. Spätestens seit Heidegger hat sich die Mode etabliert, dem Sein einen Entzug, eine Bewegung des Sich-Entziehens zu attestieren. Was damit aber gewonnen sein soll, erschließt sich mir nicht. Ist das nicht doch nur eine besonders verschämte Art und Weise, den Kantischen Skeptizismus wiederzubeleben? Es gibt also das Sein, und es ist auch irgendwie da, aber vor allem so, dass es sich entzieht, also nicht da ist. Natürlich, bei Heidegger ist das gar nicht primär im Sinn einer Erkenntnistheorie gemeint; doch so sehr ich ebenfalls der Meinung bin, dass bereits die Rede von einer irgendwie isolierbaren Erkenntnistheorie als philosophischer Disziplin einen Fehler darstellt, den man nachträglich nicht wieder reparieren kann, so wenig ist Heideggers Zurückhaltung in diesem Fall hilfreich. Im Gegenteil, sie verstärkt nur den allgemeinen Eindruck: Das Ganze bleibt im Vagen, Andeutungshaften; die Rede vom Entzug bleibt rein negativ; zu positiven Aussagen und klaren Bestimmungen gelangt man damit nicht, vielmehr wird diese Forderung selbst noch als Folge einer irrigen, verdinglichenden, auf Machbarkeit oder Präsenz abgestellten Weltsicht, Metaphysik denunziert. Während man dergestalt deklamiert, dass das Sein sich entzieht, hat man sich in Wahrheit nur selbst auf Entzug gesetzt, in der Überzeugung, das Wirkliche oder das Sein sei nur Opium fürs Philosophenvolk oder zumindest zu starker Tobak für die geschundene Seele. Vorsorgliche Hygiene also. Bloß keine Berührungen zulassen! Eine Variante dieser Idee ist die Rede von der Widerständigkeit des Wirklichen. Das geht insofern über die Idee des bloßen Entzugs hinaus, als darin erstens ein gewisses Hineinreichen in die Erfahrungswelt mitgemeint ist und damit zweitens die Möglichkeit immerhin einer Differenzierung z.B. von Arten des Widerstands, also einer wenn auch begrenzten positiven Erkenntnis impliziert ist. In Wahrheit ist aber nicht viel gewonnen: Der Widerstand ist doch wieder bloß die eine, die sichtbare, eigentlich nur fühlbare Seite des sich Entziehenden. So bleibt das, was wir in der Widerständigkeit von der Wirklichkeit erfahren, vorläufig und auch nur negativ: nur die uns zugekehrte Seite eines Absoluten, das einseitig die Widerständigkeit aus sich entlässt – womit die Differenzierung der Widerstände und damit der Wirklichkeiten wieder nur eine relative, subjektive, jedenfalls nicht zuverlässig wirkliche ist. Ist es vielleicht unsere Endlichkeit, die uns über das bloß Gegebene hinauszwingt, ist es eine ontologische Unvollkommenheit unseres Geistes, die die Diskrepanz zwischen Erfahrung und Wirklichkeit begründet und eine rein phänomenologische Wissenschaft unmöglich macht? Das mag ja sein. Aber auch diese Auskunft hilft uns nicht weiter, denn immerhin ist doch alles endlich: Was sollte also mit dem Hinweis auf die Endlichkeit gewonnen sein? Gibt es nicht eine formale Affinität alles Endlichen zueinander, so dass ich Endlicher also sehr wohl in der Lage sein sollte, überall meinesgleichen zu finden und zu fassen? Nur weil ich immer noch weiter gehen kann, heißt das doch nicht, dass sich mir etwas prinzipiell entzieht. Näherung. Man kommt einer Lösung schon deutlich näher, wenn man sich die notwendige, die im Wesen des Erfahrens selbst angelegte Abweichung vergegenwärtigt. Wahrneh-

255

256

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

men und Erkennen, alle Aktivitäten, die wir unter die Überschrift irgendeiner Erfahrung bringen können, sind selbst natürliche Akte: Akte eines natürlichen Wesens, die seine natürliche Organisation einfordern. Natürlich ist mein Körper, mein so und so verfasster, menschlicher Körper im Spiel, wenn ich sehe, rieche, schmecke, ahne, spüre. Es ist klar: meine sinnliche Erfahrung ist nicht identisch mit meiner körperlichen Organisation, weshalb die idealistischen und transzendentalphilosophischen Kritiken an naturalistischen »Erklärungen« von Wahrnehmung und Erkennen immer richtig lagen. Diese Naturalismen sind unfähig, der eigenen Bündigkeit von Wahrnehmen und Erkennen gerecht zu werden, also der Tatsache, dass es sich dabei um unteilbare Akte handelt, die in sich rund sind (wenn auch nie abgeschlossen), dass sie von sich aus in und aus dem Wirklichen herausgehoben sind, mit anderen Worten: dass sie wirkliche Gebilde im Wirklichen sind (und nicht nur Effekte anderer Bildungen, die »wirklicher« wären). Aber mein Körper ist doch auch kein Transparenzmedium, er ist nicht überflüssig oder ein eigenartiger Zuschuss zur Wahrnehmung und er ist sicher nicht gleichgültig; seine konkrete Organisation ist es nicht. So sehr das Wahrnehmen etwas anderes ist als meine natürliche Organisation, so wenig ist es davon abzukoppeln. Es gibt dort eine Beziehung, und sie muss auch verständlich gemacht werden, zumindest im Grundsatz. Dabei gilt aber nicht nur, wie Husserl anerkannt hat, dass alles Wahrnehmen von einem leiblich situierten Subjekt ausgehen muss; sondern dass die genaue, die wirkliche Situierung und die besondere Form der leiblichen Disposition für Wahrnehmen, Denken, Erkennen entscheidend ist. Und diese Präzisierung, die Forderung, nicht nur allgemein Situierung und Leiblichkeit einzubeziehen, sondern sie in ihrer besonderen, konkreten, unverwechselbaren, wenn man will auch: unwesentlichen Gestalt mit ins Wesen einzubeziehen, führt zu einer Verschiebung, die für die Philosophie der Natur grundlegend ist: Denn dann wird die Abweichung, und zwar eine Abweichung, die primär ist, ohne Möglichkeit auf eine Begradigung, die man ohnehin nicht bestätigen könnte, zum eigentlichen und ersten Sachverhalt von Wahrnehmung, Erkennen, Denken. So ist zumindest im Allgemeinen erklärt, dass dieser Körper, so wie ich ihn habe, meine Erfahrung von Welt selbstverständlich mitbestimmt (er verschwindet nicht einfach im Akt der Wahrnehmung), ohne aber dass man deshalb Anlass hätte, von Verzerrung oder Verfälschung zu schwadronieren. Farbenblindheit. Das ist doch das Standardbeispiel und -argument, mit dem wir uns von der Haltlosigkeit unserer Wahrnehmung überzeugen wollen. Wer sieht denn die Farben richtig: der Farbenblinde oder der »Normalsichtige«? Ist der Pulli, den ich als einen grünen sehe, in Wirklichkeit braun? Das ist doch eine ganz triviale Erfahrung, an der sich die Behauptung einer wahren Erfassung des Wirklichen brechen muss. Denn der Zweifel, der durch dieses Phänomen gesät ist, weitet sich unaufhaltsam aus. In Ordnung, sagen wir, der Farbenblinde ist also irgendwie behindert, einige seiner Farbrezeptoren funktionieren nicht richtig. Er sieht deshalb »dieselbe Farbe« anders als ein Normalsichtiger, d.h. einer, bei dem diese Rezeptoren in bester Verfassung sind. Er sieht Grün, wo in Wahrheit in Braun ist. Aber wenn man einmal an diesem Punkt angekommen ist, gibt es kein Zurück mehr. Wir bemerken sofort als nächstes, dass wir ja ohnehin nicht in der Lage sind, unsere Farbempfindungen miteinander zu vergleichen. Was könnten solche Sätze dann noch bedeuten: »Er sieht ein Grün, wo in Wahrheit ein Braun ist.«? Was ga-

Das Wirkliche II

rantiert mir, dass sein »Grün« anders ist als mein »Braun«? Man kommt notgedrungen in die Gleise einer nominalistischen Skepsis. Denn wo wir Farben erwarteten, haben wir plötzlich nur noch Farbnamen – und deren Verwendung ist, ein unfehlbarer Schluss, eine Sache der Konvention. Wir können also nur noch konstatieren, dass der andre die Worte nicht in derselben Weise benutzt wie wir. Irgendwie weicht das Beziehungsgeflecht seiner Farbnamen von dem unsrigen ab. Wie er den Pulli sieht, kann ich in Wahrheit gar nicht sagen – und er kann nichts über meine Wahrnehmung des Pullis sagen, und so für alle Menschen. So schnell passiert es, dass die Wahrnehmungen wieder in einem Kopf eingeschlossen sind, und das Wirkliche irgendwo auf dem Weg verlorengegangen ist. Will ich das Wirkliche noch retten, bleibt mir offenbar nur noch der Weg der Wissenschaft, besser: des Szientismus, d.h. der Beförderung wissenschaftlicher Ergebnisse in den Rang metaphysischer Wahrheiten. Die Untersuchung der Farbrezeptoren versichert mich sowohl der »eigentlichen« Eindeutigkeit der Wirklichkeit als auch der Normativität des »gesunden« Sehens als auch der Erklärbarkeit der Abweichung. Das Einzige, was dabei auf der Strecke bleibt, ist das Sehen selbst, denn das gibt es dann nicht mehr; nur noch die Interpretation von nicht-sichtbaren Daten. Wie auch immer die Wirklichkeit dann ist: Farbig ist sie jedenfalls nicht. Man kann kaum ermessen, wie viel Verwirrung dieses so schlichte Beispiel in Bezug auf die metaphysische Betrachtung des Wirklichen gestiftet hat. Es ist genau seine Schlichtheit gewesen, seine Anschaulichkeit und scheinbare Klarheit, die daraus eine immer verfügbare Ausrede gemacht haben, um sich nicht mit der Natur des Wirklichen selbst beschäftigen zu müssen. In Wahrheit ist die Beschreibung des Phänomens schon in ihren Voraussetzungen falsch: nur ein klein wenig falsch, aber genug, um das Denken in die falsche Richtung zu lotsen. Denn es ja nicht so, dass die Farbenblinde die unterschiedlichen Farben miteinander vertauscht, so dass z.B. das, was für andere grün, für sie braun wäre. Vielmehr schmelzen gewisse, einander nahe Farbtöne so zusammen, dass sie eine selbst schwer definierbare Farbmasse bilden, aus der sich dann keine eindeutige Bestimmung mehr ziehen lässt. Es ist wichtig, dass die Farbenblindheit nicht irgendwo auftreten kann, zwischen zwei beliebigen Farben, sondern nur bestimmte Regionen betreffen kann; es ist wichtig, dass die Farben, die zusammenschmelzen, einander nahe sind, und zwar »objektiv« nahe, d.h. für jedes und gerade für das wohlgestimmte Auge. Damit ist aber eine Wahrheit der Farben etabliert, die voll und ganz auf das Auge angewiesen ist, auf die Wahrnehmung, und die trotzdem Allgemeinheit beanspruchen kann. Die Abweichungen im Sehen der Farben liegen nicht darin, dass der eine Blau so, der andre so sieht – eine Formulierung, die ohnehin vollkommen sinnlos ist, denn wer so spricht, der verdoppelt eben die Farbe in eine gesehene und eine zu sehende und der führt lauter Chimären ein, von der Unmöglichkeit, sie bzw. verschiedene Wahrnehmungen desselben Blaus miteinander zu vergleichen, ganz zu schweigen. Die Abweichungen im Sehen der Farben liegen vielmehr darin, 1) in welchen Regionen und bei welchen Tönen Differenzierungen gemacht werden und wo im Gegenteil die Farben in mehr oder weniger undifferenzierte und vor allem kontinuierliche Farbmassen oder Farbpfützen zusammenschmelzen; 2) welche Farben oder Töne als angenehm oder unangenehm empfunden werden oder welche als auffällig oder unauffällig erscheinen oder welche symbolischen Aufladungen mit ihnen verbun-

257

258

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

den sind. Beide Aspekte brauchen sowohl eine körperliche wie eine soziale Komponente, um wirksam zu werden, wobei bei der ersten die physiologische überwiegt (die aber gebildet werden muss) und bei der zweiten die soziale (die sich aber wie selbstverständlich auf die Anregungen stützt, die das Körperliche gibt: ein grelles Rot ist auffälliger als ein mattes Braun, das direkte Nebeneinander von Rot und Grün bewirkt Unruhe…). Es gibt also eine objektive Natur der Farben, und die bemisst sich aus den Differenzierungen, die sichtbar sind. Dass hier eine natürliche Normativität besteht, ist dann kein Problem mehr, denn diese Normativität besteht einfach darin, dass Differenzierungen möglich sind – was man daran merkt, dass manche sie machen und verlässlich, »wiederholbar« machen. Das ist eine Normativität, die sich überhaupt nicht auf eine Wahrheit der Farbe jenseits des Sehens stützen muss, sondern ganz allein in den Farben als solchen liegt. Die Farben sind an sich real, was überhaupt nicht hindert, dass man sie erst sehen lernen muss und dass man sie verschieden sehen kann – ja sogar muss. Die Wirklichkeit der Farben (und die in ihnen implizierte Normativität) schließt die Abweichungen nicht aus, sondern ein. Und das deshalb, weil es immer nur eine lokale Normativität sein kann: Es macht keinen Sinn, eine allgemeine Norm zu formulieren, nach der das Maximum an Farbdifferenzierung die beste denkbare Farbwahrnehmung sei. Vielmehr entsprechen hier wie überall Differenzierungen an einer Stelle Verwischungen an anderer. Natürlich gibt es Professionelle der Farben – Maler, Modeschöpfer, Kameraleute, Beleuchter… –, und natürlich hatte Karl Lagerfeld ein geübteres, ein feineres Auge für Farben und viel mehr Farbbegriffe als ein farbenblinder Philosoph. Aber diese Verfeinerung und Differenzierung kann doch nur ihr Ziel erreichen, wenn sich ihr als Gegenbewegung das Festhalten an der vielsinnigen Verwandtschaft der Farben beigesellt, das Gespür für die tausend umwegigen Verbindungen und Antworten, die die einzelnen Töne einander zurufen, ein Gefühl für das Gespräch, das sich aus ihrer Kommunikation ergibt. Von einer Tendenz zu maximaler Differenzierung als eigentlichem Zweck und höchstem Punkt des Sehens kann daher keine Rede sein. Sie müssen vielmehr immer wieder neu gesehen werden, und zwar neu gesehen in ihrem gegenseitigen Verhältnis. Das Sehen-Lernen hört auch für die Professionellen der Farben nie auf, ja: genau das, dass ihr Sehen-Lernen nicht aufhört, macht sie erst zu Professionellen der Farben. Affektion. Das heißt aber auch, dass die Welt, auch die sinnliche Welt, auch die sichtbare Welt gerade in ihrer Objektivität keine völlige Bestimmtheit hat. Der Pulli hat eine Farbe, und es ist nicht irgendeine Farbe; er ist nicht gelb, er ist nicht blau. Aber welche Farbe genau er hat, das steht eben nicht fest. Das steht objektiv nicht fest. Das steht deshalb objektiv nicht fest (was nicht dasselbe ist wie: »nicht objektiv feststehen«), weil ihre genaue Bestimmung die Intervention von Sehenden benötigt, und diese 1) in Abweichung sind, 2) sozial und historisch determiniert sind und daher 3) gar nicht isolierte Farben sehen, sondern Farben in Kontexten, sowohl selbst wieder sozialen, praktischen etc. als auch in Kontexten mit anderen Farben, mit Formen, mit Symbolen, mit Gewohnheiten usw. usf. Wir sehen also dasselbe je anders – wobei diese Abweichung in dasselbe mit hineingehört, insofern es eben nicht voll bestimmt ist. Anders formuliert: Wo genau situiert sich denn die Abweichung: im Ding, in seiner Farbe, im Auge, im Geist? Das alles ist falsch. Die Abweichung hat ihren Ort, wo das Gesehene und das Sehen aufeinandertreffen, so aber,

Das Wirkliche II

dass Abweichung und das, wovon es Abweichung ist, gleichzeitig geschaffen werden. (Diesen Ort nennt Spinoza die Affektion.) Denn die Abweichung weicht nicht ab von der Norm der Wahrnehmung oder von dem Ding, so wie es an sich wäre. Sie ist Abweichung nur in Bezug auf die anderen Wahrnehmungen desselben Dings, das seinerseits erst in diesen vielen Abweichungen, im vollen Sinn, »Gestalt gewinnt«. Dabei ist nicht jede Abweichung möglich. Es gibt immer Margen der Abweichung, die aber ihrerseits nicht klar oder gar präzise bestimmbar sind. Dass in dieser Wahrnehmung in Abweichung selbst eine Normativität wirkt, eine ganz immanente Teleologie, merkt man daran, dass es Grade der Abweichung gibt, die nicht mehr als Alternativen, nicht mehr als andere Weisen, dasselbe zu sehen, verstanden werden können, sondern die nur mehr als Einschränkungen, Pathologien aufgefasst werden können. Ab einem gewissen Punkt haben wir es nicht mehr mit Alternativen zu tun, sondern mit einem partiellen Nicht-Sehen. Es ist also nicht so, dass wir etwas als etwas auffassen, dass wir etwas als dieses oder jenes sehen. Wahrnehmung ist keine Deutung. Es ist aber auch nicht so, dass wir jeweils anderes wahrnehmen. Denn Wahrnehmung ist Erfahrung von Wirklichem, und insofern haben wir mit demselben zu tun. Die Aufgabe besteht eben darin, diese Selbigkeit als etwas zu denken, was zwingend, seiner eigenen ontologischen Natur nach fordert, dass es in Abweichung gesehen wird. Nicht einmal Gott könnte die Farben und allgemein das Wirkliche ohne oder diesseits der Abweichungen wahrnehmen, weil sie eben zur Textur des Wirklichen dazugehören – zur Textur des Wirklichen, und nicht etwa nur zur Struktur von Wahrnehmung. So gehört für Husserl die Abschattung zum Wesen der Wahrnehmung; doch das Wahrgenommene selbst und als solches ist nicht abgeschattet (jedenfalls würde er solche Auskünfte ablehnen). Husserl denkt Wahrnehmung eben nicht als etwas, wo sich die Dinge und Menschen berühren, wo sie sich real treffen, so dass beide daraus verwandelt hervorgehen müssen – auch das Wahrgenommene. (Weil er sich weigert, die Wahrnehmung als etwas Natürliches zu gelten zu lassen.) Wir können hingegen sagen, dass auch das Wahrgenommene in der Tat unvollständig, ungesättigt bleibt, wenn es nicht in der Wahrnehmung bestimmt wird. Geschichte. Die Geschichte, die Tiefe der Zeit, ist somit unmittelbar und irreduzibel in jede Wahrnehmung eingelassen. Und das in einem ganz konkreten Sinn, sogar in einem doppelten. Denn wenn man in dieser naturphilosophischen Sichtweise körperliche Einrichtung und soziale Formung unterscheiden und als komplementär, sich ergänzend bestimmen kann – dann sind das doch nur verschiedene Auseinanderfaltungen dieser Tiefe der Zeit, oder genauer: Es sind Kontraktionen (um einen Begriff von Bergson zu gebrauchen), die unterschiedliche Phrasierungen und Tempi dieser Zeit in einen Zusammenklang überführen: eine langsame Basslinie: Evolution des Lebens und der Spezies; eine schnellere harmonische Begleitung: Geschichte der Kulturen, Sprachen, Denkstile; und eine tänzelnde Motivlinie in den Flöten: das Körpergedächtnis meines individuellen Lebens. Man braucht da überhaupt keine Spekulationen anzustellen darüber, wie denn etwa die Evolution in mein Leben hineinwirkt; man braucht vor allem auch keine Instinkte, Urängste, archaischen Reaktionen, keine verborgenen Absichten des Lebens oder ähnliche Hirngespinste pflegen; genauso wenig wie man irgendeine Vererbung geistiger Tendenzen über die Generationen einer Kultur und Gesellschaft hinweg postulieren

259

260

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

braucht. Alles, was man braucht, ist hier: greifbar, sichtbar, den Wissenschaftlern zur Untersuchung, den Fotografen zum Abbilden, den Personal Trainern zum Formen übergeben: meine konkrete leibliche-körperliche Realität, die ganz einfach bestimmte Bewegungsformen nahelegt, andre möglich macht, bei einigen Hemmnisse vorschaltet, so dass große, dauerhafte Anstrengung erforderlich wäre, diese Bewegungen zu etablieren, und schließlich vieles auch einfach unmöglich macht. Im Körper, der Leib ist, kondensiert sich die Geschichte des Lebens, der Menschheit, meiner Kultur und meiner Geschichte, zu einer Realität, die auf andere Realitäten trifft, und sich und die anderen darin zur Wirksamkeit, Bestimmtheit, Aktualität kommen lässt. Physiologische Beschaffenheit, soziale Denkstile, die das Sehen-Lernen anleiten, Assoziationen und Erinnerungen: Sie alle sind einfach Modi der Tiefe der Zeit an der Oberfläche der Körper.2 Von dieser Warte aus klären sich weitere Probleme. Denn diese Geschichte, die sich im Moment, in der Affektion verdichtet und wirksam wird, sie ist in sich ambivalent: Ohne sie sähen wir nichts, denn wir wären selbst nichts, zumindest nichts Bestimmtes. Und nichts Bestimmtes sieht nichts, zumindest nichts Bestimmtes. Nur in dieser körperlichen Formung, die die Abweichung, in der Wahrnehmung besteht, zu genau dieser werden lässt, ist überhaupt eine Wahrnehmung, irgendeine Erfassung von Wirklichem möglich. Oder anders: Nur das Wirkliche ist bestimmt, und nur Bestimmtes kann wirklich sein; dass das Wirkliche deshalb nicht alles sein kann, ist also nicht Grund zur Klage, sondern Bedingung der Möglichkeit von Sein und Erkennen und Wahrnehmen selbst – es ist aber eben nie vollständig bestimmt. Geschichte ist also Grundlage der Berührung mit der Wirklichkeit. Die Geschichte, und zwar dieselbe Geschichte, ist aber zugleich auch Operator, in der sich die Abweichung ins Wirkliche einschreibt, die sich im Extremfall bis zur Entfremdung von der Wirklichkeit steigern oder zumindest so erscheinen kann. Ein Beispiel: Sagt einer, der Teufel habe seine Hand im Spiel gehabt, als der trockene Alkoholiker wieder zum Glas gegriffen hat, dann kann das auf ganz verschiedene Weisen aufgefasst werden. Einmal könnte die Versuchung als Kristallisationspunkt erscheinen, von dem her sich beide Realitäten in ihrer inneren Verwandtschaft darstellen: der Alkohol und der Teufel. Denn der Teufel ist dann wohl etwas Reales, wie genau er aber wirkt, bleibt unentschieden. Und diese Unentschiedenheit muss ernstgenommen werden. Es ist keine Faulheit des Denkens, sondern im Gegenteil seine fundamental pragmatische Natur, die die genaue Bedeutung in der Schwebe lässt. Es ist ganz falsch zu glauben, dass jede unsichere, ambivalente, uneindeutige Ausdrucks- und Denkweise nur vorläufig ist, dass sie auf ihre Klärung und Vereindeutigung wartet, dass eine innere Teleologie sie dahin zieht. Manchmal ist das so, aber sehr oft nicht. Denn das Denken ist zuerst etwas Praktisches. Und als solches sind seine Termini keineswegs immer voll geklärt. Es gibt vielleicht für jemanden

2

Für diesen Prozess, in dem die Erkennende wie die Spitze eines Kegels wirkt, der unabsehbar tief in die Vergangenheit und breit in die Kollektivität des Denkens reicht, findet wiederum Fleck eindrucksvolle Worte. »Aus Erinnerung und Erziehung melden sich Helfer: im Momente der wissenschaftlichen Zeugung personifiziert der Forscher die Gesamtheit seiner körperlichen und geistigen Ahnen, aller Freunde und Feinde.« (Entstehung und Entwicklung. 124) Das Bild des Kegels darf nicht mit demselben Bild in Bergsons Materie und Gedächtnis verwechselt werden, das dort eine andere Funktion erfüllt.

Das Wirkliche II

den Teufel, ohne dass dessen genaue Existenzform oder seine Art und Weise zu wirken jemals Gegenstand einer näheren Reflexion werden. Und warum auch? Seine Klarheit und Evidenz werden ja nicht durch das Wissen über ihn erzwungen, sondern dadurch, dass er in einem Denkstil von allen anderen Termini gestützt wird. Wir können also sagen, dass in diesem Fall derjenige, der den Rückfall des Trinkers kommentiert, nicht davon ausgeht, dass man den Teufel am Werke beobachten könnte, dass er dieselbe körperliche Wirklichkeit hätte wie der Schnaps. Seine Wirklichkeit ist seine Wirksamkeit, und das ist die Versuchung, wobei es unerheblich ist, ob die Versuchung der Flasche die Tätigkeitsform des Teufels oder ob diese die Unwiderstehlichkeit der Flasche erklärt. In der Realität geht dieser Prozess immer in beide Richtungen zugleich, nein: er ist diese undifferenzierte Bündigkeit eines Sinnes, aus dem dieser Gegensatz noch gar nicht ausgeschieden ist. So eine Äußerung stellt also in keiner Weise in Frage, dass wir alle dasselbe anders wahrnehmen, denn der Sprechende hat ja den Teufel nicht wahrgenommen. Eine andere Deutung wäre die, dass jemand wirklich »glaubt«, dass es da einen Handelnden gegeben habe, den man Teufel nennt und der dem Süchtigen das Heft des Handelns abgenommen habe. Diese Sichtweise würde nun insofern zu Problemen führen, als sie die Freiheit des Menschen massiv einschränkt. Das wäre für sich nicht so schlimm, denn niemand denkt viel über diese Freiheit nach. Schlimm ist es nur insofern, als sich mit der Freiheit auch die Verantwortlichkeit für das eigene Handeln verflüchtigte. Wie das AA-Sprichwort besagt: »Warum trinken wir? Weil wir Trinker sind.« Alle Rechtfertigungen, alles Erklären und Schönreden und vor allem alle Versuche, die Verantwortung abzuschieben, sind nicht nur falsch, sondern selbst Effekte und Selbstverstärkungen der Sucht. Aus ihr auszubrechen gelingt erst dann, wenn die Süchtige sich selbst zur einzigen Verantwortlichen der Sucht macht. Aber immer wieder die Ermahnung: Die alltägliche Verwendung solcher Redewendungen geht doch gar nicht zwangsläufig und wahrscheinlich nicht einmal oft einher mit klar formulierten Theorien über die Verhältnisse, die hier wirken. Deshalb ist es ja auch so falsch, sie als Gegenstand eines Glaubens zu reformulieren. Gott und der Teufel, die unsichtbare Hand und die Verhältnisse von Angebot und Nachfrage, Krankheitserreger und Immunabwehr, Evolution und Selektion, Experiment und Statistik in der Psychologie, Demokratie und Gerechtigkeit…: Das alles und so vieles mehr sind nicht Gegenstände des Glaubens. Zumindest nicht primär und nicht dann, wenn man darunter eine ausdrückliche, bekenntnishafte Überzeugtheit versteht. (Ob es so etwas überhaupt geben kann, ist schon psychologisch mehr als fragwürdig.) Sie sind zuallererst eingebürgerte Denkwege, sie bezeichnen eine Praxis des Denkens, die sehr häufig, wenn auch nicht immer sich schon in einer Praxis des Sagens erschöpfen kann, in einem Bekenntnis zu solchen Worten; wirklich produktiv (und zwar ohne jedes Urteil über das Gute oder Schlechte, das dabei produziert wird) werden sie natürlich erst dann, wenn sie ins Werk gesetzt werden, d.h. wenn konkrete wissenschaftliche, politische, wirtschaftliche etc. Praktiken etabliert und durch Wiederholung verfestigt werden, so als gäbe es das, was in diesen Namen angezeigt ist. Natürlich gibt es das nicht, und all diese Namen sind auch bestenfalls Platzhalter und Personifikationen eines komplexen Geschehens, nicht selten eines Geschehens, das ganz anders funktioniert, als es die Namen andeuten. Aber das ist nicht so wichtig, denn die Hauptaufgabe der Namen ist es, gewisse Claims abzu-

261

262

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

stecken: Behauptungen, Ansprüche und Grabungsgebiete. Einen Denkstil zu umreißen und zugleich die Zugehörigkeit zu ihm per Bekenntnis möglich zu machen. Aber letzteres folgt der Praxis nach. Zuerst wird gemacht, geforscht, verkauft, regiert – und dann können diese Praxen auch noch Gegenstand einer Thematisierung in Form einer Theorie werden. Problematisch im engen Sinn werden die Namen erst, wenn sie zur Volkszählung aufgerufen werden, wenn man also anfängt zu fragen, wer sich überhaupt hinter diesen Namen verbirgt. Und erst dann kann es auch irgendjemandem einfallen, explizit an solche Sachen glauben zu wollen.3 Insofern wir uns im Denkstil bewegen, so wie er seiner Funktion nach ist, haben wir es bei den oben genannten Beispielen nicht mit Begriffen zu tun. Vielmehr funktionieren diese »Begriffe« als Grenzsteine, Hebel, Zahnräder oder Schlachtrufe. Sie sind fundamental praktisch, eingelassen in eine soziale Praxis, die sie begrenzen, d.h. bestimmen, deren inneres Funktionieren sie organisieren, deren Abgrenzung von anderem sie besorgen (= deren Integrität sie wahren). Deshalb macht es bei dem, was uns die Theorie dann gibt, gar keinen Sinn, zu fragen, ob das jemand sieht oder ob jemand daran glaubt. Denn selbst in einer wissenschaftlichen Theorie taucht die Theorie nicht auf. Jede wissenschaftliche Theorie ist zuerst Praxis, und insofern sie Praxis ist, sind ihre vermeintlichen Begriffe eben Werkzeuge. Und das gilt umso mehr für andere Denkstile wie das Alltagswissen oder die Volksreligionen. Der primäre Ort dieser Praxis ist der Körper. Und es ist in diese primäre Praxis, dass sich die Geschichte in ihren verschiedenen Gestaltungen und Faltungen eingeschrieben hat – nicht als eine äußerliche Hinzufügung, sondern als die Sache selbst, als die exakte Art und Weise, in der Körper strukturiert sind d.h. in der sie sich in die Affektionen einbringen. (Einige dieser Weisen sind natürlich tiefer eingeschrieben, andere mehr eingeritzt, meine biologische Geschichte ist unauslöschlich, kein Zweifel – was aber nicht bedeutet, dass sie mein Schicksal sein muss. Meine soziale Geschichte ist Territorium meines Herkommens, anders als meine Biologie kann ich sie verlassen und damit der Geschichte neue Kapitel hinzufügen: Dann nämlich als einer, der aus dieser Schicht kommt und in jene aufgestiegen oder gefallen ist.) Deshalb gilt in einem genau umgrenzten Sinn, dass wir die Welt anders wahrnehmen, je nach unseren Denkstilen, d.h. je nach den Nervensträngen der Geschichte, die in uns Fleisch geworden sind. Wir nehmen aber keine andere Welt wahr und schon gar nicht ist die Welt in unserer Wahrnehmung oder unserer Sicht auf sie. Alle perspektivische, distanzierende, auch alle kognitivistische Terminologie ist hier fehlerhaft und führt unvermeidlich ins Falsche. Auf der anderen Seite aber braucht man nicht zu glauben, dass man diese Verschiedenheit der Wahrnehmung, die Wirklichkeitspraxis in Abweichung als ein Argument für oder gegen die »Einheit« der Wirklichkeit nehmen darf. Es gibt überhaupt keinen Anlass, hier Einheit und Vielheit gegeneinander ausspielen zu wollen, genau so wie wenig wie Geschichte und Kultur auf der einen, gleichbleibende Realität und Natur auf der anderen Seite. Es ist die Geschichte, die in der konkretesten denkbaren Weise

3

Buber hat also recht: Der Glaube ist eine Verfallsform des Religiösen. Buber begründet das damit, dass die einzige mögliche Beziehung zu Gott die einer Begegnung ist, zwischen Ich und Du, die weder dauerhaft, noch kontinuierlich, noch verlässlich, noch in eine Form zu gießen ist. Der Glaube ist der irrige Versuch aus dem, was nur Abenteuer sein kann, etwas Dauerhaftes zu formen; vgl. Buber: Ich und Du. 109.

Das Wirkliche II

vorhergeht und sich verkörpert. Sie ist Fleisch geworden, ohne dass dieser Satz auch nur ein Körnchen Metaphorik enthielte. Es folgt, dass die unterschiedlichen »Auslegungen«, um die die Menschen ringen und streiten, Effekte sind, die in der Einschreibung der Geschichte ins Wirkliche gründen, aus denen aber weder der Schluss erlaubt ist, dass das Wirkliche als solches unerkennbar wäre, noch dass es an sich gleich, die Unterschiede nur in unseren Köpfen seien, noch auch dass wir die Welt je anders sehen, vielleicht sogar eine andere Welt, in irgendeinem inhaltlich bestimmten Sinn. Die Abweichung in all ihren Erscheinungsformen ist der irreduzible Aspekt einer Wirklichkeit, deren »Teile« in unablässiger Interaktion miteinander sind; und die Phänomene, die man gelegentlich anführt, um tatsächliche und eklatante Gegensätze, Widersprüche in den Erfahrungen und Wahrnehmungen des Wirklichen zu beweisen, sind entweder Fehldeutungen von ganz anderen Phänomenen (wie bei der Farbenblindheit) oder hängen sich an den Momenten auf, an denen in der Tat echte Widersprüche entstehen können, dann nämlich wenn die fundamental pragmatische Natur der Beziehung zum Wirklichen auf die Theorien reduziert wird, die man sich von der Welt macht. Die Entfremdung vom Wirklichen und von den anderen möglichen Wahrnehmungen desselben hat aber dann nicht in der Wahrnehmung stattgefunden, sondern im Moment der Beförderung der Theorie, die unser Tun begleitete und teilweise leitete, in den Rang der abstrakten und ideellen Wahrheit dieser Praxis. Die Ironie: Diese Beförderung der Theorie geschieht immer im Namen einer Praxis, nämlich eines Kulturkampfes. Wenn zuletzt die Fliehkräfte, die die westlichen Gesellschaften seit einigen Jahren zu einem regelrechten Sieb gemacht haben, eine neue Unwucht erhalten haben, als es um die Existenz und Gefährlichkeit eines Virus ging, so wurde der Streit in der Tat gerade vonseiten der »Aufgeklärten« oft falsch angegangen. Denn die Zweifel hatten mindestens in einem Recht: Ich sehe durchaus kein Virus, fast niemand tut das. Ich weiß deshalb nicht davon, wenn man als Wissen nur die durch eigenes Zeugnis und Denken bestätigte Gewissheit zulassen will. Es geht hier ganz wesentlich um Vertrauen in bestimmte soziale Gruppen. Überhaupt sind die Weichen, die hier gestellt werden, zuerst soziale: Zu welcher Gruppe gehöre ich? Selbst die, die das Virus tatsächlich sehen können, im Labor, unter dem Mikroskop, sehen es ja nicht bei der Arbeit; auch sie lesen ja nicht seine Eigenschaften an seinem lustigen Aussehen ab; auch bei ihnen ist die »Wahrnehmung« und das Wissen um die Eigenschaften und Gefährlichkeit des Virus erstens eine zutiefst durch soziale Praxis, durch Initiation und Wiederholung und Übung gestaltete, und zweitens etwas, was beständig in Bewegung ist. Niemand kann einen kausalen Zusammenhang zwischen einem Virus und dem Tod eines Menschen in einem engen Sinn wahrnehmen, und noch weniger irgendwelche nur mehr statistisch bestimmbaren Gefahren, die von jenem ausgehen. Der Streit konnte deshalb auch nie davon handeln, auch wenn nicht selten beide Seite in ihrer Naivität meinten, die Antwort wäre so einfach. Und Naivität meint hier ganz neutral: das Vertrauen in gewisse Gruppen und das Misstrauen in andere, die sich durch gegenseitige Verstärkung festigen und verhärten. Der Streit, der solche unheimlichen Ausmaße angenommen hat, siedelt sich auf einem ganz anderen Niveau an, nicht auf einem der »Wahrnehmung« der »Wirklichkeit«; es geht um soziale Entfremdung, nicht um perzeptive oder interpretative. Dass, je nachdem auf welche Seite man sich stellt, die ganze Welt und ihre Imperative dann ganz anders

263

264

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

aussehen, liegt einfach daran, dass beide Seiten sich nicht in isolierten Berührungen mit der Wirklichkeit erschöpfen (diese Theorie ist weder atomisierender Empirismus noch platter Realismus), sondern von sich aus Systeme ausbilden. Diese Systeme sind keineswegs kohärent, harmonisch, einsinnig, abgeschlossen; sie sind vielmehr unvollständig, überlappend, ausfasernd, widersprüchlich. Was sie aber leisten – und dort konstituieren sich dann die Konflikte –, ist, dass sie gewisse Verbindungswege bevorzugen und andere schließen. Magnetfeld. Ein anderes Argument für die vermeintliche Unerkennbarkeit des Wirklichen bzw. die Verzerrung, die es von unserer Wahrnehmung leidet, meint man in manchen Wahrnehmungsphänomenen zu finden, die man bei Tieren konstatiert. Das ist dann unproblematisch, wenn man z.B. darauf verweist, dass Hunde viel höhere Töne hören können als wir. In diesem Beispiel wird ja nichts ganz anderes in die Welt des Erfahrbaren eingeführt; wir befinden uns vielmehr im Umkreis des Beispiels der Farbenblindheit. Ganz erstaunlich ist aber, wie sich manche Tiere orientieren. Gerade bei den Zugtieren, die Tausende von Kilometern zurücklegen, sind diese Orientierungsleistungen oft atemberaubend. Ihre Bezugsparameter können unter anderem auch das Magnetfeld der Erde oder die Polarisierung von Licht sein. Brauchen diese Tiere also auch spezielle »Organe« für die Wahrnehmung solcher Parameter, und ist damit nicht die Notwendigkeit erwiesen, die Breite des Wirklichen um einige Richtungen zu erweitern, die in unserer menschlichen Wahrnehmung nicht vorkommen? Doch auch diese Argumentationsweise beweist nichts. Denn zum einen sind beide Wirklichkeitsdimensionen nicht fernab von der menschlichen Welt, sie bilden keinen Kreis des unerkennbaren An-sich (diesmal bezogen auf die Bedingungen menschlicher Biologie). Vielmehr lässt sich die Polarisierung des Lichts mit einfachen Instrumenten sichtbar machen, so dass es möglich ist, dass schon die Wikinger diese Technik der Orientierung einsetzten; und auch die Orientierung am Magnetfeld der Erde könnte den Menschen nicht vollständig abgehen.4 Zum anderen besteht der Fehler solcher Spekulationen über unerkennbare oder unerreichbare Wirklichkeitsdimensionen wieder in einer Fehldeutung der Wirklichkeiten, die dort postuliert werden. Das, was es da zu spüren gibt, für mich, für die Vögel und Bienen, das muss gar nicht in einer solchen Weisen existieren, dass davon ein explizites Wissen oder auch nur eine distinkte Wahrnehmung möglich ist. Daher ist die Idee, das, was dann gespürt wird – Kraftfelder, Magnetfelder, Lichtpolarisierung… –, müsste »eigentlich«, »in Wirklichkeit« auch noch einmal distinkt existieren, müsste denkbar sein wie eine Wahrnehmung, die nach dem Vorbild des ruhigen, ungestörten, kontemplativen Schauens gedacht ist, diese Idee ist gegenstandslos. Was der Mensch und was andere Tiere spüren, neben dem distinkt Wahrnehmbaren, ist nicht selbst noch einmal etwas distinkt Wahrnehmbares, für das dem Menschen nur das entsprechende Organ fehlte; es ist eben solches, was man gar nicht distinkt wahrnehmen kann. Deshalb kann man es aber doch wahrnehmen, und deshalb ist es eben doch mehr als nur eine rein theoretische und spekulative Möglichkeit. Es ist immer die Wirkung von Körpern aufeinander, überbordend und spürbar. 4

Vgl. Hansson; Åkesson (ed.): Animal Movement across Scales. 161. 163.

Das Wirkliche II

Wir brauchen solche Phänomene also gerade nicht als Anzeige einer Wirklichkeitsform nehmen, die uns irgendwie verborgen wäre. Denn die Wirklichkeitsform, die darin angezeigt ist, existiert zweifelsohne. Sie existiert aber nicht so, wie sie ein wissenschaftliches Wissen rekonstruiert. Der Satz Spinozas: Wir wissen noch gar nicht, was der Körper vermag, findet auch hier seine Bestätigung: Wir wissen das nicht, weil es davon seinem Wesen nach kein distinktes Wissen geben kann. Das, was die Körper da machen, ist fundamental Praxis, die sich auf eine Wirklichkeit bezieht, die in unendlicher gegenseitiger Durchdringung und Überlappung existiert. Die Körper wissen nun einmal vieles, wovon genau deshalb kein theoretisches Wissen möglich ist.5 Wie die Qualitäten ihre Natur verändern, wenn sie geteilt werden, so ändert auch das Implizite des praktischen Wissens seine Natur, wenn es expliziert und zur »Theorie« wird. Das Eingefaltete ist von anderer Natur als »dasselbe« im ausgefalteten Zustand. Wenn die Beziehung der Wahrnehmung zum Wahrgenommenen, wenn die zwischen Auge und Gegenstand, die zwischen Mensch und Mensch, die zwischen mir und dir, zwischen Leben und Leben, zwischen Sandwespe und Raupe verdichtet, eingefaltet, zusammengeknüllt, unvermittelt ein Kontakt und eine Wahrheit, Gewissheit ist und wie im Knoten verschnürt, dann lässt sich dieses Wissen um den oder das andere nicht einfach auseinanderfalten. Ich weiß, dass da etwas ist, selbst wenn ich von Raum, von Zeit, von Ding, von Existenz usw. kein bewusstes Wissen habe, ja nur dann. Ich kann den Abstand zu dem Fenster abschätzen, weil ich nicht rechne oder geometrisiere. Ich spüre die Traurigkeit meiner Geliebten, weil es keinen Code der Entzifferung von Gefühlen gibt (wer entziffern muss, spürt nicht; und Codes können nur von Wesen ersonnen werden, von denen zumindest einige spüren können). Ich liebe dich, weil ich dich als die weiß, die mehr ist, als ich von ihr weiß und wissen kann. Ich spüre den Herzschlag des Hundes und fühle sein Leben, genau in dem Maße, in dem ich nicht weiß, was Leben ist, und so auch die Katze, die mit der Maus spielt, und die Sandwespe, die weiß, wo sie die Raupe stechen muss, weil sie keine Anatomiekenntnisse hat.6 Immer ist ein Kontakt zugleich Wissen – Wissen um mich, um das andere, um unsere Beziehung, um unsere Gemeinsamkeit, unsere ontologische Solidarität –, aber ein Wissen, das als Wissen nur funktioniert, weil es implizit bleibt. Faltet man es auseinander, wird es zu etwas anderem. Es hört auf, das Wissen zu sein, das es war, und wird zu einem anderen. Wissen ist also weder etwas Absolutes, noch etwas nur dem Menschen Zugehöriges, noch ursprünglich (und in Wahrheit nie) etwas Theoretisches. Wissen ist Berührung, Kontakt, Interaktion. Man darf sich auch nicht von den Worten verleiten lassen: Die Metapher legt ja nahe, dass das »Implizite«, das gelebte und vollzogene Wissen »eigentlich« auseinandergefaltet wäre, so wie ein Blatt Papier ja auch erst einmal glatt und auseinandergefaltet

5

6

Es gibt auch einen Grund, weshalb ich hier überall die Rede von Sinnesorganen vermeide. Dieser Ausdruck, der für andere wissenschaftliche Zwecke nicht zu beanstanden ist, ist doch metaphysisch nicht zu gebrauchen, weil er die nicht existierenden scharfen Disktinktionen des Wirklichen in die Organisation der Körper abbildet. Er bezeichnet nur die »subjektive« Seite des Irrtums, der darin bestünde, den Ton, die Farben, das Magnetfeld der Erde usw. als Sachen zu betrachten, die nichts miteinander zu tun haben. Das Beispiel wird von Bergson im gleichen Sinn gebraucht: Évolution créatrice. 173ff.

265

266

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

sein muss, damit es dann zusammengefaltet oder zusammengeknüllt werden kann. Hier steht es ganz anders: Das »ursprüngliche« Wissen ist das zusammengefaltete, das sich auseinanderfalten kann, oder genauer: das in einen anderen Aggregatzustand übergehen kann. Etwas ändert sich in diesem Übergang, etwas bleibt gleich – und sei es nur, dass es eben Wissen ist, und alles Wissen zuerst und grundlegend als wahres Wissen gedacht werden muss. Ich bin Kontakt zur Realität, und alles Wissen, das ich davon haben kann, sagt mir Wahres von dieser Realität. Alles Wissen, bis auf das eine, das mir sagt, dass ich nicht das Wahre der Wirklichkeit selbst schon weiß. Und auch dieses sagt mir noch etwas Wahres. Relativismus. Diese Konzeption von Wahrheit wird des Relativismus gezeiht werden. Und nicht zu Unrecht. Man muss sich aber schon darüber verständigen, was man damit meint. Wenn man darunter versteht, dass es keine an sich bestehende Wahrheit gibt, dann kann das inzwischen als bewiesen gelten. Wenn man unter Relativismus versteht, dass das Erkennen immer relativ auf Bedingungen ist – mit Fleck gesprochen: auf Denkstil und Denkkollektik –, dann ist auch das richtig. Wenn man mit Deleuze sagt, der Relativismus behaupte nicht die Variation einer Wahrheit gemäß einem Subjekt, sondern die Bedingung, unter der einem Subjekt die Wahrheit einer Variation erscheinen kann,7 dann lässt sich auch diesem Begriff der Relativismus ein guter Sinn geben: Solche Bedingungen sind sowohl die ontologischen Hinsichten als auch die ontologische Notwendigkeit einer irreduziblen Pluralität. (Subjekte und ihre Variationen sind deshalb nicht die zufälligen Dreingaben und Verkürzungen der Realität, sondern deren Gewebe selbst, strukturell.) Alle philosophisch anspruchsvollen Begriffe des Relativismus können wir akzeptieren, und wir sehen unsere Unternehmung dadurch in keiner Weise von einem Makel befleckt. Ausgerechnet aber der Begriff von Relativismus, der am wenigsten anspruchsvoll ist und der dem alltäglichen Sprachgebrauch am nächsten ist, wirft ein echtes Problem auf: Denn wenn das stimmt, dass es eine Geschichte gibt, die sich im Wahrnehmen und Erkennen verdichtet; und wenn diese Geschichte im menschlichen Bereich schneller abläuft als zuvor, wenn sie dabei keinen höheren Gesetzen folgt, sondern sich durchaus kapriziös geriert: vielleicht nicht ganz zufällig, sicher nicht chaotisch, aber immer für eine plötzliche, durch nichts motivierte Wendung gut – müsste man dann nicht auf alle Urteile verzichten, die erklären, das eine sei wahr, das andre falsch? Dürften wir dann nie erklären, dass die moderne Medizin besser und wirkungsvoller ist als die mittelalterliche? Aber ist es nicht ebenso klar, dass wir dazu, aus guten Gründen, weder in der Lage noch bereit sind? Nicht nur würde Wissenschaft dann zum bloßen Glasperlenspiel degradiert, solcher Relativismus widerspräche auch unserer gesamten Wirklichkeitsauffassung – und er schiene doch wohl auch, wie man es auch dreht, objektiv falsch. Wie kann man aus diesem Dilemma entkommen: entweder wieder zu einem objektivistischen, szientistischen Begriff von Wahrheit und Wissenschaft zurückzukehren oder aber einem Relativismus das Wort zu reden, der sich nicht mehr guten Gewissens rechtfertigen lässt?

