Das Maßlose der Spätmoderne: Eine Kritische Theorie 9783839452424

In order to explore the exorbitant late modernity, critical theory of the subject and social theory are relationally int

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Das Maßlose der Spätmoderne: Eine Kritische Theorie
 9783839452424

Table of contents :
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Inhalt
Danksagung
Überblick
Zur Topografie einer Kritischen Theorie
Zur Verortung im näheren und ferneren wissenschaftlichen Umfeld
1. Unermessliche Weiten – Ozeane des Maßlosen
1.1. Subjektivierung und intersubjektiver Prozess
1.2. Intersubjektiver Prozess und relationale Formation
1.3. Intermezzo: Intratheoretische Klärungen
2. Tote Orte, belebte Welten – Thanatomorphe Wüsten und biomorphe Oasen
2.1. Biomorphe und thanatomorphe relationale Formationen im sozialen Raum
2.2. Orte des Einsamen, Welten des Gemeinsamen – relationale Landschaften im sozialen Raum
3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte
3.1. Sozialer Raum und polymorphe relationale Formationen
3.2. Polymorphe Subjektkonstitutionen und psychischer Raum
3.3. Intermezzo: Metatheoretische (An-)Deutungen
Ausblick
Exkursion an den Rand der Empirie und darüber hinaus
Literatur

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Daniel Zettler Das Maßlose der Spätmoderne

Sozialtheorie

Daniel Zettler (Dipl.-Pol.), geb. 1979, hat an der Goethe-Universität Frankfurt am Main am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften in Soziologie promoviert. An der Freien Universität Berlin und an der Universität Augsburg studierte er Politikwissenschaft mit Nebenfach Soziologie. Er ist Mitglied der »Gesellschaft für psychoanalytische Sozialpsychologie« (GfpS).

Daniel Zettler

Das Maßlose der Spätmoderne Eine Kritische Theorie

C.30

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© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5242-0 PDF-ISBN 978-3-8394-5242-4 https://doi.org/10.14361/9783839452424 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt Danksagung........................................................................................................................9 Überblick............................................................................................................................ 11 Zur Topografie einer Kritischen Theorie............................................................................... 11 Zur Verortung im näheren und ferneren wissenschaftlichen Umfeld..................................15 1. Unermessliche Weiten - Ozeane des Maßlosen........................................................23 1.1 Subjektivierung und intersubjektiver Prozess............................................................ 23 Prolog: Subjekt, maßlos 23 ■ Subjektwerdung bei Freud: Freuds Rekonstruktion der Entstehung des ›Ich-Gefühls‹ aus dem ›ozeanischen Gefühl‹ 24 ■ Intersubjektive Ansatzpunkte bei Freud? Eine Spurensuche mit dem Ziel einer intersubjektiven Neuformulierung der Genese des ›Ich-Gefühls‹ aus dem ›ozeanischen Gefühl‹ 26 ■ Loewalds intersubjektiver Zugang zum ›ozeanischen Gefühl‹: Formierungen des Ich entlang von ›Differenzierungs- und Entdifferenzierungsprozessen‹ 28 ■ Sterns intersubjektiver Zugang zum ›ozeanischen Gefühl‹: Konfigurationen des ›Selbst-mitdem-Anderen‹ wie des ›Selbst-gegen-den-Anderen‹ 31 ■ Plädoyer für eine begriffliche Befreiung von Loewald und Stern unter Beibehaltung ihrer intersubjektiven Prämissen 35 ■ Zur intersubjektiven Neuformulierung der Ich-Konturierung, oder: Maßloses Selbst, bemessenes Ich – Über das ›Eintauchen in‹ und ›Auftauchen aus‹ dem Gemeinsamen 38 1.2 Intersubjektiver Prozess und relationale Formation................................................... 39 Prolog: Begehren, gemeinsam 39 ■ Vergesellschaftung bei Freud: Freuds Triebtheorie und das ›Unbehagen in der Kultur‹ 41 ■ Freuds Triebtheorie an der Schnittstelle von Psychoanalyse, Sozialpsychologie und Gesellschaftskritik – und ihr intersubjektives Defizit 49 ■ Loewalds intersubjektive Interpretation der Freudschen Triebtheorie: Psychische Strukturierung als Verinnerlichung äußerlich erlebter Interaktionsmuster 52 ■ Parallelen zwischen Loewald und Lorenzer – Über ›Interaktionsmuster‹ bzw. ›Interaktionsformen‹ 65 ■ Zum Verständnis der Dialektik von Individuum und Gesellschaft als Verschränkung von ›Interaktionsform‹ und relationaler Formation vermittels des intersubjektiven Prozesses – Ein konzeptioneller Vorschlag 88 ■ Zur Neubestimmung gesellschaftlicher Praxis, oder: Verbindende und trennende Kommunikation und Interaktion – Über ›Verflüssigungen‹ und ›Verfestigungen‹ relationaler Formationen im sozialen Raum 98

1.3 Intermezzo: Intratheoretische Klärungen.................................................................... 111 2. Tote Orte, belebte Welten - Thanatomorphe Wüsten und biomorphe Oasen......... 115 2.1 Biomorphe und thanatomorphe relationale Formationen im sozialen Raum............. 115 Prolog: Starre Ordnung, bewegliches Chaos 115 ■ Subjektprägung und kulturelle Ordnung bei Freud – Zur individuellen wie kollektiven Verankerung des Realitätsprinzips; oder: ›Ödipus-Komplex‹ und ›Opfer-Feier‹ in »Totem und Tabu« 116 ■ Differenzierungs- und Entdifferenzierungsmechanismen rund um ›Ödipus-Komplex‹ und ›Opfer-Feier‹, oder: Die Bemessung des Maßlosen ■ Eine intersubjektive Perspektive auf »Totem und Tabu« 156 ■ Bemessung vermittels Exklusion, oder: Reflexionen zum Opfer – ›Sündenbock‹ und ›Gründungsgewalt‹ bei Girard 164 ■ Maßloses und Inklusion, oder: Überlegungen zur Feier – ›Der Orgiasmus als Träger des Gemeinschaftslebens‹ und das ›Verschmelzen im Kosmos‹ bei Maffesoli 177 ■ Von der ›Opfer-Feier‹ zu thanatomorphen und biomorphen relationalen Formationen; vom ›Ödipus-Komplex‹ zum relationalen Komplex – Zu einer psychoanalytischsozialpsychologisch intersubjektiv orientierten gesellschaftstheoretischen Grundlegung 183 2.2 Orte des Einsamen, Welten des Gemeinsamen – relationale Landschaften im sozialen Raum...............................................................198 Prolog: Einöden und Oasen 198 ■ Marcuses Blick auf »Totem und Tabu« in »Triebstruktur und Gesellschaft« ■ Über individuelle wie kollektive Reservoire des Lustprinzips, oder: Die ›Wiederkehr des Verdrängten‹ und die ›große Weigerung‹ 199 ■ Maßloses und Bemessung als Schlüsselelemente zu einer intersubjektiven Perspektive auf Marcuse, oder: Dialektische Verschlingungen – Augenblick versus Zeitlichkeit, Lust versus Enthaltung, Spiel versus Arbeit, Austausch versus Produktivität, Freiheit versus Unterdrückung 205 ■ ›Wüsten und Oasen‹ als Metaphern ›misslingender und gelingender Weltbeziehungen‹: Varianten des maßlos Gemeinsamen und des bemessen Einsamen in Rosas soziologischer Resonanztheorie? 213 ■ ›Kolonialisierung oder Befreiung‹, ›Niedergang oder Fortschritt‹, ›Zwang oder Lust‹, ›Entdeckung oder Erfindung‹: Implikationen des bemessen Einsamen und des maßlos Gemeinsamen in Altmeyers psychoanalytischer Resonanztheorie? 217 ■ Das maßlos Gemeinsame und das bemessen Einsame als relationale und non-relationale Segmente des sozialen Raums ■ Über Formen und Transformationen von Beziehungsgeflechten 225 ■ Tote Orte, belebte Welten – Expeditionen in die gesellschaftliche Praxis 229 2.3 Intermezzo: Intertheoretische Überlegungen.............................................................247 3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte....................................................... 249 3.1 Sozialer Raum und polymorphe relationale Formationen.......................................... 249 Prolog: Verschmelzende Welten 249 ■ Marcuses Hypothese einer Versöhnung von Lust- und Realitätsprinzip in einer ›nicht-repressiven‹ gesellschaftlichen Praxis: ›Die Abschaffung der Herrschaft‹, ›Das Auftauchen nicht-repressiver sozialer Beziehungen‹, ›Arbeit als freies Spiel menschlicher Fähigkeiten‹, ›Versöhnung von

Mensch und Natur in der sinnlichen Kultur‹, ›Wandel in der Beziehung zwischen Eros und Todestrieb‹ 250 ■ Vorzeichen einer ›nicht-repressiven‹ Praxis in der Spätmoderne: Eine neue Qualität im Verhältnis von gesellschaftlicher Differenzierung und Entdifferenzierung, oder: Das Maßlose als Maßstab 257 ■ Die ›Alter-Moderne‹ bei Hardt und Negri – Kollektivierungstendenzen in der Spätmoderne, oder: Über das neue Gemeinsame 266 ■ Bauman, und die ›Liquid Modernity‹ – Über das neue Einsame, oder: Individualisierungstendenzen in der Spätmoderne 273 ■ Konvergenzen und Divergenzen zwischen den Gesellschaftsdiagnosen von Hardt/Negri und Bauman; sowie: Eine Kritik – Über gegenläufige Tendenzen in der Spätmoderne 279 ■ Spätmoderne Paradoxien und polymorphe relationale Formationen – Zur Emergenz neuer Gesellschaftsformen 282 3.2 Polymorphe Subjektkonstitutionen und psychischer Raum......................................300 Prolog: Verschwimmende Konturen 300 ■ Prototypische Subjektkonstitutionen in einer ›nicht-repressiven‹ Gesellschaft, oder: Marcuses Metapher von Orpheus und Narziss 301 ■ Marcuses Subjektskizzen und ihre Relevanz für eine mögliche Verknüpfung von Kritischer Theorie des Subjekts und Kritischer Theorie der Gesellschaft 305 ■ »Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft«: Busch über die ›Notwendigkeit und Möglichkeiten eines Gegenentwurfs von Subjektivität‹ 309  ■ Whitebooks Auseinandersetzung mit Marcuse und Loewald, oder: Über narzisstische und präödipale Elemente spätmoderner Subjektivität 320 ■ Busch und Whitebook im Hinblick auf eine Theorie spätmoderner Subjektivität; oder: Über die Verwobenheit von maßlosem Selbst und bemessenem Ich im polymorphen Subjekt 324 ■ Spätmoderne Ambivalenzen und polymorphe Subjekte – Zum Auftauchen neuer Subjektformen 329 3.3 Intermezzo: Metatheoretische (An-)Deutungen.......................................................344 Ausblick.......................................................................................................................... 347 Exkursion an den Rand der Empirie und darüber hinaus................................................... 347 Literatur..........................................................................................................................353

 

»Die große metaphysische Tradition des Abendlands hat das Unermessliche, das Maßlose stets verabscheut. […] So wie Gott für die klassische Transzendenz der Macht vonnöten ist, so bedarf man des Maßes, um die Werte des modernen Staates transzendent zu begründen. Wenn es kein Maß gibt, so die Metaphysiker, dann gibt es keinen Kosmos, keine kosmische Ordnung; und wenn es keinen Kosmos gibt, dann gibt es auch keinen Staat. In diesem Rahmen lässt sich das Unermessliche nicht denken, oder genauer: man darf es nicht denken. Die gesamte Moderne hindurch belegte man das Unermessliche in einer Art epistemologischer Prohibition mit einem absoluten Bann.« (Michael Hardt/Antonio Negri)   »Panta rhei.« Alles fließt. (Heraklit zugeschrieben)

Danksagung

Dieses Buch ist die bearbeitete Fassung meiner Dissertation, die im März 2019 an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. eingereicht wurde. Mein tiefer Dank gilt daher allen voran Hans-Joachim Busch, dem Betreuer meiner Dissertation, ohne den diese Arbeit so nicht hätte zustande kommen können. Wissenschaftlich wie menschlich hat er viel zum Gelingen beigetragen. Seine Expertise, was die Kritische Theorie des Subjekts, die psychoanalytische Sozialpsychologie im Allgemeinen und Alfred Lorenzer im Besonderen betrifft, war mir nicht nur eine Anregung, sondern bot mir auch die notwendige Rückversicherung für den einmal eingeschlagenen Weg. Dabei hat er seine wichtigen Interventionen stets als Optionen vorgebracht, was mir das Annehmen ungemein erleichtert hat. So hat er durch gezielte Lenkung, aber auch durch bewusste Zurückhaltung, den notwendigen Freiraum zur gedanklichen Entfaltung ermöglicht. Als eine glückliche Fügung betrachte ich es zudem, über den Besuch der von Hans-Joachim Busch mitveranstalteten Tagung »Inszenierungen des Unbewussten in der Moderne – Lorenzer heute« (Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt a.M., 2013) entscheidende Impulse erhalten zu haben. Herzlich danken möchte ich hiermit auch Ferdinand Sutterlüty, meinem Zweitbetreuer, für die Befassung mit meiner Arbeit. Seine Hinweise habe ich mich bemüht einzubeziehen. Auch weiß ich die bloße Tatsache seines Annehmens meiner Arbeit zur Begutachtung sehr zu schätzen. Ein Gegenlesen und Besprechen mehrerer Passagen des Manuskripts seitens Angelika Ebrechts erwies sich ebenfalls als hilfreich. Angelika Ebrecht möchte ich auch einen besonderen Dank zukommen lassen, zumal mir noch zu Studienzeiten an der Freien Universität Berlin ein von ihr gegebenes Seminar (»Vorstellungen vom sozialen Raum in der politischen Theorie und politischen Psychologie«) über die Thematisierung auch von Winnicotts ›potential space‹ überhaupt erst den Zugang zur Psychoanalyse eröffnet hatte. Einer gedanklichen Initialzündung kamen zudem zwei Vorträge Antonio Negris gleich, denen ich, ebenfalls noch zu Studienzeiten, auf dem Sozialforum in Florenz sowie an der Volksbühne Berlin zuhören konnte. Diese haben mich schon damals zu den Beschäftigungen mit seinen Schriften angeregt.

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Das Maßlose der Spätmoderne

Dankbar für Anregungen und Kritik bin ich auch gegenüber Reiner Keller, der zudem Teile des Manuskripts früh eingesehen und kommentiert hat. Bei Theo Stammen hatte ich bereits 2009 eine (unveröffentlichte) Diplomarbeit vorlegen können in der ich mich unter dem Gesichtspunkt einer zu erarbeitenden Politischen Psychologie des Maßlosen mit verschiedenen Formen des Feierns sowohl im Zivilisationsprozess als auch in unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen befassen konnte. Die Idee zu einer Dimensionen des Maßlosen anvisierenden, intersubjektiven Kritischen Theorie mit gesellschaftstheoretischer Orientierung geht letztlich auf diese Arbeit zurück. Sie konnte ich schon 2009/2010 mit Reiner Keller intensiv besprechen. Gerade sein fundiertes Wissen u.a. auch zu Michel Maffesoli war dabei von großer Bedeutung. Zudem ermöglichte er mir eine Reihe von Vorträgen zu und aus meiner Arbeit, insbesondere an Kolloquien an der Universität Augsburg (aber auch einen schon im Vorfeld ihrer Konzeption, nämlich vor Studierenden in Koblenz). Die Diskussionsbeiträge der damals Anwesenden (darunter in Augsburg 2012 beim Vortragen aus dem ersten Kapitel der Arbeit auch Christoph Lau, der mir schon zu Ende meiner Studienzeit meine im Bereich der Kritischen Theorie angesiedelte mündliche Prüfung abgenommen hatte) waren mir eine hilfreiche Kritik oder Bestätigung. Auch die Meinungen und Reaktionen von Studierenden in meinen an der Universität Augsburg im Zuge von Lehraufträgen gehaltenen Proseminaren (2012-2014), die ich letztlich immer um Themenkomplexe meines Dissertationsprojektes aufgebaut hatte, lieferten mir wichtige Anhaltspunkte. Mein Dissertationsvorhaben konnte ich außerdem 2016 und 2017 in Kolloquien der GfpS (Gesellschaft für psychoanalytische Sozialpsychologie) in Frankfurt sowie 2018 im Rahmen einer ihrer Arbeitsgruppen in Linz präsentieren. Gerade das psychoanalytische Wissen der in der GfpS versammelten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bot mir eine wertvolle Gelegenheit zur Überprüfung von Tragkraft wie Reichweite meiner Argumente. Im Rahmen der vielen persönlichen Kontakte, die sich aus der Mitgliedschaft in der GfpS ergaben, kam es außerdem stets auch zu den verschiedensten fachlichen Gesprächen, die mein Denken sicher prägten und erweiterten. Besonders danken möchte ich schließlich auch allen aus meinem privaten Umfeld, die mich während der Anfertigung dieser Arbeit nach ihren je eigenen Möglichkeiten unterstützt haben (die Angesprochenen werden wissen wer gemeint ist). Ihr Beitrag zur Realisierung dieses Projekts kann nicht hoch genug geschätzt werden.

Überblick

Zur Topografie einer Kritischen Theorie Die für das gegenwärtige Stadium der Spätmoderne (welche alle Züge einer Übergangsepoche trägt) so charakteristischen maßlosen Entgrenzungs- und Entdifferenzierungsphänomene unterminieren sowohl psychisch, im Individuum, wie sozial, in der Gesellschaft, tradierte Strukturen – und ermöglichen ein Neues. Die oftmals noch unbestimmte Gestalt dieses real Neuen gilt es virtuell vermittels einer Neukonturierung von Kritischer Subjekt- und Gesellschaftstheorie kenntlich zu machen. Formierungen und Transformationen des psychischen wie sozialen Raums sollen in den Blick genommen werden; psychische wie soziale Landschaften gilt es zu erkunden, ganz in dem Sinne wie schon Freud die »Innenwelt« auf die »Außenwelt« bezog.1 Verbleibt man bei diesem von Freud gegebenen Bild, fokussiert zudem aber auf in der Psyche wie im Sozialen wirkende, entdifferenzierende wie differenzierende Kräfte – also: basale struktur- und formbildende Mechanismen – ließe sich fürs Erste die psychosoziale Topografie wie folgt visualisieren: Fruchtbare (auch lebendige) wie öde (auch tödliche) Gegenden und Landstriche zeichnen sich ab; von Flüssen und Seen durchzogene Landmassen, entgrenzte Ozeane und begrenzte Inseln lassen sich ausmachen; Verfestigungen und Verflüssigungen treten hervor; Maßloses deutet sich an, und Bemessenes taucht auf. Der Gedanke, beides, Psyche wie Soziales, seien nicht nur nach denselben Gesetzmäßigkeiten gebildet, und damit verwandt, sondern auch die Grenze zwischen beiden müsse mal mehr, mal minder fließend verlaufen, drängt sich auf. So käme es zu punktuellen Verschmelzungen beider, genauso wie zu scharfen Bruchlinien. Sanfte Übergänge und abrupte Abbrüche, ein Ineinanderübergehen wie ein Auseinanderdriften ließen sich feststellen; die vielfältigsten Tendenzen zu einem verbundenen Ganzen wie zu getrennten Teilen täten sich auf. Individuen untereinander, sowie Individuen und die Gesellschaft, erwiesen sich als Verkettete und Widerstrebende, Verknüpfte und Separierte zugleich. Sie bildeten Netze aus konkreten oder abstrakten Relationen, und diese spannten dann

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Sigmund Freud, Abriss der Psychoanalyse (hg. von Hans-Martin Lohmann), Stuttgart 2010, S. 79 und S. 68.

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Das Maßlose der Spätmoderne

die psychischen wie sozialen Räume auf, in denen sich Konturierung und Formgebung ereignet. Kritische Theorie, die immer schon Freud auf Marx bezog, d.h. die Psyche auf das Soziale, und folglich: die Psychoanalyse auf die Sozialwissenschaften, muss – soll sie die Kraft zur theoretischen Kritik der gewandelten Praxis weiterhin aufbringen können – den spätmodernen Strukturwandel in sich nachvollziehen; nicht im Sinne einer bloßen Adaption, sondern in dessen komplexer und reflexiver Anverwandlung zu neuen theoretischen, methodischen und sprachlichen Gestaltungen ihrer selbst. Das hieße aber auch, in einer Synthese aus Sich-Selbst-Gleichheit und Selbst-Transformation, nunmehr (neo-)freudianische auf (neo-)marxistische Konzepte zu beziehen, oder eben: wenigstens die aktuellen (intersubjektiven und relationalen) Versionen der Psychoanalyse in ein neu zu konzipierendes Verhältnis zu setzen mit denen der Sozialwissenschaft. Dabei ginge es darum – soll das kritische Potenzial weiter erhalten werden – gerade die materielle ›Bodenhaftung‹ nicht zugunsten eines immateriellen oder gar ideellen ›Schwebezustands‹ preiszugeben. Geschehen kann dies nur über die deutliche Verankerung intersubjektiver und relationaler psychoanalytischer Konzeptionen im klassischen (freudschen) Triebbegriff sowie über die Verankerung intersubjektiver und relationaler sozialwissenschaftlicher Konzeptionen in der klassisch (marxistischen) Vorstellung vom Unterbau als der produktiven Basis der Gesellschaft.2 Beide sind über die Befriedigung elementarer biophysischer (Grund-)Bedürfnisse ineinander verschränkt. Aus ihrer Grundlage erst entwächst das psychosoziokulturelle, symbol- und zeichenhaft Immaterielle – sei es nun in Psyche und Geist des Individuums, oder in der kulturellideellen Sphäre der Gesellschaft. Die immateriellen und materiellen Austauschprozesse zwischen Individuen wie zwischen Individuen und der gesellschaftlichen wie natürlichen Welt heißt es daher in den Blick zu nehmen. Diese aber erweisen sich als zutiefst intersubjektiv gelagert. Um nun aber eine solchermaßen intersubjektive und relationale Verschränkung von Psychoanalyse und Sozialwissenschaft hin zu einer gesellschaftstheoretisch konturierten Untersuchung und Deutung spezifisch spätmoderner Dynamiken zu ermöglichen, bleibt die Neukonzeption und Neuinterpretation einer Reihe von beide Disziplinen umspannenden Termini unerlässlich. Die Problematik besteht hierbei darin, eine begriffliche Meta-Ebene zu formulieren, die, über die Termini einer intersubjektiven Psychoanalyse wie über jene einer intersubjektiven Sozialwissenschaft ›gelegt‹, weder der einen noch der anderen etwas ›wegnimmt‹, sondern es vielmehr erlaubt, die Kluft zwischen beiden zu überbrücken und sie aufeinander zu beziehen. Es gilt also, ›weiche‹, offene Begrifflichkeiten zu finden, welche geeignet sind, das jeweils ›härter‹, enger bestimmte Vokabular beider Disziplinen inhaltlich zu umspannen und terminologisch miteinander zu verschränken. Vorgeschlagen werden dazu die im weiteren Fortgang

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Ähnliche Überlegungen (bezogen auf die Implikationen von Alfred Lorenzers Konzeption der Psychoanalyse als Interaktionstheorie mit einer Sozialisation und gesellschaftliche Praxis einbeziehenden Dimension) finden sich schon in: Hans-Joachim Busch, Interaktion und innere Natur. Sozialisationstheoretische Reflexionen, Frankfurt a.M. 1985, Kap. »Zur Begründung einer materialistischen Theorie subjektiver Struktur«, S. 223-226.

Überblick

dieser Arbeit entwickelten Termini: maßloses Selbst, bemessenes Ich; verbindende sowie trennende Kommunikation und Interaktion; das maßlos Gemeinsame, wie das bemessen Einsame; biomorphe, thanatomorphe, polymorphe relationale Formationen; die Bemessung des Maßlosen; das Maßlose als Maßstab. Metatheoretisch sind die aufgeführten Begriffe allesamt doppelt codiert, d.h. sie lassen sich je nach Bedarf sowohl zur psychoanalytischen Seite wie zur sozialwissenschaftlichen hin auffächern bzw. vertiefen. Ein permanentes Changieren zwischen beiden Polen wird damit möglich, um sie als ineinander verflochtene darstellen zu können. Ziel ist geradezu eine Verschmelzung beider Wissenschaften über eher philosophisch grundierte Termini, die nach Belieben zur jeweiligen Seite hin (Psychoanalyse bzw. Sozialwissenschaft) wieder aufgelöst werden kann. Inhaltlich aber verdeutlichen die genannten Begriffe bereits, dass es das Ziel eines solchen Unterfangens nicht sein kann, den Triebbegriff aufzugeben – sondern ihn vielmehr (verstanden als universales Bewegungsprinzip) auszudehnen auf Dynamiken auch des sozialen Raums. Eros und Thanatos manifestieren sich dort im Sinne von vereinenden und entzweienden Kräften, inkludierenden und exkludierenden Mechanismen, und zwar innerhalb intersubjektiver Netzwerkstrukturen. Der Eros wird hierbei verstanden als maßlos verbindendes Strukturprinzip, konstruktiv wirkend, welches das Gemeinsame ermöglicht und biomorphe Zusammenhänge erzeugt, während der Thanatos, antagonistisch dazu, destruktiv, als bemessend und zertrennendes Strukturprinzip gefasst wird, welches Emanationen des Einsamen erwirkt und thanatomorphe Kontexte etabliert. Schlussendlich wird gerade das paradoxe und ambivalente Verhältnis, welches als entdifferenzierend bzw. differenzierend klassifizierte psychosoziale Phänomene in der Spätmoderne offensichtlich angenommen haben, vor diesem Hintergrund als Verweis auf eine potenzielle Versöhnung und Ausbalancierung jener antagonistischen Dynamiken auf einer sozial- und kulturgeschichtlich neuen Stufe interpretiert werden können. Sozial emanzipatorisches Potenzial sollte sich dann danach beurteilen lassen, inwieweit es diese Möglichkeit der Aussöhnung (die auch verwoben ist mit einer epochen– und gesellschaftstypisch neuen Relation von Lust- und Realitätsprinzip) zu verwirklichen in der Lage ist. Dabei geht es im Hinblick um eben jenes sozial emanzipatorische Potenzial weniger um politische und soziale Bewegungen, sondern, viel weiter gefasst, um die Emergenz neuer Subjekt- und Gesellschaftsformen. Was die Gliederung der Arbeit betrifft, wird also im Sinne einer ›Topografie‹, eine (bezüglich der Kapitelüberschriften stark raum- und ortsmetaphorisch konnotierte) ›Landkarte‹ zentraler Axiome jener intersubjektiv psychoanalytisch-sozialpsychologisch ausgerichteten Kritischen Theorie vor Augen geführt werden. Dabei unterteilen drei Großkapitel sinnbildlich die entfaltete Theorielandkarte (1. Unermessliche Weiten – Ozeane des Maßlosen; 2. Tote Orte, belebte Welten – Thanatomorphe Wüsten und biomorphe Oasen; 3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte). Diesen sind jeweils zwei Unterkapitel zugeordnet, die deren bildhaft-abstrakte Metaphorik terminologisch-konkret durchdringen (1.1 Subjektivierung und intersubjektiver Prozess; 1.2 Intersubjektiver Prozess und relationale Formation; 2.1 Biomorphe und thanatomorphe relationale Formationen im sozialen Raum; 2.2 Orte des Einsamen, Welten des Gemeinsamen – relationale Landschaften im sozialen Raum; 3.1 Sozialer Raum und polymorphe relationale Formationen; 3.2 Polymorphe Subjektkonstitutionen und psy-

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chischer Raum). Diesen wiederum entspricht je ein argumentativer Block aus sechs Abschnitten, in denen die eigentliche Theoriebildung und inhaltliche Darstellung geschieht. (Deren spezifische Logik und argumentative Struktur kommt durch die erklärenden Abschnittsüberschriften bereits in der Gliederung deutlich zum Ausdruck und kann und soll dort als verkürzte Darstellung des gesamten Gedankengangs der Arbeit gelesen werden, um hier an dieser Stelle eine Überfrachtung durch Wiederholungen zu vermeiden). Zu erwähnen gilt es allerdings, dass jedem dieser Blöcke aus Abschnitten ein philosophisch orientierter ›Prolog‹ vorangestellt ist, der thesenhaft das theoretische Vorhaben des jeweiligen Kapitels in eigenen Termini formuliert, welches dann im Anschluss – grundsätzlich Psychoanalyse und Sozialwissenschaft vermittelnd – in den einzelnen Abschnitten eben jener argumentativen Blöcke umgesetzt wird. Grundsätzlich soll dabei das theoretisch anvisierte Ziel, psychoanalytische mit sozialwissenschaftlichen Gehalten zu verbinden (ohne deren je eigene Verwurzelung in materialistischen Denkströmungen zu kappen) erreicht werden, indem durchgehend zentrale, noch dem klassischen Subjekt-Objekt-Paradigma3 verhaftete, materialistische Theoreme Sigmund Freuds wie Herbert Marcuses intersubjektiv neu interpretiert bzw. justiert werden – um sie alsdann zu konfrontieren mit aktuellen wissenschaftlichen Ansätzen; daran anschließend wird es Fall um Fall möglich sein, zu einer je eigenen (intersubjektiv und psychoanalytisch-sozialpsychologisch gesellschaftstheoretisch gelagerten) Sichtweise auf spätmoderne Phänomene gelangen zu können. Diese methodische Vorgehensweise zieht sich durch alle Kapitel des Textes, und wird es zudem erlauben, ein inhaltliches Panorama der Dialektik von Individuum und Gesellschaft aufzufächern, und zwar unter dem Gesichtspunkt eines Rundumblicks auf spätmoderne Verschiebungen in der Tektonik der psychosozialen Topografie.4 Eine selbstreflexive Dimension der eigenen Theoriebildung sollen darüber hinaus die am Ende jedes Großkapitels eingeschobenen ›Intermezzi‹ gewährleisten: Sie beinhalten ›Intratheoretische Klärungen‹, ›Intertheoretische Überlegungen‹ und schließlich ›Metatheoretische (An-)Deutungen‹.

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Den mit dem Übergang vom Subjekt-Objekt-Paradigma zum intersubjektiven verbundenen Perspektivwechsel (auch im Hinblick auf die Erkenntnistheorie) schildert Axel Honneth, wenn er so treffend schreibt, dass »Adorno […] geschichtsphilosophisch den Erkenntnisakt überhaupt nur als die kognitive Beziehung eines Subjekts auf ein Objekt, nicht aber als die interpretative Beziehung zwischen Subjekten begriffen [eig. Hervorhebungen]« habe. In: ders., Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M. 1989, S. 248. Die an Land und Meer orientierte,virtuelle Raum- und Ortsmetaphorik der Gliederung darf (in ihrer sinnbildlichen, auf die Darstellung von Qualitäten psychosozialer menschlicher Beziehungsdimensionen und -formationen zielenden Allegorik) durchaus verstanden werden als bewusst gesetzter Kontrapunkt zu den bekannten (staats- und geschichtsphilosophischen), am realen Land und Meer ansetzenden Reflexionen Carl Schmitts, in: ders. [1924], Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, 6. Aufl., Stuttgart 2008. Niels Weber bspw. setzt den auch vom Reichsgedanken und Großmachtdenken geprägten Reflexionen Carl Schmitts (der ja vor allem auch raumüberwindende ökonomische wie politische Kräfte in den Blick nahm) dezidiert ein sozusagen humanistisches Raumverständnis entgegen: »Die demokratische Weltgemeinschaft als Rhizom, so lautet der Geocode der Netzwerkgesellschaft Castells, Hardts und Negris«. In: ders., »Die Geo-Semantik der Netzwerkgesellschaft«; in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kulturund Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 181, mit Ausführungen zu Carl Schmitt ebd.

Überblick

Eine zentrale Bedeutung hinsichtlich der angestrebten Verbindung von Psychoanalyse und Sozialwissenschaft zu einer gesellschaftstheoretischen Perspektive kommt im Übrigen den Schriften Alfred Lorenzers zu. Denn Lorenzer war der Ansicht, »psychoanalytische Theorie in ihrem ursprünglichen, d.h. wesentlichen Gehalt ist keine Psychologie, sondern eine Interaktionstheorie. [Hervorhebung durch Lorenzer]«5 . Hans-Joachim Busch betont, dass »Lorenzer zu einer sozialwissenschaftlichen Auffassung der Psychoanalyse kam [eig. Hervorhebung]«6 . Lorenzers interaktionstheoretische Neuausrichtung der freudschen Psychoanalyse sollte sich daher als ideales ›Bindeglied‹ zwischen einer Kritischen Theorie des Subjektes und einer zu konzipierenden Kritischen Theorie der Gesellschaft erweisen; denn Busch vermerkt überdies, dass Lorenzer selbst die Kompatibilität seiner (als intersubjektiv zu bewertenden) Revision der Psychoanalyse in Bezug auf einen gesellschaftstheoretischen Ansatz immer anstrebte: »Lorenzers Motiv […] ist die Suche nach der Gesellschaftstheorie, die sich der Radikalität der psychoanalytischen Perspektive, der sie eine neue begriffliche Form gibt, gewachsen zeigt und sie beizubehalten und in sich aufzunehmen weiß. [Eig. Hervorhebung]«7 Inwieweit die vorliegende Arbeit dieser Intention gerecht werden kann, darf diskutiert werden; allein: sie versucht es.

Zur Verortung im näheren und ferneren wissenschaftlichen Umfeld Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule hegte schon seit Habermasʼ Auseinandersetzung mit Foucault und Derrida eine gewisse Aversion nicht nur gegen die Diagnose einer ›Postmoderne‹, sondern auch gegen den ›postmodernen‹ wissenschaftlichen Stil an sich. Habermas, dessen Theorie des kommunikativen Handelns8 sich auch als eine Theorie der Moderne lesen lässt, verweigerte sich der Diagnose einer post-, und damit: nachmodernen Epoche. Er betrachtete die Moderne als noch nicht abgeschlossenes Projekt der Aufklärung und warf den Postmodernisten einen Hang zum Irrationalen vor – er sah sie eigentlich noch hinter die Moderne zurückfallen und konnte im Postmodernismus eben keine Überwindung der Moderne sehen; ja, Habermas begriff die Intention der Postmodernisten gar als gegenaufklärerisch.9 Sicher auch aus dieser Kritik heraus hat sich im Frankfurter Umfeld der Kritischen Theorie der Begriff ›Spätmoderne‹10 eingebürgert. Für dessen Verwendung im Anschluss auch an Anthony Giddens Sprachge5 6

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Alfred Lorenzer, »Symbol, Interaktion und Praxis«; in: Günther Busch (Hg.), Psychoanalyse als Sozialwissenschaft, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1971, S. 35. Hans-Joachim Busch, »Symbol, Intersubjektivität, innere Natur. Zu Alfred Lorenzers Verknüpfung von Psychoanalyse und kritischer Gesellschaftstheorie«; in: Hans-Joachim Busch/Marianne Leuzinger-Bohleber/Ulrike Prokop (Hg.), Sprache, Sinn und Unbewusstes. Zum 80. Geburtstag von Alfred Lorenzer, Tübingen 2003, S. 39. Ebd., S. 57. Siehe dazu: Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2. Aufl., Bd. 1/2, Frankfurt a.M. 1982. Vgl. Amy Allen, »Poststrukturalismus«; in: Hauke Brunkhorst/Regina Kreide/Cristina Lafont (Hg.), Habermas Handbuch, Stuttgart/Weimar 2009, S. 108-111. Vgl. dazu bspw. auch: Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 3. Aufl., Berlin 2016.

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brauch (›late modernity‹) plädiert im Übrigen auch Hans-Joachim Busch.11 Gleich wie man nun zum habermasschen Verdikt über die postmodernen Theorien stehen mag, gilt es – als bloße Einschätzung und Überlegung – festzuhalten, dass die postmodernen Denkrichtungen sich durchaus ausnehmen könnten als von zweierlei Strömungen durchzogen: nämliche eine, die Wahrheit und Vernunft selbst als irrational erscheinen lassen will – und damit ganz wie von Habermas behauptet ins reaktionäre und gegenaufklärerische Dunkel abdriftet; sowie eine, die vielleicht prototypisch eine auch sinnliche und imaginative, lichte Vernunft verkörpert und so bereits auf eine progressive Überwindung der kühlen, technokratischen und so verhängnisvollen Ratio der Moderne schließen lässt. Jedenfalls will die hier vorliegende Arbeit durchaus auch vorstoßen in die offene Lücke, die sich innerhalb der Kritischen Gesellschaftstheorien von Habermas oder Honneth bezüglich einer dezidiert spätmodernen Orientierung noch auftut. Dabei weist die grundsätzlich intersubjektive Ausrichtung der hier in Konturen zu entwickelnden psychoanalytisch-sozialpsychologischen Gesellschaftstheorie diese dennoch eindeutig als zugehörig zur neueren Kritischen Theorie aus, wie man sie eben vor allem mit Habermas und Honneth verbindet, und welche bekanntlich für die so bedeutsame kommunikations- und handlungstheoretische bzw. anerkennungstheoretische (in beiden Fällen aber: intersubjektive) Wende in der Kritischen Theorie stehen.12 Deren intersubjektiver Fokus wurde zudem in jüngster Zeit um den relationalen (weil noch stärker auf zwischenmenschliche Beziehungen bzw. menschliche Beziehungen zur Welt fokussierenden)13 resonanztheoretischen Ansatz Hartmut Rosas umfang- und aufschlussreich erweitert. Dieser weist ja bereits theorieimmanent eine deutliche Ausrichtung hin zu spätmodernen Implikationen auf. Aus jenen Gründen wird gerade er sich daher im Fortgang für eine vertiefte Auseinandersetzung anbieten.14 Vorerst aber muss an dieser Stelle hervorgehoben werden: Gleich wie sehr alle diese Ansätze psychoanalytische Konzepte auch diskutierten, oder darauf Bezug nahmen,

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Vgl. Hans-Joachim Busch, Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Konzeptionelle Schwierigkeiten und Möglichkeiten psychoanalytisch-sozialpsychologischer Zeitdiagnose, Weilerswist 2001, S. 15. Siehe dazu: Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, a.a.O.; sowie: Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a.M. 1994. Wie Hartmut Rosa (unter Rekurs auf Charles Taylor) hervorhebt, »bedeutet in die Welt gestellt zu sein für ein Subjekt stets, seine Beziehung zur Welt, das heißt zu den Mitmenschen, zur umgebenden Natur […] und zum Weltganzen […] bestimmen zu müssen. [Hervorhebungen durch Rosa]«. In: ders., Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, a.a.O., S. 227. Man denke dabei auch an die von Rosa geschilderten ›Resonanzdreiecke‹, ebd., S. 408-412 oder auch S. 489. Das Motiv dieser relationalen Dreieckskonstellation taucht mehr oder weniger in allen intersubjektiven Ansätzen und Zusammenhängen auf; vgl. dazu bspw.: »Hobson, der Psychonalytiker ist, hat ein Triangulierungsmodell entworfen […]: Denken entsteht in einem Dreieck, das vom Selbst (Kind), einem Anderen (der Mutter) und der Welt (dem Objekt) gebildet wird [eig. Hervorhebungen]«. In: Martin Altmeyer/Helmut Thomä, »Einführung. Psychoanalyse und Intersubjektivität«; in: dies. (Hg.), Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse, Stuttgart 2006, S. 19, unter Verweis auf: Peter R. Hobson, Wie wir denken lernen. Gehirnentwicklung und die Rolle der Gefühle, Düsseldorf/Zürich 2003. Siehe dazu: Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, a.a.O.

Überblick

haben sie nie darauf abgezielt, die Psychoanalyse in die sozialwissenschaftliche Gesellschaftstheorie als elementaren Bestandteil zu integrieren. Die Verbindung zwischen den beiden großen metatheoretischen Gedankengebäuden der Frankfurter Schule, nämlich der Kritischen Theorie der Gesellschaft und der Kritischen Theorie des Subjekts, erwies sich somit zwar als eine dialogische im Sinne wechselseitiger Bezugnahme und gegenseitigen Austauschs, eine darüber hinaus gehende Verschränkung aber wollte oder sollte nicht zustande kommen. Einen prägnanten Überblick zu Entstehung, Ausrichtung und Perspektiven der Kritischen Theorie des Subjekts (die im Übrigen in der Außenwahrnehmung der Frankfurter Schule oft – zu Unrecht – von der Kritischen Theorie der Gesellschaft verdeckt wird) gibt Busch.15 Ihre eigentlichen Begründer und bedeutendsten Vertreter waren Alfred Lorenzer und Klaus Horn. Lorenzer hat die Kritische Theorie des Subjekts vermittels seines Konzepts der Internalisierung sozialer Interaktions- und Kommunikationserfahrungen zu psychischen Interaktionsformen in die Disziplin der psychoanalytischen Sozialpsychologie münden lassen, Horn hat sie modifiziert zur Politischen Psychologie; dabei blieben sich Lorenzer und Horn in ihren theoretischen Grundannahmen stets verbunden.16 Nach dem Tod beider wurden ihre Denktraditionen bis heute von einer ganzen Reihe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern fortgeführt und weiterentwickelt. Gerade im Bereich der psychoanalytischen Sozialpsychologie gesellte sich zu Mitscherlich, Richter, Brede, Erdheim und Reiche bald ein weiter Kreis hinzu, darunter König, Görlich, Schmid Noerr, Prokop, Haubl und Busch selbst. Sie beziehen sich in hohem Maße auf Alfred Lorenzers Reformulierung der Psychoanalyse. Andere, wie Wirth, Krovoza, Schneider, Heim, aber auch Altmeyer, Dornes oder Honneth bezogen losgelöst von Lorenzer in ihre Ansätze die verschiedensten psychoanalytischen oder soziologischen Strömungen mit ein.17 Für die Kritische Theorie des Subjekts bleiben dennoch die Grundzüge schon des von Lorenzer begründeten Ansatzes bis heute aktuell: Dazu zählen u.a. die vielfältigen interaktiv und kommunikativ orientierten Untersuchungen der Mutter-Kind-Dyade im Besonderen, der frühkindlichen Entwicklung im Allgemeinen, sowie daran anschließend, von primären oder sekundären Sozialisationsprozessen. Letztlich steht damit die Dialektik von Individuum und Gesellschaft im Mittelpunkt aller dieser Ansätze. So haben sich mittlerweile auch diverse Lager herausgebildet. Diese lassen sich grob unterscheiden in: Anhänger und Befürworter der von Lorenzer in seine Neuformulierung einbezogenen freudschen Trieb- und Kulturtheorie (sowie der daraus hervorgegangenen psychoanalytisch-tiefenhermeneutischen Sozialforschung); die »intersubjektiven Skeptiker beziehungsweise skeptischen Intersubjektivisten«18 , welche den psychoanalytisch-sozialpsychologischen Ansatz prüfen und kritisieren, und ihn, weitgehend losgelöst von Lorenzer, allenfalls noch intersubjektiv 15

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Siehe dazu: Hans-Joachim Busch, »Psychoanalytische Sozialpsychologie in Frankfurt – eine Tradition und ihre Zukunft«; in: ders. (Hg.), Spuren des Subjekts. Positionen psychoanalytischer Sozialpsychologie, Göttingen 2007, S. 13-54. (Anm.: Auf diese Zusammenfassung Buschs soll in Kapitel 3.2 dieser Arbeit noch einmal eingegangen werden. Es wird dabei unerlässlich sein, dort auf einige hier bereits geschilderten Gedankengänge und Zitationen noch einmal zurückzugreifen.) Vgl. ebd., S. 21. Vgl. ebd., S. 25f. Ebd., S. 35.

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und objektbeziehungstheoretisch (also unter Analyse nicht nur der Beziehungen von Subjekt zu anderem Subjekt, sondern auch jener zur Welt der Objekte) auf empirischsäuglingspsychologische oder entwicklungspsychologische Konzepte beziehen; sowie eine dritte Gruppe, die psychoanalytische Sozialforschung praktiziert, ohne sich auf eine rein intersubjektive Ausrichtung festzulegen und in unterschiedlichem Ausmaß weiterhin doch an Lorenzer oder Horn festhält.19 Institutionell verankert ist die psychoanalytische Sozialpsychologie als Disziplin in Frankfurt a.M., wo sie von Vera King fortgeführt wird. Zudem hat in der unlängst gegründeten GfpS (Gesellschaft für psychoanalytische Sozialpsychologie) ein mittlerweile sehr großer Kreis an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zusammengefunden, die die Disziplin in den vielfältigsten Ausprägungen und Anwendungen und in den unterschiedlichsten universitären oder außeruniversitären Zusammenhängen zur Geltung bringen. Mögliche Anknüpfungspunkte der Kritischen Theorie des Subjekts und damit der psychoanalytischen Sozialpsychologie (gerade auch in der ihr von Lorenzer verliehenen interaktiven und kommunikativen Form) an die intersubjektiven Kritische(n) Theorie(n) der Gesellschaft wie sie von Habermas oder Honneth so prominent formuliert wurden, finden sich durchaus. Deutlich wird dies z.B. wenn Honneth darauf verweist, dass Habermas die Entstehung sozialer Klassen als »Entstellung dialogischer Verhältnisse«20 versteht. Hier drängen sich gedankliche Assoziationen zu Lorenzer auf, der ja der Auffassung war, »Verstümmelung der Praxis ist zugleich zerstörte Sprache« und bewirke darüber hinaus als »Einprägung über schon verformte Symbole« geradezu »systematische Verzerrungen und Verstümmelungen« auf Subjektseite.21 Die Integration einer derart kommunikations- und handlungstheoretisch gefassten Psychoanalyse in die von Habermas ja gleichfalls kommunikations- und handlungstheoretisch ausgerichtete Gesellschaftstheorie sollte daher, als theoretische Option, eigentlich nahe liegen. Dass eine wechselseitige Inspiration zwischen Habermas und Lorenzer stattgefunden habe, so Busch, könne ja auch gar nicht in Zweifel gezogen werden.22 Weiter schreibt Busch allerdings: »Dass der Dialog zwischen den beiden Protagonisten abnahm, war zu einem Teil wissenschaftsnarzisstischen Eitelkeiten (Freuds ›Narzissmus der kleinen Differenz‹) geschuldet; hinzu kam die Verlagerung der habermasschen Erkenntnisinteressen im Rahmen seines weit gespannten kommunikationstheoretischen Projekts.«23 Die Folge seien »Fehlwahrnehmungen« und »Ausblendungen« im persönlichen Verhältnis der beiden gewesen, »die eine erneute Kontaktaufnahme erschwerten«.24 Aber auch seitens Anderer wurde dieser Versuch der Integration beider Denkausrichtungen nicht 19 20 21 22 23 24

Vgl. ebd., S. 35f. Axel Honneth, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, a.a.O., S. 299. Alfred Lorenzer, »Symbol, Interaktion und Praxis«; in: Günther Busch (Hg.), Psychoanalyse als Sozialwissenschaft, a.a.O., S. 53. Vgl. Hans-Joachim Busch, »Psychoanalytische Sozialpsychologie in Frankfurt – eine Tradition und ihre Zukunft«, a.a.O., S. 39. Ebd. Ebd.; Busch verweist an dieser Stelle im Übrigen auf ähnliche Einschätzungen in: Reimut Reiche, »Von innen nach außen? Sackgassen im Diskurs über Psychoanalyse und Gesellschaft«; in: Psyche, 49, 1995, S. S. 227-258; sowie: Axel Honneth, »Das Werk der Negativität. Eine psychoanalytische Revision der Anerkennungstheorie«; in: Werner Bohleber, Sibylle Drews (Hg.), Die Gegenwart der Psychoanalyse – die Psychoanalyse der Gegenwart, S. 241.

Überblick

ernsthaft vollzogen, sondern blieb weitgehend auf die bloße Bezugnahme beschränkt. Mittlerweile wiederum gäbe es, so Busch, eine enorme Pluralität des psychoanalytischsozialpsychologischen Diskurses,25 und auch die Gesellschaftstheorie Frankfurter Prägung gewann ja mit Honneth eine zwar weiterhin intersubjektive, aber eben anerkennungstheoretische Dimension hinzu. Gerade aber diese Vielfältigkeit erschwerte es nun sicher zusätzlich, eine gemeinsame und kongruente Basis beider Traditionen zu etablieren. Noch immer stehen daher auch eher subjektivistische neben intersubjektiven Ausrichtungen der Psychoanalyse und finden trotz ihrer sehr wohl vorhanden Gemeinsamkeiten kaum einen wirklich ausbaufähigen Bezugspunkt zueinander wie zur Gesellschaftstheorie.26 Busch äußert jedoch die Hoffnung, »[…] es könnten jedenfalls die Konturen [eig. Hervorhebung] eines Dachs entstehen, unter dem sich die Positionen Frankfurter psychoanalytischer Sozialpsychologie zusammenführen lassen. Wenn man eine Fortführung der Tradition der Frankfurter Schule insbesondere im Hinblick auf die Verknüpfung von Psychoanalyse und kritischer Gesellschaftstheorie anstrebt, dann kommt es auf eine konstruktive Auseinandersetzung mit der genannten Hauptdifferenz [nämlich der scheinbaren Unvereinbarkeit von dem Subjekt-Objekt-Paradigma weiterhin stärker verhafteten Ansätzen, mit solchen intersubjektiver Ausrichtung, eig. Anm.] an. Meine These ist, dass die Frage des Intersubjektivismus nicht zur unüberwindbaren Hürde eines solchen Einigungsversuchs werden muss. Eine moderne psychoanalytische Sozialpsychologie Frankfurter Provenienz hätte in der Lage zu sein, eine Lösung für diese Frage zu finden – und sie ist dies meines Erachtens auch.«27 Busch selbst vertiefte und erweiterte die von Horn und Lorenzer ins Leben gerufene Kritische Theorie des Subjekts, indem er ihre Anschlussfähigkeit an andere sozialisationstheoretische und intersubjektive Zugänge prüfte, und stellte darüber hinaus einen gesellschaftstheoretischen Bezug her über einen Abgleich mit Theorien der Spätmoderne.28 Gerade in Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Konzeptionelle Schwierigkeiten und Möglichkeiten psychoanalytisch-sozialpsychologischer Zeitdiagnose29 legt Busch auch unkonventionelle theoretische Verbindungen bspw. von Marcuse und Habermas nahe, und setzt die Kritische Theorie des Subjekts in gesellschaftstheoretische Kontexte. Die hier vorliegende Arbeit verdankt dem viel. Wichtige Impulse schon im konzeptionellen Vorfeld gehen zurück auch auf Honneths Schrift Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie30 . Vor allem die darin zum Ausdruck gebrachte Sichtweise auf die von Habermas verfasste Theorie des kommunikativen Handelns als einer kommunikations- und handlungstheore-

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Vgl. ebd. S. 36. Vgl. ebd. S. 37. Ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 34. Hans-Joachim Busch, Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Konzeptionelle Schwierigkeiten und Möglichkeiten psychoanalytisch-sozialpsychologischer Zeitdiagnose, a.a.O. Axel Honneth, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, a.a.O.

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tischen Transformation der Dialektik der Aufklärung31 sowie die dabei von Honneth in einem gesellschaftstheoretischen Kontext gegebenen Erörterungen zur Intersubjektivität erwiesen sich als hilfreiche Orientierungen. Von ähnlich grundlegender Bedeutung war zudem die von Honneth unter dem Titel Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität 32 veröffentlichte Sammlung eigener Aufsätze. Insbesondere der Aufsatz »Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identität. Über das vermeintliche Veralten der Psychoanalyse«33 erwies sich als inspirierend bezüglich der psychoanalytischen Dimension einer eigenen Theoriebildung. Im Hinblick auf diese psychoanalytische Dimension ergiebig war auch eine der sicher kompaktesten Zusammenfassungen intersubjektiver und relationaler psychoanalytischer Positionierungen, nämlich der von Martin Altmeyer und Helmut Thomä herausgegebene Sammelband Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse34 . Die dort schon in der Gliederung vollzogene Unterscheidung in Vertreter amerikanischer wie europäischer intersubjektiver Strömungen der Psychoanalyse geschah (wohl auch) um der Tatsache willen, dass letztere weiterhin stärker am Triebbegriff festhalten (wenngleich dieser dann oft als modifizierter begegnet) – wohingegen in vielen amerikanischen Varianten eine (aus kritischer Perspektive nicht unproblematische) Tendenz zu dessen Preisgabe zu beobachten ist. Altmeyer und Thomä schreiben ungeachtet, oder gerade in Anbetracht der Vielfalt dieser Neuinterpretationen der klassischen Ansätze: »Wir sind der Auffassung, dass Intersubjektivität zu einem einheitsstiftenden Paradigma der modernen Psychoanalyse werden kann.«35 Hervorzuheben wäre in diesem Sinne auch Stephen Mitchell36 , der sich basierend auf den so bedeutsamen intersubjektivitätstheoretischen Schriften Hans W. Loewalds37 um eine relationale Ausrichtung der Psychoanalyse verdient gemacht hat. Auch auf Jessica Benjamin38 gilt es zu verweisen, die – aus einer feministischen und gendertheoretischen Perspektive – die Notwendigkeit einer intersubjektiven Fassung der klassischen Psychoanalyse betonte, weil nur eine solche (über reziproke Relationen) die theoretischen Grundlagen von gleichberechtigten, symmetrischen Beziehungen der Geschlechter zueinander überhaupt erst adäquat in den Blick rücken könne. Doch das intersubjektive Paradigma hat nicht nur das Potenzial, die Psychoanalyse unter einem Dach zu versammeln; in immer mehr Bereiche der (Sozial-)Wissenschaf-

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Theodor W. Adorno/Max Horkheimer [1944], Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, limitierte Sonderausgabe, Frankfurt a.M. 2003. Axel Honneth, Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt a.M. 2003. Axel Honneth, »Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identität. Über das vermeintliche Veralten der Psychoanalyse; in: ders., Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt a.M. 2003, S. 138-161. Martin Altmeyer/Helmut Thomä (Hg.), Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse, Stuttgart 2006. Martin Altmeyer/Helmut Thomä, »Vorbemerkungen der Herausgeber«; in: dies. (Hg.), Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse, a.a.O., S. 6. Stephen A. Mitchell, Bindung und Beziehung. Auf dem Weg zu einer relationalen Psychoanalyse, Gießen 2003. Hans W. Loewald, Psychoanalyse. Aufsätze aus den Jahren 1951-1979, Stuttgart 1986. Jessica Benjamin, Shadow of the Other. Intersubjectivity and Gender in Psychoanalysis, New York/London 1998.

Überblick

ten greift es aus. Nicht zuletzt hat Altmeyer selbst ja unlängst eine psychoanalytisch geprägte intersubjektive und resonanztheoretische Interpretation der Transformation der Psyche in der digitalen Moderne – und damit auch eine zeitdiagnostische Einschätzung – vorgelegt.39 Was die Verknüpfung von Psychoanalyse und Politik (besonders auch über symbolische Repräsentation und Destruktion) betrifft, erweist sich im Übrigen Die Seele und die Normen40 von Angelika Ebrecht als ungemein aufschlussreich. Friederike Werschkull hingegen widmet sich dem Thema der Intersubjektivität stärker anerkennungstheoretisch orientiert; und zwar in ihrer sozialpsychologischen und -philosophischen Theoriestudie Vorgreifende Anerkennung. Zur Subjektbildung in interaktiven Prozessen41 . So formuliert sie: »Fragt man nach dem menschlichen Subjekt, den Prozessen seiner Entstehung und seinem Werdegang, so sieht man sich verwiesen auf die Untersuchung von Beziehungen und Verhältnissen, in denen das Individuum situiert ist.«42 Durchaus in eine solche Richtung verweisen auch relationale Ansätze der Netzwerktheorie, wie sie früh schon im von Jan Fuhse und Sophie Mützel herausgegebenen Sammelband Relationale Soziologie. Zur kulturellen Wende der Netzwerkforschung43 präsentiert und diskutiert wurden. Denn diese erlauben es, das Phänomen des Netzwerks als menschlich-soziokulturelles, und nicht nur technologisch-infrastrukturelles, zu begreifen. In eine solche Richtung weisen zudem auch Beiträge im von Christian Stegbauer herausgegeben Band »Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie. Ein neues Paradigma in den Sozialwissenschaften«44 . Sicherlich einen großen – und zudem auch: gesellschaftstheoretisch orientierten – Beitrag zur relationalen Netzwerktheorie hat Henning Laux geleistet, mit seiner Arbeit Soziologie im Zeitalter der Komposition. Koordinaten einer integrativen Netzwerktheorie45 . Er verbindet darin die beiden großen Schulen (Bruno Latours und Harrison C. Whites) der Netzwerktheorie zu einem integrativen Ansatz. Martina Löw (Raumsoziologie46 ) sowie Markus Schroer (Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums47 ) haben auf je eigene Weise die Relationalität des Raums schon vor geraumer Zeit vor Augen geführt. Hubert Knoblauch wiederum hat in Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit 48 basierend auf einem von ihm, Jo Reichertz und Reiner Keller angestoßenen Gemeinschaftsprojekt den (im Anschluss an den Sozialkonstruktivismus konzipierten) kommunikativen Konstruktivismus intersubjektiv 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48

Martin Altmeyer, Auf der Suche nach Resonanz. Wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert, Göttingen 2016. Angelika Ebrecht, Die Seele und die Normen. Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik, Gießen 2003. Friederike Werschkull, Vorgreifende Anerkennung. Zur Subjektbildung in interaktiven Prozessen, Bielefeld 2007. Ebd., S. 19. Jan Fuhse/Sophie Mützel (Hg.), Relationale Soziologie. Zur kulturellen Wende der Netzwerkforschung, Wiesbaden 2010. Christian Stegbauer (Hg.), Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie. Ein neues Paradigma in den Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008. Henning Laux, Soziologie im Zeitalter der Komposition. Koordinaten einer integrativen Netzwerktheorie, Weilerswist 2014. Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2015a. Markus Schroer, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, 4. Aufl., Frankfurt a.M. 2012. Hubert Knoblauch, Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit, Wiesbaden 2017.

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aktualisiert und daraufhin zu einer Sozialtheorie mit gesellschaftsdiagnostischer Ausrichtung (›Kommunikationsgesellschaft‹) geformt. Und schließlich hat unlängst Björn Kraus einen dezidiert relationalen Konstruktivismus skizziert, den er zur Novellierung des theoretischen Konzepts von Sozialer Arbeit heranzieht.49 Schlussendlich gilt es noch auf Ansätze zu verweisen, die zwar methodisch nicht, oder nicht im strengen Sinn, als intersubjektiv oder relational zu bewerten sind, zu denen die hier vorliegende Arbeit aber als inhaltlich in einem gewissen verwandtschaftlichen Verhältnis stehend gedacht werden muss. Dazu zählen die (postmodernen) Vergemeinschaftungstheoreme und kollektiven Entgrenzungsszenarien Michel Maffesolis (ders., Der Schatten des Dionysos. Zu einer Soziologie des Orgiasmus, Frankfurt a.M. 1986; sowie: ders., The Time of the Tribes: The Decline of Individualism in Mass Societies, London 1996), wie sie Reiner Keller so ausführlich beschrieben hat.50 Aber auch die zeitdiagnostische Entgrenzungsstudie des stark auf Erich Fromm rekurrierenden Rainer Funk (ders., Der entgrenzte Mensch. Warum ein Leben ohne Grenzen nicht frei, sondern abhängig macht, Gütersloh 2011) gilt es diesbezüglich hervorzuheben. Ein sehr feines Gespür für Grenzen wie verschwimmende Konturen (sowohl im mentalen, als auch im sozialen Bereich) beweist außerdem Eviatar Zerubavel in The Fine Line. Making Distinctions in Everyday Life51 . Zudem begegnet das Maßlose als »Unermessliches« oder »jenseits« bzw. »außerhalb des Maßes« angesiedeltes in den poststrukturalistisch und neo-operaistisch geprägten, kritisch (global-)gesellschaftstheoretischen Werken Michael Hardts und Antonio Negris.52,53 Und mit Liquid Modernity (dtsch. leider wiedergegeben als: Flüchtige Moderne54 ) hat schließlich Zygmunt Bauman den Anstoß gegeben, den Strukturwandel (der je nach Diktion: post- oder spätmodernen) Gegenwartsgesellschaft(en) ganz unter dem Gesichtspunkt der ›Verfüssigung‹ alles vormals ›Festen‹ zu sehen.

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Björn Kraus, Relationaler Konstruktivismus – Relationale Soziale Arbeit. Von der systemisch-konstruktivistischen Lebensweltorientierung zu einer relationalen Theorie der Sozialen Arbeit, Weinheim 2019. Siehe dazu: Reiner Keller, Michel Maffesoli. Eine Einführung, Konstanz 2006. Eviatar Zerubavel, The Fine Line. Making Distinctions in Everyday Life, Chicago/London 1991. Siehe zur Thematik des Maßlosen bei Michael Hardt und Antonio Negri insb. die Unterkap. »Außerhalb des Maßes (Das Unermessliche)« sowie »Jenseits des Maßes (Das Virtuelle)«, in: dies., Empire, Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M./New York 2002, S. 362-367. Siehe dazu: Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M./New York 2002; dies., Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a.M./New York 2004; sowie: dies., Common Wealth. Das Ende des Eigentums, Frankfurt a.M./New York 2010. Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt a.M. 2003.

1. Unermessliche Weiten – Ozeane des Maßlosen

1.1.

Subjektivierung und intersubjektiver Prozess

Prolog: Subjekt, maßlos ■ Das Subjekt war immer auch als maßloses konzipiert; ein Punkt, ohne Ausdehnung, jenseits jeglichen Maßes, ein abstraktes Konzept, ohne ersichtliche Entsprechung; eine erkenntnistheoretische Markierung, von der aus sich die neuzeitliche Philosophie daran machte, die Welt zu denken. Sie machte das Subjekt zum Auge der Welt; zum Bewusstsein, das die Objekte schaut, und setzte so Subjekt und Objekt in Bezug zueinander. Nicht anders stellt das intersubjektive Paradigma, das angetreten war, den Solipsismus als Prämisse und Konsequenz solcher Subjektphilosophie zu überwinden, das Subjekt in Beziehung zum anderen Subjekt. Begriff das subjektphilosophische Paradigma die Erkenntnis der Objekte als vermittelt durch Vernunft, so begreift das intersubjektive Paradigma die Verhältnisse der Subjekte vermittelt durch Interaktion und Kommunikation. So wie ersteres bedeutet, dass Vernunft objektiviert, nämlich ein Bild der Objekte erst macht, so meint letzteres eigentlich, dass Interaktion und Kommunikation subjektivieren: das heißt, das Subjekt überhaupt erst in Erscheinung rufen. Subjektivierung war damit gedacht als spezielle Form der Verwirklichung des Subjekts in der konkreten Begegnung mit den Anderen, oder in den Verhältnissen, zu denen solch situative Begegnung geronnen war. Subjektivierung, so verstanden, ist Konkretisierung von Abstraktem. Sie macht real, und belässt virtuell. Sie ist eine Tat; und sie wird angetan. Sie bemisst Blick wie Anblick. Sie ist daher immer auch eine Zurichtung; sie eröffnet und begrenzt den Blick des Subjekts auf sich selbst, die Anderen und die Welt. Subjektivierung ist die Bemessung der maßlosen Perspektiven des Subjekts beim Unterfangen der Realisierung seiner selbst in der Welt. Subjektivierung resultiert in Subjektivität. Subjektivität ist Aspekt gewordenes Subjekt. Subjektivität ist ersichtlich; das Subjekt ist es nie. Subjektivität ist bemessen; das Subjekt aber maßlos. Das maßlose Subjekt verhält sich zur bemessenen Subjektivität wie weißes Licht zu den Spektralfarben: Subjektivität ist perspektivisch gebrochenes Subjekt. Subjektivität entsteht in intersubjektiven Prozessen. Intersubjektive Prozesse sind die Modi, in denen Subjekte sich begegnen. In ihnen brechen sich die Perspektiven; überlagern sich, oder spalten sich auf: Facetten entstehen und vergehen. Intersubjektive Prozesse sind daher prismatisch: sie zerlegen und vereinen. Maßlose Qualitäten eignen ihnen, und bemessende. Dimensionen des Gemeinsamen eröffnen sie, wie auch des Einsamen. Sie lösen einzelne Aspekte auf ins Allgemeine, oder umgekehrt. Sie konturieren und verwischen die Konturen; sie modellieren Subjektivität

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Das Maßlose der Spätmoderne

wie Situation. Sie erzeugen und vernichten Subjektivität, wie die Verhältnisse, in denen sie sich etabliert. Sie tauchen Subjektivität ins Maßlose zurück, und kehren sie wieder hervor, aufs Neue bemessen. So verwandeln sie: zerstörerisch und schöpferisch zugleich. Sie erschaffen Welten und die Sicht darauf; Einsichten wie Absichten. In intersubjektiven Prozessen verwirken und verwirklichen Subjekte sich.   Subjektwerdung bei Freud: Freuds Rekonstruktion der Entstehung des ›Ich-Gefühls‹ aus dem ›ozeanischen Gefühl‹ ■ Die Metapher des ›Ozeanischen‹ hatte Freud übernommen von Romain Rolland, der ihm in einem Briefwechsel von einem Gefühl berichtet habe, »das ihn selbst nie zu verlassen pflege, das er von vielen anderen bestätigt gefunden, und bei Millionen Menschen voraussetzen dürfe. Ein Gefühl, das er die Empfindung der ›Ewigkeit‹ nennen möchte, ein Gefühl wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, gleichsam ›Ozeanischem‹«1 . Freud hielt dieses ›ozeanische Gefühl‹ für eine besondere Form des Ich-Gefühls. Denn normalerweise scheine das Ich »selbstständig, einheitlich, gegen alles andere gut abgegrenzt«2 ; dass dieser Schein trügt, und die Grenzen des Ichs zumindest nach innen hin, ins Unbewusste, durchlässig seien, habe die Psychoanalyse gezeigt. Im Falle des ›ozeanischen Gefühls‹ aber überschreite das Ich seine so sicher geglaubten Grenzlinien nach außen hin. Ähnliches kenne man vom Fall der Verliebtheit: »Auf der Höhe der Verliebtheit droht die Grenze zwischen Ich und Objekt zu verschwimmen.«3 Wie Rolland zuvor in seiner Schilderung des ›ozeanischen Gefühls‹, benutzt auch Freud hier die Metaphorik des Flüssigen. Das Flüssige ist charakterisiert durch das Fehlen oder Überwinden von Form. Rolland, wie Freud, bewegen sich um etwas, das, auch begrifflich, schwer zu fassen scheint. Sie bewegen sich um etwas, das nicht greifbar ist; etwas ›Ozeanisches‹, und: etwas, das ›verschwimmt‹. Sie bewegen sich um ein Ich, das zerfließt, zerrinnt. Im Fall Rollands geht dies einher mit der »Empfindung der ›Ewigkeit‹«4 ; im Beispiel Freuds mit der Empfindung von Verliebtheit; in beiden Fällen also: mit einem Hochgefühl. Doch Freud führt auch pathologische Fälle an, in denen »die Abgrenzung des Ich gegen die Außenwelt unsicher wird«5 ; beispielsweise wenn Teile des eigenen Körpers, oder Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen der Außenwelt zugeschoben werden; wenn also Eigenes und Inneres nach außen verlagert und als fremd empfunden wird.6 Freud kommt es allerdings zunächst einmal darauf an, festzustellen: Das Ich-Gefühl generell ist Störungen unterworfen, und die Ich-Grenzen sind unbeständig.7 So kommt er zur nächsten Überlegung: »Dies Ichgefühl des Erwachsenen kann nicht von Anfang an so gewesen sein. Es muss eine Entwicklung durchgemacht haben, die sich begreiflicherweise nicht nachweisen, aber mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit

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Sigmund Freud [1929-1930], »Das Unbehagen in der Kultur«; in: Sigmund Freud, Werke im Taschenbuch (hg. von Ilse Grubrich-Simitis), Sigmund Freud. Das Unbehagen in der Kultur – Und andere kulturtheoretische Schriften, 10. unveränderte Aufl., Frankfurt a.M. 2007b, S. 31. Ebd., S. 33. Ebd. Ebd., S. 31. Ebd., S. 33. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

1. Unermessliche Weiten – Ozeane des Maßlosen

konstruieren läßt.«8 Freud macht sich also daran, die Entwicklung des Ich-Gefühls zu rekonstruieren. Das Ich des Kleinkinds löse sich erst allmählich »von einer Außenwelt als Quelle der auf ihn einströmenden Empfindungen«9 . Diesen Vorgang beschreibt er im Modus von Bedürfnisbefriedigung und –versagung, die für den Säugling verbunden sei mit der Erfahrung von Lust und Unlust; Lust, wenn etwa sein Bedürfnis nach Nahrung gestillt wird; Unlust wenn dieses versagt bleibt. Entlang dieser Erfahrungen sei der Säugling gezwungen, zu realisieren, dass bestimmte sinnliche Erregungsquellen im Draußen seiner selbst angesiedelt und damit prinzipiell unverfügbar seien, während andere, seinem Körper zugehörige, ihm jederzeit Empfindungen zusenden können. Dem Lustprinzip entspreche ein Ich, welches noch die Tendenz habe, Schmerzund Unlustempfindungen gänzlich der Außenwelt zuzuschreiben, selbst wenn sie dem eigenen Körper oder dem Ich entspringen; dem Realitätsprinzip entspreche ein Ich, welches bereits gelernt habe, derartige Erfahrungen auch ins Ich zu integrieren und zu akzeptieren. Am Ende dieser Entwicklung stehe ein Ich, welches durch Lenkung der Sinnestätigkeit und Muskelkontraktion dem Ich angehöriges, und äußerliches, zu unterscheiden lerne.10 Freud kommt zu dem Schluss: »Auf solche Art löst sich also das Ich von der Außenwelt. Richtiger gesagt: Ursprünglich enthält das Ich alles, später scheidet es eine Außenwelt von sich ab. Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weit umfassenderen, ja – eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entsprach. Wenn wir annehmen dürfen, daß dieses primäre Ichgefühl sich im Seelenleben vieler Menschen – in größerem oder geringerem Ausmaße – erhalten hat, so würde es sich dem enger und schärfer umgrenzten Ichgefühl der Reifezeit wie eine Art Gegenstück an die Seite stellen, und die zu ihm passenden Vorstellungsinhalte wären gerade die der Unbegrenztheit und der Verbundenheit mit dem All, dieselben, mit denen mein Freund das ›ozeanische Gefühl‹ erläutert.«11 Schließlich setzt Freud jenes abstrakte ›ozeanische Gefühl‹ noch in einen Zusammenhang mit konkreten Phänomenen. Wie es so oft bei psychischen Strukturen der Fall sei, bleibe auch hier das Ursprünglichere neben dem Späteren untergründig bestehen. Das ›ozeanische Gefühl‹ des Eins-Seins könne daher reaktiviert werden, und dies, so vermutet er, sei unter anderem der Fall in Phänomenen aus dem Bereich der Meditation oder aber auch der Trance oder Ekstase.12 Diese könnten aufgefasst werden als »Regression zu uralten, längst überlagerten Zuständen des Seelenlebens«13 . Auch Bezüge zu vielen »Weisheiten der Mystik«14 und zur »Religion«15 konstatiert Freud.16 8 9 10 11 12 13 14 15 16

Ebd. Vgl. ebd., S. 33f. Vgl. ebd., S. 34. Ebd., S. 34f. Ebd., S. 40. Ebd., S. 39. Ebd. Ebd., S. 39f. An anderer Stelle wird Freud das ›ozeanische Gefühl‹ als primäre Quelle des Religiösen in Frage stellen, indem er das infantile Bedürfnis nach Vaterschutz gegenüber dem stärker an die Mutter gekoppelten ›ozeanischen Gefühl‹ aufwertet. Zu Freuds diesbzgl. Haltung vgl. Martin Altmeyer,

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  Intersubjektive Ansatzpunkte bei Freud? Eine Spurensuche mit dem Ziel einer intersubjektiven Neuformulierung der Genese des ›Ich-Gefühls‹ aus dem ›ozeanischen Gefühl‹ ■ Freuds Darstellung der Entwicklung eines »schärfer umgrenzten«17 Ich-Gefühls aus einem »umfassenderen«18 ›ozeanischen Gefühl‹ scheint auf den ersten Blick klassisch subjektphilosophisch geprägt zu sein. Freud führt ein Ich vor Augen, das sich allem Anschein nach entlang von Bedürfniserfahrungen konturiert: Nicht aus kommunikativem Austausch mit dem Anderen entsteht es, nicht aus Interaktion, sondern als Reaktion auf eigene, leibgebunden gedachte Lust- und Unlustempfindungen. Gerade hier aber ist die Nähe zum intersubjektiven Paradigma offensichtlich. Denn selbstverständlich sind diese Lust- und Unlustempfindungen auch interaktiv und kommunikativ vermittelt. Die Unlustempfindung des Hungers hat ihre Ursache in einer unterlassenen Handlung der Bezugsperson; die Lust der Sättigung erwächst aus einer vollzogenen Handlung.19 Während der Handlung kommuniziert die Bezugsperson zudem sprachlich oder gestisch, oder unterlässt eben wiederum diese Kommunikation. In jedem Fall erlebt der Säugling nicht nur sein eigenes Bedürfnis, sondern macht zugleich eine Kommunikationserfahrung. Und diese wird seitens des Kleinkinds nicht nur passiv wahrgenommen, sondern früh nimmt es aktiv teil an kommunikativen Situationen, wie zahlreiche Untersuchungen auch der Säuglingsforschung belegen.20 Aber mehr noch: Bereits Neugeborene kommunizieren aktiv – und es scheint ihnen auch ein Bedürfnis zu sein.21 Freuds bedürfnisorientiertes Subjekt-Objekt-Paradigma22 nimmt sich aus dieser Perspektive nicht aus als eines, das dem intersubjektiven widerspräche – sondern

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Narzissmus und Objekt. Ein intersubjektives Verständnis der Selbstbezogenheit, a.a.O., S. 51ff, oder aber auch: Hans W. Loewald, »Ich und Realität«; in: ders., Psychoanalyse: Aufsätze aus den Jahren 1951-1979, Stuttgart 1986, S. 21. Sigmund Freud [1929-1930], »Das Unbehagen in der Kultur«, a.a.O., S. 35. Ebd., S. 34. Freud selbst scheint seine subjektivistische Konzeption als eine zu begreifen, die nur funktioniert, wenn man die ›Mutterpflege‹, d.h. eine objektive (aber eigentlich doch: intersubjektive) Dimension hinzudenkt. Vgl. dazu auch: Martin Altmeyer/Helmut Thomä: »Einführung: Psychoanalyse und Intersubjektivität«; in: dies. (Hg.), Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse, Stuttgart 2006, S. 10. Martin Dornes: »Die kommunikative Funktion der Imitation kann noch durch den Befund verdeutlicht werden, dass Neugeborene nicht nur imitieren, sondern auch imitative Antworten des Partners provozieren. […] Schon die Neugeborenenimitation ist also ein wechselseitiges kommunikatives Geschehen.« In: ders., »Die emotionalen Ursprünge des Denkens«; in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 2. Jg., 1/2005, S. 5. Vgl. ebd., S. 5. Jessica Benjamin übrigens benennt als wesentliche Differenz zwischen dem Subjekt-ObjektParadigma und dem intersubjektiven den Wandel von der Annahme einer einpoligen, aktiv-passiven Subjekt-Objekt-Bezogenheit hin zu einer zweipoligen, beiderseits aktiv gedachten Konstellation: »As psychoanalysis moves from its original subject-object-paradigm to an intersubjective one, we subtly change the meaning of activity; we conceive it in the context not of a polar complementarity but of a symmetry between two active partners.« In: dies., Shadow of the Other. Intersubjectivity and Gender in Psychoanalysis, New York/London 1998, S. 39f. Diese zweifache und aktive Relation als paradigmatische Grundkonzeption scheint ihr darüber hinaus als wesentlich für das Denken einer auch gleichberechtigten Beziehung zwischen den Geschlechtern innerhalb psychoanalytischer Theoreme.

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vielmehr als eines, das lediglich um die kommunikative Dimension der Intersubjektivität reduziert ist. Liest man Freuds Rekonstruktion der Ich-Genese so, dann verbietet sich eine intersubjektive Interpretation nicht; im Gegenteil: Sie stellt sich dar als eine notwendige und zulässige Erweiterung seines subjektivistischen Ansatzes. Doch nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf sprachlicher Ebene finden sich in Freuds Ansatz Elemente, die sich nicht nur in einen intersubjektiven Kontext setzen lassen, sondern diesen geradezu verlangen. Die Metaphorik des Flüssigen etwa ist es, die es Freud überhaupt erst erlaubt, intersubjektive Prozesse auf subjektzentrierte Art und Weise zu schildern. Sie durchzieht alle wesentlichen Facetten seines Textes; sie ist es, von der Freuds Überlegungen überhaupt erst ihren Ausgang nehmen. Das Flüssige begegnet überdies in den beiden zentralen Stellen, in denen Freud durchlässige Grenzen des Ich beschreibt, und die beide eindeutig als intersubjektive Situationen zu werten sind: ›Ozeanisch‹ scheint das Ich-Gefühl des frühen Säuglings, dem sich die Mutterbrust erst nach und nach als Objekt außerhalb seiner Verfügungsgewalt darstellt23 ; und vom ›Verschwimmen‹ zwischen Ich und Objekt spricht Freud im Hinblick auf die Empfindung der Verliebtheit.24 In beiden Fällen verbirgt sich hinter der Metaphorik des Flüssigen eigentlich ein geradezu exponierter interaktiver und kommunikativer Zusammenhang: nämlich eine existenzielle Erfahrung des Anderen. Die Mutter25 -Kind-Beziehung wie die Liebesbeziehung sind intersubjektive Relationen von herausgehobener Bedeutung; zugleich formieren sich diese Situationen aber auch um existenzielle Bedürfnisse. Daher liegt Freud natürlich mit seiner bedürfnisorientierten Sichtweise ebenfalls richtig. Eine intersubjektive Kritik an Freud sollte folglich nicht zum Ziel haben, ihn zu widerlegen, sondern ihn erweitert auszulegen. Erweitert, denn Freud denkt aufgrund seiner subjektphilosophischen Orientierung notwendig einseitig; er denkt vom einseitigen Bedürfnis eines Subjekts nach einem Objekt her, und nie von der wechselseitigen Interaktion und Kommunikation zwischen Subjekten. In der Folge sieht er allenfalls einen einseitigen Bezug, wo eine wechselseitige Beziehung zu beschreiben wäre. Freud ist somit gezwungen, die Einseitigkeit seiner Darstellung zu kaschieren: Dies tut er, indem er mittels des Bildes der Verflüssigung einen rückwirkenden Effekt suggeriert. Nur dadurch ist es ihm möglich trotz der Einseitigkeit seiner Darstellung Beidseitigkeit zu beschreiben; nämlich als verbindende, bis hin zum 23 24 25

Vgl. Sigmund Freud [1929-1930], »Das Unbehagen in der Kultur«, a.a.O., S. 34. Ebd., S. 33. Es versteht sich von selbst, dass, wenn im weiteren Fortgang von ›Mutter‹ oder ›Vater‹ die Rede ist, weder zwangsläufig die biologischen Eltern, noch notwendigerweise deren Geschlecht gemeint ist. Es wäre daher evtl. sinnvoller etwa von ›primären Bezugspersonen‹ bzw. auch ›primärer Bezugsperson‹ und ›sekundärer Bezugsperson‹ zu sprechen. Da aber sowohl Freud als auch Loewald und Stern den Begriff der ›Mutter‹ und des ›Vaters‹ verwenden, soll hier, auch um die Komparabilität zu deren Denken zu gewährleisten, diesbzgl. keine permanente Ersetzung etwa des Begriffs ›Mutter‹ durch ›Bezugsperson‹ erfolgen (zumal so auch die pränatale Komponente der Mutterschaft ausgeblendet werden würde). Alfred Lorenzer verwendet übrigens auch den Begriff der ›Mutter‹ um die frühkindliche Interaktionserfahrung zu beschreiben, weist aber daraufhin, dass dieser durchaus auch die primäre Bezugsperson bzw. sogar primäre Bezugspersonen (im Plural) klassifizieren könne. Vgl. dazu: ders., »Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie«; in: Jürgen Habermas/Dieter Henrich/Jacob Taubes (Hg.), Alfred Lorenzer. Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie, Frankfurt a.M. 1972, S. 130.

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›Verschwimmen‹, wie sie besonders charakteristisch ist für jene existenziellen Formen von Beziehungen. Aber auch allgemein wirken Beziehungen verbindend zwischen Subjekten; denn sie stiften ein ›inter‹, ein ›zwischen‹.26 Da Freuds Denken diese ›Brücke‹ zwischen den Subjekten nicht geht, füllt er die trennende Kluft zwischen ihnen mittels der Metaphorik des Flüssigen. Die Verflüssigung des Subjekts ins Objekt tritt bei ihm anstelle der Verbindung durch die Relation.   Loewalds intersubjektiver Zugang zum ›ozeanischen Gefühl‹: Formierungen des Ich entlang von ›Differenzierungs- und Entdifferenzierungsprozessen‹ ■ Loewald entwirft, wenn auch in enger Anlehnung an Freud, Schritt für Schritt eine eigenständige intersubjektive Deutung der Ich-Entwicklung.27 Es ließe sich auch sagen, Loewald verleiht Freuds Argumentation intersubjektiven Gehalt. So formuliert er bereits Freuds gedanklichen Ausgangspunkt, nämlich das ›ozeanische Gefühl‹ des Neugeborenen, intersubjektiv. Wo Freud noch einseitig das ›ozeanische Gefühl‹ des ›Eins-Seins‹ vermutete, sieht Loewald zwischen Mutter und Kind stattdessen ein beidseitiges Gefühl der Verbundenheit, nämlich: Empathie – und diese ist für ihn bereits kommunikativ vermittelt: »Die empathische Beziehung zwischen Säugling und Mutter beruht auf Gegenseitigkeit; nicht nur der Säugling unterhält eine empathische Kommunikation mit der Mutter, auch die Mutter kommuniziert mit dem Säugling auf emphatische Weise.«28 Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Loewald Kommunikation generell weniger als unterschieden in präverbale und verbale versteht, sondern diese zuallererst begreift aus ihrer Besetzung mit Bedeutung.29 Das heißt, er unterscheidet schließlich zwischen der Sprache, die der Säugling als bloße Lautäußerung wahrnimmt, und der, die er bereits gelernt hat mit Bedeutung zu besetzen. Sprache als bloße Lautäußerung ist für den Säugling, der sie noch nicht deuten kann, nicht mehr als ein bloßer Ausdruck der Empathie, der Verbundenheit, mit der sie gesprochen wird. Die erste Begegnung mit Sprache muss geradezu von einer unbestimmten, grenzenlosen Erfahrung des Säuglings begleitet sein, denn sie bezeichnet ihm nichts: »Er kann nicht sprechen, doch man spricht mit ihm.«30 Sprache verweist ihm zunächst weder auf ein

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»Die Betonung des ›Zwischen‹ […] macht einen Großteil der Attraktivität der intersubjektiven Sichtweisen aus.« In: Werner Bohleber, »Intersubjektivismus ohne Subjekt? Der Andere in der psychoanalytischen Tradition«; in: Martin Altmeyer/Helmut Thomä (Hg.), Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse, a.a.O. S. 205. Bohleber verweist ebd. auch auf Parallelen des ›Zwischen‹ zu Winnicotts ›potential space‹, »einem Übergangsraum, in dem sich eine gegenseitige schöpferische Ko-Konstruktion von Bedeutungen ergeben kann.« Honneth betont die Notwendigkeit einer intersubjektiven Aktualisierung der Psychoanalyse – gerade auch im Hinblick auf eine intersubjektiv bereits gewendete Sozialwissenschaft – und skizziert u.a. die Bedeutung Loewalds hierfür in: Axel Honneth, »Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identität. Über das vermeintliche Veralten der Psychoanalyse«; in: ders., Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt a.M. 2003, S. 138-161. Hans W. Loewald, »Ich und Realität«; in: ders., Psychoanalyse: Aufsätze aus den Jahren 1951-1979, a.a.O., S. 33. Hans W. Loewald, »Primärprozeß, Sekundärprozeß und Sprache«; in: ders., Psychoanalyse: Aufsätze aus den Jahren 1951-1979, a.a.O., S. 172ff. Ebd., S. 170.

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Inneres, noch auf ein Äußeres. Sprache ist für ihn allenfalls die Begleitmelodie der Empathie. Die Mutter weiß das, denn wenn »[…] sie mit dem Säugling oder zu ihm spricht, erwartet sie nicht, daß er die Worte erfassen wird, sondern sie tut es, als spräche sie zu sich selbst und schließe dabei das Kind mit ein. Die Worte, aus denen ihr Sprechen besteht, sind undifferenzierte Bestandteile der vom Kind erlebten Gesamtsituation des Ereignisses. Es versteht keine einzelnen Worte – Worte, die voneinander und vom Gesamterleben getrennt sind – es ist vielmehr eingebettet in einen Sprachfluß, der ein untrennbarer Bestandteil eines allumfassenden Erlebens innerhalb des Mutter-Kind-Feldes ist.«31 Loewald macht aus Freuds als allumfassend empfundenem ›ozeanischem Gefühl‹ hier also das allumfassende Erleben eines ›Sprachflusses‹, und übersetzt so Freuds eher statischen Subjekt-Objekt-Zusammenhang in ein dynamisches intersubjektives Verhältnis. Das charakteristische Element aber behält er bei: Die Empfindung des ›ozeanischen Eins-Seins‹, die bei ihm eine »undifferenzierte«32 ist. Jenes undifferenzierte Empfinden aber weicht erst analog zur allmählichen Aufladung der Worte mit Bedeutung. Sprache konstituiert Realität. Die Grenzen der Welt konstituieren sich parallel zu den Grenzen des Ich: »Mit anderen Worten, der psychologische Aufbau von Ich und Außenwelt gehen Hand in Hand.«33 Sprache differenziert Ich und Außenwelt: »Die Verknüpfung zwischen Sachvorstellungen und Wortvorstellungen beruht auf einer Differenzierung oder geht damit einher. Diese Differenzierung ist ein Entfalten oder ein Trennen dessen, was nun als verschiedene Komponenten oder Aspekte eines umfassenden Erlebens verstanden wird. Insoweit die differenzierten Elemente ihren gemeinsamen Ursprung verraten und aufeinander reagieren, bleibt zwischen ihnen eine Entsprechung als das Erbe, der Nachhall, die artikulierte Erinnerung an das uranfängliche Einssein bestehen.«34 Nicht unähnlich zu Freud entwickelt sich bei Loewald also ein differenziertes Ich aus einem undifferenzierten Zustand heraus; der Unterschied zu Freud liegt in Loewalds Betonung der Rolle der Sprache. Über die Sprachentwicklung hinausgreifend jedoch verankert er diesen Prozess der Differenzierung zudem in Interaktions- und Kommunikationserfahrungen des Kleinkindes generell: »Biologisch und psychologisch emanzipiert es sich immer mehr von der Mutter, was zu ständig steigender Spannung führt. Je weniger Mutter und Kind eins sind, je mehr sie zu getrennten Einheiten werden, desto stärker wird das dynamische Wechselspiel von Kräften zwischen diesen beiden ›Systemen‹. Wenn die Mutter zum Außen wird, und das Kind gleichzeitig ein Inneres entwickelt, entsteht zwischen beiden ein Spannungssystem.«35

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Ebd., S. 171. Ebd. Hans W. Loewald, »Ich und Realität«, a.a.O., S. 17. Hans W. Loewald, »Primärprozeß, Sekundärprozeß und Sprache«, a.a.O., S. 174. Hans W. Loewald, »Ich und Realität«, a.a.O., S. 18.

