Vom Sinn der Klänge: Eine kritische Musikgeschichte
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Table of contents :
Frontmatter
I Profaner Prolog oder: Europas strapazierte Musen
Entertainment verschiedener Art
I Das Neue
II Das Alte
Musica, Musik, Music? oder: Differenzen
Die anderen Differenzen: von Decolonize the Classics bis Microsoft und Markt
Warum Microsoft mit Mozart konkurriert
Alte und neue Daseinsnöte
»Good business is the best Art«
Popmusik-Imperium
Zweimal Athen: Von Schule von Athen (Raffael) zum ›Müll der Straßen von Athen‹ (Kassler Documenta 14)
Geist und Gespenster oder: etwas Pop-Soziologie
Hartnäckige Referenzen
Die ›E-Musik‹-Muse der Zeit
Der ratlose Zeitgenosse
II Anfänge: Musica romana – östliches Erbe und westlicher Anfang
Feste, Kult und Stars: Entertainment als Musomanie
Musikalischer Zirkus
Ein neuer Kult, eine neue Musik: Das betende Singen der Gregorianik
Frühe Formen und erste Gattungen
Eine Urdialektik: Sprache und Musik
Sinnordnungen oder: erste Organisationsformen unserer musikalischen Systemebene
Zusammenhänge
Schönheit als ›Glanz der Wahrheit‹ – Erkenntisratio und Seelenwissen
Kulturräume als politische Räume: »Europa wird katholisch getauft«
Das karolingische Europa
Der lange Echoraum des Chorals
III Das ›finstere‹ Mittelalter oder: der Anfang des componere als abendländische Musikratio
Die Entstehung der Mehrstimmigkeit
Der ›Bau‹ beginnt
Evolutionen in den Werkstätten des Klanges
Archetyp und Sinnbild des ›Domes‹: Kathedrale und Kathedralmusik
Weitere Evolutionen: die Organisation der Zeit
»Zum Raum wird hier die Zeit« (Richard Wagner Parsifal)Gotische Konzepte: Musikalische Architektur und architektonische Musik
Der große Abt
Die Lichtmetaphysik begegnet der heiligen Mathesisoder: das alte Erbe
Die Zahl als das ›Wesen der Dinge‹
Die Harmonie der Sphären: Symbol und Erinnerung
Scholastische Blüte antiker Ratio
Der Eros einer kollektiven Spiritualität
Arkana: Äußeres und Inneres Bauen
Wirkungen
Weiterbauen oder: Detailarbeit. Von der Ars Antiqua zur Ars nova
Kritische, raffinierte und andere Töne
IV Von Paris nach Burgund oder: Reifungen, Raffinement und Eloquenz
Die Terz als Zukunft
Labor der Synthesen: der franko-flämische Kulturraum
Eine erste ›Klassik‹
Essenzen und Erträge
Neue Deutung und alte Be-deutung
Ein neues Genre regt sich mit Macht: die Instrumentalmusik
Die ›perfekten‹ Instrumente: die Karriere des Claviers
V Barocke Umbrüche Eine neue Dialektik: Operndrama undConcertoglanz oder: Affekt und Abstraktion
Die Sprachkompetenz des Instrumentalen
Ausdrucksfiguren aus der Tiefe: Mimik, Gesten und Gebärden
Formalismus gegen Ausdruck
Formulieren, Konzertieren, Temperieren, Produzieren: die unerschöpfliche Potenz der Generalbassmusik
Temperieren – Neue Lösungen für alte Probleme
Tonarten: Erschließung eines singulären Bedeutungsraumes
Produzieren
Barocke Apotheosen: Bach und Händel
Ein Qualitätsurteil aus der Geschichte
Bachs universales Œuvre
Die unterschätzten Emotionen des ›objektiven‹ Bach
Das Spätwerk
Hintergründiges und Beziehungsvolles
Bach der Intellektuelle
Mythen und Mythos
Musik an sich
Georg Friedrich Händel: »Il caro Sassone«
Zwei Potenziale: Vokale Chormacht und erhabenes Melos
VI Die Erfindung der Ästhetik oder: die steile Karriere des Kunst-Denkens
Ästhetik als Problem der Bewusstseinsphilosophie
Die verschiedenen Erkenntnis-»Vermögen« Immanuel Kants
Die kognitive Zulassung der Musik als »niedrigste der Künste«
Allerhand Widersprüche aus höherer ›Vernunft‹
Ein Begräbnis als Evokation: G. F. W. Hegel
VII Erhabene Humanität oder: die neue Musiksprache der ›Wiener Klassiker‹
Die Impulskräfte einer neuen Ausdruckswelt
Das sonare als letzter Sieg über das cantare
Das neue abendländische ›Ich‹
Drei verschiedene Humanitätstöne – drei höchste Möglichkeiten des Wiener ›klassischen‹ Idioms: Mozart, Beethoven, Schubert
I  Mozart
Joannes Chrysostomos Wolfgangus Theophilus oder auch: Amadé Mozart
Die Mittel zu luzider Diaphonie und konzertantem Glanz
Das agierende ›Ich‹ – I
Das agierende ›Ich‹ – II
»Pentiti!«- »No!« oder: Ordnungsstörung durch einen defekten Eros sexus
Don-Juan-Chiffren im Geiste von Faust
Das Muster der Don-Juan-Pathologien
Die Realität des Geschlechts
»Wen solche Lehren nicht erfreun, verdienet nicht ein Mensch zu sein.«
Maurerische Verbindungen und Begegnungen
Vom Dom zum Salon
Wirkungen und Einsichten
II  Beethoven
Beethoven oder: »Heißt bei Ihnen Componieren nicht handeln?«
Auf dem Weg zu musikalischen ›Denkprozessen‹
Vom ›Labor‹ der Kammermusik zum Konfliktbewusstsein der Moderne
Form als Haltung durch bewältigten Konflikt
Konflikt-Balance: Die Adagio-Andachten
III  Schubert
»Die Sonne dünkt mich hier so kalt … ich bin ein Fremdling überall« – ein anderer Humanitätston: Franz Schubert
Themen, Chiffren, Seelenzustände
Die Dichtung im Wortlosen
Die Harmonik des Bodenlosen
Seelendramatik vs. Bühnendramatik
Vielleicht Existenzialismus avant la lettre
VIII Die Ästhetik zwischen Versuchslabor, logischer Reflexion und religiösem Gefühl
Perspektiven aus alten Referenzen
Psychophysik
Ein Erkenntnisgewinn, besonders für die Musik: Die Gestalttheorie
Noch ein Erkenntnisgewinn: Empfindung und Gefühl
Das Organ für das ›Schöne‹
Die Apotheose des Empfindungsvermögens: wo sich Kunst und Religion begegnen
Hinter- und Untergründe
Die philosophische Reaktion: die Denker schlagen zurück
Hohe hermeneutische Künste I: Heidegger zwischen Seyn und ›Seiendem‹
Kunst und Kunstwerk: Was ist Wahrheit?
Hören und Horchen auf das Sein – aber nicht auf die Musik
›Wahrheit‹ ohne Differenz
Der Existenzialist als geheimer Theologe des Nihilismus
Hermeneutische Künste II: der Königsweg des richtigen ›Verstehens‹
»Die Freilegung der Wahrheitsfrage an der Erfahrung der Kunst«
Eine ›Sinnpräsenz‹ mit beschränktem Sinn
IX Evolutionen, Revolutionen und Emanationen oder: Die Polyphonie musikalischer Ausdruckswelten als Individuationsprozess
Von der Idylle zur Ironie: Der musikalische Literat Robert Schumann zwischen Poesie und zweiter Naivität
Spiele der Brechungen als Spiele des ›Ichs‹
Zwischenspiel: Die Musik von Gestern als neuer Ton im Heute
Komponieren zwischen Geschichte und Gegenwart: von Mendelssohn Bartholdy und Spohr bis Brahms und Rheinberger
»Neue Bahnen« aus alter Tradition: Johannes Brahms
Schöpferisch erinnerte Vergangenheit
Eigene Identität und Zeit-Identität
Die ›Klassizisten‹ als ›Epigonen‹ mit dem »falschen Bewusstsein«
Das späte Glück einer alten Muse: das dramma per musica
Wirkung mit Ursache: Meyerbeer
Die ›leichte Muse‹ als neue Muse
Glanzlichter verschiedener Art: Verdi und Puccini
Hochämter subjektiven Erzählens und distinguierten Komponierens: von Liszt, Berlioz und Richard Wagner bis Bruckner und Mahler
Begnadeter Musikerzähler, passionierter Paraphrast, illustrer Salonlöwe: Liszt
Klaviermanie
Klavierpoet der Sonderklasse: Frédéric Chopin
Faszinosum, Fanal und Finale einer Epoche: Richard Wagner
Die musikalische Rhetorik des Wagner-Orchesters
Eros: sexus, musikalisch, psychodramatisch
Die hohe Musik letaler Verfallenheiten oder: Der schwarze Eros
Vom erotischen Anarchismus zum gesellschaftlichen
Hermeneutisches Wähnen
Wandel der Ausdruckswelten als Metamorphosen der Seelenregionen
Befreiungen: Bürgerliches Lustspiel und arkanes Bühnenweihfestspiel
Erlösung dem Erlöser
Heller Mythos: Der Gral
Nachglanz: Reflexe, Imitationen, Komplexionen
Ein Nachher als Weiter: ›Spätromantik‹
Im »Zweiten Zeitalter der Sinfonie« – zwei Solitäre: Bruckner und Mahler
Eine andere ›Bedeutung‹ der Harmonik
Die Befremdungen des Mystischen
Gustav Mahler – ein fahrender Geselle als metaphysischer Weltenwanderer
Der Sucher nach der Differenz
»Per aspera ad astra«: Strategien und Stationen einer ›Wanderung‹
Das Ethos eines Gottsuchers
Zeitgenössische Differenzwelten: Schostakowitsch – und andere
Sinfonik zwischen Persiflage und Demontage, Subversion und Affirmation
Welthaltigkeit ohne Horizonte
Verschiedene ›Modernen‹: von Richard Strauss bis Reger, Debussy und Skrjabin
Richard Strauss: Virtuose Musiktheatralik zwischen Tondichtung und Dramatik
Von der Antike über Komödie und Burleske zum Salon
Die ›Moderne‹ von Richard Strauss
Der metaphysisch Befreite
Die anderen ›Befreiten‹ – neue Wege, neue Formulierungen, andere Dissoziationen:
1. Ein ›germanischer‹ Weg
2. Ein »romanischer« Weg
3. Ein »russischer« Weg
X Die Musik des Technozän oder: De-Konstruktionen und Konstruktionen aller Art
Die anderen Wurzeln der ›Moderne‹ oder: die Saat von Lärm, Skandal, Revolution und Maschine
Die Musikalisierung des Lärms
»Der Faschismus ist die Leiche im Schrank der Moderne« (Walter Benjamin)
Allerhand andere Dissoziationskünste
Die ›Logischen Projekte‹ in Musik und Sprache oder: eine neue ›Ratio‹
Logisches Projekt I: Musik
»Einer hat es tun müssen« (Arnold Schönberg)
Von der Krise zum Konzept
»Was ist Wahrheit«? (Pontius Pilatus) – »Dissonanz ist die Wahrheit über die Harmonie« (Th. W. Adorno)
Folger und Folgen
Logisches Projekt II: Sprache
Die Idee der ›logischen‹ Idealsprache
Das ästhetische Denken des Technozäns oder: von den ›logischen Projekten‹ zur Anti-Kunst
›Unlogische‹ Antithesen: vom Okkultismus bis zum Wahn
Vergessene, verdrängte, verschwiegene Patenschaften
Musik und Malerei: Schönberg und Kandinsky
Importe, Einbrüche und Exotismen
Parodien, Travestien, Drolerien oder: von der Anti-Kunst zur negativen Kunstästhetik
Die Inspirationen des ›Wahns‹
Hochämter der Inversion
Reaktionen und Relationen
Der Aufstieg des Anti mit einer neomarxistischen Gesellschaftstheorie: Theodor W. Adorno
Die Musik des ›Nicht-Versöhnten‹ oder: Epiphanie und Legitimation eines neuen Musikdenkens
Zentrale Denkfiguren: Instrumentelle Vernunft und Bestimmte Negation
Adornos ›Wahrheit‹: »Desintegration ist die Wahrheit der integralen Kunst«
Der Dorn im Ohr: Abwehr und Gegenwehr
Verschiedene Arten von ›Entfremdung‹
»Kunst ist das Versprechen des Glücks, das gebrochen wird«
Resonanzen und Wirkungen
Wege post-tonalen KomponierensVom mentalen Labor zum Soundlabor oder: Technologische Hochzeiten
Die Geburtshelfer aus den Elektrowerkstätten
Die Musikalisierung von Elektron und Sinuston
Die Karriere der Studioästhetik
Die Verheißung der Parameter
Musica ex machina und beste technoide Amalgame – exemplarisch: Karlheinz Stockhausen
›Astronische Musik‹ und die Geister von Urantia
Deus ex Ego
Lockerungsstrategien
»Wo stehen wir heute?« – »Jeder wo anders« (Hans Werner Henze, 1970) oder: vom postseriellen Komponieren zum hybriden Synkretismus
Fluchten und Flüchtlinge aller Art, von Schostakowitsch, Ligeti, Henze, Cerha, Scelsi, Penderecki, Kurtág und Pärt bis Rihm
Vor dem Klang als ›Klang‹: Die Semantisierung der Geräusche
Die Dialektik im Konstrukt der Hybride
Allerhand Spielarten oder: die ›Tragödien des Hörens‹
Zum Raum wird hier die Zeit – post Parsifal
Das ›Erweiterte Bewusstsein‹
State of the Art verschiedenster Art
»Musikalische Rohzustände« und »Faßbare Zusammenhangslosigkeit«: Wolfgang Rihm
Hypercomplexity als ultimatives Versprechen von ›Tonsatz‹
Eine ›Zweite Moderne‹
Komponierte Metakritik oder: Die sich selbst de-konstruierende Konstruktion
Die Dekonstruktion der Aufführung
Der »Schwindel der Wirklichkeit«: Mathias Spahlinger
Mentale Passepartous: musikalische Politologie als radikalste ›Weltanschauungsmusik‹
»When the music is over« (Rockband The Doors,1967) oder:»Man kann sich heute eines gewissen Lächelns nicht mehr erwehren, wenn ein Ton erklingt« (Adorno, 1966)
Andere Modernen: andere musikgeschichliche Optionen
Ideologische Ausgrenzungen
Das Dilemma einer angemessenen Musikgeschichtsschreibung
Post-Adornitisches Denken: Penseé française, Pragmatismus, Postmoderne oder: eine neue Philosophie auf der Suche nach der Kunst
To do – und jeder ist ein Künstler
Die philosophischen Meisterdenker der Dekonstruktion
Diversität als neue Konstruktion oder: ›Postkanonische‹ Theorie
Vom ›Post‹ der Moderne zum ›Post‹ des menschlichen Subjekts:
I Die digitale Bewusstseinsindustrie
Das digitale Rauschen der Indifferenz als Pneuma der modernen Mediengesellschaft
II Die Ouvertüren zum Maschinenmenschen
III Die Abschaffung des schöpferischen Menschen oder: von der Maschinenmusik zum Transhumanismus
Bizarre Bilanz: Kunst = Nichtkunst
XI Die eigene Ontologie der Musik oder: Untilgbare musikalische Apriori
Der lange Nachhall eines Stigmas
Denkwege: »Wissenschaft denkt nicht« (Martin Heidegger)
Wissenschaftstheorie
Meta-Physik
Das Dilemma der ›Geisteswissenschaften‹
Ästhetik und Ethik oder: Musik und Erkenntnis
Musikalische Verstehensleistungen
Exkurs: Zur Psychologie des Schöpferischen
Erlebniswert und Begriffswert
Das Hochamt der Technē I: Kompliziertheit imponiert
Technē II: Virtuosentum als Vorführung
Verschiedene Qualitäten von Kompliziertheit und ›Logik‹
Qualia sind Realia
Skandal als psychische Notwehr
Fasslichkeit und Fasslichkeiten
Die Probe aufs Exempel: triviale Empirie versus ästhetische Suprematie
»Alles ist nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet« (Weisheit Salomonis) oder: Musikalische Ordnungen
Ein anderer Blick, andere Referenzen
Ordnung, um die jeder weiß vs. ›Freiheit‹, die jeder meint
Kosmos und Chaos
Not-Wendigkeit
XII Epilog: Einsichten, Nachspiele, Ausblicke
Endphase? Oder Transit? Oder vielleicht Wandlungsphase zu einem wahren ›Anthropozän‹?
Musikalische Rechtfertigungslehre oder: eine Art Theodizee
Noch Componere ?
Verzeichnis der Abkürzungen

Citation preview

Klaus Peter Richter — Vom Sinn der Klänge

Klaus Peter Richter, Dr. phil., Dipl. Verwaltungsbetriebswirt, lebt in München als Musikwissenschaftler mit Lehrauftrag an der LMU, Musikkritiker und Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur musikalischen Aufführungs- und Kulturgeschichte, u. a. So viel Musik war nie (München 1997). Er schreibt für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung und die Österreichische Musikzeitschrift.

Klaus Peter Richter

Vom Sinn der Klänge Eine kritische Musikgeschichte

Königshausen & Neumann

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2023 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Umschlag: skh-softics / coverart Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany ISBN 978-3-8260-7687-9 eISBN 978-3-8260-8334-1 www.koenigshausen-neumann.de www.ebook.de www.buchhandel.de www.buchkatalog.de

Vom Sinn der Klänge

Den Musikalischen unter den Verächtern der Metaphysik

Inhalt

I

Profaner Prolog oder: Europas strapazierte Musen

19

Entertainment verschiedener Art 21 I Das Neue 21 II Das Alte 23 Musica, Musik, Music? oder: Differenzen 25 Die anderen Differenzen: von Decolonize the Classics bis Microsoft und Markt 26 Warum Microsoft mit Mozart konkurriert 27 Alte und neue Daseinsnöte 28 »Good business is the best Art« 30 Popmusik-Imperium 33 Zweimal Athen: Von Schule von Athen (Raffael) zum ›Müll der Straßen von Athen‹ (Kassler documenta 14) 35 Geist und Gespenster oder: etwas Pop-Soziologie 37 Hartnäckige Referenzen 41 Die ›E-Musik‹-Muse der Zeit 42 Der ratlose Zeitgenosse 44

II

Anfänge: Musica romana – östliches Erbe und westlicher Anfang 49 Feste, Kult und Stars: Entertainment als Musomanie 50 Musikalischer Zirkus 52 Ein neuer Kult, eine neue Musik: Das betende Singen der Gregorianik 56 Frühe Formen und erste Gattungen 57 Eine Urdialektik: Sprache und Musik 59 Sinnordnungen oder: erste Organisationsformen unserer musikalischen Systemebene 62 Zusammenhänge 65 Schönheit als ›Glanz der Wahrheit‹ – Erkenntisratio und Seelenwissen 70 Kulturräume als politische Räume: »Europa wird katholisch getauft« 71 Das karolingische Europa 73 Der lange Echoraum des Chorals 75 9

III

Das ›finstere‹ Mittelalter oder: der Anfang des componere als abendländische Musikratio 81 Die Entstehung der Mehrstimmigkeit 82 Der ›Bau‹ beginnt 84 Evolutionen in den Werkstätten des Klanges 87 Archetyp und Sinnbild des ›Domes‹: Kathedrale und Kathedralmusik 89 Weitere Evolutionen: die Organisation der Zeit 93 »Zum Raum wird hier die Zeit« (Richard Wagner Parsifal) Gotische Konzepte: Musikalische Architektur und architektonische Musik 96 Der große Abt 98 Die Lichtmetaphysik begegnet der heiligen Mathesis oder: das alte Erbe 104 Die Zahl als das ›Wesen der Dinge‹ 110 Die Harmonie der Sphären: Symbol und Erinnerung 112 Scholastische Blüte antiker Ratio 115 Der Eros einer kollektiven Spiritualität 118 Arkana: Äußeres und Inneres Bauen 120 Wirkungen 121 Weiterbauen oder: Detailarbeit. Von der Ars Antiqua zur Ars nova 125 Kritische, raffinierte und andere Töne 129

IV

Von Paris nach Burgund oder: Reifungen, Raffinement und Eloquenz 135 Die Terz als Zukunft Labor der Synthesen: der franko-flämische Kulturraum Eine erste ›Klassik‹ Essenzen und Erträge Neue Deutung und alte Be-deutung Ein neues Genre regt sich mit Macht: die Instrumentalmusik Die ›perfekten‹ Instrumente: die Karriere des Claviers

V

Barocke Umbrüche – Eine neue Dialektik: Operndrama und Concertoglanz oder: Affekt und Abstraktion 159 Die Sprachkompetenz des Instrumentalen Ausdrucksfiguren aus der Tiefe: Mimik, Gesten und Gebärden

10

138 142 146 147 150 154 156

163 164

Formalismus gegen Ausdruck 167 Formulieren, Konzertieren, Temperieren, Produzieren: die unerschöpfliche Potenz der Generalbassmusik 171 Temperieren – Neue Lösungen für alte Probleme 175 Tonarten: Erschließung eines singulären Bedeutungsraumes 177 Produzieren 182 Barocke Apotheosen: Bach und Händel 185 Ein Qualitätsurteil aus der Geschichte 186 Bachs universales Œuvre 189 Die unterschätzten Emotionen des ›objektiven‹ Bach 195 Das Spätwerk 200 Hintergründiges und Beziehungsvolles 206 Bach der Intellektuelle 207 Mythen und Mythos 213 Musik an sich 214 Georg Friedrich Händel: »Il caro Sassone« 217 Zwei Potenziale: Vokale Chormacht und erhabenes Melos 220

VI

Die Erfindung der Ästhetik oder: die steile Karriere des Kunst-Denkens 225 Ästhetik als Problem der Bewusstseinsphilosophie Die verschiedenen Erkenntnis-»Vermögen« Immanuel Kants Die kognitive Zulassung der Musik als »niedrigste der Künste« Allerhand Widersprüche aus höherer ›Vernunft‹ Ein Begräbnis als Evokation: G. F. W. Hegel

229 230 233 235 238

VII Erhabene Humanität oder: die neue Musiksprache der ›Wiener Klassiker‹ 243 Die Impulskräfte einer neuen Ausdruckswelt Das sonare als letzter Sieg über das cantare Das neue abendländische ›Ich‹

245 250 253

11

Drei verschiedene Humanitätstöne – drei höchste Möglichkeiten des Wiener ›klassischen‹ Idioms: Mozart, Beethoven, Schubert 257 I  Mozart

257

Joannes Chrysostomos Wolfgangus Theophilus oder auch: Amadé Mozart 258 Die Mittel zu luzider Diaphonie und konzertantem Glanz 261 Das agierende ›Ich‹ – I 266 Das agierende ›Ich‹ – II 269 »Pentiti!«- »No!« oder: Ordnungsstörung durch einen defekten Eros sexus 273 Don-Juan-Chiffren im Geiste von Faust 274 Das Muster der Don-Juan-Pathologien 278 Die Realität des Geschlechts 282 »Wen solche Lehren nicht erfreun, verdienet nicht ein Mensch zu sein.« 284 Maurerische Verbindungen und Begegnungen 286 Vom Dom zum Salon 295 Wirkungen und Einsichten 297

II  Beethoven

304

Beethoven oder: »Heißt bei Ihnen Componieren nicht handeln?« 304 Auf dem Weg zu musikalischen ›Denkprozessen‹ 304 Vom ›Labor‹ der Kammermusik zum Konfliktbewusstsein der Moderne 307 Form als Haltung durch bewältigten Konflikt 311 Konflikt-Balance: Die Adagio-Andachten 312

III  Schubert »Die Sonne dünkt mich hier so kalt … ich bin ein Fremdling überall« – ein anderer Humanitätston: Franz Schubert Themen, Chiffren, Seelenzustände Die Dichtung im Wortlosen Die Harmonik des Bodenlosen

12

315 315 317 322 327

Seelendramatik vs. Bühnendramatik Vielleicht Existenzialismus avant la lettre

328 331

VIII Die Ästhetik zwischen Versuchslabor, logischer Reflexion und religiösem Gefühl 335 Perspektiven aus alten Referenzen 338 Psychophysik 342 Ein Erkenntnisgewinn, besonders für die Musik: Die Gestalttheorie 344 Noch ein Erkenntnisgewinn: Empfindung und Gefühl 348 Das Organ für das ›Schöne‹ 350 Die Apotheose des Empfindungsvermögens: wo sich Kunst und Religion begegnen 353 Hinter- und Untergründe 357 Die philosophische Reaktion: die Denker schlagen zurück 359 Hohe hermeneutische Künste I: Heidegger zwischen Seyn und ›Seiendem‹ 365 Kunst und Kunstwerk: Was ist Wahrheit? 367 Hören und Horchen auf das Sein – aber nicht auf die Musik 369 ›Wahrheit‹ ohne Differenz 371 Der Existenzialist als geheimer Theologe des Nihilismus 374 Hermeneutische Künste II: der Königsweg des richtigen ›Verstehens‹ bei Gadamer 377 »Die Freilegung der Wahrheitsfrage an der Erfahrung der Kunst« 381 Eine ›Sinnpräsenz‹ mit beschränktem Sinn 384

IX

Evolutionen, Revolutionen und Emanationen oder: Die Polyphonie musikalischer Ausdruckswelten als Individuationsprozess 389 Von der Idylle zur Ironie: Der musikalische Literat Robert Schumann zwischen Poesie und zweiter Naivität Spiele der Brechungen als Spiele des ›Ichs‹ Zwischenspiel: Die Musik von Gestern als neuer Ton im Heute Komponieren zwischen Geschichte und Gegenwart: von Mendelssohn Bartholdy und Spohr bis Brahms und Rheinberger »Neue Bahnen« aus alter Tradition: Johannes Brahms Schöpferisch erinnerte Vergangenheit Eigene Identität und Zeit-Identität

392 394 397 399 400 402 405 13

Die ›Klassizisten‹ als ›Epigonen‹ mit dem »falschen Bewusstsein« 408 Das späte Glück einer alten Muse: das dramma per musica 408 Wirkung mit Ursache: Meyerbeer 411 Die ›leichte Muse‹ als neue Muse 412 Glanzlichter verschiedener Art: Verdi und Puccini 415 Hochämter subjektiven Erzählens und distinguierten Komponierens: von Liszt, Berlioz und Richard Wagner bis Bruckner und Mahler 417 Begnadeter Musikerzähler, passionierter Paraphrast, illustrer Salonlöwe: Liszt 420 Klaviermanie 423 Klavierpoet der Sonderklasse: Frédéric Chopin 424 Faszinosum, Fanal und Finale einer Epoche: Richard Wagner 426 Die musikalische Rhetorik des Wagner-Orchesters 429 Eros: sexus, musikalisch, psychodramatisch 431 Die hohe Musik letaler Verfallenheiten oder: Der schwarze Eros 435 Vom erotischen Anarchismus zum gesellschaftlichen 439 Hermeneutisches Wähnen 443 Wandel der Ausdruckswelten als Metamorphosen der Seelenregionen 444 Befreiungen: Bürgerliches Lustspiel und arkanes Bühnenweihfestspiel 450 Erlösung dem Erlöser 451 Heller Mythos: Der Gral 454 Nachglanz: Reflexe, Imitationen, Komplexionen 459 Ein Nachher als Weiter: ›Spätromantik‹ 461 Im »Zweiten Zeitalter der Sinfonie« – zwei Solitäre: Bruckner und Mahler 463 Eine andere ›Bedeutung‹ der Harmonik 467 Die Befremdungen des Mystischen 470 Gustav Mahler – ein fahrender Geselle als metaphysischer Weltenwanderer 474 Der Sucher nach der Differenz 477 »Per aspera ad astra«: Strategien und Stationen einer ›Wanderung‹ 481 Das Ethos eines Gottsuchers 490 Zeitgenössische Differenzwelten: Schostakowitsch – und andere 494 Sinfonik zwischen Persiflage und Demontage, Subversion und Affirmation 496 Welthaltigkeit ohne Horizonte 502 Verschiedene ›Modernen‹: von Richard Strauss bis Reger, Debussy und Skrjabin 505 Richard Strauss: Virtuose Musiktheatralik zwischen Tondichtung und Dramatik 506 14

Von der Antike über Komödie und Burleske zum Salon Die ›Moderne‹ von Richard Strauss Der metaphysisch Befreite Die anderen ›Befreiten‹ – neue Wege, neue Formulierungen, andere Dissoziationen: 1. Ein ›germanischer‹ Weg 2. Ein »romanischer« Weg 3. Ein »russischer« Weg

X

510 517 519 522 522 528 529

Die Musik des Technozän oder: De-Konstruktionen und Konstruktionen aller Art 531 Die anderen Wurzeln der ›Moderne‹ oder: die Saat von Lärm, Skandal, Revolution und Maschine Die Musikalisierung des Lärms »Der Faschismus ist die Leiche im Schrank der Moderne« (Walter Benjamin) Allerhand andere Dissoziationskünste Die ›Logischen Projekte‹ in Musik und Sprache oder: eine neue ›Ratio‹ Logisches Projekt I: Musik »Einer hat es tun müssen« (Arnold Schönberg) Von der Krise zum Konzept »Was ist Wahrheit«? (Pontius Pilatus) – »Dissonanz ist die Wahrheit über die Harmonie« (Th. W. Adorno) Folger und Folgen Logisches Projekt II: Sprache Die Idee der ›logischen‹ Idealsprache Das ästhetische Denken des Technozäns oder: von den ›logischen Projekten‹ zur Anti-Kunst ›Unlogische‹ Antithesen: vom Okkultismus bis zum Wahn Vergessene, verdrängte, verschwiegene Patenschaften Musik und Malerei: Schönberg und Kandinsky Importe, Einbrüche und Exotismen Parodien, Travestien, Drolerien oder: von der Anti-Kunst zur negativen Kunstästhetik Die Inspirationen des ›Wahns‹ Hochämter der Inversion Reaktionen und Relationen Der Aufstieg des Anti mit einer neomarxistischen Gesellschaftstheorie: Theodor W. Adorno

532 535 537 541 544 544 547 549 553 555 560 561 565 566 567 571 575 581 584 586 587 589

15

Die Musik des ›Nicht-Versöhnten‹ oder: Epiphanie und Legitimation eines neuen Musikdenkens 594 Zentrale Denkfiguren: Instrumentelle Vernunft und Bestimmte Negation 597 Adornos ›Wahrheit‹: »Desintegration ist die Wahrheit der integralen Kunst« 604 Der Dorn im Ohr: Abwehr und Gegenwehr 605 Verschiedene Arten von ›Entfremdung‹ 609 »Kunst ist das Versprechen des Glücks, das gebrochen wird« 611 Resonanzen und Wirkungen 613 Wege post-tonalen Komponierens – Vom mentalen Labor zum Soundlabor oder: Technologische Hochzeiten 617 Die Geburtshelfer aus den Elektrowerkstätten 618 Die Musikalisierung von Elektron und Sinuston 620 Die Karriere der Studioästhetik 622 Die Verheißung der Parameter 623 Musica ex machina und beste technoide Amalgame – exemplarisch: Karlheinz Stockhausen 628 ›Astronische Musik‹ und die Geister von Urantia 631 Deus ex Ego 634 Lockerungsstrategien 635 »Wo stehen wir heute?« – »Jeder wo anders« (Hans Werner Henze, 1970) oder: vom postseriellen Komponieren zum hybriden Synkretismus 638 Fluchten und Flüchtlinge aller Art, von Schostakowitsch, Ligeti, Henze, Cerha, Scelsi, Penderecki, Kurtág und Pärt bis Rihm 639 Vor dem Klang als ›Klang‹: Die Semantisierung der Geräusche 648 Die Dialektik im Konstrukt der Hybride 651 Allerhand Spielarten oder: die ›Tragödien des Hörens‹ 653 Zum Raum wird hier die Zeit – post Parsifal 657 Das ›Erweiterte Bewusstsein‹ 658 State of the Art verschiedenster Art 660 »Musikalische Rohzustände« und »Faßbare Zusammenhangslosigkeit«: Wolfgang Rihm 661 Hypercomplexity als ultimatives Versprechen von ›Tonsatz‹ 667 Eine ›Zweite Moderne‹ 669 Komponierte Metakritik oder: Die sich selbst de-konstruierende Konstruktion 672 Die Dekonstruktion der Aufführung 674 Der »Schwindel der Wirklichkeit«: Mathias Spahlinger 675 Mentale Passepartous: musikalische Politologie als radikalste ›Weltanschauungsmusik‹ 677 16

»When the music is over« (Rockband The Doors,1967) oder: »Man kann sich heute eines gewissen Lächelns nicht mehr erwehren, wenn ein Ton erklingt« (Adorno, 1966) – Modi Finaler Abstraktion: gedachte Musik, Schweigen, ›Nichts‹ Andere Modernen: andere musikgeschichliche Optionen Ideologische Ausgrenzungen Das Dilemma einer angemessenen Musikgeschichtsschreibung Post-Adornitisches Denken: Penseé française, Pragmatismus, Postmoderne oder: eine neue Philosophie auf der Suche nach der Kunst To do – und jeder ist ein Künstler Die philosophischen Meisterdenker der Dekonstruktion Diversität als neue Konstruktion oder: ›Postkanonische‹ Theorie Vom ›Post‹ der Moderne zum ›Post‹ des menschlichen Subjekts: I Die digitale Bewusstseinsindustrie Das digitale Rauschen der Indifferenz als Pneuma der modernen Mediengesellschaft II Die Ouvertüren zum Maschinenmenschen III Die Abschaffung des schöpferischen Menschen oder: von der Maschinenmusik zum Transhumanismus Bizarre Bilanz: Kunst = Nichtkunst

XI

Die eigene Ontologie der Musik oder: Untilgbare musikalische Apriori

681 684 686 689 693 698 700 706 711 711 714 719 721 725

731

Der lange Nachhall eines Stigmas 734 Denkwege: »Wissenschaft denkt nicht« (Martin Heidegger) 737 Wissenschaftstheorie 739 Meta-Physik 744 Das Dilemma der ›Geisteswissenschaften‹ 747 Ästhetik und Ethik oder: Musik und Erkenntnis 752 Musikalische Verstehensleistungen 756 Exkurs: Zur Psychologie des Schöpferischen 762 Erlebniswert und Begriffswert 768 Das Hochamt der Technē I: Kompliziertheit imponiert 769 Technē II: Virtuosentum als Vorführung 771 Verschiedene Qualitäten von Kompliziertheit und ›Logik‹ 773 Qualia sind Realia 775 Skandal als psychische Notwehr 777 Fasslichkeit und Fasslichkeiten 778 Die Probe aufs Exempel: triviale Empirie versus ästhetische Suprematie 782 17

»Alles ist nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet« (Weisheit Salomonis) oder: Musikalische Ordnungen 786 Ein anderer Blick, andere Referenzen 788 Ordnung, um die jeder weiß vs. ›Freiheit‹, die jeder meint 793 Kosmos und Chaos 796 Not-Wendigkeit 798

XII

Epilog: Einsichten, Nachspiele, Ausblicke

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Endphase? Oder Transit? Oder vielleicht Wandlungsphase zu einem wahren ›Anthropozän‹? 805 Musikalische Rechtfertigungslehre oder: eine Art Theodizee 807 Noch Componere ? 811

Verzeichnis der Abkürzungen

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I

Profaner Prolog oder: Europas strapazierte Musen

Ungefähr 2500 Jahre vor Pop, Rock und Rap, dem Streaming und den Musik-Apps gibt es einen bemerkenswerten Kommentar zur Musik. Damals meinte ein weiser Denker aus China: »Änderst du die Musik, so änderst du den Staat«. Er war übrigens kein Musiker, der seiner Passion frönte. Er war vielmehr ein politisch denkender Philosoph, der heute unter ›Politologe‹ rangieren würde. Denn er machte sich Gedanken um die ›Gesellschaft‹ in ihrer umfassendsten Organisationsform, den Staat: Meister Kung-Tse, im Westen als Konfuzius bekannt. Das mag für unsere bunt beschallten Ohren reichlich absurd klingen. Vielleicht auch zu exotisch, denn das alte China ist vom neuen so weit entfernt wie wir. Aber es gibt auch eine ähnliche Äußerung aus unserer eigenen, abendländischen Kultur. Der griechische Denker Platon bemerkte: »Wenn du die Musik veränderst, wackeln die Mauern der Polis«. Auch Platon war kein Musiker. Auch er machte diese Bemerkung nicht in einer Kunsttheorie, sondern in seiner Politeia, einem Buch über den Staat. Nun trennen uns auch von Platon schon über 2000 Jahre. Aber es ist noch gar nicht lange her, da galt Musik als ähnlich brisante politische Kontrabande. Wenigstens für bestimmte ideologische Systeme. Im ›Kalten Krieg‹ der feindlichen Weltlager von 1948 bis 1990 waren einige ihrer Sorten für die totalitäre Seite tabu. Rock and Roll standen wie Jazz und intellektualistischer ›Formalismus‹ als mentale Gefährdungen einer politischen Staatsideologie auf dem Index. Zwar waren sie auf Dauer ebenso wenig zu verhindern wie Bluejeans und Coca Cola. Aber als kulturelle Attribute einer anderen, feindlichen Gesellschaftsordnung fielen diese wie jene unter die subversiven Kategorien sozialen Sprengstoffs: perfide Agenten einer ›wackelnden Polis‹. Diskussionen wie um den ›politischen‹ Gehalt der Sinfonien von Dmitri Schostakowitsch reichen bis in die Gegenwart, und auch das momentane Moskauer Regime sieht sich mit Protestmusik konfrontiert. Aber das war genau das Gleiche wie in einem totalitären System von vorher, der Nazi-Ära, wo Jazz, atonale Musik oder die expressionistische Malerei als ›Entartete Kunst‹ staatspolitisch verfemt waren. Noch näher sind uns andere politische Inanspruchnahmen von Musik. Dazu gehört die westliche E-Musik-Avantgarde mit ihrem ›politischen Komponieren‹ aus dem Erbe von Marxismus, Klassenkampf und 68er-Bewegung, die als ästhetische Theorie unangefochten von Luigi Nono bis zum jungen Henze und alten Lachenmann präsent ist. Aber dazu gehören auch das legendäre Woodstock oder der aktuelle Hip-Hop als soziale Protestmusik der schwarzen Gettos von L. A. bis zur South Bronx, genauso wie die Rapper als Exorzisten des bürgerlichen Establishments und Barden ätzender Gesellschaftskritik. Und sind nicht auch Musiker und Musik im neuen islamistischen Fundamentalismus Zielscheibe von Zensur und Repression? Ist nicht auch die alte Marseillaise immer noch eine legendäre Fanfare der Identifikation mit Freiheit, Volk und

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Vaterland, wie überhaupt die Nationalhymnen, vom Staatsakt bis zu Fußballmeisterschaften? »Die gesellschaftsbildende Kraft ist die höchste Eigenschaft eines Kunstwerks«, meinte einst ein renommierter deutscher Musikintellektueller und Kritiker mit Emphase (Paul Bekker). Und ein anderer Musikintellektueller baute darauf soziologisch sogar eine der einflussreichsten ästhetischen Theorien der Moderne (Theodor W. Adorno). Ausgerechnet die immateriellste Kunst der flüchtigen Klänge, verwehenden Töne und freiesten Phantasiespiele – und solche materiale Wirkungen, wie kann das sein? Immerhin wird aus dem fernen, alten China weiterhin berichtet, dass es jede neue Dynastie als wichtigste Aufgabe ansah, mit dem allgemeinen Maß- und Gewichtswesen das Kalendersystem und die Musik neu zu regulieren. Man war nämlich der Überzeugung, dass ein gestürztes Herrscherhaus von den »Richtlinien des Himmels« abgewichen sei und dies in der falschen Festsetzung des »Zentraltons der Gelben Glocke« (Huang Chung) seinen Ausdruck finde. Werde die Musik nämlich willkürlich und gesetzlos, weil sie sich vom »Sinn« (dem chinesischen Tao) löse, so trete sie als Mittel der Verwirrung und Zerstörung auf. Diese Vorstellung ist keineswegs ein seltsamer chinesischer Sonderfall. Denn auch in den anderen alten Hochkulturen, bei den Babyloniern, Chaldäern, Ägyptern und Indern ist alle Musiktheorie stets in ähnliche kosmologische Zusammenhänge von Kalender-, Maßund Normsystemen eingebunden. Wenn uns nicht die historische Distanz vor dem Ernstnehmen solcher Gedanken bewahrt, dann bestimmt die Überlegenheit unseres an Wissenschaft und Technik so glänzend emanzipierten Intellekts. Denn natürlich sind diese alten Parabeln für den aufgeklärten Zeitgenossen der Moderne eine Zumutung. Erstens sind sie verdächtig ›Essentialistisch‹. Und zweitens, ist nicht gerade die Musik zum beispielhaften Medium aller subjektiven Geschmäcker und Stile geworden, zum Ausdruck der persönlichsten Phantasien, Gefühle und Gedanken? Ja gilt nicht ›Kunst‹ schlechthin als schier absolutes Paradigma von individueller ›Freiheit‹ und Selbstbestimmung? Ist nicht das ungebundene schöpferische Machen und Tun der fraglose Inbegriff eines aufgeklärten Menschentums das es als Postulat der ›Freiheit von Kunst und Wissenschaft‹ zum Rechtsgut von Verfassungsrang gebracht hat? Und ist es als solches nicht geradezu zur Scheidemünze zwischen ›Demokratie‹ und Menschenrechten einerseits und ihren Feinden, Zensoren und Unterdrückern andererseits geworden? Hat uns nicht schließlich schon 1790 Meisterdenker Immanuel Kant in seiner dritten Kritik (Die Kritik der Urteilskraft) schlüssig bewiesen, dass alle Kunst eine private, subjektive Geschmacksangelegenheit sei, die weder mit der Ratio von Verstand oder Logik zu tun habe, noch mit irgendwelchen ›objektiven‹ Normen und Vorschriften?

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Entertainment verschiedener Art I Das Neue Tatsächlich bestätigt die globale Musikszene unserer Moderne nicht nur Kant, sondern jeden denkbaren Begriff von persönlicher Freiheit und individuellem Geschmack. Fülle und Vielfalt unseres Musiklebens, live, in den Medien und den digitalen Netzen sind so überwältigend, dass aus musikalischer Opulenz leicht nervende Penetranz wird. Alle Schallkulissen der Welt konkurrieren um unsere Sinne – angefangen von den altmodischen Konzert- und Eventangeboten, dem Dudelfunk zwischen Stauinfos und Werbeclips, in Kaufhäusern, Cafés und Telefonwarteschleifen bis zu den neuen Sound-Bazaren unzähliger Apps, den Streaming-Katalogen und den Speichern der USB-Sticks: Musik als unverzichtbare Software unserer modernen Lebenswelt, von TV-Show bis Gala und Wellness, bei den verkabelten Zeitgenossen aller Altersklassen mit und ohne Smartphone. Den größten Anteil daran hat die Musik des Pop-Universums: ›Pop‹ wie ›populär‹. Oder wie die Sparte im professionellen Branchenjargon des Musikmarkts heißt: der U-Musik, wie ›Unterhaltung‹. Aber ›Sparte‹ ist ein blasser Begriff. Denn hier pulst der Mainstream heutigen Musikkonsums, hier definiert der Zeitgeist ›Musik‹ schlechthin. Hier zwischen Rock, Punk, Hip-Hop, Dancefloor, softem Soul oder schmalzigem Schlager, schrillem Rap und harter Techno-Dröhnung samt den Hybriden aus aller Herren Länder und Genres im Cross-over zwischen verpopptem Bach und verschnittener Folklore erlebt sich die knallharte westliche Leistungsgesellschaft auf entspannter auditiver Genusssuche. Oder berauscht sich mit harter Sound-Droge und weichem Stimmungselixier von Mood. Im Markt der weltweiten ›Musikindustrie‹ belegt die ›Sparte‹ von Rock bis Heavy Metal, Folklore und Jazz den Löwenanteil zwischen 70 und 80 Prozent. Dagegen ist die andere ›Sparte‹, die E-Musik, sprich ›ernste Musik‹, tatsächlich nur eine Minisparte. Besser: eine Nische. Gemeint ist alles ungefähr von Bach, Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms, Wagner, Verdi bis Richard Strauss und Mahler, vielleicht noch Schönberg, etwas Henze oder Wolfgang Rihm. Meist pauschal als ›Klassik‹ gehandelt, bringt sie es sogar unter dem weltläufigen Begriff der Western Art Music nur auf etwa 3 bis 5 Prozent im internationalen Bazar der Schallkünste (2020). Nichts als ein Minderheitenprogramm – Tendenz sinkend: von 3 bis 4 Prozent im US-Tonträgermarkt der 90er Jahre auf 2,4 Prozent (2005) und selbst im ›Musikland Deutschland‹ von 10 Prozent (CD) im Jahr 2010 auf 6 Prozent (CD) 2020 und 7 Prozent bei Downloads, 4 Prozent bei Vinylplatten. Inzwischen scheint aber bereits der Begriff ›Ernste Musik‹ längst ebenso fragwürdig wie veraltet und die Differenz der beiden Sparten nicht nur überholt, sondern fast chauvinistisch. Denn alle Medien und Märkte behandeln Madonna, Lady Gaga, Elton John, den Rapper Eminem oder was immer die aktuelle Hitliste her-

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gibt genauso wie Bach, Beethoven, Mahler oder Verdi. Der globale Kulturbazar hat ›U‹ und ›E‹ längst so gründlich gemischt, wie die Medien ihre ›Formate‹ zwischen Enter- und Infotainment, Fiction und Facts, Talkshow, Sexshow oder Politshow. Ist also irgendeine Unterscheidung der Genres nichts als ein Artefakt, eine verbrauchte Soziologie hörender Klassen und überholter Marketingstrategien? Ist, im Gegenteil, die moderne musikalische Wirklichkeit nicht die Einlösung eines Traums der Aufklärung von der endlichen Befreiung aus üblen Klischees, Klassenschranken und Geschmacksvorschriften – wenigstens im Medium der Kunst? Und sind nicht gerade die Popkünste längst verdientermaßen und bestens legitimiert in den obersten Rängen unserer Gesellschaft etabliert: die größten Konzerthallen und wichtigsten Contests, die besten Sendeplätze der Medien, die edlen Foren der Hochfeuilletons, sogar die Katheder akademischer Forschung und Lehre mit Pop-Theorie und Pop-Akademie – bis hin zum Literaturnobelpreis für einen Popbarden (Bob Dylan, 2016)? Dazu gibt es noch die illustre Bestätigung in den Tempeln von Kirche und Demokratie. Denn in der progressiven Kirchenmusik pulsiert längst der Sakralpop, und sogar echter Pop hat es mit dem Segen des amtierenden Papstes in der sakrosankten vatikanischen Capela Sixtina zu einem veritablen Rockkonzert gebracht (30.4.2016). Nicht weniger Weihrauch weht ihm auch im mächtigsten Parlament der Welt, einer Landmarke westlicher Demokratie, entgegen. Dort erhob sich der amerikanische Kongress in Washington am 26. Juni 2010 zu einer feierlichen Gedenkminute für den King of Pop, Michael Jackson, der tags zuvor gestorben war. Und nicht nur der Kongress trauerte. Auch sämtliche Feuilletons und Kulturfunktionäre lamentierten und räsonierten im Unisono mit der schockierten globalen Popgemeinde. »Der größte Musiker des Jahrhunderts«, befand ein prominenter europäischer Konzertmanager, »vergleichbar mit Mozart«. Im globalen Trauerflor habitueller Orbituaries und erschütterter Feuilletons fehlten weder die Prädikate ›Ausnahmekünstler‹ noch ›Musiklegende‹ oder ›Meilenstein der Musikgeschichte‹. Kaum weniger Weihe gab es auch für andere verblichene Pop-Ikonen dieser Jahre wie David Bowie (2015), Prince Rogers Nelson, George Michael (beide 2016) und Chuck Berry (2017). Für die französische Rock-Ikone Johnny Hallyday (1943–2017), das ›Idol der Generationen‹, ordnete der amtierende französische Staatspräsident Macron einen Trauerzug vom Pariser Triumphbogen über die Champs-Élysées zur Kirche La Madeleine an, wo er am Trauergottesdienst teilnahm. Fast eine Million Menschen säumten den Weg des Zuges. Der britische Popsänger Elton John erhält (2018) den Crystal Award des Weltwirtschaftsforums in Davos, den ein Jahr zuvor die ›klassische‹ Violinistin Anne-Sophie Mutter bekommen hatte. Chuck Berry, eine Gründerfigur des Rock’n Roll, dessen Song Roll Over Beethoven – and tell Tschaikowky the News eine deftige Absage an alle ›Klassik‹ ist, brachte es, trotz seines letzten Gefängnisaufenthalts wegen Steuerhinterziehung, zu einer Einladung ins Weiße Haus durch einen amerikanischen Präsidenten (Bill Clinton, 1993). Auch bei Prince fühlte sich ein amerikanischer Präsident zur Erschütterungsbekundung aufgerufen

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(Barack Obama), kongenial flankiert durch die feine Intellektuellenikone The New Yorker. Sie färbte dazu ihr Titelblatt ganz in Lila als Memory an Purple Rain. Die Kulturbilanz des Jahres verzeichnete 2016 als ›Totenjahr‹ der Helden des Pop mit bewegender journalistischer Totenklage: »Die Riesen, die sterben: Bowie, Prince, Michael, Leonard Cohen, Glenn Frey (Eagles), Black, Keith Emerson, Greg Lake, Merle Haggard und Leon Russell«. Zu den freiwilligen Fans kommen die unfreiwilligen Follower: die zahllosen Väter, Mütter und Opas. Denn Jacko, Bowie, Prince et. al. lieferten nicht nur die Ohrwürmer des Zeitgeistes, sondern sie gehörten auch zu den emotionalen Seelenkumpanen ihrer Kids, die täglichen akustischen Gefährten in progressiven Kinderzimmern, auf turbulenten Schulhöfen und den Smartphone-Apps. Oft auch der einzige Erfolg frustrierter Musikpädagogen. Denn dort findet heute die gängige musikalische Sozialisation der Schule mit Pop und Jacko statt, selten am Klavier oder gar bei Beethovens Für Elise. Mehr Legitimation, mehr Renommee ist kaum möglich. Hier wird die Valuta der ›Entertainmentgesellschaft‹ gehandelt. Sie bestimmt sogar den ästhetischen Wechselkurs der anderen Metiers. Hören nicht reife Opern-Fans genauso Michael Jackson, Udo Lindenberg oder Prince, Madonna, Lady Gaga und Justin Bieber? Gelten nicht die Beatles und die Rolling Stones längst als ebenso wichtig wie die ›Wiener Klassiker‹, singen nicht sogar Operndiven und Wagner-Tenöre begeistert Rocksongs, zählen nicht die großen Balladenbarden von Frank Sinatra bis Bob Dylan oder Leonard Cohen und Kate Bush mit ihrer Song poetry zum ›klassischen‹ Musikbestand aller Generationen? Interessierten sich nicht sogar Hochavantgardisten wie Pierre Boulez für den Jazzrock von Frank Zappa, genauso wie U2-Fans für den pfiffigen Popstar Mozart im Musical Amadeus? Ist und war also die ›Unterhaltung‹, der naive sinnliche Hörspaß, das pure Ohrenvergnügen einer deftigen Schallkulisse nicht schon immer Rechtfertigung, Essenz und Zweck jeder Musik, im poppigen Heute so gut wie im (scheinbar) distinguierten Gestern der Musikgeschichte? Und tatsächlich – wer sich dort umsieht, wird reichlich fündig.

II

Das Alte

Da wären beispielsweise die Karnevalsopern des 17. Jahrhunderts in Italien. Bei denen amüsierte sich die venezianische Schickeria in den mehr als ein Dutzend Operntheatern der Lagunenstadt. Oder die ›Tafelmusik‹ an den Fürstenhöfen, die zwischen den Gängen gebratener und gesottener Fressalien für ›Unterhaltung‹ sorgte, genauso wie die fidelen Bierfiedler in den Schänken und auf den Jahrmärkten oder die Banda bei den sizilianischen Tanzorgien mit Saltarello und Tarantella. Und da wären auch die unzähligen schmissigen Concerti von Corelli bis Vivaldi, die Serenaden und ›Nachtmusiken‹ von Mozart oder die Couplets und Ländler bei den

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zünftigen Schubertiaden im Wiener Heurigenmilieu. Und hat nicht sogar Johann Sebastian Bach, ›Fünfter Evangelist‹ protestantischer Lesart, größter Thomaskantor und universales Genie der abendländischen Musikgeschichte, skrupellos weltliche Kantaten in geistliche verwandelt, sogar in die letzte Variation seiner Goldbergvariationen ungeniert ›Gassenhauer‹, also Schlager seiner Zeit, hineinkomponiert? War das nicht genau dasselbe, was schon lange zuvor die Komponisten in Mittelalter und Renaissance machten, wenn sie profane Chansons zu heiligen Messen umschrieben oder weltliche Lieder dafür als Vorlagen wählten? Oder wenn in ihren Motetten auf Französisch, Italienisch und Lateinisch die liederlichsten Texte ertönten, von der politischen Schmähsatire bis zu deftigen Obszönitäten? Tatsächlich – es scheint, als verfiele bereits in der Historie jede Kategorienlehre verschiedener musikalischer Welten und ›Werte‹ zur Fiktion. Allerdings: es scheint nur so. Denn zwar waren Genres und Texte verschieden, nicht aber die Musik. Wenn Orlando di Lasso in einem französischen Chanson heikle Episoden klösterlicher Libido zwischen Mönch und Nonne musikalisiert: »Statt brav zu psalmodieren laßt ihr das Bett vibrieren …« oder wenn Bach die irdische Liebe aus der Kantate Nr. 213 zu einer himmlischen im Weihnachtsoratorium verwandelt und wenn er sogar Kraut und Rüben und Ruck heh, ruck heh in sein ›Goldberg‹-Gipfelwerk abendländischer Musik hineinnimmt, dann änderte das die Qualität des musikalischen Kontexts so wenig wie ohne solche Zutaten. Denn sie sprengten weder Stil noch Faktur der Komposition, ebenso wenig wie die ›Unterhaltungsmusik‹ von Telemann, Vivaldi, Haydn, Mozart oder Schubert das gängige Verständnis von musikalischer ›Unterhaltung‹. Zum einen unterschied sich eben die Machart des musikalischen Satzes im profanen ›Schlager‹ kaum von der in ›ernster‹ Messe, Motette, Kantate und Arie oder Konzert: zwar ein FunktionsWechsel – aber kein ästhetischer. Deshalb fiel es Bach nicht schwer, Kantaten umzuwidmen und sogar Concerto darüber zu schreiben, ebenso wenig wie Schubert, aus einer improvisierten Tanzeinlage eine Klavierkostbarkeit zu machen oder wie Johann Heinrich Schmelzer, aus einem Volkslied eine Triosonate. Zum anderen verstand man unter ›Unterhaltung‹ offenbar etwas völlig anderes als heute. Man konnte sich an Cavallis oder Caldaras antiken Intrigengeschichten in einem Auditorium voll Geschwätz, Prosecco und koketten Logenflirts genauso delektieren wie an Pergolesis spaßiger La serva patrona oder wie die Wiener High Society an den Serenaden und Divertimenti Mozarts oder der Ironie seines Dorfmusikantensextetts. Auch die vielen Tanzformen des gemeinen Volks gehörten keineswegs zu einer inferioren ästhetischen Liga. Im Gegenteil: sie inspirierten die großartigsten Musikgattungen des Abendlandes wie die unendliche Fülle der Lauten-, Klavier- und Orchestersuiten. Die ›Straße‹ inspirierte Passacaglia und Passamezzo, der Bauerntanz die Polka oder die ›Deutschen Tänze‹. Bis in unsere Zeit beliefern die Requisiten des deftigen Metiers die E-Musik von Bartók, Strawinsky, Offenbach, Mahler, Hindemith, Gershwin oder Bernstein. Und die ›Tafelmusiken‹ aristokratischer

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Bankette waren integraler Teil barocker Festkultur. Was wir heute als Solitäre von Telemann, Delalande, Josef Hermann Schein oder Valentin Rathgeber wie ›autonome‹ Musik zelebrieren, war nichts anderes als stilgerechtes Zubehör guten Geschmacks. Nicht viel anders, wie sich jede Menge barocker Duodezfürsten, Herzöge, Grafen und Barone, sogar preußische Könige und Habsburger Kaiser, bei selbstexekutierter Kammermusik bestens ›unterhielten‹. Kurz gesagt: Man amüsierte sich auf einem anderen Niveau.

Musica, Musik, Music? oder: Differenzen Hier scheint sich einiges so drastisch verändert zu haben, dass man leicht den schicken Begriff des Paradigmenwechsels bemühen könnte. Denn hier haben sich nicht nur Geschmäcker, Formen und Macharten verändert, sondern hier hat sich die Vorstellung von ›Musik‹, der abendländische Musikbegriff also, offenbar so gründlich gewandelt, dass man leicht in die Nähe der schwierigsten aller Fragen gerät: Was ist Musik? Gibt es überhaupt ein verbindliches Paradigma von ›Musik‹? Fatal erinnert das an ein Problem des philosophischen Kirchenvaters Augustinus. Er geriet bekanntlich vor der Frage, was die »Zeit« sei, in ein gleiches Dilemma (Quid sit tempus?), obwohl er, wie jedermann, im Alltag genau wusste, was ›Zeit‹ ist (»wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es …«). Ganz ähnlich ergeht es uns mit der Musik: quid sit musica? Im Konzert wie im Disko-Club, an den alltäglichen digitalen Musikdatenreservoirs, am CD-Player oder Keyboard glaubt es jeder sicher zu wissen. Aber dann kommt sogar ein Starmusiker wie Leonard Bernstein in Verlegenheit: Music the unanswered Question heißen seine bekannten Norton-Vorlesungen an der Harvard Universität. Den Titel hatte er sich von Charles Ives geborgt, der die Frage, kompositorisch, schon 1908 mit seinem Stück The Unanswered Question gestellt hatte. Auch ein berühmter Komponist der deutschen Avantgarde schüttelt in einer edlen TV-Sitzung den Kopf und antwortet auf die Frage, was Musik sei, schlicht: »Ich weiß es nicht« (Wolfgang Rihm). Nicht einmal die zuständige Fachwissenschaft weiß es so richtig: Was ist Musik, fragt die Musikwissenschaft noch 1985 in einem Sammelband und umkreist das Rätsel bemüht, genau wie in ihren großen Lexika, mit vielen klugen Reflexionen und Paraphrasierungen. Vielleicht empfiehlt es sich deshalb, damit zunächst genauso pragmatisch zu verfahren wie ein Augustinus mit der ›Zeit‹. Das hieße, sich zweckmäßigerweise vor dem schwierigen erkenntnistheoretischen Rätsel des ›Paradigmas‹ zunächst an die Evidenz einer gesicherten Erfahrung zu halten: an eine musikalische Realität, wie sie durch fast 2000 Jahre im Abendland als Empirie des musikalischen Tuns und Formulierens definiert wurde. Denn von dort haben wir als Erfahrungswissen Begriff, Verständnis und Zeugnis von ›Musik‹. Erst von hier aus entstehen Anschauung und Referenz für Wesen und Wandel. Auch für jenen, der sich offenbar in unserer Zeit abspielt – und den jeder mit eigenen Ohren hören kann. Denn die

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lebendige Präsenz von 2000 Jahren Musikgeschichte mit ihrer quasi operanten Definition von ›Musik‹ als jedem zugänglicher Quelle, medial oder im Konzertleben, macht es möglich und erlaubt jedem sein eigenes Urteil. Zumindest jedem halbwegs Hör- und Unterscheidungsfähigen. Kaum vorstellbar, dass jemand die Unterschiede zwischen italienischer Lautenmusik des 16. Jahrhunderts und Heavy Metal des 21., Rock’n Roll, Rap oder Hip-Hop und der Musik der Bach-Zeit oder der ›Wiener Klassik‹ überhören könnte. Schwer möglich, dass jemand ernsthaft die ohrenfällige Differenz zwischen Rolling-Stones-Songs und Schubert-Liedern oder den Arien von Händel, Wagner und Verdi ernsthaft wegdiskutieren wollte, ebenso wie die zwischen der ›ersten‹ Wiener Schule von Haydn bis Beethoven und der ›zweiten‹ von Schönberg, Berg und Webern. Wen hier sein Unterscheidungsvermögen verlassen sollte, der ist bestenfalls nur ›unmusikalisch‹, schlechterdings ein Intellektueller, der die Kant’sche Lizenz des beliebigen subjektiven Geschmackurteils entgegen einer ausdifferenzierten Hermeneutik der Musikgeschichte und die erprobte Erfahrung des Empfindungsvermögens strapaziert. Die Frage nach der Differenz, den ›Unterschieden‹, und ihrer tieferen Begründung aber könnte sich als erster heuristischer Schlüssel zu jeder Reflexion über den Musikbegriff erweisen.

Die anderen Differenzen: von Decolonize the Classics bis Microsoft und Markt Aber es bleibt nicht bei dieser Differenz. Denn inzwischen gibt es allerhand neue, die für nachhaltigen Bedeutungswandel sorgen. Am massivsten: der des allgemeinen Kulturbegriffs in den schnellen Weltverwandlungen der ›Moderne‹. Er mutiert aus alter Symbiose mit Hoch, Schön, Gut und Wahr in eine ›post-‹ oder ›spätmoderne‹ Relativitätstheorie der Ambivalenzen, die von Wissenschaft und Technik, den Strategien einer globalen Medienwirtschaft und den Mechanismen einer spätkapitalistischen, utilitaristischen Konsum- und Marktwirtschaft bestimmt wird. Den schärfsten Akzent setzen aktuell die ›postkolonialen‹ und soziologischen Debatten zwischen Abrechnung und Diversity. Mit ihnen gerät der ganze abendländische Kulturbegriff als ein reduktiver Kanon diskriminatorischer Ausgrenzung unter radikalen Legitimierungsdruck. Und mit ihm alle ›Klassik‹. Als Teil einer übel beleumundeten, eurozentristischen, rassistischen Manifestation von dead white men fällt sie unter angemaßten Hegemonieverdacht und wird leicht Opfer, in der Aufarbeitung aller Gräuel- und Untaten imperialistischer Geschichte. Und womöglich ganz zu Recht. Warum Platon, Aristoteles, Cicero, Shakespeare oder Bach und Beethoven, wenn es auch die Kulturkanons von Mesopotamien, China, Indien oder Ägypten gibt, Black music, ›alternative‹, ›weibliche‹ und ›queere‹? Warum nur die Dignität von Akropolis, Raffaels Madonnen und Michelangelos David oder Sonaten der ›Wiener Klassiker‹ samt ihres trivialen C-Dur und ihrem a-Moll und nicht die Würde

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der Benin-Bronzen, aparte Pentatonik, den Reiz arabischer Maquamats, indischer Ragas oder des javanischen Slendro? Warum Sinfonieorchester, Steinway-Flügel, Stradivari-Geigen und Böhm-Flöten und nicht balinesische Gamelan- oder westafrikanische Djembe-Ensembles, Javanische Gongs, Floßzithern aus Dahomey oder die ehrwürdige arabische Oud? Wer würde zögern, aus unserem ultra-aufgeklärten, modernen Horizont der Weltkulturen diesen (anthropologischen) Anspruch nicht als recht und billig zu empfinden? Ihm gar Anmaßung vorwerfen oder ihn als Zeugnis menschlicher Ausdrucks- und Geisteswelten von triftiger Bedeutung infrage stellen? Aber was macht dann schließlich die ›Bedeutung‹ unserer abendländischen Musik aus, inmitten der ›Dekolonisierung des Denkens‹ mittels ›Pluraler Ontologien‹ in den Konvergenzen eines boomenden Multikulturalismus?

Warum Microsoft mit Mozart konkurriert Die womöglich nachhaltigste Wandlung des Kulturbegriffs aber verdankt sich einem Dynamo, der hinter den mentalen Mutationen steckt: die moderne (Natur-) Wissenschaft und Technik. Ihre enormen Leistungen mit beständiger Evolution, Invention und Innovation verwandeln nicht nur unsere Lebenswelten, sondern auch unsere kollektive Bewusstseinslage, unser Denken, unser Weltbild. Ihr Ethos definiert neue Werte aus einer massiv veränderten Wirklichkeitserfahrung: als intentionale, vom Menschen betriebene Weltveränderung wird es inzwischen zum neuen Erdzeitalter des Anthropozäns ausgerufen. Verstanden als ein distinkter Zivilisationsbegriff betrifft dies schließlich auch Kunst und Künstler, Musik und Musiker – das ›ästhetische Bewusstsein‹ schlechthin. Gewiss, Bach, Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms, Chopin oder Bruckner, nicht minder Verdi oder Tschaikowsky und Richard Strauss kommen dort zwar immer noch vor, werden ja auch als traditionelles ›Bildungsgut‹ mit Respekt behandelt. Aber eigentlich haben sie damit so wenig zu tun wie Dante, Shakespeare, Goethe, Schiller oder Mörike, genau so wenig wie Raffael, Michelangelo oder gar ein kauziger Spitzweg oder launiger Jean Paul. Denn ihren Leumund haben sie von gestern. Ihre seltsame ›Unsterblichkeit‹ beziehen sie eher von einem ›Jenseits‹ unserer aktuellen Lebenswelt. Dort aber bestimmen die Physiker, Ingenieure und Techniker, die Kybernetiker, Informatiker, die Robot-, KI- und Softwareentwickler, die Gen- und Hirnforscher zusammen mit vielleicht noch den Finanztycoons und Wirtschaftsmagnaten als Phänotypen der Moderne unsere Welt. Und das völlig zu Recht. Denn sie sind die intellektuellen Köpfe, die diese Moderne aufgebaut haben und in Gang halten. Und damit die Garanten unserer zeitgenössischen Existenz. Die Genieleistungen dieser Welt liegen nicht mehr in Kontrapunkt und Fuge, feinen Sonetten und ausgefeilten Sonaten, in arkadischen Landschaften und goldumflor-

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ten Madonnenbildern, sondern in der Erfindung von neuen Technologien und der Verbesserung der alten, in der weiteren Entschleierung der kleinsten Bausteine der Materie und der allerfernsten Weiten des Kosmos, den Versprechungen von intergalaktischen Weltraumfahrten und DNA-Chiffrierung, Siliziumchip, Nanotechnik, Data-Mining und Organtransplantation, in der Diskussion von Relativitäts-, Quanten- und Stringtheorie oder dem endlichen Nachweis der ›Dunklen Materie‹ und der Suche nach der Susy, der ersehnten »Supersymmetrie« in der Physik. Das schöpferische Potenzial und die intellektuellen Herausforderungen unserer Zeit liegen in Big Science, Silicon Valley oder Genfer Supercollider und schnelleren Computern, dem nächsten, besseren Algorithmus entweder dort oder im Aladdin-Computer des größten Finanzdienstleisters, BlackRock. Das definiert einen völlig anderen Wertekanon als Bach, Mozart, Beethoven, Dante, Michelangelo oder Goethe.

Alte und neue Daseinsnöte Man braucht ihn auch gar nicht. Man braucht die Beherrschung der Erderwärmung und des Klimawandels, die Ernährung einer bald auf sieben Milliarden anwachsenden Menschheit, die Energiegewinnung aus Wasserstoff, die Beherrschung der DNA, schnelleres Internet und Datentransfers, vielleicht noch das Verständnis der ›Schwarzen Löcher‹ und endlich den Quantencomputer. Das ist keineswegs platter Rationalismus. Das ist sinnvoller Pragmatismus und Gebot drängender Notwendigkeit. Denn nicht einmal die alten Nöte sind bewältigt. 811 Millionen Menschen hungern (UN-Bericht 2020), Tendenz zunehmend, fast ein Viertel der Weltbevölkerung hat keine ausreichende Wasserversorgung. Jeden Tag sterben mehr als 15 000 Kinder unter fünf Jahren, 72 Millionen Kinder können keine Schule besuchen. Die Aids-Seuche forderte täglich 1863 Menschenleben (2020) und in jeder Minute infiziert sich ein Kind damit: 12 Millionen Kinder waren 2006 allein in Afrika bereits Aids-Waisen. Auch die ›Naturbeherrschung‹, obwohl optimistisches Dauer-Versprechen unserer Moderne, lässt zu wünschen übrig. Die Katastrophen sind nicht weniger geworden, und jede von ihnen zeigt, wie dünn der Firnis unserer High-Tech-Weltbeherrschung ist. Die letzte, 2020, brachte die Jahrhundertkrise eines Virus, der den ganzen Globus als ungreifbarer Tsunami erfasst und gelähmt hat. Aber er ist nur eine Spielart fataler Fanale der Jahre vorher: vom realen Tsunami vor Sumatra 2004 und Zyklonen wie »Nargis« in Myanmar 2008 bis zu Erbeben wie in Haiti 2010 oder in Nepal 2015 und den Überschwemmungen in Pakistan, China und Nigeria bis zur japanischen Nuklear-Katastrophe von 2011. Nicht zu reden von den üblichen Tornados in der Karibik und den USA oder den Vulkanausbrüchen und Erdrutschen. Aber nicht nur die uralte Göttin Shiva tanzt uns unvermindert auf der glänzenden Hightech-Nase herum. Auch die alten politischen Konflikte sind unbewältigt:

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Kain und Abel metzeln sich unbeirrbar weiter – nur mit immer perfiderer perfekter Technologie. Die Bürgerkriege zu Beginn des 21. Jahrhunderts von Sri Lanka bis Kongo, Darfur, Somalia oder Tschetschenien und Syrien, die Feldzüge im Irak oder in Afghanistan, die Konflikte in Osteuropa bis zum Ukraine-Überfall, im Nahen Osten und Afrika beweisen es. Dazu kommen die neue Fronten ›asymmetrischer Kriege‹ mit Terrorismus und Fundamentalismus, der Kollision von kulturellen Wertsystemen und die neuen Malaisen dysfunktionaler Wirtschaftssysteme mit globalen Finanzkrisen. Inzwischen erweist sich auch der moderne Traum von Demokratisierung, Liberalisierung und Emanzipation einer digital-sozial vernetzten Internet-Weltcommunity eher als Albtraum aus einer infamen Pandorabüchse. Sie öffnet von florierenden Hassstürmen, Betrug, Datenklau, Hacking und Mobbing ihr ganzes Sortiment an Verderbtheiten bis zum superlativen Big Brother totaler Überwachung und den destruktiven Szenarien von Cyber-Attacken und desaströsen elektronischer Kriege. Ecce homo: Das gehört zur conditio humana des 21. Jahrhunderts. Welchen Wert könnten hier die edlen Musen-Tröstungen einer ›Klassik‹ von gestern haben, alter frommer Bach, heiterer Mozart, bewegender Beethoven und poetischer Schubert? Oder bemühte Klavier- und Gitarreetüden, angestaubte Opernlibretti oder selbst die Glasperlenspiele elektronischer Sphärenklänge aus feinen Labors der Avantgarden? Nüchtern betrachtet, so scheint es, als bliebe in dieser Realität für die Künste nicht viel. Schon gar nicht als prägende Mächte einer ›Kultur‹. Außer, dass sie noch zu jener Unterhaltung und Zerstreuung taugen, mit der sich die westliche Gesellschaft als ›Spaßgesellschaft‹ vom zerebralen Über-Ich der multimedialen ›Wissensgesellschaft‹ und dem Stress einer funktionalen ›Leistungsgesellschaft‹ entlasten möchte. Da sitzen die edlen Musen von gestern dann in den Sozialen Medien und Apps zwischen Playstation, Werbespots, Porno und Wellness mit Joints, Koks und Sound-Dröhnung, Soul-Romantik, Herz-Schmerz-Schmalz oder Country-Folk und Mood im selben Boot, einen gelegentlichen Abend mit Goldrand bei einer Opern-Premiere, einer Gala mit berühmten Klassikstars oder Mozarts unverwüstlichem ›Türkischen Marsch‹ im Klavierunterricht für die kleine Tochter mit im Pauschalpaket ›Kultur‹. Vor den Genieleistungen der modernen Wissenschaft, dem rasanten Innovationstempo ihrer Technologien und dem ethischen Imperativ zu unserer Daseinsverbesserung verblasst die Kunst von gestern zum nostalgischen Echoraum, zum schönen aber marginalen memento mori. »Die Fortschritte der modernen Wissenschaft sind so erstaunlich, daß ich mir ein bisschen komisch vorkomme, wenn ich sehe, wie meine Kollegen an der Universität über genetische Codes diskutieren, während die Kunsthistoriker über Duchamps Pißbecken reden. Wenn man sich den Unterschied des intellektuellen Niveaus vorstellt, das ist doch wirklich unfaßbar« (Der Kunsthistoriker Ernst Gombrich, schon 1966). Prestige, Dekoration und geldwerte ›Aura‹ bis zum (steuersparenden) Investitionsobjekt: ja – gerne. Aber was haben die ›Schönen Künste‹ noch im Zentrum eines

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realistischen Weltbildes verloren? Auch wenn sie dort, zugegebenermaßen, früher und im Abendland noch bis zur Schwelle der Moderne fraglos zum unantastbaren Kulturkanon gehörten? Was haben sie noch in einem zeitgemäßen Bildungskanon verloren, mit dem die Kinder der Wissens- und Informationsgesellschaft billigerweise erwarten dürfen, für das Atom-, Digital-, Krypto- Robot-, KI- und Genomzeitalter fit gemacht zu werden?

»Good business is the best Art« Diese nüchterne Sentenz von Andy Warhol kommt aus dem Pop-Imperium der bildenden Künste: vielleicht etwas banal, aber treffend. Denn sie bezeichnet einen anderen Wandlungsprozess der Moderne: vom mentalen Wert zum Geldwert als utilaristscher Paradigmenwechsel. Kein anderer Bereich als der Kunst- und Musikmarkt liefert für diesen Bedeutungswandel eindrucksvollere Belege. Zwar ist die Allianz von Kunst und Geld weder neu noch illegitim. Bereits die Kitharöden des spätrömischen Imperiums wurden genau wie die berühmten Sänger und Kastraten der Renaissancefürstenhöfe mit vergleichbaren Summen gehandelt wie heutige Fußball- und Medienstars. Auch im holländischen Kunsthandel des 17. Jahrhunderts, dem ›Goldenen Zeitalter der Niederlande‹ mit seiner gigantischen Bilderproduktion wurden riesige Summen umgesetzt. Wenig anderes kennt man aus dem Geschäftsmodell der opulenten italienischen Opernproduktion des 19. Jahrhunderts. Dort wurde nicht ästhetisch kalkuliert, sondern merkantil taktiert: Die pekuniäre Bilanz der Saison, der Stagione teatrale sprach das Urteil über Werke, Komponisten und Sängerstars. Mit der Massenproduktion im anbrechenden Industriezeitalter schließlich spielten die Verwertungsstrategien bei den ersten ›Medien‹ von Rundfunk und Schallplatte eine immer wichtigere Rolle. Herbert von Karajan, als geniales Gesamtkunstwerk von Dirigent, Regisseur, Festspiel­ impresario, Platten-, CD- und Musikvideo-Produzent avancierte zum Prototyp des modernen Starkults. Mit Privatjet, Pilotenlizenz und Kommerzzentrale in Monaco entwarf er im internationalen musikalischen Jetset die Schnittmuster des heutigen E-Musikmarkts. Neu ist aber der rasante Wandel des Kunstbegriffs selbst, wenn er von der ästhetischen ›Bedeutung‹ zur merkantilen übergeht, von der Substanz zum Objekt der Verwertung, wie er sich im Prozess der modernen Markstrategien vollzieht. Dass dahinter weder Ästhetik noch Geist stecken, sondern Basar und Banking, zeigt sich beispielhaft im Kunstmarkt. Bereits in den 1950er Jahren erließ die amerikanische Regierung ein Gesetz das jedem Steuervergünstigung ermöglichte, der einem amerikanischen Museum ein Kunstwerk schenkte. Die Vergünstigung war sofort wirksam. Der Eigentümer aber brauchte das Kunstwerk erst nach seinem Tode dem Museum zu überlassen. In England schuf man die Möglichkeit, Erbschaftssteuern mit Kunstwerken zu bezahlen. Das war ein erster Schub, der die Preise in sämtlichen Auktionssälen in die

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Höhe trieb und ›Kunst‹ zur interessanten ›Investition‹ machte. Man musste nicht mehr umständlich in Industrieaktien, bolivianisches Zinn oder ceylonesische Teeplantagen investieren, sondern konnte stattdessen in Picasso, Braque oder Beckmann anlegen. Einen neuen Schub erhielt das Metier mit dem vielen freien internationalen money der 2000er Jahre. Eine feine Schickeria von Oligarchen und neureichen Millionären, die sich zwischen Londoner Stadthaus, Karibik- oder Riviera-Villen neben ihren Ferraris und Yachten samt dem privaten Learjet auch mit Pollock, Warhol, Koons und Hirst versorgte, gab dem Kunstmarkt einen ultimativen Push. Der Hype begann schon 1982 mit einer langjährigen Hausse des Dow-Jones-Index. Das freie Millionärs-Money suchte nicht nur einen neuen Spielplatz im internationalen Lifestyle-Zirkus, sondern wollte auch profitabel untergebracht werden. Findige Investmentberater und Banker wiesen den Weg ökonomisch, Galerien, Auktionshäuser und Art Counselors planierten ihn organisatorisch, Kunstkritik und Feuilletons legitimierten ihn intellektuell, Museen institutionell. So wurden mit den Times-Sotheby Art Indexes in einer genialen Symbiose von Kunst- und Geldhandel Kunstwerke als glänzendes Renditeobjekt entdeckt. Wer wollte, konnte weiter naiv ästhetisch fabulieren, wer aber wusste, würde strategisch investieren. Sogar Peggy Guggenheim, darin als höhere Kapitalistentochter weit mehr verwickelt denn als feinsinnige Kunstelevin, empörte sich in ihren Memoiren über einen Kunstmarkt, der sich bereits in den 1970er Jahren zu einem »riesigen Geschäftsunternehmen« mit »schwindelerregenden Preisen« verwandelt habe. Eine nie dagewesene Liquidität freien Kapitals, darunter nicht nur venture capital, sondern auch tiefschwarzes, fand ihre lohnenden Objekte: Art market = Stock market hieß es. Meistens noch lukrativer: denn die Indexes bewiesen schlagend, dass die jährlichen Profitraten im Kunstmarkt zwischen 25 und 200 Prozent lagen. Neu bei diesem neuen Kunstbegriff war auch, dass die etablierte Kunst die jeweils aktuelle mitzog. Denn sie musste erst über den Markt ›ästhetisch‹ legitimiert werden. Wie gut das gelang, zeigten Preise, die Raffael herausfordern und Rubens in den Schatten stellen: 1973 waren Jackson Pollocks Blaue Pfähle noch für zwei Millionen Dollar zu haben und 1984 ein Mark Rothko für 1,6 Millionen Dollar – aber 2006 wechselte Pollock’s No. 5, 1948 für 140 Millionen Dollar den Besitzer und 2007 ein Rothko für 65 Millionen Dollar. Dass die Rally vorübergehend pausierte und Damien Hirst 2009 in seiner Londoner Auktion ›nur‹ 110 Millionen für seine gesamte Produktion erzielte, hatte wieder nichts mit ästhetischer ›Bedeutung‹ zu tun, sondern mit Investment Bank­ ing. Denn am selben Tag brach das New Yorker Geldhaus Lehman Brothers zusammen, hinterließ über 200 Milliarden Dollar Schulden und zündete den Auftakt zu einer spektakulären globalen Finanzkrise. Aber inzwischen funktioniert es wieder besser. Unter den zehn teuersten Kunstwerken der internationalen Auktionen waren 2021 fünf Zeitgenossen: Basquiat (81 Millionen Dollar), Rothko (77,5 Millionen), Beeple (60,25 Millionen), Pollock (53 Millionen) und Twombly (51 Millionen). Andy Wharhols Siebdruck Shot Sage

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Blue Marilyn von 1964 wurde 2022 bei Christie’s‹ in New York mit 170 Millionen Dollar (mit Gebühren: 195 Millionen) zum teuersten je bei einer Auktion verkauften Kunstwerk des 20. Jahrhunderts. Auch der subversive Straßenkünstler Bansky erreicht die Hochpreisliga: Bansky mit Girl with Balloon erzielt nach planvoller Schredder-Amputation jetzt 16 Millionen Pfund bei Sotheby’s (2021). Mit Everydays: The First 5000 Days von Mike Winkelmann alias Beeple etabliert sich schließlich ein neues Genre, die Kryptokunst als NFT (Non-fungible Token) für 69,35 Millionen Dollar im gleichen ästhetischen Gout. Das ist der spektakuläre Auftakt für einen neuen, heißen Markt, in dem sich digitale Virtuality und good Business treffen. Sogar eine eigene NFT-Börse gibt es bereits: Open sea. Treffend bezeichnet sich der schrille NFT-Künstler Takashi Murakami als Marketing-Künstler. Damit liefert er ein Schlüsselwort zum ästhetischen Transferprozess der Moderne. Denn im Glamour der Hochpreiskulisse vollzieht sich eine rasante Umkalibrierung der Bedeutungswelten, die sich im Kunstwerk treffen. Denn dort liegt immer schon die Schnittstelle zweier völlig verschiedener Wertsysteme. Jeder weiß, dass unter dem profanen Geldwert ein anderer steckt: die Aura der Kunst, die Dignität transrationaler Erhabenheit, der Mythos eines Ungreifbaren aber Wirkungsmächtigen, der Nimbus des Künstlers, der von Dingen ›spricht‹, die Banker, Oligarchen, Manager und Ingenieure höchstens ahnen. Dem Kunstwerk hätte man sich zu nähern »wie einem Fürsten« verlangt der Philosoph Arthur Schopenhauer. Selbst seine banalen Schwundstufen als Snob-Fetisch und Lifestyle-Requisit oder als flaues Entertainment in diffuser Schallkulisse medialen Alltags zehren noch vom Arkanum des anderen Wertes. Auch gemalte Konservendosen von Warhol, abgefüllte Merda d’artista von Piero Manzoni und Jeff Koons Formaldehyd-Haifisch kalkulieren, genau wie JacksonAkrobatik, Madonna-Gestöhn oder Rapper-Gedröhn, wenn nicht mit dem Alibi der Aura und ihrer akkumulierten Potenz aus tausendjähriger Tradition, so bestimmt mit dem magischen Charisma eines genialen ›Künstlertums‹. Das ist der immaterielle Wert, also der emotiv-wahrgenommene, letztlich der seelisch-geistige Bedeutungsgehalt eines Kunstwerks. Das andere ist ein materieller, sein Marktwert: Preis, Prestige, Protz und Profit. Nur: dass letzterer immer vom Rang des ersteren abhängig war. Wenigstens so lange, bis sich der andere in der modernen Finanzwirtschaft immer weiter verselbstständigte und über den Marktwert seine eigene ›Aura‹ generierte. Und damit den immateriellen Teil zur Geisel nahm. Price­ less ist deshalb der schöne englische Begriff für den unbezahlbaren, ursprünglichen Wert, von dem der andere so blendend profitiert. Deshalb bemühen aktuelle Definitionen des Kunstsystems am liebsten den plutokratischen Positivismus: »Wo­ ran erkennt man Kunst? Am Preis« (Jeremy Deller, Turner-Preisträger 2004) oder: »Der Markt hat immer recht« (Chef eines großen Berliner Auktionshauses). Das ist das Credo der freien, aber kapitalistischen Marktwirtschaft. Dort definiert sich der neue Kunstbegriff als eine Art von symbolischem Kapitalismus: ein mentaler

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Tauschhandel der ›Bedeutungen‹. Das aber ist nicht nur ein Wertewandel, sondern ein Verlust von Differenzbewusstsein. Hinter der merkantilen ›Aura‹ verliert sich die ›Aura‹ der Substanz: ob Raffael, Michelangelo, Rembrandt oder Cézanne – so gut wie Duchamp, Warhol, Lichtenstein, Koons oder Hirst.

Popmusik-Imperium In der ›Musikwirtschaft‹ funktioniert es nicht anders. Dort generieren die Verkaufszahlen, das Ranking in den Charts, die Klicks auf YouTube oder in Facebook und die Follower den Marktwert. Er erschafft Bedeutung über den ›Aufmerksamkeitswert‹. Er bestimmt ästhetischen Rang und gesellschaftliches Prestige. Dort rangieren die Granden der musikalischen Pop-Art längst in der sozialen und pekuniären Oberliga. Seit Sänger Cliff Richard von Queen Elizabeths II.’s Gnaden als erster Popstar zum Ritter geschlagen wurde, gibt es keine jährliche Zivilliste mehr ohne Orden oder den Sir für Popstars. Die Beatles zählen dazu, Eric Clapton, Mick Jagger, Bob Geldof oder Elton John. Ein Rock-Gitarrist wie der Brite Midge Ure ist nicht nur Sir des OBE, sondern kann sich auch mit drei Ehrendoktoraten schmücken. Der Pop-Troubadour Bob Dylan hat seinen Doktor h. c. schon lange, nämlich von der Elite-Uni Princeton und bringt es schließlich bis zum LiteraturNobelpreisträger. Jacko schließlich war nicht nur ungekrönter King of Pop, sondern gekürter ›Künstler des Jahrhunderts‹ (2002). Außerdem hatte er zu Lebzeiten 22 der American Music Awards erhalten, vier weitere sogar nach seinem Tod. Dazu bereits 1984 acht Grammy Awards, jene Oscars der Musikwelt, die von der National Academy of Recording Arts and Sciences in Los Angeles verliehen werden. Diese Academy illustriert exemplarisch den geläufigen Musikbegriff als symbiotischen Verbund aller Schallerzeugnisse samt ihrer Erzeuger. Sie vergibt nämlich ihre Preise in 109 Kategorien und reiht ihre Lorbeerkranzträger dort in einer bunten Reihe von Popstars wie Santana (acht Grammys 2000), Amy Winehouse (fünf, 2008) oder dem Rapper Lil Wayne (2009), Lady Gaga (2011) umstandslos neben Sir Georg Solti, Riccardo Muti, Kent Nagano, Jordi Savall und Kaija Saariaho. Sie bekränzt Rock, Funk, Rap, Country und Jazz und genauso Produzenten, Sounddesigner und Songwriter. Das Sahnehäubchen gesellschaftlicher Kulturrelevanz in der angelsächsischen Welt ist schließlich die Prämierung des ›Einflussreichsten Künstlers des Jahres‹ durch das Time Magazine. Auch hier liegt der Pop ganz vorn: 2010 war es die schrille Popgröße Stefani Joanne Angelina Germanotta, vulgo: Lady Gaga. Inzwischen gehört die kommerzielle Zukunft im Digitalzeitalter den Stream­ ingdiensten: Spotify, Deezer, Tidal, Pandora oder Apple Music beherrschen den Markt (2018 in Deutschland mit Anteilen von 47,5  Prozent, vor der CD mit 35,2 Prozent). Die Dynamik des Marktes ruft inzwischen auch die globalen Online-Händler Amazon (mit Amazon Unlimited Music) und Google (mit Google

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Play Music und YouTube Music) auf den Plan. Für die 5-Prozent-Nische der »Klassik« interessieren sich nur einige bescheidene Neugründungen (wie IDAGIO, Henry und Grammofy). Dass hier längst nicht mehr die Kunst, sondern der Markt feiert, weiß jeder. Als ihre Majestät, die englische Queen, 1965 die Beatles mit dem MBE auszeichnete, honorierte sie damit den ›besten Exportartikel Großbritanniens‹. Als Teil der Creative Industries des damaligen Cool Britannia erreichte er seit den 1990er Jahren zweistellige Wachstumsraten und machte 2010 rund zehn Prozent am Bruttosozialprodukt des Vereinigten Königreiches aus. Nichts anderes machen die American Music Awards, die Video Music Awards oder der deutsche Echo-Preis, deren Messlatte der kommerzielle Erfolg ist. Genau wie im internationalen Kunstmarkt seit den 1970er Jahren die galoppierende Preisskala zum Maßstab für die ›Bedeutung‹ von Kunst wurde, so zählen im U-Musikgenre die Umsätze. Bereits für die Hitliste der alten Radio- und Videosender sorgte schon seit den Zeiten von Elvis Presley eine korrumpierte aber routinierte Pay for Play-Praxis der professionellen Discjockeys: spielst du meinen Song, bekommst du mein Geld. Ein Blick auf die hyperperfektionierten Abläufe der industriellen Produktions-, Promotions- und Verwertungskette der Popbranche zeigt, wie vom ersten Ton an für Markt, Medien und Money strategisch optimiert wird. Dazu gehörte lange auch der Musikjournalismus der bunten Pop-Magazine als systemimmanenter Mitspieler. Denn hinter den begeisterten Wort- und Reflexionsetüden hängt deren anzeigenabhängige Existenz vom Wohlwollen der Labels und Band-Manager ab. Wie gut die kommerzialisierte Pop-Ästhetik funktioniert, zeigt sich schließlich in den Wirtschaftsimperien aus Sound und Imageprodukten, die sich die Popgrößen erschaffen haben. Ganz vorne liegen die millionenschweren Umsätze der Cash Queens aus den 2000er Jahre wie Madonna, Shakira, Britney Spears, Beyoncé oder Lady Gaga. Beyoncé hatte 2009 die Liste der Großverdiener mit 87 Millionen Dollar angeführt, die 25-jährige Lady Gaga überholte sie 2010 mit 90 Millionen Dollar (Forbes-Liste). Aber auch ihre männlichen Pendants wie die Rolling Stones, der Hip-Hop-Tycoon Jay-Z oder Elton John kassieren in der gleichen Liga. Der erst 17 Jahre alte Justin Bieber kam 2010 auf 53 Millionen Dollar. Der irischen Rockband U2 um den Sänger Bono schreibt man für ihre Tour 360 Grad von 2009 bis 2011 das höchste Einspielergebnis der Musikgeschichte zu: 700 Millionen US-Dollar. Sogar die toten Barden glänzen posthum noch lange mit Millionenumsätzen. Michael Jacksons Nachlassverwalter haben 2009 noch etwa 275 Millionen Dollar erlöst, bei Elvis Presley waren es 60 Millionen und bei John Lennon 17 Millionen (Forbes-Liste 2010). Als neuer Geschäftszweig hat sich die Rechteverwertung von lebenden und toten Popikonen entwickelt. Sie versprach in der Krise des untergehenden Tonträgermarkts Ende der 1990er Jahre mehr Profit als die Produktion neuer Tonträger. Deshalb stellte Bertelsmann die Kreativ-Produktion von Musik mit seinem Label Ariola ein und machte stattdessen den Handel mit Rechten zur Pfründe: die

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BMG Right Management GmbH akquiriert ständig neue Labels, Verlage und Musikrechtskataloge. Bezeichnenderweise wurde die Firma als ein Duo von Bertelsmann AG und des Private-Equity-Finanzinvestors KKR gegründet. Es rentiert sich: Schon 2016 machte man damit 300 Millionen Euro Umsatz im Jahr. Auch der japanische Elektronikkonzern Sony erkannte die Vorteile dieses Geschäftsmodells und kaufte 2018 die Mehrheit am Musikrechteverlag EMI Music Publishing für 2,3 Milliarden US Dollar. Er hält die Rechte für mehr als zwei Millionen Musikstücke. Inzwischen handelt man mit allem: den Autoren-, Aufführungs- und ›Synch‹Rechten, den Tantiemen-Anteilen von Produzenten, Labels oder Künstlern. Und beim Musikadministrator Merck Mercuriadis klingelt in seinem Songrechte-Fonds Hipgnosis jedesmal die Kasse, wenn jemand einen seiner über 15 000 Songs spielt, an denen er die Rechte hat. Institutionelle Großinvestoren wie KKR, Blackstone, Apollo Global Management und Pimco haben die Kataloge als lukrativen Markt entdeckt – ›Musik‹ ist genau wie ›Kunst‹ im internationalen Kunstbusiness zum gefragten Investmentobjekt geworden. Andy Warhol hat früh die geniale Zentralikone dazu erschaffen: den Siebdruck 200 One Dollar Bills (1962). Das fällt zwar optisch unter Kleingeld. Aber als Metapher visualisiert sie das ungenierte Credo der Branche perfekt: »Good Business is the best Art.«

Zweimal Athen: Von Schule von Athen (Raffael) zum ›Müll der Straßen von Athen‹ (Kassler documenta 14) Hinter der Verschränkung der Werte in den beiden Genres von Pop-Art fällt auch ein Licht auf einen fatalen Wandel der ästhetischen Sujets und Themen. Denn Pop wie populär möbliert optisch längst unsere Alltagswelten. Hängen nicht überall in Wohnzimmern, Büros, in Lobbys und Boutiquen die Drucke von Warhol, Jasper John, Lichtenstein, Rauschenberg oder Ramos an den Wänden? Hat sich nicht eine ganze Weltgemeinde schon vor 50 Jahren wohlig eingerichtet in der ›paradiesischen Urszene der Pop-Art‹, in Richard Hamiltons Postercollage von 1956 – dem Stillleben des amerikanischen Wohnzimmers mit TV, Tonbandtruhe, Staubsauger, Pin-up-Girl und Lollipop? Und hat diese Pop-Art nicht nur längst museale Kanonisierung und kunstwissenschaftliche Zertifizierung erlangt, sondern auch die allerwichtigste Beglaubigung des westlichen Kapitalismus: den Markt als Transferstation zum Geldwert? Die atemberaubende Rally schwindelerregender Preise zeigt ihren Aufstieg, von Roy Lichtenstein In the car 2005 mit 14,5 Millionen Dollar und Andy Warhol’s türkisfarbene Liz mit 21 Millionen bis in die 100-Millionen-Liga: Untitled des afroamerikanischen Künstlers Jean-Michel Basquiat mit 110,5 Millionen Dollar und der letzte Wharhol mit seiner blauen Marylin Monroe für 170 Millionen Dollar (2022). Damit rangiert der Meister der gemalten Suppendosen, Dollarscheine, Sei-

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fenschwamm-Kisten und Gangster-Steckbriefe in der gleichen Liga wie Rembrandt, Vincent von Gogh und Picasso. Umgekehrt proportional zu den Preisen entwickelte sich das ästhetische Niveau. Denn in die Feier profaner Alltagsutensilien haben sich längst auch Travestie, Pornographie, Koprophilie, Comics und Graffiti und sogar die reine ›Leere‹eingemischt. Pikant, aber offenbar restlos zeitgeistiger Amnesie anheimgefallen, ist die Tatsache, dass für eine prominente Gründerfigur dieser Entwicklung, Marcel Duchamp, sein Urinal von 1917 mit dem Titel Fontain noch purer Sarkasmus war. Denn er verstand es als ironisches Exempel auf seine eigene Frage: »Kann man ein Objekt schaffen das keine Kunst ist?« Und fand die prompte Antwort darauf: »Die Leute schlucken alles«. Seine Ready-mades waren gar nicht als Kunstwerke gedacht, sondern als dadaistische Provokation. Genau wie sein Schnurbart für Leonardos Mona Lisa. Auch der arkane Status des Schwarzen Quadrats auf weißem Grund von Kasimir Malewitsch, dem viel bemühten ›Nullpunkt‹ der modernen Kunstgeschichte, verliert an hermeneutischer Aura. Denn an seinem unteren Rand will man inzwischen eine Beschriftung entdeckt haben: Negerschlägerei in der Nacht. Auch damit wäre man eher in der Liga surrealer Ironie und dadaistischer Groteske. Duchamps Beispiel alimentiert seither alle Nachfahren bestens. Meret Oppenheims Pelztasse ging noch für schnöde 200 Schweizer Franken an das MoMa in New York. Aber Joseph Beuys stieß schon in die Millionen-Liga vor: von einer Million Mark (Bett bei Lempertz, 2001) bis 16 Millionen (Beuys-Block an das Hessische Landesmuseum, 1986). Damien Hirst schlug seinen ausgestopften Haifisch in Formaldeyd für 12 Millionen Dollar los (Frieze Art Fair London, 2008) und sein Golden Calf für 13 Millionen Euro. Der moderne Königsweg der künstlerischen Bewusstseinserweiterung über Urinal und Suppendose bleibt in seinem originären Ambiente, wenn er sich inzwischen bis zu Fäkalien und Porno verbreitert hat. Dort koitiert Jeff Koons popfarbig mit seiner Ex-Gattin, der Pornoqueen Ilona Staller. Merda d’artista des Italieners Piero Manzoni, bereits in den 60er Jahren abgefüllt in Dosen, erzielte 2005 bei Sotheby’s in Mailand immerhin 110 000 € und Holy Virgin Mary von Chris Ofili, Turner-Preisträger 1998, angerichtet mit Elefantendung, war zuerst Highlight der Londoner Kunstszene und dann des Brooklyn Museums in New York. Kein Wunder, dass der Brite nigerianischer Abstammung in seinen Bildserien Captain shit zur Zentralfigur macht. Die Skulpturen mit Kothaufen von Paul Noble führen das Thema in der Tate Britain weiter (2012). Musikalisch bekennt sich Ofili übrigens zur Rapper-Queen Latifah und die Hip-Hop-Versionen von Madonna. Auch Damien Hirst war anfangs Produzent von Musikvideos mit Popsongs. Jeff Koons Konterfei von Michael Jackson samt Schimpansen Bubbles setzt fort, was Warhol, der sich beim Produzieren in seiner legendären Factory ebenfalls stets von Popmusik beschallen ließ, mit seinem Siebdruck Elvis erfunden hatte. Bei Sotheby’s wurde dieser Koons immerhin mit 5,6 Millionen Dollar gehandelt.

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Eine Metaebene solcher Künste wird schließlich mit dem reinen ›Nichts‹ erreicht: die Leere womöglich als Exemplifikation des bekanntlich unerkennbaren Kant’schen ›Dings an sich‹. Die White Paintings von Robert Rauschenberg, die auch John Cage nachhaltig inspirierten, feiern sie bereits 1951. Robert Ryman bietet die seinen 1999 mit Signet 20 bei Christie’s für 1,5 Millionen Dollar an. Inzwischen tut es auch eine schlichte leere Leinwand. Man ernennt sie einfach zum Therapeutikum gegen den digitalen Reiz-Overkill: »Es wird Zeit, dass in der Betrachtung des Ölbildes die Aus-Funktion mitgedacht wird« meint der Maler Eberhard Havekost, 2010.

Geist und Gespenster oder: etwas Pop-Soziologie Von der Phänomenologie ästhetischer Sujets in der visuellen Pop-Art ist es nicht weit zu einer Soziologie der musikalischen Pop-Branche. Als die Männer des Los Angeles Police Departments nach dem Tod des King of Pop seine Villa im noblen Holmby Hills nördlich des Sunset Boulevards betraten, waren sie baff. Sie fanden sich in einer Apotheke. Ein Arsenal von Ampullen und Tablettenröhrchen empfing sie: von Lorazepam, Diazepam, Temazepam, Clonazepam, Trazodon bis Tizanidin und dem schweren Narkotikum Propofol war alles reichlich vertreten. Letzteres war übrigens die finale und letale Drogendosis Michael Jacksons. Die Szene war eine Illustration der US-amerikanischen Opioid-Manie, die damals Doctor Shopping hieß, weil sie mithilfe williger Ärzte florierte. Ein Nachfolger, Oxycontin, hat es bis zum Skandal der Herstellerfirma Purdue Pharma gebracht. Laut dem Nationalen Institut für Drogen- und Medikamentenmissbrauch starben im Jahr 2021 107 622 Amerikaner durch Opioide. Auch Jackson war den Drogentod gestorben. Sein Hausarzt ging dafür ins Gefängnis. Aber Jacko war keine Ausnahme. Fast alle Protagonisten der Szene haben genauso oft Umgang mit Polizei, Drogenfahndung, Gerichten und Entzugskliniken wie mit ihren Produzenten, Agenten und Managern. Drogen-, Gewalt- und Sexskandale gehören zur Identität des Popmilieus wie Soundequipment, Keyboard und E-Gitarre. Hasch und Speed, der süße Hanf und das unsterbliche Amphetamin sind seit den Anfängen mit der Pop-Geschichte untrennbar verwoben. Der Benzedrin-Inhalierstift der Beat-Generation war die erste und billigste (weil rezeptfreie) Praxis zur Theorie der großen Beat-Poeten von Allen Ginsberg, Jack Kerouac, William S. Burroughs bis zum legendären LSD-Guru Timothy Leary. Mit letzterem kam Acid, vulgo für LSD als pharmakologische Bewusstseinserweiterung. Dann kam der Heroin-Chic als bevorzugtes Requisit der Rock’n Roll-Szene und schließlich der Kokain-Glamour als Statusdroge aller besseren und reicheren ›Kreativen‹ – bis heute. Dazwischen Ecstasy als Öl der Technoparties in der Ravekultur und Crack als billigerer Kokainverschnitt für die Underdogs. Momentan heißen die neuen Speeds Methylamphetamin, vulgo: Crystal Meth oder das Fentanyl. Als ruinöser aber preiswerter Kick hat Crystal Meth nicht nur die sozialen Hin-

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terhöfe und Outlaws von Tschechien bis Südafrika erreicht, sondern fasziniert als neue ›große Drogenerzählung‹ bereits Filmemacher und Autoren. Das hat Tradition. Offenes Geheimnis der Popbranche ist nämlich, dass in den Etats der Aufnahmestudios immer genügend Geld für das ›kreative‹ Ambiente eingeplant war: Drogen und Nutten. Stoned ist also schon seit den Anfängen der Szene cool, genauso wie Aggression und Rassismus. »Gewalt ist Teil der Rocker-Kultur« heißt es in den Befunden von Soziologen und Kriminologen. Der Übelste des Genres war wahrscheinlich Charles Milles Manson. Er starb 2017 im Gefängniskrankenhaus des kalifornischen Bakersfield wo er als Serienmörder einsaß. Er war Gründer einer Sekte, seiner Family, die ihn als Man Son mit Guru-Verklärung feierte. Sie ermordeten 1969 im Haus des Regisseurs Roman Polanski am Cielo Drive in Los Angeles dessen Frau Sharon Tate und vier weitere Gäste. Mit dem Blut der Opfer schrieben sie Helter Skelter an die Wand – ein Song der Beatles. Verklärt zur Kultfigur in der Hippieszene und Underground-Presse, mit Hakenkreuz-Tätowierung auf der Stirn, war Manson Darling der Beach Boys, die mehrere Songs von ihm produzierten. Die Rolling Stones ehrten ihn mit ihrer Ballade The Incredible Story of the Most Dangerous Man Alive. Der Kult entwickelte ein hochprofitables Merchandising-Profil mit Manson-Devotionalien von T-Shirts bis TV-Serien und sogar einem Filmdrehbuch von Quentin Tarantino. Seine Wirkung hält an: der schrille Popbarde Brian Warner tritt seit 1994 unter Marilyn Manson auf und produziert Songs im ehemaligen Mordhaus am Cielo Drive, das sein Mentor, Trent Reznor, Sänger der Popband Nine Inch Nails gemietet hat. Reznor schrieb auch die Songs zum Soundtrack für die filmische Mörderballade Natural Born Killers von Oliver Stone (1994). Für deren quer durch Amerika mordende Protagonisten war Manson ein ›Held‹. Phil Spector, ein legendärer Musikproduzent, der mit seiner bigger than life-Sound-Gigantomanie das Alleräußerste aus der Popmusik herausholte, war ein maßloser Paranoiker und bekennender Gewaltliebhaber. Wegen Totschlags verurteilt, starb er 2021 in einem kalifornischen Gefängnis. Gewalt und Aggression blieben unverzichtbares Utensil im ästhetischen Repertoire der Popszene. Das Markenzeichen der britischen Rockgruppe The Who waren ihre regelmäßigen Zerstörungsorgien als Finale: zertrümmerte Gitarren, zerschlagene drums. Dass die Texte prominenter Rapper systematisch an sämtliche Hass- und Aggressionspotenziale appellieren, gilt inzwischen als Einübung in echte demokratische Protestkultur. Dem tunesischen Rapper Hamada Ben Amor alias El Général sagt man nach, ein digitalmedialer Dynamo des Protests im (kurzen) ›Arabischen Frühling‹ von 2011 gewesen zu sein. Snoop Dogg (alias Calvin Cordozar Broadus), Rapper aus Kalifornien und Moderator der Europe Music Awards, erfolgreicher Pornoproduzent mit dem Strafregister eines Berufskriminellen, entwickelte mit dem Video Doggy Style das Genre des Hip-Hop-Porno mit Hardcore-Sex. Damit war aus der diffusen Osmose zwischen Pop, Sex und Drugs endlich ein solides Amalgam geworden. Chris Ofili, der Turner-Preisträger, versteht seine Kunst als Manifestation von Sex, Money and Drugs. Das scheint zum ästhetischen

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Credo der Zunft zu gehören: «Jeder Song eine Nase«, wie es ihre prominenten Ikonen sagen, von Eric Clapton (in: Mein Leben, Köln 2007) bis Keith Richards, der Gitarrist der legendären Rolling Stones (in: Life, München 2010) oder Johnny Cash, der zwischen Benzedrinrausch und Alkoholdelirien sein Image als ›Gesetzloser‹ kultivierte. Aber auch Elton John bekannte, wie manisch tablettensüchtig er war und Britney Spears gestand: »Ecstasy nachts und Kokain tags« – bis zur Entmündigung durch den eigenen Vater. Robbie Williams schließlich flog aus seiner Boygroup Take That raus, weil er alles von Heroin, Ecstasy und Marihuana bis Koks, Speed und Alkohol konsumierte und der Rapper Eminem schluckte bis zu seinem Suizidversuch und dem erstem Entzug (2005) jeden Tag zehn bis zwanzig Tabletten Methadon. Auch eine Gründungsfigur der deutschen Rockszene, des ›Krautrocks‹, Rolf-Ulrich Kaiser, der nach den spektakulären ›Internationalen Essener Song­tagen‹ (1968) mit seinen Plattenlabels Popgeschichte schrieb, verdämmerte als Folge seiner Besuche beim LSD-Guru Leary in dessen Schweizer Exil schließlich im LSD-Rausch. Der frühere Musikmanager John Niven beschreibt in seinem Doku-Krimi Kill Your Friends (2008) den Pakt zwischen »Polytoxikomanie und Pornographie« als gängige Praxis in den Boomzeiten der Popmusikindustrie. Als begnadeter Pharmazeut des Milieus ging Augustus Owsley Stanley in die Popgeschichte ein. Der Tod des legendären LSD-Kochs und Dealers der psychedelischen Ära war der New York Times einen schwärmerischen Nachruf wert (16. März 2011). Denn Stanley versorgte nicht nur John Lennon lebenslang mit dem reinsten LSD, sondern kümmerte sich auch um die Trips von Jimi Hendrix, Pete Townsend und Brian Jones. »Wenn Ihnen moderne Popmusik irgendetwas bedeutet, dann ist auch ein wenig Owsley in Ihnen«, beschloss der Laudator der Times, Seth Schiessl, seinen hymnischen Nachruf. Recht hat er – aber nicht nur für die Pop-Gemeinde. ›Owsley‹ ist längst in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen, genau wie Pornographie, die Hass- und Drohmails und die Shitstorms der Internetgemeinde. Sie strapazieren inzwischen Fahndung wie Justiz, und die pädophile Pornographie ist auf dem Weg zu einer Art geheimen Volkssport mit Umsätzen in Höhe von hunderten Millionen. Unter ›Sport‹ fallen auch Testosteron und Myostatin-Blocker zum Muskelaufbau im Fitnessstudio, dann THG, EPO (Erythropoietin) oder SARMs, eine neue Anabolika-Generation als Doping für Leichtathleten aller Art bei ihren ›gespritzten‹ Medaillen-Siegen. Dazu gibt es Ritalin und Modafinil für unruhige Kids und Schüler, Antidepressiva und Downer für neurotische Manager oder Neuro-Enhancer als Hirndoping für Ehrgeizige – sofern sie nicht Betablocker schlucken als Firewall gegen Stress und burn out. Der neue Boom für Cannabis mit seiner liberalen Freigabe markiert den Trend: ein psychedelisch getönter Lifestyle als maniera moderna. Während aber die Ästhetik des Milieus bestens akzeptiert ist, gesellschaftlich wie intellektuell, ist es seine reale Empirie keineswegs. Sogar im Land der unbegrenzten Rauschgiftumsätze und der größten Pornobranche ist sie offiziell tabu.

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Zwar nicht für die boomende Porno-Industrie in San Fernando Valley, L. A., denn das ist business und fällt als Adult Entertainment unter ›Geschäftsmodell‹. Aber wenigstens (noch) für Schulen, Kindergärten, Autofahrer oder Piloten. Man delektiert sich also an Lady Gaga, schlüpfrigen Teenie-Casting-Shows, man geniest Jacko, Jay-Z, Marilyn Manson, Punk und Rap – aber wer will in seiner realen Lebenswelt kleine Jackos, Pornoqueens oder auch nur Punkies und Junkies in seinen Kinderzimmern und Schulklassen? Wer will wirklich ernsthaft seine Kids oder gar ihre Lehrer als Drogendealer, Koma-Säufer, Streetgang-Kumpels, Disko-Schlampen, Rock-Groupies oder Pornodarsteller erleben? Wer möchte sie tatsächlich mit YouPorn und Gewaltvideos sozialisiert sehen, in Entziehungskliniken besuchen oder für ihre Hirn-, Hör- und Leberschäden einstehen? Und wer aus dem smarten Club der psychedelisch Aktiven und Kreativen möchte sich bekifften Chirurgen, Chauffeuren oder Cockpit-Besatzungen anvertrauen? Der unakzeptable Beifang einer akzeptierten Ästhetik gehört nicht zum Reflexionsbesteck des aktuellen westlichen Denkens. Denn das begreift sich in der progressiven Intelligenzija seiner Gesellschaft stets als tolerant im Geiste eines aufgeklärten Kultur- und Kunstbegriffs. Spaß und frivoler Underground müssen eben so sein. Aber wie heißt es bei Nietzsche? »In der Verzweiflung und Leere der Welt tritt der Gott Dionysos wieder in Erscheinung …«. In der aufgeklärten Eventgemeinde des fortschrittlichen Zeitgeistes aber lacht man eher amüsiert über die neuen Emanationen des alten Gesellen aus der Unterwelt. War Dionysos schließlich nicht auch ein (mythologisch verkappter) Junkie und höchst subversiver Underground? Und gehören die mentalen wie die ästhetischen Ambivalenzen nicht nur zum Wesen einer modernen Gesellschaft, die sich so fabelhaft über die Konsumgesellschaft bis zur permissiven (digitalen) Wissensund Informationsgesellschaft emanzipiert hat und jetzt behänd in allen möglichen Identitäten und Paralleluniversen ›divers‹ jongliert? Warum sollte man Anstoß am Füllhorn dieses smarten Pluralismus nehmen? Wäre das nicht sogar höchst illegitim? Denn genau der gehört doch zu den selbstverständlichen Standards westlicher Freiheit, zu Selbstbestimmung und Demokratie, zu den Insignien eines stolzen sozialen und mentalen Toleranzedikts. Und damit zu den kostbarsten Gütern von ›Aufklärung‹ und ›Moderne‹. Anstoß nehmen könnte höchstens eine Reflexion, die weniger von der grandiosen Fülle der Ambivalenzen fasziniert ist, sondern mehr irritiert vom Verlust des Unterscheidungsvermögens im Trubel krasser Bedeutungswandlungen. Unbehagen könnte vielleicht empfinden, wer nicht den Kult unbeschränkter Egotrips als Hochamt der ›Freiheit‹ feiert, sondern das Requiem aller Differenz vernimmt. Besorgt machen könnte vielleicht der Schwund einer Kritikfähigkeit, die man sonst zur Grundkompetenz jeder aufgeklärten Intelligenz zählt. Beunruhigen könnte ein rasanter Desensibilisierungsprozess für die so verschiedene Qualität ästhetischer ›Botschaften‹ und Bedeutungsebenen, wo mit leichter Hand prägnante Distinktion

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gegen großherzige Affirmation als ›Toleranz‹ getauscht wird. Womit man wieder bei den ›Differenzen‹ wäre.

Hartnäckige Referenzen Seltsamerweise bleibt nämlich in all den Wandlungen (noch) ein hartnäckiges Gefühl für jene ›Differenzen‹ präsent, die von den alten ›Kanons‹ her aufscheinen. Warum bleiben Bach, Beethoven, Mozart, Schubert, Schumann, die Musik von Vivaldi bis Bruckner, Tschaikowsky oder Dvořák nicht nur so aktuell wie vor hunderten Jahren, sondern definieren unumstritten musikalische ›Hochkultur‹? Und das, obwohl schon lange kein Mensch mehr in Kutschen oder Draisinen fährt, mit Zylindern, Allongeperücken, Reifröcken oder gar mit Degen, Sporen und Schamkapseln herumläuft? Warum beherrscht die italienische Oper von Monteverdi bis Verdi, Rossini, Bellini, Mascagni und Puccini auch im 21. Jahrhundert die Opernbühnen der Welt genau wie das Musiktheater von Mozart, Richard Wagner und Richard Strauss? Und das, obwohl auch kein Mensch mehr an die Märchengeschichten von Göttern und Genien glaubt, geschweige denn an ihre mythischen bis mysteriösen Verstrickungen, an feudale Hofkabalen, verzopfte Sippen-Sagas und plüschige Rokoko-Salons? Weshalb setzt die alte ›Klassik‹ nach wie vor die Profi-Standards für Spitzenorchester in Europa und USA sowie die internationalen Karrieren der Sänger, Pianisten, Geiger und Dirigenten und nicht zuletzt für die Sponsoren imagesüchtiger Konzerne und ihre smarten Manager von Corporate Identity und Label-Prestige? Warum bleiben Bayreuth, Salzburg oder Glyndebourne weltweite Wallfahrtsorte musikalischer Festspielkultur? Warum sind die Werke der ›Klassik‹ noch immer Prüfstein aller wichtigen Wettbewerbe und die Examina der Musikhochschulen, wo Hundertschaften von Studenten für die (noch) 121 Orchester und 80 Musiktheater (2019/20) in Deutschland ausgebildet werden? Warum gibt es trotz Rolling Stones und Bono, Bieber, Maffay und Hearing Blackness einen Run auf die fast 1000 deutschen Musikschulen, wo noch ehrgeizige Eltern ihre Kinder ganz bieder Klavier, Geige oder Cello und Flöte lernen lassen? Wieso schneidet die klassische Nischensparte auch in der verpoppten Spaßgesellschaft immer noch so gut ab, dass sie eine satte Zweidrittel-Mehrheit der Deutschen für »wichtig und öffentlich förderungswürdig« hält (Umfrage von Emnid/Bertelsmann Stiftung 2009)? Und warum streitet man sich öffentlich und heftig um neue, sündteure Konzertsäle, feiert pompös die Gala ihrer Eröffnungen als ›kulturelle Landmarken‹ (Elbphilharmonie Hamburg, 2017) oder diskutiert leidenschaftlich die Inthronisation neuer Chefs prominenter Orchester? Warum schließlich erlebt die klassische abendländische Musik trotz des neuen Illegitimitätsvorwurfs als chauvinistischer Eurozentrismus von ›toten weißen Männern‹ mit ihrem ›kulturellem Rassismus‹ eine so verblüffende Hochkonjunktur in Japan, China oder Korea? Nur weil dort auch VW, Mercedes und BMW, Siemens und Airbus Konjunktur haben? Warum funktioniert eu-

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ropäische E-Musik sogar als humanistisches Sozialisationsprogramm in armen, schlechtregierten Ländern (Simón Bolívar-Jugendorchester von Venezuela) und als interkulturelles Versöhnungsprojekt (West-Eastern Divan Orchestra von Daniel Barenboim und Edward Said)? Und wieso hat es ausgerechnet eine Ode aus Beethovens sperriger Neunter zum globalen Freiheitshit gebracht? Hier wirkt offenbar ein Potenzial an unverbrauchten ›Bedeutungen‹, das unberührt von allen Stil- und Paradigmenwechseln Wert und Wirkung bewahrt. Mehr noch: das keineswegs stagniert, sondern das im Gegenteil immer neues Terrain gewonnen hat. Einmal mit seiner weltweiten Geltung, aber noch bedeutsamer, weil sich das Repertoire gängiger ›Klassik‹ paradoxerweise ausgerechnet in der fortschrittsberauschten Moderne beständig zurück, in die musikalische Vergangenheit ausgeweitet hat. Nach der Wiederentdeckung Bachs und der Vokalmusik der Renaissance im 19. Jahrhundert gehören im 21. nicht nur vergessene Händel-Opern, sondern längst Monteverdi, Cavalli, Caldara, Porpora, Purcell, Agostino Steffani, sogar Rameau und Lully zu den Spielplänen unserer Opernhäuser. Dort hofiert man die unkastrierten Countertenöre genauso wie einst die echten Kastraten vor 300 Jahren samt Cembalo, Gamben und Theorben wie im Florenz oder Mantua von 1600. Auch Darmsaiten, Barockoboen, Schnabelflöten, Bachtrompeten und Hammerklavier haben keinen altmodischen Hautgout, sondern sind in der ›Historischen Aufführungspraxis‹ zu Qualitätsmerkmalen des Konzertlebens geworden. Inzwischen haben es auch noch viel ältere Meister, von Palestrina und Orlando di Lasso oder Thomas Tallis bis zurück zu Josquin Desprez und Guillaume Dufay, zu einer vitalen ästhetischen Gegenwart gebracht. Sogar die entlegenen Klänge des Mittelalters sind wieder erstanden, von spröder früher Mehrstimmigkeit und den Motetten von Guillaume de Machaut oder Philippe de Vitry bis zur kuriosen Modewelle der heilkundigen Äbtissin Hildegard von Bingen. Auch die historisch älteste Schicht unserer Musikkultur, der Gregorianische Choral, erlebt eine neue Präsenz. Und das alles mit einiger Leidenschaft, wie es eine immer ausgefeiltere Aufführungspraxis mit ihrem Ehrgeiz nach ›originalen‹ oder ›authentischen‹ Klangbildern zeigt: Early Music als Boombranche – die E-Musikgeschichte keineswegs als totes Reservat, sondern als potente Ressource. Sogar die Neue Musik beansprucht längst eine ›Klassik‹. Als ›klassische Moderne‹ versteht sie sich genau wie die aktuelle Avantgarde selbstverständlich nicht als Gegensatz, sondern als legitime Evolution des klassischen ›E‹.

Die ›E-Musik‹-Muse der Zeit Hier allerdings könnte sich womöglich eine neue ›Differenz‹ auftun. Denn diese ›Ernste Musik‹ der Moderne konkurriert keineswegs reibungslos mit der alten. Bereits mit ihrer ›Klassik‹ erreicht sie kaum mehr Geltung und Präsenz des tradierten

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›Kanons‹. Noch nach 100 Jahren seit ihren Anfängen zeigen es Konzertleben, Rezeption und kritische Reflexion – wenn sie dort noch immer hartnäckig unter dem Etikett ›Neue Musik‹ firmiert – obwohl sie inzwischen ziemlich ›alt‹ ist und sich so viel verschiedenes ›Neues‹ ereignet hat. Bezeichnet das deshalb womöglich eher eine grundsätzliche Differenz zum Vorher und nicht ein jeweils ›Neues‹? Erfüllt also ihr Anspruch schon seit der ›Zweiten Wiener Schule‹ nicht mehr die gleichen ästhetischen Ansprüche eines ›ernsten‹ Publikums? Hat sich hier mit Schönberg, Berg und Webern, mit Atonalität, Zwölftontechnik und serieller Musik oder mit dem entfesselten stile barbaro von Bartók bis Strawinsky und George Antheil der Logos des alten klassischen Kanons verändert? Und wäre diese Veränderung vielleicht Ausdruck einer anderen, neuen Bewusstseinslage, die man – vordergründig – als ›Zeitgeist‹ fasst? Oder – hintergründig – wenn man Kunst und Musik einer Kultur oder Epoche, wie es Kulturtheorien immer wieder formulieren, als transpersonale, symbolschaffende Mächte einer schöpferischen, geistigen wie psychischen Tiefenschicht begreift? Und damit als Medium unbewusster kollektiver, vielleicht archetypischer und numinoser Kräfte einer Kultur (wie es besonders die Tiefenpsychologie von C. G. Jung beschreibt)? Wo sie als Matrix von Visionen und Chiffren aus dem Sensorium des echten Künstlers fungiert, der in individueller participation mystique gestaltet und ›kündet‹? Oder als Ausdruck des historischen Zustandes einer Zeit, ihrer Welt-, Menschenund Gottesbilder (wie in der Geschichtsmorphologie Oswald Spenglers)? Oder wo sie als Mimesis gesellschaftlicher Zustände in Marxismus, Sozialismus, Soziologie und Gendertheorie (von Th. W. Adorno bis J. Habermas und J. Butler) eine Rolle in modernen Deutungstheorien erhält? Und wie deshalb alle Kunstkritik von jeher auch immer Kulturkritik war, von Platon und Konfuzius bis Rousseau, Schiller, Novalis, Hegel und Nietzsche und zur ›Kritischen Theorie‹ der ›Frankfurter Schule‹ oder in den neuen postkolonialen Abrechnungen? Wäre dann nicht die höchst reflektierte, komplex formulierende und erfindungsreich experimentierende E-Muse der Zeit Ausdruck eines Logos der Moderne mit ihrer Wissenschaft und Technik, ihrem Weltverständnis und ihrer Erkenntnistheorie? Fängt sie also womöglich von Schönberg bis Nono und Stockhausen wie bei Boulez, Zimmermann, Lachenmann, Rihm, Holliger und Ferneyhough etwas von den kollektiven, unbewussten Tiefenstrukturen zeitgenössischer Mentalität ein? So wie einst die Gregorianik die kontemplative Frömmigkeit der frühen Christenheit, die Messen und Motetten des Mittelalters die konstruktive Transzendenz gotischer Kathedralmystik, wie Palestrina, Lasso oder Schütz und Bach die leidenschaftliche Spiritualität eines christlich disponierten Sinnkosmos, die ›Wiener Klassiker‹ die hohe Humanitas eines idealistischen Weltbildes, in dem der Mensch als Ebenbild des Göttlichen gehandelt wurde und noch die ›Romantik‹ den Seelenton verinnerlichter Welt- und poetischer Naturerfahrung?

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Von da aus wäre es eine hermeneutische Frage, welchem Welt- und Menschenbild sich Stockhausen, Boulez, Cage oder Lachenmann und Rihm verpflichtet fühlen. Tragen ihre Idiome das Ethos dieses ›klassischen‹ Erbes weiter in ihren Formulierungen neuer Klangwelten – oder wollen sie etwas ganz anderes aus der Ratio des Weltbilds unserer Moderne konstruieren? Sind ihre Werke also die hochkulturelle E-Alternative unserer Zeit zur massenkulturellen U-Musik und ihres Entertainments und damit nichts anderes als eine folgerichtige Fortsetzung tausendjähriger ›klassischer‹ Tradition? Oder wollen sie die radikale ›Differenz‹ dazu als Bruch mit der Ästhetisierung alter Machtordnungen, feudalen und bürgerlichen Gewohnheiten und Hörigkeiten? Und sind so vielleicht Vorschein neuer Horizonte, wie sie uns die dritte und vierte industrielle Revolution mit Künstlicher Intelligenz, Robotik bis Genschere und Quantencomputer als edelste Früchte des ›Anthropozäns‹ oder kühne Vision eines ›Novozäns‹ versprechen, also jene beherzte ›Vorhut‹, die den militärischen Begriff von Avantgarde entschlossen einlöst auf dem Weg zu einem neuen Menschendesign demiurgischer Allmacht von ›Post‹ bis ›Transhuman‹? Geben sie uns die ›Luft von anderen Planeten‹ zu kosten, wie sie uns Cyberspace, intergalaktische Raumflüge und eine neue Physik jenseits von Newton bereits so entschieden schmecken lassen? Die Antworten darauf bleiben offen, denn keine Kulturtheorie der Zeit liefert sie. Nicht zuletzt deshalb, weil alle Reflexion vom schnellen Wandel unserer Lebenswelten samt ihrem Kunst- und Kulturbegriff überholt wird und Diversity mit Lust alle Ambivalenzen als Valenzen feiert.

Der ratlose Zeitgenosse Er findet sich inmitten dieser Ambivalenzen mit einem ›Musikbegriff‹ allein gelassen, der U und E, sprich: Pop wie Klassik, alte und neue Musik, Sound wie Melos genauso meint wie abendländische Musik und ›Weltmusik‹. Alles hat Anspruch auf eine ›Bedeutung‹ die nicht in Unterscheidung gründet, sondern in der Dignität der Polyvalenz. Danach drückt Mozart als quasi alter ›Popstar‹ eben nicht viel anderes aus wie die aktuellen Popgrößen Madonna oder Lady Gaga, der hitzige Rapper Eminem ringt auf Augenhöhe mit den gleichen Problemen wie der späte Beethoven, der literaturpreisnobilitierte Barde Bob Dylan bedient mit seiner Song Poetry gleiche edle Narrative wie Ovid oder Shakespeare. Und an Liebe und Sex arbeiten sich ohnehin alle gleich ab, ob in Monteverdis Orfeo oder bei Elvis Presley’s I go ape, in Wagners Tristan oder den Muzak-Wogen der besseren städtischen Eroscenter, in Schuberts Schöner Müllerin oder in den Soundtracks der Berliner Loveparade wie in den brünstigen Schreidramoletten von Prince, Jackson und der Rolling Stones. Welcher Vorgestrige möchte sich hier auf die Sortierung der verschiedenen Qualitäten von Lust-, Frust- und Leidenswelten einlassen angesichts einer hochreflektierten Pop-

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Theorie, die so eloquent wie intelligent längst ihren eigenen ästhetischen Kanons formuliert? In der ihre distinguierten Protagonisten von Diedrich Diederichsen bis Greil Marcus oder Lester Bangs mit elaborierten Diskursen zwischen Medientheorie, Soziologie und Politologie ganz plausibel ein eigenes ›Kulturelles Format‹ reklamieren, bestens begründet mit ihren eigenen sozialen Codes, der Idiomatik musikalischer Soundtechnologien und sogar einer Evolutionslinie von Beethovens Fünfter zu Rock’n Roll? Der noch viel reflektiertere Diskurs der Avantgardetheorien macht es keineswegs leichter: Warum sollten nicht Stockhausen oder Boulez, Lachenmann und Rihm ein viel authentischerer, weil zeitgemäßer Ersatz für Brahms oder Bruckner sein, die doch als bedenkliche Mimesis eines verbrauchten, ›regressiven‹ oder gar ›falschen gesellschaftlichen Bewusstseins‹ (Th. W. Adorno) jenseits ihres historischen Verfallsdatums so unverdient konserviert werden? Warum können uns nicht HansWerner Henze, Bernd Alois Zimmermann, Aribert Reimann und Jörg Widmann leicht Haydn, Mozart, Schumann und Verdi ersetzen und die Shepard-Skala von György Ligeti, das stochastische Klangkalkül von Iannis Xenakis oder die Geräuschsemantik von Helmut Lachenmann abgenützte Klangikonen wie die des Tristan-Akkords samt seiner lauen Faksimiles bei den ›spätromantischen‹ Epigonen? Wieso ziehen nicht endlich komplexer Boulez, Ligeti, Birtwistle und Ferneyhough als logische historische Evolution von komplexem Bach, Schönberg und Webern als Erben soliden Strukturdenkens der ›Wiener Klassik‹ in unsere Konzertsäle ein? Mehr noch: Warum erlösen uns nicht endlich Spektralklänge, Mikrotonalität, unerhörte elektronische Schälle und überhaupt eine aufregende ›Klangforschung‹ aus den tradierten Zwangsjacken von temperierter Stimmung, Tonarten, Taktschematismus, Melodie, Kadenz und Belcanto, so wie pittoreske Soundscapes und akustische Installationen von Fluxus bis zu performativ zertrümmerten Klavieren, multimediale Interfaces oder die Spektakel von Peking-Oper und arabischer OudFestivals vom abgestandenen Muff der Konzertsäle und Operngehäuse mit ihren verbrauchten ›bürgerlichen‹ Ritualen und autoritären gesellschaftlichen ›Machtstrukturen‹? Gibt es dazu Antworten von den Denkern aus ästhetischer Theorie, Kulturpolitik und Kulturkritik – oder bleibt der musische Zeitgenossen auch hier allein? Freilich, noch fristen in deren Revieren ›Hochkultur‹, alte Kanons und ›Klassik‹ eine Existenz als historische und soziologische Phänomene, als kulturpolitische Prestige-, Medien- und Ausstellungsobjekte oder als merkantile Geschäftsmodelle und, spaßkulturell, als Tafelkonfekt beim Bankett einer glänzenden Hightech-Fortschrittsgesellschaft. Aber als sinnstiftende Bewusstseinsmächte, als tiefere Erlebensoder gar höhere Erkenntnismächte haben sie an gesellschaftlichen Wert verloren. Dort zählen sie eher zu den Verfallsnarrativen im Exitus der ›Großen Erzählungen‹ (Françoise Lyotard) und dem Introitus der neuen, technologischen. Sogar in den absinkenden ›Geisteswissenschaften‹ sind sie oft nur noch hermeneutische Etüden, eher Schwundstufen einstiger Objekte intellektueller Begierde.

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Nicht nur weil alle Inhalte, Standards und Methoden in ›postmoderner‹ Dekon­ struktion fragwürdig geworden sind, ja kein ›Text‹ überhaupt ›einen festen Sinn hat‹ (Jacques Derrida), sondern weil ›Kunst‹ prinzipiell konvertibel mit ›Nichtkunst‹ geworden ist und deshalb die Anaesthetica die gleiche ontologische Würde haben wie die Aesthetica (Odo Marquard und Wolfgang Welsch) – sofern das Kunstwerk nicht ohnehin als ›Agonie des Realen‹ in der digitalen Irrealis virtuellen Scheins jede Konsistenz verliert (Jean Baudrillard bis Paul Virilio oder Vilém Flusser). Oder als Datenmenge und Algorithmus samt einer Auflösung im ›Sozialen Konstruktivismus‹ jede Substanz einbüßt (Pierre Bourdieu bis Judith Butler). Nein – sondern nicht zuletzt deshalb, weil sich die überkommenen Disziplinen vom suspekten Begriff des Geistes und einem unexakten von ›Wissenschaft‹, dazu noch politisch kompromittiert, ›eurozentristisch‹ desavouiert und ›postkolonial‹ blamiert, längst emanzipiert haben und jetzt auf dem Campus bescheiden als ›Kulturwissenschaften‹ im diffusen Pool beliebig vieler Cultural studies firmieren. ›Kultur‹ aber ist längst alles und jedes – genau wie ›Kunst‹. Mit diesem Verständnis überspielen die aktuellen Diskurse routiniert alle Differenz. Dort behandeln Curricula und Medienformate, Hochfeuilleton und Tiefkommerz sämtliche ästhetische Welten auf gleicher Augenhöhe: eine virtuose Dekonstruktion aller Bedeutungsunterschiede zugunsten von angesagter Diversity. Als intellektueller Transmissionsriemen von ›Low nach High‹, aber genauso agil von ›High nach Low‹, arbeitet man lustvoll am Transfer aller Identitäten zwischen Tempel und Trash, Olymp und Müll. ›Kultur‹ etymologisch über Kultus dem Mythos verschwistert, einst Prädikat für ein erlesenes Produkt menschlicher Entwicklungshöhe und damit Zeugnis eines Distinktionsgewinns, lebt inzwischen weit komfortabler vom Distinktionsverlust. Glücklich, wen nichts davon anficht. Beneidenswert, wem es in der bunten, multikulturellen Konsum- und Informationsgesellschaft womöglich gar nicht auffällt. Kompliment, wer sich ›sonder wähnen‹ lustvoll oder naiv dem vitalen Espressivo des Zeitgeistigen hinzugeben vermag. Und allen Respekt den Jüngern beschwingten Fortschrittsglaubens, technologischer Begeisterung und kühner Utopien. Wer allerdings an einer Bedeutungsdifferenz zwischen Madonna und Mozart et al. hartnäckig festhält, hat es weniger leicht. Wen der ›gefühlte‹ Unterschied zwischen Bach und Boulez intellektuell hilflos macht, wird vielleicht mit seinem kognitiven Defizit hadern. Wen die Computer-Kalküle von Xenakis womöglich so seltsam berühren wie die astralen Elektronikspektren bei Stockhausen und wen die Séancen von John Cage und Josef Beuys bis zu Performanceartisten wie Nam Yun Paik oder Marina Abramović ratlos vor alten ›Performances‹ wie von Horowitz und Rubinstein oder Maria Callas und Yehudi Menuhin oder Toscanini, Furtwängler, Walter und Abbado machen, der wird womöglich irritiert sein. Wer mit dem Dilemma der so verschiedenen Bedeutungsidiome in der permissiven Hermeneutik spät-, post- oder hypermoderner Kunstphilosophien in denkerische Abgründe stürzt, wird vielleicht frustriert sein. Und wer schließlich ästhetische Toleranz un-

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gern mit dem Verzicht auf sein Unterscheidungsvermögen bezahlt und semantische Koexistenz mit der Anästhesie von Sensibilität, könnte sogar leiden. Denn was macht derjenige, der von der großen Musik des Abendlandes als unverlierbare Bedeutungsmacht überzeugt bleibt, ohne es anders als vage mit seinem ›Gefühl‹ oder ›Geschmack‹, mit ›Tradition‹, ›Konvention‹, ›Erziehung‹ oder ›Konditionierung‹ begründen zu können vor der präzisen Frage nach einem rationalen Warum gegenüber dem legitimen, aber so anderen Wertekanon der Moderne, ihren ›diversen‹ bis technoiden ›Kulturen‹? Denn bleibt nicht für Ergriffene wie für nach Begriffen Suchende die beständige Herausforderung nach den Gründen einer seltsamen ›irrationalen‹ Bewegtheit vor einer anderen ›rationalen‹ Weltrealität und ihrem Denken und Tun? Und womöglich das Verlangen einer Rechtfertigung für jene unerklärliche Betroffenheit der Seele durch den alten Logos großer Musik vor dem neuen Logos moderner Realität, der unserem Bewusstsein – offenbar ganz zu Recht mit ›Notwendigkeit‹ – die Werte einer anderen ›Wirklichkeit‹ vermittelt? Diese ›Kognitive Dissonanz‹ im sinnlichen Erleben der Kunst- und Musikidiome ist unser unvermeidliches Schicksal zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Beide belohnen uns dafür ja mit dem Glück einer grandiosen Fülle der Möglichkeiten, dem Versprechen unaufhörlicher Innovation und der Libido unbegrenzter Freiheit. Wer sich damit allerdings herumschlägt, weil er diesen Ambivalenzen nicht besinnungslos ausgeliefert sein will, könnte es zuerst an einer anderen Lesart einer Musikgeschichte versuchen, die offenkundig besondere Geltung durch ihre Ausdruckskraft, ihre Konstruktivität, ihre Vielfalt und ihr Format erlangt hat. Das würde heißen, sie nicht als Abfolge interessanter, aber erledigter historischer Präparate zu verstehen, nicht als Revue musealer Stilrequisiten aus versunkenen, ja verdächtigen Gesellschaftsformen oder als bunten Reigen klingender Unterhaltungskulinaria ohne Nährwert. Auch nicht als Übung akademischer Denkmalspflege von Memorabilien ohne Belang für das Heute oder gar als perfide Erzeugnisse eines chauvinistischen Kulturimperialismus, sondern als ein authentischer Gestaltungskosmos menschlicher Ausdruckswelten, von elementarer seelischer, emotionaler und mentaler ›Bedeutung‹. Das wäre ein größerer, anthropologischer Horizont für eine Kulturerfahrung, die ihre Fülle nicht als Beliebigkeit versteht, ihre Gestaltungen nicht als belanglos. Es wäre die Erkundung einer 2000-jährigen Entfaltung unserer Musikgeschichte als Bedeutungsgeschichte klingender Sinnfiguren, die nicht nur historische Transite und stilistische Wandlungen bezeichnen, sondern als sensible Chiffren einer umfassender verstandenen conditio humana und als Psychogramme triftiger Bewusstseinslagen existenzielles Format haben. Und damit nicht zuletzt auch ihren besonderen Rang und ihre Wirkung in den Weltkulturen verstehbar machen. Damit könnten sich vielleicht Zugänge eröffnen, die auch der momentanen zeitgeistigen Ratio im neu ausgerufenen ›Anthropozän‹ standhalten: »Begreifen, was uns ergreift« (Emil Staiger).

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II

Anfänge: Musica romana – östliches Erbe und westlicher Anfang

Wer im antiken Rom den Kaiser singen hören wollte, hatte es leicht. Er brauchte nur ins Theater des Pompeius zu gehen. Dort stand der Herr des Weltimperiums, prächtig aufgeputzt im Ornat der pythischen Festtracht. Das lange, goldbestickte Gewand schimmerte unter dem Purpurmantel, auf seinem Haupt glänzte ein goldener, edelsteinbesetzter Kranz. Die kostbare, mit Elfenbein und Gold eingelegte Leier, die griechische Kithara, hielt er am Tragband. Artig begrüßte er die Zuhörer mit tiefem Kniefall und koketter Kusshand. Das galt auch dem Kollegium der Preisrichter, denn der Kaiser sang um den Siegerkranz im musikalischen Wettstreit der Kitharöden. So hießen die Sänger, die sich nach griechischem Vorbild zum Vortrag ihrer Dichtung selbst auf der Kithara begleiteten – eine mondäne Kunstübung der Epoche. Auch die Idee des musischen Wettkampfes, des Agon, stammte von den Griechen. Der Kaiser selbst hatte ihn im Jahre 60 nach Christus begründet. Aber weniger um die Anderen zu bekränzen als vielmehr sich selbst. Dabei ging der Herr über Rom und das Weltreich kaum ein Risiko ein, denn alles war bestens arrangiert. Die Jury war bestochen, die Claque organisiert und er selbst bestens präpariert. Zu Hause im Palast hatte ihn der berühmte Kitharöde Flavius Terpnus nach allen Regeln der Kunst vorbereitet. Außerdem war er oft in seinem Privattheater am rechten Tiberufer aufgetreten, beflissen beklatscht von den Augustiani, seiner jungen Rittergarde. Später ging er sogar auf Tournee und bewies seine eisernen Nerven in Neapel. Dort gastierte er tagelang auf der Bühne des Odeum, unbekümmert um ein Erdbeben. In Griechenland schließlich sang er auf allen berühmten Wettbewerben, sogar bei den Nationalspielen in Olympia, bis er sämtliche erringbare Siegerkränze im Triumph heim nach Rom brachte. 1808 goldene Exemplare sollen es gewesen sein. Hier in Rom aber vor allem begehrte der Imperator den Lorbeer für sein Genie. »Meine Herren, schenkt mir geneigtes Gehör«, rief er dem Publikum nach dem Kniefall zu, sorgsam bemüht, jede Regel des Spiels zu beachten. Dann begann er ein langes Vorspiel auf der Kithara. Endlich setzte er mit einer Liedweise zu eigener Dichtung ein, dem kitharodischen Nomos Niobe. Wie ein Rausch überfiel es ihn. Kein Zweifel: zum Künstler war er geboren – nicht zum profanen Politiker oder groben Feldherrn. »Dem Apollo gleich in der Kunst des Gesangs und in der Stimme Gewalt …« hatte ihn der Philosoph Seneca gerühmt, sein Erzieher, den er später in den Selbstmord schickte. Bis nachmittags um vier Uhr sang er. Beifall rauschte auf, taktmäßig in großen Wellen. Den sicheren Siegerkranz legte er am Ende so devot an der Statue des Augustus nieder, wie er am Anfang das Knie gebeugt hatte.

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Wer unter den Zuhörern war, tat allerdings gut daran, sich vom gefälligen Ritual nicht täuschen zu lassen. Denn das Risiko des Publikums war bedeutend höher als das auf der Bühne. Überall in den Rängen waren Aufseher postiert, die ein wachsames Auge auf jeden hatten. Auf ihr Zeichen musste der Beifall erfolgen, reichlich und in rhythmischem Takt. Wer hier lässig war, wer Desinteresse ahnen ließ, gar einschlief oder vorzeitig gehen wollte – den konnte es den Kopf kosten. Sogar eine unpassende Kleidung war gefährlich. Einer Matrone, die ein verbotenes, weil dem Imperator vorbehaltenes Purpurgewand trug, wurden Kleid und Vermögen konfisziert. Hier enthüllte sich, wer der ›Künstler‹ auf der Bühne war: Claudius Caesar Augustus Germanicus Nero. Wer also lieber auf das zweifelhafte Vergnügen verzichtete, seinen Kaiser zu hören, nicht den irren Caligula, der zusammen mit den Tragöden auf der Bühne sang, nicht den sanften Titus, der sich später, wie Nero, auf der Kithara begleitete, nicht den schamlosen Elagabal, der zu Gesang und Spiel auf Tibia, Laute und Orgel auch noch tanzte oder auch nicht irgendwelche trunkene Senatoren oder enthemmte Konsuln, die Tragödien vertanzten oder die Tibia quälten, dem blieben unzählige andere Möglichkeiten musikalischen Vergnügens in der unerschöpflichen Klangkulisse der Weltreich-Metropole.

Feste, Kult und Stars: Entertainment als Musomanie Da gab es das Odeum des Kaisers Domitian auf dem Marsfeld, das 5000 Hörer fasste, oder das kleinere von Trajan. Die rechteckigen, überdachten Musikhallen waren eigens für Konzerte oder musikbegleitete Rezitationen gebaut worden. Dort konnte man Oden von Horaz oder Catull hören, vorgetragen von Sängern, oder Eklogen von Virgil und die elfsilbigen Verse des jüngeren Plinius. Oder man ging in die Theater des Balbus oder des Marcellus, wo längst Gesang und Bühnenmusik die Aufführungen der Tragödien, Komödien und der kunstvollen pantomimischen Tanzspiele beherrschten. Schon Plautus hatte das Sprechtheater zum Singspiel umgewandelt und so dem Sologesang mit Arien, Duetten und Terzetten, Tänzen und instrumentalen Einlagen den Weg gebahnt. Meist begann die Aufführung mit einer Ouvertüre des Tibiabläsers. Die Tibia war ein etruskisches Erbe aus dem Raum der Ägäis. Als Aulos war das Doppelrohrblattinstrument von sinnlich-betörendem Klang bei den Griechen mit dem Dionysisch-Rauschhaften verbunden, bei den Etruskern aber eher mit Kult und Totenklage. Bei den Römern aber wurde es zum Nationalinstrument schlechthin. Zwischen den prahlerischen Liedern trunkener Sklaven, den Bankett-Szenen nach errungenen Siegen und den gefühligen Kanzonetten eines Liebhabers erklang farbige Zwischenaktmusik. Die kurzen, lydischen Tibien mit ihrem hohen Klang verbreiteten besondere Fröhlichkeit, der phrygische Aulos, meist als Doppelaulos mit zwei Rohren, sinnlichen Klangrausch und der Plagiaulos, die Querflöte, heitere Gelassenheit.

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In den klassischen Tragödien wurde der Chor des griechischen Vorbilds immer mehr von den virtuosen Cantica, den Liedern der Solisten ersetzt. Wenn sie die großen Sängerstars der Zeit vortrugen, dann wurden sie schnell bekannt und überall nachgesungen. In der Mimusoper, einer burlesken Posse mit eingelegten Couplets, die den Alltag realistisch karikierte, spielte gar ein ganzes Orchester aus Pauken, Flöten, Zimbeln und Trompeten. Und in der ernsteren Pantomime, die ihren Stoff der griechischen Mythologie entnahm, erreichte nicht nur der raffinierte Ausdruckstanz höchste Vollendung. Auch die Musik wurde immer wichtiger. Der solistische Tibiabläser und kleine kammermusikalische Besetzungen wurden nach und nach durch ein ganzes Orchester abgelöst. Ihr rauschendes Tutti vereinte die durchdringenden Syringen, die längst vom einfachen Hirteninstrument zum farbigen Charakterinstrument aufgestiegen waren, mit Becken, Lyren und Harfen. Weil der Rhythmus das Herz der tänzerischen Choreographie war, beherrschte der scharfe Taktschlag des Scabellums die Szene. Das war eine Fußklapper aus zwei Platten, die oft mit kleinen Schellen behängt war. Häufig war sie mehrfach besetzt, denn vielfaches Scabellumgeschmetter begleitete den Tusch im Finale des Mimus. Eine besondere technische Raffinesse steigerte das imposante Klangvolumen noch weiter. In manchen Theatern waren nämlich, nach den Anweisungen des Architekten Vitruv, bronzene Schallgefäße unter den Sitzen aufgestellt. Frei schwingend, ohne Wandberührung und mit unterlegten Keilen waren sie auf genau berechnete Reihen von Tönen abgestimmt und verstärkten so als Resonatoren die Haupttöne der Melodien. Es war eine gewaltige Klangkulisse, von der Seneca bemerkt, dass man in den jetzigen Theatern mehr Sänger finde, als ehemals Zuschauer. »Der Raum ist durch Blechmusik umgürtet und alle Arten von Aulos und Organa tönen zusammen«. Wer zur Oberklasse gehörte, gute Freunde oder Beziehungen hatte, der kam auch in den Privattheatern oder bei den vielen Gastmählern in den noblen Villen auf seine Kosten. Tafelmusik als musikalische Tischunterhaltung war so selbstverständlich, dass ein Mahl ohne Musik schon zu den Extravaganzen zählte. Lieder von Sappho, Anakreon oder Catull erklangen zur Kithara, Epigramme von Martial zur Tibia. Bei den üppigeren Gelagen sangen gefeierte Stimmvirtuosen und Tänzerinnen, Psalter- und Harfenspielerinnen fügten dem akustischen Ambiente nicht selten das Laszive hinzu. Oft war jede Verrichtung, vom Bratenschneiden bis zum Abservieren von besonderer Musik begleitet. »Man musste glauben, nicht in einem Privathause, sondern in einem Theater zu sein«, bemerkt ein Zeitgenosse über ein Gastmahl des reichen Emporkömmlings Trimalchio. Wer schließlich den gewalttätigen Agon dem musischen vorzog, der ging in den Circus Maximus oder in die Amphitheater. Dort gab es nicht nur die hitzigen Rennen der Kampfwagen, die grausamen Gladiatorenkämpfe und blutigen Tierhetzen, sondern auch gewaltig tönende Musik.

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Musikalischer Zirkus Die Scheltlieder der Fechter vor dem Kampf waren noch das dezenteste. Viel lauter wurde es, wenn die Trompetenbatterien vor den Kämpfen losschmetterten, die Schwerthiebe nach dem Takt der Musik geführt wurden, die Aulos- und Trompetenmusik zur Anfeuerung des Kampfes aufbrauste und schließlich die Signale für die schnellen Viergespanne und die Siegerverkündigung erklangen. Über allem aber dröhnte die gewaltige Hydraulis, die Wasserorgel. Sie gehörte zu den technischen Wunderwerken der Zeit und wurde in einem Atem mit der Stadtanlage von Alexandria, dem Dianatempel in Ephesus und dem athenischen Schiffshaus genannt. Das vom Mechaniker Ktesibios aus Alexandria im 3. Jahrhundert vor Christus erfundene Instrument war geniales Resultat einer langen Entwicklung. Sie führte von der Syrinx, der Hirtenflöte über die Sackpfeifen des Dudelsacks bis zum mechanischen Tonwerkzeug mit Blasebalg, Tasten und Pfeifen. Das Besondere an der Konstruktion war, den Luftstrom zu den Pfeifen auf der Windlade mittels wassergefüllter Gefäße so zu regulieren, dass der Winddruck konstant blieb. Damit war für eine gleichbleibende Tonqualität gesorgt. Die größten Instrumente umfassten schon acht Pfeifenreihen, also acht Register, mit bis zu je 19 Pfeifen. Ihr Klangspektrum reichte vom Grundton bis zu seiner zweiten Oktave – ein mächtiger Klang, der meilenweit zu hören war und von den Zeitgenossen mit Donnerrollen verglichen wurde. Kein Wunder, dass sie nicht nur den Zirkus beherrschte, sondern auch die Imperatoren faszinierte. Kaiser Nero war so besessen von ihr, dass er sich im Kriegsrat viel lieber mit ihren neuesten Modellen befasste als mit Schlachtenstrategien. Aber auch die Kaiser Elagabal, Alexander Severus und Gallienus verstanden sie zu spielen. Schon im Jahre 90 v. Chr. ging ein Hydraulis-Spieler als Sieger aus den musikalischen Wettkämpfen der Delphischen Spiele hervor. Jetzt ertönte sie überall im Reich als höchste Errungenschaft einer glanzvollen Musikkultur: Im syrischen Antiochien raubte sie den Bewohnern viele Nächte den Schlaf bei den Olympischen Spielen im Dezember, die Kaiser Commodus gestiftet hatte, aber wir finden sie auch in Karthago, in Gallien, Nordafrika, am Unterrhein und sogar im ungarischen Aquincum. Noch im 8. Jahrhundert macht sie in Byzanz eine späte Karriere als imperiales Huldigungsinstrument im Kaiserkult. Im Jahr 812 bringt man sie sogar nach Aachen an den Hof Karls des Großen mit, um dort formgerecht akklamieren zu können. Mit allen Arten von Musik waren schließlich die ständigen Umzüge verbunden, die Feiern der staatlichen Festkultur und der vielen Kulte, nicht zu reden von der alltäglichen Kulisse des Straßenlebens mit ihren Bänkelsängern, den alexandrinischen Schlagern und gehässigen Spottgesängen auf lächerliche Senatoren, den griechischen Aulosbläsern und den andalusischen Kastagnettenschlägerinnen zwischen Gauklern, Dirnen und Wahrsagern. Beim großen Säkularfest auf dem Palatin erklangen Festkantaten mit Chorliedern von Horaz und der Klang riesiger Orches-

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ter und Hunderter von Sängern erfüllt die ganze Stadt. Die zahlreichen Staatsspiele dauerten oft viele Tage: die römischen Spiele 15 Tage, die plebejischen 14, die des Apollo und der Ceres acht, der sullanischen Siegesfeier sieben oder der Flora sechs. Die große Einweihungsfeier für das Flavische Amphitheater, das Kolosseum, im Jahr 80 nach Christus, dauerte gar 100 Tage, die Feier des zweiten dakischen Triumphs unter Trajan zog sich ganze vier Monate hin. Dabei nahm ihre Anzahl ständig zu: Waren bei Augustus noch jährlich 65 Tage mit Staatsfeiern ausgefüllt, so schwoll ihre Anzahl unter Tiberius auf 88 Tage an, unter Marc Aurel auf 135 Tage und erreichte schließlich im 4. Jahrhundert sogar 176 Tage. Nicht genug, dass sie die Stadt von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang mit Klang und Getümmel erfüllten, Nachtschauspiele verwandelten ihre Spielstätten im taghellen Schein von Fackeln und Pechpfannen zum 24-Stunden-Ereignis, wobei die ›Fackeln‹ der Wagenrennen in Neros Gärten gelegentlich auch brennende, in Pech gehüllte Christen sein konnten. Die Umzüge der Militärmusik mit ihren Märschen oder den Waffentänzen waren den römischen Ohren vielleicht noch am vertrautesten. Sie waren vom Klang der Blechbläser bestimmt, der rau brummenden Trompete, dem hellen und durchdringenden Ton des Lituus, einem tiefen Horn, und der scharfen Bucina, jener gekrümmten Trompete, die von den Reitern auch auf dem Pferd geblasen wurde. Die Spieler galten als privilegiert, standen im Unteroffiziersrang und waren in Vereinigungen organisiert. Auch die Leichenzüge und Begräbnisfeiern gehörten zur alten römischen Tradition, die weit in etruskische Zeiten zurückreichte. Aber längst war das archaische Zeremoniell zum gigantischen Spektakel geworden. Gewaltige Züge mit vielen Wagen, Ahnenbildern, Erinnerungsstücken und Devotionalien waren unterwegs. Schauspieler mit Wachsmasken des Verstorbenen und seiner Freunde spielten dramatische Szenen aus dessen Leben nach, paraphrasiert von Sängerchören, Tänzern und Mimen. Kostbarer Weihrauch wurde pfundweise verbrannt, »mehr als ganz Arabien in einem Jahr erzeugte«, wie ein Zeitgenosse bemerkte. Die Klagefrauen, professionelle Sängerinnen, trugen die Litaneien der Nänien und Exequien vor, die Leichenbläser spielten auf den Blechblasinstrumenten. An der Spitze des Zuges gingen die Trompeter, dann folgten die Horn- und Tibiaspieler. Ein Leichenzug von 210 Wagen wie bei der Bestattung des Diktators Lucius Cornelius Sulla konnte es im Klangvolumen leicht mit jeder Militärmusik aufnehmen. Ein wenig exotischer wurde es bei den Umzügen und Feiern der vielen Kulte. Ob beim alten Bacchuskult oder dem neuen Dionysoskult, bei den Vigilien in den Kulten von Jacchus, Vulkan, Ceres, Proserpina oder Juno oder bei den Mysterienreligionen aller neu eroberten römischen Provinzen – immer fügte es den Klangkulissen ein neues Kolorit hinzu. Im Dionysoskult hörte man große Orchester aus Zimbel- und Tympanonschlägern und die Wechselgesänge mit der Tibia als Melodieinstrument. Aulosmusik sollte den ekstatischen Zustand herbeiführen und im heiligen Tempelbezirk weinte die Elfenbeinpfeife zur kontemplativen Ver­ senkung. Im Kybelekult, den Feiern zu Ehren der Magna Mater oder dem Attiskult,

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ertönten die ekstatischen phrygischen Tibien aus Buchsholz, die Plattenklappern, die mit beiden Händen gespielt wurden, die Becken und tiefe Hörner. Chöre und griechisch singende Hymnensänger mischten sich mit dem Heulen und Schreien der ekstatischen Jüngerschar. Weit drang bei den mehrtägigen Ludi Megalenses das dumpfe, unaufhörliche Dröhnen der Handpauken und das Krachen der erzenen Becken aus dem Kybele-Tempel auf dem Aventin über die Stadt. Ägyptische Musik erfüllte das große Isisheiligtum, das Kaiser Caligula 38 n. Chr. auf dem Marsfeld errichten ließ. Hier herrschte der Klang des Sistrums, der Isisklapper. Kahlköpfige Isispriester schüttelten unentwegt die helltönende Rassel aus einem Blech mit hindurchgesteckten Metallstäbchen und erzeugten damit ein beständiges Geklingel. Dazu kamen die ägyptischen Winkelharfen, Handtrommeln mit zwei Fellen, Becken und Trompeten. Sakrale Pfeifer bliesen auf der Querflöte und ein eigener Tempelchor war für die Kultgesänge zuständig. Die Musiker, die das römische Leben mit Klang durchtränkten, genossen besondere Privilegien: die Befreiung von Steuern, Kriegsdienst und Einquartierungen. Bereits Kaiser Augustus hatte sie dem ›Verband der dionysischen Künstler‹ verliehen. Steile soziale Karrieren bescherten ihnen Ruhm und Reichtum und Einfluss auf die Mächtigen. Die berühmtesten Dichter verfassten Preisgedichte auf gefeierte Kitharöden, die Städte errichteten ihnen Statuen aus Bronze und Marmor und ehrten sie mit der Verleihung der Bürgerrechte. Die Veranstalter der Wettkämpfe zahlten hohe Preisgelder, und Stiftungen setzten ihnen Jahresgehälter aus. Musikunterricht war viel einträglicher als jede Unterweisung in den Wissenschaften, musikkundige Sklaven waren begehrte Beute und wertvolle Tauschobjekte mit ungeahnten Aufstiegschancen. Der Sohn eines sardischen Sklaven, der Sänger Tigellius, ging bei Caesar, Kleopatra und Augustus ein und aus. Die Gemahlin des Kaisers Pertinax machte einen Kitharöden zu ihrem Liebhaber, und der schöne Pantomimentänzer Bathyllus aus Alexandria war der Darling aller und außerdem Gründerfigur einer künstlerischen Schule. Der Pantomime Paris war Günstling des Kaisers Lucius Verus und Orgiengenosse von Nero, der Mime Latinus Günstling von Kaiser Domitian und Liebhaber seiner Gattin Domina. Auch die Kaiserin Faustina delektierte sich an einem Pantomimen, Kaiser Trajan verband sich engstens mit dem Pantomimen Pylades und Hadrian mit dem Kitharöden Mesomedes. Nero verschenkte nicht nur Vermögen und Häuser an den Kitharöden Menekrates, sondern gab, nach der Rechnung seiner Gegner, an die 2200 Millionen Sesterzen für Künstler und Athleten aus. Dem berühmten Kitharöden Anaxenor übertrug man die Steuererhebung von vier Städten samt einer Truppenabteilung als ›Exekutive‹ dazu. Caracalla machte sogar seinen Tanzlehrer Theokritos zum Befehlshaber eines Heeres in Armenien. Das damalige Starwesen der Virtuosen stand dem unserer Moderne nicht nach. Schwindelerregende Gagen waren üblich. Der Prokurator der römischen Wasserversorgung hatte ein Jahresgehalt von 100 000 Sesterzen. Aber Kaiser Vespasian bezahlte bei der Einweihung des wiederhergestellten Marcellus-Theaters einem

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Tragöden 400 000 Sesterzen, den beiden Kitharöden-Stars Terpnus und Diodor je 200 000 und keinem der übrigen Mitwirkenden weniger als 40 000 Sesterzen. Die berühmten Stars zogen durch Kleinasien, Griechenland und Italien, ließen sich ihre Auftritte vergolden und erfreuten sich an ihren Statuen, die sie unsterblich machten. Musik, Tanz und Schauspiel waren so unentbehrlich geworden, dass sie auch in Krisen privilegiert blieben. Als im Jahr 383 alle ausländischen Lehrer wegen einer Hungersnot Rom verlassen mussten, wurden 3000 Tänzerinnen mit Chören und ihren Lehrern ausdrücklich davon ausgenommen. Die Künste hatten mehr Macht über die Gemüter als Götter oder Philosophen. Eine trunkene Musomanie beherrschte die Epoche: Obsession und Stigma zugleich. Seneca nennt sie unverblümt eine ›Krankheit‹, die Dichter geißeln sie mit Spott und die Chronisten beklagen sie als Ursache für den Niedergang von Wissenschaft und Philosophie. Horaz prangerte den Sänger Tigellius als Schutzpatron der syrischen Pfeifferdirnen an samt der Bettelpriester, Tänzerinnen und Possenreißer. Der geistreichste Satiriker des Imperiums, Juvenal, verhöhnte die eitlen Kitharöden im ›goldenen Seidenkleid‹ und die lasziven Aufzüge der Pantomimen. Der Dichter Martial rät einem Vater davon ab, dem Sohn eine wissenschaftliche Bildung angedeihen zu lassen. Lieber solle er ihm eine Kunst erlernen lassen, die Brot gebe: ›Kithara oder Aulos‹. »An die Stelle des Philosophen ist der Sänger getreten, des Redners, der Mime und musikalische Instrumente aller Art, die Bibliotheken sind verschlossen wie Grüfte …« resümiert düster der Geschichtsschreiber Ammianus Marcellinus den Zeitgeist im ausgehenden vierten Jahrhundert. Es ist die überreife Musikkultur der Spätzeit eines Weltreiches, elitäre Luxus- und zugleich feile Massenkultur, überfeinert mit polyglotter Raffinesse und zugleich vergröbert zum bizarren Klangbasar. Die mondänen Ballette der Kaiserzeit mit ihren lasziven Schleier- und Nacktballetteusen samt den klapperschwingenden afrikanischen Tänzerinnen konkurrierten mit den alexandrinischen Orgelvirtuosen, den syrischen Pfeiferinnen und Zimbelschlägerinnen, die Trompetenbläser aus Smyrna mit den andalusischen Kastagnettenspielerinnen und griechischen Aulosbläsern, die makedonischen Rhapsoden mit libyschen Leiermädchen und Psalterspielerinnen, die etruskische Litui mit pompejanischen Melodie-Hörnern, die ägyptischen Winkelharfen mit zypriotischen Dreiecksharfen und arabischen Langhalslauten, die babylonischen Sackpfeifen mit dem Niglaros, dem schrillen Kleinaulos aus Phönizien, die Gabelbecken mit den Cymbala – die grelle Buntheit mit luxuriöser Prunksucht, rohe Sinnlichkeit mit zauberischer Schönheit und bizarrer Exotik. Zu den degoutanten Reizmitteln einer Spätzeit kam die Gigantomanie. ›Riesenlyren, so groß wie Karossen‹, ›Orgeln so hoch wie Türme‹ wurden gebaut, die Instrumente ständig vergrößert und technisch verbessert. Längst waren die Rohre des Doppelaulos verlängert worden, die Grifflöcher vermehrt und mit metallenen Drehringen versehen, die das Spiel in verschiedenen Tonarten ermöglichten. Der Schallkasten der Kithara wurde vergrößert, ihre Saitenzahl auf bis zu

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18 erhöht; Monsterorchester mit 100 Trompetern und 300 Aulen begeisterten den Soldatenkaiser Carinus – vielleicht nach ägyptischem Vorbild. Denn im Paris der Antike, im glanzvollen Alexandria, war man an Prozessionen mit 300 Kitharaspielerinnen und Chören von 600 Männern gewöhnt. Kein Zweifel – sogar aus der ›globalen‹ Perspektive moderner Mega-Sound-Spektakel kann die römische Musikkultur des alten Weltimperiums gut mithalten.1

Ein neuer Kult, eine neue Musik: Das betende Singen der Gregorianik Mitten im Meer der grellen Klangkulissen entsteht eine Insel ganz andersartiger Musik. Sie bildet sich vor allem im Bannkreis eines neuen Kults: des Christentums. Zunächst nichts anderes als eine der vielen Sekten aus den östlichen MittelmeerProvinzen, entfaltet er schnell mächtige Wirkung. Seine Botschaft bewegt die Herzen und erregt die Geister, beeindruckt Volk und Gebildete. Eine ungewöhnliche Dynamik hebt diesen Kult immer stärker von den anderen ab, bis er schließlich zur spirituellen Erneuerungsbewegung der antiken Welt wird. Das Edikt von Mailand des Kaisers Konstantin im Jahr 313 legitimiert die neue Staatsreligion im späten Römischen Reich. Ihre kultischen Stätten werden die Kirchen und Basiliken, ihr Rahmen ist die ›Abendmahlfeier‹. Sie entsteht aus den häuslichen Mahlfeiern der Christen und wird schließlich als ›Eucharistiefeier‹ zum Mittelpunkt der öffentlichen lateinischen Messe. Dort ist auch der erste Ort ihrer Musik. Ihre Wurzeln liegen in den farbigen Klangwelten der Spätantike, von den jüdischen Synagogalgesängen bis zu griechischen Hymnen. Damit erweist sie sich als eine Art Destillat aus ambivalenter Fülle. Aber auch gleichzeitig als Abgrenzung und Gegenwelt. In einem Prozess von Auswahl und Transformation wird Altes verwandelt und mit neuen Bedeutungen besetzt. Berühmtes Beispiel ist der jüdische Saulus, der nach seinem Damaskus-Erlebnis zum christlichen Paulus wurde. Genauso wie aus unzähligen Stätten heidnischen Kults die Orte christlichen Betens werden, verwandeln sich alte Sinnbilder in neue: die alten Kraftzentren werden auch die neuen. Das Pantheon in Rom, errichtet unter Augustus als Tempel für ›alle Götter‹ der antiken Kulte, wird Andachtsstätte des neuen Monotheismus und zuletzt als christliche Kirche geweiht. Aus dem widdertragenden Hermes wird der ›Gute Hirte Christus‹, den man als ›Glücklichen Hirten‹ längst aus der arkadischen Idylle kennt. Der antike Lenker des vierspännigen Sonnenwagens Helios wird zum künftigen Steuermann Christus und sogar 1

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Details und weiterführende Literatur finden sich bei G. Wille, Musica Romana, Amsterdam 1967 und ders., Einführung in das Römische Musikleben, Darmstadt 1977 sowie bei L. Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von Augustus bis zum Ausgang der Antonine. 4 Bde., 10. Aufl. bearbeitet v. G. Wissowa, Leipzig 1922.

der mythische Sänger Orpheus mutiert zur Jesusfigur als Verkünder einer neuen Botschaft, dessen ›Leier‹ jetzt das Kreuzesholz ist. Ebenso verwandelt sich der beschwingte antike Helioshymnus zum christlichen Allelujajubilus, das heitere anakreontische Seikilos-Lied zur lateinischen Antiphon und der düstere Nemesishymnus zu einer Melodie des Kyrie. Auch die Anrufung des Herrn im Kyrie eleison gibt es bereits im heidnischen Sonnenkult Roms wie in der Liturgie der jüdischen Tempel, die übrigens auch Teile der neuen Messfeier inspiriert. Im Bedeutungswandel dieser kulturellen Wendezeit werden für die Musik zwei Kräfte wesentlich. Die eine ist ein neues spirituelles Empfinden, die andere die Sprache, das lateinische Wort. Die lauten, erregenden Klänge der Instrumentalmusik, allen voran die laszive Theatermusik, werden verbannt. Stattdessen wird die bloße menschliche Stimme zum Träger des neuen Ausdrucks, das schlichte Singen von Sänger und Gemeinde. Das raffinierte Virtuosentum der Kitharöden- und Sängerstars weicht dem einfachen geistlichen Lied, den Psalmen, Antiphonen und Hymnen des cantus romanus oder der cantilena romana, wie dieses erste Repertoire der frühchristlichen Kultmusik genannt wird.

Frühe Formen und erste Gattungen Die geistlichen Lieder, die Cantica, verwenden jene lyrischen Texte aus der Bibel, die nicht aus den Psalmenbüchern, dem ›Psalter‹ stammen. Aus diesem hingegen, den 150 Gesängen des Alten Testaments, dessen wichtigster der ›Psalter Davids‹ ist, stammt der größte Teil, die Psalmen. Mit ihrer Aufteilung in oftmals zwei parallele Halbverse verkörpern sie die Essenz altorientalischer Poesie. Ihr Vortrag erfolgt im Wechsel zwischen Solosängern und Chor und zwischen Psalmvers und Refrain. Diese Aufführungspraxis, Psalmodie genannt, wird zum Inbegriff des Gesangs im christlichen Kult. Sie bildet drei Hauptformen aus: die direkte Psalmodie, wo Solist oder Chor den Psalm durchgehend absingen, die responsorische Form, wenn eine Sängergruppe dem Solisten mit einem feststehenden Refrain antwortet und die antifonale, wenn die Verse im Wechsel von zwei Hälften des Chores vorgetragen werden. Die letztere Art des Vortrags führt schließlich zur Antifon als eigenes Gesangsstück. Es entwickelt sich aus einer Art ›Kommunikationsstruktur‹ mit der Gemeinde: ihren frühen Einwürfen, Akklamationen und Antwortrufen bis hin zu ausgedehnten Gesängen mit melodisch weitgespannten, vielleicht auch improvisatorisch ausgezierten Linien. Die Hymnen schließlich verwenden als feierliche Lob- und Preisgesänge als Einzige keine biblischen Texte, sondern neue Dichtung in Prosa oder Vers, wenn auch nach den alten, biblischen Vorbildern. Alle diese Gattungen sind engstens mit der Liturgie des neuen Kults als ihrer tieferen Sinn- und Strukturebene verflochten. Sie ertönen in der Messfeier zwischen den Lesungen, vor allem im Proprium, den nach den Anlässen des Kirchenjahres von Tag zu Tag wechselnden Teilen, aber auch im Offizium, dem Stundengebet, das zuerst in den Mönchsgemeinschaften Ägyptens und Syriens, dann in den

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Klöstern, den Gemeinde- und Bischofskirchen, den Tag und die Nacht in festen Rhythmen seiner Horen ordnet. Ihre Melodien sind allerdings nicht so frei »erfunden«, wie uns vielleicht unser modernes Verständnis von eigenständiger, ›autonomer‹ Musik glauben lässt. Sie sind vielmehr doppelt gebunden: einmal dramaturgisch durch die Liturgie, zum anderen strukturell durch den Text, aus dessen Tonfall sie sich entfalten. Seine Sprachmelodie mit dem Rhythmus von Längen, Kürzen und Akzenten, seiner Abfolge von Vokalen und Konsonanten und der Gliederung von Sinneinheiten bestimmt die Klanggestalten. Es ist also ein zum Singen erhobenes Sprechen zwischen Sprachlaut und Tongestalt, das als ›Musik‹ erklingt. Damit erweist sich die Sprache als eigentliche Bedeutungsebene, die mit ihren Fügungen den Verlauf der Melodie und seiner musikalischen ›Freiheitsgrade‹ bestimmt. Deswegen kommt ihrer Qualität besondere Bedeutung zu. Sie handelt nicht vom Alltäglich-Profanen, sondern vom Heiligen. Deshalb präsentiert sie sich auch nicht als natürliches, subjektiv gefärbtes Sprechen, sondern als überpersönlicher, formalisierter Vortrag. Es ist die höher gestimmte, tiefer gegründete und bedeutsamer gefügte Sprache des Kults. Und es ist, spätestens seit dem 4. Jahrhundert, nach dem Zurücktreten des Griechischen als Verkehrssprache der hellenistischen Welt, das Lateinische. Seine Wirkungsmacht aus lautlichem Bann, rhythmischer Fügung und knapper Präzision bietet offenbar besonders gute Voraussetzungen für die Verwandlung in musikalischen Klang. Man braucht nicht unbedingt Altphilologe oder Linguist zu sein, um diese besondere Wortmagie zu empfinden. Es genügt, so musikalisch zu sein, um im Gedicht jene Klangsinnlichkeit wahrzunehmen, die alles ›Poetische‹ ausmacht. Weil es tiefer als das rein Begriffliche, Denotative liegt, nämlich in der Schicht des Emotionalen und Suggestiven, des Konnotativen, hat es Anteil an jener Bedeutungsebene, der auch die Musik ihre ›begriffslose‹ Wirkungsmacht verdankt. Die Klangkraft dieser Sprache macht noch ihre direkte Erbin, das Italienische, zum klassischen Idiom der Sänger. Italienische Oper und Belcanto bezeugen es bis heute. Ihr strukturelles Potenzial aber hat das Lateinische zu einer Wurzelsprache Europas gemacht. Damit regierte sie als Lingua franca Literatur, Gelehrtenwelt und Kanzleien des mittelalterlichen Abendlandes. Und noch heute erweist sie sich in der Fachterminologie vieler geistes- und naturwissenschaftlicher Fächer als eine untergründige Referenzebene unseres modernen Denkens. Ein Vergleich der Choraltexte mit ihren Vorlagen aus dem Alten Testament zeigt übrigens, dass sie das Ergebnis eines sorgfältigen Redaktionsprozesses sind. Er zeigt, dass seine Protagonisten offenbar genau um diese ›lautmagischen‹ Sprachqualitäten wussten. Denn seine kunstvollen Umformungen verstärken diese Seite ganz bewusst – eine Wirkung, die ihre Entsprechung in vielen liturgischen Texten und Formeln aller alten Religionssysteme hat. Sie zielt dort wissend, genau wie in den Gebets- und Meditationsformen, vom Rosenkranz bis zu den arabischen Koran-Suren, besonders aber in der Mantrapraxis fernöstlicher Kulturen, weniger auf den begrifflichen Bedeutungszusammenhang als vielmehr auf eine innere, also mu-

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sikalische Resonanzwirkung, die über die Empfindung seelische Bezirke erreichen soll: Lautmagie. Eine Praxis des repetitiven ›sich Einsprechens‹ solcher Texte besonders in ostasiatischen Traditionen dient solcher Absicht. Unverkennbar, dass zum Zweck solcher psychischen Wirkung durch die Sprachdiktion die Choraltexte oft in eine neue Reihenfolge gebracht oder sogar aus verschiedenen Psalmen und Büchern der Bibel zusammengestellt werden, viele Worte um des Klanges oder eines bestimmten Rhythmus willen sogar verändert und umgestellt.2

Eine Urdialektik: Sprache und Musik Diese Beobachtungen zeigen, wie bereits in der Keimschicht der abendländischen Musikgeschichte die Dynamik einer unverlierbaren Dialektik wirkt: Sprache und Musik. Sie spannt sich vom archaischen Melodieverlauf als bloße Funktion von Deklamation und Rhetorik über alle möglichen Formen der dramatischen oder symbolischen Ausschöpfung des Affekt- oder Sinngehalts der Worte bis zu den guten oder schlechten Opernlibretti samt dem ewigen Streit um prima la parole, poi la musica oder umgekehrt, und schließlich bis zur Antithese einer völligen Entsemantisierung der Sprache in Werken der Moderne. Was hier in Auflösung und Dekonstruktion Kompositionsmethode wird, bewahrt der Mythos als Erinnerung an die kaum auslotbaren Tiefen des Sujets. »Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, das Wort war Gott …« beginnt 2

Vgl. R. Steiner, Die Grundlegung der europäischen Musikkultur (bis ca. 1100), in: Neues Handbuch der Musikwissenschaft, hg. v. C. Dahlhaus u. fortgeführt v. H. Danuser, Bd. 2: Die Musik des Mittelalters, hg. v. H. Möller und R. Stephan, Laaber 1991, S. 35 ff. Das philologische Detail ist allerdings komplizierter, denn die Psalmtexte waren Übertragungen aus dem Hebräischen ins Griechische der Septuaginta und von da ins Lateinische der Vulgata und existierten in mindestens zwei Fassungen, der älteren des ›Römischen Psalters‹ und der jüngeren des ›gallikanischen‹. Allerdings ist offenbar auch das Wissen um die hier thematisierten Aspekte bis hin zu einer Art kabbalistischer Lautwertekenntnis ganz selbstverständlich. Das zeigt die Umschrift einer griechischen Alphabettafel in die lateinischen Entsprechungen durch Arn von Salzburg (dort Erzbischof und Abt von St. Amand) aus dem Jahr 799, wo der phonetischen Umschrift auch die Zahlenwerte der Buchstaben beigefügt sind, vgl. A. Haug, Neue Ansätze im 9. Jahrhundert, in: Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 2 (1991), S. 141–142. Unter dem Aspekt der lautmagischen Qualitäten des Latein, der mindestens für die Schöpfer der Texte und die kundigen Arrangeure ihrer Choralfassungen wesentlich war, markiert die moderne Zulassung der ›volkssprachlichen‹ Messe durch die römische Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1963) einen Bewusstseinswandel von tiefer Symbolik. Damit wird nicht nur ein Band der geistigen Einheit der Kirche preisgegeben, sondern dem ›Verstehen‹ als rational-begriffliches Aufnehmen Priorität vor dem andersartigen ›Innewerden‹ in sinnlich-seelisch tiefer begründeter Wirkung zugebilligt. Die Kirche folgt hier dem aktuellen Zeitgeist intellektueller Ratio unserer technischen Moderne und lässt erkennen, dass sie auf die andersartigen Qualitäten der lateinischen Texte mit den dort akkumulierten Bedeutungskräften entweder verzichtet – oder nicht mehr um sie weiß.

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das Johannesevangelium im Neuen Testament. Es nimmt Bezug auf die Weltschöpfung nach Genesis 1, dem ersten Buch Mose im Alten Testament. Dort taucht bereits die schöpferische Potenz der Sprache durch den bloßen Sprechakt auf: »Und Gott sprach: ›Es werde Licht!‹ Und es ward Licht.« 3 Im Text von Johannes ist sie allerdings aus dem Verständnis der damals im Hellenismus verbreiteten Logos-Lehre zu interpretieren. Sie zielt auf die Offenbarung des ewigen ›Urwortes‹ als magische ›Selbstaussprache‹ des Göttlichen bis zur (biblisch verstandenen) Fleischwerdung des ›Gottessohnes‹. Deshalb verkürzt die moderne Übersetzung von Logos mit ›Wort‹ zwar den umfassenderen Sinn. In seiner Entfaltung als eine im ›Wort‹ inkarnierte, zeugende Urkraft verwirklicht sich dieser tiefere ›Sinn‹ aber unverkürzt durch die Zeiten, von Bibel und jüdischer Kabbalah bis hin zu Herder, Humboldt und Hamann mit ihrer Auffassung von Sprachen als ›Weltansichten‹ und ›Trägern expressiven Ausdrucks‹ und noch weiter bis in unsere modernen Erkenntnistheorien. Dort spricht Heidegger von ›Sprache als Haus des Seins‹, Gadamer formuliert: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache«, und Charles Taylor bekennt sich in seiner philosophischen Anthropologie zur existenziellen, ›weltabbildenden Funktion der Sprache‹, während sie schließlich bei Ludwig Wittgenstein problematisiert und im linguistic turn der Analytischen Philosophie formalisiert wird. Als offensichtlich strukturell in einer mentalen Tiefenschicht begründet und damit (anthropologisch) als ›angeborene menschliche Sprachfähigkeit‹ versteht sie – im Gegensatz zu einem (darwinistisch) erworbenen ›Bezeichnungssystem‹ – der moderne Linguist Noam Chomsky mit seiner 3

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Die Metapher von der Schöpfung der Welt durch Sprache ist bereits in Quellen aus dem alten Ägypten überliefert. In einem Papyrus aus der 17. Dynastie (1750–1650 v. Chr.) heißt es in einem Hymnus auf Atum, den Schöpfergott von Heliopolis: »Herr der Erkenntnis, auf dessen Lippen das Schöpferwort ist« (p Cairo CG 58038) oder bei einem auf Amun-Re (in den Steinbrüchen von Tura): »Da hat er angefangen, dieses Land zu erschaffen, indem er festsetzte, was aus seinem Munde hervorging.« Ähnlich heißt es auf einer Basaltplatte aus dem Tempel des Gottes Path aus Memphis der 25./26 Dynastie (8. Jh. v. Chr.): nach dem Götter und Schöpfung aus »Herz und Zunge« von Ptah hervorgegangen seien, vgl. TUAT II/6, S. 840, 843, Erg. 173, in: Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Alte Folge, hg. v. O. Kaiser, B. Janowski, G. Wilhelm, D. Schwemer, Gütersloh 1982–1997. Zu den tiefsten, transzendenten Begründungen des ›Urwortes‹ gibt ein Treuhänder authentischen Wissens aus unserer Zeit, legitimiert aus eigenem realem Ewigkeitsbewusstsein, entsprechende Hinweise in seinem geistlichen Lehrwerk, vgl. Bô Yin Râ (Joseph Anton Schneiderfranken): Die Weisheit des Johannes, Basel, Zürich, Leipzig 1924 u. 1952, S. 93– 95, 147– 152 sowie: Das Gespenst der Freiheit, Basel u. Leipzig 1930, S. 163, 170–171. Aufschluss über Persönlichkeit, Werk und Stellung von Bô Yin Râ, auf den in vorliegenden Ausführungen immer wieder hinsichtlich fundamentaler Begründungen hingewiesen wird, geben: R. Schott, Bô Yin Râ. Leben und Werk, Basel 1954; Bô Yin Râ, In eigener Sache, Basel o. J. sowie A. Kober-Staehelin, Meine Stellung zu Bô Yîn Râ, Bern, Basel, Leipzig 1930, ders., Weshalb Bô Yin Râ? Basel 1930 und G. Lienert, Weltwanderung, Bô Yin Râ, Lehre und Biographie, Bern 1994. Eine scharfsinnige Unterscheidung zwischen Phäno- und Geno-Sprache als Hintergrund von gesprochener Sprache und ihrem emotiven Unterbau findet sich bei Julia Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt 1978.

›Generativen Transformationsgrammatik‹ (siehe Kapitel XI). Und der inspirierte Psychologe Ludwig Klages erkennt in ihr ein heuristisches Potenzial, das auch in der Moderne noch keineswegs ausgeschöpft ist.4 Von daher lässt sich ihre Qualität kaum anders fassen als eine metaphysische. Für den frühchristlich-römischen Gesang jedenfalls gilt prima la parole. Denn die frühesten Aufzeichnungen der liturgischen Texte, die Antifonarien, lassen am übergeordneten Rang des Wortes vor der Melodie keinen Zweifel. In diesen kostbaren Handschriften aus dem 8. bis 10. Jahrhundert steht das Wort noch ohne Melodie. Der Aufwand an Pracht und die Schönheit dieser Niederschriften bezeugen höchste Verehrung. Die Worte sind nämlich mit goldstaubhaltiger Tinte auf purpurgetränkten Pergamentblättern geschrieben: Ausdruck für das sakrosankte, lebendige ›Wort Gottes‹. Seine Würde findet noch 1000 Jahre später ihre Entsprechung, wenn Johann Sebastian Bach im Partitur-Autograph seiner Matthäus-Passion den Bibeltext eigenhändig mit roter Tinte notiert. Ein anderer Beleg, wie sehr die gregorianischen Gesänge noch »Extension der Sprache« (Leo Treitler) sind, ist schließlich ihre früheste schriftliche Aufzeichnungsform. Zuerst sind es nur Lektionszeichen, mit denen die Worte markiert werden: Akzent- und Interpunktionshinweise. Daraus entsteht aber bald ein Zeichensystem, das wie ein Artikulationsdiagramm über dem Text verläuft und als ›Neumennotation‹ bezeichnet wird. Es ist allerdings noch recht vage, denn es gibt keine festen Tonstufen oder Intervalle an, sondern skizziert nur gestalthaft den ungefähren Bewegungsverlauf der ›Sprechmelodie‹. Neuma steht im Griechischen für Wink und illustriert damit gut die Funktion einer Memorierhilfe, die schon die auswendige Kenntnis des Textes und seiner melodischen Intonation in einer etablierten Aufführungspraxis voraussetzt. Die Nähe zum Sprachverlauf spiegelt sich im Bau der Melodien wieder. Ihre Grundgestalt gleicht einem Bogen, dessen Scheitelpunkt in Wellen erreicht und wieder verlassen wird. Sein Modell lässt sich durch wenige Strukturelemente beschreiben. Am Anfang steht eine typische Einleitungsformel, die Intonation oder das Initium. Den Mittelteil dominiert der Rezitationston, auch Lektionston, Repercussa, Tuba oder Ténor genannt. Als Hauptton bildet er das Gravitationszentrum der Melodie. Häufig wird er durch eine Mittelkadenz, die Confinalis unterbrochen, bevor er neu ansetzt. Eine Schlusskadenz, die Finalis beendet schließlich die Melodie mit dem Ziel- und Grundton, hat aber gleichzeitig die Aufgabe, möglichst geschickt zum Anfang des nächsten Verses überzuleiten. Deshalb heißt sie auch Differentia und bildet für diese Vermittlungsfunktion viele verschiedene Varianten aus. Liefern 4

N. Chomsky, Reflections on Language, Edition von: The Logical Structure of Linguistic Theory (1955), New York 1975, dt.: Reflexionen über die Sprache, Frankfurt a. M. 1977; L. Klages, Die Sprache als Quell der Seelenkunde, Zürich 1948, sowie zur bedeutsamsten Befragung der Sprache als Erkenntnismittel, vgl. Bȏ Yin Râ (1930), S. 171 ff.

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diese formelhaften Elemente das Gerüst der melodischen Gestalt, so entsteht ihre Dynamik aus der Spannung zwischen Hauptton und Finalis. Weil der Hauptton als melodisches Zentrum Verlauf und Umfang der Melodie bestimmt, wird er auch zusammen mit der Finalis zum wichtigsten Unterscheidungsmerkmal der verschiedenen Melodien. Ihre Fülle beginnt man etwa seit dem 8. Jahrhundert zu ordnen. Für die innere Gliederung nach Tongruppen mit ihren charakteristischen Intervallen übernimmt man das System der Tetrachorde, einer Viertonreihe, übernommen aus der griechischen Musiktheorie. Sie sind Ausschnitte der Tonleitern und bilden die ›Bausteine‹ der unterschiedlichen Tonräume, die als Modi oder ›Kirchentonarten‹ bezeichnet werden. Weil ihnen später die meisten Melodien fest zugeordnet werden, bezeichnet man sie deswegen auch als ›Psalmton‹ oder ›Kirchenton‹. Dorisch, phrygisch, lydisch und mixolydisch heißen ihre vier ›authentischen‹ Grundformen. Zusammen mit den vier weiteren, aus ihnen abgeleiteten, den ›plagalen‹, bilden sie die acht charakteristischen Tonarträume dieser Zeit. Manche ihrer typischen melodischen Wendungen, die eng mit dem Wesen der Modi zusammenhängen, werden in der Musikgeschichte nie mehr vergessen und behalten ›Bedeutung‹ bis in die Spätromantik. Der Gewinn dieser Anpassung an ein präexistentes System bestand in einer klaren Ordnung der Vielfalt, die Problematik in den vielen Ausnahmen und Glättungen. Denn der Reichtum der gregorianischen Melodiegestalten fügte sich nicht leicht dem ordnenden Schema. Schon gar nicht im Hinblick auf eine uns unbekannte Aufführungspraxis, in der ganz sicher viele melodische Feinheiten und Abweichungen existierten, wie uns noch heute die melodischen Gebilde aus der Ostkirche, der byzantinischen Tradition, ahnen lassen. Allerdings war dieses System der Kirchenmodi wie auch die akustische Aufteilung des Oktavraumes in acht ungleiche Stufen, der sogenannten diatonischen Leiter aus sieben Tönen plus einem (nämlich der Oktave des ersten als Verdopplung des Grundtones) kein willkürlich erfundenes Schema, sondern ein antikes Erbe aus der griechischen Musiktheorie und damit Übernahme aus viel älteren Ordnungssystemen.

Sinnordnungen oder: erste Organisationsformen unserer musikalischen Systemebene Solche ›Ordnungen‹ trifft man in allen alten Musikkulturen, aber auch in weniger entwickelten, primitiven, mit der Organisation der Töne und Tonräume an. Sie beginnen bei der Strukturierung des primären Tonvorrats durch Skalen oder Tonleitern. Als Abfolge der gleichsam festen, rationalen ›Tonorte‹ mit ihren Abständen dazwischen, den Intervallen, stellen sie bereits ein gestalthaftes Destillat aus einem akustischen Kosmos unbegrenzter Schwingungsformen dar. Der ›Ton‹ als Auswahl aus dem Geräusch-Chaos hat zwar bereits seine eigene ›Seins‹-Qualität. Aber ›Musik‹ entsteht erst mit der Abfolge von Tönen. Deshalb bestimmt sie sich durch Struktur. Ihren Kern bilden die Intervalle – das Abstands- und Beziehungs-

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system zwischen den Tönen. Es entfaltet sich in zwei Achsen: eine als horizontale Einteilung der Tonorte nach den Abständen der Tonhöhen (Frequenzen), die andere als eine vertikale bei Zusammenklängen (Akkorden). So formen sich durch Ersteres (musikologisch als Distanzsystem bezeichnet) Skalen und Melodie, durch das Andere (dem Sonanzsystem) Harmonien und Akkorde. Weil das die beiden wichtigsten rationalen Bestimmungskriterien aller Töne aus ihren sonstigen Eigenschaften wie Klangfarbe, Lautstärke oder Verschmelzungsgrad sind, liegt hier auch der Strukturkern jeder musikalischen Systemebene. Das Sonanzsystem ist für die ›Liturgische Einstimmigkeit‹ des gregorianischen Gesangs genauso wie für die antike griechische Musik noch nicht bedeutsam wie später. Aber es existiert natürlich längst in den bunten Klangwelten aller Musik von vorher und wird schließlich als ›Klang‹ essenziell in der abendländischen Mehrstimmigkeit. Woher kommen solche Konzepte? Wie findet der musizierende Mensch die Referenzen für solche Systeme, die schon in den ältesten überlieferten Zeugnissen ausgebildet sind? Man kann sie, gut positivistisch aus moderner Wissenschaftsratio, als Entwicklung in darwinistischen Selektionsprozessen verstehen, wo sie als Überlebensvorteile, Signalfunktionen oder Kommunikationsmodi fungieren. Das scheint, biologisch ab ovo gedacht, plausibel. Und doch ist es so erstaunlich wie unwahrscheinlich im Blick auf die reifen Früchte in Kultur, Kunst und Gesellschaft der Hochkulturen, wertet man sie als ›zufällige‹ Resultate aus blinden, evolutionären Naturprozessen oder als zweckvollen Utilitarismus. Nur weil sie notwendig auf biologische Grundlagen angewiesen sind, ersteht ihnen allein daraus keine hinreichende ›Bedeutung‹ als Sinnstrukturen für das menschliche Bewusstsein. Alle Prozesse evolutionärer Kreativität zeigen zwar den autonomen Eigenwillen ewiger Naturkräfte – aber werden zugleich Sinnträger einer Ratio, die über ein Verständnis als beiläufige, irgendwie beliebige Produkte aus der Werkstatt eines ›Blinden Uhrmachers‹ (der Evolutionsbiologe Richard Dawkins, 1986) hinausgeht. Denn ab einer bestimmten Entwicklungsstufe sind ihre ›Ergebnisse‹ nicht mehr plausibel aus dem evolutionären Vorteil des paarungssüchtigen Affen oder des balzenden Pfaus und des bloß ›Tierseelischen‹ im Menschen ableitbar. Irgendwann in diesem Prozess reicht die bloß biologisch verstandene Emergenz nicht mehr aus, um ein Gilgamesch-Epos oder die indischen Veden, die chaldäisch-babylonische Astronomie, die sakralen Riten der Hochkulturen samt ihrer Kunst und Musik oder gar eine PalestrinaMotette, eine Bach-Fuge, eine Beethoven-Sonate, schließlich eine Raffael-Madonna oder ein Dante-Sonett daraus ›folgerichtig‹ zu erklären. Auch nicht Sinn und Rationalität bestimmter Bauleistungen vom alten Ägypten bis Mesoamerika und Ostasien oder dem gotischen Dom. Und auch nicht die damit in enger Verbindung stehenden Zeugnisse frühester musikalischer Systematik. Zu deren materiellen zählen bereits die Grifflöcher in den Knochenflöten aus dem Aurignacien, der ältesten Kultur des Homo sapiens (40 000 bis 28 000 v. Chr.). Sie sind schon (mit bis zu fünf Löchern) melodiefähig und deshalb eine qualitative

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Selektion: Ergebnis einer bestimmten Auswahl von Tönen, die zwar in der ›Natur‹ angelegt sind, sie aber übersteigt, weil sie einer Strukturvorstellung folgt, die im menschlichen Bewusstsein angelegt zu sein scheint. Auf dem Porträt eines Ensembles von Harfenspielern aus dem Ägypten des dritten vorchristlichen Jahrtausends fand der Musikethnologe Curt Sachs sogar die drei Hauptintervalle unserer Tonsysteme, Oktave, Quarte und Quinte bereits abgebildet. Weil musikalische Aktivitäten schon aus den prähistorischen Anfängen aller Gesellschaften in vielfacher Weise bezeugt sind, ist hier offenbar, wie im Falle der Sprachfähigkeit, eine angeborene »musikalische Disposition« am Werk. Durch ihre frühe Ausprägung über Tonordnungen mit ähnlichen Strukturelementen in allen bekannten Hochkulturen (wie Skalen, Grundtonrelationen und Hauptkonsonanzen) kann sie nicht anders als eine menschliche Universalie verstanden werden. Was aber offenbar so transhistorisch und transkulturell wirksam ist, ist kaum ohne tiefere psycho-physische Referenz vorstellbar und hat deshalb eine anthropologische Dimension.5 Zu ihren offenbaren Zeugnissen gehören jene Zusammenhänge, wie sie sich in primitiven und indigenen Gesellschaften als magische und kultische Einbindung äußern. In den alten Hochkulturen aber wird solcher Ritus und Kultus als bloßer Schall und Tanz durch eine Musiktheorie mit höheren Referenzen weit überschritten. Sie beschränkt sich nicht auf das Empirische im Tun, den usus, sondern stellt sich als ein ›Wissen‹ dar, das musikalische Ordnungszusammenhänge als ars mittels konkreter Zahlenverhältnisse beschreibt und in Analogie zu größeren Struktur- und Proportionsmustern begreift, wie sie in allen Naturzusammenhängen wirksam sind. Als tönendes Abbild kosmologischer Strukturen haben diese Ordnungen deshalb ihre Resonanz nicht nur im Menschen, sondern in der ganzen materiellen Schöpfung. Ihre Analogien können wir, genau wie ihre Tonsysteme, im ur5

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In der heutigen Forschung konkurriert eine Naturtheorie des Musikalischen mit physikalisch-akustischen, mathematischen, sozialen und neurophysiologischen Begründungen der Tonsysteme. Dabei ist unstrittig, dass sich ›musikalischer Sinn‹ einer systemischen Ordnung der Töne in einem bestimmten Ordnungsraum verdankt, wobei neben strukturellen und formalen Kriterien auch immer definierte Entitäten auszumachen sind, die tatsächlich in nahezu jeder Musikkultur nachgewiesen werden können. Sie lassen sich in einer Stufenreihe von den universalen bis hin zu solchen mit bikulturellem Status verorten, vgl. M. Dobberstein, Musik und Mensch. Grundlegung einer Anthropologie der Musik, Berlin, 2000, S. 438 ff. Für Überblicke: vgl. W. Suppan, Anthropologische Ansätze in den Musikwissenschaften, in: Musik im Diskurs, Bd. 4, Anthropologie der Musik und der Musikerziehung, hg. v. R. Schneider, Regensburg 1987; W. Wiora, Historische und systematische Musikwissenschaft. Ausgewählte Aufsätze von Walter Wiora, hg. v. H. Kühn u. Chr. Mahling, Tutzing 1972, S. 113; The Biological Foundations of Music, hg. v. R. J. Zatorre u. I. Peretz, New York 2001 (= Anales of the New York Academy of Siences, Vol. 930). Zu den Tonsystemen, vgl. E. M. v. Hornbostel, Musikalische Tonsysteme, in: Handbuch der Physik, Bd. 8: Akustik, hg. v. H. Geiger u. K. Scheele, Berlin 1927, S. 425–449; C. Sachs, Die Musik der alten Welt in Ost und West. Aufstieg und Entwicklung, hg. v. J. Elsner, Berlin 1968; ders., Die Anfänge der Musik, Hildesheim u. New York, 1979.

alten Kulturraum von Mesopotamien bei den Priester-Astronomen und Astrologen der Sumerer, Hethiter, Chaldäer und Babylonier ebenso wie auch im alten China und Indien an Quellen konkret bis zurück ins zweite Jahrtausend v. Chr. verfolgen. Sie betreffen Astronomie und Kalenderrechnung bis hin zu Analogien in Alphabet und Farben und die Proportionsordnungen von Bauwerken.6

Zusammenhänge Für das Abendland hat uns bekanntlich die Schule von Pythagoras Essenzen dieser Zusammenhänge als unverlierbares Erkenntniserbe hinterlassen. Allerdings beginnt sie keineswegs bei bloßer voraussetzungsloser Empirie, wie das bei Pythagoras von Samos (um 570–510 v. Chr.) im Hinblick auf die Musik und ihre mathematischen Relationen gern überliefert wird. Dazu gehört etwa die naive Legende von der Werkstatt eines Schmiedes, wo er mittels der verschiedenen Hämmer auf die Intervallbeziehungen gestoßen wäre. Tatsächlich steht das pythagoreische Denken, genau wie das platonische, in der langen untergründigen Traditionslinie der alten östlichen Kulturen. Die Verbindung zu den Kulturen der Babylonier, Chaldäer und Assyrier wie zu Ägypten wird durch viele Zeugnisse belegt. Dazu gehören nicht nur die militärischen Kontakte (durch griechische Söldner, vor allem in den Feldzügen gegen die Perser, die 525 v. Chr. Ägypten erobert hatten), sondern auch lange Handelskontakte (etwa mit dem griechischen Hafen Naukratis in der Nähe von Ale­xandria), besonders aber die Tradierung mathematischen und astronomischen Wissens. Im Griechischen hießen die orientalischen Gelehrten Chaldaioi. Die Namen von neun der 12 astrologischen Tierkreiszeichen sind babylonischen Ursprungs. Noch die Berechnungen des Astronomen und Geographen Hipparchos von Nicäa (190–120 v. Chr.) und das darauf aufbauende Werk Almagest von Ptolemäus, Fundament für die gesamte westliche Astronomie bis Kopernikus und Kepler, gründet sich auf die babylonischen Datentafeln, in denen bereits die Eklipsen von Sonne und Mond berechnet waren. Aufenthalte und Unterweisungen von Herodot, Solon, Pythagoras und Platon in Ägypten mit entsprechendem Wissen-

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»Ich machte die Musik mit menschlichen Mitteln, aber stellte Himmlisches dar… die höchste Musik passt sich an den Ordnungen des Himmels« (Dschuang-Dsi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, 14. Buch: Die Musik des Herrn der gelben Erde) ist ein frühes Zeugnis für diese Verbindung. Vgl. bei H. Pfrogner, Musik. Geschichte ihrer Deutung, Freiburg u. München 1954 (= Orbis Academicus, Bd. I/4). Leon Battista Alberti begründet die Verbindung zwischen Architektur und Musik mit den konsonanten Intervallen der pythagoreischen Lehre, denn »die Zahlen, durch denen das Auge erfreut wird, seien dieselben, die bewirkten, daß das Ohr durch einen Zusammenklang angenehm berührt werde, in: De re aedificatoria libri decem, hg. v. E. Tappe u. a. Poliziano, Straßburg 1541, Liber IX 5, folio 137 verso (zitiert nach: Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. II, S. 185); vgl. auch: M. Schneider, Singende Steine, Kassel 1955.

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stransfer sind inzwischen für die Forschung kaum mehr zweifelhaft.7 Die über die Pythagoras-Schule vermittelten Beziehungen von Musik und Mathematik beherrschen Musikdenken und -theorie bis heute. Töne sind Schwingungen, die Intervalle Schwingungsverhältnisse, die Harmonien eine Kombination von beiden. Sie alle lassen sich durch nichts eindeutiger bestimmen, als durch Zahlenwerte. Verkürzt man eine auf C gestimmte Saite um die Hälfte, erhält man die höhere Oktave C1. Nimmt man von der C-Saite ein Drittel ab, erhält man die Quinte G, nimmt man ein Viertel ab, ergibt sich die Quarte F. Das bedeutet, dass der Oktave das Zahlenverhältnis 1:2 entspricht, der Quinte das Verhältnis 2:3 und der Quarte 3:4. Entsprechend verhält es sich mit den weiteren musikalischen Intervallen, von denen jedem ein bestimmtes Zahlenverhältnis zukommt. Pythagoras demonstrierte diese bemerkenswerte Entsprechung von Ton und Zahl auf dem Monochord, einem schlichten Resonanzkasten mit einer Saite, deren schwingende Länge durch verschiebbare Stege reguliert werden kann. Zugleich aber bemerkt das Ohr mit hoher Präzision nicht nur die Reinheit solcher Schwingungsverhältnisse (Quinte und Oktave sind noch heute die Prüfsteine jedes Stimmvorgangs der Instrumente im Orchester), sondern nimmt auch genau ihre Qualitäten als »Bedeutungsdifferenzen« wahr. Denn bereits der Unterschied zwischen den Schwingungsverhältnissen von 4:5, der großen reinen Terz, und 3:4, ihrem Nachbarintervall der Quarte, trennt kognitiv in der menschlichen Empfindung zwei verschiedene emotionale Bedeutungswelten. Es handelt sich also bei allen Ordnungssystemen, den Skalen und Modi der abendländischen Musik, später bei ihren Dur-/Moll-Tonarten, genau wie in anderen Musikkulturen, immer auch um Räume emotionalen ›Sinns‹, um semantische Felder, deren anthropologische

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Zentrale Quellen für den heute unterschätzten Einfluss mesopotamischer und ägyptischen Weisheits- und Wissenstradition im antiken Griechenland sind Herodot (Historia, Buch II und II) und Isokrates (Busiris) sowie Platon (vor allem in den Dialogen Timaios und Kritikon sowie Nomoi, 2. und 7. Buch, wo originale ägyptische Maßtabellen übernommen werden). Dieser Einfluss reicht seit Homer bis in die Komödien- und Tragödiendichtungen und eine lange Tradition trägt diese Verbindung weiter, über Plutarch, Jamblichus (De mysteriis Aegyptiorum), den Hermetismus und die Gnosis, bis zum neuen Aufblühen in der italienischen Renaissance mit Ficino und Piccolo de la Mirandola und schließlich noch beim Musikgelehrten Athanasius Kirchner sowie bei Wilhelm von Schelling, vgl. B. Wilke, Vergangenheit als Norm in der platonischen Staatsphilosophie, Stuttgart 1997, S. 203–205; U. R. Jeck, Platonica Orientalia. Aufdeckung einer philosophischen Tradition, Frankfurt a. M. 2004; J. Friberg, Amazing Traces of a Babylonian Origin in Greek Mathematics, Gothenburg 2007; J. Høyrup u. P. Damerow (Hg.), Changing Views on Ancient Near Eastern Mathematics, Berlin 2001; G. J. Toomer, Hipparchus and Babylonian Astronomy, in: A Scientific Humanist. Studies in Memory of Abraham Sachs (Samuel Noah Kramer Fund, 9), Philadelphia 1988, S. 353–362. Zu Aufenthalten von Pythagoras, Solon und Platon in Ägypten, wie sie von Plutarch, Strabon, Herodot, Isokrates, Proklos (Platonis Timaeum Commentaria I, S. 76 2 D) sowie bei Klemens von Alexandria bis Cicero überliefert werden, vgl. J. A. Philip, Pythagoras and Early Pythagoreanism, Toronto 1966, S. 189–191; K. Nawratil, Platon in Ägypten, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 28 (1974), S. 598–603.

Dimension sich sinnlich über die psychophysische Resonanz des Empfindungsvermögens erschließt. Damit gewinnen alle scheinbar so ›abstrakten‹ Operationen des ordnenden oder rechnenden Intellekts immer auch Bedeutung als psychische Wirkung, als seelische ›Bedeutung‹. Zeugnis für diese anthropologische Dimension gibt eine Begründung musikalischer Ordnungen, die von sinnlich-emotionaler Wahrnehmung ausgeht. Sie ist mit Aristoteles und besonders Aristoxenos von Tarent, einem seiner Schüler, verbunden. Obwohl sie den pythagoreischen Bezug auf die mathematische Struktur der Tonsysteme nicht infrage stellt, ernennt sie das Gehör zum Schiedsrichter über das ›System‹. Aristoteles befindet, dass das »Ohr natürlicher Richter über Konsonanz und Dissonanz« sei. Und noch im 18. Jahrhundert bekennen sich bedeutende Musiker und Theoretiker wie Johann David Heinichen und Johann Mattheson zu dieser sensualistischen Musikauffassung: Mattheson nennt sich selbst sogar Aristoxenu juni (Aristoxenus der Jüngere) und wendet sich ausdrücklich gegen den Primat des ›Mathematischen‹ in der Musik.8 Dieser andere Aspekt eines Verständnisses von Musik manifestiert sich ›psychologisch‹ in allen emotionalen Wirkungen sowie in den ethischen Konnotationen. Ihre Zeugnisse reichen vom antiken Orpheus- und Apollo-Mythos und der griechischen Ethoslehre der Tonarten, von den Zuordnungen der indischen Ragas oder den arabischen Maquamat zu genau bestimmten emotionalen Ausdrucks­ bereichen bis zu den vielen ästhetischen Theorien des Empfindens, von Rousseau bis zur Tonpsychologie von Carl Stumpf oder der modernen Musikpsychologie (siehe Kapitel VIII). Damit wird schon am antiken Anfang unseres abendländischen Musikdenkens eine alternative Begründung zum Konzept der Pythagoras-Schule formuliert. Quod non est in sensu, non fuerit in intellectu heißt es später: »Was nicht in den Sinnen ist, kann nicht im Intellekt sein.« Als Disput zwischen den Kanonikern und den Harmonikern sind die beiden Auffassungen in die Musikgeschichte eingegangen. Aber unter anthropologischem Aspekt erweisen sie sich nicht als Gegensätze, sondern als Komplementaritäten. Darauf wird bei den ontologischen Apriori der Musik zurückzukommen sein (siehe im Kapitel XII). Der pythagoreisch-platonische Hintergrund zeigt, dass musikalische ›Bedeutung‹, wie sie im singulären ›Kunstwerk‹ mit seiner persönlichen ›Botschaft‹ aus individu-

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Aristoteles, De anima (Über die Seele) 426a 27-b2 und in Physik; Aristoxenus von Tarent, Elementa Harmonica (Elemente der Harmonik). Mattheson bemerkt in seinem Vollkommenen Capellmeister (1739): »Was dem Gehör gefällt ist gut, solange der Verstand nicht widerspricht. Was dem Gehör aber nicht ansteht, ist ausdrücklich und ohne Einwendung böse… Ohne Vernunft kann in der Musik wenig gutes sein; aber ohne Beifall der Ohren noch weniger.«

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ellem Ausdruckswillen Gestaltung findet, nicht ohne eine allgemeinere Organisation des ›Materialen‹ mit einem strukturfähigen ›System‹ denkbar ist. Diese Prämisse teilt die Musik mit der Sprache. Denn auch sie konstituiert sich aus einer Systemebene und einer metaphorischen Ebene (Ernesto Grassi). Erstere kommt mit einer ›materialen‹ Ordnung über Alphabet oder Zeichen, Morpheme und Grammatik zustande. In ihrer ontologischen Tiefenschicht wirkt zwar die mentale ›Energie‹ der Lautwerte, wie sie sich am unmittelbarsten in der Dichtung offenbart und wie sie jüdische Kabbalistik über Zahlenwerte dechiffriert oder wie sie in der biblischen Genesis als ›Wort‹ und ›Logos‹ metaphysisch verstanden wird. Aber als Bezeichnungssystem (adaequatio rei et intellectus) funktioniert sie auch als ›Oberfläche‹ eines Mitteilungssystems von Bedeutungen. Diese systemische Bindung schließt aber die metaphorische Verwendung in den Beziehungsgeflechten dichterischer, subjektiver und geschichtlicher Abwandlungen nicht aus, sondern ermöglicht sie erst. Noam Chomsky hat diesen Möglichkeitsräumen in seiner linguistischen Theorie mit den Begriffen ›Parametrisierung‹ und ›Performance‹ Rechnung getragen. Aber anders als in der Wortsprache bleibt die Musik an das ›Klangalphabet‹ der Töne und ihre Organisation sehr viel direkter gebunden, während sich die Sprache mit ihrer Begriffsebene und dem dortigen Transport von Information aus der Zeichen- und Klangebene weit zu lösen vermag. Deshalb ist die Systemebene in der Musik bereits wesentlich ›Sinnebene‹. Jede Änderung ihrer Ordnung schafft andere Bedeutung. Jede Wandlung weist auf neue Referenzen. Damit wird bereits die ›Systemebene‹ zu einem objektiv fassbaren Indikator struktureller Charakteristika diesseits aller subjektiven Ausgestaltungen. Ihre Graphen malen veränderte ›Bedeutungswerte‹ über rational fassbares ›Maßwerk‹ und gewinnen damit Erkenntnischarakter. Das zeigt sich, nach der Erfindung der Notenschrift, etwa an der Aufzeichnung von Musik. Ihre verschiedenen Stufen, Arten und Wandlungen entspringen nicht nur wechselnden Konventionen und Praktiken, sondern sind auch Abbild von Eigenschaften der ›Systemebene‹, spiegeln kompositorische Techniken und offenbaren damit viel vom jeweiligen musikalischen ›Denken‹. Die erste Ordnung der gregorianischen Melodien nach den Kirchenmodi und ihrer Skalenorganisation greift also auf eine lange Tradition zurück. So sind die Kirchentonarten für die Melodien zwar ein Konstrukt post factum, als Konzept aber ein a priori (Eric Werner).9 Das post factum erweist sich als einer jener Rationalisierungsprozesse, wie sie für die abendländische Musik so typisch sind. Zum a priori aber gehört das sinnlich über das Empfindungsvermögen erfahrbare ›Sinn9

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Vgl. E. Werner, The Sacred Bridge, London u. New York 1959, S. 373–406; ders., Die Musik im alten Israel, in: Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 1, S. 107 ff. Das System gründet letztlich aber nicht auf den Tonleitern, sondern auf der Struktur der Melodien. Immerhin erweisen sich drei Tonarten für alle modalen Systeme als gemeinsam, nämlich die Modi dorisch, phrygisch und lydisch (E. Werner, 1959, S. 405).

potenzial‹ dieser Musik: ihr emotionales Wirkungspotenzial. Deshalb war mit der Übernahme auch eine qualitative ›Bedeutung‹ verbunden. Das verweist schon in dieser frühen Stufe unserer Musikgeschichte auf einen anderen, bedeutsamen Hintergrund musikalischer Semantik. Diese ›Bedeutung‹ wurde nämlich weder willkürlich noch vom subjektiven ›Geschmack‹ bestimmt. Sie äußert sich vielmehr bereits für die antiken griechischen Vorlagen in einem als verbindlich empfundenen Zusammenhang. Bei Platon (Politeia) werden die Charakteristika einzelner Tonarten (tropoi) konkret mit bestimmten, den Planeten zugeordneten Tönen in einem rationalen kosmologischen Ordnungsmodell in Verbindung gebracht. Daraus ergeben sich Ethos und Wirkung der Tonarten: »Der Modus erhält seinen Ethos durch die Zahl und den Charakter der Planetentöne, die er umfasst« (Marius Schneider).10 Über den Ethos werden den einzelnen Tonarten verschiedene Auswirkungen auf Gemüt und Charakter des Menschen zugeschrieben. Dorisch wird als kriegerisch-männlich charakterisiert, lydisch als weiblich-weichlich und phrygisch als enthusiastisch. Das aber erfolgt ganz im Kontext mit einer allgemeineren ethischen Werteordnung, wie sie auch in der griechischen Kalokagathia, einer Hendiadys von kalos kai agathos, der Verbindung von schön und gut als höchste Tugend (arete) verstanden wird. Sie findet sich bereits bei den Vorsokratikern Heraklit und Empedokles; Platon diskutiert sie in Symposion und Philebos. Hier steht man vor einem Zusammenhang von hermeneutischem Gewicht und erkenntnistheoretischem Rang. Denn bezeichnend für dessen rationalen Charakter ist, dass Platon diese ethische Konkretisierung einer psychologischen Wirkung wiederum über eine mathematisch definierte Qualität vornimmt. Er fasst (im Timaios) ›Schön‹ und ›Gut‹ als einen über bestimmte Proportionen vermittelten Zusammenhang auf, nämlich über das Mischungsverhältnis in einer Vierelementenlehre. Dort wird über ›Reinheit‹ und ›Unreinheit‹ rational entschieden und damit, weil sich die Differenz als typische Oktavoperation erweist, eine Analogie zu Konsonanz und Dissonanz hergestellt. Als musikalische Ethoslehre war diese Verbindung mit der jüngeren Stoa, etwas vergröbert, nach Rom gelangt. Sie bleibt in Denken und Musiktheorie des Mittelalters von größter und anhaltender Wirksamkeit.

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Vgl. M. Schneider, Die musikalischen Grundlagen der Sphärenharmonie, in: Acta musicologica 32 (1960), S. 149–150, wo die tropoi in den altgriechischen Transpositionsskalen über ihre Herleitung aus den Planetentönen bei Platon auf eine astrologische Verbindung weisen, wie sie bereits im mesopotamisch-ägyptischen Wissensgut tradiert wird. Was die Wirkung betrifft, so ist, bewertet man Töne physikalisch unter dem Aspekt als ›Schwingung‹ qua ›Frequenz‹, ihre psychische Wirksamkeit auch aus moderner wissenschaftlicher Sicht verständlich. Vgl. auch O. J. Gombosi, Tonarten und Stimmungen der antiken Musik, Kopenhagen 1929.

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Schönheit als ›Glanz der Wahrheit‹ – Erkenntisratio und Seelenwissen In ihrer Blütezeit, der Scholastischen Philosophie, wird die Verbindung von ›Schön‹ und ›Gut‹ als integraler Bestandteil eines transzendenten Weltbilds mit der splendor veritis, dem ›Glanz des Wahren‹ zum splendor die, dem Glanz des Göttlichen. Ihre größten Gelehrten beschäftigen sich intensiv damit, von Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Wilhelm von Auvergne, Bonaventura, Robert Grosseteste bis PseudoDionysius Areopagita – aber auch später ist das Bewusstsein für diese ethischen Kategorien musikalischen ›Sinns‹ keineswegs verloren gegangen: Noch Joseph Haydn spricht von den »moralischen Charakteren« seiner Sinfonien und der große Dirigent Bruno Walter »von den moralischen Kräften der Musik«. Hier scheint ein ›Wissen‹ um ein seelisch-empfindungsmäßig Wirksames auf, das tiefere Begründungen hat. Denn da hinter den Attributen von consonantia und concordia immer das Prinzip von »Proportion als Kunstregel« steht (Umberto Eco), stellt sich ›Schönheit‹, wie bei Platon, als eine rational definierte ontologische Qualität dar. Auch die ›Schönheit‹ des Kosmos als eine rationale Ordnung von congruentia gründet deshalb auf metaphysischer Gewissheit über ein denkerisch Erfassbares und nicht nur auf bloßen ästhetischen Gefühlen irrationaler Bewunderung. Weil aber die Erschaffung des Kosmos als ein göttlicher Schöpfungsakt begriffen wird, der zufolge dem von Augustinus kommentierten Buch der Weisheit des Salomon, nach numerus, pondus und mensura vollzogen worden ist, eben jenen gleichen Attributen, die auch die Ontologie des ›Schönen‹ ausmachen, wird das Seiende als ›Schönes‹ zur Manifestation des bonum: bonum et ens convertuntur – die Vertauschbarkeit von Gutem und Schönen (Philipp der Kanzler). Als Unum, verum, bonum et pulchrum formuliert Bonaventura die konvertierbaren vier Bedingungen des Seienden. Damit erhält das Schöne in der scholastischen Metaphysik den Rang eines Transzendentalismus. Vereint mit den drei anderen Attributen des Seienden fällt ihm bei Bonaventura der ›Glanz der vereinten Transzendentalien‹ zu, mit denen schließlich sogar die Grenzen der in der scholastischen Kategorienlehre formulierten Klassen überschritten werden.11 Deutlich wird, dass hier eine Wesensbestimmung des ›Seienden‹ zugrunde liegt, die den damals vehement diskutierten manichäisch-gnostischen Dualismus von Licht und Finsternis, den unaufhörlichen Kampf von Gut und Böse zu höherer Synthese überschreitet. Denn ohne sie wäre auch das Hässliche als Nicht-Schönes und Dissonantes ebenso wie das Luziferisch-Böse Teil des real ›Seienden‹. Aber die scholastische Metaphysik richtet ihren Blick nicht auf die Realität der existenziellen 11

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Dargestellt in einer Schrift des Bonaventura von Bagnoregio von 1250 (Manuskript 51 c der Opera Omnia, von Bonaventura, 10. Bde., hg. v. Quaracchi); vgl. auch U. Eco, Kunst und Schönheit im Mittelalter, München u. Wien 1991, S. 44, der diese Zusammenhänge auch in den Kapiteln drei und vier, S. 34 u. 49, ausführlich erörtert.

Unvollkommenheit, sondern auf die Vollkommenheit einer anderen ›Wirklichkeit‹ von größerer, ewiger Qualität als letzte und höchste Referenz. Von da aus gewinnt auch die Bestimmung der Schönheit als strukturelle Ratio eines Vollkommenen einen objektiven Wert, der sich subjektiv in der seelisch-empfindungsmäßigen Wahrnehmung als Qualität in Kunst und Musik manifestiert. Frühe Belege für eine solche deutliche Wahrnehmung liefern nach den antiken ›ethischen‹ Konnotationen der Tongeschlechter auch die gregorianischen Melodien. Obwohl die Bezeichnungen für Skalen und Tonarten nach ihrer Transformation in das System der mittelalterlichen Musik nicht mehr denen der griechischen Musik entsprachen, bleibt das Wirkungspotenzial der Tonarten erhalten. Denn es verdankt sich der Struktur ihrer Intervallbeziehungen. Hinter den veränderten Bezeichnungen beschreibt die Verbindung von Tonarträumen und seelisch-emotionaler Wirkung nicht nur ein ›ästhetisches‹ Charakteristikum, sondern eine erfahrbare, also empirisch fassbare psychologische Realität. Eindrucksvoll beschreibt Augustinus, der große Kirchenvater, diese ›Empirie‹ mit der starken Wirkung der gregorianischen Melodien auf die frühchristliche Gemeinde: »Wieviel habe ich geweint bei den dir geweihten Hymnen und Cantica, da die Stimmen deiner süßklingenden Kirche mich so heftig bewegten …« (Confessiones, IX. 6–7). Wie sehr auch das ethische Bewusstsein für diese Ausdruckswerte präsent bleibt, zeigen allerhand andere Belege. Dazu gehört besonders die scharfe Polemik der Kirchenväter gegen die ›weltliche‹ Musik. Außerhalb der Kirche war sie nach wie vor reale Gegenwart und übermächtiger Gegenpol zur spirituellen Sammlung im gregorianischen Gesang. Mit heftiger Rhetorik wird »die Verwirrung durch die Stimmenvielfalt der Instrumente« gegeißelt, das »anzügliche Verhalten der Musiker im Theater«, die »unmoralischen Tänze auf Festen und Hochzeiten«, das »sittenlose Treiben der Harfenistinnen« auf den Banketten samt den heidnischen Kultritualen aus den antiken Traditionen. Im Unterschied dazu gewinnt die andere Ethik der liturgischen Musik über ihre emotionale Wirkung große Bedeutung für die mentale Festigung und Identität einer sich davon abgrenzenden Gemeinde. Die Synode von Aachen im Jahr 816 fordert ausdrücklich die »sinnliche und artifizielle Schönheit« des Kirchengesangs.

Kulturräume als politische Räume: »Europa wird katholisch getauft« Die Ordnung des gregorianischen Gesangs ist eines jener zielbewussten Rationalisierungsprozesse, wie er zum Wesen der abendländischen Musikgeschichte gehört. Aber er vollzieht sich nicht als autonomes Geschehen. Er ist zugleich Teil eines höchst politischen Konzepts. Es hängt eng mit der Durchsetzung einer neuen

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staatlichen Ordnung Europas zusammen: der Neubegründung des west-römischen Reiches und seinem kulturellen Aufbruch zu dem, was man als ›Karolingische Renaissance‹ bezeichnet. Mit dem Zerfall des römischen Imperiums verfiel auch die hellenistisch-antike Kulturwelt in die byzantinische, die islamisch-arabische und die römisch-fränkische. Das fränkische Haus beginnt die Reste im Westen zu vereinen. Kernstück seines politischen Konzepts war von Anfang an der Bund mit dem Papst. König Pippin III. (714–768) eint nicht nur Gallien, sondern verbündet sich 754 auch mit Papst Stephan II. Pippins Sohn, Karl der Große, vollendet diesen Entwurf. In über 50 Kriegen eint er Sachsen, Gallien und das ehemalige Langobardenreich zum fränkischen Großreich und begründet den Kirchenstaat für den Papst mit der Romagna und Campagna, Ravenna und der Südtoskana. Das war der Bund zwischen weltlicher und geistlicher Macht, zwischen Thron und Kirche. Zu seinem feierlichsten Symbol wird die Krönung Karls zum Kaiser am Weihnachtstag des Jahres 800 in Rom durch Papst Leo. »Europa wird katholisch getauft« (Eberhard Jäckel) – aber erst durch die Karolinger wird es überhaupt ›Europa‹. Der Papst salbt den Kaiser, aber der wird zugleich zum Pater Europae. Damit vollzieht sich die eigentliche Geburt unseres heutigen Europas, wenn es sich von einem mediokren ›Anhängsel der asiatischen Landmasse‹ zu eigener Identität aufmacht. Durchtränkt zwar vom Erbe der römisch-hellenistischen Mittelmeerantike, in der alle Götter und Dämonen, alle Weisheiten und Künste des Orients nachtönen, formiert es sich erstmals als eigene Macht, deren Weltentwürfe die nächsten eineinhalb Jahrtausende Weltgeschehen bestimmen werden. Es ist die Neubestimmung einer Welt, in die erstmals der germanisch-romanische Norden eintritt. Das Mittelmeer wird mit Rhein und Maas getauscht, Byzanz mit Aachen, der griechische Basileus mit dem fränkischen Kaiser. Die neue Universalmonarchie tritt nicht nur die Nachfolge des Imperium Romanum als weströmisches Kaiserreich an, sondern begründet jene ›Karolingische Reichsidee‹, die als Archetyp eines ›Kulturraumes‹ durch die Jahrhunderte in zahllosen Entwürfen, Utopien und Sehnsüchten weiterwirkt. Diese große Europa-Idee reicht noch bis Novalis (Die Christenheit oder Europa), Heinrich Heine, Rudolf Borchardt, Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig, Thomas Mann, Reinhold Schneider oder Manès Sperber und erhält als ›Europa der Vaterländer‹ noch ein Prädikat aus dem 21. Jahrhundert.12 Als ›Europäische Union‹ wird sie schließlich nach den Weltkriegskatastrophen zu einem neuen Aufbruch. Ihre ersten Entwürfe zu einer europäischen Verfassung (2005) berufen sich noch auf das religiöse und humanistische Erbe als Quelle der Menschenrechte, von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit: das ›Christliche Abendland‹ – nicht als bloß idealistische Identitätsbeschwörung, sondern als eine durch spirituelle Werte begründete Kultur. Inzwischen ist das erledigt,

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Vgl. eine Zusammenstellung: Hoffnung Europa. Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger. hg. v. P. M. Lützeler, Frankfurt a. M. 1994.

denn jetzt wird die Referenz zu den Errungenschaften der ›Aufklärung‹ formuliert: eine ›Erzählung‹, die dem Zeitgeist entspricht, der ein numinos orientiertes Menschenbild durch ein über seine Rationalität definiertes ersetzt, den ›Vernunftträger‹ als das animal rationale der Moderne.

Das karolingische Europa Der Bund von Papst und Kirche wird zwar bald zu einem dauernden abendländischen Konfliktpotenzial. Aber er ist damals viel mehr als nur politisches Kalkül. Er ist eine Signatur als Neubestimmung der abendländischen Welt nach geistigreligiösen Grundlagen als eigene Identität. Die Sekte aus dem östlichen Mittelmeerraum, die es zur spirituellen Erneuerungsbewegung der polytheistischen Antike brachte, wird als römische ›Katholische Kirche‹ jetzt zu einem Fundament des Abendlandes: Ciceros De re publica weicht Augustinus De civitate Dei, die säkulare Republik dem christlichen ›Gottesstaat‹. Was im heutigen EU-Brüssel von Euro und Superadministration mit EZB und gemeinsamem Markt höchstens noch verblasster Mythos ist, nämlich die karolingische Verbindung von spirituellen und politischen Werten, folgte in der damaligen Praxis einem klaren Konzept gemeinsamer Ratio. Denn die politische renovatio imperii ist mit der geistigen als Organisation von Wissenschaft, Kultur und Kunst in der ›Karolingischen Renaissance‹ untrennbar verbunden. Ihr wichtigstes Zentrum ist die Hofkapelle Karls des Großen in der Kaiserpfalz zu Aachen. Als Palastschule wird sie schnell zum geistigen Mittelpunkt des Reiches. Dort versammelt der Kaiser Gelehrte, Theologen, Dichter und Sänger, Architekten und Diplomaten, Verwaltungsbeamte, Bibliothekare und Buchmaler. Sie repräsentieren die intellektuelle Crème der Zeit: der Universalgelehrte Alkuin aus Britannien, der langobardische Geschichtsschreiber Paulus Diaconus, der Westgote Theodulf, ein distinguierter Kenner der Antike, Einhard von Fulda, Baumeister, Goldschmied, Geheimsekretär und Verfasser der Hofannalen. Ihr Programm repräsentierte nicht nur ein Konzentrat abendländischer Wissenschaft, sondern zielte auf Unterweisung und Bildung. Hier entsteht jenes System der sieben Artes, das Weisheit und Wissenschaft des Mittelalters zu einem rationalen Kosmos zusammenfasst, wo sich ›intellektueller‹ und ›heiliger Geist‹ noch nicht im Wege stehen, sondern ergänzen. Es umfasst als Disziplinen Grammatik, Rhetorik und Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie und wird in die Dreiheit der sprachlichen und die Vierheit der mathematischen Künste gegliedert. Als Grundkanon der Septem artes liberales war es die obligate Voraussetzung für alle intellektuelle Betätigung von ›freien Bürgern‹ des Reiches, das meint damals diejenigen, die nicht durch Dienst- und Vasallenverhältnisse gebunden waren.

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Die Musik und ihre Theorie hat in der Tradition von Platons ›Mathematika‹ ihren festen Ort als ars musica, eine Disziplin also, die zwischen der rationalen scientia und dem praktischen usus, der reinen Wissenschaft und dem traditionellen Tun angesiedelt ist – anders verstanden: zwischen ihrer mathematischen und ihrer emotiven Seite. Das hat noch wenig mit unserem modernen Begriff von ›Kunst‹ zu tun. Dass sie aber nicht dem Trivium der drei sprachlichen Artes Grammatik, Rhetorik und Dialektik zugeordnet wird, sondern dem Quadrivium der vier mathematischen, zeigt, dass sie auch mit unseren heutigen ›Geisteswissenschaften‹ oder gar den Cultural studies noch wenig zu tun hat: ihr ›geistiger Ort‹ ist bei Maß und Zahl. Die wichtigsten Instrumente der neuen Ordnung sind die Vereinheitlichung von Recht, Verwaltung, Sprache, Schrift und kirchlicher Organisation, ihre wichtigsten Orte die Klöster und Domschulen. Rechtliche Satzungen, die Kapitularien, banden alle freien Reichsangehörigen an den Kaiser, Latein wurde Kanzleisprache, die karolingische Minuskel zur Standardschrift und die neue monastische Ordnung verpflichtete die fränkische Kirche politisch und kulturell. Maßgeblicher Bestandteil dieses Instrumentariums aber waren Liturgie und gregorianischer Gesang. Seine Kanonisierung, Standardisierung und Verbreitung über die Klöster und Domschulen, stand im Dienste der einheitlichen Reichsidee und aller höheren Bildung. Ihre Vorlagen aber kamen aus Rom. Bereits Pippin II. ordnet im Jahre 754 den Ersatz der in Gallien üblichen Gesänge, den cantus gallicanus durch die römischen, die cantilena romana an. Im Jahr 789 bestimmt Karl der Große in einem grundsätzlichen Erlass (Admonitio generalis) die Gründung von Schulen und die Aufgaben der Kleriker und Mönche. Danach mussten sie die römische Liturgie, die Psalmodie, den Kirchengesang sowie Kalenderund Grammatiklehre beherrschen. Der Bischof von Metz hatte schon im Jahr 754 die römische Liturgie übernommen. Die dortige Sängerschule (Schola Cantorum Mettensis) war so ausgezeichnet, dass sie von Kaiser Karl zur Lehrstätte des römischen Gesangs für ganz Frankreich bestimmt wurde. Fränkische Mönche aus Lorsch, Murbach, St. Gallen und Weißenburg stellten die liturgischen Regeln der stadtrömischen Klöster als neue Norm für die Reichklöster zusammen. Und ein Verzeichnis der Messgesänge, das Tonar aus dem Kloster Saint-Riquier in Centula (bei Abbeville), entstanden kurz vor 800, ist der älteste französische Beleg für die Verwendung der acht Kirchentonarten bei den gregorianischen Gesängen. In den Klosterschulen wurde die Musik aber über den usus hinaus zu einer Bildungsidee von grundsätzlicher Bedeutung, ähnlich wie lange in der islamischen Welt der Koran. An den Kirchengesängen wurden die Grundlagen der lateinischen Sprache erlernt (so, wie am Koran die des Arabischen), aber gleichzeitig elementare Gesangsausbildung betrieben. Am Exempel des Choralgesangs wurde in die Musiklehre eingeführt; die Psalmverse und die didaktischen Verstraktate wurden zum Medium des Gedächtnistrainings durch Auswendiglernen. Mit dem gesangstechnisch immer anspruchsvolleren Repertoire wurde schließlich die Ausbildung für die Karriere eines Musikertypus betrieben, der bis ins 17. Jahrhundert der Prototyp

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des ›Musikers‹ schlechthin blieb: der Sänger. Er erreichte eine ähnlich hohe gesellschaftliche Stellung wie im spätantiken Rom und war an Hofkapellen und Kathedralen so begehrt, dass er nicht viel anders gehandelt wurde wie heutige Sportstars. So wurde ein kenntnisreich gefügter Kanon von Musik zu einer festen Instanz ›sinnlicher‹ Sinnerfahrung und die ars musica zum Medium von Bildung, Wissen und Erkenntnis. Freilich war die Vereinheitlichung und Durchsetzung des gregorianischen Repertoires ein langer und schwieriger Prozess. Die vielerlei Eigenheiten lokaler Aufführungstraditionen mit mündlichen und improvisatorischen Bestandteilen variierten die römischen Vorlagen stark. Dabei spielten natürliche Mentalitätsunterschiede nicht weniger eine Rolle wie beharrliche Widerstände. Die Klage, dass die dulcis modulatio, die »Süße der römischen Melodien« von den »barbarischen Säufergurgeln« der Franken verdorben worden sei (wie noch 875 der Mönch Johannes Diaconus aus dem Kloster Montecassino bissig bemerkt), lässt das Konfliktpotenzial ahnen. Das lange Überleben regionaler Choraldialekte in besonderen, von der Kirche akzeptierten Traditionen zeigt schließlich das Ausmaß der notwendigen Kompromisse. Die altrömische, viel freiere Fassung der Melodien scheint sich in Rom noch bis ins 13. Jahrhundert gehalten zu haben, die ambrosianische Fassung überdauerte in Mailand, die mozarabische in Spanien oder die beneventanische im Herzogtum Benevent. In der Kathedrale von Salisbury entwickelte sich sogar noch im 13. Jahrhundert eine eigene Tradition mit dem sarum use. Dennoch war der Prozess der Standardisierung des liturgischen Gesangs am Ende des 9. Jahrhunderts im Wesentlichen abgeschlossen. Der ›Römische Gesang‹, am Anfang ein lokales, stadtrömisches Phänomen, war zu einer musikalischen lingua franca des kulturellen Westeuropa geworden. Aus der vielstimmigen antiken Buntheit paganer semantischer Ambivalenz war, zentriert um den Kern der Liturgie, getragen von antiker Prosa, sprachgezeugtem Melos, rationaler Ordnung und politischem Willen eine Grundschicht unserer abendländischen Musikkultur geworden, die sich als Sinnträger über 2000 Jahre Präsenz und Strahlkraft bewahrt hat.

Der lange Echoraum des Chorals Selbstverständliche Gegenwart bleibt der Choral in der liturgischen Praxis der Kirche bis heute. Er machte zwar viele Reformen und Redaktionen in den offiziellen kirchlichen Editionen durch und erlebte die Kämpfe um eine ›korrekte‹ Aufführungspraxis von den Schulen des Cäcilianismus bis zu denen der Benediktiner von Solesmes und Beuron. Im 16. Jahrhundert inspiriert er sogar die Entstehung des

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lutherischen Kirchenlieds als neue Erscheinung aus altem Geist.13 Aber durch alle Wandlungen bleibt er nicht nur »Maßstab für die katholische Kirchenmusik« (Motuproprio von Papst Pius X., 1903), sondern durchdringt die ganze abendländische Musik mit osmotischer Macht. »Das einstimmige Wunder« der gregorianischen Melodien (so noch Paul Hindemith) wird zu einem schier unerschöpflichen Fundus, aus dem sich das Komponieren immer wieder neu bedient: als Vorbild zu unzähligen neu erfundenen Melodien, als Referenz für musikalische Satzkonzepte, als Bauteil, Thema, Zitat, Anspielung und schließlich noch als Reminiszenz archaischer Würde oder assoziativer Beschwörung einer Sphäre von Feierlichkeit und Transzendenz in der Musik der Spätromantik. In der mehrstimmigen Musik des Mittelalters ist der gregorianische Choral allgegenwärtig. Abgesehen von der Messfeier, hat er auch im weltlichen Lied seinen verborgenen Platz. Weitverbreitete, deftige Trinklieder der Troubadour- und Trouvère-Zeit des 12. und 13. Jahrhunderts verwenden zum Beispiel die Melodie der Weihnachtssequenz Laetabundus. Das Palästinalied von Walther von der Vogelweide lehnt sich an die Hymnenmelodie Te Joseph celebrent an. Das entspricht der selbstverständlichen Durchdringung von ›geistlich‹ und ›weltlich‹, wie sie in einem einheitlichen Musikbegriff noch bis in die Bach-Zeit Realität bleibt. Das Mittelalter bringt aber auch eine der ersten großen Metamorphosen des Chorals. Mit dem Entstehen der Mehrstimmigkeit verändern sich Erscheinungsbild und Rolle der liturgischen Melodie. Sie wird zu einer ›Melodie‹ unter vielen, zu einer ›Stimme‹ unter anderen. Im Gefüge der zwei-, später drei-, vier- und fünfstimmigen Motetten und Messkompositionen verliert sie zwar ihren alten Rang als Einzelwesen – aber gewinnt dafür den neuen eines prägenden Zentrums der Komposition. Oft fungiert sie als tragende Stimme, Ténor genannt, und bestimmt von da her wie eine konstruktive Achse als Gerüststimme die Komposition. Häufig prägt sie aber auch als musikalisches Motto, als Devise, die musikalische Physio­gnomie der Stücke. Eine andere Metamorphose ereignet sich mit der protestantischen Reformation. War der Begriff ›Choral‹ bis Luther eine Sammelbezeichnung für die einstimmigen gregorianischen Gesänge der katholischen Kirche, wird er jetzt auch zur Bezeichnung für die neuen Kirchenlieder der evangelischen Kirche. Sie entstehen oft aus der Verbindung von gregorianischen Melodien mit überlieferten volkssprachlichen Strophenliedern oder als deutsche Übersetzungen von lateinischen Hymnen, Sequenzen oder Liedern. In dulci jubilo ist ein bekanntes Beispiel dafür. Aber auch Neuschöpfungen aus protestantischem Geist mit deutschen Texten kommen hinzu. Das lutherische ›Urgesangbuch‹ erscheint 1524 in Erfurt mit 26 Liedern. Der Vorgang erinnert an die Neudichtungen der Hymnen nach dem Vorbild der Psal-

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Für einen Überblick über Entwicklung und Metamorphosen vgl. Geschichte der katholischen Kirchenmusik, hg. v. K. G. Fellerer, 2 Bde., Kassel, Basel u.a. 1976.

men in der frühchristlichen Kirche. Bekannte Kirchenlieder wie Ein feste Burg ist unser Gott, Nun freut euch liebe Christen g’mein oder Christ lag in Todesbanden sind seine Früchte.14 Die Verwandlung des ›lateinischen‹ Geistes der Gregorianik in den neuen lutherisch-›deutschen‹ bringt eine fast ebenso reiche Formenvielfalt hervor, wie die mittelalterliche Mehrstimmigkeit. Das Grundmuster des einfachen und volksnahen, gleichwohl in sich vollkommenen Gemeindegesangs repräsentiert der schlichte, vierstimmige Choralsatz. Mit seiner leicht singbaren Melodie in der Oberstimme und dem kompakten, homophonen Blocksatz, Note gegen Note, tritt er unter der Bezeichnung Kantionalsatz15 seinen Weg durch die Musikgeschichte als ein charakteristischer und stabiler Typus an. Mit der Erneuerung aus dem Geiste der bodenständigen Volksweise und der Befreiung von der kompliziert-wuchernden vokalen Mehrstimmigkeit repräsentiert er ein authentisches Stück musikalischer Reformation. Mit seiner emotionalen Kraft aber stiftet er schließlich der lutherischen Gemeinde jene Identifikation mit dem ›deutschen‹ Gesang, wie sie die Spätantike im Lateinischen fand. Seine komplizierteren Formen hingegen verarbeiten und paraphrasieren den Choral ähnlich wie in der lateinischen Motette und Messe. Als cantus firmus wird er zur thematischen Vorlage, zum prägenden Motto oder zu einer Art ›Bauteil‹ und Strukturstimme, um die sich, gewissermaßen wie um einen festen Ast, das Rankenwerk einer ganzen Komposition entfaltet. Choralbearbeitung ist der Schlüsselbegriff für die reiche Fülle von Formen in der Vokal- und Instrumentalmusik des 17. und 18. Jahrhunderts, in denen seine Melodien offen oder verborgen als gestaltende Kraft wirken. Ein Höhepunkt ist Johann Sebastian Bach. Mit unerschöpflicher Phantasie, virtuoser Leidenschaft und einem assoziativem Reichtum, der seinesgleichen sucht, erschafft er einen Kosmos an Formen. Seine Spannweite reicht vom einfachen, vierstimmigen Kantionalsatz in seinen Kantaten, der als ›Bach-Choral‹ mit vollkommener Satzkunst über seine charakteristische Affekt-›Poesie‹ hinaus fast zum Prototyp der Satzgattung geworden ist, über die Paraphrasierung in den großen Vokalwerken von den Choralkantaten bis zu den Passionen (wo etwa in der Matthäus-Passion der riesige Schlusschor des ersten Teils O Mensch, bewein dein Sünde groß mit Choral überschrieben ist, also eigentlich eine große Choralpartita darstellt), bis zu den komplexen Formen in seinem Orgel-Œuvre. Ist der Choral zwischen den affektbeschwörenden Arien, den handlungstreibenden Rezitativen und den dramatischen Chorsätzen eine kontemplative ›Entschleunigung‹ im bewegten Geschehensablauf und verströmt so jene tiefe Zuversicht, die aus lapi14

Zur detaillierten Darstellung, vgl. F. Blume, Geschichte der evangelischen Kirchenmusik, Kassel 1965.

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Erste ausgeprägte Beispiele dieses Satztyps finden sich bei Lucas Osiander: Fünfftzig geistliche Lieder und Psalmen, auff Contra punctsweise …also gesetzt, das ein gantze Christliche Gemein durchauß mitsingen kan, Nürnberg 1586.

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darer Schlichtheit fließt, so wird er in fast 200 Orgelwerken als cantus firmus zum Auslöser der unglaublichsten Kombinations- und Variationskünste, zum Akteur in kühnen Verbindungen und zum Anlass allerhand gewagter formaler Experimente (exemplarisch vorgeführt in der Clavier-Übung III. Theil). Zwar ist Bachs Choralbearbeitungskunst eine Summe und ein Abschluss. Aber aufgezehrt ist die Lebenskraft des Chorals danach noch längst nicht. Zunächst tritt er im musikalischen Wandel unmittelbar nach Bach in den Hintergrund. Die ›Wiener Klassiker‹ greifen kaum auf ihn zurück, denn mit dem Versinken der alten Kontrapunktkünste wird auch der Choral zur prima pratica (Claudio Monteverdi) einer ›alten Musik‹. Aber gerade deswegen bemühen ihn Joseph Haydn und Mozart symbolträchtig, der eine etwa in seinem Chorale St. Antoni, der andere ihn in seinem tiefgründigen, weisheitsdurchtränkten Singspiel-Märchen der Zauberflöte. Mozart zitiert ihn dort an einer entscheidenden Stelle: Ach Gott vom Himmel sieh darein als ›Gesang der Geharnischten‹. Auch der späte Beethoven macht sich die besondere Ausdruckssphäre des Chorals zu eigen. In seinem letzten Streichquartett a-Moll, op. 132, taucht er als Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit auf. Dort demonstriert die Verwendung einer der alten Kirchentonarten, dem Lydischen (nachgebildet im späteren F-Dur), ein immer noch lebendiges Empfinden für die Aura dieser Tonart. Weil aber dieses Empfinden nicht mehr aus einer lebendigen Tradition schöpft, wird es mehr und mehr zu einem fernen, eher assoziativ beschworenen Residuum. Damit vollzieht sich die nächste Metamorphose des Chorals. Er dringt in Sinfonie, Oper und Konzert ein und wird dort zur feierlichen Beschwörung religiöser Stimmungen oder noch ahnungsvoll erinnerter Spiritualität, zur Evokation einer archaischen Klangform oder einfach zur Atempause im turbulenten Geschehen thematischer Prozesse, zum historischen Zitat, zur beziehungsvollen Chiffre und schließlich sogar zur Parodie. Ostentativ bekennt sich Felix Mendelssohn Bartholdy im Chorfinale seiner fünften Sinfonie, der Reformationssinfonie, zum Choral als machtvollem Symbol. Die triumphale Orchestrierung des Luther-Chorals Ein feste Burg ist unser Gott ist ein klingendes Denkmal. Mendelssohn errichtet es der ›Augsburger Konfession‹ als Jubiläumsfeier zum 300. Jahrestag. Mit seinen beiden Oratorien Paulus und Elias, in denen auch Choräle eine wichtige Rolle spielen, erweist sich Mendelssohn aber nicht nur als Enkelschüler Bachs, sondern auch als echter Zeitgenosse des Historismus. Seine Wiederaufführung von Bachs Matthäus-Passion, 1829, ist in der Musikgeschichtsschreibung als eine Art ›offizieller‹ Gründungsakt der Bach-Renaissance vermerkt und markiert in der bürgerlichen Öffentlichkeit den Beginn der Rückbesinnung auf die musikalische Vergangenheit (siehe Kapitel IX). Die protestantische Bekenntnishymne Ein feste Burg ist unser Gott inspiriert auch Giacomo Meyerbeer. In seiner Oper Die Hugenotten bleibt es nicht beim Choral als religiösem Symbol, er wird vielmehr zum dramaturgischen Mittel, das die hugenottische Welt charakterisiert. Franz Liszt, das Paraphrasierungs-Genie

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schlechthin, schreibt zwar eine Missa Choralis (1865), aber experimentiert lieber mit dem Choral als Versatzstück zwischen archaisch-getöntem Religioso und futuristischer Harmonik wie etwa mit der alten Requiemsequenz Dies irae in seinem Totentanz oder ähnlich wie Hector Berlioz in seiner Sinfonie fantastique. Hindemith verwendet die Sequenz Lauda sion in seiner Oper Mathis der Maler, Kurt Weill lässt im letzten Satz der Dreigroschenoper dem Choral noch in der Parodie seine alte Funktion von moralischer Sentenz und dramaturgischer Zusammenfassung. Sogar Alban Berg bemüht noch im Violinkonzert (Dem Andenken eines Engels) und im Wozzeck eine Erinnerung an den alten Topos im Modus vielfacher Gebrochenheit. Wenn Arthur Honegger sein Opus Pacific 231 einen »großen figurierten Choral« nennt, dann borgt er sich ihn aber nur noch rhetorisch. Ferruccio Busoni hingegen huldigt ihm klavieristisch beständig mit seinen Bach-Bearbeitungen, und Max Reger überträgt ihm im Klangidiom des spätromantischen Orchesters mit seinen riesigen Choralphantasien auf die sinfonisch disponierte Orgel. Ähnlich verfährt César Frank im Medium der französischen Orgelklangwelt, während Heinrich Kaminski ihn in seinem Chorwerk Psalm 130 Aus der Tiefe rufe ich, Herr zu dir mit schöpferischer Genialität in moderne Vokalkunst verwandelt. Schließlich taugt er auch noch zu einer Art Charakterstück wie in Strawinskys Geschichte vom Soldaten – oder als pädagogische Stilübung eines Satztyps wie in Béla Bartóks Klavierschule Mikrokosmos (Band 1). Wenn allerdings Richard Wagner im Pilgerchor seines Tannhäuser oder Friedrich von Flotow in seiner Oper Alessandro Stradella mit der Marienhymne oder Gustav Mahler im vierten Satz seiner zweiten Sinfonie (überschrieben ›choralartig‹) keine authentische Choralmelodie mehr verwenden, sondern mit einem neu komponierten, quasi choralartigen Satz nur eine historistische Reminiszenz beschwören, dann ist der Weg zum »Imaginären Choral« (Laurenz Lütteken) beschritten. Ein Satztyp wird gewissermaßen zum Symbol eines ganz bestimmten Ausdrucks, zu einer Idee, die auch in einer freien instrumentalen Nachbildung noch die Aura des alten Sinns zu bannen sucht. Als solche wird er etwa in der ersten Sinfonie von Johannes Brahms (4. Satz) oder in der zweiten und fünften Sinfonie von Anton Bruckner zum Ausdruck einer besonderen Bedeutungssphäre und zum Ruhepunkt in turbulenter sinfonischer, ›thematischer Arbeit‹. Was dort nur noch schattenhaft wie ein assoziativer Reflex erscheint, entfaltet aber Wirkung als eine Sinngestalt, die auch nach 2000 Jahren noch ›verstanden‹ wird, weil in ihr eine tiefe Ausdrucksdimension der abendländischen Musik ein für alle Mal eingefangen ist. Damit erweist sich diese archaische, historische Tiefenschicht als eine musikalische Bedeutungsschicht, die ihre Formung dem spirituellen Geist der ersten Epoche unserer Musikkultur verdankt.

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III

Das ›finstere‹ Mittelalter oder: der Anfang des componere als abendländische Musikratio

Die Bezeichnung ›Mittelalter‹ ist als Epochenmarke so fest etabliert, dass kaum jemand an ihre seltsame Namensgebung denkt. Denn tatsächlich ist sie nichts als ein verlegenes Etikett zwischen zwei besser beleumundeten Zeiten: der Antike und ihrer Neubeschwörung in der Renaissance. Die fast tausend Jahre dazwischen als ein diffuses ›Alter in der Mitte‹ zu bezeichnen, war vor allem eine Idee der Humanisten des 16. Jahrhunderts. Zwar hatte schon Petrarca (1304–1374) von Media Ætas in durchaus kritischer Abgrenzung von einer zurückliegenden ›Epoche der Finsternis‹ gegenüber der schönen Antike und in der Hoffnung auf hellere Zeiten gesprochen, aber erst der päpstliche Bibliothekar und Humanist Andrea Bussi (1417–1475) verwandte den Begriff ›Mittelalter‹ zur chronologischen Periodisierung. Schon sein Anfang und Ende sind so verschwommen wie seine Identität: lässt man es mit Kaiser Konstantin als Gründungsfigur christlicher Staatsreligion für das Römische Reich beginnen (313), mit der Völkerwanderung (375), dem Ende des Weströmischen Reiches (476) als endgültiger Bruch mit der Antike oder erst mit der Kaiserkrönung von Karl dem Großen (800)? Und wo macht es dem neuen Lebensgefühl der italienischen Rinascita Platz: nach der türkischen Eroberung Konstantinopels (1453), ab der Entdeckung Amerikas (1492), erst mit dem Thesenanschlag Luthers (1517) oder schon bei Dante, Petrarca, Boccaccio und Giotto? Oder sollte man gar von einem ›langem Mittelalter‹ sprechen, das von der Spätantike bis etwa 1750 dauern könnte und in dem die Renaissance nur eine ›Unterperiode‹ als letzte verschiedener mittelalterlicher ›Renaissancen‹ wäre?1 Als stabile Größe gilt nur sein übler Ruf. Mit dem Prädikat des ›finsteren Mittelalters‹ ist es bestens eingeführt. Und mit grausamen Gemetzeln, geharnischten Rittern, Burgverliesen, Folter, Pest und Hexenverbrennung wird es als Metapher für Barbarei und schauriges Vorgestern gehandelt. Unter dem englischen Kürzel gothic gruselt sogar noch dem Digitalzeitalter.

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Die Periodisierung mit einem »langen Mittelalter« bis ins 18. Jahrhundert unter Verzicht auf Epochen wie Renaissance und Früher Neuzeit und damit als unmittelbarer Nachbar der Moderne schlägt Jacques Le Goff vor, (Geschichte ohne Epochen? Ein Essay, Darmstadt 2016). Neuere Geschichtstheorien hingegen zielen unter Einbeziehung einer globalen Perspektive (wie bei den Historikern Garth Fowden und François-Xavier Fauvelle) auf eine Abschaffung des Begriffs ›Mittelalter‹ und plädieren für andere Epochengrenzen, etwa einer für die Zeit um 1050 und der nächsten um 1750, mit einer ›globalen Frühneuzeit‹, vgl. T. Bauer, Warum es kein islamisches Mittelalter gab. Das Erbe der Antike und der Orient, München 2018.

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Wer aber spricht noch von den Grundsteinlegungen unseres nachantiken Europa? Von den Klostergründungen als Patronate für Lesen, Schreiben und Rechnen, den politischen und kulturellen Aufbrüchen zu einem europäischen Geistesraum in der Karolingischen und Ottonischen Renaissance, die den Beginn europäischer Intellektualität und Wissenschaft markieren mit den Universitätsgründungen von Salerno (1100) bis Krakau (1364) und ihren epochalen Leuchtfeuern Paris und Oxford? Von den Synthesen abendländischen Denkens zwischen Neuem Testament, magischem Neuplatonismus und Aristoteles-Entdeckung, der Dialektik zwischen Scholastik und Mystik also zwischen Thomas von Aquin, Albertus Magnus, Duns Scotus, Wilhelm von Ockham und einem Meister Eckhart, Johannes Tauler, Heinrich Seuse oder Ruysbroeck? Und wer staunt noch über die gewaltigen Bauleistungen der gotischen Kathedralen vor unseren neuen babylonischen Landmarken in Shanghai (World Financial Center, 492 m) oder Dubai (Burj-Tower, 512 m)? Noch mehr aus der Erinnerung gefallen scheint allerdings eine andere Leistung von ›Baukunst‹. Sie operiert zwar weder mit Steinquadern noch mit Marmorblöcken, bestimmt aber unsere Gegenwart weit mehr als Karl der Große oder Thomas von Aquin: die Musik. Man hat sie nicht ohne Grund mit dem Prädikat einer ›klingenden Architektur‹ belegt oder in der Analogie zur Architektur als ›gefrorene Musik‹ (Arthur Schopenhauer) bezeichnet, denn dass sie im ›Bau‹ von Formen, Proportionen und den Strukturen eines musikalischen Tonsatzes den Prinzipien einer rationalen Baukunst folgt, wird nirgends deutlicher als an ihren Anfängen. Es ist eine Form von Baukunst, die aus Tönen und Zusammenklängen das ›Gebäude‹ eines musikalischen Werkes erbaut. Sein ›Maßwerk‹ aber aus intellektueller Strukturratio und sinnlicher Ausdrucksgestaltung verdanken wir in seinen Grundlagen dem Mittelalter. Dessen Organisationskonzepte begründen eine Musikkultur, die heute als Western Art Music die Matrix eines allgegenwärtigen musikalischen Weltidioms in den wichtigsten Genres liefert. Mit dem Vielzweckjubilus aus Beethovens Neunter, dem Klangrausch-Hit von Wagners Götterdämmerung, einer Hollywood-Filmmusik aus Bachs Goldbergvariationen oder Verdis Triumphmarsch aus Aida haben sich ihre populären Exemplare verbreitet. Mit ihrer Dur-Moll-Tonalität, den Kadenzwendungen und Taktmetren dringt sie nicht nur tief in die Idiome traditioneller Musik­ ethnien ein, sondern funktioniert auch als harmonisches Muster globaler Popmusik und für die Programme neuer Computer- und KI-generierten Faksimiles.

Die Entstehung der Mehrstimmigkeit Wir wissen kaum Genaues über den usus, die alltägliche U-Musik des frühen Mittelalters. Aber wir wissen ziemlich genau, auf welchem Grundriss die musikalische Baukunst unserer E-Musikkultur entstand. ›Blaupause‹ und Keimschicht ist der gregorianische Choral.

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Seine ersten Keimlinge zeigen sich in der Karolingerzeit. Es sind die Klöster des karolingischen Europa, die zu den Werkstätten eines Neuen von weitreichender Konsequenz werden. Zwischen der Routine des ›geistlichen Alltags‹ mit Messe und Stundengebet und den Extravaganzen feierlicher Festtags- oder lokaler Heiligenliturgie entwickeln sich allerhand neue Umgangsformen mit dem römischen Gesang. Aus den Klöstern in Metz, St. Gallen oder der Reichenau ist uns eine Praxis überliefert, in der einige Formen des Chorals ein intensives Eigenleben entfalten. Zum Einfallstor werden Teile der Messe, besonders aber das monastische Stundengebet, das liturgisch weniger streng festgelegt ist. Neue Textpassagen werden eingefügt, die mit ihren Erweiterungen und Einschüben die Vorlagen paraphrasieren, kommentieren oder ergänzen. Manchmal führen sie auf einen Bezugstext hin, wie häufig im Introitus zu Beginn des Messpropriums, oft ergänzen sie ihn poetisch oder kommentieren ihn wie im Kyrie des Messordinariums oder im Entlassungsruf des Benedicamus domino. Gelegentlich übernehmen sie sogar eine Art dramaturgische Funktion im Ritus, wenn sie die Einsätze der Verswiederholungen markieren (wie im Offertorium) oder dem Zelebranten signalisieren, das Gloria zu intonieren. Das Gleiche geschieht musikalisch. Die Melodie erobert sich ihren eigenen, sprachlosen Entfaltungsraum gegenüber dem Wort. Die Keimzelle dieser Entwicklung ist das Melisma, eine musikalische Ausweitung, die vorhandene Töne weiterspinnt, ohne zunächst den Vers zu erweitern: der Text hält inne, die Musik geht weiter. Ihre ersten Formen tauchen am Schluss des Alleluja-Rufes der Messe auf. Dort wird die Ausspinnung des Jubilus mit langen melodischen Girlanden über den Vokalen als sequentia bezeichnet. Aus diesem Gebilde eines freiströmenden melodischen Jubels, zuerst durchaus improvisatorisch, entsteht schließlich sogar durch eine neue Textierung eine eigene Gattung: die Sequenz. Sie bringt es bis zum 14. Jahrhundert auf einen opulenten Bestand von an die 5000 Exemplaren. Einige davon gehören bis heute zum Repertoire von Liturgie und Musikgeschichte. Die bekanntesten davon sind die zum Osterfest Victimae paschali laudes und zum Pfingstfest Veni sancte spiritus. Sie inspirierte noch Goethe zu einer Übersetzung und Gustav Mahler zur großen sinfonischen Paraphrase. Nicht anders das herbe Dies irae der Totenmesse, das bis Mozart, Verdi und Berlioz zur Dramatik ihrer Requiem-Musik gehört. Weitere Gelegenheit zu eigenständiger Entfaltung findet das Melos später besonders in den Sologesängen zwischen den Lesungen der Messe und in der Matutin, dem nächtlichen Stundengebet der Mönche. Die neue Qualität des Musikalischen findet bald Anerkennung. Ein gelehrter Zeitgenosse aus dem Jahr 823, der fränkische Mönch Amalar von Metz bemerkt, dass sich die Musik über das bloße »Aussprechen der Worte« erhebe wie »ein den Worten nachsinnendes Verweilen.« Als Quintessenz erfasst es Augustinus ganz plastisch, wenn er es ›pneumatisches Musizieren‹ nennt und er fährt fort: »Was heißt jubilierend singen? Erkennen, daß man mit Worten nicht darlegen kann, was mit

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dem Herzen gesungen wird … so daß sich das Herz ohne Worte freue und die unermessliche Weite der Freude keine Begrenzung durch Silben habe.« Der musikalische Eigenwert dieser melodischen Gebilde zeigt sich an ihrem weiteren historischen Schicksal. Denn sie werden oft aus ihrem ursprünglichen Bezugsgesang gelöst und als ›Wandermelismen‹ in andere liturgische Zusammenhänge eingefügt. Dazu kommt, dass sie als gewissermaßen eigenständige Melodien nachträglich, wie im Alleluja, mit neuen Textdichtungen versehen werden, den Prosulae. Damit wird die Musik zum Einfallstor neuer, poetischer Texte in den Ritus. Gleichzeitig werden aber bestimmte melodische Modelle auch für wechselnde Texte und Feste verwendet und entwickeln sich so zur weitverbreiteten Matrix immer neuer Formulierungen. Sogar eine frühe Form des ›Musikdramas‹ entzündet sich daran. Eine englische Quelle berichtet nämlich von einer szenischen Aufführung der Dialoge aus dem Introitus einer Ostermesse des 10. Jahrhunderts. Dort werden die Frage-und-Antwortspiele des Quem quaeritis in sepulchro im Osternachtgottesdienst mit verteilten Rollen und sogar in Kostümen samt Requisiten ›dramatisiert‹. So erweist sich das im Choral akkumulierte Potenzial als Stimulans vielerlei phantasievoller aber recht methodischer Prozesse weiterdrängender musikalischer Entwicklung. Ob man die Fülle der Formen und Verfahren bereits als eine archaische Form der ›Choralbearbeitung‹ versteht oder als ›Neugregorianik‹ (Bruno Stäblein), als ›Vielfalt der Überlieferung des Gleichen‹ (Wulf Arlt) oder, moderner, als erfinderische Collagen – immer ist es eine schöpferische Weiterarbeit an den gregorianischen Melodien, in der sich eine vegetativ wuchernde Lust am Ausspinnen mit hintergründigem Assoziationswissen zur vitalen Dynamik einer kulturellen Aufbruchszeit verbinden. Der Schlüsselbegriff für die Summe dieser Vorgänge entstammt der antiken Rhetorik. Dort bezeichnet Quintilian die Veränderung eines Wortes oder einer Rede von der ›eigentlichen‹ in eine ›uneigentliche‹, sie umschreibende Ausdrucksweise, als ›Tropus‹. Danach heißt das Verfahren in der Musikwissenschaft Tropierung.2

Der ›Bau‹ beginnt Diese ›tropierten‹ Formen des Chorals, besonders die neutextierten Melismen, werden zum Geburtshelfer des nächsten Kapitels abendländischer Musikgeschichte – eines ihrer wichtigsten. Denn aus ihnen erwächst die folgenreichste Neuerung im Kräftefeld dieser karolingischen Dynamik: die Verwandlung des schlichten, einstimmigen Melos in seine Vervielfachung zum ›Klang‹. Es ist der methodische Schritt von der ›Horizontalen‹ einer Melodielinie in die ›Vertikale‹ eines Klang-

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Vgl. A. Haug, Neue Ansätze im 9. Jahrhundert, in: Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 2 (1991), Die Musik des Mittelalters, S. 94 ff.

gefüges. Das ist nichts weniger wie in der Malerei der Schritt vom Linearen zur Perspektive. Greifbar wird uns dieser Aufbruch ins ›Perspektivische‹ klanglich konzipierter Musik erst mit schriftlichen Zeugnissen im 9. Jahrhundert. Aber existiert hat es als musikantisches Tun bestimmt vorher. Dort war es vielleicht eine einfache Stegreifpraxis, wo tiefere Liegetöne gelegentlich ausgehalten wurden oder eine zweite Stimme im gleichen Tonabstand einfach mitsang. Als archaische Praxis der Bordun­töne und des Parallelsingens scheint sie früh in Europa, vor allem im Nordwesten, verbreitet gewesen zu sein und wird deshalb in der Musikwissenschaft als ›Volkstümliche Mehrstimmigkeit‹ bezeichnet. Vielleicht findet sie sich sogar bei den Sängern der päpstlichen Schola cantorum, denn ihre Bezeichnung als Paraphonisten würde solche Singweise als möglich erscheinen lassen. Aufgeschrieben wird diese Gesangspraxis allerdings nicht, weshalb sie in keinen Quellen überliefert ist. Noch gehört sie zum usus, nicht zur ars, noch wird sie offenbar als bloßer Schmuck der Einstimmigkeit empfunden, als decus organale – nicht schon als neue musikalische Dimension. Das ändert sich unter den scholastischen Ambitionen der karolingischen Ratio. Ihr systematischer Geist bemächtigt sich dieses ›Tuns‹ mittels der Theorie. Seit dem 9. Jahrhundert überliefern nämlich Lehrschriften genaue Anweisungen, wie bei der Gestaltung solchen Singens vorzugehen ist. Gewisse Regeln rationalisieren eine offenbar weit verbreitete Praxis – allerdings bereits auf einer kunstvolleren Stufe als das einfache Parallelsingen. Als strukturell tragende Zusammenklänge zwischen Choralmelodie und neuer Stimme erscheinen jetzt die Intervalle Oktave, Quarte und Quinte. Definiert als ›perfekte Konsonanzen‹ werden sie als symphoniae bezeichnet. Sie sind nichts anderes als die pythagoreischen Proportionen und die uralten Strukturintervalle im Musikdenken der ältesten Hochkulturen. Die Wirkung dieser neuen Klanggebilde wird von den Zeitgenossen plastisch als »einträchtig auseinanderklingender Zusammenklang« beschrieben und deswegen Diafonie genannt. Ihre Gattungsbezeichnung in den Lehrschriften aber lautet Organum.3 Diese Bezeichnung verrät etwas vom ›technischen‹ Denken der neuen Musiklehre, denn sie hängt mit einer speziellen Bedeutung des lateinischen Adjektivs organicus zusammen. Seine Begriffsgeschichte enthüllt nämlich, dass der Terminus seit der Spätantike mit musikalischen Sachverhalten von genau messbarer Art verbunden war: als organicum melos wird er für eine Melodie mit mathematisch be-

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Schlüsselwerke sind Quellen wie: Musica Enchiriadis (ediert von H. Schmid: Musica et Scolica enchiriadis una cum aliquibus tractatulis adiunctis, München 1981 u. P. Weber-Bockholdt, Musica Enchiriadis, Lateinisch-Deutsch, Paderborn 2016) sowie eine Pariser Variante, der sogenannte Pariser Organum-Traktat und die Scolica Enchiriadis, die Bamberger Organum-Dialoge, der Kölner Traktat und der Schlettstädter Traktat. Eine Zusammenfassung und Analyse gibt: E. L. Waeltner, Die Lehre vom Organum bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts, Tutzing 1975.

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stimmbaren Tonabständen verwendet, als instrumentum organicus für ein exakt stimmbares Musikinstrument.4 Die Vorstellung einer präzisen Behandlung verschiedener Zusammenklangs­ möglichkeiten ist von größter Tragweite – auch wenn das musikalische Ergebnis im sogenannten Parallelorganum zunächst noch recht bescheiden auftritt. Aber schon um das Jahr 1025 findet sich in einem Traktat des Benediktinermönches Guido von Arezzo, dem Micrologus de Musica, eine interessante Unterscheidung zwischen zwei Arten des Organums. Das eine wird als ›strenge‹ oder ›starre‹ Handhabung der Begleitstimme beschrieben, das andere als ›aufgelockerte‹ oder ›geschmeidige‹ Art, bei der die Parallelbewegung vorübergehend verlassen wird.5 Diese musikologisch als ›Neues Organum‹ bezeichnete Gesangspraxis führt gewissermaßen indirekt, nämlich durch Beachtung einer bestimmten Norm, zu neuen Zusammenklängen. Die Hauptstimme der Choralmelodie, der die tiefere Begleitstimme parallel im Abstand einer Quarte folgt, darf nämlich nicht unterschritten werden, wenn sie zu ihrem Schlusston, der Finalis, hinabsteigt. Der ist nämlich ein Strukturton von besonderer Bedeutung für den Verlauf der Melodie, vor allem aber für die Konstituierung ihres Tonraums: er markiert eine Grenze. Damit diktiert sie der organalen Begleitstimme eine Beschränkung ihres Bewegungsraumes, denn sie muss auf dem Grenzton liegen bleiben. Das aber bedeutet nichts weniger als eine Nötigung zum vorübergehenden Verlassen ihrer starren Parallelbewegung. Nützliche Folge davon ist, dass jetzt auch die Intervalle von Sekunde und Terz als Zusammenklänge auftreten und die zweite Stimme Bewegungsmöglichkeiten gewinnt, wenn sie zwischen Parallelbewegung, Halteton und der Vereinigung der Stimmen im Einklang wechseln kann.6 Noch ist die zweite Stimme also ›Gefangene‹ des sakrosankten Chorals, der ein Eigenleben verwehrt bleibt. Aber hier kommt ein Prozess in Bewegung, der den kalkulierten Umgang mit Klangfolgen zu einer theoriefähigen Dimension musikalischen Tuns macht. Das ist die Keimzelle einer Entwicklung, die sich nicht nur als besondere Eigenart der abendländischen Musik erweist, sondern auch einige ihrer einzigartigen Ausdrucksmöglichkeiten erschafft. Wie einzigartig sie sind, zeigt der Blick auf andere Musikkulturen. Zusammenklänge finden sich nicht nur in der archaischen ›Volkstümlichen Mehrstimmigkeit‹ Nordeuropas, sondern auch in anderen Musikkulturen. Ein ältestes, wenn auch abstraktes Zeugnisse dafür liefert eine ikonographische Quelle aus Ägypten um 2600 v. Chr., wo ein Grundton und seine Quinte dazu als cheironomische Neumen in Stein geritzt sind. Wie andere Abbildungen zeigen, kann sogar schon in 4

Vgl. F. Reckow, Organum- Begriff und frühe Mehrstimmigkeit, in: Forum Musicologicum, Bd. 1 (1975), S. 32–167.

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Guidonis Aretini Micrologus, Edition von J. Smits van Waesberghe, American Institute of Musicology, 1955.

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Vgl. die Beschreibung bei H. H. Eggebrecht, Musik im Abendland. München u. Zürich 1991, S. 34.

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der Steinzeit, ebenso wie bei den auf einer vergleichbaren Kulturstufe stehenden Buschmännern Afrikas, insbesondere bei den Bantu, auf dem sogenannten Musikbogen eine einfache Mehrstimmigkeit erzeugt werden. Weitere Formen finden sich in verschiedenen Kulturen als Bordunpraxis, einem Stimmenparallelismus, und sogar als simultane und sukzessive Nachahmung einer Hauptmelodie, die als Variantenheterofonie bezeichnet wird.7 Das zeigt zwar, dass die Mehrstimmigkeit, genauso wie die Gregorianik, nicht aus dem Nichts entstanden ist. Es illustriert aber auch die Unterschiede. Nirgends entsteht aus bloßem sinnlich-emotionalen Ausdrucksbedürfnis, das entweder einer empirischen Benutzung physikalischer Phänomene folgt (nämlich der naturgegebenen Obertonreihe eines jeden Grundtones) oder dem spielerischen Gebrauch klanglicher Assoziationen in einer improvisatorischen Aufführungspraxis, ein überlegtes Konzept für ein nach Regeln gebautes Satzgefüge, das schriftlich fixiert, systematisch und theoretisch begründet und praktisch gelehrt wird. Das ist kein Manko anderer Musiksprachen – aber Indiz für eine ganz andere musikalische Denk- und Empfindungsweise: der harmonischen. Als Evolution des Klanges wird sie zu einer Grundkraft abendländischer Musikgeschichte. Die unterschiedlichen Weisen musikalischen Empfindens, die als andere musikalische Strukturen Ausdruck finden, zeigen sich bis heute in der arabischen Musik, der japanischen, chinesischen und indischen, aber auch im Gamelan der javanischen oder in vielen Idiomen Afrikas. Dort genügen Melos und Rhythmus als zentrale Kräfte einer musikalischen Praxis, die strukturell der Einstimmigkeit verpflichtet bleibt. Dem abendländischen Musikdenken genügt es nicht. Es macht sich auf die Suche, beide Kräfte durch komplexere ›Zusammenfügung‹ aus dem Klangdenken zu neuen Möglichkeiten zu führen: dem systematischen Componere. Seine Ratio manifestiert sich erstmals im ›Neuen Organum‹ und einer Satzlehre mit der Entfaltung des Melos als ›Vorlage‹ für eine regelbestimmte ›Klangkonstruktion‹: Der abendländische homo faber betritt die Bühne der Musikgeschichte als musikalischer ›Konstrukteur‹.

Evolutionen in den Werkstätten des Klanges Die bescheidenen Keime der Freiheit, die im Micrologus von Guido von Arezzo für den Umgang zweier Stimmen miteinander im ›Neuen Organum‹ sichtbar wurden, entfalten sich bis zum Ende des Jahrhunderts zu gewichtigen Klanggebilden. 7

Diese Entdeckungen hatte schon die zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründete ›Vergleichende Musikwissenschaft‹ gemacht, mit den Forschungen von Ernst Moritz von Hornbostel, Jaap Kunst bis Marius Schneider. Inzwischen hat die moderne Musikethnologie diese Kenntnisse durch zahlreiche Feldforschungen mit reichem Quellenmaterial erheblich erweitert und den Blick für den Eigenwert dieser Formen durch den Wechsel aus der eurozentristischen Perspektive zur multikulturellen geschärft. Vgl. P. R. Kirkby, Buschmann- und Hottentottenmusik, in: MGG, Bd. 2, Kassel 1952.

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Die zweite Stimme, die vox organalis, wechselt ihre Lage. Sie steigt, zunächst durch Stimmkreuzungen über die vox principalis auf und wird schließlich von der Unterstimme zur Oberstimme. Ihre Bezeichnung als Discantus, also als ›Auseinandergesang‹ im Unterschied zum Cantus der präexistenten Melodie, illustriert anschaulich die neue Topographie. Weitere Regeln für die Stimmführung ermöglichen jetzt die Gegenbewegung der Stimmen und vermehren die Zusammenklangsmöglichkeiten. Vor allem aber emanzipiert sich der schlichte, stereotype Zusammenklang von Ton zu Ton, also Note gegen Note, zu einem komplexeren Miteinander. Zu Anfang des 12. Jahrhunderts lassen sich bereits drei verschiedene Arten unterscheiden. Der alte Discantus Note gegen Note bleibt präsent. Daneben gibt es die Möglichkeit, dass ein längerer Cantuston einem rhythmisch freien Melisma in der Oberstimme gegenübertritt. Hier »harmonisiert die Organalstimme aber«, wie es in einem Theorietraktat heißt, »mit dem Cantus nicht durch eine Gleichzahl von Noten, sondern durch eine unbegrenzte Vielzahl und eine gewisse wunderbare Beweglichkeit… Melismen bildend und üppig sich gebärdend …«. Schließlich findet sich auch noch die Form von Melisma gegen Melisma.8 Wie sehr die Arbeit an diesen Klanggebilden die Geister fasziniert, zeigen einige Theoriewerke. Dort bereitet sich in zwei weiteren Stufen der erste Höhepunkt der mehrstimmigen Musik vor. Ein Lehrwerk aus der Zeit zwischen 1225 und 1250 mit dem Titel Ars organi stammt aus dem nordfranzösischen Raum. Es ist heute (nach seinem Aufbewahrungsort) als ›Vatikanischer Organum-Traktat‹ bekannt. Sein Hauptteil De regulis organi formuliert in nicht weniger als 31 Regeln systematisch die Möglichkeiten für die Bildung von 29 verschiedenen Klangschritten im Organum. Dabei wird gewissermaßen nach zwei Seiten geblickt, denn es wird sowohl der Schritt zwischen zwei benachbarten Tönen des Cantus mitbedacht, wie auch die Bewegung des Organums dazu, also der Schritt von einem Ausgangsintervall beider Stimmen zum nächsten Zielintervall. Damit verschieben sich die Akzente musikalischer Konzeption. Die bisherige, an der Gestalt der Melodie orientierte Lehre, in der jeweils Anfangs-, Mitte- und Schlussabschnitte eines horizontalen Verlaufs im Mittelpunkt standen, wandelt sich zu einer systematischen ›Klangschrittlehre‹, in der das vertikale Gefüge zum Objekt des Interesses wird. Ein nächster Schritt zieht die Folgerungen aus der Beherrschung der Zweistimmigkeit und zielt auf noch mehr ›Klang‹: die Erweiterung zu drei Stimmen. Ein erster Hinweis dafür findet sich in einem anderen Theoriewerk dieser Zeit, dem (nach 8

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Diese Formen zeigen sich im musikalischen Repertoire des St. Martial Codex (benannt nach dem südfranzösischen Kloster bei Limoges) und dem Codex Calixtinus aus Santiago de Compostela sowie in den Lehrschriften des Mailänder Traktats Ad organum faciendum, dem Organum-Traktat von Montpellier und De arte musica von Johannes Cotto (alias Affligemensis).

seinem Entdecker benannten) ›Adrien-de-Lafage-Traktat‹. Dort wird bereits eine Lehre zur Verfertigung eines musikalischen Satzes mit drei Stimmen Note gegen Note formuliert. Von ihm heißt es, dass er den Discantus simplex an Subtilität überträfe und so gesetzt werden solle, dass die beiden Discantus-Stimmen sowohl unter sich wie auch mit dem Cantus Konsonanzen bilden. Die ausgefeilte Klangschrittlehre und die Erweiterung der Klangmöglichkeiten durch die Vermehrung der Stimmen sind Zeichen eines gewaltigen Qualitätssprungs. Seine musikalischen Früchte zeigen sich zur Mitte des 12. Jahrhunderts mit der Musik der Notre-Dame-Epoche. Die Bezeichnung stellt eine Kathedrale in den Mittelpunkt einer musikalischen ›Schule‹ als Signum einer Epoche und zugleich einer unserer musikgeschichtlichen Stufen von größter Bedeutung.

Archetyp und Sinnbild des ›Domes‹: Kathedrale und Kathedralmusik Im Jahr 1160 beginnt der Umbau der alten romanischen Bischofskirche in Paris. Maurice de Sully, 73. Bischof von Paris, legt 1163 legt den Grundstein zum Chor der neuen gotischen Kathedrale. 1182 wird der Hochaltar fertiggestellt und am 19. Mai eingeweiht. Das ist ein Gründungsakt von weit wirkender Strahlkraft. Denn er vollzieht sich nicht nur unter dem Signum der neuen Ausdrucks- und Formenwelt der Gotik, sondern er wird zum mächtigen Symbol im geistigen, politischen und gesellschaftlichen Aufstieg der Stadt Paris. Die Stadt wird als Hauptresidenz der Capetinger zum Sitz der französischen Könige. Zugleich entwickelt sich Paris zum intellektuellen Zentrum Westeuropas. Aus den verstreuten Kollegien, Domschulen und der Kathedralschule von Notre Dame entsteht die Universitas, eine ›Korporation‹ (wie die Urbedeutung des Begriffs im römischen Recht lautet) von Lehrenden und Lernenden eines selten wissenstrunkenen Zeitalters. Schnell wächst ihre Anzahl und ihre Wirkung. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts lehren bereits an die hundert Professoren an der Fakultät der ›Sieben freien Künste‹. Umgeben von Studenten, die sogar bis aus Schweden und Ungarn kommen, dozieren die Leuchten der Wissenschaft: Peter Abaelard der ›Sokrates des 12. Jahrhunderts‹, Robert Grosseteste und Roger Bacon, die Vertreter der mathematischen Naturphilosophie in Oxford, Peter Lombard, John of Salisbury, der Italiener Bonaventura, der deutsche Dominikaner Albertus Magnus, den schon seine Zeitgenossen Doctor universalis nannten und sein berühmter Schüler, Thomas von Aquin, eine Koryphäe der Theologie, dessen Summen bis heute die Geister bewegen. Auch viele bedeutende Musikgelehrte haben hier gelernt und gelehrt. Franco von Köln, der Verfasser des wichtigen Lehrwerks Ars cantus mensurabilis, Johannes de Garlandia, Johannes de Grocheio und Philippe de Vitry, Magister artium der Sorbonne und später Bischof von Meaux, oder Johannes de Muris, wie auch die Verfasser der großen musiktheoretischen Summen Jacobus von Lüttich und Hiero-

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nymus de Moravia ›aus Mähren‹: eine europäische Kaderschmiede der Gelehrtenwelt und eine internationale des abendländischen Geistes. Ströme neuen Wissens aus griechischen, arabischen, persischen und hebräischen Quellen erweitern die karolingische Mitgift des lateinischen Westens. Die Zufuhr umfasst alle Gebiete damaliger Wissenschaft: unbekannte Schriften des griechischen Mathematikers Euklid (wie die erste vollständige Fassung seiner Elemente), medizinische von Avicenna und Avibron, astronomische und astrologische von Al-Fārābī, philosophische des Neuplatonikers Proklos, aber auch noch nicht bekannte Dialoge von Platon (wie Menon und Phaidon). Zum Ereignis wird dann die Bekanntschaft mit den bisher unbekannten Werken von Aristoteles aus der Hand arabischer Übersetzer und Kommentatoren: die Metaphysik, die Ersten und Zweiten Analytiken und die Topik.9 Der intellektuelle Glanz der Hochscholastik entfaltet sich mit Macht: Die Dialektik als neues Instrument des Denkens mit scharf definierter Begrifflichkeit, präziser Logik und strengen Argumentationsfiguren bestimmt eine brillante Debattenkultur. Gelehrte Theologen und scharfsinnige Magister treffen sich im Turnier des Intellekts, methodisch inszeniert zwischen Ratio und Fides. Die Musik als ars, also als einer ›Wissenschaft‹ nach damaligem Verständnis, ist selbstverständliche Mitspielerin im Bildungssystem der Septem artes liberales. Die meisten Musiker und Kantoren der Kathedralen hatten eine Universitätsausbildung. Das Kantorenamt an Notre Dame de Paris besaß schon im 10. Jahrhundert einen hohen Rang. An der Universität nahm der Cantor die zweite Stelle nach dem Dekan ein und war dessen Stellvertreter. In diesem Umfeld wird die neue gotische Kathedrale zum Zentrum einer musikalischen Kathedralkunst, die sich in mehreren Generationen von Magistern und Kantoren entfaltet. Ihr glänzendes Zeugnis ist die Musik der ›Notre-Dame-Epoche‹. Grundlage ist eine Sammlung von zweistimmigen Choralbearbeitungen, die nach und nach zum ›Großen Buch‹, dem Magnus Liber organi de Gradali et Antifonario anwachsen. Es besteht aus zwei Zyklen von Gesängen, die nach dem Festkalender der Kathedrale im Kirchenjahr geordnet sind. Der erste Teil umfasst die Gesänge der Messe, die im Liber gradualis aufgeschrieben sind, der andere die des Stundengottesdienstes, des Offiziums, im Liber antiphonaris. Der Art nach sind es sämtlich Responsialgesänge, also Choralformen, in denen sich Solist und Chor im Frageund Antwortspiel (der Responsorio) abwechseln: zweistimmig die solistischen Teile, einstimmig die chorischen. Das zweistimmige Organum hat dort drei verschiedene Erscheinungsformen. Einmal den vertrauten Discantus mit Note gegen Note, dann das Organum purum

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Eine gute Übersicht gibt D. C. Lindberg, The Transmission of Greek and Arabic Learning to the West, in: ders. (Hg.), Sience in the Middle Ages, Chicago 1987, S. 52–90.

mit den langen, gedehnten Tönen des Cantus in der Unterstimme und einer weit ausgesponnenen, rhythmisch freien Oberstimme in kleinen Notenwerten. Zwischen beiden Formen steht die Copula, als Zwitterform aus langen Cantustönen und einem Duplum, das nach der Bauweise einer Gedichtstrophe in aufeinander bezogene Melodieabschnitte, also Verse, gegliedert ist. Die verschiedenen Handschriften, in denen das Magnus Liber überliefert ist, zeigen aber, dass es nicht als unantastbar betrachtet wurde, sondern als ein Kernbestand, an dem ständig weitergearbeitet wurde. Erweiterungen, Änderungen und Variationen verwandeln und entwickeln den musikalischen Vorrat nach dem Muster der Tropierung: eine Art Work in Progress. Zur folgenreichsten Verwandlung zählt die Erweiterung der Zweistimmigkeit zur Drei- und Vierstimmigkeit. Mit der detaillierten Behandlung der Klangverbindungen und der Ausweitung der Stimmenzahl, die uns die Theorietraktate beschreiben, sind alle Voraussetzungen dazu geschaffen. Jetzt wird das zweistimmige organum duplum durch Bearbeitung zum dreistimmigen organum triplum und gar zum vierstimmigen quadruplum. Als klangmächtige ›Symphonien des Mittelalters‹ (Hans-Heinrich Eggebrecht) stehen sie am Anfang wichtiger Messteile zu den großen Festtagen des Kirchenjahres. Ihre Besetzung reicht bis zu vier Solisten für die Oberstimmen. Für ihre Aufführung inszeniert man mystische Enthobenheit. Dafür wird der Chor zunächst durch einen Vorhang verborgen, später durch den Lettner abgetrennt. Magischer Mystik und sinnlicher Klangpracht stehen aber einige ziemlich analytische Abstraktionen gegenüber. Sie zeigen, wie sehr diese Musik als überpersönliche Manifestation einer gleichsam objektiven Klangwelt begriffen wurde. Damit trennt sie eine ganze andere Bewusstseinswelt von den höchst persönlichen Gestaltungen unserer späteren Musik wie eines Beethoven, Brahms, Wagners oder Mahlers. Das ›analytische‹ Verfahren veränderte nicht nur die Haltetonpartien des Cantus durch Kürzung oder Erweiterung, sondern ersetzte ganze Teile davon durch Partien aus dem Discantus. Vor allem aber tauschte man bald ganze Abschnitte ursprünglicher Discantusabschnitte gegen andere, neue und längere, oft ›modernere‹ aus. Durch ein gezieltes Auswahlverfahren konnten, je nach den Umständen, mehrere (alte oder neue) dieser Gebilde wie Versatzstücke in die vorhandenen Organa eingesetzt werden. Der Fachbegriff für sie lautet: Clauseln. Die Systematik des Verfahrens zeigt sich darin, dass über den Bestand dieser Clauseln genau Buch geführt wurde. Die ›alten‹ Discantuspartien werden nämlich zusammen mit den neuen als ›Ersatz-‹ oder ›Austauschklauseln‹ in der Reihenfolge der Choralgesänge des Magnus liber als Anhang beigefügt. Wie beliebt dieses Verfahren war, erkennt man daran, dass uns aus dieser Zeit mehr als 500 solcher Clauseln überliefert sind. Folgerichtig wird dieses Verfahren auch auf die dreistimmigen Organa angewandt. Nicht weniger konsequent ist dann die Idee, wie früher bei der Textierung der Alleluja-Melismen des einstimmigen Chorals, die durch Wieder-

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holungen oder Erweiterungen verlängerten Teile der Discantus mit einem neuen, gereimten Text zu versehen. Er wird an die Musik angepasst und hat meist einen tropierenden Bezug zum Choral. Damit aber entsteht, ähnlich wie vorher bei der Sequenz, eine neue musikalische Gattung: die Motette. Sie wird zur zentralen Musik des 13. Jahrhunderts und überdauert bis in die BachZeit. Ihr Name leitet sich vom französischen mot (= Wort) ab. Mit ihm bezeichnete man ursprünglich den Refrain in der Dichtung französischer Tanzlieder und Chansons. Später wird er, latinisiert als motetus, auf die Musik mit Choral übertragen. Auch die neue Gattung wird, wie bei den ›Ersatzklauseln‹, in den Handschriften gesondert zusammengestellt und als Anhang ins Repertoire aufgenommen.10 Eine andere Form der Verwandlung tradierten musikalischen ›Materials‹ ist die Kontrafaktur, später als ›Parodieverfahren‹ bezeichnet. Dort werden bekannte Liedmelodien mit neuen Texten versehen, meistens als ›Veredelung‹ von profan zu geistlich: eine Bedeutungs-Metamorphose von weltlichen ›Buhlenliedern‹ zu geistlichen Gesängen. Der berühmte provenzalische Troubadour Bernart de Ventadorn erläutert im Vorwort zu einem seiner Lieder ihre Verfertigung. Diese Praxis hält sich bis ins 17. Jahrhundert, wo sich bekannte Kirchenlieder als Kontrafaktur weltlicher Lieder erweisen, wie etwa O Haupt voll Blut und Wunden als Verwandlung von Hans Leo Haßlers Mein G’müth ist mir verwirret. Es ist eine Praxis, die Zeugnis gibt von dem engen Verhältnis von weltlicher und geistlicher Musik, bestimmt durch eine Faktur gleicher musikalischer Qualität. Noch eine neue Gattung entsteht im keimkräftigen Umfeld dieser Zeit: der Conductus. Anders als die Motette liegt ihm aber nicht eine vorgegebene Choralmelodie als cantus firmus zugrunde, dem Form und Oberstimmentext angepasst werden müssen, sondern er geht vom lateinischen Lied mit metrisch gefügtem Text aus. Aber wie die Choraltropierungen des Organums, die Clauseln und die Motette, nimmt er an den Errungenschaften der Mehrstimmigkeit teil. Sein ursprünglicher Ausgangspunkt ist funktional. Er wurde nämlich als ›Geleitgesang‹ für den Zelebranten der Messe angestimmt, während er zu seinen Lesungen von Epistel oder Evangelium zum Lesepult geht. Diese Schreitbewegung im Ritus prägt seinen Charakter mit gemessenem, feierlichem Duktus. Das hat eine gleichzeitige, syllabische Aussprache aller Textteile in den Stimmen zur Folge. Obwohl die Gattung auch Aufnahme ins liturgische Repertoire findet, löst sie sich aber bald von dieser Bindung und verselbstständigt sich als beliebtes Medium weltlicher Anlässe. Kleriker, Domherrn, Magister und viele aus der gebildeten Society der Zeit musizieren ihn bei ihren Fest10

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Ob die französische Motette aus der Nachahmung der lateinischen entstanden ist oder umgekehrt, ist in der Musikwissenschaft strittig. Fest steht, dass sie eine Bearbeitung eines Choralteiles ist, damit in der Tradition des Tropus wurzelt und eng mit der Technik der Notre-Dame-Klauseln zusammenhängt. Vgl. dazu W. Frobenius, Die Motette, in: Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 2 (1991), Die Musik des Mittelalters, S. 27.

lichkeiten und Gastmählern und beladen seine Texte mit politischen, moralischen und sogar satirischen Bezügen. Conductus und Motette werden so auch zu einem ›Fenster‹ zur ›weltlichen‹ Musik, von der wir mangels schriftlicher Quellen wenig Ahnung haben. Denn ebenso wie der gregorianische Gesang in einem Ozean anderer Klänge als Destillat und Abgrenzung entstand, erklingt jenseits der mehrstimmigen Organa vielerlei andere Musik. Man kann sich leicht ausmalen, wie es bei den Spielleuten, Gauklern und Wirtshausfiedlern zuging, wenn man auf das bunte Panorama der Motetten schaut, in die recht triviale, deftig erotische und sogar verschiedensprachige Texte in die Oberstimmen eindrangen, so wie in den Conductus Satire und Spott. Allerdings sollte man sich vom soziologischen Blick nicht den analytischen verstellen lassen. Es ist nämlich im Kern die gleiche musikalische Struktur, die spirituelle oder liturgische ›Bedeutung‹ trägt, genauso wie profane oder gesellschaftliche, wie Seelenerbauung oder Unterhaltung. Das heißt nicht, dass die Ausdruckswelten beliebig sind. Aber es heißt, dass die Machart der Musik, also ihre satztechnische Faktur, beide Bedeutungsbereiche tragen konnte, dass also Differenz nicht durch ein unterschiedliches kompositorisches Qualitätsniveau zustande kam, sondern nur durch andere Konnotationen in Text und Anlass. Und das heißt, mit Blick auf spätere Zeiten, dass Entertainment in Witz, Satire, Kritik und Anspielungen bis zur Obszönität kein schlechteres musikalisches Idiom ›sprach‹, als die spirituelle Erbauung in Kirche und Liturgie: Beleg für einen einheitlichen Musikbegriff, der sich erst seit dem 19. Jahrhundert zu wandeln beginnt.

Weitere Evolutionen: die Organisation der Zeit Die wichtigste Errungenschaft dieser musikalischen Epoche besteht in der Verwandlung einer Melodie zu mehrstimmigem Klang nach Regeln. Auf der Stufe der Notre-Dame-Musik ist dieses Regelwerk bereits zu einem ausgefeilten Konzept geworden. Die Erschaffung von Musik wird ein planvolles ›Tun‹, das über die Gestaltung einer intuitiv empfundenen, spontan erfundenen oder schon lange gefundenen Melodie weit hinausgeht. Aus dem performativen Zustand einer freien Aufführungspraxis ist das regulative System einer Handwerkslehre geworden, aus der gelegentlichen Klangdekoration eine neue musikalische Welt mit Strukturen und Verfahren. Im komplizierten System der ›Austausch-‹ und ›Ersatzklauseln‹ und ihrer Verselbstständigung als Motette könnte man sie glatt als ›Montagetechniken‹ bezeichnen. Diese komplexere Dimension eines quasi handwerklichen Tuns wird denn auch mit der dem Mittelalter eigenen Nüchternheit als com-ponere, als zusammensetzen bezeichnet. Zum Handwerk des componere gehörte bereits die Organisation des musikalischen Satzes, wie sie sich in der Entwicklung des Organums zur Mehrstimmigkeit vollzogen hat. In der Notre-Dame-Schule tritt es uns quasi als Klang-›Konstruktion‹

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entgegen: als ein tektonisches Gefüge aus Tönen, eben als ein überlegt geplantes Bauwerk aus Klängen. Jedes geplante Bauen bedarf aber grundlegender Voraussetzungen. Dazu gehört die Möglichkeit, den ›Plan‹ mittels eindeutiger Zeichen objektiv fixieren zu können. Für das musikalische Bauwerk bedeutet das: Schriftlichkeit mit einem präzisen Zeichen- und Bezugssystem. Es muss nicht nur die genaue Lage der Ton­ orte bezeichnen sowie ihre Relationen zueinander, sondern auch die Koordination der verschiedenen tektonischen Bewegungen ermöglichen. Diese Voraussetzungen werden mit der Entwicklung einer Notenschrift geschaffen, die Tonhöhe, Tondauer und Rhythmus genau zu fixieren vermag. Nach den Neumen als Weiterentwicklung von bloßen Textakzenten zur Andeutung von fallenden und steigenden Stimm­bewegungen erleichtern die Dasia-Zeichen der ersten Organum-Lehrwerke eine Vorstellung von Tonorten durch Liniensysteme. Die sind zunächst nichts anderes als eine abstrakte Nachbildung der Saiten von Instrumenten. Gelegentlich werden sie ausgeweitet bis zu 18 Linien, auf denen die Textsilben mit ihren Bewegungen und Abständen notiert sind. Dabei erlauben die den Zwischenräumen der Linien zugeordneten Dasia-Zeichen eine indirekte Bestimmung des Tonortes in einem bestimmten Tonraum, etwa einem Tetrachord. Aus diesen verschiedenen Ansätzen, die sich mit den Bedürfnissen des neuen Komponierens ergeben, entwickelt schließlich Guido von Arezzo, gelehrter Mönch und Lehrer an der Kathedralschule im mittelitalienischen Arezzo, seine Aufzeichnungsform. Sie setzt sich bald als Standard durch und wird zur Grundlage unseres späteren Notationssystems. Guido konzipiert ein System von fünf parallelen Linien, die jeweils nur einen Zwischenton zulassen. Damit entsteht das System der Terzschichtung für den Linienaufbau, das bis heute gilt. Vorangestellte Tonbuchstaben kennzeichnen die (relative) Tonhöhe (zunächst litterae genannt, später claves als Ursprung unserer ›Schlüssel‹); Referenzlinien erleichtern die visuelle Fasslichkeit (wie etwa die rote Färbung der F-Linie oder die gelbe der C-Linie).11 Andere Notationssysteme blieben zwar in Gebrauch, wie etwa die Choralnotation auf vier Linien für den einstimmigen Choralgesang oder Griffschriften, die das unmittelbare Greifen von Akkorden auf Tasten- oder Zupfinstrumenten notierten und als Tabulaturschriften bezeichnet werden. Ihre Verwendung beschränkte sich jedoch auf besondere Bereiche, während Guidos System die Zukunft gehörte. Damit werden die bisherigen ›symbolischen‹ Bezugssysteme durch ein ›ikonisches‹ System verdrängt. Es ist nicht nur viel präziser, sondern auch wesentlich anschaulicher. Denn es verbindet die Tonort- und Tonbewegungszeichen mit einem Bezugsrahmen, in dem sowohl die räumliche Bewegungsgestalt eines horizontalen Melodieverlaufes als auch die senkrechte von Zusammenklängen visualisiert werden kann. So erhält das mehrdimensionale Geschehen der neuen Musik auf ihrer

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Erstmals beschrieben in Guidos Theorieschrift Regulae rhythmicae, verfasst um 1025.

›Strukturebene‹ genau die Schrift, die sie verlangt: eine ›Direktionale Notation‹. Mit ihr können die Aufeinanderfolge der Töne und ihr vertikaler Abstand, ihre Diastematik, abgebildet werden. Das aber verleiht der Musik einen neuen Rang als Text. Die flüchtige Zeitkunst der Klänge, seit Menschengedenken Augenblicksoder mündlich überlieferte Gedächtniskunst, wird eingefangen, fixiert und ›objektiviert‹. Damit nimmt sie einen ebenbürtigen Platz an der Seite der vielen karolingischen Texte und Traktate ein, deren überreiche Produktion aus den Skriptorien der Kanzleien und Klöster geradezu als »Explosion der Schriftkultur« apostrophiert wurde.12 Was aber noch fehlte für ›Musik‹ als Inbegriff einer ›Zeitkunst‹, die sich als ›Ablauf‹ ereignet, war die präzisere Organisation und Fixierung von Tondauer und rhythmischer Ordnung. Die Neumenschrift konnte rhythmisch noch weitgehend unbestimmt bleiben, weil sie auf die Orientierung am Textvortrag und eine tradierte Aufführungspraxis baute. Die Erfindung des Discantus, »das Zusammenklingen verschiedener Melodien gemäß einem Modus …« wie es der Theoretiker Johannes de Garlandia der Ältere um 1240 beschreibt, erforderte aber eine genauere Abgemessenheit der Töne in ihren sukzessiven und simultanen Beziehungen zueinander. In der Musik der Notre-Dame-Epoche entwickelt sich daher eine erste Form von geregelten Tonlängenverhältnissen. Ihre Festlegung erfolgt in der Unterscheidung von Zeitwerten zwischen brevis (kurz) und longa (lang) im Verhältnis 1:2. Damit zieht erstmals ein formulierter Zeitbegriff in die Musiktheorie ein. Er wird später als tempus, als kleinster rational erfasster Wert einer Tondauer zur ›Zählzeit‹ des musikalischen Satzes. Diese Werte werden aber noch nicht als unabhängige, eindeutige Zeitgrößen eingesetzt, sondern bleiben abhängig von ihrer jeweiligen Verbindung zum Versmaß des Textes, des Modus, wie es Garlandia beschreibt, sowie von ihrer jeweiligen Stellung in einem bestimmten Zusammenhang. Denn ihre Notation erfolgt in Zeichen, die Teil einer mehrtönigen Gruppe sind, den Ligaturen. Ihr Wert ist deshalb mehrdeutig, je nach ihrer Stellung in dieser Ligatur und nach dem ihr zugeordneten modalen Rhythmusmodell. Sechs Hauptmodi sind uns dafür überliefert, die verschiedene dreizeitige Rhythmen kombinieren. Sie werden erst später, nachträglich, nach antiken Versfüßen wie Trochäus, Jambus, Daktylus etc. benannt. Deshalb wird diese frühe Stufe der Aufzeichnung mehrstimmiger Musik als Modalnotation bezeichnet. So bleibt diese erste, noch mehrdeutige Form einer Rationalisierung fester Tonlängen auf der einen Seite eng mit dem Text verbunden: der Dichtung und den Dich12

Vgl. L. Treitler, Reading and Singing: On the Genesis of Occidental Music-Writing, in: Early Music History. Bd. 4, Cambridge 1984, S. 135–208 und ders., The Early History of Music Writing in the West, in: JAMS 35 (1982), S. 238–279.

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tungslehren des 12. Jahrhunderts, wie in den Verskünsten von Alexander de VillaDei, Abaelard, Hildebert oder Walther von Châtillon, deren Dichtungen in Motette und Conductus auftauchen. Andererseits wird aber damit eine genaue Festlegung bestimmter rhythmischer Bewegungsabläufe eingeleitet. Noch ist der Einzelton nur als variable Größe im Zusammenhang eines solchen Bewegungsablaufes fassbar. Aus dem wird er erst in der nächsten Stufe, der Mensuralmusik, zu selbstständiger rhythmischer Existenz befreit. Aber es ist die Modalnotation, die den Weg dazu bahnt. Mit diesen Voraussetzungen wird das componere seit der frühen Mehrstimmigkeit zu jenem abendländischen Kompositionsbegriff, der in seinen späteren Verständnisformen als ›Komponieren‹ und der Person des ›Komponisten‹ zum Synonym einer Kunst geworden ist. Allerdings auch zum leichtfertigen Begriff für etwas, das er bei seiner Entstehung gerade nicht war: nämlich für einen als irrational verstandenen Prozess des unbekümmerten tonspielerischen Tuns aus willkürlichem Phantasma ohne Normativ – nicht für ein rationales Verfahren und Kombinieren nach genauem Regelwerk, das damals jedes Er-finden als Finden einer bestimmten ›Ordnung‹ verstand.13 Ab welcher Entwicklungsstufe seit dem Organum des 9. Jahrhundert man den Kompositionsbegriff sinnvoll verwenden will, bleibt Ermessenssache. Sicher ist, dass ihn die Musik der Notre-Dame-Epoche einlöst. Genauso sicher ist auch, dass er aus diesem Verständnis zu einem Schlüsselbegriff der abendländischen Musikkultur geworden ist. Denn in der systematischen Ratio des componere liegt nicht nur der tiefste Unterschied zur Praxis einer Mehrstimmigkeit in anderen Musikkulturen, sondern auch der Keim eines musikalischen ›Denkens‹ und ›Konstruierens‹, das in seinen verschiedenen Erscheinungsformen zur stärksten Dynamik unserer Musikkultur wird und damit zu ihrem ganz eigenen Schicksal.

»Zum Raum wird hier die Zeit« (Richard Wagner Parsifal) Gotische Konzepte: Musikalische Architektur und architektonische Musik Das Bild des ›Bauens‹, dort als Konstruktion aus Stein, hier als Klangkonstruktion im componere ist aber mehr als eine schöne Metapher. Es liefert eine Erkenntnis, die wesentliche Zusammenhänge im Denken der Zeit erhellt.

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Es treten auch noch andere Bezeichnungen auf, so modulari, fingere (Boethius), facere (Guido von Arezzo), formare (Joh. de Grocheo), orinare (A. de Marion) oder allgemeiner, notare, edere und scribere. Bezeichnend ist aber, dass das umfassendere modulari die ältere Benennung ist, die mit einem am melodischen orientierten Wesen von Musizieren verbunden ist, nicht mit dem strukturellen der späteren Mehrstimmigkeit (Zur ›Ordnung‹ siehe auch Kapitel XI).

Der direkteste Zusammenhang ist ein zeitlicher und geographischer. Denn die Metamorphosen der Musik zum planvollen ›klingenden Bauwerk‹ vollziehen sich im Umfeld eines neuen, aber materiellen Baukonzepts: der gotischen Kathedrale. Die Île-de-France mit ihrem Mittelpunkt Paris wird im 12. Jahrhundert zum Quellgebiet eines neuen, epochalen Baustils, der die Kirchenbauten des Abendlandes verwandelt. Seine ersten Zeugnisse entstehen in Sens und Paris, aber eine schnelle ›Klassik‹ beschert Frankreich zwischen 1150 und 1275 so gewaltige Kathedralbauten wie die von Chartres, Orléans, Noyon, Soissons, Beauvais, Laon, Amiens und Reims. Ihr Prototyp ist die Kirche der Benediktinerabtei St. Denis im Norden von Paris. Ihr Abt Suger verändert seit 1137 Zug um Zug die ehrwürdige, im Jahr 775 geweihte Königskirche der Karolinger nach einem tiefgründigen Konzept. Zuerst baut er eine neue Westfassade, die 1140 geweiht wird. Sie realisiert mit drei prächtigen Portalen, dem neuen Motiv des mächtigen Sonnenfensters in der Frontmitte und einem völlig neuen theologischen Bildprogramm das ›Himmelstor‹ zur ›himmlischen Stadt‹. Gemeint ist das ›Himmlische Jerusalem‹, als dessen irdische Analogie der Kathedralraum fungiert. Seine Archetypen sind der legendäre Tempel Salomonis und die Vision des Ezechiel aus der Geheimen Offenbarung des Johannes. Danach entsteht ein neuer Chorbau im Osten, der 1144 geweiht wird. Mit seinen schlanken Säulen, dem durchlaufenden Kapellenkranz, dem ›schwebenden‹ Oberbau, der geschmeidigen Gestaltung der Kreuzrippengewölbe und einer starken Durchlichtung mittels der neuen zweiteiligen Medaillonfenster wird er zur wegweisenden Stildevise der gotischen Kathedrale. Dahinter steht das formgewordene Verlangen nach mehr Licht: die Auflösung der Dunkelheiten aus den massiven Wandmassen der Romanik in die neue, klare Diaphanie der Gotik. Die fortlaufende, dichte Anordnung der Kapellen nebeneinander zu einem Kapellenkranz bewirkt, dass zwischen ihnen kaum tote, stumpfe Wandfläche bleibt, die Lichtführung um das Chorhaupt herum, dass alle Körperschatten durch Kreuz- und Gegenlicht so gut wie aufgehoben werden, und die filigranen (in wahrscheinlich drei geplanten) Stockwerken aufsteigenden Arkaden erschaffen ein neues Raumgefühl lichten ›Schwebens‹. Zuletzt beginnt 1144 der Umbau des Langhauses zur Fünfschiffigkeit, schließlich des Querschiffs und der Türme. Seine Vollendung im 13. Jahrhundert hat Abt Suger, der 1151 starb, nicht mehr erlebt. Viele äußere Voraussetzungen des neuen gotischen Raumes, die Bauelemente des ›konstruktiven Systems‹ der Kathedrale, sind schon Mitte des 11. Jahrhunderts ausgebildet worden, vor allem in den Kirchen der Normandie und des normannischen England.14 14

Dazu gehören das System der Kreuzrippen und Dienste, das Aufrisssystem der gotischen Wand, der die alte massive Säule transzendierende Dienst als Träger des Baldachins, die Tendenz zur Vereinheitlichung der Scheitelhöhe des Kirchenraumes, die neue Lichtfüh-

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Ihre Verwandlung im neuen Konzept der ›Durchlichtung‹ mit anderen Raumproportionen und Symbolprogrammen gründet aber im tiefgreifenden Wandel innerer, mentaler Voraussetzungen bei den Baumeistern der Île-de-France und ihren inspirierten Bauherrn. Sie sind Zeichen einer anderen Bewusstseinslage, wie sie auch im Wandel des geistigen, politischen und gesellschaftlichen Klimas sichtbar werden, das sich im Aufstieg von Paris zum intellektuellen Zentrum West­europas konstituiert, im Paris des Notre-Dame-Neubaus, der Universitätsgründung und der Königsresidenz. Mit der Konzentration der politischen Macht in Paris wird die Île-de-France als Kronland der aufsteigenden Capetinger-Dynastie zum Herzen des künftigen Frankreich. St. Denis und sein charismatischer Abt Suger spielen dabei eine besondere Rolle. Als Grabkirche der französischen Könige seit Merowingerzeiten seit jeher ›royale‹ Abtei mit reichen Stiftungen, wurde sie schon früh als ›Krone des Reiches‹ und ›Mutter der französischen Kirche‹ gerühmt. Mit Abt Suger wird sie auch zum beherrschenden Staatssymbol: das Zentrum kirchlicher und politischer Macht, die geistige Keimzelle einer Monarchie mit europäischer Wirkung.15

Der große Abt Suger wird zu einer zentralen Figur dieses Prozesses. Der Bauernsohn war mit dem späteren König Ludwig VII. zusammen erzogen worden. 1122 wird Suger Abt, 1137 Ludwig französischer König. Zu dieser Fügung kommt das Format einer ungewöhnlichen Persönlichkeit. Sie vereint staatsmännisches Denken mit dem Organisationstalent des Administrators, das Geschick des umsichtigen Diplomaten mit realistischem Machtkalkül, den Theologen und Visionär mit dem Analytiker und Strategen. Als enger Vertrauter und Ratgeber wird er zur einflussreichsten Figur um den König. Der macht ihn während seiner Abwesenheit beim zweiten Kreuzzug von 1147 bis 1149 sogar zum Regenten Frankreichs. Das Banner des heiligen Dionysius, die geheiligte Reliquie der Abtei, führt die Heere an, mit denen der nach Frankreich eingefallene Kaiser Heinrich V. besiegt wird. Montioye Saint-Denis wird zum Schlachtruf der siegreichen Kriegsheere und der Klosterpatron, der Heilige Dionysius, zum Schutzheiligen Frankreichs. Aber Sugers Persönlichkeit geht nicht im politischen Szenario auf. Sie ist geprägt vom Geist der Hochscholastik. Der aber geht nicht in bloßer intellektueller Ratio auf mit ihren dialektischen Spielen von Thesen und Argumenten. Denn die logische rung durch Lichtgaden unter der Kuppelwölbung wie auch die großen Radfenster in der Picardie, vgl. H. Sedlmayr, Die Entstehung der Kathedrale. Nachdruck d. Ausgabe Zürich 1950, Wiesbaden 2001, S. 172–230. 15

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So wird es bereits in mittelalterlichen Quellen dargestellt, wie etwa bei J. Doublet, Histoire de l’abbaye de S. Denys en France, Paris 1625.

Einsicht und das ›Erkennen durch Gründe‹ treffen sich mit der geoffenbarten oder ›geschauten‹, jedenfalls überrationalen Wahrheit. »Der Glaube sucht die Vernunft«, wie es Anselm von Canterbury sagt. Diese Dialektik spiegelt nicht nur zwei unzertrennliche Aspekte abendländischen Geistes: Glaube und Denken, Offenbarung und Ratio, sondern auch die besondere Signatur der gotischen Welt. Denn unter dem Überbau christlicher Theologie einer triumphalen römischen Kirche, hinter dem Scharfsinn des Denkens und dem ersten Skeptizismus aristotelisch inspirierter Naturbeobachtung wirkt das unbesiegte Geisteserbe der Antike weiter: Gnosis und Neuplatonismus, Mystik, Magie, Kabbalah und Astrologie – es ist das Weltbild einer selbstverständlichen Transzendenzgewissheit, wie in allen alten Hochkulturen. Sie manifestiert sich in einem Realitätsbegriff, der ›diesseitige‹ und ›jenseitige‹ Wirklichkeit in einem synoptischen Bewusstsein umfasst, nicht als Antithese, sondern als ein Komplementär, das im kanonisierten Heilsapparat der ›Amts-Kirche‹ allerdings nie ganz aufgeht. Wie ein geheimer unterirdischer Strom speist es die mentalen Adern der Zeit und mischt sich allen Gedanken und Systemen. Das ist das potente Amalgam ›gotischen‹ Geistes, aus dem sich die Geburt der Kathedrale vollzieht. Das ist auch die hintergründige Folie für Abt Sugers visionäre Konzepte. Durch einen historischen Glücksfall wissen wir ziemlich genau, nach welchen Vorstellungen Suger St. Denis verwandelte. In seiner Schrift Über die Kirchenweihe von St. Denis und dem Verwaltungsbericht erläutert er nämlich die Einzelheiten seiner Konzeption. Obwohl er dabei auf die theologischen Bestände der Zeit und die geläufige, spät­antike und frühmittelalterliche Topik zurückgriff, erweist sich als maßgeblicher Kern die ›Symbolische Theologie‹ von Dionysius Areopagita. Sie gewinnt zentrale materiale, mentale und spirituelle Bedeutung.16 Die Schriften des christlichen Philosophen aus dem griechisch-syrischen Osten sind ebenso einflussreich wie er als Person obskur. Er lebte vermutlich im fünften Jahrhundert, aber seine wahre Identität bleibt ein Rätsel. Stattdessen sind zwei seiner fiktionalen Identitäten überliefert. Die eine stammt von ihm selbst, denn er borgte sich Namen und Nimbus 16

Ausgeführt bei Suger von St. Denis, Libellus de consecratione ecclesiae sancti Dionysii und De rebus in administratione sua gestis. Über den Stellenwert dieser Schriften für den konkreten Kathedralbau gibt es inzwischen unterschiedliche Bewertungen. Während Erwin Panofsky, der als erster die engen Verbindungen zwischen dem ästhetischen und dem theologischen Programm beschrieben hat (Abbot Suger on the Abbey Church of St.-Denis and its Art Treasures, Princeton 1946) sowie Otto von Simson (Die Gotische Kathedrale. Beiträge zu ihrer Entstehung und Bedeutung, Darmstadt 1968), deren zentrale Bedeutung aus größeren Zusammenhängen und den geistesgeschichtlichen Kontexten entwickeln, nivellieren ihn neuere Untersuchungen durch kritisch-positivistische Quellendeutung. Das geht bis zum Befund von »Allerweltsgedanken aus damaliger Theologie« für Sugers Ausführungen (Chr. Markschies, Gibt es eine »Theologie der gotischen Kathedrale«? Nochmals: Suger von Saint-Denis und Sankt Dionys vom Areopag, Heidelberg 1995). Ähnlich kritisch auch A. Speer u. G. Binding (Hg.), Abt Suger von Saint-Denis. Ausgewählte Schriften: Ordinatio, De consecratione, De adminsitratione, Darmstadt 2002, S. 95–107.

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eines Schülers von Apostel Paulus, des ersten Bischofs von Athen: nämlich von Dionysius dem Areopagiten, weshalb er heute als Pseudo-Dionysius bezeichnet wird. Die andere wuchs ihm durch einen phantasievollen Kirchenmann zu, der ihn für den ersten, den Märtyrertod gestorbenen Bischof von Paris hielt. Unter dieser Legende wurde er im mythensüchtigen Frankreich zum Schutzheiligen von St. Denis mit Grabstätte und Blutfahne. Die Essenz seiner wirkungsmächtigen Philosophie liegt in der mystischen Rolle des göttlichen Lichts mit der Hierarchie seiner ›Repräsentationen‹ auf den verschiedenen Seinsstufen, von der strahlenden Gottheit über die Chöre seiner Engel bis in die Verschattungen dunkelster Materie. Sie verbindet neuplatonische Licht-Metaphysik mit der christlichen Theologie des Johannesevangeliums, wo der göttliche Logos als das Licht begriffen wird, das dem Menschen in der Dunkelheit scheint, sei es als Erleuchtung im intellectus, wie schon bei Augustinus oder als physikalisches Licht, das seit der Genesis den Kosmos durchdringt: »Verschwände das Licht, würden alle Dinge ins Nichts verschwinden.« Weil aber das göttliche Licht in der raum-zeitlichen Welt unseres Existenzzustandes nur in Analogien, gleichsam durch verschiedene ›Filter‹ wahrgenommen werden kann, sind wir auf die Vermittlung durch sinnliche oder geistige Symbole angewiesen. Sie gewinnen so ihre Bedeutung als ›hinführende‹, anagogische Zeichen. In seinen Schriften über die Hierarchien, die ›himmlischen‹ (De coelesti hierarchia) und die ›kirchlichen‹ (De ecclesiastica hierarchia), wird die Essenz der Erkenntnistheorie des Pseudo-Dionysius greifbar: die doppelt bestimmte ›Brücke‹ zwischen Gott und Mensch, einmal als göttliche Ordnung der Schöpfung von oben und zum anderen als Weg zurück über eine heilige Stufenordnung von unten. Im Gedanken der Analogie aber manifestiert sich ein zentrales Prinzip mittelalterlichen Denkens. Danach sind alle Dinge nach dem Gesetz der Analogie erschaffen worden, dadurch sind sie – in unterschiedlichem Maße – Manifestationen Gottes, ›Symbole‹ des Transzendenten im Irdischen. Nach dem Grad ihrer Ähnlichkeit, nämlich wie viel vom Göttlichen in ihnen gegenwärtig ist, bestimmt sich ihr Platz in der Hierarchie und ihre Stellung in der Rangordnung des Seienden.17 Suger, der abbé constructeur, wohl mit einem genialen Architekten zur Seite, lässt uns keinen Augenblick im Unklaren über die enge Verbindung zwischen diesen Konzepten und ihrer Materialisierung in seinem Kirchenbau. Die Konzepte der Ausstattung, seine Erläuterungen in den beiden Abhandlungen und die Texte 17

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Vgl. das Corpus areopagiticium in der Edition von J. P. Migne, Patrologiae cursus completus…, Series Graeca 3. sowie die Untersuchungen zur Philosophie von Pseudo-Dionysius bei É. H. Gilson, La Philosophie au moyen-âge, Paris 1947, S. 80 ff. Darüber hinaus ist die Lichtmystik ein zentrales Thema des Mittelalters von Hugo von St. Victor über Johan Scotus Eriugena, dem ersten Übersetzer und Kommentator des Werks von Pseudo-Dionysius bis zum berühmtesten literarischen Zeugnis der gotischen Architektur, der Beschreibung des Gralstempels im Sangversopus Der Jüngere Titurel des mittelhochdeutschen Dichters von Albrecht von Scharfenberg, ediert v. K. A. Hahn, Quedlinburg u. Leipzig, 1842.

seiner Inschriften demonstrieren es nachdrücklich. Gleich die Inschriften am Eingang des neuen Kirchenbaus und am Chor weisen auf die unvergleichliche Schönheit des Leuchtenden und seine theologische Bedeutung hin.18 Seine Lichtmetaphysik aber setzt er konkret in einem Innenraum um, der von Gold und kostbaren Steinen glänzt, besonders aber in der Pracht, Funktion und Motivik der farbigen Fenster. Sie sind nicht bloße Wandöffnungen, sondern zentraler Teil einer »diaphanen Wandkonzeption« (Hans Janzen), die mit dem »neuen Luminismus« Stein in »leuchtende Materie« (Hans Sedlmayr) verwandelt. Ihre Bildprogramme demonstrieren die sinnliche Umsetzung der anagogischen Metaphorik und der dionysischen Theologie,19 ihre Farbensymphonien, die Transformationen des Lichts. Die Kathedrale von Chartres verwandelt an die 2000 Quadratmeter in leuchtende Flächen. Das berühmte ›Suger-Blau‹ der Fenster von St.-Denis wird zur Legende. Aber zum ›Klang‹ von Raum und Licht als Versinnlichung anagogischer wie analogischer Schönheit kommt der Klangraum der Musik. Abt Suger beschreibt sie bei der Einweihung des neuen Chores von St. Denis als ›Symphonie‹, mit der musikalisch der gleiche Zusammenklang wie von Architektur und Kosmos zum Ausdruck komme. Im liturgischen Gesang vernimmt er die Musik von Engeln, nicht die von Menschen und die sichtbare Hierarchie der mitfeiernden Prälaten ist ihm Abbild der unsichtbaren Hierarchie der Engel als erhabene Repräsentanten einer Struktur numinoser Geistwesen: »So feierlich, so unterschiedlich und doch so zusammenklingend, so nah beieinander, so froh vollzogen sie oben und unten die Feier der Messe anlässlich der Altarweihe, daß man die Melodie dank des Zusammenklangs und der verschmelzenden Harmonie eher für Engelsgesang als für menschliches Singen hielt, und alle stimmten mit Herz und Mund ein: Benedicta gloria Domini de loco suo«.20 Dieser Zusammenklang von ›Licht‹ und ›Musik‹ im Geisteskonzept der gotischen Kathedrale verweist, wie ihr architektonisches, letztlich auf höhere Metaphern, zu denen die vom ›Klingenden Licht‹ gehört und die sich nur über größere, geistige Analogien und Hintergründe ganz erschließen.21 18

Vgl. v. Simson (1968), S. 169 ff.

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Vielleicht am hintergründigsten mit der Wahl der alttestamentarischen Szene, wo Moses verschleiert vor den Israeliten erscheint. In St. Denis wird diese Szene zum Sinnbild der dionysischen Weltsicht, wonach der gesamte Kosmos als ein Schleier erscheint, der vom göttlichen Licht durchleuchtet wird.

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Vgl. Panofsky (1946), S. 118–120.

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Sie werden für unsere Zeit besonders im Bilder-Œuvre von Bȏ Yin Rȃ als Bestandteil seines geistigen Lehrwerks erfahrbar. Dort erscheinen in Gemälden seiner »Bilder des Ewigen« (Rolf Schott) wie Das klingende Licht, Schöpfungsklänge und Sonnensymphonie direkte Analogien. Aber ›musikalische Komposition‹ durchtönt strukturell das ganze Werk: »Gesetz im All ist ebensowohl tönend wie leuchtend« (R. Schott, Der Maler Bȏ Yin Rȃ, Zweite, umgearbeitete u. erneuerte Ausgabe, Zürich 1960, S. 159, mit den Abbildungen S. 160, 164 und 198 sowie besonders den Erläuterungen im Kapitel Schallweltvisi-

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Die real-erklingende Analogie entsteht zur gleichen Zeit im gleichen mentalen Ambiente an der Kathedrale von Notre-Dame in Paris: jene mehrstimmige Musik, die uns die Sammlung des Magnus Liber organi überliefert. Mit dem gotischen Neubau des Chores um 1163 durch Maurice de Sully beginnt die ›Geburt‹ des dritten Baues, ›Notre Dame III‹ wie er in der Baugeschichte heißt, – übrigens nach dem Vorbild von St. Denis mit doppeltem Chorumgang. Aus dem Jahr 1198 erfahren wir durch ein Dekret seines Nachfolgers, Odo de Sully, Genaueres über die Rolle dieser Musik in der Liturgie der Kathedrale. Danach werden die zwei-, drei- und vierstimmigen Organa an sechs Stellen des Gottesdienstes für die hohen Feste und Prozessionen, allen voran in der Weihnachts­ woche, gesungen.22 Außerdem bestimmte Odo, dass die Solisten, angetan mit seidenen Gewändern, die Organa vom Zentrum des Altars her auszuführen hätten. Über die Aufführungspraxis erfahren wir weiterhin, dass die mächtigen Tenores, die Grundstimmen des Chorals, mit bis zu fünf Sängern besetzt waren, die Organalstimmen hingegen immer solistisch. Kein Zweifel – die mehrstimmige Musik von Notre-Dame ist so selbstverständlicher Teil des ›gotischen Konzepts‹ wie Scholastik und Kathedrale.23 Das Magnus Liber Organi mit seinem gewaltigen Repertoire von mehr als 100 Organa stellt eine Art ›Summe‹ liturgischer Gesangskunst dar, die an der Seite der anderen berühmten Summen der Zeit steht: der theologischen eines Thomas von Aquin, der 700

on, S. 158–166). Auch der Komponist und Dirigent Felix Weingartner erkennt in diesen Bildern musikalische Entsprechungen, wie er in seiner persönlichen, überaus geglückten Einführung in das Lehrwerk von Bȏ Yin Rȃ ausführt (Bȏ Yin Rȃ, Basel 1923, S. 97 ff.). Aus Sicht seiner Harmonik-Lehre formuliert auch Hans Kayser diese visuell-musikalischen Konkordanzen, siehe Kapitel XI. 22

Es handelt sich um Gesänge aus sechs Responsorien (1. Vesper, Benedicamus domino, 3. und 4. Responsorium der Matutin sowie Graduale und Alleluja der Messe), die vor allem zur Weihnachtswoche mit Neujahrsfest, in mehr als 30 Aufführungen gesungen wurden. Dabei zeigt sich auch hier das streng hierarchische Denken im Rahmen der mittelalterlichen ordo–Bezogenheit, denn die polyphonen Sätze wurden den Festen entsprechend ihrem liturgischen Rang zugeordnet, vgl. C. Wright, Music and Ceremony at Notre Dame of Paris, 500–1550, Cambridge 1989 (= Cambridge Studies in Music), S. 237  ff. u. S. 265.

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Die offenkundigen Verbindungen zwischen gotischer Kathedrale und Mehrstimmigkeit wurden in der älteren Musikforschung zwar im Kontext der Notre Dame-Schule öfter thematisiert (bei Rudolf von Ficker, Walther Krüger, Jacques Handschin) sowie grundsätzlicher von Paul von Naredi-Rainer (Musiktheorie und Architektur, in: Geschichte der Musiktheorie hg. v. F. Zaminer, Bd. 1, Darmstadt 1985, S. 149–174) und im Hinblick auf Analogien mit den akustischen Verhältnissen von F. Winkler (Rekonstruktion historischer Klangstile unter dem Gesichtspunkt von Architektur und Raumakustik, in: Bericht über den 7. Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongress, Köln 1958, S. 295 ff.). In der neueren musikologischen Forschung sind sie allerdings, im Unterschied zur Kunstgeschichte, wie etwa bei H. Sedlmayr (1950), S. 35–38, 156, 284 ff., 290, 385 ff., kein Thema mehr.

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Predigten von Philippe le Chancelier in seiner Ars predicatoris oder den musiktheoretischen ›Summen‹ eines Jacobus von Lüttich oder Hieronymus de Moravia. Ebenso wie das Konzept der Kathedrale strahlt ihre Musik über das westliche Europa als Muster und Vorbild polyphoner Klangkunst aus. Ihr Repertoire verbreitet sich bis zum Ende des 13. Jahrhunderts vom spanischen Toledo bis zum schottischen St. Andrews. Stücke seiner (mutmaßlichen) Komponisten Leoninus und Perotinus24 finden sich in den Kodizes der Päpste in Rom und Avignon, den Klöstern von Silos und Las Huelgas, in der Londoner St. Pauls Cathedral und der königlichen Kapelle von Edward I. oder den englischen Abteien von Reading und Bury St. Edmunds. Hinter dem konkreten Zusammenhang von Kathedrale und ihrer Musik stehen aber vielerlei untergründige Verbindungen zwischen ›Bau‹ und ›Musik‹ aus dem Geist ›analogischer‹ Korrespondenzen. Konkrete Hinweise darauf liefern viele ikonographische Entsprechungen an baulichen Gestaltungselementen in Klöstern und Kirchen. Sie finden sich bereits im Bereich der Gregorianik, wie in der burgundischen Benediktinerabtei Cluny, einst der größten Kirche des Abendlandes. Dort hat die Forschung Darstellungen von Tonarten an den Kapitellen dechiffriert.25 Auch Mosaiken in Kirchen Roms oder eine (inzwischen verlorene) Fußbodendekoration des Chores von St. Remi in Reims nehmen Bezug auf gregorianische Melodien.26 Womöglich liegt sogar eine Art ›steinerner Notation‹ solcher Melodien, symbolisch verschlüsselt, in drei romanischen Kreuzgängen von katalanischen Kirchen vor.27 Eine tiefere Analogie zwischen ›Sehen‹ und ›Hören‹ als ein Phänomen, das sich als neues Bewusstsein für musikalische ›Struktur‹ manifestiert, bietet sich an, bringt man den ›Klangraum‹ der Notre-Dame-Polyphonie mit dem neuartigen gotischen Raumkonzept in Verbindung. 24

Diese Autorenschaft wird inzwischen als zweifelhafter Mythos und ›Konstrukt der Musikwissenschaft‹ infrage gestellt, vgl. J. Stenzl, Perotinus Magnus. Und die Musikforschung erschuf den ersten Komponisten. Nach ihrem Ebenbilde erschuf sie ihn, in: Musik-Konzepte 107 (Sonderband 2000).

25

Vgl. L. Schrade, Die Darstellung der Töne an den Kapitellen der Abteikirche zu Cluny, in: Dt. Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 7 (1929), S. 229  ff.; K. Meyer, The Eight Gregorian Modes on the Cluny Capitals, in: The Art Bulletin 34 (1952), S. 75 ff.

26

Vgl. M. Mauck, The Mosaic of the Triumphal Arch of S. Prassede: A Liturgical Interpretation, in: Speculum 62 (1987), S. 813–828; G. Marlot, Histoire de la ville, cité et université de Reims, Bd. 2., Reims 1845, S. 542 ff.

27

Das betrifft St. Cugat (bei Barcelona), die Kathedrale von Gerona sowie die Kathedrale Santa Maria de Ripoll, vgl. M. Schneider (1978). Die dort möglicherweise über Tierbilder verschlüsselten Töne, deren Tonhöhen, Melodieumfang sowie ihr (über die Anordnung der Säulen codierter) Rhythmus würden dann einen Hymnus zu Ehren des Titelheiligen des Klosters ergeben. Schneider wählt für diese metaphorische Verbindung von Sehen und Hören den schönen chinesischen Begriff des »Ohrenlichts«.

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»Das Klangbewusstsein ist nun untrennbar verknüpft mit der Vorstellung des Klangraumes und der Klangtiefe, das dem primären melodischen Empfinden ursprünglich fremd ist« (Rudolf von Ficker).28 Damit wäre das Gefüge der mehrstimmigen Klangräume gewissermaßen eine Antwort auf das veränderte Raumempfinden des transzendierenden ›Schwebens‹ im diaphanen, unendlichen, gotischen Kathedralraum. Der musikologische Befund macht das nachvollziehbar. Wenn sich die drei Oberstimmen der großen vierstimmigen organa quadrupla über den langen, liegenden Tönen der Fundamentstimme bewegen, dann ›loten‹ sie, gleichsam ›schwebend‹, die ausgedehnten Klangräume zwischen den Tönen des Chorals aus, verwandeln Statik in Bewegung. Eine groß angelegte musikalische Architektur wird erkennbar. Bereits der Beginn des feierlichen, vierstimmigen Organums Viderunt omnes, zugeschrieben dem Notre-Dame-Magister Perotinus, zeigt es eindrucksvoll mit seiner ausgedehnten Exposition des F-Klangraumes.

Die Lichtmetaphysik begegnet der heiligen Mathesis oder: das alte Erbe Alle ›Klang‹-Analogie von Raum und Musik im gotischen Konzept als sinnliche Hinführung zu übersinnlicher Erkenntnis durch gebaute Schönheit und diaphane Lichttheologie gründet aber zuletzt in tieferen Strukturen. Hinter den sinnlichen Korrespondenzen von steinerner und tönender Form stehen die konstruktiven von Zahlen und Proportionen – nicht anders als bereits in der pythagoreisch-platonischen Kosmologie und den Zeugnissen der alten Hochkulturen Babyloniens, Ägyptens oder von China. Sie stiften eine äußerlich oft verhüllte, aber innerlich wirksame Gemeinsamkeit zwischen Bauprogrammen und Regeln musikalischer Konstruktion – den damaligen Bauherrn und Künstlern so bewusst und selbstverständlich wie dem mittelalterlichen Menschen. Nur dem modernen eher rätselhaft. Denn, obwohl in unserer Moderne das rechnende Denken und seine technische Anwendung eine Bedeutung gewonnen hat wie nie zuvor, zieht sie daraus völlig andere Konsequenzen als das Mittelalter. Zum Rätsel trägt aber auch die bewusste Verschleierung der Konstruktionskonzepte bei, die in den mittelalterlichen Bauhütten – übrigens ganz im Unterschied zur Musiktheorie – als ›Hüttengeheimnisse‹ immer streng ›zunftgemäß‹ gehütet wurden und, weil bis ins 15. Jahrhundert fast nur mündlich tradiert, deshalb seit der Renaissance größtenteils als verloren gelten. Immerhin haben wir die steingewordenen Zeugnisse dieser Konzepte. Ihre ›Ordnungen‹ strahlen heute wie vor 800 Jahren. Damit liefern sie auch trotz karger schriftlicher Quellen moderner Forschung noch genügend Aufschluss. 28

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R. v. Ficker, Die Musik des Mittelalters und ihre Beziehung zum Geistesleben, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 3 (1925), S. 511; H. Sedlmayr (1950), S. 35–38, 156, 284 ff.

Bereits die phantasievollen Bilder-, Skulptur- und Symbolprogramme der Kathedralen mit ihrer Fülle von biblischen, theologischen und mythologischen Anspielungen sind keineswegs nach den modernen Vorstellungen einer frei flottierenden ästhetischen Phantasie organisiert.29 Vielmehr folgen sie nach Aufstellungsort, Raumbezug, Anzahl und Symmetrien präzisen Zahlenordnungen und kosmologischen Referenzen. Dazu gehören vor allem zahlensymbolische und astronomisch-astrologische Bezüge von der Orientierung nach geographischen Kriterien und Himmelsrichtungen bis zum Tierkreis.30 Als beiläufige Marginalie, aber den29

Hinter den meisten ihrer Elemente stehen lange Symboltraditionen, die nicht erst während der Gotik in Erscheinung treten. Beispiel dafür ist bereits der Grundriss der Kirchenbauten, der als Symbolisation des mythischen Großmenschen ›Adam Kadmon‹ der Kabbalah verstanden wird, ausgespannt auf dem Kreuz: die gestreckte Gestalt das Langschiff, die ausgebreiteten Arme das Querschiff, das Haupt der Chor (vgl. R. Schott, Symbolik gotischer Bauformen, in: Die Säule 9, Leipzig 1928, S. 1) oder die Achtzahl der Figurenbaldachine (vgl. Sedlmayr, 1950, S. 158).

30

Kein tieferes Verständnis von Philosophie, Kunst, Kultur und Kult, weder in den antiken Hochkulturen, noch in europäischem Mittelalter, Renaissance und Barock kann auf die Berücksichtigung der astrologischen Bezüge als evidente historische Fakten verzichten. In der kunstgeschichtlichen Forschung geschieht es in Ansätzen (vor allem mit Analysen von Bildprogrammen sowie Astrolabien durch Aby Warburg, Fritz Saxl und Walter Panofsky), in der musikgeschichtlichen kaum. Dabei geht es zunächst nicht um ihre Beurteilung aus Sicht der Moderne, sondern um ihre objektive Rolle in den Bedeutungskonzepten dieser Kulturen und Epochen. Niemand bestritt dort ernsthaft den Einfluss bestimmter astrologischer Konstellationen oder gar ein System, das bestimmte Aufschlüsse über die strukturelle Ordnung der Welt anbot. Die Astrologie hatte szientifischen Status, denn sie war eine systematische Beziehungslehre von ›oben‹ und ›unten‹, von Zusammenhängen zwischen kosmologischen Strukturen und menschlicher Welt, zwischen Makro- und Mikrokosmos nach dem mittelalterlichen Verständnis von der ›Einheit der Wirklichkeit‹. »Alle Dinge dieser Welt gehorchen den himmlischen Formen« (Ptolemäus im Karpos oder Centiloquium) oder, wie es in der Picatrix heißt, einem berühmten, ursprünglich arabischen Text, der im 15. Jahrhundert über das Spanische in seiner lateinischen Version weite Verbreitung fand: »Der Mikrokosmos wird dem Makrokosmos nachgebildet«. Danach besteht die Skala des Seienden, die ontologische Hierarchie, aus symmetrischen Ebenen und ihren Entsprechungen. Das aber entspricht dem gleichen analogischen Denken wie in der mystischen Philosophie von Pseudo-Dionysius und den gotischen Konzepten. Der Einfluss astrologischen Denkens reicht über den Neuplatonismus, zahlreiche arabische Texte und die Alchemie bis Paracelsus, Newton und Kepler. Vgl. A. Warburg, Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara, in: Gesammelte Schriften. Studienausgabe, hg. v. H. Bredekamp u. a., Berlin 1998, Abt. 1, 1.1, S. 459–481; ders., Orientalisierende Astrologie, in: Gesammelte Schriften (1998), Abt. 1, 1.2, S. 563–580; D. Blume, Regenten des Himmels. Astrologische Bilder in Mittelalter und Renaissance, Berlin 2000. Für eine rationale Bewertung der Astrologie nach ihrem tatsächlichen Gehalt aus moderner wissenschaftlicher Sicht muss aber auf tiefere Begründungen hingewiesen werden. Dazu zählt vor allem, dass es sich nicht um ein Kausalitätssystem handelt, sondern um ein Signatursystem: Die Himmelszeichen, d. h. die Sternkonstellationen sind nicht die Ursache, sondern lediglich die Zeichen für Ereignismöglichkeiten, wie es auch eine kompetente (im Unterschied zu einer populären) Wissenstradition überliefert, etwa wie bei Michael Scotus, Gelehrter am Hof des Staufer-Kaisers Friedrich II. Er stellt es entsprechend in seinen Schriften dar, so im Proenium und im Kapitel Liber de signis et imaginibus celi im Liber introductorius (verfasst etwa zwischen 1212 und 1230); vgl. dazu: L. Thorndike, A Hi-

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noch bezeichnend, fungiert eine weiße Fliese mit einem goldschimmernden Zapfen im grauen Stein im Süd-Querschiffs der Kathedrale von Chartres. Er leuchtet auf, wenn ihn am 21. Juni jeden Jahres um Mittag ein Sonnenstrahl trifft: eine Petitesse im komplexen Kosmos der Kathedralikonologie – und für die Zeitgenossen von Space Shuttle der NASA, Mondlandung und Vermessung ›Schwarzer Löcher‹ in Millionen-Lichtjahre-Ferne höchstens naives Detail. Und doch nichts weniger als die Erinnerung an eine kosmologische Referenzmarke von uraltem Format. Sie erinnert nämlich im christlichen Sakralbau unverhohlen an die alte heidnische Kosmologie: die Sonnenwend- und Äquinoktien-Bezüge, eine Referenzmarke, die vom englischen Stonehenge bis zu den Tempelanlagen Ägyptens, Vorderasiens und des präkolumbianischen Mesoamerikas in seinen Maya- und Inkabauten reicht. Und als offenbar sehr bewusste Planung, denn der Sonnenstrahl fällt durch eine präzis ausgesparte Stelle im Glas des Saint-Apollinaire-Fensters der Westmauer ein. Vieles von Umfang und Tiefe solcher Beziehungsgeflechte lässt sich etwa am Beispiel des Freiburger Münsters, des ersten gotischen Kathedralbaues außerhalb Frankreichs, verfolgen. Die vielen zahlensymbolischen und astrologischen Bezüge zwischen dem Skulpturenzyklus der Vorhalle, den Anordnungen der Chorkapellen und Strebepfeiler im Langhaus und den Zonen des Münsterturms sind gut erforscht.31 Sogar allerhand musikalische Assoziationen lassen sich zeigen.32 Dabei durchdringen sich, wie schon bei Pseudo-Dionysios in St. Denis, christliche, neuplatonische und sogar nordisch-heidnische Bezüge in einem organischen Bedeutungskosmos. story of magic and experimental sience. 8 Bde., 1–2 London, 3–8, New York 1923–1958, besonders Bd. 2, Kapitel 51, S. 307–337; ders., Michael Scot, London u. Edinburgh 1965 sowie S. Ackermann, Sternstunden am Kaiserhof. Michael Scotus und sein Buch von den Bildern und Zeichen des Himmels, Frankfurt a. M. 2009, S. 75 ff. Auch C. G. Jung geht von diesem Sachverhalt aus, vgl. C. G. Jung u. W. Pauli, Naturerklärung und Psyche: Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge, sowie: Der Einfluss archetypischer Vorstellungen auf die Bildung naturwissenschaftlicher Theorien bei Kepler, Zürich 1952. Entscheidende Einsichten zu den eigentlichen Wirkungsursachen aber vermittelt: Bȏ Yin Rȃ, Okkulte Rätsel, Zürich 1962, S. 24–38. 31

Vgl. H. Jantzen, Das Münster zu Freiburg, Magdeburg 1929; É. Mâle, L’art religieux du XIIIe siècle en France, Paris 1898. Kathedralbauten wie das Freiburger Münster repräsentieren ein Konzentrat des geistigen Wissens der Gotik und sind zugleich Indiz für die Bewusstseinslage ihrer Menschen. Wenn man sie in ihrem Beziehungskosmos begreifen will, dann führen nur tiefere hermeneutische, symbolkundliche und ideengeschichtliche Blickwinkel über die kunsthistorische Perspektive hinaus. Das fordert den positivistischen Geist der Moderne unter dem Verdacht der Spekulation heraus. Es hat aber mindestens den Vorzug, dass es dem immensen Informations- und Bedeutungsgehalt eines Objekts eine angemessenere Dechiffrierleistung zukommen lässt, wie es dem in viel größeren Bezügen und Analogien denkenden Menschen des Mittelalters entspricht. Einige Untersuchungen, wie etwa von Christian Louis Herre tragen dem Rechnung, vgl. Okkulte Symbolik des 13. Jahrhunderts. Der wissenschaftlich-philosophische und religiöse Ideengehalt der Bauhüttensymbolik des XIII. Jahrh. Mit besonderer Berücksichtigung des Vorhallenbildkreises im Münster zu Freiburg i. Br., Freiburg i. Br. 1918 und 1920.

32

Vgl. R. Hammerstein, Die Musik am Freiburger Münster, in: AfMw 9 (1952), S. 204–218.

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Eine besonders wichtige Rolle für die Konzepte der deutschen Kathedralen scheint übrigens der Dominikaner Albertus Magnus gespielt zu haben. Der Doctor universalis, oft als größter deutscher Gelehrter des Mittelalters apostrophiert, fungiert nicht nur als Mittelsmann zum geistigen Zentrum Paris, sondern verkörpert die Synthese der besten Weisheitsessenzen. Theologe, Ordenslehrer und Bischof, doch zugleich genau beobachtender Naturforscher, Kenner von Platon und Augustinus, doch zugleich engagierter ›Dolmetscher‹ der neuen, empirisch orientierten Philosophie von Aristoteles und beschlagen in den Schriften von Avicenna, ist er als Alchemie-, Astrologie- und Magiekundiger nicht nur Magnus, sondern vereint auch als Magus alle Aspekte universaler hochmittelalterlicher Wissenskultur.33 Die mächtigste Wirkung ›struktureller Ordnungen‹ liegt aber nicht in der Rhetorik der Bilder, sondern in Form und Gestalt der Bauwerke selbst. Ihre Architektur ist so auffallend von bestimmten Verhältnissen der Geometrie bestimmt, dass sie schon immer spätere Deutung herausgefordert hat. Deren Schwerpunkt lag in der älteren kunsthistorischen Forschung vor allem auf den technischen Funktionen dieser Struktur, den ›Ingenieurleistungen‹. Längst ist aber die Baugeometrie in ihrer Eigenbedeutung erkannt worden, nicht nur, weil sie der Schlüssel zu allen ›technischen‹ Baudetails ist, sondern weil sie als ›ordo von Kräften‹ die Essenz gotischen Geistes verkörpert. Er geht aber nicht in der bloßen Zusammenstellung tektonischer Funktionen auf, sondern strebt nach »ihrer Übersetzung in ein graphisches System«. Denn »die ästhetischen Werte der gotischen Architektur sind… lineare Werte… Volumen wird zu Linien reduziert, die als geo-

33

Geboren als Albert von Lauingen (um 1200–1280), wird er als konzeptioneller spiritus rector mit den Kathedralbauten von Freiburg, Straßburg, Regensburg und Köln in Verbindung gebracht. Ch. L. Herre (Anm. 31) deutet die Bauprogramme des Freiburger Münsters bevorzugt nach seinen Schriften, wobei neben den Symbolbildern aus Altem und Neuen Testament vor allem astrologische Bezüge eine Rolle spielen – ein besonders anschauliches Beispiel für die selbstverständliche Geltung der Astrologie als Wissenschaft, aber kein außergewöhnliches. Auch falls sein Speculum Astronomiae (Bd. 16 der alten Gesamtausgabe von August Borgnet, Paris 1890–1899) nicht von ihm stammen sollte (wofür die neuere Forschung keine Argumente liefert, vgl. P. Zambelli, The Speculum Astronomiae and its Enigma, Dordrecht, Boston, London 1992 [= Boston Studies in the Philosophy of Sience Vol. 135]), finden sich in seinen anderen Schriften vielerlei Hinweise auf die natürliche Einbeziehung astrologischer Tradition. Allerdings unterscheidet er streng zwischen einem zweifelhaften ›magischen‹ Verständnis im Sinne einer strikten Determinationslehre mit Einschränkung der menschlichen Willensfreiheit und einer Dispositionslehre von ›Einflüssen‹ als Folge höherer kosmologischer, ›göttlich‹ verstandener Ordnungsstrukturen – eine genuin gotische Weltsicht. Damit bewegt er sich nicht nur im gleichen mentalen Umfeld wie andere bedeutende Gelehrte seiner Zeit, etwa Roger Bacon, Thomas von Aquin oder V. da Bagnoregio, sondern steht auch in der besonderen Tradition dominikanischen Geistes wie Dietrich von Freiberg, Bernhard de la Trille, Giles de Lessines oder Gerard de Feltre.

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metrische Figuren in Erscheinung treten«: ein »geometrischer Funktionalismus« (Otto von Simson).34 Tatsächlich stehen hinter der Erscheinungsvielfalt immer die Variationen der gleichen geometrischen Grundformen: Quadrat, Rechteck, Dreieck und die regelmäßigen Vielecke, Hexagon, Oktagon. Wie ein Kanon bestimmen sie die Entwicklung von Grundriss und Aufriss der Kathedrale aus einem bestimmten, gewählten Grundmaß, dem ›Werkmaß‹, oft bis in die kleinsten Details. Die geometrischen Figuren sind aber nicht bloße Formelemente, sondern zugleich Proportionstypen. Ihre mathematischen Verhältnisse bestimmen die Maßverhältnisse der ›Baukomposition‹. Dabei treten immer wieder die gleichen, einfachen Proportionen auf: 1:1, 1:2 und 2:3. Dieses Bauen nach bestimmten Maßverhältnissen ist keine Neuerfindung der Gotik, sondern uraltes Erbe, das zuvor schon das Denken der Scholastik prägt. Dort wird für den legendären Archetyp aller abendländischen Tempel- und Kirchenbauten, dem Tempel Salomonis, der gleiche Proportionskanon für die überlieferten Hauptmaße reklamiert.35 Aber es ist auch ein Archetypus für einen höheren spirituellen Zusammenhang. Der Scholastiker Abaelard, ein gelehrter Mönch, der alles Göttliche über die Vernunft begriff, formuliert ihn noch nach 1500 Jahren als Verbindung zwischen irdischem Kirchengebäude, der überirdischen ›Himmelsstadt Jerusalem‹ und dem Kosmos der ›Welt‹, wenn er – ganz platonisch-pythagoreisch – erklärt, dass Salomons Tempel von derselben göttlichen Harmonie durchwaltet sei, wie die Himmelssphären.36 Auch griechische Tempel folgen diesen Proportionstypen,37 wie auch das Pantheon in Rom. Dort entspricht die Seite des eingeschriebenen Quadrats im Kreisgrundriss der Höhe vom Scheitel des Kuppelraums bis zum Gesims. Gleiche Portionsmuster zeigen viele Kirchen der Romanik, vor allem die Kirchen des Zisterzienserordens. In keinem anderen der christlichen Baustile treten die ›vollkommenen Konsonanzen‹, wie sie Augustinus rühmt und wie es das berühmte Hüttenbuch des gotischen Baumeisters Villard de Honnecourt lehrt, so häufig auf. In der frühen Zisterzienserabtei von Fontenay ist der Grundriss vom Oktavverhältnis (1:2) bestimmt, die Vierung vom Verhältnis 1:1, das Quintverhältnis 2:3 bestimmt die Relationen von Vierungsbreite zu ihrer Länge sowie von Vierungsbreite zur Gesamtbreite von Haupt- und Seitenschiffen, das Quartenverhältnis 3:4 die 34

Vgl. v. Simson (1968), S. 19.

35

Länge, Breite und Höhe des Bauwerks werden mit 60, 20 und 30 Ellen angegeben, die der Cella mit 20, 20, 20, die des Hofes mit 40, 20, 30 und die des Portals mit 20 und 10 Ellen, so im Buch 1. Könige, 6, vgl. Simson (1968), S. 59 ff. und J. Sauer, Symbolik des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Auffassung des Mittelalters, Freiburg 1902.

36

Petri Abaelardi, Theol. Christ. 1,5, in: Opera in 2 Bdn., hg. v. V. Cousin, Bd. 2, Paris 1859.

37

Vgl. H. Kayser, Paestum, Heidelberg 1958; D. Kolk, Harmonikale Proportionen in der griechischen Architektur, in: Antaios , Bd. 8, Heft 5, Stuttgart 1967.

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Relation zwischen Gesamtbreite von Haupt- und Seitenschiffen und der Länge des Querhauses einschließlich der Kapellen. Im Musterbuch von Villard de Honnecourt findet sich der Entwurf einer ad quadratum entworfenen Zisterzienserkirche. In der gotischen Kathedrale aber verdichten sich diese Proportionsmuster zum allgemeinen, zentralen Konzept, verfeinert durch Maßverhältnisse wie etwa dem aus dem Fünfeck entwickelten ›Goldenen Schnitt‹. Prominente Kathedralbauten wie in Straßburg, Chartres und Paris, aber auch in Lausanne, York und Peterborough sind exemplarische Zeugnisse dieser Konzepte nach ›rechtem Maß‹.38 Unverkennbar handelt es sich bei allen diesen Baukonzepten um die gleichen Proportionen, die auch in der Musik strukturelle Schlüsselbedeutung haben. Bereits bei Vitruv heißt es, dass »ein Architekt musikverständig sein muss« (De architectura libri X, 5. Buch, Kapitel 5). Augustinus, Treuhänder antiken Wissens und zugleich Gründerfigur christlicher Theologie, betrachtet die Zahlenverhältnisse dieser Proportionslehren als grundlegendes Regulativ musikalischer Struktur. Seine berühmte Definition der Musik als bene modulandi scientia bezeichnet das Zusammenspiel von Ertönen (modulatio), ästhetisch-ethischer Wirkung (bene) und einem wissenden, regelhaften Tun (scientia) nach dem Verständnis des mittelalterlichen Wissenschaftssystems der ›Sieben freien Künste‹. Im ersten Buch seiner in sechs Abhandlungen unterteilten De musica spricht er noch ganz aus griechischantikem Hintergrund von der Zahlengesetzlichkeit der Musik als motus rationabilis. Im sechsten Buch, nach seiner Taufe verfasst, verbindet er das antike Verständnis von der Musik als ›hörbares Abbild körperlicher Zahlen‹ (numeri corporales), folgend einem ›unhörbaren Abbild unkörperlicher Zahlen‹ (numeri incorporales), mit dem christlichen und spricht von einer göttlichen Herkunft dieser Beziehungen. Damit wird dem neuen, christlichen Weltbild Genüge getan, ohne Preisgabe der Ontologie des alten. Auch bei Anicius Manlius Torquatus Severinus Boethius (um 480–524), dem Gelehrten und Staatsmann aus römischem Hochadel, der als Konsul, Philosoph und Musiktheoretiker zum Kanzleichef des Ostgotenkönigs Theoderich wird und schließlich als dessen politischer Häftling tragisch den Henkertod stirbt, begründen diese Zahlenproportionen die Struktur von Musik und Welt. Seine zwischen 500 und 507 entstandenen fünf Bücher De institutione musica, immer neu abgeschrieben und über Jahrhunderte als grundlegende Musiklehre weitergegeben, 38

Vgl. v. Simson (1968), S. 75, 278–297. Obwohl die konzeptionelle Relevanz solcher Maßund Proportionsverhältnisse unstreitig ist, haben die Schwierigkeiten bei der konkreten Berechnung an den Bauwerken, nicht zuletzt wegen der nicht überlieferten Pläne der Bauhütten, zu vielerlei kontroversen Diskussionen und Deutungen mit einer kaum unüberschaubaren Fachliteratur in der modernen Forschung geführt. Vgl. die Überblicke bei H. Graf, Bibliographie zum Problem der Proportionen, Teil 1, von 1800 bis zur Gegenwart, Speyer 1958; K. Hecht, Maß und Zahl in der gotischen Baukunst, in: Abhandlungen der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, Bd. 21 (1969), S. 215–326.

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repräsentieren eine mathematisch fassbare Ratio als Erkenntnistheorie der Schöpfung: die pythagoreisch-platonische Kosmogonie. Der systematische Zusammenhang von Musik und mathematischen Wissenschaften, wie er im Quadrivium der Septem artes liberales zum Ausdruck kommt, spiegelt sich auch im Œuvre vieler bedeutender Verfasser musiktheoretischer Werke. Bezeichnend für den universalen Geist der Zeit ist, dass sich hier Mathematik, Geometrie, Astronomie, Grammatik und sogar Medizin treffen. Zu ihrer langen Reihe zählen Namen wie Hermannus Contractus der ›Lahme‹, berühmter Mönch und Lehrer auf der Reichenau, versiert in Arithmetik und Astronomie wie Wilhelm von Hirsau, als dortiger Abt eine wichtige Figur der cluniazensischen Reformbewegung oder der bedeutende Musiktheoretiker Prosdocimus de Beldemandis. Der hatte nicht nur als magister artium die italienische Trecento-Notation gegen die französische Ars nova verteidigt, sondern war auch magister medicinae und wurde schließlich Professor der Astronomie in Padua.39

Die Zahl als das ›Wesen der Dinge‹ Der Hintergrund dieser abendländischen Erkenntnistradition lässt sich, wie schon bei den Formulierungen von ›Ordnung‹ im Zusammenhang mit der musikalischen ›Systemebene‹ auf wenige Quellen zurückführen: die Schule des Pythagoras und ihre wichtigsten Vermittler, Platon und Aristoteles. Von Pythagoras selbst gibt es allerdings keine schriftlichen Quellen. Dazu kommt, dass er als Weisheitslehrer (und zugleich Haupt einer politischen Gemeinde mit größtem Einfluss in der Magna Graecia Unteritaliens) für einen Bund von Eingeweihten lehrte, wo sich Erkenntnisphilosophie mit Mysterienwissen mischt und wo das ›Rätsel‹ als Lehrmethode und Schutz vor Uneingeweihten fungierte. Damit war es mehr eine Art ›Geheimlehre‹ als ein prägnant fassbarer Wissenskorpus. Deshalb ist sein Wissen – kaum anders als die Baukonzepte der mittelalterlichen Dombauhütten – nur indirekt, verhüllt oder verschlüsselt auf die Späteren gekommen. Ihre Essenz liegt in einer Erkenntnistheorie, die in der ›Zahl das Wesen aller Dinge‹ erkennt. Als mathematische Ontologie durchtränkt sie das Denken der griechischen Antike in einer beständigen Referenz zu musikalischen Theoremen, wo in den Proportionslehren die Relationen fast immer durch Einsetzung der Tonwerte veranschaulicht werden. So etwa bei Demokrit, Euklid, Nikomachos und Platon. In seiner Politeia reiht er sie unter die ›vier ausgezeichneten Mathematika‹ ein, am tiefgründigsten kommt sie aber in seinem Spätdialog Timaios zum Ausdruck. 39

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Vgl. M. Bernhard, Das musikalische Fachschrifttum im lateinischen Mittelalter, in: Geschichte der Musiktheorie, Bd. 3 (1990), S. 60 ff. Eine typische Vita, die diese mentalen Zusammenhänge illustriert: der Italiener Georgius Anselmi aus Parma, Verfasser des Traktats De musica war als Arzt in Ferrara tätig, verfasst aber auch Werke über Astronomie, Astrologie und Medizin.