7

Deleuze: Le pli. 27.

Das Wirkliche II

Eine Lösung in drei Zügen: Erstens bleibt es wahr, auch angesichts der Ausrottung der Pocken, des Überschallflugzeugs und der Smartwatch, dass es einen Anteil von Relativität sämtlicher wissenschaftlicher Erkenntnisse gibt, und selbst der avantgardistischsten, der sich ganz einfach nicht bestimmen lässt. Was heute auf der Titelseite von Nature steht, kann in 20 Jahren schon als falsch oder falsch verstanden oder als ein Irrweg erscheinen. Weder die Orte dieser Korrekturen, deren Folge kein Ende kennt, noch ihre Zahl oder ihr Ausmaß lassen sich festlegen. Ein Wissen a priori ist hier sowieso unsinnig, ein empirisches Wissen durch die Sache selbst ausgeschlossen: Denn sonst wüsste man ja heute schon, was man erst später wissen kann – und nicht zuletzt später wissen wird dadurch, dass man jetzt einem Weg folgt, der sich als Sackgasse erweisen wird. Zweitens lässt sich aber der Ort genau bestimmen, an dem Wahrheit entsteht. Wahrheit geschieht dort, wo zwei Körper aus der Tiefe der Zeit (und der Breite der anderen Körper) miteinander in eine Kommunikation eintreten, die beide verändert und bestimmt. Wahrheit hat ihren Ort in der Affektion. Deshalb ist sie so zwingend, daher ihr normativer Charakter: Es ist falsch zu meinen, dass es irgendwelche ererbten Theorien oder unverstandenen Überzeugungen wären, die den Blick auf die Wirklichkeit bestimmen und beengen. Noch viel weniger sind es ausdrücklich gemachte und bewusst übernommene Konzeptionen, die diese Aufgabe erfüllen. Beide Formulierungen hängen noch an dem Intellektualismus und seiner Entgegensetzung von Theorie/Überzeugung/ Weltsicht einerseits und Erfahrung andererseits, selbst dann, wenn sie versuchen, beides im konkreten Fall einander anzunähern. Diese Sichtweise haben wir schon verabschiedet. Es sind Körper, die aus der Geschichte heraus agieren und in einer Spontaneität, welche dem Denken und Theoretisieren vorhergeht, Körper, die unmittelbar aufeinandertreffen und darin eine gegenseitige Bestimmung generieren, welche letztere wir Wirklichkeit nennen und deren Zwingendes den Namen »Wahrheit« trägt. Es ist also nicht einmal so, dass die Wahrheit primär einem Urteil über eine Tatsache zukäme. Auch das ist noch zu abstrakt. Die Wahrheit ist zuerst die Evidenz, die Selbstverstärkung und/oder die Verschiebung des Impetus der Geschichte, der sich in meinem Körper im Akt der Erkenntnis verdichtet. Es ist immer zuerst das Gesamt einer solchen verkörperten Geschichte, die in der Wahrheit einer Erkenntnis zur Disposition steht – und die man eben irrtümlich oft als »Theorie« oder ähnliches bezeichnet. Wenn ich im Labor einen Test mache, dann ist die volle Kraft der Wahrheit, die mir im Gelingen entgegenschlägt, nicht aus der punktuellen Übereinstimmung zweier Parameter geschöpft, sondern vielmehr aus der geduldigen Kraft der Moräne der Tradition, deren vorläufiger Endpunkt ich bin. Das misslingende Experiment ist ein Steinchen, über das diese Moräne sich wälzt: Es wird ihr etwas abschaben, doch so, dass sie es kaum vermissen wird. Ein Steinhaufen kann der Moräne schon eine etwas andre Richtung geben. Und tausende kleine Steinchen lassen, vielleicht, von ihr nichts mehr übrig. Wahrheit ist also weder primär im Urteil noch bezieht sie sich zuerst auf eine Tatsache, die sich in einem Satz ausdrücken ließe, auch nicht in einem Satzkomplex, nicht einmal in einer umfangreichen Theorie. Wahrheit ist zuerst selbst eine Affektion oder Teil einer Affektion, Wahrheit ist eine Empfindung, ein geradezu sinnliches Ereignis, durch das wir im Erkennen die ganze Kraft der Geschichte spüren und bestätigen (und das beinhaltet: weiterschieben), aus der heraus wir erkennen. Und das gilt sogar dann, wenn die Wahrheit, die wir erkennen, eine heterodoxe ist. Denn

267

268

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

auch zu der kommt keiner plötzlich, im Gegenteil braucht es Zeit, um sich von tiefverwurzelten »Überzeugungen« zu lösen, und diese Zeit ist dann die Geschichte, die sich in der Erkenntnis als eigenständige Kraft herausstellt oder bekräftigt – und die sich zugleich immer eine andere Geschichte miterfindet, die Geschichte derjenigen nämlich, die diese heterodoxe Einsicht schon längst gehabt haben. Das jedenfalls ist der Grund, weshalb es tatsächlich nicht möglich ist, aus der Evidenz der Wahrheit, die die unsrige ist, auszusteigen, um sie von außen zu betrachten. Wäre das Erkennen, wäre die Wissenschaft eine theoretische Angelegenheit, dann würde nichts dagegensprechen. Das ist sie aber eben nicht. Drittens ist damit aber ein Standpunkt gewonnen, der nicht nur erklärt, warum wir gar nicht fähig sind, aus unserer Verhaftung an die uns bekannte Wahrheit und Wissenschaft herauszutreten. Es ist vielmehr ein Grund gefunden, warum das auch objektiv falsch wäre. Unsere Wissenschaften haben nichts mit den Legenden zu schaffen, die uns die Populärkultur, ein gewisser Journalismus und manche Politiker verkaufen wollen: das ätherische Feld reiner Erkenntnis, bevölkert von Heroen und Heroinen, deren einziges Ziel die Wahrheit ist, das sie mit unbestechlicher Gewissenhaftigkeit verfolgen, bis auf die 1000ste Nachkommastelle, und wenn die Beweise und Experimente gesprochen haben, gibt es keine möglichen Diskussionen mehr, das Wissen häuft sich so an und auf, dass sich der Turm von alleine herstellt, der diesmal aber nicht umfallen oder von einem zornigen Gott zerspaltet wird, denn dieser Turm fußt sicher auf endgültigen, unumstößlichen und exakten Erkenntnissen. – Nichts davon entspricht der Realität der Wissenschaften. Und trotzdem können wir unumwunden erklären: Unsere Wissenschaften sind besser als die antiken, die mittelalterlichen, als die religiösen Welterklärungen, als die schamanistischen Medizinen usw. usf. Sie sind objektiv besser – im einzigen Sinn von Objektivität, der noch zulässig ist. Entgegen einer weit verbreiteten Deutung liegt das aber nicht an der Mathematisierung, durch die einerseits der Wirklichkeit ein »Ideenkleid«8 übergestülpt wurde, sodass sie sich als rationale und eben berechenbare erweisen konnte, und andererseits der Wissenschaft die Kraft zur restlosen Systematik überantwortet wurde. Zumindest liegt das Besser-, das Wahrer-Sein nicht zuerst an der Mathematisierung.9 Diese ist vielmehr ein Kunstgriff, um mit der anderen Seite klarzukommen und deren Produkte zu klassifizieren, kategorisieren, vergleichbar zu machen und ihnen entgegen allen Unwägbarkeiten das Verlässliche abzuringen. Und diese andere Seite, der eigentlich Gründungsakt der modernen Wissenschaft besteht in der Vervielfältigung der Orte, an denen die Körper sich begegnen können, in der Ausdifferenzierung der Affektionen und in der Heterogenität der Begegnungsformen, die gezielt herbeigeführt wird. Kein Denken, philosophisch, wissenschaftlich, religiös, alltäglich, kann auf die Erfahrungen verzichten. Denken ist zutiefst empirisch, in Wahrheit sogar empiristisch. In den meisten Fällen aber pflücken

8 9

Husserl: Krisis. 51. Im Übrigen ist das kein absolutes Besser-Sein. Es ist, wie das Wort es sagt, ein relatives, ein graduelles. Und nie werden die Wissenschaften, unsere heutigen oder irgendwelche künftigen, ein so festes und lückenloses Gewebe stricken, dass das Gesamt des Wirklichen dadurch abgedeckt ist. Alle und noch die besten (verfügbaren) Wissenschaften schaffen automatisch ihre blinden Flecken, ihre Lücken, sogar ihre spezifischen Irrtümer.

Das Wirkliche II

wir die Erfahrungen wie Blumen: dort, wo wir zufällig herumstreunern. Der Schritt, der die moderne Praxis von Denken und Forschen begründet, besteht darin, die Erfahrungen gezielt aufzusuchen, aus dem Erfahrung-Machen eine Methode zu machen. Das ist der Imperativ, der nur knapp unter der Oberfläche der alltäglichen Forschung verdeckt liegt. Zweierlei muss man dabei verstehen: Erstens sind das Erfahrungen, die von sich aus Heterogenes in Beziehung setzen, die damit die Reichweite menschlicher Erkenntnis und Erfahrung stets verschieben, so dass und indem sie Menschliches und NichtMenschliches (Tierisches, Kleines, Großes, Tiefes, Hohes, Wolken und Atome) unablässig aufeinandertreffen lassen. Die Effekte also sind zwangsläufig Affektionen, in denen die Menschen sich fürs Nichts-Menschliche öffnen – auch wenn sie schließlich versuchen werden, es zu vereinnahmen. In ihrem Grundimpetus ist die moderne Wissenschaft exakt das, was Deleuze und Guattari den »Spaziergang des Schizophrenen«10 nennen: ein Stromern quer durch das Wirkliche, ohne Rücksicht auf Grenzen (zwischen Mensch und Natur, Natur und Geschichte, Mensch und Tier, Mensch und Pflanze…). Es ist die Begegnung von Orchidee und Wespe, erhoben ins Methodische.11 Zweitens ist es dabei nicht so, dass diese Vervielfältigung der Orte der Begegnung schon allein von sich aus, also im Sinn eines anwendbaren methodischen Imperativs die wissenschaftliche Erkenntnis begründet. Die Reise, die das moderne Denken ist, bleibt ein Abenteuer, das nur selten die Ergebnisse zeitigt, die man erwartet hatte, und das gerade entgegen des modernen Aberglaubens radikal unbeherrschbar bleibt. Denn dieses Denken ist mit sich selbst im Widerstreit: So sehr es auf der einen Seite eine grundlose Entscheidung für das Maximum an Erfahrung ist,12 und dies in Vielfalt, Differenzierung und Heterogenität – so sehr bemüht es sich, das Grummeln, Rauschen, die Wasserfälle und die Stimmen der unmenschlichen Natur ins Menschliche einzugemeinden, es beherrschbar zu machen, zuerst im Denken, dann auch in der Wirklichkeit, also die Natur zu leugnen oder zu nivellieren, ihre Macht herunterzudrücken und alles wie eine Reise des Geistes in sich selbst aussehen zu lassen. Der Widerspruch der modernen Wissenschaft besteht darin, sich zugleich zu öffnen und zu verschließen für die Vielfalt und die Heterogenität des Seins, auf Abenteuerreise zu gehen und immer nur sich selbst finden zu wollen. Wissenschaft im modernen Sinn ist wie der »Lonely Planet«: die Beschreibung einer vom Menschen verlassenen Welt, die es zu entdecken gilt – die sich

10 11 12

Deleuze/Guattari: Anti-Œdipe. 7. Das Bild stammt von Proust und ist Deleuze teuer, weil in ihm eben die Unmittelbarkeit der Begegnung des Heterogenen zum Ausdruck kommt; vgl. zum Beispiel: Anti-Œdipe. 47. In einer Passage, die aufs Knappste reduziert und wie nebenbei wichtigste Fragen anschneidet, spricht Fleck diesen Imperativ aus: »Ich halte das Postulat vom Maximum der Erfahrung für das oberste Gesetz wissenschaftlichen Denkens.« (Entstehung und Entwicklung. 70) Gegen Flecks erklärtes Bekenntnis dazu, dass es keinerlei Vergleich zwischen verschiedenen Denkstilen geben kann, und in Modifikation meiner eigenen früheren Auslegung dieses Satzes (Elemente. 222) würde ich nun also sagen, dass die Forderung, von der Fleck spricht, sicher in allen Denkstilen wirksam ist; dass sie aber erst in der modernen Wissenschaft zum Prinzip erhoben wurde – in der beschriebenen ambivalenten Weise.

269

270

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

nicht nur selbst widerlegt, sondern in der Aufforderung, noch jeden Quadratzentimeter mit menschlichen Füßen abzugehen, das Dementi der eigenen Voraussetzung ist.13 Das vollbringt in der Praxis die Mathematik, deren Aufgabe darin besteht, die Heterogenität der Erfahrungen ineinander übersetzbar zu machen, die Vielfalt der Ergebnisse statistisch zu mitteln und die Ausdifferenzierung in hierarchische Verhältnisse zu bringen. Wagnis der Begegnung, Kalkül der Folgen: In diesem Widerspruch entfaltet sich die moderne Wissenschaft. Zusammen produzieren diese beiden widersprechenden Seiten der modernen Wissenschaft ihre fabelhaften Ergebnisse und atemberaubenden Erfolge; zusammen bringen sie all die Wirkungen hervor, die uns vor Angst erblassen lassen und die sowenig jemand vorhersehen konnte wie die Erkenntnisse des Forschens selbst; gemeinsam machen sie blind für das, was Natur ist,14 und gemeinsam lassen sie die verrückte Idee vernünftig erscheinen, die Menschen könnten oder auch nur: sollten sich zu »maîtres et possesseurs de la nature« aufschwingen.15 Es ist die Erfahrung, die selbst ins Schillern gerät, in dem Maße, in dem sie ins Zentrum der Reise rückt. Dieses Schillern ist ausgedrückt durch das neue Wort des Experiments: eine Erfahrung, die man aufsucht, um sich von ihr überraschen zu lassen – oder die man als Bestätigung des schon Gewussten sucht, aber auf immer gewundeneren Wegen. Wenn Galilei auf den Turm zu Pisa steigt, wenn Pascal seinen Schwager auf den Puyde-Dôme schickt, dann damit sie eine bestimmte Erfahrung machen. Diese Erfahrung ist zugleich neu und soll wiederholbar sein, also zeitlos. Natürlich hat alle Wissenschaft und auch alle Technik, alles Handwerk und Landwirtschaft mit den Erfahrungen gearbeitet und sie versuchsweise in Reihen angeordnet. Dass die Chemie etwa ihren Namen erhalten hat von ihrer esoterischen Großmutter, ist sicher nicht ganz unberechtigt. Neu ist aber eben, dass diese Orte der Begegnung ins systematische Zentrum der Methode selbst rücken und sich zugleich heterogen vervielfältigen. Deshalb ist es keineswegs nur

13

14

15

»Das Streben nach dem Erkennen des Absoluten beruht auf einem sonderbaren Missverständnis: Ist es nicht dasselbe, als wollte man einen jungfräulichen Dschungel erschließen, ohne seinen jungfräulichen Zustand zu verändern?« (Fleck: Zur Krise der »Wirklichkeit«. In: Fleck: Denkstile und Tatsachen. 52–69. 62). Das hat nichts mit »Seinsvergessenheit« oder ähnlichem zu tun. Das Eigentümliche dieser oder ähnlicher Formeln ist immer, dass das, was da vergessen, verdeckt, verborgen wurde, schon so lange und so grundsätzlich vergessen, verdeckt, verborgen ist, dass man es eigentlich gar nicht mehr finden kann und dass der Philosoph, der fast schon Seher ist, in ahnungsvollen Worten davon schwärmen muss. Dagegen ist das mit der Natur einfach: Sie liegt vor unseren Augen, und auch dort, wo die Wissenschaften sie am brutalsten durch eine Theorie zu ersetzen suchen, hängt deren Erfolg ausschließlich von ihrer Fähigkeit ab, ihr, der Natur, dem eigenen Ansinnen zum Trotz noch gerecht zu werden. Deshalb auch kann man Bücher über die Natur schreiben, aber über das Sein nicht – man müsste denn das »Sein« schon falsch schreiben, um das erst möglich zu machen. Descartes: Discours de la méthode. AT VI. 62. Gerade der Discours ist eine Erzählung dieses Widerspruchs. Descartes berührt die Möglichkeit einer Reise ohne Plan, einer Blütenlese der Erfahrungen (»recueillir diverses experiences«) in dem autobiographischen Teil, ja er schildert einfach die Tatsache, dass er das versucht hat – nur um festzustellen, dass das einzig Verlässliche (und das, was den Erfahrungen erst Verlässlichkeit geben kann) in ihm selbst zu finden sein wird: auf zwei Textseiten die Widersprüchlichkeit modernen wissenschaftlichen Denkens verdichtet (9f.).

Das Wirkliche II

das Experiment, das von dieser Neuausrichtung des wissenschaftlichen Tuns Zeugnis ablegt. Die Anatomie dringt, Schicht um Schicht, in die Tiefe des menschlichen Körpers ein, schafft wortwörtlich Orte der Begegnung mit dem anderen Körper, nämlich in den Anatomiesälen, die in den Bildern Rembrandts verewigt sind. In gleicher Weise dringt die Geologie ins Innere des Erdkörpers ein, damit implizit menschlichen und Erdenkörper in Analogie setzend, aber nicht unter den Vorzeichen einer Korrespondenz von Mikround Makrokosmos oder im Sinn eines vagen Animismus, sondern eben als Begegnungsstätte, als unscharfer Ort der Affektion, an dem sich die Eigenart der Körper verliert, um einen neuen Bereich zu bilden, der etwas Unheimliches hat. Denn er ist nicht mehr die Heimat, das Heimelige des menschlichen Körpers, in dem ich wohne, oder der Erde, die ich bewohne, sondern er ist das Ergebnis der Deterritorialisierung beider. Die Archäologie wird dieselbe Bewegung ins Tiefe vollziehen, diesmal aber auf der Suche nach den Spuren der Geschichte der Menschen und nicht mehr der Geschichte der Erde. Wieder wird das Ergebnis das einer Deterritorialisierung sein, die ihre Kraft eben daraus zieht, dass sie aus mehreren Strängen besteht, die sich kreuzen und dabei gegenseitig ihrer Vertrautheit entkleiden. Dass wir dieses Unheimliche nicht mehr ohne Weiteres spüren, liegt einfach daran, dass uns Archäologie längst im Modus des Tourismus zum Konsumgut geworden ist. Der »Lonely Planet« ist hier also wörtlich zur Vollendung der Bewegung der Wissenschaft geworden. Aber wie sollte es nicht etwas Beunruhigendes haben, wenn man, egal ob in Xi’an oder in Gizeh, in die Grabdenkmäler einer anderen, einer fundamental fremden Epoche eindringt, die nie für einen menschlichen Blick gedacht waren? Deleuze und Guattari beschreiben den »Spaziergang des Schizophrenen« als eine Wanderung durch die Intensitäten – nichts anderes ist die moderne wissenschaftliche Begegnung in ihrem Anfang und ihrem Prinzip: Anfang und Prinzip, die alle neuen Forschergenerationen wiederholen, wobei die Erschütterung von der Gewöhnung und nicht zuletzt von der Methode und der gegenseitigen Versicherung der Forscher untereinander gedimmt wird.16 Wie soll man sich wohl den Moment vorstellen, in dem Leeuwenhoek zum ersten Mal durch sein selbstgebautes Mikroskop winzig kleine Lebewesen beobachten konnte? Natürlich muss das ein Triumph gewesen sein. Aber wie abgründig: Jeder Neurotiker mit einer krankhaften Angst vor Keimen legt unmittelbar Zeugnis davon ab, dass die Begeg-

16

Horrorfilme und Thriller setzen gerne ein Mittel ein, das einen einigermaßen nachfühlen lässt, welcher Art die Bestürzung und Unheimlichkeit der Begegnung mit der Fremdheit einer Vergangenheit ist, die von unserer Gegenwart durch einen Abgrund getrennt ist und die nie zu dieser sprechen wollte: Dies wird dort evoziert, indem ein Dokument (ein Tonband, eine Videoaufnahme, ein Tagebuch…) sich plötzlich als Träger einer unvermuteten Wahrheit erweist, die unter der Oberfläche des Anodinen verborgen lag und die dem Verständnis von Gegenwart wie Vergangenheit den Boden unter den Füßen entreißt. Dass in diesen Genrefilmen der Effekt nicht selten dadurch erreicht oder verstärkt wird, dass das Dokument fast oder wirklich prophetisch zu denen spricht, die es zu lesen gelernt haben, widerspricht der obigen Beschreibung nicht, im Gegenteil: Das Verstörende ist doch gerade, dass die Dokumente des Vergangenen nie für unsere Augen und Ohren bestimmt waren – und dennoch zu uns sprechen, gerade in ihrer Fremdheit.

271

272

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

nung, die sich dort vollzogen hat, ein Feld des Seins erschloss, das weder den Protozoen noch den Menschen gehört, sondern unheimlich ist und bleibt. Die zwei Unendlichen: Pascal hat es klar benannt, die Verunsicherung im Kleinen ist nur die andere Seite der Verunsicherung im Großen. Welche Bestürzung muss darin liegen, zu erkennen, dass sich das Universum grenzenlos ausdehnt und dass damit ein fester, ein nicht-relativer Markstein der Orientierung nicht einmal mehr denkbar ist! Und das nicht nur zu denken, sondern zu sehen, in den langen Rohren immer besserer Teleskope, wo sich dem Blick der Mond, der Saturn, der Merkur darbietet, so dass er einen festen Anhalt findet – nur um sofort zu erkennen, dass jener Ort dort so sehr Zentrum für sich und von sich aus ist wie unsere Welt hier und dass es in der Relativität dieses Universums keine letzten Standorte gibt. Auch hier müssen sich Faszination und Schrecken abwechseln und ineinander übergehen.17 Denn auch hier entsteht die Erfahrung eines Zwischenreichs, die Etablierung einer Region von wiederholbaren Affektionen, in denen das Menschliche vom Unmenschlichen überboten und ausgehöhlt wird und in denen das Unmenschliche sich dem Menschlichen überantwortet, so dass sich beide in unvorhersehbarer Weise transformieren. Nicht ein neutrales Feld, auch nicht eine Kombination von beidem, sondern eine Realität, die ihre Geheimnisse nie ganz enthüllt, die schillert, uneindeutig bleibt, unheimlich und einladend zugleich, fremd und beunruhigend vertraut. Und nur eine Folge hiervon ist die Entmachtung der einfachsten, der ersten und durch nichts zu tilgenden Orientierung: in oben und unten. Die Begegnungsweise der modernen Kosmologie zwingt mich, diese Begriffe als vorläufige zu denken – so als ließe sich die ontogenetische und die phylogenetische Eroberung der Höhe auch ohne Verlust als eine Bewegung nach unten beschreiben. Denn nicht nur schwebt die Kugel der Erde dann frei im Leeren, sondern die Menschen, die auf der anderen Seite sind, stehen mit dem Kopf nach unten. Der Raum der modernen Kosmologie erweist sich in sich selbst als heterogenisiert, er ist Produkt des Aufeinandertreffens radikal heterogener Wirklichkeiten, indem in ihm die situierte, lokalisierte, orientierte Räumlichkeit lebender Wesen auf die radikale Relativität, auf die Weite und Ortlosigkeit eines physikalischen Raums trifft. Und noch einmal ist es Pascal, der der Bestürzung über diesen Raum, in dem einem wortwörtlich der Boden fehlt und in dem keine verständliche Stimme mehr zu uns sprechen kann, den wir bewohnen, ohne in ihm heimisch sein zu können, den konzisen Ausdruck verliehen hat. Er legt seinem imaginierten Gegenüber den Satz in den Mund: »Le silence éternel de ces espaces infinis m’effraie.«18 Der »Fortschritt«, die Technisierung, die Ausdifferenzierung der modernen Wissenschaften haben nur weitere Orte für solche Begegnungen geschaffen, nicht zuletzt auch reale Orte: So ist eine psychiatrische Einrichtung zumindest nicht mehr nur eine Kaserne für Verrückte wie die alten Irrenanstalten, sondern auch und idealerweise ein geschützter Raum, in dem eine Kommunikation zwischen den heterogenen Denk-, Sprech- und Handlungsweisen möglich wird.

17 18

Bruno (De l’infinito. 409) spricht als einer der ersten die radikale, die ontologische Relativität des Seins anlässlich seiner kosmologischen Theorien klar aus. Seine Faszination ist offensichtlich. Pascal: Pensées. L. 201.

Das Wirkliche II

Durch diese Vervielfältigung der Orte und Arten heterogener Affektion ist die moderne Wissenschaft wahrer als die vormoderne. Man kann daraus aber nicht auf eine einfache Fortschrittsgeschichte schließen, denn wenn sich auch gewisse Bereiche der technischen und nicht zuletzt medizinischen Verwertung rasant und eindrucksvoll entwickeln, bleibt doch der ontologische Grundbefund immer derselbe: Diese Begegnungen von Heterogenem sind nicht das Aufeinandertreffen von eindeutig Bestimmtem, weder beim Menschen und erst recht nicht bei dem Wirklichen, das er erkennt, sondern es ist diese Begegnung selbst, die eine Bestimmung erzeugt, die erstens nie vollständig sein kann und die zweitens eine Marge der Unsicherheit und auch Irrtumsanfälligkeit kennt und die daher drittens immer vorläufig bleibt. Nur eine Wahrheit, die an sich feststeht, kann so erkannt werden, dass man sich an sie »annähert«; nur unter der Voraussetzung so einer Wahrheit ergibt der Begriff des Fortschritts Sinn. So aber stehen die Dinge eben nicht – denn sie stehen überhaupt nicht. Wie kommt es wohl, dass selbst die besten Experimente so eigenartige Antworten liefern, die vielleicht ein gewisse Regelmäßigkeit, aber auch allerlei Widersprechendes, Ausreißer und Uneindeutiges enthalten, wo man doch meinte, mit dem Experiment der Natur eine möglichst vereinfachte Frage zu stellen, damit diese mit eigener Stimme antworte – und so eine Antwort müsste doch immer, da die Natur sich gleich bleibt, dieselbe sein? Wenn man sich diese Frage überhaupt stellt, kommt man oft über Triviales nicht hinaus: Messungenauigkeiten, kleine Abweichungen, Fehleranfälligkeit des Instrumentariums wie des Menschen, kurz: man zählt eine Liste von Verunreinigungen her, durch die die einfache und eindeutige Kommunikation gestört wird. Unterstellt bleibt immer die völlige Bestimmtheit der Wirklichkeit, die im Experiment nur abgefragt wird.19 Daher ist nicht nur dieses historisch gewachsene Ethos (der »Wiederholbarkeit« und der Absicherungen der Experimente) Hinweis ex negativo auf die wahren ontologischen Verhältnisse, sondern diese lassen sich auch unmittelbar aufzeigen, indem man einfach den Prozess der Konstitution, Verfestigung, Kanonisierung eines experimentellen Verfahrens beschreibt. Fleck hat das mit Blick auf die Wassermann-Reaktion getan. Zu Beginn ergab diese für den Nachweis der Antikörper keine verlässlichen Ergebnisse. Nur 15–20 % positive Ergebnisse fielen auf die ersten Testreihen. Bald aber kam man auf 70–90 %. Und erst diese letztere Zahl machte aus dem Test ein diagnostisches Werkzeug, das noch Jahrzehnte später angewandt wurde. Wie ist es dazu gekommen? Hatte man irgendetwas noch nicht richtig »verstanden«? Hatte sich die Theorie noch einmal grundlegend verändert? In Wahrheit ist das exakt der Prozess der Auseinandersetzung von Körpern mit einer Wirklichkeit, in dem sich das Wirkliche wie die Körper erst ganz bestimmen (»ganz«, aber nie vollständig), in dem die Wiederholung der Affektionen als Geschichte in die Körper einsinkt und wieder, als Formung der Wahrnehmung, an die Oberfläche steigt, ein

19

Die wissenschaftliche Methode muss sich, um diese Unsauberkeiten abschließend zu beherrschen, in eine Meta-Methode transformieren, d.h. in eine Lehre, die davon handelt, dass die Erkenntnis fehleranfällig ist, aber in einem genau bestimmbaren Maß: Dann nämlich wird die wissenschaftliche Erkenntnis verdoppelt durch eine Statistik der Verteilung der Erkenntnisse, wobei die epistemologischen und noch mehr die metaphysischen Fragen nach den Ursachen für die Notwendigkeit dieser Verdopplung geflissentlich ausgeblendet bleiben.

273

274

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

sozialer, anonymer Prozess, der das Herstellen der Versuchsmittel, ihre Zusammenfügung und das Ablesen der Ergebnisse umfasst und der seine Beziehung zu einer Kunst nie verleugnen kann. Das Entscheidende ist, dass die Verlässlichkeit der WassermannReaktion, dass das Maximum an Wahrheit, das man in experimentellen Kontexten erwarten darf, niemals von der teilweisen Unsicherheit der Ergebnisse abgetrennt werden kann, denn das ist oft eine ontologische Unsicherheit. Man begreift das erst dann voll, wenn man sich klarmacht, dass es jenseits dieses Tests keinen anderen Maßstab der Diagnose Syphilis gibt; alles, was man als zuverlässige Wahrheit in dieser Frage kennt, hängt radikal an diesem Test. Natürlich gibt es später auch andere Tests, und natürlich kann man die verschiedenen Verfahren miteinander in Korrespondenz setzen, was man aber nicht kann, ist den Punkt absoluter, ausnahmsloser Richtigkeit eines Tests finden, denn so etwas gibt es nicht. Aber nicht, weil wir unvollkommen wären, sondern weil jede Begegnung mit dem Wirklichen, auch und gerade die moderne experimentelle Begegnungsart eine gegenseitige Bestimmung von Realitäten ist, von denen keines in sich voll bestimmt ist. Es gibt keine Wahrheit über diese Begegnung, die nicht aus dieser Begegnung selbst stammte. Das Experiment zeigt gerade, wenn man es denn sehen will, dass die Natur des Seins seine teilweise Unbestimmtheit ist, sein Ungesättigt-Sein. Es zeigt, dass Erkenntnis in die Tiefe der Zeit eingelassen ist und nicht einmal anders gedacht werden kann. Dass sie eine wesentlich praktische Angelegenheit ist, Tausend und Abertausend Handgriffe, nicht der eine Gedanke, und in tausend Handgriffen gleichen sich nie zwei völlig, und jede Wiederholung leitet Verschiebungen ein, erst recht, wenn gleichzeitig Duzende »dasselbe« machen.20 Das Experiment zeigt an, dass wir wahrhaftig das An-sich der Welt erfassen – und dass dieses An-sich an sich (und nicht nur für uns) eine nicht ganz eindeutige Sache ist, die ihre Bestimmung fordert und nur abweichende Bestimmungen zulässt. Zwischen den beiden Thesen, die dem Anschein nach ein metaphysisches Dilemma bilden, hat nie ein Widerspruch bestanden. Wir nehmen das Wirkliche so wahr, wie es ist. Denn es ist so, dass es keine vollständige Bestimmtheit und Stabilität hat und daher die Abweichungen unserer Wahrnehmungen und Erkenntnisse braucht. Die ontologische Sättigung der Seienden geschieht nur in den Interaktionen mit anderen Seienden, die keines von ihnen unverändert lassen. Und Wahrnehmung und Erkenntnis sind nur Formen solcher Interaktion, wahrscheinlich sogar nur Abstraktionen aus größeren Komplexen von Interaktion.

20

Vgl. hierzu Fleck: Entstehung und Entwicklung. 95–97. 113–115. 126, wo die Beschreibung dieser Prozesse in einer unübertreffbaren Klarheit und mit unbeirrbarem Gespür für die philosophischen Implikationen geleistet ist.

In Scherben …l’esprit systématique, le plus dangereux des esprits. La Mettrie, Traité de l’Âme

Lose Enden. Nur noch schnell die letzten Fragen beantworten, die verbliebenen Divergenzen, etwaige Widersprüche klären. Wie war das nochmal mit der Theorie und der Praxis? Diese geht jener vorher, aber woher kommt dann die Theorie, wenn selbst die Theorie noch eine Praxis ist, die aber nicht so wie alle anderen ist, weil sie geradewegs zur Verkennung der Praxis führt? Wie soll man sich das jetzt genau denken mit dem Sein, das kein eigenes Zentrum hat, und dem Sein von sich aus? Dieses nimmt ja irgendwie seinen Anfang in jenem, in einer wogenden Natur der Elemente: aber wie geht das? Und lässt sich dann, dieser Klärung entsprechend, endlich mal eine griffige Formel dafür geben, wie sich eine Philosophie der Natur, die diese also, selbst wenn sie, wie alles, Teil der Natur ist, wie von außen betrachtet, und eine Philosophie der Subjektivität zueinander verhalten, wie man Ontologie und Phänomenologie zusammenbringt? An der Zeit wäre es ja. Schließlich wäre es sicher wünschenswert, langsam eine saubere Begründung der Moral zu liefern, wenn man schon eine so ambitionierte Philosophie verfasst. Das ist ja wohl das Mindeste. Nun denn: Frisch ans Werk! Ethik gegen Moral.1 Die moralische Denkweise kennt so etwas wie einen Wert, ein Gut oder etwas Gutes, eine Forderung, deren Ursprung nicht mehr in der Immanenz dieser Welt zu suchen ist. Sie denkt in Gesetzen, Pflichten, damit immer im Unbedingten, in Verantwortung und Scheitern. Sie misst den Menschen an einem Maßstab, der selbst nicht mehr menschlich ist, der gut und schlecht als etwas setzt, was nicht von der Willkür, aber auch nicht von dem (ontologischen) Streben des Menschen abhängig ist (wie bei Spinoza). Sie kennt ein Schlechtes, vielleicht sogar ein Böses, jedenfalls ein absolutes Ungenügen den moralischen Forderungen gegenüber – und auch wenn es kein absolutes

1

Die Entgegensetzung von Ethik und Moral borgt ihre groben Züge von Deleuze (vgl. Deleuze: Spinoza. Philosophie pratique. Chapitre 2: Sur la différence de l’Éthique avec une morale. 27–42), weicht aber schon in der Durchführung des Gegensatzes von den Schwerpunkten ab, die Deleuze gesetzt hat, noch mehr natürlich in der Diskussion.

276

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

im strengen philosophischen Sinn ist: der Grad dieses Ungenügens ist so hoch, dass wir in der Praxis von einer nicht wieder gutzumachenden Infraktion und nicht selten von einem nicht mehr der Erlösung fähigen Charakter ausgehen. Erlösung und Wiedergutmachung: dazu bedarf es dann einer höheren Instanz. Die moralische Denkweise affirmiert die Gewalt, die uns das Moralische antut. Sie erklärt, dass dieses uns absolute Grenzen setzt: nicht in dem Sinn, dass man sie nicht überschreiten könnte; aber so, dass diese Überschreitung ein Urteil über uns heraufruft, dem wir nichts mehr entgegenzusetzen haben – oder dass diese Überschreitung uns in einer Weise kompromittiert, die nicht abzuwaschen ist. Wir sind andere nach unserem Verbrechen, sein Mal ist unauslöschlich. Und »Verbrechen« ist für die moralische Denkweise kein relativer, sondern ein absoluter Begriff: Es gibt Verbotenes, unabhängig davon, ob es jemand verbietet, unabhängig auch von der kulturellen und geschichtlichen Rahmung, in der es geschieht. Und es gibt Schaden, den niemand wieder reparieren kann. Es ist wahr: Diese Denkweise operiert am Ende mit einem Begriff von Sünde, auch wenn es ein nicht-anthropologischer, nichttheologischer, sondern rein »empirischer« ist. Die ethische Denkweise hingegen kennt keine transzendenten Grenzen, Werte oder Zwecke. Kriterium des »Richtigen« ist für sie einzig das Maximum der Kräfte, Mächte, Ströme, die sich gegenseitig fördern. Daher ist nicht Pflicht oder das Gute Indikator des Rechten, sondern Glück. Niemals kann für sie eine glückliche Existenz eine schlechte sein. Entfaltung der Macht (potentia) ist zugleich ontologische Verwirklichung und ethischer Sinn. Im Glück, in der Freude fließt alles zusammen. Natürlich kennt auch diese Denkungsart Grenzen. Aber sie sind nicht vorgegeben, sie lassen sich nicht allgemein definieren und formulieren. Sie entstehen vielmehr aus der Interaktion der Kräfte: Was die verschiedenen Kräfte fördert und sie jeweils zu ihrem Maximum erhebt, ist gut. Was der Entfaltung der potentiae im Wege steht, ist schlecht. »Faire couler les flux…« Eine Metaphysik der Immanenz kann sich nicht an ein Denken der Moral halten. Wie sollte es denn auch »Werte«, »das Gute«, »Pflichten« usw. geben? Welche Seinsweise haben solche Sachen? Woher kommen die? Worauf beruhen sie? Meistens wird es in der Praxis immer nur ein Verklären der eigenen überkommenen moralischen Überzeugungen sein, was man hier antreffen kann. Und doch… Eine Ethik der Ströme und Mächte reicht einfach nicht aus. Es bleibt ein Stück des Wegs verschlossen. Zwischen zwei Enden einer Straße: Ödland. Wüste. Mit der Gefahr sich zu verirren. Die Verirrung: dort setzt als Wegweiser die Moral ein. Ein Beispiel, emblematisch: Der Fall Nietzsche. Kann man Nietzsche wirklich exkulpieren in Bezug auf die faschistischen Aneignungen, die folgten? War das wirklich nur ein Missverständnis, tatkräftig betrieben von seiner intriganten Schwester? Ist denn die Genealogie der Moral etwa nicht ganz unzweideutig? Die Blonde Bestie, die dort auftritt, die Urgesellschaften mit ihrem Kriegerkasten, die heiter und blutdürstig durch die Welt ziehen, denen die Zerstörung die größte Lust ist und das Gemetzel ein olympisches Lachen entlockt – will man wirklich behaupten, dass das nicht in der Konsequenz dieses Denkens der Kraft und des Willens steht? Wenn ein Denken der Kraft und des Willens aller transzendenten Disziplin verlustig geht, muss es dann nicht früher oder später die Willkür feiern, und mit ihr die

In Scherben

Gewalt, die Rücksichtslosigkeit? Bei Spinoza ist die Philosophie der potentiae noch dadurch in ein Maß gebracht, dass in die potentia selbst immer schon die Vielfalt der anderen eingeschrieben ist und dass ihre Entfaltung nur gelingen kann in gegenseitiger Hilfe. Nichts ist dem Menschen nützlicher als der Mensch, schreibt Spinoza (IVp18s), und er meint diese Nützlichkeit nicht primär als eine instrumentelle, sondern als Förderung in der Verwirklichung einer wahrhaft menschlichen Existenz. Man kann sich schon bei Spinoza fragen, wie zwingend das ist: Es setzt ja voraus, dass jeder das so sieht, dass die Menschen also noch nicht von einer toxischen Erfahrung so verdreht wurden, dass sie zu dieser großzügigen Lebensweise nicht mehr fähig sind. Oder auch in Bezug auf den beginnenden Kapitalismus: Wie ließe sich die Selbstbeschränkung und Selbstbegrenzung der potentiae in einem Kontext denken, der auf absolute Entgrenzung angelegt ist? Lässt sich das dann noch als eine individuelle Aufgabe und Verantwortung beschreiben? Ist die Erinnerung daran, dass die wahrhaft menschliche und glückbringende Existenz den anderen immer mit einbezieht und nicht ihn unterwirft, im Angesicht der überindividuellen, gesellschaftlichen Realitäten nicht ganz naiv und wirkungslos? Bei Nietzsche aber hat sich die Problemlage noch verschärft, denn von einer solchen gegenseitigen Implikation der Kräfte ist hier keine Rede mehr, zumindest nicht mehr in einem systematischen Sinn. Jede Macht strebt ihre eigene maximale Vergrößerung an: Wille zur Macht. Die Rücksichtslosigkeit ist fast schon Programm – so wie Nietzsche ja auch alle Tendenzen auf die Achtung des Unterlegenen, des »Schwachen« als Produkte des scheelen Blicks des Ressentiments präsentiert: »Seine Seele schielt […]«2 Natürlich kann man sagen, dass Nietzsche das mit der Blonden Bestie und den marodierenden Kriegervölker wohl nicht ganz wörtlich gemeint hat; ohne jeden Zweifel wäre er erschüttert und angewidert gewesen, hätte er von den Verbrechen der Nazis gehört – von seinen Reaktionen ganz zu schweigen auf die Erklärung, dass die Nazis sich dabei nicht zuletzt auch auf ihn berufen haben. Aber hilft das noch weiter? Was für eine Entschuldigung soll das sein? Ist denn die Rechtfertigung von hemmungsloser und zweckloser Gewalt vom Schreibtisch aus, diese Lehnstuhlbarbarei, irgendwie besser? Zeigt das nicht im Gegenteil an, dass der Denker seiner ureigensten Verantwortung nicht gerecht geworden ist, nämlich verantwortungsvoll zu denken? Es war ein Irrtum oder eine Gleichgültigkeit im Spiel, als die Faschisten Nietzsche zu ihrem Säulenheiligen erklärten. Dasselbe aber gilt auch für die Philosophen, die sich als progressiv, emanzipatorisch, links verstanden und die Nietzsche in der Zeit nach 1945 auf ihren Schild hoben. Nietzsche ist beides, Protofaschist und Denker der Befreiung. Das aber sollte uns nachdenklich werden lassen, nicht über Nietzsche, sondern über das Denken der Befreiung. Man könnte Ähnliches auch für die Philosophie von Deleuze und Guattari durchdeklinieren. Die Maxime des Anti-Ödipus ist: die Ströme fließen lassen, die Mauer durchbrechen, Koppelungen vornehmen, wo keine möglich waren, die Freisetzung des Begehrens vorantreiben. Die flüchtigste Bekanntschaft mit Philosophie und Persönlichkeit der beiden Autoren stellt außer Zweifel, dass damit weder eine Rechtfertigung von Rücksichtslosigkeit und Gewalt noch die Aufforderung zu einem leichtfertigen Hedonismus

2

Nietzsche. Zur Genealogie der Moral. In: Werke. II. 784.

277

278

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

gemeint war. Das ist sicher.3 Die Frage ist nur, ob ihre Philosophie eine solche Grenzziehung noch systematisch und zwingend leisten kann. Und das ist nicht sicher. Die doppelte Gefahr solcher Philosophien der Kräfte und Ströme ist diese: denen, die rücksichtslos sind, in deren Begehren keine Implikation des Anderen (mehr) eingeschrieben ist, ein Dokument der Rechtfertigung zu bieten, nicht selten sogar verbunden mit der Lockerung der institutionellen Sicherungen gegen den Missbrauch von Macht; und die, die des Schutzes bedürfen, in dieser Liebäugelei mit der freiströmenden Kraft und der complaisance mit der Überschreitung nicht mehr ernst genug zu nehmen, gerade in ihrer Schutzbedürftigkeit, sie sogar zu überfordern, ihnen zu viel zuzumuten. Natürlich kann man sich gegen solche ungerechten Vereinnahmungen verwehren. Und man kann sich näher erklären. So vielleicht (zur Veranschaulichung und nur dazu soll das plakative Beispiel dienen): Der Gewaltakt eines Triebtäters bewirkt vielleicht, dass das Begehren des Vergewaltigers seine Befriedigung erfährt. Er bewirkt aber im selben Zuge eine Traumatisierung des Opfers, die es auf lange Sicht, wahrscheinlich für sein ganzes Leben von der freien Kopplung der Maschinen, von dem Durchbrechen der Ströme, von einem freudigen Begehren und einer hemmungslosen Entfaltung seiner selbst abschneidet. Deshalb wäre er nicht gerechtfertigt im Rahmen dieser Philosophie. Außerdem könnte man aus diesem Standpunkt erklären, dass doch schon einiges vorgefallen sein muss, damit jemand den anderen nicht mehr in der Entfaltung seiner Ströme impliziert. (Schließlich gehen Deleuze und Guattari ebenso wenig wie Spinoza von isolierten Subjekten aus.) Wenn die anderen nur noch als Instrumente einer solitären Lust erscheinen, als »Objekte«, dann wird ja eben nicht die Befriedigung des Begehrens aus einer unvorhersehbaren Begegnung, einer unkontrollierten Kopplung, einer unabsehbaren gegenseitigen Verstärkung der Mächte geschöpft; dann ist also der ontologische Prozess der Schizophrenie schon unterbrochen und offenkundig dauerhaft geschädigt worden. Was der Triebtäter tut, ist das gerade Gegenteil der schizophrenen Befreiung. Das zeigt sich drittens auch in der Natur seiner Sexualität: Diese hat die Starrheit eines Schemas, sie wiederholt immer dasselbe, schließt sich damit von vornherein von der Logik des Begehrens ab, dessen »Ewige Wiederkehr« gerade die Öffnung aufs Unerwartete ist. Der Triebtäter aber lässt ja den anderen Strom gar nicht auftauchen, oder nur in der Gestalt und Richtung, die von seinem Phantasma vorgegeben sind. Die Sexualität, die sich von dem Joch des Phantasmas befreit und sich als echtes Abenteuer verwirklicht, inklusive des Risikos, das zum Abenteuer gehört, diese Sexualität kennt der Triebtäter nicht. Sein Risiko ist vielleicht das, erwischt zu werden und die soziale wie juristische Vergeltung zu spüren. Aber dieses Risiko betrifft ihn nicht in seinem Kern, in seinem So-Sein, sondern nur in seiner »Bewegungsfreiheit«: Und so bedauern viele Täter ja in ihren Bekenntnissen vor allem sich selbst – die sie nun erwischt wurden und mit der Einschränkung ihrer Person bezahlen müssen. Das Abenteuer echter Sexualität, sein Risiko: die betreffen im Gegenteil mich in dem, was ich bin. Ich selbst stehe dort

3

Um nur ein bezeichnendes Beispiel von vielen zu nennen: Guattari hat in den Jahren der politischen Radikalisierung große Mühe darauf verwendet, junge Leute, die sich anschickten, in den bewaffneten Untergrund zu gehen, von dieser Art von Militanz abzubringen, vgl. Dosse: Gilles Deleuze/Félix Guattari. 479f.