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Loewald denkt die Mutter-Kind-Beziehung also als ein sich ständig aufbauendes und weiter differenzierendes Spannungsfeld von Kräften. Die zur Ich-Entwicklung nötige Spannung entwickelt sich aus der zunehmenden Trennung der beiden, welche jedoch gleichzeitig mit der Zunahme eines Wechselspiels verbindender Kräfte einhergeht. Analog dazu bildet sich im Ich eine Vorstellung vom Innen und vom Außen; das Ich grenzt sich ab, und differenziert sich dabei immer stärker. Eine weitere Rolle hin zur Komplexitätssteigerung in der Ich-Organisation misst Loewald dabei der Beziehung zur Vaterfigur (bzw. auch: zur sekundären Bezugsperson) bei, die einen weiteren konturstiftenden Anhaltspunkt außerhalb des Mutter-Kind-Spannungsverhältnisses schafft. Damit verkompliziert sich sowohl die Wahrnehmung der Außenwelt, als auch die Differenzierung des Ich noch einmal.36 Der Vorgang der Differenzierung des Ich ließe sich mit Loewald also verstehen als eine spannungsreiche Strukturbildung, die einen früher spannungsarmen Zustand transformiert und hinüberführt zu einer komplexeren Organisation. Anders als Freud jedoch sieht Loewald Prozesse der Differenzierung und Entdifferenzierung in Permanenz sich vollziehen; er wendet sich in diesem Punkt also ab von Freuds eher evolutionär gedachtem Entwicklungsmodell. Loewalds differenziertes Ich wechselt ständig in Teilen vom ›undifferenzierten Primärprozess‹ in den ›differenzierten Sekundärprozess‹ und wieder zurück: »Primär- und Sekundärprozeß sind Idealkonstruktionen. Sie können aber auch als Pole beschrieben werden, zwischen denen sich menschliches Denken bewegt. […] Die Seelentätigkeit scheint durch ein Hin- und Her, durch eine Verknüpfung dieser psychischen Prozesse gekennzeichnet«37 . Primärprozesshaften Charakters sind alle Entwicklungen, die vereinheitlichen, verbinden, bis hinein ins Undifferenzierte; dem Sekundärprozess zugeordnet werden kann alles, was vervielfältigt, trennt, und differenziert. Im Primärprozess findet immer eine Bewegung zur Einheit statt, im Sekundärprozess zur Zweiheit und Vielheit.38 Loewald verortet nun sowohl Freuds ›ozeanisches Gefühl‹ wie dessen ›schärfer umgrenztes Ich-Gefühl‹ in den vereinheitlichenden beziehungsweise vervielfältigenden Effekten des Primär- und des Sekundärprozesses, welche er sich als die Grundkonstanten psychischer Prozesse denkt: »Psychische Vorgänge und Gedächtnisvorgänge sind primär wenn und insoweit sie einheitlich, gewissermaßen eindeutig, undifferenziert und nicht differenzierend sind – unbehindert […] durch die Gesetze des Widerspruchs, der Kausalität, und durch die Differenzierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Subjekt und Objekt, das heißt durch die Differenzierung zeitlicher und räumlicher Relationen. Verdichtung und Verschiebung, als Anzeichen des Einflusses betrachtet, den der Primärprozess auf den Sekundärprozess ausübt, sind regressive Einwirkungen in Richtung auf eine ursprüngliche Dichte, wo all unsere Unterscheidungen und Dichotomien nicht gelten. Psychische Vorgänge sind insoweit primär, wie sie nicht zur Spaltung führen, wie sie keine Zweiheit oder Vielfältigkeit besitzen oder erzeugen, kein Dies oder Jenes, kein Vorher oder Nachher, keine Handlung, die sich von dem, der handelt, ihrem Ziel oder ihrem Objekt unterscheidet. Es ist klar, daß in diese Kategorie fällt, was wir magisches 36 37 38

Vgl. ebd., S. 20-31. Hans W. Loewald, »Primärprozeß, Sekundärprozeß und Sprache«, a.a.O., S. 164. Vgl. ebd., S. 152f.

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Denken, Omnipotenz von Gedanken, Bewegungen und Gesten nennen, sowie Identifizierung, koenästhetische Rezeption und viele andere Phänomene […], etwa das ›ozeanische Gefühl‹ oder ekstatische Erlebnisse. [Hervorhebung durch Loewald]«39 Das von Freud beschriebene ›ozeanische Gefühl‹ des Eins-Seins, das dieser dem ›schärfer umgrenzten Ich-Gefühl‹ vorausgehen sah, und welches nur regressiv wieder belebt werden könne – wandelt Loewald so in das Bild eines Nebeneinanders von differenzierend und entdifferenzierend gedachten psychischen Mechanismen, die sich in Permanenz vollziehen, und das Ich sowie sein Verhältnis zur Realität und den Anderen unablässig und immer wieder neu definieren. Indem er diese Mechanismen in Interaktionsund Kommunikationsstrukturen sowie insbesondere der Sprache verortet, vermittelt er ein Verständnis von Psyche, das sich beschreiben ließe als verinnerlichte Strukturierung äußerlich erlebter Interaktions- und Kommunikationserfahrungen.   Sterns intersubjektiver Zugang zum ›ozeanischen Gefühl‹: Konfigurationen des ›Selbst-mit-dem-Anderen‹ wie des ›Selbst-gegen-den-Anderen‹ ■ Stern stimmt in diesem Verständnis von Psyche grundsätzlich mit Loewald überein. Martin Altmeyer schreibt diesbezüglich über Stern: »Es geht [Stern, eig. Anm.] stets um die Transformation einer Interaktion in eine subjektive Empfindung, eines extrapsychischen in einen intrapsychischen Vorgangs.«40 Sterns theoretisches Verständnis der Mutter-KindBeziehung ruht jedoch auf einem anders gelagerten empirischen Fundament als das Loewalds: nämlich dem, der Säuglingsforschung41 . Ihr verdanken sich detaillierte und umfangreiche Untersuchungen zur Mutter-Kind-Interaktion, die die Deutungshoheit insbesondere der rekonstruktiv verfahrenden klinisch-therapeutischen Theorieansätze in Frage gestellt haben. Vor allem symbiotische Konzeptualisierungen des ›ozeanischen Gefühls‹ wie sie Mahler und in gewissem Umfang auch Winnicott erarbeitet hatten,42 gerieten in die Schusslinie der Säuglingsforschung; denn diese behauptete nachweisen zu können nicht nur, dass Intersubjektivität gegeben sei, vom frühesten Zeitpunkt an,43 sondern auch, »daß die Differenzierung von Selbst und Anderem praktisch von Anfang an besteht«44 ; eine frühe ›Symbiose‹ oder ›Verschmelzung‹ des Kindes mit der Mutter, wie in bestimmten Versionen der Psychoanalyse postuliert, finde nicht statt. 39 40 41

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Ebd., S. 152f. Martin Altmeyer, Narzissmus und Objekt. Ein intersubjektives Verständnis der Selbstbezogenheit, a.a.O., S. 138. Eine kompakte Darstellung der wichtigsten Untersuchungsmethoden wie Untersuchungsergebnisse der empirischen Säuglingsforschung findet sich in: Martin Dornes, Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen, Frankfurt a.M. 1996, S. 34-46. Siehe dazu: Margaret Mahler, Symbiose und Individuation. Psychosen im frühen Kindesalter, 5. Aufl., Stuttgart 1989; sowie: Donald W. Winnicott, Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, München 1974, Kap. »Die Theorie von der Beziehung zwischen Mutter und Kind«, S. 47-71 sowie Kap. »Von der Abhängigkeit zur Unabhängigkeit in der Entwicklung des Individuums«, S. 106-137. Daniel Stern: »Die neuen Erkenntnisse über die altero-zentrierte Beteiligung, die Säuglinge durch zahlreiche Formen der Nachahmung zeigen, sowie die Entdeckung von Spiegelneuronen und adaptiven Oszillatoren ha-ben [sic!] mich mittlerweile davon überzeugt, daß frühe Formen der Intersubjektivität nahezu von Beginn des Lebens an vorhanden sind.« In: ders., Die Lebenserfahrung des Säuglings, 9. erw. Aufl., Stuttgart 2007, S. XV. Ebd., S. IV.

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Dem gilt es hinzuzufügen: Selbst wo sich die ›Symbiotiker‹, wie Mahler, auf Freuds ›ozeanisches Gefühl‹ berufen, ist ihr Symbiose-Konzept doch bereits eine Interpretation des ›Ozeanischen‹. Der Begriff der Symbiose mit der Mutter findet sich bei Freud so nicht. Freud denkt das ›ozeanische Gefühl‹ als Empfindung – nämlich im Sinne eines »allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entsprach«45 . Freuds Begriffswahl lässt Raum für interpretatorischen Spielraum; ein Gefühl einer innigen Verbundenheit mit der Umwelt nämlich kann selbstverständlich kommunikativ vermittelt sein – so wie Loewald dies deutet. Eine Symbiose dahingegen geht über ein solches Gefühl bereits hinaus; sie beschreibt eine reale oder halluzinierte organismische Lebensweise und ihre Funktionen, und nicht eine bloße Empfindung der Verbundenheit.46 Weiß man um diesen Unterschied, beginnt sich abzuzeichnen, dass Stern mit Rückendeckung durch die Säuglingsforschung weniger gegen Freuds ›Ozeanisches‹ ins Feld zieht, sondern in erster Linie gegen Mahlers oder Winnicotts Symbiose-Konzepte (wie dies übrigens auch Dornes47 oder Beebe/Lachmann48 tun). Sterns Konzeption der Mutter-Kind-Beziehung scheint daher, bei genauerer Betrachtung – ähnlich, und doch ganz anders als die Loewalds – weit mehr eine intersubjektive Reformulierung des freudschen Ansatzes zu sein, als eine intersubjektive Widerlegung. Die Ähnlichkeit zu Freud zeigt sich schon da, wo Stern ebenfalls die bloße Empfindung in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt: Das, was bei Freud das Ich-Gefühl war, wird bei Stern zum Selbstempfinden; und ganz ähnlich wie Freud, der die Entwicklung des Ich-Gefühls darstellen wollte, 45 46

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Sigmund Freud [1929-1930], »Das Unbehagen in der Kultur«, a.a.O., S. 34f. Honneth setzt sich intensiv sowohl mit dem Symbiose-Konzept als auch mit den Entgegnungen der Säuglingsforschung auseinander. Auch in dieser Auseinandersetzung wird deutlich, dass es zielführender ist, mit einem an Loewald orientierten Verständnis eines permanenten Nebeneinanders von entdifferenzierenden und differenzierenden Prozessen zu argumentieren, als mit dem evolutionär gedachten Symbiose-Konzept etwa Mahlers. Honneth (über die Modifikationen am Symbiose-Konzept, zu denen die Erkenntnisse der Säuglingsforschung zwingen): »Seither konzentriert sich die Diskussion im Wesentlichen auf die Frage, welche Korrekturen an der Annahme einer primären Symbiose nötig wären, um sie mit dem empirischen Befund eines elementaren Selbstgefühls des Säuglings in Übereinstimmung zu bringen: Statt von einem kognitiven Zustand wird nun in Bezug auf die ›Symbiose‹ häufig nur noch von einem affektiv erlebten Zustand gesprochen, statt von einer ganzen Phase ist nicht selten nur noch von zeitlichen Interimsperioden eines symbiotischen Erlebens die Rede […]«. In: Axel Honneth, »Facetten des vorsozialen Selbst. Eine Erwiderung auf Joel Whitebook«; in: Martin Altmeyer/Helmut Thomä (Hg.), Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse, a.a.O., S. 321. Hans-Joachim Busch bezieht zu dieser Debatte Stellung, in: ders., »Intersubjektivität als Kampf um Anerkennung des Nicht-Intersubjektiven. Kommentar zur Honneth-Whitebook-Kontroverse«; in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 57. Jg., 3/2003, S. 262-274. Eine Auseinandersetzung von Martin Dornes mit dem Symbiose-Konzept findet sich in: ders., Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen, Frankfurt a.M. 1996, S. 58-76. Beebe und Lachmann verstehen ihren Ansatz als eine systemtheoretisch orientierte Entgegnung der Säuglingsforschung auf die entwicklungspsychologischen Konzepte u.a. Mahlers. Vgl. dazu z.B.: Beatrice Beebe/Frank Lachmann, Säuglingsforschung und die Psychotherapie Erwachsener. Wie interaktive Prozesse entstehen und zu Veränderungen führen, Stuttgart 2004, S. 31 f und S. 36. Siehe dazu aber auch: dies., »Die relationale Wende in der Psychoanalyse. Ein dyadischer Systemansatz aus Sicht der Säuglingsforschung«; in: Martin Altmeyer/Helmut Thomä, Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse, a.a.O., S. 122-159.

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konzeptionalisiert Stern verschiedene Stufen des Selbstempfindens. Die Stufen der Ich-Entwicklung glaubte Freud bedürfnisorientiert unterscheiden zu können analog zum Übergang vom Lust- zum Realitätsprinzip, während Stern die jeweiligen Stufen des Selbstempfindens festmacht an entsprechenden Stufenfolgen von Bezogenheit des Kindes in der Kommunikation mit der Mutter. Die Kommunikation mit der Mutter wiederum erschließt sich Stern detailliert aus den umfangreichen Ergebnissen der empirischen Säuglingsforschung. Stern schildert also die stufenweise Entstehung des bewussten Selbst aus verschiedenen Modi intersubjektiver Bezogenheit auf einen Anderen. Dabei unterscheidet Stern zwei grundlegende Modi von Bezogenheit: Formen des ›self-versus-other‹ und Formen des ›self-with-other‹. Der Modus des ›selfversus-other‹ beschreibt eine Dimension des Getrenntseins in der Bezogenheit; das Selbst wird erfahren in Abgrenzung zum Anderen. Der Modus des ›self-with-other‹ wird erlebt als Zusammensein mit dem Anderen; der Andere wird hierbei zu einem das Selbst regulierenden Faktor.49,50 Im ›self-versus-other‹ und ›self-with-other‹ scheint Sterns Entsprechung zu Loewalds endifferenzierenden und differenzierenden Qualitäten von intersubjektiven Prozessen zu finden sein; allein: Stern verwehrt sich im Gegensatz zu Loewald, der mit seinem Verständnis des undifferenzierten Primärzustands ja noch recht nah an Freuds ›Ozeanischem‹ lag, jeglicher Interpretation, die von einem Zustand anfänglicher Undifferenziertheit ausginge, selbst wenn diese, wie im Fall Loewalds, intersubjektiv gedacht sein sollte.51 Stern geht im Kontrast zu Loewald von einer anfänglichen Getrenntheit aus; Lebensaufgabe des Neugeborenen sei es demnach, Bindung herzustellen, und nicht wie bei Loewald, sich aus einer Bindung zu lösen.52 Ungeachtet dessen findet sich bei näherem Hinsehen allerdings, dass Stern für den undifferenzierten Primärprozess wie dessen Differenzierung zum Sekundärprozess eigene Begriffe hat, und diese schließlich ganz ähnlich wie Loewald ebenfalls in der Sprachentwicklung verortet. Zentral für diese Sichtweise auf Stern sind seine Überlegungen zu dem, was er als das »amodal-globale Erleben«53 bezeichnet. Unter ›amodal‹ versteht Stern Erfahrungen des Kleinkinds, die einhergehen mit einer Verknüpfung einer Vielzahl von Sinneseindrücke; ›global‹ meint in diesem Sinn, dass

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Vgl. dazu auch Altmeyers Überblick zu Sterns Konzeption, in: Martin Altmeyer, Narzissmus und Objekt. Ein intersubjektives Verständnis der Selbstbezogenheit, a.a.O., S. 136-141. Werner Bohleber (über Sterns Verständnis von Intersubjektivität): »Sie [Intersubjektivität, eig. Anm.] reguliert das psychische Zugehörigkeitsgefühl ebenso wie das psychische Alleinesein. Der menschliche Geist wird nicht mehr als unabhängig und isoliert angesehen. Wir sind auch nicht länger die einzigen Besitzer, Herren und Wächter unserer Subjektivität, sondern stehen ständig im Dialog mit anderen und deren Bewusstsein – unser Seelenleben ist ›ko-kreiert‹.« In: ders., »Intersubjektivismus ohne Subjekt? Der Andere in der psychoanalytischen Tradition«; in: Martin Altmeyer/Helmut Thomä (Hg.), Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse, a.a.O., S. 207f. Stephen A. Mitchell: »Stern behauptete, das kindliche Erleben sei nicht undifferenziert […]. Im Gegensatz zu Stern war Loewald der Überzeugung, dass das Erleben, trotz beeindruckender kognitiver Fähigkeiten, über die der Säugling (oder der Erwachsene) verfügen mag, das ganze Leben hindurch sowohl in differenzierten als auch in undifferenzierten Formen strukturiert ist.« In: ders., Bindung und Beziehung. Auf dem Weg zu einer relationalen Psychoanalyse, Gießen 2003, S. 211. Vgl. Daniel Stern, Die Lebenserfahrung des Säuglings, a.a.O., S. IV. Ebd., S. 250.

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diese Erlebnisweisen von einer umfassenden und ganzheitlichen Qualität sind. Sowohl Assoziationen an Loewalds undifferenzierten Primärprozess wie auch an Freuds ›umfassend‹ erlebtes ›Ozeanisches‹ drängen sich auf; und sie erweisen sich als berechtigt, folgt man Sterns Ausführungen. Stern schildert jenes amodale und globale Erleben unter anderem am Beispiel eines Kindes, das auf diese ganzheitliche Erlebnisweise einen Fleck von Sonnenlicht an einer Wand wahrnimmt:54 Neben der Farbe (›gelb‹) empfinde es gleichzeitig andere Sinneseindrücke dieses Lichts (›Intensität‹, ›Wärme‹, ›Form‹, ›Helligkeit‹ etc.); komme nun aber jemand in den Raum und sage: »Oh sieh mal, das gelbe Sonnenlicht!«55 , werde die amodale und globale Wahrnehmung des Kindes reduziert auf eine einseitig visuelle: Sonnenlicht ist gelb; Intensität, Wärme etc. treten in der sprachlichen Umsetzung und damit auch im Bewusstsein des Kindes in den Hintergrund. Sprache schränkt so das ursprünglich umfassende Erleben des Kindes dramatisch ein: »Im Lauf der Entwicklung geschieht nun wahrscheinlich folgendes: Die sprachliche Version solcher Wahrnehmungen, in diesem Fall ›gelbes Sonnenlicht‹, wird zur offiziellen Version, während die amodale Version ›untertaucht‹ und nur dann wieder zum Vorschein kommt, wenn besondere Bedingungen die Dominanz der sprachlichen Version aufwiegen oder zunichte machen. Solche Bedingungen können durch bestimmte kontemplative und emotionale Zustände [eig. Anmerkung: Man denke an Freuds oder Loewalds Erklärungen zum Ursprung von Ekstase oder Meditation im ›Ozeanischen Gefühl‹ bzw. im undifferenzierten Primärprozess] eintreten oder durch bestimmte Kunstwerke geschaffen werden, die sich sprachlicher Kategorisierung entziehen. […] Das Paradox, daß die Sprache Erfahrungen hervorzurufen vermag, welche die Worte transzendieren, zollt der Macht der Sprache wohl den höchsten Tribut. Aber hierbei handelt es sich um Worte, die poetischen Zwecken dienen. Die Worte des Alltagslebens haben zumeist das gegenteilige Resultat: Sie brechen das amodale, globale Erleben entweder auf oder verbannen es in den Untergrund. Auf diesem Gebiet also bedeutet der Erwerb der Sprache für das Kind keinen reinen Segen. Was nun allmählich verloren geht (oder latent wird), ist gewaltig; was hinzugewonnen wird, ist ebenfalls gewaltig. Das Kind findet Eingang in eine größere Kulturgemeinschaft, aber mit dem Risiko, die Kraft und Ganzheit des ursprünglichen Erlebens einzubüßen. [Eig. Hervorhebung]«56 Stern gelangt so über empirische Ergebnisse der Säuglingsforschung aus dem Bereich der amodal-globalen Wahrnehmung wohl eher unbeabsichtigt zu einer überzeugenden Deutung dessen, was Loewald als undifferenzierten Primärprozess erörtert hatte; und nicht nur das: Stern als Theoretiker der anfänglichen Getrenntheit schlussfolgert am Ende der oben zitierten Passage auch noch, dass mit dem Verlust der amodal-globalen Wahrnehmung schließlich ›die Ganzheit des ursprünglichen Erlebens‹ eingebüßt werde. Stern klingt hier beinahe wie Freud, wenn er das ›Ozeanische‹ beschreibt. Es stellt sich die Frage, ob Freud, Loewald und Stern bei genauerer Betrachtung nicht vielleicht

54 55 56

Vgl. ebd., S. 249ff. Ebd., S. 250. Ebd., S. 250f.

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weit größere inhaltliche Konvergenzen aufweisen, als dies gemeinhin auf den ersten Blick vermutet wird. Ist dem so, sollte sich auch eine Sprache formulieren lassen, die den Blick auf diese inhaltlichen Übereinstimmungen erlaubt, und ihn nicht verstellt.   Plädoyer für eine begriffliche Befreiung von Loewald und Stern unter Beibehaltung ihrer intersubjektiven Prämissen ■ Eine Sprache zu formulieren, die sowohl Loewald als auch Stern gerecht würde, könnte nur geschehen, indem man beide auf ihren begrifflich kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert – unter Beibehaltung ihrer inhaltlich grundlegend intersubjektiven Prämissen. Letztlich ginge es darum, die scheinbar auseinanderklaffenden Versionen theoretischer Erklärungsmuster zur Ich-Genese sprachlich zusammenzuführen unter Berufung auf deren offensichtliche inhaltliche Überschneidungen. Ziel eines solchen Unternehmens dürfte es daher nicht sein, einen weiteren, etwa auf Loewald und Stern basierenden Vorschlag zur intersubjektiven Neuschreibung der Ich-Genese zu entwerfen. Das Ziel einer solchen begrifflichen Befreiung läge darin, ihre beiden Ansätze einer weiteren Verwendbarkeit, einem Weiterdenken, zugänglich zu machen – und zwar eben ohne sich dabei ständig in die Debatten zwischen einer rekonstruktiv verfahrenden psychoanalytischen Theoriebildung einerseits, und einer empirisch-beobachtenden Säuglingsforschung andererseits, zu verstricken; ja, auch sie sprachlich zu öffnen für andere Disziplinen. Vor diesem Hintergrund erweisen sich gerade einige Spezifika von Freuds Ausgangsüberlegung als Schlüssel zur Aufhebung der gröbsten Widersprüche sowie zur Untermauerung der wichtigsten Übereinstimmungen zwischen Loewald und Stern. So wie Loewald und Stern nämlich letztlich ihren inhaltlichen Ausgangspunkt bei Freuds Rekonstruktion der Genese des Ich-Gefühls aus dem ›Ozeanischen‹ haben, so findet sich in der dort verwendeten assoziationsreichen Sprache Freuds ausgerechnet auch ihre begriffliche Schnittmenge; in ihr liegt der Schlüssel zum begrifflich kleinsten gemeinsamen Nenner Loewalds und Sterns. Es lohnt sich also, Loewald und Stern noch einmal mit Freud zu konfrontieren. Unvereinbar miteinander werden Loewald und Stern nämlich paradoxerweise immer dort, wo sie sich zu weit von Freud entfernt haben; im Fall Loewalds also da, wo er trotz all seiner vorsichtigen Distanzierungen ein zu sehr an Mahler orientiertes symbiotisches Konzept der Mutter-Kind-Beziehung vertritt,57 welches eine desto stärkere Fixierung auf den Differenzierungsprozess als Movens der Ich-Entwicklung mit sich bringt. In der Folge betont er einseitig die konturierenden und Konturen verwischenden Qualitäten von Prozessen bei der Genese des Ich. Zwangsläufig geraten ihm so die extrapsychischen Dimensionen des Miteinanders und des Gegeneinanders aus dem Blick, die Stern wiederum überbetont (›self-with-other‹, ›self-versus-other‹). Sterns Schwäche liegt allerdings genau dort, wo er sich jedem Denken verweigert, das auf ein Verwischen von Ich-Konturen hinausläuft, also dort, wo er sich zu der Position versteigt, Intersubjektivität müsse immer mit klarer Ich-Abgrenzung vom Anderen und der Umwelt einhergehen. In der Folge betont er allenfalls die Gemeinschaft mit dem Anderen58

57 58

Vgl. z.B. Hans W. Loewald, »Triebtheorie, Objektbeziehungstheorie und psychische Strukturbildung«; in: ders., Psychoanalyse: Aufsätze aus den Jahren 1951-1979, a.a.O., S. 193-202. Vgl. Daniel Stern, Die Lebenserfahrung des Säuglings, a.a.O., S. 146-178.

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– und nicht das Gemeinsame mit dem Anderen. Denn das Gemeinsame ist transpersonal, Personen übergreifend, die Grenzen von Selbst und Anderem überschreitend und dadurch Konturen verwischend: es ist maßlos. Wo also Stern besser geeignet scheint, die extrapsychischen Dimensionen von Intersubjektivität darzustellen (›self-versus-other‹, ›self-with-other‹), bietet Loewalds Ansatz ein tiefergehendes Verständnis der intrapsychischen Qualitäten (›differenzierend‹, ›entdifferenzierend‹) intersubjektiver Prozesse. Dabei ist die intersubjektive Prämisse, aus der heraus sie diese Ansätze entwickelt haben, dieselbe: Spezifische Formen von Intersubjektivität konstituieren spezifische Formen von Subjektivität. Der Unterschied zwischen ihren Konzepten liegt dabei weniger in der Sache, als auf der Ebene, auf der sie ansetzen: Stern fokussiert auf die Darstellung unterschiedlicher Aspekte, d.h. Dimensionen, intersubjektiver Prozesse; Loewald widmet sich der Darstellung unterschiedlicher Effekte, d.h. Qualitäten, intersubjektiver Prozesse. Freuds assoziationsreiche Sprache59 umschließt – und das ist bemerkenswert – noch beides: Dimensionen wie Qualitäten; was in seinen Umschreibungen des ›ozeanischen Gefühls‹ wie des ›Ich-Gefühls‹ deutlich zum Ausdruck kommt. Beispielsweise umschreibt er das ›ozeanische Gefühl‹ als: »EinsSein mit dem All«60 . Hinter dem ›Eins-Sein‹ verbirgt sich eine Dimension des Gemeinsamen61 , mit dem All ist wiederum eine maßlose Qualität konnotiert. Und auch wenn Freud 59

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Assoziationsreich ist Freuds Sprache immer dann, wenn er sich noch zu Beginn seiner Theoriebildung befindet. Die Begründung hierfür findet sich in Freuds Vorgehensweise bei der Begriffsbildung; diese lässt sich in etwa so beschreiben: Freud stößt auf ein empirisches Phänomen, dem er sich von mehreren gedanklichen Seiten scheinbar zwanglos nähert, um es näher zu bestimmen; dabei wählt er Metaphern, Assoziationen, Allegorien, um den Gegenstand auszuleuchten; schließlich knüpft er dieses Netz von lockeren gedanklichen Querverbindungen allmählich enger, um sich an erste begriffliche Formulierungen zu wagen; diese aber sind immer noch hoch assoziativ und beweglich in viele Richtungen; letzten Endes dann schnürt Freud seinen Begriff zu – im Abgleich mit seinen praktischen Erfahrungen und im Hinblick auf bisher erarbeitete theoretische Standpunkte – und gibt ihm so seine finale sprachliche Gestalt und inhaltliche Ausrichtung, welche sich beide jedoch nicht als unabänderlich erweisen, sollte sein Erkenntnisgang fortschreiten. Freud selbst erläutert seine Vorgehensweise bei der Begriffsbildung wie folgt: »Der richtige Anfang der wissenschaftlichen Tätigkeit besteht vielmehr in der Beschreibung von Erscheinungen, die dann weiterhin gruppiert, angeordnet und in Zusammenhänge eingetragen werden. Schon bei der Beschreibung kann man es nicht vermeiden, gewisse abstrakte Ideen auf das Material anzuwenden, die man irgendwoher, aber gewiß nicht aus der neuen Erfahrung allein, herbeiholt. […] Erst nach gründlicher Erforschung des betreffenden Erscheinungsgebietes kann man auch dessen wissenschaftliche Grundbegriffe schärfer erfassen und sie fortschreitend so abändern, daß sie in großem Umfange brauchbar und dabei durchaus widerspruchsfrei werden. Dann mag es auch an der Zeit sein, sie in Definitionen zu bannen. Der Fortschritt der Erkenntnis duldet aber keine Starrheit der Definitionen. Wie das Beispiel der Physik in glänzender Weise lehrt, erfahren auch die in Definitionen festgelegten ›Grundbegriffe‹ einen stetigen Inhaltswandel.« Sigmund Freud [1915], Triebe und Triebschicksale, GW 10, S. 210 f, zitiert nach Hans W. Loewald; in: ders., »Primärprozeß, Sekundärprozeß und Sprache«, a.a.O., S. 179f. Sigmund Freud [1929-1930], »Das Unbehagen in der Kultur«, a.a.O., S. 39. Vgl. zur Bedeutung des ›Gemeinsamen‹ in intersubjektiven theoretischen Ansätzen generell auch Bohlebers Auseinandersetzung mit den Konzeptionen Stolorows, Atwoods, Oranges und Sterns, in: Werner Bohleber, »Intersubjektivismus ohne Subjekt? Der Andere in der psychoanalytischen Tradition«; in: Martin Altmeyer/Helmut Thomä (Hg.), Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse, a.a.O., S. 205-209f.

1. Unermessliche Weiten – Ozeane des Maßlosen

das Ozeanische versteht im Sinne eines »umfassenderen, ja – eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit mit der Umwelt entsprach«62 , findet sich eine Dimension des Gemeinsamen in der ›innigeren Verbundenheit‹ und eine maßlose Qualität im ›umfassenderen‹ und ›allumfassenden‹. An anderer Stelle verwendet Freud die Umschreibung: »Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen der Außenwelt.«63 Die Dimension des Gemeinsamen findet sich in der ›Zusammengehörigkeit‹, ihre maßlose Qualität in der Zuordnung zum ›Ganzen der Außenwelt‹. Eine Dimension des Gemeinsamen, welche stets von maßloser Qualität ist, konstituiert also Freuds ›ozeanisches Gefühl‹. Wenn Freud sich aber auf das Gegenstück zum ›ozeanischen Gefühl‹ bezieht, spricht er von einem »enger und schärfer umgrenzten Ich-Gefühl«64 . Dieses Ich-Gefühl hat laut Freud eine Außenwelt von sich abgeschieden;65 nichts an »Unbegrenztem, Schrankenlosem«66 ist mehr in ihm. Es ist geprägt von Grenzziehungen, nicht von Grenzenlosigkeit.67 »Unser heutiges Ichgefühl ist also ein eingeschrumpfter Rest eines weit umfassenderen, ja – eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit […] entsprach.«68 Es entbehrt damit der »Unbegrenztheit und Verbundenheit«69 : Notwendig ist es bemessen und einsam.  

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Sigmund Freud [1929-1930], »Das Unbehagen in der Kultur«, a.a.O., S. 34f. Ebd., S. 32. Ebd., S. 35. Vgl. ebd., S. 34. Ebd., S. 31. Athanasios Karafillides setzt interessanterweise das Phänomen der Grenze in einen Kontext des Verbindens und Trennens und betont, dass diese Anschauungsweise (man denke dabei auch an Freuds oben wiedergegebene Ausführungen) in der Wissenschaft grundsätzlich keine unbekannte sei: »Aus formaler Sicht erweist sich der Vorgang (die Operation) des Trennens-und-Verbindens als entscheidender Punkt, um den herum eine Theorie der Grenze gebaut werden kann und der überdies einen Ausgangspunkt für eine auf Relationen setzende Soziologie liefert. […] Die Charakterisierung von Grenzen als etwas Trennendes und Verbindendes ist in den Sozialwissenschaften alles andere als unbekannt. […] Man stellt dabei fest, dass die Idee des Trennens-und-Verbindens, beziehungsweise der Entkopplung und Kopplung, in fast allen Untersuchungen zu Organisationsgrenzen auftaucht. […] Grenzen sind entkoppelte Kopplungen.« In: ders., »Grenzen und Relationen«; in: Jan Fuhse/Sophie Mützel (Hg.), Relationale Soziologie. Zur kulturellen Wende der Netzwerkforschung, Wiesbaden 2010, S. 83f. Und weiter, ebd., S. 86: »Der Raum der Grenze ist ein relationaler Raum, ein eigenständiges Netzwerk von Relationen […]«. Dabei treten die Bezüge auch zur Netzwerktheorie Harrison C. Whites ganz offen hervor; denn dieser schreibt: »Networks are phenomenological realities as well as measurement constructs […]. Coupling describes the way which different parts of social structure are interlinked to work together, whereas decoupling designates the processes that lead each part to deal with some aspects of the ›work‹ and ignore others. [Hervorhebung durch White]« In: ders., Identity & Control. How Social Formations Emerge, Princeton 2008. Und nicht zuletzt schreibt Rainer Funk in seinem Kapitel »Grenzen des entgrenzten Menschen«; in: ders., Der entgrenzte Mensch. Warum ein Leben ohne Grenzen nicht frei, sondern abhängig macht, Gütersloh 2011, S. 166-187, auf S. 174: »[…] Gefühle, die mit Bindung und Trennung einhergehen, sind wichtige Antriebskräfte für das Beziehungs- und Selbsterleben [Eig. Hervorhebung]« und spricht in diesem Zusammenhang von »Bindungskräften« und »Trennungskräfte[n]«, ebd., S. 166 und S. 172. Sigmund Freud [1929-1930], »Das Unbehagen in der Kultur«, a.a.O., ebd., S. 34f. Ebd., S. 35.

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Zur intersubjektiven Neuformulierung der Ich-Konturierung, oder: Maßloses Selbst, bemessenes Ich – Über das ›Eintauchen in‹ und ›Auftauchen aus‹ dem Gemeinsamen ■ Ein erster Vorschlag zur begrifflichen Klärung nähme sich also so aus: Während eine Dimension des Gemeinsamen von maßloser Qualität einerseits intersubjektive Prozesse kennzeichnet, so eignet diesen andererseits auch eine Dimension des Einsamen, welche von bemessender Qualität ist. Und: Während das Gemeinsame und Maßlose die verbindenden Aspekte von Interaktion und Kommunikation bezeichnen, so verdeutlicht das Einsame und Bemessende deren auch trennende Möglichkeiten.70,71,72 Permanent erzeugen sie Aspekte des Ichs in Beziehung zum Anderen, lösen diese in Teilen wieder auf, gruppieren sie neu, und wandeln sie. Metaphorisch gesprochen: verflüssigen Bereiche des Ichs in Dimensionen des Gemeinsamen; oder verfestigen sie, bis hin zum Einsamen; oder verflüssigen und festigen im Wechsel. Die Dimension des Einsamen im intersubjektiven Prozess fände ihre Entsprechung in der Vorstellung bemessener Ich-Aspekte; diese gingen hervor aus etwas, das sich vielleicht am ehesten als maßloses Selbst bezeichnen ließe. Dieses maßlose Selbst läge jenseits der Persönlichkeit, des Ich; im Gemeinsamen und Allgemeinen;73 wäre mehr virtu-

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Bezogen auf eine Zitation von Robert E. Park und Ernest W. Burgess (»The expression ›different universes of discourse‹ indicates how communication seperates as well as unites persons and groups«; in: dies. [1921], Introduction to the Science of Sociology, 2. Aufl., Chicago 1924, zitiert nach Reiner Keller) begegnet bei Reiner Keller die Formulierung »Kommunikation kann deswegen sowohl Verbindungen stiften wie auch Trennlinien errichten«. In: ders., »Kommunikative Konstruktion und diskursive Konstruktion«; in: Reiner Keller, Jo Reichertz/Hubert Knoblauch (Hg.), Kommunikativer Konstruktivismus. Theoretische und empirische Arbeiten zu einem neuen wissenssoziologischen Ansatz, Wiesbaden 2013, S. 82. Die Begriffe ›verbindende Kommunikation‹ und ›trennende Kommunikation‹ wiederum finden zudem seit langem (im auch populärwissenschaftlichen Sprachgebrauch) im pädagogischen und (nicht psychoanalytisch-, sondern eher psycho-)therapeutischen Umfeld der Anhänger von Therapiekonzepten Marshall B. Rosenbergs als Synonyme für ›gewaltfreie‹ bzw. ›gewalttätige‹ Kommunikation eine breite Verwendung. Vgl. dazu die Zusammenfassung dieser Konzeption etwa in: David Ginati, Nachhaltige Beziehungsgestaltung durch gewaltfreie Kommunikation (GFK), veröffentl. Vortragsmanuskript., 2017, URL: https://www.uni-osnabrueck.de/fileadmin/documents/public/1_universitaet/1.3_uni_im_ueberblick/zentrum_fuer_lehrerbildung/ekbi/16_01_ 2017_Inklusion_Theorie_Praxis.pdf; letzter Zugriff: 27.02.2019. Sicherlich bieten die Termini verbindende wie trennende Kommunikation und Interaktion aber auch deutliche Bezugspunkte zu einem Sprachverständnis, wie es Angelika Ebrecht zum Ausdruck bringt, wenn sie (in dem bezeichnenderweise mit »Die symbolische Erzeugung des Anderen und der Welt« überschriebenen Kap.) schreibt: »Denn Sprache muss synthetisieren und selegieren, also zusammenfassen und ausschließen, sie muss Abwesenheit herstellen und (mit Heidegger gesagt) ins Anwesen rufen […]. [Eig. Hervorhebungen]« In: dies., Die Seele und die Normen. Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik, a.a.O., S. 56. Und ebd., S. 51, noch deutlicher, in Rekurs auf Freuds Ausführungen zur Verknüpfung der Sachvorstellungen mit den Worten: »Worte, so lässt sich Freuds […] Gedankengang zusammenfassen, trennen und verbinden, differenzieren und vergleichen die Vorstellungen. [Eig. Hervorhebung]« Vgl. dazu auch Thomas H. Ogdens Verständnis der intersubjektiven Situation als eine, die Subjektivität potenziell transzendiert, insbesondere im Fall projektiver Identifizierung: »Man wird als Subjekt zu einem anderen und erfährt sich (bzw. den, der man gerade im Begriff ist zu werden) vermittels der Subjektivität des anderen […]. Beide Subjekte […] versuchen unbewusst, ihre Gren-

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ell, denn real; und das Ich stellte sich dar, als manifest gewordenes Selbst. Die Konturierung des Ichs vollzöge sich dann im Wechsel aus ›Auftauchen‹ und ›Wiedereintauchen‹ ins maßlose Selbst; als, um noch einmal die Metaphorik des Flüssigen heranzuziehen, Verflüssigung und Verfestigung eigener Aspekte im Austausch mit dem Anderen. Dieser Andere müsste nicht einmal konkret sein, anwesend; allein schon seine abstrakte, bloß gewusste – erinnerte, vorgestellte oder perzipierte – Gegenwart reichte aus, um dem Ich den gemeinsamen Raum darzubieten, den es zum Eintauchen ins maßlose Selbst und damit zum Wandel benötigt.

1.2.

Intersubjektiver Prozess und relationale Formation

Prolog: Begehren, gemeinsam ■ Das Gemeinsame ist zuallererst eine Bewegung – eine Bewegung miteinander, aufeinander zu. Die maßlose Qualität des Gemeinsamen ergibt sich damit aus dem Überschreiten der eigenen Grenze zum Anderen hin. Das Medium, in dem diese Bewegung sich vollzieht ist verbindende Kommunikation und Interaktion. Verbindende Kommunikation und Interaktion basiert auf einer Vielzahl vielgestaltiger Variationen des Gemeinsamen und produziert eine solche wiederum. Den Anstoß zur Bewegung aber gibt das Begehren. Levinas setzt dem Begehren nach dem Anderen die ›Sorge um sich selbst‹ entgegen. Im Begehren »richtet sich das Ich auf den Anderen, so gefährdet es die selbstherrliche Identifikation des Ich mit sich selbst […].«74 Die Begegnung mit dem Anderen birgt demnach immer schon eine Aufforderung, die das Ich aus seiner Ruhe reißt: das Begehren ist Bewegung; es verunmöglicht das Verharren bei sich selbst. Das Begehren eröffnet das Gemeinsame, es erschüttert das einsame Ich. Es ist maßlos, denn es reißt das Ich aus seiner Bemessen- und Vermessenheit. So stiftet die Bewegung zum Anderen hin, die im Begehren liegt, ein maßlos Gemeinsames, das nicht greifbar ist, ein Virtuelles, das dennoch konkret sich auswirkt aufs Ich – denn es macht es zum maßlosen Selbst: »Die Beziehung zum Anderen stellt mich in Frage, sie leert mich von mir selbst; sie leert mich unaufhörlich, indem sie mir unaufhörlich neue Quellen entdeckt. Ich wußte nichts von meinem Reichtum, aber ich habe nicht mehr das Recht etwas festzuhalten.«75 Quellen, die fließen, unaufhörlich, die nicht festgehalten werden können, die leeren und dabei zugleich einen Reichtum offenbaren: Das sind Levinasʼ Begriffe für das Maßlose, das immer aus dem Gemeinsamen strömt. Das Gemeinsame ist das Überfließende, das Unendliche des Begehrens. Dabei ist es paradoxerweise kein Zuviel, sondern immer ein Zuwenig: ein Zuwenig an Gemeinsamen. Das Maßlose ist Ausfluss eines Gemeinsamen, das immer entbehrt und daher immer begehrt. Das Begehren ist unendlicher, nie zu stillender, Hunger: ein Hungern nacheinander, miteinander, nach etwas; gemeinsam und

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zen und damit ihr eigenes Selbst zu überwinden (zu negieren). Und indem sie das tun, schaffen sie Raum für die Erzeugung einer neuartigen Form von Subjektivität, für ein Ich-Gefühl, das jeder Einzelne für sich selbst und isoliert vom anderen nicht hätte hervorbringen können.« In: ders., »Das analytische Dritte, das intersubjektive Subjekt der Analyse und das Konzept der projektiven Identifizierung«; in: Martin Altmeyer/Helmut Thomä (Hg.), Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse, a.a.O., S. 58. Emmanuel Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München 1983, S. 219. Ebd., S. 219f.

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maßlos.76 Verschließt sich das bemessene Ich der Beunruhigung, die in diesem Begehren liegt, verwehrt es das Begehren – so verkehrt es eigentlich die Bewegung zum Anderen hin, die sich darin ausdrückt, und richtet sie auf sich: dreht sich um sich, in sich selbst; steht still, einsam und bemessen. Die bemessende Qualität des Einsamen gründet so im Verharren bei sich selbst. Das Medium in dem dieses Verharren sich gestaltet, ist trennende Kommunikation und Interaktion. Trennende Kommunikation und Interaktion reduziert gemeinsame Virtualitäten immerfort auf immer enger gezogene und konkreter definierte Formen des Einsamen. Das bemessene Ich verschließt sich so dem maßlosen Selbst, welches immer hinüberreicht ins Gemeinsame mit den Anderen und mit der Welt. Im maßlosen Selbst verwischen die Grenzen zum Ich, zum Anderen und zur Welt; es ist ein Hinausgehen über sich; es ist Bewegung, Dynamik, die aus dem Begehren kommt. Im bemessenen Ich resultiert das Verwehren von Begehren in der Verkehrung von Bewegung; im Verharren, im Erstarren, in Statik. Maßloses Selbst wie bemessenes Ich sind subjektive Effekte intersubjektiver Aspekte: des maßlos Gemeinsamen, wie des bemessen Einsamen. Das eine bewegt unendlich, das andere will endlich unbewegt sein. Das eine zieht an; das andere stößt ab. Beides sind relationale Phänomene – komplementäre Kräfte im intersubjektiven Prozess. Jegliche Version eines intersubjektiven Prozesses, der im Kern immer die Begegnung eines Ichs mit einem anderen Ich ist, entfaltet sich so als komplexes Wechselspiel aus verbindender wie trennender Kommunikation und Interaktion. Dimensionen des Gemeinsamen wie des Einsamen, maßlose und bemessende Qualitäten, formen die Relationen von Ich und anderem Ich. Formierungen wie Transformationen des psychi-

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Emmanuel Levinas: »In einer Szene aus Schuld und Sühne spricht Dostojewski im Hinblick auf Sonja Marmeladowa, die den Raskolnikow in seiner Verzweiflung beobachtet, von ›unersättlichem Mitleid‹. Er sagt nicht ›unerschöpfliches Mitleid‹. Als ob das Mitleid von Sonja für Raskolnikow ein Hunger wäre, den Raskolnikows Gegenwart über alle Sättigung hinaus ernährte und ins Unendliche steigerte.« In: ebd., S. 220.

1. Unermessliche Weiten – Ozeane des Maßlosen

schen wie des sozialen Raumes77 erweisen sich so als Bewegungen und unterlassene Bewegungen von Subjekten im Medium von Kommunikation und Interaktion.   Vergesellschaftung bei Freud: Freuds Triebtheorie und das ›Unbehagen in der Kultur‹ ■ Das Movens jeglicher psychosozialen Dynamik bildet bei Freud der Trieb.78 Dabei ist der Trieb zunächst einmal nichts als das Synonym für eine Bewegung, eine Dynamik, die zum Ziel hat, eine Reizwirkung aufzuheben bzw. ein Bedürfnis zu befriedigen. Ein subjektphilosophisch grundiertes Spezifikum der freudschen Triebtheorie ist es, dieses Movens zu denken als innere Kraft, die aus dem Individuum drängt und sich äußert in

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Das auf Pierre Bourdieu zurückgehende Konzept des sozialen Raums wird von Sighard Neckel in einer zusammenfassenden Abstraktion folgendermaßen skizziert: »Zunächst fällt in den Schriften von Bourdieu auf, dass der Begriff des ›Raumes‹ vielfach in Zusammenhängen gebraucht wird, in denen wir konventioneller Weise den Begriff der ›Gesellschaft‹ erwarten würden. […]. Im Unterschied dazu ist Bourdieus Theorie stärker daran interessiert, wie und mit welchen Konsequenzen Akteure tatsächlich miteinander interagieren, sich voneinander abgrenzen oder miteinander kooperieren, und dadurch erst jene soziale Verbindungen in ihrer konkreten Praxis herstellen, die im Gesellschaftsbegriff stets schon als gegeben vorausgesetzt werden. [Unter Verweis auf Eva Barlösius, Kämpfe um soziale Ungleichheit. Machttheoretische Perspektiven, Wiesbaden 2004, S. 118-185, durch Neckel] Dies ist der Grund, weshalb er mit seiner Theorie des ›sozialen Raumes‹ eine Art Sozialtopologie entwickelt hat, um mittels sozialräumlichen Analysen aufzeigen zu können, welchen Platz innerhalb sozialer Beziehungen jedes einzelne Element im Verhältnis zu anderen Elementen hat. Erst aus diesen Beziehungsmustern heraus ergibt sich dann eine bestimmte Sozialordnung, deren verdinglichter Begriff gewissermaßen jener der ›Gesellschaft‹ ist. Stattdessen ist es der Raumbegriff in Bourdieus Theorie, der die zentrale Kategorie darstellt, mit der soziale Beziehungen, Prozesse und Strukturen umfassend erklärt werden. [Eig. Hervorhebungen]« In: Sighard Neckel, »Felder, Relationen, Ortseffekte: Sozialer und physischer Raum«; in: Moritz Csáky/Christoph Leitgeb (Hg.), Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem ›Spatial Turn‹, Bielefeld 2009, S. 47f. Siehe dazu (wie als Verweis von Neckel gegeben): Pierre Bourdieu, »Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum«; in: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume, Frankfurt a.M./New York 1991, S. 25-34; sowie: Pierre Bourdieu: »Ortseffekte«; in: ders. et al., Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997, S. 159-167. Vgl. dazu aber auch: Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und ›Klassen‹. Zwei Vorlesungen. Leçon sur la leçon, Frankfurt a.M. 1985. Mehr aber als Bourdieus Konzept des sozialen Raums darf die von Neckel gegebene Abstraktion der hier in dieser Arbeit verwendeten Formulierung vom ›sozialen Raum‹ als (frei weiter zu denkende und auf andere Theoreme zu beziehende) zugrunde liegend betrachtet werden. Zudem können mit dem von Bourdieu gegebenem feldtheoretischen Instrumentarium netzwerktheoretische Konzepte im strengeren Sinn nicht vollgültig in sein Konzept vom sozialen Raum integriert werden. Vgl. zur Problematik der Feldtheorie an sich bei Bourdieu auch: Markus Schwingel, Pierre Bourdieu zur Einführung, 5. Aufl., Dresden 2005, S. 103f. Die Vorstellung vom Trieb als ›Movens‹ dürfte letztlich auch hinter einer Formulierung von Karola Brede stehen, die die Liebe als ›Movens‹ bezeichnet, in: dies., »Liebe als Movens privater Lebensformen. Anmerkungen zur Familiensoziologie«; in: Hans-Joachim Busch/Angelika Ebrecht (Hg.), Liebe im Kapitalismus, Gießen 2008, S. 113. Aber auch die Assoziation des An-Triebs ist sprachlich dem Begriff des Triebes ja schon immanent. Kurz: Der Trieb ist, versteht man ihn wie Freud, Ursache jeglicher psychosozialen Dynamik. Alle Bewegung ist nur sein Ausdruck und Widerhall. Ganz in diesem Sinn dürfte auch Hartmut Rosa den »attraktiven« oder »repulsiven« Charakter von »Weltbeziehungen« verstehen, denn er schildert ihn in der Entgegensetzung von »Angst und Begehren« (aber ohne echten Brückenschlag zum klassischen Triebbegriff Freuds). In: ders., Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, a.a.O., S. 187.

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der Welt: Leibgebundene Bedürfnisse nötigen die Psyche zu einer Arbeitsleistung, und verändern so auch die soziale Umwelt. Das ist die klassische Art und Weise, wie Freud Physis, Psyche und Soziales ineinander verschränkt. Am einen Endpunkt findet sich das innerste Wesen des Individuums, am anderen Endpunkt die äußere Welt. Das Innerste des Individuums begegnet in Freuds Triebkonzeption als das Es, welches letztlich den Widerpart zu den über das Über-Ich internalisierten äußeren Normen darstellt. Das bewusste Ich schließlich fungiert als Mittler äußeren Sollens und inneren Wollens. Triebe sind dabei diejenigen Dynamiken, die aus dem Innersten direkt oder indirekt in mannigfachen Formen auf äußere Widerstände einwirken. In dieser Konzeption spiegelt sich abermals die Einseitigkeit subjektivistischen Denkens, welches allein die Bezugnahme vom Subjekt aufs Objekt zum paradigmatischen Ausgangspunkt nimmt, und nicht die beidseitige Beziehung zwischen Subjekt und Subjekt. Unübersehbar bleibt dennoch, dass hier erstmals psychischer und sozialer Raum schlüssig ineinander verwoben werden. Physis, Psyche und Soziales bilden verschiedene strukturelle Ebenen, die ein dynamisches Movens verbindet: der Trieb. Zweifellos offenbart sich an Freuds Triebtheorie aber auch die stringente innere Logik seiner Gesamtkonzeption: Ähnlich wie er die Genese des Ich-Gefühls aus dem ›Ozeanischen‹ beschreibt als evolutionären Prozess leibgebundener Erfahrungen von Bedürfnissen und Bedürfnisbefriedigung an deren Ende ein Ich steht, welches gelernt habe sich von einer Umwelt abzugrenzen – so beschreibt er Triebe als Dynamiken zur Verminderung von leibgebunden gedachten, bedürfnisgeleiteten Reizspannungen, in deren Konsequenz das Innere des Individuums sich in ein Verhältnis setzt zur äußeren Welt. Beispielsweise gelangte Freud (wie er in einem Rückblick auf die einzelnen Entwicklungsstufen seines Triebmodells selbst ausführt)79 zur Charakterisierung des Eros als primären Lebens- und Liebestriebs zunächst einmal über die Betrachtung der wichtigsten körperlichen Bedürfnisse zur Selbsterhaltung sowie zur Erhaltung der Art: Nahrung und Sexualität. Hunger und Liebe wurden für Freud so zum Synonym des Triebs schlechthin, zum Urbild triebhaften Lebens. Während das Bild des Hungers steht für alle lebensnotwendigen Bedürfnisse, die der Erhaltung des Individuums dienen, steht das der Liebe symbolisch für alle auf ›Objekte‹ gerichteten libidinösen Bestrebungen des Subjekts.80 Ich-Triebe einerseits, und Objekttriebe andererseits subsumiert Freud in der Folge unter dem Begriff des Eros. Begriffen als Lebens- und Liebestrieb, umfasste der Eros damit alle Triebanstrengungen, die auf die Erhaltung des Lebens im Allgemeinen zielten. In mehreren konzeptionellen Schritten gelangt Freud allerdings zu der Auffassung, dass innerhalb des Eros nicht nur die Objekttriebe, sondern auch die Ich-Triebe als libidinös vermittelt gelten müssen: »Entscheidend wurde hier die Einführung des Begriffes Narzißmus, d.h. die Einsicht, daß das Ich selbst mit Libido besetzt ist, sogar deren ursprüngliche Heimstätte sei und gewissermaßen auch ihr Hauptquartier bleibe. Diese narzißtische Libido wendet sich den Objekten zu, wird so zur Objektlibido und kann sich in narzißtische Libido zurückverwandeln.«81 79 80 81

Vgl. Sigmund Freud [1929-1930], »Das Unbehagen in der Kultur«, a.a.O., S. 80ff. Vgl. ebd., S. 81f. Ebd.

1. Unermessliche Weiten – Ozeane des Maßlosen

Freud formuliert hier einen Subjekt-Objekt-Bezug, der sich aufgrund seines spezifischen Triebverständnisses auszeichnet als in hohem Maße dynamisches Geschehen. Die Libido, als Bezeichnung der Triebenergie des Eros, fungiert hier vermittelnd zwischen innerer und äußerer Welt. Allerdings drängt sich Freud die Einsicht auf, »daß die Triebe nicht alle von gleicher Art sein können«82 : Nicht jede Triebenergie könne als libidinöse, im Sinne eines auf Lebenserhaltung zielenden Liebesstrebens, begriffen werden. Er sah sich daher genötigt, neben dem produktiven Lebens- und Liebestrieb einen generell destruktiven Trieb anzunehmen; den Todestrieb, oder: Thanatos.83 Dieser Trieb war gedacht als einer, der zum Zweck der gänzlichen Aufhebung jeglicher Reizspannung sich gegen das Leben selbst richtete und letztlich auf eine Überführung alles Organischen ins Anorganische hinwirkte. Die Annahme eines derartigen Todestriebs verleitet Freud zu einem Abgleich mit seiner Konzeption von narzisstischer und Objektlibido, in welcher er Innen- und Außenwelt als dynamisch vermittelt durch die Triebtätigkeit des Eros bestimmt hatte. In dieser Konzeption verortet er den Todestrieb folgendermaßen: »Nun war es nicht leicht, die Tätigkeit dieses angenommen Todestriebs aufzuzeigen. Die Äußerungen des Eros waren auffällig und geräuschvoll genug; man konnte annehmen, daß der Todestrieb stumm im Inneren des Lebewesens an dessen Auflösung arbeitete, aber das war natürlich kein Nachweis. Weiter führte die Idee, daß sich ein Anteil des Triebes gegen die Außenwelt wende und dann als Trieb zur Aggression und Destruktion zum Vorschein komme. Der Trieb würde so selbst in den Dienst des Eros gezwängt, indem das Lebewesen anderes, Belebtes wie Unbelebtes, anstatt seines eigenen Selbst vernichtete. Umgekehrt würde die Einschränkung dieser Aggression nach außen die ohnehin immer vor sich gehende Selbstzerstörung steigern müssen. Gleichzeitig konnte man aus diesem Beispiel erraten, daß die beiden Triebarten selten – vielleicht niemals – voneinander isoliert auftreten, sondern sich in verschiedenen, sehr wechselnden Mengungsverhältnissen miteinander legieren und dadurch unserem Urteil unkenntlich machen. Im längst als Partialtrieb der Sexualität bekannten Sadismus hätte man eine derartige besonders starke Legierung des Liebesstrebens mit dem Destruktionstrieb vor sich, wie in seinem Widerpart, im Masochismus, eine Verbindung der nach innen gerichteten Destruktion mit der Sexualität, durch welche die sonst unwahrnehmbare Strebung eben auffällig und fühlbar wird.«84 Freud kommt so von der Annahme einer wohl qualitätslosen Triebenergie, die lediglich allgemein dazu imstande ist, Reizspannungen aufzuheben und somit Bedürfnisse zu befriedigen, zu der Überlegung, diese Triebenergie müsse imstande sein, sich mit einem konstruktiven oder einem destruktiven Impuls zu verbinden85 ; mehr noch: der 82 83 84 85

Ebd., S. 82. Vgl. ebd. Ebd., S. 82f. Schon Marcuse plädiert für die Betrachtungsweise, dass Eros und Thanatos nicht verschiedene Kräfte sind, sondern allenfalls konstruktiv oder destruktiv wirkende Gestaltungen ein- und derselben Kraft. Herbert Marcuse, unter Berufung auf Überlegungen Fenichels und Freuds: »Die Frage nach dem gemeinsamen Ursprung der zwei Grundtriebe kann nicht länger zum Schweigen gebracht werden. Fenichel wies darauf hin, daß Freud selbst einen entscheidenden Schritt in diese Richtung

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destruktive könne in Diensten des Konstruktiven stehen. So zeichnet Freud das Bild einer Triebstruktur, die sich grundsätzlich durch höchst ambivalente Ver- und Entmischungen qualitativ unterschiedlicher Triebenergien auszeichnet, welche sich zudem stärker nach innen bzw. nach außen wenden können. In der Konsequenz stellt sich sicher die Frage, welche Mechanismen es denn sind, die eine Modifikation der Triebenergie bewirken bzw. das Verhältnis von Eros und Thanatos definieren. Eine Antwort deutet sich an in der Weise, wie Freud grundsätzliche Gesetzmäßigkeiten der Erfüllung wie der Hemmung von Triebdynamiken beschreibt. Ähnlich seiner Rekonstruktion der Genese des Ich-Gefühls aus dem ›Ozeanischen‹ bringt Freud hierbei die Bedeutung von Lust- und Unlustempfindungen ins Spiel; und zwar in Form des Lust- und des Realitätsprinzips. Während Freud mit dem Begriff des Lustprinzips alle Triebdynamiken fasst, die augenblicklich und ohne Umwege zur Befriedigung gelangen, beschreibt er mit dem Begriff des Realitätsprinzips diejenigen Dynamiken, die aufgrund äußerer oder innerer Zwänge einem Aufschub der Befriedigung ausgesetzt sind. Jenen triebrepressiv wirkenden Zwängen wiederum entsprechen die diversen Strategien des psychischen Apparates zur Triebmodifikation, die zugleich als Schlüsselbegriffe der klinischen Psychoanalyse fungieren: Projektion, Identifikation, Verdrängung, Sublimierung.86 Dabei handelt es sich um Prozesse der Triebabwehr, die nicht nur mit Veränderungen hinsichtlich des Triebzieles einhergehen, sondern in gewisser Weise auch qualitative Veränderungen der Triebenergie selbst bewirken. Die Verkehrung eines Triebes ins Gegenteil beispielsweise lasse sich in zwei Vorgänge scheiden: in die Wendung eines Triebes vom Aktiven ins Passive und in seine inhaltliche Verkehrung, also qualitative Verwandlung.87 »Ein Beispiel für inhaltliche Verkehrung wäre Verwandlung des Liebens in Hassen; die Wendung von Aktivität zur Passivität zugleich mit der Wendung gegen die eigene Person wird beim Übergang von Sadismus und Masochismus […] beobachtet. […] Aus der ›Quälsucht‹ werde ›Selbstquälerei, Selbstbestrafung‹ […].«88 Hier kommt also zu einer Verkehrung einer Triebregung ins Gegenteil zusätzlich noch die Wendung gegen die eigene Person hinzu, was einer Ersetzung des fremden Objekts durch das eigene Ich gleichkommt. In diesem Beispiel deuten sich Prozesse der Introjektion oder Projektion an, wie auch die grundlegende Verwandlung von Liebe in Hass, welche einem qualitativen Wandel des Verhältnisses von Eros und Thanatos in Bezug auf ein Objekt gleichkommt. Eine etwas anders gelagerte Form der Triebabwehr wiederum wäre die Verdrängung. Diese besonders repressive Strategie der Triebkontrolle bedingt eine rigidere psychische Strukturierung, insofern Verdrängungsmechanismen auf einer extremen Trennung von Be-

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getan hat, als er eine verschiebbare Energie annahm, die an sich ›qualitätslos‹, aber imstande ist, sich mit einem erotischen oder mit einem destruktiven Impuls zu vereinen – mit dem Lebens– oder dem Todestrieb [Hervorhebungen durch Marcuse].« In: ders., Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Stuttgart 1957, S. 35. [Anm.: Später erschienen unter dem Titel Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud.] Vgl. dazu: ebd., S. 19f. Vgl. Thomas Köhler, Das Werk Sigmund Freuds, Bd. 2, Sexualtheorie, Trieblehre und Metapsychologie, Heidelberg 1993, S. 165. Ebd., S. 165.

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wusstem und Unbewusstem gründen89 – mit allen sich daran anschließenden Folgewirkungen. Denn Verdrängung (als Phänomen der Unbewusstmachung und der damit verbundenen kontinuierlichen Anstrengung, Bewusstwerdung fernzuhalten) bringe eine ganze Reihe problematischer Implikationen mit sich. Dazu schreibt Köhler (unter Bezugnahme auf Freud): »Der Trieb werde entweder ›ganz unterdrückt, so dass man nichts von ihm‹ auffinde, oder er ›komme als irgendwie qualitativ gefärbter Affekt zum Vorschein‹, oder er werde ›in Angst verwandelt‹«90 . Von der Verdrängung als Strategie der Triebabwehr dahingegen unterscheidet sich wieder deutlich die Sublimierung. Diese zeichnet sich aus durch Erhaltung der ursprünglichen Qualität der Triebenergie bei lediglich einer Verlagerung des Triebzieles (beispielsweise aus dem Bereich der Sexualität hinein in kulturelle Bereiche).91 Sublimierung galt Freud daher als psychisch und sozial produktivste Form der Triebmodifikation. Sie befähige das Individuum – ohne Preisgabe der seiner psychischen Strukturierung zugrunde liegenden Triebökonomie – zu enormer Vitalität und Schaffenskraft: »Die Triebsublimierung ist ein besonders hervorstechender Zug der Kulturentwicklung, sie macht es möglich, daß höhere psychische Tätigkeiten, wissenschaftliche, künstlerische, ideologische, eine so bedeutsame Rolle im Kulturleben spielen.«92 Klärend, in Bezug auf die Art und Weise wie Triebmodifikationen vonstatten gehen, wirkt zudem die Vergegenwärtigung der einzelnen Aspekte, in die Freud eine Triebhandlung im Allgemeinen zergliedert: Ausgehend von dem Reiz einer (somatischen) Triebquelle, erstreckt sich (unter psychischer Repräsentanzenbildung) der Drang des Triebes auf ein Triebobjekt, an dem das Triebziel (mit z.B. auch sozialen Folgewirkungen) zu verwirklichen gesucht werde.93 Die eben angeführten Phänomene Projektion, Identifikation, Verdrängung, und Sublimierung sind also Prozesse der Modifikation entweder der Triebenergie oder des Triebzieles, die sich vollziehen unter dem Druck, den die Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip auf die Triebstruktur ausübt. Diese Ersetzung des Lustprinzips (als Prinzip der ungehinderten Bedürfnisbefriedigung) durch das Realitätsprinzip (als Prinzip des Aufschubs der Bedürfnisbefriedigung) vollzieht sich auf verschiedenen Ebenen: einer individuellen, und einer letztlich gesellschaftlichen – nämlich sowohl über sozialisatorische Maßnahmen in der Entwicklung des einzelnen Menschen (Ontogenese) als auch über soziokulturelle und soziohistorische in der Entwicklung der Menschheit (Phylogenese).94 Dabei besteht die sozialisatorische Wirkung der Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip in durch Aufschub des Triebwunsches erzielten Triebmodifikationen, die eine individuelle psychische Struktur erschaffen, welche Realitätsprüfung, Vernunft, Urteilsfällung sowie die Unterscheidung zwischen gut und böse überhaupt erst ermöglicht – jedoch um den Preis des Verzichts auf das Glück des Augenblicks und die Erfüllung unmittelbarer Wünsche, welche von da an allein im Raum der Phantasie und in oftmals verzerrter 89 90 91 92 93 94

Vgl. ebd., S. 167. Ebd., S. 165. Vgl. ebd., S. 169f. Sigmund Freud [1929-1930], »Das Unbehagen in der Kultur«, a.a.O., S. 63. Vgl. Thomas Köhler, Das Werk Sigmund Freuds. Bd. 2, Sexualtheorie, Trieblehre und Metapsychologie, a.a.O., S. 174. Vgl. Herbert Marcuse, Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, a.a.O., S. 22.

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Form fortbestehen.95 Ihre soziokulturelle und soziohistorische Dimension dahingegen gewinnt die Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip vermittels ihrer zivilisatorischen Wirkung. Während das Lustprinzip für augenblickliche und unmittelbare Erfüllung des Triebwunsches steht (und damit für absolute Freiheit, in ihren positiven wie negativen Konsequenzen), kristallisiert sich das Realitätsprinzip heraus als Aufschub spontaner Erfüllung (zugunsten von Sicherheit und Dauer). Der Verzicht auf unmittelbare Erfüllung, den das Realitätsprinzip dem Individuum abverlangt, wiederum bereitet einer Triebstrukturierung den Boden, in deren Folge Arbeit, als Phänomen der Bewältigung innerer wie äußerer Natur, überhaupt erst möglich wird. Während Freud jedoch zunächst einmal die Wurzeln des Realitätsprinzips in der ›Ananke‹, der Lebensnot (also vor allem in der Knappheit an materiellen Gütern oder an Möglichkeiten in der äußeren Natur) sah, und damit die Forderungen vor die das Realitätsprinzip die innere Natur des Menschen stellte als unabwendbare betrachtete, betont er in seinen späteren kulturkritischen Schriften stärker die auch kulturelle Dimension des Realitätsprinzips, welche in Form von Tabus oder Normen diverse gesellschaftlich gewünschte Triebmodifikationen seitens des Individuums erzwingt. Bekanntlich war es daran anschließend Marcuse, der argumentierte, dass Gesellschaftsordnungen die natürliche Knappheit der Güter und Möglichkeiten aufgrund von Herrschaftsansprüchen künstlich zusätzlich zu verknappen in der Lage wären, und damit das Realitätsprinzip unnötig und bis zur Unerträglichkeit verschärften.96 Diese über Freud hinausweisende Gedankenbewegung scheint allerdings gerechtfertigt durch Freuds eigene permanente Bezugnahme auf die soziale Außenwelt, die eine nochmals tiefergehende Klärung der Relation von Individuum und Gesellschaft geradezu herausfordert. Marcuse schreibt: »Die Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip ist das große traumatische Ereignis in der menschlichen Entwicklung – sowohl in der Entwicklung der Art (in der Phylogenese) als in der des Einzelnen (der Ontogenese). Nach Freud handelt es sich hier nicht um ein einmaliges Ereignis. […] Das Realitätsprinzip materialisiert sich in einem System von Institutionen: und das Individuum, das innerhalb solch eines Systems heranwächst, erlernt die Forderungen des Realitätsprinzips als Forderungen von Gesetz und Ordnung anzunehmen und übermittelt sie so der folgenden Generation. Daß das Realitätsprinzip in der menschlichen Entwicklung stets von neuem befestigt werden muß, deutet daraufhin, daß sein Sieg über das Lustprinzip niemals vollständig und niemals sicher ist. Nach Freuds Auffassung bedeutet Kultur kein endgültiges

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Eine detaillierte Beschreibung findet sich in: Thomas Köhler, Das Werk Sigmund Freuds, Bd. 2, Sexualtheorie, Trieblehre und Metapsychologie, a.a.O., S. 342; sowie in: Herbert Marcuse, Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, a.a.O., S. 20ff. Herbert Marcuse: »Gerade der Fortschritt der Kultur und Zivilisation […] hat einen Stand der Produktivität mit sich gebracht, angesichts dessen die Ansprüche der Gesellschaft auf Verdrängung von Triebenergie in entfremdeter Arbeit um ein Beträchtliches vermindert werden könnte. Infolgedessen erscheint die fortgesetzte unterdrückende Organisation der Triebe weniger durch den ›Kampf ums Dasein‹ erzwungen als durch ein Interesse an der Verlängerung dieses Kampfes – ein Interesse der Herrschaft.« In: ders., Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, a.a.O., S. 129.

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Ende des ›Naturzustandes‹. Was die Kultur bändigt und unterdrückt – die Ansprüche des Lustprinzips –, das lebt weiterhin in der Kultur selbst fort. Das Unbewußte behält die Ziele des überwundenen Lustprinzips bei. Abgewiesen von der äußeren Wirklichkeit oder unfähig, sie überhaupt zu erreichen, lebt die volle Macht des Lustprinzips nicht nur im Unbewußten fort, sondern beeinflußt auf vielerlei Weisen die Realität selbst, die an die Stelle des Lustprinzips getreten ist. Es ist die Wiederkehr des Verdrängten, die die unterirdische, tabuierte Geschichte der Kultur speist. Die Erforschung dieser Geschichte enthüllt nicht nur das Geheimnis des Einzelnen, sondern ebenso das der Kultur. Freuds Psychologie des Individuums ist ihrem eigentlichen Wesen nach Sozialpsychologie.« [Hervorhebungen durch Marcuse]97 Am deutlichsten wohl finden sich diese sozialpsychologischen Ansätze Freuds ausgeprägt in Das Unbehagen in der Kultur. Hier formuliert Freud seine besonders weit in den sozialen Raum ausgreifenden triebtheoretischen Überlegungen im Anschluss an seine Rekonstruktion des Ich-Gefühls aus dem ›ozeanischen Gefühl‹ – und bereitet damit einer grundlegenden Verknüpfung von subjektivierenden Prozessen mit sozialisatorischen den Boden. Argumentativ stützt er sich dabei auf die Auffassung, dass der Zivilisationsprozess zu verstehen sei als immer rigidere kulturelle Reglementierung der Triebstruktur. So erst werde ein Zusammenleben der Individuen in Gesellschaften ermöglicht, welche komplexer als die ursprünglicheren Stammesgemeinschaften seien. Diese zunehmende kulturelle Reglementierung der individuellen Triebstruktur komme einer stetigen Verschärfung des Realitätsprinzips gleich, welche die Individuen ihrerseits zu einer Vielzahl kompensatorischer Leistungen nötige. Diese kompensatorischen Leistungen ergeben sich aus den bereits skizzierten psychischen Strategien zur Triebmodifikation – Projektion, Identifikation, Verdrängung, Sublimierung. Die genannten Strategien entpuppen sich so in der Kultur sowohl als unerlässliche Stützen des gesellschaftlichen Fortschritts wie auch als mögliche Quellen des ›Unbehagens‹ des Individuums. Ihnen allen gemein ist die Funktion, Trieberfüllung aufzuschieben, Triebziele zu verschieben, oder schlicht auf eine Triebmodifikation, gleich welcher Art, hinzuwirken. Sie alle stehen damit in Diensten des Realitätsprinzips, das, unter der Einwirkung kultureller Reglementierungen, das Lustprinzip auf vielerlei Weisen ersetzt. Kultur, ursprünglich entstanden aus dem Bestreben des Menschen sich natürlicher Nöte und Leiden zu entheben, avanciert so zu einer neuen, einer »sozialen Leidensquelle«98 : »Auf dem Wege, uns mit dieser Möglichkeit zu beschäftigen, treffen wir auf eine Behauptung, die so erstaunlich ist, daß wir bei ihr verweilen wollen. Sie lautet, einen großen Teil der Schuld an unserem Elend trage unsere sogenannte Kultur; wir wären viel glücklicher, wenn wir sie aufgeben und in primitive Verhältnisse zurückfinden würden. Ich heiße sie erstaunlich, weil – wie immer man den Begriff Kultur bestimmen mag – es doch feststeht, daß alles, womit wir uns gegen die Bedrohung aus den Quellen des Leidens zu schützen versuchen, eben der nämlichen Kultur zugehört.«99

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Ebd., S. 22f. Sigmund Freud [1929-1930], »Das Unbehagen in der Kultur«, a.a.O., S. 52. Ebd.

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Je gründlicher und umfassender die Selbst-Domestikation des Menschen mittels der Kultur sich vollzieht, desto schwerer lastet der Druck eines zu immer größerer Selbstkontrolle anhaltenden Realitätsprinzips auf ihm. Der Preis für die zunehmende Befreiung aus den Zwängen, die Natur auferlegt, ist die Zunahme neuer Beschränkungen durch die Kultur: »In den letzten Generationen haben die Menschen außerordentliche Fortschritte in den Naturwissenschaften und in ihrer technischen Anwendung gemacht, ihre Herrschaft über die Natur in einer früher unvorstellbaren Weise befestigt. Die Einzelheiten dieser Fortschritte sind allgemein bekannt, es erübrigt sich, sie aufzuzählen. Die Menschen sind stolz auf diese Errungenschaften und haben ein Recht dazu. Aber sie glauben bemerkt zu haben, daß diese neu gewonnene Verfügung über Raum und Zeit, diese Unterwerfung der Naturkräfte, die Erfüllung jahrtausendealter Sehnsucht, das Maß an Lustbefriedigung, das sie vom Leben erwarten, nicht erhöht, sie nach ihren Empfindungen nicht glücklicher gemacht hat.«100 Folgt man Freud, so resultiert dieses Unbehagen in der Kultur jedoch nicht allein aus der Preisgabe des Lustprinzips, sondern auch aus dem Konflikt, in den die erzwungene Anerkennung des Realitätsprinzips das Individuum mit der Gesellschaft treibt; diese ist es nämlich, die als Anwalt des Realitätsprinzips auftritt und so die Unterwerfung der persönlichen Freiheit unter das Recht der Gemeinschaft fordert. »Diese Ersetzung der Macht des Einzelnen durch die der Gemeinschaft ist der entscheidende kulturelle Schritt«101 , so Freud. Die individuelle Freiheit wird damit der kollektiven Sicherheit geopfert – ohne jedoch, dass das Individuum sich jemals vollständig mit diesem Opfer abfinden könnte: »Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut. Sie war am größten vor jeder Kultur, allerdings damals meist ohne Wert, weil das Individuum kaum imstande war, sie zu verteidigen. Durch die Kulturentwicklung erfährt sie Einschränkungen, und die Gerechtigkeit fordert, daß keinem diese Einschränkungen erspart werden. Was sich in einer menschlichen Gemeinschaft als Freiheitsdrang rührt, kann Auflehnung gegen eine bestehende Ungerechtigkeit sein und so einer weiteren Entwicklung der Kultur günstig werden, mit der Kultur verträglich bleiben. Es kann aber auch dem Rest der ursprünglichen, von der Kultur ungebändigten Persönlichkeit entstammen und so Grundlage der Kulturfeindseligkeit werden. Der Freiheitsdrang richtet sich also gegen bestimmte Formen und Ansprüche der Kultur oder gegen Kultur überhaupt. Es scheint nicht, daß man den Menschen durch irgendwelche Beeinflussung dazu bringen kann, seine Natur in die eines Termiten umzuwandeln, er wird wohl immer seinen Anspruch auf individuelle Freiheit gegen den Willen der Masse verteidigen. Ein gut Teil des Ringens der Menschheit staut sich um die Aufgabe, einen zweckmäßigen, d.h. beglückenden Ausgleich zwischen diesen individuellen und den kulturellen Massenansprüchen zu finden, es ist eines ihrer Schicksalsprobleme, ob dieser Ausgleich durch

100 Ebd., S. 53f. 101 Ebd., S. 61.

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eine bestimmte Gestaltung der Kultur erreichbar oder ob der Konflikt unversöhnlich ist.«102 Freud weist allerdings daraufhin, dass der in der Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip gründende Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft nicht dem zwischen Eros und Thanatos entspricht, sondern wie im Fall der Neurosen einer ist, der sich triebökonomisch innerhalb des Eros ereignet: nämlich als »Zwist im Haushalt der Libido, vergleichbar dem Streit um die Aufteilung der Libido zwischen dem Ich und den Objekten.«103 Daraus ergibt sich für ihn, dass Triebmodifikationen innerhalb des Realitätsprinzips denkbar wären, die diesen Konflikt abschwächen, oder gar beilegen könnten; dieser Konflikt ließe »einen endlichen Ausgleich zu beim Individuum, wie hoffentlich auch in der Zukunft der Kultur.«104 Die Möglichkeit also eines anders gearteten, weniger rigiden und mehr versöhnenden Realitätsprinzips ist es, die Freud hier andeutet – ein Gedanke, den Marcuse schließlich in Eros und Kultur auszubuchstabieren gewagt hatte, als den einer nicht-repressiven und herrschaftsfreien gesellschaftlichen Praxis.   Freuds Triebtheorie an der Schnittstelle von Psychoanalyse, Sozialpsychologie und Gesellschaftskritik – und ihr intersubjektives Defizit ■ Festzuhalten gilt es, dass Freuds Triebtheorie aus der eben aufgezeigten Perspektive nicht nur den Weg weist von der Psychoanalyse über die Sozialpsychologie zur Gesellschaftskritik, sondern selbst grundsätzlich auch das theoretische Instrumentarium dazu bereitstellt. Indem Freud sich Klärung verschafft hatte über allgemein menschliche Bedürfnisse und ihre Befriedigung vermittels unterschiedlich gearteter Triebdynamiken (Eros, Thanatos), gelangt er über die Betrachtung der Modifikationen dieser Triebe, welche sich vollzieht unter dem Druck des Realitätsprinzips aufs Lustprinzip, zu einem triebtheoretischen Ansatz, der nicht nur Physis, Psyche und Soziales umfasst, sondern auch das – spannungsreiche – Verhältnis von Individuum und Gesellschaft aufzuklären versucht. Dabei gelingt es ihm, in einer stetig weiter ausgreifenden Bewegung ein immer komplexer werdendes Verhältnis von innerer und äußerer Welt aufzuzeigen und diese Schilderung mit einem kultur- und (damit letztlich auch) gesellschaftskritischen Impetus zu verbinden. Den konsequent subjektphilosophischen Hintergrund seiner Reflexion führt er schließlich zu einem Ende, indem er seinen gedanklichen Ausgangspunkt – nämlich seine Triebkonzeption – endgültig aus dem Individuum extrapoliert, hinein in den sozialen Raum. In der Schlusspassage von Das Unbehagen in der Kultur wird deutlich, dass Freud Eros und Thanatos begreift nicht nur als Dynamiken innerhalb der Psyche, sondern auch als Dynamiken in soziokulturellen und soziohistorischen Kontexten: »Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse. Die

102 Ebd., S. 61f. 103 Ebd., S. 103. 104 Ebd., S. 103f.

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Menschen haben es in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gutes Stück weit ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, daß die andere der beiden ›himmlischen Mächte‹, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten. Aber wer kann den Erfolg und Ausgang voraussehen?«105 Es ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass Freud nicht allein ein dualistisches Modell vertritt, in welchem Eros und Thanatos als polare Kräfte wirken, sondern an seiner Vorstellung einer Ver- und Entmischung dieser Kräfte festhält, und damit eigentlich bereits deren dialektisches Verständnis ermöglicht. Kulturell bedingte Triebrepression äußert sich demnach in kulturellen Phänomenen sowie in spezifischen Formen von sozialen Beziehungen, die aus diesem Ineinanderüber- und Auseinanderhervorgehen von Triebdynamiken erst entstehen. Diese können beispielsweise eine inhaltliche Verkehrung des Eros in den Thanatos zur Ursache haben: »[Es ist] unmöglich zu übersehen, in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung (Unterdrückung, Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur Voraussetzung hat. Diese ›Kulturversagung‹ beherrscht das große Gebiet der sozialen Beziehungen der Menschen; wir wissen bereits, sie ist die Ursache der Feindseligkeit, gegen die alle Kulturen zu kämpfen haben.«106 Eine permanente Frustration des Eros durch ein vermittels diverser kultureller Mechanismen immer rigider auftretendes Realitätsprinzip, so darf Freud hier verstanden werden, äußert sich in dessen Verkehrung hin zu destruktiven Tendenzen, die dann paradoxerweise den sozialen Raum gerade kulturell komplexer Gesellschaftsordnungen durchziehen. Freuds Triebtheorie eröffnet hier der Soziologie, den Kulturwissenschaften, der Psychologie etc. eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten – und zwar gerade auch aufgrund des dynamischen Moments, das sie birgt. Daher lohnt es sich, aus dieser Perspektive heraus, noch einmal einen Blick auf Freuds Verständnis von Eros und Thanatos als auch im sozialen Raum wirkende Kräfte zu werfen. Freuds ursprüngliche Annahme war es ja, die Tendenz des Eros sei es, »die lebende Substanz zu erhalten und zu immer größeren Einheiten zusammenzufassen«107 , während es die des Thanatos sei, »diese Einheiten aufzulösen, und in den uranfänglichen anorganischen Zustand zurückzuführen«108 . Extrapoliert in den sozialen Raum verleitet diese Auffassung zu dem Schluss, dass der »[…] Eros […] vereinzelte menschliche Individuen, später Familien, dann Stämme, Völker, Nationen zu einer großen Einheit, der Menschheit, zusammenfassen wolle. War-

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Ebd., S. 108. Ebd., S. 63. Ebd., S. 82. Ebd., S. 82.

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um das geschehen müsse, wissen wir nicht; das sei eben das Werk des Eros. Diese Menschenmengen sollen libidinös aneinander gebunden werden; die Notwendigkeit allein, die Vorteile der Arbeitsgemeinschaft werden sie nicht zusammenhalten. Diesem Programm […] widersetzt sich aber der natürliche Aggressionstrieb der Menschen, die Feindseligkeit eines gegen alle und aller gegen einen. Dieser Aggressionstrieb ist der Abkömmling und Hauptvertreter des Todestriebes, den wir neben dem Eros gefunden haben, der sich mit ihm in die Weltherrschaft teilt. Und nun, meine ich, ist uns der Sinn der Kulturentwicklung nicht mehr dunkel. Sie muß uns den Kampf zwischen Eros und Tod, Lebenstrieb und Destruktionstrieb zeigen, wie er sich an der Menschenart vollzieht.«109 In dieser soziohistorischen und soziokulturellen Ausprägung der freudschen Triebtheorie wird der Eros generell – und dies gilt es unbedingt festzuhalten – zu einer konstruktiven und maßlos verbindend wirkenden Kraft, welche das Gemeinsame ermöglicht, während der Thanatos sich entpuppt als destruktive und trennend wirkende Kraft, die begrenzt, vereinzelt und somit Manifestationen des Einsamen etabliert. Dieser grundlegende Antagonismus sowie die aus ihm hervorgehenden vielfältigsten und auch paradoxen Phänomene sind es, welche nach Freuds Verständnis innere wie äußere Welt formen, und Physis, Psyche und Soziales sowie Individuum und Gesellschaft in Bezug zueinander setzen. Freuds Psychoanalyse und ihr Herzstück, die Triebtheorie, erweisen sich so ganz deutlich angelegt als Unternehmen, das nicht an den Grenzen der Psyche des Individuums endet, sondern vielmehr die Verwobenheit von Psyche und Sozialem aufzuzeigen versucht. Einzig die Verhaftung im Subjekt-Objekt-Paradigma ist es, die diese klassische Form der psychoanalytischen Triebtheorie inkompatibel macht zu einer mittlerweile intersubjektiv orientierten Sozialwissenschaft. Denn die psychoanalytische Dimension sozialer Phänomene, welche als kommunikativ und interaktiv strukturierte verstanden werden, kann mit der klassisch subjektphilosophisch geprägten Triebtheorie Freuds nicht mehr adäquat dargestellt werden. Oder, wie Honneth formuliert: »Die Psychoanalyse befindet sich, in einem Satz zusammengefaßt, in einem Prozeß rapider Veralterung, weil ihr zur Idee einer kommunikativen Verflüssigung der Ich-Identität das notwendige Pendant auf Seite des psychischen Innenlebens fehlt. [Eig. Hervorhebung]«110 Um die Verbindung von Psychoanalyse und Soziologie, welche Kritische Theorie ja seit je auszeichnete, weiterhin aufrecht zu erhalten, ist es daher an dieser Stelle unabdingbar, den Fokus erneut auf eine intersubjektive Wendung Freuds, und zwar diesmal seiner Triebtheorie, zu richten. Wieder erweist sich Loewald als besonders ergiebiger Theoretiker der Intersubjektivität, zum einen, weil er Freuds Triebtheorie so behutsam neu ausrichtet, dass nichts von ihrer ursprünglichen Radikalität verloren geht, zum anderen, weil Loewald seinen Fokus auf entdifferenzierende und differenzierende psychosoziale Austauschprozesse richtet, die es gerade erlauben, den psychischen Raum analog zum sozialen als ›kommunikativ verflüssigt‹ bzw. ›verhärtet‹ zu beschreiben. So wird sich erweisen, dass eben das maßlose Selbst jene begriffliche Instanz ist, die es erlaubt 109 Ebd., S. 85f. 110 Axel Honneth, »Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identität. Über das vermeintliche Veralten der Psychoanalyse«, a.a.O., S. 144.