Hat er schon die ethische Qualität von ›Schönheit‹ über rationale Proportionen definiert (siehe Kapitel II), so entwirft er dort im Zusammenhang seiner Weltentstehungslehre eine Kosmogonie, die von der Konstruktion aller Dinge aus regelmäßigen Körpern ausgeht. Dabei kommt den Dreiecken eine besondere Bedeutung zu sowie der Mischung, Teilung und Zusammensetzung der ›Welt­seele‹ nach bestimmten zahlenmäßigen Proportionen. Ihre Entschlüsselung aber läuft auf eine bekannte Intervallreihe hinaus. Sie ist, umgesetzt in Tonverhältnisse, die dorische Stammleiter des antiken Tonsystems und, verstanden als Proportionslehre, die mathematische Grundlage für die Geometrie des Euklid und die Arithmetik des Nikomachos von Gerasa. Der Kern dieser Proportionslehre wird in einer Folge von Zahlen dargestellt, nämlich 1, 2, 3, 4 als Verhältnisse von 1:2 für die Oktave, 2:3 für die Quinte und 3:4 für die Quarte. Das sind die ›vollkommenen Konsonanzen‹ der damaligen Musiklehre. Diese Zahlenfolge repräsentiert aber auch die ersten vier ›Natürlichen Zahlen‹, die Vierheit der sogenannten ersten Tetraktys. Ihre Summe ergibt die Zehnzahl, die Dekas, die als Harmonia perfecta maxima als ›vollkommenste Zahl‹ bei den Pythagoreern göttliches Ansehen genoss. Sie nahm bereits bei den Babyloniern und Ägyptern eine gleiche Stellung ein und hat in der späthebräischen Geheimlehre der Kabbalah in den zehn Sefiroth dieselbe Bedeutung. Dort steht sie für die ›zehn Stufen des Alls, in denen Gott von der tiefsten Verborgenheit bis zur Offenbarung in seiner Schechina hinabsteigt‹. Darüber hinaus hat die Tetraktys vielerlei mathematische und strukturelle Bedeutungen, so als Basis der Dreieckszahlen und des Dezimalsystems bis zur Zuordnung vom Punkt zur Eins, der Linie zur Zwei, der Fläche zur Drei und dem Körper (insbesondere der Pyramide) zur Vier.40 Platons Entwurf im Timaios gilt der kosmologischen Beziehung zwischen Idee und Erscheinungswelt mittels eines pythagoreisch-mathematischen Konzepts. Sein Grundgedanke ist, dass eine bestimmte Ordnung das innerste Wesen aller Wirk40

Vgl. Platon, Timaios, 34 A ff. und zu den Deutungen der dorischen Tonleiter: J. Handschin: The ›Timaeus‹ Scale, in: Musica Disciplina, Bd. 4, Rom 1950; A. v. Thimus, Die harmonikale Symbolik des Altertums, m. Anhang v. R. Hasenclever: Die Grundzüge der esoterischen Harmonik des Altertums, 2. Bde., Köln 1868 u. 1876, Nachdruck Hildesheim u. New York, 1972, Bd. 1: S. 157, Bd. 2: S. 216; H. Kayser (1950), S. 186–187. Für die mathematisch-musikalische Darstellung von Platons Mischung aller drei ›Wesenheiten‹ zur ›Seelensubstanz‹ der ›Weltseele‹ der Schöpfung vgl. bei H. Pfrogner, Lebendige Tonwelt, München 1976, S. 107–110; W. Röd (Hg.), Geschichte der Philosophie, Bd. 1, 3. Aufl. München 2009, S. 61 ff. Tatsächlich stellt Platon zwei Formen der Tetraktys dar, vgl. R. Haase, Geschichte des harmonikalen Pythagoreismus, Wien 1969, S. 10–21. Im Übrigen scheint die Beschränkung der Intervalle auf Oktave, Quarte und Quinte mit den bewussten Verschleierungen der Pythagoreer zu tun zu haben, denn viel plausibler ist, dass sie sehr wohl auch die anderen Intervalle kannten, wie v. Thimus in seiner Rekonstruktion ihrer Lehren darlegt (op. cit. 1868 u. 1876), Bd. II, S. 81 ff. Die Tetraktys taucht auch schon in den mesopotamischen Kulturen und im alten China auf, vgl. Pfrogner (1976), S. 104. Zur Zehnzahl in der jüdischen Tradition, vgl. G. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a. M. 1967, S. 232–233.

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lichkeit konstituiert. Eine primäre, paradigmatische Form von Ordnung ist aber die mathematische. Deshalb werden Zahlen und geometrische Verhältnisse als Strukturprinzipien und Bauteile der Wirklichkeit betrachtet. Damit sind Zahlen keine abstrakten Denkgebilde, sondern – wie übrigens auch in der Kabbalah der jüdischen Tradition – Kräftekonfigurationen und ihre Beziehungen Aussagen über das Wesen der Dinge. Übrigens – obwohl Aristoteles, unser zweiter Treuhänder pythagoreischen Wissens, in Bezug auf die Musik empirisch orientiert ist und dort die ›Ohren zum Schiedsrichter‹ macht, bekennt er sich in seiner Metaphysik dazu, dass die Zahl ›das Prinzip‹ bzw. ›die Materie der Dinge‹ sei. Weil aber die Pythagoreer, so sagt Aristoteles, erkannt hätten, dass in den Konsonanzen wie in anderen (physikalischen) Wirklichkeitsbereichen dieselben Zahlen auftreten, komme ihnen der Charakter allgemeiner Wesenheiten oder Formen zu.

Die Harmonie der Sphären: Symbol und Erinnerung In der Verbindung zur astronomischen Ordnung liegt die Quelle für die Vorstellung von der Sphärenharmonie. Sie durchzieht seit Platon als mythische Metapher die römische Antike (Cicero, Somnium Scipionis, Censorius, De die natali), den Neuplatonismus (bei Plutarch, Ptolemäus, Philon von Alexandria, Nikomachos von Gerasa, Gregor von Nyssa) und das ganze Mittelalter. Obwohl sie bei Platon recht konkret mit der Besetzung der Planetensphären durch je eine singende Sirene dargestellt wird, ist sie Metapher und Symbol einer musikalisierten Ordnungsvorstellung mit einer hierarchischen Unterscheidung der Musiksphären nach musica coelestis oder musica mundana, der ›göttlichen‹ Musik des Universums und musica humana und musica instrumentalis, der durch den Menschen erzeugten Klänge. Als imitatio universaler ›Harmonien‹, die nichts mit realer Akustik zu tun haben, sondern mit bestimmten kosmologischen Zahlenverhältnissen, findet sie seit Boethius einen festen Ort im musikalischen Denken des Westens.41 Noch bei maßgeblichen Musikgelehrten der Barockzeit wie Athanasius Kircher und Andreas Werckmeister behält das Sinnbild der Sphärenharmonie seine Bedeutung als metaphysische Referenz in der Musik. Das gilt aber nicht nur für die zünftigen Musiktheoretiker. Obwohl die antiken Astronomen keine Möglichkeit hatten, Entfernungen in unserem Sonnensystem zu messen, führt die pythagoreische Konzeption, die Verhältnisse dort durch einfachste, eben ›konsonante‹ Zahlenverhältnisse zu beschreiben, schließlich bei Ga-

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Die älteste Erwähnung findet sich bei Platon in der Politeia, die folgenreichste bei Aristoteles, Vom Himmel, II 9. Genaueres dazu vgl. M. Schneider, Die musikalischen Grundlagen der Sphärenharmonie, in: Acta musicologica 32 (1960), S. 136–151 und J. Handschin, Ein mittelalterlicher Beitrag zur Lehre von der Sphärenharmonie, in: ZfMw 9 (1926/27), S. 193– 210.

lilei, Kopernikus und Kepler zu Ergebnissen, die auch vor der modernen Astronomie bestehen. Besonders bei Johannes Kepler manifestiert sich das höchst bedeutsam und überaus konkret. Als markante »Übergangsfigur zu unserem wissenschaftlichen Zeitalter« beschrieben – wie es der Kunsthistoriker Aby Warburg darstellt – als strenger Empiriker, Astrologe und Astronom, aber unbeirrbarer Gottesgläubiger, entwickelt er seine bis heute gültigen drei Gesetze aus rein pythagoreischem Denken: den ›Ellipsensatz‹ über die Bahn der Planeten um die Sonne, den ›Entfernungs-‹ oder ›Flächensatz‹ über die heliozentrischen Winkelgeschwindigkeiten der Planeten und den Satz über das Verhältnis von Planetenbahnen und Umlaufgeschwindigkeiten.42 Eine zentrale Rolle dabei spielen musikalische Analogien. In seinem Schlüsselwerk dazu, den Harmonices Mundi (1619), demonstriert er im dritten Buch, wie die aus exakter Beobachtung und Berechnung gefundenen Zahlenverhältnisse ›harmonisiert‹ werden können, das heißt mit musikalischen Proportionen und Tonzahlen korreliert, und zwar über die Geometrie, nicht die algebraische Arithmetik. Das vierte Buch entwickelt schließlich eine veritable Musikphilosophie über die mentalen ›Wesenheiten‹ der Harmonien, und im fünften Buch stellt er die ›Kontrapunktik‹ des Sonnensystems mit den ›Melodien‹ der Planeten direkt durch Noten

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Formuliert in seinem Hauptwerk Harmonice mundi, 5 Bde., mit einem Anhang, Linz 1619, libri V, 3. Kapitel, ediert als: J. Kepler, Gesammelte Werke, hg. von der Kepler-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 26 Bde., Bd. 6, hg. v. M. Caspar u. W. v. Dyck, München 1940, sowie als Weltharmonik, übersetzt u. eingeleitet v. M. Caspar, 2. Aufl. Darmstadt 1967, S. 291. Kepler hat diese Gesetze weder durch Spekulieren noch Probieren gefunden, wie Vertreter einer positivistisch orientierten Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts gerne unterstellten, sondern systematisch, durch konsequente Anwendung pythagoreischer ›Harmonie‹-Modelle. Allerdings denkt Kepler nicht nur kausal und solutionistisch, sondern auch konzeptionell und ist deswegen als antiker Universalist heutiger Wissenschaftsratio eher verdächtig als bewundernswert. Vgl. H. Kayser, Johannes Kepler und seine Weltharmonik, in: Die Harmonie der Welt, Beiträge zur harmonikalen Grundlagenforschung, hg. v. R. Haase, Heft 1 des Hans-Kayser-Instituts für harmonikale Grundlagenforschung an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien, Wien 1968, S. 20–25; ders.,Geschichte des Harmonikalen Pythagoreismus, Wien 1969 (= Publikationen der Wiener Musikakademie Bd. 3), S. 83–88. Dabei werden zwar Keplers Leistungen als Astronom auch von der modernen Wissenschaft anerkannt, der Astrologe hingegen wird, zeitgemäß, methodisch verdrängt. Obwohl er, den Kant »den schärfsten Denker« nannte »den ich weiß«, nicht nur Horoskope (u. a. das bekannte für Wallenstein) erstellt hat, sondern sich auch in vielen Bezügen vor allem unter dem Aspekt geometrischer Verhältnisse mit ihr auseinandergesetzt hat und in seiner Schrift Warnung an die Gegner der Astrologie. Tertius Interveniens, Frankfurt 1610, eine eindeutige Stellung bezog (ediert in Bd. 21.2.2 der Gesammelten Werke, Manuscripta astrologica, hg. v. F. Boockmann, D. de Liscia, M. Caspar, W. v. Dyck, München 2009). Vgl. dazu auch eine Edition m. Einführung u. Erläuterung, hg. v. F. Krafft, München 1971 (= Reihe Naturwissenschaftliche Texte bei Kindler) sowie: Die Astrologie des Johannes Kepler. Eine Auswahl aus seinen Schriften, hg. v. H. A. Strauß u. S. Strauß-Kloebe, München u. Berlin 1926.

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dar. Damit kommt er zu ›musikalischen‹ Relationen für unser Sonnensystem mit den damals bekannten sechs Planeten. Er berechnet nämlich, dass diese Planeten zwischen der größten und kleinsten Sonnenferne Geschwindigkeitsdifferenzen aufweisen, die mathematisiert den Proportionen musikalischer Intervalle entsprechen. 43 Leicht verfällt Keplers Lehrwerk vor den Forschungen einer mit quasi außeranthropologischen Dimensionen operierenden Kosmologie moderner Astronomie und Astrophysik zur bloßen ›Philosophie‹ eines überholten ›vorwissenschaftlichen‹ Weltbildes. Trotzdem bleibt es gültiges Zeugnis, nicht nur für bemerkenswerte Strukturbeziehungen, sondern eines anthropologisch-zentrierten Weltbildes, erschlossen mittels methodischer, rationaler Verfahren, die moderner Wissenschaft nicht widersprechen, sondern sie bestätigen.44 Wie im Falle der platonischen Begründung von ›Schönheit‹ führt die mathematische Auffassung von Ordnung über den logisch-rationalen Aspekt hinaus zu einer tieferen geistigen Ordnungsidee, die psychologische, ethische und soziale Zusammenhänge umfasst. Danach repräsentieren Zahlen das Intelligible der ›Welt‹, Zahlen und Zahlenverhältnisse stehen für eine erfahrbare ›Bedeutung‹. Deshalb werden numerische Größen nicht nur als ästhetische Bedeutungschiffren verstanden, sondern auch als Signaturen ethischer Qualitäten, wie in der mittelalterlichen Verbindung mit dem bonum. Das nimmt sehr konkrete Formen an. Denn danach werden Rechteckzahlen mit dem Begriff des Geraden und Unbegrenzten in Verbindung gebracht, Quadratzahlen mit dem des Ungeraden und Begrenzten, das Begrenzte aber mit der Zuordnung zum ›Guten‹, das Unbegrenzte zum ›Bösen‹.

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Danach entspricht Merkur mit 12:5 der Oktave plus kleiner Terz, Venus definiert mit 25:24 dem chromatischen Halbton, die Erde mit 16:15 entspricht dem diatonischen Halbton, Mars mit 3:2 der reinen Quinte, Jupiter mit 6:5 liefert die kleine Terz, Saturn mit 5:4 die große Terz. Stellt man diese Intervalle in einem einzigen Tonraum dar, so erhält man die Partitur einer (solarzentristischen) polyphonen ›Musik‹: »Es sind also die Himmelsbewegungen nichts anderes als eine fortwährende mehrstimmige Musik … durch den Verstand, nicht das Ohr faßbar.« Vgl. Harmonice Mundi, libri V (Edition 1940). Im Anhang heißt es: »Ich habe daher nach einer verbesserten Astronomie, die die wahren und einfachen Bewegungen der Planeten festhält […] und auf einem wahren quantitativen und messbaren Verhältnis beruhen, gezeigt […] dass alle harmonischen Proportionen auftreten, sowie die Tongeschlechter, das musikalische System oder die Tonleiter und die meisten Noten daraus, die Verschiedenheit der Tonarten, die Nachahmung der mehrstimmigen Musik durch die Planeten, schließlich die Gesamtkontrapunkte der sechs primären Planeten variiert nach den Tongeschlechtern und Tonarten«, vgl. Kepler, Weltharmonik, op. cit. (1967), S. 560; H. Kayser (1950), S. XXX u. ders., Der hörende Mensch, Berlin 1930, S. 172–198; D. P. Walker, Kepler’s Celestial Music, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 30 (1967), S. 228–250; M. Dickreiter, Der Musiktheoretiker Johannes Kepler, Bern 1973, S. 93–111; J. V. Field, Kepler’s Geometrical Cosmology, Chicago 1988, S. 112 ff.

44

Eine kritisch-ausgewogene Darstellung findet sich bei W. Harburger, Vorwort zur Edition Johannes Kepler, Kosmische Harmonie, in der Reihe: Der Dom. Bücher deutscher Mystik, hg. v. H. Kayser, Leipzig 1926.

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Für eine Proportion ganzer Zahlen stand im Griechischen der bedeutungsschwere Begriff des Logos, und unsere Wirklichkeit, wenigstens so lange sie als eine numinos determinierte verstanden wurde, war danach durch Logoi bestimmt. Das wird nach phythagoreischem Verständnis durch Zahlenverhältnisse idealer Vielheiten beschrieben. Sie bestehen aus Einsen und sie ergeben, realisiert man sie in der Proportion von Körpern (wie den Saiten eines Musikinstruments) eine hörbare Konsonanz. Das aber bedeutete, Oktave, Quinte und Quarte konnten aus dem Verständnis als Entitäten durch keine der antiken Zahlenwerte ›zerlegt‹ werden, selbst wenn man sie in Relation zueinander setzte. Zwar war dieser Auffassung nach das ›Unzählbare‹ durch Teilungen keineswegs fremd, aber vom Verständnis einer ›Seinsqualität‹ diskreter Zahlen her wurden zahllose Relationen bewusst aus dieser Arithmetik als ›unaussprechlich‹, ›irrational‹ und ›inkommensurabel‹ ausgesperrt. Das geschah unter dem Verdacht, dass solche Werte (metaphorisch) in die ›sublunare Welt‹ gehörten, »weil Dinge in diesen unteren Regionen infolge ihrer Ferne von einer wahren Gottheit verdrehte und verworrene Bewegungen haben«, wie es bei Aristoteles in Bezug auf bestimmte Himmelsbewegungen heißt. Dementsprechend wurden bestimmte, durch solche Relationen zustande kommende Töne, die ekmelischen Töne aus dem antiken Musiksystem ausgeklammert, wie es auch in der Akustik in Bezug auf das Spektrum der Obertöne geschieht.45 Erst die Moderne unternimmt es mit der Ekmelischen Musik, einer mikrotonalen Aufteilung der Oktave in 72 Stufen, diese Relationen zu verwenden. Für die griechische Antike aber gilt das anthropologische Format: Die Verwirklichung des solcherart ›Zählbaren‹ als ›Harmonie‹ im Bereich menschlichen Handelns gilt als ›gut‹, sie zu verfehlen als ›schlecht‹. Deshalb wird auch ›Tugend‹ als ein harmonisches Zusammenwirken der ›Seelenteile‹ des Menschen im Einklang mit größeren Harmonien verstanden und ethisches Handeln als Gleichklang mit universalen ›Konsonanzen‹. Ihr Abbild aber wird uns ›tönend‹ in der Musik erlebbar. Wie viel Hintergründiges sich generell in den Numeri und ihrer Ordnung birgt, zeigt sich noch heute in der Zahlentheorie, wo sich die moderne Mathematik etwa am Phänomen der Primzahlen abarbeitet.46

Scholastische Blüte antiker Ratio Dieser lange, unterirdische Traditionsstrom des pythagoreisch-platonischen Wissens bricht im 12. Jahrhundert plötzlich wieder mit Vehemenz an die Oberfläche des Zeitgeistes. Dabei finden ihre beiden Wesensseiten, die mystisch-kontempla45

Vgl. dazu D. Heller-Roazen, Der fünfte Hammer. Pythagoras und die Disharmonie der Welt, Frankfurt a. M. 2014, S. 47–51, 74; R. Haase, Grundlagen der harmonikalen Symbolik, München 1966, S. 15 ff., 78–82.

46

Vgl. M. du Sautoy, Die Musik der Primzahlen. Auf den Spuren des größten Rätsels der Mathematik, München 2006.

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tive und die rational-konstruktive, zwei beispielhafte Repräsentanten. Askese und Andacht prägen als Ideale den Orden der Zisterzienser und ihren größten Vertreter, den Abt Bernhard von Clairvaux. Er wendet sich gegen den sinnlichen Überschwang, die Ekstasen des »romanischen Expressionismus« und seiner verwirrenden Bilderwelten mit ihren Monstrositäten, gegen die eitle Pracht von Cluny und seinen Luxus und setzt ihnen mönchische Demut, Reinheit, Vollkommenheit und Einfachheit der Formen entgegen. Die andere Seite ist mit der ›Schule von Chartres‹ und einer ihrer Schlüsselfiguren, Bernhard von Chartres, verbunden. Mehr als andere Schulen der Scholastik demonstriert sie, dass Bibel, Pythagoras und Platon keine Gegensätze sind, dass christliche Offenbarung und antike Weltidee nicht divergieren, sondern im Konzept einer rationalen, göttlichen Ordnung konsonieren. »Wir sind auf den Schultern von Riesen hockende Zwerge. Wir sehen so mehr und weiter als sie, nicht weil unsere Sicht schärfer oder der Wuchs höher ist, sondern weil sie uns in die Lüfte heben und um ihre ganze gigantische Größe erhöhen«, beschreibt 1124 Bernhard von Chartres diese Illuminierung der Epoche durch das antike Wissenserbe. Im Mittelpunkt seiner Rezeption stehen Platons Timaios und die Schriften von Boethius. Eine neue Blüte der Boethius-Lektüre bringt nach Jahrhunderten der Abstinenz drei der wichtigsten Kommentare dazu hervor – sämtlich von Theologen, die zur ›Schule von Chartres‹ gezählt werden.47 Es ist vor allem ihr Potenzial an deduktiven und mathematischen Methoden, die als vollkommenes Muster ›wissenschaftlicher‹ Erkenntnissuche kultiviert werden. Die ›Mathematisierbarkeit‹ wird auch für alle theologischen Probleme und philosophischen Theorien zur methodischen Forderung. Denn nur die unantastbare Ratio der Zahl verbürgt die Erkenntnis des Notwendigen und Unveränderlichen im Wandel der Erscheinungen. Daraus folgt ein besonderer Stellenwert der mathematischen artes des Quadriviums. Sie werden als Voraussetzung jeden sinnvollen Philosophierens angesehen, aber schließlich auch als Königsweg zur Gotteserkenntnis in der Theologie und zur Welterkenntnis in der Naturphilosophie. Daraus entwickelt sich ein besonderes Instrumentarium, das mit mathematischen und geometrischen Verfahren operiert, deren Wurzeln zwar bei Pythagoras und Platon liegen, die aber gleichzeitig schon den Geist der neu entdeckten, kritischen Wissenschaftslehre des Aristoteles atmen. Thierry von Chartres, wahrscheinlich der Bruder Bernhards, entwickelt als einflussreicher Protagonist dieser Schule das Mysterium der Dreifaltigkeit über die 47

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Das 12. Jahrhundert gilt in der Theologie als aetas boetiana (M.-D. Chenu). Zwischen 1135 und 1170 verfassen Thierry von Chartres, Gilbert von Poitiers und Clarenbaldus von Arras bedeutende Kommentare zum Werk von Boethius. Vgl. É. Jeauneau, Lectio Philosophorum. Recherches sur l’École de Chartres, Amsterdam 1973; R. W. Southern, Platonism, Scholastic Method, and the School of Chartres, University of Reading, 1979.

Geometrie. Die Gleichheit der Personen wird durch das gleichseitige Dreieck repräsentiert, das Quadrat enthüllt die geheimnisvolle Beziehung zwischen Vater und Sohn. »Der Sohn ist die von der Einheit gezeugte Einheit, so wie das Quadrat aus der Vervielfältigung einer Größe mit sich selbst entsteht. Daher nenne ich mit Recht die zweite Person der Dreifaltigkeit das erste Quadrat.«48 Damit verwandeln sich die Lehren von Pythagoras und Platon in eine ›Geometrische Theologie‹, die als Erkenntnistheorie entweder more geometrico oder more mathematicorum verfährt und mit ihren strengen Methoden die Philosophie noch bis ins 17. Jahrhundert inspiriert, wie etwa bei Baruch de Spinoza.49 Chartres bezeugt solches Denken nicht nur in den Proportionen seiner Kathedrale, sondern besonders deutlich auch in der Gestaltung der Westfassade. In ihr verbindet sich ein geometrisches System mit einem Allegorienkomplex zu anschaulicher Symbolik. Denn in die durch Rechteck, Quadrat und gleichseitiges Dreieck bestimmte Fassade sind auch die Figuren-Allegorien der vier mathematischen Disziplinen, des Quadriviums, am Inkarnationsportal einkomponiert – proportioniert nach dem Goldenen Schnitt, der sectio aurea. Als ein Manifest des Geistes der ›Schule von Chartres‹ wird es »ein unvergängliches Denkmal für jene Weltformel von Maß und Zahl und Gewicht, mit der sie das Prinzip der Schöpfung zu begreifen versuchte« (O. v. Simson).50 Solche Apotheose der ›Zahlen‹ bis hin zu einer Heuristik der Gotteserkenntnis mag eine Moderne irritieren, der sowohl das Numinose mit ›Gott‹ wie die abgründige Bedeutung der ›Zahl‹ als ›Seins‹-Qualität abhandengekommen ist. Sie ist zwar ohne Zahlen, Mathematik und Geometrie in höchst komplexen Anwendungen völlig undenkbar, aber sie begreift und realisiert sie in völlig anderer Weise. Die materialisierte Apotheose aber in der Ästhetik der gotischen Kathedrale erschafft jene unvergängliche Schönheit, die uns unvermindert bis heute in Bann zieht. Sie realisiert die Abstraktheit von Zahl und Geometrie als sinnliches Muster eines tieferen Seins-Einklangs, das sich aber nicht ästhetizistisch im ›schönen Schein‹ der Oberfläche erschöpft, sondern als Abglanz einer größeren ›Wirklichkeit‹ aufscheint. Für die Bewusstseinslage des Mittelalters war das der ›Glanz der Wahrheit‹ schlechthin. Als splendor veritatis definiert es den Schönheitsbegriff eines ganzen Zeitalters – nicht durch subjektiven Geschmack, sondern durch rationale Triftigkeit.51

48

Vgl. v. Simson (1968), S. 44.

49

Vgl. M. Dreyer, More mathematicorum, Münster 1996 (= Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, Neue Folge Bd. 47). Noch 1677 folgt ihr Baruch Spinoza mit seiner Ethica ordine geometrico demonstrata.

50

Op. cit. (1968), S. 219 ff.

51

Über diese selbstverständliche Präsenz in jeder mittelalterlichen Ästhetik vgl. die Überblicke von U. Eco (1991) sowie R. Assunto, Die Theorie des Schönen im Mittelalter, Köln 1963 (= Du Mont Dokumente, Reihe I, hg. v. E. Grassi u. W. Hess, Geschichte der Ästhetik, Bd. II: Mittelalter).

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Der Eros einer kollektiven Spiritualität Moderne Soziologie sieht diese symbolbestimmte Erkenntnistheorie des Zeitalters auf die damaligen Metropolen beschränkt, auf die geschlossene Gesellschaft der Theologen und Gelehrten, auf elitäre Kathedralschulen und illustre Kollegien: also eher für den ›Campus‹, nicht für profane Gesellschaft und den Marktplatz. Ihre Wirkung war es aber offenbar keineswegs. Denn verfolgt man ihre Ausstrahlung in die Lebenswelt der Menschen, allem voran die beispiellose Hingabe und Begeisterung im kollektiven Aufbruch zum Bau ›ihrer‹ Kathedralen, so ist kaum vorstellbar, dass von der arkanen ›Geometrie‹ kein Weg zum allgemeinen Bewusstsein der Menschen geführt hat. Bereits die profanen Stadtgründungen des Hochmittelalters verraten etwas vom Bewusstsein für solche Signaturen. Die Stadtanlagen erweisen sich oft, wie die neuere Forschung entdeckt hat, nicht als die wild gewachsenen Gebilde als die wir sie heute wahrnehmen, sondern als Resultate eines verborgenen geometrischen Konzepts, das Bezugsrahmen, Achsen und Fixpunkte lieferte.52 In der sakralen Sphäre aber trifft sich die Symbolmacht der ›Geometrie‹ analogisch mit dem Enthusiasmus für das Spirituelle. Im Zeitraum von 1180 bis 1270 wurden in Frankreich 80 Kathedralen gebaut und beinahe 500 Klöster, wie ein eher vorsichtiger Historiker errechnet hat.53 So gewaltige Bauwerke wie Notre Dame von Chartres wurden von einer Gemeinde mit knapp 10 000 Einwohnern innerhalb einer einzigen Generation errichtet. Von der Realität dieser begeisterten Anstrengung zeichnet uns wieder Abt Suger von St. Denis ein Bild. Er schildert den Transport der Säulen für den neuen Chor: »So oft die Säulen vom untersten Abhang (des Steinbruchs) mit zusammengeknoteten Seilen emporgezogen wurden, schafften Einheimische und Nachbarn sie demütig weiter, Edle und Unedle, ihre Leiber, Ober- und Unterarme mit Tauen wie Zugtiere umschnürt; auf der abschüssigen Straße inmitten des Dorfes kamen unsere Dienstmannen entgegen, ließen ihr Arbeitszeug liegen und halfen mit eigener Kraft die Schwierigkei52

Die Untersuchung von mehreren Dutzend Städten zeigen (ausgehend von den Zähringer-Gründungen Freiburg, Villingen und Offenburg bis zu den Städten Lübeck, Speyer, München, Siena und Prag), dass ein aus zwei rechtwinkligen Dreiecken gebildetes ›Gründungsrechteck‹ eine entscheidende Rolle für alle maßgeblichen Fixpunkte der Stadt spielte. Mittels der Zwölfknotenschnur ließ sich der Halbkreis des Thales ziehen, in dem jedes Dreieck ein rechtwinkliges ist. Die Ecken wurden im gerodeten Gelände mit Pflöcken markiert, die als Peilpunkte für Verlängerungen oder Teilstrecken dienten. Am langen Messseil konnte der Pflug gelenkt werden, der den Bogen im Maßstab 1:1 in die Erde furchte. Vgl. K. Humpert u. M. Schenk, Entdeckung der mittelalterlichen Stadtplanung. Das Ende vom Mythos der »gewachsenen Stadt«, Stuttgart 2001. In das einheitliche Weltbild des Mittelalters unter der Signatur ›analogischer‹ Konzepte passt die triftige Vermutung der Autoren, dass diese verborgene Stadtgeometrie eine Parallele zu den bewegten gotischen Skulpturen und Miniaturen wie etwa in der Manesse-Handschrift aufweist.

53

Vgl. M. J. Bulteau, Monographie de la Cathédrale de Chartres. 3 Bde., Chartres, 1887–1892.

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ten des Weges überwinden mit ihrem Beistand, so viel sie nur konnten, Gott und den heiligen Märtyrern huldigend.« Als »Kult der Karren« beschreibt Hugo von Amiens, Erzbischof von Rouen, um 1145 in einem Brief diese neue Manifestation von Frömmigkeit, die sich in der Normandie sogar bis zu einer Massenbewegung entwickelte. Zweifellos hatten diese Kathedralbauten auch ganz profan mit gesellschaftlicher Identität und repräsentativer Darstellung zu tun. Die Kathedralen waren die Wegmarken auf den Routen der gewaltigen Pilgerströme nach magischen Orten wie Santiago de Compostela, das Ziel von Wallfahrten zu den heiligen Reliquien und der Mittelpunkt der großen Heiligen-Festtage, mit denen fast immer Messen oder ein gewaltiger Jahrmarkt (wie das Lendit von St. Denis) verbunden waren. Damit fungierten sie als Zentren des Gemeinwesens und Brennpunkte des sozialen und wirtschaftlichen Lebens der Region. Aber gleichzeitig waren sie untrennbar mit einem religiösen Leben verwoben, das in der gotischen Symbolwelt seine materielle Resonanz fand und in den engen Verbindungen mit Zünften, Bruderschaften, Kaufleuten, Pilgern, Baumeistern und Handwerkern seine soziale.54 Auch das kunstvolle Repertoire der mehrstimmigen Organa von Notre Dame war nicht elitäre Übung der Kleriker, sondern eine repräsentative ›Kathedralkunst‹ mit mächtiger sinnlicher, symbolischer und sozialer Außenwirkung. Zwar lehnten zunächst viele Klosterkirchen die mehrstimmige Musik ab und blieben bei der Praxis des einstimmigen gregorianischen Chorals. Das Generalkapitel der Dominikaner in Bologna verbot 1242 sogar ausdrücklich das mehrstimmige Singen für den Orden. Das war eine Entscheidung für die schlichte, kontemplative Seite des Chorals. Die Kathedrale aber in ihrer Funktion als gesellschaftliches Zentrum metropolitanen Formats wollte die kunstvolle repräsentative Seite. Dafür setzte sie Klangpracht und Zeremonienmacht offenbar gezielt publikumswirksam ein. Denn die Mehrzahl dieser Kompositionen aus dem Magnus Liber Organi von Notre Dame in Paris ist für liturgische Anlässe bestimmt, die auf eine breite Öffentlichkeit rechnen konnten, wie die Hauptfeste des Kirchenjahres und bestimmte Vespergottesdienste. Notre Dame von Paris demonstriert auch, dass bei derartigen Anlässen solch enorme Massen von Gläubigen die Kathedrale frequentierten, so dass bis über 30 bewaffnete Wächter eingesetzt wurden, um die Sicherheit und den Schutz der Kirchenschätze zu gewährleisten. Für die entlegeneren Stundengebete (wie Complet oder Laudes) steht hingegen keine polyphone Musik im Repertoire. Das gilt auch für die liturgisch bedeutungsvolle, ausgedehnte Matutin. Für sie findet sich nur zu vier Gelegenheiten mehrstimmige Musik – bezeichnenderweise zu hohen Festen (Weihnachten, Peter und Paul, Assumption bzw. Pfingsten), an denen die Matutin schon früher, nämlich am Abend nach der Complet, abgehalten wurde.55 54

Zu Berichten und Details dazu, auch hinsichtlich der Finanzierung dieser Bauten, vgl. A. Lecocq, Histoire du cloître Notre Dame des Chartres, in: Société archéologique d’Eure-etLoir, Mémoires Chartres, 1, 1858 sowie v. Simson (1954), S. 233–242.

55

Vgl. C. Wright (1989), S. 266 f.

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Schließlich spricht auch die weite Verbreitung dieses Repertoires über West­ europa für die Attraktion des Repräsentativen. Sein Glanz verdankt sich nicht zuletzt auch der politischen Dimension der gotischen Kathedrale. Der mystische Nationalismus, der sich in der Heiligkeit des Königtums kristallisierte und die Gotik als Kunst der französischen Krone machten sie zum Symbol eines machtbestimmten ›Diesseits‹. Nur genügte das allein der Bewusstseinslage des mittelalterlichen Menschen kaum. Erst wenn sein analogischer Geist in seinem tiefsten Bedürfnis, im Sichtbaren immer das Unsichtbare repräsentiert zu sehen, auf seine Kosten kam, gelang die äußere Identifikation mit der inneren. Nur sie konnte jene tieferen Kräfte entbinden, die wir als begeisterte materielle Mitwirkung aller Bürger an diesen fast übermenschlichen Unternehmungen am Werk sehen.

Arkana: Äußeres und Inneres Bauen Sucht man nach einer Verbindung zwischen ›Außen‹ und ›Innen‹ in diesem identifikatorischen ›Bauen‹, so erweist sich das Bild des ›Himmlischen Jerusalems‹ als Schlüsselmetapher. Errichtet nach den göttlichen Maßen der Geometrie, wird jeder Kathedralbau zu seinem irdischen Widerschein. Will man aber zum tiefsten Geheimnis dieses ›Bauens‹ vordringen, so stößt man zuletzt auf eine ›Analogie‹, die über die Metapher hinaus zur Metaphysik führt. Denn das ›äußere‹ Bauen wird letztlich zum Sinnbild eines ›inneren‹. Wieder enthüllt es uns Abt Suger recht konkret. In seiner Schrift Über die Kirchweihe von St. Denis lässt er keinen Zweifel über eine tiefe Verbindung zwischen diesen Modi des ›Bauens‹.56 Er beschreibt sie nämlich als einen beständigen seelischen Prozess, der sich zwischen dem steinernen Bauen und der schrittweisen inneren ›Er-bauung‹ und Erleuchtung durch die Vision der göttlichen Harmonie in der Kathedrale vollzieht. Im fünften Kapitel beschwört er bei der Vollendung des gotischen Chors das Bild von Christus als Eckstein, »der eine Wand mit der anderen verbindet«, in ihm wächst der ganze Bau »sei er geistiger oder materieller Natur – zu einem heiligen Tempel in dem Herrn, in welchem auch ihr lernt, miterbaut zu werden zu einer Behausung Gottes im Geist, durch uns selbst in geistlicher Weise, je höher und trefflicher wir uns um die Errichtung des materiellen Bauwerks bemühen« (kursiv v. Verfasser).57 Sugers Formulierungen offenbaren in ihrer geradezu methodischen Dialektik zwischen den seelisch-erlebnismäßigen und den ästhetisch-materiellen Aspekten des ›Bauens‹ eine zwar scholastisch getönte, aber letztlich aus mystisch-visionären Quellen gespeiste Auffassung. Aus ihr werden nicht nur Enthusiasmus, Hingabe 56

Abt Suger, De consecratione ecclesiae sancti Dionysii, 7, 238 und 5, 227. Vgl. O. v. Simson (1968), S. 182–191; Panofsky (1946), S. 223 f.; Sedlmayr (2001) S. 237.

57

Zitiert nach E. Panofsky, Abbot Suger on the Abbey Church of St.-Denis and its Art Treasures, Princeton 1946, S. 223 ff.

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und Motivation dieser Volksbewegung als gelebter ›Gottesdienst‹ verständlich – und zwar nicht über einen abstrakten Gottesbegriff und seinem steinernen Kotau, nicht als formales Bekenntnis und seinem Ritual, sondern als lebendiger psychologischer Prozess im Wissen um ein ›Tun‹, das als persönlicher innerer, seelisch-geistiger ›Dombau‹ erlebt zu werden vermag.58 Hier tönt die Erinnerung an einen alten metaphysischen Aspekt solcher Mystik des ›Bauens‹ auf. Im abendländischen Christentum hat sie als spirituelle Dimension eine lange Tradition. Augustinus, unser christlicher Treuhänder antiken Wissens, spricht in einer Predigt zur Kirchenweihe von den »lebendigen Steinen«, die in das »geistliche Gebäude Gottes eingebaut werden«.59 In den Schriften asketischer Orden spielt das Bild von der Seele als ›Tempel‹ eine bedeutende große Rolle und seine Heiligung wird als eine ›baumeisterlichen Tat‹ beschrieben. Nichts anderes liegt auch der benediktinischen Auffassung der täglichen Arbeit als Akt der ›Erbauung‹ zugrunde, womit nicht müßiggängerisches Entertainment gemeint ist, sondern ein tätiges Er-bauen (Dom Jean Leclercq).60

Wirkungen Die spirituelle Matrix solchen ›Bauens‹ wirkt in einer bedeutsamen Erscheinungsform weiter. Vom gotischen Steinmetz, dessen Tun durch diese Zusammenhänge vom ›Maurer‹ zur Symbolfigur und dem Träger von Zunftgeheimnissen nobilitiert wird, strahlt sie aus bis zur ›Maurerischen‹ Symbolik der späteren FreimaurerBünde (s. Kapitel VII). Das Ensemble ihrer Symbole, Zirkel und Winkel und das Bild vom ›rauen und vom ›kubischen‹ (das heißt: behauenen) Stein tradieren diese Baugeheimnisse. Ihre ›Grade‹ aber erinnern an eine hierarchische Ordnung, deren vollkommenstes Abbild die gotische Kathedrale ist. Dort bedient ›Hierarchie‹ allerdings nicht 58

»Für Suger wie für seinen Meister Augustinus besteht dieser Prozeß weniger in der physischen Anstrengung als in der schrittweisen ›Erbauung‹ jener, die daran arbeiten und der Erleuchtung ihrer Seelen durch die Vision der göttlichen Harmonie, die sich dann im sichtbaren Kunstwerk widerspiegelt«, v. Simson (1968), S. 183.

59

Vgl. Augustin, Sermones 337 (Patrologiae cursus…, hg. v. Migne, Paris 1844–1880, 38, 1476).

60

Das ›Wissen‹ um solche Zusammenhänge, das in vielerlei Formen tradiert wird, rührt an die tiefste, archetypische Matrix aller Tempelbauten, Kathedralen, Basiliken, Kirchen und Dome. Sie ist letztlich nicht Reflex eines blinden Aktionismus des homo faber, sondern verdankt sich dem Erbe innerer Ahnung im menschlichen Tiefenbewusstsein, das in einer größeren, metaphysischen Wirklichkeit gründet: der ›Dom‹ als Sinnbild der »Hütte Gottes bei den Menschen« wie es Bȏ Yin Râ darlegt: Das Buch vom lebendigen Gott (1927), S. 13 und, betreffend die Metapher des ›Dombaues‹ im Hinblick auf seelische ›Selbstformung‹, im Kapitel Die Baumeister am Dome der Menschheit und Das Geheimnis der alten Dombauhütten, in: Mehr Licht (1936), S. 59 u. S. 25 sowie: Das Buch vom Jenseits (1929), S. 71, ferner bei R. Schott (1960), S. 174–180, der dort vom »äonischen Menschheitsdom« spricht.

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eine moderne Lesart als repressives System unfreier Individualitäten, sondern das Strukturbild einer höheren, organischen Ordnung, in der jeder seinen ihm zukommenden und angemessenen Platz einnimmt: suum cuique. Im Abbild des tektonischen Gefüges vereinen sich die unterschiedlichsten Bauelemente zu einem Ganzen, in dem jedes, ob unscheinbarer Quaderstein, tragender Pfeiler, dekorative Rippe oder strahlende Kreuzblume, einem Bau-Ganzen dient, bis hin zur apotropäischen oder auch ironischen Dämonologie der Wasserspeier und Teufelsfratzen, die, manichäisch, als Teil diesseitiger Wirklichkeit ebenso in die Einheit des universalen Kathedralkonzepts einbezogen werden wie das ›Göttliche‹. Was treffend, aber vordergründig als soziale Analogie verstanden wurde, nämlich »als adäquatestes Sinnbild der mittelalterlichen Gesellschaft« (Gustav Landauer)61, hat aber auch hier eine hintergründige, spirituelle Dimension. Sie liegt im Abbildcharakter einer höheren, hierarchisch gestuften Wirklichkeitsordnung: Abt Sugers geistiger Führer, Pseudo-Dionysius Areopagita liefert sie mit seinen Hierarchia caelestis.62 Diese Einheit von gebauter Ästhetik, kosmologischer Ratio und spirituellem Sinn als Signatur einer ganzen Epoche ist Geschichte. Ebenso wie ihre Macht als Bedeutungskonzept einer ganzen Gesellschaft. Dem heutigen Menschen mag die logische Ekstase der scholastischen Dialektik und die Zuspitzung aller Erkenntnissuche bis zur geometrischen Theologie als Exzess erscheinen. Die Konzepte des pythagoreisch-platonischen Weltbildes als Ausdruck einer höheren Ordnung waren aber nach der Gotik keineswegs erledigt. In der Renaissance blüht das Geisteserbe in der ›Platonischen Akademie‹ am Hof der Medici spektakulär wieder auf und die Renaissance-Baumeister Alberti und Palladio bauen mit ihren Proportionslehren darauf auf. Das Genie Raffaele Santi verblüfft als junger Mahler mit der intimen Kenntnis einer Schlüsselikone der Pythagoreer. Auf seinem gewaltigen Fresco Die Schule von Athen für eines der Repräsentationszimmer des Papstes, der Stanza della Segnatura, hält eine Schülerin dem in der linken Bildhälfte positionierten Pythagoras eine Tafel hin, auf der sich – kaum bekannt zu dieser Zeit – beide Formen der Tetraktys (nämlich die Reihen 1,

61

G. Landauer, Die Revolution, in: Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien, hg. v. M. Buber, Bd. 13, Frankfurt a. M. 1907, S. 174.

62

Der Pseudo-Areopagit setzt die »Himmlische Hierarchie« ausdrücklich in Parallele zur »kirchlichen Hierarchie«, die im capetinischen Frankreich nicht von der politischen Hierarchie unterschieden war. Hugo von St. Victor beschreibt dann in seinem Kommentar zu den Himmlischen Hierarchien von Dionysius die ›menschliche Hierarchie‹ ausdrücklich als Abbild der Engelshierarchie (Commentaria in Hierarchiam caelestem 2, ediert in Migne, Paris, 1844–1880, S. 175, 946) und Wilhelm von Auvergne, Bischof von Paris, Berater des Königs, setzt sie in Analogie zum Aufbau des Königshofes und seiner Würdenträger (De universo 2,2. Opera, Orléans, 1674, S. 987 ff.); zur tieferen Begründung, vgl. Anm. 56.

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2, 3, 4 und 6, 8, 9, 12) vereint finden.63 Nimmt man die bildtechnischen Kompositionsprinzipien Raffaels dazu, besonders deutlich in seinem Gemälde Sposalizio das so auffällig nach ›musikalischen‹ Proportionen komponiert ist, so muss man ihm ein profundes Wissen um ›harmonikale‹ Zusammenhänge attestieren.64 Nach Johannes Kepler, »Dem deutschen Pythagoras« (Max Caspar), verlässt sich aber auch Descartes insofern auf die mathematische Ratio, wenn er alle Erscheinungen des physikalischen Alls der Zahlengesetzlichkeit unterliegen lässt, um »im großen Buche der Welt zu lesen«. Nicht weniger sein lebenslanger Freund, der Franziskaner Marin Mersenne. Er ist nicht nur der (physikalische) Entdecker der Obertöne und mit seiner Schrift Harmonie universelle (1636/37) eine besonders wichtige Quelle der Musiktheorie, sondern auch ein überzeugter Anwalt pythagoreischer Zahlenordnung. »In der ganzen Arithmetik gibt es nichts Nützlicheres als die Intervallproportionen«, bemerkt er. Auch bedeutende Musiktheoretiker wie Gioseffo Zarlino, Jean-Philippe Rameau und Giuseppe Tartini bekennen sich dazu. Rameau ordnet am Ende seines Lebens sogar die Geometrie der Musik unter und Giuseppe Tartini, Entdecker der Kombinationstöne, besteht in seinem Trattato di musica (1754) auf der Verbindung von Geometrie und Tonreihen als Prinzip seiner akustischen Grundlagen. Gottfried Wilhelm Leibniz schließlich, Zeitgenosse Johann Sebastian Bachs, Universalgelehrter, Mathematiker, Physiker, Jurist, Historiker und Diplomat, verdankt seinem durch und durch pythagoreisch denkenden Lehrer Erhard Weigel Wesentliches für seine Monadologie, das Konzept einer unbewussten, kosmischen Synchronisation der Seelen durch eine ›Prästabilisierte Harmonie‹. Ein anderer Zeitgenosse Bachs schließlich, der bedeutende Musiktheoretiker und versierte Organist Andreas Werckmeister (1645–1706), mit ihm wahrscheinlich sogar bekannt über seinen Schüler Johann Georg Walther, Bachs Vetter und Freund, steht noch immer vollkommen auf dem Boden der pythagoreisch-platonischen Numerus-Lehre. »Die Musica ist eine scientia mathematica«, die der Metaphysik unterstehe, nicht der Physik, erklärt er in seiner Schrift Musicae mathematicae Hodegus curiosus… (1686/87), das subjectum musicae sei das numerus sonorus, nicht das sonus numeratus eines physikalischen Verständnisses. Danach ist die zahlenhafte Ordnung, wie sie im pythagoreischen Proportionsgefüge ihren Ausdruck findet, ihrer sinnlichen Erscheinungsweise so vorausgesetzt, wie die forma der materia in der Ontologie der Scholastik. Wenn Werckmeister schließlich die Stufen63

Das lässt Raffael als ›Eingeweihten‹ erscheinen, denn die gemeinsame Darstellung beider Zahlenreihen, deren Überlieferung stets getrennt erfolgte, sind zur Entstehungszeit des Frescos, 1510/11, keineswegs selbstverständlich. Die früheste bekannte Behandlung beider Tetraktys-Reihen findet sich erst 1551 beim deutschen Humanisten Joachim Camerarius, vgl. J. Schwabe, Hans Kaysers letzte Entdeckung: Die pythagoreische Tetraktys auf Raffaels ›Schule von Athen‹, in: Symbolon, Jahrbuch für Symbolforschung, Bd. 5, Basel 1966 und K. Oberhuber, Polarität und Synthese in Raphaels ›Schule von Athen‹, Stuttgart 1983.

64

Vgl. J. Traeger, Renaissance und Religion. Die Kunst des Glaubens im Zeitalter Raphaels, München 1997, S. 279, 290, 330.

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folge von der göttlichen Unität: »je näher ein Ding der Unität ist, je deutlicher und vollkommener, je weiter je unvollkommener und verwirret es sei« musikalisch als Bewegung von der Oktavproportion 1:1 für die Unität oder Äqualität über die darauf folgenden Konsonanzen als Verlust an Vollkommenheit versteht, der sich fortsetzt über die Dissonanzen bis zu den chromatischen und den enharmonischen Intervallen mit ihren höchst komplizierten Proportionen, dann beschreibt er damit nichts anderes als eine musikalische Repräsentation der Metapher vom mutierenden ›göttlichen Licht‹ auf den verschiedenen Seinsstufen. Damit aber stellt er sich als Musikdenker in eine Wissenstradition, wie sie in der Lichtmetaphysik der Scholastik und Gotik von Pseudo-Dyonisius Areopagita bis zu Abt Suger von St. Denis formuliert ist. Wenn er aber diese musikalischen Proportionen in ein direktes Verhältnis zu den dadurch ausgelösten ›Affekten‹ bringt, so liefert er damit zum einen eine rationale Begründung der barocken Affektenlehre, so wie Platon und die Scholastik für die ›Schönheit‹ als strukturelle Ratio eines ›Vollkommenen‹. Zum anderen ist es auch eine anthropologische, nämlich für die psychologische Wirkung musikalischer Systemelemente als seelisch-emotionale ›Bedeutung‹.65 Das Gleiche greift eine moderne Rekonstruktion und umfassende Neuformulierung pythagoreischen Denkens unter dem Begriff Harmonik auf. Ihre beiden Begründer sind Albert von Thimus (1806–1878) und Hans Kayser (1891–1964). Von Thimus bemühte sich als erster nach Kepler um eine Wiederherstellung pythagoreischer Kerninhalte, die sich hinter beabsichtigter Verschleierung, unabsichtlichem Missverstehen und späterer Kontaminierung verbergen. Verstanden als umfassende Symbollehre auf mathematischer Grundlage, weist er von da aus ihre Verbindungen auf zu den Musikanschauungen anderer Hochkulturen.66 Hans Kayser erweitert in seinem umfangreichen Lehrwerk von der Harmonik diese Erkenntnistradition nicht nur systematisch zu einer wissenschaftlichen Morphologie ›harmonikaler‹ Analogien in vielen Bereichen als eine ›Ganzheits65

»Es stecken zwar schöne affectus und Bewegungen in dem Gebrauch der dissonantien, sonderlich da man etwas trauriges will einführen, und ist sehr rationabel. Denn was weit weg von der aequalität oder Vollkommenheit, das ist trauriger, verirrter Natur… Wenn denn dieselbigen einem bevorab traurigen, schwermütigen und gleichsam bestürzten Menschen durch die music vorgetragen werden, so wird derselbe dadurch noch bestürzter und bewegter gemacht, weil er seines gleichen findet. Darum muß man sehr behutsam mit dem Gebrauch der Dissonantien verfahren, damit die gar zu große und harte Veränderung nicht eine ungeduld und Ekel erwecke….«, Musicae mathematicae Hodegus…, Cap. XXVIII, S. 84 (digital ediert v. d. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Universitäts- u. Landesbibliothek v. Sachsen-Anhalt, Digitale Sammlungen des 16.–19. Jh.).

66

A. v. Thimus, Die harmonikale Symbolik des Altertums, 2. Bde., Köln 1868 u. 1876. Diese bedeutende Publikation ist, nach Keplers letzter, eigenständiger Rezeption der pythagoreisch-harmonikalen Tradition mit wissenschaftlicher Methodik, der erste moderne Versuch dieser Art. Trotz seiner komplizierten Darstellung, in etwas altertümlicher Sprachdiktion und viel mathematisches Wissen voraussetzend, ist sie deshalb singulär – bedauerlicherweise kaum mit Resonanz in der musikologischen Fachwissenschaft.

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lehre‹, sondern stellt auch wieder die alte Verbindung zwischen der Mathesis und der Anthropologie her, zwischen den Zahlen und ihrer psychophysischen Bedeutung. Sein interdisziplinärer Blick erfasst die Proportionen als Grundmuster von ›Schwingungsformen‹ in den Tonsystemen der Musik wie den antiken Tempeln, in Formen des menschlichen Schädels wie in Struktureigenheiten von chemischen Verbindungen, Pflanzen und Kristallen. Die alte Verbindung von Musik und Architektur über die Brücke der Proportionen inspiriert ihn zu einer klugen erkenntnistheoretischen Analogie. Er stellt nämlich der visuellen Weltwahrnehmung, die hörende zur Seite. Er ergänzt den visuellen Fokus einer ›Anschauung der Welt‹ in der Aisthesis durch eine ›Anhörung der Welt‹ in der Akróasis. Damit erhält der Gehörsinn als eine Instanz der Bedeutungserfahrung einen dem optischen Sinn gleichwertigen Rang.67 Schließlich erweist sich auch modernste Naturwissenschaft noch insofern als Erbe pythagoreisch-platonischen Denkens, wenn sie die Natur als rationales, mittels mathematischer Methoden erfassbares, ja sogar berechenbares ›System‹ begreift. Als Kritik bringt es der ironische Aphorismus des Philosophen Alfred North Whitehead auf den Punkt, wenn er der ganzen philosophischen Tradition Europas attestiert, »dass sie (nur) aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht.«68

Weiterbauen oder: Detailarbeit. Von der Ars Antiqua zur Ars nova Die Dynamik des componere lässt die lapidaren Archetypen der Notre-Dame-Organa bald hinter sich. Die rasante Entwicklung der Notenschrift zeigt, wie am Detail der musikalischen ›Konstruktion‹ gearbeitet wird. Zuerst geht es darum, Töne und Klänge aus den starren Blöcken der Modalmusik zu individuellem Leben zu befreien. Dann muss man lernen, mit ihrer Individualität umzugehen. Das heißt,

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Hans Kayser greift, in gleicher Absicht wie v. Thimus um Rekonstruktion der Fakten pythagoreischer Theorie vor allem auf die Neupythagoreer Nikomachos und Jamblichos zurück. Sein grundlegendes Lehrbuch der Harmonik, Zürich 1950, stellt die mathematischen Zusammenhänge in den Mittelpunkt. Weitere diesbezügliche Werke: Der hörende Mensch, Elemente eines akustischen Weltbildes, Berlin 1932; Vom Klang der Welt, Zürich 1937; Grundriß eines Systems der harmonikalen Wertformen, Zürich 1938; Akróasis. Die Lehre von der Harmonik der Welt, Zürich 1946 u. Stuttgart 1947; Bevor die Engel sangen. Eine harmonikale Anthologie, Basel 1953; Paestum. Die harmonikale Symbolik der drei altgriechischen Tempel, Heidelberg 1958. 1967 richtet die Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien das Hans-Kayser-Institut für Harmonikale Grundlagenforschung ein. Dort setzte ein Schüler Kaysers, Rudolf Haase, diese Forschungen fort und edierte weitere Fachliteratur dazu (siehe auch Kapitel XI und Kapitel XII). Auch Musiktherapie und Systematische Musikwissenschaft greifen diese Ansätze teilweise auf, wie etwa bei Martin Vogel (Die Enharmonik der Griechen, Düsseldorf 1963; Die Lehre von den Tonbeziehungen, Bonn 1975); sie finden aber in neuerer Musikwissenschaft, Musikphilosophie und Ästhetiktheorie keine Beachtung mehr.

68

A. N. Whitehead, Process and Reality. An Essay on Cosmopolity, New York 1929.

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die Verhältnisse von Tondauer und rhythmischem Miteinander rational zu regeln und präzise zu formulieren. Das Schlüsselwort dafür lautet: mensura. Es steht für die genaue Messbarkeit der Teile des musikalischen Satzbaues. Deshalb figuriert diese Musik in der Musikgeschichtsschreibung als Mensuralmusik. Am wichtigsten wird, den Zeitwert eines Tones durch die Form der Note anzuzeigen: Longa, Brevis und Semibrevis sind die Grundsteine (formuliert um 1280 in dem Traktat Ars cantus mensurabilis von Franco von Köln). Aber schon bald entsteht das Bedürfnis nach kleineren Unterteilungen. Bei Petrus de Cruce wird um 1300 die Brevis schon in vier bis sieben Semibreven unterteilt. Damit beginnt ein Prozess, der die Musik immer beweglicher macht und deshalb nach Rationalisierung immer kleinerer Notenwerte verlangt. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts reicht die Spannweite bereits von den Höchstwerten Longa oder der Duplexlonga (Maxima) über die Brevis und Semibrevis bis zum kleinsten Wert der Minima. Ein ausgefeiltes Notationssystem regelt die Unterteilung und das Verhältnis der Werte zur Zähleinheit des Tactus. In einer aufwendigen ars notandi wird die enge Verbindung zwischen dem abendländischen ›Komponieren‹ und dem ›Notieren‹ als untrennbarer Bestandteil musikalischen ›Formulierens‹ deutlich. Deshalb wird der Verfertiger einer Musik im 14. Jahrhundert oft auch Notator genannt. Aber bereits in den 20er Jahren des gleichen Jahrhunderts intonieren zwei bedeutende Musiker ein neues Kapitel Musikgeschichte. Der eine ist Philippe de Vitry (1291–1361), Magister der Sorbonne, Dichter, Komponist und Kleriker. Er ist aber auch Politiker, Mathematiker und Musiktheoretiker, der am Pariser Königshof hohe juristische Ämter innehatte und 1351 Bischof von Meaux wurde. In dem ihm zugeschriebenen Traktat Ars nova von 1322/23 grenzt er sich schon mit dem Titel von der bisherigen Kunst als der gestrigen ars antiqua ab. Der andere ist der Pariser Mathematiker und Astronom Johannes de Muris (um 1295–1360) mit seiner Notitia artis musicae um 1321. Hier werden die neuen Errungenschaften der Mensuralnotation systematisiert und in den Motetten von Vitry kompositorisch umgesetzt. Sie sind das Exempel für eine musikalische Praxis, die sich bereits vor der Theorie durchgesetzt zu haben scheint. Dort ist jetzt die Semibrevis Bezugsgröße für die Zählzeit, die regulär mit der kleineren Minima unterteilt wird. Dabei erlangt die zweizeitige Unterteilung die Gleichberechtigung mit der alten dreiteiligen, die als Symbol für die göttliche Dreifaltigkeit sakrosankt war. Gleichzeitig taucht der Begriff des Contrapunctus auf. Das bedeutet, dass der musikalische Satz jetzt als Komposition Note gegen Note verstanden wird und nicht mehr als eine Klangschrittlehre wie in den Lehrtraktaten des Organums. Die Motette, als wichtigste Gattung unter den neu entstandenen von Ballade, Rondeau und Virelais, zeigt in ihrer Satzkunst, dass sie der Tektonik des ›Bauens‹ verpflichtet bleibt. Ihre Bezeichnung rührt wahrscheinlich vom französischen mot, Wort, her, ihr struktureller Kern ist eine vorgegebene Melodie geistlicher oder

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weltlicher Herkunft.69 Als Tenor wird sie zur Bezugsstimme und Strukturachse des Satzes. Seine melodische Gestalt bestimmt die Klänge und damit die tonalen Verhältnisse. Wenn sie textiert ist, so folgt ihr darüber hinaus oft noch die gesamte Text­idee der Motette. Als zweite Stimme wird der Motetus dazukomponiert, als dritte das Triplum, die Hochstimme. Später kommt oft noch ein Kontratenor dazu, der die Dreistimmigkeit zur klanglich volleren Vierstimmigkeit erweitert. So entsteht ein Satzgefüge, das durch seine charakteristischen Bewegungsebenen bestimmt wird: der Tenor durch die langen Notenwerte der Longa als ›Kardinaltöne‹, der Motetus durch die kürzeren Breven und das lebhafte Triplum mit Semibreven und Minimae. Als eine Zuspitzung der konstruktiven Satztektonik tritt eine Form der Gattung auf, die von der Musikwissenschaft als ›Isorhythmische Motette‹ bezeichnet wird. Ihr Organisationsprinzip, zunächst ausgehend von der strophischen Form des Textes, gibt dem Tenor noch mehr Herrschaft über alle Stimmen, wenn er nach rhythmisch genau bemessenen Abschnitten ›zubereitet‹ wird, die er in allen Wiederholungen beibehält. Ihre Gestalt wird dann auch in die Oberstimmen übernommen und führt so zu rhythmisch völlig analog gegliederten Perioden. Übrigens macht zwar das bewegte Presto des Triplums reichlich Gebrauch von den neuen Möglichkeiten vieler ›imperfekter‹ also dissonierender Klänge, aber zu Beginn und Ende jeder Tenor-Longa – moderner: jeder Takteinheit – trifft man sich in den vollkommenen Konsonanzen von Oktav- oder Quintklängen. Solcher Konstruktionskunst im strukturellen ›Unterbau‹ des musikalischen Satzes kontrastiert ein höchst freier ›Überbau‹ in den Texten der Stimmen. Jede von ihnen trägt ihren eigenen Text vor, oft sogar mehrsprachig, und wird so zum Einfallstor der weltlichen altfranzösischen Dichtung samt politischer Kritik, gesellschaftlicher Satire und deftiger Frivolitäten. Während der Tenor als Strukturstimme oft noch die Würde des Lateinischen wahrt, wird in den Oberstimmen beredt über die drückende Steuerlast lamentiert, die das Geld auffresse oder die skrupellosen Weinpanscher, die das Gegenteil der biblischen Wunder vollbrächten und aus Wein Wasser machten. Anschaulich führt das die Motette In nova fert (wahrscheinlich vom Großmeister Philippe de Vitry) vor. Sie intoniert im klassischen Ovid-Hexameter das Motto: In nova vert animus mutatas… (»In neue verwandelte Wesen …«). In den Stimmen von Motetus und Triplum aber erscheint die aktuelle Realität als ätzende Parodie. Dort wird der mächtige Günstling des Königs, nämlich ein Minister von Philipp dem Schönen, als »schurkischer Drache« gegeißelt, der sich in einen Fuchs verwandelt, den »Löwen« (= den König) blendet und das »Blut« (= die Finanzen) der »Galli« (= der Franzosen) aussaugt. Dazu kommen die unentbehrlichen Genres alter mythologischer Bilder und der neuen Minnelyrik, die schon in der blühenden 69

Die musikologische Forschung entwirft zwei verschiedene Theorien für die Entstehung der Motette: entweder aus den Melismen oder Klauseln der Discantuspartien liturgischer Vorlagen oder aber aus ent-texteten französischen Klauseln durch Kontrafaktur, vgl. Eggebrecht (1991), S. 136–148.

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Dichtung der Troubadours und Trouveres eine subtile Kasuistik von Liebesfreud und -leid ausgearbeitet hatte. Aber auch diese traditionell einstimmige Liedkunst verwandelt sich durch die Mehrstimmigkeit. Die neuen, meist dreistimmigen, manchmal vierstimmigen Gattungen mit der charakteristischen Refrainform werden als Chanson, Ballade, Rondeau oder (mehrstimmiges) Virelais bezeichnet. Das Einströmen der profanen Semantik weltlicher Genres in die musikalischen Gefäße der hohen Kathedralkunst und ihrer kunstvollen Mehrstimmigkeit wirft ein Licht auf die neuen Akteure der Musikgeschichte. Der Ort der ›politischen‹ Motette ist der von Adel und Hof, nicht von Klerus und Kirche. Dort treffen sich auch die Minnesänger und Troubadours, Spielleute und Gaukler. Der große Dichter-Musiker dieser Zeit, Walther von der Vogelweide, spottet, wer ein Ohrenleiden habe, der solle dem Hof zu Thüringen tunlichst fernbleiben, denn dort werde er gewiss taub… Daneben organisiert sich städtische Musik in Spielmannszünften und -bruderschaften, den Spektakeln musikalischer Wettkämpfe und jährlicher ›Geigerkönige‹ bis zur festen Institutionalisierung einer ›Stadtmusik‹. Die Interaktion von gotischer Hochkultur und weltlicher Musizierlust illus­ triert ein Beispiel von Guillaume de Machaut (zwischen 1300 und 1305–1377), einem der musikalischen Zentralgestirne des 14. Jahrhunderts. Er ist nicht nur der Komponist einer der ersten vollständigen Messvertonungen und von berühmten Motetten, sondern seine Dichtung Remède de Fortune vereint exemplarisch die literarisch-musikalische Szene der Zeit. Dort singen zunächst schöne und edle Menschen ›ganz rein und höfisch‹ Lieder und zelebrieren züchtigen Tanz. Anschließend singt der Protagonist und Dichter der Dame seines Herzens das einstimmige Virelai Dame, á vous re tollir, dann begibt sich die ganze Gesellschaft in eine »sehr elegante Kapelle«, um dort die Messe zu hören und zu beten. Danach trifft man sich schließlich in einem prächtigen Saal, wo Spielleute eine Estampie, nämlich einen deftigen Spielmannstanz mit Fußstampfen und Händeklatschen aufführen. Das ist der Auftakt zum Amüsement, je nach persönlichem Geschmack mit Gesang, Instrumentenspiel, Tanz oder Schachspiel.70 Im berühmten Rosenroman, dem Roman de la Rose treten neben den Ménestrels der Ritterkultur auch die fahrenden Spielleute auf, die nicht nur mit ihrer Musik aufspielen, sondern auch allerhand Virtuosenakrobatik aufführen. »Da hättet ihr Flötenspieler gesehen, Spielleute und fahrende Sänger, der eine sang »rotrouenges«, ein anderer lothringische Weisen … Es waren viele Zimbelspielerinnen da, die sehr gut zu spielen verstanden und nicht aufhörten, ihre Zimbeln in die Luft zu werfen und auf einem Finger wieder aufzufangen, wobei sie niemals fehlgingen«

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Zitiert nach Neues Handbuch der Musikwissenschaft., Bd. 2 (1991), S. 351.

beschreibt ein Zeitgenosse die Szene.71 Das wirkt fast wie ein déja-vu der Zimbelspielerinnen aus dem spätantiken Rom. Der unbefangene Umgang von profan mit geistlich im Gehäuse des gleichen musikalischen Satzes färbt sogar auf die Liturgie ab, nämlich auf die sakrosankte Form der heiligen Messe. Denn die vierstimmige Messe de Nostre-Dame von Machaut, erstes überliefertes und prominentes Exemplar einer vielhundertjährigen Reihe von Vertonungen des Ordinariums, ist in Kyrie, Sanctus und Agnus Dei nach dem Muster der isorhythmischen Motette komponiert.

Kritische, raffinierte und andere Töne Zur gleichen Zeit, in der Vitry und de Muris den Aufbruch einer Ars nova formulieren und komponieren, wird aber auch bittere Kritik an der neuen Musik laut. »Es regiert die Ars nova, verbannt ist die Ars antiqua. Aber ist es vernunftgemäß, dass derjenige, der das Perfekte gebraucht, unterdrückt wird, und derjenige, der das Imperfekte verwendet, herrscht, da doch der Herr perfekter zu sein hat als der Knecht?«, schreibt Jacobus von Lüttich in seinem Speculum musicae, dem umfangreichsten Musiktraktat des Mittelalters, verfasst ab 1321.72 »Wozu nur taugt die aufreizende Gekünsteltheit des Singens, bei der der Text verdorben, die Harmonie der Zusammenklänge gemindert, die Geltung der Noten verändert, die perfectio unterdrückt, die imperfectio erhöht und die mesura in Unordnung gebracht wird?«, fragt er im siebten Buch des Traktats. Schon kurz darauf, in den Jahren 1324/25 intoniert ein Papst die gleiche Kritik. Johannes XXII., zweiter Exil-Papst von Avignon, erlässt ein Dekret, in dem er die Manieren der Ars nova in der Kirchenmusik unter Strafandrohung, nämlich mit Ausschluss aus den Gottesdiensten für acht Tage, verbietet. Seine Argumente, die uns eine veritable Phänomenologie dieser Musik liefern, sind die gleichen wie bei Jacobus: »Denn sie zerstückeln die liturgischen Melodien durch Hoqueti, machen die mehrstimmigen Sätze liederlich, flicken vulgärsprachliche Tripla und Motetti in sie ein, dies alles … indem sie dasjenige ignorieren, worüber sie ihre Komposition errichten… Die Tonarten beachten und unterscheiden sie nicht, vielmehr: sie bringen sie in Unordnung, da zufolge der Menge der kleinen Noten die natürlichen Aufstiege und die zugehörigen Abwärtsbewegungen des cantus planus, durch welche sich die (toni) selbst unterscheiden, gegenseitig verdunkeln.« Was der Papst als Hüter der Kirchenmusik verdammt, beklagt Jacobus als gelehrter Kenner der Musikszene. Denn der um 1260 in Lüttich Geborene verkehrte 71

Neues Handbuch der Musikwissenschaft., Bd. 2 (1991), S. 224: Guillaume de Lorris u. Jean de Meun, Der Rosenroman, S. 112–115.

72

Jacobus Leodiensis, Speculum musicae, liber I–VII, hg. v. R. Bragard, American Institute of Musicology 1973 (Corpus Scriptorum de Musica, 3), lib. VII, S. 31.

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in seinen Pariser Jahren bei ihrer dortigen Musik-Intelligenzija und ging in den Werkstätten der Ars nova von Vitry und de Muris ein und aus. Was beim Pontifex maximus offizielles Amtsverdikt ist, klingt bei Jacobus nach einem kulturkritischen Abgesang. Wenn er moniert, dass die neue Zweiteilung von Rhythmus und Notenwerten jetzt gleichberechtigt neben der alten Dreiteilung steht, geht das weit über die Musik hinaus. Denn für den analogischen Geist des Mittelalters bedeutet das zugleich die Abwendung vom fundamentalen ternären Gottesdogma. Das stand für die ›Einheit‹ Gottes, die zugleich die ›Dreiheit‹ von Vater, Sohn und HeiligemGeist in sich fasste und damit als Matrix einer analogen Strukturvorstellung der Weltordnung: von der Gottes-, der Engel- und der Menschenwelt bis hinunter zur gesellschaftlichen Standesordnung von Mönch, Ritter und Bauer. »Dreifach ist also das Haus Gottes, das man eines wähnt: hier auf Erden beten die einen, die anderen kämpfen, und noch andere arbeiten.«73 Die »Unterdrückung der perfectio« und die Verdunklung jener Zusammenklänge, die als Oktave, Quinte und Quarte die kosmologisch gegründeten Strukturklänge der ›Alten Kunst‹ ausmachten und schließlich der Abstieg der sakrosankten Choralmelodie zum bloßen Versatzstück eines Stimmenkollektivs, wo sie von den ironischen bis liederlichen Texten in den anderen Stimmen kommentiert und paraphrasiert wird, signalisiert eine Abwendung von der Reinheit der Kathedralmusik als tönendes Abbild des ›Engelsgesangs‹, den himmlischen Hierarchien und kosmologischen Harmonien. Was ein Fortschritt für die Faktur der Musik ist, bedeutet einen Abschied vom Weltgefühl der Gotik. Dazu passt der beginnende Wandel von den Kathedralen als Wahrzeichen der Städte zu den säkularen Rathäusern – die Signoria von Siena wird 1338 von Ambrogio Lorenzetti gebaut. Es ist der Wandel von den steingewordenen Visionen des ›Himmlischen Jerusalems‹ zur dekorativen Pracht der bürgerlichen Polis. Es ist der Beginn eines Epochenwandels im Herbst des Mittelalters (Johan Huizinga). In der Musik allerdings wird der Herbst zum ›Frühling‹ extravagant gesteigerter Ausdruckskünste. Die Notation verrät es wieder, wie im Codex Chantilly mit seinen Kompositionen aus der Zeit 1350–1400. Sie zeigt, wie sich die französische Ars Nova zu komplexen Formen und raffinierten Finessen zuspitzt. Es gibt neue Zeichen für komplizierte Mensur- und Rhythmenwechsel mit Triolen, Quartolen und Quintolen. Auch die Notenwerte verkleinern sich weiter bis zu Semiminima und Dragma. Man erfindet allerhand verschiedene Signaturen mit Fähnchen, Haken, Kreisen und Schleifen und unterscheidet neben schwarzen und roten Notenköpfen auch noch hohle und halbhohle in Schwarz und Rot. Sogar dissonante, freie Synkopen treten auf. Man hat das in der Musikgeschichtsschreibung als Individualisierung der musikalischen ›Sprache‹ zu einer subtilitas gedeutet – der Evolutionsüberschuss einer Spätzeit, der als veritabler Manierismus das Notationssystem der Ars Nova an seine Grenzen bringt. Die Musikologie hat dafür den Begriff Ars

73

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Inschrift einer Miniatur von Adalberto von Laon, um 1020: ›Vie et miracles de St. Denis‹.

subtilior gefunden.74 Sie liefert aber auch einen Hinweis auf jene exotischen Reviere der Musik, die sich unter Musica ficta oder falsa, später als Musica riservata aus den orthodoxen Regelkanons der Theorie mittels Akzidentien, Transponierungen und Chromatik entfernten.75 Neue Ausdrucksmöglichkeiten zeigen sich aber auch in Italien und England. In der Musik der ober- und mittelitalienischen Stadtherrschaften, den aufblühenden Signorien von Padua, Mailand, Verona und später von Florenz geht man eigene Wege der Mehrstimmigkeit. Sie wird von der Musikwissenschaft als Trecento-Musik bezeichnet, denn im Unterschied zur französischen Ars-Nova-Musik ist sie viel weniger vom Geist der ›Konstruktion‹ geprägt als vielmehr vom sinnlichen Melos. Con soave e dolce melodia, »mit weicher und süßer Melodie« zählt dort viel mehr als die Faktur eines streng regulierten Satzes – das frühe italienische Faible für den Belcanto: Ein wilder Vogel singt eine Zeitlang süße Liedchen auf so schöne Art, dass er laut schreit das lobe ich nicht. Mit lautem Schreien singt man nicht gut sondern mit lieblicher und süßer Melodie macht man einen schönen Gesang und das braucht Meisterschaft heißt es in dem zweistimmigen Madrigal I’mi son un che, wahrscheinlich von Jacopo da Bologna. Der Reiz der ›süßen Melodie‹ bestimmt die zwei- und dreistimmige Liedkunst von Ballata und Madrigal und die Musik der Motetten. Dass hier mehr Meisterschaft liegen kann als im komplizierten Satz, zeigt sich auch an der höchst anspruchsvollen Melismatik der Ballata-Melodien. Sie begegnen uns erstmals im Codex Rossi, geschrieben um 1350 im Raume von Padua – Verona, übrigens notiert in einem ganz anderen Mensural-System als in der französischen Musik.

74

Nach einem Vorschlag von Ursula Günther, vgl. Die Ars subtilior, in: Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 11, Frankfurt a. M. 1991, S. 277–288.

75

Die Begriffe Musica ficta oder falsa finden bereits bei Theoretikern wie Jacobus Leodiensis oder Prosdocimus de Beldemandis Erwähnung. Sie bezeichnen dort eine Erweiterung der scholastistischen Hexachord-Organisation durch fremde Halbtöne als Akzidentien oder mit Transponierungen eines Hexachords zugunsten eines sinnlichen Reizes von Diskonkordanzen. Musica riservata schließlich bezeichnet eine mit Chromatik und Enharmonik angereicherte Musik des 16. Jahrhunderts, wie sie etwa in der Motette Absalon fili mi (um 1513/20) vorliegt, zugeschrieben Josquin des Prez oder Pierre de la Rue, und die sich offenbar an einen ›reservierten‹ Kreis von ›Kennern‹ richtete.

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Die Wurzeln dieser Musik liegen offenbar in einer nicht schriftlich überlieferten, sondern improvisatorischen Praxis eines Singens mit extemporierter Begleitung, die andere Wege zur Mehrstimmigkeit gegangen ist als die Pariser Ars Nova. Das zeigt sich vor allem darin, dass ihr Konzept vom Melos der Oberstimmen ausgeht und nicht vom Tenor. Der ist vielmehr meistens nur eine frei komponierte, textlose Stützstimme, die zur Oberstimmenmelodie, dem Superius, hinzugefügt wird oder in der Motette, dem durch einen zweiten Superius ergänzten Oberstimmenpaar. In den dreistimmigen Ballate des blinden Komponisten und Sängers Francesco Landini, Organist an San Lorenzo in Florenz, dazu gefeierter Dichter, Instrumentenbauer, Philosoph und Astrologe, wird das ›Gerüst‹ aus Superius und Tenor durch einen Kontratenor ergänzt. Er fungiert dort wie ein regelrechtes Chamäleon, denn er kann sowohl die Funktion eines zweiten Superius übernehmen als auch die einer klangfüllenden Mittelstimme oder einer Ergänzung des Tenors.76 Aber gegen Ende des 14. Jahrhunderts gerät diese Musik immer mehr in den Bannkreis der französischen Ars-Nova-Künste. Sie mischt sich nach und nach mit französischer Notation und französischen Texten, nimmt deren Stilmittel und den Kantilenensatz auf (bestehend aus einer Vokalstimme und zwei instrumentalen Begleitstimmen) bis sie im 15. Jahrhundert schließlich ganz ihrer Überlegenheit weicht. Nicht weniger eigene Physiognomie zeigt die Musik des englischen Inselreiches. Auch ihre Mehrstimmigkeit verzichtet auf die Raffinessen der kontinentalen Musik und bewahrt eine gewisse Ursprünglichkeit. Wie die italienische TrecentoMusik wurzelt sie offenbar im Bereich archaischer, volkstümlicher Traditionen, die uns die zeitgenössischen Geschichtsschreiber aus Irland, Wales und Northumbrien anschaulich schildern.77 Aber das zeigt sich weniger am Melos, wie in der italienischen Musik, sondern deutlich mehr im Klanglichen. Dort schwelgt man mit Vorliebe in kompakten Terz- und Sextklängen. Besonders die Terz wird oft und gern in den offenen Quintklang eingefügt. Das führt, wie in dem berühmten Sommerkanon aus der Benediktinerabtei Reading (Sumer is icumen in. Lhude sing cucu), entstanden zwischen 1250 und 1310, zu süffigen Klangkomplexen mit charakteristischen Terz-Quint-Fortschreitungen, die sich nur bei ihren Schlüssen an die ›perfekten‹ Konsonanzen von Quinte und Oktave erinnern. Das führt aber auch zu einer besonderen Erscheinungsform von Mehrstimmigkeit. Sie beruht nicht auf einer schriftlich ausgearbeiteten ›Komposition‹, sondern auf einer singtechnischen Praxis. Bei ihr haben die Sänger nur die Choralmelodie als schriftliche Vorlage vor sich (den Plainsong), singen aber ihre drei, über dem Choral gelegenen Stimmen (nämlich Mene, Treble und Quatreble) dazu nach festgelegten Regeln aus dem Stegreif. Diese Regeln schreiben für jede Stimme ein be76

Landinis Musik ist vor allem in einer umfassenden Spätsammlung von Trecento-Liedern, dem Codex Squarcialupi, überliefert, verfasst zwischen 1415 und 1420 in Florenz.

77

Eine bezeichnende Quelle dafür ist die Descriptio Cambriae von 1198 des englischen Ordensmann Giraldus Cambrensis.

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stimmtes, festes Transpositionsintervall vor, das vom Choral aus in sight zum Erklingen gebracht wird. So singt jeder Sänger seine Töne während er den Choral liest in einer quasi automatischen Kopplung, so als hätte er in seiner Kehle ein mechanisches, fest eingestelltes Register, etwa eine Quinte, Terz oder Quarte. Deshalb wird diese Praxis als Sight-Praxis bezeichnet. Das ist also weniger ein ›konstruktives Konzipieren‹ als vielmehr ein ›konzeptionelles Tun‹ – allerdings mit dem gleichen Ergebnis eines mehrstimmigen Satzes. Eine besonders beliebte und verbreitete Anwendung dieses praktischen Singhandwerks ist die Gattung des Faburden. Hier singt der eine Stegreifsänger, der Faburdener, eine tiefere Stimme, die beständig in Unterterzen zur Choralmelodie verläuft, der andere, der Sänger des höheren Treble, eine mit durchgängigen Oberquarten. Das Ergebnis ist eine ungemein klanggesättigte Musik aus Folgen von Terz-SextKlängen, die nur gelegentlich durch Quint-Oktav-Klänge gegliedert werden. Die Messen, Motetten, Antiphonen und Hymnen von Leonel Power († 1445) und dem berühmtesten Vertreter der Zeit, John Dunstaple (um 1380–1453), zeigen einen ausgeglichenen, gesanglichen Satz, der seinen vielgerühmten, lieblichen Charakter den pythagoreisch ›imperfekten Harmonien‹, nämlich den intensiven TerzSext-Klangfolgen verdankt.78 So zeigt sich gegenüber der Ars-Nova-Musik, die als eine Art ›Klang-Bautechnik‹ schließlich die ersten Kontrapunkt-Lehren entwickelt, dass die englische Musik dem Usus eines sinnlichen musikalischen Tuns verpflichtet bleibt.79 Das wäre ein glänzendes Zeugnis für die Schule der Ohren-sinnlichen Harmoniker aus der Aristoteles-Tradition. Zwar dringen auch dort, ähnlich wie in die italienische TrecentoMusik, allerhand französische Elemente ein: Notations-Finessen und die Isorhythmie (wie es sich im Kodex Old Hall zeigt). Umgekehrt aber wird sie sich als höchst einflussreiche Inspiration für die zukünftige Musik auf dem Kontinent erweisen. Dante Alighieri wird als Dichter nochmals zum großartigsten Zeugen aller ›gotischen‹ Essenzen. In seiner 1321 vollendeten Divina commedia erschafft er nicht nur im dritten Teil, Paradiso, der Darstellung der mittelalterlichen Lichtmetaphysik unerhörten Ausdruck, sondern stellt uns die natürliche Zusammenschau von ›Diesseits‹ und ›Jenseits‹ dar, sprachlich gefügt wie eine Art ›Dombau‹ klingender Versproportionen. Es ist das selbstverständliche Weltbild einer einheitlichen Wirklichkeitsvorstellung von ›irdisch‹ und ›göttlich‹ des mittelalterlichen Menschen, dessen Bewusstsein das Kontinuum eines organischen gestuften Kosmos bewahrt, in 78

Die Quellen dafür reichen vom Worcester-Fragment mit Musik aus dem frühen 13. Jahrhundert bis zum späten Old Hall Manuskript mit einem Repertoire aus den Jahren von etwa 1360–1430.

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Bezeichnend für die unterschiedlichen Konzepte musikalischen ›Denkens‹ ist, dass die offenbar sehr wirkungsvolle Gattung des Faburden im 15. Jahrhundert auf dem Kontinent als Fauxbourdon in die notierte Mehrstimmigkeit gewissermaßen übersetzt wird. Erste Beispiele dafür finden sich bei Guillaume Dufay im Post communio seiner Missa Sancti Jacobi.

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dem unsere moderne Unterscheidung von ›Hier‹ und ›Drüben‹ keinerlei Relevanz gehabt hätte. Und schon gar nicht die materialistische von ›Hier‹ und ›Nichts‹. Es ist der gleiche ungebrochene Bedeutungszusammenhang eines metaphysischen Realismus, wie er in den alten Hochkulturen, besonders eindrucksvoll im altägyptischen, mit seiner Präsenz in jahrtausendelangen Zeiträumen, Leben, Alltag und Kunst bestimmte.

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IV

Von Paris nach Burgund oder: Reifungen, Raffinement und Eloquenz

»Erst seit vierzig Jahren gibt es eine Musik, die von den Eingeweihten für hörenswert gehalten wird«, schreibt 1477 der Musikgelehrte und Komponist Johannes Tinctoris ziemlich apodiktisch. Damit erfahren wir von einer neuen Kunst, einer weiteren Art ›Ars nova‹. Das Urteil hat Gewicht, denn der um 1435 im brabantischen Nivelles (südlich von Brüssel) Geborene gilt als einer der bedeutendsten Musiktheoretiker des 15. Jahrhunderts. 12 Traktate und viele seiner Messen, Motetten und Chansons sind uns überliefert. Zuerst Sänger in Cambrai, dann Chorpräfekt in Chartres und seit den 1470er Jahren in Neapel am Hof Ferdinands von Aragonien stirbt er 1511, vermutlich in Italien. Wenn er in seinem Liber de arte contrapuncti alle Musik vor den 1430er Jahren so drastisch verwirft, dann muss sich seither einiges getan haben. Seine Begründung: »Seit jener Zeit sind die Möglichkeiten unserer Musik in so bewundernswerter Weise bereichert worden, daß, wenn ich so sagen darf, eine Neue Kunst (novae artis) erschienen ist, deren Quelle und Ursprung bei den Engländern angenommen wird, an deren Spitze Dunstaple steht; dessen Zeitgenossen in Frankreich waren Dufay und Binchois.«1 Auch der Dichter und spätere päpstliche Pronotar Martin le Franc preist um 1440 ausdrücklich Dunstaple und spricht von der »contenance angloise«. Damit ist jene süffige Klangsinnlichkeit gemeint, die sich vor allem aus den Terz-Sext-Klangfolgen ergibt, welche »soviel Anmut (tantum suavitudinem) ausströmen«, wie Tinctoris schreibt. Ihr Reiz, so scheint es, macht die englische Musik zu einem Ferment für das Komponieren auf dem Kontinent. An der Karriere der Terz aber lässt sich viel vom Wandel der Musik verfolgen. Natürlich war das wohlklingende Intervall mit seiner Umkehrung, der Sexte, schon lange vorher erklingende Realität. In der antiken griechischen Musik gab es außer den Tongeschlechtern von Diatonik und Chromatik auch das Arkane der ›Enharmonik‹ mit einer viel feineren Unterteilung des Oktavraums (wie etwa in 21 Stufen beim Pythagoreer Archytas). Dort kam auch die große Naturterz vor. Das verrät nicht nur ihre griechische Bezeichnung als Ditonus, nämlich einer Verdopplung von zwei Ganztönen, sondern auch eine Melodie des Doppelaulos für ein

1

Johannis Tinctoris Opera Theoretica, hg. v. Albertus Seay, Corpus Scriptorum De Musica 22, Bd. 1–2a, Rom 1975, S. 10.

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griechisches Trankopfer.2 Und schließlich schwelgten in der italienischen Trecento-Musik die melodiösen Oberstimmenduette der Ballata genauso mit Lust in Terzen und Sexten wie im englischen Faburden. Das Intervall war also wohlbekannt – nicht aber wohlgelitten von der Theorie. Denn dort hatte es nur den Rang einer ›imperfekten Konsonanz‹. Das hängt einmal damit zusammen, dass die Pythagoreer für ihre Herleitung aus den Proportionen seltsamerweise nicht das einfache Verhältnis von 4:5 benützten, sondern das exotische von 64:81. Als ›pythagoreische Terz‹ ist es in die musikalische Akustik eingegangen und bestimmte als Prototyp der Terz überhaupt die Musiktheorie des Mittelalters. Ein Grund für diese konsequente Ignorierung der Naturterz, könnte in ihrer Herkunft aus dem komplizierteren Proportionsverhältnis 4:5:6 bei der Teilung der Quinte herrühren. Vor allem aber tritt als Rationenbildner die Primzahl Fünf auf, die in der Obertonreihe mit dem 5. Teilton als erste Fünferproportion vorkommt: 4:5 große Terz, 5:6 kleine Terz, wie auch in der Umkehrung der Terz als kleine und große Sext, 5:8 und 3:5. Mit der Zahl Fünf aber ist seit jeher eine bestimmte Bewertung in tieferen symbolistischen Zusammenhängen verbunden. Dort spielt sie als universaler Rationenbildner bei organischen Naturzusammenhängen eine große Rolle und wird eng mit Eros und Sinnlichkeit verbunden: Die Pythagoreer nannten die Fünf gamos, das heißt Heirat, Hochzeit, und im älteren Delphi galt sie als Signatur dionysischgeschlechtlicher Kraft.3 Schließlich wird sie dann auch in ihrer abendländischen

2

Es handelt sich dabei um das sogenannte Spondeion-Melos, von dem Plutarch berichtet. Vgl. M. Vogel, Die Enharmonik der Griechen, 2 Bde., Düsseldorf 1963, Bd. 2, S. 79 u. 105.

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Vgl. W. Burkert, Weisheit und Wissenschaft, Nürnberg 1962, S. 442; F. C. Endres, Mystik und Magie der Zahlen, Zürich 1951, S. 148. Zum Verständnis dieser Bewertung kann beitragen, dass sie, weil eng mit den Naturvorgängen verbunden, als ›vergänglich‹ und ›transitorisch‹ qualifiziert wurde, da die Natur – nach platonischer, gnostischer, aber auch biblischer Auffassung – als Entäußerungsakt des Göttlichen im Schöpfungsprozess begriffen wird. Das spiegelt sich auch in den zahlensymbolischen Zuordnungen der alten Kulturen zur Zahl Fünf, besonders in der kabbalistischen Tradition hebräisch-alttestamentarischer Herkunft. Dort wird sie als Signatur einer ›losen Bindung von Geist und Stoff‹ (aus der Addition von 2 als Geistzahl und 3 als Stoffzahl) mit dem ›sich auflösenden, dem Tode verfallenen Triebleben‹ verstanden, wie es in den Untersuchungen von Oskar Fischer dargestellt ist (Orientalische und griechische Zahlensymbolik, Leipzig 1918, und ders., Der Ursprung des Judentums im Lichte alttestamentlicher Zahlensymbolik, Leipzig 1917). Auch in Symbolik und strukturellen Konzepten der Baukunst alter Hochkulturen finden sich solche Analogien, wie etwa bei den Venustempeln der Babylonier oder des alten Ägypten. Dort zeigt der äußere Bereich (Vorhöfe, Portale) Dreiecksproportionen in der Baugeometrie als Analogie für den ›stofflich-anorganischen Bereich‹, der erste innere Vorhof zeigt Verbindungen von Dreieck und Pentagramm für die Analogie zum ›Organischen‹ und schließlich das Tempelheiligtum die Analogie zur heiligen Zahl sieben und dem Heptagramm (vgl. J. Haase, Das Dreieck als harmonisierendes Maßelement ägyptischer Tempelanlagen, in: Das Reich, hg. v. A. v. Bernus, München u. Heidelberg, Buch 1, 1917, S. 36–56). Zum musikgeschichtlich-anthropologischen Kontext vgl. R. Haase (1966), S. 69–77; ders., Neue Forschungen über Pythagoras, in: Aufsätze zur harmonikalen Naturphilosophie, Graz

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Musikkarriere zum ›Geschlechtsintervall‹, das die Tongeschlechter Dur und Moll unterscheidet. Vielleicht verschleierten die Pythagoreer, als Geheimbund, wegen dieser esoterischen Bedeutung die Verbindung der Terz zur Zahl Fünf. Jedenfalls bekommt sie im pythagoreischen Kanon der Proportionen ihre Stelle erst hinter den kosmologisch ausgezeichneten Rationen der ›Vollkommenen Konsonanzen‹, den feststehenden Symphoniai, zugewiesen und wird bei den beweglichen Diaphoniai angesiedelt. Als solche gelten die ›Unvollkommenen Konsonanzen‹ und die Dissonanzen, die nur als bloße Transite durch die strukturbildenden symphoniai im Fluss des Melos aufscheinen. Wie recht die Griechen mit dem ›Transitorischen‹ ihres Charakters hatten, zeigt sich in ihrer Bewegungstendenz im musikalischen Satz. Denn die Terz erweist sich als Nukleus einer neuen musikalischen Dynamik: Sie besitzt eine andere innere Qualität als der statische Quint- und Oktavklang. Es gibt nämlich keine reine, in sich geschlossene Terz wie die reine Quart und Quint, sondern es gibt bekanntlich große und kleine Terzen. Werden sie mit der Quinte ergänzt (z. B. als c-e-g im Fall der großen oder als a-c-e im Fall der kleinen), so kommen sie dadurch zur ›Ruhe‹: Die Terz bringt zwar den Wohlklang ein, aber für die Stabilität sorgt die Quinte. Als Einzelklang aber drängt sie zur Fortbewegung: Die große Terz tendiert zur Quinte, die kleine zum Einklang. Diese Bewegungsenergie wurde mit den Ohren des 14. Jahrhunderts bestimmt noch stärker empfunden als mit denen des 21. Damit löst sich die archaische Strenge statischer Klänge und die Starre schematischer rhythmischer Modi im Drang zur Progression auf. Wie ein Ferment bringt sie den mehrstimmigen Satz in Fluss und damit auf den Weg zu einer Geschmeidigkeit, wie sie die einstimmige Melodie schon besaß. So verschaffen Wohlklang und Dynamik den Terz/Sext-Intervallen nach und nach den Rang ›vollkommener Konsonanzen‹. Der englische Benediktinermönch Walter Odington bemerkt schon in seinem um 1316 verfassten sechsteiligen Traktat Summa de speculatione musicae, dass »die große und die kleine Terz, die streng genommen als 64:81 und 27:32 berechnet werden, den Zahlenverhältnissen 4:5 und 5:6 nahe stehen und daher in der musikalischen Praxis als eine ›mixtura suavis‹, eine süße Mischung klingen, und als Konsonanzen angesehen werden können.« Es ist also wieder das ›Urteil der Ohren‹ aus der Tradition der aristotelischen Harmoniker, das im musikalischen ›Tun‹ diesen folgenreichen Bedeutungswandel in der musikalischen ›Systemebene‹ herbeiführt. Womit sich eine anthropologische Dimension, nämlich die seelisch-emotionale Disposition des Menschen gegenüber einer Tradition der intellektuellen Theorie manifestiert. Sie hatte ihre tiefere Begründung in einem anderen, auf Statik bezogenen Bewusstsein. Jetzt aber manifestiert sich womöglich eine Veränderung der kollek-

1974, S. 405–411 u. ders., Die harmonikalen Wurzeln der Musik, Wien 1969 (= Beiträge zur harmonikalen Grundlagenforschung, Heft 2), S. 27 ff.

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tiven Bewusstseinslage vom ›gotischen‹ Baumuster Ars antiqua zum expressiveren und ›humanistischen‹ der Renaissance und damit als Wandel des Musikbegriffs in einer sich wandelnden ›Welt‹.

Die Terz als Zukunft Darüber hinaus ist die Emanzipation der Terz aber von größter und hintergründiger Tragweite für das Schicksal der abendländischen Musik. Einmal bahnt sie die Entwicklung zum Dreiklang als zukünftiges, zentrales Bauelement des musikalischen Satzes. Denn er formiert sich aus Terzschichtungen und bestimmt dadurch die harmonische Struktur nach Akkorden bis ins Komponieren des 20. Jahrhunderts. Zum anderen wird sie zur Scheidemünze zweier emotionaler und damit semantischer Welten. Die ›kleine‹ Differenz zwischen großer und kleiner Terz stiftet den Unterschied zwischen den Tonartkategorien Dur und Moll. Es ist eine weitere, bedeutsame Evolution, weg von den alten Modi und ihrem Erbe aus den tropoi, den Tetrachord- und Hexachordstrukturen der alten Tonartorganisation zum späteren Tonartensystem der Quint/Quart-Struktur. Denn damit werden zwei psychische Ausdrucksbereiche von fundamentaler Bedeutung für die abendländische Musik eröffnet. Oft in der Musikologie wegen der schwierigen, bis heute ungelösten musiktheoretischen Begründungsprobleme der Moll-Skala verlegen als ›Eintrübung‹ oder ›andere Fassung‹ (Paul Hindemith) des Dur bezeichnet, erweist sie sich als polares Komplementär der Dur-Skala. Diese lässt sich als primäre Folge der ersten sechs Rationen aus der Obertonreihe jedes Tones herleiten. Für die Molltonleiter hingegen führt solche Ableitung zu keinem überzeugenden Ergebnis, weil die Rationen der Töne als Schwingungsverhältnisse entweder zu dissonant oder zu komplex sind und die eindeutige Grundtonbezogenheit fehlt. Auch ihre drei musikalischen Erscheinungsformen (als natürliches, äolisches und als harmonisches Moll sowie als ›Zigeuner-Moll‹) zeigen das Problem. Wird sie hingegen als symmetrische Spiegelung der Dur-Rationen als eine ›Untertonreihe‹ begriffen, ergibt sich ihr Verständnis. Aus der natürlichen, real existierenden Obertonreihe erhält man den Dur-Akkord c-c1-g1-c2-e2-g2, die komplementär konstruierte Molltonreihe ergäbe sich aus den gleichen Rationen als f3- as3-c2-f 2- c1. Das ist zwar eine Konstruktion, denn eine physikalisch reale Untertonreihe existiert nicht. Aber es trägt verständnismäßig einem offenbar natürlichem »psychischem Polaritätsbewußtsein« (Hans Kayser) Rechnung, das musiktheoretisch bereits bei Gioseffo Zarlino, 1558, als ›harmonischer Dualismus‹ angesprochen wird.4 Damit aber manifestieren sich die zwei Tonartgeschlechter, 4

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Vgl. H. Kayser, Lehrbuch (1950), S. 206–207 u. S. 56–76 sowie: Der Hörende Mensch, S. 51 ff. Kayser schlägt, um die nach harmonikalem Denken unergiebige Auseinandersetzung zwischen physikalisch messbaren Obertönen und eine durch Interpolation erschlossene ›Untertonreihe‹ zu umgehen, die Einführung von ›Teiltonkoordinaten‹ vor, in Analogie

in denen sich die polare Grundstruktur aller Natur widerspiegelt: die Terz als Geschlechtsintervall (Hans Kayser). Wo diese Differenz fehlt, wie etwa in der arabischen Musik mit ihrer ›neutralen Terz‹ (11:9), bleibt der Tonalitätscharakter in den Maqamat ein modaler: Ausdruck einer anderen psychisch-emotiven Disposition, die sich (aristotelisch) sinnlich, über das ›Ohr‹ manifestiert. Die enorme Dynamik und Bedeutung dieses Intervalls für die abendländische Musik erreicht schließlich ihren Höhepunkt in der Romantik, bei Schubert, Schumann oder Brahms. Dort legitimiert sich die polare Dur-Moll-Tonalität nicht nur in seelisch tief begründeten Ausdruckswelten, sondern die Terz wird auch zum strukturellen Modul. Denn dort werden Tonartbeziehungen über Terzverwandtschaften (den Medianten) bald genauso wichtig wie über Quintverwandtschaften. Die Musiktheorie aber als Vermächtnisverwalterin der Ars braucht lange, bis sie sich mit der Gleichberechtigung zur Quinte im Usus anfreundet. Sie bewahrt die Erinnerung an die ›vollkommenen‹ Zahlenverhältnisse der pythagoreischen Erkenntnislehre als kosmologische Analogie zum ›Reich der einfachsten Zeichen‹, die mit der Sinnlichkeit des ›Geschlechtsintervalls‹ lange im Konflikt liegt.5 Erst 200 Jahre nach Odingtons Begeisterung an der englischen ›Ohrenpraxis‹, findet die Terz wieder im Spanier Ramos de Pareja (um 1440 bis 1491) einen entschiedenen Anwalt. Der Musikgelehrte, in Rom, Bologna und Florenz lebend, entwirft in seiner Musica practica (Bologna 1482) eine neue, ›praktische‹ Oktaveinteilung, in dem die große, reine Terz 4:5 als Konsonanz zählt. Dann vertritt Franchino Gafori, Kapellmeister am Mailänder Dom und Freund von Leonardo da Vinci 1496 die Zerlegung der Quinte in die Konsonanzen der großen und kleinen Terz, und Ludovico Fogliano († um 1538), Komponist und Chorleiter am Dom zu Modena, beschwört die ›Sinneswahrnehmung‹ zu ihren Gunsten. Er pocht aufs Neue auf die ›Befriedigung des Gehörs‹, wenn er in seinem System reine Terzen und Quinten vereinen will (Musica Theorica, Venedig 1529). Vollendet ist dieser Wandel erst in der Hochrenaissance bei Gioseffo Zarlino (1517–1590). Der Franziskanerpriester aus Chioggia wird 1565 als zweiter Nachfolger seines Lehrers Willaert Kapellmeister an San Marco in Venedig. Sein Ruhm als Musiker ist so groß, dass er zusammen mit Tizian und Tintoretto Mitglied im Exzellenzzur Vorgehensweise der Chemie im Periodischen System der Elemente nach der Atomgewichtsreihe, siehe auch unten Anm. 7. 5

Möglicherweise kann die Emanzipation der Terz zur Konsonanz in der Musiktheorie mit den Veränderungen in der frühmodernen Philosophie der Mathematik in Verbindung gebracht werden, wie sie Daniel Heller-Roazen beschreibt (2014), S. 90–94. Demnach verändert sich die Bedeutung der Zahl vom Qualitativen zum rein Quantitativen durch die Loslösung aus ihrem Bedeutungszusammenhang als arithmetische ›Seins‹-Entitäten, den arithmoi, nach pythagoreischem und kabbalistischen Verständnis quasi als ›Energieträger‹, hin zu einem als rein rechnerische, mathematische Größen und abstrakte, beliebige Symbole und Fraktionen wie sie von der Algebra verstanden und gebraucht werden und auch heutige Mathematik und Zahlenvorstellung bestimmen.

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Verein der Accademia della Fama ist. Sein Genie als Gelehrter aber macht ihn zum »Vater der modernen Musiktheorie« (Hugo Riemann). Seine Grundlage ist zwar Platons Timaios, den er sich von Marsilio Ficino, dem großen Renaissancephilosophen, Übersetzer hermetischer und astrologischer Texte und zugleich Leibarzt der Medici, vermitteln lässt. Aber in seinem Schlüsselwerk Le Istitutioni Harmoniche von 1558 ist er methodischer Aristoteliker. Damit behält er beide ontologische Erkenntnisweisen der Musik im Blick. Nüchtern unterscheidet er in der Musiktheorie scienza von arte, das eine bleibt der mathematisch-philosophische Untergrund, das andere ist die praktische Kompositionslehre. Von Ptolemäus übernimmt er die Saitenteilung in sechs Teile. Mit ihr begründet er die neuen Konsonanzproportionen als eine Erweiterung der heiligen, alten platonischen Tetraktys zur senario.6 Von hier aus definiert er den Dreiklang durch große und kleine Terz bereits als Duroder Moll-Dreiklang (mittels der divisio armonico oder arithmetica) und demonstriert die darauf aufbauende Akkordlehre in einer harmonisch konzipierten Kontrapunktlehre. Von hier aus ordnet und benennt er auch die alten acht Kirchenmodi neu; ähnlich wie bereits der in Basel lehrende Poetik-Professor und Musikgelehrte Glareanus in seinem berühmten Dodekachordon (1519/1536). Damit nähert man sich dem System unserer späteren zwölf Tonarten mit ihrem je eigenen Ausdruckswert. Der Strukturwert des Dreiklangs und das Denken in der Harmonik der Akkorde führen folgerichtig zu einer neuen Bedeutung des Klangfundaments, das alle Töne darüber trägt. Denn es fixiert den Grundton und die Stimme, die ihn liefert: den Bass. Er wird zum neuen Regulativ, und damit beginnen sich die tektonischen Schwerpunkte des Satzbaues zu verschieben. Schließlich ersetzt der Bass als tiefste Stimme den Tenor als wichtigste Strukturstimme. Zarlino hält ihn als Klangfundament für so wichtig, dass er ihn in seinen Kompositionen oft sogar verdoppelt. Spätestens mit Zarlinos Theoriewerk bekommt die ›Systemebene‹ unserer Musik eine neue Legitimation ihrer strukturellen Physiognomie. Die Terz hat die Quarte als Strukturintervall beerbt und ist zum gleichberechtigten Partner der Quinte geworden. Das wird später durch die wissenschaftliche Akustik glänzend bestätigt. Denn die französischen Gelehrten Marin Mersenne (1636) und Joseph Sauveur (1700) entdecken bei ihren akustischen Experimenten das Phänomen der Naturtonreihe. Im Unterschied zu den Teiltönen der Obertonreihe, die reine Sinus­ töne bezeichnen, schwingen die Ober- oder Teiltöne der Naturtonreihe real bei jedem natürlichen Ton immer mit und haben jeweils ihre eigene Obertonreihe. In ihr sind alle Strukturintervalle unseres Tonsystems als einfache Zahlenverhältnis-

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Gioseffo Zarlino, Le istituzioni harmoniche, Erstes und zweites Buch, Venedig 1558. Aus dem italienischen übersetzt, mit Anmerkungen, Kommentaren u. einem Nachwort versehen v. M. Fend, Frankfurt a. M. 1989, S. 83.

se ihrer Teiltöne enthalten. Ihr Spektrum enthält auch die große Terz als vierten Teilton, die kleine Terz als das Intervall zwischen 5. und 6. Teilton.7 Damit entsteht im 16. Jahrhundert die neue Ordnung einer Quint-Terzverzahnung auf der ›Systemebene‹ unserer Musik. Sie führt dazu, dass der Dreiklang in der Mehrstimmigkeit nicht mehr als bloß transitorische Überlagerung zweier Terzen verstanden wird, sondern als Akkordgestalt, wie es bereits in einem Theoriewerk von Johannes Avianus (1581) deutlich wird. Später, bei Jean-Philippe Rameau (1750), ist er schließlich als Grundlage einer ausgereiften‹»Harmonielehre‹ etabliert, die mit einer Grammatik der Terzschichtungen operiert. Die zukunftsträchtige Legitimierung der Terz führt allerdings zu einem veritablen akustischen Problem. Denn reine Quinten und reine Terzen lassen sich im Rahmen der Oktave nicht aneinanderreihen: Pythagoras trifft wieder neu auf Aristoteles. Das Problem entsteht dadurch, dass die fortlaufende Reihung von reinen Terzen und Quinten als Teilungsintervalle der Oktave nicht mehr auf sie, das Rahmenintervall 1: 2 zurückführt: die zwölfte Quinte ist höher als die siebte Oktave, die vierte Quinte höher als die zweite Oktave, drei große Terzen reichen nicht aus, um eine Oktave zu bilden, vier kleine Terzen überschreiten sie. In der einstimmigen, aus linearem Denken konzipierten Musik der griechischen Antike konnten Einteilungen des Tonraumes der Oktave durch Anpassungen in der musikalischen Praxis erfolgen: durch Differenzierung mit Drittel- und Vierteltönen, durch große und kleine Ganztöne, durch reine Terzen oder unterschiedlich klingende enharmonische Stufen, wie es sich in der Enharmonik äußert. Jetzt, in der Musik mit einem vertikal konzipierten musikalischen Satz, dem ›Bauwerk‹ des componere, also der Mehrstimmigkeit, wie sie die musikalische Entwicklung des Abendlandes bestimmt, müssen die ›Tonorte‹ der Oktave, also die Stufen der Tonleiter aber in ein festes System der Relationen gebracht werden. Besonders wichtig wird das für die Instrumentalmusik, allem voran die Tasteninstrumente mit ihrer starren Ton-Tasten-Zuordnung. Eine Lösung kristallisiert sich schließlich mit der diatonischen Tonleiter heraus, eine Einteilung der Oktave in 12 Stufen, entweder mit sieben Ganz- und Halbtonschritten, der ursprünglichen pythagoreischen Tonleiter des Dorischen, oder aber als chromatische mit zwölf Halbtonschritten. Die Lösung für die dabei auftretenden Probleme zwischen der Reihung der reinen Intervalle im Oktavraum ist ihre ›Temperierung‹ zu einer oh7

Allerdings scheint die Teilton- oder Obertonreihe bereits für die Pythagoreer als mathematische Vorstellung existent gewesen zu sein, obwohl sie ihnen physikalisch unbekannt war. Beleg dafür ist nämlich eine Figur aus dem pythagoreischen Bereich, dem sogenannten Lambdoma, überliefert als ›Pythagoreische Tafel‹ oder abacus. Seine Bezeichnung rührt von der nach dem griechischen Buchstaben Lambda angeordneten Gestalt her, in der die Zahlenverhältnisse der Obertonreihen aufgeführt sind, wie sie sich nach dem Verhältnis ihrer Frequenzen ergeben. V. Thimus verfolgt sie bis Euklid zurück (vgl. op. cit. Bd. 1., S. 144, 129 ff.), H. Kayser analysiert sie neu und begründet aus ihr sein System der ›Teiltonkoordinaten‹, vgl. Lehrbuch (1950), S. 56 ff., sowie R. Haase (1966), S. 32–51.

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renverträglichen Unreinheit. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie bereits Stimmungen der Lautenmusik des 16. Jahrhunderts verraten. Aber eine dauerhafte und verbindliche Lösung setzt sich erst in der Bach-Zeit mit jenem ›wohl-temperierten‹ System durch, das bis heute unsere Musik bestimmt (siehe Kapitel V).

Labor der Synthesen: der franko-flämische Kulturraum Der Wohlklang der Terz ist aber nicht das Einzige, womit sich die ›Neue Kunst‹ das Lob von Tinctoris erringt. Am Kontinent arbeitet man beständig weiter am ›Bauwerk‹ des musikalischen Satzes. Es ist ein Prozess der Detaillierung und Homogenisierung, der sich über fünf Musiker-Generationen erstreckt. Er umfasst die Einbeziehung und Regulierung kleinerer Notenwerte, die Verfeinerung der Kontrapunktlehre mit präziser Gestaltung der Schlussbildungen in den Klauseln und einer Vereinheitlichung des thematischen Materials in den zyklischen Variationsmessen. Dazu intensiviert sich die Beziehung zum Text in einer neuen Weise, entsprechend der überragenden Bedeutung von Wort und Sprache in der Ära des ›Humanismus‹. Der Höhepunkt wird Ende des 16. Jahrhunderts in einer Hochkultur des A-cappella-Stils erreicht. ›Altklassische Polyphonie‹ lautete eine altmodische, aber treffende musikgeschichtliche Bezeichnung dafür, denn es ist tatsächlich die Reife einer ›Klassik‹, die sich paradigmatisch in der Musik von Komponisten wie Giovanni Pierluigi da Palestrina und Orlando di Lasso manifestiert. Am Anfang dieses Prozesses aber stehen zwei Namen, die schon bei Tinctoris auftauchen: Dufay und Binchois. Beide stammen aus dem Hennegau (im heutigen Belgien), ein Hinweis für einen geographischen Stabwechsel in der musikalischen Führung. Der Weg führt von Paris und Nordfrankreich nach Norden und Osten. Äußeres Zeichen ist die Verlagerung des politischen und künstlerischen Macht­ zentrums von Paris nach Burgund. Die wichtigen Musiker-Komponisten stammen bald überwiegend aus den Grafschaften Flandern und Hennegau, dem Herzogtum Brabant oder Provinzen der späteren Niederlande. Deshalb hat man diese Epoche in der Musikgeschichtsschreibung früher als ›Altniederländische Musik‹ bezeichnet, heute zutreffender als ›Franko-flämische Musik‹. Die Biographien ihrer bedeutendsten Vertreter aber sind europäische Biographien: Synthesen aus Stationen zwischen Flandern, Burgund, Frankreich, Deutschland und immer wieder Italien. Der Prominenteste der ersten Generation, Guillaume Dufay, Kaplan des Herzogs von Burgund, geboren um 1400, stammt zwar aus Cambrai. Aber er wirkt am Hof der Malatesta in Rimini und Pesaro, in der päpstlichen Kapelle in Rom, in Florenz und Bologna und am Hof des Herzogs Ludwig I. von Savoyen. Sein berühmtestes Werk ist die Domweihmotette für den 1433 fertiggestellten Dom von Florenz: Nuper rosarum flores.

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Die vierstimmige isorhythmische Motette ist durchtränkt von den alten, anagogischen Strukturwerten der Gotik. Sie ist ›Marianische Musik‹, weil der Dom der Gottesmutter Maria geweiht ist wie auch so viele andere Notre Dames von vorher und nachher – eine bedeutsame Reverenz im katholischen Dogma an das ›Weibliche‹, die archetypische Anima (C. G. Jung). Sie ist aber auch eine Demonstration der numerositas von Zahlensymmetrien und -symbolen. Denn für ihren Bau werden die alten Proportionen in Anspruch genommen, die zurückgehen bis zu den aus der Scholastik überlieferten Maßen des Salomonischen Tempels.8 Aber kaum weniger bedeutsam ist Dufays Muster für den wichtigsten neuen Typ der Messe: die Tenormesse mit der Missa caput (um 1440). Dort wird eine Vereinheitlichung des thematischen Materials mittels einer gleichbleibenden cantusfirmus-Melodie als Vorlage für alle Sätze des Messordinariums organisiert – ein Konzept, das auf den Anfang der Mehrstimmigkeit in der Notre-Dame-Schule zurückgreift. Bald wird es mit der sogenannten Parodiemesse noch weiter ausgebaut. Sie könnte man auch als Transkriptionsmesse bezeichnen, denn man übernimmt nicht nur den Tenor, sondern oft ganze Stimmenkomplexe und Abschnitte aus weltlichen Chansons, Motetten oder Madrigalen. Das führt dazu, dass oft jeder der fünf Sätze in beiden Oberstimmen mit einem gleichen, gemeinsamen Kopfmotiv beginnt: ein zyklisches Konzept motivischer Einheit. Schon Dufays Missa Se la face ay pale (um 1450), wegen ihrer exemplarischen Anlage geradezu als ein ›Kunstbuch‹ der Gattung verstanden (Peter Gülke) oder seine Missa L’homme armé versorgen sich aus volkstümlichen Liedern und Balladen gleichen Namens: die Hits der Zeit, die bis hin zu Palestrina musikalisches Gemeingut sind. Mit Dufay hat sich auch die Evolution der Minima als kleinster regulärer Notenwert der Mensuralmusik zum musikalischen Bedeutungsträger im Satz durchgesetzt. Ein anderer berühmter Meister diese Zeit ist Johannes Ockeghem, geboren um 1425 wahrscheinlich in Ostflandern. 1443/44 ist er Chorsänger an der Kathedrale von Antwerpen, wirkt aber seit 1452 bis zu seinem Tod, 1496, als Sänger und Kapellmeister am französischen Königshof in Paris, berühmt für seine komplizierten Kanonkünste in Motetten und Messen. Sein sechsundreißigstimmiges Deo gratias ist in jeweils neunstimmigen Kanons organisiert und weist so auf das Faible für die enigmatischen Kanonkünste, die in der Zeit von 1475 bis etwa 1525 besonders präsent sind. Seine Messen sind wie bei Dufay meistens im zyklischen Variationskonzept gearbeitet. Der bedeutendste Vertreter der dritten Generation, Josquin des Prez, geboren um 1440 vermutlich in Beaurevoir bei Saint-Quentin, war von 1459 bis 1474 Kapellsänger am Hof der Sforza zu Mailand und 1486 bis 1499 in der päpstlichen Kapelle in Rom. Aber von 1501 bis 1505 findet man ihn am Hof der Este in Ferrara, 8

Vgl. P. Gülke, Guillaume Du Fay, Stuttgart, Weimar u. Kassel, 2003, S. 189–204; H. Ruschawy u. R. W. Stoll, Die Bedeutung der Zahl in Dufays Komposition: Nuper rosarum flores, in: MusikKonzepte 60 (1988), S. 3–73.

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und sein Leben beendet er schließlich 1524 als Probst der Kollegiatskirche in Condé-sur-l’Escaut im Hennegau. In Italien vergleicht man Josquin mit Michelangelo. Seine drei Bücher mit 17 vierstimmigen Messen sind die ersten Drucke, die 1502 bei der bald berühmten Offizin Petrucci in Florenz gedruckt werden. Bei ihm wird deutlich, wie die Musik ›gelernt hat‹, immer mehr ›auf den Text zu hören‹. So schlägt sich dessen Ausdrucksgehalt, beispielsweise wenn es dort descendit de caelis heißt, in absteigenden Tonfolgen nieder: die Sprachdeklamation strukturiert den musikalischen Verlauf. Damit wird Josquin zum ersten bedeutenden Komponisten eines Espressivo der abendländischen Musikgeschichte. Gioseffo Zarlino, der progressivste Musikgelehrte der Zeit, bekräftigt das mit seinem Postulat, dass die Musik die Affekte der Seele ausdrücken solle, die der Text artikuliere. Gleichzeitig beginnen die melodischen Elemente der Vorlage, den musikalischen Satz zu durchtränken: man teilt den cantus firmus in einzelne Motive und Partikel auf, die sich über alle Stimmen motivisch ausbreiten. In der Messe ist die vollständige Durchimitation des Satzes erreicht. Dafür liefert Josquins Messe Pange lingua eines der ersten Zeugnisse. Zu den bekanntesten Zeitgenossen von Josquin gehören Jacob Obrecht aus Nordbrabant, Heinrich Isaac aus Flandern und Pierre de la Rue aus Tournai. Obrecht (geboren 1450 oder zwischen 1451 und 1455) wirkt als Priester und Sangmeister 1484 an der Kathedrale von Cambrai, ist von 1498 bis 1500 am Hof von Ferrara, dann Kapellmeister an der Kathedrale Notre Dame in Antwerpen. Danach taucht er in Brügge auf und wird schließlich 1505 von der Pest auf einer Reise nach Ferrara dahingerafft. Seine 26 Werke markieren einen Höhepunkt der Parodiemesse; eine hochartifizielle Kontrapunktik und komplizierte Mensurkünste kennzeichnen sein Œuvre. Seine Messe Sub tuum praesidium zeigt ein der Proportionslehre verpflichtetes Geflecht von Zahlenbeziehungen, die sich an den theologischen Topoi orientieren. Heinrich Isaac, geboren um 1450 in Flandern, ist 1480 Organist in Florenz und 1484 in Innsbruck, dann Hofkomponist für die Medici und 1497 für Kaiser Maximilian, 1517 stirbt er in Florenz. Sein monumentaler Choralis constantinus (gedruckt 1550 und 1555) entfaltet sämtliche Propriumsgesänge, berühmt aber sind seine Liedmessen, in denen er populäre deutsche Lieder wie Innsbruck, ich muss dich lassen verarbeitet. Pierre de la Rue (1460 in Tournai bis 1518 in Courtai) ist zunächst Sänger in der Kathedrale von Siena, dann von 1492–1516 an der Kapelle des burgundischen Hofes tätig. Von ihm sind uns 20 Messen mit allerhand Kanonkünsten überliefert sowie viele Motetten und Chansons. Als Exponent der vierten Generation zählt Nicolas Gombert. Er wird um 1495 in Brügge geboren, ist Sänger an der Hofkapelle Karl V. und beendet sein Leben als Kanonikus der Kathedrale von Tournai. Acht seiner zehn überlieferten Messen sind Parodiemessen.

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Gomberts Zeitgenossen sind Clément Janequin und Adrian Willaert. Janequin, geboren 1485 bei Poitiers, sehen wir 1534 als Leiter der Maîtrise an der Kathedrale von Angers und ab 1549 als Sänger und Compositeur an der königlichen Kapelle. Sein Hauptwerk besteht aus 280 überlieferten drei- bis fünfstimmigen Chansons. Sie sind Beispiel dafür, wie die zur Vierstimmigkeit gewordene Norm jetzt immer öfter zur Fünf- und Sechsstimmigkeit erweitert wird. Mit Willaert, der um 1490 in Brügge geboren ist, von 1522 bis 1525 am Hof der d’Este in Ferrara und dann in Mailand wirkt, tritt Italien wieder ganz offen auf die Bühne der Musikgeschichte – nachdem es allerdings zuvor ›dahinter‹ kaum weniger präsent war. Denn Willaert wird 1527 Kapellmeister an San Marco in Venedig, wo er zur Gründerfigur einer bedeutenden Tradition wird, die als ›Venezianische Schule‹ in die Musikgeschichte eingeht. Sie ist ein erster Höhepunkt des Zeitalters mit ihrer Synthese aller Entwicklungen der franko-flämischen Musik. Diese ›Venezianische‹ Musik der großen, flächigen Klangkomplexe mit dem Alternieren von Klanggruppen und den cori spezzati auf den zwei Emporen von San Marco wird von der Regie einer räumlichen Aufstellung bestimmt. Dabei wird zwar öfter die Stimmenzahl der Chorpolyphonie gesteigert und damit die Polyphonie komplexer. Aber entscheidend ist ein neues Strukturprinzip mit immenser klanglicher Wirkung: die Chöre, die nicht von der komplizierten Kontrapunktik der Einzelstimmen leben, sondern von den großen Klangflächen mit ihren Wechseln und Durchdringungen. Diese primär klangliche Wirkung verdankt sich einem harmonischen Denken, wie es bald in der Musiktheorie eines Schülers von Willaert, Gioseffo Zarlino, in seinen Istitutioni harmoniche von 1558 ausformuliert wird: von Dreiklang und Akkord, der Rolle der Bassstimme als harmonisches Fundament und den Beleuchtungswechseln einer keimenden Dur-Moll-Empfindung. Eine lange Kette von Lehrer-Schüler-Folgen reicht von Willaert bis weit in die ›Barock‹-Zeit. Sie umfasst den Flamen Cyprian de Rore (1516–1586), Nachfolger von Willaert und bedeutender Madrigalkomponist, Andrea Gabrieli (um 1510– 1586), seit 1564 Organist an San Marco und seinen Neffen, Giovanni Gabrieli (um 1555–1612), schließlich den wichtigsten Musiktheoretiker des 16. Jahrhunderts: Gioseffo Zarlino (1517–1590). Er wird 1565 Nachfolger de Rores als Kapellmeister an San Marco. Eine weite Ausstrahlung über Westeuropa belegt die Wirkungsmacht dieser Mehrchörigkeit. Wer die riesigen Basiliken Roms kennt, von St. Peter bis S. Maria Maggiore, kann leicht nachvollziehen, dass die klangmächtige Polychorie vom akustischen Volumen dieser Räume inspiriert ist. Dort steigert sich bald die doppelchörige Achtstimmigkeit in Werken von Giovanelli, Anerio und Agazzari bis zu sechs, ja acht Chören. Als Römischer Kolossalbarock ist sie in die Musikgeschichte eingegangen. Bedeutende Namen sind Orazio Benevoli und Giuseppe Ottavio Pitoni. Kurz nach der Einweihung der Peterskirche entdeckte Virgilio Mazzocchi, Maestro der dortigen Capella Giulia, für die Inszenierung seiner Mehrchörigkeit sogar die Laterne der Kuppel als Ort für einen Echochor. Aber auch Lasso, Jacobus Handl, auch Gallus benannt (mit Opus musicum, 1586–90) und die Deutschen

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Hans Leo Hassler und Heinrich Schütz nehmen diesen Stil auf. Noch Michael Praetorius befasst sich in seinem berühmten dreibändigen Lehrbuch Syntagma musicum (1619) mit den Kompositionsproblemen der Mehrchörigkeit und zuletzt zehren sogar noch J. S. Bachs Motetten von diesem Erbe.

Eine erste ›Klassik‹ Am Ende des 16. Jahrhunderts haben sich französische Konstruktivität, italienisches Melos, angelsächsische Terz-Sext-Süffigkeit und franko-flämisch-niederländische Satzarbeit als Gipfelpunkt langer Entwicklung in einem Musikidiom getroffen, dem man das Prädikat ›Klassik‹ zuerkannt hat. Ein Reifeprozess, dessen Quintessenz die Vokalpolyphonie der Generation von Palestrina und Lasso repräsentiert. Die Venezianische Mehrchörigkeit mit dem dort angelegten ›Concerto-Prinzip‹ ist die harmonische Ernte des langen Prozesses, die liturgische Musik Palestrinas ihre polyphone Frucht. Die Synthesen aber teilen sich beide Meister. Ton, Klang, Stimmführung und Sprachvertonung sind in ein abgeklärtes Gleichgewicht gekommen. Frühere Komplexe und Knäuel von melodischen Umspielungen und rhythmischen Formeln sind gewissermaßen auseinandergelegt worden, ihr Detail rationalisiert und geordnet: die Potenziale des ›Tonmaterials‹ als Ausdruckselemente restlos dem kompositorischen Willen und seiner Formulierungskunst verfügbar geworden. Giovanni Pierluigi da Palestrina (um 1525–1594) ist seit 1551 Kapellmeister an der päpstlichen Cappella Giulia, wechselt dann mehrmals die Stellungen in Rom und kehrt schließlich wieder an St. Peter zurück. Orlando di Lasso (um 1532–1594) ist ein begehrter Sänger aus dem Hennegau, der schon früh Stellungen in Mantua, Mailand, Neapel und Rom annimmt, dann aber 1564 zum Kapellmeister des Herzogs Albrecht V. von Bayern am Hof in München wird. Als überragender kosmopolitischer Geist der Epoche hinterlässt er ein Œuvre von staunenswertem Umfang mit über 50 Messen und 1200 Motetten, die das Idiom einer universalen, europäischen Musiksprache ›sprechen‹. Kaum weniger umfangreich ist das Werk Palestrinas. Seine schwerelos strömenden Klangkathedralen von mehr als 105 Messen, seine über 500 Motetten, Hymnen und Litaneien haben aber nicht nur die Zeitgenossen beeindruckt, sondern auch die Jahrhunderte danach – obwohl er zu Lebzeiten vor allem wegen seiner Madrigale gerühmt wurde. Seine Messen erscheinen schon ab 1554 im Druck. Und die bekannte Legende um die Rettung der vokalen Mehrstimmigkeit vor dem päpstlichen Verdikt auf dem Tridentiner Konzil durch seine Missa Papae marcelli (1562/63) wird, ob ganz oder halb wahr, zur Metapher. Denn Palestrina liefert damit nicht nur das Muster einer als vollkommen empfundenen geistlichen Musik schlechthin, sondern auch eines vollkommenen Vokalsatzes. Deshalb entdeckt sie das 19. Jahrhundert im Historismus wieder und erklärt sie zum Vorbild einer authentischen Kirchenmusik. Als Paradigma einer normativen Satzkunst wird sie in

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der Musiktheorie zum Lehrbeispiel und erlangt damit in der ›Historischen Satzlehre‹ sogar Hochschulrang. Alle Kräfte der Mehrstimmigkeit scheinen hier zur Apotheose gekommen zu sein: die atmende Melodie mit ihren sorgsam gestaffelten Imitationen durch die Stimmen, die gemessene Rhythmik mit ihrer ausgeglichenen Verteilung der Schwerpunkte und die geregelten Klangfortschreitungen mit ihrer ausgefeilten Behandlung der Dissonanz.9 Zugleich wird auch eine vollkommene Einbeziehung der Sprache in das Tongewebe der Musik erreicht, sowohl als deutliche Deklamation des Textes wie als Abbildung ihres Bedeutungsgehaltes. Denn ihre Themen, quasi die Zellen der Melodiebildung, die Soggetti, werden gewissermaßen an der Sprachgestalt der lateinischen Worte geformt: etwa mit größeren Notenwerten bei langen Vokalen und kleineren bei kürzeren. So setzen sie etwas von der in die lateinische ›Wortmelodie‹ gebannten Sprachstruktur als ›Tonmelodie‹ frei. Dem entspricht die natürliche Sanglichkeit aller Stimmen. Als reine A-capella-Musik wird sie zum Ideal der päpstlichen Kapelle, der Sistina. Damit hat die mehrstimmige Musik in einem langen Prozess der Glättung und Klärung bis zum 16. Jahrhundert die gleiche Geschmeidigkeit und Beweglichkeit erreicht, wie die liturgische Einstimmigkeit der gregorianischen Melodiekunst fast 1000 Jahre zuvor.

Essenzen und Erträge Fällt dem Mittelalter leicht das Attribut des Vorgestrigen zu, so erfreut sich die Renaissance des besten Rufs als Morgenröte der ›frühen Neuzeit‹. Es ist nicht nur der gelehrte Humanismus, der ein neues ›Menschentum‹ aufruft, sondern eine lebendige Reanimation antiken Lebensgefühls und der Aufstieg der Wissenschaft nach unserer späteren Vorstellung. Es sind auch Umbrüche, die ihr sogar das Prädikat einer »Sattelzeit« (Reinhart Koselleck) eingebracht haben: der Anfang europäischer Welteroberung mit Amerika (1492) und Ostindien (1498), die Erfindung des Buch9

Als wesentliche Eigenschaften des Palestrina-Satzes lassen sich beschreiben: eine ruhige, stetige Linienführung, die jede Stockung durch stufenweise Fortbewegung der Töne vermeidet, steigende Bewegung wird verlangsamt, fallende beschleunigt, keine schematischen Formeln, weder als Kolorierung noch als Sequenz, viele konsonierende Zusammenklänge, nicht nur auf betonten Hauptzeiten, sondern auch dazwischen, bevorzugt als Terz- und Sextklänge. Die präzise Regelung der Dissonanzen verlangt, dass sie nur als Durchgänge in einer linearen Stimmgestalt auftreten dürfen, entweder auf unbetonten Zeiten, mit stufenweiser Ein- und Weiterführung oder als Synkope, d. h. als ›Stauung‹ durch Verzögerung einer danach obligatorischen Konsonanz. Das Ergebnis dieser Faktur ist ein ruhevoller, ausgeglichener Duktus dessen Ausdrucksbedeutung am besten mit ›Erhabenheit‹ gekennzeichnet werden kann. Vgl. genauere Satzanalysen bei: K. Jeppesen, Der Palestrinastil und die Dissonanz, Leipzig 1925 sowie ders., Kontrapunkt, Lehrbuch der klassischen Vokalpolyphonie, Leipzig 1935; R. Schlötterer, Der Komponist Palestrina, Augsburg 2002.

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drucks (Gutenberg, 1450) und des Notendrucks (1476), die Reformation durch Luther (1517). Vielleicht auch der Fall Konstantinopels und die Vertreibung der Araber aus Spanien mit der Reconquista. Auch die bildende Kunst liefert markante Akzente eines Szenenwechsels: Sandro Botticelli feiert schwelgerisch-sinnlich und säkular die Geburt der Venus und den Frühling, Piero della Francesca schockiert naturalistisch mit einer hochschwangeren Gottesmutter bei seiner Madonna del parto. Aber was davon gilt für die Musik? Gewiss, ihr Klangidiom hat sich seit Vitry und Machaut bemerkenswert verfeinert. Und ihre ›Süße‹ kann man als Wendung von der archaischen Herbheit der QuintQuartklangmuster zu den wohligen Terz-Sext-Ketten mit dem strömenden Fluss ihrer Stimmen auch als Emanation sinnlicherer ›Menschlichkeit‹ verstehen. Aber haben sich ihre Ausdrucksintentionen dramatisch verändert? Gibt es dort Umbrüche von vergleichbarem Format? Zeigt sich nicht vielmehr ein bemerkenswert stabiles Stilidiom über fast 200 Jahre, das den gleichen ›Geist‹ atmet wie vorher? Und dessen Integrität demzufolge als unspektakuläre Gleichförmigkeit die zünftige Musikgeschichtsschreibung eher gelangweilt hat, wie die vielen pauschalen Behandlungen verraten (beispielhaft etwa bei H. H. Eggebrecht in seiner Musikgeschichte, 1991, bis hin zum kompletten Desinteresse bei Th. W. Adorno)? Zwar würdigt man die stetige Evolution des musikalischen Satzes kompositionsgeschichtlich, leicht aber übergeht man, welche Ausdruckswelten damit gestaltet werden. Zur kompositionsgeschichtlichen Evolution aus moderner Sicht zählt die horizontale und vertikale Führung der Stimmen, mit der die Klänge und ihre Verbindungsprozesse immer genauer im tektonischen Gefüge des Satz-›Bauwerks‹ reguliert werden. Die Funktion der Stimmen im vierstimmigen Satz, der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zur Norm wird, ist klar geregelt: die präexistente Melodie als Tenor, der Diskant oder Sopranus als Melodieträger und der Contratenor in zwei Formen: als hoher Tenor, Contratenor altus, woraus später unser Alt wird und als tiefer Tenor, Contratenor bassus, unser späterer Bass. Das Tonalitätsempfinden hatte seit dem 14. Jahrhundert eine immer ausgeprägtere Neigung zur DurMoll-Polarität entwickelt. Seit Dufay stellt sich eine gewisse Ordnung der Klang­abfolgen ein, die zu einem bestimmten ›Gefälle‹ der Harmoniefolgen führt. Sie tritt besonders deutlich an den Schlussbildungen der Sätze zutage. Dort fällt bereits in Stücken von Dunstaple und Dufay eine deutliche Tonika-Dominante-Progression auf. Das aber ist Wesenselement der cadenza, wie sie die Italiener nennen, wo sich die Quintspannung auf der fünften Tonstufe (Dominante) durch das ›Fallen‹ (das cadere, daher Kadenz) in den Grundton der ersten Tonstufe (Tonika) zu einem stabilen Finalklang löst. Seine Entwicklung geht vor allem von den Schlussbildungen der Stimmen aus, den Klauseln. Der Terminus stammt von clausula, der Abschnittsbildung in Grammatik und Rhetorik. Bereits in der Zweistimmigkeit differenziert sich ihre Struktur schon formelhaft, wie es etwa Franchio Gaffori (auch: Gaffurius) lehrt (Practica

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musice, Mailand 1496). Aber mit der Drei- und Vierstimmigkeit kompliziert sich die Situation. Als Teil einer avancierten Kontrapunktlehre, die sich vor allem als Lehre von den geschmeidigen Fortschreitungen versteht, wird die Schlussbildung zur neuen Herausforderung. Besonders nördlich der Alpen wird sie in der JosquinZeit zu einer ausgefeilten Klausellehre ausgebaut. Dabei werden prägnante Strukturformeln entwickelt, die das tektonische Verhalten jeder Stimme erfassen und regeln. Ein entscheidender Schritt dabei ist immer der vom vorletzten Ton (der Paenultima) zum letzten (der Ultima) als Schlussstein einer überzeugenden Finalwirkung. Diese skrupulöse und detaillierte Behandlung, musikhistorisch gewürdigt als »eines der bedeutendsten Kapitel der deutschen Musiktheorie« (Heinz von Loesch),10 schwelgt nicht in den Wonnen subjektiver Beliebigkeit, sondern führt uns exemplarisch musikalische Handwerkslehre als Arbeit an einer als sinnvoll empfundenen Ordnung vor. Noch Joseph Haydn spricht mit selbstverständlichem Bewusstsein für dieses musikalische Handwerk von Compositionswissenschaft. Die Suche nach einer die ›Ohren‹befriedigenden Logik der Satzstruktur folgt also dem Empfinden für eine innere Logik, das offenbar genau zu unterscheiden vermag zwischen einem ›offenen‹ oder einem vollständigen Schluss. Damit aber manifestiert sich wieder eine anthropologische Dimension musikalischer ›Bedeutung‹. In den gleichen ›semantischen‹ Zusammenhang gehört noch ein anderes Element der Kadenz, das bald eine immer wichtigere Rolle spielt: die Schärfung des Leittones als melodisch zugespitzte Führung in den Grundton. Es ist die Erhöhung des vorletzten Kadenztones mit den Akzidentien (also beispielsweise fis statt f bei einer Kadenz in den Grundton g). Sie wird zwar selten ausdrücklich notiert, aber in der Praxis fast immer gesungen. Die vollkommene Beherrschung der Stimmentektonik erlaubt bald die Ausweitung der Stimmenzahl bis zu fünf und acht Stimmen, bei Palestrina und Lasso sogar bis zu zwölf Stimmen: ein Verlangen nach Klangfülle und ein Ausweis satztechnischer Fertigkeit gleichermaßen. Die Reife des mit der Mehrstimmigkeit geborenen ›konstruktiven‹ Denkens zeigt sich aber nicht nur in der Tektonik der Stimmführung, sondern auch an der thematischen Vereinheitlichung des Satzes. Die Verwendung gleicher melodischer Wendungen in allen Stimmen führt zur ›Durchimitation‹, einem Satzmodell, das die Messen von Obrecht über Josquin des Prez bis zu Palestrina bestimmt. Das Erbe der alten Synthesen von ›weltlich‹ und ›geistlich‹ aus den Motetten des 14. Jahrhunderts wirkt schließlich weiter in der Parodiemesse, die mit ihrem zyklischen Konzept einen starken motivischen Zusammenhang sichert. Gibt man sich also Rechenschaft über die Ausdrucksqualitäten, die eine so auffallende stilistische Einheitlichkeit dieser musikalischen Epoche stiften, dann findet 10

H. v. Loesch gibt einen genauen Überblick über die Klausel-Lehre und ihre Theoretiker, vgl. Musica, Musica practica, Musica poetica, in: Geschichte der Musiktheorie (2003), Bd. 8/I, S. 244– 264.

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man den Grund in einer bestimmten Ordnungsvorstellung des musikalischen Satzes, deren Feinheiten über 200 Jahre erarbeitet wurden. Sie strahlt eine Intentionalität aus, die ihre Ästhetik zum Medium innerer, mentaler Haltung macht: die tönende Umsetzung bestimmter ›Bedeutung‹. Die aber unterscheidet sich nicht von der alten zuvor, der ›mittelalterlichen‹.

Neue Deutung und alte Be-deutung Das zeigt sich schon an der Bindung des musikalischen Satzes an den Numerus – genau wie zuvor im Mittelalter. Dufays Domweihmotette für Florenz ist, wie seine Missa Se la face ay pale, durchtränkt mit den ›geheimen Signaturen‹ der Numerositas, von Symmetrien nach dem Goldenen Schnitt bis zu den Fibonacci-Zahlen.11 Die Mode der Rätselkanons, kultiviert wie in keiner anderen Musikepoche, galt zwar fraglos als raffiniertes Vergnügen nicht nur für Komponisten und Kenner, sondern auch für Sänger und Hörer.12 Aber dahinter steckt eine Bewusstseinslage, die das finessenreiche Spiel mit dem musikalischen Numerus nicht als abstrakte Dechiffrierungsübung sui generis, sondern als sinnlich-emotionales Erlebnis empfand: nämlich als »Gemüthsergetzung …«, die »denen Kennern und Liebhabern« gleichermaßen gewidmet war, wie es später ein anderer finessenreicher Kontrapunktiker nennt, dessen ars nicht weniger mit den Regeln einer komplexen musikalischen Logik rechnet: J. S. Bach (in der Vorrede einer seiner Clavier-Übungen). Die gleiche Bewusstseinslage zeigt sich auch in der ungenierten Parodiepraxis zwischen weltlich und geistlich. Auch sie folgt dem Verständnis einer gemeinsamen musikalischen Sprachfaktur wie in den Jahrhunderten zuvor. Sie bedient Chanson, Ballade oder Motette mit der gleichen Dignität wie Messe oder Marienantiphon – denn im Weltverständnis einer umfassenden kosmologischen ›Wirklichkeit‹, deren traditionelles und sinnfälligstes Abbild seit der ›Sphärenharmonie‹ die Musik ist, durchleuchtet das Lux aeterna schließlich alle Lebensbereiche des Menschen, die profanen wie die arakanen. Bezeichnend für diesen mentalen Hintergrund ist das erneute Aufblühen des Neuplatonismus, das einhergeht mit der Rückbesinnung auf die Antike. 1459 formiert sich in Florenz, gefördert von Cosimo de’ Medici, ein Kreis um den Neuplatoniker Marsilio Ficino, euphemistisch oft als ›Platonische Akademie‹ bezeichnet. In Ficinos Übersetzungen und Schriften geht es aber nicht nur um Platon, sondern dort konvergieren antike, gnostische und hermetische Texte aus arabischen und ägyptischen Quellen bis zu den Überlieferungen spiritueller Naturmagie. Dort korrespondiert das magische Kräfteaggregat des ›Talismans‹ mit dem Absingen orphischer Hymnen nach Melodien, die als Entsprechung zu den pythagoreischen

11

Vgl. Details bei P. Gülke (2003), S. 354 ff.

12

Vgl. K. Schiltz, Music and Riddle Culture in the Renaissance, Cambridge u. New York 2015.

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Planetensphären verstanden werden. Das ist nichts anderes als die alte Analogienlehre, die jetzt als Lehre von den Sympathien durch Signaturen fortgeführt wird: eine Ars signata der Alchemisten und Heilkundigen, die bei Agrippa von Nettesheim und Paracelsus weiterwirkt. Dabei darf auch die jüdische Kabbalah nicht fehlen. Pico della Mirandola ebnet ihr mit einer ersten Übersetzung den Weg ins Denken des christlichen Abendlandes. Und Raffaello Santi schließlich erweist sich in seiner Schule von Athen nicht nur als Malergenie, sondern als ›Wissender‹ um die pythagoreische Tradition (siehe Kapitel III). In der modernen kunsthistorischen Deutung hat sich das Verständnis der Renaissance immer weiter von einer sakralen, namentlich ›christlich‹ bestimmten Auffassung ihres Untergrundes zu einer profanen und paganen unter dem Aspekt eines Fortschritts von mittelalterlichen Bindungen und Bezügen entwickelt. Schon im 19. Jahrhundert ist das einschlägige Epochenbild geprägt vom Rationalismus der französischen Aufklärung und einer protestantisch-calvinistisch geschärften Religionskritik. Jules Michelet sieht in seiner Schrift Renaissance (1855), ganz im Geiste Hegels, die letzte Etappe in der ›Befreiungsgeschichte‹ des menschlichen Geistes anbrechen. Jacob Burckhardt krönt seine epochale Darstellung Die Kultur der Renaissance in Italien (1860) mit dem Schlusskapitel Sitte und Religion. Dort findet er vor allem fatale Dekadenz, und von da aus beschreibt er religiöse wie moralische Verkommenheit der Renaissance als Ausdruck radikaler Verweltlichung. In den folgenden kunsthistorischen Darstellungen (1855 und 1867) thematisiert er den ›Verrat der Kunst an die Religion‹ und trennt sie strikt von sakralen Kontexten zugunsten ihrer ästhetischen Autonomie. Das hat eine gewisse Tradition. Bereits Friedrich Nietzsche feierte die Renaissance als »Überwindung des Christentums an seinem Sitz«. Selbst Goethe fühlte sich vor ihren Bildererzählungen auf seiner italienischen Reise eher wie »der alte Heide« (zu Dorothea Schlegel bemerkt) und bevorzugte entschieden ihre pagane Seite. Solche Sicht setzt sich in der modernen Kunstgeschichte fort. Bei Aby Warburg und seinem Schülerkreis sowie bei Erwin Panofsky und Ernst H. Gombrich gewinnt sie mit deren zentralem Fokus auf den neuplatonischen Hintergrund, der als ›heidnisch‹ apostrophiert wird, den aktuellen kunstwissenschaftlichen Deutungsrang.13 Das kommt dem modernen, säkularisierten Weltbild entgegen: Aufbruch in die Neuzeit, in helle Naturwissenschaft und Aufklärung, Ausbruch aus religiösen Glaubensdogmen und Befreiung aus restriktiven, mittelalterlichen Dokrinen. Dem stehen allerdings Befunde aus der kunsthistorischen Forschung gegenüber, wonach die überwältigende Anzahl der datierbaren Bilder im Zeitraum von 1420 13

Jörg Traeger untersucht es umfassend in seiner Darstellung (München1997), und kommt aber zu dem Urteil: »Die Renaissance war katholisch, und sie blieb es auch da, wo sie heidnische Themen ins Blickfeld gerückt hat«, vgl. S. 11–49.

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bis 1539 ein christliches Thema aufweisen (nämlich etwa 87 Prozent, wie es Peter Burke vorgerechnet hat).14 Sogar Leonardo da Vinci, den das 20. Jahrhundert wegen seiner naturwissenschaftlichen Neugier und seines erfinderischen ›Ingenieuringeniums‹ so gern als Prototyp eines aufgeklärten Atheisten vereinnahmt, widmet über die Hälfte seines malerischen Œuvres der Darstellung christlicher Sujets. Sie bedienen zwar oft nicht mehr dogmatische kirchliche Konventionen und werden deshalb, wie auch bei Pietro Perugino, gern zum »gottlosen Anteil« der Renaissance als Indiz einer ›Spaltung von Kunst und Glauben‹ gerechnet. Aber das ist qualitativ keine Abkehr von ihren spirituellen Werten, sondern vielmehr eine Manifestation künstlerischer Spiritualität. Denn seine heimliche Wurzel liegt im Anspruch eines eigenständigen künstlerischen Schöpfertums, mit der sich »die Göttlichkeit (deitá) der Wissenschaft des Malers zur Ähnlichkeit mit dem göttlichen Geist (mente divina) emporschwingen wollte« (J. Traeger).15 Schließlich offenbart sich in der Wirkung der Renaissance-Kunst auf die Romantik bei Wackenroder, Thieck bis Overbeck und Johann David Passavant oder Henry Thode auch eine ganz andere Perspektive. »Ich vergleiche den Genuß der edleren Kunstwerke dem Gebet«, lässt Wackeroder seinen Protagonisten in einem Schlüsselwerk der Romantik, den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1796/97) bekennen. Solches Bekenntnis feiert nicht ein frivoles Paganes, sondern die Andacht vor einem unbegreiflich Höheren in dieser Kunst, das ihn bis zur Ahnung eines ›Göttlichen‹ ergreift. Sie ist ihm wesensgleich mit jener ›religiösen Empfindung‹, wie er sie auch für die Musik bekennt (siehe Kapitel VII). Solche Urteile offenbaren, unabhängig von unterschiedlichen Deutungsper­ spektiven, dass hinter dem als ›heidnisch-antik‹ Apostrophierten keineswegs weniger spiritueller Hintergrund wirksam ist wie in seinen ›christlich-religiösen‹ Erscheinungsformen. Er weitet sich zwar über manche ihrer konventionellen Fesseln aus. Aber auch in der intensiven Rezeption des pythagoreisch-neuplatonischen, gnostischen, kabbalistischen und magischen Wissensguts und seinen christlichen Anverwandlungen in der Gotik mit Saint Denis oder Chartres wirkt Re-ligio. Zwar in einem universaleren Modus als in der ekklesiastischen Orthodoxie, aber in der gleichen ursprünglichen Bedeutung von Rück-Verbindung. Deshalb erscheint die betont pagane Deutung nach modernem Verständnis eher als Vehikel einer positivistischen Analytik, die solche Bindungen aus zeitgeistiger Optik lieber neutralisieren als verifizieren möchte. So wird hinter dem Enthusiasmus über eine ›Wendung zum Menschen‹ aus dem Geist ›heidnischen Antike‹ samt einer Antizipation von ›Aufklärung‹ eher ein Denken aus aktuellem, westlichen Fortschrittsethos und seines Weltbildes bedient. Damit aber greift ›Befreiung‹ vom Christlichen ins Heidnische zu kurz. Sogar im antik-paganen Kontext versteht

14

P. Burke, Die Renaissance in Italien. Sozialgeschichte einer Kultur zwischen Tradition und Erfindung, Berlin 1984.

15

J. Traeger (1997), S. 387 ff., besonders S. 400 f.

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sich der Mensch fraglos in Zusammenhänge einbezogen, die nicht weniger transzendente Qualität haben, wie im kodifizierten Christentum. Deswegen wird die ›pagane‹ Lesart der neueren Deutungstheorien ungeachtet ihrer wertvollen Aufschlüsse und Detaileinsichten leicht zu einer prominent vertretenen Gegenthese zu jenem theokratischen Weltbild, das Mittelalter wie Renaissance gleichermaßen so nachhaltig durchdringt wie in keinem anderen Zeitalter des Abendlandes: ein zuletzt gotterfüller Bewusstseinsraum. Als These vom ›Langen Mittelalter‹ haben Züge einer inneren Kongruenz sogar Eingang in die historische Forschung gefunden.16 Das belegt nicht zuletzt auch die Musik. Denn für sie kann der Anspruch eines ›paganen‹ Geistes weder ihrer Intention nach noch in ihrem Idiom in Anspruch genommen werden. Die Evolution ihrer musikalischen Mittel dient einer kompositorischen Ordnung, die kaum weniger als Träger spirituell-transzendenter Ausdrucksbedeutung funktioniert wie die von vorher. Ihre offensichtlichste Manifestation ist die religiöse Symbolwelt, von der sie durchtränkt ist. Eine Statistik christlicher Sujets, wie sie Peter Burke für die Malerei vorgenommen hat, fehlt zwar für die Musik. Aber ihre repräsentative Präsenz in den Messen, Motetten und den Kontrafakturen in weltlichen Werken ist so unübersehbar, wie die dafür aufgewandten Kunstfertigkeiten. Ein bescheidenes, aber bewegendes Zeugnis, wie eng und personal diese Bindung werden kann, liefern die vielen symbolischen Namenseinschreibungen von Komponisten in ihre Werke vom 14. bis 16. Jahrhunderts im Genre der Trauermusik, vom intimen Come, heavy sleep bis zur repräsentativen Begräbnismotette. Dufay hinterließ uns ein ergreifendes Beispiel in einer Marien-Motette. In seiner dritten Vertonung der marianischen Antiphon Ave regina caelorum schreibt er ihr seine ganz persönliche Bitte um Erbarmen in der Stunde seines Todes ein: es ist seine designierte Sterbemusik. In vier Tropen fleht er: Misere, misere, tui labentis Du Fay …, »Erbarme dich des hinscheidenden Du Fay …«.17 Absichtsvoll prägt eine Alteration des cantus firmus von e zu es im Tropus, und damit von der reinen Quarte zur verminderten Quarte, diese schmerzliche ›Bedeutung‹ dem musikalischen Satz ein. Hier steht der sterbliche Mensch vor der Ewigkeit – aber weder mit Schrecken noch mit Spekulation, sondern mit der Gestaltung eines sinnlich-seelischen Erlebens, das musikalisch vorempfunden wird. Das ist persönliches Bekenntnis in einer musikalischen Ars moriendi, die ebenso ›geordnet‹ verfährt, wie ihr Tonsatz. Denn in einem ganzheitlichen ›Wirklichkeitsbewusstsein‹ gehört das Sterben so zum Leben wie das Jenseits zum Diesseits – realisiert pragmatisch in der Verfertigung einer Begräbnismusik zu Lebzeiten. Und die Bitte verfährt nach hierarchischem und 16

So vertritt es der Historiker Jacques Le Goff (2016), siehe Kapitel III, Anm. 1, als Beispiel für die Zeitebene einer longue durée nach dem Modell des Historikers Fernand Braudel aus der École des Annales.

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»Miserere, miserere tui labentis du Fay/Peccatorum ne ruat in ignem fervorum« vgl. A. E. Planchard, Notes on Guillaume Du Fay’s Last Works, in: JAMS XIII (1995), S. 55–72.

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archetypischem Verständnis, denn sie ruft zur Vermittlung die Gottesmutter Maria an und damit das Weibliche, wie Dante seine Beatrice, Mozart die Pamina der Zauberflöte und Goethe das Gretchen in Faust II (siehe Kapitel VII). Die Epoche der franko-flämischen Musik ist deswegen kaum in eine sinnvolle Kongruenz zu einer kunsthistorischen Epochendeutung zu bringen, die sich als Gegenthese zum transzendenten Weltbild des Mittelalters versteht. Weil die Musik, wie so oft, ihren eigenen Weg geht, liefert sie mit dieser Epoche auch das eindrucksvollste Exempel für ihre schon häufig historisch bemerkte und reflektierte zeitliche Verzögerung gegenüber den Stilwandlungen in den anderen Künsten – Kennzeichen ihrer tieferen ontologischen Begründung im Menschen. Und damit womöglich sogar für die Zeitebene der longue durée, wie sie der Historiker Fernand Braudel formuliert oder das Zeitmodell einer Pluritemporalität.18 Der gängige Renaissance-Begriff aus Kunst- und Profangeschichte taugt jedenfalls nicht für die Musikgeschichte dieser Zeit.

Ein neues Genre regt sich mit Macht: die Instrumentalmusik Die vollendeten Satzkünste der Vokalmusik strahlen aus. Sie dringen ein in ein Metier, das es zwar schon lange gab, das aber im 15. Jahrhundert immer mehr Bedeutung als eigener Bereich abendländischen Komponierens gewinnt: die Instrumentalmusik. Flöten, Harfen und Schlaginstrumente gehören zu den ältesten Zeugnissen der prähistorischen Musikgeschichte. Als uralte Kult- und Tempelmusik, als lautstarkes Beiwerk antiker Umzüge oder als deftige Unterlage aller möglichen Tänze bis zum bunten Repertoire mittelalterlicher Spielleute war das Genre immer schon präsent. Auch als nicht überlieferte Begleitung von Liedern, möglicherweise sogar zu den Organa der frühen Mehrstimmigkeit oder den Tenores der Motetten wird sie inzwischen von der Forschung nicht ausgeschlossen. Wie eine typisch instrumentale Idiomatik auf die Vokalmusik einwirkt, zeigt bereits die DufayZeit. Bezeichnungen wie Gloria ad modum tubae (Dufay), Missa tubae (Cousin) oder Missa trombetta (Gaffori) enthüllen, dass hier das Vorbild von Posaune und Bläsermusik aufgegriffen wird. Die typische Dreiklangharmonik der Fanfare mit den auf ihr spielbaren Tonarten (nämlich in C und F) färbt auf das reine a cappella charakteristisch ab. Gleichzeitig tritt uns seit dem 14. und 15. Jahrhundert in den Quellen für Laute und Orgel aus Italien und Deutschland eine blühende Instrumentalpraxis entgegen. Prominente Zeugnisse sind das Buxheimer Orgelbuch (um 1470) aus Süddeutschland, die Tabulatur von Adam Ileborgh (1448) oder die ersten italie-

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Angedacht von A. Landwehr, Dieseits der Geschichte. Für eine andere Historiographie, Göttingen 2020.

nischen Lautentabulaturen von Spinaccino, Dalza und Bossinensis (1507–1509). Sie überliefern uns eine Musik, die zuerst Lieder und Motetten aus der Vokalmusik sowie Tanzmelodien ins Instrumentale ›übersetzt‹. Unsere frühesten Quellen für Tastenmusik, das englische Robertsbridge-Fragment, entstanden um 1320, und der italienische Codex Faenza, um 1420 geschrieben, enthalten zwei vollständige Estampien, nämlich Tanzlieder beziehungsweise Bearbeitungen von Vokalwerken von Bartolino, Jacopo, Landini und Machaut. Das zeigt, dass an der Wiege unserer schriftlich notierten Instrumentalmusik eine Aneignung aus einem anderen Genre steht: der Vokal- und Tanzmusik. Das Schlüsselwort dafür heißt: Intavolierung oder auch: Intabulierung. Es bezeichnet als musikologisches Fachwort das ›Absetzen‹ von vokalen Kompositionen in tavola, das heißt in ›Tabulatur‹, die als schriftliche Vorlage für den Spieler eines Instruments diente. Dabei handelt es sich nicht um eine Notenschrift wie bei den Aufzeichnungen aus der Werkstatt der Vokalmusikkomponisten des 16. Jahrhunderts, wo man mittels einer partiturartigen Tabula decemlinealis den Überblick über die Stimmen behält oder gar nach heutiger Art, sondern um eine Griffschrift. Sie ordnet die Töne mit Tonbuchstaben den Tasten, Saiten oder Bünden zu, ähnlich wie es wieder in heutigen Editionen von Popmusik für Gitarre und Keyboard geschieht. Die Instrumentalmusik rankt sich also gewissermaßen an der Vokalmusik empor und das Attribut d’intavolatura beherrscht dann auch die Titel zahlloser italienischer Drucke des 16. Jahrhunderts. Aber auch in Frankreich, Spanien und England tauchen überall solche Intavolatura auf. Bei Pierre Attaignant, den ersten Drucken mit beweglichen Typen, finden sich um 1530 Tabulaturen für Laute und Tasteninstrumente und sogar zwei für Flöte. In Spanien treffen wir viele Übertragungen von Variationen über ostinate Tanzbässe für Laute und Tasteninstrumente, beispielsweise die von Valderrábano (1547), von Diego Ortiz (1553), Venegas de Henestrosa (1557) oder Antonio de Cabezón (1578). Ähnliches liefert England mit den Variationen über die Grounds, wie die Bassmodelle von Tänzen und Liedern genannt werden und wie sie sich schließlich im Fitzwilliam Virginal Book (1570–1626) als Sammelwerk finden. Der früheste deutsche Druck einer Tabulatur liegt mit Arnolt Schlicks Tabulaturen etlicher Lobgesang (Mainz 1512) vor. Auch die Ensemblemusik nimmt an diesem Transformationsprozess teil. Die neu entstandenen Gamben-Consorts übertragen, genau beschrieben im spanischen Trattado de glosas von Diego Ortiz aus dem Jahr 1553, mehrstimmige Vokalstücke auf die Einzelstimmen der Violen, entweder aus Begeisterung über eine besonders gelungene Melodie oder als Anregung zur phantasievollen Umspielung mit virtuoser Figuration. Solcher musikalischen Phantasie gibt sogar die Hauptgattung der intimen englischen Kammermusik des 16. Jahrhunderts die Ehre: die Fancy. Auch dort lässt sich die Entfaltung von der Übernahme des vokalen Vorbilds einer Motette bis zu den freien, zweistimmigen Phantasien von Thomas Morley von 1595 gut verfolgen.

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Mit den Übertragungen und Bearbeitungen entstehen auch die Lehrbücher der Organistenzunft, die zeigen, wie es gemacht wird. Das Fundamentum organisandi von 1452 des blind geborenen Organisten Konrad Paumann, der 1473 in München starb, liefert viele Beispiele, wie man Liedmelodien aus vokalen Vorlagen mit Figurenwerk, Ornamenten und Begleitung in die Fingerfertigkeit des Organisten übersetzt. Paumanns Lehrbuch gewinnt Vorbildcharakter für die Reihe der Fundamentbücher, die im Handwerk des ›Setzens‹ für Tasteninstrumente unterweisen. Bereits in der Tradition der Tactus-Lehre in frühen Quellen des Orgelspiels aus dem 15. Jahrhundert wird wieder greifbar, wie sich das abendländische componere, genau wie etwa bei der Klausellehre, auch im Bereich des Tasteninstruments als eine präzise Handwerkslehre mit Regeln und Konzepten definiert.19 Im Buxheimer Orgelbuch, verfasst um 1470, tritt übrigens bereits das selbstständige Orgelpedal mit der Ausführung einer Unterstimme auf: Vorbote einer ›cisalpinen‹ Orgelkunst, die später, ganz im Unterschied zur italienischen und spanischen Tradition, die virtuose Fertigkeit der Finger auf die Füße mit der Pedalklaviatur ausdehnt.

Die ›perfekten‹ Instrumente: die Karriere des Claviers Der Titel einer Sammlung des Venezianers Cipriano de Rore von 1577 verrät uns Entscheidendes über eine besondere Qualität, die Laute und Tasteninstrumenten zugesprochen werden. Tutti i madrigali a quattro voci, spartiti et accomodati per sonar d’ogni sorte d’istrumento perfetto lautet er. Mit den »perfekten Instrumenten« sind solche gemeint, die in der Lage sind, mittels der Griff-Möglichkeiten der Hände mehrstimmige Musik wiedergeben zu können. Dieser Vorzug ermöglicht den steilen Aufstieg der clavierten Instrumente (wie sie noch bei J. S. Bach heißen) zu ihrer singulären Rolle in der abendländischen Musik bis zur Konzertikone des Steinway. Darunter fallen alle mit claves, also mit Tasten versehene Instrumente: Orgel, Clavichord, Virginal oder Cembalo, später Hammerklavier und Pianoforte oder die modernen Derivate vom Harmonium und Synthesizer bis zum Keyboard. Schon um das erste Jahrtausend hat sich das Weltwunder antiker Technik, die Orgel, vom dröhnenden Zirkusrequisit über das höfische Statussymbol zum Sakralinstrument der christlichen Kirche gewandelt. Aus dem Jahr 980 gibt es einen Bericht über den Bau einer Riesenorgel mit 400 Pfeifen in der Kathedrale von Winchester. Im Jahr 1332 wird erstmals eine Orgel in Notre Dame de Paris erwähnt; 1349 eine in Chartres.

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In dieser Lehrtradition wird die richtige Anbringung von Notengruppen mit meist viertönigen Spielformeln über einem Tenor beschrieben, die bausteinartig aneinandergereiht werden. Darin zeigt sich schon eine strukturelle Annäherung an den ›Takt‹ nach unserem späteren Verständnis, vgl. Th. Göllner, Die Tactuslehre in den Deutschen Orgelquellen des 15. Jahrhunderts, in: Geschichte der Musiktheorie (2003), S. 1–68.

Diese Eigenart, eine partitura in tavola für die zehn Finger bringen zu können, bleibt, was bei der brillanten solistischen Karriere des Klaviers leicht in Vergessenheit gerät, eine zentrale Wesensseite der Tasteninstrumente. Sie lässt sich durch die ganze Musikgeschichte verfolgen, von den ersten Tänzen und Liedsätzen bis zu den Klavier-Auszügen von Wagner- oder Verdiopern im 19. Jahrhundert. Die Fuge wird vom Ricercar inspiriert, einer Nachbildung des motettischen Vokalsatzes, das Concerto von der Mehrchörigkeit und ihrer Übernahme in die Gruppen des Ensembles, die Sonata von den Canzoni da sonar und schließlich noch die Orgelsinfonien von Widor, Vierne oder Guilmant vom sinfonischen Orchesteridiom der Spätromantik. Die andere Seite der Tastenmöglichkeiten zeigt sich in den Toccaten (von toccare, berühren), den Phantasien und Präludien, wo die Finger oft vor der Satzkunst rangieren. Dort tobt sich ihr eigener ›instrumentaler‹ Geist mit haptischer Spielfreude und technischer Griff- und Fingerfertigkeit aus und evolutioniert die alten schematischen Spielfiguren der Fundamenta zu virtuosem Glanz. War die Klausel- und Kadenzbildung der mehrstimmigen Vokalmusik ein Exempel für konzeptionelle Satzkunst, so kann man die lustvollen Umspielungsorgien vor der Finalis in der Orgelmusik, mit Pausa bezeichnet, als spielverliebte Fingerhaptik werten.20 Bereits aus den Anfängen dieser Kunstfertigkeiten sind uns allerhand große Namen überliefert: aus Italien der berühmte, aber blinde Florentiner Francesco Landini (um 1335–1397) oder Adrian Willaert (1490–1562) und Girolamo Cavazzoni (1520–1577) sowie die virtuosen Organisten von San Marco in Venedig, Claudio Merulo (1533–1604) und Andrea und Giovanni Gabrieli (zwischen 1510 und 1612). Aus Spanien kennen wir Antonio de Cabezón († 1566), Hoforganist Philipps II. mit seinen Tientos, den vierstimmigen Phantasien. In Deutschland zählen Hofhaymer, Schlick, Buchner dazu, in England Byrd und die Schule der Virginalisten des elisabethanischen Zeitalters mit ihren Pavanen und Gaillarden. Scholastisches Denken, gotische Kathedrale und mehrstimmige Musik mit schriftlicher Notation waren Errungenschaften des Okzidents. Es war die Anverwandlung ›östlichen‹ Erbes zu ›westlicher‹ Systematik auf dem langen Weg von Athen, Rom und Ost-Rom (Byzanz) nach Paris und Burgund. Jetzt könnte man, wieder in Rom, die Vokalpolyphonie Palestrinas als die vollkommenste Einlösung der gotischen Vision bei der Geburt der Mehrstimmigkeit begreifen: das klingende Pendant der steinernen Kathedrale als reifste Erscheinung eines ›Klangdoms‹. Mit der vollkommenen ›Konstruktion‹ seiner Tektonik, der Statik seiner ›Klangsäulen‹, der Spannung seiner ›Stimmbögen‹ und der lautmagischen Strahlkraft seiner Sprach20

Anders als in den ausgefeilten Klausellehren der Vokalmusik, liefert sie mit ihren lustvollen, nicht-enden-wollenden Umkreisungen des Schlusstones ein Beispiel eines autonomen, quasi von den Fingern inspirierten Musizierens. Vgl. Th. Göllner, Pausa, in: Musikgeschichte in Zusammenhängen. Schriften von Th. Göllner, hg. v. C. Bockmaier u. B. Schmid, Tutzing 2009 (= MVM, Bd. 66), S. 401.

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deklamation ersteht jene transparente Äquilibristik des Klangraumes, die zum Erlebnisraum transzendenter Bedeutung werden kann. Aber gleichzeitig formiert sich mit Macht ein neuer Bedeutungsbereich: die Verwandlung des Cantare ins Sonare.

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V

Barocke Umbrüche – Eine neue Dialektik: Operndrama und Concertoglanz oder: Affekt und Abstraktion

Lasciatemi morire – »lasse mich sterben«, klagt eine verzweifelte Frau um ihren verlorenen Geliebten. Wir sind im Jahr 1608 und in einem Dramma per musica von Claudio Monteverdi. Das Lamento ist die ergreifende Schmerzensmusik einer preisgegebenen menschlichen Kreatur. Nicht mehr eine Klage vor Gott und Ewigkeit, sondern aus der Verlassenheit des Diesseits – jener erbarmungslosen ›Geworfenheit‹ des Menschen ins Dasein, Vorschein einer Verzweiflung, wie sie sehr viel später im Existenzialismus von Heidegger bis Sartre und Camus thematisiert wird. Surreal fast schon das stockende Gestammel im Schlussvers: mo-mo-mo – ri-riri-re, das den Leidenssturm des gebrochenen Herzens mit krasser naturalistischer Mimesis einfängt. Nichts mehr von der Kontemplation göttlicher Unendlichkeit wie in Palestrinas Klangkathedralen, sondern das Bekenntnis blanker kreatürlicher Verzweiflung. Das ist Ausdruck für eine andere Seelenlage. Er steht für einen Perspektivenwechsel: vom ›Ewigen‹ zum ›Zeitlichen‹. Nicht mehr der Blick auf eine transzendente Weltordnung zählt, sondern das Individuum als diesseitige Kreatur, das seine Würde aus dem aufrechten Gang und seinem persönlichsten Glück und Leid bezieht. Ist die Rinascita, verstanden als ›Wendung zum Menschen‹ und zum ›Diesseitigen‹ jetzt auch in der Musik angekommen? Tatsächlich ist dieses Lamento di Arianna, einziger erhaltene Rest von Monteverdis Oper L’Arianna, kein neues Genre. Denn die blühende Madrigalkunst der Zeit lebt von Liebe und Liebesleid. Auch der Meister der transzendenzbeschwörenden Vokalpolyphonie, Palestrina, hatte seinen Ruhm zu Lebzeiten mehr seinen Madrigalen zu verdanken als seiner Kirchenmusik. Schon seit Petrarca sammelt sich in der madrigalischen Dichtung die Selbstreflexion der leidenden Seele. Ihre Musikalisierung sättigt sich bei Willaert und Cipriano de Rore mit intensiver Chromatik, bei Marenzio, Gesualdo Principe di Venosa, und Monteverdi reift sie schließlich zum bildhaft-wortausdeutenden Stil, ja wird zum gewagten Experimentierfeld einer zugespitzten Ausdrucksmusik. Aber jetzt betritt die dramatische Affektkunst nicht nur die ›Bühne‹ der Musikgeschichte als ein Hauptakteur, sondern als reales Bühnenspektakel. Die musikalische Sprache der subjektiven Leidenschaften verbindet sich mit der theatralischen Szene: die Geburtsstunde der Oper. Aus den Keimen szenisch-musikalischer Darstellungen in den vielerlei geistlichen und weltlichen Spielen des Mittelalters, den Schuldramen mit Chören, den Balletti, Intermedien und englischen Masques mit ihren sängerischen Rollenspielen und einem Erzählstrang, der im Rezitativ die Handlung vorantreibt, entwickelt sich eine zentrale und unverlierbare Gattung der europäischen Musik: das ›Kraftwerk der Leidenschaften‹, das bis heute glüht.

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Ihre Elemente sind Rezitativ und Arie, die im stile recitativo und im stile arioso in verschiedener Machart zum dramatischen Vehikel werden. Die Rückbesinnung auf die Antike à la italiana, sah im Tragödiengesang des Euripides ihr Vorbild für eine neue Ausdruckskultur. Cantare con affetto wird zum Muster eines affektgeladenen, in seelischer Erregtheit oszillierenden Sprechens, die Devise ›Musik als Dienerin des Textes‹ zur Leitidee des Komponierens und der singende Solist zu ihrem Protagonisten. Die Werkstatt der neuen Ideen ist die Camerata Fiorentina des Grafen Bardi, eines Zirkels von Dichtern, Musikern und Gelehrten. Formuliert werden sie in den Schriften von Vincenzo Galilei, dem Vater des berühmten Astronomen und von Giulio Caccini.1 Die neue Kunst, die dem vielstimmigen Gefüge der Harmonie mit der vom Sprachaffekt geprägten Melodie den Rang streitig macht, hat man als Monodie bezeichnet. Bei Monteverdi findet sich eine klare Abgrenzung der beiden Ausdrucksidiome: das neue bezeichnet er als seconda pratica (im Vorwort seines fünften Madrigalbuches von 1605), das alte als prima pratica (in der Vorrede seiner Scherzi musicali von 1607). Man kann die ›seconda pratica‹ gut als neue Dimension der abendländischen Dialektik zwischen Sprach- und Musiksemantik begreifen. Es ist die Entbindung einer anderen Qualität aus dem unerschöpflichen Fundus der Sprache – freilich auch aus Texten einer anderen Leidenschaftsstufe. Deswegen rechtfertigt sich auch der reichliche Gebrauch chromatischer und dissonanter Intervalle wie ihn Monteverdi in einem (nicht erhaltenen) Traktat begründet.2 Der Ausgangspunkt im Rezitativ hat eine lange Tradition. Schon bei Quintilianus und Boethius wird eine »mittlere Vortragsart« zwischen dem Sprechton und dem Singen beschrieben. Aber jetzt steigert das leidenschaftliche Affektbedürfnis den rhetorischen Sprechgesang zur dramatischen Geste. Seine Raffinesse liegt in der Einfachheit der Mittel. Sie lebt nur von der Spannung zwischen der Singstimme und der Begleitung, wobei exquisite Intervalle nach dem Alphabet der ›seconda pratica‹ auftreten können. Peri beschreibt im Vorwort der Euridice die neue Praxis, wonach die Singstimme die Freiheit hat, zum Zweck der Affektdarstellung unvorbereitete Dissonanzen über dem liegenden Bass zu ergreifen, anstatt gehorsam den Bewegungen der Bassbegleitung zu folgen. Aber der Stellenwert dieser delikaten Gebilde, die nie ergreifender waren als in Monteverdis mythischem Orfeo (1607), verfällt bald dem Hedonismus eines solipsistischen Melos: der Arie. Sie etabliert sich schnell als musikalisches Zentrum der aufblühenden Gattung. Bei ihr versammeln sich Potenzial und Personal des Genres wie in einem Brennpunkt: in den Karnevalsopern als dekadentes Amüsement von Venedigs Upperclass, pathetisch in den Göttergeschichten von Francesco Cavalli, 1

V. Galilei, Dialogo della musica antica et della moderna, Florenz 1561 und G. Caccini, Le nuove musiche, Florenz 1601.

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Wir haben von diesem Traktat Melodia, overo seconda pratica musicale nur Kunde durch einen Brief Monteverdis vom 27.10.1633.

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im Breitwandformat von Alessandro Scarlatti, in den erhabenen Antikenbeschwörungen von Händel bis Gluck und schließlich in den spritzigen Aktionsszenen der Commedia del’Arte von Pergolesi. Auch danach, bei Mozarts sanguinischem Brio und Verdis dramatischem Furor bleibt sie die Inkarnation melomaner Italianità und sängerischer Bravour, oft potenziert zu den Dialogspielen komplizierter Ensembleszenen. Die Opernarie steigert die hohe Wertschätzung des Sängers in den fürstlichen Kapellen bis zur rauschhaften Vergötterung der goldenen Kehlen. Als Starkult der Primadonnen und Tenöre, manieriert zugespitzt im Kult der Kastraten, drängt sie bis heute süffig an ›die Rampe‹ und rechtfertigt noch seichteste Libretti und abgefeimteste Regie. Im Belcanto schließlich erfährt die existenzielle Leidenschaft der Anfänge ihre klassische Abklärung zum erhabenen Fest der schönen Stimmen. Während das Rezitativ im blutleeren Schematismus des Secco zur Mozartzeit schließlich den letzten Platz im Opernszenario erreicht, wächst der Arie immer mehr Potenzial zu. Verdis packende Direktheit aus mediterranem Geist antiker Realpräsenz, Donizettis und Rossinis atemberaubende Virtuosität blitzender Tonkaskaden kontrastieren die weitgesponnene Epik Richard Wagners aus transalpiner Grübelei und Tümelei. Mascagnis oder Puccinis Melodramen kontrapunktieren den tragischen Verismo, und die Wahnsinnsarien des 19. Jahrhunderts tragen schon die Signatur moderner Hysterie und Neurasthenie, bis sie dann bei Bergs Lulu oder Wozzeck in beklemmenden Existenzialismus umschlagen. Die italienische Oper wird zu einem europäischen Archetyp und erobert schnell die Bühnen von England bis Spanien. Das erste Zentrum des neuen Musikspektakels ist Venedig, wo 1637 das erste öffentliche Opernhaus eröffnet wird. Danach entsteht um 1679 ein zweites Zentrum in Neapel. Die Neapolitanische Schule erlangt bald europäische Wirkung und prägt mit Alessandro Scarlatti bleibende Affekttypen der Arie (von parlante bis di bravura), kultiviert sämtliche virtuosen Kehlfertigkeiten und gesellt später zur ernsten seria die leichte buffa. In Deutschland findet die Gattung mit Dafne von Heinrich Schütz (1627) den ersten Widerhall. Dann folgen Keiser, Telemann, Mattheson und der junge Händel im Hamburg des späten 17. Jahrhunderts. In Frankreich erreicht sie ihre ersten Höhepunkte im Paris des 17. Jahrhunderts bei Jean-Baptiste Lully und seiner Tragédie lyrique, wo große Ballett- und Chorensembles als Abglanz höfischer Repräsentation in die Szene integriert werden und bei Jean-Philippe Rameau im 18. Jahrhundert. In England ist es Henry Purcell und dann Händel mit dem Import italienischer Opern und ihrer glänzenden Sängerstars. Aber bereits am greifbaren Anfang der neuen Gattung, bei Monteverdi, findet sich neben dem erzählenden Rezitativ und der affektgeladenen Arie noch ein drittes Element: das instrumentale Ensemble. Seine Orchestersätze gliedern Dramaturgie und Narrativ, treten aber auch als eigener musikalischer Akteur auf. Das zeigt sich gleich zu Beginn von Monteverdis Orfeo mit einer Toccata. Sie hat nichts mit der nachfolgenden »Favola in Musica« zu tun, sondern steht mit ihrer typischen Trompetenbesetzung in der musikalischen Tradition der Eröffnungsfanfare.

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Solche instrumentalen Einleitungen finden sich dann auch in den venezianischen Opern als Sinfonia oder bei Heinrich Schütz als Interludien in seinen Vokalwerken. Bei Monteverdi heißen sie Ritornelle, deren subtiles Instrumentarium schon damals den verschiedenen Affektlagen zugeordnet wird: ›trombe sordine‹ und ›timpani coperti‹ für den Bereich der Trauer, die Trompeten für das Jenseits und die Sphäre des Numinosen. Auch mit den Ombra- oder Lamento-Szenen wachsen dem instrumentalen Ensemble jenseits von Begleit- und Gliederungsfunktion dramaturgische Rollen zu. Bestimmte Kombinationen von Besetzungen mit Obligat-Instrumenten werden im Laufe des 17. Jahrhunderts so typisch, dass man sie als ›Emblematische Instrumentation‹ bezeichnet hat. Nach 200 Jahren erreicht die Orchesterbehandlung schließlich bei Carl Maria von Weber oder Hector Berlioz und im Musiktheater von Richard Wagner den Höhepunkt autonomer Beredsamkeit. Als eigene narrative Ebene mit der Verarbeitung von Themen und Motiven und einer sprechenden Semantik der Klangfarben ist sie schließlich zu einer unentbehrlichen Bedeutungsschicht im Musiktheater geworden. Der Beginn des 17. Jahrhunderts markiert also nicht nur die Geburt der Oper, sondern auch das Mündigwerden der Instrumentalmusik. Was mit Begleitung, Untermalung und Episoden oder den vokalen Übertragungen auf Laute, Orgel und Gambenensembles begann, wird mehr und mehr zur Idee von ›Musik an sich‹ bis sie schließlich als absolute Musik zum Inbegriff und Herzstück westlicher Musikkultur avanciert. Concerto, Sonate und Sinfonie mit dem glänzenden Streicherensemble als Kern jedes Orchesters, schnell anwachsend zu polyglotter Vielstimmigkeit, formieren sich im 17. Jahrhundert. Damit steht der leidenschaftlichen, subjektiven und vokalen Affektkunst von Rezitativ und Arie mit ihrer leibhaftigen Menschendarstellung in einer dramatisch-bewegten Szene das Abstraktionsprodukt des instrumentalen Satzes gegenüber. Das erinnert an einen früheren Abstraktionsprozess: bereits die erste Mehrstimmigkeit kann man mit der kalkulierten Auswahl und Regulierung der Klänge im schriftlichen Componere – trotz der Potenzierung im Klanglichen – als eine Abstraktion des reinen Melos verstehen. Jetzt ereignet sich Vergleichbares in einem Prozess, der das Gesangsmelos der menschlichen Kehle in das Tönekontinuum von Violine, Flöte, Oboe oder Orgel konvertiert, die atmende Vokalpolyphonie in den flotten instrumentalen Kontrapunkt, der technisch so viel mehr ›kann‹ als jede Menschenstimme. Besonders eindrucksvoll demonstrieren das die sogenannten perfekten Instrumente. Am Abstraktionsvermögen von Fingern und claves wird quasi die Intellektualität der Tastenspielerzunft sichtbar: die Griffpotenz, die einen komplexen Satz wiedergeben kann, die Strukturessenz des Partiturspiels und der spätere Klavierauszug als polyglottes Gegenmodell zu schlichter Melodie und menschlicher Stimme. Am Ende dieser Entwicklung steht die atemberaubende Virtuosität zirzensischer Fingerkünste im Klaviervirtuosentum des 19. und 20. Jahrhunderts. Und damit das Klavier quasi als Phänotyp abendländischer Instrumentalmusik.

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Dass man hinter der Brillanz der technischen Abstraktion allerdings auch Defizite fühlt, zeigt sich an der unverlierbaren Vorbildfunktion der menschlichen Stimme: die Erschaffung eines beseelten Melos-Bogens über ihre Nachbildung im bemühten Legato, ein kunstvoll ausgearbeiteter Fingersatz als Gleitmittel im abstrakten Pointillismus der Tasten. Alle Klavierschulen seit Carl Philipp Emanuel Bach singen ein Lied vom Ideal des ›singenden‹ Klaviertons – wie als Erinnerungsarbeit am versunkenen vokalen Erbe. Und obwohl die Violine noch näher am sängerischen Melos ist als das Klavier, beschwört man auch dort den ›singenden Ton«‹als höchstes Ziel, wie etwa in der Violinschule von Mozarts Vater Leopold.

Die Sprachkompetenz des Instrumentalen Aber auch dem schönsten singenden Ton eines Instrumentes ist die Sprache, das Worts abhandengekommen. Wie sehr die Loslösung der Musik von der Wortbindung in die abstrakte Omnipotenz des Technisch-Instrumentalen als Verlust empfunden wurde, zeigen die vielen polemischen Kommentare. Noch Rousseau und Hegel trauern der Vokalmusik als der eigentlichen Musik nach. Bernard Fontenelle, Neffe Corneilles und aufklärerisch gestimmter Sekretär der Académie des sciences, mokiert sich mit seiner berühmten Sottise: »Sonate, que me veux-tu?«. Der Literat und Abbé Charles Batteux, der als dezidierter Vertreter der Nachahmungsästhetik ohnehin die größten Schwierigkeiten mit der Musik hat, bemäkelt die Instrumentalmusik als ›leeren Schall‹. Noch Kierkegaard erklärt ihre »Unbestimmtheit« zu einem »Mangel« und 1868 bescheinigt ihr der Historiker Georg Gervinus, dass sie »nur einen Schemen zu geben vermag« und somit »gegenstandslos und daher inhaltslos« sei. Ist sie das wirklich, nur weil ihr Begriffe und verbale Sprachinhalte fehlen? Wenn Nietzsche der Instrumentalmusik attestiert, dass sie »eine ohne Poesie schon zum Verständnis redende Symbolik der Formen« sei, »nachdem in langer Entwicklung beide Künste verbunden waren und endlich die musikalische Form ganz mit Begriffs- und Gefühlsfäden durchsponnen ist«,3 dann erfasst er mit scharfem Blick das semantische Potenzial, das sich in der Musikgeschichte dort quasi akkumuliert hat. Es ist geprägt von den verschiedenen Auseinandersetzungen mit Sprachsinn und Wortaffekt: vom ›Betenden Singen‹ der Gregorianik, der Textbezogenheit in der mittelalterlichen Motette, den wortgezeugten Tenores, Devisen und

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Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 1878, Bd. 1, Aphorismus 215 und 216. Auch Th. W. Adorno greift diese Verbindung in seiner Philosophie der neuen Musik (1949, S. 129 f.) auf und Thr. Georgiades verfolgt sie ausführlich musikologisch am Beispiel der Messe, vgl. Musik und Sprache. Das Werden der abendländischen Musik dargestellt an der Vertonung der Messe. Berlin, Göttingen, Heidelberg 1954 (= Verständliche Wissenschaft, Bd. 50).

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Soggeti der franko-flämischen Vokalmusik und der Freisetzung des Leidenschaftlichen in Madrigal und Musikdrama. Noch in der lyrischen Poetologie des ›Deutschen Liedes‹ bei Schubert oder Schumann ereignen sich semantische Symbiosen. Zuletzt ernten ›Programmmusik‹ und ›Sinfonische Dichtung‹ das Feld ab, wenn die Orchesterkolosse von Liszt und Richard Strauss bis Tschaikowsky, Smetana oder Sibelius die Musik als tonmalerisches Epos quasi literarisieren. Schon die Aneignung erster Sprachkompetenz in der Intavolierungspraxis des 14. und 15. Jahrhunderts kann man zu diesen historischen Prozessen zählen. Denn dort ›lernt‹ die Musik von Lied und Tanz. Allein ihre Nachbildungen als Fingerund Klangbewegung erschaffen einen Kosmos an musikalischen Typen, der bis heute keineswegs erschöpft ist. Die instrumentale ›Abstraktion‹ löst gewissermaßen den Rhythmus mit dem Melos tiefster Wesenskern jeder Musik aus seiner körperhaften, haptischen Tanz-Realität heraus und verwandelt ihn in eine Zeit- und Akzentorganisation. Ihre Muster ziehen sich durch die Musikgeschichte wie ein roter Faden: italienische Folia, Saltarello oder Tarantella, spanischer Paso doble und die Passacaglia, französische Gaillarde, Sarabande und Gigue, deutscher Zwiefacher, Allemande und Menuett oder Polacca und Walzer und schließlich die komplexen Muster traditioneller Folklore aus dem osteuropäischen Raum. Bereits Ende des 17. Jahrhunderts sind sie zu festen instrumentalen Formen sedimentiert. In den Balletten von Jean-Baptiste Lully tanzte noch Frankreichs Sonnenkönig Louis XIV mit. Aber längst liegt ihre Essenz nicht mehr in Beinen und Hüften, sondern in Tasten und Violinbögen. Als Orchester- und Klaviersuiten gehören sie zum festen Bestand der Musikgeschichte und zum Œuvre von Großmeistern wie Lully, Rameau, Bach oder Händel bis zu den unzähligen ›Kleinmeistern‹. Noch die Moderne bedient sich aus ihrem Fundus. Tanztypen durchziehen das Werk von Bartók, Strawinsky und Ravel bis Mahler und Berg. Tango, Ragtime und Swing sind die begeistert aufgegriffenen Vitalisierungsspritzen der europäischen Moderne aus den 1920er Jahren. Und die aktuelle Pop- und U-Musik versorgt sich für Beat und Drive aus allen Idiomen von Bossa nova, Rap, House bis Hip-Hop oder Dancefloor.

Ausdrucksfiguren aus der Tiefe: Mimik, Gesten und Gebärden Hinter den historischen Wechselbeziehungen mit ihren instrumentalen Abstraktionen agieren allerdings tiefere, ontologisch begründete Verbindungen. Sie enthüllen eine Tiefenschicht von ähnlich bedeutsamer Qualität wie die durch Zahlenrationen bestimmte ›Systemebene‹ musikalischer Organisation. Nur dass sie als Ausdruckswert zur Wirkung kommt. Zu dieser Tiefenstruktur zählen bereits elementare ›mimetische‹ Analogien. Melodien, musikalische Phrasen und Motive operieren mit Hebung, Senkung, Pausen, Betonungen und Interpunktion wie sprachliche Satzgebilde bis hin zum Gestischen, das mit »Ausdruck und Affekt gemeinsame Ursprünge im vorsprachlich

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Kommunikativen« hat.4 Begriffe wie Tonfall, Sprachmelodie, Frage-und-AntwortFiguren erinnern an das gemeinsame semantische Repertoire. Bereits Kleinkinder reagieren prompt darauf. Bestimmte Verbindungen von Tönen und Intervallen haben seit jeher eine prägnante Ausdruckskraft entfaltet, die weder willkürlich noch verabredet ist. In der seconda pratica (Monteverdi) des italienischen Seicento treten sie charakteristisch als Madrigalismen in Erscheinung. Danach misst man ihren Wert für die innermusikalische Dramaturgie bis ins 18. Jahrhundert an der Rhetorik. Man versteht sie wie diskursive Redefiguren und behandelt sie als quasi stabile Gestalten. Das System der ›Musikalisch-rhetorischen Figurenlehre‹ der Barockzeit katalogisiert sie als sprachanaloge Elemente einer musica poetica mit festen Affekt- und Bedeutungswerten. Prominente ›Figuren‹ wie beispielsweise die Anabasis als auffahrende, die Katabasis als hinabfahrende Figur, die Suspiratio als Seufzerbewegung, die Exclamatio als auf- oder abwärtsspringend Sexte oder der Passus duriusculus als ›harter‹ chromatischer Quartgang fangen Elevierung, Schmerz, Schrecken oder Angst ein und durchziehen die Musik von Monteverdi und Schütz bis zur BachZeit.5 Johann Mattheson, Komponist und musikgelehrter Schriftsteller, spricht von der »Ton-Sprache oder Klang-Rede«, wonach die Instrumente allein »gleichsam einen redenden und verständlichen Vortrag« machen, wie es in seinem Der Vollkommene Capellmeister von 1739 heißt.6 Die Metapher überdauert und hat im Konzept der Historischen Aufführungspraxis Alter Musik wieder aktuelle Bedeutung erlangt.7 Ihr semantisches Potenzial reicht aber über das Generalbasszeitalter weit hinaus. Denn in den Melodie- und Phrasenbildungen seit der Karolingerzeit bis zu Franz Liszt oder Gustav Mahler begegnet, wie die Musikforschung befindet, immer wieder das »Vermögen der artifiziellen Typisierung von Sprachlauten und Zeilenbildungen«. Es wird – mit oder ohne Text, also auch instrumentalmusikalisch – »als 4

Vgl. L. Haesler, Entwicklungspsychologische Ursprünge musikalischer und affektiver Semantik, in: Musik-, Tanz- und Kunsttherapie, 5 (1994), S. 69–74. Die Beziehung zum Gestischen als eine basale Dimension des Musikalischen wird meistens unterschätzt. Es schlägt die Brücke zwischen dem ausdrucksstarken Intonieren und dem Haptisch-körperlichen wie in Tanz und Rhythmus, vgl. M. Dobberstein (2000), S. 144–149.

5

Überliefert in primären Quellen wie: Joachim Burmeister, Musica poetica, Rostock 1606, Athanasius Kircher, Musurgia universalis, 2 Bde, Rom 1650; Christoph Bernhard, Tractatus Compositionis Augmentatus, und Ausführlicher Bericht vom Gebrauch der Con- und Dissonantien, hg. v. J. Müller-Blattau 1926, bis zu Johann Gottfried Walther in seinem Musikalischen Lexikon , Leipzig 1732. Aber auch in der frühen Musikpsychologie wird der Ausdruckswert dieser Elemente erkannt, vgl. K. Huber, Der Ausdruck musikalischer Elementarmotive, Leipzig 1923.

6

Dort Seite 188 ff. Neuausgabe, Kassel u. a. 4. Aufl. 2017, S. 279 ff. Für einen systematischen Überblick, vgl. D. Bartel, Handbuch der musikalischen Figurenlehre, Laaber, 2. Aufl. 1992.

7

Wirkungsvoll wiederbelebt in der Praxis und Theorie von Nikolaus Harnoncourt und ausführlich referiert in: Musik als Klangrede. Wege zu einem neuen Musikverständnis, Salzburg u. Wien, 1982.

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Intention einer genuin melodischen Syntax« gewissermaßen »eigenlogisch«.8 Solche ›eigene Logik‹ aber verstanden als eine Morphologie begründet eine Art Sprachkompetenz abendländischer Musik: Musik spricht nicht nur an – Musik spricht aus. Damit erklärt sich viel vom glanzvollen Aufstieg des ›leeren Schalls‹ zur ›Absoluten Musik‹ als ein Paradigma abendländischer Musikkultur – wenigstens bis zu einer Moderne, die viel von dieser Sprachfähigkeit aufgibt. Zu den Voraussetzungen solcher Sprachkompetenz zählen als Anfang aller Musik die mathematisch determinierten Grundelemente der ›Systemebene‹. Aber ›Formulieren‹ bedarf der Intentionalität, denn musikalisches ›Sprechen‹ formuliert Zusammenhänge und Inhalte. Das geschieht durch zielgerichtete Organisation von klingenden Bedeutungsfiguren mit syntaktischer Qualität. Diese ›musikalische Grammatik‹ operiert mit melodischen Gestalten und Themen und ihren Abwandlungen, mit harmonischen Beziehungen, dem Wechsel der Tonarträume durch Modulation, der Gestaltung formaler Proportionen und nicht zuletzt der Organisation rhythmischer Zusammenhänge.9 Klar ist, dass das Repertoire ›eigenlogischen‹ Formulierens in der Musik ganz anders funktioniert als die ›Logik‹ unserer Begriffssprache. Aber ebenso klar ist, dass es offenbar von Instanzen unseres Bewusstseins sehr genau und als ebenso bedeutungsvoll und ›sinnvoll‹ wahrgenommen wird. Was das musikalische ›Sprechen‹ vom Sprachsprechen trennt, ist das Vermögen des scharf umrissenen, diskursiven Begriffs – nicht aber das Vermögen von Bedeutungsartikulation. Sie aber ist letztlich Ziel und Inhalt jeder Kommunikation. Die Beispiele von drei universalen Symbolsystemen, nämlich der Sprache, der Mathematik und der Musik zeigen, dass ›Bedeutung‹ auf jeweils ganz verschiedene Weise zustande kommen kann. Der Musik im Vergleich mit der Begriffssprache ihre Defizite vorzuhalten, ist zwar legitim, verfehlt aber deshalb die Erkenntnis ihrer eigenen Bedeutungsqualitäten.10 Deswegen gehen die langen historischen Kontroversen, die sich daran entzünden, am Wesentlichen vorbei.

8

A. Haug, Der Beginn europäischen Komponierens in der Karolingerzeit: Ein Phantombild, in: Die Musikforschung, 58 (2005), Heft 3, S. 232. sowie A. v. Massow, Ästhetik und Analyse, in: Musikalischer Sinn, hg. v. A. Becker u. M. Vogel, Frankfurt a. M. 2007, S. 153.

9

Die Musiksemiotik, eine aus dem Prager Strukturalismus entstandene Disziplin, beschäftigt sich mit der Analogisierung von Sprache und Musik und versucht eine musikalische Grammatik mittels linguistischer Verfahren zu erstellen, vgl. J. Fucak, Das Begriffssystem der musikalischen Kommunikation, Wien, Köln, Weimar 1994 sowie P. Faltin, Bedeutung ästhetischer Zeichen. Musik und Sprache, Aachen 1985.

10

In der neueren Musikphilosophie erhält solche »Sprachmächtigkeit« oder »Sprachähnlichkeit« gelegentlich wieder Aufmerksamkeit, wie etwa bei C.-S. Mahnkopf, Die Sprachmächtigkeit der Musik. Skizze des Problems, in: Perspektiven der Musikphilosophie, hg. v. W. Fuhrmann u. C.-S. Mahnkopf, Berlin 2021, S. 153–175 sowie grundsätzlicher problematisiert bei A. Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, München 2009.

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Formalismus gegen Ausdruck Diese Auseinandersetzungen bewegen sich seit dem 19. Jahrhundert hauptsächlich zwischen den Lagern der ›Formalisten‹, denen Musik nichts als ›Struktur‹ ist und den Anhängern einer ›Ausdrucksfunktion‹. Eduard Hanslick, der bekannteste Ahnherr aller modernen, formalistischen Bedeutungskonzepte, spricht von den »tönend bewegten Formen« als »einziger und alleiniger Inhalt und Gegenstand der Musik«. Damit etablierte er eine quasi selbstreferenzielle Funktion aller musikalischen Formen als »rein musikalische Ideen« oder »Gedanken« (Vom MusikalischSchönen, 1854). Mit ihr erledigt er jeden Inhalt und jeden emotiven Ausdruckswert als bloße Projektion des Hörers: der Komponist als professioneller Jongleur ästhetischer Formenspiele absichtsloser musikalischen ›Eigenlogik‹. Das Erbe dieser Auffassung reicht über August Halm und Peter Faltin sowie die Kompositionsästhetik von Strawinsky bis in die Vexierspiele der strukturalistischen Semantik und Semiotik europäischen und angelsächsischen Zuschnitts.11 Das andere Lager reklamiert inhaltliche ›Bedeutung‹ und spricht, besonders seit der Romantik, von einer »Sprache der Gefühle« oder sogar von der »Sprache des Herzens«. Die meisten Beiträge zu dieser Diskussion verraten allerdings vor allem, wie beharrlich sich die Musik allen unmusikalischen Analysen entzieht. Denn bereits die wirkungsmächtige Schrift des distinguierten Wiener Großkritikers Hanslick von 1854 ist weit zwiespältiger als ihr tradierter Ruf glauben macht. Einerseits attestiert Hanslick der Musik zwar Sprachcharakter: »Sie ist eine Sprache, die wir sprechen und verstehen, jedoch nicht zu übersetzen imstande sind« (S. 35) und billigt ihr auch »Inhalt« und »Gegenstand« zu. Andererseits betont er die »Grundverschiedenheit zwischen dem Wesen der Musik und dem der Sprache« und erklärt »die schädlichsten und verwirrendsten Anschauungen sind aus dem Bestreben hervorgegangen, die Musik als eine Art Sprache aufzufassen …« (S. 49 u. 51). Die »Grundverschiedenheit« trifft zweifellos Richtiges, aber das »Schädlichste« ist ein Werturteil, hinter dem die intellektuelle Abwehr emotionaler Wirkung steht. Sie artikuliert Hanslick als unerwünschte Irritation, die ihn schließlich bis zur scharfen Polemik gegen »Wahnhaftes«‹ und eine »pathologische Gefühlsjauche« führt. Damit wehrt er sich verstört gegen die Zumutungen einer »verrotteten Gefühlsästhetik«, mit der er vor allem Richard Wagner als prominenten Protagonisten exaltierter Ausdrucksästhetik meint – ein Vorwurf, der besonders seit Wagners Tristan eine Wirkungsgeschichte als psychotropes Stimulans bestimmt. Das Gleiche verraten Hanslicks Irritationen durch Bruckner im Einklang mit der zeitgenössischen Wiener Musikkritik, die bis zur Beschuldigung gehen, Bruckner kom11

Eine Übersicht über die verschiedensten »Verstehensbegriffe« bieten: Musik und Verstehen. Aufsätze zur semiotischen Theorie, Ästhetik und Soziologie der musikalischen Rezeption, hg. v. P. Faltin u. H.-P. Reinecke, Köln 1973; P. Kivy, Music Alone: Philosophical Reflections on the Purely Musical Experience, Ithaca 1990 und S. Davies, Musical Meaning and Expression, Ithaca 1994.

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poniere »wie ein Betrunkener« (Gustav Dömpke). Immerhin: Hanslicks heftige Abwehr bestätigt eine höchst wirksame psychologische Realität. Gegen sie reagiert er als intellektuelle Abwehr einer hyperromantischen Ausdrucksmanie so ähnlich wie die neukantianische Philosophie auf den grassierenden ›Psychologismus‹der Zeit: beides eine indignierte Abfuhr für einen entfesselten Subjektivismus zur Rettung eines überpersönlichen ›Objektiven‹ und einer autonomen ›Logik‹ des Formalen. Aber bereits Hanslicks theoretische Ambivalenz zeigt, dass er um die Realität einer emotional wirksamen Ausdrucks- und Bedeutungsseite der Musik so wenig herumkommt wie alle anderen Formalisten. Diese Ausdruckskompetenz wird allerdings unter ganz verschiedenen Aspekten erfahren. Die deutsche Romantik lässt die konkrete, diskursive ›Klangrede‹ der Barockzeit so weit hinter sich wie die Mathesis in der Musik und die Vorstellung eines ›handwerklichen‹ Musikverständnisses nach Art von Haydns »Compositionswissenschaft«. Vielmehr begreift sie Musik als »Sprache des Herzens«, wie es Ludwig Tieck und vor allem Wilhelm Heinrich Wackenroder formulieren, und das Komponieren als göttliche Genietat. Musik ist angesiedelt im Unwirklichen, Geheimnisvollen und Unbegreiflichen und als »Sprache der Engel« (Wackenroder) eine glatte Gegenwelt zur trivialen Alltagswelt. Damit äußert sich eine Polarität im musikalischen Denken der Romantik, die man als »Zwei-Welten-Modell« bezeichnet hat.12 Auch Schopenhauer befindet: Musik »spricht so sehr zum Herzen, während sie dem Kopfe unmittelbar nichts zu sagen hat.« Weil das der wissenschaftlichen Moderne zu irrational ist, bemüht man sich immer mehr um rationale Differenzierungen. Der Neukantianer Ernst Cassirer etwa erkennt der Musik in seinem System der symbolischen Formen (1923/29) zwar »Ausdrucksfunktion« zu, grenzt diese aber scharf von »Darstellungsfunktion« und »Bedeutungsfunktion« ab. Neuere Theorien lassen sich auf das Problem zwischen (formaler) Struktur und (inhaltlichem) Ausdruck gar nicht mehr ein und abstrahieren lieber elegant in andere Formalismen. Dazu gehören die informationstheoretischen Perspektiven von Musik als allzwecktaugliches ›Kommunikationssystem‹, die symboltheoretischen mit ihren Logiken oder die soziologischen, von Musik als ›sozialem Konstrukt‹ mit Verabredungscharakter. Damit verflüchtigen sich individueller Inhalt und spezifische Bedeutung ins Beliebige oder in außermusikalische Konnotationen. Tatsächlich spiegeln die Lagerbildungen aber nichts anderes als einen Fundamentalismus intellektueller Abstraktion. Denn in der musikalischen Wirklichkeit existiert der Gegensatz weder als Problem noch als Zustand. Dort ist das eine die Voraussetzung des anderen. ›Struktur‹ ist unverlierbares Attribut der rationalen, mathematischen Ontologie von Musik, die eben nicht am Abbild natürlicher Weltgegenstände orientiert ist, ›Ausdruck‹ deren symbiotischer Begleiter als sinnlich-emotionales

12

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Von H. H. Eggebrecht (1991), S. 592–621.

Wirkungspotenzial. Das eine ermöglicht ein ›Formulieren‹, das wir in seinen vollendeten Produkten als so sinnvoll-logisch empfinden, dass es als Phänomen einer Autonomie erscheint, mit dem sich Musik quasi selbst genügt: »tönend bewegte Formen« aus den Kräftekonstellationen eines ›Systems‹, dessen archetypische Matrix uns das pythagoreisch-platonische Weltbild skizziert. Erscheinungsformen wie Kanon und Fuge zeigen es exemplarisch, aber auch schon in den Klausel- und Kadenzstrukturen treten sie klar zutage. Das andere ist deren unvermeidliche Ausdruckshaltigkeit für die menschliche Wahrnehmung: die anthropologische Dimension. Denn die Instanzen des menschlichen Bewusstseins perzipieren das akustische Formulieren mit klingender ›Mathematik‹, ob bewusst oder unbewusst, stets als irgendeine ›Bedeutung‹, als ›Sinnstrukturen‹ – Unsinn, Irrsinn oder Sinnleere inklusive. Wenn aber, wie in besonderem Maße in der abendländischen Musik, mit diskursiven ›Figuren‹, bedeutungshaltigen Gestalten und syntaktischen Formen beredt artikuliert und sinnvoll formuliert wird, geht es neben dem spezifischen Wie immer auch um ein definiertes Was. Ersteres rechnet mit den Mitteln struktureller ›Logik‹, Letzteres zielt auf Inhalte und ist also intentional. Einer der größten Meister des musikalisch Intentionalen, Beethoven, zeigt uns in seinen Skizzenbüchern das intensivste Ringen um die musik-logische Formulierung einer ganz bestimmten Ausdrucks-›Absicht‹ und seine angespannte Arbeit an der Prägnanz eines ›musikalischen Gedankens‹. Seine Intention rechnet selbstverständlich damit, ›verstanden‹ zu werden, – denn sonst wäre diese skrupulöse Arbeit an Form, Struktur und Gestalt nichts als bloße selbstreferenzielle Illusion – oder aber ein tragischer Irrtum.13 Und sie wird verstanden – wie ihre andauernde Wirkungsgeschichte als Bedeutungsmacht beweist. Auch ein anderer potenter Gestalter des Intentionalen, der musikalische Meistererzähler Richard Wagner, hat an dieser Fähigkeit keinen Zweifel, wenn er darauf besteht, dass Musik »mit sprechender Bestimmtheit« formuliert. Wie entscheidend das Intentionale, auf die Semantik eines Inhalts bezogene dabei ist, zeigt sich nicht zuletzt am Prozess seines Komponierens: Er formuliert fast 13

Treffend dargestellt durch Albrecht von Massow, Ästhetik und Analyse, in: Musikalischer Sinn (2007), S. 129–174, besonders S. 162 ff. u. 171: »Hingegen Gefühl allein als einen vom Rezipienten in eine Musik hineingelegten Gehalt oder gar nur als Wie seines Zugangs zu ihr aufzufassen bedeutet nichts Geringeres als das Intendieren von Gehalt bzw. das Vermögen, ihn auszudrücken, dem Komponisten rundweg abzusprechen. Aus der Perspektive dieser Auffassung wäre Beethoven unter einer falschen Prämisse angetreten, nämlich dem Glauben, er könne etwas darstellen oder ausdrücken, was mehr ist als nur das artifizielle Form-Sein eines Schalls«, und weiter: »Oft wird der Versuch, Intentionales in Musik zu erschließen, als Spekulation abgetan. Er ist auch Spekulation, aber eine unumgängliche. Sich aus Angst vor einer irrtümlichen Spekulation auf das bloß empirisch Beweisbare zurückzuziehen hieße, das Wesen der Geisteswissenschaft verkennen. Versucht man nämlich eine solche Spekulation nicht, so hat man den Geist verloren, versucht man wiederum eine solche Spekulation ohne Rückbindung an empirische Analyse, so hat man die Wissenschaft verloren« (S. 163).

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immer zuerst seine dichterischen Texte, dann erst die Musik dazu. Und dem farbenreichen, ausdifferenzierten Orchester der Spätromantik, quasi der Apotheose abendländischer Instrumentalmusik, attestiert Wagner: »Jetzt… haben wir dieses Sprachvermögen des Orchesters deutlich dahin zu bezeichnen, daß es das Vermögen der Kundgebung des Unaussprechlichen ist …« (Richard Wagner, Oper und Drama). Auch für Franz Schubert und Robert Schumann sind die poetischen Textvorlagen mit ihren Ausdrucksintentionen Auslöser und Inspiration, gewissermaßen eine mentale ›Stimmgabel‹ für ihr musikalisches Formulieren: »Töne sind höhere Worte« bekundet Schumann dieses ästhetische ›Integral‹. Mit den Prädikaten des »Höheren« und »Unaussprechlichen« aber geht es bereits um den Überschuss alles Musikalischen über das rein Diskursiv-Sprachliche. Hier wächst der über das ›Eigenlogische‹ zustande kommenden Sprachkompetenz der Instrumentalmusik jene Qualität zu, die den eigenen ›Logos‹ von Musik begründet. »Wo Worte nicht mehr hinreichen, sprechen Töne… alles, was höher geht und tiefer als Worte gehen können, das gehört der Musik an, da ist sie unerreicht« (Franz Grillparzer, 1821). Damit erlangt die Musik in der Musikgeschichtsschreibung jenen »Unsagbarkeitstopos« (Carl Dahlhaus)14 wie ihn vor allem die romantische Musikästhetik betont. Er verschafft der autonomen Instrumentalmusik schließlich einen Status, der ihr altes Verhältnis zur Vokalmusik geradezu umkehrt. Jetzt heißt es: »Tanz und Liedermusik ist eigentlich nicht die wahre Musik. Nur Abarten davon. Sonaten – Symphonien – Fugen – Variationen: das ist die eigentliche Musik« (Novalis, Schriften III) oder: »Gewiß bedarf sie [die Musik] nicht der Worte des Gesanges, oder der Handlung einer Oper … Die Worte sind und bleiben für die Musik eine fremde Zugabe, von untergeordnetem Werthe« (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, II) und: »Wenn von der Musik als einer selbständigen Kunst die Rede ist, sollte immer nur die Instrumentalmusik gemeint sein, welche, jede Hülfe, jede Beimischung einer anderen Kunst verschmähend, das eigentümliche, nur in ihr zu erkennende Wesen der Kunst rein ausspricht« (E. T. A. Hoffmann, Schriften zur Musik). Deshalb akzeptiert zuletzt sogar das philosophische Denken wieder die mindersinnige Schwester mit ihrer ›nur‹ sinnlich-emotionalen Bedeutung und adoptiert sie als ›Höhere Philosophie‹: die intellektuelle Apotheose der absoluten Musik – ausgerechnet in der Romantik. Friedrich Schlegel spricht schon von der »Tendenz aller reinen Instrumentalmusik zur Philosophie« (Athenäums-Fragmente), Schopenhauer begreift sie als »Ansich der Welt« und billigt ihr zu, dass sie »die wahre Philosophie sey« (Die Welt als Wille und Vorstellung). Diese Natur ihres ›Logos‹ aber verweist auf Distinktions- und Verstehensleistungen des menschlichen Bewusstseins, die dort durch ein anderes ›Begreifen‹ als das, über verbale ›Begriffe‹, zustande kommen. Darauf wird zurückzukommen sein (Kapitel XII).

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C. Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, Kassel 1978, S. 66 f.

Formulieren, Konzertieren, Temperieren, Produzieren: die unerschöpfliche Potenz der Generalbassmusik Die Kodifizierung musikalischer Ausdruckselemente als Katalog von quasi sprachähnlichen Figuren ist ein charakteristischer Zug in den Entwicklungen des 17. Jahrhunderts. Viel wesentlicher aber sind die Entwicklungen des musikalischen Satzes. Denn prägnante Rhetorik und leidenschaftliche Bühnenszene wie virtuoser Concerto-Glanz haben eine gemeinsame Organisationsform des musikalischen Satzes: den Generalbass oder basso continuo. Er vereint Arienaffekt und den »gleichsam redenden Vortrag« des Orchesters (Mattheson) in seinen vielen neuen Formen von Konzert, Sonate, Suite und Sinfonie. Als Kompositionsprinzip erlangt er solche Bedeutung, dass man ihn zur Signatur der ganzen Epoche gemacht hat: dem Generalbasszeitalter (Hugo Riemann). Der musikologische Fachausdruck gibt einem Strukturelement, nämlich der überragenden Rolle des Bassfundaments, mehr Ehre als dem schöneren, aber vagen Etikett der ›Barockmusik‹, das eher kunstgeschichtlicher Terminologie entspringt. »Der General Bass ist das vollkommenste Fundament der Music, welcher mit beyden Händen gespielt wird, dergestalt das die lincke Hand die vorgeschriebenen Noten spielet die rechte aber Con- und Dissonantien dazu greift, damit dieses eine wohlklingende Harmonie gebe zur Ehre Gottes und zulässiger Ergötzung des Gemüths und soll wie aller Music, also auch des General Basses Finis und Ent Uhrsache anders nicht, als nur zu Gottes Ehre und Recreation des Gemüths seyn. Wo diese nicht in Acht genommen wird, da ists keine eigentliche Music sondern ein Teuflisch Geplerr und Geleyer« so lautet eine zeitgenössische Erklärung dazu, die J. S. Bach zugeschrieben wird.15 Die Moderne tut sich womöglich schwer mit dieser Verbindung von Spirituellem (›Gott‹ und ›Gemüth‹) und Trivialem (die Griffe der Hand). Aber sie ist für die Bewusstseinslage damaliger Musiker so selbstverständlich wie die Kompetenz handwerklicher Beschreibung. Die allerdings belegt eine wichtige Veränderung. Denn die Rede vom »vollkommensten Fundament« zeigt an, dass ein Bedeutungswechsel in der Struktur des musikalischen Satzes seit Zarlino endgültig abgeschlossen ist. Nach dem Transfer vom Vokalen ins Instrumentale hat die Bassstimme im polyphonen Gefüge gleichberechtigter Melodien eine überragende Gravitationskraft gewonnen. Das Gleichgewicht melodischer Kräfte, lange durch die tektonische Strukturstimme des Tenors bestimmt, hat sich zur neuen harmonischen Struktur15

Sie findet sich im zweiten Kapitel der Musikalischen Handleitung von F. Niedt, einer Generalbasslehre von 1738 aus dem Besitz des Bach-Schülers Johann Peter Kellner: »Kurtzer Unterricht von den so genannten General Bass«.

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stimme des Basses verlagert. Nicht mehr die ›Achse‹ des Tenors trägt das Gefüge des musikalischen Satzes, sondern das ›Fundament‹: ein vertikales Konzept akkordlichen Zusammenklangs und harmonischen Denkens. Das beginnt unauffällig und ganz praktisch. Bei der Begleitung von Vokalsätzen der Kirchenmusik durch die Orgel stand der Organist vor einem Problem: Für das komplizierte Stimmengeflecht gab es keine Partitur, sondern nur die einzelnen Stimmbücher der Sänger. Das ›Absetzen in Tabulatur‹, die Intavolierung, bot eine aufwendige Lösung für den erforderlichen Gesamtüberblick an. Die einfachere, praktische Lösung aber bestand darin, die unterste Stimme als harmonische Referenzstimme mitzuspielen, so wie es später die am Generalbass beteiligten tiefen Streichinstrumente, Violone oder Kontrabass und Violoncello auch machten. Das nannte man den Basso pro organo oder Basso cavato: den aus den Stimmen ›herausgezogenen‹ Bass. Da er in den meisten Fällen fortlaufend der untersten Stimme der Komposition folgte, hieß er auch Basso seguente. Der erste überlieferte Generalbass dieser Art stammt aus dem Jahre 1587. Er ist als 41. Stimme zu einer 40-stimmigen, vierchörigen Motette des Hofkomponisten der Herzöge von Mantua, Alessandro Striggio, überliefert. Dort ist nur das notiert, was die »linke Hand« an »vorgeschrieben Noten« zu spielen hat, wie es in Bachs Text heißt. Die »rechte Hand« ist frei, die »Con- und Dissonanzen« dazu aus dem Stegreif zu spielen. Das war für einen erfahrenen Musiker kein Problem, weil dafür nur einfache Intervalle infrage kamen. Ein Restrisiko blieb aber, wenn man den ›Überbau‹ der anderen Stimmen nicht kannte. Deshalb entstand bald ein Hilfsmittel durch die Hinzufügung bestimmter Zahlen, die wichtige Intervalle zu den restlichen Stimmen bezeichneten: die Bezifferung. Was zuerst gelegentliche Abbreviatur war, tritt nach 1600 immer öfter auf. Am Anfang ein knappes Stenogramm, entwickelt es sich nach und nach zu einem hochkomplizierten Signaturen-System das 1768, bei Jean Jacques Rousseau, glatt an die 120 Zeichen umfasst. So steht die Entwicklung eines praktischen Notationsbehelfs schließlich für die Emanzipation eines Kompositionsprinzips, das in der Instrumentalmusik eine Neuorganisation des musikalischen Satzes besiegelt: Das melodische Zeitalter weicht dem harmonischen. In der Musiktheorie liegt das ausgereifte Konzept harmonischen Denkens bei Jean Philippe Rameau vor. In seinem Traité de l’Harmonie Reduit à ses Principes naturels von 1722 leitet er die Intervalle aus der Obertonreihe ab, formuliert die Struktur der Terzschichtung von Dreiklängen und entwickelt sein Prinzip der Akkordumkehrungen, mit dessen Hilfe er ganze Akkordgruppen von gleichem harmonischem Wert auf denselben Grundton beziehen konnte. Dieser bestimmt als »harmonisches Zentrum« (centre harmonique) seinen Basse fondamentale, das Regulativ der ganzen Komposition. Damit wird Rameau quasi zur Gründerfigur aller späteren ›Harmonielehren‹ bis Riemann, Schönberg, Hindemith und die vielen Kompositionslehrer von Konservatorien. Auf dem ›Mutterboden‹ des Basso continuo als konstruktiver Grundschicht des musikalischen Satzes blüht eine instrumentale Formenvielfalt ohne Gleichen auf:

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vom Solo-Rezitativ mit Continuo-Begleitung in der Monodie bis zu den verschiedensten Konstellationen in Oper, Kantate und Oratorium, in Sonaten und Concerto. Vor allem dort, im ›Konzertieren‹ entfaltet sich schnell der strahlendste Glanz der neuen Instrumentalmusik. Am Anfang steht die Sammlung Cento Concerti Ecclesiastici von Lodovico Viadana von 1602. Aber das concertare der violinistischen Streicherchöre – je nachdem, wie man die Wortetymologie deutet: als Wettstreit oder als Zusammenklingen – erweist sich als epochemachendes Prinzip eines vitalen Musizierens. Im concerto grosso befeuert es von Viadana bis zur kaum überschaubaren Zahl barocker Musiker mit Tartini, Marcello, Legrenzi, Locatelli oder Vivaldi das Komponieren und entfaltet Glanz und Gloria der europäischen Instrumentalmusik. Dort, im reaktiven, dynamischen Dialogisieren der Instrumentengruppen entwickelt sich auch das Solokonzert. Zuerst mit dem solistischen Violinisten, dann mit dem Tasteninstrument, nach und nach schließlich mit fast allen anderen Instrumenten als Dialogpartner. Die virtuose Faktur des instrumentalen Kontrapunkts kehrt schließlich das alte Vorbild der menschlichen Stimme um, wenn sie, wie etwa bei Bach, die Vokalpartien von Kantaten und Oratorien oft genauso virtuos behandelt wie die Instrumentalpartien. Das ›Concertare‹ vollzieht sich in enger Verbindung mit dem Aufstieg der Violine zum Leitinstrument der neuen Orchesterkultur. Ihr strahlender Glanz verdrängt die intime Gedämpftheit der alten, stilleren Gamben-Ensembles: Die lautere und brillantere Violinfamilie setzt sich gegen die vornehme, alte Violenfamilie durch. Dort, in Italien, wird auch das kräftigere Violoncello erfunden, das den sanften Violone als Bass- und Fundamentinstrument ablöst. Domenico Gabrielli schreibt die ersten Solostücke dafür. Es ist ein markanter Schritt in einer neuen folgenreichen Entwicklung: die stetige Vergrößerung des akustischen Orchestervolumens, zuerst mit klangkräftigeren Instrumenten, schließlich mit den Besetzungsgrößen. Gleichzeitig verändert sich die strukturelle Topographie im Ensemblesatz. Die alte Besetzung nach differenzierten Stimmlagen, die ein reiches Instrumentarium hervorgebracht hatte und die noch in der obligaten Fünfstimmigkeit des Orchesters von Lully nachwirkt, reduziert sich. Im Ensemble begnügt man sich mit den vier Lagen von Diskant, Alt, Tenor und Bass, in der Triosonate mit einem Oberstimmenpaar und Bass. Als eine Form des sonare (das heißt: Klingens) bezeichnet die ›Sonate‹ zunächst eine Reihung von Sätzen mit verschiedenem Bewegungscharakter: in der Kirchensonate (sonata da chiesa) mit der viersätzigen Folge Langsam-Schnell-LangsamSchnell oder als Kammersonate (sonata da camera) mit der dreisätzigen Folge Schnell-Langsam-Schnell. Nach 150 Jahren ist die Sonate zwar immer noch ein ›Klingstück‹, hat sich aber bei Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert zu jenen eigenwilligen Solitären der Absoluten Musik verwandelt, die zu den Höhepunkten der abendländischen Musikkultur zählen. Gleichzeitig steht die Triosonate aber auch für ein Satzkonzept: den Triosatz, nämlich einer Dreistimmigkeit von gleichberechtigtem Oberstimmenpaar und Basso continuo. Im Oberstimmenpaar ist das reiche Erbe der Duette aus der Vo-

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kalmusik präsent. Im Zeitalter des instrumentalen Concerto aber tritt ihr eigenständiges, virtuoses Konzertieren in den Vordergrund: ein gemeinsamer Bewegungsraum mit häufigen Stimmkreuzungen, während der Bass, stets zusammen mit einem akkordfähigen Instrument als harmonische Ergänzung, das harmonische Fundament liefert. Damit wird der Triosatz als charakteristisches Satzmodell geradezu zu einem Phänotyp der Generalbasszeit. Seine erstaunlichste tektonische Kraft zeigt der Generalbass aber in den vielen prägnanten basso-ostinato-Formen. Der ›hartnäckige‹ Bass, nämlich eine sich dort immer wiederholende Figuration, wird zu einem Gebilde von eindringlicher Strukturkraft. Er ist nämlich gleichzeitig Melodiegestalt, harmonische Basis und architektonischer Plan. Als melodische Gestalt hat er Anteil am Privileg der melosbewegten Oberstimmen, als tektonische Figur bestimmt er mit der Harmonik den Satzbau, mit seiner repetitiven Impertinenz, aber auch die Form. Er ist zwar das Erbgut aus dem alten Genre der Tanz- und Ostinatoformen der spanischen Lautenund Chitarramusik des 16. Jahrhunderts wie auch der englischen Grounds. Aber in Monteverdis achtem und neuntem Madrigalbuch tritt er bereits als architektonischer Akteur des ganzen Satzes auf. Damit wird er immer mehr zu einem charakteristischen Strukturelement vieler Formen: Passamezzo, La Folia, Romanesca, Ruggiero, Malagueña, Chaconne oder Passacaglia. Oft sind damit charakteristische Klanggerüste verbunden, wie im Passamezzo oder im ›Lamentobass‹ mit seinem chromatischen Quartgang nach unten, als passus duriusculus ein wohlbekanntes Element im rhetorischen Figurenarsenal der musica poetica. Noch bei Bach spielt er eine wichtige Rolle (wie in den Kantaten BWV 12 oder 131, dem Actus tragicus, BWV 106 oder im Crucifixus der h-Moll-Messe). Auch die Moderne erinnert sich wieder an seine formbildende Kraft wie in Werken von Strawinsky, Ravel, Berg, Webern oder Orff. Die tektonische Kraft dieser Ostinatoformen lenkt den Blick auf zweierlei Aspekte. Einmal liefern sie, gewissermaßen als ›objektivste‹ Erscheinung von Form und Struktur, ein zentrales Zeugnis für den musikalischen Satz als ›Bauwerk‹. Denn sie vereinen die Festigkeit eines Gefüges mit der Dynamik zwar bewegter, aber formstabiler Zeitgestalten. Ihre Fügung verlangt dafür, wie jedes ›Bauen‹, handwerkliches Denken, das heißt ein planmäßiges ›Setzen‹ bestimmter Elemente nach einer bestimmten Ordnung. Damit entsteht aus gebauter Klang- und parataktischer Zeitstruktur die suggestive Macht eines zwar ›unsichtbaren‹, aber mit seiner lebendig pulsierenden Energie umso wirkungsmächtigeren Klangbauwerks. Das ermöglicht, als zweiter Aspekt, eine besondere Erfahrung, nämlich eine, die nur unserem Ohr zugänglich ist – also eine Bedeutungsdimension, die uns allein die Musik als »Ohrenlicht« erschließt. Was im manischen Toben der Tarantella oder in der kalkulierten Ekstase von Ravels Bolero noch rhythmische Repetition als dionysischen Furor entfesselt, erhebt sich in Wagners Parsifal, bei den Ostinato-Sätzen von Lully oder Purcell (King Arthur) und in Johann Pachelbels berühmtem D-Dur-Kanon oder im Crucifixus von Bachs h-Moll-Messe und schließlich in seiner monumen-

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talen c-Moll Orgelpassacaglia zu einer ganz anders gearteten Wirkung. Dort entfaltet sich die ostinate Repetition der Klanggefüge als eine lapidare Eindringlichkeit von mentaler, ja meditativer Qualität. Wer sie so wahrnimmt, dem kann sie im seelisch-empfindungsmäßigen Erleben eine »Weltanhörung« (der Dichter Oskar Loerke über Bach) als Ausdruck einer größeren, überpersönlichen ›Ordnung‹ vermitteln, vielleicht mit der Ahnung eines transzendenten Formats, erinnernd an die pythagoreisch-platonischen Konzepte.

Temperieren – Neue Lösungen für alte Probleme Mit der Entwicklung des harmonischen Klangdenkens in der Evolution der In­ strumentalmusik, wie es sich auch in der Verfestigung der zwölf Dur- und Molltonarten zum rationalen System seit Zarlino zeigt, drängt ein anderes Problem nach verbindlichen Lösungen. Es ist das Miteinander von reinen Quinten und Terzen im Oktavraum (siehe Kapitel IV). Teilt man sein Maßintervall 1:2 der Schwingungsproportionen mit der diatonischen Einteilung in 12 Stufen, so führt das immer zu einem ›Überschuss‹. Es ist eine Differenz, die Komma genannt wird: entweder als ›pythagoreisches Komma‹ (der Differenz zwischen 12 reinen Quinten à 3:2 und 7 Oktaven á 2:1) oder als ›syntonisches‹, auch ›didymisch‹ benanntes Komma (der Differenz zwischen pythagoreischer Terz 81:64 und reiner Terz 5:4). Diese Differenz muss also jetzt in irgendeiner Weise auf die anderen Intervalle innerhalb der Oktave verteilt werden: eine Temperierung der reinen Intervalle. Dass andere Einteilungen des Oktavraums keine Lösungen bringen, zeigten schon Systemversuche von Aristoxenos von Tarent (330 v. Chr.) oder aus dem alten China (Ching Fang, 76–37 v. Chr.)16 Die Temperierung als Ausgleich ›verstimmt‹ zwar die reinen Intervalle der pythagoreischen Rationen, ermöglicht aber das Miteinander in der Harmonik der Mehrstimmigkeit. Dafür, welche Intervalle man ›verstimmt‹, gibt es verschiedene Möglichkeiten. In der Musik der Renaissance entscheidet man sich, um den neu erkannten Wert der Terz zu bewahren, für eine Stimmung mit reiner Terz – allerdings auf Kosten einer reinen Quinte, die ›temperiert‹ wird. Als mitteltönige Stimmung bestimmt sie seit Gaffurius (Practica musicae, 1496) die Jahrhunderte bis in die Bach-Zeit. Diese defekte Quinte, als heulende ›Wolfsquinte‹ bei den Organisten verrufen, erlaubte aber in der instrumentalen Praxis nur das Spiel bis zu Tonarten mit höchstens 16

Vgl. J. M. Barbour, Tuning and Temperament. A Historical Survey, East Lansing 1953; M. Lindley, Stimmung und Temperatur, in: Geschichte der Musiktheorie, hg. v. F. Zaminer, Bd. 6, Darmstadt 1987, S. 109–332; M. Vogel, Die Lehre von den Tonbeziehungen, BonnBad Godesberg 1975 (= Orpheus-Schriftenreihe zu Grundfragen der Musik, Bd. 16), S. 219–225. Weitere Vorschläge für Systeme mit multipler Teilung der Oktave tauchen später bei Guillaume Costeley (um 1558), Francisco Salinas (1577) sowie bei Christiaan Hugygens (1691) auf und Nicola Vicentino entwirft 1555 bereits enharmonische und chromatische Tasteninstrumente.

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vier Vorzeichen. Das war nicht nur ein akustisches Manko als drastischer Indikator für musikalische No-go-Areas bei den clavierten Instrumenten, sondern auch ein systematisches. Gewiss, man konnte Clavichorde und Cembali mit vertretbarem Aufwand differenziert stimmen, denn fast alle ihre Spieler, die oft auch die Komponisten waren, wussten ihre Instrumente selbst zu stimmen. Doch spätestens beim rigiden ›Blasinstrumentarium‹ der Orgel war Schluss damit. Nicht zu reden von der Logik eines Systems, das nach der Nutzung aller Intervalle in einer systematischen Verwendung der Akkorde verlangte mit seiner darauf basierenden ›Grammatik‹ der Harmonik. Deshalb beginnt man nach Lösungen zu suchen, wie der Überschuss, das Komma, zwischen reiner Terz und reiner Quinte besser verteilt werden kann: Es soll nun nicht mehr Terz oder Quinte zugeschlagen, sondern in einer für das Ohr noch zuträglichen Weise zwischen beiden und den anderen Intervallen verteilt werden. Es ist ein Kompromiss, der nach Mittelwerten strebt, mit dem sich zwar die charakteristischen ›Farben‹ und Ausdruckswerte der reinen Tonarten abschwächen, der aber ein ›logisch‹ geschlossenes System erschafft, mit dem das Musizieren in allen 12 Dur- und 12 Moll-Tonarten ermöglicht wird. Ihm gehört die Zukunft der abendländischen Musik. Die Dynamik, das alte Problem zu lösen, äußert sich zunächst in den zahlreichen Abhandlungen der Zeit. Arnolt Schlick (Spiegel der Orgelmacher und Organisten, 1511) schlägt noch eine ungleich-schwebende Stimmung vor. Aber Andreas Werckmeister, wirkungsmächtiger Musiktheoretiker der Zeit und unbeirrbarer Vertreter der pythagoreischen Numerus-Lehre, ist auch kundiger Praktiker in seiner Funktion eines Königlich preußischen Orgelprüfers im Fürstentum Halberstadt. Aus dieser Erfahrung beschreibt er bereits fünf verschiedene ›Temperaturen‹ (Musicalische Temperatur, 1686/87 und Erweiterte und verbesserte Orgelprobe, 1689). Allerdings sind sie im Kern nur Varianten der mitteltönigen Stimmung. Auch Johann Georg Neidhart (Gäntzlich erschöpfte, Mathematische Ableitungen des Diatonisch-Chromatischen termperirten Canonis Monochordi, 1734) formuliert zwei Arten von ›Temperatur-Erfindung‹, eine anhand der Quint-Schwebungen, die andere anhand der Terz-Schwebungen. Bei Georg Andreas Sorge findet sich nicht nur ein Hinweis auf die Stimmungen des berühmten Orgelbauers Gottfried Silbermann, sondern er plädiert auch für die gleichmäßig temperierte Terz (Anweisung zur Stimmung und Temperatur, 1744 und Zuverläßige Anweisung Claviere und Orgeln behörig zu temperiren und zu stimmen, 1758). Johann Philipp Kirnberger (in seiner vierten Sammlung der Clavierübungen, 1766) stimmt jeweils nach den Tonarten entweder reine Terzen oder reine Quinten. Schließlich wird bei Jean Philippe Rameau (Génération harmonique, 1737) wie bei Friedrich Wilhelm Marpurg (Versuch über die musikalische Temperatur, 1776) die gleichstufige Temperatur bereits als Standard behandelt. Zum wichtigsten Zeugnis der gleichstufigen Temperatur wird schließlich das Wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian Bach. Die Sammlung von Präludien und Fugen durch sämtliche zwölf Dur- und Molltonarten liegt uns, nur hand-

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schriftlich überliefert, in zwei Teilen vor. Den ersten Teil (BWV 846–869) hat Bach 1722 in Köthen geschrieben, den zweiten Teil (BWV 870–993) 1740/42 in Leipzig. Obwohl sie zu Inkunabeln unserer heutigen temperierten Stimmung geworden sind, wissen wir nicht genau, wie Bach sich den praktischen Umgang mit den Stimmungsproblemen vorgestellt hat. Es gibt einen indirekten, aber interessanten Hinweis in Zusammenhang mit seinem ersten Organistenamt an der Neuen Kirche zu Arnstadt, 1703 bis 1707. Dort war das von Johann Friedrich Wender erbaute Instrument, im Unterschied zu den meisten älteren Orgeln, offenbar nach einer bei Werckmeister beschriebenen ›wohltemperierten‹ Stimmung intoniert und hätte es so dem 18-jährigen Bach ermöglicht, in sämtlichen Tonarten zu spielen.17 Und es gibt auch ein paar vage, indirekte Hinweise bei Kirnberger und beim Sohn Carl Philipp Emanuel (im Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, 1753) sowie einige kluge Vorschläge aus der Musikwissenschaft. Dort wird eine von Werckmeisters Temperierungen (die dritte) diskutiert, aber auch eine von Kirnberger beschriebene, als ›Kirnberger III‹ bezeichnete.18 Obwohl Johann Nepomuk Hummel in seiner Anweisung zum Piano-Forte-Spiel (Wien 1828) die gleichstufige Temperatur schon wegen der Stimmungsprobleme mit dem inzwischen mehrchörigen Saitenbezug der Klaviere für unabdingbar hält, scheint die Praxis noch lange zwischen unterschiedlichen Versuchen laviert zu haben.19

Tonarten: Erschließung eines singulären Bedeutungsraumes Deutlich ist aber, dass jetzt eine lange Problemgeschichte zu Ende kommt. Sie führt von der pythagoreischen Stimmung, über die mitteltönige, die ungleichstufige und die ›gute‹ oder ›wohltemperierte‹ schließlich zur gleichstufigen, die als ›gleichschwebende musikalische Temperatur‹ bis heute nicht nur unsere abendländische Musik wesentlich bestimmt, sondern auch intensiv auf die musikalischen Idiome anderer Ethnien ausstrahlt. Auslöser ist das harmonische Denken seit der Erfindung der Mehrstimmigkeit. Motor der Entwicklung ist aber das praktische Diktat der Tasteninstrumente mit ihrer festen Tonskala. Dahinter steht aber nicht nur irgendeine konzeptionelle ›Lo-

17

Vgl. P. Williams, J. S. Bach – Orgelsachverständiger unter dem Einfluß Andreas Werckmeisters? in: Bach-Jahrbuch 68 (1982), S. 131–142 u. Bach-Jahrbuch 72 (1986), S. 123–126.

18

Vgl. H. Kelletat, Zur musikalischen Temperatur, insbesondere bei J. S. Bach, Kassel 1960; J. Barnes, Bach’s Keyboard Temperament, in: Early Music 7 (1979), Vol. Nr. 2, S. 236–249; M. Lindley, J. S. Bach’s Tunings, in: Musical Times 126 (1985), S. 721–726.

19

Vgl. O. Jorgensen, Tuning, Containing the Perfection of Eighteenth-Century Temperament, the Lost Art of Nineteenth-Century Temperament, and the Science of Equal Temperament, Complete with Instructions for Aural and Electronic Tuning by Owen, East Lansing 1991.

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gik‹, sondern offenbar ein Bedeutungsverlangen, das tieferen Beweggründen entspringt. Der lange Reifungsprozess als beharrliches Streben nach einer – vordergründig – akustischen Problemlösung zeigt, dass hier mehr als nur die Idee eines spekulativen Denkens wirksam ist. Hintergründig nämlich erweist es sich als Realisierung eines inneren Tonartbewusstseins, das seit den Anfängen überlieferter Musik wie eine Art empfindungsbestimmtes Urbedürfnis immer wieder definierte Strukturräume generiert. Es äußert sich mit einer organisierten Semantik der verschiedenen Skalen bereits in der Einstimmigkeit: im Morgenland, mit den ältesten Skalenorganisationen der chinesischen und vorderasiatischen Musik, im Abendland in den Modi der antiken griechischen Musik, später in den Melodiemodellen der Gregorianik und den Kirchentonarten des Mittelalters (vgl. Kapitel III). Aber ebenso präsent ist dieses Bewusstsein in den Maquamat der arabischen Musik, den Ragas der indischen oder den Modi des javanischen Slendro. Hier artikuliert sich seit jeher ein Bedeutungsbereich, der untrennbar mit dem innersten Wesen von Musik verbunden ist und der sie deshalb kategorial vom ›Geräusch‹ trennt. Distinkte Tonräume formieren sich als Integral von Tonskalen und gehören quasi zur ontologischen Ursubstanz jeder Musik: Tonart erweist sich als eine musikalische Universalie. Man kann deshalb mit gutem Grund die Entwicklung von der Einstimmigkeit zur Mehrstimmigkeit, von den gregorianischen Melodieräumen über die Kirchenmodi bis zur Ausdifferenzierung der polaren Harmonik mit den vielen beharrlichen Versuchen zur Lösung der daraus erwachsenden Stimmungsprobleme, die schließlich im 18. Jahrhundert zur Formierung eines schlüssigen Konzepts im praktisch realisierbaren System des ›Tonartenzirkels‹ führt – erstmals so benannt von Johann David Heinichen 1711 – als zielgerichteten Evolutionsprozess begreifen, der einem tieferen Bedürfnis folgt.20 Denn hier trifft sich akustisch-musikalische ›Logik‹ mit einem ›Logos‹ der im Ausdrucksverlangen offenbar einer seelischemotionalen, also einer anthropologischen Disposition entspricht. Man mag bedauern, dass die reinen Intervall- und Klangwerte der Musik von vorher im ›wohltemperierten‹ Evolutionsprozess zugunsten eines praktischen Ausgleichs eingetrübt werden. Denn keiner wird sich der Wirkung mitteltöniger Stimmungen in der Renaissancemusik entziehen können, dem Zauber reiner Terzen, 20

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Diese Systematik bringt J. D. Heinichen mit seiner Bezeichung als »Musicalischer Circul« zum Ausdruck, für den er erklärt, man könne »vermittelst diese Circuls alle Töne und das gantze Clavier rück- und vorwärts ohne Verlegung des Gehörs durchspielen; und darff nicht befürchten/ daß er sich nicht wieder aus dem Hause finden könne, vgl. Gründliche Anweisung. Wie ein Music-Liebender auff gewisse vortheilhafftige Arth könne Zu vollkommener Erlernung des General-Basses, entweder Durch eigenen Fleiß selbst gelangen oder durch andere kurz und glücklich dahin angeführt werden dergestalt Daß er so wohl die Kirchen als Theatralischen Sachen insonderheit auch das Accompagnement des Recitativ-Syli wohl verstehe und geschickt tractieren wisse … Nebst einer Ausführlichen Vorrede, Hamburg 1711, S. 261.

der Herbheit der Quinten und Quarten, den charakteristischen Schlussklauseln und der Entschiedenheit des Tonartcharakters, wo unstrittig ein vom Komponisten gemeintes Ausdruckspotenzial realisiert wird. Deshalb gibt es den Vorwurf, dass die Temperierung ein fauler Kompromiss sei, eine unhistorische, technologische Gleichmacherei, die zu Recht viele Adepten von Early Music frustriert. Das beträfe vor allem die Musik seit Philippe de Vitry und Dufay bis Monteverdi, Lasso oder Palestrina, vielleicht noch für Johann Jakob Frobergers clavieristische Vexierspiele, Dietrich Buxtehude oder Louis Couperin. Sie beanspruchen Empfindungs- und Ausdrucksräume eigenen Rechts, für die man mit der gleichschwebenden Stimmung entweder Kompromisse eingehen muss oder die man in ›historisch informierten‹ Annäherungen realisiert. Wer sie aber an den Bedeutungsräumen misst, die sich mit den Möglichkeiten der temperierten tonalen Logik zu einem viel größeren Bereich musikalischer Empfindungsräume öffnen, der wird den Gewinn an seelisch-emotionalen Bedeutungen weit über die alten Reize der ›reinen‹ Intervalle stellen. Denn niemand wird bestreiten, welches ungeheure Ausdruckspotenzial der Musik mit der zwölffältigen Tonartratio zuwächst. Das betrifft nicht nur den Zuwachs an Semantik, sondern auch die Formulierungsmöglichkeiten musikalischer ›Grammatik‹. Ersteres zeigt sich mit dem Zugang zu den vorher kaum spielbaren vorzeichenreichen Tonarten und damit zu neuen seelischen Empfindungsräumen. Letzteres zeigt sich in der Fülle der Möglichkeiten mit den modulatorischen Bewegungskräften und den enharmonischen Vertauschungs-, Umdeutungs- und Beziehungsrelationen. Außerdem bleibt anzumerken, dass die Temperierung mit der Struktur unseres ›Hörbewusstseins‹ in der Form des »Bezugshörens« (Ernest Ansermet) rechnen kann, ferner, dass die rein tonalen Tonwerte auch über dessen Toleranzfähigkeit als »psychophysische Gravitationspunkte« (Hans Kayser) in einer gewissen Variationsbreite als Bedeutungsqualitäten uneingeschränkt wirksam sind.21 Wie tief gegründet diese Errungenschaft aus ›Logik‹ und menschlicher Disposition offenbar ist, zeigt sich an ihrer Bedeutung in der abendländischen Musikgeschichte und am Komponieren aller ihrer bedeutenden Künstler. Bereits die Musik Bachs, obwohl noch mitten im historischen Formulierungsprozess eines temperierten Systems, liefert gewichtige Belege. Gewiss kann man diskutieren, ob Bach in seinen beiden Bänden des Wohltemperierten Klaviers nicht die viel prägnanteren Charakteristika der Tonarten durch eine der sogenannten guten ungleichstufigen Stimmungen zwischen Werckmeister, Silbermann und Kirnberger wollte – und nicht die gleichstufige der Mittelwerte, ungeachtet des Prob21

Vgl. Kayser, Lehrbuch (1950), S. 35 u. 242. Ansermet stellt fest, dass das Hörbewusstsein, das pythagoreisch disponiert ist, auch bei einer Folge von temperierten Intervallen die pythagoreische Struktur perzipiert, weil beide Reihen exakt korrelative numerische Logarithmen haben, denn das Ohr nimmt die Tonhöhen über seine logarithmisch determinierte physiologische Konstitution wahr. Deshalb tritt er dem Vorwurf entgegen, dass der Kompromiss des temperierten Systems ein unnatürliches Artefakt sei, vgl. E. Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein, München 1965, S. 121–125.

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lems, wie eine ›clavieristische‹ Aufführungspraxis diesbezüglich zu bewältigen gewesen wäre. Aber schon die bewusste Anordnung der Stücke in chromatischer Folge (nämlich mit »sämtlicher Töne und Semitonia« wie Bach auf dem Titelblatt vermerkt), deutet auf eine systematische Vorstellung der Tonartenlogik hin, wie sie nur in einem temperierten System realisiert werden kann. Zwar war sie vielleicht erst eine Art »Vision von Tonsystem« (Ernest Ansermet). Aber Bach war immer mehr als ein abstrakter Systematiker, er war Praktiker und er war ein genuiner Musiker. Deshalb lotet er als schöpferischer Künstler kompositorisch den Charakter der einzelnen Tonarten in ihrem je eigenen Ausdrucksgehalt als seelisch-empfindungsmäßige Bedeutungsräume aus: die 48 Präludien und Fugen werden als individuelle Charakterstücke zum exemplarischen Manifest eines tonalen Bewusstseins. Die geschichtliche Wirkung bestätigt Bach – und nicht nur sein Tonartbewusstsein. Denn die gleichschwebende temperierte Stimmung wird zur Grundlage der ›Grammatik‹ der späteren abendländischen Musik bis weit in die Moderne. Auf sie rechnen nicht nur Werke des 18. Jahrhunderts seit Bach, Vivaldi, Corelli, Scarlatti oder Couperin und der ›Wiener Klassiker‹,22 sondern auch alle danach von Wagner, Verdi, Strauss und Bruckner bis noch hin zu Reger, Mahler und Schostakowitsch. Sogar Schönberg, Webern, Berg oder Boulez, Rihm und Ferneyhough verändern zwar die ›Systemebene‹ und verlassen damit sowohl tonale ›Grammatik‹ wie ›Semantik‹, komponieren aber in und für die gleichschwebend-temperierte Stimmung. Genauso – das wird leicht übersehen – wie die heutige internationale U- und Popmusik. Obwohl für sie, wie im Mittelalter, meistens an die vier Tonarten ausreichend wären. Prominenteste Kronzeugen für die überragende Bedeutung, die diese gewonnenen Tonarträume im Bewusstsein aller wichtigen Komponisten haben, sind Beethoven, Wagner und Richard Strauss. Beethoven spricht von der »Psyche der Tonarten«, Wagners Musikdramen operieren mit diffizilsten Ausdruckswerten dramaturgisch mit ihnen, und Richard Strauss hat ein so ausgeprägtes Tonartbewusstsein, dass er oft im Libretto schon vor Beginn einer Opernkomposition die Tonarten wählt und notiert (siehe Kapitel IX). Diese tiefe Verankerung im musikalisch-empfindungsmäßigen Bewusstsein der schöpferischen Geister kann nicht anders als ein inneres Wahrnehmungsphänomen verstanden werden. Genau wie bei der Organisation der Tonskalen scheitert man, das Phänomen als blinden Zufall erklären zu können, quasi nach darwinistischem Verständnis als Spielart von »Survival of the fittest« oder als Produkt ausgetüftelten Konstruierens. Es ist keine willkürliche Er-findung, sondern viel plausibler ein Gefundenes, dessen Elaborierung zur Ordnung musikalischer Bedeutungsräume sei22

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Vgl. Ch. Rosen, Der klassische Stil, München u. Kassel 1983, S. 25–28, wo er ausführt, wie »schauerlich« Beethovens Streichquartette in einer Aufführung mit »reiner Stimmung« klangen.

ne tiefste Begründung nicht in der physikalischen Akustik findet, sondern in einer psychophysischen Disposition des Menschen. Sie erschließt uns diese Bedeutungsräume zwar sinnlich über unser ›subjektives‹ Empfindungsvermögen. Aber ihre semantische Geltung ›objektiviert‹ sie als ein überpersönliches Wirkungspotenzial, das urbildlichen Charakter hat – womöglich weil es sich Analogien zu tieferen Strukturen verdankt. Geht man solchen Zusammenhängen zu umfassenderen Symbol- und Bedeutungssystemen nach, so fallen, genau wie bei der pythagoreischen Ratio der Intervalle, der Organisation der musikalischen ›Systemebene‹ oder auch wie bei den Baukonzepten der Hochkulturen und der Gotik, ganz ähnliche Aspekte von kosmologischem Format in den Blick.23 Unter diesem Aspekt ist ein Organisationssystem, das die Verfügung über alle Tonarten durch die ›Gleichschwebende Temperatur‹ ermöglicht, weder fauler Kompromiss noch transitorische historische Episode, sondern eine singuläre musikalische Errungenschaft des abendländischen Geistes. Was uns in der Theorie als ›logisches‹ Funktionskonzept, historisch als Frucht eines mühsamen Entwicklungsprozesses, praktisch als ›Kompromiss‹ entgegenkommt, weist kraft seiner Genese als ein Gefundenes wieder auf die anthropologische Dimension der Musik. Deshalb wird die temperierte Tonalität als psychologische Realität wie als kompositorischer Gestaltungsraum nie ihre Triftigkeit verlieren. Was in künstlerischer Empirie über das Empfindungsbewusstsein ge-funden und ausgeformt wurde, wird dann schnell von der Theorie vereinnahmt. Sie ko23

Für die Logik des je 12 Dur- und Molltonarten umfassenden Tonartensystems, die erst mit der Temperierung einer zwölfstufigen Teilung der Oktave ihre sinnfällige und praktische Realität erlangt, finden sich Hinweise zu größeren kosmologischen Analogien, wie mit der Struktur des zwölfteiligen Zodiakus in Astronomie und Astrologie aus Quellen der antiken mesopotamischen Kulturen, tradiert vor allem im Lehrkanon der klassischen Astrologie. Demnach wären die Tonartcharakteristika als distinkte emotionale Empfindungsbezirke keineswegs subjektive Zuschreibungen oder willkürliche Zuordnungen, sondern anthropologische Manifestationen innerer, seelischer Dispositionen, die sich den gleichen (allerdings nicht astral, sondern tellurisch bedingten) Prägungen verdanken (siehe Kapitel III, Anm. 30), wie sie auch astrologisch-kosmobiologische Deutung in Anspruch nimmt. Auch bei Kepler findet sich der Hinweis, dass die Seele ein Abbild des Tierkreises sei und im Kreise der Seele lägen die regelmäßigen Zirkelteile geformt (Harmonice mundi, Buch V). Vgl. H. Beckh, Vom geistigen Wesen der Tonarten. Versuch einer neuen Betrachtung musikalischer Probleme im Lichte der Geistes-Wissenschaft, Breslau 1923 u. 3. wesentl. vermehrte Aufl., Vom geistigen Wesen der Tonarten, Breslau 1932; ders., Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner mit besonderer Berücksichtigung des Wagnerschen Musikdramas, Stuttgart 1937. Stellenwert und Bedeutsamkeit dieser Zusammenhänge zeigen sich nicht nur in der Systematik der Propor­ tionslehren (wie etwa im Katalog der astrologischen Aspekte, d. h. den Qualitäten der Winkelbeziehungen zwischen einzelnen Planetenpositionen), sondern einer umfangreichen Literatur, von den Neuplatonikern und den Alchemisten, wie in der Harmonik von Claudius Ptolemäus, den Astronomica von Hieronymus Cardanus bis Keplers Harmonice Mundi (4. Buch), vgl. grundsätzlich: H. Pfrogner (1954 und 1976) sowie R. Eisler, Weltenmantel und Himmelszelt, München 1910.

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difiziert den Bedeutungsgewinn mit gründlicher Systematik. Das zeigt sich in der rasch anwachsenden Zahl von lehrhaften Kompendien, die Tonart als Verfügungselement im ästhetischen Kalkül des Denkens behandeln.24

Produzieren Die temperiert-regulierte Tonalität und der Generalbass-Satz erschaffen ein musikalisches Idiom, das zur lingua franca Europas wird. Nach dem höchsten Reifestadium der Vokalpolyphonie bei Lasso, Palestrina oder Tallis und Victoria markiert die musikalische Formulierungsweise im Satzkonzept des Generalbasszeitalters eine neue Stufe der abendländischen Musikgeschichte. Es zeigt seine Leistungsfähigkeit in vielfacher Weise: in seiner Integrationskraft, seiner universalen Funktion und nicht zuletzt in seiner immensen Produktivität. Das Integrationspotenzial vereint welsche Italianità, französischen Gout und ›teutsche‹ Elaboratio: Italienisches Concerto, französische Ouvertüre, den bunten Reigen der vielen Tanztypen aller Provenienz, dazu die keineswegs erledigten polyphonen Formen von Fuge und Imitation oder die glanzvolle Anverwandlung der englischen Anthem-Tradition beim italienisch geprägten Caro sassone Händel zeigen die europäische Dimension dieser Stilepoche. In vielen Werken klingen sie an, bei Bach im Concerto nach italienischer Art oder der Französischen Ouvertüre, bei Georg Philipp Telemann, dem berühmten Musikdirektor Hamburgs, in seinen Suiten im »Vermischten Geschmack«. Alle diese ›Geschmäcker‹ integrieren sich in einem Satzkonzept, das einen idealen Ausgleich der horizontalen und vertikalen Gravitationskräfte des musikalischen Satzes ermöglicht. Der stets gegenwärtige basso continuo liefert nicht nur das Muster der linearen, rhythmischen Bewegung, sondern er ist Vitalschicht lebendiger Impulskraft. Damit erschafft er ›Form‹, wird aber vor allem zum Ausdruck einer kraftvollen, vorwärtsstrebenden Dynamik und unbeirrbaren Verlässlichkeit. Er ›taktet‹ sinnlich und erweist sich so als Bedeutungsschicht von immenser Wirkung. Noch als modernes Derivat in den Bearbeitungen für Jazz und Pop (prominent etwa bei Jacques Loussier) bleibt diese Strukturschicht als Komplize von Drive und Beat höchst attraktiv. Sogar in Anwendungen der Musiktherapie bewährt sich ihre positiv stimulierende Funktion und manifestiert sich messbar im Hirnstrombild (EEG). Gleichzeitig fungiert der Generalbass als sichere Referenz aller harmonischen Konstellationen und organisiert so die vertikale Dimension des Satzes. Damit repräsentiert diese vollkommene Synthese von Faktur, Bewegung und Zusammenklang womöglich die idealste Konstellation eines musikalischen Satzes in der abendländischen Instrumentalmusik. Ihre 24

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Frühe Beispiele liefern: J. Mattheson, Das Neu-Eröffnete Orchester, Hamburg 1713; G. Ch. Kellner, Über die Charakteristik der Tonarten, Mannheim 1790; D. Fr. Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, Wien 1806; R. Schumann, Die Charakteristik der Tonarten, in: Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, Leipzig 1854.

Früchte beweisen es: als Universalität des Idioms mit Verwendbarkeit für sämtliche Genres und Satztypen von Musik, eine dadurch fast unbegrenzte Produktivität und schließlich als Organon höchster Ausdrucksmöglichkeiten wie in Gipfelwerken von J. S. Bach oder Händel. Die Universalität zeigt sich am deutlichsten im gängigen Verfahren, aus einer Komposition viele Derivate zu gewinnen: der ›Bearbeitungspraxis‹. Wenn J. S. Bach für eine weltliche Kantate ein Liebesduett komponiert, später aber die gleiche Musik in einem geistlichen Duett seines Weihnachtsoratoriums verwendet (aus der Herkules-Kantate BWV 213, Nr. 11 verwandelt zu BWV 248, Nr. 29), dann macht er nichts anderes wie viele andere, wie beispielsweise auch sein großer Zeitgenosse Händel. Der verwendet in der Oper Rinaldo, seinem spektakulären Londoner Operndebüt, in 19 der insgesamt 39 Sätze (der ersten Fassung) Musik aus früheren Werken. Und das ist kein Einzelfall bei ihm. In der Oper Rodrigo nimmt Händel 16 Sätze von 38 aus anderen seiner Werke, in Il pastor fido 12 von 28 und in seiner Agrippina sind es gar 41 von 54 Sätzen. Damit kann Bach gut mithalten. Denn sogar in der ›Summe‹ seiner Vokalkunst, der Hohen Messe in hMoll ›borgt‹ er sich die meisten Sätze nach dem Credo von sich und anderen (siehe unten). Das Schlüsselwort dieser Arbeitsweise lautet: Parodieverfahren. Damit ist die Verwendung der gleichen Musik mit kleineren oder größeren Änderungen für andere Texte und Inhalte gemeint. Es ist kein Novum in der Musikgeschichte, sondern nur selbstverständliche Fortsetzung einer alten Praxis, wie sie auch etwa bei den Parodiemessen der franko-flämischen Vokalmusik des 16. Jahrhunderts üblich war. Was den ›Sprachcharakter‹ der Musik auf den ersten Blick zu unterminieren scheint, erweist sich allerdings auf den zweiten Blick als eine handwerkliche Praxis der schöpferischen Metamorphosen. Viele Topoi blieben in einer einheitlichen Stilsphäre ohnehin idiomatisch gebunden: die Verwendung der Trompeten für den ›Herrscher‹, entweder den weltlichen oder den himmlischen, der Posaunen für das ›Jenseits‹« von Monteverdi bis zu Mozarts Requiem, die Hörner für bukolische Szenen, charakteristische Affekt-Figuren der ›Klangrede‹ für Schmerz oder Schrecken, Glück oder Trauer, die Ausdrucksbereiche der Tonarten, die Temperamentsklassen rhythmischer Typen. Die Anpassungen in der Parodiepraxis erfolgten, wie die Musikforschung herausgefunden hat, auch keineswegs schematisch. Es ist vielmehr stets ein überlegter Umgang zwischen Vorlage und schöpferischer Neufassung, wie es sich bei Bach etwa in seinen Umformulierungen im Kantatenwerk oder für die h-Moll-Messe gut verfolgen lässt.25 25

Für Bach untersucht von: W. Neumann, Über Ausmaß und Wesen des Bachschen Parodieverfahrens, in: Bach-Jahrbuch 51 (1965), S. 63–85, für Händel: B. Baselt, Zum Parodieverfahren in Händels frühen Opern, in: Händel-Jahrbuch 21/22 (1975/76), S. 19–39.

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Dazu kam das natürliche Eingehen auf die Aufführungssituationen: die jeweilige Anpassung an die Möglichkeiten und die Verfügbarkeit von Solisten, Besetzungen und Instrumenten. Von Händels berühmten Messias sind sechs Aufführungspartituren mit verschiedenen vokalen Besetzungen erhalten. Das zeigt einen ganz anderen Kompositions- und Werkbegriff als heute. Er verstand sich nicht als Erzeugung von einmaligen, urheberrechtlich geschützten Solitären, sondern als schöpferischer Umgang mit guten Einfällen in vielen Modalitäten und wechselnden Aufführungsszenarien, ermöglicht durch ein einheitliches ›System‹ musikalischer Regeln und ihrer Semantik. Es war die pragmatische Erprobung einer Kompositionsvorstellung und ihrer Spannweite in einem wohldefinierten Feld der Aufführungsmöglichkeiten. Damit konnte die gelungene res facta zu einer Art von (dennoch formstabilen) Work in progress werden, das nicht dem dogmatischen ›Originalitäts‹-Begriff aus dem Verständnis der Moderne entspricht.26 Weil Prinzipien und Regeln des Idioms klar waren, seine Ausdrucks- und Bedeutungsfähigkeiten verlässlich, die musikalische Praxis etabliert, gebiert es eine überwältigende Fülle an Werken. Man produzierte in unvorstellbaren Mengen. Versuche, die Opernproduktion von Monteverdi bis etwa 1920 annähernd zu quantifizieren, ergeben an die 57 000 bis 60 000 Werke.27 Genauer bekannt davon sind heute noch etwa 2400, aber nur noch ein paar Hundert sind im gängigen Repertoire vertreten. Beeindruckend ist die Produktivität, die wir von einzelnen Größen des Metiers kennen. Von Francesco Cavalli (1602–1676), der immerhin dazu ausersehen war, die Festoper Ercole amante zur Vermählung König Ludwigs XIV., 1662, zu komponieren, kennen wir 42 Opern, Nicola Porpora (1686–1768), der Konkurrent Händels, schreibt 50 Opern, von Antonio Caldara (um 1670–1736), Hofkomponist in Wien, sind über 3000 Kompositionen überliefert, darunter mehr als 40 Opern. Georg Philipp Telemann komponierte neben seinen Kammerkantaten noch ca. 1750 Kirchenkantaten, Gottfried Heinrich Stölzel ca. 1200 Kantaten sowie 14 Passionen und Oratorien, deren Texte er selber dichtete. Von Johann Christoph Graupner kennen wir über 2000 Werke, darunter an die 1400 Kantaten. Und sogar ein Hofkapellmeister auf einem kleinen Duodez-Schloss, Neu-Augustusburg in Weißenfels,

26

Bezeichnend dafür sind etwa die anhaltenden Diskussionen zur Besetzung und Aufführungspraxis der Vokalwerke von J. S. Bach. Obwohl sich das Verständnis im Laufe der Early Music-Bewegung vom Anspruch einer »authentischen« über eine »originale« Aufführungspraxis bis zu einer »historisch informierten« abgemildert hat, manifestiert sich dort immer noch ein positivistischer Werkbegriff, der sich am naturwissenschaftlich geprägten Exaktheitsdenken der Moderne orientiert. Er verlangt mit rigider Präzision nach einer definitiven Festlegung möglichst aller aufführungspraktischen Parameter von Kompositionen des Generalbasszeitalters, ohne deren situativen Charakter in damaliger Konzertpraxis zu berücksichtigen. Für die Diskussion darüber vgl. die Publikationen von Joshua Rifkin und Andrew Parrott sowie H. Haskell, Early Music Revival, London 1988.

27

Nach F. Stieger, Opernlexikon, Tutzing 1975–1982 u. K. Pahlen, Opernlexikon, München 1995.

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Johann Philipp Krieger, bringt es auf über 2500 Kantaten. Dazu kommen die zahllosen Exemplare aus den Gattungen von Concerto, Suite und Triosonate italienischer und deutscher Komponisten. Diese Produktion befremdet uns heute eher, als dass wir sie bewundern. Igor Strawinsky konnte deshalb leicht spotten: »Vivaldi hat nur ein Konzert geschrieben – aber das sechshundertmal«. Kein Wunder nach den Solitären eines Beethoven, Wagner, Bruckner oder Mahler, noch weniger im Zeitalter von Urheberrecht, GEMA und dem permanenten Anspruch auf singulär Originales. Man kann aber auch die weltläufige Universalität und die ausgefeilte Satzkunst der Generalbasszeit mit ihrem hohen handwerklichen Ethos als eine Hochkultur bewundern, die einen völlig anderen Anspruch erfüllte als das genieromantische oder gar selbstreferenzielle Komponieren von später. Sie ist nicht nur Zeugnis eines triftigen Bedeutungssystems, sondern auch für eine einzigartig fruchtbare Schicht eines musikalischen ›Humus‹. Denn sie sorgte in jeder Stadtpfeiferei und bei jedem Dorforganisten, in jedem Salon des Landadels und der Duodezhöfe für ein selbstverständliches musikalisches Grundniveau. Sie sicherte auch Konventionen, nach denen sich das Generalbassspiel zwischen festen Regeln, situativer Invention und freiem improvisatorischen ›Geschmack‹ als selbstverständliche Fertigkeit ohne Virtuosenpathos verbreiten konnte. Das definierte ›Freiheit‹ nicht als unbegrenzten Solipsismus, sondern als souveräne Regelbeherrschung im Bedeutungskonzept einer bestimmten musikalischen Ordnung. Damit erschuf die Epoche einen verbindlichen Stil von allgemeiner Verständlichkeit. Und zugleich die systemische Garantie einer musikalischen Satzqualität, von der sich spätere Zeiten weit entfernen.

Barocke Apotheosen: Bach und Händel Auch J. S. Bach und Händel bewegten sich in dieser Stilsphäre – keiner von ihnen hat ihr Idiom ›innovativ‹ oder ›progressiv‹ verlassen oder gar ›revolutionär‹ hinter sich gelassen. Vielleicht deshalb fielen sie dem gleichen schnellen Vergessen anheim wie alle ›barocke‹ Musik im schnell folgenden Aufstieg der ›Wiener Klassiker‹. Aber bestimmt wurden sie später so bemerkenswert dem Vergessen entrissen, weil sie eben als Höhepunkte dieser musikalischen Sprache ihre bis heute unverbrauchte Ausdruckskraft bewiesen. Als Prozess der Profangeschichte ist diese Wiedergeburt eine Frucht der Romantik und des Historismus im 19. Jahrhundert. Als musikgeschichtliche – oder sollte man sagen: geistesgeschichtliche – Station aber ein Ereignis von ebenso überragender Bedeutung wie unverhofftem Glück. Denn Bachs Musik, längst zum selbstverständlichen Grundbestand unseres Musiklebens gehörend, war nach seinem Tod, 1750, schon bald noch weniger bekannt als zu seinen Lebzeiten. Gewiss, sein Name hatte zeitgenössischen Rang und Klang. Versehen mit immerhin drei Prädikaten von Fürstenhöfen, war er als Thomaskantor der freien Reichsstadt Leipzig in einer höchst repräsentativen Stellung. Als director musices

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kam das zusammen mit seinen vielen anderen Funktionen einer Art von ›Generalmusikdirektor‹ gleich und sein Ruhm als Komponist, Organist und Orgelsachverständiger ging weit über Leipzig hinaus. Aber Telemann in Hamburg war viel berühmter. Und wer im späten 18. Jahrhundert ›Bach‹ sagte, meinte seinen Sohn, Carl Philipp Emanuel Bach. Zwar sorgte eine subkutane Bach-Rezeption über Bachschüler und einige Kenner für einen unterirdischen Traditionsstrom, der auch Haydn, den späten Mozart und Beethoven erreichte. Aber der war eher ein arkanes Rinnsal und ohne öffentliche Wirkung. Erst mit der Wiederentdeckung der Matthäus-Passion im Ambiente der rauschhaften Chorbegeisterung von Singakademien und Chorvereinen betrat Bach als bestauntes Relikt und musikalische Herausforderung die Bühne des bürgerlichen Konzertlebens. Goethe-Freund Zelter, der junge Felix Mendelssohn Bartholdy und die Berliner Singakademie verhalfen der Passionsmusik am 11. März 1829 zu einer Wiedergeburt, die zum Fanal einer denkwürdigen Bach-Renaissance wurde (siehe Kapitel IX).

Ein Qualitätsurteil aus der Geschichte Seither ist die Geltung von Bachs Werk stetig gewachsen. Bei den Musikern reicht sie bis zum Prädikat als Paradigma allen Komponierens schlechthin. Diesen universalen Aspekt empfand bereits Goethe, wenn er zu Zelter (1827) äußert: »Ich sprach’s mir aus: als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte …« Beethovens Urteil zielt auf das Gleiche, wenn er vom »Urvater der Harmonie« spricht und den bekannten Superlativ wählt: »Nicht Bach, sondern Meer sollte er heißen …«. Richard Wagner feiert die »fast unerklärlich rätselhafte Erscheinung des musikalischen Wundermannes« wie einen deutschen Nationalhelden und der Agnostiker Nietzsche den »göttlichen Bach«, dessen Matthäus-Passion alle bekehre, »die das Christentum schon völlig verlernt hätten.« Wilhelm Furtwängler nennt ihn den »Homer der Musik«, der Dichter Oskar Loerke spricht von »Bachs Weltanhörung«. Weiterverfolgen lässt sich dieses Ergriffensein bis in unsere Moderne: von Max Reger (»Anfang und Ende aller Musik«) über Hindemiths Würdigung als »Schau bis ans Ende der dem Menschen möglichen Vollkommenheit« bis zum Aphorismus von Mauricio Kagel: »Es mag sein, daß nicht alle Musiker an Gott glauben; an Bach jedoch alle« samt einer Bescheinigung für seine Musik als »metaphysische Offenbarungen« (in seiner Laudatio auf Den Übervater der Komponisten vom 6. April 1995). Aber auch Debussy und Chopin, der das Wohltemperierte Klavier auswendig beherrschte und sich damit auf sein Konzertieren vorbereitete, gehören dazu, ebenso wie der Pianist Maurizio Pollini, der Bach auch zur Konzertvorbereitung wählt. Der Komponist Alfred Schnittke bekennt: »Bach ist ein fernes, unerreichbares Ideal. Bach bildet für mich den Mittelpunkt von allem. Er ist jenes Zentrum, jene Sonne, die nach allen Seiten strahlt. Ganz gleich, womit ich mich gerade beschäftige, immer spüre ich sie« (Über das Leben und die Musik, München u. Düsseldorf 1998,

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S. 50). Noch aus dem europäischen Nihilismus nach Nietzsche und Auschwitz äußert Paul Celan ironisch: »Gott verdankt Bach alles.« Wie war eine solche Wirkung möglich nach dem Fast-Verschwinden seines Œuvres? Ist es überzeugend aus den Konstellationen des 19. Jahrhunderts erklärbar: der enthusiastischen Rückbesinnung auf Mittelalter, Burgen und gotische Dome aus romantischer Geschichtsnostalgie, dem philologischen Ehrgeiz für die Zeugnisse der Vergangenheit und der kulturpatriotischen Ahnensuche im Aufbruch zu einer ›nationalen‹ deutschen Identität? Das waren gewiss günstige Umstände. Aber es ist höchstens eine halbe Erklärung. Untergründig muss es mit einer Bedeutungshaltigkeit von Bachs Musik zu tun haben, die nicht nur fast 300 Jahre nach ihrer Entstehung noch Geist und Herz hörender Menschen in Bann schlägt, sondern etwas mit ihrer Substanz, ihrer sinnlich-geistigen Potenz, ihrer Qualität ›an sich‹. Denn wirkt es heute, da wir einen gründlichen Überblick über Bachs Werk haben, nicht so, als sei hier etwas Quintessenzielles, das die Ursubstanz abendländischer Musik ausmacht, auf wunderbare Weise der Hegelschen »Furie des Verschwindens« entgangen? Etwas Primäres, das viele spätere Musiker deshalb so oft als höchsten Maßstab triftigen Komponierens empfanden? »Bach ist kein Musiker, er ist die Musik selbst« (der belgische Komponist Edgar Tinel). Genau das hatte man offenbar bei seiner Wiederentdeckung wahrgenommen – obwohl sie ganz im Zeichen der großbürgerlichen Gesellschaftskultur der Chöre, Singakademien und Liedertafeln stand. Ihr Format war ein anderes als das der zeitgenössischen Musik, ihr ›Geist‹ ein anderer als der ihrer ›geistlichen Musik‹: dem Tod Jesu von Carl Heinrich Graun, die rituelle Karfreitagsmusik im Berlin der 1820/30er Jahre, oder seiner Hirten bei der Krippe oder der Geistlichen Lieder von Johann Adam Hiller. Es scheint, als wäre die Differenz, die der musikalische Historismus mit Bach als Speerspitze zur zeitgenössischen Musik lieferte, zu deren Kritik geworden. Anzeichen dafür gab es bereits im Vorfeld der Bach-Renaissance. Dort äußert sich in der Wiederbelebung der alten Vokalpolyphonie von Gabrieli und Palestrina im Kreis um den Heidelberger Juristen und Musikenthusiasten Justus Thibaut ein Verlangen nach einem anderen ›Geist‹, einer anderen Qualität. Thibauts einflussreiche Schrift Ueber Reinheit der Tonkunst (1825) orientiert sich, wie die von Carl von Winterfeld, Johannes Gabrieli und sein Zeitalter (1834) an anderen Referenzen. Schon Schuberts Messen entsprachen dem nicht mehr, noch weniger die von Abt Vogler oder Charles Gounod und Ambroise Thomas. Womöglich auch, weil bereits Beethovens Missa solemnis (1823) als kolossales Exempel menschlichen Ringens um ›Göttliches‹ in erhabener, aber hemmungsloser Subjektivität oder das Requiem von Berlioz (1837) als koloristischer Orchesterexpressionismus, schließlich die Werke italienischer Operndramatiker von Donizetti über Rossini bis Verdis Requiem (1873) das kanonische Liturgieformat endgültig zur ganz persönlichen Bekenntnismusik machten. Immer weiter entfernt

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von erhabener aeternam und der sakralen Ekklesia zielte sie eher auf den säkularen Konzertsaal und bürgerliches Ambiente. In der Suche nach rückwärts offenbart sich deshalb nicht nur bloße Antiquitätenfaszination und Geschichtsnostalgie, sondern ein Bedürfnis nach Bedeutungsqualitäten, die von der Produktion der Zeit und dem ›Als-ob‹ eines sentimentalen Religioso nicht geliefert wurden. Diese Suche wächst sich schließlich zu einer breiten Reformbewegung aus. Im deutschen Cäcilianismus, ausgehend von München und Regensburg und in der italienischen Palestrina-Renaissance, ausgehend von Giuseppe Baini, findet sie ihre erste öffentliche Wirkung. Damit wird die reife franko-flämische Vokalmusik des 16. Jahrhunderts, insbesondere die von Pales­ trina, zum Vorbild einer substantielleren Ausdruckswelt für ›Spirituelles‹ und seine musikalische Sprachdiktion zum Muster eines normativen Satzidioms. Mit ihm hebt sie sich, womöglich als tönende Mimesis einer ›objektiver‹ fundierten Ordnung empfunden, vom Ringen um ein subjektiv imaginiertes ›Göttliches‹ als persönlich-private Ausdruckswelt ab. Das Gleiche aber attestierte man offenbar auch Bachs Musik. Gewiss steht am Anfang dieser neuen Wirkungsgeschichte, dem zweiten, vielleicht eigentlichen Leben seines Werks, die Überwältigung durch Monumentalität: Matthäus-Passion und h-Moll-Messe – herbes protestantisches Pathos mit Chormassen-Macht im seinerzeitigen Singakademie-Ambiente. Aber untergründig auch die bezwingende Strukturstärke eines ›strengen Satzes‹. Zeigt sie sich dort vor allem in der polyphonen Konstruktionsmeisterschaft (Mendelssohn hat in der ersten Aufführung, 1829, acht Arien gestrichen), so erkennt man sie bald als zentrale Wesenseigenschaft, die Bachs Musik von den einfachsten Formen bis zum arkanen Spätwerk durchdringt. Bereits seine zwei- und dreistimmigen Inventionen (oder Symphonien, wie sie bei ihm heißen), die er selbst als eine »Anleitung zum Komponieren« versteht, geben exemplarischen Einblick in sein musikalisches Werkstattdenken. Obwohl Miniaturen musikalischer Erfindung, zeigen sie jene Vollkommenheit, die seinem ›musik-logischen‹ Handwerk immer wieder den Nimbus einer ›objektiven‹ oder – wahlweise – den Vorbehalt gegenüber einer kühl-kalkulierten Musik eingebracht hat. Dieser Eindruck von ›Objektivität‹ verdankt sich aber nicht nur dem souveränen Handwerk satzlogischer Ratio, sondern vor allem der Art dieser Ratio. Zwar äußert sie sich viel komplexer, vor allem in ihren instrumentalen Erscheinungsformen, als in vieler Musik von vorher – aber sie ist im gleichen Ethos verankert wie die Musik des Mittelalters und der franko-flämischen Vokalpolyphonie. Bachs Musik weise gleichsam über ihn hinaus, befindet der große Geiger Yehudi Menuhin und erfasst damit ihren universalen Geist, genau wie Charles-Marie Widor, der dafür auch die tiefere Begründung benennt, wenn er bemerkt: »Bach ist der universellste von allen Künstlern. Was er in seinen Werken ausspricht, ist das reine religiöse Gefühl, und dieses ist bei allen Menschen trotz nationaler und konfessio-

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neller Unterschiede, in die wir hineingeboren und hineinerzogen werden, ein und dasselbe.«28 Anders ausgedrückt: Bachs Komponieren schöpft nicht allein aus seinem ›Zeitlichen‹, sondern aus einem ›Überzeitlichem‹ das über das seelische Tiefenerbe jedes Menschen zugänglich werden kann (siehe Kapitel XI). Zu einem Zeugnis des ›Universalen‹ wird auch die Spannweite von Bachs Œuvre. Es ist nicht nur die Fülle von 1100 uns bekannten Werken als typische, produktive Potenz des Generalbass-Zeitalters, sondern auch – genau wie bei Händel und vielen anderen Komponisten des ›Barock‹ – das selbstverständliche handwerkliche Können in allen musikalischen Genres. ›Universalistisch‹ komponiert er in sämtlichen Gattungen und lotet dort alle Möglichkeiten des Generalbassidioms systematisch aus: im Vokalwerk der Kantaten, Messen und Passionen, als Klavier- und Orgelkomponist wie in der Orchestermusik und der Kammermusik mit anspruchsvollsten Solowerken.29

Bachs universales Œuvre Sein Vokalwerk mit 223 Kantaten samt Weihnachtsoratorium, den vier Passionsoratorien (nur zwei sind überliefert), vier Messen und dem Gipfelwerk der h-MollMesse, dem Magnificat und den vier Motetten bewegt sich in jenem Bereich, den man als ›Geistliche Musik‹ bezeichnet. Er prägte lange Bachs ›kirchliches‹ Image als »Fünfter Evangelist« (der schwedische Bischof Nathan Söderblom, 1929). Und tatsächlich gehören die vier Kantatenjahrgänge, die Bach für sein Leipziger Amt als Kantor von St. Thomas komponiert hat, als funktionsgebundene Pflichtstücke in die Kirche. Er bedient sich dabei der überlieferten Formen der Kirchenkantate, wie sie in der Liturgie (erster Teil vor der Predigt, zweiter danach) als musikalische Gestaltung der jeweiligen Evangeliumsverkündigung Bestandteil des Gottesdienstes waren. Aber musikalisch macht Bach aus der sonntäglichen ›Pflicht‹ eine ›Kür‹: Er reizt die dem Operndrama verwandte Affekt-Ästhetik des Genres ›geistlich‹ aus. Pastor Erdmann Neumeister, Textdichter einiger Kantaten Bachs, hat das Genre 1704 treffend auf den Punkt gebracht: »…so siehet eine Cantata nicht anders aus, als ein Stück aus einer Opera, von Stylo Recitativo und Arien zusammengesetzt«. Deshalb tragen wenigstens zehn von Bachs weltlichen Kantaten die originale Bezeichnung Dramma per Musica. Dass in Kirchenkantaten auch Concerto als Satzüberschrift

28

Y. Menuhin, Variationen. Betrachtungen zu Musik und Zeit, München 1979, S. 195; Ch.-M. Widor, Vorrede zu A. Schweitzer, J. S. Bach (1908), Wiesbaden 1960, S. XI.

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Überblicke verschaffen: Bach-Werke-Verzeichnis, hg. v. W. Schmieder, 2. Aufl., Wiesbaden 1990 (= BWV); Bach Compendium. Analytisch-bibliographisches Repertorium der Werke Johann Sebastian Bachs, in 3 Bdn., hg. v. H.-J. Schulze u. Chr. Wolff, Leipzig u. Dresden 1985–1989 (= BC). Außerdem: Bach Handbuch, hg. v. K. Küster, Kassel 1999; Das Bach-Lexikon, hg. v. M. Heinemann, Laaber 2000 (= Bach-Handbuch, Bd. 6).

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auftritt, zeigt die selbstverständliche Verbindung zur Musik der Zeit in Bachs Kompositionsvorstellung. Allerdings steigert er ihr Niveau mit komplexen Verfahren wie Permutationsfugen und einmontierten Chorpassagen: eine anspruchsvolle ›geistliche‹ Dramen-Kunst – keine protestantische Kantorenroutine.30 Das gewaltige Werk für die Tasteninstrumente zeigt den versierten Virtuosen des Genres – aber auch den Systematiker, der in Zyklen und ›Sammlungen‹ denkt und organisiert. Exemplarisches Zeugnis dafür sind seine vier Clavier Übungen. Sie haben nichts mit unserem heutigen Begriff von ›Üben‹ zu tun, sondern meinen Aus-Übung. Ihre Vorbilder finden sich in Sammlungen wie der Clavier-Übung von Johann Kuhnau, 1696. Sie zeigen das damalige Verständnis der ›clavierten Instrumente‹ als ein einheitliches Genre, das Cembalo, Clavichord und Orgel umfasste. Bach lotet es methodisch und konzentriert mit allen seinen konstruktiven, gattungsspezifischen und virtuosen Möglichkeiten aus. Am Anfang stehen die brillanten sechs Partiten für Cembalo (Clavier Übung erster Theil, BWV 825–830). Bach ließ sie 1731 als sein Opus 1 stechen und demonstrierte damit einen gewissen öffentlichen Anspruch der Sammlung. »Wer einige Stücke daraus recht gut vortragen lernte, konnte sein Glück in der Welt damit machen«, bemerkt der erste Bach-Biograph Nikolaus Forkel, 1802, dazu. Es sind Suitenfolgen mit jeweils verschiedenem Eingangssatz, von Praeludium und Sinfonia bis Toccata und anspruchsvollen Doppelfugen-Giguen als fulminante Schlusssätze. Auch der zweite Teil der Clavier Übung gehört dem Cembalo. Aber hier zeigt sich Bach als aufmerksamer Zeitgenosse des europäischen Mainstreams. Dort sind italienisches Concerto und französische Ouvertüre en vogue. Er übernimmt sie in der alten Tradition der Intavolierung auf das Tasteninstrument und demonstriert so dessen nachahmende, ›orchestrale‹ Möglichkeiten (BWV 971 und 831, ediert als Druck 1735). Die Clavier Übung dritter Teil ist für die Orgel bestimmt. Ihr Zentrum ist der Choral, was ihr den dubiosen Titel ›Orgelmesse‹ eingebracht hat. Er wird in 21 Stücken in allen denkbaren Möglichkeiten bearbeitet und ausgearbeitet, eingerahmt von einem mächtigen Portal: Präludium (am Anfang) und Fuge (Schluss) Es-Dur, die mit ihren drei Themen unverkennbar als Symbol der göttlichen Trinität zu verstehen ist. In den Choralbearbeitungen dazwischen vollzieht sich eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten zwischen ›alten‹ und ›modernen‹ Formen. Sie werden als jeweils ›kleine‹ und ›große‹ Varianten demonstriert: ein Katalog von Bachs konstruktiver Kombinationskunst und erfinderischer Phantasie. Sein Anspruch zeigt 30

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Überblicke zu Form und Bau der einzelnen Kantaten geben: W. Neumann, Handbuch der Kantaten Johann Sebastian Bachs, Leipzig, 4. A. 1971; A. Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach, 2 Bde., Kassel u. a. 1971.

sich bereits in der Widmung. Im Unterschied zu den anderen Clavier Übungen, die nur an die »Liebhaber« adressiert sind, heißt es hier: »Denen Liebhabern, und besonders denen Kennern von dergleichen Arbeit«. Hier will er sich mit den musikalischen Zunftgenossen messen. Ihr Stilbereich umfasst den stile antico, wie in Aus tiefer Not (BWV 686), durchgehend sechsstimmig, wo sich höchste kontrapunktische Meisterschaft und archaische De-profundis-Stimmung in einem motettischen Satz nach Vorbild des 16. Jahrhunderts verbinden, bis zu den aktuellen Formen der Zeit: Triosatz und Concerto. Trioanlage zeigt etwa Allein Gott in der Höh (BWV 676) und in Kombination mit einem Choralkanon, Vater unser (BWV 682). Alles in allem eine exemplarische Sammlung, die durch ihre komplexen und fast experimentellen ›Montagen‹ sowie durch die Edition als Druck den Charakter einer ›Summa‹ für »die Kenner« erhält – obwohl der Kosmos der Choralbearbeitungskünste Bachs viel größer ist.31 Er umfasst insgesamt an die 200 Werke, in denen er die sakrosankte Melodie umkreist, von tonmalerischer Affektausdeutung bis zu ebenso glänzenden wie kontemplativen Variationsfertigkeiten. Von denen geben besonders die drei (vielleicht vier) zyklischen Choralpartiten Zeugnis, mit ihrem Höhepunkt über »Sei gegrüßet, Jesu gütig« (BWV 768). Der vierte und letzte Teil der Clavier Übung, von Bach allerdings nicht ausdrücklich so tituliert, sind die Goldbergvariationen. Auftragswerk als eine Meditationsmusik für den Cembalisten des baltischen Grafen Hermann Keyserlinck, erreicht sie erst im 20. Jahrhundert eine Strahlkraft, die ihrem Format entspricht – von Glenn Goulds pointierten Deutungen bis zur Hollywood-Filmmusik (Das Schweigen der Lämmer) und einer unüberschaubaren Zahl an Einspielungen. Ihr strukturelles Konzept ist, wie immer bei Bach, archetypisch-einfach und perfekt systematisch organisiert. Über einer Aria im Bass, einer Liedmelodie also, baut er eine Folge von 30 Variationen auf. Jede Variation hat zwei Teile, jede dritte Variation ist, als ›stabiles‹ Symmetrieelement, ein Kanon. Seine Einsätze schreiten im Abstand vom Einklang bis zur None fort: vollendete Architekturkunst – zugleich aber auch ein Muster exemplarischer Variationskunst. Denn jede Variation entwickelt, über der Quellschicht der Bassmelodie, ihre eigene Physiognomie, von den tiefgründigen drei Moll-Variationen bis zur frivolen Virtuosität in den Schlussvariationen. Damit entwirft Bach wieder einen vollendeten musikalischen ›Kosmos‹, dessen architektonische Prägnanz in seinen Symmetrien und Relationen deshalb wie die musikalische Analogie eines ›Tempelbaus‹ wirkt. Dass er im Quodlibet, der letzten Variation, sogar zwei Gassenhauer der Zeit mit in dieses ›Bauwerk‹ einbezieht, kann man als humorvolle Einlage, einer verbreiteten Konvention folgend, verstehen. Oder aber als hintergründige Metapher für eine ebenso spielerische wie beziehungsreiche Integration von ›High and Low‹ aus der Bewusstseinslage ›barocken‹ Universalismus.

31

Vgl. dazu K. P. Richter, Orgelchoral und Ensemblesatz bei J. S. Bach Studien zu den Orgelchoralbearbeitungen von J. S. Bach, Tutzing 1982 (= MVM Bd. 37)

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Aber damit ist sein ›Clavier‹-Werk noch lange nicht erschöpft. Es finden sich dort, wieder zum Teil in Zyklen, die (später so benannten) Englischen und Französischen Suiten, oder Solitäre, wie die sieben Toccaten oder die Chromatische Phantasie und Fuge, deren geniale Eigenwilligkeit an das Genre des Stylus phantasticus erinnert. Eine besondere Art von ›Sammlung‹ ist schließlich das Wohltemperierte Klavier (BWV 846–893). »Altes Testament der Klavierspieler« (Hans von Bülow) hat man sie geheißen und spielt damit auf ihren Wert als ein unerreichtes Kompendium der Fugenkomposition und die Grundlage jeder Klavierausbildung an. Tatsächlich haben alle 48 Paare von Präludien und Fugen immer andere Macharten und tragen damit eine eigene Physiognomie als veritable Charakterstücke. Damit wird die ›Sammlung‹ nicht nur zum prominentesten Zeugnis für eine schlüssige Lösung der alten Stimmungsprobleme mit einer ›Temperierung‹ (siehe oben). Es ist gleichzeitig ein Zeugnis hintergründigster Musikalität. Denn Bach unternimmt die damit mögliche ausdrucksmäßige Auslotung der Tonarten nicht als Theoretiker der physikalischen Akustik (was ihm als versierten Orgelprüfer, ausgefuchsten Kenner sämtlicher instrumentalen Eigenheiten und sogar Erfinder neuer Instrumente leichtgefallen wäre), sondern als Künstler, also schöpferisch. Das zeigt, dass sein Componere jenseits seiner profunden Handwerkskunst von tiefstem Empfindungsvermögen für die seelisch-geistigen Bedeutungsräume der Tonarten inspiriert war – und womöglich, bei seiner Intellektualität (siehe unten, zum Spätwerk), einer mentalen Ahnungsfähigkeit, für deren hintergründige Bezüge. Für die Fülle der ca. 50 (choral-)freien Orgelwerke gibt es keine Systematik. Sie gelten bis heute als Höhepunkte der Orgelmusik schlechthin. Aber wir haben sie meist nur als Abschriften überliefert, obwohl sie kapitale ›Singularitäten‹ sind. Vor allem lassen sie die Frage offen, wozu sie Bach, der selten ohne konkrete Anlässe komponierte, bestimmt hatte. Vielleicht offenbaren sie, mehr als alles andere seines Werks, den ›freien‹, nur sich selbst verpflichteten, schöpferischen Künstler und den organistischen Virtuosen. Dass er ein glänzender und virtuoser Orgelspieler war, belegen seine Biographie wie zeitgenössische Kommentare. Bereits mit 18 Jahren tritt er seine erste Organistenstelle in Arnstadt an, mit 22 ist er Organist in der freien Reichsstadt Mühlhausen (1707) und seine nächste Anstellung erhält er bei Herzog Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar als »Hoforganist und Cammermusicus« (1708). Auch in Halle bewirbt er sich 1713 um die Nachfolge des ersten Lehrers von Händel, Friedrich Wilhelm Zachow, als Organist, und sogar noch 1720 an der St. Jacobi Kirche in Hamburg. Einige Anlässe für die Werke sind vage identifizierbar: die große Phantasie und Fuge g-Moll (BWV 542) vielleicht für das Probespiel in Hamburg und zugleich als Hommage an den letzten Vertreter der niederländischen Sweelink-Schule, Jan Adam Reincken, weil das Fugenthema ein niederländisches Tanzlied ist. Die große Toccata und Fuge in D, als ›dorische‹ bekannt (BWV 538), hat er möglicherweise zur Orgelabnahme der Scherer-Orgel am 28. September 1732 in der Martinskirche von Kassel gespielt – komponiert ist sie aber viel früher, vermutlich in Weimar,

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wohin die Bach-Forschung inzwischen die meisten seiner Orgelwerke datiert. Nur Präludium und Fuge e-Moll (BWV 546) und h-Moll (BWV 544) stammen wahrscheinlich aus der Leipziger Zeit. Und das bis heute exemplarische Organistenexerzitium, die sechs Triosonaten (BWV 525–530), sind wahrscheinlich für seinen Sohn Friedemann geschrieben, der in Dresden seine erste Anstellung als Organist erhielt. ›Orgel‹ suggeriert unserer Zeit zuerst Kirche und Gottesdienst. Das stimmt insofern, macht man die räumliche Aufstellung der Orgel und ihre damit verbundenen Funktionen zum Kriterium. Aber es stimmt weder für ihre Anfänge als dröhnende Hydraulis im römischen Circus maximus noch für die ›sinfonische Orgel‹ der Spätromantik, für die Widor, Vierne, Guilmant, Franck oder Liszt und Reger komponiert haben. Es stimmt auch nicht für den Bach der virtuosen Toccaten, Phantasien, Präludien und Fugen. Hier ist eine ›Absolute Musik‹ großen Formats, freier Erfindung und konzertanten Anspruchs komponiert. In sie gehen viele Stilelemente ein, vom vokalpolyphonen stile antico, den niederländisch-norddeutschen Arabesken des stylus phantasticus, der französischen Livre d’orgue-Tradition bis zu den damaligen zeitgenössisch-modernen Formen von Concerto und Triosonate. An das Idiom des alten Stils erinnert vor allem die große d-Moll-Fuge (BWV 538). Mit ihrer lapidaren Tektonik und Architektur sowie einer exemplarischen Konzentration auf einen Nucleus von thematischem Material erinnert sie nachhaltig an die Metapher von der »Musik als tönende Architektur«. Ihr tradierter Beiname ›Dorische Toccata und Fuge‹ trifft zwar weniger den harmonischen Sachverhalt, umso mehr aber den Geist: eine musikalische ›Tempelarchitektur‹ von singulärer struktureller Strahlkraft, die wirkt, als wäre sie einer unsichtbaren archetypischen Form abgelauscht. Vielleicht stammt von solcher Wirkung die Bezeichnung »Bach der Gotiker« aus der Frühzeit der Bach-Renaissance. Gleiches Format hat das Grave aus der G-Dur Phantasie (BWV 572). Formal folgt sie als Piece d’orgue französischen Mustern, mit virtuos-spielerischer Einleitung und ähnlichem Schlussteil. Im Grave-Mittelteil aber, durchgängig fünfstimmig, strahlt die Tektonik des musikalischen Satzes die gleiche ›archetypische‹ Qualität aus wie in der ›dorischen‹. Wie konsequent Bach einer bestimmten Vorstellung von tektonischer Faktur folgt, zeigen die konstruktiven Bassführungen, deren ›Logik‹ sogar einen Ton fordert, der weder im Ambitus damaliger noch heutiger Orgeln enthalten ist (Kontra H, Takt 66). Beispiel für die exemplarische Vollendung des Typus eines ›konstruktiven Basses, quasi die strengste Form des Generalbasses, ist schließlich seine Passacaglia cMoll (BWV 582). Bach hat nur eine Passacaglia geschrieben – aber sie wirkt wie eine ›Summa‹, die alle Vorläufer der Gattung erledigt. Ihr Thema stammt zwar möglicherweise nicht von ihm selbst (sondern von André Raison) – aber Bach, der Meisterkonstrukteur, haucht den 15 Tönen als statisches Fundament eines organisch bewegten Variationszyklus ein Leben ein, bei der wieder das dichterische Prädikat der »Weltanhörung« von Oskar Loerke in Erinnerung kommt: eine letzte (historische) Apotheose der alten musikalischen basso ostinato Form – aber zu-

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gleich, in seelisch-geistiger Empfindung, Auftönen einer ›Logos-Gestalt‹, wie der Pulsschlag einer supranaturalen ›Ordnung‹, die man wieder als Ausdruck einer größeren Wirklichkeitsdimension erleben kann. In den konzertanten Werken großen Formats steht glänzende, virtuose Brillanz im Vordergrund. Dazu gehören die bekannte d-Moll Toccata (BWV 565), über die wegen ihrer violinistisch inspirierten Figurationen schon auf eine Vorfassung für Violine spekuliert wurde, Toccata, Adagio und Fuge C-Dur (BWV 564) oder die F-Dur Toccata (BWV 540) mit ihren solistischen Pedalsoli sowie Präludium und Fuge e-Moll (BWV 548) mit ihren violinistischer Idiomatik abgelauschten Figurenketten in den rasanten Zwischenspielen. »Man müßte sie eine zweisätzige Orgelsinfonie nennen, um unserer Zeit die richtige Vorstellung ihrer Größe und Gewalt nahezulegen«, meint der Bachbiograph Philipp Spitta dazu. Aber Bach war auch ein ausgezeichneter Violinspieler, dessen »reines und durchdringendes« Spiel 1770 noch sein Sohn Carl Philipp Emanuel rühmt. Damit kommt man zu einer anderen Seite des Concertare mit Bachs kammermusikalischem Œuvre. Die sechs Brandenburgischen Konzerte und die sechs Ouvertüren für Orchester beschwören bis heute höfischen Glanz – jedes Exemplar übrigens mit einer individuellen Besetzung –, und die Konzerte für Violine und Orchester (BWV 1041, 1042 und 1043) gehören immer noch zu Prüfsteinen geigerischer Solistenkunst. In den sechs Sonaten für Violine bzw. Flöte und Cembalo (BWV 1014–1019 und 1030–1035) fordert Bach auch noch den cembalistischen Partner virtuos heraus. In den Solosuiten und -partiten für Violine solo und Violoncello solo (BWV 1001–1006 und 1007–1012) schließlich wird eine ebenso virtuose wie unerreicht tiefgründige Dimension des concertare erreicht. Einerseits sind es unübertroffene Konzentrate anspruchsvollster, einsamer Solistenkunst, andererseits Chiffren einer introvertierten musikalischen Meditation. Die Chaconne aus der d-Moll Partita daraus ist zu einem Maßstab aller Violinkunst geworden. »Die Chaconne ist mir eines der wunderbarsten, unbegreiflichsten Musikstücke. Auf ein System für ein kleines Instrument schreibt der Mann eine ganze Welt von tiefgründigsten Gedanken und gewaltigen Empfindungen …«, sagt Johannes Brahms darüber. Bach greift wieder das typische Baumuster der Basso ostinato-Formen auf und inspiriert mit dem Paradoxon von ›Mehrstimmigkeit‹ auf einem ›einstimmigen‹ Instrument eine Flut von Bearbeitungen, darunter von Schumann, Mendelssohn, Brahms bis Busoni. Sie entfesseln die dort quasi latent gespeicherte polyphone Phantasie: die Einlösung ihres inkarnierten ›utopischen Potenzials‹ – nicht als irreales (gesellschaftliches) Versprechen von Kunst (nach Ernst Bloch), sondern als reales Erlebnis musikalischen ›Logos‹. Sogar für die Laute hat Bach komponiert. Möglicherweise sind seine Lautenwerke (BWV 995–1000) für einen großen Lautenisten von europäischem Ruf komponiert, Leopold Silvius Weiss, der seit 1718 in Diensten des Dresdner Hofs stand. Johann Friedrich Reichardt berichtet von einem Treffen mit Bach, wo beide um die Wette improvisiert hätten. Schließlich sind die 16 Konzerte für Cembalo und Orgel

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(BWV 972–987) als Bearbeitungen verschiedener deutscher und italienischer Konzertvorlagen wieder ein glänzendes Beispiel für die historische Rolle der Tasteninstrumente als Medium für andere Musik: ihrer ›Intavolierungs‹-Funktion.

Die unterschätzten Emotionen des ›objektiven‹ Bach Aber die Musik des systematischen, strukturbewussten Baumeisters, deren Autonomie mit Prädikaten wie ›logisch‹ so oft als ›objektiv‹ gerühmt wird und damit eine Differenz zu ›emotional‹ meint, steht nicht als l’art pour l’art bloßer musikalischer Konstruktionsratio. In ihr birgt sich, heute leicht durch den Subjektivismus der Musik von nachher verdrängt, mindestens genauso viel an emotionaler Ausdruckskraft aus Empfindungstiefe wie an ›objektiver‹ Strukturstärke. In der Vokalmusik ist es unverhüllt präsent mit der Musikalisierung von Affektgehalten der Textdichtung und der Ausdeutung theologischer Inhalte (siehe unten). Aber auch in der ›absoluten‹ Instrumentalmusik findet sich nachdrücklich ›Affektives‹. Bereits im Orgelbüchlein (BWV 599–644) demonstriert Bach mit der inhaltlich-affektiven Ausdeutung des Chorals seine kompositorische Wirkung. Obwohl dort kein Text notiert ist, erweist sich der musikalische Satz als zutiefst geprägt davon. Zwar ist es, wie bei den Inventionen, eine lehrhafte ›Unterweisung‹ (»worinnen einem anfahenden Organisten«, wie Bach in der Vorrede schreibt, »Anleitung gegeben wird, auff allerhand Arth einen Choral durchzuführen …«). Das heißt, er führt mit einfachen Bearbeitungsmustern einer Choralmelodie die Möglichkeiten organistischen Handwerks vor, illustriert aber zugleich, wie man die in den Choraltexten als Topoi inkarnierten Affekte musikalisch umsetzen kann. Damit wird das Orgelbüchlein zu einem veritablen Musterbuch musikalischer ›Poetik‹, wie es Albert Schweitzer als erster in seiner Bach-Biographie (1950) beschrieben hat. Später, in den großen Choralphantasien kann diese Affektabbildung dann die kompliziertesten Formen annehmen, wie etwa im dritten Teil der Clavierübung. Wenn dort in der Choralbearbeitung Christ unser Herr zum Jordan kam (BWV 684) inmitten einer komplexen Struktur die Manualbassstimme in unaufhörlichen, bewegten Sechszehntelketten agiert, so wird sie zum tonmalerischen Mimikry der Wasserfluten des Jordans. Als Kabinettstücke der Choralpoetik präsentieren sich die Sechs Choräle von verschiedener Art, die sogenannten Schübler-Choräle (BWV 645–560). Hier zeigt sich affektive Besetzung besonders deutlich, denn sie beziehen ihre ›Poetik‹ direkt aus dem Bereich des Vokalen, weil sie Übertragungen sind, also Intavolaturen aus Kantatensätzen. Dort, im Kantatenwerk entzündet sich Bachs strukturelle Phantasie an vielen textlichen und theologischen Bezügen, die seine Musik leidenschaftlich mit ihren emotionalen und symbolhaften Bedeutungsgehalten durchtränken. Bereits der junge Bach zeigt in einer frühen Kantate aus seiner Mühlhauser Zeit, der Osterkantate

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Christ lag in Todesbanden (BWV 4), wie er damit umgeht. Ihre Wirkung erwächst aus einer faszinierenden Spannung zwischen den archaisierenden Elementen wie dem dorischen Cantus firmus, den dunklen Bildern von Tod und Blut des biblischen Textes, samt einer fahlen e-Moll-Färbung und dem modernen von konzertant-violinistisch geprägtem Brio des Instrumentalsatzes. Die Kantate Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit (BWV 106), überschrieben mit Actus tragicus (weil vielleicht bestimmt für die Trauerfeier von Bachs Erfurter Onkel Tobias Lämmerhirt am 14. August 1707) ist eine ›stille Music‹ mit Blockflöten, Gamben und Continuo. Aber im dichten Mittelsatz konfrontiert Bach mit geradezu dialektischer Raffinesse, wie es die alte Motettenform ermöglicht, Todes- und Erlösungstopoi. In der Kantate Wachet auf, ruft uns die Stimme aus der Leipziger Zeit (BWV 140) wählt Bach eine Dichtung mit archaischen Bildern aus dem Hohelied Salomos zusammen mit einer hintergründigen Dialogstruktur. Im Duett zwischen Sopran und Bass Wann kommst du mein Heil führt die ›Seele‹ ein mystisches Zwiegespräch mit ihrem ›Seelenbräutigam‹, sprich: Christus. Das ist nichts anderes als ein veritables Liebesduett, in dem der musikalisch-sinnliche Dialog der Partner Ausdruck einer spirituellen Liebes-Konstellation wird, wie sie sich auch bei den Mystikern findet. Die vitale, konzertierende Begleitung eines Violino piccolo (einer kleiner mensurierten Violine) verleiht dem Duett brillanten Glanz und hochexpressive Glut, weit weg von aller frömmlerischen Larmoyanz: eines der ergreifensten Liebesduette der Weltliteratur. Aber in den zentralen Chorsätzen (Nr. 1 und Nr. 4) pocht die Choralmelodie, eingebaut als cantus firmus in den Orchestersatz, mit Es-Dur-Wucht und unerbittlichem Puls ihr supranaturales, existenzielles Mahnwort. Es ruft zu jener Wachheit von Geist und Willen im Erden-›Tag‹ des menschlichen Lebens auf, hinter der das abgründige Bibelwort steht »Wirket, so lange es Tag ist, denn es kommt die Nacht, in der niemand wirken kann«. Der Schlusschoral, der nochmals das archaische Sinnbild des ›Himmlischen Jerusalems‹ als Matrix aller ›Dombauten‹ artikuliert, rührt schließlich an das Geheimnis aller echten spirituellen Erfahrung als ein Erleben, dessen Qualität das rein Sinnlich-Materielle transzendiert: »Kein Auge hat es je gespürt, kein Ohr je gehört …« Damit wird diese Kantate zum Zeugnis des musikalischen ›Dramaturgen Bach‹, der mit einer Verbindung von sensualistischer Mystik, konzertantem Brio und einer tiefgründigen Metaphorik, die sich theologischer Topoi bedient, nichts weniger als ›Metaphysik‹ betreibt. Als Gestalter leidenschaftlicher Affekte erweist sich Bach schließlich in einem Genre, das ohnehin vom Sujet des ›Dramatischen‹ bestimmt ist: den Passionen. Sie verwenden als ›Geistliche Opern‹ nach dem Vorbild der italienischen Passionsoratorien, genau wie die profane Oper, Dacapo-Arie, Rezitativ, Chor und Orchester. Weil deren Theatralik aber für das kirchenmusikalische Pendant offiziell ausdrücklich untersagt war, haben sie Bach wegen seiner dramatischen Szenen den zeitgenössischen Vorwurf unziemlicher ›Opernhaftigkeit‹ eingebracht. Als »Leidensgeschichte ohne den Erlöser« kritisiert noch der Theologe Karl Barth den

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narrativen, ganz von der Schmerzensdramatik bestimmten Horizont der MatthäusPassion. Tatsächlich entfaltet Bach dort, ebenso wie in der Johannes-Passion, einen umfassenden Katalog der Affekte. Bereits die Wechselreden von sieben Dialogen sind ein dramatisierendes Element, mit denen der Librettodichter Henrici eine handlungsorientierte Spannung erzeugt. Dazu kommt die geschärfte Expressivität der Rezitative, die vielfach durch kühne Harmonik und weite Intervallsprünge gekennzeichnet ist und die theatralische Wucht der Turba-Chöre. Partien wie der Racheschrei des jüdischen Volkes auf die Frage des Pilatus, welchen er losgeben sollte, Jesus oder Barabas: Barrabam (Matthäus-Passion, Nr. 54) und die Chorrezitative Laß ihn kreuzigen (Nr. 59) oder Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriß (Nr. 73) wären in jedem Operndrama theatralische Glanzlichter. Noch im pathetischen Schlusschor Wir setzen uns mit Tränen nieder zielt eine herbe Dissonanz im letzten Takt, der frei einsetzende Vorhalt h, auf heftige Expression und irritiert das Ruhe sanft. Es sind aber vor allem die Arien, in denen Bach eine ganze Skala affektiver Topoi realisiert. Sie umfasst höchst subjektiviertes Leidenserleben wie bei Erbarme dich, mein Gott (Matthäus-Passion), die verzweifelte Reflexion in der Tenorarie Ach mein Sinn (Johannes-Passion) über einen chromatisch absteigenden Lamentobass, die Trauer-Arie Zerfließe, mein Herze (Johannes-Passion), schmerzliche Kontemplation wie bei Du lieber Heiland du und Komm süßes Kreuz (Matthäus-Passion) oder einen besonderen Bilderreichtum wie in Erwäge wie sein blutgefärbter Rücken (Johannes-Passion) mit einem Paar obligater Viola d’amore als Klangfolie einer emblematischen Begleitung. Ausdrucksstarke Wendungen sorgen für eindringliche Affekte, wie in Zerfließe, mein Herze (Johannes-Passion) im Mittelteil, auf tot mit ihrer kühnen Harmonik, samt Tritonusgang (a1-fes1-es1, T. 82). Gleiche Affekthaltigkeit komponiert Bach mit dem Agitato Geduld! Wenn mich falsche Zungen stechen (Matthäus-Passion, Nr. 41) oder der dramatischen Geißelungsszene. Aber neben Leiden und Trauer reicht die Skala der Affekte bis zu verinnerlichter Kontemplation wie in der Sopranarie Aus Liebe, aus Liebe will mein Heiland sterben (Matthäus-Passion) oder zur h-Moll-Altarie Erbarme dich mein Gott! oder Buß und Reu (Johannes-Passion), wo das Libretto die ›Reue‹ der Vorlage aus dem Bericht des Johannesevangeliums durch die ›Buße‹ affektiv ergänzt. Bemerkenswert ist, dass sich unverkennbare Emotionalität auch dort zeigt, wo man sie dem Klangmedium kaum zubilligt: in der ›kühlen‹ Orgel. Fallen die Affektprägungen im Orgelbüchlein und den großen Orgelchoralbearbeitungen meistens unter toposbedingte ›Poetik‹, so stellen sie sich in vielen der choralfreien Orgelwerke als eindringlicher Expressionismus avant la lettre dar. Er zeigt sich bereits in den dunklen Klangwelten wie in der großen g-MollPhantasie (BWV 542) oder von solchen aus der c-Moll-Sphäre, wie Präludium und Fuge BWV 546 und der späten, um 1748 datierten Phantasie und Fuge BWV 562 oder auch bei der von BWV 537.

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Erscheint in der Phantasie BWV 546 der Tonartbereich des dunklen c-Moll noch gewissermaßen objektiv ausgelotet, so stehen in den beiden anderen Phantasien, vielleicht als Lizenz der Gattung, heftige Affekte im Vordergrund, die man nur als Ausdruck höchst subjektiver Empfindung verstehen kann. So beginnt BWV 537 mit einem dumpf-lastenden Orgelpunkt, über dem sich eine zyklopische, wie aus Ton-›Steinquadern‹ gefügte Tektonik im düsteren c-Moll aufbaut, in die schon bald ein Seufzermotiv eindringt, das den Satz in Bewegung bringt und im weiteren Verlauf mit seinem lastenden Ausdruck prägt. Höchst dramatische Affekte malt auch die große g-Moll-Phantasie (BWV 542). Ein fahles Moll bis in den Schlussakkord, düstere, vergrübelte Melodiegänge, chromatische Zuspitzungen und gehäufte dissonante Vorhaltsspannungen führen durch ein Panorama geballter, abgründiger Klangfolgen. Dazu Basslinien, die in ihrer insistierenden, konsequenten Unerbittlichkeit schon fast an den drängenden Ingrimm Beethoven’scher Diktion denken lassen. Damit führt uns Bach in dramatische Affektlandschaften, die man nicht leicht mit einem artigen ›kirchlichen‹ Usus der Orgel, noch mit dem Image des kühl kalkulierenden Rechenmeisters von Kontrapunkt und Fuge verbindet. Hier versagt das gängige Klischee von historischer Perspektive und ästhetischem Image und verlangt nach einer Deutung, die der Subjektivität und dem großen Format dieser Musik gerecht wird. Naheliegend, dass dazu die ›existenzielle‹ Situation Bachs mit in den Blick genommen werden muss: die Biographie des Menschen Bach. Sie enthält nicht nur Belege für einen streitbaren, ja cholerischen Charakter samt allerhand Auseinandersetzungen mit verschiedenen ›Obrigkeiten‹, sondern auch für frühe Einsamkeit und herbe Schicksalsschläge. Mit acht Jahren verliert er die Mutter, ein Jahr später seinen Vater. Als Vollwaise kommt er bei seinem ältesten Bruder in Ohrdruf unter. Mit 22 Jahren, 1707, heiratet er Maria Barbara. Aber schon 1720 wird er überraschend Witwer: Als er von einer Reise mit seinem Fürsten nach Karlsbad zurückkommt, ist sie bereits begraben. Mit vier Kindern steht der Witwer allein da. Ein Jahr später heiratet er ein zweites Mal, Anna Magdalena Wilcke, eine Sängerin am Köthener Hof, wo er eine Stellung als »Hochfürstlich Anhalt-Coethenischer Capellmeister« ohne Verpflichtungen zu Kirchenmusik bekleidete. Von den 20 Kindern aus beiden Ehen aber überleben nur neun. Das war zwar gewiss ein typisches Los dieser Zeit. Aber elf Geburten, Taufen, Tode und Begräbnisse wurden auch zu dieser Zeit als persönliches Schicksal erlebt und mussten erlitten und bewältigt werden. Erst recht mit dem Sensorium eines so tiefgründigen und spirituellen Menschen seines Formats. Vielleicht fällt es schwer, nach Beethoven, Wagner, Verdi, Tschaikowsky oder Mahler und Berlioz mit ihren Affekt-Registern diese subjektive und emotionale Seite auch in Bachs Musik angemessen nachzuempfinden. Aber sie muss aus dem Umfeld des etablierten Stilidioms seiner Zeit heraus begriffen werden. Gemessen daran sind die Zeugnisse ihrer markanten Affektstärke ein bedeutsamer Hinweis darauf, dass die so ›objektive‹ Meisterschaft des Kontrapunktes bei Bach nur ein Aspekt ist.

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Es ist nicht der ganze Bach. Der enthüllt sich erst, wenn man in seiner Musik auch diejenigen Ausdrucksgestaltungen wahrnimmt, die den gleichen subjektiven Emotionsqualitäten entsprechen wie denen bei Beethoven oder Schubert und Brahms. Dann wird das Format seiner musikalischen Satzkunst-Ratio nicht als Zentrum, sondern als mentale Entsprechung seelischer Empfindungstiefe kenntlich. Im bevorzugten intellektuellen Bach-Bild der Moderne scheint das zur Marginalie geworden. Anfangs erscheint es als Reaktion auf das Pathos des ›enthusiastischen Historismus‹ und der ›romantischen‹ Bach-Interpretation mit ihrer Abundanz klangmächtiger sinfonischer Tradition des 19. Jahrhunderts. »Jede Empfindelei und Ziererei, wie alles Modische, Subjective und Individuelle« habe bei der Wiedergabe von Bachs Musik zu unterbleiben, fordert einer der ersten prominenten Herausgeber von Bachs Clavier-Werken, Friedrich Conrad Griepenkerl schon 1819 (»Einige Bemerkungen über den Vortrag der Werke Bachs …«). Das ist ein Vorspiel zu einem Prozess kontinuierlicher Ent-Emotionalisierung seiner Musik, der schließlich im Zeichen der ›Neuen Sachlichkeit‹ der 1920er Jahre einen Höhepunkt erreicht. Ernst Kurths Edition der Suiten für Violine und Violoncello solo (1921) unter der Prämisse strikter, linearer Dominanz zeugt ebenso davon, wie die Aufführungspraxis mit den ersten, kargen kammermusikalischen Besetzungen der Adolf Busch Chamber Players, dem schließlich der cembalistische ›Nähmaschinen‹-Stil motorischer Präzision der 1950er Jahre folgt. Danach hat sich als Gegenthese dazu der ›rhetorische Stil‹ einer ›Klangrede‹ aus der Wiener Schule (Josef Merlin und Nikolaus Harnoncourt) etabliert sowie die minimalistischen niederländisch-belgischen Interpretationsfaçonen (von Gustav Leonhardt und Sigiswald Kuijken bis Philippe Herreweghe und René Jacobs mit ihren Ensembles). Dazu kamen die angelsächsischen Lesarten aus der Tradition des Cathedral Choir (John Eliot Gardiner) und dem dortigen Early Music Revival. Sie vertreten Interpretationsmaximen im Zeichen einer ›Historischen Aufführungspraxis‹, die nach ›objektiver‹ Authentizität sucht, von der Idee eines ›Originalklangs‹ bis zum Prädikat Historically informed. Verbunden damit ist nicht nur die Wiedergeburt des historischen Instrumentariums, von den barocken Violinen, Gamben und Holzbläsern, den Ruckers-, Taskin- und Kirkman-Cembali bis zur Bachtrompete, sondern auch die Vorstellung akkurater Werktreue mit einem ›exakten‹ Werkbegriff. Damit werden Klangbilder und Besetzungen ebenso entschieden ›entkernt‹, bis zu einem radikalen Minimalismus solistischer Besetzungen in Bachs Vokalwerken (Joshua Rifkin, Andrew Parrott, vgl. Anm. 24), wie auch das Bach-Bild schlechthin. Exemplarisch, eine Darstellung wie in Die Chronik der Anna-Magdalena Bach, ein Filmporträt von Jean-Marie Straub (1968) mit Bach-Darsteller Gustav Leonhardt als Personifizierung höchst distinguierter, aber radikaler anämischer Askese. Der ostentativen Kargheit folgen Tendenzen zu hochtouriger Presto-Virtuosität einerseits, oft mit zerebraler, analytischer Intellektualität oder einem exquisiten Manierismus artifizieller Historisierung andererseits. Allen gemeinsam ist, dass sie den Verfertiger komplexer Satzkunst vor dem empfindungsstarken Ausdrucksgestalter bevorzugen.

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Das Spätwerk Im Spätwerk wendet sich Bach schließlich seinen geheimnisvollsten, oft als rätselhaft und stets als hermetisch apostrophierten Ausdruckswelten zu. Sie wirken vor allem als Konzentrate und Essenzen. Nicht dass er noch in seinem letzten Lebensjahrzehnt, 1740–1750, vielerlei komponiert, bearbeitet und aufgeführt hätte. Dazu gehören neben Kantaten die Niederschrift des zweiten Teils seines Wohltemperierten Klaviers, kapitale Choralbearbeitungen (wie das Konvolut der Siebzehn Choräle, BWV 651–667, und die Kanonischen Veränderungen über ‹Vom Himmel hoch‹, BWV 769), anspruchsvolle Kammermusik (wie die Sonaten für Violine und Cembalo, BWV 1014–1019), allerhand Konzerte wie das exquisite Konzert a-Moll für Violine und Orchester (BWV 1041) sowie Cembalokonzerte oder die große Orchester-Ouvertüre h-Moll (BWV 1067). Es gehören auch Bearbeitungen von Werken anderer Komponisten dazu (wie Kantaten von Johann Christoph und Johann Ludwig Bach, eine Messe von Giovanni Battista Bassani, die Missa sine nomine von Palestrina und Pergolesis europäischer Hit Stabat mater, von Bach verwandelt zur Motette Tilge, Höchster, meine Sünden). Und er macht sogar noch eine Abschrift von Händels Brockes-Passion und bringt 1741 schließlich seine Goldberg-Variationen zum Druck.32 Aber er erschafft auch eine Musik, die nicht anders als eine ›Summe‹ seines Komponierens begriffen werden kann. Bach vervollständigt seine große ›Missa‹ hMoll, komponiert das Musikalische Opfer und die Kunst der Fuge, die unvollendet bleibt. Obwohl singuläre Werke, sind alle drei, ganz typisch für Bachs Schaffensethos, mit äußeren Anlässen verbunden. Zwei Sätze der Missa. Symbolum Nicenum. Sanctus Osanna, Benedictus, Agnus Dei et Dona nobis pacem (BWV 232), nämlich Kyrie und Gloria, waren schon früher entstanden. Als ein Dedikationsobjekt zur Erlangung eines Prädikats als Hofkomponist des sächsischen Kurfürsten in Dresden hatte Bach sie dort 1733 überreicht – wahrscheinlich um in den beständigen Querelen mit seinen Leipziger Ratsherren einen Trumpf zu gewinnen. Aber erst 1736 erlangt er die Erfüllung seiner Bitte. Das Sanctus (ohne Benedictus und Osanna) war bereits 1724 entstanden. An Credo, Osanna, Benedictus, Agnus dei et Dona nobis pacem arbeitet er aber noch bis Oktober 1749 (nach Yoshitake Kobayashi, anhand der diplomatischen Befunde), ändert in älteren Sätzen und vereint dann alle in einem Band. Versteht man sie deshalb als geschlossenes Werk, dann erscheint sie, analog zu seinen Clavier Übungen, als eine Demonstration aller seiner Vokalkünste im Gefäß einer sakrosankten Gattung. Dann ist diese Missa, im Unterschied zur Missa brevis, der evangelischen Kurzmesse, eine Missa tota in der sich vokales und instrumentales Musizieren zum 32

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Vgl. Y. Kobayashi, Zur Chronologie der Spätwerke Johann Sebastian Bachs. J. S. Bachs. Kompositions- und Aufführungstätigkeit von 1736 bis 1750, in: Bach-Jahrbuch 74 (1988), S. 7–71.

Typ einer Missa concertata verbinden. Für den Eindruck, dass es Bach um ein vollendetes Opus als komplette Missa ging, trägt wesentlich bei, dass sich viele Sätze (nach dem Credo) als überarbeitete Parodien aus seinen Kantaten oder sogar aus Vorlagen anderer Komponisten erweisen: Was als Kompilation erscheint, ist Zusammenfassung zu einer ›Summa‹. Bach verfährt dabei nach Struktur und Topoi in enger Bindung an das uralte liturgische Formular und seine theologischen Bezüge. Er musikalisiert sie zwar mit intensiver Ausdruckskraft, die durchaus ›subjektiver‹ Emotion entspringt, aber er formuliert keine individualisierten ›Subjektivismen‹ wie die vielen Messen seit Graun bis Verdi, sondern er gestaltet aus einer objektiveren, theologischen Bindung heraus. Das zeigt sich an vielen Beispielen musikalisch verschlüsselter Glaubensinhalte, besonders aber am Rückgriff auf den Stile antico der alten Vokalpolyphonie, weiter an der Verwendung konventioneller Intervallfiguren aus der musikalischrhetorischen Figurenlehre als Affekt-Chiffren, an architektonischen Symmetrien oder allerhand hintergründigen Tonarten- und Numerusbeziehungen.33 Gleich das Kyrie demonstriert Anspruch und Format des Werks: ein gewaltiger Anruf des Eingangschores mit seinen auf einem Ton gestoßenen ersten Silben, dem eine fünfstimmige Chorfuge in planmäßigen Steigerungsstufen folgt. Die Instrumentierung wechselt zwischen akzentuiertem Colla-parte-Spiel bei allen wichtigen Themeneinsätzen und selbstständigen kontrapunktischen Stimmführungen und zeichnet damit eine eigene Textur. Das abschließende Kyrie II ist im Stile antico alter Chorpolyphonie der Palestrinazeit gesetzt: ›Alla breve‹ mit dafür typischen paarweisen Engführungen der Stimmen, aber in der dunklen fis-Moll-Tonartsphäre und mit chromatischen Gängen als Ausdruck der ›Bitte‹. Die Trinität wird im Gloria in ihren verschiedenen Aspekten musikalisiert: als Wesenseinheit von Gottvater, Sohn und Heiligem Geist, aber ebenso in deren personalen Eigenständigkeiten. Dafür erfolgt die Aufteilung des ausgedehnten Textes in eine Reihe von acht Sätzen mit Chor (4), Arien (3) und einem Duett. Ihr Grundplan folgt einem Lobpreis auf die Herrlichkeit Gottes – Bittruf auf Gottvater und Sohn – Lobpreis und Bittruf als Illustrierung der Trinität. Die Domine-Deus-Duette lassen sich vielleicht durch die Teilung in dreimal 30 Takte und die rhythmische Figur von Achtelnote – zwei Sechzehntel, gefolgt von einer längeren Viertelnote, als Chiffre für die Verschiedenheit von Gottvater und Sohn deuten, die dann in der längeren Viertelnote als Einheit mit dem Heiligem Geist und damit der Vervollständigung zur Trinität musikalischen Ausdruck findet. Die emblematische Instrumentierung mit Trompeten und Pauken im D-Dur des Eingangschores fungiert als Ausdruck eines göttlichen Himmelskonzertes. Die Sopran-Arie Laudamus te mit ihrem A-Dur Strahlenglanz im konzertanten Dia-

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Aspekte dieser Bindungen und Symbolisierungen untersucht A. Schmitz, Die Bildlichkeit der wortgebundenen Musik Johann Sebastian Bachs, Mainz 1949.

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log mit der Solovioline bleibt in der gleichen Affektsphäre. Für den anschließenden Chor Gratias agimus tibi, einer umgearbeiteten Parodie aus der Ratswechsel-Kantate Wir danken Dir Gott (BWV 29), wählt Bach wieder den erhabenen stile antico mit Trompeten und Pauken-Nachdruck. Im Qui tollis peccata mundi wird der Chor in h-Moll zum Zentrum. Wieder ist es eine Parodie, die des Eingangschores aus der Kantate Schauet doch und sehet (BWV 46) mit absteigenden Moll-Dreiklängen und allerhand leiterfremden Tönen als Chiffre des ›Schmerzes‹, dazu prominent Viola und Violoncello mit ihren ständigen Tonwiederholungen. Wieder trinitarisch konzipiert wirkt auch die Arie Quid sedes ad dextram Patris durch ihre Dreiteilung. Im Sechsachteltakt konzertieren dort Alt und Oboe d’amore in einer Echo-Faktur. Die Arie Quoniam tu solus sanctus, eine Bassarie mit konzertierendem Corno da caccia und zwei Fagotten in Begleitfunktion ist eng verknüpft mit dem Chor Cum Sancto Spiritu. Eine charakteristische instrumentale Leitfigur von fünf Tönen mit zwei markanten Oktavsprüngen (d-d) steht für die rhetorische Figur des Diapason als Bedeutung ›durch das Ganze‹. Den Schluss des Laudamus-Zyklus und des Gloria komponiert Bach im Tutti von fünfstimmigem Chor und Orchester samt Trompeten und Pauken mit dem krönenden Jubel eines fünfstimmig-homophonen Amen. Im Credo fällt besonders die symmetrische Gesamtanlage von neun Teilen ins Auge, in deren Achse der (später nachkomponierte) Crucifixus-Chor Et incarnatus est steht. Erster Eckpfeiler ist der erste Chor, eine siebenstimmige Fuge mit siebentönigem Thema (Credo in unum deum), ein (nur vom Continuo begleitetes) A-capella-Konzept, wobei die fünf Vokalstimmen durch zwei Violinen zur Siebenstimmigkeit ergänzt werden. Auch das folgende Patrem omnipotentem ist eine Fuge – und eine Parodie, nämlich des Eingangschores aus der Kantate Nr. 171. Allerdings hat ihn Bach tiefgreifend umgestaltet und beschließt ihn mit dem Eintritt aller drei Trompeten und Pauken zu strahlendem Schlussglanz. Der zweite Credo-Chor ist eine jubelnde Doxologie, an deren Ende Bach merkwürdigerweise die Zahl der Takte, 84, notiert hat – ein seltener Fall, der konkret Vermutungen zu einem bewussten Umgang mit bestimmten Zahlen zulassen könnte. Denn 84 ist das Produkt bedeutsamer numerologischer Symbolzahlen: nämlich von siebenmal zwölf. Im zweiten Glaubensartikel mit dem Duett Et in unum Dominum Jesum Christum verwendet Bach wieder eine zweitaktige Leitfigur als Thema. Sie tritt vokal und instrumental immer in zwei Stimmen auf, meistens in kanonischer Folge: Chiffre für ein Hervorgehen des Sohnes aus dem Vater bei Wesenseinheit. Die Menschwerdung des Gottessohnes musikalisiert er im Et incarnatus est durch drei verschiedene Schichten: Violinen, Chorstimmen und Basso continuo. Das Crucifixus ist in Form einer Chaconne gebaut und bezieht seine Wirkung als düster-leidvolles Ausdrucksgebilde aus einem chromatischen, abwärtsführenden Lamento-Ostinato, der musikalisch-rhetorischen Figur des Passus duriusculus

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mit ebenfalls in Halbtonschritten abwärts geführten Stoßseufzern der Vokalstimmen, dazu die ›Seufzer‹ der Flötenfiguren mit der Figur der Suspiratio. Der Satz ist allerdings eine doppelte Parodie, nämlich aus der Kantate BWV 12, dort aber bereits die Bearbeitung eines Liebesliedes von Antonio Vivaldi. Das Et resurrexit ist als fünfstimmiger Chor gestaltet, aber mit einem ausgedehnten Instrumentalsatz. Wieder erhält eine Leitfigur thematische Funktion, dreitaktig, im Chor und als wiederkehrende Bassfigur im Continuo. In der Bassarie Et in Spiritum sanctum, eines der tiefsinnigsten Sätze der Missa, ist die Dreizahl zentral. Sie zeigt sich durch eine Gliederung in drei Hauptabschnitte mit drei Unterabschnitten. Für das Confiteor unum baptisma wählt Bach wieder die Fünfstimmigkeit des Chores mit paarweiser Imitation der Stimmen in einem freien motettischen Satz als stile antico. In dessen Schlusschor Et exspecto resurrectionem mortuorum durchschreitet Bach in 24 Takten eine dichte Folge von Modulationen über den gesamten Quintenzirkel (ab Takt 123): nicht nur gewagte Harmonik, sondern Chiffre für die tiefgreifende Verwandlung, die das menschliche Sein in der Auferstehung erfährt. Aber danach folgt als stärkster Kontrast dazu ein Vivace e allegro im jubelnden DDur der Grundtonart mit dem Tutti aller Instrumente. Allerdings wieder eine Parodie: der zweite Satz der Ratswechselkantate, BWV 120. Im Sanctus, das auch in lutherischen Gottesdiensten meistens lateinisch gesungen wurde, will Bach eine magistrale Klangentfaltung. Denn das Trishagion, das Dreimal-heilig ist die Summe des christlichen Lobpreises in der Messe und die Apotheose der Ecclesia triumphans. Bach wählt dafür selbstverständlich strahlendes D-Dur und opulente antiphonale Mehrchörigkeit. Die Struktur ist auf die Dreizahl mit fünf dreistimmen Klangformationen bezogen: dreistimmiger Trompeten-, Oboen- und Streicherchor und ein sechsstimmiger Vokalchor, fast durchgehend doppelchörig geführt. Diese Sechsstimmigkeit kann in Bezug auf die biblische Vorlage, aus der das Sanctus entnommen ist, Jesaja 6, 1–4, gedeutet werden. Denn dort ist von den Seraphim die Rede, die in »Heilig, heilig, heilig«-Rufe ausbrechen und von denen »jeder sechs Flügel« hatte. Über sechs Takte gedehnt erschallt das Trishagion schließlich in majestätischen Vergrößerungen. Brausender Jubel beschließt die musikantisch im Dreiachteltakt fließende Chorfuge Pleni sunt coeli. Bei dem eng daran anschließenden, achtstimmig doppelchörigen Osanna handelt es sich wiederum um eine Parodie: einen Teil aus dem Eingangschor der weltlichen Kantate BWV 215. Eingeschlossen in das Osanna ist die Tenorarie »Benedictus, qui venit in nomine Domini. Fünfteilig, mit obligater Querflöte, steht ihre h-MollAndacht für die Ehrfurcht vor dem Wunder der Menschwerdung Christi. Auch die beiden letzten Stücke der Missa sind wieder Parodien: Agnus Dei und Dona nobis pacem. Die Altarie mit zwei obligaten Violinen im Unisono ist eine Umarbeitung der Arie Ach, bleibe doch, mein liebstes Leben aus dem Himmelfahrtsoratorium (BWV 11).

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Mit ihrer dunklen g-Moll-Sphäre, den vielen verminderten Dreiklängen und den schmerzlichen Septimensprüngen, der Figur des Saltus duriusculus, wird sie zum empfindungsvollsten Satz der Messe. Der liturgische Text ist dreigliedrig; auf die beiden ersten zwei Gebetsrufe »Agnus Dei, qui tollis peccata mundi« folgt »misere nobis«, beim dritten jedoch: »Dona nobis pacem«. Dieser Schlusschor ist eine vokale Doppelfuge, in dem das Wort »Pacem« immer wieder hervorgehoben wird – aber musikalisch ist er ein Rückgriff auf das »Gratias agimus tibi« im Gloria. Damit fungiert der Satz als eine architektonische Klammer – Zeichen eines einheitlichen Werkkonzepts, genau wie im Äußerlichen, mit der Zusammenfügung aller Partitur-Teile zu einem Band.34 Vielleicht ist es sogar eine Art von ›ökumenischem‹ Bekenntnis, denn im Credo heißt es: »et in unam sanctam catholicam ecclesiam«. Schließlich war die Missa für den Hof in Dresden bestimmt, der seit der Gewinnung der polnischen Königskrone katholisch gewordenen war. Dazu passt, dass sie als Die große catholische Messe 1790 aus dem Nachlass seines Sohnes, C.Ph.E. Bach, angeboten wird. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass ihre Komplettierung auch im Hinblick auf Berlin erfolgte: Dort wurde am 13. Juli 1747, also im Jahr von Bachs Besuch beim preußischen König Friedrich II., der Grundstein für die katholische St.-Hedwigs-Kathedrale gelegt, deren Einweihung für Anfang der 1750er Jahre geplant war. Kaum anzunehmen, dass Bach von diesem spektakulären Projekt keine Kenntnis hatte. Auch für die beiden anderen ›letzten‹ Werke gilt diese Verbindung von äußerem Anlass und autonomer Werkidee: das Musicalische Opfer (BWV 1079) und die Kunst der Fuge (BWV 1080) – allerdings nur vordergründig. Das erste entsteht nach Veranlassung und Widmung für den Preußenkönig Friedrich II. in Berlin, ist aber zugleich Gabe für eine gelehrte musikalische Gesellschaft, in der Bach Mitglied war. Auch das zweite ist mit ziemlicher Sicherheit für diese »Societät« bestimmt –, aber nicht nach äußerem ›Auftrag‹, sondern aus eigenem. Was ihm der neugierige Preußenkönig 1747, als der ›alte Bach‹ seinen Sohn Carl Philipp Emanuel, Hof-Cembalist des Königs besuchte, im Schloss Sanssouci zur Erprobung seiner Kunstfertigkeit als Improvisation aufgab, arbeitet er zu Hause in Leipzig professionell aus. Das Resultat ist eine exquisite Kammermusik über das königliche Thema. Sie besteht aus 16 Einzelsätzen verschiedener Gattungen: zwei Ricercare, neun Kanons, eine Fuga canonica und eine viersätzige Triosonate für Querflöte, Violine und Generalbass, denn der König spielte Flöte. Das Opus erschien 1747 auf Kosten Bachs als repräsentativer Druck, hat aber seither Musiker und Wissenschaft mit seiner Realisierung und Deutung beschäftigt. Denn die Sätze präsentieren sich dort als Reihung ohne erkennbare zyklische Ordnung und Angaben zur Besetzung sind spärlich: nur für den Canon 2: »a 2 Violin in Uniso-

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Zur verwickelten Kompositions-, Editions- und Aufführungsgeschichte vgl. W. Blankenburg, Einführung in Bachs h-moll-Messe, 3. Aufl., München u. Kassel, 1986.

no« und die Sonata – allerhand Rätsel, die zu den unterschiedlichsten Auslegungen geführt haben. Die neuere Bach-Forschung nimmt an, es handle sich um eine lose Sammlung von Exempeln Bach’scher Kompositionskunst über das Thema Regium in verschiedenen Gattungen, aus der für die musikalische Praxis je nach Bedarf ausgewählt werden könne. Als Besetzung dafür reklamiert man ›Clavier‹ für die beiden Ricercari und eine Triobesetzung für die Sonate. Nach dieser musikologischen Lesart waren die Kanons nur ein ›Füllsel‹ aufgrund drucktechnischer Gegebenheiten: »freier Raum war am Schluß beider Ricercari sowie der Sonata durch kleine kanonische Sätzchen leicht aufzufüllen« (Christoph Wolff).35 Andere Deutungen stellen das infrage. Denn es sei weder mit Bachs Ethos als eines in konzeptionellen Zusammenhängen Denkenden vereinbar noch mit der skurrilen Annahme, er wollte nur eine Art privates Quodlibet fabrizieren, in dem lose Versatzstücke zu einem Potpourri vereinigt wären. Außerdem entspricht es auch kaum dem Charakter ›letzter‹ Werke, noch dem der doppelten Bestimmung für einen klugen König und eine nicht weniger distinguierte gelehrte »Societät«, in der Bach Mitglied war. Für ein anderes, tieferes Verständnis des Werks liefert aber als Erstes die detaillierte Aufklärung der Quellenlage bedeutsame Hinweise.36 Demnach verrät die Struktur des Originaldrucks mit fünf auf drei Faszikel verteilte Druckeinheiten, deren Seitenfolgen, Nummerierungen und Symmetrien zusammen mit anderen Hinweisen in Zeichen und Nomenklatur Entscheidendes über ein beziehungsreiches Werkkonzept.

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Vgl. Chr. Wolff, Kritischer Bericht zur Edition: Kanons, Musikalisches Opfer, in: J. S. Bach, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, hg. v. Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen u. Bach-Archiv Leipzig, Bd. VIII/I, Kassel u. Leipzig 1976, S. 122. In der Edition erfolgt eine Reihung nach den drei Faszikeln des Originaldrucks mit einer neuen Nummerierung. Für eine »historisch nicht gerechtfertigte«, aber »vertretbare« Gesamtaufführung des Werks werden zwei verschiedene Vorschläge gemacht (S. IV f.). Für andere Anordnungen vgl.: A. Dörffel als Herausgeber in der Gesamtausgabe der Bachgesellschaft (Werke XXXI.2, Leipzig 1885); L. Landshoff (C. F. Peters, Leipzig 1937) oder eine symmetrische Anordnung der Kanons und des Ricercars um die Sonata als Symmetrieachse von H. Th. David (G. Schirmer, New York 1944) und K. H. Pillney (Breitkopf u. Härtel, Wiesbaden 1961) sowie modifiziert durch Umstellung sämtlicher Kanons von R. Gerber (Das Musikleben I, 1948).

36

Als erster hatte Christoph Wolff die Quellenlage detailliert aufgeklärt, zieht allerdings daraus keine Schlüsse für ein zyklisches Werkkonzept, vgl. Kritischer Bericht (1976) u. G. Butler, Eine neue Interpretation der Druckgeschichte des Musikalischen Opfers, in: Bach in Leipzig – Bach und Leipzig. Konferenzbericht Leipzig 2000, hg. v. U. Leisinger, Hildesheim, Zürich u. a. 2002 (= Leipziger Beiträge zur Bach-Forschung 5, hg. v. Bach-Archiv Leipzig).

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Hintergründiges und Beziehungsvolles Das beginnt mit dem seltsamen Titel, Opfer.37 Er wird verständlicher, erinnert man sich an seinen ursprünglichen sakralen Hintergrund, wie er im lateinischen Verb operari mit seinem kultischen Kontext «ein Opfer verrichten um der Gottheit zu dienen« erkennbar wird. Das Luther-Diktum: »Wir sollen geystlich opffern …« entspricht gleichem Verständnis. Der Zusammenhang scheint nicht nur im Hinblick auf Bachs lebenslange Bindung an das ›Sakrale‹ sinnvoll, sondern besonders in theologischer Hinsicht. Denn der König als Widmungsträger war auch Träger des Summespiskopats im Protestantismus, dem Amt des Landesherrn als oberster Bischof der jeweiligen evangelischen Landeskirche. Dieses landesherrliche Kirchenregiment währte noch bis zur Abdankung von Kaiser Wilhelm II., 1918. Die Sonata in c-Moll ist die deutlichste ›Opfergabe‹ für den Träger des Summespiskopats und gleichzeitig eine Hommage an den Flötenspieler. Ihre Satzfolge mit Langsam-Schnell-Langsam-Schnell folgt dem Muster einer Sonata da chiesa und weist damit auf den ›geistlichen‹ Opfertopos. Aber die weiteren, tieferen Hintergründe für Deutung und Bedeutung des Werks erschließen sich erst durch die Berücksichtigung des geistig-intellektuellen Umfelds von Friedrich II. sowie jener ›Gesellschaft‹, der das Werk gleichzeitig von Bach offeriert wurde. Der König nannte sich selbst »Philosophe de Sanssouci« und unterschrieb damit Dokumente (erstmals am 24. Juli 1747). Seit 1712 war er Mitglied einer Freimaurer-Loge und trug später aktiv zur Verbreitung des Freimaurertums in Preußen bei. Zu seinem Ruf als ›aufgeklärter‹ Herrscher passt seine erklärte Sympathie für das neue, kopernikanische Weltbild. Sein Freund Voltaire bezeichnet ihn brieflich bereits 1738 als »kopernikanischer Prinz«.38 In einem Brief (Nr. 212, Potsdam, 9. Oktober 1773) schreibt er ausdrücklich von den »kopernikanischen Wahrheiten«. Er sorgt auch für die Errichtung eines Mausoleums über dem Grab von Kopernikus und interessiert sich außerdem dediziert für ein Œuvre von Cicero, das gewisse Aspekte der antiken Kosmologie thematisiert, die im kopernikanisch-keplerschen Weltmodell weiter tradiert werden. Cicero äußert sich in seinen Tusculanae disputationes (1. Buch) und in seiner Schrift De legibus (2. Buch, Kapitel XV) nicht nur über den Rang der griechischen Musik und ihre Geltung als »höchstes Bildungsgut«, sondern auch über die wichtige Bedeutung der pythagoreischen Lehren.

37

Nachfolgende Darstellung folgt weitgehend der Untersuchung von Hans-Eberhard Dentler, der sich nicht nur akribisch mit den quellenkundlichen Details befasst, sondern auch umfassend und tiefgründig die historischen und geisteswissenschaftlichen Zusammenhänge verfolgt: Johann Sebastian Bachs »Musicalisches Opfer«. Musik als Abbild der Sphärenharmonie, Mainz, London u. a., 2008.

38

Voltaire – Friedrich der Große. Briefwechsel, hg. u. übersetzt v. H. Pleschinski, Revidierte Neuausgabe, München 2004, S. 114.

206

Eine mentale Verbindung dazu zeigt sich mit dem Auftrag des Königs an den ehemaligen Bach-Schüler Christoph Nichelmann, zweiter Cembalist am preußischen Hof neben C. Ph. E. Bach, Ciceros Somnium Scipionis zu vertonen. Die Aufführung erfolgte am 27. März 1746. Ciceros ›Traum des Scipio‹ aber enthält einen zentralen Satz hinsichtlich der musikalischen Repräsentation der »Sphärenmusik«: »dass gelehrte Männer« die von den Himmelsbahnen erzeugten Töne »mit Saiten und Stimmen nachgeahmt haben« (Cicero Somn. Scip., 18). Zwar liegt Ciceros Text als astronomische Analogie noch die ptolemäische Planetenordnung zugrunde wie sie auch der pythagoreischen Vorstellung entspricht. Wenn aber Kepler als prominenter Repräsentant des kopernikanischen, heliozentrischen Weltbildes mit sechs Planeten, die »pythagoreische Vernunft« oder die Ratio der »samischen Philosophie« wie er schreibt (Harmonices mundi, Liber V, S. 185) zur Grundlage seiner eigenen Forschungen erklärt, kommt auch in diesem Weltmodell eine Verbindung zwischen der alten »Sphärenmusik«, der Musica coelestis oder mundana und ihrem Reflex als tönende Proportionslehre in den Blick. Denn Kepler ist bekanntlich (siehe Kapitel IV), als ebenso pythagoreisch inspirierter wie wissenschaftlich operierender Vertreter des neuen, kopernikanischen Systems ein überzeugter Denker in den Analogien astronomischer und musikalischer Relationen. Allerdings muss dann in dieser musikalisch-kosmologischen Tradition noch für die Diskrepanz zwischen dem alten, ptolemäischen Weltbild und dem neuen, kopernikanisch-keplerschen eine rationale Lösung gefunden werden. Sein Modell dafür entwickelt Kepler im fünften Buch seiner »Weltharmonik«. Um die Bedeutung dieser Verbindungen für eine mögliche Deutungsperspektive des Musicalischen Opfers zu erschließen, bedarf es eines vertieften Blicks auf das mentale Umfeld Bachs.

Bach der Intellektuelle Seine Charakteristika werden konkret an Bachs Beziehungen zu wichtigen Protagonisten greifbar. An erster Stelle steht eine gelehrte ›Gesellschaft‹, in der er Mitglied war. Es ist die Correspondierende Societät der musicalischen Wissenschaften des Leipziger Philosophieprofessors und Bach-Schülers Lorenz Christoph Mizler, der er im Juni 1747, nach seinem Besuch in Potsdam, als vierzehntes Mitglied beitrat. Gegründet 1738, bestand sie wahrscheinlich bis 1761 und zählte auch Händel, Telemann, Gottfried Heinrich Stölzel und Carl Heinrich Graun zu ihren Mitgliedern. Mizler (1711–1778), der nach über 150-jähriger Pause der erste Universitätsdozent war, der in Leipzig über Musik las und die Musik in scholastischer Tradition als scientia, als Wissenschaft und Bestandteil der Philosophie verstand, war Klavier- und Kompositionsschüler von Bach und Johann Matthias Gesner. Dieser, später Philologieprofessor in Göttingen, war nicht nur befreundet mit Bach, sondern erwies sich als Thomasschuldirektor von 1730 bis 1734 immer wieder als

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dessen musikalischer Geistesverwandter. Er wohnte im selben Gebäude wie der Kantor Bach und schätzte ihn so hoch, dass er ihn als »Musiker« pries, der »den Orpheus mehrmals und den Arion zwanzigmal übertrifft«. Seine Vertrautheit mit der antiken Philosophie zeigt sich auf vielerlei Weise. So fügt er in die von ihm neu formulierten »Gesetze der Schule zu S. Thomae« unter § 7 in Teil II ein: »Wenn sie [die Thomaner] sich niedergelegt haben, so sollen sie, ehe sie noch einschlafen, andächtig beten, und darauf nach dem Exempel des Pythagoras alles wiederholen, was sie an dem gantzen Tage gehört, gesehen, oder selbst gethan haben …« Noch viel deutlicher werden die Verbindungen zu diesem Umfeld mit den Aktivitäten der Mizler’schen Societät, die vom Geist der pythagoreisch-platonischen Lehren geradezu durchtränkt ist. Bereits in den Gründungsstatuten formuliert Mizler diese Grundsätze als Verbindung von Ästhetik und Ethik, von musikalischer Ratio und Tugendlehre – mit ihrem höchsten Zweck: »zur Ehre Gottes«. Konkret realisiert wird dieses Programm dann öffentlich in der von ihm herausgegeben »Neu eröffneten musikalischen Bibliothek« und vertraulicher in den »Societäts-Packeten«, die regelmäßig zwischen den Mitgliedern zirkulierten. Die »Bibliothek« erscheint 18 Jahre lang, von 1736 bis 1754 und erweist sich geradezu als Fundus der antiken Musiktheorie mit ihrem Zentralgestirn Pythagoras. Mizler stellt dort systematisch alle einschlägigen Musiktheoretiker vor, von den Sammlungen der Quellschriften bei Marcus Meibom (1652) und John Wallis (1699) und der Pythagoras-Überlieferung seit Iamlichos bis zu ihren musikalischen Verbindungen in Keplers »Weltharmonik«, ferner zu Leibniz, Erhard Weigel und Robert Fludd. Auch Scipios Traum von Cicero wird in der »Musikalischen Bibliothek« mehrfach erwähnt (nach Dentler: Mus. Bibl. II, 3, S. 71und III, 2, S. 174 n und 3, S. 562). Briefe Mizlers, der ab 1743 am polnischen Hof in Warschau tätig war, dort zu »Mizler von Kolof« nobilitiert wurde, aber von da aus weiter »Societät« und »Bibliothek« leitete, erweisen ihn als überzeugten Anhänger des »vortrefflichen Keplers« und seiner Lehre. Sie offenbaren aber auch, wie vorsichtig man noch im Hinblick auf kirchliche und akademische Lehrmeinung mit einem öffentlichen Bekenntnis zum heliozentrischen Weltbild sein musste. Deshalb gehörte ›Verschwiegenheit‹ so zu den Gepflogenheiten der Gesellschaft, wie die Wahl eines Pseudonyms für die Mitglieder; bezeichnenderweise figurierte Mizler selbst unter »Pythagoras«. In den Sozietätspaketen geht es offenbar um konkrete musikalische Werke zu diesen Themen. Zwar sind diese Pakete sämtlich verloren, aber Hinweise auf ihre Inhalte, die nur die »Societät allein angehen«, lassen sich aus erhaltenen Briefen zwischen den Mitgliedern erschließen. Daraus erfahren wir etwa, dass im fünften Paket »der seel. Capellm. Bach eine dreyfache Kreisfuge mit sechs Stimmen zur Auflösung vorgeleget« hat. Dabei handelt es sich um den diffizilen Rätselkanon Canon triplex à 6 Voci (BWV 1076), welchen Bach in dem bekannten Porträt des Leipziger Ratsmalers Elias Gottlob Haußmann aus dem Jahr 1746 auf einem Notenblatt in der Hand hält.

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Über ein anderes ›Packet‹ informiert ein Brief Mizlers an Meinrad Spieß, den Prior des Benediktinerklosters Irsee. Dort ist die Rede von der »Fuge, die er vor dem König gespielt, erzählt, welche nächstens in Kupfer wird gestochen werden, u. in dem Packet der Soc. ein Exemplar zum Vorschein komme« (1.9.1747).39 Demnach ist anzunehmen, dass das Musicalische Opfer gleichzeitig die nach den Statuten der Sozietät gebotene Pflichtgabe Bachs für das Jahr 1749 war, nachdem als erste Jahresgabe das Orgelwerk Einige kanonische Veränderungen über Vom Himmel hoch da komm ich her (BWV 769) wahrscheinlich ist.40 Ein anderer Empfänger der Sozietätspakete und damit bestens informiert über die Beiträge Bachs, war der musikalische Favorit von Friedrich II, Carl Heinrich Graun. Er war »Ihro Königl. Majestät in Preussen Capellmeister« und seit 1746 Mitglied der »Societät«. Ein weiterer bedeutsamer Name, der zu diesem mentalen Umfeld zählt, ist der von Andreas Werckmeister. Sein musikalisches Denken, mit einer zu dieser Zeit singulären Präsenz pythagoreisch-platonischen Konzepte in seinen Schriften, ist mit klaren Bezügen zu Kepler verbunden. Es darf angenommen werden, dass Bach diese Schriften Werckmeisters »des bedeutendsten Musikgelehrten und –theoretiker gegen Ende des 17. Jahrhunderts« (Christoph Wolff) kannte, weil sie in engem Zusammenhang mit den akuten Problemen der musikalischen Temperatur standen. Bachs Verwendung von Werckmeisters Bezeichnung wohltemperiertes Clavier für sein eigenes Schlüsselwerk einer neuen, temperierten Stimmung liefert einen starken Beleg dafür. Das war das intellektuelle Umfeld und geistige Klima, in dem Bachs Spätwerk entstand. Es vertieft den Eindruck, der sich bereits aus Bachs häuslicher Bibliothek ergibt. Wie wir aus dem Nachlassverzeichnis und den Erbteilungen wissen, besaß er nicht nur eine umfangreiche Musikaliensammlung, sondern verfügte mit 81 Bänden von mindestens 52 Titeln und etwa 40 Autoren über eine Wissensbibliothek, die den Bestand vieler Bibliotheken von Kirchen und Pastoren übertraf.41 Zwar handelte es sich überwiegend um theologische Werke mit Schwergewicht auf den Schriften Luthers, aber es finden sich auch exotischere Werke wie die Predigten des Mystikers Johann Tauler, von Johann Olearius Haupt schlüßel der gantzen Heiligen Schrift, Flauji Josephi (Flavius Josepius) Geschichte der Jüden und Caspar Heunisch Haupt-Schlüssel über die hohe Offenbahrung S. Johannis. Rechnet man Bachs Kenntnisse aus dem Umgang mit Mizlers »Bibliothek« und den Protagonisten der »Societät« dazu, wird man kaum fehlgehen, bei ihm auch 39

Vgl. Bach Dokumente, hg. v. Bach-Archiv Leipzig. Supplement zu J. S. Bach, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. II, vorgelegt u. erläutert v. W. Neumann u. H. J. Schulze, Leipzig u. Kassel 1963, Nr. 557, S. 437 u. H.-E. Dentler (2008), S. 82–85.

40

Vgl. dazu H. G. Hoke (1979).

41

Vgl. Bach-Dokumente, Bd. II, S. 490 ff. sowie R. A. Leaver, Bachs theologische Bibliothek. Eine kritische Bibliographie, Neuhausen – Stuttgart 1983, S. 16–21.

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Kenntnis vom Gedankengut des Pythagoreers Kepler anzunehmen. Dann wäre die Begegnung mit dem kundigen »kopernikanischen Prinzen« (König Friedrich II.) eine Gelegenheit gewesen, aus diesem sympathetischen Geist heraus ein beziehungsreiches Werkkonzept zu entwerfen, das Bachs eigenem Wissen wie seiner Tiefgründigkeit entsprach. Deutet man das Musicalische Opfer unter diesem Aspekt als ein »Symbolum« (Hans-Eberhard Dentler), dann fällt auf Zweck und Anlage ein neues Licht.42 Danach könnte der Bauplan des Werks, wie er sich aus den Druckquellen strukturell ergibt, einer tradierten Ordnung musikalischer Genres folgen: der antiken, seit Boethius formulierten Sonderung: Musica humana (Faszikel 1) – Musica instrumentalis (Faszikel 2) – Musica mundana oder coelestis (Faszikel 3). Die von vielen Bach-Forschern vermutete Symmetrieachse läge dann zwischen Faszikel zwei und drei in der Triosonate, nach dem Canon perpetuus, welcher der Sonate als fünfter Satz zuzurechnen ist, weil der gleichen Druckeinheit von Faszikel 2 zugehörig. Innerhalb dieser Teile wären dann viele Entsprechungen zwischen den Kanons und Keplers kosmographisch-musikalischem Modell zu finden, wie er sie in seinen Harmonices mundi, Libri V, formuliert. Besonders bemerkenswert, die ausdrücklich vom König zweimal von Bach geforderte Ausführung einer »Fuga von sechs Stimmen«. Sie passt genau zu Keplers Aufforderung an die Komponisten, eine »sechsstimmige Partitur« oder »kunstgerechte Motette« als »Lobpreis« der »Gesamtharmonien aller sechs Planeten« (Harmonias universales omnium sex Planetarum) zu komponieren: »folgt mir, ihr Musiker von heute, und bildet euch selber ein Urteil nach euren Kunstregeln, die dem Altertum noch nicht bekannt waren« (Libri V, Kapitel VII, S. 208). Das fände schließlich in Bachs Ricercar. à 6. seine klingende symbolische Entsprechung. Zu weiteren Merkmalen gehören implizite Hinweise, die zu einer Dechiffrierung auffordern. Bereits die Verwendung des Begriffs Ricercar (von italienisch: ricercare, nachforschen) deutet es an, eindeutig aber der Eintrag »Quaerendo invenietis« (»Suchet, so werdet ihr finden«) bei Canon à 2 (in BWV 1079, Nr. 4 i). Das erinnert nicht nur an die pythagoreische Lehrmethode des Rätsels, sondern auch an Bachs Vorliebe für intrikate Rätselkanons, wie sie aus seiner Spätzeit belegt ist. Dazu kommen die Nummerierungen der Kanons, strukturelle Beziehungen zur arkanen Tetraktys und womöglich zu den fünf regulären »platonischen Körpern«, die auch bei Keplers Modell (in Libri V) eine Rolle spielen. Damit rücken Deutungsmöglichkeiten in den Blick, die das Musikalische Opfer als ein höchst hintergründiges Opus erkennbar werden lassen. Entstanden aus äußerem, royalen Anlass, dann ausgearbeitet als beziehungsreich strukturierter Werkzyklus, schließlich einer kenntnisreichen, deutlich pythagoreisch disponierten, aber ›verschwiegenen‹ Societät als intellektuelle Nachdenkgabe dargebracht, könnte es sich seinem inneren Bedeutungskonzept nach zuletzt als eine

42

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Dargestellt nach H.-E. Dentler (2008).

kunstgerecht verschlüsselte Hommage enthüllen: an die alte, große Metapher der »Sphärenmusik« als klingendes Sinnbild eines größeren kosmologischen Zusammenhangs – »Symbolum pythagoricum et cosmographicum« (Hans-Eberhard Dentler). Im gleichen geistigen Ambiente siedelt Bachs Kunst der Fuge. Sie wird oft als ›letztes Werk‹ bezeichnet, weil es unvollendet blieb, obwohl seine Anfänge wahrscheinlich bis auf die 1740er Jahre zurückgehen. Der Titel stammt nicht von Bachs Hand, sondern taucht erst bei der Fertigstellung der Stichvorlagen für den Erstdruck nach seinem Tod auf. Dieser von Carl Philipp Emanuel edierte Druck enthält 23 Nummern (ohne den Schlusschoral), in denen ein lapidares Grundthema in systematischen Steigerungen der kontrapunktischen Kombinationen wie ein Variationszyklus entwickelt wird. Es ist das vertraute monothematische Konzept der Werke aus Bachs letzten Jahren: wie in den Goldbergvariationen mit den anschließenden 14 Kanons im Handexemplar Bachs (BWV 1087), den Canonischen Veränderungen und schließlich im Musicalischen Opfer. Bereits das Thema zeigt den erfahrenen Entwerfer kontrapunktischer Kalküle – und den Meister musikalischer Bedeutungschiffren: zwölf Töne, eingeschlossen wie von begrenzenden Säulen vom Grundton d der Tonart, in der Mitte als Gegenkraft der Leitton cis, lapidar strukturiert durch die ersten vier Töne des d-Moll Dreiklangs mit dem Quintschritt als Markierung seiner Ecktöne, dann ausgeweitet zu einem zwischen cis und b eingezwängten dissonanten verminderten Septakkord – ein Spiel von Kraft und Gegenkraft, das nach der »Störung« durch den dissonanten Klang in ungleichen rhythmischen Schritten mit Viertel- und Achtelnoten die Bewegung staut, um im letzten Achtel zum d-Moll-Schluss abzusinken. Aber: Das Thema bleibt auch in seiner Umkehrung, also in der Inversion aller Intervalle in die entgegengesetzte Richtung in seiner klanglichen Struktur völlig unverändert, nur mit einem a als Schluss, der schwächeren Quinte des d-Moll-Dreiklangs. Daraus entsteht ein ebenso planvoll wie phantasievoll-musikantisch gestalteter Kosmos. Er wirkt wie eine Darstellung elementarer ›Ur‹-Möglichkeiten abendländischer Polyphonie als klingende Ratio und Essenz ihres Wesens – von den einen als abstraktes Kompendium oder lehrhaftes Schaustück verstanden, von anderen als bewegende Beschwörung einer gleichsam »archetypischen« Ausdruckswelt von rätselhafter, ja womöglich transzendenter Qualität empfunden. Das ›Rätselhafte‹ beginnt bereits im unaufgeklärten ›Planvollen‹ und kulminiert in fehlenden Besetzungs- und Tempoangaben sowie einer unterschiedlichen Reihenfolge der Sätze in den verschiedenen überlieferten Quellen. Der Plan der Druckfassung (Erstdruck um 1751, zweite Auflage, 1752) weist eine in fünf Stufen gesteigerte Verarbeitung eines lapidaren Themas auf: einfache Fugen, Gegenfugen, Fugen mit mehreren Themen, Spiegelfugen und Kanons. Die phantasievoll-musikantische Seite äußert sich im Variationsprinzip, den Metamorphosen des Themas, mit denen seine melodischen, rhythmischen und kontrapunktischen Valenzen ausgelotet werden bis zum Wechsel der Sätze in ihren rhythmischen Mustern, vom be-

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schwingten Duktus »in Stylo francese« bis zu chromatischer Schärfung und einer Verbindung von Diatonik und Chromatik. Aber es gibt auch eine handschriftliche Erstfassung Bachs, das »Berliner Autograph«.43 Sie enthält 15 nummerierte Sätze in Partiturnotation mit den alten Chorschlüsseln, ohne die erst im Druck hinzugefügten Bezeichnungen Contrapunctus und die Angabe »Fuga a 2. Clav« (bei BWV 1080, 18.1 und 2). Die nach den ersten acht Sätzen folgenden Fugen sind später, wahrscheinlich zwischen 1742 und 1746, nachgetragen. Dann gibt es drei lose, aber autographe Beilagen dazu, die zwischen 1747 und 1749 datiert werden (nach Yoshitake Kobayashi, 1988). Die erste diente als sogenannte Abklatschvorlage für den Kupferstich des Drucks und enthält eine andere Fassung des Augmentationskanons (BWV 1080, 14). Die zweite enthält Bearbeitungen der dreistimmigen Spiegelfugen (BWV 1080, 18,1 und 18,2) mit hinzukomponierter freier, vierter Stimme. Die dritte Beilage, heute datiert 1748–1749, enthält die unvollendete Schlussfuge (BWV 1080, 19), die in der Druckfassung als »Fuga a 3 Soggetti« bezeichnet ist. Bis zu Nr. 8 kann man also eine authentische Reihenfolge Bachs annehmen, vielleicht sogar bis Nr. 11 oder 12 (wie die Neue Bach-Ausgabe verfährt). Danach aber bleibt vieles unsicher. Die Forschung vermutet, dass Bach nach der Wiederaufnahme der Arbeit an dem Werk und dem Beginn einer offenbar ungeduldig betriebenen Drucklegung eine Neukonzeption vorgenommen hat: »…und einen anderen Grundplan« (wie es in einer unvollständigen Notiz für den Stecher auf einem an Beilage Nr. 3 angehefteten Zettel heißt). Sie führte zu einer veränderten Reihenfolge der Sätze, die Verdopplung der rhythmischen Werte mit Änderung der Taktmensuren und auch zu Neukompositionen. Deshalb versteht man inzwischen jede der beiden Quellen, Autograph und Druck, als je eigene Fassung (Christoph Wolff). Die Realisierung der Druckfassung wird durch allerhand Helfer vorgenommen, worunter vielleicht Bachs Sohn Johann Christian Friedrich ist sowie Schreiber und Kopisten aus seinem Schülerkreis mitwirken, vermutlich sogar der Stecher, Johann Heinrich Schübler. Aber zu einer Redaktion ›letzter Hand‹ durch Bach ist es offenbar nicht gekommen. Wir kennen nur die von Carl Philipp Emanuel herausgegebene, nach dem Tod seines Vaters 1750 komplettierte Druckfassung. Darin sind weder Irrtümer und Ergänzungen der Kopisten noch des Stechers nicht auszuschließen. Carl Philipp Emanuel fügt im Erstdruck dem Torso der Schlussfuge »um die Freunde seiner Muse schadlos zu halten«, den Choral Wenn wir in höchsten Nöten sein hinzu. Er ist eine Bearbeitung des Chorals Vor Deinen Thron tret’ ich hiermit, die Bach, bereits erblindet nach einer missglückten Staroperation, diktiert hatte. 1780 intensiviert der Bachsohn diese dramatische Schlussgeste noch durch seinen Eintrag in das unvollendete Kompositionsmanuskript der Schlussfuge (Beilage 3): »Über die43

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Mus. ms. autogr. Bach P 200, Staatsbibliothek Berlin, ediert von H. G. Hoke, J. S. Bach, Die Kunst der Fuge BWV 1080. Autograph. Originaldruck, Faksimile-Reihe Bachscher Werke und Schriftstücke, hg. v. Bach-Archiv Leipzig, Bd. 14, Leipzig 1979.

ser Fuge, wo der Name BACH im Contrasubjekt angebracht worden, ist der Verfaßer gestorben«.