In Scherben

in der Frage, weil ich aus der Begegnung verändert hervorgehen kann: Nicht so verändert, wie der Mörder, der nach der Tat ein anderer ist – nämlich von nun an und für alle Zeit ein Mörder4  –, sondern wahrhaft zu einem anderen gemacht, transformiert, voller neuer Horizonte, die zuerst beängstigend sind. Alle diese Argumente sind richtig. Es lässt sich guten Gewissens aus dem Anti-Ödipus ebenso wenig eine Rechtfertigung für ein brutales, rücksichtsloses, den anderen ausbeutendes und vernichtendes Verhalten ziehen wie aus der Ethik. Und doch… Diese elaborierte Herleitung, diese Erklärung, weshalb eine Ethik der Kräfte nur in Rücksicht auf die anderen Kräfte sein kann, diese immanente Qualifizierung der Ströme: Etwas stimmt mit ihr nicht. Sie wirkt fast künstlich. Wie eine ethische Nachahmung des Moralischen. Die Teile passen nicht zusammen. Es bleibt eine Art Verrat oder, wenn man es weniger dramatisch will, nachträglicher Erweiterung. Und das, worum man es ergänzt, ist genau das, was alleine aus einer Moral geschöpft werden kann. Man versucht, im Nachhinein eine Sicherung einzubauen, die in Wahrheit nur daraus entstehen kann, dass man einen positiven Wert (positiv hier im ontologischen Sinn genommen: ein Wert, der von sich aus steht und gilt) von etwas annimmt, was meine Freiheit einschränkt, ja, was mir (in einem nicht ganz so brutalen Sinn) Gewalt antut. Das kann nicht gelingen. Offenbar ist die Kraft einer Theorie, wie eben dieser Ethik, ebenfalls etwas Endliches. Irgendwo auf dem Wege muss sie sich erschöpfen – oder sie ist eine Allererklärung, die, gerade weil sie alles gleichmäßig erklärt, gar nichts wirklich erklärt. Wertvoll kann eine Theorie nur sein, wenn sie nicht alles gleich erklärt, sondern manches besser, anderes vielleicht gar nicht – aber das hat wieder nichts zu schaffen mit irgendwelchen Unvollkommenheiten aufseiten der Menschen, sondern mit der Struktur von Wirklichkeit: Alles Wirkliche ist nur in Abschattung, Perspektive, Beleuchtung von einer Seite. Dieselben Verhältnisse, die die

4

Diese Veränderung ist eine Festschreibung, sie ist also das Gegenteil einer Erfahrung, der ich als ein anderer, neuer, als ein noch nicht ganz feststehender, als ein neuen Zukünften zugewandter entgehe. Wenn man Vater oder Mutter wird, dann ist man auch fortan genau dies: Vater oder Mutter, mit der ganzen Verantwortung, die einen an diese Position heftet. Aber das Mörder-Sein fixiert mich in einer Vergangenheit, die nichts ändern oder auch nur lindern kann. Sie macht aus meinem Leben ein Schicksal, indem es meine Vergangenheit einbetoniert. Auch Vater werde ich immer sein, auch darin liegt ein Aspekt des Schicksals und der Festschreibung. Doch festgeschrieben bin ich darin auf ein Wesen, das selbst nicht festgeschrieben ist, das als Kind und als Subjekt einer eigenen Zukunft Paradigma der Diskontinuität ist, wie Levinas das so eindringlich beschreibt. Ich bin damit absolut verantwortlich für ein Sein, über das ich fast keine Kontrolle habe. Zudem hat die Vergangenheit, die zum Schicksal geworden ist, ihre eigene Gefahr: die Versuchung nämlich, alle Anstrengung aufzugeben. Kann man doch gegen das einmal in den Bernstein des Schicksals Eingeschlossene ohnehin nicht mehr angehen, was sollte uns dann davon abhalten, auf dem nun eben eingeschlagenen Weg weiter und immer weiter zu gehen – umso mehr, als die Gewöhnung an die Brutalität vielleicht eine Abstumpfung mit sich bringt, die, als perverse Belohnung, die Empfindsamkeit den eigenen Verbrechen gegenüber schwächt. Es gibt eine performative Kraft, die etwas von einer Schwerkraft hat, einem Talweg, in der Handlung, gerade auch der verbrecherischen. Macbeth hat den passenden Ausdruck dafür gefunden: »I am in blood/Stepped in so far that should I wade no more/Returning were as tedious as going o’er.« (III, 4, 136–138)

279

280

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Bewegungen des Körpers wie die Erkenntnisse der Wissenschaftler beherrschen, gelten auch hier, in der Frage der Ethik: So wie die Bewegung eines Körperteils nur auf der Grundlage der Unbeweglichkeit des Großteils der anderen erfolgreich geschehen kann; so wie eine Erkenntnis nur entstehen kann, wenn von tausend Einzelheiten abstrahiert wird; so wie eine Wahrnehmung überhaupt nur gedacht werden kann, weil sie nie eine totale ist, sondern die eines situierten Subjekts5  – so ist eine philosophische Theorie wertlos, wenn sie meint, sie könne, egal wo und worüber, immer mit gleicher Sicherheit das Urteil fällen. Die Erschöpfung der Ethik, die sich – über eine Totzeit hinweg – durch den Impuls der Moral ergänzen lassen muss, korrespondiert exakt den ontologischen Bedingungen von Bewegung und Erkennen. Aber diese Analogie hilft nur bedingt weiter; es ist doch alles zu abstrakt. Bei allen Korrespondenzen liegt die Sachlage bei der Frage des Praktischen, des »Sittlichen« noch einmal anders, und zwar erstens wegen der massiven metaphysischen Implikationen und zweitens wegen der unvergleichlichen Dringlichkeit. Wenn einer Malebranche für den größten Philosophen und Dan Brown für den besten Schriftsteller hält, zucken wir vielleicht mit den Achseln. Wenn aber jemand die Blonde Bestie verherrlicht, sind wir empört und aufgebracht – und diese unterschiedlichen Reaktionen sind voll und ganz berechtigt. Das Praktische, Sittliche ist in anderer Weise dringlich als das Theoretische, weil… Genau daran hängt alles: an der Fortführung dieses Satzes. Intuitiv wissen wir, worin dieser Unterschied liegt. In Wahrheit aber ist dieser Unterschied selbst exakt das, was in der Sittlichkeit selbst in Frage steht. Wollte ich nämlich tatsächlich die Wirklichkeit und die Beziehungen der Menschen zueinander zu einem ästhetischen Problem erklären, dann gibt es diese Dringlichkeit des Sittlichen eben nicht. Sie zieht ihre raison d’être daraus, dass es einen unbedingten Wert des »Guten« gibt, ein Gebot, die, die sich nicht wehren können, zu schützen, eine radikale Verurteilung von Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit – und daraus, dass diese »Werte« usw. aus nichts mehr stammen: Sicher jedenfalls lassen sie sich nicht aus den einzelnen Kräften und ihrem Zusammenspiel, nicht aus meiner potentia (als Kollateral oder als Implikation) und nicht aus der Übersicht über das Stromsystem als ganzes herleiten. Warum? Weil ihre Dringlichkeit genau das aussagt: dass sie von nichts anderem mehr abhängen. Am Ende gibt es wahrscheinlich wirklich keine Möglichkeit, in einer Philosophie der Kräfte, Ströme, potentiae, in einer Ethik also, der Forderung gerecht zu werden, der man sich doch nicht entziehen kann. Nicht ohne große Gefahren zumindest. Es ist die Moral, die auf dieser Forderung aufbaut, doch nicht, ohne sie zu denaturieren: denn eigenartigerweise ist hier beides falsch: der Rigorismus wie die Kasuistik. Die Quelle, auf die sich die Moral beruft und von der sie immerhin Zeugnis ablegt, schenkt ein Wasser, das man weder pur noch verdünnt trinken kann. Rein ist es zu stark: Statt uns, wie andere Wasser, zu beleben, lässt es uns vor der Zeit altern. Gemischt mit anderen Wassern aber verliert es sofort

5

»Analog den Erscheinungen der Bewegungsphysiologie verhalten sich jene der Erkenntnisphysiologie: um die Bewegung eines Gliedes auszuführen, muss ein ganzes sogenanntes myostatisches System als Fixationsbasis unbeweglich gemacht werden. Jede Bewegung besteht aus zweierlei aktiven Vorgängen: aus Bewegungen und aus Hemmungen. Dem entspricht in der Erkenntnisphysiologie ein zielstrebendes, gerichtetes Determinieren und ein entgegenkommendes Abstrahieren, die einander ergänzen.« (Fleck: Entstehung und Entwicklung. 44)

In Scherben

seinen Geschmack und seine Kraft: Sie zerfällen seine charakteristische chemische Zusammensetzung; dann kann man gleich darauf verzichten. Offenbar ist das ein Wasser, das gar nicht zum Trinken gedacht ist. Was also sonst machen? Vielleicht bleibt nur: sich von ihm tragen lassen. Die Antinomie aber ist unverrückbar: Eine Ethik, für sich genommen, kann nur nihilistisch werden. Eine Moral, für sich genommen, wird brutal oder lau. Es rettet beide nur die Inkohärenz, wobei es einen Unterschied macht, von welcher Seite man dabei kommt: ob man von einer Ethik herkommend, bereit wird, auf den Ruf der Moral zu lauschen – oder ob man in der Moral des Strömens der Kräfte gewahr wird. Denn nur im ersteren Fall kann eine wertschätzende, eine heitere, eine menschliche Sittlichkeit daraus erwachsen. Im zweiten hingegen müssen die Ströme entstellt erscheinen: als Triebe, Neigungen, als das unbotmäßige, nach Autorität schreiende subjektive Element; am Ende: als die Rechtfertigung der Härten der Moral. (Dabei ist doch die Stärke der Moral nicht die negative Erklärung einer Notwendigkeit der Disziplinierung, sondern im Gegenteil der Aufweis einer positiven Natur des Sittlichen.) Der zweite Grund, weshalb die Antinomien im Sittlichen nicht gleichgültig sind, liegt in ihrer metaphysischen Tragweite. Es stehen hier letztlich immer unmittelbar die metaphysischen Grundlagen auf dem Spiel. Eine Ethik kann nur anheben aus einer Metaphysik der Univozität, der Natur, der essentiellen Verwandtschaft des Menschen mit allem anderen Sein. Die Ethik ist Konsequenz und eigentliche Verwirklichungsform dieser Metaphysik. Wenn sie nun aber auf den Ruf der Moral hören muss, will sie sich nicht selbst aufheben/abschaffen/vernichten – gesteht sie dann nicht wieder zu, was zu leugnen sie angetreten war: die Ausnahmestellung des Menschen, den Staat im Staate, den er bildet, seine ontologische Andersheit? Natürlich kennen die Ethik und ihre Metaphysik Unterschiede, auch solche stabiler, reproduzierbarer Art (wie etwa biologische Spezies), und ihr müssen nicht Kräuter, Steine und Menschen einfach dasselbe sein. Aber am Ende beruht alles moralische Denken nicht einfach auf Unterschieden, sondern auf Hierarchien, auf Wertunterschieden, auf unterschiedlichen Wertungen – und damit auf einer Durchtrennung der Univozität. Und die Moral ist, will sie den Strömen und Kräften Rechnung tragen, gezwungen, zwei verschiedene Naturen anzuerkennen, deren Zusammensein in einem Subjekt radikal unerklärlich bleibt. Die Lage scheint aussichtslos. Auf Kompromisse oder höhere Synthesen, gar auf »Versöhnungen der Gegensätze« braucht man jedenfalls keine Hoffnungen zu setzen. Schließlich geschieht solche »Versöhnungsarbeit« nur in den Gärten der Theorie – dass das möglich ist, wurde schon gezeigt, nur berührt es nicht mehr die Sache, um die es geht. Überhaupt hat sich die Philosophie der Immanenz, wenn sie auch nur einen Zipfel Transzendenz noch zulässt, vollständig verraten. Es bleibt daher nur der Weg, einerseits die Ausnahmslosigkeit der Immanenz aufrechtzuhalten und andererseits ihre Konsequenz aufzugeben – offenbar ist beides (Ausnahmslosigkeit und Konsequenz) nicht dasselbe. Im Rahmen einer Metaphysik der Immanenz, einer Philosophie der Natur – wie lässt sich da das Auftreten von »Werten« fassen, also von solchem, was sich nicht auf die Kombinatorik von Strömen und potentiae reduzieren lässt und was diesen Grenzen setzt? Was für Grenzen sind das? Es sind ja offenkundig keine realen: Ich »kann« jederzeit den anderen töten, quälen, entwürdigen. Aber was genau heißt hier »ich kann« eigent-

281

282

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

lich? Und ich »kann« schuldig werden. Schuld ist nichts, womit wir auf die Welt kommen, sie ist nicht unser Schicksal. Sie ist eine Eventualität. Aber wenn sie uns schlägt (wenn wir uns mit ihr schlagen – das ist dasselbe, genau darum geht es in der Schuld), wirkt sie wie ein Schicksal, weil wir uns ihrer nicht mehr entschlagen können. Wir werden schuldig bleiben. Es gibt wohl die Möglichkeit der Befreiung, aber die hängt nicht an uns. Es ist das Verzeihen, das auf seine Weise ebenso schicksalschmiedend auftritt wie die Schuld auch. Und was selbst das Verzeihen nicht tilgen kann: dass ich einstmals schuldig geworden bin. Die reine Immanenz der Ströme kann hiervon keine Rechenschaft ablegen.6 Die Ströme sind ewig jung, deshalb solchen Schicksalen nicht unterworfen; und Individuen, Menschen sind sowieso nur Produkte. Mit beidem hat dieses Denken recht. Doch was es leicht übersieht: dass diese Produkte, einmal produziert, ihre eigene Geschichte schreiben, ein Schicksal im einzig noch zulässigen Sinn haben, dass sie nämlich dem

6

Die Immanenz der Ströme hat daneben noch eine weitere Schwierigkeit, die aber wahrscheinlich eine Folge der ersten ist. Sie operiert letztlich mit einem Begriff der Freiheit (als Freisetzung), der ganz ambivalent bleibt. Bei Spinoza, bei Nietzsche, bei Deleuze: Immer geht es um die Freiheit der Kraft, die sich entfaltet, entfalten muss. Freiheit von Aberglaube, Unterdrückung und Traurigkeit. Freiheit von schlechtem Gewissen, Ressentiment und Sklavenmoral. Freiheit von repressiven Bedingungen des psychischen, sexuellen und ökonomischen Produzierens. Wie leicht aber kann diese Forderung nach Freiheit als Befreiung übergehen in die Rechtfertigung eines individuellen Auslebens von allem Möglichen ohne jede Rechtfertigung und am Ende ohne alle Verantwortung! Dass alles Mögliche ausgelebt wird, dass also zwischen den möglichen Zielen einer Entfaltung der Macht keine hierarchische Ordnung mehr herrschen kann, das liegt mindestens zweideutig und der Tendenz nach in allen immanenten Konzeptionen: Zwar gibt es für Spinoza eine klare Rangordnung der Strebensziele; aber diese unterliegt noch der Unterordnung der Qualifizierungen (gut, schlecht) unter das Streben als individuelle Aktivität. Was also, wenn einer sagte: Aber mein Streben ist darauf aus, Schmerzen zuzufügen, oder nur: Mein Streben verwirklicht sich am besten, je mehr es sich andere untertan macht? Bei Nietzsche ist die Verantwortungslosigkeit der Macht geradezu Programm; er ist am anfälligsten für die Krankheit, die hier diagnostiziert wird. Der Wille zur Macht ist nicht mehr eingebunden in eine feste Rahmung von Zielen und Zusammenhängen – auch wenn natürlich dieser Wille zur Macht zuerst als schöpferisch begriffen wird, als ein Schöpfer von Werten, wovon die destruktive Seite nur Kehrseite und Bedingung ist. Gleichwohl, das Pathos der Befreiung ist hier besonders offensichtlich der Dienstbarmachung durch einen unverantwortlichen Individualismus ausgeliefert. Bei Deleuze schließlich wirkt sowohl ein tiefempfundenes Ethos wie auch ein an Marx geschultes Misstrauen gegen allen Individualismus. Aber ist es denn wirklich ein Zufall, dass Deleuze so glatt zum Säulenheiligen der Postmoderne erhoben werden konnte: dass man in ihm also eine Apologeten einer Denkweise sehen konnte, die 1) rein individuell argumentiert, 2) jede interne Wertung möglicher Strebensziele oder -objekte kategorisch ablehnt, die vielmehr die nackte und ganz inhaltleere Referenz auf das Selbst, das sich angeblich verwirklicht, zum Programm erhebt und die 3) die Entmachtung von Verantwortung und Rechtfertigungen als den großen Fortschritt gegenüber all den altmodischen und verkehrten Ideologien feiert? Eine Figur wie Jerry Rubin, der von einem linken Revoluzzer zum Vordenker der Yuppies wurde, ist zweifelsohne (und unabhängig von aller im engeren Sinne historischen Wirksamkeit seiner Interventionen) emblematisch für genau diese offene Flanke einer gewissen, aus der Immanenz der Ströme geschöpften Praxis des Revolutionären gegenüber Kollaboration und Bequemlichkeit. Am Ende wird man noch jede Ungerechtigkeit, an der man teilnimmt, mit der Befreiung der Ströme rechtfertigen können – und im gleichen Atemzug erklären, dass es da nichts zu rechtfertigen gibt.

In Scherben

radikalen Empirismus unterstehen. Schicksal bedeutet dann: das Ansammeln einer Schwere, eines Ernstes, einer Bedeutsamkeit, einer Verantwortung, die von sich aus Wege verschließen. Jeder Schritt, jede Erfahrung ist in sich betrachtet zufällig, willkürlich, bedeutungslos. Jeder Schritt, jede Erfahrung aber lenkt die nächsten Schritte, färbt die nächsten Erfahrungen: Macht mich zu dem, der dies und das gesehen, gefühlt und vor allen Dingen getan hat. Ich lade mir selbst mein Schicksal auf. Und in diesem Schicksal überkreuzen sich unablässig die Unwiederbringlichkeit meiner Existenz mit der der anderen. Mit anderen Worten: Nicht jede Begegnung, nicht jede Handlung ist Glied in der Kette des Schicksals. Sein Kettenhemd ist geschmiedet nur aus den Ereignissen, in denen die Schwere des Unwiederbringlichen in mich hineinfällt.7 Hier wirkt daher nichts Transzendentes, und die Hand, die sich von der Ethik in die Moral streckt, macht keine Anleihe beim Göttlichen – sondern das Sein, so wie es hier beschrieben ist, bringt von sich aus eine Textur hervor, die solche Eigenschaften hat, die so ähnlich aussehen, als wäre sie von der Transzendenz abhängig. Das Sein bringt, durch Zeit, Verlust, Schuld, Verzeihen, Abschied, einen Ernst hervor, der absolut ist – nicht im absoluten Sinn, sondern, wie alles im Wirklichen, nur graduell, aber eben mehr und mehr absolut – und der in dem Maße seines Absolutwerdens, seines Sich-Ablösens von den Bedingungen seiner Entstehung, in dem Maße seines Nachwirkens, seines Sich-selbstHinaussetzens aus der Zeit, die Züge dessen annimmt, was wir hilflos als Wert oder als ein Gut bezeichnen (in dem Sinn, der am weitesten vom merkantilen entfernt ist). Nichts »hat« einfach einen Wert, eine Würde, ein Gutsein, eine Kraft des Befehlens – aber einiges kann und wird das erhalten, nämlich eben in der Art und in dem Maß, wie es sich selbst als etwas mithervorbringt, das seine Ursachen überschreitet, ein Klang, der zu hören ist, lange nachdem die Saite angeschlagen wurde, und das eben hierin seine radikale Verletzlichkeit und Verlierbarkeit hat. Ist der andre tot, dann wird er es für immer sein, und sein Andenken ist selbst vielleicht eine Art Nachschwingen der Saite; doch wird auch dieses Nachschwingen nicht ewig währen. Und wäre es selbst ein Ton ohne Ende, es ist ihm doch das genommen, was einst die Substanz des Klanges ausmachte. Das Von-sich-aus-Sein lässt sich von keinem Andenken mehr einfangen, es ist nicht zu retten. Sein Ende ist absolut. In diesem Universum, in dem die Zeit Werte schafft, indem sie, was ist, unweigerlich dem Tod anheimgibt, wird man am Ende auf die Grenzsteine von Schuld, Schicksal und Verantwortung nicht verzichten können. Sie verzichten auch nicht auf uns. Wohlgemerkt darf man nicht der Versuchung erliegen, in ihnen selbst wieder schicksalhafte Größen, transzendente Strukturen oder Bedingungen unseres Seins zu erblicken. Nicht einmal das Schicksal ist schicksalhaft. Und die Schuld kann mich mit einer Härte treffen, die kein Sterblicher mehr lösen kann; ich kann aber auch verschont bleiben. Schuld, Schicksal, Verantwortung sind aber verschiedene Namen für die Akkumulation von Schwere in einem Universum der endlichen Dinge: eine Akkumulation, die immer nur lokal ge-

7

Kann es Menschen geben, die das niemals erleben? Die kein Gespür für das Unwiederbringliche, für die Schwere, den Ernst ihrer Existenz haben? Das kann sehr wohl sein. Aber ich bin mir nicht sicher, ob solche »Menschen« diesen Namen auch zurecht führen können. Das ist nicht moralisierend gemeint: Es fehlte einfach die wichtigste Dimension des Seins bei ihnen: das Gewicht der Zeit als solcher.

283

284

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

schieht (also nicht etwa das Universum beschwert), die unterschiedlich stark geschieht, die manchmal auch scheitert (wenn sich etwa einer weigert, das Gewicht auf sich zu nehmen – er wird als Mensch nicht eine Unze auf die Waage des Seins bringen, sind seine realen Effekte auch noch so verheerend und wiegt er auch über 100 Kilo). Mindestens auf die Verantwortung wird keine Philosophie des Sittlichen, egal ob Moral oder Ethik, verzichten können.8 Von einer Versöhnung, von einer Synthese sind wir jedenfalls meilenweit entfernt.9 Die Entstehung des Seins, das von sich aus ist, aus einem Sein ohne Zentrum. Man kann allerlei »metatheoretische« Fragen stellen und geistreiche Lösungen anbieten, wenn es darum geht, Unvereinbares zusammenzubringen. Man kann das in Fragen der Sittlichkeit wie in Fragen der Ontologie. Der Erfolg ist immer derselbe: Man opfert die Treue zur Sache dem Geist des Systems. Wie kann man gleichzeitig und zusammen das Sein-von-außen und das Sein-vonsich-aus denken? Das geht nun einmal nicht. Wir denken, ganz gleich, wie wir es anpacken, das Sein immer von außen. Und das sogar noch dann, wenn es unser Sein ist, das wir denken. Denken macht das: etwas von außen betrachten, sich nach außen versetzen. Denken ist im wörtlichen Sinne eine Extravaganz, ein Irren außerhalb des Seins selbst. Und damit Teil des Seins. (Und damit ist wie nebenbei der exakte Ort der Antinomie von Theorie und Praxis benannt.) Nur der radikalste Idealismus vermag es, sich im Sein zu halten. Aber wenn er meint, das Sein mit der Beschreibung des Ichs, des Subjekts, des Geistes zu fassen zu kriegen, hat er es schon wieder von außen betrachtet, denn dann ist erstens das wahre Sein (des Geistes) dem Rest äußerlich; zweitens aber und grundlegender ist noch das Sein des Subjekts/Ichs/Geistes dieser Philosophie in Wahrheit äußerlich,

8

9

Verantwortung auch für das eigene Wort. Alles, was gesagt und geschrieben wird, kann falsch verstanden werden, aus Dummheit, Böswilligkeit oder Unwissen. Aber es gibt auch eine Gleichgültigkeit gegenüber dem möglichen Missverständnis, die zu weit geht. Wo die Grenze ziehen? Niemand kann das endgültig sagen. Nietzsche hat mindestens in Kauf genommen, falsch verstanden zu werden, oder vielleicht sogar sich selbst falsch zu verstehen. Er hat sich sehr bewusst in ein Reich der Zweideutigkeiten begeben, wo man mit Ideen und Bildern spielt – aber sogar Spiele können folgenreich sein. In welchem Maß, mit welcher Unmenschlichkeit er und sein Übermensch falsch verstanden wurden, das hat er sich in keinem seiner Spiele im Ernst ausgemalt und ausmalen können. Dürfen wir ihn deshalb ganz davon freisprechen? Und Deleuze und Guattari mokieren sich in einem Interview, das sie anlässlich der Veröffentlichung des Anti-Ödipus gegeben haben, über die Missverständnisse, die man ihnen ankreidet: In Wahrheit geschähen die oft absichtlich und würden nur notdürftig eine eigene politische Agenda verbergen (vgl. Deleuze: Pourparlers. 37). Sie haben sicher recht. Und in dem Videointerview mit Deleuze, das posthum als Abécédaire veröffentlicht wurde, beklagt Deleuze in absolut glaubwürdiger Weise das Schicksal derer, die sich auf der Suche nach Freiheit und Befreiung an die Droge verloren haben. Nie seien seine Bücher mit Guattari als Einladung zum Süchtigwerden gemeint gewesen. Und auch das ist so richtig wie glaubhaft. Aber kann man so einfach fortwischen, dass das Missverständnis immerhin in greifbarer Nähe ist? Ein Missverständnis, dem man so z.B. bei Kant nicht unterliegen wird? Andrerseits: War nicht der Anführer des Leuchtenden Pfades ausgewiesener Kantianer?… Es bedarf kaum der Hervorhebung, dass diese Antinomie der Sittlichkeit noch einmal um vieles grundlegender ist als die vieldiskutierte Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungs- oder Erfolgsethik.

In Scherben

genauer: Sie hat sich ins Außen des Geistes gesetzt, denn wirklicher Geist ist eben solcher, der nicht das ganze Sein ist, der Teil des Seins ist und dem Sein entgegensteht, das bald von sich aus ist, bald von anderem her. Es gibt schlichtweg keinen »Übergang« und kein gemeinsames Maß zwischen dem Sein, das ohne festes Zentrum fließt und strömt, einerseits und dem, das von sich aus ist. Und wenn ich das sage, dann heißt das: Es gibt diesen Übergang eben realiter, der Wirklichkeit nach immer. Er ist es aber, der durch nichts »erklärlich« ist, der alle Theorie zerschmettert, der einen absoluten Widerspruch, Abgrund, Antinomie darstellt. Und zwar nicht, weil es keinerlei Beziehungen zwischen beidem gibt; es lassen sich doch wirklich viele Aspekte nennen, die beide teilen. Selbst das Wasser ist von sich aus, wenn auch in anderer Weise. Der Punkt ist eben kein theoretischer, und deshalb kann man ihn auch nicht mit Theorien erledigen. Irgendwann, man weiß nicht wann und wie, entsteht etwas Neues, etwas anderes, etwas, das in keiner Weise im Vorangegangenen enthalten war, etwas, das sich selbst ins Zentrum setzt und in diesem sich-selbst-ins-ZentrumSetzen ist. Dieser Moment ist das, was sich jeder theoretischen Erklärung entzieht – so wie wir auch, allerdings in anderer Weise, das Enden dieses von-sich-aus-Seins in Wahrheit nicht denken können. Wir müssen uns mit der Kraft dieses absoluten Widerspruchs bekannt machen, uns beträufeln mit der Quintessenz der Existenz, die pure Diskontinuität und reinste Kontinuität zugleich ist. Jeder Versuch, hier eine Versöhnung, einen Ausgleich, eine Vorahnung zu entdecken, ist Verrat. Es ist die Rückkehr zur Präformation – und so wie ich Philosophie verstehe, ist sie nichts anderes als der Kampf gegen die Präformation: absoluter Empirismus.10 Pascal hatte recht: Nur weil etwas unverstehbar ist, hört es noch lange nicht auf, zu sein.11 Scherbengericht. Eine Uneindeutigkeit, eine Lücke, eine Divergenz macht sich bemerkbar. Nicht die große Lücke des Nichts, des Entzugs usw. Aber mindestens eine in den Theorien. Oder zwischen ihnen. Also eine Theorie über diese Uneindeutigkeit oder Lücke selbst machen? Dazu müsste man nun diese Orte, an denen die Theorie scheitert, selbst, »an sich«, »direkt« anpeilen. Das scheint aber nicht zu gehen. Warum? Weil die Lücke eben nicht an sich existiert. Sie existiert nur in immer konkreten Ereignissen, Begegnungen, an diesem Ort, und dann wieder an jenem usw. Es gibt radikal keinen Begriff dieser Uneindeutigkeit, wenn man darunter die Sammlung des Vielen unter der Einheit der Gemeinsamkeit versteht. Noch der Nominalismus wäre hier zu konservativ: Es geht

10

11

In der Philosophie gehören die -lichkeiten zu den geläufigen Strategien, eine Präformationslehre zu verteidigen, deren man sich in anderen Kontexten schämen würde. Ich erinnere mich einer Unterhaltung, in der ich darauf insistierte, wie absolut faszinierend es doch ist, dass Kinder auf der Grundlage eines radikalen Nicht-Verstehens, durch pure Nachahmung von Bewegungen, Lauten etc., schließlich dahinkommen, zu verstehen, eine Sprache mit Verstand zu benutzen. Ein im Übrigen hoch geschätzter Kollege wandte ein, das sei kein vollständiges Nicht-Verstehens, sondern der Säugling habe schon einen Vorgriff auf Sinnhaftigkeit als solche. Eine solche Argumentation ist nun aber reinster Präformationismus. Ihre Logik besagt: Etwas ist da, also muss dasselbe schon vorher irgendwie dagewesen sein, sonst könnten wir es nun in entwickelter Form ja nicht beobachten. Die ganze Aufgabe des Denkens liegt darin, damit ernst zu machen, dass eben einem X noch nichts in der Form von X vorhergegangen ist. »Tout ce qui est incompréhensible ne laisse pas d’être.« (Pensées. L. 230)

285

286

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

nicht darum, dass Begriffe nur Verstandesgegenstände sind, die in der materiellen Wirklichkeit nicht anzutreffen sind; das ist sicher richtig. Hier aber geht es darum, dass es nicht einmal einen solchen Begriff geben kann, dass jeder Begriff, den man davon schaffen wollte, konstitutiv und konkret die Sache verraten muss (und das eben nicht nur, weil er Begriff und damit inkommensurabel mit dem Wirklichen ist). Es gibt keine Theorie dieser Sache, oder so: Es gibt sie nur als Scheitern, als inneres Scheitern. (Aller Theorie ist das Scheitern eingeschrieben, aber normalerweise als ihre Grenze; hier ist das Scheitern immanent, als Wesen dieser Theorie.) Denn die Sache besagt, dass es grundsätzlich unmöglich ist, eine Eindeutigkeit oder Einsinnigkeit der Theorie, oder genauer: des Seins dank der Theorie herzustellen, eine Vollständigkeit der Erklärung, auch nur: eine Vollständigkeit der Betrachtung. Und das nicht wegen eines vorgeblichen Mangels unserer theoretischen Mittel; noch nicht einmal wegen eines positiven Überschusses des Seins. Sondern im Gegenteil wegen einer zutiefst nicht-einheitlichen, einer disparaten Natur der Natur selbst. Etwas in ihr, und vielleicht das Wichtigste, sträubt sich positiv, d.h. seiner eigenen Natur nach, gegen die (sei es auch sukzessive, sei es auch dialektische) Vereinheitlichung oder Synthese. Es ist am Ende eine positive, eine nur noch zu konstatierende Eigenschaft der Natur, nicht zur Synthese gebracht werden zu können. Das ist das Sein. In diesem Scherbengericht kommt es zum Patt. Niemand wird ins Exil geschickt. Alle und alles behält Bürgerrecht im Sein. Was bleibt, sind die Scherben selbst. Deshalb kann man dieses Anti-Synthetische auch nicht »direkt« theoretisch ins Auge fassen, weil es eben immer nur lokal und hier und da existiert, und weil es genau darin besteht, dass es sich nicht umfassen lässt, dass ein Blick nicht reicht und das zwei Blicke sich nicht zur Einheit zusammenfügen. Zur Erscheinung kann es nur kommen in der plötzlichen Einsicht, dass man jetzt nicht mehr weiterkann; aber dazu muss man eben genau so weit gegangen sein, wie es möglich war. Ein Schritt weniger ist mangelnde Radikalität; ein Schritt weiter ist Unaufrichtigkeit. Denn das ist der Punkt: Jedes Wirkliche im emphatischen Sinn trägt an und in sich, existiert durch und aus einer Doppeltheit, einer Uneindeutigkeit, die in dem Sinn präzise ist, dass nur eine Seite präzise bestimmt und benannt werden kann; dass die andere Seite da ist, wirkt, nicht bestritten werden kann – aber so, dass nicht einmal der Ort dieser anderen Seite, nicht einmal die Position, von der aus sie erscheint, klar bestimmt werden kann. Die Abschattung, diese tiefe Einsicht Husserls, ist noch viel abgründiger, als man ahnen konnte. Es ist möglich, von einem Ort aus zu denken, zu sprechen, zu vereinheitlichen, zusammenzuführen, zu ordnen. Es ist zwingend, in dieser Tätigkeit die Meldung der anderen Seite, dessen, was in meiner Seite nicht zur Gegebenheit oder zumindest nicht zur angemessenen Erfassung gelangen kann, zu be- und vermerken. Es ist unmöglich, dieses Andere von meinem Ort aus theoretisch einzuholen. Es ist undenkbar, was der Ort wäre, von dem aus das Andere Wirklichkeit und Wahrheit und Wirksamkeit erlangen kann. Es ist unzweifelhaft, dass er existiert. Es steht nicht in meiner Wahl, die Orte zu wechseln. Stünde es auch in meiner Wahl und Macht: Immer fühlte ich nur wieder die Enttäuschung und Frustration, etwas ersatzlos aufgegeben zu haben. Es gibt keine Übertragung. Es gibt keine Übersetzung. Der Übergang ist, wenn er statthat, ansatzlos, durchbricht alle Kontinuität. Das Wirkliche ist disparat. Inkommensurabel. Es ist also wirklich ein wenig wie in den Kippbildern, nur dass es hier nicht um belanglose Zeichnungen geht, dass es nicht um Betrachter geht, sondern um Beteiligte, und dass deshalb keine freie Wahl oder wirksame Selbstbeeinflussung möglich ist, sondern bestenfalls eine langsame Bewegung in eine Richtung, so als würde man sich selbst

In Scherben

schieben. (Freilich, in Wahrheit schiebt man nie selbst; mindestens die entscheidenden Schubser muss man von anderen kriegen.) Und so schreibe ich und schreibe, und alles stimmt und alles ist richtig, und genau deshalb muss ich abbrechen, weil der Wellenkamm vorbei ist, dort wo Text und Wirklichkeit sich für einen Moment berühren. Ein paar Sätze noch wirkt die Kraft nach, die dort geschöpft war, dann verebbt sie, und was dann noch geschrieben wird, ist eigentümlich bedeutungslos. Antinomien. Die Antinomien, die ich hier auf- und ausgeführt habe, sind solche Orte der Uneindeutigkeit. Ich kann, wie geschehen, die Metaphysik der Ethik und der Moral weiterverfolgen und gegeneinander ausspielen. Was ich nicht kann, ist eine einheitliche Sichtweise entwickeln. Im Sittlichen weigert sich etwas, sich in eine Synthesis überführen zu lassen. Was ist das? Nun, es sind die Aspekte, die diese beiden Konzeptionen nennen und auf die sie sich berufen. Theoretisch, denkerisch kann man das nun, wie in einer Metaethik – entgegen Schellings entschiedener Behauptung12 tut die Philosophie doch manches Überflüssige –, zusammenführen, darüber schreiben, so wie ich es hier getan habe. Natürlich kann man das. Aber das ändert nichts an der Inkommensurabilität der Seiten. Was man dann »Theorie«, gar »Metatheorie« nennt, ist nichts anderes als die Aufzählung der Instanziierungen einer Disparität. Am deutlichsten ist das in der Antinomie von Von-sich-aus-Sein und Von-außen/ Von-anderem-her-Sein. Hier gibt es keine Vermittlung mehr, nicht einmal mehr eine Philosophie, die sich noch einmal jenseits stellen könnte. Der Bruch ist ein absoluter, weil noch der Ort, von dem her eine Rede und erst recht eine Theorie möglich wäre, nur durch einen Sprung in ein neues, inkommensurables Orientierungssystem erreichbar ist. Natürlich kann man trotzdem eine »übergeordnete« Theorie schreiben. Aber was man so nennt, und was dann erfolgreich die theoretische Synthese der Seiten herstellt, ist nur die mechanische Arbeit, die irgendwo etwas Gemeinsames findet – eine Arbeit, die man, wie die akademische Welt zur Genüge beweist, fast jedem antrainieren kann. Auch Theorie und Praxis können am Ende nicht unter eine einheitliche oder auch nur allgemeine, etwa gesetzmäßige Perspektive gebracht werden. Zwischen beiden besteht ein Bruch. Es ist derselbe Bruch, der eine Metaphysik der Kontinuität der Seienden, der radikalen Univozität (die keinen Staat im Staate zulässt) am Ende verhindert, denn mit dem Menschen und mit der Kontemplation tritt etwas Neues ins Sein, etwas Irreduzibles. (Damit ist nicht gesagt, dass Mensch und Kontemplation dasselbe wären oder diese das, was den Menschen macht, oder jener das Wesen, das wesentlich kontempliert. Solche Spekulationen interessieren mich hier gar nicht.). Univozität und Disparität: das gilt es zusammenzudenken, besser: gleichzeitig/gegeneinander zu denken, denn zusammenzudenken ist es eben nicht. So scheitert diese Naturphilosophie noch bevor das Buch zu Ende ist. Allerdings, in der Philosophie kommt es nur darauf an, wie man scheitert. Metaphysischer Pluralismus. Auch was Levinas so zwingend dargestellt hat und was in dieser Arbeit von Anfang an übernommen wurde, gehört hierher: die radikale Asymmetrie und Nicht-Totalisierbarkeit des Seins. Die Tatsache, dass es verschiedene Zentren des 12

Vgl. Schelling: Philosophie der Offenbarung. 99.

287

288

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Seins gibt, die von sich aus existieren, dass diese Zentren aber niemals gleichmäßig, symmetrisch miteinander sprechen und Sein erfahren.13 Die Tatsache, dass immer ein Ich mit einem Anderen in Kontakt tritt, dass die Wirklichkeit am Ende ein Gewebe von Zentren ist, das aber nicht überblickt werden kann, weil man immer darinnen ist und weil es eben nur für die, die darinnen sind, überhaupt existiert. Es gibt hier keine MetaEbene, von der aus das Sein, wie im Panorama (das ist Levinas’ Ausdruck für diese Irrglauben) überschaut werden könnte. Es ist gut möglich, dass diese Tatsache – so schlicht und so unbegreiflich – der Ursprungsort der Uneindeutigkeit ist, um die es hier geht, und zwar sowohl der Sache nach als auch in Hinsicht auf ihre philosophische Elaboration. Zugleich ergibt es sich, dass selbst diese Metaphysik des Disparaten noch einmal eine Potenzierung ihrer Disparität erfährt durch die Dimension, die Levinas ja selbst einräumt und ausführlich thematisiert: die des Elementaren. Die Wirklichkeit, insofern sie anonym, materiell, wogend und vage ist, ist das erste Milieu unseres Seins, in ihm und aus ihm leben wir in unserer Existenz als natürliche Wesen. Wir baden im Elementaren, wie es einmal so eindrücklich heißt.14 Die Beziehung zum Anderen aber fällt noch einmal mit anderer, mit absoluter Wucht auf uns, so dass erst dort wahre menschliche Existenz und sogar nur dort eigentlich eine echte Begegnung mit einer wirklich unbezweifelbaren Wirklichkeit einsetzt.15 Aber wie sollen sich nun diese beiden Seiten, die ontologische und die ethische, nach Levinas’ Ausdrucksweise, zueinander verhalten. Ist die Leserin nicht im Recht, eine umfassende Theorie zu erwarten, die solche und ähnliche Fragen beantwortet? Aber genau das geht eben nicht. Immerhin kann man dies noch konstatieren: Die ethische und die ontologische Antinomie sind nicht ohne Verbindung zueinander, auch wenn sie sicher nicht einfach dasselbe sind – oder sie sind »dasselbe«, wenn man zugibt, dass man nicht weiß, was dieses Wörtchen eigentlich bedeutet. Doch der Gegensatz ist nicht mehr zu vermitteln, in ihm stoßen die Inkommensurablen aufeinander: Hier das Antlitz, das als eines und Bestimmtes mich fordert und damit

13

14

15

Unerwartet trifft man auf eine Ahnung von dieser unüberwindlichen Asymmetrie bei Bruno: In der Kritik an der aristotelisch-scholastischen Kosmologie und in der Destruktion ihrer absoluten Verwendung relativer Begriffe (wie oben und unten), im Bemühen, auf einen einzigen unendlichen Raum zu führen, in dem es kein Zentrum mehr gibt, verfährt Bruno im Allgemeinen ganz im Sinn einer herkömmlichen Metaphysik und Naturphilosophie, die keine Schwierigkeit hat, das Sein als ein ganzes zu überblicken. Manchmal aber, wenn er das Detail der Welten und ihrer gegenseitigen Verhältnisse ausführt, macht sich die Irreduzibilität der vielen Zentren fühlbar, die einer panoramatischen Naturphilosophie letztlich den Weg verstellen müssten: So bemerkt er, dass, es seien zwei Sonnensysteme beliebig nahe beieinander gesetzt, das Ausströmen von Materieteilchen von dem einen zum anderen von jenem her immer ein Aufsteigen und von diesem her immer ein Fallen sein muss (vgl. De l’infinito. 409). Bruno argumentiert hier nicht so sehr für die Relativität bestimmter Begriffe, als er vielmehr die irreduzible und irreduzible Asymmetrie erzeugende Vielfalt der echten Zentren durchdekliniert. »Toute relation ou possession se situe au sein du non-possédable qui enveloppe ou contient sans pouvoir être contenu ou enveloppé. Nous l’appelons l’élémental. […] A vrai dire, l’élémental n’a pas de face du tout. On ne l’aborde pas. La relation adéquate à son essence le découvre précisément comme milieu: on y baigne. A l’intérieur, je suis toujours intérieur.« (Totalité et infini. 138) So auch schon bei Buber: »Hierher langt kein Trug: hier ist die Wiege des Wirklichen Lebens.« »Alles wirkliche Leben ist Begegnung.« (Ich und Du. 10. 12.)

In Scherben

erst zu einem und zu einem Bestimmten werden lässt: zu dem, der sich hier und jetzt genau dieser Verantwortung stellen muss – dort ein Sein, das unabzählbar, anonym, sich durchdringend, allen Ideen von Individualität und Identität Hohn spricht. Das zu denken, ist ja eben die Herausforderung – ohne Aussicht, sie je zu bewältigen. Denn diese Produktion des Menschen in dem und aus dem Elementaren ist eine, die einen absoluten Bruch setzt, eine Kontinuität, die überhaupt nur in radikalster Diskontinuität funktioniert; plötzlich setzt sich etwas, was man in der Philosophie als Subjekt anspricht (»Hypostase« nennt der frühere Levinas diesen Moment der Setzung im Anonymen des »Es gibt« – und das Elementare schreibt sich ins »Es gibt« nur fort).16 Der Bruch ist nicht nur deshalb so radikal, weil plötzlich etwas ganz anderes ins Sein tritt, sondern weil die gesamte Blickrichtung, die Art und Weise, das Sein zu denken, umgewälzt werden muss, ins inkommensurable Andere: vom anonymen Milieu, ohne Ort, ohne Situierung, ohne Zentrum, sogar ohne Zeit, hin zu dem Sein, das aus sich selbst heraus ist und nur so auch gedacht werden kann. Es ist also die Einführung des Vonsich-selbst-her-Seins und der inkommensurablen Neubegründung der Metaphysik, die hier in Frage steht. Und dieser Eintritt des Subjekts in die Welt, die den gesamten Sinn des Begriffs von Welt umstürzen muss, ist nicht zu trennen vom Antlitz des Anderen. Ausreden. Das Disparate schreibt sich ins Mark der Metaphysik selbst ein. So entsteht eine Metaphysik, die disparat ist, die ihre eigene Uneindeutigkeit bekennt, ohne sie zu feiern, die ihre Unvollständigkeit hervorhebt, um sie – in einem schwindelerregenden Salto – zu ihrem eigenen Überschuss werden zu lassen (auch dies ist das Disparate: dass dasselbe in zwei unvereinbaren Hinsichten als das Gegensätzliche erscheint); eine Metaphysik, die eine Summe von Inkommensurablen ist, und sei es wenigstens eine »Summe« im scholastischen Sinn. Freilich, die Gefahr ist groß, dass dieses Bekenntnis zum Disparaten degeneriert: zur Resignation, zur Mystifikation, zur Faulheit vor allem. Resignation: der Fehler, man könne ja doch nichts »wirklich« erkennen. Im Gegenteil: Man kann tausend Sachen erkennen, und die mehr oder weniger genauen inneren Schranken der Metaphysik gehören zu diesen tausend Sachen: »mehr oder weniger«: in einer Ungenauigkeit, die der Sache gehört und nicht etwa dem erkennenden Subjekt; »innere Schranken«: denn es geht eben nicht um die Grenze, jenseits derer entweder nichts oder das ganz andere ist, sondern um die Abgründe, über die hinweg das Wissbare, mindestens Denkbare verschiedener Herkunft sich die Bälle zuwirft – und das Zuwerfen geschieht wirklich: überall Wirken und Empfangen, reale Interaktion. Mystifikation: der Fehler, im Spiel der Disparaten, Inkommensurablen den Abgrund, die Lücke, das Nichts, das Unverständliche für das Entscheidende zu halten, für das Eigentliche gar. So als wären die positiven, die benennbaren, die mit dem Finger bezeichenbaren Realitäten nur das unwesentliche Anhängsel des Eigentlichen, das sich in den Mantel des Rätsels, des Entzugs, des Verborgenen hüllt. Oft spielt in solchen Philosophien ein gewisses Pathos die Hauptrolle: Man meint dann, dass das, was man auch wissen und sagen kann, worauf man zeigen kann und worüber man sich in irgendeiner nachvollziehbaren Weise streiten kann, schon allein dadurch als das Eigentliche, das 16

»L’élément se prolonge dans l’il y a.« (Totalité et infini. 151)

289

290

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Wahre, das Tiefe disqualifiziert sei, dass es eben öffentlich, zugänglich, verstehbar ist. Als würde das Triviale – oder was man dafür hält: die Weigerung, sich mit ihm auseinanderzusetzen, beweist ja, dass man es nie ernstgenommen hat und daher auch nicht wissen kann, wieviel Trivialität in ihm steckt – allein durch seine Trivialität kein würdiger Gegenstand der Philosophie sein. Als darf überhaupt nur das Anspruch auf Wahrheit erheben, was irgendwie unverständlich ist und weil es unverständlich ist. So wie man in manche hippe Diskothek nur kommt, weil man nach allen menschlichen Maßstäben geschmacklos gekleidet ist – und dadurch seinen höheren Geschmack beweist. Dass das eine ganz pubertäre Denkweise ist, liegt auf der Hand. (Sie unterhält eine recht widersprüchliche Beziehung zum Alltäglichen. So hat der große Prophet dieser Denkweise im 20.Jh. zwar zum einen überhaupt erst das Gesamte der alltäglichen und alltäglichsten, der trivialsten Erfahrungswelt in systematischer Konsequenz und in voller Ausdehnung als würdigen Gegenstand der Philosophie erschlossen – und im gleichen Atemzug dieses so Aufgewertete wieder hinabgestoßen ins Gewühl des Gleichgültigen, erreicht es doch niemals die einmalige Höhe und Aussicht der Eigentlichkeit.) Überhaupt das Triviale: Es ist das, was jeder kennt, was jedem offensteht. Es hat seinen Namen von der öffentlichen Straße mit ihren Wegkreuzungen, ihren Scheidewegen (trivium). Allein, trivial im eingebürgerten Sinn kann nur eine Straße ohne Kreuzungen sein: wo man unbekümmert fortgleitet. Jede Wegkreuzung aber ist ein Wagnis, wovon nicht nur die Legende zeugt, sondern, viel tiefsinniger, die Symbolik, eine Symbolik, die wieder jedem zugänglich ist: Man verehrte an den Wegkreuzungen regelmäßig Götter, sah sich bemüßigt, Beistand und Schutz zu erbeten. Und gerade Hekate, die trivia, ist einem nicht immer ganz geheuer. Das Triviale ist der Ort, an dem der Pfad des Seins eine Abzweigung hat, die man nicht nimmt und nicht nehmen kann. Weit davon entfernt, das Emblem des Nichtigen, Uninteressanten zu sein, ist es in Wahrheit einer der Namen des Disparaten selbst. Trägheit: der Fehler zu glauben, man sei durch die schiere Existenz des Disparaten aus der Verantwortung für das Denken entlassen. Die naheliegende Folge der Erkenntnis, dass sich das Denken nicht in die Synthese einfügen wird, ist, in allen Belangen, die nur ein wenig zu schwierig werden – sei es theoretisch oder aber in ihrem praktischen Anspruch –, darauf zu verweisen, dass man ja ohnehin nichts sicher wissen könne; die Tendenz also, die Orte der Inkommensurabilität zu vervielfältigen, und diesmal nach Belieben. Eine Complaisance mit dem Inintelligbilen, die einem das Leben in so vielen Hinsichten leicht machen kann. Dabei ist natürlich das genaue Gegenteil der Fall: die Orte der Inkommensurabilität, das Disparate ist nicht bequeme Ausrede, sondern Ergebnis eines mühsamen denkerischen Weges. Das Disparate ist der Moment, in dem sich die leerlaufende Anstrengung, eine Synthese zu finden, erschöpft und nach Aufbietung aller Kräfte eingestehen muss, dass hier nichts zu holen ist – und in dem es ihr gelingt, dieses Scheitern in einer präzisen Weise in eine positive Formulierung von Wahrheit umzukehren. Dieser zweite Schritt, der »positive«, ist ebenso wichtig wie der erste.17 Er erst vollendet die Anerkennung des Disparaten als einer wirklichen Komponente des Seins.