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– um mit Honneth zu sprechen – Ich-Identität ›kommunikativ verflüssigt‹ zu denken, wie umgekehrt das bemessene Ich den geeigneten kategorialen Rahmen absteckt, um die Effekte ›kommunikativer Verhärtung‹ zu verstehen. Loewald nämlich skizziert ein intersubjektiv geprägtes Modell der Psyche, welches Vorstellungen vom maßlosen Selbst wie bemessenen Ich zu integrieren in der Lage ist, ohne dabei Freuds Instanzenmodell von Es, Ich und Über-Ich aufzugeben.111 Im Anschluss an eine Darstellung der intersubjektiven Neuausrichtung der freudschen Triebtheorie durch Loewald wird es daher möglich sein, das Verhältnis zu klären, in welchem maßloses Selbst wie bemessenes Ich zum klassischen Instanzenmodell der Psychoanalyse stehen. Darüber hinaus wird sich zeigen, in welcher Relation Eros und Thanatos nicht nur zum maßlosen Selbst wie bemessenen Ich stehen, sondern auch und gerade welche Rolle ihren verbindenden bzw. trennenden Qualitäten im intersubjektiven Prozess, also innerhalb kommunikativer und interaktiver Dynamiken, zukommt. Nicht nur eine intersubjektive Triebtheorie wird am Ende sich abzeichnen, sondern eine triebtheoretische Sicht auf Intersubjektivität.   Loewalds intersubjektive Interpretation der freudschen Triebtheorie: Psychische Strukturierung als Verinnerlichung äußerlich erlebter ›Interaktionsmuster‹ ■ Sicher erweist sich Loewald als Freudianer, wenn er formuliert: »Triebe, das Unbewußte, das Es – diese Begriffe beschwören das nicht Personengebundene, den unter der Oberfläche verborgenen Abgrund herauf, der durch die äußerliche Maske der Person als eines organisierten, bewußten Menschenwesens verhüllt wird (im Lateinischen ist persona die Maske eines Schauspielers). Sie lassen ferner an unwillkürliches Handeln, angeborene Impulse, elementare, ungebändigte Kräfte zwingender, irrationaler, vernunftwidriger Art denken. […] Das Seelenleben wird von Triebkräften bestimmt, die im Widerstreit liegen, harmonieren, verschmolzen, oder entmischt sein können. [Kursivsetzung durch Loewald]«112 Loewald weiß also die Triebtheorie der klassischen Psychoanalyse sehr wohl zu würdigen; er betont ihre Leistung, wenn es darum geht, diejenigen irrationalen Dynamiken aufzudecken, die unter der Oberfläche der Person und der gesellschaftlichen Konvention verdeckt am Wirken sind. Loewald will das aufklärerische Potenzial der Psychoanalyse, das gerade in der Triebtheorie und in der Entdeckung des Unbewussten liegt, um keinen Deut schmälern. Seine Revision der Triebtheorie ist daher weniger eine Neuerung, als vielmehr eine Neuausrichtung: Loewald wendet die Triebtheorie der klassischen Psychoanalyse intersubjektiv – das heißt: kommunikations- und handlungstheoretisch. Er situiert den Trieb nicht subjektivistisch tief im Inneren des Individuums, von wo er drängt, sich außen in Handlungen zu konkretisieren – sondern er betont die Bedeutung von Kommunikation und Interaktion schon bei dessen Formung und Entstehung. Mitchell umreißt Loewalds Unternehmen wie folgt: »Vielleicht besteht seine [Loewalds, eig. Anm.] Revision der freudschen Theorie im Kern darin, den Ort zu verschieben, an dem Erleben entsteht: Loewald verlegt den 111 112

Vgl. ebd., S. 155. Hans W. Loewald, »Über Motivation und Triebtheorie«; in: ders., Psychoanalyse: Aufsätze aus den Jahren 1951-1979, a.a.O., S. 88f.

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Ursprung des Erlebens aus dem Individuum in das Beziehungsfeld, in dem es Bewusstsein erwirbt. Diese Verschiebung hat ihren Weg in die zeitgenössische Psychoanalyse gefunden. Immer wieder betont Loewald, dass am Anfang nicht der Trieb steht, sondern ein Feld, das alle Individuen umfasst. Das Erleben entwickelt sich nicht von innen nach außen, von den Es-Trieben über das Ich bis hin zum Austausch mit der Außenwelt. In seinen Anfängen entwickelt sich Erleben von außen nach innen, nämlich aus einer zunehmend differenzierten Einheit, deren Teil der Einzelne zunächst ist, bevor er durch eine Internalisierung äußerer Interaktionsmuster zu einem individuellen Wesen heranwächst. Die Rechtfertigung für diese gründliche Rekonzeptualisierung der Triebnatur findet Loewald bei Freud selbst, und zwar im Begriff des ›ozeanischen Gefühls‹ auf den dieser […] Bezug genommen hat.«113 Loewalds intersubjektive Revision der freudschen Triebtheorie setzt damit nahtlos an Loewalds intersubjektiver Neuschreibung von Freuds Rekonstruktion des Ich-Gefühls aus dem ›Ozeanischen‹ an: In beiden Fällen geschieht subjektive psychische Strukturierung entlang von entdifferenzierenden und differenzierenden Aspekten intersubjektiver Prozesse. Loewald selbst charakterisiert den Kern seiner intersubjektiven Wendung der freudschen Triebtheorie folgendermaßen: »Triebenergien und Triebe […] entstehen […] in einer psychischen Matrix bzw. einem Feld, […] nicht als biologische Kräfte, sondern als Kräfte, die sich ab initio in dem und zwischen dem bekunden, was allmählich zu Individuum und Umwelt wird (oder zu Ich und Objekten, zu Selbst und Objektwelt…). Triebe bleiben Beziehungsphänomene und werden nicht als Energien innerhalb eines geschlossenen Systems betrachtet, die irgendwo ›abgeführt‹ werden. [Kursivsetzung durch Loewald]«114 Triebe werden bei Loewald also zu Beziehungsphänomen – zu relationalen Dynamiken. Sie sind, Anziehungs- oder Abstoßungskräften vergleichbar, angesiedelt im Raum ›zwischen‹ Subjekt und Objekt bzw. Subjekt und Subjekt; ihre Erzeugung und Formung geschieht entlang intersubjektiver Prozesse. Um nachvollziehen zu können, was Loewald zu diesem Schluss verleitet bzw. welche Implikationen dieser birgt, gilt es erst einmal zu skizzieren, wie Loewald zu seiner Neukonzeption der Triebtheorie überhaupt erst gelangt. Ausgangspunkt für Loewalds triebtheoretische Überlegungen bildet die Frage nach dem Status der Triebe im Verhältnis zur psychischen Gesamtorganisation.115 Das heißt, es geht ihm darum, nicht nur den Triebbegriff als solchen zu klären, sondern auch zu prüfen: »Sind Triebe als elementare Komponenten der Psyche zu verstehen, oder sind sie Kräfte, die auf die Psyche einwirken […]?«116 Genau auf diese Frage nämlich, so Loewald, scheint Freud keine entschiedene Antwort geben zu können; er sei unschlüssig und ändere seine Meinung dazu mehrmals, wie aus den jeweiligen konzeptionellen

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Stephen A. Mitchell, Bindung und Beziehung. Auf dem Weg zu einer relationalen Psychoanalyse, Gießen 2003, S. 76. Hans W. Loewald, »Perspektiven der Erinnerung«; in: ders., Psychoanalyse: Aufsätze aus den Jahren 1951-1979, Stuttgart 1986, S. 135. Hans W. Loewald, »Über Motivation und Triebtheorie«, a.a.O., S. 95. Ebd.

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Das Maßlose der Spätmoderne

Stufen seiner Triebtheorie bzw. den ihnen entsprechenden Werken, hervorgehe.117,118 Loewald jedoch reiht diese verschiedenen Ausprägungen der Triebtheorie nicht gleichberechtigt nebeneinander auf, um sie dann zu diskutieren, sondern schält den evolutionären Gedankengang heraus, der sich dahinter hinter verbirgt. So betrachte Freud in Triebe und Triebschicksale Triebe als einen »Reiz für das Psychische«119 , was er dann zuspitze in Richtung eines körperlichen Reizes auf den psychischen Apparat. Der Trieb, von dieser Seite her gedacht, erweist sich dann als Bedürfnis, das es zu befriedigen gilt. So stellt sich der Trieb dann als organischer Reiz dar, der den psychischen Apparat zu einer Arbeitsanforderung nötigt: nämlich zur Herabsetzung oder Aufhebung der Reizspannung.120 In einer weiteren Zuspitzung schließlich spreche Freud dem Trieb bereits den rein körperlichen und organischen Charakter ab; der Trieb avanciere zum »Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem, als psychischer Repräsentant der aus dem Körperinnern stammenden, in die Seele gelangenden Reize«121 . Loewald konstatiert: »Trieb ist nun kein physiologischer Reiz, sondern der ›psychische Repräsentant‹ des letzteren.«122 Als Repräsentant, so Loewald weiter, sei der Trieb nun aber auch nicht mehr nur eine Kraft, die von außen auf die Psyche einwirke, »sondern eine Kraft im psychischen Apparat und des psychischen Apparates«123 . Auf diese Weise wandelte sich Freuds Trieb hin zu einem »Motivationsreiz, der ein konstitutives Element des Stroms des Seelenlebens bildet«124 und war nicht mehr ein rein »biologischer Reiz, der auf diesen Strom einwirkt«125 . Damit verbunden sei eine schleichende Abkehr von der Vorstellung der Psyche als ›Apparat‹ zur Bewältigung biologisch-äußerlich an sie heranreichender Reizspannungen, und hin zur Vorstellung der Psyche als ›Struktur‹, die aus einem Zusammenwirken unterschiedlicher Kräfte entsteht und besteht: Das Modell der Psyche wandele sich so von dem eines Mechanismus zu dem eines Organismus.126 In Das Ich und das Es verstehe Freud, so Loewald, Triebe also als Kräfte innerhalb der Psyche.127 In Das Unbewusste wiederum werde bereits zweifelhaft, »ob Freud dieser Auffassung weiterhin anhing«128 . Dann plötzlich in Jenseits des Lustprinzips verstand

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Vgl. ebd., S. 95f. Gunzelin Schmid Noerr arbeitet in seiner Schrift Eros und Todestrieb ebenfalls detailliert die Widersprüche der verschiedenen triebtheoretischen Konzeptionen Freuds heraus und betont dabei, dass es nicht gelte, diese »von vorneherein als theoretische Fehler auszumerzen, sondern als Reflexion in sich ›widersprüchlicher‹ Sachverhalte zu interpretieren.« In: ders., »Eros und Todestrieb. Zur Dechiffrierung der psychoanalytischen ›Mythologie‹«; in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 41. Jg., 8/1987, S. 680. 119 Sigmund Freud [1915], Triebe und Triebschicksale, GW 10, S. 211, zitiert nach Hans W. Loewald; in: ders., »Über Motivation und Triebtheorie«, a.a.O., S. 96. 120 Vgl. ebd., S. 96f. 121 Sigmund Freud [1915], Triebe und Triebschicksale, GW 10, S. 214, zitiert nach Hans W. Loewald; ebd., S. 97. 122 Ebd. 123 Ebd. 124 Ebd., S. 100. 125 Ebd. 126 Vgl. ebd., S. 102. 127 Ebd., S. 103. 128 Ebd., S. 103.

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Freud den Trieb in einer überraschenden und neuerlichen Wendung als »einem dem belebten Organischen innewohnenden Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustands«129 – und machte den Trieb damit zur Verkörperung eines universalen Prinzips alles Lebendigen; dieses Prinzip (auch Konstanz- oder Nirwanaprinzip genannt) äußere sich als Tendenz, einen früher spannungsärmeren Zustand wieder zu erlangen oder auf einen dauerhaften Spannungsausgleich hinzuwirken.130 Triebe umfassten nun aber Physisches und Psychisches, oder etwas allgemeiner formuliert: Extrapsychisches und Intrapsychisches. Loewald konkretisiert das: »Seit 1920 werden die Triebe als umgreifende polare Kräfte lebender Materie verstanden: als Lebens- oder Liebestrieb, Eros, und als Todestrieb, Thanatos. Sie verlieren ihre Auszeichnung als psychische Kräfte, obgleich sie sich auch in psychischer Form manifestieren.«131,132 Triebe wurden damit zu Tendenzen, die zwecks Spannungsreduktion entweder konstruktiv und verbindend auf alles Lebendige wirken, wie Eros, der Lebens- und Liebestrieb, oder destruktiv und zertrennend, bis ins Anorganische, wie Thanatos, der Todestrieb. Und nicht nur das: Als Strukturprinzipien, als formende Kräfte alles Lebendigen und damit aller Äußerungen des Lebendigen, werden Eros und Thanatos so zu Gestaltungsprinzipien auch aller Verhältnisse und Situationen, in denen Lebendiges sich manifestiert. Freud öffnet die Psyche in seiner finalen Triebkonzeption also nicht nur hin zur Physis, sondern eben auch hin zum Sozialen. Die Öffnung der Psychoanalyse zu anderen Disziplinen ist die gedankliche Konsequenz, die sich aus Freuds Verständnis von Trieben als universalen Bewegungsprinzipien lebender Materie ergibt – eine Konsequenz, die Loewald dazu verleitet, seine eingangs gestellte Frage (Wirken Triebe von außen auf die Psyche ein, oder sind sie vielmehr Teil der Psyche?) letzten Endes so zu beantworten: »Die Triebe und das Leben des Körpers aus der eben skizzierten Perspektive gesehen, sind ein und dasselbe. Sie werden nur dann getrennt, wenn wir zwischen Soma und Psyche zu unterscheiden beginnen. Doch ist dies einmal geschehen […] muß der Trieb in der Psychoanalyse als psychologischer Begriff verstanden werden.«133 Der Trieb als psychologischer Begriff aber impliziert, wie Loewald betont, dessen Verständnis als psychischer Repräsentant eines extrapsychischen Reizes: »Im Rahmen der Psychoanalyse als einer Wissenschaft von der Menschenseele müssen wir, wenn wir die Eros-Thanatos-Vorstellung (oder ihre weniger ›metaphysische‹ Form: die Dualität von Libido und Aggression) akzeptieren, von Trieben als psychi-

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Ebd., S. 103. Vgl. ebd., S. 105. Ebd., S. 103f. Freud sieht sogar Analogien zu Gesetzmäßigkeiten der unbelebten Materie. Sigmund Freud, zu Albert Einstein: »Sie sehen, das ist eigentlich nur die theoretische Verklärung des weltbekannten Gegensatzes von Lieben und Hassen, der vielleicht zu der Polarität von Anziehung und Abstoßung eine Urbeziehung unterhält, die auf ihrem Gebiet eine Rolle spielt. [Eig. Hervorhebung]« In: ders., Warum Krieg?, GW XVI, S. 20, zitiert nach Rolf Vogt; in: ders., »Der ›Todestrieb‹, ein notwendiger, möglicher oder unmöglicher Begriff?«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Jg. 55, 9-10/2001, S. 883. Hans W. Loewald, »Über Motivation und Triebtheorie«, a.a.O ., S. 107f.

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schen Repräsentanten sprechen und von Lebens- und Todestrieben als ebensolchen Repräsentanten.«134 Loewald beschäftigt in der Folge also die Überlegung, wie nun die Verwandlung einer körperlichen Reizspannung in eine psychische Strukturierung vonstatten gehe; wie also organische Prozesse in psychische Repräsentanzen eben dieser verwandelt werden. Um sich den Vorgang der Repräsentanzenbildung zu vergegenwärtigen können, zerlegt er die Triebhandlung noch einmal (wie bereits von Freud vorgeführt) in Quelle, Drang, Ziel und Objekt und stellt sich daran anschließend eine zweite, absolut essenzielle Frage: »In welcher Beziehung stehen die Triebe zu Objekten?«135 Die Beantwortung dieser Frage aber wird Loewald nicht nur ein objektbeziehungstheoretisches136 und damit intersubjektives Verständnis der Triebe ermöglichen, sondern über den gedanklichen Rückgriff auf die Repräsentanzenbildung erneut die Entstehung eines universalen – nur diesmal: intersubjektiven – Triebbegriffs ermöglichen, der Physis, Psyche und Soziales umfasst. Loewald geht nun davon aus, dass Objekte, auf die sich ja der Trieb zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung erstreckt, keine bloßen äußeren Gegebenheiten sind. Ein enormes Maß an psychischer Organisation sei nötig, damit Reize aus der Umwelt »geordnet und als äußere im Gegensatz zu inneren erlebt […] werden könnten.«137 Das heißt, dass die Trennung von Subjekt und Objekt nicht ein bloß zu beobachtendes Faktum sei, sondern dass die Trennung in Subjekt und Objekt erst einmal psychisch vollzogen werden müsse, im Sinne komplexer Abgrenzungsmechanismen zwischen innerer und äußerer Welt. Auch ist die Trennung von Subjekt und Objekt somit kein endgültiger Vorgang, sondern durchaus ein reversibler: Genau das war ja Freuds These, die bei der Rekonstruktion der (evolutionär vorgestellten) Ich-Entwicklung aus dem ›ozeanischen Gefühl‹ eine so bedeutende Rolle gespielt hatte – und welche Loewald vermittels differenzierender und entdifferenzierender Mechanismen lediglich als intersubjektiv und mehr prozesshaft vor sich gehend dachte. Diese strukturierenden Mechanismen der Subjektkonstitution sieht Loewald nun ebenso wirksam, wenn es um die für die Organisation der Triebstruktur so wichtige Objektkonstitution geht. »Mit anderen Worten, was naiv Objekt genannt wird, spielt eine wesentliche Rolle in der Konstituierung des Subjekts, einschließlich der Organisation der Triebe als psychischer Phänomene und der sich entwickelnden ›Objektbeziehungen‹ des Subjekts. Andererseits, was naiv Subjekt genannt wird, spielt eine wesentliche Rolle in der Organisation von Objekten […].138 Es geht Loewald also darum, zu zeigen, wie sowohl Subjekt und Objekt als auch die zwischen beiden sich entspinnenden vielfältigsten Relationen als differenzierte psychische Strukturierungen auftauchen, und zwar aus einem zuvor strukturlosen und undif-

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Ebd., S. 108. Ebd. Ein kurzer Überblick zum intersubjektiven Charakter von Objektbeziehungstheorien findet sich bspw. in: Wolfgang Mertens, Psychoanalyse. Geschichte und Methoden, München 1997, S. 22f. Hans W. Loewald, »Über Motivation und Triebtheorie«, a.a.O., S. 109. Ebd.

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ferenzierten ›ozeanischen‹ Zustand.139 Analog dazu muss der differenzierte Sekundärprozess, in welchem Subjekt und Objekt ja erst als voneinander abgegrenzte begegnen, verstanden werden als mit höheren Reizqualitäten versehen als der reizärmere undifferenzierte Primärprozess, in welchem Subjekt und Objekt noch nicht als fundamental voneinander getrennt erlebt werden. Hier wird offensichtlich wie eine Triebtheorie, verstanden als Objektbeziehungstheorie, verschmilzt mit den für die Subjektivierung so entscheidenden Prozessen der Grenzziehung zwischen Subjekt und Objekt. Die Objektrepräsentanzen in der Psyche nämlich konstituieren sowohl das Subjekt in Relation zu ihnen, als auch die Triebe, deren Dynamik jene Relation zur Ursache hat. Diese Repräsentanzenbildung aber geschieht nicht allein entlang von leibgebundenen Lust- und Unlustempfindungen, sondern vielmehr entlang der kommunikativen und interaktiven Prozesse, welche diese vermitteln: »Diese Umwandlung, die Organisation von Trieben qua psychischer Kräfte kommt, so behaupte ich, durch Interaktionen innerhalb des psychischen Mutter/Kind-Feldes zustande. Betrachtet man das Problem unter dem Gesichtspunkt der Organisation psychischer Realität, ist die Frage, ob Objekte ›ursprünglich‹ mit Trieben ›verknüpft‹ sind, sinnlos. Erscheinungen wie Triebe und Objekte werden in diesen Interaktionsvorgängen allmählich durch Differenzierung und Interaktion gebildet. Zunächst einmal: Weder Trieb noch Objekt sind vorhanden, damit eins mit dem anderen verknüpft wird oder nicht. Sobald das eine vom anderen als inneres oder äußeres Phänomen auf Grund der Interaktionen, die sie entstehen ließen, unterschieden werden kann, ›enthält‹ jedes Elemente des anderen.«140 An dieser Stelle also greift Loewald auf seine intersubjektive Wendung von Freuds Rekonstruktion der Genese des Ich-Gefühls aus dem ›Ozeanischen‹ zurück und verkoppelt diese untrennbar mit der Entstehung der Triebstruktur.141 Psychische Struktur entsteht als psychische Repräsentanzenbildung zu extrapsychischen Prozessen. Diese extrapsychischen Prozesse bedingen ein Gegenüber, ein anderes Subjekt, um ihre differenzierende Wirkung zu entfalten. Und genau hier hebt Loewald an zu seiner so folgenreichen Neuausrichtung der Triebtheorie:

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Vgl. dazu Stephen A. Mitchell: »Für ihn [Loewald, eig. Anm.] beginnt das Erleben in einem undifferenzierten Zustand; es gibt keine Objekte und keine Triebe, kein Selbst und keine Anderen, kein Jetzt und Damals, kein Außen und kein Innen. Alles wird in einer Weise erlebt, die Loewald als ›ursprüngliche Dichte‹ (primal density) bezeichnet. Sämtliche uns vertraute Unterscheidungen und Abgrenzungen beruhen auf dieser Dichte. […] Objekte und das Selbst entstehen aus dem dichten Stoff affektiven Erlebens. […] Für Loewald beginnen innere Objekte und Identifikationen mit dem Du; erst vermittels der differenzierenden und sortierenden Qualität des Sekundärprozesses werden sie als das Andere empfunden.« [Hervorhebungen durch Mitchell] In: ders., Bindung und Beziehung. Auf dem Weg zu einer relationalen Psychoanalyse, a.a.O., S. 81ff. 140 Hans W. Loewald, »Über Motivation und Triebtheorie«, a.a.O., S. 111. 141 Hans W. Loewald: »Wir können nicht eine Theorie über die Bildung und Organisation des Ichs haben, und eine andere für die Organisation von Trieben. Die frühe Entwicklung des Ichs, wie sie Freud in Das Unbehagen in der Kultur darstellt, ist die Organisation und Entwicklung von Trieben, die als psychische Repräsentanten verstanden werden. [Hervorhebung durch Loewald]« In: ders., »Über Motivation und Triebtheorie«; a.a.O., S. 118.

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»Aus der Sicht der Ontogenese psychischer Realität würde ich sagen, daß die inkohärenten Dränge, unkoordinierte Bewegungen und Reflexaktivitäten des Neugeborenen durch Aktivitäten und Antworten der Umwelt koordiniert, zu Trieben geordnet werden, Ziel und Richtung annehmen. Und hier sollten wir in unsere Überlegungen die Bedeutung von ›Befriedigung‹ einbeziehen. Das verständnisvolle, (auf das Kind) abgestimmte Handeln der primären Pflegepersonen schafft nicht einfach Befriedigung in dem Sinne, daß es als Mittel zur Beseitigung von Erregung wirkt. Das Erlebnis von Befriedigung ist, wie ich meine, ein ›kreativer‹ Vorgang, bei dem angemessenes Umweltverhalten nicht unbedingt oder ausschließlich Erregung vermindert oder beseitigt, vielmehr erzeugt und organisiert es auch Erregungsprozesse. [Hervorhebungen durch Loewald]«142 Loewald entwirft so einen völlig neuen Ansatz zur Erklärung der Erzeugung und Organisation von Trieben. Er begreift sie nicht mehr lediglich als Reizspannungen innerhalb eines geschlossenen Systems, die nach außen abgeführt werden, wie dies die klassische Psychoanalyse tut, sondern betrachtet ihre Entstehung und Zurichtung, genau wie die des Objektes, auf das sie sich beziehen, als subjektive Effekte intersubjektiver Aspekte. Honneth formuliert die Implikationen einer derart gewendeten Triebtheorie folgendermaßen: »Als die eigentliche Errungenschaft der triebtheoretischen Arbeiten Loewalds sehe ich nun an, wie er im Ausgang von dieser frühen Phase […] den Prozeß der Individuation als einen Vorgang beschreibt, der sich in Form einer Ausdifferenzierung des zunächst noch ungeschiedenen Trieblebens in verschiedene Instanzen vollzieht, die jeweils für die Internalisierung eines bestimmten Interaktionsmusters im Umweltverhalten des Kleinkindes stehen: Zur Entwicklung eines intrapsychischen Kommunikationsraumes kommt es in dem Maße, so ist diese zentrale Intuition zu verstehen, in dem typische Schemata der Interaktion mit den lebenswichtigen Partnern in das Innere verlagert werden und hier unter Zuhilfenahme der inzwischen freigesetzten Triebenergie jeweils zu Instanzen ausgebildet werden. Im ganzen entsteht so die Vorstellung, daß die Psyche des erwachsenen Menschen ein Interaktionsnetz von Instanzen bildet, in dem durch Verinnerlichungsprozesse Anteile der Triebenergie zu organisierter Gestalt gelangt sind. [Eig. Hervorhebungen]«143,144,145 142 Ebd., S. 112. 143 Axel Honneth, »Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identität. Über das vermeintliche Veralten der Psychoanalyse«; in: ders., Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt a.M., 2003, S. 157. 144 Honneth spricht hier in Rekurs auf Loewald beinahe beiläufig von einem ›intrapsychischen Kommunikationsraum‹ der sich durch Internalisierungsvorgänge bilde, und so die Psyche als ›Interaktionsnetz von Instanzen‹ erwachsen lasse, in welchem durch ›Verinnerlichungsprozesse Anteile der Triebenergie zu organisierter Gestalt gelangt‹ seien – dabei formuliert er eine These von enormer Bedeutung, in der erstmals raumtheoretische mit netzwerktheoretischen Annahmen zur Erklärung der Psyche grundlegend ineinander verschränkt sind – und die zudem den klassischen Triebbegriff nicht preisgibt, sondern ihn nur intersubjektiv modifiziert denkt. 145 Was die Kreation und Organisation der Triebe betrifft, blendet Honneth bei dieser so treffenden Einschätzungen der Neuerungen Loewalds die Arbeiten Alfred Lorenzers ein Stück weit aus; denn dieser hatte ja mit seiner ›Theorie der Interaktionsformen‹ bereits »Trieb als soziale Herstellung«

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Loewald, so Honneth, denkt Psyche also als nach innen verlagerten Interaktionszusammenhang, der sich komplementär zu einer kommunikativ strukturierten Lebenswelt verhält.146 Dabei verbindet Loewald in seinen triebtheoretischen Annahmen ganz im Einklang mit Freud nicht nur soziale Prozesse mit psychischen, sondern auch physische mit psychischen. Seine Triebtheorie umspannt daher Extrapsychisches und Intrapsychisches im weitesten Sinn. Konkret identifiziert Loewald als Vermittlungsinstanz (zwischen Körperlichem, Psychischem und Sozialem) ›Interaktionsmuster‹, die psychomotorisch verinnerlicht werden: sogenannte »mnemische Bilder«147 . Diese ließen sich auch verstehen als verinnerlichte ›Bewegungsbilder‹; Bilder von Handlungsabläufen, die sich über permanente Wiederholungen nicht nur tief in die Strukturierung der Psyche eingraben, sondern die Strukturierung der Psyche auch ausmachen. Oder, anders gesagt: Interaktionsmuster, die sich in einem Prozess fortschreitender Differenzierung in vormals undifferenzierte, nicht zielgerichtete körperliche und psychische Impulse eingravieren. Noch konkreter: Der ungerichtete, maßlose Bewegungsdrang etwa des Neugeborenen, sein unartikuliertes Schreien, organisieren und differenzieren sich über die Interaktion und Kommunikation mit der Bezugsperson zu angemessenen Ausdrucksformen. Das heißt auch, dass das Neugeborene nicht triebhaft ist, sondern lediglich einem psychomotorischen allgemeinen Bewegungsimpuls oder -instinkt unterliegt, dessen Formung und Zurichtung innerhalb intersubjektiver Prozesse geschieht – wodurch wiederum die Triebe, und damit die Strukturierung von Psyche, überhaupt erst hervorgebracht werden. Die Triebe als psychische Repräsentanzen konturieren sich also mit der Psyche entlang von interaktiven und kommunikativen Prozessen; und zwar zunächst schlicht aus Körperbedarf; dieser, wird – geht er in Psyche ein – erst zum komplexen Bedürfnis. Eine solche intersubjektiv orientierte Triebtheorie ist im Übrigen mitnichten ›gesellschaftsaffin‹ wie ihr von Seiten orthodoxer Freudianer immer wieder vorgeworfen wird.148 Die ›A-sozialität‹ der Triebe, das Reservoir an individueller Widerständigkeit, begriffen, wie Hans-Joachim Busch formuliert; in: ders., Interaktion und innere Natur. Sozialisationstheoretische Überlegungen, Frankfurt a.M. 1985, S. 223. 146 Vgl. ebd., S. 159; Vgl. dazu aber auch Stephen A. Mitchell: »Loewald stellt sich die Psyche als Gewebenetz aus interaktiv erworbenen Identifikationen vor, die sie sich in verschiedenen Graden und auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig angeeignet hat, jeweils mit einem Empfinden für das eigene Selbst auf der einen und einem Empfinden für Externalität auf der anderen Seite. [Eig. Hervorhebung]« In: ders., Bindung und Beziehung. Auf dem Weg zu einer relationalen Psychoanalyse, a.a.O., S. 86. 147 Hans W. Loewald: »Auf diese Weise werden sogenannte ›mnemische Bilder‹ geschaffen, die den Trieben nichts hinzufügen, sondern sie konstituieren. Mnemisch muss hier in diesem Sinne verstanden werden, wie Freud in seiner Erörterung der Befriedigung im Entwurf […] von motorischen oder kinästhetischen Bildern (Bewegungsbild) spricht. Im Entwurf erwähnt Freud die Triebe kaum, doch seine Erläuterung des ›Befriedigungserlebnisses‹ mit dem Schwergewicht auf ›fremder Hilfe‹, die von einem ›erfahrenen Individuum‹ geleistet wird, deutet auf dieses Verständnis der psychischen Genese von Trieben als psychische Repräsentanten hin.« In: ders., »Über Motivation und Triebtheorie«, a.a.O., S. 112. 148 Ein Beispiel für eine solche Argumentation findet sich aufseiten Whitebooks, der in einer Kontroverse, die sich zwischen ihm und Honneth über die Grenzen des ›intersubjective turn‹ in der Psychoanalyse entsponnen hatte, die Auffassung vertrat, eine intersubjektive Psychoanalyse würde, nur weil sie auch die Entstehung von Trieben aus Interaktionsmustern erklärt, notwendig auch

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als das Triebe in der klassischen Psychoanalyse ja fungieren, ergibt sich hier unter anderem aus der zeitlichen und räumlichen Verschiebung: Sind Interaktionsmuster einmal zu organisierter Gestalt in Form psychischer Repräsentanzen gelangt, können sie nicht ohne Weiteres und ohne größeren Aufwand wieder zu neuen Formen finden; das heißt, die Anpassung an sich verändernde soziale Umwelten erfolgt entweder verzögert oder nur teilweise oder gar nicht. In der Sprache Loewalds: »Das Es – in der archäologischen Analogie einer tieferen, früheren Schicht vergleichbar – ist mit seiner entsprechenden ›früheren‹ Umwelt ebenso zusammengebunden wie das Ich mit seiner ›neueren‹ Realität. Das Es ist mit der ›Anpassung‹ ebenso befaßt und ihr Geschöpf wie das Ich – nur auf einer ganz anderen Organisationsstufe.«149 Die ›A-sozialität‹ der sozial erworbenen Triebe ergibt sich damit aus psychischen Repräsentanzenbildungen zu Interaktionsmustern, die im Widerspruch zu einer aktuellen intersubjektiven Situation stehen. Der Trieb wird so zu einem relationalen Phänomen; einer Kraft, die im intersubjektiven Feld verbindend oder trennend, anziehend oder abstoßend, konstruktiv oder destruktiv, entdifferenzierend oder differenzierend, in jedem Fall aber: strukturierend, wirkt, und welche verinnerlichte Repräsentanzen vergangener oder antizipierter Feldkonfigurationen konfrontiert mit der augenblicklichen. Diese verinnerlichten Repräsentanzen äußerlich erlebter Interaktionsmuster beinhalten dabei vollständig das Instanzenmodell der klassischen Psychoanalyse – also: Es, Ich, Über-Ich. Loewald unternimmt lediglich eine intersubjektive Anpassung dieses Instanzenmodells, indem er die Entstehung dieser Instanzen erklärt aus Triebenergien, die vermittels internalisierter Handlungsabläufe psychisch zu organisierter Form gelangt sind. Das geht deutlich hervor auch aus der Einschätzung, die Honneth zu Loewalds intersubjektiver Neukonzeption der freudschen Triebtheorie gibt: »Stets werden Teile der psychischen Antriebsenergie benutzt, um im Inneren funktionstüchtige Organisationseinheiten zu errichten, die sich als Ergebnisse der Internalisierung von in der Außenwelt erlebten Interaktionsmustern verstehen lassen; und in diesem Differenzierungsprozess, der zunächst das ›Ich‹, dann das ›Über-Ich‹ als kristallisierte Gestaltung von Triebenergie entstehen lässt, bleibt als archaischer Rest im Inneren stets das ›Es‹ bestehen, das im Vergleich mit den anderen Instanzen nur schwach integriert und organisiert worden ist.«150 Loewald behält also Freuds Instanzenmodell unter lediglich intersubjektiv geänderten Vorzeichen bei: Es, Ich und Über-Ich werden als Instanzen nicht lediglich in der Psyche verortet, sondern markieren verschiedene Organisationsgrade psychischer Strukdie Vorstellung von deren Negativität, d.h. von deren grundsätzlichen Widerspruch zum Anderen oder zur Gesellschaft, preisgeben. Vgl. dazu Joel Whitebook, »Die Arbeit des Negativen und die Grenzen des ›intersubjective turn‹. Eine Erwiderung auf Axel Honneth«; sowie: Axel Honneth, »Facetten des vorsozialen Selbst. Eine Erwiderung auf Joel Whitebook«; beides in: Martin Altmeyer/Helmut Thomä (Hg.), Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse, a.a.O., S. 314 – 352. 149 Hans W. Loewald, »Zur therapeutischen Wirkung der Psychoanalyse«, a.a.O., S. 221. 150 Axel Honneth, »Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identität. Über das vermeintliche Veralten der Psychoanalyse«, a.a.O., S. 158.

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tur, deren Ausgangspunkt wiederum ein und dieselbe geringer organisierte Triebenergie ist.151 An dieser Stelle sei noch einmal auf Honneth verwiesen, der die Bedeutung dieser von Loewald angestoßenen Neuerung ganz deutlich wahrnimmt: »[…] [B]ahnbrechend scheint mir vor allem aber auch die Einsicht, die im Übrigen mit den Vorstellungen eines G.H. Mead oder John Dewey zusammenstimmt, daß die Ich-Leistungen oder die Über-Ich-Funktionen nicht als Gegenkräfte zu den Trieben verstanden werden dürfen, sondern als Formen ihrer organisierten Bündelung, eben als Gestaltgebungen von Triebenergie zu begreifen sind.«152 Und genau hier gilt es anzusetzen, will man die eingangs entwickelten Begrifflichkeiten des maßlosen Selbst wie des bemessenen Ich in ein Verhältnis setzen zu den Instanzen (Es, Ich, Über-Ich) der klassischen Psychoanalyse. Denn versteht man Ich-Leistungen wie Über-Ich-Funktionen als Gestaltgebungen, also als Ausformungen von Triebenergie, so lassen sich die Begriffe des maßlosen Selbst wie des bemessenen Ich fassen nicht nur als intersubjektiv divergierende Entsprechungen des freudschen ›Ich‹, sondern das maßlose Selbst müsste verstanden werden als die Summe derjenigen Bereiche des psychischen Raumes, die Ausdruck des Eros im weitesten Sinne sind; wo vom Eros dominierte Teile des Es nicht nur hinüberfließen in ein Ich und ein Über-Ich, sondern sich zu diesen, um mit Honneth zu sprechen, ›kristallisieren‹. Die Summe der aus verbindenden Eros-Impulsen hervorgegangenen Aspekte sämtlicher Instanzen und Repräsentanzen wäre das maßlose Selbst; dessen entdifferenzierende Qualität wiederum seine Entsprechung hätte in den entdifferenzierenden Dimensionen des intersubjektiven Prozesses. Abseits dieser inhaltlichen Definition (die im Übrigen dem Instanzenmodell weder etwas hinzufügt, noch etwas wegnimmt) erwiese sich das maßlose Selbst begrifflich gewissermaßen als intersubjektive ›Schablone‹, welche geeignet wäre, gedanklich über das stärker subjektivistisch konzipierte Instanzenmodell von Es, Ich, und Über-Ich ›ge-

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Hans W. Loewald: »Ich und Es, als psychische Strukturen verstanden, entwickeln sich innerhalb der psychischen Einheit, zu der sich das Neugeborene durch verwickelte Interaktionsprozesse zwischen widerstreitenden, konvergierenden und verschmelzenden psychischen Energieströmen heranbildet, die das entstehende psychische System umgeben und in seinem Inneren auftauchen; diese Interaktionen führen zur Organisation psychischer Struktur. Es kann nicht genug betont werden, daß diese Organisation in ganz entscheidender Weise dadurch mitbestimmt wird, daß die psychische Energie, die in den psychischen Systemen der Umgebung (für den Beobachter) waltet, weitaus komplexer und geordneter ist. Durch die Interaktion mit ihnen entstehen Motivationskräfte verschiedener Komplexitäts- und Integrationsgrade sowie stabile Motivstrukturen jeder Art in der sich neu entwickelnden psychischen Einheit, dem Kind. Auf dieser Basis, doch niemals ohne die Beibehaltung weiterer Interaktionen mit psychischen Kräften der Umwelt, können Interaktionsprozesse innerhalb des neuen Systems in verschiedene Formen strukturierter Organisation gebracht werden, wodurch höhere Motivationsebenen entstehen. Strukturen werden als mehr oder weniger systematisch stabile Organisationen psychischer Energie verstanden; mit ihrem höheren Potential beeinflussen sie die bewegliche Triebenergie und wandeln so ihre Strömungen in Motivationsenergie höherer Ordnung um.« In: ders., »Über Motivation und Triebtheorie«, a.a.O., S. 91f. Axel Honneth, »Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identität. Über das vermeintliche Veralten der Psychoanalyse«, a.a.O., S. 158.

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legt‹ zu werden, um jenes eben als ›kommunikativ verflüssigt‹153,154 und in Beziehung zum intersubjektiven Prozess stehend betrachten zu können. Umgekehrt stände das 153

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Martin Dornes gibt – unter Rückgriff auf eben jene Metapher des Flüssigen – eine Einschätzung wie ein intersubjektiv ausgerichtetes Instanzenmodell zu verstehen wäre. So diskutiert er in seiner Schrift Die Modernisierung der Seele unter anderem die These einer »[…] kommunikativen Verflüssigung des psychischen Apparates, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen verflüssigen sich die Substrukturen Es, Ich, Überich als weniger triebfeindlich und rigide, das Ich wird flexibler und kreativer. Zum anderen aber – und das ist mit kommunikativer Verflüssigung gemeint – verändert sich auch das Verhältnis dieser Instanzen zueinander. Ihr vormals antagonistisches Verhältnis wird dialogischer. Ich und Überich sind nun geneigter, Es-Impulse anzuhören, sie zu prüfen und weniger schnell und rigide zurückzuweisen als früher. [Hervorhebung durch Dornes]« In: ders., »Die Modernisierung der Seele«; in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 64. Jg., 11/2010, S. 1008. Unter der Metapher der ›kommunikativen Verflüssigung‹ bietet Dornes also eine intersubjektive Perspektive auf das klassische Instanzenmodell, die weitreichende Übereinstimmungen aufweist zu jener, welche das maßlose Selbst einzunehmen erlaubt. Hervorzuheben ist, dass auch Dornes hier nicht die Begrifflichkeiten des klassischen Modells (Es, Ich, Über-Ich) preisgibt, sondern jene nur als kommunikativ ineinander ›verflüssigt‹ versteht; ebenso fügt das maßlose Selbst dem klassischen Instanzenmodell weder etwas hinzu, noch nimmt es ihm etwas weg, sondern erlaubt es – aus diesem selbst heraus – dessen Komponenten bloß in einem anderem Verhältnis zueinander stehend zu denken. Im selben Essay verweist Dornes überdies in einer Anmerkung auf Metaphern, die wie kaum andere dazu geeignet scheinen, das bemessene Ich zu umschreiben; nämlich wenn er psychische Dispositionen anführt, die, so ließe sich formulieren, als Entsprechungen einer rigide strukturierten sozialen Umwelt zu begreifen wären. Denn gerade die für den Anbruch der Moderne typischen männlichen Psychostrukturen seien oftmals bildhaft beschrieben worden als »Metall-Ich«, »Bunker-Person«, oder »Charakterpanzer« – allesamt Zuschreibungen für solche Aspekte psychischer Repräsentanzen- und Instanzenbildungen, denen »eine panische Abwehr des Weichen, Flutenden, Verschmelzenden« attestiert werden könne. In: ders., »Die Modernisierung der Seele«, a.a.O., S. 1014f. Eviatar Zerubavel widmet sich der Untersuchung von mentalen Grenzziehungs- und Entgrenzungsprozessen, was nicht nur an Loewalds Differenzierungs- und Entdifferenzierungsvorgänge denken lässt, sondern damit eben auch Analogien zum Maßlosen und Bemessenen aufweist. Drei Formen mentaler Zustände beschreibt er – ›rigid mind‹, ›fuzzy mind‹ und ›flexible mind‹: »The rigid mind typically envisions a highly compartmentalized world made up of sharply delineated insular entities seperated from one another by great divides. The fuzzy mind, by contrast, invokes a world made up of vague essences fading gradually into one another. […] Instead of clear cut distinctions, it highlights ambiguity«; und schließlich: »Flexibility entails the ability to be both rigid and fuzzy.« In: Eviatar Zerubavel, The Fine Line. Making Distinctions in Everyday Life, Chicago/London 1993, S. 115 und S. 120. Dabei verweist er auch auf Freuds ›ozeanisches Gefühl‹: »Indeed ever since Freud [unter Verweis auf Sigmund Freud, Civilization and its Discontents, New York 1962, S. 11f und S. 15, durch Eviatar Zerubavel], our earliest experience has often been described as an ›oceanic‹ experience, evoking the sensation of lying in the midst of an infinitive expanse of wavy, vague, watery essences gradually flowing-fading into one another. Such fluid experience of reality is the distinctive hallmark of the infants mind in particular and of an entiry mind-set that sharply contrasts with rigidity in general. [Eig. Hervorhebung]« In: ebd., S. 82. Die Konzeptionen des maßlosen Selbst wie des bemessenen Ich lassen sich so bis zu einem gewissen Grad, wenigstens aber unter dem Aspekt ihrer kommunikativen Verflüssigung bzw. Verhärtung, durchaus an die von Zerubavel fluide oder rigide gedachten Formen mentaler Zustände anschließen. Freilich blieben dann aber psychoanalytische Fragen (wie etwa die nach der triebtheoretischen Dimension, dem Verhältnis von präödipalen bzw. ödipalen Strukturierungen, oder nach der Verortung im klassischen Instanzenmodell) – anders als unter einer Bezugnahme auf Martin Dornesʼ vorgängig geschildertes Verständnis einer kommunikativen Verflüssigung psychischer Strukturen – ungeklärt.

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bemessene Ich für all jene Aspekte von Repräsentanzen und Instanzen, die in Erfahrungen der Getrenntheit in Beziehungen zum Selbst, zu Anderen und zur Welt gründen; ja, deren Differenziertheit zudem in engster Relation zum Thanatos steht. Dieser allein ist es ja, der sich äußert in der Auflösung von Verbundenem, in der Trennung von Gemeinsamen, in der Bemessung des Maßlosen, oder, wie Haas in einem psychoanalytischen Essay schreibt: »Zerstörung ermöglicht erst Differenzierungen in Innerhalb und Außerhalb, stellt gewaltsame Gründung dar.«155 Dass dabei aus einem ursprünglich zerstörerischen Akt sich später ein schöpferischer Prozess ergeben könnte, steht außer Frage. Und genau diese Ambivalenz und Paradoxie, die dem Wechsel von differenzierenden und entdifferenzierenden Vorgängen zukommt, ist es, die ja auch dem Verhältnis von Eros und Thanatos grundsätzlich zu eigen ist. So wie letztere sich gegenseitig durchdringen, vermischen und wieder auseinander hervorgehen, müsste also analog das Verhältnis von maßlosem Selbst und bemessenem Ich zueinander begriffen werden; nicht als einmal entstandenes und fortan bestehendes statisches Muster divergierender Aspekte innerhalb von Repräsentanzen- und Instanzenbildungen des psychischen Raumes, sondern als prozessuales und permanentes wechselseitiges Durchdringungsund Verwandlungsgeschehen. Dass dieses intrapsychische Geschehen in höchstem Maße verschränkt ist mit extrapsychischen Vorgängen hat Loewald vermittels seiner Ausführungen zur Genese der psychischen Struktur aus Internalisierungen äußerlich erlebter ›Interaktionsmuster‹ zu veranschaulichen versucht. Dabei beinhalten jene von Loewald als grundsätzlich differenzierend oder entdifferenzierend wirkend gedachten ›Interaktionsmuster‹ zweifellos vollständig die Vorstellungen vom maßlos Gemeinsamen wie bemessen Einsamen als antagonistische Modi im intersubjektiven Prozess. Jene aber sind nicht allein Entsprechungen des maßlosen Selbst wie des bemessenen Ich im sozialen Raum, sondern zunächst einmal auch Ausdruck einer basalen Divergenz in Beziehungen ganz allgemein, um die schon die klassische Psychoanalyse wusste. So ist es niemand anderer als Freud selbst, der die Auffassung vertritt: »Im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der Andere […] als Helfer und als Gegner in Betracht, und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie in diesem erweiterten, aber durchaus berechtigten Sinne. [Eig. Hervorhebung]«156 . Und aus dem Bereich der klassischen Sozialwissenschaft ist es Tönnies, der früh schon Beziehungen unterteilt in »bejahendes oder verneinendes Verhalten eines Menschen gegen andere, […] nämlich Liebe oder Hass.«157 Geradezu um eine triebtheoretische Untermauerung bemüht, mutet die Einschätzung sozialer Relationen an, welche Tönnies hier gibt.158 Sicherlich findet sich

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156 157 158

Eberhard Th. Haas, »Opferritual und Behälter. Versuch der Rekonstruktion von ›Totem und Tabu‹: Weitere Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker«; in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Jg. 54, 11/2000, S. 1130. Sigmund Freud, GW XIII, S. 73, zitiert nach Alfred Lorenzer; in: ders., Über den Gegenstand der Psychoanalyse oder: Sprache und Interaktion, Frankfurt a.M. 1973, S. 84. Siehe dazu: Ferdinand Tönnies [1887], Gemeinschaft und Gesellschaft: Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 1963, S. 104. Unschwer lassen sich in der von Tönnies gegebenen Einschätzung sozialer Beziehungen als grundsätzlich solche, die den Willen des Anderen tendenziell erhalten bzw. zerstören, also: ›bejahen‹ oder ›verneinen‹, zumindest sprachlich Bezüge zu Arthur Schopenhauer vermuten; dieser hatte in

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in diesen von Freud und von Tönnies gegebenen Einschätzungen zum Wesen sozialer Beziehungen auch ganz deutlich die eingangs anhand von Loewald und Stern gewonnene Auffassung wieder, dass es Formen verbindender wie trennender Kommunikation und Interaktion sind, welche im intersubjektiven Prozess als vermittelnde Dynamiken wirken (nämlich zwischen maßlosem Selbst/bemessenen Ich einerseits und maßlos Gemeinsamem/bemessen Einsamen andererseits). Und vielleicht erschlösse sich die triebtheoretische Reichweite der Termini verbindender bzw. trennender Kommunikation und Interaktion noch deutlicher, spräche man diesbezüglich von konstruktiven bzw. destruktiven Sprachund Handlungsmustern. Um sich nun aber nicht voreilig in sprachlichen Feinheiten zu verlieren, sei darauf hingewiesen, dass eine auch inhaltlich noch tiefergehende Entfaltung der bislang gegebenen Begriffe möglich sein wird im Anschluss an die nun folgende Betrachtung der von Alfred Lorenzer betriebenen intersubjektiven Wendung der

seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung ja unterschieden zwischen der ›Bejahung des Willens zum Leben‹ und der ›Verneinung des Willens zum Leben‹. Es stellt sich überdies rein spekulativ die (hier nicht zu klärende) Frage, inwiefern, und ob nicht über Tönnies (der tatsächliche weitreichende Übereinstimmungen bis in die Formulierungen hinein zu Freuds späteren triebtheoretischen Arbeiten aufweist) auch zentrale Überlegungen Schopenhauers in Freuds Konzeption ihren Eingang gefunden haben; denn der blinde Drang, der den schopenhauerschen ›Willen‹ kennzeichnet, scheint sich zu spiegeln in Freuds Auffassung vom Wesen des Triebs; ebenso scheint die von Schopenhauer aufgemachte Unterscheidung in ›Bejahung des Willens zum Leben‹ und ›Verneinung des Willens zum Leben‹ trotz aller theoretischen Andersartigkeit im Grunde so unähnlich nicht zu sein dem Konzept von Eros (Lebens- und Liebestrieb) und Thanatos (Todestrieb); und nicht zuletzt war es ja gerade Schopenhauer, der mit seiner Betonung des ›Willens‹ innerhalb der von Kant vorgezeichneten Konstellation von Subjekt und Objekt einen ersten irrationalen Kontrapunkt gesetzt hatte zur ebenfalls von Kant ihren Ausgang nehmenden hegelschen Philosophie des ›Geistes‹. Beide Linien erfuhren schließlich ihre materialistische Wendung: die eine durch Freud, die andere durch Marx. Denn der freudsche Materialismus, der ausgehend vom körperlichen Bedarf die Triebstruktur und letztlich die Psyche denkt, ist nicht grundsätzlich verschieden vom marxschen, welcher ausgehend von der gesellschaftlichen Basis, den Produktionsverhältnissen, letztlich den ideellen Überbau denkt. So wie Marx die hegelsche Philosophie des Geistes gewendet hatte zum ›Sein, das das Bewusstsein bestimmt‹ (und damit ja durchaus das hegelsche Denken das marxistische erst ermöglicht hatte), darf umgekehrt vermutet werden, dass die Bedeutung Schopenhauers als Wegbereiter einer Erkenntnis des Dunklen, Drängenden und Irrationalen gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Vielleicht konnte nur über den von Schopenhauer eingeschlagenen Weg am Ende die freudsche ›Entdeckung‹ des Unbewussten und die Entwicklung der Triebtheorie stehen; zumindest aber muss Freud (selbst gesetzt den Fall, er hätte nicht wissentlich Bezug genommen auf Schopenhauer) allein schon aufgrund der offensichtlichen metatheoretischen Querverbindungen zu jenem, als in jener Traditionslinie stehend, und diese entscheidend weiterentwickelnd, begriffen werden. Dass nun aber ausgerechnet die Kritische Theorie der Frankfurter Schule sich seit je in vielfältigsten Versuchen anschickt, jene beiden von Kant ihren Ausgang nehmenden großen Traditionslinien wieder aufeinander zu beziehen, muss nicht nur als großes Wagnis gesehen werden, sondern gerade auch als Ansinnen, das aufklärerische Potenzial beider Linien zusammenzuführen und zu bündeln. Noch heute begegnet dieses Unterfangen nicht nur als Bemühen um eine Verbindung neofreudianischer mit neomarxistischen Konzeptionalisierungen im Besonderen, sondern auch ganz allgemein als Unterfangen, Psychoanalyse und Sozialwissenschaften zu verknüpfen – oder aber doch mindestens in einen Dialog miteinander treten zu lassen.

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freudschen Triebtheorie, welche sich im Übrigen nicht nur als in hohem Maße kompatibel zur loewaldschen Revision erweist, sondern auch als geeignet, die Triebtheorie endgültig auf eine gesellschaftstheoretische Perspektive hin zu öffnen.   Parallelen zwischen Loewald und Lorenzer – Über ›Interaktionsmuster‹ bzw. ›Interaktionsformen‹ ■ Bohleber zeigt die grundsätzliche Intention Lorenzers auf: »Alfred Lorenzer, der sich von der Ich-Psychologie abgewandt hatte, weil sie das kritische Potenzial der Psychoanalyse verfälsche, wollte eine neue, intersubjektiv ausgerichtete Metatheorie entwickeln, in der sich die Psychoanalyse als eine gesellschafts- und ideologiekritische Methode der Selbstreflektion begreift.«159 Abgesehen davon, dass Lorenzer damit eine auch gesellschaftskritische Ambition verfolgt, die sich bei Loewald in dieser Form nicht findet, teilen beide die Aversion gegen die damals dominante, (aber von ihnen als unkritisch empfundene) Ich-Psychologie.160 Das wirklich verbindende zwischen Loewald und Lorenzer jedoch ist viel bemerkenswerter und von theorieimmanenter Natur. Loewald wie Lorenzer kreisen immer wieder um wohl dieselbe zentrale Schnittstelle zwischen Physis, Psyche und Sozialem. Loewalds ›mnemische Bilder‹ (psychomotorisch verinnerlichte Bilder von Interaktionsmustern)161 finden bei Lorenzer ihre Entsprechung als »ins Subjekt eingegangene Interaktionsmuster, oder, um es genauer […] zu formulieren: […] Interaktionsformen, die das Subjekt ausmachen. [Hervorhebung durch Lorenzer]«162 Loewald und Lorenzer eint ein in der Essenz identisches Verständnis des Interaktionsmusters bzw. der Interaktionsform. Beide beziehen sich dabei auf den von Freud eingeführten Begriff der ›Erinnerungsspur‹163 , den sie interpretieren als verinnerlichte Interaktionserfahrungen mit prägenden Personen, die die Formung der psychischen Instanzen und Repräsentanzen erst einleiten. Beinahe nahtlos fügt sich in diesem Punkt das Denken Loewalds in das Lorenzers. Denn auch Lorenzer siedelt den Beginn der Kreierung und Strukturierung der Triebe, und damit auch die Entstehung der Psyche, in frühkindlichen Interaktionserfahrungen an: »Um es zu wiederholen: Subjektive Strukturen sind Produkte des praktisch-dialektischen Prozesses der Sozialisation. Die körperlichen Regungen des Kindes, seine durch 159

Werner Bohleber, »Intersubjektivismus ohne Subjekt? Der Andere in der psychoanalytischen Tradition«; in: Martin Altmeyer/Helmut Thomä (Hg.), Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse, a.a.O., S. 212f. 160 Stephan A. Mitchell: »Obwohl Loewald sich manchmal mit der Ich-Psychologie als der damals vorherrschenden Denkrichtung in der Psychoanalyse identifizierte, unterschied sich seine Ichpsychologie vom psychoanalytischen Mainstream, dessen Hauptquelle Hartmanns Arbeit war. Dieser ist der oft ungenannte Gegenspieler in vielen von Loewalds Aufsätzen. Sein letztes Buch Sublimation […], als Brückenschlag zwischen primären Triebstrebungen und menschlichen Intelligenz- und Kulturleistungen gedacht, war in vielerlei Hinsicht ein Alternativansatz zu Hartmanns Konzept der ›Triebneutralisierung‹. [Hervorhebungen durch Mitchell]« In: ders., Bindung und Beziehung. Auf dem Weg zu einer relationalen Psychoanalyse, a.a.O., S. 72f. 161 Vgl. Hans W. Loewald, »Über Motivation und Triebtheorie«, a.a.O., S. 112. 162 Alfred Lorenzer, Über den Gegenstand der Psychoanalyse oder: Sprache und Interaktion, Frankfurt a.M. 1973, S. 98. 163 Vgl. Hans W. Loewald, »Über Motivation und Triebtheorie«, a.a.O., S. 112f (siehe Anmerkungen); sowie: Alfred Lorenzer, Die Sprache, der Sinn, das Unbewusste. Psychoanalytisches Grundverständnis und Neurowissenschaften, Stuttgart 2002, S. 144.

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Bedürfnisse ausgelösten Bewegungen, werden stets in ›bestimmter Weise‹ beantwortet und gewinnen stets im konkreten Zusammenspiel mit der Mutter ihre Form. Was anfänglich ungerichtet, eine organismische Entladung eines noch unprofilierten Körperbedarfs war, wird schließlich zum Bedürfnis, das sich mehr und mehr aus der Fülle vieler Möglichkeiten in festen Formen realisiert.«164,165 Auch bei Lorenzer wird so der maßlose Bewegungsdrang des Neugeborenen innerhalb der Mutter-Kind-Interaktion zu angemessenen Ausdrucksformen geformt; und auch bei Lorenzer geschieht dies vermittels unbewusster Verinnerlichung äußerlich erlebter Interaktionsmuster bzw. -formen. Die Erinnerungsspur entspricht dabei der unbewussten Verinnerlichung der erlebten Interaktion, während die Erinnerung den bewussten Akt darstellt. Dabei ist die Erinnerungsspur als Unbewusstes eng verwoben mit dem Es: »Mit dieser Einsicht haben wir dem Freudschen Begriff der Erinnerungsspur seine energetische Sprengkraft zugefügt: Das Unbewusste besteht nicht aus wirkungslosen […] Erinnerungsspuren. Es geht um ›Triebwünsche‹. Unter der Bezeichnung Erinnerungsspur […] weist der Triebwunsch auf seine Herkunft aus sozialen Lernprozessen, in der Synthese von gesellschaftlicher Formbildung und jener ›Anlage‹, die wir auch die ›innere Natur‹ heißen können. Unter der Bezeichnung ›Triebwunsch‹ zeigen die […] Erinnerungsspuren jenes energetische Potential, das als Trieb kategorisch die Erfüllung der Lebensbedürfnisse in derjenigen Form verlangt, die wunschgerecht ist.«166 Rekapituliert man die zentralen Aussagen dieser Passage, wird deutlich, dass Lorenzer mit seiner Vorstellung, soziale Lernprozesse erzeugten den Triebwunsch, ganz bei Loewald ist, der ja die Auffassung vertritt, dass in Interaktionen nicht nur Triebwünsche artikuliert werden, sondern sie durch diese auch erst kreiert bzw. organisiert werden.167 164 Alfred Lorenzer, Über den Gegenstand der Psychoanalyse oder: Sprache und Interaktion, a.a.O., S. 104. 165 Es gilt darauf zu verweisen, dass auch Lorenzer den Begriff ›Mutter‹ nicht zwangsläufig synonym setzt zur biologischen Mutter, sondern unter ›Mutter‹ versteht, »die von einer oder mehreren [eig. Hervorhebung] Personen eingenommene Position des primären Bezugsobjektes«. In: Alfred Lorenzer, »Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie«, in: Jürgen Habermas/Dieter Henrich/Jacob Taubes (Hg.), Alfred Lorenzer. Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie, Frankfurt a.M. 1972, S. 130, siehe Anmerkung. Ebd. schreibt Lorenzer auch bzgl. des ›Angebotes‹ verschiedener Interaktionsformen, die das kindliche Subjekt so von mehreren ›Müttern‹ erhält: »Aufschlußreich ist der Fall, wenn neben der neurotischen Mutter eine andere einfühlungsfähigere, aber zweitrangige Bezugsperson vorhanden ist. Ob das Kind in der Lage ist, sich die bessere Wechselbeziehung auszusuchen, hängt offensichtlich von zwei Momenten ab: von dem Ausmaß der realen und d.h. von den beiden ›Müttern‹ übernommenen Interaktion, entscheidender aber noch davon, inwieweit die zweite Person die Mutter abgelöst hat in der Mutter-Kind-Dyade.« 166 Alfred Lorenzer, Die Sprache, der Sinn, das Unbewusste. Psychoanalytisches Grundverständnis und Neurowissenschaften, a.a.O., S. 144. 167 Auch Hans-Joachim Buschs Kommentar zu Lorenzers Sicht auf den Triebwunsch lässt deren Ähnlichkeit zu Loewalds Verständnis der Kreierung und Organisation der Triebe über soziale Interaktionsmuster, ›mnemische Bilder‹, die sich in Physis und Psyche eingravieren, noch einmal deutlich aufscheinen: »Triebwünsche sind also psychophysische Grundmuster, sie sind Resultate der gesellschaftlichen Formbildung des Körpers. [Hervorhebung durch Busch]« In: ders., »Symbol, Intersubjektivität, innere Natur. Zu Alfred Lorenzers Verknüpfung von Psychoanalyse und kritischer Gesellschaftstheorie«; in: Hans-Joachim Busch/Marianne Leuzinger-Bohleber/Ulrike Prokop (Hg.), Spra-

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Lorenzer und Loewald liegen auch beieinander in ihrer Ansicht, dass in der Vergangenheit erlebte Interaktionsmuster bzw. -formen (einschließlich des darin zum Ausdruck gelangten und organisierten Triebpotenzials) auf Wiederholung auch in Zukunft drängen und damit Konfliktpotenzial in gegenwärtige, psychosoziale Konstellationen einbringen. Dabei kommt der unbewussten Erinnerungsspur jener Wiederholungszwang zu, der charakteristisch ist für Triebregungen: »die Erinnerungsspur soll immer wieder realisiert werden in neuen erlebnisgerechten Interaktionen.«168 Die in der Vergangenheit einmal eingeleitete Strukturierung der Triebe schleift sich ein in psychische Haltung und soziales Verhalten als Erwartung ähnlich gelagerter Formen der Bedürfnisbefriedigung auch in der Zukunft. Lorenzer geht allerdings insofern über Loewald hinaus, dass er nicht allein den interpersonellen Prozess für subjektive Strukturierung verantwortlich macht, sondern stärker die gesellschaftliche Konstellation mitdenkt, in welche interpersonelle Prozesse eingebettet sind. Psychische Strukturierung geschieht für Lorenzer nicht nur entlang von Kommunikation und Interaktion, sondern entlang der spezifischen Formen, die Kommunikation und Interaktion unter gesellschaftlicher Einwirkung angenommen haben. Die Formung der subjektiven psychischen Struktur schon in der Mutter-Kind-Interaktion erweist sich so als Teil einer komplexen Dialektik zwischen Individuum und Gesellschaft: »Dialektisch ist dieser Prozeß deshalb, weil in jede Form zweierlei zugleich eingeht, nämlich die körperliche Ausgangslage des Kindes auf der einen Seite und die ›gesellschaftliche Praxis‹, die über die Mutter an das Kind herangebracht ist, auf der anderen Seite. Das, was sich realisiert, ist mithin Produkt einer Einigung, wobei dieser Ausdruck selbstverständlich als präsubjektiv-praktischer Vorgang zu verstehen ist. Die Einigung vollzieht sich im Medium unmittelbarer Interaktion, weshalb sich sagen läßt, subjektive Struktur oder, schärfer ausgedrückt, Subjektivität ist nichts anderes als der Niederschlag der konkreten Interaktionen, die bei diesem Kind, in diesem Moment der Lebensgeschichte und zu diesem geschichtlichen Zeitpunkt stattfanden. [Hervorhebungen durch Lorenzer]«169 Es sind also nicht nur die individuellen Spezifika der Bezugsperson, die Art wie sie spricht, wie sie auf das Kind eingeht, wie sie seine Bedürfnisse befriedigt, welche die jeweiligen psychischen Strukturierungen des Kindes hervorrufen – sondern zu einem nicht unwesentlichen Anteil die gesellschaftlichen Konventionen, die soziokulturellen und soziohistorischen Kontexte, welche Eingang gefunden haben bereits in die psychische Strukturierung der Bezugsperson, in ihre Haltung, in ihr Verhalten, und damit in die Art, wie sie spricht, wie sie auf das Kind eingeht, wie sie auf seine Bedürfnisse reagiert. So ist die Ausprägung der individuellen Triebstruktur letztlich verkoppelt mit der Struktur der Gesellschaft. Dieser Gedanke ist es, der Lorenzer in eine Tradition mit Marcuse setzt, der ja ebenfalls Triebstruktur und Gesellschaft als miteinander

che, Sinn und Unbewußtes. Zum 80. Geburtstag von Alfred Lorenzer, Psychoanalytische Beiträge aus dem Sigmund-Freud-Institut, Bd. 10, Tübingen 2003, S. 52. 168 Alfred Lorenzer, Die Sprache, der Sinn, das Unbewusste. Psychoanalytisches Grundverständnis und Neurowissenschaften, a.a.O., S. 144. 169 Alfred Lorenzer, Über den Gegenstand der Psychoanalyse oder: Sprache und Interaktion, a.a.O., S. 104.

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verkoppelt begriffen hatte. Die Triebstruktur des Menschen, die an der Basis seiner psychischen Struktur steht, erweist sich demnach historisch im selben Maße wandelbar, wie die Gesellschaftsformationen zu denen sie in einem dialektischen Verhältnis steht. Lorenzer schreibt: »Schon der Trieb ist nicht ›ahistorisch‹, denn die Organisation des Körperbedarfs zu konkreten Triebbedürfnissen ist bereits Produkt praktischer Dialektik, nicht ihr Fundament. Umgekehrt ist das gesellschaftlich Objektive nicht dem Subjekt ›äußerlich‹. Drückt man sich genau aus, so kann man auch nicht davon sprechen, gesellschaftliche Normen würden ›internalisiert‹, sie sind vielmehr als vermittelte Praxis vorweg konstitutiv fürs Subjektive.«170 Wenn nun aber gesellschaftliche Praxis von vorneherein konstitutiv fürs Subjektive ist, so finden gesellschaftliche Widersprüche Eingang in die subjektive Struktur. Von dort wiederum wirken sie zurück ins Soziale über die Sprach- und Handlungsmuster, in denen sich das Individuum bewegt. Um aber den Vorgang dieser Verschränkung von Individuum und Gesellschaft besser zu verstehen, ist es angebracht, mit Lorenzer einen nochmals differenzierteren Blick darauf zu werfen, wie gesellschaftliche Praxis vermittels von Interaktionsformen eingeht in die Konstitution des Subjekts. Dazu ist es auch nötig, die Unterschiede zwischen kommunikativen und interaktiven Prozessen generell, aber gerade auch speziell in der Mutter-Kind-Dyade, noch einmal schärfer herauszuarbeiten. Denn Kommunikation bezeichnet für Lorenzer symbolisch vermittelte intersubjektive Austauschprozesse (letztlich also ›Sprache‹ auch im weitesten Sinn), wohingegen Interaktion lediglich auf die auch gestische Komponente des intersubjektiven Prozesses bezogen gedacht werden muss (also stärker auf die nicht-sprachliche Dimension des Handelns verweist).171 Und so versteht Lorenzer den zwischen Kind und primärer Bezugsperson sich schon vor Einführung der Sprache entspinnenden intersubjektiven Prozess als »Wechselbeziehung im praktischen Umgang«, welche sich vor allem vollzieht in »Körperbewegungen, Handgriffen, Gesten«.172 »Die eingespielte Interaktionsform ist gestisches Zusammenspiel.«173 Den Begriff des ›Zusammenspiels‹, der als eine Umschreibung der Dimension des Gemeinsamen im intersubjektiven Prozess gewertet werden darf, ergänzt Lorenzer noch durch den der »Einigungssituation«174 . Sie bezeichnet die Ausrichtung kindlicher Körperbedürfnisse entlang der »›formgebenden‹ Körpervorgänge der Mutter«175 . Die ›Einigungssituation‹ geschieht also als gestisch vermitteltes »Ineinander von Körpervorgängen«176 , welche hervorstechen aufgrund »ihrer gegenseitigen handlungsregulierenden Abgestimmtheit«177 . Grobe Störungen die170 Ebd., S. 105. 171 Alfred Lorenzer: »Kommunikation ist ja, soll der Begriff mehr sein als die bloße Verdoppelung von Interaktion, zwingend an Symbolprozesse gebunden.« In: ders., »Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie«, a.a.O., S. 50. 172 Ebd., S. 49. 173 Ebd. 174 Ebd., S. 50. 175 Ebd. 176 Ebd. 177 Ebd.

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ses Wechselspiels dahingegen (wie sie beispielsweise im Syndrom des Hospitalismus zu beobachten wären)178 , ließen die ›Einigungssituation‹ insofern nicht zustande kommen, als entweder die gestische Komponente der Interaktion keine Rücksicht auf die bereits in die Ausbildung der kindlichen Bedürfnisse Eingang gefundenen früher erlebten Interaktionen nimmt oder insofern Interaktionsmodi an das Kind transportiert werden, die nicht geeignet wären, an das von ihm bereits verinnerlichte Repertoire an Interaktionsformen anzuknüpfen. Eine nicht zustande kommende ›Einigungssituation‹ könnte nun aber vom Kind trotz einer gewissen Irritation verschmerzt werden, wäre ihm der Rückgriff auf andere, stabilisierende Internalisierungen möglich; fehlten aber selbst diese, würde, je nach Ausmaß der konkret erlebten Überforderung, eine Traumatisierung nicht ausbleiben können.179 Das Kind erlebte eine Dimension des Einsamen im intersubjektiven Prozess, eine Zurückgeworfenheit, die aufzufangen nur früher internalisierte Formen des Gemeinsamen in der Lage wären. Wo diese nicht oder nur rudimentär ausgebildet sind, bildete sich nun statt der Internalisierung eines Austauschprozesses die Verinnerlichung einer Geschiedenheit, einer Trennung von sich, den Anderen und der Außenwelt.180 Je nachdem in welcher Entwicklungsphase oder bezüglich welcher Interaktion diese ›Lücke‹ sich einprägte, äußerten sich die später daran anknüpfenden weiteren internalisierten Interaktionsmuster unweigerlich als defizitär; eine ›Verzerrung‹181 , wie Lorenzer es formuliert, hätte Eingang genommen ins Ensemble verinnerlichter Interaktionsformen; eine Verzerrung, herrührend nicht nur aus einem Mangel in der persönlichen Fähigkeit der Bezugsperson, ›Einigungssituationen‹ herzustellen, sondern gegebenenfalls auch wurzelnd in einer bereits verzerrten gesellschaftlichen Praxis (z.B. durch mangelhafte Fürsorgesituation im Heim oder Hort aufgrund schlechter Ausbildung oder Bezahlung von Betreuern bzw. im familiären Raum wegen Zeitdrucks auf die Mutter/den Vater aufgrund prekärer Beschäftigungsverhältnisse o.ä.). So wäre, vereinfacht dargestellt, die Art und Weise zu verstehen, wie (auch problematische) gesellschaftliche Praxis (in all ihrer Widersprüchlichkeit) Eingang fände schon in die früheste Subjektkonstitution. Die Ausbildung individueller Triebstruktur (denn die Erzeugung und Formung der Triebe geschieht ja, folgt man Loewald und Lorenzer, bereits innerhalb frühkindlicher Interaktionserfahrungen) ist so schon von Beginn an unweigerlich verkoppelt mit der Form, welche Gesellschaft angenommen

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Alfred Lorenzer: »Am Beispiel schwerster Störungen (etwa den Hospitalismusfällen) wird unschwer erkennbar, wie ›Einigung‹ verfehlt wird. Der Toleranzrahmen der kindlichen Anpassungsfähigkeit, d.h. der Einpassung seiner Körperbedürfnisse in angebotene Formen, wird überzogen. Versagung tritt hier nicht als vorübergehendes Formierungsmoment auf, sondern als Störung, als punktueller Abbruch der Wechselbeziehung.« Ebd., S. 128. 179 Vgl. ebd., S. 128ff. 180 Die hier geschehene implizite Subsumierung der lorenzerschen Begriffe des ›Zusammenspiels‹ wie der ›Einigungssituation‹ unter den Oberbegriff des Gemeinsamen erweist sich insofern als legitim, als dass beide zu verstehen sind als lediglich eine weitere begriffliche und inhaltliche Differenzierung des Modus des Gemeinsamen – genauso wie andererseits die ›nicht zustande kommende Einigungssituation‹, ›die Störung des Zusammenspiels‹, eine zusätzliche Differenzierung des Modus des Einsamen darstellt. 181 Vgl. Alfred Lorenzer, »Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie«, a.a.O., S. 129.

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hat – und ist damit verknüpft auch mit der konkreten Ausprägung der jeweiligen Produktionsverhältnisse.182 Doch nicht nur in vorsprachlichen Interaktionserfahrungen findet gesellschaftliche Praxis Eingang in die Subjektkonstitution, sondern auch in daran anschließenden sprachlichen Kommunikationserfahrungen; hier begegnet die Verschränkung gesellschaftlicher Praxis mit individuellen Repräsentanzen- und Instanzenbildungen unter der Einwirkung symbolischer Prozesse als lediglich noch einmal verkompliziert. Und es ist Symbolbildung, welche sich für Lorenzer darstellt als unabdingbare Voraussetzung zur Kommunikation. Die Einführung von Sprache hätte man sich demnach als Vorgang des Bezeichnens vorzustellen. Das gestische oder lautsprachliche Deuten auf etwas konstituiert dessen Bedeutung im Bewusstsein: Ein Sinnbild, ein Symbol, für etwas entsteht.183 Das Symbol lässt sich so verstehen als Abstraktum unter das sich alle Komponenten einer konkreten Erfahrung – sinnliche, emotionale, unbewusste, bewusste etc. – subsumieren lassen. Bemerkenswert ist, dass Lorenzer den Spracherwerb nicht versteht als ein Belegen von Dingen oder Personen mit Namen – sondern als ein Symbolisieren von Erfahrungsqualitäten, die das Subjekt mit jenen verbindet. So ist Spracherwerb direkt gebunden an die physische und psychische Erfahrung von Bedürfnisbefriedigung oder -versagung, die sich über verinnerlichte Interaktionsformen mit diesen Dingen oder Personen als Erinnerungsspur ins Subjekt eingegraben hat. Zwischen Sprache, Triebstruktur und Gesellschaft besteht so ein direkter und wechselseitiger Zusammenhang – dessen Rahmen intersubjektive Interaktionsformen bilden. Das Symbol, oder auch Sprachsymbol, als Abstraktum der konkreten Interaktionsform, bezeichnet so alle mit jener verbundenen sinnlich-emotional-kognitiven Erfahrungen des Subjekts. Lorenzer veranschaulicht dies folgendermaßen: »Schieben wir ohne weitere Diskussion die These ein, daß der entscheidende Schritt in der Bildung von Bewußtsein der Erwerb von Sprache ist. Was geschieht dabei? Um es kurz zu umreißen: Verfügt das Kind bereits über ein differenziertes Repertoire an zusammenhängenden Interaktionsformen und ist die Entwicklung so weit fortgeschritten, daß das Kind in der Lage ist, nicht nur Vertrautes von Unvertrautem zu scheiden, sondern auch wiederkehrende Situationen zu identifizieren und die Lautwerkzeuge instrumentell genügend zu beherrschen, so kommt es zur Einführung von Sprache. Dies geschieht, stilisiert dargestellt, folgendermaßen: Die Mutter spricht das Wort ›Mama‹, d.h. sie führt den Prädikator ›Mama‹ ein. Das begleitende gestische Moment hat den Charakter eines Hinweises, eines ›Zeigens auf‹. Worauf die Mutter zeigt 182

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Alfred Lorenzer: »Einzelpraxis aber ist – wo und wie immer sie ins Spiel kommt – dabei stets Teil gesamtgesellschaftlicher Dialektik zwischen den Polen ›innerer Natur und äußerer Natur‹. Sie ist damit abhängig von den Formen, in denen praktische Naturbewältigung sich vollzieht und d.h., sie ist abhängig von den Produktionsverhältnissen.« In: ebd., S. 135. Vgl. zur Bedeutung der Praxis des sprachlichen oder gestischen Deutens für die kindliche Entwicklung auch: Martin Dornes, »Die emotionalen Ursprünge des Denkens«, a.a.O., S. 9f. Hubert Knoblauch hat überdies (unter Rekurs auf Michael Tomasello) die Bedeutung des ›Fingerzeigs‹ im Hinblick auf den Zusammenhang von reziproken Relationen und Objektivierungen mehrfach ins Zentrum seiner Ausführungen gerückt. Vgl. dazu: Hubert Knoblauch: Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit, Kap. »Reziprozität, Relationalität und Positionalität«, Wiesbaden 2017, S. 103-118.

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(dies ist nun die wesentliche These in unserem Zusammenhang), ist nun nicht ein bereits abgegrenzter Gegenstand, ist weder die Mutter selbst noch das Kind, noch sonst irgendetwas – denn eben solche Abgrenzung und Erfahrung würde jenes Bewußtsein voraussetzen, das erst die Frucht der Einführung der Sprache sein kann. Worauf die Mutter allein hinweisen kann, ist die aktuelle Szene, d.h. die in einer bestimmten Form gegebene Interaktion. Die Mutter benennt also eine Interaktionsform, und das Kind spricht den Namen dieser Interaktionsform nach, verbindet sie mit einem Prädikator. [Hervorhebungen durch Lorenzer]«184 Spracheinführung ist so die Belegung von Interaktionsformen mit Bedeutung. Wenn das Kind ›Mama‹ sagt, verbindet es mit diesem Wort weniger die klar umrissene und außerhalb seiner selbst stehende Person, sondern es benennt damit die Erfahrung beispielsweise des Vertrauten, der Verbundenheit, kurz: die Empfindung des Gemeinsamen – oder aber auch die Erfahrung eingeschränkter Verfügbarkeit, der Abwesenheit, des Alleingelassen-Seins, kurz: die Empfindung des Einsamen. In der Regel werden wohl in unzähligen Interaktionsformen (d.h. konkreter: in diversen zustande- oder nicht zustande kommenden ›Einigungssituationen‹) beide Empfindungen in verschiedenen Mischungsverhältnissen produziert – und so gehen vielleicht in das positiv besetzte Sprachsymbol ›Mama‹ auch eine Reihe höchst ambivalenter Erfahrungen ein. Selbstverständlich dehnen sich die Interaktionsformen, mit denen das Kind konfrontiert wird auch über die primäre Bezugsperson aus: Kompliziertere als nur dyadische Interaktionsformen treten auf, und auch diese gilt es sprachsymbolisch zu benennen; auch non-personale Bezugspunkte entstehen, beispielsweise in Gestalt von Objekten.185 Und ebenso wie die Interaktionsformen analog zur Komplexitätssteigerung des Verhältnisses von Innen- und Außenwelt sich verkomplizieren,186 verkompliziert sich gerade mit dem Spracherwerb auch der Vorgang deren Internalisierung noch einmal bedeutend. Denn die zuvor bloß gestisch vermittelten Internalisierungen von Handlungsmustern erhalten unter dem Einfluss der Sprache eine normative Dimension: Normative Imperative werden nun im Medium der Sprache an das Kind herangetragen.187 Damit aber müssen auch nicht zustande kommende Einigungssituationen, oder auch schlicht widersprüchliche Interaktionsformen, analytisch als im Medium von Sprache transportierte begriffen werden. Widersprüchlich wäre nun aber eine Interaktionsform, die eine bereits vorgängig internalisierte Einigungssituation auflöst, um nun, sei es aus Willkür oder aus Kalkül, eine andere nicht nur neben sie, sondern an ihre Stelle zu setzen. Eine solche Widersprüchlichkeit läge im Bereich der Fortentwicklung des Repertoires an Interaktionsformen, insofern sie mit dem Fortschreiten des kindlichen Entwicklungsstands korrespondiert. Sie wäre aber problematisch, geschähe sie, ohne diesem Rechnung zu tragen. Mit Einführung der Sprache aber stellt sich jene Widersprüchlichkeit

184 Alfred Lorenzer, Über den Gegenstand der Psychoanalyse oder: Sprache und Interaktion, a.a.O., S. 106. 185 Zu objektbeziehungstheoretischen Implikationen siehe bspw. Donald W. Winnicotts weithin bekannt gewordenes Kap. »Übergangsobjekte und Übergangsphänomene«; in: ders., Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart 1973, S. 10-36. 186 Vgl. dazu die ausführliche Beschreibung dieses Vorgangs, in: Alfred Lorenzer, »Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie«, a.a.O., S. 123ff. 187 Vgl. ebd., S. 131.

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dem Kind nun nicht mehr allein als undurchschaubare dar, sondern es selbst gerät mehr und mehr in die Lage auch widersprechen zu können. Bezüglich der konkreten Praxis hieße das, dass »die Widersprüchlichkeit der Interaktion nun mehr erfahrener Widerspruch, d.h. Konflikt [Hervorhebungen durch Lorenzer]«188 wird. Die mütterliche Interaktionsform befindet sich so angesichts einer Reaktion auf die auch komplexer werdender Entwicklungsstadien des Kindes, in Anlehnung an Lorenzer formuliert, in einem ›Zangengriff‹ von zwei Seiten: einmal vom Kind her, und einmal von der Gesellschaft her.189 Auf Seiten des Kindes nämlich erhebt sich ›Einspruch‹ gegen die Ablösung bisher vertrauter Interaktionsformen durch neue, und unter Umständen rigidere; von Seiten der auch sprachlich vermittelten gesellschaftlichen Praxis wiederum wird die Mutter – zusätzlich zur eigens vorgenommenen Neujustierung des Verhaltens dem Kind gegenüber – dazu angehalten, das bisher eingespielte Repertoire an Interaktionsformen in ganz bestimmter (und analog zu gesellschaftlichen Normen tradierter) Weise dem aktuellen Entwicklungsstand anzupassen. Diese mit steigendem Entwicklungsstand des Kindes geschehende Transformation der mütterlichen Interaktionsform ist oft in zunehmenden Maß auch verbunden mit einer schrittweisen Gewöhnung des Kindes an einen Aufschub bzw. eine Verwehrung von Bedürfnisbefriedigung (was einer Verschärfung des Realitätsprinzips gleichkommt). Die Mutter (oder Bezugsperson) selbst erlebt dies als innerlich konfliktuös, genauso wie die äußerliche Gesamtsituation sich dann als konflikthafter erweist: »Weil es bei der Mutter selbst um unbewusste, d.h. ihrer Kontrolle und Reflexion entzogene Handlungsnormen geht, wird die verpönte Interaktionsform unter der Hand weiter gefördert, gleichzeitig aber wird von der bewußten mütterlichen Handlungsstrategie her die Auslöschung der verpönten Interaktionsformen und d.h. ihre Desymbolisierung, ihre Ausscheidung aus den in Sprache zu Wort kommenden Handlungsnormen betrieben. Abgehängt von den an Sprache gebundenen Handlungsanweisungen mit ihrer Möglichkeit der Verschiebung von Bedürfniserfüllung entlang der Verbindung systematisierten symbolvermittelten Handelns tritt im kindlichen Erleben das ein, was Freud schon frühzeitig unter dem Begriff der Fixierung abgewehrter Triebimpulse beschrieben hat: eine sekundäre Verfestigung verpönter Interaktionsformen. [Hervorhebungen durch Lorenzer]«190 Um das Ganze zu konkretisieren: Gesellschaftlich wirken im gegebenen Kulturkreis oder auch sozialen Milieu beispielsweise sprachliche Normative auf die Bezugsperson ein, die sich etwa mit den Phrasen ›Lass das Kleine auch mal schreien, das schadet nicht‹, oder ›Du darfst es nicht immer so verhätscheln‹ benennen ließen. Die Bezugsperson verweigert dem Kind dementsprechend (wie auch im Einklang mit der eigenen Einschätzung, dass ein Schritt zu größerer Unabhängigkeit des Kindes getan werden müsse) zunehmend die (in früheren Entwicklungsstadien übliche) augenblickliche Bedürfnisbefriedigung, transportiert diese Verweigerung auch in Sprache ans Kind und

188 Ebd. 189 Vgl. ebd. 190 Ebd., S. 132.

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verstößt dabei Worte oder auch nur Gesten (welche die frühere, stärker bedürfnisbefriedigende, aber nun ›verpönte‹ Interaktionsform bezeichnen) aus dem Kommunikationsund Interaktionszusammenhang. Gleichzeitig aber ›leidet‹ sie vielleicht mit dem nun aufgrund des Bedürfnisaufschubs ›leidenden‹ Kind mit, und trägt an dieses daher auch gegenläufige Sprach- und Verhaltensmuster heran, welche als Kompensation zur verweigernden Interaktionsform dienen, oder aber insgeheim doch rekurrieren auf die nun eigentlich ›verpönte‹. Jene wird ausgerechnet dadurch im nun (durch Desymbolisierung) entstehenden Unbewussten des Kindes verfestigt, oder mit Freuds Worten ›fixiert‹ – und entfaltet so in den Interaktionskontexten auch späterer Lebensstadien gerade daher ihre manchmal schöpferische, manchmal zerstörerische, aber immer: ›geheime‹, weil unbewusste, Wirkmächtigkeit.191 Jene Ambivalenz aber, das ›Doppelspiel‹, wie Lorenzer sagt, aus sprachlich offen tabuierter, aber insgeheim doch transportierter Interaktionsform, belegt Lorenzer mit dem Begriff ›Aufspaltung des Sprachspiels‹; die im Unbewussten internalisierte, aber eigentlich verpönte Interaktionsform wiederum, welche ja aus eben jener Desymbolisierung im Verbund mit einer Fixierung hervorgegangen war, bezeichnet er als ›Klischee‹.192 Diese im Unbewussten fixierten Klischees »sind stets abrufbereit, wenn entsprechende Situationsstimuli der Kindheit (im Auftreten der Erwachsenenneurose) sie erneut provozieren.«193 Alles in allem entwirft Lorenzer so ein hochkomplexes Bild möglicher Implikationen bei der Verinnerlichung äußerlich erlebter Kommunikations- und Interaktionsweisen, das hier bei Weitem noch nicht abschließend dargestellt werden konnte, und aus welchem er zum einen eine Vielfalt an psychoanalytisch-therapeutischen Zugängen ableitet, welches zum anderen aber auch sich als geeignet erweist, das sozialwissenschaftliche Verständnis von Sozialisation psychoanalytisch zu vertiefen. Dabei muss unbedingt auch darauf hingewiesen werden, dass Lorenzer, um hier nicht einen irreführenden Eindruck zu vermitteln, den Vorgang der Sozialisation (auch in seiner psychischen Dimension) selbstverständlich nicht nur in der Mutter-KindDyade vonstatten gehend denkt, sondern der Dyade eine hohe Bedeutung schlicht deshalb zumisst, da sie als primäre, grundlegende und daher mitunter auch folgenreichste Sozialisationsstufe verstanden werden muss. Alle daran anschließenden (sekundären) sozialisierenden Instanzen, seien sie aus dem privaten oder öffentlichen Umfeld, ›schreiben‹ die einmal geschehene Strukturierung der Psyche fort bzw. um, indem sie unaufhörlich, mehr oder weniger konfliktuös, weitere Interaktionsformen dem Gefüge bereits verinnerlichter hinzufügen, d.h. diese ›überschreiben‹, ergänzen, oder aber auch ablösen. So modifiziert sich mit der ständig vorangehenden Instanzen- und Repräsentanzenbildung permanent auch die Triebstruktur wie die Struktur der Psyche; und schließlich geschieht entlang deren Strukturierung die Gestaltung der Sprache wie 191

192 193

Lorenzers theoretischer Gedankengang erweist sich hier trotz seiner intersubjektiven Ausrichtung ein weiteres Mal als absolut kompatibel mit dem originären Freuds. Vermittels seines theoretischen Fokus auf die Interaktionsform gelingt es Lorenzer, sämtliche von Freud aufgemachten begrifflichen wie inhaltlichen Ebenen (Einsetzung des Realitätsprinzips, Fixierung usw.) zu bewahren – und sie lediglich einer intersubjektiven Neuausrichtung zu unterziehen. Vgl. Alfred Lorenzer, »Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie«, a.a.O., S. 132f. Ebd., S. 133.