Mythen und Mythos Das ist der Stoff für einen perfekten Mythos. Er bestimmt seit der späten Wiederentdeckung des Opus im Zeichen einer immer weiter wachsenden Geltung Bachs seine Wirkungsgeschichte. Es beginnt mit einem Aufsatz des blutjungen Berliner Mathematikstudenten Wolfgang Graeser im Bach-Jahrbuch 1924 und dessen Orchesterfassung des Werks, die 1927 von Thomaskantor Karl Straube in Leipzig aufgeführt wird. Der Eindruck war überwältigend: »Ein Gottesdienst« (nach Wolfgang Kolneder). Schon für das Jahr 1928 sind 20 weitere Aufführungen verzeichnet. Nach und nach entfaltet sich der Mythos auch bei Forschern, Musikern, Komponisten und Deutern als musikologische, hermeneutische und spekulative Herausforderung.44 Dort mutmaßt man weiter bis heute: Was war die Idee und Bestimmung des Werks? Ein musikalisches Kunstbuch, vielleicht nach direkten Vorbildern bei Johannes Theile oder der Clavierübung von Bachs Amtsvorgänger Johann Kuhnau? Oder ein bloßes ›Lesebuch‹ und demonstratives ›Schauwerk‹? Oder ein ›didaktisches Clavierwerk‹, gar ein ›instrumentales Gegenstück‹ zum vokalen der h-MollMesse? Vielleicht ein distinguiertes Lehrwerk als Vermächtnis, das letzte Exerzitium vergangener kontrapunktischen Künste als ludus tonalis eines Glasperlenspielers in einer Zeit, die musikalisch schon längst woanders war? Oder schließlich nur ein arkanes Donum für die Zunft der musikgelehrten ›Kenner‹, die Mitglieder der Mizlerschen Sozietät? War es überhaupt für eine Aufführung bestimmt ohne Titel, Besetzungsangaben, Tempobezeichnungen und Autorensignatur? Und wie geht man mit den Problemen in der Anordnung und den Änderungen zwischen Autograph und Druck samt ihren vielerlei Auslegungen um? Die Bach-Forschung konnte einiges klären, aber nichts davon verbindlich beantworten. Erkenntnisse ergaben sich zur Quellenlage und Chronologie und zur wahrscheinlichen Bestimmung des Werks als Bachs letzte, pflichtgemäße Jahresgabe für 1749 an die Mizler’sche Societät, bevor Bach mit Erreichen des 65. Lebensjahres von dieser Pflicht befreit war.45 44

W. Kolneder, Die Kunst der Fuge. Mythen des 20. Jahrhunderts, 4 Bde., Wilhelmshaven 1977 (= Taschenbücher zur Musikwissenschaft, hg. v. R. Schaal), S. 42–45.

45

Vgl. H. G. Hoke, Zu Johann Sebastian Bachs ›Die Kunst der Fuge‹, Beiheft zur Faksimile-Edition op. cit. 1979, S. 14 ff. sowie die neueren Editionen: Die Kunst der Fuge BWV 1080, Bd. I: Frühere Fassung. Erstausgabe, hg. v. Chr. Wolff, Frankfurt, Leipzig u. a. 1987; Band II: Spätere Fassung, Frankfurt, Leipzig u. a. 1987, sowie in der NBA, Serie VIII/2: Kunst der Fuge, Teilband I: Ausgabe nach dem Originaldruck, Teilband II: Ausgabe nach den autographen Quellen, beide hg. v. K. Hofmann, Kassel u. a. 1995 sowie den Kritischen Bericht dazu, hg. v. K. Hofmann, Kassel u. a. 1996.

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Offen bleiben aber viele Fragen nach einer authentischen Reihung der Sätze und der musikalischen Realisierung. Das spiegelt sich in der Rezeptions- und Aufführungsgeschichte mit einer Vielzahl von Editionen, einer Flut von musikwissenschaftlichen Untersuchungen und Instrumentierungen in allen nur möglichen Besetzungen. Hier erweist sich aber auch, noch nach über 200 Jahren, das besondere Format des Werks – jenseits aller Ratlosigkeit der Exegeten und dem Fleiß musikologischer Philologie und Theorie. Womöglich hätte Bach, wie oft zuvor, durch eine nüchterne »Vorrede« im Druck und die Redaktion einer Endfassung alles ›Rätselhafte‹ geklärt. Und mit der Vollendung der Schlussfuge zur (zweifellos beabsichtigten) Quadrupelfuge auch die mythische Signatur des tragisch Unvollendeten erledigt. So aber bleibt das ›Rätsel‹ als heuristische Signatur. Immerhin vermag sie uns die Sinne zu schärfen für das ›Format‹ des Werks. An ihm muss sich jede Bedeutungssuche messen. Denn ohne Frage entspricht es dem geistigen, kompositorischen und menschlichen Format Bachs. Das aber ist einmal gekennzeichnet von lebenslanger spiritueller Bindung im tiefsten Sinn von re-ligio, symbolisch manifest in den Signaturen seiner Partituren, wenn er sie mit »JJ« für »Jesu Juva« beginnt und mit »SDG« für »Soli Deo Gloria« beschließt, dann der kategorischen Bestimmung seiner Musik »zur höheren Ehre Gottes« zusammen mit der insistenten Leidenschaft, mit der in seinen Kantaten, Passionen, Messen und hunderten von Choralbearbeitungen das sakrosankte Kirchenlied als Gefäß spiritueller Gehalte beständig umkreist und kontempliert. Zum anderen, weil er das als beispielloser Meister des Komponierens mit allen Finessen seines Könnens unternimmt und damit die intellektuelle Seite dieses ›Formats‹ bestimmt. Dass er beides in seinem ganzen Œuvre in singulärer Weise vereint, gilt demnach auch für sein summum opus.

Musik an sich Deshalb reicht es nicht, dieses letzte Werk als bloßes Exempel virtuoser Fugentüftelei oder als weiteren Ausweis seiner Meisterschaft eines zünftigen Componere zu begreifen. Er gibt zwar den ›musikalischen Wissenschaften‹, was sie verlangen, aber auch hier gibt er jenem ›Geist‹, der das Numinose meint, was ihm frommt, also ›was Gottes‹ ist: als ein Re-legare aus einer Bewusstseinslage, die höheres Ingenium und tieferes Erlebnisbewusstsein vereint. Diesmal in letzter, musikalisch-quintessenzieller Form. Denn er entwickelt aus einer einfachen, lapidaren Keimzelle einen elaborierten Kosmos, der Grundqualitäten unserer Musik überhaupt demonstriert. Er betreibt gleichsam eine Art Kabbalistik musikalischer Rationen, mit der seine kontrapunktische Summa komplexer, aber sinnlich fassbarer Kombinatorik und Symmetrien zu einer Emanation von ›Musik an sich‹ wird. Von da aus erscheint das Werk als Erbe des alten Musikverständnisses abendländischer Tradition, eines Musikbegriffs, dessen rationaler Logos in der pythagoreisch-platonischen Ordnung liegt, dessen ›Sinn‹ sich aber über die sinnliche Wahrnehmung als Empfindungs-

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erfahrung dieser ›Ordnung‹ erschließt. Wie im Fall des Musikalischen Opfers gibt es allerhand konkrete Kennzeichen, die einer Deutung aus diesem Kontext entgegenkommen.46 Es beginnt mit der Tonart d-Moll, dem alten Dorisch, das Pythagoras über alle Tonarten stellte, umfasst eine Anzahl struktureller Merkmale wie Beziehungen zur dekadischen Tetraktys (1+2+3+4) und verschiedene numerische und symbolische Ordnungsanalogien in den Kanons und Spiegelfugen,47 weiterhin die eigenhändigen griechischen, nicht lateinischen Überschriften (wie »Canon in Hypodiapason«) sowie Notationseigenheiten, wie die einstimmige Notierung der Kanons als Symbol der pythagoreischen ›Eins-Lehre‹ samt der Anmerkung perpetuus als bezeichnendes Symbol des alten kosmologischen Topos einer ›unaufhörlichen‹ Sphärenmusik. Man kann das Werk nüchtern als ›Rätsel‹ infolge eines fatalen Mankos begreifen, nämlich seiner »Unvollendung« mit allen ihren Folgen. Will man es aber unter dem Aspekt einer pythagoreisch-platonischen Signatur verstehen: die fehlenden Titel-, Besetzungs- und Tempoangaben wie die kontrapunktischen Komplexionen als »anagogische« Chiffren einer bestimmten Ordnung, so wäre es aber möglicher46

Vgl. dazu wieder: H.-E. Dentler, L’Arte della fuga di Johann Sebastian Bach, Milano 2000, deutsch: Bachs »Kunst der Fuge«. Ein pythagoreisches Werk und seine Verwirklichung, Mainz, London u. a. 2004, dem die hier vorgenommene Deutung weitgehend verpflichtet ist. Zu anderen Verständnisansätzen unter ähnlichem Fokus, vgl. die Deutung aus anthroposophischer Sicht von E. Schwebsch, J. S. Bach und Die Kunst der Fuge, 3. Aufl., Stuttgart 1988; E. Bergel, Johann Sebastian Bach. Die Kunst der Fuge. Ihre geistige Grundlage im Zeichen der thematischen Bipolarität, Bonn 1980.

47

Über die möglichen Bezüge zu pythagoreischen Kontexten im Spätwerk hinaus, bleibt Bachs genereller Umgang mit Symmetrien und Zahlenrelationen, wie viele Satzanalysen zeigen, ein Thema von Forschung und Deutung. Das hat zu einem eigenen Spezialgebiet der Bach-Forschung als eine Art musikalischer ›Numerologie‹ seit Friedrich Smend geführt (Johann Sebastian Bachs Kirchenkantaten erläutert, Berlin 1947 sowie: J. S. Bach bei seinem Namen gerufen. Eine Noteninschrift und ihre Deutung, Kassel und Basel 1950); vgl. Th. Jakobi, Zur Deutung von Bachs Matthäuspassion, Stuttgart 1958; U. Meyer, Zum Problem der Zahlen in J. S. Bachs Werk, in: Musik und Kirche II (1979), S. 58–71 bis hin zu D. R. Hofstadter, Gödel, Escher, Bach: an Eternal Golden Braid, New York 1979. Zweifellos ist die Vorstellung absurd, Bach hätte eine Matthäus-Passion oder h-Moll-Messe durch Abzählen von Taktzahlen und rechnerischem Ausklügeln der Noten komponiert. Aber immerhin lassen sich viele der analytisch fassbaren diesbezüglichen Relationen kaum von der Hand weisen. Deshalb ist die Vermutung, Bach hätte bei seinem genialen Sensorium für die mathematisch-pythagoreische Seite der Musik, wie sie sich in seinem Ingenium für das gedankliche Vorauskalkül kombinatorischer und kontrapunktischer Möglichkeiten sowie auch seiner Vorliebe für Kanons äußert, eine Art unbewusst-intuitiven Gebrauch entsprechender ›Zahlenrelationen‹ gemacht, weit weniger absurd. Hilfreich für dessen Verständnis könnte das tiefsinnige Diktum von Leibniz sein, wonach Musik eine »unbewusste Rechenübung der Seele« sei. Im Übrigen gehörten solche numerologisch-gematrischen Beziehungskonzepte zum selbstverständlichen kulturellen Wissensbestand der Barockzeit. Bach hat davon zweifellos Kenntnis gehabt, nicht zuletzt auch durch mindesten zwei Bücher in seiner Bibliothek, Johannes Müller, Jüdaismus oder Jüdentum…, Hamburg 1707 und Caspar Heunisch Haupt-Schlüssel über die hohe Offenbahrung S. Johannis/ Welcher durch Erklärung aller und jeder Zahlen/ die dar-innen vorkommen …, Schleusingen 1684; vgl. Bach-Dokumente, Bd. II (1963) u. hier, Anm. 41.

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weise ebenso als Symbolum (Hans-Eberhard Dentler) zu verstehen wie das ›Musikalische Opfer‹ – nur verdichtet zum autonomen Konzentrat. Immerhin fungierte das ›Rätsel‹ in der Schule des Pythagoras, wie uns überliefert ist, als bewusste Lehrmethode und diente nicht zuletzt dazu, arkane Inhalte für Uneingeweihte zu verschleiern. Auch der Mizler’schen Societät hat man den Charakter einer »höchst reservierten Gesellschaft« bescheinigt (Alfredo Basso, 2003; Hans-Eberhard Dentler, 2004 und 2008). Bemerkenswerterweise beschließt Mizler den letzten Band seiner Musikalischen Bibliothek, 1754, mit dem Abdruck von Bachs Rätselkanon aus dem Gemälde von Haußmann (BWV 1076) – unaufgelöst und unkommentiert. Eine letzte musikalische Geste Bachs, die zum besonderen ›Format‹ des Werks gehört, ist schließlich die Einschreibung seines Namens. Sie erfolgt nicht als Autorenvermerk, sondern musikalisch, als erklingende Chiffre B-A-C-H. Man kann sie als klingendes ›Zunftzeichen‹ verstehen, wie die versteckten Konterfeis von Malern in vielen Gemälden des Mittelalters und der Renaissance. Man kann sie aber auch als tiefgründige Metapher lesen. Bach verbindet sein menschliches, komponierendes Subjektives, das sich durch seinen Namen bemerkenswerterweise in Tonstufen ausdrücken lässt, mit jenem transzendenten Übersubjektiven, für das die pythagoreisch-platonische Musikordnung steht. Vorbereitet in der Chromatik von Contrapunctus drei, wo die Figur als Kontrasubjekt gewissermaßen im Schattenwurf C-H-B-A auftaucht, dringt sie mehr und mehr, quasi osmotisch in den Satz ein, vor allem erkennbar in Contrapunctus acht und elf, bis sie schließlich zum unverhüllten BACH-Motiv in der letzten Fuge wird. Es ist die ganz persönliche Einschreibung in einen objektiven musikalischen ›Tempelbau‹ von der cartesianischen Strukturkraft abendländischer Musikratio, in die sich Bach hier demütig, nämlich als drittes Thema, unauffällig nach einen Quartvorhalt (g-c) im Tenor, in das Gefüge dieser größeren, höheren Ordnung einfügt. Das erinnert an die musikalische ars moriendi wie sie in den Sterbemusiken vieler Meister von Mittelalter und Renaissance ihren Ausdruck fand. Dieser ›Ordnung‹ aber galt Bachs kompositorisches Ingenium und seine lebenslange Verpflichtung – im ›Äußerlichen‹ wie im ›Innerlichen‹. Für den Menschen unserer Moderne ist solche ›Verpflichtung‹ aus der Bewusstseinslage eines Johann Sebastian Bach nur noch schwer fassbar. Denn sie verdankt sich einer Identität der Persönlichkeit, wo sich Ästhetik und Ethik, Handwerkskönnen mit numinoser Bindung, äußere Anlasspflicht und systematische ›Lehrhaftigkeit‹ zur Einheit verbinden. Ihre Strahlkraft eines integralen ›Einheitsbewusstseins‹ offenbart sich ein letztes Mal in seinem letzten Opus. In der äußeren Erscheinung einer ›kontrapunktischen Summe‹ birgt sich Bachs innere Anschauung eines Numinosen, wie es Gestalt aus seinem musikalischen Erleben fand und wie es uns von da aus wieder zugänglich wird: Bach fabuliert nicht mehr phantasievoll, er ›erzählt‹ nicht mehr vorgegebenes Narrativ affektiv oder rhetorisch, sondern er meditiert quasi mit der ›heiligen Mathesis‹ sub specie aeternitatis. Damit fasst er das Numinose über den Logos musikalischer Ratio als Aisthesis. Die Kunst der Fuge ist eine

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musikalische Meditationsübung aus pythagoreisch-platonischem Geist, in der eine andere ›Wirklichkeit‹ auftönt. Alle dafür empfindungsfähigen Geister haben das immer gespürt und jenseits aller äußeren, erklärbaren Befunde als etwas ›Unerklärliches‹ empfunden: ein Rätselhaftes jenseits äußerer Unvollendung oder intellektueller Grübelei, als eine geheime Seelenkabbalistik, die allen jenen rätselhaft bleibt, deren Empfindungsvermögen nicht dorthin reicht. »Bach entdeckte sich in der Menschheit und durch ein Gefühl, das größer war als er selbst, und deshalb erkennt die Menschheit in Bachs Musik etwas wieder, das größer ist als sie selbst. Vielleicht kann man sagen, dass Beethoven, Schumann und die anderen Romantiker alle ihr eigen Fleisch und Blut zum Ausdruck gebracht haben. Bach steht eine Stufe über dieser Art von Ausdruck, und in diesem Maße ist er ebenso ein Symbol des Göttlichen wie sein Gott« empfindet es der große Geiger und Humanist Yehudi Menuhin (Variationen, 1979, S. 77). Wilhelm Furtwängler spricht »von einem Geist, der diese Bachschen Chöre, diese Fugen gebaut hat … wie der waltende Weltgeist, der Weltbaumeister selber …« und attestiert Bach »Die enge Verbundenheit mit dem Höchsten in sich …« (Ton und Wort, 1994, S. 217 u. 220). Die bedeutende tschechische Cembalistin Zuzana Růžičková bekennt: »Bach hat mir gezeigt, dass es etwas gibt, das uns transzendiert … es gibt etwas, das über dir ist, eine Ordnung.« »Mathematik des Kosmos« nennt es der Dichter Richard Benz. Ein großer indischer Dichter und Weltweiser (Rabindranath Tagore, Nobelpreisträger 1913) sagt es lapidarer: »Bachs Musik spricht von Gott«.48 »Alles erwogen, was gegen ihn zeugen könne, ist dieser Leipziger Kantor eine Erscheinung Gottes: Klar, doch unerklärbar« (Zelter an Goethe).

Georg Friedrich Händel: »Il caro Sassone« Im Unterschied zu Bach war Händels Musik nie vergessen. Obwohl die zwei musikalischen Genies nur an die 40 Kilometer voneinander entfernt im gleichen Jahr geboren wurden, fast im selben Monat, verlief ihr Lebenslauf völlig verschieden. Während Bach über seinen thüringisch-sächsischen Lebensraum, wo er über drei

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Das gleiche Urteil vertieft eine Bemerkung von Bô Yin Râ, wenn er im Zusammenhang mit den Inhalten seiner eigenen Bilder, die intregraler Teil seines geistlichen Lehrwerk sind, sagt: »Ich möchte aus eigener Erfahrungsbestätigung fast mit Sicherheit annehmen, daß unter den Musikern: Johann Sebastian Bach innerlich das gleiche geistige Erleben irgendwie in sich erfahren haben müsse, so daß er in Tönen darzustellen sucht, was ich der Farbe nach wiederzugeben strebe«. Für das tiefere Verständnis dieses Vorgangs folgt der Hinweis: »Hier ist zur Verständigung ja nicht ein Abmessen ganz inkommensurabler künstlerischer Kapazität vonnöten, sondern nur die Erkenntnis, daß meine Bilder ebenso Vorhandenem in der Seele begegnen, wie eine Bach’sche Fuge, die ja auch von Dingen erzählt, von denen nur die Seele weiß …«, in: Aus meiner Malerwerkstatt, Basel 1932, S. 53 u. 63 (Siehe auch Kapitel XI).

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Generationen quasi genetisch eingewurzelt war, kaum hinausgekommen ist, zog es Händel bald davon weg. Beide begannen zwar als Organisten in ihren Provinzen. Aber Händel ging bald nach Hamburg, dann nach Italien und Hannover und zeigt so frühe Weltläufigkeit. Die ließ ihn schließlich in der Weltmetropole London zum Opernunternehmer und Darling der englischen High Society werden. In vielen seiner über 40 Opern saßen die Royals samt der Aristokratie einer Weltmacht. Der Hof schätze ihn so, dass er auch Music-Master von drei Prinzessinnen war. Dazu kamen die spektakulären Auftragskompositionen, die großen Festmusiken von den Wasser- und Feuerwerksspektakeln bis zu Krönungs-, Friedens- und Trauermusiken. Mit seinen Oratorien, allen voran dem Messias, avancierte er zu einer Art englischem Nationalkomponist. Bei dessen Halleluja erhob sich das Publikum im Konzertsaal wie zu einer Nationalhymne. Und nicht nur spektakuläre englische Händelfeste feierten seinen Ruhm, sondern bald auch deutsche: in Berlin und Leipzig 1786 und in Breslau 1788. Verbunden damit war eine enorme Wirkung auf die deutschen Sängerbünde und Singakademien und die »Wiener Klassiker« Haydn, Mozart und Beethoven. Joseph Haydn fasste unter dem Eindruck des Messiah und Israel in Egypt den Plan für sein Oratorium Die Schöpfung. Das aber wurde auf dem Kontinent Kristallisationskern einer musikalischen Festkultur des 19. Jahrhunderts, auf dem noch unser moderner Festspielgedanke gründet. Die erste Aufführung im Wiener Burgtheater 1799 zündete ein Begeisterungsfeuer, das schnell ausstrahlte. Nach weiteren Aufführungen in Zürich (1801), Winterthur (1803) und Aarau (1807) griff es schnell auf Deutschland und das übrige Europa über. 1810 wurden die Thüringer und Niederrheinischen Musikfeste gegründet, 1826 die Feste der Elbprovinzen und 1829 der Niederländische Musikverein, der die großen Musikfeste in Den Haag, Amsterdam und Rotterdam veranstaltete. Händels Opern hingegen, Metier seines ersten, höchsten Ruhmes, verschwanden schnell von den Bühnen. Denn ihr Glanz hing zu sehr vom Hype um die gefeierten italienischen Sängerdiven und illustren Kastratenstars mit ihren astronomischen Honoraren ab. Aber seine Oratorien sind Beispiel einer ›kontinuierlichen Aufführungstradition‹, wie sie die Musikwissenschaft von einer ›diskontinuierlichen‹ von Bachs Musik unterscheidet. Erst am Ende ihres Lebens scheinen wieder tragische Ähnlichkeiten zwischen den beiden musikalischen Sternen auf: Beide erblinden an Augenleiden und begeben sich beim gleichen berühmten Augenchirurgen John Taylor erfolglos unters Messer. Aber Händel erhält ein Prunkbegräbnis in Westminster Abbey, an dem an die 3000 Personen und die Society teilnahmen. Dazu gab es eine Begräbnismusik der Chapel Royal mit den Chören der Abbey und der St. Paul’s Cathedral samt einem Denkmal. Das Grab von Bach hingegen im Leipziger Johannisfriedhof war schon 30 Jahre später nicht mehr auffindbar – weil es einer Straße weichen musste. Dass sich eine so unterschiedliche Rezeptionsgeschichte einst zu jenem olympischen Dioskurenpaar der Barockmusik formieren würde, das wir heute bewun-

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dern, war nicht zu erwarten. Diese Wahrnehmung ist eine Leistung des Historismus und der Musikforschung. Zuerst spielte für die Wiederentdeckung Bachs mit Matthäus-Passion und h-Moll-Messe eine an Händel orientierte Chorbegeisterung des sangestrunkenen Bürgertums eine zentrale Rolle. Deshalb orientierte sich die frühe Aufführungspraxis von Bachs Werk mit den großen Besetzungen des romantischen Orchesters und einer opulenten Instrumentierung durch die sogenannten Zusatzbegleitungen an der etablierten, monumentalen Händelpraxis. Sie prägte auch die ersten Bearbeitungen durch Mozart und im Wiener Kreis um Gottfried van Swieten. Dann aber kehrte sich mit der aufblühenden Bach-Renaissance die erste Rezeptionsgeschichte von beiden zunächst um. Erst mit der wachsenden Kenntnis von beider Œuvre trat das große und gleichwertige Format der beiden als Granden des gleichen Musikidioms immer deutlicher ins öffentliche Bewusstsein. »Händel ist der unerreichte Meister! Geht hin und lernt, mit wenigen Mitteln so große Wirkungen hervorzubringen«, rühmt ihn bereits Beethoven. Vom »ersten deutschen Klassiker« spricht der Musikschriftsteller Romain Rolland. Als historistisches Finale werden dann seit der »Göttinger Händel-Renaissance« in den 1920er Jahren auch Händels Opern nach und nach für die Bühne wiederentdeckt. Zum gemeinsamen ›Format‹ von Bach und Händel zählt als erstes ihre ›barocke‹ Universalität im Werk.49 Das Schwergewicht von Händels Œuvre liegt zwar bei seinen 42 Opern und 25 (erhaltenen) Oratorien. Aber er ist, wie Bach, ein Könner in allen Gattungen. Er komponiert deutsche und italienische Kantaten, aber auch Instrumental- und Kammermusik, von der spektakulären »Wasser«- und der »Feuerwerks-Musik«, den 18 Anthems für das Königshaus bis zu Flöten-, Violin- und Triosonaten und Oboenkonzerten. Für die Tastenmusik stehen seine Sammlungen von Cembalosuiten von 1720 (HWV 426–433), wo er sich auch als Meister der alten Variationskünste über einem Basso ostinato zeigt, wie in den Chaconnen (GDur, HWV 435, g-moll, HWV 448 und 486). Die Orgelkonzerte op. 4 und op. 7 sind Concerti grossi mit der Orgel als konzertierendes Soloinstrument und rechnen mit Händel als improvisierenden Virtuosen. Denn ihre Funktion war eine Pausenmusik in seinen Opern: »Organo ad libitum« steht über vielen thematischen Andeutungen. Das ist jene Art Work in progress, die wieder den charakteristischen Werkbegriff des Generalbasszeitalters zeigt. In Hamburg, wo Händel von 1703 bis 1705 bei Reinhard Kaiser, der von den Zeitgenossen als »größter Opernkomponist der Welt« apostrophiert wird, eine Art Lehrjahre absolviert, schreibt er vier deutschsprachige Opern und hat mit Almira, 1705, seinen ersten Erfolg. Dann kommen die entscheidenden Begegnungen in Italien. In Florenz inspiriert ihn Alessandro Scarlatti zu Kammerkantaten im italienischen Opernstil, in Rom die Kunstakademie Arcadio für die pastorale Sphäre und

49

Vgl. Händel-Werke-Verzeichnis (HWV), hg. v. B. Baselt, Leipzig 1978–1986 und HändelHandbuch, 4 Bde., Leipzig 1978–2008.

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sein Werk La Resurrezione. Im Operndorado Neapel wird er zu seiner L’Agrippina angeregt, die dann in Venedig 1709 uraufgeführt wurde. Seine Londoner Opernakademien eröffnet er 1720 mit Radamisto und führt dort die italienische opera seria durch psychologische Vertiefung und dramatische Verdichtung zu einem Rang, der weit über die Routine der Gattung hinausgeht.

Zwei Potenziale: Vokale Chormacht und erhabenes Melos Händels Spätzeit bestimmen nach seiner letzten Oper Deidamia (HWV 42) von 1741 die Oratorien. Hier wird der Operndramatiker zum Dramaturgen der Chöre. Händel übernimmt die gewachsene Chortradition des englischen Cathedral Choir, aber führt sie zu einem Höhepunkt ganz eigener Charakteristik. Trotz vieler biblischer Topoi folgt er darin anderen Vorstellungen als Bach. Er befreit den Chor aus den traditionellen Schemata der Gattung. In Bachs Passion ist die Funktion der Chöre weitgehend traditionell festgelegt: Sie repräsentieren die Reden der Jünger oder Juden in den Turbae, dienen in Form von Rahmenstücken als dramaturgische Klammern, formulieren als Choräle kontemplativ oder reflektierend Gefühle und Kommentare der Gemeinde. Händel hingegen setzt den Chor als eine dramaturgische Kraft ein, die maßgeblichen Anteil am Handlungsgeschehen hat. Dabei bedient er sich selten der polyphonen und thematischen Arbeit, wie Bach sie etwa in den Eingangschören von Matthäus- und Johannespassion verwendet. Dort ist der tiefsinnige Chor »O Mensch, bewein dein Sünde groß« eine grüblerisch-meditative Umkreisung eines musikalischen Gedankens, die sich als große Choralpartita entfaltet. Händel hingegen setzt auf die prägnanten Konturen homophoner Akkordblöcke, auf die Strahlkraft eines massiven Unisono und die Wucht des Lapidaren. Vielfach erweist sich dabei ein Wort, ein Name, als Auslöser und Evokationsmittel des Musikalischen: Anders als bei Bach geht es ihm weniger um die ›Poetik‹ symbolisch-hermeneutischer Exegese, sondern vor allem um die Sprachgestalt in ihrer deklamatorischen Kraft. Prägnante Wortblöcke im Messiah wie: Wonderful, Counsellor oder The mighty God und schließlich das krönende Halleluja formt er zu Klangchiffren von affirmativer Macht, zu Akklamationen von suggestivem Pathos. Sogar das strengste Konzentrat der Polyphonie, die Fuge verwandelt er in deklamatorische Homophonie, wie in der Amen-Fuge als Schlussjubilus des Messias. Damit wird der Chor nicht nur Träger einer Idee, sondern zu einer Art »Symbol der Volksmajestät« (Hans Georg Nägeli). Seine vokale Macht entzündet den Enthusiasmus eines sangestrunkenen Bürgertums, der auch die Rezeption von Bachs Matthäus-Passion und der h-Moll-Messe oder Haydns Schöpfung so nachhaltig begünstigt hatte. Eine andere wesentliche Wirkungsgröße von Händels Musik ist das Melos. Der Adel seiner Melodien wurde schon von den Zeitgenossen gerühmt. John Main-

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waring, Verfasser der ersten Händel-Biographie, pries 1709 anlässlich der ersten Aufführung von Agrippina, »daß Händel sich die zärtliche und schöne Melodie der Italiener angeeignet habe«, allerdings »vertieft durch größere Züge des Ausdrucks und die Größe und Hoheit seines Stils«. Auch die Nachwelt stimmte begeistert in diese Laudatio ein. Romain Rolland, früher Händel-Enthusiast des 20. Jahrhunderts, meinte: »Kein Deutscher hat die Schönheit seiner melodischen Linie übertroffen, nur Mozart und Hasse haben sie erreicht.« Aber auch hier zeigt sich in der Differenz zu Bach eine komplementäre Bedeutungsebene ›barocker‹ Musik. Händels Ingenium für das Melodische ist unzweifelhaft von seinen Erfahrungen in Italien 1706 bis 1710 geprägt. Auch Bach stellt seine melodische Erfindungsgabe vielfach unter Beweis, von den beseelten Arien in seinen Kantaten und Passionen bis zum bekannten »Air« der Orchestersuite CDur oder in den tiefsinnigen langsamen Sätzen seiner Violinkonzerte. Aber öfter noch verläuft Bachs Begegnung mit der Melodie ganz anders. Da macht sie der polyphone Musikmeister zur Matrix höchst komplexer Satzstrukturen, nimmt sie als Auslöser für kontrapunktische Verarbeitung, zahlenmystische Symmetrien und arkane Linienkünste. Wie er mit den einfachsten melodischen Elementen und Melodien einen bewundernswerten Kosmos komplexer ›Satzbauten‹ errichtet, zeigen nicht nur die variativen Verarbeitungen von den Goldberg- bis zu seinen ChoralVariationen oder die Chorsätze der Kantaten mit ihren raffinierten Montagetechniken. Die einstimmige Melodie wird gewissermaßen ins Vieldimensionale des Mehrstimmigen potenziert und mannigfaltig reflektiert. Kaum ein Thema ohne Gegenthema, selten eine Melodie ohne Kontrapunkt. Der musikalische Baumeister Bach verwandelt in komplexe, klingende Räumlichkeit, was vorher bloße lineare Melodiegestalt war. Händel hingegen bekennt sich zur lapidaren Macht des reinen Melos. Damit macht er die Essenz der musikalischen Italianità zum Prädikat seiner melodischen Erfindung. Immer wieder greift er bestimmte Melodieerfindungen auf und entwickelt sie weiter in ihren Möglichkeiten, ohne sie polyphon zu brechen. Damit gelingen ihm Melodiegestalten wie »Dolce amor che mi consola« aus Rodrigo oder das viel berühmtere »Ombra mai fu« (»Nie war der Schatten lieblicher«), das berührende Larghetto aus Serse als ein Höhepunkt aller Melos-Erscheinungen. Solcher Rang erhellt paradigmatisch etwas vom tiefsten Wesen von ›Melodie‹ schlechthin (siehe auch in Kapitel XI dazu). Es entzieht sich zwar leicht dem Analytischen wie Sprachlichen, aber dafür ›sprechen‹ ihre Schicksale und Potenziale als eine unvergängliche, melodischen Gestalt. Unter dem Titel Largo hat es nach Händel eine eigene Karriere in der Musikgeschichte mit einer unüberschaubaren Zahl von Arrangements bis heute gemacht, von der beliebten Klangkulisse bei Hochzeiten und Taufen bis zum ergreifenden Sentiment bei Begräbnissen. Aber bereits vor Händel erweist sich diese Melodie als Träger einer bemerkenswerten Geschichte von Aneignungen und Verwandlungen. Sie beginnt szenisch bei den Historien von Herodot, an denen sich musikalisch die Serse-Opern von Cavalli, 1654, und Giovanni Bononcini, 1694, inspirieren.

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Händel leiht sich von ihnen den melodischen Einfall, wandelt ihn aber ab zu einer Art von Melopöie, mit der er das Tiefenpotenzial eines großen europäischen Topos einfängt: Arkadien. Hier lebt die untergründige Schicht des ›Pastoralen‹ weiter mit ihrem antiken Hintergrund von Vergils »Goldenem Zeitalter« (aus dem achten Buch seiner Aeneis) – ein idyllisches Traumbild des höfischen Europa seit der Renaissance, das es in seinen bukolischen Szenen von Schäfern und Nymphen weiterpflegt.50 Auch bei Händel klingt das Genre etwa in Acis und Galathea an (»O, pleasures of the plains«) und noch Torquato Tasso lässt sich in seiner Dichtung Aminta davon inspirieren. Die ›Schäferspiele‹ vieler späterer Opern bewahren diesen Topos in der Schwundstufe frivoler amouröser Tändeleien, wo sich schließlich Naivität in Laszivität, Arkadien in den Schlosspark und der mythische Pan in den adeligen Bock verwandeln. Händels Melos aber bewahrt den erhabenen Adel des alten antiken Quellgrundes aus seinem eigenen aristokratischen Geist mit dem Format persönlichen Noblesse. Sie aber ist Ausdruck eines Ethos, einer seelischen Haltung, die nicht weniger spiritueller Tiefe entspringt wie die von Bach. Schon in Händels Opern steckt im Kern eines äußeren Aktionsdramas immer auch ein moralisches Dilemma: der Umgang der Protagonisten mit ihren Leidenschaften und Anfechtungen und ihre Überwindung in der Katharsis, die Standhaftigkeit einer Seele. Dabei fallen die vielen Frauengestalten auf, die Händel als heldische Figuren gestaltet (Esther, Deborah, Athalia, Semele, Susanna, Theodora): der Rang des Weiblichen und die Personifizierungen der Anima als bevorzugte Protagonisten des Ethos. Damit werden seine Opern mehr zu Psychodramen exemplarischer antiker Größe als zu akzidentellen Aktionsspektakeln. Dass er damit auch das soziale Ethos seiner Zeit bedient, macht sie zu einer Art Tugendspiegel der zeitgenössischen englischen Gesellschaftsideale (des Civic order): die Verbindung von Gottesund Vaterlandsliebe als staatstragendes Amalgam – zweifellos ein bedeutsamer Teil seines Erfolges. Auch als die italienische opera seria als bevorzugte Kunstform der aristokratischen Gesellschaft Londons abdankt und Händel zur bürgerlichen englischen Volkskunst des Oratoriums greift, bleibt seine ›aristokratische‹ Haltung in der Musik die gleiche. Auch dort gestaltet er mit Andacht und spiritueller Tiefe das Recitativo accompagnato als Malerei von Seelenzuständen. Sie durchdringt alle dramatischen Affekte mit jenem spirituellen Ethos, das in seiner Ausdruckstiefe gleiches Format besitzt wie das von Bach. Zwar bedient er sich dramaturgisch nicht der lutherisch-protestantischen Topoi, sondern der des Alten Testaments. Er meditiert auch nicht mystisch-kontemplativ in jenen mentalen Bezirken, die Bach besonders in seinen Choralbearbeitungen und im Spätwerk durchstreift. Aber er bekennt sich 50

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Zu den verschiedenen Stadien der Verwandlung vgl. H. S. Powers, Il Serse trasformato, in: Musical Quarterly 47 (1961), S. 481– 492 u. 48 (1962), S. 73–92, sowie: W. Osthoff, Händels »Largo« als Musik des Goldenen Zeitalters, in: AfMw 30 (1973), S. 177 u. 185–189.

zur gleichen geistigen Welt. Wenn er im Messias das Bekenntnis »Ich weiß, dass mein Erlöser lebt« so emphatisch wie nachdrücklich musikalisiert, dann knüpft er an das bedeutsame Christuswort an: »Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende« (Matthäus 28,20b). Das gleiche Bekenntnis ist aber auch der Titel einer lange Bach zugeschrieben Kantate zum ersten Osterfesttag (BWV 160), inzwischen allerdings für Telemann reklamiert, immerhin aber von Bach bearbeitet.51 Als ein Lord in seinem Publikum bei der Londoner Messias-Aufführung 1743 die »edle Unterhaltung« lobte, entgegnete Händel: »Ich würde bedauern, wenn ich meine Zuhörer nur unterhalten hätte, ich wünschte sie besser (zu besseren Menschen) zu machen«. Wenn er aber in seinen Opern-Finales mit dem Lieto fine, dem »glücklichen Ende« die Apotheose dieses Ethos feiert, dann bedient er nicht nur die traditionelle Konvention der italienischen opera seria, die versöhnliche Schlussgeste einer dramaturgischen Friedensstiftung nach den Kämpfen und Turbulenzen der Bühnenhandlung mit der Beruhigung der Affekte. Es ist der Sieg des Guten als eine moralische Kategorie. Vinto è sol della virtu …: »Besiegt durch Tugend allein, der schändliche Neid der Leidenschaften …« wie es in der Schlussstrophe seiner turbulenten Londoner Debut-Oper Rinaldo heißt. Was die Moderne aus ihrem existenzialistischen Weltgefühl als moralisierendes Pathos eher befremdet, höchstens noch als eine ›Gattungskonvention‹ toleriert, beglaubigt Händels Musik aber als musikalische Wirklichkeit. Als seelische Wahrheit wird sie hinter Szene und Bühnennarrativ erfahrbar: Emphatisch ausgedrückt ist es die ›Heiligung der Oper‹ – das gleiche Ethos, wie später bei Mozart. Damit ist sie, wie bei aller großen Musik, Erinnerung an ein Urbild musikalischen Wesens: einer Abkunft aus einer »hohen Ursprungssphäre« (Bruno Walter)52 und damit auch Erinnerung an einen Seinszustand anderer ›Ordnung‹, genau wie es auch in Bachs Werk höchsten Ausdruck findet.

51

Nach A. Dürr, in: Bach Jahrbuch 39 (1951/52), S. 35 u. Studien über die frühen Kantaten Johann Sebastian Bachs, Leipzig 1951, S. 196 ff.

52

B. Walter, Von der Musik und vom Musizieren, Frankfurt a. M. 1957, S. 15.

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VI Die Erfindung der Ästhetik oder: die steile Karriere des Kunst-Denkens Die Musik, die Bach in seinem Todesjahr 1750 schrieb, war auch ein Vermächtnis. Von jedem profanen Geschmack war sie so weit weg wie vom aktuellen musikalischen Zeitgeist. Der gefiel sich vor allem in der Abwendung von jenem Erbe, das bei Bach seine letzte Apotheose erlebt hatte. Aber dafür entdeckte er intellektuell etwas Neues im Umgang mit solchen Erbschaften: er wollte sie unter Kategorien eines rationalen Denkens ›Verstehen‹. Es war schließlich der Zeitgeist der ›Aufklärung‹, und man suchte nach einer denkerischen Legitimation der besonderen Tätigkeit des menschlichen Geistes, wie sie sich in Kunst und Musik manifestierte. Denn im selben Jahr, 1750, erschien ein philosophisches Werk: die Aesthetica von Alexander Gottlieb Baumgarten. Sie brachte etwas auf einen Reflexionsbegriff, das es als Realität natürlich schon längst gab. Denn als sinnliche Erscheinung einer unbezweifelbaren Seinsgröße gehörte bereits die griechische Aisthesis zum selbstverständlichen Weltbild der Antike. Aber jetzt traut man dem bloßen sinnlichen Empfinden nicht mehr ohne gedankliches Räsonnement. Genauer: ohne seine systematische Einordnung ins Weltbild der Aufklärung. Denn Baumgartens zweibändige Aesthetica erweist den Philosophen als rechtschaffenen Denker ihrer rationalistischen Agenda, der in einem ernsthaften Unterfangen einen intellektuell brachliegenden Bezirk menschlicher ›Vermögen‹, nämlich das geheimnisvoll-irrationale, gleichwohl ›sinnvolle‹ Tun künstlerisch-sinnlichen Schaffens, einem systematischen Verstehen urbar machen will und so dem wohlgeordneten Gebäude einer ›Vernunft-Ratio‹ eingliedern möchte. Bezeichnend für dieses Unternehmen war, wie ›Ästhetik‹ dort behandelt wurde. Denn für Baumgarten und seine Zeit war sie nicht nur untrennbar, sondern logisch mit dem ›Schönen‹ als Erscheinung eines geistig Bedeutsamen verbunden. Das legitimierte seine Geltung nicht als eine Beliebigkeit subjektiver Reize, sondern als objektive Evidenz einer besonderen Seinskategorie. Als sinnlich empfindbare Form eines Wahren war sie nicht Konkurrent der Ratio, sondern ihre Erweiterung. Viel später formuliert auch Martin Heidegger etwas von daher Inspiriertes, wenn er das Kunstwerk als Aletheia, als das »Erscheinen der Wahrheit« begreift – obwohl er sich nie näher darauf einlässt, welche ›Wahrheit‹ das sei. Strukturiert nach Maß und Proportionen in Form und Gestalt war ›Schönheit‹ seit jeher nichts anderes als die urbildliche Ausgestaltung von strukturellen Gesetzmäßigkeiten der Natur: »Modus, species, ordo, numerus, pondus und mensura«,

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wie es das ›finstere‹ Mittelalter mit bestechender Klarheit formuliert.1 Eine nüchterne Bestimmung, die nicht das spätere Gerede von den ›schönen Künsten‹ kannte, denn die Künste waren schön. Für ein solches Verständnis wäre unser kritisches, spätmodernes Räsonieren und Diskutieren über Schönheit so absurd gewesen wie heute ein Streit über die Relevanz physikalischer Phänomene. Ebenso klar war ihre Verbindung zu den höheren »Vermögen« der menschlichen Natur. Damit war vor allem das ›Gute‹ gemeint. Denn eine ontologische Qualität, die ihre Wirkung aus der Referenz zur Ratio einer ›urbildlichen‹, also kosmischen Ordnung bezieht, kann logischerweise nur etwas ›Vollkommeneres‹ offenbaren als diejenige zu einer partiellen, also imperfekten: ethische Vollkommenheit verdankt sich ästhetischer Konsonanz. »Zahl, Ordnung, Proportion sind sowohl ontologische als auch ethische und ästhetische Prinzipien«, wie der Zeichentheoretiker Umberto Eco das selbstverständliche Junktim resümiert.2 Das war keine private Ansichtssache, sondern kollektiver Konsens seit der Antike. Er wird immer wieder neu unter verschiedensten Aspekten formuliert: als formale Definition mathematisch-pythagoreischer Herkunft in der »richtigen Übereinstimmung der Teile miteinander und mit dem Ganzen« oder im Neuplatonismus, wie bei Plotin, der sie als »Durchleuchtung des ewigen Glanzes des ›Einen‹ durch die materielle Erscheinung« definiert oder in der Scholastik als »pulchritudo splendor veritas« mit dem bekannten Diktum »Schönheit ist der Glanz der Ordnung« (Thomas von Aquin) oder im splendor formae bei Ulrich von Straßburg. Seine Formulierung orientiert sich an der neuplatonischen Metaphysik des Lichts, wie sie die Baukonzepte der Gotik maßgeblich prägt. Danach bestimmt sich ›Schönheit‹ durch den graduellen Anteil jeder ›Form‹ an der »Essenz des ersten geistigen Lichts«: je mehr davon, desto schöner, je weniger davon als »Verdunklung durch die Materie«, desto hässlicher – auch wenn, wie unsere Moderne bestens weiß, das ›Dunkle‹ und Hässliche keineswegs ohne ›ästhetischen‹ Sinnesreiz ist.3 Zwar käme unsere Zeit kaum mehr auf den Gedanken, diese Metaphern als ›logisch‹ zu verstehen. Aber seltsamerweise wirken sie, unbehelligt von den schrillen Kontrapunkten des Dissonanten, im aktuellen Zeitgeist ganz hartnäckig ›logisch‹ 1

Eine umfassende Erörterung findet sich bei Albertus Magnus in seiner Summa de bono, vgl. die systematische Zusammenfassung bei E. de Bruyne, Études d’esthétique médiévale, Bd. 3, Brügge 1946, S. 153–161. Die Bezugnahme auf strukturelle Referenzen einer höheren Rationalität gehört zum selbstverständlichen Geistesgut antiker und mittelalterlicher Reflexion über das Schöne, bei Plato in seiner Ideenlehre, bei Marcus Tullius Cicero in Orator § 8–10, bei Lucius Annaeus Seneca, Briefe an Lucilius, 58. Brief, § 16–21 und § 25–28, 65. Brief, § 1–14, oder bei Plotin in den Enneaden, I 6.

2

U. Eco, Kunst und Schönheit im Mittelalter, München 1993, S. 60.

3

»Da jede Form Wirkung des Ersten geistigen Lichtes ist, das vermittels seiner Essenz wirkt, muß sie am Licht notwendig durch Ähnlichkeit teilhaben … Je weniger von jenem Licht irgendeine Form wegen der Verdunklung durch die Materie hat, desto häßlicher ist sie, und je mehr von jenem Licht sie durch das Sicherheben über die Materie hat, desto schöner ist sie.« Ulrich von Straßburg, De summo bono, liber II, 3, 5, zitiert nach U. Eco (1993), S. 140–141.

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weiter: etwa als Theorie eines nach mathematisch-wissenschaftlich fassbaren Prinzipien organisierten Kosmos à la Pythagoras und Platon, dessen Strukturiertheit die moderne Physik in Kategorien berechenbarer ›Ordnungen‹ und Gesetzmäßigkeiten versteht. Dort führt die Annahme bestimmter elementarer Symmetrien bei vielen Wissenschaftlern sogar zur Suche nach der ›Schönheit einfacher Gleichungen‹, weil sie als Merkmal einer höheren Relevanz gelten.4 Das Gleiche zeigt sich in zeitgenössischen Tendenzen zu einer ›Ästhetisierung unserer Lebenswelt‹, die viele Philosophen als Charakteristikum der neu erfundenen ›Postmoderne‹ wahrzunehmen glauben (Rüdiger Bubner, Odo Marquard, Wolfgang Welsch). Als probater Beleg dafür bietet sich eine lebensweltliche Praxis der boomenden Schönheitschirurgie an, die als ›Ästhetische Medizin‹ auftritt. Vordergründig inspiriert sich diese Konjunktur zwar maßgeblich aus den Vorlagen einer omnipräsenten Mediengalaxis. Aber hintergründig wirken die alten Normen. Denn was sind die Ideale aus dem medialen Beautyshop, realisiert von der Schönheitschirurgie, mit ihren Prototypen edler Nasen, voller Lippen, Bäuche, Beine und Gesäße genau wie die raffinierten Strategien des Designbetriebs letztlich anderes als Veredlungsmanöver, die offenbar nach untergründig präsenten, also quasi platonischen Schönheitsmustern agieren? Die ihre Protagonisten vor öffentlichen Auftritten notorisch ›in die Maske‹ schicken und ihre Produkte routiniert glamourbewusstem Styling unterziehen? Was sind sie anderes als Verhübschungstricks, die trotz des grellen Internet-Exhibitionismus von Katastrophen- und Ekellüsten eine hässliche Alltagsrealität von den Peinlichkeiten defizitärer Körperlichkeit und imperfektem ›Image‹ mit dem potemkinschen Raffinement der digitalen Möglichkeiten unbeirrbar ›idealistisch‹ zurechtschminken? Und die menschlichen Unvollkommenheiten oder künstlerische Mankos von der Optik (mit den Tools aus Photoshop und Beauty-Retusche) bis zur musikalischen Akustik (mit allen Tricks raffinierter Studioästhetik) nach den Maßstäben eines unbewusst empfundenen

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Die heuristische Devise einer ›Ordnung, die mit Symmetrie und Einfachheit‹ zu tun hat, taucht auch in der modernen Physik bei wichtigsten Protagonisten wie Einstein, Heisenberg oder Pauli immer wieder als Kriterium bei der Formulierung von Naturgesetzen, mathematischen Modellen und Formeln auf. »In den Beispielen [bei Kristallstrukturen und den Konstellationen des Sonnensystems] können wir den Ursprung der räumlichen Ordnung bis zu den Symmetrien in den fundamentalen Gesetzen der Physik verfolgen. Viele physikalische Systeme haben stabile Zustände, die einen hohen Grad an Symmetrie und Einfachheit offenbaren. Ein Grund dafür liegt darin, dass komplizierte Zustände dazu tendieren, instabil zu sein. Physikalische Zustände suchen sich ihren Zustand mit der niedrigsten Energie aus … der im Allgemeinen der einfachste ist« (P. Davies, Die Urkraft. Auf der Suche nach einer einheitlichen Theorie der Natur, München 1990, S. 316), vgl. auch W. Heisenberg, Der Teil und das Ganze, München 1969, S. 98–99, sowie Schritte über Grenzen, Gesammelte Reden und Aufsätze, München 1971 u. 1984; E. Heisenberg, Das politische Leben eines Unpolitischen – Erinnerungen an Werner Heisenberg, München 1980, S. 145, ferner beim Astrophysiker Subrahmanyan Chandrasekhar, Nobelpreisträger 1983, in: Truth and beauty. Aesthetics and Motivations in Science, Chicago 1987.

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›Vollkommenen‹ korrigieren? Und was sind schließlich die notorischen Happy Ends alter cineastischer Hollywood-Doktrin anders als Reste eines unvergänglichen Bewusstseinserbes der platonischen Uridee kosmologischer Konkordanzen als ›Harmonie‹? Diese logische Verbindung allein rechtfertigte also eine rationale Beschäftigung mit den »dunklen, verworrenen Bezirken« menschlicher »Vermögen«, die ihre sinnvolle Gestaltung dem Künstler verdanken, wie es der Rationalismus der BaumgartenZeit verstand. Das wird besonders deutlich, wenn sich Baumgarten ausdrücklich dafür entschuldigt, diese Bezirke quasi auf Augenhöhe mit dem hellen Licht von Vernunft und Verstand zu stellen und sie dort als gleichberechtigten Gegenstand von deren etablierten »logischen Vermögen« zu behandeln. Nicht der obskure Reiz subjektiver Gestimmtheiten oder gar die Antithesen des Schönen in den Defekten der Welt verlangten nach der begründenden Vernunft, sondern die unabweisbare Präsenz einer metaphysischen Seinsqualität durch eine Kunst, die alle imperfekte ›Wirklichkeit‹ so nachdrücklich transzendierte, dass sie den Menschen zu erheben, zu begeistern, zu verwandeln vermochte – ja sogar zu bessern nach dem alten Katharsis-Denken. Zwei prominente Kunstrichter der Epoche beglaubigen diesen selbstverständlichen Konsens: Johann Joachim Winkelmann und Gotthold Ephraim Lessing. Der eine mit seiner berühmten Formel von »edler Einfalt und stiller Größe« als Essenz des antiken Schönheitsideals, formuliert übrigens nicht aus bloßer idealistischer Glaubensinbrunst, sondern, wie Goethe es sagt, mit der objektiven Unverstelltheit eines »heidnischen Sinns«. Der andere mit der Reverenz an den normativen Klassizismus in seinem Laokoon (1766). Johann Georg Sulzer, seit 1763 Leiter einer hochkulturellen Bildungsstätte, der Berliner Ritterakademie, definiert in seiner vierbändigen Allgemeine Theorie der Schönen Künste in alphabetischer Ordnung (Leipzig 1773/75): »Schönheit wird zunächst durch bloß sinnliche Annehmlichkeit die äußeren Sinne oder die Einbildungskraft reizen, bey näherer Betrachtung aber durch innerliche, dem schönen Stoffe inhaftende Vollkommenheit, den Verstand reizen« und damit erst »die Möglichkeit eines allgemeinen Ideals von der Schönheit begründen.« (Band 4, S. 259). Ein frivoler Querdenker war höchstens der holländische Philosoph Frans Hemsterhuis, der als verspäteter Neuplatoniker intensiv mit den englischen Sensualisten kokettierte, wo den subjektiven Emotionen und Imaginationen für die Kunst immer mehr Bedeutung eingeräumt worden war als bei den deutschen und französischen Rationalisten. Das geht bei Hemsterhuis bis zu einer engen Verbindung zwischen Eros sexus und ästhetischem Empfinden, wenn er eine Korrespondenz zwischen

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unseren Geschlechtsorganen und Ideen herstellt.5 Die damalige Schulphilosophie mokierte sich zwar darüber – aber Herder und Goethe fühlten sich höchst angeregt davon. Denn auch für sie reichten Kunst und Künstler weit über positivistische intellektuelle Definitionszwänge hinaus. Zwischen Baumgartens Aufklärungsratio und dem umfassenderen Kunstverständnis eines Hemsterhuis oder Goethe scheinen bereits die ersten großen Frontlinien auf, die ästhetisches Nachdenken künftig bestimmen. Es ist die Dialektik zwischen einem logischen Verstand, der etwas erkennt, das er nicht erklären kann und einer sinnlichen Wahrnehmung, die etwas erlebt, das sie nicht auf den Begriff bringen kann. Mit viel Aufwand verteidigen beide ihre Rechte: das alte ›Tun‹, erwachsen aus einem Handwerk mit Regeln, einer Tradition mit Erfahrung und einem Talent mit Einfällen, das sich am sinnfälligen Produkt bewährt, und die neue Reflexion, die auf rationale Einsicht und schlüssige Theorie pocht. Hier beginnt der anstrengende Slalom durch die kunstphilosophischen Auseinandersetzungen der nächsten Jahrhunderte.

Ästhetik als Problem der Bewusstseinsphilosophie Sein zentraler Dreh- und Angelpunkt ist zunächst das Problem des ›Bewusstseins‹, das sich nicht nur für die Ästhetik als unentrinnbare Hypothek abendländischen Denkens erweist. Denn sie nimmt alle ästhetischen Fragestellungen bis heute in Geiselhaft: Wo ist die ›Schönheit‹ angesiedelt – im Subjekt oder im Objekt? Und sie bestimmt auch jede erkenntnistheoretische Durchdringung. Weil das Medium jeder bewussten Wahrnehmung ebenso wie jeder Reflexion unser menschliches ›Bewusstsein‹ ist, reduziert sich alles Nachdenken zuerst auf die Bedingungen der Möglichkeit, mit eben diesem ›Bewusstsein‹ ›Realität‹ tatsächlich zu erfassen. Denn was ist ›Realität‹, wenn uns jede äußere oder innere ›Wirklichkeit‹ nur als Repräsentanz in unserem Bewusstsein gegeben ist, ebenso wie der größte Stolz aller abendländischen Ratio, die Selbstreflexivität, also die Fähigkeit eigenen Nachdenkens des Bewusstseins über sich selbst? Weil diese Frage bis heute ein zentrales Problem aller abendländischen Philosophie und Wissenschaft bleibt bestimmt sie die Dynamik der Kunsttheorien. Als intellektuelles Schlachtfeld beschäftigt sie Descartes und Kant bis Berkeley, Goodman und Popper genauso wie die heutige Neurowissenschaft oder moderne Physik. Entsteht dort, etwa in Teilchenphysik und Quantentheorie, eine Realitätsvorstellung über Messdaten und komplexe mathematische Modelle als eine fiktionale Theoriekonstruktion, so generiert sie in der Alltagswirklichkeit, genau wie in der Kunst, unser körperlicher Sinnesapparat. Anschein, ›Konstruktion‹ oder Fakt,

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F. Hemsterhuis, Œuvres philosophiques, Reprint d. Ausg. Leeuwarden 1848/50. Hildesheim 1972, Bd. 2, S. 58.

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Einbildung oder Evidenz und Wahrheit: Immer ist es unser Bewusstsein als imaginäre aber unentbehrliche Instanz zwischen Gehirn und Solarplexus, in neuronalen Netzwerken, kortikalen oder subkortikalen Regelkreisen, in den Arealen von Groß- oder Kleinhirn, in den Kaskaden der Hormondrüsen und ihren Botenstoffen oder was sonst noch Wissenschaft ausfindig zu machen vermag, in denen auf rätselhafte Weise jedes Bild äußerer und inneren Wirklichkeit entsteht. Sein Anschauungsmodus psycho-physischer Determination erzeugt unser Bild der ›Welt‹ in phantasievoller Imagination oder strenger Verstandestätigkeit, sein Funktionsmodus entscheidet bei innerer Erkenntnissuche oder in der Erforschung der Außenwelt bis hinein in die künstlichen Tentakel kompliziertester Instrumente und Prothesen heutiger Naturwissenschaft. Denn auch sie und ihre Empirie werden schließlich noch in ihren (scheinbar) ›objektivsten‹ Operationen von einem bezugsstiftenden Bewusstseins-Fokus bestimmt, der von der Fragestellung über die Methoden bis zur Auswertung und den Folgerungen reicht (siehe Kapitel XI). Daran hat sich seit Platos dualistischer Ontologie mit der Ideenwelt als Seinsgrund aller äußeren Realität bis zum ›Leib-Seele-Problem‹ von Descartes, Leibniz oder Berkeley und der modernen Kognitionsforschung nichts geändert: »Realität ist erst durch die Konstruktion unseres Wahrnehmungsapparates samt dem implementierten kognitiven Instrumentarium, also unseres Hirns erkennbar« (Hirnforscher Gerhard Roth). Metaphysisch vertieft bedeutet das: »Dein Bewußtsein … ist im ›Diesseits‹ wie im ›Jenseits‹ Schöpfer der Erscheinungsform.«6 Goethe sagt es anders im Drama – aber kaum weniger deutlich: »Du gleichst dem Geist, den du begreifst – nicht mir«, womit der mephistophelische Spukpartner den wissenschaftstrunkenen Faust höhnisch und kategorisch in sein subjektives Bewusstseinsgehäuse zurückverweist. Das wird noch zu vertiefen sein (siehe Kapitel XI).

Die verschiedenen Erkenntnis-»Vermögen« Immanuel Kants Ein Königsberger Professor, preußisch streng mit sich und anderen, und übrigens vollkommen unmusikalisch, lässt sich auf dieses Problem so fundamental ein, dass seine Antworten bis heute exemplarische Geltung behielten. Immanuel Kant (1724–1804) unternimmt in seinen drei berühmten Kritiken vonseiten der Verstandesvernunft her eine radikale Überprüfung aller menschlichen Erkenntnisvermögen hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und Möglichkeiten. Sein Kritizismus deckt mit einem Verfahren, das er »transzendental« nennt (im Unterschied zu »transzendent«, das er auf Aussagen bezieht, die nicht Gegenstand möglicher Erkenntnis sein können) die Abhängigkeit aller Erkenntnis von der Struktur des menschlichen Wahrnehmungsvermögens durch Raum, Zeit und Kausalität auf. Das meint, dass alle Erkenntnis durch diese »apriorische« Art und Weise der menschlichen An-

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Dargestellt bei Bȏ Yin Rȃ, Das Buch vom Jenseits, Basel 1929, S. 120 u. 146.

schauung konstituiert werde – das Eigentliche aber, das »Ding an sich« bleibe uns ein für alle Mal unerkennbar. Das ist eine Art Mittelweg zwischen der alten rationalistischen Metaphysik eines Christian Wolff und dem empirischen Skeptizismus und Sensualismus eines David Hume, die Kant beide letztlich als ›dogmatisch‹ empfindet, weil sie keine Methode zeigen, wie man von der einzelnen Erfahrung induktiv zu einer allgemeingültigen Erkenntnis gelangen kann. Dabei verfällt nicht nur alle Metaphysik als ›transzendent‹ zur bloßen Spekulation, sondern auch die sinnliche Wahrnehmung des ›Schönen‹ zur privaten Geschmacksangelegenheit. Während nämlich Baumgarten der sinnlichen Wahrnehmung noch Erkenntniswert zugebilligt hatte (nämlich als Cogito sensitiva), trennt Kant objektives Erkenntnisurteil vom subjektiven Geschmacksurteil. Allerdings erkennt er sehr genau die verschiedenen ›Vermögen‹, die dem einen und dem anderen zugrunde liegen. In seiner dritten Kritik, der Kritik der Urteilskraft von 1790, erörtert er im ersten Teil (Analytik des Schönen, §§ 1–22 und die Deduktion der reinen ästhetischen Urteile, §§ 30–40) die Verschiedenheiten. Ein Schlüsselbegriff dabei ist die Einbildungskraft. Sie ist zwar ein sinnliches Vermögen, mit dem die Mannigfaltigkeit der »Anschauung« durch »Spontaneität« die Wahrnehmung (als »synthetische Einheit der Apprehension«) erst zustande bringt – aber hierbei von den »Kategorien des Verstandes geleitet« wird, wie Kant schon seiner Kritik der reinen Vernunft ausführt, bezeichnenderweise unter »Transzendentaler Logik«. Deshalb bestimmt er für das Erkenntnisurteil: »Nun gehören zu einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, damit überhaupt daraus Erkenntnis werde, Einbildungskraft für die Zusammensetzung des Mannigfaltigen der Anschauung, und Verstand für die Einheit des Begriffs, der die Vorstellung vereinigt.« Beim Geschmacksurteil hingegen schränkt »kein bestimmter Begriff sie [die Erkenntniskräfte] auf eine besondere Erkenntnisregel« ein. Die Einbildungskraft ist also frei, wenn sie nicht wirkt, um einen bestimmten Begriff darzustellen. Kant unterscheidet dabei die reproduktive, quasi »zusammensetzende« Einbildungskraft von der produktiven, quasi als Urheberin willkürlicher Formen möglicher Anschauung, die er für den Künstler als »schöpferisch« bezeichnet. Er befreit sie aber einerseits nicht von der Beziehung zum Verstand, wenn er bestimmt, dass sich »die Einbildungskraft in ihrer Freiheit« und der »Verstand mit seiner Gesetzmäßigkeit wechselseitig beleben« und wenn er für das »Schöne« ausführt, dass die Einbildungskraft diejenige Form findet, die sie, »wenn sie sich selbst frei überlassen wäre, … entwerfen würde, ohne dabei von der Gesetzmäßigkeit des Verstandes abzuweichen« (in §§ 43–53). Andererseits muss die Einbildungskraft des Künstlers aber frei sein, damit sie »reichhaltigen unentwickelten Stoff für den Verstand, worauf dieser in seinem Begriff nicht Rücksicht nahm«, liefern könne. Dadurch erweitert sie »den Begriff selbst auf unbegrenzte Art ästhetisch«. Das ist Kant nicht nur der Gegensatz zu logisch, sondern auch zu objektiv, denn es bedeutet subjektiv.

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Um aber die Subjektivität rational besser zu legitimieren, argumentiert er idealistisch und spekulativ. Er erhebt für das Geschmacksurteil »Anspruch auf eine subjektive Allgemeinheit«. Dabei spekuliert er auf ein a priori von ›Gemeinsinn‹ und der selben »subjektiven Bedingungen der Urteilskraft allgemein bei jedem Menschen«. Aber vorsichtig schränkt er ein, das Geschmacksurteil selbst »postuliert nicht jedermanns Einstimmung«, sondern »es sinnet nur jedermann diese Einstimmung an« (§ 6 und 8). Auf eine qualitative Bestimmung des ›Schönen‹ und seiner Schwestern des ›Erhabenen‹ und ›Anmutigen‹ lässt sich Kant dabei nie ein – vielleicht weil er höchstens eine mäßige Beziehung zur Dichtung und überhaupt keine zur Musik hatte. Denn er beklagt sich oft über ihre störende Lautheit und rät vom Musizieren dringend ab, weil damit zu viel Zeit verloren ginge für das Studium »ernsthafter Wissenschaften«.7 Tatsächlich geht es ihm nur um eine formale Analyse der Urteilakte. Mit ihr bestimmt er deshalb das Geschmacksurteil als einen Urteilsakt im »freien Spiel der Erkenntniskräfte« von subjektiver Einbildungskraft und Verstand, wobei es die »Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes (oder der Vorstellungsart desselben) zum Grunde« hat (§ 11). Kants »Zweckmäßigkeit« ist ein transzendentaler Begriff, dem die Naturordnung der Dinge, wie sie in der Welt vorgefunden wird, zugrunde liegt. Dieses Zusammenspiel der Erkenntniskräfte ist zwar mit Lust oder Unlust notwendig verbunden – aber das ›reine‹, meint: formales Geschmacksurteil ist von »Reiz und Rührung unabhängig«, denn »alles Interesse verdirbt das Geschmacksurteil«. Darauf kommt er in seiner Unterscheidung zwischen dem Angenehmen, dem Guten und dem Schönen zurück: Die beiden ersteren sind über das ›Wohlgefallen‹ als Empfindung von ›Lust‹ und ›Unlust‹ mit einem ›Interesse‹ als »willentliche Bejahung« verbunden. Das ›Schöne‹ hingegen ist ein begriffsloses und »interesseloses Wohlgefallen« (§ 5). Es »setzt keinen Begriff von dem, was der Gegenstand sein soll, voraus, also keinen Begriff des Guten oder der Vernunft« (§ 16). Und noch deutlicher, seltsam psychologisierend: »Rührung, eine Empfindung, wo Annehmlichkeit nur vermittelst augenblicklicher Hemmung und darauf erfolgender stärkerer Ergießung der Lebenskraft gewirkt wird, gehört gar nicht zur Schönheit« (§ 14). Mit der Trennung von einem durch höhere rationale Kriterien begründeten Schönheitsbegriff der Antike mittels eines ›objektiven‹ Erkenntnisurteils und eines subjektiven, ›ästhetischen‹ Geschmacksurteils bahnt Kant den ›logischen‹ Weg in eine private, notwendig ›unlogisch‹ operierende Ästhetik, die sich mit ihrer Belie7

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Vgl. Immanuel Kant. Ein Lebensbild nach Darstellungen der Zeitgenossen Jachmann, Borowski, Wasianski, hg. v. A. Hoffmann, Halle 1902, S. 255. Allerdings gibt es dazu auch Versuche, mittels der Musik zu einer apriorischen Begründung des Geschmacksurteils zu kommen und damit zu einer »transzendentalen Logik« des Geschmacksurteils überhaupt über eine Verbindung des bloßen subjektiven (musikalischen) »Wohlgefallens« und der diesbezüglichen Affekte und »Gemüthsbewegung« mit der mathematischen Struktur der Musik, wie es P. Giordanetti unternimmt: Kant und die Musik, Würzburg 2004.

bigkeit jeder Referenz zu einer anderen ›Logik‹ als des Gehirnverstandes entledigt und somit auch qualitativ andersartigen Erkenntnisfähigkeiten. Hier, mit der Trennung des ›Schönen‹ von einer Verbindung zu höheren Erkenntnisvermögen und dem ›Guten‹ als metaphysischen Aspekt von ›Wahrheit‹ beginnt die unwiderrufliche Trennung von Ästhetik und Ethik im modernen abendländischen Kunst-Denken. Immerhin anerkennt Kant aber, dass für die ›ästhetischen‹ Urteilsprozesse ein »innerer Sinn« mit Gemüt und Gefühl eine Rolle spielt. Für das Erkenntnisurteil spricht er davon, dass das Verhältnis der beiden »Gemütskräfte« (Einbildung und Verstand) nicht nur intellektuell durch den Verstand gedacht, sondern zugleich »in der Wirkung auf das Gemüt« empfunden werden kann. Mit dem das Objekt fokussierenden Erkenntnisurteil gehe daher stets, gewissermaßen im Hintergrund, subjektives Gefühl einher (§ 21). Im Geschmacksurteil wird es zum Vordergrund, denn dort geht es ja um Lust oder Unlust, denn »wir werden uns ästhetisch durch den bloßen inneren Sinn und Empfindung bewusst«. Damit werden für die Erkenntnistätigkeiten nicht nur ›logische‹, sondern auch subjektive, auf Empfindung und ›Gemüt‹ rechnende Bedingungen als anthropologische Größen zugelassen. Deshalb spricht Kant auch in seiner Anthropologie (1798) von einer »Physiologie des inneren Sinnes« sowie »inneren Wahrnehmungen unter Naturgesetzen« und sogar einem »intuitiven Erkenntnisvermögen«.8

Die kognitive Zulassung der Musik als »niedrigste der Künste« Für die Musik erbringt diese kognitive Zulassung von »Gemüt« und Gefühl wenigstens eine Phänomenologie als ein »Spiel der Empfindungen« (KdU § 51) und für das »Musikalisch-Schöne«, eine Zuschreibung als »Form im Spiele vieler Empfindungen« – obwohl Kant der Musik, sofern sie sich nicht der Dichtung unterordnet, bloßen ›Genuß‹-Charakter und höchstens »unschuldige Sinnenlust« attestiert. An dieser Form »obgleich nicht durch bestimmte Begriffe vorgestellt, hängt allein das Wohlgefallen, welches die bloße Reflexion über eine solche Menge einander begleitender oder folgender Empfindungen mit diesem Spiele derselben als für jedermann gültige Bedingung seiner Schönheit verknüpft« (§ 53). Dabei versteht er die »Form« der Tonbeziehungen ausdrücklich als »mathematische Form« und erwähnt sogar beiläufig den bedeutenden Mathematiker Leonhard Euler, der zwei ausführliche Abhandlungen über Musik verfasst hatte.9 Allerdings bleibe sie hinter 8

Vgl. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Königsberg 1798, in: GA hg. v. W. Weischedel, Wiesbaden u. Frankfurt a. M. 1956/64, Bd. 6, § 7 und § 38.

9

Bei Kant in der Kritik der Urteilskraft, § 14 und L. Euler, Tentamen novae theoriae musicae, 1739 sowie: De harmoniae veris principiis per speculum repraesentatis, 1773, wo sich der Entwurf eines »Tonnetzes« zur systematischen Korrelation von Terz und Quinte in reiner Stimmung findet.

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der sinnlichen Wahrnehmung verborgen, denn »an dem Reize und der Gemütsbewegung, welche die Musik hervorbringt, hat die Mathematik sicherlich den mindesten Anteil, sondern sie ist nur die unumgängliche Bedingung« (§ 53). Das trifft zwar etwas von der musikalischen ›Systemebene‹. Aber welchen Stellenwert die Musik in Kants Denksystem tatsächlich einnimmt, zeigt sein Urteil: »Die Musik ist die niedrigste unter den schönen Künsten, wenn man … den Wert der schönen Künste nach der Kultur schätzt, die sie dem Gemüt verschaffen, und die Erweiterung der Vermögen, welche in der Urteilskraft zum Erkenntnisse zusammenkommen müssen, zum Maßstab nimmt« (§ 53). Von hier aus fällt nicht nur Licht auf seine Erkenntnistheorie, sondern auch auf sein Verständnis von ›Gemüt‹ und ›Kultur‹. Kants scharfsinnige Untersuchungen der Erkenntnismöglichkeiten zwischen theoretischer und praktischer Vernunft auf einem denkerischen Niveau, das bis heute die Geister in Bann schlägt, leisten für die Musik nichts. Sie sind aber bezeichnend für die weitere Entwicklung des ästhetischen Denkens. Die ›Schönheit‹ als Domäne eines begriffslosen und »interesselosen Wohlgefallens« mit der Unverbindlichkeit sich selbst genügender Geschmacksurteile eröffnet eine rationale Lizenz zur persönlichen Willkür wie zu jedem Ästhetizismus. Ihre Lösung von der ›Vernunft‹ bedeutet die Ablösung einer Anthropologie, in der das ›Schöne‹ eine erkenntnisstiftende Seinsqualität als Attribut einer höheren Ratio hatte, zugunsten einer rein intellektuellen Rationalität. Kants analytische Auseinanderlegung von transzendental, betreffend das (gehirnverstandesmäßig) ›Erkennbare‹ und dessen apriorische Bedingungen, und transzendent, für die damit nicht erkennbaren Dinge, begründet zwar die ›Transzendentalphilosophie‹, die nach Letztbegründungen für unser Wissen sucht, wenn sie über die Voraussetzungen alles ›Erkennens‹ nachdenkt. Aber sie lässt einen Erkenntnisprozess über die Empirie einer Empfindungserfahrung nicht zu, denn ihre ›Gegenstände‹ würden ja unter die ›transzendenten‹ fallen. Das entspricht Kants Welterfahrungsverständnis auf ›logischer‹ Basis mit der Funktion des Intellekts als Organ diskursiven, zerebralen Denkens: ein bedeutender Schritt zu jenem szientistischen Weltbild der Moderne mit seinem reduktionistischen Wissenschaftsbegriff.10 Immerhin erkennt er allerdings gleichzeitig und wieder durchaus ›logisch‹ den »Bestimmungsgrund« ästhetischer Urteile in der Empfindung und billigt ihnen dort sogar einen allgemeineren, sprich objektiven »Naturzweck« zu. Damit erweist er sich als ein objektiver Sachwalter faktischer Erfahrung, sprich Empirie. Das hebt 10

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»Kant bleibt in der Formalität des Urteils und der Beschäftigung mit der Problematik einer transzendental aufgespreizten Subjektivität, deren Besonderheit kategorial zur Allgemeinheit im Begriff des Geschmacks hochgerechnet wird, stecken«, resümiert es Werner Jung, Von der Mimesis zur Simulation, Hamburg 1995, S. 70. Im Übrigen werden in der modernen Wissenschaftstheorie, nicht zuletzt infolge der Erfahrungen mit der Teilchenund Quantenphysik, viele von Kants logischen Prämissen und Schlüssen infrage gestellt, vgl. W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 1, 4. Aufl. Stuttgart, 1969, S. 357–359.

zwar die erkenntnistheoretische Entrechtung dieses Organons nicht auf, belässt ihm aber seine (empirische) Legitimität innerhalb der ›Vermögen‹ der menschlichen Natur. Hätte man den Königsberger Meisterdenker in dieser Einsicht so ernst genommen wie in seiner Analytik der Verstandesleistungen, so wäre dieses ›Vermögen‹, letztlich eine seelische Fähigkeit des Menschen, nicht so leicht zum Paria moderner Erkenntnistheorien verkommen. Kant lässt sich auf diese Erfahrungsmöglichkeiten anderer ›Seins‹-Qualität allerdings nirgends näher ein. Er wollte es gar nicht. Er vermisst nur Bedingungen und Reichweite des Verstandes als Gehirnbewusstsein – unerbittlich, aber redlich. Das erweist sich, wenigstens noch bis kurz vor Einstein und Quantenphysik, als profitabel für das naturwissenschaftliche Weltbild des Abendlandes – für das Nachdenken über Kunst aber als folgenschwere erkenntnistheoretische Reduktion.

Allerhand Widersprüche aus höherer ›Vernunft‹ Kein Wunder, dass sich allerhand Widerstand bei den zeitgenössischen schöpferischen Geistern fand. Denn erst ihre Produktivität aus einer anderen Ratio legitimierte schließlich alle ›Ästhetik‹. Herder reagiert 1800 in seiner Kalligone auf Kants Kritik der Urteilskraft. Dort beschäftigt er sich ebenfalls mit der Reichweite menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten. Er erklärt darin, dass mit ihnen die Einheit des Schönen, Wahren und Guten als eine »metaphysisch verstandene Vollkommenheit« erfasst werden kann: »Das sinnlich Angenehme« ist ihm »Mittheilung des Wahren und Guten, sofern es dieser Sinn fassen kann.« Sinnfällige Harmonie ist nicht nur (wie bei Kant) Ausdruck einer immanenten Zweckmäßigkeit, sondern »hat den Evidenzcharakter einer objektiven Zweckhaftigkeit in der Schöpfung.« Denn »Jedes Ding bedeutet, d. i. es trägt die Gestalt dessen, was es ist.«11 Goethe sagt in einem Gespräch mit Eckermann »Ich muß über die Ästhetiker lachen, welche sich abquälen, dasjenige Unaussprechliche, wofür wir den Ausdruck schön gebrauchen, durch einige abstrakte Worte in einen Begriff zu bringen. Das Schöne ist ein Urphänomen, das zwar nie zur Erscheinung kommt, dessen Abglanz aber in tausend verschiedenen Äußerungen des schaffenden Geistes sichtbar wird.« (Gespräch v. 16.4.1827). Er bemerkt außerdem: »Das Schöne ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen geblieben« (Maximen und Reflexionen, Nr. 719). Auch Schiller, zunächst begeisterter Adept Kant’scher Philosophie, begnügt sich schließlich nicht mit dessen reduktionistischem Konzept: »Traurig herrscht der Begriff, aus tausendfach spielenden Formen bringet er dürftig und leer ewig

11

Herder, Kalligone I/1 und III/4,1.

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nur Eine hervor …« (Musenalmanach des Jahres 1797). Außerdem transportiert er – als schöpferischer Dichter-Künstler von seiner ›Empirie‹ geleitet – Kants konstruiertes transzendentales Subjekt zurück ins Real-Menschliche, das in jedem Einzelnen die »Anlage und Bestimmung« zum »reinen idealistischen Menschen« erkennt. Zur »Schönheit« bemerkt er, dass sie »allerdings das Werk der freyen Betrachtung« sei, »und wir treten mit ihr in die Welt der Ideen – aber was wohl zu bemerken ist, ohne darum die sinnliche Welt zu verlassen« (Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1795, 25. Brief). Noch im bitterbösen Abgesang auf Aufklärung wie auf Idealismus resümiert später Nietzsche kritisch Kants Methode. In seiner Geburt der Tragödie spielt er Kant die Karte zurück: »Die bloße Erscheinung, das Werk der Maja, zur einzigen und höchsten Realität zu erheben und sie an die Stelle des innersten und wahren Wesens der Dinge zu setzen und die wirkliche Erkenntniss von diesem dadurch unmöglich zu machen, d. h. nach einem Schopenhauer’schen Ausspruche, den Träumer noch fester einzuschläfern.« (S. 101). Weil Kant aber, obwohl er noch zutiefst im rationalistischen Vernunftdenken der Aufklärung wurzelt, sich mit seiner ›Transzendentalphilosophie‹ als Idealist bekennt, also dazu, »das Materielle durch Ideen zu beherrschen«, wie es Schiller in seiner Vorrede zur Braut von Messina ausdrückt, rechnet ihn die Philosophiegeschichte zum ›Deutschen Idealismus.‹ Dort allerdings erklimmen bei ihren großen Geistern Kunst und Ästhetik schnell oberste Erkenntnis-Ränge, ja werden zu Mark- und Schlusssteinen umfassender Systementwürfe. Bei Arthur Schopenhauer (1788–1860) wird Nietzsches ästhetische Idee von der »Kunst als Erleichterung des Daseins« bereits greifbar. Er preist sie als »Remedium« und »Quietiv«, das einer Welt gegenüberstehe, in der nach seiner pessimistischen Deutung der »Wille« als quasi blinde, universale Libido das grausame und mächtigste Naturprinzip verkörpert (Die Welt als Wille und Vorstellung, 1819). In der Qual des Daseins mit unentwegtem Kampf, Zerstörung und Leiden wird ihm die Kunst zur einzigen Rettung in eine höhere Welt aus der ausweglosen, endlosen Immanenz des »Willens«. Dort ermögliche wenigstens die »ästhetische Situation« kontemplativ Entlastung durch eine andere Qualität der Wahrnehmung. Dabei bleibt der depressive Realist des anbrechenden Industriezeitalters aber doch noch Platoniker, wenn er unter seiner Metaphysik des Schönen selbstverständlich »die Lehre von der Auffassung der Ideen, die eben das Objekt der Kunst sind«, versteht.12 Aber er ist auch Kantianer, wenn er dessen »interesseloses Wohlgefallen« mit der zugespitzten Version von einer »nutzlosen« und »zwecklosen« Qualität des Kunstwerks übernimmt. Seiner Bewusstseinslage als wesentlich vom reinen Denken bestimmter Intellektueller entkommt er allerdings nicht. Denn er unterscheidet die Kunst nicht von blo-

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Schopenhauer, Philosophische Vorlesungen, Teil III, hg. v. V. Spierling, München u. Zürich 1985, S. 37.

ßer Gehirn-Arbeit, wenn er Kunstwerke als »Werke des Genies« definiert, des »objektivsten aller Menschen, dessen Tätigkeit völlig im Intellekt konzentriert ist …«13 Was allerdings die Musik angeht, übertrifft er die Emphase Nietzsches noch mit einem Euphemismus, der klassisch geworden ist: »Musik bringt das Innerste der Welt und unseres Selbst zur Sprache« befindet er und attestiert ihr den höchsten Rang unter den Künsten, denn »Die Musik ist also keineswegs, gleich den anderen Künsten, das Abbild der Ideen, sondern Abbild des Willens selbst, dessen Objektivität auch die Ideen sind: deshalb eben ist die Wirkung der Musik viel mächtiger und eindringlicher, als die der anderen Künste: denn diese redeten nur vom Schatten, sie aber vom Wesen.« Demnach ist Musik selbst ein »Zeichen« und nicht etwas, das »Bezeichnet«, weil sie die Sphäre der vielgestaltigen Erscheinungen der Ideen, die nach dem principium individuationis zustande komme, transzendiere: Ihr Wesen gründe eben nicht in der Mimesis, sondern in einer strukturellen Affinität zur Welt. Das wäre fast pythagoreisch – wäre nicht Schopenhauers ›Wille‹ die bloße naturalistische Reduktion auf eine blinde Vitalsphäre, ein vernunftloses Drangprinzip, das er als höchste Kraft des Universums verabsolutiert. Damit nimmt er Kunst und Musik wieder viel von dem, was er ihnen vorher so hellsichtig zuerkannt hat. Denn für Schopenhauers immanentes Weltverständnis konnten musikalische Ausdruckswelten wie die eines Palestrina, Bach oder Mozart höchstens eine exquisite Dekoration für ein System des pessimistischen Nihilismus abgeben. Ein anderer Anti-Kantianer ist Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (1775– 1854). Er erklärt 1800 in seinem Identitätssystem die ganze Welt zum Kunstwerk. Denn das Kunstwerk sei diejenige Erscheinung, worin die Vernunft am reinsten und vollsten zur Entwicklung gelange: die Kunst sei »das wahre Organon der Philosophie.« Hier ereigne sich jene Einheit, die realgeschichtlich in unvordenklichen Zeiten einmal existierte: die Einheit von Subjekt und Objekt, das wahre Glück ungebrochener Identität. Er lässt Mensch und Natur aus einem gemeinsamen Weltgrund hervorgehen, den er als das »Absolute« bezeichnet und mit der »absoluten Vernunft« gleichsetzt. In ihr ist die Einheit von Idealem und Realem, Geist und Natur verwirklicht. Die Entzweiung und Entfaltung vollzieht sich in der Geschichte und in verschiedenen Potenzen und Stufen. Aufgabe der Philosophie und noch mehr der Kunst ist es, in »genialer Intuition« das »Absolute« als »Urselbst« wieder zu erfassen. Dabei erhält die Kunst als »ästhetisch intellektuelle Anschauung« den eindeutigen Vorrang gegenüber der diskursiven Verstandesreflexion, denn »das Kunstwerk reflektiert uns die Identität der bewußten und der bewußtlosen Tätigkeit«, es vereine nicht nur »Natur und Freiheit«, sondern hat den »Grundcharakter« einer »bewußtlosen Unendlichkeit«14 mit der Nähe zu Mythos und göttlicher 13

Schopenhauer, Sämtliche Werke, 6 Bde. hg. v. A. Hübscher, Leipzig 1938, Bd. IV, S. 446.

14

F. W. Schelling, Philosophie der Kunst, Vorlesungen zu Jena und Würzburg 1802–1805, Stuttgart u. Augsburg 1859, in: Schellings Werke, Bd. 3, hg. v. M. Schröter, 2. Aufl. München 1965 sowie Texte zur Philosophie der Kunst, ausgew. u. eingel. v. W. Beierwaltes, Stuttgart 1982, S. 112 ff.

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Offenbarung. Deswegen handelt der Künstler unbewusst, und es gelingt ihm eben damit, das »Absolute« intuitiv zu gestalten. Damit bringe er in »unbewußter Genieproduktion« jene »Unendlichkeit des Sinnes« in das objektive Kunstwerk, welche die bewusste Absicht des Künstlers weit überrage (Werke, Bd. 3, S. 619–620). Dadurch wird er zum Demiurgen, der im selbstständigen Hervorbringen von Natur durch den ästhetischen Prozess eine Natura naturans erschafft, in der das Werk wichtiger wird als deren Urheber. Dieses Genie billigte Schelling übrigens nur dem Künstler zu, nicht dem Wissenschaftler. Gleichzeitig bereitet er damit den ›Geniebegriff‹ der romantischen Kunstreligion vor wie auch den Werkbegriff des autonomen Kunstwerks, eine der festen Größen abendländischer Ästhetik – wenigstens bis zur Moderne. Die Musik hat in diesem Konzept große Bedeutung. Ihre Formen sind für Schelling Formen der ewigen Dinge einer Kunst, die das Körperliche am meisten abgestreift habe. Die ewigen Dinge oder Ideen werden materiell in den Weltkörpern offenbar und die Formen der Musik brächten nichts anderes zur Anschauung als die Formen des Seins und des Lebens der Weltkörper: urbildlich vernommener Rhythmus und Harmonie des Universums selbst. Er nimmt ausdrücklich Bezug auf das Bild der Sphärenmusik von Pythagoras und gibt der »idealen« unsinnlichen »Musik« als Verhältnis ihrer intelligiblen Proportionen den Vorrang vor der sinnlichen. Damit folgt Schelling der alten Auffassung der Antike, wonach sich musikalische Ideen nicht vordergründig im menschlichen Gefühlsleben erschöpften, sondern auf eine tiefere kosmologische Ordnung verwiesen. »Die Kunst ist eben deßwegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln, ebenso wie im Denken, ewig sich fliehen muß …« Mit dieser Quintessenz vollendet Schelling sein System des ›Transzendenten Idealismus‹ und etabliert die Ästhetik nicht nur endgültig als Philosophie der Kunst, sondern verleiht ihr als vornehmste Legitimation aller Vernunft kaum weniger Rang wie Nietzsche als »Rechtfertigung der Welt …«.15

Ein Begräbnis als Evokation: G. F. W. Hegel Als Höhepunkt der idealistischen Kunstphilosophie aber gilt Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Allerdings ist es auch ein Finale. In seinem Grundkonzept bleibt Hegel idealistischer Metaphysiker. Das Schöne ist das Unterpfand des Wahren, das in der Reflexion darüber als die zugrunde liegende Idee erfasst wird: damit wird das Schöne das »sinnliche Scheinen der Idee«. 15

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Schelling, System des transzendentalen Idealismus, 1800, 6. Hauptabschnitt, in: Schellings Werke, Hauptbd. 2, München 1927–1928, Unveränd. Nachdr., München 1958–1959, S. 628.

»Die Wahrheit wäre nicht, wenn sie nicht schiene und erschiene« (Einleitung zur Ästhetik, I)16. Bezeichnend für den platonischen Akzent dabei ist, dass das ›Kunstschöne‹ weit über dem ›Naturschönen‹ fungiert, weil es eine »aus dem Geiste geborene und wiedergeborene Schönheit« repräsentiere. Deshalb unterscheidet sich auch der falsche Schein der Welt vom wirklichen Schein der Idee: »Den Schein und die Täuschung dieser schlechten, vergänglichen Welt nimmt die Kunst von jenem wahrhaften Gehalt der Erscheinungen fort und gibt ihnen eine höhere, geistgeborene Wirklichkeit. Weit entfernt also, bloßer Schein zu sein, ist den Erscheinungen der Kunst der gewöhnlichen Wirklichkeit gegenüber die höhere Realität und das wahrhaftigere Dasein zuzuschreiben« (Ästhetik, I, S. 20). Deshalb ist Ästhetik für Hegel explizit, wie einst für Baumgarten implizit, die »Philosophie der schönen Kunst«. Dabei schenkt er der Musik allerhand Beachtung. Er billigt dem Ton (im Unterschied zur Malerei) zu, dass er »das Ideelle gleichsam aus seiner Befangenheit im Materiellen« loslöst und er erkennt den Relationen zwischen Tonika, Mediante und Dominante qualitative Bedeutung zu. Über die Melodie äußert er, sie sei die »eigenste Seele der Musik, in der das reine Ertönen des Inneren stattfindet« und er preist die »wahrhaft idealistische Musik«, als »der melodische Ausdruck in Palestrina, Durante, Lotti, Pergolesi, Gluck, Haydn, Mozart«. Er bescheinigt Schikaneders Libretto zu Mozarts Zauberflöte, dass es zu den »lobenswerten Opernbüchern« zähle und der religiösen Musik eines Palestrina und Pergolesi, dass sie »zum Tiefsten und Wirkunsgsreichsten, was die Kunst überhaupt hervorbringen kann« gehöre.17 Methodisch allerdings bringt Hegel den Begriff der Ästhetik auf eine ganz neue Stufe. Das erfolgt mittels seiner dialektischen Methode, die er selbst auch die »spekulative« genannt hat. Damit bringt er das »objektive Außen« und das »subjektive Innen« in eine ganz neue Beziehung. »Wahrnehmung« hat für ihn von Anfang an den Doppelcharakter eines Erfassens gegebener Objektivität (als »Vernehmen des Wahren«) und gleichzeitig eines subjektiven »Für-wahr-Nehmens«. Im Akt des Wahrnehmens ist nämlich immer schon die Erfahrung enthalten, »daß das Ding sich für das auffassende Bewußtsein auf eine bestimmte Weise darstellt, aber zugleich aus der Weise, in der es sich darbietet, heraus und in sich reflektiert ist …« Damit schafft die Wahrnehmung zwar »sinnliche Einheit«, gelangt aber erst gleichsam als Bearbeitungsobjekt des reflektierenden Bewusstseins zur »Wahrheit«, wird eine sinnliche Allgemeinheit zu einer »unbedingten absoluten Allgemeinheit«. Das bedeutet aber, dass die sinnliche Wahrnehmung durch die geistige Reflexion stets aufgehoben, ihres eigenständigen Wesens entkleidet und zum bloßen Material der Reflexion wird. Dem zufolge hebt dieser dialektische Prozess den Gegensatz von

16

G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, I–III, neu edierte Aufl. in 20 Bänden, Redaktion v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Bd. 13–15, Frankfurt a. M. 1986.

17

G. F. Hegel, Ästhetik III, Werke Bd. 15, S. 121, 196–197, 207, 211, 324.

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Subjektivität und Objektivität des Ästhetischen auf und führt, als dritter Schritt seiner Dialektik, zur reflektiven Annäherungen des »Geistes an sich selbst.« Das aber ist letztlich das zentrale Erkenntnisanliegen Hegels: Alle sinnlich wahrgenommene Schönheit, jedes Kunstwerk ist nur Ausgangspunkt, von dem aus sie erst im dialektischen Fortschreiten mit seinen Durchgangsstufen im Selbsterkenntnisprozess des Geistes ihre Vollendung und ihren höchsten Zweck finden. Das elegante denkerische Verfahren, »subjektive« sinnliche Wahrnehmung nicht als Manifestation einer eigenen »Seinsqualität« über das Empfindungsvermögen anzuerkennen, sondern erst in einer »objektiven« Reflexion des Geistes darüber quasi zu legitimieren, hat massive Folgen bis heute. Denn Hegels »Geist«Begriff meint kein Spirituelles oder gar Numinoses, sondern »Geist« bedeutet ihm – abgesehen vom Konstrukt eines obskuren »Weltgeistes« – genau wie für Kant, nur den Intellekt mit seinen Verstandesbewegungen im Gehirnbewusstsein. Von da aus entwirft er seine umfassende »Philosophie des theoretischen Geistes«. Eine ihrer zentralen Perspektiven ist ein historisches Denken, das die evolutionäre Selbstentfaltung des »Geistes« als menschheitsgeschichtlichen Evolutionsprozess versteht. Seine glänzende, konkrete Bestätigung erfährt er durch die Erfolge in zeitgenössischer Wissenschaft, Naturbeherrschung und Weltveränderung im anbrechenden »Industriezeitalter« bis hin zur grandiosen politischen Manifestation als »Preußischer Staat«. Dieses historisch-evolutionäre Denken findet seine Entsprechung in Hegels Kunstverständnis. Er begreift alle grundlegenden ästhetischen Kategorien als eine Abfolge von der symbolischen Kunstform über die klassische bis zur romantischen. Am Schluss einer analytischen Durcharbeitung aller Gattungen in seinem »System der einzelnen Künste« (Ästhetik, II und III) von der Architektur über Plastik, Malerei und die Musik bis zu allen Formen der Literatur steht schließlich die Komödie. Hier trifft er auf den Zeitgeist. Denn die »Ausbildungsarten« der Gattung mit ihren »zufälligen Schiefheiten, Lächerlichkeiten, Torheiten und komischen Verwicklungen« verfallen seiner heftigen Kritik: »Doch auf diesem Gipfel führt die Komödie zugleich zur Auflösung der Kunst überhaupt«, urteilt er. Vorher macht er dem alten »Absoluten, Ewigen und Göttlichen« zwar noch eine idealistische Reverenz: »Der Zweck aller Kunst ist die durch den Geist hervorgebrachte Identität, in welcher das Ewige, Göttliche, an und für sich Wahre in realer Erscheinung und Gestalt für unsere äußere Anschauung, für Gemüt und Vorstellung geoffenbart wird. Stellt nun die Komödie diese Einheit nur in ihrer Selbstzerstörung dar, indem das Absolute … durch die im Elemente der Wirklichkeit jetzt für sich frei gewordenen nur auf das Zufällige und Subjektive gerichteten Interessen zernichtet sieht, so tritt die Gegenwart und Wirksamkeit des absoluten nicht mehr in positiver Einigung mit den Charakteren und Zwecken des realen Daseins hervor, sondern macht sich nur in der negativen Form geltend …« (Ästhetik, III). Das ist auf den ersten Blick nichts weiter als eine veritable Kunstkritik – die Diagnose eines Verfalls, demonstriert an einer Erscheinung seinerzeitiger Kunstproduktion. Womöglich sogar eine erste qualifizierende Differenzmarke wie zwischen

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der modernen von ›E‹- und ›U‹-Kunst –, obwohl die Komödie schon in der griechischen und römischen Antike fraglos zum Kulturkanon gehörte. Das akzidentielle Urteil erhält allerdings ein ganz anderes Format, nimmt man dazu, was Hegel, quasi das ›Komödien‹-Verdikt antizipierend, bereits in der Einleitung zu seiner Ästhetik ausführt (Teil I, »Begrenzung und Sicherstellung der Ästhetik«). Dort wird Hegel deutlicher. Nachdem er noch idealistisch über die »hohe Stellung« der Kunst referiert hat sowie über »den echten Inhalt, wie dies z. B. bei den griechischen Göttern der Fall ist«, erklärt er: »… vor allem erscheint der Geist unserer heutigen Welt, oder näher unserer Religion und unserer Vernunftbildung, als über die Stufe hinaus, auf welcher die Kunst die höchste Weise ausmacht, sich des Absoluten bewußt zu sein« und fährt fort: »… wir sind darüber hinaus, Werke der Kunst göttlich verehren und sie anbeten zu können; der Eindruck, den sie machen … bedarf noch eines höheren Prüfsteins und anderweitiger Bewährung. Der Gedanke und die Reflexion hat die schöne Kunst überflügelt.« Schließlich resümiert er: »In allen diesen Bestimmungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes.« Das ist mehr als bloße, akzidentielle Kunstkritik. Das ist vielmehr die Engführung von reflexivem Kunstverständnis und historisch-evolutionärem Denken zu einem erkenntnisschweren Resümee. Seine Wirkung hat Zukunft. Denn es erweist sich als Indiz einer neuen Bewusstseinslage. Sie bestimmt die abendländische ästhetische Reflexion bis heute und wird zu einer Signatur der Moderne. Ihr attraktives Potenzial zeigt sich als frappierende Evidenz: im Eindringen des historischen Denkens in das 19. Jahrhundert als Fortschrittsdenken. Hegels »Weltgeist«, so scheint es, synchronisiert auf wunderbare Weise dessen philosophische Denkfigur mit der kollektiven Realität: der Ausbreitung der Vergangenheit im aufblühenden Historismus. So gilt das Denksystem Hegels zwar als brillante Apotheose der idealistischen Kunstphilosophie – fungiert aber zugleich als ihr Totengräber. Es ist der spekulative Höhepunkt eines hochreflektierten Gedankengebäudes, dessen idealistischplatonischen Abglanz die Philosophiegeschichte mit den schönen Bezeichnungen vom absoluten oder logischen Idealismus retten will. Es ist aber auch eine Bestattung der Kunst als »Darstellung des Absoluten« zugunsten der »lebendigen Gegenwart des Menschen« in seiner konkreten »historischen« Erscheinung. Für den aber wird das Begräbnis zur Evokation. Denn was Hegel als Abgesang intoniert, versteht man bald als Befreiungshymne eines neuen Kunstdenkens. Was Verfallskritik war, wird zur Diagnose eines grundlegenden Funktionswandels der Kunst. Noch in der aktuellen Moderne tönt sein Echo nach: über »Kunst nach dem Ende der Kunst« reflektiert ein von Hegel und Andy Warhol inspirierter Kunstphilosoph (Arthur C. Danto). Und ein anderer, ob ihrer Abdankung besorgter Kunsthistoriker spricht vom »Ende der Kunstgeschichte« (Hans Belting).

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VII Erhabene Humanität oder: die neue Musiksprache der ›Wiener Klassiker‹ Die Kunst dieser Zeit fügt sich Hegels ästhetischem Exitus allerdings keineswegs. Im Gegenteil. Und zum Glück. Bezeichnend ist, dass Hegel seinen im gleichen Jahr (1770) geborenen musikalischen Zeitgenossen Beethoven offenbar gar nicht wahrnimmt. Der aber ist nicht nur Zeugnis dafür, dass die »Kunst« eine Bedeutungsmacht bleibt, in der immer noch genügend ihrer »höchsten Bestimmung« Ausdruck findet. Er steht auch für eine ›Kunst‹, die sich zu einem europäischen Höhepunkt bewegt: mit der ›Weimarer Klassik‹ von Goethe und Schiller und mit den ›Wiener Klassikern‹ Haydn, Mozart und – Beethoven.1 Als der Thomaskantor Bach 1732 in eine größere Dienstwohnung der Thomasschule einzieht, wird im gleichen Jahr in einem kleinen niederösterreichischen Dorf Franz Joseph Haydn geboren. Er ist das zweite von zwölf Kindern im bescheidenen Haushalt eines Wagenbauers in Rohrau. Ein Jahr später, 1733, überreicht Bach Kyrie und Gloria seiner h-Moll-Messe dem sächsischen Kurfürsten, um den Titel eines Hofcompositeurs zu erhalten. Im selben Jahr komponiert ein blutjunger Neapolitaner eine spritzige Einlage zur traditionellen opera seria, die mit flinken Dialogen und vitaler szenischer Aktion Schule macht: die musikalische Komödie La serva padrona. Ihr Komponist heißt Giovanni Battista Pergolesi. Während Bach 1750, in seinem Todesjahr, noch an seinem Vermächtnis kontrapunktischer Künste arbeitet, erhält ein böhmischer Geiger seine Bestallung als ›Instrumental-MusicDirector‹ am Hof von Kurfürst Karl Philipp in Mannheim: Johann Wenzel Anton Stamitz. Auch er wird mit einem neuen, vitalen Orchesterstil bald Schule machen. Bereits sechs Jahre nach Bachs Tod wird in Salzburg Wolfgang Amadeus Mozart geboren. Ein Jahr später komponiert Haydn sein erstes Streichquartett B-Dur. Es zeigt, genau wie das wenig später entstandene Opus 1 von Stamitz, die Symphonie avec clarinets et cors de chasse und genau wie Pergolesis leichtfüßige Buffakomödie, alle Anzeichen einer sich schnell verändernden Musiksprache. Stamitz’ Opus, in Paris uraufgeführt, wird als Sinfonie d’Allemagne nicht nur begeistert applaudiert, sondern avanciert zum Markenzeichen eines neuen Stilgenres. Als schließlich 1752 der Bachsohn Carl Philipp Emanuel das Vermächtnis seines Vaters, die unvollendete Kunst der Fuge zur zweiten Druckedition bringt, tobt dort in Paris der ›Buffonistenstreit‹ zwischen den Parteigängern der lockeren italienischen Buffa-Oper und der ehrwürdigen seria-Tradition von Lully – entzündet an der gefeierten Aufführung von Pergolesis La serva padrona.

1

Für die Musikgeschichte unternimmt Martin Geck einen vorsichtigen Versuch, eine innere Verbindung beider ›Klassiken‹ unter dem Aspekt des ›Idealismus‹ herzustellen: Von Beethoven bis Mahler. Die Musik des deutschen Idealismus, Stuttgart u. Weimar 1993.

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In einer kurzen Zeitspanne verändert sich musikalisch mehr als in den 100 Jahren zuvor. Wie in einem seltsamen Zeitraffer reiht die Musikgeschichte schon den nächsten Gipfel knapp hinter dem vorigen: Haydn, Mozart und Beethoven so unvermittelt nach Bach und Händel, dass man später kaum begreift, wie schnell die letzteren vergessen waren. Eine musikalische Welt verschwindet. Die weitgesponnene Polyphonie zerfällt in Melodie und Begleitung, die stabile Fügung eines kunstgerecht regulierten Stimmenverbandes in labile Kleingliedrigkeit, die großen Affekte in kleine Seufzer und Girlanden oder einen Ministurm im Wasserglas. Mit dem Genügen an einer Melodie kollabiert der große polyphone ›Raum‹ kunstreich koordinierter Synchronizität vieler Melodien zur Reihung diachroner Abläufe: aus dem musikalischen Raumgefühl wird ein temporeiches Zeitgefühl. Der große Atem vielstimmiger Disposition weicht der kurzatmigen Phrase, den unregelmäßigen Perioden und schnellen rhythmischen Umschwüngen. Die Fuge als Konzentrat polyphonen Denkens und Ausdruck einer ganzen Musikkultur bis zu Bachs unüberbietbarem Formenkosmos verschwindet wie Palestrina hinter Monteverdi oder wie Salieri vor Mozart und Rossini vor Beethoven. Schnell bricht sich eine ganz andere musikalische Ausdruckswelt Bahn: Man hat sie als eine »Zweite Kultur der Sonate« im Unterschied zur »Ersten der Fuge« bezeichnet (August Halm) und markierte sie als Anbruch des »Zeitalters thematischer Prozesse« (Karl H. Wörner). Mit den Etiketten von ›Empfindsamkeit‹ oder ›Sturm und Drang‹ hat die Musikgeschichtsschreibung die unentschiedenen Tendenzen dieser Zeit zu fassen versucht, eher die Schwäche der Epoche von 1750 bis 1775 artikulierend als die Stärke als Keimzelle eines neuen Idioms, wie es der freundlichere Begriff der ›Vorklassik‹ unternimmt.2 Wie in einem Prisma leuchten die Spektrallinien des Übergangs noch im versprengten Erbe der Bach-Söhne auf: beim genialen Exzentriker Wilhelm Friedemann die kontrapunktische Potenz im Geist des großen Vaters, – aber meistens schnell kollabierend in subjektive Affektstürme, beim berühmten Carl Philipp Emanuel in seinem ausdrucksvollen, immer solide gearbeiteten, manchmal überraschenden, aber oft ein wenig zusammenhangslosen Idiom und schließlich beim ›Londoner‹ Bach, Johann Christian, in einer liebenswürdigen, kantablen Italianità, sensibel und frisch – aber oft auch ein wenig blutleer und unverbindlich. ›Mannheim‹ dagegen steht für die Entwicklung einer neuen Orchesterkultur in Klang und Dynamik. Stamitz führt dort das Horn und die Klarinette ein. Damit verändert sich nicht nur die Klangfarbenpalette, sondern auch die Semantik der Partituren: die Bläserriege beginnt sich als eigener, gleichberechtigter Bedeutungspartner der Streicher zu formieren. Aber nicht nur als bloße Kontrastsphäre,

2

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Vgl. P. Rummenhöller, Die musikalische Vorklassik. Kulturhistorische und musikgeschichtliche Grundrisse zur Musik im 18. Jahrhundert zwischen Barock und Klassik, München u. Kassel 1983.

wie vorher, sondern als eine in die ganze Faktur integrierte Klangdimension – ein Prozess, der sich schließlich in der Orchesterkultur der ›Wiener Klassik‹ vollendet. Eine zweite Veränderung der Semantik vollzieht sich mit der Dynamisierung des Klangbildes. »Kein Orchester der Welt hat es je in der Ausführung dem Mannheimer zuvor getan … Sein Forte ist ein Donner, sein Crescendo ein Katarakt, sein Diminuendo ein in der Ferne hinplätschernder Krystallfluß, sein Piano ein Frühlingshauch« rühmt der Schriftsteller und Komponist aus der ›Schwäbischen Liederschule‹ Christian Daniel Schubart dessen dynamischen Ausdrucksqualitäten. Auch Leopold Mozart hält dieses Orchester 1763 für »ohne Widerspruch das beste in Teutschland.« Nach der Vereinigung mit dem Münchner Hofopernorchester als Folge des dynastisch bedingten Wechsels von Kurfürst Carl Theodor nach München, wird das neue Ensemble zum Highlight Europas. Überschwänglich rühmt es noch Vater Mozart 1781 anlässlich der Aufführung des Idomeneo seines Sohnes in München. Klang und Aufführungskultur gehen aber Hand in Hand mit einer artikulationsreichen musikalischen Idiomatik. Gespeist aus dem Humus italienisch-böhmischen Musikantentums entwickelt der virtuose Geiger Stamitz das Repertoire an neuen Ausdrucksmitteln auch als Komponist. Es sind die Konzerte, »wo Stamitz zuerst über die Grenzen der gewöhnlichen Opernouvertüren hinwegschritt, die bis dahin bei dem Theater gleichsam nur als Rufer im Dienst standen, um durch ein ›Aufgeschaut‹ für die auftretenden Sänger Stille und Aufmerksamkeit zu erhalten … Hier ist der Geburtsort des Crescendo und Diminuendo, und hier war es, wo man bemerkte, daß das Piano sowohl als das Forte musikalische Farben sind, die so gut ihre Schattierungen haben, als Rot und Blau in der Malerei« (der europäische Musikreisende Charles Burney).

Die Impulskräfte einer neuen Ausdruckswelt Die Harmonik ist bei Stamitz meistens einfach, aber er erhöht ihre Wirkung durch dynamische Schattierungen, kühne Rückungen und Modulationen, erfindet prägnante Themen und konfrontiert sie scharf als erstes und zweites Thema, legt Wert auf eine dramatische Entwicklung der Durchführung und macht das Menuett zum regulären Bestandteil der Sinfonie. Die europäische Wirkung der ›Mannheimer Schule‹ zeigt sich in der Flut ihrer Notendrucke, die in Paris, London, Brüssel und Amsterdam ediert werden. Mitten im Zerfall des Alten organisiert sich eine neue Konzeption der musikalischen Satzfaktur. Bereits bei Domenico Scarlatti gestalten Zweitaktgruppen, oft zusammengefasst zu Vierertaktperioden, die Kurzatmigkeit seiner Sonaten schon als abwechslungsreiche Kurzweiligkeit. In Pergolesis La serva padrona wird, inspiriert von der florierenden Commedia dell’arte, der Stegreifkomödie, und dem Théâtre de la Foire, eine flotte Aktion mit neapolitanischer Vitalität umgesetzt und so ein

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Bühnengeschehen mit seiner unberechenbaren Dynamik des Augenblicks musikalisch eingefangen. Es ist die gleiche Wandlung der Dramaturgie, wie sie im Theater der Zeit stattfindet, wo die Charakterkomödie von der Situationskomödie entthront wird und Molière von Gozzi, Beaumarchais oder Marivaux. Das illustriert eine Verschiebung der Bedeutungsqualitäten, wie sie in der Herkunft der Bezeichnung erinnert wird: ›Komödie‹ kommt aus der griechischen Bezeichnung für ›Dorf‹ (Kome): die ersten Schauspieler waren in Dörfern aufgetreten.3 Das bedeutet aber auch eine Beschleunigung des narrativen Tempos zu wechselvollem Intrigenrhythmus und spritziger Situationskomik. Schon in der ersten Arie des Uberto bei Pergolesis flotter buffa äußert sich der neue Pulsschlag exemplarisch. Wenn Uberto vom »aspettare« redet – dann wartet man lange und gespannt auf ihn, aber: »e non venire« – er kommt nicht. Dramaturgischer Angelpunkt ist eine Achtelpause dazwischen. Weil sie die erste Zählzeit des Taktes einnimmt, läuft dessen Betonungsschwerpunkt ins Leere und erzeugt damit eine semantisch bedeutsame Lücke. So entsteht ein musikalisches Bild der getäuschten Erwartung. Der neuen Dynamik von Aktion und Reaktion, einer Plötzlichkeit von situativem Geschehen, kann die musikalische Struktur nicht mehr mit organischer melodischer Linie, adretten Symmetrien oder einem einheitlichen Affektausdruck gerecht werden, sondern höchstens mit Partikeln und Gliedern. Nicht die Kohäsion der Satzfaktur hält sie zusammen, sondern die dramaturgische Vorstellung eines identischen ›Ichs‹ der jeweils handelnden Person.4 Aber auch diese Klammer kann schließlich wegfallen, wenn die ›abstrakte‹ Instrumentalmusik aus ihrer Erfahrung mit dieser neuen, impulsstarken Satzstruktur ihre eigene Eloquenz entwickelt. Ein bezeichnendes Beispiel liefert das erste Streichquartett von Joseph Haydn, op. 1 Nr. 1 in B-Dur. Gleich im ersten Satz ›Presto‹ stört eine scheinbare Kleinigkeit die reibungslose Exposition der Themen. Vor Eintritt eines zweiten Gedankens (Takt 17–20), den man als zweites Thema verstehen darf, entsteht durch eine Pausenlücke die Brechung des auftaktigen Anfangsimpulses der Takte 1–16. Der erwartete Auftakt zu Takt 17 fällt weg: Man stolpert gewissermaßen und fällt in ein rhythmisches Loch. Es geht weiter mit dem abtaktigen Gedanken, bis sich das auftaktige Motiv, der Hauptgedanke des Stücks, zunächst gewissermaßen taumelnd in Takt 21–22, aber schließlich festigend in Takt 23–24 wieder durchsetzt. Dazu kommt die Faktur der Harmonik, wo die Spannungsakkorde von Dominante oder

3

Die Bezeichnung ›Drama‹ geht auf das dorische dran d. h. handeln zurück, ›Komödia‹ auf kome, d. h. Dorf. Aristoteles, der daran erinnert, dass die Komödie eine Darstellung ist, die ursprünglich im Dorf stattfand, bemerkt dazu: »Dies ist der wesentliche Unterschied zwischen Tragödie und Komödie, denn diese nimmt sich vor, schlechtere Menschen nachzuahmen, und jene bessere« (Poetik 1448 a 16 und a 28).

4

Vgl. Th. G. Georgiades, Aus der Musiksprache des Mozart-Theaters (1951), in: Georgiades, Kleine Schriften, Tutzing 1977 (= MVM 26), S. 11 ff.

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Subdominante auf die betonten ›starken‹ Taktteile fallen, der Entspannungsakkord der Tonika aber auf den ›schwachen‹, unbetonten Taktteil. Erst in den beiden letzten Takten wird der Widerstreit zwischen harmonischer und metrischer Gewichtsverteilung mit dem Tonika-Akkord auf der betonten Zählzeit zur vertrauten Schlussbekräftigung aufgehoben.5 Man geht nicht fehl, wenn man in dieser neuen, aufgelockerten Satzfaktur, den behänden Umschwüngen und unerwarteten Pausen, den überraschenden Modulationen und asymmetrischen Perioden ebenso wie im Vergnügen am Exzentrischen, Spaßhaften und Humorvollen einen Charakterzug von Haydns musikalischem Temperament erkennt: eine Art von Musikantentum, dessen lautere Ursprünglichkeit und agile Experimentierfreudigkeit man hinter der späteren Veredelung zur hochgemuten ›Klassik‹ nicht vergessen sollte. Er behält diesen Zug bis in seine souveränen Spätwerke und er entzückt und überrascht uns damit bis heute. Dazu gehören auch seine ohrentäuschenden Verwirrungseffekte: ein Stück in der ›falschen‹ Tonart beginnen zu lassen wie in der D-Dur-Sinfonie (Hob. I:62), wo sich die beiden ersten Takte in einem mysteriösen Niemandsland der Tonarten bewegen oder wie in der Klaviersonate Es-Dur (Hob. XVI:52) mit ihrem entlegenen E-DurBeginn. Nicht weniger Ohrentäuscherei betreibt Haydn im Finale der C-Dur-Sinfonie Nr. 90, wo die Hörer »Allegro assai« mit einem hinterhältigen, koboldhaften Trugschluss an einen Abgrund geführt werden: nach vier Takten Generalpause, mit denen Haydn uns weismacht, das Stück sei wohl doch zu Ende, wenn auch ungeschickt verstolpert, setzen Streicher und Fagott pianissimo wieder ein, freilich um einen Halbton zu hoch, also quasi in der falschen Tonart. Ein Überraschungseffekt, der auch nach mehr als 200 Jahren nichts von seiner Wirkung eingebüßt hat. Ähnliche Effektspiele erlaubt sich übrigens auch Carl Philipp Emanuel Bach in seinen Klaviersonaten, etwa in den Sonaten von 1779 (Nr. 5 F-Dur mit einem c-MollAnfang oder bei Nr. 3 in h-Moll mit Beginn in D-Dur). Aber die entscheidenden Hinweise für das Verständnis von neuem ›Geist‹ und neuer Struktur in Haydns Instrumentalmusik liefert ihr Hintergrund: das musikalische Aktionsgeschehen der Theaterbühne. Denn seit dem Erscheinen der Sonnenquartette 1772 war Haydns Schaffen vor allem von komischen Opern für den Hof von Esterházy in Eisenstadt bestimmt. Zwischen 1762 und 1784 komponierte er dort 24 italienische Opern. Sogar ein beträchtlicher Teil seines damaligen sinfonischen Werks verdankt sich Arrangements aus seinen Opern und Bühnenmusiken zu verlorenen Schauspielen. Zwar sind Haydns Opern heute fast so vergessen wie die musikdramatischen Unternehmungen von Schubert. Aber in diesem Genre bildete sich sein instrumentales Stilidiom an der Erfahrung mit der lebendigen Drama-

5

Genau beschrieben bei Th. G. Georgiades, Zur Musiksprache der Wiener Klassiker (1951), in: Kleine Schriften (1977), S. 33 ff.

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turgie des Bühnengeschehens, den impulsgesteuerten Aktionsmustern, die sich als »komponierte Spontaneität« (Gernot Gruber) oder als »Theaterhaltung« (Thrasybulos Georgiades) im Komponieren niederschlagen und die vitale Dynamik seiner Werke ausmachen.6 Das aber heißt nichts anderes, als dass die ›absolute Musik‹ von Sinfonie, Sonate und Kammermusik so vom kasuistischen Geschehen dramatischer Szeneneinfälle und menschlicher Affekte inspiriert wird, wie am Anfang ihrer Geschichte von Tanz und Vokalmusik. »Das Tempo des klassischen Rhythmus ist das Tempo der komischen Oper« (Charles Rosen). Zugleich ist es eine Erinnerung an die Genealogie der Komödie aus dem antiken Aktionsraum des ländlichen Dorfes. Betrachtet man diese Anverwandlung also unter dem Aspekt der reinen ›Kompositionsgeschichte‹, wie es eine progressive Musikgeschichtsschreibung gerne unternimmt, so erweist sich diese neue Physiognomie des musikalischen Satzes als Reflex und Verselbstständigung dieser Elemente: Es ist quasi die instrumentale Abstraktion der »Theaterhaltung.« Ihre Umsetzung führt zu einer neuen Zeitstruktur im musikalischen Satz. Sie äußert sich als neue Organisation des Rhythmischen genauso wie in der Dynamik von ›thematischen Prozessen‹ in Sonate und Sinfonie oder im Streichquartett mit einer Satzfaktur, die mit Splittern von Motiven und Themen spielt. Musikologisch ist sie als ›durchbrochene Arbeit‹ bezeichnet worden. In der Musik von vorher gab es zwar viele ausgeprägte Rhythmusmodelle, die hauptsächlich aus den verschiedenen Tanztypen stammten. Aber der Ablauf des kontrapunktischen Satzes folgte einem kontinuierlichen, linearen Fluss. Er strömte gewissermaßen durch die Taktstriche des Metrums hindurch und gehorchte viel weniger einer Topographie der Taktschwerpunkte als den Bewegungstendenzen des melodisch-polyphonen Geflechts. Jetzt wird gezählt. Und zwar zweifach. Denn jetzt können melodisches und harmonisches Geschehen einerseits und Taktmetrum andererseits getrennt gehandhabt werden: und zwar systematisch – in dramaturgischer Absicht. Viele Beispiele von Pergolesi und Haydn zeigen anschaulich, genau wie bei Mozart und Beethoven, wie man die neue Zeitstruktur deuten kann, nämlich als ein eigenbestimmtes musikalisches Geschehen, das in das Schema des quasi leeren Taktmetrums mit seinen Betonungsschwerpunkten hineingesetzt wird – nach dem Willen des Komponisten. Eine Willkür mit Methode, denn sie erschafft eine neue Artikulation, weil sie die Möglichkeiten zweier unterschiedlicher Impulsebenen nützen kann: derjenigen von Auf- und Abtaktigkeit und der des Duktus mit oder gegen das Betonungsschema des Taktmetrums: »Die Zerlegung der bis dahin vermeintlichen Einheit von rhythmisch-tonlicher Gestalt und metrischer Gewichtverteilung in zwei selbstständige, gesondert zu handhabende Größen« (Thr. Georgiades). Ihr verdankt man die verblüffende Wirkung eines »materielo6

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Wie eng die Verbindung von Oper und Sinfonie war, zeigt sich daran, dass die Begriffe ›Ouvertüre‹ und ›Sinfonie‹ oft das Gleiche bezeichnen konnten und sowohl bei Haydn wie bei Mozart auch direkt zusammenhängen können, vgl. E. Sisman, Haydn’s Theater Symphonies, in: JAMS 43 (1990), S. 292 ff.

sen Taktes« (Thr. Georgiades) oder einer Ungleichzeitigkeit von Klang und Taktschlag, »wenn jede harmonische Stufe gewissermaßen das Echo eines Taktschlags sein kann und nicht dieser selbst, sein Gewicht also in der Pause gefühlt und dann erst vom Klang reflektiert wird« (Charles Rosen). Haydn demonstriert es genial im Es-Dur-Quartett, dem zweiten aus seinem Opus 33, wo etwa die Folge in der Dynamik f-pp-p in Takt 22 und 24 ganz »klassische Dynamik« ist.7 Hier steht man vor einem völlig anderen Konzept als im ›kontinuierlichen Satz‹ der Generalbasszeit. Deshalb hat man die Auflösung dieses Idioms zu Fragmenten, Partikeln und den schnellen Wendungen einer ›Theaterfaktur‹ als diskontinuierlichen Satz bezeichnet und zu einem Merkmal des Idioms der ›Wiener Klassiker‹ Haydn, Mozart und Beethoven gemacht. Aus der Polyphonie verschiedener Stimmen wird eine Polyrhythmik (Thr. Georgiades), mit der unterschiedliche musikalische Aktionsebenen entstehen. Das schafft neue Möglichkeiten. Weil oft der ›Hintergrund‹ des harmonischen Gerüsts ganz anders verläuft als sein ›Vordergrund‹ in dem die einzelnen, plastischen Gestalten und Gebilde des ›diskontinuierlichen‹ musikalischen Geschehens ihr metrisches Eigenleben führen, können sie in den verschiedenen Stimmen der Partitur genauso wie in turbulenten Opernensembles nicht nur für sich stehen, sondern gleichzeitig nebeneinander agieren.8 Ein Meister dieser Anwendung ist Mozart, der uns dafür ein glänzendes Beispiel mit der Arie Non più andrai aus der Hochzeit des Figaro gibt. Für die ›thematischen Prozesse‹ sind Streichquartett, Sonate und Sinfonie die exemplarischen Austragungsorte. Ein erster Höhepunkt mit der Ausbreitung des Themas auf das ganze Gewebe der Stimmen und seine intensive Ausbeutung in der ›durchbrochenen Arbeit‹ sind Haydns Russische Quartette von 1781. Es ist sein Opus 33, »auf eine gantz neue besondere art« komponiert, wie er eigens anmerkt. Sie demonstrieren, wie sich das Streichquartett aus einem harmlosen Miteinander von Solovioline und Begleitinstrumenten zu einer Gattung von vier gleichberechtigten und selbstständig agierenden instrumentalen Persönlichkeiten entwickelt hat. Das ist eine Metamorphose, in der sich hinter dem anregenden »Konversationston« (Charles Rosen) oder dem gefälligen »Gespräch von vier vernünftigen Personen« (Wolfgang v. Goethe) der Aufstieg zu etwas wie einem Konzentrat des ›musikalischen Denkens‹ in der abendländischen Musik vollzieht. Denn diese Rolle als Keimzelle und einer Art von innovativem ›Labor‹ für neues, konzentrierten ›Formulieren‹ spielt die Gattung seitdem immer wieder, über Beethovens letzte Streichquartette bis zu denen von Schönberg und Bartók.

7

Vgl. Ch. Rosen, Der klassische Stil. Haydn, Mozart, Beethoven, Kassel u. München 1983, S. 98 ff.

8

Der Musikforscher Thrasybulos G. Georgiades hat für diese Faktur des musikalischen Satzes die Bezeichnung ›Gerüstbau‹ gefunden, wenn er die Musik der ›Wiener Klassiker‹ vorzugsweise unter dem Aspekt einer spezifischen ›Bauweise‹ ihres musikalischen Satzes untersucht. Dafür hat ihm womöglich sein biographischer Hintergrund als anfänglicher Hochbauingenieur und Brückenkonstrukteur in Griechenland den Blick geschärft. Genauer beschrieben bei Georgiades (1977), S. 22–32 u. (1977), S. 33–43.

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Das sonare als letzter Sieg über das cantare Zum normativen Gefäß sämtlicher Errungenschaften der ›Klassik‹ aber wird ein Formtypus: die Sonate. Es ist ein formales Konzept, das zu einer Ikone abendländischer Musik avanciert. Denn es bestimmt Sinfonie und Kammermusik, bei Mozart oft sogar Strukturen seines Musiktheaters und schließlich, im engeren Sinn des Begriffs, vor allem die Klaviersonate. Als ›Klingstück‹, von sonare, das abstrakte Gegenstück zum Vokalstück, von cantare, wirkt es nach einer langen Geschichte der verschiedensten Gestaltungen etwa in Triosonate, Kirchen- oder Kammersonate wie die Vollendung einer elementaren Idee: als Ausdruck einer Polarität in Gestalt musikalischer Themen, die miteinander in einem dynamischen Geschehen agieren. Als Sonatenhauptsatzform hat sie die Musiktheorie später in ein Schema gebracht, lange nachdem sie als lebendiges Gebilde ihre historischen Höhepunkte hinter sich hatte. Die Vorstellung der Themen in der Exposition entwickelt sich aus den einfachen zweiteiligen Suitensätzen, wo der erste Teil zur Dominante moduliert und der zweite wieder in die Grundtonart zurückführt: ein Vorgang, der zum Grundbestand aller musikalischen Formentwicklung zählt. Das gleiche Muster findet sich auch in der Da-capo-Arie der Oper oder im ersten Satz der neapolitanischen Opernsinfonia, vor allem bei Giovanni Battista Sammartini, sowie oft im Concerto grosso. Auch in den über 500 Cembalosonaten von Domenico Scarlatti und bei den Streichquartetten von Luigi Boccherini taucht es als quasi natürliches Element musikalischer Syntax auf, wie auch in den Sinfonien von Stamitz und den Klavierwerken von Carl Philipp Emanuel Bach.9 Aber mit der Erweiterung des ersten Teils beginnt dessen Dramatisierung. Der Vorstellung des ersten Themas folgt die Präsentation eines zweiten. Ihre Konfrontation profitiert von der spannungsvollen Bewegung aus der Tonika zur Dominante oder, später immer öfter, zu deren Vertretungen, entweder durch die parallele Durtonart, die terzverwandte Mediante oder die Subdominante: Das Spiel mit den Möglichkeiten der klassischen, tonalen Harmonik beginnt. Ins eigentliche Aktionszentrum gelangt man mit der darauf folgenden Durchführung. Sie ist das Erbe der alten Elaboratio aus der Generalbasszeit, wie sie die musikalisch-rhetorische Figurenlehre ausführlich abhandelt. Jetzt wird sie zum Schauplatz aller Ausdeutung und Verarbeitung der musikalischen Themensubstanz mit den Methoden der neuen ›diskursiven‹ Musiksprache. Aber es kann auch sein, dass hier nochmals ein neues Thema erscheint. Die Rückkehr zur Tonika markiert den Abschluss.

9

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Einen guten Überblick gibt W. S. Newman, The Sonata in the Baroque Era, Revised Edition, Chapel Hill, 1966.

Danach feiert die Reprise die Auferstehung des Themas aus seinen Metamorphosen mit der Wiederholung der Exposition – allerdings als »Behauptung einer verwandelten Identität« (Michael Gielen). Ihrer Bekräftigung dient, dass die zweite Themengruppe jetzt auf der Tonikastufe erscheint: Zusammenfassung und Lösung der vorangegangenen rhythmischen und harmonischen Spannungen. Meistens besiegelt dann eine Coda die wiedergewonnene Stabilität. Das normative Formschema der Sonate, wie es Carl Czerny um 1840 stolz in Erfinderpose präsentiert und dann A. B. Marx für die Musiktheorie fixiert, ist zu dieser Zeit bereits Scholastik. Zu ihrer Blütezeit entfaltet sich ihr Potenzial, genau wie im Fall der Fuge, in immer ganz individuellen Gestaltungen. Die theoriegezeugte Vorstellung a posteriori von einer Form ›an sich‹ lockt uns in eine Falle: »Sie verführt zu der Überzeugung, daß es im späten 18. Jahrhundert eine ›Sonatenform‹ gegeben habe, die den Komponisten bekannt war, während nichts, was wir über die Situation wissen, diese Vermutung nahe legt.« (Charles Rosen, 1983, S. 56). Das illustriert schon Haydn, der oft in seinen Sinfonien, wie etwa in denen Nr. 92 bis 94, nur ein Thema verwendet. Gleichzeitig führt er aber damit vor, was mittels der musikalischen ›Arbeitstechnik‹ der ›Wiener Klassik‹ bei sparsamstem Materialaufwand durch Um- und Verwandlung erreicht werden kann. Die Durchführung gewinnt hingegen immer mehr an Gewicht, bis sie bei Beethovens Klaviersonaten zum zentralen Kampfplatz wird. Dort tritt nach seiner »Waldsteinsonate« als ein zweiter Höhepunkt die Reprise hervor, die gelegentlich sogar mit der Durchführung wetteifert – eine Entwicklung, die seit Haydns Russischen Quartetten bis hin zu Beethovens Hammerklaviersonate zu einem typischen Charakterzug des reifen, klassischen Sonatenstils wird. Damit erweist sich der ›Sonatenstil‹ als ein Konzept, das nie von außen bestimmt ist. Seine Form entsteht vielmehr in freier Reaktion auf die thematischen Einfälle und eine Binnenarbeit mit kleinsten Teilen und Partikeln, die ›thematische Arbeit‹ eben, die schließlich – Ausweis allen Formbewusstseins – über klare Perioden zu symmetrischen Gebilden organisiert wird. Sucht man aber hinter dem vielgestaltigen Prozessgeschehen die Matrix, so wird man sie in der Auseinandersetzung mit der Polarität finden. »Zwei Prinzipien« nennt es Beethoven als der unübertroffene Meister aller musikalischen Konfliktstruktur bündig. Das erscheint wie eine Schlüsselmetapher abendländischen Musikdenkens. Was in der Fuge mit der Gegenüberstellung von Subjekt und Kontrasubjekt noch eingebunden war in einen polyphon geregelten, organischen Satzfluss in dem ›Kontinuität‹ über ›Auseinandersetzung‹ stand, entwickelt sich jetzt zu einer Art dialektischer Agitation. Damit steht man an einer Weggabelung zwischen »zwei Kulturen der Musik«, die der Fuge und die der Sonate (August Halm)10. Aber auch an einem Gipfelpunkt der ›absoluten‹ abendländischen Musik, an dem ihre Essenz verwirklicht wird, mit autonomer Syntax ohne ›Mimesis‹-Bezug zu einer äußeren, gegenständlichen ›Welt‹,

10

A. Halm, Von zwei Kulturen der Musik, München 1913.

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Ausdrucksbedeutung zu erschaffen aus eigener sinnvoll formulierender ›Logik‹. Was danach kommt, lebt, sei es in der Fortführung ihrer prozesslogischen Verfahren oder in den analytischen Spaltungstendenzen aus dem Ursprung ihrer dialektischen Faktur bis Schönberg, Hartmann oder Boulez von ihren ›Errungenschaften‹ – allerdings in völlig anderen semantischen Qualitätsbereichen. Ihre, die ›klassische‹ semantische Qualität, verdankt sich nicht zuletzt einem unerschöpflichen Beziehungsreichtum. Er äußert sich einmal im Auskosten und Ausspielen aller möglichen Verbindungen der tonalen Harmonik und zum anderen in der virtuosen Ausbeutung der thematischen Prozesse. Zum Gravitationsfeld der harmonischen Beziehungen treten die Bedeutungsgestalten verschiedener Motive und Themen. Als musikalische ›Thesen‹ gestaltet, werden sie variantenreich entwickelt und gegenübergestellt, abgewandelt, verkürzt und verlängert, zitiert oder verfremdet und entfalten so ihr energetisches Potenzial als Bedeutungsdramaturgie. Es ist eine Dramaturgie, die ohne ›Bühne‹ in ihrer wortlosen ›Abstraktheit‹ jene Triftigkeit ausstrahlt, die uns ›Sinn‹ ohne Begriffe erfassen lässt. Dass er als solcher empfunden wird, ohne dass ihr menschliches Bewusstseinssubjekt notwendigerweise diskursiv um die agierenden Klangaggregate zu wissen braucht, ist möglich, weil er offenbar in unseren tieferen kognitiven Schichten ›gelesen‹ und ›verstanden‹ und dort seelisch-emotional als bedeutsam gewertet wird. Dieses Kognitionsvermögen funktioniert auch ohne zerebrale Identifizierung von Subdominante, Dominante, Tonika oder Quartsextakkord oder die analytische Entschlüsselung der raffinierten Transfers, Verwandlungen und Vertauschungen im System der tonalen Beziehungen. Denn ohne eine Wirksamkeit als autonome Bedeutungsqualität wäre das virtuose Spiel der harmonischen Umdeutungen, Ableitungen und Neubeleuchtungen von Haydn bis Schubert, Schumann, Wagner, Brahms, Bruckner, Mahler, Richard Strauss oder Dvořák und Tschaikowsky nicht nur reizlos, sondern unverständlich. Ohne sie hätte es die Musiksprache der ›Wiener Klassiker‹ nicht zu einem nahezu globalen Verständnis gebracht, sondern wäre ein arkanes Glasperlenspiel für Eingeweihte und kennerische Dechiffreure geblieben. Wie sehr aber dieser Verständnisprozess die Geister beschäftigt hat, zeigt sich an deren Äußerungen. Friedrich Schlegel etwa vergleicht diese Faktur seit Haydn als eine Art von argumentativer Auseinandersetzung wie in einem philosophischen Umgang mit ›Ideen‹. Er sieht »… eine gewisse Tendenz aller reinen Instrumentalmusik zur Philosophie … Muß die reine Instrumentalmusik sich nicht selbst einen Text erschaffen? und wird das Thema in ihr nicht so entwickelt, bestätigt, variiert und kontrastiert, wie der Gegenstand der Meditation in einer philosophischen Ideenreihe?« (Friedrich Schlegel, Athenäumsfragmente, 1798, Fragment 444). Noch tiefer im ›Philosophischen‹ vermutet man schließlich die reife Sonatenform, wenn man ihre thematischen Verfahren in die Nähe von Hegels dialektischem Denken bringt. So sehen es später jedenfalls Th. W. Adorno und der Musikologe Carl Dahl-

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haus, wenn sie die Struktur des Sonatensatzes »als unverkennbares Analogon« zu Hegels Dialektik verstehen.11

Das neue abendländische ›Ich‹ Woher aber kommt jene Überzeugungskraft dieser Musik, die auch noch nach 200 Jahren ihre starke Wirkung bewahrt hat? Zuallererst spricht uns eine neue Musiksprache voller sanguinischer Aktionsdynamik und rhythmischer Spontaneität an. Sie wirkt wie der Ausdruck eines neuen Lebens- und Tempogefühls. Zwischen Voltaires Candide (1759), Lessings Nathan der Weise (1779), Immanuel Kants drei Kritiken (1781, 1788 und 1790) und Beethovens Freiheitsoper Fidelio (1804) wird (1765) auch die Dampfmaschine erfunden. Sie spielt bald eine Hauptrolle im anbrechenden ›Industriezeitalter‹ mit seiner neuen Lebenswelt und Mobilität. 1780 betreibt der englische Textilindustrielle Richard Arkwright bereits 20 Baumwollspinnereien, wo der neue Taktschlag der Fabrikarbeit beginnt. 1804 fahren die ersten Dampflokomotiven, 1815 die ersten Dampfschiffe auf der Themse. Man bezeichnet diesen Beginn des ›Maschinenzeitalters‹ inzwischen als endgültigen Anbruch eines neuen Erdzeitalters und seiner Zivilisation mit Anthropozän und die Zäsur als ›Erste Industrielle Revolution‹ in Analogie zur ›Französischen Revolution‹ (siehe Kapitel X). Verbunden mit dieser beginnenden Weltveränderung ist unverkennbar eine kollektive Bewusstseinsveränderung. Sie äußert sich nicht nur materiell, sondern mit der existenziellen Freisetzung eines neuen Ich-Gefühls. Es ist die Epiphanie eines selbstbewussten, aus eigenen Antrieben agierenden Menschen mit neuen Referenzen, der mit alten Ordnungen bricht und seine eigenen ich-bezogenen Seinsbegründungen sucht. Es ist eine Willenshaltung unbedingter und hochgemuter Diesseitsbejahung, die sich von alten Autoritäten und Rollenmustern befreien will. Ihr Anspruch findet sich bereits im autonomen Subjekt des deutschen Idealismus seit Kant und Herder. Der spricht emphatisch vom »Selbst als ein Zentrum von Kräften«, die danach strebten, »Accente der Empfindungen aus dem innersten der Brust zu stoßen.«12 In einem emanzipatorischen Prozess ohnegleichen erweist sich dieser Anspruch schließlich als Schlüsseldynamik des westlichen Individualismus mit seiner neuen Bewusstseinslage. Als »espressive Wende« (Charles Taylor) wird sie für die Entstehung des neuzeitlichen Begriffs der Subjektivität angesehen.13

11

Vgl. C. Dahlhaus, Musikästhetik, Köln, 1967, S. 102.

12

J. G. Herder, Sämtliche Werke, hg. v. B. Suphan, 33 Bde., Berlin 1877–1913, Bd. 4, S. 121.

13

So Charles Taylor in seiner großen kulturtheoretischen Untersuchung Sources of the Self, dt. als Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M. 2003, bes. S. 639–679.

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Auch in der Musik bezeugt sich dieses neue Selbstverständnis: Sie zielt auf die Präsenzkultur eines vitalen »Hier und Jetzt«. Das Kunstwerk beansprucht mit Macht ein unmittelbares Es ist, wie es auch in der szenischen Wirklichkeit des Theaters mit »körperhaftem Realismus« (Georg Knepler) Gestaltung findet. Kunstphilosophien der Moderne könnten hier bereits etwas von jener »Ästhetik des Erscheinens« ausmachen, wie sie inzwischen für alles und jedes bis zu den Installationen oder performativen Spektakeln avantgardistischer Konzeptkunst beansprucht wird.14 Ihr Erscheinen ist das Ereignis – basta: Ihre Präsenz als Evidenz ist die ›Botschaft‹. Aber das bleibt deshalb vordergründig, weil offenbar nicht jede ›Präsenz‹ solche Wirkung auf uns hat. Was zieht uns in einer völlig veränderten Lebenswelt und Bewusstseinslage in Haydns Sinfonien, im Musiktheater Mozarts oder in Beethovens Sinfonien, Sonaten und Klavierkonzerten immer noch und immer wieder neu in Bann? Welcher Funke zündet auch im Zeitalter des nuklearen und digitalen Weltbildes Begeisterung und Bewunderung, sogar bis in entfernte Musikkulturen, und reißt uns hin mit einer unverlierbaren Strahlkraft? Was fordert große Musiker und geniale Interpreten zu andauernder Auseinandersetzung damit heraus? Es ist eine bestimmte Haltung, die diese Musik ausstrahlt. In ihr kommt nicht allein bloße Seinsbejahung zum Ausdruck, die sich als Willensimpulskraft in ihrer klaren Formbewusstheit und der ›Festigkeit‹ des Tonsatzes manifestiert, sondern es scheint jenes zutiefst Menschliche auf, das erhebt, weil es stets von der Erhabenheit der Menschennatur kündet – noch nicht von ihren Inversionen in Abgründen, Desastern und Scheitern. Das Hochbild des Menschlichen zeugt den ›hohen Ton‹ des ›Klassischen‹. Er wird zum Erlebnis einer Humanität, die ›aufgeklärt‹ ist, denn sie hat auch mit den ›Menschenrechten‹ nach der Französischen Revolution zu tun, dem Credo der amerikanischen Declaration of Rights und dem Geist des österreichischen Josephinismus samt seiner Aufhebung der Leibeigenschaft. Aber auch mit einer Bewusstseinslage, die immer noch jene Rückverbindung zum Spirituellen und Transzendenten bewahrt, ohne die keine wahre Humanitas möglich ist. Die findet ihre Formen zwar nicht mehr in den Konventionen und Dogmen der Kirche, sondern eher in den Zirkeln der florierenden Freimaurerlogen, des Illuminatenordens und der Rosenkreuzerjünger. Mozart wurde 1784 Mitglied der Freimaurerloge ›Zur Wohltätigkeit‹, die dann in der Loge ›Zur neugekrönten Hoffnung‹ aufging, Joseph Haydn tritt 1785 in die Schwesterloge ›Zur wahren Eintracht‹ ein. Aber auch Lessing war seit 1771 Mitglied einer Freimaurerloge in Hamburg, Goethe war Illuminat, Baron van Swieten, Emanuel Schikaneder waren wie tutti quanti der österreichischen Haute volée Freimaurer.

14

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So etwa M. Seel, Ästhetik des Erscheinens, München 2000 und Frankfurt a. M. 2003 oder der Literaturwissenschaftler U. Gumbrecht, in: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004.

Der neue, aufgeklärte »Humanitätston« (Carl Dahlhaus) bestimmt das bürgerliche Selbstverständnis wie auch das vieler Kreise der Aristokratie. Er äußert sich sympathetisch in den ›Reformopern‹ von Christoph Willibald Gluck, wo er nicht nur die Libretti reformiert, sondern auch den Schematismus von Da-capo-Arie und der Tragédie lyrique. Damit sucht er einem einfachen, reinen und echten Ausdruck der besten menschlichen Gefühle als Bekennntis einer ethischen Haltung gerecht zu werden. Diese Haltung, wie sie so überzeugend in der Musik der ›Wiener Klassiker‹ Ausdruck findet, gehört zur unverfügbaren Essenz ihrer Wirkung. Deshalb hat man ihr sogar etwas »Festliches« bis zum »Aufruf eines Verpflichtenden« (Th. Georgiades) attestiert. Von da aus kann sie zu einem Appell an die besten Seiten des Menschen werden – wenn sie Geist und Empfindung erreicht und nicht im Kant’schen »interesselosen Wohlgefallen« bloßen ästhetizistischen Genusses verebbt. Haydn hat seine Sinfonien als »Schilderung moralischer Charaktere« bezeichnet.15 Das sollte nicht als historisches Aperçu belächelt, sondern zumindest als Bekundung einer ethischen Qualität ernstgenommen werden, der sich jedenfalls ihr Schöpfer verpflichtet fühlte. Dass sie als Bedeutungsqualität auch im 20. Jahrhundert wirksam bleibt, zeigen Äußerungen wie die des großen Dirigenten Bruno Walter, der unverhohlen von den »moralischen Kräften der Musik« spricht.16 Deswegen ist Beethovens Musik mit ihrer Formstärke immer wieder ein Appell an den Willen zur »Haltung.« Deshalb klingt bei Haydn das Kunstreiche natürlich, die Eleganz unaufdringlich und der Humor liebenswürdig. Deshalb erschrecken auch seine Überraschungseffekte nicht, sondern erheitern, die Eigenwilligkeiten befremden nicht, denn sie haben Geschmack. Horcht man aber dieser ›Natürlichkeit‹ besonders bei Haydn nach, so klingt noch eine andere Färbung nach als etwa in der reflektierten Naivität eines Rousseau oder in der spontanen Unverstelltheit Pergolesis. Hier scheint eher der Nachklang eines alten, verlorenen Einklangs zwischen Mensch und Natur auf, wie er im Topos einer idealen, ›arkadischen Natur‹ tradiert wird. E. T. A. Hoffmanns Bemerkung über Haydn: »Er führt uns in grüne Haine« fängt etwas davon ein. Dieser Aspekt ›klassischer‹ Überzeugungskraft, wie sie bei Haydn und Mozart, aber auch bei Beethoven und Schubert immer wieder auftönt, erinnert an den Geist der Pastoraldichtung. Sie hat die ›arkadische‹ Erinnerung seit jeher bewahrt und trägt sie als idealisierte Idylle in den ›Schäferspielen‹ weiter. In den Ländlerrhythmen vieler Menuett-Trios von Haydn, seinen Anspielungen auf Bauernlieder und -tänze, den Jodlermelodien und Dudelsackeffekten tritt dieses Genre quasi naturalistisch und unverhüllt zutage. Übrigens, durchaus kunstreich, denn die ›ländlichsten‹ Finale von Haydn enthalten oft die meiste kontrapunkti15

Nach G. A. Griesinger in: Biographische Notizen über Joseph Haydn, hg. v. F. Grasberger, Wien 1954, S. 62.

16

B. Walter, Von den moralischen Kräften der Musik. Vortrag gehalten im Kulturbund zu Wien, ediert im Herbert Reichner Verlag, Wien 1955.

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sche Satzkunst. Das volkstümliche Kolorit wird so zum Ausdruck eines Seelenzustands als Harmonie zwischen der Schöpfung und ihren Wesen – vor dem ›Maschinenzeitalter‹. Er prägt besonders die deutsche Romantik bis zu den Ausläufern der Wandervögel-Bewegung in der Bündischen Jugend und wirkt schließlich als hintergründige Erinnerung und programmatischer Topos noch bis in die heutige Agenda von Natur- und Artenschutz und ›grüner‹ Umweltpolitik. Bei Haydn aber schimmert dieser alte europäische Topos in einem sehr österreichischen Licht: als Widerschein einer Mentalität, wie er vielleicht durch seine ländliche Herkunft und die langjährige Naturerfahrung zwischen den Domizilen von Rohrau und Eisenstadt geprägt wurde – ein Widerschein, den man als einen zutiefst ›österreichischen Ton‹ noch bei Schubert, Bruckner und Adalbert Stifter zu vernehmen meint und am Ende, gebrochen zu wehmütiger Reminiszenz oder verzweifelter Ironie, sogar noch bei Gustav Mahler.

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Drei verschiedene Humanitätstöne – drei höchste Möglichkeiten des Wiener ›klassischen‹ Idioms: Mozart, Beethoven, Schubert

I  Mozart Zu den wichtigsten Eigenschaften der ›klassischen‹ Musiksprache zählt ihre Verständlichkeit. Obwohl der Beziehungsreichtum ihrer Harmonik und die ›thematische Arbeit‹ bereits bei Haydn und dem frühen Mozart allerhand Ansprüche stellen, erlangt sie eine Verbindlichkeit, die ihr breite Wirksamkeit sichert. »Meine Sprache versteht die ganze Welt«, konnte Haydn nach seinen spektakulären Erfolgen in London sagen. Deshalb produziert man mit und in ihr, genau wie in einem anderen Idiom von gleicher semantischer Stärke, dem der Generalbasszeit, auch in Überfülle. So viele Komponisten, die heute kaum noch jemand kennt, mit so vielen Werken, die keiner mehr aufführt, bezeugen den schöpferischen Reichtum der Zeit. Namen wie Ignaz Holzbauer, Karl Ditters von Dittersdorf, François Joseph Gossec, Karl Friedrich Abel, Joseph Martin Kraus, Johann Nepomuk Hummel, Jan Antonin Kozeluch, Franz A. Krommer bis Johann Baptist Holzer, Franz Anton Hoffmeister, Francesco Rossetti und Georg Christoph Wagenseil, dem Klavierlehrer von Kaiserin Maria Theresia und ihrer Kinder oder Karl Czerny mit seinen über 1000 Werken stehen für eine kaum überschaubare Reihe solider und von den Zeitgenossen geschätzter Komponisten. Deshalb ragten in diesem zeitgenössischen Relief reicher musikalischer Fülle auch Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert im damaligen Konzertleben keineswegs als jene Gipfel heraus, zu denen sie in der Musikgeschichtsschreibung wurden. Gewiss, Haydn erlangte späten Ruhm in England, und Mozart galt als Wunderkind, in dessen Konzerten und Opern der Kaiser saß. Aber Haydn sorgte lange am Hof der Fürsten Esterházy vor allem für gepflegte Unterhaltung, Mozarts Opern reihten sich im Spielplan am Wiener Kärntnertortheater so zwanglos zwischen die von Salieri und Dittersdorf ein wie seine Sinfonien zwischen die kaum schlechteren 89 Exemplare seines Kollegen Wenzeslaus Pichl. Die Streichquartette des Tschechen Franz Vinzenz Krommer galten bei den Zeitgenossen genau so viel wie die von Haydn oder Mozart, und Anton Franz Joseph Eberl, ein Schüler und geschätzter Bekannter Mozarts, stellte man umstandslos neben Beethoven. Abgesehen davon, dass damals Louis Spohr viel berühmter war als Beethoven und der erklärte Liebling der Wiener Kulturschickeria Giacomo Rossini hieß. Schubert schließlich

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nannten seine Freunde harmlos »Schwammerl« und der große Goethe schickte ihm 1816 und 1825 postwendend und kommentarlos die Vertonungen seiner Gedichte zurück. Daran zeigt sich allerdings nicht die beschränkte Urteilskraft des Weimarer Olympiers, sondern die Wirkung einer musikalischen Differenzerfahrung. Goethe musste aus seiner Bewusstseinslage ›klassischen‹ Maßes im Weltverständnis des Idealismus Schuberts affektintensive Umsetzung seiner Dichtungen als Verzeichnung durch das ›romantisch‹-subjektivistische ›Ich‹ empfinden – womit sich seine dichterische ›Poetik‹ in eine ganz andere musikalische ›Poesie‹ verwandelte. Denn die Romantik verstand er bereits als Dekonstruktion der Klassik. Wir hingegen beurteilen Schubert aus dem Heute mit der Erfahrung der Moderne fast als ›klassisch‹. Von da aus erkennen wir, dass wir Schubert eine neue bannende und eigenständige Ausdruckswelt verdanken, die uns, mit gutem Grund, ›etwas angeht‹, obwohl Goethe, auch mit gutem Grund, nichts damit zu tun haben wollte. Das aber ist derjenige Fokus, der auch die heutige Wahrnehmung von Mozart und Beethoven wesentlich bestimmt: nicht nur als zwei Meister des Komponierens im Wiener ›klassischen‹ Idiom, sondern als die Gestalter von singulären Ausdruckswelten, deren Bedeutung uns Heutige ›etwas angeht‹ – womöglich sogar viel mehr als ihre damaligen Zeitgenossen.

Joannes Chrysostomos Wolfgangus Theophilus oder auch: Amadé Mozart Vielleicht erwartet man von einem schöpferischen Wunderkind, dass es seine Zeit neu erfindet oder sie wenigstens radikal verändert: die ›Innovation‹ als Lieblingsidee der beschleunigten Moderne. Wenn man bereits mit fünf Jahren Menuette komponiert, mit sechs Geige, Klavier und Orgel spielt, als Achtjähriger die Fürstenhöfe Europas entzückt und mit knapp neun die erste Sinfonie komponiert, dann wäre solche Erwartung nur recht und billig. Gewiss, der Vater Leopold Mozart war ein vortrefflicher, ehrgeiziger und strenger Lehrmeister. Er war selbst professioneller Musiker, seit 1744 Violinist in der Salzburger Hofkapelle und Komponist von Sinfonien, Kammermusiken, Liedern und Messen. Er hat auch an den kindlichen Notaten seines Sohnes kräftig mitgearbeitet. Das erhaltene Skizzen- und Übungsbuch mit 43 Tänzen, Rondos und Sonatensätzen von der Reise nach London, 1764, zeigt deutlich, wie sehr der achtjährige Sohn noch um die Grundlagen ringt. Trotzdem ist solch frühe Potenz ein Mirakel, das jede behavioristische Lerntheorie lächerlich macht. Und früher Hinweis auf das Wesen einer Persönlichkeit – im Denken des Fernen Osten würde es vielleicht heißen: einer ›Inkarnation‹ – das alles Erklärungsgerede von soziologischer bis ›konstruktivistischer‹ Art auf die hinteren Plätze verweist. Das Mirakel blieb dann auch nur kurze 35 Jahre hier, schrieb aber in denen so viel große Musik, dass daran auch noch allerhand gängige Theorien über das

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›Machen‹ von Kunst zuschanden werden. Sein Genius zeigt sich nicht allein in der Fähigkeit zur schnellen, quasi intuitiven Bemächtigung der musikalischen Mittel, sondern auch im Rang der Ausdruckswelt, für die sie stehen. Dabei übernahm Mozart die Musiksprache seiner Zeit genauso wie Palestrina oder Bach die ihrige. Und er sprengte sie keineswegs, sondern benutzte sie als dasjenige Idiom, das ihm alles lieferte, was er zu sagen hatte. Auch das Besondere und Außergewöhnliche. Die Sammlung von 135 ›Handstücken‹ für Klavier von Leopold Mozart für ein Übungsbuch seines Sohnes von 1762 ist ein Beispiel für das Spektrum seiner ersten Musikerfahrungen. Sie enthält die gängigen Lied- und Tanzsätze der Zeit, Rondos, viel Telemann auch C. Ph. E. Bach, K. F. Hurlebusch, Sperontes und J. A. Hasse.1 So verrät denn auch Mozarts erste Klaviersonate das Vorbild von J. G. Eckart, eines Schülers von C. Ph. E. Bach. Und der romantisch-dämonische Pianist Johann Schobert hat Mozart derart beeindruckt mit seiner leidenschaftlich »sentimentalischen Musikernatur« im Sinne Schillers, dass nicht nur seine frühen, die Klaviersonaten KV 7 und 9, davon geprägt sind, sondern ihre Wirkung bis in seine Sonatendurchführungen des Spätwerks zu spüren ist. Vom berühmten Pianisten Georg Christoph Wagenseil, dem Klavierlehrer am Hof der Kaiserin Maria Theresia, spielt er schon als Sechsjähriger Konzerte bei seiner Reise nach Wien. Auf den italienischen Reisen, 1769–1773, prall gefüllt mit Eindrücken, lernt er nicht nur vom berühmten Padre Martini etwas über Kontrapunkt, sondern alles Wichtige über die italienische Oper. Bei Johann Christian Cannabich in Mannheim wird er mit der neuen Orchesterkultur vertraut. In London wird die Begegnung mit Johann Christian Bach wichtig und führt zu einer lebenslangen Freundschaft. Die »Bach-Abel-Konzerte«, um 1764 das Highlight des Londoner Konzertlebens, machen ihn mit dem aktuellen Konzert- und Sinfoniestil vertraut. Bachs drei Klaviersonaten aus dessen Opus 5 für Cembalo und Pianoforte werden zu Vorlagen für Mozarts frühe Klavierkonzerte in D-, G- und Es-Dur (KV 107). Aus den italienischen Opern des »Londoner« Bach, der auch als »Mailänder« Bach firmiert, weil er lange in Italien war, eignet sich Mozart das ›singende Allegro‹ an. Schließlich wird die musikalische, später herzlich freundschaftliche Verbindung mit Joseph Haydn zu einer dauernden Quelle der Anregung. Haydns Sonnenquartette op. 20 inspirieren ihn zu den eigenen sechs Wiener Quartetten von 1773, dessen Russische Quartette op. 33 zu den sechs Haydn ausdrücklich gewidmeten Quartetten von op. 10 entstanden 1782–85. Noch 1780 notiert er sich die Anfangsthemen der drei Haydn-Sinfonien Nr. 47, 62 und 75 und widmet Haydn seine sechs Streichquartette KV 168–173. Auch sein letztes Kammermusikwerk, das Streichquintett Es-Dur (KV 614) aus seinem Todesjahr 1791 ist durch seinen Bezug auf Haydns op. 64, Nr. 6 eine Art Huldigung an das verehrte Vorbild.

1

Vgl. H. Abert, W. A. Mozart, Erster Teil, 8. Aufl. Leipzig 1973, S. 26–30.

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Dazu kommt ein ebenso kompetenter und wie ehrgeiziger Vater als Lehrer und Mentor. Der hatte nicht nur selbst 65 Sinfonien komponiert, sondern war als versierter Geiger auch Verfasser einer berühmten Violinschule, und deshalb spielte Mozart schon als Kind ebenso gut Violine und Bratsche wie Klavier. So hatte sich Mozart alles Wichtige aus den Genres von ›Vorklassik‹ bis Haydn angeeignet. Später lässt er sich noch intensiver auf die kontrapunktischen Möglichkeiten des ›gelehrten Stils‹ der alten Polyphonie ein, die er in Wien an Werken von Händel und Bach schätzen lernt. Dazu kennt er alle musikalischen Theaterkonzepte von opera seria und buffa samt des deutschen Singspiels und der französischen Tragédie lyrique. Die literarischen Anregungen dazu holt er sich bei Beaumarchais und Wieland, Favart und Metastasio wie bei Molière oder Goldoni und Gozzi. Wenn er aus dem Fundus seiner Kenntnisse, genau wie Beethoven, viel mehr macht als Wagenseil, Dittersdorf oder Joseph Martin Kraus, dann hat das nicht nur den Grund, weil er vielleicht der bessere Komponist ist, sondern weil er viel Wesentlicheres ›zu sagen‹ hat. Er sagt es in allen musikalischen Genres und Gattungen als musikalisches Multitalent, bei dem immer noch viel vom universalen Geist der Bach-Zeit präsent ist. Und in einer Fülle, dass die Summe seiner Schaffensleistung im umgekehrten Verhältnis zu seinen Lebensjahren steht: 626 Nummern umfasst das wissenschaftliche Verzeichnis seiner Werke von Köchel (KV) ohne Fragmente, Bearbeitungen und nicht sicher zuschreibbaren Werken.2 Und er weiß darum. Selbstbewusst bemerkt er: »Denn ich kann so ziemlich … alle art und styl vom Compositions annehmen und nachahmen« (Brief vom 7.2.1778). Dass sein ›Genie‹ aber weder in der unglaublichen Fülle der Werke noch in der Spannweite seines kompositorischen Könnens aufgeht, dem reinen Pläsier oder der Revue brillanter Einfälle, das zeigen nicht zuletzt die Urteile der Anderen. Bereits Joseph Haydn bekennt: »Mozart ist das größte musikalische Genie, das je gelebt hat«. Und wenn die Nachwelt vom »Mozartglück« oder dem »seraphischen Impuls« (Bruno Walter) oder dem »Griffel Gottes« (Nikolaus Harnoncourt) spricht, dann meint das einen besonderen, unverkennbaren Tonfall, der durch alle Vielfalt hindurchtönt, einen Personalstil, der integral etwas so Hochbedeutsames ›transportiert‹, dass er immer wieder, ganz ähnlich wie bei Bach, zur Emphase über etwas ›Singuläres‹ hinzureißen vermag. Schon sein Vater Leopold, obwohl kritischer Realist durch und durch, sah bereits das »göttliche Wunder der Vorsehung« 2

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Chronologisch-thematisches Verzeichnis sämtlicher Tonwerke Wolfgang Amadé Mozarts, hg. v. Ludwig Ritter von Köchel, Leipzig 1862, 6. Aufl. hg. v. F. Giegling, A. Weinmann, G. Sievers, Wiesbaden 1964. Eine umfangreiche Mozart-Forschung belegt die anhaltende, offenbar kaum auslotbare Potenz dieser Musik allein schon in musikwissenschaftlicher Hinsicht. Für einen Überblick sei deshalb pauschal verwiesen auf die Standardwerke: H. Abert, W. A. Mozart, neu bearbeitete und erweiterte Ausgabe von O. Jahn, W. A. Mozart, 3 Bde., 8. Aufl., Leipzig 1973 sowie: Das Mozart-Handbuch, 7 Bde., hg. v. G. Gruber in Verbindung m. D. Borchmeyer, Laaber 2007–2009.

in seinem Sohn. Nicht anders Goethe, für den Mozart »immer ein Wunder« bleibt, »das nicht weiter zu erklären ist« und zugleich »etwas Unerreichbares in der Musik«. »Mozart hätte den Faust komponieren müssen«, bekannte er und skizzierte tatsächlich eine Fortsetzung der Zauberflöte bis zum Anfang eines zweiten Aktes. Sogar ein feuilletonistischer Spötter und radikalliberaler Freigeist wie Ludwig Börne (alias Löb Baruch) stellt seinem sensiblen Scharfblick ein unvergängliches Zeugnis aus, wenn er urteilt: »Mozart allein zeigt uns den Himmel, zu dem andere emportragen müssen, in unserer irdischen Brust. Das ist’s, was ihn nicht allein zum größten aller Tondichter macht, sondern zum einzigen unter ihnen … Mozarts Musik strahlt jedem, wie ein Spiegel, seine eigene und gegenwärtige Empfindung zurück, nur mit edleren Zügen; es erkennt Jeder in ihr die Poesie seines Daseins.« Der geistreiche Spötter G. B. Shaw greift zu einem Superlativ: »… die einzige Musik, bisher geschrieben, die nicht deplaziert klingen würde im Munde Gottes.« Noch ein Luciano Berio meint immerhin: »Wolfgang Amadeus Mozarts Musik ist das komplexeste und geheimnisvollste Ereignis der ganzen Musikgeschichte.« Auch der notorische Opernverächter Bertolt Brecht schreibt nach seinem RadioHörererlebnis des letzten Aktes von Don Giovanni: »Dieser Gipfel ist nie wieder erreicht worden« (Arbeits-Journal, 8.6.1943). Und ein lebenslanger Sympathisant linkspolitischen Protests, Hans-Werner Henze, spricht vom »herabgestiegen Gott«. Kurz und bündig stellt der Dirigent Nikolaus Harnoncourt im Mozartjahr 2006 fest: »Für mich ist Mozart sozusagen fertig vom Himmel gefallen.«

Die Mittel zu luzider Diaphonie und konzertantem Glanz Versucht man hinter der Pauschale von ›Personalstil‹ einige prägnante Einzelzüge zu fassen, so gehören die luzide Transparenz des musikalischen Satzes, die Tendenz zu einfachen Mitteln und eine oft spielerische Leichtigkeit bestimmt dazu, trotz der »gewaltig vielen Noten« (die ihm Kaiser Franz Joseph II. für die Entführung aus dem Serail bescheinigt hat). Allerdings auch eine ziemlich geniale Handhabung dieser ›Mittel‹. So rührt die unverwüstliche Beliebtheit der Serenade Eine kleine Nachtmusik nicht allein von ihrem hübschen melodischen Einfall her, sondern von einer lapidaren Einfachheit: zwei Takte Anfangsgeste aufwärts, zwei Takte abwärts, vollkommen regelmäßiger Periodenbau, Harmonie denkbar schlicht: G-Dur – D-Dur. Mit drei, vier Harmonien wird der ganze Satz gestaltet, ohne Modulationen und Kontrapunktik: elementar und doch nie banal, sondern den Eindruck einer Mannigfaltigkeit vermittelnd, die man ›ökonomische Fülle‹ nennen könnte. Dabei ist sie im selben Jahr wie sein komplexer Don Giovanni (1787) komponiert. Auch in seinem solistischen Klavierwerk (mit 19 Sonaten, vier Phantasien, 15 Variationszyklen und Rondos) kann man diese ›Einfachheit‹ erkennen: an der Sonata facile für Klavier (KV 545) oder den Variationen über die Gefühle einer jungen Schäferin, die sich von einem gewissen Silvandre zärtlich angeschaut weiß und

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»seitdem sagt mein Herz immerzu: ›kann man ohne den Geliebten leben?‹ im ›Kinderlied‹ Ah, vous dirai-je, Maman (KV 265). Als Kinderstücke verkleidet kommen beide daher, aber es bedarf größten Könnens, damit ihre wenigen Töne und klaren Konturen nicht ›kindisch‹ klingen, sondern ihre reine, unverstellte ›Kindlichkeit‹ getroffen wird. Auch das Klavierkonzert C-Dur (KV 503), Ende 1786 entstanden, entfaltet sich mit einfachem Material ohne besonderen Ausdruckswert der Themen, gewissermaßen aus dem Grundbestand der Tonalität des späten 18. Jahrhunderts. Mozart verzichtet auf ein harmonisches Farbenszenario; sämtliche Schattierungen entspringen dem einfachen Dur-Moll-Wechsel als grundlegendes Strukturelement mit hartnäckigen Wiederholungen: Sparsamkeit der Mittel auch am Beginn seiner letzten Stilphase. Trotzdem besticht seine Architektur als vollkommene Disposition wunderbar gegliederter ›Massen‹. Schließlich formuliert Mozart auch den Beginn seiner letzten Sinfonie in C-Dur (KV 551) mit einer schlichten, quasi ›regelbuchartigen‹ Exposition als Meister lapidarer Einfachheit. Der simpel gefügte Tuttiblock erinnert fast an das plakativ-lärmige Blechidiom von Militärmusik, und vieles scheint an der Oberfläche zunächst täuschend konventionell, bis dann (ab Takt 81) der Forte-Einfall des Orchesters in c-Moll mit Tremolo, Vorhalten und chromatischen Schritten die lichte Dur-Welt mit einem gewaltsamen Umsturz verlässt. Auch im C-Dur-Quintett (KV 515), obwohl eines von Mozarts umfangreichsten Werken im Kopfsatz mit dem ausgedehntesten Sonatenhauptsatz vor Beethoven, arbeitet er mit strukturell einfachsten Mitteln. Dazu gehört eine enorme Ausweitung der ersten Themengruppe, in der aber die Tonika immer Gravitationszentrum bleibt. Hier dramatisiert er gewissermaßen nicht eine Handlung, sondern geradezu ihre Verweigerung, die er aber mit allerhand gekonnten Mitteln betreibt. Die beispiellose Majestät dieses Werkes beruht auf der langen Bewegungslosigkeit und seiner festen Tonikaharmonik, seine herbe Lyrik aber auf den chromatischen Alterationen. Höhepunkt der Moll-geprägten Durchführung ist ein Doppelkanon in vier Stimmen mit freien Kontrapunkten in der Bratsche, der fünften Stimme. Die Schlussgruppe der Coda ist nichts anderes als eine gigantische Kadenz von 47 Takten. Diese strukturelle Einfachheit, die – anders als in den späteren Erscheinungsformen der Gattung Sonate – auf die unentwegte Einführung von neuem Material wie auf bemühte Sequenzierungen verzichten kann, zeigt, wie anders bei Mozart ›Bedeutung‹ entsteht: nicht durch harmonische Verwicklungen, massierte Klangmassen oder satztechnische Kompliziertheiten, sondern mit der Diaphanie der einfachen Zeichen, einer Transparenz also, durchleuchtet von Helle. Freilich ist schon das folgende Quintett in g-Moll (KV 516) aus dieser zwischen 1773 und 1791 entstandenen Gruppe, die allesamt Solitäre sind, ein Beispiel dafür, dass Mozart keineswegs immer auf die emanzipierten harmonischen Errungenschaften des ›klassischen‹ Stils verzichtet. Zwar konzentriert er sich auch im g-Moll- Quintett sehr lange auf den Tonikabereich. Aber hier reizt er die Tonart aus und malt durch chromatische Bitterkeit und Eindringlichkeit den Ausdruck unverhüllten Schmerzes, der im Finale mit schluchzenden Rhythmen, Seufzervorhal-

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ten, herb-expressiven Dissonanzen und unaufhörlichen chromatischen Bewegungen noch fortgesetzt wird. Mozart bevorzugt einfache Tonarten, und weil komplexe harmonische Verwicklungen eher Episode bleiben, wirken sie deshalb umso nachhaltiger, wenn er sie anwendet. Das ist in der Zauberflöte zu bewundern oder in der Festigkeit des tonartlichen Bezugssystems in der berühmten chromatischen Einleitung zum Streichquartett C-Dur, KV 456, wo trotzdem der strukturelle Ruhepunkt des CDur-Dreiklangs allgegenwärtig bleibt. Der Anfang des Es-Dur-Quartettes KV 428 (= 421 b) zeigt, wie weit er schweifen konnte, ohne den größeren harmonischen Zusammenhang zu verlieren. Dem großen Melodiker schließlich begegnet man in Adagios wie im langsamen Satz des Klarinettenkonzerts und natürlich in den Arien seiner Opern. Als Sanguiniker hingegen, mit einer spielerischen Leichtigkeit, die er bis zu konzertanter Brillanz steigern kann, erlebt man Mozart in der bedeutenden Sonate für zwei Klaviere D-Dur, KV 448. Im Kopfsatz herrscht spannungsvolles, rauschhaftes Konzertieren, in der Exposition die Leuchtkraft einer effektvollen Motorik, die im Schlusssatz »Allegro molto« zum Finale einer überschwänglichen Brillanz wird: »Glänzender, funkelnder hat Mozart nie komponiert« (Musikkritiker Joachim Kaiser). In der Abwandlung zu humoriger Aufgeräumtheit, orientiert am Sujet, erlebt man Mozart im launigen Kegelstat Ttrio (KV 498). Von da aus fällt auch ein bezeichnendes Licht auf das Niveau der ›U-Musik‹ seiner Zeit. Mozart führt es uns beispielhaft in seinen Kassationen, Serenaden und Divertimenti vor. Schließlich zeigt die Dur-Helligkeit seiner Schlüsse in der Instrumentalmusik die gleiche Qualität wie das lieto fine seines Musiktheaters. Das sinfonische Œuvre Mozarts komprimiert diese Züge. Es umfasst, je nachdem, was man dazu zählt, 41 (Alte Mozart-Gesamtausgabe), 60 (Köchel-Verzeichnis) oder 59 Sinfonien (Werkverzeichnis von Ulrich Konrad, 2005). Es entfaltet sich, folgt man einer Schematisierung der Forschung, in mehreren Stufen: das Frühwerk unter dem stilistischen Einfluss von Johann Christian Bach (KV 1–KV 134), die Salzburger Sinfonien von 1773–74 (KV 162–202), die ab 1778 (KV 297 und KV 318–338) sowie die Linzer (KV 425) und die Prager (KV 504) und schließlich die Trias der berühmten letzten Sinfonien (KV 543, 550 und 551).3 Während die ersten Sinfonien den Londoner Vorbildern der Bach-Abel-Konzerte mit dem 3/8-Buffo-Tonfall ihrer Finalsätze, den ebenmäßigen Rondothemen und ihrer Dreisätzigkeit folgen, später erweitert zur Viersätzigkeit nach dem Typus der Mannheimer Sinfonien, setzt man ab der Sinfonie Nr. 31 in D-Dur (KV 297) von 1778, der Pariser Sinfonie mit ihren vier Holzbläserpaaren, einschließlich Klarinette, die Periode der sinfonischen Meisterschaft an. Dort zeigt die C-Dur-Sinfonie KV 338 von 1780 schon einen größeren Zuschnitt und die Haffner-Sinfonie KV 385 von 1782 verwendet in den Ecksätzen

3

Vgl. Mozart-Handbuch, Bd. 1, hg. v. J. Brügge u. C. M. Knipsel, Laaber 2007, S. 177.

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Flöten und Klarinetten. In der Sinfonie C-Dur, KV 425, der Linzer-Sinfonie (1783), in nur wenigen Tagen bei einem Zwischenaufenthalt in Linz komponiert, schreibt Mozart erstmals eine langsame, höchst ausdrucksvolle Einleitung, die thematisch mehrfach mit dem nachfolgenden Allegro verflochten ist. Das gleiche Konzept verwendet er für die Sinfonie D-Dur, KV 504, die Prager Sinfonie (1786). Sie hat die längste der langsamen Einleitungen aller Sinfonien. Nur dreisätzig, will sie Mozarts Erfolge in Prag mit vielerlei assoziativen Fäden zu Figaro und Don Giovanni fortsetzen und zeigt auch eine höchst differenzierte Holzbläserbehandlung. Den Schlussstein des sinfonischen Œuvres bilden die drei letzten Sinfonien: Es-Dur (KV 543), die g-Moll-Sinfonie (KV 550) und die Jupiter-Sinfonie C-Dur (KV551), alle im Jahr 1788 entstanden. Sie zählen seit dem 19. Jahrhundert zu den Arcana ›klassischen‹ Komponierens, obwohl sie das keineswegs von Anfang an waren. Weder in ihrer Einschätzung eines ›klassischen‹ Maßes noch in ihrer Stellung im Konzertleben. So wurde die Jupiter-Sinfonie noch 1798 von Friedrich Rochlitz als kühn und »furchtbar« empfunden, ganz abgesehen davon, dass die Sinfonie als Gattung keineswegs eine Hauptrolle im Konzert spielte. Die meisten der unzähligen Sinfonien in der opulenten Produktion der Zeitgenossen fungierten als Ouvertüre einer ausgedehnten Konzertveranstaltung, oft aufgeteilt mit dem ersten Satz zu Beginn, den anderen Sätzen am Schluss. Erst mit den Londoner Sinfonien von Haydn, die bezeichnenderweise noch unter Grand Ouverture fungierten und dann den vier letzten Sinfonien Mozarts (einschließlich der Prager) beginnt ein Prozess, der, ähnlich wie bei der Klaviersonate, nach Format und Individualisierung zu den Höhepunkten des ›klassischen‹ Stils bei Beethoven führt und diese Werke schließlich über ihre Wirkungsgeschichte als ›kanonisch‹ etabliert. Die erste der Trias, Mozarts Es-Dur-Sinfonie, beginnt mit einer langsamen Einleitung, einer feierlich-gewichtigen Intrada. Aber mit überraschenden, hochdramatischen Interjektionen in den Kopfsätzen entsteht eine besondere, eigene Klangdramaturgie, die in einem überraschenden Schluss gipfelt: »ein Werkende mitten im Opus« (Peter Gülke). Das Hauptthema der zweiten Sinfonie in g-Moll weist eine vokale Faktur auf wie sie im Typ einer Aria agitata ausgeprägt wird (weshalb auf eine Affinität zur Arie des Cherubin »Non so più cosa son …« im 1. Akt der Le nozze di Figaro hingewiesen worden ist). Die Durchführungen gehören zu den am strengsten gearbeiteten Mozarts, aber die Reprisen bringen eine Art »zweite Durchführung« (Charles Rosen). Der langsame Satz steckt voller harmonischer Komplikationen mit TritonusRelationen bis zu einem »rätselhaft dissonanten Klang« in Takt 44 (Stefan Kunze): eine Gleichzeitigkeit schmerzvoller Affekte und Momenten vollkommener, in sich ruhender Gelöstheit. Im Schlusssatz schließlich geht Mozart bis an die Grenzen dramatischer Vielschichtigkeit und damit eines üblichen ›klassischen‹ Finale-Stils. Mozarts letzte Sinfonie in C-Dur zeigt nach der schlichten, lapidaren Einfachheit des Beginns ab Takt 79 eine kontinuierliche Steigerungsdramaturgie, in der das

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›Unvorhersehbare‹ mit massiven harmonischen Verunsicherungen und tonaler Labilität dominiert. Der Beginn des Andante cantabile mit seinem Dreierschlag erinnert an die gleiche (freimaurerisch-symbolische) Bedeutung wie in der Zauberflöte: zweimal schallt dem Einlass Begehrenden das abweisende »Zurück!« entgegen, erst der dritte Schlag »öffnet die Tür«. Das Finale demonstriert hohe Beweglichkeit im Wechsel der Satztechniken von Sonatenform, Fugato und Imitation. Im Zentrum der Coda türmen sich die fünf Soggetti in immer neuen Stimmenkombinationen übereinander und eröffnen so der ›alten‹ Fuge eine völlig neue, dramatische Präsenzform.4 Die enge Entstehungsfolge der Sinfonien, ihr individuelles Format und ihr Gewicht als letztes Wort Mozarts in der Gattung haben Deutung und Spekulation herausgefordert. Verbirgt sich hinter ihnen ein Programm? Gehören sie irgendwie zusammen? Sind sie gar ein Zyklus? Die Mozart-Forschung offeriert verschiedene Möglichkeiten. Meistens wird eine Verbindung wegen der Verschiedenheit der Werke verneint.5 Demnach wäre die banalste Erklärung für diese Reihung die damals übliche Praxis der Verleger, bevorzugt Dreiergruppen von Sinfonien und Quartetten zu edieren. Dafür offerierten sie die höchsten Honorare. Andere glauben nicht an eine zufällige Folge. Zwar nimmt man nicht das Konzept eines Zyklus im traditionellen Sinn in Anspruch, aber das Verständnis einer »gemeinsamen Werkpoetik« (Peter Revers). Ihr läge vor allem eine Demonstration des ›Erhabenen‹ zugrunde, ein ästhetischer Topos, der gerade in diesen Jahren die Theorie beherrscht.6 Eine andere Deutung sieht in der Trias eine dialektische Konzeption: eine Art »Lernfahrt des Subjekts« mit der finalen »Synthese« in der Jupiter-Sinfonie (Peter Gülke). Eine weitere Gemeinsamkeit will man in motivischen Verbindungen wie in der auffälligen Verwendung einer bestimmten Viertonfolge sehen.7 Von hier aus ist es dann nicht mehr weit zur These, es handle sich um eine Art freimaurerisches Credo im Geist der Zauberflöte.8 4

Als »Historie ohne Historizität« bezeichnet Peter Gülke diese Erscheinungsform der Fuge, um die »Vergegenwärtigung historisch etablierter Satztechniken, aber als »Neubestimmung« zu kennzeichnen, vgl. Gülke, Triumph der neuen Tonkunst. Mozarts späte Sinfonien und ihr Umfeld, Kassel 1998.

5

So A. Einstein, Mozart. Sein Charakter – sein Werk, Frankfurt a. M. 1968, S. 251 und S. Kunze, Mozart, Jupiter-Sinfonie, München 1988, S. 7 ff.

6

Im Entstehungsjahr der drei Sinfonien, 1788, erscheint die Schrift von Carl Gross, Über das Erhabene. Vgl. P. Revers, Wolfgang Amadeus Mozarts drei letzte Sinfonien und das ›Erhabene‹, in: Mozart-Handbuch (2007), Bd. 1, S. 123.

7

Wie es P. Gülke deutet (1998), sowie, ders.: Im Zyklus eine Welt. Mozarts letzte Sinfonien, München 1997 (Edition eines Vortrags in der Carl Friedrich v. Siemens-Stiftung, hg. v. H. Meier).

8

Wilfrid Mellers bezeichnet sie als »The grandest possible Masonic credo«, in: Beethoven and the Voice of God, London 1983, S. 295. In den gleichen Zusammenhang bringt die Trias auch I. Grattan-Guinness: Why did Mozart write three symphonies in the summer of 1788? in: The Music Review 1994, S. 1–6; M. Flothuis, Jupiter oder Sarastro? Versuch über die wahre Art dreier Symphonien und einer Oper, in: Mozart-Jahrbuch 1965/66, S. 121 ff. u. S. 132.

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Bedeutsamer als alle diese Dechiffrierungsversuche bleibt aber eine simple Einsicht: dass Mozart sein Schlusswort sinfonischer Meisterschaft nach dem dramatischen, komplexen und schmerzvollen g-Moll des Anfangs schließlich im schlichten C-Dur spricht – ein Bekenntnis zum strahlenden, monochromen ›Licht‹ einer einfachen Tonart, eine Entscheidung für das Helle gegen das Dunkle – das lieto fine seines sinfonischen Werks.

Das agierende ›Ich‹ – I Eine Essenz des ›klassischen‹ Stils, seine »komponierte Spontaneität« der »Theaterhaltung« erfüllt sich schließlich am direktesten, wenn das ›Ich‹ real agierend auftritt: wenn Mozart selbst am Klavier sitzt und ›spielt‹ oder wenn er im bewegten Szenario der Bühne ›spielen‹ lässt – also in seinen Klavierkonzerten und seinem Musiktheater. Unter den 30 Konzerten mit Beteiligung des Klaviers sind es 23 selbständige Konzerte, wovon er die meisten für sich selbst als Akteur am Flügel geschrieben hat. Hier erleben wir ihn in zweifacher schöpferischer Entfaltung: als Komponist und als Virtuose. Bereits das Jenamy-Konzert (in der älteren Mozart-Literatur als Jeune-hommeKonzert bezeichnet), Es-Dur (KV 271), noch aus der Salzburger Zeit, demonstriert in markanten Zügen das Format des 21-Jährigen im Genre: im virtuosen Zuschnitt, einem Anfang mit einer Unisono-Fanfare des Orchestertuttis und unmittelbar folgender Klaviersolo-Kadenz und schließlich einer zweiten Durchführung zu Beginn der Reprise, die vorführt, dass das dramatische Potenzial der ersten noch nicht ausgeschöpft ist. Dazu ein Ausdruck von Trauer und Verzweiflung im langsamen Satz mit unbeschreiblicher Tiefe (erinnernd an die Sinfonia concertante, KV 364 = 320d, und den langsamen Satz von KV 488). Es zeigt exemplarisch, wie Mozart die Rollenverteilung auffasst, wo das Widerspiel von Solist und Orchester eher einem szenischen Wettbewerb mit spontanen, überraschenden Effekten und Lösungen gleicht, quasi erfinderisch den Moment gestaltend, also improvisatorisch und nicht als Exekution eines Planschemas. Unter den 15 Konzerten, die in Wien zwischen 1783 und 1786 entstanden sind (KV 413–415 und 450–453 und 456, 459), ragen die drei Konzerte KV 413–415 heraus. Sie sind für Mozarts »Musikalische Academien« geschrieben, wo er in der opernlosen Fastenzeit nicht nur als Komponist und Pianist fungierte, sondern auch als Veranstalter. Sie zeigen ihn aber auch als Pragmatiker, wenn er dort die Bläserbesetzungen ad libitum setzt. Damit kennzeichnet er sie als entbehrlich für die Substanz des musikalischen Satzes, weshalb die Konzerte auch als Quartette verkauft und gespielt werden konnten. Das ändert sich aber ab KV 450, wo Mozart nicht nur das Bläserensemble zu einem integralen Teil der Werkstruktur emanzipiert, sondern auch immer differenzierter mit seinen dialogischen Konzepten umgeht.

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Während im Jenamy-Konzert der ›Darsteller‹ am Klavier quasi wie der Sänger in einer Opernarie auftritt, komponiert Mozart jetzt eine ›trialogische Struktur‹ mit drei Parteien: dem Klavier, den Holzbläsern samt den Hörnern und der Streicherriege. Beispielhaft für die Rolle der Holzbläser ist der Beginn des Konzerts B-Dur (KV 450) mit dem Einsatz von Oboen und Fagotten oder die Interaktion zwischen Klavier und Holzbläsern, wie in der Exposition des ersten Satzes im G-Dur-Konzert (KV 453). Das für den Eigengebrauch komponierte B-Dur-Konzert KV 450 ist nicht nur das erste, das die Bläser als eigene idiomatische Klangfarbe und in dramaturgischer Funktion einsetzt, sondern auch eines der technisch anspruchsvollsten Konzerte. Auch in den langsamen Sätzen erhalten die Holzbläser wichtige Rollen (wie etwa im Konzert G-Dur, KV 453 mit einer weitgespannten Melodieentwicklung durch die erste Oboe oder im F-Dur-Konzert, KV 459 wo im dritten Satz das Bläserensemble als prominenter Partner des Klaviersolisten auftritt). Das konzertante Dialogprinzip erweitert Mozart zu einem »doppelten Dialog« (Manfred Hermann Schmid) in den beiden Konzerten für zwei (KV 365) und drei Klaviere (KV 242). Dort ›dialogisiert‹ man nämlich zwischen den Soloinstrumenten untereinander sowie auch gemeinsam mit dem Orchester. Konzertante Strahlkraft und Brillanz mit sämtlichen Essenzen des Mozart’schen Idioms kommt besonders im Finalsatz des Es-Dur-Konzerts für zwei Klaviere von 1779, KV 365, zur Wirkung. Mit den zwei Konzerten von 1785, d-Moll, KV 466 und C-Dur, KV 467 wächst die emotionale Spannweite und Tiefe. Beide übersteigen das Format des damals üblichen Konzerttypus, weil sie gleichermaßen vom Geist der Symphonie wie dem der Oper inspiriert scheinen. Damit vollzieht sich ein letzter qualitativer Sprung der Gattung zur Dimension von Mozarts ›Großen Konzerten‹. Eher ungewöhnlich für Mozart ist, dass er sich so tief auf dunkle Moll-Bezirke einlässt wie im d-Moll-Konzert, KV 466. Davon zehrt dessen Nachruhm als ›romantisches‹ Konzert, an dem das 19. Jahrhundert bereits das ›Dämonische‹ von Schubert vorausgeahnt wähnt. Schon das Eingangsthema verbreitet harmonische Irritation (Charles Rosen denkt dabei an das Duett zwischen Don Giovanni und dem Komtur), wird dann aber von einer höchst kantablen, nur dreistimmigen Exposition des solistischen Klaviers abgelöst. Das zeigt eine neue Polarität zwischen genuin vokal inspirierten Themenanfängen und ihren instrumental-idiomatischen, virtuosen Weiterführungen. Damit erreicht Mozart eine Spannungssteigerung im tragischen Ton. Fast alle Modulationen sind brüsk, ja brutal, und das erste Orchestertutti ist von einer ostentativen Heftigkeit, die man vorher weder in der Sinfonie noch im Konzert findet: eine Analogie zur g-Moll-Sinfonie KV 550. Das andere Werk, das C-Dur-Konzert KV 467, will Pracht und Erhabenheit, glänzende ›Festlichkeit‹. Seine Themenvielfalt demonstriert die Integration von Diatonik und Chromatik. Aber in keinem anderen Werk offenbart sich Mozarts Geschick der souveränen Disposition großer Klangblöcke glänzender. Dazu gehört sein Sinn für weitgespannte Tonartbereiche und ihre Stabilität im reichen erfinderischen Klavierpart und ein sinfonischer Atem im Tutti nach der Rückkehr

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des Hauptthemas. Der zweite Satz verzichtet auf motivisch-thematische Verarbeitung und bezieht seine erhabene Andacht aus einem endlos melodischen Fließen in symmetrischen Vierertaktgruppen. Während seiner Arbeit am Figaro im Winter 1785/86 schrieb Mozart für seine Subskriptionskonzerte drei Klavierkonzerte. Dabei entdeckt er ein neues Lieblingsinstrument: die Klarinette, die jetzt in sein Orchester einzieht. Sie tritt im Es-DurKonzert KV 482, zusammen mit opulenter Holzbläser-Klangpalette auf, wie auch im A-Dur, KV 488, das eine eigenhändig ausgeschriebene Kadenz enthält, sowie eine Durchführung, die mit einem ganz neuen Material beginnt und schließlich im Konzert c-Moll, KV 491, eines von seinen beiden einzigen Konzerten in Moll. Von tragischem Charakter, mit großer Besetzung, aber weniger von opernhaftem Gestus, agiert hier Mozart eher kammermusikalisch, mit fragmentierter Melodielinie und unregelmäßiger Periodenbildung wie oft bei Haydn, und er braucht drei Expositionen, um der Fülle des Materials und seiner Ausbreitung Raum zu schaffen. Auch das Hauptthema weist Ähnlichkeit mit Haydns vier Jahre vorher entstandener Sinfonie Nr. 78 auf. Der Kammerstil steht in Verbindung zur introvertierten Detailarbeit der Streichquartette und zeigt sich in der Detailarbeit an den Binnenstimmen, wie an den oftmals geteilten Bratschen. Auffallend ist ein für Mozart ungewöhnlich hohes Maß an Entwurfsarbeit und Korrekturen, mit einem nachkomponierten Einschub. Die letzte Gruppe von drei Konzerten beginnt mit dem Krönungskonzert DDur, KV 537. Eine Orchesterexposition bringt eine Vielfalt an Themen und die Zwischenspiele bleiben labil in der Schwebe. Virtuoses Figurenwerk in Hülle und Fülle sorgt für einen ununterbrochenen Bewegungsfluss; die lose melodische Struktur und die Erzeugung von Spannung durch brillantes Figurenwerk könnte man als Antizipation eines ›frühromantischen‹ Stils werten. Deshalb wurde es immer als sein ›fortschrittlichstes Werk‹ mit Verweis auf Hummel, Chopin, Carl Maria von Weber oder sogar Beethoven in Anspruch genommen. In Mozarts letztem Lebensjahr entstehen noch zwei Konzerte, die der Feinheit des kammermusikalischen Wechselspiels mehr verdanken als dem extravertierten Gestus des Konzerts: das Klarinettenkonzert A-Dur (KV 622) und das letzte Klavierkonzert B-Dur (KV 595). Beide Konzerte vermitteln den Eindruck einer zwar klar gegliederten, aber schier unerschöpflichen, unaufhörlich fließenden Melodielinie. Das Klavierkonzert verzichtet auf Klarinetten und Pauken. Sein Anfangs-Allegro beschwört den Eindruck einer unendlichen Melodie, aber das Geniale besteht darin, dass trotz der beständigen Folge schmerzlicher Dissonanzen (exemplarisch Takt 33: Zusammenprall von D in den ersten Geigen und Des in den Celli und Bässen) und einer extrem partikularistischen Faktur (mit Tonartenwechsel in fast jedem zweiten Takt der Durchführung), die Suprematie des Melos nie infrage gestellt wird: eine grenzenlose Melancholie fügt sich mit der in Dissonanzenreihen inkarnierten Seelenqual letztlich zu einem Gesang lyrischer Andacht. Der letzte davon intoniert schließlich naive Freude mit der populären Liedmelodie Komm lieber Mai

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und mache. Wenn es nicht Mozart wäre, würde man ihm das als Regress in Banalität vorwerfen, aber es ist nichts anderes als Zeugnis seiner mentalen Fähigkeit, sich souverän über alle vorigen Verstörungen hinwegzusetzen und sich als ›Fazit‹ in eine andere, lichtere Ausdrucksdimension zu erheben: ein Dementi aller Qual. Mozarts Erfindungsreichtum weist noch viele andere Züge auf, als Vielfalt von Gestaltungsformen manifest: in Finalsätzen als Variationszyklus (KV 175 und GDur-Konzert, KV 453) oder mit konzentrierter kontrapunktischer Verdichtung (Es-Dur, KV449, KV 459, KV 551) oder als Sonatenrondofinale (F-Dur, KV 459) verbunden mit einer Fuge samt einem veritablen buffo-Tonfall. Der taucht auch in KV 449 trotz allerhand Kontrapunkt auf sowie in KV 459 und in KV 453, dort mit einer Presto-Coda. Aber dieser Tonfall kann auch in kammermusikalischen Wechselspielen dialogisieren, wie im Klavierkonzert B-Dur, KV 595. Damit zeigt sich in Konzert wie im sinfonischen Werk, wenn er die routinierte Produktion der Zeitgenossen weit hinter sich lässt, eine zunehmende Individualisierung. Sie erreicht schließlich in beiden Gattungen dann bei Beethoven ihren Höhepunkt – aber auch ihre Grenzmarken.

Das agierende ›Ich‹ – II »… Ich darf nur von einer Opera reden hören, ich darf nur im theater seyn, stimmen hören – – o, so bin ich schon ganz außer mir« – ein solches Bekenntnis kann nur von einem leidenschaftlichen Theatermenschen mit Leib und Seele kommen (Brief vom 11. Oktober 1777). Damit ist man im Zentrum von Mozarts schöpferischer Kompetenz. Denn hier vollzieht sich alles musikalische Geschehen nicht nur an willigen Soggetti, sondern am naturalistischen ›Ich‹ – mit Menschen aus Fleisch und Blut, in Dialog, Szene und Aktion. Zu Mozarts Zeit tritt die Erhabenheit der opera seria mit ihrer höfisch-aristokratischen Affektkontrolle als Maß aller Leidenschaften bereits zurück und macht dem Ethos des frei agierenden Individuums Platz. Was vorher in den ausgezirkelten Strategien der seria Sinnbild höherer Fügung war, in der alle endlichen Affekte in einer unendlichen Weltordnung aufgehoben sind, immer zeitlos überzeugend im Format großer Musik, verfällt jetzt, vor allem bei mäßiger Musik und schwachem Libretto, leicht zu fadem Formalismus und verbrauchter Konvention. Was Pergolesi mit neapolitanischem Temperament angezettelt hatte und Gluck als ›Klassizismus‹ so ergreifend mit der Wahrhaftigkeit der Gefühle und Einfachheit der Dramaturgie neu belebte, findet bei Mozart, dank der reifen Mittel der ›Klassik‹, seinen Höhepunkt. Die ›Erhabenheit‹ verschwindet nicht. Sie äußert sich aber nicht mehr in der Rolle des Menschen als Instrument des Göttlichen, sondern über die Möglichkeit des selbstbestimmten Menschen zum Göttlichen. Auch die Formen der seria sind keineswegs erledigt. Deshalb bewegt sich Mozarts Musikdrama im Polarisationsfeld von seria-Würde und buffa-Dramatik, zwischen alter Konvention und neuer Spontaneität. Man hat deswegen Mozarts Weg in seinen 22 Opern musikhistorisch als »Entwicklung« aus seria, buffa-

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Komödie und Singspiel zu einer neuen, eigenen Synthese daraus beschrieben. Für ihre Reifung hat man drei verschiedene Phasen ausgemacht: die frühen Opern etwa 1767–1772 vom lateinischen Intermedium bis zum »Traum des Scipio« (KV 126), die mittleren von 1772–1782, von seiner bedeutendsten opera seria Lucius Sulla (KV 135) und La finta giardiniera (KV 196) bis zum Singspiel Zaide (KV 344) und schließlich die letzte mit den sieben späten Meisterwerken der Jahre 1781–1791, von Idomeneo bis zur Zauberflöte; Werke, die noch im 21. Jahrhundert zu den größten Attraktionen unserer Opernbühnen zählen. Bereits der Zwölfjährige zeigt, wie gut er im Singspiel Bastien und Bastienne und der buffa La finta semplice, beide 1768 komponiert, das Idiom der buffa mit ihren verschiedenen Bewegungsimpulsen beherrscht. Beispielhaft: das Vorspiel der Giacinta-Arie Marito io vorrei. In seiner ersten seria Lucio Silla (Originaltitel) von 1772 arbeitet er in den Arien, trotz den Bindungen der Gattung, ein hochgespanntes Profil heraus, das nicht mehr der galanten, höfischen Welt des Metastasio-Theaters angehört: mehr menschliche Seelengröße als repräsentativer Glanz, wie es die Verzweiflungsarie der Aspasia Nel sen mi palpito demonstriert. Bereits im Idomeneo von 1780/81 ist die Wende zu seinem Personalstil im ›klassischen‹ Idiom vollzogen. Er verwandelt das getragene, würdevolle Zeitmaß der seria ins dramatische Tempo einer persönlichen Gefühlsdynamik. Damit unterminiert er ihre Statik des großartigen, aber aus aneinandergereihten Teilen gebauten Mosaiks, wie es auch Gluck noch in seiner feierlichen Reihung von Tableaux unternimmt. Tatsächlich vertont Mozart nicht mehr einen Text und seine erhabenen Bilder, sondern die Handlung und ihre Dynamik. Ein solches Konzept bedeutet schließlich auch den Untergang des edlen Gluck’schen Klassizismus. Denn er ist letztlich genauso wenig vereinbar mit Tempo und Beweglichkeit des ›Wiener klassischen‹ Stils wie die Statik der seria. Deshalb bemerkt Goethe 1787 in der Italienischen Reise scharfsinnig: »Alles unser Bemühen, uns im Einfachen und Beschränkten abzuschließen, ging verloren, als Mozart auftrat. Die Entführung aus dem Serail schlug Alles nieder …« Denn genau dort agieren das Paar Blonde und Petrillo wie auch Osmin bereits in echtem, agilem buffa-Stil. In der Hochzeit des Figaro, 1785, gelingt das Wagnis, den sanguinischen buffaRhythmus mit dem moralischen Ernst des Bühnensujets zu verbinden, weil Mozart ihn mit den Mitteln des ›klassischen‹ Stils organisiert. Es ist die Gestaltung selbstständiger, gegliederter Nummern, die durch ihre Proportionen und durch ihre symmetrische, sich auf die Werkmitte hin steigernde Anordnung in Beziehung zueinander gebracht werden. Wie gut er diese neue Kontinuität im Drama beherrscht, zeigt das berühmte Finale des zweiten Aktes, das in großartiger Symmetrie der Tonarten vom Duett übers Terzett, Quartett und Quintett zum Septett anwächst. Dazu kommt immer wieder eine Stärkung des Strukturellen durch Verwendung der Sonatenform wie im Sextett der Erkennungsszene des dritten Aktes. Auch ein anderes Sextett, das im zweiten Akt von Don Giovanni, macht davon Gebrauch, ebenso wie die meisten der Arien Mozarts nach der Struktur des Sonaten-

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Allegros gebaut sind: Hier profitiert das Theater von Mozarts Erfahrung mit der Instrumentalmusik. Betrachtet man Mozarts Musiktheater in den sieben späten Meisterwerken unter dem Aspekt ihrer dramaturgischen Konzepte, so zeigt sich als zentrales Thema die Gestaltung unterschiedlicher Liebeskonstellationen. Mozart stellt sie in verschiedene gesellschaftliche Rahmen, in denen sich unterschiedliche Liebesdiskurse abspielen: als feudale, nach höfisch-aristokratischen Codes oder als individuelle› ›empfindsamer‹ Liebe und schließlich nach Mozarts persönlichem Liebesethos im metaphysischen Szenario der Zauberflöte.9 Ob man Konstellationen wie in Così fan tutte o sia La scuola degli amanti (KV 588) als frivoles Experiment oder als Gegenüberstellung eben solcher verschieden codierter Liebesbegriffe verstehen will, kann man sich aussuchen. Das eine wäre ein höchst buffonesker Laborversuch über die ›Treue‹ und als Möglichkeit, Theater zwischen Tragik und Komik als psychologische Charade zu gestalten. Übrigens ein Modell mit Tradition, denn es handelt sich um nichts anderes als das Sujet der ›Liebesprobe‹, das bis in die Antike zurückreicht. Das andere wäre eine Studie über die Anfälligkeit von Liebesverbindungen, die nicht mehr an den Konventionen von Staats-, Standes- und Familienraison orientiert sind, sondern an individueller Neigung nach modernem Gusto. Damit wäre der Topos der ›empfindsamen Liebe‹ gemeint, mit den Unwägbarkeiten ihrer wechselnden, subjektiven Gefühlslagen, wo der Komik des Grundschemas die Tragik des Leidens an der Zwiespältigkeit menschlicher Leidenschaften gegenübergestellt wird: die »Inkonsistenzen der empfindsamen Liebe« (Dieter Borchmeyer).10 Fest steht, dass es sich um einen Kompositionsauftrag von Kaiser Joseph II. handelt. Fest steht auch, dass es sich im Libretto von Lorenzo da Ponte um eine komödiantische Parodie des Tragischen handelt, »An Opera about an Opera« (Daniel Heartz, 1990), also eine opera buffa in der dramatischen Struktur der seria. Allein die auf 24 Stunden zusammengedrängte liebespsychologische Versuchsanordnung samt der surrealen Personenvertauschungs-Maskerade offenbart die artifizielle und komödiantische Dimension des Bäumchen-Wechsle-dich-Spiels. Man hat sie deshalb als Muster einer ›experimentalpsychologischen Komödie‹ gedeutet, kein ›Thesenstück‹, sondern, wie oft im damaligen Theater der Zeit, ein ›Demonstrationsstück‹. In diesem werden bekannte Mechanismen menschlich-psychologischen Verhaltens dargestellt: ein jeweils ›geschlossenes System‹, das nicht lebenswahr ist, 9

Vgl. D. Borchmeyer, Mozart oder Die Entdeckung der Liebe, Frankfurt a. M. u. Leipzig 2005 sowie, besonders im Hinblick auf die neue Bedeutung der ›empfindsamen‹ Liebe: J. Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung, Tübingen 1998.

10

D. Borchmeyer (2005), der bezüglich des Problems der ›Treue‹ im Konzept der individuellen, empfindsamen Liebe dazu auch Goethes Stella anführt, vgl. S. 209.

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sondern dramaturgisch konstruiert, mitsamt einem Vaudeville-Finale nach Art der französischen Serailkomödie à la Charles-Simon Favart. Das war allerdings dem bürgerlichen, bereits mit den subtileren Maßstäben der ›Empfindsamkeit‹ messenden Publikum zu mokant, weshalb die Oper auch allerhand Missfallen erregt hat. Fest steht aber auch, dass die Musik Mozarts nicht den ironischen Geist des Librettos bedient, sondern die Aufrichtigkeit tiefer Affekte. Wie stets, lässt Mozarts Charakter zwar das Vergnügen am Spielerischen zu, nicht aber Zynismus. Deshalb vertieft seine beseelte Musik das psychologische Kaliber des Spiels zur Wahrhaftigkeit echten Empfindens: Er codiert musikalisch die Treue, nicht ihre Persiflage. Bezeichnendes Beispiel dafür ist die zweite Arie von Fiordiligi Per pietà, ben mio, perdona (Rondo, Nr. 25). Sie kündet so überzeugend von treuer Gattenliebe, dass sie Beethoven zum Vorbild für seine Leonore-Arie Nr. 9 wurde. Auch im Schlussquartett stellt Mozart höhere Harmonie musikalisch mit einem lieto fine her: »Mozart hat Mitleid mit seinen beiden Opfern« (Alfred Einstein, 1947). So versöhnt er die Frivolität der komödiantischen Liebeskonstellation mit höherer Moral. Denn die Rückkehr zu einer amor rationalis erweist sich als Sieg einer tieferen, bereits erprobten Liebessympathie. Nur Nietzsche, der stets zweifelnde Skeptiker, wollte sie nicht so verstehen und hat sie als »Intrigenmusik« bezeichnet. Aber kein Geringerer als Richard Wagner hat ihm heftig widersprochen: »keine Intrigenmusik, sondern Auflösung der Intrigen zu Melodien«; »verklärte, leidende, klagende Wesen.«11 Damit tönt wieder das Grundmuster der ›Klassik‹ auf: der Humanitätston erhabener Menschlichkeit. Von Mozart immer wieder in singulärer Weise als musikalische Botschaft verkündet: im Idomeneo wie auch im Titus, dem Auftragswerk als Krönungsoper für Kaiser Leopold II., wo er deswegen ein letztes Mal das seria-Format wählt. Dort preist er die selbstlose Aufopferung eines Königs für ein humanistisches Ideal und gestaltet musikalisch eine Affektwelt von Anmut, Idealität, Liebe und Treue – und nicht eine der kalten ›Staatsräson‹. Im gleichen Geist verfährt er schließlich auch im Finale des Don Giovanni und der freimaurerischen Märchenoper Zauberflöte. Der Spannungsbogen zwischen beiden – einem Fall von pathologischer Liebeskonstellation und einer märchenhaft-metaphysischen – erlaubt die tiefsten Einsichten in die Wesensqualitäten von Mozarts Ausdruckswelt und Geisteshaltung.

11

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Nach: Cosima Wagner v. 12.2.1870, vgl. Tagebücher, Bd. 1 (1976), S. 198. Auch Stefan Kunze widerspricht jeder Ironiethese: »Die Musik macht sich durchaus nicht augenzwinkernd lustig über die Komödie, sondern nimmt die Liebe Ferrandos, die Verzweiflung Dorabellas und Fiordiligis ernst, umgibt die Situationen, z.  B. den Abschied im 1. Akt, die Betroffenheit der Schwestern im zweiten Finale, mit der Aura der Wahrheit und Innigkeit«, S. Kunze, Mozarts Opern, Stuttgart 1984, S. 434.

»Pentiti!«- »No!« oder: Ordnungsstörung durch einen defekten Eros sexus In Mozarts abgründigster musikdramatischer ›Liebeskonstellation‹ reißen bereits die ersten Takte der Ouvertüre den Blick in eine Welt auf, die nichts mit koketter Rokokoszene zu tun hat, nichts mit den artigen Figaro- oder Così-Tändeleien. Schneidendes d-Moll, die synkopische Verschiebung der beiden Eröffnungstakte mit den bedrohlich überhängenden Bässen bereits als klingender Reflex einer gestörten Ordnung. Dazu der zweite Akkord als labiles Klanggebilde eines Sextakkords, dann der chromatische Quartfall der Bässe ab Takt 5: Vorgeschmack eines radikalen Sujets, drohende Ahnung eines Debakels. Die Ouvertüre nicht mehr in der braven italienischen Sinfonia-Konvention, sondern als antizipierte Quintessenz von Unhappy End. Eine Vorschau als Blick auf ein Finale zwischen Dämonie und Transzendenz mit Untergang und Bestrafung durch das Eingreifen jenseitiger Mächte. Heute begreift man das erst am Schluss. Aber der originale Titel Mozarts malt das Menetekel ganz präzise: Il dissoluto punito, dann erst folgt: ossia Il Don Giovanni. Tatsächlich war das Werk verrufen und blieb es lange. In der Zeitschrift Chronik von Berlin heißt es 1791 dazu: »Ein Singschauspiel, in welchem …. das Auge gesättigt, das Ohr bezaubert, die Vernunft gekränkt, die Sittsamkeit beleidigt werden, und das Laster Tugend und Gefühl mit Füßen tritt.« Sogar Beethoven, gewiss kein bürgerlicher Duckmäuser, hatte Skrupel. Er äußerte, niemals hätte er sich einem so unmoralischen Thema zuwenden können. Das reiht ihn prominent in eine Traditionslinie des bürgerlichen Degout, von den pikierten Zeitgenossen bis zum verstörten Søren Kierkegaard.12 Warum Mozart sich dem prekären Sujet zuwandte, bleibt dunkel. Aber klar ist die unverkennbare Qualität seiner Musik. Sie kann nur einer leidenschaftlich affizierten, seelisch-emotionalen Teilnahme gelingen – vielleicht an typischen Mustern männlichen Eros, die ihm offenbar keineswegs fremd waren, vielleicht an der musikdramatischen Faszination des Stoffes für den Theatermenschen, womöglich an beidem. Sicher wissen wir nur, dass der spektakuläre Erfolg des Figaro in Prag den Auftrag zu einer neuen Oper nach sich zog. Dort pfiff man die Melodien aus dem Figaro auf der Straße und der Prinzipal des Gräflich Nostitzschen Nationaltheaters, Pasquale Bondini, brauchte dringend eine Festoper für einen hohen Besuch. Am 14. Oktober 1787 sollte die Erzherzogin Maria Theresia von Toskana mit ihrem Bräu12

»Don Juan vereinigt all das Vernunftwidrige, Abentheuerliche, Widersprechende und Unnatürliche in sich, was nur immer ein poetisches Unding von einem menschlichen Wesen zu einem Opernhelden qualificiren kann. Er ist die tollste, unsinnigste Aftergeburt einer verirrten spanischen Einbildungskraft« kommentiert, in: Schinks Dramaturgische Monate, Schwerin 1790, zitiert nach O. E. Deutsch, W. A. Mozart. Die Dokumente seines Lebens, Kassel u. a. 1961 (= W. A. Mozart. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie 10, Werkgruppe 34), S. 310–313.

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tigam Prinz Anton Clemens von Sachsen nach Prag kommen. Wir wissen auch, dass die Idee eng mit dem librettistischen Ehrgeiz von Lorenzo da Ponte zusammenhängt. Denn beide wollten ihre erfolgreiche Zusammenarbeit fortsetzen. Auch die eindeutige Bezeichnung als opera buffa in Mozarts eigenhändigem Werkverzeichnis und die etwas weniger eindeutige als Dramma giocoso im originalen Textbuch halten am formalen Konzept des bisher gepflegten Operntyps fest. Schließlich spannt sich auch ein konzeptioneller Bogen vom originalen Titel des Werks, der die Bestrafung des Übeltäters betont, zu der (von der älteren Aufführungspraxis so schmählich missachteten) buffonesken Schlussszene des Nachfinales, die nicht nur die bürgerliche Moral bedient, sondern unstrittig auch die Gattungstradition der Komödie.

Don-Juan-Chiffren im Geiste von Faust Aber gleich, ob man das Werk unter dem Aspekt einer Spielart der vielen DonJuan-Realisierungen in Literatur und Oper als ein dramma giocoso betrachtet oder unter dem romantisch-psychologisierenden seit E. T. A. Hoffmanns Don Juan Novelle (1814), der – vielleicht auch ein moralischer Entlastungsversuch – aus der männlichen Hetäre einen geheimen Metaphysiker macht – mit dem Don-JuanSujet spielt Mozart in einer anderen Liga. Dort geht es um eine Figur von archetypischem Format – historisch, dramaturgisch, psychologisch, essenziell und existenziell. Ihre Konturen tauchen zu Beginn der Neuzeit als Repräsentanten neuer Menschentypen am europäischen Horizont auf: Don Juan und Faust. Der eine besessen von der Libido sciendi, der andere von der Libido sexualis: der manische Wissenssucher und der Erotomane. Sie werden zu Sinnbildern einer Dynamik, die von der imperialistischen Weltexpansion europäischer Mächte seit dem 15. Jahrhundert bis zum Abfall von Traditionen, alten Bindungen und überkommenen Wissensbeständen reicht: beides hemmungslose Entfesselungstendenzen der Sinnes- und Intellektkräfte in einem zentrifugalen Furioso. Dort prägen die spirituellen und kosmologischen Bezüge des Mittelalters zwar noch eine Weile Kunst- und Musikästhetik. Aber mit der neuen Bewusstseinlage aus Curiositas, Wissenschaft und Welteroberung verschwinden solche Bezüge mehr und mehr hinter neuen Gesellschafts-, Kräfte- und Mächtekonstellationen. Hinter der Welteroberung mit dem Reiz von Abenteuer und den Lockungen des Unbekannten steht die Gier nach neuen Pfründen. Ihr skrupelloser Charakter zeigt sich in der Vernichtung, Unterwerfung oder Ausbeutung anderer Kulturen, mit den Massakern an ihren Menschen, der Zerstörung ihrer Götter und Traditionen und der Suche nach ›Beute‹: Gold und Sklaven, der Mammon und die Macht. Dazu passen die neuen Figuren der Hybris und Vermessenheit von Faust und Don Juan. Sie wirken wie die ersten Signaturen permanenter Grenzüberschreitung eines

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unersättlichen Egos abendländischer Mentalität: der Weg zur eurozentristischen Weltaneignung, die noch im 21. Jahrhundert kulturelle und technische Suprematie beansprucht und globale Standards von ›Modernität‹ definiert. ›Faust‹, dieser moderne abendländische Archetypus schlechthin, wird erstmals greifbar im Druck der Historia von D. Fausten von 1587. Er ist ein erstes Kondensat des historischen Faust der Renaissancezeit, der 1515 durch den Abt Johannes Trithemius von Sponheim als Magister Georgius Sabellicus, einem Arzt, Nekromanten, Astrologen und Chiromanten bezeugt ist. Martin Luthers Tischreden und die protestantischen Exempelsammlungen porträtieren ihn als Teufelsbündler, besessen von unheiliger Curiositas und monomanem Geltungsdrang. Seine Bühnenkarriere beginnt der Don-Juan-Typ 1630 mit der Comedia von Tirso de Molina El Burlador de Sevilla y convidado de pietra (Der Bürger von Sevilla und der steinerne Gast). Seither haben diese beiden modernen Archetypen der abendländischen Mentalität nicht aufgehört, die Gemüter zu erregen und zu faszinieren: der eine als prometheischer Sucher nach dem Glück vollkommener Erkenntnis, der andere nach dem Rausch hemmungsloser Lust. Eine ununterbrochene schöpferische Beschäftigung damit in Literatur, Dichtung und Oper belegt es. Die Reihe der Faust-Bücher reicht von 1587 bis Thomas Mann (1947), die der Don-Juan-Romane nach der Vorlage von Molina, von Jean-Baptiste Molière (1655) bis Hanns-Josef Ortheil (2000) und Peter Handke (2004), die als Opernstoff bis zu Busoni und Berlioz.13 Mozart und da Ponte schöpfen also aus dem Vollen. Letzterer sogar mittels einer direkten Vorlage, aus der er große Teile entlehnt hat: dem Don Giovanni ossia il convitato di pietra nach dem Text von Giovanni Bertati und der Musik von Giuseppe Gazzaniga. Das Stück war 1787 im Theater S. Moisè in Venedig ein großer Erfolg, erreichte bereits im Winter des gleichen Jahres Prag und Wien und war als Textbuch weit verbreitet. Mozart und sein Librettist haben es sicher gekannt, obwohl es da Ponte in seinen Memoiren keiner Erwähnung würdigt. Das Libretto von Bertini/da Ponte hält sich nicht an den Typ des intellektualisierten Libertins, wie ihn Molière oder Goldoni zeichnen, sondern an die dunkle Größe des spanischen Urbilds, den sexuellen Freibeuter und anarchistischen Nihilisten. Das nützt Mozart für die Dramatik seiner Komposition. Gleich die erste Szene setzt die Impulse. Ein furioser Crescendo-Anstieg führt die Introduktion aus den Unmuts-Lamentationen des Dieners Leporello – ein typisches buffa-Sujet – in das hitzige Kampfduett der beiden Hauptkontrahenten: Donna Anna, dem Zielobjekt eines Vergewaltigungsversuches, und dem unedlen Edelmann. Es endet im d-Moll einer tödlichen Fechtszene mit dem Komtur: Es gibt keine Exposition, keine Vorgeschichte, keine psychologische Entwicklung der Si-

13

Vgl. D. Borchmeyer (2005), S. 143; S. Kunze, Don Giovanni vor Mozart. Die Tradition der Don-Giovanni-Opern im italienischen Buffa-Theater des 18. Jahrhunderts, München 1972.

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tuation. Hier realisiert sich das »Theater des Augenblicks« (Dieter Borchmeyer) im Psychogramm der Don-Juan-Existenz als eines besinnungslosen Ekstatikers des Momentanen. Dazu kommt gleich die Signatur von Gewalt. Ein Vergewaltigungsversuch als Anfang – zwar ohne Belege seines Gelingens im Libretto – und ein veritabler Mord als erster Szeneschluss. Nach einem dramaturgisch ›funktionalen‹ Beginn, dem die ›funktionelle‹ nämlich moralfreie, erotische Benützung des Weibes als Lustobjekt korrespondiert, dann die Verstrickung in ein Kapitalverbrechen. Dessen Opfer wird schließlich zur Nemesis des Edelmanns, wie die Gewalt zum Dynamo des dramatischen Aktionsplans. Sein Rhythmus wird konsequent weiterentwickelt: Die Anfangsszene gipfelt im Racheschwur von Donna Anna und Don Ottavio, ihrem Verlobten. Dabei etablieren sich bereits die maßgeblichen Tonart-Sphären: D-Dur als die Täter-Tonart Don Giovannis und die d-Moll-Sphäre als Gegenpol des Dämonischen und der Vernichtung. Nach dem Elvira-Auftritt, in den sich Don Giovanni und Leporello einmischen (4.–6. Szene) bildet die Register-Arie den Abschluss (D-Dur). Ein neuer Handlungszug beginnt in einer anderen, bukolisch unbeschwerten Welt mit der Zerlinen-Handlung (7.–10. Szene), wird aber durch die tarantellaartige Energie (als 6/8-Allegro) des ersten Verführungsversuches von Don Giovanni hochtransformiert und schließlich durch den verzweifelten Versuch von Donna Elvira dramatisiert Fermati scellerato … Die gewaltige, abhaltende und empörte Gebärde ihrer Arie Ah, fuggi il traditor (Oh flieh, Betrogne, flieh, Nr. 8) beschwört nach dem berückend-unwiderstehlichen Duettino Là ci darem la mano (Reich mir die Hand, mein Leben), dort noch galante Umwerbung, jetzt Rache und Vergeltung. Im Quartett Non ti fidar,o misera (O traue nicht, Unselige, Nr. 9) sammeln sich wieder die Aktionsfäden im Ensemble: Die Entlarvung Don Giovannis bereitet sich vor, als mit der Rekapitulation der Vorgeschichte der Handlung (Nr. 10) die Blindheit von Donna Anna abfällt. Überhaupt erweisen sich die Ensemblesituationen und die in sie eingebundenen Arien als Knotenpunkte des Dramatischen. Mit der 15./16. Szene beginnt ein neuer Aktionsstrang bis zum Finale des ersten Aktes, das erstmals alle Personengruppen auf einem gemeinsamen Schauplatz versammelt. Anstoß dazu ist die Champagner-Arie (Nr. 11), mit der die Anweisung an Leporello ergeht, ein großes Fest vorzubereiten: Fin ch’an dal vino. Sie artikuliert mit rasendem Presto, ihren Forte-Orchesterakzenten und den taumelnden Melodiefetzen vor der Wiederkehr des Anfangsthemas im rondoartigen Schluss gewissermaßen das atemlose Lebenstempo Don Giovannis: Symbol seines Charakters. Es ist die gleiche ›veloziferische‹ Rastlosigkeit, mit der Goethe Faust in seiner Dichtung kennzeichnet, wenn er der »Geduld« flucht (Vers 1606) oder Forderungen an Mephisto stellt, die ihre Erfüllung gleichsam immer schon hinter sich haben: »Doch hast du Speise, die nicht sättigt, hast Du rotes Gold, das ohne Rast, Quecksilber gleich, dir in der Hand zerrinnt. Ein Spiel, bei dem man nie gewinnt …« (Vers 1678–1685). Und sein Gelöbnis an Mephisto: »werd ich zum Augenblicke sagen:

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Verweile doch! Du bist zu schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn« (Vers 1699–1702): Thematisierung einer Lebensdevise unersättlicher Tempogier.14 Mit dieser Arie beginnt sich bereits das Aktionsfeld aufzubauen, das zum Zusammenprall aller Kräfte und schließlich zur Katastrophe führt. Sein explosiver Auftakt formuliert das Programm eines wilden Kontratanzes: Senza alcun ordine la danza sia mit Menuett, Follia, Allemande und Sarabande. Damit setzt Mozart nicht nur die Idee eines orgiastischen Festes um, sondern auch den Zusammenbruch der ständischen Ordnung als musikalische Metapher von Anarchie. Sie komponiert er, nachdem Don Giovanni mit »Viva la libertà!« seinen erotischen Imperativ verkündet hat (Arie und Ensemble Venite pur avanti) durch Übereinanderschichtung der verschiedenen Taktarten von 3/4-, 2/4- und 3/8-Takt (Szene 20, Nr. 13). Es ist die Kombination unvereinbarer Zeitordnungen, ausgeführt durch drei verschiedene Kapellen in Bühnenmusik und Orchester, als Höhepunkt eines dramatischen Grundkonzepts. In dem finden ausgerechnet in den Ensembleszenen, wie überhaupt in allen gemeinsamen Aktionen, die divergierenden Kräfte ihren deutlichsten musikalischen Ausdruck. »Thema der Tanzszene ist die Desintegration des musikalischen sowie des dramatischen Geschehens« (Stefan Kunze). Das ist ein gekonntes Spiel mit den zentralen Strukturprinzipien des Idioms der ›Wiener Klassiker‹. Denn hier findet nicht nur symbolisch, sondern in der komponierten Realität der musikalischen Faktur »die Aufhebung des die Einheit stiftenden Bezugssystems des klassischen Satzes« statt (Stefan Kunze), nämlich die seiner takt- und schwerpunktgliedernden Ordnung.15 Don Giovanni ist ein Getriebener und zugleich ein entschlossen Handelnder. Aber sein destruktives Potenzial, mit dem er die Fundamente aller sozialen Beziehungen untergräbt, verbindet sich mit Attributen einer faszinierenden Persönlichkeit. Er betrügt ja nicht nur, sondern er vermag auch zu bezaubern. Mit der Arie Là ci darem la mano (Nr. 7) als bestrickender A-Dur-Sirenengesang des Zerlina-Verführers, verleiht Mozart dem Wüstling suggestiven seelischen Eros. Mit der Canzonetta Deh, vieni alla finestra, o mio tesoro (Nr. 16) lockt er das Kammermädchen von Donna Elvira als neues Objekt seiner Begierde an. Und die ergreifenden Zeugnisse der Zuneigung von Elvira künden nicht nur von Liebe und Mitleid – wieder in Mozarts verklärendem Humanitätston –, sondern auch von der Bezauberungsmacht ihres Liebesobjekts (Von Mi tradì quell’alma ingrata in der Szene 10 bis L’ultima prova dell’amor mio der Szene 14).

14

D. Borchmeyer (2005), S. 174, bezeichnet diese Verse gewissermaßen als die »Champagnerarie Fausts«; vgl. dazu auch M. Osten, Alles veloziferisch oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit, Frankfurt a. M. u. Leipzig 2003.

15

Vgl. S. Kunze (1984), S. 351 ff., mit einer genauen Analyse der Szene vor allem auch hinsichtlich ihres Stellenwerts im ›Wiener klassischen Satz‹.

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Mit dieser Ambivalenz von Perfidie und Charisma steht Don Giovanni letztlich jenseits der eindeutigen Rollenschemata der Opera seria oder des Klassizismus, genauso wie jenseits der zur Eindeutigkeit tendierenden Rollentypen der späteren Oper des 19. Jahrhunderts. Das Gleiche gilt formal, nämlich für die Verbindung von seria-Ernst und buffa-Komik, die mit den Leporello-Einlagen bis ins hochdramatische Finale des Höllensturzes reicht. Jenseits aller Schablonen von Held oder Bösewicht steht die Figur auch als Protagonist einer Autonomie: die einer archaischen, dämonischen Kraft an sich. Damit überschreitet er auch das Rollenklischee eines frivolen Edelmanns des feudalen ancien régime – aber auch den Horizont sämtlicher bemühten historisch-soziologischen Deutungen. Denn hinter der Libretto-Figur steckt ein zeitloses Thema des Menschlichen, das Mozarts Musik als bannende Erlebniswirklichkeit gestaltet: das einer quasi autonomen destruktiven männlichen Triebanarchie. Dass sein Realismus schon damals die Zeitgenossen schockiert hat, ist gut begreiflich – wird allerdings von der Realität unserer Moderne noch weit übertroffen.

Das Muster der Don-Juan-Pathologien Als Pathologie vorzugsweise des männlichen Eros, wird der Don-Giovanni-Typ zum Exponenten eines defekten Ichs. Denn er definiert sich durch eine Sexualität, die alles ›Humane‹ einer integralen Sinnlichkeit methodisch eliminiert, modern: durch einen egomanen Macho-Sexismus. Mit der Herauslösung einer Teilkraft aus einem Ganzen und ihrer manischen Instrumentalisierung bezieht er seinen (funktionalen) Lustgewinn und eine (fraktionale) Selbstbestätigung, samt deren Machtstrategien. Das aber gehört längst ins Repertoire moderner Bewusstseinslagen. Die ältere Seelenkunde hat es in der Psychologie von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung als »Abspaltung eines Teil-Ichs« bezeichnet. Es operiert als quasi autonome Instanz und stört so nicht nur die Balance der Gesamtpersönlichkeit, sondern auch ihre sämtlichen sozialen Beziehungen. Tatsächlich profiliert sich der Don Giovanni von Da Ponte/Mozart gar nicht, wie es vordergründig scheint, als erfolgreicher Verführer, sondern vor allem als perfider Störer fremder Liebesbeziehungen und Soziopath. Nicht einmal als Vergewaltiger kommt er ans Ziel, denn seine Revue erotischer Fehlschläge beginnt mit dem offenbar »gescheiterten Notzuchtversuch« an Donna Anna (Carl Spitteler).16 In dessen Folge wird er zum Mörder ihres Vaters und bringt damit das Drama in Gang. Danach misslingt der Versuch, 16

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Mit Sarkasmus und Ironie entzaubert Carl Spitteler den Mythos des ›Unwiderstehlichen‹ in seinem Essay Die Don Juan-Idee: »Eine merkwürdige Unwiderstehlichkeit, wenn einer in der Notzucht sein Heil suchen muß, ja wenn ihm diese nicht einmal gelingt, trotzdem er Graf ist …«. Gleichzeitig widerspricht er der späteren Phantasie der Interpreten von der erfolgreichen Vergewaltigung Donna Annas und einer womöglich dadurch begründeten Liebesbindung und verteidigt die treue Liebe Don Ottavios, vgl. C. Spitteler, in: Gesammelte Werke, Bd. VII, Zürich 1947, S. 648  ff. Die Umdeutung des Geschehens um Donna Anna, ebenso wie die nicht durch das Libretto zu belegende Vermutung einer er-

mit der zunächst nicht erkannten Donna Elvira anzubandeln, darauf vereitelt Elvira die geplante Verführung Zerlinas, und der Auftritt Masettos torpediert das Rendezvous mit Elviras Zofe. Schließlich scheitert auch das Stelldichein mit Leporellos Bella kläglich. Auch die Bauernhochzeit im Schloss (1. Akt, Szene 15), als zünftiger Adelsball inszeniert, aber als deftige Sexorgie geplant, geht daneben. Don Giovanni möchte zwar die Liste seiner Eroberungen noch um wenigstens zehn Namen erweitern (Champagner-Arie) und sogar – eher wenig feudal – weibliches Beutematerial von der Straße einladen (È aperto a tutti quanti in der gleichen Arie, Nr. 11) – aber daraus wird keine lockere Swingerparty »Senza alcun ordine«, sondern eine Abrechnung durch die »Koalition der Getäuschten« (Friedrich Dieckmann). Don Giovannis Weg säumen also in Mozarts Werk nicht wirkliche erotische Siege, sondern die Opfer seines sozialen Destruktionspotenzials – sieht man vom rhetorischen Maulheldentum in Leporellos Registerarie ab. Aber die ist als prahlerische Aufreißer-Suada nur eine bekannte, keineswegs überholte Spielart typischen Machismo. Als ›Don-Juan-Komplex‹ ist das Phänomen des dissoziierten Teil-Ichs sogar in die scholastische Liste psychologischer Komplexe eingegangen. Dort wird er als Nachfolge-Terminus der Satyriasis definiert, einer Ableitung aus der Darstellung eines geilen Satyrn mit riesigem erigiertem Phallus.17 Indessen geht es längst nicht mehr um einen extremen »Typus« und sein Problem mit interessanter Deutung durch die Psychologie. Denn dem könnte man immerhin noch einen anthropologischen Stellenwert als Anteil am ›Dionysischen‹ und damit als Teil unserer unentrinnbaren Polarität zwischen Tier- und Geistnatur attestieren, also am ›Reich des großen Daimons‹. Dort bleibt die stets latent lauernde männliche Triebanarchie in der archetypischen Spannung zwischen der ›Großen Mutter‹ und dem ›Weib‹ als Sexualobjekt einem unstillbaren phallischen Lustund Zeugungsprinzip verbunden und bewahrt so letztlich irgendwie noch einen metaphysischen Aspekt. Mit dem Crescendo von der individuellen Neurose zur gesellschaftlichen Psychose gelangt man aber schließlich unvermeidlich in die soziale Psychopathologie der Moderne. Denn wie nie zuvor durchdringt die losgelöste Libido als vagabundierende Triebpotenz unsere alltägliche Lebenswelt und verliert als routinierte Pan-Sexualisierung der modernen Gesellschaft jedes singuläre Don Giovanni-Format. Genau wie Gewalt und Drogen ist die Pornographie, vorzugsweise medial-digital vermit-

folgreichen Vergewaltigung, scheint Erbe der romantischen Dämonisierung durch E. T. A. Hoffmann zu sein, wie dargelegt bei D. Borchmeyer (2005), S. 144–153. 17

Aufgelistet in einem Katalog von Maryse Choisy mit dem Inventar von über 50 Formen von Komplexen, hg. v. M. Choisy, Wörterbuch der Psychoanalyse und Psychotechnik, Wien u. New York 2004. ›Donjuanismus‹ wird in der analytischen Psychologie auch als Bindungs- und Kontaktangst verstanden, vgl. E. Speer, Die Liebesfähigkeit, München o. J. (= Reihe Geist und Psyche, 2017/18).

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telt, in der Mitte der Gesellschaft angekommen und prägt als verselbstständigte Sexualität ohne Verantwortung und ›humane‹ Empfindungsfähigkeit dominant den Persönlichkeitstyp des modernen Mannes. Es ist nicht nur seine intellektuelle Unfähigkeit, eine gesellschaftliche oder gar moralische ›Ordnung‹ anzuerkennen, wie es die drastische sechsmalige »No, No«-Verweigerung des Don-Giovanni-Finales eindrucksvoll darstellt, sondern seine Liebesunfähigkeit als ein seelischer Defekt. Sie kommt noch in der Verachtung für die liebende Menschlichkeit von Donna Elvira radikal zum Ausdruck bei ihrem letzten, ergreifenden Versuch, sein Fühlen, sein Herz und sein besseres Selbst im zweiten Akt zu erreichen (Terzett Ah, taci, ingiusto core: Mein armes Herz, o schweige, Szene 2, Nr. 2). Wenn dort Don Giovanni endgültig seine skrupellose Verachtung für Elviras Liebe demonstriert, geht sie noch weit über die im ersten Akt hinaus. Aber wenn er sie auch noch versucht, seinen Zwecken dienstbar zu machen, wird sie zum blanken Zynismus. Daran zeigt sich, dass die Herrschaft einer abgespaltenen Sexualität über die Person letztlich nicht Folge einer unbeherrschbar starken Libido ist. Denn ›Potenz‹ gilt bekanntlich als männlicher Aktivposten, und nur durch ihre Abtrennung vom Rest der Persönlichkeit wird sie zum Problem. Das betrifft nicht allein den Willen, also einen Kontrollverlust über das Testosteron, sondern viel entscheidender ein psychisches Manko: die fehlende Emotionalität. Denn die Abtrennung der Libido vollzieht sich über eine geschwächte oder gestörte Empfindungsfähigkeit für Seelisches und den Verlust von Empathie, letztlich also über Qualitäten des Menschlichen schlechthin. Casanova, durchaus ein enger libidinöser Verwandter Don Juans, gewinnt durch seine Potenz mehr als er zerstört. Denn er bleibt auch in seiner promiskuren Lustsuche einer anderen, sensibleren ars amandi samt einem anderen Imago von Weiblichkeit verpflichtet. Anhänglichkeit und Reminiszenzen seiner ›Opfer‹ belegen es. Mit der Verkümmerung des Empfindungsvermögens und der damit verbundenen Liebesunfähigkeit, drastisch konditioniert durch die technisierte Kopfratio der westlichen Moderne, verkommt auch die Sensibilität für den Menschen als Seelenwesen. Die emotionale Teilnahmslosigkeit, aber nicht kultiviert als Tugend eines Gleichmuts der Stoa, sondern als chronische Gefühlsasthenie, begegnet dem gequälten Kind, der vergewaltigten Frau und der politisch legitimierten Folter oder der ideologisch maskierten Barbarei genauso gleichgültig wie dem malträtierten Opfer in der U-Bahn, der Verzweiflung der Elenden, den Flüchtlingsdramen oder dem Leid von Mitmenschen und Partnern. Damit porträtiert der Typ des gefühls- und verantwortungslosen sexuellen Libertins à la Don Giovanni einen Prototyp des modernen Macho. Es ist der seelisch infantil gebliebene Mann, wie er scharfsichtig bereits von Ortega y Gasset bis Jaspers, Gehlen oder dem Psychiater Joachim Bodamer beschrieben wird. »Eine Gestalt ohne Schicksal, ohne Rang und ohne eigentliche Menschlichkeit« beschreibt ihn Karl Jaspers (1952). »Der Mann von heute ist der Haltlose geworden, und was

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er an Sicherheiten vorweist, sind keine, die aus freier Männlichkeit kommen, sondern Scheinsicherungen …«18 Weil er vom Format echter Männlichkeit keine Ahnung hat, steht er als narzisstischer Selbstdarsteller außerhalb aller archetypischen Vorbilder von Männlichkeit. Wenn Don Giovanni im Drama von Da Ponte und Mozart nicht nur, trotz Adel und Schloss, ohne Herkunft erscheint, sondern auch als vaterlos – denn nichts verbindet ihn mit irgendeiner Vaterwelt, ja es gehört sogar zum Plot des Werks, die einzige Vaterfigur des Operndramas, den Komptur, zu vernichten –, dann tritt er gleichzeitig als Repräsentant einer vaterlosen Gesellschaft auf. Hier gibt es keine der positiv besetzten paternalistischen Rollenvorbilder von Verantwortung, Schutz oder Verpflichtung gegenüber Schwächeren und einer gesellschaftlichen Funktion als Vorbild von Ritterlichkeit, Mut und Tapferkeit oder einer Anerkennung der Frau als weiblichen Komplementärs von existenziellem Rang. Wie ein moderner Reflex davon erscheint die soziale Situation der ›alleinerziehenden Mutter‹, wo der ›Vater‹ abgedankt hat. Sie gehört längst zum Alltag unserer dissoziierenden westlichen Familienwirklichkeit. Bemüht man die Historie für diese Entwicklung, so kommt noch eine andere ›Abdankung‹ von Vaterfigur in den Blick – allerdings von paradigmatischem Format: es ist die Eliminierung des Königs in der Französischen Revolution. Nicht nur eine reale Liquidierung, sondern auch eine symbolträchtige mit epochaler Wirkung. Denn damit wurde nicht nur ein missliebiger feudaler Unhold und Protagonist einer dekadenten Gesellschaftsschicht beseitigt, sondern auch ein bedeutungsvoller symbolischer Repräsentant der alten gesellschaftlichen und hierarchischen Ordnung des Abendlandes – übrigens zur gleichen Zeit, als Mozart sein Don-JuanOperndrama komponierte.19 Das bedeutete auch die Liquidierung der sozialen Systeme mit ihrem Jahrtausende alten, strukturellen Organismus ›ständischer Gliederung‹ in Staat, Gemeinwesen und Gesellschaft, besonders markant ausgeprägt in unserem Mittelalter. Ihren eigentlichen Symbolwert aber erhält sie dadurch, dass dahinter mehr als nur technische Organisation oder Strategien perfider Machtkalküle nach zünftiger soziologischer Lesart stehen. Denn alle Gesellschaften generieren früher oder später Struktur, Stufung und Ordnungssysteme – und nicht nur die menschlichen, sondern auch die der Natur. Das verweist auf eine Matrix, die tiefer liegt. Hinter ihren Einschreibungen in die soziale und menschliche Disposition zu höheren Ordnungsvorstellungen steht die Struktur einer umfassenderen ›Wirklichkeit‹ von kosmologischem Format. Eine Ahnung ihrer höchsten Entsprechung findet sich im 18

So der Psychiater Joachim Bodamer, der eine nüchterne, radikale Phänomenologie und Diagnose moderner Männlichkeit entwirft: Der Mann von heute. Seine Gestalt und Psychologie, Freiburg u. München 1962, S. 27, 30–33, 45, 46.

19

Mit der Verbindung zum symbolischen Vatermord der Französischen Revolution beschäftigt sich ausführlich Alfons Rosenberg: Don Giovanni. Mozarts Oper und Don Juans Gestalt, München 1968, S. 292 ff.

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mittelalterlich-abendländischen Topos der ›Himmlischen Hierarchie‹ – zwar eine transzendente Vorstellung christlicher Lesart, aber konkrete Realität in Gotischer Baukunst und den Konzepten ihres Kunstdenkens.20

Die Realität des Geschlechts Kein Wunder, dass das prekäre Sujet von Mozart/da Ponte seinerzeit die Wiener Gesellschaft tief verstört hat. »Der Don Giovanni gefiel nicht«, berichtet da Ponte über die Wiener Erstaufführung, 1788, die immerhin vom Kaiser betrieben wurde. Mozart hat deshalb zwei Arien und ein Duett nachkomponiert. Noch den Philosophen Søren Kierkegaard stürzt das Werk in existenzielle Verzweiflung und düstere Reflexionen über das Verhältnis von Ethik und Ästhetik. Dabei kommt er zu schwerwiegenden Urteilen über die Musik: »Die Musik ist das Dämonische. In der erotisch-sinnlichen Genialität hat die Musik ihren absoluten Gegenstand« befindet er 1843 in seiner Schlüsselschrift »Entweder–Oder«.21 Damit trifft er immerhin den Kern der Wirkungsmacht von Musik. Und auf jeden Fall die andauernde Faszination des Mozart’schen Opus. Denn was die heutige Wirkung betrifft, so ist kaum noch zu erwarten, dass die Pathologie des Sujets die Zeitgenossen zerebral erreicht oder gar erschüttert. Nach dem eiskalten, intellektuellen Zynismus eines Marquis de Sade oder eines Choderlos de Laclos und ihrer modernen Erben der Internet-Kinderschänder und der Routine medialer Bestialitätsszenarien hat höchstens die Musik Mozarts noch eine emotionale Chance. Dort setzt man aber noch auf eine andere Anthropologie der Geschlechter. Denn da Ponte/Mozart führen uns einen sozialen Trauerfall vor, der zwar ein triebberauschtes Sexualtier ist; trotzdem repräsentiert er noch ein klares polares Muster einer, wenn auch besinnungslosen – aber naturalistischen Sinnlichkeit. Deren animalische Qualität tritt unverblümt im Gespür für den »odor di femmina« zutage, den »Geruch der Frauen«, wie es so drastisch beim Auftritt von Donna Elvira heißt – bewundert von Leporello als virile Instinktsicherheit seines Herrn (1. Akt, Nr. 4 und 9). Von da aus erscheint nicht nur der kopfgesteuerte Zynismus einer technoiden Sexualität der Moderne als kategoriale Differenz. Auch die zerebrale Dekonstruktion der Geschlechteridentitäten zu multiplen Gender-Konstrukten ist es. »Der sinn20

Zum transzendenten Topos der ›Himmlischen Hierarchie‹ wie er besonders bei Dionysius Pseudo Areopagita und von da aus bei Abt Suger formuliert wird, siehe Kapitel II und v. Simson (1968), S. 171, 197–199 sowie Bȏ Yin Rȃ, Mehr Licht, Letztausgabe, Basel 1936, S. 79, 165.

21

S. Kierkegaard, »Die Stadien des Unmittelbar-Erotischen oder das Musikalisch-Erotische« in: Enten-Eller 1843, dt. als Entweder-Oder, mit einer Einführung v. M. Bense. Wiesbaden o. J., S. 56. Kierkegaards folgenreiche, problematische Sicht, die sich auch in seinem völligen Unverständnis der Zauberflöte manifestiert, wird, auch mit Blick auf Richard Wagner und Charles Baudelaire bei Borchmeyer (2005), S. 178–186 erörtert.

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liche Mensch kann nicht tiefer als zum Tier herabstürzen; fällt aber der aufgeklärte, so fällt er bis zum Teuflischen herab und treibt ein ruchloses Spiel mit dem Heiligsten der Menschheit« (Friedrich Schiller im Brief an den Prinzen von Augustenburg vom 13. Juli 1793). Mozarts Don Giovanni hingegen ist noch weit weg davon. Er ist noch ein Bekenntnis zu einer kreatürlichen Sexualität als Sinnlichkeit und zum authentischen Geschlechtswesen ›Frau‹. Mit dem nachdrücklichen Dementi aller Geschlechterdifferenz in aktuellen Ideologien hingegen und ihrer Auflösung in Spiele androgyner Beliebigkeiten und bunte Diversity wird nicht allein biologische Ontologie erledigt, sondern auch anthropologisches Format. Das betrifft auch Rang und Würde der Frau, das Weibliche schlechthin. Denn bei da Ponte/Mozart hat zwar der »odor di femmina« seinen Platz – aber auch die ›himmlische‹ Anima, das Urbild seelischer, verzeihender, mitleidender weiblicher Liebe und Empathie, wie es durch Donna Elvira so ergreifend Gestaltung findet. Beim total ›aufgeklärten‹ Zeitgenossen hat deswegen der transzendente Bezug des Mozart’schen Humanismus wenig Chance auf zerebrale Anerkennung – obwohl er auch das Finale des Dramas so markant bestimmt. Mozart nobilisiert nicht nur das alte spanische ›Degen- und Mantel‹-Stück von der anrüchigen Macho-Fabel zu einer existenziellen Metapher, sondern gibt ihm auch eine übernatürliche, sprich: transzendente Lösung. Nicht allein, weil sich der Wüstling im Diesseits als untherapierbar erweist, sondern weil es zutiefst Mozarts Mentalität entspricht. Das Natürliche wird bereits in der Friedhofsszene (Szene 11) überschritten. Als eine ›Ombra-Szene‹ hat sie eine lange Tradition in der opera seria. Die sprechende Statue des ermordeten Commendatore: »Dein Gelächter wird enden, bevor der Morgen graut«, beendet radikal das Ambiente des buffonesken Dialogisierens mit Leporello. Die Annahme der Einladung zum Festmahl: »Si!« bekräftigt das als Agent eines Supranaturalen. Wenn er dann als steinerner Gast tatsächlich erscheint, liefert Elviras Entsetzen die musikalische Analogie zum Übernatürlichen: ihr »Ah!« als ein bodenloser, verminderter Akkord (h-d-f-as). Er wird zur Signatur des Auftritts der Statue (h-d-f-gis), mit dem die egomane Verachtung des Edelmanns für Elviras liebendes Flehen zu einer Umkehr abrupt beendet wird. Der umstürzende Orchesterschlag im doppelten Forte erledigt dann das F-Dur samt allen tonalen Bindungen, und die Posaunen signalisieren, ganz in traditioneller Instrumentation des Topos, die Jenseitssphäre. Nach der letzten Runde der ausgeschlagenen Reue »Pentiti!« und dem sechsfachen »No!« dann der Fluch: »Geh zur Verdammnis ein!« mit dem Untergang in Feuerbrand und finsterstem d-Moll. Wenn dann im oft (seit Gustav Mahlers Wiener Opernpraxis) unterschlagenen Finale-Sextett – lehrhaft wie in einer barocken seria – »So endet, wer Böses tut. Und stets gleicht der Tod der Übeltäter ihrem Leben« ein veritabler buffo-Schluss folgt, weckt das zwar banale Happyend-Assoziation. Tatsächlich aber zeigt sich darin, wie so oft, Mozarts Wille zu einer höheren Auflösung aller diesseitigen Dramatik – und zwar zweifach: einmal dramaturgisch durch das Eingreifen höherer Mächte, dann aber auch formal durch einen veritablen Komödienschluss – das Spiel als letz-

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tes Wort. Das ist zwar kein lieto fine, dafür ist der Höllensturz doch zu krass und die Versöhnung der Übriggebliebenen doch zu äußerlich. Aber Mozart transzendiert Dämonie wie Pathologie, Frevel, Drama und Verdammnis zum Spiel in einem Welttheater, in dem ein Höheres, ein Göttliches mitspielt. Offen bleibt, ob die Metapher dieses höheren giocoso noch den modernen Intellekt erreicht.

»Wen solche Lehren nicht erfreun, verdienet nicht ein Mensch zu sein.« Mozarts ›Spiel‹ geht aber weiter. Der tiefe Humanismus, der im Titus das hierarchische Herrscherverhältnis fast durch Sanftmut unterminiert, der in Cosí Liebestreue über Frivolität siegen lässt und noch im Don Giovanni Trieb- und Sozialanarchie im Namen einer höher begründeten Ordnung in die Schranken weist, erhält im ›Singspiel‹ der Zauberflöte den Rang eines Vermächtnisses – mehr noch: eines ausdrücklichen Bekenntnisses. Vermächtnis: als Mozarts letzte Oper in seinem Todesjahr, Bekenntnis: nicht allein im Stoff, sondern in einem dramaturgischen Konzept, das auf höheres Erkennen und tiefere Lehre zielt. Sie tritt ausdrücklich in den Sentenzen zutage, die ad spectatores, ans Publikum gerichtet, Handlung und Szene kommentieren: Handreichung und Einladung zur Nachdenklichkeit für eine triftige ›Botschaft‹. Allerdings liegt dem sanguinischen Theaterblut Mozarts nichts ferner, als deswegen den Schulmeister zu spielen. Und dem intelligenten ›Wissenden‹ nichts näher, als die ›Belehrung‹ über das hintergründige Konzept einer vordergründigen Fabel zu betreiben. Er wählt in enger Zusammenarbeit mit seinem Freund, dem Impressario, Schauspieler und Freimaurerbruder Emanuel Schikaneder, eine pfiffige Zauberkomödie, die vom Milieu der beliebten Wiener Vorstadtkomödie ebenso zehrt wie vom seinerzeit hochmodischen ›ägyptischen‹ Genre. Als »Teutsche Oper« trägt Mozart sie in sein eigenhändiges Werkverzeichnis ein – ein Unterschied zum italienischen Genre. Als ›Singspiel‹ wird sie in der Musikologie gehandelt. Als ein buntes »Patchwork« (Jörg Krämer) aus Posse, buffa und Märchen kommt sie nach ihren formalen Ingredienzien daher, als »Machwerk« wird sie von ihren modernen Kritikern apostrophiert (Wolfgang Hildesheimer bis Heinz-Klaus Metzger). Damit entsprach sie seinerzeit recht gut dem Genre der Zauberkomödie nach Art des Venezianers Carlo Gozzi, wo sie als fiabe dramatiche (Märchendramen) figurieren. Schikaneder, der gewandte Librettist, war mit dem Genre bestens vertraut, weil zum Repertoire seiner Schauspieltruppe auch viele Stücke von Gozzi gehörten. Der Titel geht allerdings auf eine Erzählung von A. J. Liebeskind zurück, die sich in der Märchensammlung Dschinnistan von Christoph Martin Wieland findet, erschienen 1786–1788 in Winterthur: »Lulu oder die Zauberflöte«. Deren erste Szenen haben der Zauberflöte Mozarts als Vorlage gedient. Dort überreicht die mächtige Fee Perifirime dem Prinzen Lulu eine Flöte mit den Worten: »Nimm also

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diese Flöte; sie hat die Kraft eines jeden Hörers Liebe zu gewinnen und alle Leidenschaften, die der Spieler verlangt, zu erregen oder zu besänftigen.« Damit klingt, wie bei allen echten Märchen, eine urbildliche Tiefenschicht an: die magische, verwandelnde Macht der Musik, wie sie schon im Orpheus-Mythos zu den ältesten Beständen des Abendlandes gehört.22 Die Patchwork-Mixtur erlaubt es dem kreativen Gespann Schikaneder/Mozart, mit beziehungsreicher Virtuosität auf den verschiedenen Bedeutungsebenen zu agieren. Wieder sind es ›Liebeskonstellationen‹ als dramaturgisches Zentrum des Stücks. Das Paar von Papageno und Papagena illustriert mit seinen Fährnissen den kleineren, ›kreatürlichen‹ Lebensradius profaner Existenz: Geburt-Heirat-KinderTod. Witzig und possenreich mit dem charakteristischen Komödientyp des Hanswursts wird in der Figur des Papageno das Kolorit des Wiener Vorstadttheaters eingefangen. Schikaneder, der Erzkomödiant, hatte sich die Rolle auf den Leib geschrieben und erntete damit immer sicheren Beifall. Dazu kommen die deftigen Requisiten von Schlangen, Affen, Vögeln, Blitz und Donner mit den Effekten einer Maschinenopernbühne. Das andere Paar, Prinz Tamino und seine für ihn bestimmte Partnerin Pamina steht für das größere, metaphysische Format eines Lebenslaufes, der nicht im Horizont bloßer Kreatürlichkeit aufgeht und eine Partnerschaft, die höher gegründet ist als in Family. Im Werk ist dafür die andere Ebene der Symbole und Bilder zuständig. Dort wird mit dem Mystischen und Geheimnisvollen im exotischen ›Orient‹-Ambiente operiert. Das lag im Trend. Das Theater in der Leopoldstadt hatte am 9. September 1790 die Oper Das Sonnenfest der Braminen von Hensler und Wenzel Müller im Programm, mit feierlichen Priesterversammlungen und einem Sonnentempel. Auch in der übrigen, höchst populären Ägypten-Romantik gehörten Tempel, Priester, Hieroglyphen, geheimnisvolle Einweihungen und magische Rituale zum unentbehrlichen Bestand. Die Zauberflöte verzichtet nicht auf diese Kulisse. Aber sie ist nur das Gehäuse für Mozarts Musik. Wenn heute (fast) nur die Kinder zwischen Neugier, Schauer und Vergnügen hingerissen sind, die meisten anderen aber eine kaum mehr verständliche Symbolwelt als hübsches Theaterrequisit belächeln, dann vermittelt Mozarts Musik immer noch die Ahnung eines tieferen Sinns. Genau wie im Don Giovanni. Und diese ›Ahnung‹ ist keine Täuschung – denn sie hat hier noch viel mehr triftige Gründe als in jeder anderen Oper Mozarts. Mozart bekennt sich hier – aber zu was, das bedarf auch mehr als in seinen anderen Opernwerken des Wissens um Hintergründe. 22

Für eine profunde Analyse, besonders zum Verhältnis von der Leier Orpheus als apollinisches und der Flöte als dionysisches Instrument sowie der Rolle von Glockenspiel und Flöte in der Zauberflöte, vgl. J. Assmann, Die Zauberflöte, München u. Wien 2005, S. 68– 71. Der Ersatz von Lyra und Gesang durch die Flöte wird dort auch als Zeichen für den Aufstieg der absoluten Musik bis zur Übernahme sakraler Funktionen verstanden.

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Bereits die Ouvertüren-Eröffnung setzt bedeutsame Akzente. Wie bei Don Giovanni, erweisen sie sich als Vorschau auf Finale und Quintessenz: Drei feierliche Akkorde in Es-Dur, sforzato, im vollen Tutti des Orchesters eröffnen wie Säulen den Tempel einer erhabenen priesterlich-spirituellen Welt: eine zeitenthobene und auratische ›Devise‹ zu einer seltsamen Geschichte.23 Die beginnt man zu ahnen, wenn vier Takte später die Streicher mit synkopierter Bewegung aber schmerzlichem Ausdruck einsetzen. Erst dort wird die Statik der ehernen klingenden ›Säulen‹ verlassen und Bewegung komponiert: Der musikalische Fluss gerät in Gang. Auch die Priesterchöre, sämtlich mit dem traditionellen Instrument des ›Jenseitigen‹, der Posaune besetzt, atmen das Feierliche einer anderen geistigen Sphäre, die nichts mit Posse, Wiener Vorstadt oder Rokoko zu tun hat: Es ist eine magische Sphäre, die das »Egyptische« als treffliches Vehikel benützt.

Maurerische Verbindungen und Begegnungen Mozart war damit bereits als 17-Jähriger in Berührung gekommen. Damals, 1773, hatte er fünf Orchestersätze und drei Chöre zu dem Schauspiel Thamos, König in Ägypten (KV 345/336a) komponiert. Sein Verfasser war Tobias Freiherr von Gebler, kein eilfertiger Librettist der ›ägyptischen‹ Manie, sondern ein veritabler Freimaurer. Er wurde später in Wien Vorsteher der Loge Zur gekrönten Hoffnung, der Mozart seit 1785 angehörte. 1777 kommt Mozart abermals mit einem Freimaurer in musikalischen Kontakt. Für dessen Melodram Semiramis komponiert er eine (verschollene) Bühnenmusik (KV 315e). Auch ihm sollte er wieder in Wien begegnen: Otto Freiherr von Gemmingen-Hornberg. Er wird 1783 in Wien ›Meister vom Stuhl‹ der Loge Zur Wohltätigkeit, in die Mozart am 14. Dezember 1784 erstmals in den Freimaurerbund eingetreten war. Damit erweist sich das ›ägyptische‹ Metier schon von Beginn an als Folie für freimaurerische Gehalte. Dieser Hintergrund ist auch für die Zauberflöte maßgeblich. Er gewinnt noch an Bedeutung, wenn man erkennt, dass bereits der Stoff von Thamos auf die gleiche Quelle zurückgeht, die später für die semantische Tiefenschicht der Zauberflöte wesentlich werden sollte. Es handelt sich um einen veritablen Einweihungsroman: Sethos, histoire ou vie tirée de monumens anecdotes de l’ancienne Egypte. Traduit d’un manuscrite Grec von Jean Terrasson, einem Abbé und auch Professor der griechischen Sprache am Collège de France.

23

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Die Tonart Es-Dur findet sich in der Musikgeschichte oft für diese machtvolle, feierlichstrahlende Sphäre, wie etwa in Beethovens Eroica-Sinfonie oder, exemplarisch, bei J. S. Bach mit Präludium und Fuge Es-Dur, BWV 552, den Rahmenstücken zur Clavirübung 3. Theil. Ihre Analogie zum ›Priesterlich-Erhabenen‹ könnte sich über eine theologische Symbolik über die Dreizahl der Fugenthemen als Metapher der ›Heiligen Dreifaltigkeit‹ erschließen sowie den kunstvollen Bearbeitungen des Chorals.

Noch eine zweite wichtige Quelle der Zauberflöte stammt aus dem gleichen Metier. Es ist die gründliche und gelehrte Abhandlung Über die Mysterien der Egypter von Ignaz von Born, dem Oberhaupt der Wiener Loge Zur wahren Eintracht. Er veröffentlichte sie 1784 in dem von ihm begründeten Journal für Freymaurer, im gleichen Jahr, in dem Mozart in die kleine Wiener Loge Zur Wohltätigkeit als ›Lehrling‹ aufgenommen wurde. Ignaz von Born, hochgebildeter Freund des Kaisers, Bergbaufachmann und später Mineralogieprofessor in Dublin, benützte für seinen gelehrten Aufsatz sowohl antike wie zeitgenössische Quellen. Darunter befinden sich, als wichtigste Quellen, das Alterswerk Plutarchs Ueber Iris und Osiris aus dem Jahre 120 n. Chr. und das Pantheon Ägyptiorum von P. E. Jablonski, eine Sammlung über Kult und Religion des alten Ägypten von 1750. Abbé Terrassons Sethos-Romanerfindung – das authentizitätsheischende Traduit d’un manuscrit Grec ist nur eine geschickte Fiktion – war in Europa weitverbreitet und fungierte als eine Art esoterisches Handbuch. 1777/78 ist es von Matthias Claudius ins Deutsche übersetzt worden. Dort finden sich nicht nur alle Arten von Schilderungen unter- und oberirdischer ägyptischer Tempel, von schauerlichen Weihestätten und dunklen Einweihungsriten, sondern auch vielerlei Parallelen zur Zauberflöte. Das beginnt mit Leben und Einweihungsweg des Prinzen Sethos, geht über die Figuren einer ränkesüchtigen ägyptischen Königin Daluca, die nach dem Tode der Königin Nephte, tyrannisch herrschend, den Thronerben Sethos verdrängt bis zu Zahl und Struktur der Priesterversammlung. Die wichtigsten Parallelen der Oper mit dem Roman zeigen sich im Ablauf der Prüfungsprozeduren. Von dort sind sogar zwei Texte fast wörtlich in die Zauberflöte übernommen worden und schließlich ist auch die Feuer- und Wasserprobe, als letzte und härteste Prüfung des ganzen Einweihungsweges, im Sethos vorgebildet, ebenso wie das Motiv der Geharnischten als Orakelspruch.24 Schließlich scheint auch der Roman Ägyptische Geschichten von Heliodor aus dem dritten Jahrhundert n. Chr. mit seinen verwickelten Schicksalen eines liebenden Paares, das nach vielen Irrungen und Wirrungen schließlich der Mysterien teilhaftig wird, bei von Born wie auch in der Zauberflöte Spuren hinterlassen zu haben. Bei so viel ägyptischem Zeitkolorit erstaunt es nicht, dass für den Titel der Oper ursprünglich Die Egyptischen Geheimnisse im Gespräch war.25 Aber hinter der ›ägyptischen‹ Kulisse stehen noch andere Traditionen mit Quellenwert für die Zauberflöte, weil sie zum selbstverständlichen Wissen der Logen und ihrer Mitglieder gehörten und Mozart ohne Zweifel zugänglich waren. Dazu gehörten hellenistisch-neuplatonisches Gedankengut, die Mystik von Jakob Böhme und Überlieferungen der Rosenkreuzer-Bewegung, vor allem die 1616 veröffentlichte Schrift des Valentin Andreae Die Chymische Hochzeit des Christiani Ro-

24

Vgl. dazu A. Rosenberg, Die Zauberflöte, München 1964, S. 152–180, besonders S. 172– 180.

25

M. F. M. van den Berk, The Magic Flute. An Alchemical Allegory, Leiden 2004, S. 176.

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sencreutz anno 1459. Auch in diesem Roman einer Einweihung in sieben Tagen gibt es allerhand auffällige Parallelen zur Zauberflöte, von den Prüfungsstationen bis zu den drei Tempeln und den vier Elementen. Mozart hatte natürlichen Kontakt mit diesem Wissen durch viele Veranstaltungen in den Logen, bei denen er nachweislich zugegen war sowie über den Austausch in persönlichen Beziehungen. Zu den Veranstaltungen gehörten Vorträge des Philosophen und Altphilologen Anton Kreil, Professor in Ofen, der in der Wiener Loge Zur wahren Eintracht über die Geschichte des pythagoreischen Bundes, die Neuplatoniker, die Eleusinischen Mysterien und esoterischen Wissenstraditionen referiert hat.26 Auch der freundschaftliche Verkehr mit den beiden Grafen Thun, Johannes Joseph, dem Vater und seinem Sohn, Franz Josef Anton, in deren Wiener Salons er hochgeschätzter Gast war, zählt zu diesen Wissensquellen. Beide waren Freimaurer und als aktive Spiritisten und Mesmeristen leidenschaftlich den magischen, alchemistischen und theosophischen Seiten des Metiers zugewandt.27 Dass an Mozarts engagiertem Freimaurertum kein Zweifel bestehen kann, belegen alle seine Aktivitäten. Als sein Vater in Wien 1785 zu seinem letzten Besuch ankommt, hat er nichts Eiligeres zu tun, als ihn sofort in seine Loge mitzunehmen. Dort sorgt er für eine etwas überhastete Aufnahme samt Graduierung. Auch als Musiker engagiert er sich intensiv in der Logenarbeit. Das zeigt eine ganze Reihe eng damit verbundener Kompositionen. Die früheste davon ist das Lied Gesellenreise vom März 1785 (KV 468), das zur Aufnahme seines Vaters in den Gesellengrad erklang. Die Kantate Maurerfreude (KV 471) komponierte er als Hommage auf den Meister vom Stuhl der Loge und seines Freundes Ignaz von Born, um ihn als Naturforscher und Günstling Kaiser Josephs II. zu feiern. Aparterweise wurde die Musik später christlich nobilitiert, einmal durch Unterlegung eines katholischen Textes, Lauda sion, dann durch einen protestantischen, aus Anlass der Reformationsfeier in Leipzig, 1810. Das ebenfalls 1785 entstandene Freimaurerlied Zerfließet heut’, geliebte Brüder, in Wonn- und Jubellieder (KV 483) hat die von Joseph II. diktierte Vereinigung aller Wiener Logen zu zwei Großlogen zum Anlass, von denen eine die Neugekrönte Hoffnung war, der Mozart jetzt angehörte. Die bedeutendste Logenmusik ist jedoch die Maurerische Trauermusik für Orchester (KV 477) von 1786. Mozart komponierte sie für eine Trauerloge, die den verstorbenen Logenbrüdern Franz Graf Esterházy und Georg August Herzog von Mecklenburg-Strelitz gewidmet war. Diese von tiefem Ernst, Spiritualität und 26

Zu den Protokollen dieser Sitzungen, die belegen, dass Mozart und sein Vater Leopold in mindestens zwei Fällen anwesend waren, vgl. H.-J. Irmen, Die Protokolle der Wiener Freimaurerloge »Zur Wahren Eintracht« (1781–1785), Frankfurt a. M u. a. 1994, S. 271–272.

27

Vgl. dazu S. Morenz, Die Zauberflöte. Eine Studie zum Lebenszusammenhang Ägypten–Antike–Abendland, Münster/Köln 1952; A. Rosenberg (1964), S. 155–162; J. Assmann (2005), S. 96–106.

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menschlicher Wärme durchleuchtete Humanitätsmusik offenbart sich gleichsam als anderer Aspekt seines kirchenmusikalischen Stils.28 Beide Erscheinungsformen widersprechen sich aber keineswegs, sondern treffen sich gewissermaßen in den weihevollen Priesterchören und den Arien Sarastros der Zauberflöte. Sie zeigen uns, dass es keinen Gegensatz zwischen dem ›christlichen‹ Komponisten von Messe und Requiem und dem ›maurerischen‹ der Logen und der Zauberflöte gibt, denn Mozarts Religion war im religare, der spirituellen Rückverbindung, tiefer begründet. Auch seine letzte vollendete Komposition, datiert vom 15. November 1791, ist eine Freimaurer-Musik: die Kleine FreimaurerKantate (KV 623), deren Text vom Logenbruder Schikaneder stammte. Sie galt der Einweihung des Tempels der Loge Zur neugekrönten Hoffnung und wurde am gleichen Tag unter Mozarts eigener Leitung aufgeführt. Wie selbstverständlich die freimaurerische Sphäre für ihn ist, zeigt sich ganz konkret in seinen Notaten. Im Autograph seines Klavierkonzertes Es-Dur Nr. 14 (KV 449) von 1784 verwendet er Chiffren in üblicher maurerischer Diktion. Und Eintragungen, wie etwa in Kronauers Stammbuch, bezeugen, dass er die gängigen hieroglyphischen Abkürzungen perfekt beherrschte – und benutzte.29 Kein Zweifel – für Mozart bedeutet die Freimaurerei mehr als nur die Bedienung einer modischen Konvention im Wien des Josephinismus mit ihrer zentralen Rolle der Logen. Der souveräne Freigeist, der sich weder den Granden der Kirche noch des Adels verpflichtet fühlte, kann kaum in den Verdacht geraten, sich einer bloß gesellschaftlichen Fassade bequemt zu haben, nur weil es opportun war. Durch das Freimaurerpatent Josephs II. vom 11. Dezember 1785, das vor dem bedrohlichen Menetekel der Französischen Revolution die Logen staatlicher Regulierung und Überwachung unterwarf, wurde die Zahl der Wiener Logen von acht auf zwei reduziert.30 Schlüsselfiguren des Metiers, die zugleich zu Mozarts vertrautem Umgang gehörten, wie Ignaz von Born, zogen sich zurück. Aber Mozart wahrte auch in diesen Krisenzeiten dem maurerischen Bund unbeirrbare Treue. Zuletzt hat er gar die Gründung einer eigenen Loge erwogen. Bezeichnenderweise sollte sie den Namen Die Grotte tragen. Das kann man als Hinweis auf ein weiteres Traditionswissen der maurerischen Gemeinde deuten, nämlich auf die vielen alten Mythen von spirituell bedeutsamen unterirdischen Orten wie Höhlen, Brunnenheiligtümer und Grotten. Die Höhle des Hermes ist ein bekanntes Beispiel – und in

28

Eine stilistische Nähe von Kirchenmusik und musikalischem Sarastro-Idiom zeigt sich besonders in der Verwendung der Posaunen, vgl. M. H. Schmid, Was bewirken die Posaunen in Mozarts Zauberflöte, in: Mozart Studien Bd. 19, Tutzing 2010, S. 69.

29

Vgl. H.-J. Irmen, Mozart – Mitglied geheimer Gesellschaften, 2. erw. Aufl. Zürich 1991, S. 248 Anm. 24, S. 225 sowie allgemeiner, S. 123, 171, 177.

30

Zur Struktur der Wiener Logen vgl. J. Assmann (2005), S. 149–154.

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der Zauberflöte findet sich eine Analogie beim Prüfungsgang von Tamino und Papageno durch die unterirdischen Krypten und Gänge eines ägyptischen Tempels.31 Aber ganz gleich, wie man die Rolle des Freimaurertums für Mozart gewichten mag, unbezweifelbar ist, dass es ihm alle Elemente für das lieferte, was er als ›Bedeutung‹ in Musik verwandelte. Deshalb ist sein buntes Singspiel-Bühnenmärchen die perfekte Folie für einen Initiations- und Erkenntnisweg nach freimaurerischer Art. Seine Essenzen durchtränken jeden Takt. Das zeigt sich etwa an der Bedeutung der Dreizahl als auffällige Strukturzahl. Die drei Säulen der Loge symbolisieren Schönheit – Stärke – Weisheit. Die dorische steht für die Stärke, die korinthische für die Schönheit, die ionische für die Weisheit. Dreimal muss der Suchende anklopfen, dreimal wird der Lehrling am Altar des Meisters vorbeigeführt und mit drei Ritterschlägen wird der Suchende zum Abschluss der Initiation in die Loge aufgenommen. Über drei bewegliche und drei unbewegliche Kleinodien verfügt die Loge: Wasserwaage, Winkelmaß und Senkblei und die festen vom Reißbrett, dem unbehauenen und dem behauenen Stein. Die drei großen ›Lichter‹ der Freimaurerei sind die Bibel, das Winkelmaß und der Zirkel, die drei kleinen die Sonne, der Mond und der Meister, der die Loge leitet. Die drei Rosen gelten als Sinnbild der Liebe und der Verschwiegenheit, drei Rosen werden zu Geburtstagen oder Jubiläen geschenkt oder Verstorbenen gewidmet. Im altägyptischen Mythos tritt die Dreierzahl als Isis, Osiris und Horus auf.32 In der Zauberflöte bestimmen vielfältige Dreiergruppen den Aufbau des Werks: Bereits der Beginn mit den drei Forte-Schlägen intoniert die Devise der drei Säulen, genauso wie der Schlusschor mit seiner moralischen Quintessenz: »Es siegte die Stärke und krönte zum Lohn die Schönheit und Weisheit mit ewiger Kron’«übrigens im gleichen Es-Dur wie der Beginn des Werks, weiterhin: drei Damen, drei Knaben, drei Prüflinge. Dreimal tritt die Königin der Nacht in Erscheinung: am Anfang, in der Mitte (Rachearie) und am Schluss, um Sarastro und die Eingeweihten zu töten, dreimal die Damen und dreimal die Knaben. Noch markanter ist die Dreierkonfiguration im Lichtreich Sarastros. Dreimal tritt er als Hoherpriester des Weisheitsbundes im Kreise der 18 Eingeweihten auf (18 = 3 x 6), dreimal als

31

Vgl. dazu V. Braunbehrens, Mozart in Wien, München 1986, S. 269–270; Irmen (1991), S. 17 f.; Assmann (2005), S. 106–111.

32

Die Drei ist in der Deutung nach Zahlenwerten der jüdischen Kabbalah die Stoffzahl und die Zahl der Form. Sie wird auch mit dem Mond (im Unterschied zur Sonnenzahl vier) in Verbindung gebracht: »Der Mond ist darum das Symbol eines Geistes, der ständig wächst und sich wandelt, der ›strebend sich bemüht‹«, A. Rosenberg (1964), S. 144 ff. Noch viel weiter ins Detail zahlensymbolischer und nummerologischer Deutungen in der Zauberflöte bis zur Gematria, geht Hans-Josef Irmen (1991), S. 302–376. Das erinnert an die numerologische Hermeneutik als verbreiteter Topos der Barockzeit, besonders im Zusammenhang mit Johann Sebastian Bach (vgl. Kapitel V. Anm. 47). Bei Mozart handelt es sich aber immerhin um Verfahren, die in den Logen ausdrücklich diskutiert wurden und mit denen er deshalb zweifellos bekannt war, vgl. Irmen (1991), S. 328.

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Freund und Ratgeber. Drei Tempel im ersten Akt tragen die Aufschrift: Vernunft, Weisheit und Natur. In Sarastros Reichen herrschen Klugheit, Arbeit und Künste; seine Priester fordern von Tamino: »Sei standhaft, duldsam und verschwiegen.« Durch drei Posaunenstöße geben die Eingeweihten ihre Zustimmung zu Sarastros Vorschlag, Tamino zu den Prüfungen zuzulassen – dreimal erklingen zudem die ›mystischen‹ Posaunenakkorde: in der Mitte der Ouvertüre und zweimal in der Priesterversammlung, welche über das Geschick der ›Fremdlinge‹ entscheidet. Die drei Prüfungen: Abkehr von falschen Lehren – Das ›Schweigen können‹ als Übung in Selbstbeherrschung und schließlich die schauerliche Feuer- und Wasserprobe als Überwindung von Furcht und Todesangst entsprechen den drei Graden der Freimaurerweihen: Lehrling – Geselle – Meister. Im Marsch der Feuerprobe zeigt die Transparenz, ja Kargheit des musikalischen Satzes übrigens wieder den Meister der luziden ›Einfachheit‹: das majestätische Verweilen auf der Tonika wird nur von einem Dominantseptakkord unterbrochen, die schlichte Instrumentation besteht nur aus Flöten, Blechbläsern und Pauken. Auch die Tonarten dienen als Konstruktionskonzept der inneren Dramaturgie. Sie kennzeichnen, ähnlich wie bei Wagner, die Situationen und stellen in ihrer Abfolge Beziehungen her. Im ersten Akt bilden sie eine fast symmetrische Reihe (C-GEs-B und B-G-Es-C), die ihren dramaturgischen Sinn aus dem Narrativ bezieht.33 Aber Mozart verwendet als Grundtonarten fast ausnahmslos nur einfache Tonarten. Eine Tonart mit vier Vorzeichen, wie E-Dur in einer Arie des Sarastro (In diesen heil’gen Hallen, 15. Auftritt) ist die einzige Ausnahme. Die letzte Prüfung wird übrigens vom Paar Tamino und Pamina gemeinsam absolviert. In der Vorlage von Terrasson/Claudius heißt es »Wer diesen Weg allein geht …«. Das entspricht den strengen freimaurerischen Ritualen. Im Libretto von Mozart/Schikaneder ist das »allein« allerdings gestrichen. Das bedeutet nicht nur eine gravierende Abänderung der männerbündischen, patriarchalischen Freimaurer-Regularien, sondern ein deutliches Bekenntnis zu einer höheren Botschaft. Das Ritual bekommt einen zweiten Sinn: Es führt nicht nur zur Selbstverwandlung und zur Aufnahme in eine neue Gemeinschaft, sondern auch zur Vereinigung der Liebenden. Dort aber übernimmt jetzt der weibliche Teil die Führung, denn Pamina singt: »Ich selber führe dich, die Liebe leitet mich.« Dazu erfolgt der Einsatz der zauberischen Flöte als magisches Symbol des Beistandes durch höhere Schutzmächte und gleichzeitig der allbezwingenden Kraft der Liebe (28. Auftritt). Das ist die gleiche wissende Botschaft, wie sie die abendländische Geistesgeschichte in vielerlei Gestaltungen durchzieht. Bei Dante führt ihn in seiner Divina Commedia seine größte, schicksalshafte Liebe, Beatrice, liebend durch das Purgatorio ins Paradiso zur Gottesmutter Maria. Sie ist nicht nur Treuhänderin seiner Erlösung zur höchsten, allschöpferischen Liebe, sondern auch ihr weiblicher Inbegriff

33

Vgl. A. A. Abert, Die Opern Mozarts, Wolfenbüttel 1970, S. 110; S. Kunze (1984), S. 608 ff.

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im Göttlichen: L’amor che move il sole e l’altre stelle (im Schlussgesang des Paradiso). Auch der Dichter Francesco Petrarca übernimmt diesen Topos in der großen Marien-Canzone am Schluss seiner Rime sparse, wenn er nach der falschen Liebe zu Laura schließlich durch die »vera Beatrice« zur wahren, göttlichen Liebe findet. Und von nichts anderem spricht der wissende Goethe im zweiten Teil seines »Faust«, wenn er höchst bedeutsam formuliert: »das Ewig-Weibliche zieht uns hinan«. Auch dort wird die Führung durch das »Weibliche« dramaturgisch mit Maria als Mater gloriosa verschränkt, beides zuletzt auf den weiblich-polaren Teil des Göttlichen weisend.34 Als Personifizierung der göttlichen Liebe wendet sie sich an Gretchen als reuige Büßerin: «Komm! hebe dich zu höhern Sphären!/ Wenn er dich ahnet, folgt er nach« (Faust 12.094/95). Gretchen aber, die von der Welt Gerichtete, bittet die Gottesmutter als von ihr Gerettete mit barmherziger Liebe: »Vergönne mir, ihn zu belehren« (12.092). Das Gleiche beschwört schließlich Gustav Mahler, der das genau verstanden hat, in seiner Faust-Sinfonie, der achten, mit bannender Eindringlichkeit (siehe Kapitel IX). So steht als Schlusstableau aller Liebeskonstellationen in Mozarts Musiktheater von Così-Frivolität bis Don-Juan-Pathologie eine metaphysische Paarsituation: das Hochbild einer transzendenten Einheitsbeschwörung: »Mann und Weib und Weib und Mann reichen an die Gottheit an« (7. Aufzug). Das wichtigste Wort dabei ist und. Die kleine Konjunktion hat drei bedeutungsvolle Facetten: die Verbindung der Geschlechter zur urgegebenen Einheit als Überwindung der diesseitigen polaren Trennung, dann die höchst symbolträchtige Verbindung der beiden unterschiedlichen Paarebenen von Pamina und Papageno in einem gemeinsamen Duett, das den einen, gleichen Eros preist und schließlich die raffinierte Metamorphose des Kreatürlichen »die süssen Triebe mit zu fühlen …« zum Ewigen-Transzendenten, wo von der »Gottheit« die Rede ist. Wie wichtig Mozart dieses Duett mit dem Es-Dur-Beginn, also in der Grundtonart der Oper war, zeigt sich daran, dass es ihn kompositorisch ungewöhnlich intensiv beschäftigt hat: er soll es dreimal (nach anderer Überlieferung sogar fünfmal) komponiert haben.35 Im altägyptischen Mythos steht hinter dem menschlichen Paar das Ebenbild des Isis-und-Osiris-Mysteriums, im alchemistisch-rosenkreuzerischen Verständnis ist es die ›chymische Hochzeit‹, die aus der polaren Spaltung erst zum kompletten Menschen führt. In der altchinesischen Kultur ist es die archetypische Verbindung von Yin und Yang, bei Platon (Symposion) die mythische Einheit des ursprünglichen, androgynen ‹Kugelmenschen‹. Kein Zweifel, dass sie Mozart in diesem tiefs34

Für einen Hinweis auf das Urbild dieser Marienverehrung im sublimen Kult der Hagia Sóphia, der ›Göttlichen Weisheit‹ als Inbegriff des ›Ewig Weiblichen‹, später mit Jesu Mutter identifiziert, vgl. Bȏ Yin Rȃ, Briefe an Einen und Viele, Basel 1935, S. 116 und in: Mehr Licht (1936), S. 148. Von hier aus erweist sich der Marienkult in der römisch-katholischen Kirche bis hin zu den vielen ›Notre Dame‹- und ›Liebfrauen‹-Domen als Manifestation einer subkutanen Wissenstradition dieser Zusammenhänge.

35

Vgl. H. Abert, W. A. Mozart, Zweiter Teil, 8. Aufl., Leipzig 1975, S. 651 u.  a., Rosenberg (1964), S. 84.

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ten Sinn des Mythos begreift: als Hochbild des wiedervereinigten ›ewigen Menschen‹ in seiner eigentlichen und ursprünglichen Geistesheimat. Von dort aus gesehen zählt die irdische, physische Vereinigung nur als sinnliche Analogie der höchsten, seelisch-geistigen Einheitserfüllung, wie sie schließlich in der »urgegebenen Einheit zwiepolaren Wesens« des Göttlichen erreicht wird.36 Im Sakrament der Ehe erhält sie ihre abendländisch-christliche Repräsentation. In der indischen Mythologie ist sie allgegenwärtig mit den heiligen Symbolen von Yonilingam oder Shivalingam und ihrer kultischen Verehrung in Schreinen und Tempeln. Mozart/Schikaneder aber finden auch für das kreatürliche Abbild der transzendenten Symbolik ein ganz menschliches Bild im artigen Märchenton. Sie lassen sich weder auf eine dunkel-lastende Erosphantasie à la Wagner ein, noch auf die blindbrünstige Kopulationswonne à la Schopenhauer, sondern verklären sie liebenswürdig mit den »vielen Kinderlein« des Papageno-Papagena-Paares. Unauflösbar verschränkt mit diesen beiden Liebeskonstellationen unterschiedlicher Qualität ist aber das zentrale maurerische Thema der Gestaltung des irdischen Lebensweges überhaupt als eine Aufgabe höheren Menschentums. Die ›Prüfungen‹ für beide Paare samt einem numinosen Monitoring aus der Sarastro-Welt gehören dazu. Hintergrund ist zunächst das alte Thema des cursus vitae. In seiner späten Erscheinung als ›Bildungs‹- oder ›Entwicklungsroman‹ ist es ein bedeutsames Motiv der Literatur, von Fénelons Télémaque (1699) über Rousseaus Émile ou d’éducation (1762), Wielands Agathon (1766/67) bis zu Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) und Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (1802).37 Dort geht es um das Leben als Wanderung und gleichzeitig als Bewährungsprobe und Läuterungsprozess, also eine Lebensgestaltung, in der die Wahl zwischen einer bloß kreatürlich bestimmten Existenz im kleinen Ambitus von Geburt und Tod und dem größeren eines höheren, spirituell bestimmten Menschentums als schicksalhaftes Thema begriffen wird. Das meint aber nichts anderes als einen Gestaltungsprozess des Selbst. Im hermetisch-alchemistischen Verständnis ist es ein Wandlungsprozess des Adepten vom Stein zum Gold, dem opus magnum.38 In der freimaurerischen Praxis wird er durch Initiation, Erkenntnis und brüderlichen Beistand begleitet und erleichtert. »So wandelst du an Freundes Hand …«, heißt es dazu in der Zauberflöte. Immer ist es aber ein Formungsprozess, der nicht allein

36

»Der lebendige Gott ist Mann und Weib«, in: Bȏ Yin Rȃ, Das Buch vom Menschen, Basel u. Leipzig 1928, Kapitel: Das Mysterium »Mann und Weib«, S. 27–42.

37

Vgl. R. Selbmann, Der deutsche Bildungsroman, Stuttgart 1994; J. Assmann (2005), S. 288.

38

C. G. Jung hat die tiefenpsychologische Bedeutung in der Analyse der alchemistischen Symbolik herausgearbeitet, vgl. Psychologie und Alchemie, Zürich 1944 u. 1952. Einen kommentierenden Text hat Jung auch zu einem tiefgründigen altchinesisch-taoistischen Text verfasst, der das Thema als magisch-esoterischen Prozess behandelt, in: Das Geheimnis der Goldenen Blüte. Ein chinesisches Lebensbuch, übersetzt und erläutert von Richard Wilhelm, München 1929, S. 9–75.

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›äußerlich‹ gesellschaftlichen Zwecken dient, was dem probaten Topos der ›Aufklärung‹ und eines ›politischen‹ Freimaurer-Humanismus gut entspräche, sondern vor allem einer eigenen inneren seelischen Gestaltung. Freimaurerische Ethik fasst die Arbeit an sich selbst in das Sinnbild einer ›Arbeit am rauen Stein‹. Es wird mit ›Winkel und Zirkel‹ organisiert, damit in diesem Prozess alles ›äußere Material‹ zum ›inneren Bau‹ verwandelt werde und der Mensch zu einem »maßgerechten Baustein« im »Bauwerk« einer höheren, transzendenten Ordnung »gefügt« werde. Damit aber ist man unversehens wieder bei den alten ›Bau‹-Metaphern der mittelalterlichen Philosophie: dem ›Dombau‹, materiell realisiert als »mystische Technologie der Kathedrale« (Hans Sedlmayr).39 So tönt in Mozarts Zauberflöte über die dort musikalisierte freimaurerische Symbolwelt ein mentaler Bogen auf, dorthin, wo es ein heutiger Opernbesucher kaum suchen würde – als märchentrunkenes Kind ohnehin nicht, aber auch kaum als feinsinniger Ästhetiker oder intellektueller Hermeneutiker und schlauer Regisseur: nämlich in jene alten Geisteskonzepte, wo sich, wie in der Gotik, ›inneres‹ und ›äußeres‹ Bauen in anagogischer Symbolik verbinden. Wie heißt es bei Abt Suger über den Bau von St. Denis (siehe Kapitel III): »Wie wird Gott diejenigen belohnen, die für ihn mit so viel Frömmigkeit, Freude und Hingabe gebaut haben? Er wird sie als lebendige Steine in sein geistliches Gebäude einbauen …« Und weiter: »in ihm wächst der ganze Bau – sei er geistiger oder materieller Natur – zu einem heiligen Tempel in dem Herrn, in welchem auch ihr lernt, miterbaut zu werden zu einer Behausung Gottes im Geist …«40 Das Urbild gotischer Kathedralbau-Symbolik ist also das gleiche wie das im Freimaurertum, wenn der Mensch, ›behauen‹ zum maßgerechten ›Mauerstein‹ im transzendenten Bauwerk eines höheren ›Domes‹ verstanden wird. Die ›Arbeit‹ daran entspricht der Formung des Selbst nach spirituellen Zielen und einer Lebensgestaltung nach einem höheren ›Bauplan‹. Dazu passt das Vertrauen in Lenkung und Hilfe durch höhere Schicksalsmächte samt ›Initiation‹ und ›Prüfungen‹. Diese Mächte treten in der Zauberflöte als Priester aus der Sarastro-Welt auf und bei Goethe als geheimer ›Weisheitsbund‹, der »Gesellschaft vom Turm« in seinem Wilhelm Meister. Sie finden sich auch in den übernatürlichen Bezügen bei E. T. A. Hoffmanns Märchen Der Goldene Topf und schließlich dunkel verrätselt in der heiligen Gemeinschaft aus dem uralten Sagenkreis vom Gral, die noch Richard Wagner im Parsifal so ahnungsvoll bewegt. Am Anfang von Abt Sugers Konzept der Kathedrale steht der Vergleich seiner Kirche mit dem Tempel Salomonis und der Stadt des göttlichen Königs, dem 39

Vgl. H. Sedlmayr (1950/ 2001), S. 237; J. Assmann (2005), S. 288. Auch der größte spirituelle Lehrer unserer Zeit formuliert dieses uralte Wissen um den Sinn solcher ›Lebensgestaltung‹ in seinem geistlichen Lehrwerk, vgl. Kapitel Die Kunst des Lebens, in: Bô Yin Râ, Geist und Form, Basel u. Leipzig 1924, S. 53–63 sowie zu den tieferen Hintergründen, in: Mehr Licht (1936), S. 59 u. 251 und Geistige Relationen (1939), S. 47.

40

Abt Suger, De consecratione ecclesiae sancti Dionysii, vgl. v. Simpson (1968), S. 182–185.

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»Himmlischen Jerusalem«. Das waren keine diffusen Allegorien, sondern die konkreten Leitideen seiner Bauplanung. Der gleiche Salomonische Tempel aber steht auch als Gründungsmetapher freimaurerischer Tradition. Bekanntlich führt sie ihr ›Mauern‹ zurück bis auf ihren mythischen Begründer Adohiram (Adon Hiram), den legendären Architekten des Salomonischen Tempels. Von hier aus geht dieses mythische Gleichnis vom materiellen Bauen als Analogie eines spirituellen Bauens seinen langen Weg als arkaner abendländischer Topos bis ins Freimaurer-Ambiente der Mozart Zeit.

Vom Dom zum Salon Der Weg vom archaischen ›Tempel‹-Mythos am Anfang bis zu den bündischen Logen findet seine konkrete und großartigste Erscheinungsform in den Dombauhütten des Mittelalters. Ursprünglich kirchlich organisiert und jeweils einem Kloster affiliiert, verbreiten sie sich bald übernational, weil die Maurer, Steinmetze und Architekten mit den Kathedralbauten von Land zu Land zogen. Und mit ihnen das dort akkumulierte Geistesgut, in dem so viele Stränge antiken Wissens zusammenlaufen. Weil sich dieses Wissen mit seinen Regeln und Handwerksgeheimnissen vom Allgemeinen durch seine Besonderheit unterschied, verhüllte es sich hinter vielerlei Symbolen und Allegorien. Die Zentren dieses Wissens und der freien Mauerer waren die am Bauplatz errichteten ›Bauhütten‹, die auch Logen genannt wurden. Ihre bedeutendsten befanden sich in Straßburg, Köln, Wien und Bern. Diese Logen waren zugleich Werkstätte, Versammlungsort und geistiger Mittelpunkt der Baubruderschaft. Dort wurden, insbesondere in Deutschland und Frankreich, entsprechend ihrer Handwerksordnung die Architekten und Bauleiter als ›Meister‹ bezeichnet, die Steinmetze als ›Gesellen‹ und die einfachen Arbeiter als ›Lehrlinge‹. Die einzelnen Baulogen waren in einer großen »Bruderschaft der Bauleute« verbunden, einer ethisch-sozialen Organisation mit eigenen Regeln und Gesetzen, die für jedes Mitglied makellosen Ruf und würdige Herkunft forderten. Nach und nach wurden aber immer mehr die ›bürgerlichen‹ Laien zu Trägern dieser Tradition. Mit dem Ende des Kathedralbaus und dem vermehrten Eintritt ›angenommener Mauerer‹ wie Kaufleute, freie Künstler und Honoratioren der Gesellschaft sowie den Verbindungen zu den Handwerkszünften säkularisierten sich die Logen im 17. Jahrhundert immer weiter. Aus den kundigen Steinmetzen und wissenden Baumeistern, die ihr Handwerk ›zur Ehre Gottes‹ und zu ihrem Lebensunterhalt, aber als Diener einer heiligen Kunst betrieben, werden jetzt ihre Epigonen als bündische Freimaurer. Damit verschiebt sich der Akzent zu einer gesellschaftlichen Formation, der die alten Symbole nur noch als Vereinsembleme dienten. Die bedeutendste Bauhütte, die von Straßburg, löste sich 1525 auf, die von Köln schon 1509. Als weit verspätetes, aber offizielles Verbot der Bauhütten signa-

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lisierte schließlich ein Erlass von Kaiser Karl VI., 1731, und sein rechtswirksamer Vollzug durch Kaiser Josef II., 1772, das endgültige Ende der alten Tradition. Aber schon vorher tritt die neue, nur noch gesellschaftlich orientierte Freimaurerei seit dem Johannisfest vom 24. Juni des Jahres 1717 in England auf. Dort schlossen sich vier Baulogen von Free and accepted masons, in denen bereits Gelehrte und Aristokraten der englischen Gesellschaft in der Mehrzahl waren, zur ersten Großloge unter einem Großmeister zusammen. Grundlage dieser neuen, vom pragmatisch-utilitaristischen Geist englischer Kultur bestimmten Freimaurerei wurde das 1723 von James Anderson verfasste Konstitutionsbuch. Es enthielt die sogenannten »Alten Pflichten«, einen Moralkodex, der für die Freimaurer die Geltung der christlichen zehn Gebote besitzt. Dies war die Geburtsstunde der heutigen, modernen Freimaurerei. Es war ein gesellschaftliches Erfolgsmodell, das sich in einem Siegeszug ohnegleichen in etwa 40 Jahren nicht nur das europäische Festland eroberte, sondern sich mit der Kolonialherrschaft auch über Asien, Afrika und Amerika verbreitete. In England war es bereits vier Jahre nach der Gründung der Großloge hoffähig geworden. Seitdem werden die höchsten Logenämter für Persönlichkeiten des Hofes und des öffentlichen Lebens reserviert. 1732 konstituierte sich die erste Loge in Paris, 1737 wird die erste deutsche Loge in Hamburg gegründet, um 1740 entstehen Logen in Polen, 1750 in Russland. In Österreich führte ausgerechnet ein Kirchenfürst, Erzbischof Graf Schaffgotsch von Breslau, die Freimaurerei ein. Er beauftrage 1742 den Reichsgrafen Franz de Grossa mit der Bildung einer Loge in Wien, die bald zum Hort des Hochadels, hoher Staatsbeamter, Offiziere, Gelehrter und Weltgeistlicher wurde. So wurden sie, wenigstens für einige Jahrzehnte, zum Sammelpunkt einer gesellschaftlichen Elite und aller von Rang und Namen. Die Essenz des Maurertums der mittelalterlichen Dombauhütte, wo sich äußerer Werkbau mit innerem in magischer Weise verbanden, verdünnte sich immer weiter zu profanem Society-Flair und einem höchstens noch intellektuellen Umgang mit dem alten Wissen und seinen Symbolen. Heute profitiert von der alten Magie des Geheimnisses nur noch das Odium undurchsichtiger Verschwörung oder die Fama von mächtigem aber verborgenem Einfluss. Mozart, der weltgewandte Geist, der Europas Fürstenhäuser seit früher Kindheit erlebt hatte, der größten Wert auf seine Garderobe als gesellschaftliches Zubehör seines Erscheinungsbildes legte, samt Pferd und Reitdress, wird die gesellschaftliche Stellung der Logen kaum unterschätzt haben. Auch nicht die Möglichkeiten des Kontakts mit ihren dort versammelten Persönlichkeiten – als selbstbewusster Freigeist wie als Interessent von Kompositionsaufträgen. Aber darin geht sein Geist so wenig auf wie in der musikalischen Produktion seiner Zeit. Mit dem höheren spirituellen Ahnungsvermögen des Genies erkennt er die alten Gehalte im neuen Gefäß der freimaurerischen Lehren – weil sie seiner seelisch-geistigen Natur und ihrem

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Ethos im Format seiner Mentalität entsprachen. Deshalb bedient er sich gekonnt des Logenwesens, transzendiert es aber aus tieferer Einsicht, genau wie Goethe, ein anderer freimaurerischer Illuminant von Rang.41 So erlaubt die musikalische Zauberkomödie, profan als ein »Aufklärungsmärchen« (Karl Pestalozzi) oder »Aufklärungsmysterium« (Jan Assmann), tatsächlich aber als eine Art veritabler Freimaurermesse, den tiefsten Blick in Mozarts Geisteswelt und Weltanschauung. Denn hier fallen, anders als in manchen Piécen seines Musiktheaters, Thema und Ethos, Text und Dramaturgie mit einem Credo zusammen, das er auch real als Logenbruder gelebt hat. Hier erfahren wir über das abstrakte Narrativ der ›absoluten Musik‹ hinaus auch ein inhaltlich fixiertes Narrativ, weil eine ›Geschichte‹ erzählt wird, deren eindeutiger Hintergrund uns ganz eindeutig erschließbar ist. Es ist diese »letzte unsterbliche Oper Mozarts«, die »uns wirklich in die Tiefe seines Herzens blicken läßt« (Bruno Walter).42 Damit wird ausgerechnet die arglose Märchenoper Zauberflöte zum Schlüsselwerk für Mozarts innerste spirituelle, sprich: religiöse Überzeugung und zum Bekenntniswerk einer transzendent disponierten Humanitas.

Wirkungen und Einsichten Von den Zeitgenossen ist Mozarts Musik durchaus als etwas ganz Eigenes verstanden worden. Aber erst die Nachwelt hat ihn als Vollendung des ›klassischen Stils‹ empfunden. »Figaro«, »Cosi« und »Don Giovanni« (wenigstens in Prag) wurden zwar begeistert gefeiert, und seine Einnahmen aus dieser Musik waren beträchtlich. Auch die Zauberflöte war ein Erfolg. Sie erlebte seit ihrer Uraufführung am 30. September 1791 im ›Theater auf der Wieden‹ ein wahres Crescendo des Publikumserfolges. Noch im Oktober 1791 konnte Schikaneder 24 Aufführungen ansetzen. Im November 1792 fand die 100., drei Jahre später die 200. Aufführung statt. Damit verdiente sich Schikaneder eine goldene Nase, während Mozart, üblicher Praxis entsprechend, ganze 50 Dukaten erhalten hatte. Mit dem Profit konnte sich ihr Impressario Schikaneder den Bau des prächtigen ›Theaters an der Wien‹ leisten, das 41

Vgl. H. Birven, Goethes offenes Geheimnis, Zürich 1952, bes. S. 17.

42

»Voll bewußt aber wurde ihm in den späteren Jahren seines kurzen Lebens die wachsende Übereinstimmung seines lieberfüllten Herzens mit den freimaurerischen Lehren der Menschlichkeit und Brüderlichkeit. Aus der Synthese jenes, wohl unbewußten, Impulses mit den erwähnten moralischen Tendenzen ist die seelische Sphäre entstanden, die in der Zauberflöte künstlerischen Ausdruck fand. So glaube ich denn, in dieser letzten, unsterblichen Oper Mozarts, ihm selbst nah zu kommen, in ihr sein erstes persönliches Bekenntnis – ja eigentlich das einzige, das uns wirklich in die Tiefe seines Herzens blicken läßt – zu vernehmen. Wie Shakespeare nach der lebenslangen Anonymität des Dramatikers, der hinter den Gestalten seiner Bühnenwerke verborgen bleibt, in einem seiner letzten Dramen, ›Der Sturm‹, in der Gestalt des Prospero selber vor uns erscheint, so glaube ich auch in der Zauberflöte der menschlichen Persönlichkeit Mozarts selbst zu begegnen«: Bruno Walter, Vom Mozart der Zauberflöte, New York 1955, S. 11–12.

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er 1801 eröffnete. Noch über 200 Jahre später gehört die Zauberflöte zu den meist aufgeführten Opern im deutschen Sprachraum. Ähnliches gilt auch für Mozarts Instrumentalmusik: durchaus anerkannt und profitabel. Aber gewöhnt an die gängige Machart einer überreichen sinfonischen Produktion, zwischen den 65 braven Sinfonien des Vaters Leopold Mozart oder den 60 von Wagenseil, den Werken von Johann Christian Bach, Stamitz, Cannabich oder denen der Kaiserfavoriten Georg Matthias Monn und Thaddäus Huber, galten höchstens die letzten Werke von Carl Philipp Emanuel Bach oder die von Antonio Rosetti als wirklich ›originell‹. Mozarts Spätwerke hingegen wurden eher als kühn, ja »furchtbar« taxiert (Friedrich Rochlitz 1798 über die Jupiter-Sinfonie). Erst nach 1830 beginnt man sie zunehmend als Exempel von ›klassischem Ebenmaß‹ zu würdigen; 1846 beschreibt sie das gleiche musikalische Journal von Rochlitz als »rein und klar«, nachdem Robert Schumann bereits 1835 die »griechisch schwebende Grazie« ausgerechnet der g-Moll-Sinfonie gepriesen hatte.43 Dass es dann in einem unaufhaltsamen Crescendo zum ›Mozartglück‹ geht, in dem sogar theologische Gottesgelehrte der Moderne ahnungsvoll »Spuren der Transzendenz« ausmachen (Hans Küng) oder die von der «Offenbarung ewiger Schönheit« (Hans Urs von Balthasar) und der »Kraft des Lichts« sprechen (Karl Barth) und die bei Mozart (wie bei Bach) »Gottes Gegenwart lebendiger und wahrer erfahren lassen, als es durch viele Predigten geschehen könnte« (Joseph Kardinal Ratzinger, später Papst Benedikt VI.), würdigt nicht nur musikalische Qualität, sondern auch etwas vom geistigen Rang ihrer Botschaft. Ihr entscheidendes Transportmittel ist aber jene Luzidität eines musikalischen Satzes, der durch seine ebenso lapidar konzentrierte wie genial konzipierte Einfachheit gewissermaßen durchlässig wird für einen tieferen Hintergrund: eine strahlende Seinsgewissheit, die erhebt, weil sie das Menschliche nicht vom Göttlichen trennt, sondern beständig darauf bezieht. Die Empfindung für diese Diaphanie eines ›Einfachen‹, das so rätselhaft beglückt, ist mit der historischen Distanz weiter gewachsen: ein Bedeutungszuwachs, der nicht nur das habituell von den Zeitgenossen ›verkannte Genie‹ zu rehabilitieren versucht. Vielmehr ist es auch eine Differenzerfahrung, die aus der (musikgeschichtlichen) Situation einer nach der Mozart-Zeit immer eigenwilliger und komplizierter werdenden musikalischen Sprache entsteht. Ähnliches ereignet sich bei der unterschiedlichen Bewertung von Schuberts Liedern durch Goethe oder durch uns Moderne. Diese Drift setzt sich seit dem späten Beethoven unaufhaltsam fort. Es scheint, als vertiefe sich nach Wagner, Strauss, Reger, Zemlinsky und Schönberg diese Differenzerfahrung

43

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F. Rochlitz, Bescheidene Anfrage an die Modernsten Komponisten und Virtuosen, in: AmZ 1798, Sp. 153 sowie AmZ 1846 und Schumann, Charakteristik der Tonarten, in: NZfM 19 (1835).

immer mehr – und mit ihr die Herausforderung für das moderne Bewusstsein und die musikalischen Interpreten. Das zeigt sich etwa daran, dass es viel schwieriger ist, Mozarts Musik überzeugend zu gestalten als viele der späteren Musiken höchst elaborierter Komplexität. Es ist genau diese Transparenz, die den ›Geist‹ jedes Interpreten so viel leichter verrät als die opaken Tonmassen bemühter Spätest-Romantik oder viele der hypertrophen Konstruktionen der Moderne. Diese ›Einfachheit‹, die so rätselhaft beglückt, ist weder als Simplizität zu fassen, denn sie ist gestalterisch keineswegs simpel noch als Naivität, denn sie ist alles andere als trivial. Sie ist allein von ihrer Qualität als Ausdruckswelt her zu fassen, die einem anderen Bewusstseinszustand entspringt als der uns so vertraute komplexe und polymorphe unserer komplizierten Moderne. Welcher Zustand aber ist das? Womöglich steckt schon hinter Martin Heideggers radikaler Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik ein Verlangen nach dieser Qualität des Einfachen. Als ein ›Unverstelltes‹ will er etwas an originärem ›Seins‹-Gehalt zurückgewinnen, der sich in wuchernden Komplikationen einem Ursprünglichen entzogen hat. Und der sich schließlich im denaturierten »Ge-stell« (nach seiner Diktion) einer unbeherrschbaren Technik dem Menschlichen »entgegen-stellt«. Auch in den aktuellen Programmen ›grüner‹ Ökologie, von einer intakten Umwelt bis Klimaschutz und Biokost scheint noch der Phantomschmerz einer verlorenen Ursprünglichkeit zu pochen und verlangt nach ›Dekonstruktion‹ eines zunehmend als unnatürlich empfundenen Weltzustands. Noch näher aber kommt man seiner Qualität – denn es handelt sich ja um mehr als nur äußere ›Natur‹, nämlich einen inneren, menschlichen Bewusstseinszustand – mit einem erkenntniskritischen Aspekt, für den ein biblisch überliefertes Gleichnis einen entscheidenden Hinweis liefern kann. Es ist das Jesuswort: »So ihr nicht werdet wie die Kinder, wird euch das Reich der Himmel sich nicht erschließen« (Matthäus 18,7). Das ist zwar sternenweit vom intellektuellen Selbstverständnis eines Individuums der abendländischen Moderne entfernt, aber am nächsten jenem Bewusstseinsfokus, von dem aus sich das rätselhafte ›Mozartglück‹ enthüllen kann. Das biblische Gleichnis fordert das epistemologische Denken nämlich zuallererst heraus, den beflissen verwischten Unterschied zwischen ›Kindlich‹ und ›Kindisch‹ nicht nur als psychologische Differenz zu begreifen, sondern als einen radikal anderen seelischgeistigen Zustand, wie er uns eben im Kind authentisch als ›Wirklichkeit‹ begegnet. Als Nächstes stellt es eine bedeutsame Verbindung zwischen diesem Zustand und der Existenz einer anderen ›Wirklichkeit‹ her, die völlig klar als metaphysische Qualität definiert wird. Als »Obertöne einer ›jenseitigen‹ Konsonanz« hat es der große Dirigent Bruno Walter (1955) bei Mozart bezeichnet. Als Topos des puer aeternus wird es in Mythos und Religion gefasst, dem symbolischen Bild des ›göttlichen Kna-

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ben‹, der in seiner androgynen Menschengestalt die Einheit der polaren Geschlechtergegensätze in einer anderen, himmlischen Harmonie verkörpert.44 Es handelt sich also um eine anthropologische Konnotation von ›kindlich‹ als Bewusstseinsvoraussetzung, ›einfach‹ als Strukturmerkmal und eine ethische mit dem »Reich der Himmel« als transzendenter Horizont. Und schließlich betont es mit dem Werden, das uns aufgegeben ist, jene Bewusstseinsveränderung, die uns auch Mozarts Musik aufgibt. Denn jeder ist ja unweigerlich vom Kind zum Erwachsenen geworden, soll also aus einer völlig anderen Bewusstseinslage wieder zu etwas finden, das rettungslos vergangen und verloren ist. Deshalb tritt jeder mit den untilgbaren Prägungen seines Individuationsprozesses an, falls er sein Bewusstsein auf der Suche nach dem anderen Zustand umfokussieren möchte. »Keiner steigt zweimal in den gleichen Fluss« (Heraklit) – niemand kann wieder das Kind sein, das er einst war. Sonst wird er womöglich ›kindisch‹, verstanden als ›infantil‹. Aber jeder kann im lebendigen Erlebnis dieser Musik wieder an die Qualität dieses integralen Bewusstseinszustands erinnert werden, kann seiner sogar – soweit es die persönliche mentale Konstitution erlaubt – seelisch teilhaftig werden, ohne das Gewordene der Individuation preiszugeben. Damit eröffnet sich ein anderer Seins-Horizont jenseits der Alltagswelt und ihrer Requisiten zeitgeistiger Gegenwart, die sich ständig als einzige, ›objektive Realität‹ aufspielen. Mozarts ›Realitäts‹-Verständnis hingegen umfasst eben mehr: in allen Finessen der Liebes- und Gesellschaftskonstellationen seines Musiktheaters, im sinnlichen Vergnügen als Papageno-Spaßvogel, als genüsslicher Adorant aufwendiger Garderobe, ziemlich hemmungsloser Geldverschwender, vielleicht sogar Spieler, und dazu noch als lustvoller Poet fäkaler Deftigkeiten beim ›Bäsle‹ ist er zugleich der Profi einer virtuosen »Compositionswissenschaft« – aber mit Zugang zu einer anderen Bewusstseinslage aus der ihm eine andere, integrale ›Wirklichkeit‹ in schöpferischer Erfahrung zugänglich ist. Sie wird offenbar sogar von vielen Geistern der Moderne als eine von transzendenter Natur ganz gut begriffen, sonst gäbe es nicht so viele diesbezügliche Äußerungen: vom »seraphischen Impuls« bei Bruno Walter über den »Griffel in der Hand Gottes« bei Nikolaus Harnoncourt bis zu den theologischen Transzendenzvermutungen. Diese mentale Verfassung verweist zuletzt auf das Urbild echten schöpferischen Tuns: jenes Wirken des Daimon im sokratischen Verständnis, wie es auch Platon und Goethe verstehen (siehe Kapitel XII). Metaphorisch, als quasi christliche Version, findet sich für den Daimon sogar das Bild eines »Engels«, »der ihm diese Musik diktiert« habe (Alfons Rosenberg).45 44

Eindrucksvoll ausgeführt bei A. Rosenberg (1964), S. 221 ff.

45

A. Rosenberg (1964), S. 220 ff. mit Bezug auf H. Ghéon, Auf den Spuren Mozarts, Graz 1953; H. Küng, Mozart – Spuren der Transzendenz, München 1992, S. 42 f.; K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Zollikon-Zürich 1945, Bd. III/3, S. 337 f.; H. U. v. Balthasar, Mein Werk. Durchblicke, Freiburg 1990, S. 34 u. ders., Dankrede anlässlich d. Verleihung des W. A. Mozart-Preises am 23.5.1987 in Basel, Separatdruck im Archiv H. U. v. Balthasar.

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Die Transparenz der Mozart’schen Satzfaktur als luzide Struktur eines ›Einfachen‹ verweist aber noch auf einen anderen epistemologischen Aspekt. Es ist die Erinnerung an die archetypische Natur des pythagoreisch-platonischen Weltverständnisses. Denn seine strukturelle Matrix liegt in der besonderen Bedeutung von einfachen Zahlenverhältnissen. Sie bestimmen nicht nur die Baupläne antiker Tempelbauten und gotischer Kathedralen, sondern finden auch in der Musiktheorie wie bei Kepler oder Andreas Werkmeister nachdrückliche Aufmerksamkeit (siehe Kapitel III und Kapitel V). Dahinter steht aber ein kosmologisches Verständnis, nach dem sich ›letzte Wirklichkeit‹ als das »Reich der einfachsten Zeichen« (Bȏ Yin Rȃ) manifestiert. Sie aber ist einem ›einfachen‹, eben ›unverstellten‹, das heißt ursprünglicheren Bewusstseinszustand leichter erfassbar als einem denkerisch verkomplizierten.46 Von da aus bietet sich die luzide Diaphanie der Musik Mozarts als strukturelles Korrelat an. Und jene ›Kindlichkeit‹ des puer aeternus als eine mentale Voraussetzung dafür. Sigmund Freud, der Kunst wesentlich für das Produkt einer Neurose hielt, hat den Künstler, psychologisch durchaus scharfsinnig, in seiner positivistisch-reduktiven Erfassung des mentalen Zustands als einen im »infantilen Status« stehengebliebenen Menschen verstanden. Mozarts Schwester Maria Anna (das Nannerl) hat ihren Bruder so beschrieben, als sei er im Grunde »immer Kind geblieben«.47 Unsere hochtrainierten, von der technischen Moderne konditionierten Gehirne aber misstrauen dem ›Kindlichen‹ und ›Einfachen‹ viel eher als dem Schwierigen, Komplizierten und Elaborierten. Denn sie können sich, weil bereits die alltägliche Lebenswirklichkeit so komplex geworden ist, eine Art von ›größerer Wirklichkeit‹ höchstens als noch kompliziertere und verwickeltere Struktur vorstellen, so wie sie in naturwissenschaftlicher Analytik so großartig dechiffriert und in raffinierten Ingenieurleistungen generiert wird. Deshalb gerät eine Erscheinung wie Mozart leicht zum Problem, ja zum Ärgernis. Deshalb halten sich Deutung und Exegese lieber an die eher sparsamen Zeugnisse musikalischer Komplexität 46

Vgl. dazu D. Heller-Roazen (2014) S. 46 ff. Auch ein biblisches Diktum beleuchtet diese Qualität: »Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich« (Matthäus 5, 3). Das ist kein Plädoyer für Dummheit, sondern ein erkenntniskritischer Fingerzeig auf eine bestimmte Bewusstseinslage, die es ›einfacher‹ strukturiertem ›Geist‹ leichter macht als es einem gedanklich hypertrophierten Gehirn diese Wirklichkeit als »Reich der einfachsten Zeichen« zu erfassen, wie es Bȏ Yin Râ darlegt: Von der Einfachheit in allem Ewigen, in: Hortus Conclusus, Basel 1936, S. 19–28.

47

Zu S. Freuds diesbezüglichem Verständnis siehe Kapitel XI. Anschaulich überliefert die ›kindlichen‹ Züge im Persönlichkeitsbild von Mozart seine Schwester Maria Anna zu Sonnenburg. Gegenüber Friedrich Schlichtegroll äußert sie, dass ihr Bruder bis zu seinem Lebensende im Grunde ›Kind‹ geblieben sei, unstet, und eines geregelten Lebens unfähig. Auch Mozarts Neigung zu Harlekinaden wie zu Sprachspielen in seinen Briefen zeigt nicht nur seinen Humor, sondern auch seine kindliche Lust am Spielerischen. Ihre Spannweite ist groß, von den Briefen an seinen Vater, wo er auf diese Weise vielleicht oft den Rechtfertigungsdruck gegenüber dessen streng leistungs- und erfolgsorientiertem Ethos unterläuft, über die neckisch-intimen Brief an seine Frau bis zu den neun ›BäsleBriefen‹ an die Cousine Anna-Maria Thekla, wo sich ungenierte Erotik mit deftigen fäkalsprachlichen Anspielungen mischt.

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und Eintrübungen, die es bei Mozart als souveränem Meister aller Möglichkeiten des ›klassischen‹ Idioms wahrlich auch gibt. Und deshalb hält man sich, besonders in seinem Musiktheater, viel lieber an eine manisch problematisierte und aktualisierte Dramaturgie, die Mozarts stets präsentem musikalischem Erlösungsangebot wütend widerspricht, weil es die destruktiven Befindlichkeiten des Zeitgeistes mit existenzialistischer Düsterheit, postmodernem Skeptizismus, verzweifeltem Zynismus oder einfach das »unglückliche Bewusstsein« (Paul Watzlawick) für intellektuell weitaus ergiebiger hält.48 Damit vertieft sich bloße ästhetische Hermeneutik unvermeidlich zu ethischer Erkenntnis. Denn es ist gerade Mozarts Erlösungsangebot, das als untilgbare Botschaft seinem Musiktheater so eingeschrieben ist wie bei Bach der Choral oder bei Beethoven seine idealistische Humanitas. Aber es ist nicht allein der hohe ›klassische‹ Humanitätston, der ein höheres Imago von ›Mensch‹ quasi als ›Mensch an sich‹ zu seiner Norm macht, wenn es heißt: »Er ist Prinz« – »Noch mehr er ist Mensch!« (Dialog Zauberflöte, Zweiter Aufzug, erster Auftritt) oder wie bei Goethe: »Je mehr du fühlst, ein Mensch zu sein, desto ähnlicher bist du den Göttern« (Zahme Xenien, IV) und von dem aus Mozart noch in allen komödiantischen Charaden Versöhnung, Verzeihen und Liebe als musikalischen Ausdruck gestaltet. Es ist noch mehr, nämlich ein ethischer Imperativ höchster Art, wie er in der Zauberflöte formuliert wird (Arie des Sarastro, Nr. 15): »Wen solche Lehren nicht erfreu’n, verdienet nicht ein Mensch zu sein.« Das ist nicht nur eine kategoriale Absage an die ›Rache‹ und alles Un-menschliche, sondern weit mehr: Es ist ein absichtsvolles Dementi des Grauens. Es ist eine Ver48

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Einen bezeichnenden Beleg für das Problem liefert unter den Musikern einer der größten Pianisten des 20. Jahrhunderts, der deutschstämmige Russe Svjatoslav Richter (1915– 1997). Er gerät über Mozart in schiere Verzweiflung. In seinen Film-Interviews mit dem Freund und Filmregisseur Bruno Monsaingeon bekennt er dazu: »Mozart ist mein ewiges Problem … Es gelingt mir nicht, einen echten Kontakt zu ihm zu finden« in: Richter – The Enigma, Film von B. Monsaingeon, 1998, sowie in: Escrits e Conversations, Paris 1998, dt. als: Svjatoslav Richter. Mein Leben, meine Musik, hg. v. B. Monsaingeon, Düsseldorf 2005, S. 371. Auch der kanadische Pianist Glenn Gould (1932–1982) hatte mit solcher Einfachheit Probleme. Wenn er die Werke des reifen Mozart als mehr oder minder kompositorischen »Schund« schmäht, zeigt das nur seine Geschmacksvorlieben. Aber mit seinem Diktum vom »rechtshändigen Komponisten« wirft er ihm indirekt den Mangel an musikalischer Satzkunst und polyphonem Handwerk vor und damit ein Defizit an einer Komplexität, wie er sie bei J. S. Bach findet. Beispiele für eine solche Sinninversion im Musiktheater finden sich in Produktionen von prominenten Regisseuren wie Peter Konwitschny (Don Giovanni ohne Finalsextett), Stefan Herheim (Die Entführung aus dem Serail, dekonstruiert als depressive Ehe-Höllenfahrt, Salzburg, 2003) und Calixto Bieito (Entführung als sadistisches Gewalt-, Blut- und Bordell-Drama, Berlin 2004) oder von Graham Vick (Zauberflöte, als schrille Fantasy-Show, Salzburg 2005).

klärungsleistung, die nur der Musik gelingen kann – aber sie liegt nicht in der ästhetisierenden Beschönigung der irdischen conditio humana mit ihren unsäglichen Irrungen, Wirrungen und Desastern. Sie liegt auch nicht im Leugnen ihres Dramas oder im leichtfertigen Weichspülen allen Elends, sondern sie liegt darin, dass sie Elend, Leid, Grauen und Katastrophe nicht als letztes Wort wahrer menschlicher Existenz anerkennt. Mozarts Musik ist Zeugnis einer anderen Reichweite des Bewusstseins, das seine Grenzmarke nicht am Horizont jenes Diesseits-Miserablen findet. Deshalb fehlen bei ihm auch erwähnenswerte Reaktionen auf das epochale Ereignis seiner Zeit: der Französischen Revolution von 1789. Deshalb lösen sich seine Finales so oft in strahlender Dur-Glorie auf und deshalb wird mit den Gefühlen von Liebenden, Betrogenen und Betrügern geistvoll-komödiantisch ›Theater gespielt‹. Deshalb wird sogar die destruktive Pathologie des männlichen Don-Juan-Komplexes im possierlich-lehrhaften Epilog als hintergründiges giocoso aufgelöst und deshalb steht am Ende von Mozarts Leben eine Märchenoper, in der ein Begnadeter keine Doktrin verkündet, sondern – nicht anders als in den Opern vorher – ein musikalisches Spiel mit den verschiedenen Qualitäten von Liebeskonstellationen inszeniert. Diesmal allerdings sub specie aeternitatis. Und mit ausdrücklichem Bekenntnis zu einer (freimaurerisch formulierten) Transzendenz. Das entspringt einer gleichen Bewusstseinslage wie Bachs letztes Werk. Was dort arkane pythagoreische Mediation ist, zeigt uns Mozart als apollinischer Spieler. Mozarts luzide Musik entlarvt im luziden ›Spiel‹ das Leid als Lüge. Im strahlenden lieto fine wird es zuschanden, weil es keine letzte Instanz im ›Spiel‹ einer ewigen Realität ist.49 »Ich neige mich vor jedem Schmerz. Aber ich spreche das Leid nicht heilig. Ich heilige die Überwindung, 49 Von einem Dichter mit tiefer Empathie begriffen: »Oft glaubtet ihr, ich tändelte im Spiel Indes der Erdkreis aufschrie in den Wehen Der harten Zeit, da Völker jäh vergehen Und auferstehn und mancher Thron zerfiel.

Da konntet ihr mein Lächeln nicht verstehen. Und wußtet nicht, daß dieses Lächeln nur Dem um den Mund spielt, der zur Hölle fuhr Und stark genug war, doch ins Licht zu gehen.



Kein Blütenkranz ward meiner Stirn erlost. Mich traf das Leid, so viel ein Mensch zu tragen Vermag. – Doch mehr zerriß mich noch das Klagen Der unerlösten Brüder – und ich suchte Trost.



Ich wollte so viel bittre Tränen stillen. In meiner Stunde, da ER mich beschied, Erlauscht ich Gottes stillstes Sternenlied. Nun seh ich lächelnd selige Tränen quillen«



(Gerhard Schumann, Die Tiefe trägt, Stuttgart o. J.)

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deren Gott ich bin« lässt ein späterer Dichter die antike griechische Gottheit Apollon sagen.50 Mozart, der musikalische (womöglich sogar der reale Glücks-)Spieler, spielt sein Spiel mit allen Finessen seines Genies. Aber er zeichnet die conditio humana als comedie humaine im viel größeren Szenario einer ›göttlichen Komödie‹: ein Spieler – aber auf einer metaphysischen Bühne. Von daher entströmt seiner Musik jener unvergängliche Trost, der den Kakophonien, Katastrophen und Finsternissen der Welt spottet. Von daher gewinnt sie ihre bleibende Bedeutungsmacht, solange es empfindende Menschen gibt.

II  Beethoven Beethoven oder: »Heißt bei Ihnen Componieren nicht handeln?« Als Haydn bei einer Soiree des Fürsten Carl von Lichnowsky die ersten drei Klaviertrios von Beethoven hörte, war er tief beeindruckt. Aber er gab dem jungen Komponisten den Rat, das dritte Trio nicht zu veröffentlichen: zu heftige Leidenschaft, zu viel ungebärdiges ›Ich‹. Aber genau dieses dritte in c-Moll hielt Beethoven für sein bestes. Das wäre schon Vorahnung gewesen von dem, was Beethoven noch in petto hatte. Dennoch war Haydns wohlmeinendes Urteil von 1793 noch nichts gegen die drastischen Kommentare der Zeitgenossen, mit denen dann Beethovens späte Streichquartette als tragische Produkte eines Ertaubten bedacht wurden. Von »Mozarts Geist aus Haydns Händen« jedenfalls, wie es sich Graf Waldstein in seinem bekannten Reisebrief von 1791 von Beethoven wünschte, kann keine Rede mehr sein. Beethoven beginnt die Sprache der ›Wiener Klassiker‹ mit Leidenschaft und Methode zu verändern – obwohl er selbst zu ihren Größten gezählt wird.51

Auf dem Weg zu musikalischen ›Denkprozessen‹ Seine ›Arbeit‹ an den Entwicklungsmöglichkeiten eines Themas in Sinfonie und Sonate nimmt bisher unbekannte Ausmaße an. Das Geschehen in der ›Durchführung‹ intensiviert sich und wird zum »Kaleidoskop der Verwandlung« (Arnold Schönberg). Als Prinzip transitorischer Dynamik breitet es sich immer mehr aus 50

Henry Benrath (Albert Heinrich Rausch), Die Worte des Apollon, in: Unendlichkeit, Stuttgart 1949, S. 46.

51

Beethoven hat seine Werke selbst mit Opus-Zahlen versehen, für eine moderne Übersicht vgl. Ludwig van Beethoven, Thematisch-bibliographisches Werkverzeichnis, hg. v. K. Dorfmüller, N. Gertsch, J. Ronge, München 1955.

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und droht am Ende, in den letzten Klaviersonaten und Streichquartetten, alle Form zu sprengen. Die Harmonik erreicht nicht nur extravagante Bereiche, sondern strapaziert mit plötzlichen Halbtonrückungen, wie schon im frühen zweiten Klavierkonzert, B-Dur (wo das zweite Thema im ersten Satz als Ruck von C nach Des eingeführt wird) oder in der Eroica-Sinfonie (erster Satz, Es-Dur – Cis-Dur) und schnellen enharmonischen Umdeutungen die Grammatik vertrauter Tonart-Zusammenhänge. Stabile Bedeutungsträger wie Tonika und Dominate werden durch labile Ersatzharmonien substituiert. Virtuosität wird immer mehr zur Voraussetzung wichtiger Ausdruckswerte. Das betrifft in den Klaviersonaten nicht nur das technische Fingerhandwerk, sondern auch die orchestralen Klangvorstellungen, die den instrumentalen Horizont des Hammerklaviers überschreiten wollen. Sogar in der Sinfonik mutet Beethoven den Musikern Spielschwierigkeiten zu, die sich in seiner bekannten Verwünschung an einen überforderten Spieler artikulierten »was kümmert mich seine elende Geige«. In seiner Kammermusik schließlich verwandelt er die letzten Reste eines idealistischen ›Liebhaber‹-Tuns zu einem anspruchsschweren Musizieren, das (ab op. 59, den Russischen Quartetten) den genuinen Profi verlangt: das Ende aller bemühten Amateurkünste. Intrikatere Konzepte bringen die emanzipierte Instrumentalmusik zum ideentiefen ›Sprechen‹ und zu einem quasi philosophischen ›Formulieren‹. Der kultivierte Konversationston Haydns, weiß Gott weder unoriginell noch oberflächlich, weicht dem heftigen Pathos einer persönlichen Leidenschaftssprache und der ausgefeilten Elaboratio musikalischer ›Denkprozesse‹ (Paul Bekker). Schon seine erste Sinfonie in C-Dur beginnt Beethoven ungewöhnlich. Er stellt das Hauptthema nicht in der natürlichen Glorie des Anfangs vor, sondern nimmt ein paar spannungsgeladene Umwege. Damit baut er gewissermaßen erst die Energie auf für den explosiven Einsatz des Themas, nämlich über den dissonanten CDur-Septakkord, das erst über die Subdominante F-Dur und die Dominante GDur nach C-Dur gelangt. Mit der zweiten und dritten Sinfonie werden emphatischer Ton und zupackender Gestus zum Normalfall. Es ist schließlich das Zeitambiente von Französischer Revolution, dem Aufstieg Napoleon Bonapartes und ›heroischer‹ Stimmungen. Die aufgeklärte Vernunft emanzipiert ihren größten Nutznießer, den freien, selbstbestimmten Menschen, unaufhaltsam, ja gewaltsam weiter. Eroica heißt deshalb die dritte Sinfonie Beethovens als Subjekt beider Sphären. Hinter der revolutionären Begeisterung, die in unentwegter Themenverarbeitung das Musikalisch-Prozesshafte zur Hauptsache macht und weniger die Stabilität, enthüllt sich das ›Heroische‹ auch im Ideenprogramm. »Prometheus-Sinfonie« hat man sie genannt nach den inneren Verbindungen zur Ballettkomposition Die Geschöpfe des Prometheus op. 43 und ihrem hochgemuten Programm vom himmelstürmenden Titanen-

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sohn des griechischen Mythos, der den Menschen das Feuer brachte.52 Mit dieser in zwingende musikalische Formgestaltung gebannten Ausdruckssphäre wird die Eroica zu einem sinfonischen Konzept, für das die Musikgeschichtsschreibung den Begriff des »Ideenkunstwerks« gefunden hat (Carl Dahlhaus). Diese Konzepte verlässt Beethoven nicht mehr. Im ungleichen Paar von fünfter und sechster Sinfonie, ›Schicksalssinfonie‹ und ›Pastorale‹, werden die Programmideen in komplementären Perspektiven eingefangen. Im Fanal des ›Klopfmotivs‹ im ersten Satz der Fünften und ihrem sieghaften Finale werden Vorbilder aus Musik der Französischen Revolution zu Chiffren von Beethovens persönlicher seelischer Ausdruckswelt. Er formt sie musikalisch so prägnant und zwingend, dass sie zum Inbegriff jener »Durch-Nacht-zum-Licht-Metaphorik« werden konnten, die zwar nach Klischee klingt, aber unbestrittenen Deutungsanspruch besitzt. In ihrem lyrischen Komplementär, der musikalischen Landschaftswanderung der ›Pastorale‹-Sinfonie, oft blasiert als ›Programmmusik‹, ja sogar als ›Rückschritt‹ gegenüber der radikalen Vorgängersinfonie gescholten, übersetzt er tiefes, andächtiges Naturerleben in Klangempfindungen. Die neunte Sinfonie schließlich sprengt mit ihrem leidenschaftlichen Verlangen nach ›Verkündigung‹ einer Idee alle instrumentalen Mittel und Verfahren, die sich Beethoven bis dahin erworben hatte. Ihrem humanistischen Gehalt kann er nach den zwei Sätzen Allegro und Adagio molto e cantabile nicht mehr mit Themenentwicklungen und -ableitungen gerecht werden, sondern nur noch mit dem machtvoll erklingenden Dichterwort. Deshalb vertraut er seine Botschaft Schillers »Hymne an die Freude« und der menschlichen Stimme an: Das Chorfinale wird zum Bekenntnis, die Szene zur Feier. Wie in einer attischen Tragödie erscheint das Publikum zur Menschheitsgemeinde transzendiert – und der deutsche Idealismus zum religiösen Humanismus. Aus dem gleichen Geist verwandelt er das alte, sakrosankte Formular der Messe in ein Kaleidoskop leidenschaftlichen subjektiven Ausdrucks. Deshalb ist seine Missa solemnis, entstanden im bezeichnenden Umfeld des Spätwerks nach 1819, auch nicht mehr vom Gedanken an kirchengebundene Liturgie bestimmt, sondern von der Vorstellung des säkularen Konzertsaals und dessen Publikum. Aber vor allem Klavier- und Kammermusik werden zum Terrain von Beethovens leidenschaftlichen Kompositionswillen: das Pianoforte als »Pionierinstrument von Beethovens Kunst« (Paul Bekker) und das Streichquartett als ›Labor‹ intensivster Satzarbeit. Die 32 Klaviersonaten gestalten einen Kosmos von Ausdrucksbereichen, für den Hans von Bülow die Bezeichnung »Das neue Testament der Klavierspieler« findet (als Analogie zum »Alten Testament« von Bachs Wohltemperiertem Klavier).

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Vgl. P. Bekker, Beethoven, Berlin 1911, S. 225 ff.; H. Goldschmidt, Beethoven. Werkeinführungen, Leipzig 1975, S. 29 ff.; C. Floros, Beethovens Eroica und Prometheus-Musik. SujetStudien, Wilhelmshaven 1978; M. Geck und P. Schleuning, »Geschrieben auf Bonaparte.« Beethovens Eroica: Revolution, Reaktion, Rezeption, Reinbek 1989.

In den Sonaten op. 31, 2 und 3 komponiert er ähnlich spannungsgeladene Anfänge wie in der C-Dur-Sinfonie. In den Klavierkonzerten benutzt Beethoven die plötzlichen Halbtonrückungen mittels enharmonischer Umdeutung als Vehikel schneller Ausdruckswechsel. So im ersten Satz des zweiten Klavierkonzerts, wo in der Orchesterexposition statt dem üblichen, erwarteten Seitenthemas (Takt 40–41) eine Rückung von C-Dur nach Des-Dur erfolgt oder im Klavierkonzert Nr. 5, wo in der Überleitung vom zweiten zum dritten Satz die Rückung von H-Dur nach BDur erfolgt. Die Hammerklaviersonate op. 106 wird zum Extremfall. Lange als ›unspielbar‹ bezeichnet, ist dort schroffe Rauheit Ausdrucksmittel und die maximale Verwertung sparsamsten Materials Prinzip. Dazu kommen Beschleunigung und Konzentration. Ein charakteristisches Mittel ist die strategische Verkürzung und Verdichtung, wie etwa am Anfangsthema der Klaviersonate op. 2 Nr. 1. Hier organisiert Beethoven in einer ständigen Folge von Steigerungen nicht nur den Themenbau, sondern auch den Zusammenhang ganzer Sätze.

Vom ›Labor‹ der Kammermusik zum Konfliktbewusstsein der Moderne In der Kammermusik erprobt Beethoven zuerst bei den Klaviertrios und dem Klavierquintett die Integration des Tasteninstruments ins Streicherensemble. Auch in den Werken für Bläserensemble erprobt er die Verbindung mit dem Klavier, wie im Quintett op. 16 und dann auch die mit den Streichern wie im Sextett op. 20. Aber mit dem Septett op. 71 für 2 Klarinetten, 2 Hörner und 2 Fagotte demonstriert er auch seine Kompetenz für das reine Bläseridiom. Zwar beteiligt er das Klavier in seinen späteren Duos und Trios wie im Duo für Klavier und Violine op. 47 und dem Spätling op. 96 oder für Violoncello wie op. 5 und später noch op. 102 sowie dem ersten Trio von 1808 für Klavier, Violine und Violoncello op. 70, dem »Geistertrio«, und später noch in op. 97. Aber auf Dauer fesselt ihn vor allem die Kammermusik für Streichinstrumente allein. Zuerst sind es reine Streichtrios (die Frühwerke op. 3, 8 und 9), dann beginnt mit den sechs Quartetten op. 18 von 1808 die Reihe seiner großen 16 Streichquartette. Ihr erster Höhepunkt sind die drei symphonisch-konzertanten Quartette von op. 59. Besonders im ersten, F-Dur, zeigt der zweite Satz »Allegretto vivace e sempre scherzando«, impulsgeladen wie die Eroica, eine kontrastreiche Phantastik echt Beethoven’scher Faktur mit einer verwirrenden Fülle motivischer Bildungen und einem unaufhörlichen Wechsel der Harmonik und damit der Stimmungslagen. Typisch ist aber auch der leidenschaftliche, siegreiche Triumphgestus ihrer Finalsätze. Er gelangt in den Rasumowsky-Quartetten op. 70 und 74 von 1808–1809 und dem f-Moll-Quartett op. 95 von 1810, das er selbst mit Serioso überschreibt, zur glänzenden Entfaltung. Dann gibt es eine lange Pause, bevor er sich wieder mit der Gattung beschäftigt, die aber schließlich von 1824 bis zu seinem Todesjahr, 1827, zum

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Zentrum seines Komponierens wird. Ihr Ergebnis sind die letzten Quartette Nr. 12–16, die großen fünf Quartette op. 127, 130, 131, 132 und 135. Obwohl bereits der Uraufführungsgeiger des ersten Quartetts, Ignaz Schuppanzigh, Schwierigkeiten mit solchem »abstrahierendem Quartettstil« (Paul Bekker) hatte, ist es noch einigermaßen positiv aufgenommen worden. Immerhin fanden binnen zwei Monaten sechs Aufführungen statt. Mit den restlichen vier Werken allerdings strapazierte Beethoven das gewohnte ›klassische‹ Idiom derart, dass es vielen Zeitgenossen als tragische Folge seiner Ertaubung erschien. Und das war keineswegs infam. Denn fatale Einschränkungen zeigten sich allenthalben, vom Umgang mit den Menschen (mit denen er schließlich über ›Konversationshefte‹ verkehren musste) bis zu den Schwierigkeiten bei seinen Dirigaten. Tatsächlich wurde die These vom Taubheitsmanko zum festen Bestandteil der frühen Rezeptionsgeschichte des Spätwerks, bis hin zu Richard Wagner.53 Und tatsächlich ist die Satzarbeit extrem: Partikel und Fragmentierungen werden zu Bedeutungsträgern der Struktur. Die Fuge verliert ihre alte Idee eines genuin-musikalischen Gebildes sui generis, weil Beethoven, wie er selber erklärt, sie mit einer »poetischen Idee« aufladen will. Damit gerät sie ihm ins Prozesshafte der Sonatenform und in die Wechselspiele der Variation. Aber auch der geschieht eine Verwandlung wie in den Eroica-Variationen oder im Chorfinale der neunten Sinfonie, wo sich Concerto-Viersätzigkeit und Sonatenform überlagern. Er dramatisiert die Formen und verleiht damit dem ›klassischen‹ Satz eine »Richtungsenergie« (Charles Rosen) wie niemals zuvor.

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»Hat sich dies Tonbild, vielleicht aus den kranken Hörnerven (es wäre die einzige Spur eines unmittelbaren Einflusses des Physischen auf das Psychische bei Beethoven) im Geiste sausend eingenistet?«, fragt Adolf Bernhard Marx zum F-Dur Quartett op. 135 (Ludwig van Beethoven, Leben und Schaffen, Berlin 1859, Bd. 2, S. 312). Auch andere Kritiker befinden in renommierten Musikzeitungen: »Leider verlor Beethoven das unschätzbare Kleinod für den Musiker, das Gehör! … er hörte keine Musik mehr, sah sie nur noch … die Gedanken standen auf dem Papier ganz klar da und vergnügten sein Auge, in der Ausführung aber wird es oft ein wüstes Gewirr, und als ein solches erscheinen mir in seinen letzten Werken viele Stellen, so oft ich sie auch höre« (AmZ 31, 1829) oder: »Der heutige Wirrwarr des Herrn B. hat mich von neuem überzeugt, daß der gute Mann in eine Geistesverwirrung gerathen seyn, oder wenigstens jedes Mal einen Anfall von hitzigem Fieber haben muß.« (Beilage Minerva in: Allgemeiner musikalischer Anzeiger 1, 1827), vgl. Ludwig van Beethoven: Die Werke im Spiegel seiner Zeit. Gesammelte Konzertberichte und Rezensionen bis 1830, hg. v. S. Kunze, Laaber 1987. Erst mit Richard Wagners Essay Beethoven von 1870 ändert sich die Bewertung. Obwohl auch Wagner (mit Ausnahme der neunten Sinfonie) lange Zeit zu den Skeptikern gegenüber dem Spätwerk zählte (und er dafür noch in einem Aufsatz von 1873 Änderungen infolge Beethovens Taubheit forderte), setzt hier, vermutlich unter dem Einfluss seiner Schopenhauer-Lektüre, eine philosophische Romantisierung der Taubheit als quasi transzendentale Bedingung des Spätwerks ein, vgl. K. M. Knittel, Wagner, Deafness, and the Reception of Beethoven’s Late Style, in: JAMS 51, 1998, Heft 1, S. 49–82.

Dieses Energiepotenzial bestimmt auch seine rhythmische Struktur. Das wird besonders mit Blick auf Mozarts Komponieren deutlich, wie es ein Mozart-Enthusiast recht nüchtern unternimmt: »Die Töne singen bei Beethoven in Bedrängnis, bei Mozart singen sie frei. Mozart anerkennt und benützt den natürlichen Rhythmus, das Gesetz der Schwere; die objektive, naturgesetzliche Gravitation fällt mit seinem subjektiven Impuls zusammen. Bei Beethoven streitet der objektive gegen den subjektiven Impetus: Für ihn ist die Schwere, die für Mozart natürlich ist, ein mechanisches oder gar mechanistisches Prinzip, das er durch Energie eigener Anstrengung zu überwinden sucht; die natürliche Schwere wird durch persönliche Leistung ersetzt … Mozart betont die ›guten‹ Zeiten und ihre natürliche rhythmische Tendenz; Beethoven kommt zu rhythmischen Akzenten durch eine aktive, bewußt in den Klang geballte Anstrengung und Kraftfülle. Mozart vergeistigt die natürliche Schwere, die er als Weltordnung akzeptiert, durch die Erhabenheit und Reinheit seiner musikalischen Gedanken; Beethoven ersetzt die natürlichen Schwereverhältnisse, deren er nicht wie Mozart froh werden kann, durch eigene, entgegengesetzt tendierende Dynamik. Und so erhält der Rhythmus, durch die Energie seines [männlichen] Strebens, durch Anstrengung und Überwindung, ein sittliches Gewicht: Beethoven ersetzt die natürliche, von Mozart anerkannte, aber spirituell umgeschaffene Weltordnung durch die Kategorien des Ethos und des Idealen.«54 Über diese ›energetische‹ Dynamik in der Gestaltung des ›Subjektiven‹ als bezwingende ›Form‹ gibt vielleicht am deutlichsten seine Missa Solemnis Aufschluss. Denn sie wird zum Gefäß passionierter Subjektivität im höchst ›objektiven‹ Formular der Messe. Obwohl es sich Beethoven damit, wie sein langjähriges, skrupulöses Studium der liturgischen Vorlagen zeigt, keineswegs leicht gemacht hat, gerät sie ihm zum Ausdruck leidenschaftlichen, zutiefst persönlichen Ringens um ein Einverständnis mit dem Göttlichen. Ihre Schwierigkeiten spiegeln weniger eine Hingabe daran, sondern eigenwillige Auseinandersetzung damit. Aber ihre Botschaft »Dona nobis pacem« als ergreifendes Schlussgebet folgt mit der ›Menschheits‹-Umarmung des »Seid umschlungen« seiner Neunten und dem glühenden Freiheits-Epos des Fidelio dem gleichen hohen Ethos eines idealistischen Konzepts. Inzwischen gilt die Frage, ob Beethovens späte Kompositionsvorstellungen etwas mit seinem Gehör zu tun haben könnten, längst als grobe Infamie. Denn einmal würde sie nicht nur am Paradigma des ›inneren Hörens‹ von Musik rütteln, sondern auch am sakrosankten Geniestatus. Zum anderen erlaubt uns die Differenzerfahrung aus der Moderne ein anderes Verständnis als das seiner Zeitgenossen. Denn im leidenschaftlichen Subjektivismus der Musik Beethovens, wird uns erfahrbar, dass er hier musikalische und seelische Ausdrucksbereiche gestaltet, die sich erst durch Bewusstseinszustände des modernen Menschen erschlie-

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A. Greither, Wolfgang Amadé Mozart – In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1962, S. 111.

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ßen. Sie verlangen nach Ausdrucksmitteln, die sich Beethoven in schweren Auseinandersetzungen mit sich selbst in den Katastrophen seines Lebens geschaffen hat: seiner Taubheit, der Vereinsamung zwischen gescheiterten Liebeshoffnungen und den Widrigkeiten im Umgang mit seiner Umgebung, allen voran die Konflikte um seinem Neffen Karl. Alle Schroffheiten, Brüche und Disparatheiten sind, versteht man sie mit der Lizenz von Beethovens eigenen Äußerungen als Bedeutungsträger, schonungslose Enthüllungen eines kämpfenden, ringenden, oft verzweifelten Selbst – eben jene rigorose Entblößung des ›Ich‹, die einst Haydn schon bei dessen c-Moll-Trio aus Opus 1 so erschreckt hatte. Nicht zuletzt sind es damit auch exemplarische Manifestationen des freien, selbstbestimmten ›Ichs‹, wie es im ›diskontinuierlichen‹ Tonsatz des ›Wiener klassischen‹ Idioms sein prägnantes Ausdrucksmedium findet. Damit wird Beethovens künstlerischer Subjektivismus zu einer Schlüsselmetapher des neuzeitlichen abendländischen Menschen. Denn die radikale musikalische Gestaltung von persönlich-schicksalshaften Seelenzuständen wird durch das exemplarische Format seiner Formkraft nicht nur zum Ausdruck der tragischen, existenziellen Conditio humana bis an den Rand des Scheiterns. Sie wirkt, aus unserem Heute, bereits wie ein Indikator der kollektiven Bewusstseinslage nach der Französischen Revolution – samt Robespierre und Napoleon. Damit kommen aber bereits die Tendenzen des anbrechenden ›Maschinenzeitalters‹ in den Blick: die neue Konstellation der technischen Moderne. Ihre Dynamik der Weltverwandlung führt so ›zentrifugal‹ an Peripherien wie Beethovens später musikalischer Satz an die Grenzen der Form. Inzwischen angelangt in den pathologischen ›Wirklichkeiten‹ von Weltkriegsgrauen, Genoziden und atomaren Vernichtungsängsten, dem Verlust idealistischer Humanität und der Dissoziation des Subjekts bis zur existenzialistischen Seinsverzweiflung verlieren sich die Bezüge zu größerer, transzendenter ›Wirklichkeit‹ mehr und mehr. Diese Erfahrung sichert uns das Verständnis von Beethovens Spätwerk. Löst man sie von dieser Ausdrucksdeckung als existenzielle ›Bedeutung‹, so kann sie aber auch intellektuell und ›formalistisch‹ bestens legitimiert werden. Denn ihre disparate Idiomatik erfährt die Deutung als weitere ›logische‹ Entwicklungsstufe der abendländischen Kompositionsgeschichte und als Zuspitzung der »Reflexionsarbeit« (Carl Dahlhaus): ein Aufbruch in musikalische Denkkonzepte der Moderne mit ihrem reflexiven Musikbegriff. Das sichert diesem Komponieren seinen Rang in einer evolutionären Musikgeschichtsschreibung und den Beifall der progressiven Avantgarden. Was bei dieser Zustimmung leicht unter den Tisch fällt, ist allerdings eine ganz andere Dimension in Beethovens Musik, die seine Dissoziation des musikalischen Satzes auch noch im Spätwerk so überaus nachdrücklich transzendiert – seine langsamen Sätze. Es sind jene »heiligen Adagios« (Felix Huch), wie sie uns vom a-MollQuartett op. 132 oder der Cavatine des B-Dur-Quartetts op. 130 bis in den Kosmos seiner Klaviersonaten, aber nicht weniger in den Sinfonien immer neu ergreifen. Bedeutsam, dass es im ersten Quartett mit einem ausdrücklichen Bekenntnis ver-

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bunden ist »Heiliger Dankgesang an die Gottheit …«. Damit sind sie nicht nur polarer Ausgleich zur disparaten Konfliktharmonik der schnellen Sätze. Sie lassen auch keinen Zweifel daran, dass Beethovens späte Ausbrüche von komponierter ›Seinsverzweiflung‹ (noch) keineswegs ohne jenes Transzendenzbewusstsein sind, das als Tiefenschicht den großen Humanitätston der ›Klassik‹ trägt.

Form als Haltung durch bewältigten Konflikt Freilich lässt uns unser längst musikgeschichtlich bestens informiertes Differenzbewusstsein auch erkennen, wie drastisch sich Beethovens letzte musikalische Ausdruckswelten von denen anderer bedeutender Spätwerke unterscheiden. Mozarts Jupitersinfonie und seine Zauberflöte künden, genau wie Bachs h-Moll-Messe, das Musikalische Opfer und die Kunst der Fuge, von etwas anderem – jenseits von Konflikt, Ringen und Kampf. Aber Beethoven, der viel von Bachs Werk ziemlich genau kannte, pianistisch mit dem Wohltemperierten Klavier aufgewachsen ist, sogar Exemplare der Kunst der Fuge besaß, begreift sich eben in einer völlig anderen existenziellen Situation. Sein Umgang mit Kampf und Konflikt ist nicht bestimmt durch selbstverständliche Seinsgewissheit, sondern durch immer neue Konfliktbewältigung. Das aber weist den Weg zu einem tieferen Verständnis seiner Ausdruckswelten, denn entscheidend für ihre Bedeutung ist, wie er sich den Konflikten stellt. Es ist nicht allein seine Schonungslosigkeit, sondern das musikalische Format, das ihnen überpersönliche und bleibende Gültigkeit sichert. Denn Beethoven erschafft mittels seiner ihm eigenen kompositorischen ›Reflexionsarbeit‹ eine Musik mit einer Überzeugungskraft, die quasi einer zwingenden gestalterischen ›Logik‹ zu folgen scheint. Sie führt in den Sinfonien zum Eindruck, als wäre ihre Satzfolge genau so gestaltet, dass der Triumph des erlösenden Finales als schlüssige Quintessenz von Arbeit und Auseinandersetzung in den vorangegangenen Sätzen zustande kommt. »Die Beetvovensche Musik will in ihrem Zusammenhang als notwendig … begriffen werden, genau so wie der Sinnzusammenhang einer Rede, eines Vortrags, der aus Worten und Begriffen besteht, logisch verstanden werden will«, stellt es Wilhelm Furtwängler dar.55 Gleiches gilt für die dramaturgische Finallogik der späten Klaviersonaten und Streichquartette – am kollossalsten in der ›großen Fuge‹ von op. 130, die er dann mit op. 133 als eigenständiges Individuum hinstellt. Der konzentrierte Formwille mit dem er alle Teile seiner musikalischen Gefüge zu Ausdrucksmitteln seiner Empfindungen und Ideen schmiedet, mit denen er musikalische Gestalten, impulsstarke Elemente wie prozesshafte Verarbeitungen, schroffe Brüche wie harte Kontraste und dialektische Umschwünge in die Konturen einer prägnanten Archi-

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W. Furtwängler, Ton und Wort, Zürich u. Mainz 1994, S. 225.

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tektur zwingt, erzeugt jene Strahlkraft, die Form als Haltung versteht und deswegen auch an ›Haltung‹ appelliert. »Beethoven ist das Erlebnis der Form« (August Halm). »Zusammengefaßter, energischer, inniger hab’ ich noch keinen Künstler gesehen …« bemerkt Goethe mit Scharfblick über ihn nach einer Begegnung während seines Kuraufenthalts in Teplitz. Damit liefert uns Beethoven die höchste Zuspitzung der Impulskräfte des neuen, selbstbewussten ›Ichs‹ im ›Wiener klassischen‹ Idiom. Weil er sie bis zum Gestus gleichsam physischer Gewalt verdichtet, fragt ihn ein aufmerksamer Zeitgenosse in seinen Konversationsheften einmal: »Heißt das nicht Handeln bey Ihnen: Componieren?«56 Das bringt diese konzentrierte, mitreißende, quasi haptische Formkraft auf den Punkt. Welches Ausmaß die unablässige Arbeit an der Formung, Verdichtung, Formulierung und Umformulierung seiner Einfälle und Gedanken hat, zeigen nachdrücklich seine Skizzenbücher. Hier definiert sich Genialität weniger durch den lapidaren ›Einfall‹, sondern durch den skrupulösesten Umgang damit.

Konflikt-Balance: Die Adagio-Andachten Dem Meister der so quasi ›logisch‹ strukturierten Konfliktharmonik hält aber der bewegende Gestalter tiefen seelischen Ausdrucks stand. Denn Beethoven versteht sich nicht als Konstrukteur selbstreferenzieller Tektonik, sondern als ein leidenschaftlich Bewegter, der auch ›bewegen‹ will: »Sie sollen wirkliche Veränderungen in jedem Hörenden hervorbringen« notiert er in seinem Skizzenbuch von 1811/12 über »enharmonische Ausweichungen«, jene unvermittelten Rückungen also, die uns im zweiten Klavierkonzert, in der Eroica oder der siebten Sinfonie so abrupt in neue Empfindungsbereiche katapultieren. Wer »Von Herzen – Möge es zu Herzen gehen« als ausdrückliches Bekenntnis über das dramatische Spätwerk der Missa Solemnis schreibt, meint weder diskursive Konstruktion noch zerebrale Rezeption, sondern wendet sich an das Organ seelischer Empfindung. Nicht weniger nachdrücklich dokumentieren das viele seiner Satzbezeichnungen. Sie verlangen mit einer ganzen Skala von Signaturen ausdrücklich nach emotiver Expressivität: »Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei« im Autograph der Pastorale-Sinfonie, »… mit der innigsten Empfindung« im ersten Satz der Klaviersonate op. 101 und im Variationenthema von op. 109, oder: »durchaus mit Empfindung und Ausdruck« (op. 90), »con gran espressione« (Largo aus op. 7 und Adagio aus op. 22), «Appassionato e con molto sentimento« im Adagio der Hammerklaviersonate op. 106 oder ein »molto espressivo« in der Cavatina aus op. 130.

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Ludwig van Beethovens Konversationshefte, Bd. 3, hg. v. K.-H. Köhler u. D. Beck, Leipzig 1983, S. 23.

Zum höchsten Ausdruck dieser anderen Qualität seelisch-emotionalen Bewegtseins werden schließlich Beethovens Adagios und seine langsamen Sätze. Als ein ›Jenseits‹ aller diskursiven Hitze intensiver Satzarbeit enthüllen sie mit ihrer ergreifenden Einfachheit reinen und berührenden Empfindens die ganze menschliche Tiefe Beethovens. Damit wird ausdrücklich die komplementäre Gegenwelt zum komplizierteren componere mit seinen ›denkerisch‹ organisierten Ergebnissen formuliert. Wer also den Meister der konstruktiven Organisation des ›diskontinuierlichen Satzes‹ preist, darf nicht den Bekenner erhabener, ja heiliger Adagio-Andacht unterschlagen. Dort aber findet jener Seelenfrieden Ausdruck, der ›Erlösung‹ beschwört, weil er uns ›Lösungen‹ erleben lässt, die einen Bewusstseinszustand jenseits von ›Kampf‹ und ›Konflikt‹ kennzeichnen. Das ergreifende Adagio der neunten Sinfonie (besonders in den Seitensätzen D- und G-Dur), das Streichquartett op. 127 oder die langsamen Sätze der Klaviersonaten op. 10, op. 109 und vor allem von Pathétique und Appassionata gehören zu den eindrucksvollsten Beispielen. Im Andante des cis-Moll-Quartetts op. 131 erkennt Richard Wagner »… eine anmutsvolle Gestalt, um an ihr, dem seligstes Zeugnis innigster Unschuld, in stets neuer, unerhörter Veränderung durch die Strahlenbrechung des ewigen Lichts, welches er darauf fallen läßt, sich rastlos zu entzücken.«57 Von da aus scheint das so oft in Anspruch genommene Stereotyp ›Leiden – Wille – Überwinden‹ – immerhin als eine hermeneutische Figur, die in seltener Einhelligkeit die Deutung von Beethovens Werk bestimmt – nicht als Klischee, sondern als treffende Essenz.58 Dass sich Beethoven mit diesem Prozess von ›Wille‹ und ›Überwinden‹ identifiziert und damit die Dialektik zwischen intellektueller Satzarbeit mit ihrer zugespitzten Technik bis in die späten Zumutungen und gleichzeitig den Weihen erhabenen Adagio-Friedens als authentisches Zeugnis seiner Identität begreift, belegen seine eigenen Kommentare ausdrücklich. Am erschütterndsten im Heiligenstädter Testament. »Ich will dem Schicksal in den Rachen greifen – ganz niederzwingen soll es mich gewiss nicht …«59 Damit gewinnt auch die ostentative Sprengung von Normen des ›klassischen‹ Idioms einen strengen Rückbezug zum Existenziellen. Beethovens Auseinandersetzung mit dem ›Material‹ um dieser Bedeutungen willen wird, weil uns dieser Prozess als erlebnismäßiger Gestaltungsprozess nachvollziehbar ist, zum Ausdruck einer seelischen Innenweltgestaltung. Das bedeutet etwas völlig anderes als

57

R. Wagner, Beethoven, Leipzig 1870, S. 40. Im Übrigen treten diese Augenblicke himmlischer Seelenruhe auch als dialektisch in den Satz eingearbeitete Momente und Episoden auf, wie etwa in den Seitenthemen der Kopfsätze von fünfter und neunter Sinfonie und in der Appassionata oder in den Coriolan- und Egmont-Ouvertüren.