17

Vielleicht ist das nicht unähnlich der Tat Cantors, der die Paradoxie unterschiedlich »großer« Unendlichkeiten zum positiven Definiens des Unendlichen erhoben und damit das Unendliche selbst zum Gegenstand einer strengen Untersuchung gemacht hat. »Comme souvent, l’invention consiste ici à transformer un paradoxe en concept.« (Badiou: L’être et l’événement. 295)

In Scherben

Andernfalls bliebe man doch wieder stehen beim großen »Ignorabimus«, in dem man sich tatsächlich gut einrichten kann. In diesem Hotel wohnt wahrhaft die Complaisance. Sittlichkeit, noch einmal. Am Ende erhellt die Inkommensurabilität von Ethik und Moral erst aus der von Natur und Subjekt, von Sein im Panorama und Sein von sich aus. Es ist nämlich wahr: Eine Metaphysik, die wie von außen auf das Sein blickt und für die zugleich jenseits des Seins nicht noch eine Ordnung von Werten, Wahrheiten, Göttern oder Ideen steht, die hat keine andere Wahl: Was sie sieht, ist nichts anderes als ein wildes Schauspiel von Kräften, Strömen, Potenzen, Körpern. Es ist absolut unwiderleglich: In dieser Optik gibt es nichts, was diesem Spiel der Kräfte noch eine Begrenzung oder Regulierung auferlegen könnte. Denn es gibt ja nichts außerhalb dieses Spiels selbst. Die Ethik ist also die zwingende Folge einer Metaphysik der Immanenz, die sich dem Paradigma des Panoramas verpflichtet weiß.18 Dass es eine Begrenzung der Ströme geben soll, die nicht einfach aus ihren Kraftdifferenzen erwächst, die vielleicht sogar der Schwäche eine eigentümliche Mächtigkeit zusprechen muss, ist – aus dieser Perspektive heraus – sicher eine perverse Idee, ein Gedanke, der nur einer Sklavenmoral und dem scheelen Blick des Ressentiments würdig ist. Es wird aber in dem Augenblick von diesem harschen Urteil befreit, in dem man sich wieder ins Sein zurückversetzt, in dem man das Sein als ein Universum von Strömen und Kräften versteht, das nur ist, indem ich, du, alle Dinge darin sind, Zentren bilden, von sich aus sind. Sobald diese Situierung in die Metaphysik der Immanenz eingeführt wird, entsteht die Metaphysik in Scherben, die hier schillert. Es kommt aber eben auch zu einem weiteren Effekt, den man nicht vorhersehen konnte: Die Taxonomie der Ströme hört auf, einziges Kriterium des Guten zu sein; es trennen sich zwei Sets von Maßstäben, die die vorige Eindeutigkeit der Taxonomie ins Schillern bringen; aus dem Maßstab der Kraft sondert sich der Maßstab der Verantwortung ab, wie in einer fehlerhaften Zellteilung; die Einheit des Maßstabs geht in die Uneindeutigkeit inkommensurabler Ideen über; von der Taxonomie der Ströme entkoppelt sich eine Axiologie der Verantwortung. Beide sind nicht unbedingt widersprechend; sie werden weiter ihre Beziehungen unterhalten, die nicht zuletzt auf ihren gemeinsamen Ursprung zurückgehen. Aber fortan wird man keine einfache Ordnung der Dinge mehr erwarten dürfen. Sittlichkeit wird zu einem Feld, in dem radikal Inkommensurables miteinander ringen wird. Den Ausgang im Einzelnen kann man nicht a priori vorhersagen, weil nicht zuletzt unsere Verantwortung selbst darin liegt, immer wieder aufs Neue diesen Streit auszuhalten und auszutragen. A priori wissen kann man nur, dass der Streit sich nicht ein für alle Mal klären lässt. Und noch eines: Wenn unsere Verantwortung darin besteht, diesen Streit auszuhalten und auszutragen – ohne dass wir dies an einen anderen delegieren könnte, vielmehr so, dass wir, wie Levinas zeigt, darin erst unsere ureigene »Identität« finden –, dann heißt das offenbar, dass der Begriff der Verantwortung einer ist, der, obgleich in der Moral ursprünglich zuhause, doch die Kluft überbrückt: Verantwortung ist sowohl ein ethischer wie ein moralischer Begriff und er ist erst in seiner Fülle erfasst

18

Implizit, denn erst Levinas hat dieses Paradigma formuliert und zugleich eine Alternative zu ihm vorgeschlagen – wie ja oft der Akt, etwas auszusprechen, auf den Punkt zu bringen, nicht von dem Akt der Relativierung, Problematisierung, Distanzierung zu trennen ist.

291

292

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

und gelebt, wenn er, als eine dritter Begriff seiner selbst, als die Auseinandersetzung von Ethik und Moral auftritt. Schematisch gesprochen ist die Philosophie von Spinoza, Nietzsche, Deleuze also eine Philosophie der Immanenz, die, da sie vollkommen mit der Transzendenz gebrochen hat, keine andere Idee der Sittlichkeit mehr akzeptieren kann als die der Ethik der potentiae. Es fehlt ihr aber die andere Idee, die eine Metaphysik der Immanenz erst vollendet, indem sie sie ihrem Zerbrechen überantwortet: die der Lokalität, Pluralität, Situiertheit. Von ihr aus stellt sich die Sittlichkeit als die selbst disparate Verbindung der Ethik der Ströme mit der Moral des Anspruchs dar, die mir vom anderen auferlegt wird: als Verantwortung. Das Disparate. Dass es in der Wirklichkeit Inkommensurables gibt – dass eine Metaphysik Brüche feststellt; das allein ist noch keine Erfassung und Würdigung des Disparaten. Die Philosophien der Univozität mussten letztlich auch immer diese Brüche verarbeiten, selbst wenn sie sie noch so entschieden leugneten.19 Die Metaphysiken der Transzendenz, der Moral, des Humanismus usw. usf. wussten stets um diese Brüche. Für sie waren sie Ausdruck einer höheren Ordnung, die die Metaphysik getreu abbilden könne, also letztlich Zeugnis einer hierarchischen Vision der Wirklichkeit, in der das Höchste die selbst widerspruchsfreie Wahrheit präsentiert. (Auch wenn, ewige Achillesferse, noch keine Religion oder Metaphysik erklären konnte, wie es von der Einheit und Ordnung und Gutheit zur Vielfalt und Verwirrung und Schlechtigkeit hat kommen können. Luzifers Fall bleibt unerklärliches Mysterium.) Die Welt als disparate, eine Metaphysik des Disparaten: Dazu reicht also weder die Leugnung noch die Konstatierung von Widersprüchen oder Brüchen. Dazu gehört vielmehr die radikale Affirmation, dass es letzte Widersprüche, letzte Brüche, letzte Inkommensurable gibt, die durch nichts vermittelt oder zur Einheit gebracht werden können; dazu gehört die präzise Benennung und messerscharfe Umgrenzung dieser Inkommensurablen; dazu gehört die Bereitschaft, die Metaphysik in den Extremismus des Systematischen zu treiben, in dem alles Systematische zuschanden gemacht wird. Eine Metaphysik in Scherben ist im positiven Sinne dadurch definiert, dass sie nicht zu einer Synthese findet, dass sie nicht totalisierbar ist, und das deshalb, weil sie von einem Disparaten Zeugnis ablegt, das radikal keine Vereinheitlichung oder Synthese mehr zulässt. Die Suche nach einer Kommunikation zwischen Metaphysik und Transzendentalphilosophie, zwischen Geburt und Subjekt, zwischen Natur und Mensch (die Suche, die diese Arbeit spätestens seit dem Kapitel zur Geburt umgetrieben hat) muss am Ende scheitern. Es geht nicht anders. Aber das Scheitern war nicht ergebnislos. Im Verlauf

19

Spinozas ontologische »Deduktion« in der Ethik etwa weist doch selbst einen ganz offensichtlichen Bruch auf, zwischen dem Unendlichen nämlich und den endlichen Dingen (zwischen Ip23 und Ip24). Und wenn er ein wenig entnervt erklärt, dass er nie behauptet habe, dass Menschen und Steine einfach dasselbe seien (Ep21. Tutte le opere. 1942f.), dann legt doch die Kritik, die ihn zu dieser Bemerkung provoziert, den Finger in die Wunde: Die Ethik der Ströme kann genau die Differenz nicht würdigen, die in Spinozas Erklärung, nichts sei dem Menschen nützlicher als der andre Mensch, allen Hürden zum Trotz ihren Ausdruck findet.

In Scherben

dieser Suche, die frustriert werden musste, ist Unzähliges hervorgesprungen. Die Blumen pflückt man vom Rand des Weges. Eine eigenartige Ethik wird so vom Philosophen gefordert: bereit zu sein, willens, vielleicht sogar: entschlossen, nicht alle Widersprüche aufzulösen. Warum sollte Philosophie der Name eines unfruchtbaren Ackers, einer glatten Ebene sein, einer geraden Linie? Ein Mann aus Lu schenkt dem König Yüan von Sung einen Knoten. Der König ließ einen Befehl durch sein ganzes Land gehen, dass alle geschickten Leute kommen sollten und den Knoten auflösen. Aber niemand vermochte ihn aufzulösen. Ein Schüler von Erl Schuo bat um die Erlaubnis hinzugehen und ihn auflösen zu dürfen. Aber er konnte nur eine Hälfte lösen, die andere Hälfte konnte er nicht lösen. Da sprach er: »Es ist nicht so, dass man ihn auflösen kann und nur ich ihn nicht aufzulösen vermag, sondern er lässt sich überhaupt nicht auflösen.« Man befragte den Mann von Lu. Der sprach: »Ja, man kann ihn wirklich nicht auflösen. Ich habe ihn gemacht und weiß, dass er nicht auflösbar ist. Aber einer, der ihn nicht gemacht hat und doch weiß, dass man ihn nicht lösen kann, der muss noch geschickter sein als ich.« So hat der Schüler des Erl Schuo den Knoten dadurch gelöst, dass er ihn nicht gelöst hat.20

20

Lü: Das Weisheitsbuch der alten Chinesen. 292f.

293

Virtualität

Natur und Kunst. Das Materielle hat eine gewisse Mattigkeit, die aus der Dichte und Voluminosität von Materie herrührt: Jede Schicht von Materie führt auf eine andere. Künstlichkeit ist die Herstellung einer Oberfläche, die ihre materielle Tiefe verleugnet. Sie will einen Glanz haben, den diese von sich aus nicht kennt. Drei Schritte in der Manipulation der Materie: Zuerst die Formung: Eine aufgefundene, oft aber eine bereits bearbeitete Materie wird so umgeformt, dass sie von ihrer ursprünglichen Gestalt getrennt wird: behauene Steine, die für den Hausbau verwendet werden; Holzstücke, die man in Hauspfeilern, in Schießbögen oder in Violinen findet; oder auch so etwas Komplexes wie die Herstellung von gleichmäßigen Ziegeln aus einer Lehmmasse. Natürlich erkennt man die ursprüngliche Materie wieder, wenn man diese Gegenstände vor sich hat. Und in der Tat brauchen die Handwerker, die sie einsetzen, einiges Wissen über ihre Eigenschaften: Man kann ein Stück Holz nicht irgendwie schneiden und hoffen, dass das Ergebnis für alle Zwecke befriedigend wäre. Aber die Materie wird hier bereits in einen neuen Kontext gestellt, sie wird umgestaltet, so dass eine neue Oberfläche auftritt, die vielleicht nicht nach einer anderen Körperlichkeit aussieht, die aber ihr Prinzip (wenn man so will) einer anderen Sache als eben der Körperlichkeit oder der speziellen Materie verdankt. In die Materie selbst wird so eine Art Fremdheit oder mindestens Spannung eingeführt. Die Oberfläche entfernt sich von der Tiefe der Materie, auf der sie sich abhebt. Die zweite Stufe führt das weiter als Glättung. Hier geht es nicht mehr um Zwecke, die der Materie von außen aufgedrückt werden, sondern hier wendet sich die Aufmerksamkeit gezielt dem sinnlichen Erscheinen selbst zu. Es tritt, in natürlicher Folge der ersten, der formativen Idee, eine ästhetische Idee auf – in natürlicher Folge, denn die zweckmäßige Umgestaltung ist ja bereits ein ästhetisches Ereignis: Es lässt das Materielle anders aussehen. Auf der zweiten Stufe wird dieses Geschehen selbst zum Prinzip gemacht. Am Materiellen wird ein Problem erkannt; das ist im Übrigen sowohl das Problem der herstellenden Praxis als auch das Problem der Ästhetik – und sicherlich ist es nur dieses, weil es zuerst jenes ist. Das Problem besteht darin, dass alles Materielle seine eigene Maserung und Textur hat, die der Handwerker nicht ungestraft ignorieren kann. Es besteht darin, dass Materie von sich aus schon geformt ist, »a priori«, wenn solche Worte noch irgendeinen Sinn hätten, und dass eben diese ursprüngliche, »natürliche«

296

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Formung immer der künstlichen Umformung Grenzen oder zumindest Hindernisse in den Weg setzt. Nun geht man daran, diesen praktischen Skandal immerhin im Ästhetischen auszuräumen. Es gibt dazu zwei scheinbar entgegengesetzte Verfahren: Hinzufügen oder Wegnehmen. Weggenommen wird in den Techniken des Abschleifens, Feilens, Schmirgelns usw. Immer ist es darauf aus, Flächen zu schaffen, die rein sind, glatt, sauber, einheitlich, am liebsten ungekrümmt und in verlässlichen Winkeln zueinander. Etwas anders ist es mit dem Hinzufügen: Hier hinein fallen solche Techniken wie das Anmalen, die Politur, die Stuckatur, das Verzieren. Hier geht es meistens nicht so sehr um eine gleichmäßige, ebene, glatte Fläche, zumindest nicht zwingend. Es geht allerdings um die Herstellung eines Glanzes, den die Natur und die Materialität so nicht kennen. Natürlich können auch beide Techniken zusammenwirken: Ich kann einen Holztisch abschmirgeln und dann mit Politur einreiben, damit er wasserabweisend wird und schön glänzt. Immer aber stelle ich eine künstliche Oberfläche her, wobei es gerade meine Absicht ist, diese Oberfläche so weit wie möglich von aller Materialität in ihrer Schwere, Tiefe, Dichte und Mattigkeit abzusetzen. Übrigens gibt es natürlich Phänomene, die gerade versuchen, diese Tiefe und die Maserung der Materie selbst zu nutzen, etwa im Einsatz von Marmor. Es deutet sich hier eine Tendenz an, die zumeist unausgesprochen aber unleugbar die Technikgeschichte des Abendlandes von Anfang an bestimmt hat. Denn die Disjunktion von Oberfläche und Materie war zugleich immer die Sehnsucht danach, den Widerstand, den Eigensinn, ja: die Natur der Materialität selbst zu brechen. Diese Sehnsucht findet im Kunststoff ihre erste Erfüllung. Eines aber kann diese Stufe der Glättung noch nicht leisten. Denn ich kann die Verschönerung, Verfeinerung, Vergeistigung der Oberfläche so weit treiben, wie ich will – am Ende fällt die Porzellankanne auf den Boden und erweist sich als das, was sie immer war: Materie. Am Ende reicht es, eine Axt an den Stuck zu führen, und dahinter, schon nach dem ersten Schlag, kommt der Stoff zum Vorschein, den das Ornament verdecken sollte, als wäre er unanständig. Am Ende werden die Schüler mit dem Taschenmesser ihren Namen in die Schultische ritzen, und die Wahrheit erfüllen, die keine Glättung hatte leugnen können: dass hinter der Oberfläche, sei sie noch so weit abgehoben von der Materie, doch wieder nur Materie liegt, und zwar immer direkt darunter. Die Glättung ist eben immer noch eine Technik im Ausgedehnten, in der Materie. Daher wartete in einem gewissen Sinn die Technikgeschichte auf diesen großen Moment, der vom Digitalen gebildet wird. In Wahrheit hatte er einen Vorläufer: im Bild. Das Bild, das Gemälde etwa lässt auf dem Materiellen einer Bildunterlage (z.B. einer Leinwand) eine andere Wirklichkeit entstehen, eine Wirklichkeit von anderer Art. Die Disjunktion zwischen Oberfläche und Materie wird hier prinzipieller Art. Schon von einem Gemälde kann man nicht gut sagen, dass es eine Rückseite hat: Die Leinwand hat eine Rückseite, aber die Mona Lisa hat keine. Dennoch bleibt das Bild selbst materiell, es sind Farbschichten, die auf eine Unterlage aufgetragen werden, die abgeschabt, beschädigt, übermalt oder chemisch untersucht werden können. Das Sichtbare, der Glanz der Oberfläche ist selbst noch von der Art des Materiellen, selbst wenn das, was darin präsentiert wird, aus einer anderen Welt stammt. Schon bei Fernsehen und Kino wird das Ganze komplizierter, und zwar durch die Dynamik des Geschehens, die die Ablösung von Oberfläche und Körper vorantreibt: Dieselbe »Unterlage« – dieselbe Kathodenstrahlröh-

Virtualität

re, dieselbe Leinwand im Kino – ist materielle Basis für die Darstellung der verschiedensten und unablässig sich wandelnden Bilder. Bei dem Digitalen aber ist diese Loslösung zum Abschluss gebracht, zumindest zum vorläufigen: Kann man beim Gemälde, beim Fernseher und beim Kino noch davon reden, dass es eine materielle Grundlage der Oberfläche gibt, so ergibt diese Redeweise bei digitalen Techniken einfach keinen Sinn mehr. (Es versteht sich, dass die digitale Verfahrensweise auch nachträglich die älteren Techniken von Fernsehen und Kino durchdringt und neu erfindet. Das ändert nichts an den Verhältnissen.) Wenn man auf einem Smartphone herumstreicht, eine App aufruft, eine Internetseite verwendet, einen Zeitungsartikel liest –, dann lässt sich nicht mehr guten Gewissens sagen, dass man es mit einem materiellen Gegenstand zu tun hat. Denn das, womit man es zu tun hat, ist genau die Oberfläche, die sich von diesem Gegenstand abgelöst hat. Der Unterschied wird hangreiflich – im wörtlichen Sinn –, wenn man dieselben Manipulationen auf dem Smartphone ausführt, nachdem man es abgeschaltet hat. Eben noch schoss man wütende Vögel in einem knallbunten, aber platten Universum ab, jetzt kratzt man auf einem Stück Plastik rum. Es sind zwei verschiedene Handlungen mit verschiedenen Gegenständen, wenn man so will: in verschiedenen Welten. (Und ich will nicht so, aber die Versuchung zu diesem Ausdruck ist gerade das Relevante.) Was hat sich hier geändert, vom Gemälde und dem Fernseher zur Benutzeroberfläche von PC, Tablet, Smartphone? Man ist versucht zu sagen, dass die Interaktivität hinzugekommen sei: Das Bild muss ich so anschauen, wie es einmal gemalt wurde, den Film im Fernseher kann ich nur abschalten oder laufen lassen, und auch wenn die Durchbrechung der vierten Wand ein besonders reizvolles Problem des Kinos ist, so doch nur, weil sie in der Tat unmöglich ist. Am Computer hingegen, da mache ich mit, da wirke ich hinein, da greife ich ein in die Abläufe auf meinem Gerät wie in die endlosen Einträge im Internet. Ich stehe hier der Oberfläche, die sich von ihrer Unterlage löst, nicht einfach – passiv, bewundernd, gelangweilt – gegenüber, nicht als Betrachter, sondern ich bin darin, trete in diese glanzvolle Oberfläche ein. Der Hinweis auf die Interaktivität ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn es hat sich hier vor allem technisch etwas verändert, was wichtig ist, weil es sowohl die Interaktivität erst möglich macht als auch die Ablösung der Oberfläche auf ein neues Niveau hebt. Wir haben es beim Digitalen nicht mehr mit einer mechanischen Übertragung auf die Unterlage zu tun, so dass also Farben – permanent oder flüchtig – aufgetragen werden, wie es beim Gemälde und auch bei der Kinoleinwand ganz deutlich geschieht. Vielmehr findet nun eine linguistische Übersetzung statt: Was dargestellt werden soll, wird in eine maximal reduzierte Sprache zerfällt, um dann aus ihr wieder am gewünschten Ort aufgebaut werden zu können. Die Binärcodierung in 1 und 0 stellt die extremste Form dieser sprachlichen Reduktion dar, die auch bei den digitalen Techniken leitend ist. Wichtig ist die Tatsache, dass diese formale Sprache eine diskrete ist, also aus zwei oder mehr Signalen besteht, die nicht ein Kontinuum bilden. Wir haben es mit einer Technik zu tun, die unter Zuhilfenahme einer maximal formalisierten, einer ganz idealen Sprache eine Oberfläche kreiert, die mit der materiellen Unterlage, auf der sie sich ausbreitet, keine ontologische Verwandtschaft mehr hat. Diese Oberfläche ist, anders als unsere materielle Wirklichkeit, durch eine Sprache, durch Zeichen gebildet, und zwar durch solche, die radikal diskret sind, also wieder im Gegen-

297

298

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

satz zu unserer materiellen Wirklichkeit die Dimensionslosigkeit von Punkten haben: Sie sind nicht ausgedehnt, sie berühren sich nicht, sie existieren nur in ihrer Differenz zueinander. Diese digitalen Techniken hätten aber sicher nicht ihren Siegeszug antreten können, wenn sie sich nicht in einer letzten Volte einem abenteuerlichen Mimikry anvertraut hätten. Das Diskrete und Sprachliche, Schriftliche der Digitalität wird gerne noch in den Vorspannen von Science-Fiction-Filmen bemüht, in denen die Kamera tief in eine Welt aus Codes und Zeichen eindringt und hinter jeder Programmierzeile die nächste findet. Die ersten Heimcomputer funktionierten in der Tat noch so, dass man Codes einzugeben hatte, ja: Die frühen Liebhaber waren oft wohl oder übel gezwungen, die Programmierung ihrer Computer selbst voranzutreiben, wenn sie deren anfänglich noch begrenzte Anwendungsmöglichkeiten erweitern wollten. Diskretheit und Schriftlichkeit sind aber keine Kennzeichen unserer erlebten Welt. Man muss es nicht als eine Art der Simulation, als eine Täuschung interpretieren, dass sich die Oberfläche des Digitalen immer mehr von diesen beiden Eigenschaften seiner Übersetzungslogik entfernte und immer mehr der Nachahmung unserer materiellen Wirklichkeit annäherte. Es ging nicht darum, irgendjemandem vorzuspiegeln, dass das, was auf dem Bildschirm ist, eigentlich das Wirkliche sei: Diese Täuschung – die die Phantasie der Technikfeinde wie der Filmregisseure immer aufs Neue angefacht hat – ist bei weitem nicht so verbreitet und verderblich, wie man meinen möchte. Die Annäherung an unsere Lebenswirklichkeit diente zuerst vor allem dem Zweck, diese Techniken aus dem Reich der Spezialisten heraus- und in die breite Öffentlichkeit einzuführen: Es hatte sicher primär wirtschaftliche Gründe, die digitale Technik so gegen sich selbst zu wenden, dass sie auf der Oberfläche des Erscheinens die Spuren ihrer eigenen Struktur verwischen konnte. In diesem Sinn ist die Erfindung der Maus ohne Zweifel ein Meilenstein gewesen. Wer kann sich schon all die Befehle merken, wer so tief in die »Materie« (die eben keine ist) eindringen, dass er oder sie seinen Computer selbst programmieren könnte? Aber auf eine Sache zeigen kann jeder, und genauso kann jeder mit der Maus auf einen Ordner oder einen Hyperlink klicken. Was hier also geschehen ist, ist das Vergessenmachen der Übersetzungsleistung, die das Digitale ganz eigentlich ausmacht. Der Glanz der digitalen Oberfläche erreicht dann seinen Höhepunkt, wenn diese, in einem wagemutigen Salto, sich zur Präsentation einer kontinuierlichen, bewegungsgleichen Wirklichkeit heraufschraubt. Die herkulische Aufgabe der digitalen Technik bestand darin, das Kontinuum durch das Diskrete nachzustellen, die Materie vermittelt durch eine Sprache zu simulieren. Und man muss sagen, dass es ihr beängstigend gut gelungen ist. Nicht nur die immer besseren Grafiken z.B. von Computerspielen, die inzwischen von einem Kinofilm kaum noch zu unterscheiden sind, sondern auch ein Effekt wie der der Erschöpfung eines Bewegungsimpulses gehört hierher, wenn man beim Smartphone eine Seite schnell nach unten scrollt: Da wird eine uns zutiefst vertraute Eigenschaft von Körpern, die darauf beruht, dass sie Schwere und Widerständigkeit haben, auf eine Simulation übertragen, die gerade darin besteht, dass sie Schwere, Widerständigkeit, Dichte, Trägheit usw. nicht kennt. Der Triumph, der darin liegt, wird eigentlich erst vollendet durch die Selbstverständlichkeit, mit der wir das als ganz normal hinnehmen. Die Tendenz aller Technik, das Materielle durch die Ablösung einer Ober-

Virtualität

fläche zu verleugnen und hinter sich zu lassen, erfährt in der digitalen Herstellung einer glanzvollen Oberfläche ihre Vollendung. Aber hat das Natürliche keinerlei Glanz? Ist alle Materie matt? Was die Technik ermöglicht, muss offenbar im Rahmen einer Naturgeschichte verstanden werden, wenn es überhaupt verstanden werden soll. Und nur weil etwas zur Naturgeschichte gehört, heißt das noch lange nicht, dass es nicht auf eine menschliche Erfindung, auf Kunst zurückgeht. Virtualität. Ich verwende, unter nur anekdotischer Anlehnung an andere philosophische Konzepte des Virtuellen,1 den Begriff in dieser Weise: Das Virtuelle ist das, was entsteht, wenn sich die Oberfläche von der Materie löst. Das Virtuelle ist das ätherische Körperliche, seine Verdünnung ins Luftige. Das Virtuelle hat das Eigentümliche, eine unverwechselbare Faszination auszulösen. Sie besteht darin, dass man seinen Blick von ihm nicht lösen kann. Das Virtuelle ist der Appell des Seins an das »Subjekt«, sein Gesehenwerdenwollen. Ursprünglich ist diese Faszination nicht, wie so viele andere Faszinationen, ambivalent. Es ist eine »aufrichtige« Hinund Zuwendung, ohne Hintergedanken und Rückhalt, und manchmal ohne alle Gedanken. Dann kann diese Faszination sich auch ins Gedankenlose, gar ins Geistlose verkehren. In der sich ablösenden Oberfläche, in deren Spiel ich versunken bin, löst sich auch mein Denken von mir ab, im Reigen um die Oberflächen, die ich betrachte, und am Ende werde ich nichts gedacht haben. Es wird eine leere Zeit vergangen sein. Ich werde das geschafft haben, was mir keine Trödelei, keine Faulheit, keine Langeweile je einbringen könnte: Ich werde Zeit verloren haben! (Und dann, aber eben nur in der Rückschau, in der Reflexion auf die Faszination wird diese auch zu etwas Ambivalentem.) Welche Phänomene des Virtuellen gibt es in diesem Sinn? Das Strahlen der Sonne. Die Sonne ist die Verausgabung ihrer selbst. Sie ist Sonne ja nur, weil sie sich aufzehrt in der ununterbrochenen Produktion jener Flammenmeere, die die Ablösung der Oberfläche und ihr Hinausschleudern ins All zum Dauerzustand erhebt. Das Sein kann nicht anders als »hinzuschauen« auf die Sonne, das belebte in einem wörtlichen Sinn (unübersehbar in der Heliotropie), das unbelebte durch die Masse des Sonnenkörpers. Das Lodern des Feuers. Das Feuer ist das Naturereignis, das uns wie kein zweites die Faszination der Oberfläche unmittelbar spürbar macht. Man sitzt da, blickt hinein ins Feuer, und sieht. Was sieht man? Nichts, zumindest nichts Bestimmtes. Nichts Festes. Nein, man sieht gerade die Unbeständigkeit, das Flackern, Flimmern, Hochschießen,

1

Vor allem das Kennzeichen der Nicht-Lokalisierbarkeit ist zentral. Es findet sich in der Weise, in der Deleuze die Funktion des Begriffes bei Leibniz herausarbeitet, wobei Deleuze mit Leibniz das Virtuelle eher als etwas »Ideales« versteht (vgl. Le pli. 69. 72). Ich meine hingegen ganz strikt eine materielle Nicht-Lokalisierbarkeit oder noch genauer: das Materielle in seiner konstitutiven NichtLokalisierbarkeit. Was Anne Conway schreibt, ist daher noch einmal näher an meiner Verwendung des Begriffes: »Virtual extension is the motion or action which a creature has«, nur dass der Kausalismus hier – wo es darum geht, das Wirkliche in seiner irreduziblen Singularität in den Blick zu bringen – keinen Platz mehr haben kann: »whether given immediately from God or received immediately from some fellow creature.« (The principles. 69)

299

300

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Abflauen, Ausschlagen, Aufbäumen, Abknicken der Flammen, die keine Sekunde stillehalten können. Man sieht genau nichts anderes als das unablässige Spiel der sich ablösenden Oberflächen. Die sind nicht etwa unwirklich; aber es fehlt ihnen nun mal die Festigkeit und die Basis der Materie, auf der sie hätten Ruhe und Platz und Wirkungskraft finden können. Die züngelnden Flammen sind (anders als zum Beispiel Schatten) nie zum Exempel der Unwirklichkeit des Materiellen herangezogen worden. Man wusste es besser. Wenn überhaupt, dann hat die Faszination für ihre unwahrscheinlichen Choreographien ihnen den Sinn von solchen flüchtigen Bildern zugeschrieben, deren Ungreifbarkeit mit der verborgenen Wahrheit korrespondiert, von der sie zeugen. So konnten Flammen zu den bevorzugten Naturereignissen werden, auf die sich Weissagungen stützen können. (Entweder unmittelbar, indem man in den Flammen zu lesen suchte, oder vermittelt über irgendeine Verstetigung der Feuerkraft, z.B. in den Schildkrötenpanzern, die in chinesischen Orakeltechniken Verwendung fanden.) Warum wollte man in den Flammen des Feuers die Zeichen der Zukunft sehen? Weil sie das Wunder verwirklichen, dass man in ihnen etwas sehen kann, wo sie doch von der Materie stammen, und man bekanntlich in der Materie nichts sehen kann. Die Flammen sind das Paradox einer Materie, die sich durchsichtig macht, indem sie sich von sich selbst ablöst. Man kann in sie hineinschauen (und das unterscheidet sie vom Wasser, durch das man durchschauen kann). Das Virtuelle ist die Materie im Prozess ihrer Transparentwerdung, in der Phase ihrer Entledigung von sich selbst. Daher ist die Faszinationen des Virtuellen immer verbunden gewesen mit den Ideen von höherer Einsicht, von einer Erkenntnis, die nicht an die Beschränkungen und Verzerrungen der Materie gebunden ist – und die doch irgendwie greifbar bleibt (was dann nicht mehr geht, wenn alles Materielle gewichen ist – die volkstümlichen Praktiken, die sich nicht um philosophische Spitzfindigkeiten scheren, waren immer klüger als die philosophische Konsequenz, die zwar recht hatte, dass das zu erkennende Ideale ganz anders sein müsse als die Materie, die aber nicht mehr erklären konnte, wie es denn dann erkannt werden könne; solche Probleme hat eine, die in Handfläche, Kaffeesatz oder im Feuer liest, nicht). Das Funkeln der Edelsteine. Der Schimmer des Kristalls. Es scheint hier etwas anderes vorzuliegen, weil man nicht wörtlich sagen kann, dass sich die Oberfläche von der Materie ablöst, zumindest nicht im selben Sinn wie bei Sonne und Feuer. Edelstein und Kristall sind verwandter mit dem Mond, dessen fahler Schein weniger Abglanz (im Sinn der Abkünftigkeit – denn dass er nur das Licht der Sonne reflektiert, ist eine Entdeckung, die aller Faszination durch ihn weit nachfolgt) ist denn eine eigene Art der Beleuchtung: der Dinge wie des Seins. Der Kristall schließt insofern an das Feuer an, als in seinem Schimmer – vor allem in Gestalt der Kristallkugel – die Formlosigkeit der transparent werdenden Materie ebenfalls als Instrument zur Divination verwendet wird. Und doch ist hier die erdige Komponente, das matte Strahlen aus der Tiefe der Materie selbst heraus stärker; die Materie bleibt in sich zurückgezogen, sie nimmt sich zurück, hält an sich, verausgabt sich nicht wie die Sonne und das Feuer, die ja tatsächlich wortwörtlich in einer Ablösung der Oberfläche bestehen; in Stein, Kristall, Mond wirkt die Sanftheit einer Berührung, die nicht fassen, greifen, grapschen will, sondern nur tasten oder streicheln. Eine Kühle, die nicht Fühllosigkeit ist, sondern Scheu, eine Zurückhaltung, die nicht Mangel an Hingabe ist, sondern eine freilassende, vorsichtige, zärtliche Hingabe. Insofern erfüllt nicht nur die Sonne, sondern auch der Mond eine eminente »epistemologische«

Virtualität

Funktion, und dieser vielleicht sogar mehr als jene. In seinem Licht ist die Materie in der Oberfläche noch präsenter, ist beider Zusammengehörigkeit noch nicht unterbrochen, ist noch kein Raum für die Illusion der Ideen und Idealitäten, ist noch kein Anlass für den großen Irrtum der Philosophie. Das Prangen der Sterne. Ein Sonderfall, weil die Physik dieses Prangens in seiner Erfahrung nicht gegenwärtig ist. Es gibt dieses Prangen überhaupt nur metaphorisch, nämlich als die Abhebung der Lichter vom dunklen Samt der Nacht. Dass die Sterne eigentlich Sonnen sind, kann man sicher denken, auch wenn es für die Erfahrung ihres Prangens keine Rolle spielt. Will heißen, auch wenn ich das über die Sterne weiß, sehe ich doch etwas ganz anderes. Und das deshalb, weil das Dunkel des Alls das Fragezeichen einer Erfahrung von Materie ist, denn was hier dunkel ist, lässt sich nicht mehr denken. Sicher, es gibt eine physikalische Erklärung für die Dunkelheit (die im Übrigen einige Zeit brauchte, um sich aufspüren und durchsetzen zu lassen), aber die hat nun wirklich überhaupt keine Beziehung mehr zu der Erfahrung des lichtlosen Nachthimmels. Er bleibt der Abgrund, in der sich die Materie in ihrer eigenen Abwesenheit, gerade durch ihre Abwesenheit in ewige Finsternis stürzt. Der Nachthimmel ist der ambivalente, beunruhigende Beweis, dass nicht die Materie das Problem ist, sondern ihr Mangel. Das Licht der Augen. Für uns Menschen, für uns andere, ist das vielleicht die wichtigste Form, in der sich uns das Virtuelle präsentiert, und eine, die zu so vielen Irrtümern Anlass gegeben hat. Wenn ich der anderen in die Augen blicke, leuchtet mir von dort etwas entgegen, das mich trifft und in Anspruch nimmt, mich wirklich werden lässt (weil es mich aller Vertretbarkeit beraubt, wie es Levinas so eindringlich beschreibt). Im Licht des Auges der anderen wird sie mir selbst durchsichtig, offenbart sich mir ihr Sein als das eines Körpers, das im Durchgang einer Transparentwerdung ist, in den gewissermaßen durch die Augen ein Licht einfällt, das ihn auflockert, aufbricht wie Gestein, ihn einer Durchlässigkeit, einem »Spiel« der Teile öffnet, die es mir erlauben, in die Tiefe seines körperlichen Seins hineinzublicken. (»Spiel« im mechanischen Sinn.) Zugleich, diese Transparentwerdung gibt es nur so, nur als diesen Prozess, nicht als ein abschließbares oder ideales Ziel des Menschen, sondern als die Virtualität, die in die leibliche Organisation (nicht etwa den »Geist«) des Menschen eingeschrieben ist. Und den Blick in seine Tiefe gibt es auch nur dort, im Blick in die Augen. Dass ich dort »nichts« sehe, nämlich nichts Genaues, Festes, Formhaftes, kein Wesen und keine endgültige Wahrheit, manchmal aber, gewiss!, die Wahrheit eines Moments, eines Entschlusses, einer Liebe, einer Freundschaft, eines unversöhnlichen Hasses – dass es also dort nichts »objektiv« zu erkennen gibt, meint doch nur, dass es nur dies gibt: den Blick in die Tiefe des Auges. Und es gibt eben keine Tiefe »hinter« oder »unter« dieser Tiefe, keine Tiefe, die weiter reicht als der Blick in die Augen, keinen Brunnen, der unabsehbar in verborgene Abgründe führt. Das heißt nicht, dass die Menschen alle platt sind, eindimensional, einfältig, flach; sondern es meint, dass diese »Verlängerung«, die ich meinem Blick bis ins Unsichtbare geben will, einem Irrtum aufsitzt: dem Irrtum, dass es unbedingt ein sicheres Maß geben müsse, eine Form, eine Gewissheit, einen Stand, die ich dort finden muss, wenn ich sie hier, im Blick in seine oder ihre Augen, nicht zu finden vermag. Aber alles, was ich über ihn oder sie wissen kann, ist da, in den Augen. Dass das keine sichere, endgültige Erkenntnis gibt, wer kann dafür? Vielmehr ist es eine ontologische Notwendigkeit, dass es dort keine weitere Tiefe gibt, dass es im Wortsinn keine seelischen Abgründe geben

301

302

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

kann. Es ist ein Beispiel jener Bündigkeit, Kompaktheit, die in sich abgeschlossen ist, ohne dass man ihr Maß bestimmen könnte, und die »ganz« ist in einer Weise, dass jede Frage nach ihren Teilen, Aspekten, Elementen, Grundbestandteilen, Momenten, erst recht die nach einer weiteren, »höheren« (oder »tieferen«) Begründung nur in die Irre führen kann. Und in die Irre hat sie geführt, dann nämlich, wenn man suchte, diese Tiefe, die sich im Licht des Auges öffnet, auszuleuchten, ihre Andeutung als Beginn einer vielleicht unendlichen Linie zu lesen, um sie weiterzuverfolgen,2 in ihr die Andeutung, das Anzeichen, die Abbildung, das Symbol einer tieferen und anderen Wahrheit zu erkennen, wenn man, philosophisch gesprochen, suchte, diese Tiefe zu hypostasieren. Dann nannte man sie Seele und fragte sich, ob sie wohl unsterblich sein könne. Womit im Übrigen ein Kriterium für einen korrekten und fruchtbaren Gebrauch des Worts »Seele« erbracht ist: Man verwendet das Wort richtig, wenn man die Frage nach der Sterblichkeit oder Unsterblichkeit nicht stellen kann. Wir dürfen also von der Seele sprechen, und wir sind ganz im Recht, wenn wir im Licht der Augen meinen, die Pforte zur Seele zu sehen. Falsch wäre es aber, die Augen für den Spiegel der Seele zu halten, wie es der Volksmund will, denn das würde eine erneute Verdopplung dort einführen, wo keine sein darf. Im Licht der Augen vollzieht sich die Ablösung einer Oberfläche von der Materie, vollzieht sich die Sonderung des Leibes vom Körper, aber beim anderen (etwas, was die Phänomenologie klassischerweise niemals zugelassen hätte), erschließt sich konkret die Virtualität des Menschen als etwas ganz anderes als »Möglichkeit« oder selbst »Bewusstsein«, erst recht nicht »Denken«. Die Faszination des Auges ist zuerst ungebrochen. Sie ist nicht ambivalent. Freilich, ihre Wirklichkeitsmacht kann erdrückend werden, so dass sie mich fast überfordert: Das Auge trifft mich, ich bin ihm ausgeliefert, es fordert mich unerbittlich ein. Daher fordert andererseits die Dezenz menschlicher Gesellschaft, dem anderen nicht zu lange direkt in die Augen zu blicken. In der Dringlichkeit des Blickes liegt immer etwas Überwältigendes. Wir werden aber Zeugen einer gewissen »Ambivalenz«, oder besser: ihrer Entstehung, wenn wir die »Augen« von Spinnen oder Insekten betrachten. Denn hier fehlt die Tiefe. Bei diesen Wesen vollzieht sich die Virtualität nicht im Auge, vielmehr ist dieses zwar glänzend, aber genau so wie der Glanz eines ausgeschalteten Fernsehers: als schwarze, reflektierende Oberfläche, die sich abhebt, doch nur um von einer Abwesenheit zu zeugen. Das Auge der Spinne sagt nichts, ist auch nicht, wie das menschliche, Vorbereitung zu einem ersten Wort, sondern zeigt nur auf die Abwesenheit der Tiefe. Daher sind uns diese Tiere oft so unheimlich: Ihr Auge ist wie die teuflische Parodie des unsrigen, und als solches stellt es an uns die Frage, ob wir uns sicher sein können, dass es bei uns anders ist. Fäulnis. Einer Supernova gleich drängt das Leben noch einmal hinaus, bevor es erlischt. In einer letzten Steigerung erreicht es den fiebrigen Glanz, der unsicher zwischen den Welten schillert: hier noch im Leben, dort schon der Zersetzung anheimgegeben. Der Fäulnisglanz ist die Ablösung des Lebens von der Oberfläche des Lebendigen im Augenblick einer letzten Anstrengung, beide zusammenzuhalten.3 2 3

Vgl. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Nummern 218. 228. 229. Vgl. Kolnai: Ekel. Z.B.: »Bereits hier begegnet uns eine Beziehung des Ekels zum positiv Vitalen, zum Bewegungshaften. Unzweifelhaft gesellt sich zum Erlöschen des Lebens in der Fäulnis auch eine

Virtualität

Die Welt der Bilder. In Bildern wird ein neuer Raum auf der Oberfläche eines Körpers im wirklichen Raum gestiftet. Hier löst sich ebenfalls, und nicht erst in der Zentralperspektive, die Oberfläche von der Materie ab, denn ich sehe zwar auf die Felswand, auf die Leinwand, auf das Blatt Papier, aber ich sehe zugleich durch sie hindurch, auf eine Wirklichkeit, die sich von ihnen ablöst, die sie hinter sich lässt, sie dementiert, sich ausnimmt von ihnen. Die sich auf ihnen als etwas anderes als sie erfindet und setzt. Und auch die Bilder haben eine solche Faszination: Wir sind von ihnen gebannt, wollen hinblicken, nein: können wohl oft nicht anders. Vor allem dann, wenn die Bilder jene andere Virtualität aufnehmen: die der Augen: Dem Betrachter scheinen die Augen einer porträtierten Person überallhin zu folgen. Sie werden gewissermaßen zum Herdfeuer der Virtualität, durch die schiere Überdrehung: eine Virtualität, die sich in einer anderen setzt. Eine unüberbietbare Intensivierung. Der Fluchtpunkt in perspektivischen Bildern lässt sich damit erklären: Es ist keineswegs so, dass er einfach die geforderte Verlängerung der Linien ins Unendliche wäre, die sich aus der Konstruktion des Bildraumes als eines dreidimensionalen ergibt; das stimmt auf einem gewissermaßen technischen Level. Aber seine eigentliche Kraft entlehnt der Fluchtpunkt der Tatsache, dass er das menschliche Auge ist, das in den Raum selbst hineinprojiziert wurde. Er ist eine Analogkonstruktion zu der Erfahrung der Virtualität des Auges des anderen (in der Wirklichkeit und dann auch im Bild). Ich meine also ganz wörtlich, erstens dass der Fluchtpunkt das Auge ist, aber das des anderen (nicht etwa eine Projektion des Betrachters oder ähnliches) und zweitens dass dieses Auge des anderen ohne den anderen und ohne seinen Körper, als reines Auge im Bildraum anwesend wird durch den Fluchtpunkt. Der Fluchtpunkt ist ein Auge ohne Körper und ohne Auge. Reines Auge, reine Blickfunktion, aber gebändigt und domestiziert als »gemalt«. (Oder eben nicht gemalt, denn den Fluchtpunkt als solchen kann man ja nicht malen.) Der Fluchtpunkt ist die Virtualität des Bildraums, denn in ihm rückt der Raum hinaus, ins Unendliche. Er wird offen. Man könnte immer noch weiter gehen. Hinter den Bergen, hinter dem Horizont, ist eine Welt. Die Virtualität des Fluchtpunktes besteht eben darin, dass er flüchtet: ungreifbar, nicht feststellbar. Noch so ein Wirbel… Dagegen haben Spiegel gerade keine Virtualität. Sie haben weder Fluchtpunkt noch Auge. Der Fluchtpunkt des Spiegels ist immer da, wo ich im Weg bin. Ich kann ihn unmöglich sehen. Und das Auge, das ich im Spiegel sehe, ist meines. Und in meinem Auge kann ich die Tiefe des Auges des anderen nicht sehen, alles, was ich tun kann, ist, sie dort vergebens zu suchen.4 Der Spiegel ist gerade nicht eine Materialität, die sich ablöst, son-

4

gewisse – recht merkwürdige – Lebenssteigerung, eine erhöhte Kundgabe dessen, dass überhaupt Lebendiges ›da sei‹. Dies bezeugen der mit der Fäulnis auftretende oder erstarkende Geruch, die oft grelle Verfärbung, der ›Fäulnisglanz‹, das ganze Phänomen des ›Stürmischen‹ in der Putrefaktion.« (30) Das Ekelhafte der Zersetzung hat seine eigene Schönheit, berückend, zu nahe rückend, mit einem Glanz, der unverwechselbar nur diese Grenze selbst, die Schwelle des Lebens bezeichnet, und zwar die »hintere« Schwelle, dort, wo das Leben fast in etwas übergeht, wofür uns zwar ein Wort zu Gebote steht, das wir aber deshalb noch lange nicht denken können. Auch: »Es stimmt vollkommen dazu, wenn die Korruption meist auch einen Fäulnisglanz, eine Scheinblüte zeitigt: eine gewisse Art von Regsamkeit, Spekulation, eine buntschillernde Oberfläche von Qualitäten, Novitäten, Scheinwerten aller Art, die die dumpfe Allmacht des Mammons bedeckt.« (46) Vgl. Lipps: Die menschliche Natur. 28: »Sich selbst erblicken hieße: sich selbst ins Gesicht, d.i. ins Auge sehen. Was irgendwie unmöglich ist. Man kommt sich merkwürdig fremd vor im Spiegel.