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der Handlungen des Subjekts – zwar in durchaus sich verfestigenden Bahnen, jedoch potenziell immer wieder aufs Neue: »Nun haben wir im Gang unserer Erörterungen das Schicksal dieser Interaktionsformen nur bis zu dem Punkt verfolgt, wo sie in statu nascendi in der Einführungssituation von Sprache eingeübt werden. Wir können das weitere Schicksal hier nur andeutungsweise skizzieren. Wie schon erwähnt entwickelt sich aus den prädizierten Interaktionsformen das vielgliedrige System der Subjektrepräsentanzen (als Bilder des Selbst) und der Objektrepräsentanzen (als Bilder der Welt in ihrer Gegenständlichkeit).«194 Der Niederschlag äußerlich erlebter Kommunikation und Interaktion in innerlichen Interaktionsformen (und die daraus sich ergebende Strukturierung von Psyche wie Sprech- und Handlungsweise) vollzieht sich also selbstverständlich auch jenseits der viel zitierten und so basalen Mutter-Kind-Dyade. Dabei lassen sich, ohne nun zunächst näher auf die Vielzahl möglicher Praxisbeispiele einzugehen, einige grundlegende Charakteristika sowohl der Internalisierung als auch von Kommunikations- und Interaktionserfahrungen generell identifizieren. Denn was den Vorgang der Internalisierung betrifft, finden sich neben den Klischees (die, wie oben stehend erwähnt, aus Desymbolisierung im Verbund mit einer Fixierung im Unbewussten hervorgehen) noch weitere Implikationen des Symbolbildungsprozesses: nämlich ›Protosymbole‹ und ›Zeichen‹. Die von der sinnlichen Ebene losgelösten, abstrahierenden ›Zeichen‹ etwa müssten als »Gegenstück zu den Klischees«195 (die stark gestisch grundiert bleiben)196 begriffen werden, und zwar als »[…] Weiterentwicklung von Symbolen […] in denen der Zusammenhang mit den zugrunde liegenden Interaktionsformen unterbrochen ist, in denen also die Vergegenständlichung der Subjekt- bzw. Objektrepräsentanzen vorangetrieben wurde bis zur interaktionsblinden Verdinglichung. [Hervorhebung durch Lorenzer]«197 . ›Zeichen‹ sind, so Hans-Joachim Busch im Hinblick auf Lorenzer, »rein logisch-intellektueller Natur, emotionsfern, entbehren des szenischen Charakters; die Objekte werden einer lediglich nüchternen, distanzierten Behandlung teilhaftig.«198 Demnach erweisen sich Zeichen in vielfacher Hinsicht eben als Phänomene der Trennung. Das Trennende des Zeichens nämlich manifestiert sich (im Gegensatz zum verbindenden – weil umfassendere Bedeutungsgehalte einbeziehenden – Charakter des Symbols) darin, dass »die zum Zeichen geratenen Symbole isoliert, abgelöst von der emotionalen (d.h. trieb-

194 Ebd., S. 134. 195 Ebd. 196 Vgl. Hans-Joachim Busch, »Symbol, Intersubjektivität, innere Natur. Zu Alfred Lorenzers Verknüpfung von Psychoanalyse und kritischer Gesellschaftstheorie«, a.a.O., S. 46. 197 Alfred Lorenzer, »Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie«, a.a.O., S. 134. 198 Hans-Joachim Busch, »Symbol, Intersubjektivität, innere Natur. Zu Alfred Lorenzers Verknüpfung von Psychoanalyse und kritischer Gesellschaftstheorie«, a.a.O., S. 46.

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bestimmten) Basis des Verhaltens erscheinen. [Eig. Hervorhebung]«199 ,200 Intersubjektive Kommunikations- und Interaktionserfahrungen aber, die schon bei ihrer Verinnerlichung ihres Symbolcharakters verlustig gegangen sind, schlagen sich dann nieder in subjektiv vereinseitigter Sprache und Handlung, und zwar als »Zeichenperfektion einer (von emotionaler Basis abgetrennten) technisch-instrumentellen Operation. [Eig. Hervorhebung]«201 Beispielsweise ließen sich darunter fassen eine administrative Sprache, oder schlicht solche Formen von Kommunikation und Interaktion, die in Teilen oder zur Gänze das Selbst, den Anderen oder die Welt in ihrer Vielfalt negieren bzw. deren Negation schon zur Voraussetzung haben. Exakt von hier aus weist Lorenzer den Weg, wie auch trennende Kommunikation und Interaktion (eingedenk des trennenden Zeichen-, nicht: verbindenden Symbolcharakters) in Anlehnung an Habermas sich verstehen ließe als »›Instrumentelles Handeln‹«202 : Ein Handeln also, das »zumindest wo es in pure technische Operation übergeht, das Stigma pathologischer Verzerrung [trägt].«203 An späterer Stelle wird es möglich sein, mit Lorenzer diesbezüglich ein nochmals vertieftes Verständnis von Kommunikation und Interaktion zu formulieren, das (auch kritisch) Bezug nimmt auf den habermasschen Kommunikations- und Handlungsbegriff. Vorerst jedoch gilt es, wie angedeutet, die Aufzählung der möglichen Implikationen bei der Symbolbildung generell noch zu komplettieren, indem nach den ›Klischees‹ und den ›Zeichen‹, noch kurz auf die ›Protosymbole‹ verwiesen werden soll. Diese nämlich sind (anders als die ehemals versprachlichten, dann aber der Desymbolisierung anheim gefallenen Klischees – und wieder anders als die ihres umfassenderen Symbolgehalts verlustig gegangenen ›Zeichen‹) Repräsentanzen von Interaktionsformen, die (noch) nicht versprachlicht, d.h. symbolisiert, wurden. Protosymbole sind demnach Repräsentanzen des »Noch-nicht-Zugelassenen«204 , angesiedelt in einem vorbewussten Bereich, einem Raum zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten. Sie bilden einen ›Vorhof‹ um die Symbole, eine Gesamtheit an Erfahrungsqualitäten, die noch nicht artikuliert werden kann oder soll. Gerade sie sind es daher auch, in denen eine Vielzahl vielfältigster Bedeutungsgehalte ›schlummern‹; in denen sich das Maßlose konkreter Kommunikations- und Interaktionserfahrungen insofern verbirgt, als sie eine schier unerschöpfliche Quelle möglicher weiterer Symbolbildungen sind, welche bloß noch nicht zur Geltung kommen konnten. Gerade die Protosymbole stehen daher in engster Relation zu Phänomenen wie Phantasie und Kreativität, denn sie bergen in sich die zwar vorhandenen, aber noch nicht zum Ausdruck gelangten subjektiven wie intersubjektiven Möglichkeiten; das noch nicht erschlossene Potenzial an Zugängen zu sich, den Anderen und der Welt.

199 Alfred Lorenzer, »Symbol, Interaktion und Praxis«; in: Günther Busch (Hg.), Psychoanalyse als Sozialwissenschaft, a.a.O., S. 52. 200 Vgl. dazu auch Angelika Ebrecht, Die Seele und die Normen. Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik, a.a.O., S. 63: »Wo andere Zeichen und rhetorische Figuren Bedeutungskomplexität reduzieren und individuelle Bedeutungsvielfalt einer allgemeinen Bedeutung unterordnen, produziert das Symbol stets einen Überschuss an Bedeutung […]. [Eig. Hervorhebung]« 201 Alfred Lorenzer, »Symbol, Interaktion und Praxis«, a.a.O., S. 52. 202 Ebd. 203 Ebd. 204 Ebd., S. 42.

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Nimmt man nun Rekurs auf diese eben skizzierten problematischen Implikationen (Klischee, Zeichen, Protosymbol), die ja eigentlich allesamt Vorformen, Weiterentwicklungen oder aber auch Rückentwicklungen des Symbols (welches ja allein den Zugang zum Bewusstsein und zur Selbstreflexion verbürgt) darstellen, so kommt man nicht umhin, auch diejenigen Interaktionsformen aufzuzählen, die analog zu jenen nicht oder nur defizitär versprachlicht werden. Sie lassen sich grob scheiden in solche, die »unter Zwang aus der Sprache ausgeschlossen, zugleich aber als Interaktionsformen fixiert werden«205 ; in andere, die dahingegen nach ihrer Versprachlichung wieder entsprachlicht werden, einfach »weil die Entwicklung mehr oder minder zwanglos weiterschritt«206 ; und in diejenigen, die überhaupt nicht versprachlicht werden, also »nie in den Bereich sprachlich begriffener Handlungsnormen aufgenommen werden«207 . All diese Varianten von Interaktionsformen unterscheiden sich grundlegend von jenen, die mit unverzerrter Symbolbildung einhergehen; die also ihrerseits nicht einer bereits vorgängig verzerrten Praxis entstammen, und so zugleich handlungsbestimmend wie dem Bewusstsein zugänglich sind – denn sie können reflektiert und diskutiert werden.208 Nur sie bilden den Ausgangspunkt für bewusste und sprachliche Übereinkunft, denn allein sie zeichnen sich dadurch aus, nicht bereits vorgängig verzerrt zu sein. Freilich werden jedoch in der Realität des Sprachflusses wie der kommunikativen Situation ständig unbewusst-verzerrte Sprachelemente in unterschiedlichsten Mengungsverhältnissen mit mehr oder minder unverzerrten Symbolisierungen vermischt auftreten. Zum Verhältnis verzerrter und unverzerrter Sprachelemente (sowie zur Art und Weise, wie das eine im anderen ›transportiert‹ wird) schreibt Helmut Dahmer: »Was aus dem Bewußtsein verbannt wurde, ist weder dem Selbstgespräch noch der öffentlichen Kommunikation mehr zugänglich und muss darum gesellschaftlich folgenlos bleiben. Eben dies ist die soziale Funktion von Verdrängung. Alfred Lorenzer hat den von Freud als ›Trennung der Sach- von den Wortvorstellungen‹ umschriebenen Verdrängungsvorgang als ›Sprachzerstörung‹ charakterisiert. Für die betroffenen Individuen resultiert, wie seine Analyse zeigt, im Hinblick aufs Verdrängte nicht einfach Sprachlosigkeit, sondern ›Sprachverwirrung‹. […] Ist dem Verdrängten der Weg zur öffentlichen, allen verständlichen Sprache verlegt, bedient es sich privatsprachlicher Mittel, die freilich stets von der allgemeinen Sprache übersponnen bleiben, so wie subversive Traktate im Gewand harmloser Belletristik an den Mann gebracht werden. [Hervorhebung durch Dahmer]«209 Dahmer weist hier also daraufhin, wie in ein als unverzerrt zu klassifizierendes, intersubjektiv verständliches ›Sprachgewand‹, subjektive, mitunter individuell-neurotische, Sprachelemente gekleidet sein können.210 Im Übrigen schwingt ja, allein wenn Dah205 206 207 208 209

Alfred Lorenzer, »Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie«, a.a.O., S. 133. Ebd. Ebd., S. 133. Vgl., ebd., S. 133. Helmut Dahmer, »Psychoanalyse und historischer Materialismus«; in: Günther Busch (Hg.), Psychoanalyse als Sozialwissenschaft, a.a.O., S. 82. 210 Hans-Joachim Busch benennt die Aufgabe der klinischen Psychoanalyse, wie sie sich aus Lorenzers Symboltheorie ergibt, folgendermaßen: »Psychoanalyse, soviel ergibt sich zwanglos aus den sym-

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mer von ›privatsprachlichen Mitteln‹ spricht, auch hier wieder deutlich die Dimension des Einsamen im intersubjektiven Prozess mit, aus welcher jene ja letztlich entstammen, so wie in der ›allgemeinen Sprache‹ unschwer wieder das Gemeinsame zu finden ist; und ganz wie erstere die diversen Formen trennender Kommunikation und Interaktion implizieren, verweist letzteres auf verbindende. Bevor eine weitere Auffächerung der letztgenannten Begrifflichkeiten möglich wird, ist es an dieser Stelle aber geboten, einen auch kritischen Blick auf das Kommunikations- und Interaktionsverständnis von Habermas zu werfen. Denn die vorgängig mit Lorenzer vorgenommene Scheidung von Kommunikation (als symbolisch vermittelte Austauschbeziehung zwischen Subjekten, d.h. Sprache im weitesten Sinn) und Interaktion (als nicht-sprachliche Handlung) wird von Habermas so nicht vollzogen. Obwohl Lorenzers Vorstellung von verzerrten wie unverzerrten Kommunikations- und Interaktionsmustern zunächst einmal deutlich geeignet scheint, ohne Weiteres an Habermas anzuknüpfen (der ja mit dem kommunikativen bzw. instrumentellen Handeln eine solche theoretische Richtung durchaus bereits vorgegeben hatte), tut sich bei näherem Hinsehen ein Bruch zwischen Lorenzer und Habermas auf, der aus einem unterschiedlichen Kommunikations- und Interaktionsverständnis herrührt. Damit aber wird es problematisch, den habermasschen Kommunikations- und Handlungsbegriff in seiner gesellschaftstheoretischen Dimension (›System‹, ›Lebenswelt‹, ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹)211 umstandslos zu beziehen auf etwa die lorenzersche Psychoanalyse – womit der habermasschen intersubjektiven Gesellschaftstheorie gerade die Ergänzung um eine intersubjektive Psychoanalyse erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht wird. Habermasʼ Theorie des kommunikativen Handelns bleibt deshalb auch, was die triebtheoretische Fundierung des Sprechens und Handelns betrifft, seltsam leer212 – und das ausgerechnet, obwohl sie eine so differenzierte Betrachtung von Kommunikation und Interaktion überhaupt erst ermöglicht hatte. Um nun aber Lorenzers Kritik am habermasschen Kommunikations-

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boltheoretischen Erörterungen, ist Dialog, ist Sprachspiel, ist symbolische Interaktion. Ihr Fokus ist allerdings Sprachzerstörung, die Aufspaltung des Sprachspiels, die Zertrennung symbolischer Interaktion in Klischee, Sprachschablone […] und Zeichen […], das neurosenträchtige Mißlingen der Verbindung zwischen den unbewussten sinnlich-unmittelbaren Interaktionsformen und deren adäquaten sinnlich- und sprachsymbolischen Ausdrucksformen im Medium intersubjektiver Verständigung. Das Therapieziel des psychoanalytischen Prozesses liegt dann folgerichtig in der ›Rekonstruktion‹ zerstörter Sprachspiele, im Zusammenfügen auseinandergerissener Interaktionselemente. [Eig. Hervorhebungen]« In: ders., »Symbol, Intersubjektivität, innere Natur. Zu Alfred Lorenzers Verknüpfung von Psychoanalyse und kritischer Gesellschaftstheorie«, a.a.O., S. 47. (Eig. Anm.: Deutlich scheint in den extra hervorgehobenen Begriffen dieser Passage semantisch wie inhaltlich die generelle Kompatibilität zu den hier eingeführten Termini verbindende bzw. trennende Kommunikation und Interaktion auf.) Siehe dazu: Jürgen Habermas, Theorie des Kommunikativen Handelns, a.a.O. Vgl. dazu auch Axel Honneth: »[…] die Untersuchung von Grundstrukturen der Intersubjektivität wird [bei Habermas, eig. Anm.] auf eine Analyse von Sprachregeln hin vereinseitigt, so daß die leiblich-körperlichen Dimensionen sozialen Handelns von nun an nicht mehr in den Blick treten.« In: ders., Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M. 1989, S. 310.

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und Interaktionsverständnis auf den Punkt zu bringen: Lorenzer kritisiert an Habermas, dass dieser Kommunikation mit Interaktion gleichsetze und damit die Rolle von Symbolbildungsprozessen außer acht lasse, welche beide voneinander scheiden. Diese von Habermas vorgenommene Identifizierung sei jedoch von enormer Tragweite, insofern sie letztlich dazu verleite, dass »kommunikatives Handeln vom instrumentellen Handeln (der Arbeit) abgegrenzt wird, wir eins ins andere nicht überführen können. Eben damit ist unserem Vorhaben, von der Interaktion her einen Verbindungszug zur Produktion herzustellen, eine Grenze gesetzt.«213 Veranschaulichen lässt sich die daraus ergebende Unmöglichkeit, Kommunikation und Interaktion gleichermaßen, wie auch Symbolprozesse allgemein, auf sowohl die Reproduktion der ›Lebenswelt‹ als auch auf die materielle Reproduktion durch Arbeit zu beziehen an folgender Habermas-Passage: »Während für die symbolische Reproduktion der Lebenswelt am sozialen Handeln vor allem der Aspekt der Verständigung relevant ist, ist der Aspekt der Zwecktätigkeit wichtig für die materielle Reproduktion. Diese vollzieht sich durch das Medium zielgerichteter Eingriffe in die objektive Welt. [Eig. Hervorhebung]«214 Auch Honneth kommentiert diesen Auszug so, dass Habermas hier eine grundlegende »Unterscheidung von ›Arbeit‹ und ›Interaktion‹«215 vornehme.216 Lorenzer aber ist der Auffassung, dass schon in frühesten Interaktionsformen eine Dimension der Arbeit (als Modellierung von Natur) verborgen sei, mitunter eine grundlegende Scheidung von Arbeit und Interaktion daher nicht vollzogen werden dürfe: »Die ›formgebenden‹ Körpervorgänge der Mutter sind von keiner anderen Art als die formgebenden Handgriffe des Arbeiters. Am Ursprung der Bildung von Interaktionsformen wird mithin die Abgrenzung von ›Interaktion‹ und ›Arbeit‹ wie sie Habermas vornimmt, brüchig, so wie, gleichsinnig dazu, die von ihm unter der Hand vorgenommene Identifizierung von Kommunikation und Interaktion fragwürdig wird. Kommunikation ist ja, soll der Begriff mehr sein als die bloße Verdoppelung von Interaktion, zwingend an Symbolbildungsprozesse gebunden. Eben diese aber fehlen in jener früheren Phase, in der gleichwohl schon von einer in ›bestimmter Form sich abspielenden Interaktion‹ zu sprechen ist. Aber verbleiben wir noch beim wichtigen Vergleich von Interaktion (in der Einigungssituation der Mutter-Kind-Dyade) und Arbeit. Wir haben festgestellt, daß die Körpervorgänge, die wir als formvermittelnde bezeichnet haben, von derselben Art sind wie die Körpervorgänge beim Arbeitsprozeß. Der ›praktische Umgang‹ der Mutter mit dem Kind unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der 213 Alfred Lorenzer, »Symbol, Interaktion und Praxis«, a.a.O., S. 48. 214 Jürgen Habermas, »Theorie des kommunikativen Handelns«, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1981, S. 348, zitiert nach Axel Honneth; in: ders., Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, a.a.O., S. 320f. 215 Ebd., S. 321. 216 Vgl. dazu auch Hans-Joachim Busch: »Ist also an sich schon aus den genannten Gründen der Aufbau einer Theorie kommunikativen Handelns auf der Basis der Trennung von Arbeit und Interaktion fragwürdig, so muß die weitere Frage gestellt werden, ob die von Habermas bemühten ›gröberen Mittel der Handlungstheorie‹ zwingend eine Gegenüberstellung instrumentaler und kommunikativer Handlungsweisen vorschreiben oder ob er sich hier ohne Not in eine dilemmatische Alternative manövriert […]«. In: ders., Interaktion und innere Natur. Sozialisationstheoretische Reflexionen, a.a.O., S. 183.

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körperlichen Bewegung bei der Arbeit. Auch da kann ja ohne Zwang von einer ›Einigungssituation‹ und sogar von Gesten gesprochen werden. […] Bei der Arbeit wie auch in der Mutter-Kind-Dyade ist beide Male das Produkt weder pure Natur noch bloß Hergestelltes. Da wie dort wird die Form vermittelt. […] Die Auseinandersetzung des Arbeiters mit der ›äußeren Natur‹, die Leistung der Vermenschlichung von Natur und die Vergegenständlichung zum menschlichen Produkt wird realisiert gleichfalls in einem praktischen Umgang, der dem ›formgebenden‹ Umgang der Mutter in der Mutter-Kind-Dyade in vollem Umfang vergleichbar ist. Auch in der letzteren ist Natur, die Natur der kindlichen Körperbedürfnisse, Gegenstand einer Handhabung, eines körperlichen Geschicks. Ist dort die Form der Produktion und die Form des Produktionsprozesses das Resultat der Arbeit, so ist in der Mutter-Kind-Dyade die Interaktionsform (und letztendlich die Form der subjektiven Struktur des Kindes) das Ergebnis der mütterlichen Leistung. Wem diese Gleichsetzung inhuman erscheint und als ›instrumentalistische‹ Verzerrung des Wechselspiels der Mutter-Kind-Dyade, sollte sich fragen, ob er nicht umgekehrt unterm Augenschein von Gegenständlichkeit des Arbeitsprozesses dessen durch Arbeit vermittelte Menschlichkeit verleugnet. […] Kurzum, beide Male ist Umgang ›Praxis‹, praktische Formgebung innerhalb gesellschaftlicher Prozesse. Beide Male auch wird Interaktion konstitutiv für das, was aus dem praktischen Umgang hervorgeht.«217 Lorenzer plädiert hier also dafür, das Phänomen ›Arbeit‹ generell innerhalb von Interaktion zu verorten, und nicht wie bei Habermas geschehen, Interaktion und Arbeit als grundsätzlich getrennte Arten von Austauschbeziehungen zu begreifen. Dazu weist Lorenzer auf den beiden zu eigenen, formgebenden Charakter hin, sowie auf die gleichfalls beiden zukommende Eigenart, Natur (sei sie nun die ›innere‹ des Menschen oder die ›äußere‹ der Welt) zu modellieren. Lorenzer aber nimmt hier nicht – wie man voreilig verleitet sein könnte zu vermuten – eine Reduktion der allgemein-menschlichen Fähigkeit zur Interaktion auf die Arbeit vor, sondern gerade im Gegenteil, er ebnet der Auffassung den Weg, das Phänomen ›Arbeit‹ schlicht als einen Spezialfall der generellen Fähigkeit des Menschen zu sehen, interagierend aufeinander und die Welt einzuwirken. Dabei verweist er ein weiteres Mal kritisch auf Habermas, den genau jene Scheidung von Interaktion und Arbeit auch in einen Gegensatz zu Marx trieb. Dieser nämlich habe, so Habermas in seiner Marx-Kritik, Interaktion zusammen mit Arbeit unter den Begriff der gesellschaftlichen Praxis subsumiert.218 In der Folge aber legt Habermas mit seiner Entgegensetzung von Arbeit und Interaktion eine unüberwindbaren Trennlinie durch gesellschaftliche Praxis, welche schließlich zur ebenso unüberwindbaren habermasschen Entgegensetzung von ›System‹ einerseits (entstanden aus ›instrumentellem Handeln‹) und ›Lebenswelt‹ (basierend auf ›kommunikativem Handeln‹) andererseits führt; ja, die sogar Habermas auch dazu zwang, zum einen systemtheoretisch und zum anderen intersubjektiv zu argumentieren. Lorenzer vertritt diesbezüglich die Ansicht, aus Interaktion werde bei Habermas »das Moment ›Arbeit‹ ausgeschieden, Arbeit-Produktioninstrumentelles Handeln werden so unbedingt identifiziert, dass ein Riss durch Praxis

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Alfred Lorenzer, »Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie«, a.a.O., S. 50ff. Vgl. Alfred Lorenzer, »Symbol, Interaktion und Praxis«, a.a.O., S. 49.

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hindurchgelegt wird.«219 Dieser von Habermas angelegte ›Riss‹ durch gesellschaftliche Praxis aber macht es unmöglich, eine Gesellschaft überhaupt zu denken, in welcher nicht-entfremdete Arbeit (also Arbeit jenseits kapitalistischer Ausbeutung) versöhnt wäre mit und eingebettet in allgemeiner gesellschaftlicher Praxis. Der habermassche Konflikt von ›System‹ und ›Lebenswelt‹ erwiese sich damit nicht nur als vorläufiger Kulminationspunkt der soziohistorisch langwierigen Differenzierung von ›System‹ und ›Lebenswelt‹, als eine Momentaufnahme etwa spätkapitalistischer Gesellschaften, sondern wird verewigt, schlicht weil er sich mit den habermasschen theoretischen Mitteln nicht anders als regressiv überwindbar denken lässt: Aus der ›Kolonialisierung der Lebenswelt durch das System‹ gibt es kein Entrinnen, und eine etwaige ›Kolonialisierung des Systems durch die Lebenswelt‹220 lässt sich mit dem von Habermas gegebenen theoretischen Instrumentarium nicht adäquat darstellen. Das Moment der Entdifferenzierung mit allen daran anschließenden Paradoxien und Ambivalenzen kann somit nicht angemessen nachvollzogen werden. Einen ersten Schritt in diese Richtung aber stellt der hier unternommene Versuch einer Fokussierung auf verbindende bzw. trennende Kommunikation und Interaktion (anstelle ›kommunikativen‹ und ›instrumentellen Handelns‹) dar, so wie ein zweiter Schritt darin besteht, Arbeit innerhalb von Interaktion und Kommunikation generell zu verorten. Mit Lorenzer lässt sich aber Arbeit nicht nur innerhalb von Interaktion verorten, sondern auch innerhalb von Kommunikation. Denn Lorenzer besinnt sich, um das Phänomen ›Arbeit‹ als mit Symbolbildungsprozessen verschränktes (und gerade damit: als innerhalb von Kommunikation zu verortendes) zu veranschaulichen, auf den von Karl Marx gezogenen Vergleich vom ›Baumeister‹ und der ›Biene‹ (»was aber von vorneherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut«221 ) und kommt so zu der These: »Produktion beginnt als intelligente, d.h. als Symboloperation.«222 Lorenzer begreift also Interaktion und Kommunikation nicht nur als Austauschbeziehung eines Subjekts mit Anderen und der Welt, und Arbeit als spezifische Form, die diese Austauschbeziehung unter dem Druck von Produktionsverhältnissen angenommen hat, sondern er betont dabei (wie schon im Falle der Internalisierung von Interaktionsformen) die enorme Bedeutung von Symbolbildungsprozessen:

219 Ebd. 220 Vgl. diesbzgl. auch Michael Hardt/Antonio Negri zu den Implikationen der informatisierten Ökonomie, welche eine Neubestimmung der von Habermas gegebenen Vorstellung einer nur einseitig möglichen ›Kolonisierung der Lebenswelt durch das System‹ notwendig machen: »Das Verhältnis zwischen Produktion und Leben hat sich somit dahingehend verändert, dass es sich im Verständnis der politischen Ökonomie vollständig umgekehrt hat. Leben wird nicht mehr in Reproduktionszyklen produziert, die dem Arbeitstag untergeordnet sind; nun ist es im Gegenteil das Leben, das jegliche Produktion bestimmt. [Eig. Hervorhebung]« In: dies., Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M./New York 2002, S. S. 300f. Vgl. des Weiteren, ebd., S. 373. 221 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, Berlin 1957, S. 186, zitiert nach Alfred Lorenzer; in: ders., »Symbol, Interaktion und Praxis«, a.a.O., S. 50. 222 Ebd.

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»Symbole als Elemente von Sprache und Sprache als Diskurs223 wie Handlungsentwurf deuten auf Kommunikation und auf Arbeit in gleicher Weise. Das Symbol ist dabei nicht der platonische Vorläufer von Arbeit, sondern das selbsterzeugte Produktionsmittel des Gattungssubjektes – zugleich auch der Niederschlag der im Beziehungsfeld der ›Objekte‹ (d.h. interagierenden Subjekte) gewonnenen Triebauseinandersetzung. Ohne […] Arbeit und Interaktion konvertierbar machen zu wollen, gilt für beide eine gemeinsame Entwicklungsbasis im Symbolbildungsprozeß.«224 Lorenzer gelangt so zu einem Verständnis der Symbolbildung »als produktive Selbstkonstitution des Menschen«225 , die einhergeht mit Kommunikation und Interaktion und welche Arbeit zwar mit einschließt, jedoch auch weit über sie hinausreicht. Lorenzer betont, »dass keine menschliche Aktion, auch nicht libidinöse Zuwendung, anders denn als ›produktive Verarbeitung‹ im Kontext gesellschaftlicher Beziehungen […] angenommen werden kann.«226 Lorenzer begibt sich hier in eine theoretische Vorreiterrolle, die wohl nur angemessen gewürdigt werden kann, wenn man die psychoanalytischen Querverbindungen ausmacht, die sich hier insbesondere zu neueren neomarxistischen Ansätzen auftun (und welche mit Begriffen operieren wie ›immaterielle Arbeit‹, ›Kommunikation als Produktivkraft‹, Produktivität des ›nackten Lebens‹; ›Bioproduktion‹).227 Kommunikation und Interaktion – als produktive Phänomene im Sinne einer 223 Inwiefern Lorenzer einen Diskursbegriff verwendet, der allein mit dem von Habermas in die Kritische Theorie der Frankfurter Schule eingebrachten kompatibel ist, oder aber ob dieser selbst in die postrukturalistisch geprägte Diskurstheorie hineinreichen könnte, kann hier nicht geklärt werden. Eine Abgrenzung des postrukturalistischen Diskursbegriffs zu dem von Habermas vertretenen findet sich bspw. in: Reiner Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms, Wiesbaden 2005, S. 108 ff unter der Überschrift »Die verfahrensbezogene Diskursethik von Jürgen Habermas« (welchen Keller im Übrigen nur erwähnt, da er ja ein ganz anders geartetes Programm vorschlägt). Was für einen den von Habermas gesetzten Rahmen sprengenden Diskursbegriff bei Lorenzer spricht, ist allerdings nicht nur die starke Verwurzelung von dessen Symbol- und Zeichentheorie im Triebbegriff (und damit auch im Unbewussten), sondern auch dessen damit verbundene Einbeziehung gerade der psychischen Dimension. Lorenzers Verständnis vom Diskurs bleibt allerdings rudimentär und wird kaum ausgearbeitet. Dennoch gibt er einige auch programmatisch zu verstehende Hinweise, so z.B. wenn er im Rückgriff auf Susanne K. Langer (dies., Philosophie auf neuem Wege, Frankfurt a.M. 1965) diskursive und präsentative Symbolund Zeichensysteme unterscheidet; vgl. dazu: Alfred Lorenzer, Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik, Frankfurt a.M. 1981. Ebd., S. 30, plädiert er schließlich für eine weit gefasste Semiotik: »Symbole sind nicht nur die diskursiv geordneten Zeichen der Sprache und die präsentativen Symbole der Kunst, sondern alle Produkte menschlicher Praxis, insoweit sie ›Bedeutungen‹ vermitteln. [Hervorhebungen durch Lorenzer]« Letztlich ist es ja auch dieser Ansatz, der schließlich in Lorenzers tiefenhermeneutisch-kulturanalytische Methode mündet. (Siehe dazu auch die Ausführungen im Schlusskap. »Ausblick« der hier vorliegenden Arbeit). 224 Alfred Lorenzer, »Symbol, Interaktion und Praxis«, a.a.O., S. 50f. 225 Ebd., S. 51. 226 Ebd., S. 51f. 227 Vgl. dazu bspw. Michael Hardt/Antonio Negri: »Der Übergang zu einer informationellen Ökonomie erfordert notwendigerweise einen Wandel in der Qualität der Arbeit und im Charakter des Arbeitsprozesses. […] Information und Kommunikation haben eine fundamentale Rolle im Produktionsprozess eingenommen.« In: dies., Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M./New York 2002, S. 300. Des Weiteren, ebd., S. 302: »Die Dienstleistungssektoren der Ökonomie bieten ein reichhaltiges Modell der produktiven Kommunikation. Die meisten Dienstleistungen basieren auf

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Selbstkonstitution des Menschen vermittels Symbolbildung – avancieren hier zu allgemein menschlichen Ausdrucksformen, die jede Art von Arbeit per se umschließen und diese bei Weitem übersteigen, insofern sie sich auf das bloße Potenzial der Gattung zum Schöpferischen beziehen. Eine Differenzierung von ›Arbeit‹ und ›Werk‹ zeichnet sich hier ab, welche ja schon Marcuse begrifflich voneinander geschieden hatte;228 denn das Werk ist die freiwillige – das heißt nicht, ohne innere oder äußere Notwendigkeit entstandene – Schöpfung eines oder mehrerer. Das Werk vollzieht sich unter ganz anderen triebstrukturellen Voraussetzungen als die Arbeit, welche, gerade in ihrer entfremdeten Form, immer mit psychosozial repressiven Mechanismen einhergeht. Dass nun aber gesellschaftliche Arbeit, die Werk-Charakter annimmt, erstes Kennzeichen einer nichtrepressiven gesellschaftlichen Praxis wäre (mithin also einer Praxis auch jenseits der kapitalistischen Aneignung fremder Arbeit), ist eine daraus sich ergebende Schlussfolgerung, auf die hier aber erst an späterer Stelle detaillierter eingegangen werden kann. In dieser Hinsicht scheint es sicher sinnvoll anzunehmen, dass Arbeit generell zwar ihren Ort in Kommunikation und Interaktion allgemein hat, ihre entfremdete Variante sich wohl aber trennender Kommunikation und Interaktion zurechnen ließe, wohingegen Arbeit die Werk-Charakter trägt, wiederum innerhalb verbindender Kommunikation und Interaktion zu vermuten wäre.229 Abseits dieses noch etwas spekulativen Vorgriffs, führt fürs Erste allerdings die Feststellung weiter, dass Arbeit, insofern sie nicht nur an Interaktion, sondern eben auch an Kommunikation (und damit an Symbolbildungsprozesse) gebunden ist, gerade auch in ihrer entfremdeten Variante (also eben nicht als ›Werk‹) über Prozesse der Desymbolisierung definiert, d.h. deformiert, gedacht werden muss.

einem kontinuierlichen Austausch von Information und Wissen. Da die Produktion von Dienstleistungen auf nicht-materielle und nicht-haltbare Güter zielt, definieren wir die Arbeit als immaterielle Arbeit – das heißt als eine Arbeit, die immaterielle Güter wie Dienstleistungen, kulturelle Produkte, Wissen oder Kommunikation produziert. [Hervorhebungen durch Hardt/Negri]« Und an anderer Stelle, ebd., S. 373: »Das Verhältnis zwischen Produktion und Leben hat sich somit dahingehend verändert, dass es sich im Verständnis der politischen Ökonomie vollständig umgekehrt hat. Leben wird nicht mehr in Reproduktionszyklen produziert, die dem Arbeitstag untergeordnet sind; nun ist es im Gegenteil das Leben, das jegliche Produktion bestimmt. […] Der Wertüberschuss liegt heute in den Affekten begründet, in den kreuz und quer von Wissen durchzogenen Körpern, in der geistigen Intelligenz sowie in der bloßen Macht zu handeln. […] Nunmehr sollte deutlich geworden sein, was hier an den Oberflächen der […] Gesellschaft soziale Kooperation konstituiert: die Synergien des Lebens, oder besser: die produktiven Manifestationen des nackten Lebens. [Hervorhebungen durch Hardt/Negri]« 228 Marcuse: »Das Problem des Werkes, der sozial nützlichen Betätigung ohne (repressive) Sublimierung kann nun neu formuliert werden. Es erscheint jetzt als das Problem eines Wandels im Charakter der Arbeit, kraft dessen die letztere dem Spiel ähnlich werden könnte – dem freien Spiel menschlicher Fähigkeiten.« In: Herbert Marcuse, Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, a.a.O., S. 206f. 229 Eine solche Verortung verschiedener Typen von Arbeit (entfremdete Arbeit einerseits, Arbeit mit Werk-Charakter andererseits) innerhalb von Kommunikation und Interaktion generell, entspricht auch der Auffassung von Hardt und Negri, die ja ebenfalls die Gültigkeit der von Habermas vorgenommenen rigiden Identifizierung von Arbeit allein mit ›instrumentellen Handeln‹ angesichts einer informatisierten Ökonomie in Zweifel ziehen: »Man könnte sagen, dass im informatisierten industriellen Prozess instrumentelles und kommunikatives Handeln aufs engste verwoben sind.« In: Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, a.a.O., S. 301.

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Denn, fasst man Symbolbildung als produktiv, erweist sich als destruktiv, was diese – und damit die produktive Selbstkonstitution des Menschen – misslingen lässt: »Desymbolisierung trifft die Mittel des Selbsterzeugungsprozesses, Praxis wird zu ›systematisch verstümmelter Praxis‹ gebrochen [Hervorhebung durch Lorenzer].«230 Entfremdete Arbeit geht so, folgt man Lorenzer, immer mit Desymbolisierung einher; und Desymbolisierung erweist sich ganz grundsätzlich als Resultat von Störungen, die über Interaktionsformen in den Symbolbildungsprozess eingebracht werden, nämlich: »1. Als Niederschlag von Gewalt (familiär wirkender, gesellschaftlich bedingter), die auf Symbolbildung einwirkt. 2. Als Einprägung über schon verformte Symbole. 3. Über die Sozialisation, insofern der neurotische Konflikt wie auch seine Lösungsformeln mit verstümmelter Praxis der Bezugspersonen im infantilen Sozialisationsfeld zusammenhängen. Ob durch Einprägen auf die Symbole oder über Konflikte – das Individuum kann in beiden Prozessen auf Entfremdung eingespielt werden. […] 4. Auch bei Erwachsenen kann es zur Verzerrung der produktiven Möglichkeiten der Subjekte kommen durch eine traumatische Veränderung der Praxis. Gültigkeit darf mithin auch das Verhältnis von Produktionsverhältnissen zu Praxisverstümmelung beanspruchen. Um es in einem Beispiel zu sagen: Nicht nur das Kind des Arbeiters, auch er selbst erfährt ständig systematische Verzerrungen und Verstümmelungen. Dass die Frage der sekundären Sozialisation hier ins Feld psychoanalytischer Überlegungen eintritt, kann jetzt nur notiert werden. Dieses Verhältnis deckt den Mechanismus auf, der den problematischen Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft – in Interaktion wie Arbeit – ausmacht; die Verstümmelung der Praxis ist zugleich zerstörte Sprache: in systematisch geformten und verformten Symbolen.«231 Dabei wird ein weiteres Mal deutlich, wie sehr Lorenzer hier entlang von Symbolbildungsprozessen (und deren möglicher Störung durch Desymbolisierung) die Triebstruktur (und damit die Psyche) des Individuums zu verschränken in der Lage ist mit der Struktur der Gesellschaft (konkreter: der Form, welche die Produktionsverhältnisse angenommen haben). Letztlich wird es so auch mittels der von Lorenzer betriebenen intersubjektiven Wendung der Triebtheorie möglich, Physis, Psyche und Soziales in Bezug zueinander zu setzen: »Um auch nicht die Spur eines idealistischen Missverständnisses zuzulassen, sei wiederholt: Der Eingriff in die Symbolbildung ist allemal an die drei ›Realitäten‹, die biologisch-physiologischen Körperakte, die ›reale‹ Interaktion und die materielle Produktion geheftet; das Symbol ist als ›Produktionsmittel‹ allen drei Ebenen menschlichen Handelns zugeordnet.«232 Folglich erweist sich eine im Sinne Lorenzers verstandene Psychoanalyse als unersetzlich, wenn es darum geht, Prozesse zu verstehen, die nicht nur vermittelnd wirken zwischen Physis, Psyche und Sozialem (und damit: Individuum und Gesellschaft), sondern auch vermittelnd zwischen ideellen und materiellen Phänomenen (darunter auch solchen von Basis und Überbau). Lorenzer sucht und findet so den Schulterschluss einer materiell begründeten Psychoanalyse zu Marx. Materialistisch ist Lorenzers Psy-

230 Alfred Lorenzer, »Symbol, Interaktion und Praxis«, a.a.O., S. 50. 231 Ebd., S. 52f. 232 Ebd., S. 53.

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choanalyse insofern, dass sie zwar Symbolfunktionen (und damit die Sprache und das Denken) als abstrakteste Desiderate menschlicher Interaktion benennt, diese aber in der Triebstruktur verankert, welche ihrerseits wurzelt in soziokulturellen und soziohistorischen Kontexten, die wiederum spezifischen Formen der Produktionsverhältnisse entsprechen. Lorenzer verortet damit Psychoanalyse – die als intersubjektive durchaus als idealistisch im Sinne des ›symbolischen Interaktionismus‹ missverstanden werden könnte – eindeutig in materialistischen Theorieströmungen. Beispielsweise vertritt Lorenzer die Auffassung, »psychoanalytische Theorie in ihrem ursprünglichen, d.h. wesentlichen Gehalt ist keine Psychologie, sondern eine Interaktionstheorie. [Hervorhebung durch Lorenzer]«233 – und bestimmt im Anschluss daran das Verhältnis einer solch materiell grundierten interaktionistischen Psychoanalyse zum bloß idealistisch orientierten symbolischem Interaktionismus: »Nicht nur vermag Psychoanalyse die idealistische Variante des symbolischen Interaktionismus entschieden in Schach zu halten (sofern sie selber nur entschlossen genug an der Trieblehre festhält und Symbol nicht abstrakt nur als Sinnsystem eines von der biologischen Basis abgelösten Geistes versteht). Psychoanalyse fügt dem Verständnis von Symbol hartnäckig die Sicht auf ›innere Natur‹ hinzu. Symbollehre erscheint der Psychoanalyse notwendig als Naturgeschichte […]. […] Symbol steht im psychoanalytischen Verstande zwischen Naturentwicklung und Geschichte – beide vermittelnd. Symbol und Symbolbildung spielen aber nicht nur eine Schlüsselrolle für die Vermittlung von Naturvorgängen und Gesellschaftsprozessen. Am Symbol hängt noch eine andere, für die psychoanalytische Betrachtungsweise ebenfalls zentral bedeutsame Verknüpfung; die Verbindung von Bewußtsein und Verhalten. Diese Verknüpfung leistet das Symbol als Sprache. In der Bildung von Symbolen gewinnt der Mensch das Terrain der Sprachlichkeit. Symbole als Elemente von ›Sprache‹ verklammern Denken und Handeln, indem sie zugleich Interaktion wie Kommunikation regulieren.«234 Um es noch einmal hervorzuheben: Es geht Lorenzer also sowohl bei Prozessen der Symbolisierung wie der Desymbolisierung konkret erfahrener Kommunikations- und Interaktionsweisen um Vorgänge, die sich nicht nur auf spezifische Ausdrucksformen des Menschen auswirken, sondern um Prozesse, die Zusammenhänge formen, und zwar: Sprach-, Denk-, Handlungs-, und Verhaltenszusammenhänge; Gesamtzusammenhänge, im Sinne einer übergeordneten Formation, welche Komponenten unterschiedlichster Art in eine spezifische Relation zueinander setzt. Die Symbolisierungsleistung ist es, die die Relation dieser Elemente definiert; eine Störung ihrer Funktion äußert sich unweigerlich als Auflösung oder Verzerrung der Beziehungen, in der die jeweiligen Komponenten eines solchen Zusammenhangs stehen. Lorenzer hat so, basierend auf seinem Ausgangspunkt, der Interaktionsform, einen theoretischen Ansatz entworfen, der ungeahnte Möglichkeiten eröffnet hinsichtlich einer Beschreibung komplex vernetzter Phänomene aus Bereichen, die sonst nur schwer interdisziplinär zu vereinigen sind: Individuum und Gesellschaft, Physis, Psyche und Soziales, Ideelles und Materielles, Kultur und Natur, gesellschaftlicher Überbau und 233 Alfred Lorenzer, »Symbol, Interaktion und Praxis«, a.a.O., S. 35. 234 Ebd. S. 38f.

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Unterbau, Bewusstes und Unbewusstes, Sprache, Handlung und Verhalten; ein Ansatz, der wie geschaffen dafür scheint, die seit je von Kritischer Theorie verfolgte Maxime umzusetzen, Gesellschaft als Ganzes, als Gesamtzusammenhang, darzustellen, um gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Totalität nachvollziehen – und: kritisieren – zu können. Bevor es aber hier anzuknüpfen gilt, scheint es sinnvoll, Lorenzers und Loewalds Revisionen der klassischen Psychoanalyse zum Abschluss dieses Kapitels noch einmal knapp und grob umrissen zu rekapitulieren – sowohl um die Überschneidungen oder Unterschiede beider theoretischer Ansätze deutlicher vor Augen zu führen als auch um ihre jeweiligen Positionen in Bezug zu den hier eigens entwickelten inhaltlichen wie terminologischen Ansätzen abzuklären. Loewald, so ließe sich diese kurze Rückschau beginnen, untersucht ja speziell die intra-subjektiv entdifferenzierend und differenzierend wirkenden Qualitäten inter-subjektiv erfahrener Kommunikations- und Interaktionsweisen und kommt damit zu seiner so erhellenden Neuausrichtung des Instanzenmodells der Psyche wie der Triebtheorie: Die Triebe, und mit ihnen die Gestalt der Psyche, konstituieren sich als psychische Effekte intersubjektiver Aspekte; nämlich als Repräsentanten- und Instanzenbildungen im psychischen Raum zu äußerlich erfahrenen Sprach- und Handlungsmustern.235 Loewald legt seinen Schwerpunkt bei der Betrachtung der Implikationen einer Verinnerlichung derart äußerlich erfahrener Interaktionsmuster dabei insbesondere auf die Überführung des spannungs- und reizarmen entdifferenzierten psychischen Primärzustands (den er in Anlehnung an Freud als ›ozeanisch‹ umschreibt) in einen spannungsreichen, mit höheren Reizqualitäten versehenen differenzierten Sekundärprozess; die psychischen Instanzen (Es, Ich, Über-Ich) begegnen hier lediglich als Ausfluss der Triebe, als höher organisierte Kristallisationen von Triebenergie: »Ich und Es, als psychische Strukturen verstanden, entwickeln sich innerhalb der psychischen Einheit, zu der sich das Neugeborene durch verwickelte Interaktionsprozesse zwischen widerstreitenden, konvergierenden und verschmelzenden psychischen Energieströmen heranbildet, die das entstehende psychische System umgeben und in seinem Inneren auftauchen; diese Interaktionen führen zur Organisation psychischer Struktur. Es kann nicht genug betont werden, daß diese Organisation in ganz entscheidender Weise dadurch mitbestimmt wird, daß die psychische Energie, die in den psychischen Systemen der Umgebung (für den Beobachter) waltet, weitaus komplexer und geordneter ist. Durch die Interaktion mit ihnen entstehen Motivationskräfte verschiedener Komplexitäts- und Integrationsgrade sowie stabile Motivstrukturen jeder Art in der sich neu entwickelnden psychischen Einheit, dem Kind. Auf dieser Basis, doch niemals ohne die Beibehaltung weiterer Interaktionen mit psychischen Kräften der Umwelt, können Interaktionsprozesse innerhalb des neuen Systems in 235 Hans-Joachim Busch veranschaulicht dies folgendermaßen: »Interaktionsformen sind die Grundelemente individuellen Handelns; in höherer Aggregation, als Gefüge der Persönlichkeitsstruktur, bilden sie eine ›Praxisstruktur‹ […]. Nach außen hin, zur sozialen Umwelt entspricht dieser individuellen Praxisstruktur ein Beziehungssystem von beobachtbaren ›Interaktionsfiguren‹. [Eig. Hervorhebung]« In: ders., Interaktion und innere Natur. Sozialisationstheoretische Überlegungen, a.a.O., S. 250.

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verschiedene Formen strukturierter Organisation gebracht werden, wodurch höhere Motivationsebenen entstehen. Strukturen werden als mehr oder weniger systematisch stabile Organisationen psychischer Energie verstanden; mit ihrem höheren Potential beeinflussen sie die bewegliche Triebenergie und wandeln so ihre Strömungen in Motivationsenergie höherer Ordnung um.«236 Über Loewald hinausgehend ließe sich dann konstatieren, die hier eingangs eingeführten psychoanalytisch-sozialpsychologischen Kategorien des maßlosen Selbst wie des bemessenen Ichs böten sich an, stärker entdifferenzierte bzw. stärker differenzierte Qualitäten des psychischen Raumes zu fassen; sie fungierten als begriffliche ›Schablonen‹, die, einmal über das klassische Instanzenmodell gelegt, dessen Ursprung in entdifferenzierenden, maßlosen, oder differenzierenden, bemessenden, intersubjektiven Aspekten erkenntlich machten. Das maßlose Selbst wie das bemessene Ich, so war die Schlussfolgerung, erwiesen sich als geeignet, aufseiten des psychischen Raumes Effekte ›kommunikativer Verflüssigung‹ bzw. ›kommunikativer Verhärtung‹ darzustellen. Folgt man dieser Auffassung, so erschiene das maßlose Selbst bzw. das bemessene Ich als Summe derjenigen Repräsentanzen und Instanzen, die in engster Beziehung stehend zur grundsätzlich verbindenden Qualität des Eros, oder, umgekehrt, zur grundsätzlich trennenden des Thanatos, begriffen werden müssten. Sie wären psychische Entsprechungen zu Erfahrungen von verbindender wie trennender Kommunikation und Interaktion – d.h. Internalisierungen konstruktiver bzw. destruktiver Sprach- und Handlungsmuster mitsamt der mit diesen einhergehenden Facetten des Gemeinsamen wie des Einsamen im intersubjektiven Prozess. Diese Dimensionen des Gemeinsamen wie des Einsamen, die von Loewald nur unzureichend angedeutet werden (wenngleich er deren entdifferenzierende, maßlose, wie differenzierende, bemessende, Qualitäten so ausführlich darlegt), wiederum aber sind es, welche der Ansatz Lorenzers überdeutlich aufscheinen lässt: Lorenzer scheidet die Interaktionsform nämlich in zwei basale Modi – in die ›zustande gekommene (gelingende) Einigungssituation‹ sowie in die ›nicht zustande gekommene (misslingende) Einigungssituation‹. Die Funktion des Gemeinsamen schon in der Dyade veranschaulicht Lorenzer eindrücklich in seiner Schilderung der Internalisierung unterschiedlich gearteter aufeinander folgender Interaktionsformen im kindlichen Entwicklungsprozess; dort beschreibt er das Gemeinsame in Form der ›Einigungssituation‹, nämlich als sprachliches und gestisches ›Zusammenspiel‹ zwischen Mutter und Kind, während er, kontrastierend dazu, die Erfahrung des Einsamen im Falle ›nicht zustande kommender Einigungssituationen‹ am extremen Beispiel des Hospitalismus aufzeigt. Dass das Einsame in Form einer Differenzierung vom anderen Subjekt jedoch auch eine notwendige Stufe zur höheren Organisation des psychischen Apparates darstellt, zeigt er, indem er auf die Ablösung vertrauter, früherer Interaktionsformen durch neue hinweist, die einen Schritt zu größerer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit überhaupt erst einleiten. Gleichwohl benötige eine solche zu ihrem Gelingen aber vorangehende Internalisierungen ›zustande kommender Einigungssituationen‹, also: des Gemeinsamen. Wenngleich

236 Hans W. Loewald, »Über Motivation und Triebtheorie«, a.a.O., S. 91f.

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nun Lorenzer, anders als Loewald, kaum von den entdifferenzierenden bzw. differenzierenden Qualitäten dieses Gemeinsamen bzw. Einsamen spricht, so betont er doch ein ums andere Mal die wesentlich formgebenden Qualitäten von Kommunikation und Interaktion; der Terminus ›Formgebung‹ aber beinhaltet ja eine Vorstellung von Entdifferenzierung bzw. Differenzierung – oder des Maßlosen bzw. Bemessenen – vollständig. Augenscheinlich verfolgen Lorenzer und Loewald somit – wenn auch bei durchaus divergierender Schwerpunktsetzung – einen strukturell ähnlich gelagerten Ansatz, ein im Wesentlichen gleich geartetes Verständnis eben des Interaktionsmusters bzw. der Interaktionsform. Lorenzers Ansatz erweist sich allerdings als deutlich komplexer als derjenige Loewalds, wenn es darum geht, die diversen Implikationen der Internalisierung aufzufächern. Denn mit seinem Verweis auf die Symbolisierungsfunktion eröffnet Lorenzer einen höchst sublimen weiteren Zugang zur Interaktionsform, der bei Loewald nur unzureichend im Sinne von Vorgängen der Repräsentanzenbildung thematisiert wird. Unter Symbolbildung aber versteht Lorenzer ja das Belegen von Erfahrungsqualitäten (sinnliche, emotionale, kognitive) mit Bedeutung. Dementsprechend erweisen sich Störungen in der Symbolbildung für ihn als folgenreiche Verzerrungen bei deren Verinnerlichung zu Interaktionsformen. Desymbolisierung (d.h. Unbewusstmachung), die Bildung von Klischees (d.h. die Fixierung desymbolisierter Erfahrungsqualitäten im Unbewussten), die Etablierung von Protosymbolen (d.h. von vorbewussten Erfahrungsqualitäten, die kognitiv nicht zugänglich sind) oder von Zeichen (d.h. Symbolen, die von ihrer triebbestimmten Wurzel losgelöst scheinen) benennt Lorenzer allesamt als problematische bis pathogene Verzerrungen in der Symbolbildungsfunktion; denn allein das Symbol als solches umschließt den gesamten Erfahrungsschatz einer zu verinnerlichenden Kommunikations- und Interaktionsbeziehung und ist darüber hinaus kognitiv und kommunikativ zugänglich. Umgekehrt eröffnet Lorenzer so über die Benennung der problematischen Elemente des Internalisierungsprozesses eine psychoanalytische Erklärung nicht nur für Unbewusstmachung, Verdrängung usw., sondern auch für Entfremdungs- und Verdinglichungsphänomene jedweder Art. Und mehr noch: Er verschränkt abermals diese Phänomene des psychischen Raumes mit ihren Entsprechungen im sozialen Raum, nämlich in der gesellschaftlichen Praxis. So listet er etwa mögliche Verzerrungen innerhalb gesellschaftlicher Praxis auf, die deformierend auf den Symbolbildungsprozess einwirken: u.a. Gewalt (familiäre, gesellschaftliche) und neurotisch deformierte soziale Praxis der Bezugsperson (bedingt letztlich eben auch durch sprach- und bewusstseinsdeformierende Aspekte sozialer, kultureller oder ökonomischer Praxis an sich).237 Wenn Lorenzer in diesem Zusammenhang schließlich von Sprachzerstörung spricht, oder von Verstümmelung von Praxis, bedient er sich doch offensichtlich schon an Metaphern, welche unübersehbar Assoziationen zur Destruktivität des Thanatos aufkommen lassen. Sprache und Praxis scheinen im Falle ihrer Deformation vereinseitigt, verzerrt, aufgelöst, zerrissen, zertrennt. Im Anschluss an Lorenzer wiederum darf dann der Gedanke festgehalten werden: Trennende Kommunikation und Interaktion ist das Medium in dem Thanatos sich intersubjektiv ausdrückt, und über das er subjektivierend einwirkt. In verbindender Kommunikation und Interaktion dahingegen drückt Eros sich aus, und prägt sich dann ein. Denn verbin237 Vgl. Alfred Lorenzer, »Symbol, Interaktion und Praxis«, a. O., S. 52f.

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dende Kommunikation und Interaktion begegnet im Sinne der Symbolisierungsfunktion als Sprachschöpfung, oder Ausschöpfung sprachlicher Möglichkeiten im Zugang zu sich, den Anderen und der Welt. Schmid Noerr beispielsweise verweist in diesem Sinne darauf, dass Freud die Sprache in ihrer schöpferischen Funktion unmissverständlich dem Eros zugeordnet hatte,238 und formuliert im Anschluss: »Als generierendes System ist die Sprache die ›erotische‹ Bildung größerer Einheiten par excellence.«239 Nichts brächte die verbindende Qualität des Eros, wie sie sich äußert im Medium der Sprache, deutlicher zum Ausdruck. Bezug nehmend auf die trennende Qualität des Thanatos und ihre Entäußerung in Sprachzerstörung, ließe sich dahingegen formulieren: Im Falle des Verlusts ihrer systembildenden Potenz erweist sich Sprache als ›thanatomorphe‹ Auftrennung und Zertrennung größerer Einheiten schlechthin. Sprachzerstörung also bemisst, zertrennt, vereinzelt – Sprachschöpfung und Ausschöpfung des Sprachgehaltes verbindet, führt zusammen, erweitert. So erlaubt verbindende Kommunikation und Interaktion den umfangreichen, erschließenden, schöpferischen, ausschöpfenden und erschöpfenden Zugang zu allen Erfahrungsqualitäten einer spezifisch erlebten intersubjektiven Situation; und so verhindert trennende Kommunikation und Interaktion das vollumfängliche Erfassen aller wesentlichen Bedeutungsgehalte einer solchen schon von vorneherein. Beide Varianten konstituieren vermittels der Symbolisierungsfunktion Subjektivität: Die eine Variante ›verflüssigt‹ Teile des Subjekts zum maßlosen Selbst; die andere ›verhärtet‹ zum bemessenen Ich. Beide Varianten formen somit (wie bereits anhand Loewalds Schilderung der kontinuierlichen Verflechtung entdifferenzierender wie differenzierender Prozesse dargelegt) im Wechselspiel den subjektiven psychischen Raum entsprechend zu intersubjektiven Erfahrungen im sozialen Raum. Individuum und Gesellschaft begegnen so wie bei Freud schon als verschränkte.   Zum Verständnis der Dialektik von Individuum und Gesellschaft als Verschränkung von ›Interaktionsform‹ und relationaler Formation vermittels des intersubjektiven Prozesses – Ein konzeptioneller Vorschlag ■ Lorenzer ist stets darum bemüht, seine Revision der freudschen Psychoanalyse so auszurichten, dass auch mögliche gesellschaftstheoretische Anknüpfungspunkte offensichtlich werden – wenngleich er selbst keine Gesellschaftstheorie entwickelt. Sein Aufsatz Zur Dialektik von Individuum und Gesellschaft 240 erweist sich hinsichtlich einer Suche nach solchen Anknüpfungspunkten als besonders ergiebig. Lorenzer geht dort nämlich noch entschiedener als sonst der Frage nach, wie die Verschränkung einer (psychoanalytischen) ›Theorie der Persönlichkeit‹ mit einer (marxistisch orientierten) ›Theorie der Gesellschaft‹ gedacht werden müsste. Dazu beschäftigt er sich mit der Studie Marxismus und Theorie der Persönlichkeit 241 des französischen Philosophen Lucien Sève. Dessen zentrales Anliegen (»Der Marxismus als geschlossenes wissenschaftliches Ganzes verlangt notwendig

238 Vgl. Gunzelin Schmid Noerr, »Eros und Todestrieb. Zur Dechiffrierung der psychoanalytischen ›Mythologie‹«; in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 41. Jg., 8/1987, S. 692. 239 Ebd. 240 Alfred Lorenzer, »Zur Dialektik von Individuum und Gesellschaft«; in: Thomas Leithäuser/Walter R. Heinz (Hg.), Produktion, Arbeit, Sozialisation, Frankfurt a.M. 1976, S. 13-47. 241 Siehe dazu: Lucien Sève, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, Frankfurt a.M. 1972.

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die Theorie der Persönlichkeit«242 ) inspiriert Lorenzer, auszuloten, inwiefern seine psychoanalytische Konzeption der Interaktionsformen (als Persönlichkeitstheorie) wiederum der gesellschaftstheoretischen Dimension gerecht werden könnte. Lorenzer klärt in der Folge mögliche Übereinstimmungen zu Sève ab, nicht aber ohne darauf hinzuweisen, dass dessen »Perspektive gegenläufig zu dem hier vertretenen Konzept [der Interaktionsformen, eig. Anm.] angelegt ist«, denn »Sève geht aus von einer wissenschaftlichen Analyse der Gesellschaft, nicht von einer Wissenschaft individueller Prozesse (worin die Psychoanalyse wurzelt)«.243 In der Konsequenz weiß sich Lorenzer mit Sève einig, dass es Analogien zwischen einer Persönlichkeitstheorie und einer Gesellschaftstheorie (welche, soll sie marxistisch sein, in der politischen Ökonomie verankert sein muss) auszumachen gilt – weicht aber von Sève ab, wenn es darum geht, diese Analogien nicht einfach wie jener im Sinne einer Objektivation des Gesellschaftlichen im Individuellen zu denken.244 Man müsse vielmehr das »Individuum in seiner Konkretheit, d.h. in seiner lebensgeschichtlich-lebenssituativen Gegebenheit in den Blick nehmen«245 . Sève vollziehe, indem er Individuen nicht individuell, sondern objektiviert denkt, innerhalb der darzustellenden Dialektik von Individuum und Gesellschaft eine zu einseitige Schwerpunktsetzung auf die Gesellschaft. Lorenzer vermutet hier einen »residualen Ökonomismus«246 , der deterministisch gedacht sein dürfte. Für Sèves in diesem Sinne etwas zu holzschnittartig ausgefallenes Persönlichkeitsmodell erachtet Lorenzer zwei methodische Schwächen als ursächlich. Sève greife zum einen auf die Experimentalpsychologie zurück, »die das Individuum ja gänzlich in eine Abfolge von Daten verwandelt, und dabei die lebensgeschichtliche Konkretheit zur Mannigfaltigkeit von Eigenschaften und Funktionskomplexen macht«247 . Identität werde so als das »gerasterte Musterbild einer abstrakten Individualität angelegt« und »von vorneherein das einzelne Individuum generalisierend zerlegt, um die Details als ›Fall von‹ auszuweisen«.248 Zum anderen stütze sich Sève auf eine Psychoanalyse, die »zwar das einzelne Individuum in seiner unverwechselbaren Identität, in seiner lebenssituativen und lebensgeschichtlichen Originalität« herausstelle, »ihrem herrschenden Selbstverständnis nach« aber so angelegt sei, dass sie den allgemeingesellschaftlichen Zusammenhang größtenteils ausblende. Eine derart verfahrende Psychoanalyse aber sei es, die Sève dazu verleite, seiner Persönlichkeitstheorie »das abstrakte Modell eines geschichtslos verallgemeinerten Menschenbildes« zugrunde zu legen.249 Lorenzer plädiert also in seiner Kritik dafür, die Dialektik von Individuum und Gesellschaft nicht wie von Sève vollzogen, vom Pol der Gesellschaft aus zu denken, und das Individuum sozusagen deterministisch verkürzt als deren Widerhall zu begreifen,

242 Lucien Sève, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, a.a.O., S. 11, zitiert nach Alfred Lorenzer; in: ders., »Zur Dialektik von Individuum und Gesellschaft«, a.a.O., S. 14. 243 Ebd. 244 Vgl. ebd., S. 18. 245 Ebd. 246 Ebd. 247 Ebd. 248 Ebd., S. 18f. 249 Ebd., S. 19.

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sondern legt es vielmehr nahe, sein eigenes elaboriertes Konzept der Interaktionsformen als psychoanalytische Persönlichkeitstheorie zum Ausgangspunkt zu nehmen und dieses letztlich so auszurichten, dass beide Pole jenes dialektischen Verhältnisses – also Individuum und Gesellschaft – im Sinne einer »unverzerrten Gleichgewichtigkeit (wie immer es letzten Endes damit stehen mag)«250 dargestellt werden könnten. Entscheidend für jenes Vorhaben ist nun Lorenzers Rekurs auf das von Marx und Engels in der sechsten Feuerbach-These vorgebrachte Diktum: »Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«251 . Bereits in seiner Schrift Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie hatte sich Lorenzer auf jene Passage berufen; und auch bei Sève findet sich dieses Zitat als grundlegend für dessen Gedankengang.252 Anders als Sève jedoch spricht sich Lorenzer entschieden dafür aus, die »konkreten Vermittlungsinstanzen [Hervorhebung durch Lorenzer]«253 , welche die gesellschaftlichen Verhältnisse in individuelles Verhalten transformieren,254 in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen. Davon verspricht er sich, die oben aufgeführten Verkürzungen, die er Sèves Studie attestiert, zu umgehen. Lorenzer skizziert, wie eine solche Fokussierung auf die ›konkreten Vermittlungsinstanzen‹ vonstatten zu gehen hätte: »Der idealistische Gestus, von ›Verinnerlichung von Normen‹ und ›Vermittlung von Handlungsregeln‹ zu sprechen, muß abgelöst werden von einem minuziösen Nachzeichnen der Übermittlungs›mechanismen‹. Grundvoraussetzung einer solch materialistisch-genauen Recherche ist, die Übermittlungsebene auszumachen. Wir kennen sie zuverlässig: das Spielfeld zwischenmenschlicher Beziehungen, das den Entfaltungsraum der frühen und frühesten interindividuellen Interaktion abgibt, und das zuvor schon den Rahmen für das organismische Zusammenwirken zwischen Mutter und Kind, Mutter und Fötus, mütterlichem und embryonalem Organismus abgegeben hatte. Diejenigen ›Verhältnisse‹, auf die ›Verhalten‹ unmittelbar zurückgeführt werden muss, sind zwischenmenschliche Verhältnisse als jene realen Interaktionen, in denen gesellschaftliche Formen vermittelt werden. [Eig. Hervorhebung]«255 Lorenzer formuliert hier abermals ein zutiefst intersubjektives Verständnis nicht nur der Psyche, sondern auch der zwischenmenschlichen Interaktion und Kommunikation und schließlich der Sozial- und Gesellschaftsstruktur als solches. Der gedankliche Brückenschlag vom Selbst, zu den Anderen hin zur (gesellschaftlichen) Welt ist somit vollzogen; damit in Grundzügen auch der, von der Psychoanalyse über die Sozialisationszur Gesellschaftstheorie. Folglich konstatiert Lorenzer im Anschluss, wenn es ihm darum geht, noch einmal den »Vermittlungsgang«, bzw. die »Vermittlungsinstanz«, d.h. den »Übertragungsweg« zwischen Individuum und Gesellschaft zu benennen,256 wir

250 Ebd., S. 18. 251 Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 3, (6. Feuerbach-These), S. 534, zitiert nach Alfred Lorenzer; in: ebd., S. 15. 252 Vgl. ebd., S. 14f. 253 Ebd., S. 19 254 Vgl. ebd., S. 20. 255 Ebd., S. 20f. 256 Ebd., S. 20.

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hätten nun »offensichtlich den Bereich der Individualität verlassen, wir befinden uns jenseits der Persönlichkeitsgrenze im Terrain ›interpersoneller‹ Prozesse«257 . Lorenzers Terminus ›interpersoneller Prozess‹ aber kann ohne Umschweife substituiert werden durch den Begriff intersubjektiver Prozess. Intersubjektive Prozesse sind es, die sich zwischen den Subjekten in Form von Kommunikation und Interaktion entspinnen. Sie gehören primär nicht der Psyche an, sondern bilden die »beobachtbare Ebene von Interaktionserscheinungen«258 . Das wiederum heißt nicht zwangsläufig, intersubjektive Prozesse seien nicht mit den Mitteln der Psychoanalyse zu begreifen; es bedeutet lediglich, intersubjektive Prozesse ereignen sich originär im von der Soziologie als Disziplin zu beobachtenden Feld.259 Der intersubjektive Prozess, so darf daher festgestellt werden, findet statt im Zwischenbereich der Subjekte und kann somit verstanden werden als kommunikatives und interaktives Austauschgeschehen zwischen zwei oder mehreren individuellen Psychen, welche sich jeweils erweisen als lebensgeschichtlich gewachsenes Ensemble an Interaktionsformen. Wie nun aber jenes individuelle, lebensgeschichtlich gewachsene Ensemble an Interaktionsformen, welches die Persönlichkeit ausmacht und Verhalten bestimmt, über die ›Vermittlungsinstanz‹ der intersubjektiven Prozesse, d.h. den zwischenmenschlichen Beziehungen, (auch: konfliktuös) korrespondiert mit den soziokulturell und soziohistorisch entstandenen gesellschaftlichen Verhältnissen, ist die entscheidende Frage, die sich stellt, will man die Schwelle von der psychoanalytischen Persönlichkeits- zur Gesellschaftstheorie endgültig überschreiten. Letzten Endes müsste in eine derart konzipierte gedanklichen Bewegung auch eine Theorie der politischen Ökonomie einbezogen werden können, oder aber zumindest die Beziehung bestimmbar werden, in welcher die Produktionsverhältnisse zu den genannten sozialen Verhältnissen stehen. Es dürfte dann also – um die eben angedachten Ausführungen noch einmal auf den Punkt zu bringen – analytisch die Verknüpfung von individuellem Verhalten, ›interpersonellen‹ (sprich: intersubjektiven) Prozessen, sozialen Verhältnissen und Produktionsverhältnissen als wechselseitig ineinander verflochtene darstellbar werden. Eine zentrale Passage Lorenzers, in welcher jenes Vorhaben bereits prägnant formuliert, aber inhaltlich noch grob umrissen aufscheint, soll nun ausführlich zitiert werden, um sie alsdann einem Weiterdenken zugänglich zu machen. Lorenzer schildert darin die von ihm angedachte Version einer Verknüpfung von Persönlichkeits- und Gesellschaftstheorie, von Verhalten und Verhältnissen, folgendermaßen:

257 Ebd. 258 Ebd., S. 21. 259 Die psychoanalytische Dimension (eben auch zu beobachtender) sozialer intersubjektiver Prozesse, wie sie sich etwa zwischen Therapeut und Klient entspinnen, wird intensiv ausgeleuchtet in: Lawrence J. Brown, Intersubjective Processes and the Unconscious. An Integration of Freudian, Kleinian and Bionian Perspectives, London/New York 2011. Eine ›triadische intersubjektive Matrix‹ aus Analysand, Patient und einem von beiden gemeinsam in der Relation konstituierten symbolisch-zeichenhaft Unbewussten wird dabei als theoretische Grundlage der psychoanalytischen Praxis verstanden (ein Konzept, das allerdings mehreren intersubjektiven Ansätzen in der Psychoanalyse in je eigener Ausformulierung zugrunde liegt). Dieses gemeinsam konstituierte Unbewusste wird dann interessanterweise von Brown verstanden als Grenzenüberschreitendes – d.h. (in der hier verwendeten Diktion) eigtl. Maßloses – zwischen Therapeut und Klient. Vgl. dazu: ebd., S. 178-185.

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»Von den kollektiven Sozialstrukturen gelangen wir über die vermittelnden Figuren des Interaktionsspiels in folgender Weise hinaus und ins Individuum hinein: Das – prinzipiell – ›beobachtbare‹ Zusammenspiel in der Mutter-Kind-Dyade beeinflusst den kindlichen Organismus, stellt dessen Verhaltensreaktionen ein, d.h., es schlägt sich im kindlichen Organismus nieder. Physiologisch gedacht meint diese Formulierung: Interaktion wird als Interaktionsengramm niedergelegt; um sodann als Verhaltensentwurf instrumentalisiert zu werden. Aus Interaktionen hervorgegangen, bestimmen diese Verhaltensentwürfe die nachfolgenden Interaktionen. Genetisch wie funktional sind sie auf Interaktionen bezogen, sie werden von den Interaktionen bestimmt, um weitere Interaktionen zu bestimmen; sie sind als einregulierte Regulatoren aber dem Individuum innerlich. Als innere Regulatoren gehören sie eindeutig nicht auf die beobachtbare Ebene von Interaktionserscheinungen, sondern sind Bausteine des gesellschaftlich formbestimmten Wesens der Persönlichkeit. Diese in die Persönlichkeit eingelagerten, die Persönlichkeit in ihrem Wesen ausmachenden Verhaltensentwürfe wurden ›bestimmte Interaktionsformen‹ genannt. Die bestimmten Interaktionsformen sind die gesellschaftlichen Verhältnisse im konkreten Individuum. […] Machen wir uns klar: Zwar war das gesellschaftlich bestimmte Individuum immer schon Gegenstand der Psychoanalyse – aber sie selbst hat ihren Gegenstand niemals so begriffen, welches Nicht-Begreifen jeden psychoanalytischen Begriff prägt, und eben deshalb muß die Begriffserweiterung in jeden einzelnen Begriff eindringen und aus der psychoanalytischen Erfahrung heraus deren Persönlichkeitstheorie einer konkreten Gesellschaftstheorie vermitteln, die psychoanalytische Zentralbegriffe aufhebend in einer Theorie, in der psychische Struktur als hergestellt, genauer: als produziert begriffen wird. Dazu dient der Begriff ›Interaktionsform‹. Weil Herstellung in Praxisvermittlung wurzelt, die individuellen Praxisniederschläge aber sprachliche Praxis werden müssen, muß sich die Differenz von bestimmten und symbolischen Interaktionsformen zeigen. Und weil Psychoanalyse von beschädigter Struktur handelt, müssen die Begriffe die beschädigende Herstellung abbilden: desymbolisierte Interaktionsform, inkonsistente Praxisfigur. […] Die Begriffe der Interaktionsformen nehmen den psychoanalytischen Begriffen gegenüber den Platz einer Metatheorie ›hinter‹ der psychoanalytischen Begrifflichkeit ein. Mittels der Begriffe ›bestimmte Interaktionsformen‹, ›symbolische Interaktionsformen‹ können die Persönlichkeitstheorie und das Verfahren der Psychoanalyse einer sozialwissenschaftlichen Dimension überhaupt erst erschlossen werden. [Hervorhebungen durch Lorenzer]«260 Lorenzer fächert die Dialektik von Individuum und Gesellschaft also in zweifacher Weise auf: inhaltlich, um die konkreten Vorgänge, in welche jenes psychosoziale Austauschgeschehen zerfällt, nachzeichnen zu können; begrifflich, nicht allein um jene Vorgänge zu benennen, sondern auch um diese überhaupt aufeinander beziehen zu können – und zwar indem die Kluft zwischen psychoanalytischem und sozialwissenschaftlichem Vokabular terminologisch überbrückt werden soll. Als bedeutendste Aspekte jenes Auffächerns der Dialektik von Individuum und Gesellschaft lassen sich aus jenem hochverdichteten Textausschnitt grob vereinfacht folgende inhaltliche Elemente ausmachen:

260 Alfred Lorenzer, »Zur Dialektik von Individuum und Gesellschaft«, a.a.O., S. 20ff.

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(1) das (individuelle) Verhalten – (2) die (vermittelnden) interpersonellen Prozesse – (3) die (gesellschaftlichen) Verhältnisse. Dem (1) (individuellen) Verhalten wird begrifflich das Ensemble der Interaktionsformen in all ihren Facetten zugeordnet (›bestimmte‹, ›symbolische‹ etc.); die (2) (vermittelnden) interpersonellen Prozesse werden bezeichnet als ›Figuren des Interaktionsspiels‹, als ›prinzipiell beobachtbares Zusammenspiel‹ und schließlich verstanden im Sinne der in Interaktionen konkret erfahrbaren ›Praxisfigur‹, die ja gleichzeitig die Form, zu welcher sich (3) die (gesellschaftlichen) Verhältnisse ausgebildet haben, in sich aufgenommen hat und auf vielfach gebrochene Weise ans jeweilige Individuum überträgt. Die (gesellschaftlichen) Verhältnisse belegt Lorenzer mit dem Begriff der ›kollektiven Sozialstrukturen‹; darunter versteht er zum einen ›Sozialisationsagenturen‹, die in familiären, soziokulturellen und ökonomischen ›Interaktionsfeldern‹ verortet sind – und zum anderen ›soziale Institutionen‹ wie »Schule, Krankenversorgung, Massenmedien, Theater, Kunst, Literatur etc.«261 .262 Letztere, die sozialen Institutionen, erachtet er in ihrem ideologischen Gehalt als durchaus geprägt vom Charakter, den die materiellen Produktionsverhältnisse angenommen haben; erstere, die Sozialisationsagenturen, sieht er als das ›Umschlagsfeld‹ in welchem jene ideellen Fixationen über die genannte Vermittlungsebene des zwischenmenschlichen Beziehungsfeldes wiederum in die Individuen transportiert werden.263,264 (Individuelles) Verhalten und (gesellschaftliche) Verhältnisse scheinen so als dialektisch (nicht: zirkulär) ineinander verwobene auf – und Widersprüche, Konflikte, Inkonsistenzen auf beiden Seiten bedingen den evolutionären Charakter jenes dialektischen Spannungsverhältnisses. Sicherlich bedarf selbst Lorenzers inhaltlich-begriffliche Meta-Ebene (die zunächst einmal dazu angetan ist, Psychoanalyse, Sozialisations- und Gesellschaftstheorie im Sinne einer interdisziplinären Interaktionstheorie in Bezug zueinander zu setzen) einer noch eingehenderen Konkretisierung, soll eine spezifische Version Kritischer Theorie (wie die hier zu entwickelnde und letzten Endes auf das Verständnis spätmoderner Phänomene hin ausgerichtete) näher expliziert werden können. Dass Lorenzers Konzept der Interaktionsformen sich einem derartigen Vorhaben nicht verschließt, wird offenbar, wenn er ein solches Unterfangen selbst andenkt, und ausdrücklich billigt: »Eines sollte jedoch klar sein: Die Metatheorie, die hier vorgestellt wird, beansprucht nicht, jede – und schon gar nicht die letzte – metatheoretische Ebene der Psychoanalyse zu sein, wohl aber eine notwendige, insofern es um die logische Vermittlung 261 262 263 264

Ebd., S. 46. Vgl. ebd., S. 45f. Siehe dazu auch die von Lorenzer gegebene Abbildung, ebd., S. 45. Hans-Joachim Busch konkretisiert diesen Sachverhalt: »Die triebmanipulative Wirkung des herrschenden Systems von Werten und Normen verdankt ihre Kraft einer von Lorenzer erstmals so genau aufgewiesenen Auffächerung, die einer näheren Betrachtung wert ist. Die Sozialisationsagenturen bedienen sich für ihre Botschaften der dafür ontogenetisch und phylogenetisch ausgebildeten Kommunikationskanäle. Zum einen nehmen sie den Weg über die Sprache, zum anderen über außersprachliche – mimische, gestische, bildnerisch-gestaltende, musikalische Formen der Interaktion und Verständigung.« In: ders., Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Konzeptionelle Schwierigkeiten und Möglichkeiten psychoanalytisch-sozialpsychologischer Zeitdiagnose, a.a.O., S. 145.

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der Begrifflichkeit einer konkreten Persönlichkeitstheorie mit einer konkreten, d.h. historisch-materialistischen Gesellschaftstheorie geht.«265 Es dürfte also legitim sein hinter der von Lorenzer aufgemachten metatheoretischen Ebene (welche sich als unerlässlich erweist, wenn es darum geht, Psychoanalyse über Sozialisations- mit Gesellschaftstheorie zu vermitteln) noch eine weitere zu eröffnen, um eben gerade eine dezidiert spätmodern orientierte Verschränkung von Persönlichkeits- und Gesellschaftstheorie zu formulieren. Hierfür erweist sich, um noch einmal auf die bereits ausgeführten gedanklichen Zwischenschritte zu sprechen zu kommen, ein analytisches Ansetzen an der von Lorenzer ausgemachten ›Vermittlungsebene‹ als »beobachtbare Ebene von Interaktionserscheinungen«266 als unabdingbar. Jene ›Ebene von Interaktionserscheinungen‹ als Scharnier zwischen (individuellem) Verhalten und (gesellschaftlichen) Verhältnissen, war bestimmt worden als Geflecht267 ›interpersoneller‹, d.h. intersubjektiver, Prozesse268 . Nimmt man nun das Gesamt intersubjektiver Prozesse in den Blick, das – wie auch immer noch näher zu bestimmende – ›Ensemble‹ an Verhältnissen, welches sie ausbilden, so kommt man nicht umhin, dieses inhaltlich und begrifflich noch näher zu bestimmen. Denn die lorenzerschen Verweise auf die ›Praxisfigur‹, die ›Figuren des Interaktionsspiels‹, oder das ›prinzipiell beobachtbare Zusammenspiel‹ scheinen noch zu unbestimmt – vielleicht auch: zu nahe am Gegenstand der Persönlichkeitstheorie ausgerichtet – um a) jene Ebene inhaltlich-begrifflich prägnant und auch auf eine der gesellschaftstheoretischen Intention angemessene Art und Weise zu bezeichnen; sowie b) dem Charakter jener Ebene als einer das Individuum in Brüchen und Widersprüchen formenden gerecht zu werden und c) ein Verständnis jener Ebene zu ermöglichen, als die Form (auch: deformiert) ihrerseits in sich bergend, welche Gesellschaft als 265 Alfred Lorenzer, »Zur Dialektik von Individuum und Gesellschaft«, a.a.O., S. 22. 266 Ebd., S. 21. 267 Friederike Werschkull spricht von einem »Interaktionsgeflecht« in Rekurs auf das Figurationskonzept von Norbert Elias (in: dies., Vorgreifende Anerkennung. Zur Subjektbildung in interaktiven Prozessen, Bielefeld 2007, S. 21). Als problematisch am Konzept von Elias erachtet sie allerdings, dass dieses dazu verleite, das Subjekt als (ohne Widerständigkeit) in der Gesellschaft aufgehendes zu verstehen. Dazu verweist sie (ebd.) auf Gabriele Kleins Auseinandersetzung mit Elias unter diesem Gesichtspunkt und insb. auf: Gabriele Klein, »Zugerichtet, kontrolliert und abhängig. Das Subjekt in der Figurationssoziologie«; in: Heiner Keupp/Joachim Hohl, Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel. Zur Theorie des Subjekts in der Spätmoderne, Bielefeld 2006, S. 192. Das Konzept der Figuration dürfte aus diesem Blickwinkel daher intersubjektivitätstheoretisch weniger weit tragen als bspw. das eines aktuellen (als kritisch zu verstehenden) und soziokulturelle als relationale Phänomene in den Blick nehmenden netzwerktheoretischen Zugangs (worauf u.a. in Kap. 2.1 dieser Arbeit noch näher eingegangen werden soll). 268 Axel Honneth versteht den »intersubjektiven Prozeß« anerkennungstheoretisch, nämlich als einen, »der mit einer einseitigen Zerstörung reziproker Kommunikationsbedingungen einsetzt, über die praktische Gegenwehr des moralisch verletzten Subjekts sich fortbewegt und schließlich in der kommunikativen Erneuerung einer Situation wechselseitiger Anerkennung ausläuft« (in: ders., Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M. 1989, S. 299) bzw. (ebd., S. 269) als »intersubjektiven Prozeß der normativen Einigung«. Letzteres kommt durchaus an Lorenzers Vorstellung von interpersonellen Prozessen heran, gesetzt den Fall man erblickt in deren mit einem ›Zustandekommen‹ bzw. ›Scheitern von Einigungssituationen‹ einhergehenden Effekten eine ebenfalls normative Dimension.

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solches (ideell über Sozialisationsagenturen und soziale Instanzen bzw. Institutionen sowie materiell über die Produktionsverhältnisse) angenommen hat. Es lohnt sich also, zu diesem Zweck (nämlich der inhaltlich-begrifflich näheren Bestimmung genau jener Ebene der beobachtbaren Interaktionen) ein weiteres Mal Lorenzers klärende Definition in den Blick zu nehmen: »Diejenigen ›Verhältnisse‹, auf die ›Verhalten‹ unmittelbar zurückgeführt werden muss, sind zwischenmenschliche Verhältnisse als jene realen Interaktionen, in denen gesellschaftliche Formen vermittelt werden.«269 Die ›zwischenmenschlichen Verhältnisse‹ (›als jene realen Interaktionen‹) erweisen sich bei näherer Betrachtung als Ensemble an Relationen, in denen gesellschaftliche Formen ans Individuum vermittelt werden und dort Verhalten prägen. In einem Schritt der terminologischen Simplifizierung (dem dann erst eine weitere und breitere inhaltliche Vertiefung folgen kann) soll an dieser Stelle also dafür plädiert werden, den Begriff relationale Formation zu ihrer näheren Charakterisierung einzuführen;270 die relationale Formation wäre dann in ihrer gedanklichen Konsequenz ein Ensemble an intersubjektiven Prozessen. Im Gegensatz zum Ensemble der (nicht beobachtbaren) Interaktionsformen, welches den psychischen Raum konstituiert, müsste die relationale Formation als Ensemble der (beobachtbaren) intersubjektiven Prozesse als konstitutiv für den sozialen Raum erachtet werden. Es eröffnet sich nun also anstelle der zur Beschreibung der Dialektik von Individuum und Gesellschaft von Lorenzer in den Fokus genommenen analytischen Trias (individuelles) Verhalten – interpersonelle Prozesse – (gesellschaftlichen) Verhältnisse, die analoge, und doch mit einem etwas anders gelagerten Schwerpunkt versehene Konzeption Subjekt – intersubjektiver Prozess – relationale Formation. Dabei dürfte die relationale Formation in dieser Konzeption eben nicht nur als komplementärer Pol zur Interaktionsform im psychischen Raum begriffen werden, sondern sie müsste folglich auch gedacht werden, als den herkömmlichen Praxisbegriff intersubjektiv – und damit also: relational – erweiternd oder gar ersetzend. Während also die Interaktionsform dazu angetan war, psychische Dynamiken zu umschreiben, eignet sich die relationale Formation – als kategoriales Kompendium – dafür, soziale Dynamiken in den Blick zu nehmen. Daher ist die relationale Formation (als Resultat einer theoretisch-instrumentellen Perspektiverweiterung) zunächst einmal zweierlei: einesteils, eine terminologische Kategorie zur Erweiterung und Ergänzung der zur Beschreibung intrapsychischer (und daher: nicht beobachtbarer) Vorgänge von Lorenzer eingeführten ›Interaktionsform‹ ins Soziale hinein, andernteils, ein als real existent zu betrachtendes, komplexes Beziehungsgeflecht oder –netz zwischen den Individuen wie der sie umgebenden (kulturellen oder natürlichen) Welt. Erst durch die kategoriale und komplementäre Ergänzung der Interaktionsform um die relationale Formation kann aus einer psychoanalyti269 Alfred Lorenzer, »Zur Dialektik von Individuum und Gesellschaft«, S. 20f. 270 Stärker praxistheoretisch fundierte Formulierungen und Theoreme (wie z.B. das der ›Praxisfigur‹ bei Lorenzer) verlieren mit dem Gestaltwandel des Sozialen in der Spätmoderne gegenüber solchen intersubjektiven Charakters durchaus an Prägnanz und Relevanz. So schreibt bspw. auch Henning Laux (speziell auf die Charakterisierung des gesellschaftlichen Wandels seit Ende des 20. Jahrhunderts bezogen): »Das Soziale nimmt eine […] relationale Form an [eig. Hervorhebung]«. In: ders., Soziologie im Zeitalter der Komposition. Koordinaten einer integrativen Netzwerktheorie, a.a.O., S. 278.