58

Belege für die große Einmütigkeit dieser Urteils-Trias liefert die Beethoven-Biographik und -Forschung (wenigstens bis Carl Dahlhaus), vgl. Eggebrecht (1991), S. 571, sowie M. Geck (1993), S. 1–99.

59

Heiligenstadt, 6. Oktober 1802, Faksimile-Edition hg. v. S. Brandenburg, Beethoven-Haus Bonn 1997.

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eine selbstreferenzielle Materialbeschau für Experiment, Exploration oder Vorführung musikalisch-technischer Möglichkeiten wie in vielen Projekten moderner Avantgarden. Beethoven ist als schöpferischer Künstler Künder einer willensmäßigen Formung von persönlichem Leben und überpersönlichem Schicksal, der Auseinandersetzung mit dem Notwendigen, dem Kampf um seine Selbstbestimmung. Damit gewinnt das »Erlebnis der Form« in seiner Musik exemplarische Bedeutung: es wird Zeugnis des Ringens um eigene Selbstformung. Das aber weist über das Unschätzbare, was Beethoven für sich selbst damit errungen hat, weit ins Existenzielle und Exemplarische hinaus. Denn ›Formfindung‹ ist nicht nur unabdingbare Aufgabe echten künstlerischen Schaffens, sondern jeder menschlichen Lebensgestaltung und damit letztlich eine zutiefst anthropologische Dimension.60 Beethoven hinterlässt uns damit etwas, das man als die größte ›menschliche Musik‹ bezeichnen könnte. Sogar ein Testat aus der ganz anderes disponierten Moderne anerkennt: »Beethoven hat gezeigt was Größe ist« (Komponist und Musiktheoretiker Claus-Steffen Mahnkopf, 2002). Das würdigt hinter dem Format des meisterhaften Tonsetzers etwas von seinem geistigen Format. Dessen Kern aber ist die Identität von triftiger Bedeutung und außergewöhnlicher Beherrschung der Mittel, die Strahlung einer ›Authentizität‹, in der ein ›Außen‹ als Ausdruckswelt durch ein ›Innen‹ gedeckt ist. Das macht die seelisch-geistige Substanz dieser Musik aus, ohne deren Verständnis auch eine überzeugende künstlerische Umsetzung als erklingende ›Interpretation‹ scheitert. Darüber aber, worauf der Verfertiger dieser Musik ihre letzte, höchste ›Bedeutung‹ bezieht, lässt er uns in seinen Bekenntnissen nie im Zweifel: »Höheres gibt es nicht, als der Gottheit sich mehr als andere Menschen nähern und von hier aus die Strahlen der Gottheit unter das Menschengeschlecht verbreiten.«61 Was aber wäre das anderes als eine transzendente Begründung seines musikalischen Künstlertums?

60

Mit diesem Topos einer im anthropologischen Format verstandenen ›Formfindung‹ kommen auch Mozarts Zauberflöte, die gotischen Konzepte mit jener ›Selbstverwandlung‹, wie es Abt Suger von St. Denis im Bild des ›innerlichen Dombaus‹ darstellt und schließlich auch Gustav Mahlers sinfonische Auseinandersetzung damit in den Blick (siehe Kapitel IX). Vgl. grundsätzlich dazu auch K. Scheffler, Form als Schicksal, 2. Aufl., Erlenbach-Zürich 1943; Th. Spoerri, Der Weg zur Form, Hamburg 1954.

61

Brief an Erzherzog Rudolph, August 1823. »Ja von oben muß es kommen, was das Herz treffen soll, sonst sind’s nur Noten, Körper ohne Geist, nicht wahr? … Der Geist soll sich aus der Erde erheben, worin auf eine gewisse Zeit der Götterfunke gebannt ist …« Brief an Johann Andreas Stumpff, 1824, vgl. Beethoven, Sämtliche Briefe, hg. v. E. Kastner, Nachdruck d. Neuausgabe v. J. Kapp, Tutzing 1975.

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III  Schubert »Die Sonne dünkt mich hier so kalt … ich bin ein Fremdling überall« – ein anderer Humanitätston: Franz Schubert Auch wenn Beethoven, kompositionsgeschichtlich betrachtet, im Spätwerk das Idiom des ›klassischen Tonsatzes‹ unterminiert, bleibt er trotzdem auf dessen mentalem ›Boden‹. Denn sein musikalischer Humanismus ist unbeirrbar in einem transzendenten Weltverständnis mit einer Bindung der Kunst an das Numinose begründet. Aber während sein Chor in der neunten Sinfonie noch singt: »Brüder! Überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen«, klagt sein jüngerer Wiener Zeitgenosse: »Keiner, der den Schmerz des Andern, und Keiner, der die Freude des Andern versteht! Man glaubt immer, zu einander zu gehen, und man geht immer nur neben einander …« Bei Franz Seraph Schubert, damals ungleich weniger berühmt als Beethoven, aber nicht weniger Genie, wird auch dieser Boden brüchig. Das fällt zunächst dort, wo Schuberts Werk sein Zentrum hat, im Kosmos seiner Lieder, kaum auf. Denn in den meisten dieser 660 Lieder aus einem Œuvre von fast 1000 Werken, entstanden in einem nur 31 Jahre währenden Leben, verbinden sich Poesie, Melos und ein tiefer Seelenton, den man exemplarisch mit ›Romantik‹ in Beziehung bringt.62 Lieder wie Die Forelle oder Das Ständchen sind zu klassischen Beispielen einer lichten musikalischen Poesie geworden, Inbegriff einer besonderen Ausdruckssphäre. Als »Deutsches Lied« oder einfach »Lied« oder le lied (seit der ersten Schubert-Begeisterung im Paris der 1830er Jahre) nimmt sie seither einen festen Platz im Panorama der musikalischen Gattungen ein. Ihre Wirkung entsteht aus einer Verbindung von Lyrik und Melos zu einer besonderen Ausdruckssphäre, die »das schönste Wortgedicht unserer größten Dichter, übersetzt in solche Musiksprache, noch erhöht, ja überbietet«, wie es Schuberts Sängerfreund, der gefeierte Tenorbariton der Wiener Hofoper, Johann Michael Vogl, sagt. Ihr Geheimnis ist die gegenseitige Steigerung von Dichtung und Musik zu einem »höheren Kunstganzen«, wie es der Schweizer Musikgelehrte Hans Georg Nägeli 1817 benennt.63 Damit erlangt das Lied, das in der Musik der ›Wiener Klassiker‹ eigentlich keine große Rolle spielt, erst jenen Rang, der seine bleibende Bedeutung ausmacht. 62

Für den Werküberblick, vgl. O. E. Deutsch, Franz Schubert, Thematisches Verzeichnis seiner Werke in chronologischer Folge, Kassel 1978, wonach die Werke nachfolgend mit ihren ›D‹Nummern bezeichnet werden.

63

H. G. Nägele, Die Liedkunst, in: Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung 19 (1817), Sp. 765 f.: Es müsse »ein höherer Liederstyl begründet werden, und daraus eine neue Epoche der Liederkunst … hervorgehen, deren ausgeprägter Charakter eine bisher noch unerkannte Polyrhythmie seyn wird, also dass Sprach-, Sang- und Spiel-Rhythmus zu einem höheren Kunstganzen verschlungen werden – eine Polyrhythmie, die in der Vocal-Kunst völlig so wichtig ist, als in der Instrumental-Kunst die Polyphonie«.

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Schuberts musikalische Poesie beginnt bei der dichterischen. Er lässt sich, besonders in seinen Anfängen der Jahre 1810–1813, durch den szenischen Erzählton der Ballade inspirieren. Dafür liefern ihm die Komponisten der »Schwäbischen Liederschule« um Johann Rudolph Zumsteeg wichtige Anregungen.64 Das geht bis zur Wahl der gleichen Dichter mit Friedrich Schiller an erster Stelle. Aber auch Ludwig Theobul Kosegarten, Friedrich Matthisson, Matthias Claudius, Heinrich Hölty und James Macpherson, der Dichter des Ossian, gehören dazu. Aber schon früh ist auch Goethe dabei, der später mit 78 vertonten Texten vor Schiller und denen des Freundes Johann Mayrhofer zu den am häufigsten gewählten Dichtern gehört. So ist auch das erste bedeutende Zeugnis von Schuberts Liedkunst ein GoetheLied: das Faust-Lied Meine Ruh ist hin, komponiert am 19. Oktober 1814. Als Titel wählt er Goethes Szenenanweisung dazu: Gretchen am Spinnrade (D 118). Und es ist gleich ein Meisterstück, mit dem ein Siebzehnjähriger der Musik ganz neue Bedeutungswelten erschafft. Die Musikgeschichtsschreibung wusste es zu würdigen und lässt damit die Gattung des ›Romantischen Liedes‹ beginnen. Schäfers Klagelied (D 121) oder Der Wanderer (D 489), lange das berühmteste Lied Schuberts, sind spätere Höhepunkte. Das Unerhörte an Schuberts Komponieren ist die Erschaffung einer neuen musikalischen Ausdruckswelt, in der sich bewegte Innerlichkeit in musikalischer Allegorese zu einer eigenen ›Poetik‹ verwandelt. Er verwandelt die Dichtung, an der sich zunächst sein schöpferisches Genie entzündet, in einen anderen ›Aggregatszustand‹. Dazu gehört die Verdichtung der Begleitung zu einem eigenständigen, bedeutungsvollen Klaviersatz. Dazu gehört aber vor allem eine Vertiefung der Dichtung über das eigene seelische Erleben zu mehr als ihrer tönenden Nachahmung. Man hat diese besondere Wirkung in der Musikologie als einen Umformungsprozess zu fassen versucht, mit dem Schubert das Gedicht aus eigenem, originären Sprachbewusstsein auf eine neue Bedeutungsebene bringt. Danach ginge sie nicht im bloß Stimmungsmäßigen und Assoziativen des Textes auf, sondern greife zurück auf die zugrunde liegende »Substanz« von Sprache schlechthin (Thr. Georgiades).65 Das 64

Der Schubert-Freund Josef von Spaun berichtet von der Wirkung der Lieder Zumsteegs auf den erst 14-jährigen, 1811, vgl. Schubert. Die Erinnerungen seiner Freunde. Gesammelt u. hg. v. O. E. Deutsch. Leipzig, 2. Aufl. 1966, S. 149.

65

Vgl. Thr. Georgiades, Schubert. Musik und Lyrik, Göttingen 1967, S. 98–108. Georgiades fasst Schuberts Liedkomponieren als ein Zurückgehen auf jenen ontologischen Urgrund auf, wo Sprache emphatisch »Nennen« und »Sagen« ist, damit auf das ureigene, erst eigentlich den »Menschen« konstituierende Sprachvermögen überhaupt. Demnach würde die Erscheinung von Sprache als Dichtung von Schubert quasi zunächst getilgt, um dann neu aus der Grundschicht der Sprache als Struktur in musikalischer Vertonung erschaffen zu werden: Das Gedicht verschwindet gewissermaßen vor der Substanz der Sprache, um verwandelt als neue Bedeutungsebene wiederzuerstehen (siehe S. 38, 98–108, 119, 122, 161). Damit würde Schubert nicht nur die Qualität des antiken »Sängers« zuwachsen, der, wie die großen Rhapsoden, Homer, Petrarca oder Ossian, mehr als nur vortragender Musicus und »Interpret« sei, sondern »sagender Sänger« (S. 97 ff.). Vor allem aber erkennt

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geht von einem Verständnis von ›Sprache‹ als eigenes Sein aus. So erfasse Schubert das Gewicht der Worte in ihren quasi »körperhaften« Artikulationsmustern, ebenso wie die sprachliche Satzdynamik, den Versbau sowie den Sprachzusammenhang in seinem Sinnganzen – und verwandle sie, indem er sie mit einer »eigenen musikalischen, rhythmisch-tonlichen Substanz« auffülle. Damit verleihe er der verbalen Lyrik-Dichtung eine neue strukturelle »Realität« als musikalische Lyrik. Deren andersartige Qualität werde deutlich, höre man seine Melodien ohne ihre Texte. Denn, so führt diese Verständnistheorie an, nehme man ihnen die Sprache weg, so verlören sie ihre Bedeutungskraft und »wirken blass und unselbständig als eine Art Naturding«: Demnach wären sie zwar »sprachgezeugt«, aber auch »sprachbedürftig«, wie es sich im Vergleich mit anderen Vertonungen der gleichen Dichtung zwischen Beethoven und Schubert zeige.

Themen, Chiffren, Seelenzustände Eine wesentliche Dimension von ›Bedeutung‹ ersteht schließlich aus Schuberts Klaviersatz. Er zeigt zwar als ›Folie‹ des Liedmelos die mannigfaltigsten Erscheinungsformen. Aber er eröffnet in seinen harmonischen Beziehungsgeflechten auch die Tiefendimensionen von Schuberts »musikalischer Lyrik«. Als ›Begleitung‹ reicht er von bloß stützender Funktion und musikantischen Spielfiguren (wie in Die schöne Müllerin) bis zur Verknüpfung und Verschmelzung von Gesangs- und Klavierpart als eng amalgamiertes Miteinander (wie in der Winterreise). Über allen Gipfeln ist Ruh (D 768) breitet als ›Nachtlied‹ eines ›Wanderers‹ in nur vierzehn Takten bereits ein ganzes Kaleidoskop der Möglichkeiten aus. In den schlichteren Fällen reflek-

Georgiades darin Schuberts Komponieren als ein Vordringen aus bloßer »Kunst als Erleben« zum eigentlichen »wahrhaft Geistigen«: das »lautere Gold« (S. 95, 109), verstanden als eine kategoriale Differenz zwischen »Natur« und »Geist«. Damit grenzt er es auch scharf vom nur »Ausdruckshaften«, dem »Gefühl und Stimmungsmäßigen« als jener »Äußerung des ›Unaussprechlichen‹ « ab, dem zentralen Topos der Romantik, und wie es die Liedvertonungen der Vorklassik von Zelter, Reichardt oder Loewe aber auch die von Schumann, Wolf oder Brahms demonstrierten. Denn dort würde nicht sprachgegründete »Substanz« komponiert, sondern nur die im Gedicht enthaltene Stimmung und so entstünde nur ein »Gehäuse« der Dichtung, ein »Gedicht-Schatten« (S. 32–39). In dem ontologischen Rang, den Georgiades der Sprache als gewissermaßen eigenes Sein einräumt, befindet er sich ganz bei Heidegger, Gadamer und auch noch Wittgenstein. Aber auch seine dedizierte Abwehr der empfindungsmäßigen Erlebnisseite von ›Kunst‹ überhaupt, abwertend konnotiert mit »Ausdruck« oder »Stimmungsmäßigen«, entspricht ganz Heideggers Auffassung (siehe Kapitel VIII und XI). Das offenbart, trotz der emphatischen Vertiefung zu einem ›Sein‹, ein gemeinsames Verständnis von ›Geist‹ und ›Geistigem‹ als Denkbewegung, nicht das eines spirituellen Geistbegriffs, wie von Platon oder Plotin bis Goethe und Bȏ Yin Rȃ. Wie unzureichend diese Hermeneutik ist, zeigt sich an sämtlichen langsamen, ausdrucksbestimmten Sätzen und Adagios in der Musik der ›Wiener Klassiker‹ genauso wie am Phänomen des reinen Melos und nicht zuletzt auch am Klaviersatz von Schuberts Liedern, dessen semantische Bedeutung bei Georgiades unterbelichtet bleibt.

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tiert das Klavier, quasi wie ein glatter Wasserspiegel, die Lichter und Schatten von Dichtung und Melos, wie etwa im Ständchen (D 957) oder An die Musik (D 547). In anderen Fällen aber illustrieren seine ›Tiefenschichten‹, gewissermaßen als bewegte Klangfluten, Aspekte des Textes bis zum Figurativen. Dann agieren dort, wie auf einer Klangbühne, interaktiv Gestalten und Gehalte der Dichtung und verleihen dem Klaviersatz damit jene suggestive Tiefe eines ›Quellgrundes‹, die so unwiderstehlich in Bann schlägt wie Beethovens konstruktive Satz-›Logik‹. So wird das Begleit-Medium zum Resonanzraum, dem eine eigene semantische Dimension zuwächst: der harmonische Orientierungsverlust unter Wasser im Taucher (D 77) oder die Verwirrung im Irrlicht aus der Winterreise (D 911), wo dem diffusen, tonartlosen Beginn mit zwei leeren Quarten die aberwitzig wechselnden Rhythmisierungen des Metrums folgen samt einer falschen Stufenfolge der Kadenz (nämlich als I-V-IV-I). Ebenso das täuschende Zwielicht der Nebensonnen (Winterreise) durch die harmonische Instabilität zwischen fis-Moll und A-Dur und der Irreführung durch eine Symmetriestörung im Reim mit unvollständiger Reprise bis hin zur Artikulation eines verborgenen Gegensinns wie im unheimlichen Doppelgänger (D 957/13).66 Ähnliches zeigt sich im langsamsten Lied der Winterreise, Das Wirtshaus. Dort scheint eine innere Verwandtschaft zum alten Kyrie-Topos auf mit seinem Vorspiel wie ein Leichenzug und dem abgeklärten F-Klangraum67 oder in Letzte Hoffnung aus der Winterreise wie auch in Einsamkeit (D 620), wo es dem Klavier gleichsam die Stimme verschlägt, während der Gesang die Schrecken des Krieges schildert. Überhaupt gewinnt das Naturmotiv ›Wasser‹ in Schuberts Liedern fast die Bedeutung einer Metapher, vom frühen Jüngling am Bache, dem Fischerlied, der Fischerweise, Wie Ulfru fischt oder Der Schiffer bis zum bekanntesten ›Wasser‹-Werk, der Forelle. Die wichtigsten Mittel, mit denen diese semantischen Spiegelungen und Chiffrierungen herbeigeführt werden, sind eine Harmonik, deren Farbenwechsel auf Bedeutungswechsel zielen wie deren Tonartbeziehungen auf verschiedene Empfindungsregionen. Ihr Verhältnis orientiert sich weniger an den vertrauten Quintrelationen, sondern viel häufiger an den Terzverwandtschaften, den sogenannten Medianten: Die Terz wird zu einem wesentlichen Element bewusster Struktur und untergründiger Wirkung. Dazu gehört auch die pointierte Dramaturgie der DurMoll-Differenz, dem wichtigsten Aspekt der Terz-Anwendung mit ihrer Stiftung der polaren ›Tonartgeschlechter‹. Solcher Wechsel signalisiert immer eine Veränderung der Wahrnehmungsund Ausdrucksebenen: in Trost und Tränen (D 120) oder Lachen und Weinen (D 712) bewirkt der Dur-Moll-Wechsel eine konsequente Gegenüberstellung seeli66

Werner Thomas beschreibt sogar Singstimme und Klaviersatz als »Schichten verschiedenen Sinns«, vgl. Thomas, Der Doppelgänger von Franz Schubert, in: AfMw 11 (1954), S. 252– 256.

67

Vgl. Thr. Georgiades (1967), S. 379 ff.

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scher Grundaffekte, genau wie im Ständchen (D957/4) und in Die gefangenen Sänger (D 712) oder wie in Gute Nacht und im Lindenbaum aus der Winterreise. Schließlich gehören auch die verschiedenen Formen des Liedes zur Bedeutungsgestaltung. Schubert wählt sie in differenziertester Weise vom simplen Strophenlied, dem variierten Strophenlied und dem durchkomponierten mit einer ›szenischen‹ Erzähldramaturgie. Ein höchst hintergründiges Konzept verfolgt er, wenn er alle semantischen Dimensionen einer Dichtung derart in einem gleichbleibenden musikalischen Satz einfängt, dass dessen Grundaffekt zwar auf alle Strophen passt, sie aber, quasi mit dem Wissen aus dem Ganzen, zugleich kommentiert. So wird die Schlichtheit des Strophenlieds in der Totengräber-Weise (D 869) zum Symbol einer Auflösung aller schmerzlichen Widersprüchlichkeiten zuletzt im Tod. Im Liederzyklus Die schöne Müllerin (D 795) hingegen erleben wir die fröhliche Wanderpartie eines Müllerburschen als verzweifeltes ›Ständchen‹ über einen makabren Trip ins Fragwürdige: vom Schluss her tönt derselbe Klaviersatz ganz anders als am Anfang. Gleiche Abgründigkeit erschafft er auch in der unheimlichen Ballade vom Erlkönig (D 328), wo sich hinter der magischen, echt ›romantischen‹ Naturbegegnung beängstigend unentrinnbare Ausweglosigkeit offenbart. Hämmernde Triolen (oder Achtel in einer anderen Fassung) und zwanghafte Bassfiguren zeichnen sie musikalisch. Im Gegeneinander einer Chromatik des Entsetzens und einer affirmativen Kadenzstruktur des Fait accompli inszeniert Schubert musikalisch das Wechselspiel von Traumgeschichten (des Kindes) und der Realwelten (des Vaters). Das Ergebnis im fatalen Finale: Das Kind ist tot. Nicht weniger unheimlich geht es im Doppelgänger (D 957) zu. Schon Heinrich Heines Dichtung malt die innere Zerrissenheit und Identitätsspaltung eines um seine Liebe Betrogenen. Schubert aber inszeniert sie mit unerhörten Klängen des Grauens: gespenstisch leere Oktavintervalle führen zur Beschwörung der ›eigenen Gestalt‹ im Phantombild des Doppelgängers mit einem Fortissimo-Schrei auf dem Spitzenton g². Dazu gibt es eine markerschütternde Klavierdissonanz im dreifachen Forte. Und ein Klavier-Ostinato, dessen Kern die Tonfolge h-ais-d-cis ist: ein chromatisches Schmerzmotiv, das schon im Kreuzige-Kreuzige-Chor von Bachs Matthäus-Passion vom Leiden kündet, genau wie im Agnus Dei von Schuberts eigener Es-Dur Messe (D 950), seiner längsten und komplexesten Messkomposition. Am Schluss markiert schließlich eine Kadenz im finsteren, entlegenen dis-Moll den Ausgang der Tragödie. Der Wanderer (D 489) nimmt, wie Der Pilgrim (D 794) ein heiteres Bild der Romantik als Vorwand für den Ausdruck von Seelenzuständen innerer Fremdheit und vergeblicher Sehnsucht. Das Reiselied einer metaphysischdramatischen Pilgerreise endet in Resignation:

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Ach, kein Steg will dahin führen, Ach, der Himmel über mir Will die Erde nie berühren, Und das Dort ist niemals hier. Mehr über seine wahre Botschaft verraten die Titel seiner beiden Textvorlagen in zwei früheren Fassungen: Des Fremdlings Abschied und Der Unglückliche. Schubert sucht sich seinen eigenen Titel. Er klingt zwar harmloser, realisiert den Gehalt aber umso nachhaltiger. Damit aber gibt er quasi symbolisch Bedeutsames seiner eigenen seelischen ›Topographie‹ preis. Denn das ›Wandern‹ wie der ›Wanderer‹ gehören zu jenen Topoi, die als immer wiederkehrende Muster eine semantische Ortsbestimmung seiner Ausdruckswelt ermöglichen, genau wie das Motiv des ›verlorenen Glücks‹. Er verwendet es 1812 erstmals, vielleicht bewegt durch den Tod der geliebten Mutter, in der ersten Fassung von Der Jüngling am Bache (D 30), dann in seinem Wiegenlied-Topos (nach Dichtungen von Körner, Mayrhofer, Ottenwald und Seidl) und im bekanntesten Schlafe, schlafe, holder süßer Knabe. Ein anderer Topos, der ihn immer wieder affiziert, ist der Tod oft als ›Befreier und Erlöser‹: Sei guten Muts! Ich bin nicht wild lässt er Freund Hein trösten im Lied Der Tod und das Mädchen (D 531). Aber auch sonst beschäftigt er ihn: Der Jüngling und der Tod (D 545), in der Totengräber Weise (D 869), dem Totengräberlied (D 38) und Totengräbers Heimwehe (D 842). Wenn er in einem Brief an seinen Malerfreund Kupelwieser (vom 31. März 1824) schreibt: »denk Dir einen Menschen, dessen Gesundheit nie mehr richtig werden will … dessen glänzendste Hoffnungen zunichte geworden sind …« dann ist das womöglich ein Echo seiner venerischen Erkrankung. Aber wenn er fortfährt: »Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer, ich finde sie nimmer und nimmermehr, so kann ich wohl jetzt alle Tage singen, denn jede Nacht, wenn ich schlafen geh, hoff ’‹ ich nicht mehr zu erwachen …«, dann wird aus dem ›literarischen‹ Topos die Botschaft einer makaberen mentalen Selbstbefindlichkeit. Ein Mozart begegnet ihm mit gefasstem Realismus, wenn er vier Jahre vor seinem eigenen Tod in einem Brief an den Vater (vom 4. April 1787) bekundet: »…ich lege mich nie zu Bette ohne zu bedenken, daß ich vielleicht, so jung ich bin, den anderen Tag nicht mehr sein werde …«. Ein J. S. Bach begrüßt ihn aus einer völlig anderen Bewusstseinslage, wenn er musikalisch jubelt Ich freue mich auf meinen Tod (Kantate BWV 82) oder Oh schlage doch, gewünschte Stunde (Kantate BWV 53). Auch Schuberts impertinenter ›Wanderer‹-Rhythmus drückt meistens Schicksalhaftes aus. Oft ist er verkleidet als Polonaise oder Pavane, wie im Lied des gefangenen Jägers (D 843), der Strophe des Todes in Der Tod und das Mädchen (D 531) oder mit heiterer Munterkeit im Zyklus Die schöne Müllerin (D 795) – aber im Wirtshaus aus der Winterreise kommt er im Leichenzugmetrum daher.

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Bei einem Lied wie Der Wanderer (D 489) ist nicht nur der Titel bezeichnend. Höchst bedeutsam ist, wie Schubert am Text der Dichtung ändert. Er verändert die Versfolge von Georg Philipp Schmidt, die er bereits in anderer Fassung aus einer Anthologie von Ludwig Deinhardstein kannte. Schon in der vierten Strophe verdoppelt er mit Nachdruck: »und immer fragt der Seufzer: wo? Immer: wo?«. Noch mehr forcierte er die Schlusssentenz, wo Wanderer-Topos und »vergebliche Sehnsucht« konvergieren. Bei Schmidt lautet sie »Da, wo du nicht bist, blüht das Glück«, bei Deinhardstein: »Dort, wo du nicht bist, ist das Glück!«. Schubert aber fügt ein zweites »dort« ein, den verstörenden Anapäst verdoppelnd – wie die Bekräftigung einer tief empfundenen Wirklichkeit eigener Existenz. Endgültig zu einer Metapher des Vergeblichen wird der Wanderer-Topos schließlich in der Winterreise. Ein Jahr vor seinem Tod komponiert, 1827, nach den Gedichten von Wilhelm Müller aus Dessau, nennt sie Schubert selbst »einen Zyklus schauerlicher Lieder«. Denn dort steht am Ende der ›Wanderung‹ nicht mehr wie in der Schönen Müllerin ein Weiterwandern – wenn auch ins Ungewisse, vielleicht sogar in Tod und Verderben, sondern das blanke Nichts: das muntere ›Voran‹ endet im Hoffnungslosen. Damit erweist sich heitere Biedermeier-Fassade als unheimlicher Vexierspiegel. Er verwandelt noch die lieblichsten Genrebilder bürgerlicher Existenz in ihre kafkaesken Schattenbilder. Der dramaturgische Bogen vom Lindenbaum zum Leierkastenmann ist der Weg von der Idylle zur Grimasse, von den »bunten Blumen« im hellen »Frühlingstraum« bis zu den erstarrten »Eisblumen am Fenster« – und dem Fazit: »Ich bin zu Ende mit allen Träumen.« Damit aber enthüllt sich der heitere Sänger der Forelle mehr und mehr als abgründiger Fatalist.68 Denn der Lehrergehilfe aus der Wiener Vorstadt, den seine Freunde bei den fidelen Zechereien in Wiener Vorstadt-Beisln oder beim nächtlichen Punsch in den Kaffeehäusern »Schwammerl« nannten und der bei ihren aufgeräumten ›Schubertiaden‹ als Klavierunterhalter aufspielte, ist alles andere als der harmlose »Liederfürst«, wie ihn das gängige Schubertbild vom melodientrunkenen Biedermeier-Idylliker bis weit ins 20. Jahrhundert zeichnete. Unter dem natürlichen Zauber seiner genialen musikalischen Lyrik tönt der Abgrund: Für Menschenohren sind es Harmonien Weil ich die Klage selbst melodisch künde Und durch der Dichtung Glut das Rauhe ründe, vermuten sie in mir ein selig Blühen

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Dieser Aspekt hat die moderne psychoanalytisch und gendertheoretisch inspirierte Deutung von Schuberts Werk vor allem zu biographischen Spekulationen angeregt, die in der amerikanischen New Musicology bis zu seiner sexuellen Identität gehen, vgl. L. Kramer, Franz Schubert: Sexuality, Subjectivity, Song, Cambridge 1998 (= Cambridge Studies in Music Theory and Analysis, 13).

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lässt der dichtende Freund Johann Mayrhofer die Katze aus dem Sack. Schubert hat diese Zeilen im Lied Memnon (D 541) vertont. Es spiegelt Abgründe persönlicher Seelenzustände mit einer Klarsichtigkeit für die existenzielle Einsamkeit, die über ihre bannende Musikalisierung hinaus die Reflexion herausfordern. »Wollte ich Liebe singen, ward sie mir zum Schmerz. Und wollte ich wieder Schmerz nur singen, ward er mir zur Liebe« (Schubert: Mein Traum).69

Die Dichtung im Wortlosen Erhält die Musikalisierung solcher Seelenzustände im Lied oft durch die Dichtung Legitimation, so präsentieren sie sich im wortlosen Medium der Instrumentalmusik als autonome Bedeutung. Von 1813 bis 1818 entsteht jedes Jahr eine Sinfonie. Sie stellt sich gewissermaßen als eine ›Liebhaber-Musik‹ dar – denn keine davon wurde zu Schuberts Lebzeiten aufgeführt oder gar gedruckt. Wie im Liederkosmos herrschen von der ersten bis zur sechsten, der ›kleinen‹ C-Dur-Sinfonie, viel Frohsinn und beschwingtes Melos: fast scheint es wie eine Transformation der Liedpoesie in sinfonischen Gesang. Ihre Satzfaktur wirkt auf den ersten Blick so, als bewegte sie sich noch ganz im Idiom der ›Wiener Klassiker‹. Schließlich bewundert Schubert Mozarts g-Moll-Sinfonie, kennt und verehrt Beethovens Werke zutiefst. Aber er komponiert doch anders. In der vierten Sinfonie (D 417) will er mit dem c-Moll offenkundig einen ›tragischen‹ Tonfall nach Beethoven’scher Diktion, besonders im Finale, wo Beethovens Fünfte Pate zu stehen scheint. Aber er verfehlt dessen konstruktive Ausdrucksdramatik, weil er kaum über eine konventionelle Handhabung der Elemente des ›klassischen‹ Satzes hinauskommt. Stattdessen demonstriert er im As-Dur-Andante mit seinem liedhaften Hauptteil das Eigene als ›Poesie‹ mit hymnisch-schwärmerischem Lyrismus und im Finalsatz beschwingte Schwerelosigkeit mit einem Hauptthema von bezwingender Liebenswürdigkeit: die »Leichtigkeit des Seins« – nicht konzentrierte Verarbeitung zu einem dichten »Partiturgewebe« (Thr. Georgiades). Auch die fünfte Sinfonie in B-Dur (D 485), die zwar im ersten Satz deutlich am Finale von Mozarts g-Moll-Sinfonie orientiert ist, gefällt sich vor, allem im G-DurLändler-Trio des Andantes in dieser Leichtigkeit. In der sechsten Sinfonie C-Dur (D 589) zeigt das dynamische Trio zwar strukturell viele Züge eines »Gerüstsatzes«. Aber wieder schwingt der lyrische Ton zwischen schwereloser Ländlerfreude und Wiener Leichtigkeit, und der Finalsatz wirkt in seinem hinreißenden Wechsel der Rondo-Episoden wie von Rossini inspiriert.

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Mein Traum, in: Franz Schubert. Die Dokumente seines Lebens, gesammelt und erläutert von O. E. Deutsch, Leipzig 1964, S. 158 f.

Diese ›Leichtigkeit‹ betört, sie wirkt aber wie zu wenig ›errungen‹. Deshalb kann sich Schuberts sinfonische Diktion nicht mit dem Format der Beethoven’schen messen. Schubert empfindet es selbst so, denn er will sich erst den »Weg zur großen Sinfonie bahnen«, wie er in einem Brief an den Malerfreund Kupelwieser schreibt (v. 31.3.1824). Auch späteren Beurteilern wie Johannes Brahms genügen diese Exempel auf diesem Weg dazu nicht. Und der hatte immerhin die Redaktion der Sinfonien für die alte Gesamtausgabe von Schuberts Werken (1894–1897) übernommen: »Vorarbeiten« nennt er sie mit unverhohlener Direktheit. Und die Tatsache, dass Schubert nach Abschluss der sechsten Sinfonie nicht weniger als vier Entwürfe für sinfonische Konzepte anderer Art schreibt, offenbart hinter der Entschlossenheit auch seine Probleme damit – bis auf jene zwei Exemplare, die ihn nicht nur bleibend, sondern unbestreitbar vor dem sinfonischen Kanon Beethovens legitimieren. Die erste davon ist die h-Moll-Sinfonie, die siebte (D 759, nach der neuen chronologischen Zählung seit dem Werkverzeichnis von Otto Deutsch von 1978). Obwohl ›unvollendet‹ mit ihren zwei Sätzen, eröffnet sie zusammen mit der folgenden, der achten, der ›großen‹ C-Dur (D 944), das eigentliche sinfonische Vermächtnis Schuberts. Schon der Beginn der Siebten irritiert heftig. Zwischen den nachtschwarzen Bässen von Celli und Kontrabässen, die nach acht Takten ›offen‹ auf der Quinte hängen bleiben, und der lyrischen Kantilene in den Oboen klafft ein gewaltiger Klangraum vom tiefen kontra H bis zum fis²: unheimliches Zeugnis des Dissoziativen als ›Devise‹. Und damit ein Sinfoniebeginn, wie er bei Haydn oder Beethoven noch undenkbar gewesen wäre – eine Schlussvorstellung der ›Wiener Klassik‹. Dann folgen die abrupten Forte-Detonationen, die katastrophal in das hoffnungsvoll-ergreifende, lyrische Ländlerthema fahren (Takt 6) und allen Schönklang zerbrechen (Dominantseptakkord mit Non-Vorhalt). Auch das berühmte zweite Thema, ein ›Lied ohne Worte‹, verstummt jäh ohne jede Fortsetzung oder Entwicklung. Dafür bricht in die Generalpause, wo die Musik gleichsam erstarrt, das schroffe c-Moll-Sforzato des Tutti ein – mitten in den h-Moll-Satz: Ausweis einer zutiefst Schubert’sche Dialektik zwischen Idylle und Abgrund. Dazu passt auch die seltsame Wirkungsgeschichte des Werks. Komponiert 1822, blieben die beiden Sätze bis 37 Jahre nach Schuberts Tod, nämlich bis 1865, ohne Aufführung, weil vergessen in einer Schublade seines Freundes Anselm Hüttenbrenner. Obwohl Schubert das Werk keineswegs für vollständig hielt (wie die Klavierskizzen für ein folgendes Scherzo zeigen), braucht es für unser heutiges Verständnis weder Fortsetzung noch Bedauern: Es ist »Das Wunder eines Torsos« (Walther Dürr). Er scheint uns aus höherer Bündigkeit so komplett, dass die vielen Versuche ihn zu vervollständigen belanglos bleiben. Vielleicht auch, weil er nur so zu einer authentischen Signatur von Schuberts abgründiger Mentalität werden

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konnte. Aber begreiflich, dass sich deshalb um seine ›Botschaft‹ allerhand biographische und hermeneutische Deutungsversuche bemüht haben.70 Auch die große C-Dur-Sinfonie (D 944), komponiert 1825, verschwand obskur für 14 Jahre im Archiv der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde. Dort entdeckte sie Robert Schumann erst 1839, pries sie in einer legendären Besprechung und Mendelssohn führte sie noch im gleichen Jahr in Leipzig auf. Ihr Anfang ereignet sich im Zeichen des ›Liedersängers‹: In bewegendem Melos intoniert ein seelenvolles Hornthema Innigkeit zwischen Naturklang und Ferne. Aber es birgt sich schon latentes a-Moll darin. Viermal wird es dann im langen Andante-Prolog angestimmt: als auratischer Hörnerruf, im feierlichen Holzbläserchoral, dann als machtvolles, von den Posaunen angeführtes Orchestertutti und schließlich wieder im Holzbläsersatz mit schwelgerischer Terzenklangharmonik. Erst dann kommt nach 77 Takten mit dem »Allegro ma non troppo« und seinem rhythmisch profilierten Thema das eigentlich sinfonische Geschehen in Gang. Zwischen hochgemuter Marschbewegung der Streicher und wuchtigen Akkorden der Posaunen steigt die Erregung. Aber eine scheue Reprise und Episoden in c-Moll dämpfen ab, bis dann in der Coda mit heroischen Signaldreiklängen und Sforzandoschlägen und dem Hauptthema in lapidarem, aber mächtigem Unisono ein markanter Schluss erreicht wird. Der zweite Satz bekennt sich schon ganz zu a-Moll. Balladenhaft intoniert die Oboe noch zu Beginn etwas von Elegie. Aber durch Punktierungen geschärfte Rhythmik und heftiges Sforzando weisen bald auf Anderes. Gezielt führt Schubert aus zuversichtlicher Andante-Gangart und der Pianissimo-Friedfertigkeit elegischer Holzbläserepisoden samt den »himmlischen Längen«, die Schumann so gerühmt hat, in eine veritable Beethoven’sche Konfliktharmonik. Sie mündet schließlich in einen gellenden, verminderten Septakkord im dreifachen Forte – mit dem katastrophalen Absturz in eine bodenlose Generalpause: Fanal tiefster Bestürzung. Auch im Finalsatz endet der heroische C-Dur-Jubel schließlich in a-MollTrübung, in die Holzbläserkantilenen fahren die Posaunen zwischen Chromatik, Unisono und Akkordmassierungen dazwischen und die hitzige Coda besiegelt schließlich mit ihren Impulsmustern zwischen Forte-Ausbruch und Piano-Beschwichtigung, zwischen fieberndem Crescendo und verebbenden Diminuendo

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Dies vor allem, weil als Beginn der Partiturreinschrift der 30. Oktober des Jahres 1822 vermerkt ist. Das fällt nicht nur in die Krisenjahre in Schuberts Leben, sondern unter dem Datum vom 3. Juli hatte Schubert eine allegorische Erzählung niedergeschrieben, die sein Bruder Ferdinand später mit dem Zusatz Mein Traum. Franz Schubert versieht. Arnold Schering hat sie als programmatischen Deutungsversuch für die Sinfonie bemüht und tiefenpsychologisch analysiert, in: Franz Schuberts Symphonie in h-moll (»Unvollendete«) und ihr Geheimnis, Würzburg 1938, ähnlich auch M. Karallus, Schuberts Traum und wie man ein Trauma bewältigt, in: NZfM 144 (1983) Heft 12, S. 4 ff. Martin Geck (1993), S. 133 ff. stellt die Traumerzählung mit Beethovens Heiligenstädter Testament auf eine Stufe. In der amerikanischen New Musicology wird sie inzwischen unter gendertheoretischem Aspekt interpretiert, vgl. oben, Anm. 68.

eine dystopische Dramaturgie. Damit trägt dieser Schlussstein von Schuberts sinfonischem Œuvre die gleiche Signatur zwischen Idylle und Abgrund wie die hMoll-Sinfonie. Auch in der Kammermusik verläuft Schuberts musikalischer Weg ähnlich wie in seiner Sinfonik. Auch hier handelt es sich zunächst um seine ›private‹ Musik, weil ohne Aufführungen. Bis in seine Krisenjahre 1818–1822 dominiert heitere Spielfreudigkeit. Die frühen Streichquartette aus den Jahren 1812 und 1813 sind im Tonfall jugendfrisch, im Satz an Haydn und Mozart orientiert. Ihre Vollendung kann man im Klavierquintett A-Dur, dem Forellenquintett (D 667) sehen. Dann aber versteht sie Schubert mehr und mehr als eine Art von Entwicklungsprozess, wie es sein Brief an Kupelwieser von 1824 andeutet (»überhaupt will ich mir auf diese Art den Weg zur großen Sinfonie bahnen«). Das zeigt sich vielleicht am deutlichsten im Oktett für Streicher und Bläser F-Dur (D 803) von 1824. Hinter allem Zauber reicher Melodienfülle steht offenkundig das Vorbild von Beethovens Septett und damit das Konzept, den ›Wiener klassischen‹ Satz mit sinfonischem Atem zu erweitern. Mit den zwei Streichquartetten in a-Moll (D 804) und d-Moll (D 810), beide aus dem Jahr 1824, ist Schubert auf neuen Wegen. Das erste zwingend in seinem Ton, geschlossen durch die Variationenkette aus thematischer Arbeit und berühmt durch das Andante mit der innigen Melodie aus der Zwischenaktmusik von Rosamunde. Das zweite düster und mächtig mit seiner Botschaft von der Unentrinnbarkeit des Todes, nach der Vorlage aus dem Lied Der Tod und das Mädchen (D 531). Dazu mit einer zugespitzten Innenspannung im ersten Thema der Exposition und der sinistren Verwandlung des zweiten Themas ins Schmerzlich-Erregte. Düster und trotzig ist selbst das Scherzo mit eigenwilligen Synkopen und irritierenden Rhythmen, bedrohlich das Presto des Schlusssatzes mit seinen unheimlichen Unisono-Wiederholungen. Am Ende stehen die Gipfelwerke: das letzte Streichquartett in G-Dur (D 887, op. post. 161) von 1826 und das Streichquintett in C-Dur (D 956, op. post. 163) aus Schuberts Sterbejahr, 1828. In diesem letzten Streichquartett, ohne Skizzen hingeworfen in elf Tagen, zeigen die widerstreitenden Ansätze im ersten Satz, wie brüchig die thematische Substanz geworden ist, – das Nebeneinander der blockartig gefügten Varianten, der unmoderierte Gegensatz der Charaktere. Dazu (wie im Schlusssatz) eine scharfe Dialektik von Hell und Dunkel im schroffen Wechsel von Dur- und Moll-Terz: wieder das bedeutsame Muster polarer Terz-Semantik als Grundfigur ›romantischer‹ Seelenaffekte. Auch im zweiten Satz vermag der Gesang der Cello-Melodien nicht über die Ruhelosigkeit der Oberstimmenfiguren zu täuschen: die heftigen Ausbrüche wilder Chromatik in den Mittelteilen entziehen sich jeder Idee von ›geregeltem‹ Modulationsverlauf. Diese Faktur zeigt, wie schon im Inbegriff des heitersten, unbeschwertesten Schubert’schen Idioms, dem Forellenquintett (Klavierquintett A-Dur, D 667), seine überraschenden Ausdrucks-Charaden. Denn dort liefert am Schluss des ersten Satzes ein fremdartiges, fünftaktiges

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Einsprengsel auf D-Dur in einer 33-taktigen E-Dur-Kadenz mit beherrschendem Septakkord über H, unvermittelt einfließend, und spurlos wieder verschwindend, einen verstörenden Beleg dafür. Auch im C-Dur-Streichquintett schwankt der Beginn harmonisch labil und seltsam zwischen den verminderten Septakkorden von C-Dur. Im zweiten Satz reißt uns Schubert mit dem Wechsel von E-Dur nach f-Moll und dem Crescendo zum Fortissimo abrupt in eine andere Welt. Dafür entführt er uns im Adagio in einen fast visionären Zustand von überzeitlichem Frieden und aufgehobener Zeit – eine Preziose in den Adagios abendländischer Musik. Dann aber geht es wieder in ein Panorama der Wechselspiele: jäher Einbruch in f-Moll mit schwer atmenden Synkopen, erregten Triolenketten im Bass, wilden Sforzati und geisterhaft abgehoben Trillern, gefolgt von einem Kontrastprogramm mit lebensbejahendem Scherzo und einem Andante sostenuto in Des-Dur, gleichsam als Erholung, hinter dessen Fassade aber das Unheimliche pocht, genau wie im Finale: ein Unisono-Schluss ohne Akkordfüllung (wie oft bei Beethoven) vor einem Des als schaurigen Vorhalts-Basstriller – ein Spiel wie in Totentanzbildern. Die rasanten Katapulte durch schnell wechselnde harmonische Räume in fernste Tonarten offenbaren etwas vom zentralen ›Nervengeflecht‹ Schubert’scher Ausdruckssemantik, in der Kammermusik womöglich noch eindringlicher als im Lied. Er arbeitet mehr mit der schillernden Enharmonik statt der profilierten Gliederung von Haupt-, Dominant- oder Unterdominanttonart und mehr mit dem Abwärtsoder Aufwärtsgleiten in Halbtonschritten statt gestufter Ganztonschritte, oft verbunden mit Leitklangbeziehungen statt der prägnanten Tonika-Dominate-Folge. Dazu kommt sein ›Molldur‹ von kleiner Sexte statt der jeweils leitereigenen großen Sext. Besonders ausgeprägt findet es sich im C-Dur-Streichquintett in Takten der Überleitung zur Reprise (Takt 259 ff., wiederholt in Takt 261 ff. sowie Takt 425–427 und Takt 419–422 des letzten Satzes oder am Schluss des langsamen zweiten Satzes, Takt 91 ff.). Der Schluss zeigt dann mit dem »Gleiten« von Des nach C wieder Schuberts Grundtendenz zu einem vegetativen Fluss. Deutet man es kritisch: zum Zerfließen der Faktur zu einer Art ›Klangteppich‹, positiv: zum fluidischen Melos aus organisch-melodischer Denkweise. Das irritiert die Zeitgenossen ähnlich wie bei Beethovens Spätwerk. Über ein Vokalquartett (mit dem Text seines Gesangs über den Wassern) zu Streicherbegleitung, von Schubert für ein Konzert im Wiener Kärntnertor-Theater am 7. März 1820 gefertigt, bemerkt ein Wiener Rezensent der Allgemeinen Musikalischen Zeitung, es »sei vom Publikum als ein Akkumulat aller musikalischen Modulationen und Ausweichungen ohne Sinn, Ordnung und Zweck anerkannt« worden. Bilderreich fährt er fort: »Der Tonsetzer gleicht in solchen Kompositionen einem Großfuhrmann, der achtspännig fährt und bald rechts, bald links lenkt, also ausweicht, dann umkehrt und dieses Spiel immerfort treibt, ohne auf die Straße zu kommen.«

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Die Harmonik des Bodenlosen Solche »Modulationen« und »Ausweichungen« führen zu den großen Klaviersonaten, den am spätesten entdeckten Provinzen des Schubert’schen Œuvres. Dort tritt der bemühte Adept des ›Wiener klassischen‹ Satzes, den er so oft gibt, zuletzt wieder hinter dessen Dissoziation als Signatur des Abgründigen zurück. Erschreckend die makabren Finalsätze in seinen späten Sonaten, der a-MollSonate (D 784) und der in c-Moll (D 958). Sie kommen als veritable »Totentänze« daher (Alfred Brendel), ähnlich wie die Schlusssätze von d-Moll- und G-Dur-Quartett. Die c-Moll-Sonate aus dem Jahr 1828 düster, leidenschaftlich und eisig, mit einer Panik der Ausweglosigkeit. Der Trostlosigkeit ihres Anfangs mit dem Aufschrei des Irrationalen folgt eine Durchführung als chromatisches Delirium und der Gestaltung einer singulären Anarchie im Mittelteil des Andantes. Selbst die wenigen heiteren Episoden des Finales erweisen sich als Irrlichter wie Einflüsterungen aus der Sphäre des Erlkönigs: »Die neurotischste aller Sonaten« (Alfred Brendel). Die B-Dur-Sonate (D 960), vielleicht die schönste und bewegendste, ist doch zugleich die resignierteste. Der fast sakrale Beginn eines »Molto moderato« wird jäh gestört durch einen tiefen Basstriller auf Ges, der sich schon bald (Takt 19) als Portal zu einer Unterminierung aller anfänglichen B-Dur-Sicherheit erweist: Beginn eines Zwielichts der Tonarten (Hauptthema/Seitenthema: B-Dur/fis-Moll, mit unruhig schwankender Fortspinnung zwischen A-Dur und h-Moll), schließlich lastendes cis-Moll der Durchführung und die Verwandlung der zuerst recht heiter daherkommenden Schlussgruppe durch ein klagendes d-Moll-Thema mit bedrohlich pochender Achtelbewegung, mündend wieder in den befremdlichen Bass-Triller aus dem Hauptthema. Das gleiche harmonische Zwielicht beherrscht den Rondo-Schlusssatz: ein ständiges Pendeln zwischen c-Moll und g-Moll. Erst in der merkwürdig aufgesetzt-forcierten Coda taucht die Haupttonart B-Dur wieder auf: eine schwache Erinnerung in der ›Bodenlosigkeit‹ der ganzen Sonate. Das Finale der A-Dur-Sonate (D 959) scheint übrigens verdeckt einem Grundplan nach Beethovens Sonate op. 31,1 zu folgen, wie überhaupt die letzten drei Sonaten aus dem Todesjahr 1828 nicht nur innerlich zusammenzugehören scheinen, sondern als eine Art Auseinandersetzung mit Beethovens Sonatenkonzepten gedeutet werden.71 Schuberts virtuosestes Klavieropus, die viersätzige Phantasie C-Dur (D 760), die Wandererphantasie, wird von der Polarität zwischen C-Dur und cis-Moll beherrscht. Ihr Zentrum ist der zweite Satz. Es ist ein Adagio mit Variationen über

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Die Beziehungen zu Beethovens Sonaten verfolgen Ch. Rosen (1983), S. 512 ff. u. Edward T. Cone, Schubert’s Beethoven, in: The creative world of Beethoven, hg. v. P. H. Lang, New York 1970, S. 277–291. Die Idee einer Zusammengehörigkeit der drei letzten Sonaten anhand von motivischen und melodischen Gemeinsamkeiten verfolgt der Pianist Alfred Brendel, Musik beim Wort genommen, München 1992, S. 109–134 u. 150–153.

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Schuberts eigenes Lied Der Wanderer (D 489). Aber welche Takte wählt er dafür aus, – das Kernstück des Liedes, die Strophe mit dem Text: Die Sonne dünkt mich hier so kalt, die Blüte welk, das Leben alt, Und was sie reden, leerer Schall, ich bin ein Fremdling überall. Seine Musik dazu schlägt jenen eigentümlich daktylischen Schreitrhythmus an, mit dem er so oft ›Wanderung‹ intoniert: Bedeutungsbild einer Bewegung, die mit frohgemutem Schritt ins Imaginäre führt – zielvoll ins Ziellose, unentrinnbar ins Ungewisse – dabei aber rhythmisch ganz fest und zuversichtlich – so bestimmt wie eine ›Marcia funebre‹. Dazu kommen noch die Konfrontationen von cis-Moll und E-Dur als kaum missverstehbare Bedeutungsbereiche: die unerlöste Beklemmung der Fremde gegen die helle Hoffnung auf das gesuchte Land. Immerhin schlägt sich wenigstens das Schlussfugato auf die Seite der letzteren. Für solche klavieristischen Szenarien erweitert Schubert, genau wie schon Beethoven, die Horizonte des Tasteninstruments ins Sinfonische. Tremoli, rasante Oktavwechsel, vibrierende Tonwiederholungen zielen auf orchestrale Klangvorstellungen. Das Pedal wird unverzichtbar, »um logische harmonische Ergänzungen oder gemeinte orchestrale Fülle zu schaffen« (Alfred Brendel). An die Strukturbilder latenter Streichquintette hat man sich bei den drei letzten Sonaten aus dem Todesjahr 1828 erinnert gefühlt. Auch der erste Satz der unvollendeten C-Dur-Sonate (D 840) trägt Züge wie der Klavierauszug eines Sinfoniesatzes. Am deutlichsten von der Vorstellung orchestraler Fülle scheint die Wandererphantasie geprägt. Robert Schumann bemerkt in einer Tagebuchnotiz vom 13.8.1828: »Schubert wollte hier ein ganzes Orchester in zwei Händen vereinen …« Ein blockhafter Klaviersatz, der die ›Weiträumigkeit‹ oft fast ins Plakative vergröbert, orientiert sich mehr an den Ouvertüren seiner gleichzeitig entstandenen Opern als an klavieristischem Idiom; das ausdrucksvolle Tremolo im Bass von Takt 48 ist absolut streichermäßig. Kein Wunder, dass sie Franz Liszt mit ihrem virtuosen Potenzial faszinierte, zum einen als Pianist, der sie im Konzertsaal als Erster bekannt macht, zum anderen als schöpferisch davon Inspirierter, wenn er sie für Klavier und Orchester bearbeitet.

Seelendramatik vs. Bühnendramatik Mit diesem Potenzial intensivster Seelendramatik bleibt es auf den ersten Blick seltsam, dass Schubert auf der realen Bühne des musikalischen Dramas so wenig Erfolg hatte. 21 Singspiele, Bühnenmusiken und Opern zählt die Schubert-Forschung, vieles davon unvollendete Versuche und Fragmente. Bei den kompletten (Alfonso und Estrella, D 732 und Fierabras, D 796) zerschlugen sich bereits die Aufführungspläne. Die erste der anderen (Die Zauberharfe, D 644) verschwand 1820 nach einer Sommer-Saison von der Bühne, das Schauspiel Rosamunde, Fürstin von

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Cypern, zu der Schubert 1823 die Bühnenmusik geschrieben hatte, schon nach zwei Aufführungen. An Schuberts Begeisterung für das Metier lag es nicht. Denn nach einem unvergesslichen Opernerlebnis, einer Aufführung von Glucks Iphigenie auf Tauris (vermutlich 1813), studiert er intensiv sämtliche Partituren von Gluck. Mozarts Don Giovanni, sein Idomeneo und Die Zauberflöte begeistern ihn, aber auch die Werke von Salieri tun das. Wenn er sich also zwischen dem seinerzeitigen Wiener Rossini-Fieber und dem Fidelio-Ernst in unermüdlicher Anstrengung immer wieder damit beschäftigte, aber dennoch zum Opern-Sisyphus wurde, dann hat das innere Gründe. In Alfonso und Estrella bezaubern lyrische Melodien, aber die dramatische Energie wird durch die Konfliktunfähigkeit der männlichen Protagonisten paralysiert. Die heroisch-romantische Oper Fierrabras spielt zwar auf der Kampfstätte von Christen gegen Mauren im Spanien Karl des Großen. Aber die siegreichen Christen laufen als ritterliche Liedertafel durch ein dramaturgisches Niemandsland, mehr mit der lyrischen Friedenspalme winkend als mit dem kämpfenden Schwert. Rosamunde schließlich ist eigentlich eine viersätzige Orchestersuite für das miserable Schauspiel einer schlechten Dichterin (Helmina von Chézy), die schon Euryanthe von Carl Maria von Weber zum Misserfolg gemacht hatte. Bezeichnend, dass nur die anrührenden Melodien der Zwischenaktmusiken überdauert haben mit ihrer seelenvollen Melancholie im lyrischen Orchestergesang. Falls Schubert nicht möglicherweise am unkopierbaren Esprit Rossinis gescheitert ist, dem gefeierten Liebling des damaligen Wien, als »probates Zaubermittel gegen die Langweiligkeit (echter) Gefühle«, dann daran, dass Schuberts ›innere‹ Seelen-Bühne einer anderen Dramaturgie folgte als die ›äußere‹ des Musiktheaters: zu wenig Konfrontation und Effekt, keine leidenschaftliche Konfliktkompetenz. Es scheint, dass sein abwesendes Bedürfnis nach Kampf und Auseinandersetzung, Voraussetzung für jede Entfaltung eines dramatischen Bühnen-Plots, der gleichen Seelenlage entspricht wie der Verzicht auf die Auseinandersetzung mit patriarchalischen Gewalten in seiner Traum-Erzählung. Dort enthüllt sie ihn, psychologisch verstanden, eher als passiv und resignativ denn als aktiv und kämpferisch. Vielleicht »findet« Schubert keine dramatisch überzeugenden Libretti und Theaterszenarien, »weil er selbst jenen ödipalen Konflikt, der der urdramatische ist, ganz undramatisch austrägt, als Stufenleiter von Flucht, Leiden, Versöhnungsbedürfnis« (Friedrich Dieckmann).72

72

Vgl. F. Dieckmann, Schubert, Eine Annäherung, Frankfurt a. M. 1996, S. 247. Diese Darstellung ist der Versuch, Schuberts mentale Disposition soziologisch in Verbindung mit einer resignativen Kollektiv-Stimmung der postrevolutionären, restaurativen, sprich: postödipalen Gesellschaft der Metternich-Zeit zu bringen »deren heroisches Napoleon-Feuer ausgebrannt war«.

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Akzeptiert man diese Hermeneutik der mentalen Disposition Schuberts, können viele Züge in der Gestaltung seiner Musik plausibel werden. Prägnante Architektur und konzentrierte Formarbeit treten, denkt man an Beethoven, zurück. Die Durchführungen sind eher reibungslos und ohne jenen konstruktiven Ingrimm, an den uns Beethoven gewöhnt hatte. Schubert reiht mehr aneinander, als er tektonisch fügt, vertraut mehr der unmittelbaren Überzeugungskraft melodischer Einfälle als dem Aufwand ihrer Entwicklung: Er folgt eher einem Ableitungsprinzip (Thr. Georgiades). So entsteht öfter ein episodisches Nebeneinander als ein zwingender Verlauf, mehr Abwechslung als Konzentration: eine lose Nachbarschaft von »Aktionsräumen« (Walther Dürr). Diese additive Idee einer Architektur der Einfälle und Episoden zeitigt Folgen für ihre Längendimension. Schubert hat eine andere Zeitvorstellung als etwa Beethoven. Die Ausdehnungen seiner Sinfonien sind erst seit Schumanns Hymne auf ihre »himmlischen Längen« verklärt worden. Über die von ihm vorgeschriebenen Wiederholungen der Exposition in den Klaviersonaten diskutiert man kritisch bis heute. Denn sie werden nicht nur als bloßes Längenproblem verstanden, sondern auch als formales, nämlich als Dramaturgie eines antidramatischen Sonatenkonzepts. Dennoch entsteht Schuberts Komponieren, wenn es ›Verstörungen‹ will, nicht aus Stocken und Straucheln oder durch Larmoyanz oder gar Sentimentalität. Im Gegenteil, er fungiert als »idealer Spielmann« (Friedrich Nietzsche): Seine sanguinische Bewegungslust drängt voran, oft organisiert über Marschmotivik und beherzten ›Wanderer‹-Topos, das Melos trägt, kompakt gefügte Klangfolgen des musikalischen Satzbaus zehren noch vom Profit des ›Wiener klassischen‹ Idioms. Die ›Bodenlosigkeit‹ entspringt der Harmonik. Die unvermittelten Harmoniewechsel, die plötzlichen Dur-Moll-Schnitte, die rasanten Modulationen, die Dialektik der abrupten Rückungen und schnellen Sprünge in entlegenere Nebenstufen der Harmonien samt ihrer chromatischen Nebentonarten, die dem Hörer, viel mehr noch als bei Beethoven, den rasanten Wechsel der emotionalen Regionen abfordern, erzeugen das ›Unberechenbare‹ seiner Musik. Ihr harmonischer ›Boden‹ schwankt, ihre ›Bodenlosigkeit‹ wird zum Ausdrucksmedium ›bodenloser‹ seelischer Erlebnisräume. Ihre Perfidie aber ist, dass Melos und Konsistenz seines musikalischen Satzes zum sicheren Vehikel in die ›Unsicherheit‹ wird. Wenn in den liebenswürdigsten Melodien Vergeblichkeit und Schwermut auftönen, jähe Einbrüche von Hoffnungslosigkeit im Zauber des melodischen Flusses, dunkle Schatten inmitten herzlicher Innigkeit, eine Heiterkeit ohne Zuversicht, dann tönt jener Abgrund mit, dem sich Goethe ahnungsvoll, aber kategorisch in seiner harten Kritik an der Romantik verweigert hat – bis zum Schweigen gegenüber Schuberts emphatischer Zuneigung zu seiner Dichtung. Dazu kommt die TonartSemantik abseitiger Empfindungsregionen: der ›Gräberton‹ von As-Dur oder die ›hinbrütende Verzweiflung‹ von es-Moll, die bezeichnenden Codes der Bläserfarben im Orchestersatz: Posaunen, nicht mehr als Herrscher- oder Jenseits-Embleme, sondern als Signale zwischen Heroismus und Bestürzung, anrührende Holz-

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bläserkantilenen, schmerzliche Hornepisoden – Sehnsucht ohne Erlösung als neuer Bedeutungsraum.

Vielleicht Existenzialismus avant la lettre Subjektivierte Bestürzung, Verstörung, Trauer, Schrecken und Entsetzen waren auch bei Beethoven längst zugelassene Sphären musikalisierter Ausdrucksregionen. Aber bei ihm sind sie schicksalsschwerer, ›objektiver‹ geformt. Auch seine Adagio-Andachten gestalten nicht Melancholie, sondern Besinnung. Bei Schuberts Idiom dagegen werden diese Empfindungsbereiche, wie in den alten Gespenstergeschichten (à la Webers Freischütz) oder wie im modernen Horrorthriller (à la Hitchcock) zwischen Suspense und Mystery zu psychologischen Mächten. Sie ziehen den Hörer gewissermaßen über die eigene Fantasie ins ›Unheimliche‹ hinein.73 Mit dieser Erregung des subjektiven Imaginationsvermögens gewinnen die Regionen des Unbewussten im Sinne seiner modernen, freudianischen Bedeutung an Macht. Allerhand Ahnungen und Ängste, das ganze Reservoir frei flottierender Vorstellungen und Bilder mischen sich projektiv ein: Bei Fidelios Kerker schaudert man – aber bei Schuberts Doppelgänger fasst das Grauen zu und in der Winterreise eine blanke Verzweiflung bis zu suizidaler Ausweglosigkeit. Weil Schuberts Komponieren nicht mehr von der Auseinandersetzung mit inneren und äußeren Kräften und ›Mächten‹ geprägt ist wie bei Beethoven, sondern eher von einer passiven Hingabe an sie, weniger vom Willens-Ethos, sondern eher vom Erduldensmodus, weniger von intensiver Konfliktharmonik als mehr von schnellen Stimmungswechseln, erscheint seine musikalisierte Existenzerfahrung oft als ein fatales Ausgeliefertsein – zwar mit den himmlischen Höhen einer begnadeten ›Ein-Falls‹-Fülle, aber auch den trostlosen Abgängen in die Vergeblichkeit: Heiterkeit ohne Goldrand. Sein Kompositionsprozess hat deshalb oft den Eindruck des ›Vegetativen‹ erweckt: als »schlafwandlerisch« hat man es, besonders im Vergleich zu Beethoven, bezeichnet, gar als eine Art von »kompositorischer Clairvoyance« (Friedrich Dieckmann). »Glühend und mit leuchtenden Augen, ja selbst mit anderer Sprache, einer Somnambule ähnlich« beschreibt Josef von Spaun den Freund beim Komponieren. Ähnliches beobachtet auch Anselm Hüttenbrenner: »… da kam mir Schubert wir (sic!) ein Somnambule vor. Seine Augen leuchteten dabei, hervorstehend wie von Glas …«. Noch drastischer erfasst es die Anekdote, 73

Martin Geck erfasst diese Wirkung treffend, wenn er bemerkt: »Bei Schubert steht die Vielgestaltigkeit des Satzes jedoch nicht im Dienste einer übergeordneten Idee, die möglichst sinnfällig und plastisch herauszuarbeiten wäre; sie drückt vielmehr differenzierend die Vielschichtigkeit einer Stimmung aus, die nicht beherrscht, sondern beschworen werden soll« (op. cit. 1993, S. 113). Pejorativ, aus der Abwehr empfindungsbestimmter Semantik, aber phänomenologisch treffend, befindet Thr. Georgiades (1967, S. 161) über den Beginn des ersten Satzes der h-Moll-Sinfonie: »Schuberts erster Akkord, wie ein Blutegel, der, unser Blut aufsaugend, anschwillt …«.

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nach der Schubert seine eigenen Kompositionen manchmal nach kurzer Zeit nicht wiedererkannte und erstaunt fragte: »Das ist nicht übel; von wem ist es denn?«74 Wir wissen längst, dass Schuberts Komponieren mit kaum weniger Mühe auskam wie bei anderen Genies. Das zeigen die Redaktionen der Textvorlagen wie die Umarbeitungen seiner Lieder, von den vielen Fassungen (wie etwa bei Der Jüngling am Bache) bis zur prozesshaften Arbeit (etwa an Goethes Mignon-Liedern). Aber das betrifft die Elaboratio. Die Inventio muss, genau wie bei Mozart, anders funktioniert haben, wenn man als 17-Jähriger Meisterwerke schreibt, mit 24 schon 713 Kompositionen zählen kann und schließlich als 31-Jähriger an die 1000 Werke. Kein Zweifel, dass eine solche Schaffensweise eher etwas mit jenen ›unbewussten‹ Quellen zu tun hat, die Goethe in einem Brief an Schiller 1801 reklamiert: »Ich glaube, dass alles, was das Genie, als Genie, tut, unbewusst geschehe.« Oder wie es Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik sagt: » Das Mächtigste im Dichter ist gerade das Unbewusste. Im Genie wirkt ein göttlicher Instinkt« – weshalb man es, wegen des ›göttlichen‹, allerdings viel treffender überbewusst nennen sollte (siehe Kapitel XII). Schuberts Abgründe sind deshalb noch kein transzendenzloser Nihilismus, sondern nur existenzieller Fatalismus, noch keine Reverenz ans Referenzlose, sondern nur vegetative Zulassung des Bodenlosen, mit dem das Genie aus seiner sicheren Erfahrung höherer ›Eingebung‹ operiert. »Wahrlich, in dem Schubert wohnt ein göttlicher Funke«, ruft Beethoven hellhörig nach der Lektüre von 60 Liedern aus, die ihm sein Faktotum Schindler 1827 an sein letztes Krankenlager bringt.75 Bewusst allerdings setzt Schubert nicht länger auf die alten Treuhänder von ›Transzendenz‹. Ihre Institutionen und Symbole scheinen ihn nicht mehr zu überzeugen. Er komponiert zwar Kirchenmusik. Aber vielleicht eher für den betörendstrahlenden Sopran seiner Jugendliebe Therese Grob, die 1814 in der Lichtentaler Kirche unter seiner Leitung seine F-Dur-Messe singt. Denn im Credo seiner Messen, von seiner ersten kompletten in F-Dur (D 105) bis zu seiner letzten in C-Dur (D 452), eliminiert er den Kernsatz des institutionellen Glaubens: »Et unam, sanctam, catholicam et apostolicam Ecclesiam« – das Bekenntnis »Zur heiligen katholischen und apostolischen Kirche«, das sich Beethoven in seiner Missa solemnis noch mit fast gewaltsamer Affirmation musikalisch zu eigen macht. Schuberts »Credo« ist das eines freien Geistes, der in seiner Kunst religio aus der inneren Erfahrung eines Seelischen gestaltet, der schöpferischen ›Rückverbindung‹ zu Höherem. Seine uranische Natur findet in persönlicher Bescheidenheit, aber mit intellektueller Eigenwilligkeit und genialischer Sicherheit ihre eigenen Sinnzugänge. »Freiheit und Unabhängigkeit nach jeglicher Richtung hin« schreibt 74

Diese Anekdote geht auf den seinerzeit berühmten Sänger Johann Michael Vogl zurück: Als Schubert eine Zeit bei Vogl wohnte, besorgte dieser neues Notenpapier, damit Schubert von seiner Zettelwirtschaft wegkomme, vgl. F. Dieckmann (1996), S. 159.

75

A. Schindler, Ludwig van Beethoven, 5. Aufl., Teil 2, Münster 1927, S. 136.

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Anton Schindler über Schubert »war die Devise seines Tuns und Lassens, der basso ostinato seines künstlerischen Denkvermögens«. Diese Seite seines Wesens findet charakteristischen Ausdruck in Liedern wie Heliopolis (D 753 und 754) oder An die Musik (D 547). Heliopolis, die älteste Stadt des alten Ägypten, huldigte dem Sonnengott Re. In seinem Heliopolis-Zyklus hat der Dichter Mayrhofer die »Sonnenstadt« zum Utopia einer freien künstlerischen Existenz und ihres kunstreligiösen Eros unter souveräner Ignorierung gesellschaftlicher Bedingtheiten gemacht: »Sind wir nicht eben diejenigen, die ihr Leben in der Kunst gefunden haben, während die anderen in ihr nur Unterhaltung fanden?« Dem gleichen Geist huldigt auch das Lied An die Musik: »Du holde Kunst, in wie viel grauen Stunden, wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt, hast du mein Herz zu warmer Lieb entzunden, hast mich in eine beßre Welt entrückt.« Sein Textdichter, Franz von Schober, war nicht nur ein enger Freund Schuberts, sondern auch Mittelpunkt seines Wiener Freundeskreises. In seinem Text tönt viel von dessen Weltanschauung auf, durchaus ambivalent übrigens und recht hedonistisch, wie es der schillernden Persönlichkeit von Schober nachgesagt wird. Diese idealistische Zuversicht aber ist jener Seite der ›Aufklärung‹ verpflichtet, die bereits Schiller mit seiner ›Ästhetischen Erziehung des Menschen‹ formuliert hat. Zum unverlierbaren Vermächtnis aus Schuberts Werk zählt aber noch ein weiteres: die Beschwörungskraft eines singulären Naturerlebens in der Musik. Sie lässt uns ›Natur‹ als einen seelischen Erlebnisbezirk erstehen, wie ihn nur die Romantik als Lebenswelt noch authentisch erfahren konnte und wie sie ihn mit ihrer Auffassung vom ›Naturschönen‹ als Erscheinungsform einer geheimnisvollen, göttlichen Idee bannend gestaltet hat.76 Das ist noch ein Widerschein von ›Schöpfung‹ als einer metaphysischen Emanation, denn sie ist dem Menschen mit der Natur gegeben – und nicht von seiner Hand gemacht. In der Wirklichkeit der Moderne ist sie zur Nostalgie geworden, zu einer versunkenen Erinnerung, die von Naturschützern, Ökologen, Greenpeace und Grünen tapfer gegen ihre technologische Vernutzung und Ausbeutung verteidigt wird. Damit ist Schuberts poetischer Naturton auch zu einem ganz spezifischen abendländischen Erinnerungsraum geworden: von den zauberischen jahreszeitlichen Wechselspielen Frühling, Sommer, Herbst und Winter, von Wald und Gebirge, von Bächlein, Forellen, Blumen und Wiesen – ohne Autobahnen, Windräderparks, Solarzellenfelder, Stromtrassen, ohne Satelliten am gestirnten Firmament oder Jets, Drohnen und Cruise-Missiles am ungestirnten. In76

Für Hegel war die Natur das noch-nicht-geistige Prinzip des Seins und dementsprechend wurde das »Naturschöne« als dem Kunstschönen prinzipiell Unterlegenes verstanden, im markanten Unterschied etwa zur Tradition autonomer Verehrung in den alten fernöstlichen Hochkulturen. Aber bereits Hegels Schüler Friedrich Theodor Vischer entwirft in seinen Schriften eine systematisch aufgebaute ästhetische Theorie des Naturschönen und will mit dem Begriff des »Sinnlich Erhabenen«, ähnlich wie Kant in seiner Kritik der Urteilskraft, auch dessen eigene Qualität erfassen, vgl. Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen in sechs Teilen (3 Bde.), Reutlingen u. Leipzig 1846–1857; ders., Über das Erhabene und das Komische, Stuttgart 1837.

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karniert besonders ins »Deutsche Lied«, bleibt diese Ausdruckswelt auch im modernen Konzert globaler Ästhetiken ein ganz eigener, besonderer Bedeutungsbezirk. Jedes Erleben dieser bannenden Schubert’schen Ausdruckswelt offenbart aber auch, wie inmitten dieser begnadeten Musiklyrik der Weg ins Abschüssige beginnt. Es ist der Weg in eine Art von musikalischem Existenzialismus. Und es ist auf jeden Fall ein Abschied vom hochgemuten Ethos der ›Wiener Klassiker‹. Komponieren ist nicht mehr Haydns affektregulierte Compositionswissenschaft, Mozarts apollinisches Strukturspiel oder Beethovens konzentrierte Formulierungsarbeit, sondern Hingabe an einen unwägbaren, vegetativen Fluss seelisch-emotionaler Wechselpanoramen denen wir ausgeliefert sind. ›Ethos‹ ist keine Willenshaltung mehr, sondern Stigma, ›Schicksal‹ keine Herausforderung mehr, sondern Verhängnis, das Leben keine Kampfstätte, sondern fatales Ausgesetztsein an Abgründen. Konflikte werden nicht mehr als Bewältigungsforderung verstanden und als moralische erfahren und erlitten, sondern als psychologische. Schuberts eigene (überlieferte) Bilanz ist so hellsichtig wie makaber: »Meine Erzeugnisse sind durch den Verstand für Musik und durch meinen Schmerz vorhanden. Jene, welche der Schmerz allein erzeugt hat, scheinen am wenigsten die Welt zu erfreuen.« Das ist ein letzter Aspekt im Spektrum der hohen idealistischen Ausdruckswelten im ›Wiener klassischen‹ Tonsatzidiom. Nach Haydns ›natürlichem‹ Humanitätston, Mozart transzendenten und Beethovens ethischen lässt uns Schubert den abgründig-existenzialistischen erleben.

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VIII Die Ästhetik zwischen Versuchslabor, logischer Reflexion und religiösem Gefühl Beethovens Spätwerk und Schuberts musikalischer ›Existenzialismus‹ markieren ein Finale: den Untergang der ›Wiener klassischen‹ Musiksprache. Goethes Tod markiert (laut Heinrich Heine) das Ende des Idealismus, und Hegels ›historistisches‹ Kunstdenken markiert eine drastische Bruchlinie der Ästhetik. Die aber fährt nicht schlecht damit. Ausgerechnet der radikalste Zertrümmerer idealistischer Idylle singt ihr bald die schönste Hymne: »Denn nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt, ewig gerechtfertigt« preist Friedrich Nietzsche sie in seiner Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1871). Und ausgerechnet die Musik erhebt der intellektuelle Advocatus diaboli der Epoche enthusiastisch zum Paradigma aller ästhetischen Sinnfindung. Sein Leitmotiv: »Die Musik ist die eigentliche Idee der Welt …«,1 das er in seinem großen Essay auf vielfache Weise variiert, verleiht ihr einen ontologischen Rang, mit dem er sich fast als geheimer Pythagoreer enthüllt. Jedenfalls bestätigt er Nietzsche als einen Denker, der musikalischer, also dichterischer Sprachfügung viel mehr verdankt als systematischer Theorie. Damals befindet sich der Dichterphilosoph, der übrigens auch komponierte, zwar noch ganz im Banne Richard Wagners, dem Widmungsträger des Essays. Später, in seiner Fröhlichen Wissenschaft, als ihn längst Bizets Carmen viel mehr begeistert als Wagners »Spiel des leidvollen Vergehens endlicher Gestalten in den Lebensgrund« oder gar dessen letzte Parsifal-Erlösungsvision, die er, weil ›christlich‹, als »skandalös« verhöhnt, tilgt Nietzsche viel von den metaphysischen Referenzen der Tragödienschrift. Trotzdem bekennt er auch noch dort: »Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch erträglich …« Damit intoniert Nietzsche einen Lobgesang, der die rasante Karriere eines Begriffs im Denken sämtlicher Zeitgenossen illustriert. Bereits Jean Paul veranlasste das zu dem bissigen Kommentar: »Von nichts wimmelt unsere Zeit so sehr als von Ästhetikern« (Vorschule der Ästhetik, 1804). Für die Kunst ist es ein Danaergeschenk. Denn was als Gewinn intellektueller Autonomie erscheint, erweist sich als Verlust an ontologischer Macht. Sie gibt ›Bedeutung‹ ab, einmal mit dem zunehmenden Ersatz des Erlebens von Kunst durch Reflexion über Kunst – ein signifikanter Auftakt für die Wahrnehmungsveränderungen der Moderne. Zum anderen aber, viel dramatischer, durch neue Gesellschaft, die das 1

Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Oder Griechentum und Pessimismus, Leipzig 1872 (in der Edition hg. v. K. Schlechta, München, Wien 1980, Bd. 1, S. 119). Ferner bemerkt er: »Wie überhaupt die Musik, neben die Welt hingestellt, allein einen Begriff davon geben kann, was unter der Rechtfertigung der Welt als eines ästhetischen Phänomens zu verstehen ist.« (Edition 1980, Bd. 1, S. 131).

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›Schöne‹ bekommt. Nach den Genien und Göttern mit dem idealistischen ›Glanz des Wahren‹ fordert jetzt eine profane ›Realität‹ der Welt ihre ›Wahrheit‹ ein. Bereits der Hegel-Schüler Friedrich Theodor Vischer beklagt in seiner sechsbändigen Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen (1847/58) die Beeinträchtigung des Schönen durch den Geist der »fabrikmäßigen Produktion« nach der ersten industriellen Revolution. Noch seine Antrittsvorlesung als Professor an der Universität Tübingen, 1844, erweist Vischer als Platoniker, wenn er dort sagt, dass sich »das Schöne nicht ohne Metaphysik erklären läßt«. Aber die Erfahrung seiner Lebenswelt veranlasst ihn für seine Ästhetik zur Einführung zweier neuer Kategorien: des ›Erhabenen‹ und des ›Komischen‹, wobei das Komische vorzugsweise als Material des Hässlichen verstanden wird. Was das Erhabene betrifft, kann er an den englischen Philosophen Edmund Burke anknüpfen. Er hat schon 100 Jahre früher in seiner Abhandlung Vom Erhabenen und Schönen (1757) darauf hingewiesen, dass uns nicht nur das Schöne bewegt, sondern auch das Erhabene, entweder quantitativ mit dem »Ungeheuren eines Maß- und Grenzenlosen« oder qualitativ durch Furcht und Schrecken oder erst recht im Schmerzbringenden und Tödlichen.2 Was das Komische betrifft, könnte die ›Romantische Ironie‹ eine gewisse Legitimation liefern, obwohl sie weder bei Jean Paul noch bei Robert Schumann eine Brücke zum Hässlichen ist. Immerhin gilt Vischers letztes Werk der Ironie. Sein Roman Auch Einer (Stuttgart u. Leipzig 1879) lässt die Widersprüche und Defekte der modernen Welt nicht mehr als Gegenwelt erscheinen, sondern ironisiert sie wohlwollend hinweg. Das Gleiche hat Arnold Ruge im Sinn. In seiner Neuen Vorschule der Ästhetik (Halle 1837) versteht er das Komische und seine höchste Stilisierung in der Komödie als verklärenden Schein über dem Einbruch des neuen Realismus: eine Versöhnungsidee mit dem Schönen, die ihm allerdings dünne Camouflage bleibt. Denn über ein Bild der Düsseldorfer Malerschule, das einen Landstreicher zeigt, äußert er: »Es ist aber nichts erreicht, als die gemeine Wahrheit der Dinge, und statt daß es uns wohl werden sollte, weil wir uns noch nicht darin untergeduckt fühlen, wird es uns übel und weh in der unüberwundenen […] Heimatlosigkeit, die weder in sich noch in der Welt zu Hause ist, und der Umgebung, die sich theils imponieren läßt, theils moralisch unwillig afficirt ist.« Und er resümiert: »Die ganze Gemeinheit der Naturtreue ist schlicht, aber bestimmt als unpoetisch zu verwerfen.«3

2

E. Burke, Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, hg. v. W. Strube, Hamburg 1980, S. 43–54.

3

A. Ruge, Vorschule der Ästhetik, Nachdruck Hildesheim u. New York 1975, S. 243 und 254.

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Auch Nietzsche bemerkt (1881) aphoristisch: »Unsere Musiker haben eine große Entdeckung gemacht: die interessante Häßlichkeit ist auch in ihrer Kunst möglich! Und so werfen sie sich in diesen eröffneten Ozean des Häßlichen, wie trunken, und noch niemals war es so leicht, Musik zu machen …« (Morgenröte, Gedanken über die moralischen Vorurteile, 4. Buch, Nr. 239). Aber die neuen Realitäten wollen als legitime Kognition vom Denken anerkannt werden. Und zwar auf der Höhe der philosophischen Reflexion der Zeit, also mit systematischer Logik. So wie einst Baumgarten die ›Ästhetik‹ im Namen wissenschaftlicher Systematik begründet und ihr eingemeindet hatte – obwohl es die aisthesis des Schönen immer schon gab – so will jetzt ein anderer Hegel-Schüler die Lücke zwischen der Wahrnehmung des ›Schönen‹ und des ›Hässlichen‹ im Namen der gleichen Systematik schließen – obwohl auch das ›Hässliche‹ schon immer in der Welt war. Karl Rosenkranz entdeckt in seiner Ästhetik des Häßlichen (Königsberg 1853) den ganzen Kosmos des Irregulären, der Formlosigkeiten und Defekte, das Kranke, Gefährliche und Abseitige als »Hölle des Schönen.«4 Mit dem Scharfblick des Kritikers und der Methodik Hegel’scher Dialektik thematisiert er die Nachtseiten der menschlichen Existenz als ästhetischen Gegenstand: E. T. A. Hoffmanns Gespenstergeschichten, Kleists zerrissene Helden, Zacharias Werners Missgestalten, Hebbels derben Naturalismus, Balzacs kalten Realismus, Dickens Großstadtzynismus, Heines und Börnes ätzende Satiren und Karikaturen – Elend, Verbrechen, Prostitution und das Scheitern in den neuen sozialen Milieus von Fabrikarbeit, Großstadt und Massenkultur – eine ganze Phänomenologie der modernen europäischen Lebenswelten im anbrechenden ›Maschinenzeitalter‹. Weder Elend, Verbrechen, Krankheit oder Scheitern waren allerdings neue Erfahrungen menschlicher Lebenswelt, so wenig wie der Tod, die Gemeinheit, das Defekte und ›das Hässliche‹. Nur die Fokussierung des Blickes darauf als ästhetische Region gleichen Rechts wie das ›Schöne‹ war neu – bis hin zur morbiden Faszination des ›Schönen im Bösen‹ bei Baudelaire. Das signalisiert einen Bewusstseinswandel. Sein Kern ist nicht mehr die Differenzerfahrung zur elenden Welt oder gar zum ›Bösen‹, sondern deren ästhetische Affirmation unter dem Anspruch von ›Wahrheit‹ und ›Realität‹. Viele Unter- und Hintergründe dieses Bewusstseinswandels treten im Welt- und Menschenbild der philosophisch denkenden Zeitgenossen deutlicher zutage: in Schopenhauers misanthropem Pessimismus, bei Nietzsches tragischem Abgesang an Gott und Metaphysik oder in SØren Kierkegaards traumatischer Existenzerfahrung als Denker des verzweifelten Ichs. Er entwirft für das an seinem Dasein leidende Subjekt drei mentale Haltungen zum Leben: der ästhetischen, der ethischen

4

K. Rosenkranz, Ästhetik des Häßlichen, reprogr. Nachdruck der Ausgabe Königsberg 1853 mit einem Vorwort v. W. Henckmann, Darmstadt 1979, S. IV u. 3.

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und der religiösen in seinem Opus Entweder – Oder (1843). Das kennzeichnet die Dissoziationsfelder seines Bewusstseins, das von der Empfindung innerer Ungeborgenheit in einer unfasslichen, absurden Welt und den Grundstimmungen von Angst, Verzweiflung und Sünde bestimmt ist. Weil er sie als sensibler Geist erleidet, nehmen sie das Ausmaß einer existenziellen Neurose an. Hier trägt die Scheidung der Ästhetik von der Ethik dunkle Frucht: die herrenlose Ästhetik nicht mehr als Erinnerung an das Vollkommene im ›Schönen‹, sondern als fatale Antithese zu religiösem Gebot und moralischer Verantwortung. Nicht mehr als Gegenschein der Verzweiflung, sondern als unverbindlicher Glitter einer ›Oberfläche‹ des Ästhetizismus ohne Tiefenschrift mitsamt dem Generalverdacht von liederlicher Zerstreuung und törichtem Zeitvertreib. Auch nicht mehr als ›schönes Spiel‹, sondern als verantwortungsloses. Und das besonders eindringlich demonstriert an einem problematischen Verständnis von Mozarts Musik. Aber Kierkegaards neurotische Klage um die Preisgabe der Ethik an Ennui, Langeweile und die Peripherie flüchtiger Augenblickslust als Attribute verpflichtungsloser ästhetischer Existenz trifft etwas Wesentliches der Bewusstseinslage seiner Zeit. Der Weg zum hedonistischen Selbstgenuss bloßen Dandytums wird vom gleichen flackernden Licht dissoziierenden Subjektbewusstseins illuminiert wie der zu tragischem Existenzialismus und zynischem Nihilismus. Vom eleganten Ästhetizismus eines George Brummell, Lord Byron, eines Jules Barbey d’Aurevilly oder Oskar Wildes («Das Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare«) geht es rasch zu den verzweifelten Radikalen wie Strindberg, Heidegger, Sartre oder Camus und den großen Virtuosen des Absurden von Kafka bis Beckett oder den kleineren, von Ionesco bis Thomas Bernhard und Harold Pinter. Wenn Elias Canetti erbittert hadert: »Solange es den Tod gibt, ist nichts Schönes schön, nichts Gutes gut. Die Versuche, sich mit ihm abzufinden, und was sind Religionen sonst, sind gescheitert …«, dann spätestens ist die wütende Seinsverzweiflung der Moderne erreicht. Der mentale Bewusstseinswandel im Namen einer ›objektiven‹ Realität spiegelt sich im Wandel des ästhetischen Denkens. Es ist ein tiefgreifender Perspektivenwechsel in kaum 100 Jahren, dessen Dramatik erst einige Differenzialdiagnosen ganz enthüllen.

Perspektiven aus alten Referenzen Was das ›Vorher‹ betrifft, bieten sich leicht allerhand anerkannte Dichter und Musiker als probate Referenz an. ›Klassiker‹ wie Goethe und Schiller natürlich. Aber auch eine unumstrittene Ikone der Musikgeschichte, etwa der größte Thomaskantor. Auch ein Johann Sebastian Bach weiß ganz genau um die ›Realität‹ der Welt. Er kennt den bitteren Stachel des Todes und das Leid menschlicher Existenz. Womöglich sogar besser als Canetti, weil viel konkreter. Bach ist mit zehn Jahren Vollwaise, verliert mit 35 seine junge Frau und muss zehn Kinder begraben. Letzteres mag gewiss ein typisches Zeitschicksal sein, des-

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sen Schwere ein historisch informierter Fokus gern relativiert. Aber trotzdem erleben Bach und seine Frau jede Geburt, jede Taufe und jedes Begräbnis als persönliches Schicksal und emotionale Betroffenheit. Nie aber lässt Bach sich in seinen vielen Kantatensätzen, die über den Tod meditieren und reflektieren, auf jene existenzialistische Bitternis ein, in der sich der Friedhof als eherne Grenze des modernen Weltbildes à la Canetti erweist. Komm, du süße Todesstunde lautet der Titel der Kantate Nr. 161; Liebster Gott wann werd’ ich sterben heißt es in Kantate Nr. 8 oder Ach, schlage doch bald, sel’ge Stunde in der Kantate Nr. 95 (Christus, der ist mein Leben), einem ununterbrochenen Preisgesang gegenüber dem Paradigma des Todes – ›Übels‹: »Sterben ist mein Gewinn. Willkommen! will ich sagen, wenn der Tod ans Bette tritt« – »Welt ade! ich bin Dein müde«. Die gleiche musikalische Spiegelreihe einer völlig anderen Bewusstseinslage offenbart Bach immer wieder: Wer weiß, wie nahe mir mein Ende? (BWV 27) oder im meditativen Jubilus Ich freue mich auf meinen Tod – ach, hätte er sich schon eingefunden, einer Bassarie der Kantate Ich habe genug (BWV 82, Nr. 5). Was für das Denken aus zeitbegrenzter Perspektive der einen unüberwindliche Barriere ist, hat für ihn aus dem Bewusstsein für Überzeitliches die Diaphanie bloßen Durchgangs. Mehr noch: Es ist sogar das Portal zu einem besseren Existenzzustand – nicht anders als im Renaissance-Chanson Ma fin est mon commencement als hintergründige Verschränkung von spiritueller Metapher mit musikalischer Kanonkunst. Für eine ›aufgeklärte‹ Moderne mag das als abgeschmackte Theologie zum erledigten Repertoire alten ›Essentialismus‹ zählen. Und hätte deshalb kaum weniger Anspruch auf Beachtung wie viele andere hermeneutische Spekulationen – wäre da nicht Bachs Musik. Sie beansprucht bekanntlich auch für den modernen Intellekt einen ästhetischen Kredit, der sich nicht nur auf den musikologisch Gebildeten beschränkt. Damit übersteigt sie aber, eben als objektiv elaborierte res facta aus eigener, tiefer begründeter Wirkungsmacht, barocke Theologiegehäuse ebenso leichthin wie modernes Nihilismuscredo. Denn sie offenbart eine Qualität als Ausdruck eines seelischen Erlebens, das nicht allein in ihren thematischen Vorlagen aufgeht: Bach erschafft damit einen ›Mehrwert‹ anderer Art und aus anderer Provenienz. Damit wird sie ästhetisch zum Indiz eines völlig verschiedenen Bewusstseinszustandes von demjenigen unserer verzweifelten Todesfinalisten der Moderne. Bach konfrontiert uns mit einer musikalisierten Erlebensrealität, die den Horizont der anderen so weit überschreitet wie seine Kunst das Gehäuse der Leipziger Thomaskirche. Warum sollte das, gewährt man Bach schon als Musik-Genie unumschränkten ästhetischen Kredit, als manifestes Zeugnis des gleichen Bewusstseinsträgers nicht ebenso gewichtet werden wie der mentale Horizont aller Barden des nihilistischen Bewusstseins? Oder – erkenntniskritisch gefragt – wäre es nicht eine lohnende Herausforderung für die moderne Ratio, darüber nachzudenken, woher ein keineswegs weniger intellektueller und scharfsinniger Geist diese Erlebnisgewiss-

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heit nimmt, aus den gleichen fatalen Topoi eine so völlig andere künstlerische Ausdruckswelt zu erschaffen? Man mag zeitgeistig analytisch und intellektuell rechtschaffen ›wissenschaftlich‹ die eine Qualität von der anderen trennen. Denn die Befreiung der Musik aus ihrer Dienstbarkeit für Thron und Altar gehört bekanntlich zur emanzipatorischen Hermeneutik von ›Absoluter Musik‹ genauso wie zum modernen ästhetischen Dogma von der ›Absoluten Freiheit‹ aller Kunst. Allerdings verpasst man damit nicht nur den ›ganzen Bach‹, sondern auch die Chance, sich einen Bewusstseinszustand zu erschließen, den Bach dieser Musik intentional eingeschrieben hat. Denn völlig gleichgültig, wie das spekulative Denken und Deuten darüber entscheiden mag, wird er demjenigen als Erlebniswirklichkeit zugänglich, der bereit ist, sich darauf seelisch einzulassen. Das wäre, eine vollkommene innere Hingabe an das Kunstwerk vorausgesetzt, eine Probe aufs Exempel für die Empirie – bekanntlich oberstes Evidenzkriterium und letztgültige Validierungsinstanz moderner naturwissenschaftlichen Vernunft. Damit aber gewinnt das musikalische ›ästhetische Objekt‹ seine Dignität als ein Bedeutungswert in einer anthropologischen Dimension, die auch für den Zeitgenossen des Hier und Heute jederzeit zugänglich ist und eine Qualität weit jenseits eines Verstehens als ›historischer‹ Gegenstand aus 200-jähriger Distanz oder als ein intellektuelles Stimulanz unbegrenzter Deutungstheorie (siehe auch Kapitel XI). Für den Zeitgenossen der Moderne scheint womöglich ein solcher künstlerischer Ethos wie der von Bach, als ›Referenz‹ einer mentalen Orientierung, eine ziemlich radikale Zumutung. Aber es gibt auch noch andere Referenzpunkte, ohne protestantischen Theologieverdacht oder barocker Vanitas- und Thanatos-Ästhetik. Auch aus aufgeklärtem Vernunft-Denken erweist sich der Perspektivenwandel als drastisch. Denn auch im Kunstdenken des deutschen Idealismus fehlt nirgends die Referenz eines transzendenten Horizonts, weder bei Zeitgenossen wie Christoph Martin Wieland noch bei Johann Gottfried Herder oder Hegel, nicht zu reden von Schiller und Goethe. Herder, der Prophet einer ›diversen‹ Universalgeschichte mit seinen Stimmen der Völker – deshalb inzwischen unter Verdacht als Wegbereiter eines deutschen Nationalismus (Richard Taruskin)5 – Dichter mehrerer Oratorien und Kantaten, übrigens auch freimaurerischer Illuminant, preist nicht nur die Poesie »als Kristallisationskern humaner Gesellschaft«, sondern bekennt: »Die höchste Humanität ist die Religion, die Mutter aller Kultur, aller Wissenschaften.« (Kalligone, 1800; Viertes kritisches Wäldchen, 1769). 5

340

Der amerikanische Musikwissenschaftler Richard Taruskin betrachtet Herders Begeisterung für die ›Stimmen der Völker‹ als Wegmarke zu Hegels Idee der »weltgeschichtlichen Nation, die zum Vollzugsorgan des Weltgeistes wird« und damit zu germanischer kunstpolitischer Hegemonie, vgl. Artikel Nationalism in: The New Grove. Dictionary of Music and Musicians, Second Edition, London 2001, Vol. 17, S. 691 ff.

Schiller verbindet mit der ästhetischen Erziehung des Menschen nicht nur das persönliche Glück und die selbstbestimmte Freiheit, sondern auch Moral, Humanität und die »Ehrfurcht der Gottesverehrung« (24. Brief, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1801). Dabei fungiert die ›Schönheit‹ als Brücke zwischen Denken und Empfinden (19. Brief) und die ›Schaubühne‹ als »moralische Anstalt«. Schließlich feiert seine Ode an die Freude, inzwischen mit Beethoven medial globalisiert, bekanntlich den »schönen Götterfunken«. Bemerkenswert ist seine ähnliche anthropomorphe Gottesvorstellung, wie sie im pietistischen Zug von Bachs Kantaten so oft Ausdruck findet: »Gott geht zu dem, der zu ihm kommt« oder »Nehmt die Gottheit auf in euren Willen, und sie steigt von ihrem Weltenthron.« Für Goethe schließlich, den abgründigen Weltweisen in der Rolle als biederer Weimarer Minister, ist alles wahre Menschentum untrennbar mit dem ›Göttlichen‹ verbunden. Nur verbirgt er dessen tiefere, weil oft freimaurerisch inspirierte Qualität klugerweise vor der unwissenden Welt und chiffriert sie vieldeutig im Werk. »Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare?« (bei Betrachtung von Schillers Schädel) oder »Uns zu verewigen, sind wir ja da« (Zahme Xenien 1).6 Ein zeitgenössischer Verbindungsmann zwischen Weimarer und ›Wiener Klassik‹, Christian Gottfried Körner, der 1795 in Schillers Horen einen wichtigen Aufsatz über die Musik veröffentlicht, sieht alle »Ästhetik im Moralischen begründet« und Bettina von Brentano schreibt an Goethe: »So vertritt die Kunst allemal die Gottheit, und das menschliche Verhältnis zu ihr ist die Religion. Was wir durch die Kunst erwerben, das ist von Gott …« Ein anderer großer schöpferischer Geist dieser Zeit, Beethoven, erweist sich als bekennender Gesinnungsgenosse dieser Kunstästhetik. Obwohl eigenwilliger Feuerkopf und hitziger Streiter für die unbedingte, freie Selbstbestimmtheit in Leben, Gesellschaft und Kunst, findet er seine höchste Rechtfertigung als schöpferischer Musiker bekanntlich in einem transzendent definierten künstlerischen Ethos: »Höheres gibt es nichts, als der Gottheit sich mehr als andere Menschen nähern …« Dass sich dann die Bekenntnisse von Novalis bis Wackenroder und Schlegel in schwärmerischer Emphase bis zu dem verdichten, was später leicht pejorativ unter ›Kunstreligion‹ figuriert, zeugt von gleicher Bewusstseinslage: die Empfindung eines Numinosen im gleichen Seelenraum wie Kunst und Religion – nur ohne dogmatische Theologie. Doch noch im selben Jahrhundert, in dem Wieland, Herder, Goethe und Beethoven sterben, sorgt der Aufstieg von Naturwissenschaft und Technik für ganz andere Wendungen im ästhetischen Denken. Einmal formieren sich, bester historistisch-hegelianischer Reflex, neue Zuständigkeiten für die Ästhetik. Mit der Begründung von Sprach- und Literaturwissenschaften, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft als akademische Fächer tauschen jetzt die Spezialwissenschaften die

6

Vgl. für Hinweise dazu: H. Birven (1952).

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weiten Horizonte gegen die engeren, aber konkreteren ein: die individuelle Analytik von materialen, formalen und historischen Aspekten des Kunstwerks. Der holistische Fokus von ›Was bedeutet es?‹ mutiert zum scharfen Binnenblick ›Wie ist es gemacht? Zwar wollen die Geisteswissenschaften ›verstehen‹, im Unterschied zu den Naturwissenschaften, die ›erklären‹ wollen. Aber ›Verstehen‹ definiert sich immer weniger als ›Sinnsuche‹, sondern immer mehr als Analytik nach Kriterien einer szientistischen Ratio. Deshalb begehrt auch in der Ästhetik das Labor im Namen der wissenschaftlich kontrollierten Erfahrung gegen die Denkerstube auf, das Experiment gegen die Spekulation, die Induktion gegen die Deduktion.

Psychophysik Zur größten Herausforderung wird die neue, empirisch operierende »Ästhetik von unten« (Gustav Theodor Fechner). Sie befragt die alte ›von oben‹ nach den Grundlagen ihrer Reflexionen und Urteile. Wie kommt der ästhetische Eindruck überhaupt zustande? Wie konstituiert sich ein ästhetisches Objekt für das Bewusstsein? Damit rückt die Analyse der Wahrnehmung und ihrer Bewusstseinsakte ins Zentrum aller Bemühungen: die Aufnahme und Verarbeitung sinnlicher Reize, die Physiologie der Sinne und psychischen Abläufe. Zur experimentellen Ästhetik heißt Fechners Vorstudie von 1871 für seine Vorschule der Ästhetik, mit der er 1876 die neue Bedeutungssuche als ›Psychophysik‹ begründet. Die Kausalität von ›ReizReaktion‹-Muster, die Messung physiologischer Erregungspotenziale und die Mechanismen von Sinnestäuschungen werden zur ersten Etappe auf dem Königsweg künftigen ästhetischen Erkennens, der (momentan) bei den Neuro- und Kognitionswissenschaften unserer Tage angelangt ist. Dabei will Fechner die Psyche keineswegs durch die Physik ersetzen. Er will nur mit dem geschärften Intellekt des wissenschaftlichen Zeitgeistes Beziehungen zwischen Leib und Seele aufweisen, um seine Überzeugung vom höheren Ganzheitszusammenhang in der Natur zu belegen. Über die Seelenfrage, ein Gang durch die sichtbare Welt, um die unsichtbare zu finden, heißt eine Abhandlung von 1861, die diese Absicht bezeichnend illustriert. Auch seine Schrift Zend-Avesta oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits (Leipzig 1851) zeigen ihn dem holistischen Weltbild der Romantik mit ihrem beseelten Naturbegriff verpflichtet, wie er auch für Carl Gustav Carus oder Gotthilf Heinrich Schubert galt. Aber sein Gesetz, nach dem Mitstreiter, dem Mediziner Ernst Heinrich Weber, als ›Weber-Fechnersche Gesetz‹ benannt, wonach die Empfindungsintensitäten in arithmetischer Proportion anwachsen, wenn die Reizstärken geometrisch zunehmen, exemplifiziert mit seinem atomistischen Messen das neue Weltbild ›positiver‹ Wissenschaft. Die erste Reaktion auf die ›Psychophysik‹ kommt von einem Philosophen und Theologen. Franz Brentano bekennt sich zwar zu einer empirisch-psychologischen Begründung der Ästhetik, moniert aber, dass die Messungen immer nur das Phänomenale,

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die Produkte psychischer Tätigkeit erreichen, nicht aber jenes gerichtete Tätigsein selbst, das den eigentlichen Gegenstand der Psychologie ausmache. Deshalb hält er die Beziehung zwischen ästhetischem Gegenstand und dem davon affizierten Subjekt für wesentlich: Der Weg von der Psychophysik zur modernen Psychologie und der psychologischen Ästhetik beginnt.7 Mit der Einsicht, dass ›schön‹ viel weniger eine attributive Bestimmung eines Objektes sei, als vielmehr Verweis auf ein Beziehungsgefüge zwischen Subjekt und dem, was darin in einem ästhetischen Akt erst zum Gegenstand der Freude und damit ›schön‹ wird, entwirft er die Aktpsychologie. Er betont dabei, dass »von größter Bedeutung für die Ästhetik die der Psychologie angehörende Lehre von der Phantasie« sei. Sie gehört für ihn zu den »Seelenvermögen«, die eine heuristische Funktion in der Psychologie einnehmen. Von der idealistischen Ästhetik trennt ihn nur, dass er nicht auf die Idee des Schönen Bezug nimmt, sondern auf eine normative Funktion der menschlichen Seele, die den wertenden Akt aus einer inneren Notwendigkeit heraus vollzieht. Damit richtet sich die Frage nach der ästhetischen Bedeutung nicht auf eine außerhalb des Menschlichen liegende absolute Norm, sondern wird zum Bestandteil der Psychologie als empirische Wissenschaft von der seelischen Intentionalität.8 Zwei Schüler Brentanos entwickeln die Aktpsychologie als Theorie des ästhetischen Verhaltens weiter. Carl Stumpf findet mit der Untersuchung der seelischen Tätigkeit, also der psychischen Funktionen gegenüber den bloßen Inhalten sowie über seine Experimente zur Hörwahrnehmung zu einer Tonpsychologie (ediert 1883/90) und weiter zu seinen bahnbrechenden Forschungen in der Musikethnologie. Eine ihrer Früchte ist 1905 die Gründung des Phonogramm-Archivs in Berlin. Für diesen Bereich sind Stumpfs allgemeinpsychologische Begründungen des ästhetischen Verhaltens eine große Hilfe im Verstehen von ›Bedeutung‹ in kulturell anders geprägten musikalischen Semantiken. Mit Alexius von Meinong, der in Graz 1894 das erste psychologische Laboratorium Österreichs einrichtet, wird der ›wertende Akt‹ zum Grundelement einer Theorie der unterschiedlichen Werte. Im Rahmen seiner Gegenstandstheorie unterscheidet Meinong nämlich die Gegenstände nicht als Träger verschiedener ›objektiver‹ Merkmale, sondern psychologisch, insofern sie Objekte unterschiedlicher menschlicher Bezugnahmen sind: des Vorstellens, des Denkens, des Begehrens oder des Fühlens. Zu letzterer Kategorie zählt er übrigens das Wahre, Gute und Schöne, also die klassischen Gegenstände der Ästhetik. Damit begründet sich aber zugleich eine allgemeine Werttheorie, die hinter den stärkeren Anreizen des persönlichen Begehrens auch abstraktere, transsubjektive, also absoluten Werte als wirksam erkennt.9

7

F. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, 3 Bde. Leipzig 1874.

8

F. Brentano, Grundzüge der Ästhetik; Vorlesungen in Wien v. 1885/86, a. d. Nachlass hg. v. F. Mayer-Hillebrand, Bern 1959, S. 17, 36, 86.

9

Vgl. A. v. Meinong, Gesamtausgabe, hg. v. Haller u. Kindinger, 7 Bde., Graz 1968, bes. Bd. 3.

343

Ein Erkenntnisgewinn, besonders für die Musik: Die Gestalttheorie Die Werttheorie ist auch für Christian von Ehrenfels der Ausgangspunkt, von dem aus er diejenigen Eigenschaften empirisch genauer untersucht, die für ästhetische Werte maßgeblich sind.10 Aber bereits sein Text Über Gestaltqualitäten von 1890 wird zum Grundstein einer neuen, höchst einflussreichen Theorie. Denn er zeigt hier, dass wir Phänomene, entgegen den Behauptungen der Assoziationstheorie, nicht als die einzelnen Elemente wahrnehmen, aus denen sie bestehen, sondern in ihren Beziehungen zueinander. Das bedeutet, dass unser Bewusstsein auf ein geordnetes Ganzes, eine Gestalt reagiert. Eine Melodie wirke, so befindet er, nicht durch ihre Einzeltöne, sondern durch die bedeutungsvolle Einheit, die aus diesen Tönen hervorgeht. Darum könne eine Melodie auch in eine Vielzahl von Tonarten transponiert und doch immer noch als dieselbe wiedererkannt werden. Folglich kann man die Wahrnehmung einer Summe von Elementen als eine geordnete Ganzheit weder der bloßen Sinnesempfindung noch dem analytischen Urteil zuschreiben. Vielmehr sei hier eine andere Funktion wirksam, die Ehrenfels Gestaltqualität nannte. Solche Gestaltqualitäten organisieren nicht nur in jedem Sinnesbereich die einzelnen atomistischen Sinnesdaten für die Wahrnehmung zu quasi ganzheitlichen Strukturen, sondern weisen offenbar auch Analogien im Bewusstsein auf. Das belegt nichts anderes als die alte Einsicht, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.11 Ausformuliert als Gestalttheorie von Ehrenfels’ Schüler Max Wertheimer in Zusammenarbeit mit Wolfgang Köhler, Kurt Koffka und anderen wird so der besondere ästhetische Wert der ›guten‹ bzw. ›prägnanten Gestalt‹ mit ihrem höheren Ordnungsgrad, ihrer Eigenständigkeit durch Abhebung vom Umfeld und ihrer Stabilität gegenüber Veränderungen entdeckt. Dazu gelingt der Nachweis einer Vielzahl von elementaren Gestaltgesetzen, die als ›immanente Strukturgesetze von Bewusstsein und Natur‹ für wirksam erkannt werden.12 Die gelungene Melodie erweist sich damit als ›gute Gestalt‹, deren Strukturgeheimnis nicht die einzelnen Töne sind, sondern eine übersummative Entität.

10

Chr. v. Ehrenfels, System der Werttheorie, 2 Bde., Leipzig 1897 u. 1898.

11

Chr. v. Ehrenfels, Über Gestaltqualitäten, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie 14 (1890), S. 249–292. A. v. Meinong knüpft an diese Erkenntnisse an (Zur Psychologie der Komplexionen und Relationen, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 2, 1891, S. 245–265) und Hans Cornelius führt sie in Richtung Ganzheitspsychologie weiter (Psychologie als Erfahrungswissenschaft, Leipzig 1897).

12

Vgl. M. Wertheimer, Drei Abhandlungen zur Gestalttheorie, Erlangen 1925; ders., Über Gestalttheorie, Vortrag Erlangen 1924, gedruckt in: Philosophische Zeitschrift für Forschung und Aussprache 1 (1925), S. 39–60; K. Koffka, Principles of Gestalt Psychology, New York 1935; W. Metzger, Gesetze des Sehens, Frankfurt/M. 3. A. 1973; F. Weinhandl (Hg.), Gestalthaftes Sehen. Ergebnisse und Aufgaben der Morphologie, Darmstadt, 3. A., 1974.

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Die Gestalttheorie entfaltet große Wirkung in verschiedenen Schulbildungen wie der Grazer, Leipziger und Berliner Schule sowie später in den USA. Sie profiliert sich als Schlüsseltheorie für Kunstpraxis und -analyse, besonders für grundlegende musikalische Phänomene wie Melodiebildung, Akkordkomplexe oder Formen. Danach verdankt sich alles praktische musikalische ›Verstehen‹ mitsamt den kognitiven Auffassungs- und Wiedererkennungsleistungen wesentlich den musikalischen Gestalten des Gehörten. »Musikalisches Verstehen dreht sich hauptsächlich um melodische und harmonische Gestalten«, urteilt der analytische Philosoph Stephen Davies.13 Bezeichnenderweise hatten Ehrenfels und sein Schüler Max Wertheimer eine tiefe Beziehung zur Musik. Nachdrücklich bekannte sich Ehrenfels zu einer musikalischen Transzendenzerfahrung, die er bishin zur religiösen Inspiration verstand.14 Das kam nicht von ungefähr, denn Wertheimer war ein leidenschaftlicher Pianist und begnadeter Improvisator. Seine Studenten berichteten, dass Musik für ihn »eine Art Religion« war und sein Improvisieren auf dem Klavier »einem Gottesdienste« gliche.15 Verständlich, dass die Musik für ihn zu einem zentralen Paradigma wurde. Aus dieser Erfahrung verband er die zerebralen Finessen des wissenschaftlich operierenden Experimentalpsychologen mit dem leidenschaftlichen

13

Vgl. S. Davies, Musical Works and Performances: A Philosophical Exploration, Oxford 2001, S. 47–58, sowie bezüglich der Struktur von Akkorden, ders., Musikalisches Verstehen, in: Musikalischer Sinn, hg. v. A. Becker u. M. Vogel, Frankfurt a. M. 2007, S. 47–48, sowie R. Maconie, The second sense, Lanham, MD, 2002, S. 84 ff.

14

In seiner 1916 geschriebenen Kosmogonie entschied er sich bei einer zuvor in einer Publikation von 1890 offen gebliebenen Frage, ob die Gestalt ein rein geistiger Faktor sei oder aber ein unabhängiges Ordnungsprinzip das der Geist in der Realität entdecke, schließlich für letzteres. Er befindet die Gestalt als kosmisches Prinzip und immaterielle Kraft, die entweder unmittelbar geistiger Natur sei oder sich in ihrem Wesen vom Phänomen des menschlichen Bewusstseins kaum unterscheide (Kosmogonie, Jena 1916, S. 175). Als wesentliche Inspiration für diese Gedanken führt dort Ehrenfels ausdrücklich die »deutsche Musik« an. Aus dem belagerten Prag des Ersten Weltkriegs schrieb er: »Ja, die deutsche Musik ist mir auch heute noch Religion in dem Sinn, daß ich, wenn mir alle Argumente dieses Werkes auch widerlegt würden, doch nicht der Verzweiflung verfiele, – doch überzeugt bliebe, mit dem Weltvertrauen, aus dem dieses Werk erwuchs, den wesentlich richtigen Pfad beschritten zu haben, – überzeugt, weil es die deutsche Musik gibt. Denn eine Welt, die Solches hervorgebracht, muß ihrem innersten Wesen nach gut und vertrauenswürdig sein.«

15

Vgl. A. u. E. Luchins, An introduction to the origins of Wertheimer’s Gestalt psychology, in: Gestalt Theory 4 (1982), S. 151. Wertheimers Bruder Walter bemerkte 1895: »Am meisten aber entzückte mich sein Klavierspiel. Er hat nie Piano gelernt, die Noten kennt er nur durch sein Violinspiel. Allein er hat eine Fingerfertigkeit, die zum Staunen ist. Dabei hat er in seinen Phantasien so etwas Dämonisches, eine wunderbare Kraft, die alle anderen Gedanken verstummen läßt, man folgt nur den Melodien, die bald wild und mächtig, bald zart und leise wie aus weiter Ferne wunderbar mild herüberrauschen. Wenn ich ihn spielen höre, kann ich mich nicht mehr trennen, bis er aufhört.« (M. Wertheimer, Max Wertheimer. Gestalt Prophet, in: Gestalt Theory 2 (1980), S. 8.

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Bekenntnis zu einer gesetzmäßig strukturierten Welt, in der nicht nur eine über die Gestaltlogik konkret bestimmbare Werterfahrung wesentliche Referenzgröße war, sondern auch ›Schönheit‹ und ›Proportion‹. Die gleiche Erfahrung prägt sein wissenschaftliches Ethos. Kein Wunder, dass er, wie auch Köhler, den atomistisch-analytischen Geist der positivistischen Moderne kritisierte. Das ging bis hin zu einer Kulturkritik, mit der er von seinem ›Denken in Beziehungen‹ aus die logische ›Krankheit‹ des »stückhaften Denkens« einer nihilistischen Moderne beklagte.16 Die Musik als ein bedeutsames Erkenntnis-Paradigma beschäftigte übrigens nicht nur die Gestaltpsychologie, sondern auch die analytischen Empiriker der psychologischen Ästhetik. Franz Brentano wählt für seine Aktpsychologie die Musik, um Beispiele von ›ästhetischer Bedeutung‹ zu veranschaulichen.17 Bei Johannes Volkelt hat »Musik größere Ähnlichkeit mit wirklichen Gefühlen als etwa Gesichtswahrnehmungen, die mehr Distanz haben«, und er wählt das »Wertgefüge des Dreiklangs« als Muster für eine »eigentümliche Gestaltqualität, in der sich uns der ästhetische Gesamtwert zu Gefühl bringt.«18 Wilhelm Wundt beschreibt den Rhythmus als Grundphänomen für die Konstitution des Zeitempfindens und für Gliederungsfunktionen der Wahrnehmung überhaupt,19 Felix Krueger erläutert seinen Begriff der ›Komplexqualität‹ anhand der musikalischen Konsonanz,20 Stephan Witasek entwickelt seinen ästhetischen Formbegriff der Gestalt an Melodie und Akkord.21 Bei den Ganzheitspsychologen Albert Wellek oder Wilhelm J. Revers kündigt sich der Übergang zur neueren Musikpsychologie als eigener Fachbereich an, wie ihn dann später etwa Helga de la Motte-Haber oder Stefan Koelsch repräsentieren. Weitere Wirkungen entfaltete die Gestalttheorie in den biologisch-psychologischen Ganzheitslehren wie noch beim Psychiater Kurt Goldstein, der eine ganzheitliche Neurologie gegen den »therapeutischen Nihilismus einer unorganisch denkenden Medizin« reklamierte.22 Sogar noch beim Schriftsteller Robert Musil 16

M. Wertheimer (1925); W. Köhler, The place of value in a world of facts, (1938), New York 1976. A. Harrington, Die Suche nach der Ganzheit. Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren: Vom Kaiserreich bis zur New-Age-Bewegung, Reinbek, 2002, S. 244–278.

17

F. Brentano, Grundzüge der Ästhetik, aus dem Nachlass hg. v. F. Mayer-Hillebrand, Bern 1959, S. 217 f.

18

J. Volkelt, Das ästhetische Bewußtsein, München 1920, S. 59. u. ders., System der Ästhetik, München 1905, 2. Aufl. Bd. 2, 1910, S. 529.

19

W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, Bd. 3, Leipzig 1873, S. 175 ff.

20

F. Krueger, Die Theorie der Konsonanz, Leipzig 1906 u. 1908, ders., Das Wesen der Gefühle, Leipzig 1928.

21

S. Witasek, Grundzüge der allgemeinen Ästhetik, Leipzig 1904, S. 40 ff.

22

Goldsteins medizinische Erfahrungen mit hirnverletzten Soldaten führten ihn zu der Erkenntnis, dass das Gehirn so organisiert sei, dass es das Chaos der Erfahrung zu einem strukturierten Ganzen synthetisiere, nach dem Muster von ›Gestalten‹, wie sie die Ge-

346

und beim Soziologen Max Horkheimer wirkt ihr Einfluss nach23 und findet schließlich eine moderne Fortsetzung bei Viktor von Weizsäckers ›Gestaltkreis‹ oder dem ›Funktionskreis‹ von Jakob von Uexküll als eine frühe ökologisch orientierte Umwelttheorie. In der Musiktheorie erlangen gestalttheoretische Konzepte ihre Bedeutung in der Musikpsychologie von Ernst Kurth, der Schichtenlehre von Heinrich Schenker und später noch bei Analysen der ›Verlaufsgestalt‹ von Hellmut Federhofer.24 Besonders Kurths Auffassung der Bewegungsdynamik musikalischer Gestalten als Umsetzung in die zeitlichen Verlaufsformen der Musik mit dem Spiel der Spannungs- und Lösungsprozesse führt zu seiner »Lehre von den Energieerlebnissen«. Ihre Schlüsselbegriffe sind ›Bewegungsbild‹ und ›Verlaufsform‹ oder die ›Kurvenentwicklung der Melodiebildung‹. Noch heute findet das Wechselspiel von An- und Entspannung als ›Kinetische Semantik‹ Beachtung.25 Die Gestalttheorie trägt auch zu den Grundlagen für die phänomenologische und strukturalistische Ästhetik bei und wirkt sogar noch auf die Informationsästhetik. Bei Rudolf Arnheim wird sie zu einer umfassenden Kunsttheorie ausgebaut, die bis heute ihr Potenzial zeigt.26

stalttheorie beschreibt. Dies beweise eine Fähigkeit der »kategorialen Einstellung« mit dem wichtigen Modus einer abstrakten oder »symbolischen« Leistung, eine neurobiologische Analogie zu dem, was der neukantianische Philosoph Ernst Cassirer in seinem Werk Philosophie der symbolischen Formen als »symbolische Ideation« bezeichnet. Vgl. K. Goldstein, Der Aufbau des Organismus. Einführung in die Biologie unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrung am kranken Menschen, Den Haag 1934; ders., Goldstein, Selected Papers/Ausgewählte Werke, hg. v. A. Gurwitsch, E. M. Goldstein-Haudek u. W. E. Haudek, Den Haag 1971. 23

Musil war Wertheimers Kommilitone in seinem Studium bei Carl Stumpf in Berlin und bewahrte sich die aus seinem Interesse für die Gestalttheorie stammende ›Vision der Ganzheit‹ lebenslänglich, vgl. H. Hickman, The Man without Qualities. Robert Musil and the Culture of Vienna, London 1984. Horkheimer wollte ursprünglich Gestaltpsychologe werden, wurde dann aber bei Hans Cornelius promoviert, einem Philosophen, der mit ähnlichen Ansichten sympathisierte, blieb aber weiterhin gestaltpsychologisch interessiert, vgl. H. Gumnior u. R. Ringguth, Max Horkheimer in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1973.

24

H. Schenker entwickelt eine einflussreiche Reduktionsanalyse der verschiedenen Schichten des tonalen musikalischen Satzes bis auf die Gerüstklänge einer ›Urlinie‹, vgl. Neue musikalische Theorien und Phantasien, 3 Bde.Wien 1906, 1910, 1935; ders., Das Meisterwerk in der Musik. Drei Jahrbücher, München 1925, 1926, 1930; Fünf Urlinien Tafeln, hg. v. F. Salzer 1969; H. Federhofer, Beiträge zur Musikalischen Gestaltanalyse, Graz, Innsbruck, Wien 1950, S. 5 u. passim.

25

E. Kurth, Musikpsychologie, Berlin 1931, repro. Nachdruck, Hildesheim 1969. Vgl. dort besonders im IV. Abschnitt, ab S. 250. S. Leikert, Den Spiegel durchqueren. Die kinetische Semantik in Musik und Psychoanalyse, Gießen 2008, S. 33 f. Vgl. auch F. Sander, Experimentelle Ergebnisse der Gestaltpsychologie, in: Sander/Volkelt, Ganzheitspsychologie, München 1962.

26

Vgl. R. Arnheim, Anschauliches Denken, Köln 1972; ders., Kunst und Sehen, Köln 1972 sowie: Die Macht der Mitte. Eine Kompositionslehre für die bildenden Künste, Köln 1983 und: New Essays on the Psychology of Art, Berkeley 1986.

347

Als eine der letzten holistischen Theorien verbindet sie Experiment und Logik, das empirisch exakt fassbare Detail mit dem Blick für die Organisationsmuster eines größeren Zusammenhangs. Damit liefert sie auch Hinweise auf eine Art universeller Morphologie im Sinne Goethes, wonach viele Naturprozesse dazu streben, sich in einer ›guten Gestalt‹ und in Symmetrien zu stabilisieren, wie es dann in der »Harmonik«-Lehre von Hans Kayser genauer verfolgt wird.

Noch ein Erkenntnisgewinn: Empfindung und Gefühl Die Hinwendung zum Subjekt und seiner Wahrnehmungskompetenz, die sich im ›Psychologismus‹ gegen die abstrakt operierende Begriffsphilosophie vollzieht, findet schließlich ihren Höhepunkt mit der Zulassung von ›Gefühl‹ und ›Empfindung‹ zum ästhetischen Seziertisch empirischer Wissenschaft. Über die psychologische Ästhetik entdeckt sie die emotionale Empfindungsfähigkeit als wesentliches Organon ästhetischer Wahrnehmung. Damit leitet sie die moderne Rechtfertigung jener ›unteren Erkenntnisvermögen‹ des Menschen ein, die einst Baumgarten ›logisch‹ zu fassen trachtete. Danach erweist sich ›Ästhetisches Verhalten‹ als bedingt durch das Fühlen als einer zentralen ›psychischen Verhaltensweise‹. Infolgedessen bedarf es der Analyse und Theorie dieser emotionalen Seite menschlicher ›Vermögen‹.27 Unverkennbarer Nährboden für die Zulassung des Gefühls zum Tempel ästhetischer Erkenntnis ist der pan-psychistische Grundzug der Romantik. Bei Theodor Fechner und Carl Gustav Carus spielt er noch deutlich in ihre sinnesphysiologischen Untersuchungen hinein. Sind es in der deutschen Romantik Herder, Novalis, die Brüder Schlegel und Jean Paul, wo die emotionale Ahnungsfähigkeit für ästhetische Bedeutungsinhalte eine zentrale Rolle spielt, so ist ihr englisches Pendant das Konzept der Sympathy, das spätestens seit Edmund Burke zum festen Bestand ästhetischer Theorie gehört.28 Das führt schließlich zur Einfühlungstheorie, die schon 1866 vom philosophierenden und dichtenden Friedrich Theodor Vischer als »ein ahnendes Leihen, ein unbewußtes Unterlegen von Seelenstimmungen« oder »inniges Ineinsfühlen von Bild und Inhalt« intoniert wird. Ihre Weiterentwicklung erfolgt über die Vorstellung, dass psychische Gehalte, die an schönen oder erhabenen Gegenständen in27

›Gefühl‹ oder Emotion wird, entsprechend der weitergefassten Verwendung im historischen Spektrum der hier angesprochenen Theorien, als Grundphänomen des subjektiven Erlebens verstanden, das sich als wertende Stellungnahme zu den Wahrnehmungen äußert und so Ausdruck einer psychischen Befindlichkeit der erlebenden Person ist. Insofern gehört es zu den menschlichen ›Grundvermögen‹ neben Denken und Wollen, ob es nun, wie in der neueren Philosophie, als »geistige Erscheinungsform einer mentalen Disposition« (Richard Wollheim) verstanden wird oder über Leistungen einer »Emotionalen Intelligenz« (John D. Mayer u. Peter Salovey sowie Daniel Goleman, 1995).

28

Genaueres dazu bei: J. Engell, The Creative Imagination. Enlightenment to Romanticism, Cambridge, Mass., 1981, 11. Kapitel.

348

nerlich wahrgenommen werden, auf eine symbolschaffende Tätigkeit der menschlichen Seele zurückgeführt werden können. Danach würde ihre Qualität, die den Gegenständen nicht wie ihre sinnlich wahrnehmbaren Attribute objektiv angehört, durch eine vorbewusste Einfühlung erst gleichsam »generiert«. Theodor Lipps belegt diese aktive innere Aneignung bekanntlich mit der Analyse geometrisch-optischer Täuschungen. Daraus erschließt er eine »innere Folgerichtigkeit« der »ästhetischen Phantasie« gegenüber der objektivierenden Messung. Johannes Volkelt, ein Schüler von Lipps, fasst den Einfühlungsvorgang als eine »Verschmelzung« von Anschauung und Gefühl auf und verwendet »Einfühlung« synonym mit »Beseelung«, spricht ihr sogar eine »eigentümliche Bewusstseinsfunktion« zu.29 Der Kunsthistoriker Robert Vischer, Sohn von F. Th. Vischer, verbindet Kunstgeschichte und experimentelle Psychologie interdisziplinär und definiert Einfühlung als »ein unbewußtes Versetzen der eigenen Leibform und hiermit auch der Seele in die Objektsform«.30 Das wirkt weiter auf die Kunsttheorie, wie etwa bei Heinrich Wölfflin, der von der »Selbstversetzung ins Objekt« spricht (1886) oder noch auf Wilhelm Worringer mit seiner Schrift Abstraktion und Einfühlung (München, 1908). Gleiche Wirkung zeigt sich auch bei Nicolai Hartmann bis hin zum Psychologen Wilhelm J. Revers, der am Psychologischen Institut der Universität in Salzburg 1969 das Forschungsinstitut für experimentelle Musikpsychologie im Rahmen der Herbert von Karajan Stiftung gründet.31 Als Empathie kehrt sie inzwischen aus dem angelsächsischen Bereich zurück und betont dabei nicht zuletzt die Bedeutung des Körperlichen für ästhetisches Erleben, unterstützt durch neuere neurobiologische Befunde.32

29

J. Volkelt, Zur Psychologie der ästhetischen Beseelung, in: Zeitschr. für Philosophie und philosophische Kritik 113 (1899), S. 161–179 sowie: System der Ästhetik, 3 Bde., München 1905, Bd. 1, S. 213. Seine Schrift Das ästhetische Bewußtsein. Prinzipienfragen der Ästhetik, München 1920, markiert das Ende der Geltung der Einfühlungstheorie in engerem Sinn.

30

Vgl. R. Vischer, Über das optische Formgefühl – ein Beitrag zur Ästhetik, Tübingen 1872; ders., Drei Schriften zum ästhetischen Formproblem, Halle 1927.

31

Vgl. W. Revers, Das Musikerlebnis, Düsseldorf 1972. Gute Übersichten über die damals maßgeblichen Positionen der Einfühlungstheorie geben: A. Prandtl, Die Einfühlung, Leipzig 1910 sowie der wichtigste Vertreter einer phänomenologischen Auffassung der Einfühlung, Moritz Geiger: Die Bedeutung der Kunst. Zugänge zu einer materialen Wertästhetik. Gesammelte, aus dem Nachlass ergänzte Schriften zur Ästhetik, hg. v. K. Berger u. W. Henckmann, München 1976.

32

Der Psychologe Edward Titchener überträgt bereits 1908 die deutsche ›Einfühlung‹ als Empathy ins Amerikanische, die englische Schriftstellerin und Feministin Vernon Lee alias Violet Paget macht sie zu einer zentralen Idee in ihren ästhetischen Schriften und der amerikanische Kunsthistoriker David Freedberg propagiert sie mit der Verbindung von Kunst und Neurowissenschaften (siehe auch Kapitel XI: Musikalische Verstehensleistungen).

349

Allgemein erhält der Gefühlsbegriff bei Wilhelm Wundt erstmals eine klare, systematische Stellung. Der Mediziner und Philosoph, Begründer des ersten deutschen Instituts für experimentelle Psychologie in Leipzig, 1874, billigt den Gefühlen Selbstständigkeit zu, als »Reaction der Apperception auf das einzelne Bewußtseinserlebnis«, im Gegensatz zur weitverbreiteten Assoziationstheorie aus dem Verständnis des englischen Empirismus mit der »Vorstellungsmechanik« von Herbart, wonach Gefühle ausschließlich bloßes Resultat von Vorstellungen und Assoziationen seien. In seiner Physiologischen Psychologie von 1873 entwickelt Wundt eine ausführliche Theorie der »Gefühlselemente des Seelenlebens«. Er unterscheidet etwa ›Empfindungen‹ als auf Vorstellungen zurückgehend von ›Gefühlen‹, die sich Gemütsbewegungen verdanken. Er isoliert »Elementargefühle«, aber schreitet weiter zur qualitativen Wertung (gegenüber der nur quantitativen der Psychophysik) und entwickelt eine differenzierte Kasuistik mit einem dreidimensionalen Modell aus Klassen von »Partialgefühlen«. Sie könnten sich allerdings im Bewusstsein in einem »gegebenen Momente« »zu einer einheitlichen Gefühlresultante verbinden«, dem »Totalgefühl« mit »Steigerung der Gefühlswerte.«33 Mit der wissenschaftlichen Beachtung von ›Einfühlung‹ und ›Empfinden‹ setzt die Wendung zu den expliziten ästhetischen Gefühlstheorien ein.

Das Organ für das ›Schöne‹ »Das Gefühl ist das eigentliche Organ für das Schöne« befindet bereits am Anfang des psychologischen Nachdenkens über Ästhetik der Straßburger Philosophieprofessor Theobald Ziegler kategorisch.34 Gleichzeitig verwirft er Kants Formel vom »interesselosen Wohlgefallen«, denn gerade das Interesse sei derjenige Gefühlswert, der auch das Ästhetische charakterisiere. Das ist ein Signal. Denn diese Wendung zur Gefühlstheorie vollzieht sich noch bei zahlreichen anderen ästhetischen Denkern. Adolf Horwicz, Professor in Magdeburg, sieht die ästhetische Empfindung als gefühlshafte »Vermittlung des Realen«, die als Erkenntnisinstrument weitgehend gleichberechtigt neben den Intellekt trete.35 Julius von Kirchmann moniert, dass sich »die intellektualistische Ästhetik bis dato nicht habe entschließen können, die Gefühle als Inhalt des Schönen offen anzuerkennen,…obgleich die unbefangene Beobachtung des Lebens an jedem Ort, zu jeder Stunde es klar vor die Augen stellt, 33

Vgl. W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, 3 Bde., 5. Aufl. Leipzig 1902, Bd. 2, S. 341 ff. u. 357 sowie Kapitel 11. Was ein Erleben als ›Totalgefühl‹ betrifft, so wäre auf das Verständnis eines integralen Bewusstseinszustands hinzuweisen, wie es Erich Neumann (Der schöpferische Mensch, Darmstadt 1965) als »Erfahrung der Einheitswirklichkeit« beschreibt.

34

T. Ziegler, Das Gefühl, Leipzig 1893, S. 131.

35

A. Horwicz, Grundlinien eines Systems der Aesthetik, Leipzig 1869, S. 135 ff.

350

daß die Menschen nur von den Gefühlen in ihrem Denken, Wollen und Handeln geleitet werden.«36 Heinrich von Stein definiert Ästhetik bündig als »Lehre vom Gefühl.«37 Auch Volkelt beharrt darauf, dass eine Beschreibung ästhetischen Verhaltens ohne ausreichende Berücksichtigung der Gefühlssphäre undenkbar sei. Felix Krueger, akademischer Nachfolger von Wundt in Leipzig, weist dem Gefühl eine entscheidende Rolle bei allen inneren Lebensvorgängen zu, denn »wann immer einem Lebewesen psychisch etwas widerfährt, beobachten wir jedesmal oder erschließen mit gutem Grunde ein gefühlsmäßiges Zumutesein.« Er definiert die Gefühle als »Gestaltqualitäten des Gesamtbewußtseins« und beschäftigt sich detailliert mit ihren »Komplexqualitäten«.38 Der an der Harvard-Universität wirkende Wundt-Schüler Hugo Münsterberg betont, dass der einzig sichere und empirisch legitime Ausgangspunkt der Ästhetik »unser Erleben und Verstehen des Schönheitsvollen in seinem eigensten Wollen und Verlangen« sei.39 Friedrich Jodl, Philosophieprofessor in Wien, bezeichnet den »ästhetischen Zustand« als »eine Gemütsbewegung, welche als Lustgefühl um ihrer selbst willen gesucht wird …«40 Auch Hermann Ebbinghaus, Begründer der experimentellen Gedächtnisforschung, der die experimentierende Psychologie gegen die »verstehende Psychologie« von Wilhelm Dilthey verteidigte, gründete seine psychologische Ästhetik in erster Linie auf eine Gefühlstheorie.41 Bei Theodor Lipps wird eine letzte, umfassende Synthese der psychologischen Ästhetik formuliert, in der die essenzielle Bedeutung des Gefühls für ästhetische Wirkungen und Urteile präsent bleibt.42 Der Finne Kaarle Laurila, ein Schüler von Max Dessoir, gilt als nachdrücklichster Vertreter der Ansicht, dass die Gefühlsfunktion die einzige Quelle der ästhetischen Wahrnehmung sei.43 Der deutsch-amerikanische Psychiater und Neurologe Erwin Straus verbindet mit seinem bereits vom phänomenologischen Ansatz getragenen Begriff des »symbiotischen Verstehens« die psychologisch-ästhetischen Phänomene von Gefühl und Ausdruck.44 Auch Nicolai Hartmann, obwohl als phänomenologischer Philosoph auf den nicht-psychologischen Objektbezug des ›schauenden Verhaltens‹ zielend, räumt dem Emotionalen im Prozess des ästhetischen Akts eine primäre Rolle ein: »Solche Gefühlskomponenten sind der Wahr-

36

J. v. Kirchmann, Aesthetik auf realistischer Grundlage, 2 Bde., Berlin 1868, Bd. 1, S. 87.

37

H. v. Stein, Vorlesungen über Aesthetik, Stuttgart 1897.

38

F. Krueger, Über das Gefühl. Zwei Aufsätze, neu ediert, Darmstadt 1967, S. 47.

39

H. Münsterberg, Philosophie der Werte. Grundzüge einer Weltanschauung, Leipzig 1908, S. 193.

40

F. Jodl, Ästhetik der bildenden Künste, Stuttgart 1917, S. 60.

41

H. Ebbinghaus, Abriß der Psychologie, Berlin 1908.

42

Th. Lipps, Grundlegung der Ästhetik, Leipzig 1907.

43

K. Laurila, Ästhetische Streitfragen, Helsinki 1934, erweiterte Aufl., Helsinki 1944.

44

E. Straus, Vom Sinn der Sinne, Berlin 1935.

351

nehmung nicht sekundär aufgeprägt, sondern sie sind das Ursprüngliche, und aus ihrem Bereich hat sich das objektive Wahrnehmen erst relativ spät herausgelöst.«45 Auch der Moderne gehen die Gefühlstheorien nicht verloren, etwa beim Psychologen Holger Höge, der die Empathiekonzepte bis zur Renaissance nachweist,46 oder mit den neurophysiologischen Belegen für die kognitiven Leistungen des Emotionalen beim Hirnforscher António Damásio. Er korrigiert Descartes und sein beherrschendes Axiom des abendländischen Logozentrismus vom Cogito, ergo sum zu seinem »Ich fühle, also bin ich«.47 Ob man mit dem Besteck der Sinnesphysiologie, die, wie beim Pathologen Virchow, dem Medizin-Physiker Helmholtz oder dem Physiologen Du Bois-Reymond ›Gott‹ und ›Seele‹ allein in Nervensystem und Zelle sehen will oder über die strukturierten Wahrnehmungsprozesse von Gestalt-, Akt-, Wert- und Einfühlungstheorie im Verbund mit Philosophie und experimenteller Psychologie erschließen möchte – als unverzichtbare Grundlage allen ästhetischen ›Bewusstseins‹ erweist sich die Empfindungsfähigkeit des Menschen. Das heißt also, sein Vermögen, den ästhetischen Gegenstand nicht nur wahrzunehmen, sondern seines Gehalts in einem Erlebnisprozess gewissermaßen innezuwerden. An diesem empirischen Tatsachenbefund kam auch die Bewusstseinsphilosophie mit ihrem Ruf nach der ›Logik der Begriffsbildung‹ nicht vorbei, denn erst das Gefühl als Resonanzboden des Bewusstseins mit seiner Struktur der Sinnesapparate ermöglicht Begriff und Wertung. Erst diese psychophysische ›Antenne‹ des Empfindungsvermögens nimmt den Gehalt eines Kunstwerks auf. Sie setzt den Erlebnisprozess in Gang, der als aktive innere Anteilnahme am Werk den Sinn des Sinnlichen vermittelt und von da aus ›Bedeutung‹ – nach modernem Verständnis: über die Qualia – zu generieren vermag (siehe Kapitel XI). Dass sich die Botschaft des objektiven Reizes erst über das subjektive Erleben offenbart, gehört deshalb zu den vornehmsten Resultaten der psychologischen Ästhetik. Der Weg von der begriffsseligen Bewusstseinsphilosophie zur empirischen Sinnesphysiologie und Psychologie wirkt sich auch auf das ästhetische Denken über Musik aus. Das war gegen Ende des 19. Jahrhunderts in ein prekäres Dilemma ge45

N. Hartmann, Ästhetik, Berlin 1953, S. 62.

46

H. Höge, Emotionale Grundlagen ästhetischer Urteile, Frankfurt a. M. 1984.

47

Vgl. A. Damásio, Descártes Error. Emotion, Reason, and the Human Brain, dt. München 1994; ders., Ich fühle, also bin ich, München 2000. Das Schlagwort von der ›Emotionalen Intelligenz‹ (Daniel Goleman, dt. 1996) meint eigentlich ›emotionale Kompetenz‹ und damit den bewussten und kontrollierten Umgang mit dem eigenen Gefühlshaushalt, räumt aber auf diese Weise den Emotionen immerhin einen wichtigen Stellenwert im psychischen Gefüge der Person ein. Ein neuerer biologischer Ansatz als ›Neuroästhetik‹ (die Hirnforscher Semir Zeki und Vilayanur S. Ramachandran) versucht eine Erklärung ästhetischer Wahrnehmungen über die Reduktion auf neurophysiologische Prozesse (siehe Kapitel XII).

352

raten. Die Wiederentdeckung versunkener Musik vergangener Epochen durch den aufblühenden Historismus, die unerhörte ›neue‹ Musik seit Wagners Tristan und die Bekanntschaft mit außereuropäischen Musikkulturen verlangten nach neuen Kriterien musikalischen Verstehens. Zunächst bleiben die bewährten Topoi der philosophischen Ästhetik noch lange präsent: Das ›Schöne‹ hält sich von Friedrich Theodor Vischer (Wissenschaft vom Schönen, 6 Bde., 1857) bis Nicolai Hartmann (Ästhetik, 1953), ebenso wie die Idee einer ›musikalischen Logik‹. Sie taucht erstmals im 18. Jahrhundert bei Nikolaus Forkel auf48 und erfährt in der Musiktheorie über die Stufentheorien von Johann Gottfried Weber und Simon Sechter (1835), den Harmonielehren wie von Moritz Hauptmann (1853) bis zur Funktionstheorie von Hugo Riemann (1893) und zur Ursatz- oder Schichtenlehre von Heinrich Schenker (1921) ihre verschiedenen Ausprägungen. Aber was vorher Musikästhetik im engeren Sinn ausmachte, nämlich wesentlich Musiktheorie als konkrete, zünftige Handwerkslehre des Komponierens und Formulierens in Musik, nicht über Musik, gerät samt den universalen Ordnungskonzepten der antiken und mittelalterlichen Tradition in Verlegenheit vor den Dilemmata der anbrechenden Moderne. Da versprachen die neuen Methoden wissenschaftlicher Empirie auch neue Referenzen für ästhetische Urteile. Zur gleichen Zeit, als Fechner und Wundt ihre ›Ästhetik von unten‹ ausformulieren, entsteht bei Hermann von Helmholtz die Lehre von den Tonempfindungen (1863), dann entwirft Carl Stumpf seine Musikpsychologie (1890), schließlich Ernst Kurth seine andere Musikpsychologie (1931) und Jacques Handschin die Einführung in die Tonpsychologie (1948). Die Erweiterung des eurozentristischen Blicks, verbunden mit den großen Weltausstellungen von Paris, London bis Brüssel oder Mailand und den Kenntnissen aus dem kolonialen Imperialismus, führt schließlich zur Untersuchung anderer Tonsysteme in der ›Vergleichenden Musikwissenschaft‹ (Jaap Kunst, Erich von Hornbostel). Sie wird nicht nur zur Keimzelle der späteren ›Musikethnologie‹, sondern trägt zur Konstituierung der ›Systematischen Musikwissenschaft‹ bei, die sich Ende des 20. Jahrhunderts schließlich von der ›historischen‹ abzuspalten beginnt.

Die Apotheose des Empfindungsvermögens: wo sich Kunst und Religion begegnen Während sich die ästhetische Reflexion über Musik unter dem Einfluss des naturwissenschaftlichen Instrumentariums detailliert, entwickelt sich in der allgemeinen Kunstphilosophie eine bedeutsame Erkenntnis von den Affinitäten zwischen Kunst und Religion im gemeinsamen Erlebnisraum des Emotionalen. Damit greift sie die gleiche Thematik aus ›Idealismus‹ und ›Kunstreligion‹ neu auf.

48

N. Forkel, Allgemeine Geschichte der Musik, Leipzig 1788.

353

Ungefähr zur gleichen Zeit, als die Einfühlungstheorien aufblühen, denkt der Fichte-Schüler Jakob Friedrich Fries den Kant’schen Ansatz der inneren, subjektiven Erfahrung des Schönen weiter. Schon in seinem 1820/21 erschienenen Handbuch der psychischen Anthropologie entwickelt er eine Theorie der Empfindung, die auf eine eigenständige, anthropologisch erschließbare ›psychologische Sphäre‹ innerhalb unseres Erkenntnishorizonts hinausläuft. In der Neuen oder anthropologischen Kritik der Vernunft von 1828/31 legt er dar, dass die Sinnenwelt als »Erscheinung der Welt der Dinge an sich« fungiert. Erfahrbar für das Bewusstsein sei dieses sinnliche Korrelat einer transzendentalen Wirklichkeit aber nur durch das »Princip der Ahndung«. Damit macht er die Trias Wissen – Glaube – Ahnung zu gleichberechtigten Erkenntnisquellen neben der Ratio einer apriorisch-mathematischen Theoriekonstruktion mit der empirisch-induktiven Validierung von Hypothesen im Rahmen von Kants Naturphilosophie.49 Von diesem Hintergrund aus rückt Fries das ästhetische Verhalten des Menschen in die Nähe des religiösen. Denn das ästhetische Verhalten ist für ihn weder Erkenntnis noch Wissen, sondern eben Ahnen transzendenter Bedeutungen sinnlicher Erscheinungen durch das Organ des Gefühls und das Vermögen der Urteilskraft. Fries folgt hier also zunächst ganz dem Kritizismus Kants, führt aber dessen subjektives ›Geschmacksurteil‹ in eine radikale anthropologische Dimension weiter. Denn wenn die Struktur unserer Erfahrungswelt subjektiven Ursprungs ist und uns damit der Zugriff des Wissens auf die ›Dinge an sich‹ versagt bleibt, so ist das notorische Bedürfnis des Menschen, die Welt seiner subjektiven Zwecke und Erfahrungen zu transzendieren umso bedeutsamer Zeugnis einer offenbar existenziellen Disposition des Menschen. Damit reicht das Ästhetische als ideelle Konstruktion von Bedeutsamkeit über den Horizont des subjektiv Begreiflichen hinaus und eröffnet die ›Ahndung‹ einer objektiven Wirklichkeit. »Die Quelle des Wohlgefallens am Schönen und Erhabenen liegt also im Triebe oder im Herzen des Menschen …«.50 Das verweist als Bedeutsamstes darauf, wo sich ästhetisches Erleben und religiöses treffen. Es ist der Erfahrungsraum des Emotionalen, dessen ›Ort‹ metaphorisch immer mit dem ›Herz‹ umschrieben wurde, dem uralten, archetypischen Symbolträger aller Kulturen für die persönliche Wahrnehmung tiefster Gefühle und auch spirituellen Erlebens. Er-griffenheit durch das ›Schöne‹ wie durch das Numinose vollzieht sich also über das gleiche psychophysische ›Medium‹. Dessen Spezifikum ist aber weder die Fraktionalität des Analytischen noch die zerebrale Haptik des Begreifens, sondern die andersartige Qualität eines Innewerdens. Eine Erinnerung an diese andersartige Tiefenwirkung bewahrt die Sprache auf, mit Par cœur im Fran-

49

J. F. Fries, Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft, 3 Bde., §§ 101 u. 131 in: J. F. Fries, Sämtliche Schriften, hg. v. G. König. u. L. Geldsetzer, Bd. 5, Aalen 1967 ff., S. 109 ff. u. 225 ff.

50

Fries, § 228, in: Sämtliche Schriften, Bd. 6, S. 309.

354

zösischen oder learning by heart im Englischen für die Psychotechnik eines nachhaltigen Auswendiglernens, das über die Beteiligung des Emotiven funktioniert. Wenn der Tonkünstler Joseph Berglinger in Wilhelm Heinrich Wackenroders romantischem Roman von den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders im Konzert »mit eben der Andacht zuhört, als wenn er in der Kirche wäre«, dann beschreibt er nichts anderes als dieses (anthropologische) Junktim des Sympathetischen. Auch Beethoven meint das Gleiche, wenn er über die Kunst bekennt: »… von ihrer Offenbarung aufgelöst zu werden, das ist die Hingebung an das Göttliche, was in Ruhe seine Herrschaft an dem Rasen ungebändigter Kräfte übt und so der Phantasie die höchste Wirksamkeit verleihet. So vertritt die Kunst allemal die Gottheit, und das menschliche Verhältnis zu ihr ist die Religion …«51 Das aber wäre die Begegnung von Musik und Religion als eine ontologische Affinität, deren lebendige Erfahrung das Empfinden stiftet. Auch Hegel deutet in seiner Ästhetik die Kunstgattungen als geschichtliche Gestalten religiösen Bewusstseins und Friedrich Schlegel nimmt für seinen Begriff des »romantischen Ideals« die vom Christentum geprägte Kunst in Anspruch – im Unterschied zum »klassischen Ideal« der Antike. Gleiches meint auch der Theologe Friedrich Daniel Schleiermacher, wenn er ›Religion‹ letztlich als ästhetische Beziehung zum Weltgrunde über »das fromme Gefühl« begreift, also einer innerlichen Beziehung des Individuums zum Göttlichen und das »Durchdrungensein« von einer solcherart erlebten Wirklichkeit. In seinen Schriften, von denen Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) besonders nachdrücklich auf die Romantiker gewirkt hat, begründet sich durch das ›Gemüt‹ deshalb ein »unmittelbares Existenzialverhältnis, in der das Menschsein als Ganzes mit dem Sein Gottes eins wird.«52 Damit setzt sich der Freund der Gebrüder Schlegel und Wilhelm von Humboldts von der Orthodoxie wie vom aufklärerischen Rationalismus in ähnlicher Weise ab, wie die psychologische Ästhetik von der intellektualistischen Rationalphilosophie. Das begründet auch Schleiermachers anhaltende Wirkung auf die religionspsychologisch orientierte und die spätere, hermeneutische Theologie. Im Grunde greift er damit aber nur den alten Topos einer persönlich-erlebnishaften Gotteserfahrung auf, wie sie immer wieder die intellektuelle, formale und dogmatische Gelehrsamkeit kontrapunktiert hat. Bei Augustinus geht sie aus platonischem Geisteserbe als ›Illumination‹ in die christliche Tradition ein. Bei den großen Mystikern Jakob Böhme, Meister Eckhart, Johannes Tauler oder Thomas a Kempis bestimmt sie das Wesen ihres ›Erkennens‹ schlechthin. Aber genauso manifest ist sie

51

Geäußert zu Bettina von Arnim, zitiert nach K. D. Muthmann (Hg.), Musik und Erleuchtung, München 1984, S. 32 f.

52

F. D. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799 sowie: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche, Berlin 1821/22.

355

anderen Religionstraditionen mit ›Erleuchtung‹ (vom buddhistischen Bodhi bis zum Satori des Zen-Buddhismus) oder dem Tauris des Sufismus.53 Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum (1610) und der davon maßgeblich beeinflusste Pietismus von Philipp Jakob Spener sowie des Leipziger Magisters Hermann Francke waren im Bereich des Luthertums prominente Vorgänger. Auch dort wird die »Vereinigung der Seele mit Gott« nach mystischem Vorbild (Arndt) und der »lebendige Glaube«, verstanden als emotional getönte Frömmigkeit mit einem persönlichen Gottes-Verhältnis wie eine empfindsame »Liebesgemeinschaft« (Spener), zum Kernstück wahrer Religiosität. An der Konfrontation von Pietismus und lutherischer Orthodoxie entzünden sich aber in der Musik allerhand hitzige Auseinandersetzungen um ›Kirchen-› oder ›Seelenmusik‹.54 Damit eröffnet sich ein prekäres musikgeschichtliches Konfliktfeld, in dem sich viele bittere Kontroversen zwischen Klerus und Kirchenmusikern abspielen. Als Muster konkurrierender Ansprüche auf entweder die theologischintellektuelle, also cartesianische, oder die emotionale, also sinnlich-empfindungsmäßige Aufmerksamkeit der Gläubigen in der Messe zieht es sich hartnäckig durch die Jahrhunderte. Noch viele moderne Kirchenmusiker, vom Kantor und Organisten bis zum Domkapellmeister, kennen es bestens. Übrigens weisen auch viele der von J. S. Bach vertonten Kantatentexte unverkennbar pietistischen Einfluss auf. In Bachs Bibliothek jedenfalls fand sich auch die Schrift Speneri Eyfer wider das Pabstthum. Die ›Kunstreligion‹ der Romantik erweist sich deshalb zwar als Wegbereiterin in den individualisierten Geschmacks-Subjektivismus der Moderne samt ihrer Anbetung des Künstlers als Originalgenie, wahlweise: ›göttlich‹, begnadet oder wenigstens geschickt. Aber sie verdankt sich weder naiver Schwärmerei noch weltlicher Blasphemie, auch wenn sie oft, aus Sehnsucht nach dem unverfälscht Spirituellen, als Kritik am verfälscht Institutionellen von Kirche und Dogma oder den abstrakten Gedankengebäuden der Theologie daherkommt, wie es beispielhaft Richard Wagner unternimmt.

53

Auch das geistliche Lehrwerk von Bo Yin Ra, in seinem zentralen Kerninhalt Wegweisung zu einer personalen innerseelischen Vereinigung des Menschen mit seinem ›Lebendigen Gott‹, ist durchtränkt von der höchsten Bedeutung dieses Topos. Denn der Weg dazu kann nicht über das ›Denken‹ und die Rationalität des Intellekts gefunden werden, sondern nur über die Entwicklung der Empfindungsfähigkeit als Resonanzmedium der entsprechenden Seelenkräfte und als Zugang zur Erfahrung eines ›Substantiell Geistigen‹ (siehe Kapitel XII), vgl. v. a. Kultmagie und Mythos, Leipzig 1924, S. 60–64; Hortus Conclusus, Basel 1936, S. 163–166, 181–182; Das Mysterium von Golgatha, Leipzig 1930, S. 88– 89; Der Weg meiner Schüler, Basel u. Leipzig 1932, S. 47–48, sowie grundsätzlich zum Verhältnis von Kunstempfinden und Denken, Kapitel: Das Mysterium der künstlerischen Ausdrucksform, in: Mehr Licht, Basel 1936, S. 203–204.

54

Vgl. Chr. Bunners, Kirchenmusik und Seelenmusik. Studien zur Frömmigkeit und Musik im Luthertum des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1966.

356

Weil er den ›originalgenialen‹, schöpferischen Künstler mit dem scharfsichtigen Kritiker vereint, hat das einiges Gewicht. Sein berühmter erster Satz aus dem Essay Religion und Kunst von 1880 bringt das Thema auf den Punkt: »Man könnte sagen, daß da wo die Religion künstlich wird, der Kunst es vorbehalten sei, den Kern der Religion zu erretten, indem sie die mythischen Symbole, welche die erstere im eigentlichen Sinne als wahr geglaubt wissen will, ihrem sinnbildlichen Werte nach auffasst, um durch ideale Darstellung derselben die in ihnen verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu lassen.«55 Hinter seiner Kennzeichnung von Dekadenz und Verfall der Kirche, einer ätzenden Kritik an Künstlichkeit und Dogma, steht aber nicht nur das Heidentum des Mystagogen, sondern auch der Scharfsinn des Psychologen, der um die Verwandtschaft künstlerischen und religiösen Erlebens genau weiß. Das betont er vor allem für die Musik: »…Hier heißt es ›das bedeutet‹. Die Musik aber sagt uns: ›das ist‹, weil sie jeden Zwiespalt zwischen Begriff und Empfindung aufhebt.« (S. 222). Beethoven ist sein erhabenstes Beispiel: »so dürfte uns das Untertauchen in das Element jener symphonischen Offenbarung als ein weihevoll reinigender religiöser Akt selbst gelten …« Denn: »Wahre Kunst ist mit wahrer Religion eins« (S. 250–251): ein emphatisches Bekenntnis zur Metaphysik. Im Nachtrag »Was nützt diese Erkenntnis«, einem der drei Folgeschriften zu seinem Essay, spinnt Wagner den Gedanken weiter: »Das vollendete Gleichnis des edelsten Kunstwerks dürfte durch seine entrückende Wirkung auf das Gemüt sehr deutlich uns das Urbild auffinden lassen, dessen ›Irgendwo‹ notwendig und in unserem, zeit- und raumlosen von Liebe, Glauben und Hoffnung erfüllten Innern sich offenbaren müßte.« (S. 262). Wenn er schließlich als schöpferischer Dichter-Komponist über Beethoven bemerkt: »Über alle Denkbarkeit des Begriffs hinaus, offenbart uns aber der tondichterische Seher das Unaussprechliche …« (S. 250), dann reklamiert er für den wahren Künstler nichts anderes als den uralten Kontext vom Künstler nicht bloß als ›Könner‹, sondern als Künder aus einem Numinosen (siehe dazu Kapitel XI). Beethoven selbst spricht es aus, wenn er sagt, dass die Kunst Zeugnis gebe, »von der Vermittlung des Göttlichen« durch den Künstler (zu Bettina von Arnim). Herder weiß es noch, wenn er in seiner Kalligone sagt: »…wer kann ohne zu kennen ist ein bloßer Praktiker oder Handwerker; der echte Künstler verbindet beides.«

Hinter- und Untergründe Bereits Platons theia mania meint den Enthusiasmus der Dichter, die das zum Ausdruck brächten, was ihnen die Götter eingeben. Ihre archetypische Repräsentation sind die Musen. Ihre Mutter ist Mnemosyne, der Urbedeutung nach die schauende

55

R. Wagner, Kunst und Religion, in: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Leipzig 1888, Bd. 10, S. 211–253.

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Wiedererinnerung an kosmologische und eschatologische Wahrheiten. Sie tragen wie Zeus, der Göttervater, den höchsten Beinamen der ›Olympischen‹ und sind als einziger griechischer Götternamen in alle europäischen Sprachen eingegangen. In der Ableitung musikē, unserem späteren Begriff ›Musik‹, bleibt ihre alte Berufung präsent: die Mittler des Numinosen, die Verkünder des Göttlichen als ›Hörende‹ des ›göttlichen Liedes‹. Der Zeushymnus des Pindar erzählt, wie der Göttervater nach Vollendung der Neugestaltung der Welt die in stummes Staunen versunkenen Götter befragte, ob noch etwas zur Vollkommenheit fehle. Ihre Antwort: es fehle noch eins, nämlich eine göttliche Stimme, diese Herrlichkeit zu künden. Und so baten sie ihn, die Musen zu erschaffen. »Das Sein der Welt vollendet sich also im Singen und Sagen – im Gesang der Musen ertönt die Wahrheit aller Dinge als Offenbarung gotterfüllten Seins« (Walter F. Otto).56 Die gleiche Verbindung begegnet uns im Orpheus-Mythos, einer der ›großen Erzählungen‹ des Abendlandes mit uralter Überlieferungsgeschichte. Dort überwindet der magische Zauber der Musik nicht nur die Grenze zwischen Leben und Tod, sondern der Sänger Orpheus wird auch als Eingeweihter bezeichnet. Danach hat er den Menschen die Mysterienweihen gelehrt und wird sogar für den Stifter der Dionysischen Initiationsriten gehalten. Auch Goethe greift die Verwandtschaft von ästhetischem und spirituellem Empfinden auf, wenn er das ›Dämonische‹, verstanden aus der Tradition des Platonischen Daimon, als auslösende Kraft alles wahrhaft Künstlerischen bezeichnet.57 Solche Einsicht geht auch im 20. Jahrhundert nicht verloren. Beispiele als ein philosophischer Reflex liefert die ›Neufriesische Schule‹ mit Leonard Nelson,58 für die Gestaltpsychologie Hans Cornelius oder in der Theologie Rudolf Otto. Er knüpft ausdrücklich an Fries und Schleiermacher an, wenn er die Analogien zwischen dem Numinosen und dem Erhabenen als »handgreiflich« bezeichnet, das Fries’sche »Ahndungsvermögen« bei Schleiermacher rechtfertigt, »das Heilige« als 56

W. F. Otto, Theophania. Der Geist der altgriechischen Religion, Frankfurt a. M. 1975, S. 25 ff.

57

»Das Dämonische ist dasjenige, was durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen ist … In der Poesie ist durchaus etwas Dämonisches, und zwar vorzüglich in der unbewußten, bei der aller Verstand und alle Vernunft zu kurz kommt, und die daher auch so über alle Begriffe wirkt. Desgleichen ist es in der Musik in höchstem Grade, denn sie steht so hoch, daß kein Verstand ihr beikommen kann …Der religiöse Kultus kann sie daher auch nicht entbehren …« (Eckermann Gespräche mit Goethe, hg. v. A. v. d. Linden, 1896, Teil II, S. 140 ff.). Bei Platon (Symposion, 203 a) bezeichnet Diotima, die Lehrerin von Sokrates, den »Daimon Eros« als »gewaltigen Jäger«, der »nach Einsicht strebend« danach trachte »zu verdolmetschen und zu überbringen den Göttern, was von den Menschen, und den Menschen, was von den Göttern kommt …«: er fungiert also als eine Art Agent für die Vermittlung zwischen göttlichen und menschlichen Bereichen.

58

Leonard Nelson gründet 1903 in Göttingen die ›Neue Friesische Schule‹ und gibt 1904 bis 1918 (zusammen mit G. Hessenberg u. K. Kaiser) die Abhandlungen der Fries’schen Schule, Neue Folge heraus. In seiner Schrift: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie (Vortrag, Bologna 1911, ediert Göttingen 1912) führt er den Beweis, dass eine ›logisch‹ konsistente Erkenntnistheorie durch wissenschaftliche Methoden nicht begründbar sei.

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ein »Apriori« versteht, religiöses Erleben dem »reinen Gefühle« zuerkennt und die »Divination« als intuitives Erfassen jenseits von Dogma oder logischen Schlüssen definiert.59 Schließlich begreift auch noch der Theologe Hans Urs von Balthasar in seiner ›Theologie des Herrlichen‹ die Schönheit von Schöpfung und Kunst als ästhetische Attribute des Göttlichen.60 Damit zählt das persönliche Kunsterlebnis, besonders der Musik, wie es die Romantik als einen wahren ›Gottesdienst‹ so nachdrücklich akzentuiert, zum Zentrum aller Spiritualität. Wenigstens sofern man ›Gottesdienst‹ nicht als Bedienung einer ins Abstrakte oder Außerweltliche projizierten Gottes-Vorstellung versteht oder nur als formalen Ritus innerhalb eines institutionellen Rahmens, sondern als Hingabe an einen persönlich vollzogenen, inneren Erlebnisprozess. Damit aber steht das Kunsterlebnis nicht in Konkurrenz zur Religion. Es steht viel eher in der erhabenen Ahnenreihe eines ›Innewerdens‹ des Numinosen von der Antike und Orpheus über die Konzepte der Gotik und die Erfahrungen der deutschen Mystiker, über Bach, Beethoven und Wagner, die Romantiker und noch bis zu Bruckner und Mahler. In der Gotik erinnert die Ratio vom Vollzug des ›äußeren‹ Dombaues als Gleichnis eines ›inneren‹ daran. Der größte Thomaskantor umkreist es immer wieder in seinen Kantaten- und Choralkünsten, sowohl von der mystisch-pietistischen Seite – exemplarisch in der Kantate Wachet auf (BWV 140) – wie auch ganz andersartig, als komplexe kontrapunktische Meditation über die ›heilige Mathesis‹ in der Kunst der Fuge. Und noch Beethoven, Bruckner und Mahler reklamieren es verbatim als persönliche Bekenntnisse ihrer Ästhetik. Das aber verweist auf nichts anders als die gemeinsame Quintessenz von spirituellem Erleben und echtem Kunsterleben in einer wahren religio – dem personalen Vollzug einer seelischen Rückverbindung zu einem tieferen Seinsgrund.

Die philosophische Reaktion: die Denker schlagen zurück Die Rolle von Empfindung und Emotion für die ästhetische Wahrnehmung lässt sich zwar nicht mehr bestreiten. Aber gegen die Herrschaft der ›unteren Vermögen‹ begehren die Vertreter der ›oberen‹ heftig auf. Namens der alten abendländischen 59

Otto bemerkt im Seitenabsatz von Das Heilige (1917, Sonderausgabe München 1971, S. 163): »Unbegreiflichkeit ist nicht Unerkenntlichkeit«, denn »Sichoffenbaren heißt durchaus nicht Übergehen in verstandesmäßige Begreiflichkeit. Es kann etwas nach seinem tiefsten Wesen dem Gefühle bekannt ja vertraut, beseligend oder erschütternd sein, wofür doch der Verstand jeden Begriff versagt. Man kann durch Gefühl tief innerlich verstehen ohne durch den Verstand zu begreifen, zum Beispiel Musik. Was an der Musik begrifflich-begreiflich ist, ist gar nicht Musik selbst.« Zu Fries und Schleiermacher, vgl. S. 175 ff. sowie S. 138, 163, ferner: R. Otto, Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, 2. Aufl. Tübingen, 1921.

60

H. U. v. Balthasar, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, 3 Bde., Einsiedeln 1961–1963.

359

Mächte von Vernunft und Begriff wehrt sich die kritische Bewusstseinsphilosophie gegen den penetranten ›Psychologismus‹ der schnöden Reiz-Reaktions-Observanten, die mit ihren Messungen von Erregungspotenzialen und der Faktenmacht induktiver Schlüsse sogar sämtliche Akte des logischen Denkens vereinnahmen. Tatsächlich meint etwa Theodor Lipps, versierter Experimentalpsychologe und Philosoph, dass die Psychologie »das Allumfassende« sei. Deshalb sei nicht nur die Ästhetik selbstverständlich eine »psychologische Disziplin«, sondern auch die Logik nichts anderes als deren »Sonderdisziplin«: »Auch die Logik – beruht nicht auf Psychologie, sondern sie gehört dazu«, erklärt er kategorisch.61 Die Reaktion der Philosophen zeigt sich zunächst im Neukantianismus, dann in der Phänomenologie und der Hermeneutik, am radikalsten aber schließlich im Logozentrismus des Wiener ›Logischen Positivismus‹. Edmund Husserl, Begründer der philosophischen Phänomenologie, reagiert noch vergleichsweise moderat. In seinen Logischen Untersuchungen (1900/01) grenzt er zunächst die von der Erfahrung unabhängigen allgemeingültigen »Wesensgesetze« von solchen der »empirischen Tatsachengesetze« der Psychologie ab. Er zeigt am Satz vom Widerspruch, der Unvereinbarkeit zweier gleicher Tatsachen, dass hier, genau wie in der mathematischen Logik, ein gültiger Sachverhalt erfasst werde, der unabhängig vom jeweiligen Gedachtwerden und dessen Bedingungen existiere. Damit erweitert er die Lehre von der Intentionalität des Bewusstseins seines Lehrers Brentano, die Aktpsychologie, um diejenige Realität eines Bewusstseinsinhalts, der nicht nur subjektiv-psychologischen Charakter hat, sondern »gegenständlichen«, weil er »wesensmäßige Gesetzmäßigkeiten« erfasst. Diese ›Wesensschau‹ (Eidetik) mittels einer methodischen Reduktionstechnik, die den im Bewusstsein gegebenen Gegenstand unter Ausklammerung der Erscheinungsmodalitäten einer empirisch-zufälligen Realität als Ideation rein zur Anschauung bringen soll, wird zum wichtigsten Instrument der neuen phänomenologischen Methode. Mit ihr will Husserl »zurück zu den Sachen selbst«. Gleichzeitig enthüllt er die Doppelstruktur der Bewusstseinsphänomene: Der intentionale Akt ist immer Wahrnehmen (Noesis) und zugleich aber Wahrgenommenes als gegenständlich gegebener Gehalt (Noema). Seine ›Wesensschau‹ versteht Husserl weder als ›induktiv‹ noch ›deduktiv‹, sondern als ›intuitiv‹. Allerdings eben methodisch analytisch auf die grundsätzlichen Konstituenten des Objekts gerichtet – Platons ›Ideenlehre‹ grüßt von ferne. Damit versucht Husserl auch die alte Frontstellung zwischen Empirismus – nur die äußere Welt zählt – und Rationalismus – alle Welterfahrung ist Produkt der Vernunft – aufzulösen zugunsten eines Mittelwegs zwischen ›Subjekt‹ und (ästhetischem) ›Objekt‹. Gleichzeitig unternimmt er es damit, den spekulativen Wertobjektivismus der idealistischen Ästhetik mit dem induktiven Ansatz der psychologi61

360

Th. Lipps, Grundzüge der Logik, Hamburg u. Leipzig 1893, § 3 sowie: Einige Psychologische Streitpunkte, Fortsetzung, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 31 (1903), S. 47–78.

schen Ästhetik, wo das individuelle Erleben mit seiner Subjektivität Grundlage ist, zu versöhnen.62 In der Anwendung auf das Kunstwerk, der folgenreichsten Wirkung der Phänomenologie, zeigt sich diese methodische ›Wesensschau‹ als ästhetische Einstellung. Das meint einen Bewusstseinsfokus, der das betrachtete Objekt ganz für sich selbst nimmt und es von jeder Wirkungsseite, der Domäne der Psychologie, ebenso trennt wie vor jedem Bezug zu einer äußeren Realität. Danach ist etwa für das Bild einer Landschaft der Erlebniswert daran ebenso irrelevant wie ein möglicher Vergleich mit der wiedergegebenen ›realen‹ Landschaft. Seine Existenz hat nur Realität als phänomenologischer Gegenstand, als ›intentionales Objekt‹, das in seiner Illusionswirklichkeit analysiert wird. Demzufolge ist auch ein Musikwerk als Notentext kein realer Gegenstand (Husserl verwendet dafür den Begriff »reell«), sondern nur ein intentionaler. Sogar im Falle seiner Aufführung, wo er zwar äußere Realität erlangt, bleibt er ästhetisch autonomes Objekt, denn die Aufführung präsentiert ihn nur als Folge »erlebter Empfindungsdaten, denen die wahrgenommenen Töne bloß zugeordnet sind«. Demnach sind die »sinnlichen akustischen Empfindungsdaten keine Gegenstände der Gehörswahrnehmung, sondern sie werden beim Vollzug dieser Wahrnehmung bloß erlebt.«63 Husserl löst zwar nicht das Problem zwischen einer ›Wertbestimmung im Erleben‹ (der ›Wirkungsästhetik‹ der Psychologie) und dem ›Wertobjektivismus des Kunstwerks‹ (das die objektive Struktur des ›phänomenalen Objekts‹ fassen will), aber er nähert sich den wesentlichen Kategorien des Kunstwerks auf eine objektive Nähe, die in keiner anderen philosophischen Theorie erreicht wird. Weil so Eigenschaften wie Strukturen des Kunstwerks als ›ästhetische Werte‹ sui generis erfasst werden, kommen Kunstwerk wie Kunstwissenschaft auf ihre Kosten. Denn das Werk behält autonome Geltung, und die Methoden der Kunstwissenschaften versprechen Objektivität, wenn sie deskriptiv, morphologisch, historisch oder analytisch seine Eigenschaften bestimmen, ohne in den Subjektivismus eigener Bewusstseinsurteile zu verfallen. Husserl inspiriert, insbesondere seit seinen späten Vorlesungen über Phänomenologische Psychologie von 1925, viele weitere Entwicklungen der Kunsttheorie.64 62

Husserl geht dabei den Weg von einer eigenständigen Begründung der phänomenologischen ›Wesenswissenschaft‹ gegenüber den ›Tatsachenwissenschaften‹ in den Logischen Untersuchungen von 1900/01 bis zu einer ›Grundwissenschaft‹ der Philosophie überhaupt mit ihren transzendentalen Ansprüchen in seinen Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie« von 1913.

63

Vgl. R. Ingarden, Untersuchungen zur Ontologie der Kunst. Musikwerk, Bild – Architektur – Film. Tübingen 1962, S. 21, 22 u. 37, besonders im Kapitel »Das Musikwerk« S. 7–13, mit einer Untersuchung der ›Schichtenstruktur des Kunstwerks‹, wie er es für die Literatur entwickelt hatte (Das literarische Kunstwerk, Halle 1931).

64

Vgl. E. Husserl, Phänomenologische Psychologie, Vorlesungen Sommersemester 1925, hg. v. W. Biemel, 2. Aufl. Den Haag,1968 (= Husserliana 9).

361

Eine besonders fruchtbare Verbindung ergibt sich zur Gestalttheorie, wenn etwa die Generierung von ›Bedeutung‹ für das Bewusstsein mit der besonderen ›Isomorphie‹ zwischen Werk- und Wahrnehmungsstrukturen fassbar wird, wie sie später bei Rudolf Arnheims ›Materialästhetik‹ oder bei Ernst Gombrichs ›Schema und Korrektiv‹ eine Rolle spielt. Eine Vielzahl von Schulbildungen (Göttinger, Münchner, Freiburger, Kölner, Mainzer Schule) und Umbildungen wirkt weiter bis zu Max Dessoirs ›Objektivismus‹ in seiner ›Psychognostik‹, Max Schelers ›Sachphänomenologie‹,65 oder Moritz Geigers ›materialer Wertästhetik‹.66 Die Ausstrahlung reicht bis zur phänomenologisch inspirierten Hermeneutik von Heidegger und Gadamer und zu Roman Ingardens Untersuchungen über die ontologischen Grundlagen der Kunst, zu Aron Gurwitch in den USA mit seinem Begriff des ›Bewusstseinsfelds‹ und sogar bis zu Jean-Paul Sartre und Paul Ricoeur in Frankreich. Für eine tiefere Erkenntnistheorie der Musik sind die Erträge methodischer Phänomenologie allerdings bescheiden. Immerhin werden sie in einigen Ansätzen weiter erprobt, allerdings in ganz verschiedenen Modi von Husslers ›Wesensschau‹. Der Ansatz Ingardens, eines Schülers von Husserl, zielt auf den Aufweis einer individuellen ›Schichtenstruktur‹ des Kunstwerks, bescheinigt dabei der Musik aber ein Defizit im Vergleich mit dem literarischen Kunstwerk (siehe Anm. 63). Ein anderer Ansatz von Arthur Wolfgang Cohn verfährt vom Hintergrund der psychologischen Ästhetik aus. Er erweitert die bescheidene Lizenz Husserls für die Emotion (»Empfindungsdaten«) und unterscheidet zwei Arten des ›Musik-Verstehens‹: die intellektuelle und die emotionale Erfahrung. Die intellektuelle klassifiziert er als eine »wertblinde Erfahrung«, aber sie kann quasi als »musikalische Naturwissenschaft« für Akustik, Tonphysiologie, Soziologie und Geschichte fruchtbar gemacht werden. Die emotionale Erfahrung hingegen ist als »fühlendes Musikhören« eine »wertende Erkenntnis«. Erst beide zusammen leisteten etwas für eine ›Wesenserkenntnis der Tonkunst‹ und begründeten damit ›Kulturwissenschaft‹, während die intellektuelle Betrachtung als bloßer Positivismus »am Kern des musikalischen Werkes vorbeigeht.«67 Der Ansatz des Musikwissenschaftlers Hans Mersmann hält sich strenger an Husserls Konzept. Er will das »Kunstwerk von allen Beziehungen zum Betrachtenden ablösen und als Erscheinung untersuchen« und damit Anspruch auf die 65

Vgl. M. Scheler, Vom Ewigen im Menschen, Leipzig 1921, Bd. 1, S. 80 u. 97 ff.

66

Geiger unterscheidet drei verschiedene Begriffe von Ästhetik, die nach ihren ›strukturontischen‹ Unterschieden verschiedene phänomenologische Fragestellungen erfordern: 1. Ästhetik als Anwendungsgebiet anderer Wissenschaften, z. B. Psychologie oder Soziologie, 2. Ästhetik als autonome Einzelwissenschaft, 3. Ästhetik als philosophische Disziplin. Für einen umfassenden Überblick vgl. W. Henckmann, Moritz Geigers Konzeption einer phänomenologischen Ästhetik, in: M. Geiger (1976), S. 549– 590.

67

Vgl. A. W. Cohn, Das musikalische Verständnis, Neue Ziele, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 3/4 (1921), S. 129–135; ders., Die Erkenntnis der Tonkunst. Gedanken über Begründung und Aufbau der Musikwissenschaft, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 1 (1918/19), S. 351–360.

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Objektivität der Befunde erheben. Dazu unterscheidet er die Analyse des Werks als absolute Erscheinung (»phänomenologische Einstellung«) und als »Produkt seiner Entwicklung«, also seiner historischen Erscheinung (»morphologische Einstellung«). Für Ersteres entwirft er eine Faktorenreihe des Kunstwerks und untersucht ihre Funktion in einer Organisationsgestalt, deren Formverläufe durch die Dynamik von Spannung und Entspannung entstehen – eine unverkennbare Nähe zu Ernst Kurths ›energetischem‹ Konzept. Später wird dieser Ansatz vom amerikanischen Musikwissenschaftler Thomas Clifton wieder aufgegriffen.68 Schließlich machen sich auch noch nachdenkende Dirigenten wie Ernest Ansermet und Sergiu Celibidache phänomenologische Ansätze zu eigen. Ansermet begreift die Musik als ein eigenes ›Sein‹, dessen »Sinn implizite in unserem Erleben enthalten ist«. Weil es bei der Phänomenologie im Grunde darum gehe, »die Phänomene der Außenwelt und der menschlichen Innenwelt durch die sie bestimmenden … Bewußtseinsphänome zu erklären«, wählt er Husserls phänomenologische Denkmethode als methodischen Zugang für eine der bedeutungvollsten, umfassendsten Untersuchungen musikalischer Grundlagen sowie der Musikgeschichte der Moderne. Auch Celibidache versteht die Musik als ein Mysterium »außerhalb des Denkens«. Die ›Wirklichkeit‹ liege hinter dem Denken – aber »die Wirklichkeit ist erlebbar.« Zu ihrer Erschaffung im Musizieren erklärt er die Herstellung einer ›Einheit‹ aus der Vielfalt der musikalischen Parameter zur entscheidenden Voraussetzung: die Realisierung einer »Eins« in der Gestaltung von Tempo und Entstehung des Klanges. Das bezeichnet er als ›Reduktion‹, versteht darunter aber, anders als Husserl, der damit eine ›Ausklammerung‹ meint, die »Integration der Vielheit zu Einem«.69 Viel schärfer werden die Gegenreaktionen zum ›Psychologismus‹ bei den Neukantianern. Rudolf Odebrecht attackiert das »atomisierende Verfahren der Schulpsychologie«, das »den vielfach geschichteten Grund nicht zu entdecken vermochte, aus dem der Kosmos der Gefühle emporwächst.« Vor allem aber, dass dieser emotionale ›Kosmos‹ erst dadurch zu einem strukturierten »Ordnungsraum des Emotionalen« werde, weil die Persönlichkeit ihn mit ihrer Suche nach »vorgezeichneten apriorischen Ganzheitsstrukturen nachlebend zu erfüllen sucht.«70

68

Vgl. H. Mersmann, Versuch einer Phänomenologie der Musik, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 5(1922/23), S. 226–269 und: Angewandte Musikästhetik, Berlin 1926. Th. Clifton, Music as Heard. A Study in Applied Phenomenology, New Haven u. London 1983.

69

E. Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein (1961), München 1965, S. 21; K. Weiler, Celibidache – Musiker und Philosoph, München 1993, S. 279; Celibidache. Man will nichts – man läßt es entstehen, hg. v. Jan Schmidt-Garre, München 1992, S. 7, 13, 15 ff.

70

Vgl. R. Odebrecht, Gefühl und schöpferische Gestaltung. Leitgedanken zu einer Philosophie der Kunst, Berlin 1929, S. 21.

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Der bedeutendste Renegat der psychologischen Ästhetik ist Hermann Cohen. Er wandelte sich vom kühnen Experimentalpsychologen zum Anhänger einer streng deduktiv-normativen Ästhetik. Als Haupt der neukantianischen ›Marburger Schule‹ bestreitet er jeden Anspruch der Psychologie. Denn sie stünde nicht am Anfang, sondern am Ende des systematischen Aufbaus der Wissenschaften: Sie kann »vom Denken und Erkennen nicht wissen, es sei denn daß sie durch die Logik darüber belehrt wird. Nicht das Bewußtsein ist eine Folge der Empfindung, sondern die Empfindung ist eine Stufe des Bewußtseins.« Und ihren Stellenwert innerhalb des Bewusstseins abzugrenzen, sei eine Frage der Logik. Erst die transzendentalphilosophische Bestimmung des Empfindens (nämlich durch die erkenntnistheoretische Bestimmung des Fühlens als einer »Disposition des Bewußtseins«) schaffe also überhaupt jenes kritische Fundament, auf dem eine psychologische Analyse des konkreten Gefühls erfolgen könne. Psychologie könne deshalb »nicht selbständig anfangen«, sondern sei »auf eine begriffliche Fundierung von außen angewiesen.«71 Weil Cohen aber meint, dass die (empirisch bestimmbaren) Tatsachen der ästhetischen Anschauung nur dadurch zu ›ästhetischen‹ werden, das heißt Wertcharakter erhalten, weil sie als »Ausdruck des inneren Lebens« erfasst werden, er aber diesen Ausdrucksbegriff nicht psychologisch, sondern logisch-objektiv versteht, legt er faktisch einen metaphysischen Begriff zugrunde. »Wir können ebenso gut sagen, der Künstler lasse uns die verborgene Schönheit der Dinge und Menschen erkennen, wie wir behaupten können, er teile uns den Reichtum seines eigenen Lebens im Kunstwerk mit. Denn eben dieser Reichtum ist es ja, der ihn jene verborgenen Werte erkennen lehrt«. Damit bestimmt er aber auch den Begriff der ›künstlerischen Wahrheit‹ und zugleich den ästhetischen Wertbegriff unabhängig von seiner subjektiven, ›psychologisch‹ determinierten Verwirklichung als Einheit von Ausdruck und Gestaltung. Somit gelangt man wieder bei der metaphysisch gegründeten Auffassung des Schönen im Idealismus an, wie sie etwa die Philosophie Schellings geprägt und die ›Weimarer Klassik‹ realisiert hat. Cohen schließt sich denn auch ausdrücklich an diese Tradition an und wird damit zum Beispiel für ein Wiederaufgreifen der metaphysischen Positionen des deutschen Idealismus.72 Auch in der bedeutendsten Ästhetik dieser Zeit, die außerhalb des deutschen Sprachraums entstand, wird eine ganz ähnliche Auffassung entwickelt. Benedetto Croce, der unakademische Denker aus Neapel, ergreift in seiner Ästhetik als Wissenschaft vom Ausdruck (1902) über einen metaphysisch fundierten Ausdrucksbegriff Partei für die idealistische Position. Weil »das Schöne kein physisches Faktum 71

Vgl. H. Cohen, Ästhetik des reinen Gefühls, Berlin 1912 (= System der Philosophie, 3. Teil), S. 146.

72

Obgleich Cohen ›neukantianisch‹ – Nomen est Omen – auf Kant zurückgreift, stellt seine Ästhetik doch viel weniger eine direkte Verbindung zu Kant her, als vielmehr zu jener Entwicklung, die Kants Philosophie im deutschen Idealismus genommen hatte. Sie würde daher mit ›neoidealistisch‹ treffender charakterisiert werden als mit ›neukantianisch‹.

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ist und nicht den Dingen angehört, sondern der Aktivität des Menschen, seiner geistigen Energie«, komme im ästhetischen Verhalten des Subjekts etwas zum Ausdruck, das damit das Subjekt grundsätzlich übersteige. Deshalb ist ›Ausdruck‹ für Croce eine ontologische und keine psychologische Kategorie. Bevor sich Bewusstseinsphilosophie ins mathematisch inspirierte Logikkalkül bei den ›Logischen Positivisten‹ und dem linguistic turn reiner formaler Sprachphilosophie wie bei Wittgenstein, den Strukturalisten und in der Analytischen Philosophie auflöst, erlebt sie in der sublimen ›Deutungskunst‹ einer philosophischen Hermeneutik noch zwei Höhepunkte. Der eine ist mit der Frage nach dem ›Sein‹ in der Existenzialanalyse bei Heidegger und seiner »Hermeneutik der Faktizität« verbunden, der andere mit der elaborierten Befragungskunst bei Gadamer – beide noch zutiefst vom Bewusstsein der ›Sprache‹ als metaphysisch begründetem Bedeutungsmedium bestimmt, nicht als bloß funktionales Zeichen- oder Symbolsystem wie in der Analytischen Philosophie.

Hohe hermeneutische Künste I: Heidegger zwischen Seyn und ›Seiendem‹ Martin Heidegger beginnt als katholischer Lehramtskandidat mit Theologie, macht sich dann Husserls Phänomenologie zu eigen, setzt sich mit dem Neukantianismus auseinander, vertieft Diltheys Ansätze einer ›Verstehensphilosophie‹ weit über dessen Horizonte hinaus bis in eine fundamentale Ontologie des ›Seins‹ und verwirft, mit Nietzsche, alle abendländischen Denkversuche seit Platon und Aristoteles in ihrem Bemühen, dessen Wesen irgendwie ›teilhaftig‹ zu werden. Er sucht vielmehr in beständigen Frageprozessen nach den tiefsten Tiefen dieses ›Seins‹ als erste Voraussetzung aller menschlicher Existenz und allen Reflektierens darüber, von den Vorsokratikern bis in die etymologischen Untergründe von Sprache und Begriffen. Dort kommt er schließlich zu Einsichten, die in eigenwilliger bis dunkler Sprachdiktion bis zu bizarren Begriffsbildungen gehen. Man kann dieses rigorose Zurückdenken auf die einfachste Grundtatsache der menschlichen Existenz: das »Sein im Seienden«, als radikalste Anwendung der ›phänomenologischen Reduktion‹ verstehen, wie sie Husserls »zurück zu den Sachen selbst« meint. Heidegger unternimmt es im Modus eines methodischen Erstaunens: »Alles Seiende ist im Sein. Solches zu hören, klingt für unser Ohr trivial, wenn nicht gar beleidigend. Denn darum, daß das Seiende in das Sein gehört, braucht sich niemand zu kümmern. Alle Welt weiß: Seiendes ist solches, was ist. Was steht dem Seienden anderes frei als dies: zu sein? Und dennoch: gerade dies, daß das Seiende im Sein versammelt bleibt, daß im Scheinen von Sein das Seiende erscheint, dies setzte die Griechen, und sie zuerst und sie allein, in das Erstaunen.« Als ontologische Differenz verwandelt Heidegger diese Ursache analytischen Erstaunens zu einer Grundfigur seines Philosophierens.

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Danach sei es die wichtigste Aufgabe der Philosophie, zu ergründen, was es ist, das ist, was jene ›Seinsheit‹ ausmacht (griechisch als: ti to on?) als Gegensatz zum Nichtsein: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?« fragt er in seiner Einführung in die Metaphysik, ein Denkansatz, der bereits bei Leibniz auftaucht. Das zu ergründen verlangt zuallererst den Kampf gegen die oberflächliche »natürliche Einstellung des Alltagsbewußtseins«, dann aber gegen die ganze denkerische Erbschaft von Platon und Aristoteles bis Descartes, Locke, Kant, Hegel und Nietzsche als Apostel fataler Seins-Verdunklung, samt der gesamten abendländischen Metaphysik und den empirisch-positivistischen Wissenschaften. Denn Heideggers Sein west vor jedem Analysieren, Reflektieren und Spekulieren. Damit dekonstruiert er das seit Platon übliche Verständnis von ›Metaphysik‹ radikal und macht sie vielmehr zur Macht der Seinsvergessenheit – und damit zum glatten Gegenspieler jeder Transzendenzvermutung. Denn das Sein will vernommen werden. Heidegger will dieses unverstellte ›Seinsvernehmen‹ als eine Art Verhalten in ›Entsprechung‹ und ›Übereinstimmung‹ verstanden wissen: »Das Seiende als solches bestimmt das Sprechen in einer Weise, daß sich das Sagen abstimmt auf das Sein des Seienden.« Was so vielleicht als eine Art von Empathie verstanden werden könnte, ist ihm aber keine Lizenz für die Zulassung von »Ahndung« à la Johann Friedrich Fries, von Intuition oder Empfindungserfahrung als andere Erkenntniskategorien. ›Seinsvernehmen‹ ist ihm, obwohl auratisch formuliert, rein denkerische Erfassung im Vollzug strikter Immanenz, wie es Systemprämisse jeder Philosophie als ›Wissenschaft‹ ist. Das schließt jeden Bezug zu Qualitäten eines Numinosen, von Spiritualität, Religion oder gar einer ›Illumination‹ und Gotteserfahrung aus. Damit betreibt er methodisch seine Fundamentalontologie, die er ausdrücklich vom platonischen Konzept der präexistenten Ideen, wie vom aristotelisch-thomasischen Netz aus Ursache und Substanz, vom Leibniz’schen Determinismus, von cartesianischer Wissenschaftsrationalität, Hegelianischer Dialektik und auch von Nietzsches nihilistischer Identifizierung von Sein und Willen unterschieden wissen will – obwohl er die Radikalität von Nietzsches antimetaphysischem Denken eigentlich methodisch fortsetzt. Heidegger entfaltet diese fundamentale Ontologie zuerst systematisch in seinem spektakulären Erfolgswerk Sein und Zeit (1927). Dessen Titel verrät den zentralen Fokus auf seine Seinserkundung: »Die Zeit ist der Horizont des Seins«, denn »Die Zeitlichkeit macht die ursprüngliche Bedeutung des Seins des Daseins aus«. Diese Grenzziehung wird sich als Grundfigur des Existenzialismus erweisen. Von der begrenzenden Zeitlichkeit findet er zum Weg: »Alles ist Weg«, erklärt er – und findet die Metapher dafür im Bild eines suchenden, fragenden Schreitens auf den »Holzwegen« durch die Dunkelheiten des »Waldes« bis zur »Lichtung des Da«, wo sich das Sein schließlich als »Unverborgenes« offenbare. Aus der Zeitlichkeit heraus bestimmt Heidegger auch jenes andere, unhintergehbare Attribut des »In-der-Welt-Seins«, in das wir so unbegreiflich »geworfen« sind: die Endlichkeit aller menschlichen Exis-

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tenz. Sie wird ihm, wie den späteren Existenzialisten, zum ehernen Horizont von jedem Finale im Tod und von der Geschichtlichkeit allen Geschehens. Dieses Todesverständnis bezeichnet in nachdrücklichster Weise die Absolutheit von Heideggers Immanenzdenken. Danach nämlich könne das menschliche ›Dasein‹ nur dann dazu gelangen, seine eigene Bedeutung und Vollständigkeit zu begreifen, wenn es seinem »Nicht-mehr-da-sein« begegne. Denn solange das Dasein nicht zu seinem eigenen Ende gekommen sei, bleibe es unvollendet. Das Dasein habe darum – und nur darum – Zugang zur Bedeutung des Seins, weil es endlich ist. Eigentliches Sein ist daher notwendig ein Sein-zum-Tode.73 Damit wird der Tod zur finalen Chiffre aller Heidegger’schen Seins-Vorstellung: Der Zweck des Lebens ist es zu sterben. Den besonderen Rang des Todes betont er durch die Dignität, die er ihm als Feier des je eigenen Sterbens verleiht. Als einzigartiges, unveräußerliches Gut jedes Individuums verstehe es sich in »existentieller Endhaftigkeit« – aber nicht allein als Konkretion der Zeitlichkeit als eine letzte Wahrheit, sondern auch als die absolute Bedingung menschlicher Freiheit.

Kunst und Kunstwerk: Was ist Wahrheit? Unter dem gleichen Blickwinkel strikter Immanenz unternimmt Heidegger auch seine Befragung des Kunstwerks. Dort spielen Dichter und Dichtung die wichtigste Rolle – nicht die Musik. Bereits in einem Aufsatz von 1912 (Neue Forschungen über Logik) räumt er ihnen besondere Bedeutung ein: Denken und Dichten sind die »beiden Wege des logos«, heißt es da. Eindrucksvoll manifestiert sich schließlich seine spätere Wendung zur poiesis bei der Deutung von Hölderlin (in den Vorträgen und Essays zwischen 1936 und 1944). Dort findet er zum einen die ›Seinsverlassenheit‹ des modernen Menschen auf authentische und tragische Weise artikuliert, seine Gefallenheit aus dem Sein und die Verbannung von den Göttern – aber zum anderen »vernimmt« er auch, wie die verborgene, ausgeschlossene »Einheit des Seins« wieder in das »Haus des Menschen« einzutreten vermag – eine »ontologische Heimkehr«, die Ankunft in der »Lichtung«. Und es ist Hölderlin, der verzweifelte Wanderer, der tragische, aber erleuchtete Pilger in den (auch psychiatrisch manifesten) Wahnsinn, der ihm zum »Hirten des Seins« wird: »Mein Denken steht in einem unumgänglichen Bezug zur Dichtung Hölderlins… Hölderlin ist für mich der Dichter, der in die Zukunft weist, der den Gott erwartet …«, bekennt er noch 1966.74 Auch in seinen anderen, eigenwilligen Exegesen von Dichtungen Stefan Georges und Georg Trakls (im Essay Die Sprache, 1955) sieht er im Dichterischen die letzte, wahrscheinlich einzige Hoffnung aus der katastrophalen mentalen 73

M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1927, § 5, Einleitung zum zweiten Kapitel.

74

Interview mit dem Magazin Der Spiegel am 23.9.1966, gemäß Heideggers Verfügung nach seinem Tod veröffentlicht, in: Spiegel Nr. 23 v. 13.5.1976, abgedruckt in Heidegger, GA Abt. I, Bd. 16, Reden und Zeugnisse seines Lebensweges, Frankfurt a. M. 2000, S. 652–683.

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Situation des Zeitalters. Denn der wahre Dichter beschreibt nicht, sondern nennt und erhebt so den Akt der Namensgebung in den ontologischen Rang von ›Wahrheit‹. »Dichterisch wohnet der Mensch«, sagt es Hölderlin, »Der Dichter sagt das Sein. Der Dichter nennt, was heilig ist«, formuliert Heidegger.75 Die Befassung mit dieser Wahrheit bleibt für Heideggers ganzes Denken über Kunst zentral. Bereits in seiner frühen Beschäftigung mit Logik bei seinen Marburger Vorlesungen stellt er der traditionellen Logik eine »Logik der Wahrheit« gegenüber, die nach dem logos fragt.76 Deshalb erhält das Kunstwerk, weil es in die »Unverborgenheit seines Seins heraustritt«, den Rang der griechischen Aletheia als Epiphanie der Wahrheit: »Im Werk der Kunst hat sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt… Aber bislang hatte es die Kunst doch mit dem Schönen und der Schönheit zu tun und nicht mit der Wahrheit …« Dann aber seine Verortung: »Wahrheit dagegen gehört in die Logik.«77 Damit meint er wohl den logos seiner Logik, beschränkt ihn aber auf das »Dinghafte des Werkes«, das er damit zu Prädikat und Sinnhorizont zugleich macht. Die unhinterfragte Evidenz und Präsenz eines jeden ›Werks‹, das man als »Sosein vernimmt«, ist Ausgangs- und Endpunkt zugleich: Die strikte Immanenz des ›Gegebenen‹ bleibt unverrückbarer Fokus – ungeachtet aller beschwörungstiefen Hölderlin’schen Gottes-Dithyramben. Damit übergeht Heidegger bewusst alle von Kant bis Fechner gestellten Fragen nach den Hintergründen und Bedingungen ästhetischer Erfahrung mit dem gleichen souveränen neo-antiken Heidentum wie alle anthropologischen Fragestellungen der inkriminierten ›Metaphysiker‹ nach tieferem Sinn oder höherem Zweck menschlichen »Da-seins«. Das wehrt zwar die angehäuften Berge des logisch-begrifflichen Denkens cartesianischer Prägung ebenso spektakulär ab wie sämtliche Psychologismen über das Kunsterleben. Denn das Sein als letztes uns Gegebenes ist ihm vorbegrifflich und überbegrifflich und folglich in seiner Erscheinung als ›Wahrheit‹ im Kunstwerk nur – wie bei Husserl – als ›Phänomen‹ gegeben, nicht in einem ›Erleben‹: »…die Ästhetik nimmt das Kunstwerk als einen Gegenstand und zwar als den Gegenstand der aisthesis, des sinnlichen Vernehmens im weiten Sinne. Heute nennt man dieses Vernehmen das Erleben. Die Art, wie der Mensch die Kunst erlebt, soll über ihr Wesen Aufschluß geben. Das Erlebnis ist nicht nur für den Kunstgenuß, sondern ebenso für das Kunstschaffen die maßgebliche Quelle. Alles ist Erlebnis. Doch vielleicht ist das Erlebnis das Element, in dem die Kunst stirbt …« (Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 91).

75

Hier tönt mit dem Hintergrund des griechischen Mythos auch eine unverkennbare Nähe zum Sprachverständnis von Thrasybulos Georgiades auf (siehe Kapitel VII, Schubert, Anm. 65).

76

M. Heidegger, Logik – Die Frage nach der Wahrheit, Marburger Vorlesungen, Wintersemester 1925/26, GA Abt. 2, Vorlesungen 1925–1944, Bd. 21, Frankfurt a. M. 1976.

77

Aus Heideggers Vortrag Der Ursprung des Kunstwerks vom 13. November 1935, überarbeitet ediert in: Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, S. 25.

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Damit verfallen Heidegger folgerichtig nicht nur alle Früchte der langen abendländischen Reflexionen zu Spekulation und Wirrnis, sondern auch die noch dubioseren Zugänge über eine subjektive Erlebnisseite. Heidegger wehrt nicht nur von Platon bis Schleiermacher alles Nachdenken über Kunst ab samt sämtlichen Einsichten der psychologischen Ästhetik, sondern reagiert damit auch auf den naiven Vitalismus der ›Lebensphilosophie‹ wie Husserl auf den Psychologismus. Er gestattet sich eine Erlebniserfahrung des Kunstwerks höchstens als Abstraktion, wenn er innerhalb der Denkfigur seines Seins-Begriffs von »Seinsergriffenheit« spricht. Mit der radikalen Abwehr jeden Erlebens der Kunst über die Empfindung als kognitiven Zugang zu Sinnerfahrung steht Heidegger in einer Reihe mit Th. W. Adorno und Thr. Georgiades bis zu einer modernen Kompositionsästhetik wie von Strawinsky – und gleichzeitig mitten im damaligen Zeitgeist der ›Neuen Sachlichkeit‹.78

Hören und Horchen auf das Sein – aber nicht auf die Musik Offenbart sich Heideggers Immanenz seines Denkhorizonts in der Feier des Todes als Apotheose, so äußert sie sich bei der Musik als Defizit. Sie spielt, wie bei Kant, in seinem Kunstdenken keine Rolle. Zwar bemerkt er aphoristisch »Singen und Denken sind die nachbarlichen Stämme des Dichtens«. Aber das meint den feierlichen Dichter-Sänger und Rhapsoden der griechischen Antike, der nicht vorträgt, sondern paradigmatisch ›nennt‹. Oder er fordert anti-cartesianisch »auf die Stimme des Seins zu hören« und widmet diesem »Hören und Horchen« einige Paragraphen in Sein und Zeit (§ 34, 55, 60). Aber die ureigenständigste Manifestation eines musikalischen Logos im Hören als andere Bekundung von ›Wahrheit‹, zugleich Offenbarung einer authentischen wie sinnlich wirkungsmächtigsten Präsenz als ein bedeutungsvolles ›Sein‹, findet keinen Platz. Obwohl gerade die Musik, wie keine andere Kunst, das exemplarische Objekt für den arkanen, vor-begrifflichen, ontologischen Statuts von Heideggers Seinsvorstellung sein könnte. Dass er sich auf einen solchen tief gegründeten logos der Musik nicht einlässt, berührt umso seltsamer, als Heideggers Rückbesinnung die Vorsokratiker mit der zentralen Rolle von Anaximander, Heraklit oder Parmenides zum Grundmaß seines Seins-Denkens macht. Dort findet aber der Logos der Musik nicht nur bei Heraklit und Empedokles Beachtung, wenn von der Harmonia als rationale Fügung bestimmter ›Teile‹ die Rede ist, noch intensiver bei Philolaus und Archytas von Tarent, sondern er erlangt bekanntlich exemplarische Bedeutung bei einem anderen prominenten Vorsokratiker: Pythagoras von Samos und seiner Schule.79 In der 78

Siehe Th. W. Adorno (2003), S. 105, 121 ff.; Ästhetische Theorie (1973), S. 21, 30, 362–365, 400; Thr. Georgiades (1967), S. 32–39, 95, 109, 177 ff.; I. Strawinsky, Musikalische Poetik, Mainz 1949 (siehe Kapitel X).

79

Vgl. diesbezügliche Belege bei H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 1934, S. 152, 322–323, 346.

369

Frage nach dem letzten Grund, der arché, als Urstoff alles ›Seins‹, stellen die Pythagoreer dem ›Stoff‹ die ›Zahl als Wesen aller Dinge‹ gegenüber. Das meint die rationale, mathematisch strukturierte Verfasstheit des Kosmos als anderen Erkenntnismodus einer Seinsbegründung, die bei Heidegger keinerlei Beachtung findet. Im Konzept der ›Sphärenmusik‹ als symbolisch-ideelle Repräsentanz »reiner Urbilder der Wahrheit« (Iamblichos, De vita Phythagorica liber) ist der Logos der Musik so präsent, wie in den ausführlichen pythagoreischen Auseinandersetzungen damit, von der Systematik der Intervallverhältnisse bis zu konkreten Einzelheiten musikalischer ›Grammatik‹.80 Heidegger beschäftigt das nicht. Er besaß zwar angeblich eine ansehnliche Schallplattensammlung, hatte eine Vorliebe für Haydn und Mozart, bezieht Richard Wagner in seine Zusammenstellung »historischer Zurechnungszahlen der deutschen Geschichte ein« und attestiert angelegentlich Schuberts Musik etwas, »das Philosophie nicht kann«.81 In Kontakten mit den Musikwissenschaftlern Wilibald Gurlitt und Heinrich Besseler während seiner Freiburger Universitätszeit wurde von ihm eine Verbindung seiner frühen Phänomenologie mit der Lebensphilosophie in Anwendung auf die Musik angedacht. Verstanden als »Vortheoretische Natur des menschlichen Erfahrens« steht sie im Kontext mit Heideggers »Hermeneutik der Faktizität« und seiner »Phänomenologie des Lebens«.82 Die Wirkungslinie dieser Verbindung ist noch im völkischen Denken und der ›rassenkundlichen‹ Umdeutungshermeneutik der nationalsozialistischen Ära erkennbar (wie bei Heinrich Besseler, Oskar Becker oder Ludwig Ferdinand Clauß).83 Reflexe dieser Phänomenologie spiegeln sich auch noch in der Musikphilosophie 80

Nach übereinstimmenden Überlieferungen wird Pythagoras sogar die Veränderung der alten Tonskala des Kitharöden Terpander von Lesbos mit dem Einschub des Ganztonschritts H-A über der Mese A zugeschrieben. Damit würde er nicht nur zum Schöpfer des strukturell zentralen Quint-Quartgerüsts, sondern auch der dorischen Tonart, dem klassischen Grundmodell des griechischen Skalenbaus und damit der abendländischen Skalenentwicklung schlechthin, vgl. Nicomachos, Excerpta bei: H. Diels (1934), S. 9 ff. u. 21 ff. sowie M. Vogel, Die Enharmonik der Griechen, Bd. 1, Düsseldorf 1963, S. 26.

81

M. Heidegger, Spiel und Unheimlichkeit historischer Zeitrechnungszahlen im Vordergrund der abgründigen deutschen Geschichte, wo er für das Jahr 1813 vermerkt: »Der deutsche Ablauf erreicht seine Höhe und Richard Wagner wird geboren« und für 1883 seinen Tod erwähnt, in: Überlegungen, Schwarze Hefte, GA Bd. 94–96. Der Romanist und Sprachwissenschaftler Hans-Martin Gauger berichtet, dass Heidegger, als ihm die Pianistin Edith Picht-Axenfeld in Freiburg Schubert vorspielte, bemerkt hatte: «Das kann Philosophie nicht« (Heidegger hört Schubert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 6. 3. 2013).

82

Vgl. Vorlesungen v. 1920/21 u. 1923, in: GA Bd. 59 u. 63, siehe auch unten, bei Gadamer.

83

Vgl. H. Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens, in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 1925, Leipzig 1926, S. 35–52; O. Becker, Nordische Metaphysik, in: Rasse, Bd. 3 (1936), S. 474–476; L. F. Clauß, Die nordische Seele, Halle 1923; R. Eichenauer, Musik und Rasse, München 1932. Vgl. auch R. Bayreuther, Musikalische Phänomenologie. Grundlegung einer Disziplin, in: Heidegger Handbuch, hg. v. D. Thomae, 2. Aufl., Stuttgart u. Weimar 2013, S. 509 ff.; A. Bowie, Philosophy and Modernity, Cambridge 2007, S. 291–298, 306–308.

370

des Schriftstellers Günther Anders (né Günther Siegmund Stern), der 1923 bei Husserl in Freiburg promoviert wurde.84 Wenn Gurlitt Kritik an der »Verdinglichung der Musik als Erlebnisgegenstand« übt oder wenn Besseler den »bloßen musikalischen Erlebnis-Künstler« schilt und Georgiades seine Auffassung von ›Geist‹ gegen ›Natur‹ und das musikalische ›Erleben‹ setzt, dann bleibt das im Horizont von Heideggers konsequenter denkerische Abwehr einer Sinnerfahrung des Kunstwerks über das Empfindungserleben. Erhellend dafür, wie er dessen Qualität einschätzt, sind die Verbindungen, die er zum negativ konnotierten »Machenschaftlichen« der Technik herstellt. Er spricht von der »Erlebnismaschinerie der modernen Technik« und der »Faszination am Technischen« als dem »technischen Unwesen des Erlebnisses«.85

›Wahrheit‹ ohne Differenz Es bedeutet nicht wenig, wenn es ein Denker inmitten der turbulenten bis chaotischen Kunstszene zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit ihren zahllosen -ismen, Programmen und Proklamationen unternimmt, das Kunstwerk wieder unverstellt ›vernehmen‹ zu wollen. Und, mehr noch, das ›Wesen‹ der Kunst als »Wahrheit des Seienden« zu begreifen, die Kunst als eine »Stiftung« und den Künstler als einen »Schöpfer, der aus dem Brunnen des Seins schöpft«. Das wären Prädikate erlesener Dignität. Aber Heidegger versteht diese Erscheinungsmodi des ›Seienden‹ ganz naturalistisch und materiell. Denn im Kunstwerk sieht er nur die »Welt welten« und erkennt die »Daheit« als Modus der »Faktizität« unserer »Weltlichkeit«: ein ästhetischer Existenzialismus, der nicht über Leinwand, Farbe, Holz, Stein und strikt Gegenständliches hinauszukommen scheint. Er befasst sich nicht damit, welche ›Welt‹ jeweils in einem Gemälde von Tintoretto oder van Dyck und Cézanne, einer Bach-Fuge, einem Streichquartett von Haydn oder einer Mozart-Sinfonie ›weltet‹. Bezeichnend dafür ist sein bekanntes Nachdenken über van Goghs Gemälde Schuhe (Öl auf Leinwand, 1886), eines Paars alter abgetragener Schuhe, mit denen er sich in seiner Schrift Der Ursprung des Kunstwerks beschäftigt. Es wird ihm – ab84

Vgl. G. Anders, Zur Phänomenologie des Zuhörens, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 9 (1926/27), S. 610–619 und seine Frankfurter (aber nicht eingereichte) Habilitationsschrift von 1930/31: Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen. Dort vertritt er, eher heideggerisch und im Gegensatz zu Adorno, einen Existenzialismus, der zwischen der »materialen Existenz« der Musik und der »existenziellen Situation des hörenden Subjekts« unterscheidet, vgl. dazu G. Anders. Musikphilosophische Schriften. Texte und Dokumente, hg. v. R. Ellensohn, München 2017. Wie sehr bei Georgiades die ›Sprache‹ generell untergründige Referenz für sein Musikdenken ist, zeigt sich bereits in seinen Schriften: Der griechische Rhythmus, Hamburg 1949; Musik und Sprache, Berlin 1954 sowie: Nennen und Erklingen, a. d. Nachlass hg. v. I. Bengen, Göttingen 1985. Dort führt er aus, dass die »Nennkraft« der sprachlichen Lautgestalt eine gleiche Bedeutung stifte, wie es sich auch in der Musik vollziehe.

85

Vgl. GA Bd. 65, Frankfurt a. M. 1989, S. 46, 124–128.

371

gesehen davon, dass er sich in souveränem kunstgeschichtlichem Unwissen über ihre wahre Provenienz hinwegsetzt (denn sie sind nicht ein Paar beliebiger ›Bauernschuhe‹, für die er sie hält)86 – zur ergreifenden Wahrnehmung dieser Existenzialität als deren innerster Was-heit. Damit folgt er dem Muster einer ›Kunstbetrachtung‹, die zur gleichen Zeit als Gegenposition zur Kunstkritik ideologiepolitisch opportun wird. So wird er zwar seinem Gegenstand fraglos mit ergreifend-einfühlsamer Beschreibung gerecht. Aber nicht mit einer irgendwie gearteten Unterscheidungskompetenz zwischen sehr verschiedenen Qualitäten von Aletheia. Denn offen bleibt in Heideggers Philosophieren, von welcher ›Wahrheit‹ jeweils welche Erscheinungsform von ›Sein‹ im konkreten Fall des Werks kündet, genauso wie die Frage, aus welchen ›Brunnen‹ der Künstler ›schöpft‹. Denn ob man das Schöne ›vernimmt‹ oder das Dämonische, das Humane oder das Bestialische, im banalsten Fall: Mozart oder Heavy Metal, Bach oder Rap macht eben jenen Unterschied aus, der ›Bedeutung‹ für das menschliche Bewusstsein definiert. Durch die bloße kategoriale Bestimmung als ›Seiendes‹ à la Heidegger wird die Differenz nicht erhellt, sondern kassiert. Seine Kunstbetrachtung bedient zwar als reine ›Wesensschau‹ des ›intentionalen Objekts‹ einer faktisch gegebenen ›Illusionswirklichkeit‹ perfekt die Eidetik phänomenologischer Objektivität à la Husserl. Sie leistet aber nicht das Mindeste für die Differenzbestimmung zwischen alten ›Bauernschuhen‹ und, sagen wir, einer Madonna von Raffael, zwischen Merda d’artista (Piero Manzoni, 1961) mit ihrem Nachfahren, dem Müllbuch aus gepresstem Abfall der Straßen von Athen (Daniel Knorr, documenta XIV, 2017) und den Schöpfungen von Michelangelo oder Ingres, auch nicht zwischen den Songs von Elvis Presley bis Bob Dylan und den Liedern von Schubert bis Richard Strauss. Solche qualitative Bestimmung würde nämlich auf eine Aussage über den geistigen Rang ihrer inhaltlichen ›Bedeutung‹ hinauslaufen. Damit wäre aber ein Werturteil verbunden, dessen Begründungslogik einen Maßstab mit festen Referenzpunkten erforderte. Dem aber muss sich Heidegger verweigern. Denn sein Philosophieren gilt eben der systematischen Problematisierung eines solchen ›festen Punktes‹, indem er ihn als letztlich ›metaphysisch‹ entlarvt – und damit als fatalen ›Trugschluss‹ verwirft. Jede Vorstellung eines anderen Wirklichkeitshorizonts ,wie er den großen Kunst- und Musikwerken des Abendlandes substanziell einge86

372

Van Gogh malte sie nicht als Metapher, sondern als konkrete Objekte aus seinem Leben. Die wirkliche Geschichte dieser, seiner eigenen Schuhe, mit denen er einen in seinem Leben höchst bedeutsamen Fußmarsch von Holland nach Belgien unternahm, wo er als Theologiestudent in den Fabriken predigte, berichtet van Gogh im Gespräch mit Paul Gauguin, mit dem er in Arles das Zimmer teilte; vgl. M. Schapiro, Theory and Philosophy of Art: Style, Artist, and Society. Selected Papers Vol. IV, New York 1998, Kapitel 5 u. 6. Dass sich Heidegger dennoch sensibleren Seiten einer Kunstbetrachtung nicht ganz verschloss, zeigt sich etwa in der großen Meditation Der Feldweg, Frankfurt 3. Aufl. 1962 oder: Aus der Erfahrung des Denkens, Pfullingen 1954.

schrieben ist und wie er jedem nicht wertblinden Verständnis erfassbar wird, betrachtet er als törichte Flucht des Menschen vor der Einsicht in seine existenzielle Beschränktheit mit ihren Apriori letztbestimmter Diesseitigkeit in Zeitlichkeit und endlicher, letaler Existenz. Es bedeutet auch nicht wenig, wenn er die ontologische Qualität der Sprache jenseits bloßer ›Konvention‹ tiefgründig wieder aufgreift und das Sensorium dafür schärft. Er vernimmt sie als Attribut des ›Seins‹, als ein »Dem dauernden Sein selbst Eigenes« und verleiht ihr den distinguierten Rang als das »Haus des Seins«. Das ist zugleich auch ein radikaler Rodungsversuch im verworrenen Sprach- und Metapherndickicht einer verworrenen Zeit, mit dem Heidegger die begriffliche ›Bedeutungsanalyse‹ der phänomenologischen Eidetik fast bis zu einer Art von etymologischer Mythologie ausweitet. Ähnliches will übrigens, wenn auch auf ganz andere Weise, Stefan George. Er strebt als Dichter zurück zur strengen, reinen Würde des Wortes, die er dem Leser bis hin zu den Mitteln ostentativer Kleinschreibung ohne Satzzeichen und mit dekorativer Kalligraphie neu ins Bewusstsein rufen will. Vielleicht kann man in solchem emphatischen Bemühen um das Wesen der Sprache einen letzten Rettungsversuch sehen vor ihrer positivistischen Reduktion als Funktionsergebnis einer ›blinden Evolution‹ à la Darwin und Dawkins oder auf die Verabredungs- und Zeichensysteme von Strukturalismus und Analytischer Philosophie. Denn jenes ›Wesen‹ gründet ja zuletzt im Urmythos der Schöpfungsgeschichte an den das biblische Wort: in principio erat verbum erinnert. Das aber meint das aus dem »Wort Gottes« gezeugte ›Sein‹ der Genesis, nicht das diesseitig ›Seiende‹ Heideggerscher Diktion. Die ontologisch begründete »Sprachfähigkeit« des Menschen (Noam Chomsky) zeugt noch davon. Das wäre ein transzendent bestimmter Logos, den Heidegger womöglich ahnungsvoll erspürt, vielleicht sogar unausgesprochen meint. Und über den er möglicherweise eine kryptische Beziehung zur deutschen Sprache und Dichtung stiften will, wenn er das Griechische der Vorsokratiker und das Deutsche in die Geistesverwandtschaft eines »germanischen Hellenismus« (Christian Iber) rückt: »Der Deutsche allein kann das Sein ursprünglich neu dichten und sagen …«87 und das er immer wieder etymologisch so eindringlich befragt, allem voran bei Hölderlin. Aber solche letztlich transzendente Qualitätsbestimmung wird nicht ausgesprochen, denn das wäre ja die alte, verworfene ›Metaphysik‹. Das Gleiche gilt für Heideggers Seinsbegriff. Das ›Sein‹ ist ihm zwar erster und letzter Grund seines Denkens wie auch Urgrund unseres ›Daseins‹. Mit beschwörendem Ton ruft er es unaufhörlich auf und hebt es so in unser modernes Bewusstsein als eine urweltliche ›Macht‹. Damit hat er seiner Philosophie nicht nur ihren besonderen Rang in der Moderne als ein fundamentales ›Ursprungsdenken‹ gesichert, sondern auch eine unerhörte Wirkung bis heute. Allein die Differenz zwi-

87

Notat Heideggers in den Schwarzen Heften 1931–1938, Überlegungen II–VI, GA Bd. 94, Frankfurt a. M. 2014.

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schen dem ›Sein‹ und dem ›Seienden‹ denkerisch aufzurufen und als »ontologische Differenz« zu problematisieren, schuf spektakulären Effekt. Noch mehr aber seine besondere Diktion existenziellen Fragens zwischen analytischer Helle und dunklem Raunen. Ihr seltsam suggestives Wirkungspotenzial rückt sie oft in die Nähe des Beschwörungsbanns großer Epen und emphatischer Narrative alter, dunkler Mythologien, wie sie, musikalisch, auch Richard Wagners abgründiger Erzähl-Zauber entfaltet. Was aber ist es, Heideggers Seyn?

Der Existenzialist als geheimer Theologe des Nihilismus Jede Aussage darüber, die über tautologische Umkreisungen, unaufgelöste Ambivalenzen und obskures Raunen hinausgeht, fehlt. Bereits im Schlüsselwerk Sein und Zeit, wo Heidegger die Frage nach dem Sein im ersten Kapitel (§ 1) als sein erkenntnistheoretisches Programm exponiert, heißt es: »Der Begriff des ›Seins‹ ist vielmehr der dunkelste« und weiter – mit Bezug auf Blaise Pascal, Pensées – »Der Begriff des ›Seins‹ ist undefinierbar« und »Das Sein ist definitorisch aus höheren Begriffen nicht abzuleiten und durch niedrige nicht darzustellen.« Er unternimmt es auch gar nicht. Vielmehr gewinnt er dem Obskuren eine andere, seine Fragestellung ab: »Die Undefinierbarkeit des Seins dispensiert nicht von der Frage nach seinem Sinn, sondern fordert dazu gerade auf.« Dieser Forderung folgt er – aber unter Dispens von einer Aufklärung des Obskuren. Das Opus blieb auch unvollendet, denn der angekündigte zweite Abschnitt von Sein und Zeit ist nie erschienen. Auch Heideggers späte Kolloquien dazu (1966 und 1973) bringen keine Aufklärung über die arkane »Istheit« dieses Seyns. Zwar fällt ex negativo einiges Licht darauf, wenn er alle anderen Bestimmungsversuche dazu kategorisch zurückweist, von den metaphysischen Spekulationen Platons und Aristoteles ohnehin, aber auch über die ›Objektivitäts‹-Ansprüche der cartesianischen und logischen Positivisten bis zur Popper’schen Formel von Verifizier- oder Falsifizierbarkeit samt aller naturwissenschaftlichen Empirik. Denn eben sie alle hätten ja die abendländische Menschheit nur in den Zustand jener »Seinsvergessenheit« geführt, in jene Uneigentlichkeit, von der die Welt der Moderne bis hin zu Barbarei und Absurdität gekennzeichnet sei. Als »Machenschaften« von Ideologien und Naturzerstörung und der Entmenschlichung der modernen Kultur bis zur Selbstentfremdung des Menschen analysiert er ihre Bestände hellsichtig mit radikalem Blick. Dies gilt besonders für die Herrschaft einer »planetarischen Technik«. Hatte er sie zunächst aus dem Verständnis der antiken technē positiv als »Hervorbringung und Erscheinen von Dingen« bewertet, so wird sie später als »Walten des Ge-stells« (etymologisch verstanden aus dem Gegen-gestellten) zum Teil jener »Machenschaften« der Seinsverdunklung in der Moderne und zur größten Bedrohung des Subjekts, ja alles Menschlichen schlechthin. Damit macht er sie nach der Metaphysik und der positivistischen Wissenschaft zur dritten der Verfallserscheinungen in sei-

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ner Negativgeschichte abendländischen Denkens. Weil ihre Dynamik autonomer Verselbstständigung nicht mehr durch den Menschen beherrschbar sei, »führt ein Geschick den Menschen seiner Entmachtung zu«. Als ein »Bestand«, der nicht aus menschlichem Tun zu erklären ist, sei sie nicht mehr auf »ein kontrollierbares ›Gemächte‹ reduzierbar.«88 Das beschreibt immerhin so scharfsichtig wie prophetisch eine Entwicklung zur Lebenswirklichkeit der Moderne. Mit ihrer Funktionaliät einer tatsächlich ›plantetarischen‹ und autonom agierenden technischen Ratio, inzwischen mit Nukleartechnologie, Genschere und digitaler Kybernetik mit KI bis Robotik ist sie ihm ein schicksalhaftes »Verhängnis«: »Nur noch ein Gott kann uns retten« ruft er emphatisch aus (Spiegel-Interview, 1966). Von gleicher Kompetenz des Scharfblicks sind die vielen Ambivalenzen seines Denkens allerdings nicht bestimmt. Ambivalent ist ihm die Welt Schauplatz einer paradoxen »Verbergung als Bergung« und »Entbergung« ist auch einer seiner Begriffe für die ›Technik‹. Im Kunstdenken formuliert er die Antinomie von gleichzeitiger Verborgenheit und Selbstoffenbarung der »Wahrheit« des Kunstwerks: »In der Un-verborgenheit waltet die Verbergung«. Gesteigert zu einem hermeneutischen Zirkel selbstbezüglicher Tautologien erscheinen die diffusen Ambivalenzen in der letzten, wichtigsten Frage, was das Seyn sei: »Was ist das Sein? Es ist Es selbst«. Es ist also weder eine Substanz noch ein Zustand noch eine okkulte Kraft. Es ist alles – aber es ist auch in der »Nichtigkeit« enthalten. »Sein: nichts«, sagt er – aber nicht verstanden als Nihil, denn Heideggers »Nichtigkeit« meint nicht Negation des Seins, sondern Partizipation: »Das Nichten des Nichts ›ist‹ das Sein.« Sogar in seiner wichtigsten Denkfigur, der Trennung des Seins vom Seienden, also der »Ontologischen Differenz«, gelangt er über einen tautologischen Zirkelschluss, den er selbst erkennt, nicht hinaus.89 So hat er auch für die Bestimmung des Seyns keine andere Lösung als die Tautologie: »Es ist es selbst«. Diese fundamentalistische Tautologie als Identität eines mit sich selbst Identischen ist aber nicht anderes, als die finale mystische Tautologie des jüdisch-christlichen Gottes-Prädikats: »Ich bin, der ich bin«. Damit wäre der Denker als der Theologe enthüllt, der er am Anfang werden wollte. Er okkupiert einen expliziten Seinsbegriff von essenzieller Natur zwar mit einem immanentem aus seinem Denken. Aber solches Seyn »aus sich selbst« könnte sinnvollerweise auch durch ›Das Eine‹ oder »Absolute« ersetzt werden, wie es längst bei den großen alten Denkern reflektiert wird: von Platon und von Plotin im Neupla88

Das Technik-Thema wird vielfach, oft in Verbindung mit ›Wissenschaft‹, behandelt, vgl. Sein und Zeit, I. 30, II 26 sowie: Die Frage nach der Technik, Vortrag, München 1953 in: GA Bd. 7; Die Zeit des Weltbildes, GA Bd. 5, Die Frage nach dem Ding, GA Bd. 41, Technik, GA Bd. 65 u. 76.

89

M. Heidegger, Identität und Differenz, GA Bd. 11, Frankfurt a. M. 2006, Teil 1, S.27 ff. u. 31.

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tonismus als das »Erste Prinzip« oder das »Absolute« – letztlich als das Numinose, ein ewiges, göttliches ›Sein‹. Damit enthüllte sich aber der moderne Existenzialist als alter Essentialist. Denn das wäre nichts anderes als eine philosophisch larvierte post-doktrinäre Theologie, die mit rationalem denkerischem Schein wieder zu jener Metaphysik wird, die Heidegger so entschieden zu liquidieren unternahm.90 Zwar fehlt ihr das ureigentliche Subjekt: Gott und formuliert so eine Gnosis des A-Theos – obwohl ihn Heidegger affirmativ in seiner Hölderlin-Emphase umkreist und zuletzt heftig mit dem »rettenden Gott« akklamiert als einzigen Ausweg aus den schicksalhaften Verhängnissen einer apokalyptischen Technik. Aber in seinem philosophischen Denken kommt er weder als Vorstellung noch als Möglichkeit, schon gar nicht als Erfahrung, je vor. So sticht uns Heideggers Denken unter dem distinguierten Prädikat des ›Fundamentalontologischen‹ zwar manchen Star in der problematischen Optik unserer abendländischen Moderne, sein Blick lenkt uns mit strengem denkerischen Ernst in die Tiefe und seine Rede mit dunklem Raunen auf ein immer wieder ahnungsvoll umkreistes Geheimnis – aber versagt uns, im einen wie im anderen, einen Weg zu dessen Erkennen, verhüllt es vielmehr hinter komplexen und zirkulären Denkfiguren mit auratischer Ambivalenz womöglich dichter als zuvor: hinter dem abgründigen Raunen – das Nichts.91 Die Fundamentalontologie letztlich als erhabe-

90

Scharfsichtig auf den Punkt gebracht von George Steiner in seiner konzentrierten Analyse der Heidegger’schen Philosophie: Martin Heidegger. Eine Einführung, München 1989, S. 114 ff.: weil Heidegger nicht nur das »Sein« vom »Seienden« so kategorisch unterscheide, sondern auch das »Nichts« als »Nichten« in seine Vorstellung vom Seyn ausdrücklich einbeziehe, stehe es dem En sof der kabbalistischen Kosmologie, dem »unbegrenzten, unendlichen Einen« und damit einem genuin Essentialistischen in widersprüchlicher Weise näher als jener Immanenz, die Heideggers Denken so konsequent vertritt. Tatsächlich aber bleibt Heideggers Seins-Begriff wie seine Vorstellung von der Qualität dieses Seyns vollkommen offen. Zur grundlegenden Differenz mit einer ganz anderen, tieferen Dimension des Seins-Begriffs, nämlich einem »Ur-Sein« unter dem Aspekt einer größeren »Wirklichkeit«, vgl. bei Bȏ Yin Rȃ, En sȏph, in: Das Buch vom lebendigen Gott (1927), S. 111– 120, sowie: Hortus Conclusus, Basel 1936, S. 187 ff.

91

Auch eine kritische Heidegger-Rezeption macht inzwischen den blanken Nihilismus als Kern seiner Philosophie aus, worüber bereits sein Schüler Karl Löwith nachgedacht hat (Heidegger-Denker in dürftiger Zeit, Frankfurt 1953). Vgl. K. Popper, Unended Quest, Glasgow 1976; H. Givsan, Heidegger – Das Denken der Inhumanität, Würzburg 1998. Seit der Publikation seiner Schwarzen Hefte aus den Jahren 1938 bis 1948 (ediert i. d. GA, Bd. 94 bis 98, Frankfurt a. M. 2014, 2015, 2018) tritt auch der vorher schon thematisierte Vorwurf einer Nähe zu Nationalsozialismus und Antisemitismus in den Vordergrund, besonders wenn er zu den »Machenschaften«, die eine ursprüngliche »Seinserfahrung« versperrten, Kommunismus, Amerikanismus, Technik und Judentum zählt. Vgl. V. Farias, Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1989; E. Faye, Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie – Im Umkreis der unveröffentlichten Seminare zwischen 1933 und 1935, Berlin 2009; D. Di Cesare, Heidegger, und die Juden, die Shoah, Frankfurt a. M. 2015; P. Trawny Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Frankfurt a. M. 2014; ders., Martin Heidegger. Eine kritische Einführung, Frankfurt a. M. 2016.

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ne Legitimation eines eindrucksvollen aber bedeutungsblinden Seins-Nihilismus, die schneidende Anklage der ›Seinsvergessenheit‹ ohne Auflösung zu irgendeinem Sinnhorizont, die radikale Dekonstruktion des abendländischen Denkens nicht als ›Seinserhellung‹, sondern als Fortsetzung aller seiner inkriminierten ›Seinsverdunklungen‹ über Nietzsche hinaus, bis zu ihrem existenzialistischen Reflex bei Sartre, Camus, Beckett, Kafka oder Ionesco. Und damit letztlich als distinguierter Vordenker des Nihilismus der abendländischen Moderne, der wie ein basso continuo auch deren ästhetisches Kunst- und Musikdenken grundiert.

Hermeneutische Künste II: der Königsweg des richtigen ›Verstehens‹ bei Gadamer »Nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen«, schleuderte Nietzsche den wissenschaftsberauschten Köpfen seiner Zeitgenossen entgegen (Nachgelassene Fragmente 1885–1887). Damit deckt er den zutiefst selektiven Charakter unserer Welterkenntnis auf. Gegen jede ›Objektivität‹ steht ein legitimer ›Standpunkt‹. Das redet einem universalen Perspektivismus aus der jeweiligen historischen, kulturellen oder individuellen Situation das Wort – ein vorweggenommenes Plädoyer für den postmodernen ›Konstruktivismus‹. Sein Problem ist allerdings, dass es in der Praxis schlecht funktioniert, weil die immer wieder Entscheidungen zwischen den verschiedenen ›Perspektiven‹ verlangt. Man muss also die angemessenen Kriterien jeweiligen ›Interpretierens‹ finden. Nietzsche bleibt cartesianischer Bilderstürmer, wenn er für das Recht, was als Tatsache gelten darf, ein pragmatisches Kriterium wählt, nämlich diejenige Perspektive, die den größten Wert »für das Leben« hat. Dahinter steht sein »Wille zur Macht« als autokratische Deutungsdoktrin für alle Fakten. Max Weber entscheidet sich später für das »Erkenntnisinteresse« als Leitperspektive, Jürgen Habermas für einen idealisierten Konsens im »kommunikativen Handeln«. Alles aber hängt letztlich an der ›angemessenen‹ Interpretation, einem möglichst sachgemäßen ›Verstehen‹ aus einem Zusammenhang. Das gilt auch für einen ›Text‹ – gleich ob schriftliches Dokument oder der Metatext der Geschichts- oder einer Lebenserzählung. Bereits bei Heidegger hatte sich in seine ontologischen Befragungen des ›Daseins‹ die grundlegende Frage nach diesem richtigen ›Verstehen‹ eingemischt. Er geht ihr in seinen frühen Vorlesungen zur Hermeneutik der Faktizität nach. Und hier taucht auch das Schlüsselwort zu einem Konzept des Verstehens auf, das besonders für Kunst und Geisteswissenschaften größte Wirkung erlangt: die Hermeneutik. Der griechische Begriff Ẻςμνεύειν umfasst ein Bedeutungsfeld, das von ›ausdrücken‹ und ›erklären‹ bis zu ›auslegen‹ und ›interpretieren‹ reicht. Als Topos einer forschenden ›Befragung‹ ist die Methode alt. Aber als Idee einer allgemeinen ›Kunstlehre des Verstehens‹ und einer eigenen ›Theorie der Ausle-

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gung‹ etabliert sie sich erst im 19. Jahrhundert.92 Bei Dilthey und Heidegger, zuletzt am umfassendsten bei Hans-Martin Gadamer, entwickelt sie sich schließlich zum Anspruch einer »Selbstaufklärung des Verstehens.« Wesentlicher Bestandteil der Methode ist die Lehre vom scopus, wonach jedes Detail aus seinem Kontext zu erklären sei. Sie findet im ›Hermeneutischen Zirkel‹ ihre bekannte Form: «Das Grundgesetz alles Verstehens und Erkennens ist, aus dem Einzelnen den Geist des Ganzen zu finden und durch das Ganze das Einzelne zu begreifen.«93 Daran ist, im späteren Verständnis von Heidegger und Gadamer, aber schon immer ein durch Erfahrung erworbenes, inneres ›Vorverständnis‹ maßgeblich beteiligt. Der berühmte Theologe Friedrich Schleiermacher bezog dieses Verstehenskonzept noch vor allem auf die Aufklärung dunkler oder schwieriger Bibelstellen. Bei Dilthey wird es, wenigstens als ehrgeiziger Entwurf, bis zu einer methodischen Begründung der Geisteswissenschaften als ›Verstehenswissenschaften‹ fortgeführt. Gadamer weitet es schließlich bis zu einer universellen Existenzialhermeneutik aus, die für alle Arten des Verstehens Geltung beansprucht. Für Schleiermacher war das Verständnis von Hermeneutik zwischen philologischer Textkritik und »ahndender« Deutung angesiedelt, bestimmt vor allem vom Gedanken einer ›Rekonstruktion‹ des tatsächlich ›Gemeinten‹, weil er von der Vermutung eines notorischen Missverstehens aller überlieferten Texte ausging. Das erinnert bereits an die moderne Skepsis mit der »Hermeneutik des Verdachts«, wie sie der französische Philosoph Paul Ricœur formuliert. Sie ist zur impliziten Grundlage vieler geisteswissenschaftlicher Untersuchungen geworden: Der Interpret weiß mehr über einen Text als sein Autor. Das rechtfertigt die Legionen der Exegeten. Dilthey hingegen erkannte im Zeitalter einer rasant aufsteigenden Deutungsmacht der Naturwissenschaften und dem Relativismusdilemma des Historismus das Problem einer fehlenden, eigenen VerstehensMethodologie der Geisteswissenschaften. Als deren Anwalt wollte er ihr wissenschaftliches Eigenrecht durch verbindliche erkenntnistheoretische Grundlagen sichern: Ganzheitlich ›verstehend‹ sollten sie ihren Gegenstand erfassen, nicht analytisch ›erklärend‹ nach Art der Naturwissenschaften.94 Ähnlich äußert sich bereits 92

Zur Vorgeschichte des Hermeneutischen von der Antike bis zu Schleiermacher, vgl. J. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt, 2. Aufl. 2001, S. 33– 102.

93

So formuliert es der Schelling-Schüler Friedrich Ast in seinen Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, Landshut 1808, § 75.

94

Damit wollte Dilthey zwischen geschichtlicher Erfahrung und dem idealistischen Erbe der Historischen Schule eine neue, erkenntnistheoretisch tragfähige Grundlage schaffen. Was Kant für die Naturerkenntnis unternommen hatte, sollte jetzt für die geschichtliche Erkenntnis geleistet werden: Die Kritik der reinen Vernunft sollte durch eine Kritik der »historischen Vernunft« ergänzt werden. Obwohl Diltheys wissenschaftliches Lebensmotiv beständig von dieser gnoseologischen Fundierung des wissenschaftlichen Ranges der Geisteswissenschaften bestimmt ist, gelangt er nicht zu einem ausformulierten Theoriewerk. In seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften, Leipzig 1883, entwickelt er als festen Punkt geisteswissenschaftlicher Forschung die »innere Erfahrung« als »Tatsache des

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der Historiker Johann Gustav Droysen im Bemühen, den Wissenschaftscharakter der Geschichtsforschung zu begründen.95 Aber schon Schleiermachers hermeneutische Denkfrüchte sind nie zu einer offiziellen, publizierten Darstellung gereift, und Dilthey galt den Zeitgenossen in Berlin als »Mann der ersten Bände«, dessen gewaltiges Schaffen so Fragment blieb wie seine hermeneutische Begründung der Geisteswissenschaften. Auch Heidegger formuliert kein methodisches Hermeneutik-Konzept; in Sein und Zeit widmet er ihm nur einen marginalen Platz (§ 31–33). Vor allem aber gibt er der traditionellen hermeneutischen Befragungsmethode von Anfang an eine völlig andere Wendung. In seiner Hermeneutik der Faktizität von 1923 entwickelt er nämlich das Thema nicht aus dem bisherigen erkenntnistheoretischen Verständnis des intelligere, sondern pragmatisch am Funktionieren jedes Verstehens im Alltag Bewusstseins«. Zur Begründung bemerkt er, dass alle Wissenschaft zwar Erfahrungswissenschaft sei, aber Erfahrung doch ihren Zusammenhang und ihre Geltung im strukturierenden Apriori unseres Bewusstseins habe. Die ganze Wirklichkeit stünde demnach unter den Bedingungen des menschlichen Bewusstseins und erst eine psychologische Grundlagenreflexion sei imstande, die Objektivität geisteswissenschaftlicher Erkenntnis zu begründen. Allerdings schwebt Dilthey dabei eine Psychologie neuer Art vor, die eben nicht atomistisch-zergliedernd ›erklärt‹, sondern verstehend aus dem ganzen strukturellen Lebenszusammenhang, wie er im Erlebnis gegeben ist, verfahren würde, skizziert in seinen Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie von 1895. »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir« lautet seine Quintessenz. Allerdings ist der zweite Band seiner Einleitung, mit der er eine erkenntnistheoretisch logische und methodologische Grundlegung dieses Vorgehens liefern wollte, nie erschienen. Seine Entwürfe dazu wurden 1982 in Band XIX der Gesammelten Schriften, hg. v. H. Johach u. F. Rodi, zusammengestellt. Vgl. dazu H.-U. Lessing, Die Idee einer Kritik der historischen Vernunft, Freiburg u. München 1984 sowie ders., Wilhelm Diltheys ›Einleitung in die Geisteswissenschaften‹, Darmstadt 2001. 95

Auch Droysens Theorie der Interpretation entwickelt die Unterschiede zwischen den Verfahren von Natur- und Geisteswissenschaften. Danach wird eine gegebene Tatsache »erklärt« durch Rückführung auf ein allgemeines Gesetz. »Verstanden« wird hingegen ein Sinn, der aber nicht unmittelbar gegeben ist und sich nur über Ausgedrücktes erschließt. Das Verstehen hat also nicht mit Tatsachen zu tun, sondern mit dem, was hinter den Tatsachen liegt: »Es heißt die Natur der Dinge, mit denen unsere Wissenschaft beschäftigt ist [gemeint ist die Historik], zu verkennen, wenn man meint, es da mit objektiven Tatsachen zu tun zu haben. Die objektiven Tatsachen liegen in ihrer Realität unserer Forschung gar nicht vor.« Vgl. Droysen, Kunst und Methode, in: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte v. 1867, hg. v. R. Hübner, München 7. Aufl. 1939, Nachdruck Darmstadt 1977, S. 20). Historisches Forschen ist also »forschendes Verstehen« in dem präzisen Sinne, dass es stets hinter das Gegebene, etwa Zeugnisse und Quellen, zurücksetzen muss, um zu einem Sinn vorzudringen, der aber nie dinghaft gegeben ist. Deshalb ist der verstehende Forscher an der Gestaltung seines eigenen Gegenstandes stets schöpferisch mit beteiligt. Über die erkenntniskritischen Probleme des Historismus zwischen den relativen Verstehenswahrheiten eines bestimmten Epochenkontextes und dem Anspruch einer objektiven ›Wahrheit‹ kommt auch der Altertumswissenschaftler August Boeckh dazu eine »wissenschaftliche Entwicklung der Gesetze des Verstehens« anzubieten. Seine Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften hg. v. E. Bratuscheck 1877 (Nachdr. Darmstadt 1977), löst diesen Anspruch allerdings nicht ein.

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menschlicher Lebenswelt. Heidegger geht von der Redeweise eines »sich auf etwas verstehen« aus, die weniger ein Wissen als vielmehr eine Fertigkeit oder ein Können meint. »Eine Sache verstehen« heißt ihr gewachsen sein, mit ihr im praktischen Leben zurechtzukommen, etwas zu »können«. Dieses praktische Verstehen denkt Heidegger als ›Existenzial‹, also als eine Seinsweise oder einen Grundmodus, kraft dessen wir in dieser Welt überhaupt zurechtkommen. Es entspringt nichts anderem als der »Sorge um unser Überleben in der Welt«, einer unumgänglichen »Selbstbekümmerung des Daseins«. Heidegger will diese existenzielle Verstehensleistung in den unhinterfragten Strukturen ihres Vorverständnisses aufklären und verwendet für dieses vorprädikative Verstehen, das stets unter der Würde philosophischen Reflektierens geblieben sei, den Begriff des ›Hermeneutischen‹. Damit vertieft er ihn, wie schon in seiner Fundamentalontologie, zu einer Art von Existenz(ial)hermeneutik. Weil wir mittels ihrer in einer »Selbstaufklärung« die Modalitäten der spezifischen »Geworfenheit« in die temporale, geschichtliche Natur unserer Existenz wenigstens zu erhellen vermögen, sind wir ihnen nicht ganz hoffnungslos ausgeliefert. Solche Bewusstwerdung heißt bei Heidegger »Auslegung« als Aus-einander-legung des schon implizit Vorverstandenen: »Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein.«96 Von dieser Existenz(ial)hermeneutik führt der Weg Gadamers zu einem großen Konzept einer universalen, historisch informierten Verstehenstheorie. Ihr Schlüsselwerk ist Wahrheit und Methode (Tübingen 1960). Gadamers Ausgangspunkt ist eine kritische Auseinandersetzung mit der alten Frage um die Grundlagen geisteswissenschaftlichen und geschichtlichen Verstehens, der Heidegger aus dem Weg geht. Seine Schlusseinsicht ist eine »Ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache«, wie der Titel des letzten Teils von Gadamers Werk lautet. Gadamer will aber keinen neuen Methodenapparat liefern. Im Gegenteil: Sein Konzept gilt der Zurückweisung des methodologischen Positivismus der Naturwissenschaften mit ihrem einseitigen Verständnis des ›Objektiven‹ samt den Zwängen daraus für die Geisteswissenschaften. Vielmehr macht er deutlich, dass der moderne wissenschaftliche Objektivitätsbegriff einen Sonderfall darstelle, eine »Abart von Verstehen«, wie sie bereits bei Heidegger kritisch thematisiert wird. Er wirft dieser Art von ›Verstehen‹ nämlich vor, dass es »sich in die rechtmäßige Aufgabe einer Erfassung des Vorhandenen in seiner wesenhaften Unverständlichkeit verlaufen hat« (Sein und Zeit, § 32). Von da aus kommt er dann auch zu seinem berühmten Diktum: »Wissenschaft denkt nicht«, womit er eine methodische Horizontbegrenzung 96

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Vgl. Heidegger, Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, in: Heidegger, GA Bd. 63, 2. Aufl. 1995, S. 12; Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA Bd. 20, 3. Aufl. 1994, S. 286 u. Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA Bd. 21, 2. Aufl. 1995, S. 143–161, 410.

durch die »rechnende Vergegenständlichung des Seienden« erkenntnistheoretisch kritisiert.97 Im Unterschied dazu begreift Gadamer Verstehen als die ursprüngliche Vollzugsform des Daseins, als ein »In-der-Welt-sein«. Von da aus entwickelt er eine Aufklärung der Fragehorizonte, die jeder Methode vorausliegt. Ihre Grundlage ist das unvermeidliche Verstricktsein in die Geschichte und die Endlichkeit des Daseins als Schicksal menschlicher Existenz. Denn das »Objekt ist von der gleichen Seinsweise der Geschichtlichkeit wie das Subjekt der Erkenntnis«. Weil diese Relation auch das Wesen des Kunstwerks bestimmt, kommt ihm bei Gadamer besondere Bedeutung zu.

»Die Freilegung der Wahrheitsfrage an der Erfahrung der Kunst« So lautet deshalb vielversprechend der erste Teil von Wahrheit und Methode. Und wieder geht es um die ›Wahrheit‹ in der Kunst. Über eine radikale Kritik an Kant, der mit der verhängnisvollen Suspendierung der Erkenntnisfunktion der Kunst zugunsten der Subjektivierung des Geschmacks das Abstraktionsprodukt des »ästhetischen Bewusstseins« ermöglicht habe, sowie den grundsätzlichen Widersprüchen in der Geschichtsauffassung des Historismus, sucht Gadamer der ›Seinsart‹ der Kunst näherzukommen und sie gewissermaßen als Organon richtigen Verstehens nutzbar zu machen. Ihre ›Wahrheit‹, die er immerhin als »Selbstvergessenheit« und »absoluten Augenblick« jenseits aller kunstwissenschaftlichen Reflexion erfährt, bringt er aber ontologisch mit dem Spiel auf den Punkt. Anders als in Friedrich Schillers Theorie vom Spiel, wo sich ›Freiheit‹ am ästhetischen Schein realisiert, aber nahe an Johan Huizingas Homo ludens mit seiner These vom Ursprung der Kultur im Spiel, erkennt Gadamer im Wesen des Spiels mit der ›Darstellung‹ des Werks und der gleichzeitigen ›Verwandlung‹ der Beteiligten das Essenzielle der ›Seinsweise‹ des Kunstwerks. Die Funktion der Darstellung ist für ihn in einem tiefen Weltbezug des Kunstwerks verankert, wie es sein ursprünglicher Kern als Kulthandlung bezeugt. Der Spieler aber verwandelt sich ebenso wie der Zuschauer im ›Geschehen‹. Danach hat das Spiel sein Sein »nicht im Bewußtsein oder im Verhalten des Spielenden«, sondern »zieht diesen im Gegenteil in seinen Bereich und erfüllt ihn mit seinem Geiste. Der Spielende erfährt das Spiel als eine ihn übertreffende Wirklichkeit«, das sich in der Aufnahme durch den Zuschauer als ›Geschehen‹ vollendet.98 Demnach erweist sich ›ästhetisches Verhalten‹ als »ein Teil

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M. Heidegger, Was heißt Denken (Vorlesungen Wintersemester 1951/52), ediert in: GA Abt. I, Bd. 8, Frankfurt a. M. 2002, S. 9. Gadamer führt dazu aus: »Die Wissenschaft ist alles andere als ein Faktum, von dem auszugehen wäre. Die Konstitution der wissenschaftlichen Welt stellt vielmehr eine eigene Aufgabe dar, die Aufgabe nämlich, die Idealisierung, die mit der Wissenschaft gegeben ist, aufzuklären«, vgl. Wahrheit und Methode, 4. Aufl., Tübingen 1975, S. 245 (siehe auch Kapitel XI)

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Gadamer (1975), S. 104–105.

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des Seinsvorgangs der Darstellung und gehört dem Spiel als Spiel wesenhaft zu«. Auch die Lektüre eines Textes vollzieht sich als ein ›Geschehen‹, in welchem sich der gelesene Inhalt zur Darstellung bringt, ebenso wie das Bild. Sogar die musikalische Partitur ist die »›Anweisung zu einem Tun.« (Gadamer, 1975, S. 140). Die abstrahierende Isolierung im ›ästhetischen Bewusstsein‹ à la Kant kann in Wirklichkeit die Zugehörigkeit des Kunstwerks zu seinem ursprünglichen Weltbezug nicht aufheben. Aber ebenso unbezweifelbar sei es auch, dass die Kunst niemals nur vergangene ist, sondern den Abstand der Zeiten durch ihre eigene ›Sinnpräsenz‹ zu überwinden weiß. »Insofern zeigt sich am Beispiel der Kunst nach beiden Seiten hin ein ausgezeichneter Fall von Verstehen« (S. 158). Gadamer verweist dazu auf Hegels Phänomenologie des Geistes: »Das Wesen des geschichtlichen Geistes ist nicht die bloße Rekonstruktion des Vergangenen, sondern die denkende Vermittlung mit dem gegenwärtigen Leben.« (S. 161). Von daher zieht Gadamer die Konsequenzen für seine universale Hermeneutik. »Die Ästhetik muß in der Hermeneutik aufgehen: Die Hermeneutik muß nämlich so bestimmt werden, daß sie der Erfahrung der Kunst gerecht wird« (S. 157). In der weiteren Entwicklung des Themas tritt allerdings die kognitive Betroffenheit vor dem Kunstwerk in den Hintergrund zugunsten einer detailreichen Analyse der historischen Dialektik. Ihre Aufklärung soll vor allem der »Wiedergewinnung des hermeneutischen Grundproblems« nach Kants folgenreicher Exilierung der Kunst im privaten »ästhetischen Bewusstsein« dienen. Gleichzeitig sollen damit neue Perspektiven für das besondere ›Verstehens‹-Verständnis der Geisteswissenschaften aufgezeigt werden (»Ausweitung der Wahrheitsfrage auf das Verstehen der Geisteswissenschaften«). Im Zentrum steht dabei die Rehabilitierung von Tradition, Geschichte und Autorität unter dem Aspekt der unhintergehbaren, aber produktiven Vorurteilsstruktur aller Beschäftigung mit dem historischen Objekt. Bereits in seiner Auseinandersetzung mit der Unterscheidung des Physiologen Hermann Helmholtz, der die »logische Induktion« der Naturwissenschaften von der »künstlerischen Induktion« der Geisteswissenschaften unterscheidet, hatte sich Gadamer zu einem damit verbundenen »psychologischen Taktgefühl« (H. Helmholtz) als Grundlage jedes geisteswissenschaftlichen Verstehensbegriffs bekannt.99 Geformt durch die abendländische humanistische Tradition mit ihren Bezügen und Werten bestimmt es den natürlichen Horizont eines spezifischen Vorverständnisses, das alle Beschäftigung mit seinen Gegenständen prägt. Was aber den naturwissenschaftlichen Positivisten als Einschränkung des ›Objektiven‹ erscheint, verwandelt Gadamer in eine zentrale Quelle der Erkenntnis. Denn in diesem ›Vorverständnis‹ sind alle Sinn- und Bedeutungspotenziale akkumuliert, die verschiedene Epochen und Sichtweisen am 99

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Anlass war ein viel beachteter Vortrag von Helmholtz in Heidelberg 1862, Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaften, vgl. Gadamer (1975), S. 3 ff.

historischen oder ästhetischen Gegenstand freigesetzt haben. Es erlangt deshalb gleichsam den Rang einer »transzendentalen Bedingung des Verstehens«. Weil es aber als quasi unaufhebbares Attribut jedem historischen Gegenstand zugehört, hat es nicht mehr die akzidentelle Rolle eines subjektiven, beliebigen Charakters, sondern gewinnt die autonome Qualität eines »wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins«. Das aber ist präsent, unabhängig davon, ob es subjektiv anerkannt wird oder nicht: »Darum sind Vorurteile des Einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins«. Hegelianisch gesprochen: mehr Substanz als Subjektivität. Gadamer fasst dieses »wirkungsgeschichtliche Bewusstsein« deshalb mehr als ein ›Sein‹ auf, denn als ein ›Bewusstsein‹ (S. 261). Damit bezeichnet er die »hermeneutische Situation«, die es gilt, sich in der Befragung des historischen Objekts bewusst zu machen. In der Praxis bedeutet das – im Heidegger’schen Sinne des »Sich-Verstehens auf …« – also die sinnvolle Anwendung auf die Situation und die jeweilige Fragestellung als epistemologischen modus operandi. Einen Text der Vergangenheit verstehen heißt demnach, ihn in unsere Situation zu übersetzen, in ihm eine sprechende Antwort auf die Anfragen unserer Zeit zu hören. Damit wird das »Anwenden« in das »Verstehen« mit hineingenommen und verleiht ihm den Charakter eines dynamischen Geschehens. (Verstehen und Geschehen war bezeichnenderweise die ursprüngliche Titelidee zu Gadamers Hauptwerk).100 »Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen«, nennt er das – ein Vorgang, bei dem wir, ob wir wollen oder nicht, mehr der Geschichte gehören, als dass sie uns gehöre. Diese Geschichtlichkeit der Anwendung schließt die Vorstellung eines Nullpunktes des Verstehens aus, wie sie der Historismus mit der Idee eines den Epochen enthobenen ›objektiven‹ historischen Bewusstseins und der Auslöschung des interpretierenden Subjekts suchte. Gadamer entlarvt sie qua Heidegger als metaphysikabhängiges Erkenntnisideal, das in seiner epistemologischen Obsession eben den ›naturwissenschaftlichen‹ Zeitgeist der Historismus-Periode widerspiegle und damit genau jener Geschichtlichkeit verfalle, die es aufheben wollte (S. 254, 283). So gehorcht Gadamers Hermeneutik der Anwendung auf eigene Weise einer Dialektik von Frage und Antwort: Etwas verstehen heißt nicht abstrakte Sinnsuche, sondern etwas auf uns so anzuwenden, dass wir in ihm eine Antwort auf unsere Fragen entdecken. Ein Text wird nur sprechend dank der Fragen, die wir hier und jetzt an ihn richten. Deshalb muss man sich nicht um die Ausschaltung unserer fragenden Sinnerwartung bemühen, sondern um deren Hervorhebung, damit die Texte darauf umso deutlicher antworten können. Wenn sich aber Verstehen als Verwirklichung einer Dialektik von Frage und Antwort begreift, dann erscheint »Verstehen als Wechselverhältnis von der

100 Vgl. J. Grondin, Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen 1999, S. 319.

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Art eines Gesprächs« (S. 359). Hier, mit Dialog und Gespräch ist Gadamer schließlich im Kern seines Hermeneutikkonzepts angelangt: Unser Verstehen ist eine Teilhabe an einem Sinn, dann einer Tradition, schließlich an einem Gespräch. Weil das Medium jeden Gesprächs aber die Sprache ist, kommt ihr eine überragende Bedeutung zu. Sie ist die »Vollzugsform des Verstehens«. Als Höhepunkt seiner Verstehenstheorie formuliert Gadamer deshalb eine ontologische Sprachhermeneutik als Grundlage unserer Welterfahrung: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache« (S. 450). Aber er macht sie nicht als Herrschaftsinstrument einer abendländischen ›Aussagelogik‹ zum Medium des Verstehens, sondern als ein lebendiges Geschehen in einem beteiligten Frage- und Antwortspiel. Das ist eine letzte Absage an den abendländischen Logozentrismus als höchste Instanz unseres Weltverstehens, wie sie schon der Anfang von Wahrheit und Methode so entschieden intoniert.

Eine ›Sinnpräsenz‹ mit beschränktem Sinn Damit präsentiert sich Gadamers Werk als eine »große Phänomenologie des Verstehensgeschehens« (Jean Grondin) aus der späten Erbmasse des deutschen Idealismus. Kundig anknüpfend an die antiken Denker, hegelianisch abgetönt, Dilthey verpflichtet aber nachhaltig von Heidegger inspiriert, erweisen sich diese Annäherungen an die Objekte ›geisteswissenschaftlichen Verstehens‹ nicht nur als schlechthin unhintergehbar, sondern in vielem als bezwingend einsichtig und sensibel. Unmissverständlich werden sie vor den völlig anders gearteten Erkenntnisansprüchen naturwissenschaftlichen Denkens bewahrt, treffend in ihrer Dialektik zwischen eigener und befragter historischer Situation erfasst und damit methodisch der ›Aufklärung‹ unserer immer beteiligten Vorverständnisse unterzogen. In der Begriffsgeschichte des ›Schönen‹ (S. 452–460) und bei der Erfahrung des Kunstwerks nähert sich Gadamer wie bei der ontologischen Auffassung der Sprache sogar einem (unausgesprochenen) transzendentem Verständnis. Wenn er von der ›Sinnpräsenz‹ des Kunstwerks spricht, die eben die Zeiten überspringe, wenn er von der Wahrheitserfahrung meint, dass sie nur Realität werde, wenn man sich in sie mit hineinnehme, sich durch sie verwandeln lasse, dass sie also nicht auf methodischer Distanzierung beruhe, sondern auf Anteilnahme, in der wir weniger die Begreifenden als die Ergriffenen sind, dann ist es nicht nur eine Hymne auf die Valenz der Kunst – es scheint auch der Königsweg zum Bedeutungsfundus des Kunstwerks. Umso seltsamer, was er nicht dazu rechnet. Denn seine ›Aufklärung‹ der Seinsart des Kunstwerks macht an der gleichen Grenze halt wie Heidegger: der Geschichtlichkeit aller Seinsattribute als unüberschreitbarer Horizont.101 Alle Sinnbe-

101 »Aber es gibt kein mögliches Bewußtsein – wir haben das wiederholt betont, und darauf beruht die Geschichtlichkeit des Verstehens – es gibt kein mögliches Bewußtsein, und

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fragung des Kunstwerks erfolgt unter den Prämissen der Apriori des endlichen, todbestimmten Daseins in seinen Modi historisch bestimmter Existenz – mag das Werk auch noch so deutlich Zeugnis einer darüber hinausgehenden ›Bedeutung‹ aus ganz anderer Bewusstseinslage seines Verfertigers sein. Zwar billigt er dem Werk in der »unabschließbaren Offenheit des Sinngeschehens« der hermeneutischen Erfahrung quasi unendliche Sinnmöglichkeiten zu – aber nur modal, nicht ontologisch. Damit käme solches Verständnis etwa bei Bach so leicht in Verlegenheit wie bei Mozart, Beethoven, Bruckner oder Mahler. Denn alle fünf komponieren, ungeachtet ihrer unbestreitbaren ›Geschichtlichkeit‹, aus einem ganz anders bestimmten Horizont menschlicher Existenzerfahrung. Und sie bekennen es auch explizit. Die Tatsache, dass ein heutiger Hörer von Bachs Musik als historisch definierte Person ein historisches Kunstwerk als Zugang zu einer überhistorischen Erlebniswirklichkeit wahrnehmen kann, so wie sie auch von Bach selbst verstanden wurde, übersteigt den Horizont dieser Hermeneutik, denn sie verweist auf eine andere, sehr wohl in einem Bewusstseinsprozess erfahrbare Seinsqualität. Gadamers hermeneutische Analyse würde sich womöglich aus dieser Verlegenheit retten, indem sie Bachs Musik aus seiner ›historisch‹ determinierten Bewusstseinslage mittels hermeneutisch-methodischer ›Aufklärung‹ als ›jenseitsgläubig‹ nach den üblichen Konventionen christlicher Theologie im barocken Zeitgeist ›verstehen‹ würde. Aber das wäre weder eine Antwort auf die Frage, warum ein heutiges ›historisches‹ Subjekt diese ›Seinsqualität‹ in seinem ganz und gar un-theologischen und unbarocken Hier und Jetzt wahrnehmen kann, noch auf die Art der ›Wahrheit‹, die Bachs Kunst, verstanden als Aletheia, erscheinen lässt. Sie gibt auch keine Antwort darauf, welche Qualität von ›Sinnpräsenz‹ so viel zeitliche Distanz und historische Determiniertheit glatt zu überspringen vermag, dass es in der ganz anderen Bewusstseinslage der Moderne jetzt wie damals bewegt und zum lebendigen Ereignis zu werden vermag. Ohne Anerkenntnis dieses ›Sinns‹ einer anderen Seinsqualität wird nur, im Kern hübsch cartesianisch, der szientistische Horizont zünftiger Kunsttheorie und selektiver Cultural Studies bedient. Das ist aber genau jener, der nach Gadamer durch das ereignishafte Erscheinen der ›Wahrheit‹ des Kunstwerks gerade überschritten werden würde.102 Gadamers ›Daseinssorge‹ gilt, ganz mit Heidegger, philosophischwäre es noch so sehr ein unendliches, in dem die ›Sache‹, die überliefert wird, im Lichte der Ewigkeit erschiene.«, Gadamer (1975), S. 448. 102 Gadamer ist dieses Problem bewusst. Das zeigen seine flüchtigen Anspielungen auf einen »Qualitätssinn«, der womöglich eine von geschichtlicher Herkunft und kultureller Zugehörigkeit unabhängige Erkenntnismöglichkeit am Kunstwerk darstellen könnte (Gadamer, 1975, S. XVIII, mit Hinweis auf Kurt Riezler, Traktat vom Schönen, Frankfurt 1935) oder auf das Phänomen von »zwei Zeitlichkeiten«, einer geschichtlichen und einer »heilen«, übergeschichtlichen, d. h. einer nach der biblischen Theologie bestimmten Zeit (S. 115–116, mit Hinweis auf Hans Sedlmayr, Kunst und Wahrheit, Hamburg 1958).

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denkerisch zuletzt eben nur dem Zeitlichen und Vergänglichen am ›historischen‹ Menschen und seiner zeitverfallenen Kunst. Wahrhaftes schöpferisches Künstlertum aber, wie es in aller großen Kunst und Musik Ausdruck findet, agiert zwar aus seiner ›Zeit‹, aber transzendiert diese Kategorien, weil es sich in seinem Schaffen offenkundig um etwas ganz anderes ›sorgt‹…  An der Musik wird übrigens auch deutlich, dass Gadamers Zugang zur ästhetischen Erfahrung zutiefst vom literarischen Text geprägt ist.103 Für den musizierenden Künstler ist eine diskursive, begriffszentrierte ›Text‹-Befragung aber niemals ausreichend, um eine überzeugende ›Interpretation‹ zu erreichen. Deshalb stellt sich für den Musiker wie für seinen Zuhörer die hermeneutische Situation anders dar, als für den Denker, den Historiker oder den Exegeten literarischer Texte. Denn jeder musikalische ›Text‹ realisiert sich, wie Gadamer genau weiß, wenn er die Partitur explizit als »Handlungsanleitung« versteht, erst im Erklingen. Die vielen Änderungen, die bedeutende Komponisten wie Beethoven, Bruckner oder Mahler nach dem ersten Hören ihrer Partituren vorgenommen haben, illustrieren es sinnfällig. Die ›Interpretation‹ durch den Ausführenden aber ist ein Tun, das sich nicht nur auf einer mentalen, sondern auch auf einer eigenbestimmten, haptischen Ebene vollzieht. Damit kommt der künstlerischen Gestaltung für die Textgenese ungleich größere Bedeutung zu als jedem bloß reflektierenden Bemühen. Denn musikalische ›Sinnpräsenz‹ ersteht in einem sensiblen Prozess zwischen Intellekt, Affekt und handwerklichem Können als Herstellung einer stets neuen Gegenwärtigkeit. Zwar vollzieht sich auch hier, wahrscheinlich von allen Disziplinen am intensivsten, Gadamers »Verstehen als Geschehen«. Aber der ontischen Beschaffenheit der Musik entsprechend, viel weniger reflektierend, etwa als ›Frage-Antwort‹-Dialog, sondern viel mehr resonierend – es sei denn man bezöge ›Geschehen‹ auf einen inneren Erlebensprozess in der Empfindungssphäre des agierenden Menschen. Aber diesen Zugang zensiert uns der Denker Gadamer strengstens rationalistisch. Er referiert zwar immerhin die Möglichkeit ästhetischen Erlebens (S. 66), demontiert sie aber alsbald systematisch und lässt jede ›Erlebnisästhetik‹, genau wie Heidegger, nur als eine Episode der Kunsttheorie zu (S. 56–68). Mit der Abwehr des Empfindungsvermögens als heuristisches Organ ästhetischer Erkenntnis verfällt Gadamer vielleicht nur in den anti-psychologistischen Reflex der Philosophie des letzten Jahrhundertbeginns. Mit dem existenziellen Weltbezug von Geschichtlichkeit und Daseins-Begrenztheit als ontologische Referenz befreit er zwar die Kunst aus der Abstraktion des Kant’schen Privat-Ästhetizismus Dazu kommt seine diesbezügliche Auseinandersetzung mit metaphysischen Aspekten der theologischen Hermeneutik (S. 314, 500–503) und ferner die Einsicht, dass auch mit der Mathematik eine Ontologie vorliege, die nicht historisch bedingt sei. 103 Vgl. Gadamer (1975), S. 87 (absolute Musik), S. 111 (Musik muss ertönen) und S. 475 (Affektenlehre).

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und weitet ihren Horizont zu großartiger Welthaltigkeit – kassiert aber auch das, was über diesen materialen ›Welt‹-Horizont hinausweist. Das ist aber genau das, was Qualität und Potenzial großer Kunst immer ausgemacht hat, nämlich dass sie nie ganz in ihrer Zeit und ihrem historischen Bedingungsgefüge aufgeht – eben das Geheimnis ihrer immer neuen ›Sinnpräsenz‹ trotz aller Weltveränderung, wie es Gadamer so überaus treffend beschreibt. Dafür aber enthält seine Hermeneutik kein Erklärungsangebot. Sie bleibt eine Endlichkeitshermeneutik der finiten Existenziale: eine illustre Verstehenstheorie, die jene ›Wahrheit‹ am Kunstwerks nicht aufklärt, um derentwillen wir immer wieder neu die Begegnung mit ihm in ganz anderen historischen, gesellschaftlichen und individuellen Konstellationen suchen und finden. So erweist sich die großartige ›Welthaltigkeit‹ dieses hermeneutischen Horizonts, wenn er sich nicht zur erkenntnistheoretischen Einsicht jenes in-finiten ›Überschusses‹ weiten kann, letztlich als Horizontbegrenzung. Als Kern bleibt ein bewundernswert weltweiser, hochdifferenzierter historischer Existenzialismus mit großer Wirkung104 – der aber seiner Abkunft von Heideggers abgründigen Spielen mit dem ›Nichts‹ nicht entkommt.

104 Sie reicht bis zur Rezeptionsästhetik und einer Diskursethik zwischen Hermeneutik und sprachanalytischer Philosophie mit einer »transzendentalpragmatischen« Perspektive wie von Karl-Otto Apel (Transformation der Philosophie, Frankfurt a. M. 1973). Bei Derrida gerät sie dann allerdings unter Metaphysikverdacht und bei Habermas schließlich unter Ideologieverdacht.

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IX Evolutionen, Revolutionen und Emanationen oder: Die Polyphonie musikalischer Ausdruckswelten als Individuationsprozess Die Konjunktur der Hermeneutik, der kundigen ›Auslegung‹, als Matrix virtuoser Deutungskünste, mit einem Gipfelpunkt bei Gadamer, wäre womöglich schon eine Art Reaktion auf die rasante Evolution der individuellen Ausdruckspolyphonie in den Künsten gewesen: ›Deutungszwang‹ als Notwendigkeit in einer Dynamik, die sich mit atemberaubender Rasanz zur modernen Flut von Daten und ›Information‹ entwickelt. Was im Historismus mit seiner Verfügungsgewalt über die Stile aller Zeiten begann, wird zum Paradigma einer polyvalenten Moderne. Aber kaum weniger wirkt eine andere Dynamik. Es ist das entfesselte Ego der westlichen Mentalität, das zur Doktrin seines Welt- und Selbstverständnisses gehört. Als subjektives Ausdrucks- und Freiheitsverlangen wird die Stilpolyphonie, die bald den hohen Ton der ›Wiener Klassiker‹ bricht, Zeugnis eines scheinbar unbegrenzten Individualisierungsprozesses. Nun war zwar die persönliche Gestaltung eines jeweils etablierten ›Stils‹ immer schon Kennzeichen abendländischer Musikepochen. Was in anderen Musikkulturen eher der Variation, Alteration und Improvisation überlassen bleibt, wird hier in individuellen Werkgestalten fixiert. Dufay, Palestrina, Monteverdi, Schütz, Bach, Händel, Haydn und Mozart waren nicht nur Meister ihres Handwerks, sondern zeigten die Möglichkeiten eines allgemeinen Stilidioms erst mit den ›Bedeutungen‹, die sie subjektiv in ihm zu formulieren vermochten. Trotzdem war das Individuelle fest in ein Allgemeines eingebunden. Palestrina oder Lasso erscheinen uns als Sterne am Himmel der musikalischen Renaissance – aber sie komponierten im allgemeinen Stilidiom der späten frankoflämischen Vokalpolyphonie. Monteverdis Madrigale sprengten nicht den Rahmen der Madrigalkunst seiner Zeitgenossen – Manierismus vielleicht ausgenommen –, und Bachs Musik wurde so wenig spektakulär im Stilgenre der Generalbassmusik empfunden, dass der Hamburger Musikdirektor Telemann seinerzeit viel berühmter war als der Leipziger Kantor. Joseph Haydn sorgte am Hof der Esterházy für gepflegte Unterhaltung und nicht für Sensationen, auch wenn er sich gelegentlich, wie bei seiner Sinfonie »mit dem Paukenwirbel« oder der »Abschiedssinfonie« zu dezenter Provokation hinreißen ließ. Auch Mozarts Opern reihten sich im Spielplan am Wiener Kärntnertor-Theater so zwanglos zwischen die von Salieri und Dittersdorf, wie seine Sinfonien zwischen die oft kaum schlechteren 89 Exemplare seines böhmischen Kollegen Wenzeslaus Pichl. Die Streichquartette des Tschechen Franz Vinzenz Krommer (1760–1831) schließlich galten bei den Zeitgenossen genau so viel wie die von Haydn und Mozart. Das änderte sich drastisch seit Beethoven. Das »Drama von Kräften« (August Halm), vom späten Beethoven gezielt an jene Grenzen geführt, wo das »Äußerste

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zur Norm« wird, weitet sich zu immer differenzierteren Konzepten des abendländischen Komponierens aus. Das Individuelle und Besondere wird zum ›Allgemeinen‹ und bestimmt die Dynamik der Musikgeschichte immer stärker. Damit entwickelt sich in der Spanne vom späten Beethoven bis schließlich Max Reger, Carl Nielsen, Leoš Janáček, Gustav Mahler, Richard Strauss und Schönberg ein Panorama klingender Ausdruckswelten, das kein Gegenstück in anderen Musikkulturen kennt. Die Polyphonie der Stildialekte, in der das Spezifische immer stärker zum Kriterium des Bedeutungsvollen wird, entfaltet sich als Subjektivismus ihrer ›Botschaften‹. Nimmt man den Maßstab eines historischen Vorher, so erscheint der Untergang der ›Wiener Klassik‹ als ein weiterer Paradigmenwechsel. Wie die alte Vokalpolyphonie der instrumentalen Generalbassmusik Platz machte und die dem Idiom der ›Wiener Klassiker‹, bricht sich jetzt ein neues musikalisches Formulieren Bahn. Misst man mit dem Maßstab des Nachher, so wird der ›Untergang‹ zum ›Aufgang‹ jener singulären individuellen Ausdruckswelten, die weithin als Inbegriff abendländischer Musik gelten und bis in die Gegenwart Musikbegriff und Musikleben bestimmen. Allein ihre enorme Spannweite des jeweils Charakteristisch-Individuellen legitimiert jeden Euphemismus: von Schumann, Chopin, Liszt, Mendelssohn, Brahms, Wagner, Berlioz, Bruckner, Verdi über Debussy, Tschaikowsky, Smetana bis zu Schönberg, Mahler, Pfitzner, Strawinsky, Sibelius, Richard Strauss, Rachmaninov, Prokofiew und Schostakowitsch entfaltet sich eine inkommensurable musikalische Topographie, die auch danach kaum an Fülle einbüßt. Ihre Entwicklung und Veränderungen sind nach Quantität, Pluralität, Individualität und Ambivalenz inzwischen zu einer Herausforderung der Musikgeschichtsschreibung geworden, die sich kaum gerecht bewältigen lässt. Das zeigt sich daran, dass sie damit, mehr als bei allen anderen Versuchen einer Epochengliederung, die größten Schwierigkeiten hat. Vollzieht sich eine Veränderung von der ›Wiener Klassik‹ zur ›musikalischen Romantik‹ (Guido Adler) oder ist es noch eine ästhetische Einheit des ›klassischromantischen Zeitalters‹ (Friedrich Blume)? Oder soll man einfach ›Musik des 19. Jahr­hunderts‹ sagen, mit den Zeitmarken von Wiener Kongress (1814) und Erstem Weltkrieg (1914), wie Carl Dahlhaus vorschlägt und damit genauso pragmatisch wie in der angelsächsischen Lesart: The Ninteenth Century von Beethoven bis Saint-Saёns, Elgar, Grieg und Sibelius (The Oxford History of Western Music, Edition 2005, Vol. 3)? Oder orientiert man sich an emblematischen Figuren und Werken als Epochenmarken: die »Epoche Beethovens und Rossinis« (Ralph Georg Kiesewetter, 1834) bis zum Beginn einer ›Moderne‹ mit der Tondichtung Don Juan von Richard Strauss und Gustav Mahlers erster Sinfonie (beide 1889), gefolgt vom Übergang zu Atonalität und »Musikalischem Expressionismus« um 1907/08 mit Schönbergs Erwartung und Strawinskys Le Sacre du Printemps als Auftakt zur ›Neuen Musik‹ seit 1920/25? Oder liegt die entscheidende Epochenmarke bereits um 1830 bei der Sinfonie fantastique von Berlioz (Fr. Blume, Th. Georgiades, C.

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Dahlhaus), übereinstimmend mit der radikalen Diagnose Heinrich Heines vom »Ende der Kunstperiode« nach Goethes Tod mit Revolution, Vormärz und ›Jungem Deutschland‹? Versucht man sie als einen Katalog »Partikularer Tendenzen« (Carl Dahlhaus) zu beschreiben, sprich: als pauschale Entfaltungsgeschichte einer explodierenden Individualisierung oder als konsequente Fortschrittsgeschichte im Geiste von Hegel, Forkel, Burney, Kiesewetter, Franz Brendel und den Naturwissenschaften? Oder als Zusammenhang einer ›Ideengeschichte‹ (wie etwa als Musik des deutschen Idealismus bei Martin Geck)? Oder mit der Phänomenologie ihrer verschiedenen Genres und Gattungen, die sich in Stildualismen wie ›Absolute Musik‹ mit dem zentralen Kern der ›deutschen Instrumentalmusik‹ einerseits und der ›italienischen Oper‹ andererseits als »zwei Kulturen« manifestieren (Carl Dahlhaus)? Oder ist es eine stetige Prozessgeschichte von Metamorphosen, die in einer Entropie des ›alten‹ Materials mündet, in Auflösung und Desintegration traditioneller Konventionen, Regeln und Verfahren, die immerhin eineinhalb Jahrtausende ›Musik‹ und Komponieren definierten? Denn so sicher der ›Fortschritt‹ als Evolution des ›Materials‹ und als Zuwachs an Ausdrucksmöglichkeiten Anerkennung findet, so unstrittig ist, dass sich diese Entwicklung auf eine markante Zäsur um die Jahrhundertwende von 1900 hin bewegt, die weithin als Bruch verstanden wird. Darüber herrscht auch Einigkeit bei denen, die ihn mit dem Enthusiasmus der Avantgarde als ›Aufbruch‹ feiern. Nimmt man deshalb diese kaum strittige Epochenmarke als Referenzpunkt, so verspricht das einigen heuristischen Gewinn für die Prozessgeschichte musikalischen Formulierens – der ›Musikgeschichte‹ also etwa zwischen Beethoven und Richard Strauss. Um aber seinen (anthropologisch verstandenen) ›Bedeutungen‹ näherzukommen, wird man gewissermaßen in der ›vertikalen‹ Vielschichtigkeit ihrer Ausdruckswelten zu suchen haben. Denn ihr Pluralismus ist nicht nur Ausdruck vieler dialektischer Prozesse zwischen Tradition, Evolution und Innovation samt der Entfaltung vieler zu autonomer Geltung gelangender nationaler Stilidiome, sondern – mehr als in anderen musikalischen Epochen – der Differenzen des Subjektiven. Als Manifestation des Individuellen des komponierenden Subjekts, das sich wie nie zuvor im singulären Werk realisiert, wird sie deshalb zur wichtigsten Quelle einer Bedeutungsbefragung. Als deutlichste Dynamik der Veränderungen fällt zunächst das neue harmonische Denken in den Blick. Beides, der leidenschaftliche Drang nach immer komplexerer Harmonik samt ihren virtuosen Metamorphosen sowie die Individualisierung der Instrumente durch ihre fortschreitende Loslösung aus vertrauten idiomatischen Bindungen zu charakterisierender Vereinzelung oder zu ganz neuen Klangmischungen wird Signatur einer beherrschenden semantischen Dimension: dem Klang. Dem Zeitalter der ›thematischen Prozesse‹ folgt die Epoche einer expressiven Klangsemantik. Ihre erste Entfaltung erfährt sie vor allem in einer bedeutungsvollen Koloristik: Carl Maria von Webers Freischütz (Wolfsschlucht-Szene), Meyerbeers ›Leitklang‹-

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Instrumentierungen in seinen Opern, Wagners Klangspezereien vom klagenden Englischhorn im Tristan bis zur sensualisistischen Instrumentationspalette im riesigen Ring-Orchester, das mit eigener Klangdramaturgie die Dramaturgie von Narrativ und Bühne mitgestaltet, sind prominente erste Wegmarken. Dazu kommt die immer intensivere Chromatisierung des musikalischen Satzes (Chroma heißt Farbe), genau wie die neue Orchesterbehandlung von Hector Berlioz oder Debussys impressionistischen Farbenspielereien. Eine zweite Dynamik äußert sich im unbändigen Bedürfnis nach dem Narrativen, dem alle überkommene strukturelle Satzlogik verfällt. Die tradierten formbestimmenden Ausdruckselemente von Themen, Motiven und ihren prozesshaften Verarbeitungen oder der lapidare Phänotyp einer ›Gattung‹ reichen längst nicht mehr – man will die assoziativ aufgeladene literarische ›Erzählung‹, vor allem ihr Ambiente, ihr illustratives, psychologisches Wirkungspotenzial. Zu Beginn ist es die ›poetische Idee‹ mit ihren feinen Stimmungsmalereien, die, wie exemplarisch bei Schumann, wesentlich durch literarische Vorlagen inspiriert sind, am Schluss steht die Inszenierung kolossaler Tonerzählungen mit gewaltigen Orchestermassen. Als Programmmusik, Tondichtung und Sinfonische Dichtung von Berlioz, Liszt und Debussy bis Richard Strauss, Alexander Ritter, Siegmund von Hausegger und dem frühen Schönberg samt der ungeheuren Produktion vieler Vergessener, weiten sie sich schließlich aus zur metaphernschweren »Weltanschauungsmusik« (Hermann Danuser), wo Stimmungslagen beschworen, Gedankengebäude musikalisiert und Ideologien transportiert werden – durchaus mit einer gewissen Analogie zur ›Weltanschauungsliteratur‹ der Zeit.

Von der Idylle zur Ironie: Der musikalische Literat Robert Schumann zwischen Poesie und zweiter Naivität Die ›Poetische Idee‹ gehört zum innersten Wesen von Schumanns Komponieren. Sein musikalischer Geist entzündet sich, genau wie bei Schubert, am dichterischen Wort. In seinem ›Liederjahr‹ von 1840, in dem er auch Clara Wieck heiratet, komponiert er 168 Lieder. In vielen davon trifft er jenen Naturton, den uns Schubert unauslöschlich in Musik gebannt hat, mit gleicher Innigkeit: bei Waldeinsamkeit aus den Eichendorffliedern op. 39 oder im Melos der Träumerei aus den Kinderszenen. Selbst in Miniaturen wie Auf einer Burg zeigt er sich als Meister atmosphärischer Evokation. Freilich, unüberhörbar mischt sich öfter schon das Als-ob eines Tonfalls ein, eine etwas kokett an-empfundene Natürlichkeit, eine ironische Doppeldeutigkeit. Die Mondnacht aus op. 39 steigert den lyrischen Ton fast zum Artefakt und das Stiletikett »Im Volkston« beschwört bereits seine Nachempfindung als verlorene Authentizität: An den Sonnenschein op. 25 oder Sonntags am Rhein aus op. 36. Das von ihm selbst gedichtete Lied Wenn ich früh in den Garten geh aus op. 51 bezeich-

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net Schumann ausdrücklich als »Volksliedchen«. Im Zwielicht schließlich (op. 39 Nr. 10), inspiriert die Vorlage einen gebrochenen Tonsatz der Unheimlichkeit, der schließlich im Heine-Text Ein Jüngling liebt ein Mädchen aus der Dichterliebe zur plastischen Doppelbödigkeit wird.1 Aber Schumanns Inspiration durch das ›Wort‹ reicht weit über bloße Textvertonungen hinaus. Er präsentiert sich als musikalischer Homme de lettres, dessen Spannweite vom musikalischen Agenten literarischer Vorlagen bis zum scharfsinnig reflektierenden Schriftsteller und kritischen Rezensenten reicht. Dichtung, Romane, Geschichten und Figuren werden ihm zur poetischen Imagination, mit der er seine musikalischen Erzählungen gestaltet, seine Akteure, Rollenspiele und Dialoge entwirft. Die Anregung durch E. T. A. Hoffmanns verrückten Kapellmeister Johannes Kreisler schlägt sich in der Klaviermusik der Kreisleriana op. 16 nieder, die eines fiktiven Geniezirkels in den Davidsbündlertänzen op. 6. Sie entwachsen nicht naiver Naturidylle oder tiefem Herzenston, sondern der Lust am phantastischen und geistreichen Charadenspiel mit witzigen und neckischen, skurrilen oder bizarren Anspielungen und Pointen. Diese Welt gestaltet Schumann vor allem in seinem Klavierwerk, von den brillanten Miniaturen wie der Papillons op. 2, den Kinderszenen op. 15 oder den Waldszenen op. 82 und den pädagogischen Ermunterungen zu einer Art neuer ›Hausmusik‹ (wie im Album für die Jugend op. 68) bis zu ausgewachsenen musikalischen Romanen wie dem Carnaval op. 9 oder der Kreisleriana. Sie changiert zwischen der liebenswürdigen Poetisierung des Alltags, wie es Eichendorff als Grundton der Romantik intoniert (»Schläft ein Lied in allen Dingen«), hintergründiger Psychologisierung, sanfter Dämonisierung oder versteckten Assoziationen. Die sind manchmal leicht zu entschlüsseln (wie etwa in den Abegg-Variationen nach einer Heidelberger Studentenliebe Schumanns namens Meta Abegg oder im Figurenszenario des Carnaval), manchmal schwerer, wie in der Phantasie op. 17, den Novelletten op. 12 oder dem Klavierkonzert op. 54, gelegentlich auch kaum, wie in der Kreisleriana, wo man auch ein Werk der geheimen Botschaften vermutet.2 Dass hinter so viel Spiel mit fiktiven literarischen Identitäten und raffinierten Verschlüsselungen auch leicht die eigene Identität verschwindet – oder sich elegant maskiert, liegt nahe. Solche Vielschichtigkeit hat ihre Entsprechung im musikalischen Satzbau. Die gezielte Asynchronizität des ›ungenauen Unisono‹, die im Lied Zwielicht aus op. 39 die Situation meisterhaft ›vertont‹, wird zum Muster vieler Klaviersätze. Mit uner-

1

In op. 39 Nr. 10 haben die gezielt-genauen Ungenauigkeiten der Verschiebungen zwischen Klavier und Singstimme zur Bezeichnung als »Ungenaues Unisono« geführt, vgl. R. Brinkmann, Lied als individuelle Struktur. Ausgewählte Kommentare zu Schumanns ›Zwielicht‹, in: Analysen. Festschrift für H. H. Eggebrecht, hg. v. W. Breig, Stuttgart 1984, S. 268.

2

Constantin Floros spricht von einem »narrativen Konzept« in Schumanns Klavierkompositionen; vgl. Floros, Geheime Botschaften in Schumanns Klaviermusik, in: Das Orchester 46 (1998), Heft 9, S. 2–8.

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warteten Taktwechseln, unregelmäßigen und komplizierten Periodengliederungen, heiklen Verschiebungen zwischen linker und rechter Klavierhand rückt der ganz und gar nicht naive Tondichter Schumann die Satzsymmetrien aus dem Lot und enthüllt die als ›einfach‹ gehandelten Stücke als technisch höchst anspruchsvolle. Nachschlagende oder ›hängen gebliebene‹ Bässe labilisieren das metrische Gefüge und ergeben oft merkwürdige Dissonanzen (wie in den Anfangstakten der Kreisleriana mit dem um 1/8-Wert hinterherhinkenden Bass). Launische Verschlingungen der Stimmen erschaffen ein bizarres Gewebe wie das Umschlagen von realer Vierstimmigkeit im zweiten Satz der Kreisleriana zu chromatischer, stark modulierender Polyphonie, aus der sich schließlich das pentatonische Hauptthema herausschält. Nervöse Tonartenmalerei und innere Unruhe durch Synkopen und Fermaten machen auch manche Kinderszenen zu Kabinettstücken eines vertrackten Satzes. »Meine Musik kömmt mir jetzt selbst so wunderbar verschlungen vor bei aller Einfachheit«, schreibt Schumann bezeichnenderweise zur Zeit der Kreisleriana-Komposition, am 13. April 1838, an seine Clara. Die anspruchsvolle Poetisierung und Literarisierung des musikalischen Satzes ist aber noch längst nicht die raffinierteste Facette von Schumanns Musik. Zu den dichterischen Verfremdungen kommen die ironischen. Das Schlüsselwort dafür lautet: Romantische Ironie. Als philosophisches Programm ist sie bei Friedrich Wilhelm Schlegel formuliert: »Die Ironie enthält und erregt ein Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und Bedingten und der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung …«3 Als Erzähltechnik führen sie Jean Paul Friedrich Richter und E. T. A. Hoffmann zum Höhepunkt. »Ich habe von Jean Paul mehr Kontrapunkt gelernt als von meinem Musiklehrer«, betont Schumann ausdrücklich und lässt so den Tonsetzer zugunsten des Tondichters hinter sich. Deshalb lesen sich seine frühen Davidsbündler-Schriften auch fast wie eine direkte Transformation der komplexen Erzählstrukturen der Lebensansichten des Katers Murr. Aber deshalb werden auch die musikalischen Konzepte der Kreisleriana« oder der Vier Nachtstücke op. 23 vom Spiel mit kalkulierten Verfremdungen bestimmt, die den Vorlagen der romantischen Ironie zu folgen scheinen.4

Spiele der Brechungen als Spiele des ›Ichs‹ Diese Verfremdungen und Brechungen führen zu einem musikalischen Idiom, das die alten Satzvorstellungen der ›Wiener Klassiker‹ längst nicht so dramatisch 3

F. W. Schlegel, Kritische Fragmente in: Lyceum der schönen Künste. Erster Band, zweiter Theil, Berlin 1797, Nr. 108, ediert in F. W. Schlegel Kritische Ausgabe der Werke, hg. v. E. Behler, I. Abteilung, II, hg. v. H. Eichner, Paderborn 1967.

4

Eine profunde Analyse der Nachtstücke liefert Ch. Moraal, Romantische Ironie in Robert Schumanns Nachtstücken op. 23, in: AfMw 54 (1997), S. 68–83.

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sprengt wie die Materialzertrümmerung des späten Beethoven. Das, was sie strapaziert, entsteht vielmehr unter der Oberfläche, gewissermaßen im ›Binnenbereich‹ als ein semantisches Identitätsproblem: einem Doppelsinn, in dem die ›Bedeutungen‹ auseinanderfallen. War bei Beethoven der musikalische Satz bis hinein ins Konfliktszenario des disparaten Spätwerks identisch mit der Ausdrucksbedeutung, so wird jetzt, nach dem Aufglimmen der Abgründe hinter der Liederidylle bei Schubert, die innere Spaltung durch die musikalische Semantik komponiert. Jetzt gibt es innige Traum- und Sehnsuchtswelten, die trösten – aber nicht eigentlich tragen –, zauberische Entführungen in Seeleninnenräume – die aber bald als kokettes Spiel enden –, ein seliger Kindertraum – der ironisch gebrochen wird, eine poetische Weltverklärung –, die ihr eigener Schöpfer aber gleich wieder hinterfragt. Es ist ein rascher Weg von Beethovens schicksalsbewusstem Ringen über Schuberts naturhaft-abgründige Phantasieräume zu Schumanns gebrochenen Traumbezirken zwischen Sehnsucht und Ironie. Aber noch für Beethoven waren diese Seelenwelten keine Illusion, sondern Gestaltungsraum existenzieller Realität. Auch für Schubert war vielleicht das bürgerliche Glück eine Illusion, nicht aber sein Seelenglück im schöpferischen Tun – für Schumann aber wird eine identische seelische Welt-›innen‹-erfahrung zum verlorenen Traum, zur vielfältig gebrochenen Illusion. Und er musikalisiert sie mit nobler Poesie, versonnener Idylle, kunstgerechter Naivität und romantischer Ironie. Er könnte, als Paraphrase zu Schuberts Diktum, vielleicht sagen: »Meine Erzeugnisse sind durch den Verstand für Musik vorhanden und durch mein Talent, die existenziellen Nöte meines Ichs in Verzauberung durch Poesie und Ironie aufzulösen.« Für uns Zeitgenossen der Moderne hat Schumanns Kaleidoskop der Brechung allerhand Reize. Zur ›interessanten‹ Ambivalenz von naivem Ton und raffinierter Machart kommt die anregende Suche nach Anspielungen, Anagrammen und Verschlüsselungen. Die Miniatur ›Coquette‹ im Carnaval spielt auf die Prostituierte Christel an, mit der Schumann eine uneheliche Tochter hatte, die gleich danach als ›Replique‹ auftaucht. Aber für Schumann selbst war es eher Stoff brüchiger Existenzerfahrung von tiefer persönlicher Tragik. Sie findet ihren Ausdruck nicht allein im literarisch-biographisch-musikalischen Spiel mit verschiedenen Identitäten, die als schöpferische Maskeraden vieler ›Teil-Ichs‹ womöglich schon das Wesen seiner wahren Identität ausmachten, sondern auch in schweren inneren Konflikten – vielleicht Erblast eines nervenkranken Vaters. Ihr erschütterndes Finale erleben wir schließlich in den Folgen einer (wahrscheinlichen) Syphiliserkrankung, dem Suizidversuch von einer Rheinbrücke und dem fatalen Ende in der psychiatrischen Klinik.5 5

Nach neuer Auswertung des Krankentagebuchs von Schumanns behandelndem Arzt, Franz Richarz, in der früheren Irrenanstalt Endenich, hatte er sich 1831 wohl mit Syphilis infiziert. Obwohl ein serologischer Nachweis damals noch nicht möglich war (die Wassermann-Reaktion war erst 1906 verfügbar), deutet viel darauf hin, dass er dort an ei-

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Die Signatur des Literarisch-Narrativen zeigt sich noch unverhüllter im aktiven musikalischen Schriftsteller. Als Herausgeber, Essayist und Kritiker wird der Sohn eines Buchhändlers zum äußerst produktiven Schreiber. Bereits 1831 verfasst er Aufsätze für die renommierte Leipziger Allgemeine Musikzeitung. 1834 gründet er, als 24-Jähriger, die Neue Zeitschrift für Musik, die er bis 1844 selbst redigiert, in der er bis 1853 schreibt und die bis heute besteht. Gleich ihre erste programmatische Devise wirft ein Schlaglicht auf die Zeitsituation zwischen Historismus und Fortschritt: »Die alte Zeit und ihre Werke anerkennen … endlich eine junge, dichterische Zukunft vorzubereiten, beschleunigen zu helfen«, heißt es in der ersten Nummer. Schumann setzt auf die Zukunft und setzt sich für ihre jungen Komponisten ein. Er macht Frédéric Chopin in Deutschland bekannt und bricht noch 1853 eine Lanze für den jungen Johannes Brahms. Aber in den Enthusiasmus des Entdeckers mischt sich unüberhörbar die Skepsis des Kritikers ein. Die entspringt nicht nur der Kompetenz des begnadeten Komponisten, sondern auch den neuen Maßstäben der Musikgeschichte. Unverkennbar wird hier die Musik der Vergangenheit zur tieferen Referenz der Gegenwart. Im Winter 1837/38 hört Schumann bei den ›Historischen Konzerten‹ des Leipziger Gewandhauses ›vergangene Musik‹, darunter Werke von Bach, Händel, Haydn, Mozart, Beethoven, Gluck, Cimarosa, Salieri und Weber. In einer nachdenklichen Reflexion darüber bemerkt er: »Wo uns endlich wahrhaft Neues, Unerhörtes geboten wurde, lauter Altes nämlich, war in einigen der letzten Concerte, in denen uns Meister von Bach bis Weber vorgeführt wurden.« Sein Resümee intoniert schließlich den neuen Ton der Zeit: »Die Einfältigen lernten dabei; die Klugen lächelten: – kurz, der Rückschritt wäre vielleicht ein Fortschritt.« Als Schreibender wird Schumann zum Prototyp einer neuen Musiker-Mentalität. Das Herstellen von Musik genügt sich selbst nicht mehr – es braucht auch das Reden darüber. Aber nicht als die zünftige Handwerkslehre früherer Jahrhunderte, sondern als intellektuelle Besinnung und Rechtfertigung. Seither begleiten Bekenntnis und Reflexion, Rhetorik, Polemik und Argumentation das Werk vieler Musiker. Die Reihe reicht über Richard Wagner, der nicht nur sein eigener Textdichter war, sondern auch ein höchst produktiver Verfasser von Texten und Thesen, über E. T. A. Hoffmann, Berlioz und Liszt bis Busoni, Pfitzner, Strawinsky, Schönberg, Stockhausen, Boulez, Zender, Rihm, Henze und Lachenmann: das (einer syphilitisch bedingten progressiven Paralyse 1856 in geistiger Umnachtung verstarb. Vgl. F. H. Franken, Robert Schumann in der Irrenanstalt Endenich. Zum Verlaufsbericht seines behandelnden Arztes Dr. Franz Richarz, in: Schumann-Forschungen Bd. 11, Mainz, London u. a. 2006, S. 442 ff.; R. Steinberg, Robert Schumann in the Psychiatric Hospital at Endenich, in: Progress in Brain Research, Vol. 216 (Febr. 2015), S. 233–275. Konkurrierende Hypothesen sind Alkoholismus (vgl. U. H. Peters, Gefangen im Irrenhaus. Robert Schumann, Köln 2010) oder eine Geisteskrankheit (vgl. A. Distler, War Schumann geisteskrank? in: Correspondenz. Mitteilungen der Robert-Schumann-Gesellschaft e. V. Düsseldorf 37, 2015, S. 7–24).

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gene) literarische Wort als Teil musikalischer Selbstvergewisserung, oft dazu im Bunde mit dem Geschäft des journalistischen Musikrezensenten. Denn erstaunlich viele Komponisten agierten zeitweilig auch als zünftige Musikkritiker: Berlioz, Liszt, Carl Maria von Weber, Tschaikowski, Bedřich Smetana, Hugo Wolf bis hin zu Engelbert Humperdinck und Wilhelm Kienzl. Sogar Richard Wagner (in Paris) und Claude Debussy (als Monsieur Croche) verfassten Kritiken. Damit steht der Literat Schumann in enger innerer Verbindung zum Geist seines musikalischen Werks. Es lebt in vielen Bereichen von Reflexions-, Anspielungsund Beziehungsepisoden, die außerhalb des alten Konzepts musikalischer Gattungen und Formtypen liegen, die ihre Evidenz aus deren Autonomie bezogen. Damit verwandelt sich auch die uralte Wechselbeziehung zur Sprache im vertonten Text über die ›Literarisierung‹ zur akzidentiellen Stimmungsillustration. Das zeigt sich im Charakterstück mit seiner bunten Bilder- und Ideenwelt, die sich in der Musik assoziativ spiegeln und schließlich am imposantesten im Genre der Programmmusik. Begreift man Schumanns semantische Spiele mit Identitäten und ihren Brechungen als mentale Verwandtschaft zur historischen Situation der Epoche, so könnte man sie leicht als Metapher für neue Identitäten der Epoche sehen. Denn was der kritische Rezensent Schumann preist, nämlich »lauter Altes«, erweist sich als eine ganz neue und folgenreiche ›Brechung‹ des zeitgenössischen ›Jetzt‹. In seine fraglose Gegenwart mischt sich immer mehr das ›Gestern‹ einer befragten Vergangenheit: der musikalische Historismus als neuer Mitspieler in Musikleben und Musikgeschichte.

Zwischenspiel: Die Musik von Gestern als neuer Ton im Heute Begonnen hatte diese Vergangenheitsbefragung als Nostalgie der Romantik. Die Wiederentdeckung eines verklärten ›Gestern‹ ergreift Geister und Gemüter. Die Gotik, das Mittelalter, Burgen und Rheingötterromantik, die Beschwörungen einer einstigen Einheit von Glauben, Kultur und Leben als »herrliches Reich« bei Novalis, der Sammeleifer alter Kunstwerke der Gebrüder Boisserée und die Vollendung des Kölner Doms nach 650 Jahren. Dass am Ende aller schwärmerischen Aneignung einer idealisierten Vergangenheit schließlich die reale nationale Identität mit der Reichsgründung von 1871 steht, erweist sie auch als Sehnsucht nach einer neuen kulturellen Identität. Die perfekte Theorie dazu liefert die Philosophie von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Bei ihm treffen sich Zeitgefühl und Erkenntnistheorie der Epoche. Er ist nicht nur der Erfinder des ›Weltgeistes‹ als höchstes Prinzip der Weltgeschichte, sondern auch der Verkünder jenes evolutionären Geschichtsverständnisses, das fester Bestand des modernen Denkens wird. »Alles wird zur Geschichte«, formuliert er in seiner Philosophie, und im systematischen Aufarbeiten des ganzen Gedankenstoffes der Geschichte durch die Reflexion wird sie zur »Philosophie der

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Geschichte«: Hegels Inbegriff philosophischer Erkenntnis schlechthin. Als wirkungsmächtige Geschichtstheologie führt er sie in seiner Kunsttheorie bekanntlich in die Transformation von ›Kunst‹ zur Reflexion (siehe Kapitel VI). Als Universalschlüssel geschichtlich fokussierten Blicks beherrscht die ›Historische Methode‹ die Universität in Lehre und Forschung. Als konzeptionelle Grundlage aller Kulturwissenschaften, die mit Namen wie Wilhelm Dilthey und Eduard Spranger verbunden sind, wirkt sie über die ›Historische Schule‹ mit bedeutenden Vertretern wie Leopold von Ranke, Gustav Droysen, Friedrich Meinecke bis zum Neukantianismus mit Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert weiter. Als konkrete Anwendung führt sie zur Gründung der klassischen geisteswissenschaftlichen Fächer an der Universität wie Germanistik, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft. Dort findet die Wiederentdeckung der musikalischen Vergangenheit zunächst vor allem im Zeichen der Philologie statt. Die verstreuten Quellen und Zeugnisse vergangener Musik werden gesammelt und geordnet und in ersten gedruckten Gesamtausgaben erstmals systematisch zugänglich gemacht. 1850 beginnt die Edition der Werke Johann Sebastian Bachs, 1858 die von Händel, 1862 folgen Palestrina und Beethoven, 1877 W. A. Mozart, 1878 Purcell, 1885 Schütz, 1894 Orlando di Lasso und 1896 schließlich Rameau: imponierende Unternehmungen, die bis heute, aktualisiert mit dem jeweils neuesten Forschungsstand, ihre Fortsetzung finden. Zu ihren Erträgen zählen die verschiedenen Editionstypen, von den alten ›Denkmäler‹-Ausgaben, den ›Kritisch-korrekten‹ Ausgaben, über die synoptischen ›Urtext‹-Editionen, bis zu denen ›letzter Hand‹ und den ›Praktischen Ausgaben‹. Aber die Reise zurück in die Geschichte bleibt keineswegs ein gelehrtes Interesse, sondern erfasst Musiker und Musikleben mit rasantem Nachdruck. Dort beginnt eine vielfältige praktische Wiederentdeckung versunkener musikalischer Provinzen. Raphael Georg Kiesewetter und François-Joseph Fétis fertigen Preisschriften über die Musik der alten Niederländer und Carl von Winterfeld über Giovanni Gabrieli. In Heidelberg versammelt der Jurist Justus Thibaut einen Kreis von Liebhabern und Kennern und führt Gabrieli und Palestrina auf. In München begeistert sich eine ergriffene Gemeinde am Miserere von Gregorio Allegri und pflanzt damit die Keimzelle des Cäcilianismus. Als kirchenmusikalische Reformbewegung des katholischen Süddeutschlands gewinnt er aus dieser Rückbesinnung die Strahlkraft neuer Gegenwart. Aber auch in England baut man nicht nur ein imposantes Parlamentsgebäude in London im neugotischen Stil (1835), sondern gründet auch eine Bach-Gesellschaft (1849), einen Purcell-Club und Madrigalchöre, bis schließlich Arnold Dolmetsch auch historische Instrumente wie Virginal, Clavichord und Gamben in Nachbauten wieder erweckt. Als mächtigste Speerspitze des musikalischen Historismus aber erweist sich die Wiederentdeckung Johann Sebastian Bachs. Karl Friedrich Zelter, musikalischer Intimus Goethes und Leiter der Berliner Singakademie, probt dort schon 1794 Motetten von Bach und 1811 auch das Kyrie der h-Moll-Messe. Aber ihre komplette

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Bewältigung mit dem Laienchor erfolgt erst 1813. Der spektakuläre Durchbruch von Bachs Musik in die Öffentlichkeit aber gelingt einem 20-Jährigen, ein frühes Wunderkind aus gebildeter jüdischer Familie: Felix Mendelssohn Bartholdy. 1829 führt er Bachs Matthäus-Passion auf. Der König und die Granden der Berliner Gesellschaft sind dabei: ein Fanal von Wirkung. Eine schnelle Welle von Aufführungen illustriert den perfekten Einklang mit dem Zeitgeist: Frankfurt folgt noch im gleichen Jahr, 1830 Breslau, 1832 Königsberg, 1833 Dresden und 1834 bereits London.6 Die anbrechende Epoche komponiert im Bewusstsein einer Dialektik von Tradition und Innovation, von Historie und Evolution. An ihrem Beginn steht eine ›neue‹ Musik – die aber nicht neu von Zeitgenossen komponiert ist, sondern ›alt‹ und längst komponiert. Damit entsteht ein neuer Strang in der abendländischen Musikgeschichte, der nicht aktuelle ›Kompositionsgeschichte‹ ist.

Komponieren zwischen Geschichte und Gegenwart: von Mendelssohn Bartholdy und Spohr bis Brahms und Rheinberger Der 20-jährige Jüngling aus jüdischer Familie, der dem Abendland die größte christliche Passionsmusik wiedererweckte, wird zum Exempel einer neuen Verschränkung von Geschichte und Gegenwart. Während Mendelssohn Bachs Matthäus-Passion probt, erscheint seine Schauspielmusik zu Shakespeares Sommernachtstraum op. 21 und kurz danach Die Hebriden op. 26. Gleichzeitig aber schreibt er seine Sinfonie in d-Moll op. 107, die als Reformationssinfonie bekannt wird, weil sie im letzten Satz den Choral Ein feste Burg ist unser Gott verwendet. Während er an der Berliner Universität Vorlesungen Hegels hört, komponiert er die komische Oper Die Hochzeit des Camacho (op. 10) aber auch Choralkantaten wie Wer nur den lieben Gott läßt walten und »Ach Gott, vom Himmel sieh’ darein«. Drei Jahre später (1832) komponiert er das erste Heft der Lieder ohne Worte (op. 19), ein Reflex Schumanns’scher Tonpoesie. Während er ein Gipfelwerk seiner Kammermusik komponiert, das Streichquartett in Es-Dur op. 44 (1838/39) und die Schottische Sinfonie op. 56 (1842), führt er als Leiter des Gewandhausorchesters in Leipzig 1838 und 1840/41 in seinen Historischen Konzerten Musik der Vergangenheit auf. Während er an seinen Liedern ohne Worte von op. 85 arbeitet und den Erfinder des Buchdrucks in Leipzig mit einem Festgesang zum Gutenberg-Fest für Männerchor und Blasorchester feiert, spielt er 1840 in der Thomaskirche ein Orgelkonzert mit Werken Bachs, um Geld für das erste Leipzi6

Vgl. W. Wiora (Hg.), Die Ausbreitung des Historismus über die Musik, Regensburg 1969 (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 14) und M. Geck, Die Wiederentdeckung der Matthäuspassion, Regensburg 1967 (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 9).

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ger Bach-Denkmal zu sammeln. Während er ein Glanzstück bester Virtuosenqualität schreibt, das Violinkonzert e-Moll op. 64, komponiert er auch Kirchenkantaten, Motetten und Psalmen im alten A-cappella–Stil. Seine Oratorien Paulus, op. 36 (1836) und Elias, op. 70 (1846) sind zutiefst von Bachs Passionen inspiriert, huldigen aber auch dem zeitgeistigen Enthusiasmus für große Chöre, Gesangvereine und Liedertafeln. Drei Psalmen für großen Chor a cappella sind bestimmt für ein hochromantisches und historisch-nostalgisches Projekt von kolossalem Format: dem am Berliner Spreeufer geplanten Dom-Neubau nach dem Willen des späteren Preußenkönigs Friedrich Wilhelm IV. Dort sollte sogar ein festes A-cappella-Chorensemble nach Vorbild der Sixtinischen Kapelle eingerichtet werden. Mendelssohn bearbeitet Bachs Chaconne aus der Violinpartita d-Moll mit Klavierbegleitung – aber auch Oratorien von Händel. Mit ihrer üppigen Instrumentation durch vielerlei Zusatzstimmen huldigt er aber nicht historischer ›Authentizität‹, sondern dem sinfonischen Orchestergeist der Zeit, der dann analog für die Aufführungspraxis von Bachs Vokalwerk üblich wird. Als anschaulichstes Dokument dieser historistischen Zeitverschränkung präsentiert sich Ludwig Spohrs Historische Symphonie im Styl und Geschmack vier verschiedener Zeitabschnitte von 1839: eine musikgeschichtliche Revue als veritable ›Programmmusik‹.

»Neue Bahnen« aus alter Tradition: Johannes Brahms Vollendet wird dieser Prozess bei Johannes Brahms, dem Hamburger Wahl-Wiener. »Die Reichsgründung und der Abschluss der Bach-Gesamtausgabe sind die wichtigsten Ereignisse meines Lebens«, bekennt er. Das ist keine Übertreibung. Brahms gehört dem Ausschuss der Leipziger Bach-Gesellschaft an und ist Mitglied in den Kommissionen zur Herausgabe der Denkmäler Deutscher Tonkunst und der Denkmäler der Tonkunst in Österreich. Damit liegt jetzt viel ›vergangene‹ Musik, zugänglich für alle, im Druck vor. Voll Ungeduld erwartet Brahms immer die neuen Bände der Gesamtausgaben von Bach, Händel und Schütz. Verreist er aufs Land, so schärft er zuvor seinem getreuen Famulus Eusebius Mandyczewski, dem Archivar der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, ein, ihm die neuesten Bände sofort nachzuschicken. Er selbst ediert Werke von Carl Philipp Emanuel und Friedemann Bach sowie von François Couperin und arbeitet auch bei den ersten Gesamtausgaben von Händel, Mozart, Schubert, Chopin und Schumann mit. Er sammelt, kopiert und studiert eine riesige Menge alter Musik. In seiner Bibliothek finden sich alle wichtigen Musiktheoretiker des 18. Jahrhunderts, von Adlung über Fux, Gerber, Kirnberger, Marburg, Mattheson bis Scheibe und Walther.7

7

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Vgl. K. Geiringer, Brahms als Musikhistoriker, in: Die Musik XXV/8 (1933), S. 571–578 und I. Fellinger, Brahms und die Musik vergangener Epochen, in: W. Wiora (1969), S. 147–163.

Aber auch als Künstler löst er seine historische Passion ein: Er eröffnet sein erstes Konzert in der Wiener Singakademie mit der großen Bach-Kantate Ich hatte viel Bekümmernis (BWV 21). Und schon am dritten Abend führte er dort Bachs Weihnachtsoratorium auf. Er ist wahrscheinlich der Erste, der Bachs Goldbergvariationen im Konzert spielt und er studiert die Bach-Passionen ein. Sein intensives Interesse an der Musikgeschichte lässt ihn zum befreundeten Bach-Biographen Philipp Spitta sagen, wenn er so gescheit wäre wie dieser und mehr gelernt hätte als Komponieren, wäre es seine Passion, sich »mit Musikforschung zu befassen.« So präsentiert sich Brahms als eine höchst historistische Existenz, deren eigenes, durchaus authentisches Œuvre aber allenthalben von den Horizonten des ›Alten‹ gesäumt ist. Wie eine Illustration dazu wirkt der Weg von seinem Opus eins bis zu seinem letzten, dem Opus 122: nämlich von der Klaviersonate C-Dur, die deutlich von Beethovens Hammerklaviersonate inspiriert ist, bis zu den Elf Choralvorspielen für die Orgel op. 122, in denen er den alten Choralbearbeitungskünsten à la Bach huldigt. Aber wie bei Mendelssohn verschränkt sich das Neue, Eigene, das Freund Robert Schumann enthusiastisch mit »Neuen Bahnen« rühmt, schöpferisch mit dem ›Alten‹. Brahms erste Sinfonie c-Moll, op. 68, wird von Hans von Bülow noch begeistert als »Zehnte Sinfonie Beethovens« gepriesen – und damit wie eine legitime Fortsetzung des klassischen Erbes. Aber gleichzeitig greift er mit seinen Motetten eine vergessene, archaische Gattung auf, in den lateinischen nach dem Muster Palestrinas (Drei geistliche Chöre für Frauenstimmen op. 37), in den deutschen nach dem Muster Bachs (op. 74, und den Fest- und Gedenksprüchen für achtstimmigen Chor op. 109). Auch die tiefe Neigung zur Kammermusik, wenig verbreitet bei den Zeitgenossen, aber eng verbunden mit dem innersten Konzept seines sinfonischen Komponierens, folgt einer Traditionslinie seit Haydn – obwohl die intensive Einbeziehung des Klaviers und der Blasinstrumente durchaus neu und originell ist. Nicht weniger traditionsbetont ist sein Interesse am Kontrapunkt – auch wenn er ihn nicht mehr konsequent mit völlig selbstständigen Stimm-Individualitäten verwendet, was besonders in der rhythmischen Gestaltung deutlich wird. Dem gleichen Handwerksgeist entspringt seine Vorliebe, den Bass und nicht die Melodie zur Grundlage seiner vielen Variationszyklen zu machen – genau wie Bach in seinen Goldbergvariationen. Er bemerkt 1869 in einem Brief an Adolf Schubring: »… bei einem Thema zu Variationen bedeutet mir eigentlich, fast, beinahe nur der Baß etwas. Aber dieser ist mir heilig, er ist der feste Grund, auf dem ich dann meine Geschichten baue …«8 Kein Wunder, dass sich sogar der Bach-kundige Philipp Spitta von Brahms die Generalbassstimmen für seine eigenen Aufführungen erbittet. Sogar ins Sinfonische nimmt Brahms dieses konstruktive Prinzip hinein, wie etwa im

8

J. Brahms Briefwechsel, hg. v. d. Brahms-Gesellschaft, Bd. 8, Berlin 1915, S. 217.

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letzten Satz seiner vierten Sinfonie e-Moll op. 98, wo er einer alten Basso-ostinatoForm, der Passacaglia huldigt.

Schöpferisch erinnerte Vergangenheit Auch seine lebenslange Beschäftigung mit dem Volkslied, besonders intensiv zwischen 1854 und 1858, lebt aus den zeitgeistigen Ambivalenzen. Einerseits entspringt sie zwar einer tiefen persönlichen Neigung zu dessen inniger Schlichtheit. Aber andererseits vollzieht sie sich aus der historistischen Bewusstseinslage. Denn auch die emsigen Volksliedsammlungen der Zeit zeigen das Interesse an einem Verlorenen, idealisiert als Schätze eines Vergangenen und reanimiert als ›zweite Naivität‹. Brahms erkennt das genau. Deshalb reagiert er auf die zwiespältige Situation durchaus reflektiert. Mit ärgerlicher Schärfe weist er die Unternehmungen der nur positivistisch kompilierenden Zeitgenossen wie Ludwig Erk (Deutscher Liederhort, Berlin 1856) und Franz Magnus Böhme (Altdeutsches Liederbuch, Leipzig 1877) zurück. »…Finden Sie im ganzen B. [Böhme] einen Takt Musik, der Sie im geringsten interessiert, ja nur berührt?«, fragt er polemisch in einem Brief an Spitta. Aber auch er sammelt. Allerdings achtet er in seinen eigenen Volksliedsammlungen weniger auf die philologische ›Echtheit‹ als auf die innere. Die Volks-Kinderlieder von 1858, die Deutschen Volkslieder für vierstimmigen Chor von 1864 und die Deutschen Volkslieder von 1894 fühlen sich mit sicherem Empfinden für echte Natürlichkeit seelisch in Geist und Stil der Vorlagen ein. Damit eignet er sich die vergangene Poesie der Romantik eben künstlerisch, nicht philologisch an. Er erschafft sie auf andere Weise neu, wenn er, wie Schumann, Lieder ›im Volkston‹ komponiert. Sie gelingen so gut, dass Exemplare wie Wiegenlied op. 49,4 oder Vergebliches Ständchen op. 84,4 ihre weitere Karriere als ›echte‹ Volkslieder machen, obwohl ihr Zauber über eine raffinierte Machart erschaffen wird: Es ist der Aneignungsmodus einer ›zweiten Natur‹, der Tonfall einer ›neuen Unmittelbarkeit‹, der wissender Geschichtsdistanz entspringt. Wie er dabei das alte ›Originale‹ ins eigene Komponieren hineinverwebt und gleichzeitig zu Anspielungen und Zitaten ›bricht‹, befreit ihn vom Vorwurf eklektischen Kopierens. Vom kunstvoll erschaffenen volksliedhaften Ton zwischen romantischer Erinnerung und psychologischer Brechung profitieren auch viele seiner lyrischen Klavierstücke, die langsamen Mittelsätze seiner zyklischen Werke und nicht zuletzt seine ›neuen‹ Kunstlieder. Dort kommt zur innigen Natürlichkeit eine motivisch-thematische Integration des Begleitsatzes hinzu, wie er sie in seinem Instrumentalwerk entwickelt hatte. Sie verzichtet zwar keineswegs auf die musikalische und psychologische Ausdeutung des Textes, ist aber nicht mehr auf sie angewiesen. Denn durch die gleichen Strukturmethoden einer inneren motivischen Vernetzung werden die Lieder zu eigenständigen Gebilden, »deren Poesie man«, wie Schumann in seinem Brahms-Bekenntnis »Neue Bahnen« so schön sagt, »ohne die Worte zu kennen, verstehen würde …«

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Bereits Liebestreu op. 3,1, das erste von Brahms veröffentlichte Kunstlied zeigt, wie sich ein nur dreitöniges Motiv über seine Varianten der Dehnung, Imitation und Umkehrung als substanzbestimmend erweist. Ähnlich entwickelt er den dritten seiner Vier ernsten Gesänge op. 121, aus kleinster Grundsubstanz, nämlich einer fallenden Terz. In einer Faktur wie von Feldeinsamkeit op. 86,2 erreicht er schließlich einen Höhepunkt der Neuerschaffung von ›Innigkeit‹. Hier abstrahiert er zugunsten einzelner Gedanken und Bilder (wie ›Ruhe‹, ›stille Träume‹, ›ew’ge Räume‹) vom zeitlichen Verlauf des Gedichttextes und erschafft mittels eines Netzwerkes motivischer Gedanken und Beziehungen eine neue, organische Einheit der verschiedenen musikalischen Ebenen. Schließlich bewahrt Brahms noch eine andere Tradition: die Sonatenform. Obwohl ihr Schumann schon 1839 den Abschied gesungen hatte: »eine Musikart, die in Frankreich nur mitleidig belächelt, in Deutschland selbst kaum mehr geduldet wird«, wie er meint.9 Aber Brahms verändert die Gestaltung ihrer inneren Prozesse in eigener Weise. Im formalen Ablauf setzt er nicht mehr so sehr auf dynamische Zielstrebigkeit mit ihrer harmonischen Gliederungsklarheit, einer impulsstarken rhythmischen Bestimmtheit und die Interaktion der Motive, sondern er entwickelt eine eigene Art der Introspektion ins musikalische Detail. Sie konzentriert sich vor allem auf intervallische Konstellationen und die Beziehungen der Themen und Melodien: Er ›umkreist‹ sie mehr, als dass er sie vorantreibt. Es ist ein nachsinnendes Ausspinnen und variatives Zerspielen der Motive zu einer Art Mikrostruktur, deren Details sich mit einigem analytischen Aufwand als ein neues Netzwerk von Beziehungen verstehen lassen. »Es ist mir, als wenn eben diese Schöpfung zu sehr auf das Auge des Mikroskopikers berechnet wäre …«, beschreibt Elisabeth von Herzogenberg, eine enge Freundin von Brahms, 1885 in einem Brief ihren Eindruck über seine vierte Sinfonie – aber nicht ohne viele, bewundernde Komplimente über das neue Werk. Arnold Schönberg, stets bemüht um Legitimation seiner musikalischen Evolutionskonzepte durch die Musikgeschichte, nimmt sie später als »Entwickelnde Variation« eben dafür in Anspruch und preist »Brahms den Progressiven«.10 Solcher Umgang mit dem musikalischen Satz fällt oft schon in den Expositionen auf, wie etwa im ersten Satz der vierten Sinfonie op. 98: Hier wächst die Überleitungsgruppe (Takt 19–53) durch Variation aus den vier Abschnitten des Hauptthemas (Takt 1–19) heraus. Auch das Seitensatzthema (ab Takt 57) zeigt seine variative 9

Vgl. R. Schumann, Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, hg. v. M. Kreisig, Leipzig 1914, S. 452.

10

In: Stil und Gedanke (1976), S. 123–133. Dass sich diese Satztechnik von Brahms auch ganz anders verstehen lässt, betonen Musikforscher wie etwa F. Krummacher, Reception and Analysis. On the Brahms Quartets op. 51, 1 and 2, in: 19th Century Music 18 (1994) Vol. 1, S. 24–25, L. Finscher, Der fortschrittliche Konservative. Brahms am Ende des 20. Jahrhunderts, in: Die Musikforschung 50 (1997), S. 393–399 sowie H. Federhofer, Johannes Brahms – Arnold Schönberg und der Fortschritt, in: Studien zur Musikwissenschaft 34 (1983), S. 111–130; ders., Johannes Brahms zwischen Tradition und Fortschritt, in: Festschrift Walter Wiora zum 90. Geburtstag, Tutzing 1997, S. 89–98.

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Verbindung mit dem Hauptthema durch die fallenden Terzketten, die dort als Melodiestruktur bestimmend sind, jetzt aber zur Begleitung werden. Andere Beispiele finden sich im Klavierquartett g-Moll op. 25 oder im Klarinettenquintett op. 115. Noch bezeichnender ist das andere Verständnis der Reprise bei Brahms. Er strebt hier nicht mehr die erwartete Wiederkehr des Hauptthemas mit dem Nachdruck einer Bestätigung an, sondern verschleiert sie eher: Die zielgerichtete Dynamik der Affirmation, bei Haydn selbstverständlich, bei Beethoven emphatisch, bei Schubert bereits gebrochen, wird jetzt quasi maskiert. Manchmal bedient er sich dazu einer extremen Verlangsamung der Bewegung (wie etwa in der vierten Sinfonie, erster Satz, Takt 246), bei anderer Gelegenheit ist es ein glattes Stocken (wie im Streichquartett op. 51,1, Takt 133 oder in der Klarinettensonate op. 120, erster Satz, Takt 130, wo die Einleitungsgruppe in ein auskomponiertes Ritardando mündet). Wieder anders operiert er mit Verschleierung, etwa durch Umgestaltung und Veränderung des Hauptthemas in den ersten Reprisenabschnitten (wie im ersten Satz des Klarinettentrios op. 114, wo das Hauptthema der Exposition ab Takt 126 durch variiertes Material bis zum Einsetzen des Seitensatzthemas Takt 150 ersetzt wird). Das geht öfter bis zur Tilgung ganzer Abschnitte aus der Exposition (wie im vierten Satz der dritten Sinfonie, wo die Reprise Takt 172 mit einer zur Überleitungsgruppe verarbeiteten Gestalt des Hauptthemas beginnt oder im vierten Satz der Klarinettensonate op. 120, 1, wo das Seitenthema, Takt 142, die Reprise eröffnet). Der sanfte Retard in solchen strukturell prägnanten Stationen, bei Beethoven noch Muster pointierter Bestimmtheit, die Vorliebe zur introvertierten variativen Mikrostruktur, die zwar das Detail motivisch bindet, aber als Auflösung ins Punktuelle auch Zusammenhang preisgibt, die Neigung zum Kammermusikalischen mit der Betonung der gedeckten Alt- und Tenorregionen (besonders in den Streichquintetten), eine Innerlichkeit, die den ostentativen Verkündigungston der Sinfonie dem rhapsodischen vorzieht und eher sehnsuchtsvoll innehält als entschlossen markiert, wird zum charakteristischen Merkmal des ›eigenen Tons‹ von Brahms Musik. Schumann, Schicksalsgenosse im Historismus, hat ihn deshalb mit sicherem Gespür in seiner flammenden Parteinahme »Neue Bahnen« gefeiert. Am 28. Oktober 1853 schreibt er in der Neuen Zeitschrift für Musik: »Ich dachte… es würde und müsse … einmal plötzlich Einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen wäre, einer, der uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung brächte, sondern, wie Minerva, gleich vollkommen gepanzert aus dem Haupte des Kronion entspränge. Und er ist gekommen, ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms …« Tatsächlich: das ›junge Blut‹ wird durch das ›Gestern‹ historistisch aufgehender Horizonte nicht behindert, sondern artikuliert sich auch ganz souverän mit Eigenem. Dazu gehören auf jeden Fall die kraftvollen Ausbrüche in den Klavierkonzerten, wo pianistische Technik neue Höchstanforderungen nach Beethoven

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erreicht (»unüberbietbare pianistische Perversionen« urteilt Pianist Alfred Brendel über das zweite Konzert, B-Dur), die noble schwärmerische Schwermut tiefromantischer Adagios und die rhapsodische Beredsamkeit ernster Kammermusik. Aber Schumanns Diktum erfasst auch die andere Seite der Dialektik: »als höchster Ausdruck der Zeit in idealer Weise.«

Eigene Identität und Zeit-Identität Damit offenbart sich das ›Eigene‹ als eine Authentizität zwischen schöpferischer Ausdruckskraft aus tiefem seelischen Empfinden, im Kompositionshandwerk geschärft durch kenntnisreiches Wissen um die Geschichte und einer Identität mit seiner Zeit in der Geschichte. Ihre Bewusstseinslage zwischen historistischer Nostalgie und dem hochgestimmten Fortschrittsoptimismus der ›Gründerzeit‹ bestimmt auch Brahms in seinem Komponieren. Brahms ist nämlich auch leidenschaftlicher Patriot und begeisterter Bismarckverehrer, als ›Nation‹ noch kein Makel war, sondern das Versprechen auf eine strahlende Zukunft einer endlich im Kreis der europäischen Staatenfamilie angekommenen Volksgemeinschaft. Er ist der Verehrer des Kaisers, als ›Wilhelmismus‹ noch kein Schimpfwort war, sondern Stolz auf die rauchenden Fabrikschlote einer aufblühenden Wirtschaft, ein stetig wachsendes Eisenbahnnetz, das Prestige einer potenten Flotte, eine Weltgeltung in Wissenschaft, Technik, Schulwesen und Universität. Ihm, dem Souverän, singt Brahms, inspiriert vom Sieg im Deutsch-Französischen Krieg 1871, sein Triumphlied für achtstimmigen Chor und Orchester op. 55, »Seiner Majestät dem Deutschen Kaiser Wilhelm I. ehrfurchtvoll zugeeignet« Er ist der stolze Freund der Burschenschaften, als sie noch nicht als Hort des Reaktionären galten, sondern als feine akademische Jeunesse dorée. Ihnen singt Brahms im musikalischen Dank für sein Ehrendoktorat der Universität Breslau mit der Akademischen Fest-Ouvertüre op. 80 den ›Gaudeamus-igitur‹-Jubel, den er so einarbeitet wie Mendelssohn ›Ein feste Burg‹ in seine Reformationssinfonie. Er ist nicht zuletzt der selbstbewusste Bürger, der als angesehener, vor allem aber erfolgreicher Komponist ständig steigende Honorare bekommt. Für das Deutsche Requiem erhält er 1868 noch 782 Mark. Aber nach dessen Erfolg bezahlt man ihm für die Cellosonate F-Dur op. 99 bereits 3000 Mark und schließlich 15 000 Mark für jede Sinfonie. Das ergibt ein solides Vermögen, lange betreut von seinem Verleger Simrock als kundigem Anlageberater.11 Zu seiner Identität mit der Bewusstseinslage der Zeit gehören aber vor allem die Transformationsmodi alten ›Transzendenz‹-Bewusstseins ins neue säkulare des 11

Vgl. K. Stephenson, Johannes Brahms und Fritz Simrock. Weg einer Freundschaft. Hamburg 1961, S. 103; M. Kalbeck, Johannes Brahms. Berlin 1904, Reprint d. letzten Auflage, Bd. II/2, Tutzing 1976, S. 332 ff.

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Bürgerlichen. Im Erfolgsstück seines Deutschen Requiems, das bald zum musikalischen Seelenhaushalt des wilhelminischen Bürgertums gehört, wird es zum Exempel. Brahms lässt sich zwar von der alten lateinischen Missa pro defunctis inspirieren, stellt sich aber seine Texte aus der Bibel selbst zusammen – in deutscher Sprache. Er wählt zwar das liturgische Gefäß der archaischen katholischen Totenmesse, verzichtet aber auf ihre wichtigsten Attribute: das Messformular, die Thematisierung des Erlösungstodes Christi – ja auf jede Erwähnung des Namens ›Christus‹ überhaupt. Deshalb darf es 1867 im Bremer Dom, obwohl eher Hort eines liberalen Protestantismus als eines rigiden Dogmatismus, nur zusammen mit einem Alibi erklingen: der Einlage aus Händels Messias: »Ich weiß, dass mein Erlöser lebt«. Er hingegen beschwört mit dramatischem Chor-Fugato die Menschenangst: »Nun Herr, wess soll ich mich trösten?« Den Trost der biblischen Antwort: »Ich hoffe auf Dich« aber unterminiert er musikalisch, wenn dazu jenes gleiche dunkle Motiv erklingt, das er schon zum »Gar nichts« verwendet hat: »Ach wie gar nichts sind alle Menschen, die doch sicher leben«. Er lässt sich zwar auf die schöne Verheißung ein »So seid nun geduldig, liebe Brüder, bis auf die Zukunft des Herrn«, schwächt aber ihren Zuspruch mit der Distanziertheit eines lauen Intermezzo-Tons ab. Nur im fünften Satz identifiziert sich die Musik vollkommen und innig mit dem Textgedanken »Ich will euch trösten, wie Einen seine Mutter tröstet«: aber Bekenntnis zu einer menschlichen Geborgenheit im Natürlichen, nicht für eine spirituelle im Übernatürlichen. Es ist ein Trauer-Trost, der eng mit dem Tod von Brahms’‹ Mutter verbunden zu sein scheint, mit dem die Entstehung des Werks zusammenhängt. Damit war aus der alten lateinischen Messfeier für die Seele des Verstorbenen eine Trostmusik für die Lebenden geworden, die da trauern und ihr Leid beklagen. »… Ich habe meine Trauermusik vollendet als Seligpreisung der Leidtragenden«, schreibt Brahms in einem Brief an den Dirigenten der Bremer Erstaufführung, Carl Reinthaler, im Februar 1867. Da beschwört kein schneidendes »Dies irae« mehr die Besinnung auf das jüngste Gericht, kein Dogma erinnert mehr an die metaphysische Rechnung vor der Ewigkeit, kein archaisch gefügter lateinischer Text zwingt mehr mit alter Lautmagie in Bann, kein festes liturgisches Formular verklammert mehr die Teile zu einem Ganzen. Das muss jetzt durch den musikalischen Satz allein erschaffen werden. Deshalb wird die musikalische Konstruktion wichtiger als die Bedeutungsmacht des Textes. Vielleicht symbolisiert der lange 36-taktige Orgelpunkt auf D am Schluss des dritten Satzes, weil er als tiefste Tonebene von keiner anderen Stimme unterschritten wird, die ›Hand Gottes‹, unter die keine der ›gerechten Seelen‹ fallen kann – aber er tut dies als Teil der wohlkalkulierten Satzkonstruktion einer Fuge. Für die Schrecken der Vergänglichkeit des Fleisches, das »wie Gras« ist, muss schließlich (im zweiten Satz) ein romantischer Trauermarsch im ¾-Takt herhalten. Das ist ein Perspektivenwechsel von normativer Tradition zum wilhelminisch-deutschen Lebensgefühl des 19. Jahrhunderts: zwischen Berliner Dom, Hohenzollern-Schloss, Niederwalddenkmal und Gartenlaube, vom metaphysischen

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Bewusstsein einer unerbittlichen Grenzmarke zum Ewigen in das laue Räsonieren einer behäbigen bürgerlichen Gesellschaft über die unvermeidliche Vergänglichkeit, vom schroffen christlichen Dogma zum pietätvollen Sentiment. Das entkommt dann oft, in weniger gelungenen Aufführungen, nicht leicht dem Odium des Sentimentalen. Wie eine Bestätigung der inneren Bedeutung wirkt die äußere: Bald wird aus der ursprünglichen Karfreitagsmusik (nämlich zuerst als »Gedächtnismusik für die im Kriege Gefallenen« im Kölner Gürzenich-Konzert vom 10. November 1870) die jährliche rituelle Novembermusik des Buß- und Bettags. Auch das fällt unter die Signatur eines Perspektivenwechsels vom Jenseitigen zum Diesseitigen. Brahms letztes Werk, die Choralbearbeitungen op. 122, bekräftigt ihn. Oh Welt, ich muss dich lassen lautet dort der Schlusschoral. Bei Bach, seiner historistischen Inspiration dazu, steht als letztes Werk der Choral Vor Deinen Thron tret’ ich hiermit. Auf welche Weise Brahms der Bewusstseinslage der Zeit mit seinem ganz eigenen Ton eine authentische musikalische Identität verschafft hat, entgalten die einen mit Begeisterung, die anderen mit Häme. Großkritiker Hanslick in Wien preist diese Tonlage, und die akademische Musikgeschichtsschreibung fand mit ›Klassizistisch‹ einen Begriff dafür. Aber Friedrich Nietzsche spricht sein berüchtigtes Urteil von der »Melancholie des Unvermögens« und heißt Brahms sogar einen »Meister der Copie«. Richard Wagner, der ätzend über den Ehrendoktor als »diplomierten Musik-Prinzen« spottet, empfindet die Musik des »hölzernen Johannes« als »langweilig«, »ohne irgend etwas«, dafür voll »gesuchter Seltsamkeiten«.12 Dass Hugo Wolf mit Bitternis im Herzen und Wut auf den Lippen über Brahms »Kunst ohne Einfälle zu komponieren« lästert, ist allerdings eher ein persönliches Problem, denn Brahms hatte ihn nicht als Kompositionsschüler angenommen. Wenn er allerdings im aufflammenden Streit zwischen ›Konservativen‹ und der Avantgarde der ›Neudeutschen‹ als Galionsfigur der Traditionalisten in Anspruch genommen wurde – übrigens ohne sein Zutun –, dann zeigt das die tieferen Bruchlinien der Zeit. Es sind die Brüche der geschichtlichen Situation mit ihren Ambivalenzen zwischen ›alt‹ und ›neu‹, zwischen der Vergangenheitsnostalgie der Romantiker und dem Fortschrittspathos Hegels. Sie schlagen dem Nachdenklichen als Konservativismus um die Ohren, was womöglich ein Innehalten vor der musikalischen Fülle eines Gestern war, bevor es Anderen als dubiose Last eines erledigten ›gesellschaftlichen Bewusstseins‹ zum Stigma wurde. Dieser Traditionslinie einer Kritik aus hegelianischem Denken folgt noch Theodor W. Adorno. Er befindet, dass die Musik von Brahms im Vergleich zu der von Beethoven zu einem »selbstgenüg-

12

Vgl. Cosima Wagner, Die Tagebücher, hg. v. M. Gregor-Dellin u. D. Mack, Bd. 1, 1869–1877, München u. Zürich, 1976, S. 461 und Band 2, 1878–1883, München 1977, S. 407, 753, 895.

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samen ästhetischen Organisationsprinzip privaten Gefühls« verblasst sei und insofern einem »falschen Bewusstsein« zugehörig.13

Die ›Klassizisten‹ als ›Epigonen‹ mit dem »falschen Bewusstsein« Das kategorisierende Attribut könnte leicht für eine potente Reihe anderer Komponisten gelten, die man pauschal als ›Klassizisten‹ bezeichnet, aber gern als ›Epigonen‹ qualifiziert. Dazu gehören Namen wie Ferdinand Hiller, George Onslow bis Franz Lachner, Max Bruch oder Josef Rheinberger. Besonders an Letzterem lässt sich ein bezeichnender Perspektivenwechsel im musikgeschichtlichen Fokus erkennen. Denn Rheinberger (1839–1901) war einst eine europäische Berühmtheit, die 1899 sogar von der Londoner Musical Times als oberste Instanz in musikalischen Streitfragen angerufen wurde. Er komponierte 197 Werke: Opern, Sinfonien, Messen, Klavier- und Orgelmusik, viele Lieder und eine phantasievolle Kammermusik. Oft greift er alte Formen auf, wie etwa in seinen Orgelwerken Passacaglia und Fuge. Sein internationaler Ruhm führte ihm eine illustere Schülerschar in München zu, wo er als Kompositionslehrer an der Akademie der Tonkunst wirkte. Zu ihr zählten Humperdinck, Wolf-Ferrari, Furtwängler, August Halm sowie die Amerikaner Horatio W. Parker, der Lehrer von Charles Ives, George Whitefield Chadwick und auch Ludwig Thuille, der Richard Strauss nahe stand und zum Mittelpunkt einer ›Münchner Schule‹ wurde.14 Richard Wagner allerdings, neuer Stern im München von König Ludwig II. und dort sogar vorübergehend musikalischer Präzeptor, meinte: »Dieser Professor Rheinberger ist ein großer Künstler, der komponiert täglich von 5 bis 6 Uhr nachmittags. Ich bin nur ein Dilettant, ich kann nur komponieren, wenn mir was einfällt.« Allerdings musste ihm für die musikalischen Ergebnisse dieser Einfälle dann ein erfahrener Konservativer, der Hofkapellmeister Franz Lachner, das Hofopernorchester trainieren, bis es den Tristan konnte. Der war zuvor in Wien nach 77 Proben als ›unspielbar‹ aufgegeben worden.

Das späte Glück einer alten Muse: das dramma per musica Ein anderer Zug der zeitgenössischen Dialektik von ›alt‹ und ›neu‹ zeigt sich bei der rasanten Individualisierung der Tradition in der italienischen und französischen Oper.

13

Vgl. Th. W. Adorno, Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie, in: Gesammelte Schriften Bd. 14, Frankfurt a. M. 1973, S. 246.

14

J. Brandes, Ludwig Thuille und die Münchner Schule. Kompositionslehre in München am Ende des 19. Jahrhunderts und die »Harmonielehre«, Hofheim am Taunus 2018..

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Die Musik, gehorsame Dienerin menschlicher Leidenschaften im Operndrama, wird in ihren profanhistorischen Narrativen immer mehr zum Ausdrucksmedium des Privaten und Subjektiven – aber aufgeladen mit der un-profanen Aura eines großen Erbes. Hier übernimmt, lange nach der Inspiration des musikalischen Abendlandes durch Madrigalkünste, Concerto und Sonata, Italien wieder die Führung in einem Genre, das seit Monteverdi sein ureigenstes ist. Nach versunkener seria-Pracht und burleskem buffa-Spaß bilden sich mit Rossini, Donizetti und Bellini, der italienisch inspirierten französischen Grand Opéra und dem bürgerlichen Kontrapunkt dazu, der opéra comique, ihre neuen Konturen heraus. Von ihren zentralen Figuren wie Rossini und Meyerbeer führt es zum Verismo und schließlich zu europäischen Höhepunkten wie Verdi und Wagner, die man gerne zum exemplarischen Antagonisten-Paar erklärt. Gioacchino Rossini (1792–1868) kultiviert in seinen 39 Opern verschiedene Vorbilder von der Neapolitanischen Schule und Domenico Cimarosa bis zur Buffa. Das Seria-Erbe kommt, wie in Tancredi, mit großem Cantabile-Melos und dem ausdrucksstarken largo concertato des Orchestersatzes zum Ausdruck. Aber bereits die Arien der Armida verlangen hohe virtuose Beweglichkeit. Das weist auf das Zentrum von Rossinis musikalischer Ästhetik: die Buffa als ›Farsa‹, der Schwank als ein Melodramma giocoso oder ein ›komisches Musiktheater‹, wie es sich besonders bei Il turco in Italia oder Il viaggio a Reims zeigt. Dort entwickelt er seinen Stil der ironischen Brechungen, absurden Volten und dem Brio einer orchestralen Crescendo-Technik als Spannungsmittel, dazu die sanguinische, schnelle Gestik der Melodiewendungen und einer überschäumenden Flut von Koloraturen. Ein Höhepunkt: Il Barbiere di Siviglia (1816). Was strukturell mit einer Abfolge von meistens Periode für Periode getrennten Motiven als Partikularistik scheinbar dissoziativ wirkt, folgt aber genau dem bühnendramatischen Geschehen. Und was mit der Abundanz der Koloraturen als Überschuss frei flottierender Sängerkräfte erscheint, ist tatsächlich ein hochartifizielles Ornamentierungskonzept das Rossini seit Elisabetta regina d’Inghilterra (1815) genauestens in seinen Partituren festlegt: eine sanguinische Brillanz nach Plan, die höchste sängerische Fähigkeiten fordert. Zusammen mit einer glänzenden Orchesterbehandlung, gekennzeichnet durch eine bemerkenswerte Instrumentalcharakteristik, bleibt Rossinis Musik bis heute eine ebenso geniale wie charakteristische Verkörperung authentischer, lebenssprühender musikalischer Italianità. Das glänzende Fest der Stimmen aber ist eine letzte Manifestation der Sphäre des Belcanto, der bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als eine einzigartige, unverwechselbare Opernkultur zu Weltrang aufblüht. Als Begriff war er in seiner Hochzeit während der Ära der Kastraten allerdings unbekannt und kommt in keiner der grundlegenden Theorietraktate des 18. Jahrhunderts vor. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts taucht er auf, und zwar als Differenzbegriff zu einer neuen

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Art von Gesangskultur wie bei Ponchielli, Mascagni, Leoncavallo, Giordano, Eugen d’Albert und Puccini. Das alte »cantar che nell’anima si sente«, des »Singens, das nur die Seele spüren kann« weicht einer neuen naturalistischen Affektsprache des Extroverierten: ein Wechsel der Ausdruckswelt. Rossini kommentiert in einem Brief an den Bellini-Freund Francesco Florimo: »Die heutige Gesangskunst ist auf die Barrikaden gestiegen; den alten ausgezierten Gesang ersetzte man durch den nervösen, den feierlichen durch Schreie.« Belcanto ist also eine Verklärung, in der die alte Anbetung des Sängers gefeiert wird, mit ihrer Domäne in der Cabaletta und Vokalleistungen, die in den Sopranpartien bis in die viergestrichene Oktave gehen. Aber im Ausdruckswechsel zum Verismo will man eine neue, individuelle Charakterzeichnung des dramatischen Sujets. Die »aria d’urlo«, die »Arie mit dem Schrei« wie etwa im Lamento von Canino »Vesta la giubba« aus Ruggero Leoncavallos Oper Pagliacci (1892) zeigt das neue Ausdrucksverlangen. Bei George Bizets Carmen wird es weiter verschärft durch die gleichen Einbrüche naturalistischer Realitätsästhetik, die alle Künste der Zeit prägen. Ihre Devise: »Wie er die Welt wirklich sieht, schildere der Dichter«, heißt es bezeichnend im Prolog zu Pagliacci. Aber bereits im edelsten Belcanto bricht mit der Psychologisierung der traditionellen Arientypen, besonders markant in den ›Wahnsinnsarien‹, etwas von den Seelenzuständen der Moderne durch. Das Genre zeichnet sich schon bei Gaspare Spontini (La Vestale, 1807) ab und in Rossinis Semiramide (1823) bei der Arie des Assur im zweiten Akt (Nr. 9). Bei Donizetti (Anna Bolena, Lucia di Lammermoor und Linda di Chamounix) und bei Bellini (in Il pirata, La Sonnambula, I Puritani) etabliert es sich schließlich mit exaltierten, innervierenden Sujets als Ausdrucksmedium für neue Affektzustände: Neurasthenie, Hysterie und Wahn scheinen mentale Paten zu stehen. Das edle Pathos großen Formats existenzieller Verzweiflung der seria tritt zurück und macht einer subjektivierten, reizintensiven Nervenmusik Platz, die bis zum exhibitionistischen Effekt geht – eine Metamorphose des Dramatischen, das sich jetzt mehr persönlichen Verstörungen verdankt als schicksalhaften Verhängnissen. Von da aus kommt eine auffällige Analogie in den Blick: die ›nervöse‹ Art von Moderneerfahrung, das »Nervöse Zeitalter« (Richard von Krafft-Ebing) – eine Zivilisationsdiagnose, für die die gleichzeitige entstandene wissenschaftliche Psychiatrie in Frankreich eine Therapie anbietet, verbunden mit Namen wie Philippe Pinel und Jean-Étienne Esquirol. Rossini geht 1829 nach Paris, wo die dortige Grand Opéra seit Spontinis Vestalin viele Züge der italienischen Oper übernimmt. Auch Verdi schreibt zwei Opern in französischer Sprache für Paris. Aber ihr volles Format erreicht die neue französische Oper mit Giacomo Meyerbeer (1791–1864).

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Wirkung mit Ursache: Meyerbeer In Berlin als Jakob Liebmann Beer geboren und ausgebildet in den soliden Kompositionsschulen von Karl Friedrich Zelter und Abbé Vogler, schreibt er zunächst Opern im Genre des deutschen Singspiels. 1816 geht er auf den Rat Salieris nach Italien und komponiert unter dem Einfluss von Simon Mayr und Rossini italienische Opern. Seit 1826 ist er in Paris, wo er sich zum Meister einer raffinierten Bühnendramatik der zündenden Effekte entwickelt. Er übernimmt das glanzvolle vokale Ambiente der italienischen Sängeranbetung, aber verwandelt den sanguinischen Hedonismus Rossinis zu einer Dramatik von Ideenkonflikten: ›L’ȃge de plaisir‹ weicht dem ›ȃge actuel de force‹. Dazu kommt die Bildhaftigkeit bizarrer Schauplätze wie in Romildo e Constanza (1817) oder in Il crociato in Egitto (1824), die bis zum Dämonischen in der Folie mittelalterlichen Schauerambientes gesteigert wird wie in Robert le diable (1831). Zum Stil der Grand opéra gehören nicht nur sämtliche vokalen Möglichkeiten mit Air, Kavatine, Romanze und Ballade, sondern vor allem imperiale historische Kulissen mit ihren Narrativen und eine grandiose Ausstattungsopulenz mit sämtlichen Theatermitteln, den Massenszenen, Chören und Balletten. Wesentlich für die weitreichende Wirkung Meyerbeers aber ist seine Orchesterbehandlung. Sie inspiriert auch Richard Wagner nachhaltig, der Meyerbeers Musik in seiner Schrift Oper und Drama als »Wirkung ohne Ursache« verhöhnt. Damit meint er, abgesehen von seiner späteren persönlichen Antipathie, ein Missverhältnis zwischen dem Format der dramatischen Sujets und dem Aufwand der musikalischen Effekte. Denn durch ihn entwirft Meyerbeer eine profilierte und ›charakterisierende‹ Instrumentation mit selektiven Klangfarben-Tableaux wie exemplarisch in Robert le diable, der Oper, die ihm den großen Ruhm bescherte. Dort kennzeichnet er durch spezifische ›Leitklangspektren‹ Personen und Ausdrucksbereiche: etwa das ›Dämonische‹ für Bertram im Bündnis mit Satan oder ein spukhaftes Nonnenballett durch verschiedene Abmischungen von Klarinette und Fagott in tiefsten Lagen mit Horn, Trompete, Posaune, Ophikleide, Pauken und Tam Tam. Als Kontrast dazu wählt er den ›Ton céleste‹ mit Flöten, Oboen und Streichern wie für die normannische Bäuerin Alice oder die eigenen Farben der höfischen Welt von Ritter und Damen. Diese Instrumentationskunst im Dienst einer Ausdruckssubjektivierung liegt im allgemeinen Trend der Individualisierung der Instrumente. Als Klangfarbendramaturgie wirkt sie nachhaltig über Berlioz, Verdi (besonders in Macbeth) und Wagner noch bis Korngolds Tote Stadt (1920). Auch in seiner Oper Les Huguenots (1836) operiert Meyerbeer mit solchen Mitteln: die koloristische Brillanz der Ritter- und Hofszenen und die magische Beschwörungskraft einer solistischen Bassklarinette – erstmals in einem Opernorchester – für den Klagegesang im ›Interrogatoire‹-Terzett von Marcel, Valentine und Roul (5. Akt).

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Aber in dem blutrünstigen Revolutionsdrama spielt auch der Lutherchoral Ein feste Burg ist unser Gott eine wichtige Rolle. Er erhält nicht nur thematische Funktion und strukturelle Bedeutung, wenn er für die ›protestantische‹ Sphäre steht (obwohl es eigentlich um die Calvinisten geht), sondern er fungiert auch als bedeutungsschwere Metapher. Denn Meyerbeer dekonstruiert ihn nach und nach bis zum thematischen Rudiment im finalen Chor der Mörder (»Oui, rénegats …«). Schon in den großen Chorszenen kennzeichnet er die Menschen als ›Masse‹ und damit als ein neues Subjekt der Geschichte. Gleichzeitig zeichnet er aber auch eine Psychologie der Masse, wenn er die Destruktion des Chorals als einen Auflösungsprozess der christlichen Substanz ihrer Religion musikalisiert und ›Gesellschaft‹ als ein Kollektiv liberal-aufgeklärter Bürger als fromme Utopie entlarvt. Meyerbeer macht ihn zum beklemmenden Vehikel eines Abstiegs vom Idealbild souveräner Volksintelligenz zum Zerrbild entfesselten Massentaumels im bestialischen Pogrom: eine Dramaturgie, die weit über das fatalistische Narrativ einer religiösen Auseinandersetzung hinausgeht, sondern für einen illusionslosen Realismus in einem Un-happy End steht.

Die ›leichte Muse‹ als neue Muse Die alte Buffa-Idiomatik, die als vitale Bühnenaktion von Pergolesi und Mozart bis Rossini musikalische Strukturen so nachhaltig prägt, findet in der Opéra comique eine Fortsetzung. Als Erbe der Vaudevilles, der Vorstadtkomödien mit Musikeinlagen, variiert sie nach Jean Jacques Rousseau und André Ernest Grétry ihre Sujets mit realpolitischen Themen in der Revolutions- und Schreckensoper. Auch dort erfährt das musikalische Idiom mit seinen Tonmalereien, den rasanten Steigerungsszenarien und extremen dynamischen und orchestralen Kontrasten samt charakteristischer Instrumentierung eine prägnante Individualisierung. Weltläufige Präsenz erlangt es schließlich von London aus mit den Savoy Operas von Gilbert und Sullivan, nicht zuletzt durch ihre oft parodistische Diktion. Daniel François Esprit Auber (1782–1871), der Hofkapellmeister Napoleons III., kultiviert bereits viel leichte Melodie und bunte Ensemblesätze. Aber bei Jacques Offenbach (1819–1880), dem emblematischen Operettenkomponisten des Second Empire, erreicht das Genre mit einer meisterhaften Kunst der Parodie und geistreichem musikalischen Einfallsreichtum seine charakteristische Qualität. Deshalb behalten Orpheus in der Unterwelt (1858), Die schöne Helena (1864) und Hoffmanns Erzählungen (1881) bis heute ihre Wirkung. Aber der Cancan des Höllengalopps von Orpheus legitimiert auch eine erotische Frivolität, die zusammen mit der Überzeichnung der Parodie zur Groteske auf die künftigen Ressourcen des Genres weist. Denn dort vollzieht sich mit dem Übergang zur opera buffa und zur Operette auch ein stetiger Transformationsprozess musikalischer Stilgenres, der einen markanten Wechsel der Ausdruckswelten bedeutet. Dort bahnt sich jene Trennung von

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›ernster‹ und ›leichter‹ Musik an, die es bis zur »Wiener Klassik« nicht gab und die schließlich zur modernen Klassifizierung von E- und U-Musik führt. Nachhaltig befördert wird dieser Prozess durch eine Bearbeitungspraxis, die zum einen mit dem musikalischen Historismus zu tun hat, zum anderen mit einer soziokulturellen Veränderung hin zur modernen ›Massengesellschaft‹. Als Zeugnisse eines »praktischen musikalischen Historismus« (Georg Feder) kann man die Bearbeitungen von Werken Bachs durch Schumann, Mendelssohn, Liszt und Gounod verstehen. Während aber die Chaconne-Bearbeitungen Mendelssohns und Schumanns und die Klaviertranskriptionen von Orgelwerken Bachs durch Liszt schon durch ihre Virtuosität noch einem legitimen ›nach-schöpferischen‹ Genre angehören, folgen Bach-Bearbeitungen wie von Charles Gounod einem Bedürfnis nach Bach light. Sein Gründungsdokument ist die Verwandlung des C-Dur Präludiums aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers. »Composée pour piano et violon solo, avec orgue ad. lib, par Ch. Gounod« taucht es Bach nicht nur in das bengalische Licht sentimentaler Stimmungsmalerei, sondern begründet ein Genre, das fortan unter Méditation rangiert. Damit begann 1853 die seltsame Erfolgskarriere eines zeitgeistig zubereiteten Bach. Ihre zahllosen Arrangements für andere Instrumentierungen oder für Orchester mit und ohne Chor und schließlich als ›geistliches Lied‹ mit dem Untertitel Mélodie religieuse zum Text »Ave Maria« besiegelten die Metamorphose. Als unsterblicher Hit blieb das von Bach entfremdete »Ave Maria«, wahlweise für Hochzeiten, Taufen oder Begräbnisse, als unfehlbare Stimmungskulisse bis heute im Repertoire. Als neue ›Gattung‹ von Bach-Bearbeitungen blühten die Méditations mit einer kaum überschaubaren Flut bis zum Ende des ersten Weltkrieges. Sie war nicht nur Zeugnis der ›romantischen‹ Bach-Rezeption, sondern auch für eine grenzenlose Subjektivierung, die dem ›leichteren‹ Gusto einer zeitgeistigen Mode folgte.15 Nicht anders ergeht es Schubert. In dem operettenhaften Singspiel Das Dreimäderlhaus von Heinrich Berté (1916), mit Franz Schubert als (unglücklich-verliebtem) Akteur im zünftigen Wiener Milieu werden Melodien aus Schuberts Werken zu einem bunten Potpourri für leichten Konsum verarbeitet. Solche Transformationsprozesse öffnen das Tor zu jener Art von ›Unterhaltung‹, die nichts mehr mit der musikalischen Qualität der alten Kontrafakturen, von Balladen und Chansons der Renaissance, dem »Tafelkonfekt« eines Telemann oder Valentin Rathgebers, Pergolesis La serva padrona oder den Serenaden und Kassationen Mozarts gemein hat. Sie führen schließlich in eine ästhetische Halbwelt zwischen Gartenlauben15

Vgl. G. Feder, Gounods »Méditation” und ihre Folgen, in: W. Wiora (1969), S. 85–122 mit einer umfangreichen Liste von Bearbeitungen sowie I. Keldany-Mohr, Unterhaltungsmusik als soziokulturelles Phänomen des 19. Jahrhunderts, Regensburg 1977 (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 47).