303

304

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

dern nur eine, die zurückwirft – und zum Zurückwerfen muss etwas eben massiv sein. Der Spiegel ist das exakte Gegenteil der Virtualität. Das ist wiederum ein gutes Zeichen, denn alle Philosophie (und alle Literatur), die es zu sehr mit den Spiegeln hat, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, doch wieder nur in der langweiligen Suppe der Selbstreferenzialität zu schwimmen. Die Aufdeckung der Bezugnahme von etwas oder jemand auf sich selbst ist immer gut für einige Effekte, sowohl im Theoretischen wie in der Unterhaltungskultur (in Büchern und Filmen). Es ist aber letztlich eine Art Verweigerungshaltung gegenüber den eigenen Fragen, eine Feigheit, nicht vor dem Feind, aber vor der Wirklichkeit, die sich durch ihre Virtuosität zu entschuldigen weiß, die aber – wenn Denken eine Ethik hat – am Ende unentschuldbar bleibt. Im Übrigen sind es immer gewisse Moden, in denen die Spiegel und die Selbstreferenzialität zum großen Gebot des Tages erkoren werden – Moden, die glücklicherweise auch wieder rumgehen. Dass die Prozesse der Virtualisierung, wie sie die Technik ins Werk setzt und wie sie oben beschrieben wurden, ebenfalls hierher gehören, ist unzweifelhaft. Immer ist die Virtualität die Bewegung der Materie (richtiger: die Bewegung, in der und aus der Materie ist), in der sich eine Oberfläche von ihr ablöst. Diese Bewegung mag sich auf verschiedenen »Ebenen« des Seins antreffen lassen, das heißt noch lange nicht, dass es einfach überall »dasselbe« ist. Im Gegenteil bilden diese Ablösungen jeweils verschiedene und irreduzible Bereiche aus. Und sicher ist kein Anlass, Natur und Technik, Natur und Kunst, Natur uns Künstlichkeit gegeneinander ausspielen zu wollen. Templum. Es lässt sich eine einfache Bedingung benennen, die erfüllt sein muss, damit eine künstliche, d.h. menschlich hergestellte Virtualität sich auf die natürliche aufpfropfen kann: die Umgrenzung. Es handelt sich um eine Umgrenzung, die zwei Aspekte umfasst: einen gegenständlichen und einen situativen, wobei beide sich im Geschehen der Virtualisierung vermengen können. Die situative Umgrenzung ist die des Zeremonienmeisters, der die Gäste begrüßt, sie heißt einzutreten, ihnen eröffnet, dass ein Schauspiel bevorsteht. Sie ist aber auch oft in der Architektur oder sozialen Situation oder dem Kontext selbst gegeben, dann unausgesprochen. So ist eine Kirche Ort ganz bestimmter magischer Handlungen, und etwas, das im Museum steht, ist genau dadurch als »Träger« einer spezifischen Virtualität gekennzeichnet. Gegenständlich umgrenzt ist die Sache, die dann eine Virtualität entlassen soll, im Horizont der situativen Umgrenzung, die bald vorhergeht, bald aus der gegenständlichen Umgrenzung und ihrer Virtualität entsteht. Der lateinische Begriff des »templum« meint zuerst nicht ein sakrales Gebäude, sondern einen Ausschnitt am Himmel oder auf der Erde, den der Augur mit seinem Stab so umzirkelt hat, dass er als jener Bereich dienen kann, auf dem und aus dem sich die Bewegungen etwa der Vögel als Zeichen lesen lassen. In diesem Begriff treffen sich also der situative wie der gegenständliche Aspekt und zeigen die Entstehung des menschlichen Prozesses von Virtualisierung an.

Optik zwingt hier den Blick, gleichsam ins Leere vorzustoßen, sofern der – formal – andere nur seine gleichsinnige Verdoppelung ist, dem Blick mit dem Gegenblick auch der Gegen›stand‹ versagt bleibt. […] Entsprechend fremd klingt aber auch die eigene Stimme aus dem Grammophon. […] Ich kann nicht mich selbst vernehmen.«

Virtualität

Diese Aspekte bedingen sich gegenseitig. Ich kann eine Statue als Kunst erkennen, weil sie im Museum steht. Doch begegnete ich einer Statue in freier Natur, so würde sie von sich aus ihre Umgebung in einen Schau-Raum organisieren. Zugleich kann sie das, weil gerade bei der Bearbeitungsform, die sich etwa als Bildhauerei präsentiert, die Oberfläche noch nahe an der Materie zurückgehalten wird. Dieser Virtualität eignet eine höhere Dichte als anderen Formen. Hier ist es das Ding, das in seiner materiellen Umgrenzung den Tempel sichtbar um sich herum baut. Anders etwa in der Fiktion: In der Literatur ist es die materielle Form selbst, die die situative Umgrenzung gibt: z.B. das Buch als Gegenstand; oder die rituelle Einleitung einer Geschichte: »Es war einmal«, »Kommt ein Pfarrer in eine Kneipe«. Allerdings sind die Formen so bekannt, dass eine rituelle Einleitung oft überflüssig ist. Die gegenständliche Umgrenzung ist die konkrete Gestalt des Textes, gleich ob als erzähltem oder geschriebenem. In ihm und von ihm löst sich die Oberfläche ab, einmal als ein »Sinn«, d.h. als Transport von etwas, was nicht in den Worten steht; und dann nochmal als »Fiktion«, d.h. als Transport von etwas, was weder in den Worten noch in den Dingen steht. Die Fiktion ist demnach eine Virtualität zweiter Stufe, weil sie nicht nur eine Ablösung von Oberfläche ist, sondern sich in dieser Ablösung noch von den Bedingungen der Ablösung abwendet. Manchmal ist diese doppelte Ablösung ausdrücklich vollzogen. Da aber die Virtualität in aller Sprache steckt, ist die Ablösung des Fiktiven immer möglich und nicht immer gleich gut erkennbar, mit anderen Worten: Die Versuchung der Unwahrheit steckt in der Sprache als solcher. Die situative Umgrenzung ist der Versuch, diese Abdrift des Unentschiedenen in die sichere Fahrrinne des Nicht-Wirklichen umzulenken. Eine grundlegende gegenständliche Umgrenzung, die die Virtualität des Klanges aus sich entlässt, ist die Wiederholung, zuerst die rhythmische und erst dann auch die melodische oder harmonische. Es geht aber nicht um Kunst, zumindest nicht primär. Kunst ist nur eine Form, in der sich diese Virtualität gibt. Auf einer anderen Seite klärt sich hingegen die unheimliche Wichtigkeit aller Rituale, aller Anfangs- und Schlussformeln, die bei rituellen Handlungen (sakralen Charakters) sogar das Gelingen der Handlung selbst entscheiden – und da geht es noch um etwas, denn das Fehlschlagen kann z.B. dazu führen, dass der Geist einer Verstorbenen ruhelos und böswillig um mich und uns herumstreicht. Magie, eine Therapiestunde, eine Parlamentssitzung, sie sind alle angewiesen auf eine ritualisierte Markierung von Anfang und Ende. Nur dann kann das Geschehen der Virtualität seine Wirksamkeit entfalten. Die Umgrenzung fängt ein, was von der Materie ausgesandt wird, was sich von ihr ablöst; sie fungiert als Netz, als Raster, als Kanal ihrer geordneten Einspannung »für anderen Zwecke«. Daher sind Wiederholungen oder Ritualisierungen so wichtig, weil sie die Reißfestigkeit des Netzes sicherstellen. Die magischen Praktiken wussten das: Wenn das Ritual fehlschlägt, dann wird die Energie, die man binden und sich untertan machen wollte, freigesetzt, mit unabsehbaren Konsequenzen. Nur dass die Magie diese Prozesse viel zu verkopft dachte, viel zu theoretisch, nämlich nach dem Modell eines Geistes oder Bewusstseins, mit Absichten und Zwecken. Die Magie denkt also gerade nicht zu primitiv, sondern im Gegenteil nicht primitiv genug. Was in Wahrheit freigelassen wird, wenn das Ritual nicht klappt oder wenn die Kunst scheitert, ist nur die materielle Ablösung als solche. Es ist eben das Scheitern des Fischers, dessen Netze gerissen sind. Die

305

306

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Fische gehen dann wieder ihre Wege. Und so auch alle unsere körperlichen Prozesse, mit dem Sprechen angefangen. Sprache ist ganz offenkundig virtuell. Artikulation ist genau die Tatsache, dass dazu eine gegenständliche Umgrenzung nötig ist. Und kein Sprechen ohne Situation, und wo außerhalb der passenden Situation gesprochen wird, da wird die Rede unverständlich, ganz konkret und im engen Sinn. Weil alle Sprache, alles Sprechen virtuell ist, und das heißt nicht-lokalisierbar, wird auch deutlich, was die falschen Konzepte von »Ausdruck«, von »Gedanken« etc. sind: Sie sind Versuche, das Nicht-Lokalisierbare der Sprache zu lokalisieren. Aber ebenso ist es falsch, dass Sprache ganz äußerlich ist, dass alles nur da draußen ist. Diese Position ist zwar richtiger, aber auch sie sitzt dem Fehlschluss auf, dass etwas, nur weil es materiell ist, auch lokalisiert werden können müsste. In der Tat ist Sprechen eben die Bewegung der Abhebung der Oberfläche (die wir dann z.B. »Sinn« nennen, der wahlweise im Bewusstsein oder in den Worten oder irgendwo dazwischen fehllokalisiert wird). Man kann also drei Stufen unterscheiden: erstens die Aussendung und Ausstrahlung, in dem sich Materialität schon von sich aus verwirklicht, die zurückgenommen sein kann, die verschiedene Grade haben kann – Grade, die von der Temperatur, d.h. von der Bewegung selbst abhängen. Das mag alles spekulativ klingen, und es ist doch nur eine umständliche Formulierung für die grundlegende Tatsache, dass Materie schon von sich aus Bewegung ist. Der Nullpunkt dieser ersten Ablösung wäre die Erstarrung der Welt – die die Physik bezeichnenderweise erst am idealen Endpunkt aller Bewegung zu denken vermag: Endstation Entropie. Zweitens die künstliche Virtualität, die die doppelte Umgrenzung voraussetzt. Was dadurch möglich wird, ist nicht einfach nur die Ablösung von Materie, sondern von einer kohärenten Oberfläche. (»Kohärent« hier als Adjektiv zu »Kohäsion« und nicht etwa zu »Kohärenz«.) Es ist diese Ablösung einer Oberfläche, die andere Effekte möglich macht, weil das, was sich ablöst, anders als auf der ersten Stufe, selbst kompakt bleiben kann, »etwas« ist – so dass es zu einer Entgegensetzung zwischen Körper und Oberfläche kommen kann. Drittens die Virtualität zweiter Stufe: Das sind vor allem Magie und Fiktion. (Die Lüge hingegen ist ein Phänomen der ersten Ebene künstlicher Virtualität.) Phantasie und Imagination gehören aber nicht hierher, zumindest meistens nicht.5 Das mag verwun-

5

Ich unterscheide für die vorliegenden Zwecke nicht zwischen den beiden Begriffen. Richir verwendet die Imagination für etwas, was sich deutlich dem annähert, was ich als Fiktion bezeichne, also alle irgendwie geordneten, kohärenten, artikulierten Erzeugnisse der »Einbildungskraft«, solche, von denen man dann berichten kann. Dagegen behält er den Begriff der Phantasie dem Wuseln und Brodeln der Erscheinungen vor, die diesseits einer festen und wiederholbaren Gestalt ebenso ungreifbar wie grundlegend im transzendentalen Bewusstsein fungieren. Gerade für Richirs Versuch, eine Theorie der Intersubjektivität vorzulegen, die nicht an den alten Problemen von Vorstellung oder Einfühlung scheitert (die die Intersubjektivität also nicht als ein theoretisches Problem begreift), spielen die Phantasiai eine zentrale Rolle; vgl. Richir: Phantasia, imagination, affectivité. Richirs Analyse sind wertvoll; seine besondere Stärke liegt gerade darin, das Flüchtigste des Bewusstseins so zu benennen, dass seine Unverzichtbarkeit und sogar sein Grundlegungscharakter sichtbar werden. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Richir würde aber von dem hier allein leitenden Gesichtspunkt abbringen.

Virtualität

dern, doch ihnen fehlt exakt das Moment der Umgrenzung, das eine kohärente Ablösung möglich werden lässt; ihnen mangelt dadurch jede ontologische Konsistenz. Was nicht dasselbe ist, wie zu behaupten, dass sie nichts wären. Eine Tagträumerei, eine kleine Erinnerung, die vielleicht gar keine ist, ein Phantasma, das sich auflöst, fast schon bevor es angefangen hat, ein Bild, das einem Blitz gleich aufstrahlt, eine kurze Helligkeit hinterlässt, nur um ohne alle Erinnerung zu verblassen: Sie alle sind, existieren, und manchmal, unvorhersehbar haben sie Konsequenzen, die »in ihnen« nicht liegen konnten. Sie sind für sich genommen aber nur eine Regung der Seele, ein Schäumen, eine Eruption. Sie haben gerade keine Verwandtschaft etwa mit einer Erzählung oder einem Gemälde, noch nicht einmal mit einer Tatsachenfeststellung. Sie sind vielmehr die Art, wie die Virtualität erster Stufe, die Ablösung einer Oberfläche ohne Fokus und Richtung, von jenem natürlichen Wesen vor sich geht, das wir Seele nennen. Eine flüchtige Phantasie unterscheidet sich strukturell nicht vom Züngeln einer Flamme. Will man hingegen eine Art subjektiver Kraft oder ein Vermögen daraus machen, sitzt man wieder einem Irrtum auf. So eine Einbildungskraft als unterscheidbares Vermögen mit eigenem Zuständigkeitsbereich und Tätigkeitsprotokollen ist das Figment einer Fiktion, die sich nicht veräußerlicht, die also lokalisierbar bleibt. Das kann mal vorkommen, aber das ist erstens nicht das ursprüngliche Phänomen, sondern im Gegenteil die Eingrenzung eines expansiven Geschehens, das die Grenze zwischen Innen und Außen nicht kennt. Zweitens ist das nicht nur kein regelmäßiges oder gar grundlegendes Phänomen; vor allem geht die Deutung als »subjektives Vermögen« gänzlich fehl. Solche »Vermögen« gibt es immer nur als Erzeugnisse einer Gewohnheit, Einübung, Erfahrenheit. Bildete sich jemand auf seine so verstandene Einbildungskraft etwas ein, so müssten wir im Gegenteil nur eine Einschränkung und Behinderung diagnostizieren. Hier wie überall ist das erste Geschehen das einer Expansion und eines Über-sich-selbst-Hinausgreifens, weshalb ja die ganze Frage, wie denn das Bewusstsein zu seinen Gegenständen oder gar zur Realität komme, völlig verfehlt ist. Das »Bewusstsein« ist längst dort, über sich hinaus;6 die Deutung von Phantasie und Imagination als einer zuerst privaten Angelegenheit, die dann noch so oder so ausgedrückt oder verwirklicht werden kann, verfehlt nicht nur Phantasie und Imagination, sondern das gesamte »Bewusstseinsleben«. Es gibt natürlich einerseits die Phänomene, in denen ein Bild etwa nur flüchtig aufblitzt und auf Nimmerwiedersehen verschwindet; es gibt andererseits auch einen Bruch, wenn die Phantasie sich »veräußerlicht«. Aber das Brodeln der Bildern und Gedanken und Erinnerungen und Phantasien und Worte muss auf der einen Seite als die materiale Verwirklichung der Seele selbst angesehen werden, eine ständige Aussendung, Ausstrahlung, Virtualität eben, die sich nur tausendfach erschöpft, bevor sie sich fest gebildet hat, den Gestalten gleich, die ein Bach hier und dort auf seiner Oberfläche immer fast ausbildet, oder den Ähnlichkeiten ähnlich, die uns die Wolken suggerieren; tausendfach erschöpft sich diese Bildung, bevor sie wirklich Bild wird; und hunderttausendfach behindern sich die Bildungen gegenseitig, steigen übereinander auf der Suche nach einem festen Halt, wie Ertrinkende: Gemäß der tiefen Einsicht Spinozas, dass jede Idee ihre eigene Affirmation, ihr Gedacht-werden-»Wollen« beinhaltet, ihre Wirklichkeit, und nur 6

Nach Richir, wie schon angedeutet, sogar und gerade in der Gestalt der Phantasia, in der ich unmittelbar beim anderen bin, und das auf der fundamentalsten transzendentalen Ebene.

307

308

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

von anderen Ideen an ihrer Selbstsetzung gehindert wird. Spinozas Konzeption braucht ebenso wenig wie unsere irgendeine letzte subjektive Instanz, die entscheidet, welche Ideen wirklich werden: Das machen die schon untereinander aus. Andererseits ist der Bruch nicht in mir oder an meiner Grenze. Der Bruch, in dem sich die vielgestaltige Phantasie zur wiederholbaren Geschichte (oder zum abbildbaren Bild) festigt, dabei ihre Natur von Grund auf wandelnd, ist der der Sprache, der Konventionen, Traditionen, Denkstile. Und diese Grenze ist nicht die zwischen mir und dem Rest der Welt, sondern sie ist sowohl in der Welt, insofern sie sich eben in den Denkkollektiven verkörpert und tagtäglich sowohl reproduziert wie verändert; sie ist zugleich in mir, insofern die Denkstile mit all ihren Erfordernissen, Ansprüchen, Normen in mich eingelassen sind.7 Wo die Sorge um diese Erscheinungen zum Kult gedeiht, drohen Gefahren. Es droht der Verlust von Realität, der eigenen, der der anderen und der geteilten. Man muss sich nur an Heraklit erinnern: Im Wachen teilen wir eine Welt, im Traum wendet sich ein jeder seinen eigenen zu.8 Traum, Fiktion, Imagination sind, solange sie nicht materialisiert werden, Verstiegenheiten, die drohen, sich im Nichts, nämlich im Innern der Menschen zu verlieren. Man verliert sich selbst, indem man die Berührung zum Außen verliert, und man verliert auch bald den Faden, denn im Innern gibt es keine festen Bezugspunkte, keine Marksteine. Alles schwimmt und vergeht. Das, was wir »drinnen« haben, ist ursprünglich nur die »uns« zugewandte Seite unserer Grenzen (denn alle Grenzen sind selbst ausgedehnt). Die Reibung der Seienden bringt all das »in uns« hervor, indem es uns hervorbringt (d.h. wir sind Produkte dieser Beiprodukte des Seins). Sobald sie für sich stehen sollen, knicken sie ein und fallen zu Boden. Es fehlt ihnen die Ossatur. Daher die chronische Ungreifbarkeit, Unzuverlässigkeit dieses »Innen«, Wolken gleich, die jedem Zugriff entweichen. Es ist also wahr, es gibt so etwas wie ein Innen. Aber das gibt es nur als Verzerrung und Verstellung von etwas, das manifest, greifbar, halbwegs »identisch« nur als Reibungsprodukt an der Grenze existiert, die wir sind. In dem Moment also, in dem wir uns dem Innen zuwenden, von dem Innen sprechen, haben wir die wahre Seinsweise dessen, was wir damit meinen, schon verloren. Das eigentlich Rätselhafte an der Fiktion, an der disziplinierten und durch Rahmen stabilisierten Imagination, ist der uneindeutige Charakter dieses Rahmens selbst. In ihm verdichtet sich die doppelte Richtung des Geschehens, denn er muss, soll er seine Funktion erfüllen, zu beiden Seiten gleichzeitig gehören, zur Welt der seelischen Virtualität und zu ihrer Potenzierung in der Fiktion. Die magische Formel, der Rahmen des Gemäldes, der Vorhang, der sich hebt: sie alle sind Teil der materiellen Realität, und sie sind das, wovon sich die Virtualität des Fiktiven abhebt. Sie ermöglichen es, dass auf dem Leib des Schauspielers ein anderer erscheint, ohne dass diesem Leib etwas hinzugefügt werden müsste oder könnte. Hier, in diesem Übergang, geschieht etwas, was sich

7

8

Richir spricht von der »institution symbolique«, worin die »Institution« dezidiert als Akt gelesen werden muss, was in dem anderen, fast gleichbedeutenden Ausdruck der »Einsetzung der Idealität« (»institution de l’idéalité«) deutlicher wird. Dies jedenfalls erfüllt in etwa dieselbe systematische Funktion wie das, was ich hier beschreibe. »Die Wachen haben eine einzige gemeinsame Welt [koinos kosmos]; im Schlaf wendet sich jeder der eigenen zu.« (Fragmente. 28f. B 89)

Virtualität

mit herkömmlicher Logik nicht beschreiben lässt.9 Andererseits muss man auch hieraus kein Mysterium konstruieren: In der Tat ist dieses Ereignis, in dem sich die Virtualität der Fiktion aus der Welt der Materie und selbst noch der Worte löst, ein Neueinsatz. Etwas Neues, anderes setzt ein. Man kann das als Bruch beschreiben, und das ist auch richtig, denn ontologisch gibt es hier eben keinen Übergang. Das hindert aber nicht, dass der Einsatz dieses Neuen in der Realität auch sehr dezent sein kann, so dezent wie der Einsatz von Beethovens Neunter. Die ersten Malereien kannten noch keinen Rahmen. Auf der Oberfläche der Felsen, die man vor sich hatte, ließ man etwas anderes beginnen, irgendwo, wo eben die Hand gut hinreichte, und von hier aus transformierte sich die Oberfläche erst zur Unterlage. Das ziellose und selbstgenügsame Herumspielen mit Stöcken und Steinen wird früher oder später ganz von selbst den Rhythmus finden, und aus einem Ästchen nachträglich einen Schlegel gemacht haben. Das Geheimnis dieses Übergangs, in dem nicht nur Neues erfunden, sondern auch Altes transformiert wird, verdichtet sich im Signal, im Rahmen, in der Umgrenzung, wenn sie einmal gefunden und eingesetzt sind. Ihnen kann dann in der Tat keine ontologische Eindeutigkeit mehr zukommen – als wäre das sonst je geglückt! Nach diesem Umweg ist verständlich, wie die Technik und ihre Virtualität hierhergehören. Was oben beschrieben wurde, sind nur weitere Prozesse der Virtualisierung von

9

Erstaunlich, wie Luhmanns Beschreibung der autopoietischen Systeme auf nichts in der Wirklichkeit zutrifft, außer eben auf die dergestalt systematisierte Imagination. Nur sie bildet ein System, das durch Differenzierung abgeschlossen ist und von dessen Innenraum her keine Einsicht in das Außen zu erlangen ist. Das Außen des Theaterstücks kann maximal als die Fremdreferenz der Figur auftreten, die darüber sinniert, wie wir alle Schauspieler unseres Schicksals sind. Die Symphonie endet am Taktstock des Dirigenten, die selbst (weder Dirigent noch Taktstock) nicht zur Musik gehören. Die Töne wissen nichts von ihnen. Doch ist eben das noch ungenügend. Es steht immer die Vorstellung im Hintergrund, dass die Grenze zwischen den Systemen und daher auch zwischen der Imagination und der Realität einer Linie gleicht: ohne Ausdehnung. Dann kann es natürlich keine Kommunikation zwischen den Systemen geben, und der Konstruktivismus hat recht. Es ist nun aber keine Grenze unausgedehnt. Jede muss, soll sie wirkliche Grenze sein, auch selbst etwas Wirkliches sein. Sie ist daher der Ort des Übergangs noch zwischen Inkommensurablem. Ein Freihafen zwischen den Welten. In Wahrheit ist diese Grenze deshalb auch gar nicht zwingend am Rand der Systeme; sie kann sich vielmehr in sie hinein aussäen. Das geschieht z.B., wenn die Stadt Paris in einer Erzählung auftaucht. Ist sie dieselbe wie die reale Stadt? Luhmanns Position ist hier so einfach wie bestechend: Da hier wie dort »Paris« nur der Name einer Fremdreferenz ist, brauche ich doch nach nichts anderem zu fragen, denn sie treffen sich in genau dieser Funktion einer Referenz aufs Gleiche. Ob es jenseits der Referenz noch zu einer Übereinstimmung kommt, ist eine Frage, die die Abgeschlossenheit der Systeme übersieht. Freilich ist diese Antwort nur eine Ausflucht. Die Wahrheit ist, dass »Paris« im Roman immer schillert zwischen der realen und der imaginären Stadt. Jede »Referenz« auf Reales nimmt es auf sich, die Uneindeutigkeit des Rahmens, der Umgrenzung als solcher zu verwirklichen und damit ins Imaginäre hineinzutragen. Nicht der geringste Reiz der Literatur beruht darauf. Das bleibt auch Luhmann nicht verborgen, doch erstens ist das für ihn eher das Kennzeichen der Literatur als Unterhaltung, und zweitens denkt er gemäß seinen Voraussetzungen die Unterscheidung immer und an jedem Punkt als eine eindeutige: »Und es ist vor allem diese Richtung der Unterscheidung von realer und fiktionaler Realität, die den Unterhaltungswert der Unterhaltungskommunikation produziert. Der ›Witz‹ der Unterhaltung ist der ständig mitlaufende Vergleich […].« (Die Realität der Massenmedien. 114)

309

310

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Materie im Werk der Kultur. Damit wird die Virtualität im engen, heute vorherrschenden Sinn in diese Geschichte eingereiht; und auf der anderen Seite wird Natur als etwas verständlich, was schon von sich aus die Ablösung von Oberflächen praktiziert. Weder ist das Smartphone das Telos noch ist es das ganz Andere der Natur; es ist etwas, was möglich ist auf der Basis der Funktionsweise von Natur, was aber in der vormenschlichen Natur deshalb noch lange nicht irgendwie enthalten war, und sei es »virtuell«. Virtualität lässt sich auf allen »Ebenen« des Seins aufdecken, doch agiert sie immer irreduzibel anders, ganz einfach, weil sie je anderes hervorbringt. Im Übrigen kommt man hier mit einer Moralisierung von Natur und Technik nicht weiter. Ein Beispiel immerhin sollte noch angeführt werden. Die Virtualität des Geldes. Die Manie des Kapitals. Marx‹ Analyse des Wertes zu Beginn des Kapitals führt darauf, dass alle Versuche, eine »realistische« Werttheorie zu entwickeln, zum Scheitern verdammt sind, d.h. alle Werttheorien, die meinen, es gebe irgendeine »natürliche« Grundlage des Wertes. Dabei führt Marx auf zwei Einsichten: Erstens ist Geld nicht identisch mit der Materialmenge, die etwa in einem Gulden verarbeitet wäre. Das ist für sich noch keine Neuigkeit, doch Marx‹ Begründung ist entscheidend: Man muss gleichzeitig zwei Seiten im Auge behalten, die erst zusammen das Funktionieren des Geldes erklären können. Einerseits nämlich ist ja schon der Umstand, dass z.B. Gold einen Wert hat, nicht selbstverständlich. An sich ist Gold so nutzlos wie viele andere Metalle (oder so nützlich – wenn man nämlich irgendeine Form von Verarbeitung dabei im Auge hat). Dass Gold also (oder andere Metalle) als Äquivalent von Wert auftreten kann, setzt schon die Entscheidung einer Gesellschaft voraus. Dabei ist die Wahl freilich nicht ganz willkürlich: Der große Vorteil von Metallen (und vor allem weichen) ist die beliebige und gleichmäßige Aufteilbarkeit und die fast grenzenlose Haltbarkeit, die z.B. für Tiere oder Lebensmittel nicht gelten. Aber es bleibt dabei, dass eine Gesellschaft erst setzen muss, dass Gold oder Silber wertvoll ist. Und sie muss eine Äquivalenz setzen, denn darin besteht die eigentliche Erfindung von Geld und von Wert allgemein. Es gibt Wert ja nur (in diesem Sinn), insofern er mit anderen Werten verglichen werden kann. Wie geschieht das nun konkret? Diese Frage führt zur zweiten Seite des Vorgangs. Denn die Bestimmung des Wertes geschieht durch eine Institution, einen Staat, eine politische Entität. Es ist diese, die sich im Gold einschreibt und dieses dadurch zu Geld macht. Die Prägung der Münze macht klar, dass es nicht das Material ist, das den Wert trägt, sondern ausschließlich die politische Entität, die für den Wert einsteht. Indem sich der Staat mit Symbol und Siegel in die Münze einprägt, schafft er eine besondere Form von Virtualität, die sich aus dem Metall der Münze löst. Nicht den Wert des Goldes haben wir im Geld vor uns, sondern den Wert des Staates. Und der Staat, wie viel ist der wert? Nun, das ist der Punkt: Er ist so viel wert, wie er glaubhaft machen kann, dass er wert ist. Schon auf der Ebene des Geldes ist der Wert in erster Linie ein Kredit, eine schwer greifbare Wette auf einen Staat, der für einen Gegenwert aufkommen soll. Das merken wir nur meistens nicht; es wird aber in Zeiten der Krise unübersehbar (z.B. in Zeiten massiver Inflation). Es fallen also schon beim Geld Material- und Nominalwert auseinander – und das ist wörtlich eine Disjunktion von Materie und Oberfläche, denn auf der steht der Name der Nationalbank oder das Profil des Kaisers, in deren Namen der Wert genannt ist. Was zählt, ist, was auf der Materie (geschrieben) steht. Nur der Nominalwert zählt, was man daran ablesen kann, dass nicht nur Papiergeld, sondern sogar ausschließlich als Zahlen existierendes möglich

Virtualität

ist.10 Das Geld ist also bereits eine Virtualisierung der Materie ins Gesellschaftliche hinein. Die Gesellschaft hat sich wortwörtlich eingeschrieben in die Materie und damit eine lichte Oberfläche von ihr abgelöst: den Wert. Die Materie als solche wird dabei aus dem Blick verloren. Deshalb steht die Erfindung des Geldes in einer Reihe mit den Ablösungs- und Disjunktionsmechanismen, die ich unter der Überschrift der Künstlichkeit beschrieben habe: Was dadurch entstehen kann, ist eine irrlichternde Faszination, ein Schein im engen Sinn. Auch Marx beschreibt den Effekt eines solchen Scheins, der eine Trübung des Blicks verursacht, weil er die Verhältnisse zwischen Oberfläche und Materie verwischt. Es ist der Fetischismus des Werts, also die feste Überzeugung von der natürlichen Grundlage des Wertes, nachdem die Gesellschaft vergessen hat, dass sie es war, die ihn erfunden hatte. Geschieht sie hinter unserem Rücken, dann eröffnet die Entkoppelung von Materie und Oberfläche der Raum für die Erschaffung von Ungeheuern. Das manische Schwirren des Kapitals hebt diesen Prozess auf eine neue Stufe, indem es ihn auf sich selbst zurückbezieht, ihn beschleunigt (genauer: einer sich unaufhaltsam steigernden Beschleunigung unterwirft) und von der Grundlage im Geld ablöst. Denn Kapital ist etwas ganz anderes als Geld. Der Beweis: Geld kann man zählen, Kapital nicht. Denn es gibt Kapital nur, indem es investiert wird, und das heißt: indem es einerseits der unmittelbaren Verfügbarkeit entzogen wird, um andererseits zum Versprechen auf noch größeren Gewinn zu werden. Es ist also weniger und mehr als Geld, und es ist immer weniger und mehr wert als die entsprechende Summe als Geld betrachtet. 1 Mio. Euro als Kapital ist nicht mehr verfügbar, es ist aber zugleich die Vorwegnahme von 1,2 Mio., 1,3 Mio. oder mehr? Wer weiß? Und noch mehr: Geld als Kapital betrachtet, kann sich in einem einzigen Augenblick verdoppeln, was von Geld als Geld nicht gelten kann: Ich kann die 1 Mio., die ich besitze, gegen Zinsen verleihen. Dafür bekomme ich einen Schuldschein. Den kann ich weiterverkaufen, als wäre er Geld (zumindest so ähnlich). Dann gibt es aber doch die 1 Mio. plötzlich zweimal: einmal als das Geld, das der Schuldner hat und hoffentlich gewinnbringend investiert; dann als der Schuldschein, der seinerseits als Kapital fungieren kann. Was hier geschieht, ist die Verselbständigung des Virtuellen, das bereits im Geld angelegt ist.11 Es gibt also sehr wohl Magie. Wir können, gewissermaßen auf höherer Ebene, das Geld als Materie und das Kapital als seine Oberfläche betrachten. Die Entkoppelung von erster Materie (also irgendetwas, was realiter dazu in der Lage ist, Wert zu generieren) und Kapital (Wert von Wert) ist total. Daher ist die surrende Bewegung

10

11

Mögliche Gegenbeispiele führen direkt auf die Bestätigung des hier Behaupteten. Florenz hat sich seit dem 13.Jh. kontinuierlich zu einer der führenden Finanzmächte Europas entwickelt. Das lag vor allem daran, dass es der Stadt gelang, den Goldflorentiner zu der fast konkurrenzlosen Währung im Mittelmeerhandel und darüber hinaus zu befördern. Dass die Münze so unverzichtbar wurde, lag daran, dass die Florentiner mit der größten denkbaren Strenge darüber wachten, dass jede Münze genau 3,5g Gold beinhaltete. Es wurden keinerlei Vermischungen zugelassen (vgl. Münkler: Machiavelli. 139f.). Doch in Wahrheit vertraute man gerade nicht dem Goldgehalt als solchem, als man den Fiorino d’oro allerorten begierig nahm und zuversichtlich gab, sondern eben der Stärke und Verlässlichkeit der Wirtschaftsmacht Florenz, die die Reinheit ihres Guldens garantierte. Das Beispiel ist von Marx selbst, der es allerdings in Bezug auf die Staatsschulden und Staatsanleihen vorbringt und im Zusammenhang der »ursprünglichen« Akkumulation, also der von Anfang an ungleichen Verteilung von Kapitalien nennt, vgl. Das Kapitel. Erster Band. 782f.

311

312

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

des Kapitals – und Kapital existiert nur in Bewegung – dazu prädestiniert, allerlei Ungeheuer zu erfinden, eine nicht enden wollende Zahl von Unwahrheiten, Halbwahrheiten, Lügen und Legenden über sich unters Volk zu bringen. Hier ist alles durchlässig geworden, nämlich als die ganz »rationale« Bewegung von Wert (der nur noch als transparente Zahl existiert) in seiner Vergrößerung. Es ist aber gerade nicht die Materie, nicht irgendeine reale Grundlage, die dabei transparent würde. Diese Virtualität ist ihr eigenes Ziel geworden, kennt nur sich selbst, kennt die Materie nur als Schlacke und als zwischenzeitliche Inkarnation, die sie aber, wie die Schlange ihre Haut, bald wieder abstreifen muss, sowie als »Innovationen« von Produkten, bei denen die Frage ihrer Sinnhaftigkeit gar nicht mehr gestellt werden kann. Es besteht keine Verbindung mehr zwischen beidem (Materie und Oberfläche, Sein und Virtualität). Es braucht kaum mehr überraschen, wenn diese manische und rein selbstreferentielle Bewegung des Kapitels mehr noch als Produkte Vernichtungen hervorbringt. Die Virtualität des Kapitels, d.h. seine unentwegte und immer erneuerte Loslösung von aller Materie sorgt dafür, dass diese Bewegung immer und immer schneller wird. Nichts, im Sinn einer materiellen Schwere und Dichte, stellt sich ihr noch entgegen. Das Geld ist »ehrlicher«, wenn man darunter versteht, dass das Geld die Eskalation der Ablösung noch nicht so weit getrieben hat, damit auch nicht dieselbe Geschwindigkeit erreicht, eine direktere Beziehung zur materiellen Grundlage hat: Man kann selbst das Papiergeld ganz einfach als Ausweitung des Münzgelds sehen. Aber schon das Geld ist nicht natürlicher Ort von Tauschwert, schon in ihm ist keine direkte Beziehung mehr zwischen Körper und Oberfläche, es hat schon eine Ablösung stattgefunden. Das wird dadurch klar, dass es nicht möglich ist, noch einmal den Wert des Geldes zu bestimmen. Das aber nicht etwa aus logischen Gründen (weil darin ein Regress läge, da doch das Geld Maßstab des Wertes ist – was ja nur halb stimmt, denn es ist ja nur Geld, insofern man etwas anderes als Geld dafür bekommt), und erst recht nicht aus moralischen Gründen (was einer Äquivokation von Wert aufsitzen müsste). Man kann den Wert des Geldes nicht bestimmen in exakt dem gleichen Sinn, wie Kapital nicht zählbar ist. Diskontinuität. In der Virtualität als der Ablösung der Oberfläche von der Materie vollziehen sich konkret Brüche in der Kontinuität des Seins. Diese Kontinuität ist nicht als eine materielle zu nehmen, denn Körper sind ja längst verschieden. Sie ist als die Einnamigkeit einer Welt als reiner Oberfläche zu lesen. Es geht mit einem Wort darum, dass die Natur (die Oberfläche des Seins ist) Unterschiede, Divergenzen und selbst Widerstreit und Inkommensurabilität nicht ausschließt, sondern von Anfang an einschließt. Ob alle Prozesse, in denen sich etwas bildet, was wir uns gezwungen sehen, als Teil eines neuen, eigenen Seinsbereichs anzusprechen, mit dem Begriff der Virtualität zu beschreiben sind, sei dahingestellt. Sicher ist, dass in der Virtualität, im Auseinandertreiben von Materie und Oberfläche, nun endlich das entsteht, was eine fehlgeleitete Metaphysik für das Eigentliche angesehen hat: die Löcher und Lücken im Wirklichen. Nicht nur zwischen den verschiedenen Seienden oder ihren jeweiligen »Bereichen«, wenn es so etwas gibt; sondern und vor allem zwischen der Materie und ihrer Oberfläche reißt eine Lücke auf, in die alles einschießen kann, was will, in die alles passt und in der nichts ist. Oft genug ist es eben die Fiktion, die Imagination, und sei es in Gestalt der Metaphysik, die sich hier einschleicht. Und manchmal ist beides, die Inkommensurabilität der

Virtualität

Wirklichen und die Lücke zwischen Materie und Oberfläche, eben nicht voneinander zu unterscheiden. So oder so hat man es dann mit echten ontologischen Brüchen zu tun, die in allem Ernst nicht mehr überbrückt werden können, es sei denn von papiernen »Erklärungen«, die sich durch ihre billige Allgemeinheit selbst verraten; echte Brüche also, in denen solches geschieht, das einen neuen Einsatz des Seins bezeichnet, der in nichts auf seine Bedingungen, auf die Körper in ihrer kompakteren Form zurückgeführt werden kann, so dass wir es hier also mit dem konkreten Phänomen der Produktion von Leerstellen, Lücken, Löchern, Nichtsen zu tun haben. Dieser Prozess kann und muss in zwei entgegengesetzten Gestalten erfahrbar werden, die aber nur die beiden alternativen Antworten auf ihn sind. Er gibt Anlass zu einer Intensivierung von Erfahrung: Die entspringt aus der Spannung, aus der Diskrepanz, die eben in ihrer Realität nicht mehr auf einen Nenner gebracht werden kann und die, je länger sie wirkt, nur den Winkel immer weiter öffnet, oder doch: in dem einmal geöffneten Winkel der Abweichung (und sei sie infinitesimal) schließlich zu immer größerer Entfernung führt.12 Die Konfrontation, der Zusammenstoß der Inkommensurablen (wenn so etwas physisch möglich wäre) erzeugt eine Schwingung, eine Vibration, die Töne zum Klingen bringt, die man sonst nie gehört hätte. Diskrepanz, Abgründigkeit, Nicht-Sein: Die Löcher des Seins – die nicht selten politisch verdächtig sind – bringen dieses erst richtig zum Brausen. Der Prozess gibt im gleichen Zug Anlass zum Verlust der Erfahrung: Die Gefahr ist offensichtlich, sie besteht nämlich darin, dass sich eine der Ebenen als einzige oder zumindest wichtigste, »erste« setzt, dass sie sich in sich selbst dreht und sich somit verliert, gerade in dem Moment und in dem Maß, in dem sie sich selbst zu finden und festzuhalten meinte. Man sieht, wie diese beiden Seiten, so gegensätzlich ihre Erscheinungsformen sind, doch nur die beiden möglichen, gleichermaßen möglichen, aber nicht willkürlich austauschbaren Effekte ein und desselben Prozesses sind.13 Sie sind aber in allem Ernst nicht willkürlich austauschbar, und alle theoretischen Unmutsbekundungen (gegen die Einführung vermeintlicher Beliebigkeit) führen deshalb ins Leere, weil sie ignorieren, was hier das Einfachste und das Entscheidende ist (und was jeder kennt, nur der Philosoph offenbar nicht): die Unterschiede in der Praxis des Umgangs mit der Virtualität. Das Ganze wird nur dann »problematisch«, d.h. zu einer theoretisch nicht mehr entscheidbaren und deshalb scheinbar nutzlosen Sache, wenn man meint, den Unterschied der Erscheinungsweisen als Gegenstand einer theoretischen Wahl rekonstruieren zu wollen; dann aber hat man das Tun verdoppelt – und den im Wortsinn »kritischen« Moment damit verloren.

12

13

Gemäß jener Logik der Eskalation, in der sich in Serres’ Beschreibung in einer Ontologie der Oberfläche nach und nach Distanzen auftun, die irgendwann nicht mehr geschlossen werden können; vgl. La naissance de la physique. 224. Sie können sogar unablässig ineinander umschlagen, die Entleerung der Erfahrung und der Verlust der Wirklichkeit kann eine hysterische Beschwörung ständig neuer und stärkerer Reize erzwingen. Ich werde an anderer Stelle versuchen, darin eine zentrale Komponente dessen zu erblicken, was man als reaktionäres Denken bezeichnen kann.

313

314

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Auch ist irreführend die Versuchung, auf irgendeiner der Ebenen, also an irgendeiner Stelle der Arbeit der Virtualität, die das Sein von Körpern ausmacht, die Wahrheit des Seins verorten zu wollen, auf die man zurückzugehen hätte. Vielmehr wäre die »Wahrheit des Seins«, wenn es die gäbe, nur das Gegeneinander der Inkommensurablen in möglichst allseitiger Ausdehnung. Allerdings ist diese »Wahrheit des Seins« aus mehreren Gründen unmöglich: Inkommensurable lassen sich eben nicht miteinander in Beziehung setzen, zumindest nicht in der Theorie; daher ist diese gesuchte »Wahrheit« eine, die gemacht werden muss, die also Gegenstand eines Tuns ist, keine Erkenntnis, schon gar keine, die sich überfliegend formulieren ließe; und das nicht zuletzt deshalb, weil jeder solche Vollzug von Sein (und um nichts anderes handelt es sich hier) als situiert und endlich eben per definitionem nicht allseitig sein kann. Die Forderung nach Vollständigkeit ist schlicht und ergreifend widersinnig, und wenn man damit noch einen herkömmlichen Begriff von Wahrheit verbinden wollte, wäre man endgültig im Land der unlösbaren Widersprüche angekommen. Es gibt also Diskontinuität, Brüche, Leerstellen, Lücken, Inkommensurable. Die Ontologie der Univozität ist nicht eine der Gleichheit, Gleichgültigkeit und Bruchlosigkeit. Es gibt radikal Verschiedenes. Doch liegt diese radikale Verschiedenheit nicht in Essenzen oder Substanzen begründet, sondern im Prozess, der eben der der Virtualität ist. Die radikale Diskontinuität des Seins ist eine genetische. Es werden Leerstellen erzeugt, aber nicht per se oder gar als das Eigentliche (wie es Heideggers zwar ingeniöse aber letztlich unsinnige Deutung der Tätigkeit des Töpfers will), sondern als Produkt, Nebenprodukt der Erzeugung neuer Seiender. Man braucht sich also nicht zu wundern, dass man nicht alles auf eine Leiste gezogen bekommt. Das ist nicht der Fehler der Leiste; aber wenn ein Stück Leder da drauf passt und gehört, dann gilt das für eine Symphonie eben nicht. Das Scheitern der Theorie ist nur ein anderer Name für die expansive Produktion von Inkommensurabilitäten. Und deshalb ist eines ganz klar: Es ist nicht nur aus irgendwelchen methodologischen Gründen unmöglich, zum Beispiel (aber was für ein »Beispiel«!) die Entstehung des Menschen zu erklären. Nein, die ganze Idee einer solchen Erklärung verrät doch nur das totale Missverständnis der Struktur des Wirklichen. Denn man kann so eine Erklärung nur um den Preis der Eingemeindung, der Glättung des Krummen, kurz: der Leugnung der Brüche und Inkommensurabilitäten leisten. Es gibt dann zwei Wege: Entweder ist das Bewusstsein, die Erinnerung, die Sprache, der moralische Sinn (oder was man sich für die Essenz des Menschen auserwählt hat) schon in der Materie angelegt, und zwar im strukturellen Vorgriff oder in der Kombinationsfähigkeit der Körper; oder aber es ist dort nicht angelegt, dann bekennt man sich zwar zur Diskontinuität, aber üblicherweise hat man schon einen anderen Kandidaten in petto, der das Menschsein begründet und erklärt, noch bevor es Menschen gibt. Die Rede davon, dass Gott den Menschen nach seinem Vorbild erschaffen habe, bringt das am prägnantesten zum Ausdruck. Aber auch die sogenannten evolutionären Erklärungsweisen erfinden dort eine Kontinuität, wo keine ist: nämlich die Kontinuität einer Geschichte, die nach bestimmten Regeln funktioniert. Aber alle Erklärungen sind nachträgliche Erfindungen von Kontinuität, so als hätte man es wissen können, was kommen würde. Kann man aber nicht. Deshalb ist eine »Erklärung« des Menschen, und sei es die »historischste«, in Wahrheit immer eine Enthistorisierung, und damit eine Verfehlung dessen, was geschehen ist.

Virtualität

Geschichte, das hat Benjamin gezeigt, kann nur in ihren und durch ihre Brüche gedacht werden. Auch das ist letztlich eine Art, die Idee des absoluten Empirismus auszudrücken. In diesem Sinn erweisen sich auch Imagination und Fiktion als solches, was nicht nur den Menschen angeht, was mehr und anderes als Gegenstand der Psychologie ist. Denn sie sind auf ihre Weise im Sein verankert, ohne doch zu ihm, d.h. zur Materialität, zu gehören, nämlich als Distanz, die das Sein von sich selbst trennt, d.h. als das Schillern aller Oberflächen, die dafür sorgt, dass alles, was ist, zugleich diesseits und jenseits seiner selbst bleibt, über sich hinaus ist, sich von außen »reflektiert«. Das Imaginäre füllt diese Distanz aus – doch nur um den Preis, dass sie die Abstände und die Unschärfen immer weiter vervielfältigt. Materie. Nach und nach gewinnen wir so einen Begriff von Materie, der immerhin auf dem Weg zu einer adäquaten Würdigung des Realen ist. Ihre Kennzeichen sind mindestens diese (denn Vollständigkeit gehört nicht zu den Ansprüchen dieser Arbeit – sie müsste denn ihren Gegenstand missverstehen): primäre Unabzählbarkeit, damit auch die konkrete Verschränkung von Endlichkeit und Unendlichkeit; Dichte, Schwere, die Garantie ihrer eigenen Wirklichkeit aus sich selbst heraus, daher auch ihre unwiderstehliche Neigung zur Verwirbelung, die letztlich nichts anderes ist als die Bewegung, die sie sich selbst kraft ihres eigenen Widerstandes auferlegt und die deshalb in der Wirklichkeit jeder graden Linie vorhergeht; Selbstorganisation; Dynamik; Durchlässigwerden und Durchdringung; Ablösung und Virtualität – beides zusammen dementiert die herkömmliche Idee, Materie sei etwas fest Umrissenes: In Wahrheit sind alle Körper sowohl ineinander verschlungen als auch jeweils über sich selbst hinaus; Kontinuität und Bruch, beides aber in konkreter Einheit eines Prozesses – so dass sich z.B. der Gegensatz von Natur und Kultur als der ganz deplatzierte Versuch entpuppt, die Produktion von Inkommensurabilitäten (im Plural), aus der Materie besteht, auf den einen Gegensatz zu reduzieren.14

14

Am ehesten kann diese Theorie der Materie ihre Vorläufer in den Konzeptionen der Elementarphilosophie erkennen, in denen der Vorsokratiker, aber auch im Atomismus von Epikur und Lukrez, die das Wagnis eingingen, die fest abgegrenzten Körper so unüberbietbar zu vervielfältigen, dass sie faktisch zu einer unabzählbaren, dynamischen, selbstbewegten und selbstorganisierten Materie wurden, die zudem dank ihrer ihnen eigenen Bewegungsweise nur Regelmäßigkeit, nicht aber Determiniertheit ausbilden. Strengere philosophische Entwürfe zu einer Philosophie des Elementaren sind seither rar geworden. Eine wichtige Reaktivierung einzelner Aspekte findet sich bei Levinas. Aber auch Canettis Masse und Macht lässt sich als eine solche Philosophie des Elementaren lesen: Dann nämlich, wenn man die Masse nicht einfach als die große Zahl in Bewegung befindlicher Menschen interpretiert, die sich hier und da Ähnlichkeiten in der Natur holen, vielleicht sogar nur vermeintliche Ähnlichkeiten; sondern wenn man im Gegenteil annimmt, dass für Canetti die Masse jene Dimension des Wirklichen ist, in der der Mensch mit der übrigen Natur kommuniziert, weil die Masse, die Unabzählbarkeit und die molekulare Bewegung, genau das ist, worin wir uns mit der Natur treffen – immer auf eine konkrete Weise (d.h. es gibt nicht die Masse oder Massenhaftigkeit an sich) und immer so, dass Mensch und Natur sich in diesem Zusammentreffen übereinanderschieben und verwandelt daraus hervorgehen.