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schen Subjektivierungs- und Sozialisationstheorie eine psychoanalytisch-sozialpsychologische Theorie der Gesellschaft werden; so erst rückt gesellschaftliche Totalität in den Blick. Denn eine Beschreibung spezifisch sozialer Dynamiken war mit dem von Lorenzer propagierten Projekt einer Psychoanalyse als Interaktionstheorie bislang nicht möglich. Die Ausweitung jener Interaktionstheorie auf andere als subjektivierungs- und sozialisationstheoretische Implikationen, nämlich hin zu gesellschaftstheoretischen und damit sozialwissenschaftlichen, liegt nicht mehr im von Lorenzer abgesteckten Rahmen. Wo jedoch soziale Dynamiken nicht ausreichend beschrieben werden können, verbleibt nur der Hinweis auf die der ›gesellschaftlichen Praxis‹ oder den ›kollektiven Sozialstrukturen‹ letztlich zugrunde liegenden Produktionsverhältnisse. Die so sich abzeichnende, durchaus größere Leerstelle des Sozialen (bei Lorenzer) wiederum zu füllen, ist folglich nur eine theoretische Intention in der Lage, die ›gesellschaftliche Praxis‹, oder eben die ›kollektiven Sozialstrukturen‹, in Gestalt der relationalen Formation, zwar als in den Produktionsverhältnissen verankert verstehen könnte, aber den aus ihnen sich ergebenden (und eigenständigen Bewegungsgesetzen unterworfenen) sozialen Raum kommunikations- und handlungstheoretisch zu beschreiben vermöchte. Dass die lorenzersche Psychoanalyse zwar sozialisatorische Mechanismen (hinsichtlich des Subjekts) vollgültig darstellen kann, ihr aber jenseits davon ein geeigneter, eigenständiger, und präziser Begriff des Sozialen fehlt, verdeutlicht beispielsweise folgender von Lorenzer verfasster Abschnitt: »[…] [Es] rücken zwei Interaktionskreise in den Mittelpunkt des Interesses als Schaltstellen der Sozialisation: Der frühkindliche Interaktionskreis, der seinerseits aber abhängig ist von jenem umfassenden Interaktionskreis, der identisch ist mit der Organisation von Arbeit, die als Organisation von Herrschaft zugleich – und d.h. als Produktionsverhältnisse – das Gesamt geltender Interaktionsformen repräsentiert. Diese sind die Totalität geschichtlich-konkreten Interagierens, die jede einzelne Interaktionsform bestimmt. Aus den Widersprüchen der Produktionsverhältnisse heraus reproduziert sich Sozialisation als Widersprüchlichkeit der Interaktionsformen.«271 Lorenzer verbleibt hier ein weiteres Mal nur der Verweis auf die ›Produktionsverhältnisse‹ sowie die viel zu allgemein gehaltene Umschreibung ›Totalität geschichtlich-konkreten Agierens‹ – unter offenkundiger Ermangelung eines adäquaten Begriffs des Sozialen bzw. eines gesellschaftstheoretisch weiterführenden Zugangs. Ein solcher Zugang aber lässt sich erschließen über eben den Begriff der relationalen Formation. Dennoch deutet sich vage schon das Verständnis an, welches man von der relationalen Formation zu entwickeln hätte, wenn Lorenzer, in obig zitierter Passage eingangs schon spricht »von jenem umfassenden Interaktionskreis, der identisch ist mit der Organisation von Arbeit, die als Organisation von Herrschaft zugleich – und d.h. als Produktionsverhältnisse – das Gesamt geltender Interaktionsformen repräsentiert.«272 Indem

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Alfred Lorenzer, »Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie«; in: Jürgen Habermas/Dieter Henrich/Jacob Taubes (Hg.), Alfred Lorenzer. Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie, a.a.O., S. 136. 272 Ebd.

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Lorenzer zudem jenen ›zweiten Interaktionskreis‹ dem ›ersteren‹ ›frühkindlichen Interaktionskreis‹ beigesellt, zeigt er bereits das Verhältnis in welchem intersubjektiver Prozess sowie relationale Formation zueinander zu stehen hätten: nämlich als zweierlei ›Interaktionskreise‹ – einem enger gefassten, stärker auf konkrete zwischenmenschliche Beziehungen rekurrierenden und subjektivierend-sozialisatorischen, sowie einem umfassenderen, soziopolitischen, auch die Organisation von Leben, Arbeit und Herrschaft im Allgemeinen, betreffenden. Es ginge also schließlich darum, dem ›ersten Interaktionskreis‹ (d.h. den auf die Individuen bezogenen intersubjektiven Prozessen) einen ›zweiten‹, stärker auf die Gesellschaft bezogenen, Interaktionskreis (also die relationale Formation) über- oder beizuordnen. Dadurch könnten schließlich nicht allein die konkreten Implikationen lebensgeschichtlicher Verinnerlichung von Interaktionserfahrungen im Subjekt, und damit die Subjektkonstitution einerseits, untersucht werden – sondern auch andererseits, die gesamtgesellschaftlichen Dynamiken, resultierend aus dem alle Individuen umspannenden Beziehungsgeflecht, welches, als größerer Kommunikations- und Interaktionszusammenhang in Beziehung steht zur sozial- und kulturgeschichtlich spezifischen Konstitution der Gesellschaft. Mehr noch: So wie sich die Konstitution der Subjekte nicht im Sinn einer Determination, sondern entlang von individuell erfahrenen Widersprüchen und Konflikten vollzieht, dürfte sich der Fokus hinsichtlich der Konstitution von Gesellschaft dann gleichfalls auf soziale Widersprüche oder Konflikte richten – um so letzten Endes die Verschränkung beider ineinander nachzeichnen zu können. Die Dialektik von Individuum und Gesellschaft fände so ihren vollgültigen Widerhall in der von Interaktionsform und relationaler Formation. Die aus den Interaktionsformen erwachsene psychische Struktur des Individuums korrespondierte dann (auch: konfliktuös) mit der in der relationalen Formation zur Ausprägung gelangten sozialen Struktur. Das aber heißt auch, dass die bei der individuellen Internalisierung von Interaktionserfahrungen vorgängig so charakteristischen Elemente (intersubjektives ›Wechselspiel‹, bzw. Störungen desselben, wie auch analog dazu ›zustande kommende‹ oder eben ›nicht zustande kommende Einigungssituationen‹) sich auf lediglich gesellschaftlicher Ebene so nun auch innerhalb der relationalen Formation ausmachen lassen dürften; namentlich soziale Konflikte und Widersprüche wären dann zu verstehen als Verzerrungen im Wechselspiel intersubjektiver Konstellationen, also auch von sozialen Gruppen untereinander, und zwar als ›nicht zustande kommende Einigungssituationen‹ bzw. Konsensbildungen. Damit (über die Einigungssituation bzw. Konsensbildung) fände sich bei den Kommunikations- und Interaktionsphänomenen in der relationalen Formation eben jenes Gemeinsame (bzw. im Falle nicht zustande kommender Einigungssituation das Einsame) an genauso zentraler Stelle wieder, wie es bereits in den Kommunikations- und Interaktionserfahrungen des Subjekts ausgemacht werden konnte; nun aber in einer stärker gesellschaftlichen, als nur zwischenmenschlichen Dimension. Zudem – wenn man die von Loewald ins Verständnis von Intersubjektivität so prominent eingebrachten Vorstellungen von Entdifferenzierung wie Differenzierung miteinbeziehen möchte (welche ja von den lorenzerschen Begriffen ›Wechselspiel‹, ›Einigungssituation‹, bzw. deren ›Störung‹ oder ›nicht zustande Kommen‹, durchaus ein Stück weit ausgeblendet werden) – böten sich bezüglich der Analyse der relationalen Formation erneut die Begriffe des maßlos Gemeinsamen wie des bemessen Einsamen als zielführende an. Selbige – auf nun lediglich gesellschaftlicher und nicht

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bloß zwischenmenschlicher Ebene als Bezugspunkte eingeführt – beschrieben nicht nur Facetten aus dem Phänomenkreis des Gemeinsamen wie des Einsamen (d.h. von Inklusion und Exklusion im weitesten Sinne, also von Einbeziehung und Ausschluss, Vergemeinschaftung und Vereinzelung, oder auch: des Kollektiven wie des Privaten), sondern erwiesen sich überdies als geeignet, gerade eben die ›formgebende‹ und damit maßlose oder bemessende Qualität jener Dynamiken zu betonen. Das maßlos Gemeinsame und das bemessen Einsame begegneten so auch in der relationalen Formation als Sammelbegriffe für Manifestationen von (verbindender bzw. trennender) Kommunikation und Interaktion; ihr Herkommen aus basalen und formgebenden – nur jetzt eben: sozialen – Dynamiken von Prozessen der Strukturbildung tritt so abermals deutlich zutage. Jene strukturbildenden Prozesse gälte es erneut als grundsätzlich entdifferenzierende und differenzierende zu fassen, wodurch es möglich würde, nicht nur an (auch empirisch gerade in der Spätmoderne zu beobachtende) gesellschaftliche Phänomene der Entdifferenzierung und Differenzierung anzuknüpfen, sondern diese letztlich auch in Bezug zu setzen zu den bereits dargestellten individuellen Phänomenen der Entdifferenzierung und Differenzierung, welche in die Konstitution des Subjekts eingehen, nämlich als maßloses Selbst und bemessenes Ich. Alles in allem zeichnete sich so konzeptionell (und deshalb – noch – im Konjunktiv formuliert) ein Ansatz ab, der nicht nur geeignet sein dürfte, Psychoanalyse mit Sozialwissenschaften zu verschränken, sondern auch neofreudianische Konzeptionalisierungen zu beziehen auf neomarxistische. Letztlich tritt so in Konturen immer mehr das Bild einer Gesellschaftstheorie hervor, die immaterielle wie materielle Austauschprozesse entlang von Kommunikation und Interaktion in ihrer Physis, Psyche und Soziales umfassenden Dimension beschreiben will, und in diese wechselseitige Durchdringung auch das Verhältnis von Überbau und Basis mit einzuflechten trachtet. Ihre Tragkraft freilich wird diese Konzeption eines psychoanalytisch-sozialpsychologischen Zugangs zur Gesellschaftstheorie erst noch beweisen müssen – und zwar im Hinblick auf ihr Vermögen, den realen Gegenstand theoretisch fassen zu können.   Zur Neubestimmung gesellschaftlicher Praxis, oder: Verbindende und trennende Kommunikation und Interaktion – Über ›Verflüssigungen‹ und ›Verfestigungen‹ relationaler Formationen im sozialen Raum ■ In Lorenzers Arbeit mangelt es nicht an Hinweisen darauf, wie nicht nur die Interaktionsform, sondern auch gesellschaftliche Praxis sich scheiden ließe in als ›verfestigt‹ und als ›verflüssigt‹ zu denkende Bereiche. Der Grund für die Verwendung dieser Metaphorik auch bei Lorenzer findet sich darin, dass jener sowohl die Subjektkonstitution als auch die gesellschaftliche Praxis zunächst einmal versteht als Strukturbildung – wodurch sich (schon vor jeder inhaltlichen Betrachtung von Phänomenen) eine Sichtweise ergibt, die auf Modellierungen, also: Gestaltgebungen, fokussiert. Diese aber scheinen auf in ihrer ganzen Plastizität am deutlichsten, wenn man sich eben jener, dem stofflichen Phänomenkreis entlehnten, formenden Metaphorik des ›Verfestigens‹ bzw. ›Verflüssigens‹ bedient. Nur um vorab schon einmal die Assoziation des ›Verfestigens‹ aufzuzeigen, die sich bei Lorenzer in verschiedensten Begrifflichkeiten findet, seien hier (vor jeder inhaltlichen Erläuterung) einige dieser Metaphern kurz aufgeführt: Lorenzer spricht ja im Hinblick auf die ›Klischees‹ grundsätzlich von ›Fixierung‹ – ein Synonym für das ›fest machen‹, an anderer

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Stelle aber auch von »zum Klischee geronnenen Interaktionsformen [eigene Hervorhebung]«273 , d.h. hier hebt er den Wandel von etwas ›Flüssigen‹ zu etwas ›Festen‹ hervor, indem er von ›Geronnenem‹ spricht; in einer wieder anderen Passage bezeichnet er eine nicht zustande kommende, ›fixierte‹, Interaktionsform als »ausgestanzte Einigung auf ein […] Disagreement [eig. Hervorhebung]«274 , ruft also Assoziationen des Ausschneidens von etwas ›Festem‹ hervor; auch spricht er davon, dass »klischeebestimmtes Verhalten« sich als »unwiderruflich starr [eig. Hervorhebung]« erweisen würde;275 ein anderes Mal wiederum weist er darauf hin, dass über gesellschaftliche Normen (bzw. Tabus) vermittelte und somit systematisch in die Dyade eingebrachte Klischees sich schlussendlich als ein »die bestehende Ordnung zementierender Sozialisationsfaktor [eig. Hervorhebung]«276 erweisen würden (noch deutlicher als ›zementierend‹ lässt sich sprachlich hinsichtlich des ›Verfestigens‹ kaum werden). Diesbezüglich verwendet er zudem auch den Ausdruck »Fixierungsmechanik«277 ; und gerade auch mit Blick auf die zum ›Zeichen‹ reduzierten, ursprünglich umfassendere Bedeutungsgehalte mit einbeziehenden Symbole, betont er, dass eben jene Zeichen (die ja in engster Relation zu Verdinglichungsphänomenen stehen) als ›unelastisch‹278 , also: ›fest‹, begriffen werden müssten. Immer also wenn Lorenzer das Trennende misslingender (sprich: nicht zustande kommender) Einigungssituationen charakterisiert, greift er explizit auf die Metaphorik des ›Verfestigten‹ zurück, wohingegen er sich deren Gegenstück, nämlich das Verbindende gelingender (also: zustande kommender) Einigungssituationen, implizit als ›verflüssigend‹ hinsichtlich der Prägung der Subjektkonstitution denkt. Doch nicht nur bei der Subjektkonstitution kommt diese Metaphorik bei Lorenzer zum Tragen, sondern eben auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Praxis, deren ›Ordnung‹ ja über die mannigfaltigsten real zu beobachtenden ›interpersonellen‹ (bzw. intersubjektiven) Prozesse Interaktionsbeziehungen ›verfestigender‹ oder ›verflüssigender‹ Art begünstigt. In der relationalen Formation selbst, so man sie als Ensemble der intersubjektiven Prozesse begreift, sollte daher der Ursprung jener als ›verfestigend‹ oder ›verflüssigend‹ zu denkenden Strukturprinzipien zu finden sein. Ja, die relationale Formation an sich sollte sich im Hinblick auf ihre Einwirkung über die intersubjektiven Prozesse aufs Subjekt mithin scheiden lassen in Aspekte, die als entweder ›verfestigt‹ oder ›verflüssigt‹ zu verstehen wären. Eine tiefergehende inhaltliche wie begriffliche Spezifizierung der relationalen Formation gegenüber des weitgespannten Begriffs der gesellschaftlichen Praxis wäre dazu aber nötig. Erste Anhaltspunkte dazu, wie diese zu geschehen hätte, liefert nun aber gerade Lorenzer. Am Deutlichsten zeichnet sich ab, wie sich im Einklang mit Lorenzer grundsätzlich divergierende Formen gesellschaftlicher Praxis (und damit letztlich: der relationalen Formation) denken ließen, wenn man auf die von ihm geprägte Formel von ›systematisch gebrochener Praxis‹ zurückgreift. Sie nämlich stellt er einer ungebrochenen, das

273 274 275 276 277 278

Alfred Lorenzer, »Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie«, a.a.O., S. 139. Ebd., S. 138. Ebd., S. 139. Ebd., S. 143. Ebd., S. 140. Vgl. ebd., S. 152.

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heißt: nicht systematisch verzerrten bzw. verstümmelten, entgegen. ›Systematisch gebrochene Praxis‹ aber bezeichnet Widersprüchlichkeit, Konflikthaftigkeit, die gezielt – so ist hier systematisch zu verstehen – in Gestalt spezifisch verzerrter Interaktionsformen ins Subjekt eingebracht wird. Dabei umfasst jenes gezielte Einbringen unbewusste wie bewusste Sprech- und Handlungsakte gleichermaßen; allein es geht darum, dass über jene Sprach- und Handlungsmuster Normen bzw. Tabus, die als solche eben nicht zwangsläufig reflektiert werden müssen, im Einklang mit gesellschaftlicher Praxis, und aus jener hervorgehend, innerhalb interpersoneller Prozesse ans Subjekt herangetragen werden. Bzgl. der primären Sozialisation (die ja schon in der Mutter-Kind-Dyade sich zu vollziehen beginnt) veranschaulicht Lorenzer dies anhand zweier Beispiele: Eines entstammt der ›vertrauten‹ gesellschaftlichen Praxis spätkapitalistischer Gesellschaften, eines entnimmt er – konträr dazu – aus traditionellen Stammesgemeinschaften, deren Ökonomie überwiegend aus Jagen und Sammeln besteht. Er erreicht so, dass vorgängig scheinbar ›selbstverständliche‹ Kommunikations- und Interaktionsweisen mit Blick auf davon abweichende Muster in anderen kulturellen Kontexten hinterfragt werden können. Denn erst vor der ›Folie‹ ganz andersartiger frühkindlicher Interaktionserfahrungen, also: Prägungen, in vermeintlich ›fremden‹ Gesellschaften bzw. Gemeinschaften, treten die Mechanismen der Sozialisation auch innerhalb der ›vertrauten‹ deutlicher zutage. Konkret also greift Lorenzer zunächst auf ein Beispiel systematisch gebrochener Praxis in der primären Sozialisation zurück, das er (basierend auf Ausführungen Eriksons) aus den Gemeinschaften und der Historie der nordamerikanischen Sioux entnimmt – um es alsdann mit Beispielen der klassen- bzw. schichtspezifischen Sozialisation in spätkapitalistischen Gesellschaften kontrastieren zu lassen. Die jeweiligen interpersonellen Prozesse sieht Lorenzer auch hier wieder als vermittelndes Scharnier zwischen dem Subjekt und der speziellen Ausformung gesellschaftlicher Praxis (d.h. letzten Endes auch den dieser ja zugrunde liegenden Produktionsverhältnissen). Er skizziert dabei erneut zwei ›Interaktionskreise‹ – einen frühkindlichen, zwischenmenschlichen und überwiegend dyadischen, sowie einen jenen umfassenden, welcher hervorgeht aus der Totalität geschichtlich und gesellschaftlich verwurzelten Interagierens im Allgemeinen – um zuletzt die dialektische Verschränkung beider ineinander exemplarisch darzulegen. Dies aber geschieht unter Verweis auf die grundsätzlich formgebende Qualität jener ›Interaktionskreise‹: »Im Rahmen unseres Konzeptes gilt es […] folgenden Zusammenhang zu sehen: die Formation der Subjekte (greifbar als Sprachzerstörung) verweist genetisch weiter auf gestörte Interaktion, die wiederum – in primärer wie sekundärer Sozialisation – auf Verzerrungen in formbestimmender Praxis zurückgeht. Einzelpraxis aber ist – wo und wie immer sie ins Spiel kommt – dabei stets Teil gesamtgesellschaftlicher Dialektik zwischen den Polen ›innerer Natur und äußerer Natur‹. Sie ist damit abhängig von den Formen, in denen praktische Naturbewältigung sich vollzieht und d.h., sie ist abhängig von den Produktionsverhältnissen. Man kann denselben Sachverhalt auch kürzer so ausdrücken: Weil Sprache in praktischer Sprachkonstruktion gründet, lassen sich Sprachverzerrungen auf Praxisdefekte zurückführen, wobei Praxis in erster Linie auf den aktiv ›einsozialisierenden‹ Teil der Mutter-Kind-Dyade zurückgeht: Die Mutter ist es, von der die Auseinandersetzung mit der inneren Natur ausgeht, sie

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ist die Mittlerperson, die jene Praxis einbringt in einer Handlungsvorgabe. […] Eben deshalb aber ist ihr Verhalten von den Beschränkungen gekennzeichnet, denen der Gesamtarbeiter durch versteinerte Produktionsverhältnisse ausgesetzt ist. Umgekehrt argumentiert: Die Produktionsverhältnisse stecken formgebend den Rahmen ab für die praktischen Möglichkeiten; ein überholt-unangemessener Rahmen borniert praktische Entfaltung, so auch die Entfaltung der Einigung in der Mutter-Kind-Dyade. [Eig. Hervorhebung]«279 Um aber genau jene Dialektik von Individuum und Gesellschaft zu veranschaulichen, d.h. deformierte Einzelpraxis als »Zerstörung symbolvermittelten Handelns«280 eingebettet zu sehen in vorgängig bereits deformierte gesellschaftliche Praxis, mithin also: die Verschränkung jener beiden Interaktionskreise (des frühkindlichen, und desjenigen, der als gesellschaftliche Praxis begegnet – oder, anders ausgedrückt, des einen, der sich schlussendlich im Verhalten manifestiert, und des anderen, der als Verhältnisse begegnet) nachvollziehbar werden zu lassen, greift nun Lorenzer wie bereits angedeutet wider Erwarten nicht auf ein Beispiel aus dem ›vertrauten‹ gesellschaftlichen Umfeld zurück, sondern auf eben jenes bereits erwähnte Beispiel primärer Sozialisation bei den Sioux. Die frühe Kindheit der Sioux nämlich stellt sich dar »als ein ziemlich uneingeschränktes Paradies oraler Bedürfnisstellung«281 , das systematisch abrupte Einschränkungen erfährt, die dann im Unbewussten als Klischees fixiert werden. Das heißt: Das Kind, das über lange Zeit keine Begrenzungen des Lustprinzips erfahren hatte, insofern es bei den Sioux (weit länger als in anderen Kulturkreisen üblich) die Mutterbrust wann immer gewünscht zur Verfügung gestellt bekommen hatte, wird dann plötzlich und geradezu traumatisch (weil durchaus mit Formen von Gewalt einhergehend) entwöhnt – was bei ihm übergroße Wutreaktionen erzeugt, die dann aber nicht allein auf die nun scheinbar ›böse‹ Mutter gerichtet werden, sondern im Unbewussten verankert bleiben, um dann im späteren Erwachsenenleben, viel allgemeiner und stets abrufbar, im Sinne einer Wiederkehr des Verdrängten, auf jegliche als feindselig empfundene Umwelt projiziert werden zu können. Kurz, und etwas salopp formuliert: Die primäre Sozialisation der Sioux erzeugt ›Krieger‹ – Charakterdispositionen nämlich, die bei Bedarf eine urplötzliche, gewalttätige Entladung ›angestauter‹ (bzw. auch im normalen Alltag ›verborgener‹) Aggression begünstigen. Dazu schreibt Erikson: »Dies Paradies des praktisch unbegrenzten Privilegs auf die Mutterbrust hatte aber ebenfalls seine verbotene Frucht. Um saugen zu dürfen, mußte das Kleinkind lernen, nicht zu beißen. Siouxgroßmütter berichten, was für Mühe sie mit ihren verwöhnten Säuglingen hatten, wenn diese anfingen, die Brustwarzen für ihre ersten kräftigen Beißversuche zu benutzen. Die Alten erzählen mit Vergnügen, wie sie den Kopf des Kindes ›aufzubumsen‹ pflegten und in was für eine wilde Wut es dabei geriet. An diesem Punkt pflegten die Siouxmütter dasselbe zu sagen, was unsere Mütter so

279 Ebd., S. 135f. 280 Ebd. 281 Ebd., S. 33.

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viel früher im Leben unserer Kinder sagen: Laß es schreien, davon wird es stark! Besonders die zukünftig guten Jäger konnten an der Kraft ihrer infantilen Wut erkannt werden. War das Siouxkind so mit Wut erfüllt, so wurde es bis zum Halse mit Wickelbändern an das Wiegenbett gebunden. Es konnte seine Wut nicht durch die übliche heftige Bewegung seiner Glieder ausdrücken. Ich will damit keineswegs sagen, daß das Wiegenbrett oder das feste Wickeln mit Tüchern oder Bändern eine grausame Beschränkung darstellen. […] Aber ich will damit zum Ausdruck bringen, daß die jeweilige Konstruktion des Wiegenbrettes, sein Platz im Hause und die Dauer seiner Anwendung variable Elemente sind, die von den verschiedenen Kulturen zur Einprägung der grundlegenden Erfahrungen und wichtigsten Charakterzüge angewendet werden, die sie in ihren Kindern entwickeln wollen. [Eig. Hervorhebung]«282 Es wird an diesem Beispiel also überdeutlich, wie konkrete gesellschaftliche Praxis (in diesem Fall: kämpferische Auseinandersetzung mit der Umwelt bzw. auch anderen Stämmen, gegründet in Produktionsbedingungen, bei denen der Jagd ein wesentlicher Anteil zukommt) vermittels interpersoneller Prozesse systematisch, also gezielt, schon in die früheste Subjektkonstitution eingebracht wird, um letzten Endes Charaktere zu erzeugen, die »disponibel im Dienst einer bestehenden Ordnung«283 sind. Im Falle der Sioux also wird ein Scheitern der Einigungssituation innerhalb der dyadischen Interaktionsbeziehung so forciert, dass es unweigerlich Spuren im Unbewussten des Kindes hinterlassen muss, die auch auf Dauer die Begründung eines gewünschten AffektHaushalts erwirken – mit dem Ziel, die Subjekte den Anforderungen gesellschaftlicher Praxis (der Jagd, dem Kampf) entsprechend zuzurichten. Es geht also im Beispiel der Sozialisation bei den Sioux »[…] zum Einen um das Festhalten eines affektiven Zuflusses bei der Bewältigung einer Aufgabe, die im Bereich der Arbeit wie auch der Interaktion als Kampf angelegt ist. Arbeit ist hier Kampf gegen eine gefährlich überlegene Natur. Zugleich soll diese Kampfsituation aber als blind einrastender Kampfmechanismus etabliert werden. Es geht um die Schaffung eines aggressiven Potenzials für einen von den Subjekten nicht infrage zu stellenden Kampf; es geht um die Erzeugung einer gesellschaftlich ohne weiteres abrufbaren, unbefragt ausbeutbaren Form von Aggression. Ob Arbeit oder Krieg, im Falle der Sioux wird so eine Maximierung einer gegen subjektive Bedenken gefeiten Kampfeignung hergestellt [Hervorhebungen durch Lorenzer].«284 Hier wird aber nicht nur ersichtlich, wie gesellschaftliche Praxis über interpersonelle Prozesse gezielt eine erforderliche Prägung von Interaktionsformen, und über diese des Subjekts, erwirkt, sondern auch wie diese Prägung sich vollzieht als punktuelle Umkehr des Eros in den Thanatos – denn die mit mütterlicher Liebe und Geborgenheit ungehindert einhergehende Erfüllung des Lustprinzips wandelt sich bei dessen plötzlicher Ersetzung durch das Realitätsprinzip ebenso spontan in eine vom Kind als feindselig empfundene, geradezu gewalttätige Haltung der Bezugsperson. Unweigerlich bilden 282 Erik Erikson, »Kindheit und Gesellschaft«, Stuttgart 1961, S. 112f, zitiert nach Alfred Lorenzer; ebd., S. 33f. 283 Ebd., S. 143. 284 Ebd., S. 142f.

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sich aufseiten des kindlichen Subjekts entsprechend dazu psychische Repräsentanzen und Instanzen, die dieser erfahrenen Verkehrung des Eros in den Thanatos ihren Tribut zollen, insofern sie ebenfalls eine punktuelle Verkehrung der Triebstruktur, eine Wendung libidinöser Zuneigung in aggressive Abneigung, hervorrufen. Da diese mit Aggression einhergehende Abneigung gegenüber der Mutter angesichts der Hilflosigkeit des Kindes von ihm nicht zugelassen werden darf, schlummert sie von nun an, unter Preisgabe des Objekts der ›bösen‹ Mutter im entstehenden Unbewussten, nur um später abrufbar zu sein in Bezug auf ein Objekt oder auch ein anderes Subjekt, welches ähnlich Unlust erregend wirkt. Erfahrener Widerspruch und Konflikt (als traumatisch nicht zustande kommende, misslingende Einigungssituation) wird so ›verfestigt‹ in der Triebstruktur und Psyche des Heranwachsenden; das ›maßlos Verbindende‹, metaphorisch: ›Verflüssigende‹, des Eros verkehrt sich diesbezüglich in eine Verhärtung, eine ›Verfestigung‹, die – herrührend aus dem gravierenden Erlebnis einer Trennung, eines einseitigen Abbruchs der dyadischen Wechselbeziehung – sich fortan ausdrückt in aggressiven Regungen, also: dem Thanatos, wann immer eine vergleichbare Situation im späteren Leben erneut erfahren wird. In der Konsequenz bedeutet dies, dass derart gezielt, also: systematisch, gebrochene Praxis die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung erst garantiert, indem sie eine Triebstruktur schafft, die letztlich den Produktionsverhältnissen entspricht: »Bestehende Ordnung wird so nicht nur sanktioniert, sie vermag eben die Kräfte, die sich als kämpferische Aktivität gegen sie richten könnten, zu binden und zu ihrer eigenen Stabilisierung zu benutzen. Herrschaftsstrukturen werden so auf Dauer gestellt.«285 Die Stabilisierung (besser ›Verfestigung‹) der herrschenden Ordnung und somit der eingespielten gesellschaftlichen Praxis, geschieht so als Fixierung (besser: ›Befestigung‹) bestimmter Verhaltensdispositionen in der Psyche der Subjekte, und zwar vermittels intersubjektiver Prozesse. Die relationale Formation – als den dyadisch konkret erfahrenen Interaktionen übergeordnetes, allgemeingesellschaftliches Ensemble intersubjektiver Prozesse – prägt so schlussendlich systematisch die Triebstruktur, und damit: die Psyche, der Subjekte. Dabei erwirkt die relationale Formation, insofern sie als umfassender Rahmen (nämlich als gesellschaftliches Gesamt intersubjektiver Prozesse) der jeweils biografisch-konkret erfahrenen dyadischen Interaktionsbeziehung eine bestimmte Ausrichtung vorgibt (welche als Handlungsimperativ Eingang ins Subjekt findet) eben auch vermittels von struktureller Gewalt (die sich dann in Einzelpraxis manifestiert) die gesellschaftlich ›gewünschte‹ Modifikation der individuellen Triebstruktur. Wie das Beispiel der Sioux veranschaulichte, werden spezifische Repräsentanzen- und Instanzenbildungen innerhalb des psychischen Raumes gefördert, die aus punktuellen Verkehrungen des Eros in den Thanatos hervorgehen. In letzter Konsequenz erweist sich die relationale Formation so als primär die jeweiligen Ver- und Entmischungen der individuellen Triebstruktur gezielt hervorrufend, welche umgekehrt zur Aufrechterhaltung der Produktionsverhältnisse und der ihnen entsprechenden gesellschaftlichen Kommunikations- und Interaktionsweisen vonnöten sind. Die relationale Formation wirkt also formend auf die Triebstruktur, und zwar indem sie das Verhältnis von Eros und Thanatos zueinander in Bezug auf bestimmte Kommunikations- und Interaktionserfahrungen schon früh definiert. Sicher bleibt 285 Ebd., S. 143.

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dieses Verhältnis immer individuell variabel, ebenso sicher aber verbleibt es in einem gewissen, derart gesellschaftlich abgesteckten Rahmen. Diejenigen Imperative der relationalen Formation, welche über gezielte Fixierungen aber die punktuelle Umkehr des Eros in den Thanatos erwirken, gilt es dementsprechend als strukturell den Thanatos formend (d.h. ihn kreierend und organisierend) zu fassen. Ihnen selbst ist eine Form immanent, welche, über spezifische Kommunikations- und Handlungsweisen, den Thanatos begünstigend wirkt. Sie sind thanatomorph. Sie stehen, wie der Thanatos selbst, in engster Relation zu trennenden Vorgängen; zu Mechanismen, die das verbindend wirkende des Eros punktuell auflösen: also Trennung, Vereinzelung und damit das bemessen Einsame in all seinen Variationen erzeugen – und zwar unter Einschluss der auch destruktiven Potenz des Thanatos. Denn schon um die Fixierung der punktuellen Umkehr des Eros in den Thanatos zu erreichen, ist gewaltsame Handlung unabdingbar (im Beispiel der Sioux, das rabiate Stoßen des Kopfes des Kindes bei der Entwöhnung sowie bei der daran sich anschließenden Fixierung des Kindes, das feste Wickeln in Tücher). Der so unweigerlich als zerstörerisch erlebte Akt des gezielten Abbruchs der Wechselbeziehung in der Dyade, der nichts anderes als eine gewaltsam forcierte Differenzierung ist, verbleibt aufseiten des psychischen Raumes des Kindes eingraviert in die Triebstruktur als (unbewusste) Erinnerung an eine Vereinsamung, eine plötzliche Zurückgeworfenheit auf sich selbst seitens einer urplötzlich als feindlich erscheinenden Umgebung, welcher das Kind nie mehr in uneingeschränktem Vertrauen auf ein Gemeinsames begegnen kann. Dass eine solche Erfahrung sinnvoll sein kann in Bezug auf ein gesellschaftliches wie natürliches Umfeld, das selbstverständlich jenes Gemeinsame auch im späteren Leben keinesfalls permanent zu garantieren in der Lage ist, steht außer Frage. Doch der Mechanismus der gezielten Erzeugung dieser Erfahrung, der systematischen Kreation aggressiven Potenzials – und darauf kommt es in diesem Fall an – korrespondiert eben mit jener den sozialen Raum durchziehenden spezifisch soziokulturellen Ausprägung des Realitätsprinzips, welche begegnet als thanatomorphe Struktur in der relationalen Formation. Es müssten sich in der relationalen Formation also soziale Dynamiken ausmachen lassen, die als thanatomorph zu fassen sind, insofern sie bezüglich der intersubjektiven Prozesse schon in der Dyade subjektivierende, d.h. auch: sozialisierende, Dynamiken prägen, welche Impulse ins Subjekt einbringen, die speziell den Thanatos kreieren und organisieren. Komplementär dazu müssten aber ebensolche soziale Dynamiken innerhalb der relationalen Formation zu finden sein, die die Erzeugung und Gestaltung des Eros im Subjekt verbürgen. Letztlich dürften beide – überwiegend in Gestalt von Normen und Tabus – innerhalb von Kommunikation und Interaktion transportiert werden, nur um sich dann in Phänomenen der Formierung und Formation des psychischen wie des sozialen Raums niederzuschlagen. Jene Formierungen und Formationen, verstanden als Manifestationen von Strukturbildungen ganz allgemein, wären angesichts ihrer auf basale Prozesse des Verbindens und des Trennens, der Entdifferenzierung und der Differenzierung, zurückzuführende Entstehung metaphorisch legitim zu fassen im Sinne von ›Verfestigungen‹ bzw. ›Verflüssigungen‹ des psychischen wie sozialen Raums; als stabilisierende und flexibilisierende Momente eines kommunikations- und handlungstheoretisch zu beschreibenden Gesamtzusammenhangs, in dessen Zentrum die Verschränkung des Individuums mit der Gesellschaft steht.

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»Es ist aufschlussreich«, so Lorenzer, »daß unsere Skizze systematisch gebrochener Praxis beim Durchblick auf gesellschaftliche Praxis konkret nur gelingen konnte am verfremdenden Beispiel, fernliegender […] Gesellschaften«.286 Bezogen auf frühe Fixierungsmechaniken im Umfeld spätkapitalistischer Gesellschaften betont Lorenzer allerdings, dass diese, wenngleich anders geartet, ebenso seitens der primären Bezugspersonen vonstatten gingen, wie jene im Beispiel der Sioux. Dabei deutet er bereits darauf hin, welche Form Subjektprägungen im Umfeld einer kapitalistisch fundierten gesellschaftlichen Praxis der klassischen Moderne annehmen: »Der Umstand, daß die Sioux-Mütter selbst einen Zusammenhang zwischen ihrer Manipulation und dem angestrebten Zweck ›tüchtige Krieger‹ zu erzeugen, feststellen, könnte zu der irrigen Annahme führen, den Müttern sei eben dieser Verhaltenskomplex bewußt. Diese Annahme ist falsch. Tatsächlich ist die Bewußtheit im Falle der Sioux-Mütter nicht größer, als es die Bewußtheit der Mütter in unserer Kultur ist, die in der zutreffenden Annahme, eine frühe Reinlichkeitserziehung erzeuge ›anständige, disziplinierte Menschen‹ gleichfalls Einsicht in den Mechanismus (hier der Erzeugung analer Charaktere durch anale Repression)287 an den Tag legen, gleichwohl aber den gesellschaftlichen Zusammenhang verkennen. Für beide Fälle gilt: Der Kern der Klischeebildung, nämlich die Fixierungsmechanik […] bleibt beide Male unbegriffen. Weder sind die Sioux-Mütter in der Lage zu sehen, daß die ›Feinde‹ Projektionen der mütterlich-frustrierenden Position darstellen, noch vermögen die Mütter unseres Kulturkreises die angstbedingte Grundlage der Anständigkeit und die persistierende Bindung an die Mutter-Kind-Dyade zu sehen, geschweige denn, daß beide Gruppen die gesellschaftliche Bedingtheit dieses Arrangements durchschauen könnten. […] Die Sozialisationspraxis der Mütter ist Realisierung von Handlungsentwürfen, die sich in gesellschaftlicher und d.h. historisch-materieller Praxis bilden.«288

286 Ebd., S. 144. 287 Eig. Anm.: Lorenzer bezieht sich dabei implizit auf die psychoanalytische Auffassung, dass von jedem Individuum verschiedene psychophysische bzw. auch psychosexuelle Reifestufen durchlaufen werden müssen, die jeweils zentrale Austauschprozesse des Selbst mit den Anderen oder der (Um-)Welt zum Gegenstand haben: orale, anale, genitale. Störungen in der psychischen – und insbesondere: psychosexuellen – Entwicklung können komplementär zu den Reifestufen, in denen sie in die Entwicklung eingebracht werden, spezifische Charakterdispositionen oder Pathologien zur Folge haben. Diesbzgl. schreibt Alfred Lorenzer, ebd. S. 127: »Der Prozeß von oralen über anale zu phallischen Positionen bis zur ödipalen Dramatik kommt transkulturell bei allen menschlichen Gruppen, die wir kennen, vor. Wie unterschiedlich immer die einzelnen Stationen dieses Weges auch geformt und wie verschieden die jeweiligen Bilder, z.B. ödipaler Szenerie, sein mögen, die Tatsache eines phasisch gegliederten Entwicklungsganges von der oralen bis zur ödipalen Problematik ist bei allen Menschen anzunehmen.« Bezogen auf die Prägung spezifischer psychischer Dispositionen gerade in modernen Gesellschaften stützt sich Lorenzer nun auf die in der Psychoanalyse breit diskutierte Auffassung, dass über die in den modernen Gesellschaften so typische, strenge und penible frühe Reinlichkeitserziehung (schon während der analen Phase des Kleinkindes) Disziplin (gekoppelt mit Angst vor Strafe) als grundlegende Charakterdisposition in die Subjektprägung eingebracht wird. 288 Ebd., S. 140f.

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Ganz grob ließe sich fürs Erste sagen, dass der Schwerpunkt, der (vermittels schon der frühen Reinlichkeitserziehung) in kapitalistisch geprägten Gesellschaften der klassischen Moderne auf Disziplin gelegt wird, Charaktere prägt, die sich eher im Sinne des ›Arbeiters‹ oder ›Soldaten‹ in eine bestehende Ordnung einfügen, während das Sioux-Beispiel veranschaulichte, wie gerade die Fixierung ›undisziplinierter‹ heftiger Affekte bzw. Impulse kontrastierend dazu den Typus des ›Jägers‹ und ›Kriegers‹ begünstigt. Nun handelt es sich bei differenzierten kapitalistischen Gesellschaften aber um Klassengesellschaften, die sich in diesem Punkt deutlich unterscheiden von den traditionellen, stärker kollektiv geprägten Stammesgemeinschaften; schon die primäre Sozialisation müsste folglich in ersteren analog zur jeweiligen Gesellschaftsschicht als jeweils unterschiedlich vonstattengehende untersucht werden. Unterschicht, Mittelschicht und (groß-)bürgerliche Oberschicht wiesen demnach – sicherlich schon in der Dyade – deutlich divergierende Sozialisationsmuster auf: Nicht nur die Charakterdispositionen des Arbeiters oder des Soldaten werden erzeugt, sondern etwa auch die des Unternehmers; ganz zu schweigen von den spätmodernen Gesellschaften der informatisierten Ökonomie und ihren Anforderungen an flexible und kreative Persönlichkeitsstrukturen. In Bezug auf letztere hatte ja beispielsweise Zygmunt Bauman den Typus des ›Spielers‹ (als ›postmoderne‹ Persönlichkeitsstruktur) dem des ›Arbeiters‹ (als typisch moderne) entgegengesetzt.289 Ohne sich nun in diese zwar interessanten, aber hier (noch) nicht näher darzustellenden Überlegungen zu vertiefen, bleibt vorerst nur der erneute Verweis auf Lorenzer, der – zumindest hinsichtlich der Unterschichtenund Mittelschichtensozialisation (und unter Rückgriff auf auch empirische Untersuchungen) – zu weiterführenden theoretischen Schlussfolgerungen gelangt war. Dabei jedoch gilt es im Hinterkopf zu behalten, dass das von Lorenzer theoretisch verwertete empirische ›Material‹ gewonnen wurde anhand von Verhältnissen, wie sie typisch waren für die klassisch modernen Industriegesellschaften der 1960er und 1970er Jahre. Inhaltlich sind diese milieu-, schicht-, und klassenspezifischen Untersuchungen daher nicht ohne Weiteres übertragbar auf die Bedingungen informatisierter, globalisierter und postkonventionell geprägter Gesellschaftsstrukturen. Dennoch verlieren die von Lorenzer dem empirischen Forschungsmaterial hier abgerungenen theoretischen Implikationen hinsichtlich schicht- und klassenspezifischer Sozialisation ihre Gültigkeit insoweit nicht, als sie grundlegende Mechanismen der Sozialisation in kapitalistischen Klassengesellschaften generell aufzuzeigen in der Lage sind. Darüber hinaus wird sich abermals als aufschlussreich erweisen, wie allgemeingesellschaftliche Praxis (in Form einer spezifischen Ausprägung der relationalen Formation) in ökonomisch wie sozial differenzierteren – sprich: klassisch modernen – Gesellschaften über jeweilige Interaktionserfahrungen (und damit: vermittels intersubjektiver Prozesse) in unterschiedliche Subjektkonstitutionen einfließt. Lorenzer geht es dabei erneut darum, die Prägung von Subjekten vermittels den über interpersonelle Prozesse systematisch an sie herangetragenen, gesellschaftlichen Imperativen zu überprüfen; untersucht werden solle dieses Mal jedoch »inwieweit sich 289 Vgl. dazu auch die diesbzgl. Gegenüberstellung ›moderner‹ und ›postmoderner Subjekttypen‹, in: Matthias Junge, Zygmunt Bauman: Soziologie zwischen Moderne und Flüchtiger Moderne. Eine Einführung, Wiesbaden 2006, S. 90.

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je nach dem unterschiedlichen Klassenantagonismus gruppen- bzw. schichtendifferente Sozialisationsmechanismen ausmachen lassen.«290 Diese Unterschiedlichkeit der Sozialisationsmechanismen macht Lorenzer fest vor allem an der Art wie über interpersonelle Prozesse Widersprüche ins Subjekt eingebracht werden. Gerade am Beispiel von ›Unterschichten-Sozialisation‹ und ›Mittelschicht-Sozialisation‹ verweist er auf diesbezüglich auszumachende, grundsätzlich divergierende Arten der Vermittlung von Widersprüchen: »Um den Unterschied von ›Mittelklassen-Sozialisation‹ zur ›Unterschicht-Sozialisation‹ in grob vereinfachter Gegenüberstellung dazu in Beziehung zu setzen: Während in der Mittelschicht-Sozialisation die Widersprüchlichkeit der Interaktionsangebote zumindest vorübergehend sich zu einer Synthesis bringen läßt (die freilich nicht haltbar ist im sprachlich gefassten System der Interaktionsformen und deshalb zur punktuellen Desymbolisierung führt), stoßen die Widersprüche im […] Sozialisationsmuster [der ›Unterschicht‹, eig. Anm.] punktuell so kontradiktorisch aufeinander, daß sie nicht einmal vorübergehend in einen Begriff zu fassen sind. Nicht Desymbolisierung, sondern Unfähigkeit zur Symbolbildung ist die fatale Folge.«291 Den Grund für diese Divergenz macht Lorenzer aus in einer Mutter-Kind-Beziehung, die im Fall der ›Unterschicht‹ stärker nichtsprachlich-gestisch, oder sprachlich bereits vorgängig stärker deformiert, verläuft. Dafür erweise sie sich aber, so Lorenzer unter Rückgriff auf Untersuchungen Huchs, als stärker von »Gestik, Mimik, Körperhaltung und Intonation und Schwankungen des Stimmvolumens«292 geprägt. Während in der ›Mittelschicht-Sozialisation‹ dem Kind Wertordnungen überwiegend sprachlich aufgezeigt würden, und damit durch Bewusstmachung Konflikte artikuliert werden könnten, um so das Einüben von Problemlösungsstrategien durchzuspielen, ließe sich in der ›Unterschicht-Sozialisation‹ beobachten, wie Handlungsimperative – Normen und Tabus – in höherem Ausmaß unreflektiert vermittelt würden.293 Der Unterschied entspricht so, wollte man diese These verkürzen, dem zwischen einer Geste des erhobenen Zeigefingers, die schweigend bedeutet ›das macht man nicht‹ und, andererseits, dem Beiseite-Nehmen-des-Kinds mit der Erklärung ›das macht man nicht, weil…‹. Normen bzw. Tabus werden so als in Stein gemeißelte transportiert, und nicht als eventuell zu hinterfragende präsentiert. Als paradigmatisch hierfür wäre auch die Heimerziehung in den Industriegesellschaften insbesondere der 1960er und 1970er Jahre zu sehen, welche darauf abzielte, dass Normen gewissermaßen stumm und fraglos seitens des Kindes hingenommen werden sollten. Kurt J. Huch hatte ja diese Art der Erziehung demzufolge auch mit der (von Lorenzer als so treffend bewerteten) Formulierung »Einübung in die Klassengesellschaft« belegt.294 Jene hatte demnach das Ziel, nicht einen mündigen Bürger zu prägen, sondern einen schweigsamen Arbeiter; »so bietet die um Reflexion verkürzte Unterschicht-Sozialisation zweifellos den besten Nährboden 290 Alfred Lorenzer, »Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie«, a.a.O., S. 146. 291 Ebd., S. 148. 292 Kurt J. Huch,Einübung in die Klassengesellschaft. Über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Sozialisation, Frankfurt a.M. 1972, S. 83 f, zitiert nach Alfred Lorenzer; ebd., S. 150f. 293 Vgl. ebd., S. 149. 294 Ebd., S. 164.

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für die Entwicklung resignativen Sich-Einfügens in bestehende Hierarchie, in das Ausgeschlossensein von Planung und in die Zuweisung entsprechend ›sinnentleerter Arbeit‹ […].«295 Indem schon von frühester Kindheit an »der Sprachaufbau als Möglichkeit Widersprüchlichkeit zu reflektieren, blockiert wird«, soll verhindert werden »unerträgliche Abhängigkeit als veränderbar zu durchschauen«.296 Das bemessen Einsame im intersubjektiven Prozess, vermittelt durch trennende Kommunikation und Interaktion schon in frühester Kindheit, begegnet hier in letzter Konsequenz nicht allein in seiner psychischen Entsprechung im bemessenen Ich, sondern eben auch sozial als gezielte Vereinzelung des Subjekts: »Da Defekte im Sprachaufbau aber immer auch […] Gestörtheit realer Interaktion bedeutet, ist Unterschicht-Sozialisation auch die ›geeignete Vorbereitung‹ für ein durch Vereinzelung des Arbeiters und beliebige Austauschbarkeit in den beruflichen Interaktionen charakterisiertes Arbeitsleben. [Eig. Hervorhebung]«297 Gleichzeitig jedoch entdeckt Lorenzer gerade auch in jener derart als traumatisch beschriebenen ›Unterschicht-Sozialisation‹ paradoxerweise spezifische Momente des Gemeinsamen, nämlich: eine Form von Solidarität, welche sich in der Mittelschicht-Sozialisation so nicht finde. »Daß in dieser Sozialisation freilich auch jene Ansätze zu einer gesellschaftlichen Weiterentwicklung liegen (die wiederum der Mittelschicht-Sozialisation nicht von ungefähr fehlen), kann nur angedeutet werden unter Benutzung einer Zusammenfassung von Huch:«298 »In der Unterschicht bewegt sich die Mutter-Kind-Beziehung stärker in unmittelbaren Formen. Die Mutter reagiert auf ihre Umwelt öfter auf nichtsprachlich-gestische Weise oder mit stereotypen, traditionellen Wendungen. ›Das Kind lernt im Sozialisationsprozeß auf andere als satzstrukturelle und durch Adjektive nuancierte Äußerungen zu reagieren. Die Intentionen, Gefühle, Einstellungen werden durch eine Form des Ausdrucks modifiziert, die die Solidarität betont und einen konkreten, visuellen tangiblen und deskriptiven Symbolgehalt aufweist. Die individuelle Qualifikation tritt nicht in der Sprache zutage […], so daß oft das, was nicht gesagt wird, wichtiger ist als das, was gesagt wird. [Eigene Hervorhebung]‹«299 Der Mangel an sprachlichem Austausch erweist sich also zugleich als Reichtum eines affektiven Gemeinsamen, das als Solidarität auch da überdauert, wo es nicht in Kommunikation als symbolvermittelte einzugehen vermag. Dabei verbleibt jenes solidarische Gemeinsame nicht allein auf den familiären Raum oder den Zusammenhalt kleiner Gruppen beschränkt, sondern erstreckt sich durchaus tief hinein in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge,300 insofern eben diese als formende auch jener Sozialisation zugrunde liegen, wie Huch ebenfalls betont:

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Ebd., S. 149. Ebd. Ebd., S. 150. Ebd. Kurt J. Huch, Einübung in die Klassengesellschaft. Über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Sozialisation, a.a.O., S. 83f, zitiert nach Alfred Lorenzer; ebd., S. 150f. 300 Vgl. ebd., S. 151.

1. Unermessliche Weiten – Ozeane des Maßlosen

»Der restringierte Sprachstil der Unterschicht kann, betrachtet man ihn so, eine hochgradig solidaritätsstiftende [Hervorhebung durch Huch] Funktion haben. Schon Popitz u.a. fiel an den Äußerungen der von ihnen interviewten Arbeitern ›eine Gleichförmigkeit‹ auf, ›die bis in die Formulierungen hineinreicht […]. Sie deutet auf einen allgemeinen relativ fest umrissenen Bestand von Vorstellungen, Gesichtspunkten und Thesen der den Arbeitern gemeinsam [eig. Hervorhebung] zur Verfügung steht und auf den sie bei ihren Antworten zurückgreifen können‹. Die Autoren führen diese ›soziale Topik‹ (d.h. den Gesamtbestand klassenspezifischer ›Topoi‹…) auf gemeinsame [eig. Hervorhebung] sozialgeschichtliche Erfahrungen der Arbeiterschaft wie Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrisen, politische Niederlagen zurück.«301 Es wird hier sehr deutlich, wie das Gemeinsame in seiner konkreten Ausprägung als Solidarität nicht nur innerhalb interpersoneller Prozesse seinen Platz hat (als Zusammengehörigkeitsgefühl im familiären Raum bzw. zwischen sozialen Kleingruppen), sondern sich auch finden lässt aufseiten der den sozialen Raum konstituierenden relationalen Formation. Hier, gewachsen aus der gemeinsamen gesamtgesellschaftlichen Position innerhalb der Klassengesellschaft, beinhaltet es nicht allein das persönliche Zugehörigkeitsgefühl, sondern auch den kollektiven Erfahrungsschatz, ja das Wissen, um das gemeinsame gesellschaftliche Schicksal. Die Funktion der Fixierungsmechanik, hier im Sinne einer Beschränkung der Artikulations- und Reflexionsfähigkeit, gewachsen aus der Deformation der Symbolbildungsfunktion schon in der primären Sozialisation, wird also unterminiert durch die Erfahrung eines schichtspezifischen Gemeinsamen welches lediglich (noch) nicht ausreichend versprachlicht, dafür aber affektiv erlebt werden kann. Thanatomorphe Ausprägungen der relationalen Formation, welche auf »Dissozialität«302 innerhalb der ›Unterschicht‹ hinwirken, auf Vereinzelung und Stigmatisierung, auf die Unmöglichkeit des Zusammenschlusses um der gesamtgesellschaftlichen Änderung willen, erzeugen so paradoxerweise gerade durch ihre allgemeinen, alle Mitglieder der ›Unterschicht‹ in der primären wie sekundären Sozialisation immer wieder betreffenden Fixierungsmechaniken, ein gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl, bzw. im Falle dessen Artikulations- und Reflexionsfähigkeit, ein: Klassenbewusstsein. Die strukturelle Gewalt, die der thanatomorphen relationalen Formation zur Ausübung ihrer Fixierungsmechaniken dabei eignet, erwirkt so über die Einzelpraxis nicht nur punktuelle Verkehrungen der Triebstruktur hin zum Thanatos, welche gipfeln in der Erzeugung des bemessenen Ich, also einer auch von Deformation und Unfähigkeit zur Symbolbildung geprägten psychischen Struktur, die das Aufeinanderzugehen, Miteinander-Handeln und Sprechen beschädigt, wenn nicht verunmöglicht, zumindest aber: verzerrt – sondern erwirken potenziell, indem sie alle Mitglieder dieser Schicht denselben Mechanismen unterwerfen, genau deren mögliche Solidarisierung. Solidarität aber, als Spezifikum des Gemeinsamen, hervorgegangen in diesem Fall aus sozialer Exklusion bei schichtspezifischer Inklusion, trägt als verbindende immer den Stempel des Eros. Dieser allein ist es ja, der in all seinen Facetten verbindend – auf verschiedenste Weise – wirken kann. Triebstrukturelle Modifikationen seitens einer in Teilen thanatomorph 301 Kurt J. Huch, Einübung in die Klassengesellschaft. Über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Sozialisation, a.a.O., S. 92f., zitiert nach Alfred Lorenzer; ebd., S. 152. 302 Ebd., S. 146.

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geprägten relationalen Formation erzeugen so entgegengesetzt deren eigentlicher Spezifikation fortlaufend Manifestationen des Eros; nämlich insofern sie zwar erfolgreich die symbolvermittelte Kommunikation beeinträchtigen und deformieren, dabei aber, gleichsam als Ersatz und komplementär dazu, eine Stärkung gemeinsamer, nichtsymbolisch vermittelter Interaktion zur Folge haben. Diese gemeinsame Basis in den Affekten und im Gefühl führt zum Wandel der thanatomorphen relationalen Formation dann, wenn sie den Individuen bewusst wird und damit die imperative Dimension der letzteren als potenziell veränderbare durchschaut werden kann. Sicher wäre dann aber auch die Annahme gerechtfertigt, dass die relationale Formation – in ihrer methodischen Funktion als inhaltlich-begrifflich psychoanalytischer Zugang zu Dynamiken des sozialen Raums – nicht allein thanatomorph strukturiert gedacht werden darf, im Sinne einer über Fixierungsmechaniken sich schon in der psychischen Struktur der Subjekte verfestigenden Widerhalls spezifischer Organisation von Arbeit und Herrschaft, sondern eben auch in einer, diese umfassender in sich bergenden, ›lebensweltlichen‹ Dimension. Jene müsste verstanden werden als grundlegendere Struktur der relationalen Formation, aus welcher ihre thanatomorphe Gestalt erst entwächst. Sie sollte umgekehrt zur thanatomorph geprägten relationalen Formation auch verstanden werden als Momente des Gemeinsamen – des immer: maßlos Gemeinsamen – in sich bergend, als stärker auf Entdifferenzierung denn auf Differenzierung beruhend, und daher auch Verbindendes in all seinen Facetten begünstigend, mithin: den Eros nicht nur verbürgend, sondern kreierend und organisierend. Vielleicht könnte jene Dimension der relationalen Formation, die dann gerade gesellschaftliche Kommunikationsund Interaktionsweisen umschlösse, welche als unverzerrt, nicht deformiert, zu fassen wären, komplementär zur thanatomorphen relationalen Formation als biomorph bezeichnet werden. Biomorph insofern, dass sie auf Entfaltung des Eros abzielt, welchen ja schon Freud nicht allein als ›Liebestrieb‹, sondern gleichermaßen als ›Lebenstrieb‹ tituliert hatte. Biomorph im Sinne einer Lebenswelt, die ja auch von Habermas, so ließe er sich verstehen, als von den Subjekten weitestgehend fraglos – und damit auch un- oder vorbewusst – hingenommene Lebenswirklichkeit beschrieben wird; als gemeinsam geteilter, unhintergehbarer Lebenshintergrund; als weit stärker entdifferenziert (und damit: maßlos), als es die jeweils herrschende (und: bemessen[d]e) Ordnung ist, welche aus der biomorphen relationalen Formation, als ihrer Grundlage, sich erhebt. Sicher bergen die thanatomorphe relationale Formation und die biomorphe relationale Formation so verstanden durchaus Anklänge an die habermasschen Begrifflichkeiten ›System‹ und ›Lebenswelt‹ – allein sie wären weit stärker verschränkt ineinander, vor allem auch: psychoanalytisch konnotiert, und würden sich erweisen als vollgültig kommunikations- und handlungstheoretisch zu beschreibende Divergenzen intersubjektiver Konstellationen im sozialen Raum. Die Aporien, die sich aus der habermasschen Verquickung von System- und Handlungstheorie ergaben, würden in einer solch intersubjektiven Perspektive aufgelöst werden können. Diese Überlegungen seien hier jedoch skizziert nur als Einschub, als Vorgriff auf noch Darzustellendes; gewonnen wurden sie gerade auch anhand des theoretischen Zugangs Lorenzers zu Fixierungsmechaniken, über welche gesamtgesellschaftliche Kommunikations- und Interaktionszusammenhänge – mitunter: schichtund klassenspezifisch – individuelle Subjektkonstitutionen prägen.

1. Unermessliche Weiten – Ozeane des Maßlosen

Eine daran sich anschließende eingehende Betrachtung, wie genau denn nun solch gesamtgesellschaftliche Kommunikations- und Interaktionszusammenhänge im Hinblick auf Fixierungsmechaniken sich scheiden ließen in thanatomorph bzw. biomorph ausgeprägte relationale Formationen, und wie beide, als Form, welche sozialer Raum angenommen hat in Beziehung stehen zur Formierung des psychischen Raumes, wie also letztlich thanatomorphe und biomorphe relationale Formationen über die Prägung intersubjektiver Prozesse nicht nur die psychische Repräsentanten- und Instanzenbildung beeinflussen, mithin auch maßloses Selbst wie bemessenes Ich als Ausdruck kommunikativ verhärteter bzw. verflüssigter Aspekte des psychischen Raums im Wechselspiel hervorbringen, gestalten und zueinander in ein Verhältnis setzen – oder, anders ausgedrückt: wie entdifferenzierende bzw. differenzierende Strukturierungen des Sozialen sich niederschlagen in entsprechenden Strukturierungen von Psyche – wird allein in Form einer noch weiteren inhaltlichen Auffächerung der Begriffe thanatomorpher wie biomorpher relationaler Formation im Zuge der folgenden Kapitel geschehen können. Dabei werden thanatomorphe relationale Formationen – nur um sich den bisherigen Stand der Überlegungen noch einmal zu vergegenwärtigen – verstanden als strukturelle ›Verhärtungen‹ im Beziehungsgeflecht, das den sozialen Raum ausmacht, welche, im Hinblick auf die Formung individueller psychischer Struktur, systematisch die Kreation und Organisation des Thanatos erwirken; so wie umgekehrt biomorphe relationale Formationen als ›Strömungen‹ innerhalb des Beziehungsnetzes im sozialen Raum gelten dürfen, die hinsichtlich der Subjektkonstitution in die Erzeugung und Gestaltung des Eros einmünden. Beide, als grundsätzlich divergierende Aspekte gesamtgesellschaftlicher Kommunikations- und Interaktionszusammenhänge, bezeugen ihre die Triebstruktur (und somit die Psyche) modellierende Wirksamkeit anhand ihrer Potenz, das Ensemble intersubjektiver Prozesse zu definieren, und damit den Rahmen, innerhalb dessen sich zwischenmenschliche Relationen bewegen, formgebend abzustecken. U.a. welche enorme Bedeutung hierbei aber gesellschaftlich sanktionierten Sprech- und Handlungsweisen, also eben: Normen und Tabus, zukommt, wird sich ebenfalls im Folgenden zeigen.

1.3. Intermezzo: Intratheoretische Klärungen Ein Rückblick auf die bisher gegebene Theorieentwicklung erlaubt es, Folgendes festzuhalten: Die vielleicht als universal zu verstehende Dialektik aus Maßlosem und Maß (als divergierende Aggregatzustände stofflicher wie nichtstofflicher Phänomenkreise) darf zunächst einmal als grundlegende auch für den psychischen wie sozialen Bereich angesehen werden. Dort begegnet sie im Sinne basaler Qualitäten strukturgestaltender – und damit: entdifferenzierender oder differenzierender – Kräfte. Diese finden ihren Ausdruck in den verschiedensten formenden Dynamiken, Prinzipien und Prozessen; und zwar in den konstruktiven oder destruktiven Triebdynamiken, dem mit diesen verkoppelten Lust- bzw. Realitätsprinzip sowie den aus ihnen sich entspinnenden, verbindend oder trennend wirkenden zwischenmenschlichen Prozessen – und begegnet so auch in den mehr inkludie-

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renden oder exkludierenden relationalen Formationen, die sich aus letzteren beständig bilden. Facetten des maßlos Gemeinsamen wie des bemessen Einsamen umspannen so fortwährend die Verhältnisse zwischen Subjekt, anderen Subjekten und der Welt und erweisen sich damit als lediglich abstrakte Entsprechungen konkreter Gegebenheiten. Nicht aber eine vereinfachende, binäre Denkweise verbirgt sich hinter dieser Perspektive, sondern der Wille, die Komplexität der Erscheinungen auf ihre Essenz zu reduzieren, um sie dann über ihre Relationen zu begreifen. Und überhaupt könnte von allein binärem Denken nicht mehr die Rede sein, insofern auch der allfällige Misch- und Verschmelzungscharakter jener scheinbar vielfach entgegengesetzten Polaritäten in den Blick gerät, welcher sich ja gerade aus ihren unzähligen dialektischen Transformationen ergibt. Denn im psychischen Raum begegnet das maßlose Selbst (als entdifferenzierter Bereich von Psychostruktur) ja nicht nur als separate Entität, sondern auch in Gestalt von in unterschiedlichem Ausmaß mit dem bemessenen Ich legierter Strukturanteile. Die unterschiedlichen Differenzierungsgrade der Psyche durchziehen dann wie ein Flickenteppich von verschiedener Strukturmustern den ganzen psychischen Raum; ja, dürfen als Netzwerke aus mehr oder minder differenzierten Instanzen und Repräsentanzen (zu auch psychophysischen und sozialen Impulsen) gewertet werden. Gerade die klassische Triebtheorie weiß ja um die Vermengung der unterschiedlichen Triebe; und nicht anders nehmen sich deren Emanationen im psychischen – und sozialen – Raum aus. So erscheinen auch die kommunikativen und interaktiven Austauschprozesse im sozialen Raum ebenfalls nicht allein in ihren idealtypisch als verbindend oder trennend gedachten Varianten, sondern als – je nach situativem Kontext – in verschiedenen Graden ineinander vermengt. Dasselbe gilt für die biomorphen und thanatomorphen relationalen Formationen (deren soziokultureller Genese es im Übrigen noch eingehender nachzuspüren gilt). Sie gilt es ja zu verstehen als Beziehungsnetzwerke entgrenzenden oder begrenzenden Charakters, die den sozialen Raum überhaupt erst aufspannen. Aus ihnen ergeben sich die Verhältnisse gesellschaftlicher Praxis, die über die intersubjektiven Prozesse wiederum prägend einwirken auf die Subjektstruktur. Dabei findet nicht nur eine Bewegung (oder unter- und abgebrochene Bewegung) von der Gesellschaft über die vielen Indviduen hin zum einzelnen statt, sondern auch eine vom Individuum zu anderen Indviduen wie zur Gesellschaft. Keine Identität zwischen diesen Polen entsteht, sondern ein Ineinander-Verschränkt-, Aufeinander-Verwiesen-, oder Gegeneinander-Gerichtet-Sein ist zu beobachten, das von Vollständigkeiten, Unvollständigkeiten und Widerständigkeiten gezeichnet ist. Widerständigkeit im Subjekt rührt dann nicht allein von einer vorkulturell zu denkenden inneren Natur her, sondern ebenso aus verinnerlichten früheren Erfahrungsqualitäten, die im Widerspruch zu einer aktuellen Situation stehen. Dementsprechend ist die Gegenläufigkeit von Freiheit und Unterdrückung nicht mehr nur gleichzusetzen mit der von Natur und Kultur, sondern auch mit der Erinnerung an einmal (individualbiographisch oder zeitgeschichtlich) gemachte Erfahrungen von Repressionsfreiheit und Befriedigung im Austausch mit den Anderen und der gesellschaftlichen Welt, welche schließlich (im Sinne einer angestrebten Wiederholung dieses Zustands) in einen Konflikt geraten können mit inzwischen gegebenen, andersgearteten (und vielleicht mehr repressiv und unbefriedigend erlebten) Subjekt- und Gesellschaftskonstellationen. Widerständigkeit (gleich

1. Unermessliche Weiten – Ozeane des Maßlosen

ob diese nun anti-sozial oder aber sozial-emanzipatorisch ausgeprägt ist) erwächst dann letztlich allein aus einem Festhalten am Lustprinzip sowie dem Willen, dieses zu realisieren – auch wenn es im Widerspruch mit dem aktuell erfahrenen Realitätsprinzip steht. Mit jeder Realisierung des Lustprinzips – und das kann nicht genug betont werden – ist aber immer ein Rückfluten des Maßlosen in ein vormals Bemessenes verbunden, eine gewisse Entdifferenzierung von etwas vorgängig Differenzierteren. Dass dies nicht zwangsläufig eine Regression darstellen muss, gilt es noch darzulegen.

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2. Tote Orte, belebte Welten – Thanatomorphe Wüsten und biomorphe Oasen

2.1.

Biomorphe und thanatomorphe relationale Formationen im sozialen Raum

Prolog: Starre Ordnung, bewegliches Chaos ■ Thanatomorphe relationale Formationen sind Resultat einer auf Stillstand zielenden Dynamik; einer Dynamik, die in Statik sich wandelt. Es sind Strukturen gesellschaftlicher Praxis, die nicht dem Begehren entstammen, sondern der Tendenz zum Verharren; die Situation transformieren in Institution; die Glück und Augenblick preisgeben zugunsten von Sicherheit und Dauer. Strukturen, in die sich einschreibt, was nach Abzug des Lebendigen bleibt: Starre und Stille. Thanatos, der sich auf subjektiver Seite ausdrückt als Bestreben, Dynamik zu einem Ende zu führen, Spannungen abzubauen, Reize zu vermindern, letztlich: Organisches in Anorganisches zu überführen – manifestiert sich in gesellschaftlicher Praxis als totes System, als erstarrter Mechanismus statt bewegter Beziehung, als Lücke zwischen den Subjekten, die als Positives auftritt und doch nichts als Negation ist. Thanatomorphe relationale Formationen kreisen um die gähnende Leere, die sich auftut, wenn Subjekt und Subjekt wie Subjekt und Objekt beziehungslos werden; wenn das, was die Welt zusammenhält, die Dynamik des Eros, die allein verbindend wirkt, sich wandelt in die aus Zertrennung erwachsende Statik des Thanatos. Lebendiger Austausch gerät zur toten Wechselwirkung und mündet schließlich in der Aufhebung auch noch dieser. Am Ende stehen sich Subjekt und Subjekt wie Subjekt und Objekt nicht nur unverbunden gegenüber, sondern eliminieren mit der Relation auch sich: Destruktivität erwächst aus dem Nichts der Unverbundenheit. Das Einsame, als ein bemessenes im intersubjektiven Prozess, begegnet in gesellschaftlicher Praxis als thanatomorphe Struktur. Bemessen ist es, weil entstanden aus nichts als Grenzziehungen: Eingeprägt ins Ich drängen sie auf Wiederholung auch bei Anderen. Maßloses muss blind bemessen werden, ein ums andere Mal, Gemeinsames zertrennt werden, immer wieder und aufs Neue; Verschwimmendes, Verflüssigtes gilt es zu kanalisieren: Das ist der Prozess der Individuation wie der, der Zivilisation. Die Bemessung des Selbst, der Anderen und der Welt ist ein aber nicht endlos sich fortsetzen lassender Vorgang – denn alles kippt ins Gegenteil, was zugespitzt wird: Das ist Dialektik; Zunahme von Quantität bewirkt Veränderung der Qualität. Und so wie Eros in Thanatos sich wandeln kann, kann Thanatos sich in Eros wandeln: Entdifferenzierende Prozesse

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Das Maßlose der Spätmoderne

durchziehen plötzlich die Strukturen der am komplexesten differenzierten Gesellschaften; Verbindendes tritt auf, wo es nicht mehr vermutet wurde; Gemeinsames und Maßloses entsteht überall da, wo es am gewaltsamsten ausgetrieben wurde. Verbindende Formen von Kommunikation und Interaktion überwinden, genauso wie Phänomene der Inklusion, Grenzen – und lebendiger Austausch entsteht da, wo nichts als die Lücke zwischen den Subjekten klaffte. Wie von selbst setzen die sich wieder in Beziehung zueinander – als wären sie nie getrennt gewesen. Die sich selbst regulierende Ordnung der Relation, das scheinbare Chaos, beginnt überall da aufzutreten, wo Ordnung als gesetzte es stets zu verhindern trachtete. So umspült und unterspült das maßlos Gemeinsame mehr und mehr das bemessen Einsame, bringt die in die Verbindung gerammten Pfeiler des Unverbindlichen ins Wanken. Biomorphe Strukturierungen machen sich breit in thanatomorphen; ein gegenläufiger Prozess, zwar schon seit je am Wirken, erreicht eine neue Qualität – wenn er geschieht auf der Höhe der Differenzierung. So ist es nur verständlich, dass erneut trennende Kommunikation und Interaktion dies verhindern sollen; wieder werden Dynamiken der Exklusion aufgebracht: Kontrolle soll Kommunikation und Interaktion wenn nicht verhindern, dann wenigstens beschränken. Freier Austausch soll wieder zurück gedrängt werden, in geregelte Bahnen – doch allein, es scheint: Es ist zu spät. Systemische Bereiche, institutionelle, sind selbst bereits in Teilen biomorph geworden; beruhen auf Verknüpfung und Verbindung, nicht auf Separation und Trennung; wurden transformiert. Aus dem divide et impera, dem ›teile und herrsche‹, erwächst unter dem Druck von Verbindung und Inklusion die Unmöglichkeit von Herrschaft: Ordnung lässt sich in einer verbundenen Welt immer weniger implementieren; sie muss entstehen aus der Relation. Selbstregulierung tritt anstelle von Erzwingung; biomorphe Welten wachsen aus thanatomorphen Wüsten: Leben hält Einzug ins erstarrte System.   Subjektprägung und kulturelle Ordnung bei Freud – Zur individuellen wie kollektiven Verankerung des Realitätsprinzips; oder: ›Ödipus-Komplex‹ und ›Opfer-Feier‹ in »Totem und Tabu« ■ Vielfach war der Blick auf Freuds Werk Totem und Tabu1 ein skeptischer, wenngleich Freud selbst seiner Schrift, in der er dem Ursprung von Kultur (und damit auch von Gesellschaft) nachgeht, eine ebenso große Bedeutung zumaß wie seiner ›Entdeckung‹ des Unbewussten in der Traumdeutung.2 Gerade die Feinsinnigkeit mit der Freud in Totem und Tabu interdisziplinäres Wissen einer neuen Synthese zuführte, rief den Widerwillen der wissenschaftlichen Einzeldisziplinen auf den Plan: Jede sah sich in Frage gestellt da, wo Freud sie lediglich mit anderen zu verknüpfen sich anschickte; jede zweifelte die Legitimität von Freuds Ausführungen dort an, wo er in ihre Deutungsmuster diejenigen anderer Disziplinen mit einbrachte.3 Den meisten geriet

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Siehe dazu: Sigmund Freud [1912-1913], »Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker«; in: Sigmund Freud, Werke im Taschenbuch (hg. von Ilse Grubrich-Simitis), Sigmund Freud. Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, 10. unveränderte Aufl., Frankfurt a.M. 2007a. Vgl. Eberhard Th. Haas, »Die Behälterfunktion des Rituals. Versuch der Rekonstruktion von Totem und Tabu«; in: ders. (Hg.), 100 Jahre ›Totem und Tabu‹. Freud und die Fundamente der Kultur, Gießen 2012, S. 100. Einer der bekanntesten ›Verrisse‹ von Freuds Totem und Tabu geht auf Freuds Zeitgenossen, den Ethnologen Alfred Kroeber zurück. Dazu schreibt Mario Erdheim: »Kroeber legte die Unhaltbarkeit des Vergleichs zwischen den fremden Wilden und den zivilisierten Neurotikern dar und warf

2. Tote Orte, belebte Welten – Thanatomorphe Wüsten und biomorphe Oasen

das Umfassende der freudschen Herangehensweise dabei im selben Maß erneut aus dem Blick, in welchem Freud es unterstrichen hatte. So war ihre Kritik dem freudschen Ansatz nie im selben Umfang gewachsen, wie jener seine Überlegungen vortrug: Letztere nämlich waren interdisziplinär, wobei die Summe der Versuche der Widerlegung Freuds wiederum nur bestand aus einer Vielzahl isolierter Einzelperspektiven, also punktuell bleiben musste. Gerade aber die Vehemenz mit der Freuds Totem und Tabu noch heute, mehr als hundert Jahre nach seinem Erscheinen, abgelehnt oder aber übergangen wird, verrät vielleicht mehr über dessen eigentliche Relevanz, als wenn es Gegenstand einer vertieften Auseinandersetzung oder zumindest kritischen Bestandsaufnahme wäre. Selbst innerhalb des Kanons der Psychoanalyse erfährt das Werk eine eigenartige Isolierung und Nichtbeachtung. Dies mag nicht zuletzt abermals dem Umstand geschuldet sein, dass Freud hier klassisch psychoanalytisches Terrain verlässt und sich mitten hinein in die Kultur- und Sozialwissenschaften wie auch in die Ethnologie und Anthropologie begibt. Größere Aufmerksamkeit hatte Totem und Tabu zuletzt durch Marcuse erfahren, und erst neuerdings, vor allem auch durch die theoretische Bezugnahme seitens René Girards (welcher insbesondere rekurriert auf Freuds in Totem und Tabu unter anderem vorgebrachte These der Genese von Kultur und damit Gesellschaft vermittels von Gründungsgewalt)4 , erlebt Freuds Werk eine gewisse, auch interdisziplinär breitenwirksame, Renaissance. Dabei war das Phänomen ›Totem und Tabu‹ als solches seit je eines, das als zentral für die Konstitution von Gesellschaft verstanden wurde und um das sich aus eben diesem Grund auch bedeutsame sozial- und kulturwissenschaftliche Erklärungsversuche rankten (allen voran wären hier diejenigen von Claude-Lévi Strauss5 und von Émile Durkheim6 anzuführen). Auf einige soziologische Deutungsangebote, darunter das Durkheims, stützt sich Freud in seiner Schrift übrigens, macht aber deutlich, dass sie, bei aller soziologischen Reichweite, eben die psy-

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Freud vor, zwar scharfsinnig, aber […] mit dünnen Beweisen zu argumentieren. Kroeber schien jedoch zu spüren, daß er mit dieser vernichtenden Kritik noch nicht alles über Totem und Tabu gesagt hatte, und kam – für den Leser seiner Kritik kaum nachvollziehbar – zu dem Schluß, es handle sich um ein wichtiges Buch und sogar um einen brauchbaren Beitrag zur Ethnologie.« In: ders., »Einleitung. Von Mario Erdheim. Zur Lektüre von Freuds ›Totem und Tabu‹«; in: Sigmund Freud, Werke im Taschenbuch (hg. von Ilse Grubrich-Simitis), Sigmund Freud. Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, a.a.O., S. 9. Um so erstaunlicher nimmt es sich aus, dass Alfred Kroeber sich viele Jahre später dazu veranlasst sah, seine ursprüngliche Kritik an Freud in einem neuerlichen Aufsatz zumindest einer teilweisen Revision zu unterziehen. Alfred L. Kroeber: »Ich habe keine Veranlassung, mit meiner kritischen Analyse von Freuds Buch zu hadern. […] Trotzdem bekam ich Gewissensbisse, als ich vor etwa zehn Jahren in [Edward, eig. Anm.] Sapirs Seminar in Chicago einem über Totem und Tabu referierenden Studenten zuhörte, der die hauchzarte Textur des Werkes zuerst ausbreitete und sie dann – genauso wie ich selbst es getan hatte – beflissentlich in Fetzen riss.« In: ders., »Totem und Tabu im Rückblick«; in: Eberhard Th. Haas (Hg.), 100 Jahre ›Totem und Tabu‹. Freud und die Fundamente der Kultur, a.a.O., S. 25. Und ebd., S. 31, schließt Kroeber seinen Aufsatz mit den selbstkritischen und bemerkenswerten Worten: »Ich vertraue darauf, dass diese Neuformulierung nicht nur als öffentliche Abbitte verstanden wird, sondern als Tribut an einen der größten Denker unserer Tage.« Siehe dazu: René Girard, Der Sündenbock, Zürich 1988. Claude Lévi-Strauss gibt eine kritische Perspektive auf die wissenschaftliche Untersuchung des Phänomens des Totemismus, in: ders., Das Ende des Totemismus, Frankfurt a.M. 1965. Siehe dazu: Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1981.

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chische Dimension größtenteils ausblenden. Den bereits zu seiner Zeit existenten psychologischen Theorien zum Phänomen ›Totem und Tabu‹ wiederum attestiert Freud eine ähnliche Einseitigkeit, nur eben umgekehrter Art. Beiden, soziologischen wie psychologischen Ansätzen, wirft er aufgrund ihrer jeweils spezifischen Fokussierung bedeutende Auslassungen vor, welche zu Ungereimtheiten führten.7 Nicht umsonst ist es gerade die enorme Pluralität an Perspektiven, welche allein Freud auf das Phänomen zu geben imstande war, der sich gerade die spektakulärsten – und daher auch am stärksten auf Widerwillen stoßenden Einsichten – auf ›Totem und Tabu‹ verdanken. Denn wie kein anderer vermochte Freud es, das Phänomen in seiner ganzen Vielschichtigkeit aufzufächern und ein weiteres Mal derart verschiedene Ebenen wie Kultur und Natur, Physis, Psyche und Soziales, Individuum und Gesellschaft, aufeinander zu beziehen. Um also einen ersten Überblick zur Bedeutung und Intention von Totem und Tabu zu geben: Freud unternimmt den Versuch, unter Rückgriff auf ethnologische Erkenntnisse, den Ursprung von Kultur zu ergründen in ersten Phänomenen von Regelsetzung bzw. Regelbrechung, die sich alle gruppieren um den komplexen Zusammenhang von Totem und Tabu und welche, entlang von Zuschreibungen wie ›rein – unrein‹ und basierend auf unterschiedlichsten Strafandrohungen, über die kulturelle Ordnung letztlich die Subjektprägung definieren. Dabei zielt er darauf ab, dass sämtliche menschliche Gemeinschaften an jeglichen Orten ihre unterschiedlichsten kulturellen Systeme stets aus der basalen (und noch näher zu erklärenden) Instanz von Totem und Tabu heraus entwickelten. Um diese zentrieren sich Verwandtschaftssystem und Sozialstruktur, Wirtschaftsweise und sakrale Auffassungen, welche zwar noch weitestgehend ineinander verschmolzen sind, deren Differenzierung durch die Setzung der Instanz von Totem und Tabu aber bereits eingeleitet ist. In engem Verhältnis zu Totem und Tabu steht dabei die ebenfalls in allen Kulturen zu beobachtende Opfer-Feier, in der die um Totem und Tabu sich formierenden soziokulturellen Mechanismen ihren symbolischen Ausdruck und rituellen Höhepunkt finden. Die mit dem (noch näher zu erläuternden) Opfer verbundene Feier allein nämlich gewährt den Individuen den temporären Ausbruch aus permanenter kultureller Reglementation – und macht jene dadurch erst erträglich; stabilisiert durch die gewährte Ausnahme also die Regel. Doch Freud geht es nicht allein darum, diese Mechanismen zu verstehen, sondern auch darum, eine psychoanalytische Verbindung zur Gegenwart zu ziehen: Der Neurotiker, und das ist sicherlich eine seiner provokantesten, aber in sich absolut schlüssigen Thesen, erweist sich ihm als der sich den triebrepressiv wirkenden, kulturellen Zwängen und Imperativen widersetzende, an seiner ursprünglichen und ungebändigten Natur insgeheim festhaltende, und dadurch erkrankende, Mensch. Detailliert arbeitet Freud ›Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und Neurotiker‹ heraus; nicht aber betreibt er eine Pathologisierung der vermeintlich unzivilisierten, im damaligen Sprachgebrauch sog. ›Wilden‹8 , sondern er ver7

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Siehe dazu: Sigmund Freud [1912-1913], »Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker«, a.a.O., Kap. »Die soziologischen Theorien«, S. 165-169 sowie Kap. »Die psychologischen Theorien«, S. 169-172. Bezeichnungen wie ›wild‹ oder ›primitiv‹, wie sie sich mehrfach in Freuds Text finden, sollen im Folgenden kommentarlos und texttreu wiedergegeben werden, zum einen um Freuds Text nicht zu verfälschen, zum anderen aufgrund der Tatsache, dass Freud sie nicht wertend gebraucht, sondern damit einen vor- oder frühkulturellen, der Natur näher stehenden Zustand beschreibt, welchen er

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weist auf die potenziell pathogen wirkenden Elemente von Zivilisation im Allgemeinen und der bürgerlichen Gesellschaft im Besonderen. Das ist das eigentlich ›Skandalöse‹ an Freuds Unternehmen – und musste unweigerlich auf den entschiedenen Widerstand schon seiner Zeitgenossen treffen. Freud veranschaulicht also, wie allgemeine Prinzipien kultureller Unterdrückung von Triebregungen psychische Reaktionen bedingen; seien sie nun individuell pathologisch, wie im Falle der Neurosen in der bürgerlichen Gesellschaft, oder kollektiv nicht-pathologisch, wie im Falle eben jener psychostruktureller Prägung, welche sich findet in frühen – noch weit gehend undifferenzierten – Stammesgemeinschaften bei der Implementierung erster kultureller Regelsysteme. Dabei verweist er auf auffallende Parallelen, wie etwa ›magisches Denken‹ und angenommene ›Omnipotenz der Gedanken‹, die sich zwischen der individuellen Neurose in bürgerlichen Gesellschaften und etwa dem kollektiven animistischen Weltbild früher Stammesgemeinschaften auftäten. Deren gemeinsame Wurzel aber vermutet Freud, und belegt dies durchaus einleuchtend, in mit Verdrängung einhergehenden, triebrepressiv wirkenden kulturellen Mechanismen generell. Die Formung der Triebstruktur entlang kultureller Reglementierungen steht so im Mittelpunkt von Freuds Ausführungen. Unschwer lässt sich dabei erneut die Linie relationale Formation – intersubjektiver Prozess – Subjekt ausmachen, deren Verschränkung ineinander sich ereignet vermittels formender Dynamiken: sozialer einerseits, und subjektivierend-sozialisatorischer andererseits. Jene aber sind Emanationen von Kommunikation und Interaktion allgemein, und transportieren die Tabus (welche nichts anderes als frühe sprach- und handlungsleitende Normen sind) ausgehend vom sozialen Raum hinein in den psychischen. Im Grunde lässt sich Freuds Totem und Tabu daher nicht allein als Versuch der Ergründung der Genese der Kultur lesen, sondern als Unterfangen, die Implikationen von Regelsetzung, Institutionalisierung und damit einhergehender Repression zu verstehen. Das Bemühen um ein Verständnis von Herrschaft und Widerstand steht im Zentrum der Schrift – von Freud wie gewohnt gekleidet in die Begriffe von Kultur und Natur. Kultur nämlich erweist sich bei Freud letztlich immer auch als System von Regelsetzungen, das sich in vormals ungeregelte Beziehungen einschreibt. Hier also wird die in Freuds theoretischem Verständnis grundsätzlich angelegte intersubjektive Option ein weiteres Mal offensichtlich. In einem Rückgriff auf Loewald ließe sich das Phänomen der Kultur dann wohl auch formulieren als Differenzierung eines vormals undifferenzierten Zustands – und zwar diesmal nicht allein auf der Ebene des Einzelnen (Ontogenese), sondern auf derjenigen der Gattung bzw. der Vielen (Phylogenese). Stärker an Lorenzer angelehnt ließe sich wiederum vielleicht auch sagen, Kultur repräsentierte die ideelle (und folglich auch: symbolische) Ordnung, die gewachsen ist aus den spezifischen Notwendigkeiten materieller Produktionsverhältnisse. Die Vermutung, dass diese Anschauungsweise hinter Lorenzers Blick auf die Kultur stecken dürfte, erfährt an einer Stelle seines Werks eine Präzisierung, die es erlaubt, gedankliche Bezüge herzustellen zu den von Freud in Totem und Tabu vorgetragenen Überlegungen zur Bedeutung der ›Opfer-Feier‹. Unter Rekurs auf Susanne K. Langer9 nämlich formuliert Lorenzer:

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der ›bürgerlichen Zivilisation‹ lediglich vorausgehend, aber nicht unterlegen darstellt; im Gegenteil: Gerade die bürgerliche Kultur ist es ja, welcher Freud vielfach pathogene Elemente attestiert. Susanne K. Langer, Philosophie auf neuem Wege, Frankfurt a.M. 1965.

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»In die Mitte der symbolisch gefassten, d.h. artikulierten Situationserlebnisse stellt Langer, verblüffend für uns Ritual und Mythos [Kursivsetzung durch Lorenzer]. Zunächst verdankt sich diese Zentralstellung von Ritual und Mythos bei ihr dem Anschluss an das Cassierersche Denken in dem Bemühen, die Kluft zwischen wissenschaftlich aufgeklärtem Bewußtsein und vorwissenschaftlicher Weltaufklärung zu überwinden. […] Die Hochschätzung von Ritual und Mythos als Kerne der präsentativen Symbole (der Kultur, eig. Anm.) ergibt sich aber letztlich aus der Sache: Was in Ritual und Mythos ausgedrückt wird, sind nicht einzelne Lebenserfahrungen, sondern sind die ›Lebenssymbole‹ selbst. Anders formuliert, es sind die zentralen Problembereiche des Leib-Seele-Verhältnisses, der Auseinandersetzung mit dem anderen Menschen in der Liebe und mit dem ›anderen‹ in Macht und Tod. [Eig. Hervorhebungen«10 Diese Bezugnahme vom Selbst auf die Anderen unter dem Gesichtspunkt der (präsentativen) Symbolik der kulturellen Welt und unter Einbeziehung des basalen Grundmusters von Lieben und Hassen, d.h. von Eros und Thanatos, ist bemerkenswert. Zudem eröffnet und erlaubt sie auch noch den Bezug (über ›Ritual und Mythos‹) auf das im Folgenden (sicher etwas ausführlich, dafür aber hoffentlich präzise) zu formulierende Unterfangen, Freuds Reflexionen zur ›Opfer-Feier‹ (als zentralem Signum jedweder Kultur und sogar des kulturellen Ödipus-Komplexes) einer intersubjektiven Neuausrichtung zu unterziehen. Abgesehen davon handelt es sich beim Phänomen der Kultur aber sicher auch um eine Maßreglung, oder einen Maßstab, zur Bemessung von etwas eigentlich maßlosen. Dieses Maßlose könnte dementsprechend – noch etwas spekulativ formuliert – wohl auch gesehen werden als der maßlos verbindende Eros, der allein durch die Begrenzungen, die ihm das auch kulturell vermittelte Realitätsprinzip auferlegt, zu qualitativen Verwandlungen gedrängt wird.11 (Eine Einschätzung, die, wie sich zeigen wird, nicht fern derer Freuds liegt.) Grundsätzlich lässt sich jedenfalls sagen, der von Freud in Totem und Tabu vorgestellte psychoanalytische Ansatz betont abermals das strukturbildende Element eines Phänomens, in diesem Fall: der Kultur. Er ist damit denjenigen sozialwissenschaftlichen Ansätzen verwandt, die gesellschaftliche Entwicklung verstehen als permanent sich vollziehende Differenzierung (und damit Komplexitätssteigerung) gesellschaftlicher Ordnungen – und zwar von Stammesgemeinschaften, in welchen das Gemeinsame (also: Kollektive) in all seinen Facetten prägend ist, hin zu Gesellschaften, deren Ordnungen stärker auf dem Einsamen (und: Individuellen) in all seinen Varianten

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Alfred Lorenzer, Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik, a.a.O., S. 33. Vgl. dazu auch Herbert Marcuse: »Die methodische Aufopferung der Libido, ihre strikt erzwungene Ablenkung auf sozial nutzbringende Tätigkeiten ist Kultur. [Hervorhebung durch Marcuse]« In: ders., Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, a.a.O., S. 11. Marcuse schreibt des Weiteren: »Die Kultur fordert fortgesetzte Sublimierung; dadurch schwächt sie den Eros […]. Und die Desexualisierung entfesselt durch die Schwächung des Eros die destruktiven Impulse. So ist die Kultur von einer Triebentmischung bedroht, in der der Todestrieb danach strebt, die Oberhand über den Lebenstrieb zu gewinnen. Dem Triebverzicht entsprungen und unter fortschreitendem Triebverzicht sich entwickelnd, neigt die Kultur zur Selbstzerstörung.« In: ebd., S. 86.