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Sentiment, Waldmeister-Kitsch und ›Musikantenstadel‹ als Inbegriff eines neuen, populären ›U‹. In dessen einer Liga wetteifert Das Gebet einer Jungfrau (Thekla von Badarzewska-Baranowska) mit dem Ländlerpaar Großmütterchen und Großväterchen (Gustav Langer) oder Wenn die Schwalben heimwärts ziehen (Franz Abt) mit Das erste Herzklopfen (Richard Eilenberg) und die Klosterglocken (Louis James Lefébure-Wély) mit den Träumen auf dem Ozean (Joseph Gungl). In der anderen Liga blühen populäre Tanztypen, Revue, Musikkomödie, Operette und ›Komische Oper‹ auf und etablieren sich als eigenständiges Genre. Dort konkurrieren die virtuosen Folklorismen mit Radetzky-Marsch und Leichte Kavallerie Franz Léhars oder den Wiener Walzer-Redouten der Strauss-Dynastie und schließlich Ralph Benatzkys Weißes Rössl mit der Blume von Hawaii von Paul Abraham, des ›Königs der Operette‹. Musikalisch erweisen sie sich meist als zeitgemäße Reduktionsformen einer komplexer gefügten Tonsatzqualität. In ihrer Ausdrucksbedeutung aber als Reduktion von sinnstarker Tradition zu sentimentaler Banalität, eines hohen Ethos zu akustischem Konfekt, der großen Rhetorik der Bach-Zeit zum belanglosen Konversationston des bürgerlichen Salons. ›Salonmusik‹ tritt dann auch als Schwundstufe der alten ›Kammermusik‹ auf und entwickelt charakteristische, eigene instrumentale Besetzungen. Über den Charakter der anderen Gattungen aber gibt ein zeitgenössischer Ästhetikprofessor Auskunft: »Die ideale Forderung der Operette bleibt immer, daß sie keinen Sinn hat, Sinn haben wir genug im Leben, hier wollen wir den Unsinn krönen …« (Oscar Bie, Die Operette, 1914). So gerät das (legitime) Bedürfnis nach (anderssinnigem) Amusement in der ›leichten Muse‹ schließlich zur Legimitation eines soziokulturellen Prozesses: den Aufstieg früherer Subkulturen zu hochkultureller Geltung und die Formierung einer ›Unterhaltungsindustrie‹, die nicht nur ihre eigene Pop-Ästhetik entwickelt, sondern auch das Geschäftsmodell dafür. Im Unterschied dazu zeigt sich eine alte Traditionsschicht vor allem an musikalischen Formen, in denen auch Rossini und Meyerbeer wurzeln: beispielsweise dem italienischen Melodramma. Das bezeichnet ein eigenständiges Theater-Genre mit Gesang und instrumentaler Begleitung und hat nichts mit dem außerhalb von Italien üblichen Verständnis von ›Melodrama‹ zu tun. Es entspricht als musikalisches Narrativ vielmehr dem literarischen des Romans und operiert mit großen Gefühlen, edlen Leidenschaften und noblen Menschen. Sein Ablauf funktioniert bis Verdi meistens nach einem bewährten Schema in den Arien und Duetten, das als solita forma (Abramo Basevi) bezeichnet wird. Als gusto melodramatico entwickelte es sich zu einem italienischen gusto nazionale, der als eine Art kulturtypologisches Charakteristikum verstanden wird. Realisiert werden die traditionellen Musiktheaterformen allerdings in einem Produktionssystem, das ganz von der Praxis des Opernbetriebs bestimmt ist. Dort waren die Umstände der Stagione, also der jeweiligen Spielzeit der Theatertruppe,

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die Sängerstars und die ökonomischen Interessen entscheidend, nicht die erhabene Werkidee des Komponisten oder gar ein sakrosankter Geniebegriff. Das zeigt sich vor allem im Status der Partituren. Sie zeigen das Werk nur selten als ›Originalfassung‹ in der vom Komponisten fixierten Gestalt, sondern meistens in seinen Aufführungsversionen. Damit fällt Licht auf ein typisches Phänomen der italie­nischen Operngeschichte: die permanenten Bearbeitungen, Umarbeitungen und Kürzungen, die für viele Werke bis zu Verdi und Puccini eine Aufführungstradition erschaffen, oft weit entfernt von den ursprünglichen Absichten des Komponisten.16 Zum einen ist das Kennzeichen einer situativen Pragmatik, wie sie immer zur Musikgeschichte gehört hat und nicht zuletzt auch einen realistischen historischen Werkbegriff bestimmt. Aber in vielen der ›Zubereitungsmodi‹ äußert sich zum anderen die gleiche musikgeschichtliche Tendenz wie in den Transformationsprozessen zur ›leichten Muse‹: ein Populismus, der sich schließlich als bloßes Entertainment für eine neue, zuletzt auch mediale Massengesellschaft etabliert.

Glanzlichter verschiedener Art: Verdi und Puccini Wie sehr alle authentische Operntradition aber letztlich vom charakteristischen Flair der Italianità mit dem Sänger als zentralem Protagonisten bestimmt wird, zeigt sich in zwei letzten glänzenden Höhepunkten: Giuseppe Verdi (1813–1901) und Giacomo Puccini (1858–1924). Der eine repräsentiert, ähnlich wie Wagner, die Apotheose eines musikalischen Idioms, der andere bereits einen Transit zu anderen Ausdruckswelten. Verdi, der Bauernsohn aus Roncole, stellt in der Dramaturgie seiner 26 Opern immer ein echtes, unverbildetes ›Menschentum‹ in den Mittelpunkt. Er gestaltet es mit dem gleichen hohen Ethos wie ein Beethoven und einer nicht minder authentischen, naturalistischen Impulsgewalt. Seit Rigoletto (1851) beherrscht der Tonfall einer edlen und wahrhaften Humanitas seine musikalische Ausdruckswelt, vollendet im Otello (1887). Sie findet im großzügigen Melos der ›Gesangsoper‹, ähnlich wie bei Händel, ihre ideale Form und in einer Transparenz des Orchestersatzes, der zwar nicht sinfonisch konzipiert ist wie bei Wagner, aber dennoch nach und nach ähnliches Format für die Bühnendramatik gewinnt. Bezeichnenderweise entwirft Verdi zuerst die Außenstimmen, später die Instrumentierung, führt aber die polymetrischen Ensembleszenen zu diffiziler Komplexität. Im Spätwerk bei Don Carlos (1867), Otello und Falstaff (1893) ist dann auch die Verflechtung von Vokalstimme und Orchestersatz selbstverständlich. Dort übernimmt er auch in den großen Ensemble- und Chorszenen, bereits ausgebildet in Nabucco (1842), die Mittel der

16

Vgl. J. Rosselli, The Opera Industry in Italy from Cimarosa to Verdi, Cambridge 1984.

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Pariser grand opéra, so wie er sich auch der Instrumentationskünste Meyerbeers bedient, unverkennbar bei Un ballo in maschera oder La forza del destino. Wie sehr er um die ›Wahrhaftigkeit‹« seiner Sujets bemüht war, des invitare il vero, als Steigerung des Menschlichen ins Exemplarische, zeigt sich im Streben nach einer eigenen dramaturgischen Gestaltung seiner Textvorlagen und einer strengen Kontrolle seiner Librettisten. Aber auch die Buffo-Tradition bleibt noch präsent, im Frühwerk Un giorno di regno (1840) und auch noch in der Commedia lirica seines letzten Werks Falstaff (1893), das er als Achtzigjähriger komponiert. Dort aber steht im Finale eine Fuge als Abgesang an alle Vanitas und die Komödie des Welttheaters. Wenn ihm dann selbst seine Messa da Requiem (1874) zum Medium einer leidenschaftlichen Skala aller operndramatischen Affekte wird, dann illustriert das die Fortsetzung aller Subjektivierungsformen des alten, eher ›überpersönlichen‹ lateinischen Messformulars seit Beethoven und Schubert bis Brahms. Einen letzten charakteristischen Höhepunkt erreicht die italienische Opernkunst bei Giacomo Puccini (1858–1924). Auch er steht in seinen zwölf Opern, ›handwerklich‹ bestens versiert, weil Spross einer Dynastie von fünf Generationen Musikern, ganz in der Tradition des italienischen Melos. Im Frühwerk (Edgar, 1889) inspiriert er sich noch an Wagners ›sprechendem Orchester‹. Aber seit seinem Durchbruch mit Manon Lescaut (1893) findet er zu seinem eigenen Idiom für eine Ausdruckswelt, die vom Verismo der Fin de siécle-Stimmung bestimmt ist. Sie transferiert gewissermaßen den Ethos von Verdis hochsinniger Menschlichkeit in die privateren, ambivalenten Gefühlslagen eines untergehenden Bürgertums: Psychogramme zwischen melodramatischem Sentiment und lyrischer Melancholie, feiner Salonerotik und herber Süße. La Bohème (1896) repräsentiert den Prototyp der italienischen Oper des späten 19. Jahrhunderts. Tosca (1900) hat Gustav Mahler als »Meistermachwerk« bezeichnet – und sich geweigert, sie aufzuführen. Musikalisch offeriert Puccini allerdings mit viel Detailarbeit eine subtile Nuancierungskunst und erweitert die Tonalität durch Pentatonik und Ganztonskalen. In Madame Butterfly (1904) verwendet er sie als ein Mimikry chinesischer Musik. Bei La fanciulla del West (1910) lässt sich Puccini auf das Ambiente der ›Neuen Welt‹ ein und damit auf ein neues Stilgenre. Er inspiriert sich am einstigen kalifornischen Goldgräbermilieu, zwischen Saloon-Polka, Pokerspiel und Wildwestliebesromanze. Er verwendet Catwalk- und Ragtime-Elemente, viel Konversationston aber kaum Arien-Cantabile, dafür Leitmotivtechnik und eine plastische instrumentale Kolorierung. Obwohl in der Uraufführung (Met, New York, 1910) die klassischen Sängerstars Enrico Caruso und Emmy Destinn sangen und Toscanini dirigierte, begibt er sich damit bereits in die Sphäre des Musicals – ein Abschied von der alten italienischen Operntradition und ein Transit zur ›leichten Muse‹: ›Unterhaltungsmusik‹ hat sie Adorno böse genannt. Damit aber zeichnet sich schon ein Aufbruch in das neue Kulturambiente der Medien, mit Film und Hollywood-Kino ab, das bald die ästhetische Libido der modernen Massengesellschaft bestimmt.

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Hochämter subjektiven Erzählens und distinguierten Komponierens: von Liszt, Berlioz und Richard Wagner bis Bruckner und Mahler Zwei extravagante musikalische Erzähler eröffnen mit ihrer poetischen Fantastik das Spektrum der komplexen musikalischen Individualitäten des Jahrhunderts. Ein flötespielender Arztsohn aus dem französischen Département Isère und ein klavierspielendes Wunderkind aus einem burgenländischen Dorf werden die Verkünder einer neuen musikalischen Erzählkunst. Der eine heißt Hector Berlioz (1803–1869), der andere Franz Liszt (1811– 1886). Für beide wird schließlich Paris, die Metropole des 19. Jahrhunderts, zur prägenden Lebensstation. Und beide haben ihr Beethoven-Erlebnis: Liszt leibhaftig, als der alte Beethoven das elfjährige Wunderkind nach einem Konzert in Wien ergriffen auf die Stirn küsst, Berlioz musikalisch, durch eine Aufführung der Beethoven-Sinfonien 1828 in Paris, die ihn zutiefst berührt und inspiriert. Allerdings ziehen sie daraus ganz verschiedene Schlüsse. Berlioz ist nicht nur Zeitgenosse Schumanns, sondern auch von ähnlich ›literarischer‹ Artung. Literatur spielte schon in seinem Elternhaus eine große Rolle und der Begabte schwankte eine Weile zwischen Literatur und Musik, bevor er schließlich Medizin studierte – und nebenbei Musik. Aber gleich Schumann begleitete ihn sein literarisches alter Ego lebenslang. Als Schriftsteller verfasste er allerhand Bücher, als Essayist und Kritiker bediente er seit 1823 diverse Journale mit hunderten von Artikeln, zuerst den Corsaire, dann die Gazette musicale de Paris, schließlich das Journal des Débats. Aber es ist eine andere Art literarischer Phantasie, die sich ihren musikalischen Ausdruck sucht. Schumanns Poesie verwandelt sich bei ihm in pittoreske sinfonische Phantastik, die romantische Ironie in Bizarrerie, die Idylle in Groteske. »Phantasie statt Gefühlen« bemerkt Richard Wagner dazu kritisch. Damit erschafft Berlioz musikalische Bilderfolgen über die biographischen Stationen und Situationen seiner Helden: die Symphonie fantastique als Episoden aus dem Leben eines Künstlers (1830), die sieben Ouvertüren aus seinen Opern als kolorierte Szenen des Carnaval romain oder Fausts Verdammnis, seine italienischen Reisen mit Harold in Italien (1834). Oft scheint es, als orientiere sich das musikalische Erzählkonzept seiner Programmmusik durchaus an der alten, sinfonischen Sonatenform und ihrem Gewicht thematischer Prozesse. Er erschafft nämlich in den fünf Sätzen der Symphfonie fantastique op.14 eine innere Verbindung durch ein beibehaltenes Thema, der Ideé fixe. Sie versteht sich übrigens ganz persönlich, nämlich als musikalische Chiffre der geliebten irischen Sängerin Harriet Smithson, die später in ziemlich unglücklicher Ehe seine Frau wird. Aber letztlich zählen nicht die eigenständigen Prozesse musikalischer Sonatenlogik, sondern der bunte Reigen bildhafter Assoziationen, in die das Thema als Personal-Code verwickelt wird. Das erinnert an das ›Leitmotiv‹, das bald danach bei Richard Wagner dramaturgische Bedeutung erlangt.

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Berlioz‹ genaue und höchst illustrative Inhaltsangaben zum literarischen Programm seiner Sinfonie erläutern die Szenerie: im ersten Satz »Reveries-Passions«, träumt ein junger Musiker, erfüllt von romantischen Seelenaffekten zwischen Leidenschaft, Schwermut, Eifersucht und Freude von der geliebten Frau, der zweite Satz »Valse: Un Bal« erzählt, wie er die Geliebte im Verlauf eines glänzenden Festes wiederfindet und mit einem Walzer feiert, der dritte Satz schildert die wunderbare Stille eines Sommerabends auf dem Land als »Scène aux champs«, in der Hirten einen ›Kuhreigen‹ als Dialog zwischen Englischhorn und Oboe spielen. Der ländliche Traum schlägt im vierten Satz in einen bösen Traum um: »Marche au Supplice« (Gang zum Hochgericht): Er träumt, dass er die Geliebte getötet habe, verurteilt worden sei, zur Hinrichtung geführt werde und seiner eigenen Exekution beiwohne. Den fünften Satz schließlich »Songe d’une Nuit du Sabbat«, beherrschen die Dämonen und Scheusale, die sich zu seinem Begräbnis versammelt haben. Sie heulen und stöhnen in einem musikalischen Hexenreigen, in dem das Harriet-Thema zu trivialer Gemeinheit abgewandelt wird und das Dies irae aus der lateinischen Requiem-Messe zur Parodie. »Die Poesie hat sich, auf einige Augenblicke in der Ewigkeit, die Maske der Ironie vorgebunden, um ihr Schmerzensgesicht nicht sehen zu lassen …« merkt Schumann mit subtilem Sarkasmus dazu an.17 Leicht könnte man es, spekuliert man psychologisch, als unbewusste Vorwegnahme seines Eheschicksals mit Harriet verstehen. Aber jedenfalls ist es eine Manifestation des grelleren Kolorits der französischen Romantik, die, wie es Victor Hugo programmatisch formulierte, das Charakteristische anstelle des Schönen setzt und das Schreckliche, ja Hässliche, interessanter findet als das Erhabene. Mit jeder Vorstellung von poetischen Regelmäßigkeiten kollidiert auch der Berlioz’sche Erzählduktus. Selten folgt er irgendwelchen Symmetrien, sondern meistens dem rhetorischen Fluss freier, ungebundener Rede. Er komponiert in einzelnen Momenten, Szenen und Tableaux. Das bestimmt die Satzstruktur. Sie zeigt häufig im Melodischen ein »Geschehen von Tonskalen oder Skalenausschnitten und Klangbrechungen, die untereinander nicht verwandt zu sein brauchen« und im Harmonischen »ein unvermitteltes Nebeneinanderstellen«.18 Schumann charakterisiert sie in seiner Rezensentenrolle als »musikalische Prosa in asymmetrischer Phrasengliederung und unregelmäßigen Betonungen«.19 Die ›asymmetrische‹ Erzählstruktur bedingt die regellose Form. In der wenig bekannten Fortsetzung der Symphonie fantastique, dem »Monodrame lyrique« Lélio, ou le retours à la vie (1831) hebt ein buntes Ensemble krass divergierender Sätze jede Idee eines geschlossenen Werkes auf, für das in der Sinfonie der Rahmen einer ›Künstlervita‹ noch Einheit stiftete. Das gleiche ereignet sich im späten Ora-

17

Vgl. R. Schumann, Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, Leipzig 1854, Bd. 1, S. 145.

18

Vgl. R. Bockholdt, Berlioz Studien, Tutzing 1979 (= MVM 29), S. 17, 27, 28–31.

19

Vgl. R. Schumann (1854), Bd. 1, S. 126.

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torium L’enfance du Christ. Ein Jesus in der Krippe mit Herodes im Hintergrund, der die Neugeborenen niedermetzeln lässt, gefolgt von der Flucht der Heiligen Familie, operieren in einem Phantasiepanorama aus ungleichzeitigen Erzählebenen und verschiedenen Stilschichten: dramatisch-opernhafte Szenen wechseln mit naiv-frommer katholischer Verklärung, bizarrer Sarkasmus mit Pilgerlyrik, Einblendungstechniken mit raffinierten akustischen Raumwirkungen, wo die Rufe von »Hosanna«, »Alleluja« und »Amen« wie aus einer anderen Welt kommen. Das musikdramatische Werk zeigt den Höhepunkt dieser Konzepte. Zwar verdankt es Beethoven seine sinfonischen Inspirationen, Gluck und Webers Freischütz seine operndramaturgischen. Aber als Amalgam unterschiedlichster Satzarten und sämtlicher Operntypen von Rameau bis zur Revolutionsoper ist es eine bizarre Form jenes ›Gesamtkunstwerks‹, das eigentlich erst für Richard Wagner reklamiert wird. Berlioz’ Erstling, Benvenuto Cellini von 1838, ist schon typisch dafür. Das Künstlerdrama will nämlich zugleich opulentes Ausstattungstheater à la Grande Opéra sein, pikante opéra comique und italienische opera semiseria, oder: Glucks hehres Reformethos gemischt mit süffigem Meyerbeer und spritziger opera buffa. Komplizierte Ensembleszenen wechseln mit Exzessen von komischem Brio, Kantilenen mit atemlosem Parlando. Melodien und Rhythmen kultivieren alle Arten von Asymmetrien und die Modulationen verleugnen ihre Logik derart, dass noch Ravel klagte, der schlimme Kollege Berlioz könne nicht einmal einen einfachen Walzer ›korrekt‹ harmonisieren. Kein Wunder, dass das Werk, durchgefallen bei der Pariser Uraufführung, dann revidiert für Weimar, wo der begeisterte Liszt mehrfach den Erfolg zu erzwingen versuchte, schließlich in London nochmals spektakulär gescheitert, nie seine endgültige Form fand. Als work in progress ist es eine Spielwiese der Inszenierungsexperimente geblieben. Das gleiche gilt für La Damnation de Faust von 1846: gleichzeitig Grand Opéra, Oratorium, Requiem, Vokalsymphonie und Tanz, ähnlich wie Les Troyens, seine Grand Opéra in fünf Akten, komponiert zwischen 1856 und 1858, bei der nicht einmal Berlioz selbst an eine Aufführungsrealisierung geglaubt hat. Für seine bizarre Szenenphantasie erschafft sich Berlioz’ Klangphantasie eine passende Orchesterbehandlung. Über sie erkennt man eine tiefere Ursache für die disparate Faktur seines musikalischen Satzes. Denn er rechnet bei ihrer Konzipierung nicht nach Art einer konsistenten inneren ›Logik‹, wie etwa eine Bach-Fuge oder eine Sonatenhauptsatzform, sondern mit der Räumlichkeit durch die klangliche Artikulationskraft des großen Orchesterspektrums. Schumann erkennt es genau, wenn er betont, dass sich Berlioz’ Musik nicht aus dem Blick in die Partitur erschließe, sondern dass sie »gehört werden muß« und er bemerkt zur WaverleyOuvertüre: »Oft sind es geradezu nur Schall- und Klangwirkungen, eigen hingeworfene Akkordklumpen, die den Ausschlag geben.« 20

20

Vgl. Bockholdt (1979), S. 86 ff.

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Allerdings spitzt er die Mittel von Carl Maria von Weber und Meyerbeer mit grellen Effekten und ausgefallenen Instrumentierungen weiter zu. Im Hexensabbat der Symphonie fantastique (fünfter Satz) grimassiert eine schrille Es-Klarinette, im Dies Irae parodiert eine Ophecléide. Und begeistert begrüßt Berlioz das von Adolphe Sax um 1840 erfundene Saxophon als neue Klangressource. Wie überlegt und profund Berlioz aber seine evolutionäre Klanggestaltung als Kern seiner musikalischen Ästhetik betreibt, zeigt seine große Instrumentationslehre Traité d’instrumentation von 1844. Dort formuliert er ganz und gar nicht ›bizarr‹, sondern präzise und systematisch ein Kompendium der Orchestersemantik und ihrer Klangvorstellungen seiner Zeit: ein spektakuläres Zeugnis dafür, wie sehr das Phänomen ›Orchester‹ als ultimatives Aggregat sämtlicher klanglicher Möglichkeiten das musikalische Denken der Zeit beschäftigt. Richard Strauss, ein anderer Meister der semantischen Orchesterbehandlung, bearbeitet und ergänzt das Werk noch 1904.

Begnadeter Musikerzähler, passionierter Paraphrast, illustrer Salonlöwe: Liszt Franz Liszt fungierte 1833 als Trauzeuge bei der Hochzeit von Berlioz. Wer das als äußeres Symbol innerer Nähe der Mentalitäten begreift, hätte nicht Unrecht. Wenigstens was die exorbitante Klangphantasie und extravagante Attitüde betrifft. Aber Liszt, nur ein Jahr älter als Schumann und 22 Jahre jünger als Brahms, kommt vom Klavier. Dort empfindet er zwar auch orchestral, exzentrisch und revolutionär. Aber dort entfaltet sich seine musikalische Potenz als genialer Virtuose und auratischer Musikdarsteller ungleich bedeutungsvoller als in seinem Komponieren. Die Salons liegen ihm zu Füßen, wenn er phantasiert, improvisiert und paraphrasiert. Als reisender europäischer Klavierstar gibt er in zehn Jahren etwa dreitausend Konzerte in über zweihundert Städten zwischen Gibraltar, Sankt Petersburg und Konstantinopel. Sie aufzuschreiben oder als Komposition zu fixieren fällt ihm aber schwerer. Noch seine späte Muse, die Fürstin Sayn-Wittgenstein, berichtet, dass sie oft bei ihm im Zimmer blieb, um ihn hartnäckig und mit einigem Nachdruck zum Komponieren zu animieren. Darin manifestiert sich das ›Performative‹ seiner Natur, der Genius des nachschaffenden Künstlers in seiner Neigung zur großen Geste, zur Evokation des Momentanen und zum mehr, oder auch weniger inspirierten Al fresco. Robert und Clara Schumann, Liszt höchst freundschaftlich verbunden und voller Bewunderung und Sympathie für den überwältigenden Klavierkünstler und den noblen Menschen, sehen das recht klar. 1841 schreibt Clara Schumann in ihr Tagebuch: »… Liszt mag spielen wie er will, geistvoll ist es immer, wenn auch manchmal geschmacklos, was man ganz besonders seinen Compositionen vorwerfen kann; ich kann sie nicht anders als schauderhaft nennen – ein Chaos von Dissonanzen, die grellsten, ein immerwährendes Gemurmel im tiefsten Baß und höchstem Diskant zusammen, langweilige Introductionen etc. [hier sind mehrere

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Worte durch Streichungen unleserlich] als Componist könnte ich ihn beinah hassen. Als Spieler hat er mich aber in seinem Concerte am 31ten in das höchste Erstaunen gesetzt, und ganz besonders in der Don Juan Phantasie, die er hinreißend spielte – sein Vortrag des Champagnerliedes wird mir unvergeßlich bleiben, dieser Uebermuth, diese Lust mit der er das spielte, war einzig!«21 Was Liszt am Klavier als Inszenierung gelingt, unternimmt er im Komponieren durch Assoziation. Dafür werden ihm tonpoetische Reisen durch äußere und literarische Landschaften zum Anlass: die Schweiz, Italien, Frankreich. Sie inspirieren ihn zu musikalischen Romanen wie Album d’un voyageur oder Années de Pèlerinage oder zu Paraphrasen über Dichtungen von Dante, Petrarca, Shakespeare und sogar Szenen von Raffael. Damit ist man im Zentrum der ›Sinfonischen Dichtung‹. Dreizehn davon gibt es von ihm, immer mit prominenten Sujets: Dante, Hamlet, Tasso, Prometheus oder Mazeppa. Hier realisiert sich seine Erzählkunst als stimmungsmalerische Assoziationskunst. Wie sehr aber die musikalische Faktur vom klavieristischen Medium her konzipiert ist und nicht von Duktus und Struktur der Sprache zeigen Lieder wie die Petrarca Sonette oder Liebesträume mit ihren falschen Deklamationen und redundanten Wortwiederholungen. Am unmittelbarsten tritt das bestimmende Merkmal des ›Assoziativen‹ aber in seiner Musik über Musik in Erscheinung. Liszt ist der Meister der Paraphrase, der in reichlich vierhundert Werken seine Inspirationen durch fremde musikalische Vorlagen in Transkription, Variation, Arrangement und auch Bearbeitung anderer Bearbeitungen auslebt. Selten aber verschafft er den Vorlagen anderen Zugewinn als einen atmosphärischen – ganz anders als das bei Bach, Beethoven oder Brahms die Regel ist. Vielmehr zerstreut er ihre musikalische Substanz eher zu Potpourris aphoristischen Rhetorik: er inszeniert sie. Unvermeidlich fällt der epochale Schatten des Historismus darauf. Unter ihm produziert Liszt eine Art Neugregorianik in Oratorien wie Die Legende von der heiligen Elisabeth, Christus, Stabat mater, Seligpreisungen oder in der Graner Festmesse samt der Beschwörung nazarenischer Stimmung im Tonfall ihres »Andante religioso«. Seine Evokation von Zigeunerfolklore in à la hongroise lebt aus der gleichen nostalgischen Nachempfindung wie jene Stilallegorie »Im Volkston« von Schumann und Brahms. So wie sich Form und Werkbegriff im passionierten Faible für ›Transkription‹ zu Paraphrase und Assoziation auflösen, dissoziiert auch Liszts musikalischer Satz ins Zentrifugale von Geste und Peripherie. Wird solche Satzfaktur mit ihm am Klavier noch über die ›Inszenierung‹ dank suggestiver, performativer Magie zusammengehalten, so offenbart sie in der fixierten Komposition ihre fatalen Labilitäten. Dazu gehört die Auflösung der tonalen harmonischen Gravitationskräfte, wie etwa

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In den Ehetagebüchern, vgl. Robert Schumann Tagebücher 1836–1854, hg. v. G. Nauhaus, Leipzig 1987, Bd. II, S. 196–197.

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in Prometheus oder im Lied Ich möchte hingehen (1847), wo übrigens bereits, unauffällig, Wagners Tristanakkord auftritt oder aber durch viel Chromatik und tonmalerische Seufzermelodik wie in den Années de Pèlerinage. Dort wird im Sonetto 47 del Petrarca die Kantilene in Transformationen über weit auseinanderliegende Tonarten von Des-, G-, D-, E- und wieder Des-Dur aufgelöst. Sie folgen keiner inneren tonalen Logik, sondern allein dem Phantasma einer schillernden Koloristik. Dazu kommen Ganztonskalen wie in Sursum corda aus Wanderjahre III oder die Atrophie eines prägnanten Hauptthemas, wie das in der Legende »Der heilige Franziskus von Padua über die Wogen schreitend«, das schließlich amorph in endlosen Sequenzgängen verebbt. Viel Chromatik und verminderte Septakkorde prägen auch sein opus magnum für Klavier, die große h-Moll Sonate (1853). Sie präsentiert sich auf den ersten Blick als ein dramatisches Konzentrat der alten Sonatenhauptsatzform. Ähnliches hatten bereits Johann Dussek und Ignaz Moscheles mit ihren einsätzigen SonatenAllegros gewagt. Auch das Konzertstück op. 79 von Carl Maria von Weber oder die Wanderer-Phantasie von Schubert folgen diesem Konzept. Liszt aber komprimiert sämtliche Prozesse und Formteile der Sonate inszenatorisch im Zeitraffer. Er zwingt sie in einem atemlosen Ablauf zusammen und verwandelt damit die Beethoven’sche Strukturlogik der dialektischen Prozesse in ein verwegenes Kaleidoskop der Teile. Sieben Takte ein geisterhaftes Lento assai, dem ein knapp formulierter Allegro-Hauptgedanke folgt, der aber schon nach elf Takten in einer leidenschaftlichen Durchführung zerlegt wird. Nach 26 Takten erfolgt das gleiche mit dem Seitenthema, anschließend ein langsamer Teil in lyrischem Fis-Dur und zügige Verarbeitung des Allegro-Materials, dann ein chromatisches Scherzo-Fugato in b-Moll als dritter Teil und schließlich eine freie, verkürzte und verschleierte Reprise des ersten Teils mit Schluss-Stretta, verhauchend in einer Coda des Hauptthemas als Finale. Das ist auch das späteste Finale aller Sonatenkunst aus der »Wiener Klassik«. Das nächste Finale beschert er uns in seinen letzten Werken. Es ist die resignative Verabschiedung seines Zutrauens zur Tonart. »Spitalsmusik« hat sie Liszt selbst genannt: geisterhafte Gebilde wie Csárdás macabre, Unstern! oder die beiden Trauergondeln changieren irrlichternd zwischen tonalen Räumen wie gespenstische Nebelschwaden. Die Bagatelle ohne Tonart besiegelt es schließlich expressis verbis. Damit, so befand Pianist Alfred Brendel, werden Liszts Alterswerke »zu makabren Dokumenten zweier Untergänge: jenes der Tonalität und jenes der menschlichen Persönlichkeit im Alter«.22

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A. Brendel, Musik beim Wort genommen, München u. Zürich 1992, S. 196.

Klaviermanie Zuvor führt uns Liszt als größter Pianist der Epoche allerdings in seinen etwa einhundertfünfzig originalen Werken für Klavier noch in eine andere, höchst charakteristische Dimension der Moderne. Denn er erschafft dort einen Parcours des klavieristischen Virtuosentums mit stetiger Steigerung der technischen Anforderungen. Unerhörte Höhepunkte erreicht er in seinen Études d’exécution transcendante und den Grandes Études de Paganini, eine maßgeblich vom violinistischen Vorbild Paganinis inspirierte Tastenakrobatik. Ihre zugespitzte Spieltechnik zeigt sich im Doppelgriff-Glissando (Ungarische Rhapsodie Nr. 10), den Dezimengängen in schnellstem Tempo (Transkription der Oberon-Ouvertüre), virtuosem Ablösen der Hände und einer Armschwung-Technik, die auch bei dichten Akkordfolgen höchste Geschwindigkeit ermöglicht (Paganini-Etüden). Damit wird Liszt zum Phänotyp eines neuen Klaviervirtuosentums, das nicht Zeiterscheinung bleibt, sondern Fanal moderner Konzertstandards. Als ›Enkelschüler‹ Liszts zu firmieren, adelt noch Generationen danach. Das Genre überwältigt bereits im 19. Jahrhundert mit einer unvorstellbaren Menge von Kompositionen und einer unerhörten Geltung seiner diversen Protagonisten. Ein Füllhorn der Variations brillantes ergießt sich über die Salons und eine Manie der Etüden- und Klavierschulen-Produktion als pädagogische Kompendien entfesselter Fingerfertigkeiten setzt ein. Ihre bekanntesten Vertreter wie Muzio Clementi, Johann Nepomuk Hummel, Johann Baptist Cramer, Friedrich Kalkbrenner oder Ignaz Moscheles huldigen der Brillanz an sich. Der spieltechnische Aufwand, noch bei Beethoven untrennbar mit dem Bedeutungsgehalt verbunden, wird Selbstzweck. Die haptische ›Oberfläche‹ löst sich gleichsam von der Substanz des musikalischen Satzes – und kommt recht gut ohne sie aus, denn was zählt ist die zirzensische ›Inszenierung‹. »Wie Heuschreckenscharen überfallen die Klaviervirtuosen jeden Winter Paris« kommentiert Heinrich Heine bissig aus der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. Viele prominente Namen kennt man noch heute, von Sigismund Thalberg, den Brüdern Anton und Nikolai Rubinstein bis Charles-Valentin Alkan. Thalberg, der 1837 den Rivalen Liszt zu einem pianistischen Wettkampf herausfordert, bestreitet sein Repertoire hauptsächlich mit Phantasien über beliebte Opernmelodien. Thekla Badaczewska rührt mit ihrem berüchtigten Gebet einer Jungfrau die Gemüter, und Wunderkinder wie Alkan machen Liszt Konkurrenz. Der Rabbiner-Sohn aus Lothringen spielt zwar auch viel Schumann. Aber es sind Bach, Händel, Marcello und Beethoven, die er paraphrasierend zu einer Auferstehung im Zeichen furiosen Virtuosentums verhilft: Neben 25 Préludes und 24 Etüden in allen Dur- und Molltonarten, von denen allein das op. 39 mit 377 Seiten an die zwei Spielstunden erfordert, oder einer achtstimmigen Fuge in op. 33, stehen witzige Arabesken wie Komischer Marsch auf den Tod eines Papageis, die ErikSatie vorwegnehmen. Aber er schreibt auch an die fünfzig Kompositionen für Pedalflü-

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gel, ein versunkenes Übungsinstrument der Organisten mit einer Pedalklaviatur wie bei der Orgel. Auch J. S. Bach besaß eines und sogar bei Mozart findet es noch Verwendung.23 Seine Wiederentdeckung für den Konzertsaal könnte man für einen historistischen Reflex par excellence halten. Aber tatsächlich verdankt er sich ganz anderen Motiven: dem ›orchestralen‹ Bedürfnis eines Zeitgeistes, der nach der Ausweitung der Klangfülle verlangte. Zugleich war es mit der Erweiterung der klavieristischen Möglichkeiten ein ›haptischer‹ Tribut an die Virtuosenmanie der Zeit. Sogar Schumann, Mendelssohn, Liszt und Gounod legten sich solche Pedalflügel zu; Schumann komponierte dafür seine Studien op. 56, 58 und 60.

Klavierpoet der Sonderklasse: Frédéric Chopin Von der Klaviermanie der Zeit, mit dem Piano als fashionables Saloninstrument, bald auch als prägnantes Leitfossil der bürgerlichen Musikkultur, profitiert auch Frédéric Chopin . Aber er hebt sich davon als eine singuläre Erscheinung ab. Das Wunderkind, 1810 in Polen geboren, das bereits mit acht Jahren öffentlich auftritt, aber seit 1830 in Paris lebt, ist zwar auch Liebling der Salons und deren russischer Aristokratie. Aber er inspiriert sich weder an außermusikalisch-literarischen Referenzen, noch an orchestralen Ambitionen und schon gar nicht am Talmiglanz virtuoser Inszenierung. Er ist der distinguierte Poet eines klavieristischen Idioms einer Vollkommenheit, die hinter ihrer Eleganz den Tiefsinn eines Begnadeten offenbart. Bereits seine Etüden op. 10 und op. 25 sind, wie Schumann sagt, stets »mehr Gedicht als Etüde«, obwohl er dort genau so viel ›technische‹ Finessen abhandelt wie es alle von Czerny und Cramer bis Kalkbrenner tun. Gleichzeitig schöpft er, wie in seinen 24 Préludes durch alle Dur- und Molltonarten, den charakteristischen Bedeutungsraum der Tonarten mit ähnlicher Bewusstheit aus, wie Bach in seinem Wohltemperierten Klavier. Er pflegte sich übrigens auf seine Konzerte durch intensivstes, oft wochenlanges Bach-Spiel vorzubereiten.

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J. S. Bach besaß, nach Ausweis der Erbteilungsverhandlungen vom 11. November 1750, »3 Clavire nebst Pedal«, vgl. Y. Kobayashi, Zur Teilung des Bach’schen Erbes, in: Acht kleine Präludien und Studien über Bach. Festschrift für Georg von Dadelsen zum 70. Geburtstag, hg. v. Kollegium des J.-S.-Bach-Instituts Göttingen, Wiesbaden 1989, S. 67. Er könnte es bei seinen Konzerten in seinem Leipziger »Collegium Musicum im Zimmermann’schen Coffeehaus« eingesetzt haben. Pedalclavichorde lassen sich auch im Besitz der Organisten Andreas Werckmeister, Georg Andreas Sorge, Heinrich Nikolaus Gerber und Friedrich Wilhelm Marburg nachweisen. Aber auch noch W. A. Mozart verfügte spätestens von 1785 bis zu seinem Tode über ein transportables Pedal, das er wahlweise mit einem Fortpiano kombinieren konnte und wahrscheinlich in seinen Akademiekonzerten eingesetzt hat, vgl. Brief Leopold Mozarts an Nannerl v. 12. März 1785, in: Mozart. Briefe und Aufzeichnungen, hg. v. d. Internationalen Stiftung Mozarteum, gesammelt u. erläutert v. W. A. Bauer u. O. E. Deutsch, Bd. 3: 1780–1786, Kassel u. a. 1963, Nr. 850, S. 378 f., S. 379.

Sein unverwechselbares, vollkommenes Klavieridiom verdankt sich einem autonomen musikalischen Satz, dessen Festigkeit er oft durch rhythmische Formtypen wie Polonaisen, Mazurken oder Walzer und mit den Mitteln der tradierten Sonatenform organisiert. Seine Harmonik ist zwar zutiefst am Melos orientiert, mit einem Belcanto-Genie für weite, kantable Melodiebögen, zeigt aber in ihrem Modulationsreichtum, einer logischen Chromatik, dem häufigen Gebrauch von Septakkorden und der Umspielungstechnik von Akkordtönen mit Wechselnoten samt den oberen und unteren Nebennoten das spezifische Klangkolorit der Epoche. Besonders ausgeprägt ist es in seinen Mazurken, wo die melodische Potenz mit ihren vielen untergründigen Nebenstimmen nicht als Polyphonie auftritt, sondern als eine Polymelodik (Edith Meister). Hier zählt nicht die Prozesslogik dialektischer ›Entwicklung‹, sondern eine Struktur der Wiederholungen eines Melos, der sich selbst genügt. Sogar etwas von der Idee des Narrativen als Inspiration durch die musikalische ›Literarisierung‹ der Zeit fängt er seinen Balladen ein – verwandelt sie aber in authentisches Klavieridiom. Die Nocturnes, ein Genre, das der Engländer John Field kultiviert hatte, veredelt Chopin zum Inbegriff einer Stimmungsmalerei mit den Mitteln reinen Klaviersatzes. Meist in dreiteiliger Liedform reicht ihre Lyrik vom Heroisch-tragischen im c-Moll (op. 48, 1) bis zur Tristan-Chromatik im fis-Moll (op. 48, 2). Die gleiche Dreiteiligkeit findet sich auch in den Impromptus und Scherzi (das in b-Moll als Sonatensatz, mit einem Intermezzo zwischen Exposition und Durchführung). In seinen zwei Sonaten b-Moll op. 35 und h-Moll op. 58, geschrieben nicht für den Salon, sondern den großen Salle Pleyel in Paris, hält sich Chopin an die tradierten Formschemata. Aber er lässt sich dort kaum auf eine intensivere Durchführungsarbeit ein, sondern er setzt auf die strukturelle Tragfähigkeit weiter Melodiebögen. In seiner h-Moll-Sonate legt er die meiste Ausdrucksbedeutung auf das Gesangsthema und die Gestaltung eines traumversponnenen Largos in H-Dur. Nur im Finale bricht ein unruhiges Presto durch. In der b-Moll-Sonate allerdings folgt dem berühmten Trauermarsch ein rätselhafter, gespenstischer Finalsatz, aus dem ihm, wie Schumann sagt, »ein eigener grausiger Geist anweht«. Solche bizarre Faktur beschwört eine Unheimlichkeit, die seine Poesie gelegentlich in die Nähe zu Schubert bringt: Ahnung eines Abgründigen hinter Elegie und Melos – und alles andere als ›Salonmusik‹. Die beiden Klavierkonzerte sind Jugendwerke, die noch mit etwas Virtuosenglamour kokettieren und weniger mit dialogischem Bemühen um das Orchester. Bezeichnend für Chopins Umgang mit der Sonatenform ist, dass es im f-MollKonzert op. 21 in der Durchführung des ersten Satzes kaum thematische Arbeit gibt. Das e-Moll-Konzert op. 11 hingegen setzt auf virtuose Brillanz, vielleicht weil es dem Virtuosen Friedrich Kalkbrenner gewidmet ist: dichte Figurationskunst und ein Tanztaumel des Finales, bestimmt von polnischem Krakowiak-Rhythmus und markanten Synkopen-Mustern. Als Meister einer tief beseelten Kantabilität und aristokratischen Belletristik behält er seinen besonderen Rang.

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Chopin starb schon mit 39 Jahren, 1849, am Schwinden seiner fragilen Kräfte. Liszt, zuerst gesalbt durch Beethovens Kuss, zuletzt als Abbé mit den niedrigen Weihen Roms, stirbt 1886 in Bayreuth – als enger Freund und Schwiegervater Richard Wagners. In der Trauerfeier spielt Anton Bruckner die Orgel. Das ist so symbolträchtig wie seine Trauzeugenrolle bei Berlioz – denn Bayreuth steht für ein neues Fanal der Musikgeschichte mit einem neuen, wirkungsmächtigen ›Zukunftsmusiker‹.

Faszinosum, Fanal und Finale einer Epoche: Richard Wagner Lebenslang beindruckt von Beethoven und Carl Maria von Weber, aber nachhaltig inspiriert von Liszt und dem Orchester von Berlioz und Meyerbeer, interessiert er sich nur anfangs für die abstraktere, absolute Instrumentalmusik. Dass er sie posthum mehr beeinflussen wird als die Oper, hat er weder gewollt noch geahnt. Er komponierte zwar vier Sonaten für Klavier, einige Ouvertüren und Klavierlieder, aber eine 1836 geschriebene Sinfonie in E-Dur bricht er schon im zweiten Satz ab. Die gleichzeitig entstandene Oper Das Liebesverbot war ihm wichtiger. Dort, im Musikdrama, entfaltet sich Wagners eigentliches schöpferisches Genie in engster Symbiose mit dem unerschöpflichen Rhetoriker, revolutionären Kunstpolitiker, utopischen Sozialisten und problematischen Erotomanen. Der musikalische Dramatiker entzündet sich vor allem an der theatralischen Gestaltung von Menschen-, Helden- und Götterschicksalen mit ihren Liebesverstrickungen. Dabei bedient er sich durchwegs aus dem Fundus der Geschichte. Germanischer Mythos mit ›nordischer‹ Edda, die Welt mittelalterlicher Sagen und Epen mit Nibelungenlied, Gottfried von Straßburg, Wartburgmythos bis zur uralten Gralslegende, samt ihrem legendären Figurenrepertoire von Walther von der Vogelweide, Rienzi, Lohengrin, Wotan, Siegfried und Tristan bis Parsifal liefern die Vorlagen für seine Musikdramen. Vordergründig scheint das nichts anderes als ein weiterer Reflex des aufblühenden Historismus der Epoche: unverkennbares 19. Jahrhundert. Denn zwischen 1840 und den sechziger Jahren beschäftigen sich viele Andere mit den »Nibelungen«, Niels W. Gade und Heinrich Dorn (Oper in fünf Akten) gehören dazu, Friedrich Hebbel und Luise Otto (Text zu einer heroischen Oper, 1862). In den napoleonischen Kriegen avanciert das Nibelungenlied zu einer Art deutschem Nationalmythos und die Wartburg war längst zum hehren Symbol eines völkischen Freiheitswillens geworden. Damit manifestiert sich nicht nur Nostalgie, sondern auch eine kulturpatriotische Beschwörung nationaler Identität, ähnlich wie im ›Enthusiastischen Historismus‹ der frühen Bach-Renaissance. Hintergründig ist Wagners Musik dazu allerdings als Ausdruck persönlichster, schöpferischer Aneignung des historischen Stoffes das vollkommene Gegenteil aller retrospektiven Neugotik oder Neoromanik. Die Verwandlung in eine eigenständige musikalische Idiomatik mit einer neuen, unerhörten Klangsemantik intensivster

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Ausdruckskraft erschafft so jenen ›Wagnerismus‹, dessen Faszination ungebrochen ist. Wagner wird zum musikalischen Zentralgestirn des Jahrhunderts: Alle stehen sie in seinem Bann – von Bruckner bis Puccini, Debussy und Baudelaire, sogar noch der junge Schönberg, nicht zu reden von der Reihe seiner nachkomponierenden Epigonen. Sogar Karl Marx schreibt (1876 an seine Tochter Jenny): »Allüberall wird man jetzt mit der Frage gequält: ›Was denken sie von Wagner‹?« In seinen musikalischen Mitteln erweist sich vieles davon zwar als Weiterführung aller Tendenzen nach Beethoven: die musikalische Literarisierung, die Entgrenzung der instrumentalen Idiomatik im Orchester sowie dessen Evolution mit stetiger Erweiterung zum Koloss des ›Großen Orchesters‹ oder einer weiteren Komplizierung der Harmonik. Aber Wagners Komponieren folgt einer Idee innerer, intensivster Einheit von Sprache, dramatischer Bühnenhandlung und musikalischem Ausdruck: Alle Mittel will er zu synergetischer Konkordanz im Dienste einer bannenden Affektweltgestaltung bündeln. Als ›Gesamtkunstwerk‹ ist es, ungeachtet Berlioz, zum bekannten Topos der Musikgeschichte geworden. Aber Wagner will noch viel mehr. Als ›Bühnenfestspiel‹ im Ring oder sogar ›Bühnenweihfestspiel‹, wie für den Parsifal, beansprucht er eine andere Dignität für sein Musiktheater. Mit der will er es vom liederlichen Unterhaltungsgetingel aus »welschem Dunst und Tand« der zeitgenössischen Opernroutine befreien, wobei er – böse ressentimentgeladen – vor allem Meyerbeer meint. Wagner will nicht Amüsement, sprich: Entertainment, nicht ästhetische Kostümfeste, sondern ›deutschen‹ Tiefgang und religiöse Weihe: Kunstreligion nach der Abdankung von ›Religion‹. Wollte bereits Gluck den routinierten Stereotypen der alten seria neue, lebendige, erhabene Menschlichkeit einhauchen, so unternimmt es Wagner mit der erhabenen Aura von Mythos und der dunklen von Magie bis Manie, tiefgründige wie abgründige Menschenschicksalszenarien zu zeichnen und in einer neuen, dramatischen Musiksprache zu personalisieren. Sieht man die Entwicklung unter dem Aspekt der musikalischen Literarisierung seit Schumann, so erreicht sie in Wagners Personalunion von Dichter-Musiker ihr Ideal. Wagner ist nämlich nicht nur Texterfinder seiner eigenen Libretti, sondern er dichtet, bevor er komponiert. Es ist die in eigene Sprachformung gebrachte Ausdrucks- und Ideenvorstellung an der sich sein Komponieren vorzugsweise inspiriert und konfiguriert. Sämtliche Texte seiner Opernwerke entstanden zuerst als Prosaentwurf und Dichtung, vom Liebesverbot bis zu Parsifal. Seine besondere Qualität als Textdichter besteht aber darin, dass er Sprachgestalten von eminent lautmagischer Wirkung erschafft. Ihre »Versmelodie« (wie Wagner sie in seinem Schlüsselwerk Oper und Drama von 1851 treffend bezeichnet) trägt als eigene Ebene sinnlicher Sinnerfassung wesentlich zur Ausdruckswirkung seines Musiktheaters bei, denn sie ist bannende Wortmusik. Das bestätigt sich gerade bei Wendungen, die als grotesk oder altertümelnd empfunden wurden und Wagner sogar den Vorwurf der Lächerlichkeit eingebracht haben. Bestes Beispiel:

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der Gesang der Rheintöchter zu Beginn des Rheingold: »Walla! Wallala! lalaleia, leialalei! heia! heia! ha ha!« Das Geheimnis ihrer Wirkung ist der Stabreim – übrigens auch ein Erbe des altgermanischen, nordischen Mythos. Im Unterschied zu den verschiedenen Formen des Endreims wirkt er wie eine ›Urmelodie‹, die, wie es Wagner genau analysiert, »Wörter zusammenfügt, die der sich selbst bestimmenden Natur der Dinge nach zusammengehören«.24 Damit ist die Fügung sinnverwandter Wörter nach Artikulationsmustern einer bestimmten lautlichen Ähnlichkeit gemeint, nämlich nach Stammsilben mit gleichem Anlaut (»Die Liebe bringt Lust und Leid, doch in ihr Weh auch webt sie Wonnen«). Hier tritt eine Urschicht der Sprache wieder neu in Erscheinung, mit der die archaische Wirkung des Wortklangs zum magischen Vehikel des Wortsinns wird. »Der Vers, in welchem einst das Volk dichtete, als es noch selbst Dichter und Mythenschöpfer war« (Wagner in Eine Mitteilung an meine Freunde). Ob das ›Volk‹ originärer Mythenschöpfer war, mag man zwar bezweifeln. Aber es bewahrt Erinnerung und Praxis davon. Und damit auch an den numinosen Ursprung von Sprache und Dichtung, wie es die größte, archetypische ›Erinnerung‹ weiß: den Schöpfungsmythos der Genesis: »Am Anfang war das Wort …«. Und wie es in der alten Einheit von Musik, Sprache und Rhythmus in der mousikē des antiken Griechenlands, im ›betenden Singen‹ des »Gregorianischen Gesangs« oder den Soggetti von Palestrina bis Heinrich Schütz unverlierbare Wirkungskraft erweist. Wagner am Kulminationspunkt musikalischer Literarisierung erschöpft sich aber keineswegs im tief inspirierten Sprachmusiker. Der Überschuss seiner rhetorischen Eloquenz zeigt sich im breiten Raum, den das epische ›Erzählen‹ in seinem Musikdrama einnimmt, besonders in der Tetralogie Der Ring des Nibelungen. Nicht weniger sucht es sich Ausdruck in nie versiegender Geschwätzigkeit und monomanen Monologen (wie es davon strapazierte, zeitgenössische Gesprächspartner beschreiben), im unermüdlichen Briefeschreiber und als Autor einer Flut von Abhandlungen über alle möglichen Themen. Dort präsentiert er sich als wortmächtiger Formulierer und hartnäckiger Verfechter, als betriebsamer Diagnostiker, Theoretiker, Polemiker, Reformer, Propagandist und Utopist. Seine Schriften reichen von musikalischen Reflexionen und kulturkritischen Kommentaren bis zu programmatischen Entwürfen, politischen Essays und deftigen Streit- und Kampf24

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Vgl. Oper und Drama, Leipzig 1852, Kapitel 21, wo sich Wagner, wie mehrfach in anderen Schriften, mit geradezu wissenschaftlicher Genauigkeit und Ausführlichkeit mit den Möglichkeiten und Problemen der gereimten Sprache auseinandersetzt, etwa wie auch in: Eine Mitteilung an meine Freunde (1851), wo er ausführlich darlegt, weshalb er sich seinen Siegfried nur in Stabreimen sprechend vorstellen konnte (vgl. Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 1, Leipzig 1883, S. 158 u. Bd. 4, Leipzig 1911, S. 94, 127, 137). »Während der Stabreim die sinntragenden Wörter heraustreibt, ist der Endreim zunächst einmal ein sinnunabhängiges Lautspiel, das dem dichterischen Text eine zweite Struktur überprägt« beschreibt es Max Wehrli, Literatur im deutschen Mittelalter, Stuttgart 1984, S. 196.

schriften. In den sogenannten Reformschriften aus dem Zürcher Exil handelt er wichtige ästhetische Standpunkte ab: Kunstwerk der Zukunft (1850), Oper und Drama (1851), seine Abrechnung mit Meyerbeer und jüdischer Mentalität in Das Judentum in der Musik (1850), Zukunftsmusik (1860), Über das Dirigieren (1869) bis zu Religion und Kunst (1880/81). Sogar als musikpolitischer Präzeptor betätigt er sich mit einem Programm über »Eine in München zu errichtende deutsche Musikschule«, 1864 verfasst für seinen großen Mäzen, König Ludwig II. von Bayern.

Die musikalische Rhetorik des Wagner-Orchesters Wagners wirkungsvollste ›Rhetorik‹ entfaltet sich aber musikalisch. Ihr Medium ist das große Wagner-Orchester – ein Ereignis der abendländischen Musik. Wagners Grundverständnis davon ist ›sinfonisch‹. Aber er formt es zu einem Aggregat von dramatischer Funktion, narrativer Potenz und farbigster Klangsemantik. Er erweitert den Streichersatz zur regulären Fünfstimmigkeit mit der Verselbständigung der Bassregion durch den Kontrabass, vergrößert seine Besetzungen (bis zu Zahlen von 16-16-12-12-8 im Ring) sowie vierfachen Holzbläsern (schon im Tristan), behandelt die Hörner durchwegs chromatisch und verstärkt die Familie der Blechblasinstrumente beträchtlich in Höhe und Tiefe. Und er arbeitet mit genialem strategischem Klangsinn an der Evolution der instrumentalen Idiomatik. Dramaturgisch gewinnt das Orchester eine eigenständige Sprachfähigkeit in der Rolle als erzählender und kommentierender Bedeutungsträger ähnlich dem Chor in der griechischen Tragödie: Das Orchester ›redet‹, antizipiert, symbolisiert und assoziiert. Wesentlichen Anteil daran hat das Konzept fester musikalischer Motive für Form und musikalischen Satzbau: melodische Gestalten »der Ahnung und Erinnerung« (Wagner). Sie fungieren als »geronnene Bedeutung« und werden unter dem Begriff der ›Leitmotive‹ (Hans von Wolzogen) bekannt. Mit ihnen organisiert Wagner in flexibler Verwendung nicht nur viele thematische und strukturelle Zusammenhänge (genau beschrieben in seiner Abhandlung Oper und Drama), sondern betreibt psychologische Beziehungskunst. Zur ›Sprachfähigkeit‹ des Orchesters gehören wesentlich die neuen klanglichen Potenziale, die Wagner ihm verschafft. Er entwickelt sie zu einer Palette von Farbenspektren, die als eigene semantische Dimension wirksam wird. Mit feinster Differenzierung der Klangebenen und einer Dramaturgie verschiedener Klangfelder erschafft er instrumentale Syntax, wie etwa am Anfang und Schluss von Rheingold oder beispielhaft im Siegfried. Dafür setzt er die Instrumente oft außerhalb ihrer angestammten Lagen ein, wo sie völlig anders klingen und kombiniert sie neu zu einer Klangkoloristik raffinierter Mischklänge. Das Vorspiel von Parsifal, wo die diffizile Verschleierung des Metrums hinzukommt, illustriert es. Die Idee des verdeckten Bayreuther Orchestergrabens als ›Klangschale‹ verschafft dem Konzept seine beste akustische Wirkung. Für den gleichen Zweck erfindet er auch neue Klangerzeuger, wie etwa die ›Wagnertuben‹, Horntuben in Tenor- und Basslage,

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gibt dem Englischhorn, einer Altoboe in F, im Tannhäuser und Tristan neue Rollen und führt allerhand besondere Klangeffekte ein wie Glockenspiel, Stierhörner, Ambosse oder Harfensextett. Untrennbar verbunden mit der koloristischen Klangphantasie ist die harmonische mit ihren komplexen Klangaggregaten. Hier zeigt sich der Wandel von der Harmonik als formbildende Kraft, wie in der Musik des Generalbasszeitalters und noch bei den ›Wiener Klassikern‹, zu einer Variablen des Koloristischen. Die Tendenz der Musik zu den Nebenstufen der Tonalität und zu komplexen Akkordschichtungen seit Beethoven und Schubert, führt Wagner zu einer unerhörten Klimax. Bereits im Rheingold zeigt sich eine Vorliebe für Nonen- und Septakkorde; im Ring wird sie integraler Teil der Semantik. Das Vorspiel zu Tristan und Isolde lässt sich als Verlauf fortgesetzter Sekundschritte mit Akkordbrechungen beschreiben, in denen alle Stufentöne mit Tritonusakkorden überbaut werden. Dazu kommt ein versierter Einsatz der Tonarten bis in entlegenste Regionen und Relationen. Aber nicht als selbstbezügliches Spiel klangverliebter Mutationen, sondern als höchst differenzierte Ausschöpfung psychologischer Bedeutungsräume in dramaturgischer Funktion. Hier offenbart sich ein nicht weniger tiefgründiges Tonartbewusstsein wie bei J. S. Bach in seinem Wohltemperierten Klavier.25 Gezielt setzt er den unterschiedlichen Ausdruckswert von Diatonik und Chromatik als semantische Strukturfelder ein, etwa wie im Parsifal bei der Differenzierung zwischen den Sphären der Gralsritter und von Klingsor, ebenso wie die Instrumentationswechsel zwischen Streichern und Blech. Mit den enharmonischen Vertauschungsspielen, dem »chromatischen Psychologismus« (Martin Gregor-Dellin) im Tristan bis zur Entmachtung aller affirmativen Leitton-Herrlichkeit zugunsten einer subversiven Leitton-Reihung ohne Kadenz und Auflösung, wird jene unablässige Steigerung des Spannungsaufbaus seit Beethoven zu nie gekannter Intensität geführt. Zur ›unendlichen Melodie‹ kommt eine ›unendliche‹ Spannungstektonik. Damit entsteht eine Nervenmusik, deren psychotrope Wirkung besser über die energetische Analyse ihrer Spannungsstrategien verstanden werden kann, wie es ein gestaltpsychologisches Verständnis unternimmt, als durch die etablierte ›Harmonielehre‹ der Musikscholastik. Deren intensive Dechiffrierungsversuche, wie etwa beim Tristanakkord, illustrieren eher ihre Verlegenheit ihn irgendwie erklärbar zu machen, als das Verständnis seiner Ausdrucks-Bedeutung.26 25

Vgl. H. Beckh (1932); ders. (1937).

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Vgl. für einen Überblick, Hermann Danuser in MGG, Sachteil Bd. 9 (1998), unter ›Tristanakkord‹, daneben aber die vielen Ansätze harmonischer Analyse bei: M. Vogel, Der TristanAkkord und die Krise der modernen Harmonielehre, Düsseldorf 1962; H. Scharschuch, Gesamtanalyse der Harmonik von Richard Wagners Musikdrama »Tristan und Isolde«, 1963; P. Hindemith, Das Vorspiel zum Tristan, in: Unterweisung im Tonsatz, Mainz 1937. Ernst Kurth hingegen untersucht Wagners Harmonik in exemplarischen Analysen unter dem Aspekt ihrer »energetischen Spannungsverläufe«, vgl. Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners Tristan, Berlin 1920 u. ders., Musikpsychologie, Berlin 1931.

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Weil quasi extraordinär, erhält er seine bevorzugte musikgeschichtliche Deutung als eine Gründungsinkunabel der Musikmoderne nach dem Verständnis einer abstrakten, aber ›progressiven‹ Kompositionsgeschichte. Zwar taucht er bereits bei Liszt auf (im Lied Ich möchte hingehn), aber seine harmonische Gestalt verdankt er ganz seiner dramaturgisch gebundenen Bedeutung. Er ist intentionale, nicht abstrakt konstruierte Ausdruckschiffre eines persönlichen Psychodramas. Er ist Klang­ aggregat für eine schmerzlich-hochgespannte Empfindung in einer außerordentlichen, aber realen biographischen und mentalen Konfliktsituation, mit dem der seelische Zustand eines Subjekts im Tableau der dramatis personae des Plots gekennzeichnet wird. Das Subjekt aber ist Wagner, weil der Akkord bereits im instrumentalen Vorspiel dazu auftritt, von seinem Verfertiger selbst als »Liebestod« bezeichnet. Die harmonische ›Ortlosigkeit‹ des Klangaggregats ist musikalische Mimesis einer emotionalen und lebensweltlichen Ortlosigkeit, das musikalisierte Vertigo des inneren, psychischen Gleichgewichtssinns. Damit ist der Akkord nicht cleveres Konstrukt, sondern ›Klang‹ als Bedeutungsträger im Dienste von Wagners persönlichstem Ausdrucksverlangen.27

Eros: sexus, musikalisch, psychodramatisch Der Hintergrund der Konfliktsituation, vor dem das Werk entsteht, ist bestens bekannt: Wagners emotionale Verstrickungen mit der Gattin seines Gönners im Zürcher Exil, Mathilde Wesendonck, der er 1852 begegnete. Ob das Musikdrama etwas aus der libidinösen Dramatik einer erotisch-realen Liebesbeziehung umsetzt oder nur ihre Projektionen, Phantasien und Sublimationen, bleibt offen. Hinweise finden sich, den charakterlichen Ambivalenzen Wagners entsprechend, für beides. »Da ich nun aber doch im Leben nie das eigentliche Glück der Liebe genossen habe, so will ich diesem schönsten aller Träume noch ein Denkmal setzen, in dem von Anfang bis zum Ende diese Liebe sich einmal so recht sättigen soll: ich habe im Kopf einen Tristan und Isolde entworfen, die einfachste, aber vollblutigste Konzeption; mit der ›schwarzen Flagge‹, die am Ende weht, will ich mich zudecken, um – zu sterben –« (Brief an Liszt vom 16. Dezember 1854): Das formuliert ein irreales und unstillbares Sehnsuchtspotenzial, wie es idealiter höchstens als Sublimation im musikalischen Kunstwerk Erfüllung finden kann. Nicht weniger auf ›Sublimation‹ deuten die Kompositionsumstände des zweiten und dritten Aktes von Tristan. 27

In seinem Essay Über die Anwendung der Musik auf das Drama in den Bayreuther Blättern 1879, erläutert Wagner an vielen Beispielen genau, dass nichts in seiner Musik geschieht, das nicht in den »dem Drama abgewonnenen musikalischen Formen« begründet ist. Dazu bemerkt Martin Geck »Wagner versagt dem Analysierenden den Triumph der Feststellung, daß Teile sich – wie in einem Stück absoluter Musik – nicht anders zu einem Ganzen zu fügen vermöchten, als sie es tun. Es gibt keine Logik des musikalischen Werks, sondern einen dramatischen Prozeß… « (Von Beethoven bis Mahler, Stuttgart u. Weimar 1993, S. 332).

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Obwohl der zweite Akt als laszive Ausdrucksmalerei unverblümter Erotik gedeutet wird, entsteht er in Venedig – also nach der Zürcher Episode. Und erst Wagners dort verfasstes »Tagebuch« für Mathilde Wesendonck erlaubt die tieferen Einblicke in die Natur seiner schöpferischen Verarbeitungsprozesse.28 Nicht weniger ambivalent bleibt die Vielzahl von Kürzeln, die Wagner zur gleichen Zeit, nämlich im 1854 entstandenen Kompositionsentwurf zum ersten Akt der Walküre, eintrug. Er beginnt bereits mit »G. s. M.!« für »Gesegnet sei Mathilde!« und wird so zum Zeugnis eines engsten Beziehungsgeflechts. Dazu kommt die Personenkonstellation von Siegfried und Brünnhilde, die Wagner selbst als Analogie zum Paar von Tristan und Isolde beschreibt. Aber genauso erlauben die biographischen Details ohne weiteres die Annahme einer realen erotischen Beziehung, vor allem denkt man an Wagners sonstige Verstrickungen in prekäre Amouren. Der intime tägliche Umgang zwischen ihm und Mathilde bei seinem Aufenthalt im ›Asyl‹, einem ihm überlassenen Häuschen der Wesendoncks am Zürcher See 1857–1858, sowie der Ton der vertrauten Briefkorrespondenz wirken so wenig platonisch wie die sehr persönlichen Devotionalien an Mathilde. So trägt eine für sie 1853 komponierte Sonate die beziehungsvolle Widmung aus dem Nornen-Terzett der Götterdämmerung: »Wißt Ihr wie das wird?« und die fünf Wesendonck-Lieder von 1857–1858, nach von Mathilde verfassten Texten, atmen reinstes Tristan-Ambiente: schwüle Psychogramme erotischer Aufladung, wie es schließlich das Lied Im Treibhaus metaphorisch verbalisiert. Wenn es stimmen sollte, dass Mathilde während Wagners Zeit im ›Asyl‹ dem Gatten Otto die sexuelle Gemeinschaft verweigert hat (Robert W. Gutman),29 wäre auch sie genauso »im Treibhaus« gewesen wie Wagner. Er jedenfalls bekennt sich noch Jahre später emphatisch zu dieser Liebespassion: »Sie ist und bleibt meine erste und einzige Liebe!« (Brief an Eliza Wille vom 5.6.1863). Solche biographischen Erkundungen erscheinen müßig bis unangemessen, versteht man die musikalischen Produkte, gut nach Husserls Phänomenologie, aus dem Blickwinkel einer Autonomieästhetik als Objekte eigener Souveränität, also ästhetizistisch. Unter dem Aspekt einer Heteronomieästhetik ist die in ihnen intentional gestaltete Ausdruckswelt aber keineswegs frei von ihren personalen Antriebskräften. Schon gar nicht bei Wagner. Denn er reklamiert für das Verständnis seiner Dramen ausdrücklich die enge Verbindung von »Kunst und Leben«.30

28

Als »Tagebuch seit meiner Flucht aus dem Asyl« bezeichnet es Wagner. Auszüge daraus bei: Wolfgang Golther (Hg.), Richard Wagner an Mathilde Wesendonck: Tagebuchblätter und Briefe 1853–1871, Berlin 1904.

29

R. W. Gutman, Richard Wagner. Der Mensch, sein Werk, seine Zeit, München 1970, S. 320.

30

Vgl. R. Wagner, Sämtliche Briefe, Gesamtausgabe in 35 Bänden, Bd. 3, 1849–1851, hg. v. G. Strobel u. W. Wolf, Leipzig 2. Aufl. 1970, S. 198, sowie O. Strobel, in: AmZ 59 (1932), S. 151– 156.

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Aber ganz gleich, ob erotisch real, mental imaginiert, sehnsüchtig phantasiert oder musikalisch sublimiert, erhält Tristan alle überdauernde Bedeutung aus Art und Qualität dieser Ausdruckswelt. Diese aber bezieht ihr semantisches Potenzial aus der mentalen und psychischen Disposition ihres Schöpfers. Es ist seine Disposition, die über ihre musikalische Ausdrucksform Empathie stiftet, exemplarisches Miterleben erlaubt und Deutung legitimiert. Damit wäre man bei ›Eros‹ in sämtlichen Wagner’schen Erscheinungsformen des Begehrens – und den Modi einer ›Erlösung‹ davon, beides unentwegt sehnsuchtsvoll gesucht. Bereits mythologisch und theologisch bedeutsam differenziert zwischen den Liebesqualitäten Eros und Agape, erscheint er bei Wagner stets als Problem dieser Polarität. Ihr Kennzeichen ist die Verbindung mit ›Sünde‹, ›Liebesnot‹, ›Schuld‹ und ›Liebestod‹: ein belasteter Eros, der als Lebensthema Biographie, Denken und Werk durchdringt, höchstens noch flankiert mit dem ewigen Problem des Mammons ›Gold‹ – das nicht er, sondern die anderen haben. »Nicht eher sind wir das, was wir sein können und sollten, bis – das Weib nicht erweckt ist« schreibt er dem Freund und Mitstreiter aus der revolutionären Dresdner Zeit, August Röckel, in einem Brief vom 24.8.1851. Nach seiner Begegnung mit Mathilde Wesendonck schreibt er an einen anderen Freund, Theodor Uhlig, entzückt: »es ist immer wieder das ›ewig-weibliche‹ was mich mit süßen Täuschungen und warmen Schaudern der Lebenslust erfüllt«. Da spricht nicht nur das Triebwesen ›Mann‹, sondern auch der sensitive Künstler, der ahnungsvoll im ›Weiblichen‹ etwas vom psychischen Quellgrund alles Schöpferischen erfühlt. Damit ist er bei Goethes ›Reich der Mütter‹ und dem »Ewig-Weiblichen«, das »uns hinanzieht«, auch bei Dantes Beatrice, beim Mozart der Zauberflöte und der archetypischen Seelenfigur der ›Anima‹ von C. G. Jung. Aber Wagner übersetzt sein tief ahnungsvolles Wähnen naturalistisch in die ewige Suche nach dem Weib – nicht dem Ewig-Weiblichen. Seine Disposition besetzt das Seelische des Sehnsuchtstopos immer physisch – als sexuelle Geschlechtsliebe und damit als lebenslängliches Feld dramatischer Konflikte. »Die Liebe in vollster Wirklichkeit ist nun bloß innerhalb des Geschlechts möglich: nur als Mann und Weib können wir Menschen am wirklichsten lieben, während alle andere Liebe nur eine von dieser Liebe abgeleitete … oder ihr künstlich nachgebildete ist …« (Brief an Röckel, 25./26.1.1854, in einer Erläuterung zu Rheingold). In Venedig bewundert er immer wieder das Gemälde Tizians von der Himmelfahrt Mariä. Besonders ihr »glühender Kopf« hatte es ihm angetan. Aber der erinnert ihn in seinen Gedanken »wieder an den Geschlechtstrieb; das einzig Mächtige, nun von allem Begehren befreit, der Wille entzückt und erlöst«. Als ursprünglichen Titel für den Tannhäuser hatte er eigentlich vorgesehen: »Der Venusberg«. Mit diesem, seinem Liebesbegriff korrigiert er sogar ausdrücklich die ansonsten tief verehrte Philosophie Schopenhauers: der »Heilsweg zur vollkommenen Beruhigung des Willens durch die Liebe ist von keinem Philosophen, namentlich auch von Schopenhauer, nicht erkannt worden« und er betont, er rede nicht von

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einer »abstrakten Menschenliebe«, sondern »der wirklich aus dem Grunde der Geschlechtsliebe, d. h. der Neigung zwischen Mann und Frau keimenden Liebe«. »Der Gegenstand ist ungemein wichtig«, fügt er mit Nachdruck hinzu (Wesendonck-Tagebuch, 1.12.1858). Aber Wagners hochlibidinöser Eros sexus feiert weder einen unbeschwertnaiven Hedonismus der heidnischen Antike noch die chevalereske Promiskuität Casanovas oder die lockere ›Freie Liebe‹ der Bohemiens, sondern die »Liebe als furchtbare Qual« (Brief an August Röckel vom 23.8.1856) – dramatisch, tragisch, unstillbar und unerlöst. Damit ist sie offenbar unauflöslich mit sündhaftem Begehren amalgamiert: »Die Sexualität als Schuldstruktur« (Melanie Wald-Fuhrmann). Sein Eros führt in den »Tod durch Liebesnot«, wie er ihn selbst als Gemeinsamkeit für die beiden analogen Untergangs-Paare Tristan/Isolde und Siegfried/Brünnhilde stiftet, ja er gibt ihm mit der Liebesverfluchung Alberichs im Rheingold eine dramaturgische Schlüsselstellung im Ring. Das ist seine Besetzung des Themas als lebenslänglicher Konflikt zwischen »Venusberg« und »heiliger Elisabeth«, zwischen Eros sexus und Eros anadyomenos, zwischen den beiden Erscheinungen der Liebesgöttin Aphrodite als Aphrodite Urania (oder, latinisiert, Venus coelestis) und Aphrodite Pandemos – samt seinen Exorzismusmühen mit den immer wieder inbrünstig beschworenen Erlösungen davon.31 Das ist sein Thema: Ob im Liebesverbot (1835) als Konflikt zwischen dem ›Gesetz‹ und seiner Übertretung durch die Liebe oder mit der als sündhaft dramatisierten Sexualität bei Klingsor und Amfortas im Parsifal oder wie im Fliegenden Holländer (1840), wo die »e’wge Vernichtung« als Erlösung von Leid und Qual durch die treue Liebe Sentas »bis zum Tod« erreicht wird und im Tannhäuser (1845) mit der Erlösung vom »Venusberg« durch die Heilige Elisabeth. Genauso geht es im Lohengrin (1848) um die Erlösung durch den Ritter des Grals, der in einem ersten (unvertonten) Entwurf klagt: »O Elsa! Was hast du mir angetan? … Nun muß ich ewig Reu und Buße tragen, weil ich von Gott zu dir mich hingesehnt, denn ach, der Sünde muß ich mich verklagen, daß ›Weiberlieb‹ ich göttlich rein gewähnt« und schließlich auch im fatalen und letalen Bund von Eros und Thanatos im Tristan. Sogar in den heiteren Meistersingern geht es wieder um einen problematisierten Liebeskonflikt, wenn das Liebespaar (Walther von Stolzing und Eva) ihre nicht standesgemäße Verbindung anfangs ebenso als schicksalhafte Verstrickung verstehen wie Tristan und Isolde.

31

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Die zwei Erscheinungsformen als Aphrodite Urania und Aphrodite Pandemos, die erste als mutterlose Tochter des Gottes Uranos, die zweite als Tochter des Zeus, werden in der Rede des Pausanias im Symposion von Platon (178a–180b) als die himmlische Liebe und die sinnliche thematisiert. Seit der Renaissance werden sie mit der lateinischen Übersetzung durch Marsilio Ficino, zentraler Protagonist der Platonischen Akademie in Florenz, in seinem Hauptwerk Theologica platonia (1484) im Kommentar De amore tradiert.

Noch dramatischer spitzt Wagner das Thema dann in den archaischen Verstrickungen mit Macht, Gold, Inzest und Intrige im Ring des Nibelungen (1853–1874) zu. Dort führt er es von seiner dramaturgischen Keimzelle ›Gold, Macht und Verträge‹ kontra ›Liebe‹ bis zum finalen Liebesbrandopfer Brünnhildes. Und noch im späten Parsifal (1882) beherrscht die Dialektik zwischen der sexuellen Liebe als Sünde und ›Wunde‹ und einer sakralen ›Reinheit‹, strikt als Keuschheit definiert, das Werk: Immer wieder erweist sich diese Polarität als zentrale Dynamik von Dramaturgie und Musik. Als »Geträumte Bordelle« (Th. W. Adorno) sind Venusberg (Tannhäuser) und Klingsors Zaubergarten (Parsifal) verstanden worden. Und im Ring assoziieren einige seiner weiblichen Wesen (Rheintöchter, Walküren) durchaus etwas von dirnenhaftem Hautgout, genau wie Klingsors »Zaubermädchen« im Parsifal. Alberichs Verzicht auf wirkliche Liebe im Rheingold (Dritte Szene) bedeutet keinen Verzicht auf die mit Gold erkaufte Lust (»… die mein Frei’n verschmäht, sie zwingt zur Lust sich der Zwerg, lacht Liebe ihm nicht«). Sogar die Götterburg Walhall könnte man unter Verdacht stellen, denn »Wunschmädchen walten dort hehr« (Walküre, 2. Akt). Für seinen Parsifal verändert Wagner das Szenario des Epos von Wolfram von Eschenbach völlig. Er macht aus der Gralsbotin Cundrîe den Archetyp der erotischen Verführerin Kundry und aus Klingsor ihren Luden, der sich kastriert, um seinem Problem mit der ›Sündhaftigkeit‹ des Eros sexus zu entkommen. Auch für die Art der geheimnisvollen Wunde des Amfortas bleibt durchaus sexualpathologischer Spekulationsraum. Als frivolste Variante von Wagners Urthema taucht auch immer wieder die Geschwisterliebe auf: der Inzest. Thomas Mann hat es fasziniert in Wälsungenblut thematisiert. Aber als bizarre Spielart des Eros findet sie sich schon im Entwurf des frühen Hohenstaufendramas Die Sarrazin. Im Geschwister-Inzest von Sieglinde und Siegmund im ersten Akt der Walküre macht sie Wagner dann zu einem dramaturgischen Höhepunkt. Noch in seiner Todesstunde beschäftigt Wagner sein ewiges Thema: als ihn die tödliche Herzattacke in Venedigs Palazzo Vendramin-Calergi überfällt, sitzt er über einem Essay-Entwurf »Vom Weiblichen im Menschen« – mit dem letzten notierten Stichwort »Liebe – Tragik«.

Die hohe Musik letaler Verfallenheiten oder: Der schwarze Eros Im Tristan-Musikdrama wählt Wagner eine Ehebruchstragödie keltischen Ursprungs und transformiert sie in das Seelendrama seiner subjektiven Psychologie. Das mittelalterliche Versepos wird ihm zum Vehikel eines Narrativs, in dem Liebe und Schuld, Glückserfüllung und Gewissensqual, Passion und Verhängnis als ein unauflösliches, zuletzt tödliches Amalgam verbunden sind. Nichts verdeutlicht tiefer den Konfliktcharakter seines Liebesbegriffs, wo weder Verzicht, noch Opfer,

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noch Sublimation Lösungen bieten – sondern nur die Nacht eines »Liebestodes« als rettungslose Verfallenheit an ein unstillbares und unbeherrschbares Triebschicksal. Tristan wird zum Verbrecher – aber bezeichnenderweise durch die Schuld eines Zaubertranks und Brangänes Trug – obwohl die unrettbare Liebesverfallenheit ja bereits vorher, in Irland, ihren Anfang genommen hatte: Wagner konzipiert Schuld als Schicksal, dem seine Helden und Protagonisten, quasi fremdbestimmt, anheimfallen. Damit exkulpiert er persönliche, triebhafte Verfallenheit als unpersönliche Kausalität übler Verstrickungen. Denn darin spielen stets höhere und dunklere Mächte oder ›Zaubertränke‹ als Ursache pathologischer Bewusstseinszustände und tragischer Verstrickungen eine Rolle. Für solche existenzielle Obsession kann ihm nur Thanatos zum Erlöser werden: eben »Der Tod durch Liebesnot«. Weil das Pathogen aber die »Not« ist, nicht die »Liebe«, stiftet auch seine genialste musikalische Verklärung im Schluss keinen höheren Sinnhorizont, sondern wirkt »umso verderblicher in seiner Erhabenheit … Eros treibt die Liebenden zur Transzendenz … und lässt sie in die unendliche Nacht eintreten. Aber die Nacht bietet ihnen Nichts … Die Verklärung lässt sie mit leeren Händen zurück … der Inhalt dieser Transzendenz ist das Nichts« (Karol Berger).32 Das intensivste Obsessiv im Tristan formuliert aber immer die Musik. Denn Wagner betitelt das Werk zwar mit »Handlung«, die aber tritt in seinem Libretto weit zurück. Es funktioniert nicht mit Dialog und Auseinandersetzung nach dem Muster des klassischen Dramas, sondern als epischer Bericht wie in der antiken Tragödie. Dramaturgisch unergiebig ist auch der Plot, weil voller Rätsel: »Das kann ich dir nicht sagen«, »Das kannst du nie erfahren«. Allein die Musik ›erzählt‹ alle wirkliche Bedeutung – Tristan als »tiefe Kunst des tönenden Schweigens«, wie es Wagner schlagend genau ausdrückt (Brief aus Venedig vom 12.10.1858 an Mathilde Wesendonck): Denn was das mythologisch geborgte Narrativ tunlichst verschweigt, offenbart sich in Wagners persönlich chiffriertem musikalischen Text. Dessen De-Chiffrierung liefert die Erkenntnis der Botschaft – und ihrer Ausdruckswelt. Es ist die sprachlose Sprachmacht des ›Tönens‹, in dem eine radikal instabile polyphone Chromatik von unstillbarer Sehnsucht ›spricht‹, die Leittonspannungen von libidinöser Aufladung, die opaken Klangaggregate von rauschhafter Verfallenheit, die diffuse Tonalität von verlorener Orientierung. Es ist die Tektonik eines musikalischen Satzes, der nicht konsistent ›gebaut‹ ist, sondern vegetativ wuchert: die Ausspinnung eines koloristisch changierenden Orchestergewebes, dessen weitgespannte Liniengeflechte triebhaft wie Schlingpflanzen treiben. Wagner spricht von den »Akkorden als selbstständige Kundgebung ihrer verwandtschaftlichen Neigungen nach einer horizontalen Richtung hin …«, eine Faktur, welche übrigens die Herstellung eines Klavierauszugs zur echten Herausforderung machte.33 32

K. Berger, in: Wagner Handbuch, hg. v. L. Lütteken, Stuttgart 2012, S. 372–380.

33

Vgl. R. Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen, Volksausgabe, 16 Bde. Leipzig 1912/1914, Bd. 3, S. 156. Wagner sprach ausdrücklich seine Bewunderung für Hans von Bülow aus, »welcher das Unmögliche leistete, indem er aus dieser so vielen Musikern

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Wagner komponiert in seiner eigenen musikalischen Prosa weit ab von den traditionellen Modellen musikalischer Formbildung wie etwa der achttaktigen Periode vieler Liedformen (mit viertaktigem Vordersatz zur Dominante und dem Nachsatz in die Tonika). Er komponiert vielmehr in unregelmäßigen Gruppen, die sich nach dem dramatischen Verlauf richten und die Wagner selbst in Oper und Drama als »dichterisch-musikalische Periode« bezeichnet und in engster Verbindung mit der jeweiligen Disposition der Tonarten konzipiert.34 Dabei bedient er sich einer Instrumentierungskunst, die mit der Raffinesse des Mischklangkonzepts ihren ›technischen‹ Ursprung so verschleiert wie der Bayreuther Orchestergraben die Quelle der Musikentstehung: »Die Kunst der erhabenen Täuschung«, wie Wagner seine Vorstellung von Theater bezeichnet, mit der Versenkung des Orchesters in den »mythischen Abgrund«, der die Musizierarbeit unsichtbar macht und den Klang auratisch. Das ist »Die Verdeckung der Produktion durch die Erscheinungen des Produkts« (Th. W. Adorno, Versuch über Wagner). Wie tief dieses Konzept als Kompositionstechnik die Faktur des Satzes prägt, zeigt gut eine Szene aus der Walküre. Wenn Siegmund und Sieglinde im zweiten Akt auf der Flucht erschöpft innehalten, erklingt ein kleines, sich aufschwingendes Streichermotiv abwechselnd in den Stimmen von Violinen und Bratschen, so, dass es wie eine einzige Melodielinie wirkt, ohne dass die jeweils andere Klangquelle identifiziert werden kann. Am Schluss der Passage führt eine aufsteigende und wieder absteigende Geste der einstimmigen Violine zu einem Nachsatz, der wiederum ein kurzes Motiv nacheinander auf Violinen, Klarinette, Oboe und wieder Klarinette verteilt, jeweils auf dem dritten Viertel des über vier Viertel gehaltenen Schlusstons des vorigen eintretend. Dazu kommt die Ligatur, die Überbindung der Töne, so dass die Taktgrenzen des formalen Dreivierteltaktes völlig verwischt werden. Wagner kennzeichnet diese Faktur selbst in einem Brief an Mathilde Wesendonck als »Kunst des Übergangs«. Auch die notorische Chromatisierung des Tonsatzes ist ja nichts anderes als ein permanenter ›Übergang‹ zwischen den Tonstufungen. Man hat diese Faktur in ihrer Ausdrucksbedeutung im Lichte von »Tristan«-Eros und in Hinblick auf Wagners psychologische Disposition als unmissverständliche

noch rätselhaft dünkenden Partitur einen spielbaren Klavierauszug zustande brachte, von dem keiner begreift, wie er dies angefangen hat« (zitiert nach K. Blaukopf, TristanDirigenten, in: Hundert Jahre Tristan, hg. v. W. Wagner, Emsdetten 1965, S. 19). 34

Das hat seiner Musik oft den Vorwurf der »Formlosigkeit« eingebracht. Deshalb hat es früh Versuche gegeben, dies zu widerlegen, wie etwa die positivistischen, problematischen Analysen von Alfred Lorenz, Das Geheimnis der Form bei Richard Wagner. 4 Bde., Berlin 1924–1933. Vgl. dazu E. Voss, Noch einmal: Das Geheimnis der Form bei Richard Wagner, in: Theaterarbeit an Wagners Ring, hg. v. D. Mack, München u. Zürich 1978 (= Thurnauer Schriften zum Musiktheater 3), S. 251–267. Vgl. zum Formproblem auch: C. Dahlhaus, Formprinzipien in Wagners ›Ring des Nibelungen‹, in: H. Becker (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Oper, Regensburg 1969, sowie H. Danuser, Musikalische Prosa, Regensburg 1975.

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Musikalisierung des Liebesakts gedeutet. Aufschluss dazu gibt sein eigener Kommentar: »die rastlos auftauchenden, sich entwickelnden, verbindenden, trennenden, dann sich bekämpfenden, sich umschlingenden, gegenseitig fast sich verschlingenden musikalischen Motive …« (im Gedenkaufsatz für den ersten Tristan-Darsteller, Ludwig Schnorr von Carolsfeld). Weniger explizit wird diese besondere Physiognomie von Wagners musikalischem Satz als Ausdruck des Konturlosen und eines Bodenlosen erfahren. Nietzsche kennzeichnet sie als »Das Wogende Wallende Schwankende im Ganzen der Wagnerischen Musik« (1878) und bemerkt »Das Aufhören der großen rhythmischen Perioden, das Übrigbleiben der Taktphrasen, macht allerdings den Eindruck der Unendlichkeit des Meeres …« (1874). Der Wiener Großkritiker Hanslick wirft Wagner schon bei der Uraufführung der Meistersinger 1868 eine »knochen- und muskellose Gestaltung« vor, die ins »Unabsehbare fortfließt«. Heinrich Schenker, der mit seiner Schichtenlehre des musikalischen Satzes eine Analysemethode von dessen Tiefenstruktur entwirft, warf Wagner vor, die »Urlinie« zerstört zu haben. Th. W. Adorno spricht von »jenem eigentümlichen Gefühl des Schwebenden, daß die Musik gleichsam keinen festen Boden unter den Füßen hat« und befindet »Bei Wagner treibt die Form Luftwurzeln« (Wagners Aktualität, Vortrag Berliner Festwochen, 1963). Scharfsichtig nimmt Nietzsche Wagners Musik deshalb als Anbruch eines neuen musikalischen Stils wahr und kritisiert mit ihr die ganze »neuere Musik«: »Wagners sogenannte unendliche Melodie ist bestrebt alle mathematischen Zeit- und Kraft-Ebenmäßigkeiten zu brechen« und er moniert das »allzu weibliche Wesen der Musik, dem das Maass fehlt« (Vermischte Meinungen und Sprüche in: Menschliches, Allzumenschliches). Aber es ist eben diese Faktur, die jene psychotrope Wirkung erzeugt, die so oft als ›Sog‹, ja als süchtigmachende Droge beschrieben wurde. Sie bannt, weil sie mit magischer Suggestionskraft in ihre Affektwelt hineinzieht, wenn sie auf die Empathie eines entsprechend disponierten Hörers trifft. Dort vermag sie, psychologisch verstanden, auf dessen innerer ›Seelenbühne‹, quasi als Mimesis des eigenen Eros und Begehrens, der eigenen Triebschicksalserlebnisse, Sehnsüchte, Imaginationen und ›Liebesnöte‹ zu agieren. »Erhabene Morbidität« hat ihr Thomas Mann bescheinigt, für den der Tristan lebenslang das »klassische opus metaphysikum der Kunst« (nach Nietzsche) blieb. Das offenbart zwar eher Manns obskuren Metaphysikbegriff wie er auch im Zauberberg oder im Tod in Venedig Ausdruck findet. Aber immerhin rettet sich in solchem Verständnis von ›Erhabenheit‹ noch eine Dignität, wie sie dem hohen Formniveau der Wagner’schen Musik zukommt und wie sie als Sublimation (»geträumte Bordelle« – nicht reale) und damit als ein nur imaginiertes ›Anstatt‹ zum mentalen Ersatz des Realen wird. Sofern sie nicht zum Introitus rauschhaften Verfallenseins wird oder gar zur Anstiftung libidinöser Libertinage.

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Vom erotischen Anarchismus zum gesellschaftlichen Mit einem anderen Kaliber von ›Anarchie‹ aber setzt sich Wagners gewaltigstes Opus auseinander. Formuliert der Tristan die persönlichste Dramatik einer anarchischen ›Liebesnot‹ mit Todesfolge, so erschafft ihr Wagner in der Ring-Tetralogie nicht nur kollektives, gesellschaftliches Format, sondern auch katastrophales. Zum biographischen Hintergrund gehört seine Verwicklung in die Revolution von 1848 mit den Verbindungen zum Anarchismus-Theoretiker Michail Bakunin sowie seine Lektüre von Hegel, Gutzkow, Laube, Proudhon und vor allem Feuerbach. Nicht zuletzt von diesem mentalen Biotop aus vollzieht sich das sukzessive Arrangement der Nibelungen-Sage zum dramatischen Welterzählungsepos mit radikalem Untergangsszenario. Sein Strukturkern ist ein Aufstand gegen die politisch-gesellschaftliche Ordnung von Geld und Besitz, Fürstenmacht und Göttergewalt. »Zerstören will ich die bestehende Ordnung der Dinge …« heißt es in Wagners Flugschrift Die Revolution von 1849, verfasst aus gleichem Geist wie das Kommunistische Manifest von Marx und Engels, 1848.35 Aber schon vorher, im Rienzi (1842), bricht sich eine leidenschaftliche, partei­ ische Freiheitsidee Bahn, wenn die Aristokratie durch das Volk der Römer unter Rienzis Leitung verjagt wird. Im Lohengrin steht die ›dunkle‹, reaktionäre Seite einer alten Ordnung von Ortrud und Telramund im Kampf gegen die ›lichte‹, neue und fortschrittliche von Lohengrin und Elsa. 1851, während er bereits am Ring arbeitet, schreibt er an seinen Freund Ernst Benedikt Kietz: »… nur die furchtbarste und zerstörendste Revolution kann aber aus unseren zivilisierten Bestien wieder ›Menschen‹ machen«.36 Dass der finale Brand von Walhall der Götterdämmerung durchaus Wagners revolutionärer Wut entsprach, zeigt seine Äußerung: »Wie wird es uns aber erscheinen, wenn das ungeheure Paris in Schutt gebrannt ist, wenn der Brand von Stadt zu Stadt hinzieht, wenn sie endlich in wilder Begeisterung diese unausmistbaren Augiaställe anzünden, um gesunde Luft zu gewinnen und ohne allen Schwindel versichere ich Dir, daß ich an keine andere Revolution mehr glaube, als an die, die mit dem Niederbrande von Paris beginnt«. Im gleichen Zusammenhang betont er für seinen entstehenden Ring an den Dresdner Freund 35

Zunächst anonym veröffentlicht in den Volksblättern v. 8. April 1849, herausgegeben von August Röckel in Dresden, später aufgenommen in: Sämtliche Schriften, Bd. 12, Leipzig 1911, aber aufgegangen im Aufsatz »Die Kunst und die Revolution« (Sämtliche Schriften, Bd. 3, Leipzig 1911). Wagners Revolutionsschriften von 1848/49 und seine engen Verbindungen mit den Protagonisten von Revolution und Dresdner Mai-Aufstand bis hin zum engen Zürcher Freund Georg Herwegh, der wiederum Freund von Karl Marx war, wurden später vom Bayreuther Haus Wahnfried zensiert und retouchiert, vgl. H. Mayer, Richard Wagners geistige Entwicklung, in: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur, Jg. 5 (1953), Heft 1, S. 111–162.

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Vgl. R. Wagner: Briefe 1835–1865, Sammlung Burrell, hg. v. J. N. Burk, Gütersloh 1950, S. 257.

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Theodor Uhlig: »An eine Aufführung kann ich erst nach der Revolution denken, erst die Revolution kann mir Künstler und Zuhörer zuführen …«.37 Als revolutionäre Schlussszene ist im Entwurf Siegfrieds Tod, dem Kern des Ring-Konzepts, eine Beendigung der Goldknechtschaft der arbeitenden ›Nibelungen‹-Klasse durch Brünnhilde geplant: eine klare Abrechnung mit ›kapitalistischer‹ Herrschaft. Aber diesen anarchistischen Strukturkern durchtränkt er in den 26 Jahren, die er an dem Werk arbeitet, wieder unvermeidlich mit seinem Lebensthema: Eros und Erlösung. Hinter der märchenhaften Kulisse im Rheingold, wo eine Es-Dur Klangfläche über 136 Takte samt Naturtonreihen und pentatonischen Skalen heilen Naturmythos beschwört und die naiven Rheintöchter mit dem Gold als »lauterem Tand« ihre heiteren Spiele spielen, entwirft Wagner eine unheile, gestörte Ordnung der Natur. Verdorben durch prekäre Verträge und ihre Brüche und fluchbeladene Tauschoperationen, wo Macht und Gold gegen Liebe aufgerechnet werden, steht eine boshafte Unterwelt gegen eine korrumpierte Götterwelt. Siegfried aber ist das Imago eines ›freien Menschen‹, unberührt vom Fluch des Goldes, Naturbursche und Gewaltmensch zugleich, Heldenfigur und Befreier, der die Verhältnisse ändern, den Augiasstall ausmisten soll. Die Musik zeichnet den hehren Helden mit einem durchkomponierten MelosFluss, strukturell bestimmt von einfachen Liedmodellen. Ritornellartige Einlagen und impressionistische Klangbilder charakterisieren wie bei Mime und Alberich oder kolorieren, wie mit der Beschwörung der Sphäre des Naturhaften, etwa im »Waldweben« (2. Akt, 2. Szene), wo die Aufteilung der 64 Streicher zwischen Solisten und Gruppen, den Wind und das Quellwasser musikalisieren und die Einwürfe der Holzbläser die Vogelstimmen. In der Walküre bestimmen hinter der archetypischen Sehnsucht nach einem ›Urgesetz‹ und dem Preisgesang auf Leibes- und Liebeskraft als Lebensmacht, ›bürgerlicher‹ Ehebruch (Wotan und Erda, Sieglinde und Hunding), Inzest der Kinder (Siegmund und Sieglinde) und dessen Frucht (Siegfried) die Dynamik der Dramaturgie – planvoll und demonstrativ. Das ist der Fehdehandschuh der Outlaws gegen eine Gesellschaft, von der sie sich geächtet fühlen: »Süßeste Rache sühnte dann alles« heißt es nach Siegmunds leidenschaftlichem Inzesthymnus »So blühe denn Wälsungenblut«. Dazu steht in Wagners Regieanweisung: »Er zieht sie mit wütender Glut an sich.« Daneben gibt es blutigen Kampf und die radikale Freiheitsutopie des Anarchisten: »freier als ein Gott« soll der unverdorbene Naturbursche Siegfried sein. Während der erste Akt fast ausschließlich von der leidenschaftlichen Emotionalität des Liebespaares Siegmund und Sieglinde bestimmt ist – übrigens wieder mit der ka-

37

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So R. Wagner, 12. November 1851, Briefe an Theodor Uhlig, in: Sämtliche Briefe, hg. v. G. Strobel u. W. Wolf, Bd. 4, 1851–1852, Leipzig 1979, S. 176.

tastrophalen Wirkung von ›Tränken‹ als ›Drogen‹ bei der Verkupplung des Paares – wird erst im zweiten Akt das Götterszenario des Rheingoldes wieder aufgegriffen. Hier deutet uns Wagner in der dramatischen Schlüsselszene Wotans vor der schweigenden Brünnhilde (zweite Szene) einiges über die Antinomien seines eigenen Charakters an, wie es eine bezeichnende Bemerkung zu Mathilde Wesendonck nahelegt:38 »Was ich liebe, muß ich verlassen, / morden, wen ich je minne, / trügend verraten, / wer mir traut!« / samt der resignativen Einsicht in den destruktiven Charakter einer auf solcher Missachtung ethischer Maximen errichteten Herrschaft: »Auf geb ich mein Werk: / nur Eines will ich noch: / das Ende – das Ende!« Danach dankt Wotan, der ›Herr der Verträge‹ ab, zugunsten von Siegfried »dem furchtlos Freiesten der Freien« und »ewig Jungen« und wird zum namenlosen Wanderer. Das aber ist nichts anderes als der Untergang der Vaterwelt, verdoppelt durch den Vatermord an Mime, der Siegfried aufgezogen hat. Dafür steigt der weiblich-polare Widerpart mit mächtigem Triebstreben auf: Brünnhilde, das »herrlichste Weib«, das allein ihn das Fürchten lehren soll, versteht sich nur noch als Geschlechtswesen – nicht mehr als Göttertochter. Aber ihre Liebesekstasen steuern ebenso auf Untergang und tödliche Vernichtungsphantasien zu wie im Tristan: »Lachend laß uns verderben, Nacht der Vernichtung«, »Leuchtende Liebe – lachender Tod« im Schlussduett – noch in strahlendem C-Dur. In der Götterdämmerung schließlich wird auch der strahlende Held Siegfried demontiert: Er verstrickt sich im Unheil- und Täuschungsdickicht der ›menschlichen‹ Welt und wird dadurch zum Verräter an Brünnhildes Liebe, geht im Komplott der Feinde unter und scheitert so als hoffungsvoller Welterlöser. Diese Rolle kommt nun wieder einer Frau zu: Brünnhilde. Sie wird zur Wissenden, die schließlich alles durchschaut und zur Handelnden, die den fluchbeladenen Ring wieder an die Rheintöchter zurückgibt. Aber auch sie geht unter, wird, in jenseitig-irrealer Liebeshoffnung, »in mächtigster Minne mit Siegfried vermählt«, zur Selbstmörderin und zur Entfacherin des Weltenbrandes, in dem sie und die Götterburg Walhall zugrunde gehen. Auf Siegfrieds Pferd reitet sie in die »lachende Lohe« – »selig grüßt dich dein Weib!«: eine Feier anarchischer, natur- und triebhafter Liebe. Sie überdauert – nicht die Götter. Wieder verklärt und verzaubert die Musik einen ekstatischen Eros des Untergangs, genau wie im Tristan. Dort mit der ›schwarzen Flagge‹ und dem Lustpreisgesang »unbewußt – höchste Lust« in verklärtem H-Dur, diesmal im ›Liebesbrand‹Opfer in schwelgerischem Des-Dur – aber wieder mit zwei Leichen. Wagners Musik verklärt Machtkämpfe wie Morde, Ehebruch wie Blutschande, die restlose Demon38

Peter Wapnewski analysiert die Szene als »Wagners Bewußtsein um die eigenen Lebenslügen«, in: Der traurige Gott. Richard Wagner in seinen Helden, München 1978 u. 1982, S. 275 ff. Die autobiographische Verbindung tritt am deutlichsten in dem Brief an Mathilde Wesendonck zutage (August 1860), wo er bezüglich der Kundry-Gestalt schreibt: »lassen Sie sich andeuten, und hören Sie so zu, wie Brünnhilde dem Wotan zuhörte«.

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tage aller Ordnungen samt der patriarchalischen Symbolfigur eines Göttervaters. Was bleibt ist die Apotheose der Geschlechtsliebe, die ›Minne‹ als Brunst, die in der finalen Feuersbrunst von Walhall ihr perfektes Bild findet. Sie meint zu allererst das archaische Naturgeschöpf ›Weib‹ – nicht das edle Kulturwesen ›Frau‹, blüht in anarchistischer Freiheit zu ihrem vollsten Glanz auf und feiert eine vaterlose Gesellschaft – wie in Mozarts Don Giovanni und wie im epochalen symbolischen Vatermord der Französischen Revolution. Zuletzt, mit dem gerissenen Seil der Nornen: »Zu End’‹ ewiges Wissen! Der Welt melden Weise nichts mehr«, feiert Wagner sogar den Exitus sämtlicher menschlicher Sinnperspektiven. Damit folgt das Narrativ des Dramas der gleichen Bewusstseinslage wie in Schopenhauers Willensverneinung, Feuerbachs radikal entgötterter Diesseits-Religion und Nietzsches bitterem Diktum »Gott ist tot …«. Das trägt die gleiche Signatur wie jene heraufziehende Seinsverdunklung in Existenzialismus, Materialismus und Nihilismus, die den anthropologischen Horizont der abendländischen Moderne so nachhaltig bestimmt. Gleichzeitig offenbart sich aber auch eine Liebesvorstellung, deren Charakter erst eine musikgeschichtliche Differenzbetrachtung mit aller Deutlichkeit enthüllt – ganz abgesehen von der theologischen zwischen Eros und Agape. Denn ›Liebe‹ beherrscht zwar zu allen Zeiten als zentraler Topos Musik und Dichtung. Aber eben, symptomatisch, in sehr unterschiedlicher Diktion. Die antike im Mythos gewinnt ihren archaischen, überpersönlichen Ausdruck durch ihre schicksalsschwere, aber numinose Bindung. Der mittelalterliche Minnegesang subjektiviert und personalisiert die ›Liebe‹ zwar betont, besingt sie aber in der chevaleresken ›Minne‹ vor allem als Huldigung an die »edle Frauwe« und folgt damit einem ethisch konnotierten Hochbild, wo die Frau als Bürgin von Sitte und Anstand fungiert. Die italienischen Operndramen bis Händel bewahren zumeist in allen Verstrickungen einen erhabenen Ethos aus höherer, numinoser Bindung. Bachs Liebesmetaphern in seinen Kantaten agieren stets vor einem spirituellen Hintergrund, wie es exemplarisch etwa in den Duetten zwischen ›Seele‹ und ›Seelenbräutigam‹ der Kantate 140 »Wachet auf, ruft uns die Stimme« Ausdruck findet und Mozart verklärt sogar noch die Frivolitäten der Bäumchen-wechsle-dich-Spiele des Figaro zuletzt mit der edlen Moralität versöhnlicher Gattenliebe. Auch der dramatische Ausdruck einer Liebesleid-Trauer ist über seine objektiven musikalischen Formen, wie dem alten Lamentobass oder der Figur des Passus duriusculus aus der barocken Musikrhetorik oder wie in seinen subjektiver gestalteten, etwa bei Purcells Lamento in Dido und Aeneas, ebenso weit weg von Wagners Affektwelt wie Glucks Klage Ach, ich habe sie verloren in seinem Orpheus und Eurydike. Sogar in Mozarts finsterstem Eros sexus-Drama Don Giovanni bewahrt ein finaler metaphysischer Sinnbezug noch eine Perspektive jenseits der brünstigen Libertinage seines Helden. Wenn das den theologischen Philosophen Kierkegaard in seine verstörenden Konflikte zwischen Ethik und Ästhetik (in: Entweder – Oder) stürzt, dann thematisiert er damit ›Bedeutung‹ scharfsichtig als Dilemma zwischen zwei Wirkungen:

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der sinnlich-musikalischen (als das »Dämonische an sich«) und der intellektuellinhaltlichen des Narrativs. Damit wird der Kern von Wagners Kunst berührt. Hätte Kierkegaard den Tristan gekannt, wäre sein Trauma noch viel entsetzlicher gewesen. Denn Wagner bedient sich zwar der überpersönlichen Form des Mythos mit seiner schicksalshaften Verhängnisidee. Aber er personalisiert ihn mit dem schöpferischen Phantasma eines radikal subjektivierten Ausdruckswillens. Seine geniale Verklärungsmusik camoufliert uns jede ›intellektuelle‹ wie ›ethische‹ Bedeutungsdifferenz der Liebesempfindungen so suggestiv, dass nicht nur deren pathologische Dimension ›mythologisch‹ idealisiert erscheint, sondern auch Eros mit Thanatos als Ebenbürtige vertauscht werden.

Hermeneutisches Wähnen Erosdrama oder Gesellschaftsdrama? Siegfried- oder Wotan-Tragödie? Einerseits steht die Götterburg Walhall in Flammen, andererseits »wälzen sich die Wasserfluten des Rheins über die Brandstätte« (Wagners Regieanweisung) – das finale Szenario so ambivalent wie Wagners Narrativ und seine Deutungen: »Deutungsnotstand« (Gernot Gruber). Deshalb hat das Ring-Katastrophenfinale genauso unterschiedliche Interpretationen erfahren wie das von Tristan. Für die einen ist Sinnvernichtung das letzte Wort der Götterdämmerung, ein »Endspiel im Sinne der modernen Dramaturgie« (Hans Mayer) oder ein »Untergangsdrama« mit »No future« (Hans Küng) und ein Fanal der »Perspektivlosigkeit« (Udo Bermbach). Andere wollen Hoffnungszeichen sehen. Dort avanciert dann Thanatos zum Agenten einer Erlösungsmöglichkeit, der diesseitige Liebestod zum Unterpfand jenseitiger Unio mystica-Erfüllung: für Siegfried wie Tristan, für Brünnhilde wie Isolde. Und Wagners Regieanweisung: »Aus den Trümmern der zusammengestürzten Halle sehen die Männer und Frauen, in höchster Ergriffenheit, dem wachsenden Feuerscheine am Himmel zu …« wird als vage Option auf eine neue, bessere Welt nach dem Untergang der unheilbar korrumpierten in Anspruch genommen. Sogar der verderbte Glorienschein des »Weltenbrands, nach dem eine neue, seligere Erde mit verjüngten Göttern« ersteht, wird bemüht (Peter Wapnewski mit Blick auf die germanisch-nordische Mythologie).39 Auch Thomas Mann erkennt im 39

Die ältere Wagner-Forschung, wie etwa bei Curt von Westernhagen (Richard Wagner. Sein Werk. Sein Wesen. Seine Welt, Zürich 1956) oder bei Wilhelm Zentner (Einleitung zur Götterdämmerung, Stuttgart 1982, S. 6) gibt dem autonomen ästhetischen Objekt den Vorzug über einer Wertung der inhaltlichen und dramaturgischen Bedeutungsdimensionen, ähnlich auch Peter Wapnewski (1978). Demgegenüber dominiert in der neueren Forschung eine kritische Deutung, vgl. U. Bermbach, Die Destruktion der Institutionen. Überlegungen zum politischen Gehalt von Richard Wagners ›Der Ring des Nibelungen‹, in: Bayreuther Festspiele 1988, Programmheft III, S. 13–66; H. Mayer, Richard Wagner. Mitwelt und Nachwelt, Stuttgart 1978, S. 246 ff.; M. Gregor-Dellin, Richard Wagner. Sein Leben, sein

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Schlussgesang von Brünnhilde die »himmlische Melodie« einer höheren Liebe und verweist auf den Chorus mysticus aus Goethes Faust als Analogie. Bedeutende Regisseure wie Joachim Herz (Inszenierungen Leipzig 1973–1976) oder Patrice Chéreau (Bayreuth 1976) feiern die Metapher einer »antikapitalistischen Revolution« wie sie schon George Bernard Shaw vorgedacht hat. Wer der Musik mit ihrer Des-Dur-Apotheose des Finales das letzte Wort als ›Bedeutung‹ einräumt (wie Pierre Boulez, der Dirigent von Patrice Chéreaus wirkungsmächtiger Ring-Inszenierung von 1976), kann erklären: »Wagner scheint uns allein durch die Musik zu sagen, daß die letzte Askese darin besteht, auf die wohltuende Illusion verzichten zu müssen und in uns die Leere zu schaffen, die vielleicht eine neue Genese ermöglicht.« Das ist die kühle referenzlose Intellektualität der Moderne, die auch ›Leere‹ als Sinnangebot versteht. Aber es ist auch Parteinahme für die Suprematie der Musik. Denn ganz gleich, welche Deutungen man der Semantik des Dramas gibt, es ist immer die Musik, die mit ihrer Semantik Wagners Werk und Wirkung bestimmt. Im Ring wie bei Tristan. Sie ist die Kraft, die durch Wagners kompositorisches Genie den mythologisch-archetypisch aufgeladenen Narrativen und der damit erborgten Aura des Numinosen aus heidnisch-germanischem Fundus jene suggestive Macht verschafft, die so sehr jedem reflektierten, politischen, moralischen oder ›weltanschaulichen‹ Einwand spottet, dass sie nach wie vor Opernspielpläne wie Seelenhaushalte beherrscht, eine beständige künstlerische Herausforderung bleibt und mit einer unübersehbaren Deutungsliteratur samt einem kultischen Wagnerianertum singuläre musikgeschichtliche Geltung besitzt.

Wandel der Ausdruckswelten als Metamorphosen der Seelenregionen Wagner weiß genau um ihre – und um seine musikalische Potenz. Und er weiß um die Differenz zwischen der Formungskraft seines Componere und dem Genius seiner In-spiration, also seinem sensiblen Sensorium, seiner mentalen Disposition als Medium des Ein-falls. Zahlreiche Hinweise darauf belegen es. So spricht er etwa vom »entzückten Zustand des produktiven Künstlers«, denn »mein Musik-Machen ist eigentlich ein Zaubern, denn mechanisch und ruhig kann ich gar nicht musizieren, da stört mich selbst der Sopran-Schlüssel in einer fünfstimmigen Sache Bach’s … während ich in der Ekstase die tollsten Stimmführun-

Werk, sein Jahrhundert, München 1980, S. 363; H. Küng, Musik und Religion, München u. Zürich 2006, Kapitel »Was kündet die ›Götterdämmerung‹?«, S. 100–116; E. Voss, Wagner und kein Ende. Betrachtungen und Studien, Zürich u. Mainz 1996, S. 185 ff. u. 193 ff. Wagner selbst relativierte später seine revolutionären Intentionen in seiner Edition der Gesammelten Schriften und Dichtungen, Einleitung zum dritten und vierten Band (Die Kunst und die Revolution, 1849, in: Gesammelte Schriften, Bd. III, 1870, S. 8–41), besonders im Hinblick auf seine Übernahme von Begriffen und Ideen Ludwig Feuerbachs.

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gen ohne eine Spur von Schwanken ausführe« (am Tag der Niederschrift des zweiten Akts der Götterdämmerung, 19.11.1871). Während der Kompositionsarbeit am Parsifal bemerkt er im Gespräch mit Cosima (13.1.1878): er müsse alles umarbeiten, was er am Morgen gemacht. Er habe eine Tonart gesucht, und das mechanische Transponieren sei ihm unmöglich. ›Ich bin ein schöner Musiker‹ lacht er, nur wenn er unreflektiert schaffe, stünde ihm alles zu Gebote, wenn er aber überlege, wie ein Thema in eine andere Tonart zu bringen sei, verwirre er sich!40 Diese Fähigkeit zeigt sich aber nicht nur handwerklich an bloßen ›Stimmführungen‹ und Transpositionen. Sie bezeichnet vielmehr eine mentale Disposition, die von seiner dichterischen Sprachmusikalität über seine unerschöpfliche Klangphantasie bis zum singulären Tiefenbewusstsein für die Bedeutungsräume der Tonarten reicht. Das aber betrifft jenen Anteil der psychisch-mentalen Genese des Kunstwerks, dem alle schöpferischen Genies das Wesentliche verdanken. Trivial fasst man es, eher pejorativ als affirmativ, unter ›intuitiv‹. Aber tatsächlich meint es nichts anderes als den Daimon Goethes oder jenes ›Somnambule‹, das Schubert bescheinigt wurde – die schöpferische Inspiration jenseits der kompositorischen Produktion. Das berechtigt, den bemerkenswerten musikalischen Wandel von Wagners Frühwerk zum späten Ring auch Aufmerksamkeit unter dem Aspekt der ›Inspiration‹ zu schenken. Es betrifft den markanten Unterschied von der transparenten Diktion etwa im Lohengrin und Tannhäuser und der opaken, komplex-verschlungenen in der Ring-Tetralogie. Obwohl auch in den früheren Werken die mythologischen Vorlagen reichlich Anlass zur Musikalisierung von Verhängnis, Scheitern und Untergang lieferten, wählt Wagner dafür eine andere musikalische Ausdruckswelt. Sie artikuliert sich in den ›helleren‹ Tonarten wie der von A-Dur der Tannhäuser-Welt oder im Lohengrin mit A-Dur für Lohengrin und als Motiv der Gralswelt C-Dur für König Heinrich und nur fis-Moll für Ortrud und Telramund sowie auch in der Durchsichtigkeit seiner Eckakte: Es ist die Musikalisierung von ›lichteren‹ Sphären. Eine Hymne an die Sonne singt auch noch der dritte Akt in Wagners erstem Entwurf von Siegfried. Dann brechen die nächtlichen Welten des Tristan ein, und er nimmt die bedeutungsvollen Veränderungen der Ring-Konzeption mit der Walküre vor. 1848 dichtet Wagner die erste Fassung der Heldenoper Siegfrieds Tod, den Kern des späteren Ring-Konzepts, 1851 die veränderte von Der junge Siegfried, gefolgt von der Erweiterung der Konzeption zu »drei Dramen und einem Vorspiel«. 1852 erfolgt die Umbenennung vom positiven Helden Siegfried zum fluchbeladenen ›Ring des Nibelungen‹ als Inbegriff eines verderbten Weltentwurfs. Symptoma-

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Vgl. Cosima Wagner, Die Tagebücher, Band 2 (1977), S. 36.

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tisch dafür: die Umzeichnung der braven Nibelungen-Zwerge Alberich und Mime zu Widerlingen der Unterwelt. Das ist die Absage an eine ursprüngliche, idealistische Konzeption, von der Wagner sagte, dass er sie als »hellenistisch-optimistische Welt aufgebaut« habe (Brief an August Röckel v. 23.8.1856). Ihre sukzessive Demontage bis zum düsteren Nibelungen-Drama spiegelt sich in den verschiedenen Schlüssen des Siegfried-Konzepts bis zur Götterdämmerung: noch 1848 ist Göttervater Wotan dort unumschränkte Herrscherfigur, wenn Brünnhilde singt: »Nur einer herrsche: Allvater! Herrlicher Du!«…Worauf dann die »Mannen und Frauen« in der Schlussbeschwörung des Brandopfers intonieren: »Wodan! Wodan! Waltender Gott! Wodan!/ Weihe den Brand!/ Brenne Held und Braut, Brenne das treue Ross/Das Wunden heil und rein/ zu ewigen Wonne verein/ Wahlhall froh sie begrüssen/Allvaters freie Genossen/… zu ewiger Wonne vereint« (Erstschrift des Textbuches). Aber dann taucht Wotan nur noch am Schluss der Walküre auf: »Durch das Feuer schreite mir keiner/ wage sich keiner, der mir nicht gleich« (Prosaentwurf von 1852) und, verbunden mit dem Zuruf an das Pferd Loke am ›Fels‹, den die »wabernder Lohe ewig umloht« (Erstschrift des Textbuches 1852–1853). Und der Schluss des Jungen Siegfried gehört jetzt Brünnhilde und ihrem Helden: »Sei mir nun ewig. Sei mir immer!/ Lachende Liebe, jauchzender Tod« (Prosaentwurf, 1851) woraus schließlich: »Leuchtende Liebe, lachender Tod« wird (Erstschrift des Textbuches von 1851). Danach aber wandeln sich diese Schlüsse dramatisch zum Untergangskonzept der ganzen Götterwelt: »Wodan schwingt sich auf zu der tragischen Höhe, seinen Untergang – zu wollen … Wodan ist nach dem Abschied von Brünnhilde in Wahrheit nur noch ein abgeschiedener Geist …«, schreibt Wagner erläuternd an den Freund Röckel (Brief v. 25/26.1.1854). Er streicht die Wiedereinsetzung Wotans am Schluss, setzt dafür seine Abdankung zum ziellosen Wanderer und thematisiert das Verhängnis von Verträgen als Quelle allen Unheils. Als Konsequenz davon streicht er auch die Vertonung der Schlussverse von Brünnhilde »… selig in Lust und Leid läßt – die Liebe nur sein« und ändert sie (allerdings unvertont) zu «Trauernde Liebe tiefstes Leiden schloß mir die Augen auf /enden sah ich die Welt« (1856). Damit verbinden sich sozialrevolutionär-antikapitalistische Programme mit dem ›Vatermord‹ à la französischer Revolution als Absage an eine hierarchisch-paternalistische Ordnungsstruktur und die Selbstvernichtung als »einzigste, endliche Erlösung«, wie er an den Freund Liszt nach der aufwühlenden Lektüre von Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung schreibt (16.12.1854). Er wählt dann zwar für die endgültige Fassung der Götterdämmerung von 1872 als Schluss das weniger katastrophale Liebesbekenntnis von Brünnhilde: »Siegfried! Siegfried! Sieh! Selig grüßt dich dein Weib!« Aber am Untergangsszenario für Götter und Helden hält er fest.

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Man hat die pessimistischen Mutationen im Ring-Konzept vor allem als Wirkung von Wagners Schopenhauer-Lektüre gedeutet. Wagners Brief an Liszt und womöglich auch die Prosaskizze einer buddhistischen Legende Der Sieger (1856) könnten Anzeichen dafür sein. Der maßgebliche sozialrevolutionäre Boden dazu war seit Bakunin und Feuerbach bestens bereitet. Jetzt kam Schopenhauers ›Verneinung des Willens‹ als reflektierte Anstiftung zur Verneinung des Lebens hinzu. Aber Bakunin und Feuerbach kannte er schon seit 1841. Und Schopenhauers Philosophie lernte er erst 1854 kennen, nachdem er bereits 1851/52 das helle SiegfriedKonzept zum dunklen »Ring«-Entwurf verändert hatte. 1852 ist aber auch Mathilde Wesendonck in sein Leben getreten. Der erste Akt der Walküre, an der er bis 1856 arbeitet, glüht nicht nur in den Liebesemotionen des Paares Siegmund und Sieglinde mit beherrschender Ausschließlichkeit, sondern dessen Notate sind auch durchtränkt mit Kürzeln zu Mathilde. 1854 tauchen die ersten Tristan-Ideen auf und auch das Konzept dafür wird schnell fertiggestellt. 1856 gibt es eine erste Notenskizze zu Tristan – bezeichnenderweise diesmal vor dem Textentwurf. Zwar arbeitet Wagner noch 1857 am zweiten Akt von Siegfried, entwirft sogar erste Notenskizzen zu einem Parsifal, dessen Figur schon 1854 mit Verbindungen von Amfortas und Gral zur Tristan-Idee hereinspielt, aber am 9. August 1857 legt er den Ring endgültig beiseite. Dafür überreicht er am 31. Dezember des gleichen Jahres die fertige Kompositionsskizze des ersten Tristan-Aktes an Mathilde Wesendonck. Gewiss spielte bei dieser rasanten Genese Wagners leichtfertige Hoffnung eine Rolle, ausgerechnet mit einem rasch komponierten Tristan jenes schnelle Geld zu verdienen, das er in seiner prekären finanziellen Situation dringend brauchte, das aber die schwierige und kaum absehbare Neukonzeption des Rings nicht versprach. Aber das sind die äußeren Umstände strategischen Produktionskalküls. Mit ihnen allein wird die gravierende Zäsur in der Qualität der musikalischen Ausdruckswelt Wagners nicht verständlich. Denn warum bricht in die Sphäre des lichten, reinen Heldenepos einer strahlenden Siegfried-Figur als erster Kristallisationskern des Ring-Konzepts jene Verdunkelung der schattenhaften Bezirke des Tristan-Idioms mit seiner Apotheose des Letalen ein und verändert auch die Gestaltungsidee des Rings in so drastischer Weise? Offenbar verändert sich in dieser Zeitspanne Entscheidendes in seiner mentalen Disposition. Versteht man das nicht nur unter dem Aspekt zerebralen Kalküls, sondern als von jenen Kräften der ›Inspiration‹ bewegt, die Wagner ja selbst so nachdrücklich als Quelle seines besten Künstlertums reklamiert, dann hat sich offenbar etwas an den Qualitäten seines Inspirativen verändert. Es scheint, als wäre es in den Einflussbereich ganz anderer Geistesregionen und Kräfte geraten, sowohl im dramaturgischen Konzept wie auch im musikalischen. Jetzt ›schöpft‹ er, vielleicht intellektuell bald weiter animiert von der Weltnegation Schopenhauer’scher Denkkonzepte, mehr aus den abgründigen Regionen von Verneinung, Verfall und

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Zerfall: Er tauscht Idealismus mit Pessimismus. Jetzt tönen ihm in seinen Seelenräumen eher die Dämonen von Untergang und Vernichtung auf, als die Genien hellerer Lichtwelt, mehr die lemurisch-schattenhaften Kräfte eines Unterweltlichen als die strahlenden einer Überwelt. Jetzt fällt er der Faszination von Dunkelheiten mit ihren sinisteren Verworrenheiten anheim, wie sie schließlich in einer Satzfaktur opaker Komplexität der Götterdämmerung entsprechende Gestaltung finden. Für das Verständnis dieses Prozesses scheint ein Aspekt aus Wagners eigenem Verständnis von Bedeutung. Denn für das, was dort über sein Imaginationsingenium, seine Hingabe an die Sphäre des schöpferischen ›Einfalls‹ – also gleichsam un- oder überbewusst zustande kommt – findet er eine bewusste, also intellektuelle Entsprechung in seiner Auffassung über deren Wesen. Er bringt es nämlich mehrfach mit einer Bewusstseinslage in Verbindung, die er als Wahn bezeichnet. Ihm gibt er eine quasi erkenntnistheoretische Schlüsselrolle im Verständnis von Politik, Religion und Kunst. Als Kunsttheorie formuliert er es in seiner Abhandlung Über Staat und Religion von 1864. Dort spricht er vom »Wahnvermögen« und definiert Kunst und Religion als das »Reich des anderen«, das gegenüber der realen Welt ein »Wahn« sei. Nur insofern nämlich »Kunst« ein »wundervolles Wahnspiel« sei, könne sie an der Metaphysik dieser Gegenwelt teilhaben. Wenn er aber gleichzeitig die profane ›Realität‹, von der ›Kunst‹ aus gesehen, ebenfalls zum ›Wahn‹ erklärt, dann ist das womöglich ein proto-buddhistischer Reflex aus seiner Lektüre Schopenhauers. Denn im Buddhismus firmiert die Welt der äußeren Realitäten als trügerische Scheinwelt der ›Maja‹. Konkret zeigt sich solcher Einfluss in einem ersten, handschriftlichen Entwurf von Brünnhildes tragischem Schlussgesang bei Siegfrieds Tod im dritten Akt der Götterdämmerung. Dort heißt es: ›Führ‹ ich nun nicht mehr / nach Walhall’s Feste, / wisst ich wohin ich fahre? / Aus Wunschheim zieh’‹ ich fort, / Wahnheim flieh’‹ ich auf immer, / des ew’gen Werdens / offne Thore / schliess’‹ ich hinter mir zu. / Nach dem Wunsch- und wahnlos / heiligsten Wahlland, / der Welt-Wanderung Ziel, / zieht nun die Wissende hin / von Wiedergeburt erlös’t.«41 Später bemüht er den ›Wahn‹ auch noch in den Meistersingern als Katalysator eines gelungenen Werks. Im Monolog des Sachs (3. Aufzug), heißt es: »… so sei’s um solche Werk / die selten vor gemeinen Dingen / und nie ohne ein’gen Wahn gelingen«. Das zeigt, wie ambivalent Wagner den Begriff verwendet. Man wird ihn aber nicht als psychiatrischen Wahnbegriff deuten dürfen (wie etwa nach Karl Jaspers: 41

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Handschriftlicher Textentwurf mit Bleistift im Erstdruck des Textbuches, Privatdruck, Zürich 1853, Richard-Wagner-Archiv/Wahnfried-Archiv, Bayreuth, Signatur A 4296. Wagner hat diesen Text allerdings für die endgültige Fassung nicht verwendet, wahrscheinlich aufgrund einer Kritik von Cosima Wagner daran.

als »subjektive Erscheinung eines kranken Seelenlebens«), sondern als Kennzeichnung jenes ›irrationalen Zustandes‹, der eigentlich ein über-rationaler ist, wie er von Platon unter mania als »Ergriffene Seele« mit der »Sehnsucht nach dem Urbild des Schönen« verstanden wird (in Phaedros und Timaios). Abgeklärt zum Seelenfrieden liefert Wagner noch einen symbolischen Bezug zum ›Wahn‹ mit seinem letzten Refugium, seiner Bayreuther Villa. Für deren Fassade entwirft er eigenhändig die Devise: »Hier wo mein Wähnen Friede fand – Wahnfried – sei dieses Haus von mir benannt.« Womöglich ist damit nur der Frieden für sein letztes ›Wähnen‹ gemeint, den Parsifal. Er aber beschwört eine Erlösungshoffnung, die es in den ›Wahn‹-Bezirken des Rings nicht gibt. Seine abgründigen Schatten aber brachen kaum allein mit Feuerbach, Schopenhauer und Revolution in Wagners schöpferisches Ingenium ein, sondern, viel plausibler, mit Wesendonck-Verstrickung und Tristan-Verdunklung. Sein schwarzer Eros steht, so scheint es, nicht nur idealistisch für seine »einzige wahre Liebe« und ihre schöpferische Bewältigung, sondern auch als Signatur über einer bedeutungsvollen Veränderung seiner seelischen Empfindungsräume. Herkunft und Qualitäten, die ihn dort ›in-spirierten‹, haben weitreichende Wirkung als Ausdruckswelten in seinem Werk. Und es scheint, als spiegele sich die abgründige Natur dieser geistigen ›Aura‹ in vielen Aspekten ihrer prekären Wirkungsgeschichte – bis heute.42 42

Von hier aus werden die immer wieder thematisierten Affinitäten zur nationalsozialistischen Ideologie, bis hin zur persönlichen Fasziniertheit Adolf Hitlers viel verständlicher als allein durch die antisemitischen Äußerungen Wagners. Denn sein Antisemitismus unterscheidet sich kaum wesentlich von verbreiteten diesbezüglichen Auslassungen des 19. Jahrhunderts, etwa bei französischen Frühsozialisten wie Pierre-Joseph Proudhon bis zum Berliner Antisemitismusstreit der 1870er Jahre zwischen Heinrich von Treitschke und Theodor Mommsen oder bei Karl Marx. Dessen gesellschaftskritische Äußerungen in seinem Aufsatz Zur Judenfrage (1843) folgen mit der radikalen Verdammung von »Schacher« und der »Macht des Geldes« sowie der Forderung nach dem »Ende der Geldherrschaft« verblüffend ähnlichen Gedanken wie Wagners Text Das Judentum in der Musik (1850), der allerdings wesentlich motiviert durch eine rachsüchtige Abrechnung mit Meyerbeer und Wagners desaströsen Paris-Erfahrungen erscheint. Dagegen schlägt das dämonisch-anarchistische Potenzial seines Ring-Finales, ähnlich wie die abgründige pagane Verfallenheit der Tristan-Welt, durchaus eine mentale Brücke zu den fatalen Untergründen der Nazi-Bewegung und ihrer Ideologie mit ihren ›Wahnwelten‹, samt ihren realen, finalen Untergängen. Das betrifft ihre Anfänge unter Einfluss eines esoterischen Umfelds bis zu ihren Symbolikonen aus dem Okkultismus (siehe Kapitel X), besonders aber die dramaturgische Verbindung von Mythos, Rausch, germanischem Götterszenario und einer Revolution gegen bestehende Gesellschafts- und Weltordnungen samt dem destruktiven Untergangs-Katastrophen-Modus aus Wagners Ring-Welt. Wirkungspsychologisch aber wieder entscheidend: ihr sinnlicher Transport mittels eines Suggestionspotenzials ähnlicher ›magischer‹, also psychotroper Qualität – wieder ist die Musik das effektivste Trägermedium, wie es schon Kierkegaard an Mozarts Don Giovanni so verstörend erfährt. Wagner kann zwar nicht haftbar gemacht werden für die spätere Besetzung seines Werks durch die Nazi-Bewegung, wie es eine simple, posthume Nazifizierung gerne unternimmt (etwa bei H. Zelinsky, Richard Wagner – ein deutsches Thema, Frankfurt a. M., 1976 und R. W. Gutman, 1968). Aber im Rauschhaft-Mythisch-Germanischen stiftet er durchaus subkutane Muster wahlverwandter Affinitäten.

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Befreiungen: Bürgerliches Lustspiel und arkanes Bühnenweihfestspiel Immerhin findet Wagner mit den Meistersingern von Nürnberg und Parsifal eine Befreiung aus der Ring-Sphäre. In den Meistersingern, deren Grundkonzept er schon, wie das von Lohengrin, 1845 entworfen hat, vollendet dann 1867, ›erdet‹ vordergründig solider Realismus einer natürlichen, geschlossenen Lebenswelt das Sujet. Und das Narrativ zeichnet mit volkstümlichem Idealismus und artigem Pathos eine offenbar intakte bürgerlich-nationale Gesellschaft. Aber auch hier ist wieder eine schicksalhafte Liebesbeziehung zentrales Motiv der Oper – jetzt als Konflikt mit tradierter gesellschaftlicher Konvention. Weil es wieder die gleiche Konfliktlage einer fatalen Liebes-Verfallenheit zwischen der bürgerlichen Eva Pogner und dem Aristokraten Walther von Stolzing wie bei Tristan und Isolde ist, sind hintergründig auch wieder Wagners zentrale Lebensthemen präsent. Auf diese Verbindung weist er selbst hin: Mein Kind, / von Tristan und Isolde / kenn’ ich ein traurig’ Stück: / Hans Sachs war klug und wollte / nicht von Herrn Markes Glück« (Hans Sachs zu Eva im dritten Akt, musikalisch begleitet von einem Tristan-Zitat). Und wieder ist es eine Abrechnung mit etablierten ›Ordnungen‹, hier mit denen der Philister und ihren ›zünftigen‹ Regelzwängen. Zwar kann man die lehrhafte Einführung in die Regeln der Meistersingerzunft mit Barform und Stollen als gleichzeitige Einführung in gesellschaftliche Normen und Muster verstehen. Weil aber erst ihre schöpferische Überschreitung durch den echten Künstler wahre Kunst zu erschaffen vermag, persifliert sie Wagner mit beißender Schärfe. Er verspottet die Regelfuchserei eines blutleeren Formalismus in der Gestalt von Sixtus Beckmesser und in der Glossierung der Zeremonien der Meistersingerzunft mit ihren Tabulaturgesetzen und Fehlerregistern als Gegensatz zu einer Ausdruckskunst aus innerer, emotionaler Bewegtheit bei Hans Sachs. Deshalb verfallen auch Choral wie christliche Taufe der Parodie (3. Akt, 4. Szene), ebenso wie im Ständchen »In stiller Nacht« auch Sixtus Beckmessers ›Kunst‹ mit ihren zahllosen falschen und sinnwidrigen Wortbetonungen und unbeholfenen Koloraturen. Damit karikiert Wagner nicht nur das Genre der populären zeitgenössischen Opernarien von »welschem Dunst und welschem Tand«, sondern auch seine eigenen Kritiker. Denn der ›Merker‹ der Richtergilde sollte im ersten Textentwurf von 1861 »Veit Hanslich« heißen und meinte damit den bösen Wiener Großkritiker Eduard Hanslick. Obwohl auch die Meistersinger nicht auf Leitmotivik und chromatisch erweiterte Diatonik verzichten, greift Wagner zur Beschwörung des ›altdeutschen‹ Ambientes in der Kulisse des mittelalterlichen Nürnberger Lokalkolorits auf musikalische Elemente der Tradition zurück. Dazu gehören Kontrapunkt, Fugen, figurative Themen und regelmäßige Kadenzen und eine Gliederungsstruktur durch Orchesternach- und zwischenspiele, sowie Anspielungen auf den protestantischen Choral und das deutsche Volkslied. Wagner verschafft sich dafür eigens eine Sammlung alter Choräle und die Deutschen Volkslieder von Ludwig Erk. Aber er benützt das nur wie eine assoziative, historistische Stilkulisse, nach ähnlichem Verständnis wie

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Schumann, Brahms und Liszt. Damit erschafft er das Szenario einer vertrauten, bürgerlichen Welt mit ihren ausgeglichenen sozialen Kräften samt einem versöhnlichen Ausgang der Liebeskonstellation. Ihr ›teutsches‹ Traditionsambiente wurde dann auch in der Wirkungsgeschichte des Werks gern als ›Festoper‹ nationalpathetischer Beschwörung plakativ in den Vordergrund gestellt. Musikalisch befreit sich Wagner vom katastrophalen Ring-Ambiente, obwohl er dramaturgisch durchaus bei seinen Grundthemen bleibt.

Erlösung dem Erlöser Auch in seinem letzten Werk, dem Parsifal, umkreist Wagner seine zentralen Lebensthemen. Auch hier verwandelt er einen alten Mythos in einen neuen, den seinen. Die Vorlage des Epos von Wolfram von Eschenbach dreht sich keineswegs allein um Parzival, der dort übrigens verheiratet ist, sondern erzählt von einem ganzen Ensemble von Liebes- und Ehepaaren.43 Bei Wagner aber gibt es keinen Ehegatten Parzival und im originalen Epos ist Liebe keine Sünde, sondern Liebesglück ohne ein einziges Wort der Verdammnis. Bei Wagner aber ist Liebe wieder fataler Eros sexus, der in leidvolle, verdammenswerte Schuldverstrickung führt: Gralskönig Amfortas, der bitter für seine sexuelle Begegnung mit Kundry, der »Zauberplag« des Geschlechtsverkehrs, büßen muss und Parsifal, der nach dem Kuss der Kundry zwar »welthellsichtig« wird, aber schmerzvoll ruft: »O Qual der Liebe«. Nicht weniger dramatisch beim Zauberer Klingsor, der sich selbst entmannt, um »von des ungebändigten Sehnens Pein, schrecklichster Triebe Höllenzwang« loszukommen. Im originalen Epos Wolframs von Eschenbach wird er allerdings vom Gatten seiner Geliebten, der Königin Iblis von Sizilien, in flagranti ertappt und »mit einem Schnitt zum Kapaun« entmannt. Schließlich wird aus der Gralsbruderschaft, in der Männer und Frauen in freiwilliger Keuschheit dienen, deren König sogar heiraten darf, bei Wagner ein neurotischer Männerbund, dessen »Brüder in grausen Nöten den Leib sich quälen und ertöten«. Der edle Gralsritter Gurnemanz spricht von der »bösen Lust«, zu der Klingsors Blumenmädchen, die »teuflisch holden Frauen«, seine Gralsritter versuchen und Kundry ist die »Ur-Teufelin«, die »Höllen-Rose« oder »des Teufels Braut«, die erst durch Parsifals christlichen Taufakt »erlöst« zu werden vermag (»Die Taufe nimm, und glaub’‹ an den Erlöser«, 3. Aufzug, an der Quelle). Damit bleibt wieder ein problematischer Eros zentrales Thema: in der männlichen Welt als Umgang mit ihrer Sexualität, in der weiblichen mit ihrer verführerischen Sinnlichkeit. Beides, laszive Verführung wie brünstiges Begehren, exemplarisch personifiziert im triebhaft-naiven Ur-Weib Kundry, soll mit der Kraft 43

Vgl. zu den Unterschieden zwischen Wolframs Epos und Wagners Libretto: V. Mertens, Richard Wagner und das Mittelalter, in: Wagner Handbuch, hg. v. U. Müller u. P. Wapnewski, Stuttgart 1986, S. 50–55.

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der Entsagung überwunden werden. Dadurch kann schließlich der böse Zauber Klingsors gebannt werden, die Wunde von Amfortas geheilt, die Gralsritter befreit und Kundry erlöst. Aber Parsifals messianisch getönte Zurückweisung Kundrys »Auch dir bin ich zum Heil gesandt, bleibst du dem Sehnen abgewandt« endet mit den verzweifelten Versen: »Oh, Elend! Aller Rettung Flucht! / Oh, Weltenwahnsinns Umnachten: / in höchsten Heiles heißer Sucht /nach der Verdammnis Quell zu schmachten!« (2. Aufzug, Schluss). Das thematisiert eine perfide Dialektik zwischen Kundrys Sündhaftigkeit und ihrer Erlösungssehnsucht, wie sie sich in Wagners erstem Prosaentwurf von 1865 findet. Danach besteht Klingsors Macht über Kundry nicht in seinen Zauberfähigkeiten, sondern in dem Zwang, den er auszuüben vermag, wonach Kundry ihre Erlösung in der Sünde suchen muss: Nicht Verzicht auf die Sünde vermag sie zu befreien, sondern nur die immer neue Wiederholung der Sünde. Dieses Paradoxon einer Hingabe an die ›Sünde‹ des Geschlechtlichen als Voraussetzung zu einer Erlösung davon entwirft Wagner bereits früher, nämlich für die Figur des Lohengrin, wie er Cosima in einem Gespräch erläutert (1.3.1870). Jetzt bestimmt das gleiche frivole Junktim auch die tragische Natur von Kundrys Eros: »Endlich Zwiespalt in Kundry’s Seele: Hoffnung auf Erlösung – durch ihre [Kundrys] Besiegung – dann aber wahnsinniges Verlangen nach einem letzten Liebesgenuss« heißt es über diese dialektische Konstruktion ihrer Gefühlswelt im Prosaentwurf.44 Genau diese Dialektik ist aber Wagners Thema: »Wagners Moral ist eine Moral der Sünde« (Dieter Schickling). Am 13./14. März 1877 ändert Wagner den Namen des Titelhelden von Parzival in Parsifal im Glauben an eine (falsche) persische Etymologie ›Fal parsi‹ als ›der törichte Reine‹. Schon einen Monat später liest er die gesamte Dichtung Cosima vor: späteste Frucht einer Idee bereits aus der Tristan-Zeit von 1854. Zwar kannte er das Epos bereits aus verschiedener Lektüre in seiner Pariser Zeit (1839–1842) und in Marienbad (1845): Christian Theodor Ludwig Lucas’ Schrift Über den Krieg von Wartburg, Wolfram von Eschenbachs Parzival und Titurel sowie Gervinus Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. Für 1857 reklamiert er aber dann in seiner Autobiographie Mein Leben das Karfreitags-Ambiente am Zürichsee als Inspiration zu einer (verschollenen) Prosaskizze des Dramas. Erhalten ist allerdings nur der Entwurf von 1865, das Jahr der Tristan-Uraufführung. Er fertigte ihn für den nach einem Parzival verlangenden Bayern-König Ludwig II. Aber eine unterirdische Tristan-Thematik scheint wirksam zu bleiben, denn über die Rolle von Amfortas, dessen erotische Schuld-Wunde zum zentralen Motivkern des Werks zählt, schreibt er 1859 an Mathilde Wesendonck: »mir wurde plötzlich schrecklich klar, es ist mein Tristan des dritten Aktes mit einer undenklichen Stei44

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Vgl. Cosima Wagner, Tagebücher, Bd. 1, 1869–1872, München 1976, S. 203 und Richard Wagner, Das Braune Buch. Tagebuchaufzeichnungen 1865–1882, vorgelegt u. kommentiert v. J. Bergfeld, Zürich u. Freiburg 1975.

gerung«. Und auch über Kundry, als ein »wunderbar weltdämonisches Weib« und ihre dramaturgische Gestaltung als Doppelwesen zwischen Gralsbotin und »verführerischem Weib«, berichtet er 1859 und 1860 an Mathilde. Aber während im historischen Epos diese Wunde eine Verwundung des Geschlechts ist, zeichnet sie Wagner um zur »Wunde, wie sie der Erlöser am Kreuze empfing, durch die er sein Blut vergoss aus mitleidender Liebe für die jammervolle, sündige Menschheit«. Damit bekennt sich Wagner nicht nur zum Mitleid als neuer Größe in seinem Ausdrucksbedürfnis: »die Lieblosigkeit der Welt als ihr Leiden zu erkennen« (Wagner, Nachtrag zu: Religion und Kunst, 1880). Es ist auch ein Bekenntnis zu Gewaltlosigkeit und Pazifismus: Im ganzen Werk wird nur ein Schwan getötet. Schließlich spielt es auch eine neue dramaturgische Rolle im Wandel vom bloß ›wissenden‹ Parsifal zum »Durch Mitleid wissenden« durch Kundrys Kuss, genauso wie im Verständnis von Amfortas Wunde: »Gesegnet sei dein Leiden, des Mitleids höchste Kraft …«. Damit verklärt eine neue christliche Aura die alte, heidnische des Mythos wie auch die archaische des nur Libidinösen und taucht das personale Erlösungsdrama in das Licht eines sakralen ›Mysterienspiels‹. Deswegen streicht Wagner auch aus seinem Prosaentwurf das Bild, in dem Amfortas »eine hochaufgerichtete Lanze mit blutiger Spitze nachgetragen« wird – zu verräterisch deutbar als ein phallisches Symbol, mit dem womöglich der sexuelle Bezug aus dem Epos viel konkreter bewahrt würde.45 Die Lanze, der Speer, äußeres Zeichen für den Verlust der Gralsgnade, weil im Kampf gegen Klingsor verloren, zugleich aber Therapeutikum für Amfortas Wunde, wandelt sich zur christlichen Reliquie. Der Gral als Trinkschale für das Blut Jesu, das Kreuz als Instrument des Exorzismus, mit dem der Lustgarten Klingsors und seiner Blumenmädchen schließlich zur Einöde vergällt wird (Ende 2. Aufzug), der christliche Passionsgedanke als Kern der Mitleidens-Empathie, das Abendmahl und der Karfreitagszauber: sämtlich Ingredienzien eines christlichen Erlösungsszenarios. Deswegen wird das Werk von einer bedeutungssuchenden Nachwelt gerne als ›Christus-Drama‹ verstanden, paradox sogar »als christliche Naturmusik« (Ernst Bloch) oder progressiver als »Kultdrama« im Zeichen einer globalen Menschenliebe in »ökumenischer Synthese von christlich und buddhistisch« (Hans Küng). In seiner modernsten Lesart wird es zum säkularisierten Karfreitagsritus, mit dem ein bildungsbürgerliches, aber ›aufgeklärtes‹ Publikum sein Osterfest als edle Alternative zu Bachs Matthäus-Passion begehen kann. Das ist ein ähnlicher Bewusstseinswandel wie von der katholischen Messa da requiem zum säkularen Deutschen Requiem bei Brahms. 45

»Das aufgerichtete Glied des Amfortas ist an der Spitze verletzt – Folge seiner sexuellen Verbindung mit Kundry … die Klingsor ihm zur Verführung untergeschoben hat«, so interpretiert von Dieter Schickling, Abschied von Walhall. Richard Wagners erotische Gesellschaft, Stuttgart 1983, S. 45.

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Gleichzeitig mischt sich in den alten Polaritätskonflikt von geschlechtlicher und spiritueller Liebe, dem Urthema des Erotikers Wagner, die Ahnung einer anderen, höheren Auflösung der quälenden Problematik: die Synthese von Weib und Mutter. In der raffinierten Verführungsszene von Kundry – Parsifal (2. Aufzug) finden die ›Große Mutter‹ mit der Enthüllung von Parsifals Herkunft und das ›Weib‹ als Sexualpartnerin mit ihrem Lustangebot zueinander. Das wäre eine Versöhnung von naturalistischem Weibes-Archetypus und einer chthonischen Mutterwelt, in der sich nicht nur die transzendente Identität von Kundry als ein ›Prinzip‹, sondern auch ihr höheres Imago eines ›ewig‹-Weiblichen manifestieren würde. Wie schon bei der Erscheinung der Ur-Mutter Erda im »Schoß der Welt« in der Walküre oder am deutlichsten in der Schlussszene von Siegfried im Liebesdialog mit Brünnhilde: »O Heil der Mutter, die mich gebar«, wäre das der Entwurf einer großen Konjunktion von ›Großer Mutter‹, Gefährtin, Geliebter, Sexualpartnerin, Inzest-Schwester – und Anima.

Heller Mythos: Der Gral Hinter allen der alten, dramaturgischen Chiffrierungen von Eros und Erlösung aber leuchtet ein geheimnisvolles Gebilde: der heilige Gral. Er ist zentrales Symbol und statischer Kern des Werks, um den sich alles Geschehen bewegt. Mag man schon die ›christlichen‹ Insignien genauso wie die schopenhauerisch-buddhistischen als eine Art von ›transzendentem‹ Glanz über dem Erlösungsdrama bewerten – es ist aber der Gral, der dafür zum bedeutungsvollsten Bezug wird. Mit ihm bringt Wagner, wie bereits im Lohengrin, eine besondere Sphäre in das Opus, die bereits in den mittelalterlichen Quellen der Legende eine Aura von tiefem Geheimnis besitzt. Im Lohengrin wird der lichte Ritter »in ferne Land’ entsendet, zum Streiter für der Tugend Recht ernannt« – aber nicht nur als Beschützer Elsas im Auftrag des Grals, sondern auch noch mit dem weltlich-politischen Auftrag eines Heerführers und »Schützers von Brabant«. Dramaturgisch zentral ist dort aber nicht der Gral, sondern Wagners Urthema erotischer Erlösung. Für Lohengrin ist sein Abstieg ins Menschliche mit der erotischen Liebe zu einer Frau sein Erlösungsweg. Für die Frau aber gehört dort zur ihrer Erlösung, dass sie nicht fragen darf, wer er ist. Das wäre, profan vereinfacht, nichts anderes als die Situation einer Prostituierten: Sex mit einem Unbekannten. Und eine Form gleicher Sündhaftigkeit, wie sie, viel delikater, auch für die Gralsritter im Parsifal problematisiert wird.46 Wenn Wagner die mythische Sage jetzt in seinem letzten Opus zum hermetischen Angelpunkt macht, könnte das, unter dem Aspekt einer Schau auf sein ganzes Werk, womöglich als eine positive Erlösungs-›Antwort‹ auf das katastrophale Untergangsszenario der Götterdämmerung verstanden werden (Hans Küng). Dann

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Wie es D. Schickling (1983), S. 276, entwickelt.

wäre es, wieder vordergründig, vom überlieferten Mythos inspiriert, aber hintergründig von einem tieferen Ahnungsvermögen durch die heilige Grals-Legende. Zwar wieder verwoben in ein vom Eros sexus imprägniertes Narrativ, würde sich Wagner zuletzt einem bedeutungsvollen Symbol des Numinosen nähern. Es ist die uralte Legende, die seit dem 12. Jahrhundert das abendländische Mythengedächtnis wie eine Art Archetyp durchzieht. Seine zentrale Quelle ist Perceval le Gallois ou le Conte du Graal, verfasst von Chrétien de Troyes zwischen 1179 und 1191, dann übersetzt, erweitert und zu Ende gedichtet von Wolfram von Eschenbach als Parzival (1200–1210). Er selbst gibt noch eine andere Quelle dafür an und sein Versepos wird auch schon früh mit der aus keltischen Quellen und der, aus dem britannischen Sagenkreis stammenden König-Artus-Sage verbunden, La Quȇte du Saint Graal, als Teil des anonym überlieferten Romanzyklus LancelotGraal, um 1215/30. Dort tauchen auch die Ritter aus der Tafelrunde von Artus auf, darunter Perceval, die den heiligen Gral suchen und finden. Aber es finden sich auch Verbindungen zu den Tempelrittern als Vermittler von Quellen der Sage aus dem Heiligen Land, vielleicht als zeitweilige Hüter des Grals sowie zu christlichen Überlieferungen. Dort erfährt der Gral seine Konnotation mit dem ›Blut Jesu‹, entweder verwandelt zum Kelch in der christlichen Eucharistiefeier des ›letzten Abendmahls‹ oder real als Gefäß für das Blut von Jesu in seinem Kreuzestod. Von da aus hat sich auch die wahrscheinlichste Etymologie des Worts für ›Gefäß‹ durchgesetzt, wie sie in den christlichen Versionen mit den drei durch Josef von Arimathia überlieferten Gefäßen tradiert wird, obwohl es sich in anderen Fassungen auch um einen ›kostbaren Stein‹ handeln kann. Verstanden wird der Gral jedenfalls immer als eine Art magisches ›Heiligtum‹ mit wundersamer Kraft. Die Vielzahl der Bezüge, wie auch die Verbindung zu älteren orientalischen Quellen zeigt, dass es sich offenbar bei den mittelalterlichen Sagenquellen nur um einen Überlieferungsstrang aus einer viel umfassenderen Mythentradition handelt. Dort taucht er als Topos hinter verschiedenen Erscheinungsformen immer wieder auf: im indischen Mahabharata, in altägyptischen, persischen und jüdischen Quellen (dort als ›Bundeslade‹), aber auch in antiken griechischen, keltischen und gnostischen Texten. Ist es dort oft ambivalentes Symbol, so ist es beim sagenhaften antiken Hermes Trismegistos in seinem Corpus Hermeticum, wie bei der Kaaba von Mekka, ein besonderer ›Stein‹ oder in der Alchemie des Mittelalters als splendor solis der »Stein der Weisen«.47

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Vgl. H. Kahane u. R. Kahane, Artikel »The Grail«, in: The Encyclopedia of Religion, hg. v. M. Eliade, Bd. 6, New York 1995, S. 89–94; K. Burdach, Der Gral. Forschungen über seinen Ursprung, Darmstadt 1974; V. Mertens, Der Gral. Mythos und Literatur, Stuttgart 2003, sowie eine konzentrierte Übersicht bei Susanne Vill unter »Gral« in: Das Wagner Lexikon (2012), S. 276. Profundere Hinweise über den letzten, tiefsten Hintergrund der Grals-Sage finden sich bei Bȏ Yin Râ (1927), S. 15 ff.

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Als Kern der Grals-Sage transportieren diese Mythen verhüllt und mannigfaltig travestiert offenbar ein besonderes Wissensgut über die geheimnisvolle Manifestation einer Verbindung zwischen der Menschheit und einer numinosen Sphäre. Es ist wie eine uralte Ahnung um eine verborgene, gut gehütete Heilsquelle mit ihren Wächtern, aus der magische Kraft, Erkenntnis und Erlösungshoffnung fließen, ein lebendiger Born aus der sich, so heißt es, die Wurzeln aller großen Weisheits- und Religionssysteme und ihrer Stifter speisen. Damit verbirgt sich im Grals-Symbol die konkrete Matrix eines hintergründigen Bezugs zum Göttlichen, nicht nur unverlierbar tradiert in orientalischen und abendländischen Quellen, sondern auch noch in den theosophischen und anthroposophischen Lehren der Neuzeit präsent. Wagner greift das legendäre Symbol auf – nicht als Eingeweihter und Wissender, schon gar nicht als Adept von ›Geheimlehren‹ und auch nicht als Sucher oder Gläubiger – aber als schöpferischer Künstler, der hellsichtig, ›seelisch‹ und ahnungsvoll aus jenen Inspirationen »schöpft«, wie sie Platon dem ›mantischen‹ Seher aus der ›Ergriffenheit der Seele« zuerkennt. Hier erweist er sich wieder als das sensible Medium, dem sich in seiner musikalischen Genialität nicht nur die dunklen Arkana des Rausches verdanken, sondern auch die ›hellen Höfe‹. Als Grals-Symbol wählt er für sein Parsifal-Drama den Kelch des letzten Abendmahls, wie es in der Version von Joseph von Arimathia als Gefäß überliefert ist, mit dem das Blut Christi aufgefangen wurde. Das ist immerhin dasjenige des ›Erlösers‹. Wo er musikalisch zum ›Leuchten‹ gebracht wird, wählt Wagner, der Virtuose komplexer Tonartenalchemie, das lichte, einfache C-Dur dafür. Auch sonst trägt Wagner dem helleren Sujet mit einer anderen Orchesterdiktion Rechnung. Er reduziert das massive Ring-Orchester und konzentriert den musikalischen Satz. Zwar bleiben die Errungenschaften der raffiniert gemischten Klangvaleurs in Kraft, besonders deutlich in den exquisiten Bläsermischungen zwischen Holz-, Blechbläsern und Hörnern. Auch viele vertraute Reizmittel der Spannungsaufladung: unaufgelöste Dissonanzen, wie im Schluss des Vorspiels mit dem offenen Dominantseptakkord in As-Dur oder dem verminderten Septakkord mit der None des Grundtons, wie im Ausbruch von Parsifal: »Amfortas! Die Wunde!« (2. Aufzug) sowie die Vermeidung dominantischer Verbindungen zugunsten der subdominantischen wie im Grals- und Glaubensmotiv. Auch als Ausdruckschiffre für Kundry wählt er eine expressionistisch-dissoziierte Faktur. Aber es gibt auch lapidare Bläserchoräle und Anklänge an modale Kirchentonarten. Bewusst dosiert Wagner seine Mittel behutsam und äußert dazu, dass »das affektvoll Sensitive des Tristan und auch der Nibelungen gar nicht ginge«, sondern nur »eine ganz verschiedenartige Instrumentation von der des Rings«.48 Dazu kommt der langsamere Duktus mit enigmatischen Generalpausen, lastenden Fermaten und einer Verschleierung des Metrums durch Synkopen. Nirgends gibt es so

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Zu Cosima Wagner am 19.4.1879, vgl. Tagebücher, Bd. 2 (1977), S. 333.

viele Anweisungen zu langsamen Tempi wie im Parsifal. In sich kreisende Klangflächen und ein abgedunkeltes Klangbild mit der Haupttonart As-Dur, wirkend wie ein verschattetes A-Dur, dazu viele B-Tonarten: »… O die Musik – man wird erst hier sehen, was für eine Möglichkeit der Klage in der Wonne sie enthält«, bemerkt er zu Cosima.49 Trotz der tonartlichen Abschattungen dominiert die Diaphanie einer transparenten Satzstruktur. Bezeichnenderweise trägt sich Wagner zu dieser Zeit immer wieder mit Gedanken an die Komposition ›Absoluter Musik‹. Er denkt an »einfache unproblematische« Sinfonien und beschäftigt sich verstärkt mit Bach. Das gilt besonders, wie Cosimas Tagebücher belegen, während der Komposition des dritten Aktes: »Unermüdlich muss ihm der geduldige Joseph Rubinstein Bach vorspielen, und oft geht das eine in das andere über«: »Abends ist es ihm recht, etwas Whist zu spielen, dann aber feiern wir Bach’s Geburtstag durch Fugen aus dem Wohltemperierten Klavier und durch den Einzug von Parsifal in die Burg bis zum Erscheinen von Titurel’s Leiche«.50 In dieses Ambiente passt, dass Wagner auch eine alte Melodie einfließen lässt, nämlich das Salve regina coeli. Überliefert unter der Bezeichnung ›Dresdner Amen‹, fungiert sie als Gralsmotiv und Symbol der Keuschheit. Aber auch der Tristanakkord taucht nochmals auf (3. Aufzug, Takte 456, 458, 460). Es ist die Szene, wo Kundry dem ohnmächtigen Parsifal Wasser holt – womöglich verfängliche Reminiszenz an die Chiffre erotischer Sehnsüchte, wie gehabt? Schließlich verklärt Wagners untilgbarer Erlösungs-Topos den Epilog des ätherischen Instrumentalnachspiels. Musikalisch wird der unaufgelöste Dominantseptakkord auf Es am Ende des Vorspiels (»Sollen wir hoffen?«) im Finale zur Tonika von As-Dur aufgelöst. Im Hauptthema lässt er die Schmerzensfigur, das Motiv der Heilandsklage, im Schlusschor weg. Aber im Narrativ bleibt Wagner obskurer als je zuvor – mit dem ambivalenten Schlussrätselwort »Erlösung dem Erlöser«. Enigmatisch entlässt es uns und seine Deuter, die sich daran, genau wie bei Tristan und Götterdämmerung, bis heute versuchen: Wem gilt es? Gilt es Parsifal, der Wagners dialektischen Erlösungstopos nicht erfüllt, weil die Suche nach Lust demnach eine notwendige Bedingung auf dem Weg zur Erlösung wäre – obwohl sich der ›reine Tor‹ dieser ›Sünde‹ gar nicht hingegeben hat (Dieter Schickling)? Oder gilt es Amfortas, »auf daß er seiner Schuld und Torheit enthoben und von der anstrengenden, autoritären Rolle als Gralshüter erlöst würde« (Martin Gregor-Dellin)? Oder dem ganzen Gralskult als Erlösung aus schuldbefleckten Händen (Melanie Wald-Fuhrmann)? Oder gilt es gar Jesus, weil der durch 49

Am 6.12.1881, vgl. Tagebücher, Bd. 2 (1977), S. 841.

50

Cosima Wagner am 21. 3. 1879, vgl. Tagebücher (1977), S. 319. Peter Wapnewski bringt Musik und Symbolik von Parsifal in enge Verbindung zu Bachs Matthäus-Passion, deren Erstdruck (Berlin 1830, bei Schlesinger) Wagner in seiner Wahnfrieder Bibliothek besessen hat, vgl. Eines Königs Passion oder: Amfortas in Christo – Wagner in Bach, in: P. Wapnewski (1978), S. 252–268.

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den reinen Arier Parsifal »als vom Judentum gereinigter, arischer sündeloser Jesus« erlöst wird (Hartmut Zelinsky)? Oder steht es schließlich darüber hinaus für die »Purifikation eines entarteten Christentums« mit der »Erlösung des mitleidigsten Menschen Christus von seiner posthumen, durch die ›Kirche‹ vorgenommenen Vergottung« (Wald-Fuhrmann), gar dem »erlösungsbedürftigen Willensverneiner, weil die gesellschaftlich-politische Realität seinem Selbstopfer Hohn spricht und es deshalb von den Menschen abhängt, ob sie seinem Vorbild – dem ›Mitleid‹ – folgen wollen« (Stephan Mösch)? Oder sollte man, fast kryptisch wie Wagner,: »gut daran tun, die Formel vom erlösten Erlöser theologisch nicht zu überziehen, sondern als Summe des Lebenswegs von Parsifal interpretieren« (Hans Küng)?51 Wagner selbst aber entzieht sich, noch mehr als bei anderen Finales, jeder Eindeutigkeit. Damit demonstriert er nochmals einen Zug seiner Mentalität mit ihren Zwiespältigkeiten: Ambivalenzen als Enigma, das Unaufgelöste als Faszinosum, von den chromatischen Leittonspannungen bis zur suggestiven Magie eines »Wähnens« zwischen wahnhaften Dunkelheiten und hellen Ahnungen. Ist es, aus Sicht musikgeschichtlicher Deutung, ein morbides ›Alterswerk‹ – oder neue narrative Annäherung an alte große Topoi mit Gral und Kreuz nach Revolution, Anarchie, Eros und Gold? Ist es endlich ›Wahn-Fried‹ oder blanker ›Religiöser Atheismus‹ (Ulrike Kienzle)? Eine »Verklärung eigener, zutiefst verinnerlichter Schuldgefühle«, aber auf jeden Fall »Tragödie« (Egon Voss) – oder bloß »dekadent« wie Nietzsche, der abtrünnige Freund aus einer ›Sternenfreundschaft‹ lästert, befangen in seinen eigenen, verzweifelten Kämpfen mit Christentum und Gott und der zuletzt Wagners Musik ohnehin als »Repräsentant von Décadence« verachtet?52 Ist es bereits eine »statische Partitur« der musikalischen Altersschwäche, die »ein schwarzes Visier« trage, wie Th. W. Adorno befindet? Und der ihr deshalb das »Nachlassen primärer Erfindungskraft« attestiert, um dann, aus seiner ideologischen Deutung der Musikgeschichte heraus, konsequent zu resümieren »Was am Parsifal überdauert, ist der Ausdruck der Hinfälligkeit von Beschwörung selber«?53 In jedem Fall ist es ein Finale – als Auftakt zu einem viel größeren Finale. Wagners Musik erweist sich aus der Sicht des Nachher als Höhepunkt und Abgesang einer musikgeschichtlichen Epoche. Sie ist Apotheose eines abendländischen Idioms, in dem sich noch einmal sein ganzes Ausdruckspotenzial manifestiert, das sich nach

51

Vgl. zu den verschiedenen Deutungen, D. Schickling (1983), S. 269  ff.; P. Wapnewski (1978), S. 249; M. Gregor-Dellin (1980), S. 745; H. Zelinsky, Rettung ins Ungenaue, in: Musik-Konzepte 25 (1982), S. 811; S. Mösch, in: Wagner Lexikon (2012), S. 528; H. Küng (2006), S. 159 sowie eine Analyse der Bedeutungsebenen von Melanie Wald-Fuhrmann, in: Wagner Lexikon (2012), S. 399.

52

Wie es Dieter Borchmeyer herausarbeitet, in: Wagner Handbuch (1986), S. 132–136.

53

Th. W. Adorno, Zur Partitur von ›Parsifal‹, Aufsatz von 1956/57, wiederabgedr. in: Moments musicaux, Frankfurt a. M. 1964, S. 52–57.

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Bach dort akkumuliert hat. Auch wenn es bei Wagner gebunden an das dramatische Narrativ ist – löst sein Werk nochmals exemplarisch alles ein, was ›Musik‹ als autonome Bedeutungsmacht ausmacht. »Musik in ihrer mythenschaffenden Kraft als Ausdruck des ›Weltwillens« und ›eigentliche Idee der Welt‹«, wie es Nietzsche, ganz im Geiste Schopenhauers, überschwänglich in seiner Geburt der Tragödie formuliert. Und wie er Wagner als »Klingsor aller Klingsore« auf den Punkt bringt (Der Fall Wagner), denn: »Er hat erreicht, was noch nie einer erreicht hat: die allerstärkste und deutlichste Sprache des Gefühls …« (Nietzsche, nachgelassenes Fragment von 1875). Damit sind zwar andere ›Gefühle‹ gemeint, als die bei Palestrina, Bach, Mozart oder Beethoven. Aber dem Zauber von Klingsor war beispiellose Wirkung und unabsehbare Dauer beschieden. Wer sich ihm entzog, verweigerte sich vielleicht emotional Suggestion, Rausch und Überwältigung – Eduard Hanslick ist sein prominenter Protagonist. Oder er verweigerte sich ethisch diesen Seelenräumen mit den dunklen Seiten der Dramensujets und ihren Obsessionen. Oder er verweigerte sich ästhetisch den hypertrophen Monumentalitäten von Narrativkomplikation und Klangmassen. Die Anderen aber verfielen in einen Wagner-Taumel, der von seinem Höhepunkt in den 1880er Jahren noch bis weit in die Moderne reichte und nicht nur in der Wallfahrtsstätte ›Bayreuth‹, sondern auf allen Opernbühnen der Welt weiterwirkt.

Nachglanz: Reflexe, Imitationen, Komplexionen Im Genre des Musiktheaters wirkten Wagners Ausdrucksmittel im kolossalen Orchesteridiom und einer entgrenzten Harmonik weiter, teils als bemühtes Epigonentum, teils als hypertrophe Steigerung. Auch die dramatischen Sujets bewahrten Wirkung: was musikhistorisch als Höhepunkt der »Romantischen Nationaloper« beschrieben wurde, strahlt über viele Derivate in Helden-, Mythen-, Märchen- und volkstümlichen Opernnarrativen noch bis weit ins 20. Jahrhundert aus. Eine immense Fülle von Werken aus dem stilistischen Dunstkreis Wagners illustriert es. Sie umfasst von den Opern des Wagner-Sohns Siegfried und dem frühen Guntram von Richard Strauss (1894) bis zu Franz Schrekers schwül-erotisierter Mystik in Der ferne Klang (1912), Die Gezeichneten (1913–15) oder Irrelohe (1919–24), zu Hans Pfitzners nostalgischem Rettungsdrama der Kirchenmusik Palestrina (1917), dem Notre Dame (1914) von Franz Schmidt, zu Walter Braunfelds Die Vögel« (1919) oder Wolfgang Korngolds Die tote Stadt (1920). Noch Alexander von Zemlinsky (1871–1942), Lehrer und Schwager Schönbergs und bedeutender Dirigent, tradiert etwas davon in seinen neun Opern, darunter Der Traumgörge (1904/1906) und König Kandaules(1934) – nicht zu reden von den Vielen der halb und ganz Vergessenen. Damit aber manifestiert sich die Existenz einer veritablen Traditionsschicht als musikgeschichtliche Realität, auch wenn sie unserem aktuellen

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Konzertleben und seinem (musik-)historischen Bewusstsein weitgehend abhandengekommen ist. Deshalb ist es vielleicht nicht ihre musikalische Bedeutsamkeit für uns, die sie als solche legitimiert, bestimmt aber ihre Magnitude. Sie kennzeichnet bereits Siegfried Wagner (1869–1930), der sich zwar vor allem als Verweser des Bayreuther Wagner-Erbes verstand, der aber bei Engelbert Humperdinck lernte und sich zu einem potenten Komponisten entwickelte. Neben Liedern und Konzerten und einer sinfonischen Dichtung schreibt er 18 Opern. Dort knüpft er in seinen Narrativen nicht nur an den mythologischen Historismus zwischen Sagen und Helden seines Vaters an, sondern auch an dessen musikalischen Faktur – wie viele andere der Zeit.54 Eine Vorstellung von Opulenz und Reichtum dieser Tradtionsschicht vermittelt aber erst eine Skizze einiger Namen. Dazu gehören Max von Schillings (1868–1933), damals in bedeutender Stellung als Intendant in Berlin, mit vier Opern (prominent: Ingwelde, 1894, Der Pfeifertag, 1899 und das Hexenlied, 1902; Hans Sommer (1837–1922) mit sieben Opern, darunter Lorelei (1891) und Rübezahl (1904); Felix Draeseke (1835–1913) mit Herrat (1892); Cyrill Kistler (1848–1907) mit Baldurs Tod (1884) und August Bungert (1845–1915) komponiert mit seiner Tetralogie Homerische Welt (1898–1903) ein hellenisches Gegenstück zu Wagners Ring. Dazu gehört auch Ludwig Thuille (1861–1907) mit drei Opern: Theuerdank (1872), Lobetanz (1898) und Gugeline (1901). Er wirkte aber vor allem als Lehrer, in dessen Umfeld sich eine Komponistengeneration formierte, die inwischen als ›Münchner Schule‹ bezeichnet wird. Dort bewegte sich auch der junge Richard Strauss, sie fand aber mit Walter Braunfels, Alexander Ritter, Felix vom Rath, Walter Courvoisier, Clemens von Franckenstein oder Joseph Suder bis Hermann Wolfgang von Waltershausen zu einer eigenständigen ›Moderne‹, die weder WagnerNachfolge suchte noch den Weg in die Atonalität ging.55 Felix von Weingartner (1863–1942), Schüler von Liszt, bedeutender Dirigent, aber auch Komponist und Schriftsteller, schreibt außer acht Sinfonien und Kammermusik einen dreiteiligen Orestes (1902); Wilhelm Kienzl (1857–1941) den bekannten Evangelimann (1895) und Engelbert Humperdinck (1854–1921) komponiert Märchenopern wie Hänsel und Gretel (1893), die noch heute im Repertoire sind. Von Hans Sommer (1837–1922) kennen wir acht Opern, darunter Lorelei (1891), von Julius Bittner (1874–1939) Volksopern wie Die rote Gret (1907) und von Emil Nikolaus von Reznicek (1860–1945) zwölf Opern. Die meisten der Halb- bis Ganzvergessenen komponieren aber auch Klavierund Kammermusik, Violinkonzerte, Lieder, Chorwerke und ›Sinfonische Phantasien‹. Hans Pfitzner komponiert neben seinen fünf Opern an die 100 Lieder und

54

Vgl. Werkchronologie, Biographie und Erläuterungen bei: Peter P. Pachl, Siegfried Wagner. Genie im Schatten, München 1988.

55

Vgl. J. Brandes (2018) u. hier, Kapitel IX, S. 396.

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findet in der Kantate Von deutscher Seele oder im Streichquintett cis-Moll zu einer originären Ausdruckskraft, die bis heute überzeugt. Von Franz Schreker gibt es eine Kammersinfonie und Egon Wellesz (1885–1974), Musikgelehrter und bedeutender Erforscher der byzantinischen Musik, schreibt neun Sinfonien und acht Streichquartette.

Ein Nachher als Weiter: ›Spätromantik‹ Damit kommt alle Musik jenseits von ›Oper‹ in den Fokus. Denn auch dort, in Kammerkonzert, Konzert und Sinfonie wirkt das Wagner-Idiom weiter. Und zwar weit über jene Zäsur hinaus, mit denen man in Literatur- und Kunstwissenschaft den Beginn der ›Moderne‹ um 1880/1900 markiert. Das hat Musikgeschichtsschreibung und Musikkritik in Verlegenheit gebracht. Denn hier hört etwas nicht auf, sondern setzt sich mit opulenter Fülle fort: Das ›Vorher‹ wird nicht dementiert, wie es Avantgardetheorie will, sondern prolongiert. Deshalb belegt man es mit einem Begriff, in dem ein ›Post‹› als ›Spät‹ daherkommt: die Spätromantik – ein diffuser Terminus, der seit Beginn des 20. Jahrhunderts in den unterschiedlichsten Varianten Verwendung findet. Da ist von einer »zweiten Hochphase der romantischen Musik« die Rede (Hans Mersmann), sogar von einer Fortsetzung der Romantik bei Schönberg (Fred K. Prieberg) oder assoziativ von »Nachromantik« (Paul Amadeus Pisk). Von der Avantgarde hingegen wird der Begriff eher abwertend als distinkte Abgrenzung zur Moderne verwendet (wie bei Paul Bekker oder H. H. Stuckenschmidt) und Carl Dahlhaus lehnt ihn als Epochenbegriff ganz ab. Er gebraucht bereits für Wagner den Begriff »Neuromantik«, während die angelsächsische Welt lieber ohne Etikette verfährt, etwa schlicht mit »Music in the Early Twentieth Century« (Richard Taruskin). Guido Adler, akademischer Nachfolger Hanslicks in Wien, meinte vorsichtig, dass zwar die ›Moderne‹ um 1880 beginne, aber Hugo Wolf, Gustav Mahler und Hans Pfitzner noch vom Geist der Romantik beseelt seien. Noch vorsichtiger ist Friedrich Blume: »Ob die Romantik als geschichtliche Epoche zu Ende gegangen ist, weiß niemand« (1962 und 1974). Ähnlich verfährt bereits Ernst Kurth, der eine »Frühromantik« mit Schubert von einer »Hochromantik« bei Wagner und einer »Neuromantik« bei Liszt und Hugo Wolff abgrenzt – aber noch 1925 befindet, dass »es eigentlich kein Ende des romantischen Jahrhunderts« gebe.56 Damit wird orthodoxe Musikgeschichtsschreibung diffus. Denn tatsächlich manifestiert sich hier ein ›offener‹ Strang der Musikgeschichte, mit dem ein Komponieren aus der Tonsprache der Tradition auch nach Fin de Siècle-Dämmerung und Moderne-»Bruch« or-

56

Vgl. E. Kurth, Anton Bruckner, 2 Bde., Berlin1925, Bd. 1, S. 47.

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ganisch weitergeht, wie es bei den amerikanischen Musikwissenschaftlern Richard Taruskin und Edward F. Kravitt (2004) diskutiert wird.57 Was die einen als Fortsetzung verstehen, ist für die anderen die kritische Masse, die zur ästhetischen ›Kernspaltung‹ führt. Als Krisensymptom hat es Ernst Kurth schon 1920 am Beispiel von Wagners Tristan analytisch diagnostiziert.58 Denn die seit Wagner entwickelten Mittel wirken in progressiven Verselbstständigungsprozessen quasi autonom weiter. Was bei Wagner im Tristan-Akkord als AusdrucksChiffre in dramaturgischer Bedeutung gebunden war, bleibt so wenig von seinen Abstraktionen verschont, wie die schroffen, aber gleichermaßen semantisch konnotierten Disparatheiten in Beethovens Spätwerk oder die mediantischen Verwandlungsspiele bei Schubert. Was in Wagners musikalischem Idiom subjektives Zeugnis personalen Ausdruckswillens war, bleibt weder individuelle noch historische Episode. Vielmehr entwickelt es sich im rasanten Individualisierungsprozess der abendländischen Musik zum Paradigma einer neuen musikalischen Bewusstseinslage: ein Pars pro Toto. Gezielte Destabilisierungen tonaler Verhältnisse, Strapazierungen ›scholastischer‹ Satzregeln durch Akzidentien wie in der musica ficta oder intensive Chromatik, regellose Perioden und intrikatere Rhythmik treten in der Musikgeschichte zwar immer wieder auf: im Manierismus der Ars subtilior des 14. Jahrhunderts, wie in der madrigalesken Schmerz- und Liebesleid-Idiomatik von Monteverdi, Marenzio oder Gesualdo bis Orlando di Lasso, genauso wie in der Instrumentalmusik bei den Phantasien von Johann Jakob Froberger bis zu J. S. Bachs Chromatischer Phantasie und Fuge. Aber dort reizen sie nur die Möglichkeiten des Stils aus oder sind verschärftes musikalisches Ausdrucksmittel einer bestimmten Affektwelt, die ins natürliche Repertoire aller menschlichen Empfindungszustände gehört – nicht aber Sinnträger einer neuen Tonsprache oder Mittel einer neuen Ästhetik als Indikator einer neuen Bewusstseinslage. Dort sind sie nur Komplementär der großen Motetten- und Messenkunst und einer magistralen Polyphonie – nicht Protagonisten und Auslöser neuen musikalischen Formulierens. Deshalb bleiben sie dort eingegrenzt als ›Genre‹ und deshalb hatte eine extreme Chromatik wie die von Gesualdo oder Marenzio nichts von der folgenreichen Wirkung eines Tristan. Jetzt bahnen die dort ausgeformten Elemente mit dem Eindringen in die reine Instrumentalmusik aber eine Dynamik an, die zu einer Veränderung der ganzen Tonsprache führt.Was in Liszts Spätwerk episodisch als Entropie aufscheint, wird über Wagners Wirkung folgenreich der »Absoluten Musik« assimiliert: der Sinfonie, dem Streichquartett, der Klaviermusik. Hier ist die ›Deckung‹ als Ausdrucksbedeutung eines dramatischen Sujets mit seinem bestimmten Affektwert, wie es Wagner wieder und wieder, besonders in Oper und Drama, betont, aufgegeben.

57

Vgl. S. Rotter-Broman, Vom Nutzen und Nachteil der Spätromantik für die Musikhistoriographie, in: Die Musikforschung 68 (2015), Heft 2, S. 165–181 u. hier, Kapitel X, S. 672.

58

E. Kurth, Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners »Tristan«, Berlin u. Leipzig 1920.

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Man könnte es als einen jener weiteren Abstraktionsprozesse in der evolutionären Dynamik der abendländischen Musik verstehen, wie er sich bereits in der Intavolierungspraxis am Beginn der Musik für Tasteninstrumente ereignet. Dort hatte sich nach der Übernahme von Vokal- und Tanzmusik in Tavolatura mit den fingerfertigen, haptischen Spielfiguren von Toccaten, Phantasien und Präludien ein materiales Element idiomatisch verselbstständigt. Später wird die vokale Poyphonie in die instrumentale Musik ›abstrahiert‹: Motette, Duett, Ricercar, Fuge. Jetzt werden die Klangaggregate, die im Dienste eines narrativ-dramaturgischen Zusammenhangs standen, als abstrakte Gestaltungsmittel freigesetzt und zu beliebig verfügbaren, autonomen Konstruktionselementen. Als Mittel des componere und als Parameter einer ›Materialbehandlung‹ erhalten sie technische Bedeutung. Damit beginnt aus der Erbschaft Wagners ein musikalisches Denken, das schließlich über die frühe Atonalität bis zum Wechsel der ›Systemebene‹ in der »Neuen Musik« führt und zu einem neuen Musikbegriff. Dieser Prozess zeigt allerdings auch, dass keineswegs alle musikalische Entwicklung ihr notwendiges Ende im Musikdrama findet, wie es Wagner um 1850 apodiktisch verkündet, wenn er in Oper und Drama schreibt, »daß die Symphonie im Musikdrama aufgehoben sei« und dass »Beethovens Neunte« die »letzte Sinfonie« gewesen sei. Auch Debussy vertrat diese Ansicht, genau wie Richard Strauss. Der äußert schon 1888 in einem Brief an Hans von Bülow, dass das Entscheidende »die poetische Idee« sei, mit der man »musikalisch noch weiterkomme«. Tatsächlich aber ist Wagners Erbe weit wirkungsvoller in der »Absoluten Musik« aufgegangen. Sie dominiert, als Manifestation der abstrakteren Bewusstseinslage der anbrechenden Moderne so sehr alles Hören, dass es scheint, als würde sogar die Musik des Musiktheaters »immer öfter als absolute Musik gehört« (Carl Dahlhaus) – nicht zuletzt dank ihrer eigenständigen Verbreitung in der elektronischen Philharmonie des anbrechenden Medienzeitalters. Damit wird die Kammer- und Klaviermusik zum wichtigsten Evolutionsfeld der Neuen Musik. Aber die ›Sinfonie‹ ist damit keineswegs erledigt, denn gleichzeitig bricht ein »Zweites Zeitalter der Sinfonie« an (Carl Dahlhaus), dessen gewaltige Produktion bis ins 21. Jahrhundert anhält.

Im »Zweiten Zeitalter der Sinfonie« – zwei Solitäre: Bruckner und Mahler Die Idee der Sinfonie bleibt bei Schubert, Mendelssohn, Schumann, Brahms bis hin zu den vielen, kaum mehr erinnerten wie etwa Joseph Joachim Raff (11 Sinfonien) oder Nikolai Mjaskowski (27 Sinfonien) eine Herausforderung, die maßgeblich von der klassischen, vor allem der Beethoven’schen Sinfonik, bestimmt ist. Aber sie hält sich auch jenseits dieses Vorbilds als ein repräsentativer Protoyp »Absoluter Musik«. Wie ein geräumiges Gehäuse bringt sie höchst unterschiedliche Form- und Ausdruckskonzepte unter, vom eigenwilligen Solitär bis zur trivialen Stilkopie und

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zur provokanten Antithese, von den ›Klassizisten‹ bis zu Debussy, Sibelius, Nielsen, Franck, Britten, Schostakowitsch und Henze oder Pettersson.59 Sogar noch Philip Glass komponiert 11 Sinfonien und der armenischstämmige Amerikaner Alan Hovhaness bringt es zwischen 1955 und 1991 auf 67 Sinfonien. Zu den eigenwilligen Solitären hingegen zählen, der Bedeutung ihrer Ausdruckswelt nach, die Sinfonien von Bruckner und Mahler. Der erste, Anton Bruckner (1824–1896), ist noch Zeitgenosse Wagners, der zweite schon ein Zeitgenosse Schönbergs und der Moderne. Aber der bescheidene Organist von St. Florian war nicht nur Zeitgenosse des Bayreuther Genius, sondern ein davon zutiefst Infizierter, denn er stand ganz im zeitgenössischen Banne Wagners. Aber während er dort, bei den Wagners in Bayreuth, wenig enthusiastisch als der »arme Organist aus Wien« (Cosima, Tagebücher, 8.2.1875) rangiert, kommt bei Bruckner Wagner gleich nach dem lieben Gott. »Hocherhabener Meister! Erschüttert bis ins innerste durch die Majestät Ihrer unsterblichen Prachtschöpfung …« gratuliert er ihm mit verklärter Inbrunst zum 65. Geburtstag (Brief v. 20.5.1887). 1863 hatte er sein prägendes Tannhäuser-Erlebnis und schon 1865 eilt er aus Linz zur Uraufführung des Tristan nach München, wo er Wagner auch persönlich kennenlernt. Er verschafft dem Finale der Meistersinger in seiner Linzer Liedertafel am 4. April 1868 die Uraufführung, noch vor der ersten Aufführung der Oper in München. 1873 widmet er Wagner die erste Fassung seiner dritten Simfonie, in der sich musikalische Anspielungen aus Tristan, dem Ring und Thannhäuser finden. 1876 ist er zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele mit dem Ring eingeladen und auch 1882 kommt er wieder nach Bayreuth. Trotzdem macht der Sinfoniker Bruckner aus dem bewunderten Klangorganismus des Wagner’schen Dramen-Orchesters etwas völlig anderes. Er setzt nicht auf die Raffinesse des Mischklangs, sondern auf die klaren Konturen der Klanggruppen: hier die Streicher – dort das Blech mit den Tuben und die Dialektik ihrer chorischen Apotheosen – oft eine Art Klangregie nach Registern, vielleicht inspiriert von der Orgel. Damit verwandelt er das Wagner-Orchester aus der paganen Magie des Lasziven in die Emanationen gläubiger Inbrunst, die erotische Ekstase in eine spirituelle: eine verklärte Illumination des Mystischen, die Heiligung des Blechs – Bruckner ›schöpft‹ aus anderen Seelenräumen. Ein sarkastischer Aphorismus meint: »Wagner ist brünstig, Bruckner inbrünstig« (Josef Hofmiller). Auch in der Bauweise des musikalischen Satzes wie im Aufbau seiner Form gestaltet Bruckner eine völlig andere Ausdruckswelt als Wagner. Bruckner ›baut‹ im primären Sinn als ein ›Aneinanderfügen‹ – und obwohl sich durchaus ein Netz motivischer Beziehungen in seinen Sinfonien ausfindig ma59

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Eine Übersicht zur Gattungsgeschichte und die Fülle sinfonischen Komponierens liefern: Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 6, Die Musik des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1980 u. Laaber 1989; Handbuch der musikalischen Gattungen, 17 Bde., hg. v. S. Mauser, Bd. 3,1 und 3,2, hg. v. Chr. v. Blumröder u. W. Steinbeck (2002) S. 125–307.

chen lässt, wird ihre Struktur mehr durch eine »Klanggruppen-Tektonik« (Oskar Lang) bestimmt, mit der er einzelne Teile wie Quader fügt, oft isoliert durch die dramatische Zäsur von Generalpausen. Man hat sie auch als »Zustandskreise« (Oskar Lang) bezeichnet, die ihre individuelle Ausprägung besonders im unterschiedlichen Charakter der einzelnen Sätze finden: im Scherzo oft in einem naturmythischen Ton, im Finale (mit Ausnahme der 7., 6. und 9. Sinfonie) als grandiose Steigerung der Finallogik Beethoven’scher Sinfonik. Aber das ist nicht die Prozesslogik der ›klassischen‹ Sinfonieform, weder mit der dialektischen Durchführungsarbeit Beethovens von »zwei Principien« noch ihrer sanguinisch-bewegten, linearen Impulskraft. Es ist aber auch nicht Wagners »Kunst des Übergangs« mit ihren Tentakeln osmotischer Beziehungspsychologie, sondern mehr ein Additionsverfahren als Zusammensetzung variierter Wiederholungen von Themen, Motiven und Abschnitten musikalischer Sinneinheiten. Sie brechen zwar oft jäh ab, können sogar ins glatte Nichts zerfallen, setzen aber immer wieder neu an wie Stauungen in einem Aufbau epischer Wellenberge. Die führen dann mit himmelstürmenden Steigerungsstrategien zu einer zyklopischen Entfaltung der Klangmassen bis hin zu elementaren Entladungen der vorher akkumulierten Energien. Das könnte man als tektonische Erscheinungsform eines ›diskontinuierlichen Satzes‹ verstehen, der nicht auf den Duktus wechselnder Impulsstrukturen in einem dichten ›Partiturgewebe‹ wie bei den »Wiener Klassikern« setzt, dafür aber auf eine ›energetisch‹ konzipierte Fügung von Klangplateaus, auf die Steigerungswellen in einer »sinfonischen Kraftbewegung« (Ernst Kurth).60 So erscheinen die abrupten Abbrüche gleichsam wie das schroffe Beiseiteschieben nach dem Auftürmen von Hindernissen, um den Einbruch neuer Ausdrucksbezirke zu ermöglichen, wie etwa in der siebten Sinfonie der Übergang zur dritten Themengruppe oder im Finale der sechsten Sinfonie. Damit entsteht ›Form‹ als abgestufte Folge thematisch verschieden konturierter Blöcke: Bruckner demonstriert die elementare ›Kraft des Bauens‹ als ein veritabler Klangbaumeister. Das erfordert vom Dirigenten den langen Atem eines planenden Architekten und vom Hörer ein anderes Hören als für Mozart oder Brahms. Der Dirigent muss ein Stratege des Spannungsaufbaus sein, der Zusammenhänge herstellen soll, andererseits darf er die Drastik von Disparatheiten nicht scheuen. Dieser tektonische Bauwille ist als »quadratisches Komponieren« (Manfred Wagner) bezeichnet worden. Er findet auch Ausdruck in der zentralen Rolle, die weite Intervallsprünge spielen, besonders mit den alten (pythagoreischen) Strukturintervallen von Quarte, Quinte und Oktave: »Urintervalle« (Oskar Lang) oder »Majestas-Symbole (Manfred Wagner).61 Sie bestimmen auch oft schon die Struktur seiner Themen, wie besonders deutlich 60

Ernst Kurth hat in seiner Bruckner-Darstellung (1925) diese Seite der Bruckner’schen Sinfonik besonders herausgearbeitet.

61

Vgl. O. Lang, Anton Bruckner, München 1943, S. 77–79; M. Wagner, Zum Formalzwang im Leben Anton Bruckners, in: ÖMZ 29 (1974), S. 418  ff.; ders., Der Quint-Oktavschritt als

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in der achten Sinfonie, im Unterschied etwa zu Beethoven, der in seinen Themen viel öfter mit Sekund- und Terzintervallen arbeitet. Als weiteres Mittel gewinnt der ›alte‹ Kontrapunkt Bedeutung. Bruckner demonstriert aber damit weniger musikalische ›Logik‹, sondern er wird ihm zum dramatischen Gestaltungsmittel, mit dem er das Diskursive strenger ›Fügung‹ zur sinfonischen Verdichtung und Steigerung nützt, besonders in den Finales. Dort spielt er eine zentrale Rolle bei der ersten Sinfonie c-Moll in ihrer ersten, ›Linzer‹Fassung, sowie in der fünften und der achten Sinfonie. Die c-Moll-Sinfonie beschließt ihr überschäumendes ›Sturm und Drang‹-Szenario mit einem Finale, in dessen turbulenten Spektakel Bruckner alle seine kontrapunktischen Künste bis an die Grenze treibt. Die Fünfte, in B-Dur, ist, wie die Achte, eine ausdrückliche Final-Sinfonie. Bruckner führt dort die kontrapunktischen Zusammenhänge der Themen schrittweise vor und kombiniert sie schließlich im Höhepunkt der Coda mit dem Hauptthema des Finales. Weil es eine Doppelfuge ist, wirken die anderen drei Sätze, mit einer Adagio-Einleitung und dichter thematischer Verknüpfung, nur wie eine Vorbereitung darauf. Ein anderer Höhepunkt ist die achte Sinfonie, wo im Finale alle vier Themen in einer C-Dur-Klangfläche zusammengezwungen werden. Aber neben den türmenden Ekstase-Ausbrüchen stehen, wie bei Beethoven, die feierlichen Adagio-Andachten. Dazu kommt der Choral. Tatsächlich lauten Bruckners häufigste Satzbezeichnungen ›Feierlich‹ und ›Misterioso‹. Die dritte Sinfonie, d-Moll, weist nicht nur die meisten Umarbeitungen und Fassungen auf, sondern hat völlig verschiedene Adagio-Versionen. Ab hier führt Bruckner auch die Wiederkehr des ersten Hauptthemas in den Finalsätzen ein. Das Adagio »Molto lento e maestoso« der Siebten ist eine Trauermusik zum Tod Wagners, samt dem feierlich-dunklen Timbre der Wagner-Tuben. Das Adagio der Fünften ist geprägt von abgründiger Melancholie, im Adagio der Achten scheint der Topos von Erlösungssehnsucht auf. Zu dieser Sphäre gehört auch der Choral. Bruckner gibt ihm aber eine eigene Erscheinungsform. Er ist nicht mehr Zitat oder Melodiegestalt aus dem alten Fundus von Gregorianik und evangelischem Kirchenlied, sondern quasi eine Erinnerung, die nachkomponierte ›Beschwörung‹ seiner Stilsphäre: solemne Feierlichkeit durch die Statik der alten Kantionalsatz-Faktur inmitten der Turbulenzen sinfonischen Geschehens. Erstmals erscheint er in der zweiten, verhaltenen c-Moll-Sinfonie. Dort fallen die charakteristischen Abbrüche von Entwicklungen auf (wie gleich im ersten Satz, der erste thematische Komplex), die epische Breite und die Trennungen der Blöcke durch Generalpausen: fast eine Dramaturgie der Pause. Ähnlich verhalten tritt der

›Majestas‹-Symbol bei Anton Bruckner, in: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 56 (1972), S. 97 ff.

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mystische Choraltonfall auch im zweiten Thema des As-Dur-Adagios auf, zunächst als Pianissimo, als ein von Pausen durchbrochenes Pizzikato der Streicher (Takt 34–46). Am Ende modulieren Diminuendo-Terzen in ein eigenes Zitat Bruckners, seines vierstimmigen Ave Maria von 1856, bevor ein Akkord des Blechs quasi als Interpunktion zur ersten figuralen Variation des Chorals überleitet. Auch im Finale vereint Bruckner Choral und Selbstzitat. Material aus dem Kyrie seiner f-Moll-Messe versetzt er nach Des-Dur und rückt es als Pianissimo-Choral der Streicher an das Ende der Exposition. Damit setzt er einen deutlich markierten Ruhepunkt nach einem furiosen Crescendo im dreifachen Forte, das auf C abbricht (Takt 190–230). Am Eindrucksvollsten schließlich tritt der orchestrale Choral im Finale der Fünften auf. Nach dem Zitat des Hauptthemas vom Anfang der Sinfonie mündet seine komplexe kontrapunktische Durchführung in eine Coda (ab Takt 496). Dort überwölbt ein kompakter, mit Basstuba verstärkter, vollstimmiger Blechbläsersatz – harmonisch unverändert (bis auf die letzten Takte) – im strahlenden Fortissimo den polyphonen Orchestersatz: »Choral bis zum Ende fff.«, vermerkt Bruckner ausdrücklich. Seine Vierstimmigkeit entspricht ganz der Faktur des alten Kantionalsatzes, auch wenn die Stimmen durch Wechsel und Oktavierungen gebrochen werden. Die vier Blöcke entsprechen vier Choralzeilen in paarweiser Kopplung mit strenger Auftaktigkeit. Sie folgen dem lateinischen Modell des vierversigen ambrosianischen Hymnus im jambischen Dimeter zu je acht Silben. Betrachtet man diese Coda formal, so wirkt sie wie ein Ausgleich nach bewegter thematischer und anstrengender kontrapunktischer Arbeit, die jetzt in einem tradierten musikalischen Archetyp statischer ›Ruhe‹ zu befreiender Läuterung kommt. Von ihrer Ausdrucksbedeutung her aber ist sie mehr als nur ›Ruhe‹ – sie ist eine Verkündigung: im massiven Chor der Blechbläser mit den Posaunen, marcato fff, dem tradierten musikalischen Medium für das ›Jenseitige‹, wird sie zu einer machtvoll-strahlenden Apotheose – wie der Durchbruch eines gewaltigen Energiestroms aus einer Überwelt. Es ist Bruckners Verkündigung eines Überzeitlichen wie die Manifestation eines ›Ewigen‹.

Eine andere ›Bedeutung‹ der Harmonik Bruckner hat zwar in der ersten Fassung seiner dritten Sinfonie Wagner-Zitate als Hommage an den verehrten Meister eingebaut. In seiner eigenen harmonischen Diktion lässt er sich aber nie soweit in dessen Semantik der chromatischen Instabilitäten, der zehrenden Spannungsbögen samt Kadenzvermeidung und bodenlosen Labilitäten ein. Seine Stimmführungen sind im Wesentlichen diatonisch bestimmt. Aber er verwendet häufig den übermäßigen Dreiklang, wie es bereits Liszt im ersten Satz seiner »Faust«-Sinfonie macht und später Schönberg in seiner Kammersinfonie op. 9. Dazu kommen Vierklänge, oft als Sept-Non-Akkorde mit tiefalterierter Quinte

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und None sowie übermäßige Quintsextakkorde. Auch der Quartklang, vor allem in alterierter Form (wie er dann bei Skrjabin zum ›Prometheus Akkord‹ mutiert) tritt häufig auf.62 Seine Intervallsprünge der Satzanfänge und die Themengestalten erweitert er oft zum Nonen- und Dezimensprung. Außerdem verschleiert er dort öfters harmonisch klare tonartliche Relationen: wie aus einem ›Nebel‹ sollen sie nach und nach aufsteigen. Im Adagio der ersten Sinfonie bleibt das Hauptthema inmitten allerhand disparater harmonischer Fortschreitungen unbestimmt, ähnlich wie im Finale der zweiten Sinfonie. Die Naturstimmung in der Vierten, der ›Romantischen‹, verdankt sich dem solistischen Horn-Klang. Aber er wird grundiert von einem diffusen Tremolo der Streichern während im Finale das Thema wieder von einem Oktavsprung bestimmt ist. Das Finale der fünften Sinfonie erprobt eine Kombination von Sonatenhauptsatzform und Fuge, ausgebaut bis zur Doppelfuge. Im ersten Satz der Sechsten ist das Seitenthema durch einen ekstatischen Nonensprung bestimmt (Takt 5), das Finale beginnt in verschleierter Tonart. Auch der Anfang der Coda wird mystisch mit diffuser Harmonik auf der Dominante von b-Moll maskiert, übergangslos gefolgt vom ersten Thema in A-Dur. Im Beginn seiner längsten, der achten, Sinfonie in c-Moll, von der Bruckner sagt, sie wäre »ein Mysterium«, wird die Tonart lange verschleiert. Diffus aufsteigend wie aus opakem Dunst formiert sich das Thema durch mehrere verschiedene Tonarten und chromatische Gewundenheiten bis es schließlich in c-Moll anlangt. Endet der erste Satz in der ersten Fassung (1887) noch in seiner Coda von dröhnenden Fortissimo-Klangflächen mit dem Hauptthema in Augmentation, so komponiert Bruckner für die zweite Fassung (1890) ein verlöschendes, visionäres Adagio. Die Aufführung der ersten Fassung hatte Dirigent Hermann Levi verweigert, die zweite Fassung, 1892 aufgeführt unter Hans Richter, stellt die Mittelsätze um, ändert die Instrumentation und stärkt das Finale mit der Kombination aller drei Hauptthemen und einer gewaltigen Coda. Später hat noch eine Mischversion von erster und zweiter Fassung durch Robert Haas viele namhafte Dirigenten mehr überzeugt als die anderen Fassungen. Die neunte Sinfonie schließlich, d-Moll, einer Überlieferung nach »dem lieben Gott gewidmet« bleibt im Finale unvollendet, weil ihr Schöpfer darüber das Diesseits mit dem Jenseits vertauscht hatte. Der Beginn intoniert das »Feierlich, Misterioso« im düsteren Tremolo der Kontrabässe, noch weiter eingedunkelt durch das Hinzutreten der tiefen Holzbläser, bevor die acht Hörner zwei Aufschwünge unternehmen, um wieder im düsteren Grundton D zu enden. Vor dem Hauptthema des ersten Satzes wählt Bruckner eine chromatische Diktion in sich aufwärts windenden Sekundakkorden mit freien Vorhalten und baut so noch vor seinem Eintritt ein dramatisches ›Portalthema‹ auf. Das Hauptthema klingt dann hohl, ohne

62

468

Vgl. Detailliertes dazu: E. Kraft, Die Harmonik Anton Bruckners, Teil 1, Frankfurt a. M. 2009.

Bestätigung des d-Moll, und die Struktur mit drei Themen im Kopfsatz steht mehr für Disparatheit als für Stabilität. Ein auffallend dröhnend-verfremdetes Scherzo beginnt mit einem zu Achtel gebrochenen cis-Moll Dreiklang, der nichts mit der Haupttonart D zu tun hat. Das Adagio schließlich beginnt mit einem aufwärtsgerichteten Nonen-Sprung in den Violinen und chromatischen Fortschreitungen, mit denen seine Haupttonart E-Dur lange verschleiert wird. Ein Nonen-Sprung als Beginn eines sinfonischen Satzes: eine Faktur, die noch bei Beethoven nicht vorstellbar ist, aber auch bei Bruckners sinfonischem Zeitgenossen Brahms nicht vorkommt: eine exemplarische Wegmarke in eine immer eigenwilligere Individualisierung und Subjektivierung der abendländischen Musik, trotz der Bindung ihres Verfertigers an das tonale Idiom. Noch deutlicher zeigt sich diese Tendenz ausgerechnet in den Messen Bruckners. Die drei großen Messen in d-Moll (1864), e-Moll (1866) und f-Moll (1868) setzen die sinfonische Subjektivierung des tradierten liturgischen Formulars seit Beethoven, Schubert und Liszt fort. Aber trotz ihres musikalischen Individualismus werden sie ekklesiastisch gewertet, nämlich als inbrünstige Bekenntnismusik eines tiefgläubigen Katholiken. Sogar den »Rückgriff auf ältere Urbilder« (Ernst Kurth) reklamiert man für sie.63 Aber nach Klangstil und Faktur agieren sie wie bei Berlioz und Liszt mit allen orchestralen Mitteln der Zeit. Deshalb sprengen sie, wie bei diesen, das Format liturgischer Gebrauchsmusik zugunsten einer Zukunft im säkularen Konzertsaal. Gemeinsam ist ihnen ihre durchkomponierte Anlage mit sinfonischen Steigerungswellen und den gleichen Höhepunktstrategien wie in Bruckners Sinfonien. In der e-Moll-Messe mit kleiner Bläserbesetzung lässt sich Bruckner noch von Palestrina inspirieren, wenn er für den Quintkanon des Sanctus ein Soggetto von ihm benützt, vielleicht auch noch in einer motettischen Anlage im Kyrie, wobei er den ›Christe‹-Abschnitt zum Höhepunkt macht. In der f-Moll-Messe aber findet er zu mystischer Verklärung mit einem Schluss von transzendenter Aura im Agnus Dei und einer Behandlung der Fuge mit völlig neuer Dynamik durch dramatisch zugespitzte Engführungen. Den Höhepunkt einer genuin ›sinfonischen‹ Idee vom Liturgischen stellt dann das von 1881 bis 1884 komponierte Te deum dar. Es scheint, als wäre sie imprägniert von der gleichzeitig entstandenen siebten Sinfonie: archaisch dröhnende Klangflächen, schneidende Dissonanzen, Triumph, Ekstatik und Mystik, ähnlich wie die Faktur des 150. Psalms mit seiner chromatisch entfesselten Fuge und den Schichtungen übermäßiger Dreiklänge an den Grenzen der Tonalität.

63

Vgl. E. Kurth (1925), Bd.1, S. 1191, 1197 u. 1201.

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Die Befremdungen des Mystischen So wenig der leidenschaftliche Expressionismus diese kühne Idiomatik liturgisch kompatibler macht, wenn sie aus Bruckners ›katholischer‹ Inbrunst erklärt wird, so wenig werden seine Sinfonien durch einige vage, assoziative Programmvorstellungen ›verständlich‹, wie wir sie aus Äußerungen von ihm selbst kennen. Zur vierten Sinfonie lauten sie: »Mittelalterliche Stadt« – »Morgendämmerung mit Rittern«, zur achten kommentiert Bruckner: »Todesverkündigung – Heiligtum der Liebe – ›deutscher Michel‹« (verstanden als Verkörperung der deutsch-österreichischen Michael-Figur als patriotische Symbolgestalt im Aufstieg dieser Staaten zu Weltgeltung).64 Aber das ist keine ›Programmmusik‹, die tonmalend bebildert, narrativ literarisiert oder ideendramaturgisch inszeniert. Bruckners ›Programm‹ gründet letztlich ganz woanders. Seine ekstatischen Ausbrüche und schroffen Fügungen erratischer Klangblöcke, herrischer Steigerungszyklen und grandiose Durchbrüche sind musikalische Manifestationen von Urgewalten anderer Art. Sie handeln nicht von ›Welt‹ und ihren Affekten im Menschlich-Natürlichen und ihrer Psychologie, sondern von einem Übernatürlichen. Und seine Adagio-Weihen und Choral-Andachten sind dessen mystische Verinnerlichungen. Begreiflich, dass solche supranaturalen Ekstasen und mystischen Andachten so wenig mit dem Seelenhaushalt des zeitgenössischen Habsburger Bürgerpublikums zu tun hatten wie mit den gleichzeitig angebotenen Exemplaren von ›Sinfonie‹. Deswegen gab es für sie nichts als Kritik und Ablehnung bis zum ätzenden Spott. Gut verständlich, denkt man etwa an Brahms, dessen zweite Sinfonie 1877 in Wien im Abstand von nur vierzehn Tagen zu Bruckners Dritter (in der Erstfassung) aufgeführt wurde. Brahms folgt den vertrauten Mustern der »Wiener Klassiker« und äußert, ungewöhnlich gereizt, seine harsche Ablehnung der Bruckner’schen Idee von Sinfonie: »Alles ist bei ihm gemacht, Affektation, nichts Natur … Er hat keine Ahnung von einer musikalischen Folgerichtigkeit, keine Idee von einem geordneten musikalischen Aufbau.«65 Auch die Musikgeschichtsschreibung hat die Differenz genau vermerkt und als ›Querständigkeit‹ der beiden gleichzeitigen Sinfoniker beschrieben.66

64

Gut dargestellt bei Martin Geck (1993), S. 401 ff., folgt man einer Deutung aus einem politisch-programmatischen Hintergrund.

65

Nach Max Kalbeck, Johannes Brahms, Bd. 3,2, Berlin 1912.

66

Carl Dahlhaus äußert: Bruckner »wurde gleichsam in das 19. Jahrhundert als ein ihm fremdes Zeitalter verschlagen … dem er innerlich nicht angehörte und dessen Probleme er nicht teilte«, in: Die Musik des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden1980 (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft 6), S. 220. Zu den Vergleichen zwischen Brahms und Bruckner, vgl. W. F. Korte, Bruckner und Brahms. Die spätromantische Lösung der autonomen Konzeption, Tutzing 1963 und P. Gülke, Brahms, Bruckner. Zwei Studien, Kassel u. Basel 1989.

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Am heftigsten aber reagierten die verstörten Wiener Zeitgenossen. Noch bis zur siebten Sinfonie verließ das Publikum die Aufführungen scharenweise, obwohl schließlich gerade sie, übrigens König Ludwig II. von Bayern gewidmet, Bruckners öffentlichen Durchbruch anbahnte. Die zeitgenössische Musikkritik urteilte darüber als »unnatürlich, aufgeblasen, krankhaft und verderblich« (Eduard Hanslick) oder befand sogar: »Bruckner komponiert wie ein Betrunkener« (Gustav Dömpke).67 Auch die achte Sinfonie kam nicht besser weg: »Das unvermittelte Nebeneinander von trockener kontrapunktischer Schulweisheit und maßloser Exaltation. So zwischen Trunkenheit und Öde hin und her geschleudert, gelangen wir zu keinem sicheren Eindruck, zu keinem künstlerischen Behagen … als Ganzes befremdet sie«, urteilte Hanslick. Ahnungsvoll befürchtete er nach ihrer Uraufführung sogar, auch mit Blick auf die ›Neutöner‹ von Wagner bis Liszt und Wolff, dass »diesem traumverwirrten Katzenjammerstil« die Zukunft gehören könnte.68 Vordergründige und verständliche Ursache dieser ›Befremdung‹ des Wiener Bürgertums samt der Musikkritik ist eine ästhetische. Ihre Referenz sind die vertrauten Erscheinungsformen des Sinfonischen wie sie etwa Brahms repräsentierte. Dahinter aber ist es etwas anderes: eine Verunsicherung durch Ausdrucksbezirke, die Bruckners erratische Sinfonik freisetzte und die verstörte, ja beängstigte. Sie wurde als bedrohlicher Ausbruch irrationaler Bewusstseinszustände empfunden, als unheimliche Beschwörung eines »mystizistischen Absoluten aus dem Geist des Mittelalters« (Hermann Broch), womöglich sogar als Störung ihres gesellschaftlichen Selbstverständnisses und seiner Konventionen. Denn Bruckners Musik konfrontierte die Hörer mit einem Un-konventionellen, in dem eine Art von archaischer Tiefe lauerte, die womöglich gefährlich an die Bewusstseinslage der komplex konstruierten »Habsburger Identität« (Benjamin M. Korstvedt) rührte, ja sogar als Bedrohung ihrer Ordnung im mentalen Konfliktklima Wiens erfahren wurde.69 Noch heute erschwert diese Verstörungs-Wirkung die Rezeption Bruckners im Mi67

G. Dömpke in der Wiener Allgemeinen Zeitung, wobei er sich besonders auf den zweiten Satz bezieht, wo der bizarre Übergang vom ersten zum zweiten Thema (Takt 33–37) mit vier Wagner-Kontrabasstuben gegen ein chromatisches Motiv in den Hörnern eine dissonante Kollision produziert.

68

Einen Eindruck des damaligen Brucknerverständnisses vermitteln besonders die Konzertführer, wie von Hermann Kretzschmar in der Edition von 1890 oder von Walter Niemann, vgl. Kurth (1925), Bd. 2, S. 640 u. 974.

69

Grundsätzlich dargestellt von Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin-de-siècle (1980), Frankfurt a. M. 1982 und spezifischer von B. M. Korstvedt, der hinter den ästhetischen Diskursen der Musikkritik die kulturellen Subtexte als gesellschaftliche Fronten zwischen Vormärz und »Nachmärz« und damit zwischen dem Liberalismus der großbürgerlichen Gesellschaft und einem radikalen Neo-Konservatismus dechiffriert. Von daher versteht er diese Konflikte als eine Unterminierung der Habsburger Doktrin mit ihren geregelten Strukturen und dem Kaiser als Garanten ihrer Stabilität und deutet die Wahrnehmung Bruckners im Sinne dieser Gefährdung der österreichischen Bourgeoisie, vgl. Korstvedt, Reading Music Criticism beyond the Fin-de-siècle Vienna Paradigm, in: The Musical Quarterly 94 (2011), Heft 1–2.

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lieu ›bürgerlichen‹ Mainstreams, vor allem in den angelsächsischen Ländern. Dort gesellt sich zu der Wirkungsgeschichte noch eine andere Verstörung dazu: das Odium, mit dem eine völkisch-nationale Ideologie der Nazizeit Bruckners Musik besetzte, und, genau wie bei Wagner, die Suggestion ihrer Weihe-Potenziale für sich usurpierte. Es sind aber genau diese ›Weihe‹-Potenziale mystischer Ekstase, die das Zentrum und die Bedeutung von Bruckners Sinfonik ausmachen und ihre überdauernde Geltung sichern – nicht die formalen Attribute sinfonischer Tradition mit ihren ›Folgerichtigkeiten‹ einer diskursiven Prozesslogik. Es sind die erratischen Ausbrüche des Visionären und nicht die Architektur symmetrischer Balancen, aber auch nicht die klangsinnlichen Rauschbeschwörungen der Wagner-Welt: Bruckner beschwört eine andere Welt. Es ist auch nicht Bruckner, der erzkatholische Österreicher und dienstfertige St.-Florians-Organist, aus denen seine Ausdruckswelten begreiflich werden – auch wenn seine tiefgläubige Religiosität, genau wie bei J. S. Bach, ein sympathetisches ›Gehäuse‹ dafür abgibt. Was in den ekstatischen Ausbrüchen seiner Lichtklanggewalten, wie Protuberanzen in die Welt des Alltagsbewusstseins geschleudert, zur Erscheinung kommt, ist eine viel absolutere, transzendente Erfahrung. Deshalb wirken sie so ›erratisch‹ und verstörend wie alles, was die »bürgerliche« Bewusstseinslage überschreitet. Ihr gewaltiges Format hat so wenig wie beim angestellten Kantor und Lateinlehrer der Thomasschule, Bach, mit der verschrobenen Erscheinung Bruckners zu tun, dem Ältesten von zwölf Geschwistern aus einer Dorfschullehrerfamilie aus der tiefsten Provinz. Der bringt es zwar vom ›armen Organisten‹ zum in England bewunderten Virtuosen, vom Schullehrer zum Akademielehrer und sogar zum Ehrendoktor. Er bleibt aber mit neurotischem Zählzwang und Kontrolltick, seinen selbstquälerischen ›handwerklichen‹ Kompositionsskrupeln, lebenslang beziehungsgestört zu Frauen, seiner Neigung zur Nekrophilie und einer devotesten Autoritätsanbetung für Kaiser, Könige und Kirche im äußeren Leben, eine seltsam philiströse Erscheinung, in der nichts den unbeirrbaren Verfertiger sinfonischer Kolosse und den ekstatischen Schöpfergeist jenseitstrunkener Visionen erkennen lässt. »Halb Genie, halb Trottel« bescheinigt ihm Hans von Bülow. Der Visionär ist ein anderer Bruckner. Er ›schöpft‹ aus anderen Quellen. Er erfährt sich, wie bei allen genuinen Künstlergenies, als Medium von In-Spiration, die sich nach Platons mania aus einem ›Überbewussten‹ bedient. Das aber ist das Organ für das Numinose. Und er weiß es genau. »Die wollen, daß ich anders schreibe. Ich könnt’s ja auch, aber ich darf nicht. Unter Tausenden hat mich Gott begnadigt und dies Talent mir, gerade mir gegeben. Ihm muß ich einmal Rechenschaft ablegen«. Oder er meint,

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über das Finale der vierten Sinfonie befragt, quasi unzuständig: »Ja da woaß i selber nimmer, was i mir dabei denkt hab’‹.«70 Die Kollision zwischen den Gewalten des schöpferisch überbewusst Inspirierten und dem skrupulösen, von scholastischem Minderwertigkeitskomplex belasteten ›Komponisten‹, der um die handwerkliche Umsetzung, also mit der unentrinnbaren Formseite jedes künstlerischen Tuns lebenslang rang, äußert sich nicht nur in seinen selbstzweiflerischen Lernbemühungen, sondern vor allem im Kampf um die finalen Werkgestalten seiner Sinfonien. Als Mitte Dreißigjähriger, 1856, unterzieht er sich noch dem Unterricht bei Simon Sechter und, 1861, bei Otto Kitzler. Das ist womöglich ein ergreifendes Bemühen, um eine ›zünftige‹ Rechtfertigung seiner ganz jenseits der ›Zunft‹ und ihren Konventionen liegenden visionären Gesichte. Vielleicht auch ein rationaler Kontrollversuch über das, was sich ihm ›schöpferisch‹ der Kontrolle entzieht. Und weil sich schließlich bei den Werkgestalten seiner Sinfonien eigene ›zünftige‹ Skrupel sowie gut gemeinte bis kritische Freundeseinrede mischen und zu vielen Umarbeitungen führen, sind sie uns als exemplarisches Feld editorischer Wirrnisse und Aufführungsversionen bis heute erhalten geblieben.71 Als Unentschiedenheiten mögen sie irritieren. Aber das sind letztlich nur Formvarianten einer Ausdruckswelt, die nichts von ihrer bleibenden Bedeutung schmälern: Bruckner als Künder expressionistischer Visionen kosmischer Gesichte: »Es ist, als ob er das All stürmen wollte, um ihm für einen Moment einen Strahl des himmlischen Urlichtes zu entreißen« (Oskar Lang). Das ist die gleiche Tonlage, wie sie dann kongenial in orphisch-visionären Dichtungen des literarischen »Expressionismus« auftönt, von Rudolf Pannwitz, Kurt Heynicke oder Alfred Mombert. Besonders Mombert, in seinem Himmlischen Zecher und als »Aeonischer Wanderer«, erfährt die menschliche Existenz nicht nur tellurisch, sondern aus einer kosmischen Schau zwischen Sternen- und Sphärenräumen und formt sie mit hymnischem Ausdruck zu Menschen-Seelen-Räumen – eine dichterische Geistesverwandtschaft mit hermeneutischem Wert für die Bruckner-Deutung.72

70

Vgl. J. Kluger, Schlichte Erinnerungen an Anton Bruckner, in: Jahrbuch des Stiftes Klosterneuburg, Bd. 3, Wien und Leipzig 1910, S. 120.

71

Die Probleme mit den verschiedenen Fassungen, die durch die Varianten neukomponierter Teile noch komplizierter werden, manifestieren sich in den verschiedenen Werkeditionen und unterschiedlichen Aufführungstraditionen, vgl. Details dazu in: Bruckner Handbuch, hg. v. H.-J. Hinrichsen, Stuttgart 2010 u. Bruckner Werkverzeichnis (WAB), hg. v. R. Grasberger, Tutzing 1977.

72

A. Mombert, Der himmlische Zecher, eine Auswahl seiner Gedichte, hg. v. E. R. Weiß, Berlin 1909. Viele daraus wurden von Komponisten vertont, darunter von A. Berg, A. Knab, J. Marx, K. Szymanowski und H. Walden. Der besondere Ton des Kosmisch-Visionären äußert sich aber vor allem in seinen Mythendichtungen wie Der Sonne Geist und Sfaira der Alte sowie in der dramatischen Trilogie Aeon, ediert in A. Mombert (1872–1942), Dichtungen, 3 Bde., hg. v. E. Herberg, München 1963.

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Das ahnungsvolle Verständnis dafür hat inzwischen längst eingesetzt. Deshalb würdigt die neuere Bruckner-Rezeption solche Qualitäten als tiefste Bedeutung dieser Musik. Auch die Musikforschung thematisiert durchgängig ihre Verbindung zu Mystik und zum Numinosen. Bereits Ernst Kurth sprich vom »Mystiker«, ebenso wie Bruckner-Biograph Max Auer (»ein Mystiker unter den neueren Meistern der Musik, ein Jakob Böhme, ein Angelus Silesius seiner Kunst«) oder Oskar Lang: »Bruckner ist mystischer Ekstatiker in seiner Musik. Daß das Leben im Göttlichen seine Erfüllung finde, das ist ihm, wie den alten Mystikern, letzter Sinn alles Seins.« August Halm bringt ihn deshalb in Bach-Nähe: »Die Menschheit konnte vor Bruckner nicht von universaler Musik wissen … Bruckner ist religiös künstlerisch der nächste Verwandte Bachs« und Wilhelm Furtwängler bekennt: »Bruckner ist einer jener in der gesamten europäischen Geschichte nur ganz selten erschienenen Genies gewesen, deren auferlegtes Schicksal es war, das Übernatürliche wirklich zu machen, das Göttliche in unsere menschliche Welt hineinzureissen, hineinzuzwingen … auf das Göttliche in ihm und über ihm war das ganze Sinnen und Trachten dieses Mannes gerichtet. Er war gar kein Musiker. Dieser Musiker war in Wahrheit ein Nachfahr jener deutschen Mystiker, jener Meister Eckhart, Jakob Böhme usw. …«. Auch die neuere Musikologie scheut sich nicht Bruckner solche Nähe zu Jakob Böhme und Angelus Silesius zu bescheinigen (Walter Wiora und Peter Gülke).73

Gustav Mahler – ein fahrender Geselle als metaphysischer Weltenwanderer »Denken Sie sich, daß das Universum zu tönen und zu klingen beginnt. Es sind nicht mehr mensch[liche] Stimmen, sondern Planeten und Sonnen, welche kreisen«, schreibt Gustav Mahler zu seiner achten Sinfonie an den Dirigenten Willem Mengelberg im August 1906. Das ist nicht weit weg vom visionären ›Kosmiker‹ Bruckner. Und es wäre schon ein Hinweis auf einen, der in der Sinfonik nach Beethoven genauso ›quer‹ steht wie Bruckner. Aber Mahler komponiert ganz anders, um den Visionen seiner Ausdruckswelten Gestalt zu verschaffen. Im Habsburger Reich geboren wie Bruckner, aber eine Generation später (1860– 1911), fokussieren sich im Werk des Talents aus dem böhmischen Nest Kališt die musikalischen Konsequenzen aus dem 19. Jahrhundert und die Tendenzen des 20. 73

474

Vgl. E. Kurth (1925), Bd. 1, S. 5, 12; M. Auer, Anton Bruckner. Sein Leben und Werk, Zürich, Leipzig u. Wien 1947, S. 9; A. Halm, Die Symphonie Anton Bruckners, München 1914, S. 85; O. Lang (1943), S. 52 u. 69; W. Furtwängler, Anton Bruckner. Vortrag beim Fest der Deutschen Bruckner-Gesellschaft in Wien, 1939, ediert in Reclam Universal Bibliothek Nr. 7515, Stuttgart 1952, S. 32–33; W. Wiora, Über den religiösen Gehalt in Bruckners Symphonien, in: Religiöse Musik in nicht-liturgischen Werken von Beethoven bis Reger, hg. v. W. Wiora, Regensburg 1978, S. 161 f.; P. Gülke (1989), S. 75 ff.

wie in einem Brennspiegel. Das zwölfte Kind eines fahrenden Händlers ist ein exemplarisches Produkt jener späten habsburgischen Melange aus böhmisch-österreichisch-jüdischem Musikantentum und dem ›deutschen‹ Kulturkanon aus der »Wiener Klassik«. Denn in seiner Musik spiegeln sich nicht nur Beethoven, Wagner und Bruckner, sondern auch böhmische Folklore, historistische Erinnerung und sensitives Gegenwartsbewusstsein für die differenzierte wie dissoziierte Bewusstseinslage der sich rasant entwickelnden Moderne. Was bei Bruckner ›erratisch‹ einbricht, erreicht Mahler synkretistisch. Von Wagner übernimmt er das Klanginstrumentarium des großen Orchesters, bereichert es um exotische Instrumente, ja steigert es noch (wie im Schlagwerk der sechsten und im gewaltigen Apparat der achten Sinfonie) und wählt es, wie Richard Strauss, als ›Begleitung‹ seiner Lieder, die er aus der lyrischen Intimität Schuberts zur extravertierten ›Liedersinfonie‹ steigert, dem historischen Finale alter Liedkunst als sinfonisches Orchesterlied. Allerdings begnügt sich Mahler ebenso wenig wie Bruckner mit der Raffinesse schwelgerischen Mischklangs, sondern zieht seine eigenen Schlüsse aus dem hochangereicherten Potenzial. Er verschmäht das überwältigende sinfonische Tutti nicht, aber profiliert die Einzelstimmen neu mit skrupulöser Artikulation und gibt ihnen – oft bizarr akzentuiert – den Charakter ganz eigenständiger Individuen. Wie wichtig ihm ihr eigenes physiognomisches Profil ist, zeigt die Fülle der Bezeichnungen, mit denen er sie versieht, voll genauester Abtönungen und peniblen Differenzierungen: als ›überinstrumentiert‹ hat er es selbst oft empfunden und in Überarbeitungen zu regulieren versucht.74 Neu zusammengefügt entwickelt er daraus eine eigene »komplexe Vielstimmigkeit« (Kurt Blaukopf): aus dem Verständnis der alten Polyphonie, dem Erbe der ›durchbrochenen‹, motivischen Arbeit des »Wiener« klassischen Idioms, der narrativen Expressivität instrumentaler Klangfarbensemantik und den Zitaten aus der Folklore wie dem Tingeltangel des schrillen, modernen Weltgetümmels. Aber in seinen Ideen-Konzepten tritt er Beethovens Erbe idealistischer ›Weltumarmung‹ so emphatisch an, wie es dessen Neunte verkündet. Darin ist er von einem gleichen Bekenntnisfuror wie Beethoven – aber er formuliert nicht illustre ›Ideenkunstwerke‹, sondern er komponiert ›Programme‹ überbordender Welthaltigkeit, denn: »Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Tech-

74

Unzählige Einzeichnungen von Akzenten, Gliederungszeichen, Pausen und Fermaten bilden quasi die Ebene der Interpunktion; die semantischen Ebenen darüber liefern die zahlreichen verbalen Beschwörungen wie: »hervortretend«, »rufend«, »antwortend«, »verklingend« und besonders immer wieder: »deutlich«. Das bezieht sich auch auf die einzelnen Schichten des Satzes: Im Verlauf eines einzigen Taktes differenziert er etwa zwischen »Fortissimo« der hohen Holzbläser, »Piano« für die tiefen und »Mezzopiano« für die Streicher.

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nik eine Welt aufbauen« wie er bekennt, und deshalb muss sie »wie die Welt alles umfassen«.75 Schon mit seinen plastisch geformten, liedhaften Themen unterscheidet sich der Sinfoniker Mahler vom schwülen und opaken chromatischen Klangnebel vieler ›spätromantischer‹ Zeitgenossen. Sein Stimmengewebe der »Verschiedenstimmigkeit«, wie er seine Polyphonie selbst nennt, schließt Naturlaute mit ein, besonders Vogelstimmen, aber auch Ländler, Marsch, Posthornweise, Trompetensignale und exotische Klänge, vor allem Schlaginstrumente wie Tam-Tam, Becken oder Ruten: eine Art orchestraler Naturalismus. Deswegen wurde dieser Faktur ein »vokabularer Charakter« attestiert (Hans Heinrich Eggebrecht)76, aber Mahler erschafft damit ein Klangkolorit, das vom Trivialen bis zum Surrealistischen reicht. Zusammen mit einer üppigen Zitattechnik zwischen Gassenhauer (»Oh du lieber Augustin«) und poetischem Hochton (»Des Knaben Wunderhorn« nach Gedichten von Friedrich Rückert), dem Spiel mit Verfremdungen und den akkumulierten Versatzstücken später 19.-Jahrhundert-Idiome, entsteht in ihrer Neumischung eine Klangsemantik, die zum Kontrapunkt des schwelgerischen Klangrausches der Wagner-Schule und ihrer spätromantischen Hedonisten wird. Für die Kompositionsgeschichte zeigt sich darin das Bemühen des Komponisten Mahler, dem Genre der Sinfonik mittels einer ausdifferenzierten Tonsprache neue Möglichkeiten abzugewinnen. Dabei spielt ohne Frage die Erfahrung des kenntnisreichen Kapellmeisters und Dirigentenprofis eine wesentliche Rolle: als strenger Zuchtmeister der Wiener Hofoper, über zehn Jahre, und als gefeierter Star der New Yorker Musikszene. Verstanden als Sammelsurium von Fragmenten, ein Kaleidoskop der Reminiszenzen und eines Pointillismus des Disparaten, womöglich schon aus der Bewusstseinslage des spät-habsburgischen »Kakanien« (Robert Musil), gerät sie zur Zielscheibe spöttischer Kritik unter dem Etikett von »Kapellmeistermusik«. Verstanden als erfindungsreiches Muster von Collage, Montage und Zitat, als Musikalisierung des Grellen und Grotesken, inspiriert sie Konzepte der musikalischen Moderne.

75

Vgl. Ein Glück ohne Ruh’‹. Die Briefe Gustav Mahlers an Alma, hg. v. H.-L. de La Grange u. G. Weiß, Berlin 1995, S. 87 ff.; Gustav Mahler, Briefe, hg. v. H. Blaukopf, Wien 1996, S. 172 f.; Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, hg. v. H. Kilian, Hamburg 1984, S. 40.

76

Eggebrecht versteht darunter »musikalische Gebilde innerhalb der komponierten Musik, die an vorkompositorisch geformte Materialen anknüpfen« und »postartifiziellem Rohstoff entnommene Sinnträger«, vgl. Die Musik Gustav Mahlers, München u. Mainz 1986, S. 67 u. ff. Hier zeichnet sich eine analoge Tendenz zur Malerei ab, wie sie dort bald als das »Bildvokabular« von Jean Dubuffet in seinen Collagen und Assemblagen sowie der Art brut in Erscheinung tritt.

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Der Sucher nach der Differenz Für den schöpferischen Künstler Mahler aber galt dieses Komponieren nicht dem intelligenten Spiel mit Trivialitäten und Collagen, sondern einer Botschaft, die alle grelle »Welthaltigkeit« als Differenz zur geistigen Qualität einer anderen ›Welt‹ verkündet. Um deren Artikulation und Gestaltung ringt er lebenslang leidenschaftlich, mit despotischer Selbstdisziplin in seinem ›Komponierhäusl‹ am Attersee während der sommerlichen Urlaubswochen, verzweifelt im aufreibenden Betrieb seiner Wiener Verpflichtungen, tief bemüht in seiner schwierigen Ehe mit der geliebten Alma. Für diese Botschaft fügt er das Neben- und Miteinander von sinfonischem Glanz, seltsamem Naturklang, bizarrem Geräusch und banalem Zitat als Bedeutungsträger von Alltäglichem und Festlichem, von Trivialität und Weihe, von hohem Ton und gemeinem. Sie ›bedeutet‹ deshalb nicht bloßes Componere als geschickte Montage, sondern ist willentliche Ausdrucksgestaltung zweier zutiefst empfundener und erlittener innerer Zustände. Es sind die zwei zentralen Erlebenswelten Mahlers: der – wie er selbst sagt – »zivilisatorischen Welt« und der »Naturwelt« bis hin zu ihrem Übersteigen in ein Über-Natürliches. Die eine erfährt er als dissonant und leidvoll, als »Lärm und Wirrwarr des Alltags«, die andere als friedvoll und tröstlich mit ihrer in sich ruhenden, organischen Vollkommenheit bis hin zur pantheistischen Verheißung und transzendenten Verklärung. Wie er diese Gegensätze in seiner Musik austrägt, führt an den dramaturgischen Wurzelgrund seiner Sinfoniekonzepte. Dort konfrontiert er zwar die dissonanten und verstörenden Weltausschnitte, in seinen Soldatenliedern bis zur verzweifelten Ironie geführt, mit den anderen Klängen der böhmischen Landschaft, der Intonation jenes ›österreichischen Tons‹, der seit Haydn, Schubert oder Adalbert Stifter eine besondere Region romantischer Poetik speist. Dessen direktesten Reflex findet sich in den geliebten »Wunderhorn«Texten, den Rückert- und Eichendorff-Gedichten oder den Jean-Paul-Geschichten. Aber er begnügt sich nicht mit dem formalen Realismus eines Nebeneinander und der Dissonanz ihrer Kollisionen, sondern führt sie immer wieder in eine höhere Perspektive – jenseits des Traums einer bloß »heilen« Naturerfahrung, wie sie so oft den naiven Ton der musikalischen Romantik bestimmt. Bezeichnend für einen qualitativen Realismus ist, dass er, viel ostentativer als Schubert, auch etwas von der unheimlichen Ambivalenz des Naturbegriffs zeichnet. »Daß diese Natur alles in sich birgt, was an Schauerlichem, Großem und auch Lieblichem ist (eben das wollte ich in dem ganzen Werk in einer evolutionistischen Entwicklung zum Aussprechen bringen), davon erfährt natürlich niemand etwas. Mich berührt es ja immer seltsam, daß die meisten, wenn sie von Natur sprechen, nur immer an Blumen, Vöglein, Waldesduft etc. denken. Den Gott Dionysos, den großen Pan, kennt niemand …«, so kommentiert Mahler zu seiner dritten Sinfonie »Vom großen Pan« in einem Brief an den Musikkritiker Richard Batka (18.11.1896).

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Das formuliert einen veristischen Naturbegriff, nicht einen idealistischen. Zwar ist ›Natur‹ ein in seiner Eigengesetzlichkeit verbliebener Bereich der Welt und deshalb nicht nur gewissermaßen vollkommen als ein ursprünglicher Seinsbezirk, sondern insofern auch ›transzendent‹, weil nicht ›gemachtes‹ Menschenwerk. Damit wird sie zur Erfahrung eines Authentischen, zum Erlebnis einer ganzheitlichen, organisch geordneten Welt, die als Gleichnis einer idealen Identität so oft zum Gestaltungsraum poetischer Inspiration und tiefer Naturmystik geworden ist. Diese Seite wird auch für Mahler zum Gleichnis einer Welt zauberischer harmonischer ›Ganzheit‹ als Gegensatz zur technisch fabrizierten Wirklichkeit des verstörend anbrechenden Maschinenzeitalters. Aber ›Natur‹ umfasst eben auch das Schauerliche, die unbarmherzigen Gesetze kreatürlicher Existenz, vom ›Fressen und Gefressen werden‹, vom gnadenlosen Überlebenskampf und dem Survival of the Fittest wie es uns die moderne Evolutionsbiologie so beredt erklärt, von biologistischer Immanenz im Kreislauf von Geburt und Tod. Damit wüchse dem »großen Pan«, hinter dem Abgründigen des Dionysischen, auch das Positivistische eines Mitspielers in der rätselhaften Schöpfung eines »blinden Uhrmachers« nach darwinistischem Verständnis zu – ohne Perspektive darüber hinaus oder gar einer ›Erlösung‹ davon: Natur und Biologie mit dem Tod als Sinnhorizont – vertrautes Paradigma der Moderne. Auch Mahler umkreist den Tod immer wieder, mental, wie es Alma Mahler und Bruno Walter eindringlich berichten, und auch musikalisch. In seiner vierten Sinfonie (2. Satz) oder in der neunten (Coda) oder im »Morendo« des Liedes von der Erde findet es deutlichsten Ausdruck. Damit ist zwar der Tod als Grenze und unentrinnbare Naturkonstante gegenwärtig. Aber nicht – genau wie bei vielen musikalischen Geistern von vorher bis hin zu Bach, Händel, Mozart oder Beethoven – als Grenze von Mahlers geistigem Horizont. Dazu bedarf es allerdings einer Bewusstseinslage, die hinter die ›natürliche‹ Welt und eine Auffassung von ›Natur‹ als natura absoluta reicht, wie es im »Metaphysischen Naturalismus« tradiert wird.77 Bei Beethoven wird Nur-Naturalistisches als Schicksals-Überwindung aus dem kämpferischen Ethos des Willens verkündet bis zur Feier eines höheren Göttlichen. Wagner bietet sie uns immerhin mit sensualistischem ›Wähnen‹ um den Gral an. Bruckner in den mystischen Einbrüchen überirdischer Lichtgewalten. Mahler aber sucht sie mit so leidenschaftlichem Ethos wie Beethoven und mit so visionärem Blick wie Bruckner in seinen demiurgischen sinfonischen ›Weltentwürfen‹.

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Als Form einer immanenten, physikalisch-materialistischen Welterklärung bereits bei den Vorsokratikern wie Thales, Anaximander und Demokrit, den Physikoi, sowie im Epikureismus entwickelt, dann von Baruch Spinoza (Ethica 1677) prominent vertreten, wird es später bei David Hume und Julien de La Mettrie und in der modernen Wissenschaftstheorie zu einer Denkfigur, mit der ›Natur‹ zum ›Absoluten‹ (in alter, transzendenter Auffassung) erklärt wird.

Alle seine Sinfonien folgen großen, skrupulös entworfenen Konzepten und werden so zu Weltenwanderungen durch die schaurigen Höllen des Irdischen, die bizarren Fratzen der Zeit, die grotesken Regionen menschlicher Existenz, die wunderbaren Bezirke stiller Natur – bis zu jenem überirdischen Frieden, als dessen Abglanz sich irdischer Naturfrieden immerhin erweisen kann. Für alle hat er ursprünglich ein Programm formuliert, das er später tilgte, weil es zu allerhand Missverständnissen führte. Von den ersten vier Sinfonien, die inhaltlich eng zusammengehören, kennen wir sogar ihre ursprünglichen poetischen Überschriften: »Titan« nennt er seine erste Sinfonie (1888) und überschreibt die fünf Sätze »Frühling und kein Ende«, »Blumine«, »Mit vollen Segeln«, »Todtenmarsch in Callots Manier« und »Dall’‹ inferno al Paradiso«. Zur zweiten Sinfonie formuliert er ein ausführliches Programm, das in drei Fassungen überliefert ist: der Kopfsatz war ursprünglich als sinfonische Dichtung mit dem Titel »Todtenfeier« entworfen, wahrscheinlich im Gedenken an den polnischen Dichter Adam Mickiewicz. Man hat diese Werke deshalb als »sinfonische Romane« (Hermann Danuser) gedeutet. »Sinfonische Weltenträume« hat sie Bruno Walter genannt, andere attestieren ihnen »philosophischen Charakter« oder sprechen von »Traumzeiten« (Martin Geck) oder nennen sie »Weltanschauungssinfonien« (Musiksoziologe Kurt Blaukopf und Musikologe Ludwig Finscher). Am Schluss dieser tiefsinnigen Weltenwanderungen aber steht immer ein Fazit wie eine Art Gipfelschau. Deshalb die einzigartige Bedeutung der Finalsätze von Mahlers Sinfonien, die eigentlich ihre Zentralsätze sind. Die eindrucksvollsten Beispiele dafür liefern die Finales der zweiten oder der dritten Sinfonie, wo »Das Lied vom großen Pan« ihre Quintessenz formuliert oder die vierte Sinfonie, deren Finalsatz eigentlich den Entwurf für die ganze Sinfonie repräsentiert. Weil aber diese ›Weltenwanderungen‹ intentional auf eine Perspektive jenseits des Durchwanderns angelegt sind, führt ihre Dramaturgie nicht nur in eine musikalische Schlussapotheose, sondern in eine mentale. Sie werden zu Bekenntnis aus Erkenntnis, in denen sich Mahlers zentrale Botschaft offenbart. Sie aber ist alles andere als eine Verkündigung des Scheiterns, von Zusammenbruch, Leiden, Verzweiflung und Ausweglosigkeit, wie es eine populäre Mahler-Deutung der Moderne will. »Ganze Komplexe wollten negativ genommen werden«, man müsse »sie gleichsam gegen sie hören«, spitzt Th. W. Adorno diese Lesart zu. Er bewertet sie als ein ironisches ›als ob‹ und verweigert ihnen so ihre ganz offenkundige Bedeutung. Mehr noch: Er begegnet ihnen ganz gezielt apotropäisch, wenn er die Ausdrucksgestaltung ihres seelisch-geistigen Gehalts als »Uneigentliches« abwehrt und sie zu einem nicht von Mahler Gemeintem verkehrt. Stattdessen rühmt er affirmativ »Ge-

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brochenheit, Desintegration und Zerfall« nach der Logik seines Denkens der »Negativen Ästhetik«.78 Wer sich darauf beschränkt im Geklimper disparater Collagen und Montagen samt den Ironien zwischen Sentimentalität und Kitsch nur eine Feier der ›Gebrochenheit‹ zu sehen, preist den Kakanier als Metapher unserer disparaten Zeitgeistbefindlichkeiten. Oder Mahlers ›Modernität‹ in einer fortschrittsaffinen Musikhistoriographie. Dazu scheint dann auch die beispiellose Individualisierung seiner Sinfonien in der Verschiedenheit der einzelnen Sätze zu passen, genauso wie seine weiter vorangetriebene Differenzierung der Instrumentierung im Typus des ›Großen Orchesters‹, mit Extremfällen wie der sechsten und der achten Sinfonie. Dazu passt auch Mahlers detailmanische Bezeichnungsfülle in seinen Partituren, die an Überdeterminiertheit grenzt. Sie ist vielleicht auch Widerschein seines frühen Dirigierstils einer hyperaktiven, nervösen Physiognomik mit »ganz durchwühltem Körper«, wie es von Zeitgenossen beschrieben wurde.79 Aber solche Deutung verfehlt alles andere wesentlicher ›Bedeutung‹. Denn der exaltierte Kakanier findet aus Dissoziation und Partikularisierung heraus zu einem anderen, höheren Bewusstseinshorizont und verkündet von dort noch etwas ganz Anderes.

78

Adornos Mahler-Exegese, konzeptionell seiner Musikphilosophie der »Negativen Ästhetik« verpflichtet (siehe Kapitel X), bestimmte maßgeblich die erste Mahler-Rezeption, vgl. Th. W. Adorno, Mahler. Eine musikalische Physiognomik, Frankfurt a. M. 1960 sowie seine Wiener Gedenkrede von 1960 und Epilegomena, in: Gesammelte Schriften und Bd. 16: Musikalische Schriften II, »Quasi una fantasia«, Frankfurt a. M. 2003. Ein ähnliches Bild zeichnet auch Hans Mayer, Musik und Literatur, in: Gustav Mahler, Tübingen 1966, S. 142 sowie H.-L. de La Grange, Mahler, Bd. 1, London 1974. Weiterhin zählen dazu viele der streng analytischen Untersuchungen wie B. Sponheuer, Logik des Zerfalls. Untersuchungen zum Finalproblem in den Sinfonien Gustav Mahlers, Tutzing 1978; P. Revers, Gustav Mahler. Untersuchungen zu den späten Sinfonien, Hamburg 1985. Nach gleichem Verständnis äußert sich auch H. H. Eggebrecht (1991), S. 739, wenn er von »Apotheosen« spricht, »die unglaubhaft geworden sind«, dann aber später differenzierter und kritischer hinsichtlich Adornos Exegese, in: Die Musik Gustav Mahlers, Mahlers (1986) 1986, S. 60, 87, 90, 196. Diese Darstellungen folgen einer strikten Autonomieästhetik, wo die Satzfaktur gegen einen evidenten Bedeutungsgehalt in Stellung gebracht wird. Den macht im Unterschied dazu Constantin Floros zur Grundlage seiner Deutung (siehe unten, Anm. 84 u. 85), wie auch Christian Wildhagen: Die Achte Symphonie von Gustav Mahler. Konzeption einer universalen Symphonik, Frankfurt a. M., Berlin, Oxford u. a. 2000 (siehe auch unten, Anm. 83).

79

So Kritiker Ernst Décsey, in: N. Lebrecht, Gustav Mahler im Spiegel seiner Zeit. Portraitiert von Zeitgenossen, Zürich 1990, S. 125.

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»Per aspera ad astra«: Strategien und Stationen einer ›Wanderung‹ In der ersten Sinfonie (1888) verdanken sich die Titel der Sätze literarischen Assoziationen an Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. Die Musik des Finalsatzes aber bezieht ihre Motive aus der Faust-Symphonie von Franz Liszt und dem Grals-Motiv aus Wagners Parsifal. Aber bereits im ersten Satz erscheint ein Choralsatz (Ziffer Z 52) und im Finale, das mit einer grellen Dissonanz als Fanal des »Infernos« eröffnet, endet sein Konflikt mit dem »Paradiso«, nach langem Ringen, in einem feierlichen Blechbläser-Choral als Fazit.80 Die zweite Sinfonie (1888–1894), beschrieben als Verbindung von »Sinfonie-Kantate, Oratorium und Erlösungsmysterium« (Constantin Floros), die Vokalsolistinnen, gemischten Chor und im Finale auch die Orgel miteinbezieht, wird von den Sujets ›Tod‹ und ›Auferstehung‹ beherrscht. Musikalisch erscheinen sie in vier zentralen Themen: das Dies-irae-Thema, das Kreuzmotiv, das Auferstehungsmotiv und das Ewigkeitsmotiv, entlehnt aus Wagners Siegfried im Ring. Aber Mahler unterlegt ihm einen zentralen Vers des Textes: »Sterben werd’ ich um zu leben!« Deshalb führt er uns auf einen Weg vom Tod als Sujet des ersten Satzes über die »Fischpredigt des Antonius von Padua« als Parabel der Sinnlosigkeit des Lebens im dritten Satz und dem Aufschrei der Schreckensfanfare am Schluss des Scherzo als Ausdruck der von dieser Sinnlosigkeit gepeinigten Seele bis zur Verkündigung der Apokalypse im letzten Satz. Sie wird dort quasi raumakustisch inszeniert, mit vier Trompeten »aus entgegengesetzten Richtungen her« erklingend. Aber davor steht schon anderes: der mit »Urlicht« und »Choralmäßig« überschriebene vierte Satz, mit einem Altsolo. Seinen Text entnimmt er aus Des Knaben Wunderhorn: »Der Mensch liegt in größter Not«. Aber sie wird überwunden: »Ich bin von Gott und will wieder zu Gott!«, und »der liebe Gott wird mir ein Lichtlein geben, wird leuchten mir bis in das ewig selig Leben!« Dabei dominiert das Dur: Die Musik geht von Des-Dur über A-Dur wieder zurück zu Des-Dur. Und auch die apokalyptische Szene des letzten Satzes mit Schreien, Beben, Trommel- und Paukenwirbel mutiert in die Quintessenz eines feierlichen Chorals im »Misterioso«. Damit dementiert Mahler die Schrecken des Jüngsten Gerichts und redet von etwas ganz Anderem: »O Schmerz, du Alldurchdringer / Dir bin ich entrungen!/ O Tod, du Allbezwinger/ Nun bist du bezwungen«, dichtet Mahler als Credo seiner Todes- und Weltüberwindung im Strahlenglanz eines supranaturalen »Urlichts«. Und »mit Flügeln, die ich mir errungen, werd ich entschweben, zum Licht, zu dem kein Aug’‹

80

Vgl. zu weiteren Details: Mahler Handbuch, hg. v. B. Sponheuer u. W. Steinbeck, Stuttgart u. Weimar 2010.

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gedrungen« um schließlich zu: »sterben werd’‹ ich, um zu leben«. Und er endet wieder, dreifach, mit »Gott«: »Auferstehen … wirst du mein Herz, … was du geschlagen … zu Gott, zu Gott, zu Gott wird es dich tragen!« Die Textvorlage stammt aus der Ode Die Auferstehung von Friedrich Gottlieb Klopstock aus seiner Sammlung Geistliche Lieder, Erster Theil (1758), aber Mahler verwendet davon nur die ersten zwei Strophen. Die anderen fünf dichtet er selbst als eigene dazu – kann man das anders als ein ausdrücklich verbalisiertes Bekenntnis verstehen – sein Bekenntnis? Das in seinem metaphysischen Bezug misszuverstehen, gelingt höchstens purem Deutungsnihilismus oder ideolgischer Hermeneutik . In der dritten Sinfonie d-Moll (1895/96) unternimmt Mahler eine naturalistische Weltenwanderung durch die Stufenreihe des Seins. Er feiert es vom Erwachen aus dem unorganischen Leben bis zum Menschen, den Engeln und der Liebe als letztes, höchstes Prinzip. Es sind Anregungen aus Nietzsches Geburt der Tragödie, Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung und dem Poem Genesis seines Dichterfreundes Siegfried Lipiner. Wir kennen Mahlers programmatische Überschriften: Patron ist zu Beginn der »große Pan« mit der Einleitung »Pan erwacht« – »Der Sommer marschiert ein« mit einem »Bacchuszug«, komponiert als riesiger, unregelmäßig gebauter Sonatensatz. Dann folgt: »Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen« als ein graziler, unbekümmerter Variationensatz und »Was mir die Thiere im Walde erzählen« als eine Art Rondo mit poetischen Posthornepisoden, entwickelt aus dem Wunderhornlied Ablösung, in dem der Kuckuck und die Nachtigall vorkommen. Dann folgt der vierte Satz »Was mir der Mensch erzählt«, ein hochpoetisches Lied für Altstimme und Orchester, das im »Misterioso« Nietzsches »O Mensch! Gib acht!« vertont, sein Mitternachtslied aus Also sprach Zarathustra. Aber nach dem vierten Satz lässt Mahler das nietzscheanisch-schopenhauerische Geistesambiente hinter sich und schreitet weiter zu einer höheren Stufe menschlicher ›Evolution‹: »Was mir die Engel erzählen«, mit Altsolo, Knaben- und Frauenchor und vier Glocken und einem Glockenspiel als (seine) charakteristischen Klanginsignien für ›Ewigkeit‹. Hier triumphiert nicht Nietzsches »Übermensch« als das darwinistisch evolutionierte Tier, sondern die Überwelt der Engel. Ihre vordergründige Naivität (»Armer Kinder Bettlerlied« nach der Vorlage aus den Wunderhornliedern) zeigt Mahlers Empfinden für jene ›Einfachheit‹, wie sie als Diaphanie Mozarts Musik bestimmt. Der sechste Satz schließlich ist kein tosendes Finale, sondern ein rein instrumentales Adagio als Apotheose der Liebe. Dazu bemerkt Mahler: »Im Adagio ist alles aufgelöst in Ruhe und Sein.« Damit liefert er auch einen Hinweis auf die Bedeutung seiner Adagio-Finales wie in zweiter, dritter und neunter Sinfonie, einer im sonstigen Sinfonischen unüblichen Konzeption. Es ist aber vor allem eine Signatur über der Disparatheit der einzelnen Sätze, der Trivialitäten, des Welt-Lärms und Getöses als eine finale Auflösung in der ›Liebe‹. Dazu schreibt er vor: »mit gesättigtem, edlen Ton« und kommentiert, dass er nicht die »irdische« Liebe meine, sondern die »ewige« – eine bedeutungsvolle Differenz.

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Der Keim der vierten Sinfonie G-Dur ist das Wunderhorn-Lied Der Himmel hängt voller Geigen. Mahler macht daraus in einer seiner fünf Humoresken von 1892 »Das himmlische Leben«, bevor er es in seiner Sinfonie (1899/1900) weiterverarbeitet. Sie kontrastiert die Disparatheit der dritten Sinfonie mit einer engen thematischen Verzahnung der vier Sätze und einem Bau nach klassischem Formschema: ein lebhafter Kopfsatz, der mit einem Schellengeklingel beginnt, das man mit der Schellenkappe eines Narren assoziieren soll (wie es eine Bemerkung Mahlers zur Vertrauten Natalie Bauer-Lechner belegt), ein Scherzo, das er als »Totentanz« bezeichnet hat, mit einer Skordatur der Solovioline, damit sie »schreiend und roh klingt«, »wie wenn der Tod aufspielt« (wie er zu Bauer-Lechner äußert),81 ein langsamer Satz mit einer unerwarteten Fortissimo-Episode sämtlicher Blasinstrumente vor dem Morendo der hohen Streicher und Flöten und schließlich als Finale das Orchesterlied für Sopran »Das himmlische Leben«. Die Heiterkeit zwischen Ironie und Naivität mit ihrer charakteristischen ›Welthaltigkeit‹ beschreibt er so: »Es ist die Heiterkeit einer höheren, uns fremden Welt darin, die für uns etwas Schauerlich-Grauenvolles hat.« Mit dem Finalsatz setzt Mahler aber wieder eine Signatur der Transzendenz als Quintessenz. Er bemerkt: »Im letzten Satz erklärt das Kind, welches im Puppenstand doch dieser höheren Welt angehört, wie alles gemeint sei« (zu Bauer-Lechner). Dazu weist er in der Partitur ausdrücklich an, mit »kindlichheiterem Ausdruck; durchaus ohne Parodie« zu singen. Und so ertönt nach der synkretistischen Ambivalenz in der schrillen Diktion des Wunderhornliedes vom Schlachten der Tiere und dem Kindermord zu Bethlehem, mit grellen Flöten und kreischenden Klarinetten, schließlich die Hymne von den »himmlischen Freuden« und dem »englischen Leben«, in dem »alles für Freuden erwacht«, denn: »Keine Musik ist ja nicht auf Erden, der unsere verglichen kann werden.« Die fünfte Sinfonie (1901/02) beginnt mit einem düsteren Trauermarsch in cisMoll. »Streng wie ein Kondukt«, fordert Mahler. Aus der banalen Eingangsfanfare mit vier Trompeten entwickelt Mahler dann aber ein komplexes sinfonisches Gewebe. Der zweite Satz trägt die Bezeichnung »Stürmisch bewegt«, aber die Reprise intoniert einen strahlenden Bläserchoral als Topos von Zuversicht und Gewissheit. Weil er aber ebenso plötzlich wieder in sich zusammensinkt, wirkt er eher wie eine schattenhafte Vision, bevor ein Forte-Tutti den katastrophenartigen Schluss bringt. Ein langes, kontrastreiches, polyphon durchgearbeitetes Scherzo mit obligatem Solohorn erinnert am Ende der Durchführung an einen Totentanz. Der vierte Satz, das berühmte Adagietto, ist ein inniges Liebeslied ohne Worte – adressiert an Alma Mahler in ihrem ersten gemeinsamen Sommer. Als euphorischer Gegenpol zum Trauermarsch des ersten Satzes kann das Rondo-Finale mit seinem Gestus zwischen Übermut und Choralapotheose verstanden werden. Das Choralthema des zweiten Satzes taucht als leichtfüßigere Variante auf, illuminiert ausdrücklich auf

81

Vgl. H. Kilian (1984), S. 202, 198.

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dreifache Weise: durch einen dramatischen Einbruch ›von oben‹ (V/5, T. 759), durch den Wechsel zur D-Dur-Tonika, armiert mit »ff«-Pauke und schließlich einem ostentativen vierstimmigen Blechbläsersatz mit dem Choralthema in zweiter Trompete und drittem Horn. Wieder setzt Mahler damit im Finale eine Signatur: der Choral als Symbol der Ruhe aus höherer Seins-Gewissheit, eine Bejahung, die man so gern aus der Bewusstseinslage der Moderne als »unglaubwürdige Affirmation« (Th. W. Adorno) bagatellisiert hat. Die sechste Sinfonie (1903/04) wurde bei der Wiener Erstaufführung 1907 mit dem Titel »Die Tragische« vorgestellt. Alma Mahler bezeichnete sie als »sein allerpersönlichstes Werk« und wies auf autobiographische Bezüge hin. Ein prägnanter Leitrhythmus und eine charakteristische Akkordformel aus einem Fortissimo-DurAkkord der Trompeten mit dem Mollakkord der gleichen Stufe bilden eine thematische Klammer zwischen Kopfsatz, Scherzo und Finale. Im Scherzo mutiert ein Ländler zu einem Marsch und wieder zurück und das, wie so oft bei Mahlers Scherzi, ohne jede ›spaßige‹ Heiterkeit. Wenig anders kommt das Andante daher, das die Stimmung der Kindertotenlieder evoziert und (nach Ziffer 100) in abgründige Trauer versinkt. Das Finale, eines der umfangreichsten bei Mahler, ist durch eine gewaltige Schlagwerkbesetzung gekennenzeichnet. Neben den Pauken, kleiner und großer Trommel, Becken und Triangel fordert Mahler auch noch Tambourin, Xylophon, Celesta, Glockenspiel, Herdenglocken, Tam-Tam, Holzklapper, Rute und – einen Hammer. Seine Schläge waren zuerst an drei Stellen im Finale vorgesehen (nach Ziffer 129, bei 140 und in Takt 783 am Schluss). Sie sollten wie »Axthiebe« (Mahler) hineinklingen in die massierten Fluten verstörender klanglicher Brutalität. Aber dann streicht Mahler ausdrücklich den letzten Schlag. Der Satz endet nach »immer langsamer« und »schleppend« im Piano verebbender Trompeten und Pauken mit einem timiden Pizzicato der Streicher. Ob die Streichung des letzten Hammerschlags, der, Alma zufolge, Metapher für Mahlers »Untergang« sein sollte oder, wie sie später sagte, der »seines (sinfonischen) Helden«, als Zeichen eines Dementis solcher Metaphorik verstanden werden kann, bleibt offen. Klar bleibt aber die bewusste Milderung zu einem Morendo. Auch in der siebten Sinfonie (1904/05) mischen sich wieder Naturvisionen, Nietzsche-Inspirationen und Schattendämonien. Fünfsätzig umrahmen zwei wuchtige Ecksätze (erster und fünfter) zwei »Nachtmusiken«. Im ersten Satz mit einer langsamen Introduktion und einem Arioso des Tenorhorns, die in einen Sonatensatz führt, geht es von einem Trauermarsch bis zu einem visionären Choralsatz, der als Metamorphose des Marschthemas erscheint. Verwegene Modulationen in der Durchführung und eine von Quartenakkorden geprägte Harmonik verbreiten herbe Expressivität. Dagegen schwärmen die »Nachtmusiken« des zweiten und vierten Satzes im romantischen Eichendorff-Ambiente: Ein »Andante marziale« mit Horn-Motiven, Hell-Dunkel-Kontrasten und den Trillermotiven, die »wie Vogelstimmen« klingen sollen, malen es im zweiten Satz. Im vierten ist es das »Andante

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amoroso« mit Serenadencharakter samt Gitarre und Mandoline, das den lyrischen Tonfall eines ›Liedes ohne Worte‹ beschwört. Eine andere Art Nachtstück ist der dritte Satz, »Schattenhaft« betitelt. Es ist ein unheimliches Scherzo als phantastische Tanzszene, mit Klage und Walzer zu einem dämonischen Kaleidoskop gefügt. Aber im Rondo-Finale bricht eine blendende Helle in C-Dur durch, die über sieben festliche, wiederkehrende Ritornelle immer weiter gesteigert wird: »Eine Offenbarung klanggewordenen Lebens« (Paul Bekker). Dazu kommt ein wuchtiger Bläserchoral (Takt 260–367) mit Glockengeläute – Mahlers Chiffre für ›Ewigkeit‹. »Sonne und Erde, Schöpfer und Geschöpf, Göttliches und Irdisches tönen zusammen in einem großen Akkord«, beschreibt Bekker den Schluss.82 »So erscheint der sinfonische Erzählungsweg wie eine Wanderung ›Per aspera ad astra‹« (Constantin Floros). In der achten Sinfonie (1906) bestimmt bereits die tiefsinnige Verbindung zwischen dem Pfingsthymnus Veni Creator Spiritus und Goethes Faust – Der Tragödie zweiter Teil Anspruch und Format der sinfonischen Epik. Wieder könnte man diese Kombination formal als ›synkretistisch‹ bewerten: hier Archaik aus Mittelalter und christlichem Hymnus, dort die freigeistige Dichtung des Weimarer Olympiers. Deshalb hat sich daran immer viel Kritik entzündet.83 Aber beides sind Sujets von abendländischem Rang. Mahler selbst betont die Bedeutung seines Werks, wenn er es als »das Größte, was ich gemacht habe« (in einem Brief an Willem Mengelberg) und als »seine Messe« (gegenüber Alfred Roller) bezeichnet und einen beispiellosen Besetzungsaufwand wählt. Das riesige Orchester (in der Münchner Uraufführung, 1910, spielten 170 Musiker) umfasst außer dem Streicherensemble noch sechs Harfen, ergänzt durch Orgel, Harmonium, Celesta, Mandoline, samt Fernorchester mit vier mehrfach besetzten Trompeten und drei Posaunen. Dazu kommt ein Vokalensemble von zwei Sopranen, zwei Alt-, Bariton- und Basssolisten und zwei großen gemischten Chören sowie Knabenchor. Das hat dem Werk nicht nur das Prädikat einer ›Vokalsinfonie‹ oder einer ›Sinfoniekantate‹ eingebracht, sondern auch den Superlativ der »Sinfonie der Tausend«. Musikalisch ist das Werk, in dem von Anfang an gesungen wird, in zwei Teilen konzipiert, die strukturell durch charakteristische Leitmotive und inhaltlich durch die Kernaussagen ihres spirituellen Gehalts verbunden sind.

82

P. Bekker, Gustav Mahlers Sinfonien, Berlin 1921, S. 265.

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So Hans Mayer (1966), S. 145 ff., der es eine »totale religiöse und poetische Zweckentfremdung« nennt. Eine fundamentale Kritik am ganzen Werk liefert Adorno, der es als »symbolische Riesenschwarte« abqualifiziert und von »Frevel« spricht, womit er, aus dem Denken seiner gesellschaftstheoretischen Fortschrittsidee, vor allem den »regressiven« Charakter des Werks im Vergleich zu den anderen Sinfonien Mahlers kritisiert, vgl. Adorno (1960), S. 182 ff. Die Gegenposition einer umfassenden, profunden und vor allem den geistigen Hintergrund erfassenden Untersuchung liefert Christian Wildhagen (2000), der in ihr die »Ahnung des Absoluten« erkennt und mit eingehenden Analysen die Bestätigung für ihren Bedeutungsgehalt liefert.

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Eine entscheidende Rolle für die musikalische Verbindung zur Einheit spielen zwei Themen: das Veni-Thema als Kopfthema und das Accende-Motiv als ›LiebesThema‹. Ersteres bezieht seine Wirkung aus dem profilierten Abschwung durch einen Quartschritt nach unten, bekräftigt als Fanfare der Trompeten und Posaunen. Im zweiten ist es die Gewalt des Aufschwungs im aufflammenden ›Ac-Cende‹. Es taucht zuerst in der Durchführung des ersten Satzes auf (Ziffer 38/39) zu den Worten «Accende lumen sensibus / Infunde amorem cordibus« (Entzünde deine Leuchte unseren Sinnen / Ströme deine Liebe in unsere Herzen) und gelangt im zweiten Teil zu zentraler Bedeutung. Mahler hat es als den »Angelpunkt des ganzen Werkes« bezeichnet (überliefert in einem Brief von Anton von Webern an Arnold Schönberg). Aber semantische Verbindungen zwischen den beiden Teilen zeigen sich in vielen Korrespondenzen, etwa der Verwendung des Accende-Themas zu »Gerettet« im zweiten Teil oder den analogen Abschnitten in beiden Teilen. Der erste Teil, eine Hymne an den göttlichen Geist des Schöpferischen, weist Sonatenform auf, mit einer Doppelfuge am Schluss der Durchführung, in der die beiden Hauptthemen kombiniert werden. Dann folgt ein langes Adagio mit einem choralartigen Thema zum Text »geweihter Ort«. In der Coda werden dann die fünf aufgetretenen Themen zusammengefasst, wobei das zentrale Accende-Thema durch eine Besetzung mit vier Trompeten und drei Posaunen klanglich besonders illuminiert wird und das Gloria (mit Orgel im Organo pleno) einen mächtigen Schlussjubilus setzt. Der zweite Teil der Sinfonie antwortet auf den strahlenden Es-Dur-Schluss des ersten komplementär mit es-Moll: die Einstimmung in weite, mystische Klangräume. Sie entfalten sich erst nach und nach in unerhörten Nuancen am Text und den Regieanweisungen wie sie bei Goethe stehen. Mahler kürzt zwar, aber im Unterschied zu vielen Wunderhorn-Liedern ändert er kaum am Text. Sein komplexer Assoziationsreichtum führt folglich auch zu einem höchst komplexen Bau der musikalischen Struktur. Sie erschließt sich allerdings nicht über eine bloße formanalytische Betrachtung, sondern »nur einer semantischen Analyse kann es gelingen, Mahlers Intentionen zu erkennen« (Constantin Floros).84 Zu deren Essenzen gehören der Engelschor (»Gerettet ist das edle Glied«) und wiederum das Finale, der Chorus Mysticus: »Alles Vergänglich ist nur ein Gleichnis.« Bedeutungskern beider ist die ›Liebe‹ – aber verstanden als ›Ewige Liebe‹. Das ist kein naturalistischer Liebesbegriff, sondern einer, der jene höchste Erscheinungsform von Liebe meint, die das Sinnlich-Kreatürliche überschreitet und in letzter Hinsicht sogar keiner Bindung an Gegenständliches mehr bedarf. Bereits bei Augustinus findet sich solche tiefsinnige Unterscheidung vom ›Begehren‹, der Cupiditas mit ihrem appetitus, und der Caritas, die er eine »Seelenregung« nennt, 84

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C. Floros, Gustav Mahler, Teil III: Die Symphonien, Wiesbaden 1985, S. 225 ff. sowie: Gustav Mahler, Teil I: Die geistige Welt Gustav Mahlers in systematischer Darstellung, Wiesbaden 1977 und Teil II: Mahler und die Symphonik des 19. Jahrhunderts in neuer Deutung, Wiesbaden 1977.

»mit der das geliebt wird, das höher steht als der Liebende selbst, das heißt was ewig ist und das Ewige zu lieben vermag …«. Hier scheint die Verbindung auf zum biblischen Diktum: »Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott«. Auch Mahlers Librettist, Goethe, meint diese höchste Erscheinungsform der Liebe und spricht von der »ewigen Liebe« als »göttlicher Kraft«.85 Verbunden aber ist sie dort mit der Mater Gloriosa, nicht nur als »Herrscherin der Welt« und der Erlöserin Fausts aus seinem Teufelspakt durch das transzendierende Potential der Liebe als Himmelsmacht, sondern zugleich als Repräsentantin des weiblich-polaren Teils des ›Göttlichen‹ mit seinem Urbild in der Hagia sophía (siehe Kapitel VII). Im Chorus Mysticus findet sie ihre Schlussapotheose: Das Unbeschreibliche/ Hier ist’s getan / Das Ewigweibliche / Zieht uns hinan. / Mahler ergänzt es bedeutungsschwer mit: »Ewig!« – im dreifachen Forte und strahlendem Es-Dur. Mahler hat Goethe genau verstanden: Er vollzieht die Apotheose des ›Ewigen‹ im archetypischen Zeichen des ›Weiblichen‹. Damit bekennt er sich zur numinosen Qualität des ›Ewigen‹, wo die Vollendung des Menschen zu seiner alten, jenseitigen Ur-Einheit in polarer Ergänzung wieder erlangt wird. Gleichzeitig bekennt er sich in seinem Weiblichkeitsbild zur Venus urania und den Eros anadyomenos, der Gleiche, wie er in Dantes Göttlicher Komödie die Rolle der Beatrice bestimmt und in Mozarts Zauberflöte-Märchen dessen Pamino-Pamina-Dramaturgie. Das unterscheidet ihn und seinen musikalischen Ethos von Richard Wagners Eros der ›Liebesnot‹ mit Thanatos-Gebot. Als eine »Symphonie für eine Altstimme und eine Tenorstimme und großes Orchester« bezeichnete Mahler das Lied von der Erde, vollendet 1908. Die Zuordnung zum Genre der Sinfonie scheint vor allem durch die Ecksätze gerechtfertigt. Sie haben sinfonische Struktur und Dimension durch sonatenhafte Anlage mit durchführungsartigen Abschnitten, langen Orchesterzwischenspielen zu den Gesängen und motivisch-thematischen Verknüpfungen. Für eine Erweiterung der Tonalität sorgen pentatonische Tonleitern, die in die Dur-Moll-Kontexte verwoben sind und die (ähnlich wie bei Puccinis Tosca) das Kolorit altchinesischer Musikidiomatik assoziieren. Denn Mahler verwendet Texte aus der Sammlung Die chinesische Flöte von Hans Bethge, einer Nachdichtung altchinesischer Lyrik. Dort geht es wieder um ein Naturerleben in verschiedenen Facetten, die Nichtigkeit der irdischen Dinge und die Vergänglichkeit des Menschenlebens. Mahler me85

Aurelius Augustinus, De diversis Quaestionibus octoginta tribus (Dreiundachtzig verschiedene Fragen), 36,1, wo diese Liebe als caritas oder dilectio letztlich auf das Summum bonum, die höchste Glückseligkeit in Gott bezogen wird. Goethe führt darüber ein aufschlussreiches Gespräch mit Eckermann (6.6.1831), vgl. C. Floros (1985), S. 230 ff. sowie (1977), S. 125. Tiefste Erläuterung dazu findet sich bei Bȏ Yin Rȃ »… jene wesenhafte Liebe, die eine Geistesform der Gottheit ist«, in: Das Hohe Ziel, Leipzig 1925, S. 106 im Kapitel: Von der Macht der Liebe, S. 97–109.

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ditiert im zweiten Lied mit klagendem Holzbläserkolorit über den »Einsamen im Herbst«, malt mit fast impressionistischer Plein-air-Stimmung das dritte Lied »Von der Jugend« und verstört im vierten »Von der Schönheit« mit einem Geschwindmarsch inmitten zauberischer Idylle. Bezeichnend für Mahlers mentale Disposition aber ist, wo er ändert. In der Sentenz von Li Tai-Po im ersten Gesang »Dunkel ist das Leben, ist der Tod«, lässt er die nihilistische Schlussstrophe von Bethge »Nur ein Besitztum ist dir ganz gewiß: das ist das Grab, das grinsende Ende« weg. Und auch für das requiemhafte Finale »Der Abschied«, ein sinfonisches Adagio, das er mit »Schwer« überschreibt, ändert er den Schluss. Die verklärend-ersterbende Coda klingt mit einem siebenmaligen »Ewig … Ewig« aus. Auch die Singstimme evoziert durch ihr Verharren auf der zweiten Stufe von C-Dur das Schwebend-Unbegrenzte und nimmt mit der harmonischen Ergänzung des Akkordes durch die Sixte ajoutée alle Erdenschwere von der Musik. Für seine neunte Sinfonie (1909) wählt Mahler eine ungewöhnliche Satzanordnung: zwei langsame Sätze, einmal als Anfang mit viel D-Dur und auch als Finale, aber in Des-Dur. Scharfe Kontraste zwischen Simplizität und Dämonie, Archaismen und leidenschaftlicher Ekstatik führen wieder zu einem individualistischen Expressionismus, aber im gespenstischen Krisenmodus – vielleicht Nachklang der Schatten von 1907: dem tragischen Tod seiner Tochter Maria und der medizinischen Diagnose seines lädierten Herzens. Deshalb figuriert das Werk in der Deutungsgeschichte sogar als Todesahnung: »›Was mir der Tod erzählt‹ lautet die ungeschriebene Überschrift der neunten Sinfonie«, (so Paul Bekker, 1921, S. 340) oder: »Der Abschied«, wie Bruno Walter sagt. Formal fügt Mahler eine klassische Viersätzigkeit mit gemäßigter Orchesterbesetzung und ohne Vokalstimmen. Als introvertierte Expressivität kommt der erste Satz »Andante comodo« daher. Seine partikelhafte Struktur aber mit ihrem kurztaktigen, stockenden Rhythmus, der etwas von einem »extrasystolisch schlagenden Herzen« evoziert (Jens Malte Fischer), kappt jeden Anlauf, führt jede Verbindung in die Sackgasse: eine Formensprache in Auflösung. Es gibt zwar zwei Themen, ein eher lyrisches in Dur und ein eher dramatisches in Moll, aber sie bleiben fragmentarische Grimassen und leisten nichts für einen Sonatenprozess. Auch die Instrumentation ist bizarr: eine ungewöhnliche Klangbeschwörung mit Flöten und Piccolo in Diskantlage gegen Hörner, Trompeten und Streicher in Basslage samt Flageolett-Geisterklängen. Einem Ausbruch zur Klimax mit Posaunen und Tuba im dreifachen Forte »mit höchster Gewalt« folgt eine Reprise im kammermusikalischen »Misterioso«, erfüllt von gespenstischer Jenseitsahnung. Der zweite Satz ersetzt die konventionelle Idee eines Scherzo durch eine Reihung verschiedenster Tanztypen. Sie gehen von einem Beginn mit »Sehr derb« in harter, böser Unerbittlichkeit bis zu einem intimen Schluss im Pianissimo: »Der Tanz ist aus« (Bruno Walter). Auch der dritte Satz, »Rondo-Burleske« in a-Moll, wird aus herben Kontrasten gefügt: ein Seitensatz im trivialen Schlager-Ambiente der 1920er Jahre, schroffe,

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grell instrumentierte Fugati und eine fremdartig einmontierte D-Dur Episode von ätherischer Aura grimassieren wie das fiebrige Imago einer Burla. Der Finalsatz verspricht zunächst ein erhabenes Adagio mit dem schmerzlichen Schmelz des typischen Mahler-Idioms. Es hat zwei Themenkomplexe in zwei Tongeschlechtern: die schlichte Figur eines Doppelschlages, der in eine instabile Des-Dur-Harmonik führt und eine geisterhafte cis-Moll-Klanggeste der ›Leere‹, die vom Solofagott (Takt 11–12) bis in exaltierte Klanglagen führt (Takt 28–30), wo Kontrafagott, Kontrabässe und Celli gegen die ersten Violinen in höchster C4-Lage gesetzt sind: Demonstration eines völlig freien Einsatzes thematischer und melodischer Elemente, die dann in einer strukturellen Variantentechnik den Satz bestimmen. An solcher Faktur der aneinandergereihten, aphoristischen Chiffren mit der »Zerlegung der Motive in Parameter, die unabhängig von einander in musikalische Zusammenhänge eingefügt werden« (Carl Dahlhaus),86 zeigt sich in besonderem Maße die dissoziative Seite der Mahler’schen Musikidiomatik. Als ausdrückliche Negation traditioneller Form-, Stimmführungs- und Themenbau-Prinzipien demonstriert sie a-funktionale Richtungslosigkeit und an-organische Zusammenhanglosigkeit. Aber sie ist nicht Selbstzweck, sondern erweist sich als Chiffrierung von ›Bedeutung‹: einer desolaten Atrophie allen Fühlens, den Verlust jeder Innerlichkeit. Beleg dafür sind Mahlers eigene negative Ausführungsvorschriften zu diesen Takten: »ohne Empfindung« und »ohne Ausdruck«. Doch dann gibt es wieder ein aufbrausendes Fortissimo der Posaunen (Takt 118) – und schließlich eine Coda, »Adagissimo«, in dreifachem Pianissimo eines Morendo der Geigen, Bratschen und Celli, überschrieben mit »ersterbend«. Man mag es als Ausdruck eines Verlöschens im blanken ›Nichts‹ deuten – vielleicht aber auch als eine arkane Jenseitsvision der Mahler’schen Art. Denn es ist ein Zitat aus dem vierten seiner Kindertotenlieder: »Im Sonnenschein! Der Tag ist schön auf jenen Höh’n«. Die nachgelassene, zehnte Sinfonie von 1910 sollte fünf Sätze umfassen, blieb aber ein Torso von Entwurf, Particell und Skizzen. Auch sie beginnt mit einem Adagio, seinem am weitesten ausgearbeiteten Teil. Die erste Motivgruppe zeichnet ein melancholisch-schweifendes Melos bis zu einem dramatischen Kontrast mit einem bizarren neuntönigen Akkord (Takte 206 und 208). Er entsteht, nach einem mächtigen Tutti-Akkord in as-Moll, aus dem sich ein Bläserchoral entwickelt, durch einen erneuten Akkordaufbau von zweigestrichenem A der ersten Violinen über einem Fünftonklang Gis-H-D-F-A, ergänzt durch Cis (im Bass) und C-Es-G. Es ist ein erratisches Klanggebilde, das kein Pendant in Mahlers bisheriger Musik hat. Es wirkt wie eine Schlüssel-Chiffre, mit der sich die zentrale Bedeutung der Ausdruckswelt dieses Werkembryos erschließt, grausam klar durch Mahlers eigene Vermerke attestiert.

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C. Dahlhaus, Form und Motiv in Mahlers Neunter Symphonie, in: NZfM 135 (1974), S. 298.

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Mit »Purgatorio« ist der dritte Satz nach einem rythmisch verstörenden Scherzo überschrieben. In seiner Particellskizze steht von Mahlers Hand über den Takten 95–97: »Todesverkündigung« und im Manuskript finden sich die biblischen Annotationen: »Erbarmen! O Gott! O Gott! Warum hast du mich verlassen!« und später »Dein Wille geschehe!«. Über dem vierten Satz steht: »Der Teufel tanzt mit mir« und an seinem Schluss steht: »Du allein weißt, was es bedeutet. Ach! Ach! Ach! Leb’‹ wol mein Saitenspiel! Leb wol. Leb wol.« Schließlich setzt er unter die letzten Zeilen des skizzierten Finales, das in einem langsamen Schlussteil ausklingt: »für dich leben! Für dich sterben! Almschi!«. Die erschütternden Notate illustrieren unverhüllt Mahlers mentalen und emotionalen Zustand: Es ist die verzweifelte Reaktion auf Almas Liebesaffäre mit Walter Gropius im Sommer 1910.87 Mit diesem Kontext gewinnt der bizarre Neuntonakkord womöglich eine gleiche Qualität als Ausdrucksbedeutung wie Wagners Tristan-Akkord.

Das Ethos eines Gottsuchers Dieses Finale von Mahlers sinfonischem Werk offenbart schonungslos den verzweifelten Menschen in unserer leidvollen conditio humana. Als Künstler aber offenbart sich sein geistiger Horizont in seinem musikalischen Ethos. Bezeichnend dafür ist schon sein höchst bedeutsamer Umgang mit den Texten. Er lässt sich nicht von irgendeinem Einzeleindruck affizieren ohne Blick auf den Bedeutungsgehalt des Ganzen. Das unterscheidet ihn von Schönberg, wie dieser in seinem Aufsatz Das Verhältnis zum Text (1914) darlegt. Aber auch von Richard Strauss, der vor allem ein gutes ›Erzähl-Programm‹ will oder ein bestimmtes Ambiente, interessante Figuren und Konstellationen. Mahler hingegen hat eine unbeirrbare Vorstellung davon, was ihm aus seinem Ethos tauglich erscheint. Mit ihm durchsucht er die ganze Weltliteratur bis hin zur Bibel, um »das erlösende Wort zu finden« (Mahler zum letzten Satz seiner zweiten Sinfonie). Nichts verweist eindrucksvoller darauf, welche Absicht er mit seinem Komponieren als Aussage verfolgt und welchen geistigen Vorstellungen sie entsprechen muss. Wer dann noch die endlich gefundenen Wortbilder und Gedanken so verändert, wie es Mahler im Klopstock-Text »Aufersteh’n« für den letzten Satz der zweiten Sinfonie unternimmt, der bezeugt mit Herzblut, welche Botschaft er überbringen will: »O Schmerz, du Alldurchdringer, / Dir bin ich entrungen! /O Tod, du Allbezwinger / Nun bist du bezwungen.«

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Zum Stand der Skizzen-Philologie, vgl. H. Schaefer, Gustav Mahler. Briefe und Musikautographen aus den Moldenhauer-Archiven in der Bayerischen Staatsbibliothek, München 2003, S. 190  ff. Eine Vielzahl von Vervollständigungsversuchen hat sich inzwischen um den Werktorso bemüht, vgl. M. Hansen, Gustav Mahler, Stuttgart 1996; J. Rothkamm, Wann entstand Mahlers Zehnte Symphonie?, in: Musik-Konzepte 106 (1999), S. 100 ff.

Wenn er einen Text formuliert wie: »Aufersteh’n wirst du mein Herz« und »Sterben werd’‹ ich um zu leben«, dann offenbart sich nicht nur ein transzendenter Horizont als Bekenntnis und ›Botschaft‹, sondern er stellt sich damit auch in die Reihe distinguierter Geistesverwandter, von Guillaume de Machauts Rondeau »Ma fin est mon commencement« bis zu J. S. Bach’s Jubelarien über den Tod. Mahler komponiert kein Requiem der gescheiterten Hoffnungen, schon gar nicht einen »Niederschlag der Apotheose« (Th. W. Adorno). Er bezeugt das Gegenteil. Und nicht allein als bloßes Bekenntnis zu »etwas«, sondern als Frucht eines Erringens und damit, hochbedeutsam, als Intentionalität eigener Willensleistung. Sie artikuliert sich auf das Nachdrücklichste mit seiner eigenen Weiterdichtung der Strophen: »Mit Flügeln, die ich mir errungen / in heißem Liebesstreben / werd ich entschweben / zum Licht, zu dem kein Aug’ gedrungen /88 – emphatisch-affirmativ bekäftigt mit der Wiederholung: »Mit Flügeln, die ich mir errungen / werd ich entschweben! / Sterben werd’ ich, um zu leben!« Hier bezeugt sich ein Ethos, das, genau wie bei Bach oder Beethoven, seine Kunst nicht nur als Gestaltung aller möglichen Inventionen und Phantasien begreift, sondern als Schöpfertum aus einem spirituellen Bewusstsein – und sich von daher als ›Künstler‹ verwirklichen will. Das ist auch, genau so nachdrücklich wie bei Beethoven, ein Aufruf zu einer willensbetonten Gestaltung von Selbst und Leben – denn die »Flügel« wachsen nicht von selber, sondern müssen errungen werden. Damit ist es auch ein Aufruf zur eigenen inneren Formfindung und deswegen nicht zuletzt eine Erinnerung an die alten Metaphern vom ›Dombau‹ der Gotik und der freimaurerisch-Mozartschen ›Arbeit am rauhen Stein‹. »Einen Gottsucher haben ihn seine Freunde seit jener Zeit genannt. Das Bekenntnis der zweiten Sinfonie weist Mahler als Menschen aus, der Gott gefunden hat«, resümiert sogar ein moderner, kritischer Musiksoziologe.89 Ob Mahler im höchsten Sinn seinen »Lebendigen Gott« in sich gefunden hat, wissen wir nicht. Aber wir wissen unmissverstehbar um sein Gottesverständnis, das sein ganzes Komponieren und Reflektieren als Matrix durchzieht. Es ist, wie bei

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Mit dem Text: »Zum Licht, zu dem kein Aug’‹ gedrungen« eröffnet sich ein Horizont, der alles ›Natürliche‹ oder gar Destruktive weit überschreitet, denn er paraphrasiert einen Bibeltopos wie er in Jesaja 64,3 aufklingt und bei Paulus (1. Korinther 2,9) die Formulierung findet: »Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr je gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, das hat Gott bereitet, denen, die ihn lieben.« Das ist Referenz auf ein Über-Sinnliches und einen Bewusstseinszustand, dessen seelisches Erleben etwa bei J. S. Bach in einer seiner tiefgründigsten Kantaten mit vielen Anspielungen aus dem Hohelied Salomons musikalischen Ausdruck findet: Wachet auf, ruft uns die Stimme. Dort heißt es: »Kein Auge hat es je gespürt, kein Ohr hat je gehört solche Freude …« (BWV 140, Nr. 7, Schlusschoral, Vers 3, nach einem dreistrophigen Lied von Philipp Nicolai von 1599).

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K. Blaukopf, Gustav Mahler oder der Zeitgenosse der Zukunft, Wien, München, Zürich 1969, S. 117.

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Goethe, jene Art von Re-ligio, die jede Religionsform in persönlicher Aneignung zu einem inneren Urgrund spirituellen Erlebens vertieft. In Mahlers beseeltem Naturerleben findet sie als Pantheismus universalistischen Ausdruck, philosophisch inspiriert durch seine Lektüre von Gustav Theodor Fechner (Zend-Avesta) und Hermann Lotze (Mikrokosmos), vor allem aber durch seinen lebenslänglichen Fixstern Goethe. In ihrer höchsten spirituellen Qualität aber manifestiert sie sich in seinem Bekenntnis zu einem Liebesbegriff, der die göttliche, die ewige Liebe meint, wie es als Essenz im Finale der zweiten und der achten Sinfonie so bewegend Ausdruck findet. Diese Gottesvorstellung Mahlers wird von Zeitzeugen wie von Oskar Fried, Alfred Roller und Bruno Walter immer wieder nachdrücklich bestätigt und äußert sich auch in vielen seiner Briefe und Gespräche. »Gott ist die Liebe und die Liebe ist Gott. Diese Idee kehrte in seinem Gespräch tausendfältig immer wieder« (Alfred Roller).90 Damit steht Mahler in der Geschichte des sinfonischen Komponierens aus den gleichen Gründen so ›quer‹ wie Bruckner. Was dort die Zeitgenossen als »erratisch« und ohne »Folgerichtigkeit« im Sinne tradierter sinfonischer Form befremdet hatte, verstörte sie bei Mahler als grellbuntes Tingeltangel und bizarrer Synkretismus. Weil das als Welthaltigkeit weniger das Irritierende integriert, sondern als Disparatheit viel von dem stehen lässt, was die idealistische Ästhetik als Schlacke und triviale Gegenwelt zu einem transzendenten Erlebnisbereich nicht zuließ, bringt ihr bis heute Kritik und sogar Ablehnung ein. In Wien war Eduard Hanslick, wie bei Bruckner, gleich zu Anfang wieder mit von der Partie: »Einer von uns beiden muß verrückt sein. Ich bin es nicht … So gestehe ich denn betrübt, daß die neue Symphonie zu jener Gattung Musik gehört, die für mich keine ist«, rezensiert er am 19.11.1900 die Aufführung der ersten Sinfonie in der Neuen Presse. Aber auch noch nach der siebten stand in der Berliner Vossischen Zeitung: »Herr Mahler ist nichts weiter als ein gewaltiger Störenfried unter den Komponisten von heute. Was er macht, ist weiter nichts als ein bombastisches,

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Das entspricht dem Bibelzitat: »Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm.« (s. Anm. 85). Die umfassendste und substanziellste Darstellung von Mahlers mentaler und spiritueller Disposition als Grundlage eines menschlichen und künstlerischen Ethos und seines Komponierens findet sich bei Constantin Floros (1977, Bd. I), vgl. dort bei »Zeugnissen der Freunde«, S. 123 f. sowie J. M. Fischer, Gustav Mahler. Der fremde Vertraute, Wien 2003, S. 481–500. Hier wird besonders die Verbindung von Mahlers Bekenntnis zur Erhaltung und Fortdauer der seelischen Kräfte des Menschen im Naturgeschehen nach dessen Tod bis hin zur Möglichkeit individueller Reinkarnation dargestellt. Fischer zufolge leite sich daraus auch Mahlers Verständnis von der essenziellen Wichtigkeit des eigenen Bemühens und Strebens in diesem Erdenleben her: das »errungen haben« im Sinne von Goethe im Faust: »Wer immer strebend sich bemüht/ Den können wir erlösen«. Danach würde es bei Mahler zur tiefsten Rechtfertigung allen irdischen Schaffens, weil dessen Früchte der überdauernden (aristotelischen) Entelechie niemals verloren gehen, eine Auffassung, die auch der von Goethe entspräche, wie sein Gespräch mit Johannes Falk, v. 25.1.1813 zeige, in: Fischer (2003), S. 496 f.

unverständliches, aufdringliches, unechtes Getue …«. Und eine Zeitung in München schrieb: »… hier kämpft ein Größenwahnsinniger gegen Windmühlen an. Nichts wird von dieser überzüchteten Kakophonie übrigbleiben.« Der befreundete Dirigent und Komponist Felix von Weingartner hatte zwar in München seine vierte Sinfonie aufgeführt, beschränkte sich aber in Folgeaufführungen, darauf nur den Finalsatz zu spielen. Begründet hat er das mit drastischen Urteilen über die anderen Züge von Mahlers Orchestersprache, die er als so unordentlich und überladen empfand, dass ihm »buchstäblich übel geworden sei« (Brief an Mahler vom 30.11.1901). Sogar Komponisten, die Mahler als wahlverwandte Geister empfand, wie Debussy und Paul Dukas, verließen (Alma Mahler zufolge) bei einer von ihm dirigierten Aufführung der Zweiten im Pariser Théâtre du Chȃtelet den Saal nach dem ersten Satz. »Viele Dinge in seiner Musik sind mir unverständlich«, bemerkte Debussy dazu, »seine künstlerische Auffassung ist mir wesensfremd, … er verwendet zu viele ungeschliffene Bausteine«. Inzwischen fesselt das, was früher irritierte. Damit wird Mahler mit einer breit einsetzenden Rezeption seines Werks seit den 1960er Jahren immer stärker als »Zeitgenosse der Zukunft« akklamiert.91 Allerdings womöglich einer Zukunft, die eher aus jenem »Nach-metaphysischen« Bewusstsein verstanden wird, wie es bei Heidegger bis Habermas, Adorno oder Wellmer zur legitimen Zeitsignatur erklärt wird. Denn wenn solche ›Zeitgenossenschaft‹ nur in der gekonnten musikalischen Gestaltung ihrer Disparatheiten und Verstörungspotenziale, dem lustvollen Auskosten des ›Weltgetümmels‹ verstanden wird, dann fungiert seine Musik als bloße Affirmation zeitgeistiger Gebrochenheiten. Dann werden seine Collagen zur Mimesis existenzieller Widrigkeiten, die Brüche zu Stigmata aktueller Zerrissenheiten, die elaborierten Klangkulissen zur Metapher eines Pandämoniums, das als Repräsentation der conditio humana des homo technicus und seiner »transzendenten Obdachlosigkeit« daherkommt. Aber das ist höchstens die halbe Wahrheit. Nur wenn man bereit ist, den ganzen Mahler wahrzunehmen, erkennt man, was seine tiefste Bedeutung ausmacht: sein Ringen um die finale Überwindung des kakophonen Weltgetöses durch ein Ethos, das sich nicht weniger wie bei Mozart, Beethoven oder Bruckner – unbeirrbar einem transzendenten Bezug verpflichtet fühlte.

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Nach der ersten nennenswerten Rezeption, vor allem dank der Aufführungen durch Bruno Walter und Willem Mengelberg, kam der Umschwung zu heutiger Präsenz erst seit den 1960er Jahren in Gang. Er ist mit Leonard Bernstein und Jan Kubelik verbunden, vor allem mit deren ersten Schallplatten-Gesamtaufnahmen, die wiederum eng mit der audiotechnischen Karriere von LP und Stereophonie zusammenhängen, weil sie größere Möglichkeiten für die Raumklangwirkung von Mahlers Instrumentation ermöglicht hat. Vgl. Überblicke bei K. Blaukopf (1969), S. 293–299 und J. M. Fischer (2003), S. 864 ff.

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Zeitgenössische Differenzwelten: Schostakowitsch – und andere Ein Blick auf die sinfonische Landschaft der Zeit schärft das Sensorium für die Bedeutungsunterschiede. Dort werden im Aufblühen eines »Zweiten Zeitalters der Sinfonie« auch alle Stadien eines Evolutionären sichtbar – aber nicht nur in Individualitäten, sondern auch als Prozess eines »Zerfalls der musikalischen Gattungen im 20.Jahrhundert« (Carl Dahlhaus).92 Was bereits Mahler formal strapaziert, wird dann bei vielen wie Ives, Sibelius, Nielsen, Schostakowitsch oder bei Pettersson bis Per Nørgård zu Erscheinungsformen, die mehr von der Dignität des Topos zehren als von seiner Formtradition. Bei Charles Ives erweist sich das, was vordergründig als unbekümmerte Collage disparaten ›Materials‹ erscheint, bereits als dekonstruktivistische Montage der tradierten Form. In der vierten Sinfonie als subversive Widerspruchsästhetik, in der sechsten Universe Symphony (1911–1928), vielleicht noch idealistisch als Ausdruck einer kosmopolitischen ›Utopie‹ gemeint, mit ihrer Reichhaltigkeit des Materials und der gewollten Unvollendung als Aufforderung zu unbegrenztem Weiterkomponieren. Seiner Machart nach aber hat der Torso nichts mehr mit etablierter sinfonischer ›Konstruktion‹ zu tun, sondern realisiert eine ganz eigene Konstruktionsidee: Muster von Reihen- und Permutationsbildungen über Primzahlen und irrationale Proportionen einer Polyrhythmik, die etwa für das Prélude 19 verschiedene Schlagzeugstimmen in verschiedenen Metren vorsehen. Damit kann man die Kompilation des disparaten Materials zwar als »holistische Visison jenseits existierender Stile und Techniken« auffassen und damit als eine »Aussage über die Widerspüchlichkeit der Existenz mit Mitteln der Kunst« (Wolfgang Rathert).93 Das wäre quasi eine Musikalisierung des gleichen ›Verstörungspotenzials‹ wie etwa bei Mahlers ›Welthaltigkeit‹. Aber wenn man sie mit Mahler vergleichen will: ohne jenen holistischen Horizont, mit der er aus ganz anderer Bewusstseinslage alle Weltverstörung einem Überweltlichen konstelliert und damit transzendiert. Ein altes Formbewusstsein, einem idealistisch-humanistischen Ethos nach, darf man noch der slawisch-russischen Tradition von Rimsky-Korsakow, Borodin, Glasunow und Tschaikowsky bis Antonín Dvořák bescheinigen, ebenso wie einer ›nordischen‹ von Carl Nielsen bis Jean Sibelius: emphatisch inspiriert durch Natur, Nation, Menschen- und Liebesschicksale. Besonders in den sechs Sinfonien von Tschaikowsky und in den neun von Dvořák bleibt die musikalische Diktion durch ihre Satzfaktur Darstellung einer solchen Ausdruckswelt, nicht zuletzt erwachsen aus dem Fundus einer reichen Folklore mit dessen natürlicher Melospotenz.

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C. Dahlhaus, Die Neue Musik und das Problem der musikalischen Gattungen, in: Dahlhaus, Schönberg und andere. Gesammelte Aufsätze zur Neuen Musik, Mainz 1978, S. 77.

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W. Rathert u. B. Ostendorf, Musik der USA. Kultur- und musikgeschichtliche Streifzüge, Hofheim 2018, S. 400.

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Dort zeigen sich in vielen Werken noch sinfonische Gestaltungsprinzipien mit den Themenbildungen und ihren Beziehungsspielen. Mit dem ›Neoklassizismus‹, eine schöpferische Form des Historismus, entsteht sogar ein originelles Genre von Kopien alter Formen, meistens aus dem 18. Jahrhundert. Es erlebt eine Konjunktur bei der französischen Groupe des Six, bei Darius Milhaud und Francis Poulenc, bei Alfredo Casella, bei Sergej Prokofjews Symphonie Classique (1916/17) und seinem Sinfonischen Gesang op. 57 oder bei Strawinskys Pulcinella-Ballett (1920). Aber bei beiden zeigt sich hinter der formalen Retrospektive auch die Auflösung. Die alte Prozesslogik des Sonatenhauptsatzes mit ihren dialektischen Spannungsmustern um tonale Gravitationszentren zerfällt immer häufiger in individuelle Kaleidoskope, zwischen amorpher Ultrapolyphonie, komplexer Polyrhythmik und die Spektren harmonisch diffuser Klangfelder. Prokofjew demonstriert es schon in den bitonalen Fünf Klavierstücken Sarkasmen op. 17 (1919), Strawinsky in der Cantata (1952) oder im Ballett Agon (1957). Bei Nielsen tritt das ab seiner fünften Sinfonie (1922) in den Vordergrund. Dort schichtet er schon im Kopfsatz drei disparate musikalische Zeitverläufe übereinander und gestaltet eine deutliche Konfliktthematik über harmonische Instabilitäten und viel Schlagwerk. In seiner letzten, der sechsten Sinfonie (1924/25), kann man Bi- bis Polytonalität und intrikate Polyrhythmik im Dienste von Parodie und Ironie verstehen. Bei Sibelius, der seine sieben Sinfonien als ›Glaubensbekenntnisse‹ verstand und in elf sinfonischen Tondichtungen wie besonders in Finlandia und Karelia bewegender Gestalter seiner ›finnischen‹ Ausdruckswelten wird, gewinnt dann in der vierten Sinfonie (1915, überarbeitet 1919) ein Tritonusmotiv thematische Dominanz als Leitfossil aller rhythmisch instabilen Schroffheiten. In der Sechsten demonstrieren die amorphen Klangverflechtungen den Versuch, die sinfonische Formidee ganz ohne das strukturelle Gerüst der Tradition zu gestalten und in der Siebten (1924), komponiert als einziger langer Satz mit großen Choralepisoden und suggestiven Paukenwirbeln, steht eine synkopische Rhythmusfaktur für die gleichen Unentschiedenheiten in der Harmonik, mit denen er die Tonalität ins Atonale und Modale auflöst. Erst in der Schlussapotheose bekennt sich das »verzweifelte C-Dur« (Simon Rattle) eindeutig tonal. Was dort, wie bei Mahler, als Auseinandersetzung mit Welt, Natur, Menschlichem und Übermenschlichem Ausdrucksbedeutung erlangt, wird keiner als ›Ideengehalt‹ oder ›Programm‹ den fünfzehn Sinfonien von Dimitri Schostakowitsch (1906–1975) oder den siebzehn von Allan Pettersson (1911–1980) absprechen wollen. Aber, wie bei Ives, tritt in ihrer musikalischen Gestaltung eine selbstreferenzielle Darstellung disparater Konstruktion als materiale Exkursionen oder tumultöse Konfliktprozesse in den Vordergrund: Deshalb bleibt auch ihre ›Bedeutung‹ selbstreferenziell, weil eine ›Differenz‹ mit einer höheren Referenz, wie etwa bei Mahler, fehlt. Auch der Schwede Pettersson lässt sich nirgends mehr auf den formalen Plan der traditionellen Sinfonie ein, sondern fügt in seine meist einsätzigen Werke ve-

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getative, wie in Wellen verlaufende, tonale Klangströme ein. Mit ihnen gestaltet er vor allem seit der zehnten und elften Sinfonie mit Radikalisierungen und extremen Lagen dunkle, zerrüttete, verquälte Ausdruckswelten. »Der erwachsene, der verwachsene Mensch aus Speck und Fleisch« – so apostrophiert er pessimistisch und leidvoll sein Menschenbild und einen ›Humanismus‹, der sich nur gelegentlich mit lyrischen Inseln in seinen opaken Klanggeflechten auflichtet. Wenn sich Per Nørgård (Jahrgang 1932) schließlich nach den an mathematischen Kalkülen der Infinitesimalrechnung orientierten ersten Sinfonien in seiner vierten von den Bildern des halluzinatorisch malenden Adolf Wölfli inspirieren lässt, dann scheint die Traditionslinie aus Surrealismus und Crétinisation auf.

Sinfonik zwischen Persiflage und Demontage, Subversion und Affirmation Dmitri Schostakowitsch zählt zu den großen Ikonen der neueren russischen Musik – viel umstritten, früh verfemt, spät ästimiert. Musik- und wirkungsgeschichtlich wird er jenseits von solchen Urteilen gern als Erbe der Mahler’schen Sinfonik verstanden. Das nicht zuletzt deshalb, weil er tonal komponiert. Denn er kommt aus einer russischen Tradition, die ihre Vorbilder bei Beethoven und Mussorgsky sieht und wo Simfonizim die charakteristische Form eines russischen ›Symphonismus‹ bezeichnet.94 Aber das ist eher Hintergrund, denn Schostakowitsch’ Entwicklung als Komponist wird viel stärker von der Auseinandersetzung zwischen zwei ästhetischen Maximen bestimmt: seiner musikalischen und einer politideologischen. Während die frühe russische Avantgarde, versammelt in der ASM, der Assoziation für zeitgenössische Musik (1924–1928), eine freie evolutionäre Entfaltung des Komponierens will, verlangt die ASP, die Assoziation Proletarischer Musiker, seit 1928 als RAPM, der Verband der Proletarischen Musiker, im Geist von Lenin, Stalin, Zentralkomitee und Volkskommissaren die »Erziehung des künftigen Tonbewusstseins« nach kommunistischer Ideologie. Das meint ästhetisch: Massenverständlichkeit und utilitaristisch: Massenwirksamkeit. Den sinfonischen Komponisten Schostakowitsch bestimmt es als beständige Dialektik zwischen Bekenntnis und Verweigerung, zwischen der Kür des schöpferischen Künstlers und der Pflicht des politisch Abhängigen.95

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Vgl. V. Karbusicky, Grundriß der musikalischen Semantik, Darmstadt 1985, S. 77. Der Begriff wird geprägt von Boris Assafjew 1918, vgl. Assafjew, Die musikalische Form als Prozeß (1925), hg. v. D. Lehmann u. E. Lippold, Berlin 1976, S. 174 ff.

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Profund dargestellt im einleitenden Überblick bei: K. Kopp, Form und Gehalt der Symphonien des Dmitrij Schostakowitsch, Bonn 1990 (= Orpheus-Schriftenreihe zu Grundfragen der Musik, hg. v. M. Vogel, Bd. 53), S. 9–69, wo sich nachfolgend auch detaillierte Analysen der Sinfonien finden.

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In seiner Biographie kommt es als fünffacher Stalinpreisträger, zweimaliger Lenin­ordensträger, »Volkskünstler« und Staatspreisträger der UdSSR zum Ausdruck, noch 1971 mit dem Orden der Oktoberrevolution dekoriert – und in dem als volksfremden »Formalisten« angeprangerten Verfemten, der antisozialistische, modernistische und verdächtige, »kosmopolitische« Musik schreibt. In seiner Sinfonik findet es Ausdruck nicht nur in ihren Programmen und Topoi samt den Widmungen an Lenin, die Kommune, die Oktoberrevolution und Vaterländische Kriege und Siege, sondern auch in Persiflage und Ironie bis zur Groteske und den Spielen von Grimasse und Verfremdung. Formal bedient er in den meisten seiner Sinfonien die überkommene Viersätzigkeit und im ersten Satz (mit Ausnahme der sechsten und elften) fast immer die Sonatenhauptsatzstruktur, in der ersten, fünften und zehnten sogar im Finalsatz. Allerdings meistens mit mehreren Themen. Einsätzig ist aber seine zweite Sinfonie (1927) An den Oktober mit einem Schluss­chor und den Parolen: »Oktober, Kommune, Lenin«, samt Fabriksirene. Bereits hier zeigen sich hinter dem Programm viele charakteristische Züge seines musikalischen Idioms. Trotz Tonalität und des formalen Bezugsrahmens der Sonate entfaltet sich sein musikalischer Satz vor allem in horizontalen Entwicklungen unabhängiger Einzelstimmen, wo prägnante Harmonik selten strukturelle Bedeutung und Eindeutigkeit erlangt: »Lineare Moderne« (Detlef Gojowy), eine »wechselseitige Neutralisierung des Melodiecharakters der Einzelstimmen« (Hermann Danuser), so dass ganze Satzkomplexe oft wie Fügungen mit ›doppeltem Boden‹ erscheinen. Dabei trägt die gering ausgeprägte Gestaltqualität vieler Motive und Themenfiguren und eine langatmige Phrasenstruktur zur Ambivalenz bei. Eine unaufhörliche, reihende Kombinatorik der Motive in »Gestischer Metamorphose« (Michael Koball) sorgt für eine Dynamik rastloser Bewegungsmuster. Allerhand Marschmusikcharaktere und pointierte Instrumentation mit Blechfanfaren und Schlagwerk dienen der Illustration von Groteske bis zum Zirzensischen.96 Die vierte Sinfonie (1936), dreisätzig, hat er selbst als sein »Credo« bezeichnet, weil sie ihn erstmals markant in eigenem Personalstil zeigt. Aber es ist auch eine Ausein­ andersetzung mit Mahler, sowohl im Tonfall als auch im Anspruch eines sinfonischen ›Weltmodells‹ und die fünfte (1937), überaus erfolgreich, fungiert oft quasi als Gründungsakte der klassischen sowjetischen Sinfonie. In ›klassischer‹ Viersätzigkeit zielt sie mit finaler Prozessualität wie bei Mahler auf den Schlusssatz mit heroisch-plakativer Coda: als Bekenntnis zu einer »Sozialistisch-realistischen Musik« wurde sie beschrieben (Alfred Brockhaus). Und zugleich als Abbuße für seine Oper Lady Macbeth of Mzensk, für deren brutalen szenischen und musikalischen 96

M. Koball, Pathos und Groteske. Die deutsche Tradition im symphonischen Schaffen von Dmitrij Schostakowitsch, Berlin 1997 (= Studia slavica musicologica, Bd. 10), S. 23; D. Gojowy, Dmitri Schostakowitsch mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1983.

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Realismus er Stalins Verdikt in der Prawda von 1936 einstecken musste: Auftakt zur ersten »Formalismus-Kampagne«, mit der die »künstliche Loslösung der Form vom Inhalt« zu einem zentralen Topos sozialistischer Politästhetik avanciert.97 Im nachdenklichen ersten Satz dieser Sinfonie sorgt die häufige Präsenz eines Motto-Themas für einen einheitlichen Charakter. Das Scherzo erinnert an den Tonfall Mahlers, im dritten Satz, Largo, wird die resignative fis-Moll-Grundierung durch kammermusikalische Transparenz samt Celesta und Harfe expressiv aufgehellt. Im Schlusssatz Allegro non troppo stimmt zunächst ein heroisch-pathetisches Thema, das dritte der Exposition, auf strahlende, positive, finale Glorie ein. Aber davon bleibt zum Schluss in der Coda kaum etwas übrig. Schostakowitsch schafft zwar durch die Steigerung der Dynamik und eine immer eindringlicher werdende Achtelbewegung Spannungszuwachs. Und er verschiebt das düstere d-Moll der Grundtonart schließlich ins helle D-Dur (Takt 324–326). Aber er vermeidet eine harmonische Befestigung des Durgeschlechts so weit wie möglich: Er lässt die Terz in der A-Dur-Dominate des ersten Themas aus, genauso wie in der g-Moll-Subdominate (Takt 339). Er fixiert dann zwar mit dem Quartpendel d-a die Tonart in den Pauken, aber dissonierend zum g-Moll. Im folgenden Septakkord spart er wieder die Terz aus, so dass offen bleibt, ob es sich um D-Dur oder d-Moll handelt. Schließlich ist dann die abschließende D-Dur-Kadenz mit Pauken und Trompeten zwar plakativ ausstaffiert, aber von erstaunlicher Banalität. Ist also der mühsam erreichte Jubel nur inszeniert? Sind die Pauken- und Trompetenklänge tatsächlich ›festlich‹? Oder klingen sie eher wie brutale Prügelschläge? Strahlt das durch Dissonanzreibungen und Molleintrübungen lädierte Dur wirklich authentisch? Oder ist solches Final-›Fazit‹ nicht wieder charakteristisches Indiz einer Doppeldeutigkeit, die durch die Kommentare dazu ihre Bestätigung erfährt.98 Zuerst hat Schostakowitsch in seinem Artikel Meine schöpferische Antwort euphemistisch bemerkt, dass das Finale die tragisch ausgerichteten Momente der ersten Sätze in Lebensfreude und optimistische Haltung auflöse. Und der begeisterte Jubel der ausgewählten Intelligenzija bei der Uraufführung am 21. November 1937 gab ihm Recht. Anderen fehlte die Glaubwürdigkeit: »Jubelsoll als Übererfüllung«

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Vgl. D. Gojowy, Neue sowjetische Musik der 20er Jahre, Regensburg 1980, S. 13 ff. u. K. Kopp (1990), S. 39 ff.

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Eine andere Deutung schlägt Hans-Joachim Hinrichsen vor, der hier analytisch ein Motivsystem aufspürt, das die Sätze der Sinfonie mit diesem Schluss über motivisch-thematische Beziehungen, vor allem durch ein Nebenthema aus dem Kopfsatz konstruktiv verbinde, also keineswegs als sperriger und unvermittelter Schluss konzipiert wäre. Deshalb folgert er abschließend: »Ihre einkomponierte Mißverständlichkeit wäre dann, ihrer geschichtlichen Position Rechnung tragend, durchaus ein Symptom ihrer ästhetischen Qualität.« Vgl. Hinrichsen, »Das ist doch keine Apotheose«. Warum ist Schostakowitschs V. Symphonie so mißverständlich?, in: Schostakowitsch und die Symphonie, Referate des Bonner Symposiums 2004, hg. v. H. Hein u. W. Steinbeck, Bonn 2005 (= Bonner Schriften zur Musikwissenschaft, Bd. 7), S. 137–159.

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(Peter Gülke). Später dementiert ihn Schostakowitsch selbst: »Das ist doch keine Apotheose. Man muß schon ein kompletter Trottel sein, um das nicht zu hören.« Noch drastischer bemerkt Mstislav Rostropowitsch: »Die gellenden Tonrepetitionen des Tones am Ende der Symphonie empfinde ich wie bohrende Lanzenstiche in den Wunden eines Gepeinigten… Wer das Finale als Glorifikation empfindet, ist ein Idiot – ja, es ist ein Triumph für Idioten.«99 Während die sechste Sinfonie (1939) wegen ihrer Disparatheit zwischen den ersten beiden ernsten Sätzen und dem Finalsatz, einer plakativen Zirkusmusik, auf viel Unverständnis stieß, wurde die siebte (1941), als Leningrader Sinfonie zu einem seiner populärsten Werke. Zwar geht ihre Konzeption als ein Requiem auf Krieg und Zerstörung schon auf die Zeit vor den Kämpfen um Leningrad zurück. Aber ihre Vollendung und ihre triumphale Erstaufführung dort am 9. August 1942 verbindet sie mit dem tragischen Kampf um die Befreiung der Stadt. Die programmatischen Überschriften der vier Sätze: Krieg – Erinnerung – Heimatliche Weiten – Sieg erlauben immerhin eine Vorstellung von ihrer Ausdruckssemantik. Aber Schostakowitsch hat sie später, wie Mahler bei seiner Zweiten, zurückgenommen. »Ich habe nichts dagegen einzuwenden, daß man die Siebte ›Leningrader Sinfonie‹ nennt. Aber in ihr geht es nicht um die Blockade, es geht um Leningrad, das Stalin zugrunde gerichtet hätte. Hitler setzte nur den Schlußpunkt« und: »es geht um jede Form von Faschismus« bestätigt er später das Exemplarische über die gängige Konnotation hinaus.100 Nach der Exposition zweier Themen im ersten Satz komponiert er für die Durchführung elf Variationen über ein neues, drittes Thema. Es ist banal, wirkt aber über eine Steigerung durch ständige Vergrößerung von Besetzung und Lautstärke. Nach einem lyrischen Intermezzo mit einem grotesken, marzialen Trio von Blech, Pauken, Trommel, Becken und Tamburin folgt ein Adagio mit einem Choralthema. Aber schon das zweite, rezitativische Thema nimmt bald den Charakter einer Zirkusmusik mit Trompete an und die pastoralen Anklänge des dritten Themas kontrastieren das marschartige »Moderato risoluto« des vierten. Die Verarbeitung des zweiten Themas wurde als »Trauer-Sarabande« bezeichnet und die Coda führt schließlich über D-Dur zu einem Fortissimo-Akkord in C-Dur. Ein heroisches Finale mit Tutti-Besetzung, Forte-Steigerung zum Fortissimo und wieder einem Schlussakkord in C-Dur: eher eine Suggestion von ›Sieg‹ als eine gloriose Apotheose. Für die neunte Sinfonie (1945) hatte das Establishment der Partei eine musikalische Hymne auf den endgültigen Sieg über den deutschen Faschismus erwartet, ein Hochamt auf den siegreichen Generalissimus Stalin, eine Feier seiner welt99

Zitiert nach K. Kopp (1990), S. 208.

100 Zitiert nach den, in ihrer Authentizität umstrittenen Notaten: Dmitrij Schostakowitsch, Zeugenaussage. Die Memoiren des Dmitrij Schostakowitsch, aufgezeichnet und hg. v. Solomon Volkow, Frankfurt a. M. 1981, S. 203.

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politischen Bedeutung. Aber Schostakowitsch komponiert keine Triumphmusik heroischer Verherrlichung, sondern ein seltsam unbeschwertes Exemplar »klassischer« absoluter Musik, die erst in ihren ironischen Grotesken zum Zeugnis von Ambivalenz wird: strahlkräftiges Es-Dur, musterhaft die Sonatenhauptsatzform samt Wiederholung der Exposition im ersten Satz, klassisch gegliedert das Scherzo, klassizistisch die Themen- und die Periodenbildung. Auch der Finalsatz wieder als Sonatensatz – aber im Galoppartig-Scherzohaften, mit einem Zirkusmarsch im Trio und Fanfarenmotiven. Das Hauptthema wird vertikal und horizontal in die Tritonusrelation a-es eingespannt, dem Intervall, dessen negative Semantik als langer und fester musikgeschichtlicher Topos von ihm in gleicher Bedeutung auch schon in den anderen Sätzen verwendet wird. Weil die Musik keine politische Botschaft nach Erwartung der Partei verkündete, bescherte sie Schostakowitsch wieder heftige Kritik und löste eine neue Kampagne gegen den »Formalismus« aus. Als prinzipielle politästhetische Abrechnung führt sie 1948 schließlich zu seiner öffentlichen Ächtung. Übrigens im selben Jahr, in dem auch Prokofjew seine Abrechnung als »Formalist« aus dem Zentralkommitee der KPdSU erhält. Stalin stirbt 1953. Die zehnte Sinfonie aus dem gleichen Jahr triumphiert nicht darüber, sondern setzt sich damit in der Schostakowitsch’ eigenen, doppelbödigen Dramaturgie auseinander. Er hat den zweiten Satz Allegro als »musikalisches Portrait von Stalin« bezeichnet. Im dritten Satz bettet er die Chiffre seines eigenen musikalischen Monogramms D-Es-C-H in das zweite Thema ein und lässt es im Verlauf immer mehr in den Vordergrund treten. Weil er es in der Coda des vierten und letzten Satzes sogar im Fortissimo auftreten lässt, wurde ihr subkutanes ›Programm‹ als personale Konfrontation mit Stalin und Stalinismus gedeutet. Ausdrückliche Programmsinfonien sind hingegen die elfte und die zwölfte Sinfonie, gewidmet den prägnanten Revolutionsjahren 1905 und 1917 der russischen Geschichte. Die Elfte (1957) präsentiert sich als Trauerepitaph mit viel g-Moll über das tragische Schicksal der Oktoberrevolution. Der programmatische Anspruch zeigt sich besonders in der Verarbeitung von Revolutions-, Volks- und Arbeiterliedern zu thematischen Gestalten. Danach verleiht der erste Satz ›Gefängnis‹ und ›Nacht‹ Ausdruck, der zweite eine Bittprozession, die der Zar mit Waffengewalt auseinandertreibt, der dritte mit einem Trauermarsch in fis-Moll den »unsterblichen Opfern«, die starben »für kommendes Recht« und der vierte ist schließlich ein Aufruf »zum Kampf für Freiheit und Völkerbefreiung«. Dort wird bei »Wütet nur Tyrannen« mit dem Zarismus abgerechnet und die Hymne »Heißa Du, Väterchen Zar« verwandelt Schostakowitsch durch gehetzte Triolen und Wirbeln von Pauke und großer Trommel zum entlarvenden ›Gewaltthema‹. Das Werk ist als eine Darstellung der Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins im russischen Volk gedeutet worden (Karen Kopp). Schostakowitsch erhielt dafür den Lenin-Orden.

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Womöglich deshalb widmet er die zwölfte Sinfonie (1961) explizit »Dem Andenken an Wladimir Illjitsch Lenin«. Wie in der Elften gehen die vier Sätze nahtlos ineinander über. Über die programmatische Grundierung geben hier zwar keine Liedzitate Aufschluss, dafür aber die Titel, mit denen er die Sätze überschreibt: »Revolutionäres Petrograd«, »Rasliw« (Zufluchtsort Lenins in Karelien), »Aurora« und »Morgenröte der Menschheit«. Dort greift er das »Lenin-Thema« (Vladimír Karbusický) aus dem dritten Satz auf und führt das sinfonische Epos mit einer DDur-Coda in ein heroisches Finale. 1958 wurde Schostakowitsch durch einen Beschluss des Zentralkomitees rehabilitiert. 1961 wird er Mitglied der KPdSU und 1962 Deputierter des Obersten Sowjets der UdSSR. Was biographisch vielleicht wieder als Spielart dialektischer Ambivalenz erscheint, prägt die musikalische in den nächsten zwei Sinfonien. Beide, die Dreizehnte und die Vierzehnte, weiten den Rahmen ›absoluter‹ Sinfonik zu einer Form aus, die man als »Sinfonische Kantate« bezeichnet hat. Die Dreizehnte (1962), mit Solobass und Männerchor, musikalisiert ein dramatisches Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko: Babij Jar. Sein Thema ist der Massenord an 34 000 Juden durch die deutsche SS im September 1941. Aber es ist nicht nur Anklage gegen den eliminatorischen Antisemitismus, sondern auch gegen jede Tyrannei und Leid, gegen Unterdrückung von Freiheit und Kritik. Die Vertonung des Textes erfolgt zwar als ausgedehntes melodisches Rezitativ, gut verständlich den Versen entlang. Aber der Instrumentalsatz ›spricht‹ seine eigene, autonome ›Sprache‹, die sich nur gelegentlich mit dem Vokalpart berührt: Diastase einer ›doppelbödigen‹ Struktur. Mit der vierzehnten Sinfonie (1969) komponiert Schostakowitsch eine düstere, russische Version des ›Dance-macabre‹-Genres. Elf Sätze für Kammerorchester, Bass und Sopran nach Gedichten von Lorca, Apollinaire, Küchelbecker und Rilke, inspiriert von den »Liedern und Tänzen des Todes« von Mussorgskij, wie er selbst erläutert hat. Im fünften und siebten Satz operiert er mit einer Zwölftonreihe, die er, als Darstellung größter Verfremdung, aus dem alten Dies-irae-Hymnus entwickelt, im siebten Satz mit einem infernalischen Elftoncluster als Metapher für die Leiden der Gefangenen im grauenvollen »Kerker der Santé«. In der fünfzehnten, seiner letzten Sinfonie (1971), bildet er in jedem Satz ein zwölftöniges Thema. Aber er behandelt es nicht nach den Regeln orthodoxer Zwölftontechnik, sondern durch Variierungen und Einbettung in die Tonalität jeweils als Ausdrucksgestalt. Dazu kommen im ersten Satz ein Zitat aus Rossinis Wilhelm Tell und im vierten Satz, mit Adagio-Einleitung, Zitate aus Wagners Walküre und Tristan. Die scherzohafte Leichtigkeit des ersten Satzes hat er selbst als »Spielwarengeschäft« gekennzeichnet, im langsamen Adagio-Satz wird die Gegenüberstellung der beiden ersten Themen als Konfrontation von Dur-Moll-Tonalität mit Dodekaphonie konstruiert. Ein letztes thematisches Element ist ein elftöniger Cluster als eine Art Schreckensakkord. Im dritten Satz, mit Scherzo-Charakter, verwendet er zwei Themen im Hauptsatz und ein drittes im Trio. Dabei arbeitet er besonders

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mit Klangfarbenwechseln durch kompakte Instrumentengruppen samt erweitertem Schlagwerk. Dazu kommen die Effekte greller Posaunenglissandi, die an die drastische, illustrative ›Beischlafmusik‹ in Lady Macbeth erinnern. Den vierten Satz eröffnet er mit dem Motiv der »Todesverkündigung« aus Wagners Walküre, in dessen gleicher Besetzung mit Blechbläsern und Pauken, gefolgt vom Leidens- und Sehnsuchtsmotiv aus dem Tristan. Den zweiten Themenkomplex und Mittelteil des Satzes bestimmt eine Passacaglia, gebildet als melodische Auseinanderlegung des elftönigen Clusters, des »Schreckensakkordes«. Sie verzichtet aber auf die Stabilität tonaler Befestigung, nimmt an ihrem Höhepunkt den Rhythmus eines Trauermarsches an und kulminiert schließlich in einem neuntönigen atonalen Akkord des Orchestertuttis: ein gewaltsamer Ausbruch von Tragik und Trauer. Damit wird das tradierte Modell der Passacaglia, wie es die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts so grandios zur Sinnfigur einer supranaturalen ›Ordnung‹, wie eine erhabene »Weltanhörung« (Oskar Loerke) entfaltet hatte, bei Schostakowitsch zur Chiffre für Zwanghaftes, Quälendes, Unerlöstes – kein Einzelfall bei ihm. Er verwendet diesen Archetyp der alten Ostinatoformen in gleicher zwanghaft-besetzter Ausdrucksbedeutung auch bei anderen Gelegenheiten, spektakulär als Passacaglia in seiner Oper Lady Macbeth of Mzensk, aber auch in seiner Kammermusik. Dort erscheint sie etwa im Andante seines ersten Violinkonzerts op. 77, im Adagio des dritten Streichquartetts op. 73, im Lento des sechsten op. 101, im Adagio des zehnten op. 116 und schließlich auch im Largo des zweiten Klaviertrios op. 67. Für die Coda aber wählt er Verklärung durch Instrumentation: Celesta, Glockenspiel und Xylophon – wie sie oft bei Mahler als Musica angelica eingesetzt wird. Sie führt über einem Orgelpunkt in den Streichern schließlich in eine Aufhellung zum A-Dur bis in ein unbestimmtes Morendo. Vielleicht kommt in diesem Finale viel persönliche Todesahnung im Stadium unheilbarer Krankheit zum Ausdruck. Aber als Ganzes ist sein sinfonisches Vermächtnis doch von scherzohaften, parodistischen und grotesken Themengestalten in einer Konzentration geprägt, wie seit der vierten Sinfonie nicht mehr. »Die fünfzehnte Symphonie resümiert wie in einer heiteren autobiographischen Skizze die erzwungene Clownerie seines Lebens« (Valdimír Karbusický).101

Welthaltigkeit ohne Horizonte Wer diese Musik milde über solche »Clownerien« versteht oder mit musikpolitologischer Ästhetik über die parodistischen Grotesken als Protest gegen ideologisches Diktat oder aber bewundernd mittels analytischer Dechiffrierung ihrer komplexen Idiomatik, wird sich von kritischen Urteilen darüber kaum irritieren lassen. Wer

101 V. Karbusický, Empirische Musiksoziologie, Wiesbaden 1975, S. 353.

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aber nach ihrer seelisch-emotionalen Ausdrucksbedeutung sucht, wird die Irritationen jenseits dieser Urteile nicht nur als Verständnisproblem betrachten. »Ich finde seine Musik schrecklich. Es ist das erste Mal, daß ich die Musik nicht höre, wenn ich sie in der Partitur lese«, urteilt Alexander Glasunow, ein wichtiger Lehrer von Schostakowitsch, der unter keinem politästhetischen Verdacht steht. Trotzdem rechtfertigt er seinen Schüler als schöpferischen Protagonisten einer neuen Musik: »Aber das ist unwichtig«, fährt er fort, »die Zukunft gehört nicht mir, sondern diesem Jungen.«102 Das ist ein verständiges, pragmatisches Urteil, aber nicht minder auch ein ästhetisches. Als solches steht es am Anfang einer Reihe von Äußerungen ähnlicher Art. Sie reichen vom »Mangel an Verständlichkeit« und »konstruktiven und programmatischen Mängeln« (zur 8. Sinfonie) über die Vorwürfe einer »Manifestation des Grotesken« (zur 9.), »Erstarrung in bedrückenden Emotionen« und »mechanischer Fröhlichkeit« (zur 10.) bis zu »Banalität, übertriebenes Pathos und Schwülstigkeit« (zur 12).103 Dazu gehört nicht zuletzt auch das bekannte Verdikt in der Prawda vom 28. Januar 1936 (mutmaßlich von Stalin veranlasst): »Chaos statt Musik«. Weil es so eindeutig politideologisch gegen Schostakowitsch ist und ihn schließlich mit dem »Formalismus«-Vorwurf an den Pranger der kommunistischen Nomenklatura stellt, kehrt es sich schließlich zur Stellungnahme für den selbstbestimmten Komponisten um. Bewertet man es aber jenseits der gehässigen Infamie als musikalisch-ästhetisches Verständnisproblem, wie es sich auch bei Glasunow äußert, ist es nichts anderes als ein sowjet-russisches Seitenstück zum ›Skandal‹ der frühen atonalen Schönberg-Zeit. Auch dort bestimmte nicht Infamie das Urteil, sondern ein kognitives Unverständnis aus psychisch-emotionaler Auffassungsproblematik. Versteht man schließlich die Disparatheiten in dieser Musik als ›Welthaltigkeit‹ im Sinne von Mahler, als eine Auseinandersetzung mit dem ›Leiden an der Welt‹ in einer conditio humana, die für Schostakowitsch ungleich bedrückender war als für Mahler, so kann sie als kompositorische Auseinandersetzung damit verstanden werden. Dann ist die ›Welt‹ von Schostakowitsch die einer gesellschaftlichen Situation in totalitärer Repression nach kommunistischem Politikkodex. Dann können Persiflage, Groteske und Verfremdungen als subversive Kontrapunkte dazu verstanden werden, die verwickelte Faktur als Mimesis des Widersprüchlichen, die Doppelbödigkeit als kalkuliertes Konstrukt kollidierender Realitäten. Dann könnte seine Sinfonik als Auseinandersetzung zwischen einer ›Musik des sozialistischen Realismus‹ und der seiner eigenen künstlerischen Vorstellungen verstanden wer102 Zitiert nach K. Meyer, Schostakowitsch. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit, Bergisch-Gladbach 1995, S. 38. 103 Vgl. K. Meyer (1995), passim; M. Koball (1997), S. 192–207. Für eine kritische Einschätzung seiner polit-ästhetischen Position vgl. die Diskussion bei Laurel E. Fay (Shostakowich and his world, Princeton N. J. 2004) und besonders bei Richard Taruskin (On Russian Music, Berkeley 2008).

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den: eine ästhetische Dialektik ausgerechnet im System des »Dialektischen Materialismus«. Mental, seiner Veranlagung nach, vom Spannungsfeld neurotischer Konflikte gespeist – worauf viele seiner eigenen Äußerungen deuten – auskomponiert als ständig gegeneinander konstruierte semantische Ebenen, fordert ihre Dialektik zur programmatischen Dechiffrierung heraus. In ihrem Konstruktcharakter wird sie darüber hinaus aber zum Verständnisproblem. Mit Blick auf Mahler offenbart sich, dass diese konstruierte Dialektik auch ganz anderen Referenzen folgt. Mahlers Dialektik spielt zwischen den Dissonanzen im Hier und Jetzt der ›Welt‹ und ihrem Dementi durch eine andersartige ›Überwelt‹. Bei ihm ist sie eine Auseinandersetzung zwischen zwei qualitativ ganz verschiedenen Zuständen des Bewusstseins. Nicht zwischen einem ›gesellschaftlichen Bewusstsein‹, das sich, wenn auch idealistisch verbrämt, nur zu Protest oder höchstens einem ›Fortschritt der Menschheit‹ nach marxistischer Ideologie und Utopie versteht, sondern zwischen einem als leidvoll empfundenen Diesseits und einer Trans­ zendenzgewissheit aus ›Ewigkeitsbewusstsein‹. Das ist ein anderes Verständnis der menschlichen Existenz, aus einem anderen Horizont, das er kompositorisch realisiert. Auch Schostakowitsch leidet genau wie Mahler, aber offenbar nicht aus dessen Bewusstseinslage. Denn mit ihr hält Mahler dem Leiden stand, Schostakowitsch nicht. Deshalb verfällt er so oft in Grimasse, Fratze und Persiflage. Deshalb ist er so oft banal, mokant, ironisch und trostlos. Deshalb äußert er sich selbst so unzufrieden über seine eigene Musik – komponiert aber mit manischer Energie unentwegt weiter. Deshalb verweigern seine Finale alles, was diejenigen von Mahler ausmacht: weder Perspektive noch Erlösungsangebot, sondern Farce, Zwiespalt, Resignation. Was bei Mahler sinfonische Beglaubigung von Weltüberwindung aus unbeirrbarem Transzendenzbewusstsein ist, kaum emphatischer vorstellbar wie in der zweiten Sinfonie: »O Schmerz, du Alldurchdringer/ dir bin ich entrungen«, verfällt bei Schostakowitsch zur bloßen Abwehr durch bittere Groteske und damit zur Botschaft hoffnungsloser Immanenz: vielleicht eine verwandte musikalische Idiomatik – aber keine sinfonische Erbschaft – weder Beethovens noch Mahlers. Nur in seiner Kammermusik, vor allem in den fünfzehn Streichquartetten, vernimmt man etwas von dem, was sich mit solcher Erbschaft messen könnte. Dort öffnet sich sein Komponieren immer wieder in eine seelisch-geistige Nähe dazu, vielleicht weil ›politisch‹ unbeobachteter – aber ohne dass es zum Bekenntnis wird. Mahler hingegen bekennt als seine Wahrheit: »Sterben werd ich um zu leben« (2. Sinfonie). Schostakowitsch aber bekennt sich unmissverständlich zu einer anderen ›Wahrheit‹: »Leute, die sich darauf berufen, meine Freunde zu sein […], hören aus meiner Vierzehnten den Gedanken heraus: Der Tod ist allmächtig. Und sie hätten gern ein tröstliches Finale. Sozusagen: Tod – das ist nur der Anfang. Aber der Tod ist kein

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Anfang, er ist das absolute Ende. Es wird nichts weiter geben. Nichts. Man muß der Wahrheit direkt ins Gesicht sehen.«104

Verschiedene ›Modernen‹: von Richard Strauss bis Reger, Debussy und Skrjabin In der Unbedingtheit seines Ethos wie im Format seiner musikalischen Realisierung steht Mahler allein. Nicht aber im Umfeld der kompositorischen Ideen. Dort befindet er sich mit seinen synkretistischen »Weltanschauungssinfonien« und ihren Programmen in zahlreicher Gesellschaft. Bereits im Genre der »Sinfonischen Dichtung« wird viel ›Weltanschauung‹ transportiert, werden Geschichten erzählt, Wanderungen unternommen und Genrebilder gemalt, hier wird tönend philosophiert und klangmächtig schwadroniert. Längst vorbereitet auf die Osmose der musikdramatischen Idiomatik durch die ›Literarisierung‹ in den Erzählprogrammen seit Berlioz und Liszt verbindet sich das Narrativ mit der koloristischen Klangsemantik des »Großen Orchesters« und den tradierten Mustern der absoluten Musik. Denn der gewaltige Drang zum individuellen Erzählen will auch satztechnisch organisiert werden. Aber damit kollidiert er ständig mit den eigenständigen musikalischen Kräften. Da möchte die ›Sinfonische Dichtung‹ auch noch gerne ›Sonatenform‹ sein und der schwelgerische Bilderreigen der Programmmusik heimlich von der Logik thematischer Prozesse und motivischer Beziehungsgeflechte profitieren. Auch die narrative Seite hat sich längst von der naiven »poetischen Idee« zum philosophischen Programm kolossaler Weltdeutungsentwürfe entwickelt, durchtränkt vom tiefsinnigen Räsonnement einer Spätzeit, aufgeladen mit dem Bombast bildungsbürgerlichen Fabulierens oder den Ideologien des Jahrhunderts. Das ist die Stunde eines großen Ikonoklasten, der zwischen Weltzertrümmerung, neuen Weltentwürfen und den Blitzen hellsichtiger Reflexionen in seinem innersten Wesen immer viel mehr Dichter als Denker war: Friedrich Nietzsche. Sein ebenso hochmütiges wie verzweifeltes Versepos vom Übermenschen Also sprach Zarathustra (1885/93) wirkt mächtig auf die Phantasie komponierender Philosophen. Bereits als Sprachmusik so bannend gefügt, dass es als »Tanz in Ketten« bezeichnet wurde (Ludwig Klages), inspiriert es eine ganze Liga von Komponisten. Nicht nur Mahler huldigt ihm im vierten Satz seiner dritten Sinfonie, auch Richard Strauss widmet ihm die gleichnamige Tondichtung op. 30. Daneben animiert es Vergessene wie Oskar Fried (Das trunkene Lied op. 11, 1904), Frederick Delius (Eine Messe des Lebens, 1907) oder Karl Bleyle (Lernt Lachen op. 8, 1907). Die tönend illustrierte Weltanschauung gewinnt so viel an Bedeutung, dass für dieses Genre der treffende Begriff der »Weltanschauungsmusik« gefunden wurde (Her104 Vgl. S. Volkow (1981), S. 234.

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mann Danuser und Ludwig Finscher), tönendes Analogon zu einer Leitmetapher des Fin de siècle, der Weltanschauung. Dieser Terminus avancierte nicht nur zum Inbegriff gewichtiger, besonders deutscher Tiefsinnsbefrachtung, sondern zugleich zu einem Schlüsselbegriff philosophischer, historischer und kulturtheoretischer Konzepte von enormer Verbreitung.105 Inzwischen scheint zwar verblasst, was damals größte Wirkung entfaltete. Aber der Bedeutungszusammenhang erschöpft sich keineswegs mit seiner Blütezeit um 1900/1925. In seinen Kontext läßt sich weit mehr Musik bringen, die heute unter dem Fokus einer abstrakten Kompositionsgeschichte autonomieästhetisch behandelt wird und damit abgeschnitten von ihren mentalen Bedeutungshintergründen. Dass sie bis in die Moderne weiterwirken, zeigt sich von Alexander Skrjabins theosophisch-okkultistischen Ideenkonzepten bis zu Karlheinz Stockhausens Licht-Zyklus oder George Crumbs Symbolkatalog Makrokosmos for Amplified Piano und schließlich auch im ›politischen Komponieren‹ der 20.-Jahrhundert-Avantgarden von Luigi Nono bis Helmut Lachenmann (siehe Kapitel X).

Richard Strauss: Virtuose Musiktheatralik zwischen Tondichtung und Dramatik Auch Mahlers Zeitgenosse Richard Strauss (1864–1949), damals ungleich höher geschätzt als Mahler, bewegt sich mit großen epischen Orchesterprogrammen im Genre der »Weltanschauungsmusik« – obwohl er schließlich erst im Musiktheater zu seinen wirkungsvollsten Ausdrucksgestaltungen findet. Das Gemeinsame ist das Medium des großen, noch über Wagner hinaus, verfeinerten Orchesters – und die narrativen ›Programme‹, sowohl im orchestralen Idiom seiner ›Tondichtungen‹ wie szenisch im Musikdrama. Strauss ist ein Genie der Orchesterbehandlung und Instrumentationskünste, der Wagner und Berlioz genauestens studiert hat. Seine erweiterte Neuedition von Berlioz’ »Instrumentationslehre« (Leipzig 1904) zeigt ihn als Profi des Metiers und genialen Adepten des orchestralen Klangdenkens der Zeit. Zuerst erprobt er es in seinen großen Tondichtungen, wo sich sein komplexes, sinfonisches Erzählen stets an philosophischen Themen und literarischen Sujets inspiriert, die, ähnlich wie bei Mahler, oft ausdrücklich als Programme formuliert werden.

105 Eingeführt wird der Begriff bereits bei Kant in seiner Kritik der Urteilskraft, 1790. Seit 1850 aber macht er Karriere als philosophische und kulturtheoretische Leitvokabel, die bis heute Wirkung zeigt, von Karl Jaspers (Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 1919) bis Eberhard Jäckel (Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft, Stuttgart 1981). Als charakteristischer Terminus aus deutscher Mentalität wird er, weil deshalb schwer übersetzbar, sogar original in andere Sprachen übernommen.

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Orchestrale Vorstellungen prägen sogar zutiefst das intime Genre des Liedes. Bereits im persönlich-privaten Rahmen der Klavierlieder für seine Frau Pauline, die glänzende Sopranistin, oft von ihm selbst begleitet, dominiert das orchestral gedachte Format. In seinen Orchesterliedern von op.14 oder op. 33 und schließlich im finalen Opus seiner Vier letzten Lieder wird es sinfonische Realität. Am nachhaltigsten wird sein orchestrales Ingenium schließlich von den großen programmatischen Konzepten seiner Tondichtungen inspiriert. Ihre Spannweite ist enorm. Sie reicht dort, wie in seinen Opern, vom Erhabenen, Dramatischen und Mythologischen bis zum Burlesken, Trivialen und Kulinarischen. Die Programme seiner zehn Tondichtungen, größtenteils auf seine Anregung hin öffentlich gemacht, stehen zunächst unter dem Einfluss des philosophierenden Komponisten und Wagner-Jüngers Alexander Ritter. Bald werden sie aber von Shakespeare, Nietzsche, Cervantes und Paul Heyse angeregt und sogar vom Wiener Kaffehaus-Ambiente, wie in der Schlagobers-Suite op. 70. Aber auch Episoden aus seinem häuslichen Familienleben können ihn inspirieren oder Aufträge wie für eine Japanische Festmusik op. 84 von 1940.106 Hinter diesen vielerlei Programmen seiner Tondichtungen wird aber zugleich ein innermusikalischer Konflikt ausgetragen. Es ist der Widerstreit zwischen der plastischen Illustration eines Narrativs und den eigenständigen musikalischen Formkräften, ausgetragen im kolossalen Orchestermedium der Zeit. Er ist bezeichnend für die musikgeschichtliche Situation. Strauss weiß genau darum, wenn er äußert, dass man »nur noch mit der poetischen Idee weiterkomme« und dass die Hauptaufgabe des Programms darin bestehe, »die musikalische Struktur von den Fesseln der Tradition zu befreien« (Brief an v. Bülow v. 14.8.1888). Zu dieser ›Tradition‹ zählen als eigenständige strukturelle Bedeutungskräfte vor allem die Tonarträume, die Sonatenform und die kontrapunktische Polyphonie. Die Tonarträume gibt er in ihren distinkten Ausdruckswerten keineswegs auf, auch wenn er die funktionalen Beziehungen, die sie konstituieren, bis zur Demontage strapaziert. Sie zeigt sich exemplarisch, wenn in seinem Zarathustra der sublimen C-Dur Einleitung ein Absturz ins tonale Chaos mit As-Dur, f-Moll, Des-Dur und b-Moll (ab Takt 23) folgt. Aber vor allem in Opern wie Salome und Elektra demonstriert er ein unerhörtes Spektrum harmonischer Grenzgänge. Wie wenig er aber auf den semantischen Wert der Tonarten als seelisch-emotionale Ausdrucksbereiche verzichten will, zeigt sich in ihrer Verwendung als zentrale Bezugsrahmen in Tondichtungen wie Oper, die er oftmals bereits anhand der Textvorlagen für Personen, Charaktere und Topoi entwirft.

106 Für detaillierte Überblicke vgl. W. Werbeck, Die Tondichtungen von Richard Strauss, Tutzing 1996.

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In Tod und Verklärung op. 24 (1889), wo es um eine tragische Künstlervita geht, nachträglich in Dichtung gebracht von Alexander Ritter, konzipiert er das Panorama der Tonarten entsprechend den Stationen des Narrativs. Als Leidensepos eines Sterbenden führt es Strauss von c-Moll über Es-, G-, As-, A- und Des-Dur bis zum lichten C-Dur einer finalen ›Verklärungs‹-Imagination als Schluss. Auch in Also sprach Zarathustra op. 30 (1896) ordnet Strauss anhand von Nietzsches Text den dortigen Themen bestimmte Tonarten als Ausdrucksbereiche zu. Die Skizzen zeigen es: C-Dur-Beginn als ›Naturmotiv‹ wie auch im »Tanzlied«, As-Dur für die Anbetung im »Nachtlied«, Es-Dur für die »Morgenröthe«, h-Moll/H-Dur für die »Sehnsucht«, d-Moll für die »Verzweiflung«, e-Moll für »niedrige Leidenschaften«.107 Der bitonale Schluss mit seinem Changieren zwischen C- und H-Dur wird ihm zum Ausdruck hintersinniger Ambivalenz: das erste seiner Werke, das er nicht mehr in der Tonart des Anfangs enden lässt. Ein anderes Beispiel ist die Symphonia domestica op. 53 (1903), in der sich Strauss, ähnlich wie in der Oper Intermezzo, biographisch eine illustrative Musik auf den Leib schreibt. Dort steht für den Vater als ›Hirte der Familie‹ die pastorale Tonart F-Dur, für die Mutter H-Dur und für den Sohn die zwischen beiden liegende Tonart D-Dur. Weil sie traditionell als ›herrscherliche‹ Tonart gilt, zeichnet sie das Kind als (heimlichen) »königlichen Herrscher der Familie«, und schließlich steht E-Dur für die dezenten Bekundungen erotischer Leidenschaft.108 Dass mit der Gegenüberstellung von F- und H-Dur wieder der Tritonus-Abstand gewählt wird, mag man als Attribut expressiver Reizharmonik deuten – oder womöglich als bezeichnendes Bedeutungselement für ›polare‹ Spannung, wie sie zur bekannten Eheerfahrung von Strauss mit seiner kapriziösen Pauline zählt. In der Verwendung kontrapunktischer Verfahren ist Strauss sparsam. Für die Erzählstruktur in der Tondichtung Don Juan wählt er sie in einer Verschränkung von individueller Personencharakterisierung und der Fuge. Fugierte Faktur bestimmt auch in Zarathustra (bezeichnenderweise) den Anfang des Kapitels Von den Wissenschaften, aber auch den von Der Genesende. Am deutlichsten befreit er sich von den »Fesseln der Tradition« schließlich im Umgang mit der Formidee der Sonate. Zwar scheint sie als Hintergrund eigenständiger musikalischer Verfahrensweisen immer wieder durch. Aber von Macbeth über Don Juan bis Tod und Verklärung tritt sie immer weiter zurück, bis sie bei Till Eulenspiegels lustigen Streichen in einer episodischen Rondofolge völlig unter107 Die zugehörigen Textabschnitte, die er vertont, markiert Strauss bereits in seinem Hand­ exemplar von Nietzsches Dichtung, später korreliert mit den Seitenzahlen der Partitur, vgl. Ch. Youmans, Tondichtungen, in: Richard Strauss Handbuch, hg. v. W. Werbeck, Stuttgart 2014, S. 409–410. 108 Vgl. B. Edelmann, Tonart als Impuls Strauss’schen Komponierens, in: Musik und Theater im ›Rosenkavalier‹ v. Richard Strauss, hg. v. R. Schlötterer, Wien 1985 (= Österreichische Akademie der Wissenschaften, Veröffentlichungen der Kommission für Musikforschung, hg. v. O. Wessely, Heft 22), S. 61–97.

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geht. Dafür liefert freilich das narrative Sujet »Nach alter Schelmenweise – in Rondoform für großes Orchester gesetzt« (im originalen Titel), die beste Legitimation: Karikaturen der Schildbürger und Philister, bunte Themenvariationen und eine einkomponierte Kritik an dem, was Strauss für die musikalische ›Metaphysik‹ Richard Wagners hält (durch Persiflage des Tristan-Akkords, Takt 47, 389 und 393, sowie einer Anspielung auf dessen Siegfried-Idyll, Takt 633–645). Weitere Demontagen der Sonatenform als verbrauchten Formalismus zeigen sich bei Don Quixote, entworfen zusammen mit Ein Heldenleben als (wie Strauss anmerkt) komplementäres Werkpaar. Dort bestimmen »Fantastische Variationen« (Strauss) in 14 eigenständigen Abschnitten die Form. Einen »ersten musikalischen Roman« hat man das Werk deswegen genannt (Ernest Newman, 1905). In der Tondichtung Ein Heldenleben op. 40 (1898), seiner längsten, mit der größten Orchesterbesetzung, bestimmen sechs Hauptabschnitte die Form. Zwar fungiert das Sonatenkonzept als eine Art Gerüst, aber die Binnenstruktur ist episodisch und verleugnet mit bizzaren Klangaggregaten ohne funktionsharmonische Relationen (etwa Takte 118–123) die Tonartstruktur einer Sonatenhauptsatzform. Die meisten Themenexpositionen folgen nicht der Konvention von ›starker‹ Tonika-Dominante-Folge, besonders in Till Eulenspiegel, sondern der strukturell schwächeren von Tonika-Subdominante, wie es auch in der musikalischen Faktur von Richard Wagner so häufig geschieht. Eine Exposition wie im Heldenleben mit ihren drei Tonarten bedient nicht die Sonatenform, sondern die narrative Charakterisierung: das heroische Es-Dur für den Helden, das dunkle g-Moll für seinen Widersacher und das liebliche Ges-Dur für die Liebe zur Gefährtin. Auch an der Behandlung der Reprisen und Seitenthemen zeigt sich der Konflikt von Formidee und Erzählphantasie. In Macbeth stört Strauss nach der Herausstellung einer Sonatenexposition in den ersten 122 Takten mit erster Themengruppe in d-Moll und einer ›weiblichen‹ in F-Dur die Formkonvention massiv, indem er zwar das Signal einer Reprise setzt (Takt 324) – dann aber keine veränderte Wiederaufnahme der Exposition erfolgt, sondern ein umfangreicher, neuer Durchführungsabschnitt mit drei Höhepunkten in unterschiedlichen Kombinationen der Themen (Takte 369–514): Die Reprise ist zugleich eine Durchführung.109 In Also sprach Zarathustra kehrt Strauss die Reprisen-Konvention um: Das erste Thema in c-Moll, »Von den Freuden und Leidenschaften«, kehrt geschwächt in der Seitentonart As-Dur zurück. Eine Art Anti-Reprise wird in der Alpensinfonie op. 64 vorgeführt. Nach der Exposition des ersten Themas in Es-Dur mit den Nebentonarten im Tritonusverhältnis As- und D-Dur (Takt 74) gibt es eine Durchführung »Durch Dickicht und Gestrüpp« in dichter Polyphonie (Takt 436), gefolgt vom »Abstieg« in b-Moll mit Kadenz (Takt 974): ein Affront gegen alle Sonatenform-

109 Vgl. W. Werbeck (1996), S. 391.

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Idee. Erst danach folgt ein epilogartiger Ausklang in der Tonart des Hauptthemas, Es-Dur (Takt 1036), bereits kurz darauf erneut geschwächt mit der Rückkehr der »Nacht« in b-Moll. Das Sujet dieser, seiner letzten Tondichtung, zwischen Künstlertragödie, Naturbeschwörung und Nietzsche-Reflexion (»Ich will meine Alpensinfonie: den Antichrist nennen« merkt er an) enthält zahlreiche Anspielungen auf eigene und fremde Werke: vielleicht schon eine Form reflexiver Selbstbesinnung wie zuletzt im Konversationsstück Capriccio. Aber die beispiellose Anzahl von 23 Überschriften in der Partitur zielt auf etwas anderes: nämlich eine intensivste Imagination des ›Programms‹ und seiner ›Bilder‹. Damit werden alle traditionellen, formbildenden musikalischen Strukturen überschrieben, insbesondere die Sonatenform. Daran aber zeigt sich drastisch, dass solche autonomen Formkonzepte dem Anspruch der subjektiven, philosophisch-weltanschaulich inspirierten Programme und Narrative nicht mehr genügen konnten. Obwohl der Musiker Strauss nicht ganz auf sie verzichten kann, übersteigt sie der intellektuelle Tondichter und verfährt damit beliebig wie mit Requisiten. Sie stellt er so nachdrücklich in den Dienst seiner Erzählphantasie, dass fraglich wird, ob eine musikalische ›Satz‹-Analyse nach alten, ›objektiven‹ Formkriterien noch angemessen ist. Unter musikhistorischem Aspekt stellt sich das als Wegstation eines Abschieds dar: nämlich von den autonomen, formbildenden Kräften in der Musik. Und damit auch vom Vertrauen auf ihr Wirkungspotential, das sich letztlich einer anderen Qualität verdankt als das einer (literarischen) Programm-Idee.

Von der Antike über Komödie und Burleske zum Salon Begreiflich, dass Strauss schließlich nicht, wie Mahler in der Instrumentalmusik, sondern, wie Wagner, erst im Musikdrama zu seiner eigentlichen und wirkungsmächtigsten Ausdruckswelt gelangt. Es ist die Entscheidung für das theatralische Narrativ als Potenzierung von ›Poetik‹ und literarischer Erzählung mit den phantastischen Klangmöglichkeiten des weiter evolutionierten Wagner-Orchesters. Es ist aber vor allem eine künstlerische Entscheidung für die Szene, die konkrete Bühnenwirklichkeit von Personen, Handlungen, Dialogen und Plots, an denen sich die musikalische Phantasie von Strauss realistischer entzünden kann als in der Tondichtung, wo seine Musik so oft nach einer Erläuterung des Programms verlangte. Woran sich Strauss’ schöpferische Phantasie in seinen fünfzehn Opern entzündete, zeigt das weite Spektrum ihrer Sujets. Nach der frühen Wagner-Imitation Guntram und der Rolle als kesser AntiBourgeois in der aufsässig-ironischen Feuersnot huldigt er in seiner einzigen historischen Oper Friedenstag heldischem Festspielambiente mit Grand-opéra-Prunk und erreicht dann mit den mythologisch-antiken Stoffen wie in Salome, Die ägyptische Helena, Elektra, Daphne und Die Liebe der Danae großes Musiktheaterfor-

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mat, in Der Frau ohne Schatten zu hohem humanistischem Ethos gesteigert. Aber er zeigt mit Der schweigsamen Frau, Ariadne auf Naxos und Arabella wie glänzend er auch verschiedene Spielarten des Buffa-Genres zwischen lyrischer Komödie, Molière-Theater und Commedia dell’arte beherrscht. Dazu betreibt er mit Hingabe die Verklärung bürgerlicher Sujets, opulent in der Gesellschaftskomödie des Rosenkavaliers, privatissime im Intermezzo, bis er schließlich in Capriccio, dem »Konversationsstück für Musik« mit seiner vielfach gebrochenen ästhetizistischen Selbstreflexion im Ambiente des französischen Rokoko-Salons den selbst gesetzten Schlusspunkt seines Œuvres erreicht. In den Opernwerken Salome (1905) und Elektra (1908) verbindet sich die Evolution der musikalischen Mittel mit dem zeittypischen historistischen Reflex auf mythologische Traditionsbestände der Antike – aber als Gestaltung individuellpsychologisierter Ausdruckswelten. Bereits bei Salome affiziert das frivole Sujet, ein Theaterstück von Oskar Wilde, Strauss zu einem expressiv zugespitzten musikalischen Idiom. Denn hinter dem alttestamentarischen Narrativ steht das zeitgeistige Fin de siècle-Faszinosum der Femme fatale, wie es von Sigmund Freud, Otto Weiniger bis Gustav Klimt und der ›Lulu‹-Figur die Phantasien bewegte. Schon die Eröffnung mit einer aufsteigenden Klarinettentonleiter exponiert den verstörenden Tonfall. Denn sie ist in der Mitte geteilt: Die erste Hälfte steht in CisDur, die zweite in G-Dur. Das ist der Intervallabstand der übermäßigen Quarte, des alten Diabolo in musica, des Tritonus. Seine dissonante Spannung zwischen den zwei harmonischen Bezirken zeichnet schon Wesentliches des Programms: die Konfrontation der manierierten höfischen Welt des Tetrarchen Herodes mit dessen exaltierter Tochter und die gegensätzliche Welt christlicher Askese. Ein distinktes Relief der Tonartenbezirke charakterisiert die Protagonisten: Salome mit den Tonarten cis-Moll und Cis-Dur für den Eros zügelloser Sexualität, Jochanaan mit den Tonarten As-Dur und f-Moll, viel Diatonik und klaren Harmonien für asketische Gottesverfallenheit. Auch im ersten bizarren Dialog von Salome mit Jocha­naan in der Zisterne (2. Szene) wählt Strauss die disparate Tritonusspannung zwischen ADur und es-Moll als Menetekel für die fatale Entwicklung der Begegnung. Dazu kommt Bitonalität als Ausdruck für hektisch-dissonante Szenarien, wie im Quintett der debattierenden Juden, als eine Art Scherzando aus der buffa-Sphäre, aggressiv untermalt mit den jaulenden Tönen der Oboen und Klarinetten im Forte (4. Szene) oder beim Ausruf von Herodes in hoher, hysterischer Tenor-Tessitura: »Man töte dieses Weib« (Schlussszene, Takt 365). Im »Tanz der sieben Schleier« fängt Strauss das Konzentrat von Salomes Sexualität ein. Aber es handelt sich musikalisch um einen Walzer, angereichert mit orientalischem Klangkolorit durch übermäßige Sekundintervalle und Chromatik: Ausdruck eines lasziven Exhibitionismus, eingefangen im Walzertakt als spießbürgerlicher Voyeurismus.

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Die Dramaturgie eines erotischen Reizambientes zwischen inzestuöser bis nekrophiler Libido und einer keuschen, aber suizidalen Versagungsmoral gewinnt ihre Spannung nicht nur aus den musiksemantischen Reizmitteln, sondern auch aus der Raffinesse der orchestralen Instrumentation. Strauss wählt dafür eine riesige Orchesterbesetzung: 60 Streicher, 18 Holzbläser (mit Flöten sowie Heckelphon, Bassklarinette und Kontrafagott), 6 Hörner, 4 Trompeten, 4 Posaunen und Basstuba, 2 Harfen und Celesta, 5 Pauken, Tam-Tam, Becken, Trommeln, Tamburin, Holzund Strohinstrument, Glockenspiel, sogar Kastagnetten, samt einem Harmonium hinter der Bühne. Sämtliche Elemente dieser intensiven Ausdruckssemantik wie Tritonus-Spannung, Bitonalität und Chromatik bestimmen auch die Musik von Elektra, genau wie eine noch größere Besetzung: 16 Solisten, Chor und über hundertköpfiges Orchester mit einem Streicherensemble von 63 Spielern, aufgeteilt in zehn Gruppen, einem höchst differenzierten Blech-Ensemble (von den Piccoloflöten bis Heckelphon, mit Bassetthörnern, Es-, B- und A-Klarinetten, Tuben und Bassposaunen), dazu Celesta und zwei Harfen, ein opulentes Schlagwerk mit acht Pauken, Glockenspiel, Triangel, Schellentrommel, kleiner Trommel, Rute, Zimbel und Tam-Tam. Wie bei Salome handelt es sich um eine antike Vorlage, diesmal von Sophokles, aber in der Umdichtung durch Hofmannsthal, wiederum adaptiert von Strauss. Er vereinfacht die komplizierten Charakter- und Handlungsstrukturen des Originals und beschneidet die literarischen Qualitäten des Hofmannsthal-Textes zugunsten einer strafferen Dramaturgie. Auch der Beginn setzt, wie bei Salome, mit seiner Anfangsdevise (d-a-f1) im Fortissimo das Signal für ein schrilles Narrativ. Auf einem düsteren d-Moll-Grund führt es in das Horrorkabinett der ersten Szene. Als zentrales Motiv setzt Strauss die Folge D-A-F-D, Chiffre für den Namen Agamemnons, Elektras ermordetem Vater. Eine dramaturgische Steigerungsstrategie in sieben Szenen bedient sich vielerlei Mittel: bitonale Harmonik im nicht aufgelösten Elektra-Akkord (Monolog: »Allein, Weh, ganz allein«) nach dem das Orchester, wie so oft auch bei Wagner, die weitere Charakterzeichnung übernimmt, bis zur Atonalität (Monolog der Klytämnestra) und dem Schrei in der Erkennungsszene von Orest mit einen elftönigem, dissonanten Forteklang sämtlicher Bläser (Ziffer 144 a). Strauss sorgt aber auch für eine exquisite Differenzierung der Ausdruckssphären, wenn er die lichte von Chrysothemis gegen die finstere mit der Malerei des Grauens bei Klytämnestra setzt oder wenn er in einem liedhaften As-Dur-Gesang Elektra ihr Traumbild besingen lässt. Seinem Konzept nach ist das Libretto eine ›Literaturoper‹ – aber mit mythologischem Stoff der Antike. Diese Verbindung formuliert sein Textdichter, Hugo von Hofmannsthal, der Wagners Musik nicht mochte und auch sonst nicht als besonders musikalisch galt, aus der Bewusstseinslage des Fin de siècle so: «Das Maximum unserer kosmisch bewegten, Zeiten und Räume umspannenden Menschen-

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natur, läßt sich nicht durch die Natürlichkeit einfangen. Es sind die Kunstmittel des lyrischen Dramas, und sie scheinen die einzigen, durch welche die Atmosphäre der Gegenwart ausgedrückt werden kann. Denn wenn sie etwas ist, diese Gegenwart, so ist sie mythisch – ich weiß keinen anderen Ausdruck für eine Existenz, die sich vor so ungeheuren Horizonten vollzieht – für dieses Umgebensein mit Jahrtausenden, für dies Hereinfluten von Orient und Okzident in unser Ich, für diese ungeheure innere Weite, diese rasenden inneren Spannungen, dieses Hier und Anderswo, das die Signatur unseres Lebens ist. Es ist nicht möglich, dies in bürgerlichen Dialogen aufzufangen. Machen wir mythologische Opern, es die wahrste aller Formen …« (Essay über die Ägyptische Helena, 1928). Es ist dieser mythenbezogene Hintergrund, aus dem heraus sich Strauss selbst als »Der griechische Germane« bezeichnet. Aber hinter der durchaus modernen, ›kosmischen‹ Perspektive von Hofmannsthals Reflexionen kann man ebenso ein letztes Stadium des Historismus sehen: ein Regress auf ein noch ferneres ›Vorher‹, nämlich die frühesten abendländischen Schichten der Antike. Er findet sich, womöglich in einer weit authentischeren Form, auch bei Carl Orff mit seinem Musiktheater, aber in ganz eigener, originärer Musiksprache. Auch der sensible Dichter und feinsinnige Literat Hofmannsthal findet seine eigene, originäre Form für seinen ›Regress‹. Denn er fängt darin etwas vom dissoziierten Zeitgeist ein, zwischen historistischer Nostalgie und den Fin de siècle-Ambivalenzen mit ihren Neurosen zwischen morbidem Überdruss und diffusem Aufbruch. Und auch bei Strauss ist dieser ›Regress‹ von den gleichen Ambivalenzen gekennzeichnet. Denn sein Rückgriff auf die Mythologie hat weder mit dem idealistischen Antike-Bild von Goethe noch mit Winkelmanns reinweißer Alabasterpracht zu tun. Auch nicht mit dem hochherzigen Panhellenismus seines bajuwarischen Heimatambientes, wie ihn dort König Ludwig I. im damaligen ›Isar-Athen‹ München intonierte und mit seinem Sohn Otto als König von Griechenland inthronisierte. Zwar erhob Strauss selbstgewiss den Anspruch, seine »griechischen Opern … haben Tonsymbole geschaffen, die als letzte Erfüllung griechischer Sehnsucht gelten dürften.«110 Das mag seiner imaginierten Vorstellung von »griechischer Sehnsucht« entsprechen. Real entspricht seine Musik aber den Imaginationen seiner Zeit. Denn Strauss erschafft, ähnlich wie es Wagner mit germanischer Mythologie unternahm, aus der antiken Kulisse eine musikalische Ausdruckssemantik subjektiver Leidenschaftsdramatik und Affektkonflikte, zeitgeistig geschärft durch die modernen Exaltationen mit ihrem Repertoire von Angst und Neurose bis Hysterie. Er komponiert eine Reizmusik der ›psychischen Polyphonie‹, eine unruhige Nervenmusik der Moderne, die sich in einer Ausdruckssphäre wie Wagners Tristan und dem Hyperexpressionismus der italienischen ›Wahnsinnsarien‹ bewegt. Des110 Betrachtungen zu Joseph Gregors Weltgeschichte des Theaters und Entwurf eines Briefes an Joseph Gregor, 4. 2. 1945, in: Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen, hg. v. W. Schuh, Zürich 1949, 2. erw. Aufl. München 1989, S. 176.