315

Ablösung: Der Sturm

Es kommt nicht selten vor, dass Narration und Fiktion, Theater, Film und Roman die Bedingungen ihrer eigenen Produktion und damit sich selbst, als Fiktionen, reflektieren, während sie anderes, eine »Handlung« in Szene setzen. Selten ist aber die Konsequenz, mit der diese Frage in Shakespeares Sturm von Anfang bis Ende die Handlung selbst bestimmt, vorantreibt und in Wahrheit auch auslöst. Dass das mehr ist als die übliche postmoderne Eingemeindung, wo alles selbstreflexiv wird, aber kein Außen der Reflexion mehr besteht – und die Luhmanns operative Schließung beim Wort nimmt und sie zugleich als Travestie der wahren Verhältnisse erkennbar macht –, zeigt sich, sobald man diesen Strang konkret durch das Stück hindurch verfolgt. Management und Magie. Auf der einen Seite ist Prospero sehr offenkundig selbst der Regisseur der Handlungen, und das oft im aller wörtlichsten Sinn. So kommt es vor, dass er bspw. das Bühnendekor und die Abläufe, Bewegungen usw. minutiös diktiert.1 Auf der anderen Seite wird Prospero aber auch ausdrücklich als Magier identifiziert. Und Fiktion (und die anderen Formen von Virtualität, die ihr verwandt sind) ist wortwörtlich Magie. Das ist der entscheidende Punkt. Auf der Oberfläche materieller Dinge entsteht etwas ganz anderes, was darin nicht enthalten war. Wie sollten wir einen nennen, der es schafft, durch die pure Bewegung eines Stabs, und sei es auch eine Feder, eine Welt zu schaffen? Eben war da nur ein Steinwand, plötzlich kämpfen auf ihr Mammuts und Menschen, die Jagd auf sie machen. Mithilfe einer komplizierten Zeremonie von Worten und Gesten beeinflusst, zwingt der Magier die Körperwelt um ihn herum. Er unterwirft sie seinem Willen. Das aber funktioniert nur, wenn er zugleich bereit ist, sich ihrem Willen zu unterwerfen. Die Idee einer wirklichen Herrschaft über die Natur ist eine Erfindung der westlichen Moderne. Kein Schamane, kein Magier, kein Medizinmann

1

Der Herausgeber David Lindley spricht in seiner Einleitung von »manager figures«, wie sie sich auch im Mitsommernachtstraum und in Maß für Maß finden. »In The Tempest, however, Prospero’s control of the narrative is not only more complete than that of his dramatic predecessors, but, unlike theirs, is directed to a personal and particular end – the triumph over the ›enemies‹ whom fortune has placed at his mercy.« (The Tempest. 3)

318

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

wäre darauf je verfallen. Diese gegenseitige Anerkennung und die Herstellung eines zerbrechlichen Zwischenreichs sind der Sinn der Zeremonie. Sie ist genau die Aushandlung des Zwischenraums zwischen Natur und Mensch, in dem sie sich begegnen können, die Öffnung einer Kommunikationslichtung, die Herstellung eines »Templum« (d.h. eines umgrenzten Gebiets, einer umhegten, herausgehobenen, isolierten Zeit oder Raums, deren Sakralität in dieser Abgrenzung gründet), weder rein menschlich noch rein elementar, nicht einem puren Subjekt noch einem reinen Objekt angehörig, sondern genau den konkreten, weil selbst räumlichen, zeitlichen, körperlichen Zwischenraums bildend. Das ist der Zwischenraum, den die Virtualität schafft. Der Magier erklärt, dies oder jenes solle Wirklichkeit werden, und so wird es Wirklichkeit. Nichts anderes macht der Schriftsteller. Magie/Fiktion fußen auf dem Körper, sie inszenieren Körper so, dass auf und aus ihnen etwas anderes entsteht, was in ihnen nie war.2 Sie heben etwas ab von diesen Körpern, lassen eine neue Realität entstehen, eine »Quasi-Realität«, wie man vielleicht in Ermangelung eines besseren Wortes sagen kann. Das geschieht aber nicht etwa durch Nachahmung; diese wirkmächtige Bestimmung scheint merkwürdig unterbestimmt. Man wird die Mechanismen eher in der Richtung einer Mobilisierung all jener Potentialitäten sehen müssen, die im Körperlichen längst wirksam sind und die nur kultiviert und kanalisiert werden. Im Kreis der rituellen Begrenzung, die durch das Wort, den Rahmen, die festgelegte Geste oder wie auch immer gestiftet ist, löst sich von den Körpern etwas ab, was weder ganz real, ganz Körper noch auch unkörperlich, irgendwie spirituell wäre. Der Schauspieler lässt auf seinem Körper einen anderen erscheinen, er macht gewissermaßen Platz für einen anderen, der gar nicht existiert, der aber zu existieren beginnt, eben auf dieser Oberfläche, die sich abhebt, ablöst, entsteigt, ins Unbestimmbare gerät (aber nicht ins total Unbestimmbare). Und so übersteigt sich Körperlichkeit jeweils konkret selbst.3 Die Körper schreiten, genau in dem Maß, in dem sie sich einer Umgrenzung anheimgeben, zu einer jeweils präzisen Überschreitung ihrer selbst: hin auf andere Körper oder über das Körperliche hinaus. Nicht in eine andere Wirklichkeit, es gibt keine. Auch nicht in ein reines Geistiges. Sondern in ein Milieu der Interaktion, in dem die Körper anders als »nur« körperlich miteinander ins Spiel geraten. »Spiel« ist hier das entscheidende Wort: Denn das Spiel ist der Versuch, dieses Milieu der neuen Kombinationen für sich zu setzen, für sich in den Blick zu bringen – und das geht nur in der reinen Praxis. Eine Praxis, die nur durch ihre Regelhaftigkeit definiert ist, aber weder durch ein inneres Prinzip (das etwa diese Regelhaftigkeit wieder bestimmen würde) noch durch einen externen Zweck. Die Schöp-

2

3

Es ist dabei immer wichtig, die Richtungen zu beachten: Nur weil die Magie Wirklichkeit ist (indem sie Wirklichkeit hervorbringt), ist nicht jede Wirklichkeit auch schon Magie. Verwechselt man das, gelangt man zu dem in der Renaissance beliebten Klischee, wonach das Leben oder die Welt ein Traum sei – wie es etwa exemplarisch schon im Titel eines der berühmtesten Stücke von Calderón zum Ausdruck kommt. Es ist fast so, als wäre Hobbes etwas Wahres und Ungesehenes in die Feder geglitten, als er seine, von seinem eigenen Standpunkt aus, ganz inkohärente Ontologie ausführte, deren Formel lautet: (reine, d.h. reduzierte, bloß ausgedehnte) Körper + Imagination. Vgl. dazu meine Auslegung in Thomas Hobbes und der diskrete Charme der Großinquisition.

Ablösung: Der Sturm

ferkraft der Immanenz vollendet sich in der Virtualität, in der sich Spiel, Fiktion, Magie und Kunst kreuzen. Imagination und Wahn. Denn die Pointe, die die ganze Radikalität des Sturms ausmacht sowie seine Bedeutung für die Frage der Virtualität erst ganz offenlegt, wird von einem dritten Aspekt erbracht: Prospero ist Regisseur und Schauspieler in seinem eigenen Stück; er ist Magier. Er ist aber vielleicht noch etwas ganz anderes. Es ist Peter Greenaway, der in seiner Verfilmung von Shakespeares Stück unter dem Titel Prospero’s Books, diesen Aspekt mehr andeutet, denn ausführt. Einmal erfasst jedoch, entwickelt diese Deutung einen unwiderstehlichen Sog. Der Film beginnt mit zwei Texteinblendungen, deren erste den Hintergrund der Geschichte wiedergibt, wie er auch explizit in Shakespeares Tex zu finden ist. Aber die zweite gibt der ganzen Sache einen neuen Twist: Eines Tages, heißt es dort, stellt sich Prospero vor, wie er Rache nimmt, durch einen Sturm, der seine Feinde trifft. Er tut dies, indem er ein Buch schreibt, dessen Text er selbst vorliest, worin er alle Figuren selbst spielt. Prospero ist also zugleich im Stück und jenseits desselben. Aber durch diese Texteinblendung wird die Möglichkeit etabliert, dass alles, was nun, im Stück oder im Film folgt, reine Einbildung ist! Vielleicht ist nichts davon passiert, und das noch nicht einmal im virtuellen Universum der Fiktion. Greenaway macht also ernst damit, dass Der Sturm ein Stück über die Macht von Magie und Fiktion (und Fiktion als Magie) ist, das, indem es diese Fiktion und ihre Macht demonstriert, d.h. aufführt, den vorgeblichen subjektiven Startpunkt der Fiktion anzeigt, der diese in Wahrheit zu dementieren und zu verschlingen droht. Und tatsächlich werden, wie in dem zweiten Texteinschub angekündigt, alle Worte von Prospero gesprochen, inklusive des Textes von Miranda. Es ist Prospero, der ihren Text sagt. Das heißt aber doch, dass auch Miranda noch die Einbildung von Prospero ist. In Wahrheit ist Prospero völlig allein.4 Er hat gar keine Tochter. Vielleicht war er einst Herzog von Mailand und er wurde exiliert von seinem Bruder. Aber jetzt? Nichts kann uns davon abhalten zu mutmaßen, dass Prospero ein Verrückter ist, wahnsinnig geworden vor Verbitterung, Rachsucht, Hass, und vor Einsamkeit und im Ringen mit der unerbittlichen Natur auf dem verlorenen Eiland, auf das er sich geflüchtet hat. Ja, vielleicht hatte er sogar einst eine Tochter mit Namen Miranda, die aber gestorben ist, vielleicht auch – wie es der Konflikt mit Caliban andeutet – geschändet von einem Einwohner der Insel oder zerfleischt von einem wilden Tier. Die »Handlung« des Stücks ist also nichts anderes als ein Delirium, auch so ein Wahnsinn, der, wie Polonius sagt, Methode hat (Hamlet, II, 2, 200–201). Und dass es ein so rationales, ein so geordnetes Delirium ist, liegt einfach daran, dass dies, das Delirieren, die Erfindung, das Einzige ist, was Prospero aus seiner Zerfleischung für Augenblicke erlösen kann, die Rachsucht und Hass ist. Der Affekt kann, wie wir gleich sehen werden, die Arbeit der Imagination unterbrechen; aber auch andersherum kann die Arbeit der Imagination den Affekt unterbrechen, zumindest seine brutalste Erscheinungsform, die am Ende immer auf ein Acting-out hinauswill – und wenn nichts da ist, was berechtigterweise Gegenstand dieser Gewalt 4

Denn das cartesische Argument der Unbezweifelbarkeit des Ego Cogito gilt noch für das fiktive Subjekt: Irgendetwas muss im Sinn der Fiktion real sein, und sei es ein Verrückter.

319

320

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

wird, dann richtet diese sich eben auf irgendwas, oder auf sich selbst oder sie wirkt ganz einfach in spasmodischen Zuckungen. Aber natürlich, der Fiebertraum Prosperos ist ja ganz aus Affekt geschöpft, der Affekt ist der Motor, denn die Unerfüllbarkeit des Begehrens – nach der Tochter, nach Rache, nach Versöhnung? – gibt der Imagination erst ihre Richtung, lässt sie los und macht sie unendlich. Geordnet schließlich wird diese Imagination dadurch, dass sie nicht nur Imagination ist, sondern sich veräußert, objektiviert, Buch wird: das Buch, das Prospero schreibt.5 Aber tut sie das wirklich? Und wie geordnet ist dieses Stück eigentlich? Im Grunde lässt sich ja nur schwer von einer »Handlung« sprechen. Wie viele der späten Stücke ist auch dieses bar aller ernstzunehmenden Intrigen, und mehr als alle ist es, durch die erklärtermaßen allmächtige Figur des Prospero, von aller Spannung entkleidet. Was also, wenn es gar nicht geschrieben wäre, sondern nur ausgemalt, imaginiert, bloß im Geiste? Und weiter: Was wenn es nichts anderes ist als der Fiebertraum eines Sterbenden, seine letzten Gedanken? Das Delirium nicht nur eines Wahnsinnigen, sondern eines Fastschon-Toten? Man sage nicht, dass sei doch viel zu lang, wann sterbe er denn endlich? Denn vielleicht stirbt man ja nie wirklich. Nicht weil es ein ewiges Leben oder eine unsterbliche Seele gäbe, sondern weil das Sterben, zumindest das eines Fiebernden, das Ende eines Deliriums wäre, das seiner Natur nach kein echtes Ende haben kann. Oder so: Es hat eines und es hat keines: Insofern der Traum Prosperos in die Versöhnung führt, ins Loslassen allen Hasses, insofern hat der Traum ein Ende. Denn Hass ist immer ein sich in sich selbst Einschließen,6 eine Abkopplung vom Realen, eine Flucht ins Imaginäre, von denen die Rachepläne nur der deutlichste Ausdruck sind, und das selbst noch dann, wenn man sie verwirklicht – denn Pläne sind nun mal in ihrer konstitutiven Diskrepanz von der Wirklichkeit noch Symptom und Fortführung dieser Abkopplung. Der Traum käme unter diesen Bedingungen also zu einem Ende, zwar nicht im dramaturgischen Sinn, aber im Sinn der Auflösung: Wenn es Prospero wirklich gelänge, seinen Hass loszulassen, dann verschwände der Motor der Imagination und die Imagination selbst, denn die ist ja von der Abkopplung abhängig, die im Hass liegt und im Rachewunsch. »Energetisch« wie ontologisch ist der Hass Grundlage einer Abkopplung vom Wirklichen, das die Imagination nicht nur erzwingt, sondern sie unendlich macht. Könnte Prospero loslassen (also wirklich, wie sein Name sagt, das Unternehmen einem guten Ausgang zuführen), dann wäre die Imagination als solche verschwunden: Es ist wie mit uns, die wir manchmal wachliegen, weil uns ein Ärger, eine Wut, eine Kränkung nicht zur Ruhe kommen lassen, und die wir diese Kränkung oder unsere Rache tausendfach und immer wieder und ohne irgendeine mögliche Endigung im Geiste wiederholen. Selbst der größte imaginäre Triumph über unsere Feinde ist unbefriedigend, weil er eben imaginär ist, und

5

6

Greenaways Film wird am Ende eigenartig inkonsequent, indem er den anderen Figuren ihre eigenen Stimmen zurückgibt, nachdem Prospero seine Zaubergewänder ab- und die Kleidung des Herzogs von Mailand angelegt hat (der erste Sprechende ist Alonso in V, 1, 111). Mir erschließt sich diese Entscheidung nicht, und ich werde Greenaways Anfangsidee treuer zu sein versuchen, als es Greenaway war. »Anger’s my meat. I sup upon myself,/And so shall starve with feeding.« So drückt es Coriolans Mutter drastisch aus (IV, 2, 52–53).

Ablösung: Der Sturm

deshalb muss das ganze Vorstellen wieder von vorn beginnen. Wenn wir es schaffen, die Wut loszulassen, dann schlafen wir augenblicklich ein. Und so auch Prospero: Könnte er loslassen, dann würde er endlich sterben können. Er kann es aber nicht. Er muss immer wieder von vorn anfangen. Und noch das Ablegen des Zaubermantels ist nur Ausdruck des ohnmächtigen Wunsches, doch die Großherzigkeit zu finden, alle Gram zu vergessen und alle Wunden zu vergeben. Wenn das Stück vorbei ist, fängt es von vorne an. Wahre Hölle der Unendlichkeit einer Qual, die keine Erlösung kennt, weil Erlösung nur in Versöhnung mit dem Wirklichen liegt – und in dieser Formel sind beide Termini gleichwichtig: Versöhnung und Wirkliches. Dazu aber ist Prospero nicht in der Lage. Klarstes Zeichen: Er imaginiert ja nicht eine echte Versöhnung mit den Feinden, sondern eine, in der die tote Tochter noch lebt. Das Delirium setzt der Möglichkeit seiner Erlösung Grenzen. Zu allem Überfluss ist er ja nicht nur als Imaginierender in der Welt seiner Imagination faktisch allmächtig, sondern er imaginiert sich noch dazu als Allmächtigen – und auch damit bezeugt er seine Unfähigkeit, dem Wirklichen ins Angesicht zu schauen. Und so wird das Schauspiel seiner Allmacht und Versöhnung zum wortwörtlich unendlichen Moment des Sterbens, zu einer wahrhaft endlosen und höllenartigen Ausdehnung des letzten Moments, der bis in alle Ewigkeit mit der Selbstqual von Hass und Rachsucht, von Verbitterung und Sehnsucht und von der immer knapp verpassten Versöhnung und Auflösung die Hölle ist.7 Wer weiß, ob dieser »Moment« wirklich unendlich ist – aber was heißt das schon: »wirklich«? Denn wie im Traum, wie im Fiebern, wie im Delirium bildet diese rettungslos verlorene Imagination eine Zeitlichkeit aus, an der jeder objektive Zeitbegriff das erleiden muss, womit das Stück beginnt. »O’Briens Erzähler [in Der dritte Polizist] ist in der Hölle und stapft auf ewig zum Anfang des Buches zurück, sobald er sich bis zu dessen Ende durchgestolpert hat. Verdammt sind die, die tot sind, aber keine Ruhe finden.«8 Allerdings ist die Natur gnädiger als Gott: Die Hölle kann nicht ewig sein, irgendwann endet das Leben und damit auch das Delir des Ressentiments, im Übrigen ohne jeden zwingenden Zusammenhang mit der Fähigkeit zur Versöhnung, und auch wenn die Zeit, der »Zeitpunkt«, zu dem das geschieht, in keinem Verhältnis zur Zeitlichkeit des Delirs selbst steht. Es ist also wahr, auch wenn wir es nicht richtig verstehen können, dass der Wahn nur für den Wahnsinnigen ewig ist. Und dann, aber auch nur dann stimmt es auch, was Prospero zu Ferdinand sagt: Wir sind solcher Stoff, aus dem Träume gemacht sind (IV, 1, 156–157). Nicht: Das Leben ist Traum. Noch: Der Tod ist Traum. Sondern: Wir, die Imaginierten, sind der Stoff, aus dem der Traum gemacht ist, der uns mit dem Tod zugleich verbindet und von ihm ewig scheidet.9 7 8 9

In ähnlicher Weise figuriert auch der Film Jacob’s Ladder den Moment des Todes – der offenbar ein unendlicher sein kann. Terry Eagleton: Das Böse. 66. Die von Greenaway nahegelegte Deutung misst so den ganzen Bereich der Virtualität aus. Er spannt seine bildgewaltige Auslegung Shakespeares auf in der maximalen Distanz der Imagination, die von der Einbildung des Sterbenden einerseits und der Öffentlichkeit des Buches andererseits gebildet wird. Diese beiden Phänomene bilden die beiden Pole oder Maxima des Mechanismus des Virtuellen. Und irgendwo zwischen Buch und Delir ist der Film über Buch und Delir,

321

322

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Das Erdige und das Luftige. Das Gerüst des Sturms wird aber erst vollständig durch die beiden Gestalten, die dem Manager, Magier und Manischen Prospero beigesellt sind: Caliban und Ariel. Sie stehen beide, wie könnte es anders sein, unter der Fuchtel des eigensinnigen Inselherrn, sie sind beide mythische Wesen: Caliban ist Sohn einer Hexe, dem, wenn man dem Text Glauben schenken darf, erst von Prospero die Sprache beigebracht wurde, versuchter Vergewaltiger, halb Tier, und etwas weniger als halb Mensch; Ariel hingegen ist eine Art Luftgeist, der zugleich als Bote und ausführendes Organ von Prospero agiert, ebenso Spion wie Leutnant. Erst beide zusammen bilden das Gefüge, in dem sich die Reflexivität des Sturms vollendet. Liebt man klassische Begriffe, so ist Caliban Statthalter des Körpers, des Primitiven, Tierischen, wohingegen Ariel den Geist, die Freiheit, das Hohe symbolisiert. Im Lichte des Konzepts der Virtualität drängt sich aber eine andere Deutung in den Blick: Caliban steht für die Materie, deren Oberfläche sich in der Virtualität ablöst – ein Prozess, der die Illusion einer abgetrennten, eigengesetzlichen und eigenständigen Region des Seins erzeugen kann, die man dann z.B. »Geist« nennen kann. Ariel ist der Vektor der Virtualität, insofern er nämlich für sich genommen und damit missverstanden wird. Das Stück inszeniert die Entgegensetzung einer fruchtlosen Metaphysik, deren Dualismus von Körper und Geist nicht geheilt werden kann. Die ganze Tragweite dieses Missverständnisses, für Prospero und für die Metaphysik, wird sich gleich zeigen. Wut, drinnen und draußen. Prospero ist derjenige, der den Kreis des Virtuellen markiert, und der, und zwar als solcher, auch in diesem Kreis auftritt. Der Sturm beinhaltet daher nicht so sehr einen Metakommentar zur Handlung oder zur Fiktion selbst, sondern das Stück besteht geradezu aus einer Verschränkung zweier inkommensurabler Funktionen – und sie sind inkommensurabel in einem strengen ontologischen Sinn. Das ist nicht vergleichbar mit Kommentaren über die Handlung, wie man sie in manchen Stücken findet, nicht mit dem verallgemeinernden Chorgesang, nicht mit der Durchbrechung der Vierten Wand im Film. Es ist die Einschreibung der Grenze (templum), die das Fiktionale erst als solches möglich macht, in die Fiktion selbst hinein.10 Das muss zu einigen eigentümlichen Effekten führen. So sind die Wut, der Hass, das Ressentiment dessen, der da seine Phantasien strickt und sich in ganz unrealistischem Selbstbewusstsein Prospero nennt, Quelle und Motor der Phantasien. Sie können das aber nur, wenn sie in ihrer Wahrheit nicht auftreten. Gerade in dem Maß, wie sie sich, ihre Ursachen und ihre Objekte umlügen, wenden sie sich ab von der Wirklichkeit und schaffen das Werk des Wahns. Das beweist auf seine Art die berühmte Szene des masque-Tanzes, den Prospero für Ferdinand und Miranda aufführen lässt (also noch eine Ebene der Virtualität). Diese Aufführung wird unsanft unterbrochen, weil derjenige, dessen Magie ihn stiftet, von etwas eingeholt wird, was seine Macht zur Illusionierung, zur Fiktion bricht: eine Erinnerung (das wäre kein Problem) und eine Wut. Wer wütend ist, kann nicht illusionieren, denn er

10

der sich also seiner eigenen ontologischen Situierung voll bewusst ist – soweit man sich in diesem notorisch unsicheren Gelände irgendetwas sicher oder bewusst sein kann. Ich habe eine ganz ähnliche Verschränkung und Rückeinschreibung bei Gelegenheit der Auslegung eines Comics bereits analysiert, vgl. dazu: Apeirontologie. 137–212.

Ablösung: Der Sturm

vermag nicht freizulassen, was in der Umgrenzung steckt. Wut ist eine Einengung auf sich, eine Bewegung, die der Fiktion direkt entgegensetzt ist, und zwar der Richtung nach: Sie ist zentripetal, die Fiktion zentrifugal. Die Wut kommt immer wieder auf sich zurück, die einzige Fiktion, die sie noch kennt, ist – die Imagination der Rache oder die erinnernde Wiederholung der Kränkung. Der Wütende muss von sich sprechen, kann sich von sich nicht befreien. Die Umgrenzung, die Bedingung der Virtualität ist, wird nun zur Einschließung, zur Verteidigung der Grenzen, in jener Reaktion, die am Eigenen festhält.11 Grenzen der Einsicht. Natürlich überwindet Prospero sofort seine Wut, um sie in eine luftige Reflexion über die Virtualität selbst umzuwandeln. Es bleibt aber dabei, dass die Fiktion der masque abgebrochen ist. Und Prospero erklärt: You do look, my son, in a moved sort, As if you were dismayed. Be cheerful, sir, Our revels now are ended; these our actors, As I foretold you, were all spirits, and Are melted into air, into thin air; And like the baseless fabric of this vision, The cloud-capped towers, the gorgeous palaces, The solemn temples, the great globe itself, Yea, all which it inherit, shall dissolve, And like this insubstantial pageant faded Leave not a rack behind. We are such stuff As dreams are made on; and our little life Is rounded with a sleep. Sir, I am vexed. Bear with my weakness, my old brain is troubled. Be not disturbed with my infirmity. If you be pleased, retire into my cell, And there repose. A turn or two I’ll walk To still my beating mind. (IV, 1, 146–163) Das Erstaunliche an dieser Passage ist die Präzision, mit der Prospero das Wesentliche verfehlt: es ausdrückt und doch ignoriert. Anstatt die Grenzen der Virtualität als ihre »Ermöglichungsbedingung« aufzufassen (so dass alle ihre Phänomene sowohl einer Rahmung als auch einer »Unterbrechung« bedürfen), tendiert Prospero zu einer ganz klassischen Position. Dann aber geht erstens jede Imagination, Fiktion, jeder Traum zwangsläufig unter, vergeht ins Nichts. Und zweitens wird dadurch alles Seins mit dem Siegel des Unwirklichen geschlagen. Man wird sagen, dass der Übergang vom ersten zum zweiten Satz alles andere als zwingend ist. Und das stimmt. Er wird aber zwingend, wenn man den Prozess der Virtualität als eine Struktur der Dualität missdeutet, und dann 11

Man erkennt die Kraft der Virtualität, insofern sie sich verselbständigt: Der rasende Irre, der die Rache phantasiert, dem gelingt es genau in dem Maß, sich von sich selbst und der Versklavung an seinen Hass und seinen Zorn zu befreien, in dem er es schafft, der Eigengesetzlichkeit des Virtuellen zu folgen. Bricht diese Treue zur Fiktion und der Respekt vor der Umgrenzung zusammen, dann breitet sich an der Stelle der blühenden Phantasie die Wüste der Katatonie aus.

323

324

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

noch die eigentlichen Hoffnungen an die »höhere« Ebene knüpft: daran, dass es der Geist vermöge, sich vom Körper zu lösen, freizumachen: Erlösung. Liest man aber Prosperos Monolog als Schilderung jenes Prozesses, dann ergibt er guten Sinn: Die »revels« (die aufgeführten Tänze; also solche, die man bewundert, wie es sich für Produkte der Virtualität gehört) sind zu einem Ende gekommen, die Schauspieler haben sich in Luft aufgelöst – und das ist wortwörtlich wahr, insofern diese Schauspieler »spirits« sind, d.h.: insofern als auf der Oberfläche des Körpers der Schauspieler etwas zu existieren beginnt, nämlich die gespielte Figur, was sich mit dem Ende oder der Unterbrechung des Stücks in Luft auflösen muss.12 Diese Bemerkung antizipiert zugleich das Ende dieses Stückes, das dort aufhören muss, wo sich die freigelassene Imagination (= A(i)riel) in Luft (»air«) auflöst. (Dazu gleich mehr.) Einmal unterbrochen erweist sich die Virtualität als substanzlos (»insubstantial«). Sie wird sich in nichts auflösen und keine Wolke, keinen Nebelfaden zurücklassen. Aber ist sie deshalb nichts gewesen? Immerhin situiert Prospero ganz präzise die Beziehung zwischen Begrenzung und Virtualität, wenn er unter die Opfer der verallgemeinerten Auflösung des Virtuellen auch die Tempel rechnet: Das lateinische Wort meint ja genau die Abgrenzung mit dem Zweck, dass sich innerhalb des so begrenzten Bezirks das Werk der Virtualität entfalten kann. The Tempest ergeht sich in einer ganzen Reihe von Phänomenen der Virtualität; diese werden teils vorgeführt, teils berichtet. Solche Phänomene sind Musik,13 Rausch, Visionen, Tanz, Mythen und Flüche. Und das Ganze ist und bleibt dabei auch ein Theaterstück, als solches selbst Durchführung und Verwirklichung einer Virtualität eigener Ordnung, die selbst wieder ihre doppelte Eingrenzung braucht. Die äußere, situative ist dabei schon durch die Spielstätte gegeben, auf die Shakespeare in Prosperos Monolog nicht zufällig eine Anspielung einflechtet, als es darum geht, dass die Grenzen dessen, 12

13

Eine Erinnerung: In den letzten Jahren meiner Schulzeit kam eine kleine Schauspieltruppe, bestehend nur aus einer Handvoll Schauspieler, an unser Gymnasium, um Draußen vor der Tür aufzuführen. Die Vorstellung sollte am Vormittag stattfinden, wenn an anderen Tagen Unterricht war. Als provisorischer Theaterraum diente die Aula. Allerdings hatte man zuerst vergessen, die Glocke abzuschalten, die zu bestimmten Uhrzeiten Anfang und Ende der Stunden und Pausen signalisierte – und als man sich dessen erinnerte, gelang es offenbar nicht, die Abschaltung rechtzeitig zu bewerkstelligen. Die Schauspieler reagierten zuerst professionell (wie man so sagt) auf diese Unterbrechungen: Sie ignorierten sie, soweit es ging. Doch als an einer besonders intensiven Stelle dieses ohnehin intensiven Stücks schon wieder die Glocke ertönte, fiel der Schauspieler des Beckmann schließlich aus der Rolle und begann, laut die Bedingungen dieser Aufführung zu beklagen – um nicht zu sagen: wie ein Seemann zu fluchen. Wie bei Prospero war es auch hier der Affekt, der den Zauber der Kunst durchbrechen musste. Calibans Erklärung der merkwürdigen Klänge, die Trinculo und Stephano vernehmen (III, 2, 127ff.), ist eine Beschreibung der Bewegung, in der sich der Klang so verselbständigt, dass er zur Musik wird. Lärm oder Geräusch ist der Name für etwas, was gehört wird und dabei Wirkung einer Ursache ist. Musik ist der Name des zu Hörenden, das zwar seine materiellen Grundlagen hat, sich aber als von ihnen befreit präsentiert, das, anders formuliert, ein Register des Auditiven jenseits von Ursache und Wirkung eröffnet. Klang ist der Name der Bewegung vom einen zum anderen, also der Name der Virtualität für das Ohr. Auch das Stück hält die Zwischenposition aufrecht: Es ist zwar Ariel, der die Trommel schlägt und die Pfeife bläst. Doch Ariel ist ja selbst als reine Virtualität bloß Abstraktion. Die Quelle und das Register der Klänge bleiben also unentschieden. Das selbstsichere Fazit Stephanos ist denn auch ganz zutreffend: »This will prove a brave kingdom to me, where I shall have my music for nothing.« (III, 2, 136f.)

Ablösung: Der Sturm

was die Entfaltung des Virtuellen erlaubt, vernichtet werden: Auch der »Globe« wird der Zerstörung anheimfallen, d.h. die Kugel dieser Welt oder der sie umgebenden Sphären; aber eben auch das Globe-Theater – das steht in derselben Zeile, in der die Rahmungen des Virtuellen bei ihrem alten Namen genannt werden. Zugleich wird dort auch die Faszination für das Virtuelle nicht nur inszeniert, sondern auch thematisiert. Solange wir das Virtuelle als eine Sache der Ästhetik verstehen (was nicht falsch, aber immerhin beschränkt ist), bietet sich als ein naheliegender Name für diese Faszination die »Schönheit« an. Im Text des Sturms fällt vor allem die Prominenz des Wortes »brave« auf: in der berühmten Zeile V, 1, 183 (wo es im Deutschen bekanntlich als »schön« wiedergegeben ist), aber auch in in I, 2, 410, in III, 2, 88 und 96 und 98 (die letzten beiden spürbar in vulgärerer Bedeutung) sowie in III, 3, 84. (Insgesamt taucht das Adjektiv im Stück 18mal auf.) »Schön« oder »brave« ließen sich also ohne große Übertreibung als mögliche Namen für diese spezifische Erfahrung verstehen, die allerdings am Ende keine Einheitlichkeit oder Allgemeinheit vorweisen kann: Alle Art von Virtualität und vielleicht (in Grenzen) noch jedes Phänomen von Virtualität stiftet ihre/seine besondere Faszination. Am eindrücklichsten ist The Tempest aber ein Stück über die Faszination des Virtuellen im Namen der Person, die Prospero am meisten liebt – und deren Existenz mit der Deutung des Stücks als eines Fiebertraums im Wortsinn in Frage steht: Miranda, die Bewundernswerte. Sie spricht in ihrem Namen das »subjektive Korrelat« der Prozesse des Virtuellen aus, und sie ist es, um die herum sich die Phantasie der Rache in eine Phantasie der Versöhnung wendet. Sie ist die Faszination, der Prospero am restlosesten erliegt. Und wenn sie selbst nur Einbildung ist, dann besiegelt diese Faszination Prosperos Verlorenheit. Prospero bemerkt es selbst: Etwas stimmt nicht mit ihm. Denn nach unserer Voraussetzung ist ja sowohl die gesamte Anlage der Fiktion pathologisch, nämlich der Dunst eines delirierenden Sterbenden, als auch ist der (theoretisch gesprochen) Dualismus von Körper und Geist (Caliban und Ariel, Materie und Virtualität), die (praktisch gesprochen) Abkopplung der Phantasie vom Wirklichen eine Verfehlung des Wahren, so dass Prosperos Imagination mit Unwahrheit geschlagen ist.14 Er merkt hier, dass etwas nicht richtig ist. Er entschuldigt sich, bekennt seine Schwäche (»infirmity«, »weakness«), erklärt seine 14

Der Schluss von Greenaways Prospero’s Books bestätigt die hier herrschenden Verhältnisse. Im Verlauf des Films sind immer wieder Bücher eingeblendet und beschrieben worden, die am Ende alle ins Wasser geworfen werden. Das letzte Buch, das so präsentiert wird, ist ein Band mit den Theaterstücken von Shakespeare, denen als letztes, aber auf die ersten Seiten eben The Tempest eingefügt wird. (Als letztes: denn The Tempest gilt als das letzte von Shakespeare allein verfasste Stück.) Auch das wird sodann den Fluten überantwortet – aber, wie er Erzähler erklärt, ist es als einziges von all den wundersamen Bänden aus den Wassern gerettet worden und auf uns gekommen. Und wer anders ist im Film der Retter als Caliban! Die versinnbildlichte bloße Materie taucht aus dem Wasser auf und schnappt sich die Seiten, während alles andere unrettbar verloren geht. Das ist ja auch ganz logisch: Denn nur die Durcharbeitung durchs Materielle vermag den Werken der Imagination Konsistenz, Beständigkeit, Umgrenzung zu verschaffen und sie so vor der restlosen Vernichtung zu bewahren. Ein Traum, eine Phantasie sind fort, sobald sie nur geboren sind. Ein Buch aber bedarf der geduldigen Bearbeitung der Materie (von Blättern oder Computern; von Sprache und Ausdrucksweisen; von Handlungen, die, einmal festgelegt, jeweils der nächsten die Grenzen vorschreiben). Der Dualismus, den das Stück (als Inszenierung einer Phantasie) inszeniert, ist also genau das Missverständnis eines Prozesses, der nur gelingen kann, wenn beide Seiten – »Mate-

325

326

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Verwirrung (das Gehirn ist »troubled«, der Geist »beating«) – und er hat die gute Idee, sich einmal vom Zaubern eine Pause zu nehmen, um eine Runde spazieren zu gehen, d.h. leiblichen Kontakt mit der Wirklichkeit aufzunehmen, ganz ohne Hintergedanken. Eine hervorragende Idee, die nur leider deshalb keinerlei Wirkung haben kann, weil nur der von Prospero imaginierte Prospero einen, dann eben auch, imaginierten Spaziergang macht. Und imaginierte Spaziergänge taugen nichts gegen die Abkopplung vom Wirklichen. Ebenso schillert der berühmte Satz, wonach wir solcher Stoff sind, aus dem Träume sind. Denn nur unter den irrigen metaphysischen Voraussetzungen, die der Verrückte bekennt, der sich verkennt, wird daraus der Gemeinplatz: Alles ist Traum. In Wahrheit gilt dieser Satz eben (wie die Theorie der operativen Schließung bei Luhmann) nur für die Geschöpfe der Phantasie: Deren »kleine Leben«, die imaginierten Leben imaginierter Figuren, inklusive der imaginierten Verdopplung des Imaginierenden selbst, sind wirklich ontologisch von derselben Art wie Träume: Sie sind eben von der Virtualität voll und ganz abhängig. Und solche Leben sind in der Tat »rounded with a sleep«: von Schlaf umgeben, weil sie jederzeit einfach abbrechen können, wie jene Träumereien und Phantasiebilder, die einen oft bis zur Schwelle des Schlafes geleiten, um dort manchmal zu verstummen, manchmal unmittelbar in andre Träume überzugehen; und von Schlaf abgerundet, vollendet, weil der Schlaf, in dem man träumt, die maximale Entkopplung vom Wirklichen, d.h. Freisetzung der Phantasie ist – wenn man eben vom Wahn absieht.15 Fluch. Der Fluch ist ein Virtuelles par excellence, denn in ihm löst sich nicht einfach nur die Oberfläche eines Sinnes von der Materialität des gesprochenen Wortes aber, sondern diese Oberfläche wirkt wieder unmittelbar zurück auf die Materialität, oder sie soll doch so wirken. Der Fluch will durch das Wort Realität herstellen, ganz so wie eine Fiktion, nur ohne die Fiktionalität. Der Fluch ist auch deswegen so wichtig, weil er eine Art Übergangsphänomen darstellt. Die Wut, in ihrer nackten Aktualität, schließt das Wirken der Virtualität aus, wie man am Beispiel von Prosperos Rede sieht. Prospero bricht dort den masque-Tanz ab und erklärt vielmehr, wie ein Regisseur, das Geschehen der Virtualität, was freilich ihre Verwirklichung formell ausschließt. Der Fluch aber ist ein Produkt der Wut, das die Form des Virtuellen anzunehmen vermag. Unter anderem gelingt das deshalb, weil er ritualisiert ist: sei es in festen Wendungen (vor allem beim Fluch im klassischen Sinn von »Verfluchen«), sei es dadurch, dass man sich im Zweifelsfall der am meisten tabuisierten Ausdrücke bedient (im heute gängigen Sinn von »Schimpfen«, in dem der frühere dem Impetus nach aber zweifelsfrei noch nachwirkt). So klärt sich auch die Rolle, die der Fluch im Stück spielt, denn man kann behaupten, dass der Fluch das Signal ist, das in der Identität der beiden großen Fluchenden nicht nur das radikal Imaginäre des Ganzen, sondern auch den affektiven Motor (und damit die Unmöglichkeit einer Auflösung und Erlösung) aufdeckt. Der erste Flucher ist Caliban. Er entgegnet Prospero, der ihn an seine Schuldigkeit ihm gegenüber erinnert:

15

rie« und »Imagination« – als zusammengehörig begriffen und verwirklicht werden, als die beiden Seiten ein und derselben Sache: der Materie selbst. Zu diesem Doppelsinn von »rounded« vgl. die Anmerkung des Herausgebers (The Tempest. 191).

Ablösung: Der Sturm

Ja, du hast mich sprechen gelehrt; doch der einzige Nutzen, den ich daraus ziehe, ist, dass ich zu fluchen verstehe (I, 2, 363f.).16 Und das Fluchen ist hier, wie die Anmerkung zurecht bemerkt,17 im alten Sinn zu verstehen: mit einem Fluch belegen. Doch dann erklärt Caliban noch dies: Er muss fluchen, selbst wenn ihn die Geister, die Prospero zu Diensten sind, hören und denunzieren werden. »And yet I needs must curse.« (II, 2, 4) Warum Caliban fluchen muss, warum das nicht nur der einzige halbwegs autonome Gebrauch von Sprache ist, der ihm möglich, sondern einer, der ihm unausweichlich ist, klärt sich, wenn man Prospero als den anderen großen Flucher des Stücks erkennt. Es ist ja nicht so, dass er nicht wüsste, worin die Freiheit und die Erlösung lägen, die er sucht. Er sagt es ja selbst: im Verzeihen, in der Milde, in der Liebe, im Mitleid (V, 1, 20ff.). Aber das zu wissen, es vielleicht sogar zu wünschen, reicht nun einmal nicht hin, um diese Läuterung der Gefühle auch zu erlangen. Nur ein Affekt vermag es, einen Affekt zu bezwingen, nicht eine Erkenntnis.18 Es ist nun einmal die Macht seines Hasses, die Prosperos Wahngebilde überhaupt erst motivieren. Die Läuterung, die er ersehnt, kann es nur in einer Auseinandersetzung mit dem Wirklichen geben, eine Phantasie, die gespeist ist aus Revanche-Streben, kann sich höchstens erschöpfen. Prosperos Phantasie, die sich Der Sturm nennt, ist Produkt seines Hasses, und dieser das Schicksal, dem er ausgeliefert ist wie ein Bewohner des Tartarus seinem Folterinstrument. Diese Wahrheit verraten eben die Passagen, die dem Bild des weisen Magiers so gar nicht entsprechen, nämlich die rohen und rücksichtslosen Wutausbrüche, die sich sogleich in Flüche fortsetzen (IV, 1, 188ff. und 252ff.). Caliban »ist« Prospero. Natürlich, denn alle Figuren eines Wahngebildes »sind« das Subjekt desselben. (Von »Urheber« hier zu sprechen, wäre ganz inadäquat.) Aber Caliban verrät die Wahrheit über Prospero, die das Stück im gleichen Zug verschleiert, wie es sie inszeniert: dass nämlich das ganze Stück ein einziger Fluch ist: der Versuch des moribunden, von Fieber und Delirium geschüttelten Prospero, mit der puren Intensität seines Hasses die Schranke zu überspringen, die Phantasie von Realität trennt und an denen reale Rache zu nehmen, die für immer seinem Zugriff entzogen sind; der Versuch, durch Worte Realität zu schaffen. So wie Prospero Regisseur des Stückes ist, in dem er selbst mitspielt, so ist Caliban die Projektion dieses doppelten Prospero in das Stück hinein: als Abjektes, Ausgestoßenes, als der Homo sacer (denn das ist Prospero ja in der Realität) – und als Rächer und Fluchender, als der, der Rache nimmt, aber nur noch in der Phantasie.19 16

17 18 19

Dieser Nutzen, »profit«, hat dabei eine ganz prosaische Bedeutung: Da Caliban Prospero vollkommen untertan ist, da er seiner Macht total ausgeliefert ist, hilft ihm alles Reden nichts. Die einzige Hoffnung, mit Hilfe der Sprache seine Situation zu übersteigen und vielleicht sogar zu verändern, liegt also tatsächlich im Fluch als der Herstellung einer Realität durch das Wort, das sie heraufbeschwört – eine exakte Exemplifizierung des Virtuellen: Ablösung des Worts aus seinem materiellen Boden, Nicht-Lokalisierbarkeit, Herstellung einer neuen, eigenen Existenzebene. The Tempest. 120. Spinoza: Ethik. IVp7 und IVp14. Dann wird im Übrigen auch klar, warum das Stück so heißt, wie es heißt, obgleich der titelgebende Sturm doch nur Beginn der Handlung ist, der nicht nur nach einer Szene abgehakt, sondern zudem das Produkt des Magiers ist. Warum sollte man ihm also solche Prominenz geben? Weil der Sturm das ist, was Prospero umtreibt, der Sturm ist sein Affekt, seine Hilflosigkeit, die Wut, die sich keine Erleichterung schaffen kann, die Kränkung durch den Verrat und die Demütigung, ihn nicht vorhergesehen zu haben, der Wunsch nach Rache und die Zerstörungslust, doch niemand

327

328

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Feuerholz. Prospero schickt zwei seiner Figuren los, um Holz zu holen: zuerst Caliban (I, 3, 366), der sich aber lieber Stephano und Trinculo anschließt (der Beginn von II, 2 zeigt Caliban, wild fluchend übrigens, beim Holzschleppen, und als er Trinculo begegnet, meint er schon, einen Geist vor sich zu haben, den Prospero geschickt hat, um ihn beim Holzsammeln anzutreiben, II, 2, 15f.); dann (vielleicht als Ersatz für Calibans Nichterfüllung der Aufgabe) Ferdinand (III.1.: die Anweisung selbst wird nicht gesprochen; wir sehen nur Ferdinand die Holzstämme schleppen, und er erklärt, dass er ein paar Tausend Stämme forttragen und aufschichten soll, ebd. 9f.). Allerdings handelt es sich offenbar um Brennholz (»fuel« fordert Prospero von Caliban). Nun ist aber Brennholz im Lateinischen »lignum« und wird dem Nutzholz, »materia«, entgegengesetzt. In diesem Stück eines Delirierenden geht es ja genau darum, dass sich die Grundlage im Imaginären ganz aufzehrt, dass vom Realen, Körperlichen nichts mehr übrig bleibt als die Asche des Leibes, während alle Substanz sich als Rauch in den Äther erhoben hat, wo sie sich verflüchtigen muss, kein Haschen kann sie zurückhalten.20 Das Delirium Prosperos ist die Transformation des Wirklichen und Körperlichen in eine reine, abgetrennte Fiktion, die Aufzehrung seines Lebens und seiner »potentia« (seine Kraft der Konfrontation mit dem Wirklichen); seine Magie ist eine Fiktion, die (imaginär) über alles Macht hat, weil und insofern sie (realiter) über gar nichts mehr Macht hat. Prospero setzt sich eben genau der Spannung von körperlicher Wirklichkeit und Virtualität nicht aus, er sucht nach dem Punkt, wo die Verselbständigung des Imaginären so weit geht, dass – dann wahrhaftig in einem magischen Akt – daraus die vollständige Transformation des Wirklichen entspränge, als totale Rache und Wiedergutmachung, als beständige Revision des Vergangenen. Der »Fehler« Prosperos ist figuriert in der »Freilassung« von Ariel, die Fluchtpunkt der Handlung ist: Denn die Befreiung der Fiktion/Virtualität von aller Bindung ans Körperliche ist zugleich ihre unwiderrufliche Verflüchtigung – auf die es nur eine mögliche Reaktion gibt: Die Fiktion muss von vorne beginnen und immer wieder von vorne: Es braucht neues Brennholz, für den Affekt des Hasses wie für das Ausmalen der Vergeltung. Prosperos so radikaler wie bodenloser Idealismus setzt sich präzise bis in die Details fort: Caliban und Ariel sind die Repräsentanten der beiden Aspekte des Wirklichen: des Körpers und seiner Virtualität, aber in der verzerrten Form, in der man meint, beide voneinander abkoppeln zu können (also letzten Endes im Sinn von dualistischen oder auch monistischen aber dann reduktiven Ontologien). Und derselbe Irrtum ist es, der Prospero ständig nach Brennholz statt nach Materie/Material schicken lässt. Es gibt in der Tat nur zwei Arten von Aufgaben, die der allmächtige Prospero verteilt: Inszenierungen, Täuschungen, Tänze usw. ausführen, d.h. Virtualität exerzieren, immer adressiert an Ariel und die ihm untergebenen Geister – und Holzsammeln, eine Aufgabe für die Calibans und die Ferdinands. Eine in sich kreisendes Getriebe, in dem, als dem Perpetuum mobile, der Widerstand der Materie aufgehoben ist – und mit ihm alles Wirkliche.