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basieren.12 Die alte soziologische Dichotomie von ›Gemeinschaft und Gesellschaft‹13 , die in neueren dynamischeren Ansätzen begegnet als eine von ›Vergemeinschaftung und Vereinzelung‹14 , findet hier also ihren Widerhall. Freuds psychoanalytische Untersuchung zum Ursprung der Kultur wird sich daher, trotz diverser noch zu klärender Punkte, in die bisher eingenommene intersubjektive Perspektive einbeziehen lassen. Um die Kompatibilität zu jener aber endgültig zu klären, bedarf es jedoch zunächst einer umfänglichen Auseinandersetzung mit dem Ansatz Freuds. Letztlich allerdings, soviel sei hier vorweggenommen, markiert eine intersubjektive Deutung des freudschen Ansatzes den zum Verständnis von thanatomorphen wie biomorphen relationalen Formationen notwendigen theoretischen Ausgangspunkt. Doch nun zu Freuds Gang der Argumentation, den er erst einmal einleitet mit einer Darstellung der Formen, in denen der Totem bzw. das Tabu begegnet, bevor er den Zusammenhang beider, und schließlich die tieferliegende Bedeutung des Phänomens überhaupt, aufzuklären versucht. Dabei beginnt er seine Ausführungen mit dem Hinweis, dass, wenngleich Totem und Tabu Lehnwörter aus indigenen Sprachen Nordamerikas (›Totem‹) bzw. Neuseelands (›Tabu‹) sind, sich Analogien in Sprachen überall auf der Welt fänden. ›Tabu‹ beispielsweise wäre im Lateinischen mit ›sacer‹ wiederzugeben, oder beispielsweise im Hebräischen mit ›kodausch‹.15 ›Tabu‹ »heißt einerseits: heilig, geweiht, andererseits: unheimlich, gefährlich, verboten, unrein.«16 Freud meint: »Unsere Zusammensetzung ›heilige Scheu‹ würde sich oft mit dem Sinn des Tabu decken.«17 Zur weiteren Erläuterung führt er an, dass man das Tabu auch als »ältesten ungeschriebenen Gesetzeskodex der Menschheit«18 bezeichnen könne. Damit ist es »seiner psychologischen Natur nach doch nichts anderes als der ›kategorische Imperativ‹ Kants, der zwangsartig wirken will und jede bewusste Motivierung ablehnt.«19 Das Tabu besteht folglich, wenngleich in anderen Bezeichnungen und Formen, in unseren Gesellschaften fort, und zwar in Gestalt allgemein verbindlicher Normen. Weniger offensichtlich, so Freud, ist das Fortbestehen des Totemismus, zu dem es in engster Relation steht: »Der Totemismus hingegen ist eine unserem heutigen Fühlen entfremdete, in Wirklichkeit längst aufgegebene und durch neuere Formen ersetzte religiös-soziale 12

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Alfred Lorenzer vertritt ja die »Grundthese, daß dem präsentativen Symbolsystem, zentriert um das Ritual, eine identitäts- und kollektivitätsstiftende Rolle« zukommt. In.: ders., Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik, a.a.O., S. 44. Siehe dazu: Ferdinand Tönnies [1887], Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, a.a.O. Reiner Keller bspw. weist daraufhin, wie sehr Prozesse der Vergemeinschaftung und der Vereinzelung – als auch in paradoxer Gegenläufigkeit sich vollziehende – ins Blickfeld soziologischer Ansätze geraten sind. Insbesondere Michel Maffesoli etwa befasse sich mit dem Wandel von »rationalistisch-individualistisch verfassten Gesellschaftsformationen zu einer […] sozialen Konfiguration, die primär durch temporäre Gefühls- und Erlebnisbeziehungen, also flüchtige Vergemeinschaftungsprozesse in Gruppen bestimmt ist.« In: ders., Michel Maffesoli. Eine Einführung, Konstanz 2006, S. 7. Sigmund Freud [1912-1913], »Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker«, a.a.O., S. 66. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 46.

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Institution.« [Eig. Hervorhebung]20 Dabei ließe sich der grundsätzliche Zusammenhang den Totem und Tabu konstituieren in etwa auch so zusammenfassen: Das Tabu ist die Reglementierung, und der Totem die symbolische Instanz, die die Reglementierung verbürgt. Das deutet sich an bereits in den ersten Definitionen, die Freud zu Totem und Tabu gibt. Freud, über den Totem: »Die […] Stämme zerfallen in kleinere Sippen oder Clans, von denen sich jeder nach seinem Totem benennt. Was ist nun der Totem? In der Regel ein Tier, ein eßbares, harmloses oder gefährliches, gefürchtetes, seltener eine Pflanze oder Naturkraft (Regen, Wasser), welches in einem besonderen Verhältnis zu der ganzen Sippe steht. Der Totem ist erstens der Stammvater der Sippe, dann aber auch ihr Schutzgeist und Helfer, der ihnen Orakel sendet, und wenn er sonst gefährlich ist, seine Kinder kennt und verschont. Die Totemgenossen stehen dafür unter der heiligen, sich selbstwirkend strafenden Verpflichtung, ihren Totem nicht zu töten (vernichten) und sich seines Fleisches (oder des Genusses, den er sonst bietet) zu enthalten. Der Totemcharakter haftet nicht an einem Einzeltier oder Einzelwesen, sondern an allen Individuen der Gattung. Von Zeit zu Zeit werden Feste gefeiert, bei denen die Totemgenossen in zeremoniellen Tänzen die Bewegungen und Eigenheiten ihres Totem darstellen oder nachahmen. Der Totem ist entweder in mütterlicher oder väterlicher Linie erblich; die erstere Art ist möglicherweise überall die ursprüngliche und erst später durch die letztere abgelöst worden. Die Zugehörigkeit zum Totem ist die Grundlage aller sozialen Verpflichtungen […]. An Boden und Örtlichkeit ist der Totem nicht gebunden; die Totemgenossen wohnen voneinander getrennt und mit den Anhängern anderer Totem friedlich beisammen. […] Fast überall, wo der Totem gilt, besteht auch das Gesetz, daß Mitglieder desselben Totem nicht in geschlechtliche Beziehungen zueinander treten, also auch einander nicht heiraten dürfen. Das ist die mit dem Totem verbundene Exogamie. [Hervorhebungen durch Freud]«21 Es wird an dieser Beschreibung nicht nur die alles strukturierende Funktion des Totems deutlich, sondern auch die symbolische Qualität, mit der er ausgestattet ist: Er symbolisiert die Ordnung des Ganzen. Über Freud hinaus gedacht, lässt sich bereits vermuten: Der Totem verkörpert nicht nur eine bedeutungsgenerierende Dimension der Ordnung der intersubjektiven Prozesse untereinander (also der Form, die der allgemeine Kommunikations- und Interaktionszusammenhang, sprich: das Ensemble intersubjektiver Prozesse in der spezifischen relationalen Formation, angenommen hat), sondern er ist die Grundlage der gesamten präsentativen Symbolik der Kultur. Dabei zeichnet sich bereits ab, wie stark der Totem mit sprach- und handlungsleitenden Geund Verboten – den Tabus nämlich – verknüpft ist. Freuds gegebene Definition des Totems birgt in sich schon die Richtung, in die diese Tabus wirken. Es sind in erster Linie Tabus, die elementare Bedürfnisse und damit zentrale Triebregungen betreffen, allen voran solche bezüglich Nahrung und Sexualität. Konkret untersagen sie Berührungen und Kontakte physischer, psychischer und sozialer Art. Freud bedient sich zur Defi-

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Ebd. Ebd., S. 48f.

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nition des Tabus eines Eintrags in der Encyclopedia Britannica (11. Auflage, 1911), dessen Autor der Anthropologe Northcote W. Thomas ist: »Streng genommen umfaßt tabu nur a) den heiligen (oder unreinen) Charakter von Personen oder Dingen, b) die Art der Beschränkung, welche sich aus diesem Charakter ergibt, und c) die Heiligkeit (oder Unreinheit), welche aus der Verletzung dieses Verbots hervorgeht. […] Die Ziele des Tabu sind mannigfacher Art: Direkte Tabu bezwecken a) den Schutz bedeutsamer Personen wie Häuptlinge, Priester und Gegenstände u. dgl. gegen mögliche Schädigung; b) die Sicherung der Schwachen – Frauen, Kinder und gewöhnliche Menschen im allgemeinen – gegen das mächtige Manna (die magische Kraft) der Priester und Häuptlinge; c) den Schutz gegen Gefahren, die mit der Berührung von Leichen, mit dem Genuß gewisser Speisen usw. verbunden sind; d) die Versicherung gegen Störung wichtiger Lebensakte wie Geburt, Männerweihe, Heirat, sexuelle Tätigkeiten; e) den Schutz menschlicher Wesen gegen die Macht oder den Zorn von Göttern und Dämonen; f) die Behütung Ungeborener und kleiner Kinder gegen die mannigfachen Gefahren, die ihnen infolge ihrer besonderen sympathetischen Abhängigkeit von ihren Eltern drohen, wenn diese z.B. gewisse Dinge tun oder Speisen zu sich nehmen, deren Genuss den Kindern besondere Eigenschaften übertragen könnte. Eine andere Verwendung des Tabu ist die zum Schutze des Eigentums einer Person, ihrer Werkzeuge, ihres Feldes usw. gegen Diebe. […] Personen oder Dinge, die tabu sind, können mit elektrisch geladenen Gegenständen verglichen werden; sie sind der Sitz einer furchtbaren Kraft, welche sich durch Berührung mitteilt und mit unheilvollen Wirkungen entbunden wird, wenn der Organismus, der die Entladung hervorruft, zu schwach ist ihr zu widerstehen. Der Erfolg einer Verletzung des Tabu hängt also nicht nur von der Intensität der magischen Kraft ab, die an dem Tabuobjekt haftet, sondern auch von der Stärke des Mana, die sich dieser Kraft bei dem Frevler entgegensetzt. […]«22 Das Tabu reglementiert also eine Vielzahl von Handlungen, und damit auch an möglichen Beziehungen, die diesen zugrunde liegen, oder sich aus diesen ergeben; Beziehungen nicht allein zwischen Individuen, sondern auch von Individuen zu Gruppen, Gruppen zu Gruppen, oder von Individuen oder Gruppen zur Welt im Allgemeinen. Es stiftet Verhältnisse, indem es Verhalten reguliert; es erzeugt Institutionen, weil es die Situation definiert. Es schafft eine Ordnung von Dauer, da es dem Augenblick eine Bestimmung verleiht. Ist das Tabu zunächst nichts als eine Manifestation der Furcht vor einer der tabuierten Handlungsweise oder dem tabuierten Anderen oder Gegenstand zugeschriebenen dämonischen Macht, so wird es später, losgelöst von der konkreten Situation, zur Institution: »Allmählich wird dann das Tabu zu einer sich selbst begründeten Macht, die sich vom Dämonismus losgelöst hat. Es wird zum Zwang der Sitte und des Herkommens und schließlich des Gesetzes.«23 Letztlich wird das Tabu also von einer beinah instinkthaften, individuellen Verhaltensweise, einer am Übergang von Natur zu Kultur stehenden Scheu, etwas Bestimmtes zu tun oder zu lassen, zu einem System von Regeln, das die allgemeinen Verhältnisse erst ausmacht: »So knüpfen auch die ersten 22 23

Ebd., S. 67f. Ebd., S. 72.

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Strafsysteme der Menschheit an das Tabu an.«24 Die mit dem Tabu verbundenen Reglementierungen – oder auch: Strukturierungen – erweisen sich so als Ausgangspunkt jedweder gesellschaftlichen Ordnung. Deutlich wird dies auch, wenn man sich mit Freud noch einmal den Charakter der Relation von Totem und Tabu vor Augen führt. Denn wie Freud bemerkt, ist in Gestalt der Verwandtschaftsverhältnisse auch die früheste soziale Ordnung von Gemeinschaft eng mit Totem und Tabu verflochten. Der Ursprung des komplexen Verhältnisses von Exogamie und Endogamie in frühen Stammesgemeinschaften leitet sich her aus den Tabus auf bestimmte geschlechtliche Beziehungen. Die Clans, aus denen der Stamm sich zusammensetzt, sind exogam strukturiert (das heißt, nur Mitglieder verschiedener Clans treten in geschlechtliche Beziehung zueinander); der Stamm selbst wiederum ist endogam strukturiert (was bedeutet, dass in der Regel eine Heiratsbeschränkung für Mitglieder anderer Stämme gilt). Diese Regelung, gestiftet durch Tabus auf zwischenmenschliche (also: intersubjektive) Beziehungen, steht in engstem Zusammenhang mit dem Totem. Denn auch wenn es oftmals einen gemeinsamen Stammestotem gibt, besitzen die jeweiligen Clans eigene Totems, die deren Mitglieder, beinahe analog zu heutigen Familiennamen, als Zugehörige des eigenen Clans ausweisen und eine Heirat zwischen ihnen damit unmöglich machen. Anders als bei Familiennamen jedoch bleibt die Zugehörigkeit zu einem Totem von einer Heirat unberührt, und die Kinder, die aus der Verbindung unterschiedlicher Clan- und damit Totemangehöriger hervorgehen, übernehmen in frühen, noch matrilinear strukturierten Formen des Totemismus, den Totem der mütterlichen Linie.25 Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass allein die Mutter des Kindes mit Sicherheit bestimmt werden kann; als Vater kommt eine Reihe von Männern in Betracht. Die möglichen oder realisierten Heiratsverbindungen zwischen Clans dürfen nämlich nicht mit Vorstellungen von auf der Paarbeziehung basierenden Familienstrukturen gleichgesetzt werden. Fast in allen Stammesgemeinschaften findet sich ein Phänomen (oder auch: das Überbleibsel eines Phänomens) das von früheren Ethnologen als Gemein- oder Gruppenehe bezeichnet wurde.26 Damit ist schlicht und einfach gemeint, dass eine gewisse Anzahl von Männern potenzielle und legitime Partner einer gewissen Anzahl von Frauen sind. »Die Kinder dieser Gruppenehe würden dann mit Recht alle einander als Geschwister betrachten, obwohl sie nicht alle von derselben Mutter geboren sind, und alle Männer der Gruppe für ihre Väter halten.«27 Freud veranschaulicht dies am Beispiel von Verwandtschaftsbezeichnungen in australischen Stammesgemeinschaften: »Das will heißen, ein Mann nennt ›Vater‹ nicht nur seinen Erzeuger, sondern auch jeden Mann, der nach den Stammessatzungen seine Mutter hätte heiraten können; er nennt ›Mutter‹ jede andere Frau neben seiner Gebärerin, die ohne Verletzung der

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Ebd., S. 68. Sigmund Freud: »Da der Totem hereditär ist und durch die Heirat nicht verändert wird, so lassen sich die Folgen […] etwa bei mütterlicher Erblichkeit leicht übersehen. Gehört der Mann z.B. einem Clan mit dem Totem Känguruh an und heiratet eine Frau vom Totem Emu, so sind die Kinder, Knaben und Mädchen, alle Emu.« In: ebd., S. 51. Vgl. ebd., S. 53. Ebd., S. 53.

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Stammesgesetze seine Mutter hätte werden könne; er heißt ›Brüder‹, ›Schwestern‹ nicht nur die Kinder seiner wirklichen Eltern, sondern auch die Kinder all der genannten Personen, die in der elterlichen Gruppenbeziehung zu ihm stehen usw. Die Verwandtschaftsnamen […] deuten also nicht notwendig auf eine Blutsverwandtschaft zwischen ihnen hin, wie sie es nach unserem Sprachgebrauch müßten; sie bezeichnen vielmehr soziale als physische Beziehungen. Eine Annäherung an dieses klassifikatorische System findet sich bei uns etwa in der Kinderstube, wenn das Kind veranlasst wird, jeden Freund und jede Freundin ihrer Eltern als ›Onkel‹ und ›Tante‹ zu begrüßen, oder im übertragenen Sinn, wenn wir von ›Brüdern in Apoll‹ oder ›Schwestern in Christo‹ sprechen.«28 Die Gemein- oder Gruppenehe also sei, so Freud unter Berufung auf verschiedene Ethnologen, überall der individuellen Ehe vorausgegangen; und selbst da, wo sie mittlerweile durch andere Formen, die noch nicht der individuellen Ehe entsprechen, abgelöst wurde, fänden sich insbesondere im (von Henry Morgan beschriebenen) klassifikatorischen System der Verwandtschaftsbezeichnungen, ihre Überreste.29 Diese Überreste der Gruppenehe aber äußerten sich gerade in genauesten Vermeidungsregeln geschlechtlichen Kontakts mit Individuen, zu denen Verwandtschaftsverhältnisse, wenn auch nur entferntester Art, bestehen könnten. Das ist der Grund, warum im oben gegebenen Beispiel selbst nahe stehende Nicht-Verwandte als Mütter, Väter, oder Brüder und Schwestern bezeichnet werden, und damit als ›tabu‹ gelten:30 28 29 30

Ebd., S. 53. Vgl. ebd., S. 53f. Freud weist daraufhin, wie Tabus auf geschlechtliche Beziehungen in Stammesgemeinschaften eben nicht nur tatsächliche Verwandtschaftsverhältnisse betreffen, sondern auch rein ›soziale Verwandtschaftsbeziehungen‹: »Auf den Fiji-Inseln sind diese Vermeidungsregeln besonders strenge; sie betreffen dort nicht nur die blutsverwandte, sondern selbst die Gruppenschwester.« In: ebd., S. 57. Einen Eindruck, wie derartige Tabus in der gesellschaftlichen Praxis ihre konkrete Ausgestaltung als Vermeidungsregeln im sozialen Umgang finden, gibt Freud ebenfalls (unter Rückgriff auf ethnologische Quellen): »So z.B. verläßt auf Lepers Island, einer der Neuhebriden, der Knabe von einem bestimmten Alter an das mütterliche Heim und übersiedelt ins ›Klubhaus‹, wo er jetzt regelmäßig schläft und seine Mahlzeiten einnimmt. Er darf sein Haus zwar noch besuchen, um dort Nahrung zu verlangen; wenn aber seine Schwester zuhause ist, muß er fortgehen, ehe er gegessen hat; ist keine Schwester anwesend, so darf er sich in der Nähe der Türe zum Essen niedersetzen. Begegnen sich Bruder und Schwester zufällig im Freien, so muß sie weglaufen oder sich seitwärts verstecken. […] Auf der Gazellen-Halbinsel in Neubritannien darf eine Schwester von ihrer Heirat an mit ihrem Bruder nicht mehr sprechen, sie spricht auch seinen Namen nicht mehr aus, sondern bezeichnet ihn mit einer Umschreibung. […] Auf Neumecklenburg werden Vetter und Base (obwohl nicht jeder Art) von solchen Beschränkungen getroffen, ebenso aber Bruder und Schwester. Sie dürfen sich einander nicht nähern, einander nicht die Hand geben, keine Geschenke machen, dürfen aber in der Entfernung von einigen Schritten miteinander sprechen. […] Unter den Battas auf Summatra betreffen die Vermeidungsgebote alle nahen Verwandtschaftsbeziehungen. […] Ein Battabruder wird sich in Gesellschaft seiner Schwester höchst unbehaglich fühlen, selbst wenn noch andere Personen mit anwesend sind. Wenn der eine von ihnen ins Haus kommt, so zieht es der andere Teil vor, wegzugehen. Ein Vater wird auch nicht allein im Hause mit seiner Tochter bleiben, ebensowenig wie die Mutter mit ihrem Sohne. […] Bei den Barongas an der Delagoa–Bucht in Afrika gelten merkwürdigerweise die strengsten Vorschriften der Schwägerin, der Frau des Bruders der eigenen Frau. Wenn ein Mann dieser ihm gefährlichen Frau begegnet, so weicht er ihr

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»Ersetzen wir aber die individuelle Ehe durch die Gruppenehe, so wird uns das scheinbare Übermaß von Inzestvermeidung, welches wir bei denselben Völkern angetroffen haben, begreiflich. Die Totemexogamie, das Verbot des sexuellen Verkehrs zwischen Mitgliedern desselben Clans, erscheint als das angemessenste Mittel zur Verhütung des Gruppeninzests, welches dann fixiert wurde und seine Motivierung um lange Zeiten überdauert hat.«31 Die ›Inzestscheu‹, wie Freud betont, müsse also als das wohl älteste und auch bedeutendste Tabu verstanden werden. Das Inzesttabu nehme in Stammesgemeinschaften einen Raum ein, der weit über das Inzesttabu in komplexeren Gesellschaften hinausreiche; und zwar dergestalt, »dass sie die reale Blutsverwandtschaft durch die Totemverwandtschaft ersetzen.«32 Geschlechtliche Beziehungen zwischen Clanmitgliedern werden als Inzest gewertet, selbst wenn sie keine Blutsverwandten seien. Ursache sei eben, »dass bei einer über die Eheschranken hinausgehenden Freiheit des Sexualverkehrs die Blutsverwandtschaft und somit die Inzestverhütung so unsicher werden, dass man eine andere Fundierung des Verbots nicht entbehren kann«33 . So komme es auch, dass die »Verwandtschaftsbezeichnungen im Beispiel der australischen Stämme nicht die Beziehung zwischen zwei Individuen, sondern zwischen einem Individuum und einer Gruppe«34 widerspiegeln: Die Gruppenehe, und nicht die individuelle Ehe, ist die Ursache dieser Ausprägung des Verwandtschaftssystems. Sie entspricht Formen der Gemeinschaft (besser: des Gemeinsamen), an deren Stelle erst später die Gesellschaft (und mit ihr: das Einsame in all seinen Varianten) tritt, und welche wiederum die ursprünglichen Ausprägungen des Totemismus überformt. Die Überreste des Totemismus gehen dann mit neueren, zusätzlichen Reglementierungen komplizierte Mischungsverhältnisse ein; neue Ver- und Gebote kommen zu den Totem-Tabus hinzu. Erste Zeichen einer solchen Entwicklung fänden sich ebenfalls in den australischen Stämmen; das ›einfache‹ Tabu auf geschlechtliche Beziehungen zu Clan-Mitgliedern weite sich in diesem Fall aus zu einem komplizierten ›Heiratsklassensystem‹:

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sorgsam aus. Er wagt es nicht, aus einer Schüssel mit ihr zu essen, er spricht sie nur zagend an, getraut sich nicht, in ihre Hütte einzutreten und begrüßt sie nur mit zitternder Stimme. […] Bei den Akamba (oder Wakamba) in Britisch-Ostafrika herrscht ein Gebot der Vermeidung, welches man häufiger anzutreffen erwartet hätte. Ein Mädchen muß zwischen ihrer Pubertät und ihrer Verheiratung dem eigenen Vater sorgfältig ausweichen. […] Die bei weitem verbreitetste, strengste und auch […] interessanteste Vermeidung ist die, welche den Verkehr zwischen einem Manne und seiner Schwiegermutter einschränkt. [….] Auf den Banks-Inseln sind diese Gebote sehr strenge und peinlich genau. Ein Mann wird die Nähe seiner Schwiegermutter meiden wie sie die seinige. […] In Vanua Lava (Port Patteson) wird ein Mann nicht einmal hinter seiner Schwiegermutter am Strande einhergehen, ehe die steigende Flut nicht die Spur ihrer Fußtritte im Sande weggeschwemmt hat. […] Bei den Basoga […] im Quellengebiete des Nils, darf ein Mann zu seiner Schwiegermutter nur sprechen, wenn sie in einem anderen Raume des Hauses ist und von ihm nicht gesehen wird.« In: ebd., S. 56-60. Ebd., S. 54. Ebd., S. 52. Ebd. Ebd.

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»Es gibt nämlich nur wenige Stämme in Australien, die kein anderes Verbot als die Totemschranke zeigen. Die meisten sind derart organisiert, daß sie zunächst in zwei Abteilungen zerfallen, die man Heiratsklassen (englisch: phratries) genannt hat. Jede dieser Heiratsklassen ist exogam und schließt eine Mehrzahl von Totemsippen ein. Gewöhnlich teilt sich noch jede Heiratsklasse in zwei Unterklassen (sub-phratries), der ganze Stamm also in vier; die Unterklassen stehen so zwischen den Phratrien und Totemsippen. […] Die historischen Beziehungen der Heiratsklassen – deren bei einigen Stämmen bis zu acht vorkommen – zu den Totemsippen sind ungeklärt. Man sieht nur, dass diese Einrichtungen dasselbe erreichen wollen wie die Totemexogamie und auch noch mehr anstreben. Aber während die Totemexogamie den Eindruck einer heiligen Satzung macht, die entstanden ist, man weiß nicht wie, also einer Sitte, scheinen die komplizierten Institutionen der Heiratsklassen, ihrer Unterteilungen und der daran geknüpften Bedingungen zielbewußter Gesetzgebung zu entstammen […]. [Hervorhebungen durch Freud]35 Diese sich andeutende Komplexitätssteigerung im Totemismus, seine sich abzeichnende gesellschaftliche Überformung (die weit deutlicher in Kulturen zu beobachten ist, die den so zentralen Übergang von der nomadisierenden Stammesgemeinschaft zur Sesshaftigkeit bereits vollziehen oder vollzogen haben) bringt eine Vielzahl neuer Tabus mit sich, die dann vor allem auch dazu dienen, die sich neu herausbildenden Machtverhältnisse zu stabilisieren. Gerade der malaiische und der polynesische Totemismus gäbe ein Beispiel dafür: »Die stärkere soziale Differenzierung dieser Völker macht sich darin geltend, daß Häuptlinge, Könige, und Priester ein besonders wirksames Tabu ausüben und selbst dem stärksten Zwang des Tabu ausgesetzt sind.«36 Aber nicht allein neue Tabus tauchen auf, die dann insbesondere Personen betreffen, welche gesellschaftliche Macht ausüben (oder etwa auch dem Schutz des damit sich zunehmend herausbildenden ›privaten‹ Eigentums dienen), sondern auch die Tabus selbst erfahren eine Differenzierung. Die Differenzierung in die Bedeutung ›rein-unrein‹ ist bereits eine solche, denn im ursprünglichen Wortgebrauch war rein und unrein noch als Doppelbedeutung angelegt. Das Tabu bezeichnete beides;37 es war in sich ambivalent – und bedeute einfach die Scheu vor etwas, die noch nicht zwischen ›rein‹, also heilig, oder profan, und damit letztlich auch ›unrein‹, unterschied. Diese in der Sprache sich analog zur sozialen Wirklichkeit ereignende Differenzierung betrifft andere Worte gleichermaßen, wird das Tabu betreffend aber überdeutlich: »Das Studium der ältesten Sprachen hat uns belehrt, daß es einst viele solcher Worte gab, welche Gegensätze in sich faßten, in gewissem – wenn auch nicht in ganz dem nämlichen – Sinne wie das Wort Tabu ambivalent waren.«38 So differenziere sich die zunächst mit dem Tabu verbundene Scheu vor etwas, also die bloße Furcht vor einer dem tabuierten Anderen oder Gegenstand zugeschrie-

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Ebd., S. 55. Ebd., S. 72. Sigmund Freud: »Über die Doppelbedeutung des Tabu äußert Wundt bedeutsame, aber nicht ganz klar zu fassende Ansichten. Für die primitiven Anfänge des Tabu besteht nach ihm eine Scheidung von heilig und unrein noch nicht. [Hervorhebungen durch Freud]« In: ebd., S. 73. Ebd., S. 118.

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benen dämonischen Macht, parallel zur auch zunehmenden sprachlichen Spaltung in rein-unrein, in die Ehrfurcht und die Abscheu.39 »Wie aber entsteht diese Sonderung? Nach Wundt durch die Verpflanzung der Tabugebote aus dem Gebiet der Dämonen – in das der Göttervorstellungen. Der Gegensatz von heilig und unrein fällt mit der Aufeinanderfolge zweier mythologischer Stufen zusammen, von denen die frühere nicht vollkommen verschwindet, wenn die folgende erreicht ist, sondern in Form einer niedrigeren und allmählich mit Verachtung sich paarenden Wertschätzung fortbesteht. In der Mythologie gilt allgemein das Gesetz, daß eine vorangegangene Stufe eben deshalb, weil sie von der höheren überwunden und zurückgedrängt wird, nun neben dieser in erniedrigter Form fortbesteht, so daß die Objekte ihrer Verehrung in solche des Abscheus sich verwandeln.«40 Freud geht es nun aber nicht in erster Linie darum, dieser sich andeutenden Differenzierung der Tabus nachzugehen, die ja gleichbedeutend mit einer Komplexitätssteigerung des Totemismus ist, sondern der dieser Differenzierung vorausgehenden ursprünglicheren Ambivalenz des Tabus nachzuspüren. Von ihr verspricht er sich letzten Endes eine Aufklärung der so eigentümlichen Verschränkung von Totem und Tabu. Dem Ambivalenzcharakter des Tabus nähert er sich, indem er dessen Ursache letztlich in der ambivalenten Haltung des Menschen gegenüber dem Tabu vermutet: »Die sonstige Mannigfaltigkeit der Tabuerscheinungen, die zu den früher mitgeteilten Klassifizierungsversuchen geführt hat, wächst für uns auf folgende Art zusammen: Grundlage für das Tabu ist ein verbotenes Tun, zu dem eine starke Neigung im Unbewußten besteht. Wir wissen, ohne es zu verstehen, daß wer das Verbotene tut, das Tabu übertritt, wird selbst tabu. Wie bringen wir aber diese Tatsache mit der anderen zusammen, dass das Tabu nicht nur an Personen haftet, die das Verbotene tun, sondern auch an Personen, die sich in besonderen Zuständen befinden, an diesen Zuständen selbst und an unpersönlichen Dingen? Was kann das für eine gefährliche Eigenschaft sein, die immer die nämliche bleibt unter all diesen verschiedenen Beziehungen? Nur die eine: die Eignung, die Ambivalenz des Menschen anzufachen und ihn in Versuchung zu führen, das Verbot zu übertreten. Der Mensch, der ein Tabu übertreten hat, wird selbst tabu, weil er die gefährliche Eignung hat, andere zu versuchen, daß sie seinem Beispiel folgen. Er erweckt Neid; warum sollte ihm gestattet sein, was anderen verboten ist? Er ist also wirklich ansteckend, insofern jedes Beispiel zur Nachahmung ansteckt und darum muß er selbst gemieden werden. Ein Mensch braucht aber kein Tabu übertreten zu haben und kann doch permanent oder zeitweilig tabu sein, weil er sich in einem Zustand befindet, welcher die Eignung hat, die verbotenen Gelüste der anderen anzuregen, den Ambivalenzkonflikt in ihnen zu wecken. Die meisten Ausnahmestellungen und Ausnahmszustände sind von solcher Art und haben diese gefährliche Kraft. Der König oder Häuptling erweckt den Neid auf seine Vorrechte; es möchte vielleicht jeder König sein. Der Tote, das Neugeborene, die Frau in ihren Leidenszuständen reizen durch ihre besondere Hilflosigkeit, das eben

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Vgl. ebd., S. 74. Ebd.

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geschlechtsreif gewordene Individuum durch den neuen Genuß, den es verspricht. Darum sind alle diese Personen und alle diese Zustände tabu, denn der Versuchung darf nicht nachgegeben werden.« [Hervorhebungen durch Freud]41 Freud ist also der Auffassung, die Tabus »seien uralte Verbote, einer Generation von […] Menschen dereinst von außen aufgedrängt, das heißt also doch wohl von der früheren Generation ihr gewalttätig eingeschärft«42 ; sie hätten »Tätigkeiten betroffen, zu denen einst eine starke Neigung bestand«43 . Die unter dem Eindruck der Tabu-Verbote Stehenden hätten zu diesen eigentlich eine »ambivalente Einstellung; sie möchten im Unbewußten nichts lieber als sie übertreten, aber sie fürchten sich auch davor; sie fürchten sich gerade darum, weil sie es möchten, und die Furcht ist stärker als die Lust« [Hervorhebung durch Freud]44 . Grundlage für diese Einschätzung Freuds bildet eine auf den ersten Blick erstaunliche Parallele, die er zieht: »Die Lust dazu ist aber bei jeder Einzelperson des Volkes unbewußt wie bei dem Neurotiker.«45 Freud verweist also ausgehend von seinen anthropologisch-ethnologischen Überlegungen auf scheinbar ähnlich gelagerte Phänomene, die ihm aus der psychoanalytischen Praxis bekannt sind. Dabei spielt er an auf »Personen, die sich solche Tabuverbote individuell geschaffen haben, und sie ebenso streng befolgen«46 wie die Anderen, »die ihrem Stamme oder ihrer Gesellschaft gemeinsamen.«47 Wenn man diese Personen in der Psychoanalyse nicht als ›Zwangskranke‹ bezeichnet hätte, schiene ihm der Ausdruck ›Tabukrankheit‹ für ihr Leiden ebenso angebracht.48 Freud betont, dass er sich bewusst sei, dass aufgrund rein äußerlicher Übereinstimmungen noch nicht auf ein innerlich ähnlich gelagertes Wesen einer Sache zu schließen sei; der Vergleich zwischen neurotisch-individuellen Zwängen und kulturell-kollektiven Tabus müsse aufgrund der augenscheinlichen Ähnlichkeiten aber gezogen werden, wenngleich es ihn auch sorgfältig zu prüfen gelte.49 Die erste und auffälligste Übereinstimmung zwischen Zwangsverboten und Tabuverboten sieht Freud nun darin, dass das Herkommen beider nicht auf den ersten Blick geklärt werden könne: »Sie sind irgendeinmal aufgetreten und müssen nun infolge einer unbezwingbaren Angst gehalten werden.«50 Dabei komme es noch nicht einmal auf eine Sanktionierung in Form einer äußeren Strafe an, »weil eine innere Sicherheit (ein Gewissen) besteht, die Übertretung werde zu einem unerträglichen Unheil führen«51 . Zwangskranke etwa könnten über den Charakter der imaginären Verbote, die sich ihnen überall auftun, nichts Tieferes mitteilen, als »die unbestimmte Ahnung, es werde eine gewisse Person ihrer Umgebung durch die Übertretung zu Schaden kommen.52 « Ein Teil dieser selbst auferlegten Zwänge erschiene Außenstehenden 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52

Ebd., S. 81. Ebd., S. 80. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 74. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 75. Ebd. Ebd. Ebd.

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in ihrer »Absicht ohneweiters verständlich, ein anderer Teil dagegen […] unbegreiflich, läppisch, sinnlos.«53 Freud fährt fort: »Wir bezeichnen solche Gebote als ›Zeremoniell‹ und finden dass die Tabugebräuche dieselbe Verschiedenheit erkennen lassen.«54 Dabei läge Zwangsverboten wie Tabus, gleich welcher Art sie sich auch äußern mögen und in welche Richtung sie auch wirkten, der gleiche Ausgangspunkt zugrunde; nämlich der scheinbare Widerwille, mit jemandem oder etwas in Berührung zu kommen bzw. in Kontakt zu treten: »Das Haupt- und Kernverbot der Neurose ist wie beim Tabu das der Berührung, daher der Name: Berührungsangst, délire de toucher [Kursivsetzung durch Freud]. Das Verbot erstreckt sich nicht nur auf die direkte Berührung mit dem Körper, sondern nimmt den Umfang der übertragenen Redensart: in Berührung kommen, an. Alles was die Gedanken auf das Verbotene lenkt, eine Gedankenberührung hervorruft, ist ebenso verboten wie der unmittelbare leibliche Kontakt; dieselbe Ausdehnung findet sich beim Tabu wieder.«55 Die für Außenstehende oft deutlich wahrnehmbare Irrationalität des Zwangs, wie der oftmals scheinbare Aberglaube hinter besonders sonderbaren Tabus, nimmt sich also aus als Resultat der Verschiebbarkeit des Verbots auf auch Personen oder Objekte, die zum eigentlich Tabuierten oder Gemiedenen nur auf entfernte Weise, oder allein gedanklich, in einem Zusammenhang stehen. Individuell neurotische Zwangsverbote seien also in großem Ausmaß verschiebbar; besteht ein auch nur geringfügiger Zusammenhang zwischen einer Person oder einem Objekt, welche/s dem Erkrankten »unmöglich«56 ist zu einer anderen Person oder einem anderen Objekt, so könne auch diese/s dem Zwangserkrankten ›unmöglich werden‹: »Die Unmöglichkeit hat am Ende die ganze Welt mit Beschlag belegt.«57 Dieselbe Art von ›Ansteckungsfähigkeit‹ und der ›Übertragbarkeit‹ sei den kollektiven Tabus zu eigen: »Wir wissen auch, wer ein Tabu übertreten hat durch die Berührung von etwas, was tabu ist, der wird selbst tabu, und niemand darf mit ihm in Berührung treten.«58 Um die Ähnlichkeit von Tabus und Zwängen in Bezug auf diese enorme Verschiebbarkeit zu illustrieren, gibt Freud zwei Beispiele. Ersteres zitiert er aus Frazers The Golden Bough, II, Taboo and the Perils of the Soul: »Ein Maorihäuptling wird kein Feuer mit seinem Hauch anfachen, denn sein geheiligter Atem würde seine Kraft dem Feuer mitteilen, dieses dem Topf, der im Feuer steht, der Topf der Speise, die in ihm gekocht wird, die Speise der Person, die von ihr ißt, und so müsste die Person sterben, die gegessen von der Speise, die gekocht in dem Topf, der gestanden in dem Feuer, in das geblasen der Häuptling mit seinem heiligen und gefährlichen Atem.«59 53 54 55 56 57 58 59

Ebd., S. 76. Ebd. Ebd., S. 75f. Ebd., S. 76. Ebd. Ebd. James G. Frazer, The Golden Bough, II, Taboo and the Perils of the Soul, London 1911, S. 136, zitiert nach Sigmund Freud; in: ebd., S. 76.

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Das zweite Beispiel, eines Zwanges nämlich, der sich ebenso scheinbar unerklärlich wie oben geschildertes Tabu auf Objekte erstreckt, die nur der äußeren Form nach mit dem eigentlich zu Meidenden in Verbindung gebracht werden können, entnimmt Freud der psychoanalytischen Praxis: »Die Patientin verlangt, daß ein Gebrauchsgegenstand, den ihr Mann vom Einkauf nach Hause gebracht, entfernt werde, er würde ihr sonst den Raum, in dem sie wohnt, unmöglich machen. Denn sie hat gehört, daß dieser Gegenstand in einem Laden gekauft wurde, welcher, in der, sagen wir: Hirschengasse liegt. Aber Hirsch ist heute der Name der Freundin, die in einer fernen Stadt lebt und die sie in ihrer Jugend unter ihrem Mädchennamen gekannt hat. Diese Freundin ist ihr heute ›unmöglich‹, tabu, und der hier in Wien gekaufte Gegenstand ist ebenso tabu wie die Freundin selbst, mit der sie nicht in Berührung kommen will.«60 Aufgrund der hohen Verschiebbarkeit der Zwangs- wie Tabuverbote in Bezug auf Personen und Objekte also bringen beide »großartigen Verzicht und Einschränkungen des Lebens mit sich«61 . Um diese Folgewirkungen zu minimieren aber eignet wiederum beiden die Möglichkeit einer zeitweiligen oder teilweisen Aufhebung; und zwar durch »die Ausführung gewisser Handlungen, […] die Zwangscharakter haben«62 und die der Buße, Sühne, Abwehr und Reinigung dienen.63 Weitverbreitet diesbezüglich sei das Abwaschen mit Wasser (Waschzwang), welches auch im Falle der Tabus eine der bevorzugten Reinigungsmaßnahmen sei, zudem begegne es oftmals als zeremoniell verankert.64 Freud gelangt nun zu einem ersten Resümee; die große Zahl ausgemachter Gemeinsamkeiten zwischen Zwangsverboten und Tabus reduziert er auf einige grundlegende Punkte. Die Übereinstimmungen lägen: »1. In der Unmotiviertheit der Gebote, 2. in ihrer Befestigung durch eine innere Nötigung, 3. in ihrer Verschiebbarkeit und in der Ansteckungsgefahr durch das Verbotene, 4. in der Verursachung von zeremoniösen Handlungen, Geboten, die von den Verboten ausgehen.«65 Ausgehend von der Feststellung dieser Übereinstimmungen fällt es Freud nicht mehr schwer zur gemeinsamen Wurzel von Zwangsverbot und Tabu durchzudringen, d.h. zum Kern, der sich hinter der Berührungsangst verbirgt, welche ja kennzeichnend für beide ist. Denn hinter jeglicher Triebregung steht eine Berührungslust (auch im weiteren Sinn), die sich bei Repression dieses Triebs in Berührungsangst wandeln kann – zumal wenn sie einher geht mit dem psychischen Mechanismus der Verdrängung der Triebregung ins Unbewusste. Um dieses grundlegende Phänomen von Triebrepression, welches Freud nun als Ausgangspunkt der neurotisch-individuellen Zwangsverbote wie der kulturell-kollektiven Tabus identifiziert, zu veranschaulichen, bezieht er sich auf klinische Ergebnisse der Psychoanalyse. Allgemein lenkt er den Blick auf die psychosexuelle Entwicklung von Kindern; und im Speziellen auf die Implikationen eines frühen Onanie- oder eben auch Berührungsverbots: 60 61 62 63 64 65

Ebd., S. 76f. Ebd., S. 77. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ebd.

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»Zu allem Anfang, in ganz früher Kinderzeit, äußerte sich eine starke Berührungslust, deren Ziel weit spezialisierter war, als man geneigt wäre anzuerkennen. Dieser Lust trat alsbald von außen [Hervorhebung durch Freud] ein Verbot entgegen, gerade diese Berührung nicht auszuführen (beide, Lust und Verbot, bezogen sich auf die Berührung der eigenen Genitalien). Das Verbot wurde aufgenommen, denn es konnte sich auf starke innere Kräfte stützen (auf die Beziehung zu den geliebten Personen, von denen das Verbot gegeben wurde); es erwies sich stärker als der Trieb, der sich in der Berührung äußern wollte. Aber infolge der primitiven psychischen Konstitution des Kindes gelang es dem Verbot nicht, den Trieb aufzuheben. Der Erfolg des Verbotes war nur, den Trieb – die Berührungslust – zu verdrängen und ihn ins Unbewusste zu verbannen. Verbot und Trieb blieben beide erhalten; der Trieb, weil er nur verdrängt, nicht aufgehoben war, das Verbot, weil mit seinem Aufhören der Trieb zum Bewusstsein und zur Ausführung durchgedrungen wäre. Es war eine unerledigte Situation, eine psychische Fixierung [eig. Anm.: Man rufe sich Lorenzers ausführliche Schilderung von Fixierungsmechanismen vermittels von Interaktionsformen ins Gedächtnis] geschaffen, und aus dem fortdauernden Konflikt von Verbot und Trieb leitet sich nun alles Weitere ab. Der Hauptcharakter der psychischen Konstellation, die so fixiert [eig. Hervorhebung] worden ist, liegt in dem, was man das ambivalente Verhalten des Individuums gegen das eine Objekt, vielmehr die eine Handlung an ihm, heißen könnte.«66,67 Diese Ambivalenz in der Haltung gegenüber einem Objekt oder einer Person, oder schlicht: der sich darauf erstreckenden Handlungsweise, findet sich aber in jedem Beispiel einer Triebrepression, die den Trieb lediglich verdrängt – und ihn nicht etwa sublimiert oder anderweitig modifiziert. Im Falle der individuell-neurotischen Zwangsverbote wie der kulturellen Tabus handelt es sich demnach um Phänomene der Triebrepression, die mit Verdrängung einhergehen. Die mit der Verdrängung einhergehende Ambivalenz ist also eigentlich eine Form von Berührungsangst, die aus einer verbotenen Berührlust herrührt; beide bestehen nebeneinander fort, jedoch »im Seelenleben so lokalisiert […], daß sie nicht zusammenstoßen können«68 . Das heißt: »Das Verbot wird laut bewußt, die fortdauernde Berührungslust ist unbewußt, die Person weiß nichts von ihr.«69 So verdanke das Verbot seine Stärke, den ›Zwangscharakter‹, »gerade der Beziehung zu seinem unbewußten Gegenpart, der im Verborgenen ungedämpften Lust«70 . »Die Trieblust verschiebt sich beständig, um der Absperrung, in der sie sich befindet, zu entgehen, und sucht Surrogate für das Verbotene – Ersatzobjekte und Ersatzhandlungen – zu gewinnen. Darum wandert auch das Verbot und dehnt sich auf die neuen Ziele der verpönten Regung aus. Jeden neuen Vorstoß der verdrängten Libido beantwortet das Verbot mit einer neuen Verschärfung. Die gegenseitige Hemmung der 66 67

68 69 70

Ebd., S. 77f. Eig. Anm.: Freuds im Originaltext in Fußnoten gegebene Anmerkungen wurden hier im Zitat zur besseren Lesbarkeit in runde Klammern in den Fließtext gesetzt, zudem Groß- und Kleinschreibung am Satzanfang entsprechend angepasst. Ebd., S. 78. Ebd. Ebd., S. 78f.

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beiden ringenden Mächte erzeugt ein Bedürfnis nach Abfuhr, nach Verringerung der herrschenden Spannung, in welchem man die Motivierung der Zwangshandlungen erkennen darf. Diese sind bei der Neurose deutlich Kompromißaktionen, in der einen Ansicht Bezeugungen von Reue, Bemühungen zur Sühne u. dgl., in der anderen aber gleichzeitig Ersatzhandlungen, welche den Trieb für das Verbotene entschädigen.«71 So wie sich hinter der individuellen Zwangskrankheit die scheinbare Abwehr einer Person oder eines Objektes verbirgt, die Angst sie oder es zu berühren, oder generell in Kontakt gleich welcher Art mit ihr oder damit zu kommen (welche gepaart ist mit einer unbewussten Lust genau dieses zu tun), so begegnet im Tabu dasselbe Phänomen lediglich in einem kollektiven Rahmen. Um aus dieser Perspektive noch einmal auf das von Freud gegebene Beispiel der Patientin zurückzukommen: In ihr müsste also eine unbewusste – aber verbotene – Lust zu einer bestimmten Handlung (oder aber auch eine Lust etwas oder jemanden zu ›berühren‹, also damit oder mit einer Person auf bestimmte Weise in Kontakt zu treten ganz allgemein) verborgen sein. Diese Lust transformierte sich aufgrund eines individuellen oder kollektiven Verbots in eine übertriebene Angst, gerade an dieses Bedürfnis erinnert zu werden. Im Fall des Maori-Häuptlings wiederum bedeutet das, dass in ihm wohl der Wunsch verborgen gewesen sein dürfte, sich als Gleicher unter Gleiche zu begeben und Kontakt zu seinen ›Untertanen‹ aufzunehmen, welchen jedoch das Tabu verwehrt, um die soziale Differenz aufrecht zu halten. Aber auch umgekehrt signalisiert das kollektive Tabu hier das Ausmaß an Furcht vor dem Häuptling seitens der Untertanen, das vermutlich dem in deren Unbewussten verborgenen Grad an Lust entspricht, ihn zu ›berühren‹ (und damit ihn seines heiligen Charakters und seiner sozialen Ausnahmestellung zu berauben). In beiden Fällen muss der Wunsch nach ›Berührung‹ unterbunden werden, weil er die individuelle Lebenssituation oder die kollektive Ordnung gefährden würde. Deshalb wird das Zwangsverbot (oder eben das Tabu) verschoben auch auf Objekte, Begebenheiten oder Personen, die nur auf entfernte Weise oder rein gedanklich in Zusammenhang mit dem eigentlich Gemiedenen gebracht werden können. Es gilt vorzubeugen, dass der hinter dem Verbot sich verbergende Ambivalenzkonflikt ins Bewusstsein tritt – oder aber, dass schlicht das Verbot übertreten wird, wodurch sich eine unheilvolle Wirkung entfalten könnte. Bezogen auf das Tabu heißt das: »Wir werden so aufmerksam gemacht, dass der gefährlichen Zauberkraft des ›Mana‹, zweierlei reale Fähigkeiten entsprechen, die Eignung, den Menschen an seine verbotenen Wünsche zu erinnern, und die scheinbar bedeutsamere, ihn zur Übertretung des Verbotes im Dienste dieser Wünsche zu verleiten.«72 Die ausgemachten Parallelen vom Zwangsverbot zum Tabu erlauben es Freud also, das Tabu, trotz des kollektiven und kulturellen Rahmens, den es im Gegensatz zu jenem aufweist, psychoanalytisch zu verstehen. Diesbezüglich kommt er zu dem vorläufigen Schluss: »Fassen wir nun zusammen, welches Verständnis des Tabu sich uns aus der Gleichstellung mit dem Zwangsverbot des Neurotikers ergeben hat: Das Tabu ist ein uraltes Verbot, von außen (von einer Autorität) aufgedrängt und gegen die stärksten Gelüste 71 72

Ebd., S. 79. Ebd., S. 82f.

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der Menschheit gerichtet. Die Lust, es zu übertreten, besteht in deren Unbewußtem fort; die Menschen, die dem Tabu gehorchen, haben eine ambivalente Einstellung gegen das vom Tabu Betroffene. Die dem Tabu zugeschriebene Zauberkraft führt sich auf die Fähigkeit zurück, die Menschen in Versuchung zu führen; sie benimmt sich wie eine Ansteckung, weil das Beispiel ansteckend ist und weil sich das verbotene Gelüste im Unbewußten auf anderes verschiebt. Die Sühne der Übertretung des Tabu durch einen Verzicht erweist, daß der Befolgung des Tabu ein Verzicht zugrunde lag.«73 Einmal zu dieser Einsicht gelangt, geht Freud im Anschluss dazu über, die vielgestaltigen Tabus hinsichtlich der hinter ihnen sich verbergenden Ambivalenzen zu prüfen. Dazu beruft er sich auf ethnologische Beispiele aus aller Welt zu Tabus insbesondere auf die Behandlung von Feinden, auf das Verhalten von und gegenüber Herrschenden sowie auf die Haltung gegenüber Toten. Was die Behandlung der Feinde betrifft, so ließen sich die Vorschriften im Wesentlichen in vier Gruppen bringen: »1. Versöhnung des getöteten Feindes, 2. Beschränkungen und 3. Sühnehandlungen, Reinigungen des Mörders und 4. gewisse zeremonielle Vornahmen.«74 Die Ambivalenz zeige sich darin, »daß im Benehmen gegen die Feinde noch andere als bloß feindselige Regungen zum Ausdruck kommen.«75 Nämlich: »Äußerungen der Reue, der Wertschätzung des Feindes, des bösen Gewissens, ihn ums Leben gebracht zu haben«76 .77 »Wenn die Osagen, bemerkt ein Gewährsmann, ihre eigenen Toten betrauert hatten, so trauerten sie um den Feind, als ob er ein Freund gewesen wäre.«78 Ähnlich verhalte es sich auf Timor; der getötete Feind werde nach dem Kampf beklagt und in einem Gesang um Verzeihung gebeten: »Zürne uns nicht […]. Wären wir nicht besser Freunde geblieben? Dann wäre dein Blut nicht vergossen worden […].«79 »Vor jeder Gesetzgebung, die aus den Händen eines Gottes empfangen wird«80 , sei also auch hier »das Gebot lebendig: Du sollst nicht töten, welches nicht ungestraft verletzt werden darf«81 . Zahlreiche Beispiele zeremonieller Selbstbestrafung

73 74 75 76 77

78 79 80 81

Ebd., S. 83. Ebd., S. 85. Ebd., S. 87. Ebd., S. 88. Sigmund Freud: »Bei mehreren der […] Stämme Nordamerikas ist die Trauer um den erschlagenen und skalpierten Feind den Beobachtern aufgefallen. Wenn ein Choctaw einen Feind getötet hatte, so begann für ihn eine monatelange Trauer, während welcher er sich schweren Einschränkungen unterwarf.« In: ebd., S. 86f. Des Weiteren: »Ähnliches findet sich bei den Palu in Celebes; die Gallas opfern den Geistern ihrer erschlagenen Feinde, ehe sie ihr Heimatdorf betreten. […] Andere Völker haben das Mittel gefunden, um aus ihren früheren Feinden nach dem Tod Freunde, Wächter und Beschützer zu machen. Es besteht in der zärtlichen Behandlung der abgeschnittenen Köpfe […]. Wenn die See-Dayaks von Sarawk von einem Kriegszug einen Kopf nach Hause bringen, so wird dieser Monate hindurch mit der ausgesuchtesten Liebenswürdigkeit behandelt und mit den zärtlichsten Namen angesprochen über die ihre Sprache verfügt. […] Man würde sehr irregehen, wenn man an dieser uns gräßlich erscheinenden Behandlung dem Hohn einen Anteil zuschriebe.« In: ebd., S. 86. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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und -reinigung führt Freud an. Während derer gilt der Schuldige seiner Gemeinschaft selbst als tabu: »Bei einigen Dayakstämmen müssen die vom erfolgreichen Kriegszug Heimkehrenden einige Tage lang abgesondert [eig. Anm.: ›vereinzelt‹, ›sozial exkludiert‹] bleiben und sich gewisser Speisen enthalten, sie dürfen auch kein Essen berühren und bleiben ihren Frauen fern. – In Logea, einer Insel nahe Neuguinea, schließen sich die Männer, die Feinde getötet oder daran teilgenommen haben, für eine Woche in ihren Häusern ein. Sie vermeiden jeden Umgang mit ihren Frauen und ihren Freunden, rühren Nahrungsmittel nicht mit ihren Händen an und nähren sich nur von Pflanzenkost, die in besonderen Gefäßen für sie gekocht wird.«82 Erstaunlicherweise erinnerten einige der Tabus, denen frühe Herrscher sich zu fügen hatten, deutlich an jene Beschränkungen, die Mördern auferlegt sind. Sie haben sich von der Gemeinschaft fern zu halten, lebten gesondert, und mussten diverse Regeln hinsichtlich ihrer Ernährung beachten.83 Die Härte der ihnen auferlegten Tabus führte sogar dazu, dass die Priesterkönigswürde aufhörte »etwas Begehrenswertes zu sein; wem sie bevorstand, der wandte oft alle Mittel an, um ihr zu entgehen.«84 Die Tabus rund um die Herrschenden verraten damit auch die ihnen zugrunde liegende Ambivalenz der Gefühlsregung. Sie sind Ausdruck der Achtung, wie der Verachtung zugleich: »So ist auch das Tabuzeremoniell der Könige angeblich die höchste Ehrung und Sicherung derselben, eigentlich die Strafe für ihre Erhöhung, die Rache, welche die Untertanen nehmen.«85 Die Freiheit zu herrschen bezahle der Herrschende mit der Fesselung, die ihm die Tabus in Gestalt des Zeremoniells auferlegen. Eines der deutlichsten Beispiele hierfür gebe der japanische Mikado, der noch vor etlichen hundert Jahren den Boden zum Gehen nicht selbst berühren durfte; er habe stattdessen getragen werden müssen; darüber hinaus sollte er seinen Körper nicht der freien Luft aussetzen, und die Sonne sei es nicht wert auf ihn zu scheinen.86 »In noch früheren Zeiten mußte er jeden Vormittag einige Stunden lang mit der Kaiserkrone auf dem Haupte auf dem Throne sitzen, aber er mußte sitzen wie eine Statue, ohne Hände, Füße, Kopf oder Augen zu bewegen«.87 Noch deutlicher wird die Ambivalenz dem Herrscher gegenüber in früheren Stadien des Königtums. Freud zitiert Frazer: »Die Idee, daß urzeitliches Königstum ein Despotismus ist […] demzufolge das Volk nur für seinen Herrscher existiert, ist auf die Monarchien, die wir hier im Auge haben, ganz und gar nicht anwendbar. Im Gegenteile, in diesen lebt der Herrscher nur für seine Untertanen; sein Leben hat einen Wert nur so lange, als er die Pflichten seiner Stellung erfüllt, den Lauf der Natur zum Besten seines Volkes regelt. Sobald er darin nachläßt oder versagt, wandeln sich die Sorgfalt, die Hingebung, die religiöse Verehrung, deren Gegenstand er bisher im ausgiebigsten Maße war, in Haß und

82 83 84 85 86 87

Ebd., S. 88. Vgl. ebd., S. 95. Ebd., S. 96. Ebd., S. 101. Vgl. ebd., S. 94. Ebd., S. 94f.

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Verachtung. Er wird schmählich davongejagt und mag froh sein, wenn er das nackte Leben rettet. Heute noch als Gott verehrt, mag es ihm passieren, morgen als Verbrecher erschlagen zu werden.«88 So wie der Hass gegen den Feind mit freundlichen Neigungen zu ihm einhergeht, birgt die Ehrfurcht gegenüber dem Herrscher schon die Abscheu gegen ihn. Ähnlich ambivalent erweist sich das Tabu bezüglich der Toten. Wenngleich die Verstorbenen geliebt wurden, kommen in den Tabus, die mit ihnen verbunden sind, auch die unterdrückten Gefühle der Feindseligkeit zum Vorschein: »Wir wissen, dass die Toten mächtige Herrscher sind; wir werden erstaunt sein zu erfahren, daß sie als Feinde betrachtet werden.«89 Gerade die vielerorts anzutreffenden Vermeidungsregeln, wie etwa den Namen des Toten auszusprechen, weisen daraufhin dass der Angehörige nach seinem Tod, insbesondere aber seine Wiederkehr, gefürchtet wird.90 Auch verkleideten sich Verbliebene oftmals, entstellten den eigenen Namen oder den des Toten, »damit der Geist sie nicht erkenne«91 . »Es ist unmöglich, der Folgerung auszuweichen, daß sie, nach Wundts Ausdruck, an der Furcht ›vor seiner zum Dämon gewordenen Seele‹ leiden.«92 Diese Furcht aber erwächst aus den eigenen Ambivalenzen dem Toten gegenüber, dem stets nicht nur liebevolle Zuneigung, sondern auch unterdrückte oder offen gelebte Abneigung gegolten habe; seine Dämonie ist die auf ihn projizierte Ambivalenz der eigenen Gefühlsregung: »Für das unbewußte Denken ist auch der ein Gemordeter, der eines natürlichen Todes gestorben ist; die bösen Wünsche haben ihn getötet.«93 Die Feindseligkeit, die den Verbliebenen oft unbewusst ist, und neben den zärtlichen Gefühlsregungen dem Verstorbenen gegenüber immer auch bestanden hatte, »wird aus der inneren Wahrnehmung in die Außenwelt geworfen, dabei von der eigenen Person gelöst und der anderen zugeworfen«94 . Dämonen seien daher ursprünglich stets als die Geister kürzlich Verstorbener verstanden worden; und der Trauer kam die Rolle zu, »die Erinnerungen und Erwartungen der Überlebenden von den Toten zu lösen.«95 Erst nach dieser auch mit Entbehrungen verbundenen Trauerzeit lasse neben dem Schmerz auch die Reue und die Vorwürfe gegenüber dem Toten nach – und damit die Angst vor seiner Dämonie. »Dieselben Geister aber, die zunächst als Dämonen gefürchtet wurden, gehen nun der freundlicheren Bestimmung entgegen, als Ahnen verehrt und zur Hilfeleistung angerufen zu werden.«96 Diese auch hier mit dem Tabu auf die Toten verbundene Ambivalenz lasse im Laufe der Kulturentwicklung deutlich nach, der seelische Aufwand feindselige wie zärtliche Haltungen gegenüber dem Toten in Ausgleich zu bringen, sei allenfalls noch zu erahnen unter der an ihre Stelle getretenen Pietät; sie ist ein schwacher Abklatsch der früher

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James G. Frazer, The Golden Bough, II, Taboo and the Perils of the Soul, Chapter »The Burden of Royality«, S. 7, zitiert nach Sigmund Freud; in: ebd., S. 93. Ebd., S. 102. Vgl. ebd., S. 106ff. Ebd., S. 108. Ebd. Ebd., S. 112. Ebd., S. 113. Ebd., S. 116. Ebd.

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so extremen Formen des Trauerns, die den Hinterbliebenen schwere Beschränkungen aufbürdete, welche oft einer zeitweiligen Isolation von der Gemeinschaft gleichkamen. Damit einhergehend verliere auf späteren Kulturstufen der Tote sowohl seine Dämonie, als auch die Funktion als Schutzgeist.97 »Nur die Neurotiker trüben noch die Trauer um den Verlust eines ihrer Teuren durch Anfälle von Zwangsvorwürfen, welche in der Psychoanalyse die alte ambivalente Gefühlseinstellung als ihr Geheimnis verraten. […] Aber man könnte durch dieses Beispiel auch zur Annahme geführt werden, es sei den Seelenregungen [….] [früherer Kulturstufen, eig. Anm.] ein höheres Maß von Ambivalenz zuzugestehen, als bei dem heute lebenden Kulturmenschen aufzufinden ist. Mit der Abnahme dieser Ambivalenz schwand auch langsam das Tabu, das Kompromisssymptom des Ambivalenzkonfliktes. Von den Neurotikern, welche genötigt sind, diesen Kampf und das aus ihm hervorgehende Tabu zu reproduzieren, würden wir sagen, daß sie eine archaistische Konstitution als atavistischen Rest mit sich gebracht haben, deren Kompensation im Dienste der Kulturanforderungen sie nun zu so ungeheuerlichem seelischen Aufwand zwingt. [Hervorhebungen durch Freud]98 Hier aber gilt es etwaigen Missverständnissen vorzubeugen: Freud setzt abermals nicht die Tabus und die Zwangsverbote der Neurose in eins, sondern benennt den um beide sich formierenden Ambivalenzkonflikt als zentrales Moment. Tabus und Zwangsverbote bleiben verschieden, obgleich sie sich aus einer gemeinsamen Wurzel entwickeln: aus Triebrepression nämlich, die mit Verdrängung einhergeht. Genau diese gemeinsame Wurzel aber (Triebrepression, welche auf Verdrängung basiert und damit die ihr widersprechenden Impulse nicht auslöscht, sondern nachhaltig im Unbewussten fixiert) bildet den Ausgangspunkt eines jeglichen Ambivalenzkonflikts. Eine Fixierung wird geschaffen, deren Ursprung ja auch Lorenzer so eindrücklich im Kontext von Verinnerlichungen konfliktuöser Interaktionserfahrungen dargelegt hatte. Während dieser Vorgang der Fixierung widersprüchlicher Impulse (und damit: der Erzeugung des Ambivalenzkonflikts) vermittels von Tabus nun aber zu Beginn der Kulturentwicklung ein kollektives Phänomen ist, ist es im Falle der Neurose ein individuelles – und findet innerhalb der bereits entfalteten Kultur statt, und zwar als Resultat individueller Weigerung, allgemein verbindliche, handlungsleitende Normen vollgültig zu akzeptieren. Diese Weigerung freilich ist eine Form des Leidens an der Kultur, zumindest aber eine Form des ›Unbehagens in der Kultur‹ – womit Freud hier eigentlich den Bogen zu seiner Schrift desselben Titels schlägt. Die Neurose erwiese sich damit als individueller und unproduktiver Ausdruck des Leidens an der Kultur, wohingegen die ebenfalls auf diesen Konflikt des Individuums mit der Gesellschaft zurückgehenden kulturellen Schöpfungen als Ausdruck kollektiven, aber produktiven Leidens an der Kultur verstanden werden müssten. Ausprägungen neurotischer Symptome zeigten daher erstaunliche Ähnlichkeiten zu Kulturbildungen kollektiven Charakters:

97 98

Vgl. ebd., S. 117. Ebd., S. 124.

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»An dem einen Beispiele vom Vergleich des Tabu mit der Zwangsneurose lässt sich bereits erraten, welches das Verhältnis der einzelnen Formen von Neurose zu den Kulturbildungen ist und wodurch das Studium der Neurosenpsychologie für das Verständnis der Kulturentwicklung wichtig wird. Die Neurosen zeigen einerseits auffällige und tiefreichende Übereinstimmungen mit den großen sozialen Produktionen der Kunst, der Religion, und der Philosophie, andererseits erscheinen sie wie Verzerrungen derselben. Man könnte den Ausspruch wagen, eine Hysterie sei ein Zerrbild einer Kunstschöpfung, eine Zwangsneurose ein Zerrbild einer Religion, ein paranoischer Wahn ein Zerrbild eines philosophischen Systems. Diese Abweichung führt sich in letzter Auflösung darauf zurück, dass die Neurosen asoziale Bildungen sind; sie suchen mit privaten Mitteln das zu leisten, was in der Gesellschaft durch kollektive Arbeit entstand. […] Genetisch ergibt sich die asoziale Natur der Neurose aus deren ursprünglichster Tendenz, sich aus einer unbefriedigenden Realität in eine lustvollere Phantasiewelt zu flüchten.«99 Die Ersetzung des Lustprinzips durch kulturell spezifische Ausprägungen des Realitätsprinzips begegnet also auch hier wieder als eigentliche Quelle von Triebrepression (welche sich im Falle neurotischer Strukturierung von Psyche vermittels individueller Zwangsverbote lediglich in anderer Gestalt niederschlägt als im Beispiel kollektiver psychostruktureller Prägung, die ja ihre Wurzel in den Tabus einer allgemein verbindlichen kulturellen Ordnung hat). In einem weiteren Schritt, immer noch die eigentliche Aufklärung des Verhältnisses von Totem und Tabu vor Augen, geht Freud nun dazu über, die offensichtlichen Ähnlichkeiten zwischen der individuellen Gedankenwelt der Neurose mit dem kollektiven gedanklichen System zu vergleichen, das allerorten unter dem Totemismus zur Ausprägung gelangte. Beide nämlich zentrieren sich um magisches Denken bzw. um die ›Allmacht der Gedanken‹. Das magische Denken im Totemismus erweist sich als kollektive Schöpfung, insofern es ein Weltbild konstituiert – und zwar das, des Animismus. Der Animismus bevölkere die Welt mit einer Unzahl von Wesen, die wohlwollend oder übelgesinnt seien; Pflanzen, Tiere, Menschen und die unbelebte Natur würden beseelt.100 Diese Seelen könnten ihre Heimstätte verlassen und in andere Wesen oder Dinge einziehen; sie seien Träger geistiger Tätigkeiten und von den Leibern weitgehend unabhängig.101 Freud sieht im Animismus eines der großen ›Denksysteme‹ welche die Menschheit hervorgebracht hat – und wohl auch ihr ursprünglichstes. Er verweist zudem auf Wundt, der im Animismus das geistige Äquivalent zum ›menschlichen Naturzustand‹ sah.102 Ein Denksystem aber sei der Animismus, denn »er gibt nicht nur die Erklärung eines einzelnen Phänomens, sondern gestattet es, das Ganze der Welt als einen einzigen Zusammenhang, aus einem Punkte zu begreifen.«103 Grundlegende psychische Mechanismen, wie etwa die Projektion, bildeten den Ausgangspunkt des animistischen Systems (gemeint ist damit etwa die Entäußerung innerer Seelenregungen 99 100 101 102 103

Ebd., S. 124. Vgl. ebd., S. 125f. Vgl. ebd., S. 126. Vgl. ebd., S. 127. Ebd., S. 127.

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auf die Phänomene der Welt, die eben diese verursacht haben). So begegnet der Mensch im Animismus überall in der Welt ihm wesensgleichen Phänomenen: Alles steht in Bezug zu ihm, und alles ist ihm verwandt. Freud äußert die Vermutung, dass die Spuren des Animismus bis in die Gegenwart reichten, »entweder entwertet in der Form des Aberglaubens oder lebendig als Grundlage unseres Sprechens, Glaubens und Philosophierens«104 . Denn der Animismus, der auch die Voraussetzungen zum mythologischen Weltbild gebe, wachse sich im Zuge weiterer Differenzierung aus zur religiösen und schließlich zur wissenschaftlichen Weltanschauung.105 Hinter den genannten Weltbildern stehe aber nicht allein der Versuch, sich die Welt zu erklären, sondern das »praktische Bedürfnis sich der Welt zu bemächtigen«106 . So könne die Stellung der Magie im animistischen Weltbild analog zur Stellung der Technik im wissenschaftlichen gefasst werden: Sie diene der Bemächtigung der Welt. Die Magie also ist die »Technik der animistischen Denkweise«107 . Zwei Formen der Magie unterscheidet Freud: imitative Magie und kontagiöse, wobei kontagiöse eigentlich imitative voraussetze.108 Imitative Magie nimmt festgestellte Ähnlichkeiten zur Voraussetzung, um dann aus einer vollzogenen Handlung auf ein erwartetes Geschehen zu schließen.109 Die allseits bekannten Beispiele von künstlich geschaffenen Figuren, denen die gedankliche Vorstellung des Feindes zugrunde liegt und deren Beschädigung dann zu Verletzungen des Feindes führen soll, etwa fielen darunter.110 Aber nicht nur Macht über Personen, sondern auch über Tiere oder gar Naturkräfte verspricht die imitative Magie: »Man erzeugt den Regen auf magische Weise indem man ihn imitiert«111 . »Es sieht aus als ob man ›regnen spielen‹ wollte.«112 Die japanischen Ainos etwa würden dazu Wasser aus Sieben ausgießen, in Schüsseln auf denen Schiffsattrappen schwämmen, und so um Dorf und Gärten herumziehen.113 Freud veranschaulicht auch hier noch einmal die weitere Differenzierung zum religiösen und schließlich wissenschaftlichen Weltbild, die ihren Ausgang vom Animismus nimmt: »Wenn ich [im Animismus, eig. Anm.] will, daß es regne, so brauche ich nur etwas zu tun, was wie Regen aussieht, oder an Regen erinnert. In einer weiteren Phase der Kulturentwicklung wird man anstatt dieses magischen Regenzaubers Bittgänge zum Gotteshaus veranstalten und den dort wohnenden Heiligen um Regen anflehen. Endlich wird man auch diese religiöse Technik aufgeben und dafür versuchen, durch welche Einwirkungen auf die Atmosphäre Regen erzeugt werden kann.«114 Kontagiöse Magie dahingegen unterscheidet sich von imitativer insofern, dass sie nicht allein auf die vordergründige Ähnlichkeit abzielt, sondern auf den etwas abstrakteren Zu104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114

Ebd., S. 127. Vgl. ebd., S. 128 und S. 139. Ebd., S. 128. Ebd., S. 136. Vgl. ebd., S. 134. Vgl. ebd., S. 131. Vgl. ebd., S. 130. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 131.

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sammenhang; beispielsweise würde im Fall kontagiöser Magie nicht eine Figur des Feindes geschaffen, die es zu verletzen gilt, sondern es würden Objekte benötigt, die mit ihm in Zusammenhang stehen, also etwa Haare, Fingernägel oder Gegenstände, welche schließlich dann dem neuen Besitzer Macht über diese Person einräumen.115 Anzuführen wäre auch das Beispiel magischer Formen des Kannibalismus: »Indem man Teile vom Leib einer Person durch den Akt des Verzehrens in sich aufnimmt, eignet man sich auch die Eigenschaften an, welche dieser Person gehört haben«116 . Der Zusammenhang kann auch noch abstrakter sein: Ein Melanesier zum Beispiel, der verwundet wurde durch einen Pfeil, werde, wenn er den Bogen erbeutet hat, dessen Pfeil ihn verwundete, diesen an einen kühlen Ort hängen »um so die Entzündung der Wunde niederzuhalten«117 ; bliebe der Bogen aber im Besitz der Feinde würden diese ihn übers Feuer halten, »damit die Wunde nur ja recht entzündet werde und brenne«118 . Das magische Denken ganz grundsätzlich entspinnt sich also im Falle seiner imitativen Ausrichtung anhand vorgestellter Ähnlichkeiten und im Falle seiner kontagiösen Ausrichtung aufgrund scheinbarer Zusammenhänge. In jedem Fall aber »stellt sich als Erklärung für all die Tollheit der magischen Vorschriften wirklich die Herrschaft der Ideenassoziation heraus«119 . Edward B. Tylor, so Freud, beschreibe ganz treffend als Grundzug der Magie: »mistaking an ideal connection for a real one.«120 Jener von Tylor vertretenen ›Assoziationstheorie der Magie‹ aber, welche in der Wissenschaft einen breiten Konsens finde, müsse man – so wiederum Freud – bescheinigen, dass sie »bloß die Wege aufklärt, welche die Magie geht, aber nicht deren eigentliches Wesen, nämlich nicht das Missverständnis, welches sie psychologische Gesetze an die Stelle natürlicher setzen heißt«121 . In beiden Grundformen der Magie, der imitativen wie kontagiösen, nämlich werde der hinter den Handlungen stehende bloße Wunsch offenbar; der Wunsch, dem die Befriedigung (sei es der Tod des Feindes, der ersehnte Regen etc.) in der Realität allerdings nicht gewährt wird; die Magie jedoch erlaube es nun die Befriedigung dieses Wunsches gleichsam halluzinatorisch zu erfahren (z.B. durch Stechen in die Puppe, die den Feind symbolisiert, durch Nachahmung des Regens usw.). Freud deutet hier bereits an, in welchem Ausmaß der dem magischen Denken Verhaftete dem Lustprinzip verschrieben bleibt – denn die Absicht, den in der Realität verwehrt bleibenden Wunsch gewissermaßen kompensatorisch in der Phantasie zu erfahren, ist gerade kennzeichnend für eben jenes Lustprinzip. Freud weist dabei des Weiteren darauf hin, dass das Kleinkind, das noch nicht gelernt habe, sich dem Realitätsprinzip zu fügen, sich desselben kompensatorischen Mittels bediene: »Für das Kind, welches sich unter analogen psychischen Bedingungen befindet, motorisch aber noch nicht leistungsfähig ist, haben wir an anderer Stelle die Annahme vertreten, dass es seine Wünsche halluzinatorisch befriedigt

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Vgl. ebd., S. 132. Ebd. Ebd., S. 132f. Ebd. Ebd., S. 133. Edward B. Tylor, The Magic Art, II, [ohne Orts- und Zeitangabe], S. 67 zitiert nach Sigmund Freud; ebd., S. 129. Ebd., S. 134.

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[…].«122 Der unter dem Eindruck des magischen Denkens Stehende unterscheide sich von jenem Kind lediglich hinsichtlich seiner bereits zur Ausbildung gelangten motorischen Fähigkeiten, fährt Freud fort; magische Handlungen seien in dieser Hinsicht »motorische Halluzinationen«.123 Ein solcher halluzinatorischer Vollzug des zu befriedigenden Wunsches mittels magischer Handlungen aber sei dem späteren »Spiele der Kinder völlig vergleichbar [Hervorhebung durch Freud]«124 . In beiden Fällen – also zum einen, der kindlich halluzinierten Wunscherfüllung und der später dann vor- und dargestellten im Spiel des Kindes, wie zum anderen, der magisch vollzogenen im animistischen Weltbild – handelt es sich somit um psychische Akte innerhalb des Lustprinzips, welches noch nicht durch die Anerkennung des Realitätsprinzips ersetzt wurde. Freud zieht hier also eine Parallele zwischen der ontogenetischen Einsetzung des Realitätsprinzips vermittels Differenzierung in der individuellen Entwicklung sowie der phylogenetischen Einsetzung des Realitätsprinzips vermittels kultureller Differenzierung in der kollektiven Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. So gelangt er schließlich auch zu einer Einbeziehung des bei Neurotikern zu beobachtenden verwandten Phänomens der »Allmacht der Gedanken«125 – denn auch der Neurotiker verweigere sich (wenn auch partiell) der vollgültigen Anerkennung des Realitätsprinzips. Sämtlich zu verorten sind all jene Varianten der Verweigerung der Anerkennung des Realitätsprinzips in einem psychischen Zustand, welcher unter dem Begriff des ›Narzissmus‹ bekannt sei.126 Der Narzissmus nämlich zeichnet sich durch eine Triebstruktur aus, innerhalb welcher der Eros sich mehr aufs eigene Ich beziehe und weniger auf Objekte in der äußeren Realität. Allmachtsvorstellungen seien die Folge. Die soziale Außenwelt wird nicht als unabhängig und eigenständig von ihrer Vorstellung in der psychischen Innenwelt wahrgenommen.127 Freud gelangt so zu einer psychoanalytischen Deutung kultureller Entwicklung, welche sich gerade im Hinblick auf ein Verständnis der Bedeutung von Totem und Tabu noch als bedeutsam erweisen wird: »Es entspricht dann zeitlich wie inhaltlich die animistische Phase dem Narzißmus, die religiöse Phase jener Stufe der Objektfindung, welche durch die Bindung an die Eltern charakterisiert ist, und die wissenschaftliche Phase hat ihr Gegenstück in jenem Reifezustand des Individuums, welcher auf das Lustprinzip verzichtet hat und unter Anpassung an die Realität sein Objekt in der Außenwelt sucht.«128 Immer aber, und dies gilt es vorläufig festzuhalten, zeichnet sich das Lustprinzip durch eine noch weitgehend repressionsfreie Triebstrukturierung aus. Psychische Implikationen, die sich durch Triebrepression ergeben – seien diese nun mehr kollektiv-kulturell über soziale Instanzen vermittelt, oder stärker individuell-sozialisatorisch seitens der Bezugspersonen ans kindliche Subjekt transportiert – tauchen in vollem Umfang erst mit der Einsetzung des Realitätsprinzips auf. Jene Einsetzung aber vollzieht sich im 122 123 124 125 126 127 128

Ebd. Ebd., S. 134f. Ebd., S. 135. Ebd., S. 140. Vgl. ebd., S. 139f. Vgl. ebd., S. 140. Ebd., S. 141.

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kollektiv-kulturellen Raum erstmals durch zunehmende Differenzierung vermittels der Taburegeln – wie analog dazu, im individuell-sozialisatorischen Feld, vermittels erster Differenzierungsmechanismen schon innerhalb der Dyade. Immer wird so analog zu einer äußerlich erfahrenen Differenzierung eine Komplexitätssteigerung auch der psychischen Innenwelt bewirkt. Freud wird also, um im Anschluss zu einer tiefergehenden Betrachtung der sich um Totem und Tabu entspinnenden psychosozialen Mechanismen gelangen zu können, erstaunliche Analogien aufzeigen zu einem Phänomen, das er ›die infantile Wiederkehr des Totemismus‹ nennt. Dazu ruft er zuerst noch einmal die zentralen Aspekte von Totem und Tabu ins Gedächtnis. Bezogen auf den Totem selbst schreibt er (unter Verweis auf James G. Frazer, Totemism, Bd. I, 1. Aufsatz, Edinburgh 1887): »Ein Totem […] ist ein materielles Objekt, welchem […] [ein Totemanhänger] einen abergläubischen Respekt bezeugt, weil er glaubt, daß zwischen seiner eigenen Person und jedem Ding dieser Gattung eine ganz besondere Beziehung besteht. Die Verbindung zwischen einem Menschen und seinem Totem ist eine wechselseitige, der Totem beschützt den Menschen, und der Mensch beweist seine Achtung vor dem Totem auf verschiedene Arten, so Z.B. daß er ihn nicht tötet, wenn es ein Tier, und nicht abpflückt, wenn es eine Pflanze ist. Der Totem unterscheidet sich vom Fetisch darin, daß er nie ein Einzelding ist wie dieser, sondern immer eine Gattung, in der Regel eine Tier- oder Pflanzenart, seltener eine Klasse von unbelebten Dingen und noch seltener von künstlich hergestellten Gegenständen. Man kann mindestens drei Arten von Totem unterscheiden: 1. den Stammestotem, an dem ein ganzer Stamm teilhat und der sich erblich von einer Generation auf die nächste überträgt; 2. den Geschlechtstotem, der allen männlichen oder allen weiblichen Mitgliedern eines Stammes mit Ausschluß des anderen Geschlechts angehört, und 3. den individuellen Totem, der einer einzelnen Person eignet und nicht auf deren Nachkommenschaft übergeht. Die beiden letzten Arten von Totem kommen an Bedeutung gegen den Stammestotem nicht in Betracht. Es sind, wenn nicht alles täuscht, späte und für das Wesen des Totem wenig bedeutsame Bildungen.«129 Freud fährt nun unter Berufung auf Frazer fort, der Stammes- oder Clantotem sei also Gegenstand der Verehrung einer Gruppe von Männern und Frauen, welche, unter dem Namen des Totem, sich für blutsverwandte Abkömmlinge eben desselben hielten und demnach durch gemeinsame Pflichten gegeneinander wie gegenüber dem Totem fest verbunden seien. Der Totemismus sei daher »sowohl ein religiöses wie ein soziales System«130 : religiös, weil er die Beziehungen zwischen einem Menschen und seinem Totem im Sinne gegenseitiger Achtung und Schonung definiere; sozial, weil er die Verpflichtungen der Clanmitglieder gegeneinander und gegen andere Stämme regle. Zu den religiösen Verpflichtungen gehöre, den Totem nicht zu jagen, zu töten oder essen (insofern er ein Tier sei). Manchmal (gerade auch wenn er kein Tier ist), sei es auch verboten, ihn zu berühren, oder anzuschauen. All dieses in Berührung kommen (auch im übertragenen Sinn) mit dem Totem sei tabu, und strafe sich selbstwirkend mit Unheil 129 Ebd., S. 154f. 130 Ebd.

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oder Tod. Dafür könne der Stammesangehörige Schutz von seinem Totem erwarten, sowie Vorzeichen und Warnungen. In regelmäßigen Ritualen suche der Totemanhänger seine Verwandtschaft mit ihm zu betonen, indem er sich ihm gleich mache, sei es etwa durch das Tragen der Felle des Totems oder durch das Einritzen dessen Gestalt in die eigene Haut. Als solche feierliche Begebenheiten wären in erster Linie zu nennen Geburt, Männerweihe oder etwa Begräbnisse. Tänze und Laute, die den Totem nachahmen, würden dazu vollführt. Dies mache die religiöse Seite des Totemismus aus. Die soziale Seite aber offenbare sich in der Auffassung, alle Mitglieder eines Totemclans seien Brüder und Schwestern, dazu angehalten, sich gegenseitig zu helfen und zu schützen. Die Totembande seien stärker als die Familienbande in unserem Sinn, sie fielen mit diesen nicht zusammen, da die Übertragung des Totem in der Regel durch mütterliche Vererbung geschähe und ursprünglich wohl die väterliche Vererbung wohl gar nicht in Geltung war. Die entsprechende Tabubeschränkung aber bestehe in der Untersagung geschlechtlichen Verkehrs von Mitgliedern desselben Totemclans.131 »Dies ist die berühmte und rätselhafte mit dem Totemismus verbundene Exogamie [Hervorhebung durch Freud].«132 Freud fasst also zusammen: »Wenn wir durch all das hindurch, was später Fortbildung oder Abschwächung entsprechen mag, zu einer Charakteristik des ursprünglichen Totemismus gelangen wollen, so ergeben sich uns folgende wesentliche Züge: Die Totem waren ursprünglich nur Tiere, sie galten als die Ahnen der einzelnen Stämme. Der Totem vererbte sich nur in weiblicher Linie; es war verboten, den Totem zu töten (oder zu essen, was für primitive Verhältnisse zusammenfällt); es war den Totemgenossen verboten, Sexualverkehr miteinander zu pflegen [Hervorhebungen durch Freud].«133 Je mehr also die Vielschichtigkeit des Totemismus offenbar wird, desto rätselhafter schien die Frage, wie denn nun diese so verschiedenen Aspekte des Totemismus in Einklang miteinander zu bringen und zu erklären wären. In der Folge befasst sich Freud mit einer Reihe (hier nicht näher darzustellender) psychologischer wie soziologischer Erklärungsansätze (darunter auch der sehr bekannt gewordene Durkheims)134 , nur um aber auf deren offensichtliche Ausblendungen jeweils der sozialen oder eben der psychischen Dimension des Phänomens hinzuweisen.135 Freud beschreitet daher – anknüpfend an seine vorangegangenen Überlegungen und in der ihm eigenen Weise – einen völlig anders gearteten Weg zur Aufklärung des Totemismus: »Einen einzigen Lichtstrahl wirft die psychoanalytische Erfahrung in dieses Dunkel.«136 Freud führt dies näher aus: »Das Verhältnis des Kindes zum Tiere hat viel Ähnlichkeit mit dem des Primitiven zum Tiere. Das Kind zeigt noch keine Spur von jenem Hochmut, welcher dann den er-

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Vgl. ebd., S. 156f. Ebd., S. 157. Ebd., S. 158f. Siehe dazu: Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1981. Vgl. Sigmund Freud, »Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker«, a.a.O., S. 161-178. Ebd., S. 180.