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wegen haben die Affektzustände seiner personae dramatis in Salome und Elektra weniger mit den archaischen Götter- und Heldenwelten von Hellas oder Antiochia zu tun als viel mehr mit dem delikaten Fin-de-siècle-Geist, in den sich schon Décadence und Überreizung einmischen und hinter dem bereits Freuds Psychoanalyse auftönt. Man hat sie deshalb als eine »moderne psychoanalytische Studie« (Anna Amalie Abert, 1972) bezeichnet oder als eine »pathologische Studie« mit der »Hysterisierung des antiken Mythos« (Jürgen Schläder, 1997). Dazu passt, dass für den Librettisten der Elektra, Hugo von Hofmannsthal, seine Lektüre der Studien zur Hysterie von Freud und Breuer belegt ist. Bei den Zeitgenossen fand deswegen diese hyperexpressiv aufgeladene Ausdruckswelt, transportiert über das Raffinement einer meisterhaften orchestralen Instrumentationskunst, zunächst ebenso wenig Verständnis wie vieles von Wagner oder Mahler. Sie wurde weder als verstehbare Fallstudie emotionaler Pathologie, noch als Zuspitzung eines symbolischen Naturalismus verstanden, sondern durchaus zutreffend, als frivole Verletzung wilhelminischer Bürgermoral mit der lasziven Spielart einer dionysisch entgrenzten Libido. Sogar den ersten Protagonisten war unwohl dabei. Die Salome der Dresdner Uraufführung, Marie Wittich, beklagte sich, dass der Regisseur von ihr »Perversion und Ruchlosigkeit« verlange. Romain Rolland war, genau wie Kaiser Wilhelm II., so entsetzt wie Gustav Mahler, der sich zwar für die Musik begeisterte, aber über den Stoff empört war. An der New Yorker Met wurde das Opus nach der ersten Aufführung, 1907, abgesetzt und kam erst wieder 1934 auf den Spielplan. Ein Kritiker in Chicago schrieb: »Die leibhafte Inkarnation von Bestialität«. In Wien und London scheiterten Aufführungen an der Zensur. Der als monströs empfundene Orchesterapparat von Elektra war außerdem Zielscheibe einer Flut von Karikaturen in Zeitungen und Witzblättern, gipfelnd im Sarkasmus, dass Strauss in der nächsten Oper »für zehn Lokomotiven, zehn Jaguare und eine Herde von Rhinozerossen« komponieren werde. Ihrer Karriere als Meisterwerke später abendländischer Hochkultur hat es aber nicht geschadet. Und im progressiven Musikverständnis der Avantgarde wurden beide Werke genauso als ›logischer‹ Weg in die Moderne in Anspruch genommen, wie Wagners Tristan oder Liszts h-Moll Sonate. Umso mehr verfiel das nachfolgende Komponieren von Strauss, exemplarisch der Rosenkavalier, als kulinarischer Rückfall ins musikgeschichtliche Gestern harter Kritik. Als ästhetischer Rückzug ins ›Reaktionäre‹ wurde es sogar skandalisiert bis zur Diffamierung bei Th. W. Adorno. Aber auch Thomas Mann äußerte sich so kritisch wie später etwa Hermann Danuser für die Musikhistoriographie.111 Für 111 Bereits 1924 gibt es von Th. W. Adorno eine erste Kritik, 1964 dann fundamentaler in seinem Text Richard Strauss zum 100. Geburtstag, in: Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 16, Frankfurt a. M. 1978, S. 605. Dabei ist anzunehmen, dass bei seiner pejorativen Bewertung die wechselseitige Ablehnung von Strauss und Schönberg eine zentrale Rolle spielt (vgl. Anm. 114), obwohl sich Schönberg durchaus differenziert zu Werken von Strauss

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Strauss aber war der Rosenkavalier nur ein Sujet im weiten Spektrum seiner kompositorischen Ideen. Wie verschiedenartig er sogar ein und das gleiche Sujet behandeln kann, zeigt das Triptychon seiner ›Ehestücke‹. Mit der Frau ohne Schatten, Intermezzo und Ägyptischer Helena erweist er der Institution Ehe auf unterschiedlichen Ebenen sein Interesse: ethisch, heroisch und privat-komödiantisch. Wie wichtig sie ihm war, zeigt sein Bekenntnis: »Die Heirat ist das ernsteste Ereignis im Leben.« In der Frau ohne Schatten op. 65 (1914–1917) behandelt er die Ehe unter dem Aspekt höherer Humanitas, angereichert mit vielen literarischen Referenzen durch den Librettisten Hofmannsthal, aber auch durch das Märchen Das kalte Herz von Wilhelm Hauff. Auffallend ist die Betonung der Rolle der Frau sowie im letzten Akt das Konzept von Prüfungen – wie in Mozarts Zauberflöte. Musikalisch dominiert Diatonik, es gibt sinfonische Zwischenspiele, Soli für Violine, Violoncello und Fagott, reichlich Arien, Duette, Terzette, Quartette und Chöre hinter der Bühne. Für Intermezzo op. 72 (1918–1923) lautete der erste Titel »Das eheliche Glück«. Er verrät, dass es sich um eine private Ehekomödie handelt, gedichtet in Alltagsprosa von Strauss selbst. Musikalisch schwelgt er in Quartenharmonik (1. Aufzug, 6. Szene), und Schlager-Ambiente (»Theresulein, Theresulein, du bist mein süßes Mädchen« singt Baron Lummer, der Tenor). Reichlich finden sich parodistisch eingesetzte Zitate aus Mozarts Figaro, Verdis Othello, Wagners Tristan und Parsifal, Webers Freischütz und dem Faust von Gounod – aber ein Finale in Fis-Dur beschwört Seligkeit: Ausdruck Strauss’scher Imagination vom Eheglück. In der Ägyptischen Helena op. 75 (1923–1927) spielt seine Antike, wie kommentiert wurde, »zwischen Moskau und New York«. Aus den ersten acht Takten entwickelt Strauss leitmotivisch die Substanz des ganzen Werks. Aber Hofmanns­ thals Libretto unternimmt eine synkretistische Wanderung durch die Weltliteratur: von Homers Odyssee, dann Euripides und Goethes Helena bis zu Bachofens ›Mutterrecht‹ und Paul Claudels Protée. Zum unvergänglichen Favoriten aller Opernbühnen aber wurde ausgerechnet das exemplarische Zielobjekt avantgardistischer Strauss-Kritik: Der Rosenkavalier (1911). Bereits sein gesellschaftliches Ambiente intoniert gefällige, bürgerliche Bonhomie. Zumindest als Folie für durchaus Pikantes. Der Libretto-Dichter Hofmannsthal hatte das Szenario eines theresianischen Wien um 1740 erdacht. Als »Gesellschaftskomödie« in drei Akten sollte sie nach dem Muster von Mozarts Figaro oder Wagners Meistersingern eine große Opernkomödie des 20. Jahrhunderts werden. Ihr geäußert hatte, vgl. die Zitate in: Autorschaft als historische Konstruktion: Arnold Schönberg – Vorgänger, Zeitgenossen, Nachfolger und Interpreten, hg. v. A. Meyer u. U. Scheidler, Stuttgart u. Weimar 2016; Th. Mann, Doktor Faustus, Frankfurt a. M. 1960, S. 167 u. Briefe 1937–1947, hg. v. E. Mann, Frankfurt a. M. 1963, S. 181; H. Danuser, Die Musik des 20. Jahrhundert, Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Wiesbaden 1984, S. 78 u. 80.

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Charakter kommt im ursprünglichen Titel: Ochs von Lerchenau viel besser zum Ausdruck als im späteren. Hofmannsthal hatte sich das Werk sogar als eine Art Operette im transparenten Offenbach’schen Stil gewünscht, wie er in einem nicht abgeschickten Brief an Strauss (11. 6. 1910) schreibt. Später bemerkte er zu Alma Mahler: »Gott, wie schön wäre es, wenn Lehár doch die Musik zum ›Rosenkavalier‹ gemacht hätte, statt Richard Strauss.« Strauss jedenfalls wollte sich vom nietzscheanisch-dionysischen Genre so entfernen wie Hofmannsthal von der dräuenden Schwere des Wagner’schen. Deshalb beginnt die kommode ›Bürgerlichkeit‹ durchaus pikant, nämlich mit dem Lever im Schlafzimmer der Feldmarschallin bei postkoitaler Glückseligkeit mit ihrem jungem Lover Oktavian: ein Ehebruch mit allerhand weiteren Beziehungskonstellationen. Sie sind durchaus ›ständisch‹ als Soziologie eines Kulturpanonramas konstruiert. Denn genau überlegt charakterisiert Hofmannsthal jede Figur durch ihre Sprache als marker einer bestimmten Schicht und Strauss setzt es zu musikalischer Charakterzeichnung um. Wieder operiert er mit einer sorgfältigen Disposition der Tonarten, organisiert als subtiles Relationssystem: E-Dur ist die bevorzugte Grundtonart als ›Liebestonart‹, oft mutiert zu As-Dur für das Motiv der Marschallin; fMoll und F-Dur wählt er für den Feldmarschall.112 Das Wiener-Walzer-Ambiente im dritten Akt steht für das spezifische Harmonieimago des Genres, das große Terzett des dritten Akts als ›Trio der Gefühle‹ ist auch eine ›Harmonie der Kontraste‹. Als schwelgerisches lieto fine illuminiert es eine intakte, ständische Gesellschaftsordnung, die aber in der späthabsburger’schen Wirklichkeit, kurz vor russischer Revolution und erstem Weltkrieg, bereits ihrem katastrophalen Untergang entgegenging. Der Orchesterapparat zeigt bis hin zu einem elaborierten Schlagwerk (mit Pauken, verschiedenen Trommeln, Becken, Triangel, Tamburin, Ratsche, Schellen und Kastagnetten) sowie Glockenspiel, Celesta, zwei Harfen und einer Bühnenmusik (dritter Akt) aber kaum eine substanzielle Reduktion gegenüber vorherigen Werken. So bezeichnet die leichtlebige Gesellschaftskomödie Rosenkavalier nach Salome und Elektra bei Strauss eine ähnliche Konstellation wie Parsifal nach Tristan und Ring bei Wagner. Beide komponieren als echte, schöpferische Künstler eine Musik, die jeweils einer bestimmten Ausdruckswelt entspricht – nicht einer ehrgeizigen Idee neuer Klänge. Sie lassen sich vom Sujet des Narrativs inspirieren – nicht vom Räsonnement einer ›Theorie‹ oder dem Verlangen nach ›Fortschritt‹ – und finden von daher ihre passenden Bedeutungs-Mittel. Das gilt für die exaltierte psychische Ausdruckswelt von Salome und Elektra genauso wie für die banale einer Hammelherde in der zweiten Variation von Don Quixote mit dem Idiom dissonanter Kakophonie. Zur gleichen Zeit als Strauss die hysterische Nervenmusik seiner Salome komponiert, schreibt er auch die biedere, biographisch inspirierte Hausmusik sei-

112 Vgl. eine detaillierte Analyse bei B. Edelmann (1985).

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ner Sinfonia domestica, wo es ums schreiende Baby, ein wenig Schlafzimmererotik und einen deftigen Ehestreit geht. Er ist sich zwar durchaus bewusst, dass er in Salome und Elektra die ›materialen‹ Möglichkeiten zu Strapazen der Perzeption entwickelt. Einsichtig bemerkt er: »Ich bin bei Elektra bis an die äußersten Grenzen der Harmonik als psychische Polyphonie (Klystämnestras Traum) und Aufnahmefähigkeit heutiger Ohren gegangen.«113 Er strapaziert und individualisiert sie, aber er überschreitet ihren Bedeutungsindex nicht bis zur Aufgabe einer ›Systemebene‹, deren Strukturkern die Tonalität bleibt. Sie bleibt ihm sinnvolle Referenz, wie es als genau überlegtes Relationssystem in Tondichtung und Musiktheater Gestaltung findet. Das ist kein Formalismus, sondern ein Indiz dafür, wie sehr sie mit einer inneren Empfindung von Ausdrucksbereichen verbunden ist, die er genauen Bedeutungssphären zuordnet. Sogar die hypertrophe Harmonik des Elektra-Dramas endet schließlich, nicht nur bezeichnend für die Suprematie der Tonalität, sondern auch für die Mentalität von Strauss, mit einem Walzer im 6/4-Takt und im trivialen C-Dur – obwohl die tragische Akteurin tot vor den Toren des AgamemnonPalastes liegt.

Die ›Moderne‹ von Richard Strauss Strauss bringt die ihm von Zeitgenossen emphatisch zugeschriebenen Prädikate als »Führer der Moderne« und »Haupt der Fortschrittspartei« auf ein einfaches Diktum: »… warum sieht man nicht das Neue an meinen Werken …?« (Letzte Aufzeichnung vom 19. 6. 1949). Das ist eine Selbstbewertung – und eine Abgrenzung. Denn er vollzieht weder den gleichzeitigen Aufbruch in die Atonalität von Schönberg mit, noch die Neuformulierungen der ›Systemebene‹ wie von Klein bis Hába.114 Er elaboriert die Harmonik weiter zu einer Expressivität, die, wie schon bei Bruckner, Mahler aber auch bei Pfitzner, Thuille, Zemlinsky oder Goldmark, ihre Referenz zu den Strukturkräften der Tonalität zwar weiter labilisiert und damit menschliche Perzeptionsfähigkeit strapaziert – aber letztlich nicht preisgibt. Er fügt hyperkomplexe Klangaggregate – aber noch in seinem Abgesang an die Welt, den

113 R. Strauss (1989), S. 230. 114 Strauss hat sich deshalb auch nachdrücklich von Schönbergs dodekaphonischer Musik distanziert, obwohl er sich für ihn bei vielen Gelegenheiten als kompetenten Kompositionslehrer einsetzte, vielfach bezeugt mit Unterstützung für Stipendien und Zuschüssen, 1902 auch für einen Dozentenposten am Stern’schen Konservatorium in Berlin und schließlich für eine Meisterklasse an der Preußischen Akademie der Künste. Aber nachdem Schönberg zum atonalen Komponieren übergegangen war, äußerte er drastisch in einem Brief an Alma Mahler, 1914: »Dem armen Schönberg kann heute nur der Irrenarzt helfen. Ich glaube, er täte besser Schnee schaufeln, als Notenpapier vollzukritzeln« (nach Alma Mahler-Werfel, Mein Leben, 2. Aufl. Frankfurt a.  M. 1991, S. 224). In weiteren dort überlieferten Kommentaren bezeichnet er Schönberg als »wahnsinnig« (v. 8.6.1920) und seine Werke als: »Bockmist« (v. 3.5.1928).

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Vier letzten Liedern, sind nichts anderes als reine Quart-Sext-Klänge die zentralen Bedeutungselemente. Er semantisiert krasse musikalische Antagonismen, häufig mit Verwendung des Tritonus als Intervall wie bei Tonartrelationen als Mittel satztechnischer ›Konstruktion‹ – aber er integriert sie letztlich als Ausdrucksmittel, die ihre, wie immer auch entfernte Referenz zur tonalen ›Systemebene‹ nicht aufgeben. Und er demontiert und persifliert alte Strukturformen von Fuge, Sonate und Sinfonie mit spielerischer Frivolität. Damit offenbart sich unter musikgeschichtlichem Aspekt eine ganz andere Erscheinungsform von ›Moderne‹ als diejenige, die sich durch Aufgabe dieser ›Systemebene‹ definiert. Versucht man die schöpferisch-künstlerischen Antriebe von Strauss tiefer zu verstehen, so stößt man zuerst auf eine Veranlagung, die ihn als ein musikalisches Ur-Genie erweist, mit der Fähigkeit, jede Sinneswahrnehmung innerlich sofort in Klänge zu verwandeln. «Ich komponiere überall, auf dem Spaziergang oder auf der Fahrt, beim Essen, zu Hause oder in lärmigen Hotels, in meinem Garten, im Eisenbahnwagen …« beschreibt er es. Diesem Ingenium entkam er, wie er selber bekannte, nur beim Skatspiel. Deshalb macht er ihm als einzige Entlastung in Intermezzo, seiner Ehekomödie mit biographischem Hintergrund, ausdrücklich ein Kompliment: »Ach so ein Skätchen ist ein Genuß, die einzige Erholung nach Musik« heißt es – zur musikalischen Persiflage eines Tristan-Zitats (2. Akt, 1. Aufzug). Dazu kommt das ebenso geniale wie rationale Raffinement seiner Orchesterbehandlung mit einem, wie bei Mahler, über lange Kapellmeisterjahre professionell geschulten Umgang damit. Die Spannweite seiner musikalischen Begabung findet ihre Entsprechung in seiner Biographie. Sie vereint den schöpferischen Künstler mit dem selbst- und erfolgsbewussten Ego eines Weltstars der 1920/30er Jahre, den kundigen Verfechter des musikalischen Urheberrechts, dessen Interesse am pekuniären Ertrag seiner Werke viel größer war als an ästhetischen Diskussionen und schließlich den kulturpolitischen Opportunisten. Der agiert als (zeitweiliger) Reichsmusikkammerpräsident im Nazi-Regime – aber zugleich als engagierter Schutzpatron seiner jüdischen Schwiegertochter und als Verteidiger seiner jüdischen Librettisten. Das sind keine Widersprüche, sondern Charakterzüge seiner Persönlichkeit. Trivial zeigt sich das, wenn er mühelos zwei Dinge zugleich tun konnte, zum Beispiel eine intensive Unterhaltung führen und nebenher eine komplexe Partitur instrumentieren (wie es der Dirigent Karl Böhm von einem Besuch im Garmischer Domizil überliefert). In seiner schöpferisch-mentalen Disposition aber offenbaren sie sich am ambivalenten Spektrum seiner Ausdruckswelten. So wie er virtuos Tritonus-Antagonismen, Bitonalität und hybride Akkorde mit schlichtem C-Dur, EDur, F-Dur etc. samt Wiener Walzer amalgamiert, vereint er mit gleichem Faible tragischen Antikenmythos und triviale Bürgerlichkeit bis zum Wiener Kaffeehaus und der Apotheose des Privaten, das Reizambiente einer komplexen ›modernen‹ Nervenmusik mit der dekorativen Verspieltheit von ›Jugendstilmusik‹, ethische Parabel mit dem artifiziellen Dekor von Ironie, Nostalgie und Persiflage, theresi-

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anische Gesellschaftskomödie und synkretistische Weltwanderung, luzide Selbstreflektionen des Komponierens mit plüschigem Rokoko-Salon, Nietzsche, Faust, Goethe, Wagner und Mozart mit Posse, Commedia del’Arte und Molière. Die Anekdote bringt es auf den Punkt: »Strauss könnte auch eine Speisekarte vertonen«.

Der metaphysisch Befreite Diese bewundernswerte, ambivalente Genialität würde ihn noch keineswegs von Komponisten wie Mahler oder Bruckner trennen. Was ihn aber trennt vom Komponieren sinfonischer Lichtemanationen wie bei Bruckner oder den tiefsinnigen, letztlich um Göttliches ringenden »Welterzählungs«-Epen Mahlers, ihrem geistigen Format also, ist seine ganz andersartige Mentalität. Bezeichnenderweise bemerkt er über »Mahlers Obsessionen mit Erlösung«, das wäre eine Vorstellung, die ihm völlig fremd sei, er habe keine Ahnung, was Mahler mit diesem Begriff meine. »Ich weiß nicht, wovon ich erlöst werden soll. Wenn ich mich am Vormittag an den Schreibtisch setzte, und mir plötzlich etwas einfällt, brauche ich gewiß keine Erlösung. Was meint Mahler?« (im Gespräch mit Otto Klemperer, 1911 in seiner Garmischer Villa). Noch deutlicher bezeichnet die Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie seine Bewusstseinslage, wie es in den Tagebuchaufzeichnungen aus den 1890er Jahren sowie im Zusammenhang mit der Komposition von Zarathustra und Alpensinfonie offenbar wird. Er bekennt pantheistisch: »Bewusstsein des Ewigseins in ewig neuem, nie endendem Werden«, das in »künstlerischer Anschauung, und künstlerischer Produktion« aufgehe.115 Aber im Tagebucheintrag vom 19. 5. 1911, einen Tag nach Mahlers Tod, notiert er nüchtern, dass er Schopenhauer und das Christentum für die »Irrwege Wagners und Mahlers« verantwortlich mache. Damit qualifiziert er als »Irrwege«, womit sich die anderen existenziell auseinandersetzten und inspirierten. Ganz sympathetisch verhöhnt Nietzsche in seinem Zarathustra mit den »Hinterwäldlern«. Dort wird dann auch die zwitterhafte Existenz des Menschen zwischen ›Göttlichem‹ und ›Natürlichem‹ als unzumutbare Qual verstanden – und die Befreiung daraus als entschiedener Abschied von allem Metaphysischen formuliert: eine Abrechnung von Heidegger’schem Format mit jedem numinos getöntem ›Essentialismus‹. Das trifft die Bewusstseinslage von Strauss: Er macht das Kapitel »Der Genesende« im Zarathustra zum Mittelpunkt seiner Tondichtung, ausdrücklich und prominent markiert in seinem Handexemplar.116 Demnach ist das Höchste, 115 Vgl. W. Schuh, Richard Strauss. Jugend und frühe Meisterjahre. Lebenschronik 1864–1898, Zürich 1976, S. 316, 319. 116 Nach H. Merian, Richard Strauss’ Tondichtung »Also sprach Zarathustra«: eine Studie über die moderne Programmsymphonie, Leipzig 1899, S. 27.

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auf das ein Mensch hoffen kann im desolaten Hamsterrad immer wiederkehrender Kreisläufe von Befreiung und Depression, die endliche Absage an jede Metaphysik: sie sei nichts als eine menschliche Geistesschwäche, die überwunden werden müsse. Vielleicht hat der Wechsel von seinen alten Göttern Wagner und Schopenhauer zum neuen Propheten Nietzsche mit einer Lebenskrise von Strauss in den 1890er Jahren samt eines Nervenzusammenbruchs zu tun.117 Er empfindet diese Neuorientierung als eine »Befreiung« und die »Genesung« meint die post-metaphysische von Nietzsche: »sittliche Reinigung aus eigener Kraft, Befreiung durch Arbeit, Anbetung der ewigen herrlichen Natur« (Tagebucheintrag vom 19. Mai 1911). In seinem Zarathustra musikalisiert Strauss solchen Konflikt durch die krasse Konfrontation von C und H im bitonalen Schluss. Die ›Befreiung‹ daraus aber liefert ein Walzer als musikalischer Kulminationspunkt (Takt 429): tradiertes Vehikel der Leichtigkeit – gleichzeitig Antithese zu Wagners musikdramatischem Erlösungssyndrom, genau wie schon im Till Eulenspiegel mit einer Parodie als Gassenhauer oder in der leichthändigen Absage an alle sinfonische Tiefsinnsschwere, wie in der Sinfonia domestica. In der Alpensinfonie kommt die Befreiung mit einer Naturapotheose zum Ausdruck, die, ganz anders als bei Mahler, eher als gefälliger Kulissenzauber fungiert. Denn sie ist befreit von aller sinnbildlichen Differenzerfahrung zwischen ›Welt‹ und ›Überwelt‹ wie im mentalen Sensorium Mahlers. »Der Antichrist« als ursprünglicher Untertitel des (nietzsche’anisch umgearbeiteten) Lebens- und Liebesschicksals des Malers Karl Stauffer verrät ihren ›geistigen‹ Ort. Sein Zeitgenosse Mahler hatte offenbar nicht nur eine andere Vorstellung von Natur, sondern auch eine andere von Künstlertum. Er »mochte die unkünstlerische Art Straussens nicht«, wie Alma Mahler eine bezeichnende Bemerkung überliefert. Damit manifestieren sich zwei unterschiedliche Arten des künstlerischen Ethos, deren Differenz nicht in der musikalischen Könnerschaft liegt. Das Genie von Strauss steht im Dienste eines anderen Ethos. Zwar trägt es stets die Signatur eines hohen, kunstidealistisch grundierten Weltbildes mit einer spirituellen Referenz, wie sie zum lebenslänglich verehrten Goethe und zu Mozart Ausdruck findet. Und dass es sich nicht über Konventionen von Christentum oder eines Religionssystems definiert teilt er nicht nur mit Goethe und Mozart, sondern auch mit Mahler. Aber was Strauss von diesem trennt, ist jenes erkenntnistiefe Format, das nicht aus der Fülle des Talents und der »Leichtigkeit des Seins« kommt, sondern aus einem Bewusstsein für das Supranaturale dieses ›Seins‹, wie es Mahler in unbeirrbarer Auseinandersetzung damit austrägt. »Was für ein begabter Kegelbruder« lässt Tho117 Vgl. A. Seidl, Also sang Zarathustra, in: ders., Moderner Geist in der deutschen Tonkunst. Gedanken eines Kulturpsychologen zur Wende des Jahrhunderts, Regensburg 1913, S. 82–117; C. Youmans, Tondichtungen, in: Richard Strauss-Handbuch, Stuttgart 2014, S. 403  ff. u. S. 432 ff.

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mas Mann, selber ein Genius der Ambivalenzen, im Doktor Faustus seinen Adrian Leverkühn so böse über Strauss sagen. Und Wilhelm Furtwängler befindet »Strauss fehlt es an Tiefe« und erläutert, dass in seiner Musik »die technischen Impulse stärker, die geistigen geringer« seien »als bei den früheren Generationen.«118 Der Dichter, von dem Strauss drei Gedichte für seinen Schlussgesang der Vier letzten Lieder gewählt hatte, Hermann Hesse, bemerkt darüber, sie erschienen ihm, »wie alle Strauss-Musik, raffiniert, voll handwerklicher Schönheit, aber ohne Zentrum, nur Selbstzweck.« »Ein Requiem für sich selbst« (Musikkritiker Karl Schumann). Es ist ein künstlerisches Ethos, das vom Wesen eines distinguierten, aber zutiefst weltlichen Daseinsgefühls inspiriert ist. Es geht in »künstlerischer Arbeit« sui generis auf, mit aller Freude am Erfolg daran, findet in »Naturanschauung« und sittsamen Sehnsüchten nach ehelichem Familienglück letztes Genügen, ja wird sogar als Gegenmittel gegen jede zweifelhafte Metaphysik oder Zumutung von Transzendenz verstanden. Ihre Ausdrucksregionen will Strauss nicht und er hat sie nie in Anspruch genommen. Obwohl er genau erkennt und bekennt, dass ein musikalischer »Einfall«, besonders der melodische, »ungerufen vom Verstand« als »höchstes Geschenk der Gottheit … nicht erfunden, sondern den damit Begnadeten ›im Traum verliehen‹ ist«,119 hat eine Ahnung vom Wesen solcher ›Eingebung‹ keinen heuristischen Wert in seinem Weltbild. Es ist ein Ethos, das letztlich ganz in seiner musikalisch-künstlerischen Genialität, seinem angeborenen Talent gründet und aufgeht und damit sich selbst genügt: »Künstlerische Anschauung, künstlerische Produktion … wiegt in ihrer Freude alle Leiden zehnfach auf« (siehe Anm. 115). Und er nimmt es selbstbewusst in Anspruch, wenn er bündig befindet, dass seine Opern, nach Mozart und Wagner, »ein Schlußpunkt dreihundertjähriger Menschheitsgeschichte und Culturentwicklung« sind (zu Willi Schuh, 9. 3. 1944). Damit gelingt Strauss, ähnlich wie Wagner, die Erschaffung einer Ausdruckswelt von grandiosem Verklärungspotenzial, in der ein persönliches, gleichsam ›weltliches‹ Imago von ›Transzendenz‹ musikalisch illuminiert wird. Das gelingt aber, ähnlich wie bei Wagner, über die Musik als autonome ontologische Wirkungsmacht wie sie der verstörte Kierkegaard bei Mozarts Don Giovanni so erschütternd »dämonisch« erfährt, nicht über eine Ausdrucksbedeutung, die vom Numinosen als Erlebniswirklichkeit inspiriert ist. Es ist ein nobler ›bürgerlicher‹ Traum von Trans­ zendenz – vielleicht ahnungsvoll in der Tondichtung Tod und Verklärung und den Vier letzten Liedern an jene Grenze geführt, die für Bruckner wie für Mahler nur ein Ausgangspunkt war.

118 W. Furtwängler, Vermächtnis. Nachgelassene Schriften, Wiesbaden 1956, S. 30 u. 47. 119 R. Strauss, Vom melodischen Einfall, Manuskript, um 1940, in: W. Schuh (1989), S.161 ff.

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Die anderen ›Befreiten‹ – neue Wege, neue Formulierungen, andere Dissoziationen: 1. Ein ›germanischer‹ Weg Wichtigste Referenz für die meisten komponierenden Zeitgenossen aber blieb Wagner. Für seine Enthusiasten und ›spätromantischen‹ Epigonen ohnehin. Bei anderen aber treten bedeutsame Veränderungen des musikalischen Formulierens mehr und mehr in den Vordergrund. Sie lassen sich exemplarisch an drei prominenten Komponisten erfahren. Wie der junge Strauss steht auch der Lehrersohn Max Reger (1873–1916) aus dem oberpfälzischen Brand bei Weiden völlig im Banne Wagners. »Als ich als fünfzehnjähriger Junge zum erstenmal in Bayreuth den ›Parsifal‹ gehört habe, habe ich vierzehn Tage lang geheult und dann bin ich Musiker geworden.«120 Weil er aber früh im Elternhaus Klavier und Orgel lernt, mit Beethoven, Brahms und Bach aufwächst und bereits komponiert, betreut ihn bald der bedeutendste Musiktheoretiker seiner Zeit, Hugo Riemann. Der befindet »Bayreuth ist Gift für ihn« und instruiert ihn über seine eigene Lehre. Ihr Kern ist eine umfassende Systematik der tonalen Beziehungen, die als Theorie der musikalischen Funktionen in Musikgeschichte, Musikwissenschaft und Musikdenken eingeht. Sie ist dort die letzte universale ›Logik‹ des tonalen musikalischen Satzes, die deshalb bis in die Gegenwart ihre Bedeutung in Terminologie, Analyse und Lehre behalten hat. Mit ihr arbeitet Riemann nicht als Berauschter die kolossale Klangsemantik Wagners und seiner Erben auf, sondern qualifiziert als ein historisch kundiger Analytiker die grundlegenden autonomen Strukturkräfte abendländischer Tonalität. Reger aber arbeitet bald auf eigene schöpferische Autonomie hin. Er beginnt zwar sein Komponieren im Geiste Brahms (wie unverkennbar in op. 2, dem Trio für Klavier, Violine und Viola) und bleibt mit den vielen Rückgriffen auf alte Formen wie Choral, Fuge, Toccata, Passacaglia, Suite und Sonate, seinen Umkreisungen alter Vorlagen von Bach bis Beethoven in den Variationszyklen sowie den Huldigungen »im alten Stil« ganz im Bannkreis einer historistisch orientierten Tradition. Später bekennt er sogar enthusiastisch: »Bach ist für mich Anfang und Ende aller Musik.« Er schreibt zwar mit seinem Streichquartett d-Moll op. 74 womöglich seine ›modernste‹ Musik und er erfährt im Umkreis der Schönberg-Schule größte Wertschätzung. Aber er äußert Zweifel, ob Schönbergs drei Klavierstücke op. 11 noch mit Musik zu tun haben und zeigt damit, dass er, genau wie Richard Strauss,

120 Nach A. Lindner, Max Reger. Ein Bild seines Jugendlebens und künstlerischen Werdens, Regensburg 1938, S. 347.

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den Systemwechsel zu dieser Erscheinungsform »Neuer Musik« nicht mitvollziehen kann.121 Dagegen kann aber bald sein Lehrer Riemann das Komponieren seines einstigen Schülers nicht mehr mitvollziehen. Nüchtern urteilt er darüber: » …Neigung zur äußersten Komplikation der Faktur und zur Überladung des technischen Apparats … er häuft bewußt die letzten harmonischen Wagnisse und modulatorischen Willkürlichkeiten in einer Weise, welche dem Hörer das Miterleben zur Unmöglichkeit macht.«122 Denn Reger ist der Virtuose einer unruhig oszillierenden, oft auf jedem Akkord wechselnden Harmonik, die in ständiger Modulationsbewegung die Tonalität systematisch verschleiert. Zusammen mit einer vegetativ wuchernden Polyphonie und a-perodischen Gliederungen erzeugt er massive, undurchdringliche Satzdichte, in der Themen und Zusammenhänge leicht ins Diffuse verschwimmen: »Gedanken werden verwischt, und verunklärt« (Rudolf Stefan). Bei seinem op. 96, Introduktion, Passacaglia und Fuge h-Moll für zwei Klaviere sähe man Reger »auf der Höhe seiner tonalitätszerstörenden Phantasie« (Winfried Zillig). Solche Kritik bestimmt in Varianten viele Urteile über sein Werk von Heinrich Schenker, August Halm, Rudolf Louis bis Paul Bekker, Ernst Bloch und Helmut Walcha. Dieses virtuose harmonische Denken gehört aber zur Disposition von Regers Musikalität, dessen Fähigkeit, mühelos vom Blatt in alle beliebigen Tonarten transponieren zu können, legendär war. Als eine »geniale Instinktnatur« hat ihn deswegen sein Freund und Meisterinterpret seines Orgelœuvres, der Thomaskantor Karl Straube bezeichnet. In seiner Biographie findet sich als Analogie zur oszillierenden Unruhe dieses gleichsam vegetativen Komponierens, die Unruhe von Regers unstetem Reiseleben und seines manischen Arbeitsstils: ein Œuvre von 146 Werken (den opus-Zahlen nach) für alle musikalischen Gattungen in nur 43 Lebensjahren.123 Dazu bietet sich als andere Analogie die zunehmende Unruhe der Zeit mit ihrer Dynamik einer »wilhelminischen Leistungsethik« an, gleichsam als symptomatischer Reflex ihrer Bewusstseinslage: der rastlose Geist der ›Gründerzeit‹ mit ihren rauchenden 121 »Die drei Klavierstücke von Arnold Schönberg kenne ich; da kann ich selbst nicht mehr mit; ob so was noch mit dem Namen ›Musik‹ versehen werden kann, weiß ich nicht: mein Hirn ist dazu wirklich zu veraltet …«, zitiert nach: Max Reger. Am Wendepunkt zur Moderne. Ein Bildband mit Dokumenten aus den Beständen des Max-Reger-Instituts, hg. v. S. Popp u. S. Shigihara, Bonn 1987, S. 148. 122 Artikel Hugo Riemann, in: Hugo Riemanns Musiklexikon, 7. Aufl. (1909) und 8. (1916). Diesem Urteil war schon 1907 eine Kontroverse zwischen Reger und Riemann vorausgegangen. 123 Vgl. Verzeichnis der Werke Max Regers und ihrer Quellen – Reger Werkverzeichnis (RWV). Im Auftrag des Max-Reger-Instituts, hg. v. S. Popp in Zusammenarbeit mit A. Becker, Chr. Grafschmidt, J. Schaarwächter und S. Steiner, 2 Bde., München 2010 u. 2011.

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Fabrikschloten, den schneller rotierenden Maschinen und den immer schnelleren Verkehrsmitteln. »Ich erhalte erst Ruhe, wenn ich gestorben bin. Ihr alter geplagter Reger« (in einem Brief an Frieda Kwast-Hodapp v. 19. 8. 1910). Ironisch bezeichnet er sich selbst als »Accordarbeiter«. Als solcher »glaubt er an keinen Genius«, sondern an «feste, stramme Arbeit.« Immerhin findet die komplexe harmonische Unruhe als Verbindung mit einer kaum weniger komplexen Polyphonie Ausdruck in einem bedeutenden Œuvre für das polyphone Instrument schlechthin: die Orgel. Mit ihr gelingt Reger zu Ende der 1890er Jahre sein öffentlicher Durchbruch, maßgeblich bewirkt durch die Konzerttätigkeit Karl Straubes. Seine Polyphonie ist allerdings eine sinfonische Polyphonie koloristischer Expressivität, gespeist aus vielen Schichten musikalischer Bestände. In seinen großen Orgelchoralphantasien verfährt Reger mit einer an Liszt erinnernden Technik der Themenmetamorphosen, wo die Hauptgedanken nicht am Anfang vorgestellt werden, sondern sich nach und nach entwickeln. Obwohl Reger abfällig von der »sinfonischen Dichteritis« der zeitgenössischen Tondichtungen spricht, schreibt er selbst noch 1913 Vier Tondichtungen nach Arnold Böcklin (op. 128). Auch seine sieben großen Choralphantasien sind nichts anderes als sinfonische Dichtungen für die Orgel. Bezeichnend ist, dass er auch Bachs Choralbearbeitungen als eine Art »Tondichtungen en minature« versteht. Dabei berührt er sich mit Albert Schweitzers Auffassung vom »poetischen Wörterbuch« des Orgelbüchleins von Bach. Deshalb sind Kontrapunkt und Fuge auch seiner Orgelchoralphantasien durchtränkt von tonmalerischen Referenzen auf die Choraltexte. In der Choralphantasie Ein feste Burg (op. 27) wird im dritten Vers der LutherText: »und wenn die Welt voll Teufel wär« mit einem bis zu neunstimmigen harmonischen Hexenkessel illustriert, in der nächsten Zeile aber »… es soll uns doch gelingen« erscheint ein massiver, oktavierter cantus firmus im Diskant als Devise siegreichen Willens. In der Phantasie über den Choral Wachet auf (op. 52, Nr. 2) illustriert anfangs ein chromatisch fluktuierender Tonnebel eine trübe Friedhofsszene in Erwartung des Jüngsten Tages, bis die Toten allmählich erweckt werden und schließlich im zweiten Vers bei »Zion hört die Wächter singen, ihr Herz tut ihr vor Freuden springen«, ein »Allegro vivace« erscheint und Triolenbewegung und cantus firmus im Pedal mit glänzend-bewegten Terz-Sextetten ins animierte Crescendo fallen. Bezeichnend für den musikalischen ›Geist‹ der Zeit ist, dass Reger die Orgel stets aus dem Klangbewusstsein des ›Großen (Wagner-)Orchesters‹ als konzertantes sinfonisches Medium behandelt. Neben seinen Sammlungen (12 Stücke op. 59, op. 65 und op. 80) und den Orgelsonaten (op. 33 und op. 60) sind es vor allem die Kolosse seiner freien Phantasien, in denen sich sinfonische Phantastik im spätromantischen, chromatischen Idiom mit polyphonem Denken verbindet. Karl Straube regte an, diese Werke als Pendant zu den Choralphantasien als eine eigene Form-

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gattung von »Introduktion« bzw. »Variation und Fuge« zu etablieren, wobei der Choral durch ein eigenes Originalthema ersetzt wird, wie es auch Bruckner und Mahler bereits erprobten. Exemplarisch für diese Form steht Regers früh beachtete Hommage an Bach, die Phantasie und Fuge über B-A-C-H, op. 46 von 1900. Das emblematische BachMotiv fungiert als Keimzelle des mit allen expressiven Finessen operierenden Satzes und erscheint in bis zu fünf verschiedenen Notenwerten und Tempi. Plakativ beginnt die Phantasie mit einem dreifachen Forte in neunstimmigen Akkordballungen im »Grave«, aber: »sempre quasi improvisatione«, und führt dann über Ritardandi im »Adagissimo« und Steigerungen »sempre crescendo« bis ins massive »Organo pleno«-Finale. Bei der Fuge, attacca, im lyrischen Beginn eines vierfachen Piano steht neben dem »Sostenuto«: »Nach und nach beschleunigen« – ein dynamischer Gegenentwurf zum statischen Konzept alter Fugenkonzeption. Zwar treibt Reger das Thema in fünfstimmigen Durchführungen durch allerhand Metamorphosen, aber das genügt, bezeichnend für sein ›Leistungsethos‹, weder seiner Klangphantasie noch seinem Konstruktionsfuror. Erst mit der Einführung eines zweiten Themas als Erweiterung zur Doppelfuge und seiner Konstellierung mit dem BACH-Thema in massivem Organo pleno mit Doppelpedal bis zu zehnstimmigen Akkordballungen als Coda erreicht Reger eine Befriedigung seiner abundanten Ausdrucksvorstellungen. Riesige Dimensionen mit strapaziösen technischen Anforderungen kennzeichnen auch seine Symphonische Phantasie und Fuge op. 57, bezeichnenderweise mit »Inferno Phantasie« benannt, kaum weniger auch Introduktion, Passacaglia und Fuge e-Moll (op. 127) oder den Schlussstein seines Orgelwerks, der Phantasie und Fuge d-Moll op. 135 b von 1915 – »Richard Strauss« gewidmet. Diese expressive Orgelsinfonik verlangt nach einem völlig anderen Orgeltyp als den für die ›alte‹ Polyphonie. Zu ihren charakteristischen Elementen gehört ein opulenter Apparat von Spielhilfen: Register-Crescendowalze und Jalousieschweller für dynamische Abtönungen, feste und freie Kombinationen zum schnellen Wechsel der Klangfarbentableaux, Koppeln aller Art von Oktavkoppeln bis zur automatischen Pedalkoppel, samt grundtöniger Registerdispositionen mit neuen Aliquotstimmen, sentimentalen Säuselregistern und einer leichtergängigen pneumatischen Traktur anstatt der mechanischen: Es ist der neue Typ der sinfonischen Orgel. Er bestimmt seit 1900 die prominenten Instrumente von Orgelbauern wie Sauer, Walcker, Weigle oder Steinmeyer und erhält in den großartigen Exemplaren des französischen Orgelbaumeisters Cavaillé-Coll das besondere Flair »französischer Orgelromantik«. Wie unbedingt Reger kompositorisch mit ihren Möglichkeiten rechnet, zeigen seine überaus detaillierten Anweisungen zu Manualwechseln und Registrierungen. An dieser orchestralen Behandlung eines Tasteninstruments tritt wieder die historische Rolle der Gattung als Darstellungsmedium anderer Musik zutage: jetzt der zeitgemäßen ›Sinfonik‹ und ihrem Klangideal nuancierter Orchesterfarben.

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Auch die Orgelsinfonien von Charles-Marie Widor bis Louis Vierne, Jean Langlais und Marcel Dupré rechnen mit solchen Instrumenten, ebenso wie die sinfonische Sonate Der 94. Psalm des Liszt-Schülers Julius Reubke oder die Symphonischen Choräle von Sigfrid Karg-Elert oder die vielen Orgelwerke von Josef Gabriel Rheinberger, César Franck, Camille Saint-Saëns, Franz Schmidt, Gustav Geierhaas oder Karl Höller. Erst der musikalische Historismus bricht diese Ästhetik mit der »Orgelbewegung«, ähnlich wie der Cäcilianismus in der vokalen Kirchenmusik, und versucht restaurativ die älteren Klangwelten und Orgeltypen aus Renaissance und Barock wieder zu erwecken.124 Reger war aber auch ein versierter Klavierspieler und Liedbegleiter. Aus seinem umfangreichen Klavierwerk ragt eine andere bekannte Bach-Hommage heraus, seine Variationen und Fuge über ein Thema von J.S. Bach op. 81 (1904). Vorlage ist ein Duett für Oboe d’amore und Continuo aus Bachs Kantate BWV 128 Auf Christi Himmelfahrt allein, das er in 14 Variationen zu einem Kaleidoskop wechselnder Exe­gesen macht. Bezeichnenderweise steht nach den beiden schnellen Abschlussvariationen wieder eine komplexe Doppelfuge im dreifachem Forte als Finale. Hinter dem unruhigen Modulationsgenie und dem Auftürmer kolossaler Tonmassen massiv aufgeladener Harmonik, der rastlos aber lustvoll mit den Dissoziationen tonaler Strukturen operiert, gibt es aber auch den sensiblen Komponisten einer maßvollen Einfachheit. Davon zeugen seine an die 300 Klavierlieder, in denen er zwar hauptsächlich Texte zeitgenössischer Dichter vertont (von Otto Julius Bierbaum, Richard Dehmel, Christian Morgenstern bis Stefan Zweig), wo er aber bis zur lapidaren Transparenz und reinen Innigkeit der Schlichten Weisen findet. Auch in seinem Klavierwerk und seiner umfangreichen Kammermusik zeigt sich oft diese andere Seite Regers, etwa in den 12 Klavierstücken Träume am Kamin op. 143 von 1916 oder der Violinsonate c-Moll op. 139 von 1915. Von hier aus wird verständlich, dass sich Reger selbst noch ganz auf dem festen Boden überkommener Tonalitäts-Grammatik verstand, obwohl ihm deren Preisgabe sein Lehrer Riemann und viele Zeitgenossen bescheinigt hatten. Er macht sich zwar Liszts Maxime zu Eigen »Auf jeden Akkord kann jeder Akkord gebracht werden«. Aber er bietet, wenigstens als Theorielehrer am Leipziger Konservatorium, »Zwischenharmonien« und »harmonische Einschaltungen« an, denn »unvermute124 Die Auseinandersetzung damit zeigt sich zwischen der »Neuen Leipziger Schule« und den Vertretern der »Orgelbewegung« mit dem Nachbau älterer Orgeltypen, wie etwa der Praetorius-Orgel in Freiburg und der Idee einer ›Bach-Orgel‹ nach Vorbild der Silbermann-Orgeln. Während die Werke Regers in der »Neuen Leipziger Schule«, die mit Karl Straube und Günther Ramin eine ganze Generation von Organisten prägte, zur selbstverständlichen Literatur während des Studiums zählten, adäquat aufgeführt auf der SauerOrgel der Thomaskirche, formiert sich nach erster Kritik im Umkreis der ›Jugendbewegung‹ (bei A. Halm, M. Schlensog, F. Jöde, E. Wolff, C. Petersen), später dann bei Helmut Walcha die Gegenposition. Er streicht als Professor in seinem »Kirchenmusikalischen Institut« an der Staatlichen Hochschule für Musik in Frankfurt a. M. Reger aus dem Lehrplan, vgl. H. Walcha, Max Regers Orgelschaffen kritisch betrachtet, in: Musik und Kirche 22 (1952), 1. Heft, S. 2 ff.

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te Akkordfolgen bedürfen einer Erklärung«. Er behauptet eisern die zentrale Rolle von Tonika, Dominante und Subdominante, operiert aber lieber virtuos mit den Terzverwandtschaften der Tonarten, gebraucht manisch den verminderten Septakkord in seinem funktionsharmonischen Umdeutungspotenzial für jeweils mindestens vier Dur- und Molltonarten. Er bedient sich opulent aus dem Fundus der altbekannten figurativen Dissonanzen (Vorhalte, Durchgänge, Wechselnoten), leistet sich aber auch immer unvermittelte, ruckartige Versetzungen von Motiven und melodischen Partien und beutet die »Verwendung eines fremden tonalen Systems für die jeweils eigene Tonart« (Hermann Grabner) mittels aller nur denkbaren enharmonischen Verwechslungen aus. Das könnte man als eine quasi spekulative Anwendung der Riemann’schen Funktionstheorie bezeichnen. Sein ›theoretisches‹ Denken hält zwar an der Referenz zur funktionalen Tonartgrammatik fest – aber »innerlich höhlt er die Tonart aus« (Hans Walter Kaufmann).125 Damit erweist sich Regers konzeptionelles Verständnis, genau wie das seiner sympathetischen Exegeten (etwa seines Schülers Hermann Grabner), als ein Legitimationsbedürfnis, mit dem er die Dissoziationsmöglichkeiten tonaler Strukturen auch in ihren entferntesten Derivaten noch einem ›Verstehen‹ aus plausiblen funktionslogischen Zusammenhängen dienstbar machen möchte. Die ohrenfällige, also reale musikalische Perzeption allerdings bestätigt es nicht mit gleichem Verständnis: Riemanns nüchternes Urteil über seinen Schüler hat es auf den Punkt gebracht. Deshalb wirkt seine Musik weniger über die innere ›Logik‹ musikalischer Formkräfte, sondern vor allem mit dem Pleonasmus ihrer Klangphantasie. Obwohl die musikalische Faktur noch keineswegs schon ›atonal‹ ist, wird sie für das »Miterleben« das auch Riemann anspricht, eher zum Erlebnis einer expressiven Dissoziation. Bezeichnend für dieses Phänomen ist, dass Reger zwar selbst von der tonalen Disposition seines Komponierens überzeugt war – die Wiener Avantgarde hingegen von ihrem Dissoziationspotenzial in dessem atonalem Aspekt. Sie wertet es wegen eines »Denkens in Intervallfolgen« als quasi proto-dodekaphonisches Komponieren und nimmt Reger als »Wegbereiter der Moderne« in Anspruch. Deshalb bezeichnet ihn Schönberg als »Genie« und macht ihn in seinem Wiener Verein für musikalische Privataufführungen zum am häufigsten aufgeführten Komponisten.126 125 Regers Vorstellungen werden aus seinen »Fünf Grundgesetzen seiner Harmonik« deutlich, wie sie sein Schüler Hermann Grabner aus Regers Lehrtätigkeit überliefert, vgl. ders., Regers Harmonik, München 1920 sowie M. Reger, Beiträge zur Modulationslehre, Leipzig 1903. Vgl. auch G. Sievers, Die Grundlagen Hugo Riemanns bei Max Reger, Wiesbaden 1967. 126 Alban Berg führt es in einem Aufsatz von 1924 Warum ist Schönbergs Musik so schwer verständlich? aus, vgl. S. Popp, Zur musikalischen Prosa bei Reger und Schönberg, in: Reger Studien Bd. 1, Wiesbaden 1978 sowie bezüglich Schönbergs Bemerkung in einem Brief an Alexander Zemlinsky v. 26.10.1922, S. Shigihara u. S. Popp (1987), S. 155, weiterhin: W. Szmolyan, Die Konzerte des Wiener Schönberg-Vereins, in: Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen, hg. v. H. Weber, München 1984, S. 101 (= Musik-Konzepte, Bd. 36).

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2. Ein »romanischer« Weg Auch Claude Debussy (1862–1918) steht nach seinen Bayreuth-Erlebnissen 1888 und 1889 im Banne Wagners. Ganz deutlich ist es in seinen Baudelaire-Liedern, aber auch sein großes Melodram Pelléas et Mélisande ist noch einem Motivsystem verpflichtet, das sich hinter der Symbolsprache Maurice Maeterlincks, an Wagners ›Leitmotiv‹-Konzept orientiert. Obwohl er dem Klang-Denken der Zeit zutiefst verpflichtet bleibt, befreit er sich von Wagner, polemisch bis aggressiv, zu anderen Klangvorstellungen. Bei der Pariser Weltausstellung 1889 lässt er sich von den Gongs vietnamesischer Theatergruppen und den subtilen Stimmlagenschichtungen javanischer Gamelanorchester mit ihren fünftönigen Tonleitern bezaubern. Damit eröffnet sich ihm eine neue Klangwelt, die entscheidend auf seine musikalische Ausdruckswelt wirkt. »Sie enthalten alle Tonstufen, selbst solche, die wir nicht mehr zu benennen vermögen, so daß Tonika und Dominante nichts weiter sind als eitle Phantome für das Spiel schlauer Kinder« beschreibt er seine Einsichten daraus. Im ersten Stück seines Triptychons Estampes von 1903, den Pagodes mit einer exotischen H-DurPentatonik, aber pulsierenden Sekundgängen in polyrhythmischer, perkussiver wie ostinater Vielschichtigkeit, komponiert er seinen ersten markanten Ausgang aus alten Klangtraditionen. Das ist ein Bekenntnis zu dem, was in der Musikologie als »primäre Klangformen« bezeichnet wird. Gleichzeitig aber auch zu einer Loslösung von den formbildenden Kräften der alten Syntax wie den thematischen Prozessen des ›klassischen‹ Idioms und dem Aufbruch zu einem neuen Sensualismus charakteristischer, ›romanischer‹ Art. In der Suche nach neuen Farb- und Klangwerten ersetzt er – vor allem in seinen drei großen Orchesterwerken (Prélude à l’après-midi d’ un faune, Pelléas et Mélisande und La mer) die tradierten tonartlichen Strukturen durch Pentatonik und Ganztonskalen, vermeidet Leittöne und gibt die harmonische Grundtonbezogenheit auf. Statt mit Terz- und Quint-Fügungen komponiert er mit Quartakkorden, die er bis zu Siebenklängen schichtet samt dem Tritonus als Reizmittel, wie in den Trois Nocturnes von 1897/99. In seinem emblematischen Frühwerk Prélude von 1891/94, der schläfrigen Flötenelegie eines Fauns, operierte er mit einem Tritonus, der schrittweise ab- und wieder aufsteigt. Er fügt unaufgelöste, übermäßige und verminderte Septnon- oder Quintsextklänge, verzichtet auf Kadenzen und paarige Taktordnungen, wählt fließendes Melos mit gleitender Rhythmik und unmerklichen Taktwechseln. Mit der Überlagerung verschiedener Tonarten erschafft er in sich bewegte Akkordsäulen, exotisch flirrende Klangfelder und Farb-Tableaux eines Klangpointillismus, den man in Analogie zur Malerei als »Impressionistisch« bezeichnet hat. Gleichzeitig aber bedient er sich auch aus Gregorianik und den alten Kirchentonarten. Was ›historistisch‹ erscheint, dient im aber dazu, den Eindeutigkeiten der Tonalität in eine Poetik frei changierender Farbspektren zu entkommen.

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Das Gleiche gilt für die Form. Mit den Symphonischen Skizzen von La mer (1905) schreibt er eine Art ›Gegensinfonie‹ zum Formtyp der »Wiener Klassik«. Hier geht es nicht mehr um Themen und ihre Schicksale im »logischen« Prozessgeschehen und nicht mehr den Aufbau fester Konturen, sondern um ein malerisches Pleinair von Wind, Meer, Licht- und Farbenwechsel: eine weitere Labilisierung der Gattungstradition. Furtwängler hat diesen Eskapismus aus der festen Form als »Die Unfähigkeit zu bauen« und sogar als eine »Insuffizienz« bezeichnet.127

3. Ein »russischer« Weg Auch in der russischen Musik ereignet sich Ähnliches. Auch hier beginnt ein Abund Auflösungsprozess der tradierten tonalen Strukturen. Die Ganztonskala taucht seit Michail Glinka auf und erfreut sich bei den Komponisten in St. Petersburg größter Beliebtheit. Zunehmend wichtig wird aber die Idee von ›Zwölftonfeldern‹ und ›Klangzentren‹ (Hermann Erpf). Zwar komponiert Alexander Skrjabin in seinen Klavier-Préludes op. 11 noch ganz im Tonfall Chopins. Und in seiner ersten Symphonie op. 26 von 1900 für großes Orchester mit Vokalsolisten und einem martialischen Chorfinale mit Fuge bewegt er sich noch meistens in E-Dur, aber reiht auch schon konsequent Dominanten-Klänge. Dann aber betreibt er immer intensiver die harmonische Verschärfung zu einer extremen Alterationschromatik. Ab seinem op. 30, der vierten Klaviersonate (1903), entwickelt er sie, obwohl die Sonate noch unter Fis-Dur firmiert, zu einem eigenen harmonischen System, das man durchaus als eine erste Erscheinungsform von ›Atonalität‹ verstehen kann.128 Dort spielen Siebenklänge wie bei Debussy, vor allem aber seine ›mystische Leiter‹ (c-fis-b-e1-a1-d2), eine wichtige Rolle. Mit seinem Poème de l’extase op. 32 von 1905 oder in der siebten Klaviersonate op. 64 (1911/12) und dann in der neunten op. 68 (1911/13) weitet er seine zutiefst von theosophisch-okkulten Programmen bestimmte Klangalchemie (siehe Kapitel X) endgültig zur deliriösen Klangekstase aus. Sie ist wesentlich bestimmt durch Klangfelder seines »Pleroma Akkords«, nach seiner Vorstellung ein ›synthetisches‹ Klangaggregat, das später als »Skrjabin-Akkord« oder »Prometheischer«- und »mystischer Akkord« bezeichnet wurde.129 Die komplexe Entfaltung der musikalischen Ausdruckswelten zwischen Bruckners und Mahlers metaphysischer Betroffenheitsmusik, der illusionistischen Reizmusik von Richard Strauss, Debussys impressionistischem Klanganimismus, der spätro127 W. Furtwängler (1956), S. 26. 128 Vgl. H. Erpf, Studien zur Harmonie- und Klangtechnik der neueren Musik, Wiesbaden 1927, S. 222 ff.; Z. Lissa, Geschichtliche Vorformen der Zwölftontechnik, in: Acta Musicologica 7 (1935), S. 15 ff. 129 Vgl. P. Sabbagh, Die Entwicklung der Harmonik bei Skrjabin, Hamburg 2001.

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mantischen Phantastik zwischen Reger, Pfitzner, Braunfels, Zemlinsky oder dem frühen Schönberg stellt sich als ein Prozess abendländischer, musikalischer Individuation von unabsehbarer Dynamik dar. Daran beteiligt sind auch die nationalen musikalischen Idiome, die jetzt in den Fokus der abendländischen Musikgeschichte als eigenständige Stil- und Ausdrucksbereiche treten. Zwar von jeher existent in traditioneller Folklore und Usus werden sie jetzt immer stärker zu profilierten Mitakteuren im weiteren Differenzierungs- und Individualisierungsprozess der abendländischen Musik. Nach den großen europäischen Synthesen der Karolingerzeit, des Mittelalters und der Renaissance zwischen Rom, Paris, Burgund, Florenz, Neapel, den deutschen Provinzen und Wien werden jetzt Herders Stimmen der Völker in der Musikgeschichte zu einer neuen ›europäischen‹ Realität. Es ist eine Individuation nicht nur in Gestaltungen eines Eigenen, sondern als Artikulation eines Spezifischen in den kompositorischen Macharten, Mitteln und Ausdrucksbedeutungen. Sie aber gründet auf den kollektiven Errungenschaften der abendländischen Musikkultur. Hält man inne am Anbruch der Moderne und hinterfragt diesen großartigen Prozess der individuellen Selbstentfaltung, so kann er als Gipfelreise europäischer Hochkultur gefeiert werden. Er könnte sich aber, kritisch befragt, auch als Prozess folgenreicher Metamorphosen darstellen, in denen großartige ›Errungenschaften‹ dieser Musikgeschichte preisgegeben werden. Denn zwischen chromatischer Sophistik, orchestraler Koloristik, instrumentaler Artistik, regionaler Spezifik und komplexer Hypertrophie wandelt sich musikalischer Sinn. Viele als sinnfällig ausgewiesenen Maßstäbe von Struktur und Form, gefunden in langer Evolution, weichen individuellem Voluntarismus und partikularem Solipsismus.Wagners diffuse harmonische Instabilitäten, Liszts rhetorische Gestik, Berlioz’ bizarre Phantastik, sogar Bruckners und Mahlers sinfonischer Pleonasmus, die exaltierten Salome- und Elektra-Ekstasen von Strauss, die outrierte Hysterie der Wahnsinnsarien, Regers kolossale Oszillogramme modulatorischer Unrast, Debussys diffuse Klangnebelfelder oder Skrjabins irisierender Mystizismus, schließlich bald Schönbergs tonal entwurzelte Irritationen von op. 11 und 15 oder von Alban Bergs Altenberg-Liedern und Bartóks 14 polytonalen Bagatellen für Klavier: nicht nur neue ›Expressionen‹, sondern auch Spektren einer Auflösung, Schwinden von Ausdruckswelten, Abschied von Empfindungswelten. Richard Strauss schreibt so etwas wie ein musikalisches Finale dieser Zeit als ›Abschied‹. Seine Metamorphosen für 23 Solostreicher spiegeln die Trauer um das äußere Ende einer Welt im Weltkriegsdesaster. Seine vier (eigentlich fünf) Letzten Lieder aber werden zum Abgesang an eine musikalische Welt: Nachklänge, die schon aus der Kulisse einer neuen Klangwelt tönen: Im Abendrot heißt das letzte.

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X

Die Musik des Technozän oder: De-Konstruktionen und Konstruktionen aller Art

»Wörter zerfallen im Munde wie modrige Pilze« räsoniert Hugo von Hofmannsthal in seinem berühmt-berüchtigten Chandos-Brief (1902). Müde Seelen heißt ein seinerzeitiger literarischer Hit des Norwegers Arne Garborg (deutsch 1893). Auch Arnold Schönberg spricht von der »kranken Musik« seiner Zeit, Kurt Pinthus betitelt seine Anthologie expressionistischer Gedichte durchaus mehrdeutig mit Menschheitsdämmerung (1921) und die Maler Kasimir Malewitsch (1915) und Alexander Rodtschenko (1921) verkünden den »Tod der Malerei«. Das sind oft Dokumente persönlicher Krisen – aber auch Manifeste einer Bewusstseinskrise der Zeit. Was Überdruss an ihr ist, wird gerne mit den schönen Müdigkeiten der Finde-siècle-Déadence, besonders Wiener Spielart, verbunden, ihr Skeptizismus aber mit dem verlorenen Vertrauen in die semantische Tragfähigkeit der überkommenen Mittel. Gleichzeitig bricht sich Neues Bahn, das als Befreiung aus »verbrauchter Tradition« (Hans Heinz Stuckenschmidt) oder als couragierte Secession gefeiert wird. Ob man es als ›Abschied‹ beklagt oder als ›Aufbruch‹ bejubelt – unstrittig ist, dass die Veränderungen in der Musik um die Jahrhundertwende von 1900 von allen als deutlicher Traditionsbruch wahrgenommen wurden. Belege dafür liefert die zünftige musikalische Historiographie. Ihre Befunde zeichnen ein scharfes Relief der Situation: »Bei der ›neuen Musik‹ stehen wir am Rande der Geschichte« (Jacques Handschin, 1948) oder es ist die Rede von einer »Epochenkrise der Moderne« (Hermann Danuser). Andere beschreiben es nüchtern-deskriptiv als »Auflösung der Tonalität und der musikalischen Sprachfähigkeit« und als »Traditionszerfall« (Carl Dahlhaus) oder versuchen ein diffuses Vermittlungsangebot als »Gleichzeitigkeit von Erfüllung und Bruch« (Siegfried Mauser und Matthias Schmidt). Kaum anders lauten Zeitdiagnosen von Denkern und Historikern. Bereits Nietzsche spricht in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873–1876) von »Umbruchszeit« und die Reflexionen von Georg Simmel, Ernst Troeltsch, Rudolf Pannwitz, Oswald Spengler, José Ortega y Gasset, Ludwig Klages, bis zu Ernst Mach, Hermann Bahr, Fritz Mauthner, Max Weber und Johan Huizinga werden vom kritischen Krisenmodus dominiert, nicht von affirmativer Aufbruchsperspektive.1 1

Nach: Neues Handbuch der Musikwissenschaft, hg. v. C. Dahlhaus, Bd. 6; Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert, hg. v. S. Mauser u. M. Schmidt, Bd. 1, Laaber 2005, S. 32; C. Dahlhaus, Traditionszerfall im 19. und 20. Jahrhundert, in: H. H. Eggebrecht u. M. Lütolf, Studien zur Tradition der Musik, München 1973, S-177–190. Der amerikanische Musikwissenschaftler Richard Taruskin hingegen thematisiert nicht den Bruch, sondern eher Übergänge in einer Musikgeschichte, deren Kontinuität sich in der Fortdauer des alten, tonalen Komponierens neben Atonalität und Dodekaphonie erweise (The Oxford History of Western Music, Vol. 3, New York 2005, S. 358 ff.). Allgemeine kritische historische Zeit-

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Wer nur Aufbruch und Anfang feiert oder die Bruchlinien ex post mit der routinierten Konstruktion historischer Kontinuitäten im Paradigma von der Zeitgebundenheit aller Kunst überschreibt, der folgt der Fortschrittsidee einer progressiven, linearen Kunst- und Musikgeschichtsschreibung. Oder dem Glauben an Hegels Weltgeist, Darwins ewiger Evolution und den ultrahellen Köpfen aus den technologischen Kaderschmieden von Silicon Valley bis MIT. Aber der unterschlägt ganz andere Kräfte als Dynamo dieser Wandlungen.

Die anderen Wurzeln der ›Moderne‹ oder: die Saat von Lärm, Skandal, Revolution und Maschine Bereits Gustav Mahler beklagt das dissonante »Weltgetümmel« und den »Lärm und Wirrwarr des Alltags« 1908 in einem Brief an Alma Mahler. Das war nicht allein sein existenzialistisches Leiden an der conditio humana, sondern auch ein sehr konkretes an den rapide wachsenden Zumutungen der Zivilisation. Dazu gehörte die Naturentfremdung, die Hektik des Lebens und der sinnbetäubende Lärm des heraufziehenden ›Industriezeitalters‹. Mahler befindet sich damit in bester Gesellschaft. Schon Richard Wagner leidet am Lärm, den sein geschätzter Denker Schopenhauer »als die heftigste der Verletzungen des großen Geistes« in einem eigenen Kapitel »Über Lärm und Geräusch« im zweiten Band seiner Parerga und Paralipomena geißelt. Wagner beklagt sich in seiner Autobiographie Mein Leben dramatisch darüber und spricht vom »Chaos der modernen Zivilisation«. Er geht sogar soweit, dass er die höchstmögliche Stille der Taubheit zur Segnung verklärt. Denn während er noch 1850 Beethovens letzte Werke in Oper und Drama höchst kritisch als »Skizzen« unvollendeten Materials betrachtet, preist er 1870 Beethovens Taubheit als quasi transzendente Bedingung seines Spätwerks. Immerhin verdanken wir der Lärmtortur eines hämmernden Schmiedes in Wagners Zürcher Wohnquartier die Hämmerei im Siegfried. Über den Lärm des Maschinenzeitalters beklagt sich aber auch Max Weber, eine Gründerfigur der Soziologie, ebenso wie der Psychiater Max Nordau (Entartung, 1892), und Karl Marx geißelt in seinem Kapital den ohrenbetäubenden Lärm in den Fabriken als Verletzung der Sinnesorgane. Aber schon das frühe Eisenbahndiagnosen finden sich bei: G. Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, 1911; E. Troeltsch, Die Kulturkritik des Jahrhundert-Endes, in: Das Neunzehnte Jahrhundert, Berlin 1913; R. Pannwitz, Die Krisis der Europäischen Kultur, München-Feldafing 1921; O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, München 1923; J.Ortega y Gasset, La deshumanización del arte, Madrid 1925, dt. als: Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst, München 1964; L. Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, besonders Bd. 1, Leipzig 1929; J. Huizinga, Im Schatten von morgen, Bern u. Leipzig 1935 und Verratene Welt, Amsterdam u. Basel 1945, beide neu ediert als: J. Huizinga, Kultur- und zeitkritische Schriften, Paderborn 2014.

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fahren war so laut, dass man sich mit seinem Nachbarn nicht unterhalten konnte. Der sensible Sohn des Freischütz-Komponisten, der Eisenbahningenieur Max Maria von Weber erklärte, dass durch den Lärm »Ohren und Nerven des Bahnpersonals beschädigt würden« (Die Schule des Eisenbahnwesens, Leipzig 1857). Damit erweist sich der Lärm als auditive Spitze eines kulturellen ›Eisbergs‹, der für die »industrielle Revolution« (Friedrich Engels) steht, mit der sich die westliche Welt radikal verwandelte: zuerst über die Mechanisierung der Textilindustrie in England, dann die Schwerindustrie mit Bergbau und Eisenverarbeitung, das Verkehrswesen mit Eisenbahn, Dampfschiff und Straßenbau und schließlich mit Elektrifizierung, Auto und Flugzeug. Wie katastrophal dieser Wandel von Lebenswelt und Sozialstrukturen zunächst empfunden wurde, zeigt die Reihe der Aufstände von Webern und Spinnern, der Ludditen (1811/12), der französischen Seidenweber in Lyon (1831 und 1834) und der schlesischen Leinenweber (1844). In Deutschland war der Wandel vielleicht noch radikaler, denn hier vollzog sich in den 30 Jahren von 1850 bis 1880, wofür England über hundert Jahre Zeit hatte. Mit »industrieller Revolution« und »Maschinenzeitalter« fallen die Schlüsselworte für eine Weltveränderung, die ungebrochen weiter wirkt: Nach dem »Ersten Maschinenzeitalter« mit seinem physischen Engineering, von mechanischem Webstuhl und Dampfmaschine bis zum Fließband, spricht man jetzt vom »Zweiten Maschinenzeitalter« oder einer neuen »industriellen Revolution 5.0« mit elektronischem Engineering von Automation bis Digitalisierung, Künstlicher Intelligenz und Robotik. Inzwischen wird diese Weltveränderung als Anthropozän von Geologen, Biologen, Ökologen und Klimaforschern zu einem neuen Erdzeitalter ausgerufen. Danach ist mit den immer massiveren Eingriffen des Menschen in die Natur das Erdsystem so sehr verändert worden, dass eine neue Qualität von Erdzeitalter entsteht, beständig fortschreitend mit der Dynamik einer Great Acceleration. Der ursprünglich aus dem speziellen Blickwinkel einer fatalen, menschengemachten Natur- und Biosphärenveränderung kritisch formulierte Begriff, mit dem Auftreten von Technofossilien, künstlichen Radionukliden aus Atombomben, Kunststoffen und neuartigen Chemikalien in Sedimenten, dem ›Ozonloch‹, Erderwärmung und Artensterben, tritt inzwischen immer häufiger als Zivilisationsbegriff auf. Durch die beispiellose Potenz und Universalität ihrer Wissenschaft und Technik, so heißt es, nehme es die Menschheit dieser modernen Zivilisation jetzt auch mit den großen Gewalten von Natur und Kosmos auf. Damit habe sie das Holozän endgültig hinter sich gelassen, und deshalb bedürfe es auch einer anderen geochronologischen Zuschreibung für eine neue menschheitsgeschichtliche Epoche.2 2

Der Begriff »Anthropozän« wurde, nach erstem Gebrauch beim Geologen Antonio Stoppani (1873), später beim Zoologen Hubert Markl (1995), im Jahr 2000 vom Atmosphärenforscher Paul Crutzen und dem Biologen Eugene F. Stoermer als eine geostratigraphische Zuschreibung bekannt gemacht (Crutzen u. Stoermer: The »Anthropocene«, in:

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Mit diesem Verständnis als ein neues ›zivilisatorisches‹ Modell schlechthin erweitert sich der ursprüngliche naturwissenschaftliche Definitionsrahmen auf die conditio humana der Moderne – und nicht zuletzt auf ihr Selbstbild, ihre Wissenssysteme, ihre Kultur. Das aber betrifft auch Kunst und Musik.3 Von da aus liefern die Attribute des ›Anthropozäns‹ diagnostische Hilfen für eine kulturelle Hermeneutik. Denn dort zeigt sich in den zivilsatorischen Evolutionsstufen, wie sich nicht nur Natur und Welt von Ackerbau und Viehzucht des Neolithikums bis zum Geoengineering mit Maschine und Digitalisierung wandeln, sondern auch die Definitionen von Mensch und Menschlichem: vom ánthròpos theozentrischen Weltbildes und idealistischer Humanität zum technoiden homo faber. Damit aber stellt sich das so beherzt als ›Zeitalter des Menschen‹ ausgerufene ›Anthropozän‹ zuerst vor allem als ›Zeitalter der Technik‹ dar: des Technozäns. Sein stetiger Imagewandel seit Beginn des letzten Jahrhunderts kennzeichnet die kollektive Bewusstseinslage. Denn was zuerst als brutaler Kulturschock verstörte, dann als unvermeidlicher ›Fortschritt‹ hingenommen wurde, gewann schließlich als Versprechen ungeahnter Segnungen die Gunst der Massen und die ästhetische Begeisterung der Künstler. Bald nach Beginn des neuen Jahrhunderts war der Schock des Maschinenzeitalters der Faszination an der Technik gewichen. Das elektrische Licht, die drahtlose Telegraphie, der Orientexpress, das Auto und das Flugzeug, das aufregende Ambiente der nervösen Großstadt waren Verheißungen ganz neuer Reize und Möglichkeiten. Einer der wenigen, der sich in Mailand schon einen eigenen Wagen leisten konnte, war der Schriftsteller, Maler und Musiker Filippo Tommaso Marinetti. »Aber während wir dem kraftlosen Murmeln von Gebeten des alten Kanals … lauschten, hörten wir auf einmal unter den Fenstern das Aufbrüllen hungriger Autos« schreibt er in seinem mit orientalischen Antiquitäten vollgestopften Salon der Casa di Marinetti am alten Naviglio-Kanal der Via Senato. »Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen

Newsletter des International Geosphere-Biosphere Programme 41, Mai 2000, S. 17 sowie Crutzen, Geology of mankind, in: Nature 415, 2003, S. 23). Seit 2019 liegt er der International Commission on Stratigraphy als Vorschlag eines offiziellen Terminus zur Benennung einer neuen Erdzeitepoche vor, wissenschaftlich flankiert durch die »Anthropocene Working Group« mit dem Geologen Colin Waters. Vgl. E. Ehlers, Das Anthropozän. Die Erde im Zeitalter des Menschen, Darmstadt 2008; J. Kersten, Das Anthropozän-Konzept. Kontrakt – Komposition – Konflikt, Baden-Baden 2014. 3

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Die Verknüpfungen zwischen natürlichen und kulturellen Prozessen in dieser planetarischen Transformation zeigen sich in interdisziplinären Ansätzen wie sie etwa das Antropocene Curriculum des Berliner Hauses der Kulturen in Zusammenarbeit mit dem MaxPlanck-Institut für Wissenschaftsgeschichte seit 2013 verfolgt, vgl. B. Scherer u. J. Renn (Hg.), Das Anthropozän, Zum Stand der Dinge, Berlin 2015.

mit explosivem Atem gleichen … ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake« so feiert er in seinem Futuristischen Manifest (Futurismo & Futurismi) den neuen Eros der Maschinen. Mit dem Artikel Le Futurisme, der am 20.2.1909 in der Pariser Zeitung Le Figaro abgedruckt ist, wird die neue Weltsicht als Programm verkündet. Was sich im epischen Vorspann dieses Manifests vollzieht, ist die Initiation eines neuen Menschen, des »modernen Kentauren«, der aus der Vereinigung mit der Maschine ersteht, religiös besetzt, kultisch verehrt und ästhetisch verklärt im Futurismus. »Wir gingen zu den schnaufenden Bestien, um ihnen liebevoll ihre heißen Brüste zu streicheln …« feiert er schwelgerisch eine neue erotische Beziehung zur Technik. Aber in der elften, letzten These des Manifests wird bereits der Anspruch einer neuen Kunst formuliert: »Wir werden die großen Menschenmengen besingen, die die Arbeit, das Vergnügen oder der Aufruhr erregt; besingen werden wir die vielfarbige, vielstimmige Flut der Revolutionen in den modernen Hauptstädten; besingen werden wir die nächtlich, vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden; die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen verzehren; die Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfäden an den Wolken hängen; die Brücken, die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen, die in der Sonne wie Messer aufblitzen; die abenteuersuchenden Dampfer, die den Horizont wittern; die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse einherstampfen und den gleitenden Flug der Flugzeuge, deren Propeller wie eine Fahne im Winde knattert und Beifall zu klatschen scheint wie eine begeisterte Menge.«4

Die Musikalisierung des Lärms Damit erhalten Lärm und Geräusch eine neue Qualität. Emotional positiv besetzt und mythisch aufgeladen avancieren die alten Quälgeister der Sensiblen jetzt zur Quelle neuer Lust. Der Maler Luigi Russolo fordert in seinem Manifest L’ arte dei rumori 1913 den Ersatz der »begrenzten Vielfalt der traditionellen Orchesterfarben durch die unbegrenzte Vielfalt der Geräuschfarben«.5 Die industrialisierte Lebenswelt solle den Rhythmus vorgeben; die Metropolen aber werden gefeiert als ein fu-

4

Sämtliche Dokumente und Quellentexte des Futurismus finden sich, größtenteils ins Deutsche übersetzt, bei: Chr. Baumgarth, Die Geschichte des Futurismus, Reinbek 1966 sowie bei H. Schmidt-Bergmann, Futurismus: Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek 1993.

5

L’arte dei rumori, 1913 sowie in: Manifesto dei musicisti futuristi v. 11.10.1910 und Manifesto tecnico della musica futurista, 11.3.1911. Noch im Jahre 1934 verfassten F.T. Marinetti und Aldo Giuntini ein Manifesto Futurista dell’ aeromusica, sintetica, geometrica e curativa.

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turistisches Gesamtkunstwerk, in dem »die Motoren und Maschinen Röcheln und Schluchzen«. Realisiert wird es mittels eines neuen Geräuschinstrumentariums wie dem Lärmharmonium Rumorarmonio oder dem Russolophon, vorgeführt in vielen Konzerten. Die erste Komposition für ein Orchester mit den neuen Geräuschtönern, den Intonarumori, Il risveglio di una città von Russolo, wurde 1914 aufgeführt. Ein im gleichen Jahr gemeinsam von Marinetti und Russolo veranstaltetes Konzert in Mailand hatte den Titel Convegno d’automobili e d’aeroplani: »Die Versammlung der Autos und Flugzeuge«. Ein skandalumtoster Höhepunkt ist schließlich das Konzert Intonarumori 1921 in Paris. 1922 führen Vinicio Paladini und Ivo Pannaggi in Rom ein »Mechanisches Ballett« auf, in dem zwei Motorräder die Hauptrollen spielen. Ihre Theorie dazu formulieren sie (zusammen mit Enrico Prampolini) in der Schrift: L’ Arte meccanica: manifesto futurista. Der gleiche Enthusiasmus für die Maschinenwelt und ihre Geräusche bricht sich auch in Russland Bahn. Seine Zentren sind Moskau und St. Petersburg, wo sich die Avantgarde im Auftritt von Geräuschorchestern der ›Ingenieuristen‹ mit Motoren, Turbinen, Sirenen und Hupen artikuliert. Arseny Avraamov (1886–1944) geht mit seiner Symphonie der Fabriksirenen von 1919 bis 1923 auf Städtetour. In der Hafenstadt Baku hat er 1922 dafür eine Besetzung organisiert, die sämtliche Nebelhörner der kaspischen Flotte, zwei Artilleriebatterien, die Pfeifen von 25 Dampflokomotiven und alle Fabriksirenen der Stadt umfasst, dazu die Chöre von mehreren Infanterieregimentern. Eine eigens konstruierte Dampfpfeifenmaschine bläst die Töne der Internationalen als Bekenntnis zum kommunistischen Proletarierkult. Aber er experimentiert auch mit Mikrotonalität und Klangsynthesen, deren Theorie er in seiner Schrift Die kommende Musikwissenschaft und die neue Ära der Musikgeschichte (1916) formuliert. Alexander Mossolow (1900–1973) komponiert Die Fabrik (ursprünglich Die Eisengießerei) mit einem Ballett: Stahl (1927), wo mit jaulenden Sirenen und stampfenden Maschinen die Industrialisierung des Sowjetreiches musikalisch gefeiert wird. Julij Mejtus (1903–1997) feiert die Eröffnung der hydroelektrischen Schleusen am Dnepr mit der Suite Auf dem Dnepr Damm und Nikolai Mjaskowski (1881–1950) erprobt in einigen seiner 27 Sinfonien, wie sich lärmende Schlagzeugstürme und Blechbläsergetöse mit der Sonatenform vertragen. Nikolai Kulbin (1868–1917), ein Freund Kandinskys, propagiert in seiner Abhandlung Freie Musik. Musikalische Anwendungen der neuen Theorie von der künstlerischen Freiheit (Petersburg 1909) die Einbeziehung von Naturlauten und Geräuschen und die Verwendung von Viertel- und Achteltönen. Als beispielhaftes Manifest futuristischer Ästhetik erscheint sie 1912 auch in Kandinskys Almanach Der Blaue Reiter. Diese Maschinenmusik, auch als Bruitismus bezeichnet, erobert die Konzertsäle zwar nicht auf Dauer. Aber ihre Idee bleibt dem kompositorischen Repertoire der

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Avantgarden eingeschrieben: Lärm, Geräusch und technisches Getöse als neue ästhetische Größen. Sie lassen sich von George Antheils Airplane Sonata und seinem Ballet Mécanique (1924), über das der Maler Fernand Léger mit sympathetischer Ästhetik einen Film dreht, bis Anton von Weberns Finale in den Sechs Stücken für großes Orchester op. 6 (1909) mit ihrem zermalmenden, im Dröhnen endenden Schlagwerk-Crescendo weiter verfolgen wie bei Edgar Varèse, einem guten Freund von Russolo, in Hyperprism (1923), Amériques (1921 und 1927) und Ionisation (1929–1931) oder in Arthur Honeggers Pacific 231 von 1923. Auch Eric Satie läßt sich davon noch inspirieren, wenn er Sirene, Schreibmaschine, Lotterietrommel und sogar Revolver bemüht. Dem gleichen Muster folgt schließlich auch Stockhausens Helikopter-Streichquartett, einer Performance aus knatternden Hubschraubern, wahlweise donnernden Draken-Jets oder röhrenden Eurofightern, in die sich verstohlen die Töne des Stadler-Quartetts mischen (Salzburger Festspiele 2003). »Wo wir auch sind, wir hören meistens Lärm. Ignorieren wir ihn, stört er uns. Lauschen wir ihm, finden wir ihn faszinierend«, artikuliert dann John Cage das avancierte Qualitätsverständnis der Moderne von Lärm.6 In der Soundart und den Soundscapes mit der naturalistischen Geräuschkulisse von Städten und Landschaften wird es weiter kultiviert. Wer Soundkultur als Perversion studieren will, kann das mit dem LRAD, dem Long Range Acoustic Device. Das ist eine punktgenaue Klangkanone, die über tausend Meter ein infernalisches Frequenzspektrum erzeugt und sich damit als Kriegswaffe qualifiziert.

»Der Faschismus ist die Leiche im Schrank der Moderne« (Walter Benjamin) Die lärmberauschte Maschinenbegeisterung war aber nur die Fassade der futuristischen Ästhetik. Dahinter agierten politischer Totalitarismus, Aggression und Gewalt. Sie richteten sich gegen alle Kunst- und Kulturtraditionen und fanden ihren Höhepunkt in einer enthusiastischen Parteinahme für den Faschismus in Italien und die bolschewistische Revolution in Russland. Aus Italien tönte es: »Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und gegen jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und Eigennutz beruht.« Oder: »Laßt sie doch kommen, die guten Brandstifter mit ihren verkohlten Fingern! Hier! Da sind sie ja! Drauf! Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken! Leitet den Lauf der Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen! Oh welche Freude, auf dem Wasser die alten ruhmreichen Bilder zerfetzt und entfärbt treiben zu sehen! Ergreift die Spitzhacken, die Äxte und die Hämmer! und reißt nieder, reißt ohne Erbarmen die

6

J. Cage, Silence: Lectures and Writings, Middletown, Connecticut 1961.

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ehrwürdigen Städte nieder.« (Marinetti, Erstes Manifest, übersetzt v.  Chr. Baumgarth). In dem von Marinetti, Boccioni, Carrà und Russolo verfassten Programma politico futurista von 1913 heißt es: »Kult des Fortschritts und der Geschwindigkeit, des Sports, der physischen Kraft, des Wagemuts, des Heroismus und der Gefahr, gegen Kulturbesessenheit, humanistische Ausbildung, Museen, Bibliotheken und Ruinen – Abschaffung der Akademien und Konservatorien«. Unvermeidlich, dass damit auch ›Schönheit‹ radikal unter Druck gerät: »Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein« (Erstes Manifest, These 7). »Führen wir mutig das Hässliche in die Literatur ein, und töten wir die Feierlichkeit, wo immer wir sie finden«, man solle »jeden Tag auf den Altar der Kunst spucken« (Marinetti, Technisches Manifest der futuristischen Literatur). Das hatte längst nichts mehr mit der Idee zu tun, »das Reich der Maschine den großen innersten Motiven der Tondichtung hinzuzufügen«, wie noch Pratella der Synthese zwischen musikalischer Poetik und technoider Profanprosa das Wort redete, sondern hier definierte sich die neue ästhetische Qualität von Aggression und Revolution. Wie in einer dialektischen Kehre hatte sich der Protest im Namen des Menschlichen in der ersten Maschinenstürmerei zur Sabotage des Humanen in einem neuen Ikonoklasmus verwandelt. Oder genauer: Das neue ›Humane‹ definierte sich technoid. Wes Geistes Kind diese destruktiven Kräfte waren, enthüllte sich schon bald, als der Maschinenlärm der Futuristen zum Kriegslärm der Faschisten wurde. »Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes« (Marinetti, Erstes Manifest, These Nr. 9), so formuliert die Avantgarde und erinnert damit nachdrücklich an den militärischen Ursprung des Begriffs. Erst auf dem Schlachtfeld, das sich als eine »gigantische und erregte Vagina« den Kriegern öffnet, wird sich die »neue Generation bewähren« (Marinetti, Zweites Manifest). Ganz folgerichtig bejubeln Marinetti und die Futuristen dann auch die italienische Okkupation Libyens im Oktober 1911 und ihre Sturmtruppen als »die Avantgarde der Nation«: »Als Männer der Tat seid ihr keine Freunde langer Reden. Knappe Gespräche, viele Tatsachen, ein Fluch, ein Glas Wein, dem Feind ein Furz zum Gruß, die Brottasche voller Bomben und der gezückte Dolch sind eure Sache …« Sogar ein Feingeist wie Guillaume Apollinaire besingt den Krieg und feiert die Schönheit des »Leuchtens der Raketen« in seiner Schrift Merveille de la guerre. Was der Musiker Pratella 1915 in Il Futurismo e la Guerra thematisierte, findet sich als literarische Verherrlichung aller Tendenzen des futuristischen Programms bereits in Marinettis Roman Mafarka il futurista, erschienen 1910 in Mailand. Sein Held, der König der nordafrikanischen Festung Telle-el-Kebir, verkörpert den modernen Prometheus, der alle Fesseln sprengt und sich selbst opfert, um einen »neu-

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en Menschen« zu erzeugen, den »Flugzeugmenschen Gazurmah«. Dort vollzieht sich im Fantasma der Selbstzeugung mit der Geburt des Kriegers als einer technischen Kampfmaschine die Vollendung eines modernen Zentauren. Er schwingt sich zum Herrn des Universums auf und sein hemmungsloser Vitalismus findet allein im Krieg und in einer Glorifizierung des heroischen Körpers Erfüllung. Dazu kommt, stabiles Thema des Genres, die Verachtung der Frau, die nur eine Funktion als Erfüllung animalischen Begehrens oder der Erzeugung von Helden erhält. Gleich das erste Kapitel »Die Schändung der Negerinnen« endet mit einer Massenvergewaltigung, und dann wechseln sich Schlachtenbeschreibungen mit Orgien ab, eine für damals ungewöhnliche Sequenz von sadistischen und brutalen Szenen, die Marinetti schließlich vor Gericht brachte. Das verurteilte ihn in Mailand immerhin zu zweieinhalb Monaten Gefängnis – auf Bewährung, versteht sich.7 Die Sympathie zwischen futuristischem Weltgefühl und Totalitarismus trat 1919 als unverblümte politische Allianz zutage. Da stand Marinetti gleich hinter Mussolini an der Spitze der Kandidatenliste für die neue faschistische Bewegung zu den Parlamentswahlen im November. 1914 hatte sie Mussolini mit seinen ›Kampfbünden‹ (Fasci italiani di combattimento) ins Leben gerufen. Schnell entwickelten sie sich zu einer Massenbewegung, aus der 1921 die Faschistische Partei entstand. Mit ihr gelangte Mussolini ein Jahr später, nach dem zur Legende verklärten »Marsch auf Rom«, als Ministerpräsident an die Spitze des neuen Staates. Er forderte jetzt die Erfüllung der »imperialen Bestimmung« Italiens und Beute auf dem Balkan und im Nahen Osten. Hatte Italien bereits im Ersten Weltkrieg die osmanischen Mittelmeergebiete angegriffen und war 1911 in Libyen einmarschiert, erfolgte 1935 der Überfall auf Äthiopien mit massivem Einsatz von Giftgas und Bomben. Dort festigte es seine Herrschaft durch ein erbarmungsloses Regime des Terrors mit niedergebrannten Dörfern, Hinrichtungen, Massakern und Deportationen. Aparterweise verbindet sich jetzt der Aeroplan-Kult futuristischer Luftmalerei in der Aeropittura, wie im Gemälde Sturzflug auf die Stadt« von Tullio Crali (1939), mit dem ›Kampfsport‹ des Bombardements. Mussolinis ältester Sohn Vittorio, Militärpilot in Äthiopien, feiert ihn begeistert: »Es ist ein Sport, eine helle Freude wie die Menschen flohen, als eine von meinen Bomben mitten unter ihnen einschlägt. Die Gruppe blättert fächerförmig auseinander«.8 Der engagierte Beitrag der Futuristen zu diesem ideologischen Unterbau des italienischen Faschismus kommt in Marinettis Schrift Democrazia futurista: Dinamismo politico von 1919 zum Ausdruck – dem politischen Programm des Futurismus. Dort grenzt er zwar formal den Polit-Futurismus vom künstlerischen ab. Aber die sozialrevolutionären Ideen einer radikalen, technisch bestimmten Modernität, die Stigmatisierung jeder Tra-

7

Vgl. F. T. Marinetti, Processo di Mafarka il futurista, in: ders.: Teoria e invenzione futurista, Mailand 1983, S. 586 ff.

8

V. Mussolini, Bomber über Abessinien, München 1937.

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dition als verbrauchter Tugendkanon, die totale Umgestaltung der Gesellschaft und die Erziehung der Jugend zu einer ›heroischen Generation‹, die auf den kommenden Krieg vorzubereiten sei, sind nichts anderes als die intellektuellen Bausteine faschistischer Politik. Die nationale Besinnung auf »Das italienische Imperium« ist schließlich ihr stolzer Schlussstein. So lautet nämlich die Überschrift des letzten Kapitels von Marinettis Kampfschrift Futurismo e Fascismo, die er 1924 herausgibt. Die Widmung »Al mio caro e grande amico Benito Mussolini« ist das ostentative Siegel für den Bund der Affinitäten. Obwohl die Avantgarde-Bewegung in Russland eigenständige Züge hatte, verlief ihr historisches Schicksal recht ähnlich. Der Preisgesang auf die neue Maschinenwelt, die Absage an das Gestern als Garant eines Umbruchs wurde von den politischen Köpfen der russischen Revolution für ihre neue Gesellschaftstheorie vereinnahmt. Nikolai Tarabukin spricht noch von einer »neuen Wissenschaft«, der die »Maschinenfabrik und die Schiffswerft weit mehr bedeutet als der Louvre und die Uffizien« (Traktat Von der Staffelei zur Maschine, 1923). Und Kasimir Malewitsch begrüßt unmittelbar nach der russischen Revolution die Erfindung der Krematorien, weil sie der einzige legitime Bestimmungsort der tradierten Kunst seien (Über das Museum, 1919).9 Aber bald schon sollte die Ästhetisierung der Technik dazu dienen, die Sowjetmenschen nach dem Willen Lenins in »Räder und Schrauben des Sozialismus« zu verwandeln. Anatoly Lunacharsky, der Aufklärungskommissar, erklärte die neue Kunst zum Bestandteil der revolutionären öffentlichen Kunstpolitik wie sie dann mit dem ersten Fünfjahresplan der Sowjets kodifiziert wurde. Vladimir Tatlin, Maler, Architekt und Techniker, stellte sein Schaffen ganz in den Dienst des revolutionären Russlands und propagierte dafür seine ›Maschinenkunst‹. Deren ehrgeizig­ stes Projekt war die Errichtung eines 400 Meter hohen Eisenturms als »Monument für die Dritte (Sozialistische) Internationale« in St. Petersburg, 1919. Nach dem Antritt Stalins als oberster Führer, 1929, musste dann die revolutionäre Avantgarde ihre kulturpolitische Rolle als Lieferant ideologischer Motivation nicht mehr dekorativ bedienen. Denn jetzt wird sie realpolitisch von dessen monströsen Destruktions- und Säuberungs-Programmen ersetzt und verfällt schließlich bald dem politischen ›Formalismus‹-Tabu. Strawinsky, Rachmaninow und Horowitz waren emigriert. Aber Sergej Prokofjew wollte sich noch 1937 mit einer monumentalen Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution nach Originaltexten von Marx, Lenin und Stalin als führender Komponist des Hochstalinismus etablieren.10 Schließlich spielt noch im sinfonischen Werk von Schostakowitsch eine pre-

9

Vgl. Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde, hg. v. B. Groys u. a. Hansen-Löve, Frankfurt a. M., 2005.

10

Vgl. Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1900–1925, hg. v. S. Mauser u. M. Schmidt, Laaber 2005, S. 217, 223, 335–340 sowie R. F. Miller, Geist und Gesicht des Bolschewismus, Berlin 1926.

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käre und undurchschaubare Dialektik avantgardistischer Ästhetik und totalitärer Kunstdoktrin eine wesentliche Rolle (siehe Kapitel IX). Die Lärm- und Geräuschakustik bleibt genauso wie die Aggression eine ästhetische Größe im Repertoire der Moderne. War die wütende Garnierung sinfonischer Klangekstase mit entfesseltem Schlagzeug und Feuerwehr- und Dampfschifffahrtssirenen bei Edgar Varèse noch mit einer revolutionären »Befreiung des Klanges« etikettiert worden, so verfolgte dann die spätere ›Fluxus‹-Bewegung radikalere Ziele. Dazu gehörten die Zertrümmerung von Klavieren und Gitarren in ihren Performances, aber auch die mentalen Sympathiekundgebungen mit provokativen Elogen von Boulez bis Stockhausen. Dazu gehörten auch die Spielarten literarischer Gewaltverherrlichung, von Jean Genet bis Jean-Paul Sartre und von Pier Paolo Pasolini bis Cesare Battisti und dem jungen Emil Cioran. Von den frühen Polemiken des jungen Boulez blieb nur seine ironische Verdammung der Operntradition in Erinnerung, mit dem (symbolisch gemeinten) »sprengt die Opernhäuser in die Luft«. Von Stockhausen aber dauerhafter seine (konkret gemeinte) Begeisterung für das New Yorker Terrorattentat am 11.9.2001 als »das größte Kunstwerk«. Begeistert kultiviert werden die ästhetisch verbrämten Aggressionspotentiale aber auch in der avancierten Rock- und Popmusik. Dort gehörte lange die rituelle Zertrümmerung von Gitarren oder Drums zum finalen Kehraus prominenter Band-Auftritte, inzwischen intellektualisiert in den Anarchiebotschaften von Gewalt, Rassismus und Terror radikaler Rapper und HipHop-Musiker.11

Allerhand andere Dissoziationskünste Die Maschinenmusik einer technisch entfesselten Avantgarde hatte ein Tor geöffnet. Zwar zögerten noch viele hindurchzugehen, denn Wagnerismus, Historismus und die vielen Verschnitte und Transformationen alten Musikerbes zur ›leichten Muse‹ im rasant wachsenden Unterhaltungsbedarf der expandierenden Massengesellschaft bestimmten den Mainstream des Musiklebens. Ferruccio Busoni, der beredte Feuerkopf, hatte zwar schon 1907 erklärt: »Die Entfaltung der Tonkunst scheitert an unseren Musikinstrumenten«. Und er will sich in seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst von 1907 (erweitert 1916) den Grenzen der Dur-MollTonalität radikal entwinden und entwirft dazu ein System der Siebentonskalen und der Dritteltöne. Aber das formulierte er als Theoretiker und Fortschrittsutopist. Als Musiker stand er im Bann der alten Größen, Bach war er geradezu verfallen. Er gibt 25 Bände von Klavierwerken Bachs heraus, manisch bearbeitet und kommentiert, 11

Vgl. Th. Hecken, Avantgarde und Terrorismus. Rhetorik der Intensität und Programme der Revolte von den Futuristen bis zur RAF, Bielefeld, 2006; K. Miehling, Gewaltmusik – Musikgewalt. Populäre Musik und die Folgen, Würzburg 2006.

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und seine berühmte Fantasia contrappuntistica ist nichts als eine enthusiastische Huldigung an die Kunst des alten Thomaskantors. Auch für den Rest der komponierenden Musikerzunft war nicht Russolos Geräuschharmonium oder Antheils Aeroplan-Musik wichtig, sondern vor allem Richard Wagner. Er blieb die untergründige Referenz der Zeit, von Debussy bis Schönberg. Der hatte, wie er in Style and Idea bekennt, bis zum Alter von fünfundzwanzig Jahren jede Wagner-Oper 20 bis 30 mal gehört und identifizierte sich übrigens keineswegs nur mit seiner Musik, sondern auch mit Wagners Weltbild.12 Baudelaire feierte ihn als Träger einer »Gegenreligion«, Theodor Herzl formulierte seine erste visionäre Version eines jüdischen Staates nach dem Besuch einer Tannhäuser-Aufführung, Edward Elgar schrieb in seine Tristan-Partitur: »Dies Buch enthält … das Beste, und zwar das gesamte Beste aus dieser Welt und der nächsten.« Jenseits von Wagner aber blieb die stetige Erhöhung des Reizspektrums eine Konstante. Sie erfährt über die neuen Lärm- und Geräusch-Injektionen vitale Bestärkung. Aber genauso über die weitere Dissoziation der tonal organisierten Harmonik aus dem Erbe Wagners und die Komplizierungen der rhythmisch-metrischen Organisationsformen als wirkungsvolle Stimulationspotenziale. Igor Strawinsky sorgt mit seinem Le Sacre du printemps (1913) in Paris nicht nur für den Skandal der Saison, sondern auch für wichtige Beiträge zur Auflösung der Funktionsharmonik. Die Zusammenfügung von zwei Dreiklängen (nämlich als Fes-Dur und Es-Dur) im Tanz der Jünglinge demonstriert die Entstehung von verminderten Oktaven, einem neuen Satzelement mit großer Zukunft. Das gleiche geschieht mit den rhythmischen Strukturen. Eine höchst komplexe Organisation der Rhythmik (mit 154 Taktwechseln in den 275 Takten des Schlusstanzes) wird mit Sacre salonfähig. Gleichzeitig etabliert sich der ›Skandal‹ als feste PR-Strategie in der Wirkungsgeschichte der Avantgarden: Le succès de scandale, wie ihn Impresario Sergej Diaghileu absichtsvoll inszenierte. Das verschafft dem futuristischen Musiklärm jetzt einen kongenialen akustischen Komplizen im Publikumsradau von Protestschreien, Trillerpfeifen und Saalschlachten. Solches Protestieren als »körperliche Manifestationen sozialer Emotionen« (Historiker Sven Oliver Müller) verwandelt sich aber bald in die Affirmation durch Ideologie. Denn der Unmut des Publikums wird zum pikanten Image progressiver Musik. Vor allem im Musiktheater gehört es zur Inzenierung, von den skandalumwitterten Premieren der Strauss-Oper Salome in Paris und New York (1907) bis zu den Aufführungen von LuigiNonos Intolleranza 1960 in Venedig (1961) oder von Hans Werner Henzes Floß der Medusa in Hamburg (1968). Aber auch heutige Buh-Stürme eines naiven Publikums stehen oft im Dienste professi12

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Noch in einem Vortrag am 29.3.1935 vor der »Jewish Mailamm Group« bekannte sich Schönberg zu seinen damaligen Neigungen bis hin zu Wagners Maximen in Das Judentum in der Musik, vgl. J. Brown, Schoenberg’s Early Wagnerisms, in: Cambridge Opera Journal 6 (1994), Heft 1.

onellen Kalküls von Regie und Intendanten, denn sie bescheinigen ästhetische Relevanz. 13 Evolutioniert zum Aufmerksamkeitswert offenbart sich Skandal inzwischen als zentrale Größe in der modernen Mediengalaxis. Es ist die alte PR mit der dort das neue ›Kapital‹ generiert wird. Denn im hypertrophen Overkill von Daten und dem uferlosen Strom von Information zählt nicht das mediokre Einerlei, sondern die singuläre Distinktion: der provokative Auftritt, der schrille Hype, der deftige Eklat. Er ist mit Quote, Clicks, Followern, Tweets und Blogs im Guten oder Schlechten jener ›Mehrwert‹, der unabhängig von Gehalt, Sinn und Substanz in Markt und Meinung ›Bedeutung‹ generiert: den Issue, den Nachrichtenwert, den Glamour-Faktor von Publicity. Als geldwertes Geschäftsmodell bestimmt er nicht nur Medienstrategien, Journalismus und Werbung, sondern als Wertenorm die moderne Bewusstseinslage.14 Nichts anderes ereignet sich bei Arnold Schönbergs frühen Konzerten. Allerdings unbeabsichtigt. Denn sein künstlerisches Ethos war genauso weit vom Interesse an Skandal und Provokation entfernt, wie dasjenige von Beethoven, Wagner, Bruckner, Mahler oder Richard Strauss. Aber weil er in die Ausläufer morbiden Tristan-Zaubers hyperromantischer Nervenmusik schon reichlich und systematisch die Härten ganz neuer, den Hörern unverständlicher Strukturen mischt, landet er unvermeidlich bei erbittertem Publikumsprotest und heftigem Skandal. Die berüchtigten Aufführungen in Wien 1907 und 1908 (1. und 2. Streichquartett, Kammersinfonie op. 9), besonders aber das dortige Konzert von 1913 mit Werken von ihm, Webern, Berg, Zemlinsky und Mahler, das zu Saalschlachten und Tätlichkeiten führt, ähnlich wie schon in Berlin (mit Pierrot Lunaire, 1912), markieren den Aufbruch in eine neue musikalische Idiomatik – im Zeichen des ›Skandals‹. Sein Melodram Pelleas und Melisande von 1902 zeigt noch Ambivalenzen. Der klagende Ton des Englischhorns, ein melancholischer Holzbläsersatz nach dem Tode von Pelleas und der Epilog der Themen kopieren fast das Tristan-Vorbild. Aber die Reihung unaufgelöster Septakkorde als Resultat eines unaufhörlichen chromatischen Flusses der Stimmen, die schneidend scharfe, verminderte Oktave als thematisches Element (wie am Schluss der Exposition des ›Golo‹-Themas), die Quartakkorde (vor dem schicksalhaften Zusammentreffen von Melisande mit Pelleas) und sechsstimmige Ganztonskalen, gebildet aus übermäßigen Dreiklängen im Tremolo der flatternden Holzbläser (am Schluss der Schlossszene im Keller), verlassen definitiv die Regionen der Tristan-Sphäre. Allerdings stehen sie dort, genauso wie bei Salome und Elektra von Richard Strauss, im Dienste einer hochdramati13

Einen umfassenden Überblick darüber liefert: A. Schürmer, Klingende Eklats. Skandal und Neue Musik, Bielefeld 2018.

14

Vgl. F. Liebl, Der Schock des Neuen, München 2000; N. Luhmann, Öffentliche Meinung, 1970; H. Chase, Issue Management 1976; M. Maier, K. Stengel, J. Marschall, Nachrichtenwerttheorie, Baden-Baden 2010.

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schen Ausdruckswelt, die von drastischer Handlung, extremen Gefühlslagen und exzentrischen Charakteren bestimmt wird. Nur dass der ästhetische Aktionradius dieser Idiomatik immer größer wird, weil sie sich aus ihren dramaturgischen Ausdrucksbindungen befreit hat. Schönbergs drei Klavierstücke op.11 von 1909 erproben die Befreiung zuerst als Eskapismus aus der Tonalität. Das gleiche unternimmt sein Schüler Anton von Webern, beginnend mit seinen Fünf Liedern nach Gedichten von Stefan George op. 4 (1908/09), dann in den Stücken von op. 7 bis 11 aus den Jahren 1911–1913. Das bedeutet auch das Verlassen der alten ›Systemebene‹. Weil damit auch ihre grundlegenden Bedeutungselemente in ihren hierarchischen ›Gravitationsbeziehungen‹ unwirksam werden und schließlich die Gleichsetzung von Konsonanz und Dissonanz zur kompositorischen Prämisse avanciert, kommt die musikalische Sprache in einen Zustand schwebender Unbestimmtheit und diffuser Vieldeutigkeit. Dafür wurde der Begriff atonal geläufig. Wegen seiner falschen sprachlichen Logik ist er zwar zu Recht von Schönberg und seinen Schülern abgelehnt worden, denn ›tonal‹ bezeichnet nichts anderes als eine Musik mit festen Tönen. Die jedoch gibt es in der ›atonalen‹ Musik nach wie vor, wenn auch in anderen Organisationsformen. Trotzdem trifft der Begriff einen zentralen Aspekt, wenn er auf die Aufhebung der Tonalität bezogen wird. Denn deren Bedeutungsgefüge wird eben durch diejenigen Relationen bestimmt, die jetzt preisgegeben werden.15

Die ›Logischen Projekte‹ in Musik und Sprache oder: eine neue ›Ratio‹ Logisches Projekt I: Musik Weil aber, Privileg der Musik, Töne, Klänge, Rhythmen auch im Niemandsland atonaler Entgrenzungen für die Wahrnehmung stets als ›Bedeutung‹ wirksam bleiben, hat man dafür die Bezeichnung Expressionismus gefunden. Das ist der Versuch, gewohntem Ausdrucksverlangen und dem »Willen zum Sinn« (Viktor Frankl) als Kennzeichen einer anthropologischen Disposition menschlichen Geistes, Rechnung zu tragen. Der Begriff stammt allerdings nicht aus der Musik, sondern ist eine Anleihe aus der gleichzeitigen Malerei und Literatur. Er hatte sich dort zuerst für die Bilder der Dresdner Künstlergruppe Die Brücke etabliert und wurde in der Kunstzeitschrift Der Sturm von Herwarth Walden mit seiner ›Sturm Galerie‹ zum

15

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Zur Vermeidung dieser unpräzisen Terminologie wurden andere Begriffe vorgeschlagen, ›pantonal‹ (Schönberg), ›nichttonal‹ (Elmar Budde), ›Atonikalität‹ (Friedhelm Döhl) und ›atonikal‹ (Rudolf Stephan) oder, anstatt einer Unterscheidung von Konsonanz und Dissonanz, allgemeiner ›Sonanz‹ (H. H. Eggebrecht).

Programm. Deren bevorzugte Exponate waren die Werke des ›Blauen Reiters‹, der Futuristen und des Fauvismus. Viele Äußerungen maßgeblicher Komponisten zeigen allerdings die Fragwürdigkeit des Etiketts. Vordergründig wurden zwar die neuen Expressionen, sprich: Ausdruckselemente, bemüht, tatsächlich aber ging es um neue Konzepte musikalischer Konstruktion. Das zeigt sich drastisch an Maximen des neuen Komponierens, mit dem die atonalen Entgrenzungen wieder in festen Strukturen eingefangen werden sollten. Die wichtigsten davon waren die rigorosen Vermeidungsgebote für semantische Elemente des »alten« Komponierens. Grundtonbezogenheit, Dreiklänge, Kadenz und Dissonanzauflösung sowie überkommene Melodie-Gestalt werden zum Tabu erklärt. Ihre Wirkung soll methodisch umgangen oder wenigstens neutralisiert werden: ein zerebrales Kalkül aus striktem Vermeidungszwang. Oder wie es Anton von Webern drastischer formulierte: »Der Tonalität wurde das Genick gebrochen!« Noch Ernst Kreneks Kontrapunktstudien von 1940 und die Komponisten der frühen Darmstädter Schule der 1950er Jahre folgten diesen Maximen.16 Eine reine »Expressionslogik« (Hermann Danuser) des systematischen Vermeidungskalküls ermöglichte aber keine Organisationsformen, die Vergleichbares leisten, wie die in der Tonalität. Denn ihre Preisgabe erledigte auch sämtliche musikalischen Formtypen, die mit tonalen Beziehungen rechnen: Sonate, Sinfonie, Variation – und die »Melodie« sowieso. Das war die Stunde neuer Systementwürfe. Eine neue musikalische ›Logik‹ sollte die entfesselte Expression der Atonalität organisieren und so für »Fasslichkeit« (Arnold Schönberg) sorgen. Dazu gab es bald reichlich Angebote, deren Vielfalt heute aus der Erinnerung verdrängt ist, weil sich die Geltung der Schönberg-Schule durchgesetzt hatte. Die ›Systematiker‹ des motivisch-thematischen Prozessdenkens aus der deutschösterreichisch geprägten Tradition der »Wiener Klassik« setzten auf eine neue horizontale Organisation in Skalen oder Reihen. Die Klangsensualisten, eher aus dem französischen und russischen Traditionsraum, gingen von der vertikalen Organisation aus, vom akkordlichen ›Tonfeld‹ oder einem ›Klangzentrum‹, wie es die französischen Impressionisten und Skrjabin erprobten. Noch andere schließlich stellten das historisch ausdifferenzierte System der zwölf (temperierten) Töne mit seiner Teilung des Oktavraumes in Halb- und Ganztonstufen überhaupt in Frage und formulierten Unterteilungen in andere Intervallordnungen. Zu den ›Systematikern‹ zählt Josef Matthias Hauer (1883–1959). Er entwickelt mit seiner ›Tropenlehre‹ eine neue Organisationsform der zwölf Töne nach gemeinsamen Eigenschaften ihrer Intervallbeziehungen und systematisiert sie von 16

E. Krenek, Studies in Counterpoint, New York 1940, dt. als: Zwölfton-Kontrapunkt Studien, Mainz 1952. Anton von Webern beschreibt die Maximen rückblickend: »Die Beziehung auf einen Grundton – die Tonalität – ist verloren gegangen«, vgl. Wege zur Neuen Musik (Vorträge, Wien 1932/33), hg. v. W. Reich, Wien 1960.

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daher in den Hexachorden einer Tabelle von 44 Tropen. Damit komponiert er im Jahr 1912 sein op. 1 Nomos für Klavier oder Harmonium.17 Später entwickelt Othmar Steinbauer (1895–1962) eine Weiterführung des Tropensystems von Hauer zu einer freien Schreibweise mit seiner bereits 1933 formulierten ›KlangreihenKompositionslehre‹.18 Auch Fritz Heinrich Klein (1892–1977), enger Vertrauter von Alban Berg und 1917 kurzzeitig Schüler von Schönberg, entwirft eine neue Skalenorganisation. Mit seiner ›Extonalen Kompositionsmethode‹ entwirft er einen ›Mutterakkord‹, der alle Töne der chromatischen Tonleiter mit allen elf möglichen Intervallen enthält. Aufgeklappt in die Horizontale bildet er eine vollständige, symmetrisch gegliederte Zwölftonreihe, die er als ›Allintervallreihe‹ bezeichnet.19 Klein verwendet sie erstmals in der 1921 entstandenen Komposition Die Maschine. In Russland bevorzugt man das Klangdenken. Jefim Golyscheff (1897–1970) schreibt ein Streichtrio mit dem Titel Zwölftondauer-Musik (1914), Nikolaj Roslawez verwendet einen ›Synthetakkord‹ in seinem Klavierstück Quasi Prélude (1915), Arthur V. Lourié entwirft seine Deux poèmes (1912) in zwölftöniger ›Ultrachromatik‹ und Vierteltönen, eine Art Mikrotonalität, die schon in den futuristischen Konzepten von Nikolai Kulbink und Arseny Avraamov formuliert wird. Auch Nikolais Obuchow (1892–1954) entwickelt seine eigene Zwölftönigkeit über die Gleichwertigkeit aller zwölf temperierten Halbtöne.20 Eine grundsätzliche Revolutionierung des Tonsystems wollte der Tscheche Alois Hába (1893–1973). Er strebte eine andere Aufteilung des Oktavraums an und experimentierte mit 1/2-, 1/4-, 1/5- und 1/6-Ton-Musik. Schließlich entschied er sich für ein Vierteltonsystem in Schrift und Komposition und stellte 1924 sogar ein Viertelton-Klavier vor. Er verwendete es in seiner Suite für Streichorchester von 17

Vgl. M. Hauer, Vom Wesen des Musikalischen, Leipzig u. Wien 1920; ders., Zwölftontechnik. Die Lehre von den Tropen, Wien 1925 und D. Šedivý, Tropentechnik. Ihre Anwendung und ihre Möglichkeiten, Würzburg 2012.

18

Vgl. Die Klangreihenkompositionslehre nach Othmar Steinbauer, hg. v. H. Neumann, 2 Teile, Frankfurt a. M., Berlin u. a. 2001. Ein entscheidender Unterschied zur Dodekaphonie Schönbergs besteht darin, dass die aus dem Tropensystem von Hauer durch Ergänzung mit akkordfremden Tönen gewonnenen Zwölftonreihen im freien Satz Dreiklänge und tonale Bildungen nicht ausschließen. Vgl. O. Steinbauer, Das Wesen der Tonalität, München 1928; J. Sengstschmid, Grundlagen der Klangreihenlehre, St. Pölten 1968; ders., Zwischen Trope und Zwölftonspiel, in: Forschungsbeiträge zur Musikwissenschaft 28, Regensburg 1980.

19

Erläutert im Vorwort seiner Variationen für Klavier op. 14 (1924). Da Klein ein enger Vertrauter von Alban Berg und kurze Zeit Schüler von Schönberg war, hatten beide Kenntnis von Kleins System. Berg verwendet es, ohne Angabe des Urhebers, in der 2. Fassung des Storm-Liedes Schließe nur die Augen und in seinem Kammerkonzert (Takt 775–780). Auch in der Lyrischen Suite spielt die Allintervallreihe eine entscheidende Rolle. Vgl. Die Grenze der Halbtonwelt, in: Die Musik 17 (1924–1925), S. 281–286, wo alle Möglichkeiten systematisch aufgezeigt werden sowie Ch. Baier, in: NZfM 160 (1999), Heft 3.

20

Gute Überblicke dazu ermöglichen: B. Schwarz, Music and Musical Life in Soviet Russia 1917–1970, London 1972, S. 3 f.; D. Gojowy (1980), S. 97 ff.

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1917 und in seiner Oper Matka op. 35 (1927/30). Außerdem verfasste er eine eigene Viertelton-Harmonielehre und erklärte als Ziel seiner Musik den Athematismus als Gegenentwurf zu historischen Satzvorstellungen und Formen.21

»Einer hat es tun müssen« (Arnold Schönberg) Auch der Wiener Arnold Schönberg (1874–1951) verfolgt, gleichzeitig mit Hauer und Klein, die Idee einer neuen Organisation der Atonalität mittels ›Reihen‹. Ein frühes Beispiel ist die Passacaglia in »Nacht« seines Pierrot lunaire. Mit seiner Klaviersuite op. 25 macht er dann 1921–1923 eine derartige Reihe das erste Mal zur konsequenten Konstruktionsbasis einer Komposition. Diese Reihenidee als »systematisch entworfener Sonderfall einer umfassenden Kompositionstechnik mit Grundgestalten« (Erwin Stein, Hermann Danuser) wird zur Keimzelle seiner ›Zwölftontechnik‹, der Dodekaphonie. Wesentlich für ihre Konstruktionslogik ist die Wahl einer Reihe von zwölf Tönen aus dem temperierten System, die jeden Ton nur einmal enthält und die dann auf sämtlichen chromatischen Stufen der Tonleiter und in drei Formen (ihrer Umkehrung, im Krebs und dessen Umkehrung) weitere Verwendung findet. Es ist eine Kombinatorik, für die jene ›schöpferische‹ Freiheit des Komponisten in Anspruch genommen wird, die früher der Gestaltung aus einem inneren, seelisch-emotionalen Ausdrucksbedürfnis zukam. Eine entscheidende Voraussetzung des Verfahrens ist deshalb nicht eine innere, sondern eine formale: die Aufhebung der Bedeutungsdifferenz zwischen Konsonanz und Dissonanz. Das ist jene als »Emanzipation der Dissonanz« gewürdigte Evolution im musikalischen Denken, die als ästhetische Theorie und Praxis alles moderne Komponieren bestimmt. Eine rationale Legitimation dafür liefern verschiedene Begründungen. Schönberg versteht, wie er es in seiner Harmonielehre darlegt, die Unterschiede lediglich als graduelle Unterschiede zwischen den Zusammenklängen. Dem kam eine Tonpsychologie wie von Carl Stumpf entgegen, wo die Differenzen vom Qualitativen in ein (akustisch) Quantitatives verschiedener Sonanzgrade überführt wurden. »Konsonanz und Dissonanz sind nicht naturgegeben, sondern gedanklich gesetzt« erklärt dann der Komponist Ernst Krenek und gibt ihnen damit die Bedeutung eines Willkürlichen. Spätere Musikhermeneutik hat die Unterschiede zu einer bloßen ›Dichotomie‹ erklärt, die »als eine kategoriale Formung nicht von der Natur her gegeben« sei, sondern »geschichtlichen Wesens« (Carl Dahlhaus).22 Soziolo21

A. Hába, Die harmonische Grundlage des Vierteltonsystems, Prag 1922; ders., Neue Harmonielehre, Leipzig 1927.

22

Vgl. A. Schönberg, in: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik 1909–1950 hg. v. I. Vojtech, Frankfurt a. M. 1976 (= Gesammelte Schriften I), nach S. 211; C. Stumpf, Tonpsychologie, 2 Bde., Leipzig 1883 u. 1890; ders., Konsonanz und Konkordanz, in: Festschrift f. R. Frh. v. Liliencron, hg. v. Vertretern der deutschen Musikwissenschaft, Leipzig 1910, S. 329–349;

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gisch orientierte Hermeneutik bemüht dann die Preisgabe der Differenzen sogar als Fortschritt einer ›demokratischen‹ Emanzipation des Tonmaterials: gleiches Intervall-Recht für alle. Tatsächlich aber entspringt das Konzept einem Denken in einer neuen, spekulativ erdachten ›Logik‹. Sie abstrahiert von den Wirkungs- und Bedeutungsdifferenzen, die vordergründig zwar weder gedanklich, noch geschichtlich, noch tonpsychologisch hinreichend rational erklärbar sind. Hintergründig allerdings legitimieren sie sich mit einer über viele Jahrhunderte in genuiner Empfindungswirkung begründeten Empirie – und nicht nur der abendländischen. Und nicht nur als naiv-unbedachte, sondern auch mit einer Theorie, die sich aus dem antiken Erkenntniserbe durch hochreflektierte Begründungen ausweist und in moderner Neuroforschung ihr Pendant findet. Im dodekaphonisch konstruierten Satzbau wird die Harmonik zu einem akzidentiellen Ergebnis der Kombinatorik der Reihengestalten. Der Funktionalismus der Kadenz mit seinen Spannungsbeziehungen zwischen den Tonstufen im diatonischen System sowie die Grundtonbezogenheit sind außer Kraft gesetzt. Damit verfällt auch die Semantik der Tonarträume als Ausdrucksmittel. Bereits in der Atonalität werden drei- oder vierstimmige Quartakkorde (samt den davon abgeleiteten alterierten Quartklängen, wo Akkordtöne durch deren chromatische Nebenstufen ersetzt werden), sowie der Tritonus wichtige Elemente der musikalischen Konstruktion. Um jede kleinste Wirkung von alter ›Gravitation‹ zu vermeiden, gibt es dann für den dodekaphonisch konstruierten Satz die neue Regel, dass sich vor dem Ablauf der gesamten Reihe kein Ton wiederholen solle.23 Schönberg wendet sie im Orchestersatz erstmals konsequent bei seinen Variationen für Orchester op. 31 an. Gleichzeitig wird mit der Reihentechnik auch die bisherige Erscheinungsform von ›Melodie‹ suspendiert. Wenn sie dennoch für Reihen aufgrund ihrer horizon-

E. Krenek, Über Neue Musik. Sechs Vorlesungen zur Einführung in die theoretischen Grundlagen, Wien 1937, NA Darmstadt 1977, S. 31; C. Dahlhaus, Was ist Musik? in: Was ist Musik, hg. v. C. Dahlhaus u. H. H. Eggebrecht, Wilhelmshaven 1985, S. 203 ff. 23

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Schönberg verwendet in der Suite für Klavier op. 25 acht Reihenformen. Dabei spielen Tritonusrelationen deswegen eine zentrale Rolle, weil sie helfen, wie Schönberg betont, Oktavparallelen zwischen Ober- und Unterstimme zu vermeiden (Komposition mit zwölf Tönen, in: Stil und Gedanke, 1976, S. 87). Später löst er dieses Problem der Vermeidungslogik durch Konstruktion eines Reihentypus, der dies bereits strukturell leistet, ein Prinzip der Vorselektion, von Milton Babbitt als Combinatoriality bezeichnet (Some aspects of Twelfe-Tone Composition, in: The Score 12, 1955, S. 53 ff.). Die Tendenz zur planmäßigen Vorformung der Reihen führt dann im Satz oft zu einer Art ›Symmetrie‹ um die Mitte der Intervallstrukturen, die von der Zwölftontheorie als eine Art Ersatz für die alte Gravitation des Grundtons in Anspruch genommen wird. Sie führt ferner zu einem Geflecht von ›Binnensymmetrien‹ der Stimmen, bezeichnet als »Konstellativer Kontrapunkt« (Friedhelm Döhl). Besonders Webern wird zum Meister ökonomischer Strukturkonzentration, wenn er, wie etwa in seinem op. 21, die zweite Reihenhälfte als Krebs der ersten gestaltet, vgl. F. Döhl, Weberns Beitrag zur Stilwende der Neuen Musik, München 1976, S. 187 f.

talen Struktur in Anspruch genommen wird, bedeutet sie etwas ganz anderes als zuvor in ihrer tonal bestimmten Form. Johann Mattheson beschreibt sie handwerklich als »Kunst eine gute Melodie zu machen« (Kern Melodischer Wissenschafft, 1737, Capitel III) und die Gestalttheorie als Qualität einer (guten) Gestalt (siehe Kapitel VIII). Den Unterschied macht Schönberg deutlich: »Melodie ist die primitivste Ausdrucksform der Musik« befindet er (1910), »Ihr Zweck ist: einen musikalischen Gedanken durch viele Wiederholungen (motivische Arbeit) und möglichst langsame Entwicklung (Variation) so darzustellen, dass selbst der Begriffsstutzigste folgen kann. Sie behandelt den Zuhörer wie der Erwachsene das Kind oder wie der Verständige den Idioten.«24 Dieses Verständnis von ›Melodie‹ teilen später viele Komponisten der Moderne, entweder ausdrücklich wie Luigi Nono und Helmut Lachenmann oder implizit mit Strategien von Vermeidung, Denaturierung oder Dekonstruktion.

Von der Krise zum Konzept Was Schönbergs Ratio zu einer neuen Kompositionstechnik organisiert, erfährt erst später die Bewertung einer von ihm immer wieder betonten ›musikgeschichtlichen Notwendigkeit‹ (»Einer hat es tun müssen«). Vieles deutet darauf hin, dass ihr ›schöpferischer‹ Ausgangspunkt nicht allein in der Rationalität seines Musikdenkens liegt, sondern viel tiefer im Persönlichen. Dort scheint zuerst ein ganz subjektives, radikales, musikalisches Expressionsverlangen wirksam, das einer extremen, durch viele Umstände massiv belasteten, desolaten Lebenssituation geschuldet ist und deswegen viel eher psychologisch mit dem um Ausdruck ringenden ›Künstler‹ zu tun hat als mit dem kalkulierenden ›Konstrukteur‹. In den Krisenjahren zwischen 1907 und 1913 bedrängten Schönberg schwere innere und äußere Konflikte: in seiner Ehe betrogen, als Künstler geschmäht, beruflich gedemütigt, von Depressionen, Ängsten und Albträumen heimgesucht. Er ertappt den Freund, den Maler Richard Gerstl, als Liebhaber seiner Frau in flagranti. Der begeht Selbstmord, aber auch Schönberg spielt mit Suizidgedanken und verfasst mehrere Testamentsentwürfe. Er beschäftigt sich auch intensiv mit esoterischem Gedankengut, von Emanuel Swedenborg bis Gustav Strindberg, wahrscheinlich auch mit Blavatskys Theosophie; das unvollendete Oratorium Die Jakobsleiter (1916/17) trägt deutliche Spuren davon.25 24

Zitiert nach: Schönberg, Schöpferische Konfessionen, ausgewählt u. hg. v. W. Reich, Zürich 1964.

25

Eine zentrale Rolle spielt dort die Reinkarnationslehre, vgl. K. H. Wörner, Musik zwischen Theologie und Weltanschauung: Das Oratorium »Die Jakobsleiter«, in: ders., Wörner, Die Musik in der Geistesgeschichte. Studien zur Situation der Jahre um 1910, Bonn 1970. In wie-

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Die Schwierigkeiten häufen sich weiter. Die Uraufführung eines seiner letzten tonal komponierten Werke, der a capella-Chorsatz Friede auf Erden, verläuft wegen der Intonationsproblemen so chaotisch, dass er sich veranlasst fühlt, ihn später (1911) durch eine unterstützende Orchesterbegleitung (als op. 13) zu ergänzen. Gustav Mahler, sein Mentor, verlässt Wien 1907 und Schönberg fängt an zu malen. Inspiriert dazu hatte ihn Richard Gerstl, als er noch Freund war und nicht Ehebrecher. Seine ersten vier Bilder, von ihm als »Visionen« bezeichnet, stehen völlig außerhalb des zeitgenössischen Stilambientes der Wiener Malerei: weder ›Beethoven-Fries‹ (Gustav Klimt) noch ›Wiener Secession‹ oder Jugendstil, aber auch nicht Anton Romako und schon gar nicht Hans Makart mit einem Flair der ›Ringstraßen-Epoche‹. Es sind höchst subjektivistische Exklamationen zwischen Phantasma und Phobie, vielleicht grundiert vom neurotischen Kulturklima der ›Wiener Moderne‹. Am nähesten sind sie den unheimlichen Traumgesichten von Alfred Kubin oder den panischen von Edvard Munch. Dessen Gemälde Der Schrei ist die dramatische Evokation einer Angstattacke in seiner Phase zwischen Selbstauflösungsphobie und Psychose. Schönbergs bizarre Christus-Vision (Aquarell auf Papier, 1919) könnte man womöglich mit ›Gottsuche‹ oder seiner Beschäftigung mit okkult-theosophischen Themen in Zusammenhang bringen. Aber andere, besonders Roter Blick von 1910, wecken Assoziationen an Munchs Schrei, an halluzinatorische Gesichte und Angstträume. Auch die musikalischen Zeugnisse sprechen die drastische Sprache dieser Krisenzeit. Kompositionen wie op. 10, des zweiten Streichquartetts, op. 15 der George-Lieder, op. 17 Erwartung und op. 18 Die glückliche Hand werden, versteht man sie in ihrer Ausdrucksbedeutung mit der radikalen Auflösung aller Formstrukturen, zum Zeugnis von Krise, Trauma, Schock und Angstneurose. Sie lassen in den »chaotischen Abgrund eines beschädigten, irrationalen, von Angst und Begierde getriebenen Subjekts blicken, den Freud aufgedeckt hat und den Schönberg mit der äußersten Kunst des emanzipierten kompositorischen Subjekts … in einen musikalischen Gehalt verwandelt hat« (Albrecht Wellmer).26 Das zweite Streichquartett mit Sopranstimme »läßt alle Fratzen des Strindbergischen Expressionismus los: »Dämonen zerfetzen die Tonalität« (Th. W. Adorno, Arnold Schönberg, 1952). Das anfängliche fis-Moll im dritten Satz Litanei (nach der Dichtung von Stefan George) wird radikal dekonstruiert – bezeichnenderweise im

weit Schönberg, neben seiner Verbindung zu Kandinsky, mit theosophisch-anthroposophischer Literatur in Berührung gekommen ist, bleibt offen, wird aber in verschiedenen Untersuchungen angenommen, vgl. M. Mäckelmann, Schönberg und das Judentum, Hamburg 1984; B. A. Föllmi, Schönberg ist Theosoph. Anmerkungen zu einer wenig beachteten Beziehung, in: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music, Vol. 30 (1999), Nr. 1, S. 55–63 sowie bei K. H. Wörner (1970) passim. 26

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A. Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, München 2009, S. 25 u. 52 ff.

Klimax mit dem Wort »Liebe«. Im vierten Satz Entrückung wird die Textvorlage »ich löse mich in Tönen« zur Metapher für eine Entkommenshoffnung – aber wie in die eisige Kälte einer Gletscherlandschaft. Das Monodram Erwartung, »ein Protokoll der Angst« (Th. W. Adorno), ist ein Psychodrama mörderischer Liebe: »ein nächtlicher Liebes-Tod, aber ein Tod ohne Metaphysik« (Jürgen Stolzenberg).27 Es entsteht im gleichen Jahr 1909 wie das parallele Opus einer anderen mörderischen Liebe: Oskar Kokoschkas Libretto Mörder, Hoffnung der Frauen. Mit Kokoschka, über dessen eigenwillige Liebesvorstellungen sadomasochistischer Prägung sich seine zeitweise Geliebte Alma Mahler-Werfel äußerte,28 wollte Schönberg im selbstverfassten Drama Glückliche Hand, zu dem er im Jahr 1908 die ersten Skizzen entwirft, zusammenarbeiten. Damit erfährt die Serie von Traumata ihre Fortsetzung: von der betrogenen Liebe im Streichquartett über den verzweifelten Liebenden der Erwartung zum abgewiesenen in der Glücklichen Hand bis zum traurigen im mondsüchtigen Clown des Pierrot lunaire. Wenn im Angsttraumszenario der Erwartung, mit der Atomisierung des Klangs, rhythmischer Diskontinuität und grellem Orchesterkolorit jeder Plan eines strukturellen Konzepts durchkreuzt wird, dann werden Zerrüttung und Dissoziation als beabsichtigte ›Bedeutung‹ unmissverständlich klar. Aber genuines Künstlertum kann auch Traumata und Krisen zum ›Werk‹ formen: »Kunst ist der Notschrei jener, die nicht (mit dem Schicksal der Menschheit) sich abfinden, sondern sich mit ihm auseinandersetzen. Die nicht stumpf den Motor dunkler Mächte bedienen, sondern sich ins laufende Rad stürzen, um die Konstruktion zu begreifen …« erklärt Schönberg.29 Ein existenzielles Diktum – aber auch ein heuristisch bedeutsames. Denn hier fällt ein Schlüsselwort: die Konstruktion. Der ›Künstler‹, der genial aus tiefer Musikalität gestaltet, wie es sich noch so bannend in seinem Frühwerk manifestiert, will sich mehr und mehr über seine andere, nicht weniger prägnante Disposition verwirklichen: der zerebralen Potenz des intellektuellen ›Konstrukteurs‹. Ihr überlässt er in der Suche nach Formgestaltung immer stärker die Kontrolle über seine schöpferisch-künstlerische Natur. Das versprach zunächst eine rationale Beherrschung der gefährlich-irrationalen Konflikte seiner Empfindungswelten mit ihren ans psychotische grenzenden Tendenzen: eine Bewältigung der subjektiven Krisen durch ›Verstandeskontrolle‹ und einen objektivierenden Ordnungswillen. Gleichzeitig wies es einen Ausweg aus der ›Materialer27

J. Stolzenberg, »Seine Ichheit auch in der Musik heraustreiben«. Formen der expressiven Subjektivität in der Musik der Moderne, in: Reihe Themen der Carl Friedrich v. Siemens Stiftung, hg. v. H. Meier, Bd. 94, München 2011, S. 86.

28

Vgl. O. Hilmes, Witwe im Wahn. Das Leben der Alma Mahler-Werfel, 3. Aufl. München 2010, S. 136, 186.

29

A. Schönberg, Aphorismen, in: Die Musik IX (1909), S. 159.

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müdung‹ des spätromantischen Idioms und der Entropie des atonalen ›Expressionismus‹ mit der Dignität eines ›logischen‹ Projekts. Deshalb legitimiert Schönberg die »innere Notwendigkeit« bald als »musikgeschichtlich« notwendige. Der Musikgeschichte widmet er in seiner Harmonielehre von 1911 nicht nur ausgedehnte musikalische Analysen samt einer Rechtfertigung des von ihm als »pantonal« bezeichnenden Komponierens, sondern auch eine radikale Autopsie der maroden spätromantischen Tonwelt. Er geißelt ihre der »Inzucht und Blutschande anheimgefallene« Diktion, einschließlich des (notorischen) verminderten Septakkords als »kränklichen Nachkommen inzestuöser Beziehungen«. Die Flucht aus diesen inkriminierten Klangwelten, zunächst noch auratisch überhöht durch einen erotisch aufgeladenen Symbolismus in Verklärter Nacht (1899), dann gesteigert in den Gurre-Liedern (1901) und Pelleas (1903) mit weiter vorangetriebenen Dissoziationsprozessen durch unablässige Modulationen, hypertrophe Chromatik und den changierenden Klangfarbenrausch riesiger Orchestermassen, gelingt Schönberg schließlich mit den drei Klavierstücken von op. 11. Schönberg schüttelt die Last endlich ab und löst ihren Bann auf: op. 11 wird zu einem Fanal der Befreiung. Solche Befreiung durch Auflösung alter Zwänge ist auch Signatur der GeorgeLieder. Zwar bemüht er als narrativen Rahmen die stilisierte Ordnung eines Rokokoparks mit den strengen Tableaux aus dem Buch der hängenden Gärten von Stefan George. Aber nur formal. Denn am Schluss steht ihre krasse Liquidation: der irrationale Zerfall der Liebesbegegnung, die Dekonstruktion von Liebes- und Gartenidylle. In Erwartung verwandelt sich der edel stilisierte Liebestraum à la Stefan George in den wüsten Angsttraum eines Traumatisierten, die strenge Versstruktur der George’schen Dichtung in heftige Sprech- und Schreikonvulsionen.30 Das ist kein sympathetisches musikalisches Bekenntnis zum Dichterischen der Vorlage wie bei Schubert. Auch nicht Schumanns literarisches Spiel. Das ist auch nicht die Suche nach einem geistigen Gehalt wie bei Mahler. Es ist vielmehr ein Bekenntnis zur intentionalen De-komposition der Vorlage – genau wie im anarchischen Konzept eines Sinfonieentwurfs aus den Jahren 1912–1914. Dort vertont der erste Teil nach einem Text von Richard Dehmel einen Preisgesang auf Natur und Schöpfung, aber der zweite Teil dekonstruiert ihn radikal. Betitelt mit »Totentanz der Prinzipien« verfällt dort alle anfängliche Lobpreisung einer heilen Ordnung der Zerstörung und schließt als eine bittere Leichenrede auf sämtliche bürgerliche Ideale und überkommene Gottesvorstellungen.

30

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Das Werk illustriert auch Schönbergs eigenwilliges Verständnis von Text und Vertonung. Wie er in seinem Essay Das Verhältnis zum Text bekennt, interessiert er sich nicht für den Inhalt, sondern er beschreibt, er habe Schubert-Lieder immer nur als »musikalische Gebilde« gelesen und Dichtung von George und Rilke komponiert, »berauscht von dem Anfangsklang der ersten Textworte«. Kandinsky übernimmt den Text in seine Edition Blauer Reiter, hg. v. W. Kandinsky u. F. Marc, München 1914, S. 27 ff.

Schönbergs kompositorische Ratio begnügt sich aber nicht damit. Vielmehr sucht er mit evolutionärem Kunstwillen und strenger zerebraler Kontrolle nach einer Überwindung dieser Phase. Wie sehr ihn dabei zunächst ein Konflikt zwischen ›Denken‹ und ›Ausdruck‹ beschäftigt, zeigen Aufzeichnungen von 1925, in denen er über das Problem des »musikalischen Gedankens«, als Gegensatz zum ›Ausdruck‹ oder später zum ›Stil«, nachdenkt. Unentschieden umkreist er es dort noch zwischen »kompositorischer Idee« und »Technik als Gesamtheit musikalischer Relationen« im Bedürfnis nach einer grundsätzlichen »Legitimation des Werks«. Aber er entscheidet sich schließlich für eine »Legitimation« als Ergebnis eines musikalischen Denkprozesses. Damit findet er nicht nur eine Lösung seines Konflikts, sondern bestimmt sich auch entscheidend in seinem weiteren Komponieren.31 Über die schwankende Brücke der ›Expressionslogik‹, wo sich noch vertrautes, aber schon dissoziiertes musikalisches Empfinden mit den intentionalen ›Vermeidungsstrategien‹ der Atonalität mischen, führt sie ihn aufs Terrain einer Konstruktionskunst, die sich als systematisch begründet, technisch elaboriert und historisch zukunftsweisend verstand. »Heute habe ich etwas entdeckt, das die Überlegenheit der deutschen Musik für die nächsten hundert Jahre versichern wird.« (Brief an seinen Schüler Josef Rufer, Juli 1921) – ein ehrgeiziges Manifest von Absicht wie von Anspruch.

»Was ist Wahrheit«? (Pontius Pilatus) – »Dissonanz ist die Wahrheit über die Harmonie« (Th. W. Adorno) Schönbergs Opernfragment Moses und Aron (1926–1932) behandelt das Schicksal des jüdischen Volkes. Aber es ist auch eine theologische Auseinandersetzung über den Gottesglauben. Die beiden Protagonisten Moses und Aron stellen in ihrem Gegenspiel zwei unterschiedliche Haltungen dazu dar: Der Prophet kennt nur das ›Gesetz‹ und die funktionale Vernunft wie sie aus dem lodernden Dornbusch als Stimme Gottes spricht, Aron aber glaubt an das Wunder und die Magie von Wort und Bild bis zum orgiastischen Taumel um das Götzenbild des ›Goldenen Kalbs‹. Schönberg zeichnet mit dem Stammeln Moses: »O Wort, du Wort, das mir fehlt!«, die Ohnmacht gegen die Wortmächtigkeit seines Bruders Aron. Weil es niemals Gesang werden darf, zeichnet es auch eine bezeichnende Distanz zum Musikalischen überhaupt. Darüber hinaus aber klagt er die Macht einer sinnlichen Gottes-

31

Schönberg arbeitet das Thema weiter aus in einem Vortrag: Neue Musik, veraltete Musik, Stil und Gedanke, Prag 1930 sowie in späteren Niederschriften von 1934 und 1935 für ein (nicht zustande gekommenes) Buch. Einer der Titelentwürfe lautet: Der musikalische Gedanke und seine Logik, Technik und Kunst der Darstellung, vgl. eine genaue Untersuchung dazu bei R. Stephan, Der musikalische Gedanke bei Schönberg, in: R. Stephan, Vom musikalischen Denken. Gesammelte Vorträge, hg. v. R. Damm u. a. Traub, Darmstadt 1985, S. 129–137.

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vorstellung mit ihrem gefährlichen Derivat in der Kunst als verderbliche Verführerin an. Im dritten Akt verwirft er alle Schönheit, Gnade und jedes Wohlbefinden als »unwirkliches Land, wo Milch und Honig fließen«. Aron hingegen besteht darauf: »Ein Volk kann nur fühlen, kein Volk kann glauben, was es nicht fühlt …« (Szene 5). Moses verkündet den Gegenentwurf. Er trägt seinem jüdischen Volk stattdessen auf, auf den »Garten« »für die Wüste« zu verzichten: »in der Wüste seid ihr unüberwindlich und werdet das Ziel erreichen: Vereint mit Gott.« Damit geißelt er nicht nur eine Verderbnis der ›Wahrheit‹ durch sinnliche Kunst, sondern disqualifiziert sie auch als Erfahrungsmöglichkeit des Numinosen über ein ›Fühlen‹. Schönberg hat diesen dritten Akt nicht mehr komponiert und auch eine finale Lösung nicht. Nur eine Regieanmerkung skizziert die letzte Szene: »Moses tritt auf, ihm folgt Aron, gefesselt ein wie Gefangener, wird hereingeschleift, von zwei Kriegern an Schultern und Armen festgehalten. Nach ihm die siebzig Ältesten.« Das sieht nicht gut aus für den fühlenden Aron. Vielleicht taugt das unvertonte und ungelöste Dilemma nicht zur Metapher. Aber die dramaturgische Behandlung der Thesen schon. Denn sie zeigt, wie Schönberg seinen Begriff von ›Wahrheit‹ gegen eine sinnlich-empfindungsmäßig erfahrbare ›Schönheit‹ der Kunst in Stellung bringt. Das ist Bekenntnis zu einer Wahrheitsidee, das man als radikales, lebenslang befolgtes Ethos bewundern mag. Es ist aber auch Signatur eines bezeichnenden mentalen Transfers, der gleiche wie im Kennzeichen von Heidegger oder Adorno. Denn welche ›Wahrheit‹ wird hier gegen die alte urbildliche Wahrheitsidee der ›Schönheit‹ eingetauscht? Welche Vorstellung von Wahrheit ist es, die sich über das Imago eines grausamen Wüstengottes – vielleicht Reflex des gewalttätigen, rohen Jahwe-Bildes althebräischer Tradition (wie es Sigmund Freud deutet)32 – und die öde Existenz in der Wüstenei offenbart, mit ihrer radikalen Absage an die Erfahrung des Göttlichen über eine sinnlich manifeste Kunstschönheit? Offenbar kann es nicht jene Wahrheit sein, die sich im alten pythagoreisch-platonischen Verständnis als Armonía kosmologischer Ordnung manifestiert. Auch nicht die des splendor veri der Scholastik als ›Glanz‹ der forma mit der strukturellen Ratio eines Vollkommenen und die deswegen noch Hegel »als Scheinen der Logik im Sinnlichen« verstanden hat. Schönberg hat sie gegen seine eigene Vorstellung eingetauscht. Danach ist auch eine Musik umso ›wahrer‹, je weniger sie mit den Attributen solchen Schönheitsbegriffs zu tun hat. Aus diesem Verständnis verfällt es dann in der Adorno-Schule als »ästhetischer Schein« dem Verdikt einer »affirmativen« Qualität. Dafür gibt es in ihrer Theorie der Bestimmten Negation keinen epistomenologischen Platz (siehe S. 601). Konsequenterweise fordert Schönbergs kompositorisches Denken deshalb den Austausch der Bedeutungswerte aus der

32

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S. Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939), in: Gesammelte Werke, hg. v. A. Richards, Frankfurt a. M. 1968 , Bd. XVI, S. 151.

überlieferten Musikgrammatik für eine Bedeutung, die er nach dem Konstruktionskalkül seiner Dodekaphonie bestimmt. Schönberg wusste um die Differenz. Denn wie sehr er sich als schöpferischer Künstler seines musikalischen Empfindens bewusst blieb, zeigen spätere Bemerkungen. »Aber eine Sehnsucht, zu dem älteren Stil zurückzukehren, war immer mächtig in mir; und von Zeit zu Zeit mußte ich dem Drang nachgeben.«33 Ein paar spärliche Zeugnisse dafür liefern die Bläser-Variationen op. 43a, die Suite für Streichorchester G-Dur von 1934, die zweite Kammersinfonie von 1940, Kol nidre op. 39 oder die tonalen Reprisen in den Orgelvariationen op. 40.

Folger und Folgen Viele Werke der »Zweiten Wiener Schule« (eine Bezeichnung, die Egon Wellesz, ein Schüler Schönbergs, 1912 in Umlauf brachte) sind von der neuen zwölftönigen Kompositionsmethode inspiriert, teils strikt, teils in durchaus individuellen Anwendungen. Anton von Webern, nicht nur als Komponist Schüler Schönbergs, sondern auch als studierter Musikwissenschaftler kenntnisreicher, musikgeschichtlicher Analytiker, geht wie sein Lehrer den Weg von Wagner zur Dodekaphonie. In Wien hatte er bei Guido Adler mit einer Edition von Werken des Renaissancemeisters Heinrich Isaac seine akademische Qualifikation erworben, steht aber, genau wie Schönberg, anfangs ganz im Bann spätromantischer Musik. Seine frühen Cello-Stücke oder das Quintett atmen Brahms-Nähe. Die sinfonische Idylle für großes Orchester Im Sommerwind (1904) lässt an die impressionistischen Images von Claude Debussy denken. Der »Langsame Satz« für Streichquartett von 1905 schwelgt im Idiom von Schönbergs Verklärter Nacht. Dann aber rationalisiert er seine Musikalität, genau wie Schönberg, mittels der Zwölftontechnik, seit den Sechs Stücken für großes Orchester op. 6 (1909). Bald verschärft er die analytische Rationalität durch eine immer stärker konzentrierte Reduktion des ›Materials‹ und findet seinen eigenen Weg als Minimalist der Aphorismen und knappsten Gesten. Dazu formt er, seit dem zweiten Stück der Drei Volkstexte für Gesang, Violine, Klarinette und Bass-Klarinette op. 17 (1925), sein Ausgangsmaterial mit größter Akribie vor, indem er es aus quasi errechneten Reihen zusammenstellt. Geordnet nach neuen Symmetrien, die aber den alten Verfahren von Kanon und Fuge folgen wie Spiegelung, Krebs und Umkehrung, macht er sie zum Spielmaterial beständiger Variierung: eine quasi doppelt reflektierte Reihenauswahl. Man kann das Verfahren, wie Igor Strawinsky es sah, als meisterliches Handwerk elaborierter Konzentrate preisen. Er bewundert es als »Schleifen von Diamanten, blitzenden Diamanten, von deren Minen er [Webern] eine so vollkommene Kenntnis hatte« (1955). Man

33

A. Schönberg, On revient toujours, 1948, in: Schönberg (1976), S. 147.

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kann es auch als Organisation kostbarer Einzeltöne und abfiltrierter Intervalle zu einem analytischen ›Pointillismus‹ aus Tonpartikeln und Klangmustern beschreiben: ein präzise kalkuliertes Reflexionsdestillat, das im Genre der ›Expressionslogik‹ als hyper-expressiv rangieren könnte. Das analytische Destillationskonzept findet im Streichtrio von 1927 feste Form, aber prägt auch die bekannte Orchestrierung von Bachs sechsstimmigem Ricercar aus dem Musikalischen Opfer. Hier übersetzt Webern gewissermaßen den ›kontinuierlichen Satz‹ Bachs in die klanganalytische Form eines ›diskontinuierlichen‹. Als Patchwork von Klangmustern könnte man das Verfahren deshalb als ›analytische Instrumentation‹ bezeichnen. Sie bricht, ähnlich wie weißes Licht in der Spektralanalyse, das organische Gefüge des Bach-Satzes in Einzellinien auf und färbt so die lapidare Erhabenheit des Bach’schen Idioms in die geisterhaften Klangseancen einer ›Golo‹-Welt um: ein Brechungsindex aus spätromantischem Klangfarben­ animismus und analytischem Dekonstruktivismus. Als Klangfarbenmelodie hat das Verfahren eine vielversprechende Zukunft. Noch individueller geht Alban Berg mit der Zwölftontechnik um. Das zeigt sein Kammerkonzert für Klavier, Violine und 13 Bläser (1923–25), wo er auch nichtzwölftönige Grundgestalten mit gleicher konstruktiver Konsequenz anwendet oder seine Lyrische Suite (1927) für Streichquartett, in die er, wie einst Robert Schumann, reichlich persönliche biographische Anspielungen einbaut. In seinen zwei existenzialistischen Musiktheaterdramen Wozzeck (1921) und Lulu (1935) verbindet Berg sozialkritischen Naturalismus à la Gerhart Hauptmann mit sinistrem Psychodrama im Idiom eines musikalischen Expressionismus zwischen Atonalität und Zwölftontechnik. In beiden Werken geht es um tragische Schicksale als Exempel moderner abendländischer Existenzverdüsterung. Im Büchner-Dramenfragment Woyzeck ist es ein armer Teufel (ein zum Tode verurteilter Unzurechnungsfähiger), der zum Mörder wird und als Opfer einer inhumanen Gesellschaft umkommt, im Wedekind-Drama Lulu ein desparates Frauenschicksal. Sein bedauernswertes Subjekt hat die Deutungsphantasien immer wieder angeregt: als Projektionsfläche chauvinistischer männlicher Sexualphantasien oder als Prototyp einer Femme fatale à la Otto Weininger: »Das absolute Weib hat kein Ich«. Auch Karl Kraus, fatalerweise mit seinem Frauenbild in bester Gesellschaft von Wedekind und Weininger, spricht von einer »gewaltigen Hetärentragödie« – aber ein tragisches Opfer sexistischer männlicher Gewalt bleibt sie allemal. Gemeinsam ist beiden Werken ein strenger musikalischer Konstruktivismus, der den bitteren sozialkritischen Zynismus des Narrativs als radikale Demontage tradierter musikalischer Formen auskomponiert. Im ersten Fall transformiert Berg Formtypen (wie Suite, Marsch, Passacaglia, Sinfonie, Rondo, Scherzo, Ländler, Fuge, Walzer) in atonale ›Charakterstücke‹ mit der üblichen Quartenharmonik und Chromatik sowie Volkslieder zu Travestien. Für den zweiten Fall wählt Berg die Zwölftontechnik. Dort entspricht eine Grundreihe in ihren Ableitungen jeweils als Thema einer Person. Verschiedene Formtypen wie Sonate, Kanon, Rondo, Cavatine bis English Waltz und Ragtime werden zwölftönig so komplex dekonstruiert,

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dass sie im Höreindruck nicht mehr als solche identifizierbar sind. Aber genau das wollte Berg. Denn er bemerkt dazu ausdrücklich, dass ihre Erkennbarkeit hinter der dramatischen Bühnenhandlung zurücktreten solle. Ernst Krenek versteht das hintersinnig so, dass er damit »die neue musikalische Konstruktion, welche die alte zerstört und abgelöst hat, benützt, um die Schönheit der zerfallenen zu besingen«.34 Mit weniger Hintersinn kann man das Verfahren als Demonstration einer Suprematie eigener Konstruktionskonzepte über tradierte verstehen. Die Dodekaphonie findet zwar bis heute keine annähernd gleiche Akzeptanz im Musikleben wie die tonale Musik. Aber sie bestimmte die Moderne als einflussreiche Kompositionsschule. Zu ihren wichtigen Foren wurden die ›Donaueschinger Musiktage‹ (seit 1921) und die ›Internationalen Ferienkurse für Neue Musik‹ in Darmstadt (seit 1945). Zu ersten Schlüsselfiguren im europäischen Raum wurden der Komponist und Dirigent René Leibowitz, der Musikwissenschaftler Willi Reich und der Musiksoziologe Theodor W. Adorno. In den USA griffen sie Komponisten wie Milton Babbitt, Charles Wuorinen, George Rochberg, Lukas Foss, Aaron Copland und Roger Sessions nach 1945 auf. Dort wurde sie in der Lagerbildung zwischen Schönberg- und Strawinsky-Adepten zum Polaritätsmuster von ›Zwölftönern‹ und ›Neoklassizisten‹ im bunten Panorama einer ›Amerikanischen Musik‹.35 Die Verbreitung und Elaborierung der Zwölftontechnik bedeutet aber nicht nur die Genese eines neuen Kompositionsverfahrens. Zwar tritt es als ›folgerichtige‹ Evolution von Musik unter dem Aspekt von Fortschritt auf. Oder, systematisch verstanden, als eine neue, ›alternative Darstellungsform‹ von Musik im Unterschied zur tonalen. Aber sie ist Ergebnis eines Prozesses, der zur Aufgabe einer musikalischen ›Systemebene‹ geführt hat, die in anderen Bedeutungsstrukturen begründet ist und deshalb fast zweitausend Jahre Musik und Komponieren bestimmt hat (siehe Kapitel XI). Weil diese Aufgabe bis heute bei Publikum und Musikgeschichtsschreibung als ›Bruch‹ bewertet wird, kommt ihm das Prädikat eines Paradigmenwechsels zu: einer Seconda pratica der Moderne des 20. Jahrhunderts.Von Monteverdi damals Benennung eines neuen Komponierens um neuer Ausdrucksmöglichkeiten willen, ist sie aber musikphilosophisches Zeugnis eines neuen abendländischen Musikbegriffs. Ernst Krenek verdeutlicht ihn (1937) als Qualität eines neues Verständnisses von Musik überhaupt, wenn er Musik als »eine Form des Denkens« und eine »Artikulation von Denkvorgängen« definiert, ein Verständnis, das auch die ästhetische Theorie der Moderne bestimmt.36 34

E. Krenek, Zur Sprache gebracht. Essays über Musik, München 1958, S. 247.

35

Vgl. W. Rathert u. B. Ostendorf (2018), bes. Kapitel II, S. 129–248.

36

Vgl. E. Krenek (1977), S. 19 u. 82 sowie ders., (1958), S. 257 ff.; G. W. Bertram, Was heißt es, Musik als eigenständige Artikulationsform des Denkens zu begreifen? Ein musikphilosophischer Versuch im Anschluß an Heidegger, in: Allgemeine Zeitschrift f. Philosophie 2/3 (2015), S. 231–252.

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Dort erfährt dieser Musikbegriff hundert Jahre später seine Würdigung im Rahmen »Posttraditioneller Musik« (Claus-Steffen Mahnkopf): ›Atonalität‹ wird, so scharfsinnig wie folgerichtig, als »nach-metaphysisches Paradigma von Musik« verstanden.37 Inzwischen beginnt sich aber jeder Musikbegriff in musics/Musicking, Performance und ›kulturelle‹, ›soziale‹ oder schlechthin ›menschliche‹ Praxis aufzulösen.38 Die Zwölftontechnik wurde zum spektakulärsten Paradigmenwechsel im Komponieren. Aber die Suche nach anderen musikalischen Organisationssystemen beschränkte sich nicht auf die Schönberg-Schule. Auch Paul Hindemith bemüht sich wie Schönberg, Klein und Hába um eine neue Organisation des Tonmaterials. Aber er will, dass sich emanzipierte Dissonanz und Tonalität nicht ausschließen, denn für ihn bleibt das Kraftfeld tonaler Relationen »so wirksam wie die Anziehungskraft der Erde«, wie er in seiner Unterweisung im Tonsatz (Mainz 1937, S. 183) erklärt. Er ordnet die Dissonanzbeziehungen nach Graden, etabliert die Funktion eines »Zentraltons« und entwirft so das Konzept einer »Gesamttonalität« als Inbegriff aller nur denkbaren Arten von Tonbeziehungen. Aus ihnen will er dann für das jeweilige Werk schöpferisch, das heißt nach künstlerischen Absichten, auswählen. Danach ist ihm »Atonalität« nur eine besondere Form von »Tonalität«. Für seine prägnante motorische Rhythmik und die Behandlung des Kontrapunkts orientiert er sich vor allem an Bachs musikalischem Satz. Anders als die »Zweite Wiener Schule« gelangt Hindemith in der Suche nach neuen Grundlagen der musikalischen ›Systemebene‹ über die Beschäftigung mit der Harmonik-Lehre von Hans Kayser bis zu deren pythagoreischen Wurzeln. Musiktheatralisch äußert sich das in seiner Kepler-Oper Die Harmonie der Welt, biographisch in seinen Kontakten mit Hans Kayser und als Theorie schließlich in seinem Lehrwerk – obwohl die Wirkung seiner Musik beschränkt blieb.39 37

C.-S. Mahnkopf, Der Strukturbegriff der musikalischen Dekonstruktion, in: Musik und Ästhetik 6 (2002), Heft 21, S. 36.

38

Die Entwicklung dieses Musikbegriffs aus denkerischem Verstehen der »ästhetischen Erfahrung von Musik« ist nicht auf die engere Musikwissenschaft beschränkt, sondern beschäftigt vor allem moderne Musikphilosophie und Kulturtheorie, vgl. W. Fuhrmann, Braucht die Musikphilosophie die Musikwissenschaft? Und: Braucht die Musikwissenschft die Musikphilosophie? in: Perspektiven der Musikphilosophie, hg. v. W. Fuhrmann u. C.-S. Mahnkopf, Berlin 2021, S.34 ff., 92 ff.

39

Vgl. Unterweisung im Tonsatz, Teil I, Mainz 1937, erw. Neuauflg. 1940; ders., Komponist in seiner Welt, Zürich 1959. Wie intensiv sich Hindemith mit den Grundlagen des Tonsystems unter dem Aspekt der pythagoreischen Tradition auseinandergesetzt hat, zeigt auch seine Idee der Untertonreihe als logische Analogie zur Obertonreihe. Zu seinen Kontakten mit Kayser und seiner Harmonik, vgl. R. Haase, Ein Leben für die Harmonik der Welt, Basel 1968 und ders., Paul Hindemiths Harmonikale Quellen – Sein Briefwechsel mit Hans Kayser, Wien 1973 (= Beiträge zur harmonikalen Grundlagenforschung, hg. v. R. Haase, Heft 5). Hindemiths Bindung an eine (erweiterte) Tonalität äußert sich auch in seiner Abgrenzung vom dodekaphonischen Komponieren. Er bemerkt dazu: »… die neuen Welten, die man erblickt, sind wie diejenigen endloser Meere und Sandwüsten, für Menschen unbesiedelbar« (op. cit., 1959).

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Zu den weiteren Versuchen einer anderen Organisation des Tonsystems zählt auch die ›Harmonologik‹ von Sigfrid Karg-Elert. Er will weg von der temperierten zur reinen Stimmung und integriert in seinem auf reinen Quinten, reinen Terzen und reinen Septimen aufgebauten System damit auch die Naturseptime.40 Die Erweiterung der Tonalität über die Emanzipation der Dissonanz führt auch im Musikinstrumentarium, etwa im Orgelbau, zu neuen Entwicklungen. Dort entstehen mit der Einfügung der dissonanten Teiltöne Septime und None die Aliquotregister. Ebenso wie Lärm- und Geräuschsemantik bleiben auch die Ideen einer völlig anderen Organisation der musikalischen ›Systemebene‹ im Repertoire der komponierenden Avantgarden präsent – sowohl als akustische Theorie wie als ästhetische Praxis. Dort wird die systematische und historische Diskussion über die Grundlagen unseres Tonsystems, vor allem mittels anderer Intervallaufteilungen weiter betrieben, von Hans Kayser bis Martin Vogel.41 Beispiele im Komponieren liefern frühe Versuchen wie etwa von Ivan Wyschnegradsky (1893–1979), der den Halbton in 18-72 äquidistante Stufen teilt mit dem Ergebnis von über 500 Tonhöhen, angewandt in seinen 24 Préludes für zwei Klaviere in 1/4-Tönen (1934) oder Charles Ives mit seinen Three Quarter-Tone Pieces (1903–1993). Auch die Mikrotonalität ist Zeugnis anderer Intervallaufteilungen, wie in Werken von Klaus Huber und Hans Zender. Schließlich sucht auch die ›Spektralmusik‹ wie bei Gérard Grisey, Tristan Murail, Georg Friedrich Haas oder Hugues Dufourt nach einem anderen Intervallmaterial. Das geht bis zu den Non octaviants, wo die Oktave durch die kleine None ersetzt wird. Eine andere Organisationsidee verfährt nach Tonhöhenklassen. Dort dient der Tonhöhencharakter (in der Musikpsychologie als Chroma bezeichnet, weil die Wahrnehmung gleicher Tonhöhen auch in verschiedenen Oktavlagen ähnlich bleibt) mit den Pitch-class-sets der amerikanischen Musiktheorie neuen Kompositionsstrategien. Komponisten wie Milton Babbitt, Allen Forte, Elliott Carter und Robert Morris oder Enno Poppe und Mathias Spahlinger nutzen sie und demonstrieren damit ein ungebrochenes intellektuelles Verlangen nach einer transtonalen, einer Ekmelischen Musik.42 40

S. Karg-Elert, Polaristische Klang- und Tonalitätslehre – Harmonologik, Leipzig 1931.

41

H. Kayser, Lehrbuch (1950) und M. Vogel, Die Lehre von den Tonbeziehungen, Bonn 1975 (= Orpheus-Schriftenreihe zu Grundfragen der Musik, hg. v. M. Vogel, Bd. 16). Beide diskutieren die zentralen Strukturelemente musikalischer Systeme systematisch neu, insbesondere die abendländische Entwicklung von der viel reicheren griechischen Enharmonik zur späten Schwundstufe des Dur-Moll-Systems, sowie die damit verbundenen Probleme der Intervallgrößen und -teilungen, der Temperierung und der Integration von dissonanten Intervallen, wie etwa der Naturseptime.

42

Vgl. H.-P. Hesse, Grundlagen der Harmonik in mikrotonaler Musik, Innsbruck 1989; A. Forte, The Structure of Atonal Music, New Haven 1973; R. Morris, Composition with Pitch-classes. A Theory of Compositional Design, New Haven u. London 1987; R. Maedel u. F. Richter-Herf, Ekmelische Musik, Salzburg 1973 u. Innsbruck 1983.

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Logisches Projekt II: Sprache Die Musik steht keineswegs allein mit der Suche nach einer Neukonstruktion der Grundlagen ihrer ›Sprache‹. Auch die Sprache selbst gerät in die kritische Reflexion. Ein erstes markantes Zeugnis ist Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus (publiziert 1921). Dort artikuliert sich ein radikaler Sprachkritizismus als neuer, erkenntnistheoretisch fokussierter Blick auf die überkommene, gesprochene Sprache. Es ist ein Blick voll tiefster Skepsis und analytischen Zweifels – genau wie Schönbergs Kritik an der »kranken Musik« des 19. Jahrhunderts. Wittgenstein inspiriert sich an einer von Gottlob Frege und Bertrand Russell orientierten mathematischen Logik wie sie am radikalsten im Logischen Positivismus – auch als Logischer Empirismus bezeichnet – betrieben wurde. Der formiert sich in den 1920er Jahren um den »Wiener Kreis«, einer losen Gruppe von Naturwissenschaftlern und Mathematikern, die philosophische Erkenntniskritik aus neuer »wissenschaftlicher Weltanschauung« betreiben wollen. Als Gründerfigur gilt der Physiker und Philosoph Moritz Schlick (1882–1936). Aber genauso viel verdankt er dem Physiker Ernst Mach (1838–1916) wie dem ›Logizismus‹ des englischen Mathematikers und Philosophen Bertrand Russell (1872–1970) mit seinem mathematisch konzipierten Logikkalkül oder dem Vater der ›symbolischen Logik‹, dem Mathematiker Gottlob Friedrich Ludwig Frege (1848–1925). Der entwickelt bereits in seiner 1879 erschienenen Abhandlung Begriffsschrift eine, wie es im Untertitel heißt, »der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens«. Das ist eine neue Sichtweise auf das gesprochene Kommunikationsmedium des Alltags, denn die Logik hatte sich seit Aristoteles kaum für die natürlichen Sprachen interessiert. Mit denen hatten sich höchstens Grammatiker, Rhetoriker und Poeten beschäftigt, wie dann später die Linguisten. Man trifft sich regelmäßig in einem traditionsreichen Wiener Café und erörtert die ›logischen‹ Konsequenzen aus einer neuen Physik und ihrer daraus entstehenden Maschinenwelt. »Diese Entwicklung hängt zusammen mit der des modernen Produktionsprozesses, der immer stärker maschinentechnisch ausgestaltet wird und immer weniger Raum für metaphysische Vorstellungen läßt«, heißt es 1929 in ihrem programmatischen Manifest Wissenschaftliche Weltauffassung des Wiener Kreises.43 In diesem Zirkel philosophierender Positivisten demontiert dann der MaxPlanck-Schüler Moritz Schlick Kant mit seiner Allgemeinen Erkenntnistheorie (Berlin 1918) und Rudolf Carnap die natürlichen Sprachen, weil sie unsystematisch und logisch mangelhaft seien (Der logische Aufbau der Welt, Berlin 1928 und Logische Syntax der Sprache, Wien 1934). Der Nationalökonom Otto Neurath, eng 43

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Herausgegeben vom Verein Ernst Mach, gewidmet Moritz Schlick und verfasst von Otto Neurath, Hans Hahn und Rudolf Carnap mit Unterstützung von Friedrich Waismann und Herbert Feigl, Wien 1929.

verbunden mit dem sozialistischen »Roten Wien«, propagiert eine standardisierte ›Einheitssprache‹ als rationales Kommunikationsmittel einer ›Einheitswissenschaft‹ und erfindet nebenbei, ganz pragmatisch, das moderne Bildsystem des Piktogramms.

Die Idee der ›logischen‹ Idealsprache Der Wissenschaftsphilosoph Herbert Feigl bringt eine zentrale Prämisse auf den Punkt: Die meisten philosophischen und erkenntnistheoretischen Probleme reduzierten sich letztlich auf eine missverständliche Logik der Sprache und falschen Sprachgebrauch. Carnap spitzt es bis zur verärgerten Polemik zu, wenn er diesen Usus für pseudowissenschaftliche Fragestellungen und erkenntniskritische Scheinprobleme verantwortlich macht: Sinnlos ist grundsätzlich, was nicht empirisch verifizierbar sei. Will man hingegen eine »wissenschaftlich definierte Wahrheit« abbilden, dann müsse deshalb zuallererst unsere Sprache durch eine andere ersetzt werden, nämlich eine logisch korrekt konstruierte. Angeregt vom polnischen Mathematiker Alfred Tarski (1901–1983) betreibt Carnap schließlich konsequent eine Propagierung von formalisierten Sprachsystemen. Danach muss die »Beobachtungssprache« als »inhaltliche Redeweise« zur »theoretischen Sprache« weiterentwickelt werden, um als formales Einheitsidiom einer künftigen »Wissenschaftslogik« zu dienen. Die würde dann als eine Art Leitwissenschaft eine neue Erkenntnistheorie, vorzugsweise mit den begrifflichen Normen der Physik formulieren (›Physikalismus‹).44 Carnap vergleicht deshalb den zeitgemäßen Philosophen mit dem modernen Ingenieur, der etwa mit der Konstruktion und Entwicklung neuer Flugzeugtypen beschäftigt ist. Auch der Philosoph sei ein Konstrukteur, wenn auch nicht von materiellen technischen Gebilden, sondern von Wissenschaftssprachen. Ganz ähnlich hat sich auch Schönberg als ›Forscher‹ im Sinne solcher zeitgemäßen, technisch imprägnierten Kategorien verstanden. Denn er vergleicht seine Rolle mit »Jenen, die auf geistigem und künstlerischem Gebiet ähnliches wagen wie die Höhlenforscher, Nordpolfahrer und Ozeanflieger«.45 Wenn Carnap aber als wichtigstes Anliegen formuliert: »Die Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache«, so offenbart er nicht nur das entscheidende Motiv dieser Konzepte, sondern auch die zentrale Quelle aller Kritik. Es ist ein tiefes mentales Unbehagen, das in einer radikalen Abrechnung mit dem metaphysischen Denken, qualifiziert als unsinniger, ›unlogischer‹, erledigter Irrationalismus, in Erscheinung tritt. Sie stiftet als wichtigstes Bedürfnis die Ge44

R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Berlin 1928 und: Scheinprobleme in der Philosophie, 2. Aufl. Berlin 1928, beide in einem Band mit Vorwort des Verf., Hamburg 1961; ders., Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft, in: Erkenntnis 3 (1932).

45

A. Schönberg, Vortrag über opus 31, in: Schönberg (1976), S. 255.

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meinsamkeit zwischen den verschiedenen Vertretern des logischen Positivismus. Dahinter könnte es auch eine gesellschaftlich-politische Kritik an der konservativen Bourgeoisie als Träger der ungelittenen Metaphysik sein. Denn Neuraths Sympathie galt den marxistisch getönten Ideen des »Roten Wien« und der »Vereinigung sozialistischer Akademiker«, in der die meisten Protagonisten des »Wiener Kreises« Mitglieder waren. Ein Blick auf die gleichzeitigen Entwicklungen in der Psychologie zeigt allerhand Konvergenzen. Auch dort verändert sich der anthropologische Blickwinkel von einem mentalistischen Menschenbild mit einer Methodik der ›Introspektion‹ zu einem szientistischen der ›logischen‹ Empirie. Bezeichnend dafür ist eine Entdeckung des von der Physiologie herkommenden Russen Iwan Petrowitsch Pawlow. Er findet den ›konditionierten Reflex‹ und erklärt von da aus Sprechen und Denken als ›Reflexketten höherer Ordnung‹. Das bewertet dann die sowjetrussisch-marxistische Ideologie als »Nachweis der materiellen Natur der psychischen Tätigkeit«. Der aus der experimentellen Tierpsychologie kommende Amerikaner John B. Watson legt mit seinen Abhandlungen Psychology as the behaviorist views it (1913) und Behaviorism (1925) den Grundstein für die einflussreiche psychologische Schule des Behaviorismus. Dort werden mentale wie psychisch-neuronale Vorgänge im Menschen so auf Reiz-Reaktionsketten reduziert, wie die Sprache auf Logik bei den »Logischen Empiristen«. Der Psychologe Burrhus Frederic Skinner erweitert das Pawlow’sche Schema dann zur ›operanten Konditionierung‹ und entwickelt daraus in Science and Human Behavior (1953) seine Technik der ›Verhaltenssteuerung‹ mit nachhaltiger Wirkung auf Lerntheo­ rien und Verhaltenspsychologie. Auch die menschliche Sprache erklärt Skinner schließlich in Verbal Behavior (1957) zu einem Modus des ›Verhaltens‹. Das Problem der vieldeutigen, ›unpräzisen‹ Alltagssprache beschäftigt auch Ludwig Wittgenstein, vielbemühter Stichwortgeber modernen Philosophierens, intensiv. Er wirft ihr vor, dass sie uns beständig mit undurchdachten Voraussetzungen in ein ganzes Netz von fehlerhaften Analogiebildungen, falschen Bildern und verworrenen Ansichten verstricken würde und so ›Metaphysik‹ notwendig als ›Irrationalität‹ generiere. Er unternimmt das stets auf logisch-formalistischer Grundlage: systematisch im Frühwerk des Tractatus logico-philosophicus, entstanden 1912–1919, erstmals publiziert 1921, aphoristisch aufgelockert im Spätwerk der Philosophischen Untersuchungen, ediert posthum, 1953. Um dieser Zumutungen Herr zu werden, erklärt er nur logisch sinnvolle Sätze als »wahrheitsfähige« Sätze oder aber kontingente empirische Aussagen in der Naturwissenschaft. Daraus entwickelt er seine Ontologie der »Welt als Tatsache« sowie ausgefeilte Verifikationsmethoden für linguistische Korrektheit. Seine ›Wahrheitstabellenmethode‹ daraus ist als Standardverfahren in die mathematische Logik eingegangen. Im »Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache« (Philosophische Untersuchungen, S. 109) propagiert er schließlich, genau wie Neurath, Carnap und Russel, mit seinem ›Logischen Atomismus‹ die Idee einer logischen Idealsprache.

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In seinem Spätwerk der Philosophischen Untersuchungen gibt der unorthodoxe Denker aus hochkultivierter, aber problematischer, mit auffallend vielen Suiziden geschlagenen Familie, zwar die ontologische Basis des Tractatus ebenso preis wie das mathematische Exaktheitsideal, nicht aber sein Verständnis vom willkürlichen Verabredungscharakter aller Sprachbedeutungen. Er transferiert ›Bedeutung‹ in den ›Gebrauch‹ von Sprache, operationalisiert also den Begriff nach seinen wechselnden ›unlogischen‹ Kontexten, ein Verfahren, das in der behavioristischen Psychologie große Zukunft hat. Seine ›Sprachspiele‹ geben seine Auffassung vom Funktionieren der Sprache wieder: ein Operieren mit Spielfiguren nach Regeln, jenseits von ›Oberflächengrammatik‹ und ›natürlicher Sprache‹.46 Pragmatisch findet er schließlich zu der oft zitierten Feststellung: »Worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen«. Das meint, dass sich die Grenzen der Welt in der Sprache zeigen. Das kennzeichnet aber auch seine erkenntnistheoretischen Grenzen in zweifacher Hinsicht. Einmal, wenn Sprache nicht als ›schöpferisches‹ Medium verstanden wird, wie es sich besonders in Dichterischen äußert, aber auch in der Bewahrung tieferen, seelisch-geistigen ›Bedeutungswissens‹. Zum anderen, wenn er zwischen dem linguistisch definierten ›Sprechen‹ und dem ›Schweigen‹ vor Unaussprechlichem die Musik als andersartige ›Tatsache‹ von ›Welt‹ und deren Erfahrung ohne legitimen Erkenntniswert lässt. Das berührt seltsam. Denn an musikalischen Erfahrungen fehlt es Wittgenstein keineswegs. In seinem Elternhaus, dem mondänen Wiener Salon der reichen ›österreichischen Carnegies‹, verkehrten Größen wie Brahms und das Rosé-Quartett, Clara Schumann, Gustav Mahler, Pablo Casals oder Bruno Walter, samt den Kritikerstars Eduard Hanslick und Max Kalbeck. Wittgensteins Mutter war eine versierte Pianistin und sein Vater spielte Violine. Sein Bruder Paul erlangte als einarmiger Pianist, Folge einer Kriegsverletzung, spektakulären Ruhm. Er selbst spielte Klarinette, äußerte sich tief berührt über Schubert und pries Mozart und Beethoven »als die wahren Göttersöhne«.47 Aber der wahre musikalische Hausgott war dann ein anderer: Josef Labor. Der blinde Pianist, Organist und Komponist (1842–1924), heute vergessen, damals »K.-u. K-Hoforganist« und einflussreicher Lehrer am Israelitischen Blindeninstitut in Wien, auch kurzzeitig Lehrer der jungen Alma MahlerWerfel, gefeiert auf vielen Tourneen durch Europa, sogar bekannt mit dem englischen König George V., komponierte in sämtlichen musikalischen Gattungen. Sein umfangreiches Œuvre überstrahlte in einem spätromantischen Idiom zwischen Joseph Gabriel Rheinberger und César Franck offenbar so sehr alle anderen musikalischen Erfahrungen, dass seine Gönnerfamilie Wittgenstein sogar eine Gesamtedition seiner Werke veranlasste. 46

Als »Sprechaktivitäten« von G. Pitcher bezeichnet, The Philosophy of Wittgenstein, Englewood Cliffs, N. J. 1964, S. 239. Vgl. auch W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 1, Stuttgart 1968, S. 524–696.

47

Vgl. L. Wittgenstein. Briefwechsel mit Bertrand Russell, G. E. Moore u. a., hg. v. B. F. McGuinness u. G. H. von Wright, Frankfurt a. M. 1980, Brief 6, S. 22.

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Womöglich deshalb kommt Wittgenstein dann immerhin an einigen Stellen seines Tractatus auf die Musik zu sprechen. In Notizen, die er 1915 zur Vorbereitung dazu geschrieben hatte, findet sich die Überlegung: »Aber ist die ›Sprache‹ die ›einzige‹ Sprache? Warum soll es nicht eine Ausdrucksweise geben, mit der ich ›über‹ die Sprache reden kann, so daß diese mir in Koordination mit etwas Anderem erscheinen kann? Nehmen wir an die Musik wäre eine solche Ausdrucksweise.«48 Das ist allerdings weniger Enthusiasmus für die Musik als eigenes Bedeutungsmedium, sondern rührt an ein erkenntnistheoretisches Problem seiner Sprachphilosophie. Denn Wittgenstein geht davon aus, dass die Verständlichkeit der Welt durch die Darstellung von Sachverhalten in der Sprache vermittelt wird: »Der Satz kann die gesamte Wirklichkeit darstellen, aber er kann nicht das darstellen, was er mit der Wirklichkeit gemein haben muss, um sie darstellen zu können – die logische Form.«49 Das ist Wittgensteins Dilemma: Die Bestimmung der Grenzen der Sprache ist immer mit dem Problem konfrontiert, dass es notwendig wäre, die ›Sprache‹ von außerhalb der Sprache untersuchen zu können. Dabei erkennt er auch, dass sich die Verbindungen zur Welt nicht nur in der Darstellung logisch konstruierbarer ›Sachverhalte‹ erschöpfen. Wittgenstein löst das Problem nicht. Auch die Musik leistet ihm, trotz persönlicher Erfahrung damit, keinen nennenswerten Dienst in seinem, vor allem einer szientistischen Begriffslogik verpflichteten, Weltbild. Einem größeren, erkenntniskritischen Blick auf die ›logisch‹ disponierte Szene aus der ›Wiener‹ Keimzelle offenbart sich dabei eine bemerkenswerte zeitgeistige Komplizenschaft. Es ist eine mentale Verwandtschaft zwischen den Projekten der Wiener »Logischen Positivisten« und dem Projekt der Dodekaphonie der »Zweiten Wiener Schule«, beides Versuche, tradierte ›Systemebenen‹ für ›Bedeutung‹ nach neuen, von einer völlig anderen Ratio bestimmten Prämissen aufzugeben, vereint im Motiv ›anti-metaphysischer‹ Einstellung. Die Ausblendung der Musik prägt, zusammen mit dem fundamentalen Sprachkritizismus, eine Entwicklung, die in der analytischen Philosophie schließlich als linguistic turn (Gustav Bergmann) den Mainstream des weiteren philosophischen Denkens im späten 20. Jahrhundert bestimmt. Heidegger und Gadamer bewahren immerhin etwas von der transzendentalen Qualität mit der »Sprache als Haus 48

L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1984, S. 144.

49

Tractatus (1984), S. 33. Als Illustrierung dazu zieht er musikalische Beispiele heran: »Die Grammophonplatte, der musikalische Gedanke, die Notenschrift, die Schallwellen, stehen alle in jener abbildenden internen Beziehung zu einander, die zwischen Sprache und Welt besteht. Ihnen allen ist der logische Bau gemeinsam« (S. 27). Zur Rolle der Musik in der Philosophie von Wittgenstein, vgl. A. Bowie, Music, Philosophy, and Modernity, Cambridge 2007; P. F. de Castro, Wittgenstein’s Music: Logic, Meaning, and the Fate of Aesthetic Autonomy, Ph. D.-Thesis, University of London 2006.

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des Seins«, und der Ausdruckspsychologe und Begründer der wissenschaftlichen Graphologie, Ludwig Klages, wiederentdeckt die Sprache zur gleichen Zeit als unerschöpfliche Tiefenschicht akkumulierter Bedeutung (Die Sprache als Quell der Seelenkunde, Zürich 1948). Sogar in der aktuellen Moderne fungiert die Sprache in der Anthropologie des bedeutenden philosophischen Denkers Charles Taylor als Essenz allen Menschseins und aller Kultur.50 Im markanten Unterschied dazu etabliert sich eine Linguistik als Feld vielerlei abstrakter Konstrukte formalistischer Systementwürfe sowie ihrer sozialen Transformationen im amerikanischen »Pragmatismus«. Hier aber befindet man sich bereits mitten im ästhetischen Denken des Technozäns.

Das ästhetische Denken des Technozäns oder: von den ›logischen Projekten‹ zur Anti-Kunst Die Lebenswirklichkeit der anbrechenden technischen Moderne wird aber weder von den philosophischen Entschlüsselungsgängen Wittgensteins bestimmt noch durch die Gedankengebäude von Hegels Dialektik, Husserls phänomenologischer ›Wesenssuche‹ oder dem einfühlenden ›Verstehen‹ von Dilthey bis Gadamer. Ihre Mächte sind andere: Marconi funkt drahtlos (1896), Curie entdeckt die Radioaktivität (1898), Max Planck formuliert die Quantentheorie (1900), Einstein die Relativitätstheorie (1905 und 1915), Freud die Psychoanalyse (Die Traumdeutung, 1900), Rutherford das Atommodell (1911). Die Gebrüder Wright machen erste Luftsprünge mit ihrem Doppeldecker (1903), Ford produziert das erste Auto vom Fließband, die legendäre Tin Lizzie (1908) und am 22. Dezember 1920 überträgt die Deutsche Welle das erste Konzert über den Langwellensender Königs Wusterhausen. Während Schönberg konstruiert, Strawinsky skandalisiert, Kandinsky abstrahiert und die Wiener Secession separiert, erprobt Picasso den Kubismus und Malewitsch malt sein schwarzes Quadrat als »Nullpunkt der Malerei« – demonstrativ platziert in der heiligen russischen ›Ikonen-Ecke‹. Kandinskys Schrift Über das Geistige in der Kunst, die Schönbergs Musik als kongenialen Reflex feiert, erscheint im gleichen Jahr wie Schönbergs Harmonielehre: 1911. Marcel Duchamp ästhetisiert Fahrradfelge, Flaschentrockner und Urinal. Gleichzeitig tobt die russische Revolution und das alte Europa taumelt mit dem ersten Weltkrieg in seinen (ersten) Untergang. Dieser Krieg, in den fast alle, von der Intelligenzija bis zur Soldateska samt den edelsten Dichtern und Künstlern, als enthusiastische ›Befreiung‹ aus Finde-Siècle-Müdigkeit ziehen, gefeiert als überfälliges ›Reinigungsbad‹ einer maro-

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Ch.Taylor, Das sprachbegabte Tier. Grundzüge des menschlichen Sprachvermögens (2016), Berlin 2017; ders., Quellen des Selbst (1989), 8. Aufl. Frankfurt a. M. 1996.

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den Gesellschaft und verklärt im Jubilus vaterländischen ›Heroismus‹, führt dann zum größten europäischen Blutbad der Neuzeit. Als »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts (George F. Kennan) markieren ihn die Geschichtsgelehrten und kein historisch informierter Blick auf die mentalen Wurzeln der Moderne kann sich leisten, diesen Kontext zu ignorieren.

›Unlogische‹ Antithesen: vom Okkultismus bis zum Wahn Zu den Kontrapunkten eines szientistischen Weltbildes mit seinen ›logischen Projekten‹ in Wissenschafts-, Sprach- und Musikphilosophie zählen viele Bewegungen, die aus den Keimen von Futurismus und Revolution sprossen. Dazu kommt der Okkultismus. Er floriert im Ambiente eines neuen Psychismus, der zwei Erscheinungen zeigt: einen wissenschaftlichen von Psychoanalyse und Tiefenpsychologie und einen esoterischen aus Theosophie, Anthroposophie und der verbreiteten Praxis spiritistischer Séancen. Während Carl Gustav Jungs analytische Tiefenpsychologie holistisch verfährt, also einem ganzheitlichen Menschenbild mit Beziehung zum Mythischen und Numinosen verpflichtet bleibt, und deshalb eher ein untergründiges Projekt moderner Seelenforschung ist, entwickelt sich Freuds Psychoanalyse zu einer der wirkungsvollsten Deutungsmächte westlicher Kultur. Ähnlich wie die marxistische Gesellschaftstheorie steigt sie mit radikaler positivistischer Reduktion auf den ›Unterbau‹ von Kultur und Mensch zu einer mentalen Schlüsselmacht der Moderne auf. Ihre zentralen Begriffe sind Triebstrukturen und Verdrängungsprozesse, allem voran die sexuelle Libido mit ihrer Dynamik. Sie wirkt im »Unbewussten« menschlicher Seelenregionen bis zu ihren Metamorphosen, Larvierungen und Pathologien. Zu ihren Erhellungen leistet Freuds Modell Beträchtliches, auch wenn es inzwischen von Neuro- und Kognitionswissenschaften und der Psychiatrie eher als »philosophische« Theorie betrachtet wird. Auch bei den triebenergetischen Deutungsversuchen kreativer Prozesse, künstlerischer Symbole und Formen liefert seine Psychoanalyse allerhand Einsichten. Trotzdem erlangt die Kunst bei Freud nie den Rang einer existenziellen anthropologischen Universalie oder gar von spiritueller Bedeutung, obwohl er ein kenntnisreicher Sammler, vor allem antiker Kunst, war. Damit häufte er nach und nach über 3000 Kunstobjekte an. Unter denen dienten ihm »die alten dreckigen Götter« gern als Manuskriptbeschwerer (Brief an Wilhelm Fließ, 1889). Als symbolisch materialisierte Mythologie regten sie ihn aber höchstens zu allerhand Entschlüsselungsstrategien für seine Traumdeutungstheorie an. Denn er reduziert letztlich, energetisch, alles Kunstschöpferische auf »Triebüberschuß« und, genetisch, auf die Fixierung an ein konstitutionelles Defizit einer personal »mißglückten Kindheit«. Modelle wie etwa präödipale Bindung, Ödipuskomplex, Kastrationsangst, die Verdrängungsdynamiken oder die mentale Topologie von »Es«, »Ich« und »Über-Ich«,

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die er entwirft, liefern ihm ausreichende Erklärungen für das Verständnis psychischer Prozesse. Auch für den schöpferischen Menschen, den Künstler. Weil er dessen Leistungen als ›Sublimierung‹ einer nicht normal erfolgten Erledigung der Kindheitsproblematik bewertet, stellt ihm das ›Schöpferische‹ dieser Art nur eine höchst zweifelhafte, ja eher defizitäre Form menschlicher Persönlichkeitsentwicklung dar. Danach bleibt der Künstler seiner Natur nach infantil, nämlich auf die Kindheit fixiert und sein Produkt deshalb in einem »vorwissenschaftlichen Stadium«, dem der Symbolbildung, stecken. Damit formuliert Freud nach ähnlichen Denkkategorien wie die Wiener »Logischen Empiristen«. Als szientistische Logik bestimmt sie maßgeblich die moderne abendländische Wissenschaftsratio, die damit keinen Zugang zu den tieferen Regionen seelisch-geistiger Wirklichkeit und ihres Erlebens bis hin zu deren Ausdruck in künstlerischer Gestaltung findet. Die hintergründige Wahrheit eines Kindlichen, dessen Natur nicht infantilkindisch ist, sondern einen anderen, integralen Bewusstseinszustand bezeichnet, wie ihn eben das Kind noch konstitutionell besitzt und dessen Potenzial im echten Künstler Wirkungsmacht behält, paradigmatisch bei Mozart, verfehlt Freud. Deshalb ist von seiner Psychoanalyse nichts für die Erkenntnis von Kunst in ihrer tieferen Bedeutung zu erwarten.51

Vergessene, verdrängte, verschwiegene Patenschaften Was Freuds rationalistischer Beitrag zum neuen »Psychismus« nicht leistet, entfesseln andere Bewegungen mit irrationalem Furor. Es sind die okkulten Bewegungen, die in den Jahren um 1900–1930 großen, weitgehend unterschätzten Einfluss auf Weltanschauung, Kunst und Künstler haben. Heute als skurriles Epiphänomen verdrängt, betrifft seine Wirkung sämtliche Bereiche von der Malerei, Architektur, Literatur, Musik und Tanz bis in die theoretischen Programme vom ›Aufbruch in eine neue Kunst‹. »Die Welt steht vor einer spirituellen Revolution« und die »Epoche des großen Geistigen bricht an« erklärt Kandinsky mit seiner Vision von der Synthese aller Künste in einem »inneren Klang«. Zentrale Quellen dieser Strömungen sind die Theosophie und ihre spätere Abspaltung in der Anthroposophie. Gleichzeitig entfaltet sich eine weit verbreitete Praxis mediumistischer Aktivitäten in organisierten, okkulten Zirkeln und privaten, bürgerlichen Salons. Sie reicht vom kuriosen Tischrücken bis zum methodischen, ›wissenschaftlichen‹ Experimentieren in der Künstler- und Intellektuellenszene. Zentralfiguren sind Helena Petrowna Blavatsky, die Begründerin der Theosophie, und

51

Diese Problematik handelt besonders klar der C. G. Jung-Schüler Erich Neumann ab, vgl. Der schöpferische Mensch, Darmstadt 1965, S. 27, 115, 351 ff.

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Rudolf Steiner mit seiner daraus entwickelten eigenen Lehre der Anthroposophie. Beide berufen sich auf übersinnliche Erkenntnisquellen, Blavatsky mit ihrer medialen Veranlagung, Steiner mit seiner ›hellsichtigen‹. Beide verwenden aber auch synkretistisch die Quellen aus sämtlichen alten Weisheitslehren und Religionssystemen. Dazu kommen die neuen Erfahrungen zwischen Mesmerismus, Röntgenstrahlen, Geisterphotographie, Telekinese, den ›Od‹- und ›Äther‹-Theorien samt den Trancebotschaften aus mediumistischem Experimentieren. Als »Experimentelle Metaphysik« (August Strindberg) oder »physikalischer Transzendentalismus« (Futurist Umberto Boccioni) versprechen sie eine Synthese von uralter spiritueller Wissensüberlieferung und modernen, naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. 1875 wird in New York die »Theosophische Gesellschaft« gegründet, die sich schnell mit vielen Logen über England, Deutschland, USA, Italien und, in einer Variante, auch in Indien ausbreitet. Mit Blavatsky und ihren Schriften Isis unveiled (Die entschleierte Isis, 1887) und The secret Doctrine (Die Geheimlehre, 1888) wird sie zur einflussreichsten esoterischen Bewegung der Moderne. Nicht weniger Wirksamkeit entfaltet später Steiner mit der Gründung der »Anthroposophischen Gesellschaft«, 1913, und besonders über seine Vorträge und Schriften, vor allem Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten (1904/05 und Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910).52 Kaum einer der damaligen Künstler bleibt zwischen Symbolismus, Suprematismus, Bauhaus-Hellerau, Monte Verità und den Pariser, Londoner, Mailänder und Münchner spiritistischen Zirkeln von diesen Einflüssen unberührt. In ihren Reihen finden sich fast alle prominenten Namen der Moderne. 53 Piet Mondrian war bis zu seinem 37. Lebensjahr nur ein mäßig begabter Landschaftsmaler. Bis dahin entstand die Hälfte seines Gesamtwerks. Dann kommt er 1908 mit Blavatskys Theosophie in Berührung und beginnt abstrakt zu malen, wird 1909 Mitglied der Theosophischen Gesellschaft Amsterdam und Gründerfigur der »De Stijl«-Schule. Auch František Kupka ist Theosoph und betätigt sich als spiritistisches Medium. Franz Marc propagiert den »wissenschaftlichen Okkultismus«, Hans Arp fertigt Modelle für einen theosophischen Tempel in Paris, Hermann Obrist verfügt über eine Bücherliste, die 16 Seiten Okkultismus-Literatur enthält und Malewitsch ist tief beeinflusst von den Schriften des Pjotr Uspenskij. Die russischen Dichter Bely und Woloschin wirkten am ersten Bau von Steiners Goethea52

Zu den tieferen Hintergründen vgl. die wissende Darstellung von Bȏ Yin Rȃ, Mehr Licht, Letztausgabe, Basel 1936, Kapitel: Theosophie und Pseudotheosophie, S. 99, besonders S. 125–144.

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Umfassende Überblicke dazu, denen diese Darstellung verpflichtet ist, bietet: Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900–1915, Katalog zur Ausstellung in Frankfurt (Schirn Kunsthalle 3.6. bis 20.8.1995), hg. v. d. Schirn Kunsthalle u. Veit Loers, Frankfurt a. M. 1995 sowie: L’Europe des esprits. Ou la fascination de l’occulte. 1750–1950, Katalog zur Ausstellung im Musée d’art moderne, Strasbourg (1.10.2011–12.2.2012), hg. v. d. Les Edition des Musées de Strasbourg, 2011.

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num in Dornach mit; der Architekt Johannes Ludovicus Lauweriks ist Nachfolger von Steiner in der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft. Hilma af Klint, abstrakte Malerin noch vor Kandinsky, malte »Im Auftrag höherer Mächte«, genauer: von Amiel. Er gehörte bei ihr zu einer Gruppe von Geistern wie Georg, Ananda, Clemens, Esther und Gregor, mit der sie bei spiritistischen Sitzungen gemeinsam mit vier anderen Frauen in Kontakt gestanden haben will. William Butler Yeats war Mitglied im Hermetic Order of the Golden Dawn, die britische Version eines synkretistischen Rosenkreuzertums. Arthur Conan Doyle, berühmter Sherlock-Holmes-Romancier, war engagierter Spiritist. Auch Auguste Rodin hielt spiritistische Sitzungen ab und der Dichter Theodor Däubler ist beim Tischerücken in Séancen dabei. Debussy gehörte nicht nur zu Mallarmés elitärem Dienstagskreis, sondern verkehrte in Gesellschaften wie »Kabbalistischer Orden vom Rosenkreuz« und dem »Orden vom Rosenkreuz des Tempels und des Heiligen Grals«. Rosenkreuzer war auch Éric Satie, der sogar ein Rosenkreuzer-Orchester begründete. Für Alexander Skrjabin begann der Weg in die Theosophie und ihre Kreise nach seiner Lektüre von Blavatskys Schlüssel zur Theosophie, 1904–1905. Sein letztes Orchesterwerk Prométhée, Le Poème du feu op. 60 (1909–1910), entstanden in Belgien im engen Umgang mit den dortigen Theosophen, ist synästhetisch komponiert. Es verwendet farbige Lichtilluminationen und enthält im Farbliniensystem Anmerkungen, die direkt aus der Theosophie stammen (wie etwa »Involution und Evolution der Rassen«). Zu seiner neunten Klaviersonate (op. 68) aus der gleichen Zeit, die als Schwarze Messe figuriert, bekennt er, dass er »tiefer als jemals zuvor in Berührung mit dem Satanischen« gekommen sei.54 Zuletzt steigerte sich der sensible Mystiker monoman zum glühenden Ekstatiker und messianischen Propheten des Untergangs – im Zeichen der Musik. Er glaubte nämlich an eine unmittelbar bevorstehende kosmische Katastrophe, in seiner Imagination herbeigeführt mit einem finalen, »pansynkretischen Akkord«. Auch in der »Neuen Welt« komponiert der unentwegte, aber theosophisch inspirierte Sucher nach neuen Klängen, Rhythmen und Tonorganisationen, Henry Cowell (1897–1965), seine »Tontrauben«-Musik 1914–1919 für die theosophischen Riten im Temple of the People des kalifornischen San Luis Opispo. Sogar im Tanz nehmen prominente Vertreter wie Rudolf von Laban, Isadora Duncan und Mary Wigman die Ideen aus okkulten Lehren und Kreisen auf. Rudolf von Laban war seit seinen Balkanreisen tief beeinflusst von Derwischtänzen und Fakirkünsten und bezog dann freimaurerisches Gedankengut in seine Tanzkonzepte ein. Er war Großmeister des »Ordens der Johannisloge der alten Freimaurer von Schottland und Memphis und Misraim Ritus im Tale von Zürich« und verbrachte seine Sommermonate auf dem Monte Verità in Ascona. Isadora Duncan entwickelte im Der Tanz der Zukunft (1903) viele ihrer Konzepte nach dem Vorbild

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Zitiert nach Valentina Rubcova, in: Vorwort zur Urtextedition von op. 68 im Henle-Verlag, München 2010.

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der esoterischen Energie-Topologie des indischen Kundalini-Yoga-Systems; Mary Wigman, eng verbunden mit Laban, übernimmt im Herbst 1913 vorübergehend die Leitung seiner »Schule für Bewegungskunst«. Ungeachtet ihrer Maschineneuphorie waren auch viele Futuristen mit von der okkulten Partie. Im 1916 veröffentlichten Manifest La Scienza Futurista erklärten sie klar: »Laßt uns die Aufmerksamkeit der Kühnen auf das am wenigsten ergründete Gebiet unserer Realität lenken, wozu die Phänomene Mediumismus, Animismus, Rhabdomantie (d.  h. Rutengehen), Divination, Telepathie …« zählen. Der Maler Arnaldo Ginna publizierte 1917 eine Aufforderung zur Erforschung des Okkultismus (Il coraggio nelle ricerche di occultismo). Er gehörte, wie der Schriftsteller und Herausgeber von Avantgardezeitschriften Bruno Corra, dem theosophischen Kreis von Ravenna an. Auch Luigi Russolo und Umberto Boccioni sind mit in der Liga. Dessen Schrift Pittura scultura futuriste (1914) bekennt sich zu den »Materialisationsphänomenen« (Albert von Schrenck-Notzing) und er schreibt: »Für uns ist das biologische Rätsel der mediumistischen Materialisation eine Gewißheit.« Sogar der maschinenberauschte Marinetti schwärmt von einer künftigen Ausbildung übersinnlicher Kräfte in L’uomo moltiplicato e il regno della macchina. In der Pariser Szene trafen sich Dadaisten und Surrealisten mit den Spiritisten oft im gleichen Gebäude. Vor allem der Künstlerzirkel der »Abbaye de Créteil« mit Alexandre Mercereau war geprägt von den Theorien des bekanntesten Okkultisten der Zeit, Papus (eigentlich Gérard Encausse), und den Schriften von Édouard Schuré, Verfasser von Les grands initiés (1889). Dort verkehrten auch Brâncuşi und Canudo, der mit zum Kreis um die Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft, Annie Besant, gehörte. Valentine de Saint-Point tanzte theosophische Choreographie und Gaston de Pawlowski wirkte mit seinen Ideen von der »Vierten Dimension« (Voyage au pays de la quatrième dimension, 1912) auf František Kupka und den Kubismus mit seinen neuen, polygonen Perspektiven. Der berühmte Surrealist André Breton, gelernter Nervenarzt, war bestens bekannt für seine zahlreichen Séancen. Dort kultivierte er die Écriture automatique, das »automatische Schreiben« als neue Kunsttheorie durch in Trance agierende Medien – später von der wissenschaftlichen Psychologie rational entschärft als ›freie Assoziation‹ à la Sigmund Freud. Marcel Duchamp war zwar erklärter Nihilist, aber interessierte sich, als er Fahrrad-Rad (Roue de Bicyclette) entwarf, intensiv für die okkultistischen Übungen des symbolistischen Malers Odilon Redon mit seinen Monstern und Geistern und war überhaupt bestens okkultistisch informiert durch eine umfassende Kenntnis esoterischer Literatur. In Italien nahmen an den Sitzungen mit dem berühmten Medium Eusapia Palladino aus Neapel regelmäßig sämtliche Koryphäen aus Wissenschaft, Medizin und Kunst teil.

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Musik und Malerei: Schönberg und Kandinsky Auch in München etablierte sich, heute vergessen, ein veritables okkultistisches Netzwerk mit besonderer Wirkung auf viele Künstler, vor allem Kandinsky. Seine Anfänge lagen bei der »Münchner Psychologischen Gesellschaft«, gegründet 1886 von Albert von Schrenck-Notzing und Carl du Prel. Dort wollte man Mesmerismus, die Od-Lehre des Barons von Reichenbach, Hypnose, Telepathie und Teleplastie sowie die medialen Manifestationen aus spiritistischen Sitzungen ›wissenschaftlich‹ untersuchen: ein früher Versuch, den Okkultismus in eine »Parapsychologie« zu überführen, der viel später, akademisch nobilisiert, durch Hans Bender in Freiburg i. Br. weitergeführt wurde. Schrenck-Notzing initiierte von 1909–1913 zahlreiche mediumistische Sitzungen in Paris und München. In denen arbeitete er mit einer Art labormäßigen Versuchskontrolle mit bis zu zehn Beobachtungskameras. Sein Hauptwerk Materialisations-Phänomene (München, 1914) dokumentiert die Ergebnisse. 1907 fand in der Münchner »Tonhalle« der theosophische Jahreskongress statt, geleitet vom damaligen Generalsekretär Rudolf Steiner. Er führte in München zwischen 1910 und 1913 seine Mysteriendramen auf und plante als Tempel dafür seinen »Johannesbau«. Seit 1906 hielt Steiner Vortragszyklen, die erst in Berlin, später in München, von Kandinsky, Gabriele Münter, Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky aus der »Neuen Künstlervereinigung München« besucht wurden. Kandinsky würdigt in seiner Schrift Über das Geistige in der Kunst (2. Aufl. 1952, S. 42) die Theosophie Blavatskys als »geistige Bewegung« und »eine Hand, die zeigt und Hilfe bietet«. Er bezog das theosophische Magazin Lucifer-Gnosis und besuchte mit den Malerinnen Strakosch-Giesler und Gabriele Münter spiritistische Sitzungen. Er besaß auch eine umfangreiche Bibliothek mit okkulter Literatur, deren intensive Lektüre sich in seinen vielen Anstreichungen und Anmerkungen verrät. Er fertigte Exzerpte aus Steiners Schriften, korrespondierte mit anderen okkultistisch orientierten Künstlern und interessierte sich besonders für die sogenannte Gedanken- und Geisterphotographie, wie sie über Louis Darget, Jean Buguet, Hippolyte Baraduc und Alexander Aksakow bekannt wurde. Dessen Schrift Animismus und Spiritismus (1890), die sich vor allem auf die Auswertung von »TranszendentalFotographien« stützt, hat Kandinsky mit besonders vielen Anstreichungen versehen.55 Große Aufmerksamkeit fand auch Steiners Theosophie (1904), wo sich viele Unterstreichungen in dessen Kapiteln über die Topographie ›jenseitiger Welten‹ finden, besonders im Kapitel »Geisterland«. Dort ist von den Urbildern aller Dinge die Rede, die in der okkulten Welt des Geistes präexistierten, ähnlich den ›Gedan-

55

Erstmals untersucht von Sixten Ringbom, The Sounding Cosmos: A Study in the Spiritualism of Kandinsky and the Genesis of Abstract Painting, Turku (Åbo Ackademi) 1970, weiterhin detailliert von Rose-Carol Washton Long, Kandinsky: The Development of an Abstract Style, Oxford 1980 (= Oxford Studies in the History of Arts and Architecture) sowie: Kandinsky und das Okkulte/ Die Steiner Annotationen Kandinskys, in: Kandinsky und München, Begegnungen und Wandlungen 1896–1914, hg. v. A. Zweite, München 1982, S. 85 ff.

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kenformen‹ in der theosophischen Diktion von Besant und Leadbeater. Kandinsky knüpft daran an, wenn er von den »geistigen Gestalten, die Atmosphäre schaffenden geistigen Wesen« spricht (Über das Geistige in der Kunst, 1952, S. 107). Der Abstraktionsprozess in seiner Bildersprache ab 1912/13 entwickelt sich offenbar in enger Verbindung zu dieser Beschäftigung mit »Gedankenphotographie«, der Theosophie sowie besonders der Lektüre von Steiners Schriften. Steiner entwickelte in dieser Zeit auch eine neue Bewegungskunst, die als Eurythmie wichtiger Teil seiner anthroposophischen Lehre und Praxis wurde. Er verwendet sie in seinen Mysteriendramen Der Hüter der Schwelle und Der Seelen Erwachen, die 1913 in München erstmals aufgeführt werden. Darin beschwört er nicht nur den kultischen Geist antiker Tempeltänze, sondern stellt enge Verbindungen zwischen Planeten- und Tierkreisbewegungen mit Gebärden, Körperbewegung und Lauten her, und entwirft ganz bestimmte Körperhaltungen mit engem Bezug zu seinen esoterischen Konzepten. Viele seiner Bewegungsskizzen weisen mit ihrer Orientierung an bestimmten geometrischen Grundmaßen große Ähnlichkeit mit Darstellungen aus mittelalterlichen Traditionen des Okkultismus auf, wie etwa beim Okkultisten und Alchemisten Agrippa von Nettesheim (De occulta philosophia libri tres, 1533). Auch Rudolf von Laban, der 1910 in München die »Schule für Bewegungskunst« gegründet hatte, macht die physischen Konfigurationen der pythagoreischen Körper (wie Ikosaeder, Dodekaeder, Oktaeder und Tetraeder) zu zentralen Elementen seiner Tanzlehre. Weit über die Künstlerszene hinaus aber reicht das Münchner Okkultismus-Biotop in seinen Wirkungen auf die Anfänge und mentalen Untergründe der nationalsozialistischen Bewegung und viele ihrer zentralen Figuren, wie besonders Heinrich Himmler.56

56

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Das beginnt bereits bei der geschichtsmythologisch besetzten Terminologie vom ›Dritten Reich‹ und konkretisiert sich in der 1918 in München vom Freimaurer, Okkultisten und Astrologen Rudolf von Sebottendorf gegründeten »Thule-Gesellschaft – Orden für deutsche Art«, in der spätere Nazi-Größen wie Hans Frank, Gottfried Feder, Dietrich Eckart, Rudolf Heß und Alfred Rosenberg verkehrten, wo die Deutsche Arbeiterpartei gegründet wurde, aus der die NSDAP entstand, und wo aus dem Münchner Beobachter und Sportblatt der Völkische Beobachter hervorging. Es betrifft aber vor allem die Verbindungen zu den esoterischen Exponenten in ihrem Umfeld. Sie waren insbesondere für Heinrich Himmler, Polizeichef, Reichsführer SS, später Innenminister mit der, von ihm wie ein ›Orden‹ organisierten SS von Bedeutung. Deren zentrale Emblematik und Ideologie, vom Hakenkreuz (bezeichnenderweise als invertierte Swastika) bis zum rassischen Okkultismus der Ariosophie, finden sich bereits im Bereich der Theosophie von Blavatsky. Dazu kommen die Bezüge zum Runenokkultismus wie etwa mit der SS-Rune oder im Totenkopf-Ehrenring sowie die strukturellen Analogien im Aufbau der SS nach ario-germanischen Mustern. Besonders die Ariosophie, mit der Umcodierung asiatisch-fernöstlicher Esoterik in eine arisch-germanische, gehörte zum mentalen Zentrum der Nazi-Ideologie. Ihren Hintergrund lieferte vor allem die »Forschungsgemeinschaft deutsches Ahnenerbe« mit der ›wissenschaftlichen‹ Suche nach den Wurzeln im germanischen Mythos bis hin zu einer exotischen Tibet-Forschung mit einer SS-Expedition nach Tibet 1938/39 unter Ernst Schäfer. Im Kult-Programm der SS, von der Wewelsburg als ›Gralstempel‹ des

Als erklärter ›Synästhetiker‹ räumte Kandinsky der Musik in seinem Kunstverständnis immer eine maßgebliche Rolle ein. »Ein Künstler … welcher seine innere Welt zum Ausdruck bringen will und muß, sieht mit Neid, wie solche Ziele in der heute unmateriellsten Kunst – der Musik – natürlich und leicht zu erreichen sind.« ›Klang‹ und ›innerer Klang‹, sind dort zentrale Begriffe und mit der terminologischen Verwendung von (Farb)-Harmonie, innerer Vibration, Kontrapunkt und Komposition, Symphonie und Melodie nimmt er immer wieder Analogien zur Musik auf, wie sie auch bei anderen Malern der Zeit anklingen.57 In diesem Zusammenhang würdigt er auch Schönberg als Komponisten, der mit »vollem Verzicht auf das gewohnte Schöne«, »auf dem Wege zum innerlich Notwendigen schon Goldgruben der neuen Schönheit« entdeckt habe: »Hier beginnt die Zukunftsmusik« (op. cit. 1952, S. 48–49).

neuen »SS-Ordens« mit den dortigen Riten bis zu ihren diversen ›Weihestätten‹ sowie den Frühlings-, Ernte- und Sonnwendfeiern manifestiert sich der esoterische Hintergrund ebenso wie in der Runenmythologie, der Gralsforschung und den Verbindungen zur Astrologie. Ihre wichtigsten Protagonisten wie Jörg Lanz von Liebenfels, Guido von List, Karl-Maria Wiligut alias Weisthor und Otto Rahn beherrschten den engsten Kreis um Himmler. Er war nach Hitler der mächtigste Mann im Nazi-Regime und sie konnten sich zweifellos nicht ohne Kenntnis und Billigung Hitlers etablieren, der seit seiner Wiener Zeit mit diesen Themen durch eigene Lektüre vertraut war. Über seine aktive Beteiligung an Riten und okkulten Praktiken (wie etwa Runenübungen, für die sich übrigens in der Eurythmie von Rudolf Steiner eine gewisse Analogie anbietet), herrscht in der Bewertung der Historiker Uneinigkeit, vgl. Nicholas Goodrick-Clarke, Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Graz 1997. Er hält in seiner gründlichen und umfassenden Studie die politischen Aspekte für weit wirksamer als die okkulten Einflüsse, die er streng akademischpolitologisch abhandelt und sie deshalb eher marginalisiert, sie sogar bei Himmler und Rudolf Heß für deren »Privatsache« (S. 197, 199) hält. Dies scheint vor allem in Hinblick auf die Einflüsse astrologischer Art, besonders bei Himmler, der sich vom Astrologen Wilhelm Wulff bis in die letzten Kriegstage von 1945 ständig beraten ließ (belegt durch seinen Terminkalender, vgl. Die Organisation des Terrors. Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943–1945, hg. v. M. Uhl u. a., München 2020) sowie bei Heß und Walter Schellenberg mit ihren Beratern Karl Ernst Krafft, Ernst Schulte Strathaus und Wulff bis hin zur gezielten Verwendung als Propagandamaterial durch Goebbels, noch höchst aufklärungsbedürftig. Das betrifft auch die analogen britischen Gegenspieler, besonders in den Geheimdiensten (wie Aleister Crowley und Louis de Wohl). Denn diesbezügliche Dokumente bleiben unzugänglich, u. a. auch wegen der Verwicklung von Teilen des britischen Establishments bis zum Königshaus in pro-deutsche Sympathien und der Verbindung zum ominösen Schottland-Flug von Heß 1941, vgl. R. Deacon, A History of the British Secret Service, London 1969 u. 1980, S. 353–366; E. Howe, Astrology and the Third Reich, 1984, dt. als: Uranias Kinder, Weinheim 1995; W. Wulff, Tierkreis und Hakenkreuz, Gütersloh 1969; M. Kater, Das Ahnenerbe der SS 1935–1945, München 1997; R. Sünner, Schwarze Sonne. Entfesselung und Mißbrauch der Mythen in Nationalsozialismus und rechter Esoterik, Freiburg 2001. 57

Zitat aus Kandinsky (1952), S. 54–55. Vgl. eine aufschlussreiche Zusammenfassung, besonders in Hinblick auf die Beziehung von Kandinsky – Schönberg von W. Haftmann, Über die Funktion des Musikalischen in der Malerei des 20. Jahrhunderts, in: Hommage à Schönberg. Der Blaue Reiter und das Musikalische in der Malerei der Zeit, Katalog zur Ausstellung i. d. Nationalgalerie Berlin 11.9.–4.11.1974, Berlin 1974, S. 8–52.

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Nach einer ersten Begegnung, wahrscheinlich 1909 am Tegernsee, entsteht ein enger Kontakt. Schönberg steuert zur Ausstellung des »Blauen Reiter« bei, und wollte 1919 Kandinsky als Ausstatter für ein Filmprojekt seiner Oper Die glückliche Hand. Kandinsky war nicht nur von der Musik Schönbergs bewegt, sondern schätzte auch dessen Bilder. Aus den 90 Bildern, die aus der Zeit von 1907–1910 bekannt sind (darunter: Roter Blick, Selbstportrait, Visionen), nahm Kandinsky drei Bilder in die erste Blaue-Reiter-Ausstellung auf, reproduzierte zwei im Blauen-Reiter-Almanach und besprach sie dort in seinem Aufsatz Über die Formfrage. Nach einem Konzert in München mit dem ersten und zweiten Streichquartett und den Klavierstücken op. 11 schreibt Kandinsky Schönberg in einem Brief (18.1.1911): »Sie haben in ihren Werken das verwirklicht, wonach ich in freilich unbestimmter Form in der Musik so eine große Sehnsucht hatte. Das selbständige Gehen durch eigene Schicksale, das eigene Leben der einzelnen Stimmen in Ihren Compositionen ist gerade das, was auch ich in malerischer Form zu finden versuche … ich finde eben, daß unsere heutige Harmonie nicht auf dem ›geometrischen‹ Wege zu finden ist, sondern auf dem direkt antigeometrischen, antilogischen. Und dieser Weg ist der der ›Dissonanzen‹ in der Kunst, also auch in der Malerei, ebenso wie in der Musik. Und die ›heutige‹ malerische und musikalische Dissonanz ist nichts als die ›Konsonanz‹ von morgen.« Ein solches Verständnis von Dissonanz und Konsonanz klingt schon in seiner Schrift Vom Geistigen in der Kunst an: »… wie die Teilung der Konsonanz von der Dissonanz, die im Grunde nicht existiert« (S. 140). Noch deutlicher wird er in Briefen von 1912 im Zusammenhang mit seinem Bühnenwerk Der gelbe Klang, das im Blauen-Reiter-Almanach 1912 publiziert wurde. Das Werk entstand in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Thomas de Hartmann mit dem er (nach Auskunft seiner Tochter) auch mediumistische Sitzungen in München besuchte und der später ein Jünger von George Gurdjieff wurde.58 Dazu erklärt er Schönberg (Brief vom 22.8.1912), dass der Aufbau eines Kunstwerks eher auf dem Prinzip der Dissonanz als auf dem der traditionellen Harmonie fußen sollte. »Ich will aber zeigen, das K. [Komposition?] auch auf dem Prinzip des Mißklangs zu erreichen ist … so ist der ›Gelbe Klang‹ konstruiert… Das ist das, was man ›Anarchie‹ nennt, worunter man eine Gesetzlosigkeit versteht … und worunter man Ordnung verstehen muß … welche aber in einer anderen Sphäre wurzelt, in der inneren Notwendigkeit …«.59 Das ist der gleiche Begriff, den auch Schönberg für sein künstlerisches Tun in Anspruch nimmt. Von hier aus erhellen sich viele Zusammenhänge zwischen Kandinskys Weg in die abstrakte Malerei und den Spiritismus, die Theosophie und Anthroposophie, wie auch zwischen seinen künstlerischen Konzepten und denen von Schönberg.

58

Vgl. R.-C. Washton Long (1980), S. 49.

59

Vgl. Kandinsky – Schönberg (1974), S. 54–55 u. 58–59.

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Von hier aus fällt auch ein bezeichnendes Licht auf die Natur der ›Einflüsse‹, die sein Denken und Weltbild so nachhaltig inspirierten.

Importe, Einbrüche und Exotismen Die heftigsten Kontrapunkte zu allen szientistischen Konzepten lieferte aber schließlich »Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«. Der mentale Bankrott der Weltkriegskatastrophe zeugte tiefe Verstörung, radikale Skepsis und grelle Ironie. Eine bittere Seinsverzweiflung, die sich in Dadaismus und Surrealismus zuerst Drolerie, Spott und Groteske auslieferte, dann dem Zynismus und schließlich jeder bizarren Dämonologie. Schnell fanden sich die neuen -ismen in der Rolle als subversive Gegenaktionen, mit denen absichtsvoll Literatur, Sprache, Theater und Musik unterlaufen werden sollte. Gleichzeitig dringen ganz neue Einflüsse in Musik und Kunst ein: Nach den Ganztonskalen von Debussy oder der Pentatonik von Puccini tauchen fremdartige Stilidiome aus der osteuropäisch-russischen Folklore auf, samt exotischen Importen aus der »Neuen Welt«, die früher eher von Exporten der »alten« bestimmt war. Was längst zum Repertoire der Moderne gehört: nicht-tonale Melodiemodelle, die komplexen rhythmischen Pattern osteuropäischer ›Bauernmusik‹ oder die Synkopen und Harmoniemodelle des amerikanischen Jazz, wirkte zunächst wie ein Einbruch archaischer Schichten in die konsolidierte europäische Tradition. Aber sie eröffneten die Ausdruckswelten eines völlig anderen Lebensgefühls. Mit den modalen Modi vieler Volksliedmelodien aus dem osteuropäischen Raum wurde die Dur-Moll-Tonalität jenseits von Tristan weiter labilisiert. Besonders wirkungvoll aber war die neue, archaische Schicht auf der Ebene von Rhythmus und Metrum. Die zusammengesetzten Taktarten der russischen, bulgarischen, serbischen oder ungarischen Folklore lieferten komplexe Kombinationen und Wechsel asymmetrischer, der amerikanische Jazz neue, synkopierte Rhythmusmodelle. Béla Bartók sammelt und studiert solche Strukturen aus der osteuropäischen Folklore, systematisiert sie, ähnlich wie Zoltán Kodály, und ›komponiert‹ sie selbst immer wieder seit seinem Allegro barbaro (1911). Didaktisch verarbeitet er ihre Muster wie im sechsten Heft seines Lehrwerks Mikrokosmos mit den Sechs Tänzen in bulgarischem Rhythmus, aber schöpferisch prägen sie seine Werke, von der Klaviersonate von 1926 (Sz 80) bis in seine virtuosen Klavierkonzerte. Bei Igor Strawinsky erreicht dieses Idiom komplexer Rhythmik und furioser Metrenwechsel dann in seinen drei Balletten (Feuervogel, 1910, Petruschka, 1911 und le Sacre du Printemps, 1913) die große Bühne des internationalen Konzertlebens. Aber was bei Bartók deutlich aus innerem Sensorium über seine ethnischen Wurzeln authentischen Ausdruck findet, erfährt beim Russen Strawinsky bald eine Verwandlung ins Stilisierte. Sie ist perfekt, denn meisterhaft versteht er es, mit mu-

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sikalischen Gestalten, die traditionell Bedeutung als Träger inneren Ausdrucks hatten, als Erscheinungen äußerlicher Konstruktion zu hantieren. Sein Dementi jeder Ausdrucksabsicht formuliert er mit Nachdruck: »Denn ich bin der Ansicht, daß die Musik ihrem Wesen nach unfähig ist, irgendetwas ›auszudrücken‹, was es auch sein möge: ein Gefühl, eine Haltung, einen psychologischen Zustand, ein Naturphänomen oder was sonst. Der ›Ausdruck‹ ist nie eine immanente Eigenschaft der Musik gewesen … Wenn, wie es fast immer der Fall ist, die Musik etwas auszudrücken scheint, so ist dies Illusion und nicht Wirklichkeit« erklärt er in seinen Erinnerungen. In bester Manier von Eduard Hanslicks Formalismus betont er in einem amerikanischen Interview (1952): »Musik hat kein anderes Ziel, als sich selbst zu genügen.« Deshalb sieht er sich als bloßen Arrangeur einer Ordnung von Tönen: »Das Phänomen der Musik ist uns zu dem einzigen Zweck gegeben, eine Ordnung zwischen den Dingen herzustellen, und hierbei vor allem eine Ordnung zu setzen zwischen dem Menschen und der Zeit … Wenn die Kon­ struktion vorhanden und die Ordnung erreicht ist, ist alles gesagt. Es wäre vergebens, dann noch etwas anderes zu suchen …« (Erinnerungen, S.69). Auch in seinen Vorlesungen zur Musikalischen Poetik, die er 1939/40 an der Harvard Universität hält, bekennt er sich zum componere als pures Arrangement musikalischer Kombinationsspiele: »Komponieren bedeutet für mich, eine gewisse Zahl von Tönen nach gewissen Intervallbeziehungen zu ordnen.« Deshalb erwecken viele seiner Werke nach seiner frühen, inbrünstigen Psalmensinfonie oft den Eindruck gekonnter Machart mit genau kalkuliertem Effekt. Im Taumel ihrer rhythmischen Faszination steckt die artifizielle Kühle von perfekten ›Arten verschiedener Anordnung‹: eine gelungene Pose. Und deshalb erscheint seine Messe und seine Oper The Rake’s Progress nicht als Ausdruck einer inneren, seelisch-geistigen Erlebnisgestaltung, sondern vielmehr als das »Porträt einer Messe und einer Oper« (Ernest Ansermet).60 Zu den Importen aus der neuen Welt zählt neben dem Jazz auch der Song als neue Art von Lied. Er ist eine Übernahme aus der New Yorker Tin-Pan-Alley, der dortigen Songwriter-Szene. Dort schreibt Fred Fisher (geboren als Alfred Breitbach 1875 in Köln) mit If the Man in the Moon were a Coon einen Hit des frühen 20. Jahrhunderts. Übrigens deftig rassistisch, denn Coon steht für Nigger. Damit animiert er nicht nur Irving Berlin und Cole Porter, sondern auch die Musikszene der deutschen Weimarer Republik von Walter Mehring bis noch zu Bertoldt Brecht und Kurt Weill.61 Als erfolgreichster Import-Erfolg aber erwies sich der Jazz. Dass er damals gern »das Jazz« genannt wurde, kennzeichnet sein irreguläres Imago. Aber als transatlantischer Vitalimpuls wird er zum Ausdruck eines neuen Lebensgefühls. Mit sei60

Vgl. bei E. Ansermet (1965), S. 507–508 und in seiner ausführlichen Befassung mit Strawinsky, S. 471–524. I. Strawinsky, Erinnerungen, Zürich u. Berlin 1937, S. 69; ders., Musikalische Poetik, dt. Mainz 1949, S. 27.

61

Vgl. W. Rathert u. B. Ostendorf (2018), S. 35–72.

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nem unbekümmerten Jargon begeistert er die Massen als deftiger Kontrapunkt zu Wilhelmismus, Historismus und Wagnerismus – aber nicht weniger auch zu Puccini, Debussy oder Schönberg. Die synkopierte Rhythmik von Foxtrott, Charleston, Boston, One-Step oder Tango, neue harmonische Raffinessen, andere Klangmischungen und die Freiheit des Improvisatorischen regen an und auf. In der Harmonik zeigen sich die gleichen Tendenzen wie in der Musik seit Wagner: die Erweiterungen der Diatonik durch blue notes (die tiefer intonierte Terz und Sept), Zwischendominanten, die Vermischung von Dur und Moll durch Alterationen, schnell wechselnde Tonzentren und die besondere Schichtung von kleiner Terz über der großen, Akkorde der kleinen Sept oder, besonders im Blues, ein Akkordaufbau mit Tritonus und Quarte. Vor allem aber sind es die neuen Tanzrhythmen, die Hindemith und Strawinsky schon 1919 übernehmen, ersterer den Foxtrot als Fuchstanz von Wilm-Wilm in seiner Kammermusik Nr. 1, op. 24,1 oder in seinem Klavierzyklus op. 15 In einer Nacht… Träume und Erlebnisse, der andere im Ragtime seiner Les Noces. Auch Ravel komponiert in feiner Kammermusik, nämlich in seiner Sonate pour violon et piano, den zweiten Satz als ›Blues‹. Dazu kommen neue Klangbilder durch markantes Schlagzeug und charakteristische Bläserbesetzungen. Waren Trommel und Pauke bei Haydn und Mozart nur besondere Betonungszeichen, wurden sie bei Beethoven und vollends bei Mahler schließlich zur ausdrücklichen Bedeutungsebene, so artikuliert sich im ausdifferenzierten, obligaten Schlagwerk jetzt eine neue, eigenständige musikalische Dimension. Denn weder Haydns Sinfonie mit dem Paukenwirbel steht hier Pate noch Mahlers geisterhafte Beckenschläge, sondern ein hoch energetischer Africanism – eine Bedeutungswelt eigener und authentischer Kulturtradition. Im Aufstieg der Rhythmusinstrumente zum Träger einer eigenen semantischen Satzdimension treffen sich futuristische Faszination am entfesselten Geräusch und die traditionellen afrikanischen Idiome mit ihrer hochdifferenzierten Organisation rhythmischer Bedeutungsmuster. Allerdings als Importartikel zweiter Hand, nämlich domestiziert, konfektioniert und kommerzialisiert durch das ›weiße‹, moderne Amerika. Der Eros des Schlagzeugs reicht bis zur perkussiven Verwendung des Klaviers. Hindemiths Suite 1922 op. 26 trägt die Spielanweisung: »Das Klavier ist als eine Art Schlaginstrument zu behandeln«. Auch Bartóks Sonate für Klavier von 1926 und seine Klavierkonzerte machen reichlich Gebrauch davon und noch Pierre Boulez kokettiert 1946 in seiner Première Sonate mit diesem ›Schlagzeugklavier‹. Für ein spezifisches Kolorit neuer Klangbilder sorgen auch die Kombinationen von Trompete, Kornett, Posaune, Klarinette und Saxophon. Hindemith gibt dem Saxophon in seiner Oper Cardillac eine besondere Solorolle und Ernst Krenek verwendet es als Charakteristikum für das Jazz-Idiom schlechthin. Jonny spielt auf wird eine der erfolgreichsten Opern der Zeit. Auch bei George Gershwin gewinnt es sinfonischen Gestus in der Verbindung mit Konzert und Oper. Seiner Jazzoper Blue Monday (Blues) von 1922 folgen Rhapsody in Blue (1924), das Klavierkonzert in F (1925) und schließlich die ›schwarze‹

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Oper Porgy and Bess (1935). Die Band von Paul Whiteman kultiviert den sinfonischen Jazz und Erwin Schulhoff, tragisches KZ-Opfer der Nazis, komponiert einen reflektierteren ›Kunst-Jazz‹, wie im ›Foxtrott‹ seines 1925 entstandenen Streichquartettes Nr. 2 oder in seiner Klaviermusik Cinq études de jazz von 1926 und der Suite dansante en jazz von 1931. Die theoretische Faszination am Jazz ist beachtlich. Alban Berg widmet dem Jazzbuch von Alfred Baresel ein intensives Studium. Der Musikkritiker Hans Heinz Stuckenschmidt, enthusiastischer Anwalt der Avantgarde, feiert ihn 1927 sogar als einen Retter des neuen Komponierens: »Gerade war die Musik im Begriff, sich an einem Wust von Kleinseelerei, an Atome von Nervenreflexen, an neurasthenische Seufzerchen zu verlieren … da trat ein deutlicher Umschwung ein. Die höchst reale Rhythmik des Foxtrott zog in die seriöse Phantasie der Komponisten ein und erfüllte die bedeutend. Es ist ganz fraglos, daß das Jazz (sic!) die moderne Musik aus einer Krise gerettet hat …«62 Diese evolutionäre Erwartung hat sich allerdings nicht erfüllt. Früh diskreditiert ihn schon ein nicht minder dezidierter Avantgarde-Anwalt wie Stuckenschmidt, nämlich Theodor W. Adorno. Übrigens ganz in der unverhofften Gesellschaft von Hans Pfitzner, der Jazz als »Verwesungssymptom« charakterisiert. Dass ihn Adorno so anders als Stuckenschmidt sieht, hängt mit dem Gegensatz zwischen seinem geschichts-logischen Projekt musikalisch-gesellschaftlicher Fortschrittstheorie und dem notorischen Verdikt aller affektiven »Unterhaltung« zusammen. Schon 1933 befindet Adorno Jazz als »Stück schlechtes Kunstgewerbe« und vernichtet ihn schließlich intellektuell im amerikanischen Exil als anti-avantgardistisch.63 Aber auch Hindemith distanziert sich schon zu Beginn der dreißiger Jahre von dieser »Musik des Zeitgeistes« und will 1940 von einer Neuauflage seiner jazzgetönten Suite 1922 nichts mehr wissen.64 Was bleibt, sind vor allem die Rhythmusmodelle des Jazz und die Klangbilder seiner charakteristischen Instrumentationen. Sie überdauern, wie so viele Wirkungskräfte dieser Zeit, im Repertoire der Moderne. Strawinsky schreibt noch 1945 sein Ebony Concerto für Jazzband, Rolf Liebermann 1954 ein Konzert für Jazzband und Sinfonieorchester und Leonard Bernstein verschafft ihm nicht nur für den

62

H. H. Stuckenschmidt, Perspektiven und Profile, in: Melos 6 (1927), S. 74.

63

So Adorno, Abschied vom Jazz, in: Europäische Revue 9, 1933, anlässlich des Nazi-Verbots »Negerjazz« im Rundfunk zu übertragen (wieder ediert in: Gesammelte Schriften, Bd. 18, Frankfurt a. M. 1984, S. 795; Über Jazz, unter dem Pseudonym Hektor Rottweiler, in: Zeitschrift für Sozialforschung, V, 1937 (Gesammelte Schriften, Bd. 17, Frankfurt a. M. 1982, S. 70); Oxforder Nachträge (Gesammelte Schriften, Bd. 17, S. 382); Reviews of American Jazz Music 1938 and 1939 (Gesammelte Schriften, Bd. 19, Frankfurt a. M. 1984, S. 382); Für und wider Jazz, in: Merkur 9 (1953), Gesammelte Schriften, Bd. 10/2, Frankfurt a. M. 1977, S. 805).

64

Vgl. M. Kube, in: Musiktheorie 10 (1995), Heft 1, S. 70 ff., Anm. 34 und 38.

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Broadway Geltung, weltberühmt im Musical West Side Story (1957), sondern kultiviert ihn mit vielfacher Verwendung als typisches ›amerikanisches‹ Musikgenre. Mit dieser Signatur erfährt er in Europa, nach der zweiten Weltkriegskatas­ trophe, aus ähnlichen Gründen wie nach der ersten, eine Art von neuem Leben. Jetzt allerdings nicht mehr als musikästhetische Innovationshoffnung, sondern als Identifikation mit einem bestimmten ›Ambiete‹. Dazu gehört das Flair unbürgerlichen, auf jeden Fall liberalen Geschmacks und der Nimbus von ›Freiheit‹ im Spontan-Improvisatorischen als Differenz zur strengen ›Klassik‹. Dort bemächtigt er sich allerdings ihrer Potenziale über die Modi der ›Verjazzung‹, ähnlich wie vorher die Méditations im Genre von Bach light. Die Bach-Versionen von Jacques Loussier bis zu den gefeierten Klavierimprovisationen des Pianisten Keith Jarrett gehören dazu wie die Namen von Chick Corea oder Stefano Bollani. Michael Wollny und Jason Moran erweitern das Genre bis zur Multimedia-Performance. Wenn sich dann ein Harvardprofessor (Vijay Iyer) mit Jazz beschäftigt, dann will er ›Klangforschung‹ betreiben und damit seine Theorie einer holistischen Körperwahrnehmung (Embodied Cognition) bestätigen.65 Un-konventionell, das heißt als Bruch mit Konventionen, vollzog sich der Einbruch dieser anderen, archaischen Ausdruckswelten in das ausgereifte europäische Traditionsambiente. Dass er als solcher bewertet wurde, zeigt seine Benennung als stile barbaro (Siegfried Borris, 1950). ›Einbrüche‹ von Disparatem als Exotisches wie früher Rameaus Tanz-Szenarien in Les Indes galantes, Mozarts alla Turca oder das ›Ungarische‹ bei Brahms und Liszt waren Zitate und blieben Episode. Mit Bartók, Strawinsky, Antheil und Xenakis wurde diese Idiomatik jetzt eine wichtige semantische Dimension der Moderne. Die Dynamik des Archaischen beherrscht auch die gleichzeitigen bildenden Künste. Auch dort bricht es in die Konventionen ein und erlangt Ausdrucksbedeutung. Als Primitivismus benennt es einen prägenden Einfluss außereuropäischer Kunst auf die Tradition. Der Maler Alexander Schewtschenko veröffentlicht 1911 sein Neoprimitivistisches Manifest und der Kunsthistoriker Carl Einstein spricht von »Barbarischer Kunst« (Negerplastik, Leipzig 1915) – eine Analogie zum stile barbaro; beim Surrealisten André Breton taucht der Begriff homme primitf auf. Für seine Wirkung liefert der ins Abstrakte de-konstruierende Picasso prominente Beispiele. Zwar hat er diesen Einfluss stets in Abrede gestellt, aber er tritt über neue kunsthistorische Untersuchungen seiner Kollektionen deutlich zu Tage. Denn Picasso war ein leidenschaftlicher Sammler schwarzafrikanischer Stammeskunst und vieler ethnologischer Objekte. So ließ er sich nicht nur unverkennbar von einer Fang-Maske (1906) oder einer Puppe von der Pazifik-Insel Vanuatu (1951) inspirieren, sondern auch bei den Demoiselles d’Avignon (1907) durch die Holzstatue eines Tiki von den Marquesas-Inseln oder bei seiner Frau im roten Sessel (1929) 65

Ein bezeichnendes Zeugnis für dieses Stilambiente unter intellektuellem Aspekt liefert das Jazzbuch von Joachim-Ernst Berendt, Frankfurt a. M. u. Hamburg, 1953, das zu einer Art Vademecum einer Generation wurde.

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durch die Geometrie von Masken aus Gabun.66 Später genügten ihm für seine Plastiken allerdings auch entsorgte Objekte aus Mülltonen und Unrat aus der Umgebung seines Ateliers in Vallauris (wie eine seiner Gefährtinnen, Françoise Gilot, berichtet). Die Musikhistoriographie hat den Einbruch dieser Schichten archaischen und exotischen Expressionismus als legitime Anerkennung und gelungene Integration anderer Idiome verzeichnet. Der intellektuelle Avantgarde-Diskurs hat sie, besonders in ihren hochartifiziellen Organisationsformen bei Strawinsky, Bartók oder Xenakis als Bereicherung der Kompositionsmittel bewertet. Hinter dieser formalen Bewertung bleibt die Frage nach ihrer Ausdrucksbedeutung. Obwohl diese Mittel in der Moderne inzwischen bestens eingemeindet sind und die diffizilsten Metren und ihre Wechsel auch von mittelmäßigen Interpreten beherrscht werden, bleiben es Sinnträger von Ausdrucksbereichen, in denen sich die Balance abendländischer musikalischer Grundelemente wie Melos und Rhythmus bedeutungsvoll verschoben hat. Diese Balance, als funktionale Einbindung des Rhythmischen in den musikalischen Satz, wie sie etwa in der alten Vokalpolyphonie oder den vielen Tanztypen der Suiten verwirklicht ist, wird schon im ›diskontinuierlichen Satz‹ der »Wiener Klassik« strapaziert, vor allem beim späten Beethoven. Aber weil er situativer Theater­dramatik entstammt, ist seine Faktur dort reguliertes Artikulationsmittel. Jetzt bricht diese semantische Referenz auf – und zwar methodisch, nicht nur als fallweise, dramaturgisch gebundene Interjektion. Damit etabliert sich eine ent-fesselte Impulsseite als eine archaische Schicht der Musikgeschichte. Sie ist zwar seit jeher als Ausdruck eines ›Dionysischen‹ in Tanz und Ekstase legitimiert, von der italienischen Tarantella bis zur slawischen Polka. Jetzt aber gewinnt sie Autonomie gegenüber Melos und Harmonik und macht als eigene ästhetische Größe Karriere. Die ständige Erweiterung des Schlagwerk-Instrumentariums zeigt ihre Bedeutung. Das aber ist Reverenz an eine Dynamik des Irregulären als reguläre, ja autonome semantische Dimension. Ihre Qualität wird zwar als rohes barbaro empfunden. Aber ›roh‹ als ›primitiv‹ bedeutet keineswegs ›einfach‹. Denn es ist ja ein Einbruch von Un-Konventionellem. Deshalb gelingt seine Darstellung in der Syntax des ›Konventionellen‹ nur in diffizilen, asymmetrischen Komplexionen von permanenten Metrenwechseln, synkopierten Konvulsionen samt diffus changierenden Tonartverhältnissen: ein Regress ins Archaische in Gestalt des Komplizierten, denn Irreguläres läßt sich kompositorisch schwieriger ›organisieren‹ als Reguläres.

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Eindrucksvoll dokumentiert finden sich diese Einflüsse in: Picasso Primitif, Ausstellung im Musée du Quai Branly, Paris, April–Juli 2017, Katalog Paris, Flammarion, 2017.

In den Bauern- und Zigeunertänzen atavistischer Provenienz war das Rhythmische nicht Zeugnis eines ›Organisierten‹, sondern Ausdruck orgiastischer Vitalität und eines ent-fesselten Egos. Diese Bedeutung sichert ihm womöglich die Sympathie als zeitgeistige Analogie zur Bewusstseinslage des entfesselten Egos der Moderne. Und eines barbaro als Regress in Anarchistisches. Ob sich ein Meister dieser rhythmischen Idiome mit ihr identifiziert hat oder nur seiner musikalischen Disposition folgt, bleibt offen. Aber es fällt ins Auge, dass Béla Bartók, dieser sensible und höchst kultivierte Musiker, sich immerhin mit ihrem Agnostizismus identifiziert. Er bekennt sich nämlich unumwunden als Atheist. Das äußert sich in Briefen an eine große Liebe, der Geigerin Stefi Geyer, der er sein erstes, 1907 begonnenes Violinkonzert gewidmet hatte.67 Auch ein anderer Meister des Genres, Strawinsky, identifiziert sich damit, wenn er sich als nüchterner, komponierender Artifex in seiner Musikalischen Poetik zum »Prinzip des spekulativen Willens als der Wurzel des schöpferischen Vorgangs« bekennt. Und der Rest des Barbaro verdankt sich womöglich den katastrophalen Zeitumbrüchen: der Regression im Untergang des zivilisatorischen ›Ichs‹ in Revolution, Anarchie und Kriegsgemetzel.

Parodien, Travestien, Drolerien oder: von der Anti-Kunst zur negativen Kunstästhetik Mit dem Bewusstseinswandel in den westlichen Lebenswelten während der ersten Industrialisierung war das Hässliche ästhetisch eingemeindet worden. Friedrich Theodor Vischers (1847/58) und Karl Rosenkranz Schriften (1853) sind erste Zeugen im Kunstdenken, »Naturalismus«, »Realismus« und musikalischer »Verismo« im künstlerischen Schaffen. Am Ende dieses Prozesses legitimiert sich das Hässliche als ein zentraler Topos dramatischer, sozialkritischer und katastrophischer Narrative der Moderne. Als distinguiertes Erkenntnismittel fungiert es dann bei Th. W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie: Kunst müsse »das als häßlich Verfemte zu ihrer Sache machen«, um »im Häßlichen die Welt zu denunzieren, die es nach ihrem Bilde schafft und reproduziert«. Unverkennbar, dass diese erkenntnistheoretische Karriere des Hässlichen den Bewusstseinsschüben des akzelerierenden »Maschinenzeitalters« zu folgen scheint. 67

In einem langen Brief vom 11. September 1907 äußert er sein Unverständnis darüber, »daß Sie das unbeholfene Märchen von der Dreifaltigkeit für heilige Wahrheit halten« nachdem er ihr in einem Brief vom 6. September 1907 erklärt hatte: »Nicht Gott hat ja den Menschen nach seinem Ebenbilde erschaffen, vielmehr schuf der Mensch nach seinem Ebenbilde Gott. Nicht der Körper ist sterblich und die Seele unsterblich, sondern gerade umgekehrt … Was ist die Seele? Die Funktion des Gehirns und des Nervensystems … im Augenblick des Sterbens hört sie auf. Sie ist endlich – sterblich.« Vgl. B. Bartók, Briefe an Stefi Geyer, 1907–1908, Basel 1979, S. 190.

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Den Desastern von Weltkrieg und Revolution antwortet zunächst Persiflage und Ironisierung. Allerdings nicht mehr als Spiel »Romantischer Ironie« à la E.T.A. Hoffmann, Jean Paul oder Robert Schumann, sondern als deren entropische Endstufe in Travestie, Spott und Parodie. Die feiert auch nicht mehr den Fortschritt mit Auto und Flugzeug wie die Futuristen, sondern Frustration und Desillusion, das Absurde und Groteske. Der Glanz des Schönen wird zutiefst verdächtig. Als Irrealis der Illusion hält er weder den Weltkatastrophen noch der funktionalen Rationalität des Technozäns stand. Mit schrillem Gelächter entlastet man sich von der Unerträglichkeit des Vollkommenen und Erhabenen vor einer dissonanten Realität, mit Tabubruch von Konventionen und Regeln, mit Provokation und Zynismus vom Spießertum der Philister. Épater le bourgeois tönt es schon seit 1884 bei Baudelaire und Rimbaud. Jetzt wird der überkommene »bürgerliche« Kunstbegriff so dubios wie jede ästhetische Theorie. Marcel Duchamp, Erfinder von Flaschentrockner und Urinal als Kunstobjekt, erprobt entschlossen die Inversion: »Kann man ein Objekt schaffen, das keine Kunst ist?« fragt er provokant und klärt uns in seinen letzten Lebensjahren auf: »Die Tatsache, daß sie mit derselben Bewunderung betrachtet werden wie Kunstwerke, bedeutet wahrscheinlich, daß ich mit dem Versuch gescheitert bin, die Kunst gänzlich abzuschaffen.«68 In diesem Bekenntnis versammeln sich die Essenzen eines neuen Kunstverständnisses: einmal die ausdrückliche Absicht, keine Kunst nach bisheriger Façon zu wollen, dann das Verfahren per Akklamation jedes beliebige Objekt zum Kunstwerk zu erklären und schließlich die willige Bereitschaft des Publikums, die alte Kunstaura auf das Objet trouvé, zuletzt jeden beliebigen Gegenstand mit sympathetischer Begriffserweiterung als willkommene Bewusstseinserweiterung zu projizieren. Im Dadaismus vollzieht sich die Bedeutungskonversion noch eher im amüsanten Cabaret-Ton. Sein Phänotyp ist das Zürcher Cabaret Voltaire. Dort schmettert Hugo Ball 1916 seine Lautgedichte, Kurt Schwitters musikalisiert sie in seiner Ursonate, Emmy Hennings tanzt und dichtet animiert, Hans Arp fertigt seine Collagen und Richard Huelsenbeck verfasst das Dadaistische Manifest. Walter Mehring, Mitglied im »DADA Berlin«, entfacht mit seinem Stück Der Kaufmann von Berlin 1929 einen der größten Theaterskandale der Weimarer Republik. Auf dem Umschlag seines Gedichtbandes Das politische Cabaret (1920) verwendet er übrigens erstmals den Begriff Song. Pierre Albert-Birot ›komponiert‹ in Frankreich frivole Lautlyrik, Éric Satie schreibt eine Sonate bureaucratique und der Musikkritiker Hans Heinz Stuckenschmidt beginnt seine wirkungsmächtige Karriere als Kronanwalt der Avantgarde mit dadaistischer Klaviermusik (Der Champagner-Cobler und die grüne Sonne). 1920 nimmt er an der »Ersten internationalen Dada-Messe« in Berlin teil und versteht sich jenseits seiner heiteren Kapricen im Tonfall der Comedian Harmonists ausdrücklich

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M. Duchamp, I propose to Strain the Laws of Physics, in: Art News, Dezember 1968, S. 62; P. Cabanne, Dialogues with Marcel Duchamp, New York 1971, S. 71.

als Parteigänger einer Gegen-Kultur. Sein Kollege aus dem Berliner Dada, der Ukrainer Jefim Golyscheff, versucht sich 1919 sogar an einer Antisymphonie. Bald aber wird aus dem eher hintergründig-subversiven Anti im Dadaismus ein offensiv-provokatives im Surrealismus. Zwar bezieht man sich dort gern auf ein ›Über-Reales‹ von Traum und Trance als Inspirationsquelle und ein ›Unbewusstes‹, das, wie bei Breton, sogar ein ominöses »Automatisches Schreiben« steuern kann. Damit tritt der »Psychismus« als Verbindung zwischen okkult-mediumistischem Spiritismus und einer Faszination an der ›wissenschaftlichen‹ Entdeckung des Unbewussten in der neuen Psychologie auf. Aber als intellektuelle Theorie wählt man ein ätzendes Anti. »Die Kunst ist eine Dummheit«, heißt es im Zweiten Manifest des Surrealismus von André Breton. Damit stellt er sich in eine ganz spezifische französische Tradition widerständiger Subversion und lustvoller Tabubrüche. Sie reicht von den Gewaltverherrlichungen bei Marquis de Sade über Jean Genet, dem »Hohepriester der Gewalt«, Louis Aragon, den erklärten Stalinisten, bis zum RAF-Baader-MeinhofSympathisanten Sartre oder den Huldigungen von Roland Barthes und Philippe Sollers für Mao Tsetung. Auch der philosophisch larvierte Anarchist Michel Foucault und der bekennende Pädophile Gabriel Matzneff kokettieren noch damit. Und der französisch schreibende Rumäne Emil Cioran steht ihr nicht nur als Poet des negativen Denkens nahe, sondern erweist ihr mit seiner Schrift Apologie der Barbarei (1933) seine Reverenz. Dort hält er mit seiner Begeisterung für den Totalitarismus und seine Protagonisten Lenin, Mussolini und Hitler nicht zurück. Dem gleichen Anti-Impuls folgt die Forderung »Il faut tout recommencer à zéro« (1923) eines Architekten, der bald als Übervater der Moderne gefeiert wird: Le Corbusier, eigentlich Charles-Édoard Jeanneret. Er kultiviert nicht nur klug Beton als Baumaterial der Zukunft, sondern er befindet: »Der Kern unserer alten Städte mit ihren Domen und Münstern muß zerschlagen und durch Wolkenkratzer ersetzt werden.« Sein berüchtigter Plan Voisin propagiert sogar die Zerstörung eines Teils von Paris. Das entstammt dem gleichen Futuristen-Nährboden, in dem sich totalitäres Denken mit Politik und Ästhetik so kongenial zusammenfanden. Le Corbusier bejubelt 1934 Marschall Pétains rechtsextreme, nationale Revolution und schreibt seiner Mutter begeistert: »Die Revolution ist im Anmarsch!« Aber seine Sympathien gelten nicht nur Pétain, Stalin, Mussolini und sogar Hitler als potentielle Bauherrn großen Stils, sondern auch ihren totalitären Ideologien. Für Stalin zeichnet er Pläne, Mussolini schickt er signierte Exemplare seiner Bücher und bietet ihm sogleich nach der Besetzung Äthiopiens an, Addis Abeba in eine Kolonialhauptstadt nach seinen Plänen zu verwandeln. Hitler bewundert er als »Baumeister eines neuen Europa«, und als Berater des Vichy-Regimes entwirft er urbanistische Projekte in Algerien sowie das Programm »Städtebau der nationalen Revolution«. Er verfasst zahlreiche Artikel in den Zeitschriften Plans und Prélude, die ihn nicht nur als Exponenten einer rationalistisch-reduktionistischen Moderne mit streng

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normierten Wohnmaschinen in modularer Struktur und einem Faible für gigantische Wolkenkratzer zeigen, sondern auch als Propagandisten einer rassistischsozialselektiven Wohnurbanistik und erklärten Parteigänger des Totalitarismus.69 Wie sehr ein radikales ›Anti‹ die klügsten Geister beherrschte, zeigt sich sogar am Frühwerk von Paul Hindemith, einem Meister solider, handwerklicher Kompositionsethik. Mit den Opern Mörder, Hoffnung der Frauen von 1919, Das Nusch-Nuschi oder Neues vom Tage, 1929, setzt er auf Schock und Provokation. Was zunächst als Ironie und Parodie daherkommt, trägt den Geist bitterböser Desillusionierung noch bis in die »Neue Sachlichkeit« mit ihren sozialkritischen Akzenten bei Bert Brecht und Kurt Weill bis Kurt Tucholsky oder den Malern Otto Dix, George Grosz und Christian Schad. Das Genre »Gebrauchslyrik« (Bertoldt Brecht, 1927) zeigt einen neuen Schub des Realismus an. Hindemiths und Brechts ›Anti‹ war auch als Provokation des Bürgertums gemeint. Maler wie Max Ernst, René Magritte oder Salvador Dali setzen es aus surrealisitischem Erbe als Parodien fort, wenn sie bürgerliches Kunstverständnis als obsolete Konvention ironisieren. Magritte malte noch 1943 Parodien auf den Impressionismus wie in seinem Bild Die Ernte, einer liegenden Nackten im charakteristischen Strichdesign à la Renoir. Max Ernst collagierte skurrile Nonsens-Kon­struktionen aus einer erfundenen Wissenschaft, aber Werke wie Magrittes Gouache Das Kristallbad (1946), eine Giraffe im Glaskelch, oder sein galoppierendes Pferd mit Reiter auf einem Automobil (La Colère des dieux von 1960) eröffnen bereits Fenster zu einer anderen mentalen Dimension. Der späte Surrealist Salvador Dali meint provokativ: »Wer sich ein galoppierendes Pferd nicht auf einer Tomate vorstellen kann, ist ein Idiot«. Damit kokettiert der ironische Modus künstlerischer Phantasie schon mit der Crétinisation, der bewussten Mobilisierung des Wahnhaften als legitime Option von ›Bedeutung‹. Das ist eine andere Qualität als der ›Wahn‹ Richard Wagners, die heilige mania Platons oder das überrationale ›Dämonische‹ Goethes. Hier mischt sich in die Kunst eine andere Kategorie ein. In welche sie fällt, zeigt sich, verfolgt man ihre Verbindung zu den bildnerischen Erzeugnissen aus psychiatrischen Regimen und psychopathologischen Ursprüngen.

Die Inspirationen des ›Wahns‹ Nach den ersten Reformen des doktrinären psychiatrischen Anstaltswesens in Frankreich durch Philippe Pinel und Jean Étienne Esquirol wuchs der freien künstlerischen Betätigung der Patienten neue Bedeutung zu. Man nimmt deren Erzeugnisse ernst, sowohl in diagnostischer wie in therapeutischer Hinsicht. Daraus ent69

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Vgl. die neueren Biographien von N. F. Weber, Le Corbusier. A Life, New York 2008; X. de Jarcy, Le Corbusier. Un fascisme français, Paris 2015 und M. Perelman, Le Corbusier. Une froide vision du monde, Paris 2015.

standen bekannte Sammlungen, wie die frühe von W. A. F. Browne im schottischen Crichton (seit 1834), die am Pariser Sainte-Anne Krankenhaus (seit 1900), die des Schweizer Psychiaters Walter Morgenthaler oder die bekannteste an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg. Sie geht auf Bestände von Emil Kraepelin und Erwerbungen von Karl Wilmanns und vor allem von Hans Prinzhorn zurück. Studien von Morgenthaler wie Ein Geisteskranker als Künstler über Adolf Wölfli (Bern 1921) oder Prinzhorns Bildnerei der Geisteskranken (Heidelberg 1922) bis Leo Navratil mit seiner »Guggunger Methode« (Wien 1999), trugen zur neuen Beachtung der ästhetischen Aspekte bei. Sie wirkten aber auch auf viele Künstler der Avantgarde. Max Ernst war tief beeindruckt von Prinzhorns Buch, verbreitete es über Paul Éluard in Paris und ließ sich vom Bild Wunder-Hirthe des psychisch kranken August Natterer (alias Neter) direkt inspirieren. Aber auch Maler wie Oskar Schlemmer, Ludwig Kirchner und Paul Klee bis zu Georg Baselitz und Arnulf Rainer zeigen sich davon beeinflusst. 2013 fielen die auf der Biennale in Venedig im Arsenale gezeigten Malereien psychisch Kranker inmitten der Bildsprache zeitgenössischer Kunst gar nicht mehr auf. Der an Schizophrenie erkrankte Adolf Wölfli hat auch Musik in eigenwillig chiffrierter Notation komponiert. Von ihr und seinen Bildern ließen sich Komponisten wie Wolfgang Rihm (Wölfli Liederbuch), Georg Friedrich Haas (Kurzoper Wölfli), Per Nørgård (Oper Der göttliche Tivoli und vierte Sinfonie) bis Georges Aperghis (Wölfli-Kantate) inspirieren. Bei Jean Dubuffet, einem Künstler, der die »Grundelemente einer unmittelbaren Kunst« bei »Amateuren, Verrückten und Gefängnisinsassen« finden will und damit absichtsvoll den kulturellen Anspruch traditionellen Kunstverständnisses unterlaufen möchte, vermischt sich die Sammlung solcher Erzeugnisse mit eigenen aus Alltagsmaterial, Abfall und Müll. Zunächst als eine Art von »Messie-Syndrom« verstanden, erfährt es bald seine ästhetische Nobilisierung zur legitimen Kunstform. Als Art brut, intellektuell emanzipiert von den psychopathologischen Wurzeln, ist sie in die Kunstgeschichte eingegangen und wird inzwischen in prominenten Sammlungen kultiviert.70 Als Upcycling, einer Verwertung von Müll und Abfall inklusive gepresstem Kaffeesatz, erfährt es für Design und Einrichtung eine neue Bedeutung als trendiger Kontrapunkt zum Recycling.71

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Dubuffets erste Sammlung Collection de l’art brut fand im ersten Museum der Art Brut in Lausanne ihre Heimstätte. Die Sammlung aus der Pariser Sainte-Anne-Klinik wurde dort 1950 in einer »Internationalen Ausstellung psychopathologischer Kunst« präsentiert, später, besonders im Hinblick auf die Ursprünge der Art brut, in der Maison de Victor Hugo in Paris 2018. Vgl. die Kataloge zu: Elle était une fois. Acte II: La collection Sainte-Anne, atour de 1950, Musée d’Art et d’Histoire de l’Hȏpital Sainte-Anne, Paris 2017; La folie en tête – aux racines de l’art brut, Maison de Victor Hugo, Paris 2017. Seit dem Jahr 2000 gibt es auch den EUWARD, einen europäischen Kunstpreis für Malerei und Graphik von Künstlern mit geistiger Behinderung.

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Als neuer Trend der 2018er Jahre demonstriert mit Produkten Berliner Künstler wie Beatrice Anlauff oder Julian Lechner.

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Die Geschichtsschreibung der Kunstästhetik hat diese Manifestationen längst so routiniert wie affirmativ als Spielarten origineller Befreiungs- und Widerstands­ impulse ihrem Bestand einverleibt. Aber ihre subversive Dynamik ist keineswegs Historie. Sie etabliert sich vielmehr als ein zentrales Gen der Moderne. »Gegenkultur« und »Protestkultur« als suprematorische Generalbegriffe und Happening, Aktionskunst, Installationen, Performances, der »Situationismus« oder die »Theorie des Spektakels« (Guy Debord), sowie viele Tendenzen der Konzeptkunst tragen es bis zur extremistischen Zuspitzung weiter.

Hochämter der Inversion »Koitus, mord, folterungen, operationen, vernichtung von menschen und tieren und anderen objekten sind das einzig sehenswerte theater« erklärt der Aktionskünstler Otto Muehl, »Alles verdient ausgestellt zu werden … einschließlich Vergewaltigung und Mord.72 Das markiert den Weg in eine Ästhetik des Grausamen und Sterkoralen, wie sie von den Wiener Aktionisten in den 1960er Jahren um Günter Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler zum Programm gemacht wurde. Mit öffentlichen Fäkalorgien, Aufrufen zu Mord und den sexuellen bis sadistischen Praktiken in seiner Kommune setzt Muehl in die Praxis um, was Georges Bataille für sein kühnes Collège de Sociologie höchstens imaginierte. Auch Fluxus, zentrale Aktionskunstbewegung der 1960er Jahre, verstand ›Vernichtung‹ nicht nur als ästhetische Metapher, sondern als konkretes Tun. In den »Festspielen neuester Musik« (Wiesbaden 1962) wurde die brachiale Zertrümmerungsorgie eines Konzertflügels als Exorzismus ›bürgerlicher Fetische‹ lustvoll zelebriert. Zur Feier des fünfzigjährigen Jubiläums (2012) rekapitulierte man das Spektakel interaktiv im Internet. Eine andere Zerstörungsvariante wählt der Film Tacet des portugiesischen Videokünstlers João Onofre. Dort schließt der Pianist den Flügel zur Vorführung von John Cages surrealem Schweigeepos »4’ 33« und steckt ihn dann in Brand (Premiere in der Marlborough Contemporary Gallery, London, 2014). Auch der Däne Simon Steen-Andersen meint, dass ein avanciertes Klavierkonzert nur noch im Modus der Zerstörung möglich sei: Er lässt einen Flügel von der Decke einer Industriehalle fallen und zerbersten, wozu der Pianist Nicolas Hodges den Klang des zerstörten Instruments auf dem Synthesizer simuliert. Als Ergänzung spielt er dazu auf einem noch intakten Flügel verfremdete Fragmente aus Tschaikowskys erstem Klavierkonzert und Beethovens Sonate op. 101 (als Videoproduktion des »Festival Ultraschall Berlin«, 2018).

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O. Muehl, Mama & Papa. Materialaktion 63–69, Frankfurt a. M. 1969, S. 11; ders., ZOCK, Aspekte einer Totalrevolution 66/71, München 1971.

Aber nicht nur Steinways trifft es. Pete Townshend, der Gitarrist der Band The Who erklärte seine Lust, Gitarren bei seinen Konzerten zu zertrümmern mit der Theorie eines seiner Lehrer, Gustav Metzger. Der Aktionskünstler (1926–2017) hatte Anfang der 1960er Jahre ein Manifest der Autodestruktiven Kunst veröffentlicht und organisierte 1966 ein »Destruction in Art Symposium«. Diesem Metier fühlt sich auch Joseph Beuys verbunden. Er organisierte das »Festum Fluxorum Fluxus« in Düsseldorf (1963), lässt aber bei seinen musikalischen Performances den Flügel intakt – allerdings ohne Musik. Er näht ihn in einen Filz ein wie bei Infiltration Homogen für Konzertflügel (1966) oder er lässt ihn von einem schottischen Klavierstimmer eine Dreiviertelstunde lang stimmen, und spielt dann die Bandaufnahme davon in einer ›Aktion‹ vor dem Instrument mit geöffnetem Deckel ab (Schottische Symphonie, 1971, als Teil von Celtic). Die schottische Hommage Celtic erschien dann als Tonbandcollage unter dem bezeichnenden Titel Requiem of Art. Beuys wirkte auch nachdrücklich auf den Regisseur Christoph Schlingensief. Er staffierte nicht nur Wagners Parsifal in Bayreuth mit Beuys’schen Hasenkadavern aus (2004), sondern schrieb auch ein »Fluxus-Oratorium«: Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir (2008). Den mentalen Spuren solcher aktionistischer Ästhetik zwischen surrealistischer Ironie, Destruktion und Agitprop folgen noch Performancekünstler wie Peter Weibel, eine Zentralfigur des »Zentrums für Kunst und Medien« (ZKM) in Karlsruhe oder der Kunsttheoriker Bazon Brock, der »Fluxus« tragikomisch konzeptionalisierte. Im Geiste einer Requiemgemeinde der Kunst tritt auch eine »No!Art« Künstlerkolonie an New Yorks Lower-East-Side-Szene auf. Begründet 1959 von Sam Goodman, Stanley Fisher und Boris Lurie begeisterte sie mit Ausstellungen wie die »Vulgar Show«, »Shit Show« und »Doom Show« das Feuilleton der New Yorker Zeitung Village Voice. Die Collagen des russisch-jüdischen Lurie aus den Jahren 1954 bis 1964 kombinieren Pornographie, Gewalt, Exkremente und sogar den Holocaust. Inzwischen bedient auch die Frieze Art Fair in London mit den ganz üblich gewordenen Aktionen bildender Künstler von James Lee Byars bis Damien Hirst (2012) oder von Romeo Castelluci« (2015) das Metier. Bleiben Parolen wie von Pierre Boulez »Sprengt die Opernhäuser in die Luft!« (1967) oder Stockhausen mit seinem Lobpreis des New Yorker Terrorakts 9/11 (2001) nur Aphorismen – hinter dem akzidentiellen wirkt die ungebrochene Dynamik eines institutionalisierten Anti weiter.

Reaktionen und Relationen Eine kritische Kunstreflexion, die ihre Kriterien weder aus dem Fortschritts-Paradigma noch einer Befreiungs-Ideologie bezog, reagierte allerdings anders. Sie bewertete die Erzeugnisse von Futurismus, Dadaismus, Surrealismus und Suprematismus zu ihrem Nennwert. Der aber benennt eine Gegenkunst als ausdrückliche

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Willenserklärung. Ihr ging es nicht mehr um neue Stilidiome, den Reiz anderer Mittel oder Aufbrüche in ungeahnte Ausdruckswelten, sondern um die intentionale Konstruktion einer Gegenwelt. Das war keine Metamorphose, sondern ein Paradigmenwechsel. Dass er genau als solcher aufgefasst wurde, belegen die heftigen Anstrengungen um neue Begrifflichkeiten. Die Erinnerung daran hat sich verloren, hat aber einigen Erkenntniswert. Der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr, der sich am gründlichsten und weitaus kritischsten damit auseinandergesetzt hatte, spricht von »Verneinung der Kunst« und von »Nichtkunst oder Antikunst«.73 Der Titel eines Buches des ehemaligen Dadaisten Hans Richter konstelliert klar die Antithesen: »Dada – Kunst und Antikunst« (1964). Der literarische Curtius-Schüler Gustav René Hocke erfindet den Begriff »Para-Kunst«, der russischstämmige Kunstwissenschaftler Wladimir Weidlé unterscheidet penibel das »ästhetische Objekt« vom ›Kunstwerk«, der Physik-Philosoph Max Bense spricht von »Artismus«, später dann intellektueller vom ›ästhetischen Zustand‹, der Kunsthistoriker Oskar Karpa vom »Widerpart der Kunst« und einer »Kunst jenseits der Kunst«.74 Sogar einer der engagiertesten Wegbereiter der Moderne, Werner Haftmann, Mastermind bei der Gründung der Kasseler documenta, bezeichnet in seinem emphatischen Schlüsselwerk Malerei im 20. Jahrhundert ihre ersten Erzeugnisse freimütig als »Antikunst« und erklärt sie zu »Demonstrationen, die mit Kunst nichts zu tun haben«.75 Ähnlich drücken sich amerikanische Kunstdenker wie Harold Rosenberg und George Dickie aus und noch Susan Sontag und der digitale Medienästhetiker Peter Weibel bemühen das ›Anti‹ ausdrücklich.76 Einen späten Reflex davon liefert schließlich die neuere amerikanische Politologie. Dort hält Pa-

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Vielfach thematisiert bei: H. Sedlmayr, Verlust der Mitte, Salzburg 1948; Die Revolution der modernen Kunst, Hamburg 1955; Der Tod des Lichtes. Übergangene Perspektiven zur modernen Kunst, Hamburg 1955; Kunst und Wahrheit. Zur Theorie und Methode der Kunstgeschichte, Mittenwald 1978.

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W. Weidlé, Das Kunstwerk: Sprache und Gestalt, in: Wort und Wirklichkeit, Vortragsreihe München 1960, hg. von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, S. 129–163; O. Karpa, Kunst jenseits der Kunst, Göttingen 1963.

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Haftmann, der in heftigen Kontroversen mit Sedlmayr die Kunst der Moderne als Befreiung verstand und darüber hinaus eine »voraussetzungslose Freiheit« propagierte, bezieht sich dabei auf Duchamps Flaschentrockner und das Schwarze Quadrat von Malewitsch, wenn er kritisch bemerkt, es handle sich um »zwei symbolische Gesten«, die »jenseits der Kunst liegen«. »Beide Gesten haben mit ›Kunst‹ nichts zu tun, sie sind Demonstrationen, sie fixieren Demarkationspunkte an der Randzone, wo die Kunst aufhört …«, in: Haftmann (1954), S. 281–282.

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Vgl. G. Dickie, What is Anti-Art?, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 33 (1974/75), S. 419–421; H. Rosenberg, Artworks and Packages, New York 1969, S. 23, 200; S. Sontag, Against Interpretation, 1962, dt. als: Kunst und Antikunst, München u. Wien 1980, S.18: Nicht-Kunst; P. Weibel, Transformationen der Techno-Ästhetik, in: F. Rötzer, Digitaler Schein, Frankfurt a. M. 1991, S. 217 ff.

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trick Deneen der Gegenwartskultur vor, dass sie im Sieg des »Liberalismus« mit den Erscheinungen von »Anti-Kultur« den Kontakt zu Natur, Tradition und sozialen Beziehungen verloren hätte.77 Prominente Streitschriften reflektieren die Situation in der damaligen Musikszene, genauso wie erbitterte Auseinandersetzungen in Fachzeitschriften und Feuilletons der Weimarer Zeit. Programmatisch werden die Fronten bei Hans Pfitzner und Ferruccio Busoni markiert. Ersterer mit seiner Futuristengefahr (1917) und Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz (1920), der andere mit dem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (Triest 1907 und Leipzig 1916). Die Musikkritik trägt es im täglichen Stellungskrieg zwischen »konservativ« und »progressiv« in Tageszeitungen aus.

Der Aufstieg des Anti mit einer neomarxistischen Gesellschaftstheorie: Theodor W. Adorno Ihre philosophische Zertifizierung als elaborierte intellektuelle, ästhetische Theorie erlangt die Anti-Kunst aber erst als Gesellschaftstheorie aus einem »Institut für Sozialforschung«: die Kritische Theorie der sogenannten Frankfurter Schule. Zwar taucht das »Anti« explizit als Begriff dort erst in der Ästhetischen Theorie von Theodor Wiesengrund-Adorno auf, an der er von 1956–1969 arbeitet und die er unvollendet hinterlässt.78 Seine Wirkung entfaltet es aber als Negative Ästhetik längst vorher. Sie wird zum intellektuellen Kern der einflussreichsten Theorieschule des deutschen Sprachraums nach 1945. Ihre Anfänge finden sich in einer paradoxen Begegnung zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Der jüdische Kaufmann Hermann Weil, als Getreideexporteur in Argentinien Millionär geworden, ließ sich von seinem Sohn Felix Weil überzeugen, dass die marxistische Idee einer engagierten intellektuellen Unterstützung bedürfe. Deshalb stiftete er, in Zusammenarbeit mit Universität und Regierungsadministration und nicht zuletzt mit der Hoffnung auf persönliche akademische Ehrenwürden, das »Institut für Sozialforschung«, samt einer Professur. In den Verhandlungen mit den Behörden wurde allerdings die marxistische Orientierung erfolgreich verschleiert und so konnte man am 22. Juni 1923 seine Gründung feiern.

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P. Deneen, Why Liberalism Failed, New Haven u. London 2018, der dort in Anlehnung an den Soziologen Karl Polanyi (The Great Transformation, Boston 1957) diagnostiziert, dass das Programm des Liberalismus die gesellschaftliche Atomisierung des Individuums, globale Verantwortungslosigkeit und Naturzerstörung erreicht habe und ein Bildungssystem, das vor allem die Behauptung des Individuums auf dem freien Markt zum Ziel hat, dabei aber Kultur und Kunst zu »bloßen Zitaten« degenerieren lasse.

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Aus dem Nachlass, hg. v. G. Adorno u. R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1970 (Gesammelte Schriften in 20 Bänden, Bd. 7, Frankfurt a. M. 2003), hier zitiert nach d. Ausgabe Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2, 1973, S. 50, 53 und 503.

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Zur programmatischen Vorbereitung gehörte die »Erste Marxistische Arbeitswoche« in Thüringen, 1923. Vertreten waren dort die Fabrikantensöhne Max Horkheimer und Friedrich Pollock, der Bankdirektorsohn Georg Lukács, promovierter Volkswirt, Philosoph und zeitweilig stellvertretender »Volkskommissar« in der ungarischen Räterepublik, Konstantin Zetkin, ein Sohn von Clara Zetkin, einer Aktivistin im Zentralkomitee der KPD und in der »Kommunistischen Internationalen«, Béla Fogarasi, Wirtschaftsprofessor in Moskau, dann in Budapest, sowie der spätere deutsch-russische Top-Spion in Japan, Richard Sorge, gleichfalls promovierter Nationalökonom. Auch Felix Weil (1898–1975) war studierter Volkswirtschaftler und unter dem Decknamen »Beatus Lucio« bereits Vertrauensmann der »Kommunistischen Internationalen«. Er finanzierte das Institut seit 1927 und noch nach 1945 über die potente Familienstiftung. Als Früchte des von Adorno später so erbittert kritisierten »Kapitalismus« mit seiner perfiden ›Warengesellschaft‹ sicherten sie ihm und dem »Institut« ihre Wirkungsmöglichkeiten und eine völlige Unabhängigkeit. Davon profitierte noch Direktor Max Horkheimer bis zu seinem Tod durch eine vertraglich garantierte, monatliche Apanage.79 Ihre zentralen Gestalten wie Max Horkheimer (1895–1973), Friedrich Pollock (1894–1970), später Herbert Marcuse (1898–1979) und zeitweise auch Jürgen Habermas interessieren sich zwar kaum für die musikalischen Künste. Aber Adorno (1903–1969), großbildungsbürgerlich geprägt, musikalisch talentiert und versiert, intellektuell brillant, macht die Musikphilosophie zur Domäne seines Denkens und wird damit zur Galionsfigur ihrer Ästhetik. Seine Affinität zur Musik zeigt sich bereits mit Kompositionen während seiner Frankfurter Studienzeit, später als Musikkritiker (oft unter dem Pseudonym Hektor Rottweiler) und schließlich mit Unterricht bei Alban Berg in Wien. Dort entstehen zwei Stücke für Streichquartett, die Berg gegenüber Schönberg ausdrücklich rühmt; später schreibt er auch Klavierund Orchesterlieder. Seine Verbindung von soziologischem Denken im Rahmen eines neomarxistischen Weltbildes und traumatischer Moderne-Erfahrung, zugespitzt durch das Erleben von Nazi-Barbarei und Selbstentfremdung im Exil der amerikanischen Massengesellschaft, führt ihn zu einer der scharfsichtigsten Analysen und radikalsten Kritiken am Kulturbetrieb der kapitalistischen Modernegesellschaft. Sein Denken erschließt sich allerdings nicht ohne die Hintergründe der intellektuellen Zeitkonstellationen. Dazu gehört vor allem Hegels Geschichtsphilosophie, die auch in ihren Derivaten eine europäische Faszination bleibt. Aber ihr idealistischer Optimismus, dass sich der Fortschritt in der bürgerlichen Gesellschaft und dem Preußischen Staat verwirklicht habe und nun der ›absolute Geist‹ zu sich selbst gekommen sei, 79

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Der wirtschaftliche Hintergrund des Instituts wird von Jeanette Erazo Heufelder näher untersucht: Der argentinische Krösus. Kleine Wirtschaftsgeschichte der Frankfurter Schule, Berlin 2017.

verflüchtigt sich bei ihren versprengten Erben wie billiges Parfum. Marx, Engels, Lukács, Benjamin, Bloch, Horkheimer oder Marcuse hadern mit dem Zustand der modernen Industriegesellschaft viel radikaler als Martin Heidegger und geißeln die gesellschaftlichen Mechanismen ihrer ›Entfremdung‹ des Subjekts. Als Folge davon wird aus der idealistischen Geschichtsphilosophie eine kritische Soziologie mit radikaler Vernunft- und Gesellschaftskritik. Sie kürzt jeden »Überbau« um seine ontologischen und spirituellen Attribute und reduziert Mensch, Welt, Geschichte und Bewusstsein auf den gesellschaftlich-ökonomischen »Unterbau«. Als marxistische Gesellschaftstheorie wird sie bekanntlich zu einer der Schlüsselideologien des 20. Jahrhunderts, im »Dialektischen Materialismus« erhält sie Wissenschaftsrang. Mit ihrem Fokus auf die Produktions- und Sozialverhältnisse der kapitalistischen Wirtschaft übt sie die gleiche Fundamentalkritik an deren Grundlagen wie eine andere Schlüsselideologie der Moderne, Freuds Psychoanalyse, am »Unterbau« der westlichen Zivilisation mit ihrer Reduktion auf menschliche Triebsphäre und verborgene Dynamiken des »Unbewussten«: beides edle Formen eines szientistischen Materialismus. Der gleichen Optik verfällt ihre Ästhetik. Während sie in den Anwendungssystemen der marxistischen Gesellschaftstheorie, etwa in Leninismus, Stalinismus und Sozialismus operativ zur propagandistischen Seelenmassage der bolschewistischen Massen im Dienste politischer Ideologie eingesetzt wird, dient sie den philosophischen und kulturanalytischen Köpfen des Neomarxismus zur Dechiffrierung sozialer Verhältnisse: Kunst – nichts anderes als eine Abfolge von Projektionen gesellschaftlicher Zustände und Produktionsverhältnisse. Georg Lukács beginnt zwar mit idealistisch getönter Lebensphilosophie und tiefer Stefan-George-Verehrung als einfühlsamer Literaturadept – wo er ebenso zeitkritisch wie scharfsichtig in seiner Theorie des Romans (1916/20) die »transzendentale Obdachlosigkeit des modernen Menschen« diagnostiziert. Aber seit Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) bekennt er sich zum marxistischen Gesellschafts-Primat, zuletzt thematisiert in seiner Ontologie des gesellschaftlichen Seins (ediert posthum 1976). Das ist ihm als »Reich der transzendierten und transformierten Alltäglichkeit« das »aufgeschlagene Buch der Geschichte, aus dem die Menschheit ihren Entwicklungsstand ablesen kann«. Ernst Bloch, einer von Lukács’ engsten Jugendfreunden, geht zwar von gleichen Prämissen aus und bekennt sich stets, auch in seiner Musikphilosophie, zur soziologischen Bedeutungslehre des Marxismus,80 bewahrt aber etwas vom schönen Schein idealistischen Weltbildes, wenn er auf die utopischen Potenziale der

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Über den Stil der »Wiener Klassik« bemerkt er: »Dem beginnenden Unternehmertum entsprechen die Herrschaft der melodieführenden Oberstimme und die Beweglichkeit der übrigen ebenso, wie der cantus firmus in der Mitte und die gestufte Vielstimmigkeit der ständischen Gesellschaft entsprochen haben«, E. Bloch, Philosophie der Musik, Frankfurt a.  M. 1974, S. 74–78 (Gesamtausgabe letzter Hand in 16 Bänden, Bd. 3, Frankfurt a.  M. 1985).

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Kunst setzt. Er formuliert eine »Ontologie des Noch-nicht-Seins im noch nicht Bewußten, noch nicht Gewordenen …«.81 Auf die hin klopft er alle Kunstwerke ab und sucht, inwieweit sich in ihnen der Weg nach vorwärts, eine »Zielperspektive« von »Tendenz« und »Latenz« abzeichne. »Künstlerischer Schein ist sichtbarer Vor-Schein eines noch ungelebt Möglichen, das Versprechen noch unabgegoltener Möglichkeiten«, schreibt er in Das Prinzip Hoffnung. Zur messianischen Erwartungshoffnung gesellt sich die Utopie als Trösterin: »Das große Kunstwerk ist ein Abglanz, ein Stern der Antizipation und ein Trostgesang auf dem Heimweg durch Dunkelheit …«, formuliert er im Geist der Utopie. Der Glanz des »Sterns« hat allerdings weder mit einem idealistischen noch einem spirituellen Verständnis zu tun und die »Dunkelheit« meint nur die historische Wegstrecke bis zur Erfüllung der marxistischen Erlösungshoffnung: einer ›Befreiung des Menschen‹ in einem gesellschaftlichen Diesseits. Auch Walter Benjamin betrachtet das ästhetische Objekt als Projektionsfläche, an der er mittels der Herrschafts- und Produktionsverhältnisse ›die Zeiten abliest‹. Dass er als kritischer, historisch-materialistischer Geschichtsdenker zum radikalen Verächter der geistesgeschichtlichen Einfühlungsästhetik wird, leuchtet ein. Aber er liquidiert auch den ›bildungsbürgerlichen‹ Kontemplationsbegriff in der Kunst zugunsten der ›Zerstreuung‹ als neue Wahrnehmungsweise der Massen. Sein Lobpreis des Klassenkampfes bis hin zum ›rächenden Bürgerkrieg‹ erweist ihn als zünftigen kommunistischen Kombattanten, dessen militante Seite die Frankfurter Schule absichtsvoll zu Gunsten des sensiblen Ästhetikers retouchierte.82 Hellsichtig sind seine Diagnosen mit dem Abschied von der alten »GutenbergGalaxis« und der Erweiterung des Kunstbegriffs auf die elektronischen Medien der Moderne: Film statt Erzählung, Radio und Schallplatte statt Konzert. Aber auch: Reproduktion und Faksimile statt Original. Benjamins Trauer um den unrettbaren Verlust der ›Aura‹ in seiner bekannten Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), der mit diesem Transfer von der authentischen ›Echtheit‹ zum beliebig vervielfältigten Mimikry der Massengesellschaft verbunden ist, hat sich als markanter Topos erhalten. Er bezeichnet eine dramatische Zäsur in der Kunst, die sich inzwischen von der Kränkung durch Kopie und Artefakt zum rettungslosen Untergang des ›Originals‹ samt dem Urheberrecht in der Simulationsästhetik des Digitalzeitalters entwickelt hat. Dort spätestens erweisen sich allerdings Benjamins Thesen von der aufklärerisch-kritischen Funktion der modernen Medien als Illusion: nach Hitlers Triumphen im Volksempfänger, Sta81

Vgl. E. Bloch, Gesamtausgabe, Bd. 15, Frankfurt a. M. 1985, S. 264.

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Deshalb wurde bei Artikeln Benjamins in der »Zeitschrift für Sozialforschung« durch Adornos redaktionelle Betreuung der Begriff »Kommunismus« durch »die konstruktiven Kräfte der Menschheit« ersetzt und Adornos Benjamin-Edition tilgte das Lob des Bürgerkrieges ganz, vgl. in: Alternative 10 (1968), Heft 56/57 u. 11 (1969), Heft 59/60. Dass Benjamins Blick auf die Kunst des Deutschen Idealismus auch als der eines »jüdischen Kritikers der deutschen Literatur« interpretiert werden kann, legt Lorenz Jäger dar, Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten, Reinbek 2017.

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lins ›Panzerkreuzer Potemkin‹ im Kino und Putins oder Donald Trumps Manipulations-Strategien verflüchtigt sich ›Aufklärung‹ in den fiktionalen Aufbereitungsprozessen der alten Mediengalaxis und der neuen digital-sozialer Netzwerke zur Beliebigkeit zwischen Dokudrama, digitaler Fälschung, Infotainment und Alternative Facts.83 Auch die »Kritische Theorie« der Frankfurter Schule formuliert ihre Erbitterung über die spätkapitalistischen Zustände als fatale Folge unbeherrschbarer Prozesse der ›Aufklärung‹ aus marxistischer Perspektive. Unter dem wissenschaftlich-akademischen Dach von ›Sozialforschung‹ betreibt sie radikale Systemkritik bis hin zur mentalen Munitionierung studentischer, außerparlametarischer (APO) und anarchistischer Protestbewegungen. Ihre soziologische Hermeneutik reduziert nicht nur alle Erkenntnistheorie zur Gesellschaftstheorie, sondern auch den Wahrheitsgehalt des Kunstwerks auf seine Übereinstimmung mit den »gesellschaftlichen Produktivkräften« in der »geschichtlichen Situation«. Damit besetzt sie mit Adorno die ästhetische Reflexion bis ins 21. Jahrhundert.84 Das Dilemma der Moderne, dass die (scheinbar) triumphale Emanzipationsgeschichte des bürgerlichen Selbstbewusstseins in der ›Selbstentfremdung‹ des Subjekts mit seinem Autonomieverlust durch die Instrumente der Aufklärung endet, beschäftigt Adorno bereits in seiner Habilitationsschrift über Kierkegaard (1931). In der Dialektik der Aufklärung (1947, gemeinsam verfasst mit Horkheimer), wird dieses progressive Geistesdilemma des Abendlandes auf den Punkt gebracht. Ihre düstere Analyse im Umschlagen des »Ausgangs aus selbstverschuldeter Unmündigkeit« in die katastrophale Entmündigung durch eine ›verwaltete‹, von einer kapitalistischen Warenwertratio bestimmten Welt, gelangt über die vernichtende Diagnose von Geistlosigkeit und Selbstentfremdung des manipulierten Subjekts schließlich zur totalen Verweigerung: eine Totenklage über die misslungene Geschichte der Menschheit und ein Appell zum radikalen Widerstand. Denn höchstens im methodischen Aufstand gegen den universalen ›Verblendungszusammen83

»So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst«, erklärt Benjamin aus einem für ihn bezeichnenden politischen Fokus.

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Alle ihre anderen Vertreter verstanden sich vor allem als ›Sozialforscher‹ und Gesellschaftsheoretiker und hatten mit Musik nichts zu tun. Deswegen hieß ihre Wirkungsstätte auch »Institut für Sozialforschung«, zunächst in Frankfurt a.  M., dann im amerikanischen Exil mit dem New York Institute for Social Research sowie in Chicago, später wieder in Frankfurt. Viele ihrer Schriften und Theorieentwürfe sind eng mit den Aktivitäten im amerikanischen Exil verbunden, besonders bei Herbert Marcuse mit dem Marxismus-Leninismus-Projekt der Rockefeller-Stiftung in New York und Harvard oder den politischen Umerziehungs-Programmen für Europa des OSS (Office of Strategic Services), dem Vorläufer der CIA, die dann seit 1950 ein massives Einflussprogramm auf europäische Künstler, Medien, Kongresse und Ausstellungen als antikommunistische Gegenoffensive etablierten, vgl. die Dokumentation: Parapolitics. Cultural Freedom and the Cold War, hg. v. A. Franke u. a., Berlin 2021.

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hang‹ erscheint autonomes Bewusstsein noch zu retten, bei Marcuse politisch, bei Adorno ästhetisch. Als erste denkerische Frucht davon erscheint 1949 die Philosophie der modernen Musik, als spätere die Negative Dialektik (1966) und als späteste die unabgeschlossene Ästhetische Theorie (1969).85

Die Musik des ›Nicht-Versöhnten‹ oder: Epiphanie und Legitimation eines neuen Musikdenkens Dreißig Jahre nach Schönbergs Aufbruch in die Atonalität entwirft Adorno mit der Philosophie der modernen Musik eine leidenschaftliche Rechtfertigung der »Zweiten Wiener Schule« als Paradigma ›gültiger‹ Musik. Es ist eine Programmschrift, denn »Philosophie der Musik heute ist möglich nur als Philosophie der neuen Musik«, wie er dort erklärt (1975, S. 19, nachfolgend zitiert als Ph.) Aber sie fungiert keineswegs nur als Streitschrift geschichtsphilosophischer Legitimation, sondern zugleich als radikale Pathologie der Musikgeschichte, denn: »das philosophische Erbe der großen Musik ist einzig dem zugefallen, was die Erbschaft verschmäht«. Als wesentliche Kriterien für beides etabliert er einmal die Materialebene, den »Zustand des kompositorischen Materials« nach gültigem »Stand der Technik«, zum anderen den jeweiligen, gesellschaftlich definierten, »historischen Bewusstseinsstand«: »Daher ist die Auseinandersetzung des Komponisten mit dem Material die mit der Gesellschaft«(Ph., S. 40). Deshalb sind »Kunstwerke das verborgene gesellschaftliche Wesen, zitiert als Erscheinung« (Ph., S. 124). Ein solcher hermeneutischer Aspekt ist nicht neu. Auch die sich akademisch etablierende Soziologie betont ihn bereits, etwa bei Max Weber oder Georg Simmel. In Max Webers nüchterner Theorie von der Rationalisierung der westlichen Gesellschaften seit der Renaissance gelten die technischen Verfahren samt den Stimm- und Tonsystemen der Musik nur als Spezialfall der systematischen Anwendung einer ›Zweckrationalität‹ auf alle Bereiche der Gesellschaft.86 85

Th. W. Adorno, Philosophie der neuen Musik (nach der Edition der 4. Auflage Frankfurt 1972, mit den letzten Änderungen bzw. Ergänzungen Adornos und seiner Schluss-Notiz), hg. v. R. Tiedemann, hier zitiert nach der Ausgabe Frankfurt a. M. 1975, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1712 (Gesammelte Schriften in 20 Bänden, Bd. 12, Frankfurt a. M. 2003), besonders S. 38–40, 124; Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1966 (zusammen mit: Jargon der Eigentlichkeit, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt a. M. 2003); Ästhetische Theorie (nach der aus dem Nachlass v. G. Adorno u. R. Tiedemann hg. Edition Frankfurt a. M. 1970, hier zitiert nach der Ausgabe Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2, Frankfurt a. M. 1973), besonders S. 222–227.

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M. Weber, Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik, München 1921. Die Perspektive gesellschaftlicher Musikhermeneutik durchzieht sämtliche Texte Adornos, besonders: Zur gesellschaftlichen Lage der Musik (1932), in: Gesammelte Schriften, Bd. 18, hg. v. R. Tiedemann, Teil V., Frankfurt a. M. 2003, S. 729–777; Ideen zur Musiksoziologie (1959), S. 14 (Gesammelte Schriften, Bd. 16, Frankfurt a. M. 2003); Einleitung in die Musiksoziologie (1962), in: Gesammelte Schriften, Bd. 14, Frankfurt a. M. 2003, S. 221.

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Die ›Systemebene‹, also die Funktion der mathematisch-physikalischen Struktur für ›Bedeutung‹ zählt Adorno allerdings nicht zu den Materialqualitäten: »Musik kennt kein Naturrecht« (Ph., S. 39). Ungeachtet dessen wird ein dem »jeweiligen Materialstand« entsprechendes Komponieren zum Ausweis ›gültigen‹ künstlerischen Tuns und »richtigen Bewußtseins« – so wie dessen Verfehlen zum Beleg unweigerlich »falschen Bewußtseins« (Ästhetische Theorie, nachfolgend zitiert als Ä. Th., S. 285–289). Weil »Kunst auf Wahrheit geht« (Ä. Th., S. 419) entspringt jeder Wahrheitsgehalt eines Kunstwerks seinem gesellschaftlich-historischen Gehalt; gewöhnlich unterdrückt oder chiffriert, erschließt er sich folglich nur durch seine Entzifferung mittels angemessener »Deutung« (Ä. Th., S. 285, 420, 423, 518). Mit dieser Maßelle schreitet Adorno zur entschlossenen Dekonstruktion aller Elemente bisheriger Musik. Als Präparate historischer Materialzustände neutralisiert er zuallererst ihre an­ thropologischen Dimensionen, wie etwa Ausdruckswerte aus seelisch-emotionaler Empfindung, als Petrefakte verfallener gesellschaftlicher Zustände und verneint die Möglichkeit aktueller Bedeutung: »Nicht bloß, daß jene Klänge veraltet und unzeitgemäß wären. Sie sind falsch« (Ph., S. 40). Deshalb entlarven sie sich dem modernen Bewusstsein Adornitischer Verfassung als bloßer ›Schein‹, so wie die »Schönheit als Lüge oder verklärender Schein des Trivialen«. Er diene höchstens der »erpressten Versöhnung« mit der kapitalistischen Gesellschaft in einem »Verblendungszusammenhang, der das Subjekt nicht sehen läßt« (Ph., S. 49). Der »Trug der Harmonie« weise auf den »Trug der Humanität«. »Die zweite Natur des tonalen Systems ist historisch entsprungener Schein« (Ph., S. 20). Deshalb funktioniere »die Emanzipation vom Harmoniebegriff als Aufstand gegen den Schein« (Ä. Th., S. 154–171). Glücklicherweise gäbe es Strategien gegen den ›falschen Schein‹: »Die Anschaulichkeit der Kunst selber ist ihr Schein. Erst das zerrüttete Kunstwerk gibt mit seiner Geschlossenheit die Anschaulichkeit preis und den Schein mit dieser.« Hier artikuliert sich bereits nachdrücklich die zentrale Denkfigur Adornos, die er später in der Negativen Dialektik weiter zur ›Verweigerungsästhetik‹ ausarbeitet: die bestimmte Negation. Dem ›falschen Schein‹ stellt Adorno mit konsequenter Kontrapunktik die richtigen Aufgaben der Zwölftontechnik gegenüber, »wie es ihr nach dem Untergang [der bisherigen Musik] einzig noch zukommt«. Danach hat sie die »Musik von den Resten des verfallenen Organischen zu reinigen« und im »grausamen Kampf gegen den musikalischen Schein« der »Auflösung der Scheincharaktere am Kunstwerk« zu dienen (Ph., S. 65, 70, 71). In augenfälliger Analogie zur beklagten Verfassung der modernen Welt preist er ihre Vorzüge: »Aber es ist jene Vergleichgültigung zugleich, kraft welcher das Subjekt aus der Verstrickung im Naturstoff, auch als Naturbeherrschung, ausbricht, in welcher bislang die musikalische Geschichte bestanden hat« (Ph., S. 113). »Es bleibt der avancierten Musik nichts übrig, als auf ihrer Verhärtung zu bestehen, ohne Konzessionen an jenes Menschliche, das sie, wo es noch lockend sein Wesen treibt, als Maske der Unmenschlichkeit durchschaut. Ihre

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Wahrheit scheint eher darin aufgehoben, daß sie durch organisierte Sinnleere den Sinn der organisierten Gesellschaft, von der sie nichts wissen will, dementiert, als daß sie von sich aus positiven Sinnes mächtig wäre« (Ph., S. 28). Unumwunden erklärt Adorno deshalb »Sinnlosigkeit als konstitutiv für die Zwölftontechnik«, denn »Es ist die Rebellion der Musik gegen ihren Sinn« (Ph., S. 121, kursiv v. Autor), die für ihn ihren neuen ›Sinn‹ ausmacht. »Je rücksichtsloser die Werke Folgerungen ziehen aus dem Stand des Bewußtseins, desto dichter nähern sie sich selber der Sinnlosigkeit« (Ä. Th., S. 506). Allerdings bleibt der neue Sinn dem Ohr unzugänglich: »Die Stimmigkeit von Zwölftonmusik läßt sich nicht unmittelbar ›hören‹ – das ist der einfachste Name für jenen Moment des Sinnlosen an ihr« (Ph., S. 113). Als wesentliche satztechnische Bedingung für ›Sinn‹ anerkennt Adorno die traditionelle kompositorische Stiftung von ›Zusammenhang‹. Er bemerkt: »Denn was den ›Sinn‹ von Musik, auch in der freien Atonalität, ausmacht, ist nichts anderes als der Zusammenhang. Schönberg ist so weit gegangen, die Kompositionslehre geradewegs als Lehre vom musikalischen Zusammenhang zu definieren …«. Das ändere sich aber im zwölftontechnischen Komponieren: »Wenn technische Analyse das hervortretende Moment der Sinnlosigkeit als konstitutiv für die Zwölftontechnik erweist, so liegt darin nicht bloß die Kritik an der Zwölftontechnik beschlossen, daß das totale, völlig durchkonstruierte, also völlig ›zusammenhängende‹ Kunstwerk in Konflikt gerät mit seiner eigenen Idee. Sondern kraft der beginnenden Sinnlosigkeit wird die immanente Geschlossenheit des Werks gekündigt. Diese besteht in eben dem Zusammenhang, welcher den Sinn ausmacht.« (Ph., S. 121) Denn: »Absenz von Sinn wird zur Intention« (Ä. Th., S. 516, kursiv v. Autor). In den Jugendwerken von Ernst Krenek kündige sie sich, weit vor dem späten Schönberg, bereits an: »Es ist die Rebellion der Musik gegen ihren Sinn. Der Zusammenhang in diesen Werken ist die Negation des Zusammenhangs …« (Ph., S. 121, kursiv v. Autor). Von hier aus weitet sich der Blick auf Beckett, Ionesco und Kafka, die Adorno immer wieder als treffliche Repräsentanten solcher Bewusstseinslage heranzieht. Folgerichtig müßen die Strukturelemente von ›Zusammenhang‹ aus ihren Zwängen befreit werden: nicht bloß »von der Präponderanz des einzelnen Tons«, sondern »auch vom falschen Naturzwang der Leittonwirkung« samt »der automatisierten Kadenz« (Ph., S. 72). Mit diesen, für die Dodekaphonie konstitutiven Kriterien hatte er sich bereits 1929 in dem Aufsatz Zur Zwölftontechnik detailliert auseinandergesetzt. 87 Auch das Melos, ein anderes Sinnkriterium von Musik, muß seine ungute ›Evidenz‹ verlieren. Zwar erkennt der musikalische Adorno an: »Die wahre Qualität einer Melodie mißt sich stets danach, ob es gelingt, die gleichsam räumliche Relation von Intervallen in die Zeit umzusetzen.« Aber der philosophische Adorno setzt da-

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Th. W. Adorno, Zur Zwölftontechnik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 18, Frankfurt a. M. 1984, S. 363–369.

gegen: eben »diese Beziehung wird in ihrer Tiefe von der Zwölftontechnik zerstört« (Ph., S. 74). Das paraphrasiert die analogen Urteile Schönbergs und Lachenmanns über die Melodie (siehe S. 549, 648, 763). Weil diese Inversion einstiger Qualitäten als Vorzug zählt, wird auch das ›Identische‹ zum Horror, dem das ›Nicht-Identische‹ den semantischen Rang als ›Erfüllung‹ abläuft, denn: »Das integrale Kunstwerk ist das absolut widersinnige« (Ph., S. 71) und die »Negation der Synthesis wird zum Gestaltungsprinzip« (Ä. Th., S. 232). Negiert werden soll auch das »Triebleben der Klänge« und »die triebhafte Leittönigkeit«, wenn sie in der Zwölftontechnik durch »bewußte Konstruktion« ersetzt wird (Ph., S. 82–83, kursiv v. Autor).

Zentrale Denkfiguren: Instrumentelle Vernunft und Bestimmte Negation Dieses Verständnis, wonach sich das Komponieren aus dem ›Triebleben der Klänge‹ und das meint: aus der ›Verstrickung in den Naturstoff‹ und die ›Naturzwänge‹ durch ›Konstruktion‹ befreien soll, eröffnet den Blick auf einen anderen Schlüsselbegriff der »Kritischen Theorie«: die instrumentelle Vernunft. Allerdings mit paradoxer musikalischer Folgerung daraus. Sie wird nämlich definiert als Bedrohung durch eine abstrakte Logik der Naturbeherrschung, die sich, losgelöst von der »objektiven Vernunft als umfassendes System alles Seins« zu einer »subjektiven Vernunft« (Max Horkheimer) mit quantifizierenden, rechnenden Verfahren deformiert habe. Dieser Prozess, fatale Folge der Aufklärungsratio, mit dem eine ›inhaltlich‹ bestimmte ›Logik‹ durch eine ›formale Logik‹ ersetzt wurde und mit dem folglich alle gegebenen Naturzusammenhänge ihrer qualitativen Bedeutung beraubt und zum bloßen Objekt zweckrationalen Kalküls reduziert werden, erhält dann in der Dialektik der Aufklärung eine Verknüpfung mit einer gesellschaftspolitischen Theorie: der Waren- und Tauschhandelsgesellschaft des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Dort funktioniert es in seiner realen Manifestation als repressives gesellschaftliches Herrschaftsinstrument. Herbert Marcuse beschreibt es als einen Prozess vom ›Technologischen Apriori‹ eines abstrakten mathematischen Formalismus zu einem ›Politischen Apriori‹.88 Adorno wollte seine Philosophie der neuen Musik, wie er ausdrücklich in der Vorrede dazu anmerkt (verfasst am 1.7.1948 in Los Angeles), als »ausgeführten Ex88

Vgl. Th. W. Adorno u. M. Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944), Frankfurt a. M. 1969 u. Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. v. R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1981, eine lose Essaysammlung, die unter dem Eindruck von Faschismus, Nazi-Barberei, Antisemitismus und Massenkultur das Umschlagen von Aufklärungs-Rationalität in irrationalen Mythos thematisiert . Vgl. auch M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1947), in: Gesammelte Schriften in 19 Bdn., Bd. 6, hg. v. A. Schmidt, Frankfurt a. M. 1967 u. 1991; H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, dt. Fsg., Neuwied 1967.

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kurs zur ›Dialektik der Aufklärung‹« verstanden wissen. Betrachtet man den Kern dieser Theorie, die »Instrumentale Vernunft«, unter musikalischem Blickwinkel, das heißt unabhängig von seiner gesellschaftsideologischen Anwendung, so erscheint er als treffende Beschreibung dessen, was sich in der Entwicklung der Zwölftontechnik Schönbergs exemplarisch vollzieht: der Ersatz einer inhaltlich bestimmten ›Logik‹ musikalischer Zusammenhänge, wirksam als sinnstiftende Qualität, durch eine subjektiv entworfene formale, die nach bestimmten Kalkülen verfährt – eben nach eigenen ›Konstruktionsverfahren‹. Sie folgt einem neuen Denken, wie der Aufhebung der Differenz zwischen Konsonanz und Dissonanz mit ihren Folgen für den Kadenzfunktionalismus und einer Stiftung von neuem ›Zusammenhang‹ durch den Entwurf von erdachten Reihen-Konstrukten. Zwar ist deren Zweck ein künstlerisch-ausdrucksmäßiger und kein bloß formalistischer. Aber das Verfahren der ›Negation eines Naturzusammenhangs‹ zugunsten einer abstrakten, subjektiven, auf ein bestimmtes Zweckkonstrukt ausgerichteten ›Vernunft‹ (Max Horkheimer), die Anwendung eines ›Technologischen Apriori‹ (Herbert Marcuse) ist nichts anderes als das jener inkriminierten instrumentalen Vernunft – die Nemesis abendländischer ›Aufklärung‹. Adorno erkennt zwar die entscheidende Prämisse eines qualitativ bestimmten Naturzusammenhangs von Musik nicht an: »Musik kennt kein Naturrecht.« Wenn er aber gleichzeitig solche qualitativ bestimmte, immanente Logik als ›Naturzwang‹ keineswegs leugnet, das ›Triebleben der Klänge‹ und den ›Aberglauben ans Organische‹ beklagt, und eben deshalb fordert, sich davon durch ›Konstruktion‹ zu befreien, dann demonstriert er damit ein rationales Dilemma zwischen dem Verdikt der »Instrumentellen Vernuft« und dem Lobpreis eben ihrer Realisierung in der Dodekaphonie. Nach der entschlossenen Demaskierung des ›Scheins‹ und der Rechtfertigung des ›Sinnlosen‹ als Versprechen neuen ›Sinns‹ ist sein engagiertes Eintreten für das Deformierte und Hässliche als Imperativ künstlerischer Wahrheit zeitgemäßer Kunst keine Überraschung, sondern folgerichtig (Ä. Th., S. 74–81). Im musikalischen Dissonanzgebot findet es die logische Entsprechung: Als »Signum aller Moderne« (Ä. Th., S. 29) wird die Dissonanz zu ihrem Leitfossil. An das neue Sinnversprechen der Sinnlosigkeit schließt sich das Dementi einer geschlossenen Werkidee an. Sie wird dialektisch durch den konzeptionell eingebauten ›Widerspruch‹ demontiert, das meint: eines bereits im Werk angelegten Scheiterns: »Die leitende Kategorie des Widerspruchs ist selber doppelten Wesens: daß die Werke den Widerspruch gestalten und bei solcher Gestaltung in den Malen ihrer Imperfektion wiederum ihn hervortreten lassen, ist das Maß ihres Gelingens, während zugleich die Kraft des Widerspruchs der Gestaltung spottet und die Werke zerstört.« Die methodische Absage an jede Affirmation, die bereits in der technischen Verfertigung des Werks beschlossen sein soll und keineswegs nur das Fragmentarische meint, sondern die kalkulierte Verweigerung jeder ›Erfüllung‹, erklärt er zum formalen Kennzeichen eines ›gültigen‹ Kunstwerks: »Die Hoffnung des Publikums auf das Kunstwerk« also, »es gewähre ihnen Asyl vor dem Druck der grauenvollen Norm« vernichtet

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diesen Anspruch bereits während seiner Genese, »das doch sein Versprechen an sie nur einlöst, indem es verweigert, was sie von ihm erwarten« (Ph., S. 34, 11). Das ›Werk‹ als Produkt eines intendierten künstlerischen Misslingens? Was für den Formwillen eines echten Künstlers als Zumutung erscheint, wird für den Ästhetiker der »Kritischen Theorie« zur Epiphanie wahrer Größe. Adornos BeethovenDeutung illustriert es. Vielleicht weil er Beethoven vor allen anderen Komponisten des ›untergegangenen‹ Musikkanons die größte Glaubwürdigkeit bescheinigt, da es ihm als Erstem gelungen sei, seiner Musik »die gesellschaftlich revolutionären Energien seiner Zeit einzuschreiben«, favorisiert er dessen Spätwerk als Demonstration seiner Theorie: »Der Wahrheitsanspruch des letzten Beethovens verwirft den Schein jener Identität des Subjektiven und Objektiven, der fast eins ist mit der klassizistischen Idee. Es erfolgt eine Polarisierung. Einheit transzendiert zum Fragmentarischen. In den letzten Quartetten vollzieht sich solches durch das schroffe, unvermittelte Nebeneinanderrücken kahler, spruchähnlicher Motive und polyphoner Komplexe. Der Riss zwischen beidem, der sich einbekennt, macht die Unmöglichkeit ästhetischer Harmonie zum ästhetischen Gehalt, das Misslingen in einem obersten Sinn zum Maß des Gelingens.« Schließlich bescheinigt er Beethoven »er müsse das Unwahre im höchsten Anspruch der klassischen Musik gefühlt haben«.89 Damit unterstellt er Beethoven das Gleiche wie Mahler: nicht nur ein Dementi ihres den Werken eingeschriebenen Ethos als evidente ›Bedeutung‹, sondern auch die Unglaubwürdigkeit ihrer ausdrücklichen Bekenntnisse. Hatte die Beethoven-Deutung der Zeitgenossen dessen Spätwerk trivial als Ertaubungs-Produkt beklagt, so entmündigt die »Kritische Theorie« jetzt kategorial das schöpferische Subjekt selbst. Ihr Erkenntnisinteresse gilt nicht der Ausdrucksgestaltung eines leidenschaftlichen Ringens mit existenziellen Seelen- und Affektzuständen des Menschen Beethoven und seiner bewegenden Auseinandersetzung damit, also einem ›Innerlichen‹, sondern einem ›Außen‹ als Objekt einer Geschichtsphilosophie, die auch sonst beständig mit dem Untergang des Subjekts jongliert. Die Verdrängung des autonomen Subjekts mit individuellem Bewusstsein, singulärem Seelenleben und persönlicher Verantwortung in der marxistischen Theorie zugunsten eines ›gesellschaftlich‹ definierten, macht es Adorno leicht, ihm schließlich auch seine ästhetische Insuffizienz zu bescheinigen, dessen »Recht auf Ausdruck selber verfiel«, weil »es einen Zustand beschwört, der nicht mehr ist«. Seinen finalen Exitus attestiert ihm Adorno im Dunstkreis der SchönbergSchule: »Die neue Ordnung der Zwölftontechnik löscht virtuell das Subjekt aus« (Ph., S. 70). »Mit Webern abdiziert verstummend das musikalische Subjekt und

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Vgl. Th. W. Adorno, Verfremdetes Hauptwerk. Zur Missa Solemnis und Beethovens Spätstil, in: Gesammelte Schriften, Bd. 17, Frankfurt a. M. 2003. Im Übrigen kritisiert Adorno dort auch reichlich Beethovens musikalischen Satz etwa als Befolgung »banaler Konvention«, wie »schmückende Trillerketten, Kadenzen und Fiorituren …«. Zur musikologischen Kritik an den analytischen Befunden Adornos bei Beethoven vgl. Ch. Rosen, Zerrbilder. Adorno als Musikschriftsteller, in: Neue Zürcher Zeitung v. 13.9.2003, Feuilleton, S. 4–11.

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gibt sich dem Material anheim, das ihm doch mehr nicht gewährt als das Echo des Verstummens« (Ph., S. 108). Damit reiht sich Adornos ästhetische Theorie in die zeitgeistige Dekonstruktion eines humanistischen Subjekt-Begriffs ein: von Kafkas Phobien und den traumatisierten Kryptogrammen Paul Celans bis zu Becketts ›Endspielen‹ und ihren Fortschreibungen in der ›postmodernen‹ Philosophie bei Foucault, Lyotard oder Baudrillard (siehe unten).90 Jenes sich ›dem Material anheim geben‹ gehört, genau wie das ›Fragmentarische‹, das Einheit nicht vereitelt, sondern ›transzendiert‹ und schließlich wie das ›Misslingen‹, das nicht das Werk erledigt, sondern das eigentliche ›Gelingen‹ ist, längst zum Repertoire der Avantgardetheorien. Als ausgedehnte Exkursionen nimmermüder Materialerkundung, dem Bruchstück als Prinzip, der Brüchigkeit als Prädikat und der immerwährenden ›Versuchsanordnung‹ experimenteller Klanglaborsituationen, sind Fraktale-, Chaos- oder Zerfallstheorien durch dieses konzeptionelle Scheitern von jeder Werkidee wie von jedem Anspruch konsistenter Formgestaltung quasi methodisch befreit: eine ›Verweigerungsästhetik‹ (Musikologe Reinhold Brinkmann). Ihren tieferen denkerischen Hintergrund formuliert Adorno in seiner Negativen Dialektik. In diesem Schlüsselwerk seiner Philosophie und der »Kritischen Theorie« überhaupt, verweigert er sich methodisch jener dialektischen Negation wie sie bei Hegel und in der Logik seit der Stoa definiert wurde. Dort wird die doppelte Verneinung als positiv verstanden (duplex negatio est affirmatio, nach der mathematischen Logikformel Minus mal Minus ergibt Plus). Hegel formuliert es in der Vorrede seiner Phänomenologie des Geistes als Gegensatz von ›Nichts‹ zum ›Etwas‹, das, weil es einen Inhalt hat, folglich immer als positiv gilt. Adorno aber verwirft dieses positive Resultat eingeführter Logik. Stattdessen behauptet er eine NichtIdentität von ›Begriff‹ und ›Objekt‹ und formuliert sie als Bestimmte Negation. Von ihm als ›Inadäquanz‹ von ›Sein und Denken‹ verstanden, stelle sie vielmehr das Gegenteil des Affirmativen dar, nämlich das »Auseinanderweisen von Subjekt und

90

600

Die Idee eines »Musikalischen Subjekts« in der abendländischen Musikgeschichte als Abstraktionsprodukt hat zu einigen musikphilosophischen Untersuchungen in einer »musikalischen Subjektgeschichte« geführt, etwa von Albrecht von Massow (Musikalisches Subjekt. Idee und Erscheinung in der Moderne, Freiburg 2001), wo seine Manifestation in den verschiedenen musikhistorischen Epochen Empfindsamkeit, Aufklärung, Romantik, Moderne und Gegenwart dargestellt wird oder wie bei Jürgen Stolzenberg (Zur Idee des musikalischen Subjekts, in: Perspektiven der Musikphilosophie, hg. v, W. Fuhrmann u. C.-S. Mahnkopf, 2021, S. 311–355). Dort vertritt er zwar die »Identität des wahrnehmenden Subjekts« als »Identität einer von Tonalität und Kadenzfunktion« bestimmten musikalischen Struktur, fasst aber das Subjekt (hermeneutisch) nicht im Sinne eines »substantialen Trägers emotionaler Zustände, die ›ausgedrückt werden‹« auf, sondern als eine »prozessual-selbstbezügliche Funktion«, das heißt, als ›performativ erzeugt‹ und versteht ihre (kulturphilosophische) Entwicklung in der Musikgeschichte bis hin zu einer »radikalen Subjektivierung des Ausdrucks« in der Moderne als expressive Entfaltung von Hegels »Recht der subjektiven Freiheit« (vgl. auch Stolzenberg, 2011).

Objekt«, dessen »Unversöhnlichkeit er mit dem Entwurf seiner Philosophie artikulieren will«. Die Negation soll also als substanziell Negatives Bestand haben: »wenn man zu früh ins Positive übergeht, arbeitet man der Unwahrheit in die Hände«, bemerkt er lakonisch in einem Brief an Thomas Mann (1952). Als Kritik am ›identifizierenden Denken‹ wird sie aber unter dem Aspekt der marxistischen Gesellschaftstheorie formuliert, weil alle ›Begriffe‹ gesellschaftlich geformt seien. Damit wird ihm die »Bestimmte Negation« zum Werkzeug einer Ideologiekritik an der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und zum Aufruf einer Verweigerung des Affirmativen jenes ›idealistischen Überbaus‹ als Ursache eines symptomatischen Verblendungszusammenhangs.91 In dieser Denkfigur finden Philosophie der neuen Musik wie Ästhetische Theorie ihre eigentlichen Grundlagen. Was dort explizit nur in einigen Wendungen auftaucht, etwa als »helfende Kraft der bestimmten Negation« (Ph., S. 11), als Wahrheitsanspruch der »organisierten Sinnleere« (Ph., S. 28) und als »leitende Kategorie des Widerspruchs« (Ph., S. 34) oder als »Negation des Zusammenhangs« verstanden als »Rebellion der Musik gegen ihren Sinn« (Ph., S. 121), ist die Matrix des Konzepts: »Keine Wahrheit des Kunstwerks ohne bestimmte Negation« (Ä. Th., S. 195). Die weitere Wirkung dieser Denkfigur in der Avantgarde führt schließlich zu ihrer Umsetzung als kompositorisches Verfahren. Dadurch soll nicht nur die gesellschaftsideologische ›Botschaft‹: Verweigerung, Widerstand und Kritik als bloße Überschrift oder als rhetorische Verkündung einer ›Gesinnung‹ transportiert werden. Vielmehr wird gefordert, sie als deren materialimmanente Inkarnation zu realisieren: die erklingende Exekutive der ›Negation‹ (siehe S. 673, »Kritisches Komponieren«). Auch die paradoxe Konstruktion eines Scheiterns als ein Gelingen zur musikalischen Werkidee ist eine ›Verweigerung‹. Es ist die Verweigerung des ›Satzes vom Widerspruch‹ aus (aristotelischer) orthodoxer Logik, denn hier werden rational unvereinbare Kategorien zusammengefügt. In der unorthodoxen Anwendung zeigt sich aber wieder, wie im musikbezogenen Verständnis der ›Instrumentalen Vernunft‹, Adornos tiefe denkerische Ambivalenz. Ihr Instrument findet sie in seinem dialektischen Argumentieren, das seinen Texten wie ein Schussgarn eingewoben ist. Methodisch operiert er an zahlreichen Stellen mit den Doppeldeutigkeiten des eigenen Standpunkts: bei den Modi der ›Wahrheit‹ des Kunstwerks in seiner Ästhetischen Theorie (etwa S. 193–202), vom Sinn der Sinnlosigkeit (Ä. Th., S. 228–239) oder zwischen ›Einfall‹ und ›Konstruktion‹ (Ä. Th., S. 330–334). Neben der Verherrlichung der Zwölftontechnik steht ›unvermittelter Zweifel‹ an ihr. Er taucht 91

Vgl. M. Horkheimer, Traditionelle und Kritische Theorie (1937), in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, hg. v. A. Schmidt, Frankfurt a. M. 1988. Auch in den Minima Moralia und der Ästhetischen Theorie kommt Adorno immer wieder auf diese Denkfigur zurück.

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nicht erst in den Aufsätzen Das Altern der Neuen Musik und Vers une musique informelle auf, wo Adorno sich neuen musikalischen Enwicklungen anzupassen versucht,92 sondern bereits in einem Brief an Ernst Krenek vom 28. Oktober 1934, dann in der Philosophie der neuen Musik (S. 99) und schließlich der Ästhetischen Theorie (S. 15–17). Er bemerkt zu Krenek, er werde »gegen die Zwölftontechnik die schwersten Bedenken nicht los«93, spricht vom »Umschlag von größter Sprachnähe der Musik« zu »größter Sprachferne« in der seriellen Musik (1961) und artikuliert die »Verdinglichung der Musik« im seriellen mathematischen Kalkül als »Bedrohung«. Stattdessen verlangt er eine »kompositorische Durchbildung der Werke«, für die er das in der Philosophie der neuen Musik abgedankte »kompositorische Subjekt« wieder in Anspruch nimmt. Zur Ambivalenz seiner dialektischen Spiele muss man auch solche Konzessionen rechnen, die nur über die Verweigerung zugestanden werden. Dazu zählt etwa, dass im schönen ›Schein‹ des historischen musikalischen ›Systems‹ eine Ontologie wirksam sei, die man weder durch ihre Abwehr noch durch ihre methodische Vermeidung loswerde – genau wie den ›Naturzwang‹ und das ›Triebleben der Klänge‹. Sogar der ›Verlust von Möglichkeiten der Tonalität‹ wird kontrapunktisch zur dodekaphonischen Befreiung davon eingestanden. Schließlich verkehrt er auch mit der erledigten Metaphysik durchaus dialektisch, wenn er sie am Schluss seiner Negativen Dialektik mit den »Meditationen zur Metaphysik« umkreist und dann ambivalent verabschiedet: »Solidarität mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes«. Es gibt Versuche solche Ambivalenzen als unausgesprochenes, aber intendiertes Konzept ›philosophischer Vermittlung‹ zu begreifen, »deren dialektische Bewegung seinem Denken an jedem Punkte zugrunde liegt«, oder gar als »Vermittlung der Gegensätze in sich« (Max Paddison). Aber das bleibt einer affirmativen Adorno-Interpretation vorbehalten.94 Pierre Boulez hingegen, obwohl selbst radikaler

92

Th. W. Adorno, Das Altern der Neuen Musik (1954), in: Gesammelte Schriften, Bd. 14, Frankfurt a. M. 2003, S. 143–167; Vers une musique informelle (1961), in: Gesammelte Schriften, Bd. 16, Frankfurt a. M. 2003, S. 115–125.

93

Vgl. Th. W. Adorno, E. Krenek, Briefwechsel 1929–1964, hg. v. C. Maurer Zenck, Berlin 2020, S. 74.

94

Diese These einer »Vermittlung« vertreten etwa P. Bürger, Das Vermittlungsproblem in der Kunstsoziologie Adornos, in: Materialien zur ästhetischen Theorie. Th. W. Adornos Konstruktion der Moderne, hg. v. B. Lindner u. W. M. Lüdke, Frankfurt a.  M. 1979, S. 169–184; N. Rath, Adornos Kritische Theorie. Vermittlungen und Vermittlungsschwierigkeiten, Paderborn 1982; J. Ritsert, Vermittlung der Gegensätze in sich: Dialektische Themen und Variationen in der Musiksoziologie Adornos, Frankfurt a. M. 1987 (= Studientexte zur Sozialwissenschaft), aber besonders M. Paddison, Perspectives critiques sur la musique et les relations sociales: vers une théorie de la médiation, in: Musique contemporaine: Perspectives théoriques et philosophiques, hg. v. I. Deliège u. M. Paddison, Sprimont 2001, S. 293–301; ders., Die vermittelte Unmittelbarkeit der Musik: Zum Vermittlungsbegriff in der Adornoschen Musikästhetik, in: Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik, hg. v. A. Becker u. M. Vogel, Frankfurt a. M. 2007, S. 175–236. Demgegenüber beschreibt T. Kneif, Musiksoziologie, Köln 1971, S. 99, den gesellschaftlichen Gehalt von Musik als »hypothetisch«.

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Avantgardist, urteilt in seinem Gedenktext zu Adornos Tod: »… die Widersprüche – – – nicht gelöst, die Mehrdeutigkeiten – – – nicht beseitigt, mit denen die subtilste Dialektik nicht zu Rande kommt …«.95 Nicht zuletzt bezeugt sich das dialektische Chamäleon auch in Adornos eigenwilliger Sprachdiktion. ›Jargon der Dialektik‹ nennt es Jean Améry und hält es für eine ›Allüre des Denkens‹.96 Die Lust an absichtsvoll verrätselten Sprachgirlanden, häufig mit offenen Schlüssen, Faszinosum einer ganzen Generation als Ausweis intellektueller Brillanz, entzieht sich höchstens bei zeitgenössischer Sympathie für Kompliziertes dem Urteil eines Mangels an formbewusster Spracharbeit.97 Wie ein Symbol letzter dialektischer Ambivalenz wirkt schließlich das tragische Finale seiner Biographie. Obwohl einflussreicher Widerstandstheoretiker gegen das ›System‹ und beharrlicher öffentlicher Anwalt seiner intellektuellen Verweigerung, will er mit den realen Früchten dieser Saat nichts zu tun haben. Als der theoretische Widerstand zum konkreten wird, distanziert er sich panisch von der Revolte jener Studiosi, die er unterwiesen hat und der Intelligenzija der 68er-Bewegung, die er ermuntert hat, und verweigert sich, so dialektisch wie bourgeois, dem ›nie Gemeinten‹ und ›Gewollten‹: »Daß die Theorie zur realen Gewalt werde, wenn sie die Menschen ergreift, gründet in der Objektivität des Geistes selber …«, hat er zwar 1949 noch entschieden erklärt.98 Als sie sich sogar in seiner akademischen Wirkungsstätte gegen ihn selbst wendet, treibt ihn das in einen frühen Herztod im Schweizer Sanatorium.99

95

En marge de la, d’une disparition/Am Rande des Hinscheidens: Th. W. Adorno – – – 6.8.1969, zweisprachige Veröffentlichung in: Melos 36 (1969), Heft September, S. 370.

96

J. Améry, Jargon der Dialektik, in: Merkur 67 (1967) Heft 236, S. 630 und fährt dort fort »… wenn die Allüre zur sakralen Pantomime wird«.

97

Besonders deutlich zu verfolgen in der Philosophie der neuen Musik, S. 74–87, 90–95 oder in der Ästhetischen Theorie, S. 15–20. Der Titel einer Adorno-Biographie verrät vielleicht etwas von der faszinierten Bewertung dieser sprachlichen Diktion: Ein letztes Genie von Detlev Claussen, Frankfurt a. M. 2008.

98

In: Kulturkritik und Gesellschaft, publiziert in Soziologische Forschung in unserer Zeit, Leopold von Wiese zum 75. Geburtstag, hg. v. K.G. Specht, Köln 1951, neu ediert in: Prismen, Frankfurt a. M. 1955 u. als Taschenbuch 1976, S. 20.

99

Womöglich als Kulmination verschiedener Konflikte: gesundheitliche Probleme (wie Diabetes und Übergewicht), die Trennung von seiner langjährigen Geliebten (Arlette Krüttner) und die Konfrontation mit dem öffentlichen politischen Aufruhr an seiner universitären Wirkungsstätte. Vgl. H. Adolf, Adornos verkaufte Braut. Rekonstruktion einer Beziehung, in: Adorno-Portraits, hg. v. S. Müller-Doohm, Frankfurt a. M. 2007.

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Adornos ›Wahrheit‹: »Desintegration ist die Wahrheit der integralen Kunst« Als Fazit bleibt eine ästhetische Theorie, die den tradierten Musikbegriff konsequent De-Ontologisiert und ganze Provinzen der Musikgeschichte De-Legitimiert. Zentraler Aspekt ist zunächst die Überführung alles musikalischen ›Verstehens‹ aus sinnlich-psychophysischer Wahrnehmung in ein strikt ›reflexives Verstehen‹: »Wer gewohnt ist, mit den Ohren zu denken …« wie es am Beginn von Kulturkritik und Gesellschaft (1951) heißt. Deshalb begründet Adorno: »Kunst bedarf der Philosophie, die sie interpretiert, um zu sagen, was sie nicht sagen kann …«. Damit macht er nicht mehr, wie Schelling, die Kunst zum »Organon der Philosophie«, sondern umgekehrt die Philosophie zum Organon der Kunst. Der Rest seiner Bemerkung »… während es doch nur von der Kunst gesagt werden kann, indem sie es nicht sagt« (Ä. Th., S. 113) pflegt dann, wie so oft, das dialektische Vexierspiel. Mit der philosophischen Deutung zielt Adorno auf seinen Wahrheitsbegriff von Kunst, der sich erst mittels einer ›zweiten Ebene der Reflexion‹ enthülle. Während sich deren erste Ebene, quasi die musikwissenschaftliche, mit den immanenten Gegebenheiten des Werks, also der handwerklichen Analyse von Material, Relationen und Struktur beschäftige, ziele die zweite auf Kritik und Interpretation, vor allem auf die ästhetische, verstanden als denkerische Bewertung: »Ihre zweite Reflexion muß die Sachverhalte, auf die jene Analyse stößt, über sich hinaustreiben und durch emphatische Kritik zum Wahrheitsgehalt dringen« (Ä. Th., S. 518). Das klingt vielversprechend, wenn mit ›Kunst geht auf Wahrheit‹ etwas Objektives gemeint scheint (S. 424). Aber als Adornos Wahrheitsgehalt zählt letztlich nur eine gesellschaftliche Hermeneutik marxistischer Abkunft: »Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke, von dem ihr Rang schließlich abhängt, ist bis ins Innerste geschichtlich … Geschichtlich wird der Wahrheitsgehalt dadurch, daß im Werk richtiges Bewußtsein sich objektiviert« (Ä. Th., S. 285). ›Richtigkeit‹ wird aber nach dem ›Stand der Produktivkräfte im Werk‹ definiert, von Adorno stets nach Lesart des Marxistischen Materialismus in Beziehung gesetzt zu den ›gesellschaftlichen Produktionskräften‹ oder den ›Produktionsverhältnissen‹. Er betont: »Subjektive Regung jedoch … ist die Erscheinung eines dahinter geschehenden Objektiven, der Entfaltung der Produktivkräfte, welche die Kunst im Innersten mit der Gesellschaft gemein hat …« (Ä.Th., S. 286, 350, 374, 468). Schon in seiner Musiksoziologie (1962) entspricht der »Wahrheitsgehalt« authentischer Werke der »gesellschaftlichen Wahrheit« – kategorisch unterschieden von »empirisch abbildlicher Wahrheit« oder ausdrücklich dem »Ausdruck von Seelenzuständen« (S. 222). Gleichzeitig aber ist »Desintegration die Wahrheit integraler Kunst« (Ä. Th., S. 455), der Wahrheitsgehalt ist deshalb »in den Werken nur ein Negatives« (Ä. Th., S. 200). Das rekurriert auf den zentralen Aspekt: »Versprechen sind die Kunstwerke durch ihre Negativität hindurch, bis zur totalen Negation …« (Ä. Th., S. 204), denn »keine Wahrheit der Kunstwerke ohne bestimmte Negation« (Ä. Th., S. 195).

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Das manifestiert sich strukturell als Zerstörung des Sinns, um eines Sinns der Sinnlosigkeit willen, denn »damit beginnt Kunst den Prozeß gegen das Kunstwerk als Sinnzusammenhang« (Ä. Th., S. 233). Im Falle der Dodekaphonie wird so ausdrücklich ›Sinnlosigkeit‹ zum Sinnkriterium ernannt. ›Scheitern‹ als intentionales Misslingen zählt zu genuinen Attributen eines Werks von zeitgeistig ›richtiger‹ Bewusstseinslage. Folgerichtig verfallen alle anderen Ausdrucks-, Erlebnis- und Erkenntnisbezirke der Musik diesem Fokus. Damit auch jene, deren geschichtsresistente Überzeugungskraft sogar der auf ›Endlichkeit‹ fokussierte Gadamer mit ›Sinnpräsenz‹ umschreibt. Adorno weiß ganz genau um sie. Denn ahnungsvoll raunt er zugleich vom ›Rätselcharakter der Werke‹ und meint: »Alle Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel« (Ä. Th., S. 182). »Sucht einer dem Regenbogen nahe zu kommen, so verschwindet dieser. Prototypisch dafür ist, vor den anderen Künsten, die Musik, ganz Rätsel und ganz evident zugleich«, erklärt er wieder in belletristisch schillernder Allegorie und konzediert sogar: »Durch Verstehen jedoch ist der Rätselcharakter nicht ausgelöscht« (Ä. Th., S. 185).

Der Dorn im Ohr: Abwehr und Gegenwehr Weil er aber dieser ahnungsvollen Spur nicht folgen will, fällt die Abwehr ihres Ursprungs umso heftiger aus. Es ist die Abwehr allen musikalischen Erlebens über das Empfindungsvermögen bis zur scharfen Diskriminierung. Sie artikuliert sich mit Adornos reflexartiger Abscheu vor jedem ›Musikantentum‹, die ätzende Brandmarkung allen ›naiven‹ Hörens als »Banausentum und unbedarfte Spießerattitude« oder den Verdikten gegen ›Vulgärinnerlichkeit‹ und ›infantiles Hören‹. Bemerkungen wie: »Nicht ist auf Erlebnis, schöpferischen Menschen und dergleichen zu rekurrieren, sondern Kunst zu denken gemäß der objektiv sich entfaltenden Gesetzmäßigkeit der Produktion« verraten, genauso wie »Künstlerische Erfahrung erheischt demgemäß erkennendes, nicht affektives Verhalten zu den Werken« (Ä. Th., S. 527, 528) – unter psychologischem Aspekt – wie besetzt das Thema für ihn ist. Es verrät aber vor allem auch Wesentliches über die psychische Disposition seiner Persönlichkeit. Wenn er urteilt: »Kunstbegeisterung ist kunstfremd« (Ä. Th., S. 514), so mag das noch unter die Attitüde des Profis fallen. Aber gemeint ist letztlich etwas anderes, wenn er bemerkt: »Tradition wäre zu retten einzig durch Trennung vom Bann der Innerlichkeit« (Ä. Th., S. 446). Das bezeichnet nicht nur seine kognitive Einstellung, sondern gibt auch Auskunft über sein Empfindungsvermögen. Denn damit zielt er auf den Menschen als beseeltes Wesen: »Emphatische Moderne entwindet sich dem Bereich der Abbildung eines Seelischen« (Ä. Th., S. 96). Damit verleiht er der »Moderne« das Prädikat des Seelen-losen – emphatisch, versteht sich. Aber es ist auch ein Prädikat von anthropologischem Format. Denn es wehrt die in ihm begründeten Wahrnehmungsqualitäten für die Musik ab, genau wie die Ab-

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wehr der Logischen Empiristen, Existenzialisten und Materialisten gegen alles, was als Meta bloßer Physik andere Zugänge zu ›Bedeutung‹ schafft. Wenn Adorno aus dieser Disposition die »unmenschliche Kälte« des späten Schönberg in affirmativer Abgrenzung zur »großherzigen Wärme« von Alban Berg preist (Ph., S. 105), fällt der Tadel nicht auf Berg, sondern auf Adorno. Denn er möchte als Denker der Anti-Kunst konsequenterweise auch jede Ausdrucksfunktion, die ursprünglicher anthropologischer Disposition entstammt, in einer ideologisch ›korrekten‹ Musik getilgt sehen (Ph., S. 27, 53, 121).100 Weil er sie gleichwohl nicht leugnen kann, gerät er damit in einen Parcours dialektischer Volten. Denn er laviert zwischen ›ästhetischem Erleben‹, ›subjektivem Erlebnis‹, ›Erschütterung‹ und der ›Überwältigung‹ durch ein simples: ›So ist es‹ als ›Epiphanie‹ von ›Augenblicken‹, auf die es die Kunst abgesehen habe (bezogen auf Beethovens neunte Sinfonie, Ä. Th., S. 362–365). Ähnlich, wenn er hadert zwischen der Kritik am »ominösen Erlebnis, dem damit mit einem Zauberschlag alles zufallen soll …« und der Einsicht »…das doch ein Tor ist zum Gegenstand« (Ä. Th., S. 515). Adorno aber geht nicht durch dieses ›Tor‹. Begreift man die Apologie der Dissonanz und die Erledigung der Qualitätsdifferenz zur Konsonanz durch die Theorie der Zwölftontechnik nicht als intellektuelle Chiffre, sondern als psychologische, so liefert Adornos Theorie nur die philosophische Camouflage für die Entschlossenheit, emotional-seelisch wirksame semantische Differenzen als objektive Sachverhalte zu negieren, so wie Schönbergs System deren ›logische‹ liefert. Oder aber man wertet sie – horribile dictu – als glattes Unvermögen, sie überhaupt noch wahrnehmen zu können. Das wäre dann eine technoide kognitive Atrophie von seelenbewegter Empathie und seelenbewegender Emotion als charakteristischer Zug des homo sapiens der Moderne, der mehr über Algorithmen konditioniert ist als über psychische Vermögen. So gesellt sich der Rechtfertigung für die ›Sinnlosigkeit‹ der Zwölftonmusik als denkerisches Prinzip die Abwehr alles Emotionalen als anthropologisches. In seiner Feier einer »Harmonik des verweigerten Glücks« am Beispiel von Alban Bergs Operndrama Lulu (Ph., S. 81) ernennt er es zum Paradigma. Wenn er erklärt »Die Dissonanzen, die sie schrecken, reden von ihrem eigenen Zustand: einzig darum sind sie ihnen unerträglich« (Ph., S. 18) – so könnte man dieses perfide Diktum gut marxistisch, ›vom Kopf auf die Füße‹ stellen, als: »Die Dissonanzen, die sie nicht mehr schrecken, reden von ihrem eigenen Zustand der Empfindungsunfähigkeit.«

100 Diese Reaktion gegen alles ›Emotive‹ in der Tradition philosophischer Abwehr des Psychologismus im 19. Jahrhundert könnte man vielleicht akzidentiell, wie auch bei Heidegger, dem Zeitgenossen der »Neuen Sachlichkeit«, zuschreiben. Tritt Adorno allerdings als Komponist auf wie bei den Darmstädter Ferienkursen zwischen 1950 und 1966, wollte er dort, wie Zeitzeugen berichten, lieber als ›Künstler‹ und Musenjünger und nicht als ›Professor‹ und ›Theoretiker‹ wahrgenommen werden (siehe Anm. 109).

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Die notorische Abwehr menschlicher Affekte als anthropologische Bedeutungsdimension eines integralen Menschentums entspricht dem Widerstand gegen die ›verbrauchten‹, ›falschen‹ und ›unwahren‹ Inhalte einer Musik, deren Bedeutungsträger sie war und ist. Deshalb diskreditieren die inkriminierten musikalischen Verhältnisse auch die menschlichen: Wer diese geißelt, trifft damit auch die humanen Potenziale der Musik. »Unvereinbar ist ihre [der Kunst] Humanität mit jeglicher Ideologie des Dienstes am Menschen. Treue hält sie den Menschen allein durch Inhumanität gegen sie« (Ä. Th., S. 293). Das ist die makaberste Folge der Adorno’schen Negation, die sich bei den gelehrigen Eleven dieses Denkmodells immer wieder als radikale Obsession gegenüber allem Emotiven äußert und zur Ablehnung alles ›Ausdruckshaften‹, mit ›Innerlichem‹ verbundenen, auffordert.101 Konsequenterweise gilt die gleiche Abwehr allen philosophischen Traditionen metaphysischer Kunstdeutung. Methodisch begründet im marxistischen Weltbild des Historischen Materialismus, zeitgeschichtlich legitimiert durch Auschwitz und Kapitalismus, grundiert sie wie ein unterirdischer cantus firmus das Frankfurter akademische Philosophieren. Er tönt im verhohlenen Projekt »Heidegger zertrümmern« so obstinat wie in der unverhohlenen Zurückweisung der deutschen idealistisch-humanistischen Tradition: Walter Benjamin ruft dazu auf »Die metaphysischen Positionen zu besetzen«. Das betrifft neben der alten Philosophie auch alles Mythologische, aber auch den ›naiven historischen Positivismus‹ von Altertumswissenschaft und klassischer Philologie, wie es der frühe Mitstreiter Jürgen Habermas im Rückblick bezeugt.102 Immerhin ergeht es auch der neueren Philosophie

101 Exemplarisch formuliert durch den mit Adorno in brieflicher Verbindung stehenden Komponisten Ernst Krenek in seinen Vorlesungen über Neue Musik von 1937, wo Musik in scharfer Ablehnung jeder »Ausdrucksästhetik« oder aller »Wiedergabe psychischer Prozesse« als »eine Form des Denkens« und »Artikulation von Denkvorgängen« definiert wird, vgl. Krenek (1977), S. 19, 82 sowie ders., (1958), S. 257 ff. Radikaler verfährt Helmut Lachenmann, der das Erlebnis der tradierten musikalischen Semantik als »reaktionäre bürgerliche Residuen«, die endlich ausgetrieben gehörten oder als »Regress in die alte bürgerliche Welt« brandmarkt und mit den »Rückfällen in musikantisches Verhalten« politologische Kritik daran übt (Musik als existentielle Erfahrung, Wiesbaden 1996, S. 84, 145, 219), schließlich auch Claus-Steffen Mahnkopf, der »Emotionalität« nur noch als etwas »Konstruiertes« zulassen will (Kritische Theorie der Musik, Weilerswist 2006). Auch ein junger Komponist, Clemens Nachtmann (Jg. 1965, Boris-Blacher-Preisträger von 2004), äußert: »Dem bürgerlichen Alltags-Unverstand gilt die Musik als Gefühlskunst …« (Mit der Rationalität ins Unbekannte gelangen. Wie Pierre Boulez Musik dachte, in: Jungle World 2016, Heft 3). 102 »Heidegger zertrümmern« wurde bereits kurz nach Erscheinen von Sein und Zeit, 1927, von Walter Benjamin formuliert, dann von Adorno in seiner Vorlesung Ontologie und Dialektik im Wintersemester 1960/61, woraus einiges in seine Negative Dialektik von 1966 einging; vgl. Th. W. Adorno, Ontologie und Dialektik, Nachgelassene Schriften, hg. v. Th. W. Adorno-Archiv, Bd. 7, durch R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 2002. Wie Jürgen Habermas im Gedenkjahr zum 100. Geburtstag von Adorno, 2003, bemerkt, kamen während seiner

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von Positivismus und Rationalismus nicht viel besser: Sie verfallen als »logische Höllenmaschine« dem gleichen Verdikt.103 Damit erweist sich Adornos »zweite Reflexion« über das Kunstwerk tatsächlich als eine virtuose denkerische Transferleistung, in der eine musikwissenschaftlich schlecht beglaubigte Dechiffrierung von Musik mittels soziologischer Hermeneutik104 in ein Surrogat musikalischen ›Verstehens‹ nach anthropologischem Format transportiert wird. Das ist die vollkommene Überführung musikalischer Ontologie in eine positivistische Ratio mittels virtuoser Begriffsepik und spekulativer Gesellschaftstheorie. Schönberg selbst hat übrigens Adornos Deutung seiner Musik nachdrücklich abgelehnt.105 Auch die zünftige Musikgeschichtsschreibung hat sie nie zu

Tätigkeit als Forschungsassistent am »Frankfurter Institut für Sozialforschung« von 1956 bis 1959 in Adornos Vorlesungen und Seminaren weder seine »philosophischen Zeitgenossen« vor, »also die großen Autoren der zwanziger und dreißiger Jahre, wie Scheler, Heidegger, Jaspers, Gehlen, aber auch Cassirer, selbst Plessner, ganz zu schweigen von Carnap und Reichenbach«, noch spielte die hermeneutische Tradition von Humboldt bis Dilthey »als idealistisch abgestempelt« eine Rolle, ebenso wenig wie die phänomenologische Schule (in: Die Zeit, Nr. 37 v. 4.9.2003, S. 46). 103 Th. W. Adorno, Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied, Berlin 1969, S. 8 u. 9 (in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M. 2003). 104 Vgl. C. Dahlhaus u. G. Mayer, Musiksoziologische Reflexionen, in: Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 10, Systematische Musikwissenschaft, hg. v. C. Dahlhaus u. H. de la Motte-Haber, Laaber 1982, S. 109, besonders: Musiksoziologie und Geschichtstheorie, S. 124–164. Die Konstruktion von Verbindungen satztechnischer Parameter musikalischer Struktur und sozioökonomischen Verhältnissen in Produktion und Gesellschaft wird häufig als Homologie bezeichnet, hat aber erhebliche wissenschaftliche Kritik herausgefordert, vgl. etwa bei T. Kneif (1971), S. 18 ff., 31, 99; J. N. Davydov, Die sich selbst negierende Dialektik. Kritik der Musiktheorie Theodor Adornos, Berlin 1971; ders., Die Kunst als soziologisches Phänomen, Dresden 1974, S. 20; R. R. Subotnik, Adorno’s Diagnosis of Beethoven’s Late Syle, in: JAMS 29 (1976), S. 271; P. U. Hohendahl, Prismatic Thought: Theodor W. Adorno, Lincoln u. London 1995, S. 167; P. Martin, Sounds and Society: Themes in the Sociology of Music, Manchester 1995, S. 162; S. Miles, Critical Musicology and the Problem of Mediation, in: Notes 54 (1997), S. 723 u. 728 und sogar bei M. Paddison, Adorno’s Aesthetics of Music, Cambridge 1993, S. 171. Übrigens ist soziologische Kulturdiagnostik unter dem Aspekt von Kapitalismuskritik keineswegs originell. Bereits Georg Simmel formuliert sie mit aller Deutlichkeit in seiner Philosophie des Geldes (1900), wo er die abgründige Dialektik zwischen Geist und Geld, Freiheit und Versklavung in der modernen Geldwirtschaft thematisiert und ihre kulturphilosophischen Folgen im »Mammonismus« und dem »Transzendentwerden des Goldenen Kalbes« als »Tragödie der Kultur« verfolgt. Vgl. auch G. Simmel, Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Reden und Aufsätze, München u. Leipzig 1917, S. 14 f. sowie: Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. u. eingeleitet v. M. Landmann, Neuausgabe Frankfurt a. M. 1987, S. 142. 105 Das belegen Schönbergs Äußerungen gegenüber Hans Heinz Stuckenschmidt und Josef Rufer, vgl. H. H. Stuckenschmidt, Schönberg. Leben, Umwelt, Werk, Zürich u. Freiburg i. Br. 1974, S. 462. Wie weit diese Ablehnung bis ins Persönliche reichte, zeigt eine Äußerung Schönbergs über Adorno: »Ich habe den Menschen nie leiden können, und jetzt weiß ich … daß ihm meine Musik offenbar niemals gefallen hat« (Brief an H. H. Stuckenschmidt v. 5.12.1949, archiviert im Arnold Schönberg Center, Wien). In diesen Kontext ge-

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ihren kompetenten Beiträgen gezählt. Andere Entwürfe von Musikphilosophie aus seinem damaligen, unmittelbaren Umfeld, wie etwa die von Günther Anders, wusste Adorno zu verhindern.106

Verschiedene Arten von ›Entfremdung‹ Zu zentralen Denkfiguren der Frankfurter »kritischen Theorie« zählt auch noch eine andere: die ›Entfremdung‹. Hegel meinte mit diesem Begriff eine schmerzvolle Entzweiung des denkenden Menschen von seiner äußeren Lebenswelt, Marx verkürzte sie zur Diskrepanz zwischen dem Arbeiter und seinem Arbeitsprodukt als Entäußerung im Prozess der kapitalistischen Warenwirtschaft, Heidegger beklagt sie als Verlust des ›Seinsbewusstseins‹, verstanden als eine ›Ent-Wirklichung‹, sogar ›Ent-Identifizierung‹ des Individuums. Das beschreibt offenbar eine stets als leidvoll empfundene Bewusstseinsdifferenz zwischen zwei verschiedenen Qualitäten von Wirklichkeitserfahrung: einer ›inneren‹ und einer ›äußeren‹. Auch der in der »kritischen Theorie« zu recht beklagte mentale Zustand des Menschen in der modernen kapitalistischen Massengesellschaft reflektiert diese Differenz. Allerdings versteht sie das Bewusstsein um jene ›innere Wirklichkeit‹ nach soziologisch-marxistischen Prämissen als bloßes ›gesellschaftliches Bewusstsein‹. Damit verfehlt sie aber methodisch die eigentliche anthropologische Referenz, die ihr zugrunde liegt. Deshalb greift sie als Differentialdiagnose zu kurz. Denn die abendländische Musik, dort also, wo Adorno seine Theorie zentral elaboriert, liefert mit ihrer Geschichte die Zeugnisse einer ganz anderen Wesensbestimmung von ›innerer Wirklichkeit‹. Nimmt man sie als Ausdrucksmedium ›innerer‹ Bewusstseinszustände ernst und nicht nur als soziale Phänomene, dann werden dort Erfahrungen formuliert, die einer ganz andersartigen seelisch bewussten hören auch die Auseinandersetzungen mit Thomas Mann um seinen Doktor Faustus und der diesbezüglichen musikalischen Beratung durch Adorno. Vgl. auch die Untersuchung von Hellmut Federhofer, Arnold Schönbergs Zwölftontechnik im Spiegel von Th. W. Adornos Musikphilosophie, Tutzing 1991 (= Studien zur Musikwissenschaft, Bd. 40), S. 237–257. 106 Vgl. Kapitel VIII, Anm. 84 sowie G. Anders, Musikphilosophische Schriften. Texte und Dokumente, München 2017. Das Habilitationsverfahren von Anders an der Frankfurter Universität mit der Habilitationsschrift Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen scheiterte, Hannah Arendts zufolge, maßgeblich am Widerstand von Adorno. Im Übrigen erweist sich Adornos musikhistorischer Horizont als erstaunlich beschränkt: zur Musik vor Bach hatte er keine produktive Beziehung, die Erkenntnisse der deutschen musikwissenschaftlichen Mediävistik lehnte er ab, den »Niederländern« räumte er aus soziologischer Sicht keinen musikgeschichtlichen Stellenwert ein, Haydn nimmt er kaum zur Kenntnis, Sibelius, Richard Strauss und Rachmaninow qualifiziert er ebenso ab wie Britten, Hindemith, Bartók und Debussy und die asymmetrischen Vergleiche zwischen Schönberg und Strawinsky in seiner Philosophie der neuen Musik stilisiert er parteiisch als Kampf zwischen ›gutem‹ und ›schlechtem‹ Komponieren.

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Wirklichkeit enstammen. Sie verschafft dem Indiviuum eine ›Identität‹ von anderer Qualität, trotz einer (unvermeidlich) äußeren in der gesellschaftlich bestimmten Lebenswelt. Die aber war zu allen Zeiten mit Not, Hunger, Krieg, Krankheit, Pest, Naturkatastrophen und allen Arten von gesellschaftlichen und ökonomischen Konflikten genauso problematisch und leidvoll wie die der industriellen Moderne und damit keineswegs weniger ›entfremdet‹ als die akklamierte ›Entfremdung‹ in der ›kapitalistischen Warenwirtschaft‹. Damit verweist die in der Musik Gestaltung gefundene innere Erfahrung auf eine andere Referenz, von der aus ›äußere‹ Erfahrung als ›Entfremdung‹ empfunden wird. Ihr Format reicht deshalb weit über ›gesellschaftliche‹ Determiniertheiten hinaus in existenzielle Dimensionen: die Dissonanzen menschlicher Existenz. Ihre schmerzliche Erfahrung macht ›Entfremdung‹ als Verlust eines anderen Zustandes des Menschen kenntlich, als ein grundlegendes Defizit der conditio humana gegenüber einer anderen Daseinsform, die als Ahnung und Matrix aller Utopien aber offenbar im menschlichen Tiefenbewusstsein erhalten ist (siehe Kapitel XI). An den gibt es allerhand überlieferte Erinnerungen. Der biblische Mythos bewahrt eine davon mit der ›Vertreibung aus dem Paradies‹. Auch die Lehren östlicher Weisheit genau so wie die platonische Ideenlehre tradieren sie. Noch in Sage und Märchen klingen sie nach bis zur legendären Erinnerung an ein ›goldenes Zeitalter‹: Es ist ein unbewusstes, aber offenbar unverlierbares Wissen um eine andere, verlorene Identität, das als Differenz zweier Bewusstseinswelten, der seelischgeistigen und der äußerlich-materiellen in Erscheinung tritt. Tiefer verstanden als existenzielle Situation des Menschen wird sie zu einer ontologischen Differenz in der Wahrnehmung kategorial unterschiedener ›Wirklichkeiten‹, subjektiv erfahren als leidvolle ›Entfremdung‹. Adornos neomarxistisch disponiertes ›gesellschaftliches Bewusstsein‹ stellt sich blind und taub für diese, ihre wahre Natur. Seine Klage über die Unmöglichkeit eines ›richtigen Lebens‹ im ›falschen‹ verfehlt diese existenzielle Dimension, obwohl er sie in seinem Begriff des »Verblendungszusammenhangs« im »Wahn des kollektiven Bewusstseins«, genau wie Heidegger mit seiner »Seinsvergessenheit«, durchaus berührt – sie aber als Rückfall des »historischen Aufklärungsprozesses in die Mythologie« keinesfalls zulassen will. Sein ›Denken‹ steht ihm im Weg. Deshalb kann er mit den schöpferischen Zeugnissen einer anderen Bewusstseinslage wenig mehr anfangen, als sie im Zerrspiegel einer bösartigen Ranküne fataler Geschichte, missglückter Gesellschaftsordnung und gescheiterter Menschheitshoffnungen zu deuten. Damit stigmatisiert Adorno die Zeugnisse jener anderen Bewußtseinslage als unwahr, reduziert sie zu Präparaten verbrauchter Historie und erledigter Gesellschaftszustände und wehrt sich erbost gegen alle Zumutungen als Botschaften einer anderen Seinsqualität – denn die wären ja zuletzt von metaphysischer Qualität. Das ist der Horizont einer ausweglosen Immanenz, der mit seinen vielen -ismen den hermeneutischen Diskurs der Moderne beherrscht: Materialismus, Positivismus, Existenzialismus, Relativismus, Konstruktivismus, Nihilismus. Ihre Fortschreibung findet sich mit dem Anspruch unhintergehbarer Rationalität moderner

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Vernunft bei den späten Vertretern der Frankfurter Schule: dem »Nachmetaphysischen Denken« von Jürgen Habermas, der »Postmetaphysischen Moderne« von Albrecht Wellmer oder nicht zuletzt den aktuellen musikästhetischen Theorien von Lachenman bis Mahnkopf oder Spahlinger.107

»Kunst ist das Versprechen des Glücks, das gebrochen wird« Weit nachhaltiger als die Hermeneutik soziologischer Reduktion wirkt aber ihre Bekräftigung des Katastrophalen. Denn Adornos Theorie des Widerstandes enthüllt sich in Wirklichkeit nicht als Abwehr der so scharfsinnig problematisierten Moderne, sondern als deren Affirmation. Das offene Lamento erweist sich als Praxis maskierter Beglaubigung. Denn sie folgt mit der Dekonstruktion aller bislang ›Musik‹ definierenden anthropologisch wirksamen Bindungen zugunsten selbstreferenzieller Ordnungen, spekulativer Organisationsmodi und den fabrizierten Bedeutungen ›Instrumentaler Vernunft‹ der gleichen Selbstermächtigung einer referenzlos operierenden Gehirnratio, wie sie in der technoiden Fortschrittslibido des Abendlandes mit ihren so oft beklagten Folgen zum Ausdruck kommt: vom Materialismus des marktkapitalistischen Wertesystems mit Profitmaximierung, Ressourcenausbeutung und Naturzerstörung bis zur medialen »Bewusstseinsindustrie« (Hans Magnus Enzensberger). Damit ist sie keine Ästhetik der Verweigerung, sondern das Korrelat zu einer Moderne, das den gleichen technischen Definitionen der Welt folgt wie viele ihrer musikalischen Konstrukte. Demzufolge kann das vom ›falschen Naturzwang‹ erlöste musikalische Tun endlich als frei vagierendes zerebrales Spiel und voraussetzungsloses Konstruieren über die Einrede eines ontologisch tiefer gegründeten semantischen Empfindens, sprich: den »Aberglauben an das Organische« triumphieren. Genauso wie megaindustrielle Konzepte über die Natur, politische über die Gesellschaft, ideologische über die Kultur, szientistische über den Menschen. Beides rechtfertigt sich aus der gleichen geschichtsphilosophischen Wurzel, dem »Fortschritt des Geistes« nach hegelianisch-marxistischem Verständnis im emphatischen »Bewusstsein seiner Freiheit«. Der evolutionäre Preisgesang ›totaler Naturbeherrschung‹ des kompositorischen Materials (Ph., S. 193, 112), als ›Materialbeherrschung‹ allgegenwärtiges Thema Adornos wie als ›Materialerkundung‹ der Avantgarden, bedient die gleiche Ingenieur-Logik der technischen Verabredungen und des operationalen Systemdenkens jenes westlichen animal rationale, das Nietzsche sardonisch als »vernunft-

107 J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt a. M. 1988 und Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Berlin 2012; A. Wellmer, Endspiele: Die unversöhnliche Moderne, Frankfurt a. M. 1993; zu Mahnkopf siehe S. 674. Auch der Theologe Friedrich Wilhelm Graf will seine »Theologie der Aufklärung« »eher in einem postmetaphysischen Stil als in nachgeahmter Substantialität« verstanden wissen (Gespräch mit Martin Mosebach, in: F. A. Z. v. 24.12.2015).

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begabtes Tier« apostrophiert. Es entspricht einer Kompositionstheorie formalisierter technologischer Organisationsverfahren, die ohne Bezug auf ganz anders begründete musikalische Gravitationskräfte verfahren und über subjektiv organisierte ›Parameter‹ akustischer Entwürfe, in privaten Denkkonzepten, mit ausgetüftelten Algorithmen, komplexen Theoriemodellen oder der rhetorischen Referenz zu einer Ideologie ›Bedeutung‹ zu generieren und zu begründen suchen. Als Regress auf bloße Materialtechnologien oder, umgekehrt, als hyperkonstruierte Komplexionen realisieren sie mit der methodischen Desintegration von semantisch wirksamen musikalischen Satz-, Form- und Werkvorstellungen samt deren anthropologischen Konnotationen mehr obsessive Vermeidungszwänge als neue Ausdruckssuche. »Die Frage, welche dann Zwölftonmusik an den Komponisten richtet, ist nicht: wie kann musikalischer Sinn organisiert, sondern vielmehr: wie kann Organisation sinnvoll werden …« (Adorno, Ph., S. 68) illustriert dialektische Sinn-Inversion. Das ist kein musikalisches Bollwerk gegen Entfremdung und Manipulation des Subjekts in einer inhumanen kapitalistischen Warengesellschaft, wie es die Kritische Theorie will, sondern deren Verdopplung im tiefsten menschlichen Reservat des Seelisch-Emotionalen durch ästhetisch-sinnliche Analogiebildung. Das ist keine Strategie gegen den ›Verblendungszusammenhang‹ im Global Village der kommerziellen Mediengalaxis mit ihren sozialen Netzwerken und den systematischen Vermarktungs- und Geschäftsmodellen ihrer ›Daten‹, sondern die Stiftung eines neuen. Das ist keine erfolgreiche Auflehnung gegen die Systeme gesellschaftlicher Mächte und Manipulation, sondern ein Angriff auf ihre letzten anthropologischen Gegenbastionen im empfindungsfähigen, humanen Subjekt. Das vereitelt nicht die Macht des Üblen, sondern beraubt den Menschen noch den Zugängen zu seinen letzten tieferen, nämlich innerlich seelisch-geistig begründeten Bewusstheiten, manifest als anthropologische Existenziale, aber ausdrücklich diskriminiert als »Trugbild eines inneren Königreichs« (Ä. Th., S. 177). Das ist auch keine Verweigerung der Zumutungen desolater Realität, sondern ihre Widerspiegelung als bedacht konstruierte Mimesis eines zu recht beklagten Weltzustandes. »Moderne ist Kunst durch Mimesis ans Verhärtete und Entfremdete …« erklärt Adorno selbst, »die das Unheil durch Identifikation ausspricht.« (Ä. Th., S. 39 und 35). Hier gibt er nicht einmal Pardon für einen profilierten Schönberg-Schüler. Denn sogar ein Alban Berg verfällt seinem Verdikt, weil er den »Bann der Zwölftontechnik zu brechen versucht, indem er sie verzauberte« (Ph., S. 105). Die ästhetische Doppelung der katastrophalen Weltzustände in der ›Antikunst‹, zwar intellektuell als ›Verweigerung‹ in Anspruch genommen, aber psychologisch als Mimesis wirksam, erweist sich letztlich als unverhohlene Prophetie des Untergangs von Kunst überhaupt: kein Gedicht mehr nach Auschwitz, wie es das bekannte Diktum Adornos intoniert. Kunst wird so, unweigerlich ihrem vermeintlichen Abgang verpflichtet, über Hegels honoriges Begräbnis in reiner Reflexionsphilosophie hinaus, nur eine einzige Alternative zugestanden: entweder als moribund verstandenen Kumpanen al-

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les ›Neuem‹ in einer ›authentischen‹ Avantgarde – oder dem glatten Suizid. Denn: »Das Neue als Kryptogramm ist das Bild des Untergangs; nur durch dessen absolute Negativität spricht Kunst das Unaussprechliche aus, die Utopie. Zu jenem Bild versammeln sich all die Stigmata des Abstoßenden und Abscheulichen in der neuen Kunst« (Ä. Th., S. 56). Oder, unter Inanspruchnahme Baudelaires: »Das Neue ist dem Tod verschwistert« (Ä. Th., S. 38). Die andere Option ist ein so paradoxer Selbstmord wie ihn nur dialektisches Denken liefern kann: »Kunst ihrerseits sucht Zuflucht bei ihrer eigenen Negation, will überleben durch ihren Tod« (Ä. Th., S. 503). Deshalb darf sie am Ende als ihr eigener Todesengel fungieren: »Kunst heute ist anders denn als Reaktionsform kaum mehr zu denken, welche die Apokalypse antizipiert« (Ä. Th., S. 131). Ein allerletztes Requiem singt ihr Adorno schließlich als poetisch dekoriertes Opferlamm im vielzitierten Schlusswort seiner Philosophie der neuen Musik: »Die Schocks des Unverständlichen, welche die künstlerische Technik im Zeitalter ihrer Sinnlosigkeit austeilt, schlagen um. Sie erhellen die sinnlose Welt. Dem opfert sich die neue Musik. Alle Dunkelheiten und Schuld der Welt hat sie auf sich genommen. All ihr Glück hat sie daran, das Unglück zu erkennen; all ihre Schönheit, dem Schein des Schönen sich zu versagen …« (Ph., S. 126). Hier will suggestive dichterische Sprachdiktion, erborgt von jenen ›alten‹ Qualitäten, deren Legitimität Adorno so virtuos demontiert, die Prophetie des restlosen Bankrotts von Kunst samt ihrem menschlichen Subjekt mit melodramatischem Leuchten illuminieren: das dunkle Finale einer negativen Kunsttheologie ohne Perspektiven – außer katastrophalen.