20

da, den man kaputtmachen könnte – und die Trauer um die verlorene geliebte Tochter. Das alles ist der Sturm, der nicht einmal am Anfang stattfindet, sondern die Nährlösung ist, in der sich die Zellteilung der Worte und Szenen abspielt. Das entspricht wohl in etwa dem »Phantomleib«, von dem Richir ausführlich spricht, vgl. Phantasia, imagination, affectivité.

Ablösung: Der Sturm

Erlösung? In der Tat ist die Freilassung Ariels der letzte Akt Prosperos im Stück, das letzte Wort im Stück – es folgt nur mehr die Rückkehr Prosperos von der Figur, die er in seinem eigenen Stück gespielt hat, zu sich selbst als Autor, Regisseur, Bühnenbildner, einzigem Schauspieler und Publikum seiner Produktion: der Epilog, der zugleich das Stück von vorne beginnen lassen muss, der also zugleich auch Prolog ist. Dieser Epilog ist ein einziges verzweifeltes Flehen um Erlösung: Now my charms are all o’erthrown, And what strength I have’s mine own – Which is most faint. Now ’tis true I must be here confined by you, Or sent to Naples, let me not, Since I have my dukedom got And pardoned the deceiver, dwell In this bare island, by your spell; But release me from my bands With the help of your good hands. Gentle breath of yours my sails Must fill, or else my project fails, Which was to please. Now I want Spirits to enforce, art to enchant, And my ending is despair, Unless I be relieved by prayer Which pierces so, that it assaults Mercy itself, and frees all faults. As you from crimes would pardoned be, Let your indulgence set me free. Die Fiktion ist zum Ende gebracht. Der wahnsinnige Prospero, irgendwo auf einem einsamen Eiland dahindarbend, oder auf einen Felsen hingeworfen, oder vielleicht noch in der Barke, die ihn aus Mailand trug, den Leichnam seiner Tochter noch neben sich – denn wenn Prospero verrückt ist, kann man auch seinen Zeitangaben nicht trauen: Vielleicht ist es nicht 12 Jahre her, dass er aus Mailand vertrieben wurde, sondern nur 12 Tage – der wahnsinnige Prospero (oder wie immer er heißt) hat die Geschichte seiner Rache bis zum Ende erzählt. Er hat ihr sogar, anstatt im Blut seiner Feinde zu baden, eine Wendung zu Verzeihung, Versöhnung und Liebe zu geben vermocht. Jetzt muss sie aufhören. Prospero weiß wortwörtlich nicht weiter. Doch die Geschichte hört nicht auf. Die Befriedigung stellt sich nicht ein, obwohl alles genau nach Wunsch geschehen ist. (Wie sollte es anders sein, ist doch Prospero einziger Urheber der Erzählung.) Etwas fehlt. Was ist es? Es ist nichts anderes als die Probe am und die Bestätigung durch das Wirkliche. Gerade weil die Phantasie nur uns gehört, kann sie nicht befriedigen, kann sie nicht enden, kann sie auf nichts führen – als nur wieder auf sich. Die Phantasie ist genau das Virtuelle, das sich nicht abzulösen vermag, dessen Ablösung zumindest Stückwerk bleibt. Es fehlt genau die feste Umgrenzung (templum), die immer von etwas anderem verursacht oder garantiert werden muss. Wohlgemerkt: das heißt nicht, dass die Phantasie keinerlei Auswirkungen hätte. Aber sie vermag, rein für sich genommen, nicht, Wirkliches zu

329

330

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

werden. Dazu muss sie eben Buch werden oder Rede oder Tanz oder Musik oder selbst Fluch und Schwur. Denn Fluch und vor allem Schwur funktionieren nur, wenn jemand sie hört. Man schwört vielleicht jemandem etwas, aber noch wichtiger ist, dass man vor oder bei jemandem etwas schwört. Beides kann nicht zusammenfallen. Ich kann bei Gott etwas schwören, nicht aber ihm selbst – weil das keinen Sinn ergäbe. Der Dritte, der andere, der Zeuge, die Öffentlichkeit, der Externe, Unbeteiligte: alles Namen für eine Wirklichkeit, die den Kreis und das Gefängnis unseres Geistes sprengt. Da bricht etwas Wirkliches, eine echte Äußerlichkeit ein, die unserem Denken, Fühlen, Vorstellen, Phantasieren erst Festigkeit und Gestalt gibt. Und genau danach verlangt der Epilog: Er ist das durchgeführte Plädoyer, nicht für die Sache Prosperos, in irgendeinem inhaltlichen, bewertenden, urteilenden Sinn; sondern er ist Plädoyer dafür, dass sich einer seiner erbarme und den Kreis seiner Phantasien durchbreche; er ist Appell an eine Erlösung, die Prospero – das merkt er nun, im Scheitern seines Erfolges, in dem Triumph ohne Glück und Befriedigung – nicht alleine vollbringen kann. Er will ja, er will der Imagination entsagen: Er hat Ariel fortgeschickt,21 und nun steht er nackt, machtlos, nur mit seiner eigenen Macht angetan da (statt mit der Allmacht des Phantasierenden), er steht vor… vor dem Publikum? Nein, eben nicht. Er steht nun einmal vor niemandem. Genau das ist das Problem. Nur der Schauspieler steht vor einem Publikum. Prospero ist die Oberfläche, die sich auf dem Leib des Schauspielers abhebt. Das Publikum sieht beide. Das ist die Magie der Kunst. Prospero aber kann das Publikum ja nicht sehen, er ist doch anderswo. Und nun, da er alle anderen fortgeschickt hat, in seine Zelle (dort, wo etwas oder jemand eingeschlossen ist), steht er alleine da, in genau der Einsamkeit, die die Wahrheit seines Wahnsinns ist. Nur eine wahrhafte Beziehung zu einem Außen, zu einem anderen könnte Prospero freisetzen. Andernfalls wird er auf seinem Eiland eingesperrt sein (confined), für alle Ewigkeit, wie die imaginären Figuren, die er in die Zelle zurückgewiesen hat, in seinem Hirn eingeschlossen. Er hat doch alles richtig gemacht. Er hat sogar seinem Verräter verziehen! Es mögen die Hände ihn aus den Banden lösen, den Bann durchbrechen, unter dem er steht! Ja, der Applaus, da er Lärm macht, kann solchen Bann durchbrechen.22 Aber da ist ja keiner, und der Zauber, der Prospero im Griff hat, ist der Wahn, sein »Fehler« ist, sich im Phantastischen zu verlieren. Wenn ihm niemand zur Hilfe kommt, dann ist sein Zweck verfehlt, und der war: zu gefallen, Freude zu bereiten (to please). In seiner verspielten Doppeldeutigkeit lässt der Epilog natürlich die naheliegende Deutung zu, dass es um die Unterhaltungsmaschinerie Theater geht, und dass Adressat der Unterhaltung das Publikum ist – eine Deutung, die das Publikum mit Vergnügen aufnimmt.23 Aber vielleicht war ja nie das Publikum gemeint: Wie gesagt 21

22 23

The Tempest kehrt also gewissermaßen, da es ja ein Stück über die Virtualität und ihre konstitutiven Grenzen ist, die Reihenfolge um: In jedem anderen Stück löst sich die Figur auf, wenn das Stück zu Ende ist. Hier löst sich die Figur auf – die Figur, die das Figur-Sein, die Virtualität selbst figuriert, nämlich Ariel – und das Stück muss nun enden. Vgl. Anmerkung des Herausgebers zu Vers 10: »Noise was thought to break a ›spell‹.« Genau das hat der Schauspieler des Beckmann in der Schulaufführung erfahren. Diese Lust ist von besonderer Art, mit keiner anderen zu vergleichen: aus der Virtualität des Fiktiven heraus angesprochen zu werden. So wie andererseits darin übrigens auch eine mächtige Quelle des Horrors liegt: Die Nachricht, vor tausenden Jahren geschrieben, meint mich. Der Fernsehsprecher spricht mich an. Das langhaarige Mädchen entsteigt dem Bildschirm. In beiden Varianten

Ablösung: Der Sturm

kann Prospero von ihm ja gar nichts wissen. Nein, er wollte sich selbst Lust und Befriedigung geben, und dann auch, wenn alles gut geht: Frieden. Doch jetzt, da alle imaginäre Befriedigung erreicht und verfehlt wurde, da alle Geister entlassen sind, da also der Weg der Erlösung in und durch Phantasie bis zum Ende gegangen wurde, ist immer noch nichts geschehen! Prospero steht da, vor der Wirklichkeit, dass er einsam ist und dass er verrückt ist – und kann sie nicht annehmen. Sein Ende, das seiner Phantasie wie sein reales, ist Verzweiflung! Das muss sein Ende sein, das ist exakt der Ort, an dem er steht. Und seine Hoffnung, die seinen Wahnsinn bezeugt und sein Schicksal besiegelt, ist, dass es noch jemanden gibt, der für ihn betet, so herzerbarmend, dass die Gnade selbst von dem Gebet gezwungen wird. (Gebet und Fluch: zwei spiegelbildliche Formen der Virtualität.) Prospero hat ja recht: Gäbe es nur einen, der ihm beistünde, sich ihm in Liebe und Verzeihung zuwendete, der Kreislauf seines Hasses und seiner Verzweiflung und seiner Verlorenheit im Wahn könnte vielleicht durchstoßen werden. Er könnte das sein, worauf das Stück endet: frei. Nur ist der Epilog selbst Beweis der Unmöglichkeit dieser Befreiung: Denn Prospero ist so tief in seinen Wahn versunken, dass er meint oder hofft, zu jemandem zu sprechen, wo er doch in Wahrheit nur einsam vor sich hin brabbelt. Der Epilog ist berührendes Zeugnis einer Sehnsucht, die in der Literatur nicht erfüllt werden kann – und die wir alle eigenartigerweise immer wieder erfahren: der Sehnsucht nach einem Jenseits des Textes, der Imagination, der Selbstzentriertheit; der Sehnsucht nach einem Wirklichen. Die Ironie liegt darin: Die Sehnsucht nach Erlösung ist die Übersprungshandlung, die sich entstellt, wenn das Werk der Ablösung fehlgedeutet wird: nicht als Prozess, sondern als Ergebnis – und wenn man enttäuscht vermerkt, dass die Erwartungen an diese Ablösung nicht erfüllt wurden. Dann erst träumt man von der explosiven Freisetzung, die über alle Bedingungen und zuerst über die Materialität und sicher über die Ansprüche der anderen erhebt. Selbst wenn sie möglich wäre: Diese Erlösung aus dem Wirklichen – denn nichts anderes wäre das – ließe nur Wracks zurück, zerschellte Schiffe und zerstörte Menschenhüllen.

gerät das Wirken der Virtualität ins Schlingern – ein Vorgang, der offenkundig mit einer besonderen Form von Affektivität verbunden ist. Im einen Fall jedoch bleibt die Grenze bestehen: Das Fiktive/Virtuelle schwappt nicht über ins Reale/Körperliche. Das Publikum weiß und honoriert, dass es Zeuge eines Spiels ist, auch und gerade, wenn am Ende die Figur so tut, als sei sie keine, was ja nur beweist, dass der Schauspieler nie die Figur war. Das Reale, oder was man dafür hält, schluckt das Fiktive. Im anderen Fall aber droht das Fiktive, das Virtuelle, die Magie – Bereiche, in denen andere Regeln und Gesetze gelten – in das hinüberzuschwappen, was wir so gemütlich unsere Wirklichkeit nennen und darin eine Verheerung anzurichten, die sich nicht absehen lässt. Es ist schlicht und ergreifend die Verheerung, die eintreten muss, wenn einer meint, seine Phantasien verwirklichen zu können, anstatt ihnen mit ihrer Virtualität neue Ebenen und Bereiche des Seins zu erschließen. Das Vorgestellte wirklich machen wollen – es gibt nichts Schreckenerregenderes.

331

Elegie

Loslassen. Erinnerst du dich? Eine Autofahrt im Dämmerlicht, das Radio dudelt, hinten schläft ein Kind, und du bist glücklich. Ein Sommernachmittag im Freibad, du liegst auf dem Rücken, oben bilden schwarze Äste ein kompliziertes Muster vor dem Himmel. Gestern Nacht, vor dem Einschlafen, blitzen Bilder auf, schneller als ein Gedanke, weg waren sie. Eigenartig. Nichts kannst du festhalten, und wohl das am wenigsten, was am wichtigsten ist. Egal wie unscheinbar. Du kannst es nicht festhalten, weil du es willst. Eine Paradoxie steckt da irgendwo. Du kannst das Ephemerste, das zugleich das Wahrste ist, nur greifen und überliefern, bewahren, wenn du es nicht willst. Denn die Ader, die die Wahrheit des Wahrsten durchzieht und lebendig macht, ist die: dass es absolut vergänglich und einem unwiederbringlichen Verlust anheimgegeben ist. Kannst du das zulassen? Ich kann es kaum. Ich bin zu schnell, der ich sonst immer so geduldig bin. Aber meine Geduld ist eben auch eine Macht. Sie hat etwas Rücksichtloses, Brutales. Denn sie weiß, dass das Sein zu zwingen imstande ist. Zu zwingen, sich zu offenbaren und zum Sprechen zu bringen. Ich schreibe über den Verlust, doch in der Selbstsicherheit dessen, der für morgen und übermorgen schreibt. Ich mag den Verlust nicht recht glauben, und es ärgert mich, wenn er mir, sei es nur im Spiel, vorgeführt wird. Ich kann es nicht gut aushalten, wenn in einem Film oder einem Buch etwas Unersetzliches, etwas, was es nur (noch) einmal gibt – ein Gegenstand, ein Manuskript, eine Wahrheit, eine gute Tat – ein für allemal verloren geht. Wenn es keinen Zeugen mehr hat, der es weitersagen könnte. Wenn seine Bewahrung ausgeschlossen ist. Aber das ist ja nicht nur mein Problem. Eine Kultur, deren Technik auf einer immer umfassenderen Aufzeichnung und Dokumentierung beruht, scheint sich dem Absolutum des Verlusts mit allen Kräften entgegenzustemmen. Man meint vielleicht, wenn man nur ein Dokument oder einen Film hat, dann hat man der Schwäche der ersten Aufzeichnung abgeholfen: unserer Erinnerung. Die Archive sind auch wirklich Stützen der Erinnerung. Sie können sie aber nicht ersetzen, und wer es doch glaubt, der wird bald, im Glauben, sein Gedächtnis zu »entlasten«, seine Erinnerungen outsourcen und damit noch rettungsloser verlieren. Keine Aufzeichnung, kein Video, keine Notiz kann von der Dichte einer Erinnerung ein Bild geben. Nur wenn die Aufzeichnung, der Text, das Bild eine Erinnerung im anderen zu klingen bringt, geschieht eine Fortschreibung. Aber die

334

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Erinnerung ist tief eingelassen ins Leben selbst, in meins und deins. Sie strahlt in seiner Farbe, die sich zugleich in jedem Augenblick anders darstellt, wie die der Libellen. Die Erinnerung ist das absolut Verlierbare. Erst mit dem Menschen kommt die Möglichkeit eines absoluten Verlusts in das Sein. Eine Welt ohne Erinnerung kann auch nichts verlieren. Das ist das Plusquamperfekt dieser Welt, dass in ihr noch der Verlust vollkommen sein kann. Das Versiegen der Erinnerung vollendet das Entschwinden der Dinge und Menschen, die ihre Unersetzbarkeit ins Grab mitnehmen. Das sei zynisch, meinst du? Nihilistisch? Nein. Denn unersetzbar waren sie doch. Unersetzbar, ohne dass es dazu irgendeiner Besonderheit bedürfte, ja, nicht einmal der Andersheit. Vielmehr eine »triviale Unersetzlichkeit«.1 Mit mir, mit meinem Vater, mit meinem Kind, mit dir stirbt etwas, was es nur einmal gab und was durch nichts in der Welt aufgefangen werden kann. Und nichts garantiert, dass sich diese eigenartige Kette der Erinnerungen bis in alle Ewigkeit fortschreibt. Man – du und ich – muss verstehen, wirklich verstehen, dass das Sein und gerade das Wichtigste daran absolut verlierbar ist. Ich weiß nicht, ob der absolute Wert des Endlichen von seiner Vergänglichkeit herkommt. Warum sollte er überhaupt irgendwoher kommen? Ich weiß nur, dass beides stimmt. Das Endliche ist das Absolute, sein Wert und seine Würde sind unbedingt. So unbedingt, wie sein Schicksal ist, einst vergangen zu sein, ohne eine Spur. Es ist fast, als wäre nichts geschehen. Alles, was fort ist, ist für immer fort, und weil die Zeit Herrin über alles ist – wird sich nichts der Vernichtung und dem Vergessen entziehen können. In eine Welt ohne Außen ist am Ende nur der Verlust noch absolut. Nur gut, dass es kein Ende gibt. Was alles endet. Ich hab’s vergessen. Was war es noch gleich? Ich wollte doch eben noch etwas schreiben. Einen genialen Gedanken. Oder nur ein guter Witz. Naja, wird schon nicht so wichtig gewesen sein. Oder? Der Name des Mädchens will mir auch nicht mehr einfallen, in das ich damals, in der Schule, verliebt war. Halb so schlimm, man könnte es immerhin rausfinden. Was sich nicht mehr rausfinden lässt, sobald ich es vergessen habe, ist das Verliebtsein selbst: wie es damals war, jenes Mädchen, das ich kaum kannte, immerzu anblicken zu müssen. Was für Träume und Hoffnungen entsprangen dieser Verliebtheit? Alles banal, kindisch, ganz ohne Folgen geblieben. Und doch, hätte ich es nicht erlebt, würde meiner Textur nicht ein Faden mangeln? Ein Mensch, der nicht wüsste, was das ist und wie das ist, stunden- und tagelang von einem Gesicht zu träumen, das unerreichbar bleibt, was müssten wir von dem denken? Das Wichtigste ist nicht immer das Dramatischste, und die Wirklichkeit, die sich in jenem verdichtet, ist nicht von der Art des datierbaren Ereignisses. Umso prekärer seine Position. Es lebt nur in der Erinnerung, vielleicht am meisten in den Schichten einer affektiven Geschichte, die sich über die Jahre angesammelt haben, selbst wenn wir an ihren »Ursprung« kaum noch denken. Die Schichten der affektiven Geschichte, die uns wesentlich ausmacht. Unverlierbar ist aber auch das nicht. Wer garantiert, dass mir nicht irgendwann die Sehnsucht endgültig fremd wird, die mich einst beseelte? Und am Ende bin ich tot, und mit mir alle meine Sehnsucht.

1

Buber: Zwiesprache. In: Das dialogische Prinzip. 139–194. 188.

Elegie

Du hast etwas gesagt. Ein falsches Wort nur. Und etwas ist zerbrochen. Ein Vertrauen, eine Nähe, die so stark waren, weil nie einer von euch dachte, dass sie je auf die Probe gestellt werden müssten. Kein Kitt der Welt wird das wieder zusammenfügen können. Es kann sein, dass ein neues Vertrauen, eine neue Nähe entsteht, die wirklich noch stärker sind, gerade weil sie gebaut sind aus den Trümmern der ersten. Aber wie nichts anderes in dieser Welt ohne Außen und ohne Drüber ist auch das nicht garantiert. Wo Freundschaft war, wird eine Wunde bleiben. Aber selbst im besten Fall: die ursprüngliche Unbekümmertheit wird verloren bleiben. Du hast eine Schuld auf dich geladen. Eine Freiheit ist dir ein für alle Mal genommen. Mehr als eine Freiheit eine Leichtigkeit. Es kann sein, dass dir vergeben wird. Getilgt wird deine Schuld jedoch nicht. Oder du hast eine Verantwortung übernommen. Sie wird dich fortan mit ihrer Schwere vom Leichtfertigen abhalten. Mit ihrer Sinnschwere allerdings, die das Heitere nicht ausschließt. Solcherlei Verluste sind Verluste, keine Frage. Sie nehmen aber, indem sie geben. Unschuld, Unbekümmertheit, Leichtfertigkeit, Naivität: Es liegt nichts Falsches in ihnen. Im Gegenteil sind sie die paradigmatischen Erscheinungsformen des Richtigen vor seiner Infragestellung, eines ungebrochenen Richtigen also. Sie sind gerade, ohne Hintergedanken. Was ihnen lediglich fehlt, ist eben das: das Wissen darum, dass es Unumkehrbares gibt. Dieses Wissen bildet die Entropie des Ethischen: die Modifikation, die der Zeit eine Richtung gibt und damit der Existenz erst Bedeutsamkeit. Was man nochmal von vorn anfangen kann, ist nur ein Spiel; was man beliebig nach vorne und hinten durchlaufen kann, ist lediglich ein Modell, mit dem man sich das Wirkliche greifbarer machen will. Und wäre doch Galois nur älter geworden! Oder Mozart! Oder Pascal! Was hätten die nicht noch alles geleistet! Was wäre das für ein Buch geworden, hätte Pascal für seine Apologie nur ein paar Jahre mehr gehabt? Wo stünde die Mathematik heute, hätte sich Galois nicht auf dieses bescheuerte Duell eingelassen? Ich würde viel Geld zahlen, dürfte ich die Romane lesen, die Herrndorf nicht mehr schreiben konnte. – Auch so ein Widersinn, der dort entsteht, wo man nicht tragen will, dass die Dinge absolut und endgültig verloren sind. Rede ich so, dann unterstelle ich doch, dass es die Romane, die Herrndorf nicht geschrieben hat, doch irgendwie gibt, nämlich als das, was er geschrieben hätte. Eine elegante Methode, dem Verlust nicht ins Auge zu sehen. Es gibt einen Roman, ein Musikstück, ein politisches Engagement, ein Muttersein nur, wenn sie in allem Ernst und in aller Geduld durch die Zeit hindurchgearbeitet sind. Außer der Zeit gibt es nichts. Nichts gibt es, was nicht in den Zufällen und Anstrengungen und Irrtümern einer immer wieder abenteuerlichen Geschichte geschmiedet worden ist. Keine Frage, Pascal hätte seine Apologie fertigschreiben können. Ob er es getan hätte, wenn er ein paar Lebensjahre mehr gehabt hätte, und ob dieses Buch dann »besser« oder »schlechter« als die Fragmente der Pensées geworden wäre – all das ist nicht widersinnig, weil es (wie man dann sagt) reine Spekulation ist, sondern weil es das Verlorene als nicht Verlorenes, das Werdende als außer der Zeit stehend zugrunde legt. Selbst die Erkenntnisse des Mathematikers sind nicht beliebig ersetzbar. Hat ein andrer erkannt, was Galois sonst erkannt hätte? Diese Frage hat nur deshalb mehr Anschein von Respektabilität als die vorigen, weil bzw. wenn man es sich angewöhnt hat, den Gang der Wissenschaften als eine objektive Sache, als sich höherentwickelnde Entdeckung des an sich bestehenden Wahren, als »Fortschritt« zu betrachten. Dem ist aber nicht so. Die Wahrheit besteht nicht, um dann noch ent-

335

336

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

deckt zu werden. Noch die Wahrheit ist Teil dieser Welt, eine Handvoll Natur. Galois greift hierhin, ein andrer nimmt von anderen Feldern. Wohin seine Forschung wollte: der Vektor seines Nachdenkens – der vielleicht grundlegender ist und dauerhafter als die einzelnen Erkenntnisse und der ihm immerhin eine Ahnung von dem gab, was noch kommen würde oder könnte – der ist weg, unwiederbringlich. Eines Tages wird auch mein Nachdenken in der Luft hängen bleiben, ungeschlossen wie ein Mund, der eben ein Liebeswort sagen wollte und verstummte. Eines Tages wachst du auf und du weißt: Du hast dein Leben vertan. Es wird dir unmöglich sein, genau zu sagen, wo und wann es schiefgelaufen ist; wann sich dir noch einmal eine letzte Chance aufgetan hat; wann endgültig alle Bahnen verschlossen waren. Du weißt aber, das eine Leben und das eine Glück, das deines gewesen wäre, sie sind vorübergegangen. Du hast dich zu spät umgedreht, findest sie jetzt nicht mehr im Gedränge der Jahre, die hinter dir liegen. Es wäre falsch zu sagen, du hast deine Möglichkeiten oder die Gelegenheiten nicht genutzt – die bestehen ja auch nicht außerhalb ihrer »Realisierung«. Du hast, so einfach wie brutal, nicht wirklich gelebt. Ein Punkt ist überschritten, ein Moment verfehlt. Und lebtestest du jetzt noch 100 Jahre: Was du verloren hast, lässt sich nicht mehr einholen. Alt ist er geworden, und hat eine Wüstenei um sich geschaffen. Nicht die Jahre haben ihn alt gemacht, sondern die Verknöcherungen, die er an sich zugelassen hat. Das HartWerden, hart und scharf wie das Messer, mit dem in einem Rutsch die Welt ins Richtige und Falsche zerschnitten wird. Freilich, wer sich zu nichts entschlösse und zu nichts stünde, hätte nie den Punkt erreicht, wo das Leben mit dem Verlust konfrontiert wird und seine Richtung erhält. Doch er ist zu weit gegangen, er war zu kompromisslos, und dann, manchmal, auch einfach zu gleichgültig. Seine Härten wurden von den anderen gefühlt und angemessen beantwortet. Nun ist er einsam. Selbst wenn er es nun wollte, es fehlt ihm die Erfahrung und die nötige Geschmeidigkeit, noch einmal mit den Menschen und den Dingen neuen, unverbrauchten Kontakt aufzunehmen. Was er für Gruß und Neckerei und Gastfreundlichkeit hält, ist nur Reflex: eine immergleiche Antwort auf tausenderlei verschiedene Dinge. Er müsste geradezu das Reden und Gehen noch einmal lernen. Für ihn gilt wortwörtlich: Die Welt – ein Thor Zu tausend Wüsten stumm und kalt! Wer Das verlor, was du verlorst, macht nirgends Halt.2 So kann, unter anderen Gestalten, der Verlust in unser Leben treten. Vollständig ist die Liste nicht. Und wär’ sie’s auch, wem wär’ damit geholfen? 2

Nietzsche: Der Freigeist. In: Nachgelassene Fragmente. 329. Im Grunde ist dies der ontologische Begriff des Alters, nicht unabhängig von den Jahren und Tagen, aber doch nicht einfach auf sie zu reduzieren. Simondon deutet einen solchen Begriff an. Danach beschwert sich das Individuum gewissermaßen mit dem Gewicht der Reste (résidus) der eigenen Operationen; es ist insofern seine eigene Exteriorität (vgl.: L’individu. I. 240). Dieser Prozess ist »wie der Aufstieg des Todes im Seienden« (241). »[…] tout opération d’individuation dépose de la mort dans l’être individué qui se charge ainsi progressivement de quelque chose qu’il ne peut éliminer […].« (242).

Elegie

Schlechte Verlierer. Es gibt mehr oder weniger gewitzte Wege der Verleugnung. Wenn man Gott und die Ideen und die Perspektiven von außerhalb der Welt beiseitegelegt hat, bleibt nur mehr ein Weg, der in der und aus der Welt deren Bewahrung generiert. Bergson geht diesen Weg, und es ist ihm ein eindrucksvoller Trick gelungen: Wenn einmal alles Geistige mit der Erinnerung identifiziert ist, dem das Materielle gegenübersteht, dann ist diese Erinnerung von Anfang an dem Vergehen entzogen. Es können für sie, da sie einer anderen, nicht-materiellen Ordnung angehört, einfach nicht mehr dieselben Regeln gelten. Das ist klug konstruiert, es ändert aber nichts am dem erschütternden Befund: dass alles vergessen werden kann. Dass am Ende alles vergessen sein wird. Dass nichts bleibt, wenn alles gesagt und getan ist, nicht einmal mehr eine Erinnerung. (Immerhin auch nicht die Scham.) Lethe ist Teil des Lebens, so grundlegend wie die Erinnerung selbst, und kündet von dem letum, von dem sie eine Region ist. Wert und Unwert, Sinn und Unsinn des Lebens, meines wie deines, muss sich von daher enthüllen. Das anzuerkennen, den absoluten (durch nichts zu lindernden, nicht rückgängig zu machenden) Verlust anzuerkennen: das ist Teil des Ernsts, den uns die Philosophie auferlegt. Es gibt aber noch einen anderen Trick, und ich kann leider nicht behaupten, ihm nie auf den Leim gegangen zu sein. Man kann – und offenbar ist dieses »kann« ab einem bestimmten Punkt keine nur theoretische, neutrale Möglichkeit mehr – aus der Produktion noch einen Fetisch machen. Das Ethos des Denkens gebietet unter anderem dies: sich keine Fetische zu leisten, oder zumindest nur vorläufige, wenn es schon nicht ganz ohne geht. Die Idee der Produktion von Neuem ist ohnedem eine sehr junge Idee, von der ideologischen Überhöhung ganz abgesehen. Große Teile der Geschichte, der westlichen und der restlichen, kennen entweder die Idee einer wirklichen Hervorbringung von Neuem nicht, zumindest nicht als ein Problem oder eine Frage, oder aber, wenn sie sie kennen, halten sie es nicht für besonders wichtig: Es ist dann nicht das Neue, das zählt, sondern das Althergebrachte oder gar das Ewige, Unzeitliche. Erst die Moderne, mit ihrem Zug zur Immanenz und zur Säkularisierung hat es möglich gemacht, überhaupt die Radikalität des Problems zu sehen. Die Entdeckung war erschütternd, dass es wahrhaft Neues geben kann. Dass die Produktion als solche bald manchenorts zur Erbin der toten Götter erhoben wurde, ist nicht wirklich überraschend. Natürlich aber kann diese Fetischisierung nicht überdecken, was die Verabsolutierung der Produktion als solcher noch so mitproduziert: ihre Gefahren und Abgründe. Denn in Wahrheit ist das Neue und das originell Hervorgebrachte doch nicht schon von sich aus gut oder erstrebenswert. Was wir stattdessen haben, ist der Imperativ: immer mehr produzieren, produzieren als Selbstzweck, natürlich nie ganz, denn es ist die Kapitalisierung, auf die man es abgesehen hat, zu der die ungebremste Beschleunigung und Expansion der Produktion Mittel und Instrument abliefern soll. Was das ökonomisch, politisch, sozial, ökologisch, ethisch an Verwerfungen mit sich bringt, ist kein Geheimnis mehr. Vielleicht aber ist dieser Imperativ in seiner Schlichtheit, so verzweifelt, wie er ist, mit starrem Blick und im Schweiße des Angesichts, auch ein Weg, den Verlust zu leugnen. Mag auch mein PC kaputtgehen und mögen meine Eltern sterben: Es geht immer weiter! Keine Sorge! Neu und verbessert und mehr als zuvor! Wir schmeißen uns zu mit Dingen, als wollten wir uns mit ihnen umstellen.

337

338

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Wohl nicht ohne Grund waren es in der politischen Philosophie Frauen, die mit dem größten Nachdruck auf die Grenzen dieses Fetisches hingewiesen haben. Mit dem größten Nachdruck, das heißt in der Philosophie immer: indem sie eine andere, gründlichere Sicht vorgeschlagen haben. Eigenartig kann das deshalb scheinen, weil man doch die Meinung vertreten könnte, dass das paradigmatische Phänomen der Hervorbringung des ganz Neuen die Geburt ist. Nun, wenn Männer aber in ihrer gottgegebenen Urteilssicherheit über das sich erklären, was Frauen so machen, schleichen sich aller ebenso gottgegebenen Überlegenheit zum Trotz hier und da ein paar Ungenauigkeiten und sogar Widersprüche ein. Die Aufwertung des Produktionsgedankens muss doch, in Verbindung mit der Tatsache der Geburt, die natürliche Stellung der Frau eigentlich erhöhen. Wie es aber so ist, kostet das was, und zwar immer auch und vor allem die so Erhöhte. Der Preis: Die Männer beeilten sich, die natürliche weibliche Fähigkeit zur Produktion von Neuem durch eine künstliche noch zu überbieten, die sie sich vorzugsweise selbst zuschrieben. Und immer gilt, dass das, was nur natürlich ist, am Ende des Tages auch keiner allzu großen Aufmerksamkeit mehr bedarf. Dann aber scheint schon die Konzentration auf die Geburt als solche wenig der Sache zu entsprechen. Man sieht auf den einen Moment, die paar Stunden, in denen das Kind auf die Welt gebracht wird. Ganz von Ungefähr kommt das nicht; wenn man mal dabei war, kann man an Magie wie Brutalität dieses Vorgangs nicht zweifeln. Aber dem gehen neun Monate vorher und folgen viele, viele Jahre, die ebenso wichtig sind und die sich überhaupt nicht in dieses Schema einfügen lassen. Das aber ist eben der Punkt: Man(n) bediente sich eines alten Tricks, der darin besteht, den Frauen einen Teil ihrer Arbeit (natürlich auch immer nur symbolisch) ganz besonders hoch anzurechnen, um den Rest und den größten Teil von ihr unentgeltlich einzufordern. Heute wird diese Arbeit mit den Namen der Sorge oder der Care belegt.3 Man könnte auch von einer Pflege oder – um endgültig den Genderbias zu brechen und die Domänen zu verwirren – von Kultur sprechen. Es gilt nicht nur, das Sein hervorzubringen, sondern es muss vor allen Dingen auch gehegt und gepflegt werden. Und erst darin verwirklicht sich am Ende die Wertschätzung dieses vergänglichen, empirischen, vereinzelten, zufälligen Seins, das wir sind, an dem wir teilhaben und für das wir verantwortlich sind. Unter der Hinsicht der absoluten Vergänglichkeit wird klar, dass die Betonung der Produktion von Sein, der Produktivität von Sein im besten Fall eine Vereinseitigung, im schlimmsten selbst wieder ein Fetisch ist. Die feministische Forderung nach einer Entlohnung der »Hausarbeit« orientiert den Arbeitsbegriff fort von der Produktion, hin zur Sorge – deren Interpretation als Dienstleistung den eigentlichen Kern der Arbeit wahrscheinlich schon wieder verfälscht, wenn nicht gar denunziert. Sie bricht aber zugleich die Macht

3

Wie lange und wie fest muss man die Augen zumachen, um im Ernst zu meinen, die Sorge des Daseins drehe sich in erster Linie um dieses Dasein selbst? Dass, wer so spricht, kaum eine ernstzunehmende Adresse ist, wenn er dann auch erklärt, dass die Menschen Hüter seien oder das Bewahren pflegen sollten, muss nicht weiter begründet werden – zumal da er keinen klaren Sinn für den Gegenstand dieser Bewahrung und Pflege hat. Am Ende soll es am besten gleich »das Sein« sein.

Elegie

eines ontologischen Vorurteils, durch dessen manische Ruhelosigkeit wir bei allen Verlusten sagen können, wir hätten sie gewollt, es rücke nun ja etwas Neues und Besseres nach. Stichwort: Erfahrungsverlust. Was soll das sein? Schließlich können wir doch gar nicht anders als erfahren. Wohin wir uns auch wenden, wir erfahren: wir riechen, schmecken, schwitzen, lauschen, haben Angst, sind gelangweilt. Wir erfahren Menschen, Dinge, Zusammenhänge, Ereignisse. Erinnerungen, Gedanken. Doch lässt sich dem Wort ein Sinn beilegen. Der Verlust des Verlusts wird nämlich erfahren als Verlust der Erfahrung. Erfahrungsverlust ist, wenn die unwiederbringliche Einzigartigkeit eines jeden Augenblicks zurücktritt. Wenn die absolute Einzigkeit und der absolute Wert dessen, was jetzt ist, vergessen, überdeckt, verleugnet ist. Es geht nicht so sehr ein »Bewusstsein« davon verloren. Solche Reden bemühen ein kognitivistisches Vokabular, das mit dem Tatsächlichen wenig zu tun hat. Man denkt dann immer, man müsse die Wirklichkeit erst denken, bevor und damit man sie erfahren kann. Das muss man nicht. Wohl aber mag es sein, dass sie sich abnutzt, wie ein Messer oder ein Stift. Gewöhnung, Routine sind mögliche Gründe für den Verlust des Erfahrens. Was mir begegnet, begegnet mit immer neu, doch nicht immer als Neues. Es schleift sich ab wie die Füße der Heiligenstatuen, die von den Pilgern berührt werden. Gewöhnung, Routine: das ist nicht dasselbe wie Gleichmäßigkeit, wie die Wiederkehr des Regelmäßigen, dann zumindest nicht, wenn es ein Regelmäßiges der Natur ist. Die Wiederkehr der Jahreszeiten ist so vorhersehbar wie kaum etwas sonst, und doch überrascht sie uns immer aufs Neue. Der Wind, der heute bläst; der Anblick der Stadt, der sich mir gerade jetzt, gerade so bietet; das Wogen der spärlichen Gräser; die ersten Tropfen des Regens; das Lachen meines Kindes; diese Beklemmung in der Brust, die vielleicht das erste Symptom der letzten Krankheit ist und wahrscheinlich nichts; mein Zorn; meine Unterwerfung, die mich weich macht und öffnet, nicht zuletzt auf die Erfahrung selbst; die Unterbrechung; der Klang eines Musikstückes, selbst von der Platte; noch meine Übelkeit, meine Schwäche, mein Überdruss – all das ist immer nur dieses eine Mal, selbst wenn es sich wiederholt, denn es wiederholt sich als ein anderes, unter anderem als eine Wiederholung. Erfahren heißt: im Wirklichen den Ton hören, der nicht wiederkehren wird. Den Weg des Seins zu Tale gehen. Dem unausweichlichen Verlust gerecht werden. Erfahrungsverlust ist der Verlust dieses Verlustes. Impotenz und Potenz. Die pure Wiederkehr ist aber nicht das einzige, was uns die Erfahrung verlieren macht. Eigenartig genug, schafft das manchmal auch unsere schiere Macht. So potent können wir sein, dass wir im Vertrauen auf unsere Kraft leugnen, dass uns etwas abhandenkommen könnte. Jetzt bin ich im Vollbesitz meiner Kräfte, die Blüte ist erreicht, die die Alten die akmé nannten. »[…] weil ich weiß, ich bin ja unsterblich. Und wie!« So bringt es einmal Thomas Bernhard mit unnachahmlicher Sicherheit auf den Punkt.4 Was sollte mir nicht gelingen? Wer sollte mir etwas anhaben. Nun, wo

4

Bernhard: Eine Begegnung. 89. Und er setzt noch hinterher: »Das haben S’ gar nicht g’wusst, gell? Aber jetzt hab’ ich’s Ihnen g’sagt.«

339

340

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

ich den Mittelpunkt gefunden habe, aus dem ich lebe und schreibe oder auch schweige, wird mir die Anfechtung von Ruhm wie von Schimpf nichts mehr anhaben können. Und was ich nun sage und tue, wird bleiben. Ein veritabler Rausch kann das sein, besoffen ist man von der eigenen Gewissheit, Unerschütterlichkeit, davon, angekommen zu sein, endlich Anspruch und Wirklichkeit, Mittelpunkt der Welt zu sein, zusammengebracht zu haben. Die gesunde Arroganz kann nur gepaart mit einer gesunden Demut die Erfahrung wahren. Ohne einander sind sie beide toxisch. Überheblichkeit wie Zerknirschung brechen die Aquädukte ab zum Wirklichen, aus dem und aus dessen Erfahrung die eine Wahrheit fließt: dass man nur Mittelpunkt der Welt sein wird als gleicher unter gleichen in einer Welt, die keinen Mittelpunkt hat. Die Überheblichkeit, der Stolz auf die eigene Potenz geht über alle Beschränkung hinweg, ignoriert das Unwiederbringliche, weil sie eben darin besteht, mit der Welt so umzugehen, als hinge alles von ihr ab – und ihrem Willen. Diese ganzen Träumereien vom Willen, in Philosophie wie Ideologie, kommen vielleicht nur daher: nur mittelalte Männer, die allzu selbstgewiss sind, konnten auf solche Ideen kommen. Alle anderen wissen, dass es den Willen entweder nicht gibt oder dass er in etwa die Relevanz eines Sandkörnchens hat, das die zurückrollende Welle verwirbelt: Rechenaufgabe für den Differentialkalkül. Was von mir, meiner Potenz, meinem Willen abhängt, das ist eben dadurch aus seinem natürlichen Zusammenhang gelöst: dem mit der Natur, dem mit der Vergänglichkeit, dem mit dem Verlust, der kein Gegenmittel kennt, kosmisches Alzheimer. Raub und widerrechtliche Aneignung vollzieht diese Selbstherrlichkeit dessen, der sich seiner Macht zu sicher ist. Mach dir nichts vor: Ohne diese Selbstherrlichkeit wären wir nicht, wo wir sind. Sie hat in allen Bereichen unserer Zivilisation das Mächtigste und Dauerhafteste hervorgebracht. Ob das gut oder schlecht ist? The jury is still out. Aber gesund ist das jedenfalls nicht. Trotzdem sind auch die Potenten immerhin noch von einem gedrängt: von der Zeit, die noch bleibt. Die ungeheure Potenz dessen, der in der Blüte steht, ist ungeduldig. Sie drängt von sich aus auf ihre Verwirklichung, alle Hindernisse, selbst noch die unumgänglichsten, diejenigen nämlich, die in der Natur der Körper selbst liegen, sind ihr zuwider. Nach und nach jedoch erschließt sich ihr, gerade im Angesicht der Unerschöpflichkeit ihrer selbst, die eine Grenze, die niemand überschreiten kann: die Grenze der Zeit. Je kraftvoller die Blüte sich äußert, desto mehr muss die Diskrepanz zwischen dem, was aus ihr erwachsen will, und der Endlichkeit des Lebensfadens in die Dialektik der Verwirklichung der Potenz eingeschrieben sein. Die Tragik: Nie wird die Potenz ganz verwirklicht werden können. Immer wird etwas ausstehen. Etwas offenbleiben. Nur eine größere Tragik: wenn doch alles verwirklicht wäre. Wenn sich die Potenz erschöpfte und – noch Zeit übrig bliebe. Es sei denn, man hätte bis dahin gelernt, dass diese Potenz nur ein Spiel bunter Farben ist, von einem Stein gebrochen, den man am Wegrand aufgelesen hat. Das Licht ist anderswo. So aber, in der Gedrängtheit der Macht, die, je weiter sie schreitet, desto weniger Schritte übrig hat, wird der Augenblick zur Hast. Und aufs Neue steht die Erfahrung auf dem Spiel. Denn wieder ist es nicht der Verlust als solcher, der bewahrt wird; vielmehr sind Ungeduld und Übereilung verzweifelte Kämpfe gegen den Verlust. Verstehe mich recht: Nichts wäre billiger, als sich gegen den Verlust zu stemmen. Dieses Bewahren ist recht eigentlich das Werk der Verantwortung. Es ist aber nur eine Verantwortung, die sich nicht selbst aufhebt und widerspricht, wenn sie das einzige, was ist: die Gegenwart,

Elegie

dafür nicht opfert. Ungeduld und Eile aber tun das: den Augenblick auf dem Altar der Zukunft obskuren Göttern darbringen. Schwäche, wirkliche Unterbrechungen, Krankheit, Leid (aber nicht selbstgerechter Zorn etwa) können diese Übereilung zurückführen. Jetzt aber nur nicht wieder in die unappetitliche Apotheose des Schmerzes einmünden: Es muss nicht immer Leiden sein. Ungeduld und Eile verfehlen die Zeit, weil sie sich nicht bei ihr aufhalten wollen. Sie wollen sie überholen, überrumpeln. Schneller sein als sie. Nicht hier sein, sondern schnell fortkommen, vorankommen, damit man dann endlich bei der Zeit sein könne. Etwas, eine Aufgabe etwa, möglichst geschwind hinter sich bringen. Eine Verzögerung nichten. Eine Verzögerung, die im Weg des wirklichen Lebens steht, es verdeckt, verhindert, hinauszögert. Eile und Ungeduld wollen die Gegenwart überspringen, hin zum Eigentlichen, und sie erheben damit den absoluten Verlust zum Prinzip, mindestens zur Methode auf der Suche nach der wirklichen Wirklichkeit, die jenseits des Abgrunds toter Zeit wartet – aber eben nicht unbegrenzt lange.5 Im Wartezimmer, im Stau, in der Übermacht einer Potenz, die an ihrer eigenen Kraft scheitern wird, drängt meine Ungeduld über die Gegenwart hinaus. Im dringenden Auftrag, dem Abgabetermin, der Bitte drückt sich mir eine Eile auf, die die umgehende Erledigung einer Arbeit anmahnt. Endlich mit einer Sache fertig werden. Etwas erledigen. Nur schnell die E-Mails beantworten, damit mir das Programm keine mehr als ungelesen anzeigt. Aufräumen. Ordnen. Die notwendigen Sachen abschließen. Damit ich mich dann anderen Sachen widmen kann, schöneren, befriedigenderen. Der alltägliche Pragmatismus des Erledigens ist der Punkt, wo sich Eile und Ungeduld auf unselige Weise treffen. Sein Imperativ lautet: jetzt etwas tun, ohne es zu tun, in der einzigen Absicht darauf, es aus dem Weg zu schaffen, der zum wirklichen Tun und zur wahrhaften Gegenwart führt. Der Verlust des Verlusts und damit der Verlust der Erfahrung wird hiermit zur Handlungsmaxime erhoben. Wenn man ihr nur lange genug huldigt, bald auch zur Lebensmaxime. Vor lauter Wegschieben der Hindernisse sind Wirklichkeit und Gegenwart bald endgültig aufgeschoben. Dieser Imperativ ist nicht einfach nur in sich widersinnig, weil er die Verhinderung von Erfahrung zu ihrer Bedingung erklärt. Er ist auch paradox, und das in einer dynamischen Weise: Je mehr man ihm nachgibt, desto bohrender wird er. Je mehr Aufgaben man mal schnell erledigt, mit desto mehr Aufgaben, die noch viel dringender sind, wartet er auf. Er hat damit, freilich als ein soziales Phänomen, dieselbe Struktur wie das ÜberIch, und er ist ja genauso bewusstlos. Die Prokrastination hat ihren schlechten Ruf nicht ganz zurecht. Diese paradoxe Struktur findet ihren offensichtlichsten und ihren brutalsten Ausdruck in einer Arbeitswelt, die ihre Entlohnung statt von der Arbeitszeit von der »Leistung« abhängig macht. (Lassen wir den Zynismus dieses Wortes für den Augenblick beiseite; er gibt sich ohnehin keine Mühe, sich zu verschleiern.) Und diese vorgebliche Verknüpfung von Leistung und Gewinn macht einen der großen ideologischen Pluspunkte 5

Diese Verhältnisse, so einfach, dass niemand sie nicht kennen könnte, so schwer, dass es kaum einem gelingt, sein Leben entsprechend zu formen, sind in Michael Endes Momo auf den Punkt gebracht, schöner allerdings, als ich das vermöchte.