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wachsenen Kulturmenschen bewegt, seine eigene Natur durch eine scharfe Grenzlinie von allem Animalischen abzusetzen. Es gesteht dem Tiere ohne Bedenken die volle Ebenbürtigkeit zu; im ungehemmten Bekennen zu seinen Bedürfnissen fühlt es sich wohl dem Tier verwandter als dem ihm wahrscheinlich rätselhaften Erwachsenen. In diesem ausgezeichneten Einverständnis zwischen Kind und Tier tritt nicht selten eine merkwürdige Störung auf. Das Kind beginnt plötzlich eine bestimmte Tierart zu fürchten und sich vor Berührung oder dem Anblick aller einzelnen dieser Art zu schützen. Es stellt sich das klinische Bild einer Tierphobie [Hervorhebung durch Freud] her, eine der häufigsten unter den psychoneurotischen Erkrankungen dieses Alters und vielleicht die früheste Form solcher Erkrankung. […] Manchmal werden Tiere, die dem Kind nur aus Bilderbuch und Märchenerzählung bekannt geworden sind, Objekte der unsinnigen und unmäßigen Angst, welche sich bei diesen Phobien zeigt; selten gelingt es einmal, die Wege zu erfahren, auf denen sich eine ungewöhnliche Wahl des Angsttieres vollzogen hat. […] Die Schwierigkeiten der Analyse mit Kindern in so zartem Alter sind wohl das Motiv der Unterlassung gewesen. […] Aber einige Fälle von solchen auf größere Tiere gerichteten Phobien haben sich der Analyse zugänglich erwiesen und so dem Untersucher ihr Geheimnis verraten. Es war in jedem Fall das nämliche: die Angst galt im Grunde dem Vater, wenn die untersuchten Kinder Knaben waren, und war nur auf das Tier verschoben worden [eig. Hervorhebung].«137 Die Angst des Kindes vor dem Vater aber ergibt sich aus dessen Funktion in Bezug auf die Mutter-Kind-Beziehung: Er drängt auf Differenzierung, allein schon weil er einen konturstiftenden Punkt außerhalb der stärker entdifferenzierten Dyade markiert. Er verkörpert das Realitätsprinzip (zumindest in der klassisch-bürgerlichen Gesellschaft) mitsamt dessen triebrepressiver Wirksamkeit, insofern er die ansonsten ausschließliche Bindung an die Mutter zu lockern bzw. zu erweitern drängt. Zur Veranschaulichung bezieht sich Freud auf Fallbeispiele aus der psychoanalytischen Praxis: »Im ersten Band des Jahrbuches für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen teilte ich die ›Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben‹ mit, welche mir der Vater des kleinen Patienten zur Verfügung gestellt hatte. Es war eine Angst vor Pferden, in deren Konsequenz der Knabe sich weigerte, auf die Straße zu gehen. Er äußerte die Befürchtung, das Pferd werde ins Zimmer kommen, werde ihn beißen. Es erwies sich, daß dies die Strafe für seinen Wunsch sein sollte, daß das Pferd umfallen (sterben) möge. Nachdem man dem Knaben durch Zusicherungen die Angst vor dem Vater benommen hatte, ergab es sich, daß er gegen Wünsche ankämpfte, die das Wegsein (Abreisen, Sterben) des Vaters zum Inhalt hatten. Er empfand den Vater, wie er überdeutlich zu erkennen gab, als Konkurrenten in der Gunst der Mutter […]. Er befand sich also in jener typischen Einstellung des männlichen Knaben zu den Eltern, welche wir als den ›Ödipus-Komplex‹ bezeichnen und in der wir den Kernkomplex der Neurosen überhaupt erkennen. Was wir neu aus der Analyse des ›kleinen Hans‹ erfahren, ist die für den Totemismus wertvolle Tatsache, daß das Kind unter solchen

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Ebd., S. 180f.

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Bedingungen einen Anteil seiner Gefühle von dem Vater weg auf ein Tier verschiebt. [Eig. Hervorhebungen]«138 Dabei befinde sich das Kind (angesichts der triebrepressiven, weil die Bindung an die Mutter störende Funktion des Vaters) psychisch in einer ganz ähnlichen Situation wie die unter dem Eindruck der ebenfalls triebrepressiven Tabuverbote stehenden: nämlich in einem Ambivalenzkonflikt. »Der aus der Nebenbuhlerschaft bei der Mutter hervorgehende Haß kann sich im Seelenleben des Knaben nicht ungehemmt ausbreiten, er hat mit der seit jeher bestehenden Zärtlichkeit und Bewunderung für dieselbe Person zu kämpfen«, so Freud; und weiter: »das Kind befindet sich in doppelsinniger – ambivalenter – Gefühlseinstellung gegen den Vater und schafft sich Erleichterung […], wenn es seine feindseligen und ängstlichen Gefühle auf ein Vatersurrogat verschiebt [Hervorhebung durch Freud].«139 »Man darf den Eindruck aussprechen, daß in diesen Tierphobien der Kinder gewisse Züge des Totemismus in negativer Ausprägung wiederkehren.«140 So also nähert sich Freud über das was er als ›infantile Wiederkehr des Totemismus‹ bezeichnet Schritt für Schritt der Aufklärung des eigentümlichen Zusammenhangs von Totem und Tabu. Davor allerdings kommt es Freud erst noch darauf an, eine drastische Ausprägung von infantilem Totemismus am Beispiel des kleinen Jungens Árpád zu geben, das er Ferenczi verdankt.141 Denn bei dem kleinen Árpád »von dem Ferenczi berichtet, erwachen die totemistischen Interessen allerdings nicht direkt im Zusammenhang des Ödipus-Komplexes, sondern aufgrund der narzißtischen Voraussetzung desselben, der Kastrationsangst«142 : »Als der kleine Árpád zweieinhalb Jahre alt war, versuchte er einmal in einem Sommeraufenthalte ins Geflügelhaus zu urinieren, wobei ihn ein Huhn ins Glied biß oder nach seinem Glied schnappte. Als er ein Jahr später an denselben Ort zurückkehrte, wurde er selbst zum Huhn, er interessierte sich nur mehr für das Geflügelhaus und alles, was darin vorging, und gab seine menschliche Sprache gegen Gackern und Krähen auf. Zur Zeit der Beobachtung (fünf Jahre) sprach er wieder, aber beschäftigte sich auch in der Rede ausschließlich nur mit Hühnern und anderem Geflügel. Er spielte mit keinem anderen Spielzeug, sang nur Lieder, in denen etwas vom Federvieh vorkam. Sein Benehmen gegen sein Totemtier war exquisit ambivalent, übermäßiges Hassen und Lieben. Am liebsten spielte er Hühnerschlachten. ›Das Schlachten des Federviehs ist ihm überhaupt ein Fest. Er ist imstande, stundenlang um die Tierleichen erregt herumzutanzen.‹ Aber dann küßte und streichelte er das geschlachtete Tier, reinigte und liebkoste die von ihm selbst misshandelten Ebenbilder von Hühnern. Der kleine Àrpád sorgte selbst dafür, daß der Sinn seines sonderbaren Treibens nicht verborgen bleiben konnte. Er übersetzte gelegentlich seine Wünsche aus der totemistischen Ausdrucksweise zurück in die des Alltagslebens. ›Mein Vater ist der 138 139 140 141

Ebd., S. 182f. Ebd., S. 183. Ebd. Sigmund Freud verweist ebd. auf: Sándor Ferenczi, »Ein kleiner Hahnemann«; in: Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychonalyse, I, 3, 1913. 142 Vgl. Sigmund Freud [1912-1913], »Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker«, a.a.O., S. 183f.

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Hahn‹, sagte er einmal. […] Er war sehr freigiebig mit Kastrationsandrohungen gegen andere, wie er sie wegen […] Beschäftigung mit seinem Gliede selbst erfahren hatte.«143 Freud hält nun fest: »[H]eben wir jetzt nur als wertvolle Übereinstimmungen mit dem Totemismus zwei Züge hervor: die volle Identifizierung mit dem Totemtier und die ambivalente Gefühlseinstellung gegen dasselbe.«144 »Wir halten uns nach diesen Beobachtungen für berechtigt, in die Formel des Totemismus – für den Mann – den Vater anstelle des Totemtieres einzusetzen.«145 Sodann öffne sich ein neuer Blick darauf, dass die Totemangehörigen den Totem als ihren Ahnherrn und Urvater bezeichneten; eine Aussage, mit der die Ethnologen bisher nicht viel mehr anzufangen gewusst hätten, als sie zur Kenntnis zu nehmen. Genau diesen Punkt aber gelte es hervorzukehren und an ihn die weiteren Aspekte des Totemismus anzuknüpfen, als da wären »die beiden Hauptgebote des Totemismus, die beiden Tabuvorschriften, die seinen Kern ausmachen, den Totem nicht zu töten und kein Weib, das dem Totem angehört, sexuell zu gebrauchen, [diese nämlich fallen] inhaltlich zusammen mit den beiden Verbrechen des Ödipus, der seinen Vater tötete und seine Mutter zum Weibe nahm […].«146 Jene dem Ödipus zugeschriebenen Verbrechen, aber fielen nicht nur in eins mit denjenigen Handlungen, auf die im Totemismus die schärfsten Tabus lägen, sondern auch mit den ersten Einschränkungen, die die Urwünsche des Kindes beträfen: Im Fall des Totemismus handelt es sich um ein Tötungsverbot hinsichtlich des vor allen anderen Tabus die Endogamie verbietenden Totemtieres – und im Fall kindlicher ›Urwünsche‹ um infantile Tötungsphantasien gegenüber dem Vater (und zwar aufgrund dessen die MutterKind-Bindung beschränkenden Funktion). Freud nähert sich nun seiner gleichsam so eigenwilligen wie überraschenden Deutung des Totemismus: »Mit anderen Worten, es müßte uns gelingen, wahrscheinlich zu machen, daß das totemistische System sich aus den Bedingungen des Ödipus-Komplexes ergeben hat«147 . »Um dieser Möglichkeit nachzugehen«, so Freud, »werden wir im folgenden eine Eigentümlichkeit des totemistischen Systems […] studieren, welche bisher kaum Erwähnung finden konnte.«148 Jene Eigentümlichkeit aber ist die sogenannte ›Totemmahlzeit‹, eine Opfer-Feier, in der die um Totem und Tabu sich formierenden soziokulturellen Mechanismen ihren symbolischen Ausdruck und rituellen Höhepunkt finden. Das Opfer, so Freud unter Berufung auf Robertson Smith, spiele »in allen Religionen die nämliche Rolle, so daß man seine Entstehung auf sehr allgemeine und überall gleichartig wirkende Ursachen zurückführen muß.«149 Freud führt dies näher aus: »Das Opfer war nachweisbar zuerst nichts anderes als […] ein Akt der Geselligkeit, eine Kommunion der Gläubigen mit ihrem Gotte. Als Opfer wurden dargebracht essbare und trinkbare Dinge; dasselbe, wovon der Mensch sich nährte, Fleisch, Zerealien, 143 144 145 146 147 148 149

Ebd., S. 184f. Ebd., S. 185. Ebd. Ebd., S. 186. Ebd. Ebd. Ebd., S. 187.

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Früchte, Wein und Öl, das opferte er auch seinem Gotte. Nur in bezug auf das Opferfleisch bestanden Einschränkungen und Abweichungen. Von den Tieropfern speist der Gott gemeinsam mit seinen Anbetern, die vegetabilischen Opfer sind ihm allein überlassen. Es ist kein Zweifel, dass die Tieropfer die älteren sind und einmal die einzigen waren. Die vegetabilen Opfer sind aus der Darbringung der Erstlinge aller Früchte hervorgegangen und entsprechen einem Tribut an den Herrn des Bodens und des Landes. Das Tieropfer ist aber älter als der Ackerbau.«150 Das Tieropfer setzte sich zusammen aus einem Mahlopfer und einem ›Trinkopfer‹: dem Fleisch und dem Blut des Opfertieres, das gemeinsam genossen wurde. »Die Substanz des Trinkopfers war ursprünglich das Blut der Opfertiere; Wein wurde später der Ersatz des Blutes. Der Wein galt den Alten als das ›Blut der Rebe‹, wie ihn unsere Dichter noch heute heißen.«151 Und bezogen auf das Mahl galt: »Es war wesentlich, dass jeder Teilnehmer seinen Anteil an der Mahlzeit erhalte.«152 Zugrunde lagen dem »Vorstellungen über die Bedeutung des gemeinsamen Essens und Trinkens«; dies war »gleichzeitig ein Symbol und eine Bekräftigung von sozialer Gemeinschaft und von Übernahme gegenseitiger Verpflichtungen«153 . Dementsprechend sei ein solches Opfer immer auch eine öffentliche Zeremonie, nämlich das Fest des gesamten Clans gewesen. Religiöse wie soziale Verpflichtungen fanden in ihm ihren höchsten Ausdruck. Und noch heute fielen Opfer und Festlichkeit bei allen Völkern zusammen; »jedes Opfer bringt ein Fest mit sich, und kein Fest kann ohne Opfer gefeiert werden.«154 Freud fragt sich nun: »Warum aber wird dem gemeinsamen Essen und Trinken diese bindende Kraft zugeschrieben? [Eig. Hervorhebung]« – und macht sich wie folgt an die Antwort: »In den primitivsten Gemeinschaften gibt es nur ein Band, welches unbedingt und ausnahmslos einigt, das der Stammesgemeinschaft (kinship)«155 : Die Mitglieder dieser Gemeinschaft träten solidarisch füreinander ein; »ein Kin ist eine Gruppe von Personen deren Leben solcherart zu einer physischen Einheit verbunden sind, dass man sie wie Stücke eines gemeinsamen Lebens betrachten kann. [Eig. Hervorhebung]«156 »Kinship bedeutet also einen Anteil haben an einer gemeinsamen Substanz [Eigene Hervorhebung]«157 : »Es ist dann natürlich, daß sie [die gemeinsame Substanz] nicht nur auf die Tatsache gegründet wird, daß man ein Teil von der Substanz seiner Mutter ist, von der man geboren und mit deren Milch man genährt wird, sondern daß auch die Nahrung, die man späterhin genießt und durch die man seinen Körper erneuert, Kinship [Kursivsetzung durch Freud] erwerben und bestärken kann.«158 Es wird also an dieser Passage deutlich, wie nicht nur das Gemeinsame der Dyade hier ins Gemeinsame im sozialen Raum (›Kinship‹) hinein seine Fortsetzung findet, son150 151 152 153 154 155 156 157 158

Ebd. Ebd., S. 188. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 189. Ebd. Ebd. Ebd.

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dern auch, wie sehr es zuallererst mit den grundlegenden leiblichen Bedürfnissen verschmolzen ist. Dieses Gemeinsame geht auch im sozialen Raum so weit, dass kaum mehr eine Differenzierung in einzelne Individuen ausgemacht werden kann: »Es heißt dann beim Mord eines einzelnen aus dem Kin nicht: das Blut dieses oder jenes ist vergossen worden, sondern unser Blut ist vergossen worden.«159 Das Opferfest aber erneuerte regelmäßig die enge Bindung im Kin: »Die Opfermahlzeit war also ursprünglich ein Festmahl von Stammverwandten« und drückte »die Überzeugung aus, daß man von einem Stoff […] sei.«160 Bezogen auf das Opfertier treibt Freud nun diese Überlegung weiter: »Es leidet nicht den leisesten Zweifel, sagt Robertson Smith, daß jedes Opfer ursprünglich Clanopfer war, und daß das Töten eines Schlachtopfers ursprünglich zu jenen Handlungen gehörte, die dem einzelnen verboten sind und dann gerechtfertigt werden, wenn der ganze Stamm die Verantwortung mit übernimmt [Hervorhebung durch Freud].«161 Es gäbe aber bei Stammesgemeinschaften nur eine Klasse von Handlungen, für welche diese Charakteristik ebenfalls zutrifft, »nämlich Handlungen, welche an die Heiligkeit des dem Stamme gemeinsamen Blutes rühren.«162 Das heißt, ein »Leben, welches kein einzelner wegnehmen darf und das nur durch die Zustimmung, unter der Teilnahme aller Clangenossen geopfert werden kann, steht auf der selben Stufe wie das der Stammesgenossen selbst.«163 »Mit anderen Worten: Das Opfertier wurde behandelt wie ein Stammverwandter, die opfernde Gemeinde, ihr Gott und das Opfertier waren eines Blutes, Mitglieder eines Clans. [Hervorhebung durch Freud]«164 Sprich: »Das Opfer war ein Sakrament, das Opfertier selbst ein Stammesgenosse. Es war in Wirklichkeit das alte Totemtier, der primitive Gott selbst, durch dessen Tötung und Verzehrung die Clangenossen ihre Gottähnlichkeit auffrischten und versicherten.«165,166 »Stellen wir uns nun die Szene einer solchen Totemmahlzeit vor und statten sie sie noch mit einigen wahrscheinlichen Zügen aus, die bisher nicht gewürdigt werden 159 160 161 162 163 164 165 166

Ebd. Ebd. Ebd., S. 190. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 192. »Das Zeremoniell einer solchen Totemmahlzeit, meinte er [eig. Anm.: Freud bezieht sich hier auf Robertson W. Smith; in: ders., The Religion of the Semites, Sec. Ed., London 1894], sei uns in der Beschreibung eines Opfers aus späteren Zeiten erhalten. Der hl. Nilus berichtet von einer Opfersitte der Beduinen in der sinaitischen Wüste um das Ende des vierten Jahrunhunderts nach Christi Geburt. Das Opfer, ein Kamel, wurde gebunden auf einen rohen Altar von Steinen gelegt; der Anführer des Stammes ließ die Teilnehmer dreimal unter Gesängen um den Altar herumgehen, brachte dem Tier die erste Wunde bei und trank gierig das hervorquellende Blut; dann stürzte sich die ganze Gemeinde auf das Opfer hieb mit den Schwertern Stücke […] los und verzehrte sie roh in solcher Hast, daß in der kurzen Zwischenzeit zwischen dem Aufgang des Morgensterns, dem dieses Opfer galt, und dem Erblassen des Gestirns vor den Sonnenstrahlen alles vom Opfertier, Leib, Knochen, Haut, Fleisch und Eingeweide, vertilgt war. Dieser barbarische, von höchster Altertümlichkeit zeugende Ritus war allen Beweismitteln nach kein vereinzelter Gebrauch, sondern die allgemeine, ursprüngliche Form des Totemopfers, die in späterer Zeit die verschiedensten Abschwächungen erfuhr.« In: ebd., S. 192f.

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konnten. Der Clan, der sein Totemtier bei feierlichem Anlasse auf grausame Art tötet und es roh verzehrt, Blut, Fleisch und Knochen; dabei sind die Stammesgenossen in die Ähnlichkeit des Totem verkleidet, imitieren es in Lauten und Bewegungen, als ob sie seine und ihre Identität betonen wollten. Es ist das Bewußtsein dabei, daß man eine jedem einzeln verbotene Handlung ausführt, die nur durch Teilnahme aller gerechtfertigt werden kann; es darf sich auch keiner von der Tötung und der Mahlzeit ausschließen. Nach der Tat wird das hingemordete Tier beweint und beklagt. Die Totenklage ist eine zwangsmäßige, durch die Furcht vor einer drohenden Vergeltung erzwungene, ihre Hauptabsicht geht dahin, wie Robertson Smith bei einer analogen Gelegenheit bemerkt, die Verantwortlichkeit für die Tötung von sich abzuwälzen. Aber nach dieser Trauer folgt die lauteste Festfreude, die Entfesselung aller Triebe und Gestattung aller Befriedigungen. Die Einsicht in das Wesen des Festes fällt uns hier ohne Mühe zu. Ein Fest ist ein gestatteter, vielmehr ein gebotener Exzeß, ein feierlicher Durchbruch eines Verbotes. Nicht weil die Menschen infolge irgendeiner Vorschrift froh gestimmt sind, begehen sie die Ausschreitungen, sondern der Exzeß liegt im Wesen des Festes; die festliche Stimmung wird durch die Freigebung des sonst Verbotenen erzeugt. [Hervorhebung durch Freud].«167 Durkheim schildert im Übrigen die Totemmahlzeit (also das ausnahmsweise und rituelle gemeinsame Töten und Verspeisen des Totemtieres) unter Berufung auf vielfältigste Berichte in ganz ähnlicher Weise wie Freud. Er betont, dass es in der anschließenden Totemfeier zu einer zeitweisen Aufhebung der sonst vom Totem verbürgten Tabus komme, insbesondere auch der Tabus auf geschlechtliche Beziehungen: »Sind die Individuen einmal versammelt, so entlädt sich auf Grund dieses Tatbestands eine Art Elektrizität, die sie rasch in einen Zustand außerordentlicher Erregung versetzt. […] Die Erregung wird manchmal derart stark, daß sie zu unerhörten Akten verführt. Die entfesselten Leidenschaften sind so heftig, dass sie durch nichts mehr aufgehalten werden können. Man ist derart außerhalb der gewöhnlichen Lebensbedingungen und man ist sich dessen derart bewußt, daß man sich notwendigerweise außerhalb und über der gewöhnlichen Moral erhebt. Die Geschlechter begatten sich entgegen den Regeln, die sonst den Sexualverkehr regeln. Die Männer wechseln ihre Frauen. Selbst Inzestverbindungen, die normalerweise als verwerflich gelten, und schwer bestraft werden, werden bisweilen offenkundig und straflos eingegangen.«168 Freud aber erklärt den Zusammenhang zwischen dem Töten des Totems und der sich daran anschließenden Aufhebung der Tabus wie folgt: »Die Psychoanalyse hat uns verraten, daß das Totemtier wirklich der Ersatz des Vaters ist.«169 Dementsprechend wäre die Konsequenz aus der Tötung des Vatersurrogats, nämlich des Totemtieres, nur allzu erklärlich auch die Aufhebung der Regeln, d.h. der Tabus, die dieses allein verbürgt. 167 Ebd., S. 194f. 168 Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1981, S. 297 f, zitiert nach Mario Erdheim; in: ders., »Omnipotenz, Rausch und Lust«, in: Stephan Uhlig/Monika Thiele (Hg.), Rausch – Sucht – Lust, Gießen 2002, S. 131. 169 Sigmund Freud [1912-1913], »Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker«, a.a.O., S. 195.

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Das ödipale Verbot aber ist das zentrale, welches der Vater auferlegt: nämlich die Distanzierung des kindlichen Individuums von der Bindung an die Mutter. Dieses Verbot begegnet aber im sozialen Raum in Gestalt der kollektiven Inzesttabus, die ja als die ältesten und grundlegendsten Tabus gelten. Die temporäre Aufhebung selbst dieser Tabus in der an die Tötung des Opfertieres anschließenden Feier bekräftigt also ganz deutlich den vermuteten engen Zusammenhang zwischen Totem (Vatersurrogat) und Tabu (ödipales Verbot). Man könnte Freud hier also folgendermaßen verstehen: So wie der Vater und das ihm zugeschriebene ödipale Verbot im individuell subjektivierend-sozialisatorischen Feld, nämlich innerhalb der Mutter-Kind-Beziehung, erstmalig ein triebrepressives – die Bindung einschränkendes oder aber verkomplizierendes – Element einbringt, so markiert der Totem und seine Tabus im sozialen Raum, nämlich in der Stammesgemeinschaft, ein ebenfalls grundlegend triebrepressives (und damit das Feld der kollektiven sozialen Beziehungen differenzierendes und strukturierendes) Moment. In beiden Fällen, also im subjektivierend-sozialisatorischen wie im sozialen Kommunikationsund Interaktionszusammenhang, treten die psychischen wie sozialen Implikationen erster triebrepressiv wirkender Beschränkungen so überdeutlich zutage; und eben jene Formen von Triebrepression ganz allgemein sind es ja, die auch im Falle der Neurosen eine so bedeutende Rolle spielen. Reglementierungen, eigenständig gesetzte oder von außen herangetragene Maßstäbe, die in Gestalt von Verboten, Tabus, oder Normen auf eine Ersetzung des maßlosen Lustprinzips durch das bemessende Realitätsprinzip hinwirken, sind es demnach, welche die so erstaunlichen psychosozialen Implikationen hervorrufen, die sich um das Phänomen des Totemismus, die ödipale Situation und die Neurose gleichermaßen entspinnen. Triebrepression geht hier immer mit Verdrängung und Projektion einher, ist noch nicht ausgereift zur Sublimierung, gründet also in Ambivalenzkonflikten und äußert sich deshalb in scheinbar so unerklärlichen Formen wie der ›Allmacht der Gedanken‹, der Magie, dem Animismus, welche alle auf ein insgeheimes Festhalten am Lustprinzip verweisen. Freud führt aber die Analogien zwischen der ödipalen Situation und dem Totemismus noch weit konkreter vor Augen. Er eröffne nun den »Ausblick auf eine Hypothese, die phantastisch erscheinen mag, aber den Vorteil bietet, eine unvermutete Einheit zwischen bisher gesonderten Reihen von Phänomenen herzustellen.«170 Dabei erinnert Freud zunächst einmal an Charles Darwin: »Darwin schloß aus den Lebensgewohnheiten der höheren Affen, daß auch der Mensch ursprünglich in kleineren Horden gelebt habe, innerhalb welcher die Eifersucht des ältesten und stärksten Männchens die sexuelle Promiskuität verhinderte.«171 Die jungen Männchen unter den Nachkommen würden sich alsbald in einem Kampf um die Herrschaft in der Horde und um die Weibchen mit dem Oberhaupt zu messen versuchen; der Stärkere (oder: die Stärkeren) setzten sich durch, indem er den Anderen (oder die Anderen) tötet oder vertreibt. Das sei ein Mechanismus, der bei vielen in Verbänden lebenden Säugetierarten zu beobachten ist: Ein junges Männchen konkurriert mit dem (›Stammes‹-)Vater, ersetzt diesen, bei

170 Ebd., S. 195. 171 Ebd., S. 178f.

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gewonnenem Ausgang des Kampfes als Oberhaupt der Gruppe, oder sieht sich, bei einer Niederlage, gezwungen, ohne Anrecht auf die Weibchen weiterhin innerhalb der Gruppe zu verbleiben, oder aber die Gruppe zu verlassen und bestenfalls irgendwann eine eigene Gruppe anderswo zu gründen, nur um sich dort wieder an die Spitze zu setzen, und den eigenen männlichen Nachwuchs erneut eifersüchtig von den weiblichen Mitgliedern fernzuhalten.172 Und hier setzt Freud, nicht ohne eine gewisse Abgrenzung zu einem eventuell zu falschen Schlüssen verleitenden Biologismus vorzunehmen, ein: »Die Darwinsche Urhorde hat natürlich keinen Raum für die Anfänge des Totemismus. Ein gewalttätiger, eifersüchtiger Vater, der alle Weibchen für sich behält und die heranwachsenden Söhne vertreibt, nichts weiter. Dieser Urzustand der Gesellschaft ist nirgends Gegenstand der Beobachtung geworden.«173 Was jedoch tatsächlich in der Organisation von Stammesgemeinschaften vielfach beobachtet werden könne, seien »Männerverbände, die aus gleichberechtigten Mitgliedern bestehen und den Einschränkungen des totemistischen Systems unterliegen, dabei mütterliche Erblichkeit. [Hervorhebung durch Freud]«174 Freud fragt nun aber, ob nicht die totemistische Organisation der gleichberechtigten Männerverbände, gleichsam als kulturelle Errungenschaft, nicht aus jener vermuteten vorkulturellen, stärker auf Dominanz beruhenden Herrschaft eines allmächtigen Vater-Patriarchen in der ›Urhorde‹ hervorgegangen sein könnte, und wenn ja, »auf welchem Wege war es möglich?« »Die Berufung auf die Feier der Totemmahlzeit gestattet uns eine Antwort zu geben: Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende. Vereint wagten sie und brachten zustande, was dem einzelnen unmöglich geblieben wäre. (Vielleicht hatte ein Kulturfortschritt, die Handhabung einer neuen Waffe, ihnen das Gefühl der Überlegenheit gegeben.) Daß sie den Getöteten auch verzehrten, ist für den kannibalen Wilden selbstverständlich. Der gewalttätige Urvater war gewiss das beneidete und gefürchtete Vorbild eines jeden aus der Brüderschar gewesen. Nun setzten sie im Akte des Verzehrens die Identifizierung mit ihm durch, eigneten sich ein jeder ein Stück seiner Stärke an. Die Totemmahlzeit, vielleicht das erste Fest der Menschheit, wäre die Wiederholung und die Gedenkfeier dieser denkwürdigen, verbrecherischen Tat, mit welcher so vieles seinen Anfang nahm, die sozialen Organisationen, die sittlichen Einschränkungen und die Religion. Um von der Voraussetzung absehend diese Folgen glaubwürdig zu finden, braucht man nur anzunehmen, daß die sich zusammenrottende Brüderschar von denselben einander widersprechenden Gefühlen gegen den Vater beherrscht war, die wir als Inhalt der Ambivalenz des Vaterkomplexes bei jedem unserer Kinder und unserer Neurotiker nachweisen können. Sie haßten den Vater der ihrem Machtbedürfnis und ihren sexuellen Ansprüchen so mächtig im Wege stand, aber sie liebten und bewunderten ihn auch. Nachdem sie ihn beseitigt, ihren Haß befriedigt und ihren Wunsch nach Identifizierung mit ihm durchgesetzt hatten, mußten sich die dabei überwältigten zärtlichen Regungen zur Geltung bringen. Es geschah in Form der Reue, es entstand ein Schuldbewußtsein, welches hier mit der gemeinsam 172 173 174

Vgl. ebd., S. 179. Ebd., S. 195. Ebd., S. 195f.

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empfundenen Reue zusammenfällt. Der Tote wurde nun stärker als es der Lebende gewesen war; all dies, wie wir es noch heute an Menschenschicksalen sehen. Was er früher durch seine Existenz verhindert hatte, das verboten sie sich jetzt selbst in der psychischen Situation des uns aus den Psychoanalysen so wohl bekannten ›nachträglichen Gehorsams‹. Sie widerriefen ihre Tat, indem sie die Tötung des Vaterersatzes, des Totem, für unerlaubt erklärten, und verzichteten auf deren Früchte, indem sie sich die freigewordenen Frauen versagten. So schufen sie aus dem Schuldbewußtsein des Sohnes die beiden fundamentalen Tabus des Totemismus, die eben darum mit den beiden verdrängten Wünschen des Ödipus-Komplexes übereinstimmen mussten. Wer dawiderhandelte, machte sich der beiden einzigen Verbrechen schuldig, welche die primitive Gesellschaft bekümmerten. [Gemeint sind Mord und Inzest, eig. Anm.]«175 Die beiden grundlegenden Tabu des Totemismus – das Totemtier zu töten, und das Inzestverbot – beruhten nun aber, so Freud, auf unterschiedlichen Motiven: zum einen auf einer Gefühlsbasis (denn die liebenden Regungen gegenüber dem Vater setzten sich nach dessen offenkundig vergeblichen Beseitigung gegenüber den hassenden stärker durch), zum anderen auf praktischen Erwägungen (denn das sexuelle Bedürfnis, das die Männer geeint hatte, entzweite sie nun). Jeder hätte die Frauen für sich haben wollen, nun aber, da kein ›Überstarker‹ sich durchsetzen konnte, waren sie alle zu Nebenbuhlern geworden. »Somit blieb den Brüdern, wenn sie miteinander leben wollten, nichts übrig, als – vielleicht nach Überwindung schwerer Zwischenfälle – das Inzestverbot aufzurichten, mit welchem sie alle zugleich auf die von ihnen begehrten Frauen verzichteten […].«176 Mit dem Verbot geschlechtlichen Verkehrs innerhalb des Clans, welches so kennzeichnend für den Totemismus ist, war so zugleich die Notwendigkeit der Exogamie geboren: also das Gebot, sexuelle Kontakte allein mit Angehörigen anderer Clans einzugehen – womit die alte Ordnung, nämlich die Austreibung der jüngeren Männer aus dem Verband, um sich anderswo Frauen zu suchen, restauriert wurde. Verbürgt wurde sie nun nicht mehr konkret durch den Vater, sondern durch dessen abstraktes Surrogat, den Totem. Mit jenem Totem, als dem bloßen symbolischen Ersatz des Vaters, konnte nun auch die Art von Aussöhnung mit dem Vater unternommen werden, die mit dem realen Vater ungleich schwerer zu erreichen war. Denn der Totem diente dazu, das Schuldgefühl zu beschwichtigen, und offenbarte sich dann allein in seinen als positiv gewerteten Vater-Aspekten:177 »Das totemistische System war gleichsam ein Vertrag mit dem Vater, in dem der letztere all das zusagte, was die kindliche Phantasie vom Vater erwarten durfte, Schutz, Fürsorge und Schonung, wogegen man sich verpflichtete, sein Leben zu ehren, das heißt, die Tat an ihm nicht zu wiederholen.«178 Die Ehrung und Schonung des Totemtieres, vor allen anderen, hat hier also ihre Wurzel: »Es wurden hierbei Züge geschaffen, die fortan für den Charakter der Religion bestimmend blieben.«179

175 176 177 178 179

Ebd., S. 195-198. Eig. Anm.: Freuds umfangreiche Anmerkungen, zu seinen eigenen Textpassagen vermittels von Fußnoten wurden hier im Zitat nicht wiedergegeben. Ebd., S. 198. Vgl. ebd., S. 199. Ebd. Ebd.

2. Tote Orte, belebte Welten – Thanatomorphe Wüsten und biomorphe Oasen

Freud benennt als grundlegende Züge des Religiösen so eigentlich zwei Aspekte – einen mütterlich konnotierten (auf welchen er in seiner Untersuchung des ›ozeanischen Gefühls‹ hingewiesen hatte), und einen väterlich konnotierten (welchen er u.a. in Totem und Tabu unterstreicht). Das Bedürfnis nach Eins-Sein einerseits, sowie das Bedürfnis nach Schutz andererseits, erweisen sich so als Grundlagen des religiösen Gefühls. Beide – nimmt man abermals eine intersubjektive Perspektive ein – wurzeln in basalen Beziehungserfahrungen: und zwar sowohl in der Erfahrung der Dyade (in welcher Gefühle von Verbundenheit dominieren), als auch in der Auflösung oder Beschränkung der Dyade (woraus dann ein Verlangen nach Schutz resultiert). Die erstgenannte Erlebensweise geht ein in die mystischen Varianten von Religion mit ihren Verschmelzungsabsichten, die letztgenannte in diejenigen religiösen Formen, die die Verehrung eines über- und allmächtigen Gottesbildes ins Zentrum rücken. Beide ließen sich zutreffend charakterisieren als Reminiszenzen an eine kindliche Muttersehnsucht oder eben an eine kindliche »Vatersehnsucht«180 . Freud behauptet nun aber auch eine kollektive Dimension der ›Vatersehnsucht‹: »In der durch die Beseitigung des Vaters hergestellten Situation lag ein Moment, welches im Laufe der Zeit eine außerordentliche Steigerung der Vatersehnsucht erzeugen mußte«181 . Jenes Moment bestand darin, dass jeder der Brüder »vom Wunsch beseelt gewesen [war], dem Vater gleich zu werden […]«182 . »Dieser Wunsch mußte infolge des Druckes, welchen die Bande des Brüderclans auf jeden Teilnehmer ausübten, unerfüllt bleiben.«183 Keiner konnte und durfte mehr die Allmacht des Vaters auf sich allein vereinen, nach der doch alle gestrebt hatten.184 »Somit konnte im Laufe langer Zeiten die Erbitterung gegen den Vater, die zur Tat gedrängt hatte, nachlassen, die Sehnsucht nach ihm wachsen, und es konnte ein Ideal entstehen, welches die Machtfülle und Unbeschränktheit des einst bekämpften Urvaters […] zum Inhalt hatte.«185 War nun aber der Totem ein erster Ausdruck der Vatersehnsucht, so war der Gott ein späterer. Freud vermutet, mit Beginn der Domestikation und Sesshaftwerdung müsse sich das Verhältnis zum Tier geändert – nämlich: entfremdet – haben, und die Zeit der menschenähnlichen Gottesbilder wäre damit angebrochen. Damit ist der ideelle Wandel im Religiösen verschränkt mit dem materiellen Wandel in der Gesellschaftsstruktur: »Wo sich in dieser Entwicklung die Stelle für die großen Muttergottheiten findet, die vielleicht allgemein den Vatergöttern vorhergegangen sind, weiß ich nicht anzugeben. Sicher scheint aber, daß die Wandlung im Verhältnis zum Vater sich nicht auf das religiöse Gebiet beschränkte, sondern folgerichtig auf die andere durch die Beseitigung des Vaters beeinflusste Seite des menschlichen Lebens, auf die soziale Organisation, übergriff. Mit der Einsetzung der Vatergottheiten wandelte sich die vaterlose Gesellschaft allmählich in die patriarchalisch geordnete um. Die Familie war eine Wiederherstellung der einstigen Urhorde und gab den Vätern auch ein großes Stück ihrer

180 181 182 183 184 185

Ebd., S. 202. Ebd., S. 203. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd.

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früheren Rechte wieder. Es gab jetzt wieder Väter, aber die sozialen Errungenschaften des Brüderclan waren nicht aufgegeben worden, und der faktische Abstand der neuen Familienväter vom unumschränkten Urvater der Horde war groß genug, um die Fortdauer des religiösen Bedürfnisses, die Erhaltung der ungestillten Vatersehnsucht, zu versichern. […] In weiterer Folge verliert das Tier seine Heiligkeit und das Opfer die Beziehung zur Totemfeier; es wird zu einer einfachen Darbringung an die Gottheit, zu einer Selbstentäußerung zugunsten des Gottes. Gott selbst ist jetzt so hoch über den Menschen erhaben, daß man mit ihm nur durch die Vermittlung des Priesters verkehren kann. Gleichzeitig kennt die soziale Ordnung göttergleiche Könige, welche das patriarchalische System auf den Staat übertragen. Wir müssen sagen, die Rache des gestürzten und wiedereingesetzten Vaters ist eine harte geworden, die Herrschaft der Autorität steht auf ihrer Höhe. [Eig. Hervorhebung]«186,187 Freud ist also der Auffassung, dass ein mit dem Vater ehemals verbundenes, vorkulturell hierarchisch-patriarchalisches System – nach seiner zeitweisen Aufhebung in der matrilinearen und egalitären Stammesgemeinschaft – auf Umwegen wieder seinen Weg zurück in die Kultur gefunden haben müsse. Einen ersten Höhepunkt erreiche es im despotischen Königstum und wachse sich dann schließlich aus zum autoritären Staat. Parallel dazu vollzogen sich in Permanenz entsprechende Wandlungen im Opferwesen: »Das ursprüngliche Tieropfer war bereits ein Ersatz für ein Menschenopfer, für die feierliche Tötung des Vaters, und als der Vaterersatz seine menschliche Gestalt wiedererhielt [mit Einsetzung der anthropomorphen Götter, eig. Anm.], konnte sich das Tieropfer auch wieder in das Menschenopfer verwandeln.«188 Freud spielt hier auf das »Zeremoniell der Menschenopfer an den verschiedensten Stellen der bewohnten Erde« an, in welchem »Menschen als Repräsentanten der Gottheit ihr Ende fanden«189 . »So hatte sich die Erinnerung an jene erste große Opfertat als unzerstörbar erwiesen, trotz aller Bemühungen, sie zu vergessen, und gerade als man sich von ihren Motiven am weitesten entfernen wollte, mußte […] ihre unentstellte Wiederholung zutage treten.«190 Letztlich aber wachse mit der Einführung des Ackerbaus die Bedeutung des Sohnes in der patriarchalen Familie; und kulturell trete »mit immer größerer Deutlichkeit […] das Bestreben des Sohnes hervor, sich an die Stelle des Vatergottes zu setzen«191 . Bezogen auf das Opferwesen bringe dies fundamentale Änderungen mit sich, die sich am deutlichsten in der christlichen Religion zeigten:

186 Ebd., S. 204f. 187 Die gedanklichen Querbezüge, die sich von der von Freud auf einer frühen Kulturstufe diagnostizierten ehemals ›vaterlosen Gesellschaft‹ zur These einer ›Rückkehr‹ der ›vaterlosen Gesellschaft‹ mit Anbruch der spätmodernen, posttraditionellen Ära herstellen lassen, sind erstaunlich. (Hier in dieser Arbeit wird unter Kap. 3.2 und in Rekurs v.a. auf die Ausführungen Hans-Joachim Buschs darauf noch näher eingegangen werden.) Siehe dazu auch: Alexander Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie, Weinheim/Basel/Berlin 2003. 188 Sigmund Freud [1912-1913], »Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker«, a.a.O., S. 206. 189 Ebd. 190 Ebd. 191 Ebd., S. 207.

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»Im christlichen Mythus ist die Erbsünde des Menschen unzweifelhaft eine Versündigung gegen Gottvater. Wenn nun Christus die Menschen von dem Drucke der Erbsünde erlöst, indem er sein eigenes Leben opfert, so zwingt er uns zu dem Schlusse, dass diese Sünde eine Mordtat war. Nach dem im menschlichen Fühlen tiefgewurzelten Gesetz der Talion kann ein Mord nur durch die Opferung eines anderen Lebens gesühnt werden; die Selbstaufopferung weist auf eine Blutschuld zurück. Und wenn dies Opfer des eigenen Lebens die Versöhnung mit Gottvater herbeiführt, so kann das zu sühnende Verbrechen kein anderes als der Mord am Vater gewesen sein. So bekennt sich denn in der christlichen Lehre die Menschheit am unverhülltesten zu der schuldvollen Tat […], weil sie nun im Opfertod des einen Sohnes die ausgiebigste Sühne für sie gefunden hat. […] Die Sohnesreligion löst die Vaterreligion ab. […] Zeichen dieser Ersetzung wird die […] Kommunion […], in welcher nun die Brüderschar vom Fleisch und Blut des Sohnes, nicht mehr des Vaters genießt, sich durch diesen Genuß heiligt und mit ihm identifiziert.«192 Freud kommt es nun aber nicht darauf an, religionsphilosophische Überlegungen anzustellen, sondern, ganz allgemein, zum Ende seiner Ausführungen zu ›Totem und Tabu‹ noch einmal deren eigentliches Ergebnis hervorzukehren, nämlich »daß im ÖdipusKomplex die Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft […] zusammentreffen, in voller Übereinstimmung mit der Feststellung der Psychoanalyse, dass dieser Komplex den Kern aller Neurosen bildet […].193 Die Implikationen von Triebrepression sind es demnach, die nicht nur eine komplexere psychische Konstitution des Menschen überhaupt erst einleiten, sondern auch seine soziale Organisation prägen, genauso, wie sie umgekehrt als zentraler Ausgangspunkt für eine Vielzahl neurotischer Symptome ausgemacht werden können. Und gerade um den Ödipus-Komplex, so muss Freud verstanden werden, zentrieren sich, wenn vielleicht nicht die ersten, so doch die einschneidendsten Erfahrungen von Triebrepression – nämlich sowohl im individuell subjektivierend-sozialisatorischen Interaktionsfeld wie im kollektiv sozialen. Freud aber erlaubt sich abschließend noch eine letzte, selbstkritische Wendung – und zwar indem er seine Hypothese vom kollektiv real vollzogenen Vatermord noch einmal grundlegend infrage stellt. So gibt er zu bedenken, dass zumindest die um den individuellen Ödipus-Komplex des Neurotikers sich formierenden Zwangsverbote, Sühnehandlungen und phantastischen Vorstellungen allesamt ja wirksam wären, eben auch ohne dass die Tat jemals in Realität vollzogen werden würde; dass sie alle aus einer realen Triebrepression entstünden, die lediglich phantastisch sich in bestimmten Formen äußert (z.B. dem Wunsch nach der Vater-Tötung). Wie wäre es aber nun, so legt Freud die Überlegung nahe, wenn auch im kollektiven Phänomen des Totemismus der Vatermord eben nicht – wie von ihm selbst hypothetisch so ausführlich geschildert – real vollzogen worden wäre, sondern schlicht und einfach als imaginierter? Wenn also die individuellen Phantasmen der Neurose ihre Entsprechungen fänden in Phantasmen im kollektiven, sozialen – und: kulturellen – Raum; wenn hier wie dort nicht die Tat als reale der Auslöser jener psychischen Implikationen wäre, sondern ihre

192 193

Ebd., S. 209f. Ebd., S. 212.

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bloße Vorstellung? Wenn also der Wunsch an sich, auch im kollektiv-sozialen Raum, genauso wie beim Neurotiker im individuell-psychischen, ausreichte, um ein Schuldbewusstsein zu generieren, welches sich dann nicht nur äußerte in ›privaten‹ Buß- und Sühnehandlungen, sondern auch in kollektiven, kulturell verankerten Buß- und Sühneriten? Man müsste dann der individuellen Psyche durchaus eine Vorstellung von einer wie auch immer beschaffenen, »Massenpsyche« entgegensetzen, die mehr als die Summer der Einzelpsychen wäre.194 Denn: »Setzen sich die psychischen Prozesse der einen Generation nicht auf die nächste fort, müßte jede ihre Einstellung zum Leben neu erwerben, so gäbe es auf diesem Gebiet keinen Fortschritt und so gut wie keine Entwicklung.«195 Dann aber stellten sich zwei neue Fragen, nämlich »wie viel man der psychischen Kontinuität innerhalb der Generationsreihen zutrauen kann und welcher Mittel und Wege sich die eine Generation bedient, um ihre psychischen Zustände auf die nächste zu übertragen.«196 Freud stellt hier also ein weiteres Mal Überlegungen an, die eine viel umfänglichere Verschränkung von psychischem und sozialem Raum denkbar scheinen lassen, als sie im Allgemeinen angenommen werden. Er deutet hier aber auch Möglichkeiten an, wie seine Hypothese vom kollektiven Vatermord Gültigkeit behaupten könnte, selbst gesetzt den Fall, dass sie als real vollzogene Tat nie geschehen wäre, oder sich zumindest als solche nicht nachweisen ließe. Dennoch betont Freud, dass es Ursache gäbe, kollektiv ihren realen Vollzug anzunehmen, und nicht ihre bloße Imagination; denn »der Neurotiker ist vor allem im Handeln gehemmt, bei ihm ist der Gedanke der volle Ersatz für die Tat. Der Primitive ist ungehemmt, der Gedanke setzt sich ohneweiters in Tat um, die Tat ist ihm sozusagen eher ein Ersatz des Gedankens, und darum meine ich, […] war die Tat.«197 Freud räumt also ein, dass Zweifel, ob die Tat, das ›Urverbrechen‹, nun geschehen sei oder nicht, legitim seien, beharrt aber auf seinem Standpunkt, dass es gewissermaßen eine Vielzahl von Indizien gäbe, die auf ihren realen Vollzug schließen ließen – wenngleich die psychologischen Implikationen und kulturellen Mechanismen die gleichen blieben für den Fall, sie sei nur als imaginierte vollzogen worden. Die Frage nach dem wissenschaftlichen Geltungsanspruch seiner Hypothese vom real und kollektiv vollzogenen Vatermord ist damit jedoch nicht, oder nur unzureichend, beantwortet. Um sie zu beantworten, ist es unerlässlich, Totem und Tabu noch unter einigen anderen Gesichtspunkten zu betrachten.   Differenzierungs- und Entdifferenzierungsmechanismen rund um ›Ödipus-Komplex‹ und ›Opfer-Feier‹, oder: Die Bemessung des Maßlosen – Eine intersubjektive Perspektive auf »Totem und Tabu« ■ Versteht man ein weiteres Mal Strukturbildung grundsätzlich als Differenzierung des Undifferenzierten, als Formung des Amorphen, oder eben: als Bemessung des Maßlosen, so kommt man nicht umhin, in Freuds Totem und Tabu eine Darstellung solch basaler Gestaltungsmechanismen – und zwar sowohl hinsichtlich des psychischen als auch des sozialen Raums – zu erblicken. Gleichzeitig, und das wird sich in der folgenden Argumentation herausstellen, verschließt sich die von Freud gegebene

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Ebd., S. 213. Ebd. Ebd. Ebd.

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Perspektive abermals in keinem Fall der intersubjektiven Deutung. Im Gegenteil, die intersubjektive Option schimmert allerorten durch das feine Gewebe seines Textes. Daher erweist sich auch die hier zur Beschreibung des dialektischen Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft eingeführte konzeptionelle Trias Subjekt-intersubjektiver Prozessrelationale Formation als durchaus kompatibel zu Freuds Gedankengang. Mehr noch: Sie scheint grundsätzlich bereits in jenem angelegt zu sein. Eine Textpassage von Jürgen Grieser erlaubt es, sowohl die Bedeutung strukturbildender Mechanismen als auch die mit jenen verbundene intersubjektive Option schon in Freuds eigenen Ausführungen zum Ödipus-Komplex zu erkennen: »Im Zentrum des Ödipuskomplexes steht für Freud das kulturelle Inzestverbot, das in der Eltern-Kind-Triade mithilfe der Kastrationsdrohung durchgesetzt und in der psychischen Struktur des Kindes verankert und strukturbildend wirksam wird. Mit dem Inzestverbot wird ein zentrales kulturelles Element von der Ebene des […] Kulturellen über die Eltern auf die Ebene des Individuums transponiert und im Individuum implantiert. Das kulturelle Verbot korrespondiert direkt mit dem ödipalen Geschehen in der Familie und im Individuum. Auf der Ebene der Gesellschaft ist das Inzesttabu neben den kulturspezifischen Heiratsregeln ein Element des Verwandtschaftssystems, dessen Erforschung Claude Lévi-Strauss zur Formulierung seiner strukturalen Theorie führte. Mit dem Inzestverbot sorgt die Kultur dafür, dass sich die Familien nicht gegeneinander abschließen, sondern über den Austausch von Familiemitgliedern untereinander verwandtschaftliche Beziehungen eingehen und dadurch zu einem größeren sozialen Verband werden. Am Beispiel des Ödipuskomplexes beschreibt Freud, wie die personale Triade mit der symbolischen Ordnung der Kultur zusammenwirkt, womit dem Ödipuskomplex die Rolle eines Scharniers zwischen Freuds Individual- und Sozialpsychologie zukommt. [Eig. Hervorhebungen]«198 Die extra gesetzten kursiven Hervorhebungen verdeutlichen, dass auch Grieser die in Freuds Text eigentlich verborgen liegende Intention, psychisch wie sozial wirksame, ›strukturbildende‹ Mechanismen aufzuzeigen, klar erkennt. Darüber hinaus wird offenbar, wie sehr sich diese strukturbildenden Mechanismen gerade um die Tabus, d.h. die kulturellen Verbote, formieren, welche ganz grundsätzlich intersubjektive Relationen, also: ›Beziehungen‹ (gleich ob im familiären Bereich, oder im größeren ›sozialen Verband‹), regulieren. Auch ist Grieser, wenn er formuliert, dass solch kulturelle Verbote letztlich ›im Individuum implantiert‹ werden, wiederum ganz nah bei Lorenzer, der ja jene Implantationsvorgänge im Sinne von Fixierungsmechaniken schilderte. Grieser beschreibt zudem die von Freud gegebene Darstellung der Verschränkung des Gesellschaftlichen mit dem Individuellen, des Sozialen mit dem Psychischen, als Übersetzung von Normen aus der »Ebene des […] Kulturellen über die Eltern auf die Ebene des Individuums«199 – und lässt auch hier die Plausibilität der gegebenen Konzeption relationale Formation-intersubjektiver Prozess-Subjekt mehr als erahnen. Neu und bedeutsam im Zusammenhang mit jener Konzeption aber ist der von Grieser vorgebrachte Gedanke, dass gerade dem »Ödipuskomplex die Rolle eines Scharniers zwischen Freuds 198 Jürgen Grieser, Architektur des psychischen Raums. Die Funktion des Dritten, Gießen 2011, S. 75. 199 Ebd.

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Individual- und Sozialpsychologie«200 zukomme. Eingedenk dieser Scharnierfunktion nämlich wird sich die strukturierende Funktion, wie auch der eigentlich zutiefst intersubjektive Charakter des Ödipus-Komplexes, nunmehr erschließen lassen – und zwar auf der sozialen wie der psychischen Ebene. Damit rückt das in diesem Kapitel verfolgte Vorhaben, die differenzierenden wie entdifferenzierenden Mechanismen rund um das Phänomen Totem und Tabu intersubjektivitätstheoretisch zu verstehen, in greifbare Nähe. Der Schlüssel zu einem solchen Verständnis liegt in der Feststellung, dass es sich beim individuellen Ödipus-Komplex, der sich lebensgeschichtlich ereignet, um triangulierende Strukturbildungsmechanismen bezüglich der Psyche handelt – wohingegen die kultur- und sozialgeschichtlich transportierte Dimension des Ödipus-Komplexes mit triadisierenden Strukturbildungsmechanismen im sozialen Raum einhergeht; oder, wie Grieser schreibt: »Werden triadische Beziehungserfahrungen verinnerlicht, spricht man von Triangularisierung.«201 Anders ausgedrückt: Die weitgehend undifferenzierte Mutter-Kind-Dyade erfährt im individuellen Ödipus-Komplex nicht die einzige, vielleicht auch nicht die erste, so aber doch: die einschneidendste Triadisierung – genauso wie sich die undifferenzierte, noch weitgehend ineinander verschmolzene Gemeinschaft im kulturell verankerten Ödipus-Komplex ausdifferenziert zur auf komplexeren, triadischen Strukturen beruhenden Gesellschaft. In beiden Fällen geschieht Triadisierung in dem Beziehungsgeflecht, das den sozialen Raum ja konstituiert, um alsdann sich niederzuschlagen als Triangulariserung bei der Konstitution des psychischen Raumes. Das wiederum bedeutet: Der Ödipus-Komplex, von dem ja wesentliche Impulse zu Triadisierung wie Triangularisierung überhaupt erst ausgehen, muss in einer intersubjektiv ausgerichteten Theorie in erster Linie verstanden werden als allgemein strukturbildendes Moment im sozialen wie psychischen Raum, als relationales Phänomen nämlich, das den Übergang von dyadischen zu triadischen relationalen Konstellationen markiert, und dann erst, in zweiter Linie, als ein Phänomen, das sich besonders charakteristisch ereignet speziell im Beziehungsdreieck Vater-Mutter-Kind (und zwar als liebevolle Zuneigung seitens des Kindes zum einen Elternteil, welche einhergeht mit unterdrückter Feindseligkeit zum anderen, sobald dieses als Rivale wahrgenommen wird)202 . Der Ödipus-Komplex ist in einer solch intersubjektiven, auf zwischenmenschliche Beziehungen fokussierten Sichtweise also nur ein Spezialfall, eine besonders markante Version allgemein strukturierender Triadisierungs- wie Triangularisierungsvorgänge in sozial bzw. psychisch relationalen Zusammenhängen. Diese These aber bedarf einer näheren Erläuterung, und zwar gerade auch vor dem Hintergrund von Totem und Tabu.

200 Ebd. 201 Ebd., S. 17. 202 Angelika Ebrecht spricht diesbzgl. ja auch davon, dass vermittels Triangularisierung »der dyadische Raum zwischen Mutter und Kind zu dem ›triangulären Raum‹ der ödipalen Situation ausgestaltet [wird] [eig. Hervorhebungen]«. In: dies., Die Seele und die Normen. Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik, a.a.O., S. 78, und unter Verweis auf: Ronald Britton, »The Missing Link: Parental Sexuality in the Oedipus Complex«; in: ders./Michael Feldmann/Edna OʼShaughnessy (eds.), The Oedipus complex today, London 1989, S. 86.

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Freud geht es in Totem und Tabu durchaus darum, metaphorisch gesprochen, sowohl den ›Urknall des Sozialen‹203 wie der Psyche, darzustellen – um im Anschluss daran, die Gesetzmäßigkeiten zu ihrer beiderseitigen Verschränkung und Höherentwicklung weiterverfolgen zu können. Die grundlegendste Gesetzmäßigkeit, aus der erst alle anderen entspringen, macht Freud aber, abstrakt formuliert, in der Regulierung von Bewegung aus; also: in der Zurichtung ungerichteter Dynamiken, oder, konkreter, in der Bemessung des eigentlich maßlosen und grundlegenden Movens des Menschen – nämlich: in der Beschränkung des Lebens- und Liebestriebes, des Eros. Diese vollzieht sich am einschneidendsten bei der Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip, und zwar sowohl lebensgeschichtlich beim Individuum, als auch kultur- und sozialgeschichtlich bei der Gattung. Im Ödipus-Komplex aber, und in den um ihn sich entspinnenden, triebrepressiven Mechanismen, erblickt Freud jenes Bündel an strukturierenden Elementen, das die Genese der Psyche wie des Sozialen am folgenreichsten vorantreibt. Versteht man nun aber den Ödipus-Komplex als bedeutendes Phänomen innerhalb komplexerer intersubjektiver Konstellationen, so erschließt sich dessen so zentrale Bedeutung nun noch einmal aus einem ganz anderen und weiter gefassten Blickwinkel. Denn die im Ödipus-Komplex des familiären Interaktionszusammenhangs vermittels intersubjektiver Prozesse ans Individuum herangetragenen Beschränkungen in Bezug auf den Eros (also: die Unterbindung einer ausschließlichen Zweierbeziehung zwischen Mutter und Kind durch die bloße Hinzukunft eines Dritten, nämlich der väterlichen Bezugsperson), zwingt den in diesem Fall bis hin zu symbiotischen Verschmelzungsphantasien verbindend wirkenden kindlichen Eros in Transformationsprozesse hinein: zum einen, durch dessen teilweise Begrenzung und Verkehrung hin zum trennenden Thanatos, der sich nun richtet als Feindseligkeit und (unbewusster) ›Tötungswunsch‹ gegen die, die väterliche Position einnehmende, dritte Person; zum anderen, durch die damit einhergehende Erweiterung von Triebzielen generell auch auf eine Person außerhalb der Mutter-KindDyade und die folglich nunmehr triadische Konstellation. Die Triadisierung im äußeren, familiären Beziehungsnetz bedingt somit triangularisierende Repräsentanzen- und Instanzenbildungen innerhalb der Psyche. Das heißt, das Erleben des Ödipus-Komplexes bringt einen Anstoß zur Instanzenbildung, welche sich niederschlägt als Triebmodifikation im Es und einer Verinnerlichung der Triebrepression im Über-Ich, womit dem bewussten Ich dann die bekannte Mittlerposition zwischen beiden zukommt. Damit einher gehen eine Reihe von (bewussten, wie auch vor- und unbewussten) Repräsentanzenbildungen vermittels psychischer Symbolisierungs- und Desymbolisierungsmechanismen. Die vormals nulldimensionale, undifferenzierte, amorphe, ›ozeanisch‹-maßlose psychische Struktur erfährt auf diese Weise ihre Strukturierung, Differenzierung, Formung, oder eben: Bemessung zum mehrdimensionalen Raum. Das Ausmaß der individuellen wie kulturellen Ausprägung des Ödipus-Komplexes korreliert folglich mit der Komplexität des jeweiligen psychischen wie sozialen Raums. Denken und Sprache, als individuell wie kollektiv abstrakteste Desiderate der Psyche wie des Sozialen, entspringen daher

203 Henning Laux benutzt (nicht auf Freuds Überlegungen bezogen, sondern auf den Beginn von Strukturbildung allgemein) die treffenden Umschreibungen vom »sozialen Urknall« und vom »Embyronalstadium der Struktur«, in: ders., Soziologie im Zeitalter der Komposition. Koordinaten einer integrativen Netzwerktheorie, Weilerswist 2014, S. 161.

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ganz wesentlich der mit dem Ödipus-Komplex auf so drastische Weise verbundenen Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip. Grieser schreibt: »Sofern der Mensch nicht halluzinative Wege der Wunscherfüllung beschreitet, sondern seine Wünsche wahrnimmt und über ihre Verwirklichungsmöglichkeiten nachdenkt, bewegt er sich in einem dreidimensionalen Geflecht aufeinander bezogener und verweisender Symbole, in welchem – wie die strukturalistische Sprachtheorie beschreibt – jedes Symbol durch seine Relation und Differenz zu anderen Symbolen definiert ist. ›Mutter‹ symbolisiert für sich alleine noch nichts, erst ›Mutter‹ in Relation und Unterscheidung zu ›Kind‹ oder ›Mutter‹ in Relation und Unterscheidung zu ›Vater‹. Weil ein Symbol alleine nicht zu haben ist, ruft das Auftreten eines Symbols ein ›ganzes Universum von Symbolen‹204 hervor wie Thomas Bedorf […] in Anlehnung an Lacan formuliert.«205 Lacan hatte ja bezüglich des Ödipus-Komplexes die Bedeutung des ›Gesetzes‹ (also: der Ge- und Verbote, welche bei Freud ja auch als frühe ›Tabus‹ begegnen) hervorgehoben. Das ›Gesetz‹ ist für ihn mit dem Wunsch dialektisch verflochten, denn es setzt dem Drang nach Erfüllung des Triebziels (und damit dem ›Begehren‹, wie Lacan ja formuliert) Schranken.206 Mit dieser Auffassung aber stützt sich Lacan ganz deutlich auf Freud, insofern dieser (sowohl in Totem und Tabu, als auch in seinen sonstigen Ausführungen zum Ödipus-Komplex) den Vater konkret, als Person – oder abstrakt, als Vaterrepräsentanz im totemistischen System oder der kulturellen Ordnung – stets in engstem Zusammenhang gesehen hat mit den seinen ›Willen‹ verkörpernden, triebrepressiven Tabus und Normen. Grieser fährt fort: »Lacan macht das Gesetz in der ödipalen Situation am Vater fest; die Anerkennung, dass es einen Vater gibt, steht für die Anerkennung der symbolischen Ordnung der Kultur. Egal, ob ein realer Vater anwesend ist oder nicht – wenn in der Umwelt des Kindes anerkannt wird, dass dieser prinzipiell Teil einer wie auch immer konkret ausgeformten ›strukturale[n] Triade‹207 Vater-Mutter-Kind ist, kann die symbolische Ordnung der Kultur auch ihren Ort in der inneren Welt des Kindes finden. Lacan bezeichnet dies als die Einführung des Namen-des-Vaters (le-nom-du-père) in die Mutter-Kind-Dyade. Weil die Anerkennung des Vaters auch die Anerkennung des ödipalen Inzestverbots beinhaltet, der Vater auch in dieser Hinsicht für das Symbolsystem der Kultur steht, leitet Lacan daraus das Wortspiel ab, dass ›der Name des Vaters‹ (le-nom-du-père)

204 Thomas Bedorf, Dimensionen des Dritten. Sozialphilosophische Modelle zwischen Ethischem und Politischem, München 2003, S. 229, zitiert nach Jürgen Grieser; in: ders., Architektur des psychischen Raums. Die Funktion des Dritten, a.a.O., S. 74. 205 Jürgen Grieser, Architektur des psychischen Raums. Die Funktion des Dritten, a.a.O., S. 74. 206 Vgl. ebd., S. 76f. (Interessante Überlegungen zu unkonventionellen Querverbindungen zwischen Lacan und Lorenzer finden sich zudem in dem von Robert Heim und Emilio Modena herausgegebenen Sammelband: dies. [Hg.], Jaques Lacan trifft Alfred Lorenzer. Über das Unbewusste und die Sprache, den Trieb und das Begehren, Gießen 2016.) 207 Jürgen Grieser vermerkt ebd. S. 77, er beziehe sich hier auf: Hermann Lang, »Die strukturale Triade – Zur Bedeutung des symbolischen Dritten«; in: Heinz Weiß (Hg.), Ödipuskomplex und Symbolbildung, Tübingen 1999, S. 62-80.

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zugleich ›das Nein des Vaters‹ (le-non-du-père) umfasst. Die Anerkennung der Tatsache durch Mutter und Kind, dass zum Mutter-Kind-Paar auch ein väterlicher Dritter gehört (oder zumindest einmal gehörte), erweitert also die Mutter-Kind-Dyade nicht nur um einen dritten Pol, den Vater, sondern zugleich wird damit implizit das Symbolsystem der Kultur als das Vierte neben Kind, Mutter und Vater anerkannt, das diese Triangularisierung mit dem Vater fordert. […] Lacan kommt das Verdienst zu, in verschiedener Hinsicht dyadische Denkgewohnheiten zugunsten einer triadischen aufgebrochen zu haben. Doch er ist damit zuletzt auch nicht zufrieden und vermutet, dass etwas Viertes neben den drei Elementen des Ödipuskomplexes (Vater, Mutter, Kind) geben müsse, eine Viererstruktur benötigt werde, um die Phänomene angemessen beschreiben zu können. […] Ich betrachte das Symbolsystem der Kultur als dieses Vierte, dem ›die Buchstaben‹ und die symbolischen Strukturen entstammen, die als kulturelle Matrix die soziale Struktur der Familie präformieren und die psychische Welt als einen dreidimensionalen Raum gestalten.«208 Der psychische (wie damit eigtl. auch der soziale Raum) wird also von Grieser (aufgrund der intersubjektiv triangulierten bzw. triadischen Struktur, welche beide prägt)209 als dreidimensional beschrieben; parallel dazu versteht er die ebenfalls relational aufeinander bezogene, symbolische Dimension beider als eine zusätzliche, vierte. Die Überformung der Psyche wie des Sozialen durch die abstrakte Sphäre des Symbol- und Zeichenhaften bezeichnet er unter Rückgriff auf eine von Sloterdjik stammende Metapher auch als den »semiotische[n] Himmel«210 . Dieser überspannt dann, um im gewählten Bild zu bleiben, die Ebene des Triebhaften, welche den psychisch wie sozial relationalen Konstellationen gewissermaßen auch materiell zugrunde liegt. Es können hier also abermals die Konturen einer Intersubjektivitätstheorie ausgemacht werden, welche neben dem immateriellen Überbau zur Ebene des Psychischen wie des Sozialen auch deren materielle Basis zu umfassen erlaubt; das Bild einer Landschaft im Raum drängt sich auf. Dieses Bild einer strukturierten, intersubjektiven, mehrere Ebenen und Dimensionen umfassenden Landschaft, eines psychischen und eines sozialen Raumes, wie sie

208 Jürgen Grieser, Architektur des psychischen Raumes. Die Funktion des Dritten, a.a.O., S. 77-80. 209 Vgl. (zum außerpsychischen Raum) auch Martina Löw und Gunther Weidenhaus: »But since subjects themselves are in releations to other subjects, space is not the product of a two-pole relation between subjects and objects; and as Hubert Knoblauch (ders., Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit, Wiesbaden 2016; Verweis durch Löw/Weidenhaus) emphasizes, it is not only the product of relations between subjects or between objects, rather spaces emerge from triadic relations. Spacing takes place not only according to convention and subjective judgement, but also reciprocally by virtue of subjects dynamically related to each other in the course of action (unter Verweis auf Gabriele Christmann, »Das theoretische Konzept der kommunikativen Raum(re)konstruktion«; in: dies. [Hg.], Zur kommunikativen Konstruktion von Räumen. Theoretische Konzepte und empirische Analysen, Wiesbaden 2016, S. 95, sowie auf Hubert Knoblauch, Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit, Wiesbaden 2016; durch Löw/Weidenhaus]) In: dies., »Borders that relate: Conceptualizing Boundaries in Relational Space«; in: Current Sociology Monograph 2, 65, 4/2017, S. 557f. 210 Peter Sloterdjik, Sphären I – Blasen, Frankfurt a.M., S. 58, zitiert nach Jürgen Grieser; in: ders., Architektur des psychischen Raumes. Die Funktion des Dritten, a.a.O., S. 95.

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sich aus dem »Urknall« wie dem »Embryonalstadium« der Gesellschaft und des Individuums gleichermaßen entwickelt haben,211 wird nun aber erst vollständig, wenn man die permanent bestehenden Tendenzen zur Regression, zur Rückkehr ins spannungsarme, strukturlose, undifferenzierte, amorphe und maßlose Ausgangsstadium mitberücksichtigt. Der regressive Sog des Lustprinzips nämlich, der zur Entgrenzung des Selbst wie der Welt aus den einmal gesetzten Schranken verlockt, ist und bleibt der durch das Realitätsprinzip geprägten psychischen wie sozialen Wirklichkeit stets immanent. Das Maßlose war vor dem Bemessenen – und verlangt, zumindest periodisch, seinen Tribut: »Diese Sehnsüchte nach einem vorsprachlichen oder vorsymbolischen Zustand der Einheit […] werden mithilfe einer Vielzahl von kulturellen Praktiken dadurch realisiert, dass das triangulierende Dritte […] in der Hingabe, im Rausch, in der Meditation, in der Ekstase als das die Verschmelzung Störende vorübergehend ausgeschlossen wird.«212 Hier aber drängen sich Assoziationen an Freuds These vom regressiven Wiedereintauchen des enger begrenzten Ich ins vormals unbegrenzte ›ozeanische Gefühl‹ unweigerlich auf. Denn bei Freud heißt es: »Ich kann mir vorstellen, daß das ozeanische Gefühl nachträglich in Beziehung zur Religion geraten ist. Dies Eins-Sein mit dem All, was als Gedankeninhalt ihm zugehört, spricht uns ja an wie ein erster Versuch einer religiösen Tröstung, wie ein anderer Weg zur Ableugnung der Gefahr, die das Ich als von der Außenwelt drohend erkennt. […] Beziehungen zu manch dunklen Modifikationen des Seelenlebens, wie Trance und Ektase, lägen hier nahe.«213 Gleichzeitig kann nicht unbemerkt bleiben, dass es nicht nur um eine Regression der differenzierten Psyche ins Undifferenzierte geht, sondern dass sich derselbe Vorgang auch im Sozialen vollzieht. Dort ist es die differenzierte Gesellschaft, die beispielsweise in sakralen oder profanen Formen des Feierns periodisch in stärker entdifferenzierte Formen der Gemeinschaft zurückkehrt. Denn das temporäre Brechen der Tabus in der außer-alltäglichen Praxis der Feier ist gleichbedeutend mit einem zeitweisen Zurückfluten des Lustprinzips in den vom Realitätsprinzip so markant abgesteckten psychischen wie sozialen Raum. So gewährleistet gerade die zeitweise Wiederkehr des Lustprinzips die Dauerhaftigkeit der über die triebrepressive Wirkung des Realitätsprinzips etablierten inneren wie äußeren Ordnung. Freud, der Psyche wie Soziales in Totem und Tabu als von Ver- und Geboten (den Tabus) geformt begriffen hatte, welche sich um eine Instanz herum (den Totem bzw. die Vaterrepräsentanz) zentrieren, hatte ja so eindringlich beschrieben, wie die mit dem Opfer verbundene Totemfeier gerade das periodische Brechen der Tabus gestattet. Die im Opfer am Totem vollzogene Eliminierung des Dritten, der väterlichen Repräsentanz, die ja auch die symbolische Ordnung

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Siehe dazu abermals die Terminologie von Henning Laux, in: ders., Soziologie im Zeitalter der Komposition. Koordinaten einer integrativen Netzwerktheorie, a.a.O., S. 161. Jürgen Grieser, Architektur des psychischen Raums. Die Funktion des Dritten, a.a.O., S. 74. Sigmund Freud [1929-1930], »Das Unbehagen in der Kultur«, a.a.O., S. 39f.

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der Kultur verbürgt, erlaubt die vorübergehende Entlastung von den Ansprüchen einer auf dem Realitätsprinzip gründenden stärker triebrepressiven und differenzierten Ordnung – und zwar innerhalb der stärker deliberativen und entdifferenzierten Ausnahmesituation der Feier. Dabei haben die entdifferenzierenden Effekte der Feier eine psychische und eine soziale Dimension: Die individuelle Trance korrespondiert mit der kollektiven Erfahrung des Verschmolzenseins, die individuelle Ekstase mit der kollektiven Raserei. Psyche wie Soziales nähern sich im mit der Feier verbundenen Exzess ihrem Nullpunkt: Der ehedem aufgerichtete, mehrdimensionale Raum verflüchtigt sich, zerfließt, zerrinnt zurück ins Maßlose; das verfemte Lustprinzip gewinnt kurzzeitig wieder die Oberhand. Das maßlos Gemeinsame tritt anstelle des bemessen Einsamen: Alles und jeder sind wieder verbunden, das Individuum verschwimmt im Kollektiv, die Subjekt-Objekt-Grenze ist durchbrochen. Das einzig alleine, einsame, ist nunmehr das Opfer, welches, exkludiert aus dem gemeinsamen Zusammenhang, die völlige Inklusion der Vielen überhaupt erst ermöglicht. Totem und Tabu nimmt sich aus diesem Blickwinkel aus als Beschreibung der Genese der Psyche wie des Sozialen unter dem Gesichtspunkt der Dialektik von Differenzierung und Entdifferenzierung, als Darstellung des permanenten Widerstreits des Maßes und Maßhaltens, ja, des Maßstabs, den die starre, vom Realitätsprinzip gefestigte Ordnung verkörpert, mit ihrem Gegenstück, dem Maßlosen, der Verflüssigung der Ordnungsstrukturen, dem Chaotischen des Lustprinzips selbst. Diese gegensätzlichen Mechanismen aber sind völlig eingebettet ins Intersubjektive: Versteht man nämlich, wie von Grieser dargestellt, den individuellen wie kollektiven Ödipus-Komplex (der ja im Zentrum von Freuds Totem und Tabu steht) im Sinne äußerer Triadisierung von Beziehungsgeflechten, denen die innere Triangularisierung erst Rechnung trägt – dann bewirkt die mit der Feier verbundene zeitweise Rückkehr der Geltungskraft des Lustprinzips eine vorübergehende Entdifferenzierung des ehemals triadisch und triangulär aufgespannten psychischen wie sozialen Raums. Die Psyche, verstanden als relationaler Verweisungszusammenhang, als Netzwerkstruktur aus Repräsentanzen- und Instanzenbildungen, korrelierte so mit dem intersubjektiven und relationalen Netzwerkzusammenhang im Sozialen, welcher sich um Instanzen und Institutionen formiert; beide lösten sich dann periodisch in niedriger strukturierte Organisationsniveaus auf, nur um sich im Anschluss daran aufs Neue zu differenzieren. Die Rückkehr zur Nulldimensionalität fiele also in eins mit der Regression ins Lustprinzip, und die anschließende Wiedererrichtung der Mehrdimensionalität ginge einher mit der erneuten und verbindlichen Einsetzung des Realitätsprinzips. Nichts anderes verkörpert sich in den psychosozialen Phänomenen, die sich um die von Freud geschilderte (und trotz unterschiedlichster Ausprägungen im Kern aller Kulturen zu beobachtende) Opfer-Feier entspinnen. Aus einer intersubjektiven Perspektive betrachtet, stellen sich diese Phänomene schließlich dar als Differenzierungs- und Entdifferenzierungsmechanismen innerhalb von intersubjektiven und relationalen Netzwerkstrukturen, welche den Raum der Psyche wie des Sozialen nicht nur durchziehen, sondern überhaupt erst konstituieren. Bezüglich dieser Netzwerkstrukturen aber sind die psychosozialen Mechaniken der Exklusion wie der Inklusion jene, welche die Formationen des Maßes wie des Maßlosen in all deren Aspekten erwirken. Anders gesagt: Exklusion und Inklusion sind basale psychische wie soziale Gestaltungsmechanismen, die mit Differenzierung und Entdifferenzierung immer einhergehen. Beide treten deutlich vor Augen sowohl im

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Phänomenkreis rund um den Ödipus-Komplex, als auch in dem, um die Opfer-Feier. Daher scheint eine diesbezüglich noch einmal präzisere Untersuchung der Opfer-Feier an dieser Stelle dringend geboten.   Bemessung vermittels Exklusion, oder: Reflexionen zum Opfer – ›Sündenbock‹ und ›Gründungsgewalt‹ bei Girard ■ Trotz aller Schlüssigkeit, die in Freuds Argumentation liegt, wenn er die bedeutsame Rolle, welche Ödipus-Komplex und Opfer-Feier bei der Genese der Psyche sowie des Sozialen spielen, offen legt, vermag er bezüglich des wissenschaftlichen Geltungsanspruches speziell seiner gewagten anthropohistorischen These vom real vollzogenen Vatermord nicht vollends zu überzeugen. Es ist und bleibt schließlich eine – wie auch immer zu bewertende – theoretische Schlussfolgerung, wenngleich sie sich auch auf eine Reihe von faktischen Indizien beruft. Eine aktuelle und wissenschaftlich plausible Einschätzung zum Umgang mit und zur Bewertung von Freuds Hypothese vom kollektiven Vatermord aber gibt Herbert Will. Er findet eine begrifflich klare Sprache und methodisch eindeutige Haltung: Bei der von Freud vorgebrachten Hypothese handele es sich um eine idealtypische Skizze im (strengen) weberschen Sinn: »Seine [Freuds, eig. Anm.] erzählende Darstellungsweise lässt offen, ob er eine einmalige historische Tat postuliert, die in prähistorischer neolithischer Zeit stattgefunden hätte und aus der die gesamte Religionsgeschichte entsprungen sei. Oder ob er geradezu das Gegenteil: eine neuartige mythische Erzählung entwirft. Meiner Ansicht nach sind beide Lesarten nicht in der Lage Totem und Tabu heute einen konstruktiven Sinn abzugewinnen. Vielmehr konzipiert Freud darin ein idealtypisches Modell, in dem er eine Unzahl angenommener historischer Gewalttaten zu einem typischen Ereignis verdichtet. Er verwendet dabei – intuitiv und ohne es methodisch zu reflektieren – das Konzept des Idealtypus, das damals in der Luft lag und das sein Zeitgenosse Max Weber für historische und soziologische Untersuchungen konzeptuell ausarbeitet. Der Urvatermord ist eine idealtypische Konstruktion. Freud schließt, um mit Weber zu sprechen, eine ›Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich mit seinen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbild‹214 zusammen. Es ist als hätte Weber mit diesen Worten den Aufbau von Totem und Tabu beschrieben.«215 Herbert Will formuliert damit die wohl einzig methodisch legitime Sichtweise auf den ›Vatermord‹ in Totem und Tabu – als einer idealtypisch formulierten Hypothese nämlich, mit allen Schwächen und Stärken eben des weberschen Konzeptes vom Idealtypus. Damit aber gibt Will den Gesichtspunkt vor, unter welchem auch im folgenden Totem und Tabu betrachtet werden soll.

214 Max Weber [1919], Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1985, S. 191, zitiert nach Herbert Will; in: ders., »Gewalt, Schuld und Religionsbildung – 100 Jahre nach Totem und Tabu«; in: Eberhard Th. Haas (Hg.), 100 Jahre Totem und Tabu. Freud und die Fundamente der Kultur, Gießen 2012, S. 155. 215 Ebd.

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Wie kaum ein anderer hat es nämlich René Girard verstanden, Freuds Hypothese vom ›Vatermord‹ als eine idealtypisch gegebene Darstellung zu lesen. Das implizite Verständnis des ›Vatermords‹ als einer idealtypisch gegebenen Skizze gestattet es Girard, diejenigen Spielräume auszuloten, welche die Einnahme einer anderen – und durchaus intersubjektiven – Sichtweise auf Freuds Verschränkung von Ödipus-Komplex und Opfer-Feier erlauben. Girard geht es dabei um nicht weniger als eine Dekonstruktion von Freuds Verständnis von Ödipus-Komplex und Opfer-Feier, mit daran anschließender Neukomposition. Dabei blickt Girard erstaunlich weitsichtig über Freud hinaus – und bleibt doch in entscheidenden Punkten hinter Freud zurück. Es wird also zunächst darum gehen, die (sozialtheoretischen) Stärken von Girards Position darzulegen, um schließlich im Anschluss gerade ihre (psychoanalytischen) Schwächen aufzuzeigen. Erst dann wird sich Girards Denken in die bisher vollzogene intersubjektive und gesellschaftstheoretische Neuausrichtung des freudschen Theoriegebäudes einflechten lassen, um diese entscheidend zu bereichern. Der Psychoanalytiker Eberhard Th. Haas, der sich sowohl intensiv mit Freuds Totem und Tabu, als auch mit dessen Neuinterpretation durch René Girard auseinandersetzt, schreibt: »Im Ödipuskomplex treffen, Freud zufolge, ›die Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst‹216 zusammen, wie auch in der Vorstellung der Psychoanalyse ›dieser Komplex den Kern aller Neurosen bildet, so weit sie bis jetzt unserem Verständnis nachgegeben haben217 «218 , und fügt mit Blick auf René Girard hinzu: »60 Jahre nach Totem und Tabu gibt es einen ernsthaften Versuch, diese Gedanken Freuds zu überarbeiten und in modifizierter Form zur Diskussion zu stellen.«219 Und Walter Burkert, der sich aus der Perspektive der Opfertheorie ebenfalls sowohl mit Totem und Tabu als auch mit dessen Neuinterpretation durch Girard befasst, bringt den Ansatz Girards inhaltlich wie folgt auf den Punkt: »Nach Girards Theorie setzt alle menschliche Gesellschaft, insofern sie ein friedliches Zusammenleben ermöglicht, diesen Mechanismus voraus: kathartische Gewalt [etwa im rituellen Opfer, eig. Anm.] verhindert unreine Gewalt [bspw. in spontanen Konflikten, endlosen Fehden, Bürgerkriegen etc., eig. Anm.].«220 Denn, wie Burkert, Haas und selbstredend Girard bemerken, steht im Zentrum von Freuds Totem und Tabu eine Opfertheorie – und, laut Girard, nicht nur das: sondern vor allem eben auch eine Theorie der Gewalt und ihrer gesellschaftlichen Einhegung. Freuds Hypothese vom vorkulturellen Kollektivmord am Vater und dessen kulturelle Wiederholung in Form des rituellen Totem-Opfers allerdings übernimmt Girard keineswegs ungeprüft. Er begreift sie tatsächlich im Sinne einer idealtypischen Zuspitzung – einer Zuspitzung, die den eigentlich zugrunde liegenden Sachverhalt nicht

Sigmund Freud, Totem und Tabu, GW IX, S. 188, zitiert nach Eberhard Th. Haas; in: ders., »Opferritual und Behälter. Versuch der Rekonstruktion von Totem und Tabu: Weitere Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker; in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Jg. 54, 11/2000, S. 1122. 217 Sigmund Freud, Totem und Tabu, GW IX, S. 188, zitiert nach Eberhard Th. Haas; ebd. 218 Ebd. 219 Ebd. 220 Walter Burkert, Anthropologie des religiösen Opfers. Die Sakralisierung der Gewalt, Vortrag, gehalten in München-Nymphenburg am 21.11.1983, veröffentlicht von der Carl Friedrich von Siemens Stiftung (Themen XL), München 1984, S. 19. 216

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nur pointiert, sondern karikiert und schlechterdings in ein Kuriosum verwandelt habe; Girard wähnt sich, liest er Freuds These vom Kollektivmord am Vater, mit einer »kolossalen Farce« konfrontiert.221 Dennoch schließt sich Girard keinesfalls derjenigen Rezeptionsgeschichte an, die Freuds Werk insofern verkennt oder verkennen will, dass »Freud, als wäre er ein […] Shakespeare, Sophokles oder Euripides, ein Phantasma angehängt wird«222 ; und genau hier wird offenbar, wie sehr Girard die These vom Kollektivmord am Vater in Totem und Tabu eben als idealtypisch gegebene zu untersuchen und zu deuten beabsichtigt: »Es besteht eine allgemeine Verschwörung, Totem und Tabu der Lächerlichkeit preiszugeben und in Gleichgültigkeit und Vergessenheit zu versinken lassen. Es versteht sich von selbst, daß wir diese Verurteilung nicht einfach passiv übernehmen können. Der Kollektivmord und die für ihn sprechenden Argumente stehen ja auch den in dieser Arbeit entwickelten Themen so nahe, daß sich eine gründliche Prüfung aufdrängt.«223 Streng genommen beginnt die Prüfung, welcher Girard Freuds idealtypische Skizze zumindest im individuellen ödipalen Raum unterzieht, abermals bei der Triadisierung, das heißt, der Ausweitung der Dyade zu einer Triade durch das Hinzutreten eines Dritten, nämlich des Vaters, und damit einer Verkomplizierung der bloß zweifachen Mutter-Kind-Bindung zu einer dreipoligen Konstellation.224 Diese Triadisierung der Dyade ist das zentrale Moment schlechthin, nicht nur aber in der individuellen Lebensgeschichte, sondern auch kollektiv in der Kultur: Auch in der Kultur wird ja laut Freud mit der Einführung des Totemismus die Grundlage zum Übergang einer weitgehend undifferenzierten und verschmolzenen Gemeinschaft zu einer komplexer organisierten und damit differenzierten Gesellschaft gelegt. Allein schon die Inzesttabus des Totemismus (die im Übrigen doch nichts anderes als die unausgesprochenen Tabus der ödipalen Situation sind) verbürgen ja im kollektiven Raum ebenfalls die Öffnung jeder verwandten Gemeinschaft hin zu einer Gesellschaft Nicht-Verwandter – genauso wie sie im individuellen Beziehungsfeld die Öffnung der ineinander verschmolzenen Dyade zu einer Triade und darüber hinaus erzwingen. Diese von Freud aufgezeigte parallele Entwicklung von Ontogenese und Phylogenese vereinfacht Girard nun aber auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner; und dieser ist bei ihm der »mimetische Wunsch«225 . Diesen setzt er, durchaus nicht unproblematisch, anstelle des Triebwunsches, oder auch des Triebes generell. Es ist Girards Art und Weise, sich eine Art von intersubjektivem Triebbegriff zu schaffen. Wo beispielsweise Loewald und Lorenzer die Kreation und

221 222 223 224

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René Girard, »Totem und Tabu und die Inzestverbote«; in: Eberhard Th. Haas (Hg.), 100 Jahre Totem und Tabu. Freud und die Fundamente der Kultur, Gießen 2012, S. 77. Ebd., S. 79. Ebd. André Green formuliert es so: »Der Vater ist nicht nur eine trennende, kastrierende Instanz, sobald er zu einem wirklichen Dritten wird, er wird ebenso ein Liebesobjekt, das den Zugang zum vollständigen Ödipuskomplex ermöglicht, und dessen Komplexität entfalten hilft. Eben darum spielt er die Rolle eines hoch differenzierten Organisators. [Eig. Hervorhebungen]« In: ders., »Zur Universalität des Ödipuskomplexes in Anthropologie und Psychoanalyse«; in: Lilli Gast/Jürgen Körner (Hg.), Psychoanalytische Anthropologie II. Ödipales Denken in der Psychoanalyse, Tübingen 1999, S. 178. René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Zürich 1987, S. 248.

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Organisation der Triebe über die Verinnerlichung äußerlich erlebter Kommunikationsund Interaktionserfahrungen erklären, beruft sich Girard auf das Modell der Nachahmung (Mimesis) eines Anderen bzw. dessen sozialer Rolle – eben den mimetischen Wunsch. Damit verrät sich Girard bis zu einem gewissen Grad durchaus als Anhänger einer intersubjektiven Anschauung, die etwa der G. H. Meads recht nahe kommt (auch in dessen Sozialpsychologie werden ja soziale Rollen vom Anderen übernommen und eingeübt)226 . Das Modell des mimetischen Wunsches weist zunächst einmal über Freud hinaus, und zwar insofern, als dass es bereits intersubjektiv gelagert ist – erweist sich aber zugleich als ungenügend und dem freudschen Ansatz gegenüber als unterkomplex, denn der mimetische Wunsch erlaubt (anders als ein vollgültiger Triebbegriff) weder einen analytischen Zugang zum Unbewussten, noch zu den Pathologien. Gleichwohl ist es der intersubjektive Ansatz generell, der Girards Position zunächst einmal interessant und auch wegweisend bezüglich einer intersubjektiven Neuausrichtung von Totem und Tabu wie auch des Ödipus-Komplexes macht. Der mimetische Wunsch (noch besser vielleicht zu verstehen, weil doch näher am Triebbegriff, wäre vielleicht sogar die Übersetzung: das mimetische Begehren [désir mimétique]), ist für Girard die Grundlage für eine unendliche Reihe möglicher Konflikte. Es ist die Nachahmung der Wünsche der Anderen, die doch im Grunde keine anderen Wünsche sind, sondern die Wünsche nach demselben (Objekt): Das Begehren des Vaters gilt der Mutter, so wie das des Kindes in der ödipalen Ausgangssituation; und im sozialen Raum fällt das eigene libidinöse Begehren nach einem oder einer Anderen potenziell zusammen mit dem Begehren der Vielen nach eben demselben ›Objekt‹. Im mimetischen Wunsch, so wie Girard ihn versteht, ist also die äußere Triadisierung (wie die mit ihr verbundene innerliche Triangularisierung) immer schon eingeschrieben, da der nachgeahmte Wunsch des Anderen zum eigenen wird, oder wie Girard formuliert: »Die mimetische Tendenz macht aus dem Wunsch die Kopie eines anderen Wunsches und läuft zwangsläufig auf Rivalität hinaus.«227 Diese Rivalität birgt immer den Konflikt und damit den potenziellen oder realen Kampf mit dem Anderen, letztlich also immer auch die Gewalt. So wie in die von Freud skizzierte ödipale Konstellation zusätzlich zum objektgerichteten libidinösen Triebwunsch des Eros auch der destruktive Triebwunsch gegenüber dem Dritten, dem Vater, eingeht (weil dieser die dyadische Bindung stört, indem er sie durch seine bloße Existenz beschränkt und gleichzeitig erweitert), so findet sich also auch bei Girard die Gewalt bereits eingeschrieben in das Wesen des mimetischen Wunsches und ist damit Freuds triebtheoretischem Denken nicht gänzlich unähnlich. Ja, selbst der mimetische Wunsch als solcher ist mitsamt seines nachahmenden Charakters laut Girard als Theorem bei Freud schon angelegt, so z.B. wenn dieser immer wieder betont, der Sohn wolle in allen Stücken an die Stelle des Vaters treten.228 Girard bewertet diese aus seiner Sicht unterschwellig permanent vorhandenen ›mimetischen‹ Anklänge bei Freud folgendermaßen: 226 Bei G. H. Mead spielt sogar dezidiert die »Nachahmung als allgemeiner Instinkt« eine wesentliche Rolle im kommunikativen Austausch. Siehe dazu: ders. [1934, im amerik. Original],Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus (hg. von Charles W. Morris), Frankfurt a.M. 1973, Kap. »Nachahmung und Ursprung der Sprache«, S. 90-100. 227 René Girard, Das Heilige und die Gewalt, a.a.O., S. 248. 228 Vgl. ebd., S. 255.