Resonanzen und Wirkungen Vielleicht wäre ein solcher Abgesang in der hybriden Weltkultur des 21. Jahrhunderts längst untergegangen. Aber als Theorie behält er offenkundig in der europäischen Bewusstseinslage des ›nachmetaphysischen Denkens‹ intellektuelle Faszination und anhaltende Wirkung – im ästhetischen Denken, wie im kompositorischen Tun. Geblieben ist die Denkfigur der ›Negativität‹, die wie ein Basso continuo die zeitgenössische Kunst der westlichen Moderne dominant grundiert. Prominent pflegt sie der italienische Ästhetikprofessor Giorgio Agamben im Geiste der Dialektik der Aufklärung weiter, wenn er in seinem großen Epos Homo sacer das abendländische Denken als einziges unheilvolles Verhängnis beschreibt und vom »Ende der Welt« spricht. Aber als existenzielle Tristesse prägt der infernale basso viele ihrer Sujets und Narrative: vorzugsweise Balladen der Vergeblichkeit, Verstörung und Düsternis, von Tod, Verzweiflung, Scheitern und Untergang – eine obsessive Trauerorgie aus kollektiver mentaler Befindlichkeit. Der bedeutende, nachdenkliche Psychiater Viktor E. Frankl, Begründer der Logotherapie, diagnostiziert sie als »Sinnlo-

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sigkeitsgefühl, das mit einem Leeregefühl einhergeht« und so zum Symptom einer »Massenneurose von heute« geworden sei.108 Von der avantgardistischen Faszination am dunkel-erleuchteten Hölderlin, der geheimen Schmerzensfigur der deutschen Geisteswelt, geht es über die poètes maudits zu Joyce, Ionesco und Kafka bis zu Celan, Beckett, dem psychisch kranken Wölfli, dem verzweifelten Benjamin oder den pikaresken ›Untergehern‹ von Thomas Bernhard. Auch bildende Kunst und Film bedienen es mit prominenten Malern wie Francis Bacon, Anselm Kiefer oder Georg Baselitz und Regisseuren wie Lars von Trier oder Michael Haneke. Bacon bricht den Menschen in seinen Biomorphs monströs herunter zum hybriden Biest, denn »Wir sind alle Fleisch, potenzielle Kadaver« und »zerfallen alle irgendwann wieder zu Staub«, weshalb der Staub »das Unvergängliche« sei. Kiefer erschafft mit seinen Zeilen für Celan sympathetisch apokalyptische Monumentalbilder des Finsteren und Baselitz versteht seine dissoziierten Körper als »Menetekel einer katastrophalen Welt«. Filmregisseur Lars von Trier verarbeitet seine Phobien und Drogenprobleme in der Triologie der Depression: Antichrist, Nymphomaniac (mit Wagners Tristan-Musik) und Melancholia, Michael Haneke inszeniert seine makabre Todesphantastik in Benny’s Video und Happy End. Ihre musikdramatischen Analogien finden sich in vielen Werken seit Alban Bergs Lulu und Wozzeck bis hin zu Bernd Alois Zimmermanns Soldaten, Aribert Reimann mit Lear, Chaya Czernowin mit Pnin … ins Innere oder Claus-Steffen Mahnkopf mit Angelus novus. Heinz Holliger komponiert mit Lunea den psychischen Zerfallsprozess des Dichters Nikolaus Lenau mit analogen Textzerreissungen, Peter Ruzicka porträtiert feinsinnig, aber düster, die Lebensläufe von Celan, Hölderlin und Benjamin, wie Michel Tabachnik mit Benjamin, dernière nuit. Georg Friedrich Haas musikalisiert sein Faible für Siechtum, Tod und Nächtliches in Koma, Thomas, Morgen und Abend nebst einer Adolf Wölfli-Kammeroper. Auch die Ernst von Siemens-Musikpreisträgerin von 2022, Olga Neuwirth, verfasst im Tonfall bitterer Texte von Elfriede Jelinek (Todesraten) mit Orlando eine hybride Katastrophenmusik vom elisabethanischen Zeitalter bis zu katholischen Kinderschändern. Und Peter Eötvös komponiert mit der Tragödie des Teufels die existenzielle Verlassenheit des modernen Menschen. Ihre prominente Beglaubigung erhält sie schließlich im ausweglos-klaustrophobischen Szenario Fin de partie von György Kurtág nach Becketts Endspiel. Geblieben ist schließlich auch das zentrale Axiom konsequenter Überführung musikalischer Ontologie in Gedanken- und Reflexionskünste. Als intellektueller State of the Art verpflichtet es alle ästhetischen Diskurse zu einem Musikbegriff als eine

108 V. E. Frankl, Pathologie des Zeitgeistes, Wien 1955, S. 84 sowie: Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn, 3. Aufl. München u. Zürich 1982, S. 141–161 u. S. 184 ff.

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Form des Denkens. Das folgt einer Grundprämisse der Moderne von der unentrinnbar ›reflexiven Bewusstseinslage‹, denn »Wir haben zum nachmetapysischen Denken keine Alternative« (Jürgen Habermas) und dessen musikalischer Analogie »Mit den Ohren denken« (Claus-Steffen Mahnkopf, nach Adorno). Darauf wird zurückzukommen sein (siehe Kapitel XI). Geblieben ist allerdings auch, im eklatanten Gegensatz zur Prophetie der Theorie, ausgerechnet die ›verbrauchte‹ Musik des ›falschen Bewusstseins‹ von Gestern. Als wirkungsvollste Kritik an der Frankfurter Theorie ist sie weder Hegels ›Furie des Verschwindens‹ anheim gefallen noch dem Adorno’schen Untergangsverdikt. Vielmehr feiert sie, im Gegenteil, als vitale ästhetische Gegenwart ein zweites Leben, das ihr erstes weit in den Schatten stellt. Auch das Komponieren hat sich keineswegs dem ästhetischen Exitus übereignet, sondern hat viele neue Wege jenseits der Schönberg-Schule samt ihrer Eleven entdeckt. Adorno musste es selbst noch erkennen. Zwischen seinem Unbehagen am seriellen Komponieren wie es bereits im Das Altern der neuen Musik (1954) anklingt, seinem Vortrag Vers une musique informelle (1961) und in seinen Vorlesungen bei den Kranichsteiner Ferienkursen für Neue Musik von 1955–1966 setzt er sich mit den neuen Entwicklungen auseinander wie er sie beim zeitgenössischen Komponieren in Darmstadt erfahren konnte.109 Unternommen als ein vorsichtiger Anpassungsversuch anachronistisch gewordener Positionen aus der Philosophie der Neuen Musik, werden sie wieder zum Zeugnis dialektischen Räsonierens. Wenn er jetzt das »kompositorische Subjekt« wieder in Anspruch nimmt und sogar ›Zusammenhang‹ als »Verhältnis zwischen den Tönen« nicht eliminieren will und die »EntSprachlichung der Musik« als ihre »Verdinglichung« im seriellen Kalkül befürchtet, dann frönt er nicht nur seiner bewährten Diskursmethode. Er sieht auch das Dilemma: »Das Verzweifelte der Fragestellung wird nicht verdeckt«, schreibt er in einem seiner letzten Texte, der Einführung zu Nervenpunkte der Neuen Musik, 1969. Verfallen hingegen ist die Glaubwürdigkeit einstigen politischen Protestanspruchs vor dem Terror von Stalinismus, Maoismus, real existierendem Sozialismus und neuem Imperialismus. Denn deren totalitäre Gräuel bleiben im blinden Fleck ideologischer Befangenheit so unreflektiert wie ihre materialistischen Menschenbilder. Wo er sich mit der Modernekritik traf, berührte er sich übrigens ironischerweise mit dem befehdeten Antipoden Heidegger. Denn was Heidegger unter ›Entfremdung‹ des Menschen in einer schicksalhaft heraufziehenden Technokratie ahnungsvoll verdammt, ist bei Adorno das Vehikel der ›Instrumentalen Vernunft‹ und sein Verdikt über den Horror der kapitalistischen Konsumgesellschaft. Und wenn Ad109 Vgl. Anm. 92 und Kranichsteiner Vorlesungen, hg. v. K. Reichert u. M. Schwarz, in: Nachgelassene Schriften, Abt. IV, Bd. 17, Berlin 2014; R. Tiedemann, Nur ein Gast in der Tafelrunde. Adorno in Kranichstein und Darmstadt 1950–1966, in: Frankfurter Adorno Blätter C II (2001), S. 177–186.

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orno das fundamentalontologische Raunen aus der Todtnauberger Waldhütte als »Jargon der Eigentlichkeit« verhöhnt, so steht ihm sein eigener Jargon kaum nach: der eine mit seinen arkanen Dunkelheiten um das »Seyn«, der andere mit artifiziellen Sprachkonstrukten, die ihre Manieriertheit als Tugend verstehen – beide aber eins im bizarren Eros opulenter Begriffsdichtung. Wer deshalb heute über die erstaunliche Wirkung der Kunsttheorie aus dem Frankfurter Sozialforschungsinstitut nachdenkt, der wird sie vor allem in ihrem Charisma eines politideologischen Juste Milieu finden, nicht im Pneuma glänzender ästhetischer Sinnerhellung, viel eher im Glitzereffekt eines intellektuellen Faszinosums mitten im Sinn-Vakuum mentaler Erschöpfung einer desperaten geschichtlichen Situation.110 Denn als so ziemlich einzig unverdächtige Unternehmung nach dem europäischen Bankrott sämtlicher Wertesysteme, dem Ruin überkommener Bürgerlichkeit und der katastrophalen Beschädigung von Tradition, Kultur und Menschenbild wurde das »Kritische Denken« zu einer Art Minimal Art allen Reflektierens: die nackte Habe aller anständigen Überlebenden von Diktatur-Wahnwitz, Holocaust-Gräuel und Weltkriegs-Inferno. Als neue Art von politischer Philosophie, moralisch unanfechtbar durch das Prädikat des Antifaschismus, methodisch aktuell mit dem Aufstieg soziologischer Theorien, versprach sie der mühsam aufkeimenden bundesrepublikanischen Identität in der Stunde Null notdürftig aufzuhelfen. Als »geheime Theologie« (Norbert Bolz) füllte sie den geistigen Leer- und Erschöpfungsraum, ersetzte den verderbten Kanon idealistischer Weltbilder und humanistischer Ideale durch ihre säkularisierten Surrogate von Gesellschaftsphilosophie und neomarxistischer Systemkritik und profilierte sich als eine Art Radical Chic der progressiven Intelligenzija: ›Aufklärung‹ als unangreifbare Bastion abendländischen Fortschrittsdenkens, ›Kritik‹ und ›Widerstand‹ als todsichere Option nach den Delirien verbrecherischer Ideologie und vor den neuen, manipulativen, einer kapitalistischen. Gleichzeitig standen die scharfen Frontlinien zwischen Heidegger- und Adorno-Lager für eine Abrechnung mit deutscher Vergangenheit als Schuldallianz korrumpierter Geister. Ihr negativer Saldo verhalf der Frankfurter Schule zu einer intellektuellen Diskursherrschaft, die zum Kernstück einer neuen, bundesdeutschen Geistesbefindlichkeit avancierte. In der aufblühenden »Suhrkamp-Kultur« (George Steiner) fand sie einen prominenten Reflex. Unter diesem Aspekt wird verständlich, dass ihre Anwendung in Sachen ›Ästhetik‹ damals eine Hoffnung war auf das einzig ›politisch korrekte‹ Instrumentarium kompetenter Kunstdeutung nach dem Konkurs alles radikal Diskreditierten.

110 Vgl. eine kritische Bestandsaufnahme bei H. Federhofer, Ein Beitrag zur Ästhetik Neuer Musik des 20. Jahrhunderts, in: Acta Musicologica 20 (1998), S. 116–132.

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Wege post-tonalen Komponierens Vom mentalen Labor zum Soundlabor oder: Technologische Hochzeiten Das Potential der negativen Ästhetik lag in der Legimitierung eines neuen Musikbegriffs. Denn die Epiphanie des ›Sinnlosen‹ als notwendige Negation und Widerstand gegen eine gesellschaftlich erledigte und geschichtlich verbrauchte Kunst aus einer neuen, reflexiven Bewusstseinslage, programmatisch formuliert in der Philosophie der neuen Musik, war nichts anderes als ein Manifest für ein posttonales Komponieren, wie es die Schönberg-Schule begründet hatte. Seine erste Fortsetzung erfährt es im seriellen Komponieren. Als Evolution des ›logischen Projekts‹ der Zwölftontechnik strebt es nach einer Radikalisierung des Konstruktivistischen als zentrale Leitkategorie moderner Musik. Aber eine andere wesentliche semantische Leitkategorie bleibt der Klang. Bereits Ferruccio Busoni ist seit seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1907) ihr ebenso utopischer wie enthusiastischer Prophet. Seit ihrer ersten Entfaltung mit der spätromantischen Klangsemantik führt ihre Evolution über das »Große Orchester« bei Wagners Ring, Richard Strauss, Mahler, dem frühen Schönberg und noch bei Charles Ives schließlich bis zu einem Wendepunkt: dem Kollaps der Hypertrophie im »Kammerorchester« und kleinen Besetzungen. Das war allerdings keine bloße Reduktion. Vielmehr war es eine Art Abstraktion, nämlich die selektive Auswahl quasi analytischer Klangfarbenauszüge aus der Erfahrung eines maximal ausdifferenzierten Klangfarbenkosmos. Ihr (momentanes) Endstadium in der Moderne ist die weitere Selektion ins Materiale mit der Geräuschsemantik, ihre Fortsetzung sind die technologischen Surrogate elektroakustischer Artefakte. Hier trifft sich dann das mentale Kompositions-Labor mit dem realen Klang-Labor unter der gemeinsamen Signatur technoiden Konstruierens. Der Motorenlärm des futuristischen »Bruitismus« wandelt sich zum ätherischen Säuseln der Elektrophone, das Heulen der Sirenen zum Hochfrequenzpfeifen elektronischer Schwingkreise. Kurioser Archetyp des elektronischen Musizierens war ein fast zweihundert Tonnen schweres Ungetüm, das Dampfmaschine mit Generator und Telefon vereinte: das Dynamophon des Erfinders Thaddeus Cahill. Zwölf dampfgetriebene Generatoren erzeugten mittels rotierender Profilscheiben elektrische Wechselströme. Sie lieferten jeweils einen Grundton und sieben Obertöne dazu. Weitergeleitet über Kabel wurden sie im Telefon schließlich zum ›Konzert‹. Weil das Monster 1906 in der »Telharmonic Hall« von New York City aufgestellt wurde, hieß es auch »Telharmonium«. Seine Idee elektrisch erzeugter Klänge entfaltete sich aber erst mit der Erfindung der Elektronenröhre. Die ersten Stationen waren ganz mit der romantischen Vorstellung einer neuen Art von »Sphärenmusik« verbunden. Dieser Romantik kam das Ätherophon (auch: Termenvox) des Russen Lew Termen (Leon Theremin) von 1920 vielleicht

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am meisten entgegen. Dort stand der ›Spieler‹ elegisch neben der Spielantenne und erzeugte mit den Bewegungen seiner Hand die Töne im Feld des elektronischen Schwingkreises »wie von Geisterhand«. Ähnliche Klänge lieferten das Sphärophon von Jörg Mager (1926), die Ondes Martenot von Maurice Martenot (1928) oder das Hellertion von Bruno Helberger und Peter Lertes (1930). Viele Komponisten waren fasziniert. Joseph Schillinger schrieb 1929 seine Airphonic Suite für Orchester und Ätherophon, Edgar Varèse sein Ecuatorial für zwei Ätherophone (1934) und noch 1944 widmete Bohuslav Martinů einer berühmten Ätherophon-Virtuosin, nämlich Lucie Bigelow Rosen, seine Phantasie für Ätherophon, Oboe, Streichquartett und Klavier. Für die zauberischen Klänge der Ondes Martenot gibt es sogar über 500 Werke. Noch Pierre Boulez komponierte dafür (1945/46) ebenso wie Arthur Honegger und Olivier Messiaen (Turangalîla-Sinfonie, 1949). Gleichzeitig entfaltete sich eine aufblühende ›E-Piano‹-Industrie, in der Formen traditioneller Tasteninstrumente mit Elektrizität kombiniert wurden. Dazu gehörte das Elektrochord von Oskar Vierling (1931), der für die olympischen Spiele 1936 in Berlin sogar eine ›Kraft-durch-Freude-Großtonorgel‹ baute sowie den elektroakustischen Flügel, der als Neo-Bechstein Flügel bekannt wurde (1931/32). Höhepunkte dieser Spezies waren schließlich das Trautonium, nach seinem Kon­strukteur Friedrich Trautwein benannt und die Hammond-Orgel, nach Laurens Hammond benannt. Hindemith komponierte 1931 für das Trautonium ein Concertino mit Streichorchester. Seine Weiterentwicklung zum Mixturtrautonium durch Oskar Sala sorgte noch später für die Filmmusik von Hitchcocks Psychothriller Die Vögel und regte den Hindemith-Schüler Harald Genzmer zu vielen Kompositionen an. Das erfolgreichste elektronische Orgel-Surrogat aber baute der Amerikaner Laurens Hammond 1934. Davon verkaufte er in drei Jahren 5000 Exemplare.

Die Geburtshelfer aus den Elektrowerkstätten Die Musikgeschichtsschreibung hat diese Klangerzeuger als Erweiterung des Instrumentariums verbucht. Dabei vergisst sie leicht, dass die Idee nicht aus der Musik kam, sondern aus der Zunft von Physikern und Ingenieuren und ihres Metiers. Der Erfinder des Ätherophons, Lew Termen, war Physiker und Direktor des »Laboratoriums für Elektrische Schwingungen am Physikalisch-Technischen Institut der Universität Petersburg«, bevor er später geniale Abhörwanzen für den Geheimdienst NKWD baute. Jörg Mager, der Vater des Sphärophon, baute sich das Gerät in der »Reichs-Telegraphen-Anstalt« Berlin. Dort wurde das 1927 gegründete »Heinrich-Hertz-Institut für Schwingungsforschung« seit Vierlings Elektrochord zum Motor der neuen E-Piano-Klänge. Friedrich Trautwein war Dozent und Techniker an der »Rundfunkversuchsstelle« von Siemens & Halske. Seinem Trautonium lag keinerlei musikalische Vorstellung zugrunde, sondern eine höchst technische. Er wollte nämlich für das anbrechende Rundfunkzeitalter die häufigen Übertragungs-

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mängel des frühen Mediums und die Schwierigkeiten einer mit dem Mikrophon aufgenommenen Musik durch eine direkte Einspeisung elektronischer Klänge in den Sender vermeiden. Die Idee fand übrigens höchste Förderung durch die Politik: Reichspropagandaminister Joseph Goebbels empfahl 1935 das Trautonium für den Reichsrundfunk. Hindemith und Ernst Toch experimentierten schon 1930 in der Rundfunkversuchsstelle Berlin mit einer Art neuer elektromagnetischer Aufzeichnung (›Grammophonmusik‹). Oskar Sala, von Hindemith auf das Trautonium aufmerksam gemacht, studierte von 1932–1936 Physik in Berlin, bevor er mit seinem Mixturtrautoium ›komponierte‹. Hammond war gelernter Maschinenbauingenieur, bevor er zur Andrews Radio Company in Evanston ging. Im neuen Ambiente von Rundfunk, Fernmeldewesen und Versuchslabor wurde Musik vor allem als ›Schall‹ verstanden und umstandslos der bunten Gesellschaft akustischer Phänomene zugeschlagen: Geräusch- und Stimmenkulissen für Hörspiele und Filmmusik, Hintergrund- und Stimmungsanimation, bis zu den psychedelischen Termenvox-Sounds der Hannibal-Lecter-Serie. Die ästhetische Faszination durch das neue Medium Rundfunk aber hält sich noch bis zu Cage und Stockhausen: Er komponiere häufig bei laufendem Radio bemerkt Cage zu seiner Music of changes (1951). Und Kurzwellen für Ensemble von Stockhausen (1964) läßt die Spieler ihre Klänge zu beliebigen ›Kurzwellenereignissen‹ aus dem Radio erfinden. In diesem Umfeld fand auch eines der ersten Konzerte eines elektronischen Orchesters statt. Bei der 8. Funkausstellung 1932 in Berlin spielte ein ›Ensemble‹ aus zwei Ätherophonen, Hellertion, Neo-Bechstein Flügel, dem elektroakustischen Klavier Vierlings sowie elektrischer Violine, Violoncello und Tongenerator das Largo aus Händels Serse, garniert mit aktuellen Schlagern, wie Ich weiß nicht, was soll es bedeuten. Die »Tagungen für Rundfunkmusik«, 1928 in Göttingen und 1931 in München, bekräftigten die enge Allianz. Noch »Funkoper« und Rundfunkkonzerte und die eigens für das Studio gegründeten »Rundfunkorchester« zehren von diesen alten Allianzen. Auch die weitere Entwicklung der künstlerischen Möglichkeiten wird weniger von musikalischen Kriterien bestimmt, sondern vom technologischen Fortschritt. Dazu gehört vor allem eine neue, zukunftsträchtige Erfindung: das Tonband. Als Magnetophon löst es die ersten Versuche mit magnetisiertem Draht in den USA ab. AEG und BASF erfinden 1935 die Bandaufnahme, 1940 akustisch bedeutend verbessert durch die Hochfrequenz-Vormagnetisierung. Das erschließt dem neuen Medium eine steile Karriere in den Rundfunkanstalten und fasziniert seit den fünfziger Jahren die elektroakustischen Tonstudios vom (N)WDR in Köln bis zum Columbia-Princeton Electronic Music Center. Bezeichnenderweise war auch einer der frühesten Adepten des Metiers, Pierre Schaeffer, der Erfinder der Musique concrète, nicht Musiker, sondern Fernmeldetechniker und ENA-Zögling der École Polytechnique. Er experimentierte seit 1943 im Pariser Studio d’Essai und konnte 1949 eine gegenüber den Futuristen weit ver-

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feinerte Geräuschmusik produzieren. Ihr Kern war eine Collagetechnik, orientiert am Vorbild der Filmschnitttechnik, ermöglicht durch Montage von Bandschnitten mittels der neuen Tonbandtechnologie. Damit erschuf und organisierte er seine ›Schallobjekte‹. Unter »Früher Lautsprechermusik« und Tape Music sind die ersten Erzeugnisse in den Überschneidungen von Radio-, Grammophon- und Tonbandverschnitten in die Musikgeschichte eingegangen. Ihre akustischen Ergebnisse wurden als legitimes Mittel musikalischen Komponierens verstanden und im damals repräsentativsten Showroom der Musik-Avantgarde, den Tagungen in Donaueschingen, vorgeführt: Schaeffers Orphée 53 (1953) oder Stockhausens Gesang der Jünglinge (1955/56). Schon zuvor hatten allerdings Louis und Bebe Barron (1948) sowie Oliver Daniel (1952) in New York gleiche Kompositionskonzepte realisiert, die dann mit Halim El-Dabh’s Leiyla and the Poet (1959) als veritable Tonbandmusik auftraten. John Cage schreibt 1952 seine Imaginary Landscape No. 5 und bemerkt dazu: »It’s not a physical landscape. It’s a term reserved for the new technoligies …«. Wie ein Symbol solcher Sympathien wirkt die Verbindung von Neuer Musik, Elektrolabor und High Tech bei einer Auszeichnung von Rang: dem Ernst von Siemens-Musikpreis. Er gilt als inoffizieller ›Nobelpreis‹ der Musik und kommt jährlich als edler Lorbeer für die aktuelle Musik-Avantgarde aus der Stiftung eines millionenschweren Technologiekonzerns.

Die Musikalisierung von Elektron und Sinuston Allerdings bahnt sich zwischen Lautsprecher, Mehrkanalmagnetophon, den Geräusch-Collagen und einer beginnenden Nutzung elektronischer Tonerzeugung eine neue Stufe des musikalischen Verständnisses an. Ziel ist nicht mehr die Nachahmung traditioneller Klänge wie bei den Tonmöbeln des E-Piano oder der Hammondorgel, sondern die Erschaffung eines neuen semantischen Materials durch elektronische Musikalisierung. Der erste Schritt ist das analytische Aufbrechen und Dekonstruieren der bisherigen integralen ›Physis‹ von Ton und Klang und der Regress auf eine (eigentlich vormusikalische) Primärschicht. Der zweite, eine Neuerschaffung aus den Möglichkeiten der Elektronik: der ›Atomisierung‹ des Materials folgt seine Neuordnung als artifizielle ›Fusion‹ klanglicher ›Elementarteilchen‹. Bezeichnenderweise wird ein akustisches Konstrukt, der reine Sinuston, der in der Welt natürlicher Klänge nirgends vorkommt, zum ›Atom‹ der neuen Klangwelten. Denn er repräsentiert mathematisch die reine Grundschwingung eines Tones, ohne die vielen Obertöne, Formanten, Differenztöne und Einschwingvorgänge, die bei den Tönen sämtlicher Musikinstrumente immer dabei sind. Sie färben als akustisches Charaktermerkmal jeden Klang und ermöglichen damit auch die Unterscheidung etwa zwischen dem (frequenzgleichen) Ton C einer Violine, eines Klaviers oder einer Klarinette.

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Auch diese Entwicklung vollzieht sich im Bannkreis der Rundfunktechnologie. Der Physiker Werner Meyer-Eppler, der in Paris bei Schaeffer die Musique con­ crète kennengelernt hatte, spricht zum ersten Mal von »elektronischer Klangerzeugung« (1949). Zusammen mit Herbert Eimert, Komponist, Musikwissenschaftler und Verfasser mehrerer Lehrbücher zur atonalen Musik (1924) und Reihentechnik (1964) sowie dem gelernten Tonmeister und Komponisten Robert Beyer, gründet er 1951 im damaligen Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) in Köln das erste Studio für elektronische Musik. Karlheinz Stockhausen, der 1963 dessen Leitung von Meyer-Eppler übernimmt, leiht sich 1953 die ersten Sinusgeneratoren aus der Mess- und Prüftechnikabteilung des NWDR. Mit ihnen erzeugt er ›weißes Rauschen‹ und benutzt sie dann, um sich seine Klänge selbst artifiziell zusammenzusetzen. Daraus entstehen die ersten Partituren für ein Sinustongemisch, Stockhausens Studie I und Compositie Nr. 4 med dode tonen von Karel Goeyvaerts. Damit beginnt die »Elektronische Musik«. Auch sie grenzt sich, wie die Dodekaphonie, mit Vermeidungsgeboten vom bisherigen musikalischen Tun ab. Sie soll nicht für ein »elektronisches Spielinstrument« geschrieben sein, womit die Nachahmung alter Klänge durch E-Pianos und Hammondorgel gemeint ist, sie darf kein »konkretes Klangmaterial« enthalten, womit die natürlichen Töne gemeint sind, sie soll den atonalen Satzvorstellungen folgen und darf schließlich nicht als Hörspielmusik des Rundfunks dienen. So wird es jedenfalls an der ersten Blütestätte des neuen Genres in der »Kölner Schule« um das NWDR-Studio formuliert. Schnell wird es zum Treffpunkt einer »elektroakustischen« Avantgarde. Karel Goeyvaerts, Pierre Boulez, Henri Pousseur, Fano, Giselher Klebe, Gottfried Michael Koenig und später Mauricio Kagel experimentieren in den elektronischen Labs. Das Beispiel macht schnell Schule. In Mailand, dem ersten Dorado der Futuristen, wird 1955 das Studio di fonologia unter der Ägide des italienischen Rundfunks RAI gegründet. In Gauting bei München entsteht 1956 das »Siemens-Studio für elek­ tronische Musik« als elektroakustisches Labor für die experimentelle Entwicklung von Studiotechnik des Elektrokonzerns Siemens & Halske. Bald begnügt man sich dort nicht mehr mit Tonbandschleifen, Filtern und Ringmodulatoren, sondern entwickelt ein komplexes Instrumentarium von individuellen, über Lochstreifen programmierbaren Tonquellen einer ›Live‹-Elektronik. Unter der Leitung des Komponisten Josef Anton Riedl entfaltet es von 1956–1968 eine immense Anziehungskraft für das elektronische Komponieren, von Stockhausen, Boulez bis Cage.111 Die rasante Weiterentwicklung der Technik eröffnet schnell neue Möglichkeiten. In den Laboratorien der RCA in Princeton, New Jersey, entsteht 1955 das erste Gerät,

111 Vgl. S. Schenk, Das Siemens-Studio für elektronische Musik, Tutzing 2014 (= MVM, Bd. 72).

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das die bisherigen Klangerzeugungskomponenten vereint und mittels eines Bedienungspults kombinierbar macht. Als Synthesizer geht es in die Musikgeschichte ein: zunächst eine raumfüllende Gerätschaft, ähnlich unförmig wie sein fossiler Ahnherr, das Dynamophon des Thaddeus Cahill aus New York. Aber schon zehn Jahre später tritt das Laborungetüm als umgängliches Klangmöbel von Robert Moog eine unaufhaltsame Karriere an: der modulare Synthesizer mit dem Wendy Carlos, die Beatles, Pink Floyd, Emerson, Lake and Palmer bis »Kraftwerk« ihren Sound erzeugen. 1970 folgt dann der Minimoog, dann der polyphone Yamaha, 1983 auch der digitale (DX7) von Yamaha und schließlich das Physical Modelling der 90er Jahre. Dort wird die analoge Schwingungsphysik natürlicher Instrumente digital nachgeahmt. Dazu gibt es MIDI-Schnittstelle, Sequenzer und Arpeggiator. Der Fairlight Music Computer (1979) markiert den Übergang zum alltäglichen ›Musizieren‹ von heute mit handlichem Keyboard und PC.

Die Karriere der Studioästhetik In der Popmusik sind sämtliche Sound-Technologien seit langem Herz und Hirn ihrer Ästhetik. Schon im analogen Zeitalter gehörten bei den Tourneen ihrer Bands zahlreiche Lastwagen mit vielen Tonnen von Beschallungstechnik zum Betrieb. Der individuelle Sound funktioniert als Identitätsmarke und ist das Produkt aufwendiger Mischpultartistik, samt Playback, Sampling und raffinierten Verfremdungseffekten. Bereits die popklassischen Ohrwürmer der Beatles sind ohne die von ihrem Produzenten George Martin entwickelten Verfahren von Spurverdopplungen, Echos, Kopplungs- und Rückwärtseffekten nicht denkbar. Später ist das mit der Ableton-Software optimiert worden. Mit der digitalen Laptopmusik hat man sich vollkommen von Noten und Partituren gelöst. ›Komposition‹ erfolgt dort modular als Zusammenbau vieler kleiner Muster und Module, die Tracks aus den Loops als Grundgestalten, repetitiv und beliebig kombinierbar, die Clips als eine Art Legobausteine der Softwareprogramme mit den vorproduzierten Klängen der Presetsounds als Zuspielmaterial: ein Dorado der Klangmontage – leicht beherrschbar auch für den Heimwerker der digitalen Moderne. Auch für die Avantgarde der E-Musik gehören seit Stockhausen die elektronischen Zu- und Einspielungen, teils reine Artefakte, teils Mischungen und Verfremdungen, zu den Standards des Komponierens. Ob bei Zimmermann, Zender, Rihm, Jürgen von Bose (Oper Schlachthof 5) oder Jörg Widmann (Oper Babylon) e tutti quanti. Inzwischen bewegt sich die Aufführungspraxis vom Sound zur Performance. Denn nach dem, was als Iconic turn populär wurde (Hubert Burda), will kein Klang mehr im optischen TV- und Video-Zeitalter auf seine Bebilderung verzichten. So versteht sich Musizieren wie Componere immer häufiger als Inszenierung mit Light, Sound, Video, Haptik und gesampelten Realitätsschnipseln in einem Multimediaspektakel, das surrealistische Dada-Traditionen bis Cage und Happening

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in sich aufgenommen hat: eine moderne Façon von ›Gesamtkunstwerk‹. Als polymediales Komponieren mit Assistenz von PC und Internet beherrscht es zu Beginn des 21. Jahrhunderts Klangaktionen und Programme, von Donaueschingen und Darmstadt bis zum Stuttgarter ECLAT-Festival, der Münchener Biennale oder dem Berliner Musikfest. Aber auch in der alten ›Klassik‹-Tradition, wo die unverblümte elektroakustische Intervention noch länger nicht Alltag war, ist eine indirekte längst lege artis. Denn schon seit der Vinyl-LP-Ära regieren die Toningenieure am Mischpult als ästhetische Schiedsrichter und ›Interpreten‹ entscheidend mit. Als Studioästhetik definieren Aufnahme- und Tonträgertechnologien subkutan musikalische Normen, Klangbilder und auch Hörerwartungen. Dazu gehören zuallererst die Perfektionsnormen einer makellosen, fehlerfreien Tonkonserve, die zum beklemmenden Über-Ich aller Live-Konzerte geworden sind. Dazu zählt aber auch ein mit der Digitaltechnologie unerschöpflich gewordenes Repertoire von Manipulationsmöglichkeiten. Nach den einmontierten hohen C’s in exaltierten Sopranpartien berühmter Sängerinnendiven aus der alten, analogen Tape Splicing-Ära der LP sind inzwischen digital transponierte Schubert-Lieder oder virtuelle Klone beliebiger Aufführungen und Interpreten kein Problem mehr. Musste der ehrgeizige, tontechnisch begabte Ehemann der britischen Pianistin Joyce Hatto die über hundert Fake-CD’s seiner Frau noch mühsam in seinem Studio aus Verschnitten anderer berühmter Pianisten klonen, so kann heute jeder PC-Eleve zu Hause seine Klone von Callas bis Pollini produzieren. Selbst ausdrücklich als originale ›Live-Aufnahmen‹ deklarierte Tonkonserven erweisen sich häufig als Kompilationen verschiedener Mitschnitte, wie in Klavieraufnahmen von Vladimir Horowitz bis Alfred Brendel.

Die Verheißung der Parameter Weberns strukturelle Vorselektion des Materials und seine ›pointillistische‹ TöneOrganisation finden ihr Echo in einem ganz anderen Umfeld, nämlich im Erbe des französischen Impressionismus bei der Jeune France-Gruppe der dreißiger Jahre. Eine ihrer führenden Figuren, der tiefgläubige, katholische Organist Olivier Messiaen, inspiriert sich zuerst an den schillernden Welten zwischen religiöser Mystik à la Paul Claudel und den Nachklängen des Tristan-Rausches. Dazu kommen aber exotische Klang- und Rhythmusmuster javanischer und indischer Musik und die systematisch ausgeforschten Naturklänge von Wasserfällen und Nachtigallentrillern bis Amselrufen. Organisiert werden diese sehr subjektiven Klangwelten aber höchst artifiziell, ganz ähnlich wie bei Webern. Etwa seit Offrandes oubliées von 1931 bestimmen vertrackte rhythmische Abläufe mit krebsartigen, in sich zurücklaufenden Patterns, die folglich bei ihrer Umkehrung gleichbleibende Gestalt behalten, sowie eigenwillige metrische Formeln seinen musikalischen Satz, zusammen mit (nur begrenzt) transponierbaren Ton-

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leitern. Meistens ordnet er sie als ›Modi‹ von acht bis zehn Tönen symmetrisch an. Aber durch Überlagerung entstehen Folgen von Akkordmustern und Ostinati mit polytonaler Wirkung, wie im Quatuor pour la fin du temps von 1941. In seinem Orgelzyklus Méditations sur le Mystère de la Sainte Trinité (1969) chiffriert er mit einem Konzept, das er langage communicable nennt, Buchstaben über quasi-kabbalistische Zuordnungen zu Tönen und Ableitungsketten mit theologischen Topoi über leitmotivische Floskeln, modale Skalen und gregorianische Melodien zu komplexen Klangstrukturen. Dazu kommen Fügungen aus Rhythmusmodellen der klassischen indischen Musik und melodische Floskeln aus Vogelgesangsidiomen. Damit will der große Organist seinen persönlichen Gottes- und Glaubensvorstellungen als »Natürliche Theologie« Ausdruck verschaffen: eine »katholische Mystik« der Moderne aus französischer Rationalität.112 Für seine gewaltige, zehnsätzige Turangalîla-Sinfonie integriert Messiaen auch elektronische Klänge. Ihr Titel ist zwar Sanskrit: »Liebeslied«, aber ihr Stoff ist die Verwandlung von Wagners Tristan-Geschichte ins indische Ambiente. Dazu kommen selbstverfasste, surrealistische Texte in bizarrer Silbensprache, wie in Cinq Rechants. Als avanciertestes Opus seines Komponierens gilt Chronochromie (1959– 1960), als ein Opus magnum La Transfiguration de Notre Seigneur Jésus-Christ (1969), als Summe seine einzige Oper Saint-François d’Assise (1975–1992). In beiden verwandelt er mittels komplexer Montageverfahren christliche Vorlagen wie naturalistische Vogellaute zu opulenten Klangemanationen. In Transfiguration arbeitet er die instrumentalen Mimikrys von über 70 Vögeln ein und konvertiert die Lichtmeditationen aus dem Matthäus-Evangelium (17, Vers 1–5) mittels der Freudenschreie des afrikanischen Schwarzkehl-Honiganzeigers in helle Orchestertutti. In seiner Oper erschafft er in acht Bildern mit einem selbstverfassten Libretto nach einer Legendensammlung aus dem 14. Jahrhundert (Fioretti di San Francesco) eine kolossale, vierstündige Hagiographie des Heiligen – und gleichzeitig eine Synthese seiner sämtlichen musikalischen Verfahren. Das Werk versteht sich als hymnischer Eros barmherziger göttlicher Liebe – aber gleichzeig auch als zutiefst persönliches religiöses Bekenntnis. Eher reihend in Scènes franciscaines zusammengestellt als dramatisch strukturiert, vereint Messiaen sämtliche Möglichkeiten aus dem Wagner-, Mahler- und Schönberg-Orchester zu seiner Formvorstellung von Gesamtkunstwerk. Ein großes Orchester (mit an die 140 Musikern) und siebenfach besetzten Streich-, Holz- und Blechbläserensembles mit 10 Kontrabässen, opulentem Schlagwerk samt Xylophon, Marimba, Vibraphon, Xylorimba, Röhrenglocken, dazu drei Ondes Martenot, sorgen für ein ultra-polychromes Klangspek112 Genauere Einblicke dazu liefern verschiedene Texte von Messiaen, wie: Vingt leçons de solfège moderne, Neussargues 1933; Vingt leçons d’harmonie … Paris 1939; sowie vor allem: Technique de mon langage musical, 2 Bde., Neussargues 1942 und sein musiktheoretisches Hauptwerk: Traité de rythme, de couleur et d’ornithologie, Paris 1994–2002, Auswahl in dt. Übersetzung: Olivier Messiaen, Texte, Analysen, Zeugnisse, hg. v. W. Rathert, H. Schneider, K. A. Rickenbacher, Bd. 1, Hildesheim, Zürich, New York 2012 (= Musikwissenschaftliche Publikationen, hg. v. H. Schneider, Bd. 30.1).

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trum. Ein großer Chor (in 10 Stimmlagen für je 15 Stimmen) agiert in Oratoriumsfunktion. Durch an die 15 Leitmotive charakterisiert er seine Charaktere und strukturiert ihre Auftritte. Zur Faktur zählen häufige Verwendung des Tritonus, den Messiaen als »schönstes Intervall« bezeichnet, modale Skalenmodelle, serielle Techniken (wie im siebten Bild bei der Stigmatisierung Francescos), aleatorische Episoden im zweiten Orchesterzwischenspiel (Le grand concert d’oiseaux) und stets intrikate Rhythmusmodelle mit Teilungen bis in Quintolen und Septolen.113 Seine Vorstellung von Religiosität als ein synästhetisch-kollagierter, säkularer Pan-Humanismus zeigt sich in Bekenntnissen wie »Gott hat auch die Häßlichkeiten erschaffen« (zweites Bild), einer Glorifizierung der Lepra als »Buße« (drittes Bild) sowie einem naturalistischen Faksimile mit der »Vogelpredigt« (sechstes Bild): eine dreiviertelstündige Rezitation als eine Art Katalog von über 20 verschiedenen Vogelstimmen. Finale dieser mystischen Spiritualität ist das letzte Bild: die Verklärung des Francesco mit dem »Tod als Erleuchtung« und dem Bekenntnis »Herr, Musik und Poesie haben mich zu dir geführt«. Damit hat Messiaen den Höhepunkt seiner klingenden Theologie erreicht. Sie entspringt inbrünstigem Glauben, wird aber weder orgiastisch noch seelenbewegt verkündet, sondern übersetzt in genau kalibrierte Montagen und präzise organisierte Strukturen eines hochkomplexen Klangidioms. Man kann diese Gestaltungen zwar durchaus als monumentale Entfaltung französischer Klangfarbensensualiät verstehen. Ob sie expressives Ziel von Messiaens Komponieren war ist fraglich, denkt man an ihre Genese aus striktem cartesianischen Konstruktionswillen. Jedenfalls werden sie dadurch auch zur Demonstration eines streng analytischen Organisationskonzepts nach quasi akustischen Parametern. Darin aber liegen die Keime für eine weitere Evolution der Zwölftontechnik. Messiaen synthetisiert über diese Strukturen höchst divergentes ›Material‹ vielerlei Art zu Klangaggregaten durch eine distinkte Parametrisierung. Das heißt, er will alle denkbaren Toneigenschaften nach Beziehungen, Rhythmik, Zusammenklang, Dynamik und Farben, synkretistisch aber höchst präzise, zu einer bestimmten Konstruktion elaborieren. Was also vordergründig als Weiterführung des impressionistischen Klanganimismus à la Debussy erscheinen mag, entwickelt sich tatsächlich als Fortschreibung des ›logischen Projekts‹ der Dodekaphonie. Dort waren ja nur die Hauptqualitäten des Klanges als Elemente von Konstruktion und ›Bedeutung‹ erfasst worden, nämlich Tonhöhe und Tonabstände, sprich Intervalle. Jetzt will man in einer kategorischen Ordnungsvorstellung auch die anderen Attribute als Elemente eines deterministischen Kalküls analytisch erfassen und systematisch regeln: Tondauer, Tonintensität, Klangfarbe, später auch räumliche Wirkung. Damit entsteht das Konzept der Seriellen Musik als radikalstes Organisationskonstrukt musikalischen 113 Nähere Analysen bei: S. Bruhn, Messiaen-Trilogie, 3 Bde., Waldkirch 2008; Th. Hirsbrunner, Olivier Messiaen. Leben und Werk, Laaber 1988; A. Michaely, Olivier Messiaens »Saint Françoise d’Aassise«: Die musikalisch-theologische Summe eines Lebenswerkes, Frankfurt a. M. 2006.

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Satzes. Das posttonale Komponieren findet eine wirkungsvolle Erscheinungsform als Parametrisches Komponieren. In der »Neuen Welt« greift es schon 1947 der von der Mathematik herkommende Milton Babbitt (1916–2011) auf. Seine Three Compositions for Piano organisiert er über eine Art von Reihengestalten, die über die Ordnung der bloßen Tonhöhen hinausgehen. Bald nähert er sich mit dem, was als Integral Serialism, einem Netz innerer Verknüpfungen der ›Parameter‹ eines Stückes bezeichnet wurde, der elektronischen Klangakustik. Er ist Gründungsmitglied des Columbia-Princeton Electronic Music Centers in New York und an der Entwicklung des ersten Synthesizers beteiligt. In Vision and Prayer für Sänger und Tonband (1961) vereint er dann endgültig beides, genau wie es dann auch die Schüler von Messiaen unternehmen. Messiaen selbst realisiert die erste Idee einer seriellen Organisation in seinen Klavierstücken Cantéyodjayâ und dann in Quatre Études de rythme, vorgeführt 1949 bei den Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt. Dort entsteht, gegründet 1946 von Wolfgang Steinecke, ein zentrales Forum der Haute-Avantgarde: Laboratorium »an der Grenze des Fruchtlandes« (Pierre Boulez) und bald Mekka aller ›neuen‹ Musiker. Mit seiner Bindung an die ›Modi‹ bleibt Messiaens Stück zwar noch hinter den Möglichkeiten zurück. Aber Stockhausen, Schüler von Messiaen, der in Pierre Schaeffers Studio erstmals mit den Möglichkeiten der Elektroakustik vertraut geworden war, nimmt den Faden auf: französische Klangsensualität trifft auf den systematischen Geist der ›Musiklogiker‹ aus der deutsch-österreichischen Komponiertradition. Die ersten Früchte davon sind Stockhausens Studie I von 1952 und Kreuzspiel, Punkte und Kontra-Punkte von 1951–1953. Sein Klavierwerk seit 1952 vereint über Mischpult und Regler die Fluxus-Performance-Gestik mit den akustischen Elaboraten einer neuen Klangexotik: jaulende Glissandi, Fiepsen, Brummen und manipulierte Echos nach den Handbüchern für Tongeneratoren-Labore. Sein dramatischer Gesang der Jünglinge im Feuerofen (1955/56), inzwischen schon als »Altes Testament der Neuen Musik« bezeichnet (Roman Reeger) und die Gruppen für drei Orchester (1955–1957) fügen als neues Organisationselement die räumliche Aufstellung dazu. Mixtur für Orchester, vier Sinusgeneratoren und vier Ringmodulatoren (1964), Mikrophonie I (1964) und Mantra (1970) für zwei Pianisten und Ringmodulatoren dokumentieren exemplarisch die ausgereiften Allianzen. Dort erweitert Stockhausen schließlich die Serialität durch eine Übertragung auf bestimmte Formelfolgen und Klanggruppen. Mit der Einbeziehung der tänzerischen Gestik als ›szenische Musik‹ wie in Inori (1974) beginnt er auch die Bühnenaktion zu systematisieren. Sein Summum opus, das Musikprojekt Licht (1977–2003) vereint schließlich alle Strategien seines Komponierens aus seriellem Denken: die ›Superformel‹ als Erweiterung der Formelstruktur, eine orchestrale Besetzung mit Synthesizer, Acht-Kanal-Elektronik (»Oktophonie«) und Schlagwerk bis zur Fixierung sämtlicher Elemente der szenischen Aktion von der Tänzer-Mimik, der Gestik und Choreographie bis zu den Farbencodes.

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Aber auch andere Schüler von Messiaen ließen sich davon animieren. Der Belgier Karel Goeyvaerts führt 1951 seine Sonata pour deux pianos bei den Darmstädter Ferienkursen auf und kombiniert später serielles Komponieren mit Tonbandeinspielungen. Zur gleichen Zeit liefert auch der Messiaen-Schüler Pierre Boulez seine ersten seriellen Kompositionen bei den Donaueschinger Musiktagen ab, dem anderen wichtigen Zentrum der Avantgarde: Polyphonie X für 18 Soloinstrumente und das erste Buch seiner Structures für zwei Klaviere (1952). Dort übernimmt er, als Hommage an Messiaen, eine zwölfgliedrige Reihe von Tondauern aus einem seiner Klavierstücke und macht daraus eine zwölfgliedrige Intensitäten-Reihe sowie eine Folge von zehn verschiedenen pianistischen Anschlagsarten. Gleichzeitig begibt er sich, wie Babbitt und Stockhausen, in die Symbiosen mit den elektronischen Klangtechnologien. Sie führen schnell von bloßen Tonbandstücken und Geräuschmanipulationen zur Integration komplexer Live-Elektronik. Als Mastermind des IRCAM im Pariser Centre Pompidou forciert er ›Klangforschung‹, als Compositeur demonstriert er in Werken der 1980er Jahre wie … explosante-fixe … oder Répons reife Synthesen. Dazwischen setzt er sich immer wieder mit Literatur und Dichtung auseinander, etwa in Pli selon Pli (1957–1962) mit Gedichten von Mallarmé. Seltsamerweise brachte ihm das, obwohl kaum weniger konstruktivistisch als sein sonstiges Œuvre, allerhand Schelte von radikaleren Avantgardisten wie Heinz-Klaus Metzger ein. Der warf ihm vor, dem Publikum »Honig ums Maul schmieren« zu wollen – ein Reflex von Schönbergs Schelte über Alban Bergs »wärmere« Zwölftönigkeit. Bruno Maderna (1920–1973) komponiert in Mailand seriell, ab 1958 elektronisch und doziert ab 1956 in Darmstadt wie auch Luciano Berio (1925–2003), der bis in die 1960er Jahre seriell komponiert (Sinfonia, 1968), und dann, nicht zuletzt wegen seiner ausgeprägten Vorliebe für dekonstruktive Bearbeitungen älterer Musik, ein obsessiver ›Klangforscher‹ bleibt: 1955 gründet er mit Maderna das Studio di Fonologia in Mailand, 1980 ist er Direktor am Pariser IRCAM und 1987 am Tempo-Reale-Institut für Live-Elektronik in Florenz. Seine Omaggio a Joyce musikalisiert dessen ›inneren Monolog‹ à la Ulysses und versteht sich als Pendent zu Stockhausens Gesang der Jünglinge. Für einige wie Strawinsky oder Ernst Krenek bleibt das serielle Komponieren eine Episode. Strawinsky erprobt es in Kompositionen der 1950er Jahre wie Cantata, Septet, In memoriam Dylan Thomas und, dodekaphonisch, noch 1966 mit Requiem Canticles. Krenek, der sich gewandt in verschiedensten Stilidiomen tummelt, versucht sich nach Jazz mit Jonny spielt auf, einem Hit der späten 1920er Jahre und einer neo-romantischen Phase (Reisebuch aus den österreichischen Alpen) auch am dodekaphonen Komponieren. Mit Karl V. (op. 73) schreibt er 1933 die erste ZwölftonOper. Dort organisiert er mit einer einzigen Zwölftonreihe die traumatischen Visionen aus Lebensstationen des Habsburgers, der als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation noch einmal das christliche Weltreich erneuern wollte. Mit einem mittelgroßen Orchester, aber viel Schlagwerk, einer Bühnenmusik, Chor

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und 22 Vokalsolisten fügt er die langen Texte des Narrativs zu einem Wechselspiel von Epik und Dramatik, handhabt aber die Dodekaphonie flexibel. Später bezieht er in sein Komponieren auch elektronische Klänge mit ein, wie im Pfingstoratorium Spiritus intelligentiae sanctus (1955/56), produziert mit den Ressourcen des WDR-Studios, Köln.

Musica ex machina und beste technoide Amalgame – exemplarisch: Karlheinz Stockhausen Die Verbindung zweier wichtiger Entwicklungswege der Musikmoderne: elektronische Klangtechnologie und serielles Satzkalkül erschien als Königsweg bei den Konstruktionskonzepten der Moderne. Denn die totale Kontrolle des Klangmaterials durch seine artifizielle Erschaffung versprach auch die totale Souveränität über alle Ton- und Klangelemente. Ihre Anwendung führt etwa bei Karlheinz Stockhausen zu einer Verbindung von traditionellem Musikmaterial und neuem, elektronischem, die er Metacollage nennt. Er versteht sie als Erweiterung des traditionellen Begriffs von ›Modulation‹ zu einer ›multidimensionalen Intermodulation‹, einer Mischung präformierter musikalischer Objekte und elektronisch erzeugter. Als Transkription zu Hybriden ist sie in seiner Telemusik (1966) und in Hymnen (1966/67) voll ausgebildet.114 Die Verfahren dieser Hybriderzeugung funktionieren über eine höchst komplexe Technik. In einer von ihm als »Gagaku-Schaltung« bezeichneten Anordnung findet auf fünf Kanälen durch doppelte Ringmodulation eine zweifache Frequenzspiegelung der konkreten Tonbandaufnahmen statt. Dabei wird der originale Tonhöhenverlauf durch Filter, Summen- und Differenztöne methodisch verwischt und verzerrt, durch Sinusschwingungen der Modulatorfrequenz moduliert und durch hinzugefügte Frequenzglissandi und Akkorde ergänzt. Das Resultat ist eine neue Struktur als Produkt von Interferenzen, die als ›Bedeutung‹ auftritt.115 Auch Stockhausens siebenteiliger Werkzyklus Licht wird über komplizierte Konstruktionskonzepte nach Art einer seriellen Parametrisierung organisiert. Aus

114 Vgl. K. Stockhausen, Collage und Metacollage. Gefundene und erfundene Musik, Teil 1, in: Kompositorische Grundlagen Neuer Musik. Sechs Seminare für die Darmstädter Ferienkurse 1970, hg. v. I. Misch, Kürten 2009, S. 119; Interview über Telemusik, in: Texte zur Musik 1963– 1970, Bd. 3, hg. v. D. Schnebel, Köln 1971, S. 82; Stockhausen, Hymnen – Nationalhymnen (Zur elektronischen Musik 1967), in: Texte zur Musik 1977–1984, Bd. 5, zusammengestellt v. Chr. v. Blumröder, Saarbrücken 1999, S. 27–32; J. Cott, Stockhausen: Conversations with the Composer, New York 1973, S. 151 ff. 115 Genauer beschrieben bei K. Stockhausen, Interview über Telemusik, S. 83; Marcus Erbe, Karlheinz Stockhausens Telemusik (1966), in: Kompositorische Stationen des 20. Jahrhunderts, hg. v. Chr. v. Blumröder, Münster 2004, S. 159–163; Chr. Utz, Neue Musik und Interkulturalität. Von John Cage bis Tan Dun, in: Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 51 (2002), S. 157–162.

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›Formel‹ wird eine ›Superformel‹, die 36 Kerntöne umfasst. Mit ihr verfährt Stockhausen nach dramaturgischem Konzept. Er ordnet dem heiligen Trompeter Michael eine Formel mit 13 Tönen zu und Eva als Mutter und ›Maria‹ und Verkörperung kosmischer Kräfte 12 Töne. Für Luzifer bleiben nur die restlichen 11 Töne als unvollständige Formel. Dessen manisch-depressive Zählerei wird als der Versuch dargestellt das Handikap der ›Dreizehn‹ zu bezwingen und damit seine Gegenspieler zu übertreffen. Das gelingt nur ein einziges Mal in Luzifers Traum, wo ein Pianist plötzlich die Zahl »Zwanzig« in seinen Flügel schreit. Stockhausen hat die Szene dieser gewaltsamen Bezwingung der Dreizehn als Klavierstück XIII ausgelagert. In der strukturellen Konstruktion schichtet er oft die drei Formeln mit 12 verschiedenen Metronomwerten in 19 Segmenten übereinander. Als ›Matrix von Mikro- und Makroform‹ sollen sie wie eine Art von ›Leitmotiven‹ funktionieren. Der formale Ablauf wird durch Abschnitte organisiert, die sämtlich als an bestimmten Zahlen fixierte Schemata entworfen sind – aber nicht aus dem Erbe von Pythagoras, sondern aus seiner Lehrzeit bei Messiaen. Mit seriellem Determinismus wird auch die Aktionsdynamik der Protagonisten genauestens als Choreographie ›szenischer Musik‹ fixiert. Die Metacollage vereint, wie ein Katalog akustischer Möglichkeiten, Töne und Naturlaute in der »Oktophonie« der Achtkanaltechnik mit Synthesizer und Schlagzeug zu einem Kaleidoskop von Klängen. Über artifizielle Spieltechniken wechseln Geräuschemanationen, instrumentale Soloepisoden und Jaulen, Quietschen und Pfeifen. Die synkretistische Analogie dazu bildet die Text­ ebene der Hauptfiguren als mehrsprachige Collage aus den Schriften sämtlicher Religionen. Würdigt man diesen überwältigenden Aufwand von Mitteln und komplexen Verfahren unter einem ›Bedeutungs‹-Aspekt aus größerem, anthropologischem Verständnis, so erweisen sie sich vor allem als Resultate kunstvoller Operationen mit ›Parametern‹. Sie stehen zwar im Dienst einer Dramaturgie, entspringen aber technoider Phantasie. Sie ›schöpft‹ weniger aus dem Narrativ als aus dem Fundus der technischen Potenziale. Ihr Stimulans scheint die Faszination durch die unerhörten ingeniösen Möglichkeiten dessen, was Heidegger so lapidar als ›Ge-stell‹ bezeichnet – mehr Darstellungsbedürfnis eines neuen Konstrukts als Ausdrucksbedürfnis innerer Erlebenswelten aus seelisch-emotionalem Empfinden, mehr ingeniöse Invention als innerliche Inspiration. Formal weist der Pointillismus seit Webern, über die Parametrisierung von Tönen und Klängen in der Serialität und dann deren elektronische Neuzusammensetzung schon auf die Digitalisierung und die Datenwelt heutiger Technologien: Töne, Klänge, Soundschnipsel, Geräuschfragmente, Rhythmuspartikel – zuletzt nichts als beliebig verfügbare und kombinierbare ›Daten‹ für willkürliche, zufällige oder vielleicht algorithmisch organisierte ›Konstruktionen‹. Das fällt unter jenen Wandel des ›Musikalischen‹, der mit einem neuen Musikbegriff seit dem Paradigmenwechsel der vorletzten Jahrhundertwende verbunden ist.

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Bereits in der Entwicklung von Formelkomponieren und Metacollage orientiert sich Stockhausen am Denken des Philosophen Raymond Ruyer mit seiner »Formgenese« und des Logikers Gotthard Günther. Der will mit einer transklassischen, Nicht-Aristotelischen Logik und seiner Theorie der »Polykontextualität« eine neue Ontologie aus der Verbindung Mensch-Maschine eröffnen. Damit versucht er jene ›logische‹ Begründung einer Metaphysik des technologischen Zeitalters, der sich die »Logischen Positivisten« mit der methodischen Ausgrenzung aller Metaphysik entzogen hatten. Es ist die Eröffnung eines philosophischen Zukunftshorizonts für die technische Moderne als »Metacollage« von Technik und Humanum, wie sie inzwischen mit den Schnittstellen Mensch-Maschine und dem Neuroengineering Realität ist (siehe Kapitel X, S. 720). Das ist aber Stockhausens bevorzugte Position als Regisseur der Klanginventionen an Generatoren, Mischpult und Reglern seit den Elektronischen Studien und dem Gesang der Jünglinge. Dass deren Technologie aus Verfahren stammt, die im Bereich von Militär, Polizei und Spionage zu ganz anderen Zwecken entwickelt wurden, wird er zwar kaum gewusst haben.116 Bewusst aber war seine Wahl aus technischer Affinität dazu. Das Helikopter-Streichquartett aus der Oper Mittwoch aus Licht mit militärischem Fluggerät illustriert sie zuletzt noch höchst spektakulär: Stockhausens empathischer Wille zu einer Musik als technomorph konstruiertes Amalgam von Mensch und Maschine – virtuos evolutioniert vom Futurismus. Es sei denn, man sucht ›Bedeutung‹ in diesen akustischen Schallerzeugnissen nach wie vor als Ausdruckswelt. Dann könnte es als beabsichtigte oder unbewusste Mimesis paradoxaler Seelenzustände verstanden werden, die klangliche Nachbildung traumatischer bis bizarrer Empfindungen oder dramatischer Schreckensnarrative bis zum Mimikry des Dämonischen. Oder – mit Adorno – als Komponieren »in den technologischen Konstellationen«, wo die »Zerstörung des Sinnes wetterleuchtet« (Ph., S. 121), die »Unmenschlichkeit der Kunst« Ausdruck findet (Ph., S. 125) und die »Schocks des Unverständlichen« (Ph., S. 126) erschaudern lassen.

116 Dort handelt es sich um elektronische Versuche mittels Sprach-, Laut- und Phonemanalysen die Möglichkeiten von Spionage- und Abhörtechniken für Militär und Polizei zu verbessern. Der amerikanische Physiker Robert T. Beyer verweist auf diesen Hintergrund im Zusammenhang mit den frühen Werken Stockhausens, besonders der Klangtechnologie von Studie II und der Weiterentwicklung des Franklin Cooper Playback Speech Synthesizers aus den 1940er Jahren, der zur Schulung von Abhörspezialisten eingesetzt wurde. Friedrich Kittler bezeichnete Synthesizer und Vocoder kritisch als »Mißbrauch von Heeresgerät«. Vgl. R. T. Beyer, Sounds of Our Times: Two Hundred Years of Acoustics, New York 1999, S. 353 ff.

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›Astronische Musik‹ und die Geister von Urantia Wer über diese Optionen von ›Bedeutung‹ nachdenkt und die elektronischen Schallkünste Stockhausens nicht nur als Triumph neuer akustischer Möglichkeiten feiert, dem geben seine Kommentare einigen Aufschluss zu seinen mentalen und ästhetischen Einstellungen. »Die Städte sind rasiert, man kann Kunst von Grund auf neu aufbauen ohne Rücksicht auf Ruinen und geschmacklose Überreste« bemerkt er (1953). Damit bringt er sich in die Nähe von Le Corbusier und dessen totalitäre Tabula rasa-Phantasien, die nichts von dem verschonen wollten, das heute als »Weltkulturerbe« Dignität hat und Bewahrung will – nicht einmal Paris. Stockhausen will auch Wien nicht verschonen: »Siehst du, da unten liegt das Lichtermeer von Wien. In einigen Jahren werde ich so weit sein, um mit einem einzigen elektronischen Knall die ganze Stadt in die Luft sprengen zu können« äußert er zum Komponistenkollegen Hans Werner Henze bei einem Ausflug mit gemeinsamen Blick auf das nächtliche Wien.117 Das scheint wie ein starker Vorgeschmack auf seine bekannte Hymne über die New Yorker Anschläge von 9/11 (2001), apostrophiert als »größtes Kunstwerk«. Vielleicht wollte er damit nur der Luzifer-Figur seines Licht-Zyklus emphatische Reverenz erweisen, wie es wohlwollende Deutung will. Oder einfach als elektronischer Ekstatiker dem dramatischen Potenzial eines singulären Spektakels huldigen. Aber seine Begeisterung zeigt eine eigentümliche Affinität zu aggressiven Gewaltausbrüchen, die als semantische Elemente auch vielen seiner Stücke eingeschrieben sind. Ihr Gewicht verstärkt sich durch ein messianisches Sendungsbewusstsein als mentaler Gewaltanspruch. Es äußert sich nicht nur in seinen autoritären ästhetischen Ansprüchen, sondern auch in seinen spirituellen. Stockhausen bekannte sich als rheinischer Katholik, frequentierte in jungen Jahren Kirchen, setzte sich skrupulös mit Inhalten der Bibel auseinander und bezog sich in seinem Künstlertum immer wieder bekenntnishaft auf »Gott« und »Göttliches«. »Gott möge mir den guten Weg zeigen – ich will nichts versuchen, als mich bereit machen …« (Brief an Goeyvaerts, 18.2.1952), »Was ich erfülle, kommt nicht von mir …« (Litanei, Text Aus den Sieben Tagen, 1968). »Der Herrgott ist der Künstler aller Künstler« (Brief vom 10.5.1953 an Goeyvaerts). »Gott ist der größte Musiker aller Zeiten, der größte Komponist« (Gespräch in der Wochenzeitung Die Zeit, v. 19.8.1988), »Menschen, die durch die Musik selbst zu Musik werden« könnten in solcher Annäherung an Gott »zu Reinheit und Vollkommenheit gelangen«. Er erläutert: »Ich habe von Gott gesprochen, also von einer Hierarchie, und ich komponiere hierarchische Musik … aber es ist für quasi alle anderen Kollegen, Komponisten und auch für die meisten Interpreten gar nicht mehr selbstverständ-

117 H. W. Henze, Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955–1984, hg. v. J. Brockmeier, München 1984, S. 310.

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lich, dass die Musik unbedingt übereinstimmen muss mit einer göttlichen Welt. Die meisten negieren auch eine göttliche Existenz, und dann wird die Musik anders beurteilt, nämlich als Selbstausdruck von Menschen, Interpreten.«118 Hier mischt sich in seine Vorstellung von einer »göttlichen Welt« aber schon der Anspruch auf die Erweckung eines »höheren Bewußtseins« wie er es mit dem »vieldimensionalen System der Vermittlung« von heterogenen Elementen durch die Kompositionstechnik seiner »Metacollage« erreichen will.119 Er erklärt: »Alles was ich in Musik formte, hat diese beiden Aspekte: einmal als geschliffene Ratio, und zum anderen dieses neue Bewußtsein, daß durch die Intuition Kontakt hergestellt wird mit anderen Bereichen des Kosmos, und daß in die Musik und in das menschliche Bewußtsein ständig Strahlen einwirken … Wir können nur Bewußtsein erweitern, indem wir das Bewußtsein erreichen, was im Kosmos existiert. Wir ahnen, daß es viel komplexere Gebilde gibt, als wir sind oder als wir verstehen können. Und das drückt eigentlich die Musik seit 1950 ganz deutlich aus: diese vollkommen neue Orientierung einer Musik, die nicht nur Musik des Menschen ist, sondern eine Musik, die ein neues Weltbild, ein neues kosmisches Bild und ein neues Menschenbild ankündigt.«120 Das sind emphatische Bekenntnisse zu spirituellen und kosmologischen Referenzen, wie wir sie aus Antike, Mittelalter und Renaissance kennen. Aber wie löst Stockhausen sie musikalisch ein? Seine Himmel- und Höllenfahrt in der 13. Stunde von Klang der Cosmic Pulses für elektronische Musik etwa, demonstriert sein Verständnis von ›Spirituellem‹ als ein aggressives Lärmpandämonium aus acht Lautsprechern. Nicht anders als in vielen seiner anderen Kompositionen, die ihre Überwältigungsmacht einem akustischen Pleonasmus mit Verstörungspotenzial verdanken, in dem keinerlei Erinnerung an Gestaltungen des Spirituellen präsent ist, wie etwa in den klingenden Dombauten von Palestrina, den Engels- und Lichtweltbeschwörungen Mahlers oder der Strahlungskraft Bruckner’scher Jenseitsvisionen. Und auch keine Analogie zu den Verklärungsklängen christlichen ›Himmelsfriedens‹ oder den sublimen Meditationen nordindischer Tempelmusik, sondern eher zu den brachialen Lärm­ emanationen der Futuristen mit ihrer mentalen Grundierung von Gewalt-, Zerstörungs- und Kriegsphantasien.

118 K. Stockhausen, aus dem Gespräch: China und die Neue Musik v. 16.8.1997 mit dem Sinologen Thomas Täubner (in: Stockhausen, Texte zur Musik, Bd. 14, Kürten 2014, S. 237–264), vgl. für die anderen Zitate, Chr. v. Blumröder, Die Grundlegung der Musik Karlheinz Stockhausen, Stuttgart 1993, S. 82, 88, 99 sowie passim, in: K. Stockhausen, Texte zur Musik, Bd. 1 (1963–1984), hg. v. D. Schnebel, Köln 1963; Bde. 7–10 (1984–1991), ausgewählt u. zusammengestellt v. Chr. v. Blumröder, Kürten 1998. 119 K. Stockhausen, Kompositorische Grundlagen (Kürten 2009), S. 119. 120 K. Stockhausen, Texte zur Musik, Bd. 10 (1998), S. 22.

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Auch der kolossale Werkzyklus Licht erhebt spirituellen Anspruch. Er ist nicht nur als finale Überbietung von Wagners Ring-Zyklus als ›Gesamtkunstwerk‹ konzipiert, sondern reklamiert ähnliches mythologisches Format. Allerdings folgt er keinem tradierten Mythos-Narrativ, sondern einer Privatmythologie aus ganz besonderen, eigenen, esoterischen Quellen. Deren Bedeutung nimmt für Stockhausen seit den späten 1960er Jahren immer weiter zu. Nach der Lektüre von Schriften Jakob Lorbers, Helena Blavatskys und Inayat Khans wendet er sich der östlichen Religionsphilosophie zu, insbesondere Sri Aurobindo, um schließlich bei einer eigenwilligen stellaren Vorstellung anzugelangen, der »Sirius«-Idee. »Ich bin auf Sirius ausgebildet worden und will auch wieder hin, obwohl ich derzeit noch in Kürten bei Köln wohne …«, wie er mehrfach äußert.121 Schon 1975/77 komponiert er sein opus Sirius für elektronische Musik im Achtkanal-Sound. Dahinter aber wird die wichtigste Einflussquelle für den Licht-Zyklus deutlich, das Buch Urantia. Als eine Art New-Age-Gnosis will es die christliche Bibel in der Lesart der »Seventh-Day-Adventists« mit moderner Kosmologie naturwissenschaftlicher Lesart verbinden. Stockhausen macht das Buch seit Mitte der 1970er Jahre zum Zentrum intensiver Lesungen und Diskussionen im privaten wie im Schülerkreis, übernimmt Struktur und Konzepte dieses Narrativs, seine Figuren und Namen und sogar Symbole und Farben daraus, besonders deutlich in Donnerstag aus Licht.122 Auch dieser Zyklus demonstriert wieder Stockhausens zentrale künstlerische Ästhetik, musikalisches Komponieren und technoides Agieren zu einem Amalgam als ›Gesamtkunstwerk‹ von Wagner’schem Format zu verschmelzen. Was sich dem Anspruch nach mit dieser Idee misst, folgt aber im narrativen wie im mentalen Konzept ganz anderen Vorstellungen. In ihnen scheint die subkutane Traditionslinie okkulter Einflüsse theosophischer und anthroposophischer Art aus den 1920er Jahren auf, konkret mit der Rolle des Buches Urantia. Stockhausen erklärt nämlich: »Ich habe es seit vielen Jahren unzählige Male gesagt und manchmal geschrieben: Daß ich nicht meine Musik mache, sondern Schwingungen übertrage, die ich einfange; daß ich wie ein Übersetzer funktioniere, ein Radioapparat bin« (Texte, Bd. 3, S. 365). Danach ist ihm Musik ein »klanggewordener Strom der überbewußten kosmischen Elektrizität« wie er in Freibrief an die Jugend sagt. Da spricht nicht nur der ferne ›Sirius‹-Geist, sondern der aktuelle Empfänger ›astronischer‹ Schwingungswelten, der ausdrücklich einen Rapport 121 Lichtgestalten, Interview mit Ralf Grauel, in: Die Zeit, Magazin Nr. 15 (1998), S. 14, ähnlich auch im Gespräch mit Klaus Umbach, in: Der Spiegel Nr. 44 (1983). 122 The Urantia Book, ediert in Chigaco 1955, aber wahrscheinlich verfasst um 1934 vom Laienprediger William S. Sadler, der den ›Seventh-Day-Adventist‹ angehörte, und ergänzt durch okkulte Botschaften von Medien (wie Wilfred Custer Kellogg). Zu seinem Einfluss auf Stockhausen, vgl. J. Cott (1973); M. Kurtz, Stockhausen. Eine Biographie, Kassel u.  a. 1988; G. Wager, Die Symbolik als kompositorische Methode in den Werken, von Karlheinz Stockhaus, Diss. FU Berlin, 1966 u. engl. Buchedition, College Park, Maryland 1998.

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zwischen seinem Komponieren und wie immer gearteten okkulten Einflüssen herstellt – genau wie bei so vielen Zentralfiguren der Künstlergeneration um 1910/30. Das aber wäre nichts anderes als ein Bekenntnis zu einer Rolle als quasi somnambules Medium nach Façon spiritistischer Sitzungen oder einem Agieren wie nach der Écriture automatique der Surrealisten. Ob als reale Erfahrung, spekulative Vorstellung oder als Bedürfnis nach dem Prestige höherer Legitimation bleibt offen. Nimmt man solche Bekundungen allerdings so ernst wie es Stockhausen fordert, dann bleibt die Frage nach der Natur der mentalen Einflüsse auf seine Musik: woraus er ›schöpft‹. Das wäre die gleiche Frage wie bei vielen von Wagners dunkleren Ring-Inspirationen, bei Skrjabins theosophisch induzierten Prometheus-Phantasmen, Schönbergs traumatischen BildVisionen oder Kandinskys abstrahierten »Urbildern aus dem Geisterland«. Bei Stockhausen wären es dann die ›astronischen‹ Schwingungen, die Imagos einer astralen Geisterwelt aus seinem ›Sirius‹-Licht, mit denen er sein Amalgam technoider Klänge, oft bruitistischer Aggression und subkutaner Unheimlichkeit als eine Art elektronischer Esoterik erschafft. Deshalb steht ihre Ausdruckswelt eher den Chimären, Cyborgs und Androiden, vielleicht nach Art von Avatar-(wahlweise: Atavar-) Wesen des neu angesagten ›Transhumanismus‹ näher als der natürlicher menschlicher Affekte und seelischer Empfindungsgestaltungen. Sein technoider Klangkonstruktivimus formuliert einen paradoxalen Erfahrungsraum und entwirft eine andere Anthropologie.

Deus ex Ego Von da aus erhellt sich auch viel von Stockhausens Verständnis des »Göttlichen«. Rhetorisch nimmt er zwar viele Vorstellungen und Metaphern christlicher und fernöstlicher Spiritualität in Anspruch. Sogar sein frühes elektronisches opus, der Gesang der Jünglinge, gestaltet einen religiösen Topos aus dem Buch Daniel und war für eine Aufführung im Kölner Dom konzipiert. Aber Stockhausen übersetzt ihn nicht nur, wie Messiaens ›klingende Theologie‹ in hyperkomplexe Strukturen, sondern besetzt ihn mit subjektiven Bedeutungen ganz anderer Art nach mentalen Einstellungen, die bis weit in seine private Lebensgestaltung reichen.123 Ein Blick auf das Gottesbild christlich-abendländischer Tradition und Theologie mit einem »Gott der Liebe« und der »Gnade«, kulminierend im Erlösungstopos 123 Einblicke in Aspekte seiner persönlichen Lebensgestaltung erlaubt die Biographie einer seiner Ehefrauen, vgl. M. Bauermeister, Ich hänge im Triolengitter: Mein Leben mit Karlheinz Stockhausen, München 2011. Dort werden viele von Stockhausens ethischen Maximen deutlich, etwa hinsichtlich von Partnerschaftsbeziehungen oder seiner autoritär-patriarchalischen Mentalität: »Wenn du nicht besser bist, dann diene mir.« In diesen Kontext gehören auch die Konflikte bei seiner Lehrtätigkeit an der Musikhochschule Köln, die Stockhausen 1977 die Professur entzog sowie seine Ausladung bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik, 1974.

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von Jesus Christus, zeigt die Unterschiede zu Stockhausens Vorstellungen genauso wie zur Spiritualität fernöstlicher Traditionen mit dem »All-Erbarmer« aus der Tugendlehre Buddhas, der Befreiung vom selbstsüchtigen Ego irdischen Materialismus, mit Askese und kontemplativer Versenkung. Stockhausen usurpiert solche Vorstellungen für seine Spiritualität und sein Gottesbild. Äußert sich diese ›Spiritualität‹ musikalisch als technoider ›Spiritismus‹, so zielt seine Inanspruchnahme des »Göttlichen« auf eine ästhetische Suprematie seines Ego: sein ›Göttliches‹ erscheint als Machtprojektion dieses Ego. Er stellt es nicht demütig in dessen Dienst, wie ein schöpferisch-inspiriertes Künstlertum von der Gregorianik bis Bach, Beethoven, Mozart, Bruckner oder Mahler und Gluck, sondern in den Dienst seines Ehrgeizes als selbstbestimmter Demiurg neuer Bedeutungswelten. Es ist die Demonstration eines herrischen Egos, mehr von der Qualität des Nietzscheanischen »Übermenschen« als von der des Erlösers am Kreuz oder den Bodhisattvas der »All-Liebe«. Und er demonstriert es nicht nur musikalisch, sondern auch autoritär: »Wenn du nicht besser bist, dann diene mir.« Kritisch bemerkt ein zeitgenössischer, theologisch gebildeter und lange mit ihm befreundeter Komponistenkollege: »Hier spiegelt sich ein bestimmtes ideologisches Bewußtsein – das von Herrschaft. Die Werke selbst sind wohl eher eine Art künstlerischer Verwirklichung dessen, was in der Freudschen Schule frühe Phantasien von Omnipotenz und Allmacht der Gedanken heißt« (Dieter Schnebel, 1971). Ein englischer Komponistenkollege bringt ihn sogar in die Nähe zum »Imperialismus«.124 So erscheint Stockhausen in doppelter Hinsicht als exemplarischer Repräsentant des Technozäns: einmal ästhetisch als erfindungsreicher Entwerfer einer Musik aus dessen Technologien, zum anderen phänotypisch mit egomaner künstlerischer Selbstermächtigung als Demiurg solipsistischer Weltgestaltung. Damit ist er womöglich eine ästhetische Antizipation jener Homo Deus-Phantasien (Yuval Noah Harari), in die sich die abendländische Moderne bewegt.

Lockerungsstrategien Als Kontrapunkt zum parametrischen Konstruieren der seriellen Musik kam bald die Idee auf, dem Interpreten einen gewissen individuellen Aktionsraum inmitten der totalen Determination zu erlauben. Vielleicht war das, was jetzt als Aleatorik daherkam, eine historische Erinnerung an alte musikantische Tugenden. Tatsächlich aber war es fast genauso ›parametrisch‹ gedacht wie vorher.Was nämlich wie die fernste Schwundstufe aus Generalbasszeiten, der alten Cadenza im Solokonzert oder der blühenden Verzierungspraxis in der alten Musik erscheint, hatte mit dem freien, schöpferischen Phantasieren in Improvisation oder Variation wenig zu tun. Unter Aleatorik verstanden nämlich ihre ersten Komponisten wie Koenig, Stock-

124 Cornelius Cardew in seinem Buch Stockhausen serves Imperialism, London 1974.

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hausen und Boulez die streng reglementierte Einmontierung eines anderen ›Parameters‹, der im technischen Methodenkatalog der Statistik als ›Zufallsereignis‹ rangiert. Pierre Boulez erläuterte seine methodische Anwendung in seinem Vortrag Alea in Darmstadt (1957).125 Größere Freiheiten gewinnt dieses kalkulierte ›Würfelspiel‹ erst bei John Cage. Allerdings mit surrealistischem Hautgout. In seinem Concerto for Piano and Orchestra (1957/58) fixiert er zwar jeden Part genau, den des Pianisten sogar als »Buch mit 84 verschiedenen Kompositionsarten«. Aber es steht jedem Spieler frei, jeglichen Part seiner Wahl ganz oder teilweise in jeder Reihenfolge zu spielen. Der Dirigent soll nur eine ›Gangart‹ signalisieren. Trotzdem meint es nicht den freien Geist musikantischer ›Improvisation‹. Denn Cage schreibt vor, dass die Spieler soweit wie möglich im Raum voneinander getrennt aufgestellt werden, damit jede Interaktion in einem Hören aufeinander unterbunden wird. Damit befreit Cage die Musik nicht zu spielerisch-musikalischem Kommunizieren und Reagieren, sondern macht sie zur Demonstration solipsistischer Anarchie. Er will damit nämlich ausdrücklich die Idee falsifizieren, Musik als Prozess sei ›kontrollierbar‹ oder bedürfe irgendwelcher Kategorien herkömmlicher Formbildung. Das verfällt dann schließlich unter Indeterminacy ganz einem New-Age-getönten Irrationalismus zwischen rituellen Würfelspielen, profanierter unter Verwendung des tiefsinnigen altchinesischen Orakelbuchs I-Ging, den spontanen Aktionen performativer Situationen oder computergenerierter Einlagen. Inspiriert von Cage, überlässt dann etwa Witold Lutosławski in seinem Streichquartett (1964) die gesamte Ausführung der Partiturstimmen den Spielern, nur locker punktuell koordiniert über einige gemeinsame Treffpunkte. Ähnlich konzipiert Wolfgang Rihm sein zweites Streichquartett von 1970, wo die Musiker ihre eigenen Solokünste zwischen festgelegten Treffpunkten demonstrieren sollen. Bei Mathias Spahlinger spielt in seinem Monumentalwerk Doppelt bejaht. Etüden für Orchester ohne Dirigent (2009) ein Orchester vier Stunden lang – wenn es will oder auch nicht – nach spontanen Entscheidungen aus einem Konzeptkatalog mit 24 Vorschlägen. Das kann quasi Hyper-aleatorisch als »das permanente Infragestellen sämtlicher Klangereignisse« verstanden werden, wie Spahlinger erklärt. Aber eigentlich geht es Spahlinger um das Infragestellen der »erstarrten Machtverhältnisse im Orchester« und seine Befreiung aus »entfremdeter Arbeit«. Damit soll, modellhaft, gesellschaftliche Emanzipation durch herrschaftslose Gruppendynamik realisiert werden. Aber das fällt bereits unter ›Musikalische Politologie‹ (siehe unten, S. 678). Die bei Stockhausen so komplex wie detailliert ausgearbeitete Kollaboration von Serialität und elektronischer Klangtechnologie zu ›Transformationen‹ mit »Me-

125 P. Boulez, Alea, in: Werkstatt-Texte, Berlin 1972, S. 100.

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tacollage« oder »Intermodulation« findet ihre prominenten Analogien bei Luigi Nono, Luciano Berio bis Henri Pousseur und Bernd Alois Zimmermann. Luigi Nono (1924–1990), von 1950 bis 1960 regelmäßig in Darmstadt vertreten, schreibt mit seiner Azione szenica: Intolleranza (1961) ein Hauptwerk seines seriellen Komponierens. Dabei bedient er sich mit elektronischen Zitaten von Flugzeugmotoren und Bombenexplosionen zunächst noch aus dem Fundus des italienischen Futurismus. Auch Luciano Berio (1925–2003) schreibt zuerst seriell, ist 1955 an der Gründung des Studio di Fonologia musicale in Mailand beteiligt, tritt prominent im amerikanischen Tanglewood auf, arbeitet dann 1980 am IRCAM in Paris und 1987 schließlich bei Tempo Reale für Live-Elektronik in Florenz. In seinen Aneignungen ›alter‹ Musik von Monteverdi bis Mahler und Schönberg sowie den Bearbeitungen eigener Musik führt er vielerlei intrikate Collagekünste vor, eine der bekanntesten ist die Sinfonia für Orchester und acht Stimmen (1968/69). Henri Pousseur (1929–2009), Eleve von Darmstadt und Donaueschingen seit 1952, nachhaltig inspiriert von Stockhausen, arbeitet mit Berio in dessen Mailänder Studio 1957 zusammen und gründet 1958 das Studio de musique électronique APELAC in Brüssel. In seinem opus magnum, der »Variations-Phantasie im Stile einer Oper«, Votre Faust« (1969), collagiert er Material von Monteverdi bis Boulez mit Dodekaphonie, Serialität, Aleatorik und Elektronik. Ein anderes prominentes Hauptwerk der seriellen Musik komponiert Bernd Alois Zimmermann (1918–1970) mit seinem Musikdrama Die Soldaten (1960/63). In der Tradition von Lulu und Wozzeck bezieht es seine sozialdramatische Inspiration aus dem Reinhold Lenz-Drama – verschärft als Anklage gegen (selbsterlittene) Kriegsgräuel. Und wie Stockhausen will Zimmermann eine Art Gesamtkunstwerk als ›Totales Theater‹. Als Auftragswerk für die Kölner Oper ursprünglich in sieben verschiedenen Temposchichten konzipiert und deshalb für eine Aufführung auf sieben Dirigenten angewiesen (damals Grund der Ablehnung durch die Hausdirigenten Wolfgang Sawallisch und Günther Wand), organisiert er es schließlich pragmatisch durch Taktstriche für die Kölner Uraufführung 1965 unter Michael Gielen – nach 565 Proben. Er demonstriert darin eine Serialisierung aller musikalischen Parameter. Allintervall-Zwölftonreihen mit einem Ambitus vom Halbton bis zu 5/12-Ton-Intervallen sorgen für höchste strukturelle Kompliziertheit, die Instru­ mentierung für höchste klangliche. Dazu bietet Zimmermann 256 Instrumente mit 68 Schlagzeugern, drei Ensemblegruppen mit Bühnenmusiken und einer JazzCombo, 17 Solisten und 18 Schauspielern für Sprechgesang auf, sowie Tonbandzuspielungen über Lautsprecher mit Panzer-, Flugzeug- und Raketentriebwerken, Bombendetonationen, Militärkommandos und elektronischen Klängen, vereint zu einem synkretistischen Montagekonzept. Das ›moralische‹ Programm einer leidenschaftlichen Anti-Kriegs- und Gewalt­ anklage findet sich sympathetisch als Gewaltmusik artikuliert. Ihr ExtremklangSzenario maximaler Katastrophengestik wird so zur rational konstruierten Mime-

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sis radikaler ›Seinsverzweiflung‹, zum »ganz großen Ausdruck für die Situation der Menschheit« (Michael Gielen, Interview von 2014) – obwohl die Vorlage nur die ergreifende Geschichte vom Niedergang eines von treulosen Soldatenlieben verratenen Mädchens erzählt. Für sein größeres, existenzielles Format hat Zimmermann deshalb als Schluss ein akustisches Inferno hinzugefügt: »Ein über alle Lautsprechergruppen umlaufender Schreiklang von größter Lautstärke« schreibt er in der Partitur vor – ein desaströses Finale, das vielleicht schon an Zimmermanns Zusammenbruch seiner Vita denken läßt. Sein letztes Werk, die Kantate Ekklesiastische Aktion, endet als Dokument auswegloser Verzweiflung mit der Klage »Weh dem, der allein ist«. Danach wählt er, 1970, in schwieriger emotionaler und persönlicher Lage, den Suizid.126

»Wo stehen wir heute?« – »Jeder wo anders« (Hans Werner Henze, 1970) oder: vom postseriellen Komponieren zum hybriden Synkretismus Das serielle Konzept bleibt zwar im Repertoire der Möglichkeiten, zeitigt aber bald mehr Aussteiger als Anhänger. Die Reihe der prominenten Renegaten, vor allem aus dem Lager der doktrinären Darmstädter Schule, reicht von Arvo Pärt, Krzysztof Penderecki und Henryk Górecki bis Hans Werner Henze, Aribert Reimann und Wolfgang Rihm. Aber schon seit den 1960er Jahren bewegen sich auch Stockhausen, Boulez, Nono, Schnebel und Lachenmann mit eigenen Konzepten weg von dort. Paradoxerweise versteht sich sogar ein Komponist, dessen Ästhetik eigentlich eher unter die »Logischen Projekte« der »Wiener« Positivisten fällt, als Kritiker des seriellen Komponierens: Iannis Xenakis (1922–2001). Der studierte Ingenieur und langjährige Assistent von Le Corbusier setzt zwar auch auf rechnerische Kalküle – aber andere. Er entwickelt mit eigenen algorithmischen Verfahren eine Stochastische Musik. Dabei orientiert er sich vor allem an Geometrie und Kurvenkalkulationen architektonischer Entwürfe und verwandelt sie mittels hochmathematisierter Transfers aus Wahrscheinlichkeitsrechnung, Spieltheorie, den Verteilungsketten von Gauß bis Markow, Boolescher Algebra und Chaostheorie in Tonmuster und Klangaggregate.127 Mit Metastasis für 61 Instrumente macht er damit 1955 Furore in Donaueschingen. 1958 ist er zusammen mit Le Corbusier und Edgar Varèse im Multimedia-Gesamtkunstwerk Poème électronigue zur Expo in Brüssel vertreten und 1966 gründet er das CEMAMu (Centre d’Etudes de Mathématique et Automatique Musicales) in Paris als elitäre Musikkonstruktionswerkstatt. Höchst dekoriert 126 Vgl. die Biographie seiner Tochter: B. Zimmermann, »con tutta forza«. Bernd Alois Zimmermann – ein persönliches Portrait, Hofheim 2018. 127 Vgl. J. Xenakis, Formalized Music. Thought and Mathematics in Composition, Hillsdale-New York 1962.

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mit dem Kyoto- und dem Polar Music-Price, aber auch dem Beethoven-Preis der Stadt Bonn, verstand er sein musikalisches Kalkül als alternative Rationalität zum seriellen. Auf die große Vaterfigur der »Neuen Musik«, Arnold Schönberg, halten bereits Boulez (1952) und dann Helmut Lachenmann (1974) ätzende Leichenreden. Später zieht auch György Ligeti ein düsteres Fazit über »diese moderne Musik in der Krise«: »Jetzt stehen wir vor einer Ruine« und er erklärt 2003: »Ich glaube weder an die moderne Musik noch an die ›Avantgarde‹, noch an diese Neo-Richtung«. Das ist die Bewusstseinslage, aus der sich eine pluralistische Avantgarde formiert, deren individuelle Polyphonie zum Inbegriff der »Neuen Musik« am Anfang des 21. Jahrhunderts geworden ist. Sie definiert sich aber nicht allein durch ihre Spannweite, sondern auch durch ihre Metamorphosen und Prozesse, mit denen abendländische Ausdruckswelten zu konzeptionellen Konstruktionswelten werden. Der Wandel erscheint als ein Prozessgeschehen vieler Subjektivismen zwischen der weiteren Elaborierung des alten Tonsatzdenkens zum »Komplexismus«, den Hybridbildungen aus den Beständen der Musikgeschichte und der Suche nach immer ›neuen‹ Klanginventionen. Das umfasst die Gewinnung neuartiger Semantiken durch die ›Materialerforschung‹ von der Mikrotonalität über die akustische Physik der Klangerzeugungsprozesse bis zu Geräusch und Lärm: Das wären dann die completely liberated sounds, denen Cage einst alle musikalische Zukunft attestierte. Dazu kommt schließlich ein »Polymediales Komponieren« zwischen Installation, Performance und interaktivem Agieren mit Video, Computer und Internet. Daneben aber entfaltet sich das Gegenteil dazu: der Rückzug auf Unterkomplexität in der Minimal- und Meditationsmusik bis zu den Schweige- und Verstummens­ etüden von Cage. Und dazu noch die verhohlene, aber ungebrochene Fortdauer eines Komponierens aus der Tradition der »Spätromantik«.

Fluchten und Flüchtlinge aller Art, von Schostakowitsch, Ligeti, Henze, Cerha, Scelsi, Penderecki, Kurtág und Pärt bis Rihm Zentral in diesen Prozessen bleibt weiterhin der Klang: das seit der Romantik so skrupulös weiterentwickelte Klangdenken vom Wagner’schen Raffinement bis zu Ligetis Atmosphères und einer analytisch bemühten Klang- und Geräusch›Forschung‹. Luigi Nono artikuliert es als Forderung nach einer »Recherche im Inneren des Klanges«. Später wird sogar Helmut Lachenmann dafür gepriesen, den Klang aus der ›konstruktivistischen Tradition‹ der europäischen Moderne befreit zu haben.128 Bereits die ersten Befreiungsformen vom seriellen Determinismus vollziehen sich aus solchem Klangdenken.

128 A. Wellmer (2009), S. 270.

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»Musik ist die Verkörperung der Intelligenz, die in den Klängen ist« erklärte schon Edgar Varèse 1916 als Vorhut rigoroser Klangbefreiung. Aber er versteht es als Imperativ »der Musik größere Freiheit« zu verschaffen. Und in einer provokanten Lesart: »Was ist Musik außer organisierter Lärm?« Damit übernimmt er das Programm der Futuristen mit einer systematischen Erweiterung der Schlagwerkund Geräuschspektren. Denn nach einem poetischen Frühwerk vollzieht er eine radikale Wendung zur Art brut. Amériques (1921/27) mit Feuerwehrsirenen und Schiffspfeifen und Ionisation (1929/31) für 41 Schlaginstrumente und 12 Sirenen illustrieren es. Mit Trinum (1950/54) erfolgt die Hinwendung zur elektronischen Klangtechnologie und als Mitstreiter im Multimediaspektakel Le poème électronique liefert er das kongeniale akustische Passepartout für Le Corbusier zur Weltausstellung in Brüssel, 1958. Auch in der »Neuen Welt« strebt etwa Henry Cowell als evolutionärer Experimentator mit seinen ›Tontrauben‹ und Klavierclustern schon seit den 1920er Jahren nach neuen Klangemanationen, wie in Tiger (1928). Das markiert den Aufstieg des »Präparierten Pianos«, das John Cage schließlich in seinem Credo an den noise als Musikform mit Radiergummi, Holz- und Lederstücken zwischen den Saiten ausstaffiert. Nicht als Verfremdung, sondern als findige Erweiterung kultiviert er es in seinen Sonatas and Interludes (1946–1948) und schließlich noch in seinem opus 34’46.776 for a pianist (1954). Viel subtiler verfährt die französische École spectrale. Sie bemüht mit der Analyse von Teiltonspektren und Einschwingvorgängen eine quasi impressionistische Musikalisierung des ›Materials‹ aus der Tradition von Debussy, Ravel und Messiaen. Als Forum solcher Klangexkursionen formiert sich die Groupe l’Itinéraire (1974) mit Gérard Grisey, Michaёl Levinas und Tristan Murail. In einem Manifest definiert Hugues Dufourt 1978 die spektrale Musik als »Aufstand gegen die Unterordnung des Klanges unter die hyperlogischen Verbindungen« der seriellen Musik und strebt eine neue Poetik der Klangenergien bis zur Evokation »harmonischer Lavamassen« an. Dazu bedient er sich der Sonogramme von Tonspektren aus dem Pariser IRCAM, den akustischen Laborforschungen aus dem Studio der StanfordUniversity und der musikalischen Informatikmodelle von John Chowning. Wie wichtig das Klangdenken geworden ist, zeigt das vehemente Plädoyer einer Posthermeneutischen Musikästhetik (Nikolaus Urbanek, Dieter Mersch, siehe Anm. 186). Dort wird nicht nur tonalem, dodekaphonischen und seriellem Komponieren der Prozess als ›Klangvergessenheit‹ gemacht, sondern auch aller analytischen ›Partiturwissenschaft‹ und ihrem ›strukturellen‹ oder ›teleologischen Verstehen‹. Stattdessen wird das kognitive Eigenrecht des Klanges eingefordert und der ›Eigensinn des Hörens‹ in sein ästhetisches Recht gesetzt. Als Erfahrung klanglichsinnlicher Präsenz und ›performativer Ereignishaftigkeit‹ legitimiere es auch das ›Unreine, Unabgegoltene, Widerständige des Sinnlichen‹ bis zu den Sound Studies mit der Indifferenz zwischen musikalischen Klängen und kontingenten Umweltgeräuschen.

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Auf Distanz zur Dodekaphonie geht auch ein wirkungsmächtiger Vertreter der russischen Musiktradition. Dmitrij Schostakowitsch erklärt 1959: »Ich möchte betonen, daß die Ausdrucksmöglichkeiten der Zwölftonmusik äußerst gering sind. Bestenfalls ist sie in der Lage, Zustände der Niedergeschlagenheit, der völligen Erschöpfung und der Todesangst auszudrücken« und ergänzt 1966: »als Selbstzweck taugt sie nicht«.129 In dieser Bedeutung verwendet er sie dann auch als Ausdrucksmittel gelegentlich in seinen Sinfonien, markant in seiner 14. Sinfonie op. 135, einer Folge von elf Sätzen nach Art eines »Totentanzes« (s. S. 501). Dort erlangt eine im ersten Satz »De profundis« nach dem »Diesirae« konstruierte Zwölftonreihe als düstere Entfremdungschiffre thematische Bedeutung. György Ligeti verwirft nach seiner frühesten Phase im WDR-Studio Köln Dodekaphonie wie Serialität als »Neo«: »Ich will eine schmutzige Musik, eine irisierende Musik«, erklärt er 2003. Er kommt ohne elektronische Akustik aus und sucht seine neuen Klänge mit einer Klangflächenkomposition ohne Intervallprägnanz und rhythmische Profile. »Ich denke in musikalischen Strukturen und Formen, in denen das Zeitliche räumlich konzipiert ist – als ob alles gleichzeitig anwesend wäre.«130 Als ›Sonoritätsnetze‹ einer ›Klangraumkomposition‹ haben sie seit 1960 Konjunktur. Zwar sind sie hoch elaboriert in ihren Binnenstrukturen mittels einer nach Farbe, Dichte und Volumen organisierten Mikropolyphonie. Aber im inte­ gralen Höreindruck reduzieren sie sich zum diffusen Oszillieren opaker Klangta­ bleaux, wie im 20-stimmigen Kyrie von Ligetis Requiem und in Apparitions oder in Atmosphères (mit einem 56-stimmigen Kanon in der zweiten Hälfte). Dieses Konzept wirkt weiter, wie etwa bei Adriana Hölszky (Jahrgang 1953), die in ihren Stücken oft heterogene Schichten von Mikropolyphonie aufbaut: Musik sei ihr wie »eine Lavamasse« bemerkt sie dazu. Ligetis Orgelwerk Volumina realisiert die Klangraumidee über kompakte Clusterbildungen, die der Spieler mittels eines Organo pleno sämtlicher Tasten und Register sowie durch An- und Abschalten der Windzufuhr in dynamischen Sequenzen auf- und abbaut (was beim Versuch der ersten Aufführung in Göteborg, 1962, prompt zum Kollaps der Orgel führte). Aber letztlich sucht Ligeti, wie so viele andere, nach neuen musikalischen Organisationsstrategien. Eine erste davon zielt auf eine systematische rhythmische Komplexion. Eine zweite, spätere, auf eine andere Tonalität jenseits des temperierten Systems samt Chromatik und Mikrotonalität. Seine rhythmischen Strategien verdanken sich allerdings maßgeblich Anregungen durch subsaharisch-afrikanische sowie indonesische Musik. Seine Erkennt129 D. Schostakowitsch, Erfahrungen, Aufsätze, Erinnerungen, Reden, Diskussionsbeiträge, Interviews, Briefe, hg. v. Chr. Hellmundt u. K. Meyer, Leipzig 1983, S. 141 u. 246. 130 G. Ligeti, »Ich will eine schmutzige Musik …«. Über die Krise der modernen Musik, in: NZfM 164 (2003), Nr. 3, S. 12–17 und: Kompositorische Tendenzen heute, in: Gesammelte Schriften, 2 Bde., hg. v. M. Lichtenfeld, Mainz 2007, Bd. 1, S. 112–116 u. Bd. 2, S. 117 (= Veröffentlichungen der Paul-Sacher-Stiftung, 10,1 u. 10,2).

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nisse aus Idiomen wie der Aka-Pygmäen, der Amadinda-Xylophonmusik Ugandas, wo drei Musiker auf einem Instrument zusammen spielen und komplexe, sehr rasch ablaufende Schlagmuster erzeugen, sowie von Mbira und Kalimba und den Gamelan-Ensembles verwendet er zur Komposition einer eigenen, hochkomplexen Polyrhythmik. Nach Poème symphonique für 100 Metronome (1962), dem Cembalostück Continuum (1968) und dem Klavierkonzert von 1985/88 erreicht sie in seinen 18 Klavier­etüden (in drei Büchern) einen Höhepunkt. Der ursprünglich geplante Titel verrät die Intention: Études polymétrique. Mit aparten französischen Titeln für die einzelnen Stücke will er zwar Debussy-Flair assoziieren. Aber in ihrer Machart erweisen sie sich als hochkomplexe Konstruktion verschiedener Rhythmusschichten, deren Realisation eine fingerbrecherische Akrobatik des Spielers erfordert. Bezeichnend für das höchst Konstruktivistische sind detaillierteste Spielanweisungen, bis zur Angabe von sekundengenauen Spieldauern. Die Etüde Coloana infinita (Buch 2, Nr. 14 a) offenbart in einer Fassung für das mechanische Player-Piano gewissermaßen den Idealtyp der Absicht. Aber schon die erste Etüde Désordre ist, wie Ligeti dazu anmerkte, »eine versteckte Hommage an die neue Wissenschaft des determinierten Chaos«. Von da aus hat man seine rhythmischen Konstruktionen als Anwendung der mathematischen Theorie der Fraktale gedeutet, was bei seiner Neigung zur Mathematik (die er eigentlich studieren wollte) möglich erscheint. Aber ähnlich wie bei seinen Klangtableaux reduziert sich höchste Komplexität im synthetischen Höreindruck meistens zur Wahrnehmung von opaken Verschmelzungsprozessen. Der Versuch, in ihren Aggregaten trotzdem eine Art musikalischer ›Gestalten‹ zu erfassen, führte zur Beschreibung von inherent patterns. Zu neuen Klangaggregaten will Ligeti schließlich mit einer nicht-temperierten Diatonik und den daraus entstehenden natürlichen Obertonspektren mit ihren komplexen Schwebungen kommen. Im Hamburgischen Konzert (2000) erprobt er es mit einem Ensemble von zwei Bassetthörnern, Solohorn und vier Naturhörnern. Wenn er sich auf das Musiktheater einlässt, wie in Le Grand Macabre (1978), ironisiert er das Genre aus surrealistischer Tradition. Die Nummernoper nach einem Sujet aus dem deftigen Pieter Breugel-Ambiente liefert mit harten Schnitten und krassem Realismus durch viel Groteske und Persiflage eher eine Art Opernsatire: ein ironischer Abgesang an die Tradition von Monteverdi bis Wagner, Verdi und Richard Strauss. Zwar operiert Ligeti mit den alten Versatzstücken der Gattung, travestiert sie aber mit bizarrem Overacting zum Comic: die Anfangs-Toccata für zwölf Autohupen als Parodie auf Monteverdis Intrata zu seinem Orfeo bis zu den Protagonisten als Clitorio für Amanda und Spermando für Amando (in der ersten Fassung), dazu extreme Vokal- und Instrumental-Register und rhythmische Komplexionen aus dem Arsenal seiner diesbezüglichen Fertigkeiten. Ein großes Orchester wird mit viel Schlagwerk, Türklingeln, Hupen und Mundharmonika ergänzt und schwelgt in Cluster- und Reihenbildungen. Vielleicht verrät es etwas von Ligetis Faible für bizarre Erotik oder von seinem Verständnis von musikalischem

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Humor, wie es sich bereits in seiner Sinfonie für Metronome Poème symphonique als Spielart einer rhythmischen Obsession äußert. Auch Friedrich Cerha (Jahrgang 1926) entkommt dem anfänglichen seriellen Determinismus mithilfe des ›Klangs‹. Im Orchesterzyklus Spiegel (1960/61) organisiert er ein Netzwerk von Klangfeldern zu Klanglandschaften, allerdings durch expressive Ausbrüche weit individualisierter als Ligeti. In den Streichquartetten verwendet er Mikrotonalität, in den Etüden für Klavier (3 Bücher) verlangt er extreme Virtuosität und in seinem Musiktheater knüpft er an Alban Bergs Wozzeck an: Baal (1974–1989), Der Rattenfänger (1984/86) und Der Riese vom Steinfeld (1997/99). Dabei geht es immer um sozialkritische Auseinandersetzungen mit Macht und Gesellschaft, die in Baal (nach einer Textvorlage von Bert Brecht) als Konflikt zwischen sozialer Anpassung und individueller Glückssuche durch Aleatorik, Tritonusmotive und Permutationsbildungen von Halbtonketten musikalisiert werden. Der Autodidakt Giacinto Scelsi (1905–1988), der selbst nicht wirklich komponierte, sondern allenfalls improvisierte, setzt vor allem auf das mikrotonale Schillern einzelner Klänge. Inspiriert vom Klavieristischen wie von der Ondioline, einem frühen elektronischen Instrument, das mit Hilfe von Filtern den Klang virtuos von Sphärenmusik bis Percussion modellieren konnte, nimmt er seine Einfälle episodisch auf Tonband auf. Dann überlässt er sie (größtenteils unbekannten) professionellen Tonsetzern zur eigentlichen Kompositionsarbeit. Inspiriert fühlt er sich besonders von Skrjabin – aber auch vom Astrologen, Dichter und Komponisten Dane Rudhyar sowie indischen Philosophien und der Anthroposophie von Rudolf Steiner. Daraus entsteht ein Klanganimismus, der ihm das Attribut ›Yoga-Klang‹ eingebracht hat. Andere, eher strukturell entworfene, Klangkonzepte zeigen sich etwa bei Bernd Alois Zimmermann. Er strebt nach einem Raumklang durch wechselnde Klangdispositionen und synchrone Schichtung verschiedener Zeitstrukturen, den er als »Kugelklang« bezeichnet.131 Eigentlich aber will er alle distinkten Zeitstrukturen mittels seines »Zeitdehnungsprinzips« überwinden und bezieht sich mit seiner ›Morphologisierung‹ der Klang-Zeit dabei auf die Philosophien von Bergson und Husserl. Für sein Werk Photoptosis für Orchester (1968/69) gibt er selbst Hinweise auf die Affinität seiner monochromen Klangfarbenflächen in Tratto und Intercommu­nicazione zu visuellen Vorlagen, nämlich von Wandflächen, gestaltet vom Maler Yves Klein in Gelsenkirchen.132 131 B. A. Zimmermann, Vom Handwerk des Komponisten, in: Bernd Alois Zimmermann, Intervall und Zeit, Aufsätze und Schriften zum Werk, hg, v. Chr. Bitter, Mainz 1974, S. 35. 132 Vgl. Zimmermanns Werkkommentar zu »Photoptosis«, in: Zimmermann (1974), S. 115. Dazu auch: »Ein Komponist müsse sich vor allem mit der Zeit auseinandersetzen; denn in einer Komposition würde die Zeit gewissermaßen ›überwunden‹, sie würde zum Stillstand gebracht. In der Überwindung der Zeit liege für ihn das Glück des Komponierens, die Gewalt der Musik würde auf diese Weise deutlich«, nach: U. Stürzbecher, Werkstattgespräche mit Komponisten, München 1973, S. 180.

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Daneben entwickeln andere Renegaten der seriellen Konzepte noch weitere Strategien. György Kurtág (geb. 1926) schreibt ab 1959 nach einem tonalen Frühwerk, orientiert am spätromantischem Idiom, aber auch an Bartók und Folklore, eine hochkonzentrierte, aphoristische Kammermusik. In ihrer geschliffenen Lakonik erinnert sie an Webern, aber gebrochen über Messiaen, evolutioniert an Stockhausen und oft introvertiert bis zur verhauchenden Trauermusik in ihren Finali. Bezeichnend für ihr mentales Ambiente ist Kurtágs Wahl der Texte: Hölderlin, Kafka und besonders Beckett. In den Kafka-Fragmenten op. 24 (1987) erhalten die herben Repetitionen der großen Sekunde thematische Bedeutung. Titel wie Zeichen, Spiele und Botschaften, Grabstein für Stephan oder Stele evozieren eine Vergänglichkeitsstimmung, die auch in seinen entfernen Reminiszenzen an Robert Schumann oder den klavieristischen Bach-Transkriptionen auftönt. Mit … quasi una fantasia … (1988) folgt er den Tendenzen zu Raumklangkonzepten. Als finales Bekenntnis zu Samuel Beckett und dessen Existenzialismus des Fatalen entsteht schließlich seine Oper Fin de partie (erste Fassung, 2018) nach Becketts Endspiel. Blind, lahm und alt, gefesselt an Rollstuhl und Mülltonnen, agieren seine vier Protagonisten in 14 Szenen, überschrieben mit bewährten Titeln wie Prolog, Monolog, Dialog, Song, Roman oder Vaudeville. Aber er eliminiert fast alle spielerische Komik der Vorlage und fügt die kurzen, episodischen, anti-dramatischen Ereignisketten zu Metaphern totaler Hoffnungslosigkeit. Bereits bei Beckett Ausdruck moroser Sprachlosigkeit, übersetzt seine Version davon Sprachliches in bloße Partikelfolgen von Lauten. Umso finessenreicher artikuliert das groß besetzte Orchester, ergänzt mit Tamburin-Schellen, Celesta, Klavier und Akkordeon im Idiom der typisch Kurtág’schen Klangdelikatesse feiner Valeurs. Krzysztof Penderecki (1933–2020) elaboriert noch in Anaklasis (1960) die Klangkünste der »Sonoristik« mit komplexen Clustern und 34 Schlagzeugern. Aber nach Fluorescences (1962) für Schreibmaschine, Klingeln, Trillerpfeifen, Eisensägen und Sirenen steigt er aus dem seriellen Dogmatismus von Darmstadt samt der elektronischen Geräuschästhetik aus. Schon der Klangteppich von Polymorphia für 48 Streicher endet mit einem lapidaren C-Dur-Schlussakkord. In seiner Lukas-Passion (1966) schließlich und mit der zweiten Sinfonie hat er sein eigenes, weitgehend tonal orientiertes Stilidiom gefunden. »Wenn es heute Avantgarde gibt, dann ist es die Wiederholung von dem, was wir vor 30, 40 Jahren gemacht haben, das ist nichts Neues«, erklärt er 2014 zu seinem ästhetischen Wandel. Auch Arvo Pärt (Jahrgang 1935) will nach dodekaphonischem und seriellem Frühwerk (wie Nekrolog,1960) und den Bach-Collagen der 70er Jahre dem »Stacheldrahtzaun der Serialität« entkommen. Mit einer schöpferischen Orientierung an immer früheren Schichten der abendländischen Musikgeschichte entwickelt er seit Für Alina (1976) ein Komponieren, das die Reduktion sucht, nicht die weitere Komplexion. Dabei feilt er an jedem einzelnen seiner Tonelemente, wie seine minutiösen Skizzen und Entwürfe zeigen, mit höchster Akribie. Aber sein Klang­ idiom, auch als »Tintinnabuli«-Stil (Glöckchen-Stil) bezeichnet, bleibt stark dreiklangbezogen, oft bestimmt von struktureller Zweistimmigkeit sowie deutlichen

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Symmetrien durch Proportionskanons. Damit greift er nicht nur auf die musikalische Faktur von Gregorianik, der Notre-Dame-Schule und der Renaissance zurück, sondern identifiziert sich auch mit ihrem Geist. Seine Johannes-Passion (1982), viele Formen der liturgischen Musik (wie Magnificat, Stabat Mater, Hymnen, Credo, Psalmen, Te Deum) und geistliche Musik werden zum Zeugnis eines spirituell bestimmten, religiösen Ausdrucksverlangens, das nicht dem technoid inspirierten Zeitgeist folgt. Den gleichen Rückbezug auf religiös inspirierte Vorlagen wählt auch Henryk Mikołaj Górecki (1933–2010). Nach einem seriellen Frühwerk wie Scontri (1960) komponiert er seit den frühen 1970er Jahren mit ausdrücklicher Rückbesinnung auf tonale und modale Idiome. Dort wird seine Sinfonie der Klagelieder (1976) mit ihren drei Sätzen in einem programmatischen »Lento« für großes Orchester zu einem seiner bekanntesten Werke. Auch Hans Werner Henze (1926–2012) beginnt im Banne von Darmstadt samt dodekaphonischer Lehre bei René Leibowitz. Aber schon früh versteht er sich vor allem als politischer Komponist. Bald sagt er sich ostentativ von der Darmstädter Szene los und emigriert 1953 nach Italien, nicht allerdings aus dem Metier des politischen Komponierens. Dort erweist er ihm in der gesellschaftspolitisch sensibilisierten Adorno-Ära mit dem Eintritt in die Kommunistische Partei Italiens noch lange seine Reverenz, genau wie Dallapiccola, Berio und Nono (siehe unten, S. 678). Seine persönliche Freundschaft zum kommunistischen Bürgermeister des toskanischen Montepulciano führt 1976 zur Gründung seiner »Musikwerkstatt«, der Cantiere Internazionale d’Arte. Als ausstrahlungsmächtige Wirkungsstätte Neuer Musik macht er sie zu einer Gegengründung zum Festival dei Due Mondi, das Gian Carlo Menotti seit 1958 in Spoleto inszenierte. Politisches Bekenntnis ist auch seine Zeit im revolutionären Kuba von Fidel Castro (1969–1970), wo er lehrt und dirigiert. Besonders eindringlich bis zum Agitprop artikuliert sich seine politische Botschaft in zentralen Werken seines Musiktheaters. Bereits die Konfliktthemen im Prinz von Homburg (1958/59) und den Bassariden (1965) lassen sich als Auseinandersetzung zwischen selbstbestimmtem Ich und der ominösen Macht der Staatsraison verstehen. Im Prinz von Homburg (nach Kleists Schauspiel zum Libretto geformt von Ingeborg Bachmann) wird die Dialektik zwischen dem »Sein des Einzelnen und der Staatsraison, die Mißachtung von Gesetz und Ordnung und der Mut sich ihr zu widersetzen« (H. W. Henze) zur idealistischen Verherrlichung mit Happy End. Als Kollision wird es in der Musik erlebbar – mit rhythmischen Komplexionen à la Strawinsky, einer extremen Vokalpartie des Hauptakteurs und serieller wie dodekaphonischer musikalischer Faktur. Die sinfonische Oper Die Bassariden transportiert schon 1965 unter ihrem antiken Topos der Bakchen von Euripides (für das Libretto bearbeitet von W. H. Auden) eine politische Botschaft. Die Auseinandersetzung zwischen Dionysos und ›Vernunft‹ bei der Kontrolle des Volks will Henze als gesellschaftlichen Kampf zwischen Freiheit und Unfreiheit gelesen sehen: das Thema der deutschen 1968er-Studentenrevolten. Mit einem riesigen Orchester und ausgefeilten Instrumentations-

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künsten musikalisiert Henze eine komplexe Allegorik. »Wo immer Kunst sich noch positivistisch geben will, verhält sie sich als lügenhaftes Abziehbild von Kultur« erklärt er in Musik als Akt der Verzweiflung (1968) sein radikales Ethos aus der Ideologie des 1968er-Zeitgeistes und der Adorno-Schule.133 Ein Chef d’œuvre ist das szenische Oratorium Das Floß der Medusa (1968), dann folgt die Antikriegsoper Wir erreichen den Fluss/We come to the river (1974/75) und El Cimarrón, ein »Rezital für vier Musiker«, die tragische Biographie eines entlaufenen kubanischen Sklaven, die in Kuba entstand. Seine neunte Sinfonie ist »Den Helden und Märtyrern des deutschen Antifaschismus« gewidmet. In seiner Oper Das verratene Meer (1986/89), nach einer Vorlage des Japaners Mishima Yukio, mutiert der politische Konflikt zum sozialkritischen. Henze entwickelt ein persönliches Familiendrama zwischen Moral und Macht, narzisstischer Selbstbespiegelung und dem ›System‹ in einer orgiastischen Ästhetik von Blut, Gewalt und Brutalität, musikalisiert mit Reihenstrukturen und metrischen Variationsmustern samt Clusterbildungen und Naturgeräusch-Einspielungen. Weiteren Aufschluss über sein politisches und sozialkritisches Denken geben seine Essays und Schriften.134 Aber Henzes Spannweite seines Musiktheaters reicht über die politische und sozialkritische Grundierung weit hinaus und bewährt sich auch im rhetorisch von ihm inkriminierten ›Positiven‹. Er komponiert auch im Genre der komischen Oper, meistens mit etablierten zeitgenössischen Librettisten, von W. H. Auden und Ingeborg Bachmann bis Hans Magnus Enzensberger. Dazu gehören Der junge Lord (1963/64), die buffoneske, volkstümliche Kammeroper Die englische Katze (1983), das Vaudeville–Singspiel La Cubana oder ein Leben für die Kunst (1973) mit polytonal verschiedenen Gruppen von Klangapparaten und denaturierten Instrumenten wie präpariertes Klavier und ›unsauberen‹ Intonationen. Er schreibt aber auch Märchenopern wie Undine (1956/57), König Hirsch, erste Fassung 1956, zweite als Il re cervo oder Die Irrfahrten der Wahrheit (1963) und L’Upupa, eine orientalisch inspirierte Märchengeschichte aus italischem Lebensgefühl (1999–2003). Dort verwendet Henze, wie in Phaedra (2007), wieder opulentes Schlagwerk, in letzterem mit zwei Percussionisten, die mit 28 verschiedenen Instrumenten auf Fell, Holz und Metall agieren. Aber er komponiert auch in allen anderen musikalischen Genres mit gleichem souveränen Einsatz sämtlicher verfügbarer Stilmittel. Henzes riesiges Œuvre umfasst neben den 26 Opern und Kantaten und Schauspielmusiken, 10 Sinfonien, 14 Ballette, aber auch Instrumentalkonzerte in allen möglichen Solobesetzungen und Kammermusik mit allen solistischen Instrumenten, vom Duo bis zum Oktett, sowie Klaviermusik, Chöre und Vokalsolos, Hörspiel- und Filmmusik.

133 In: H. W. Henze, Schriften und Gespräche 1955–1979, Berlin 1981, S. 122 ff. 134 H. W. Henze, Essays, Mainz 1964; Henze (1984); P. Petersen, Hans Werner Henze. Ein politischer Musiker. Zwölf Vorlesungen, Hamburg 1988.

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Henze will sich aber in sämtlichen Genreklassen und allen Konstruktionsmitteln von Zwölftontechnik, Serialität und bizarren Aggregaten von Instrumentalklängen stets als Ausdrucksmusiker verstanden wissen: »Meine Musik besteht darauf, dass es Rot und Schwarz und Grün und Blau, Gefühle und Seelenzustände gibt, die in der Musik dargestellt werden.«135 Sein Nimbus unerschöpflicher Kreativität erhält sich bis zu seinem Tod, obwohl es heißt, dass allerhand Werke nach dem tragischen Tod der Dichterfreundin Ingeborg Bachmann viel seinen Schülern und Helfern verdanken (bereits in der Druckedition der Knastgesänge. Drei Musiktheaterstücke, Mainz 1995, findet sich der Zusatz: »Komponiert von Jörg Widmann«). Und er bleibt sich ästhetisch als spielerischer Fabuliergeist zwischen plakativem Sozialkritizismus und virtuosem Profi moderner Stilmittel treu. Noch als 86-Jähriger wendet er sich, ausgerechnet in der Stadt, in der Richard Wagner aufwuchs und wo er selbst sterben wird, scharf gegen ihn und rät kategorisch von dessen Aufführung ab. »Schreck und Graus« sei ihm seine Musik gewesen und als »Hitlers Lieblingsmusik« zeuge sie von »schlechtem Geschmack«.136 Er versteht sich dagegen als sensibler Humanist, der bekennt, dass er als einziges Mozarts Werke auf eine Insel mitnehmen würde. Wenn er jedoch äußert: »Ich finde es gut, wenn die Leute an nichts glauben, keine Religion. Mit dem Tod ist finita la commedia«137, dann meint er wohl einen anderen Humanismus als den von Mozart. Eine ähnliche, schier unerschöpfliche Kreativität zeichnet auch Wolfgang Rihm (Jg. 1952) aus. Er gilt, ähnlich wie Henze, als Repräsentant einer Moderne, der neben origineller Klangerfindung auch wirkungsvolle Klangsinnlichkeit nachgesagt wird. Auch Rihm bedient mit immenser Produktionskraft alle Genres: drei Sinfonien und viel Orchestermusik, Kammermusik mit 13 Streichquartetten, Trios und Sextetten, Klaviermusik, Lieder und Gesänge und ein imposantes Œuvre für Musiktheater. Dort setzt Oedipus (1986/87) als Gestaltung einer antiken Schreckensszene schon eine Stilmarke mit orchestralem Überdruck und disparaten, strapaziösen Vokalpartien. Die Eroberung von Mexiko (1987–1991) orientiert sich an Antonin Artauds »Theater der Grausamkeit«. Seine surreale Textvorlage, versetzt mit Lyrik von Octavio Paz, thematisiert in der Begegnung des spanischen Eroberers Cortez mit dem Aztekenkönig Montezuma kolonialen Völkermord und zugleich subjektives Beziehungsdrama. Die Besetzung von Montezuma als dramatischer Sopran deutet die

135 H. W. Henze, Reiselieder mit böhmischen Quinten. Autographische Mitteilungen 1926–1995, Frankfurt a. M. 2001. 136 Interview in der Dresdner Morgenpost v. 4.5.2012. 137 Gespräch mit Volker Hagedorn, in: NZZ v. 5.9.2007.

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personalen Aspekte des Aufeinandertreffens der Protagonisten an, Rihms Bemerkung am Schluss der Partitur: »Ende (?) der Oper«, schlägt eine surrealistische Volte. Mit mehreren verteilten Ensembles als ›Klanginseln‹ erprobt er ein Raumklangkonzept samt instrumentalem Pathos über Perkussionsbatterien, Elektronik und gewaltsamen Clusterentladungen, und mit sprachlichen Denaturierungstechniken schärft er die Vokalpartien.

Vor dem Klang als ›Klang‹: Die Semantisierung der Geräusche Ganz anders verfährt die Liga der systematischen Geräuschkomponisten auf der Suche nach neuen Klangemanationen. Ihr gründlichster und präzisester Protagonist ist Helmut Lachenmann (Jahrgang 1935). Maßgeblich inspiriert von Nono, ästhetisch wie ideologisch, entwirft er in seinem Komponieren eine ganz eigene Semantik, in der sich Klangdenken und Materialerkundung treffen. Er entwickelt sie aus den Entstehungsprozessen der Töne und den prämusikalischen Stadien der Klangverfertigung. Seit Intérieur I (1965/66) und dem Cello-Stück Pression (1969/70) arbeitet er mit systematischer Ausdauer an seiner musique concrète instrumentale, mit der nicht Tongestalten komponiert werden, sondern die akustisch-physikalischen Manifestationen der Spielaktionen. Er hat ihre Klangtypen, ähnlich wie der Futurist Russolo seine instrumentalen Geräuscherzeuger, systematisch untersucht, geordnet und katalogisiert.138 Deshalb bleibt in Pression natürlicher Instrumentalklang nur ein marginaler Extremfall, genau wie im Klavierkonzert Ausklang, oder höchstens Assoziationsgeste an eine abgelegte Musikwelt wie in Staub. In seiner einzigen Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (1997), seinem Summum opus nach über zwanzig Jahren Arbeit daran, bestimmen die Geräuschkomponenten der Anstreich-, Anblas-, Klappen- und Kratzeffekte, das Geschabe raschelnder Styroporplatten zwischen tonlosem Blasen in Mundstücke und Bläserexplosionen die Semantik: Naturalismus avant la musique. Dazu kommen exotische Bedeutungsträger wie japanischer Gong oder die Mundorgel ShÔ, türkische Becken und Tam-Tam als Quellen neuer Klangaggregate. ›Melodie‹ versteht er, wie Schönberg und Nono, als ein Erledigtes, und zwar doppelt: einmal historisch mit Schubert und Schumann, aber auch qualitativ als Relikt von Irrational-Magischem, denn sie ist ihm »direkter Träger unbearbeiteter Emotionen«. Provokant fragt er, ob »eine Melodie überhaupt Musik sei« wie anläßlich der Uraufführung seiner Komposition My Melodies für acht Hörner und Orchester (2018) und dekonstruiert sie 138 Seine Systematik ordnet die verschiedenen Klangtypen als Elemente seines neuen Komponierens nach Kategorien wie Kadenzklang, Impulsklang, Farbklang, Ausschwingklang, Fluktuationsklang, Texturklang oder Strukturklang je als »Bedingung des Materials«, vgl. H. Lachenmann, Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966–1995, Wiesbaden 1996, S. 1–20.

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deswegen methodisch.139 Weil ihm auch der Naturalismus »des singenden Menschen« ein unerwünschter »tonaler Rest« ist, wird, wie bei Nono, Rihm oder Holliger, Sprache als Text und Narrativ systematisch zu Phonemen, Fragmenten und Fetzen denaturiert Was als neue Klangakustik auftritt kann auch als zweifache Reduktionsstrategie verstanden werden. Zum einen als Etappe auf dem Weg zum Verlust der geschichtlich erworbenen Sprachfähigkeit von Musik (siehe Kapitel V). Zum anderen als Verwandlung der Sprache selbst vom distinkten Sinnträger zum amorphen Lautmaterial. Wer solche Sprachzerfetzungen als Kannibalisierung von Sprache empfindet, missversteht aber ihre ästhetische Absicht. Sie folgt vielmehr dem zeitgenössischen Konzept einer Semantisierung vormusikalischer Akustikphänomene, die nicht als Reduktion verstanden wird, sondern als Gewinn an Klangmöglichkeiten im Prozess einer »Befreiung der Musik aus konstruktivistischen Traditionen« (siehe Anm. 128). Aber in Lachenmanns Musiktheater fällt auch das szenische ›Theater‹ einer Reduktion bis zum Handlungsstillstand anheim, deshalb will er es als »Musik mit Bildern« verstanden wissen. Über die akribische Organisation seines akustischen Materials verschafft Lachenmann der genetischen Subebene allen musikalischen Ausdrucks den Auftritt als ›Bedeutung‹. Damit eröffnet er eine neue strukturelle Ebene im modernen Komponieren. Durch sie will er »ein analog der alten Tonalität konkret wirksames Spannungssystem« als neuartige Musikidiomatik erschaffen (Musik als existenzielle Erfahrung, S. 256). Vor allem will er damit aber dodekaphonisches wie serielles Komponieren hinter sich lassen. »Die Zwölftonmusik Schönbergs klingt wie Erbrochenes für diejenigen, welche Stimmigkeit des Materials in ein neues Musikdenken hinüberretten wollen.« Mit schonungsloser Polemik bezeichnet er die Dodekaphonie als »trostlose Musik«, attestiert ihrem Erfinder, dass »die Komplexität seiner Kompositionstechnik in ihrer Manieriertheit zugleich ihre Armut« sei (S. 261 u. 262) und bescheinigt dem Versuch, das Tonalitätssystem mit der Reihentechnik zu überwinden, eklatantes »Misslingen« (S. 253). Das erledigt den Theoriekanon der »Zweiten Wiener Schule« und ihrer Eleven als ästhetischen Anachronismus. Eine andere Form von prä-musikalischer Materialsemantik als ›Bedeutung‹ kultiviert Dieter Schnebel (1930–2018). Aber sein Medium ist nicht die Physik des Instrumentalklangs, sondern die Physiologie der menschlichen Stimme und des 139 Zitat aus: Musica viva Talk mit Helmut Lachenmann und Beat Furrer, München 4.5.2018 anlässlich der Uraufführung des Werks. Neben der ›Melodie‹ will er damit, wie er aus gleichem Anlass ausführt, noch ein ›Trauma‹ kompositorisch bewältigen, der »gleichsam apriorischen Ausstrahlung« des Hornklangs, »der er der ganzen Zeit ständig ausgewichen ist … Sie war meiner Klangwelt irgendwie im Wege«. Deshalb verwendet er »die acht Hörner als Geräte zur Produktion von Schwebungen, von ratternden Flatterzungen und Luftgeräuschen, die letztlich die gewohnte Aura des feierlich rufenden Horns samt transzendentoider Fata Morgana im Konzertsaal aufs Spiel setzen« (Gespräch mit Jan Brachmann, F. A. Z. v. 7. 6. 2018, S. 15).

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Atmens. Er bezeichnet sich nämlich als ›Maulwerker‹, der die Kehlkopfvirtuosität naturalistisch ästhetisiert. Luft wird angesogen und ausgedrückt und über den Kehlkopf, im Mund durch Zunge und Lippen zum Schallereignis geformt. Daraus gestaltet Schnebel Zyklen wie seine Maulwerke (1968–74), erweitert für Gesten und Körper (1995–1997), schließlich für Stimmen und Instrumente (Glosso­ lalie 61, Th. W. Adorno 1961 zum 60. Geburtstag gewidmet und Kafka-Dramolette, 2008). Auch in Atemzüge (1970/71) huldigt er eigens der Physiologie des Atmens und in seinem späten Kammertheater Utopien (2014), einer Dramaturgie des ›Gehens‹ in allen Modi vom Marschieren, Kriechen, Robben, Wandern, Rennen bis zum Schleichen und Springen. Beispiele für andere Varianten von Geräuschsemantisierung finden sich bei Charles Ives bis Nicolaus A. Huber oder Enno Poppe. Bereits Ives sucht den Regress auf Außermusikalisches – aber nicht mehr als ostentative Schrillheit des Maschinenlärminstrumentariums der Futuristen, sondern im Banalisierungsmodus einer quasi ordinary language alltäglicher akustischer Umweltkulissen. In seiner Komposition Central Park in the Dark (1906), Schwesterwerk zu The Unanswered Question (bezogen auf was ›Musik‹ sei), liefert das Streicherensemble des Orchesters ein zehntaktiges Ostinato als Grundierung über das ganze Stück: quasi das ›weiße Rauschen‹ einer imaginierten Naturkulisse. Darüber malen die anderen Instrumentengruppen Geräusche aus der großstädtischen Umgebung, von den Rufen aus einem nahen Casino, einer Polizeipfeife in den Holzbläsern bis zu einem dreifachen Tutti-Forte, wenn ein irritiertes Droschkenpferd ausbricht und den Zaun überrennt. Nicolaus A. Huber (Jahrgang 1939) bezieht, ähnlich wie Schnebel, auch die Körperlichkeit mit ein. Huber lernt bei Günther Bialas, Stockhausen und Nono und entwickelt dann vorakustische Körperaktionen und die mit dem Musizieren verbundene Physiologie als semantische Kategorien. Damit gewinnt er dem Klavierklang seine Bedeutung als Resultat verschiedener Körperaktionen ab. Für seine komplexen rhythmischen Modulationen auf allen Satzebenen reklamiert er »multifocales Hören« und erklärt die »intentionale Unschärfe musikalischer Gestalten« als »thalasscale Regression« zur ›Bedeutung‹. Vor allem aber geht es ihm, wie Lachenmann, um Reduktion. Er versteht sie als Negation von Struktur, Dynamik und allen sinnlich-emotionalen Manifestationen von ›Ausdruck‹. Das demonstriert er in Stücken wie Eröffnung und Zertrümmerung (1993) für Ensemble, Tonband und Videoprojektion Ad libitum, wo er alle Musik aus den beiden Schichten des Visuellen und Musikalischen am Schluss zum farblosen Sinuston reduziert. Noch radikaler verfährt er mit einer »erfüllten Leere« im Klavierstück Beds and Brackets oder im Orchesterstück Harakiri mit der Aufhebung aller strukturbildenden musikalischen ›Parameter‹. Schließlich enthüllt aber Huber sein Verfahren bei Der Ausru-

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fer steigt ins Innere (1984) als ausdrückliche Kritik am bürgerlichen Hören und der »Entlarvung seines gesellschaftlichen Ortes«. 140 Enno Poppe (Jahrgang 1969) verfolgt seine Reduktionsstrategien auf Geräuschklängen mit Kompositionen wie seinem Zyklus Holz-Knochen-Öl (1999–2004). Dort präsentiert er eine Materialstudie als Metapher für organisch-pflanzliches Wuchern von der Substanz bis zu Zerfall und Tod, wobei er zu deren Strukturierung mathematische Modelle verwendet. Im Zyklus Speicher erprobt er verschiedene Glissando-Modelle, was dem Stück das Prädikat ›Katzenmusik‹ eingetragen hat. Aber in Rad für zwei Keyboards und Welt, Salz, Arbeit bedient er sich auch der Mikrotonalität. Dazu verwendet er einen Synthesizer mit dessen Hilfe er die Oktave in 32 Intervalle teilt. In Zug für Blechbläser vereint er Glissandi und eine Mikrointervallik mit Achteltonreihen. Er proklamiert eine ›Mikroskopie‹ der Töne als ›Elemente‹ des Komponierens und will den »Widerspruch von Strukturidee« im dramaturgischen Sinn und musikalischer ›Klangidee‹ in seinen Konstruktionen zu einer ›Synthese‹ bringen.

Die Dialektik im Konstrukt der Hybride Die Macharten der ausgewählten Komponisten illustrieren in verschiedenster Weise den Abschied vom »Logischen Projekt« der dodekophonischen und seriellen Schulen – fraglos aber Henzes Befund, dass »jeder wo anders« stehe. Die Musikgeschichtsschreibung hat es als »posttonales« und »postserielles«, inzwischen als »posttraditionelles« Komponieren (C.-S. Mahnkopf) zu fassen versucht. Das ist so zutreffend wie vage. Denn tatsächlich befindet man sich mitten im polystilistischen Dorado eines unbegrenzten Synkretismus. Die Werke beziehen mehr als je zuvor ihre Geltung als Individuen eigenen Rechts aus ihrer konstruktivistischen Originalität. Versucht man sie von diesen, ihren Macharten her, in einer musikgeschichtlichen Phänomenologie zu fassen, so verspricht ein Blick auf charakteristische Verfahrensweisen einigen Aufschluss. Zentral dabei erscheint die Verbindung von ›Alt‹ und ›Neu‹ als Konstruktionsdetail des Hybriden: der Umgang mit vorhandenem musikalischen ›Material‹ aus den Beständen von Geschichte und Tradition. Denn seine Präsenz ist unvermeidliche Realität im Meta-Historismus von »Wissens- und Informationsgesellschaft« und Datenpool des Homo sapiens der Moderne. Ihm ist der Horizont der Musikgeschichte so unvermeidlich eingeschrieben, dass sich alles Komponieren vor ihm vollzieht, sei es affirmativ oder pejorativ, innovativ oder widerständig, in Regression oder Referenz. Wo wäre naiver ›Einfall‹ oder singuläre ›Invention‹ nicht stets dem gewaltigen, akkumulierten Bestand der Musiktradition

140 Dargelegt in N. A. Huber, Durchleuchtungen. Texte zur Musik, Wiesbaden 2000.

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ausgesetzt? Wo kann sich das komponierende Subjekt seiner Bewusstseinslage als kenntnisreich ›historisch informiertes‹ noch entziehen? Osmotisch dringen die Gestaltungen aus dem unerschöpflichen Echoraum unseres musikalischen Erbes in die kompositorischen Phantasien und Verfahren ein und führen, unbewusst oder bewusst, in eine Dialektik der Auseinandersetzung damit. Die vielen Bezugnahmen, Äußerungen und ausdrücklichen Referenzen ihrer Protagonisten demonstrieren es nachdrücklich. Deshalb kommt den Modi des Umgangs damit als quasi heuristische Sonde einiger Erkenntniswert zu: Zitat oder Allusion, Umdeutung oder Verfremdung, Reminiszenz und Ausbeutung, Legitimation und Recycling gehen ständige Verbindungen ein. Zunächst scheint es sich dabei auf den ersten Blick um nichts anderes zu handeln als den uralten, urmusikalischen Usus des Variierens, Bearbeitens und Umformens: die alten Kontrafaktur- und Parodieverfahren, das ›Thema mit Variationen‹, die ›Musik über Musik‹, die achtungsvolle Hommage, die Anregung durch geniale Einfälle anderer. Diese Praxis zieht sich von Anfang an durch die ganze Musikgeschichte, in den Motetten und Messen des Mittelalters und der Renaissance, bei Bach und Händels habitueller Parodiepraxis, in Schumanns Liedfundus und den Bearbeitungen von Brahms und Reger bis zum Großmeister der Paraphrase Franz Liszt und den vielen modernen Monteuren von Zitaten und Reminiszensen wie von Charles Ives bis Gustav Mahler. Aber schon bei ihm wird das Stilamalgam aus ›einkomponiertem‹ Zitat und dem Eigenen zum Spiel mit Chiffren: die bewusste Beschwörung eines ›Anderen‹, der Frère-Jacques-Kanon in der ersten Sinfonie, der Pfingsthymnus Veni creator spiritus in der achten, die instrumentalen Liedzitate aus den Wunderhornliedern. Wenn dann aber Schönberg Oh du lieber Augustin im Scherzo seines zweiten Streichquartetts zitiert oder Alban Berg im Violinkonzert den Bach-Choral Es ist genug aus der Kantate BWV 60 in dodekaphonischer Zubereitung, dann erfährt die alte Semantik eine völlig andere ›Sinn‹-Qualität im Unterschied etwa zu Bach, wenn der den lutherischen Choral kunstvoll in die Textur seiner zahllosen Paraphrasierungen verwebt – nicht als disparates Versatzstück, sondern wie eine Art von kontemplativer ›Auslegung‹ oder in tektonischer Funktion im Satzbauwerk. Oder wenn er volkstümliche U-Musik seiner Zeit ins Quodlibet der Goldberg-Variationen integriert – nicht als Parodie oder disparate Verfremdung, sondern als Symbol einer geistigen Synthese: eine höhere Einheit von ›High‹ und ›Low‹ im damaligen Musikbegriff. Was bei Mahler aber immerhin tiefere dramaturgische Bedeutung als sinfonische ›Welthaltigkeit‹ hat, ist bereits bei Ives eine ›Montage‹. Denn sein ›Alltagsweltgetümmel‹ steht nicht für eine ›Differenz‹ von profanem ›Low‹ und erhabenem ›High‹, sondern für die heteronome Semantik gleichberechtigter ›Materialien‹. Von hier aus wird das bevorzugte Verfahren modernen Komponierens deutlich: eine Verwendung des ›Alten‹ in neuer Montage als bloßes Material. Das kann von vager oder krasser Anspielung oder von grellem Kontrast bis zur gelehrigen

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oder ironischen Assemblage gehen oder sogar zu einer Art von musikgeschichtlicher Reflexion werden. Zu einer Bedeutung als neue Sinnstiftung durch Ausdeutung seines Ausdrucksgehalts wie in den alten Cantus firmus-Künsten kommt es allerdings selten, denn es vollzieht sich kompositorisch als analytische Umdeutung. Damit erweist sich die Verbindung von ›Alt‹ und ›Neu‹ in Montage und Collage als eine Dialektik von Konstruktion und Dekonstruktion. Bei Olivier Messiaen zeigt es sich beispielhaft. Er wird zwar zu den Vätern des Serialismus gerechnet. Aber tatsächlich war er auch ein Virtuose ständiger Transformationen entlehnter Vorlagen. Er kaschiert das allerdings meisterhaft und beschreibt seine diesbezügliche Technik so: »Alle diese Entlehnungen (emprunts) werden durch ein verfremdendes Prisma (prisme déformant) unserer [Musik]sprache gehen, sie werden von unserem Stil ein unterschiedliches Blut, eine unerwartete rhythmische und melodische Couleur erhalten, wo Phantasie und Recherche sich vereinen werden, um die geringste Ähnlichkeit mit dem Modell zu zerstören.«141 Luciano Berio, auch ein begeisterter Anhänger sämtlicher Collagetechniken, erklärt es direkter: »Meine Transkriptionen sind stets von analytischen Erwägungen diktiert.«

Allerhand Spielarten oder: die ›Tragödien des Hörens‹ Wie lustvoll man damit umgehen kann, zeigt einer der prominentesten Verwerter der neueren abendländischen Musikgeschichte, Mauricio Kagel (1931–2008). Er entwickelt sich, nach ein wenig ›Elektronik‹ mit seriellen Experimenten im WDR-Studio Köln und etwas Fluxus-Koketterie bei Wolf Vostell, zum virtuosen Benutzer ihrer Bestände. Auch für ihn ist es aber weder Hommage an alte Stilidiome, wie im Neoklassizismus bei Strawinskys Pergolesi-Reverenz in Pulcinella, noch Mahlers Metapher von ›Welthaltigkeit‹ oder eine subtil reflektierte Trauerarbeit wie oft bei Kurtág, sondern ein mokantes Jonglieren mit ihren sämtlichen musikalischen Syntaxen. In bester surrealistischer Dada-Tradition vereint er Travestie, Ironie und Parodie in Collage und Montage mit Geräuschen und Verfremdungen. Weil das immer stark gestische und figurative Aktion miteinschließt, hat man es als »Instrumentales Theater« bezeichnet. Zwischen der Dekonstruktion von Bach-Chorälen wie in Ex-Position (1975/78) und origineller Klangmittelsuche, wie etwa in seinem Concerto grosso für Streicher und (drei) Hundestimmen, deren Kehlen Kagel mit akribischer Suche in der Schweiz ausfindig gemacht hatte, gibt es Staatstheater (1967/70) mit 300 Tableaux von Instrumental-, Vokal-, Tanz- und Tonbandnummern. Seine Liederoper Aus Deutschland führt in ein Panoptikum zwischen Schubert, Heine, Hölderlin, Leier141 Zitiert nach einer neueren, nahezu enzyklopädischen Analyse von Messiaens Entlehnungen im Gesamtwerk, von: Y. Balmer, Th. Lacȏte, Chr. Brent Murray, Le modèle et l’invention. Messiaen et la technique de l’emprunt, Lyon 2017, S. 56 (= Collection Symétrie Recherche, Série 20–21).

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kastenmännern, verstimmten Klavieren, heftigem Blech und Schlagwerk. Vielen jungen Avantgardisten war sie gelungene Montage aus unbekümmertem Musikantentum. Dem großen alten Liedersänger Dietrich Fischer-Dieskau aber war sie Anlass zu erbitterten Tränen des Zorns während einer Aufführung.142 Mit einem Format, das weit abseits von Ironie, Koketterie und Drollerie liegt, verfahren Komponisten wie Luigi Nono, Henri Pousseur, Bernd Alois Zimmermann und Wolfgang Rihm in vielen ihrer Werke. Nono macht noch in seinem Spätwerk Prometeo von 1984 die methodische Dekonstruktion zu dem, was der Untertitel ausspricht: einer »Tragödie des Hörens« (Tragedia dell’ascolto). In einem Synkretismus höchst komplexer Konstruktion mit vier Orchestergruppen, Chor, fünf Gesangssolisten, Sprecher und zwei Dirigenten in empfindlichen Dialogstrukturen zwischen Ensembleklängen und den (jeweils auszuhandelnden) elektronischen der Mischpultregie, samt Mikrotonabstufungen in 1/4-, 1/8- und 1/16-Werten, bizarren Clustern und Metren zeigt er vor allem die Denaturierung der Sprache zu Lautmaterial. Er nimmt sie aus Briefen, Prosa, Pamphleten und Dichtung von Aischylos, Hölderlin, Goethe und Rilke bis Gorki, Pavese und Che Guevara und fragmentiert sie in methodischer Dissoziation zu vokalen Fetzen und Schreien. Es gibt keine Geschichte, keine Bühnenszene, kein logisches Narrativ, sondern nur die Torsi abendländischer Kulturgeschichte. Obwohl er, im Unterschied zu früheren Werken, klangsensuell und dynamisch mit Kontrasten arbeitet, die neben gewalttätigen Forteexplosionen auch subtilstes, siebenfaches Piano verlangen, bleibt das Werk Ausdruck eines aggressiven bis verzweifelten Existenzialismus. Am Schluss intoniert er ins ›Offene‹, als Ungewisses, dass Prometheus »in der Wüste unsterblich« werden wird – ganz wie Arnold Schönberg in seinem Opus Moses und Aron. Diese Auflösung von Wort, Text und narrativem Zusammenhang zielt nicht nur auf bloße Verfremdung, sondern will eine bewusste Denaturierung der Semantik zu naturalistischer Vor-Sprachlichkeit, zur bloßen Sonanz, und rohes ›akustisches‹ Phänomen. Auch Luciano Berio, obwohl in den fünfziger Jahren seriell und elektroakustisch komponierend wie in Omaggio a Joyce als Reverenz an dessen »Inneren Monolog« und gleichzeitig an Stockhausens Gesang der Jünglinge, erweist sich als virtuoser Meister dieser Verfahren. Er verwendet sie als analytische Aneignung sowohl fremder wie eigener Werke, als Ricomposizione, und in seiner Praxis des Arrangierens. Es ist ein buntes Transkriptionstheater der Musikgeschichte mit den Collagen von Monteverdi, Purcell, Brahms, Mahler, Puccini bis zu Boulez und den Beatles. In Rendering (1989) collagiert er für eine Komplementierung von Schuberts Skizzen einer zehnten Sinfonie. Aus seiner Sequenza V für Bratsche solo entwickelt er

142 Dietrich Fischer-Dieskau, in einem Konzert im Werkraumtheater der Münchner Kammerspiele, 1999.

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die Serie seiner Chemins I-VII (1965–1998) als Derivate und Kommentierungen. Aber in seiner Sinfonia (1968/69) für Orchester und acht Stimmen collagiert er im dritten Satz Musik aus Mahlers zweiter Sinfonie mit Ableitungen in Zitate von Bach bis Schönberg, von Debussy und Brahms bis Strauss, von Beethoven bis Strawinsky, von Berg und Webern bis Boulez und Pousseur. Dazu montiert er episodisch ein Klavierkonzert und einen Gong ein.143 Für die Verwendung von dekonstruierter Sprache zu neuer Konstruktion liefert Berio Beispiele mit Visage (1961) und Sinfonia.In ersterer wird die Stimme der Vorleserin Cathy Berberian mit ihrem Text Weißes Licht von James Joyce elektronisch dekonstruiert. In Sinfonia löst er Textmaterial von Claude Lévi-Strauss und Samuel Beckett in die Sprechtonschichtungen von Vokalstimmen auf. In existenzialistischer Façon merkt sein Kommentar zum dortigen Scherzo (dritter Satz) an: »Scherzo to end all Scherzos«. Bei seinem experimentellen Musiktheater Un re in ascolto (1981–1983) geht es, wie bei Nonos Prometeo, um das ›Hören‹. Weil Berio nicht mehr an die Gattung Oper glaubt, gibt es auch hier kein lineares Narrativ, sondern eine Azione musicale in 16 Sektionen als Montage eines ›imaginären Theaters‹ im wirklichen. Als kaum überbietbares Beispiel sämtlicher Hybride gilt Votre Faust von Henri Pousseur, eine »Variation im Stile einer Oper«, komponiert 1960–1968. Der Belgier, geprägt von den Avantgardeschmieden Darmstadt und Donaueschingen, dann von Berio in seinem Mailänder Studio, gründet 1958 sein Studio de musique électronique Apelac in Brüssel. In der tausendseitigen Partitur seines Faust-Opus für zwölf Instrumentalisten, vier Sänger, fünf Schauspieler und Tonband montiert er mit Zwölftönigkeit, Serialität, Aleatorik und Elektronik musikalische Zitate von Monteverdi bis Schubert, Webern und Boulez in verschiedenen europäischen Sprachen und Szeneorten zu einer Supercollage. Im zweiten Akt wird, aleatorisch und interaktiv, auch das Publikum als Regisseur des weiteren Verlaufs miteinbezogen. Damit zielt er gleichzeitig auf eine offene Aufführungspraxis als Performance von undefinierter Länge (die bis zu sieben Stunden ging) und die Preisgabe des alten Werkbegriffs als eine feste ›Formidee‹. Bei Bernd Alois Zimmermann hat seine Musique pour les souper du Roi Ubu (1962– 1967) mit Satire und Travestie noch eine Nähe zu Kagel, dem Ironiker. Er verwendet dort ausschließlich fremdes Material und nimmt ausdrücklich auf die Collagekunst von Kurt Schwitters Bezug. Die aber will er als Spiegel unserer dissoziierten politischen und kulturellen Gegenwart verstanden wissen, wie er in seinen Schriften erläutert.144 Aber schon die Monologe von 1964 realisieren das Konzept eines ›pluralistischen Komponierens‹, wie er es auch mit seinen Simultanschichtungen verschiedener Zeitebenen verfolgt. Im Requiem für einen jungen Dichter (1967–

143 Vgl. eine genaue Analyse bei P. Altmann, Sinfonia von Luciano Berio, Wien 1977. 144 Vgl. Chr. Bitter (Hg.), 1974, S.11.

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1969) präsentiert er es als aufwendige Supercollage des Heterogenen. Konzipiert als »Oratorium und Hörspiel« operiert er mit Zitaten aus eigenen Werken, politischen, philosophischen und kirchlichen Texten samt allerhand öffentlichen Reden aus dem Rundfunkarchiv. Auch Photoptosis bedient sich musikalischer Zitate aus den Werken von Wagner, Bach, Tschaikowsky, Skrjabin samt dem Pfingsthymnus Veni creator spiritus. Ein freundschaftlicher Verehrer Zimmermanns, Hans Zender (1936–2019), entwickelt zwischen früher Zwölftönigkeit und Serialität, später Mikrotonalität und Inspirationen aus ostasiatischer Musik, die Idee einer »komponierten Interpretation«. Er versteht darunter einen philosophisch ausgearbeiteten Synkretismus mit dem ausdeutenden Umkomponieren von bekannter Musik für ein ›zeitgemäßes Verständnis‹. Dieses Verfahren wendet er auf Schuberts Winterreise (1993) an, auf Schumanns Opus 17 mit seiner Schumann-Phantasie (1997) oder in den 33 Veränderungen über 33 Veränderungen (2011) auf Beethovens Diabelli-Variationen. Dabei will er etwa bei Schubert das Ausdruckspotenzial durch eine Orchestrierung der Klavierbegleitung vertiefen. Vor allem aber möchte er den existenziellen ›Schrecken‹ dieses musikalischen Epos zu neuer »Kenntlichkeit entstellen«. Dazu arbeitet er mit Dehnungen, Beschleunigungen, rhetorischen Auflösungen und Hall-Effekten. Die Post (Nr. 12) verzerrt er so zum Fieberphantasma und die vierte Strophe (Nr. 13) zur Grimasse oder er setzt eine Windmaschine für die Wetterfahne (Nr. 2) und die Nr. 17 und 22 ein: das Verfahren einer Formzerstörung des Originals wird zur Epiphanie neuen hermeneutischen Potenzials. Grundlage dafür ist Zenders zentrale These, dass es keine affirmative Lesung der Musikgeschichte mehr geben könne, weil wir den direkten Zugang dazu verloren hätten. Höchstens durch »interpretierende Vermittlung« bliebe uns noch eine Möglichkeit zu »angemessenem Verstehen«. Damit geraten alle Ausdruckswelten aus der Musikgeschichte unter kognitive Unverständnisvermutung oder semantischen Erschöpfungsverdacht, zuletzt aber äußert sich darin ein abgründiges Misstrauen für ihre Substanz. Aus dieser Einsicht entwickelt Zender dann seine neue ›Substanz‹ mit hybriden Collagen und Montagen von Text und Sprache. In Stephen Climax nach Texten und Motiven aus dem Leben des antiken Säulenheiligen Simeon mischt er solche aus Ulysses von James Joyce. Das versteht er als Ausdruck polyglotter Mehrsprachigkeit nach Art eines zeitgeistigen ›Pluralismus‹. Weil er aber Sprache aus dem »Gefängnis des bloß begrifflichen Denkens« befreien will – mit Rückgriff auf die Dignität des Logos der Vorsokratiker, ähnlich wie Heidegger, – setzt er mehr auf ihre poetisch-sinnliche Dimension als auf ihre diskursiv-rationale. Diese Befreiung vollzieht er aber nicht ins Dichterische, sondern ins ›Materiale‹ mit einer Auflösung von Sprache in bloße akustische Elementarteilchen, ähnlich wie Nono oder Berio. Schließlich wendet er sich, inspiriert durch Messiaen, vor allem aber durch ostasiatische Musik und Musiktheorie, der Mikrotonalität zu, der er das größte kompositorische Zukunftspotenzial zuerkennt. Er unterteilt den Oktavraum in bis zu 72

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Intervalle wie im Oratorium Shir Hashirim – Lied der Lieder (1995–1997) und verwendet auch eine Obertonharmonik mit komplexen strukturellen Kalkülen, wie in O Bosques – Oh Wälder (2010). Dort nimmt er aus fünf Zeilen jeder Strophe aus der Textvorlage des spanischen Mystikers Juan de la Cruz abwechselnd sieben und elf Silben und strukturiert damit die Harmonik mit dem fünften, siebten und elften Oberton. Außerdem bedient er sich des Konzepts der Raumklangmusik, vor allem in seinen Logos-Fragmenten (2005–2009), wo er in ihren neun Cantos das Ensem­ ble in mehrere Gruppen mit je eigenem Dirigenten aufteilt – eine Beschwörung der alten venezianischen und römischen Mehrchörigkeit. ›Harmonie‹ aber bedeutet für Zender, ganz anders als im pythagoreisch-platonischen Verständnis als ›Konkordanz‹, stets eine gegenstrebige Fügung. Obwohl er dabei auf Heraklit zurückgreift, definiert er sie als »größte Spannung«, wie etwa zwischen Leben und Tod, oder wie zwischen Fragmentierung von Einzelklang versus Klangkontinuum. In zahlreichen philosophischen Reflexionen – obwohl als vielbeschäftigter Dirigent ein Leben lang musikalischer Praxis verbunden – beschäftigt er sich als Phänotyp des reflexiven Komponisten der Moderne mit solchen Überlegungen.145

Zum Raum wird hier die Zeit – post Parsifal ›Raumklangkonzepte‹, wie sie seit Gabrielis venezianischer Mehrchörigkeit und in der Vokalmusik des »Römischen Kolossalbarocks« entworfen wurden, zielen in der Moderne aber nicht nur auf eine sphärische Wirkung, sondern auf eine (konstruierte) ›Zeitlosigkeit‹. Sie will in einem ›pluralistischen Komponieren‹ Zeit schlechthin aufheben. Denn die Konzepte von Scelsi bis zum »Kugelklang« Zimmermanns setzen auf Entgrenzung und Erschaffung einer ›zeitlosen Gegenwart‹, mittels Zeitdehnung. Das soll kompositorisch durch Überlagerungen und Interferenzen von komplex konstruierten Klangschichten mit verschiedenen Zeitmustern erreicht werden. »Die Überwindung der Zeit« sei nur durch »höchste Organisation der Zeit« zu gewinnen (B. A. Zimmermann, 1955).146 Das aber zielt auf das Hören, die ›Wahrnehmung‹ schlechthin, meint also letztlich eine sinnlich evozierte

145 Vgl. H. Zender, Happy New Ears. Das Abenteuer Musik zu hören, Freiburg, 1991; ders.: Die Sinne denken, Texte zur Musik 1975–2003, hg. v. J. P. Hiekel, Wiesbaden 2004; ders.: Waches Hören. Über Musik, München 2014. 146 Zimmermann verwendet den Begriff »Zeitstreckung«, in: op. cit (1974), Gedanken über elektronische Musik. Einführung zu »Tratto« (1967), S. 58 oder »Zeitdehnung«, in: Einführungstext zu »Photoptosis« (1968). Zu einer umfassenderen Untersuchung des Zeit-Phänomens, vgl. Chr. Utz, Paradoxien musikalischer Temporalität in der neueren Musikgeschichte. Die Konstruktion von Klanggegenwart im Spätwerk Bernd Alois Zimmermanns im Kontext der Präsenzästhetik bei Giacinto Scelsi, György Ligeti, Morton Feldman und Helmut Lachenmann, in: Die Musikforschung 68 (2015), Heft 1, S. 22–52.

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Veränderung des Bewusstseins durch raum-zeitliche Des-orientierung mittels der De-konstruktion von festen metrischen Mustern und Ordnungen. Auch die »Minimalmusik« (so bezeichnet von Michael Nyman, 1970, als eine Analogie zur Minimal Art) will eine Art von Zeitlosigkeit erzeugen. Ihre Versuche dazu reichen seit Terry Rileys In C (1964) bis Steve Reich, Terry Jennings, Louis Andriessen und La Monte Young sowie im Musiktheater bei Philip Glass (Einstein on the Beach, 1976) oder John Adams (Nixon in China, 1987). Sympathie dafür lässt sich bereits bei Cage erkennen, wenn er sich in seinen ›Entschleunigungs‹-Strategien auf die lakonischen, simplen musikalischen Aphorismen von Érik Satie beruft. Deshalb ist sein Orgelstück ORGAN2 ASLSP (As slow as possible), realisiert in der Halberstädter Burchardi-Kirche, zwar surrealistische Concept Art, aber auch finale Demonstration ›entschleunigter‹ Zeitlosigkeit, denn er hat es auf 639 Jahre angelegt. Die Idee des ›Minimalen« erweist sich letztlich auch als ein dekonstruktivistisches Konzept – aber in der Erscheinungsform von Reduktion, denn man komponiert hier nicht mit Komplexion, sondern mit lapidarer Unterkomplexität. Aber dekonstruiert werden tradierte metrische Ordnungs- und Zeitstrukturen mit ihren Impulskräften durch Auflösung in repetitive Gleichförmigkeit: endlos wiederholte rhythmische oder harmonische Patterns mit tonaler, konsonanzgeprägter Struktur und sparsamen additiven oder subtraktiven Prozessepisoden. So entsteht das Kontinuum eines unendlichen musikalischen Fließens von meditativer bis hypnagoger Wirkung, die schließlich bis zu einer Art Trance-Erfahrung gehen kann.

Das ›Erweiterte Bewusstsein‹ Diese Spekulation auf Zeitloses, Meditatives und sogar Tranceartiges zielt auf andere Wahrnehmungsmodi und Bewusstseinszustände. Damit nähert sie sich einem dominanten Topos dieser Zeit, der auch ›Entgrenzung‹ und befreiende Bewusstseinsveränderung will: den Versuchen, Strukturen der menschlichen Wahrnehmung zu verändern, den Strategien von Bewusstseinserweiterung. Euphemistisch formuliert als »Öffnung der Pforten der Wahrnehmung« (Aldous Huxley) finden sie besonders in der amerikanischen New-Age- und der alternativen Hippie-Szene ihre Praxis und ihre Theorie. Dort verbindet sich eine mentale Inanspruchnahme fernöstlicher Philosophie (ähnlich wie schon bei Stockhausen und Cage) mit einer ganz praktischen aus der Drogenszene der »Blumenkinder«-Bewegung. Der britische Psychiater Humphry Osmond erfand dafür den Begriff psychodelisch, später abgewandelt zu psychedelisch, um die verdächtige Assoziation zum psychiatrisch besetzten »Psycho« zu vermeiden. Das war eine »Bewusstseinserweiterung« vom indisch-buddhistischen Aschram mit Yoga, Meditation und Mantra zur Pharmakologie. Oder von den Gurus, Swamis und Schamanen zur US-amerikanischen League for Spiritual Discovery des Psychologen Timothy Leary. Der lehrte und praktizierte in Millbrook (New York) methodisch LSD-Trips und wurde bald zum weltweiten Guru der psychedelischen

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Bewegung mit ihrem Versprechen neuer, existenzieller ›Wirklichkeitserfahrungen‹. Sie propagierte, dass die durch Halluzinogene bewirkten Veränderungen im neuronalen Signalverkehr des Hirns nicht nur chemisch induziertes Phantasma seien, sondern die Enthüllung einer eigentlichen, substanziellen Realität jenseits des Alltagsbewusstseins. Das versprach einen leichten, ›funktionalen‹ Zugang zu echter Transzendenzerfahrung, wie er in authentischen spirituellen Lehrtraditionen nur beschwerlich über völlig andere seelisch-geistige Wandlungsprozesse erreichbar wird. Leary, lange Gallionsfigur dieses neuen Schamanentums, indoktrinierte aber nicht nur die globale psychopharmakologische Glaubensgemeinde einer neuen Subkultur. Er inspirierte auch die rituellen Speed-, Gras-, Psylocibin- und LSDTrips vieler Popensembles samt ihrer Musik: die psychedelische Illumination eines boomenden ästhetischen Ambientes. Viele dieser Ensembles kultivierten es nicht nur, sondern wussten es so zu schätzen, dass sie dem Übervater des Metiers mit namentlicher Hommage in ihren Titeln huldigten. Alben der Hell’s Angels zählen dazu, auch von Grateful Dead, der Heavy Metall-Band Nevermore, der Hard Rock-Band UFO bis zu The Who und den Beatles. Auch eine Gründerfigur der deutschen Popszene, von der britischen Kritikerzunft abfällig als Krautrock bezeichnet, Rolf-Ulrich Kaiser, ließ sich durch die LSD-Trips mit Leary zu Platten-Alben wie Kosmische Kuriere oder Cosmic Jokers inspirieren. Intellektuell ausstaffiert mit einer distinguierten Kulturtheorie durch Szene-Philosophen wie Allen Ginsberg, Jack Kerouac und den Romancier und Maler William S. Burroughs, entwickelte sich die Drogen-Ästhetik bis hin zum Programm einer veritablen Gegenkultur.147

147 Bereits Aldous Huxley hält echte religiöse Erfahrungen durch psychoaktive halluzinogene Substanzen für möglich, wie er in The Doors of Perception, London 1954, ausführt. Leary erklärte nach seinem Konsum von psychotropen Pilzen in Mexiko 1960, dass er vom »Fleisch der Götter« probiert hätte und verbreitet in seinen Schriften (wie etwa: The Psychedelic Experience. A Manual based on the Tibetan Book of Death und Your Brain is God) die Verbindung von Spiritualität und Drogen als »religiöse Erfahrung«. Diese Vorstellung führt zu einer neurophysiologisch-pharmakologischen Legitimation für die Inanspruchnahme von ›Gotteserlebnissen‹ oder wird sogar als ›Ursprung der Religionen‹ bemüht. Als positiv konnotierte Bewusstseinserweiterung oder in psychotherapeutischen Verfahren wirkt sie weiter, neurowissenschaftlich durch neuere Forschung gefördert, wie etwa in der Psychiatrie (mit Medikamenten wie Ergotamin, Delysid oder Indocybin), vgl. M. Pollan, Verändere Dein Bewusstsein. Was uns die neue Psychedelik-Forschung über Sucht. Depression, Todesfurcht und Transzendenz lehrt, München 2019 oder B. Bächi, LSD auf dem Land. Produktion und kollektive Wirkung psychotroper Stoffe, Göttingen 2020. Waren Trans­ zendenz- und Gottesvorstellungen wie etwa bei Skrjabin und Stockhausen zwar okkultistisch inspiriert, aber noch wesentlich spekulativ, so verdanken sie sich bei den Einwirkungen psychotroper Substanzen und halluzinogener Drogen einer physiologisch-neurologischen Bewusstseinsveränderung mit oft bleibenden, psychiatrisch diagnostizierbaren Veränderungen in Gehirn und Persönlichkeit. Einen Eindruck von Wirkung und

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Als spekulative Spielart dieser neuen »Bewußtseinsphilosophie« gehören auch die Assoziationen zu einer »Vierten Dimension« à la Einstein und seiner »Raumzeit« aus der Relativitätstheorie dazu – eine Anleihe aus dem Denkambiente des Technozäns. Avantgardistische Musiktheorie trägt dem kompositorischen Umgang damit Rechnung, wenn es ihre Zeitvorstellungen durch Einführung des Parameters Okkurrenz gestalten will. Er bezeichnet eine zufallsgesteuerte Verteilung von musikalischem ›Material‹ auf einen Zeitverlauf. Aber für die Theorie ist es mehr als nur kompositorisches Tun. Sie versteht es als ›Freiheit schlechthin‹ mit dem endgültigen »Abschütteln mythischer Naturbeherrschung« – nicht ohne Bezug zu den Konzepten von John Cage als zeitweiligem Zen-Adept.148 Musik ist allerdings die ›Zeitkunst‹ schlechthin. Es bleibt deshalb fraglich, ob solche Ansprüche gegen ihr zentrales Paradigma kompositionstechnisch im strengen Sinn überhaupt realisierbar sind. Wenn bei Zimmermann in seiner Photoptosis in der dreistufigen Gliederung eine Dramatisierung vom pp-Beginn über eine deutliche Verdichtung der überlagerten Zeitstrecken durch ein fortgesetztes Crescendo bis zum Fortissimo des dritten Abschnitts stattfindet, dann ist das nichts anderes als ein temporär gerichteter Vorgang. Der aber wird als Zeitvektor einer gezielten Entwicklung wahrgenommen.149

State of the Art verschiedenster Art Die unterschiedlichsten Macharten von Dekonstruktion bleiben wichtige Strategien in den Kompositionskonzepten prominenter musikalischer Zeitgenossen. Dazu zählen Hans Werner Henze, Alfred Schnittke bis Wolfgang Rihm, Jörg Widmann, Heinz Holliger, Beat Furrer, Aribert Reimann oder Chaya Czernowin. Henzes Floß der Medusa, dessen Uraufführung 1968 in Hamburg an einem Konterfei von Che Guevara mit roter Fahne im Skandal scheitert, wird von ihm als Oratorium Volgare e militare, in due parti bezeichnet. Die Textvorlage des Librettos speist sich aus Dantes Divina commedia und Che Guevara-Parolen, vereint mit Ho Chi Minh-Hommage, Vietnamkriegsprotest und Studentenrevolte. Seine Orchestrierung setzt er mit drei Instrumentengruppen – einem höchst ausdifferenzierten Bläserensemble, dem Streicherkorpus und opulentem Schlagwerk – ebenso idioPraxis in der damaligen US-amerikanischen, gegenkulturellen Bewegung vermittelt der Bestseller von Tom Wolfe Der Electric Kool-Aid Acid Test, 2. Aufl. München 2009. 148 Ausdrücklich formuliert durch Heinz-Klaus Metzger, aber auch von Hans Zender erörtert, vgl. H.-K. Metzger, John Cage oder die freigelassene Musik, in: John Cage I (Musik-Konzepte, Sonderband 1990), S. 5 ff.; H. Zender (1991). 149 Vgl. zur kritischen Bewertung: C. Kühn, Bernd Alois Zimmermann: »Photoptosis«. Ein Blick auf das Zitat in der Kunst der Gegenwart, in: Musik und Bildung 6/2 (1974), S. 109–115.

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matisch als Charakterisierung ein, wie den sukzessiven Wechsel von drei Chören. Dabei greift Henze, etwa in der Chorfuge Wir haben ein Gesetz (Abschnitt XVI), auf eine Chorbehandlung wie bei Bach zurück. Er gestaltet es als deutliche Travestie aus Bachs Johannes-Passion (Nr. 38), aber nicht als Fugenfügung, sondern dekon­ struiert als komplex unterteiltes Stimmenspektrum von Clustern bis zu Klagegeheul. Auch der Testo der Passion ist als Figur des Charon mit dabei. Eine dissoziierte Sprachbehandlung operiert mit Echostrukturen, heftigen Schreiexklamationen und Sprachnotaten in bis zu sieben Registerlagen mit instabilen Tonhöhen, wie sie schon Schönberg in Pierrot Lunaire und Berg bei Wozzeck verwenden. Alfred Schnittke (1934–1998) preist J. S. Bach nachdrücklich als »Zentrum der Musik, das ich nicht verlieren kann«.150 Vielleicht will er dessen (barocker) »Universalität« huldigen, wenn er in seiner vierten Sinfonie (1984) vier verschiedene Intonationssysteme in Tetrachorden übereinander organisiert, um damit verschiedene Idiome (nämlich für katholische, orthodoxe, lutheranische und jüdische Musik) in einer Collage zu vereinen. Noch ›universaler‹ verfährt er, wenn er in seinem dritten Streichquartett (1983) gleich zu Beginn drei Zitate collagiert: eines aus einem Stabat Mater von Orlando di Lasso, dann das bekannte Thema der großen Fuge für Streichquartett op. 133 von Beethoven und schließlich ein viertöniges Monogramm (d-es-c-h), das für Dmitrij Schostakowitsch steht. Das könnte man als eine Verbindung von dekonstruierender Selektion und konstruktivistischer Montage zu einer Art »musikgeschichtlicher Reflexion« samt persönlicher Hommage verstehen.151 Denn Schnittke verstand sich als ein Nachfolger von Schostakowitsch und fühlte sich ihm, besonders in dessem »postmodernen Umgang mit der musikalischen Tradition« eng verbunden.

»Musikalische Rohzustände« und »Faßbare Zusammenhangslosigkeit«: Wolfgang Rihm Obwohl als Jugendlicher tief beeindruckt von Bach, dann aber musikalisch geprägt von Florent Schmitt, Stockhausen und Klaus Huber erweist sich bei Wolfgang Rihm Dekonstruktion als Komplementär zu radikaler Eigenbestimmtheit. Sein Trio Paraphrase und sein Gesellenstück Morphonie – Sektor IV für Darmstadt stehen noch unter dem Einfluss der seriellen Schule. Danach bekennt er sich zu einem Komponieren, das »frei von allen tradierten Bezugssystemen« sein will und absolute Selbstbestimmtheit beansprucht. »Für mich wird immer klarer, daß ich nicht

150 A. Schnittke, in: Musik Texte 30 (1989), Heft Juli/August, S. 28. 151 Genauer analysiert von H. Schick, Musikalische Konstruktion als musikhistorische Reflexion in der Postmoderne, in: AfMw 59 (2002), Heft 4, S. 245–266. Vgl. auch A. Schnittke, Über das Leben und die Musik, Gespräche mit Alexander Iwaschkin, München u. Düsseldorf 1998, S. 105–159.

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komponiere. Ich erfinde musikalische Rohzustände«, erklärt er.152 Deshalb bezeichnet er seine Stücke als »Klangbeschreibungen«, zwar autonom in ihrem radikalen Subjektivismus, aber offen für immer neue Überschreibungen und Weiterentwicklungen. »Dem Zeitablauf entkommen in eine faßbare Zusammenhangslosigkeit« formuliert er sein paradoxes Konzept.153 Abgewandt, Unbenannt, Gejagte Form (für Orchester) steht aphoristisch über seinen Stücken. Damit vertritt Rihm eine Ästhetik radikaler intentionaler Diskontinuität. Monströs konstruiert er das frühe Ballett Tutuguri (1980–1982) oder Kein Firmament (1988) zu Agglomeraten unorganisierter Fetzen. Jede ›Störung‹ gilt ihm als ›produktiv‹ und die »freie Setzung des Einzelereignisses« als plötzliche Eruption oder folgenlose Intervention will eine permanente Destabilisierung des musikalischen Ablaufs. Der wird über Intervallsprünge und Fragmente in extremen Lagen, spontanem Aufschrei und abruptem Wechsel von Klangknallexplosionen ›organisiert‹ und als de-konstruktives Patchwork von Atomisierung und Brüchen kon­struiert, wie im Chiffre-Zyklus mit den Streichquartetten Nr. 5, 6 und 7. Im achten schließlich wird auch der Kompositionsvorgang selbst surreal dekonstruiert: Die Musiker sollen als dessen Mimikry mit der Bogenspitze auf Papier kritzeln – und es dann zerreißen. Die mentale Dimension seiner methodischen Dekonstruktion wird deutlich, wenn er in Andere Schatten und Dies aus den Vorlagen von Jean Paul und der Gattung des Requiems alle dort konstitutiven Bezüge zu Gott und Spiritualität streicht. Der Christusrede von Jean Paul entnimmt er nur einzelne Worte und dekonstruiert damit nicht nur die Sinnzusammenhänge der Textvorlage, sondern ›Entgottet‹ den Text gezielt: eine dramaturgische damnatio memoriae alles Numinosen. Nicht anders verfährt er mit Bach. In Dionysos, einer musiktheatralischen Auseinandersetzung mit dem Dionysos-Mythos im Zeichen von Nietzsche, verfremdet er den Bach-Choral O Ewigkeit, du Donnerwort (3. Szene) ins Surreale, bevor die Mänaden Apollo zu apokalyptischen Orchesterstürmen in Stücke reissen. In Dies dekonstruiert er zwei Choräle aus Bachs Matthäus-Passion, indem er sie polytonal in B-, A- und As-Dur übereinander schichtet. Am Schluß seines Wölfli-Liederbuches (in der zweiten Fassung für Bassbariton und Orchester) dekonstruiert er den Choral Wer nur den lieben Gott läßt walten ironisch im Walzertakt. Strengstes serielles Konstruktionskalkül kontrapunktiert er hingegen mit heftigen Schrei-Szenarien als Darstellung subjektiver Emotionalität. Die bewegt sich allerdings durchwegs im Tonfall des düstersten Hölderlin bis zu Lenz, Wölfli oder

152 Wolfgang Rihm ausgesprochen. Schriften und Gespräche, 2. Bde. hg. v. U. Mosch, Mainz 1997, Bd. 2 , S. 77. 153 Vgl. Spur, Faden. Zur Theorie des musikalischen Handelns, in: Lust am Komponieren, hg. v. H.K. Jungheinrich, Kassel u. a. 1985; J. Häusler, Profil Wolfgang Rihm. Ein Versuch, in: 47. Berliner Festwochen 1997, S. 210  ff.; »Keine Gesetzmäßigkeit außer Eigengesetzlichkeit«. Der Komponist Wolfgang Rihm, hg. v. D. Rexroth, Mainz u. a. 1985, S. 133; C. Spahn, »Die verfehlte Maßlosigkeit«, in: Die Zeit 26, März 1993, S. 78.

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Antonin Artaud und in Extremen, die als Musikalisierung von Kontrollverlusten durch »abnorme und pathologische Zustände« verstanden wurden und als Zeugnisse »Wilden Denkens« (Beate Kutschke).154 Zu Rihms Wölfli-Liedern, in denen der psychisch Kranke über seine Kinderschändungen, teilweise in der Viehsprache, dichtet, hat man deshalb angemerkt: »Begegnung zweier Triebtäter«.155 Rihms Dekonstruktionsmodi sind aber so sehr integraler Teil seines Komponierens, dass sie höchstens mit Blick auf die Vorlagen seiner Entlehnungen kenntlich werden, nicht als Unterschied zur Machart der ganzen Satzfaktur. Denn er behandelt sie nicht als Sinnträger aus ihrer Qualität, sondern als Material-Qualität sui generis in radikaler Selbstbestimmtheit: »Keine Gesetzmäßigkeit außer die Eigengesetzlichkeit.«156 Zwar anders als Stockhausen, der im kälteren (technoiden) ›Sirius‹-Licht komponiert, erschafft Rihm seine Klangaggregate mit heißer Passion. Aber genau wie Stockhausen repräsentiert diese »Eigengesetzlichkeit« als verweigerte »Gesetzlichkeit« den künstlerischen Phänotyp egomaner Selbstbestimmtheit der Moderne. Deshalb verweigert sich solches Komponieren auch orthodoxer Musikologie, denn es entzieht sich den Möglichkeiten einer Analyse herkömmlicher Art. Des­ kriptiv versuchte man es pauschal unter dem Topos des »Wilden Denkens« zu fassen, einer Anleihe von Claude Lévi-Strauss aus Le cru et le cuit. Oder aber mit krasser Strapazierung des Begriffs »Logik«, verstanden als weiteres Derivat der »Expressionslogik« aus der frühen Atonalität, nämlich als »rhetorische Logik« oder »Sensuous Rhetoric« (Rose R. Subotnik) oder aber großzügig als »Kreativitätslogik« schlechthin (Beate Kutschke).157 Der dekonstruktivistische Umgang mit der Sprache bleibt weiterhin bevorzugtes Konzept im Repertoire modernen Komponierens. Aribert Reimann (Jahrgang 1936) komponiert Literaturopern von beeindruckender authentischer Ausdruckskraft: Melusine, Troades, Bernarda Albas Haus, Das Schloss. Zu den wirkungsmächtigsten gehört das Drama Lear (1978). Dort entwickelt er ein instrumentales Idiom mit verschiedenen Aggregatzuständen des Tonmaterials durch Rationalisierung musikalischer Mikrovorgänge mit ¼-Tönen bis zu sieben Oktaven Umfang und 48stimmigen Akkorden im Streichersatz. Als ›Schattenklang‹ und über bestimmte Reihen-Konstruktionen charakterisieren sie Protagonisten oder Szenen (wie die Sturmszene im 2. Akt mit dem 154 B. Kutschke, Wildes Denken in der Neuen Musik. Die Idee vom Ende der Geschichte bei Theodor W. Adorno und Wolfgang Rihm, Würzburg 2002, S. 174. 155 W. Klüppelholz, Wolfgang Rihm: Wölfli-Liederbuch, in: Melos 4/1 (1987), S. 58. 156 D. Rexroth (1985), S. 133. 157 Vgl. R. R. Subotnik, Developing Variations. Style and Ideology in Western Music, Minneapolis u. Oxford 1991 u. dies., Deconstructive Variations. Music and Reason in Western Society, Minneapolis u. London 1996, wo der Rhetorikbegriff von Paul de Man übernommen wird, wie er ihn in Allegorien des Lesens, Frankfurt a. M. 1989 formuliert; B. Kutschke (2002).

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›Sturmkomplex‹ durch eine 2×24tönige Reihe). Als ›Tonschwärme‹ von Clustern zwischen Ton und Geräusch mit unbestimmter metrischer Gliederung erschaffen sie hyperexpressive Ausdruckschiffren. Aber auch die Singstimmen behandelt Reimann nicht nur zwischen Gesang, Schrei, Flüstern und Psalmodieren, sondern mit metrisch freien bis höchst intrikaten Mustern oder über die Notation in DauernStrichen, die dem Sänger eigenen Gestaltungsraum lassen sollen. Im ›weiblichen‹ Gegenstück dazu, Medea (2007/2009), wählt er zwar die klare Sprache aus Grillparzers Goldenem Vlies, identifiziert sich aber kompositorisch nicht mit ihr. Er zerlegt deren dichterisches Metrum mit seiner eindringlichen syllabischen Pointierung der Verse in freie melismatische Girlanden. In seinem A-Capella-Chorwerk John III, 16 – Also hat Gott die Welt geliebt (1976) schließlich erprobt er die Überlagerung eines Textes in acht verschiedenen Sprachen. In seinem Streichquartett Unrevealed (1979/80) erweitert er, wie Schönberg in seinem zweiten Streichquartett, die instrumentale Gattungsidee durch strukturelle Einbeziehung einer Vokalstimme. Dort dissoziiert eine Baritonpartie Sprache und Text mit höchster Akribie ins Fraktale von Phonemen. Dieter Schnebel regrediert naturalistisch nicht nur als ›Maulwerker‹ auf die Physiologie der menschlichen Stimme, sondern setzt sich als theologisch kundiger evangelischer Pfarrer, Religionslehrer und Musikdenker auch mit christlichen Topoi wie »Glaube – Liebe – Hoffnung« auseinander.158 In Für Stimmen (…missa est), komponiert 1956–1969, bedient er allerdings mit Schreien, Wispern, Winseln und Röcheln und sogar Tierstimmen weniger das Messformular noch irgendeine sakrale Textsinnstiftung, sondern führt die materialen Prozesse einer akustischen Lautproduktion vor. Reflektierten Dekonstruktionen huldigt er in Tradition (1975–1995) mit Bearbeitungen von Bach-Chorälen bis zu Mahler. Im B-Dur-Quintett setzt er sich mit Schubert auseinander, im Zyklus Re-Visionen (2004) mit ausgewählten ›Momenten‹ aus Musik von Bach, Webern, Beethoven, Wagner, Schubert, Verdi, Schumann und Mahler, um mit ihnen die »Verkalkungen des Konventionellen abzuschlagen«. In der Sinfonie X (1987–1992), konzipiert als ›variabler Prozess‹ in sechs Sätzen, platziert er ein großes Orchester mit vier weiteren gemischten Instrumentalgruppen um das Publikum herum. Zum Ensemble gehören ein Alt, Ondes Martenot, Live-Elektronik und Tonband, viel Schlagzeug, Hupe, Donnerblech, Kette und Trillerpfeifen, dazu fließen Alltagsgeräusche, Naturlaute und Fetzen traditioneller Orchestermusik in eine serielle Architektur mit Dauerreihen ein: eine ambitionierte Demonstration seines Synkretismus. Aber in Harley-Davidson für neun Motorräder und Trompete (2000) knüpft er an Stockhausens Helikopter-Quartett an und sein Dirigentensolo, verfilmt von Mauricio Kagel, an den Surrealismus. In die Abstraktion einer rein gedachten Musik begibt er sich mit Mo-No: Musik zum Lesen

158 Vgl. D. Schnebel, Denkbare Musik, Schriften 1952–1972, hg. v. H. R. Zeller, Köln 1972.

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(1969). Dort will er sie nicht mehr im Erklingen, sondern als imaginatives Surrogat mittels einer hieroglyphischen Notation im Kopf des Lesers erstehen lassen. Eine von Schnebels zentralen Thesen lautet, die »Notwendigkeit einer Kulturrevolution zu einer Kunst, die sich aus ihrem affirmativen Wesen befreit«, formuliert aus seinem Verständnis von ›Aufklärung‹ als ein ›bewusstes Hören‹. Das aber meint nichts anderes als ein zerebrales Hören – die mentale Tonlage der Frankfurter Schule und der Negativen Ästhetik. Sie wird noch deutlicher, wenn er befindet: »Sobald ein Kunstwerk etwas völlig in sich Stimmiges und Bruchloses geworden ist – dann stimmt es eben nimmer.« Jörg Widmann (Jahrgang 1973), in seiner Musikalität ähnlich authentisch und ausdrucksstark wie Reimann, dazu noch begnadeter Klarinettist, demonstriert seinen virtuosen Umgang mit Dekonstruktion und Montage in seiner Oper Babylon (2011/12). Ihre Materialien reichen von Folklore mit dem Bayerischen Defiliermarsch und den »Lustigen Holzhackerbuam« (in der Karnevalsszene nach der Sintflut) bis zum Affensextett »Wer hat die Kokosnuss«, während er im »VaginaMonolog« seine besondere Deutungsversion des Topos vom »Ewig-Weiblichen« vorführt. Als Liederkomponist bedient er sich in seinem Zyklus Das heiße Herz für Bariton und Klavier (2013, ausgearbeitet zu einer Orchesterfassung 2018) aus den Wunderhorn-Liedern, aber auch mit Texten von Peter Härtling in eigenwilliger Zusammenstellung. Seine Anleihen aus dem Fundus des »Romantischen Liedes« dekonstruiert er zu vielerlei Klang- und Melodiefragmenten – ironisch bis surreal. Und damit auch ihre ursprüngliche, positiv besetzte Semantik aus beseelter romantischer Empfindungswelt, entfremdet zu Beklommenheit, Skepsis, Vergeblichkeit und Düsternis. Heinz Holliger (Jahrgang 1939) bedient sich schon in seiner simultan-dreisprachigen Kurzoper Come and Go – Va et vient – Kommen und Gehen von 1978 des geläufigen Stilmittels sprachlicher Dekonstruktion. Er überführt dort die Textvorlage von Samuel Beckett in ein polyglottes Kauderwelsch als Metapher babylonischer Sprachverwirrung. Auch noch sein Spätwerk Lunea von 2018 gestaltet er nicht nur als leidvolle geistige Dekonstruktion eines Dichters, sondern auch von Sprache. In 23 Szenenbildern ohne dramaturgisches Narrativ verschränkt er den psychischen Untergang von Nikolaus Lenau als Folge eines Schlaganfalls (von Händl Klaus in ein Libretto gebracht) mit den Denaturierungsmodi des Textes in Fragmenten und Wortfetzen. Beat Furrer, Ernst von Siemens-Musikpreisträger von 2018, demonstriert in seiner frühen Oper Narcissus von 1994 die Unmöglichkeit einer Verständigung mit dem Anderen, indem er das humane Kommunikationsmedium »Sprache« systematisch de-humanisiert durch Zerhacken, Folgen von Silben und Phonemen. Auch in Wüstenbuch (2009), nach Texten von Ingeborg Bachmann, Lukrez, Machado und aus ägyptischen Papyrus-Fragmenten, gestaltet er das Szenario einer Wüstenreise als Metapher für Erinnerungs- und Subjektauslöschung im Todestransit als

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Dekonstruktion. Handlung, Narrativ und Sprache lösen sich in Abfolgen diffuser instrumentaler Fragmente und Vokalisen auf. Chaya Czernowin (Jahrgang 1957) bekennt sich in ihrem Komponieren von Anfang an programmatisch zur »Destruktion herkömmlicher Formen« als Ausdruck einer »Aufspaltung von Identitäten«. In ihrer zweiten Oper Zaïde/Adama (2000), als »Re-composition« bezeichnet, komponiert sie das unvollendete Singspiel Zaïde von Mozart nicht zu Ende, sondern konfrontiert seine Musik mit ihrer Dekonstruktion durch ein zweites Orchester. Das allegorische Gegensatzspiel zwischen europäischem Liebespaar und orientalischem Sultan im Narrativ von Mozarts harmloser Serail-Exotik verschärft sie zum Konflikt zwischen einer Israelin und einem Palästinenser. Den optimistischen Singspielton Mozarts destruiert sie ins Ausweglose und seine Musik, besonders mit einem nachkomponierten Chorpart (2017), radikal in eine disparate Kontrastdiktion von Geräuschattacken und hebräischen, arabischen und deutschen Textfragmenten. Der gängige Umgang mit musikalischen und sprachlichen Strukturen in Travestie, Ironie, Kommentar, Reflexion, gelegentlich auch als eine Art von Trauerarbeit, ausgearbeitet bis zur analytischen De-komposition und semantischen De-formation, setzt »Dekonstruktion« als Technik für neue »Konstruktion« ein. Ein Blick auf die bildenden Schwesterkünste zeigt die ästhetischen Konkordanzen. Allerdings nimmt dort schon seit Dada, Fluxus und der »Autodestrukiven Kunst« eines Gustav Metzger die Aktion den Platz einer aus »Dekonstruktion« gewonnenen »Konstruktion« ein. Nach Robert Rauschenbergs mittels Radiergummi betriebenem Erased de Kooning Drawing erzielte der österreichische Maler Arnulf Rainer mit der planvollen Übermalung eigener Werke als intellektuelles Konzept einer »Doppelbildlichkeit« ästhetischen Mehrwert. Auch Gerhard Richter übermalt Pressefotos (»Unschärfebilder«) und Fotographien zur höheren ästhetischen Illumination ihrer Inhalte, besonders prägnant in seinem Birkenau-Zyklus. Und die bekannten »Kippfiguren« von Georg Baselitz sind nicht nur eine geniale Erweiterung der Bilderfindung, sondern lassen sich in ihrer Inversion der menschlichen Gestalt auch als Modus von Dekonstruktion lesen. Die Verwandlung von Destruktion nicht nur in ästhetische Konstruktion, sondern in pekuniären Mehrwert feiert inzwischen spektakulär das Geschäftsmodell des Kunstmarkts. Das naive Bild Girl with Balloon des britischen Graffitikünstlers Banksy, zugeschlagen bei einer Sotheby’s-Versteigerung (2018) für 1,04 Millionen Pfund, gewinnt durch eine kalkulierte Zerstörungsaktion immer weiter an Wert und avanciert zum begehrten Ausstellungsobjekt. Denn durch Autozerstörung bis zur Hälfte, mittels eines eingebauten Schredders während der Auktion, steigt sein Wert als Girl in the Bin inzwischen auf 16 Millionen Pfund – wieder bei Sotheby’s in London (2021). Das vereint nicht nur Concept Art und Dada-Spektakel mit Performance-Action zum Hype eines (geldwerten) Aufmerksamkeitswerts, sondern demonstriert die Idee von »Destruktion« als ästhetischen Zeitwert. Schon Picasso hatte den »Drang zu zerstören« als »kreativen Drang« bezeichnet.

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Was hier in trivialer materialer Realistik auftritt, enthüllt jenseits aller Aktions- und Performance-Inszenierungen und dem ›Aufmerksamkeitswert‹ ein zentrales Prinzip: es ist der Material-Gedanke. Substanz als Sinn und ›Bedeutung‹ wird konvertiert in Materialsubstanz. Das zeigt sich besonders in der Musik in der Verwendung von sinnbestimmten Vorlagen als bloße konstruktive Versatzstücke oder mit ihrer Denaturierung zu bloßen akustischen Phänomenen. Hier geht es nicht mehr um alte Hommage oder Reverenz, um Variatio oder Delectatio, sondern um Verwertung als Material. Das aber gehört in der Moderne von Adorno bis Roland Barthes oder Jean Dubuffet und Joseph Beuys, Nono, Lachenmann, Schnebel oder Holliger zum Kernbestand avantgardistischen Kunstdenkens: State of the Art. Als Dialektik zwischen der Konstruktion des Neuen und der Dekonstruktion des Alten erfährt es seine Legitimierung als ›Bedeutung‹. Vielleicht könnte es, allerdings in anderem Anwendungsmodus, als jene »Entkunstung von Kunst« verstanden werden, wie es bereits Adorno andenkt.159

Hypercomplexity als ultimatives Versprechen von ›Tonsatz‹ Der musikalische Konstruktionswille der Moderne erschöpft sich aber keineswegs in dieser Dialektik. Er bemächtigt sich auch des alten Tonsatzdenkens aus der Tradition. Nur genügt seine Komplizierung seit dem späten Beethoven bis Wagner, Strauss, Reger und dem frühen Schönberg längst nicht mehr. Er will es mit verschärfter Rationalität weiterentwickeln. Das ist der Königsweg der Avantgarde in weitere Kalkülkünste. Als »Komplexismus«, auch unter »Neue Komplexität« oder Hypercomplexity gehandelt, wird das Komplizierte nicht nur Devise, sondern ausdrücklich auf den Begriff gebracht. Man könnte es insofern auch als ›parametrisches‹ Komponieren bezeichnen, wenn die alten Elemente eines Tonsatzes wie frei verfügbare Partikel behandelt werden. Allerdings im Erscheinungsbild des alten. Als solches erfasst es der Blick des Zeitgenossen wie eine weitere, vielleicht höchste Entwicklungsstufe des traditionellen abendländischen Componere, also als Fortführung des strukturellen Tonsatzdenkens aus der Tradition des deutsch-österreichischen Komponierens wie es in der »Ersten« und »Zweiten Wiener Schule« seine exemplarische Bedeutung erlangte. Von da aus stellt es sich als evolutionärer Prozess einer intensiven Elaborierung und Individualisierung traditioneller Satzarbeit samt ihrer spieltechnischen Anforderungen dar. Seine Erscheinungsformen prägen zwar schon viele Werke von Skrjabin, Reger oder Zemlinsky und dem frühen Schönberg. Aber viele von anderen sind aus Konzertleben wie aus musikgeschichtlicher Erinnerung fast ver159 Th. W. Adorno, in: Prismen: Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1976, S. 159 sowie Ästhetische Theorie, S. 32: »Die Leidenschaft zum Antasten dazu, kein Werk sein zu lassen, was es ist, ein jegliches herzurichten, seine Distanz vom Betrachter zu verkleinern, ist unmißverständliches Symptom jener Tendenz.«

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schwunden: Charles Valentin Alkan, Leo Ornstein, Nikolai Andrejewitsch Roslawez, Georgi Catoire, Nikolai Medtner oder die 53 Studien über Chopin-Etüden von Leopold Godowsky für die linke Hand. Aber auch Werke von Karl Amadeus Hartmann oder Frederic Rzewski und des konzertierenden »Übervirtuosen« Marc-André Hamelin gehören in diese Kategorie. Hartmann (1905–1963), in den frühen Werken zwischen Dada, Jazz und Burleske experimentierend, dann von Webern tief beeindruckt, findet zu einer tonal gebundenen, aber extrem elaborierten Satzfaktur. Mit seinen Sinfonien schiebt er, genau wie Henze oder Penderecki, den Schlussstrich des Genres, der so oft bei Mahler gezogen wurde, weiter hinaus. In anstrengender Satzarbeit evozieren sie Ausdrucksbereiche von großer Unruhe bis hin zur Aufladung mit hoher unterschwelliger Aggressivität. In den Ecksätzen meist von kompromissloser Härte, in den Mittelsätzen aber auch mit einem sinfonischem »Adagio appassionato« tiefer Betroffenheit Das verdankt sich womöglich einer mentalen Auflehnung, die mit politischem Widerstand und einer Verzweiflung am »inneren Exil« während totalitärer deutscher Zeiten zu tun hat. »Symphoniker der Weltangst« und einer »Endzeit« hat man ihn genannt (Musikkritiker Karl Schumann). Die Klaviersonate 27. April 1945, mit der Hartmann den Vorbeizug der letzten KZ-Häftlinge an seinem Heim verarbeitet, lässt solche Hintergründe konkret greifbar werden. In die gleiche avancierte Komplexitätsklasse fallen auch Werke der britischen New Music Manchester Group. Dazu zählen Komponisten wie Harrison Birtwistle, Peter Maxwell Davies, beide Jahrgang 1934, und Alexander Goehr, Jahrgang 1932. Ersterer mit sieben Opern, von denen Panic (1995) ostentativ Lautstärke- und Dissonanzenmaxima häuft. Davies (1934–2015) hat neben zehn Sinfonien viel Kammermusik und Lieder komponiert, unter denen die zehn Naxos-Streichquartette eine prominente Stellung haben. In seinen frühen Werken komponiert er hauptsächlich seriell, bevorzugt Extreme in seiner Vokalbehandlung, wie in der Oper Revelation and Fall (1966) nach Texten von Georg Trakl und bekennt sich zum politischen Komponieren, wie im dritten Streichquartett von 2003, als Protestmusik gegen den amerikanischen Irak-Krieg oder in seiner Oper Kommilitonen! (2010) als Sympathiekundgebung für Studentenunruhen. Goehr, der bei Messiaen studiert hatte, sich aber zeitlebens der SchönbergSchule verpflichtet fühlte, beruft sich hingegen auf die musikalische Tradition. Allerdings im Schönberg’schen Verständnis ihrer natürlichen Evolution durch die Zwölftontechnik. Er verehrt aber auch J. S. Bach, komplettiert Monteverdis Torso L’Arianna, komponiert Sinfonien und versucht sich an komplexen Chorwerken mit enormen Aufführungsschwierigkeiten. Er bekennt sich als ein Komponist, der

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nicht dem intuitiven Einfall vertraut, sondern »Systems of Construction«.160 Entsprechend ist sein analytischer Umgang damit: in Concerto for Eleven, op. 32, orientiert er sich an Beethovens Klaviersonate op. 101, in Metamorphosis/Dance op. 36 an Beethovens op. 111. Im ersten Satz seines Streichquartetts op. 37 (1976) lässt er sich von Beethovens Klaviersonate op. 90 anregen. Dort macht er den Versuch Diatonik und Zwölftontechnik als Konstruktion zu verbinden, ein Verfahren, das er als Matrix Technique bezeichnet. Damit bewegt er sich mit der konstruktivistischen Umformulierung musikalischer Traditionsbestände im gleichen Genre wie Nono und Berio, Messiaen, Schnebel oder Zender.161

Eine ›Zweite Moderne‹ Ins Zentrum dieses Tonsatzdenkens als »Komplexismus« aus dem evolutionären Ehrgeiz der Nachkriegsavantgarde gelangt man schließlich bei Komponisten wie Brian Ferneyhough, Klaus Hübler und Claus-Steffen Mahnkopf an. Inzwischen werden aber Michael Finnissy, Mark André, James Dillon oder Franklin Cox dazu gezählt. Zwar halten ihre Kompositionen am alten Werkbegriff fest und arbeiten mit den Elementen eines strukturierten Tonsatzes im temperierten System. Ihre Theo­rie aber formuliert neue Prämissen: die eines Komponierens jenseits der ›Ersten Moderne‹. Mit der Postulierung einer Zweiten Moderne, einer Begriffsanleihe aus Theorien der 1980er Jahre in Architektur (Heinrich Klotz) und Soziologie (Ulrich Beck, vgl. S. 701), verbindet sich sogar der Anspruch eines weiteren Paradigmenwechsels.162 Ein prominenter Vertreter ist Claus-Steffen Mahnkopf (Jahrgang 1962), nicht nur Komponist, sondern auch streitbarer philosophischer Musikintellektueller. Mahnkopf ist nachhaltig geprägt von Brian Ferneyhough, bei dem er studiert hat. Ferneyhough (Jahrgang 1943), hatte bei Klaus Huber in Basel studiert und zeichnet sich durch ein kompositorisches Denken aus, das immer um Zahlenrelationen kreist, besonders die Verhältnisse zwischen Tempo, Metrum und Rhythmus. Mit ihnen konstruiert er in seinen Werken die Spannungsebenen als komplexe, aber exakt kalkulierte parametrische Organisationsstrukturen von polymetrischen 160 The Music of Alexander Goehr. Interviews and Articles, hg. v. B. P. Northcott, London 1980, S.13. 161 Vgl. J. Rowlands, Twelf-Note Methodology in the Music of Alexander Goehr, Diss. Univ. of Surrey 1989, besonders ab S. 132, sowie: B. P. Northcott (1980), passim. 162 ›Zweite Moderne‹, für die Musik formuliert bei J. Häusler, Spiegel der Neuen Musik, Donaueschingen, Kassel u.a. 1996, S. 354, aber auch durch Peter Ruzicka während der Münchener Biennale für Musiktheater 2000 sowie im Symposium Zweite Moderne bei den »Salzburger Passagen« der Festspiele 2005. Dort rechnet er Nono und Lachenmann zu einer »Ersten Moderne«, Stockhausen, Ferneyhough, Mahnkopf und Czernowin zu einer »Zweiten«. Vgl. auch C.-S. Mahnkopf, Thesen zur Zweiten Moderne, in: Musik und Ästhetik 36 (2005).

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Schichtungen, Pattern und skalierten Abfolgen. Zeugnisse dafür sind seine Streichquartette. Im Streichquartett Plötzlichkeit fügt er Überlagerungen von proportionalen Metrumschichten, wie etwa von 7: 4, 14: 9 oder 12: 9, wodurch Strukturen von zwanzig Schichten zwar simultan erklingender, aber autonomer Prozessabläufe von bis zu 100 Klangsegmenten entstehen. Dazu baut er als ›Impulse‹ aber auch irreguläre Rhythmen (Tuplets) ein. Ähnlich verfährt er in seinem siebenteiligen Zyklus Carceri d’Invenzione (1981– 1986). Inspiriert von Giovanni Battista Piranesis düsteren, theatralischen Kerkerarchitektur-Phantasien, den berühmten Carceri-Radierungen, will er besonders deren intrikate Perspektivengeometrie mit der »Ausstrahlung ihrer Energien und Kräfte« musikalisieren. Die komplexe visuelle Struktur überträgt er auf eine komplexe musikalische Faktur: Im ersten Stück, Superscriptio, strukturieren acht verschiedene Zahlenreihen durch Transformation, Kombination und Überlagerungen jeweils Form, Folge und Länge der Takte, sowie Rhythmus und Melos. In der Erscheinung als Akkordgebilde werden sie zum Grundmaterial des Zyklus. Das zweite Stück, Carceri I, wird mit 48 Modulen und ihren Veränderungen organisiert, das dritte, Intermedio alla ciaccona für Violine solo, durch Trigger-Attacken, das vierte, Carceri III, ein Flötenkonzert, arbeitet mit Wiederholungen. Das fünfte Stück, Étude Transcendentale Nr. 9/Intermedio II., bringt neun Lied-Miniaturen für Sopran. Das sechste erprobt zyklisch die Opposition und Integration verschiedener rhythmischer Verlaufsebenen samt Trigger-Impulsen. Im siebten, Mnemosyne, für Bassflöte und Zuspielband, verwendet er Material aus den vorigen sechs Teilen. Strukturiert in zehn Abschnitte werden die acht Grundakkorde vierteltönig abgewandelt, wobei die elektronische Zuspielung neben vielen Glissandi und Doppeltrillern vor allem die Markierung der verschiedenen metrischen Wechsel und Harmonien übernimmt.163 In seiner Oper Shadowtime (1999/2004), einem Auftragswerk für die Biennale des modernen Musiktheaters in München (2007), setzt Ferneyhough den Suizid Walter Benjamins mit seinem nachfolgend imaginierten ›Abstieg in die Unterwelt‹ in Szene. Dem Nimbus Benjamins als eine intellektuelle Ikone der Epoche entspricht Ferneyhough mit sieben konstruierten musikalischen Denkbildern: eine ›Gedankenoper‹ als ein »Nicht-christliches Requiem.« Die alte Requiem-Reminiszenz wird maximal kontrastiert durch ihre Ansiedlung in einer grellen Las-Vegas– Kulisse und mit Mikrotonalität, 13teiligem Chor zu 48 Stimmen und wieder höchst komplizierten Rhythmusschichtungen. Bezeichnend für die Zahlenmanie Ferneyhoughs ist die vierte Szene Opus contra naturam für einen sprechenden Pianisten und Klavier. Bereits der Text, den der Pianist rezitiert, spielt auf Benoȋt Mandelbrot an, den Vater der fraktalen Geome­

163 Für eine genaue Analyse vgl. C. Paetzold, Carceri d’Invenzione von Brian Ferneyhough. Analyse der Kompositionstechnik, Hofheim 2010 (= Reihe sinefonia Bd. 14).

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trie (»What’s the cube root of a counterfactual? An almond«). Die Musik konstruiert er aus rhythmischen Proportionen, die im ersten Takt mit 7/16-Vorzeichnung eine Gruppe von 11:7 Schlägen enthalten, wovon aber drei im 5:3 Rhythmus stehen, die aber wiederum eine Zweiteilung in 5:3er und eine 7:4er Gruppe aufweisen. Melodramatisch aber verklingt das Finale mit der letzten Szene Stelae for failed time als ein morendo diffusen, babylonischen Sprachgemurmels elektronischer Klangcluster. Ferneyhoughs Komponieren lädt Musik durch die komplexen strukturellen Pattern und Schichtungen zu einem immens hochverdichteten Satz auf. Zu den detaillierten rhythmischen Differenzierungen jedes einzelnen Taktes kommt die Determination eines jeden Einzeltones durch eine Fülle von akribischen Akzent-, Dynamik- und Artikulationszeichen. Verstanden als spezielle Anwendung von parametrischem Denken ist es deshalb als eine Art von »Hyperserialismus« bezeichnet worden. Allerdings scheint solche hypertrophierte Logizität weniger auf eine praktisch realisierbare Spielbarkeit aus dem Fundus instrumentaler Konventionen zu zielen noch auf eine semantische Wahrnehmung, sondern auf ein abstraktes Formulierungskonstrukt auf Notationsebene. Schon weil es, nicht zuletzt nach Kriterien der Informationstheorie, wegen der hohen Konzentration seines Informationsgehalts kaum fassbar für die hörende Perzeption ist, führt sie Hörer, Spieler wie auch den Musikkritiker ins Dilemma – womöglich durchaus mit intentionalem Kalkül. Den Verfertigern von »Hypercomplexity« ist das allerdings so bewusst wie einst Schönberg das Problem der »Fasslichkeit«. Zwar wird vom Spieler ein übernatürliches close reading verlangt. Für die allgemeine Aufführungspraxis aber wird eher ein »approximatives« Verfahren in »partieller Realisierung« empfohlen. C.S. Mahnkopf bemerkt dazu: »Viele Interpreten neuer Musik haben diesen vermeintlichen Mangel längst als Form von Freiheit aus Verantwortung schätzen gelernt« (2002). Wolfgang Rihm sagt es prosaischer. »Ich bin nicht der Polizist meiner Noten« – insistiert aber doch vorsorglich: »der Komponist soll die Spieler nicht unterfordern.« (bei musica viva, 2022). Viele davon fühlen sich allerdings nicht unterfordert, sondern überfordert. Ihre frustrierten Äußerungen zeigen, dass sie die Schwierigkeiten der Aufführung entweder als eine grundsätzliche performative Kritik an »traditioneller« Musik und deren Spielpraktiken verstehen oder sogar als absichtsvolle Ranküne, bis zum Verdacht perfider Manipulation psychopathologischer Art.164 Stücke von Ferneyhough wie Time and Motion Study II (1973/1976) könnten das leicht bestätigen. Dort soll ein Cellist in Interaktion mit einer Live-Elektronik in dramatischem Kampf bis zu seinem physischen Zusammenbruch agieren. Das ist konzeptionelle Absicht. Denn das Stück ist als ästhetische Demonstration von 164 Demnach wäre die bewusste Herstellung einer Art von »sado-masochistischer Beziehung« intendiert: der Komponist als Sadist, der Spieler als Masochist, vgl. die Kommentare bei Wikipedia, The free encyclopedia, unter: Editing New Complexity.

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›energetischer Entropie‹ gedacht. In der Aufführung wird es nicht nur als Exempel von Destruktion wahrgenommen, sondern auch als Vorführung »inhumaner Anforderungen«, wie es eine Rezension befindet (The Gramophone, 2/1999). Auch Claus-Steffen Mahnkopf fühlt sich durch Walter Benjamin und seinen Messianismus marxistisch-materialistischer Lesart inspiriert. Für seine Oper Angelus Novus (1997–2000) greift er einen Aphorismus aus einer seiner geschichtsphilosophischen Reflexionen auf, der neunten aus den achtzehn Thesen Über den Begriff der Geschichte. Dort geht es, angeregt durch eine Zeichnung von Paul Klee, um einen Engel, der in die Vergangenheit zurückschaut, den ein Sturm aber unaufhaltsam in die Zukunft treibt: Dieser Sturm ist nach Benjamin das, »was wir den Fortschritt nennen«. Mahnkopf verrätselt den ohnehin enigmatischen Text noch weiter durch seine Dekonstruktion mit minuziösen, simultan operierenden Hyperstrukturen. Er fügt abgeschlossene Einzelstücke für ekstatische Sopran-Vokalisen sowie Ensembles von Instrumentalstücken dazwischen: eine Kammersinfonie, ein Klaviersolo, ein zwischen Etüde und Toccata mäanderndes Cello, eine Oboen-Serenade oder die steilen Sturzgänge einer elektronisch verstärkten Flöte. Aber das musikalische Theater verweigert sich einer zusammenhängenden Narrativ-Illustration ebenso wie einer szenisch-dramaturgischen Idee. Damit bleibt auch jede Ausdeutung als ›Bedeutung‹ nach tradierten Kriterien des Musiktheaters offen: Es präsentiert sich als ein Assoziationsfeld disparater Elemente. Obwohl es damit eher Bespiel einer De-Komposition von ›Oper‹ wird, will es Mahnkopf als Entwurf eines Musiktheaters nach der »Postmoderne« verstanden wissen. Dazu formuliert er als engagierter Theoretiker grundlegend viele Positionen avancierten Komponierens in seiner Streitschrift Kritik der neuen Musik. Entwurf einer Musik des 21. Jahrhunderts (Kassel 1998). In seiner Kritischen Theorie der Musik (Weilerswist 2006) entwirft er dann auch das Projekt einer »Zweiten Moderne« dessen zentrales Konzept ein Kritisches Komponieren ist.

Komponierte Metakritik oder: Die sich selbst de-konstruierende Konstruktion Nach den Grabreden von Boulez, Ligeti und Lachenmann auf Schönberg und seine Schule, hält Mahnkopf jetzt ein Requiem für Stockhausen, Nono, Boulez, Lachenmann, Rihm, Cage und Spahlinger ab. Es ist die anerkennende Verabschiedung einer »Ersten Moderne« und die polemische der »Postmoderne« samt einer wütenden von John Cage. Den bezeichnet er als »Inszenator der Leere« und hält ihn für eines der »gewaltigsten Missverständnisse der Musik des 20. Jahrhunderts«.

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Stattdessen entwirft er das »Kritische Komponieren«, als Verbindung von Hypercomplexity und »inhärenter Dekonstruktion«.165 Zuerst angedacht wird das Konzept bereits von Nicolaus A. Huber (1972) als eine radikale Kritik an allen Erzeugnissen eines vormodernen Komponierens. Dazu zählen seine Konventionen, Institutionen, Formen und Normen, denn: »Neue Musik bedeutet immer ein Abarbeiten am Komplexen und Widerständigen und verweigert sich leichtfertiger Konsumhaltung« (Michael Rebhahn). Das ist die Tonlage der Kritischen Theorie aus der Frankfurter Schule. Jetzt erfährt sie mit ihrer Denkfigur von Adornos »Bestimmter Negation« ihre finale Verwirklichung im »Kritischen Komponieren«. Nach dem Entwurf von Mahnkopf soll es das Resultat eines selbstreflexiven Diskurses in seinem Verhältnis zu Geschichte, Umwelt und Gesellschaft sein, wobei es die aktuellen ›Umbrüche‹ in sich aufnehmen, sie widerspiegeln und sogar antizipieren müsste. Mahnkopf beschreibt es als »Ein Kritisieren, das im Werk als Prozess aufscheint«, also das jeweils Abgelehnte und Kritisierte integriert – aber gleichzeitig auch wieder aufhebt. Er bezeichnet es, im Unterschied zur Dekonstruktion von bereits Vorhandenem, als »immanente Dekonstruktion«. Genauer beschreibt er es als »eine musikalische Dekonstruktion, die eine autonomistische Struktur zugleich erzeugt wie im Erzeugen dekonstruiert (Mahnkopf, 2002, S. 61). Damit soll »ein Gegenmodell von Musik als Antwort auf bestimmte Ausprägungen der Musik« realisiert werden, »im Sinne einer konkreten Negation«. Mahnkopf bestimmt demnach als »eigentliches Feld des dekonstruktiven Komponierens die Faktur, deren Struktur von vorneherein anti-eindimensional angelegt ist … es wird mit formalen Gegenstrategien gearbeitet, mit dem Ausreizen von Ungereimtheiten, mit parametrischer ›Subversion‹, polyphoner Kreuzung, Verlöcherung und vielem mehr«. Er will »die zeitgleiche Setzung von Gestalten und deren Kritik« (S. 62). Demnach ist »Subversion eine immanente Tätigkeit des musikalischen Materials selbst und nicht an ihm« (S. 59). Ähnlich wie Lachenmann einen methodischen Katalog von Geräuschklängen ausarbeitet, skizziert Mahnkopf einen Katalog von »konfliktären Formstrategien« (S. 64–65). Wenn in deren ›Kombinierung‹ eine »perverse, sozusagen polymorphe Zuspitzung« der Verfahren geschieht, dann, so resümiert er die mentalen Konsequenzen, »bekommt musikalische Dekonstruktion etwas Paranoides, Pynchonhaftes« (S. 65) und fährt fort: »Dekonstruktive Musik kehrt sich ab von der Sinn-Identität und eröffnet sich – strukturell – der Polysemie …« (S. 66). Auch das knüpft nicht nur an die Denkfigur einer ›Nicht-Identität‹ zwischen Begriff und Objekt aus der Negativen Dialektik Adornos an, die als ›Selbstwiderspruch‹ reflektiert wird, sondern an die intentionale »Sinnlosigkeit« mit der »Liquidation des Zusammenhangs«, wie sie Adorno der Dodekaphonie Schönbergs als

165 C.-S. Mahnkopf, Der Strukturbegriff der musikalischen Dekonstruktion, in: Musik und Ästhetik 6 (2002), Heft 21, S. 49–68; ders. (Hg.), Mythos Cage, Hofheim 1999, bes. S. 127–191.

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»konstitutiv« bescheinigt.166 Oder anders: »Die Absenz von Sinn wird zur Intention« (Ä. Th., S. 516). Nur dass sie von Mahnkopf im »Kritischen Komponieren« der Hypercomplexity als »Aufladung von Perspektiven« verstanden wird, das heißt als Zuwachs an Sinnmöglichkeiten, denn: »Musikalische Dekonstruktion zieht Konsequenzen aus der kritischen Tradition europäischen Denkens seit der Aufklärung« (Mahnkopf, 2002, S. 58). Hier wird also nicht mehr dem »Scheitern« als legitime, dem zeitgeistigen Bewusstsein entsprechende Kompositionsidee das Wort geredet, wonach es gälte, Komponieren »in die gebrochene Vision einer im Scheitern sich erfüllenden Utopie zu übersetzen« (Christian Utz mit Bezug auf B. A. Zimmermann),167 sondern »Utopie« und »Vision« leuchten in einem jenseitigen Glanz: »Dekonstruktive Musik erzählt, auf der Suche nach dem Messianischen Lichte, aus dem beschädigten Leben« (Mahnkopf, S. 68). Das intoniert den gleichen proto-poetischen Tonfall, den auch Adorno in seiner Philosophie als finalen Abgesang an die Musik findet.

Die Dekonstruktion der Aufführung Aber es bleibt nicht bei der Dekonstruktion in der Konstruktion originären Tonsatz-Komponierens. Sie wird – in konsequentem Denken – auch auf alles ›Musik machen‹ angewandt, das heißt auf sämtliche konventionelle Material-, Aufführungs- und Vermittlungsformen musikalischer Praxis. Bereits Aufführungskonzepte wie von Cage bei Concerto for Piano and Orchestra, Earle Browns Available Forms (1961), oder Dieter Schnebels Symphonische Musik für mobile Musiker in seiner Reihe Produktionsprozesse (1974–1977) operieren damit, genauso wie solche von Vinko Globokar mit Das Orchester (1974) und seiner Sammlung von Modellen Individuum-Collectivum seit 1979 sowie die Kommunikationsspiele (1973) oder Netzwerk I-II (1982–1989) von Hans Wüthrich. Besonders der Dirigent, traditionelle Gallionsfigur des Musikerkollektivs, wird zum Objekt der Dekonstruktion. Funktional dereguliert und ironisiert, oder nur noch mimetisch simuliert, wird er schließlich ganz eliminiert. Bei Cage lässt der Dirigent in Concerto for Piano and Orchester seine Arme lediglich mechanisch wie einen Uhrzeiger kreisen. Bei Dieter Schnebels Nostalgie. Solo für einen Dirigenten (1962) sollen stumme Dirigiergesten für das Publikum entsprechende Klangund Musikvorstellungen evozieren: »Die Geste ist etwas wie ein optischer Ton« erklärt Schnebel in seinem Essay Klang und Körper von 1988. Mauricio Kagel hat das Stück, das im Umfeld der Fluxus-Bewegung 1962 in Wiesbaden begeistert gefeiert wurde, zusammen mit Alfred Feussner, als Filmproduktion Solo (1967) umgesetzt. 166 Th. W. Adorno (1975), S. 83, 113, 121. 167 Chr. Utz stellt es als »Konstruktionen von Klanggegenwart« durch »metaphorische Semantisierung von Klang-Zeit-Strukturen« dar, vgl. Paradoxien musikalischer Temporalität in der neueren Musikgeschichte, in: Die Musikforschung 68 (2015), Heft 1, S. 52.

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Unter Kagels Regie stellt ein Schauspieler verschiedene Dirigententypen dar: Mahler, Richard Strauss, Toscanini, Furtwängler, Karajan oder – Reverenz an Parodie und Ironie – den Physiker Alfred Einstein. In Kagels Finale für Kammerensemble (1980/81) sinkt der Dirigent am Ende wie von einem Herzanfall getroffen zu Boden. Dort soll er so lange liegen bleiben, bis das Publikum den Saal verlassen hat. Im Geiste veritabler Fluxus-Subversion folgten dieser Idee George Maciunas in Solo für Dirigenten (1965) oder Takehisa Kosugi in Tender Music for Solo Conductor (1965), wo die Auflösung von erklingender Musikinterpretation in eine körperlichgestische Szenerie inszeniert wurde: Bühne betreten –Verbeugen – Schuhe binden – Socken hochziehen – Abtreten. Solche Persiflage der Dirigenten-Figur als lustvolle Entmachtung betreiben auch Klaus Huber in Turnus (1973/74) oder Heinz Holliger bei Atembogen für Orchester (1974/75) und Hans-Joachim Hespos in voids (2005). Bei Split Brain für Kammerorchester von Nicolaus A. Huber (2015) gibt es zwar reale Instrumental­ aktionen mit Blasen, Streichen, Tremolieren, Zupfen, Schlagen, Reiben, Dämpfen oder Crescendieren. Aber optisch fokussiert er auf eine Pantomime mittels dirigentischem Fingertheater und szenischen Gebärden, wie »päpstliche Geste«, »MerkelGeste« oder »Dalai-Lama-Hände«. Huber will damit ›Emotionale Reste‹ bloßstellen und außerdem etwas über die »Interaktion der beiden Hirnhälften« vorführen.168 Inzwischen beschäftigt sich auch eine eigene Theorie mit der gestischen Ästhetik des Dirigiergenres und seine avanciertesten Protagonisten verbinden Elektronik mit MIDI-Schnittstellen, Audio Signal Processing und Spielkonsole zu Multimedia-Performances als Extended Conductor wie bei Alexander Schuberts Point Ones für erweiterten Dirigenten und Live-Elektronik (2012).169

Der »Schwindel der Wirklichkeit«: Mathias Spahlinger Mathias Spahlinger (Jahrgang 1944) traut der ›Wirklichkeit‹ nicht. Nicht im musikalischen Aufführungsszenario und noch weniger in der üblichen Musik selbst. Mit seiner Lesart der Kritischen Theorie erfasst die Dekonstruktion als angewandte »Bestimmte Negation« nicht nur die radikale Deregulierung des Dirigenten, sondern auch sämtliche überkommene Funktionen des Komponisten, der Musiker, Besetzung, Aufführung, des Raumes sowie der Hörer. Für die Musik aber erfindet er eine neue Denkfigur.

168 Vgl. N. A. Huber, Werkkommentar zu »Split Brain mit vorausgehendem Solo-Shrug (emotionale Reste)« für Kammerorchester, Wiesbaden 2017. 169 Vgl. D. Schnebel, sichtbare musik, in: Anschläge –Ausschläge. Texte zur Neuen Musik, München 1993, S. 262–300; S. Fricke, Dirigenten-Musik, in NZfM 163 (2002), Heft 1, S. 24–27; R. Nonnenmann, »Die Angst des Dirigenten vor der Musik?« Digitale Bild-Musik-Verbindungen bei Jens Brand, Orm Finnendahl und Michael Beil, in: Musik-Texte 129 (2011), S. 19–29.

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Mit ihr will er einen defizitären Begriff von ›Wirklichkeit‹, den er der traditionellen, tonalen Musik attestiert: »man hört nur systembezogen – alles andere der tatsächlichen ›Wirklichkeit‹ bleibt deswegen außerhalb« als einen »Schwindel der Wirklichkeit« aufklären. Die tonale Musik ist also ein Konstrukt, das alles was nicht in ihr aufgeht, verdrängt hat. Das wäre schon ganz in der Nähe der zeitgeistigen Idee von Alternative Facts, wo tatsächliche ›Wirklichkeit‹ als ›Konstrukt‹ entlarvt wird. Aber Spahlinger stellt sich damit grundsätzlich die Frage nach der ›Wahrheit‹. Ihm zufolge ist die ›Wahrheit‹ nicht sie selbst, sondern kann nur als »Negation einer bestehenden Wahrheit« zur Erscheinung gebracht werden. Das aber, so seine künstlerische Folgerung daraus, gelinge nur der Neuen Musik.170 In éphémère (1977) – Spahlinger artikuliert sich stets in Kleinschreibung – verwendet er zu Schlagzeug und Klavier, statt herkömmlicher Instrumente, ›veritable Instrumente‹. Damit sind klingende Alltagsutensilien gemeint, die Lachenmann ›Ad-hoc-Instrumente‹ nennt. In extension (1979/80) erweitert er den Aktionsradius der Musiker nach außerhalb des Konzertsaals. Für furioso (1991–1992) will er ein dauernd sich neu formierendes Ensemble durch Einsätze der Musiker auf wechselnden rollenden Podesten. In farben der frühe (2005) verknüpft er die Aktionen von sieben Konzertflügeln zu einer Versuchsanordnung von »entwickelnder Variation« mit willkürlich gesetzten Anfängen. In seiner Abhandlung vorschläge – konzepte zur ver(über)flüssigung der funktion des komponisten (1993) formuliert er verbal 28 Spielregeln für Gruppen von Musikern, es dürfen auch Schüler sein, die danach frei und selbstständig agieren sollen. In seinem Monumentalwerk doppelt bejaht zielt er nicht nur auf die »Verüberflüssigung« des Dirigenten, sondern auf eine radikale »Verflüssigung« aller etablierten musikalischen Verhältnisse. Dieses Werk, etüden für orchester ohne dirigent im Untertitel, existiert nicht als fixierte Partitur, sondern in 24 Konzeptpapieren, deren teils verbale, teils graphische, teils konventionelle Notationen Zielvorgaben benennen, nach denen die Musiker dann zusammen Klangtexturen, Spielkonstellationen und -situationen realisieren sollen. Die Besetzung ist meistens frei, nur gelegentlich gibt es Vorgaben zu einzelnen Instrumenten oder Kombinationen. Ein- und Ausschlussanmerkungen schreiben gelegentlich Haltetöne, Glissandi, Mikrotöne oder Tonlagen vor, die nur von bestimmten Instrumenten gespielt werden sollen. Durch ›Verzweigungen‹ am Ende jedes Konzeptmoduls gibt er jeweils drei Möglichkeiten vor, wie die Musiker die von ihnen zuvor kollektiv geschaffenen Situationen abzuwandeln haben, wodurch sukzessive Übergänge zu einem der drei anderen Konzepte entstehen sollen. Damit entfaltet sich die Musik als Entscheidungsprozess an jeder Schnittstelle in jeweils nur eine von drei möglichen Richtungen: rein rechnerisch in 24×323 Pfade.

170 Vgl. T. E. Schick, Widerständigkeit und bestimmte Negation. Zur Musik von Mathias Spahlinger, in: positionen 101 (November 2014), S. 21–24.

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Jedes Konzeptpapier enthält assoziative Vorschläge wie etwa: »klangband oder unendlich viele tonhöhen« oder »unendlich viele tempi« und »viele Farben/klangfarbenmelodien«. Aber die Musiker sollen damit musikalische Grundmuster wie verbinden-spalten, zusammen-getrennt, gleich-verschieden, statisch-dynamisch etc. selbst aufbauen. Spahlinger betrachtet es auch als »Kommunikationsmodell«, das den Musikern in einer Konzert-Installation engen Kontakt und dem Publikum freien, individuellen Zugang erlaubt. Als Demonstration ›herrschaftsloser‹ Gruppendynamik und einer permanenten Infragestellung sämtlicher Klangereignisse soll sie nicht nur die konsequente Verweigerung aller Strukturmodelle aus einem organisch-holistischen Verständnis realisieren, sondern auch die Verweigerung aller gesellschaftlichen Normen. Denn die versteht Spahlinger als »Machtverhältnisse« in »erstarrten Machtstrukturen«. Die Installation soll aber Demonstration für eine reflektierte kompositorische Idee sein, nämlich, dass der Setzung jedes Modells dialektisch seine Zersetzung als Bestimmte Negation inhärent ist. Spahlinger erklärt: »ein daseinsrecht hat musik heute, wo sie gegen ihren eignen begriff geht, wenn sie die frage stellt, ob das noch musik sei.« Auch eine ausdrückliche politische Konnotation fehlt nicht: »Musik konstituiert wirklichkeit und neue musik klärt über den immer auch ideologischen charakter solcher sinnstiftung auf.«171 Ein Verständnis des Ästhetischen als Ideologisches, Legat der Frankfurter Soziologenschule, verschärft Mahnkopf noch weiter. Denn er fordert mit dem bereits bei Adorno artikulierten Post-Auschwitz-Theorem eine Anwendung auf ein Komponieren nach dem ›Kulturbruch‹ von Holocaust und Vernichtung jüdischer Intelligenz durch das Nazi-Regime. An der direkten politischen Applikation der Kritischen Theorie wird ein mentaler Cantus firmus deutlich, der Avantgardekomponieren osmotisch durchtränkt: es ist das »gesellschaftliche Bewusstsein«, konkreter: ein ganz bestimmtes politisches. Vornehmer als »engagiertes Komponieren« bezeichnet, verspricht es nicht nur die geschichtsphilosophische, sondern auch die moralische Legitimation eines humanistischen Ethos über den bloß intellektuellen einer avancierten Machart. Damit aber ist man mitten in einem anderen Diskurs: dem musikpolitologischen.

Mentale Passepartous: musikalische Politologie als radikalste ›Weltanschauungsmusik‹ Bereits im legendären Gespann Bertold Brecht – Kurt Weill oder bei Hanns Eisler werden markante Spielarten eines politisch gemeinten Komponierens der Moderne greifbar. Weill begibt sich mit dem Sozialkritizismus von Dreigroschenoper (1928)

171 Vgl. R. Nonnenman, Programmheft zu den Donaueschinger Musiktagen 2009 und M. Spahlinger, Erläuterungen unter »Carte Blanche«, Berlin 2014.

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und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1927) engagiert in dieses Genre. Zur gleichen Zeit (1928) schreibt Eisler seine Kampflieder für den Deutschen ArbeiterSängerbund und dirigiert Arbeiterchöre. Er will »angewandte Musik« statt »absoluter« und bekennt als Vorsitzender des Musikbüros der Komintern, der Kommunistischen Internationalen: »Der moderne Komponist muß sich vom Schmarotzer zum Kämpfer wandeln.« Später avanciert er mit dieser Gesinnung zum Komponisten der DDR-Nationalhymne und künstlerischen Etikett des ostdeutschen Sozialismus. Für solche musikpolitologische Kampfmoral stehen aber viele Namen: von den Futuristen bis zu den Kommunisten und Sozialisten, zu Berio und Nono bis Paul Dessauer, dem mittleren Henze und frühen Lachenmann. Aber auch Nicolaus A. Huber, Rolf Riehm oder Mathias Spahlinger gehören dazu und allerhand illustre Ernst von Siemens-Musikpreisträger der 2000er Jahre. Schließlich begreift sich auch die Rock- und Rapperszene der zeitgenössischen Popmusik in vieler Hinsicht als ›politisch‹. War es im Futurismus ein faschistisches »gesellschaftliches Bewusstsein«, so ist es im Kommunismus und Sozialismus ein marxistisches und im Spätkapitalismus vielleicht ein kritisches ökologisches und postkoloniales, feministisches oder antirassistisches. Bezeichnende Metamorphosen des Genres zeigen sich etwa an Luigi Dallapiccola (1904–1975), einem wichtigen Lehrer von Luciano Berio und passionierten Komponisten politischer Bekenntnismusik. Die ist zuerst faschistisch inspiriert wie in Volo di notte von 1938. Später dann, mit angepasster neuer Gesinnung, inspiriert durch den ›linken‹ Anti-Faschismus, wie in Il prigioniereo oder in Job, beide von 1950. Dort zeigt sich dann auch mit der musikpolitologischen Wandlung eine kompositorische als Faktur kryptischer, dodekaphonischer Verrätselung. Auch Luigi Nono verstand sich lebenslänglich und ausdrücklich als ›politischer Komponist‹. Deshalb komponiert er ›Weltanschauungsmusik‹. Seit 1952 ist er Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens, zeitweise sogar in deren Zentralkomitee, und erklärt programmatisch: »Neue Musik dient dem Klassenkampf und provoziert die Bourgeoisie.« Auch der Melodie bescheinigt er, dass sie »eine bourgeoise Angelegenheit« sei (1960) und erledigt sie damit in der Tradition von Schönberg. Sein Schüler Lachenmann wird dieses Verständnis übernehmen. Nonos Vermählung von Marxismus, Serialität und elektronischer Klangartistik zum ästhetischen Credo fungiert als prominentes Paradigma radikalen politischen Komponierens. Damit handelt er engagiert allerhand gesellschaftliche Konflikte ab von seiner ersten Oper Intolleranza 1960 (1961) als flammender Protest gegen Staatsrepression, dem Elend der Fabrikarbeitertristesse mit La Fabbrica Illuminata (1964) bis zur Klassenkampfkantate Al gran sole carico d’amore (1975). Dazu kommen sämtliche politischen Themen von damals: die europäische Resistance in Il canto sospeso (1956) und Auschwitz mit Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz (1966) bis hin zum atomaren Desaster in Sul ponte di Hiroshima (1962) und dem Vietnamkrieg mit Intolleranza in der Neufassung von 1970. Mit seinem programmatischen Bekenntnis zu Widerstand und Verweigerung und dem Kampf gegen Bourgeoisie und Establishment legitimiert er sein Kompo-

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nieren als radikale Dekonstruktion aller tradierten musikalischen Konventionen und Strukturen.172 Sprache wird, wie noch im späten Prometeo (1984), dekon­struiert zu vokalen Schrei- und Lautfetzen der literarischen Vorlagen, die musikalische Faktur in elektronische Cluster und komplexe Metrikmuster dissoziiert, die der Chöre, mit der Regie einer Live-Elektronik à la Stockhausen, zu Fragmenten und Splittern. Aber der ästhetische Aufschrei will mehr sein. Gleichzeitig soll es auch eine Botschaft sein für ein Publikum der Underdogs aus Proletariat und Arbeitern. Nono will politisch sensibilisieren und mobilisieren: der schrille Ikonoklasmus als Manifest, die akustische Mimesis des Schreckens als ›Aufklärung‹, die Potenzierung des Katastrophalen als Besinnungstherapie – sämtlich Ingredienzien aus dem Fundus der »Negativen Ästhetik«. Noch das Spätwerk Prometheus deutet den mythischen Feuerbringer als politischen Brandbombenboten für das Lager der »Roten Brigaden« – der italienischen Spielart der deutschen RAF. Die »Tragödie des Hörens« demonstriert tragische musikalische Destruktion als Mimesis des Katastrophalen – ohne Lösungsangebot oder ›Befreiungs‹-Hoffnung. Das gleiche mentale Amalgam aus Kritik, Protest und Verweigerung in politischer Absicht grundiert auch das ästhetische Denken seines prominenten Schülers Helmut Lachenmann. Auch er, Ernst von Siemens-Musikpreisträger von 1996, komponiert Musik des Nicht-Versöhnten als radikale ›Weltanschauungsmusik‹. Aufschluss darüber geben, wie bei Stockhausen, Nono und Henze seine direkten, verbalen Äußerungen.173 Bereits während seines Studiums bei Nono identifiziert er sich mit dessen radikaler politischer Haltung, wo das ›in Frage stellen‹ jedes tradierten musikalischen Idioms zum Ausdruck eines kritischen »Gesellschaftlichen Bewusstseins« wird. Vor allem die Negation als »streng auskonstruierte Verweigerung« (H. Lachenmann 1996, S. 154) spielt eine zentrale Rolle. Damit macht Lachenmann, ähnlich wie Schönberg und Adorno, zuerst der Musikgeschichte den Prozess. Die Tonalität begreift er als sinnfälliges Medium »gesellschaftlicher Erstarrung«, geißelt in den frühen Aufsätzen »die anachronistische Penetranz der alten Musik« als »potenziellen Schlupfwinkel bürgerlichen Denkens«, spricht von »Kulturbordell, überlebten Normen, dem vernutzten Pathos, anachronistischer Idylle und ästhetischen Klischees«. Noch 1987 wirft er einem »neuen überquellenden Reichtum an affektgewaltiger Musik« vor, dass »sich die Fruchtbarkeit einer Fäulnis verdankt, bei der sich die Maden im Speck des tonalen Kadavers tummeln«. (S. 332).

172 Vgl. zur engen Verbindung von politischer und musikalischer Agenda bei: J. Stenzl, Luigi Nono. Texte, Studien zu seiner Musik, Zürich 1975. 173 Vgl. H. Lachenmann (1996). Seine Schulung in der rigorosen Dekonstruktion des überkommenen Komponierens im Kompositionsunterricht bei Nono beschreibt Lachenmann im Gespräch mit Peter Ruzicka über die Rolle der Neuen Musik in der Gesellschaft, in: NZfM 178 (2017), Heft 2.

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Konsequenterweise verfallen dessen musikalische Vertreter schärfstem Verdikt, von Krzysztof Penderecki (»Pender-Radetzky, der die tonalen Paarhufer anführt«) bis Henze und sogar Wolfgang Rihm. Hält er anfangs ›Scheitern‹, ganz im Sinne Adornos, für das wichtigste produktive Element einer aktuellen Kunst (S. 266), so geht es ihm später hinter aller Polemik darum, nicht nur das »Diapositiv der Tonalität zu überschreiten« samt der Negierung des ganzen, damit verbundenen »ästhetischen Apparats« mit seiner »gesellschaftlichen und kulturindustriellen Verbindung«. Er fordert vielmehr eine »Umpolung der Affekte« als Infragestellung vertrauter Wahrnehmungskategorien, die »Brechung« der daraus resultierenden »Besetztheiten des Materials« mit seiner »Aura«. Das ist die Diktion von Adornos »Befreiung vom Naturzwang« und der Forderung, nach einer Neubesetzung des musikalischen ›Materials‹. Wie tief diese ästhetische Absicht mit der politischen amalgamiert ist, zeigt sich in seinem Schwefelhölzern-Opus. Dort personifiziert er sie durch die Besetzung der Hauptprotagonistin des Andersen-Märchens mit der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin. In das Zentrum seines ästhetischen Denkens führt aber sein Kompositionsbegriff. Er versteht die »Reflexion der Mittel als den eigentlichen Gegenstand des Komponierens« (S. 402) und das musikalische Wahrnehmen im Hören als »Abtasten eines Strukturklangs«. Das folgt einem zentralen Paradigma der AvantgardeTheorie: der Überführung von musikalischem Empfindungserleben in zerebrales Reflexionsgeschehen. Wie Adorno geißelt er jeden »Rückfall in musikantisches Verhalten« (S. 219), denn »Komponieren heißt über Musik nachdenken …«. Deshalb ist ihm sein musikalisches Tun nicht ein componere als Zusammensetzen, sondern ein »Auseinandernehmen«. Das aber bedeutet nichts anderes als Dekonstruktion als analytischen Teil neuer ›Konstruktion‹. Wenn er dann ›Schönheit‹ zur »Verweigerung von Gewohnheit« heruntertransformiert und das ›Moment der Transzendenz‹ als »die bloße Materialität von Klängen oder Material überschreitend« definiert, dann weiß das nichts mehr vom Sinngehalt dieser Begriffe. Lachenmann offeriert nur Schwundstufen dieser ganz anders begründeten Bedeutungsgehalte, denen wir Format und Wirkung abendländischer Musik verdanken. Schwundstufe ist auch sein Verständnis von existenziell im Titel seiner Schrift Musik als existentielle Erfahrung: Gemeint ist nicht jene existenzielle Seinserfahrung, wie sie in Gipfelwerken der abendländischen Musik als Berührung einer anderen, größeren ›Wirklichkeit‹ geformten Ausdruck findet, sondern die existenzialistische aus dem dunklen Räsonnement der Moderne wie bei Heidegger, Sartre, Beckett oder Celan. Nach Nono, Henze, Nicolaus A. Huber und Mathias Spahlinger wirkt die politische Agenda als ästhetische Maske des Komponierens weiter bis in die jüngste Generation. Der Amerikaner Alexander Hunter experimentiert mit halbauskomponierter Musik, die er von einem »anarchischen Kammerensemble« improvisatorisch fortspinnen und paraphrasieren lässt. Der in Deutschland lebende Filipino Alan Hilario betreibt »Korruptionsbekämpfung« im Konzertwesen mit notier-

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ten Textanweisungen an die Musiker, die frei darüber improvisieren sollen. David Helbich versucht es als Animator, wenn er mit Handsignalen die rhythmische Bewegung eines Ensembles reguliert und sich dabei mal das eine, mal das andere Ohr, mal beide, zuhält, verstanden als begleitender Prozess einer »Selbsterfahrung« (London 2015).

»When the music is over« (Rockband The Doors,1967) oder: »Man kann sich heute eines gewissen Lächelns nicht mehr erwehren, wenn ein Ton erklingt« (Adorno, 1966) – Modi Finaler Abstraktion: gedachte Musik, Schweigen, ›Nichts‹ Hinter dem politischen Komponieren als Ausweis »gesellschaftlichen Bewusstseins« durch bestimmte Negation in Widerstand und Subversion nähert sich die kompositorische Dialektik von Konstruktion und Destruktion nach dem »Kritischen Komponieren« ihrer Selbstaufgabe. Aus der Perspektive Adornos wäre das ein logisches Finale im selbstgewählten Suizid. Bei Mahnkopf und der »Hypercomplexity« führen die Reflexionsstrategien immerhin noch zu einem Ergebnis als erklingende Musik. Aber schon Dieter Schnebel kokettiert mit ›imaginierter Musik‹ im Kopfdenken. Noch Avanciertere wie John Cage oder der Musiktheoretiker Heinz-Klaus Metzger betreiben ihre sinnliche Auslöschung durch reine intellektuelle ›Anschauung‹. Boulez, Ligeti und Lachenmann hatten Schönberg bestattet, Mahnkopf die »Erste Moderne«. Jetzt begraben Cage und Metzger auch Boulez, den frühen Nono, Adorno und Mahnkopf samt aller real erklingenden Musik in bloßer diskursiver Gedankenarbeit. Heinz-Klaus Metzger (1932–2009) kultiviert zunächst als Eleve der Negativen Dialektik den widerständigen Anarchisten. Als solcher gründet er 1969 mit seinem Lebensgefährten Rainer Riehn (1941–2015) das Ensemble Musica Negativa. Dort sind Komponisten wie Cage, Morton Feldman, Earle Brown, Christian Wolff und Hans-Joachim Hespos als erklärte ›Subversive‹ die Favoriten. Aber für Boulez findet Metzger das Prädikat vom »sterilen Techno- und Machtbürokraten«, den frühen Nono bezeichnet er als »seriellen Pfitzner« und die wachsende Mahler-Rezeption verfällt ätzender Kritik. Dann aber wird ihm Cage zum Befreier aus seiner Ultra-Negativität. Mit ihm findet er schließlich zur Metaebene einer rein reflexiven Musikperzeption. Von da aus macht er sogar Adorno mit seinem Essay Das Altern der Philosophie der Neuen Musik den Prozess und führt gegen ihn 1958 John Cage oder Die freigelassene Musik ins Feld.174

174 Vgl. H.-K. Metzger, Musik wozu. Literatur zu Noten, Frankfurt a. M. 1980; Die freigelassene Musik. Schriften zu John Cage, hg. v. R. Riehn u. F. Neuner, Wien 2012.

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Noch Adorno deutete das Concert for Piano and Orchestra von Cage dialektisch als »Negation des Sinns um des künstlerischen Sinns willen« – beließ es aber noch in seiner Existenzform als ein zu realisierendes Werk. Metzger hingegen kann leicht auch darauf verzichten. Er hält den Unterschied zwischen einem »Ereignis« – oder auch »Nicht-Ereignis« – sprich: der Aufführung oder Nicht-Aufführung für unwesentlich, denn beides gilt ihm als »Realisation«. Entscheidend sei allein das »Konzept« der Komposition und der »Diskurs« darüber. Der wäre anregender als es konkret erklingende »Ereignisse« im besten Fall sein könnten (1992).175 Damit bedient er sich für die Musik des frühen Concept Art-Begriffs aus der bildenden Kunst, wie er schon von Henry Flynt und Fluxus-Künstlern wie Sol LeWitt oder Lawrence Weiner propagiert wurde. »The piece needs not to be built« erklärt Weiner als Nr. 3 seiner programmatischen Schrift Statements dazu.176 Auch Mahnkopf würdigt Mathias Spahlinger unter dem Aspekt seines Denkprozesses: »Man tut seinen theoretischen Verlautbarungen am besten dadurch Ehre an, indem man liest, worauf es Spahlinger ankommt, nicht wie es durchgeführt ist.«177 Kongenial dazu die Bemerkung einer Förderpreisträgerin der Ernst von Siemens-Stiftung: »Meine Musik ist nicht zum Anhören da« (Clara Iannotta im Porträtfilm zu ihrer Preisverleihung, München 2018). Das kann als radikalste Dekonstruktion musikalischer Seinsweise eines Erklingens verstanden werden, vielleicht als Superlativ von Negation oder als Apotheose des zerebralen Musikdenkens: der vollkommene Ersatz des Musizierens durch Gehirntätigkeit – Zeugnis eines ontologischen Kategorienwechsels, der uns endlich von einem fallibeln, imperfekten Musikleben befreit. Was Metzger als distinguiertes ›Musik denken‹ feiert, formuliert Cage profaner: »Man könnte genauso gut essen gehen.« Diese Option kokettiert nicht nur mit der Beliebigkeit, sondern hinter der Abschaffung des Hörens mit dem Verschwinden von Musik. Der Philosoph Albrecht Wellmer erklärt: »Das Spiel mit dem Ende als einem letzten Telos – der Geschichte, der Erkenntnis, des menschlichen Lebens ist die Metaphysik.«178 Vielleicht das Ende der Musik im Verstummen nach Dekonstruktion, politologischem und ›kritischem Komponieren‹ als letzte ›metaphysische‹ Option der Moderne?

175 Ausgeführt in einer Diskussionsrunde im Deutschlandfunk Kultur v. 5. 9.1992, referiert von Florian Neuner als »You don’t have to call it music«. Abschaffung: Veränderung des Musikbegriffs nach John Cage, in: positionen 90 (Februar 2012), S. 16–17. 176 H. Flynt, Concept Art, in: An Anthology of Chance Operations, hg. mit J. Mac Low u. La Monte Young, New York 1963; L. Weiner, Statements, hg. v. d. Louis Kellner Foundation New York 1968. In diesen Kontext gehören auch Weiners Declaration of Intent als ein Manifest der Concept Art (1968) sowie Sol LeWitt, Paragraphs on Concept Art, in: Artforum, New York 1967. 177 C.-S. Mahnkopf (2002), S. 50. 178 A. Wellmer, Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes, in: Wellmer (1993), S. 204.

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Wenn der Däne Per Nørgård, Ernst von Siemens-Musikpreisträger 2016, noch notorische ›Irritation‹ und unvermeidliches ›Scheitern‹ als seine ästhetische Maximen bekennt, dann gibt er sogar ›reflexives‹ Komponieren als künstlerische Lösung auf. »Verwirre so viel wie möglich so viele Menschen wie möglich«, fordert er in alter Manier widerständiger Subversion. Damit meint er Beunruhigung als Evokation eines wünschenswerten Bewusstseinszustands. Das ist zwar keineswegs neu, denn ›beunruhigen‹ konnte Kunst schon immer. Aber – Missverständnis der Moderne – nicht als Pathogen, sondern als Erinnerung an eine andere Seinsqualität wie ihn die ›Entfremdung‹ der »Kritischen Theorie« vom existenziellen menschlichen Diesseitszustand ins Gesellschaftliche projiziert. Wenn Nørgård aber fortfährt: »Man kann nur scheitern, und wer nicht scheitern will, wird erst recht scheitern«, dann tönt im Paradoxon die Vergeblichkeit als letzte Kategorie auf. Oder eine Ästhetik der Sinnlosigkeit: Abgesang an einen über tausendjährigen Musikbegriff, der sich stets aus der Entfaltung von ›Sinn‹ bestimmt hat. Adorno intoniert es 1966 schon milde mit seinem ironischen Diktum vom »Lächeln, wenn ein Ton erklingt«. Radikaler meint es der von Adorno zu Cage konvertierte Musikintellektuelle Metzger, wenn er die Musikgeschichte an ein Ende gekommen sieht, weil die Materialevolution mit der Zulassung »von allem in der Welt Befindlichen als ›Material‹ durch Cage« auch das »Ende aller Möglichkeiten« erreicht habe.179 Hinter den aktuellen ästhetischen Endspielen von Vergeblichkeit, Materialentropie, Verstummen und Verschwinden aber scheint das Gespenst des horror vacui auf, der ›Leere‹ und des blanken ›Nichts‹. »Die Leere hat auch uns, mit oder ohne eine Ätiologie aus dem Holocaust, längst ergriffen und gefangengesetzt. Wer das aber – durch alle Tricks der Kulturindustrie hindurch – erkannt hat, weiß, dass das unser aller Schicksal ist« befindet Claus-Steffen Mahnkopf in seinen Elf Notizen über das Nichts (Freiburg 2001). Damit ist er näher als er vielleicht glaubt bei John Cage, mit dem die abendländische Musikintelligenzija, hochreflektiert und durchaus hedonistisch, ihren eigenen Exitus feiert: Ausdruck einer zeitgeistigen Befindlichkeit, die inzwischen die »transzendentale Obdachlosigkeit« des Georg Lukács weit hinter sich gelassen hat. Ihre Resonanz findet sie in der philosophischen Reflexion: »Im NICHTS hat das 21. Jahrhundert seine neue Stoa gefunden« (Ludger Lütkehaus). Die Moderne zu denken, heißt »die Wahrheit ihrer Faszination für das Nichts zu begreifen« (Dieter Henrich). Oder wie es uns der Psychiater Viktor E. Frankl bündig als un-

179 Adorno-Zitat aus der ungekürzten Fassung seiner Bremer Rede von 1966 wie sie H.-K. Metzger zitiert, in: Interview und Abschrift mit/von Björn Gottstein im Hauptstadtstudio der ARD v. 22.4.2003, vgl. auch: Adorno, Impromptus II (= Musikalische Schriften IV), Frankfurt a. M. 2003, S. 253–272; H.-K. Metzger, Das Ende der Musikgeschichte, in: Geist gegen den Zeitgeist. Erinnern an Adorno, hg. v. J. Früchtl u. M. Calloni, Frankfurt a. M. 1991, S. 172.

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ser »existentielles Vakuum« bescheinigt und der Philosoph Charles Taylor als »Schwundstufe der Vernunft«.180 Cage, der schon Zen mehr dadistisch als spirituell verstanden hat, huldigt nihilistischer Leere wieder als Schalk im Dada-Modus: als Maler mit seiner Nothingtoseeness à la Rauschenbergs »Weißen Flächen«, als Musiker in seiner Komposition O'OO, einem »Solo, das von irgendjemanden auf irgendeine Weise aufzuführen ist«. Aber er sagt es auch wieder einfacher: »I have nothing to say/and I am saying it/and that is poetry/as I need it« (Lecture on nothing, 1949).

Andere Modernen: andere musikgeschichliche Optionen Kaum beeindruckt vom ›Nichts‹ und dem Diskurs der Avantgarden aber ›schreibt‹ das reale Musikleben eine andere Musikgeschichte. Neben den dodekaphonischen und seriellen Epigonen wie Renegaten, der Musica Negativa, Hypercomplexity, politischem und kritischem Komponieren und der Geräuschästhetik mit Materialund Klangforschung, Experiment und Performance floriert nicht nur das potente Vorgestern von Early Music. Auch das Gestern tritt als unterirdischer Strom einer organisch weiterfließenden Tradition aus der »Spätromantik« unirritiert an die Oberfläche (siehe Kapitel X). Dort wird aber nicht nur tradiert, sondern auch erfinderisch evolutioniert. Viele Werke bezeugen dieses Potential, das bereits seit Mahler, Puccini, Pfitzner und Richard Strauss bis Szymanowski oder Rachmaninow und Prokofjew entfaltet wird, aber auch bei vielen anderen, die dem »Paradigmenwechsel« mit seinem neuen Musikbegriff nicht folgten: Milhaud, Goldmark, Zemlinsky, Korngold, Braunfels bis Britten oder Medtner, Rodion Schtschedrin und Wilhelm Killmayer oder Valentin Silvestrov, ebenso wie im Musiktheater von Carl Orff oder Wilfried Hiller oder den Oratorien von Roland Kunz. Hiller (Jahrgang 1941) avancierte zu einem Bühnen-Klassiker der deutschen Nachkriegszeit, vor allem mit Werken in Zusammenarbeit mit Michael Ende wie Traumfresserchen, Der Goggolori, Der Rattenfänger und Momo. Dazu gehören auch das Monodrama Ijob nach Martin Buber oder Peter Pan und Schulamit. Außerdem komponiert er vielseitige Orchester- und Kammermusik wie den Chagall-Zyklus, Tarot-Toccaten für Orgel und den Katalog für Schlagzeug I–II. Rodion Schtschedrin (Jahrgang 1932) wurde mit seiner Carmen-Suite für Streicher und 47 Schlagzeuger (1978) weltbekannt, hat aber auch sechs Opern geschrieben, darunter Tote Seelen nach Gogol (1976), Ballette, Orchester-, Kammer- und 180 Vgl. L. Lütkehaus, Nichts. Abschied vom Sein. Ende der Angst, Zürich 1999, 2. rev. Aufl. 2003; D. Henrich, Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, München 2016; V. E. Frankl (1955 u. 1982) sowie ders., Das Leiden am sinnlosen Leben. Psychotherapie für heute, Freiburg i. Br. 6. Aufl. 1982 (siehe Kapitel X).

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Klaviermusik, zwei Sinfonien, sechs Klavierkonzerte und liturgische Musik wie Der versiegelte Engel (1989). Roland Kunz (Jahrgang 1960) komponiert mit seinen Oratorien Der Seele Ruh (nach Worten von Meister Eckhart, 2010) und ›Pax‹ (nach Worten von Franz von Assisi, 2018) oder Lichtsinfonie (2006) in einem Synkretismus, der Tonalität mit Jazz- und U-Musik vereint, aber nicht in analytischer Dekonstruktion, sondern in einer sympathetischen Synthese, die bereits als New Past (Neue Vergangenheit) bezeichnet wurde. Auch in anderen Bereichen modernen Musiklebens bleibt ein kreatives Komponieren aus der Tradition geläufig. Dort hat sich die Filmmusik, längst ein eigenes Genre, vom primitiven MickeyMousing bis in eine Nähe Wagner’scher Ausdeutungssemantik entwickelt. Bereits die ersten Hollywood-Partituren von Komponisten wie Erich Wolfgang Korngold, Max Steiner oder Bernhard Kaun zeigen sinfonische Klangbilder mit Leitmotivtechniken. Auch Schostakowitsch, Prokofjew, Aram Chatschaturjan und Alfred Schnittke widmen sich der Filmmusik als eigene Kunstform. Dazu kommen die expressiven Soundtracks der Mood-Klangkulissen aus dem Fundus des »Großen Orchesters« oder die legendären Lieder der Sherman-Brüder für die Filme von Walt Disney und schließlich profilierte Individualstile wie von Ennio Morricone, James Horner oder George Lucas: ein Erbe »spätromantischen« Komponierens. Auch das Musical bewahrt im Kern viel der tradionellen europäischen Musiksprachen, wenn es auch aus den charakteristischen Ambivalenzen der US-amerikanischen Stilsphären seine eigene Evolution betreibt: Leonard Bernstein, prominenter Vertreter des Genres, mischt sie zu einem markanten Zeugnis hybrider ›Amerikanischer Musik‹. Kritisch grenzt er sich dabei allerdings von der Dodekaphonie ab, worüber er in seinen Norton Lectures an der Harvard-Unversity, 1973, ausführlich reflektiert hat. Bezeichnenderweise wählt er sie, wie in seiner dritten Sinfonie Kaddish, für Düsternis, Trauer und Schmerz, die dann Tonalität und Diatonik im Wiegenlied des dritten Kaddish weichen muß. Schließlich zeigt sich auch in der Musik Lateinamerikas, wie etwa bei Heitor Villa-Lobos, Alberto Ginastera oder im Tango Nuevo von Astor Piazzolla, wie das europäische Idiom zu einer neuen, authentischen Ausdruckssphäre evolutioniert wird. Ginastera verbindet in seinen späten Klaviersonaten op. 53 und 55 (1981–1982) Modalität mit Bartók und Piazzolla öffnet die geschlossene Form des klassischen Tangos zu rhapsodischer Freiheit durch harmonisches Raffinement und Umstrukturierung der Metrik. Er verändert ihre alte Symmetrie von acht Teilschlägen mit einem Zwei- oder Vierteltakt-Puls, indem er die klassische Habanera-Punktierung in der Taktmitte zur zweiten Hälfte überband. Damit entsteht eine drei plus drei plus zwei Gliederung als typisches Kennzeichen des Tango Nuevo, der es im Electrotango (prominent mit dem Gotan Project) bis zu weltweiter Wirkung brachte.

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Ideologische Ausgrenzungen Damit aber wird eine ›andere‹ Moderne sichtbar, deren Wirklichkeit leicht vom Diskurs der Avantgarden verdeckt wird. Zwar schafft das Selbstverständnis ihrer Konzepte ohnehin deutliche Abgrenzung. Aber mit dieser ästhetischen Distanzierung begnügt man sich nicht. Für allerhand Ausgegrenztes wird auch Politideologisches bemüht, um das ästhetische Verdikt moralisch zu legitimieren. Das zeigt sich folgenreich für Komponisten wie Hans Pfitzner, Werner Egk oder, exemplarisch, Carl Orff. Obwohl Orffs Carmina Burana zu den meistgespielten Werken des späten 20. Jahrhunderts gehört, behindert ein doppeltes politologisches Verständnis ein adäquates musikgeschichtliches Verständnis. Das eine davon meint konkret die »Politik«, das andere aber ist ein musikideologisches, das sich als politically correct tarnt. Ersteres äußert sich mit der kritischen Bewertung von Orffs Musik unter dem Aspekt seiner fatalen Verstrickungen mit dem deutschen Nationalsozialismus. Dazu hat besonders die neuere amerikanische Musikforschung unter dem Topos der Nazi-Composers (Michael Kater) beigetragen. Damit rangiert selbst die Neukomposition einer mittelalterlichen Liedersammlung aus dem Kloster Beuron, eben die Carmina Burana, umstandslos unter Nazi-Music.181 Das andere aber meint hinter der historischen, realpolitischen Kontaminierung eigentlich ein Verdikt tonalen Komponierens, das ideologisch armierter Avantgardetheorie entstammt. Das negiert, dass gerade Orff in einem zentralen Genre abendländischer Musik, nämlich dem Musiktheater, zu einer überzeugenden und wirkungsmächtigen Originalität gefunden hat. Während nämlich die Literaturoper avantgardeästhetisch für erledigt erklärt wurde und deren versprengte Vertreter pejorativ als »Ersatzkomponisten« (Pierre Boulez) bezeichnet wurden, während sie dort höchstens noch als Anti-Oper mit radikal dekonstruierten Resten ihrer essenziellen Mittel, nämlich Narrativ, Sprache und Bühnenhandlung, eine Randstellung fristete, erschuf ihr Orff eine neue, authentische Existenz. Was unter musikgeschichtlicher Perspektive zunächst wie ein letzter Historismus-Regress in die vor-gregorianische, archaische Schicht abendländischer Musik erscheint, nämlich in unsere griechische und lateinische Antike,

181 So Richard Taruskin in seiner Tätigkeit als gelegentlicher Musikkritiker der New York Times, vgl. Anm. 222. Zu den US-amerikanischen Untersuchungen über die »Nazi-Composers«, vgl. P. M. Potter, Art of Suppression. Confronting the Nazi Past in Histories of the Visual and Performing Arts, Oakland, Cal. 2016, dies., Die deutscheste der Künste. Musikwissenschaft und Gesellschaft von der Weimarer Republik bis zum Ende des Dritten Reichs, Stuttgart 2000; M. H. Kater, Composers of the Nazi Era. Eight Portraits, New York u. Oxford, 2000; ders., The Twisted Muse: Musicians and Their Music in the Third Reich, New York 1997. Aber auch die deutsche Musikforschung beschäftigt das Thema, vgl. F. K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt a.M. 1982.

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ist tatsächlich die schöpferische Erschaffung eines neuen, bannenden Musiktheaters mit ganz eigener Diktion. Hugo von Hofmannsthal beschwört literarisch solchen Regress inmitten der Fin-de-siècle-Resignation bekanntlich als Rettung in die Mythologie. Richard Strauss löst es mit den Mitteln eines modernen musikalischen Expressionismus immerhin in einigen seiner musikdramatischen Sujets ein. Orff aber erfasst seinen Geist des Archaisch-Ursprünglichen und belebt die magischen Wurzelkräfte antiker Mythos-Dramaturgie. Als genuiner Theatermensch erschafft er ein vitales Theater mit suggestiver Bühnenpräsenz, in dem die alte Einheit von dramatischem Narrativ, Bühne, Sprache, Musik und Rhythmus der antiken griechischen mousiké neu ersteht. Wesentliche Wirkung verdankt es vor allem dem Rhythmus mit seiner Gestaltung in Sprachdiktion und instrumentalem Klang. Man hat diese Faktur in Verbindung zu Strawinsky gebracht, der zur gleichen Zeit seine pointierte rhythmische Semantik entwickelte. Aber während sich Strawinskys Faktur aus der komplexen russisch-slawischen Folklore-Idiomatik mit dem dort irregulären sprachlichen Akzentgebrauch bedient, ersteht Orffs Idiom ganz anders, nämlich aus der festen Deklamation des altgriechischen und lateinischen Wortes. Die Bewertung von Orffs Musik in ihrer Rezeptionsgeschichte nach 1945 aber liefert ein Paradebeispiel dafür, wie sich ein ideologisch disponierter Fokus als ästhetisches Urteil auswirkt. Betroffen davon ist auch die Musikgeschichtsschreibung. Denn zunächst behinderte dieser Fokus bis in die 1980/90er Jahre – paradoxerweise – auch die Wahrnehmung und Rezeption vieler der im Nazi-Regime verfemten Komponisten. Dazu zählen Namen wie Erich Wolfgang Korngold, Ernst Toch, Franz Schmidt, Berthold Goldschmidt, Kurt Weill, Alexander von Zemlinsky, aber auch Max Bruch oder Walter Braunfels. Ihre Apostrophierung als Komponisten eines ›erledigten‹ Idioms bescherte ihnen dann perfiderweise eine zweite Exilierung. Wieder verbanden sich dort politideologischer Fokus aus dem Repertoire der Frankfurter Schule mit ästhetischem: nur ›nicht-tonal‹ bot genügend Gewähr für politische Korrektheit als ›antifaschistisch‹. Dahinter aber stand ein Musikbegriff, wonach historisch legitime ›gültige‹ Musik nur nach Maß der »Zweiten Wiener Schule« komponiert werden konnte. Alles andere war ästhetischer Regress. Die Folge war, dass nicht nur die vom Nazi-Tabu »Entarteter Kunst« Betroffenen ausgesperrt blieben, sondern auch viele andere, deren ›Progressivität‹ nicht den Kriterien dieses Paradigmas entsprachen. Ihre Liste ist lang. Sie beginnt bereits bei Komponisten aus den 1920er Jahren, wie ein früher Überblick aus distanzierter britischer Perspektive demonstriert. Dort ist bei einer Visitation ›moderner‹ zeitgenössischer Musik keine Rede von Schönberg und seiner Schule, sondern von Puccini in Italien, de Falla in Spanien, d’Indy, Dukas, Satie, Milhaud und Honegger in Frankreich, Schreker, Korngold und Hindemith in

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Deutschland, Kodály in Ungarn, Szymanowsky in Polen, Prokofjew in Russland und in Großbritannien von Holst, Vaughan Williams und Bax.182 Für Deutschland läßt sich diese Liste leicht erweitern mit denen, die unter »Akademische Komponisten« firmieren, wie Gabriel von Rheinberger, Ludwig Thuille mit der »Münchner Schule« oder Armin Knab. Aber das Panorama ist viel größer. Denn das Prädikat legitimer Zeitgenossenschaft der Moderne reicht bis Heinrich Kaminski, Werner Egk, Ernst Pepping und Kurt Hessenberg oder Boris Blacher, der stilistisch an Kurt Weill anknüpft oder auch Karl Höller und Harald Genzmer bis zu inzwischen längst weltweit präsenten wie – neben Franz Schreker, Franz Schmidt, Othmar Schoeck – auch Carl Orff oder die Franzosen Francis Poulenc und Gabriel Fauré. Weil sich die angelsächsische Welt einer Kanonisierung der »Zweiten Wiener Schule« zum Paradigma zeitgenössischen Komponierens nie gefügt hatte, umfasst es auch Namen wie Charles V. Stanford, William Walton, Edward Elgar und Benjamin Britten. Weiterhin viele amerikanische aus der Schule von Nadia Boulanger sowie den originären amerikanischen Impressionismus. Dazu zählen etwa Charles T. Griffes, aber auch Howard Hanson und Samuel Barber oder die Komponisten aus Henry Cowell’s New Music Society und der Copland-Sessions Concerts of New Music bis zu George Gershwin und Leonard Bernstein. Ohne Frage gehört auch die skandinavische Moderne dazu, von Nielsen, Gade, Sibelius, Pettersson bis Rautavaara. Alle sie zählen zwar unzweifelhaft zur Musik dieser Zeit, erhalten aber nur ungern das Prädikat authentischer »Moderne« nach musikideologischer Lesart. In der realen Musikgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts erweisen sich deshalb die Avantgarden der dodekaphonischen, seriellen, hyperkomplexen oder geräuschsemantischen Konzepte nur als ein Strang des Komponierens, während sich ein anderer aus Tradition und »spätromantischer« Evolution organisch als musikhistorisches Kontinuum weiterentwickelt hatte und damit eine andere »Moderne« repräsentiert.183 182 Vgl. C. Gray, A Survey of Contemporary Music, Oxford 1924. 183 Besonders in der angelsächsischen Rezeptions- und Reflexionsgeschichte dominiert ein weitaus ausgewogener Fokus auf die musikgeschichtliche Realität der Zeit, wobei kritische Bewertungungen der kanonischen Geltung der Schönberg-Schule Ausdruck in zahlreichen Publikationen findet, vgl. P. Franklin, The Idea of Music: Schoenberg and Others, London 1985; S. McClary, Terminal Prestige: The Case of Avant-Garde Music Composition, in: Cultural Critique 12 (1989); G. Born, Rationalizing Culture: IRCAM, Boulez, and the Institutionalization of the Musical Avantgarde, Berkeley u. Los Angeles 1995; Chr. Chowrimootoo, Reviving the Middlebrow, or: Deconstructing Modernism from the Inside, in: Journal of the Royal Musical Association 139 (2014), Heft 1, S. 187–193; B. Heile, Darmstadt as Other: British and American Responses to Musical Modernism, in: Twentieth-Century Music 1 (2004), S. 161–178; E. Said, On Late Style: Music and Literature Against the Grain, New York 2007. Der amerikanische Musikologe Richard Taruskin versteht Atonalität und Dodekaphonie lediglich als Teilphänomen einer Musikgeschichte, deren Kontinuität sich in der Fortdauer des alten, tonalen Komponierens und seiner Formen erweist (The Oxford History of Western Music, Vol. 3, New York u. Oxford 2005, S. 358 ff. und ders., The Danger of Mu-

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Das Dilemma einer angemessenen Musikgeschichtsschreibung Noch schwerer als mit dem ›Bruch‹ in den 1920er Jahren tut sich zünftige Musikgeschichtsschreibung hundert Jahre später. Die vielen Versuche, die komplexe Gemengelage der Hybride theoretisch einzufangen, spiegeln sich schon in den ambivalenten Klassifizierungen. »Wandlungen der Avantgarde« oder »Neue Musik im postkolonialen Zeitalter« oder »Musik als Botschaft«, »Musiktheater am Ende des 20. Jahrhunderts«, »Dialektisches Komponieren«, »Individuelle Mythologien und die Wahrheit des Materials, Meditative Musikformen« und »Urbane Aboriginale« lauten etwa Kapitelbezeichnungen einer neueren Geschichte der Musik des 20. Jahrhunderts.184 In einer polyglott-polyphonen Realität geht der Prozess der Hybrid-Gestaltungen längst weiter. Aus den als ›deterministisch‹ bezeichneten Verfahren mit der Dialektik von Konstruktion und Dekonstruktion sowie den Materialsemantiken bewegt er sich zu ›indeterministischen‹ Aufführungssituationen. Die alte Componere-Idee löst sich über die Concept Art in Klanginstallationen und freie, performative Aktionskunst auf. Könnte musikalische Concept Art noch als Evolutionsstufe des alten ›Ideenkunstwerks‹ aus der Programmmusik verstanden werden, so schickt sich jetzt die Performance an, als multimediales Spektakel zu einer neuen Leitmetapher der Kulturtheorie zu werden.185 Ihr Charakteristikum ist, dass sie mit sämtlichen aktuellen Mitteln der digitalen Multimediawelt des Technozäns operiert. Etwas vom alten »Componere« versucht der Begriff des »Polymedialen Komponierens« wenigstens assoziativ zu retten. Aber der vom Performative Turn verrät bereits die Suche nach dem distinguierten Prädikat für einen neuen Paradigmenwechsel – obwohl gerade für die Musik

sic and other Anti-Utopian Essays, Berkeley 2009). Auch der Komponist und Musiktheoretiker Wolfgang-Andreas Schultz hält es für einen »großen Irrtum der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts« die Geschichte der Avantgarde als für die einzig relevante zu halten, denn das 20. Jahrhundert halte »viele andere Geschichten bereit, es muß polyphon erzählt werden«, in: Die Heilung des verlorenen Ichs. Kunst und Musik in Europa im 21. Jahrhundert, München 2018, S. 61. 184 Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert, Bd. 4, 1975–2000, hg. v. H. de la Motte-Haber, Laaber 2005. 185 Der Begriff entstammt ursprünglich der Literatur- und Sprachwissenschaft. Dort entwickelt ihn John Langshaw Austin (1962) über die Theorie von »Sprechakten« oder »Sprachhandlungen« als performativer Umgang mit Sprache. Vgl. E. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004; Theorie des Performativen. Eine kritische Bestandsaufnahme, hg. v. K.W. Hempfer u. J. Volbers, Bielefeld 2011; L.Weiner, Statements (1969), in: On Art/Über Kunst. Künstlertexte zum veränderten Kunstverständnis nach 1965, hg. v. G. de Vries, Köln 1974, S. 248 ff.; T. E. Schick, Ästhetischer Gehalt zwischen autonomer Musik und einem neuen Konzeptualismus, in: Musik & Ästhetik 66 (2013), S. 47–65; A. Schmidt, Handlung, Inszenierung, Performance. Zur interaktions-theoretischen Konzeptualisierung musikalischer Artistik, in: Musiktheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft 28 (2013), S. 351–368.

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»Performance« als musikalisches »Tun« schon immer zu ihrer Wesensbestimmung zählt. »Musik existiert nur, wenn sie gespielt wird«, erklärt Wolfgang Rihm. Bezeichnend für die steile Karriere des Konzepts ist wieder ein Blick auf die Kunstszene. Bereits Joseph Beuys hat ja als Jünger des Happenings drei Tage mit einem Kojoten in einem Raum zugebracht. Inzwischen ist das bis zur öffentlichen Show mit Anfassen und Selbstverletzung avanciert, wie es prominent die Selbstdarstellerin Marina Abramović repräsentiert. In Personalunion von Künstler-Ego und Kunst-Werk verbindet sie Körper als Body-Art und Agitation zur bizarren ›Aufführung‹ bis zu physischer Selbstverletzung (The Artist is Present, im New Yorker Museum of Modern Art, 2010 und der großen Ausstellung 2021). Oder sie inszeniert es mit de-konstruktiver Überschreibung und Umcodierung ikonischen Erbes (wie im Bühnenspektakel Seven Deaths of Maria Callas, Bayerische Staatsoper München, 2020). Das inszenierte Selfie als Statement ist damit gleichzeitig Material, Botschaft und Werk. Wie nachhaltig das ›Performative‹ jede Form als determinierte Gestalt und festen Gehalt auflöst, findet eine Analogie in einer Gesellschaftstheorie, die manifeste Tatsachen als fiktionale Bewusstseins-›Konstrukte‹ versteht: die originäre Wirklichkeit – nichts als eine ›neue Fiktion‹, jede ontologische Bindung oder Inanspruchnahme eines Substanziellen als erledigter ›Essentialismus‹ (siehe S. 706). Unter dem Etikett des Performative Turns bis hin zu einem als ›Soziale Praxis‹ erweiterten Musikbegriff versucht sich auch aktuelle Musiktheorie und Musikphilosophie in neuen Verständnismodellen von Musik. Dort geht es über die schon etablierte ›Befreiung‹ der Klänge zu ›klanglich-sinnlicher Präsenz‹ in ›performativer Ereignishaftigkeit‹ bis hin zum hermetischen kognitiven Modus eines ›performativen Präsenzhörens‹ (Christian Utz). Weil das vorzugsweise auf Hyperkomplexität bezogen ist, wird mit einem ›Hören des Hörens‹ quasi auf eine Metaebene von Hören spekuliert und für eine neue Post-Hermeneutik reklamiert (siehe unten).186

186 Vgl. N. Urbanek, Spur des Klangs. Eine posthermeneutische Skizze zum Eigensinn der Musik (nicht nur) in der Wiener Schule, in: Organized Sound. Klang und Wahrnehmung in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, hg. v. Chr. Utz, Saarbrücken 2013 (= musik.theorien der Gegenwart , 6), S. 113 ff.; D. Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2006; ders., Nichtverstehen. Zu einem zentralen »posthermeneutischen« Motiv, in: Erzeugen und Nachvollziehen von Sinn. Rationale, performative und mimetische Verstehensbegriffe in den Kulturwissenschaften, hg. v. M. Zenck u. M. Jüngling, München 2011, S. 59 ff.; Chr. Jost, Der performative Turn in der Musikforschung. Zwischen Desiderat und (teil)disziplinärem Paradigma, in: Musiktheorie 28 (2013), Heft 4, S. 291–309; Chr. Utz, Vom adäquaten zum performativen Hören. Diskurse zur musikalischen Wahrnehmung als Präsenzerfahrung im 19. und 20. Jahrhundert und Konsequenzen für die musikalische Analyse, in: Acta Musicologica 86 (2014), Heft 1, S. 101–123; H. U. Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004 sowie in größeren Zusammenhängen bei C. Linke, Zum Verhältnis von Musikphilosophie und musikalischer Analyse: Eduard Hanslick, Roland Barthes und Albrecht Wellmer, in: Musikphilosophie (2021), S. 256–280.

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Dafür, dass hier orthodoxe Historiographie nicht mehr gelingt, steht vor allem die Erweiterung des angestammten Fachbegriffs zu einer »multipolaren« Musikgeschichtsschreibung. Sie versteht sich als »Überwindung einer linearen Musikhistoriographie« (Wolfgang-Andreas Schultz) oder verlässt alte Begrenzungen hin zu einem Kulturbegriff schlechthin. Als cultural turn mit den angelsächsischen Fächern der Humanities oder den Cultural Studies und den deutschen »Kulturwissenschaften« realisiert er sich längst im akademischen Lehrbetrieb. Inzwischen erweitern die Queer Studies den Horizont ins Spezifische. Auch Metatheorien versuchen sich an neuen Deutungsmodellen. Die älteste These versteht die Musikmoderne als weitere Fortsetzung des abendländischen Rationalisierungsprozesses bis zu seinem Selbstreflexiv-Werden. Er führe schließlich zum absoluten Konstruktionsparadigma mit dem Ersatz des überkommenen Musikbegriffs durch Reflexion: Hegel läßt grüssen. Eine andere, strikt utilaristische Deutung sieht ästhetische Entwicklungen von den gleichen Grundkräften bestimmt wie den monetären Kapitalismus. Dort würden die Bedingungen des »Marktes« zum Regulativ des Komponierens: die Erzeugung von Noteneditionen, Tonträgern und der Medienbedarf mit den Vergütungen und Gagen, wodurch ein Zwang zu beständiger Innovation und Produktion entstünde. Weitere Thesen soziologischer Art bringen die Situation in Zusammenhang mit allen Äußerungsmodi eines ›Subjekts‹, das grundsätzlich ›kulturell‹ geformt sei und deshalb auch nach gesellschaftlichen und historischen Prägungen komponiere. Woher die kommen, bleibt aber offen. Oder Musik wird dort als Etablierung eines »autonomen sozialen Subsystems« verstanden, wie es sich in der Gesellschaft der Moderne entwickelt und wie es der Soziologe Niklas Luhmann in seiner »Systemtheorie« beschrieben hat. Deren Selbsterhaltung würde durch je eigene Operationsweisen und symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien gesteuert: eine Art »Formalismus« diesseits jeder Wertdifferenzierung. Daneben aber gibt es auch die schlichte These, dass es nicht nur eine »Moderne« gäbe, sondern »verschiedene Modernismen«. Ihnen werde man nicht mit einer linearen Betrachtung gerecht, sondern nur durch eine zyklische.187 Das würde immerhin den velizoferi-

187 Vgl. T. Janz, dessen Musikgeschichtserzählung sich nicht am Kompositionsbegriff orientiert, sondern am Hörerlebnis aller unterschiedlichen, aber synchronen Präsenzen von Musik einer Zeit: Musikhistoriographie und Moderne, in: ZfMusikwissenschaft 24 (2009), Heft 4, S. 312–330; ders.: Zur Genealogie der musikalischen Moderne, Paderborn 2014; J. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009 sowie W.-A. Schultz (2018), der für die Überwindung von »linearer Musikgeschichtsschreibung« zugunsten einer »multipolaren« eintritt (S. 16) und eine »integrale Kunst« (S. 95–105) aus »synchroner und diachroner Vielfalt« fordert, die als persönliche Musiksprache auftreten solle, vgl. auch ders., Das Ineinander der Zeiten. Kompositionstechnische Grundlagen eines evolutionären Musikdenkens, Berlin 2001.

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schen Überholmanövern von Spätmoderne, Postmoderne, Zweiter Moderne und Hypermoderne Rechnung tragen.188 Am einfachsten aber macht es sich Verständnissuche, wenn sie einfach von der ›Hermeneutik‹ zu einer »post-hermeneutischen Ästhetik« wechselt. Damit wird zu einem Perspektivenwechsel aufgerufen, der die Bedeutung aller strukturellen Objekteigenschaften, die ›Logik‹ von Zusammenhängen oder die Formgestaltung von ›Werk‹ verwirft, alle normativen oder gar universalistischen Aspekte dementiert oder sogar als ›essenzialistische‹ diskriminiert. Damit wird auch eine holistische Sinnsuche zugunsten des Hybriden als neuer ›Sinn‹ verabschiedet. Er konstituiere sich nämlich nicht mehr als »Eine Einheit des Ganzen«, sondern vielmehr über »Brüche oder Leerstellen«.189 Zwar setzen einige dieser Theorieentwürfe das musikalische Erleben ins Recht, wenn sie sich zum sinnlich-körperlichen Umgang in ›performativer Ereignishaftigkeit‹ als ›Ipsität‹ (M. Markert) bekennen und von da aus sogar dekonstruktivistische und negativästhetische Modelle ihrer Kritik verfallen. Nicht zu seinem Recht kommt dabei aber die Unterscheidungskompetenz des Subjekts über Inhalte und in seinem inneren, seelischen Werterleben. Damit aber wird substanzielle ›Bedeutung‹ des performativ ›Erlebten‹ so dekonstruiert wie die Qualität musikalischer Faktur als Sinnträger. Viel davon findet seine Entsprechung in den Theorien der französischen Poststrukturalisten (siehe unten). Dominant bleiben in den Theorieentwürfen aber zwei Forderungen: einmal die nach einer umfassenderen kulturwissenschaftlichen Neuausrichtung als Ersatz für die traditionellen Formen der Musikgeschichtsschreibung. Zum anderen die Anerkennung von ›Moderne‹ als eine grundsätzlich neue historiographische Metakategorie. Das erinnert an die Proklamation eines ausdrücklichen »Projekts der Moderne« bei Jürgen Habermas mit seinem zentralen Paradigma vom »Nachmetaphysischen Zeitalter«. Für die Musik aber bedeutet es, dass der dort formulierte neue Musikbegriff damit seine Zertifizierung als Differenzbegriff zum alten erhält. Darauf wird zurückzukommen sein.

188 Einen konzentrierten Überblick über aktuelle Modelle liefert: A. Domann, Postmoderne und Musik. Eine Diskursanalyse, Freiburg u. München 2012 (= Musikphilosophie, Bd. 4). 189 Wie es Malte Markert mit Bezug auf Theorien von Dieter Mersch, Emmanuel Lévinas, Lambert Wiesing und Rose Rosengard Subotnik unternimmt: »Musikverstehen« zwischen Hermeneutik und Posthermeneutik. Untersuchungen aus historischer und pädagogischer Perspektive, Würzburg 2018. Vgl. dazu auch D. Mersch, Posthermeneutik, Berlin 2020 sowie Chr. Menke, Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt a. M. 1991.

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Post-Adornitisches Denken: Penseé française, Pragmatismus, Postmoderne oder: eine neue Philosophie auf der Suche nach der Kunst Während Deutschland noch im Bann der Frankfurter Schule stand, stiegen in Frankreich und in der angelsächsischen Philosophie ganz andere Theoriesysteme zu Glanz und Geltung auf: Strukturalismus, Pragmatismus, Konstruktivismus und die schillernden Ästhetiken des »Digitalen Scheins« und den Medientheorien einer neu erfundene Zeitspezies, der »Postmoderne«. Viel vom szientistischen Geist des Logischen Empirismus findet sich noch im Strukturalismus. Denn er versteht sich als eine streng wissenschaftliche Systemtheorie, die eine ›objektive‹ Analyse kultureller Systeme leisten will. Sie werden nämlich, inspiriert durch die »Strukturale Anthropologie« von Claude Lévi-Strauss (1958), als Symbol- oder Bedeutungssysteme verstanden, die nach universalen Codes funktionieren. Weil darin die Sprache den Platz als zentrales Paradigma erhält, bestimmen immer mehr die formalen Methoden von Linguistik und Semiotik das Denken. Bei Ferdinand de Saussure hat es keimhaft begonnen (als Cours de linguistique générale, posthum 1916 zusammengestellt) und bei Charles S. Peirce, Roman O. Jakobson und Jacques Lacan setzt schon die Dynamik des Linguistic turns ein, die neue Einsichten verspricht. Besonders die Semiotik, bei Saussure noch »Semiologie«, eine allgemeine Zeichentheorie, erlangt in ihren verschiedenen Formen als Semiotische Ästhetik große Wirkung. Mittels dreier ihrer grundsätzlichen Zeichenrelationen, nämlich Syntaktik, Semantik und Pragmatik (nach Charles W. Morris) sollen auch die systemischen Beziehungen im Kunstwerk erfasst werden. Ihre Anwendungen liefern eine umfassende Kultursemiotik im sow­jetischen Strukturalismus oder beim Zeichentheoretiker Umberto Eco und verbinden sich schließlich mit der Kybernetik zur Informationsästhetik, wie bei Max Bense. Für den prominenten Vertreter eines lockeren Strukturalismus, Roland Barthes, erweist sich das semiologische Paradigma als wahre Fundgrube zur Illuminierung profaner Alltagswelten. Als Vertreter einer dichotomen Semiologie, wie er sie in Éléments de sémiologie (1964) darstellt, liefert er methodische Analysen von literarischen Texten der Moderne, der Mode und der Werbung. Und mithilfe vieler Karteikarten bemüht er sich unablässig deren Trivialitäten als verborgene ›Botschaften‹ jenseits des primären Bedeutungsgehalts zu entschlüsseln, wie in Mythen des Alltags (1957, deutsch 1964). ›Mythos‹ ist hier nicht mehr auratische Chiffre, sondern bloße ›Aussageform‹: kein Ding mehr ohne Verdacht, jedes verkappter Sinnträger eines Hintergründigen. Damit gerät er, wie er später selbst bekennt, in die Nähe einer Paranoia. Für die Musik allerdings findet er am Beispiel

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von Schumanns Kreisleriana eine körperlich-performative Perspektive. Er nennt sie eine »Semiologie … des Körpers im Zustand der Musik«.190 Mit seiner bemühten Epiphanie des Gewöhnlichen steht Barthes keineswegs allein. Sie hat distinguierte Vorläufer und profane Zeitgenossen. Als edle Antizipation könnte man den (unvollendeten) Bilderatlas Mnemosyne von Aby Warburg verstehen. Mit ihm dechiffriert er den Traditionsstrom von Motiven, Figuren, Symbolen und Zeichen von Babylon bis zur Moderne strukturalistisch als kultur- und zeitübergreifende »autonome Bilderfahrzeuge«. Er liest ihn nicht als singuläre Genieeinfälle und individuelle Ausdrucksgestaltungen, sondern als Folge vorgeprägter Darstellungsformen, die er als »Pathosformeln« bezeichnet. Aus ihrem kollektiven Fundus schöpft, ihm zufolge, alle Bilderfindung schlechthin. Als Ikonologie, einer ›Bildwissenschaft‹, die das ›Denken in Bildern‹ methodisch verfolgt, avanciert das Verfahren zu einer potenten Disziplin der Kunstgeschichte. Weil es aber mit seiner Reihung analytischer Befunde zu einem formalen ›Transportgeschehen‹ alle inneren Unterschiede aufhebt, wird Warburg der erste Kunsthistoriker, der die Unterscheidung zwischen »high« und »low« methodisch aufgibt und damit alle geistige Rangstufung: alles eine ›Motiv-Autobahn‹, von babylonischen Sternkonstellationen, ägyptischen Statuen über Raffael, Tizian, Rubens und Manet bis hin zu Briefmarken, Zeitungskarrikaturen, Werbeplakaten und Readymades.191 Damit führt solche ikonologische Lesart unangestrengt zu profaneren zeitgeistigen Analogien. Sie zeigen sich im rasanten Aufstieg von Genres, die bis dahin der Subkultur zugerechnet wurden. Längst bestens etabliert ist die Pop-Art mit Hamilton, Warhol und Lichtenstein bis zu Malern wie Philip Guston, Gaston Chaissac und Jonathan Meese. Jean Dubuffet, der sich immer unverhohlen als Abtrünniger einer »Kulturellen Kunst« bekannte, meint: «Schmutz, Abfall, Dreck sind die Compagnons des Menschen« und widmet deshalb den Graffiti an den Wänden der Pariser Pissoirs ein intensives Studium. Es gilt aber weder Ikonologie noch Soziologie, sondern Subversion. Er fröhnt damit seinem Faible für etwas, das man inzwischen als »degressive Transformationsprozesse von Kunst« bezeichnet. Dabei organisiert er die Gegenstandswelt herumliegender Lebensdinge gern in Parzellen wie die Felder eines Comics – womöglich eine Analogie zu Barthes Karteikarten. Als Art brut auratisch aufgeladen, bekommt das Genre ein kunsthistorisches Etikett. Als Street-Art avanciert es zu einer Variante der Graffiti-Malerei vieler Metropolen, von der U-Bahn-Schmiererei bis zur inzwischen vermarktungsfähigen, teuren Dekoration an Gebäuden, Mauern und Säulen. Als musikalisches Pendant bietet sich die Hinwendung zur Materialseligkeit verschiedener Avantgarden an. 190 Essay Rasch, in: R. Barthes, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Kritische Essays 3, Frankfurt a. M. 2015, S. 311. 191 Vgl. M. Warnke, Der Bilderatlas Mnemosyne (2000), Berlin 2012 sowie in Rekonstruktionen bei den Ausstellungen Zwischen Kosmos und Pathos, Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne, Gemäldegalerie Berlin, 8.8.–1.11.2020 und Haus der Kulturen der Welt, Berlin, November 2020.

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Bereits in der Musique concrète zeigt sich die Affinität im Einsammeln akustischer Materialien als bloße Sonanz-Phänomene. Von dort geht es dann über die Bedeutungsaufladung von Geräusch und Lärm bei Charles Ives bis Lachenmann, Schnebel oder Poppe schließlich zu den elegischen Soundscapes, dem eingefangenen ›Alltagsmaterial‹ beliebiger akustischer Umweltkulissen: die Readymades avancierten Musikverständnisses. Für die strukturalistische Ästhetik mit ihren verschiedenen Schulen der französischen, tschechoslowakischen und russischen Varianten stand aber vor allem die Literatur im Mittelpunkt, nicht die Musik. Für sie fällt wenig ab, denn die Semiotik ist sprachzentriert. Einige Versuche dazu, wie etwa bei Peter Faltin, hatten keine nachhaltige Wirkung.192 Das hängt mit ihrem Grundproblem zusammen. Denn eine Zeichentheorie ist die Reduktion auf eine formale Methode, mit der aber die Bedeutung des Gegenstands, auf den sie angewandt wird, nicht interpretiert werden kann. Weil sie nicht in der Lage ist, etwa den Unterschied einer Aussage zwischen ›sinnvoll‹ oder ›sinnlos‹ zu klären, funktioniert sie als ein Verweisungssystem ohne Prädikationen und Negationen. Das führt sie zu Urteilen wie »Die Musik bedeutet nichts – aber darin liegt gerade ihre Bedeutung« (Philosoph Christoph Asmuth) oder zum Defizitbefund, dass musikalische ›Logik‹ weder Inhalte noch Ausdruck vermittle (Niko Strobach), denn »Musik hat keine Inhalte, sondern primär syntaktische Intentionen« (Peter Faltin). Damit erledigt man anthropologisch verstandene Bedeutung und Sinngehalt durch ein smartes logozentristisches Fazit: »Musik ist nichts als sie selbst.«193 Dem würde nicht nur Eduard Hanslick zustimmen, sondern auch Strawinsky, wenn er sein Komponieren als eine ›Konstruktion‹ beschreibt, mit der er nur eine »Ordnung zwischen den Dingen« herstellt. Weil aber im amerikanischen Pragmatismus wie in der Analytischen Philosophie die Sprache als zentrales Paradigma fungiert, bestimmt auch dort die Semiologie die ästhetische Theorie. Ihr Urahn John Locke hat es mit seinen Sprachuntersuchungen An Essay concerning Human Understanding von 1690 vorausgenommen, jetzt wird vor allem Ludwig Wittgenstein zum wichtigen Impulsgeber. Zwar verdankt die analytische Philosophie dem Klassiker der modernen Logik, Gottlob Frege und seiner Symbolischen Logik, genauso viel wie dem mathematisch definierten Logizismus eines Bertrand Russell oder eines Alfred North Whitehead oder George Edward Moore (siehe S. 560). Sie wendet sich aber vor allem unter der Wirkung von Wittgensteins Sprachkritizismus einer neuen Sprachphilosophie zu. In ihrer formallogischen, die Struktur der Sprache in konstruktive Elemente und Relatio192 P. Faltin, Bedeutung ästhetischer Zeichen: Musik und Sprache, Aachen 1985, S. 69 ff., 75 ff.; Musik und Verstehen, hg. v. P. Faltin u. H.-P. Reinecke, Köln 1973. 193 P. Faltin, Phänomenologie der musikalischen Form, Wiesbaden 1979; Chr. Asmuth, Was bedeutet Musik? in: Musikphilosophie, Musik-Konzepte Sonderband, Neue Folge, hg. v. U. Tadday, XI (2007), S. 70–86 und N. Strobach, Richtige und falsche Töne, S. 103–122.

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nen auflösenden Analytik, führen Willard Van Orman Quine und Nelson Goodman die Konzepte von Carnap und Frege weiter. Aber in einer späteren Wendung zur Ordinary language philosophy, der Philosophie der Alltagssprache, knüpfen besonders G. Ryle und A. J. Wisdom dann an den späten Wittgenstein der ›Sprachspiele‹ an. Obwohl sich die Analytische Philosophie kaum für Kunst interessiert, erschafft einer ihrer Vertreter, noch dazu aus der Tradition des logischen Positivismus, mit einer ausgefeilten Symboltheorie eine anspruchsvolle Kunsttheorie: Nelson Goodman. Er billigt, vielleicht weil er auch Galerist in Boston war, im Unterschied zu den linguistischen Positivisten, auch nichtsprachlichen Systemen eigene kognitive Leistungen zu und betont ihre Autonomie als »nicht transferierbare Prädikationen«. Damit greift er die Konzepte von Gestaltpsychologie und einer Symboltheorie auf, wie sie vor allem Ernst Cassirer entwickelt hatte, ohne sich allerdings auf anthropologische Fragen wie nach der einheitsstiftenden Funktion des menschlichen Bewusstseins einzulassen.194 Vielmehr will er diese Theorie auf die Höhe der strukturalen Linguistik bringen und gleichzeitig ihre Erkenntnisleistung nachweisen. Das unternimmt er, indem er einen propositionalen Erkenntnisbegriff zu einem ›Urteilsbegriff‹ erweitert und dafür statt eines ›Korrespondenzmodells‹ zu einem ›Kohärenzmodell‹ greift.195 Dort wird ›Wahrheit‹ durch ›Richtigkeit‹ und ›Ausdruck‹ durch ›metaphorische Exemplifikation‹ ersetzt. Damit ersetzt er auch die psychologische Beziehung zwischen äußerer Erscheinung und innerer Bedeutung durch eine logische. Deswegen repräsentieren Symbole nicht, sondern klassifizieren. Das bedeutet, dass die Verbindung etwa zwischen einem grauen, tristen Bild und der Traurigkeit, die es für den Betrachter zum Ausdruck bringt, nur metaphorisch ist: Die Innenbeziehung, die sich aus grauer Farbe und Traurigkeit in der Empfindung einstellt, wäre demnach keine intuitive Einsicht oder ein anthropologisch begründetes Urteil, sondern das graue Bild exemplifiziert nur das Prädikat ›grau‹. Auch das Metaphorische im Ausdruck ist für Goodman nicht ein Rest ausgedrückter Innerlichkeit, sondern im Gegenteil: Metaphern sind Weisen der Klassifizierung, die sich aus Verschiebungen von Prädikaten- oder Kennzeichenschemata nach bestimmten Qualitäten (wie syntaktische und semantische Dichte und exemplifikatorische Beziehung) ergeben. Damit erhält zwar jede ›ästhetische Erfahrung‹ mit ihren ›emotiven Anteilen‹ kog­ nitive Funktion, aber: »Jede Vorstellung von der ästhetischen Erfahrung als einer 194 Auch Ernst Cassirer, der Symbole als verschiedene Weisen von ›Sinngebung‹ versteht, billigt ihren unterschiedlichen Systemen in Sprache, Kunst und Wissenschaft autonomen Erkenntniswert zu, fasst aber ihre Natur als eine geschichtlich und systematisch bestimmte strenger als Goodman, vgl. Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1956. 195 N. Goodman, Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie, mit einem Nachwort von Jürgen Schlaeger, Frankfurt a. M. 1973, S. 138 ff., 183–221, 246–253, 256 ff. sowie die ursprüngliche Fassung des Schlusskapitels Kunst und Erkenntnis in: Theorien der Kunst, hg. v. D. Henrich u. W. Iser, 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1992, S. 569–591.

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Art emotionalem Bad … ist einfach blödsinnig« (Henrich/Iser, 1992, S. 573). Denn weder das Angenehme noch das Unangenehme, das Schöne oder das Hässliche spielen logisch für diese kognitive Funktion eine Rolle. »Der Schrecken und die Abscheu, die wir bei ›Macbeth‹ fühlen mögen, sind keine geringeren Mittel des Verstehens als der Spaß und die Belustigung, die wir im ›Pygmalion‹ finden« (S. 577). Schließlich sei »auch eine schreckliche Aufführung einer ›Londoner Symphonie‹ [von J. Haydn] ebenso ästhetisch wie eine hervorragende« (S. 582). ›Logisch‹ verstanden trifft das zweifellos zu. Aber es erledigt damit nicht nur die Kriterien eines qualitativen Urteils, wie es etwa für Musiker, Dirigenten oder Musikkritiker höchst relevant sein kann, sondern auch die nach der ›Bedeutung‹ dieser Wahrnehmung für das menschliche Bewusstsein, seine ›Erfahrung‹ in einem anthro­pologischen Sinnhorizont. »Erfreulichkeit oder Unerfreulichkeit eines Symbols ist nicht bestimmend für seine allgemeine kognitive Effizienz oder seinen spezifisch ästhetischen Wert« erklärt Goodman (S. 260). Das ist ein ›logischer Ästhetizismus‹, der durch seine Reduktionsstrategie die Autonomie des Kunstwerks als L’art pour l’art genauso begründet wie es die Phänomenologie Husserls unternimmt und dabei die Differenz spezifischer Bedeutungsgehalte genauso neutralisiert wie die Hermeneutik von Heidegger oder Gadamer. ›Bedeutung‹ kommt höchstens als unspezifische zu ihrem Recht, wenn Goodman ›Symbolisieren‹ als eine »konstrukterzeugende Tätigkeit« versteht. Demnach kommt Symbolsystemen eine konstruktbildende Funktion zu, deren Ergebnis verschiedene Symbolisationen sind: ein eleganter relativistischer Pluralismus. Dabei wird sogar der Musik unter den nichtsprachlichen Systemen Bedeutung attestiert. Allerdings nur, weil Goodman sie als gutes Beispiel für ›Partitur‹ unter dem Aspekt ihrer symboltheoretisch interessanten Modi von ›Notation‹ untersucht (op. cit. 1973, S. 185–211). Als »Weisen der Welterzeugung im Akt der Erkenntnis«196 sind ihm die Symbolsysteme aber weder ein willkürlicher noch ein autonom-schöpferischer, ›demiurgischer‹ Akt, sondern immer nur eine Art von Umorganisation aus anderen Versionen von ›Welt‹, also von bereits Vorhandenem. Damit liefert Goodmans Entwurf im Kern bereits eine Art von konstruktivistischem Modell wie es in moderner Soziologie und Gendertheorie Konjunktur erfährt. Eine Erweiterung von Goodmans Ansatz durch Simone Mahrenholz vollzieht die Verbindung von symboltheoretischer Ästhetik mit Tiefenpsychologie und Hirnforschung.197

196 N. Goodman (1978), Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a. M. 1984. 197 S. Mahrenholz, Musik und Erkenntnis. Eine Studie im Ausgang von Nelson Goodmans Symboltheorie, Stuttgart u. Weimar 1998. Dort wird besonders die Leistung der rechten Hirnhälfte mit dem phylogenetisch älteren Limbischen System für die Erfassung ganzheitlicher Prozesse, vor allem der musikalischen, durch eine »Primärprozessuale Logik auf basaler Ebene« herausgearbeitet, vgl. S. 210 ff. u. 234–273, 294–299.

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Trotz der Anerkennung, die ›emotive‹ Wahrnehmung als Erkenntnisleistung in Goodmans Kunsttheorie erfährt, leistet ihr formal-logischer und physikalistischer Ansatz weder Erhellendes für die Unterschiede zwischen Kunst und Nicht-Kunst, noch für das qualitative Verständnis von Bedeutungs- und Sinndifferenzen. Um die gemeinsame rationale Basis für alle möglichen Symbolsysteme zu wahren, werden auch alle Wesensunterschiede zwischen logischen Erkenntnisleistungen und den schöpferischen echten Künstlertums eingeebnet. So wird nur eine ungeordnete Welt der Phänomene durch eine neue Klassifikation mittels symbolistischer Ordnungsmodi anders ›geordnet‹: eine zuletzt rein nominalistische Auffassung von ›Wirklichkeiten‹.198

To do – und jeder ist ein Künstler Im amerikanischen Pragmatismus wirkt aber auch das Erbe des positivistischen Empirismus à la David Hume weiter. Deshalb verwandeln sich selbst so verwickelte Zeichentheorien wie die von Charles Sanders Peirce zuletzt in Formulierungen bestimmter ›Handlungsregeln‹, wie er es in seinen Collected Papers (1878 und 1893–1910) darstellt. Auch beim Psychologen und Biologen William James, einer anderen Gründerfigur des Pragmatismus, werden philosophische Probleme so behandelt als gehe es letztlich um ein ›nützliches Handeln‹. To do erweist sich so nicht nur als Schlüsselwort amerikanischer Lebensweise, sondern als Erkenntnismaxime. »Wahr ist, was nützliche Konsequenzen hat« oder noch lapidarer: »Mind is what body does«, wie es bereits 1925 John Dewey, der Begründer der Chicago School of Pragmatism, in seinem Buch Experience and Nature formuliert. »Die ästhetische Erfahrung ist ein kontinuierlicher Vorgang des Handelns, Tuns und Experimentierens« heißt es noch in seinem Spätwerk Art as Experience (1934). Ähnlich betont William James, dass alle Wahrheitsfindung kein einmaliger Akt eines Philosophen sei, sondern ein nie endender Prozess.199 Das könnte man als philosophische Ermunterung aller modernen Performance-Künste avant la lettre feiern. Aber viel deutlicher ist es nicht nur eine kategorische Absage an alle idealistischen und metaphysischen Deutungsaspekte der

198 Zur Kritik an der Symboltheorie von Goodman, vgl. J. Schlaeger (1973), Nachwort, S. 278– 286; R. Wollheim, Nelson Goodman’s Languages of Art, in: The Journal of Philosophy 67 (1970), S. 531 f. und dort, B. Boretz, Nelson Goodman’s Languages of Art from a Musical Point of View, S. 540 ff. und dort, B. H. Smith, Literature, as Performance, Fiction, and Art, S. 553 ff. 199 J. Dewey, deutsch als: Kunst und Erfahrung, Frankfurt a. M. 1980 u. 1988 und W. James, The Meaning of Truth, New York 1909 u.1968. Bei Peirce und G. H. Mead ist die Objektivität von Erkenntnis durch eine Intersubjektivität der Erfahrung in einer gemeinsamen Lebenswelt noch weit über James’ Theorie hinaus formuliert worden, vgl. Mead, Selected Writings, hg. v. A. J. Reck, Indianapolis 1964 u. ders., Identität und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1968.

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Kunst aus dem Geiste eines darwinistisch-biologistischen Reduktionsmodells,200 sondern Manifestation einer neuen kulturellen Dynamik: ein ›Los-von-der-altenWelt‹, wie es auch Henry David Thoreau oder Ralph Waldo Emerson dichterisch beschwören. »Unser Zeitalter ist rückwärtsschauend. Es baut die Gräber der Vorväter …« tadelt Emerson und fordert, dass den Enkeln der Mayflower-Leute weder Griechenland noch Rom noch Aristoteles oder die Sorbonne dreinzureden hätten. Die heftige Abwehr wird zum Stimulans neuer kultureller Identitätssuche. Das pragmatische Denken bestimmt nicht nur den Charakter der anglo-amerikanischen Ratio, sondern auch Lebenswelt und Gesellschaftsregeln. Als kollektive Übereinstimmung im Common sense einer Gemeinschaft sucht man eher Interessenausgleich als absolute ›Wahrheiten‹. Wobei die ›Interessen‹ nicht unbedingt höherer Ratio oder ethischer Qualifikation bedürfen. Bezeichnend dafür ist das angelsächsische Rechtssystem. Mit Jury, Deal und Präjudizienbindung ist es weit mehr an praktischen, konsensuellen Lösungen interessiert als an absoluter Wahrheitsfindung. Solche Pragmatik orientiert sich selten an zeitlos gültigen Normen und läßt sich ungern auf die Suche nach tieferen Erkenntnisgrundlagen ein oder auf die weiten Horizonte universalen Denkens wie bei Platon oder eines systematischen wie bei Descartes, Kant oder Hegel.201 Was die Kunst betrifft, ist es damit nicht mehr weit bis zu einer individuellen Befindlichkeitskunst. Sie versteht sich gern als Befriedigung durch alle Arten von ›Betätigung‹: als persönliches Hobby, musische Freizeitgestaltung oder als Beitrag zur persönlichen Wellness durch ›kreativ sein‹, besonders aber als beachtete ›soziale‹ Aktivität. Deshalb erhält sie auch kaum staatliche Förderung wie in Europa, sondern ist auf privates Sponsering und dessen Interessenten angewiesen Der Kunstanspruch des echten Künstlers als Künder verfällt im trivialen to do, wo »Jeder zum Künstler« wird, wie es dann Joseph Beuys zur bekannten Maxime macht – eine Analogie zum Kunstbegriff der Readymades. Denn wenn jedes Ding dieser Welt

200 Diese Einstellung reicht bis zum Neopragmatismus eines Richard Rorty, der als erkenntnistheoretischer Behaviourist die alten abendländischen Probleme verabschieden möchte, indem er Relationen wie Ich und Welt, Innen und Außen, Subjekt und Objekt als unbestimmbare, bloße sprachliche Konventionen, als Reflexe also einer »Spiegelmetaphorik« beiseite lassen will. Vgl. Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt a. M. 1981. 201 Vgl. W. James, Pragmatism: A New Name for Some Old Ways of Thinking, New York 1907; C. S. Peirce, Collected Papers, hg. v. Ch. Hartshorne u. P. Weiss, Cambridge, Mass.1974; J. Dewey, The Essential Writings, hg. v. D. Sidorsky, New York 1977. Besonders bezeichnend dafür ist die amerikanische Rechtssprechung im Strafprozess, wo alle ›objektive‹ Tatsachenermittlung letztlich der ›subjektiven‹ Meinung eines Laien-Kollektivs, der Jury, unterworfen wird und dem Richter eher nur eine Schiedsrichterrolle zukommt, die Kasuistik früherer Gerichtsentscheidungen als Präjudizienbindung dominante Referenzfunktion erhält und oft eine Art Aushandlung von Interessen aus dem Verständnis des Common sense die Urteile bestimmt. Vgl. H. Jacob, Justice in America, Boston 1965; K. F. Schumann, Der Handel mit Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1977.

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zum ›Kunstwerk‹ erklärt werden kann, dann kann auch jedem Menschen eine ihm eigene Kreativität bescheinigt werden.

Die philosophischen Meisterdenker der Dekonstruktion Ebenso wie den ›logischen‹ Konzepten der positivistischen Empiristen ihre ›unlogischen‹ Gegenspieler von Futurismus bis Dada erwachsen und den musikalischen ›Logikern‹ von Dodekaphonie und Serialismus ihre Antagonisten von Materialund Geräuschkomponisten, so entsteht jetzt den Strukturalisten im Dekonstruktivismus eine radikale Gegenreaktion: das philosophische Pendant musikalischen ›Dekonstruierens‹. Dem strukturfixierten Denken wirft man jetzt seine »kalten Operationen« vor und kritisiert seine Welterklärungskonzepte als defizitäre formalistische Reduktion. Wegbereiter sind die Poststrukturalisten, die auf dynamische Deutung setzen. Damit sind Namen wie Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Jean-François Lyotard und Michel Foucault verbunden. Sie verweisen die strengen Ansprüche einer universalen strukturalistischen Komplex- und Zeichentheorie ins Reich überholter Utopien und wenden sich lustvoll allen wilden Entgrenzungen durch »Differenz«, »Pluralität« und »mobilem Denken« zu. Der spektakulärste Vertreter wildester ›Entgrenzungen‹ ist ein brillanter Intellektueller mit unorthodoxen Interessensgebieten: Michel Foucault (1926–1984). Als Zögling der elitären französischen ENA-Kaderschmiede genießt er gesellschaftliches Prestige und als Autor mit extravaganten Themen wie Wahnsinn und Gesellschaft oder Überwachen und Strafen liefert er Titelgeschichten in den Medien. Er steigt zum Star der Pariser Intelligenzija auf, doziert schließlich am feinen Collège de France und im schicken kalifornischen Campus von Berkeley. Und noch weit nach seinem frühen Aids-Tod fasziniert und irritiert er mit dem bizarren Ethos eines radikal subversiven Denkens. Foucault knüpft zunächst unverkennbar an Claude Lévi-Strauss mit seiner Auffassung von Erkenntnistheorie als Manifestation von ein und derselben Episteme als unbewusstes, »archäologisches Muster von Wissen« an. Dann aber bricht er radikal mit der Idee eines universalen, invarianten Kodes, der, nach Art der »Strukturalen Anthropologie« von Lévi-Strauss, sämtliche Erscheinungen der Kultur zu erfassen vermag. Er erklärt vielmehr, dass zwischen den jeweils herrschenden Typiken des Wissens eine unübersteigbare Heterogenität herrsche: Folge von EpistemeSystemen, die zwar diachron verlaufen, aber nicht voneinander ableitbar sind, sondern durch diskontinuierliche Brüche getrennt. Allerdings versteht Foucault unter Episteme nur den «spezifischen epistemologischen Raum einer bestimmten Epoche«, also die jeweilige allgemeine Form des Denkens und der Theoriebildung, die

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sich, ebenso wie sie akzidentiell entsteht, auch vielleicht bald wieder auflösen kann. Und er interessiert sich dafür vor allem unter dem Aspekt der Macht.202 Damit dechiffriert er die herrschenden Systeme von Staat, Justiz und Kirche bis zur Medizin als ›Diskurse‹ von Machtstrategien. Ihre Regularien würden Subjekt, Gesellschaft und Denken disziplinieren und wirkten besonders durch Institutionen wie Schule, Gefängnis und Irrenanstalt als »diskursive Polizei«. Mit Methoden seiner »Diskursanalyse« beschreibt er sie als rigide Vernunftapologie des abendländischen Logozentrismus und entlarvt sie auf den Denkpfaden Nietzsches in ihrer Herrschsucht. Auch die Kunst als ein ›Zeichensystem‹ erhält ihre Realität erst durch ein anderes System: den Diskurs ihrer Machtinstitutionen wie Galerien, Museen, Kuratoren, Sammler und die Kunstkritik. «Kunst als historische Diskursform, wie wir sie heute kennen, ist nur zu denken unter den ökonomischen und politischen Bedingungen – nicht unter den ontologischen – welche den Kapitalismus herausgebildet und entwickelt haben …«.203 Damit liefert er eine treffende Anatomie des modernen Kunstbetriebs, nicht aber der Kunst. Es ist nur eine funktionale Anatomie – aber eine mit Absicht, denn er zielt damit machtstrategisch auf eine »Veränderung des politischen, ökonomischen und institutionellen Systems der Produktion von Wahrheit«. Was seine musikalischen Erfahrungen betrifft, so sind sie stark von Pierre Boulez und dem jungen Komponisten Jean Barraqué geprägt, der ihm von 1952 bis 1956 Freund und Liebhaber war. Barraqué hatte bei Messiaen studiert, komponierte seriell und verstand sich als musicien maudit und engagierter Apologet extremistischer Ausdruckssuche. Vier Jahre vor seinem Alkoholismus-Tod, 1973, erklärte er: »Musik ist Drama, Pathos, Tod. Sie ist ein ausgesprochenes Wagnis, das am Rande des Selbstmordes pulsiert. Wenn Musik dies nicht ist, wenn sie nicht alle Grenzen sprengt, dann ist sie nichts.«204 Foucault bekennt sympathetisch »Was es zu zerstören gilt, ist die Gesamtheit der Bestimmungen, Spezifikationen und Sedimentationen, durch die gewisse Wesenheiten des Menschen seit dem achtzehnten Jahrhundert definiert worden sind« (Dits et Ecrits, 1.11.1975). Deshalb preist er alle Manifestationen von Gewalttätigem, Katastrophalem, Kämpferischem, Gefährlichem und Widerständigem nicht nur als befreiende Durchbrüche in den »Befestigungsanlagen der Gesellschaft«, sondern auch als methodische Überschreitung aller Grenzen zum DämonischDionysischen. Das wird ihm zur personalen Erfahrung des ›wahren Ich‹ und von ›Transzendenz‹ schlechthin. Dazu ruft er nicht nur Nietzsche auf, sondern die ero202 Vgl. M. Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (1966), Frankfurt a. M. 1974, als Fortsetzung von Wahnsinn und Gesellschaft, 1961; Archäologie des Wissens (1968), Frankfurt a. M. 1971; Die Ordnung des Diskurses (1970), Frankfurt a. M., Berlin u. Wien 1977; Überwachen und Strafen, Frankfurt a. M. 1977. 203 M. Foucault, Dispositive der Macht, Berlin 1978, S. 53 ff. 204 Zitiert nach J. Miller, Die Leidenschaft des Michel Foucault, Köln 1995, S. 114–116, 129–132.

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tischen Gewaltphantasien de Sades, das grausame Theater Artauds, das obszöne Werk Batailles. Prägt es als »sado-nietzscheanisches« Denken (James Miller) seine Philosophie und ihre zentralen Themen von Wahnsinn, Tod, Verbrechen, Strafe, Macht und Sexualität, so bestimmt es mit Selbstzerstörungsphantasien und den Präferenzen für sadomasochistische Erfahrungen seine Lebenswelt. Dazu gehören seine Exkursionen in die homosexuellen Milieus von Paris und San Francisco, inklusive Drogentrips.205 Sogar den Tod versteht er in enger Heidegger-Nähe als »einzige Art von Würde, die dem Menschen gewährt wird« und als den Akt, »in dem das Individuum zu sich selbst komme« (1963). Verklärt zum Bekenntnis: »An Krankheiten der Liebe zu sterben, bedeutet die Erfahrung der Passion zu machen« ist es womöglich eine Self-fulfilling prophecy seines Aids-Todes, 1984. Dieser mentale wie gelebte Dekonstruktivismus qualifiziert den »Sprengmeister der Kultur«, wie er sich selbst bezeichnet hat, zum wirkungsvollen Sprecher eines ›Gegendiskurses‹ in der Liga von Georges Bataille, Maurice Blanchot oder Pierre Klossowski.

205 Zu den Selbstmordversuchen und Selbstverletzungen vgl. J. Miller (1995), S.113. Foucault selbst betonte, dass der »Schlüssel zum Verständnis des Werkes eines Philosophen in der Untersuchung seines Ethos« liege und dass »sein Privatleben, seine sexuellen Präferenzen und seine Arbeit miteinander verbunden« seien »… weil die Arbeit das gesamte Leben wie auch den Text umfasst« (Interview m. Charles Ruas, 1985, in: Miller, S. 26–27). Bewertet man mit dieser Lizenz Foucaults intensive, lebenslange Obsession für seine Art von Sexualität nicht als insignifikanten Teil seiner ›privaten‹ Neigungen, sondern als eine psychophysisch zentrale Dynamik seiner Existenz, zu der er sich immer wieder bekannte, so wird ein tieferes Verständnis seines Denkens kaum ohne ihre Berücksichtigung auskommen. Danach konstruiert er um den personalen Kern einer leidenschaftlichen, devianten sexuellen Veranlagung mit höchst elaborierter Intellektualität und virtuosem Abstraktionsvermögen sowie einem manischen Wissens- und Schreibzwang eine Philosophie der historisch-psychologisch-soziologischen Analysen und Narrative, die sich bis zur zwangsneurotischen Abwehr von »Macht, Strafen, Disziplinierung und Überwachen« als unerwünschte Zensurinstrumente seiner Neigungen verdichtet. Er unternimmt das, tief beeindruckt von Nietzsche und Heidegger, in charakteristischer französischer Diktion des ›Literarischen‹, aber radikalisiert als Anti-Humanismus der Extreme und Grausamkeiten, definiert den aber als persönliche, essentielle Form eines ›neuen Humanismus‹. Zu diesen Erfahrungen zählt, wenn er »im weißen Rollkragenpulli mit Cordjacke aus der Arbeit in der Bibliothèque Nationale in die Pariser Männerbordelle entfloh« oder wenn er bei seinen Besuchen in Berkeley 1975, 1979, 1980 und 1983 die Dark Rooms und Saunen und die Leder-Szene der homosexuellen Gemeinde Kaliforniens frequentierte, vgl. Miller (1995), S. 371–397. 1975 macht er dort auch eine dramatische LSD-Erfahrung mit einem jungen Verehrer, dem Historiker Simeon Wade und dessen Freund, dem Musiker Michael Stoneman, bei einem Ausflug im Death Valley – musikalisch begleitet von Stockhausen und Richard Strauss. Unter dem Eindruck dieser »schönsten Erfahrung seines Lebens« verfasste Foucault ein völlig neues Programm für seine geplanten fünf Bände von (unvollendeter) Sexualität und Wahrheit (der vierte Band, dt. ediert als: Die Geständnisse des Fleisches, Berlin 2019), vgl. Miller (1995), S. 360–370 u. S. Wade, Foucault in California. A true Story – Wherein the Great French Philosopher Drops Acid in the Valley of Death, Berkeley, Cal., 2019.

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Der Würde des Todes kontrastiert die Insignifikanz des Subjekts. Für Foucault verschwinden im »unaufhörlichen, ordnungslosen Rauschen des Diskurses« als Repräsentanz eines Ablaufs jenseits alles Etablierten auch Verfasser, Subjekt und individueller Ausdruck. Ein ›Text‹ ist nur noch ein selbstreferenzielles Zeichenspiel, das bestenfalls den Charakter bloßen »Murmelns« an »den Leerstellen der sogenannten Wirklichkeit hat«, wenn wir uns von klassischen Paradigmen wie Identität, der Subjekt-Objekt-Dialektik oder des ›Aneignungsdenkens‹ endlich befreit hätten. Mit dem verschwindenden ›Text‹ verschwindet auch der Mensch dahinter, denn: »Der Mensch ist nichts anderes als eine bestimmte Formation in der wissenschaftlichen Organisation der letzten 150 Jahre, die jetzt wieder verschwinden muss, da sie bloß ein Element in einem dem Subjekt immer vorausgehenden Regelzusammenhang ist …«. Das liquidiert eine humanistische Anthropologie aus abendländischem Verständnis zugunsten eines Menschenbildes der wechselnden ›Dispositionen‹. »Wenn diese Dispositionen verschwänden, … dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand« – resümiert er als bekannte Schlussworte in seiner Ordnung der Dinge.206 Damit intoniert der unorthodoxe Meisterdenker die moderne abendländische Bewusstseinslage als radikaler Existenzialist – und in der mentalen Tonlage von Adornos fatalem Abgesang an das Subjekt. Immerhin bleibt ihm sein Ruhm im Einsatz für Strafrechts- und Strafvollzugsreformen sowie für politische Befreiungsbewegungen. Dazu sein Nimbus als Apostel des Protests gegen systemische Machtansprüche von Kapitalismus, Überwachungsgesellschaft oder Technokratie.207 Schließlich wirkt auch sein Beitrag für die Schärfung der ›Diskursanalyse‹ zu einem Instrument radikaler Kampfrhetorik weiter und bleibt im avancierten Methodenkanon von Literaturkritik bis Historiographie. Auch Jean-François Lyotard (1924–1998) traut, wie Gilles Deleuze und Jacques Derrida, keinem festen Sinn mehr. Schon gar nicht von Texten, sei es in Literatur, Philosophie oder, metaphorisch, dem ›Lesen der Welt‹. Dazu rechnet er auch die großen philosophischen Systementwürfe abendländischen Denkens. Seine Crise des récits, die auch außerhalb Frankreichs zum Schlagwort vom »Ende der großen Erzählungen« wurde, erklärt die drei großen »Meta­ erzählungen« der Moderne für erledigt und damit auch ihre Rolle als Leittheorien: die aufklärerische von der Emanzipation der Menschheit, die idealistische von der Teleologie des Geistes und die historistische von der Hermeneutik des Sinns.208 Systematisch dekonstruiert er sie zu obsoleten Requisiten und verabschiedet nicht 206 M. Foucault (1974), S. 462. Zur Text- und Literaturtheorie, vgl. Foucault, Schriften zur Literatur, Frankfurt a. M. 1988. 207 Als Laudatio noch posthum bezeugt im Magazin Les Inrockuptibles, Juni 2004. 208 J.-F. Lyotard (1979), Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Bremen 1982, Neuausgabe Graz u. Wien 1986, S. 14, später etwas modifiziert als: Emanzipation, Verwirklichung des Gei-

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nur den klassischen Humanismus und das Subjekt als Träger von Wissen und Erkenntnis, sondern gleichzeitig alle ›Ganzheitsvorstellungen‹ zugunsten von radikalem Polymorphismus. Er setzt auf Differenz statt Identität, auf Destruktion statt auf Stabilität, auf Pluralität statt Einheit, auf den Augenblick anstatt der Dauer und immer auf jede Art von anarchischem Potential. Das ›Vielheitsfähige‹ verlange die unbegrenzte Permissivität postuliert er und der Subjektbegriff ist für ihn genauso antiquiert wie bei Adorno und Foucault. Wenn er bemerkt: »Das Telos des postmodernen Wissens ist nicht Konsens, sondern Dissens« (Lyotard 1979, S. 97), bezieht er betont Stellung gegen das Konzept des »Kommunikativen Handelns« von Jürgen Habermas. Damit redet er einer als Paralogie bezeichneten Nicht-Übereinstimmung als postmoderne Legitimation von ›Wissen‹ das Wort, samt ihrer Forderung an uns, Inkommensurables zu akzeptieren. Für die Kunsttheorie bedeutet das: Reflexion, Dekomposition, Experiment und radikale Pluralität – die Produktion von Diskontinuität als Normalfall künstlerischen Tuns. Die von Lyotard 1985 organisierte Ausstellung Les Immatériaux im Pariser Centre Georges Pompidou definiert ein neues Verständnis von ›Realität‹ durch die digitalen Informationstechnologien und ein neues Menschenbild, in dem der Mensch synergetisch mit den Maschinen denken, empfinden und handeln würde. In der Musik rechnet er Schönberg und Adorno noch zur »Moderne«; erst bei Cage realisiere sich die »Postmoderne«. Emphatisch erklärt er: »Die Trennung von Ästhetik und Ethik ist unwiderruflich« (1979, S. 95), das »Reflexivwerden der Kunst« in Hegel- und Adorno-Nachfolge sei unentrinnbar. Hybridbildung und Mehrfachcodierung jedes Kunstwerks entspricht für ihn der Vielheit von Rationalitätstypen. Allerdings zielt solche »Mehrfachcodierung« im Werkdetail, wie es etwa der amerikanische Architekt Charles Jencks zum Kennzeichen postmoderner Architektur erklärt, aber letztlich doch wieder auf eine Synthese im Bewusstsein. Denn nur analytisch Wahrgenommenes sei etwas ›Unfassliches‹ konstatiert Lyotard einsichtig und trifft damit die Problematik aller »Hyperkomplexität«. Aber er versteht diese Synthese als ein ›Übersteigendes‹ und bringt es damit sogar in eine Verbindung mit dem ›Erhabenen‹. Das aber wäre nichts anderes als die alte holistische Idee von einem übersummativen ›Ganzen‹, wie es die Gestalttheorie schlüssig erfasste. Wer aber glaubt, dass solches ›Ganzes‹ als ›Erhabenes‹ irgendetwas mit dem Erleben eines integralen Seinszustandes zu tun haben könnte, irrt. Denn Lyotard camouflagiert es als Preisgesang auf ›Differenz‹. Die aber meint er als Erwartung eines ›Neuen‹ im Sinne von Innovation – der gängigsten Münze technoider Rechenart. So ist das Erhabene Lyotards – wie bei Adorno – weder erbaulich noch sinnstiftend und schon gar nicht ›erhebend‹ im Sinn des traditionellen deutschen Sprachgebrauchs (das französische le sublime legt diese Konnotation schon

stes und Kapitalismus, in: Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, Berlin 1986, S. 98.

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gar nicht erst nahe). Und noch weniger aus dem Verständnis einer Erhabenheit von ›Klassik‹, sei sie Griechischer, Wiener, Weimarer oder überhaupt idealistischer Art. Es ist vielmehr die Vision einer »Ontologie der unabsehbaren Möglichkeiten und unabschließbaren Potentialität«, die Idee des Inkommensurablen schlechthin.209 Im Unterschied zu Adorno definiert Lyotard allerdings die Pluralität der modernen Kunst, obwohl als »polymorph-pervers« bezeichnet, als ganz und gar positiv und formuliert sie im Gegensatz zur Negativen Ästhetik als Affirmative Ästhetik.210 Das Manko solcher Theorie ist ihre Lizenz zu unbegrenzter Beliebigkeit. Ihr Beharren auf grundsätzlicher Heterogenität im Diversen, um ja jede Möglichkeit auszuschließen, dass irgendetwas zu Sagendes unbeachtet bliebe, wie er es in seiner Schrift Le Différend formuliert, erlaubt keine praktische Abgrenzung gegen Sinnlosigkeit wie Beliebigkeit.211 Das ist das gleiche Problem wie bei einem Komponieren, in dem alles zum ›Material‹ werden kann, John Cage hat es lustvoll propagiert (siehe S. 683). Damit schlägt die radikale Abwehr eines Absoluten in willkürliche Anarchieermächtigung um. Lyotard propagiert sie zwar nicht, zeigt aber keinen Weg zu ihrer Vermeidung – ein Grundproblem aller postmodernen Pluralitätstheorien. Schlimmer noch: Der unbedingte Geltungsanspruch der Differenz zementiert die Gleichwertigkeit aller Optionen. Das bedeutet nicht nur die Absage an alle Gestaltung von ›Form‹ als unabdingbares Prinzip jedes künstlerischen Bemühens, denn das würde Unterscheidung, Entscheidung und Abgrenzung verlangen, exemplarisch demonstriert bei Beethoven. Es ist auch Absage an ein Menschenbild, in dem Formgestaltung Aufgabe eines jeden halbwegs geglückten persönlichen Lebens ist. Ein anderer prominenter ›Differenz‹-Denker ist Jacques Derrida (1930–2004). ›Sinn‹ gibt es für ihn nie im Präsenzstatus, sondern immer nur disloziert auf die verschiedensten Ebenen und verstreut in vielen Bahnen. Folgt man dieser Bewegung der différance und dissémination, so lehrt uns Derrida, vollzieht sich nicht Sinnentzug, sondern Sinnkonstitution. Differenz und Pluralität sind ihm nicht nur Instrumente zur Überwindung aller metaphysischen Konstrukte und Konflikte, sondern erweisen sich als das Ursprüngliche und Unhintergehbare. Lyotards Paralogie weitet sich zu einer »Nomadischen Philosophie«.212 In ihrem Geist betreibt Derrida seine virtuose Spurensuche nach den Verzweigungen, Nebenbedeutungen, Umkehrungen und Paradoxien. Statt der Sprache rückt er aber, gut logozentristisch, die Schrift in den Mittelpunkt aller Exegese – obwohl er als ein manischer TV-Freak bekannt war. Mit einer ebenso detailverliebten wie notorisch skeptischen Mikroskopie eröffnet er unerschöpfliche Analyse- und 209 Vgl. dazu moderne Definitionen des ›Erhabenen‹: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, hg. v. Chr. Pries, Weinheim 1989, wo es auch als das »Kritisch-Erhabene« beschrieben wird, sowie: W. Welsch, Ästhetisches Denken, 3. Aufl. Stuttgart 1993, S. 88 ff. 210 Vgl. J.-F. Lyotard, Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982, S. 91. 211 J.-F. Lyotard (1983), Der Widerstreit, München 1987, Nr. 229. 212 Vgl. J. Derrida, Marges de la philosophie, Paris 1972, S. 163, 295, 390 ff.

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Deutungswelten. Wenn er in seiner Grammatologie (1967) mit irgendwelchen festen Sinn-Möglichkeiten und stabilen Bedeutungen von Texten als bloßen ›Illusionen‹ radikal aufräumt, dann betreibt er nicht eine Hermeneutik des Sinns, sondern eher die eines Gegensinnigen. Mit ironischer bis süffisanter Diktion gelingt es ihm analytisch, alle logischen oder gar metaphysischen Dimensionen formulierten ›Sinns‹ als bloße Chimären zu entlarven. Ein bezeichnendes Beispiel liefert seine Dekonstruktion der Johanneischen Apokalypse. Nach der peniblen Hinterfragung aller ihrer Prämissen, Aussagen und Bilder lautet sein Befund zur ›Botschaft‹ des Berichts: Es gibt keine Wahrheit, keine Enthüllung, kein Ende – die Story ist eine leere Sendung ohne Botschaft.213 Zusammen mit dem befreundeten Literaturwissenschaftler Paul de Man entfaltet der radical chic seiner Textanalysen größte Wirkung. Als French Theory fasziniert sie in den USA ungleich mehr als die »Frankfurter Theorie«. Im Campus der Yale-Universität der 1970/80er Jahre avanciert Derrida zum Darling einer feinen intellektuellen Schickeria, beeinflusst Literaturgrößen wie Harold Bloom und Geoffrey H. Hartman und initiiert mit dem Close Reading des New Criticism eine neue, vielversprechende Literaturtheorie. Zwar traf diese Apperzeptionshaltung virtuosen Zerlesens den analytischen Nerv der Zeit. Aber ihre dekonstruktivistische Systematik demontierte auch die traditionellen Kanons amerikanischer College Education. Das war prekär. Denn es schuf Anreiz zu einem ›Zer-lesen‹ der Standards des traditionellen Bildungswesens, nicht nur als Vermittler gemeinsamer kultureller Werte, sondern auch in ihrer Rolle für gesellschaftliche ›Identität‹. Die subversive Wirkung der French Theory fungierte deshalb nicht zuletzt als Beschleunigungsprozess im Abschied von den alten, eurozentristischen Humanities im akademischen Kanon. Der bewegte sich jetzt hin zu den neuen Cultural und Postcolonial studies aus der sozialen Realität einer divergenten Multikulti-Gesellschaft. Inzwischen bestimmt der Konflikt zwischen alter, konservativer WASP-Identität und liberaler Diversity, die sich über Pluralismus und Gender-Mainstreaming definiert, Gesellschaft und Politik der USA in brisanter Polarisierung.

Diversität als neue Konstruktion oder: ›Postkanonische‹ Theorie Inmitten radikaler Dekonstruktion steigt ein neues Modell von ›Konstruktion‹ zur Diskursherrschaft auf. Es ist die These von der Sozialen Konstruktion aller Kultur, Kunst und Wissenschaft bis hin zu den Geschlechterrollen, ja unserer alltäglichen Wirklichkeitswahrnehmung und unseres Bewusstseins schlechthin. »Wir selbst konstruieren unseren Geist« meint der amerikanische Philosoph Richard Rorty und erhebt ›Selbsterschaffung‹ und ›Kontingenz‹ zu primären Kul-

213 J. Derrida (1983), Apokalypse, Graz u. Wien 1985.

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tur- und Geistesmächten. Er wollte sich noch nicht einmal darauf festlegen, dass es etwas wie »Dinosaurier« wirklich gegeben hat, sondern als Tatsache nur anerkennen, dass wir über sie reden: Sprache ist, was Fakten schafft, erläutert er in seinem Schlüsselwerk Kontingenz, Ironie und Solidarität. Das Gleiche meint auch die amerikanische Soziologin Judith Butler, wenn sie befindet, dass »Männer und Frauen sprachlich erzeugte Praktiken« sind und sogar deren »Anatomie ein soziales Konstrukt«. Weit über die Preisgabe ontologischer Geschlechterpolarität hinaus verkündet es ein neues Paradigma von ›Realität‹ schlechthin. In der Gendertheorie, mit ihrer zentralen These von einer Unterscheidung zwischen dem (biologischen) Geschlecht (sex) und dem einer sozio-kulturellen Normierung (gender) hat dieses Paradigma im Gender-Mainstreaming bis zu den Queer Studies inzwischen ein eigenes Universum einer Neo-Sexualität erschaffen mit an die sechzig verschiedenen (transitorischen) Geschlechtsidentitäten. Als Diversity entfaltet es sein Potenzial sowohl als gesellschaftspolitische Kampfvokabel wie auch als avancierte Wissenschafts- und Kulturtheorie.214 Dort beteiligt sich die Soziologie auch nach Adorno mit allerhand Theorieentwürfen am Verständnis von Kunst und Kunstwerk. Der Soziologe Pierre Bourdieu entwirft ein radikales Reduktionskonzept aller ›essentiellen‹ Inhalte eines Kunstwerks. Er ersetzt sie durch ein funktionales ›Feld‹: die Bildformel, das Erzeugungsprinzip und den gesellschaftlichen Hintergrund. Seine Beschaffenheit bestimmt die Bedeutung des Kunstwerks, während der ›Habitus‹ (ein von Erwin Panofsky entlehnter Begriff) als sozial erworbene Persönlichkeits- und Handlungskonzepte des Individuums zwischen soziokultureller Bedingtheit des Objekts sowie individuellem Geschmack, Verhalten und Wertung innerhalb eines bestimmten ›Klassenhabitus‹ vermitteln soll.215 Ein anderer Entwurf formuliert eine Kulturtheorie der »Spätmoderne«, wonach ihre Gesellschaft das Ergebnis historischer »Ästhetisierungsschübe« sei (Andreas Reckwitz). Da trifft sie sich mit postmodernen Philosophen wie Wolfgang Welsch oder Rüdiger Bubner (siehe unten). Als »Kulturalisierung und Ästhetisierung der Arbeitsformen, Organisationsstrukturen und des Arbeitsethos« resultiere das in ei-

214 Als Schrittmacher gelten die Soziologen Peter L. Berger u. Thomas Luckmann (1966), Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 1970. Zur Kritik dazu vgl. I. Hacking, Was heißt ›soziale Konstruktion‹? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften, Frankfurt a. M. 1999. Die Gender-Studies sind zunächst eng mit Feminismus und Gleichberechtigung verbunden, programmatisch bereits bei Simone de Beauvoir thematisiert (Das andere Geschlecht, München 1951), später bei C. West u. D. Zimmerman, Doing Gender, in: Gender and Society 1987 u. 1995 und J. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter (1990), Frankfurt a. M. 2003; dies., Haß spricht: Zur Politik des Performativen (1997), Berlin 1998. Inzwischen haben sie sich im GenderMainstreaming von der binären Konzeption zur geläufigen multiplexen LGBTTIQ (für: Lesbisch, Gay, Bisexuell, Transgender, Transsexuell, Intersex, Queer) entwickelt. 215 Vgl. P. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, Frankfurt a. M. 1999.

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ner »digitalen Kulturmaschine« mit einer »Überproduktion von Kulturformen«. In ihren »Rekombinationsverfahren« verfallen dann auch die traditionellen Formen von Kunstwerk, Gattungen und Kanons. Die Folge seien Ent-Differenzierung und Ent-Kontextualisierung, die Auflösung von Authentizität und Originalität. Nach dieser phänomenologischen Diagnose konstatiert Reckwitz die wachsende ›Polarisierung‹ zwischen einer internationalen ›Hyperkultur‹ und einem bodenständigen ›Kulturessentialismus‹ in einer »Gesellschaft der Singularitäten«. Erstere folge einem kosmopolitischen ›Relativismus‹, während der andere ein unveränderliches ›Eigenes‹ reklamiere. Deshalb entstehe für den Kunstdiskurs ein Gegensatz zwischen der »postmodernen Diversity« als Freiheit des Unverbindlichen und dem Nicht-Relativierbaren ›identitärer‹ Vorstellungen.216 Diversity stellt sich so als nächster Schub in der Individualisierung des abendländischen Egos dar, ihr Relativitäts-Paradigma als Auflösungssyndrom von Substanz und Inhalt des Kunstwerks, die soziologische Hermeneutik als deren Affirmation. Damit folgt sie mit virtuoser Abstraktion, neuen Begriffsbildungen und reflektierten Beziehungskonstrukten nur der Tendenz zur Auslagerung der ›Substanz‹ des Kunstwerks und seiner Ausdrucksbedeutung in eine Metaebene sozialer Codes und Relationen: Exitus aller Betroffenheit im Kunsterlebnis. Auch die Musikwissenschaft hat diese soziologische Hermeneutik längst übernommen. Als New musicology entwickelte sie sich seit den 1970er Jahren in den USA zu einer neuen Deutungsschule – Ouvertüre zur ›diversen‹ Auflösung aller ›eurozentristischen Kanons‹. Auch dort werden jetzt musikalische ›Texte‹ ins ›Feld‹ gesellschaftlicher Chiffren überführt. Jetzt interessiert eher die soziale Rolle der Frau in Bizets Carmen oder Beethovens neunte Sinfonie als akustisches Szenario einer Vergewaltigung (Susan McClary) und die »wahre sexuelle Orientierung Schuberts« (Lawrence Kramer und Maynard Solomon). Oder nicht weniger die wichtige Rolle des Popstars Madonna für die »gesellschaftliche Integration subkultureller Praktiken wie Sadomasochismus« in die Musik.217 Bezeichend ist, dass sich der Fokus dieser Hermeneutik vorzugsweise auf die Sexualität richtet. Sie fungiert offensichtlich als zentraler Repräsentant alles Personalen und Sozialen, herausgelöst aus dem Ganzen des ›Menschlichen‹ – wie im Typ des ›Don Giovanni‹. Unverkennbar dabei, die Orientierung vor allem an ihren Formen bei Minderheiten, Randgruppen und alternati-

216 Vgl. A. Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012; Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017. Von dieser Polarisierungsthese aus wird der Autonomieanspruch des Kunstwerks als »identitärer Entwurf« in politologischer Diskussion gern als Kennzeichen »rechter« Ideologie bewertet (siehe auch S. 717). 217 Artikel Madonna in: The New Grove. Dictionary of Music and Musicians, 2nd Edition, London 2001.

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ven Milieus, besonders der Neosexualität. Ihre Codes finden jetzt nicht nur als Manifestationen von Diversity Beachtung, sondern auch als ästhetische.218 Gleichzeitig vollzieht sich in der universitären Musikologie Amerikas ein neuer Schub des »Los von Europa«. Etablierte Theoriekonzepte wie von A. B. Marx bis Riemann und Schenker und musikgeschichtliche wie zuletzt von Dahlhaus dankten als verdächtige Deutungshegemonie des Dead White Male und des westlichen Chauvinismus im kritischen »Postkolonialismus« ab. Darunter fallen inzwischen auch die Altertumswissenschaften, die Classics nach angelsächsischem Sprachgebrauch, genau so wie die Western und European Classical Music: Decolonize the classics lautet die bekannte Forderung. Alles was als ›klassisch‹ gilt, von Platon bis Horaz, Tacitus oder Cicero, verfällt als mentale ›weiße Vorherrschaft‹ dem anthropologischen Verdikt eines kulturellen Rassismus und dem methodischen eines »reduktiven Konzepts«.219 Auch Bach und Beethoven gehören dazu: »Its time to let classical music die« fordert der Komponist Nebal Maysaud. Und das New Yorker Institute for Composer Diversity empfiehlt Quoten für »underrepresented racial, ethnic, or cultural heritages« bei Konzertveranstaltungen.220 Auch die neuere Musikphilosophie assistiert: »Die Forderung nach einer Provinzialisierung Europas erscheint mir unabweisbar …« und es wird aufgefordert, »ernsthaft an einer Dezentrierung [des musikgeschichtlichen Fokus] zu arbeiten«.221 Weil der ›klassische‹ Kanon repräsentativer abendländischer Musik wesentlich durch Werke mitteleuropäischer und deutsch-österreichischer Komponisten bestimmt ist, gerät er in der transatlantischen Kulturdrift unter besonderen Druck: der Diskriminerungsvorwurf als Vorspiel zur Dekonstruktion. Schönberg glaubte noch daran, dass er der »Deutschen Musik« mit seiner Erfindung der Zwölftontechnik die Zukunft für die nächsten hundert Jahre sichern 218 Vgl. M. Solomon, Franz Schubert and the Peacocks of Benvenuto Cellini, Berkeley1989; L. Kramer, Music as Cultural Practice, 1800–1900, Berkeley 1990; Classical Music and Postmodern Knowledge, Berkeley1995; ders., Franz Schubert: Sexuality, Subjectivity, Song, Cambridge 2003; S. McClary, Feminine Endings. Music, Gender, and Sexuality, 2. Aufl. Minnea­ polis 1991; dies., Georges Bizet: Carmen, Cambridge 1992; R. Solie (Hg.), Musicology and Difference. Gender and Sexuality in Music Scholarship, Berkeley 1993; R. R. Subotnik, (1996); Ph. Brett, E. Wood u. G. Thomas (Hg.), Queering the Pitch: The New Gay and Lesbian Musicology, New York 1994; A. Williams, Constructing Musicology, Ashgate 2001; Gender Performances. Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film, hg. v. A. Ellmeier u. a., Köln 2011. 219 Entwickelt seit 2019 in Diskursen der amerikanischen Society for Classical Studies (SCS), besonders durch Dan-el Padilla Peralta, Professor für römische Geschichte, Princeton University, vgl. Divine Institutions. Religions and Community in the Middle Roman Republic, Princeton 2021. Unter größerem Blickwinkel wird das Thema längst in der Ethnomusikologie diskutiert, vgl. J. Blacking, How musical is Man?, Seattle 1973 oder K. Bergeron u. Ph. V. Bohlman (Hg.), Disciplining Music. Musicology and its Canons, Chicago u. London 1992. 220 N. Maysaud auf: newmusica.org (2019). 221 Chr. Grüny, Vor und nach der Musik. Für eine antiessentialistsische Philosophie der Musik, in: Musikphilosophie (2021), S. 101.

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könnte. Aber in den USA verfiel seine Geltung rapide. Das Schönberg-Institut an der University of Southern California in Los Angeles wurde 1997 aufgelöst und nur knapp von der Stadt Wien gerettet. In zentralen Referenzwerken, wie dem New Grove (Edition 2001), deutet man die deutsche Musikgeschichte als ideologisch kontaminiert, indem man sie als Evolutionsprozess eines »verhängnisvollen Nationalismus« darstellt (Richard Taruskin). Dazu leistet die musikwissenschaftliche Aufarbeitung von Verstrickungen während des Nazi-Regimes einen affirmativen Beitrag. Dort werden über die »Nazi-Composer« hinaus (siehe S. 686) sogar Kapitel der späteren Interpretationsgeschichte von Beethoven oder Bruckner unter gleichen Ideologieverdacht gestellt.222 Als Kulturtheorie fallen politologische und genderspezifische Musicology unter die Spielarten von Musiksoziologie. Aber die Suche Adornos nach dem sozialen und historisch »sedimentierten Gehalt« musikalischen Materials wandelt sich jetzt zu einer Suche nach den sozio-kommunikativen Rollenspielen in der Musik. Das hat seine erkenntnistheoretischen Chancen als Befreiung von enger (eurozentristischer) schriftlicher Textfixierung und abstraktem analytischen Rigorismus durch eine Öffnung zu den performativen und gesellschaftlichen Verbindungen allen Musizierens und damit zur dynamischen und kontextualen Seite der Musik. Sie gab es ja immer, von der organischen Einbindung in Ritus, Kultus, Fest und Feier in den meisten Kulturen, den situativen Aufführungsszenarien der frühen Oper und der Buffa bis hin zu Jazz und Improvisation: Musik und Musizieren als ein Tun und ein lebendiges Geschehen mit Ereignischarakter. Damit scheint immerhin etwas von einer wesentlichen anthropologischen Dimension der Musik wiedergewonnen – in der neueren Musikphilosophie findet es Beachtung und Reflexion.223 Das Manko der Theorie zeigt sich allerdings im Verlust der Differenz für die qualitativ verschiedenen Bedeutungsebenen. Weil sie seelische und geistige NiveauEbenen sind, haben sie aber anthropologisches Format. In der postmodernen Diversity scheint sich nicht nur das Bewusstsein für solche Qualität zu verlieren, sondern auch das epistemische für die Differenz von Tatsache und Fiktion. Die Idee von Alternative facts als proklamiertes Dementi dieser Differenz findet ihre schöne Analogie in der zeitgeistigen Transformation von ›Low‹ nach ›High‹, von ›Sub‹ nach 222 Von Einzeluntersuchungen wie von Pamela Potter oder Michael H. Kater (vgl. Anm. 181) führen die Bewertungen bis zu grundsätzlichen historiographischen Darstellungen wie von Richard Taruskin unter Nationalism, Kapitel 4: Cultural Nationalism and German Romanticism, in: The New Grove (2001), Vol. 17 oder zu seiner Klassifizierung von Werken Orffs als »faschistische Musik« (Orff’s Musical and Moral Failings, in: The New York Times, 6.5.2001). Unter gleichem Aspekt finden sich interpretationsgeschichtliche Bewertungen, etwa zur Beethoven-Interpretation von Elly Ney oder von Bruckner durch Wilhelm Furtwängler, Otto Klemperer, Eugen Jochum und Sergiu Celibidache, wie im »Ersten Bruckner-Symposium« der USA (New London, Connecticut College und Yale Music School, 1994); vgl. auch: B. Gilliam, The Annexation of Anton Bruckner: Nazi Revisionism and the Politics of Appropriation, in: The Musical Quarterly 78 (1994), Heft 3. 223 Mit Beiträgen im Sammelband Musikphilosophie (2022) oder bei G. W. Bertram, Kunst als menschliche Praxis, Berlin 2014.

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›Super‹. Damit bedient man begeistert eine allgemeine kulturelle Relativitätstheorie, die konsequenterweise keine ›Kanons‹ mehr als (empirisch) ausdifferenzierte Konzentrate von Relevanz akzeptiert, weil sie Irrelevantes nicht davon trennt. Konsequent auch, dass sich diverser Sozialkonstruktivismus als natürliche Gegenthese zu jedem ›Essentialismus‹ versteht. Weil die ›Substanz‹ von Kunstwerk aber nur als ›Essenz‹ zu haben ist, beteiligt er sich an der weiteren De-Ontologisierung von Kunst und Musik. Denn ›Essenz‹ gründet tiefer als alle kommunikative Dynamik und gesellschaftliche Relationen. Unter diesem Aspekt erweist sich die neue Theorie der ›Konstruktion‹ als andere Spielart von ›Dekonstruktion‹.224

Vom ›Post‹ der Moderne zum ›Post‹ des menschlichen Subjekts: I Die digitale Bewusstseinsindustrie Als Vorspiel zum Sozialkonstruktivismus war längst ein neues hermeneutisches Glanzlicht aufgegangen – und eine weitere Dekonstruktion. Und wieder ging sie, bezeichnend für das Technozän, von der Technik aus. Während der Konstruktivismus Fakten, Formen und ›Essenzen‹ als Bewusstseinstheorie in Ambivalenzen auflöst, greift die andere Spielart sinnlich-materiell auf unser Bewusstsein zu: die ›postmoderne‹ Auflösung von Wirklichkeit in den ›digitalen Schein‹ des Virtuellen der elektronischen Medien und Datenströme. Das bekannte Schlagwort The Medium is the Message des kanadischen Medienprofessors Marshall McLuhan von 1964 setzte eine erste Marke.225 Nicht auf den Inhalt kommt es an, sondern das Medium ist bereits die Botschaft. Oder: »Das Medium ist die Metapher«, wie es ein anderer Medienprofessor, der New Yorker Neil Postman, 1985 fomuliert. Jetzt ist die Wirklichkeit nicht mehr sozial konstruiert, sondern »Die Wirklichkeit ist eine ästhetische Konstruktion« (Philosoph Wolfgang Welsch). Das ist nichts weniger als die unverblümte Affirmation von Magie, denn natürlich gibt es immer noch Inhalte, Formen, Strukturen und auch ›soziale‹ Relationen – aber die Wahrnehmung von ›Bedeutung‹ verschiebt sich auf die magische Konsistenz des neuen Trägermediums. Seine Suggestionskraft verdankt sich »Wahrnehmungsweisen, welche jenseits der traditionellen ›Formen der Anschauung‹ (nach Kant) liegen« (W. Welsch). Das wäre, falls man es nicht als Paranoia bewertet, eine 224 Kritik am Realitätsverlust der Konstrukt-Theorien kommt vor allem aus den Naturwissenschaften, vgl. A. Sokal u. J. Bricmont, Eleganter Unsinn: Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaft missbrauchen, Paris 1997; I. Hacking, Soziale Konstruktion beim Wort genommen, Frankfurt a. M. 2003 – aber auch aus der Philosophie, vgl. M. Gabriel, Der Neue Realismus, Frankfurt a. M. 2014; ders., Fiktionen, Frankfurt a. M. 2020. 225 Devise des ersten Kapitels von M. McLuhan, The Extensions of Man, New York 1964.

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Art von ›Transzendenz‹-Erfahrung, die sich einem De-Realisierungsschub aus den alltagsüblichen sinnlichen Ordnungsmustern von Raum, Zeit und eigener Identität darin verdankt. Diese Wirkung als neuer magischer Agent des Bewusstseins veranlasste McLuhan auch zu seinem nächsten Buch The Medium is the Massage (1967). Der Titel verdankt sich zuerst einem peinlichen Lapsus des Druckers. Dann aber wird er als geniale Entstellung zur Kenntlichkeit akzeptiert, denn er trifft den neuen psychotropen Effekt auf Wahrnehmung und Bewusstsein. Mit ihm setzt das »Zeitalter der Simulation« ein (Jean Baudrillard, 1978) und die Konjunktur der ›postmodernen‹ Medientheorien. Mit etwas Rabulistik könnte bereits der Begriff »postmodern« als ein Aspekt von Dekonstruktion gewertet werden. Denn er tritt als umstandslose Suspendierung realer Gegenwart auf. Plötzlich sieht sich das Präsens, das stets mit der Moderne identifizierte zeitgenössische Jetzt, durch die Erfindung einer »Postmoderne« überholt. Das klingt zunächst surreal. Aber offenbar artikuliert sich hier ein verbreitetes Unbehagen, weil die Deckung von Moderne und Gegenwart nicht mehr zu funktionieren scheint: Der hochtourige Taktschlag des veloziferischen Zeitgeistes (J. W. Goethe) verlangt nach einer Artikulation der rasanten Wandlungsphänomene. Lyotard versteht deshalb auch die »Postmoderne« nicht als Epochenbegriff, sondern vielmehr als einen »Gemüts- oder Geisteszustand«, drastisch markiert durch das »Ende der großen Erzählungen«. Allerdings ist der Begriff keineswegs neu. Bereits 1917 taucht er beim Denker, Dichter und Kulturphilosophen Rudolf Pannwitz auf – ebenfalls als Krisenbegriff. Denn Pannwitz beschwört den »postmodernen Menschen« als Überwinder einer maroden Gegenwart von Décadence und »europäischem Nihilismus«. Auch der Historiker Arnold J. Toynbee verwendet ihn 1947 für die Spätphase abendländischer Kultur, bis er schließlich eine Neuakzentuierung unter dem Aspekt der ›Dekonstruktion‹ in der nordamerikanischen Literaturdebatte der sechziger Jahre erlebt samt seiner Übernahme in die Architektur durch Charles Jencks (1977).226 Am deutlichsten wird es im pensée française als eine Fin-de-siècle-Philosophie des 20. Jahrhunderts formuliert. Denn letztlich klagt man dort unter ›Dekonstruktion‹ die rationalistischen Totalitätsansprüche einer Moderne mit ihrem manischen Fortschrittsglauben an und kündigt der naiven Illusion einer Beherrschbarkeit und Erklärbarkeit der Systeme die Gefolgschaft auf. Deshalb meint es im Anarchie-Programm der poststrukturalistischen Meisterdenker im Grunde den ganzen abendländischen Logozentrismus, dieser »hochmü­ 226 R. Pannwitz, Die Krisis der europäischen Kultur, Nürnberg 1917, S. 64; A. Toynbee, A Study of History, Oxford 1947, S. 39. Eine Übersicht bei: W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987, S. 12–31. Die Vielfalt ähnlicher Begriffsbildungen demonstriert seine Aktualität: ›Posthistorie‹ schon bei Arnold Gehlen, ›Spät-Moderne und Postmodernismus‹ (Ch. Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur. Die Entstehung einer alternativen Tradition, Stuttgart 1978), ›Nachmoderne‹ (Michael Frank), ›Transmoderne‹ (Petru Dumi­ triu), ›Transavantgarde‹ (Achille Bonito Oliva). Vgl. ferner H. Foster (Hg.), Postmodern Culture, London u. Sydney 1985.

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thigsten und verlogensten Minute der Weltgeschichte« (F. Nietzsche), der die Neuzeit seit Descartes bestimmt.227 Ein erstes Ergebnis war die »Neue Unübersichtlichkeit« (Jürgen Habermas). Aber das Diffuse des »Passepartoutbegriffs« (wie ihn der Semiologe Umberto Eco 1984 nennt) zeigt sich an allen seinen Widersprüchen. Während ein von Terror erschütterter Westen im Clash of Civilizations (Samuel Huntington) der dritten, vor allem der islamischen Welt »Modernisierungsdefizite« vorwirft oder aber das »Projekt der Moderne« für »unvollendet« erklärt (Jürgen Habermas und Albrecht Wellmer), bescheinigt ihr Jean-François Lyotard das Scheitern. Gleichzeitig wird die ›Postmoderne‹ relativiert durch eine ›Spätmodene‹ oder der Proklamation einer ›Zweiten Moderne‹ – aber veloziferisch schon wieder mit den Steigerungen zur ›Hyper‹, Super‹- oder ›Metamoderne‹ in Frage gestellt. Was in der musikalischen Avantgarde Denker wie Claus-Steffen Mahnkopf oder der Komponist Peter Ruzicka intoniert hatten (siehe S. 669) zeigt nur die (verspätete) Teilnahme an Theorieentwürfen, die bereits für andere Genres formuliert worden waren. In Architektur und Kunst von Heinrich Klotz, in der Soziologie mit einer »reflexiven zweiten Moderne« von Ulrich Beck, im Unterschied zur »linearen der ersten Moderne« oder in der Philosophie mit einer »postmetaphysischen Moderne« von Albrecht Wellmer.228 Alle »postmoderne« Dynamik der Auflösung zum Partikularen und Diffusen in Dekonstruktion, Differenz, Diversität und Ambivalenz in denkerischer Theorie verdankt sich offenbar einer Empirie, einer Erfahrung aus dem Technozän. Seine rasanten Evolutionsschübe fordern jeden status quo heraus und nötigen zu den chronographischen Überholmanövern von ›post‹ und ›zweiter‹ und womöglich nächsten ›Modernen‹. Es sind seine Technologien mit ihrer rapiden Weltverwandlung, die sich eine mentale Repräsentation und neue Begriffe suchen. Wie sehr dieser Verwandlungsprozess aus dem materiellen Apparatefundus des Technozäns gespeist wird, demonstrieren nachdrücklich die Medien, die selbst zur subkutanen Message werden. Als Agenten einer hochtourigen »Bewusstseinsindustrie« (Hans Magnus Enzensberger) entfaltet sich ihr zentrales Potenzial ganz unabhängig von spezifischen ›Inhalten‹. Friedrich Kittler, der frühe, noch von der Literatur herkommende Medienphilosoph, hatte bereits den Menschenwissenschaften ausdrücklich ihre medientechnischen Apriori attestiert. Denn nach ihm hänge von den »Aufschreibesystemen« bis zum Computerchip unser Wissen im227 Vgl. R. G. Renner, Die postmoderne Konstellation. Theorie, Text und Kunst im Ausgang der Moderne, Freiburg i. Br. 1988 und: U. Kösser, Wenn die Weltanschauung in die Brüche geht, ist es besser, sich die Welt anzuschauen, in: Weimarer Beiträge, 1993, Heft 2, S. 190–207. 228 H. Klotz, Die Zweite Moderne. Eine Diagnose der Kunst der Gegenwart, Vieweg 1985; U. Beck, Risikogesellschaft, Frankfurt a. M. 1986 und als Herausgeber seiner Edition Zweite Moderne bei Suhrkamp, Frankfurt a. M.; A. Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt a. M. 1985; ders., Endspiele: Die unversöhnliche Moderne, Frankfurt a. M. 1993; G. Lipovetsky u. S. Charles, Les temps hypermodernes, Paris 2004.

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plizit von den benutzten Kulturtechniken ab: »Was Mensch heißt, bestimmen die technischen Standards« erklärt er, deshalb »sind die Menschen die Subjekte der Informationsmaschinen«.229 Mit der rasanten Verwandlung der ›Informationsmaschinen‹ in mediale ›Bewusstseinsmaschinen‹ durch immer weiter avancierte Technologien schlägt die Stunde der digitalen Medienphilosophen wie Jean Baudrillard, Paul Virilio oder Vilém Flusser.