341

342

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

der Selbständigkeit aus. Leider vergisst man zu erwähnen, dass es wie für den Gewinn auch für die Leistung keine Obergrenze gibt. So wird das Streben nach einem eigenen Unternehmen und nach Gewinn von Anfang einer Logik der Maximierung unterstellt, die wie ein sich vertiefender Strudel immer weitere Kreise zieht. Wenn ich € 3000 Gewinn gemacht habe, dann schaffe ich es vielleicht im nächsten Monat, noch einmal € 500 draufzulegen. Ich muss nur mehr leisten. Und immer mehr leisten. Und noch besser werden. Und noch schneller, kostengünstiger, effizienter. Die Logik der Maximierung ist ebenso wie der Imperativ des Schnell-fertig-werdens eine Dynamik der Eskalation. Es ist nicht so, dass unsere Welt schneller geworden wäre; es sind Dynamiken, die tief in Technik und Ökonomie eingelassen sind und von dort ihren Weg in unsre Körper gefunden haben, deren Übereilung uns mitreißt. Dieselbe Einnistung von Technik und Ökonomie und Politik in unseren Körpern, die man mit einem sehr irreführenden Namen einst als »Ideologie« bezeichnet hat, empfiehlt uns aber auch allerhand Gegengifte zum Erfahrungsverlust. Höhlentauchen zum Beispiel. Oder Fallschirmspringen. Schließlich finden wir da nicht nur Erfahrung im Höchstmaß, sondern angeblich sogar noch uns selbst, wenn wir uns nur erst einmal unseren größten Ängsten gestellt haben. Dabei ist der Erfahrungshunger, der immer neue Extreme sucht, genauso ein Symptom einer Durchtrennung der vitalen Bahnen, die uns mit dem Wirklichen verbinden, wie der Ästhetizismus. In diesem herrscht immer eine grundlegende Distanz, eine Abgeklärtheit, eine désinvolture: Flaneure, Ästheten, Naturliebhaber betrachten das Wirkliche wie ein Schauspiel, das man von außen betrachten kann, so sogar, dass ein jeder dieselbe externe Position einnehmen kann (so dass es kein Wunder ist, dass der Ästhetizismus immer in eine Schwermut der eigenen Wertlosigkeit gleiten muss: Alles, Welt wie ich, sind zu leicht in ihm, federleicht). Sie irren sich schon über die ersten metaphysischen Wahrheiten. Der Erfahrungshunger der sensation seekers rennt hysterisch einer Intensität hinterher, die sie nicht mehr im Nächsten finden können. Ihre Methoden sind Ersatzhandlungen. Versuche, eine verlorene Erfahrung im Modus der ständigen Überbietung wiederzugewinnen. Sehr bezeichnende Versuche übrigens, denn auch sie begehen einen metaphysischen Irrtum: Erfahrung ist eben grundlegend nichts, was man gewinnen könnte, nichts, worüber sich Macht erlangen ließe. Man kann Erfahrung, echte Erfahrung nicht erzwingen, und auch nicht mit List greifen. Odysseus wird ebenso mit leeren Händen dastehen wie Herkules. Dieser muss um jeden Preis immer exaltiertere Aufgaben erfüllen und meint dabei, der Einsatz seines Lebens müsse doch reichen, um ihm den Preis zu verdienen. Er vergisst: Niemand hat ihn gezwungen, sein Leben zu riskieren. Daher bleibt sein Einsatz wertlos, und wenn es der höchste ist. Jener denkt vielleicht, er könne die Erfahrung überlisten, indem er so tut, als würde er nicht auf sie warten, oder indem er immer »nur« die Umstände wiederherstellt, unter denen ihn dann und wann die Erfahrung mit ihrer Gegenwart beehrt hat. Aber es bringt nichts, alle Weisheitslehren haben es immer gewusst: Nur das kann gelingen, was man nicht zu kontrollieren sucht. Man muss in allem Ernst die Suche einstellen und das Erhoffte kommen lassen – oder sein Fortbleiben voll akzeptieren. »Es wird nicht so kommen, wie sein Entschluss es meint; aber was kommen will, wird nur kommen, wenn er sich zu dem entschließt, was er wollen kann.«6 6

Buber: Ich und Du. 57.

Elegie

Zeit-Vertreib ist der genaueste Ausdruck für eine groteske Art und Weise, nichts zu tun in aller Betriebsamkeit. Wie gewaltsam das ist, die Zeit zu vertreiben, wo es doch nichts gäbe, was sie ersetzen oder auch nur wieder zurückrufen könnte – das scheint uns nicht immer aufzugehen. Und so sitzen wir am Computer oder schauen in unsere Smartphones hinein, hier noch einen Artikel überfliegen, dort ein paar Bilder anschauen, kurz lachen, in einer Anzeige eine Nachricht über irgendwelche Promis aufschnappen, nochmal schnell bei Facebook reinschauen, die Meldungen meiner Freunde kommentieren oder wenigstens liken; dann mal das Telefon weglegen, Fernseher an, ein wenig glotzen, zappen, sich berieseln lassen, alles schon hundert mal gesehen, aber es ist eben immer wieder beruhigend. Und dann nochmal ins Internet schauen, vielleicht hat jemand eine Mail geschrieben. Bing, eine Nachricht bei Whatsapp, ein Bild von vom Abendessen, auch schön. Und nach ein oder zwei Stunden stehen wir auf und fragen uns erstaunt, wo denn die ganze Zeit hingegangen ist. Und was wir eigentlich gemacht haben. Und wir könnten es nicht sagen, um nichts in der Welt. Am Ende wird nichts geschehen sein. Das ist das einzige »Nichts«, das real ist und das uns Furcht einflößen kann. Ich könnte endlos weiterschreiben, von dem Zwang zur Aktualität, vom Imperativ der Erreichbarkeit, aber ich will auch deine Zeit nicht verschwenden. Vielleicht verstehst du mich aber falsch. Mir liegt jede pauschale Kulturkritik fern, mit elitärem Pessimismus habe ich nichts zu schaffen (und mit anderem auch nicht). Ich glaube, man kann, sowohl metaphysisch als auch und vor allem ökonomisch und sozial, ganz präzise die Fehlentwicklungen und Irrtümer benennen, und man muss das auch. Die Idee aber einer grundlegenden Dekadenz westlicher bzw. technischer bzw. moderner… Kultur ist Unfug: Sie wirft alles zusammen zu einem grauen Brei, über dessen Geschmacklosigkeit sie sich dann mokieren kann. Ihr wird dann zur Abrundung das Gegenbild einer möglichen ganz anderen und ganz reinen Kultur aufgetupft, die immer ein Hirngespinst ist. Ob die Summe der Verdrängungen wirklich immer überall gleich ist,7 weiß ich nicht. Der Gedanke ist aber heilsam, zumindest mit Vorsicht gebraucht, weil er vor den Naivitäten eines angeblich besonders kritischen Bewusstseins schützt, das aber, wäre es ehrlich mit sich, merken müsste, dass es ohne Zahnärzte, Zentralheizung und Internet in Wahrheit auch nicht leben möchte. Und so schreibe ich Narr und schreibe, über die Narren, die vor lauter Kraft nicht laufen können und den Schlag nicht hören, und über die, die meinen, die Erfahrung zwingen zu können – und je mehr ich schreibe, und je mehr davon richtig ist, desto weiter weg bin ich vom Wirklichen. Genau weil es alles richtig ist, genau weil die Sätze so lange kreisen wollen, bis sie das Wirkliche in ihren magischen Zirkel gebannt haben. Was für eine eigenartige Wissenschaft, in der das Höchstmaß an Kraft zwar immer noch hinter der Wirklichkeit zurückbleibt, aber doch zu viel ist. Siehst du da oben den Vogel? Da schwingt einer über uns fort, ziemlich weit droben, eine Krähe vielleicht. Kaum mehr als eine dunkle Bewegung von hier unten. Eben, als ich ihn 7

Das ist die durchaus streitbare These von Daniela Dahn in ihrem polemischen Essay über die pauschale Abwertung und Entwertung der gesamten DDR und ihrer Geschichte sowie der Menschen in ihr nach der Wiedervereinigung, Westwärts und nicht vergessen (1996).

343

344

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

sah, habe ich körperlich den Schmerz gefühlt, nicht er zu sein und es nie sein zu können. Nicht weil ich Fliegen wollte, nicht weil ich den Vögeln ihre sprichwörtliche Freiheit neidete. Nein, ich habe schlicht den Schmerz gefühlt, der darin besteht, an meine eigene Existenz festgenagelt zu sein. Kennst du das? Kindisch, sagst du. Und dumm. Und du hast recht. Aber immerhin eine absolute Schwäche, die als Antidot wirken kann. Und als Hinweis auf die Verbindungslinien im Wirklichen. Ewigkeit. In ihr, so heißt es, wäre Erlösung möglich. In bestimmtem Sinn gibt es die Ewigkeit, das Ewige. Es ist Horizont unseres Seins, unserer Zeit. Es ist das, was stets am Rand unserer Zeit liegt. Nicht deren Verlängerung und Ausgriff, maximale Vergrößerung. Sondern etwas anderes als Zeit, etwas Fremdes, ganz und gar nicht Vertrautes, von stabiler Integrität. Glatt und schwarz wie Obsidian. Nähert man sich ihr, nähert sie sich uns, erhalten wir nur wieder unser Bild zurück, ohne Erlösung. Die Ewigkeit ist das Anonyme der Zeit, die Zeit als Element betrachtet: ohne Grenze, ohne Anfang, ohne Ende, ohne Bewegung, oder mit Bewegung und ohne Veränderung. Die Ewigkeit ist das Schicksal der Zeit: Sie entspringt aus ihr, im Ursprung, sie lebt von ihr, badet in ihr, kehrt in sie zurück. Von ihr aus betrachtet gilt: Am Ende wird nichts geschehen sein. Im Auge der Ewigkeit wird die Endgültigkeit des Verlusts tödlich. »L’éternité mugit, ainsi qu’une mer lointaine, et s’approche à grands pas.«8 Die beste Welt. Die schlechteste Welt. Die Ewigkeit ist der Rand, von dem aus darüber gestritten wird, ob die Welt gut oder schlecht ist. Sie ist gut, weil sie von dort aus fertig, ganz, eben vollkommen erscheint. Sie ist schlecht, weil genau diese Vollkommenheit – die der schwarzen Kugel – alles Einzelne in die Gleichgültigkeit stößt. In Wahrheit hat eben noch keiner am Rand der Zeit gesessen. Zumindest keiner, der zurückgekehrt wäre. Das Sein ist vollkommen, genau in dem Sinn und aus dem Grund, den Spinoza gibt: Es allein ist Maßstab aller Vollkommenheit. Diese Tatsache, nicht einmal das hellste Wissen um sie ändert aber etwas daran, dass das Sein manchmal auch einfach unerträglich ist. Meine Erfahrung hat hier unabtretbares Stimmrecht, weil es die Wirklichkeit des Wirklichen nur in ihr und durch sie gibt. Durch meine Erfahrung, aber auch durch deine. Daher ist mein Votum über die Unerträglichkeit des Seins im allerstrengsten Sinn relativiert: nicht weil es damit nicht ernst wäre, sondern weil es immer noch andere Stimmen gibt, aus Notwendigkeit. Es gibt immer nur unendlich viele Singularitäten, die sich in endlose und unfassliche Netze ineinander knoten, ein Teppich mit einem sinnlosen Muster, unendlich schön und abgrundtief traurig. Dieser Teppich: der Boden, auf den wir treten. Wenn es gedämpft klingt, dann nur, weil wir gehalten sind von all den anderen Singularitäten. Wenn er sich bewegt und schwankt, dann weil es Geschichte gibt. Die Wirklichkeit, ein fliegender Teppich: Wer fällt, sieht ihn noch einmal von einer anderen Seite – und gehört ihm immer noch an. Nur wer meint, das Wirkliche beurteilen zu können, ohne ihm anzugehören, kann mit der Formel von Mallarmé sagen: »Rien n’aura eu lieu.« Nichts wird stattgefunden haben. Bestenfalls dürfte man sagen, es werde am Ende sein, als ob nichts geschehen sei. Aber »am Ende«: Es gibt eben kein Ende, und gäbe es eins, wüsste eh keiner davon. 8

Lautréamont: Les Chants de Maldoror. 202.

Elegie

Man kann vielleicht streiten, ob Epikurs Zurückweisung der Ansprüche des Todes – Wo er ist, sind wir nicht mehr, wo wir sind, ist er noch nicht – uns effektiv von der Todesangst wird befreien können; in Hinsicht auf das Ende der Zeiten oder die Welt im Ganzen ist die Struktur seines Arguments nicht zu widerlegen – und nicht zu übertreffen. In Wahrheit stehen wir, du und ich, einem Sein gegenüber, dessen radikale und unwiderrufliche Vergänglichkeit uns in aller Form beweist, dass etwas geschehen ist. Unsere Zärtlichkeit für dieses Sein wird von dem Wissen darum, dass es am Ende nicht zu retten sein wird, wenn nicht gegründet, so doch vertieft. Es ist dasselbe vergängliche Sein, das bald unerträglich, bald wunderschön ist, unerträglich schön. Schmerzen, Angst, Verzweiflung, Hunger, Demütigung, Schuld können uns unwiderlegbar erklären: Bis hierher und nicht weiter. Du wirst keinen Schritt mehr tun. Aber die Sinnlosigkeit, die Leere des Wirklichen? Ist das Leid am Nichts des Wirklichen »gerechtfertigt« – einmal angenommen, dieses Leid kümmerte sich um solcherlei Rechtfertigungen? Dieses Leid an Sinnlosigkeit und Leere ist metaphysisch falsch, aber nicht unbegründet. Wie sollst du, fragst du, anhalten, wenn du die Verknüpfungen, die dich im Sein halten, verfolgst? Wie nicht am Ende den ganzen Teppich sehen wollen? Wie nicht dich selbst erschrocken als das Ding erkennen, das von allem Sein getrennt ist, gekappt, da es dir doch gelang, es von außen zu betrachten? Eine Gemeinschaft transzendentaler Subjekte – davon hat man jedenfalls noch nichts gehört; wenn es sie gibt, hält sie zumindest keine Zusammenkünfte und Feste ab. Unerträglich ist mein Sein, hier und jetzt. Und mein Sein, hier und jetzt, ist unbegreiflich schön, es tanzt und schwebt. Was auch immer erlebt ist, trägt in sich bereits eine Wahrheit, weil es die Weise ist, in der Wirklichkeit geschieht. Die Verliebtheit und der Harndrang, der Gesang und der Hass, »Scheiße und Mondschein«.9 Das klingt nun alles ganz abgeklärt und distanziert, aber nur, weil wir wieder sprechen über etwas, das nur dadurch ist, dass man nicht darüber steht, sondern darin lebt. Jeder, der schon einmal Zahnschmerzen hatte oder nur einen Versicherungsvertreter zu Besuch, weiß, dass diese Intensität ohne jede Vermittlung und ohne Hintergedanken Wirklichkeit ist. Wer dies übergeht, der hat nicht nur diese Wirklichkeit, der hat alle verloren: wieder in dem totalen Sinn, der von der Trauer ums Verlorene, die festhalten will, strikt unterschieden ist. Die Elegie singt vom Verlorenen. Was du lieben kannst, was dir das einzige Glück schenken kann, das uns Endlichen beschieden ist: endliches Glück, ist von Anfang an mit dem Mal des Vergänglichen geschlagen. Eine ungebrochene Heiterkeit, eine Freude ohne Schwermut wirst du nicht finden. Ist es aber deshalb weniger Freude, nur getrübte Heiterkeit, unglückliche Liebe? Nein, nur wer die beiden Seiten des Seins, die doch zwangsläufig zusammengehören – seine Fülle und seine Vergänglichkeit – voneinander trennt und auseinanderreißt, kann lauteres Glück erträumen (und brutal enttäuscht werden) oder sich in die schwärzeste Verzweiflung einwickeln – und dabei eine heimliche Lust an der Verzweiflung selbst empfinden. Ironie, hier wie so oft (oder »Dialektik«, wenn dir

9

So der Mensch nach Arno Schmidt: ein »Gemisch aus Scheiße und Mondschein«. (Goethe und Einer seiner Bewunderer. In: Das Steinerne Herz. 200).

345

346

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

das lieber ist): Der radikalste Pessimismus kann eine recht passable und halbwegs humane Philosophie liefern. Das Unerträglichste wäre dagegen: eine Metaphysik, die a priori erklärt, dass das Sein nicht unerträglich sein darf. Widersprüche. Apropos Dialektik. Der Verlust stellt uns vor ein Geheimnis, das wir nicht ergründen können, nicht weil es zu kompliziert ist oder von anderer Logik als die, die wir verstehen. Sondern weil wir aufgefordert sind, ihn zu akzeptieren, weil er aber genau darin besteht, dass man das nicht kann. Trauer ist der Schmerz im Organ der Zeit. Der Widerstand meines Körpers gegen die Zeit, das Brennen der Haut, die von der Reibung des Vergehens abgeschabt wurde. Nostalgie ist der Stolz auf die Narben vergessener Verluste. Was die Philosophie sich unter Wirklichkeit, reiner Objektivität, Subjektunabhängigkeit hatte vorstellen wollen, das findet man nur in der Vergangenheit. Selbst wenn man etwas »Gegenwärtiges« in diesem Sinn aufzufassen meint, dann fasst man es nun einmal automatisch als etwas Vergangenes auf. Folgerichtig ist die einzige legitime Domäne des Determinismus die Vergangenheit. Doch gibt es die Vergangenheit nun einmal nicht, aus dem einfachen Grund, dass es vergangen ist. Es war einmal wirklich, aber als es wirklich war, war es von anderer »Seinsart« als das Vergangene. Das Vergangene stellt sich dar als das Wohlbestimmte und ganz in sich Ruhende, als Sein ohne Riss und Fragwürdigkeit. So war das Vergangene aber eben nicht, als es Wirkliches war. Als es Gegenwart war. Wenn es das Vergangene »gibt«, dann nur als Schatten des Gegenwärtigen, als Echo im Brunnen der Zeit. Zwar gibt es auch noch das »Vergangene«, das ins Jetzt hineingreift, indem es wirkt. Aber insofern es eben wirkt, ist es gerade nicht vergangen. Was vergangen ist, ist als solches vom Wirklichen und Gegenwärtigen durch eine Wand geschieden, die immer nur in eine Richtung durchschritten werden kann. Jenseits der Wand zerfällt das Sein. Alle echte Sorge, die bewahren und schützen will, findet an diesem kategorischen Unterschied zwischen dem Wirklichen und dem Vergangenen, als Nicht-Wirklichen, ihre Grenze, ihre Endlichkeit und ihre Tragik. Der innere Widerspruch des Bewahrens ist, dass das Bewahrte nicht mehr als es selbst bewahrt wird. Der Wunsch, das Geliebte und die Geliebten nicht dem Untergang anheimfallen zu lassen, mag uns in übermenschlicher Anstrengung über den Tod hinausgreifen lassen; er wird doch immer nur Erinnerung und Abbild der Lieben festhalten können, nie diese selbst. Diese Unmöglichkeit kann er nicht mehr ignorieren. Jedoch, keine Unternehmung ist damit abgetan, dass ihre Vergeblichkeit bewiesen ist. Manches Vergebliche will uns offenbar erst zu Menschen werden lassen. Abschied. Wenn du an der Menschheit verzweifeln willst, wirst du gut daran tun, dich immerhin daran zu erinnern: das älteste Epos, der älteste geschriebene Text, der auf uns gekommen ist, besingt nicht Mord, Totschlag und Kriegsglück. Das Gilgamesch-Epos handelt im Gegenteil von einem, der nicht verwinden mag, dass sein Freund stirbt. Die Reise des Gilgamesch wird nicht von der Fahrt nach Troja ausgelöst, sondern von kompromissloser Liebe: Als ihm sein Freund Enkidu stirbt, zieht er aus, um ins Reich der Toten zu gelangen, von wo er Enkidu zurückzuholen gedenkt. Eine Freundschaft, die die Grenze des Todes souverän ignoriert, und der Wunsch, das Geliebte gegen den uner-

Elegie

bittlichen Lauf der Zeit zu bewahren, ist das älteste Dokument der Menschheit. Es gibt noch Hoffnung offenbar. Freilich, Gilgamesch wird das Jenseits erreichen. Doch er wird erfahren, dass er Enkidu nicht auslösen kann. Es gibt kein Zurück. Der Verlust ist unwiderruflich. Schlimmer noch, die Götter erkennen die letzte Hintertür von der Menschenwelt zu ihrer in dem Weg, den Gilgamesch genommen hatte – und sie verschließen sie für alle Zukunft. Es ist also nichts geschehen. Nichts wird stattgefunden haben? Es ist etwas geschehen: Aus dem jungen Prinzen Gilgamesch, der die Unverantwortlichkeit kultivierte, wie sie der Jeunesse, dorée und nicht dorée, wohl zusteht, ist ein Mann geworden, der in der Lage sein wird, sein Reich verantwortungsvoll zu führen. Er hat eine Grenze und eine Absolutheit erfahren, die des Verlusts und der Vergänglichkeit alles Endlichen, und diese Erfahrung hat ihn reifen lassen. Nochmal, ich weiß es nicht, ob die Vergänglichkeit den absoluten Wert des Endlichen begründet oder »nur« enthüllt. Das ist aber letztlich auch egal. Der Tod des Liebsten wird in der brutalsten Weise die Unverhandelbarkeit des Verlusts demonstrieren. Was du noch sagen wolltest, bleibt ungesagt, dein zum Sprechen geöffneter Mund ist die Wunde, die durch den Tod im Sein klafft. Die so verloren sind, werden es bleiben; deine Unfähigkeit, dein Unwillen, das zu akzeptieren, der Zwang, es doch zu tun, tauchen die Natur ins Zwielicht. Enthüllen dir das Wertvollste, befeuern deine Liebe, deine Zärtlichkeit für ein Sein, das immer neu einzig und unersetzbar ist – lassen dich in einen Abgrund der Sinnlosigkeit blicken, in eine Gewalt, die von keiner Gerechtigkeit mehr erlöst werden wird. Denn auch das gehört in die Einsicht in die Welt endlicher Dinge: Es gibt keine Gerechtigkeit, keine kosmische und keine göttliche; ab und zu mal eine menschliche. Wieder ist das keine Ausrede zur Resignation. Es ist Aufforderung, die Gerechtigkeit allen Wahrscheinlichkeiten zum Trotz anzustreben. Für manche, denen die Ambivalenz des endlichen Dinge besonders schmerzlich war, wurde es sogar die Herausforderung, sich mit der Struktur des Seins, mit der unabänderlichen Tatsache der Vergänglichkeit selbst anzulegen. Gegenüber dem sachlich richtigen und keineswegs zynisch gemeinten Satz von Horkheimer »Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen«, bietet Walter Benjamin einen Gedanken auf, der kühner nicht sein könnte: »Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen.«10 Das bedeutet doch nichts anderes, als dass die Ethik des Eingedenkens die Entropie des Verlusts zu bezwingen sich aufmacht, am Ende: nichts Geringeres als eine Umkehrung der Zeit. In der Tat ist das die Aufgabe der Geschichtsschreibung bei Benjamin, im vollen Bewusstsein der faktischen Unmöglichkeit. Die Erschlagenen sind nicht nachträglich un-erschlagen zu machen. Wäre das möglich, wäre ihr Tod auch kein Skandal und keine Tragödie; es wäre doch alles nur Spiel gewiesen. Benjamins Messianismus ist die Formulierung einer Aufgabe, die gerade in ihrer Unmöglichkeit versucht werden muss. Dem Verlorenen ein Jota abringen. Das Verlorene nicht verloren geben. Mit der Ermordung der Erschlagenen nicht seinen Frieden machen. Das ist die Aufgabe, die Benjamin der Geschichtsschreibung zuweist. Es ist mehr als Aufgabe. Es ist Auftrag: »Wir sind auf der Erde erwartet worden«, und zwar von den 10

Benjamin: GS. V/1. 588f.

347

348

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

»gewesenen Geschlechter«, von der »Tradition der Unterdrückten«.11 Es gilt, gegen alle Unmöglichkeit, »dass nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist«, es gilt, »die Geschichte gegen den Strich zu bürsten«.12 Es ist unmöglich. Diese Traurigkeit musst du aushalten. Es ist nicht deine, oder deine nur, weil das Sein selbst elegisch ist. Das Eingedenken sperrt sich gegen die Brutalität der Geschichte, die ungerührt über die zahl- und namenlosen Opfer hinwegsteigt. Wenn man den Widerstand gegen die Geschichte nur noch religiös formulieren kann, dann deshalb, weil die Unmöglichkeit des Auftrags in der Paradoxie der religiösen Vorstellungen immerhin noch bildhaft zur Darstellung gelangt. Vielleicht nirgends kraftvoller als im Bild des Engels der Geschichte: Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, das sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.13 Das Eingedenken ist der unmögliche wie unabweisbare Versuch, dem Verlust seine Opfer zu entreißen, ihr Sinn der »einer revolutionären Chance im Kampf für die unterdrückte Vergangenheit«.14 Es liegt etwas Rührendes darin. Etwas Kindisches, wenn einer, wie Canetti, nicht bereit ist, mit der Tatsache des Todes seinen Frieden zu machen. Aber nur einem Kind kann dann ein anderer Begriff der Unsterblichkeit einfallen, einer, der nicht an sich selbst allein festhalten will. Das ist die Unsterblichkeit im Werk, die nichts mit Ruhm zu tun hat, sondern damit, alle anderen und alles Leben zu retten. »Nicht nur hat man es verschmäht, zu töten, man hat alle, die mit einem waren, mitgenommen in jene Unsterblichkeit, in der alles wirksam wird, das geringste wie das größte.«15 Wieder der Widerspruch: Was man da rettet, wenn es überhaupt eine Rettung ist, ist nicht das, was man eigentlich retten wollte. Der Kampf gegen den Tod, den Verlust, die Katastrophe ist zum Scheitern verurteilt. Am Ende wird es so sein, als ob nichts geschehen wäre. Du wirst keinen einzigen gerettet, dem Tod entrissen, erlöst haben. Die Liebsten und die Feinde, die Unterdrückten wie die Sieger16 werden alle sterben, zer11 12 13 14

15 16

Benjamin: Zur Kritik der Gewalt. 79. 84. (Die Zitate sind aus den ›Geschichtsphilosophischen Thesen‹.) Ebd. 79. 83. Ebd. 85. Ebd. 92. Worin könnte so eine Anstrengung enden, wäre sie per impossibile als realisierbar gedacht? Wieder kann nur die Religion, die Theologie ein Bild davon geben: Es wäre eine nachträgliche Erlösung, eine »restitutio in integrum« (ebd. 96; aus dem ›Theologisch-politischen Fragment‹): »Und so weiter in infinitum, bis die ganze Vergangenheit in einer historischen Apokatastasis in die Gegenwart eingebracht ist.« (GS V/1, 573 [N 1 a, 3]). Alles hängt daran, dass das unmöglich ist. Canetti: Masse und Macht. 329. Aber will ich wirklich auch die Sieger retten und erlösen? Auch die Unterdrücker und Mörder? Vielleicht geht es nicht anders. Vielleicht erreicht die Zärtlichkeit für die endlichen Dinge und die Trau-

Elegie

fallen und schließlich vergessen werden. Deshalb bist du aber noch lange nicht aus der Verantwortung entlassen. Im Gegenteil. Und schon gleich gar nicht wird das Vorwand für rückwärtsgewandten Quietismus sein dürfen.

Am Ende wird auch dieses Buch verloren sein und vergessen. Sei’s drum.

Halten musst du, was du halten kannst, und zuerst den Widerspruch und die Unmöglichkeit aushalten: der Widerspruch, dass die Natur bedingungsloser Liebe bedarf, damit sie und damit wir sein können im vollen Sinn, und dass diese Liebe sich an die Vergänglichkeit verausgabt: eigenartig genug, ist sie eben deshalb nicht getragen ins Nichts. Aushalten auch die Unmöglichkeit der Erfüllung des Auftrags, was vergeht zu bewahr’n, der vom Sein an dich ergeht. Schwermut und Glück sind dasselbe, deine wie die allen Seins, denn jeder Abschied ist endgültig von der

rigkeit über ihr Vergehen erst dann ihr volles Maß, wenn ich dazu mich als fähig erweise. Dass dabei der Unterschied zwischen dem Mörder und seinem Opfer nicht unterschlagen wird, liegt im obersten Erfordernis der vollständigen Wiederherstellung. Wenn das nun noch ein Widerspruch ist, dann werde ich auch den aushalten müssen.

349

Literaturverzeichnis

Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 11 2016. Anscombe, G.E.M.: Intention. Second edition. Cambridge: Harvard University Press 2000. Aristoteles: Metaphysik. Griechisch-Deutsch. Neubearbeitung der Übersetzung von Hermann Bonitz. Mit Einleitung und Kommentar hg. von Horst Seidl. Griechischer Text in der Edition von Wilhelm Christ. Dritte, verbesserte Auflage. Hamburg: Meiner 1989. Aristoteles: Über die Seele. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Gernot Krapinger. Stuttgart: Reclam 2011. Badiou, Alain: L’être et l’événement. Paris: Seuil 1988. Benjamin, Walter: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Mit einem Nachwort von Herbert Marcuse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1965. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. (GS) Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978. Bergson, Henri (Hg.): Extraits de Lucrèce. Avec un commentaire, des notes et une étude sur la poésie, la philosophie, la physique, le texte et la langue de Lucrèce. Paris: Delagrave 1884. Bergson, Henri: Essai sur les données immédiates de la conscience. Édition critique dirigée par Frédéric Worms. Volume édité par Arnaud Bouaniche. Paris: PUF 10 2013. Bergson, Henri: Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit. Édition critique dirigée par Frédéric Worms. Volume édité par Camille Riquier. Paris: PUF 8 2010. Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Versuch über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Aus dem Französischen neu übersetzt und hg. von Margarethe Drewsen. Mit einer Einleitung von Rémi Brague. Hamburg: Meiner 2015. Bergson, Henri: L’évolution créatrice. Édition critique dirigée par Frédéric Worms. Volume édité par Arnaud François. Paris: PUF 12 2013.

352

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Bergson, Henri: Schöpferische Evolution. Neu aus dem Französischen übersetzt von Margarethe Drewsen. Mit einer Einleitung von Rémi Brague. Hamburg: Meiner 2013. Bergson, Henri: L’effort intellectuel. In: Bergson: L’énergie spirituelle. Dossier critique par Élie During et autres. Paris: PUF 10 2017. 153–190. Bergson, Henri: L’intuition philosophique. In: Bergson: La pensée et le mouvant. Dossier critique par Arnauld Bouaniche et autres. Paris: PUF 17 2013. 117–142. Bernhard, Thomas: Eine Begegnung. Gespräche mit Krista Fleischmann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. Bestehorn, Michael: Hydrodynamik und Strukturbildung. Mit einer kurzen Einführung in die Kontinuumsmechanik. Mit einem Geleitwort von Friedrich H. Busse. Berlin/ Heidelberg: Springer 2006. Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Freiburg i.Br.: Herder 2002. Borges, Jorge Luis: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius. In: Fiktionen. Erzählungen 1939–1944. Übersetzt von Karl August Horst, Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs. Frankfurt a.M.: Fischer 15 2019. 15–34. Borges, Jorge Luis: Die Mauer und die Bücher. In: Inquisitionen. Essays 1941–1952. Übersetzt von Karl August Horst und Gisbert Haefs. Frankfurt a.M.: Fischer 2 2007. 11–14. Boutroux, Émile: De l’idée de loi naturelle dans la science et la philosophie contemporaines. CreateSpace Independent Publishing Platform: [Ohne Ort] 2017. (Zuerst erschienen 1895.) Bruno, Giordano: De l’infinito, universo e mondi. In: Bruno: Dialoghi filosofici italiani. A cura e con un saggio introduttivo di Michele Ciliberto. Milano: Mondatori 2000. 299–454. Buber, Martin: Ich und Du. Nachwort von Bernhard Casper. Stuttgart: Reclam 1995. Buber, Martin: Das dialogische Prinzip: Ich und Du. Zwiesprache. Die Frage an den Einzelnen. Elemente des Zwischenmenschlichen. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 14 2017. Bunge, Mario; Mahner, Martin: Über die Natur der Dinge. Materialismus und Wissenschaft. Stuttgart: S. Hirzel Verlag 2004. Burton, Robert: The Anatomy of Melancholy. Ed. and with an Introduction by Holbrook Jackson. And with a new Introduction by William H. Gass. New York: New York Review Books 2001. (Zuerst 1621). Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. With an introduction by the author. New York: Routledge 2007. (Zuerst 1990). Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Canetti, Elias: Masse und Macht. Frankfurt a.M.: Fischer 30 2006. Canetti, Elias: Das Buch gegen den Tod. Mit einem Nachwort von Peter von Matt. Frankfurt a.M.: Fischer 2015. Cărtărescu, Mircea: Die Flügel. Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold. Wien: Paul Zsolnay 2014. Cioran, E.M.: De l’inconvénient d’être né. In: Œuvres. Édition établie sous la direction de d’Yves Peiré. Paris: Gallimard 1995. 1269–1400. Conway, Anne: The Principles of the Most Ancient and Modern Philosophy. Translated and ed. by Allison P. Coudert and Taylor Corse. Cambridge: Cambridge UP 1996.

Literaturverzeichnis

Dahn, Daniela: Westwärts und nicht vergessen. Vom Unbehagen in der Einheit. Berlin: Rowohlt 1996. Descartes, René: Œuvres. Publiées par Charles Adam et Paul Tannery. Paris: Vrin 1996. (AT). Deleuze, Gilles: Le bergsonisme. Paris: PUF 1966. Deleuze, Gilles: Spinoza et le problème de l’expression. Paris: Éditions de minuit 1968. Deleuze, Gilles: Logique du sens. Paris: Éditions de minuit 1969. Deleuze, Gilles; Guattari, Félix: L’Anti-Œdipe. Capitalisme et schizophrénie 1. Paris: Éditions de minuit 1972/73. Deleuze, Gilles: Spinoza. Philosophie pratique. Paris: Éditions de minuit 2003. (Zuerst in dieser Form 1981). Deleuze, Gilles: Le pli. Leibniz et le Baroque. Paris: Éditions du minuit 1988. Deleuze, Gilles: Pourparlers. 1972–1990. Paris: Éditions du minuit 2003. Dosse, François: Gilles Deleuze/Félix Guattari. Biographien. Aus dem Französischen von Christian Driesen. Wien: Turia + Kant 2017. Eagleton, Terry: Das Böse. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Berlin: List 2012. Ende, Michael: Momo. Ein Märchen-Roman. München: Piper 5 2011. Enzensberger, Hans Magnus: Die Furie des Verschwindens. Gedichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980. Epikur: Briefe, Sprüche, Werkfragmente. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Hans-Wolfgang Krautz. Stuttgart: Reclam 2000. Fischer, Ernst Peter: Das Genom. Frankfurt a.M.: Fischer 2 2004. Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung hg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980. (Zuerst 1935). Fleck, Ludwik: Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse. Hg. und kommentiert von Sylwia Werner und Claus Zittel unter Mitarbeit von Frank Stahnisch. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011. Frankfurt, Harry G.: Bullshit. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2 2019. Freud, Sigmund: Das Unheimliche. In: Freud: Werke aus den Jahren 1917–1920. Gesammelte Werke, chronologisch geordnet. Bd. 12. Frankfurt a.M.: Fischer 3 1966. 227–268. Gabriel, Markus: Warum es die Welt nicht gibt. Berlin: Ullstein 2 2013. Goethe, Johann Wolfang: Maximen und Reflexionen. Mit einem Nachwort von Paul Stöcklein. dtv-Gesamtausgabe 21. München: dtv 1963. Graeber, David: Bullshit Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Stuttgart: Klett-Cotta 2020. Haken, Hermann: Erfolgsgeheimnisse der Natur. Synergetik: Die Lehre vom Zusammenwirken. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1981. Hansson, Lars-Anders; Åkesson, Susanne (ed.): Animal Movement across Scales. Oxford: Oxford UP 2014. Hegel, Georg Wilhelm: Wer denkt abstrakt? In: Jenaer Schriften 1801–1807. Werke 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970. 575–581.

353

354

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Hegel, Georg Wilhelm: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Werke 8. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer 17 1993. Heraklit: Fragmente. Griechisch und Deutsch. Hg. von Bruno Snell. München/Zürich: Artemis 9 1986. Herder, Johann Gottfried: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Hg. von Hans Dietrich Irmscher. Stuttgart: Reclam 1966. Hundertwasser, Friedensreich: Verschimmelungsmanifest gegen Rationalismus in der Architektur. http://www.hundertwasser.at/deutsch/texte/philo_verschimmelu ngsmanifest.php. Letzter Zugriff 14.3.2022. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Hg. von Karl Schuhmann. Husserliana III/1. Den Haag: Nijhoff 1976. Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hg. von Walter Biemel. Husserliana VI. Den Haag: Nijhoff 1954. Jantsch, Erich: Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist. Mit einem Vorwort von Paul Feyerabend. München: dtv 3 1986. (Zuerst 1979). Jullien, François: Du ›temps‹. Éléments d’une philosophie du vivre. Paris: Grasset & Flasquelle 2001. Jullien, François: Philosophie du vivre. Paris: Gallimard 2011. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Band X. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. Kauffman, Stuart: At Home in the Universe. The Search for the Laws of Self-Organization and Complexity. New York/Oxford: Oxford UP 1995. Kolnai, Aurel: Ekel, Hochmut, Hass. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Mit einem Nachwort von Axel Honneth. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. Laplace, Pierre-Simon: Essai philosophique sur les probabilités. Texte de la 5e édition, 1825. Suivi d’extraits de Mémoires. Préface de René Thom. Postface de Bernard Bru. Paris: Christian Bourgois 1986. Lautréamont, Isidore Ducasse Comte de: Œuvres complètes. Les chants de Maldoror. Lettres. Poésies I et II. Préface de J.M.G. Le Clézio. Édition établie, présentée et annotée par Hubert Juin. Nouvelle édition enrichie d’une septième lettre. Paris: Gallimard 1973. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Discours de métaphysique et Correspondance avec Arnauld. Introduction, texte et commentaire Georges Le Roy. Paris: Vrin 6 1993. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Monadologie und andere metaphysische Schriften. Französisch – Deutsch. Hg., übersetzt, mit Einleitung, Anmerkungen und Register versehen von Ulrich Johannes Schneider. Hamburg: Meiner 2002. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Système nouveau de la nature et de la communication des substances. Et autres textes 1690–1703. Présentation et notes de Christiane Frémont. Paris: Flammarion 1994. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Essais de théodicée. Sur la bonté de Dieu, liberté de l’homme et l’origine du mal. Chronologie et introduction par J. Brunschvicg. Paris: Flammarion 1969.

Literaturverzeichnis

Levinas, Emmanuel: Quelques réflexions sur la philosophie de l’hitlérisme. Suivi d’un essai de Miguel Abensour. Paris: Payot & Rivages 1997. Levinas, Emmanuel: Totalité et infini. Essai sur l’extériorité. Paris: Librairie générale française 1990. Levinas, Emmanuel: Autrement qu’être ou au-delà de l’essence. Paris: Livre de poche 1990. Lipps, Hans: Die menschliche Natur. Werke III. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2 1977. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. 2., erweiterte Auflage. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996. Lukrez: De rerum natura/Welt aus Atomen. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort hg. von Karl Büchner. Stuttgart: Reclam 1973. Lukrez: Über die Natur der Dinge. In deutsche Prosa übertragen und kommentiert von Klaus Binder. Mit einer Einführung von Stephen Greenblatt. München: dtv 2017. Lü, Bu We: Das Weisheitsbuch der alten Chinesen. Frühling und Herbst des Lü Bu We. Aus dem Chinesischen übersetzt und erläutert von Richard Wilhelm. Köln: Anaconda 2015. Maimon, Salomon: Versuch über die Transzendentalphilosophie. Eingeleitet und mit Anmerkungen sowie einer Beilage hg. von Florian Ehrensperger. Hamburg: Meiner 2004. Mandelbrot, Benoît: Les objets fractals. Forme, hasard et dimension. Paris: Flammarion 4 1995. Mann, Thomas: Der Zauberberg. Gesammelte Werke in 13 Bänden. Band III. Frankfurt a.M.: Fischer 1990. Marx, Karl: Thesen über Feuerbach. In: Exzerpte und Notizen. Sommer 1844 bis Anfang 1847. Bearbeitet von Georgij Bagaturija, Lev Čurbanov, Ol’ga Koroleva und Ljudmila Vasina. Unter Mitwirkung von Jürgen Rojahn. Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Vierte Abteilung. Band 3. Berlin: Akademie-Verlag 1998. 19–21. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch I: Der Produktionsprozess des Kapitals. Marx/Engels: Werke. Band 23. Berlin: Dietz 23 2008. Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Kommentar von Michael Quante. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. Meillassoux, Quentin: Après la finitude. Essai sur la nécessité de la contingence. Préface d’Alain Badiou. Édition revue. Paris: Seuil 2006. Merleau-Ponty, Maurice: Phénoménologie de la perception. In: Œuvres. Édition établie et préfacée par Claude Lefort. Paris: Gallimard 2010. 655–1167. Merleau-Ponty, Maurice: Le visible et l’invisible. In: Œuvres. Édition établie et préfacée par Claude Lefort. Paris: Gallimard 2010. 1637–1779. Merleau-Ponty, Maurice: Le langage indirect et les voix du silence. In: Signes. Paris: Gallimard 1960. 63–135. Milton, John: Paradise Lost. Ed. by Alastair Fowler. Second edition. New York: Longman 2007. Münkler, Herfried: Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz. Frankfurt a.M.: Fischer 2 2007.

355

356

Robert Hugo Ziegler: Von der Natur

Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. Hg. von Karl Schlechta. Darmstadt WBG 1997. Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1884–1885. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 11. München und Berlin/New York: dtv und de Gruyter 1988. Pascal, Blaise: Œuvres complètes. Préface d’Henri Gouhier. Présentation et notes de Louis Lafuma. Paris: Seuil 1961. Pascal, Blaise: Gedanken über die Religion und einige andere Themen. Hg. von Jean-Robert Armogathe. Aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Kunzmann. Stuttgart: Reclam 1987. Paul, Jean: Vorschule der Ästhetik. Nach der Ausgabe von Norbert Miller herausgegeben, textkritisch durchgesehen und eingeleitet von Wolfhart Henckmann. Hamburg: Meiner 1990. Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Aus dem Französischen von Richard Steurer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Richir, Marc: Méditations phénoménologiques. Phénoménologie et phénoménologie du langage. Grenoble: Jérôme Millon 2017. (Zuerst 1992). Richir, Marc: Phantasia, imagination, affectivité. Phénoménologie et anthropologie phénoménologique. Grenoble: Jérôme Millon 2004. Rosenzweig, Franz: Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum Stern der Erlösung. In: Der Morgen. Monatszeitschrift der Juden in Deutschland (1925) 4. 426–451. Rosset, Clément: Le réel. Traité de l’idiotie. Paris: Les éditions de minuit 2004. (Zuerst 1977). Rosset, Clément: Loin de moi. Étude sur l’identité. Paris: Les éditions de minuit 1999. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Philosophie der Offenbarung. 1841/42. Hg. und eingeleitet von Manfred Frank. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. Schmidt, Arno: Das steinerne Herz. Tina. Goethe. Die Gelehrtenrepublik. Bargfelder Ausgabe: Werkgruppe I. Studienausgabe. Band 2. Zürich: Haffmanns 1986. Shakespeare, William: The Tempest. Ed. by David Lindley. Cambridge: Cambridge UP 2002. Shakespeare, William: Hamlet, Prince of Denmark. Ed. by Philip Edwards. Updated edition. Cambridge: Cambridge UP 2003. Shakespeare, William: Macbeth. Ed. by A.R. Braunmuller. Updated edition. Cambridge: Cambridge UP 2008. Shakespeare, William: Coriolanus. Ed. by Lee Bliss. Updated edition. Cambridge: Cambridge UP 2010. Serres, Michel: La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce. Fleuves et turbulences. Paris: Éditions de minuit 1977. Simondon, Gilbert: L’individu et sa genèse physico-biologique. L’individuation à la lumière des notions de forme et d’information. Paris: PUF 1964. Spinoza, Baruch: Tutte le opere. Testi originali a fronte. Saggio introduttivo, presentazioni, note e apparati di Andrea Sangiacomo. Traduzioni di Mariaelena Buslacchi, Alessandro Dini, Gaetano Durante, Simona Follini e Andrea Sangiacomo. Milano: Bompiani 2010/11.

Literaturverzeichnis

Spinoza, Baruch de: Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück. Auf der Grundlage der Übersetzung von Carl Gebhardt neu bearbeitet, eingeleitet und hg. von Wolfang Bartuschat. Hamburg: Meiner 1991. Spinoza, Baruch de: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Lateinisch – Deutsch. Neu übersetzt, hg. und mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat. Dritte, verbesserte Auflage. Hamburg: Meiner 2010. Spinoza, Baruch de: Briefwechsel. Neu übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. von Wolfgang Bartuschat. Hamburg: Meiner 2017. Tanizaki Jun’ichirō: Lob des Schattens. Entwurf einer japanischen Ästhetik. Aus dem Japanischen übersetzt und kommentiert von Eduard Klopfenstein. Mit einer OriginalKalligrafie von Suishū T. Klopfenstein-Arii. Zürich: Manesse 2010. (Originalausgabe zuerst erschienen 1933). Truffaut, François: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? In Zusammenarbeit mit Helen G. Scott. Hg. von Robert Fischer. Aus dem Französischen von Frieda Grafe und Enno Patalas. München: Heyne 3 2003. Weil, Simone: L’Enracinement. Prélude à une déclaration des devoirs envers l’être humain. In: Weil: Œuvres. Édition établie sous la direction de Florence de Lussy. Paris: Gallimard 1999. 1025–1218. Whitehead, Alfred North: Process and Reality. An Essay in Cosmology. Corrected Edition ed. by David Ray Griffin and Donald W. Sherburne. New York: The Free Press 1978. (Zuerst 1929). Wittgenstein, Ludwig: Werkausgabe Band 1. Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 22 2016. Ziegler, Robert Hugo: Buchstabe und Geist. Pascal und die Grenzen der Philosophie. Göttingen: V&R unipress 2010. Ziegler, Robert Hugo: Metaphysik und Phänomenologie. In: Phänomenologische Forschungen (2014). 217–239. Ziegler, Robert Hugo: Apeirontologie. Würzburg: K&N 2016. Ziegler, Robert Hugo: Elemente einer Metaphysik der Immanenz. Bielefeld: transcript 2017. Ziegler, Robert Hugo: Konstellationen. Studien zu Politik und Metaphysik. Würzburg: K&N 2018. Ziegler, Robert Hugo: Vom Denken im freien Fall. Suite in Dur. Wien: Passagen 2019. Ziegler, Robert Hugo: Walzer und Löwenzahn. Eine materialistische Theorie der Entstehung von Neuem. In: Silja Graupe, Walter Otto Ötsch, Florian Rommel (Hg.): SpielRäume des Denkens. Festschrift zu Ehren von Karl-Heinz Brodbeck. Marburg: metropolis 2019. 33–62. Ziegler, Robert Hugo: Thomas Hobbes und der diskrete Charme der Großinquisition. Würzburg: K&N 2020. Ziegler, Robert Hugo: Ein empirischer Ursprung der Rationalität. Die Geburt des Logos aus dem Antlitz des Anderen. In: Tijdschrift voor Filosofie 82 (2020) 4. 699–726. Ziegler, Robert Hugo: Die Rückkehr des Realen. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 68 (2020) 4. 611–626.

357