Das digitale Rauschen der Indifferenz als Pneuma der modernen Mediengesellschaft Auch der gelernte Deutschlehrer und Soziologe Baudrillard beschäftigt sich zunächst mit der ›Differenz‹. Er kann sie aber nicht mehr ernstnehmen. Denn für ihn heben sich heute alle Differenzen in der Informations- und Mediengesellschaft auf. Die ungebremste Steigerung der Vielfalt bedeute zugleich die Vergleichgültigung der durch sie generierten Möglichkeiten. Die verschiedenen Optionen neutralisieren sich gegenseitig und konsonieren schließlich im weißen Rauschen der Indifferenz – ein schönes Analogon zum indifferenten »Rauschen des Diskurses« bei Foucault. So kommt es zu einer gigantischen Implosion allen Sinns, zu einer abschüssigen Fahrt in die universelle Indifferenz. Durch die Macht und Allgegenwärtigkeit der Bilder, von Fernsehen, Video und Computerbildschirmen wird nicht nur die Realität als sogenannte objektive Außenwelt schon vor den Alternative facts abgeschafft, sondern eine neue Realität der Simulation aus der »Agonie des Realen« erschaffen.230 Mit ihr wird Baudrillard zum Theoretiker der Simulation. Dort stellt er den Prozess der Indifferenzbildung am Verhältnis der Realität zu ihren Gegeninstanzen dar. Das Reale existiert nicht mehr, weil es von seinen klassischen Kontrasten wie Beschreibung, Deutung, Abbildung nicht mehr unterschieden werden kann. Deshalb ist es in der Informationsgesellschaft, wo Realität durch Information erzeugt wird, zunehmend unmöglich und sinnlos, zwischen Realität und Simulakrum noch zu unterscheiden. Zugleich verfallen die bürgerlichen Bedeutungswelten. Wir leben in der Hypertelie, sagt er, also jenseits des ›Endes der Geschichte‹ und sogar aller Endmöglichkeiten, denn wir haben sämtliche Verabschiedungsmöglichkeiten real längst hinter uns. An die Stelle des Spiels der Differenzen, wie es die Dialektik Adornos noch lustvoll betreibt, ist gegenwärtig die bloße Wachstumsprogression des Gleichen getreten. Denn von einem bestimmten Punkt an arbeiten Systeme nicht mehr an ihren Widersprüchen, sondern gehen in die »Ekstase der Selbstbe-

229 F. Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1985; ders., als Hg: Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, Zürich 1980. 230 J. Baudrillard, Agonie des Realen, Berlin 1978.

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spiegelung« über. Es bleibt strukturlose »Wucherung«, die allenfalls durch »Viren« von innen her mutiert: Der Krebs als unkontrollierbare Wucherung und der Klon als Reproduktion des Gleichen repräsentieren symbolische Wahrheit für das Ganze.231 Hier trifft er sich mit Gilles Deleuze, der die ›Differenz‹ unter dem Aspekt der Simulakren betrachtet und sie als dezentrierte, bewegliche Netze und nomadische Distributionen sieht. Ihr Zusammenhang kann nicht mehr durch einen universalen Code verstanden werden, sondern höchstens mit einem »informellen Chaos« im wuchernden Geflecht eines Rhizoms.232 Von da aus ist es nicht mehr weit zu den Intertextualitäts-Theorien, die sowohl den Werk- wie auch den Begriff des Autors in Frage stellen und das ästhetische Objekt in einem Netz inter- und transtextueller Beziehungen, quasi als semantische Paranoia, aufgehen lassen.233 Im Sog nachtschwarzer Diagnosen und fatalen Denkens erfährt Baudrillard die Postmoderne als »Posthistorie«. Die symbolische Kraft der Sprache sei verschwunden wie die Utopien, denn wir brauchen keine Utopien mehr: Sie sind alle eingelöst. Stattdessen blüht eine Apotheose der Bedeutungs- und Sinnlosigkeit, der »Leere«: Graffiti haben »keinen Inhalt, keine Botschaft, … es ist die Leere, die ihre Kraft ausmacht« erklärt er in Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen (1990) und fügt hinzu: »Der Zweck meines Schreibens besteht vielleicht darin, einen leeren Raum zu erzeugen.« Das ist der Tonfall des Finales von Lévi-Strauss’ Tristes Tropiques (1955) mit der Formulierung von Entropologie, einer Auffassung der ganzen Kultur als ein »Mechanismus«, dessen Aufgabe »einzig darin besteht, das zu produzieren, was die Physiker Entropie und wir Trägheit nennen«.234 Kaum weniger fatalistisch denkt der Medientheoretiker Paul Virilio, eigentlich Architekt und Schriftsteller. Er beschreibt die Apokalypse als medialen Hyperraum in dem, wie in einem Schwarzen Loch, Raum, Zeit, Sinn und Mensch verschwinden und formuliert von da aus seine Ästhetik des Verschwindens (Berlin 1985). Auch der Kommunikationsphilosoph Vilém Flusser versteht den Menschen nicht mehr als Subjekt einer gegebenen Welt, sondern als Projekt alternativer Welten in der »telematischen Gesellschaft«. Die kommunikativen Netze der telematischen Kultur ermöglichen eine neue ästhetische Kultur: Asthetisch leben heißt

231 J. Baudrillard, Les stratégies fatales, Paris 1983. 232 G. Deleuze, Différence et Répétition, Paris 1968. Mit dem Buch Rhizom, zusammen mit Félix Guattari verfasst (Paris 1976, dt.: Rhizom, Berlin 1977), entwickelt er seine Theorie weiter zur Metapher des Rhizoms als ein organisches Stengelwerk, bei dem Wurzel und Trieb nicht zu unterscheiden sind und das sich in ständigem Austausch mit seiner Umwelt befindet – sein Paradigma für die Wirklichkeit der Moderne. 233 Mit extremer Orientierung an ›Performance‹ bei Paulo de Assis als fundamentale Opposition zu jeder musikontologischen Position: Rethinking Music Performance through Artistic Research, Leuven 2018. 234 C. Lévi-Strauss, Traurige Tropen, Köln 1974, S. 367.

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für ihn, dem Indifferenten und Sinnlosen aus dem Hintergrund der Freiheit ein ›Bild‹ zu geben, weil wir immer andere Bilder erzeugen müssten, ohne jemals zur Wahrheit oder zur Wirklichkeit vorstoßen zu können. Peter Weibel betreibt die Transformationen in die Techno-Ästhetik und Heinrich Klotz entwirft das mediale Gesamtkunstwerk als Konvergenz von digitaler Ästhetik, Informations- und Medientheorie.235 Die Mediengesellschaft ist auch beim italienischen Philosophen Gianni Vattimo und bei einem prominenten deutschen Denker der Postmoderne, Wolfgang Welsch, Kernstück ihres philosophischen Nachdenkens. Gianni Vattimo entwickelt aus der affirmativen Erfahrung der Moderne eine Gegenkonzeption zu Heideggers unveränderlich gedachtem ›Sein‹. Im Unterschied dazu versteht er es als eine dynamische Potenz, die er als »Ontologie des Verfalls« bezeichnet: »das was wird, entsteht und vergeht.«236 Deshalb empfindet er die Postmoderne als eine Erfahrung des »Endes der Geschichte« als eines einheitlichen und fortschreitenden Ablaufs von Ereignissen wie sie die »Gutenberg-Galaxis« (M. McLuhan) und das »starke Denken« des metaphysischen und »fundamentalistischen Geistes konstruiert und in den ›großen Erzählungen‹ tradiert hat«. Darin folgt er Vordenkern wie Arnold Gehlen und Alexandre Kojève und antizipiert Zeitgenossen wie Francis Fukuyama mit seinem voreiligen The End of History and the Last Man von 1992. Allerdings denkt er zeitgeistig folgerichtig weiter und erklärt in seiner programmatischen Schrift Das Ende der Moderne (1988) dem Abendland »Nihilismus als Schicksal«. Vattimo macht jetzt aber auch Schluss mit dem »starken Denken«. Denn das neue, post-metaphysische, »schwache Denken« weise die starken Kategorien der Vernunft-Herrschaft samt aller normativen Begründungen zurück und erfahre als »Geschichte« »… eine Menge von Informationen und Chroniken, von Fernsehgeräten, die wir zu Hause aufgestellt haben und von vielen Fernsehern in ein und demselben Haus«, erklärt er.237 Aber ähnlich wie Lyotard in seiner affirmativen Ästhetik der Differenzen wird solcher Wandel nicht etwa negativ oder als Gefahr verstanden. Die Massenmedien sind nicht wie in der Kritischen Theorie teuflische Instrumente einer allumfas235 Einen guten Überblick über die verschiedenen Theorieansätze vermittelt: Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, hg. v. F. Rötzer, Frankfurt a. M. 1991. 236 »Ein so gedachtes Sein befreit uns … von allen ›Ganzheiten‹, die die traditionelle Metaphysik sich erträumte und die allen autoritären Herrschaftssystemen stets als Maske und Legitimation gedient haben«, G. Vattimo, Jenseits vom Subjekt: Nietzsche, Heidegger und die Hermeneutik, Graz u. Wien 1986, S. 33–34. Ähnlich auch: Le avventure della differenza. Che cosa significa pensare dopo Nietzsche e Heidegger, Mailand 1980 sowie: Il pensiero debole, hg. v. G. Vattimo u. P. A. Rovatti, Mailand 1983. 237 G. Vattimo, Kurze Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert, Freiburg u. Wien 2004; Die transparente Gesellschaft, hg. v. P. Engelmann, Wien 1992; Das Ende der Moderne, hg. v. R. Capurro, Stuttgart 1990.

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senden Versklavung, sondern im Gegenteil. Sie werden als Voraussetzung gepriesen für die Ankunft einer orientierungslosen Menschheit, die eben dadurch die Fähigkeit erlangt, in einer multikulturellen Welt zu existieren. Das postmoderne Individuum kann sich so »ohne Neurosen« nach dem Untergang der großen Systeme, der Auflösung des alten metaphysischen Denkens in einer Welt ohne Gott und Sicherheit, ohne Mythos und Mitte, einrichten. Was Nietzsche und Heidegger samt dem Existenzialismus auf philosophischer Ebene vorbereitet hatten, vollzieht jetzt die ›Postmoderne‹ technologisch: Die Technisierung der Welt erschafft die Gesellschaft der Massenmedien. Dort kreuzen sich Formate, Sprachen, Ethnien, Normen, Stile und alle möglichen Lebensweisen – ›Babel‹ nicht mehr als Menetekel heilloser Verwirrung, sondern als Fest der Vielfalt und Toleranz: Diversity at its best. Das ›postmoderne‹ Lebensgefühl in einem Multikulti-Existenzialismus als »schwingende Existenz«, die »Mobilität zwischen den Erscheinungen« als eine referenzlose Unbekümmertheit, wie es Lyotards Begeisterung für ein neues Laissezfaire formuliert. Der Philosoph Wolfgang Welsch, einst eine deutsche Zentralgestalt postmoderner Theorie, begreift die Verlagerung vom logozentristischen zum wahrnehmenden Denken des puren ästhetischen aisthetos als positive Veränderung der Denkkompetenz. Das manifestiere sich im Aufblühen einer aktuellen Wellness-Philosophie: »… in der urbanen Umwelt meint Ästhetisierung das Vordringen des Schönen, Hübschen, Gestylten; in der Werbung und im Selbstverhalten meint sie das Vordringen von Inszenierung und Lifestyle. Im Blick auf die mediale Vermitteltheit der sozialen Welt hat ›ästhetisch‹ vor allem die Bedeutung der Virtualisierung so wie die Ästhetisierung des Bewusstseins: wir sehen keine ersten oder letzten Fundamente mehr, sondern Wirklichkeit nimmt für uns eine Verfassung an, wie wir sie bislang nur von der Kunst her kannten – eine Verfassung des Produziertseins, der Veränderbarkeit, der Unverbindlichkeit, des Schwebens …« . Das reicht für ihn bis in die Erkenntnistheorie: »Unsere Erkenntnis- und Wirklichkeitskategorien einschließlich der Kategorie der Wahrheit werden ästhetisiert … Wahrheit, Wissen und Wirklichkeit haben in den letzten zweihundert Jahren zunehmend ästhetische Konturen angenommen.« Sein Fazit: »Wirklichkeit ist eine ästhetische Konstruktion« und »Die Inkommensurabilität als Botschaft der Moderne ist in der Postmoderne zur Wirklichkeit geworden.«238 Damit bewegt er sich im Einklang mit prominenter soziologischer und musikphilosophischer Theorie.239 Was als Laudatio an die ›Ästhetik‹ als neue Bewusstseinsmacht erscheint, kann allerdings auch als Autonomieverlust des Denkens gegenüber einer Technik bewertet werden, die nicht mehr Werkzeug des Menschen ist, sondern schon »das

238 W. Welsch (1993), passim. 239 Vgl. Anm. 216 und R. Bubner, Ästhetisierung der Lebenswelt, in: R. Bubner (Hg.), Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a. M. 1989, S. 143–156; A. Honneth, Soziologie. Eine Kolumne. Ästhetisierung der Lebenswelt, in: Merkur 519 (1992), S. 522

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Wesen des neuen Wissens«, wie es Heidegger prognostizierte.240 Damit wird aus der Medientheorie gleichzeitig eine Philosophie der »Grundlagenkrise« (Wolfgang Welsch). Oder: »Der Verlust des Zentrums wird zum neuen Mythos des zeitgenössischen Bewußtseins« wie es der Philosoph Antonio Villani formuliert.241 Als »Verlust der Mitte« hat es viel früher und vielgeschmäht Willibald Sauerländer für die Kunst der Moderne beklagt. Mit der »Virtualisierung« nimmt Welsch, genau wie Vattimo mit seinen »Fernsehern«, deutlichen Bezug auf die aktuelle Form heutiger Wirklichkeit, die wesentlich über Prozesse medialer Wahrnehmung konstituiert wird. Auch Derrida, der Exorzist aller Metaphysik und schicker Doyen des dekonstruktivistischen Diskurses im Yale der 1970/80 Jahre war ein süchtiger TV-Freak, der Ängste ausstand vor Hotels ohne Fernseher.242 »Die ›Glotze‹ ist zum ens realissimum der Epoche aufgestiegen, und die Ontologie der Medien ist die Physik der Gesellschaft« (Welsch, 1993, S. 58). Inzwischen ist die ›Glotze‹ längst Relikt. Die Datenströme in Computern, Internet, den Suchmaschinen, den sozialen Medien und den globalen Datenimperien erschaffen den Cyberspace als neuen Realitätsraum und zugleich als neue Erkenntnistheorie und als profitables Geschäftsmodell. Sie dokumentieren den endgültigen technoiden Paradigmenwechsel von der analogen zu digitalen ›Welt‹ auch als kollektiven mentalen Wechsel. Seine substanzielle Realität beweist er durch Systeme wie der Blockchain-Technologie, von den Kryptowährungen, den Non-Fungible Tokens (NTF) einer neuen Digitalkunst, dem Data-Mining als Wertschöpfungspool mit Milliardenpotenzial und schließlich neuen Wissenschaftsinstrumenten, mit denen Kausalität durch Korrelationsmuster und Stochastik ersetzt werden. Das ist ein Transfer zu einer neuen Qualität von ›Wirklichkeitserfahrung‹. In der Kunst verliert die Inspiration aus innerem, seelisch-geistigem Erleben, wie es echtes, schöpferisches Künstlertum ausmacht, ihren Anspruch an das Spiel mit den Möglichkeiten der Technik: dem »Ge-stell« Heideggers, den Gadgets der Chip-Artisten, den Mixtur-Reglern an den Tongeneratoren Stockhausens, den Elaboraten der Akusmatiker: den digitalen Ingenieurkünsten des modernen Homo faber. Es versteht sich, dass auch die Musik längst tief verwickelt in dieses digitale Geflecht der Medienkünste ist. Sie spielt sogar eine prominente Rolle dort. Längst schon waren die elektronischen Sound-Künste der Popmusik und die raffinierten Regiestrategien der Studioästhetik bis zum digitalen Klon ein Präludium möglicher 240 Umfassend dargestellt bei: G. Seubold, Heideggers Analyse der neuzeitlichen Technik, Freiburg u. München 1986. 241 A. Villani, Le »chiavi« del postmoderno: un dialogo a distanza, in: Il Mulino Nr. 303. Jg. 35 (1986), Heft 1, S. 13. Ähnliche Einschätzung auch bei Fredric Jameson, vgl. Postmoderne – Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, in: Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, hg. v. A. Huyssen u. K. R. Scherpe, Reinbek 1986, S. 45–102. 242 Vgl. C. Malabou und J. Derrida, Die Seitenallee, Berlin 2017.

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Konvergenzen. Inzwischen weicht die Materialität von Tonträgern immer mehr den immateriellen Datenströmen einer virtuellen Realität. Streaming mit Music-on-Demand repräsentiert mit 65 Prozent Anteil (2021) am globalen Umsatz von Musikaufnahmen den aktuellen Konsummodus von Musik, in den USA sogar mit mehr als 80 Prozent (BVMI, Bundesverband Musikindustrie).Und demonstriert damit ihren ubiquitären Existenzzustand. Streamingdienste wie Spotify, Amazon, Apple Music, YouTube Music, Napster und Deezer sind mittlerweile die wichtigste Einnahmequelle der Musiklabels. Ihre Umsätze steigen beständig und erreichten 2021 weltweit 16,9 Milliarden Dollar (International Federation of the Phonographic Industry). Spotify zählt mit einem Marktanteil von 32 Prozent 356 Millionen aktive Nutzer (2020) und offeriert 5437 verschiedene Musikgenres. Sogar einen Streamingdienst für ›Klassik‹, jenes Nischenprodukt mit der bescheidensten Prozentzahl im weltweiten Musikmarkt, gibt es inzwischen (Plattformen: Idagio, Stingray Classica). Und Spotify weiß, was Nutzer wollen. Mit der Erstellung von personalisierten Playlists über spezielle Analysealgorithmen durch Künstliche Intelligenz-Programme entsteht ein Taste Profile. Dazu werden Charakteristika der Stücke nach Tempo, Dauer, Instrumentation, Melodieverlauf samt Zuschreibung von »Emotionscodes« analysiert und mit »Verhaltensdaten« korreliert. Darunter fällt als Performance, was wenig oder viel und wie lange gehört wird – wonach dann die Platzierungen der Stücke erfolgt. Dadurch entsteht gleichzeitig ein riesiger geldwerter Datenpool. Mit dem betreibt man nicht nur Handel, sondern instruiert auch potentielle Songwriter für »marktgängiges« Komponieren.243 So wandelt sich die humanoide Existenzform von ›Musik‹ in ihren Subjektivitäten und Singularitäten als lebendiges, immer wieder neu erschaffenes Ereignis eines ›Hier und Jetzt‹ zum Algorithmus im digitalen Rauschen der Netze – Zeugnis ihres von jeher flüchtigen, pneumatischen Charakters. Aber auch als beliebig fabrizierbarer, konfektionierbarer und manipulierbarer Konsumartikel im Cyberspace.

II Die Ouvertüren zum Maschinenmenschen Die technoide Musikverwandlung macht aber hier nicht halt. Als avanciertere Spielart tritt ein neues Musikmachen auf, wenn es sich mit der multimedialen Performance trifft. Dort mutiert der alte Musiker zu einem neuen, technisch amalgamierten ›Musikdarsteller‹. Zuerst griffen frühe Performance-Künstler wie Nam June Paik oder Wolf Vostell die damals neuen Gadgets von TV und Video auf. Paik, der bei Stockhausen studiert hatte und Mitstreiter der Fluxus-Bewegung war, zertrümmerte in seiner »Aktionsmusik« Instrumente zu Tonbandeinspielungen von

243 Näher untersucht von M. Eriksson, R. Fleischer, A. Johansson, P. Snickars, P. Vonderau, Spotify Teardown: Inside the Black Box of Streaming Music, Cambrigidge, MA 2019.

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Geräuschen, tritt auch bei der documenta von 1977 und von 1987 auf, macht dann aber Fernseher und Video in Happenings und Installationen zu seinen Hauptakteuren (Robot Opera, 1965, und Installationen im Centre Georges Pompidou 1962, mit 384 Monitoren und in Seoul 1988, mit 1003 Monitoren). Auch Vostell lässt sich durch Stockhausens elektronische Spiele inspirieren und erfindet nach seinen Betonskulpturen die Dé-collage mit Integration von TV und Video in seinen Happenings. Während Medienkünstler wie RyŌji Ikeda in datamatics und data gram ihre Lärmhappenings noch über Zahlencodes choreographieren, treten Performance- und Medienkünstler wie Laurie Anderson oder der australische Bodyart-Performer Stelarc jetzt im Kabelgestrüpp und mit Implantaten auf. Eine dritte Robothand, ein angeflanschtes drittes Ohr am Unterarm oder ein Chip, der Farben in Frequenzen verwandelt, erweitert die ›Körperlichkeit‹ von der alten Prothese zu einer neuen Hybrid-Mensch-Maschine.244 Deklariert als Body Art oder Body Modification präsentiert sich die neue Schnittstelle zur Technik harmlos: nach Herzschrittmacher und Organtransplantaten – warum nicht auch Neurochips und »Biorobotik«? Schließlich sind in der Medizin biomechanische Simulation menschlicher Fähigkeiten mit KI-Unterstützung und Computer-Gehirn-Schnittstellen längst ein rasant wachsendes Arbeitsfeld. Das bahnt einem technoid amalgamierten Organismus, der mit Enhanced Reality ins Paranormale ausgreifen will, den Weg: der Cyborg, ein cybernetic organism als Mischwesen von Mensch und Maschine, definiert als Produkt einer Verschmelzung von Organismus und Kybernetik, gefeiert als Versprechen supranaturaler Fähigkeiten. Und bestens legitimiert im Konzert der Hybridisierungen aller Art, nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern auch zwischen Tier und Mensch. Als avancierten Theoriediskurs entwirft es die amerikanische Wissenschaftsphilosophin Donna Haraway in ihrem Cyborg Manifesto, 1985. Damit vollzieht sich hinter dem irrealen alten Homunkulus-Traum aber eine reale Mutation des menschlichen Subjektbegriffs: das existierende anthropologische Modell wird umcodiert. Bereits etablierte biometrische Erfassungssysteme und datenanalytische Profile, alltägliche Realität der Moderne, generieren das technoide Bild einer ›Person‹, das früher als menschliche Persönlichkeit durch ganz andere Qualitäten definiert war. Und hier ist die Schnittstelle zu einem Verständnis von ›Mensch‹ das sich zu einem ambitionierten Projekt des Technozäns entwickelt.

244 Präsentiert vom australischen Medienkünstler Stelios Arcadiou, der unter »stelarc« bei der »Transmediale« in Berlin auftritt, mit implantierter dritter Hand und drittem, am Oberarm implantierten Ohr, vgl. Katalog zum »Festival für abenteuerliche Musik und verwandte visuelle Künste« im »Club Transmediale« Berlin, Februar 2007, mit dem Thema »Building Space«. Erhellend für sein Konzept sind seine Bekenntnisse, dass »die Ganzheit des menschlichen Körpers als Entität« obsolet sei und »Seele und Geist nur kulturelle Konstrukte« seien.

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III Die Abschaffung des schöpferischen Menschen oder: von der Maschinenmusik zum Transhumanismus Mit der rasanten Evolution der elektronischen Möglichkeiten zu KI und Robotik verändert sich nicht nur das Menschenbild über den Cyborg bis zur Simulation als Computerfaksimile. Auch das musikalische Human-Engineering-Hybrid bewegt sich zum Komponieren ohne Komponisten. Eine entscheidende Prämisse dabei ist eine Vorstellung von ›Mensch‹, die sich als edles Prädikat tarnt – aber tasächlich eine Reduktion ist, nämlich die des menschlichen Subjekts auf seine zerebrale Denkfähigkeit: der homo sapiens nichts anderes als Gehirnbesitzer. Dieses Organ aber versteht die Techno-Avantgarde von Naturwissenschaft und Ingenieuren immer bestimmter als zwar recht diffiziles, aber letztlich nur komplexeres Modell eines biochemischen Computers (siehe auch S. 748). Er definiere zuletzt den Menschen schlechthin und seine Stellung in der Natur, er mache das Eigentliche und Spezifische menschlicher Existenzform aus. Ihm und seiner Ratio der ›Rechenfähigkeit‹ verdanken wir infolgedessen alles – auch musikalisches ›Komponieren‹ als eine Anwendungsart von algorithmischem Verfahren. Vorgemacht hat es die digitale Software der Pop- und U-Musik. Weil sie einfacher strukturiert ist als die E-Musik, waren es zuerst die Sampling- und Soundprogramme. Dann folgten synthetische Produktionen wie das I AM AI-Album der Sängerin Taryn Southern (mittels des Amper Music Programms) oder Proto von Holly Herndorn (mit Max/MSP und Spawn Programmen). In der E-Musik führte der Weg mit den eher unbeholfenen Programmen wie bei der Illiac-Suite für Streichquartett von 1956 (benannt nach dem Illiac-Computer der University of Illinois at Urbana-Champaign) zu autonomen KI-Algorithmen, die inzwischen fast alles zwischen Palestrina und Strawinsky produzieren. David Cope, Professor an der University of California in Santa Cruz, hat es spektakulär demonstriert. Sein Emmy-Programm (von EMI: Experiments in Music Intelligence) hat zuerst 5 000 neue Bach-Choräle produziert (Album Bach by Design, 1993). Mit dem Upgrade zum Emily Howell-Programm wurden dann an die 36 andere Kompositionsidiome erzeugt, von Palestrina bis Beethoven, Mozart, Chopin, Rachmaninow und Strawinsky samt 80 Opern (Album Classical Music composed by Computer, 1997). Während dort noch nach vorher programmierten Regelsystemen operiert wurde, ›komponiert‹ sein Annie-Programm inzwischen mittels KI und dem Deep Learning, den eigenen Inventionen selbstlernender Rechnersoftware. Als hoffungsvoller, preisgekrönter Jungkomponist war Cope zwar 1980 an der Auftrags-Komposition einer Oper gescheitert, weil ihm – wie er verzweifelt bekannte – nichts einfiel. Dafür entdeckte er aber als Ersatz die kombinatorischen Künste des Computers. »All music was essentially inspired plagiarism« meint er und führt alles Komponieren auf eine innere »Database of musical reference« zurück. Mit ihr seien alle großen Komponisten fähig gewesen, sie zu neuen Patterns

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zu kombinieren. Das aber kann der Rechner auch: »When you have the database figured out it was really a one-stroke deal: you pushed the button and out came hundreds and thousands of sonatas or whatever.«245 Auch was früher Phantasie und Ingenium schöpferischer Musiker ehrgeizig entzündet hat, nämlich die Vollendung ›unvollendeter‹ Werke großer Komponisten, fällt jetzt dem elektronischen Artifex zu. Schon 2019 produzierte der chinesische Mobilfunk-Konzern Huawei eine vollendete ›Unvollendete‹ von Schubert mittels KI. Da sollte Beethoven nicht nachstehen, entschied die Deutsche Telekom. Sie präsentierte zum Beethoven-Jahr 2020 dann 2021 die Komplettierung seiner nur skizzierten zehnten Sinfonie, elaboriert mittels eines Natural Learning Processing, assistiert immerhin von hochkarätiger Expertenberatung. Wie gut auch hier ein mentaler Verständniswandel funktioniert, demonstriert ein anerkannter Komplettierer unvollendeter Musikwerke, der renommierte Pianist und Dirigent Robert D. Levin. Er bemerkt zum Telekom-Beethovenprojekt: »Kunst, künstlich, wird dem Natürlichen entgegengesetzt … In diesem Sinne ist die Kunst dort, wo auch die KI ist. Man kann sagen, der Computer macht es mit Algorithmen. Ja. Aber der Mensch macht es auch aufgrund von Erfahrung und Ausbildung. Sie sind nicht unbedingt so weit voneinander entfernt.«246 Solche Nähe kultivieren inzwischen auch viele Musikhochschulen in ihren Kompositionsklassen. »Anders als in der bildenden Kunst oder dem Theater reproduziert die heutige Musik Musealität. Wir leben überhaupt nicht in unserer Zeit … Eigentlich müssten wir dauernd mit dem Computer komponieren« (Fabien Lévy, HMT Leipzig, 2018). »Die Digitalisierung ist im Kompositions-Studium unabdingbar« (Orm Finnendahl, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Frankfurt, 2018). Was für die Musik taugt, funktioniert längst auch für andere Künste und menschliche Fertigkeiten. Schachcomputerprogramme schlugen schon 1996 den damaligen Weltmeister Kasparow (Deep Blue von IBM), inzwischen (mit AlphaGo) auch alle Spieler im viel komplizierteren chinesischen Brettspiel Go. Spracherkennungsprogramme zieren alle besseren Smartphones und Textgeneratoren (wie der GPT-3), schreiben mit ihren nach dem Vorbild neuronaler Netzwerke codierten Algorithmen ›Literatur‹ aller Genres. Persönliche Handschriften werden perfekt simuliert und neue Kandinskys und van Goghs erstehen aus dem Fundus von Biological Cybernetics und Computational Neuroscience. Dass es für die Erstellung der Programme (noch) des ›Menschen‹ und der ›Parameter‹ bereits existierender Kunstwerke bedarf, täuscht über die neue Realität hinweg. Genauso, wie wenn die Vernetzung Mensch-Maschine euphemistisch als

245 D. Cope, Interview mit Tim Adams, in: The Guardian v. 11.7.2010. 246 R. D. Levine, in: Telekom 2021, Künstliche Intelligenz soll Beethovens zehnte Sinfonie vollenden.

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spielerische ›Kooperation‹ zwischen menschlicher und maschineller ›Kreativität‹ dargestellt wird. Aber wenn einer der ›Spieler‹ aus dem sich selbst legitimierenden Tun autonomen maschinellen Lernens ›spielt‹, dann verkennt der Mensch in seinem intellektuellen Kalkül, dass er dabei Objekt eines anderen Kalküls geworden ist. Vordergründig suggeriert die Möglichkeit der Kontrolle des Erzeugnisses noch etwas von geistiger Souveränität des Menschen nach alter Anthropologie. Tatsächlich aber vollzieht sich hintergründig im qualitativ ungleichen Spiel ein ontologischer Wechsel. Mit ihm wird die humanoide schöpferische Kreativität der maschinellen als ebenbürtig legitimiert: nichts als zwei Algorithmen gleicher Qualität und Dignität – das Credo avancierter Technokratie. Damit verliert sich das Bewusstsein für die ganz andere Beschaffenheit des ›Schöpferischen‹ und seiner seelisch-geistigen Herkunft im Menschen (siehe S. 762 ff.). Damit aber bahnt sich schließlich auch das evolutionierte Ersatzmodell für den bisherigen ›Menschen‹ an: der Homo deus, der »uns Zugang zu unvorstellbaren neuen Sphären verschaffen und uns zu Herren der Galaxie erheben könnte« (Y. Harari, 2019, S. 541). Oder als ein Vertreter der Spezies von »Hyperintelligenzen« mit »Cyborgs die 10 000mal schneller sein werden« im kommenden Novozän (der Mediziner, Biophysiker und Ökodenker James Lovelock).247 Im Weg vom Cyborg über den Androiden landet der findige homo faber als algorithmisch evolutionierter homo sapiens schließlich als Avatar des Novozäns in einem proklamierten Transhumanismus. Dort, im Transhumanismus, versammelt sich inzwischen die Elite der TechnoAvantgarde. Definiert als nächste Evolutionsstufe der Menschheit, vereinen ihre Entwürfe sämtliche Elaborate aus biologisch-neurophysiologischen und physikalisch-technologischen Kollaborationen zum Projekt eines ›Übermenschen‹. Allerdings nicht mehr nietzscheanisch aus idealistischer Überhöhung verstanden, sondern futuristisch aus supranaturaler Hi Tech-Utopie. Die Konzepte reichen vom Demiurgen mundaner und galaktischer Prozesse über die physische Unsterblichkeit bis zu einer spirituellen durch neue technologische Transzendenz-Theologie. Als Begriff wurde »Transhumanismus« durch den Biologen und Eugeniker Julian Huxley (1957) und den Philosophen Max More (1990) bekannt. Ähnlich wie die »Postmoderne« als Deklaration einer neuen Zeitqualität, entwirft er eine neue Ära mit dem Modell »eines Menschen, der sich selbst durch den Fortschritt überwindet« und einen Futurismus, der als Extropy eine technoide Transformation des ›Humanen‹ proklamiert. More gründete dazu 1992 das Extropy Institute in Californien an der UCLA als erstes Zentrum der neuen Bewegung. Grundlage ist die Künstliche Intelligenz, die ihr maßgeblicher Vertreter, der Kybernetiker Marvin Minsky – übrigens passionierter Pianist – als Wesensverwandtschaft von Compu-

247 J. Loveleock u. B. Appleyard, Novozän. Das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz (2018), München 2019.

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ter- und Menschenintelligenz definiert. In seiner Auffassung der menschlichen Intelligenz als nur durch ihre Komplexität vom Rechner unterschiedene Gehirntätigkeit ist er ein moderner Nachfolger von Julien Offray de La Mettrie mit seinem L’homme machine-Modell von 1748. In ihrer Anwendung als Robotechnik meint Hans Moravec aber sogar: »Ich sehe diese Maschinen als unsere Nachkommen.« Für deren humanoide Eltern proklamiert Robert Ettinger, Gründer der Immortalist Society, die köperliche Unsterblichkeit mit der Konservierung und späteren Reanimation als Cryonic. Weil schon der geniale Informatiker Raymond Kurzweil die Künstliche Intelligenz als »Spirituelle Maschine« verstand (für die inzwischen Empathie- und soziale Interaktions-Programme entwickelt werden), fällt der Übergang von der Neurotechnologie zur Neurotheologie nicht schwer: eine »Neomythische Vernunft« (Linus Hauser). Der Physiker Frank J. Tipler liefert dazu auch eine physikalische Eschatologie mit einer posthuman goodhood. Die in der Transhumanist Association WTA vereinten Denker Nick Bostrom und Michael S. Burdett spekulieren über eine Supraintelligenz, die außer neuen »simulierten Wirklichkeiten« sogar eine transhumane »Christliche Theologie« verspricht.248 Das entwirft ein neues Menschenbild. Die bunte Science-Fiction-Phantasie eines Neo-Futurismus wird von einer Realität eingeholt, mit der die Prometheus-Sage ihre technoide Apotheose erfährt. Der Wandel des überkommenen Subjekt-Begriffs als ›Überwindung‹ bis zum ›Verschwinden‹ oder gar seiner ›Abschaffung‹ fungiert längst als stabiles Element vieler Modernetheorien. Die Subjektkritik von Heidegger bis Adorno und Lacan oder dem französischen Geschichtsphilosophen Alain Badiou wird im de-konstruktivistischen, postmetaphysischen Denken unversehens zum posthumanen Denken. Von Foucaults volatilem Subjektbegriff mit dem »Verschwinden des Menschen, wie ein Gesicht im Sand am Meeresufer« bis zur »Überwindung der humanistischen Konzeption des Menschen«, ja der »DesIdentifizierung« des Menschen als Sonderwesen bei Lyotard, erweist sich solche negative Anthropologie nicht nur als geläufige Vorstellung des Modernedenkens, sondern auch der Kunsttheorien. 248 Vgl. J. Huxley, Transhumanism. New Bottles for new Wine, London 1957; M. More, Principles of Extropy, Extropy Institute, 2013 online; Transhumanism: Towards a Futurist Philosophy, Extropy Institute, 1990, 1996 online; K. Warwick, On Linking Human and Machine Brains, in: Neurocomputing 71 (2008), S. 2619–2624; Human-Machine Convergence, Team Digit 86–90, 2005; M. Minsky, Society of Mind, New York 1986; H. Moravec, Computer übernehmen die Macht. Vom Siegeszug der Künstlichen Intelligenz (1960), Hamburg 1999; ders. Artificial Intelligence, Oregon 1972; R. Ettlinger, The Prospect of Immortality, Crytronics.org. 1964; Man into Superman, Crytronics. org. 1972; F. J. Tipler, The Physics of Immortality, New York 1994; M. S. Burdett, Eschatology and the technological Future, London 2015; R. Kurzweil, The Age of Spiritual Machines, New York 1999; N. Bostrom, Superintelligenz: Szenarien einer kommenden Revolution (2013), Berlin 2016; R. Cole-Turner, Transhumanism and Transcendence; Christian Hope in an Age of Technological Enhancement, Washington 2011. Für die emotionale und soziale Interaktion entwickelte Leibniz-Preisträgerin Elisabeth André das Open-Source-Framework SSI (Social Signal Interpretation) und den Roboter Zeno.

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Hintergründig präsent scheint es bereits mit der ›poetischen‹ Dekonstruktion von Identität und Realität, wenn Dichter, grüblerisch bewegt, die Verbindung zwischen dem logos der Sprache und dem durch ihn repräsentierten realen Gegenstand aufkündigen: Stéphane Mallarmé, wenn er das Wort »Rose« geradezu als l’absence de toute rose versteht, oder wenn Arthur Rimbaud sein Selbst dekonstruiert Je – est un autre, »Ich – ist ein anderer« (1871, 2. Seherbrief an Paul Demey): das »Ich als eine Fiktion«(George Steiner). Die Vorspiele zum Abschied vom alten Anthropozentrismus sind unverkennbar: die Verflüchtigung ins Intentionslose wie im Surrealismus, ins bloße Materiale, wie in Arte Povera und der avantgardistischen Geräuschsemantik, oder die unverblümte ›Enthumanisierung‹ von Jean Dubuffet bis zur makabren Metapher von Apollinaire, wonach der Künstler derjenige Mensch sei, der »inhuman werden will«, genau wie bei Lyotards makabren dia­lektischen Spielen mit dem ›Inhumanen‹.249 Hier scheint eine Rhetorik der De­struktion auf, wie sie von Adornos Untergang des Subjekts und dessem mimetischen Vollzug in einem notwendigen »Inhumanwerden der Kunst« bis zur Inversion der Anti-Kunst führt, über die Reflexionen Jenseits vom Subjekt von Gianni Vattimo (dt. 1986) bis schließlich zu den Szenarien von der ›Abschaffung des Menschen‹, wie sie seit Orwell, Musil und Günther Anders beschworen werden. Beim irischen Literaturprofessor Clive Staples Lewis explizit schon 1943: The Abolition of man. Damit erhält das ›Post‹ das Odium von Post-Human. Und seine Ästhetik den Verdacht mentaler Komplizenschaft damit.

Bizarre Bilanz: Kunst = Nichtkunst Lohnt in dieser zeitgeistigen Bewusstseinslage der lange Blick zurück auf die vielen krausen Mäander und Denkfiguren abendländischen Nachdenkens über Kunst noch? »Wer heute Ästhetik betreibt, seziert einen Leichnam« (Philosoph Ulrich Schödlbauer, 1989). Immerhin scheint sich die Leichenschau hinzuziehen. Eine ansehnliche Riege von Kunstphilosophen bemüht sich noch um die fragilen Bestände ästhetischer Theorie.250 Zeitgemäß ist sie inzwischen allerdings höchst dekonstruk249 Vgl. J. Dubuffet, Prospectus et tous écrits suivants, 2 Bde., Paris 1967, Bd. 2, S. 131 sowie sein Abschied vom abendländischen Anthropozentrismus, Positions anticulturelles, in: Dubuffet, L’homme du commun à l’ouvrage, Paris 1973, S. 67 ff. Dem ›In-Humanen‹ widmet Lyotard eine seiner letzten Veröffentlichungen, wo er unter diesem Begriff über den Widerstreit reflektiert zwischen einem Inhumanen, verkörpert im ›System‹ von Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur, Technik etc. und einem kreatürlichen, angesiedelt in der vorbewussten Infantia des menschlichen Subjekts. Diese hält er zwar für etwas ›Seelisches‹, beschreibt sie aber als ›tierisch‹, vgl. Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 1989 (= Edition Passagen, hg. v. P. Engelmann, Bd. 28). 250 Einen partiellen Überblick gibt: Perspektiven der Kunstphilosophie, Texte und Diskussionen, hg. v. F. Koppe, Frankfurt a. M. 1991.

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tiv diversifiziert. In einer neueren Bestandsaufnahme, der Encyclopedia of Aesthetics (2. Auflage, Oxford 2014), eröffnet der Herausgeber, Michael Kelly, ein imponierendes Spektrum aktueller ästhetischer Kategorien: »Programmierungsästhetik, Ästhetik der Kunstwissenschaft, Schwarze Ästhetik, Dekolonisierungsästhetik, Behinderungsästhetik, forensische Ästhetik, Latinx-Ästhetik (ein genderneutraler Begriff für Menschen mit lateinamerikanischem Hintergrund), Migrationsästhetik, Neuroästhetik, Partizipationsästhetik, Gefängnisästhetik, queere Ästhetik, Street-Art-Ästhetik«. Desiderate wären noch Supplemente aus der aufblühenden Neosexualität und die digitale Kryptokunst der NFT’s. So steht der Zeitgenosse der notorisch »reflexiven Bewusstseinslage« (Jürgen Habermas) womöglich irritiert bis resigniert vor den gigantischen Reflexionsgebirgen der Vergangenheit wie den virtuosen Theorieetüden der Gegenwart. Und sucht, sofern er noch sucht, konsterniert nach Verwertbarem. Hat uns nach den fast vergessenen Einsichten von Antike und Mittelalter nicht Kant ein für allemal redlich bewiesen, wie weit die Reichweite einer rationalen ›Wissenschaft‹ geht und dass die mit irrationaler ›Kunst‹ nichts zu tun habe? Hat uns die idealistische Kunstphilosophie nicht die herrlichsten Arabesken eines vom Schönen und Heiligen tief ergriffenen Denkens aus der Erfahrung des Logos hinterlassen? Hat uns sogar Hegel nicht etwas bewahrt aus der scholastischen Ratio von der Schönheit als »Glanz der Wahrheit« mit seiner Einsicht von »Schönheit als der Erscheinung des Logischen im Sinnlichen«? Hat uns der Geniekult der Romantik nicht die Göttermacht der Musik begründet samt dem Status ihrer Verfertiger als Götterboten und damit nicht nur Beethoven und Wagner und Liszt und Tschaikowsky legitimiert, sondern auch den Nimbus aller Nachfahren von den ›Gottbegnadeten‹ bis zu den ›Machern‹? Hat uns die Psychologische Ästhetik vom physiologischen ›Reiz-Reaktions‹-Befund bis zur seelischen ›Einfühlung‹ nicht die unabdingbare Erlebnisseite des Kunstwerks eröffnet und in Gestalt- und Ganzheitstheorien zu bleibenden Einsichten verholfen? Hat uns die Phänomenologie nicht den Blick eröffnet für die eigenständigen ›objektiven‹ Werte des ästhetischen Objektes und seine realen Strukturbefunde, ohne die subjektiven Projektionen eines irreal-ergriffenen Rezipienten? Haben uns Heideggers fundamentalontologische Tiefenlotungen und Gadamers feine Existenzialhermeneutik, trotz ihres Endlichkeitshorizonts in moribunder Existenz, nicht auch die Epiphanie von ›Wahrheit‹ in eindrucksvoller auratischer Dignität vor Augen geführt? Haben uns schließlich nicht auch die analytischen, konstruktivistischen und ›posthermeneutischen‹ Systementwürfe der Moderne noch den diffusesten ästhetischen Schein als Apotheose von Freiheit, Kreativität, Orginalität und Diversität als unverfügbare Glorie des Individuums kenntlich gemacht? Damit stehen wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor einer Versammlung wertvoller Einsichten, großer Verstehensleistungen und mancher tiefsinnigen Annäherung an den auratischen Wesenskern der Kunst. Aber nicht weniger vor den Gespinsten

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virtuoser spekulativer Begriffsratio mit den Rechtfertigungen sämtlicher Valenzen und Ambivalenzen. Denn es bleibt die Einsicht vom unlösbaren Dilemma des reinen Denkens zwischen dem unauflöslichen Rest, der jedes Kunstwerk vom ›Begriff‹ trennt und den unaufhörlichen Versuchen, es genau auf jenen Begriff zu bringen. Was sich ihm nicht fügt, tönt zwar als metaphysischer Untergrund der Kunst durch alle Theorien bis zur Moderne – auch wenn es dort nur noch Erinnerungsderivate sind, die sich vor allem als Anspruch behaupten. Das Dilemma scheint aber weder die Denker noch die Künstler belehrt zu haben. Im Gegenteil. Denn der historische Gang ästhetischen Denkens führte stetig weiter in eine immer aufwendigere Akrobatik von Verstandes- und Wissenschaftskalkülen, obwohl einer ihrer Meisterdenker aus Königsberg schon bei dessen Geburtswehen die verschiedenen Heimatrechte messerscharf abgegrenzt hatte. Damit wurden aber Kunstwerk, Künstler und Kunstempfinden dem Wesenskern von Kunst immer weiter entfremdet und genau jenen Kategorien ausgeliefert, die einst angetreten waren, ihn rechtschaffen ›erklärend‹ zu legitimieren – nicht ihn gut logozentristisch Lege artis rationalis zu de-konstruieren. Bilanziert man unter diesem Aspekt das versammelte abendländische Kunstdenken, so wird sein aktuelles Finale im 21. Jahrhundert höchstens unter dem Aspekt unaufhörlichen ›Fortschritts‹ zu einer Gewinnrechnung. Rechnet man es aber gegen an seinen Preisgaben, kann es auch leicht zur Bilanz einer makabren Verlustrechnung werden. Denn wie es scheint, leisten die Kunsttheorien der Moderne wenig mehr als die Einsicht, dass Kunst und Nichtkunst im Prinzip identisch sind, das Hässliche nicht anders als das Schöne, das Defekte so gut wie das Vollkommene, Dreck wie Manna, Müll wie Ambrosia. Nach 250 Jahren ästhetischen Räsonierens und Spekulierens seit Baumgarten zelebriert das Abendland das Fest einer lustvollen intellektuellen Entropie. Im Zenith der strahlenden eurozentristischen Wissenschaftskultur steht die denkerische Legitimierung des Anything goes als hochreflektierte Apotheose der Beliebigkeit, and that goes too als erkenntniskritische, falls man anderer Meinung wäre. Mit einem solchen Resultat verfällt die abendländische Geschichte der Ästhetik tatsächlich zum stetigen Prozess einer analytischen Reduktion und methodischen Dekonstruktion ihres einst über auratische Erhabenheit definierten Gegenstandes: wie eine prächtige Prozession vom Olymp des Göttlich-Schönen, wo ihre Jünger trunken die Spezereien höherer kosmologischer Ahnung atmeten, bis zum banalen Jahrmarkt, wo das Banner hehrer Erkenntnissuche zwischen Tinnef und Talmi in den Staub von Gasse und Basar versinkt und seine verstörten Jünger ins Niemandsland beliebiger ›Bedeutung‹. Denn ›Bedeutung‹ ist schließlich überall. Nach der Ausweisung von Kunst und Metaphysik aus der Reichweite einer aufklärerisch gebundenen Ratio bei Kant, samt der Privatisierung ihres Erkenntniswerts und ihrer Amputation um das ›Wahre‹ und ›Gute‹ zugunsten des Hässlichen und Defekten im Namen eines ›realistischen‹ Wahrheitsbegriffs, der Verkündigung

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ihres Endes als Erkenntnismittel im Plan des ›Weltgeistes‹ bei Hegel, der Banalisierung als trüber Triebüberschuss und unaufgeräumter Besenkammer eines Infantilen bei Freud, der Inhaftierung im elenden ›Sein‹ eines todesverfallenen Diesseits bei Heidegger und den verzweifelten Existenzialisten, der Dienstbarkeit als mimetische Magd von Gesellschaft, Politik und Geschichte seit Marx-Engels mit der Feier einer negativen Theologie der Sinninversion bis zur Antikunst bei Adorno und seinen ideologischen Followern, den kategorischen Absagen durch die radikalen logizistischen ›Wiener‹ Posivisten und im abstrakten Formalismus von analytischer Philosophie, Kybernetik und Informationstheorie und der Auflösung in subjektive Konstruktionsmodi bei den Bewusstseinssoziologen oder im virtuellen Schein und Simulakrum als ›Agonie des Realen‹ im medialen Dekonstruktivismus, den Hochzeitsfeiern zwischen ›High‹ und ›Low‹ in der Epiphanie der Subkulturen und schließlich dem heraufziehenden Abschied vom beseelten menschlichen Subjekt zugunsten eines technoiden als Cyborg und algorithmischen Zombie, bleibt das Anything goes als letzte robuste Erkenntnisgröße. Kunst sei »prinzipiell konvertibel« mit Nichtkunst geworden, befand der Philosoph Odo Marquard und brachte die »Anaesthetica« gegen die »Aesthetica« in Stellung, während der Philosoph Arthur C. Danto seinen subkutanen Hegelianismus mit amerikanischer Pragmatik larviert: ›Kunst‹ ist einfach ein Verabredungsmodus, über den sich Markt, Macher und Kritiker verständigen, kundig formuliert in seiner Theorie einer »Institutionellen Kunst als Geschäftspraxis des Kunstmarkts.251 Da fällt auch ein Schlüsselwort momentaner Kunstästhetik: der Markt. Er ist der Aktionsraum des kollektiven (und geldwerten) ›Aufmerksamkeitswerts‹ als ästhetische ›Bedeutung‹. In der Musikindustrie sind es die Verkaufszahlen, Downloads, Klicks und Follower. Im aktuellen ›Kunstsystem‹ die spektakulären Einpreisungen angesagter Handelsplätze. Dort zeigt sich mit beispielhafter Drastik, was Wert, Diskurs und Deutung bestimmt. Weil es sich als ›Geschäftsmodell‹ weitgehend aller Kriterien von kanonischer Referenz und qualitativer Bedeutungsdifferenz entledigt hat, wird es zur Demonstration aller Modalitäten des Anything goes. Damit legitimiert sich nicht nur jeder potentiell als ›Künstler‹ (nach Joseph Beuys) und jede neue Variation auf seine Fettecke, auf Duchamps Pissbirne (nach Markus Lüpertz) oder Warhols Brillo Box, sondern so gut wie jede Horror-, Sexund Fäkalienschau der Theaterbühne – das ganze Repertoire eben eines befreiten Exhibitionistismus zwischen Banalität, Verzweiflung, Schrecken und Obszönität als Aktualitätsrealismus. Vor ihren Ensembles der Inversionen mit Gewalt, Blut, Sperma und Eingeweiden bis zum Sterkoralen und Skatologischen wie bei den Wiener Aktionisten à la Otto Muehl und Hermann Nitsch, den auf Holz genagelten Penis (Bob Flanagan) oder – wahlweise – dem Müll aus den Straßen Athens 251 Vgl. A. C. Danto (1992), Kunst nach dem Ende der Kunst, München 1996, S. 50 ff.; B. Wyss: Hier spricht der Markt. Eine Kritik der documenta 12 von 2007, in: Süddeutsche Zeitung v. 3.7.2007, S. 13; B. Gewen, Kunst und Kritik. Ein Lagebericht, in: Merkur 60 (2006), Heft 5, S. 377–387.

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(Kasseler documenta 14) oder dem getrockneten Kot von Zürich (Manifesta 12) bis zu den zerschmetterten Steinways verfallen die Avantgarde-Revolutionen von einst mit faschistischem Futurismus und bizarrem Surrealismus zum hausbackenen Biedermeier. Das Anything goes rechtfertigt aber auch jede Ambivalenz als Oberflächenreiz der hedonistischen Wohlstandsgesellschaften: ob alte Dada-Ironie, neue Kagel-Parodie, deftige Kloaken-Koketterie, obszöne Bordell-Infamie, krasse Rapper-Dämonie oder banale Pop-Manie, ob aggressive ›Aktionskunst‹ oder feine Early-Music-Séance, elitärer Festspiel-Glamour oder esoterische Klangalchemie, ob schicke de Luxe-Verbrämung mit Fine Art im Milliardärs-Ennui oder prestigegierige Imagepflege in Charity und Sponsering, ob Peggy-Guggenheim-Spleen oder drapierte Society-Event-Verhübschung, ob das Glücksversprechen designter Konsumartikel oder die Artistenpose des Deko-Styling-Personals – alles firmiert komfortabel unter dem Dach von ›Ästhetik‹. Dafür hätten vorige Jahrhunderte kaum das Prädikat der vanitas übrig gehabt, geschweige denn eine ›Theorie‹. Dafür haben auch heute die Wertesysteme einiger anderer Kulturen nur das fassungslose Unverständnis eines anderen Weltund Menschenbildes, was ihnen prompt den beißenden Hohn der Abendländer als defizitäre Modernisierungsverlierer einbringt. Oder die Anklage als hoffungslose ›Essentialisten‹ und perfide ›Identitäre‹. So konkurriert den Höchstleistungen elaborierter Gehirntätigkeit in den avantgardistischen Kunsttheorien zugleich der banale Regress zu einem nackten aisthetos, das als schlichte, rein physiologische Wahrnehmungstätigkeit, optisch wie auditiv, auftritt. Aber nicht im alten griechischen Primärsinn aus dem sinnlichen Ahnungsvermögen eines Höheren und Numinosen, sondern als Oberflächenreiz bloßen Ästhetizismus der Spaßgesellschaft. Nach dieser Lesart bricht man Kunst auf die Bedeutungsebene eines ephemeren Illusionismus herunter, mit dem das l’art pour l’art, rationalistisch-›logisch‹ ergänzt um das Hässliche, dann das Pathologische, schließlich das Beliebige, zum Zeichensystem eines existenziellen Nihilismus wird. Ein weiter Weg von der betroffenen Erfahrung des ›Schönen‹ als einstige Herausforderung der Verstandesratio, über sie hinauszudenken, bis zum gelangweilten Blick belanglosen Scheins, den Erhabenes wie Numinoses so kalt lässt wie Dadaistisches, Monströses, Kakophones oder Dämonisches – weil es eben alles nur ein ›Zeichen‹ ist, ein ›Simulakrum‹, eine hübsche Denkpirouette, eine smarte Invention, bestenfalls ein sinnlicher Kick: »Kunst ist kein Seinsverweis mehr« (Beat Wyss). Eine gigantische Revue von Theorie und Spekulation, von Deduktion, Induktion und Abstraktion, deren reife Frucht endlich der nicht-betroffene Blick ist, genauso amüsiert von Glanz wie von Chaos, von Entzücken wie von Ekel: einerlei im Exitus aller Differenz. Als Entropie, dem niedrigsten energetischen Niveau eines Systems, wird sie zum Kennzeichen eines Erschöpfungszustands, in dem alle Stufung getilgt ist. Eine bemerkenswerte Metamorphose vom Erschaudern der Seele an der Schönheit, wie es noch Platon so tief betroffen ausspricht, über die immerhin noch bemühte Analytik des Schönen bei Kant samt dem existenziellen Furor des verzweifelten Agnostikers Nietzsche und schließlich dem ahnungsvollen Erschrecken, wie es

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noch einen Dichter unserer Zeit ergreift: »… denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern« (Rainer Maria Rilke, Archaïscher Torso Apollos) bis zur Unverbindlichkeit eines intellektualistischen Ästhetizismus, der sich als souveränes Reifeprodukt abendländischer Ratio feiert.

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XI

Die eigene Ontologie der Musik oder: Untilgbare musikalische Apriori

Aus dem großen Defilee des ästhetischen Räsonierens bis zu seinem Konkurs im Anything goes der Moderne scheinen nur wenige wertbeständige Einsichten zu bleiben. Zur trivialsten zählt die von einem notorischen Defizit in Sachen Musik. Nur selten kommt sie bei pauschaler ›Kunstphilosophie‹ zwischen Malerei, Plastik, Dichtung, Schauspiel und Architektur auf ihre Kosten. Ein schönes, aber sperriges Phänomen, das Denker so leicht wie Musiker in Verlegenheit bringt: die Philosophen durch musikhandwerkliche Inkompetenz, die Musiker durch intellektuelle. Denn die flüchtige Zeitkunst fügt sich weder der klassischen Theorie von der »Nachahmung der Natur« noch dem logischen Argumentieren: Sie ›erzählt‹ zwar unentwegt – aber ohne Begriffe, sie hat den direktesten Zugriff auf menschliche Emotionen – und ist dabei doch höchst abstrakt. Hegel formuliert das Dilemma in seinen Vorlesungen über Ästhetik so: »Weil nämlich das musikalische Element des Tons und der Innerlichkeit, zu welcher der Inhalt sich forttreibt, so abstrakt und formell ist, so kann zum Besonderen nicht anders übergegangen werden, als daß wir sogleich in technische Bestimmungen verfallen, in die Maßverhältnisse der Töne, in die Unterschiede der Instrumente, der Tonarten, Akkorde usf.« Was bis zur Romantik und den »Wiener Klassikern« niemanden irritierte, wird ausgerechnet im Jahrhundert der intellektuellen Konstruktion der Ästhetik zum Problem. Im versunkenen scholastischen System der septem artes liberales lieferte die Einordnung der Musik als zahlenbestimmte scientia zwischen Arithmetik, Geometrie und Astronomie im Quadrivium der mathematischen artes wenigstens eine klare Ortsbestimmung. Ihr besonderer Vorzug war die kosmologische Begründung ihrer anthropologischen Qualitäten und damit der Tiefenstruktur ihrer ›System­ ebene‹. Sogar in der Affektenlehre des Barockzeitalters war sie noch gut aufgehoben: als System ausdruckshaltiger Klangfiguren, abgezogen aus der alten Kunst der Rhetorik. Als ›Klangrede‹ (Johann Mattheson), elaboriert zu einer Art von detailliertem ›Sprach‹-Katalog, fungierte sie gewissermaßen als eine angewandte Psychologie semantisch wirksamer Klangchiffren. Jetzt bringt sie das sich bildende »System der schönen Künste« in schwere Verlegenheit, weil dessen Herzstück die Nachahmungsästhetik ist. Sein maßgeblicher Vertreter, Charles Batteux, kämpft damit, dass es eben keine belle nature gibt, auf die sich Musik abbildend hätte beziehen lassen. Mühsam laviert er zwischen einer Rettung der Nachahmungsidee in der Programmmusik, sofern diese ›redend‹ oder

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›malend‹ ist, der notgedrungenen Duldung des Gesangs als ›Affektdarstellung‹ und der schroffen Ablehnung einer abstrakten Instrumentalmusik als ›leerer Schall‹.1 Eine entscheidende Rolle dabei spielt der Aufstieg der reinen Instrumentalmusik, die sich schließlich als »absolute Musik« geradezu zum Paradigma abendländischer Musik entfaltet. Bereits Herder erfasst den Wandel genau, wenn er sie als »eigenmächtige Kunst« charakterisiert, die sich »ohne Worte, blos durch und an sich zur Kunst ihrer Art gebildet« habe.2 Schopenhauer rühmt dann ihre Autonomie vorbehaltlos als Vorzug: »Die Worte sind und bleiben für die Musik eine fremde Zugabe, von untergeordnetem Werthe« und Goethe und Schlegel sehen in ihrem autonomen Formulierungsvermögen bereits etwas von einem intellektuellen Diskurscharakter. Ersterer, wenn er 1829 das Streichquartett mit einem »vernünftigen Gespräch« vergleicht, Letzterer, wenn er sie bis zur Ebene des Philosophierens bringt: »Alle reine Musik muß philosophisch und instrumental sein«, also mit einer »gewissen Tendenz … zur Philosophie«.3 Diesen Faden spinnt auch die moderne Musikologie weiter, wenn Carl Dahlhaus mit Adorno in der Sonatenhauptsatzform eine Art Analogie zu Hegels System der Dialektik sehen will.4 Aber auch für Novalis oder E. T. A. Hoffmann zählt ihre »abstrakte« Formulierungskraft zu ihrem eigentlichen Wesen, ja mache geradezu das »Romantische« aus, bis sie schließlich der Wiener Großkritiker und Musikgeschichtsprofessor Eduard Hanslick mit seinem bekannten Wort von den »tönend bewegten Formen«, mit denen die »reine, absolute Tonkunst« ihre »musikalischen Ideen« gestalte, einem radikalen Formalismus übereignet. Aus einem recht ähnlichen Verständnis über diese Selbstbestimmtheit wortloser Musik äußern sich auch Hans Pfitzner und August Halm.5 1

Ch. Batteux, Les beaux-arts réduits à un même principe, Paris 1746, sowie: Einleitung in die Schönen Wissenschaften. Nach dem Französischen des Herrn Batteux, mit Zusätzen vermehret von C. W. Ramler, 4 Bde., Leipzig 1756–1758. Die Ablehnung der reinen Instrumentalmusik teilt noch Gervinus 1868, wenn er meint: »die Instrumentalkunst ward auf der Höhe ihrer Vollendung sich selbst der Eigenschaft, daß sie unnachahmend, gegenstandslos und daher inhaltslos sei, als eines Gebrechens bewußt; ihre Bestrebungen aber, diesem Mangel abzuhelfen, ist man beinahe versucht einen tragikkomischen Teil der Musikgeschichte zu nennen« (Händel und Shakespeare. Zur Ästhetik der Tonkunst, 1868, S. 159– 160).

2

J. G. Herder, Viertes kritisches Wäldchen, 1769, in: GA hg. v. B. Suphan, Bd. IV, Berlin 1878, S. 122, ähnlich auch in Kalligone, 1800, GA Bd. XXII, Berlin 1880, S. 185.

3

Goethe an Zelter, Brief vom 9.11.1829; A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Zürcher Ausgabe in 10 Bänden, Bd. 2, Zürich 1988, S. 521.

4

Nach Adorno: »Beethovens Musik ist die Hegelsche Philosophie …« in: Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte (Nachgelassene Schriften, Bd. 11, Frankfurt a. M. 1993), S. 36.

5

Bereits E. T. A. Hoffmann erklärt entschieden: «Wenn von Musik als einer selbständigen Kunst die Rede ist, sollte immer nur die Instrumentalmusik gemeynt sein welche … das eigenthümliche, nur in ihr zu erkennende Wesen der Kunst rein ausspricht«, Rezension der Fünften Sinfonie von Beethoven, in: AmZ 12 (1810), Nr. 40, Spalte 630; E. Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, 13.-16. Aufl., Leipzig 1922, S. 58 ff.; A. Halm, Von zwei Kulturen der Musik, München 1913, besonders S. 28 ff.; H. Pfitzner, Die Neue Aesthetik der musikali-

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So läuft das Dilemma von Charles Batteux letztlich auf einen Sonderstatus der Musik im System der »Schönen Künste« hinaus, mit dem sich die vergessene Seite der mathematischen Ontologie der Musik als aufmüpfige Systemstörung revanchiert. Andererseits kommt es der Anerkennung musikalischer Autonomie zugute und der Formulierung einer eigenständigen Musikästhetik. Der bleibt aufgegeben über die emotionale ›Bedeutung‹ ihrer mathematischen Verfassung nachzudenken: nämlich der begrifflichen Bewältigung einer begriffslosen, aber zugleich handwerklich komplizierten Kunst, deren Abstraktionsgrad sich paradoxerweise umgekehrt proportional zu ihrer affektiven Kraft verhält. Damit stellt sich die Frage nach einer musikalischen Erkenntnistheorie, die dieser Wesenseigenschaft standhält – samt den Wandlungen in ihrer Geschichte mit der vielleicht dramatischsten im Technozän. Hier nämlich entsteht der Musik ein neues, viel diffizileres Dilemma als für ihre passende Unterbringung im kunstästhetischen Denken der Tradition. Mit dem rasanten Aufstieg des wissenschaftlich-technischen Weltbildes der Moderne kommt das ganze Kunstdenken, ja alle Kunst, in eine neue Situation. Kunst gerät immer mehr in den Bannkreis einer anderen Bewusstseinslage als ›irrationaler‹ Widerpart zur ›rationalen‹ Erkenntnistheorie des Zeitalters der wissenschaftlichen Vernunft. Sie muss sich jetzt nicht nur als sinnvolles Tun aus Tradition, Emotion oder Kult rechtfertigen, sondern vor ganz neuen Wirklichkeiten. Vordergründig illustrieren die drastischen Metamorphosen künstlerischen Ausdrucks in den Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie sehr Künstler und Werke im Begriff waren, sich der neuen Bewusstseinslage anzuverwandeln. Radikal in Revolution, Travestie und Anti-Kunst, mimetisch in Realismus, Naturalismus, Verismus und im Bemühen um Zeitgeistiges: dahin das idealistische Ethos, die Romantik göttlich inspirierter ›Eingebung‹, der heiligen Gefühle und des schwärmerischen Geniekults – jetzt sind es eher neue Nüchternheiten und die Ingenieurkünste, die ihre Maßstäbe setzen. Sie bescheren dem ›Kunst machen‹ eine Neudefinition als glänzend evolutionierte Form dessen, was in der Antike unter Technē verstanden wurde. Exemplarisch dafür stehen in der Musik die methodische Suche nach neuen ›Systemebenen‹, die ›logischen‹ Verfahren von Zwölftontechnik und Serialität, die Analytik von Mikrotonalität, schließlich hypertrophe Komplexion und technische Materialexploration. Hinter diesen vordergründigen Anverwandlungen bleibt aber Hintergründiges wirksam. Berühmte Skandale signalisieren mentalen Dissens: die Aufführungen von Schönbergs Werken 1907 und 1908 oder im Wiener Konzert von 1913, von Strawinsky 1920 in Paris oder George Antheil 1926 in Paris und 1927 in New York, genauso wie viele Reaktionen auf Dada bis Duchamp. Sie zeigen, dass die neuen schen Impotenz, München 1920, S. 55 ff.: »Die Musik bildet sich selbst ihren Stoff, der bei allen anderen Künsten die Welt ist«, S. 105; C. Dahlhaus, Musikästhetik, Köln 1967, S. 102; ders., Die Idee der absoluten Musik, Kassel 1978.

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Idiome weder als natürliche Evolution der alten verstanden wurden noch als eine solche Art von ›Bedeutungswandel‹, mit dem man sich als willkommene Bestätigung neuen Zeitgeists identifizierte. Zwar können diese Irritationen der Zeitgenossen vielleicht noch als subjektive Reaktionen gewertet werden. Aber in den reflektierten Befunden der Musikgeschichtsschreibung als »Bruch« und »Epochenzäsur« erhalten sie den Charakter objektiver Bewertung (siehe Kapitel X) – auch wenn sie inzwischen als Episoden im geläufigen Paradigma von der »Geschichtlichkeit« aller Kunst längst historisiert sind. Wie nachhaltig das Stigma eines »Bruchs« aber bleibt, zeigt sich sogar noch bei einem bestens emanzipierten, informierten und willfährigen Publikum, wo es als Polarisierungsmuster erkennbar bleibt.

Der lange Nachhall eines Stigmas Der Begriff Neue Musik, großgeschrieben, etwa seit Paul Bekker (1919) in Gebrauch, hat sich auch nach hundert Jahren durch alle Varianten ideologischer, enthusiastischer oder polemischer Art hartnäckig gehalten. Daran haben auch Versuche anderer Bezeichnungen wie »Zeitgenössische Musik«, »Musik unserer Zeit« oder »Gegenwartsmusik« nichts geändert. Er benennt als Totale die gesamte kompositorisch relevante Produktion der Zeit seit etwa 1910: eine gewaltige Zeitspanne. Damit aber kennzeichnet er viel weniger etwas jeweils ›Neues‹, sondern offenbar etwas Grundsätzliches: eine Differenz zu etwas von vorher. Selbst im ästhetischen Pluralismus aktueller Moderne, die sich längst himmelweit vom ›Neu‹ von damals weiterentwickelt hat, bleibt er als Differenzbegriff in Gebrauch und scheint im Disput zwischen Adepten der Avantgarden und Apologeten der Tradition immer wieder auf. Noch 1970 räsonierte einer der glühendsten Parteigänger der Neuen Musik, der Kritiker Hans Heinz Stuckenschmidt, über das 1911 komponierte Lied Herzgewächse von Arnold Schönberg: »Dieses Stück ist heute für viele Menschen noch so rätselvoll, wie es vor 46 Jahren war, als es zum erstenmal im ›Blauen Reiter‹ veröffentlicht wurde.« Und er stellt, nach einer Erörterung seiner satztechnischen Ursachen dafür fest: »Es fehlt ihm deshalb die Aura dessen was ich Erhörtheit nennen möchte, ohne die unsere Sinne und ohne die unser Geist sie nicht recht willkommen heißen möchten.«6 Im schönen Begriff »Erhörtheit« schwingt etwas mit von der Erinnerung an ein inneres, seelisch-empfindungsmäßiges Angesprochensein, wie es fraglos immer zu den Attributen aller Musik zählte. »Die neue Musik ist immer noch nicht angekommen« befindet sogar 2012 bedauernd der Leiter einer bedeutenden deutschen Konzertreihe moderner Musik zur Übernahme seines Amtes (Winrich Hopp, bei der Münchner Reihe musica

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H. H. Stuckenschmidt, Von Arnold Schönberg bis Pierre Boulez – Die neue Musik, ihr Weg und ihre Erlebbarkeit, in: Universitas 25 (1970), S. 805.

viva). Damit spricht er aus, was offenbar auch eine Reihe anderer prominenter zeitgenössischer Komponisten und Musiker (kritisch) bewegt. Das betrifft nicht nur die frühen, mit Äußerungen von Max Bruch, Hermann Abendroth, Wilhelm Furtwängler, Ernest Ansermet, Alois Melichar oder Peter Jona Korn bis Penderecki, sondern noch Giselher Klebe, Hans Zender oder Gerhard Wimberger, H. K. Gruber und Konrad Boehmer. Sogar von engagierten Avantgardeinterpreten, wie Hermann Scherchen, Michael Gielen, Eliahu Inbal oder Musiker des Vogler-Quartetts, gibt es kritische Äußerungen.7 Schönbergs Melodien pfeift auch nach über hundert Jahren keiner auf der Straße, wie er es erhofft hatte. Und Anton Weberns Prophezeiung von 1945, dass man in fünfzig Jahren seine Musik selbstverständlich finden würde, hat das reale Konzertleben bestenfalls marginal eingelöst. Komponist und Essayist Konrad Boehmer bemerkt (1991): »Jegliche Hoffnung, daß die Schocks der modernen Musik sich schon legen würden und – nach einiger Zeit der Gewöhnung und Anpassung – Xenakis oder Stockhausen, Nono oder Boulez ihre Unsterblichkeit im Sitzkonzert (neben Bach, Mozart oder Mendelssohn) genießen könnten, widerspricht aller Realität, denn die moderne Musik widerstrebt inhaltlich und kommunikativ allen Normen überkommener Kunstmusik … weil ihr gesamter chaotischer Gestus dem widerspricht …«. Bereits Hermann Scherchen, stets in vorderster Reihe avantgardistischer Affirmation, äußert (1966), dass es seit der Aufhebung der Tonalität keine Musik mehr gäbe. Michael Gielen, engagierter Dirigent der Moderne, der Schönberg für den »größten Komponisten des 20. Jahrhunderts hält«, bekennt gleichzeitig, »dass nie und nimmer die Reihentechnik den Verlust der Tonalität kompensieren konnte« und weiter, dass er mit dem Komponieren der Postmoderne »nicht viel anfangen« kann. Dramatisch klingt die Äußerung von Hans Zender, der sogar den »Tod Gottes in der Musik« beklagt (1997). Ausdrücklich zum »Bruch« – allerdings affirmativ – bekennt sich schließ-

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Vgl. W. Furtwängler, Chaos und Gestalt (1954), wiederabgedr. in: Wilhelm Furtwängler, Vermächtnis. Nachgelassene Schriften, Wiesbaden 1956, S. 151–163; E. Ansermet (1965), S. 524–574; ders. mit J.-C. Piguet, Gespräche über Musik (1963), München 1973, S. 11–26; Dirigent und Komponist A. Melichar, Überwindung des Modernismus, Wien, Frankfurt a. M. u. London 1954; Musik in der Zwangsjacke, Wien u. Stuttgart 1958; Schönberg und die Folgen, Wien 1960; P. J. Korn, Komponist, Schüler von Scherchen, Schönberg, Toch, Eisler u. Rósza: Musikalische Umweltverschmutzung, Wiesbaden 1975. E. Inbal, Chefdirigent des Radio-Sinfonieorchesters Frankfurt des Hessischen Rundfunks von 1974 bis 1990 äußert in einem Interview (1980) auf die Frage, ob die Beschäftigung mit der Moderne der Qualität geholfen hätte: »… ich habe diese Tendenz nicht weitergeführt … Auch deshalb, weil ein Orchester, das mehr als dreißig Prozent moderne Musik im Sinne der Avantgarde spielt, an Qualität einbüßt, Flexibilität und Phrasierungskunst gehen verloren.« Ähnlich äußert sich Tim Vogler: »Die ausschließliche Beschäftigung mit neuer Musik führt zur Zerstörung der Spielkultur«, ferner: man brauche die Verbindung mit traditionellen Spieltechniken, wenn »die ohnehin sehr stark zerebral gesteuerte neue Musik nicht eines Tages an mangelnder Frischluft ersticken will«, in: F. Schneider, Eine Welt auf sechzehn Saiten. Gespräche mit dem Vogler Quartett, Berlin 2015, S. 110.

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lich Pierre Boulez so unverblümt wie programmatisch: »Eine Kultur, die nicht mit ihrer Tradition bricht, die stirbt.«8 Das Differenzgefühl beschränkt sich auch keineswegs auf die Musik. Von der Literatur aus attestiert George Steiner der Kunst der Moderne »negativen Theismus« in ihren »Emblemen der Abwesenheit« und in der Kunstkritik artikulieren nicht wenige ihr Unbehagen. Während Musikkritik und Musikwissenschaft im vorsichtigeren Modus von Deskription und technischer Analyse meist affirmativer verfahren, formulieren namhafte Kunsthistoriker und -kritiker offen ihre Skrupel bis zur Distanzierung. Prominente Kritiker, vor allem im angelsächsischen Bereich, werfen in der hochtourigen Rallye eines Kunstbetriebs der 2000er Jahre mit bizarren Produktionen für beispiellose Marktpreise demonstrativ das Handtuch: Kunstkritik wird obsolet – oder zur bloßen rhetorischen Dekoration.9 Sie bedient hinter der Attitüde intellektueller Reflexion eher Kataloge, feuilletonistisches Prestige, Marketing oder Society-Talk. In den Polarisierungsmustern, vom subkutanen Unbehagen, der unbestimmten Irritation bis zur offenen Skepsis und glatten Verweigerung artikuliert sich etwas wie ein Differenzbewusstsein als hartnäckiges Residuum von etwas ›Anderem‹. Und das, trotz der vielen Jahrzehnte routinierten Umgangs mit ›Moderne‹ durch mediale Gewöhnung, scharfsinnige Theorie und intellektuelles Training, samt einer unbestreitbaren Präsenz im Kunstbetrieb. Es scheint wie ein schwer zu unterdrückendes Empfinden für völlig verschiedene Wesensqualitäten in der Kunst, für das offenbar weder die Einrede eines klugen Verstandesdenkens noch die Vernunft eines ›aufgeklärt‹-rationalisierten Ästhetikdiskurses die Rolle zu spielen scheint, die für restlose Empathie und begeisterte Zustimmung sorgen könnte. Warum folgt dieses eigenwillig qualifizierende Kunstempfinden so unwillig den vernünftigen Argumenten ihrer Protagonisten und der Begeisterung ihrer ›Macher‹? Warum begreift es so vieles Zeitgenössische in Malerei, Theater und neuem ›Musikdenken‹ nicht einfach als natürliche Mimesis modernen Zeitgeistes, der unsere Lebenswelten so selbstverständlich wie die Luft unsere Lungen durchdringt? Der uns mit sei8

K. Boehmer, Die Zukunft der (Kunst-)Musik, in: Das böse Ohr. Texte zur Musik 1961–1991, hg. v. B. Söll, Köln 1993, S. 273; W. Schön, Hermann Scherchen und die Krise der Moderne – Besuch im akustischen Experimentalstudio Gravesano, in: Rheinischer Merkur v. 6.5.1966; M. Gielen, »Unbedingt Musik«. Erinnerungen. Frankfurt a. M. u. Leipzig 2005, S. 337–340.

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G. Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? München 1990, S. 164 u. passim. Beispiele aus der Kunstgeschichte liefern: H. Belting, Das Ende der Kunstgeschichte? München 1983 und: Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, München 1995; R. Hughes, Denn ich bin nichts, wenn ich nicht lästern darf. Kritische Anmerkungen zu Kunst, Künstlern und Kunstmarkt, München 1993; E. Beaucamp, Ausbruch aus der Fortschrittskarawane. Die moderne Kunst am Ende ihres Jahrhunderts, in: F. A. Z. v. 17.7.1993; B. Wyss, Die Welt als T-Shirt, Köln 1997; H. Kramer u. R. Kimball, The Survival of Culture. Permanent Values in a Virtual Age, Chicago 2002; P. Dossi, Hype! Kunst und Geld, München 2007; R.-M. Gropp, Platzt der Kunst das Herz? in: F. A. Z. v. 8.12.2007 (Beilage Bilder und Zeiten).

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nen großartigen Errungenschaften und aufregenden Schüben von Hightech-Innovationen tagtäglich seine Virilität und Potenzialität demonstriert? Offenbar verweist das Differenzbewusstsein auf eine Art kognitiver Dissonanz zwischen zwei verschiedenen Dispositionen: einem tieferen, anthropologisch disponierten Empfinden und der aktuellen zeitgeistigen Ratio – bezeichnenderweise in der Musik viel hartnäckiger wirksam als in den bildenden Künsten oder der Literatur. Der Siegeszug der »Alten Musik«, die hartnäckige Behauptung einer kanonischen »Klassik«, die boomende Weltindustrie einer simpel gestrickten Pop-, U- und Volksmusik, die mit den Elementen der traditionellen Idiomatik an die schlichtesten Gefühle und ältesten Reflexe appelliert, sprechen eine deutliche Sprache. Nicht weniger deutlich äußert sich ›Differenz‹ im Musikleben. Dort statistisch in den Aufführungszahlen für die kühnen Klangprojekte der Avantgarden, pragmatisch in der professionellen »Risikovermeidung« vieler Konzertveranstalter und schließlich oft betroffen in kritischen Kommentaren vieler Musiker. Es scheint, als werde hier als ›Irritation‹ etwas bewusst, was die herrschende Denkkultur unserer Moderne methodisch verdrängt oder durch Theorie und Ideologie zu ersetzen versucht: ›Kunst‹ wendet sich an Wahrnehmungsinstanzen unseres Bewusstseins, die offenbar mit einer anderen ›Logik‹ ›rechnen‹ als viele der modernen Klang-›Konstrukteure‹. Das betrifft einmal die grundsätzliche Differenz zwischen zwei unterschiedlichen kognitiven Qualitäten, nämlich einer Wahrnehmung über die Empfindung als Erleben und einer Erfassung im rein Denkerischen. Zum anderen aber auch die Konditionierung dieses Denkens, die maßgeblich über die Rationalität moderner Naturwissenschaft und Technik und ihren Vorstellungen erfolgt. Sie aber ist aus den Mustern der ›algorithmischen‹ Galaxis von ganz anderer Qualität, als die Prägungen unseres ›Denkens‹ aus dem anderen Beziehungskosmos von Antike, Mittelalter, Renaissance, Barock und Romantik.

Denkwege: »Wissenschaft denkt nicht« (Martin Heidegger) »Der Sinn der Wissenschaft ist es alle transzendenten Prinzipien zu unterlaufen, die Welt systematisch aller spirituellen Mysterien, emotionalen Farbe und ethischen Bedeutung zu entkleiden und sie in einen bloßen kausalen Mechanismus zu verwandeln …« so intonierte bereits 1916 der große Soziologe Max Weber illusionslos-nüchtern, mitten im Weltkriegs-Bankrott des alten Europa, das radikale szientistische Ethos des neuen Zeitgeistes. »Die gänzliche Entzauberung der Welt« lautet das bekannte Diktum. Der Philosoph Charles Taylor nimmt es als Zivilisationskritik der Moderne wieder auf. Aber Weber meint damit, wie es seine Religionssoziologie darlegt, noch weit mehr. Denn es geht nicht nur um jenen langen religionsgeschichtlichen Prozess, welcher mit der altjüdischen Prophetie einsetzte, im hellenistischen rationalen Denken weitergeführt wurde und im Calvinismus seinen Höhepunkt als Befrei-

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ung von allen kirchlich-sakramentalen Bindungen mit der Aufgabe tieferer, numinoser und mythischer Kontexte erreichte, sondern es geht um dessen erkenntniskritische Konsequenzen.10 Ihr Ergebnis ist, dass zuletzt auch die Grundlagen jeder allgemein gültigen Ethik in Frage gestellt werden. Denn sie lassen sich in letzter Hinsicht streng ›wissenschaftlich‹ nicht begründen. Auch Webers aus der gleichen Zeit stammende Schrift Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik (1921) verfährt nach diesem Fokus und entkernt die Musikgeschichte, rechtschaffen methodisch, zu einem progressiven Rationalisierungsprozess. Wenn er allerdings (1916) zugleich erklärt: »Wissenschaft kann keine Antworten auf die brennenden Fragen des Lebens geben, und sie sollte dies auch nicht versuchen …«, dann verrät er damit, dass ihm der Unterschied verschiedener Qualitäten von ›Erkenntnis‹ klar bewusst ist.11 Aber Antworten dazu offeriert er nicht. Vielmehr liefert er uns zwischen dem Realismus rationalistischer ›Entzauberung‹ durch Wissenschaft und dem Eingeständnis ihres erkenntnistheoretischen Defizits schonungslos einem nackten Kritizismus und Existenzialismus à la Sartre, Beckett, Kafka bis Camus, Imre Kertész oder Dawkins und Wellmer aus. Was Max Weber in nüchterner Selbstvergewisserung aus zeitgeistiger Bewusstseinslage konstatiert, thematisiert Heidegger »fundamentalontologisch«. Der Auffassung, dass die menschlichen Denkfähigkeiten in der wissenschaftlich-technischen Vernunft kulminierten, hält er entgegen, dass das »wissenschaftliche Denken nur ein Sonderfall des Denkens« darstelle. Und sein radikales Diktum »Wissenschaft denkt nicht« aus seinen Vorlesungen von 1951/52, meint nicht nur, dass Physiker, Chemiker, Mediziner, Psychologen oder Biologen die grundlegenden, ontologischen Qualitäten ihrer Gegenstände nicht eigentlich definieren könnten: Was ist Materie, Seele oder Leben? Es meint vor allem, dass sich ihr ›Denken‹ innerhalb eines funktionalen Systemzusammenhangs wie etwa der Physik, der Chemie, der Medizin oder der Biologie bewege, wogegen Denken im eigentlichen Sinn jedoch viel mehr umfasse als die bloßen diskursiven Operationen heutiger Wissenschaft zwischen kontrollierter Empirie und positivistischer ›Rechenfähigkeit‹ – wobei er natürlich auf die Suprematie eines, seines philosophischen ›Seins‹-Denkens zielt. »Inmitten der Wissenschaften denken heißt: an ihnen vorbei gehen, ohne sie zu verachten …«.12

10

M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, Tübingen (1920) 1972, S. 94– 95 u. S. 114–116.

11

Vgl. Vorlesung Wissenschaft als Beruf in München, in: Max Weber, Gesamtausgabe Bd. 17, hg. v. W. J. Mommsen u. W. Schluchter, Tübingen 1992, S. 71–111, sowie: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Aufl. Tübingen 1973.

12

M. Heidegger, Vorlesungen im Wintersemester 1951/52, in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 133 (GA, Abt. I, hg. v. F.-W. v. Herrmann, Bd. 7, Frankfurt a. M. 2000); Nietzsches Wort »Gott ist tot«, Aufsatz von 1943 (GA, Abt. I, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1977), S. 212.

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Solche Kritik an den Defiziten eines reduktiven Denkbegriffs ist auch in der Moderne keineswegs verstummt. Verstanden als tragisches Verhängnis taucht sie sogar in der Kritischen Theorie der Frankfurter Soziologenschule als »Instrumentelle Vernunft« auf. In den Reflexionen von Gadamer bis Kurt Hübner oder Thomas Nagel und Charles Taylor wird sie als epistemologische Einschränkung thematisiert. Das »wilde Denken« von Claude Lévi-Strauss aus seinem holistischen Welterfassungskonzept kann sogar als Gegenthese dazu verstanden werden.13 Für diese Qualität von »Denken« liefert die Kunstästhetik die instruktivsten Beispiele. Dafür was ›schön‹ oder ›hässlich‹ sei, künstlerisch ›gelungen‹ oder nicht, fühlt sich strenge Wissenschaft ganz zu recht nicht zuständig. Beansprucht sie allerdings unter dem Signum der Ästhetik seit Baumgarten als »Kunstwissenschaft« dennoch Kompetenz, gerät sie genau in jenes Dilemma zwischen den ›objektiven‹, analytischen, deskriptiven, historischen oder soziologischen Befunden gängiger Wissenschaftsratio und einer Qualität von Denken, das sehr wohl in der Lage ist, zu erfassen, dass ›schön‹ oder ›hässlich‹, gewöhnlich oder erhaben, Kunst oder Kitsch und letztlich ›Sinn‹ als womöglich ›Unaussprechliches‹14 von anderen Bewusstseinsinstanzen als Realitäten wahrgenommen werden.

Wissenschaftstheorie Damit gelangt man an die erkenntnistheoretischen Grundlagen des gegenwärtigen Wissenschaftsbegriffs. Platon verdanken wir eine fundamentale Problematisierung des Wissensbegriffes zwischen ›Wissen‹ und ›richtigem Meinen‹ in seinem Dialog Theaitetos. Weil es letztlich auf die Unterscheidungsfähigkeit zwischen ›wahr‹ und ›falsch‹ abzielt, damit aber die Kenntnis einer ›objektiven Wahrheit‹ voraussetzen würde (»Wissen als Besitz von Wahrheit«, wie es Heidegger interpretiert), bleibt das Problem bei Platon ungelöst. Inzwischen pragmatisch abgeschwächt zur Unterscheidung von ›begründetem Meinen‹ und bloßer ›Behauptung‹, wird es zu einer Frage nach der Qualität der jeweiligen Begründungen. Kant verdanken wir dann die fundamentale Einsicht, dass unsere subjektive Weltwahrnehmung von apriorischen Bedingungen unseres Bewusstseins abhängig ist. Dazu zählt er bekanntlich Raum und Zeit als »transzendentale Kategorien« unserer Wahrnehmung. Danach können wir die ›Wirklichkeit‹ als »Mannigfaltigkeit der Welt, wie sie uns in der Anschauung gegeben ist« nur durch »subjektive Syn13

Vgl. K. Hübner, Die Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, Freiburg u. München, 2. Aufl. 1979; Th. Nagel, Geist und Kosmos, Frankfurt a. M. 2013; Ch. Taylor, Philosophical Papers, Vol. 1 und 2, Cambridge 1985; C. Lévi-Strauss, La pensée sauvage, Paris 1962.

14

Die Unterscheidung von ›Unaussprechlichem‹ (ineffable) als unermessliches, nicht Ausdrückbares und dem ›Unsagbaren‹ (indicible) als etwas, worüber wir nicht sprechen können, trifft V. Jankélévitch, Die Musik und das Unaussprechliche, Berlin 2016, S. 106 ff.

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thesis« aus der »Einheit des denkenden Ichs« und seines »Selbstbewusstseins« ordnen und begreifen. Sie lieferte die Voraussetzungen jedes Begründungszusammenhangs. Die moderne Physik hat die Kant’sche Orthodoxie längst überschritten. Dadurch verfällt die Gültigkeit seiner Kategorien als die einzig möglichen. Gültig hingegen bleibt die Einsicht, dass alle menschliche Erkenntnis und Erfahrung von apriorischen Voraussetzungen abhängig ist. Das hat sich auch für die strengste Wissenschaftslogik der Moderne keineswegs geändert. Denn sie erweist sich in ihren Prämissen und Axiomen, ungeachtet ihres Anspruchs, nur mit harten, »empirischen Tatsachenbefunden« zu operieren, beständig und unvermeidlich als von ›weichen‹ nicht-empirischen, also apriorischen Festsetzungen und Annahmen abhängig. Jede empirische Beobachtung, auch in strikter, »evidenzbasierter« Wissenschaft, fußt auf solchen inhärenten Entscheidungen: Von der Wahl der Samples, den Beobachtungs- und Messmethoden bis zur Art der Instrumente, den Messgrößen und deren Bewertung werden theoretische Apriori bemüht. Die ›Wahrheit‹ über die scheinbar so konkret, objektiv feststellbare empirische ›Wirklichkeit‹ hängt immer von den Bedingungen ab, unter denen sie erfahren wird. Davon betroffen ist zuallererst der jeweils angewandte apriorische Fokus, das Erkenntnisinteresse (Max Weber), das die Beobachtung bestimmt. Es gilt aber ebenso für die Begründungszusammenhänge innerhalb bestimmter theoretischer Vorstellungen und Systeme. Phänomene wie Atom, Elektron, elektromagnetische Welle oder Gravitation sind ohne den Rahmen einer elaborierten physikalischen Theorievorstellung weder ›logisch‹ plausibel noch verständlich, gar nicht zu reden von solchen der Einstein’schen Relativitätstheorie oder der Quantenphysik. Dort gilt das für Phänomene wie »Raumzeit« oder »Dualismus von Welle und Kor­puskel« bis zum Indeterminismus der Unschärferelation, die Superposition und die »spukhafte Fernwirkung« in Form »verschränkter Quantenzustände« samt den damit verbundenen komplexen mathematischen Modellen. Die Geschichte der Physik zeigt im Wandel ihrer Vorstellungsmodelle, wie ein und dieselbe empirische ›Wirklichkeit‹ zu verschiedensten ›Wahrheiten‹ führt. Vom Aristotelismus über Descartes und Newton bis Einstein und die Quantenphysik wechselt die Deutung ihrer Befunde, ohne dass sich keineswegs die Faktizität der Gegenstände ändert. Begriffe, mit denen die gleichen, ›harten‹ Tatsachen wie Raum, Zeit, Masse, Impuls oder Geschwindigkeit bezeichnet werden, bedeuten logisch ganz Verschiedenes, je nachdem, ob sie im Rahmen der cartesianischen, der newtonschen, der einsteinschen oder der Quantenphysik verwendet werden. ›Masse‹ bleibt immer Masse – und doch ist sie in der klassischen Physik Newtons eine Konstante, in Einsteins Relativitätstheorie aber eine Variable, weil sie mit Energie vertauschbar ist; Newton definiert Raum und Zeit als absolute Größen in der euklidischen Geometrie, bei Einstein sind sie im Gegenteil höchst relative Größen

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im Riemann’schen Raum und in der Quantenphysik lösen sie sich in die »NichtLokalität« des »Phasenraums« auf (Arnold Sommerfeld). Schließlich zeigt das (ungelöste) Dilemma einer Vereinbarkeit zweier fundamentaler Theorien der modernen Grundlagenphysik, die der Einstein’schen und die der Quantentheorie, dass sich eine wie immer geartete »Wirklichkeit« dem modernen wissenschaftlichen Verständnis höchstens partiell nach Maßgabe jeweiliger Methodik erschließt. Aus seinen Erfahrungen mit der Quantenphysik formuliert Niels Bohr sein »Komplementaritätsprinzip«, wonach kontradiktorische Beobachtungen am selben Gegenstand verschiedenene, zuweilen unvereinbare Eigenschaften erkennen lassen, ohne dass einer bestimmten Beobachtung ein ontologisch relevanterer Rang zukommen kann, denn contraria sunt complementa: Erst die komplementäre Perspektive erschließt (möglicherweise) den ganzen Bedeutungsumfang. Aus gleichem Erfahrungsfundus konstatiert der Quantenphysiker Erwin Schrödinger »Die Welt ist ein Konstrukt aus unseren Empfindungen, Wahrnehmungen, Erinnerungen«, eine Auffassung, die nicht wenige Vertreter der modernen Physik teilen.15 Es ist dieses ›Partiale‹, die grundlegende Problematik des Bruchstückhaften, die alle Forschungsresultate im Materiellen bestimmt. Denn ihre zentrale analytische Methodik, alles zu »zerfasern, zersplittern und zerspalten«, fördert zwar fraglos »Staunenswertes und Bewundernswürdiges« zu Tage, stößt aber schließlich an die Grenze eines »erdenhaft bedingten Unvermögens noch weiter zu zersplittern und zu zerfasern« weil sich »alles Zerspaltene ins unendlich weitere zerspalten lassen kann« und »immer werdet ihr entdecken, daß sich aus dem, was ihr in seine letzte Faserung zerfasert glaubt, noch neue Fasern lösen lassen …«.16

15

N. Bohr, Atomtheorie und Naturbeschreibung. Vier Aufsätze mit einer einleitenden Übersicht, Berlin 1931; E. Schrödinger, Geist und Materie (1958), Wien u. a. 1959, S. 9. Eine Reihe von Physikern wie Eugene Wigner, Brian Josephson, John Wheeler und der Mathematiker John von Neumann wagen sich soweit vor, zu behaupten, dass die physische Welt von der Wahrnehmung buchstäblich erst »erschaffen« wird . Sie postulieren dafür, dass Bewusstsein grundlegender sei als Materie und Energie, und der Quantenphysiker Henry Stapp meint, dass es eine der wichtigsten Erkenntnisse der Quantentheorie gewesen sei, menschliches Bewusstsein in die Systematik physikalischer Theorien einzubringen, vgl. H. Stapp, Mind, Matter and Quantum Mechanics, 2. Aufl. Berlin u. a. 2004; M. und A. Goswami, R. E. Reed, Das bewusste Universum: Wie Bewusstsein die materielle Welt erschafft (1993), Stuttgart 1995.

16

Zitiert nach Bȏ Yin Rȃ (1927), S. 221–222, wo im Kapitel »Die hohen Kräfte des Erkennens« auch die erkenntnistheoretische Beschränkung des gängigen positivistischen Wissenschaftsbegriffs dargestellt wird mit seinen Methoden des »feineren Tieres« und seinen »Denkvehikeln und Instrumenten«, die für die Bereiche des materiell-sinnlichen Erfassbaren taugen, im Unterschied zu letzten Ursachen und »Wirklichkeiten«, die nur über »die Kräfte der Seele« erfassbar werden können. Entscheidend ist die Differenz der Erkenntnisqualitäten, denn der geläufige moderne Wissenschaftsbegriff wird in seinen Leis­tungen durchaus gewürdigt als »strenge Zucht denkerischer Selbstkontrolle« und »folgerecht geschulten Denkens« bei »Enthaltung von der Aufnahme willkürlichkeitser-

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Anschauliche Beispiele für das Dilemma liefert die aktuelle Physik. Bei der Erforschung subatomarer Teilchen durch immer aufwendigere Maschinen ist man im aktuellen Standardmodell inzwischen bei 61 Teilchen angelangt. Aber das bedeutet kein Ende. Für den Large Hyadron Collider im CERN bei Genf diskutiert man bereits einen noch potenteren Nachfolger, den Future Circular Collider. In USA projektiert man den Desertron, den Superconducting Super Collider, weil man hofft, damit noch mehr und noch kleinere Teilchen zu entdecken: das Versprechen einer spekulativen Theorie unbegrenzter »Zerspaltungsmöglichkeit«. Keineswegs weniger problematisch ist auch der Konstruktcharakter aller Ergebnisse und Vorstellungsmodelle. In der Auseinandersetzung zwischen einem »Physikalischen Realismus« und einem »Antirealimsus« des über Theorie und Daten »Erschlossenem« wird es als grundsätzliches Problem moderner Wissenschaftstheorie thematisiert.17 »Es gibt weder absolute wissenschaftliche Tatsachen, noch absolut gültige Grundsätze, worauf sich wissenschaftliche Aussagen oder Theorien im strengen Sinn stützen oder mit deren Hilfe sie zwingend gerechtfertigt werden können. Tatsachenbehauptungen und Grundsätze sind ganz im Gegenteil nur Teile von Theorien, in deren Rahmen gegeben, ausgewählt und gültig, und folglich auch von ihnen abhängig. Und dies gilt für alle empirischen Wissenschaften, für diejenigen der Natur wie für diejenigen der Geschichte« (Philosoph und Physiker Kurt Hübner).18 Zu solchem Urteil über eine rein szientistische Theoriebildung kommen auch eine ganze Reihe von Denkern, von Otto Neurath bis Willard Van Orman Quine und Hilary Putnam: »Jede naturwissenschaftliche Theorie ist unterbestimmt, denn aus den Daten, auf denen sie beruht, lassen sich genauso schlüssig alternative Theorien herleiten. Deshalb gilt es, sich der spezifischen Vorbehaltlichkeit wissenschaftlichen Wissens selbst bei klarer Faktenlage bewusst zu sein, wie es sich auch im internen Pluralismus jeder seriösen Forschung artikuliert. In jedes Ergebnis gehen theoretische Entscheidungen aus einem Hintergrund von Vorstellungen ein. Und der Bereich dessen, was nicht wahrgenommen werden kann, sondern erschlossen werden muss, ist nicht deckungsgleich mit dem Bereich theoretischer Konzepte« (Hilary Putnam). Oft verhilft erst ein Wandel der Vorstellungsmodelle, der gleiche Beobachtungen in neuem Licht erscheinen lässt, ja revolutionäre Denkumstürze zeugter« Resultate, dargestellt im Kapitel Wissenschaft, in: Das Gespenst der Freiheit, Basel u. Leipzig1930, S. 161–176. 17

Wissenschaftstheoretiker aus der Physik wie Tim Maudlin und Lee Smolin vertreten die Unabhängigkeit der Objekte von Naturwissenschaft und Materie von den Modi menschlicher Wahrnehmung als »Physikalischen Realismus« mit der Unterscheidung von Be-ables (Seinsfähige Tatsachen) und Observables (als erschlossene oder ausgerechnete) gegenüber den »Antirealisten«. Vgl. T. Maudlin, Philosophy of Physics Vol. I, Princeton 2012, Vol. II, Princeton 2019; ders., The Metaphysics within Physics, Oxford 2007; L. Smolin, Quantenwelt. Wie wir zu Ende denken, was mit Einstein begonnen hat, München 2019.

18

Von K. Hübner (1979), S. 191, exemplarisch unter erkenntnistheoretischem Fokus abgehandelt und vor allem im Hinblick auf die Naturwissenschaften, legitimiert durch seine Kompetenz auch als Physiker.

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auslösen kann – seit Thomas Kuhn bekanntlich als Paradigmenwechsel bezeichnet – zu tieferer Erkenntnis.19 Für den physikalisch gebildeten Philosophen Hübner erweist sich als entscheidende Ursache solchen Wandels die jeweilige »geschichtliche Situation«. Das entspricht den historizistischen Hermeneutiken von Hegel bis Heidegger, Gadamer, Adorno, Foucault und Fukuyama und der Kunst- und Musikgeschichte. Weil aber derartige Perspektivenwechsel letztlich nichts anderes als kollektive Veränderungen der Bewusstseinslage einer Zeit sind, erweisen sie sich als mentale Phänomene. Zwar verdanken sie sich oft äußerer »Weltveränderung«, aber oft auch nicht. Denn sie können auch aus einer anderen Auffassung der gleichen äußeren Faktenlage resultieren, aus einer Art von ›geistigem‹ Wandel, wie es im Begriff des Zeit-Geistes so treffend zum Ausdruck kommt. Weil der höchstens indirekt, eben nur an diesen Wandlungen einigermaßen ›objektivierbar‹ ist, verdankt er sich offenbar einer anderen Kausalität, die von der Physis materiell greifbarer Ursachenebenen verschieden ist. Deswegen kann seine Qualität letztlich nur als meta-physisch begriffen werden. Solche Einsichten relativieren die Reichweite der aktuell beherrschenden wissenschaftlich-technischen Vernunft mit ihren erkenntnistheoretischen Ansprüchen. Sie ist allenfalls eine – zwar gut funktionierende – aber keineswegs ausschließliche Möglichkeit von Wirklichkeitserfahrung und Weltverständnis. Und schon gar nicht eine endgültige, ›letzte‹. Exemplarisch lehrt uns die modernen Physik, wie sich hier der Wirklichkeitsbegriff in Partialwirklichkeiten auflöst, die nur über jeweils separate methodische Zugänge fassbar werden: Es hängt von der jeweiligen ›Befragung‹ ab. Deshalb ist es bereits für die Physik zweifelhaft, dass sie materielle ›Wirklichkeit‹ als ›Ganzes‹ ergründen und darstellen kann und nicht nur lediglich das, was über das aktuell naturwissenschaftlich Erkundbare in Erfahrung zu bringen ist. Was aber über den Horizont dieser Ratio hinausgeht, hängt noch in viel höherem Maße und ›wesentlich‹ von den Modalitäten angemessener ›Befragung‹ ab. Mit wesen-tlich gelangt man erkenntniskritisch unversehens von der Physik zur ›Meta-Physik‹. Denn ein Befragungsmodus für das Wesen anderer tieferer Ursachen-Ebenen und damit ›Wirklichkeiten‹ einer ganz anderen Seinsqualität, wie sie etwa im echten Kunstwerk in Erscheinung treten können, verlangt nach einem anderen Fokus. Er tritt bereits mit jener kognitiven Dissonanz bei der simplen Differenzerfahrung an Erzeugnissen aus unterschiedlichen ›Musikbegriffen‹ in 19

H. Putnam, What Theories are not, 1962, in: Mathematics, Matter and Method, Philosophical Papers Vol. 1, Cambridge, Mass. 1975, S. 215–227; Th. S. Kuhn (1962), Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1976. Eine ähnliche Sicht entwickelte bereits der Mediziner Ludwik Fleck mit seinen »Meinungssystemen«, die durch »Denkkollektive« mit ihrem spezifischen »Denkstil« determiniert werden, vgl. Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv, (1935), hg. v. L. Schäfer u. Th. Schnelle, Frankfurt a. M. 1980.

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Erscheinung. Das gleiche ereignet sich in der inneren ästhetischen Bedeutungsfindung, denn sie vollzieht sich letztlich als Wertbestimmung im Erlebnisbewusstsein. Noch unabweisbarer wird es in der Erfahrung des Numinosen in Mythos, Religion oder Spiritualität. Zugang dazu findet nur eine andere Bewusstseinseinstellung, die sich auf das Wirken anderer, seelischer Instanzen und ihrer kognitiven Kompetenz gründet. Sie liegen zwar außerhalb der gewöhnlichen Reichweite aktueller Wissenschaftsratio. Aber immerhin kann diese Erfahrung als eine andere Erkenntnisqualität auch dem rein zerebralen ›Denken‹ insofern fassbar werden, als es sie als Tatsache, nämlich als eine andere Kategorie von Wahrnehmung, zu konstatieren vermag. Damit aber kann sie auch rationale Einsicht nach geläufigem ›wissenschaftlichen‹ Verständnis vermitteln.20 Von da aus wurde deshalb über die qualitative Nachbarschaft der Wesensbereiche von Religion und Kunst auch bedeutungsvoll in der Geschichte des ästhetischen Denkens reflektiert (siehe Kapitel VIII). Solche ›Einsicht‹ ist übrigens auch der Moderne keineswegs abhanden gekommen. Zeugnisse davon finden sich bei vielen sensiblen Denkern, von Rudolf Otto, Gerhard Nebel oder Ernesto Grassi bis zu George Steiner und Kurt Hübner und schließlich auch bei prominenten christlichen Theologen.21

Meta-Physik Was hier als Kategorie der reinen Denkratio immerhin erkennbar wird, fungiert in einer scholastischen Disziplin, die durchaus dem wissenschaftlichen Denken zugerechnet wird, nämlich der Philosophie, unter Metaphysik. Zwar verdächtig mindesten seit Descartes, fundamental verworfen bei Heidegger, radikal verfemt bei den Logischen Empiristen, spiritistisch besetzt bei den Okkultisten, verzweifelt bekämpft bei Nietzsche und den Existenzialisten, schließlich endgültig tabuisiert 20

Vgl. dazu die grundlegende erkenntnistheoretische Erläuterung bei Bȏ Yin Rȃ (1930), Kapitel: Wissenschaft, S. 161–176.

21

Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1963 u. 1971; K. Kerényi, Werkausgabe in 9 Bdn., hg. v. M. Kerényi, München u. a. 1966–1988; G. Nebel, Das Ereignis des Schönen, Stuttgart 1953; E. Grassi, Kunst und Mythos, Hamburg 1957, NA Berlin 2014; G. Steiner bekennt: »Ich glaube, dass der Bereich der Musik im Zentrum des Bereichs der Sinnerfahrung des Menschen steht, des Zugangs des Menschen zu metaphysischer Erfahrung (oder seiner Enthaltsamkeit auf diesem Gebiet). In unserer Fähigkeit, in Musik Form und Sinn zu komponieren und darauf zu reagieren, liegt das Mysterium der Conditio humana begriffen. Die Frage ›Was ist Musik‹ könnte sehr wohl eine Variation der Frage sein: ›Was ist der Mensch?‹ (1990, S. 16); K. Hübner, Die zweite Schöpfung. Das Wirkliche in Kunst und Musik, München 1994, sowie bei R. Guardini, Über das Wesen des Kunstwerks, Tübingen 1956; K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik III/3, S. 337–340, ders., Wolfgang Amadeus Mozart 1756/1956, in: Gesammelte Texte, Zürich 1956; H. U. v. Balthasar, Herrlichkeit. Eine Theologische Ästhetik, 7 Bde., Einsiedeln 1961–1969 u. Unverrückbarer Polarstern, Dankesrede b. d. Verleihung d. Mozart-Preises 1987; H. Küng, Musik und Religion. Mozart – Wagner – Bruckner, München 2006; J. Ratzinger (Papst Benedikt XVI), Der Geist der Liturgie, Freiburg i. Br. 2000.

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in der westlichen Moderne als erledigtes Phantasma »unausgewiesener Substantialisierung« in falschem »Essentialismus« oder als bloßes Produkt neurophysiologischer Emergenz und längst ideologisch dementiert bei Marx, Feuerbach bis Adorno, Habermas, Wellmer, Dawkins, Hitchens et. al., behauptet sie eine seltsam hartnäckige Existenz als »Erste Philosophie«. Denn sie fordert mit dem Denken das gleiche Denken zum Darüber-hinausdenken auf. Das ist die gleiche erkenntnistheoretische Situation, mit der es sich bei Kunst und Spiritualität konfrontiert sieht, wenn sie sich in einem gemeinsamen Erfahrungs- und Empfindungsraum als qualitative Affinitäten erweisen. Bei Platon wird das delikate Sujet klassisch definiert mit der »Theorie des Einen als Grund von Sein und Denken«, bei Aristoteles als »Erste Philosophie«, in der Gnosis mit der »Lehre vom Logos«. Bei Plotin und den Neuplatonikern wird es am Nachdrücklichsten als ein ›Absolutes‹ verstanden, das als »Transzendenz des Einen« selbst »über Sein und Geist hinaus« un-vordenklich, ja höchst paradox: ›vor-ursprünglich‹ ist und Pseudo-Dionysius Areopagita fasst es als »Das Eine und Vollkommene jenseits allen Seins in Gott« auf. Nicolaus von Cues und Thomas von Aquin machen es, neuplatonisch inspiriert, als »Das Absolute« zu einer metaphysischen Grundkategorie schlechthin, Spinoza versteht es als »unbedingte erste Ursache«. Aber schon viel früher, bei den Vorsokratikern wie Thales von Milet, Anaximander, Anaximenes und Parminides ist es als »Ursprungsdenken« präsent, genauso wie als numinoser Urgrund allen Seins im Räsonnement der Hochkulturen von Indien, China, Mesopotamien oder Ägypten. Höchst spekulativ ausdifferenziert findet sich schließlich metaphysisches Denken in der abendländischen Philosophie bis zu einer akademischen Typologie: Henologie als Ursprungsmetaphysik, Ontologie als Seinsmetaphysik und Noologie als Geistesmetaphysik. Von da aus behält es eine Wirkung bis in den Deutschen Idealismus bei Hegel, Fichte und Schelling.22 Gemeint ist letztlich immer ein Überschreiten alles ›Bedingten‹ zu einem ›Unbedingten‹, hin zu einem »Einheitsgrund« allen Seins und einer Letztbegründung allen Denkens. Damit gelangt man unvermeidlich zum Numinosen, denn »Metaphysik ist auf Transzendenz angelegt« (Jens Halfwassen). Solches ›Überschreiten‹ kann zwar als ein Akt des ›Darüber-hinaus-Denkens‹ gedacht, als ›Einsicht‹ begriffen und als Theorie bis in spekulative Höchstleistungen, wie etwa beim Neuplatoniker Proklos, ausformuliert werden. Aber substanziell führt es nur weiter als ein Vorgang: als Vollzug einer Änderung der Bewusstseins­ einstellung. Das ist kein gedanklich-zerebraler Akt oder ein ›wissenschaftliches‹ Procedere, sondern eher eine Art psychischer ›Technik‹ wie sie auch bei Meditation 22

Vgl. dazu J. Halfwassen, Auf den Spuren des Einen, Tübingen 2015,S. 5 ff. und Kapitel: Metaphysik und Transzendenz, S. 27 ff.; ders., Die Unverwüstlichkeit der Metaphysik, München 2002; R. Spaemann, Das unsterbliche Gerücht. Die Frage nach Gott und der Aberglaube der Moderne, Stuttgart 2005.

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oder Kontemplation wirksam wird. Sie kann zu einer inneren Erfahrung im Empfindungsbewusstsein und zu einem veränderten mentalen Zustand führen (siehe S. 776). Bereits Plotin, Treuhänder platonischen Wissens und zentrale Figur des Neuplatonismus, erfasst diesen Sachverhalt genau. Wenn nämlich das »absolute Eine« als »ohne überhaupt denkbare Bestimmung« alle Denkbarkeit transzendiert, dann kann es, ihm zufolge, nur noch dadurch erreicht werden, dass das Denken auch sich selbst übersteigt und im Heraustreten aus sich selbst, der ekstasis, mit dem Einen selbst unterschiedslos Eins wird. Er versteht das als eine »mystische« Einkehr ins eigene Innere, »mit dem ein anderes Sehen in uns aktiviert wird, eine rein geistige Sehkraft, über die jeder Mensch verfügt, die aber nur den wenigsten bewusst wird«. Es ist eine »intuitive Schau (thea) oder Einsicht (noēsis) des Ganzen auf einmal«, die zugleich »von absoluter und unbezweifelbarer Evidenz ist«.23 Dieses »Stillstehen im Göttlichen« (Plotin, IV. Enneade) erinnert an jene »Einheitserfahrung«, von der Robert Neumann als moderner Psychologe spricht, aber in letzter Hinsicht nichts anderes als das Innewerden des »Einen« ist – Plotins höchste und letzte Referenz. Ob Plotin das aus eigener innerster Erlebniswirklichkeit darstellt, wissen wir nicht. Aber sein eigener Text verrät eine viel größere Nähe, ja Vertrautheit mit dieser Erfahrung als viele Kommentare seiner späteren scholastischen Interpreten. Dort wird sie zwar philosophisch-denkerisch immerhin als völlig andere Qualität des Erkennens erfasst, wenn man ihr bescheinigt, dass sich »die Ekstase des Geistes zur Transzendenz des Absoluten öffnet« (Jens Halfwassen, 2015, S. 5–6). Aber wenn sie dann eilfertig eine Auslegung als »rein intellektuelle Anschauung« erfährt, kategorisch unterschieden von »gefühltem Erlebnis« oder gar »irrationaler Mystik«, dann befördert man sie wieder zurück in jenes zerebrale, diskursive Denkgehäuse, von dem sich Plotin selbst so nachdrücklich entfernt:24 »Immer wieder, wenn ich aus dem Leib aufwache zu mir selbst, lasse ich das Andere hinter mir und werde mir selbst innerlich, schaue eine wunderbare gewaltige Schönheit und vertraue, in solchem Augenblick ganz eigentlich zum höheren Bereich zu gehören, verwirkliche höchstes Leben, bin in Identität mit dem Göttlichen und auf einem Fundament gegründet, denn ich bin zur transzendenten Wirklichkeit gelangt und habe meinen Stand errichtet hoch über allem, was sonst geistig 23

Zitiert nach der von Porphyrios eingeführten Ordnung der Enneaden Plotins und den Zeilennummern der historisch-kritischen Textausgabe von P. Henry u. H.-R. Schwyzer, Plotini Opera, 3 Bde., Paris u. Brüssel 1951–1973, Erste Enneade, Schrift 6, Kapitel 8, Zeile 25 ff.

24

Vgl. J. Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, München 2004 im Kapitel Plotins Mystik: Ekstasis als Selbstüberstieg des Denkens, S. 49. Hier zeigt sich, trotz der profunden Darstellung und Würdigung von Plotins Philosophie, durchgängig ein Verständnis von ›Geist‹ als ›Intellekt‹ und ›Denken‹ wie es dem üblichen Gebrauch in Philosophie und Wissenschaft entspricht. Plotin hingegen unterscheidet scharf zwischen dem diskursiven Operationsmodus des logismo und dem ›Innewerden‹ sowie einer ganzheitlichen ›Schau‹.

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ist; nach diesem Stillstehen im Göttlichen, wenn ich da aus dem Geist herabsteige in das diskursive Denken (logismo), dann muß ich mich immer wieder fragen: wie ist mein jetziges Herabsteigen denn möglich?« (IV. Enneade). Was ein erleuchteter antiker Denker denkerisch selbst erkennt und bekennt, bedeutet nichts anderes, als dass in solchem Prozess der scholastische, philosophischreflexiv verstandene Begriff von ›Metaphysik‹ überstiegen wird. Hier geht es nicht mehr um ›Gedachtes‹ oder aus dem ›Denken Erschlossenes‹, sondern entweder um die personale Erfahrung eines spirituellen Urgrundes wie bei den Mystikern oder in der ›Erleuchtung‹ fernöstlicher Spiritualität oder aber, in höchster und außergewöhnlichster Form, um ein objektives Bewusstsein in einem substanziell seelischgeistigen ›Sein‹ einer höheren Wirklichkeit. Damit begrenzt sich der Bedeutungswert des gängigen philosophischen Metaphysikbegriffs. Er taugt zwar noch dafür »dass er die erdensinnlich unwahrnehmbaren Dinge meint, die hinter der Physik des Universums verborgen sind«. Er wird aber zum bloßen »etymologischen Notbehelf«, wenn er als Bezeichnung für die Offenbarung einer »Urwirklichkeit als Urgrund allen Lebens« Verwendung findet oder für Aufschlüsse über die »Struktur der ewigen Wirklichkeit, wie sie nur ein Ewigkeitsbewusster geben kann«.25

Das Dilemma der ›Geisteswissenschaften‹ Von hier aus relativiert sich nicht nur die hermeneutische Reichweite der zünftigen Kunstwissenschaften, sondern, horribile dictu, der Geisteswissenschaften überhaupt. Ihr erkenntnistheoretisches Problem ist nämlich viel heikler. Hier geht es nicht allein um das schwierige Apriori der jeweiligen ›Einstellungen‹, sondern um die Verbindung von ›Wissenschaft‹ und ›Geist‹ – einer scheinbar idealtypischen Konjunktion der besten ›höheren‹ Vermögen des menschlichen animale rationale. Aber nur scheinbar. Denn es geht um den Begriff von Geist schlechthin. Die akademische Disziplin ›Geisteswissenschaft‹ erlangte und behält zwar ihre Dignität nicht nur durch die Natur ihrer Gegenstände, sondern auch als holistische 25

Dargelegt bei Bȏ Yin Rȃ, Geistige Relationen, Basel 1939, S. 70–72, wo diese Unterscheidung der Begrifflichkeit zwischen dem scholastisch-philosophischen Gebrauch von ›Metaphysik‹ und jenem anderen getroffen wird, der »recht wesentlich Anderes bezeichnet, als dieses Wort bei mir bedeutet«, wenn etwa von seinem »metaphysischen Lehrwerk« die Rede ist, wo der Begriff nur im »etymologischen Verstande als Notbehelf« Verwendung findet. Denn, was Bȏ Yin Rȃ als real Ewigkeitsbewusster dort »zur Offenbarung« bringt, schließt kategorisch aus, das, was er darbietet, als ›Philosophie‹ im wissenschaftlichen Sinn zu bezeichnen. Er »gibt ja nicht etwa Resultate seines Denkens«, und »nicht aus Schlussfolgerungen besteht sein Erkennen«. Damit wird gleichzeitig der philosophisch nur gedachte ›Einheitsgrund‹, das ›Absolute‹, auch als real existentes »Reich der ursachsetzenden ewigen Wirkungskräfte des Seins«, dem »einzig Wirklichen« kenntlich gemacht, vgl. Bȏ Yin Rȃ, Das Buch vom Jenseits, S. 69–72 u. S. 147. In diesem Sinn soll auch der Begriff ›Metaphysik‹ im vorliegenden Buchtext verstanden werden.

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Reflexionswissenschaft. Denn im Unterschied zu den empirischen Natur- und Ingenieurwissenschaften oder vielen Anwendungsdisziplinen zwischen praktischer und ›rechnender‹ Vernunft und ›kasuistischer‹ Operationalität vermag sie auch darüber nachzudenken, was die anderen dort ›tun‹ samt deren Prämissen und Folgen. Dabei kann sie nicht nur zu wichtigen Einsichten gelangen, sondern auch bis in erkenntnistheoretische Kategorien. Aber als akademischer Fächerkanon im strengen Sinn orientiert sie sich, getreu ihrer Entstehung in der sich neu formierenden universitären Wissenschaftskultur des 20. Jahrhunderts methodisch am Paradigma der aufsteigenden positivistischen Naturwissenschaften (siehe Kapitel VIII). Da will man zwar ›verstehen‹ mit Wilhelm Dilthey, Wilhelm Windelband und Max Scheler, aber doch eigentlich ›erklären‹, weshalb ihre Instrumente dafür heißen: wertfreie Analyse, präzises Fact-finding, ›objektive‹ Kognition und redliche Ausklammerung jenes Begriffs vom ›Geistigen‹, der mehr meint als die bloße Gedankenarbeit und zerebrale Gehirntätigkeit, wie es Max Weber so nüchtern beschrieb. Damit folgt die Disziplin einem Geistbegriff aus dem allgemeinen Verständnis der westlichen Moderne. Die geläufige Verwendung von ›Geist‹ als Synonym für Intellekt bringt es auf den Punkt. Von da aus wird ein Menschenbild entworfen, das den Geno- und Phänotyp ›Mensch‹ immer weniger als beseeltes Geist-Wesen bestimmt, sondern über seine Intellektualität und seine Gehirnratio: Die »Krone der Schöpfung« definiert durch sein ›Denken‹. Und das ›Denken‹ im Technozän vorzugsweise definiert als komplexer neokortikaler Rechenprozess, quasi als biochemischer Algorithmus, den man mit seiner Replik als technischen Algorithmus durch KI, Neuromorphing und Pattern recognition, der elektronischen Nachbildung neuronaler Schaltkreise und der Mustererkennung ihrer Strukturen und Prozesse, nachahmen und im deep oder machine learning sogar übertreffen will (siehe S. 721): Das Original wird obsolet. Das bedeutet nicht nur eine dramatische Dekon­ struktion des Subjektbegriffs (siehe S. 725), sondern auch die Liquidation des alten »Geistes«-Begriffs in einer neuen Anthropologie. Verstanden als »Abkopplung der Intelligenz vom Bewusstsein« weist sie den Weg »vom theozentrischen über das homozentristische zum datazentristischen Weltbild« (Y. N. Harari).26 Wie sich Neuro- und Kognitionswissenschaften redlich bemühen, den Geistbegriff aus modernem Verständnis zu fassen, zeigen ihre vielen Erklärungstheorien. Der philosophische Behaviorismus will Geist als mentale Zustände von »Verhaltensdispositionen« definieren, etwa bei Gilbert Ryle. Andere Theorien, wie etwa die Identitätstheorie, beschreiben ihn als Ergebnis reiner Gehirnprozesse, oder, wie der Funktionalismus, als mentale »funktionale Zustände« materieller Systeme. Die IT-Profis verstehen ihn konsequent als biologischen Algorithmus, wie im europäischen Human Brain Project (ETH Lausanne), und arbeiten an seiner elektronischen Simulation. Das folgt Prämissen wie sie der berühmte Informatiker Raymond 26

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»Heute zahlt es der Dataismus den Humanisten mit gleicher Münze heim und erklärt: ›Ja Gott ist ein Produkt der menschlichen Phantasie, aber die menschliche Vorstellungskraft ist ihrerseits das Produkt biochemischer Algorithmen‹«, Y. N. Harari (2019), S. 597 u. 608.

Kurzweil schon lange vertritt, wenn er das »menschliche Gehirn als den leistungsfähigsten Computer, den die Evolution hervorgebracht hat« versteht und in seiner Singularity-Theorie der Synthese von biologischer und künstlicher Intelligenz das Wort redet.27 ›Geist‹ hingegen weht nicht nur wo er will, sondern erschöpft sich keineswegs in dem, was modernes szientistisches Verständnis in einem reduktiven Modell darunter versteht. Wer ihn auf die bloße Gehirntätigkeit als Gedankenbewegung beschränkt, unterschlägt seine eigentliche ontologische Wesensqualität, die tief bis ins Seelische und Spirituelle reicht. Bereits das, was üblicherweise als ›Geistesgeschichte‹ bezeichnet wird, ist tatsächlich weit mehr als nur eine Geschichte des bloßen Denkens. Vielmehr umfasst sie vielerlei Formen menschlicher Bewusstseinsleistungen, wie es schon Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes auszuloten versuchte. Noch weit deutlicher bewahren es die alten, verständigen Konnotationen. Die indogermanische Wurzel des Wortes lautet gheis für erschaudern, ergriffen sein. Die westgermanische ghoizdo bezeichnet eine übernatürliche Wesenheit wie sie noch in Begriffen wie »Gespenst« oder den »Geistern« weiterlebt. Im MahayanaBuddhismus wird es mit Nirwana als ein »Verwehen in das Absolute« unterschieden von Maya, dem Schleier der wechselnden äußeren Erscheinungen. Der hebräische Begriff für Geist, Rûah, aus dem Tanach, der Sammlung heiliger Schriften des Judentums, steht für das »Lebensprinzip aus dem Göttlichen« und im Koran ist das arabische rûh der »Wind von Gott«, verstanden als »Einblasen des Atem Gottes, das den Menschen zum Leben erweckt«. Auch das Pneuma bei Platon und Aristoteles ist jener »Hauch«, der einen höheren, kosmologischen Bezug hat wie im Hagion Pneuma als »heiliger Geist«, der dann erst im verwandten Nous seine intelligible Seite erhält. Bei Augustinus hat er die Funktion als oculus animae, das »Auge der Seele«, durch welches das Lumen incommuntabilis, das »Licht des Göttlichen«,erkennbar wird und bei Thomas von Aquin wird er als substantia spiritualis als eine Qualitätsstufe göttlicher Geistigkeit von der Stufe der bloßen »Tierseele« unterschieden. Selbst bei Hegel hat er in seinem spekulativen System der Phänomenologie verschiedener Geistesarten eine besondere Stellung als »absoluter Geist«. Er wird dort verstanden als eines »In sich selbst Wissens« im Subjekt und erhält schließlich über seine Erscheinungsform in der Religion noch einen Bezug zum Göttlichen. Sogar im theologisch gebrauchten »geistlich« ist noch etwas davon präsent. Und schließlich manifestiert sich auch im antiken Verständnis von Genius, vom lateinischen gignere, zeugen, schöpfen, einen Nähe dazu, einmal als »Genialität«, zum anderen als Wirkungsprinzip einer höchsten schöpferischen Geisteskraft.28 27

R. Kurzweil, KI. Das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz, München u. Wien 1993; Homo sapiens (1998), Berlin 1999; Menschheit 2.0 (2005), Berlin 2013; Das Geheimnis des menschlichen Denkens (2012), Berlin 2014.

28

Der Begriff der Gnosis, der Lehren einer von Gott ›gezeugten‹ Welt- und Menschenschöpfung mit der Verbindung von Makro- und Mikrokosmos, hat die gleiche Sprachwurzel: γιγυώσκειυ, zeugen.

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Als griechische Analogie im Daimon oder Daimonion kann sie für einen »seligen Geist« stehen (bei Plotin die vom Leib befreite »Seele des Menschen«) oder für eine »geistige« Verbindung von göttlicher und menschlicher Sphäre in verschiedenen Funktionen. Noch bei Goethe oder in der tiefenpsychologischen Schule von C. G. Jung ist mit dem daraus abgeleiteten »Dämonischen« nachdrücklich ein schöpferisches Prinzip gemeint, wie es im Künstler exemplarisch zur Wirkung kommt (siehe S. 764).29 Auch der Geisteswissenschaft ›Musikwissenschaft‹ bleibt das systemische Dilemma nicht erspart. Ihr Fokus weitete sich von einer streng philologischen Arbeit der Quellenerforschung, Edition und Biographik immer weiter auf Deutung und Bewertung der Befunde als ›geistige Sinngebilde‹ aus. Gilt für ersteres das Problem des apriorischen Theorieansatzes bereits für die ›Lesart‹ der einfachsten historischen Quelle, in die stets fast unvermeidlich Quellendeutung einfließt,30 so tritt in Hermeneutik und Theorie von Musikgeschichte und musikalischer ›Bedeutung‹ die geistes-wissenschaftliche Problematik heftigst in Erscheinung. Zünftig hegelianisch im evolutionären Konzept von der »Entmündigung der Kunst durch Reflexion« (Arthur C. Danto) und auffällig erinnernd an Oswald Spenglers Phänomenologie einer kulturellen »Spätzeit«, gewinnt momentan die Tendenz immer mehr Wirkung, Musikgeschichte als progressiven Ablauf einer abstrakten »Kompositionsgeschichte« zu skelettieren.31 Das lobende Prädikat, ein Werk oder ein Komponist »weise voraus auf …«, »nehme vorweg« verrät den Fokus. Methodische Voraussetzung dafür ist, das Musikwerk kasuistisch als einen Untersuchungsgegenstand zu betrachten, der getrennt vom Intentionalen seines Verfertigers und von einer Ausdrucksbedeutung wie ein materiales ›Präparat‹ im Labor zu behandeln ist. Das ist die Abstraktion zum Exempel eines bestimmten Componere, historisch oder zeitgenössisch, belangreich oder belanglos. Das verbürgt angemessene Objektivität und löst die Forderungen des aktuellen Wissenschaftsbegriffs ein. ›Wissenschaftlich‹ bringt es reiche Erträge. Denn methodisch als Corso von ›Präparaten‹ verstanden und historiographisch als ein Artefakt a posteriori vom 29

Wie ein letztes Derivat davon erscheint eine Definition als »Selbstbildfähigkeit des Menschen«, verstanden als »Orientierung des Menschen an einer Vorstellung davon, wer oder was er ist«. Sie sei zwar »sozial reproduziert«, »ohne aber sozial konstruiert zu sein«, wie es Markus Gabriel in seiner Philosophie eines »Neuen Realismus« darstellt, vgl. Fiktionen, Berlin 2019, S. 321 u. passim.

30

Das zeigt sich etwa an der Vielfalt verschiedener, musikologisch jeweils gut begründeter Editionskonzepte. Sie reichen von den emphatischen ›Denkmälerausgaben‹ über die ›kritisch-korrekten‹ und die ›Urtext‹-Ausgaben bis zu den ›praktischen‹ und ›instruktiven‹. Vgl. dazu auch Thr. Georgiades, Musik und Schrift (1962), in: Kleine Schriften (1977), S. 107–120.

31

Vgl. L. Lütteken, Wie ›autonom‹ kann Musikgeschichte sein? Mögliche Perspektiven eines methodischen Wandels, in: AfMw 57 (2000), Heft 1, S. 31–38.

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perspektivischen Fluchtpunkt der abendländischen Moderne aus betrachtet, vermag ›Kompositonsgeschichte‹ die materialen Veränderungen der musikalischen Mittel präzise zu beschreiben, bestens zu analysieren und interessant zu reflektieren. Wobei sich das selten anders vollzieht als unter dem – subkutanen oder offenkundigen – Fokus einer evolutionären Geschichtsphilosophie der Innovationen, wie es uns Technik und Naturwissenschaft vormachen: schneller, weiter, höher, besser – am besten aber ›neu‹. Damit erfasst man zwar ganz ausgezeichnet Beethovens ›fortgeschrittenere‹, kompliziertere Materialbehandlung oder Pierre Boulez’ und Brian Ferneyhoughs noch viel fortgeschrittenere, weil viel komplexere im Vergleich zu Palestrina, Schütz oder sogar Bach. Aber abgesehen davon, dass es in den Ars nova-Motetten oder den Kanonkünsten der Renaissancemusik auch schon höchst komplex zugeht, erfasst eine reine Analytik der Mutationen nichts vom Substanziell-Intentionalen, dem also, was diese Komponisten als je eigene Ausdruckswelt gestalten wollten. Denn die ›Kompliziertheiten‹ der franko-flämischen Künste formen eine ganz andere seelische Ausdruckssphäre als die des späten Beethoven oder von Boulez. Den Wandel als bloße Veränderungsgeschichte der Mittel und materiellen Macharten zu betreiben, verfehlt ganze Welten an relevanter Bedeutungsdifferenz nach einem anthropologischen Verständnis. Wozu ein solcher Fokus führt, zeigt sich an der Behandlung von Mozart und Madonna oder Schubert und Prince, Bach und Heavy Metal bis hin zum Spektrum vieler Schallerzeugnisse der Moderne unter dem scheinbar gemeinsamkeitsstiftenden Integral von ›Musik‹. Deshalb erschließt eine Analyse der materialen Prozesse unter der Perspektive strikten (musik-)wissenschaftlichen Denkens wohl das Vehikel der Bedeutungsunterschiede – aber noch nicht einmal den intentionalen Gehalt eines Werks, noch viel weniger seinen seelisch-geistigen Gehalt.32 Auf den aber käme es als Sinnangebot an, soll es mehr sein als eine Materialschau. Das bevorzugte Erkenntnisinteresse des gegenwärtigen wissenschaftlichen Denkens liegt eher bei ›materialer‹ Bedeutungssuche als in einer Suche nach dem ›Sinn‹ aus in jener größeren Perspektive, die einen anderen Begriff von Geist meint.

32

»Läßt sich Intentionales zum Gegenstand von wissenschaftlicher Analyse machen? – als Nicht-Empirisches läßt es sich nicht empirisch vergegenständlichen, sondern nur erschließen. Wenn musikalische Analyse geisteswissenschaftlich sein will, so muß daher zur Analyse … etwas hinzukommen, nämlich genau jenes Erschließen als Erdeuten durch Reflexion … Oft wird der Versuch, Intentionales in Musik zu erschließen, als Spekulation abgetan. Es ist auch Spekulation, aber eine unumgängliche … Versucht man nämlich eine solche Spekulation nicht, hat man den Geist verloren, versucht man wiederum eine solche Spekulation ohne Rückbindung an empirische Analyse, so hat man die Wissenschaft verloren«, so thematisiert Albrecht von Massow die Problematik grundlegend, vgl. Ästhetik und Analyse, in: Musikalischer Sinn, Frankfurt a. M. 2007, S. 63, sowie ders., Nach welchen Kriterien begründet sich heutige Musikwissenschaft? in: AfMw 57 (2000), Heft 1, S. 39–63.

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Ästhetik und Ethik oder: Musik und Erkenntnis Dort kommt Bedeutung offenbar ganz anders zustande. An ihrem Anfang steht weder die analytische Dechiffrierung noch der Begriff, weder die historische Folie, das soziale Konstrukt oder eine Ideologie, sondern die Erfahrung als Präsenz und Essenz einer sinnvollen klingenden Schwingungsrealität: das Resonare nicht das Raisonnieren, denn »Musik ist Erklingen« (Thr. Georgiades). Auch im bloßen Lesen erklingt sie innerlich. Erst im Erklingen erreicht sie ihren gemeinten ›Ort‹, erst im Auftönen wird sie zur lebendigen Gegenwart oder sogar zum »Ereignis einer Epiphanie« (Hans Ulrich Gumbrecht) und bewegt damit Sinne und Ratio. Von daher hat Musik alle Macht: in Mythos wie in Diskothek, in Tanz und Marsch oder Wiegenlied, in Fanfare und Sterbechoral, in der Schnulze wie im christlichen Passionsdrama, im dröhnenden Pop und im innigen Schubert-Lied. Von daher bewegt sie Herz, Glieder, Bauch und Phantasie, wird zur göttlichen Macht des Orpheus oder zur lasziven Mätresse perfider Propaganda, zur verführerischen Sirene von Muzak bis Marketing, ist »Gemütsergetzung« (J. S. Bach) oder Rausch, Klangkulisse und Droge, agiert als subkutaner Komplize filmischer Bilderwelten oder als überirdische Tröstung. Von dort generiert sie emphatischen Starkult und süchtige Follower-Gemeinden, Lifestyle-Ambiente, soziokulturelle Biotope und Geschäftsmodelle, schickt die Soldateska fröhlich ins Gemetzel – im Nazi-Liedgut mit der Fahne flattert uns voran, in Hollywood mit Wagners Götterdämmerung beim Movie Apocalypse Now in unverblümter Apotheose technoider Killeranimation. Von daher illuminiert sie jeden ›Begriff‹ und ›Diskurs‹ und jede betroffene oder spekulative Hermeneutik. Aber wenn bereits im naiven Hörerlebnis ein Marsch von einem Wiegenlied, eine Trauerklage von einer Jubelmusik begriffslos unterschieden werden kann, meistens auch noch Wagner von Bach, oder Mozart von Madonna – sofern es nicht der zeitgenössischen Einrede verfällt, alles wäre ›gleich gut‹, wenn es nur ›gut gemacht ist‹ –, dann erkennt man einen psychologischen Urteilsprozess am Werk, der trennscharf musikalische Qualitäten zu unterscheiden vermag. Er ist auch immer als ein ›Vorverständnis‹ im Spiel – erinnernd an Heideggers »Vorprädikatives Verstehen« aus seiner »Hermeneutik der Faktizität« – das naiv als Sympathie oder Antipathie zum Ausdruck kommt, aber professionell bei Entscheidungen der Kunstwissenschaften, die bereits grosso modo selektieren, was sich analytischer Zuwendung zur höheren Ehrung durch Reflexion lohnen könnte. Die wird dann gegebenenfalls beauftragt, »Das zunächst Unverstandene – aber als bedeutsam Gefühlte« in einem nachträglichen Beweissicherungsverfahren intellektuell zu legitimieren oder für ›Rangordnungen‹ zu evaluieren. Die Musikgeschichtsschreibung demonstriert es mit der Gunst ihrer Befassung und der Skala von Gewichtungen. Also lieber gleich Beethoven und nicht unbedingt Rubinstein, Romberg, Wranitzki, Weigl oder Ries, besser Bach und

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nicht Graupner, eher Mozart und nicht Dittersdorf oder Wagenseil, lieber Richard Wagner und weniger Siegfried Wagner. Wobei Revisionen der musik- und kunstgeschichtlichen Urteile zwar recht drastisch sein können, aber selten echte Größe verfehlten. Es scheint, als operiere dieses innere Unterscheidungsvermögen in einer Art seelisch-emotionalem Verständnisraum, in dem, oft schon verbunden mit persönlichen Lust- oder Unlustgefühlen, ein Relief von Bedeutungsqualitäten wie in einem Vektorraum zustande kommt, gewissermaßen als eine Topologie semantischer Profile.33 Dort hat zwar zunächst jede klingende Form den ›Wert‹ einer objektiven Formulierung als res facta und damit als Gestaltung eines klingenden Ausdrucks von psychophysischer Realität. Aber das Unterscheidungsvermögen mit seinem Differenzsinn operiert qualitativ. Und zwar bestimmt durch die doppelte Subjektivität von persönlichem ›Geschmack‹ des Hörenden und der subjektiven Formgestaltung eines Ausdrucks durch ihren Verfertiger. Was in dieser zweifach persönlichen, individuellen Determination dem wissenschaftlich imprägnierten Verstand unserer Zeit als Zumutung an seine Vorstellung von ›Objektivität‹ erscheint, leistet aber tatsächlich das einzig Wesentliche für die Bedeutung. Denn nur dadurch ereignet sich die Begegnung zweier Qualitäten: der Sinnqualität des Werks und der auf Sinnfindung disponierten Bewusstseinsstruktur des rezipierenden Menschen mit ihrem »Willen zum Sinn« (Viktor Frankl).34 Sie ermöglicht eben jene »Ortsbestimmung« im diffusen »Vektorraum« der Empfindungseindrücke, wo die unverbindliche Kunst- und Musikwahrnehmung zum persönlichen Werterleben wird: ein Vorgang, der offenbar, weil er zunächst weitgehend unbewußt verläuft, auf einem anthropologischen Existenzial gründet.35 33

Vergleichbar etwa den Modellen semantischer Differenziale, wie sie in der Sozialforschung von Charles E. Osgood entwickelt wurden oder in der Psychologie von Peter R. Hofstätter als »Polaritätenprofil«, besonders auch im Bereich der Musikrezeption.

34

In der vom Psychiater und Neurologen Viktor Frankl entwickelten Existenzanalyse und seiner Logotherapie erhält diese intentionale ›Sinn‹-Disposition des Menschen als LeibSeele-Geist-Einheit eine anthropologische Dimension als Universalie. Zur Sinnerfahrung formuliert er (in: Der Wille zum Sinn, München 1991) drei Wege über drei Wertkategorien: schöpferische Werte, Erlebniswerte und Einstellungswerte.

35

In der frühen, von Max Scheler inspirierten, Phänomenologie wird eine Unterscheidung zwischen dem ontologischen Status eines realen Objekts und dem eines Kunstwerks insofern getroffen, als bei letzterem eine rein intellektuelle Betrachtung an seinem Kern und Wesen vorbei geht, wie es etwa bei Arthur Wolfgang Cohn präzise formuliert wird (Das musikalische Verständnis. Neue Ziele, in: ZfMw 3/4, 1921, S. 129–135). Entscheidend ist dabei die Unterscheidung zwischen einer intellektuellen Erfahrung als ›wertblinde Erkenntnis‹ und einer emotionalen Erfahrung als ›wertende Erkenntnis‹. Ähnlich auch: M. Geiger, Die Bedeutung der Kunst. Zugänge zu einer materialen Wertästhetik. Gesammelte, a. d. Nachlass ergänzte Schriften z. Ästhetik, hg. v. K. Berger u. W. Henckmann, München 1976, sowie M. Dobberstein, Musik und Mensch. Grundlegung einer Anthropologie der Musik, Berlin 2000 (= Reihe historische Anthropologie, hg. v. Forschungszentrum für historische Anthropologie d. FU Berlin, Bd. 31), S. 97–100, 104 ff.

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Für das spielt es übrigens zunächst überhaupt keine Rolle, auf welchem künstlerisch-formalen Niveau sich eine Musik bewegt. Denn die klingende Form wird eben von der eigenen Disposition aus bewertet und ist deshalb bei Mozart oder Madonna psychologisch genauso wirksam wie bei Michelangelo oder Jeff Koons, beim griechischen Parthenon oder bei deutschen Gartenzwergen. Deshalb kann bei einer entsprechenden Gemütsdisposition ein Schlager oder jede Schnulze, genauso wie bloßes Kunstgewerbe oder Kitsch, ein ähnlich wirksames personales seelisch-emotionales Erleben auslösen wie bei anderer Veranlagung Bach oder Mozart, deren musikalische Ausdruckswelt womöglich einen anderen Menschentypus sinnlichemotional gar nicht zu erreichen vermag. Umgekehrt kann zwar ein musikalisch halbwegs Gebildeter die geniale Kunstfertigkeit von Wagners Tristan erkennen und bewundern, ja verehren – seine affektiven Bedeutungswelten aber ablehnen oder sich gar ihrer Einwirkung auf sein Seelenleben verweigern. Es ist ein relationaler Prozess, den man als psychophysisches »Relativitätssyndrom« bezeichnen könnte – beschreibbar nach Art einer ›Relativitätstheorie‹, in der sich ein ›Objektives‹ als Funktion eines ›Subjektiven‹ darstellen läßt.36 Dieser Prozess lehrt aber auch, dass das subjektive, personale Werterleben nur die eine Variable musikalischer ›Bedeutung‹ repräsentiert. Eine andere ist die von Machart und Textur der klingenden Form, die an die alte scholastische Unterscheidung zwischen forma und lumen erinnert. Dort differenziert man weiter zwischen einem lumen naturale, der natürlichen inneren Empfindung für Seelisches oder Spirituelles und dem besonderen lumen gratiae, einer Erleuchtung aus numinoser Offenbarung. Beides, ›materiale‹ Machart und ›Gehalt‹, sind zwar in der Musik, ungleich enger als in jeder anderen Kunst, in ihrem Bedingungsgefüge, dem musikalischen Tonsatz, verbunden – aber für die inneren ›Vermögen‹ menschlicher Kog­nition offenbar sehr wohl unterscheidbar. Deshalb können Formgestaltung, also Formniveau und der Sinngehalt mit ihren jeweiligen Wirkungen auch unterschiedlich wahrgenommen, beschrieben und bewertet werden.37 Die ›Wertbestimmung‹ für das klingende Aggregat im aufnehmenden Menschen ereignet sich relational als »Positionsbestimmung« in diesem inneren »Vektorraum« 36

Beides kann sich in ein und derselben Person ereignen, denn jeder Mensch hat nicht nur verschiedene Wesensseiten, sondern befindet sich auch in wechselnden Gemütszuständen und zwischen banalen Stimmungen und elevierten, woraus sich auch die psychologische Berechtigung verschiedener Qualitäten und Genres von ›Musik‹ ergibt, wodurch aber auch das seelisch-geistige Niveau verschiedener Musik gekennzeichnet ist.

37

Als ›Formverlauf‹ unter positivistischem Fokus gewürdigt bei H. Mersmann, Angewandte Musikästhetik, Berlin 1926. Zum nachdrücklichsten Zeugnis von Formarbeit gehört Beethovens Kompositionsprozess. Er zeigt mit seinen zahlreichen Skizzen zum einen, dass der Formungsprozess als Auseinandersetzung mit den Ausdrucksmitteln genauso entscheidend sein kann wie der ›Einfall‹, die ›Eingebung‹, zum anderen welche Bedeutung ›Formfindung‹ über das künstlerische Schaffen hinaus in der (seelischen) Selbstgestaltung annehmen kann und damit eine existenzielle, anthropologische Dimension erlangt (siehe Kapitel VII).

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mit einer Entscheidung über die ›Bedeutung‹ des Dargebotenen, die es im eigenen seelisch-emotionalen Haushalt hat. Das ist zuletzt eine personale Sinnentscheidung. Sie gleicht einer Art kognitiver Differentialdiagnose. Ob sie ganz unbewusst bleibt – obwohl es doch eine ›Bewusstseinsleistung‹ ist, oder ob sie ins diskursive Denken vordringt, obwohl es dort seine Ursache nicht hat: Damit wird entschieden, ob im Aufnehmen der polyphonen Klangkathedralen von Palestrina, Lasso, Tallis oder de Victoria etwas auftönt, das vielleicht als klingendes Abbild einer größeren ›Ordnung‹, womöglich höheren Sinns, empfunden, vielleicht (platonisch) ›erinnert‹ werden kann – oder als langweilige Gleichförmigkeit. Dort wird entschieden, ob in Bachs impulsstarker Kontrapunktik eine Seinsgewissheit aus leidenschaftlich erlebter Spiritualität auftönt – oder barocker Schwulst in protestantischer Folie mit scholastischer Künstelei oder gar nur bloßer Beat, den jede Rockband besser fabriziert, oder ob bei Beethoven das glühende Brio tiefster Bewegtheit aus dem Ethos höherer Menschlichkeit erfühlt wird – oder nur Pathos, Konfliktharmonik und widerborstige Eigenwilligkeit. Dort entscheidet sich, ob Kundrys Drama in Wagners Parsifal als verzweifelter Konflikt eines Eros sexus zwischen Lust und Erlösung nachempfunden werden kann – oder nur als mythologisch verbrämtes Imago von Wagners erotoman belasteten Phantasmen. Dort entscheidet sich auch, in welche ›Stimmungen‹ und Phantasien man sich zwischen Country Music und Heavy Metal oder den akustischen Schaumbädern von Easy Listening bis Sound driften lassen kann, zwischen (kommerziell vorsortierter) Happiness-Animation oder der kundigen App Mood aus der allzeit bereiten Streaming-Datei. Dafür, dass die emotionalen Leistungen jener inneren ›Vermögen‹ nicht weniger kognitive Verständnisleistungen sind als diejenigen intellektueller, gibt es zahlreiche Belege. Sie reichen von den antiken Musiktheorien bis zu den modernen Neurowissenschaften, vom Embryo im Mutterleib und der Funktion unseres Gehörapparats bis zur Psychologie des Schöpferischen. Obwohl Plato der sinnlichen Erscheinung von ›Kunst‹ als trügerischem Derivat der ›Idee‹ zutiefst misstraut und die ›Dichter‹ sogar aus der Staatsräson verbannen will, hinterlässt er uns eine Einsicht, in der sich solche Kognitionsleistung exemplarisch mit Metaphysik verbindet: »Die Seele erschrickt, sie erschauert beim Anblick des Schönen, da sie spürt, daß etwas in ihr aufgerufen wird, das ihr nicht von außen durch die Sinne zugetragen worden ist, sondern das in ihr in einem tief unbewußten Bereich schon immer angelegt war« (Dialog Phaidros). Hier begegnet uns Metaphysisches im unverstellten Blick der griechischen Antike: ein ›Erkennen‹, das offenbar in einer seelischen Disposition des Menschen gründet und das Platon bekanntlich als Anamnesis, als »(Wieder)-Erinnerung« aus dem überpersönlichen Bereich urbildlicher »Ideen« versteht – wobei dieser Begriff bei ihm, weil er den Logos meint, eine viel tiefere Bedeutung hat als nach heutigem Gebrauch. Die pythagoreische Schule und das scholastische Denken des Mittelalters haben »Schönheit« deshalb als strukturelle Ratio eines Vollkommenen begriffen,

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das sich uns über Sinne und Kunst mitzuteilen vermag. Der Mythos bewahrt die platonische ›Erinnerung‹ für die Kunst, wenn er um die Abkunft ihrer neun Musen von der Mutter Mnemosyne weiß. Denn Mnemosyne ist die Göttin eines »schauenden Gedächtnisses« an die Urgründe kosmologischer Natur. Auch in einer anderen fernen Kultur, wie im chinesischen Konfuzianismus, liegt den Erscheinungsformen der irdischen Welt ein transzendenter Urgrund als ›Welt der Ideen‹ zugrunde: der »frühere Himmel« – die Matrix von Urbildern des Seienden als in der Seele bewahrte Erinnerungsbilder und als Quelle tieferen ›Wissens‹.38 Schließlich erhalten diese urbildlichen Tiefenstrukturen in der Psyche auch ihre Beachtung in der modernen Psychologie, wie etwa in der »Archetypenlehre« von C. G. Jung, aber auch in den Neurowissenschaften, wo die elementare Wirkung von Musik in Therapie, bei Angststörungen, Demenz, Wachkoma oder in der Palliativmedizin empirische Bestätigung findet.

Musikalische Verstehensleistungen Dort beschäftigen sich eine aufmerksame psychologische Ästhetik, Psychiater und Neurologen schon länger mit diesen ›Vermögen‹ seelisch-emotionaler ›Organe‹ als Merkmal menschlicher Kognition. Es erhält dort als präreflexives ontologisches Verständnis zwar einen Bezug zu Tiefenstrukturen sowie auch die Musik eine Rolle bei seelischen Erkrankungen.39 Aber heutige Neurophysiologie verlegt sie, wie 38

Platons ›Aufgerufen werden‹ nur als intellektuellen Vorgang oder als Lernprozess zu verstehen, greift zu kurz, wie es im Dialog Menon (vor allem 89d–100c) in der Auseinandersetzung um die »Erlernbarkeit der Tugend« demonstriert wird. Vielmehr handelt es sich um einen Rekurs auf Tiefenstrukturen und Urprägungen im Seelischen, ähnlich wie es beispielsweise auch in der dem I-Ging (Buch der Wandlungen) verpflichteten Kosmologie von Shao Yong (1011–1077) mit dem »früheren Himmel« (Xian tian) angesprochen wird und wie es noch profunder Bȏ Yin Rȃ ausführt, wenn er in Bezug auf eine Verstehensmöglichkeit seiner Lehre nicht auf die »gedankliche Spekulation« rechnet, sondern auf einen Seelischen Ursinn (Welten, Basel u. Leipzig 1922, S. 9), der jedem Menschen als inneres Tiefenerbe innewohnt. Gleiches ist gemeint, wenn er hinweist auf »jenes der Seele bekannte, wenn auch dem Gehirnbewußtsein noch nicht Nahegekommenes« (Der Weg meiner Schüler, Basel u. Leipzig 1932, S. 79) oder wenn er ausführt, dass es bei seinen Darstellungen darum geht, die »in den ewigen Kräften der Seele ihnen entsprechende Erinnerungen wieder bewußt zu machen« (Hortus conclusus, Basel 1936, S. 147). Auch die neueren Kognitionswissenschaften, vor allem in der Cognitive Science of Religion (zuerst formuliert bei E. Thomas Lawson, 2000), suchen Annäherungen an solche Einsichten. Obwohl stark geprägt von der Evolutionären Psychologie, in der Religion nur als Nebenprodukt sozial vorteilhafter, darwinistischer Evolutionsstrategien rangiert, wird die Existenz solcher ›Strukturen‹ als eine Art normales und universales anthropologisches Urmuster anerkannt – wenn auch, zeitgemäß reduktionistisch, als generiert im »Gehirn« angenommen, vgl. etwa Justin L. Barrett, Born Believers: The Science of Children’s Religious Belief, New York 2012.

39

Vgl. für einen umfassenden Überblick dazu: Christian A. Allesch, Geschichte der Psychologischen Ästhetik, Göttingen 1987 sowie zum präreflexiven Verständnis bei V. Frankl, Der

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›Geist‹ und ›Bewusstsein‹, konsequent in neuronale Netze und Systeme der Neurotransmitter – bestätigt aber immerhin ihre Realität im Rahmen einer aufblühenden Emotionsforschung, jenseits eines abstrakten Sozialkonstruktivismus, der sie als bloße »Kulturprodukte« versteht. Ähnlich wie das Bemühen in der Philosophie der Aufklärung, die »Vermögen der unteren Erkenntnisorgane« auf das Niveau der »oberen« durch Baumgartens Ästhetik als Wissenschaft zu bringen, ist längst eine Rehabilitierung der emotiven Leistungen im Gange. Lange vernachlässigt als »Imperfektion der kognitiven Maschine« im logozentristischen Weltbild der westlichen Moderne finden sie inzwischen größte Beachtung als zentrale Mitspieler bei der Ausbildung eigener Identität und sozialer Kompetenz sowie wichtiger Bewusstseinsleistungen. Besonders dort erweist sich die Unverzichtbarkeit emotionaler Beteiligung für Gedächtnis und zerebrale Prozesse. Von der »Schaltkraft der Affekte« spricht schon 1906 der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler. Als »Emotionale Kompetenz« korrigieren sie das cartesianische Credo der abendländischen Ratio »Ich denke, also bin ich« mit einem »Ich kann nur denken, wenn ich auch empfinde« wie der Neurologe António R. Damásio.40 Das ist eine moderne, empirisch über die Neurophysiologie begründete Fassung dessen, was der Mathematiker, Physiker und christliche Philosoph Blaise Pascal aus der alten Anthropologie heraus schlichter formuliert, wenn er von den beiden komplementären Instanzen menschlicher Vernunft spricht, der des »Verstandes« und der von der raison du cœur.41 Zentral ist die enge Wechselwirkung von Emotion und Kognition schließlich für die musikalischen Wahrnehmungs- und Verständnisprozesse.42 »Musik versteunbewußte Gott. Psychotherapie und Religion, München 1988, S. 102 ff. und zu neurophysiologischen Befunden, s. oben, Anm. 38. 40

Vgl. R. Damasio, Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München 1995; ders., The Feeling of what Happens: Body and Emotion in the Making of Consciousness, Harvest Books 2000; ders., Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, München 2003, sowie Luc Ciompi, Affektlogik – die Untrennbarkeit von Fühlen und Denken, in: Neuroworlds: Gehirn, Geist, Kultur, hg. v. J. Fedrowitz, D. Matejovski u. G. Kaiser, Frankfurt u. New York 1994, S. 15–43; J. Panksepp, Affective Neuroscience. The Foundations of Human and Animal Emotions, New York u. Oxford 1998. In der engeren Emotionspsychologie formuliert Paul Ekman, im Unterschied zu bipolaren Skalierungen oder Begründungen in neuronalen Korrelationen, eine Theorie von kulturübergreifenden Basisemotionen (Gefühle lesen, München 2004).

41

Vgl. B. Pascal, Pensées sur la religion et sur quelques autres sujets (1670), i. d. Edition v. L. Lafuma, Blaise Pascal, Œuvres complètes, Paris 1963: »Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt” (Lafuma, S. 423) und: »Wir erkennen die Wahrheit nicht nur mit der Vernunft, sondern auch mit dem Herzen« (S. 110). Das sind Zeugnisse für eine durchaus ›rational‹ begründete Anthropologie von einer Einheit des menschlichen Seins, wo sich wissenschaftliche Vernunft und tieferes Empfindungswissen nicht widersprechen, sondern ergänzen. Nietzsche hat Pascal deswegen als den »einzigen logischen Christen« bezeichnet (Brief an Georg Brandes v. 20.11.1888).

42

Vgl. S. Kölsch u. T. Fritz, Musik verstehen – Eine neurowissenschaftliche Perspektive, in: Musikalischer Sinn, hg. v. A. Becker u. M. Vogel, Frankfurt a. M. 2007, S. 237–264. Die prak-

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hen ist ein Akt des Bewusstseins und ein Akt des Erlebens« bemerkt schon die frühe Phänomenologie und unterscheidet deshalb intellektuelle und emotionale Erfahrung (Arthur Wolfgang Cohn).43 Dafür, dass für die ästhetische Wahrnehmung nicht nur die Mitwirkung emotiver Prozesse unentbehrlich ist, sondern eine Beteiligung der ganzen Körperlichkeit erfordert, gibt es, anders als es im reduktiven Verständnis der Moderne erkannt wird, gewichtige Hinweise, die über die Erkenntnisse der Hirnforschung und von Damasio noch weit hinausgehen.44 Aber auch die neuere Kognitionsforschung mit ihrer Auffassung von Denken und Fühlen als »biologische Prozesse« nähert sich dieser Einsicht immerhin unter materialistischem Aspekt. Schließlich liefert uns auch die Sprache mit ihren Begriffen des »Be-rührt seins« oder eines »Er-griffen werdens« wichtige Hinweise. Defekte dieser somatischen Verbindung, sei es durch Verletzungen oder Krankheit, wie sie in einer gestörten Musikwahrnehmung, der Amusie oder Aphasie, als Form einer auditiven Agnosie auftreten, erweisen sich im psychiatrischen Befund häufig als Ausdruck psychischer Fehlfunktionen oder Persönlichkeitsstörungen. Auch als »Fehlmusikalität« oder »Melodieblindheit« bezeichnet, äußern sie sich nicht nur in musikalischen Wahrnehmungsstörungen, sondern auch in Problemen mit eigenem und fremdem affektiven Erleben, in Organneurosen und funktionellen Hemmungen (wie z. B. Stottern) bis hin zu autistischem Sozial- und Kommunikationsverhalten. Damit belegen sie eine untergründige Verbundenheit des Musikalischen mit unserem seelischen ›Vermögen‹. Als Seelentaubheit bringt es eine ältere Bezeichnung für die Amusie tiefsinnig zum Ausdruck.45 tischen Konsequenzen daraus reichen inzwischen von der Musiktherapie bis zu therapeutischer Empirie in Klink und Demenzforschung, wie zahlreiche Untersuchungen zeigen, vgl. J. Hole, M. Hirsch, E. Ball, C. Meads, Music as an aid for postoperative recovery in adults: a systematic review and meta-analysis, in: The Lancet 386 (2015), S. 1659–1671 sowie S. Kölsch, Good Vibrations, Die Heilende Kraft der Musik, Berlin 2019 und seine Fachartikel zur Emotionstheorie. Für die erstaunlichen therapeutischen Erfolge mithilfe musikalischer Erinnerungsleistungen bei dementen Alzheimer-Erkrankten hat die Neurophysiologie mit dem Sitz eines musikalischen Langzeitgedächnisses inzwischen einen ›Ort‹ gefunden – nicht im Schläfenlappen der Großhirnrinde, sondern in der supplementärmotorischen Hirnrinde: J.-H. Jacobsen u. a., Why musical memory can be preserved in advanced Altzheimer’s disease, in: Brain 138, 8 (2015), S. 2438–2450. 43

A. W. Cohn, Die Erkenntnis der Tonkunst. Gedanken über Begründung und Aufbau der Musikwissenschaft, in: ZfMw 1 (1918/19), S. 351–360; aus dieser Differenzierung leitet Cohn eine Zweiteilung der Musikwissenschaft ab: »musikalische Naturwissenschaft« und »Kulturwissenschaft«, vgl. oben, Anm. 35, bezüglich Cohns Forderung, dass eine »philosophische Fundierung eines angemessenen musikalischen Verstehens zur Wesenserkenntnis der Tonkunst vordringen soll«. Vgl. auch R. Ingarden, Untersuchungen zur Ontologie der Kunst. Musikwerk, Bild, Architektur, Film, Tübingen 1962.

44

Tieferen Aufschluss darüber gibt Bȏ Yin Rȃ, Das Mysterium künstlerischer Ausdrucksform, in: Mehr Licht, Basel 1936, S. 199–209.

45

Auch unter Asperger-Syndrom als eine Form des Autismus verstanden, vgl. Musik in der Medizin, hg. v. H. R. Teirich, Stuttgart 1958; E. Feuchtwanger, Amusie: Studien zur patholo-

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Bereits Embryos im Mutterleib reagieren auf Musik, »Frühchen« und wenige Monate alte Säuglinge nehmen feinste sprachliche Differenzen und musikalisches Geschehen deutlich wahr. Dazu gehören subtile Lautwechsel (wie etwa zwischen Ba und Ga), die Unterscheidungsleistungen zwischen weiblichen und männlichen Stimmen, die Reaktionen auf Melodien, verschiedene Rhythmen, Tonfolgen, Konsonanzen und Dissonanzen und sogar auf Dur-Moll-Dreiklänge – samt klarer Präferenzen oder Abneigungen. Auch die Reaktionen von als »geistig behindert« klassifizierten Kindern auf Musik scheinen sich nicht von normalen zu unterscheiden.46 Weil gleiches auch für autistische Kinder im wissenschaftlichen Experiment belegt ist, erledigt sich die Behauptung, dafür wären in erster Linie musikalische Begabung oder Lernprozesse, also kulturell konstruierte Prägungen und »soziale Codierungen« verantwortlich. Hier liegen vielmehr grundlegende neurophysiologische Dispositionen und Leistungen vor, die allgemein als »Implizites Wissen« anerkannt werden. Im Bereich des Musikalischen aber muss man ihnen, wenigstens was basale musikalische Kompetenz betrifft, den Rang von anthropologischen Uni-

gischen Psychologie der akustischen Wahrnehmung, Berlin 1930; H.-J. Möller, Musik gegen Wahnsinn. Geschichte und Gegenwart musiktherapeutischer Vorstellungen, Stuttgart 1971, S. 54–67, 70–71. Vgl. M. Spitzer, Musik im Kopf, Stuttgart 2002, S. 156–168. Manifeste Aktivitäten im Frontalhirn bei »Frühchen« der 28.–32. Schwangerschaftswoche noch vor ausgereiftem Kortex belegen, dass offenbar angeborene Dispositionen eine größere Rolle spielen als das Großhirn oder Konditionierungen durch die Umwelt, vgl. M. Mahmoudzadeh u. a., Syllabic discrimination in premature human infants prior to complete formation of cortical layers, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 110 (2013), Nr. 12, S. 4846–4851. Über frühkindliche Musikalität hat besonders die Psychologin Sandra E. Trehub am Infant and Child Studies Centre der University of Toronto, Missi­ ssauga, geforscht, vgl. S. E. Trehub u. L. J. Trainor, Listening strategies in infancy: The roots of music and language development, in: Thinking in sound. The cognitive psychology of human audition, hg. v. S. McAdams u. E. Bigand, Oxford 1993, S. 278–327; S. E. Trehub, Auditory pattern perception in infancy, in: Auditory development in infancy, hg. v. B. Schneider u. S. E. Trehub, New York 1985, S. 183–195, sowie M. R. Zentner u. J. Kagan, Perception of music by infants, in: Nature 383 (1996), S. 28; dies., Infants’ perception of consonance and dissonance in music, in: Infant Behaviour and Development 21 (1998), S. 483–492; E. G. Schellenberg u. S. E. Trehub, Natural musical intervals: evidence from infant listeners, in: Psychological Sciences 7 (1996), S. 272–277; dies., Children’s discrimination of melodic intervals, in: Developmental Psychology 32 (1996), S. 1039–1050; C. L. Krumhansl u. P. W. Jusczyk, Infants’ perception of phrase structure in music, in: Psychological Science 1 (1990), S. 70–73. Julian Jaynes (Der Ursprung des Bewusstseins, Hamburg 1993) versteht die Wirkung von Musik auf Säuglinge als neuronales ZNS-Stimulans mit einem »bewußtlosen Verfahren einer Entscheidungsfindung«, wie eine Art »Über-Ich«, das aber wie eine »Götterstimme« empfunden werde und deshalb die Vorstellung vom göttlichen Ursprung der Musen in der Mythologie generiert hätte. Für Untersuchungen an geistig behinderten Kindern vgl. S. D. Koh u. T.-H. Koh, Scaling of musical preferences by mentally retarded, in: Science 153 (1966), S. 432–434; A. Pontvik, Grundgedanken zur psychischen Heilwirkung der Musik. Unter besonderer Berücksichtigung der Musik von J. S. Bach, Zürich1948. 46

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versalien zuerkennen, wie musikethnologische Befunde nahelegen.47 Diese Qualität als gewissermaßen psychophysisches Eigenvermögen gewinnt noch an Bedeutung, weil Musik eben nicht referenziell auf materiale Sachzusammenhänge der Außenwelt zielt – der Stachel im Fleisch der Nachahmungsästhetik und ein Problem der Evolutionsbiologie à la Darwin. Einen anderen Hinweis auf eine anthropomorphe Disposition unserer Musik­ rezeption liefert der Vorgang des Hörens. Das Ohr und der gesamte Hörapparat, in seinen neurophysiologischen Details noch durchaus aufklärungsbedürftig, ist nämlich keineswegs ein ›objektiver‹ akustischer Aufzeichnungsmechanismus im Sinne strenger Physik, sondern bereits ein »Bewusstseinsphänomen« (Ernest Ansermet). Denn ›Hören‹ ist keine physikalische Abbildung Eins zu Eins von Schall, sondern bereits von der physiologischen Lautstärkewahrnehmung bis zu selektiven Strukturbildungen ein äußerst diffiziler und durchaus eigenwilliger Analyse-, Verarbeitungs- und Interpretationsprozess komplexer neuraler Systeme mit semantischen Leistungen. Der auditorische Kortex formt also bereits anthropomorphe ›Bedeutung‹ aus den physikalischen Schallvorlagen.48 Johann Mattheson formuliert es 1748 in seinem Neu-eröffneten Orchestre einfacher: »Der Sinn des Gehörs ist der Seele vorbehalten.« Jenseits der neueren Emotionsforschung und Neurophysiologie gab es aber schon immer psychologisches Interesse für die Phänomene und die Struktur seelischer Bedeutungsqualitäten im »Unbewussten«. Dieser von Freud noch wesentlich unter pathogenem Blickwinkel verstandene Bereich – das Es in seinem Strukturmodell, von heutiger Neuro- und Gehirnforschung eher als Konstrukt betrachtet – erweist sich vielmehr als Medium bedeutsamer höherer Formkräfte. Von dort aus wirken, wie viele empirische Befunde zeigen, »affektive Werte«, deren Nachhaltigkeit bis auf »urbildliche Prägungen« zurückgeführt werden und denen man sogar »Beziehungen zu mythologischen Urformen« (W. Kretschmer, 1957) zuer-

47

Zu einem Wissen jenseits eines Wissens in Aussageform, also einem »impliziten Wissen« vgl. M. Polanyi, The Tacit Dimension, Garden City, N.Y. 1966 u. Implizites Wissen. Epistemologische und handlungstheoretische Perspektiven, hg. v. J. Loenhoff, Weilerswist 2012; Knowing without Thinking: mind, action, cognition, and the phenomenon of the background. New directions in philosophy and cognitive science, hg. v. Z. Radman, Basingstoke 2012.

48

Bereits die Wahrnehmung der Lautstärke folgt eigenen physiologischen Gesetzen: Da eine abgestrahlte Energie pro Fläche mit der Entfernung quadratisch abnimmt, ist sie in zwei Metern Abstand vom Ohr bereits viermal geringer als im Abstand von einem Meter. Obwohl also nur ein Viertel der Energie am Ohr ankommt, wird sie aber als halb so laut gehört. Zu anderen Phänomenen gehört, dass hohe Töne leiser gehört werden als tiefe oder die Verarbeitung von Echos, die nach dem sog. Haas- bzw. Präzedenz-Effekt erfolgt, vgl. J. R. Pierce, The nature of musical sound, in: The Psychology of Music, hg. v. D. E. Deutsch, 2. Aufl. San Diego 1999, S. 1–23; Music and the Brain. Studies in the Neurology of Music, hg. v. M. Critchley u. R. A. Henson, London 1977 sowie E. Ansermet (1965), der vor allem die Besonderheiten unseres ›Hörbewusstseins‹ untersucht, die durch die Physiologie des Ohres, insbesondere des Schneckengangs im Innenohr mit seiner logarithmischen Wahrnehmung von Tonhöhen und Intervallen bestimmt ist, vgl. S. 43–126.

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kannt hat. Danach seien diese Kräfte »Bestandteil einer metaphysischen Wirklichkeit, deren Ebenen den Urgrund der Bedingungen menschlichen Seins erreichen« (Medizinforscher Louis Ruyter Grote). Womit man wieder in die Nähe der platonischen Kosmologie käme.49 Erfahrungen aus der Musiktherapie bestätigen solches Verständnis. Besonders nachdrücklich hat sich der an C. G. Jungs tiefenpsychologischer Schule orientierte Begründer der schwedischen Schule der Musiktherapie, Aleks Pontvik, zu diesen »Harmonikalen Urformen« bekannt. Er versteht sie, gestützt auf lange empirische Beobachtung, als durch »Psychoresonanz« direkter, »unter Umgehung intellektueller Funktionen aus dem Unbewussten empfundenen und erkannten Gestaltungen«.50 Für den Bereich der Sprache liefert der Linguist Noam Chomsky strukturelle Analogien dazu mit seiner bekannten »Generativen Transformationsgrammatik«. Nach ihrem Muster haben Fred Lerdahl und Ray Jackendoff eine Generative Theorie der tonalen Musik entworfen.51 49

Louis Ruyter Grote, Arzt, Forscher und einer der Gründerfiguren der Musiktherapie erklärt »Musik ist Teilhabe an einer metaphysischen Wirklichkeit, die von logischer Begriffsbildung nicht ausreichend erfasst wird.« Demnach handle es sich um »Erlebnisse, die den Urgrund der Bedingungen menschlichen Seins erreichen«, zitiert nach Teirich (Hg.,1958), S. 120.

50

A. Pontvik, Der tönende Mensch. Psychorhythmie als gehör-seelische Erziehung, Zürich 1962, S. 56 ff.; ders., (1948), S. 21, 35; ders., Heilen durch Musik, Zürich 1955; S. 49 ff. Auch Eugen Frey, der sich an Ernst Kurths energetischer Musikpsychologie orientiert, erkennt in der musikalischen Komposition ein ›Kräftedrama‹ mit Spannung, Entspannung und finaler Lösung: damit wirke Musik als ein »Aktivator von dynamisch gestalteten Automatismen in der Selbstbefreiungs- und Heilungstendenz des Unbewußten« (Musik und Psychotherapie, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 67,1951, zitiert nach Möller, 1971, S. 64). Solche Erkenntnisse bestätigen aus moderner ›wissenschaftlicher‹ Sicht was Bȏ Yin Rȃ über den »seelischen Ursinn« und die dort in jedem Menschen wirksamen Erinnerungspotentiale ausführt, vgl. oben, Anm. 38.

51

N. Chomsky entwirft entgegen den evolutionsbiologischen und behavouristischen Theorien zur Erklärung von Sprache als »evolutionärer Vorteil« oder »soziale Funktion« sowie den kognitivistischen, nach dem statistisch verfahrenden Markov-Modell, eine andere Ontologie der Sprache anhand der Untersuchung des Spracherwerbs von Kindern (siehe Kapitel II). Sie ist vielleicht eine letzte universale Theorie, weil damit die »Sprachfähigkeit« des Menschen als begründet in einer biologisch-basalen, also angeborenen und universalen Regelstruktur des Bewusstseins erkannt wird. Vielfach kritisiert als »mentalistische« Spekulation wird sie neuerdings durch Befunde der Neurophysiologie im Magnetoenzephalograph und Elektrokortikograph bestätigt, vgl. Nai Ding, L. Melloni, Hang Zhang, Xing Tian, D. Poeppel: Cortical tracking of hierarchical linguistic structures in connected speech, in: Nature Neuroscience, NPG (2015). Bei Chomsky ist damit auch eine kategoriale Unterscheidung zwischen Mensch und Tier verbunden, wie sie in den Human Animal-Studies (HAS), besonders seit den Arbeiten der amerikanischen Biologin Donna Haraway, preisgegeben wird zugunsten eines fließenden Übergangs zwischen Mensch und Tier (Cyborg-Manifest, 1985; When Species Meet, 2007), inzwischen weitergeführt bis zu einem »Post-anthropozentrischen Konzept« des Körpers. Bei F. Lerdahl u. R. Jackendoff (1983) wird vor allem mit Fokus auf die hierarchischen Strukturen in der Musik eine analytische und formale Erklärung unserer musikalischen Wahrnehmungsprozesse unternommen, aber auch auf »angeborene Universalien musikalischen Verstehens« verwiesen. Da-

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Einen übergreifenden, strukturell-mathematischen Zusammenhang, an dem der ›wissenschaftlich‹-rationale fassbare Kern solcher Tiefenstrukturen deutlich wird, zeigt schließlich die Harmonik-Lehre von Hans Kayser mit einer Fülle von Querbeziehungen auf (siehe S. 125). Als Marginalie aber durchaus spektakulär, liefert schließlich das Phänomen der »Inselbegabung«, des Savant-Syndroms, ein Beispiel für ihre Wirksamkeit. Dort hat man es mit staunenswerten Bewusstseinsleistungen zu tun, die sich offenbar völlig unabhängig von üblicher verstandesmäßiger Gehirnkontrolle oder nachweisbaren Lernprozessen manifestieren.52 Damit erscheint der vage bis verdächtige »Mentalismus« nicht als irreales Gespenst, sondern als das Zeugnis neurophysiologisch manifester kognitiver Leistungen.53

Exkurs: Zur Psychologie des Schöpferischen Von daher fällt auch Licht auf das »Schöpferische«, inzwischen als »Kreativität« zur begehrten Human Ressource der technischen Moderne avanciert. In der Musikgeschichte mutet viel vom unbändigen Schöpfertum ihrer Vielschreiber wie routinierte Produktion an. Tatsächlich kann sie plausibel erklärt werden mit versiertem Umgang aus handwerklicher Tradition in einem geläufigen musikalischen ›System‹: die Konvolute von Opern, Kantaten, Messen, Concerti und Suiten der älteren Musikpraxis und auch die Sinfonien- und Sonatenflut des 19. und 20. Jahrhunderts. Jean-Baptiste Lully hat oft nur die Außenstimmen seiner Sätze skizziert und die Auffüllung durch die Mittelstimmen seinen Schülern überlassen. Das erinnert an die Handwerkspraxis von Malerwerkstätten der Renaissance oder ihrer modernen Nachfolger bei den Hilfstruppen von Jeff Koons oder Damien Hirst. Dazu kommt, dass beständig, sogar bei Bach und Händel, von sich und anderen ›geborgt‹ wur-

mit ergibt sich eine Nähe zur Gestalttheorie, auf die Ulric Neisser hinweist (Kognitive Psychologie, Stuttgart 1974) sowie zur Analysemethodik von Heinrich Schenker, mit seinem Aufweis von verschiedenen, semantisch relevanten ›Schichten‹ in Kompositionen des tonalen musikalischen Satzes (siehe Anm. 24, S. 347). 52

Besonders häufig betrifft diese paranormale, spontane Lern- und Intelligenzfähigkeit musikalische Leistungen, vgl. D. A. Treffert, Extraordinary People: Understanding Savant Syndrome, New York 1989; ders. u. D. Tammet, Islands of Genius: the Bountiful Mind of the Autistic, Acquired, and sudden Savant, London 2011. In diesen Zusammenhang gehören auch mentale Leistungen von blinden Musikern, wie etwa des deutschen Organisten Helmut Walcha (1907–1991), der bereits als Kind polyphone Musik von J. S. Bach aus dem Gehör nachspielen konnte und schließlich ein Repertoire von über dreihundert Kompositionen, darunter Bachs Kunst der Fuge, auswendig beherrschte, vgl. J. Coppey u. J.-W. Kunz, Helmut Walcha: Nuit de Lumière, Colmar 2004, dt. m. Bearbeitungen u. Ergänzungen v. W. Kersten, Colmar 2014, S.11–12.

53

Bei der Erweiterung des symboltheoretischen Ansatzes von Nelson Goodman (siehe Anm. 195, S. 696) in den neurowissenschaftlichen Bereich durch Simone Mahrenholz (1998), S. 171–200, wird eine »Tiefenschicht« angenommen, die »nach einer anderen symbolischen Logik symbolisiert«.

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de. Die Verfahren der Kontrafaktur, Parodie und Transkription gehören seit den Anfängen zur Musikgeschichte (s. Kapitel V). Die Wiederverwendung und Umarbeitung fremder Musik war weder Urheberrechtsverletzung noch Plagiat, sondern eine Hommage – und zugleich probates Verfahren zur Optimierung und Variierung ›schöpferischer‹ Einfälle. Aber eben der geniale schöpferische Einfall ist weder auf Routine noch auf Handwerk reduzierbar. Abgesehen davon, wie es ›psychologisch‹ funktionieren sollte, dass ein achtjähriger Mozart eine Sinfonie schreibt und mit vierzehn die erste Oper (Mitridate), ein Schubert mit siebzehn Jahren Gretchen am Spinnrad, Monteverdi mit fünfzehn seine dreistimmigen Sacrae cantiunculae, Mendelssohn mit dreizehn sein erstes Violinkonzert und mit vierzehn das Klavierquartett f-Moll, Richard Strauss mit zwölf den Festmarsch oder Korngold im gleichen Alter ein Klavierquartett, nicht zu reden von den vielen musizierenden Wunderkindern, vom fernen Gambisten Antoine Forqueray (1672–1745) bis zu prominenten Heutigen mit Lorin Maazel, János Starker, Jascha Heifetz, Anne-Sophie Mutter oder Kit Armstrong. Das betrifft übrigens auch das Verhältnis von Produktion und Zeitaufwand. Mozart komponiert in nur fünfunddreißig Lebensjahren 626 Werke, Schubert in zweiunddreißig Lebensjahren 993 Werke und auch J. S. Bach kommt mit 1028 uns bekannten Kompositionen in fünfundsechzig Jahren nicht schlecht weg. Leicht lässt sich diese Reihe fortsetzen bis zu Johann Strauß, Max Reger, Majakowsky oder Schostakowitsch. Damit eröffnet sich nebenbei auch ein Blick auf den kategorialen Unterschied zwischen künstlerischer Kreativität und analytischem ›Verstehen‹ kunstwissenschaftlicher Art. Denn wenn musikologische Befassung viel mehr Aufwand und Zeit benötigt, um ein Schubert-Lied oder eine Haydn-Sinfonie in allen Aspekten der ›Machart‹ zu analysieren als die Komponisten brauchten, um diese Stücke zu erschaffen – Schubert schrieb manchmal fünf oder sechs seiner Lieder an einem Tag – dann liefert das einen bedeutungsvollen Hinweis auf die unterschiedliche Qualität zweier mentaler Prozesse. Kein Zweifel, dass es auch eine lange, skrupulöse Nacharbeit im Formungsprozess gibt. Beethoven lehrt es uns exemplarisch, selbst bei Mozart wissen wir mittlerweile um allerhand Skizzen und Entwürfe und Bruckner arbeitet immer wieder neu um. Nur ist dieser Prozess, das Ringen um die triftige Gestaltung, die Organisation des ›Materials‹, in keiner anderen Kunst so von der zeugenden Idee, dem Keim des ›Einfalls‹ abhängig wie in der Musik. Seine einfachste Erscheinungsform ist die gelungene Melodie – aber zugleich seine höchste und – instruktivste. Ihre lapidare ›Einfachheit‹ ist Ausweis einer Guten Gestalt (im Verständnis der Gestalttheorie), gleichzeitig aber auch als höchste Konzentration von ›Bedeutung‹, ein Abglanz musikalischen Logos. Mit dem Simplen als (musikologische) Unterkomplexität wird sie zum unverstellten Zeugnis schöpferischen Einfalls, das durch zwingende Evidenz überzeugt. »Sie ist die eigenste Seele der Musik, in der das reine Ertönen des Inne-

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ren stattfindet« (Hegel, Vorlesungen über Ästhetik, III, 2. Kapitel, 2 c). »Setzen wir zuerst fest, daß die einzige Form der Musik die Melodie ist, dass ohne Melodie die Musik gar nicht denkbar ist …« (Richard Wagner in Zukunftsmusik). »Sie ist das höchste Mysterium des Menschen« befindet George Steiner in seiner enthusiastischen Apologie der Musik (1990, S. 259). Sogar Wolfgang Rihm bemerkt vorsichtig: »Die Horizontale ist immer schwieriger, weil mit der Horizontalen ist die Komponistin oder der Komponist nackt. Es ist für die meisten Komponisten nach wie vor schwierig sich melodisch zu äußern … Hinter der Vertikalen kannst du dich immer verstecken …«.54 Diese unversteckte ›Nacktheit‹ aber enthüllt das Seelische als Essenz des Schöpferischen: »Das Selbstgespräch der Seele« in der Melodie, »sie ist zwar ›Form‹ – aber solche, die mit seelischen Formen korrespondiert« und sich »atmend nach der Logik des Gefühls entwickelt« (Karl Scheffler). Nackt aber enthüllt sie auch ihren Erzeuger in seinem seelisch-geistigen Niveau: »Jede Melodie ist so bedeutend oder unbedeutend wie ihr Schöpfer.«55 An diesen Erscheinungen des ›Schöpferischen‹ wird deutlich, dass der generative Prozess völlig anders funktioniert als der analytische. Ein kreatives Bewusstsein aus der Schöpferkraft der Phantasie oder als Empfänger eines ›Einfalls‹ operiert eben anders als das analytische: Es ›schöpft‹ über synthetisch verfahrende Tiefenstrukturen und über ganz andere mentale und psychische Prozesse aus anderen ›Quellen‹ als der analytisch-isolierende Intellekt. Die Zeitgenossen haben an Schubert das oft quasi »Somnambule« seines Schaffensrausches beschrieben. Richard Strauss spricht davon, dass sich bei ihm alles äußerlich Wahrgenommene innerlich unmittelbar in Klänge verwandle – wovon er sich nur beim leidenschaftlich gepflegten Skatspiel befreien konnte. Pfitzner besteht mit Nachdruck auf dem schöpferischen Einfall und entfaltet von daher seine bekannte Polemik gegen eine nur zerebral ›konstruierte‹ Musik, Picasso bemerkt hintersinnig-lakonisch: »Malen ist das Geschäft eines Blinden.«56 Goethe schließlich scheut sich nicht in seiner (antiken) Auffassung des »Dämonischen« als schöpferische Kraft des »Genius«, die Eingebung als quasi magischen Prozess und zentrale Quelle alles Künstlerischen zu bezeichnen. Er kennzeichnet sie als »Werkzeug einer höheren Weltregierung« und grenzt die bloße »Komposition« als »willkürliche Stückelung« scharf davon ab. Wenn er in diesem Zusammenhang sogar bemerkt, dass »Erfinden, Entdecken in höherem

54

In einem Interview zu seinem 70. Geburtstag, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 58 v. 11.3.2022.

55

K. Scheffler (1943), S. 49 sowie im Kapitel Die Melodie (S. 15–58) mit exemplarischem Nachdenken über ihr Wesen.

56

Vgl. W. Boeck u. J. Sabartés, Picasso, Stuttgart 1955, S. 60. Die Frage nach dem ›Einfall‹ und der ›Erfindung‹ als Keimzelle allen echten musikalischen Gestaltens ist der Kern von Hans Pfitzners viel befehdeter Streitschrift Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz, München 1920, v. a. S. 116 ff., wo der kategoriale Unterschied zur ›Gestaltung‹, besonders im Hinblick auf das Komponieren in der Moderne erörtert wird.

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Sinne« sei und »die bedeutende Ausübung eines originalen Wahrheitsgefühls …«, dann befindet er sich ganz in der Nähe von Platons Ideenlehre.57 Auch in der Tiefenpsychologie wird der echte schöpferische Prozess als ein »Überschreiten der Partialwirklichkeit« beschrieben, in dem die »Große Erfahrung« einer Einheitswirklichkeit (Erich Neumann) einen besonderen mentalen Ereignisprozess bezeichnet. Sie stelle eine andere Bewusstseinsqualität dar, wo die Spaltung unseres ›Ichs‹ in Bewusstsein und Unbewusstes, Psyche und Welt durch eine transpersonale Erfahrung zeitweise aufgehoben sei.58 Das Tiefengedächtnis der Sprache bewahrt das Wissen um die Quellen des Schöpferischen auf: Ein-Fall, Ein-Gebung, Er-Findung, In-spiration verweisen auf die höhere Genese einer echten künstlerischen Idee, genau wie bereits der Begriff des Schöpferischen schlechthin. Er benennt nichts anderes, als dass man von irgendwoher etwas schöpft, es ›fällt‹ einem etwas ›ein‹, es wird etwas ›ein-gegeben‹, sogar im ›Ein-fluss‹, dem blassen Derivat des ›Einfalls‹, ›fließt‹ noch etwas von woanders her ein. Wo aber geschöpft wird, muss es folglich etwas geben, aus dem geschöpft wird. Aus dem Nichts kann nicht ›geschöpft‹ werden: »Von Nichts kommt nichts« (Vorsokratiker Parmenides). 57

Goethe beschreibt den künstlerischen Schaffensprozess nicht als ›Komposition‹, sondern so: »Eine geistige Schöpfung ist es, das Einzelne wie das Ganze aus einem Geiste und Guß und von dem Hauch des Lebens durchdrungen, wobei der Produzierende keineswegs versuchte und stückelte und nach seiner Willkür verfuhr, sondern wobei der dämonische Geist seines Genies ihn in der Gewalt hat, so daß er ausführen mußte, was jener gebot« (Gespräche mit Eckermann, Juni 1831) … »Jede Produktivität höchster Art, jedes bedeutende Aperçu, jede Erfindung, jeder große Gedanke, der Früchte bringt und Folge hat, steht in niemandes Gewalt und ist über alle Macht erhaben. Dergleichen hat der Mensch als unverhofftes Geschenk von oben, als reine Kinder Gottes zu betrachten, die er mit freudigem Dank zu empfangen und zu verehren hat. Es ist dem Dämonischen verwandt, das übermächtig in ihm tut, wie es ihm beliebt und dem er sich bewußtlos hingibt, während er glaubt, er handle aus eigenem Antriebe. In solchem Falle ist der Mensch oftmals als ein Werkzeug einer höheren Weltregierung zu betrachten, als ein würdig befundenes Gefäß zu Aufnahme eines göttlichen Einflusses.« (zu Eckermann). »Alles was wir Erfinden, Entdecken in höherem Sinne nennen, ist die bedeutende Ausübung eines originalen Wahrheitsgefühls, das, im Stillen schon längst ausgebildet, unversehens mit Blitzesschnelle zu einer fruchtbaren Erkenntnis führt«, so Goethe, Betrachtungen im Sinne der Wanderer (1829), in: Schriften zur Naturwissenschaft: Maximen und Reflexionen (= Sämtliche Werke, Bd. 39, Stuttgart u. Berlin o. J.), S. 70. Auch der Psychologe Erich Neumann spricht von der »relativen Autonomie des schöpferischen Prozesses, der immer gnadenhaft ist und dessen Ursprung als Einfall und als plötzliche oder langsam sich durchsetzende Sicht niemals vom Ich willkürlich gemacht oder erreicht werden kann« (Der schöpferische Mensch, 1965, S. 86). 58

E. Neumann (1965), besonders das Kapitel: Die Erfahrung der Einheitswirklichkeit, S. 60– 103. Hier scheint auch eine Verbindung auf zu jenem Verständnis von »Einheitsbewusstsein«, das Friedrich Daniel Schleiermacher in seiner theologisch-philosophischen Emotionslehre als Verbindung von Erlebnis- und Kognitionsseite beschreibt, wenn er Religiosität zentral als »Bestimmtheit des Gefühls« versteht und von daher einen transzendentalen Begriff des »Gefühls« entwickelt.

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Vielleicht ist es Platons »Reich der Ideen«, womöglich das lumen gratiae oder gloriae der Scholastik, vielleicht Goethes »Geschenk einer höheren Weltregierung«, die »Göttergabe« guten Einfalls des Johannes Brahms oder das spekulativ vermutete »Kollektive Unbewußte« von C. G. Jung – jedenfalls vollzieht sich hier etwas wie ein geheimnisvoller Transfer aus Regionen, für die ein anderer ›Geist‹-Begriff gilt. Daraus ›zieht‹ ein entsprechend disponiertes Bewusstsein etwas ›ab‹, ›fängt‹ wie eine ›Antenne‹ etwas ›ein‹.59 Jeder Tätige der zeitgenössischen »Kreativindustrie« weiß darum – und kämpft tagtäglich professionell darum. Ob Inspiration oder Einfall bis zum fließenden oder fehlenden Flow, hier manifestiert sich als reale Erfahrung das »Schöpferische« – auch wenn die technische Moderne den ›Schöpfer‹ jetzt ›Macher‹ heißt und beginnt, ihn aus ihrem materialistischen Geist-Begriff durch die kombinatorische Mechanik von Robotik, KI und computergenerierten Algorithmen zu ersetzen.60 Damit wird musikalisches ›Hören‹ zur Teilhabe an dem ›Geschöpften‹. Als Gehalt und Inhalt, jedenfalls als intentionale ›Botschaft‹, durch die Formungskraft des Künstlers mehr oder weniger prägnant zur Erscheinung gebracht, vermittelt es im Erlebnisprozess des Aufnehmenden seine Bedeutungsqualitäten. Hier kann das, was auch als »nach-schöpferischer« Prozess bezeichnet wurde und womit sich die »Einfühlungsästhetik« ausführlich beschäftigt, zur Differenzerfahrung verschiedenen ›Sinns‹ in jenem »inneren Vektorraum« führen, wo unsere emotionalen kognitiven Vermögen eine Form von Urteilsbildung ermöglichen. Erfolgt diese bewusst, dann hat man sich bereits aus dem unverbindlichen Ästhetizismus bloßen Kunstgenusses hinausbegeben in die Ernsthaftigkeit eines Erkenntnisanspruchs. Das bedeutet nicht das Zer-Denken des Wahrgenommenen, sondern das Nach-Denken aus innerem Empfindungserleben. Ihm kann sich eröffnen, was das vom Künstler so bedeutungsvoll Gestaltete für die eigene Gestaltung im Seelisch-Emotionalen an ›Wert‹ und ›Bedeutung‹ hat. Ihm kann sich dann, durchaus ›reflektiert‹, erschließen, welchen Anspruch etwa Bachs Musik, wenn sie im inneren Mitvollzug so tief berührt, dass sie als Abbild ›musikalischer Urprozesse‹, ja sogar eines Numinosen erfahren wird, an eigene Mentalität und Seelenleben stellt. Ihm kann sich offenbaren, welche Art von ›Glück‹ sich in Mozarts scheinbar so simpler, spielerischer Leichtigkeit gegenüber den intrikaten 59

Die antike Auffassung vom Wirken eines Numinosen im echten »Dichter-Sänger« (siehe S. 358 ff.), wie sie von Goethe und vielen echten Künstlern geteilt wird, findet eine tiefgründige Bestätigung in einer höchsten Weisheitslehre unserer Zeit: »Wir schaffen keine Gedanken aus dem Nichts, sondern wir formen nur, mittels des Gehirns, gewisse fluidische … Kräfte des spirituellen Ozeans, in dem wir leben«, vgl. Bȏ Yin Rȃ, in: Nachlese, Basel 1953, S. 27. Vgl. auch E. Neumann (1965), S. 104, Kapitel: Der Schöpferische Mensch und die große Erfahrung, sowie zur participation mystique, S. 66 ff.

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Den Unterschied zum »Macher« illustriert ein nüchternes Statement des Komponisten Heiner Goebbels: »Bevor ich ein Stück beginne, fällt mir grundsätzlich gar nichts ein … schließlich verstehe ich mein Tun nicht messianisch, sondern als Beruf« (Interview i. d. Süddeutschen Zeitung v. 23.5.2012 m. Reinhard Schulz).

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Kompliziertheiten und Belastungen der modernen Lebenswelten als ganz andere Qualität immer wieder neu behauptet. Ihm kann bewusst werden, welche Bedeutung die Gestaltungen von Wagners Erosphantasien, Mozarts Don Giovanni oder die der Peer Gynt-Figuren von Edvard Grieg und Werner Egk bis Alban Bergs Lulu als existenzielle Psychodramen für die Befindlichkeiten seines eigenen ›Eros‹ haben könnten. Das betroffene Nachdenken könnte sich an Schuberts Abgründigkeiten hinter den doppelbödigen Idyllen von naivem Naturerleben und heiterer Heurigen-Seligkeit affizieren wie an Schostakowitsch’ quälenden Auseinandersetzungen mit fataler polit-ästhetischer Dialektik. Und es könnte bei Mahlers musikalischer Willenskundgebung zum immer neuen Übersteigen des »Weltgetümmels« voller Dissonanzen und Trivialitäten mit »Flügeln, die ich mir selbst errungen« den Blick über die perfiden Miserabilien des Alltags und existenzialistischer Seinsverzweiflung hinaus weiten. Vielleicht könnten sogar Luigi Nonos qualvolle Kerkerexequien und Stockhausens elektronische Gewaltdelirien nicht als ästhetische Verdoppelungsspiele des Schreckens ertragen, sondern als grausame Mimesis aus dem Repertoire moderner Pandämonien semantisch rationalisiert werden. Das wären Früchte einer Nach-Denklichkeit, die in bloßer ästhetizistischer oder analytischer Einstellung nicht zu reifen vermögen. Hier könnte sich etwas ›ereignen‹, das den Anspruch von ›Bedeutung‹ in einer anthropologischen Dimension einlöst. Denn in der Begegnung der beiden Ausdrucks-Subjektivitäten von Künstler und Hörer (wozu auch der nach-schöpferische Interpret zählt) kann es zu einer Sinnerfahrung kommen, die über Lust- und Unlustgefühle, über ›schön‹ und ›hässlich‹ weit hinausführt. Es wäre auch eine Erfahrung von ›Wahrheit‹, die den Anspruch einer negativen Ästhetik zur Kenntlichkeit entstellt. Als ethische Wirkung von Musik war sie immer präsent: von der griechischen Antike bis heute, von Platon bis Nietzsche, Beethoven oder Bruno Walter: »Keine ästhetische Form ohne eine moralische Welt« – meint sogar ein moderner Amerikaner, der Dramatiker Arthur Miller, unter anderem ein Ehegatte von Marilyn Monroe. Keine ästhetische Begegnung ist belanglos, wenn sie zum seelischen Erlebnis wird. Jedes Kunstwerk kann zum Ereignis werden, das unser Seelenleben formt, verändert, erhöht – oder erniedrigt, bereichert, kontaminiert. Das wäre der existenzielle Gewinn im Hier und Heute jenseits allen historischen, analytischen, soziologischen und ästhetizistischen Räsonierens für den musikhörenden Menschen dieser Zeit – wenn er zu solchem Werterleben bereit und fähig ist (siehe Kapitel XII, Musikalische Theodizee).

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Erlebniswert und Begriffswert Hier offenbart sich aber mit allem Nachdruck das tiefste Wesen der Musik, ihr eigentlicher ontologischer Status. Alle genuinen musikalischen Verstehensleistungen sind immer auch emotionale Leistungen. Deshalb wird wesentliche Bedeutung erst aus diesem, ihrem Wesen erfahrbar. Deshalb wird ihr Ontos, ihr Sein, erst im Erleben ganz fassbar. Nur wer sich auf diese psycho-physische Realität einlässt, erfasst die Wirklichkeit der Musik in ihrer ganzen geistigen und anthropologischen Dimension. Weil das sich restlose emphatische Einlassen ins erklingende Ereignis, eben eine Erfahrung des Emotional-Seelischen, also eine Erlebniswirklichkeit im Empfindungs-Bewusstsein61 ist, gibt es keine Kunst wie die Musik, die klarer den kategorialen Unterschied zwischen Erlebniswert und Begriffswert lehrt. Gewiss ist jede intellektuelle Befassung mit der Formseite eines Werks, genauso wie die Urteilsbildung nach der Dechiffrierung von ›Sinndifferenzen‹, wie sie zur inneren ›Ortsbestimmung‹ führen kann und damit auch zum ästhetischen Reflexionsurteil und so schließlich auch zum ›Begriff‹, ein Akt zerebralen Denkens. Aber er bleibt leer ohne Erlebnis. »Begriffe ohne Anschauung sind leer«, formuliert Kant, dialektisch zu »Anschauungen ohne Begriffe sind blind« (Kritik der reinen Vernunft, B 75). Weil aber ›Anschauung‹ in der Musik ihrer wesensmäßigen ›Substanz‹ entspricht, kommt ihrer Erfahrung über das Erleben die entscheidende Bedeutung zu. Der Begriff allein liefert noch nicht einmal die Differentia specifica zum Genus proximum der Welt des bloß Alltäglichen, nämlich die qualitative Differenz zwischen »gewöhnlichen, realen Objekten« und dem »Kunstwerk« – sofern man diese Differenz nicht spekulativ delegitimiert oder im anything goes suspendiert. Deshalb geht Musik niemals im »Denken über Musik« auf, sondern umgekehrt: Erst das musikalische Erleben setzt über das Empfindungsbewusstsein das Denken darüber ins Recht. Deshalb macht der Erlebniswert den unhintergehbaren Kern musikalischer Erfahrung aus und bestimmt damit als ein Apriori der Wahrnehmung jede adäquate Erkenntnistheorie der Musik. Von da aus offenbart sich Musik nicht nur als ein eigener Seinsbereich, sondern es wird deutlich, dass der Zugang zu dessem Logos weder durch den ›Logos‹ unserer zeitgenössischen wissenschaftlichen Vernunft noch durch elaborierte Theorien und Konzepte ersetzt werden kann. Im Gegenteil – viel leichter kann er dadurch verstellt werden. Denn er würde einen Kategorienwechsel verlangen, von der inne61

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Diesen Begriff verwendet auch Otto Zsok in seinem außerordentlichen Buch: Musik und Transzendenz (St. Ottilien, 1998, S. 29). Dort wird tiefsinnig und ausführlich, als profunder »Philosophischer Beitrag zur Eruierung der geistig-spirituellen Inhalte der großen abendländischen Musik« im gleichen Sinn, wie im vorliegenden Text, diese ›Musik‹ aus Sicht einer ganzheitlichen Anthropologie dargestellt und zuletzt als Manifestation einer metaphysischen Wirklichkeit verstanden. Von da aus werden nicht nur die vielfältigen Verbindung zu Zeugnissen bedeutender Philosophen, Theologen und Musiker aufgewiesen, sondern vor allem auch zu Inhalten des geistlichen Lehrwerks von Bȏ Yin Rȃ.

ren Berührung dieses ›Seins‹, die sich über das Empfindungsbewusstsein ereignet, hin zu einem gedanklich-diskursiven: die Differenz von Be-greifen zu er-griffen sein. Darauf wird zurückzukommen sein (siehe Kapitel XII, S. 808).

Das Hochamt der Technē I: Kompliziertheit imponiert Unter diesem Aspekt offenbart das Componere des Technozäns seine spezielle Qualität. Sein Verständnis bestimmt sich in Theorie und Praxis durch eine ›Bedeutung‹, die das Werk primär als Reflexionsprodukt des ›Musikdenkens‹ beziehen soll: als Modus einer bestimmten Gedankenarbeit. Semantik soll vor allem über dessen Anwendungen auf die Material- und Formseite des Werks generiert werden, sei es in ›Klangforschung‹ erfinderisch-experimentell oder im Regress auf vor- und protomusikalische Sonanz-Bereiche oder in Erweiterung auf außermusikalische Konzepte. Den höchsten Anspruch aber erheben dort die Kalküle komplexer Kon­ struktion. Werden sie als Fortsetzung satztechnischer Organisation, besonders aus der Tradition des deutsch-österreichischen Komponierens der »Wiener Klassiker« verstanden, hat man sie auch als »determiniert« bezeichnet. Als elaborierteste Form beherrschen sie das Kompositionsverständnis in Theorie und Praxis seit der Schönberg-Schule über Adorno bis Metzger, Nono, Boulez, Ferneyhough, Mahnkopf, Reimann, Ruzicka et al.: »Mit den Ohren denken« (Adorno und Mahnkopf), »Komponieren ist eine Form des Denkens« (Ernst Krenek), »Musik als eigenständige Artikulationsform des Denkens« (Georg W. Bertram), deshalb postuliert Helmut Lachenmann: »Hören ohne Denken ist wehrlos«. Das könnte, evolutionär gedacht, zu Recht als Errungenschaft gefeiert werden: die höchste Entfaltung eines Prozesses, der als tektonisches Potenzial, nämlich dem ›Bauen‹ eines Tonsatzes, im abendländischen componere seit der methodischen Herstellung von Mehrstimmigkeit steckt: eine grandiose Leistung okzidentaler Rationalität und ein singuläres Distinktionsmerkmal zu anderen Musikkulturen. Dieser Prozess kann aber auch anders verstanden werden, bewertet man ihn nicht allein als ›technische‹ Evolutionsleistung, sondern nach seinen qualitativen Leistungen als Ausdrucksgestaltung. Das ist eine Differenz der Kategorien. Mit evolutionärer Dynamik im Klimax der Moderne angekommen, tritt das Unterscheidungsvermögen dafür vor der technoiden Potenz mehr und mehr zurück. In der Antike ist es immer präsent, wenn es sensibel in einem grundlegenden Unterschied zwischen der poiesis und der technē ausgearbeitet wird. Während der Begriff der poiesis bei Platon, Sokrates und Aristoteles für die Dichtung als Synonym für »Kunst« schlechthin gebraucht wird, bezeichnete die technē dort ein »Wissen darum, wie es gemacht wird«. Damit ist das rationale ›sich–auf etwas–verstehen‹ gemeint, das unter »technē« firmiert: »wenn aus vielen zerstreuten Einsichten der »empeiria« eine allgemeine Annahme gefaßt wird«. Die poiesis hingegen gilt als eine Hervorbringung »ohne Wissen um seinen eigenen Grund« (Aristoteles, Me-

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taphysik). Das eine gilt also als ein kenntnisreiches, operantes Wissen, das andere aber als Erschaffungsvorgang aus einem umfassenderen Ingenium, der sich höherer, letztlich numinoser ›Be-Geisterung‹ verdankt. Denn »alle Dichter schaffen nicht auf Grund von technē diese schönen Gedichte, sondern als Begeisterte und Besessene …«.62 Damit wäre man wieder bei jenem Verständnis des Daimon und »Dämonischen« –, das von der griechischen Antike bis Goethe oder C. G. Jung das originär »Schöpferische« kennzeichnet. In der lateinischen Übernahme von Technē als ars, wie es dann in der abendländischen Kunstphilosophie dominiert, ist die Differenz getilgt. Nur das Italie­nische und Französische bewahren noch etwas davon mit der Unterscheidung zwischen arte im Sinne von artista (italienisch) oder artiste (französisch), dem Künstler oder aber im Sinne von artigiano (italienisch) oder artisan (französisch) als Artifex, dem Handwerker. Von hier aus führt der Weg zum modernen ›Techniker‹, der sein Fachgebiet mit seinem operanten Wissen als Experte beherrscht und zu jenem Tun lege artis, das »nach den (handwerklichen) Regeln einer Kunst« verfährt. Das ist auch der Weg vom Kunstwerk zum Kunststück. Der Techniker mit der Technē als Kunstfertigkeit und der abendländische homo faber, der geschickte ›Macher‹, verkörpern die prägnanten Phänotypen der Moderne: Liedermacher, Filmemacher bis hin zum ›Machwerk‹ oder dem Manager als behänder ›Zuwegebringer‹. In augenfälliger Analogie zur Entwicklung des westlichen Denkens als Instrument technischer Natur- und Weltbeherrschung hat sich die Dynamik dieser konstruktiv-technischen Seite in der Musikgeschichte immer weiter verstärkt. Nüchtern verfolgt es Max Weber in seiner Musiksoziologie als »Rationalisierungsprozess«, prophetisch Hegel mit dem »Reflexiv werden« aller Kunst, affirmativ beglaubigt von Adorno bis Habermas. Das Ergebnis sind immer komplexere Tonsatzstrukturen als ästhetische Möglichkeitsräume. Nach Höhepunkten der Polyphonie in der franko-flämischen Vokalmusik und bei J. S. Bach sind es dann harmonisches Denken und Klangbehandlung, die seit Wagner im spätromantischen Komponieren den Komplexionsgrad weiter steigern. In diesem Prozess trennt sich, wie beschrieben, die »Konstruktion« immer weiter vom »Ausdruckswert« und verselbstständigt sich zu technischer Selbstreferenzialität. Was bei Wagners Tristanakkord als geniale Klangchiffre für den Zustand mentaler Ortlosigkeit und seelischer Orientierungslosigkeit zwischen 62

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So bereits bei Sokrates im Dialog Ion, wo der Technites (derjenige, der die technē beherrscht), wesentlich vom »Rhapsoden« unterschieden wird (531–532): »weil sie (die Dichter) nicht nur durch technē dichten und vieles Schöne über die Dinge sagen, wie du über Homer, sondern auch göttliche Schickung … Nämlich nicht durch technē bringen sie dies hervor, sondern durch göttliche Kraft …« (Ion, 533 D–534 E 5). Bei Platon (Symposion) heißt es: »Poiesis insgesamt ist die Ursache von jeglichem, was aus dem Nichtsein zum Sein den Weg macht.« (205 B 8) und bei Aristoteles (Metaphysik, 1. Kapitel) schließlich: »Technē entsteht, wenn aus vielen, zerstreuten Einsichten der empeiria eine allgemeine Annahme in einer Gleichheit sich Haltendes gefaßt wird« (981 a 5).

Eros und Thanatos und damit als dramatischer Ausdruckswert gedeckt war, macht Karriere als abstraktes Strukturelement (siehe Kapitel X): Ausdruckschiffren ohne Ausdruckszweck – ein Verlust semantischer Referenz zugunsten einer operanten Technē als Konstruktionsparameter im Musikdenken. Und damit ein Abstraktionsprozess, der in der ›absoluten‹ Instrumentalmusik leicht zum ›absoluten‹ Selbstzweck wird. Besonders anschaulich lässt sich dieser Prozess im Streichquartett verfolgen, quasi dem traditionellen ›Labor‹ evolutionärer Tonsatzarbeit. Konsequent vollzieht er sich dort von Haydns ersten Formulierungen des »Wiener klassischen« Idioms in seinen Russischen Quartetten über Beethovens späte Streichquartette bis zu Schönbergs erstem und zweitem, noch drastischer in seinem späten (1946) fünfsätzigen Streichtrio op. 45, dann den Streichquartetten Bartóks bis schließlich zu Lachenmanns erstem Streichquartett Gran Torso (1971/72, revidiert 1976 und 1988) und den 13 Streichquartetten von Wolfgang Rihm.

Technē II: Virtuosentum als Vorführung Das Moment einer selbstreferentiellen Komplizierung, wie es so fatal im ›absolut‹ aller Instrumentalmusik steckt, äußert sich übrigens keineswegs nur im Komponieren. Es findet beste Entsprechung in der haptischen Seite von Technē: dem gigantisch gesteigerten Virtuosentum der musizierenden Spieler. Zwar gab es virtuose Artistik seit jeher, von der Kehlakrobatik der Kastraten und Primadonnen bis zu Rossini, Bellini und Donizetti, den Frescobaldi nachgesagten Tastenkünsten oder denen des legendären »Teufelsgeigers« Paganini. Aber seit dem Klaviertitanentum des 19. Jahrhunderts von Hummel und Liszt bis Rubinstein,Thalberg et al. steigern sich Tempo, Brillanz und Rasanz zu immer hochtourigeren Exekutionen spieltechnischer Komplexion. Und das schließlich in der modernen elektronischen Medienphilharmonie mit einer früher unvorstellbaren Perfektion unter dem Norm-Diktat der Studio-Ästhetik. Und nicht zuletzt als Ergebnis eines gnadenlosen Spieltrainings, das den Trainingsleistungen im Hochleistungssport nicht nachsteht.63

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Dieses Niveau heutiger Konzertstandards von Auswendigspielen bis Repertoireumfang und Zahl der Auftritte ist nur durch strengen Drill und die militante Disziplin unentwegter, täglicher Übungsleistungen erreichbar, genau wie in den knochenharten Trainingsprogrammen des Spitzensportes. In biographischen Zeugnissen, wie etwa von der Geigerin Midori, wird es beklagt (Einfach Midori. Autobiografie. Erw. Neuauflage, Leipzig 2012). Dazu zählen auch die immensen Anforderungen der renommierten Wettbewerbe, unabdingbar für eine internationale Karriere, bei denen ein riesiges, abrufbares Repertoire verlangt wird. Auch das Leistungsprogramm eines Konzertbetriebs, das Instrumentalisten mit bis zu über 100 Konzerten im Jahr fordern kann (140 Konzerte, wie bei Pianist Lang-Lang, 2005) und Opernsänger wie Dirigenten seit der Karajan-Zeit zu permanent tourenden Jetset-Künstlern macht, letztere oft mit gleichzeitiger Chefposition bei zwei oder drei Orchestern, fällt unter die Modalitäten eines Virtuosentums, das als Teil der globalen ›Musikwirtschaft‹ dem ›Kunstsystem‹ der bildenden Künste entspricht.

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Hier tritt das Selbstreferentielle komplexen Komponierens als Verselbstständigung der Spieltechnik zutage: Die ›Oberfläche‹ des brillanten Geklingels zirzensisch trainierter Fingerfertigkeiten löst sich als ›Schaufläche‹ gewissermaßen als eigene Bedeutungsschicht des ›Haptischen‹ von der semantischen ›Tiefe‹ des seelischen Ausdrucksgehalts ab und wird zur ›Schau‹. Das ist eine Dynamik vom Zentrum zur Peripherie, von der Substanz zum Effekt. Das begeisterte Publikum honoriert den extravertierten Show-Wert hedonistisch im Voyeur-Modus, genau wie in den antiken Zirkusspielen. Damit vollzieht sich ein Bedeutungswechsel, mit dem das Konzert zur bloßen Vorführung wird, der Interpret zum Schausteller. Der Künstler mutiert vom Dolmetscher einer »Botschaft«, die er in schöpferischer Anverwandlung künden soll, zum kunstfertigen ›Könner‹ mit einem ›Kunststück‹. Das aber ist das von der Moderne bevorzugte Begriffsverständnis, das Kunst von Können herleitet und damit den homo faber als Techniker feiert und nicht das ursprünglichere, von Kunst als Künden aus dem mittelhochdeutschen kunnan, das den Kundigen meint, der von etwas aus anderem Geist »kündet«.64 Genau diesen fabelhaften homo faber feiern aber auch die staunenswerten Ingenieurleistungen unserer Moderne. Immerhin versprechen sie aber, dass wir von deren immer komplizierterer Technik in unserer Lebenswelt profitieren. Auch die Leistungen einer immer komplexeren Naturwissenschaft bewundern wir zu Recht. Während hier also zunehmende Kompliziertheit, inzwischen immer raffinierter anthropomorph amalgamiert zu einer quasi zweiten Natur als Augmented Reality gemeinhin als Fortschritt gepriesen und als ›operativer‹ Zugewinn verbucht wird, lehrt uns die kognitive Dissonanz im Kunsterleben etwas anderes. Dort wird die Komplexität vieler kompositorischer Elaborate keineswegs immer als Mehrwert an Bedeutung empfunden. Höchst diffizile Kompositionen von Messiaen bis Ligeti und Boulez oder mikrotonale Stücke wie von Grisey bis Klaus Lang oder Georg Friedrich Haas samt den diffizilen Tonkaskaden des »Chromelodeon I« (eines Harmoniums mit 43 Tasten je Oktave) werden nicht als distinkte Strukturerfahrungen wahrgenommen, sondern reduzieren sich im Höreindruck oft, höchst trivial, zu einer Pauschale opaker Klangmasse und diffusen Sonanzeffekten. »Es ergibt sich ein funkelnd geschlossener Klang mit unablässig wechselnden Linien und Schatten, angeähnelt einer höchst komplizierten Maschine, die in der schwindelnden Bewegung aller ihrer Teile auf der Stelle verharrt«, wie Ligeti eine kognitive Überforderung durch Hyperkomplexität beschreibt, die zum »parado64

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Die Etymologie des Wortes zeigt, dass die althochdeutsche Urform von kunnan (zurückgehend auf die indogermanische Sprachwurzel gen-) kennen, erkennen, wissen bedeutet. Erst später hat sich daraus können über künnen abgezweigt. Auch das Wort »Kunst« als Chunst, später als Kund (Kunde, Gewußt, Verstanden), hat die alte Bedeutung von Wissen, Weisheit, Erkenntnis und wird in diesem Sinne vor der Verschiebung von kunnan zu können so gebraucht. Vgl. F. Kluge u. E. Seebold, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 22. Aufl., Berlin u. New York 1989 sowie Wilhelm Kufferath von Kendenich, Kunst kommt nicht von Können: Zur etymologischen Entwicklung des Wortes Kunst, Zug 1996.

xen Eindruck einer Stagnation« führe. Der Medientheoretiker Paul Virilio nennt es, bezogen auf die Zeiterfahrung, »Rasender Stillstand«. Ähnliche kritische Äußerungen im Zusammenhang mit dem seriellen Komponieren gibt es sogar vom späten Adorno oder Nicolas Ruwet. »Das total Determinierte wird dem total Indeterminierten gleich« bemerkt Ligeti einsichtsvoll. Deshalb hat man seiner komplexen Mikropolyphonie der 1950/60er Jahre (wie etwa dem zwanzigstimmigen Kyrie seines Requiems) attestiert, dass es im integralen Hörbild zu einem Verschwimmen als »Verwischungsfarbe« (Wolfgang Burde) werde.65

Verschiedene Qualitäten von Kompliziertheit und ›Logik‹ Bemüht man wieder die Differenzempfindung, so lehrt sie, dass es offenbar recht unterschiedliche Qualitäten von Kompliziertheit gibt. Reichlich ›kompliziert‹ sind bereits die isorhythmisch gefügten Motetten des Philippe de Vitry, von den raffinierten Kanonkünsten der »Niederländer« Willaert, Ockeghem oder Lasso gar nicht zu reden – die uns trotzdem selten als Chiffren ausgefuchster Satztechnologie ansprechen, sondern als überzeugende Musik. Und ist nicht auch Bachs Tonsatz so komplex, dass er bis heute Legionen von gelehrten, musizierenden und komponierenden Interpreten beschäftigt? Hat sich deshalb der zu seiner Zeit als gutbürgerlicher Leipziger einigermaßen unverdächtige Thomaskantor nicht inzwischen als fast unheimlicher Rechenmeister sämtlicher kontrapunktischer Kalküle wie Fuge, Kanon, Umkehrung, Spiegelung, Krebs, Permutation bis zu allen Finessen des »doppelten Kontrapunkts« und raffinierter kombinatorischer Verfahren enthüllt? Also als Prototyp einer abendländischen Musikratio, die ihre Geltung vor allem aus den Errungenschaften komplexer, elaborierter Tonsatztechniken bezieht, essenziell konzentriert in seinem letzten Werk, der Kunst der Fuge? Und doch misst ihn ein weltweites Publikum der Moderne nicht an diesen Kompliziertheiten, hört ihn nicht um seiner intrikaten Fugentechnik willen, heute längst nicht einmal als »Fünfter Evangelist«, sondern als den Musiker, der bewegt, weil er als Meister einer Tiefe der Ausdrucksgestaltung alle Komplexitäten seiner Technē in integraler Übersummativität aufgehen lässt. Was als äußerliche Elaboratio auftritt, hat aber zuletzt mit der inneren ›Lesbarkeit‹ seiner musikalischen Strukturen zu tun, aus denen uns triftige Bedeutung ersteht – auch ganz ohne aufwendige analytische Dechiffrierleistung. Bachs componere fügt eben einen Tonsatz, der trotz seines hohen konstruktiven Aufwands einer ›Logik‹ folgt, die Bedeutungsfunktion für das menschliche Emp65

G. Ligeti, Wandlungen der musikalischen Form, in: Die Reihe, Heft 7, hg. v. H. Eimert, Wien 1960, S. 9; P. Virilio, Rasender Stillstand, hg. v. M. Krüger, München u. Wien 1992, S. 114; Th. W. Adorno, Das Altern der Neuen Musik, in: GA, Bd. 14, Frankfurt a. M. 1980, S. 162; N. Ruwet, Von den Widersprüchen der seriellen Sprache, in: Die Reihe, Heft 6, hg. v. H. Eimert, Wien 1960, S. 59; W. Burde, György Ligeti: Eine Monographie, Zürich 1993, S. 113.

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findungs-Bewusstsein hat. Das verdankt sich einmal der von Bach gewissermaßen operant verwendeten musikalischen »Systemebene«. Zum anderen, weil es auch bei seinem Urheber aus der – wenngleich durchaus komplexen – Formgestaltung innerer Empfindung entstand. Deshalb erreicht es jene psychischen Tiefenschichten, wo das qualitativ operierende »Unterscheidungsvermögen« tätig ist, weil sie dort ›verstanden‹ wird und ›gelesen‹ werden kann. Und das aus Gründen über die uns Neuroforschung, Psychologie und Psychiatrie durchaus einigen ›rationalen‹ Aufschluss geben. Letztlich wäre das nichts anderes als ein Komponieren aus dem Umgang mit anthropologischen Universalien. Deshalb fühlen sich so viele Musiker an »Urprozesse« und Essenz von Musik überhaupt erinnert, sogar kunstreligiös unverdächtige Agnostiker der Moderne wie Mauricio Kagel oder Paul Celan. Unter diesem Aspekt mag die musikologische Analyse einer Fuge von Bach zwar aufweisen, dass und wie etwas ›ausgesprochen‹ und ›formuliert‹ wird. Aber wovon sie spricht, kann sie nicht sagen. Denn das beträfe jene Bedeutung, die sich den psychischen ›Vermögen‹ als Ereignis in einer anderen Seinsart mitteilt. Seiner Qualität gegenüber bleibt das bloße diskursive Denken hilflos – vermag höchstens die eigentümliche, sich selbst genügende ›Logik‹ als »Formalismus« à la Hanslick oder Nelson Goodman zur ›Bedeutung‹ erklären. Aber das Eigentliche jener ›Bedeutung‹ lässt sich höchstens metaphorisch fassen, vielleicht »dass eine Bach-Fuge von Dingen erzählt, von denen nur die Seele weiß«.66 Deshalb wird nicht die zerebrale Seite ihrer Machart zum Schlüssel von Bachs Musik, sondern der seelisch-geistige Gehalt. Auch wenn dieser von Bachs kontrapunktischen Künsten, ihrem Formniveau, in höchstem Maße profitiert – es ist das »herzbewegende Kalkül« (Walter Dirks) als Wirkungsqualität – nicht das ›Kalkül‹ als Eigenwert. Es ist die »gelehrteste Musik«, aber auch die am »tiefsten durchseelte Musik« (Ernst Bloch). Solche innere ›Lesbarkeit‹ einer musikalischen ›Logik‹ zeigt, dass Verstandeskalkül und seelisches Empfindungs-›kalkül‹ offenbar verschiedenen ›Rechenarten‹ folgen. Hier liegt die Ursache für die kognitive Dissonanz in Kunst- und Musikerfahrung. Einen bedeutsamen Fingerzeig auf diese qualitative, wesensmäßige Verschiedenheit ihrer modi operandi gibt uns das geniale Diktum von Leibniz über die Musik: »Musica est exercitium mathematicae occultum, nescientis se numerare animi« (Musik ist eine geheime Rechenübung der Seele, ohne dass die Seele weiß, dass sie rechnet). Das entscheidende Wort ist das nescientis, jenes: »ohne dass die Seele weiß …«. Mit ihm grenzt Leibniz die verschiedenen ›Rechenarten‹ kategorial als eine zerebrale von einer unbewußten, autonom verfahrenden ab – und damit auch verschiedene Qualitäten von ›um etwas wissen‹. Genau wie es auch in der wissenden antiken griechischen Unterscheidung zwischen den Qualitäten von poiesis und technē geschieht oder wie es der Mathematiker, Physiker und gläubige

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Bȏ Yin Rȃ, Aus meiner Malerwerkstatt, Basel 1932, S. 63.

Philosoph Blaise Pascal tut, wenn er schlicht zwischen der »Vernunft des Verstandes« und der Raison du cœur, der »Vernunft des Herzens« zu differenzieren weiß.67

Qualia sind Realia Mit dem Verständnis dieser Unterscheidung wird hinter dem Musikalischen ein zentrales Problem aller Bewusstseinsphilosophie berührt: die Qualia-Frage. Damit sind die subjektiven Erlebnisgehalte unseres Bewusstseins gemeint, wo aus neurophysiologischen, also materialen Vorgängen, mentale Inhalte erstehen. Das moderne Verständnisproblem dabei ist, dass auch eine elaborierte physikalische Beschreibung des Gehirns und neuronaler Prozesse weder ihre Verwandlung in ›geistige‹ Gehalte erklären kann, noch ihre Qualität erfassen, noch ihre Konstituierung als das Selbst, das dieses ›System‹ selber ist: die »Selbstbildfähigkeit« des Menschen. Das heißt, Physik und Biologie können zwar die objektiven Aspekte von ›Bewusstsein‹ verstehen, nicht aber ihre subjektiven Sinnqualitäten. Sie können die Gehirnfunktionen erklären, nicht aber die Bedeutung ihrer Produkte in unserem inneren, mentalen Leben. Denn das subjektive mentale Eigenbewusstsein empfindet nicht die Physik von Rot oder Blau, sondern ihre unbezweifelbare Qualität, den Unterschied zwischen Wut und Trauer oder Liebe und Hass, nicht die Physiologie der neuronalen Prozesse. Deshalb können wir, obwohl wir alle diesbezüglichen physikalisch-biologischen Vorgänge kennen, den Bewusstseinszustand einer Katze, eines Hundes oder einer Fledermaus bei ihrer Wahrnehmung der gleichen Welt weder wissen noch beschreiben.68 Unstrittig hängen alle diese Bewertungen von Sinneseindrücken durch unser inneres, qualitatives Erleben zwar notwendig mit der sie verarbeitenden Hirntätigkeit zusammen – machen sie aber nicht aus. Sie werden zwar von ihr, neurophysiologisch gesehen, produziert – sind aber in ihrer ›innerlichen‹ Repräsentanz nicht identisch mit dem, was materiell, also als physikalische, chemische oder biologische Befunde, Rot oder Blau oder Liebe und Hass ausmachen. Deshalb hat man für dieses ›Vermögen‹ die Bezeichnung phänomenales Bewusstsein gefunden. Die Bewusstseinsphilosophie hat das Problem seit Descartes’ Leib-Seele-Dualismus ständig beschäftigt. Dort wird bekanntlich die Beziehung zwischen Materiellem (Res extensa) und Geistigem (Res cogitans) nur als eine ›Koordination‹ verstanden. Leibniz erörtert es in seiner Monadologie (§ 17) mit dem Mühlengleichnis

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Zu B. Pascal vgl. oben, Anm. 41. Leibniz wurde von Pascal nicht nur in mathematischer Hinsicht durch dessen Aufsatz Traité des sinus du quart de cercle für seine Differenzialund Integralrechnung angeregt, sondern auch für seine Reflexion über das Metaphysische Übel. Von der Endlichkeit der Welt und der sich daraus notwendig ergebenden Unvollkommenheit des Menschen.

68

Vgl. hierzu die bekannte Erörterung bei Thomas Nagel, Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? (1974), hg. v. U. Diehl, Stuttgart 2016.

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an der Diskrepanz zwischen dem Wirken der Teile einer funktionalen Mechanik und ihrem Sinn in menschlicher Anwendung.69 Für die moderne Naturwissenschaft intoniert es bereits 1872 der große Physiologe Emil du Bois-Reymond. Seine »Welträtsel«-Rede schließt resignativ mit dem Eingeständnis eines Ignorabimus: Wir werden es nicht wissen – was ›Bewusstsein‹ ist. Inzwischen zählt das zu den sogenannten harten Problemen der Bewusstseinsphilosophie (Philosoph David Chalmers) und wird als »Erklärungslücke« apostrophiert. Unter NCC (Neuronal Correlates of Consciousness) wird es intensiv in moderner Gehirn-, Neuro- und Kognitionsforschung erörtert – aber ohne schlüssige Lösungen.70 »Die Wissenschaft kann nicht ansatzweise erklären, wie Bewusstsein entsteht« (Neurochirurg Henry Marsh), »Vollkommen objektives Wissen über das Wesen des menschlichen Geistes ist ausgeschlossen, trotz aller Gehirnscans« (Hirnforscher Andreas Roepstorff). Unter anthropologischem Aspekt kommentiert der Neurophysiologe John C. Eccles die materialistischen Theorien seiner Zunftgenossen: »Ich bleibe dabei, dass das Mysterium des Menschen vom wissenschaftlichen Reduktionismus in unglaublicher Weise herabgewürdigt wird, wenn er beansprucht und verspricht, die gesamte spirituelle Welt letzten Endes auf materielle Weise mit Mustern neuronaler Aktivität erklären zu können. Dieser Glaube muß als ein Aberglaube betrachtet werden. Wir müssen erkennen, dass wir … sowohl spirituelle Wesen sind, die mit ihrer Seele in einer spirituellen Welt existieren, als auch materielle Wesen, die mit ihrem Körper und ihrem Gehirn in einer materiellen Welt existieren.«71 Womöglich offenbart sich im musikalischen Erleben eine der überzeugendsten Realitäten des Qualia-Phänomens: die Verwandlung sinnlich wahrnehmbarer ›Daten‹ durch menschliche ›Vermögen‹ aus physikalisch-akustischer ›Mechanik‹ in eine ›Bedeutung‹. Damit wird nicht nur dieses Mechanische durch Wahrnehmung von Sinn überstiegen, sondern auch die rein denkerisch-gehirnliche Perzeption eines 69

Weiterere Überlegungen dazu bei: M. Gabriel, Ich ist nicht Gehirn. Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert, Berlin 2015; Qualia, hg. v. H. D. Heckmann u. S. Walter, Paderborn 2001; Analytische Philosophie des Geistes, hg. v. P Bieri, Bodenheim 1993; M. Pauen, Die Natur des Geistes, Frankfurt a. M. 2016.

70

Einen Überblick gibt D. J. Chalmers, Consciousness and its place in nature, in: Philosophy of Mind, Oxford 2002. Neuere Theorien erkennen in der Natur des Bewusstseins sogar Analogien zur Quantenphysik, wie H. Stapp (2004, siehe S. 741 u. oben, Anm. 15); D. Zohar, The Quantum Self. Human Nature and Consciousness defined by the new Physics, New York 1990; Pim van Lommel, Endloses Bewusstsein, 2007, 3. Aufl. Mannheim 2010 oder erweitern die These vom basalen phänomenalen Bewusstsein der Materie wie H. H. Mørch, The integrated Information. Theory of Consciousness, in: Philosophy Now, 121 (2017).

71

J. C. Eccles, Die Evolution des Gehirns – Die Erschaffung des Selbst, München 1989, S. 238; H. Marsh in einem Interview (Frankfurter Allgem. Sonntagszeitung v. 5.5.2015); A. Roepstorff, in: M. Slob, Interview NRC Handelsblad, 20.1.2007. Ähnlich auch: G. Ryle, Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969; Th. Nagel (2013), Kapitel: Bewusstsein, S. 55–114; S. F. C. Jackson, Epiphenomenal Qualia, in: The Philosophical Quarterly 32 (1982), S. 127–136.

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›Formalen‹ zu einem Seelenbewegenden. Wie in einem anderen »Wirklichkeitsraum« unseres Bewusstseins konstituiert sich dort nicht nur ›Bedeutung‹ schlechthin, sondern es vollzieht sich im subjektiven Erlebnisprozess auch eine qualitative »Ortsbestimmung« als semantisches Profil (siehe S. 753 ff.). Deshalb hat auch eine auf bloße verstandesmäßig-diskursive Reflexion beschränkte Wahrnehmung nur selten Einfluss auf die subjektive ›Wertbestimmung‹, denn die hat Qualia-Format. Das endothyme Wirkungspotenzial von Musik auf die psychischen Instanzen setzt sich über solche bloß intellektuelle Ratio eben glatt hinweg. Das ist der Grund, warum sich kaum ein leidenschaftlicher Wagnerianer durch verstandesmäßige Einsichten über die charakterlichen Schwächen, die biographischen Skandale, die bizarren rhetorischen Ergüsse seines Favoriten oder die Widersprüche in dessen Dramennarrativen zur musikalischen Abkehr bewegen lassen wird, ebenso wenig wie die modernen Jünger des Pop, Rock und Rap durch Kenntnis der Drogen-, Alkohol-, Gewalt- und Sexskandale ihrer Idole oder das veritable Enthemmungs- und Psychosenpotenzial in ihrer Musik.

Skandal als psychische Notwehr Von da aus sind Ablehnung und wütende Empörung bis zu Eklat und Skandal bei den ersten Aufführungen Neuer Musik von Schönberg bis Strawinsky oder Antheil anders zu bewerten als nur als Ignoranz musikalischer Spießbürger oder Bosheit reaktionärer Gegner. Vielmehr waren ihre psychischen ›Vermögen‹ durch die totale ›Unlesbarkeit‹ der neuen Klangkonstruktionen schachmatt gesetzt. Die Folge war etwas, das in der Physiologie als Vertigoeffekt bezeichnet wird: ein bodenloses Schwindelgefühl bei Störungen des Gleichgewichtsorgans im Ohr mit einem kompletten Orientierungsverlust der Sinne. In der Analogie als eine Art psychischer Vertigoeffekt führt es im emotionalen ›Vektorraum‹ der Bedeutungsprofile zu einem drastischen seelischen Orientierungsverlust: die Wirklichkeit der Qualia als konkrete Empirie. Wagners »ortloser« Tristanakkord hat damit zum ersten Mal spektakulär operiert, Liszts später Abschied von tonalen Konnotationen hat es als Resignation demonstriert, die Atonalität hat es methodisch kultiviert. Schönberg fand dafür eine bezeichnende Metapher, wenn er für seine Kompositionsvorstellung von einem »musikalischen Raum« wie in »Swedenborgs Himmel« spricht, in dem es »kein absolutes Unten oder Oben, noch Rechts oder Links, Vorwärts und Rückwärts« gibt.72 Schließlich operieren auch elektronische Raumklangkonzepte

72

Formuliert in seinem Aufsatz Komposition mit zwölf Tönen (1935), in: A. Schönberg (1976), S. 79. Diese Vorstellung, die er hier heranzieht, entspricht der Dekonstruktion jenes ›Raumes‹, der durch die tonalen Gravitationskräfte bestimmt ist mittels der Zwölftontechnik. Diese gegenseitigen Beziehungen werden dort als »quantitative Gegebenheit« beschrieben, weil sie aber auch ›Zusammenhang‹ stiften und damit ›musikalischen Sinn‹, erklärt Adorno ihre Suspendierung in der atonalen und zwölftönigen Musik folgerichtig als »Ne-

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wie von Stockhausen bis B. A. Zimmermann und der Akusmatik damit. Weil aber diese Wirkung auf die psychischen ›Vermögen‹ durch bloßes zerebrales ›Verstehen‹ nicht leicht zu eliminieren ist, äußerte sie sich damals, als ästhetisches Erleben noch nicht belanglos geworden war oder durch Gewöhnung desensibilisiert, in der gleichen Qualität, wie es den Qualia entspricht.

Fasslichkeit und Fasslichkeiten Schönberg und Webern war diese Problematik wohl bewusst. Wie sehr, das zeigt sich am immer wieder aufgegriffenen Thema der »Fasslichkeit«. Bei Schönberg geschieht es in einer für ihn bezeichnenden Weise, wenn er einerseits dem ›Ausdruck‹ Rechnung tragen will (beschrieben in Komposition mit zwölf Tönen, 1935), andererseits dem intellektuellen Kalkül (wie in Gesinnung und Erkenntnis, 1925, dargelegt). Für dessen Wahrnehmung rechnet er nicht nur mit dem »Gewöhnungsprozess der Ohren« und einer Emanzipation des ›Verstehens‹. Er setzt auch auf eine intellektuelle »Plausibilität« durch Reflexion, also auf eine ›objektive‹ Überschreibung des ›subjektiven‹ Verständnisdilemmas. Damit gibt er eine »Fasslichkeit« auf, wie sie durch die Musik von vorher definiert wurde zugunsten einer Konstruktionsidee. Weil er sie, reflexiv, als logische Evolution des musikalischen Denkens versteht, traut er ihr die gleiche Überzeugungskraft zu wie einer tonal bestimmten Musik. Auch Webern will »Fasslichkeit«, wie er in seinen Vorträgen Der Weg zur Neuen Musik erklärt. Und auch er postuliert die Gewöhnung der Ohren. Aber in seiner denkerischen Bemühung um ›Objektivierung‹ qua Kalkül geht er noch weiter. Er nimmt nämlich dafür »gesetzliche Notwendigkeiten« in Anspruch, wie es in der »Natur« der Fall sei und will damit die »Erfassung eines Seienden«. Dem versucht er mit einer weiteren Steigerung des konstruktiven Abstraktionsprozesses zu entsprechen. Die »gesetzlichen Notwendigkeiten« bestimmt er allerdings nach seiner eigenen Vorstellung.73 Beide, Schönberg wie Webern, verlassen sich dabei auf das Gleiche: eine neu konzipierte, zerebral organisierte ›Logik‹, die darauf setzt, dass »eine einheitsbildende und beziehungsschaffende Qualität der Reihenbildung« die gewünschte Form von Fasslichkeit aus sich heraus erzeugt. Und damit eine gleiche ›Lesbarkeit‹ durch die perzeptiven Vermögen des hörenden Menschen im Wirklichkeitsraum der Qualia erzielt, wie sie jener ›Logik‹ zukommt, der eine Musik wie etwa von Bach folgt.

gation des Zusammenhangs« und damit zu jenem »Moment der Sinnlosigkeit«, das ihre Ästhetik auszeichne, vgl. Adorno (2003), S. 121. 73

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A. Webern (1960), S. 10,18. Sein »naturgesetzlich Seiendes« weist keinerlei Bezüge mehr zu Begründungen wie etwa der antiken und scholastischen Philosophie oder bei Goethe auf, sondern ist, wie bei Schönberg oder Stockhausen, eine eigene Setzung, Kennzeichen der selbstbestimmten Bewusstseinslage der Moderne.

Weil das eine Annahme ist, die sich auf Vernunft beruft und deshalb im Zeitalter technischer Vernunft auch ganz ›vernünftig‹ erscheint, gehören die Werke dieser ›Logik‹ längst zu unserem Musikleben. Wie weit sie allerdings über den bloßen Klangeindruck hinaus ›fasslicher‹ für ein breites und musikalisches Publikum geworden sind, ist durch ihre Omnipräsenz keineswegs erwiesen. Zweifellos hat sich ihre ›Lesbarkeit‹ durch ›Erklären‹ aus einem neuen, reflexiven Musikbegriff heraus beträchtlich erweitert. Dazu trägt auch jene OhrenGewöhnung an die immer komplexeren Klangkonstruktionen bei, auf die schon Schönberg vertraut hatte. Aber ob hinter dem Anschein echte innere Verständnisleistungen liegen, kann zwischen äußerlicher Konditionierung, programmatischer Indoktrinierung und bewussten oder unbewussten Lernprozessen kaum unterschieden werden. Denn »Gewöhnung« ist stets auch ein Anpassungs- und Desensibilisierungsprozess, der keineswegs von Qualitätskriterien bestimmt zu sein braucht. Das gilt auch für die Lernprozesse. Zu ihren bewussten zählt die Vermittlung von ›Verstehen‹ über analytische Befunde oder die Kontexte der kompositorischen Ideen: die Conceptual Art in der Erscheinungsform als »Konzeptmusik« (Harry Lehmann und Johannes Kreidler). Das sind Verständnisleistungen, die wesentlich auf die Apperzeption über gedankliche Verstandesarbeit setzen: »Mit den Ohren denken« (Adorno und Mahnkopf). Für die unbewussten Verständnisleistungen bemüht man ein »Implizites Lernen«. Das schreibt man der Tätigkeit eines »nicht-deklarativen Gedächtnisses« und der Wirksamkeit von »implizitem Wissen« zu, wie es neuere Kognitionsforschung formuliert.74 Was die Musik betrifft, wird die Ansicht geäußert, hier liege ein »Erfahrungswissen« vor, das »aus der individuellen und damit auch der gemeinschaftlichen Hörgeschichte einer Zeit herrührt« und »gesellschaftlich und kulturhistorisch vermittelt« sei (Ulrich Mosch):75 eine probate »Black Box« des Verstehens. Kein Zweifel, dass vor allen solcherart vermittelten Erfahrungen grundsätzliche Fähigkeiten unseres neurophysiologischen Apparats eine unverzichtbare Rolle spielen. Sie sorgen nicht nur für die zahlreichen Anpassungsprozesse in den Routinen der alltäglichen Lebenswelt, sondern ermöglichen auch viele der staunenswerten Leistungen musikalischer Interpreten. Sie sind also sowohl für die »Gewöhnung« wie die Happy new Ears und die durch Übungsleistung erworbenen Fertigkeiten wesentlich. Solche Lernprozesse können deshalb auch alle Tiefenstrukturen quasi überschreiben und modifizieren – so wie jedes Musikinstrument umgestimmt und auch verstimmt werden kann. Allerdings widerspricht solche Konditionierung kei74

Vgl. Implizites Wissen. Epistemologische und handlungstheoretische Perspektiven, hg. v. J. Loenhoff, Weilerswist 2012; Knowing without thinking: mind, action, cognition, and the phenomenon of the background. New directions in philosophy and cognitive science, hg. v. Z. Radman, Basingstoke 2012.

75

U. Mosch, Hörwissen als implizites Wissen, in: positionen 105 (2015), Heft November, S. 2–5.

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neswegs der Existenz autonomer Tiefenstrukturen, wie viele empirische Befunde nachdrücklich zeigen. Zu den eindrucksvollsten Beispielen zählt, wenn bereits Embryos und Säuglinge, genauso wie autistische Kinder aber auch naive »Unmusikalische«, auf semantische Differenzen in musikalischen Strukturen – neurophysiologisch nachweisbar – signifikant reagieren. Das bedeutet, dass es hier nicht um erlernte Codes geht, sondern um anders begründete Dispositionen. Das gleiche gilt für die Wirkungen musikalischer Strukturen in medizinischen Therapien. Wenn – anthropologisch nachweisbar – wesentliche Strukturelemente und Organisationsformen wie Oktave, Quint, Grundtonbezug, Tonleitern und Tonarträume wie auch metrische Strukturen von rhythmischen Abläufen zum Bestand aller entwickelten Musikkulturen gehören, dann weist das viel weniger auf konditionierten Erwerb als viel deutlicher auf die Anthropologie, nämlich auf Anlagen, mit denen sich musikalische Universalien manifestieren. Ihre Wirksamkeit zeigt sich bis hinein in eine überraschende interkulturelle ›Lesbarkeit‹ musikalischer Bedeutung. Das belegen gleiche emotionale Reaktionen und verbale Urteile bei Hörversuchen in verschiedenen Kulturen durch neuere wissenschaftliche Untersuchungen.76 Auch die aktuelle Kognitionsforschung kommt, trotz unterschiedlicher Positionen zwischen formaler, darwinistisch orientierter Evolutionsbiologie und neurophysiologischer Empirie, immer wieder auf die Annahme einer Mitwirkung von semantisch operierenden Tiefenstrukturen bei allen Akten der Wahrnehmung zurück.77 Weil es dafür keine anderen Erklärungen gibt, als die Annahme offenbar anthropologischer Dispositionen, haben sie ontologischen Status.

76

Bereits der Musikethnologe Bruno Nettl spricht von den Universals of Music (The Study of Ethnomusicology. Thirty-one Issues and Concepts, Urbana 1983, S. 42), schwächt es später allerdings unter dem Paradigmenwechsel des Kulturrelativismus von Diversity ab (op. cit. 3. Auflage, Urbana und Chigaco 2015), S. 31: »Is Music the universal Language of Mankind?” Vgl. dazu auch Chr. Kaden, Musikalische Universalien – Über ein Problem, das nicht verschwindet, indem es veraltet, in: ders., Was hat Musik mit Klang zu tun? Aufsätze zur Musikethnologie und Musiksoziologie, hg. v. K. Bicher u. a., Berlin 2020, S. 565–582. Aufschlussreiche empirische Befunde dazu liefern Versuche mit Reaktionen auf westliche Musik bei indigenen Ethnien, wie etwa den Mafas in Nordkamerun sowie bei Pygmäenstämmen im Kongo, die Universalien bestätigen, vgl. Th. Fritz, S. Jentschke, N. Gosselin, D. Sammler, I. Peretz, R. Turner: Universal Recognition of three Basic Emotions in Music, in: Current Biology 19, April 2009, S. 573–576; ähnlich auch: H. Egermann, N. Fernando, L. Chuen, S. McAdams, Music induces universal emotion-related psycho physilogical responses: comparing Canadian listeners to Congolese Pygmies, in: Frontiers in Psychology 5 (January 2015), S. 1–9. Vgl. weiterhin: A. H. Gregory u. N. Varney: Cross-cultural Comparisons in the Affective Response to Music, in: Psychology of Music 24 (1996), S. 47–52; J. W. Butler u. P. G. Daston, Musical Consonance as Musical Preference: A Cross-cultural Study, in: Review of General Psychology 79 (July 1968), S. 129–142.

77

Hier eröffnet sich womöglich ein somatischer Aspekt für die Wirksamkeit von ›Vorverständnis‹, dem Heidegger’schen Hermeneutikansatz von ›sich verstehen auf‹ vgl. S. Koelsch und U. Neisser, Kognitive Psychologie (1967), Stuttgart 1974, wo für alle Wahr-

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Vielen Komponisten der Moderne ist das über ihre natürliche ›Musikalität‹ bewusst. Wenn sich Schönberg mit dem Problem der ›Fasslichkeit‹ seiner musikalischen ›Gedanken‹ auseinandersetzt, so tut er das noch aus diesem Verständnis. Wenn er allerdings seine Zwölftontechnik wesentlich über Vermeidungsstrategien genau jener dafür semantisch maßgeblichen Elemente formuliert, dann zielt das auf deren intentionalen Ausschluss für die Bedeutungsfindung. Auch ein Adorno weiß genau darum, wenn er vom fatalen »Naturzwang« spricht, die »Apriorität der Affirmation« als »ideologische Nachtseite der Kunst« beklagt und damit die leidige »Methexis an Versöhnung«. Auch er unternimmt das im Modus der Abwehr für ein ›Falsches‹ (Philosophie der neuen Musik, S. 72) und fordert deshalb dessen bewusste Überwindung aus dem Denken. Damit geht es nicht mehr eigentlich um ›Fasslichkeit‹, sondern um eine zerebrale Verdrängungsleistung einer als ›falsch‹ aus geschichts- und gesellschaftsideologischer Begründung stigmatisierten Semantik. Ihr Nachdruck geht bis zur kämpferischen Polemik von Nono bis Klaus Huber, Lachenmann, Boulez oder Spahlinger. »Behavioristisch« verstanden als manipulierbare Konditionierung unseres Bewusstseins werden sie schließlich zur Forderung nach einer »Veränderung unseres Bewusstseins« und einer »Umkodierung« (Vilém Flusser, 1988). Folgerichtig setzt man dabei auf eine zerebrale Abwehr der unvermeidlichen Wirksamkeit alter semantischer Realitäten, die ihre seelisch-emotionale ›Lesbarkeit‹ begründen. Als methodische Zerstörungsleistung erreicht sie in vielen Werken der Moderne den Rang eines gut begründeten ästhetischen Konzepts. Wenn eine Komponistin der nächsten Generation (wie die israelische Komponistin Chaya Czernowin, Jahrgang 1957) erklärt, sie wende viel Energie auf, um ihre eigene »natürliche Musikalität« beim Kompositionsprozess zu zerstören und so »ihre Sprechweise entschieden zu radikalisieren«, so bekennt sie sich ganz offen zu dieser Einstellung als kompositorische Methodik. Zwar weiß sie, genau wie Schönberg, Adorno oder Lachenmann, um Wirksamkeit und Realität alter Semantik, will sie aber intentional »zerstören«, um dem ästhetischen Imperativ eines »neuen Bewusstseins« zu genügen.78

nehmungskategorien immer auch auf die Beteiligung schöpferischer Analyse- und Syntheseprozesse als unbewusste, »prä-attentive Suche« hingewiesen wird, sowie: S. Koelsch u. T. Fritz, Musik verstehen – Eine neurowissenschaftliche Perspektive, in: Musikalischer Sinn (2007), S. 237–264 (mit umfangreichen Literaturhinweisen). Ähnliches hatten bereits Befunde aus der alten Gestaltpsychologie ergeben. 78

Zitat von Ch. Czernowin, Bericht über das Symposion »Klangperspektiven. Aktuelle Tendenzen des Komponierens« an der Musikuniversität Wien, 7.5.–9.5.2009, in: ÖMZ 64 (2009), Heft 6, S. 36.

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Die Probe aufs Exempel: triviale Empirie versus ästhetische Suprematie Ob Radikalisierung, neues Denken, neues Bewusstsein, politisch-ideologisches Bekennertum oder Concept Art – der Logos der Neuen Musik bestimmt sich wesentlich als zerebrale Verstehensleistung komplexer Konstruktionen oder gedanklicher Konzepte. Das ist der Anspruch nach dem Verständnis ihrer Verfertiger und nach den Prämissen avancierter Kunsttheorie. Unter diesem Aspekt werden folglich die Werke seit der »Zweiten Wiener Schule« über Stockhausen, Boulez und Lachenmann bis Cage oder Hypercomplexity von ihren maßgeblichen Deutern und Analytikern aus Musikologie, Musikästhetik und Musikkritik ›gelesen‹ und erläutert: von ihrer ersten Garde mit Rudolf Réti, René Leibowitz, Carl Dahlhaus und H. H. Stuckenschmidt bis zur späteren wie mit Heinz-Klaus Metzger, Reinhold Brinkmann, Lev Koblyakov, Christoph von Blumröder, Claus-Steffen Mahnkopf oder Ulrich Mosch und Jörn Peter Hiekel. Auch die Musikphilosophie bekennt sich – naturgemäß als Denkdisziplin, aber auch als Metaebene für Musikwissenschaft, Musiktheorie und Ästhetik – zum Primat des Reflexiven.79 Weil es den aktuellen Diskurs bestimmt, sind andere Perspektiven aus der Musikforschung vergessen. Sie hatte sich allerdings seit der Formulierung eines neuen Musikbegriffs intensiv mit ihm in Analyse und Empirie beschäftigt. Vor allem sollte geklärt werden, ob die für ihn erforderlichen und geforderten Perzeptionsleistungen glücken können, wenn man sie einer rationalen Prüfung durch Empirie unterzieht. Weil dafür, wenn schon im »reflexiven Zeitalter« in der Epoche »wissenschaftlich-technischer« Vernunft, folglich auch zünftige Wissenschaft zuständig wäre, suchte man damit den Diskurs über die Prämissen. Das betraf vor allem Schönbergs ›Fasslichkeit‹, konkret verstanden als Auffassbarkeit seiner musikalischen Strukturen über die auditiven Fähigkeiten und damit als Voraussetzung für alle ›Lesbarkeit‹ von Bedeutung. Dazu griff man vor allem auf Methoden der Wahrnehmungs-, Informations- und Kommunikationsforschung in praktischen Versuchen zurück. Musikwissenschaftler wie Gerhard Albersheim, Hellmut Federhofer und Albert Wellek haben dazu geforscht, experimentiert und reflektiert. Auch eine Reihe anderer Musikgelehrter befasste sich damit, von Friedrich Blume und Alfred Orel bis Martin Vogel, Rudolf Stephan, William Thomson oder Ernest Ansermet.80 79

Vgl. Musikphilosophie (2021).

80

Vgl. F. Blume, Vortrag Was ist Musik, Kasseler Musiktage, 3.10.1958, polemisch diskutiert von P. Boulez et  al., in: Melos (1959), Heft März; G. Albersheim, Ludus Atonalis, in: Musikerziehung 22 (1969), S. 150–154; A. Orel, Die Wende zur ›Neuen Musik‹ im historischen Aspekt, in: Schweizerische Musikzeitung 94/1 (1954), S. 1–9; H. Federhofer, Experimentelle Untersuchungen: Das Ende der musikalischen Parodie?, in: Deutsches Jahrbuch der Musikwissenschaft für 1970, Leipzig 1971, S. 96–106; ders. mit A. Wellek, Tonale und dodekaphonische Musik im experimentellen Vergleich, in: Die Musikforschung 24 (1971), Heft 3, S. 260–276 (gefolgt von einer Auseinandersetzung mit C. Dahlhaus: Ist die Zwölfton-

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Aber ein fruchtbarer Diskurs darüber kam nicht zustande. Tatsächlich ist er gründlich missglückt. Denn für die »Kunst« wurde solche Wissenschaftsperspektive selbstverständlich als unzuständig erklärt. Die Musikwissenschaft geriet wieder in das unvermeidliche »geisteswissenschaftliche« Dilemma: die Kluft zwischen ›objektiver‹ Wissenschaftlichkeit und ihrem Gegenstand aus jenem ›subjektiven‹ Geist, der anderen Wesens ist. Wo sie rechtschaffene, zünftige empirische Wissenschaft betrieb, um semantische Leistungen der Moderne methodisch zu untersuchen, da musste sie sich von der ästhetischen Theorie der Avantgarden scharf in die Schranken weisen lassen. Schon erste Dialogversuche von Blume bis Wellek und Federhofer mit Boulez bis Dahlhaus werden im Namen des ›Geistes‹, also der ästhetischen Autonomie des aus anderen Quellen schöpfenden Künstlers heftigst zurückgewiesen. Und damit eine exterritoriale Suprematie beansprucht, ausgerechnet im Territorium eines sich selbst als rational und reflektiert definierenden Komponierens, wo man »mit den Ohren denkt«, weil jener ›Geist‹-Begriff bemüht wird, der die eigene, dem Numinosen verschwisterte Seinsart der Kunst meint. Aus alter Geltung sakrosankt, wird er jetzt genauso in Anspruch genommen wie für Bach, Mozart, Beethoven oder Bruckner, Verdi und Brahms etc. und gegen die beschränkte Ratio eines banalen scholastischen Szientismus in Stellung gebracht. Und damit auch gegen die Empirie aus irgendeiner »Differenzerfahrung«. Von da aus war es eine ganz legitime Frage, warum die Werke von Schönberg bis Nono, Stockhausen, Boulez und Rihm oder die Geräuschklangaggregate von Lachenmann, Schnebel oder Michael von Biel als res facta nicht den gleichen Anspruch als musikalische Sinn-Objekte haben sollten wie alle anderen von vorher. Und tatsächlich, verlässt man sich auf die ›Logik‹ reinen Denkens, jene ›Vernunft‹ also, auf die schon Schönberg rechnete – weshalb sollten die neuen Idiome nicht technik ›illusorisch‹? Eine Erwiderung, in: Die Musikforschung 24 (1971), Heft 4, S. 437–440; ders., Hörprobleme Neuer Musik, in: Studium Generale 20 (1967), S. 370–374; ders., Zur Rezeption Neuer Musik, in: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 3 (1972), S. 5–34; ders., Musikgeschichtsschreibung und Musiksoziologie, in: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 26 (1995), S. 135–146; ders., Ein Beitrag zur Ästhetik Neuer Musik des 20. Jahrhunderts, in: Acta Musicologica 70 (1998), Heft 2, S. 116– 132; ders., Theodor W. Adornos und Heinrich Schenkers Musikdenken, in: AfMw 61 (2004), Heft 4, S. 300–313; ders., Neue Musik als Widerspruch zur Tradition, in: Gesammelte Aufsätze (1968–2000), Bonn 2002 (= Orpheus-Schriftenreihe zu Grundfragen der Musik, hg. v. M. Vogel, Bd. 100) sowie R. Stephan, Über Schwierigkeiten der Bewertung und der Analyse neuester Musik (1972), in: Vom musikalischen Denken. Gesammelte Vorträge hg. v. R. Damm u. A. Traub, Darmstadt u. Mainz 1985, S. 348–358; W. Thomson, Schoenberg’s Error, Philadelphia 1991 (= Studies in Criticism and Theory of Music, hg. v. Leonard B. Meyer, 6); M. Vogel, Schönberg und die Folgen. Die Irrwege der Neuen Musik, Teil 1: Schönberg, Bonn 1984; Teil 2: Die Folgen, Bonn 1997 (= Orpheus-Schriftenreihe, Bd. 35 u. 90). Zu einer grundlegenden Untersuchung unter dem zentralen Aspekt der Phänomenologie wie von Ernest Ansermet (1991) fehlt in der neueren Musikwissenschaft jede Diskussion, ebenso wie über die Untersuchungen aus dem Bereich der Harmonikalen Grundlagenforschung von Hans Kayser und Rudolf Haase (siehe Kapitel III, S. 125, Anm. 67).

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die gleiche Dignität als »Komposition« und als »Ausdruckswelten« besitzen, wie die alten? Warum sollte sich schließlich neues, originelles, erfinderisches Künstlertum aus dem hegelianischen Postulat von der »Freiheit allen Geistes« vor Beckmessern, Professoren, Laboren und Zensoren rechtfertigen müssen? Im ästhetischen Diskurs der Moderne spielen solche Reflexionen deshalb keinerlei Rolle mehr. Die zünftige Musikwissenschaft genügt ihrem wissenschaftlichen Ethos, indem sie jeden Musikbegriff als legitime Form musikalischen Denkens und Tuns vorurteilsfrei akzeptiert. Damit werden pflichtschuldigst alle Werke und Erscheinungen nach Machart und Beschaffenheit aus allen Musicken verlässlich rezipiert, analysiert und reflektiert – eine ›objektive‹, deshalb wertfreie Wissenschaftsarbeit, in der die Komposition als »Klangpräparat« den Befund über ›Bedeutung‹ bestimmt, diesseits aller hermeneutischen oder posthermeneutischen Deutungsmaximen. Das entspricht Max Webers ballastfreiem Wissenschaftsethos, genauso wie Hegels Verständnis vom unausweichlichen Aufgehen aller Kunst im Denken oder dem von Habermas im unumstößlich »reflexiven Zeitalter« und seinem »nachmetaphysischen Denken«. »Auf ontologische Fragen lasse ich mich nicht mehr ein«, erklärt ein bedeutender Berliner Ordinarius für Musikwissenschaft kategorisch (2017). Damit steht er keineswegs allein. Obwohl noch Schönberg bereit war, auf ein Publikum zu verzichten, gibt es längst ein Publikum, das sich mit natürlicher Entdeckerlust und intellektuellem Training in alle Exkursionen der Avantgarden begibt. Denn das ›Neue‹ ist immer legitim. Deshalb gehört der Einsatz dafür zu den edelsten Tugenden gesellschaftlicher Aktivität. Dieses Verständnis prägt nicht nur die öffentliche Wahrnehmung in Feuilleton, Kritik und Fachpresse, sondern auch die Kulturpolitik. Beweis dafür sind die Gütesiegel hochrangiger und hochdotierter Preise für die Avantgarde: dem deutschen Ernst von Siemens-Musikpreis, dem japanischen Premium Imperiale, dem schwedischen Polar Music Prize oder dem spanischen Prinzessin von AsturienPreis. Dazu kommt die öffentliche Förderung, die in Deutschland, anders als in den USA, mit großzügigen Programmen junge Künstler, innovative Projekte und eine Vielzahl von Festivals und Reihen unterstützt. Solche Zeichen der Affirmation sind nicht zuletzt auch Ausdruck eines kollektiven Willens zur Kultur, die Verfassungsrang hat und zum ›Lebensmittel‹ der Gesellschaft aufgerufen wird. Als individueller »Wille zur Kunst« (Beat Wyss) gehört er zum kategorischen Imperativ jeden Künstlers. Aber dieser unbändige »Wille zur Kunst« äußert sich keineswegs nur als blindes Credo. Er tritt nicht allein als quasi natürliches Triebverlangen des homo faber auf, sondern vielmehr als entschlossener Anspruch aus größerem Eigenverständnis: dem Recht auf Selbstverwirklichung des freien Menschen und seiner Entfaltung als autonomes Subjekt.

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Damit gelangt man zum Kern des modernen Selbstverständnisses abendländischer Kultur wie es, quasi axiomatisch, jenseits aller ästhetischen Diskussion steht: der Anspruch auf individuelle, unbeschränkte Selbstentfaltung, der im Künstler seinen vornehmsten ›Künder‹ findet. Die prinzipiell unantastbare Äußerung des selbstbestimmten Künstlers als ein unveräußerliches Naturrecht steht im westlichen Menschenbild für einen sakrosankten Begriff von Freiheit schlechthin – Inbegriff eines normativen Paradigmas. Von hier aus erhält jeder aktuelle Kunstbegriff seine letzte Legitimation, jenseits aller ›Bedeutung‹, Machart oder »Fasslichkeit« – übrigens durchaus unterschieden von den Traditionen anderer Kulturen. Dort haben Kunst und Kunstwerk als Ausdruck von mythischen, geschichtlichen und sozialen Identitäten einen völlig anderen mentalen Wert und der Kunstbegriff, besonders in den alten ostasiatischen Kulturen, folgt einem ganz anderen Verständnis.81 Als (fast) unantastbares Rechtsgut unter der normativen Formel der »Freiheit von Wissenschaft und Kunst« hat er es zu Verfassungsrang gebracht. Als edle Frucht abendländischer ›Aufklärung‹ im Verbund mit Menschenrechten und Meinungsfreiheit ist er zum Unterpfand westlicher Demokratie und ihres Wertesystems geworden. Es ist ein emphatischer Freiheitsbegriff, der sich in seiner Großartigkeit nicht nur als unbeschränkte Selbstverwirklichung des westlichen Individuums bis zum Solipsismus entfaltet, sondern auch Ausdruck in den kollektiven politischen, wirtschaftlichen und imperialistischen Strategien des Abendlandes findet.

81

Schon in indigenen Ethnien nehmen sie, ganz abgesehen von ihren Bindungen in Kult und Ritus, überwiegend einen sakrosankten Rang für die jeweilige kulturelle Identität und das kollektive Gedächtnis ein, wie es die postkoloniale Diskussion um die Rückgabe kolonialer Raubgüter in ihre Ursprungskontexte neu beleuchtet. Vor allem Kunsttraditionen wie in China, Tibet, Japan und Indien folgen bis zum Einfluss der westlichen Moderne völlig anderen Vorstellungen. Das betrifft zum einen die schöpferische Auseinandersetzung mit Topoi und Werken der Tradition die, wie etwa in der Malerei Japans, nur individuell variiert und nicht dekonstruiert werden (vgl. T. u. T. Izutsu, Die Theorie des Schönen in Japan, hg. v. F. Ehmcke, Köln 1988). Zum anderen den semantischen Gehalt, in dem spirituelle Kenntnisse und Erfahrungen als objektive, überindividuelle Sachverhalte in strenger, lehrhafter Form dargestellt werden, wie etwa in der tibetanischen Kunst der Mandala-Ikonographie oder den »Totenbüchern« (vgl. Lama Anagarika Govinda, Grundlagen Tibetischer Mystik, Zürich u. Stuttgart 1956, S. 89–131; ders., Der Stupa, Freiburg i. Br. 1978). Dies gilt auch für die streng regulierte Ausübung von Musik, etwa in der tibetischen Klostertradition oder der nordindischen Tempelmusik. Schließlich sind auch die ›abstrakten‹ Bildkompositionen von Bȏ Yin Rȃ als »Geistliche Bilder« Zeugnisse einer ›Kunst‹, die zwar subjektiv gestaltet wird, aber nicht in subjektiven Phantasmen gründet, sondern in einer objektiven Erfahrung aus Zugang zu einer größeren, geistigen ›Wirklichkeit‹, detailliert erläutert, in: Aus meiner Malerwerkstatt (1932).

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»Alles ist nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet« (Weisheit Salomonis) oder: Musikalische Ordnungen Die Musik aber ›kündet‹ in ihrer Tiefe von etwas anderem. Hinter den unzähligen individuellen Ausdruckswillen und -welten, der Fülle subjektiver Gestaltungen aus der Schöpferkraft der Phantasie mit ihren Narrativen und Klangemanationen steht eine ›objektive‹ Ordnung. Hinter dem Dorado unbegrenzter Freiheit und expressiven Gestaltungswillens steht die Notwendigkeit von Formfindung und Gestalt. Auf sie ist jede konkrete Erscheinung angewiesen. Form aber ist Grenzziehung und Distinktion. Nietzsche bemerkt, wie wenn er über die Musik gesprochen hätte: »Man ist um den Preis Künstler, daß man, was alle Nichtkünstler ›Form‹ nennen als Inhalt, als die Sache selbst empfindet.«82 Am klarsten fassbar wird Formnotwendigkeit in der musikalischen ›System­ ebene‹ mit ihren strukturellen Grundelementen. Erst ihre Organisation ermöglicht es überhaupt zu ›formulieren‹, ›auszudrücken‹ – letztlich zu ›kommunizieren‹. Erst sie ermöglicht es von einer musikalischen ›Logik‹ zu reden, wie es seit J. N. Forkel üblich wurde und bis in die großen Theoriesysteme wie von A. B. Marx, Simon Sechter, Hugo Riemann und Heinrich Schenker musikalische Analyse und Reflexion beherrscht, und wie sie noch von Schönberg oder Boulez in Anspruch genommen wird und bei Adorno einen Restwert als ›Zusammenhang‹ behält. Sogar für die atonalen Avantgarden wird sie noch mit »Expressionslogik« als Begriff bemüht (Ernst Bloch, Hermann Danuser), bis sie schließlich, reichlich strapaziert, als »Kreativitätslogik« (Beate Kutschke) ihre ursprüngliche Prägnanz als Prädikat eines diskursiven Kontextes verliert. Denn an sie, diese form- und zusammenhangorganisierende ›Logik‹, ist letztlich jede ›Freiheit‹ subjektiven Formulierens gebunden, will es als Gestaltung wahrnehmbar werden. Hinter dem kognitiven Apriori der subjektiven, individuellen Erlebniswirklichkeit erweist sich das Objektive einer logikstiftenden Ratio als unverzichtbar – und das ist die mathematische Ontologie der Musik. Als ein zweites Apriori wird sie zum weiteren Bestimmungsattribut jeder musikalischen Erkenntnistheorie.83 82

F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, Sämtliche Werke, Krit. Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, München u. a. 1980, Bd. 13, S. 9.

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Nach Auffassung von Kurt Hübner in seinem so bemerkenswert verständigen Buch über den autonomen ›Wirklichkeits-‹ und ›Wahrheitscharakter‹ der Kunst (Die zweite Schöpfung. Das Wirkliche in Kunst und Musik, München 1994) handelt es sich allerdings bei Kunst um ein »Apriori der Geschichtlichkeit« (S. 13–15 u. 46 ff., 78 ff.). Das trifft für die ›Systemebene‹ der Musik nicht zu. Denn viel präziser als in bildender Kunst und Literatur begründet sich durch die mathematische Ontologie der Musik Natur und Wirkung ihrer semantischen Elemente unabhängig von historischen Situationen. Ein »verminderter Septakkord für das Schreckliche« (S. 15) hat in der rhetorischen Affektenlehre der Generalbassmusik, genau wie bei Beethoven oder Schubert und Mahler, die gleiche Bedeutung, und die chromatischen Kühnheiten bei Gesualdo bedienen die gleiche Reizsemantik wie bei Wagner, schließlich bleibt der Unterschied zwischen Konsonanz und Dissonanz kon-

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Unter diesem Aspekt offenbart sich die Musikgeschichte nicht nur als Entfaltung individueller Ausdruckswelten, sondern auch als eine über Jahrhunderte währende Arbeit an deren Voraussetzungen. Das betrifft als Technē das Handwerk eines ›Formulierens‹ mit ›Parametern‹, die Organisation einer objektiven ›Ordnung‹. Dafür stünde jener Rationalisierungsprozess, wie ihn Max Weber nüchtern beschreibt und eine reine Kompositionsgeschichte gern abstrahiert: die Erfindung der Mehrstimmigkeit mit den vielen Stationen ihrer Elaboratio vom Organum-Konzept bis zu Kanon, Fuge und Sonate, die Organisation der dazu notwendigen rhythmisch-metrischen Regulative, die ausgefeilten Klausellehren für die Bildung der Finalis, die Ausbildung der Kadenzstruktur und die vielen Modelle der »Temperierung« des Tonsystems bis hin zur Errungenschaft eines vollständig realisierbaren Dur-Mollsystems mit seinen distinkten Tonräumen und schließlich die scholastischen Essenzen in den Kontrapunkt-, Harmonie- und Formenlehren. Das ist das Componere als Herstellung eines geordneten Tonsatzes. Genau hier aber scheint hinter dem operationalen Verständnis von »Rationalisierung« und dem handwerklichen, einer Entwicklung von Regeln, eine andere Ratio auf. Denn nicht jede ›Ordnung‹ und jede ›Logik‹ scheint das zu leisten, was sich in der abendländischen Musikgeschichte als eine ›Bedeutung‹ ausgestaltet hat, die jene ›Lesbarkeit‹ ihrer Formulierungen durch menschliche Sinn-›Instanzen‹ verbürgt, wie sie ihre exemplarische Wirkung und Geltung bestimmt. Es ist nicht die Bindung an irgendeine, willkürliche ›Ordnung‹, sondern an eine Ordnung bestimmter struktureller Normen und ›Gesetze‹. Es ist nicht die Bindung an eine er-fundene, sondern an eine ge-fundene Ordnung, weil sie offenbar mit anthropologischen Dispositionen korreliert, deren Matrix uns nicht zuletzt über eine mathematische Ratio fassbar werden. Wieder kann uns die Sprache belehren: Denn im Begriff Ton-Satz, vordergründig als etwas vom Tonsetzer Gesetzten, steckt hintergründig, etymologisch, nichts anderes als: Gesetz. Auf solche Zusammenhänge stößt man bereits in der griechischen Antike. Dort weist die Verwendung der Bezeichnung Nomos/Nomoi (= Gesetz/Gesetze) für feste Melodiemodelle genauso darauf hin, wie, in anderer Weise, auch die Bezeichnung Kanon für das in Bezug auf musikalische Grundstrukturen maßgebliche Lehrinstrument des Pythagoras, das Monochord.84 Der musikalische stitutiv von der Gregorianik bis zur Spätromantik, sowie in Volks- und Popmusik. Auch die unmittelbaren, basalen Reaktionen auf diese affektiven Qualitäten, wie sie Neurophysiologie und Kulturanthropologie erforschen, belegen einen ontologischen, nicht einen historischen Befund. 84

Nomos wird zuerst bei Hesiod im 7. Jh. v.  Chr. greifbar und zur gleichen Zeit bereits von Terpander in musikalischem Zusammenhang verwendet. Bei Pindar (12. Pythische Ode) heißt es, dass eine Weise göttlichen Ursprungs, ein Nomos, als Vorbild menschlicher musikalischer Nachbildungen diene. »Sie hörten den von Gott gebauten Klang der nomoi« (Fragment 178). Ausführlich behandelt dann bei Platon wie etwa im Dialog Nomoi (700a–b); das Wort Nomothetēs, »Gesetzgeber«, kann sogar den Stifter, also den »Komponisten«von musikalischen Nomoi bezeichnen (Dialog Minos 318 b); vgl. Thr. Ge-

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Typ des Kanons mit seiner mehrstimmigen, streng regulierten Abfolge einer melodischen Gestalt erinnert daran. Solche Ordnung erscheint weder als eine spekulative Invention, noch eine analytische Abstraktion, sondern sie erschafft jene musikalische Wirklichkeit, die wir als sinnvoll empfinden. Begreift man sie empirisch, so offenbart sie sich sinnlich als Hörerfahrung: die Aisthesis. Aristoteles und sein großer Schüler Aristoxenos von Tarent ernennen dafür die »Ohren zum Schiedsrichter«. Begreift man sie aber reflektierend, dann offenbart sie sich als mathematisch fassbare Struktur: als Logos. Dafür stehen Pythagoras und seine Schule. Das ist aber kein Widerspruch zwischen sinnlichem ›Aussen‹ und denkerischem ›Innen‹, sondern es ist der Zusammenklang von Zahl und Ohr als ein psychophysisches Identitätsphänomen: Hier trifft sich das musikalische Apriori der inneren Erlebniswirklichkeit, wie es im Empfindungsbewusstsein manifest wird, mit dem Apriori der mathematischen Ontologie. Für unsere Zeit formuliert diese Verbindung von Mathesis und Emotivem die Harmonik-Lehre von Hans Kayser mit der Identität von Tonzahl und Tonwert als ein ›Urphänomen‹: der seelische Erlebniswert als Qualia-Repräsentation sinnlich ertönender Zahlenverhältnisse – die anthropologische Ganzheit des Musikalischen.85

Ein anderer Blick, andere Referenzen Lässt man die abendländische Musikgeschichte unter dem Aspekt für jene gefundene ›Ordnung‹ Revue passieren, so könnte sie nachdenkliche Hermeneutik in Hinblick auf das Verhältnis ihrer subjektiven musikalischen Ausdruckswelten zu dieser objektiven ›Ordnung‹ befragen. Verstanden als Repräsentanz einer höheren Referenz, bieten sich, heuristisch, Erkenntnismodelle aus Antike, Mittelalter und Barock an. In der griechischen Antike wäre es die Referenz zum Logos und zur Metapher der Sphärenharmonie. In der Gotik ist es die Lichtmetaphysik. Denn dort werden die verschiedenen Seinsorgiades, Musik und Nomos (1969), ediert in: Kleine Schriften (1977), S. 167–176. Die altgriechische Bezeichnung Kanon für das Monochord, das Lehrinstrument des Pythagoras, stammt vom Wort qanu aus dem vorbabylonischen Akkadischen und bedeutet dort soviel wie Rohrstab, Maßstab, Norm, vgl. E. v. Hornbostel, Die Maßnorm als kulturgeschichtliches Forschungsmittel, Wien 1928, S. 321. Von da aus ergeben sich auch alle Bedeutungen von ›kanonisch‹ als Regel, maßstäblich und fundamental richtungsweisend bis zu ›klassisch‹. In letzter Hinsicht weist das salomonische Wort aber auf Tieferes: »Alle geistige Weisheit schreitet dir entgegen im Rhythmus der Ewigkeit. Alle letzten Dinge tragen kosmische Zahlen an der Stirnbinde, wenn sie im Gewande des Wortes erscheinen«, in: Bȏ Yin Rȃ (1927), S. 328. 85

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Das Zusammentreffen von Tonzahl als »das Meßbare des Schwingungsvorgangs« und Tonwert als »das Hörbare, durch das seelische Wertempfinden Erfaßbare«, erläutert Hans Kayser im Zusammenhang seiner umfassenden Harmonik-Lehre, vgl. H. Kayser (1950), S. 2–3 sowie in Kapitel III, S. 72 u. Anm. 41 u. 65 sowie in Kapitel XI, S. 771.

stufen in ihrer hierarchischen Ordnung nach der Durchlässigkeit für das »göttliche Licht« qualifiziert: die Diaphanie als Kennzeichen für die »Durchleuchtung« der materiellen Emanationen (siehe Kapitel III). Im Barock findet sich dazu eine bemerkenswerte musikalische Analogie bei Andreas Werckmeister. Er spricht nämlich bezüglich der Verwendung von Dissonanzen über ihre »Abweitungen« von der »Unität«: »Je näher ein Ding der Unität, je deutlicher und vollkommener, je weiter je unvollkommener …« (siehe Kapitel III). Angewandt als ästhetisches Urteil könnte von da aus über Präsenz oder »Abweitungen« in den verschiedenen Stilidiomen nachgedacht werden. Am offenkundigsten prägt die Präsenz zur Referenz der ›Unität‹ musikalische Gestaltungen aus dem, was heute pauschal als »Alte Musik« bezeichnet wird. Denn dort wird in enger Bindung an jene »Systemebene« formuliert, die beherrschende strukturelle Repräsentanz dieser ›Ordnung‹ ist. Dies zeigt sich musikgeschichtlich in der Rückkehr zu dieser Referenz nach Phasen von Manierismus, in denen aus quasi evolutionärem Überschuss komponiert wird. In der Malerei der Spätrenaissance firmiert das Phänomen unter superatio, einer Überbietung der Vorbilder. In der Musik führt es zu Erscheinungen wie dem Hoquetus der frühen Motette, den Raffinessen der Ars subtilior, den spitzfindigen Rätselkanon-Künsten der frankoflämischen Periode oder den chromatischen Affektzuspitzungen des späten italienischen Madrigals. Aber dort, in der Musik der Renaissance, kommt auch die ›Referenz‹ zu dieser ›Ordnung‹ in ihrer Vokalpolyphonie in besonders deutlicher Weise zur Erscheinung. Das verdankt sich einmal einer einheitlichen, kollektiven Bewusstseinslage, die in ihrer Musikauffassung das mentale Erbe des Mittelalters länger als in den anderen Künsten bewahrt. Zum anderen trägt die enge Verbindung mit einem Sinnträger bei, dessen Qualität sich letztlich auch höherer Referenz verdankt: der Sprache. Sie wird vor allem durch die Art und Weise der Sprachbindung bestimmt. Denn dort werden weniger die Affektwerte des (meistens) lateinischen Textes musikalisiert, sondern die ›objektive‹ Wortstruktur der Silben, ihre Deklamation und Prosodie sowie die Tektonik des sprachlichen Satzablaufs. Im musikalischen Satz, beispielhaft bei Palestrina, bewahrt ein strenges Regulativ der Dissonanzbehandlung die grundlegende Referenz. Auch im Zeitalter von Oper und Concerto genauso wie bei den »Wiener Klassikern« bestimmt ein sicheres Bewusstsein für jene ›Ordnung‹ noch wesentlich alles Komponieren – allerdings immer weniger aus einer ›kollektiven‹ Bewusstseinslage wie in den Jahrhunderten vorher, sondern in immer eigenwilligeren Brechungen. Beethovens Spätwerk ist Kronzeuge dafür, wie das abendländische Ego immer nachdrücklicher nach den Subjektivismen selbstgesetzter Ordnungsmodi strebt. Die Sprachbindung realisiert jetzt seit Monteverdi wie auch bei Schütz und Bach viel mehr vom Affektgehalt und seiner individualisierten Sinnausdeutung. Zugleich vollzieht sich mit dem von der Sprache sich loslösenden instrumentalmusikalischen Denken ein zunehmender Abstraktionsprozess: Es wirkt, als hätte der

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instrumentale Satz so viel »Sprachliches in sich aufgenommen«, dass er jetzt gewissermaßen »stellvertretend für die Sprache stehen kann« (Thr. Georgiades). Damit wachsen der Musik neue Möglichkeiten mit allgemeinerer semantischer Geltung zu. Was in der Abstraktion zum »leeren Schall« (Ch. Batteux) als Verlust empfunden wurde, erschafft ihr die Fähigkeit quasi universalen Dimensionen von ›Ordnung‹ Ausdrucksmedium zu werden und jene »Absolutheit« zu erreichen, die Herder, Schopenhauer, E. T. A. Hoffmann und die Romantik als ihr eigentliches Wesen rühmen. Ähnliches ereignet sich später in Werken der abstrakten Malerei, wenn dort versucht wird, jenseits des Gegenständlichen ›unsichtbare‹ Kräftekon­ stellationen und Schwingungen ›sichtbar‹ zu machen, wobei man sich bezeichnenderweise oft auf die Musik bezieht. Bei J. S. Bach wird in der Verbindung alten polyphonen Denkens aus dem Stile antico mit dem neuen konzertierenden Geist in der instrumentalen ›Abstraktion‹ die gleiche Transparenz für jene ›Ordnung‹ erreicht, wie im Vokalen der franko-flämischen Polyphonie. Besonders deutlich tritt sie als universale Dimension in seinem Instrumentalwerk zu Tage, am intensivsten in seinen Sonaten und Partiten für Violine und Violoncello solo, am klangmächtigsten in den freien, konzertanten Orgelwerken, als exemplarisches Konzentrat schließlich im Spätwerk mit Musikalischem Opfer und Kunst der Fuge – Erinnerung an das pythagoreische Erbe als Matrix jener ›Ordnung‹ (siehe Kapitel V). Bekanntlich hat das diesen Werken im Stilwandel um 1750/60 das Prädikat des »Unzeitgemäßen«, ja »Veralteten« und jedenfalls »Abstrakten« eingebracht. Jenes Unzeitgemäße aber, pejorativ als »Rückwärtsgewandtes« gemeint, greift bewusst auf den höheren Strukturwert bestimmter Satztypen für jene ›Ordnung‹ zurück. Dabei darf aber nicht die Verbindung von struktureller Diaphanie und seelischem Gestaltungsausdruck in der Bewusstseinslage Bachs vergessen werden: musikalisch formuliert wird nicht nach abstrakt-konstruierter ›Ordnung‹, sondern aus dem inneren Zugang zu jener ›Ordnung‹ in seinem Erlebnisbewusstsein (siehe Kapitel V, S. 199). Das erschafft seiner Musik als Verbindung von subjektiver Erlebniswirklichkeit und objektivem ›Struktur‹-Bewusstsein ihre unvergängliche Strahlkraft. Damit manifestiert sich aber nichts anderes, als eine singuläre Verbindung von mathematischem und emotivem ›Logos‹ – den beiden Apriori aller Musik. Bei Beethoven erreicht dann die ›Sprachfähigkeit‹ der Instrumentalmusik einen Höhepunkt als höchst individualisiertes, diskursives musikalisches Idiom, das sich im Spätwerk – so völlig anders als bei Bach – bereits im eigenwilligen Subjektivismus der Moderne bewegt. Aber noch im Gründungsvokabular des »Wiener klassischen« Idioms bezeugt Haydns Auffassung von Musikherstellung als Compositionswissenschaft sein Bewusstsein um die Valenz jener Ordnungsstrukturen – und sorgt trotzdem mit seinem persönlichen Einfallsreichtum immer wieder für Originalität und Überraschung. Mozarts Musik behält schließlich hinter aller Subjektivität, die sich vor allem im Musikdrama äußert, durch ihre strukturelle Luzidität eine ›Durchlässigkeit‹ für jene ›Ordnung‹, die der von Bach in nichts nachsteht: das

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legendäre »Mozartglück« zuletzt als eine Art von Diaphanie – Durchscheinen einer ›Wirklichkeit‹, deren klingende Mimesis in jener Ordnung gelingt. Aber die »Wiener Klassiker« sind auch Agenten eines neuen abendländischen Ego-Gefühls: der Künstler als demiurgischer Neuerer, der Geniebegriff als Klassifikationsmarke titanischer Originalität, das Werk als singuläres Erzeugnis. Die Romantik, als ein charakteristisches europäisches Phänomen, steigert es zu höchst subjektiver Phantastik, vom Traum bis zum Wahn, hinter dem so oft, verhüllt zwischen Poesie, Idylle und Sehnsuchtston, die Erinnerung an alte »Seinsgewissheit« aus Resten verbliebenen Transzendenzbewusstseins auftönt. Aber weil sich Mensch, Musik und Kunst nicht mehr in ihm erleben, strebt das musikalische Idiom mit seinen Brechungen zwischen Reminiszenz, Paraphrase und Ironie, bis hin zu einem Anschein von Existenzialismus avant la lettre, höchst distinguiert wie bei Schubert und Schumann, drastisch beim spätesten Liszt und schließlich im Verismo als naturalistisches Korrektiv des verklingenden Belcanto oder schon als Derivat großer Tradition in »Leichter Muse«. Aber bereits Schumann preist das ›Alte‹. Damit meint er hinter imaginierter Erinnerung eine konkrete. Als musikgeschichtlicher Historismus wird sie bald zu einem neuen ästhetischen ›Jetzt‹. Mit seinem Aufstieg wird das ›Alte‹ aber zum Gegenspieler eines authentischen ›Neuen‹ als Ausdruck der anbrechenden Moderne. Das markiert den Übergang in eine Dialektik zwischen musikalischer Entropie und dem Aufbruch in eine neue Bewusstseinslage, die sich kompositorisch zuerst vor allem als radikale Abwehr des ›Gestern‹ versteht. Schönberg definiert es klar und apodiktisch: »Kunst ist immer neue Kunst« und grenzt sie scharf von einer »veralteten Musik« ab (Vortrag, 1933). Zunächst beansprucht das ›Neue‹ eine Bedeutung als subjektiver musikalischer ›Expressionismus‹ mit dem Versprechen noch nie vernommener Klang- und Ausdruckswelten. Bald aber äußert es sich immer nachdrücklicher über eine selbstbestimmte Technē mit ihren Inventionen und Konstruktionen. Das folgt der gleichen Dynamik wie im naturwissenschaftlich-technischen Fortschrittsdenken: Das Neue nicht nur als das jeweils Bessere, sondern auch als Kritik des Alten, weil ›Überholten‹. Bezeichnende Analogien finden sich in Literatur und Malerei. Ein neuer Sprach­ expressionismus führt zu neuen Schreibstilen. James Joyce zeigt ihn mit seinem diffusen, assoziativen »Bewusstseinsstrom« wie im Ulysses, Hugo Ball und Dada mit sinnfreien Lautgedichten, später Arno Schmidt mit seiner als Etym bezeichneten Diktion. In der Malerei sind es die technischen Verfahren wie dem Dripping und Action Painting von Max Ernst, Knud Merrild oder Jackson Pollock, später viele Bearbeitungstechniken, wie etwa bei Gerhard Richter mittels der Rakel. Hier wird ›Originalität‹ vor allem über einen originellen Fertigungsprozess erstrebt, eine neue ›Technik‹. ›Bedeutung‹ verlagert sich von der Substanz des Kunstwerks als ›Aussage‹, zur Wirkung durch neue Machart, im Sinne einer neuen ›Erfindung‹. Das Pendant im Ingenieurwesen wäre das Patent. Erfinderische neue Macharten sind auch die systemischen musikalischen Techniken von Schönberg, Hauer, Klein, Haba und Lachenmann oder der Mikrotonalität und elektronischer

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Klangerzeugung. Schönberg hat bekanntlich seine ›Erfindung‹ für sich reklamiert und erbittert gegen ihre Okkupation durch Thomas Manns Doktor Faustus verteidigt. War das ›Neue‹, verstanden als neue Technik, zur Zeit des Logischen Positivismus und der Schönberg-Schule noch wesentlich an einem abstrakten, mathematischlogizistischen Konstruktivismus orientiert, so inspiriert es sich Ende des 20. Jahrhunderts immer mehr an realer ›Technik‹: ›experimentelle Musik‹, Installationen und interaktive Performance haben ihre Analogie im ›Labor‹, wo experimentiert wird und ihre Vorbilder bei den Ingenieuren, wo konstruiert wird. Dieser Weg in eine idealisierte Maschinenästhetik zeigt sich markant im Umfeld des Kubismus. Bei Fernand Léger, der sich vom Ballet mécanique des George Antheil so inspiriert fühlte, dass er 1924 einen Film darüber machte, hat man dessen Spielart als Tubismus bezeichnet (Kunstkritiker Louis Vauxcelles), bei Wladimir Tatlin unverhohlen als »Ingenieurkunst«. Willi Baumeister huldigt ihr in Maschinenmensch mit Schraubenwindung II, Öl auf Leinwand (1929/1930). Und die Mobiles von Alexander Calder oder die Objekte ›Kinetischer Kunst‹ von Jean Tinguely sind Reflexe der gleichen technoiden Phantasie wie dann etwa die Montagen von Thomas Bayrle. Der entwirft Rosenkranz für einen VW-Motor als »Generator von Gebets-Sound« (2009) oder Monstranz als aufgeschnittenen Sternmotor für die Kasseler documenta von 2012. Damit rückt Kunst in die Nähe einer technoiden Mimikry, eine Verwandlung, die man als ästhetischen Technomorphismus bezeichnen könnte. Palestrina, Lasso, Bach, Händel, Mozart, Verdi, Brahms oder Bruckner und auch Mendelssohn oder Tschaikowsky haben übrigens keine neue ›Technik‹ in diesem Sinne erfunden, sondern sind mit der Technik des Stilidioms, das sie vorgefunden haben, zu ihrer eigenen Ausdruckskraft gelangt. Obwohl die weitere Musikgeschichte zeigt, dass die Auseinandersetzung zwischen überkommenen Ordnungsstrukturen und neu konstruierten noch lange die musikalische Semantik bestimmt, verliert sich die Erinnerung an jene ›Ordnung‹ als Bedeutungsträger immer weiter. Die alte Werckmeister’sche ›Abweitung‹ von einer idealen ›Unität‹ zeigt sich in der steilen Karriere der Dissonanz. Sie prägt die musikalische Semantik immer nachhaltiger und erhält mit der Schönberg-Schule ihre Legitimierung als gleiche Qualität wie die Konsonanz. In der alten Ordnung war der Tritonus, die übermäßige Quarte, ein Tabu: »Mi wider Fa« als »Teufel in Musica«. Jetzt wird er bei Schönberg, Debussy und Richard Strauss zum bedeutsamen Strukturelement und Messiaen ist so fasziniert davon, dass er ihn für das großartigste Intervall überhaupt hält. Wo alte Ordnungskriterien schließlich ganz aufgegeben erscheinen und durch persönliche ›Logik‹ ersetzt werden, wertet das die Musikgeschichtsschreibung dann als Bruch. Stockhausen, Boulez und Lachenmann, Nono oder Rihm verbindet nichts mit der musikalischen Ausdruckswelt von Palestrina bis Wagner, Bruck-

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ner oder Brahms etc. Ihre Ordnungstruktur folgt einem anderen Musikbegriff, in dem alle Diaphanie, die den alten als Leuchtkraft durchlichtete, opak geworden ist. »Das ›lieto fine‹ [der Opera seria] erscheint wie der sichtbare Vollzug der alten Weltformel »concordia discors«, als deren Erscheinungsform im frühen Mittelalter die mehrstimmige Musik begriffen wurde. Seitdem besteht Musik auf Versöhnung des Seienden im Namen allgemein gültiger Ordnungen. Diese ihre Versöhnung stiftende Macht büßt sie erst im Laufe des 19. Jahrhunderts ein (Musikwissenschaftler Stefan Kunze). Noch lapidarer formuliert es ein Musiksoziologe als »Abschied von der Harmonie der Welt« (Christian Kaden).86

Ordnung, um die jeder weiß vs. ›Freiheit‹, die jeder meint Die Dynamik dieser Entwicklung ist die Dynamik des abendländischen Ego als homo faber. Es strebt unaufhaltsam von der (imperialistischen) Weltbeherrschung über die (technische) Naturbeherrschung, die (utopische) Weltraumeroberung bis zur (maschinellen) Simulation von Geist, Denken, Komponieren, Musizieren und dem ›Subjekt‹ als beseeltes Menschenwesen. Als Weg von Prometheus über die aufgeklärte »Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit« führt sie schließlich zur unbegrenzten Selbstermächtigung im neuen »Anthropozän«. Im faustischen Erkenntnis-Imperativ, zu wissen, »was die Welt im innersten zusammenhält«, feiert es die Apotheose einer Wissenschaftstheologie, die im Fortschritts-Modus technoiden Denkens eine unerhörte Glanzzeit erlebt, in einem absoluten Freiheitsbegriff des Individuums sein emanzipatorisches Ideal und in dessen Machtstrategien den Anspruch universaler Suprematie. Dieses Selbstbewusstsein, aus einem unbegrenzten Freiheitsbegriff (erkenntnis-)kritisch zu diskutieren, rührt an ein Tabu. Denn er wird im Kanon des westlichen Gesellschafts- und Demokratieverständnisses als ein höchster Wert gehandelt. Alle seine Spielarten in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft bis zu den modernen Rechtssystemen und dem Kodex aktueller Kommunikationskonzepte mit Open Access und Data Sharing feiern ihn als unverfügbare Universalie. In den Künsten definiert er ihren Ethos schlechthin, in den sozialen Beziehungen und Netzwerken des Digitalzeitalters strebt er nach restloser Enthemmung, als politische Agenda formuliert er radikale Ideologien und phantastische Utopien, in den Wissenschaften immerwährende Evolution und Invention. 86

S. Kunze, Mozarts Opern, Stuttgart 1984, S. 62; Chr. Kaden, Abschied von der Harmonie der Welt. Zur Genese des neuzeitlichen Musik-Begriffs: »So endet, in einem sehr ausgreifenden Sinn, ganz und gar musikalisch, die Harmonie der Welt. Nicht Sphärenklängen kündigt ›unsere‹ Musik das Existenzrecht auf, zugunsten sogar der Öffnung zum Empirischen hin. Aufgegeben wird menschliche Selbstbescheidung, in der Schönheit, im ästhetischen Sein. Aufgegeben wird der Ort des Menschen in einem ›ökologisch‹ gewichteten Weltgefüge«, in: Gesellschaft und Musik, Berlin 1992 (= Sociologia Internationalis, Beiheft 1, hg. v. W. Lipp), S. 27 ff.

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Ein bezeichnendes Beispiel für seine normative Kraft liefert die Entwicklung des modernen abendländischen Rechtsverständnises. Sie folgt etwa seit Thomas Hobbes immer nachdrücklicher der Idee eines subjektiven Rechtsbegriffs. Es beginnt mit der Loslösung aus seiner vormodernen Bindung an Kategorien wie Vernunft, Gemeinschaft und Sittlichkeit, die als selbstverständliche Prämissen in den antiken Gerechtigkeitsordnungen von Athen und Rom verankert waren. Nach und nach wird das subjektive Recht jedes Individuums immer entschiedener als »Natur­ recht« verstanden und als Anspruch individueller Willensäußerung postuliert und formuliert. Moderne Denker wie John Rawls definieren Grundfreiheiten als »Rechte« – nicht als »Werte« (Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1979). Das verheißt die absolute ›Befreiung‹ des Egos aus Regeln, die negativ als ›Zwänge‹ verstanden werden und aus Kontexten, die als Beschränkungen gelten. Aber damit wird auch ein abstrakter, weil außerhalb der Gemeinschaft und ihrer kulturellen Grundlagen stehender, quasi a-moralischer Naturzustand vor jedem Bezug zu Vernünftigkeit, sozialer Ordnung und kollektiven sittlichen Kodizes als Selbstwert zur Norm erhoben. Philosoph Charles Taylor bezeichnet es kritisch als »Atomismus« und verweist auf den natürlichen »Bezugsrahmen«, in den Mensch und Lebenswelt in einer Kultur-, Werte- und Sprachgemeinschaft unabdingbar eingebunden sind. Als anthropologische Universalie stiftet er nicht nur ›Sinn‹, sondern bewirkt die Konstituierung von Identität und die (intrinsische) Ausbildung von ›Moral‹. Die abstrakte Vorstellung eines »ungebundenen Selbst« findet ihre Entsprechungen in den reduktionistischen »Subtraktionstheorien« der Moderne: Behavourismus, Funktionalismus, Utilarismus, die vielen Systemtheorien.87 Das in einem anthropologischen Bezugsrahmen kulturell ausgeformte Ethos und seine Wertsysteme bilden aber nicht nur die Grundlage jeder rationalen Ethik, sondern auch der von da aus konstruierten Rechtssysteme.88 Die moderne Entwick87

Ch. Taylor, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus (1988), Frankfurt a. M. 1999, S. 73–78, 150 ff.; ders., Ein säkulares Zeitalter (2007), Frankfurt a. M. 2009; ders., Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität (1989), Frankfurt a. M. 1996. Taylor entwirft eine Anthropologie, die dem menschlichen Subjekt eine natürliche und selbstverständliche innere Disposition für Theismus und ›Sinn‹ sowie für das ›Gute‹ zuschreibt und das sich als intrinsische »moralische Landkarte« manifestiere (The moral topography of the self, in: Hermeneutics and Psychological Theory, hg. v. S. B. Messer u.  a., New Brunswick NJ 1990, S. 298–320). Von da aus werden Atheismus und Transzendenzlosigkeit der Moderne zur Schwundstufe von Vernunft als Minus Vernunft und zur Ursache für ein defizitäres Selbst- und Weltverständnis mit ihren Fehlentwicklungen in einer liberalistischen Gesellschaft.

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Vgl. Chr. Menke, Kritik der Rechte, Berlin 2015. Er zeigt auf, dass der Bruch des modernen Rechts mit dem vormodernen darin besteht, diesen Bezug zur Sittlichkeit gelöst zu haben: Modernes Recht ist gewissermaßen »entsittlichtes Recht«, weil es einen von moralischen und sozialen Referenzen freien Naturzustand idealisiert und legalisiert und damit einen sittlich indifferenten, ja un-sittlichen und asozialen Freiheitsgebrauch aus individuellem Willen und subjektivem Anspruch schützt (vgl. bes. S. 23–40, 90 ff., 372, 381). Hegel bindet ›Freiheit‹ in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts. Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1820) sowie in Wissenschaft der Logik (Enzyklopädie der philo-

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lung hingegen ist gekennzeichnet durch eine fortschreitende Legalisierung vieler ›Rechtsinstitute‹ aus einem davon losgelösten, voraussetzungslosen, partikularen Menschen- und Rechtsverständnis. Dazu zählen die freie Eigendefinition der Geschlechtsidentität, die voluntaristische »Ehe für alle«, die Aufhebung des Inzestverbots und die Garantie eines selbstbestimmten Suizids. Aber auch die Verweigerung jeder Selbstbeschränkung zugunsten einer kollektiven Verantwortung wie bei den jüngsten Pandemien. Konsequent zu Ende gedacht führt dieser Freiheitsbegriff allerdings ins Dilemma. Denn in seiner äußersten Konsequenz demontiert er seine eigenen Prämissen, wenn er nämlich als hemmungslose Egoverwirklichung schließlich bis zur Destruktion der eigenen Person und jeder Gemeinschaft führt. Seine ultimative Form ist nicht die vollkommene Selbstbefreiung, sondern das Chaos. Dessen Menetekel dekorieren die moderne westliche Lebenswelt bereits auffällig, bleiben aber eher im (unreflektierten) Schatten des emphatischen Freiheitsethos. Zu den Schattenspielen gehören die Auflösungsprozesse in divergente Parallelgesellschaften und die vielerlei SozioPathologien moderner Lebenswelt: mediale Gewaltverherrlichung samt den entfesselten Hass-tags der sozialen Netze, ein lizensierter Drogenkonsum, die Pansexualisierung im Pornographiemodus, aber auch die Palette typischer, zivilisatorischer Lifestyle-Defekte als Kontrollverluste eines total befreiten Egos. Dazu zählen die Ernährungs- und Gesundheitsprobleme der westlichen Konsumgesellschaft, während der Rest unter Hunger, Armut und Krankheit leidet, von der zunehmenden Verfettung bis zur rapiden Zunahme psychischer Leiden mit Depression bis Suiziddynamik. Schließlich sind auch globale Naturzerstörung von hemmungsloser Ressourcenausbeutung bis zu den Umwelt- und Müllproblemen Reflexe verantwortungsfrei verstandener ›Freiheit‹. Mental legitimiert durch den Allmachtsglauben

sophischen Wissenschaften § 147 u. § 158) an Natur, Recht und Sittlichkeit. Auch der Soziologe Niklas Luhmann unterscheidet das traditionelle, sittlich gebundene Recht als »gerechtes Recht« (ius sive iustum) vom modernen Recht als dessen Derivat (vgl. Subjektive Rechte: Zum Umbau des Rechtsbewußtseins für die moderne Gesellschaft, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1981, S. 47). Dahinter wird ein grundsätzlicher, ontologischer Befund sichtbar: Jedes von Menschen formulierte System von ›Normen‹ und ›Regeln‹ gründet notwendig auf Voraussetzungen, die ihre Ratio außerhalb des Systems haben. Aristoteles formuliert, dass die Tugenden des Staates auf den Tugenden seiner Bürger beruhen, der amerikanische Soziologe Talcott Parsons erklärt, soziale Ordnung könne es nicht ohne einen Grundkonsens der Gesellschaft geben, Jürgen Habermas nimmt dafür »lebensweltliche Übereinstimmungen« in Anspruch und ein deutscher Verfassungsrichter äußert: »Der freiheitliche, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann« (Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt a. M. 1976, S. 60) und erläutert dazu: »Vom Staat her gedacht, braucht die freiheitliche Ordnung ein verbindendes Ethos, eine Art Gemeinsinn bei denen, die in diesem Staat leben« (2010). In der akademischen »Rechtsvergleichung« werden die unterschiedlichen Rechtssysteme als Ausformung verschiedener kultureller Werte und Normen schließlich Gegenstand der Wissenschaft.

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eines logozentristischen Zweckrationalitäts- und Utilitätsdenkens gehört auch die rasante technoide Menschenveränderung ins »Transhumane« dazu. In den Entwürfen vom Human Engineering (Günther Anders, 1956) bis zur aktuellen Künstlichen Intelligenz offenbart sich ›Freiheit‹ operational als ›Technik‹. »Die Entwicklung wahrer künstlicher Intelligenz ist das letzte Bedeutsame, was man als Mensch noch leisten kann« (der führende KI-Forscher Jürgen Schmidhuber, wissenschaftlicher Direktor des Schweizer Forschungsinstituts für künstliche Intelligenz, IDSIA, inzwischen Mastermind an der saudischen KAUST-Universität). An der anderen Front agiert die Biotechnologie. Eine potente Biomedizin arbeitet mit ihren Eingriffen ins Erbmaterial durch die Genschere (der CRISPR/Cas9Technologie) bereits zielbewusst an Designermodellen des Menschen und entwirft mit der »Synthetischen Biologie« die Utopie eines Lebens de novo. Hinter dem Versprechen einer ›Optimierung‹ des Menschen und seiner conditio humana aber zieht die Chimäre seiner Abschaffung auf: »Die Überwindung des Menschen zugunsten von etwas, was wir uns gar nicht vorstellen können als letzte Realisierung der neuzeitlichen Utopie« (Philosoph Robert Spaemann, 1985). Im Design des »posthumanen Menschen« (siehe Kapitel X, S. 725) konvergieren nicht nur die vereinigten Entwürfe von Ingenieurkonstruktion, Biotechnik und szientistischem Futurismus als technoider Allmachtsglaube, sondern auch die Idee einer unbegrenzten menschlichen Freiheit.

Kosmos und Chaos Wie viele dieser Ideen funktionieren werden, bleibt offen. Nicht aber ihre ontologische Qualität. Sie tritt als ein demiurgischer Anspruch in Erscheinung, der in einem technoiden, selbstreferenziellen Denken und Tun wurzelt, wo die Verbindung zu anderen, größeren Welt-, Natur- und Sinnzusammenhängen methodisch verdrängt wird. Es wäre seltsam, wenn sich der Kunstbegriff der Zeit außerhalb dieser Bewusstseinslage verstehen würde. Aber was als absoluter Freiheitsbegriff im Kollektiv von Gesellschaft und Staat schließlich in Chaos oder Anarchie mündet, entspricht im Künstlersubjekt der Willkür. Dort ist es Bedrohung – aber hier wird es zum Prädikat. Seine Legitimität bezieht es aus der schöpferischen Phantasie, die willentlich als individuelle Gestaltungskraft jenen selbstbestimmten Freiheitsbegriff verwirklichen will, den die Moderne als ästhetischen Imperativ formuliert. Wer ihn als Ultima Ratio von ›Freiheit‹ will, kann ihn mit der polyvalenten Lizenz des Anything goes der Moderne jederzeit und kaum behindert verwirklichen, verlässlich testiert als demokratische Liberalitas und soziale Diversity. Wer ihn als ›Macher‹ im Werk elaboriert, kann sich in seinen Talenten bestätigt fühlen. Wer ihn zum medialen Aufmerksamkeitswert eleviert, wird prämiert. Wer ihn als Untalentierter demonstriert, darf auf tolerante Beachtung rechnen. Und wer ihn als Ideologe instrumentalisiert, kann mit Antikunst, Anästhetik oder Protestkunst intellektuelle Meriten

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sammeln. Das ist die legitime und legal verbriefte Unverfügbarkeit von ›Freiheit‹ als menschliches Grundverlangen. Sucht man aber hinter den vielen Erscheinungen des »Freiheitsbegriffs« in der Tiefe nach seinem wahren Urgrund, so stößt man zuletzt auf etwas anderes. Hinter Tun und Trachten und ›Machen‹, Hedonismus und Konstruktivismus, Phantastik und Rabulistik offenbart sich ein Streben, das darüber hinausweist in ein Existenzielles: eine Sehnsucht nach einer Befreiung ins ›Eigentliche‹ aus der ›Entfremdung‹ in einem ›Uneigentlichen‹, ein unauslöschlicher Drang nach einer höchsten Selbstverwirklichung, die den Status quo überschreiten will, vielleicht im künstlerischen Schöpfungsdrang am intensivsten. Es ist zuletzt eine inständige Befreiungshoffnung zum eigentlichen, wahren Ich, die in jedem Menschen lebt »als tiefe Ahnung, dass alles was den Menschen hier und jetzt unfrei macht, ihm nicht gemäß und nicht in seinem wahren Sein beschlossen ist«.89 Als unbewusstes Streben des Menschen ›zu sich selbst‹ sucht sie nach Erfüllung, vom weisen gnȏthi sauton, dem »Erkenne dich selbst« am Tempel des Apollon in Delphi, des Gottes der Weisheit, bis zum verzweifelten faustischen Sucher – aber auch in allen Entwürfen eines Menschentums für eine humane und gerechte Gesellschaft, den politischen Utopien und als letzte Begründung aller ›Menschenrechte‹ – schließlich auch im idealistischen Hochbild von der »Freiheit der Kunst«. Das apollinische »Erkenne dich selbst« meint übrigens mehr als nur die psychologisch-rationalistische »Selbsterkenntnis«: Im Verständnis Platons ist es die Erkenntnis des Menschen über seine eigentliche Natur als unsterbliche Wesenheit, die sich hier nur in beschränkter Zeitlichkeit erlebt (Dialog Alkibiades I). Damit verweist es als Erkenntnisqualität auf die gleichartige menschliche Strebensqualität. Weil sich aber hinter diesem Streben ein existenzieller Ur-Drang nach höchster, letzter Selbstverwirklichung in einem anderen Seinszustand verbirgt, liegt die tiefste Begründung aller ›Freiheit‹ jenseits aller vordergründigen Modalitäten und erfüllt sich weder in Willkür noch Anarchie. Da dieses Seinsverlangen im Hier und Jetzt nicht auf seine Kosten kommt, erweist es sich schließlich als Attribut einer größeren ›Wirklichkeit‹, einer Seinsordnung von kosmologischem Format. Von hier aus meint dieses Streben aber zuletzt einen Einklang des Menschen mit dieser Seinsordnung, denn nicht hier, sondern nur dort findet er schließlich seine eigentliche, überdauernde Identität in seinem ›wahren Ich‹. Das ist eine ›Freiheit‹ als Befreiung zu seinem ursprünglichen Sein. In dessen Bedingungsgefüge aber ist alle menschliche Existenz not-wendig einbezogen. 89

Vgl. Bȏ Yin Rȃ: »Aus längst vergessenem Bewußtsein seiner selbst erreicht den Erdenmenschen noch die leise Ahnung, daß alles, was ihn heute unfrei macht, ihm ungemäß, und nicht in seinem wahren Sein beschlossen ist. So wird ein unbewußtes Streben zu sich selbst verwandelt in den wohlbewußten Drang nach Freiheit«; »Alles Streben nach erahnter Freiheit aber gilt ja hier doch nur dem Wiederfindenwollen seiner selbst«, in: Das Gespenst der Freiheit, Basel u. Leipzig 1930, Kapitel Wirklichkeitsbewußtsein, besonders S. 184–186.

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Versteht also der Mensch seinen Freiheitsdrang aus diesem Bewusstsein als Drang nach seinem ›wahren Sein‹, dann kann sich ihm ein Weg zu einer Selbstverwirklichung eröffnen, die ihn in letzter Hinsicht wirklich ›befreit‹. Versteht der Mensch als Künstler seine »Freiheit der Kunst« aus diesem größeren ›Wirklichkeitsbewusstsein‹, dann kann er ihr, nach Maßgabe seines Könnens, in seinen schöpferischen Gestaltungen entsprechen. Dann wird sich sein subjektiver ›Freiheitsdrang‹ aber den, diesem ›Sein‹ eingeschriebenen Ordnungen objektiver Notwendigkeit, einfügen. Das ist eine Selbstbestimmung zur höchsten Bestimmung. Hegel formuliert es (in der Diktion von Friedrich Engels) so: »Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit.« Platon versteht »Befreiung« als »Einfügung in ein Weltganzes«. Goethe bezieht es sogar ausdrücklich auf sein Verständnis von künstlerischem Tun, wenn er für »Hohe Kunst« die »Notwendigkeit« kategorisch gegen alles »Willkürliche und Eingebildete« abgrenzt.90

Not-Wendigkeit Im Weltverständnis der griechischen Antike war die Notwendigkeit, Ananke, die höchste Macht, der sich selbst die Götter fügen mussten. Denn in ihrer Theogonie wird die Schöpfungsgeschichte als eine Entfaltung der beiden Fundamentalmächte Nous und Ananke beschrieben (Platon, Timaios). Als Kosmos, griechisch für »Ordnung« und Chaos, griechisch für »Unordnung«, werden sie als allererste Erscheinungsformen von ›Welt‹ überhaupt verstanden. Nach der Genesis des Alten Testaments scheidet Gott »Licht« und »Finsternis« aus einem offenbar bereits existenten ewigen Ur-Seienden. Auch in der Schöpfungsgeschichte nach der jüdischen Kabbalah gestaltet sich die ›Welt‹ aus dem En sȏph, dem unendlichen, unbegrenzten »Seienden aus Sich«, um sich dann in den zehn Sefirot als dessen Manifestationen zu materialisieren. Hier wie dort werden immer »Urseinskräfte« mit ihren immanenten Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten als letzte Kausalitäten erkannt und begründen unaufhebbare »Notwendigkeit«. Demnach ist »Notwendigkeit die gesetzte Ordnung des Allgefüges, dem der Einzelne einbezogen ist«.91 90

Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 2, S. 239 u. 251, thematisiert hier die »notwendige Bindung des Menschen an Natur, Recht und Sittlichkeit«, für die dann Engels die obige Formulierung findet (siehe auch oben, Anm. 88). Goethe äußert dazu: »Diese Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen: da ist die Notwendigkeit, da ist Gott« (Italienische Reise, in: Goethes Meisterwerke, Bd. 19, Berlin 1870, S. 83). Zu Platon siehe unten, Anm. 94.

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Eine solche Kosmologie aus dem Verständnis der tiefsten und ältesten Weisheitslehren der Menschheit wirft ein ganz anderes erkenntnistheoretisches Licht auf die letzten Ursachen von ›Welt‹ und ›Wirklichkeit‹. Sie werden neu dargestellt vom größten Weisheitslehrer unserer Zeit, Bȏ Yin Rȃ. Danach muß man annehmen, dass es sich nicht um eine

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Das mag für den freien, selbstbestimmten, bestens ›aufgeklärten‹Abendländer der Moderne nicht nur eine intellektuelle Zumutung schlimmster »essentialistischer« Art sein, sondern eine unerträgliche Kränkung seines Egos. Und für Wissenschafts­ ethos und Episteme des Technozäns unzumutbar. Immerhin kann aber auch moderne naturwissenschaftliche Ratio auf einen Erkenntnisrahmen dieser Art nicht verzichten. Denn auch sie rechnet in ernsthafter Theorie und Praxis mit Naturgesetzen als unhintergehbare Strukturprinzipien des Universums und bedient sich ihrer in ihren Strategien und Technologien. Wer sich hingegen einem Ethos von Freiheit als unbegrenzte Selbstermächtigung menschlichen Wollens bis zu den modernen Allmachtsphantasien eines »Homo Deus« (Y. N. Harari) hingibt, negiert diese letzte Wirklichkeit und folgt zeitgeistiger Utopie. Es ist eine Utopie des Technozäns, die dem Menschen aus ihrem Suprematieglauben das irreale Versprechen von Grenzenlosigkeit macht. Diese Utopie meint zwar ›Freiheit‹, aber keine ›Befreiung‹. Damit ist es die Jagd nach einer Fata Morgana: dem trügerischen »Gespenst der Freiheit«.92 Dringt ein Künstler als Intuitiver, Begnadeter oder Wissender zu solcher Einsicht durch, steht er vor der Wahl. Es ist dann nicht nur eine Entscheidung über seinen Freiheitsbegriff, sondern eine über seine Bewusstseinslage. Will er aus jenem Bewusstsein gestalten, das um die Selbstverwirklichung seines höchsten Menschentums weiß, dann ist er nicht bloßer ›Könner‹, sondern er kann zum ›Künder‹ werden aus jener anderen ›Wirklichkeit‹, in der letztlich das ›wahre Sein‹ des Menschen und aller seiner tiefsten Sehnsüchte beschlossen ist. Die ›Wissenden‹ aus der Geschichte haben daraus ihre Kunst gestaltet und ihr Wissen darum oft verschlüsselt in ihren Werken angedeutet. Auch die großen Schöpferischen der Musik haben immer darum gewußt – und ›Kunde‹ davon gegeben und hinterlassen. Die theozentrische Musik von Gregorianik, Mittelalter, Creatio ex nihilo durch einen Schöpfergott handeln würde, sondern dieser stellt gewissermaßen seine höchste und sublimste Gestaltungsform aus dem ewigen, anfangs- und endlosen Meer der »Urseinskräfte«, des »ewigen Lebens«, dar. Das könnte so verstanden werden, als wäre die Schaffung einer ›Ordnung‹ des Göttlichen als Kosmos gewissermaßen eine eigene Handlungsmöglichkeit gegenüber diesen Kräften des ewigen Urseins mit ihren unwandelbaren Gesetzlichkeiten. Damit aber wäre Ananke als die einschränkende Kraft auch aller göttlichen Ordnungsgestaltungsmöglichkeiten zu begreifen, genau wie es auch die antike griechische Theogonie darstellt, vgl. Bȏ Yin Rȃ, En sȏph, in: Das Buch vom Lebendigen Gott (1927), S. 111–120; Das Buch vom Jenseits (1929), S. 139–140; Das Mysterium von Golgatha (1930), S. 172–175 u. 177; Briefe an Einen und Viele (1935), S. 143 ff.; Hortus Conclusus (1936), S. 187 ff. Mit der Vorstellung von ewigen »Urseinskräften« erhält auch das ungelöste Problem moderner Astrophysik, was vor dem (vermuteten) »Urknall« war, eine andere Beleuchtung. 92

»Wirkliche Freiheit ist die Frucht erfüllter Notwendigkeit und soll dazu dienen, Höheres als Freiheit zu erreichen!« heißt es bei Bȏ Yin Rȃ (Das Gespenst der Freiheit, 1930, S. 14 und 22). Damit wird angedeutet, dass die höchsten Vollendungsmöglichkeiten des Menschen in seiner ewigen Gestaltungsform, bei unveräußerlicher und unvergänglicher Individualität, nur aus der Einfügung in Ordnungsstrukturen des Numinosen verstanden werden können, vgl. Bȏ Yin Rȃ (1929), S. 146–147.

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Renaissance und noch im Barock ist so durchtränkt davon, dass sie die Moderne meistens langweilt. Für Bach ist es erklärter »Endzweck aller Musik«, bei Mozart ist es ein luzides Spiel zwischen apollinischem Eros und freimaurerischer Weisheit, bei Bruckner bricht es sich immer wieder Bahn mit eruptiver Macht und Mahler ringt unablässig um seine Vergegenwärtigung. Wie leidenschaftlich sich aber auch noch ein schöpferischer Geist im Aufbruch zu einem höchst individualisierten Kunstverständnis und als glühender Adept der ›Freiheit‹ als ein ›Künder‹ aus solcher Bewusstseinslage versteht, nämlich Beethoven, bezeugt sein Bekenntnis: »Höheres giebt es nicht, als der Gottheit sich mehr als andere Menschen nähern und von hier aus die Strahlen der Gottheit unter das Menschengeschlecht verbreiten.« Stellt der Künstler also seine Talente in den Dienst solcher höchsten Selbstbestimmung, dann vermag er zu einem bedeutsamen Vermittler werden, denn: »Ein jeder berufene ›Künstler‹ ist ein Brückenbauer, der das Reich der äußeren Sinnenwelt mit den Gestaden des Übersinnlichen verbindet.«93 Wer also ›Freiheit‹ jenseits von ästhetizistischem Spiel, solipsistischer Willkür, illusionistischer Utopie oder spekulativem Kalkül versteht, nämlich als Be-freiung zu einem höheren ›Wirklichkeitsbewusstsein‹, wird ihre Bindung in Ordnungen der ›Notwendigkeit‹ als ein Bestimmungsattribut begreifen – nicht als Zwang.94 Das wäre der Künstler als wissender ›Künder‹. Viele wusste es.95 93

Bȏ Yin Rȃ, Das Reich der Kunst, München 1921, S. 91.

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Auch bei Platon wird ›Befreiung‹ letztlich als »Einklang in ein Weltganzes« verstanden (Timaios, Kapitel 43, Pflege der Seele): »Freiheit ist also, wer sich zum Freisein helfen läßt, weg von den partikularen Sonderinteressen und der Willkür. Nur wer die eigenen Vorstellungen den Nomoi angleicht, wer sich im Denken dem Bedachten ähnlich macht, kann selbst soweit der Gottheit ähnlich werden«, interpretiert von: W. M. Zeitler, Entscheidungsfreiheit bei Platon, in: Reihe Zetemata 78 (1983). Vgl. dazu auch W. Scheffel, Aspekte der platonischen Kosmologie: Untersuchungen zum Dialog Timaios, Leiden 1976. Noch deutlicher in Hinblick auf einen transzendenten Bezug formuliert bei Bȏ Yin Rȃ: »Erfüllung des Gebotes der Notwendigkeit kann dir allein die wirkliche Freiheit bringen, nach der du dich sehnst, auch wenn du noch befangen bist im Wahn, daß Freiheit sich als Willkür dir zu eigen geben müsse« (in: Gespenst der Freiheit, S. 26).

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»Kunst ist die Lebensnotwendigkeit zum höchsten Dasein, der Abglanz jenes überirdischen Lichts, das alle Menschen von Kindheit an in sich tragen …« (Hermann Stehr); »Dem Innenmenschen ist die Kunst Vermittler zwischen hohen Geisteswelten und seiner Empfindung, Kunst kann in ihrer edelsten Verkörperung priesterlich sein. Mehr: sie ist es in jedem Falle.« »Ein Kunstwerk zu schaffen bedeutet Verkehr mit der Gottheit« (Kurt Heynicke, Der Weg zum Ich, Prien 1922, S. 101 ff.). »Die Künstler sind die Erhälter und die Behälter, die Wiedergebenden der göttlich-geistigen Liebeskräfte, oder sie sind nichts« (Waldemar Bonsels); »Begegnung mit dem zeitlos Überdauernden geschieht da, wo die im Kunstwerk niedergelegte Erinnerung an das Göttliche zur bezwingenden Gegenwart wird« (Gerhard Nebel, Das Ereignis des Schönen, Stuttgart 1953); »Ich kann die Frage nach Gott nicht abstreifen. Ich bin bewegt von den Schönheitswerken, die die Religion in die Welt gebracht hat …« (Schriftsteller Martin Walser, Interview, in: The European 7, 18.2.2012). Für die Abgrenzung von »Kosmos« als gestaltete Form und von »Chaos« als formlos, findet sich bei Bȏ Yin Rȃ, im Zusammenhang mit dem Maler Raffaello Sanzio, die

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Nietzsche, mit seinem oft hellsichtigen Ahnungsvermögen, begreift solche hintergründige ontologische Bindung für die Musik, wenn er von ihr aphoristisch »als eigentliche Idee der Welt« spricht. Abgründige Bedeutung aus solcher Einsicht aber gewinnt das Wort alter chinesischer Weisheit: «Die vollkommene Musik hat ihre Ursache. Sie entsteht aus dem Gleichgewicht. Das Gleichgewicht entsteht aus dem Rechten, das Rechte entsteht aus dem Sinn der Welt. Darum vermag man nur mit einem Menschen, der den Weltsinn erkannt hat, über die Musik zu reden.«96 Womit man wieder bei Konfuzius und Platon wäre.

Erläuterung: »…. wie die Kunst der Antike, (die) den Weg in die Unendlichkeit bezeichnet, aber nicht den Weg ins Chaos, ins ›Grenzenlose‹, den wir bis heute gehen« ( Bȏ Yin Rȃ,1921, S. 167). 96

Frühling und Herbst des Lü Bu We, Buch 5, Dschung Hia Gi, 2. Kapitel, übersetzt u. hg. v. Richard Wilhelm, Neuausgabe, Düsseldorf u. Köln 1979, S. 57.

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XII Epilog: Einsichten, Nachspiele, Ausblicke Das zeitgenössische ›Jetzt‹ ist unsere unhintergehbare Realität. Dazu zählen nicht nur die Polyphonie unserer Bewusstseinslagen, sondern sämtliche Ambivalenzen unserer Kunstidiome. Ob es als fraglose »Legitimität der Neuzeit« (Hans Blumenberg) gepriesen wird, ob als (unvollendetes) »Projekt der Moderne« (Jürgen Habermas) samt »Post«, »Spät« und »Hyper«, ob euphorisch als immer nachhaltigere ›Aufklärung‹ oder kategorial neu bestimmt als »Anthropozän« oder aber schlicht als das unverdrossene Credo von Fortschritt und Innovation der Ingenieure, spielt so wenig eine Rolle wie seine Missbilligung. Denn es lässt sich weder durch Ablehnung delegitimieren noch durch Verweigerung eliminieren. Es ist allerdings auch das Dilemma der Künste und Künstler – womöglich am fatalsten der Komponisten. Denn hier geht es nicht nur um Valenzen und Ambivalenzen. Mit fast zweitausend Jahren präsenter Musikgeschichte in diesem ›Jetzt‹ scheint vieles erschöpft, verbraucht, zu Ende. Mit dem Angebot der vielen ›traditionellen‹ Idiome aus den Weltkulturen und der Theorie der »Pluralen Ontologien« erweitert sich der historistische Relativismus zum systematischen. Deshalb beklagen viele Kommentare die Misere der Entropie: Adornos mokantes »Lächeln, wenn ein Ton erklingt«, »Das Tonmaterial ist aufgebraucht« (Sänger Dietrich Fischer-Dieskau), »Es fällt dem modernen Menschen schwer, einzugestehen, daß ein Kreis durchschritten, ein Material als Material erschöpft ist« (Wilhelm Furtwängler), »Musik verschwindet« (Sergiu Celibidache), »Das erkundete Material ist erschöpft. Neues im eigentlichen Sinne ist heute nicht mehr vorstellbar (Krzysztof Penderecki), »Einen neuen Mozart wird es nicht mehr geben« (George Steiner). Und Richard Strauss hat bekanntlich die abendländische Musikgeschichte schon 1949 beendet. Das sind Abgesänge vor der Übermacht des Akkumulierten. Dem komponierenden Künstler mit dem ungebrochenen ›Willen zur Kunst‹ wird es leicht zur Ohnmacht. Als eine Art alexandrinisches Trauma nötigt es zum skrupulösen Tun zwischen Stilkopie und Originalitätsdiktat, zum Jonglieren zwischen Experiment und Hybrid, zwischen Tabu, Recycling und Provokation. Auch im neuen algorithmischen Computer-Komponieren samt KI feiert sich nicht nur die Technologie, sondern die Entropie – nämlich als Erschöpfung eines Schöpferischen aus seelischem Erleben. Inzwischen scheinen sogar viele Avantgarde-Strategien nach dem Paradigmenwechsel des 20. Jahrhunderts bereits erschöpft: von der Materialerkundung bis zu den Dekonstruktions-, Hyperkomplexions- und Ideologisierungsmodi. Cage hat das beizeiten als »Tod des europäischen Subjektivismus« erkannt und provokativ als Inversion in Ironie inszeniert. Andere wie Ligeti (schon 1960) oder Konrad Boehmer (1998) resümieren es reflektierend.1 Wieder andere machen ihre Ratlosig-

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G. Ligeti (2007), S. 112–116; K. Boehmer, Komponieren im Disneyland, in: NZfM 159 (1998).

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keit als »Scheitern« zum ästhetischen Programm. Elektronische Kunstfertigkeiten, Mikrotonalität und Anleihen aus Idiomen anderer Ethnien bieten noch Möglichkeiten, Klangexperimente sowieso, obwohl längst multimedial-interaktive Installationen die zentralen Tendenzen aus den Technologien zeigen. Immerhin lassen sich im Musiktheater mit neuen Narrativen und Libretti noch originelle Sujets finden. Und Concept Art als Demonstration konstruierter Denkspiele geht immer. Für die Musikgeschichtsschreibung ist das Dilemma kaum geringer. Der Wandel zum kulturanthropologischen Blick hat die »Historische Musikwissenschaft«, ihre Kanons und Methoden in die Liga der globalen Cultural studies mit ihren neuen Hermeneutiken versetzt. Aber die ›klassischen‹ Deutungssysteme sind aufgebraucht. Das Besteck der analytischen Methoden aus den alten Satz- und Musiklehren seit Hauptmann, Sechter bis Hugo Riemanns Funktionsharmonik und Schenkers »Ursatz« scheitert, trotz ihrer vielen waghalsigen Erweiterungen samt den dodekaphonischen Reihenanalysen von René Leibowitz bis Josef Rufer bereits an Stockhausen, nicht zu reden von Cage, Ligeti, Rihm, Lachenmann, Zender, Ferneyhough oder Spahlinger und Olga Neuwirth. Auch neue Konzepte wie die der pitch classes werden von Performance-Happenings und Multimedia-Installationen links liegengelassen. Ungeachtet dessen versucht sich eine bemühte musikgeschichtliche Theoriesuche an der Metaebene neuer Verständniskonzepte über kultursoziologische oder kommunikationstheoretische Modelle und will den nomadischen Pluralismus als »Polyphone Erzählung« einfangen – oder kündigt allen alten »Kanons« und Hermeneutiken zugunsten neuer von ›Diversität‹. Aber trotz der methodischen Verlegenheiten kann die Musikologie ihren Ansprüchen als »Wissenschaft« nach zeitgenössischem Verständnis leichter nachkommen als die Komponisten den ihren auf überzeugende ›Musik‹. Denn sie wird weiter objektiv, das heißt in wertfreier »intellektueller Erfassung« (A. W. Cohn, siehe S. 362) und unter Verzicht auf ontologische oder intentionale Fragestellungen, analytisch und deskriptiv, eben »evidenzbasiert«, besten Gewissens allen Arten von Musikbegriff begegnen können. Verzichtet der anthropologisch disponierte Blick aber nicht auf solche Fragestellungen, dann wird sich die Gegenwart nicht nur vor denkerischer Technē rechtfertigen müssen, sondern vor der Vergangenheit, der Geschichte. Denn ihre Präsenz bestimmt nicht weniger legitim einen gültigen Musikbegriff. Dann wird der »historisch informierte« Blick zurück zur Differenzialdiagnose. Wie leicht damit Musikgeschichte nicht nur als glänzende Entfaltung aller Möglichkeiten des componere verfasst werden könnte, sondern auch über ihre Schwundstufen triftiger Bedeutung, lehrte bereits der Verlauf des ästhetischen Denkens mit seiner Klimax im erkenntniskritischen Nirwana der aktuellen Moderne. Unter diesem Aspekt scheinen viele Errungenschaften eingeholt von ihren Dekonstruktionen und Inversionen bis zur Anti-Kunst. Das betrifft nicht nur das musikalische Idiom im engeren Sinn. Es betrifft auch die Bewusstseinslage in umfassenderer Hinsicht, wenn die methodische Umcodierung zur Tilgung unaus-

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tilgbarer Referenzen musikalischer Ontologie gefordert wird, die schließlich zur Formulierung eines neuen Musikbegriffs führte. Formalistisch verstanden als eine andere »Denkform musikalischen Komponierens« legitimiert er sich zwar bestens aus der Ratio des Technozäns. Aber als Differenz zu einem Musikbegriff aus der Ratio ontologischer Begündungszusammenhänge ist es dessen Negation.

Endphase? Oder Transit? Oder vielleicht Wandlungsphase zu einem wahren ›Anthropozän‹? Aber Welt und Geschichte bewegen sich unaufhaltsam weiter. Auch das legitimste ›Jetzt‹ ist kein Finale, sondern nur Transit. Auch die gegenwärtige Bewusstseinsverfassung der aktuellen Moderne wird im unvermeidlichen Zeitenwandel unweigerlich vergehen. Urteilt man deshalb mit dem Blick auf das unausbleibliche Vorne des Zukünftigen, könnte die Situation der Moderne samt ihrem voreiligen ›Post‹ auch als Auftakt einer bedeutsamen Wandlungsphase verstanden werden. Noch ihre fatalsten Attribute könnten Anzeichen einer Wende sein, die sich anbahnt, das ›Jetzt‹ der Auflösungen, ein Keimbeet einer neuen Weltverfassung. Unter diesem Aspekt wäre das Szenario der Symptome ein Katalog der Möglichkeiten. Die Erkenntnisse positivistischer Wissenschaft und Forschung haben zwar Atom- und Wasserstoffbombe, Ökozid, Umweltzerstörung, Genmanipulation, Cyberspace und androide Entwürfe gebracht – aber auch ein erweitertes, neues Verständnis von Kosmos, Materie, Natur und Leben. Das reicht von den größten Sternenweiten bis zu den kleinsten Dimensionen subatomarerTeilchen, von den komplexen Zumutungen der Quantenphysik bis zu den verwegenen von Biologie und Medizin. Das führt schon rein materialistisch zu einem anderen ›Weltbild‹. Damit würde sich Auflösung zunächst als Ablösung von alten Dogmen, Zwängen und Denkfiguren zugunsten einer neuen Erkenntnistheorie von Welt und Mensch erweisen. Der kollektive Zugang zu entlegensten Wissensquellen als eine Art von totaler ›Offenbarung‹ in einer enzyklopädischen ›Wissensgesellschaft‹, immerhin partiell mit den digitalen Kommunikations- und Vernetzungstechnologien realisiert, sorgt für die Erweiterung unserer Horizonte zu einem umfassenderen, kosmologischen Verständnis aller anthropologischen, physikalischen und metaphysischen Positionen, wie es das in der (uns bekannten) Menschheitsgeschichte nicht gab.2 Das wäre eine Chance der ›Technologie‹ für bessere ›Erkenntnistheorie‹. 2

Zu diesen neuen Erkenntnismöglichkeiten unserer Zeit zählt auch das Lehrwerk von Bȏ Yin Rȃ. Denn es vermittelt, zugleich mit seiner Wegweisung zu einer authentischen Erfahrung von »substanziell Geistigem«, auch singuläre Erkenntnisse über größere, kosmologische Zusammenhänge und damit Einblick in die Struktur einer umfassenderen ›Wirklichkeit‹. Damit ist es auch ›Offenbarung‹ und gewinnt Bedeutung als eine Erkenntnisquelle, die man, würde man sie »philosophisch« einordnen, als eine in unserer Zeit einzigartige Erkenntnistheorie qualifizieren müsste.

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Davon am wichtigsten: für einen anderen ›Geistes‹-Begriff . Nicht als bloßes Derivat des Materiellen und blasses Diminutiv als Intellekt, sondern als ein substanziell Anderes – mit einer anderen Vorstellung von Transzendenz, dem Numinosen, dem ›Göttlichen‹ schlechthin. Und von da aus vielleicht für eine neue Spiritualität: ein Ausgang aus den Dunkelheiten alter Kulte, verrätselter Mythologien, trübem Okkultismus, beschränktem Materialismus und ideologischem Determinismus zu einer Erkenntnishelle, die von einer anderen, größeren Vorstellung von ›Wirklichkeit‹ im Strukturgefüge des Universums bestimmt ist – und damit auch von der wahren conditio menschlicher Existenz in letzter, geistbezoger Hinsicht. Das würde bis in alle Gesellschafts-, Religions- und Kunstsysteme reichen und könnte dort Paradigmen wandeln. Dann würden sich Krise wie Kanonzerfall und Formverlust der Gegenwart möglichweise als »Übergangszeit« in den Zyklen historischer Amplituden erweisen. Denn weil unbegrenzter linearer Fortschritt die gleiche Utopie ist wie unbegrenzte Freiheit jenseits der Ordnungen kosmologischer ›Notwendigkeit‹, wäre das ›Jetzt‹ vielleicht ein ›Tal‹ im Oszillogramm der Zeiten, das, wie jedes Naturgeschehen, niemals linear verläuft, sondern in Rhythmen, Zyklen und Wellenbewegung. Dann wäre die tiefe Krise Symptom einer großen Wandlungsphase. Dann wären deren Dissoziationen, Dekonstruktionen und Umwertungen weit über das ästhetizistische Anything goes hinaus vielleicht Zeichen einer »chthonischen Umgestaltungsdynamik zwischen Urbild und Chaos« (Erich Neumann) mit ihrem traditionellen, exemplarischen Resonanzraum in Kunst und Musik. Dann wären dort »Verzerrung, Verschiefung und Verdrehung ins Grotesk-Grauenhafte ein archetypischer Aspekt des Dämonischen«, weil »die Mächte als reine Dynamik sichtbar werden« (E. Neumann). Aber dann könnten sie auch als Dynamik einer Umgestaltung gelten, als Vorzeichen einer neuen Weltverfassung, wie es immer wieder in den diversen »Weltzeitalterlehren« anklingt. In den Hoffnungshymnen der gestrigen New Age-Jünger tönt es auf wie in den neuen soziologischen Spekulationen im Gefolge fataler Weltkrisen und Pandemien oder wie es schließlich, viel tiefer begündet, in der tiefsten Weisheitsoffenbarungslehre unserer Zeit angedeutet wird.3 Dann könnte es Vorschein eines wahren ›Anthropozäns‹ sein, das sich nicht als Technozän begreift, sondern als epochale Entfaltung eines neuen Menschentums.

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Vgl. E. Neumann (1954), besonders das Kapitel: Kunst und Zeit, S. 79–139. Auch eine Apos­ trophierung als »Wassermannzeitalter« meint etwas von »Zeitenwandel«, wie es in alten Lehren von den »Weltzeitaltern« und den Geschichtstheologien von Augustinus bis Joachim de Fiore immer wieder thematisiert wird, vgl. A. Rosenberg, Durchbruch zur Zukunft. Der Mensch im Wassermannzeitalter, Bietigheim/Württbg.1958. Bȏ Yin Râ schließlich spricht »vom geistig-kosmischen Nahesein einer Umgestaltung des Erdenlebens«, einem Angelangtsein »des Menschen Bahn an der Schwelle eines jener lichten Höfe, die auch inmitten tiefster Finsternis zuzeiten neue Hoffnung für die geistige Erhellung geben«, in: Über die Gottlosigkeit, Basel 1939, S. 48–52 sowie: Das Buch vom Menschen, Basel 1928, Kapitel Die neue Menschheit, S. 129–146.

Noch scheint diese ›Übergangszeit‹ in Kunst und Musik mehr durch Desinte­ gration und Formverlust bis zu Zerstörung und Enthumanisierung gekennzeichnet als durch das Morgenlicht neuer Horizonte. Noch bietet sie eher das Bild der Zerreißung von Orpheus durch die Mänaden im Mythos, womöglich den makabren »Tanz der Shiva« auf den Trümmern eines vergehenden Weltzeitalters und wird so mehr »Dämonenbeschwörung« (E. Neumann) als Beherrschung des Dämonischen aus dem Geistigen. Und noch vollzieht sich solche »Dämonologie« im Modus von Technologien, die mehr über den Menschen herrschen als er über sie. So bleibt, trotz berechtigter Hoffnung auf Wandel, noch offen, ob das ›Danach‹ von einem szientistischen Transhumanismus mit der Überwindung alles ›Menschlichen‹ und der weiteren Des-Identifikation des Subjekts zugunsten eines unbeseelten Androiden bestimmt sein wird oder von einem neuen, transzendenzbewussten Humanismus. Und ob und was dort von der abendländischen Musik bleibt, weiß keiner.

Musikalische Rechtfertigungslehre oder: eine Art Theodizee Noch aber ist sie weder Opfer von Hegels »Furie des Verschwindens« geworden, noch der Inversions- und Destruktionsspiele der Anti-Kunst und den Paradigmenwechseln des Musikbegriffs, noch dem Exitus im lakonischen Verstummen von John Cage oder der neuen Stoa des ›Nichts‹. Noch ist sie als Erbe Gegenwart und als Vermächtnis Bedeutungsmacht. Noch eröffnet sie uns singuläre Ausdruckswelten, setzt Maßstäbe, kalibriert zünftiges Kompositionshandwerk und offenbart in unmissverständlicher Evidenz, was Größe oder Marginalie ist. Aber auch ohne höchste ›Größe‹, allein schon als ein eigener Seinsbereich mit seiner eigenen Ontologie, legitimiert sich Musik vor allen anderen Mächten menschlicher Existenz. Bereits in ihren einfachsten Ausdrucksgebilden berührt sie als Resonare, direkter als jede andere Kunst, eine andere, eine innere, eine seelische ›Wirklichkeit‹. Denn sie entspringt in ihrem wahren Ursprung seelischer Bewegung. Deshalb zählt jedes beseelte Empfinden als Erlebniswert zu einer anderen anthropologischen Kategorie als das diskursive Denken mit seinem Begriffswert und der Erfassung als Mechanik seiner Verknüpfungen: es ist ein resonierendes ›Innewerden‹ gegenüber bloß räsonierender Gedankenarbeit. Es ist die lebendige Begegnung mit einem anderen ›Sein‹, in das ein analytisches Wissenschaftsdenken nicht hineingelangt. Es hat eigene Erkenntnis-, ja sogar Verwandlungskraft und wird deshalb auch als Zeugnis anderer Seinsqualität und anderer Sinngestaltung noch im defizitärsten Künstlertum als Rest von individueller Dignität und ›Verweigerung‹ gegenüber dem ›entfremdeten Außen‹ in Welt, Gesellschaft und Konventionen hartnäckig und legitim in Anspruch genommen. Als »Andersweltlichkeit« benennt es George Steiner, als »Wesensnähe zur Mystik« und »Erscheinungsform

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einer mythischen Welterfahrung« verstehen es Friedrich Alfred Schmid Noerr und Kurt Hübner.4 »Der Ton ist ein unsichtbarer Gast aus einer unsichtbaren Welt, jener Welt von Nebenan, die wir bisweilen, wenn wir sensibel genug sind, als gegenwärtig empfinden, ohne dass wir uns für diese Empfindung mit einem logischen Schlußsatz freizukaufen wissen. Der Ton braucht zwar Materie, um sich zu inkarnieren, er ist aber seinem Wesen nach ein immaterielles Gebilde … Die psychische Funktion ist das Organ, durch welches es dem Menschen ermöglicht wird, die Wirklichkeit, d. h. die Idee hinter dem Weltgetriebe in Form eines Symbols – als Gleichnis – zu erfahren. Diese Erfahrung kann in vollendeter Weise über das Gehörorgan – durch die Musik – vermittelt werden … Die psychoide Veranlagung des Tonphänomens enthält latent eine Tendenz, ihn über sein alltägliches Bewußtseinsniveau zu erheben und dem Niveau des Tones anzunähern. Es handelt sich daher um ein ›Heraustreten‹ des Menschen ›aus sich selber‹«, so beschreibt der Musiktherapeut Aleks Pontvik diese eigene Seinsqualität.5 Schon dadurch ragt Musik mit ihrer Eigenart »sperrig« in jene von der szientistischen Ratio eines materialistischen Weltverständnisses mit ihrer durch technoide Denk- und Verfahrensweisen bestimmten Wirklichkeitsvorstellung hinein. Das aber hat für die Bewusstseinslage unserer Zeit besondere Bedeutung. Es ist die Begegnung mit einer anderen »Wirklichkeit« über andere Instanzen unseres Bewusstseins. Als »Geschehen«, als psychologischer Prozess einer Bewusstseinsveränderung kann es den Menschen tatsächlich der außenbestimmten »Welt« und dem Alltagsbewusstsein, vor allem aber dem bloßen Verstandesbewussten für kürzere oder längere Zeit entziehen. Das ist kein Manko, sondern ein Gewinn. Das ist nicht Flucht, sondern Übersteigen. Das ist nicht Trivialisierung, sondern Potenzierung. Das ist auch nicht »romantisches« Pathos, sondern jene Sinnerfahrung, die als konkrete Empirie genau das einlöst, was man denkerisch Metaphysik und »Essentialismus« als »unausgewiesene Substantialisierungen« verweigert. Denn dieses Geschehen kann aus der Partialwirklichkeit des Außen zu einer Ganzheitserfahrung des Innen (Erich Neumann) über einen seelischen Erlebnisprozess führen. Es kann, wie es der Neuplatoniker Plotin so präzise formuliert, aus dem bloßen logismo zu einer anderen Seinswahrnehmung führen. Die kann zwar denkerisch durchaus erfasst werden – aber nicht erfahren, weil das Denken substanziell nicht dort ist.6

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G. Steiner (1990), S. 285; F. A. Schmid Noerr, Der Mystiker, Wesensbeschreibung eines menschlichen Urbildes, München 1967, S. 91; K. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S. 211.

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A. Pontvik (1962), S. 46, 54.

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Ein angemessenes Verständnis dieses Vorgangs kommt um eine erkenntniskritische Bestimmung der Ontologie des ›Denkens‹ unter diesem Aspekt nicht herum. Bekanntlich verdanken wir bereits Kant die Erkenntnis, dass das »Ding an sich« dem menschlichen Denken aufgrund der apriorischen Bedingungen unseres Bewusstseins nicht erfassbar

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Das ist aber genau diejenige Bewusstseinslage, wie sie alle bedeutenden musikalischen Künstler als angemessenen Wahrnehmungs- und Verstehensmodus für ihre Kunst fordern. Ihre Bekenntnisse zeigen es von der antiken poesis bis Bach und Händel, Beethoven und Mahler. Und selbstverständlich wird er auch noch als (zumindest programmatischer) »Erschütterungsprozess« von der Moderne reklamiert, besonders für ihr Musiktheater. Von da aus enthüllen sich die analytisch-intellektuellen Verständnisforderungen moderner Avantgardetheorien, »mit den Ohren denken«, höchstens als Zugang zu einem Musikbegriff, der sich auf das ›Verstehen‹ von Konstruktionskalkülen bezieht. Der aber verdankt sich wesentlich einer Bewusstseinslage aus der technoiden Verstandesratio der Zeit. Von da aus ist die Überführung einer musikalischen Ontologie, die aus jenem anderen, aus seelisch-empfindungsmäßigem Erleben erwachsendem Musikbegriff bestimmt ist, in bloßes Verstandesbewusstsein und ›Denken‹ nur die Mimesis des Technozäns und bedient einen Technomorphismus. Denn mit der kognitiven Rückführung in die Mechanik bloßer gehirnlicher Gedankenarbeit wird der Erfahrungs-›Gewinn‹ wieder verspielt. Allein schon durch diese Differenz gewinnt Musik in ganz besonderer Weise ihre Rechtfertigung – noch ganz abgesehen von ihren höchsten Möglichkeiten. Allein schon damit erhält sie ihre ganz eigene Legitimität in der menschlichen Lebenswelt. Das aber wäre nichts weniger als eine existenzielle Rechtfertigung, die, mit einigem analogen Metaphern-Sinn, an die theologische Rechtfertigungslehre der Theodizee denken lässt – dort problematisiert als eines ›Gottes angesichts des Übels in der Welt‹, hier als eine anthropologische – nämlich als kategoriale Rechtferti-

ist. Auch die moderne Naturwissenschaft leistet es nicht (siehe Kapitel XI, S. 775 ff.). Das verweist auf das Grundproblem, dass »Alles Denken menschlicher Gehirne für immerdar in der Erscheinungswelt verankert ist, der die Gehirne, mögen sie auch über rein Abstraktes fabeln, selbst als Teile angehören« und deshalb kann »der Denker nicht Dinge letzter Wirklichkeit erfassen. Er setzt für sie Gedanken, die als Gebilde der Erscheinungswelt in ihr beschlossen bleiben.« »Soll aber letzte Wirklichkeit der sicheren Erkenntnis sich enthüllen, dann gibt es nur ein Inne-Werden dessen, was es zu erkennen gilt! Nur im Erleben ist die letzte Wirklichkeit zu fassen!«, in: Bȏ Yin Rȃ, Kultmagie und Mythos, Leipzig 1924, S. 59–61 sowie in den zahlreichen Hinweise in seinem Lehrwerk zur zentralen Funktion der Empfindungsfähigkeit für jedes Bemühen um Numinoses und eine von daher erfahrbare »Ich«- und »Seinsgewissheit« (siehe Kapitel VIII, S. 356, Anm. 53). Das heißt aber, dass es einen Weg zu einem »Wissen« gibt, der nicht über »wissenschaftliches Denken« führt, sondern über die Entwicklung des Empfindungsbewusstseins. Unter diesem Aspekt kommt dem musikalischen Erleben paradigmatische Bedeutung als ontologische Differenz zum reflektierenden Erfassen zu, wie analog, erkenntnistheoretisch, dem musikalischen Apriori des Erlebniswerts. Von hier aus erweist sich die Auffassung, Musik sei jeweils nur »eine (bestimmte) Form des Denkens« als defizitär. Damit gewinnt die Forderung ästhetischer Theorien nach einem »musikalischen Denken«, verstanden als analytisches und reflexives Konzept von Komponieren und Rezipieren, ihre schwerwiegende Bedeutung. Sie zielt nicht nur auf eine andere Ontologie der Kunst, sondern auf eine Veränderung des Bewusstseins mit einer anderen Erkenntnistheorie.

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gung gegenüber einem immanenten Weltverständnis, wie es das Technozän mit »Instrumenteller Vernunft« und materialistischem Zweckrationalismus entwickelt. Denn mit der durchaus rational fassbaren Einsicht von ihrer besonderen, genuinen Ontologie, die sich real als erfahrbare andere ›Wirklichkeit‹ für das menschliche Bewusstsein manifestiert, kann sie vor dessem »Wirklichkeitsanspruch« mit den komplexen intellektuellen Leistungen seiner Wissenschaft und Ingenieurkünsten als Zeugnis einer anderen Seinskategorie bestehen. Allein schon deshalb bewahrt unsere Musikgeschichte als unerschöpfliches Reservoir an seelisch-geistig bedeutungsvollen Ausdruckswelten ihre Signifikanz, ihren Rang, ihre Dignität, und ihren unverfügbaren humanen Wert. Deshalb findet sich bereits hier eine triftige Antwort auf die Frage Quid sit musica? In ihrer höchsten Möglichkeit aber können musikalische Werke ein Format erreichen, das alle Reizmuster subjektiver Ausdrucks-, Stimmungs- oder Konstruktionswelten übersteigt. Künstlergestalten wie J. S. Bach, Mozart oder Beethoven sind singuläre Beispiele dafür. Denn hier wird aus einem Seelenraum ›geschöpft‹, der eine ›Seins‹-Erfahrung aus einer anderen ›Wirklichkeit‹ berührt: Musik trifft sich dort mit (wahrer) Religion. Hier löst das abendländische Musikingenium nicht nur sein Hochbild ein, sondern hier legitimiert sich die Geltung der abendländischen Musik in besonderer Weise unter aller Diversity samt »pluraler Ontologien« und findigem »Multinaturalismus«. Diese Ausdruckskraft verdankt sich nicht zuletzt einer (abendländischen) Ratio, die das componere so systematisch zur kunstvollen Tektonik eines komplexen musikalischen ›Satzes‹ entwickeln konnte, dass ihr jene differenzierten und vielfältigen Formulierungsmöglichkeiten zugewachsen sind, die ihre ›universale‹ Wirkung ermöglichten. Wenn sich mit ihr ein »Kanon« herausgebildet hat, dann ist das Konzentrat und Essenz höchster menschlicher Möglichkeiten, ein Destillat aus den besten schöpferischen ›Vermögen‹ wahren Menschentums.7 Damit ist sie ein Paradigma von Kultur – nicht von Chauvinismus, Reduktion oder »Diskrimination«. Damit nimmt sie den Ausdruckswelten anderer Kulturen nichts von ihrer Würde und Bedeutung, sondern legitimiert sie als erhabene Möglichkeitsräume. Wer es von daher begreift, der findet hier schließlich auch die tiefste Antwort auf die Frage, was ›Musik‹ sei. Nicht zuletzt liegt hier auch das eigentliche Kapital für das Jetzt: der Zugang zu Erlebnismöglichkeiten, die jenseits aller zeitgeistigen Bewusstseinslagen liegen. 7

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Bedeutsam ist dazu der Hinweis von Bȏ Yin Rȃ auf den Unterschied zwischen den höchst entwickelten Resultaten menschlichen Denkens und der Technik, die meistens noch dem »tierseelischen« Bereich zuzurechnen sind und denjenigen, die dem Bereich der »ewigen Seelenkräfte« entstammen, die auch Träger des individualisierten ewigen Geistesfunkens sind (in: Hortus conclusus, S. 228–229): »… daß auch technisch hochbedeutsame Werke jeglicher Kunst nur das Werk der im Menschen zu höchster Entwicklung gelangten Tierseele sind, auch wenn sie freilich auf jeder technisch zu wertenden Höhe Ausdrucksgestaltungen der bleibenden Seele werden können …«.

Hier eröffnen sich Fenster zu Seelenbezirken im empfindungsbereiten ›Innewerden‹, die Fenster zum Numinosen werden können: erfahrbare Transzendenz. Es sind Angebote an jene Berührung des Urbildlich-Archetypischen, das als Ewigkeitsbewusstsein latent in den seelischen Tiefenschichten jedes Menschen bewahrt ist, auch wenn es vom momentanen Zeitgeist virtuos übertönt wird. »Ein Werk der Kunst kann dir zum Anlaß werden, in dir selbst die Lichtwelt zu berühren …« fasst es als Erkenntniswert: Verweis auf eine höchste Bewusstseinsmöglichkeit.8 Im Übrigen ist die Präsenz eines transzendenten Kunstbegriffs, der weder »Kunstreligion« als sentimentales Religioso noch als besinnungslosen Rausch meint, sondern eine existenzielle Erfahrung mit jener »Rück-Verbindung« wie es ursprüngliches Re-ligio bezeichnet, auch bei vielen Künstlern und Denkern unserer Zeit gegenwärtig (siehe Kapitel XI, Anm. 95).

Noch Componere ? Was bedeutet das praktisch für den Komponisten im ›Jetzt‹? Kann er der Erblast von Historismus, dem ethnischen und ›diversen‹ Relativismus und dem Epiphanieverlust im medial-digitalen Overkill der Schallaggregate samt ihrem Vernutzungspotenzial noch etwas Eigenes entgegensetzen? Findet er zwischen altem und neuem »Musikbegriff« einen Weg zu einer künstlerischen Aussage, der nicht nur kalkulierter Eskapismus ist? Kann er damit im Technozän mit dem fatalen Bedeutungsverlust aller Künste gegenüber Wissenschaftsratio und Technik überhaupt noch Beachtung beanspruchen? Soll er mit den algorithmischen Klängen aus Computer und KI konkurrieren? Oder soll er unter dieser Zeitsignatur vielleicht gar nicht Künstler werden wollen, sondern besser eine ›Kreativität‹ in Big Sience wählen? Denn dort liegen unverkennbar die maßgeblichen Leistungen des Homo ludens der Zeit, nicht beim musikalischen Spielmann. Entschließt er sich trotzdem dazu, dann hat er vordergründig immer noch allerhand Möglichkeiten. Er kann sich im vegetativen Hedonismus aus unbeschränkter ›Freiheit‹ nach Lesart der Moderne als ›Macher‹ lustvoll produzieren – vom findigen Artifex bis zum gefeierten Entertainer oder dem Beuys’schen Jedermannsakteur. Oder er kann als Konstrukteur im Geiste neuer Musikparadigmen mit Ingenieuren und Erfindern konkurrieren, als De-konstrukteur mit der Musikgeschichte jonglieren, sich auf der Flucht vor ihr im »Anti« profilieren oder im Diskurs mit ihr reflektierend brillieren. Hintergründig aber entkommt er der Musikgeschichte nicht. Sie bleibt präsent, ob als Erbe oder Last, als Konkurrenz oder Referenz, als Pandämonium oder Maßstab.

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Bȏ Yin Rȃ, Der Sinn des Daseins, Basel 1927, S. 97; vgl. auch Kapitel XI, Anm. 93.

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Stellt er sich ihr, so kann er auch heute noch Ausdruckswelten gestalten, die diesem Erbe standhalten mit seinem Anspruch als ›Bedeutung‹ für die menschliche Erlebenswelt. Denn alle Technē als »Materialfortschritt« und Innovation der Mittel ist begrenzt, alle Finessen kompositorischer Konstruktionskünste sind endlich – und ›äußerlich‹. Von daher kann die Entropie als Erschöpfung womöglich zum Problem werden. Nicht aber von Gehalt und Inhalt her: der Substanz. Denn der ›Ozean‹ jener fluidischen Kräfte, aus denen seelisches Erleben und plastische künstlerische Phantasie stets zu schöpfen vermögen, ist unendlich-unbegrenzt. Aber nur mit Gehalten, mit Inhalten von triftiger Bedeutung kann triftiges ›Neues‹ entstehen. Nur mit der Gestaltung von Ausdruckswelten im schöpferischen Prozess aus innerem, seelischem Erleben können klingende Sinngebilde entstehen, die auch im Hörer zu einer ›triftigen‹ Erlebniswirklichkeit werden und von da aus Anspruch auf Beachtung in einer anthropologischen Dimension haben. Ob oder wie sich die aus den Elaborationen des Klangmaterials gewonnenen Mittel der Moderne samt ihrer Möglichkeiten aus den Konstruktions- und De­ struktionsprozessen zu einer Art von ›Musik‹ oder einer neuen, anderen ›Sprachfähigkeit‹ gestalten lassen, die diesem Anspruch genügt, bleibt offen. Sicher ist, dass die Verwandlung des feuerbringenden Prometheus aus dem Mythos zum Homo faber des nuklearen Feuerbrands im Technozän nicht rückgängig zu machen ist. Sicher sind aber auch Wandel, Transit, Metamorphose. Deshalb bleibt es, wie nie zuvor, der Verantwortung des Künstlers in eigener Selbstbestimmung überlassen, was er gestaltet, woraus er ›schöpft‹, wenn er schöpferischer Geist ist, wovon er kündet, wenn er sich als Künder begreift. Will er hier den höchsten Möglichkeiten entsprechen wie sie in der abendländischen Musikgeschichte Ausdruck gefunden haben, dann wird er sich an ihren Vermächtnissen messen lassen müssen. Dann wird er zuletzt nicht an der Erkenntnis vorbeikommen, welchem geistigen Nährboden dieses Erbe über die Jahrhunderte entsprungen ist. Der aber war ein spiritueller. Sein Cantus firmus war in letzter Hinsicht Zeugnis eines schöpferischen Bewusstseins für das Numinose. Im Mythos erinnert man sich daran mit der göttlichen Abkunft der Musen aus der Mnemosyne. Die Genies bezeugen ihn mit ihren Werken und Bekenntnissen. Im rationalen Denken bewahrt es die Erkenntnistheorie mit der Reflexion auf ein ›Ganzes‹ jenseits aller ›Physik‹ mit der ›Meta-Physik‹. Damit manifestiert sich ein Quellgrund, der tiefer liegt als alle behänden Fertigkeiten des technoiden Homo faber. »Vielleicht wird es die Bestimmung des Abendlandes sein, durch die Idee der Freiheit hindurch das Wesen des Schöpferischen wieder zurückzugewinnen, das einst am Gott der Genesis erfahren worden war. Dann wäre es Kunst, die wieder zur Theologie führte.«9 Unsere Musikgeschichte lehrt es uns als lebendige Gegenwart, jedem »medial-technisch« in allen Gestaltungen leicht zugänglich: von den Aufbrüchen im »betenden

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M. Gosebruch (2007), S. 188.

Singen« der Gregorianik, über die steinernen und die klingenden »Tempelbauten« gotischer Kathedralkunst aus arkaner Dombauhütten-Weisheit, den polyphonen Kathedralen der franko-flämischen Musik und der rationalen Mystik J. S. Bachs, vom geistsinnlichen Eros Mozart’scher Luzidität und des italienischen Concerto- und Belcantoglanzes bis zu den leidenschaftlichen Auseinandersetzungen und heiligen Andachten von Beethoven, Bruckner und Mahler, der berührenden Herzenssprache der »Romantiker« mit den slawischen und nordischen Emanationen und den sensiblen Farbenspielen »impressionistischer« Klangmalereien – aus einer Bewusstseinslage, die sich jener Re-ligio verdankt, die sich als Rück-Verbindung zu einem von Spiritualität geprägten Geistigen mit seinem authentischen »Humanismus« versteht. Die Legitimität aller musikalischen »Modernen« wird sich zuletzt an einer Musikgeschichte erweisen, die ihre Legitimität aus diesem Quellgrund bezog.



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Verzeichnis der Abkürzungen AfMw AmZ BzAfMw F. A. Z. GA JAMS NZfM Mf MGG MVM NZZ ÖMZ ZfMw

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