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»Die mimetische Natur des Wunsches bildet einen Pol des Freudschen Denkens, dessen Anziehungskraft freilich bei weitem nicht ausreicht, um alles um ihn kreisen zu lassen. Die Ansätze in Richtung Mimetik gelangen nur selten zur Entfaltung. Sie bilden eine nicht leicht wahrnehmbare Dimension des Textes, sind zu subtil und neigen immer dazu, sich mit jedem Akt der Weitervermittlung der Lehre – sei es nun von Freud selbst an seine Schüler oder auch von einem Text Freuds zu einem späteren Text – aufzulösen und zu verflüchtigen. Es ist also nicht weiter erstaunlich, daß sich die Psychoanalyse in der Folge vollständig von diesen Ansätzen, die uns hier interessieren, abgewandt hat.«229 Bezüglich seines letzten Satzes, die Psychoanalyse habe ein mimetisches Verständnis des Triebbegriffs völlig ausgeblendet, kann man Girard jedoch nur eingeschränkt Recht geben. Denn sie hat jenes intersubjektiv gedachte mimetische Begehren, das Nachahmen des Begehren eines Anderen also, mittlerweile doch viel komplexer analysiert und formuliert, als Girard selbst dies jemals tat, und zwar durchaus auch in Gestalt der loewaldschen und lorenzerschen intersubjektiv gefärbten Triebtheorien. Wo Girard noch recht simpel das Nachahmen des Begehrens des oder der Anderen sah, sehen Loewald und Lorenzer die komplexe Internalisierung äußerlich erlebter Interaktionserfahrungen, welche sich niederschlägt in der Kreation und Organisation nicht nur der Triebstruktur, sondern über deren Repräsentanzen, auch des psychischen Raumes generell. Hier also, bezüglich der psychoanalytischen Dimension, bleibt Girards Verständnis vom mimetischen Begehren selbstverständlich nicht nur hinter Loewald und Lorenzer, sondern auch hinter Freud zurück; allein die grundsätzlich intersubjektive Ausrichtung, die mit Girards mimetischem Begehren unweigerlich einhergeht, ist es, die ihm auf der sozialtheoretischen Ebene eine bedeutsame intersubjektive Wendung von Totem und Tabu erlauben wird. Girard nämlich bemerkt etwas, das in Freuds Denken völlig unterrepräsentiert bleibt: Die große Gefahr, die in einer noch weitgehend undifferenzierten und mit flachen Hierarchien versehenen Stammesgemeinschaft von zwischenmenschlicher Gewalt ausgehen muss. Denn ohne verbindliche Institutionen mit legitimer hierarchischer Zwangsgewalt muss jede Gewalttat tendenziell zu einer schier endlosen Kette von Rachehandlungen zwischen Personen oder Gruppen führen. Die für jegliches Gemeinwesen so verheerenden Effekte der Blutrache oder von nicht enden wollenden Clanfehden sind die bekanntesten Folgen von ausufernder, scheinbar nicht bezähmbarer Gewalt, die derartig institutionell schwach strukturierte Gemeinschaften heimsuchen. Wo dem Einzelnen und seinen Clanmitgliedern die Bestrafung eines wirklich oder vermeintlich Schuldigen obliegt, und nicht einer Zentralinstanz, wie etwa dem Gerichtswesen, führt jede Rachehandlung zu weiteren Gewalttaten, zu denen sich dann die Seite des nun zum Opfer gewordenen möglichen Täters veranlasst fühlt. Ein Teufelskreis von nicht absehbarer Eskalation kann in solchen Gemeinschaften schon durch die scheinbar leichteste Verfehlung in Gang gesetzt werden.230 Die oft so bizarr anmutenden Tabus, die jedes auch noch so kleine Detail im zwischenmenschlichen

229 René Girard, Das Heilige und die Gewalt, a.a.O., S. 248. 230 Vgl. René Girard, Das Heilige und die Gewalt, a.a.O., S. 28f.

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Umgang regeln, sind daher Vermeidungsregeln auch deshalb, weil sie konfliktuöse intersubjektive Momente von vornherein verunmöglichen sollen: Beispielsweise wenn, wie Freud schon angeführt hatte (und worauf hier bereits verwiesen wurde) etwa in »Vanua Lava […] ein Mann nicht einmal hinter seiner Schwiegermutter am Strande einhergehen [darf], ehe die steigende Flut nicht die Spur ihrer Fußtritte im Sande weggeschwemmt hat.«231 Oder, an anderer Stelle: »Bei den Barongos […] gelten merkwürdigerweise die strengsten Vorsichten der Schwägerin, der Frau des Bruders der eigenen Frau. Wenn einem Mann diese ihm gefährliche Person irgendwo begegnet, so weicht er ihr sorgsam aus.«232 Freud, der all diese Tabus unter dem Gesichtspunkt eines Verbots auf bestimmte sexuelle Beziehungen wahrnimmt, vernachlässigt dabei tatsächlich, dass sie wohl weniger den sexuellen Kontakt per se von vorneherein unmöglich machen sollen, sondern vielmehr die gewalttätigen Folgen, die eine solche sexuelle ›Verfehlung‹ innerhalb der Gemeinschaft wohl auslösen könnte. Der mimetische Wunsch, so nimmt sich dahingegen die Perspektive Girards aus, als endloser Prozess des Verlangens nach demselben, wonach auch die anderen verlangen, kippt (aufgrund der ihm eingeschriebenen Konfliktträchtigkeit) regelmäßig in sein Gegenteil, die gewalttätige Rache: und auch die »Rache stellt […] einen unendlichen, endlosen Prozeß dar.«233 Dem mimetischen Begehren müssen deshalb Grenzen (in Form der Tabus) gesetzt werden, da es, ungeregelt, den Zusammenhalt der Gemeinschaft gefährden und sie in einen Strudel der Gewalt stürzen würde. Durchaus ist diese Ansicht aber bei Freud schon angelegt, wenngleich weniger explizit hervorgehoben; so zum Beispiel, wenn er formuliert: »Somit blieb den Brüdern, wenn sie miteinander leben wollten, nichts übrig als – vielleicht nach Überwindung schwerer Zwischenfälle – das Inzestverbot aufzurichten, mit welchem sie alle zugleich auf die von ihnen begehrten Frauen verzichteten, um derentwegen sie doch in erster Linie den Vater beseitigt hatten. [Eigene Hervorhebung]«234 . Das mimetische Begehren derselben Frauen durch alle Männer, welches vielleicht nach ›schweren Zwischenfällen‹ zur Errichtung der Tabus auf eben diese Frauen desselben Clans zwang – genau diese Denkbewegung ist es, die Girard dazu verleitet, die Tabus nicht in erster Linie als sexualrepressiv, sondern als gewaltpräventiv zu verstehen. Einmal diesen Gedanken gefasst, geht Girard dazu über, auch den Totemismus in einem etwas anderen Licht zu sehen, als dieser Freud erschien. Gerade das periodisch wiederkehrende Totemopfer ist für Girard weniger die kulturelle Reminiszenz an den vorkulturellen Vatermord, sondern vielmehr die kollektive ›heilige‹ Gewaltanwendung, welche gerade in Zeiten der Krise, des Übergangs oder schlicht in Phasen der Zwietracht im Sinne einer Abfuhrhandlung dem Ausbruch ›unreiner‹, chaotischer und individualisierter Gewalt vorbeugen soll: »In den primitiven Gesellschaften gibt es, ist das Gleichgewicht einmal gestört, kein durchschlagendes Heilmittel, keine unfehlbare Wiederherstellung, die von Gewalt

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Sigmund Freud, »Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker«, a.a.O., S. 59. 232 Ebd., S. 58. 233 René Girard, Das Heilige und die Gewalt, a.a.O., S. 28. 234 Sigmund Freud, »Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker«, a.a.O., S. 198.

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heilt; deshalb ist anzunehmen, dass vorbeugende – im Gegensatz zu wiederherstellenden – Maßnahmen eine Rolle ersten Ranges spielen werden. Genau hier findet sich nun die […] Definition des Opfers wieder: eine Definition, die aus dem Opfer ein Instrument der Prävention im Kampf gegen die Gewalt macht. In einer Welt in der der geringste Konflikt, ähnlich der kleinsten Verletzung bei einem Bluter, verheerende Folgen haben kann, führt die Opferung die aggressiven Tendenzen auf wirkliche oder gedachte, belebte oder unbelebte Opfer ab, von denen nie angenommen werden muß, sie könnten je gerächt werden, und die auf der Ebene der Rache ausnahmslos neutral und steril sind. Sie liefert dem Drang nach Gewalt, der durch den Willen zur Enthaltsamkeit allein nicht zu bewältigen ist, einen partiellen, wenn auch vorläufigen, aber stets erneuerbaren Ausweg; es gibt über dessen Wirksamkeit zu viele übereinstimmenden Zeugnisse, als daß sie einfach vernachlässigt werden könnten. Das Opfer verhindert, daß sich der Keim der Gewalt entwickelt. Es hilft den Menschen, die Rache im Zaum zu halten. [Hervorhebungen durch Girard]«235 Girard bemerkt des Weiteren, es gebe in Opfergesellschaften keine Situation, der nicht ein Opfer entspräche; und gerade in Krisenzeiten nehme das Opferwesen geradezu dramatische Ausmaße an: »Diese Krisen stellen immer die Einheit der Gemeinschaft in Frage, sie setzen sich immer in Streitigkeiten und Zwietracht um. Je akuter die Krise, desto ›kostbarer‹ muss das Opfer sein.«236 Das Opfer ist desto kostbarer, je näher es der menschlichen Gemeinschaft steht. Es muss aber dennoch weit genug außerhalb ihrer stehen, um den Kreislauf der Rache von vornherein auszuschließen. Dieses Opfer muss selbst wehrlos genug sein, und soll darüber hinaus auch nie von anderen gerächt werden können. Daher darf es schlicht nach der Opferung auch keine ›Anderen‹ geben, also niemanden, dessen Finger frei vom Blut des Opfers geblieben wären – alle müssen gleichermaßen schuldig an seinem Tod werden. Die Gewalt am Opfer ist kollektiv und beugt der individuellen Gewalttat, wie sie die Krise des Gemeinwesens hervorruft, vor. Oder, noch einmal kurzgefasst: Rituelle, kollektive, ›heilige‹, ›reine‹ Gewalt beugt spontaner, individueller, profaner und ›unreiner‹ Gewalt vor, wie sie gerade in Zeiten des Umbruchs, der Verwandlung und der Krise des Gemeinwesens auszubrechen droht. Dieser (hier nur grob skizzierte) Mechanismus aber spielt sich schon im entfalteten Totemismus bzw. Opferwesen ab; ist also ein ritueller. Von ihm aber schließt Girard auch auf die Ursprünge des Totemismus, und kommt dabei zu einer Auffassung, die recht nahe an der von Freud liegt, und doch ganz andere Schlussfolgerungen gestattet. In der Tat hat Girard dabei Freuds Hypothese der vorkulturellen ›Vatertötung‹ als idealtypische begriffen, nämlich als gedankliche Verdichtung einer Vielzahl möglicher Gewalttaten zu einer einzigen, und zwar von Freud recht plastisch dargestellten. Diese gedankliche Zuspitzung auf die ›Vatertötung‹ aber löst Girard behutsam auf, und ermöglicht so einen gegenüber Freud erweiterten, und dennoch ähnlichen Zugang zum Totemismus.

235 René Girard, Das Heilige und die Gewalt, a.a.O., S. 32. 236 Ebd., S. 33.

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»Für Girard steht am Anfang nicht die Vatertötung, sondern die Krise«237 , so Eberhard Th. Haas: »Nicht von einem einzigen prähistorischen Urvatermord her, der sich zudem erbbiologisch verankert habe […], kommt die kommemorierende Ritenbildung. Am Anfang steht die Krise, ›und der kollektive Mord stellt deren höchste Steigerung und zugleich Beendigung dar‹238 .«239 Hinter Freuds idealtypischer Zuspitzung des Sachverhalts zu der einen, kulturgründenden Gewalttat am Vater, erblickt Girard also vielmehr erst einmal die »Gründungsgewalt in der jeweiligen kulturellen Ordnung als das entscheidende Ursprungsereignis [eig. Hervorhebung]«240 . Haas schreibt: »Anders aber als bei den sichtbaren Riten sind bei der Gründungsgewalt die Spuren verwischt.«241 Die Gründungsgewalt »ist im Gegensatz zu den Riten einmalig, spontan und bedient sich eines Opfers aus den eigenen Reihen. Der so Hingemordete, auf den sich alle schlimmen Aspekte der Katastrophe versammeln, mutiert nach seiner Vernichtung zum Heilsbringer [eig. Hervorhebung]«242 . Die Parallelen zu Freuds Hypothese von der ›Vatertötung‹ werden hier offensichtlich. Denn auch bei Freud wird ja der Vater nach seiner Ermordung zum Schutzherrn in Gestalt des Totems, der dann dessen vormals ungeschriebene Regeln, die Tabus, symbolisch weiterhin verbürgt; und dennoch kennzeichnet Girards Verständnis von der Gründungsgewalt, ein kleiner, aber feiner Unterschied: Nicht zwangsläufig ein allmächtiger, patriarchalischer Vater-Despot wird bei Girard dahingemordet, sondern wohl oftmals ein eigentlich wehrloser und tatsächlich unschuldiger ›Sündenbock‹243,244 . Burkert verdeutlicht Girards Auffassung: »In der intensiven Interaktion menschlicher Gruppen, zumal wenn noch der Druck einer äußeren Krise – Krankheit, Hunger – dazukommt, muß sich dieses désir mimétique emporschaukeln bis zu einem kritischen Punkt; dann setzt ein merkwürdiger, gefährlicher Mechanismus ein: ein ›Opfer‹, victime, wird designiert, ein ›Sündenbock‹, victime émissaire, und damit löst sich das Gegeneinander aller gegen alle unversehens in Einmütigkeit: das ›Opfer‹ erscheint als ›schuldig‹ und muss vernichtet werden; durch den ›Lynchmord‹ an dem angeblich schuldigen Opfer entsteht Einigkeit, ist der Friede hergestellt. Nach Girards Theorie setzt alle menschliche Gesellschaft, insofern sie ein friedliches Zusammenleben ermöglicht, diesen Mechanismus voraus: kathartische Gewalt verhindert unreine Gewalt. Allerdings wird dies aus dem Bewußtsein verdrängt […].«245

237 Eberhard Th. Haas, »Opferritual und Behälter. Versuch der Rekonstruktion von Totem und Tabu: Weitere Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker«, a.a.O., S. 1123. 238 René Girard, Things Hidden since the Foundation of the World, Stanford 1978, S. 24, zitiert nach Eberhard Th. Haas; ebd., S. 1122. 239 Ebd. 240 Ebd., S. 1123. 241 Ebd., S. 1122. 242 Ebd., S. 1122f. 243 Siehe dazu auch: René Girard, Der Sündenbock, Zürich 1988. 244 Reflexionen zu Girards Theorem des ›Sündenbocks‹ finden sich auch in dem Kapitel »Opferkult, Gewalt und ziviles Über-Ich. Eine psychoanalytische Kulturtheorie des Sündenbocks«, in: Robert Heim, Utopie und Melancholie der vaterlosen Gesellschaft, Gießen 1999, S. 211-240. 245 Walter Burkert, Anthropologie des religiösen Opfers. Die Sakralisierung der Gewalt, a.a.O., S. 19.

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Girards Überlegung lässt, und das ist einer ihrer entscheidenden Vorteile gegenüber der Freuds, Raum für kulturell stärker divergierende Ursachen und Formen der jeweils ausgeübten ›Gründungsgewalt‹ – genauso wie auch die fatalerweise zum Opfer gemachten Sündenböcke je nach historischer Ausgangslage verschiedene Personen(gruppen) gewesen sein mögen. Über die Betrachtung der Mythen einer konkreten Kultur, dürfte sich die spezifische Ausgangssituation der jeweils real ausgeübten Gründungsgewalt dann aber unter Umständen noch erahnen lassen. Darüber hinaus läuft Girards These nicht zwangsweise (wie bei Freud) auf den – nicht nachweisbaren – Schluss hinaus, noch vor der frühen, matrilinear geprägten Stammesgemeinschaft müsse notwendigerweise das vorkulturelle, despotische Patriarchat in Form der ›Urhorde‹ gestanden haben. Freuds Vermutung, ein vorkulturelles Patriarchat, die Herrschaft eines allmächtigen Vaters in der Kleingruppe (der ›Urhorde‹), kippe nach dessen ›Beseitigung‹ in das über die Tabus reglementierte Matriarchat, welches seinerseits (in einer Art Rückkehr von Verdrängtem) sich im zivilisatorischen Prozess erneut ins Patriarchat wandle, wird daher verkürzt auf die – auch mit der Ethnologie besser in Einklang zu bringende – Auffassung, eine ursprünglich stärker entdifferenzierte, egalitäre und matrilineare Gemeinschaft, wachse sich im Zuge zivilisatorischer Differenzierung erst aus zu einer vaterrechtlichen, hierarchischen Ordnung. Die angenommene Parallelität von ontogenetischer und phylogenetischer Entwicklung bliebe dadurch gewahrt: So wie das Individuum aus einem undifferenzierten Zustand vermittels Differenzierung erst entspringt, erwächst dann, analog dazu, die differenzierte Gesellschaft auch aus der undifferenzierten Gemeinschaft. Außerdem erlaubt Girards These von der kulturstiftenden Gründungsgewalt – anstelle der, von der ›Vatertötung‹ – den realen (oder phantasmagorischen) Ausschluss eines ›Sündenbocks‹ oder auch einer Gruppe von ›Sündenböcken‹ aus dem kollektiven, gemeinsamen Raum vermittels des Lynchmords (oder wenigstens des ›sozialen Todes‹), als den fatalen, exkludierenden, vereinzelnden, intersubjektiven Mechanismus zu entlarven, als welcher er sich auch heute nur allzu oft, in gleicher oder aber sublim verwandelter Form, gruppendynamisch regelmäßig beobachten lässt. Immer nämlich, und da unterscheidet sich Girard von Freud, geht es bei einer solchen Deutung des Ursprungs des Totemismus weit stärker um das intersubjektive Potenzial zur Gewalt innerhalb der Gemeinschaft, das sich im ›Dahingemordeten‹ scheinbar kristallisiert und welches ihm ›aufgeladen‹ und zugesprochen wird (durchaus im Sinne einer freudschen ›Projektion‹) – und viel weniger um monopolisierte Gewalt, die dieser Einzelne etwa tatsächlich ausgeübt hatte. Der Dahingemordete (oder wenigstens Ausgeschlossene und Geächtete) wird in Zeiten der fundamentalen Krise zum ›Blitzableiter‹ der Gemeinschaft instrumentalisiert. Er soll Gewalt und Tod auf sich ziehen, damit die anderen gewaltlos weiterleben können. Subjektiv erfährt er schlimmstes Unrecht; objektiv dahingegen wird er zum »versöhnende[n] Opfer«, wie Girard formuliert. »Wir haben […] gute Gründe zur Annahme, es könnte sich bei der Gewalt gegen das versöhnende Opfer um eine radikale Gründungsgewalt handeln, und zwar in dem Sinne, daß sie den Teufelskreis der Gewalt beendet und gleichzeitig einen neuen einleitet, nämlich den Kreis des Opferritus, der sehr wohl der Ritus der ganzen Kultur sein könnte. […] Das ist es was alle Ursprungsmythen, die sich auf die Tötung eines mythischen Geschöpfs durch andere mythische Geschöpfe zurückführen lassen, behaupten,

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wenn auch in verschleierter und verklärter Form. Dieses Ereignis wird als Gründungsakt der kulturellen Ordnung wahrgenommen. [Hervorhebung durch Girard]«246 Paradoxerweise ist es dann dieser verheerende und tragische Mechanismus der ›entlastenden‹ Gewaltabfuhr am Unschuldigen, der so als dunkler Urgrund auch an der Basis der scheinbar so lichten Höhen jeder Kultur steht. Bei allen deutlich zu erkennenden und in der Folge noch zu benennenden psychoanalytischen Unzulänglichkeiten der These Girards gegenüber der Freuds, bleibt es Girards Verdienst, sozialtheoretisch über den ›Sündenbock-Mechanismus‹ (nämlich das ›versöhnende Opfer‹ und die damit verbundene ›Gründungsgewalt‹) eine Sichtweise ermöglicht zu haben, welche diverse Widersprüchlichkeiten und Sackgassen, in die die Rekonstruktion der Ursprünge des Totemismus über Freuds zentralen Ausgangspunkt, den ›Vatermord‹, in Teilen geraten war, aufzudecken, und zwar ohne eine grundlegende Revision des freudschen Ansatzes zu erzwingen. Girard verschiebt, einmal mehr, lediglich die Perspektiven – er zeigt eigentlich eine intersubjektive Sichtweise auf. Denn Freud, der über keine geeignete Vorstellung von einem intersubjektiven Beziehungsfeld verfügte (und welches bei ihm lediglich verklausuliert in Form der Gemeinschaft und Gesellschaft oder eben auch der kulturellen Ordnung an sich begegnet), musste zwangsläufig blind bleiben gegenüber einem so diffizilen und doch allgegenwärtigen intersubjektiven Mechanismus wie dem des ›Sündenbocks‹ – dem aus dem relationalen Gefüge exkludierten, tragischerweise unschuldigen und objektiv doch ›versöhnenden‹ Opfer. Freuds manchmal zu rudimentär gebliebener Beziehungsgedanke geht in diesem Falle nicht wirklich über die primären und sekundären Bezugspersonen im individuellen Umfeld, also ›Mutter‹ und ›Vater‹, hinaus – und wenn er doch die kollektive und soziale Dimension in Augenschein nimmt, ist er gezwungen auf die Materialisation der intersubjektiven Beziehungen in Einrichtungen der Gemeinschaft, der Gesellschaft oder der Kultur zu fokussieren, ohne dabei zwischenmenschliche Kommunikation und Interaktion jemals als die eigentlich dynamische Tendenz zu begreifen, welche sich in deren Institutionen lediglich manifestiert bzw. zu jenen Strukturen erst ›gerinnt‹. Das ›Fließende‹ von Sprache und Handlung zwischen den Subjekten, die darüber sich vollziehende wechselseitige Durchdringung und Ansteckung, das ist es, was sich bei Girard wiederfindet, gekleidet in dessen Vorstellung vom endlosen und deshalb maßlosen mimetischen Begehren, welches seinerseits zu kippen droht in sein Gegenteil, die Rache. Tabus treten hier (weit deutlicher als bei Freud) als Elemente der Kanalisierung, der Eindeichung jenes kollektiven und doch auch individuellen, immer gemeinsamen Verlangens hervor und lassen sich verstehen als gezieltes Einbringen von Widerständen, die dem Strom des Wollens der Vielen und der Einzelnen, Grenzen setzen, oder ihn doch so lenken, dass das sich immer neu ausrichtende und größtenteils selbst stabilisierende intersubjektive Beziehungsgefüge nicht zerfällt oder wenigstens gravierenden Schaden nimmt. Die mit der ›Opferung‹ verbundene Exklusion, ja, Eliminierung, einzelner ›Knotenpunkte‹ jenes Netzes, seine Bemessung zugunsten der Funktionsfähigkeit des Ganzen, ist der unerhörte und doch völlig plausible, immer aber zutiefst instrumentelle Vorgang, der die Tragik der menschlichen Zivilisation begründet,

246 Rene´ Girard, Der Sündenbock, a.a.O., S. 140.

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und als dunkler, drohender Schatten über ihr (bzw. als dunkle Vergangenheit immer hinter ihr) liegt. Selbst die Gegenwart jeder Zivilisation kam ja, und kommt nie, ohne eine Form dieser ›Opferung‹ aus – sei sie strukturell verborgen in den Institutionen als namenlose und anonyme Gewalt, die Einzelne oder ganze Gruppen und Schichten vom Ganzen ausschließt, oder sei es als klar erkennbare Aggression, die diese wahrhaft zu ›Anderen‹ gemachten nicht nur sozial, sondern tatsächlich physisch vernichtet. Nicht von ungefähr schreiben Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung »die Institution des Opfers selber ist das Mal einer historischen Katastrophe«247 . Adorno und Horkheimer (die ihrerseits, gleich Freud, über kein explizites Verständnis von Intersubjektivität verfügen) durchdringen allerdings in der Dialektik der Aufklärung auf bestimmte Weise das Wesen des Opfers doch tiefer als Girard. Nicht nur, dass sie ebenfalls mit aller Deutlichkeit bereits den Sündenbock-Mechanismus hinter dem Opfer durchschauen, »die im Opfer gelegene Stellvertretung«248 , sondern sie zeigen auch dessen Fortdauer bis hinein in moderne Gesellschaften auf. Denn letztlich, und das ist ja der verwegene und einzigartige Ansatz beider, verknüpfen sie das Schicksal etwa der so zynisch zum Sündenbock gemachten, und damit der Vernichtung anheim gefallenen europäischen Juden gerade auf dem krisenhaften und totalitären Wendepunkt der bürgerlichen Gesellschaft, mit jener instrumentellen Opferlogik, die schon in der kulturellen Frühzeit von Gesellschaften eine so tragische Rolle spielte; und gerade den regelrecht irrationalen Opferwahn totalitärer Gesellschaften am Beginn der Moderne werden sie nicht müde in einen Zusammenhang zu stellen mit der instrumentellen Opferlogik einer fatalerweise immer schon kühl kalkulierenden, zivilisatorischen Ratio: »Die vielberufene Irrationalität des Opfers ist nichts anderes als der Ausdruck dafür, daß die Praxis der Opfer länger währte als ihre selber schon unwahre, nämlich partikulare rationale Notwendigkeit.«249 »Auf einer Stufe der Vorzeit mögen die Opfer eine Art blutige Rationalität besessen haben«250 , schreiben Adorno und Horkheimer – und zeigen sich damit dem Gedanken vom ›versöhnenden‹, kulturgründenden und doch tragischerweise unschuldigen Opfer, wie ihn auch Girard verfolgt, sehr nahe. Sie spitzen diesen Gedanken aber insofern zu, als sie der Auffassung sind, dass an dem Punkt, an dem Herrschaft irrational – weil objektiv nicht mehr nötig – zu werden droht, das offensichtliche oder verschleierte Opferwesen genauso immer noch irrationalere Züge annehmen muss. Der ›Opferwahn‹ der totalitär gewordenen Gesellschaften speist sich aus dieser Irrationalität, die nunmehr lediglich die Nachfolge jener ehemals ›blutigen Rationalität‹ der Vorzeit antritt. Aufklärung als solche, und mit ihr, Zivilisation, kippt dann in ihr Gegenteil – das ist der Grundgedanke der Dialektik der Aufklärung. Nicht nur aber indem Adorno und Horkheimer dem Sündenbock-Mechanismus bis in die neuere Gegenwart hinein nachspüren, gehen beide über Girards Opferheorie hinaus – sondern auch indem sie das Opfer immer auch als ein zweifaches begreifen: ein inneres und ein äußeres. Im Gegensatz zu Girard, dessen Opferverständnis nur allzu sehr auf das

247 Theodor W. Adorno/Max Horkheimer [1944], Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, a.a.O,, S. 58. 248 Ebd., S, 58. 249 Ebd., S. 60. 250 Ebd., S. 58f.

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von der sozialen Gesamtheit ausgeschlossene und zum Opfer gemachte ›andere‹ Subjekt verweist (also wesentlich auf das ›äußere‹ Opfer fokussiert), eröffnen Adorno und Horkheimer mit ihrer These vom ›inneren‹ Opfer, dem »Opfer des Selbst«251 , auch den Blick auf die Psyche – ganz in der Tradition Freuds übrigens, der ja stets das ›Innere‹ mit dem ›Äußeren‹ zu verknüpfen verstand. Freilich bedienen sich Adorno und Horkheimer einer anderen prototypischen Gestalt als Freud dies tat, um jene Verknüpfung zu veranschaulichen. In ihrer berühmt gewordenen Deutung des Odysseus-Epos erschließen sie einen Zugang zum Opferwesen, der den von Freud nicht minder berühmt gewordenen Zugang über den Ödipus-Mythos nicht ersetzt, sondern bereichert. So wie Freud den Ödipus-Mythos gerade aus der Perspektive des ›Innen‹ zum Ausgangspunkt auch kultureller Differenzierung machte, so setzen Adorno und Horkheimer mit dem Odysseus-Epos auf die Perspektive des ›Außen‹, um von ihr aus auch innere Differenzierung zu erklären. Das gewaltsame ›Opfer des Selbst‹ ist es, das sich bei ihnen aus dem äußeren Opfer, dem »Akt von Gewalt, der Menschen und Natur gleichermaßen widerfährt«252 , herleitet. Girards ›Gründungsgewalt‹ begegnet hier also weitaus komplexer. Dabei begreifen Adorno und Horkheimer das Epos an sich schon als kulturelle Bemeisterung des bis in Vorkultur zurückreichenden Mythos, und damit als Signum der aufklärerischen Zivilisation. Und insbesondere anhand des Epos von Odysseus, das im Kern nichts als die Bezwingung vorkultureller, mythischer Gewalten durch Odysseus, den Prototypen des Zivilisationsbringers besingt, wird ihnen das Werk der zivilisatorischen Vernunft offenbar. Denn im Epos wird Odysseus zum Bezwinger äußerer Gewalten vermittels des Instruments der Vernunft, ja eigentlich: der instrumentellen Ratio. Damit gerät die Schilderung seiner Reise zur prototypischen Darstellung aufklärerischer Zivilisierung; und letztere geht immer einher mit der Herrschaft über Mensch und Natur. Das Moment der Bezwingung und Beherrschung, welches letztlich sich auswächst zur Herrschaft per se, ist also der aufklärerischen Vernunft als instrumenteller Ratio bei Adorno und Horkheimer immer schon eingeschrieben. Odysseus verkörpert diesen Typus der Vernunft. Er stellt sich dem Schicksal in Form von Naturgewalten sowie der Gewalt tierischer, halbmenschlicher, menschlicher, göttlicher oder mythischer Wesen, fordert sie geradezu heraus, bezwingt sie, und zwar mittels Schläue und List, dem Gewand in dem instrumentelle Ratio zunächst einmal begegnet. Odysseus markiert hier den Übergang von Natur zu Kultur, nämlich als aktiv handelndes Wesen, welches bloß vorgefundene und eigentlich passive, aber gefährliche Gegebenheiten bezwingt: Der Mensch tritt hervor aus der Vorzeit, indem er sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Bevor er aber diese vorgefundene und äußere Natur, dem Wunsch, sein Schicksal selbst zu bestimmen, opfert, muss er zunächst seine innere Natur opfern, das heißt: sein Selbst zurichten und dabei diejenigen Aspekte, die er in den Anderen und der Welt bekämpft und vernichtet, an sich selbst eliminieren. »Die Transformation des Opfers in Subjektivität findet im Zeichen jener List statt, die am Opfer stets schon Anteil hatte. [Eig. Hervorhebung]«253 Das scharfe Schwert zielgerichteter Ratio lässt sich

251 Ebd., S. 58. 252 Ebd. 253 Ebd., S. 63.

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nicht aus einem ungerichteten, mehr Natur als Kultur seiendem Selbst, erheben. Distanzierung von ›äußerer‹ Natur bedarf erst einmal der Distanzierung von ›innerer‹ Natur. Das Subjekt muss sich selbst beherrschen und bezwingen, will es außen Herrschaft oder Zwang ausüben. Das individuelle Ich – gespalten und getrennt von der es umgebenden innerlichen wie äußerlichen Natur – ist demnach der Preis, den Kultur zu zahlen verlangt; die instrumentelle Ratio ist seine deutlichste Abstraktion. Das ›Opfer des Selbst‹, von dem Adorno und Horkheimer sprechen, ist eigentlich die gewaltsame Zurichtung des mit seiner Umwelt ›verschwimmenden‹, undifferenzierten, maßlosen Selbst zum ›verhärteten‹, differenzierten, bemessenen Ich. Dass eben diese Zurichtung immer auch von einer Form der Gewalt geprägt ist, veranschaulicht wiederum Haas, etwa wenn er schreibt: »Zerstörung ermöglicht erst Differenzierungen in Innerhalb und Außerhalb, stellt gewaltsame Gründung dar.«254 Auch das innere Opfer, als Differenzierung, als Abtrennung von einer vormals gegebenen Verbundenheit mit einem Gemeinsamen oder Allgemeinen, ist also immer mit einer Form von Gründungsgewalt, nur diesmal im psychischen Raum, verbunden. Hier begegnet erneut jener komplizierte Wechsel vom verbindenden Eros zum trennenden Thanatos, welcher früher schon beschrieben wurde, und der stets auch an eine Repression des Eros gekoppelt bleibt. Am einschneidendsten erlebt wird diese Repression des Eros aber sicher immer dann, wenn mit ihr, ganz in freudschen Begriffen, das Lustprinzip dem Realitätsprinzip weicht, also der Augenblick der Wunscherfüllung ›zivilisatorisch‹ aufgeschoben wird in die Zukunft – das meinen auch Adorno und Horkheimer, wenn sie davon sprechen, dass eines »seit je am Ich zu spüren« sei, nämlich das »Opfer des Augenblicks an die Zukunft«255 . In dieser Zuschreibung gipfelt die Essenz dessen, was als inneres Opfer bei Adorno und Horkheimer sich bezeichnen ließe – und verweist so auch auf den Zusammenhang mit dem äußeren Opfer, welcher letztlich als Verinnerlichung des äußerlich Vollzogenen sich ausdrückt: »Die Geschichte der Zivilisation ist die Geschichte der Introversion des Opfers. Mit anderen Worten: die Geschichte der Entsagung.«256 . Der Verzicht auf die Freiheit und das Glück des Augenblicks zugunsten von Sicherheit und Dauer, also eben die Ersetzung des Lustprinzips durchs Realitätsprinzip, ist es, was kollektiv wie individuell, phylogenetisch wie ontogenetisch, Zivilisation verlangt. Das in der Konfrontation mit dem Realitätsprinzip dem Selbst abgerungene, übrig bleibende ›Rest-Ich‹, das bemessene Ich, dem allein die instrumentelle Ratio entspringt, so ließe sich sagen, ist der Zivilisationsbringer, ist Odysseus, ist das auf die bürgerliche Gesellschaft zugerichtete Individuum. Jenes derart bemessene Ich aber ist seit je ein Einsames, das in den anonymen und systemischen Institutionen der Gesellschaft seinen Widerhall findet, oder, wie Adorno und Horkheimer formulieren: »Daher gehört zur universalen Vergesellschaftung […] ursprünglich schon die absolute Einsamkeit, die am Ende der bürgerlichen Ära offenbar wird. [Eig. Hervorhebung]«257

254 Eberhard Th. Haas, »Opferritual und Behälter. Versuch der Rekonstruktion von Totem und Tabu: Weitere Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker«, a.a.O., S. 1130. 255 Theodor W. Adorno/Max Horkheimer [1944], Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, a.a.O., S. 58. 256 Ebd., S. 62. 257 Ebd., S. 69.

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  Maßloses und Inklusion, oder: Überlegungen zur Feier – ›Der Orgiasmus als Träger des Gemeinschaftslebens‹ und das ›Verschmelzen im Kosmos‹ bei Maffesoli ■ Der französische Soziologe Michel Maffesoli unternimmt den Versuch, über eine ›Soziologie des Orgiasmus‹258 in ausschweifenden und rauschhaften Phänomenen wie der Feier das zentrale Moment von Vergemeinschaftung zu erblicken, welches ihm als das notwendige Kompendium jeder Form von stärker reglementierter Gesellschaft gilt. Dem Denken Freuds, das in der periodisch wiederkehrenden, gemeinschaftlichen Feier (und gerade im für diese charakteristischen, temporären Brechen von bestimmten, sonst gültigen, gesellschaftlichen Tabus) ein grundlegendes Element der Kultur zu erkennen glaubte, scheint Maffesolis These in dieser Hinsicht durchaus verwandt. Wenn Maffesoli zudem vom orgiastischen Erleben spricht, meint er die Erfahrung des Verschmelzens mit den Anderen und der Welt,259 das gefühlte Eins-Sein mit dem Kosmos, welches u.a. im Modus des kollektiven Feierns in seiner sozialen wie psychischen Dimension erlebbar wird, aber eben, und das ist der springende Punkt, auch in verschiedensten Formen der Alltagssozietät sublim zum Ausdruck kommt. Analogien zu Freuds ›ozeanischem Gefühl‹ drängen sich auf – welches Freud ganz ähnlich als allumfassendes Erleben von Verbundenheit ›mit dem All‹ oder dem ›Ganzen der Außenwelt‹ beschrieb, und das eben nicht nur eine besondere Entwicklungsstufe des Ich-Gefühls darstellt, sondern immer wieder vermittels soziokultureller Phänomene über z.B. Trance oder Ekstase (re-)aktiviert werden könne. Maffesoli bezieht sich dabei allerdings weniger auf Freud, sondern knüpft vielmehr an eine in der französischen Soziologie verankerte Gedankenfigur an, die, wie Reiner Keller bemerkt, zurückgeht auf das ›Collège de Sociologie‹260 . Das ›Collège de Sociologie‹, ein loser Zirkel von Intellektuellen (darunter insbesondere Georges Bataille, Michel Leiris und Roger Caillois), hatte sich in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts mit Momenten des Gemeinschaftlichen generell befasst und die Auffassung vertreten, jene würden der Vereinzelung, die speziell in der modernen Gesellschaft drohe, entgegenwirken, und so gerade dem Totalitarismus und Faschismus vorbeugen – letztere nämlich deutete das Collège de Sociologie sozusagen als organisiert-künstliche und eben nicht organisch-natürliche Formen von Gemeinschaft. Maffesoli übernimmt diese Gedankenfigur in Teilen, flicht aber eine große Zahl weiterer Theorieströmungen in seine Überlegungen mit ein. Keller führt dies näher aus: »Maffesoli verknüpft philosophisch-marxistisch-utopische Traditionen kritischer Theorien – von George Lukács über Ernst Bloch, Georges Bataille, die Frankfurter Schule bis hin zu Henri Lefèbvre und dem Situationismus – mit den an Nietzsche geschulten Positionen von Max Weber und vor allem Georg Simmel sowie der Existenzphilosophie Martin Heideggers […].«261

258 Michel Maffesoli, Der Schatten des Dionysos. Zu einer Soziologie des Orgiasmus, Frankfurt a.M. 1986. 259 Reiner Keller schreibt in seiner Darstellung der Soziologie Maffesolis, dass Maffesoli dem spezifisch »postmodernen Verhältnis von Natur und Gesellschaft« eine »Wiederkehr der Suche nach ›kommunikativen Beziehungen‹ zwischen den Menschen und ihrer Umwelt [eig. Hervorhebung]« attestiere. (In: ders., Michel Maffesoli. Eine Einführung, Konstanz 2006, S. 76.) 260 Siehe dazu: Reiner Keller, Michel Maffesoli. Eine Einführung, a.a.O., S. 48-52. 261 Ebd., S. 24.

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Gleichwohl bettet Maffesoli diese Strömungen in einen lebensphilosophischen und durchaus mythologisch-allegorisch gefärbten Duktus ein. Diese Vorgehensweise provoziert Kritik, hat aber sicher ihre Berechtigung. Kritisieren ließe sich etwa die damit verbundene, etwas mangelhafte systematische Stringenz seiner Ausführungen; vorteilhaft an dieser Vorgehensweise scheint dahingegen die Breite an gedanklichen und emotionalen Assoziationen, die sie beim Leser hervorruft und somit Maffesolis Bemühen um eine auch sinnliches Wissen einbeziehende Wissenschaft jenseits der reinen Rationalität gerecht wird. Beispielsweise spricht Maffesoli oft vom ›Dionysischen‹ und vom ›Prometheischen‹.262 Das ausschweifend-rauschhaft ›Dionysische‹ sieht Maffesoli dabei in diametralem Gegensatz stehen zum arbeitsam-nüchternen ›prometheischen‹ Prinzip. In metaphorischer Form findet sich in diese beiden gegensätzlichen Termini gekleidet durchaus Freuds Lust- bzw. Realitätsprinzip wieder. Beide Pole definieren im Wechsel und Widerstreit, dialektisch, die Gestaltungen der Psyche wie des Sozialen. Während also Maffesoli davon ausgeht, dass »das elementare Gemeinschaftsleben sich einem amorph-unbestimmten Zustand zuneigt«, sieht er dessen Widerpart in einer »produktivistischen Technostruktur«.263,264 Gleichwohl bemerkt er, ganz im dialektischen Sinn, das beide sich gegenseitig bedingen, und formuliert so in Anlehnung an Freud: »Würde sich ein Realitätsprinzip, das sich dem Lustprinzip gänzlich verschlösse, nicht selbst verneinen?«265 Diese von ihm aufgeworfene Frage beantwortet Maffesoli dergestalt, dass er immer wieder auf die Notwendigkeit scheinbar ›zweckfreier‹ sozialer Relationen hinweist (die dem Lustprinzip, und damit letztlich auch der Empfindung von Glück, eng verhaftet bleiben) und betont, dass ohne diese, die scheinbar ›nützlichen‹ sozialen Relationen (die der Verankerung des Realitätsprinzips und damit der Produktivität dienlich sind) ihre Sinnhaftigkeit verlieren würden.266 Dabei bedient sich Maffesoli interessanterweise eines Vokabulars, welches das Maß – und das Maßlose – als geeignete Beschreibungen jener divergierender Bereiche des Sozialen gerechtfertigt scheinen lässt: »Es ist unmöglich, aber vor allem auch uninteressant, das Glück (den Begriff hier ganz unkritisch benutzt) zu vermessen, denn uns fehlen die Kriterien, nach denen ein solches Maß zu eichen wäre. [Eig. Hervorhebungen]«267 Und Maffesoli bemerkt weiter, dass »unser heutiger Positivismus, der in jener Sozialwissenschaft des 19. Jahrhunderts wurzelt […], ganz verstohlen von der Proble-

262 Vgl. dazu auch die tabellarische Darstellung von Maffesolis Verständnis ›moderner‹ (prometheischer) wie ›postmoderner‹ (dionysischer) Gesellschaftsmerkmale durch Reiner Keller, in: ders., Michel Maffesoli. Eine Einführung, a.a.O., S. 34. 263 Michel Maffesoli, Der Schatten des Dionysos. Zu einer Soziologie des Orgiasmus, a.a.O., S. 27. 264 Bezüglich der von Maffesoli dargestellten Dialektik dieser beiden Pole des Sozialen meint Reiner Keller: »Maffesoli sieht […] auf der Ebene des Alltagslebens den Ort einer a-politischen und widerständigen Sozialität, die sich die verschiedenen Totalitarismen und ihre ›Erstickungsversuche‹ der vitalistischen Dynamik des Gesellschaftlichen vom Leibe zu halten vermag. […]. Es handelt sich um in ›organischen Solidaritäten‹ verankerte Praktiken des Schweigens, der List, der kleinen Illegalismen, in denen eine schöpferisch-kreative Energie zum Ausdruck kommt.« In: ders., Michel Maffesoli. Eine Einführung, a.a.O., S. 93. 265 Michel Maffesoli, Der Schatten des Dionysos. Zu einer Soziologie des Orgiasmus, a.a.O., S. 33. 266 Vgl. ebd., S. 33f. 267 Ebd., S. 32.

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matisierung des Maßbegriffs zu seiner Anwendung übergeht.«268 Jenes »Abzählen und Messen«269,270 aber, das so deutlich den rationalen Forderungen des Realitätsprinzips entspricht, muss an seine Grenzen stoßen, so es mit dem eigentlich Maßlosen, das stets ans Lustprinzip gekoppelt bleibt, konfrontiert wird. Zwar gelte dem »BerechenbarkeitsPhantasma der Macht« alles, »insbesondere das Glück des Volkes als meßbar«;271 doch wer »kann uns sagen, ob der Mensch der Antike mehr genossen oder ein erfüllteres Leben hatte als der heutige Mensch und ob dieser ein intensiveres Dasein führt als ein Mensch der Renaissance?«272 Maffesoli fordert also nichts weniger, als eine Sozialwissenschaft und Gesellschaftsorganisation, die dem Unberechenbaren Tribut zollt und sich nicht aufs bloße Quantifizieren versteift, sondern dem freien Fluß von Qualitäten Raum gibt: »Der öffentliche Dienst, die Technostruktur, die Sozialarbeit usw. schematisieren und kanalisieren das ganze Dasein. Die Soziologie ufert in Statistik aus, und der Zusammenhang, ob man will oder nicht, bewirkt Schranken und Dämpfer und macht die gesellschaftliche Beweglichkeit (effervescence) und die alltägliche Verausgabung (dépense populaire) verrechenbar. Gerade wie der neueste Dreh, auf den eine Regierung kommt, so macht auch die positivistische Technostruktur auf das kollektive ›Verplempern‹ Jagd, das doch Strukturelement jeglicher Sozialität ist. Nun denn, im Zählen und Messen liegt ein Leugnen. […] Und gleich dem Zauberlehrling kommt eine Gesellschaft, die nicht mit der coincidentia oppositorum umzugehen weiß, in die Gefahr, der katastrophalen Explosion dessen, was sie verneint und genau deshalb nicht zu meistern gewusst hat. Produktivitäts-Phantasma, ungebrochene Produktivität, Eindimensionalität, das sind Panzerungen, die so eng sind, daß sie ein Auseinanderbersten zur Folge haben. Es geht also darum, dem emsigen Prometheus vorzuführen, wie sehr die Sozialität den lärmenden Dionysos braucht. [Hervorhebungen durch Maffesoli]«273 Jenes so notwendige ›dionysische‹ Element, das uns auch in unserer alltäglichen Lebenswelt ständig begegnet benennt Maffesoli ganz konkret als »karnevaleske Sexualität, Weinfeste, Zechereien im Bierzelt, die studentischen Gelage oder Narrenfeste, Versammlungen mit religiösem oder halbreligiösem Charakter«274 und formuliert weiter: »[…] all diese Phänomene sind von den ihnen eigenen Anzüglichkeiten und Entgleisungen begleitet und bieten eine Gelegenheit, funktionelle Zuweisungen, Nützlichkeitserwägungen und Produktionszwänge zu durchkreuzen«275 . Im dionysischen Prinzip erkennt Maffesoli eine multidimensionale und bewegliche Ordnung, eine Ordnung der 268 Ebd. 269 Ebd. 270 Rainer Funk schreibt bzgl. des Rechnens und Messens im digitalen Zeitalter: »Eben weil alles Sinnen und Trachten auf das Rechnen und Zählen und auf das Anhäufen von Zahlen zielt, kann eine Grundstrebung entstehen, bei der Menschen vom Leblosen, weil Berechenbaren, mehr angezogen werden als vom Lebendigen und Unberechenbaren.« In: ders., Der entgrenzte Mensch. Warum ein Leben ohne Grenzen nicht frei, sondern abhängig macht, a.a.O., S. 70. 271 Michel Maffesoli, Der Schatten des Dionysos. Zu einer Soziologie des Orgiasmus, a.a.O., S. 31. 272 Ebd., S. 32. 273 Ebd., S. 32f. 274 Ebd., S. 109. 275 Ebd.

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(Kon-)Fusion, die sich nicht größer unterscheiden könnte von der eindimensionalen, starren, disziplinarischen Ordnung des prometheischen Systems der Zwänge und Notwendigkeiten.276 Ohne eine immer wiederkehrende Befruchtung durch das Dionysische, wäre jene prometheische Ordnung zur unerträglichen Versteinerung verdammt. Deutlich wird in der obig zitierten Passage außerdem, wie auch Maffesoli sich nicht allein der Metaphorik des Maßes und des Maßlosen bedient, um divergierende Bereiche des Sozialen zu beschreiben, sondern diese zur Veranschaulichung ihrer Wirkung auch noch mit Umschreibungen hinterlegt, die ans stofflich Feste (›Panzerungen‹, ›Auseinanderbersten‹) oder Flüssige (›Beweglichkeit‹, ›kanalisieren‹) erinnern. Die bewegliche Ordnung des Dionysischen, letztlich das vermeintliche Chaos, stellt Maffesoli dabei nicht simpel der starren Ordnung des Prometheischen gegenüber, sondern erblickt in beiden zwei sich bedingende Gegensätze des sozialen Lebens, die im Grunde somit Freuds paradigmatischer Dichotomie von Opfer und Feier entsprechen, welche ja ihre Synthese erfährt in der kulturellen Institution der Opfer-Feier. Das Ausgelassene Tabu-Brechen des Festes kulminiert dort mit der Strenge des rituellen Opfers und der damit verbundenen tatsächlichen oder symbolischen Gewalt. Der maßlos verbindende Eros und der bemessende und zertrennende Thanatos kreuzen sich in der Opfer-Feier; ein Zusammenhang, der auch Maffesoli klar vor Augen steht. Erinnert man sich nun der Ausführungen Girards zum Opfer, so gewinnen Maffesolis Reflexionen noch einmal zusätzlich an Überzeugungskraft: »Ob Caillos und Huizinga in ihren klassischen Arbeiten über das Spiel oder, in jüngerer Zeit, J. J. Wunneberger in einem Standardbuch zu dieser Frage, überall gilt, daß das Fest an das ursprüngliche Chaos rührt, das ein Element der bestehenden Ordnung bleibt. Und eben darum schlägt es auch immer über die Stränge. Nationale, religiöse oder Volksfeste feiern immer ein Verbrechen, einen Akt des Ungehorsams, eine Re-

276 Maffesoli greift mit dieser Dichotomie vom Dionysischen und Prometheischen sicher auch zurück auf die ungemein fruchtbaren Ausführungen Michail Bachtins zum Volksfest, zum Karneval und zur ›Lachkultur‹, welcher dieser in detaillierten Schilderungen der Alltagskultur gegenüberstellt. (Bachtins literaturwissenschaftliche, sprachphilosophische und soziologische Analyse des Karnevals, als eines vermeintlich regellosen, chaotischen Bereichs innerhalb einer ansonsten reglementierten und geordneten Gesellschaft dürfen darüber hinaus verstanden werden als verdeckte Gesellschaftskritik, die er am stalinistischen System nur in dieser Form äußern konnte). Siehe dazu: Michail Bachtin [1929/1965], Literatur und Karneval. Zur Romantheorie der Lachkultur, München 1969. Vielfältige Querbezüge zu Bachtins ›Lachkultur‹ lassen sich auch ziehen ausgehend von: Kai Rugenstein, Humor. Die Verflüssigung des Subjekts bei Hippokrates, Jean Paul, Kierkegaard und Freud, Paderborn 2014. In seiner Studie zum Humor betont Rugenstein zudem immer wieder die lustvolle, verflüssigende Qualität, die mit dem Lachen einhergeht. So z.B. wenn er schreibt: »Humor ist Flüssigkeit. Humor lässt sich nicht feststellen. Aber es lassen sich aus verschiedenen Winkeln Blicke auf das Flüssige, das der Humor ist, werfen. Blicken wir ins Flüssige hinein, dann entsteht, das richtige Licht vorausgesetzt, an seiner Oberfläche eine faszinierende imagininäre Erscheinung: eine Spiegelung. Im Flüssigen sehen wir, die Blickenden, ein Bild von uns selbst. Das Flüssige zeigt uns, wie wir sind.« In: ders., ebd., S. 14. (Eig. Anm.: Erst in Kap. 3.2 der hier vorliegenden Arbeit wird es möglich sein, in den Begriffen des mythologischen ›Spiegels des Narziss‹ bzw. der psychologischen ›narzisstischen Spiegelung‹ die Implikationen einer solchen Sichtweise auf Verflüssigung als entdifferenzierendes Phänomen näher zu erörtern.)

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volte, den Tod eines Gottes oder eines berühmten Menschen. Es handelt sich immer um ein ursprungsstiftendes Verbrechen.«277 Das ursprungsstiftende Verbrechen aber, das ursprüngliche Hinopfern eines Sündenbocks, ist es ja, was Girard anstelle des dahingemordeten Stammvaters bei Freud setzte. Ein eigentlich unschuldiges Individuum, so war ja Girards These, wird in der Krise geopfert, um so als »Blitzableiter« die Gewalt des Kollektivs auf sich zu ziehen, die ansonsten sich entladen würde in endlosen Streitereien oder Kriegen innerhalb des Gemeinwesens. Das Wesen der kollektiven Feier wie das des individuellen Opfers bleibt somit den in späteren kulturellen Stufen vollzogenen, sublimeren Formen des Festes tragischerweise weiterhin immanent. So kann Maffesoli, ganz treffend (und zwar sowohl vor dem Hintergrund der freudschen Ausführungen als auch derjenigen Girards) sprechen von der »Verbindung, die das Fest mit dem Tod eingeht«278 ; und, noch deutlicher: »Im Fest als Kristallisationspunkt der Stärke des Gemeinschaftslebens steckt viel von Maßlosigkeit und Tod [eig. Hervorhebungen]«279 . Der maßlos verbindende Eros wie der bemessende und zertrennende Thanatos schaffen Strukturen in den Beziehungsgeflechten, die den sozialen Raum durchziehen; Strukturen, die im Urgrund der Kultur, wie Freud es nennen dürfte, also in der Opfer-Feier, als zuerst, und am eindrücklichsten angelegt, begegnen. »Der Eros verfugt und strukturiert die Sozietät, er gibt dem Individuum den Anstoß, sich zu überschreiten und in einem größeren Ganzen zu verlieren«280 , so Maffesoli. Dem hinzuzufügen aber wäre: Auch der Thanatos strukturiert, nämlich indem er wiederum Grenzen setzt, und zwar durchaus gewaltsam. Auch dieses Faktums ist sich Maffesoli selbstverständlich bewusst: »Ohne uns lange dabei aufzuhalten, weisen wir daraufhin, daß die Anthropologen zeigen konnten, wieviel die politische Ordnung der ursprünglichen oder der punktuell durchschimmernden Unordnung verdankt. […] Indem man die Verhöhnung der Ordnung fingiert, erneuert man sie. Die Saturnalien, die Narrenfeste281 , der Karneval – all diese Erscheinungsformen der punktuellen Inversion schärfen die Wahrnehmung dafür, was vom Chaos droht, und stabilisieren insofern die ›Bindung an den bestehenden Zustand‹282 . Wie dem auch sei, das Spiel, die Maßlosigkeit, die soziale Inversion rufen ins Gedächtnis, dass der Tod in der Welt strukturell anwesend ist.«283 Dabei lässt sich eigentlich die strukturierende Funktion vom maß- und grenzenlosen, verbindenden Eros wie dem bemessenden, begrenzenden und zertrennenden Thana-

Michel Maffesoli, Der Schatten des Dionysos. Zu einer Soziologie des Orgiasmus, a.a.O., S. 96. Ebd., S. 89. Ebd., S. 96. Ebd., S. 77. Anm. des Übersetzers von Maffesoli: »Das Narrenfest, Fête de Fous, wird am ›unschuldigen Kindleinstag‹ gefeiert; es ist ein Fest mit ausgesprochen religiösem Charakter, das gößtenteils in geweihten Räumen stattfand; es inszeniert eine auf den Kopf gestellte kirchliche Hierarchie. – Das Narrenfest ist schon verhältnismäßig früh Einschränkungs- und Verbotsversuchen ausgesetzt gewesen; seine Tradition bricht gegen Ende des 16. Jahrhunderts ab.« 282 Georges Balandier, »Ruse et politique«; in: La ruse. Cause Commune, Collection 10-18, zitiert nach Michel Maffesoli; in: ebd. S. 97. 283 Ebd., S. 96f. 277 278 279 280 281

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tos ganz im Sinne Maffesolis verstehen als Wechselbeziehung zwischen »Aggregation und Desaggregation«284 . Mit Maffesoli lässt sich so folgern: »Diese Bewegung, die ihren Widerhall im Kosmos hat, verkörpert sich selbstverständlich in allen Gesellschaften.«285 Dass nun diese Strukturierung und Formung (deren eigentümliche Dynamik sich ja entfaltet aus dem Widerstreit eines entgrenzenden Prinzips einerseits mit einem begrenzenden andererseits) einhergeht mit maßlosen bzw. bemessenden Erfahrungsqualitäten, findet sich durchaus auch bei Maffesoli angelegt, so wenn er schreibt: »Überall, vom Totemismus bis hinauf zu den entwickelten Religionen, findet man das Gefühl von einem Unpersönlich-Unendlichen, das mehr oder weniger sichtbar seine Spuren im Alltag hinterläßt«286 . Maffesoli spricht diesbezüglich sogar dezidiert von einem »Unendlichkeitsgefühl«287 – und lässt damit Assoziationen an Freuds ›ozeanisches Gefühl‹ aufkommen. Umgekehrt spricht Maffesoli wiederum auch von »Ichzersplitterung« und setzt diese in die Nähe der Erfahrung des Todes.288 Diese psychischen Erfahrungs- und Erlebnisqualitäten des maßlos-verbindenden Charakters des Eros bzw. des bemessendtrennenden des Thanatos manifestieren sich im sozialen Raum als strukturelle Varianzen des Beziehungsgeflechts und gelangen schließlich zum Ausdruck auch in den entsprechenden Phänomenen gesellschaftlicher Praxis. Oder, wie Maffesoli formuliert: »Während also die einwertige Ordnung, sich auf das Leben berufend, zu Eliminationen schreitet, Ausschließungen vollzieht und alles zurechtstutzt, was ihr in den Weg tritt, wenn sie also letzten Endes zur tödlichen Belastung wird, wird die dionysische Unordnung, die jedes Ding eingliedert, und ihm seinen Platz gibt zur sichersten Gewähr einer dynamischen Vitalität. [Eig. Hervorhebungen]«289 So zeichnet sich in Grundzügen schon bei Maffesoli die hier insbesondere im nun folgenden Kapitel zu vollziehende Scheidung des sozialen Raumes ab, und zwar in a) einerseits vom verbindenden Eros in all seinen Variationen geprägte biomorphe relationale Formationen (›dynamische Vitalität‹), welche inkludierend (›eingliedernd‹) wirken, sowie b) andererseits in stärker von Manifestationen des zertrennenden Thanatos durchwirkten, thanatomorphe relationale Formationen, welche Auslöschungen (›Eliminationen‹) und Exklusionen (›Ausschließungen‹) erzeugen und dabei bemessend (›zurechtstutzend‹) wirken und so real oder virtuell ›tödliche‹ Strukturierungen im sozialen Raum etablieren. Maffesolis Fokus auf die dem orgiastischen Prinzip der Feier zugrunde liegenden Strukturmechanismen (als Ergänzung zur bereits gegebenen Erörterung von Girards Konzentration auf die dem Opfer zugrunde liegenden Mechanismen) erweisen sich somit als notwendige Reflexionsstufen, um zu einem tieferen Verständnis von biomorphen bzw. thanatomorphen relationalen Formationen gelangen zu können.

284 285 286 287 288 289

Ebd., S. 96f. Ebd., S. 97. Ebd., S. 96. Ebd. Ebd., S. 97. Ebd., S. 155.

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Von der ›Opfer-Feier‹ zu thanatomorphen und biomorphen relationalen Formationen; vom ›Ödipus-Komplex‹ zum relationalen Komplex – Zu einer psychoanalytisch-sozialpsychologisch intersubjektiv orientierten gesellschaftstheoretischen Grundlegung ■ Die reale oder sublimierte Opfer-Feier als eine in allen Kulturen anzutreffende, soziale Institution (und, geht man mit Freud: die in allen Kulturen ursprünglichste) vereint in sich sowohl das Verbindende und Maßlose des Eros (nämlich vermittels der Etablierung unkonventioneller, tabubrechender Relationen, welche das Verschmelzen in der Gemeinschaft über die kollektive Feier befördern) als auch das Trennende und Bemessende des Thanatos (und zwar über die Manifestation von Gewalt am symbolischen, realen oder aber stellvertretenden Opfer, welche die Aufrechterhaltung der herrschenden Ordnung fatalerweise gewährleistet). Um die Opfer-Feier entspinnen sich somit inkludierende bzw. exkludierende soziale Dynamiken, die begegnen als Ausdruck verbindender wie trennender Kommunikation und Interaktion; ›chaotische‹ Vergemeinschaftung (in der Feier) geht einher mit ›ritueller‹ Vereinzelung (des Opfers).290 Das maßlos Gemeinsame wie das bemessen Einsame kristallisieren sich heraus als Dimensionen des Sozialen, die – beide – in den um die Opfer-Feier sich entwickelnden Dynamiken ihren Ursprung haben. Lustprinzip wie Realitätsprinzip erweisen sich dann als Regulative der jeweiligen biomorphen oder thanatomorphen relationalen Formationen, welche um die so zentrale – reale oder sublimierte – Institution der Opfer-Feier kreisen. Grundlegende Mechanismen, die ansonsten scheinbar unsichtbar und untergründig die intersubjektiven Netzwerke (welche den sozialen Raum ja überhaupt erst konstituieren) durchziehen, treten so im Phänomen der Opfer-Feier überdeutlich zutage.291 Diese um die Opfer-Feier sich manifestierenden Dynamiken rufen das Bild eines zugleich schöpferischen und zerstörerischen Aktes hervor: Entstehen und Vergehen liegen dicht beieinander; Struktur und Form bilden sich oder erneuern sich. Die OpferFeier, und ihr Analogon, der Ödipus-Komplex, fungieren so eigentlich schon bei Freud als Synonyme für soziale wie psychische Strukturbildung im Allgemeinen. Solche Strukturbildungsprozesse hat Henning Laux auf besonders eingängige Weise in eine evolutionär-prozessuale Logik zu abstrahieren vermocht. So spricht er treffend vom »sozialen Urknall«292 wenn er den Vorgang erster sozialer Strukturgenese in dieser Hinsicht als »Kollisionsphase«293 beschreibt: »Das Soziale, so die hier vertretende Kernthese, ist 290 Das Opfer bildet den Gipfel sozialer Exklusion, es ist dem Tod geweiht, es ist radikal einsam; es ist das brutal dem Realitätsprinzip unterworfene Individuum. Die Feier dahingegen nimmt sich aus als Höhepunkt sozialer Inklusion: Sie ist ein Ausbruch an Lebendigkeit, frönt dem Lustprinzip und löst die Grenzen der Einzelnen auf im Kollektiv. Der dialektische Zusammenhang beider Phänomene ist so offensichtlich wie fatal. 291 Stephan Fuchs betont, dass ein wichtiges Kriterium für das Verständnis von Netzwerken generell die Unterscheidung von Kern und Randbereich sei: »Das Zentrum birgt diejenigen Bestandteile und Relationen, die für das gesamte Netzwerk von tragender und grundlegender Bedeutung sind«. In: ders., »Kulturelle Netzwerke: Zu einer relationalen Soziologie symbolischer Formen«; in: Jan Fuhse/Sophie Mützel (Hg.), Relationale Soziologie. Zur kulturellen Wende der Netzwerkforschung, Wiesbaden 2010, S. 57. Die Opfer-Feier (und der ihr zugrunde liegende Ödipus-Komplex) aber muss dann unbedingt als solch ein Gravitationszentrum relationaler Formationen im psychosozialen wie soziokulturellen Bereich aufgefasst werden. 292 Henning Laux, Soziologie im Zeitalter der Komposition. Koordinaten einer integrativen Netzwerktheorie, Weilerswist 2014, S. 161. 293 Ebd., S. 161.

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nicht einfach gegeben, es entwickelt sich aus einem Zusammenprall heterogener Elemente, es entsteht aus einem relationalen Gemenge [eig. Hervorhebung]«294 . Auf diese urwüchsige und noch chaotisch-amorphe soziale Situation folge dann mit einem Stadium zunehmender Konturierung die »Komposition«295 : »Während der Kompositionsphase befinden sich Strukturen in einem umkämpften Schwebezustand. Einerseits ist längst nicht mehr alles beliebig, flüssig und offen, denn es wurden bereits zahlreiche ›harte Fakten geschaffen‹. Andererseits wirkt trotzdem alles irgendwie unfertig, provisorisch, vorläufig, umstritten und anfechtbar. Die damit verbundene Unsicherheit befördert eine antagonistische Dynamik von Anerkennung und Missachtung, Identität und Differenz, Grenzziehung und Entgrenzung, Platzierung und Deplatzierung, Verdinglichung und Entdinglichung, Differenzierung und Entdifferenzierung. Die Elemente flimmern und pulsieren, denn die Distanzen, Identitäten, Kompetenzen, Rollen, Funktionen, Ressourcen und Kräfte sind noch nicht bestimmt. Die Grenzen bleiben geöffnet, die Komposition ist in vollem Gange. [Eig. Hervorhebungen]«296 Laux fährt fort: »Sobald der Kompositionsprozess endet, ist die Struktur […] entweder zerstört oder institutionalisiert«297 . Strukturierte Praxis im Sinne einer Institutionalisierung aber geht immer mit einer Verhärtung vormals flüchtiger Relationen einher.298 Relationen, nicht nur zwischen Subjekten, sondern auch von Subjekten zu Objekten (oder von Objekten zu Objekten) seien wesentlich für diese Fixation der Struktur;299 ein zunehmend deutlich konturiertes Netzwerk an Relationen etabliere sich:300 »Die Form der Strukturierung ist nicht länger variabel und umstritten, sondern klar bestimmt. Sie schreibt ihren Programmcode in Körper ein, sie institutionalisiert sich und überlebt als inskribierte Erinnerung auch längere Phasen der NichtAktualisierung. Die Assoziation schließt und stabilisiert sich und erweckt fortan den

294 295 296 297 298 299 300

Ebd. Ebd., S. 163. Ebd., S. 165. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 166. Vgl. dazu auch die zunehmend relationale Grundlegung der Netzwerktheorie insgesamt, wie sie bspw. Boris Holzer und Johannes F. K. Schmidt auf den Punkt bringen: »Die Grundeinheit des Sozialen ist weder der Handelnde allein, noch die Beziehung zwischen zwei Handelnden, sondern gerade die Dualität von Handelndem (›node‹) und Beziehung (›tie‹) [eig. Anm.: Es folgt eine in einer Fußnote gegebene ausführliche Überlegung der beiden Autoren, die hier aufgrund des Umfangs nicht wiedergegeben wird]. Erst die Differenz von ›nodes‹ und ›ties‹ konstituiert deren jeweilige Bedeutung: Der Knoten wird zum Knoten erst dadurch, dass er in eine Beziehung zu einem anderen Knoten eingebunden ist; umgekehrt wird die Beziehung als Beziehung erst konstituiert dadurch, dass sie eine Relationierung von Knoten darstellt. Plakativ formuliert: Ohne Beziehung gibt es keine Knoten, genauso wie die Beziehung ohne Knoten nicht nur im übertragenen Sinne ›in der Luft hängt‹. Netzwerke, als die genuine Form von Sozialität müssen dann verstanden werden als eine Relationierung von Relationen […]. [Kursivsetzungen durch die Autoren]« In: dies., »Theorie der Netzwerke oder Netzwerk-Theorie?«; in: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie, 15. Bd., 2/2009, S. 234.

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Anschein eines homogenen Gebildes, das sich klar von seiner Umwelt unterscheiden lässt. Die komplexe, vielschichtige und prekäre Textur des Netzwerks verschwindet hinter Ideologien, anonymen Codes, Routinen, Automatismen und Standards.«301 Von einem »politischen System« oder einer »Religionsgemeinschaft« oder dergleichen relationalen Instanzen im sozialen Raum könne erst dann die Rede sein.302 Die einmal institutionalisierte Struktur aber sei fortan immer einem »Unordnungsmechanismus«303 ausgesetzt: »Denn der Prozess der Dekonstruktion [Hervorhebung durch Laux] unterläuft, zersetzt, attackiert, infiltriert, erodiert und zerstreut die zuvor eingegrenzte, definierte, fixierte und stabilisierte Einheit. Er zeigt die sorgfältig inkorporierte Struktur in ihrer nackten Kontingenz und eröffnet durch die Freilegung des zugrunde liegenden Netzwerks aus heterogenen Elementen den Blick auf die Reversibilität der Gefüge […]. […] Der Mechanismus der Dekonstruktion verhindert die Befestigung einer unveränderlichen und totalen Struktur, mit der Situationen vollständig und endgültig geschlossen werden könnten […]. Die Dekonstruktion zeigt befreiende Effekte, sie zerbricht eingeschriebene Routinen und Gewissheiten und ermöglicht dadurch Transgression, Innovationen, Kreativität und abweichendes Verhalten. Die ursprünglich gezogenen Grenzen werden unscharf, verblassen oder verschwinden; die Elemente und ihre Relationen werden neu gemischt, arrangiert und bestimmt; die kulturellen Grammatiken, Erwartungserwartungen, Akteurkonstellationen oder Deutungsroutinen verwandeln sich. Kurzum: Die Strukturen verflüssigen sich. [Eig. Hervorhebungen]«304 Dieser großartigen Schilderung von grundlegenden Strukturierungsmechanismen gilt es nichts hinzuzufügen; lediglich übertragen werden soll sie auf das hier bereits angedachte theoretische Modell biomorpher wie thanatomorpher relationaler Formationen. Diese, vorgestellt als qualitativ divergierende Beziehungsnetzwerke, die den sozialen Raum ja erst aufspannen,305 dürfen folglich nicht als statisch verstanden werden, sondern eben als permanenten Auflösungs- und Neubildungsprozessen unterworfen und darüber hinaus geprägt von gegenseitigen transformatorischen Durchdringungsszenarien. Die Plastizität des sozialen Raums ergibt sich aus diesen beständigen Entdifferenzierungsund Differenzierungsvorgängen der ihn ausmachenden relationalen ›Gebilde‹, aus 301 302 303 304 305

Ebd., S. 167. Vgl., ebd. Ebd., S. 170. Ebd., S. 170f. Laux formuliert im Hinblick auf die gedankliche Konsequenz einer relationalen Soziologie: »Die soziale Welt wäre dann kein System […], sondern ein komplexer Beziehungsraum [Eig. Hervorhebung].« In: ebd., S. 74. Und Martina Löw und Gunther Weidenhaus zitieren zudem Jeff Malpas, der derartige, schon von Manuell Castells angestoßene, und auch hier propagierte, netzwerkhafte Raumvorstellungen beschreibt (um sie aber durchaus zu kritisieren), mit den Worten: »space appears as a swirl of flows, networks, and trajectories, as a chaotic ordering that locates and dislocates, and as an effect of social process, that is itself spacially dispersed and distributed.« In: Jeff Malpas, »Putting Space in Place: Philosophical Topography and Relational Geography«; in: Environment and Planning D: Society and Space 30, 2, S. 228, zitiert nach Martina Löw und Gunther Weidenhaus; in: dies., »Borders that relate: Conceptualizing Boundaries in Relational Space«; in: Current Sociology Monograph 2, 65, 4/2017, S. 554 (der genannte Verweis auf Castells findet sich ebd.).

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ihrer immerwährenden Option zur Verflüssigung oder Verfestigung. Im gleichen Maße wäre dann die ebenfalls zur Diskussion gestellte Vorstellung des psychischen Raumes als geprägt zu verstehen, von netzwerkartig zu Instanzen oder Repräsentanzen verdichteten Internalisierungen äußerer Kommunikations- und Interaktionserfahrungen im maßlosen Selbst wie bemessenen Ich. Auch diese sind ja nicht allein als stärker verflüssigte oder verfestigte Bereiche der Psyche gedacht, sondern als zudem in einer dialektisch-transformatorischen Wechselbeziehung zueinander stehend. Auch hier tut sich das Bild eines dynamischen Raumes auf. Diese Dynamik ergibt sich, so ließe sich sagen, aus dem Wechsel von Aggregatszuständen von Struktur, die mit deren Entstehen, Vergehen, und Neu-Entstehen verbunden sind. Selbstverständlich aber geht jede Dynamik, immer, auf das primäre Movens der psychosozialen Welt zurück: den Trieb. Der verbindende Eros und der trennende Thanatos, sowie verknüpft mit ihnen, das maßlose Lustprinzip und das bemessende Realitätsprinzip, liegen am Grund jeglicher Denk-, Sprach-, und Handlungszusammenhänge und formen psychische wie soziale Struktur im Sinne basaler Anziehungs- und Abstoßungsmechanismen. Die Stärke des theoretischen Modells, das Henning Laux zum Verständnis der Strukturbildung anbietet, liegt in dessen Verschmelzung von evolutionären mit dialektischen Entwicklungsmodellen und zwar unter dem Gesichtspunkt der Netzwerktheorie. Evolutionär bietet er ein eigentlich klassisches Stufenmodell an, welches über die Phasen Kollision, Komposition, Institutionalisierung, Dekonstruktion Prozesse sozialer Strukturbildung hinsichtlich der Genese relationaler Netzwerke nachzuvollziehen erlaubt;306 dialektisch ist dieses Theorem u.a. deshalb, weil es die Einbeziehung des auf Tönnies zurückgehenden Gegensatzpaars ›Gemeinschaft/Gesellschaft‹ in diese Strukturanalyse ermöglicht. Auf vielerlei Weise bieten sich so von Lauxʼ integrativer Netzwerktheorie Querverbindungen zu den hier dargelegten Überlegungen an, so z.B. wenn Laux nach einer ausführlichen Gegenüberstellung der vormodernen ›Gemeinschaft‹ mit der typisch modernen ›Gesellschaft‹ zu dem Fazit gelangt, das Soziale heute (selbstverständlich gerade auch in den spätmodernen Gesellschaften) könne nur mehr über den Terminus und Gegenstand des ›Netzwerks‹ erschlossen werden.307 Die hier vertretene These lautet nun aber, dass, wenn Laux Netzwerke aber gerade auch als »transhistorische Fundamente von Sozialität«308 begreift, ein so zentrales Moment, wie die kulturstiftende Opfer-Feier nicht verstanden werden kann, ohne die Verwendung eines Netzwerkbegriffs. Und gerade die Opfer-Feier, als Ursprung von Kultur, ist durchzogen von relationalen Formationen, die begegnen als mehr oder weniger stark definierte intersubjektive Netzwerkstrukturen; denn die Feier als Idealtypus einer biomorphen relationalen Formation muss gesehen werden als mehr oder minder spontan sich etablierendes Beziehungsgeflecht inkludierenden Charakters; Subjekte als Knotenpunkte des Netzwerks werden über Kommunikation und Interaktion in großer Zahl einbezogen; der Eros als Triebkraft zwischenmenschlicher Beziehungen wirkt hier integrierend und dehnt das Netz-

306 Vgl. Henning Laux, Soziologie im Zeitalter der Komposition. Koordinaten einer integrativen Netzwerktheorie, a.a.O., S. 160. 307 Ebd., S. 236. 308 Ebd.

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werk beständig über seine Grenzen hinaus aus; knüpft es dichter, und lässt es rasch wachsen; immer weitere Subjekte werden immer rascher Bestandteil des Gewebes, und ihre wechselseitigen Relationen sind verflochten bis hin zum Verschmelzen; ein solches Netzwerk ist transgressiv, wirkt entgrenzend und entdifferenzierend; es ist die biomorphe relationale Formation schlechthin – sie ist vom Eros, und damit von äußerster Lebendigkeit und Lebenskraft durchzogen. Dennoch ist dieser Eros, wie im psychischen, so nun auch im sozialen Raum, potenziell immer geknüpft an seinen Widerpart: Die Feier rührt, wie auch Maffesoli schildert, beständig an den Tod. Die thanatomorphe relationale Formation ist daher ein Komplex aus Sprach- und Handlungsmustern, die exkludierend bis hin zum Eliminierenden wirken; ein Subjekt oder eine Gruppe von Subjekten (das ›Opfer‹) als Knotenpunkte des Netzwerks werden ausgegrenzt oder gar ausgelöscht; die Triebdynamik des Thanatos wirkt dabei desintegrierend und lässt das Netzwerk nicht nur äußerlich an seine Grenzen stoßen, sondern löst Querverbindungen im Inneren zu den bzw. mit den dazugehörigen Subjekten auf: zertrennt sie, schlägt klaffende Löcher ins Beziehungsgewebe – und ein Subjekt oder mehrere stürzen symbolisch oder real aus allen Relationen; brechen nicht nur weg von den Anderen – sondern fallen buchstäblich aus der Welt. Die thanatomorphe relationale Formation erwirkt somit Grenzziehungen und differenziert; formt mit tödlicher Präzision das Netzwerk, steckt es ab, vermisst es. Wo die biomorphe relationale Formation von maßlosem Wachstum und tendenziell nicht endender Aggregation geprägt ist, flüssig geradezu, dynamisch, dort tendiert die thanatomorphe relationale Formation zur Disaggregation, zur Stabilisierung, aber auch zum Abbruch, zum Stillstand, zur Verfestigung. Es ist also notwendig, sich zu vergegenwärtigen, dass eine intersubjektive Neuausrichtung von Freuds »Totem und Tabu« und dessen Kerntheorem, der Opfer-Feier, nur geschehen könnte unter Berücksichtigung netzwerktheoretischer Grundannahmen. Intersubjektivitäts- und Netzwerktheorien aber gehören untrennbar zusammen. Netzwerke (hier geschieden in biomorphe und thanatomorphe relationale Formationen) geben den größeren Rahmen ab für intersubjektive Prozesse im sozialen Raum; und in intersubjektiven Prozessen vollzieht sich (verbindende wie trennende) Kommunikation und Interaktion.309 Letztere korrespondieren mit dem maßlosen Selbst bzw. bemessenen Ich im psychischen Raum der Subjekte. Wenn Freud nun aber die Opfer-Feier als soziales Supplement zum psychischen Ödipus-Komplex begriff, so kommt man, will man das gesamte Gedankengebäude intersubjektiv neu justieren, nicht umhin, auch diesen intersubjektiv zu überdenken. Von großer Bedeutung hierbei ist es, eine weitere Abstraktion vorzunehmen (die es im Übrigen erlauben wird, die Modifikationen, die Girard an der These der kulturellen 309 Jan Fuhse und Sophie Mützel formulieren treffenderweise mit Blick auf den allgemeinen Charakter von Beziehungsstrukturen, die Netzwerken zugrunde liegen (und unter Verweis auf Harrison C. White, Identity and Control: A Structural Theory of Social Action, Princeton, N. J., 1992; sowie: ders., Identity and Control: How Social Formations Emerge, Princeton, N. J., 2008), »[…] dass der vielgestaltige Charakter moderner sozialer Beziehungen dadurch ermöglicht wird, dass Akteure über unterschiedliche soziale Kontexte hinweg Verbindungen herstellen und wieder lösen [eig. Hervorhebung].« In: dies., »Einleitung: Zur relationalen Soziologie. Grundgedanken, Entwicklungslinien und transatlantische Brückenschläge«; in: dies. (Hg.), Relationale Soziologie. Zur kulturellen Wende der Netzwerkforschung, Wiesbaden 2010, S. 13.

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Vatertötung in Richtung einer Elimination eines Sündenbocks vornahm, miteinzubeziehen). Kurzgefasst, und einige Gedankenschritte vorweggenommen, heißt das: Statt vom Ödipus-Komplex wäre nunmehr vom relationalen Komplex zu sprechen. Denn intersubjektiv gewendet, formiert sich der Ödipus-Komplex weniger um den Wunsch nach Elimination der Vaterfigur, sondern schlicht um den Wunsch nach Elimination des ›Dritten‹. Es geht dann in erster Linie um das kindlich-phantasmagorische Bestreben, die Irritation durch einen zusätzlichen Anderen und die damit verbundene Entdeckung von Alterität auszuschalten, und weniger darum, eine beängstigende, repressive paternalistische Figur zu eliminieren. Freuds Theorem (vom Vater) bleibt hier aber dennoch ein weiteres Mal trotz der intersubjektiven Wendung erhalten, und zwar indem nunmehr einfach in leicht abgewandelter Form von dem die Dyade ›störenden‹, triadisierenden ›Dritten‹ zu sprechen ist. Dieser ›Dritte‹ kann nun der Vater sein, muss es aber nicht.310 Es geht schwerpunktmäßig in einer solch intersubjektiven Anschauung nicht mehr um das männliche Prinzip, konkret verkörpert im Vater – sondern um ein abstraktes Strukturmerkmal intersubjektiver Relationen, nämlich um die Funktion des ›Dritten‹. Damit allerdings

310 Ferdinand Sutterlüty vertritt im Übrigen, wie einem persönlichen Gespräch zu entnehmen war, die sicher sehr relevante Auffassung, dass die Funktion des ›Dritten‹ überschätzt werde und die Rolle des ›Vierten‹, ›Fünften‹ in bisherigen Ansätzen kaum gewürdigt werde. Triadische Ansätze bezeichnete er gewissermaßen gar als theoretisches Unterfangen, um den klassisch gedachten ÖdipusKomplex lediglich abstrahiert weiterhin im Zentrum der Psychoanalyse belassen zu können. (Auf diese These soll hier verwiesen werden; ob sie mit der hier im Folgenden gegebenen intersubjektiven Reformulierung des Ödipus-Komplexes konform geht, oder aber diese übersteigt, kann hier leider nicht umfassend diskutiert werden.) Ähnlich, wenngleich weniger drastisch formuliert, bringt Ferdinand Sutterlüty diesen Gedanken mit Sarah Mühlbacher vor: »Von der Grundfiguration der familialen Triade ausgehend, stellen neuere Ansätze klar, dass die Eltern durch andere Personen als Mutter und Vater ersetzt werden können. Das triangulierte Sozialisationsgeschehen bedarf dann nicht mehr der klassischen familialen Personalstruktur, sondern nur noch der Besetzung der entsprechenden Positionen. Überdies könnten diese für die Individuation konstitutiven Positionen von mehr als einer Person verkörpert werden; das heterosexuelle Elternpaar müsse nicht unbedingt rigide Geschlechterrollen mit einem weiblichen und einem männlichen Part repräsentieren; und die elterlichen Positionen in der Triade könnten schließlich durch mehr als zwei Personen sowie durch ein homosexuelles Paar besetzt sein. [Eig. Hervorhebungen]« In: dies., »Wider den Triadismus«; in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 15. Jg., 2/2018, S. 122; unter Verweis ders., ebd., auf »überblicksartige Hinweise« dazu auch in: Martin Dornes, Die Seele des Kindes. Entstehung und Entwicklung, Frankfurt a.M. 2006, S. 305 ff; sowie: Vera King, Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften, Wiesbaden 2013, S. 164f. Vera King macht zudem zwei ›Schwachstellen‹ im Konzept des Ödipus-Komplexes aus, wie er von der klassischen psychoanalytischen Theorie gedacht wird: »Die eine Schwachstelle betrifft ein Verständnis der Weiblichkeit und der weiblichen Genitalität, das vom Eigensinn des weiblichen Körpers und Geschlechts ausginge. Die andere Schwachstelle betrifft – gleichsam komplementär auf der Generationenlinie – die Konzeption der Adoleszenz als entscheidendem Scharnier des Durcharbeitens des ödipalen Konfliktes und insofern eine Theorie der Aneignung der eigenen Genitalität. Das Verständnis der weiblichen Sublimierungsfähigkeiten bleiben dabei, gleichsam als Schnittfläche beider Schwachstellen, die dunkelsten Punkte der Freudschen Theorie – dunkle Punkte, die auch in der Folge nicht immer leicht zu erhellen geblieben sind.« In: dies., »Lösungen des Ödipuskonflikts: Genitalität und Sublimierung«; in: Lilli Gast/Jürgen Körner (Hg.), Psychoanalytische Anthropologie II. Ödipales Denken in der Psychoanalyse, Tübingen 1999, S. 23.

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tut sich eine ganze Welt neuer Bezugspunkte zu psychoanalytischen wie sozialpsychologischen Theorien auf. Jürgen Grieser etwa spricht von der »Vermessung [eig. Hervorhebung] des Dritten«311 und befasst sich ja, wie bereits geschildert, mit ›Triadisierung‹ im sozialen Raum und deren Repräsentation als ›Triangularisierung‹ im psychischen. Mit Grieser lässt sich, wie es allein schon das folgende Zitat verdeutlicht, auf vielfältige Weise eine Brücke schlagen zu den hier bereits erarbeiteten Positionen: »Zur gleichen Zeit, zu der in Wien Sigmund Freud das Geschehen im ödipalen Dreieck erforscht, beschäftigt sich in Berlin Georg Simmel als Soziologe mit der Frage, worin sich die Zweier- von einer Dreiergruppe unterscheidet. Auch er beschreibt in seinen ›Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung‹ die grundsätzliche Konfliktträchtigkeit in der Dreierkonstellation – der hinzukommende Dritte kann zwar einerseits als verbindend und vermittelnd, aber auch als störend und trennend erlebt werden. [Eig. Hervorhebungen]«312 Eingebettet in den intersubjektiven Prozess also zentrieren sich um den ›Dritten‹ beim Übergang von der Dyade zur Triade, entweder verbindende oder trennende Kommunikations- und Interaktionsweisen. Noch deutlicher wird dies, wenn Grieser Arnold Retzer zitiert: »In der Triade entsteht etwas qualitativ anderes als in der Dyade: Jedes einzelne Element kann nun als Zwischeninstanz der beiden anderen wirken und dadurch selbst sowohl verbinden wie trennen. [Eig. Hervorhebung]«313 Stellt man sich die Dyade (beispielsweise in ihrer frühesten Form zwischen Mutter und Kind) als Linie mit verbindenden bzw. trennenden Kommunikations- und Interaktionselementen zwischen zwei Subjekt-Knotenpunkten (Mutter – Kind) vor, so transformiert das Hinzukommen des ›Dritten‹ (der der Vater sein kann, aber nicht muss) die Dyade zu einer Dreieckskonstellation, nämlich der Triade.314 Hier findet sich selbstverständlich das berühmte spezifisch ödipale Dreieck – nimmt sich aber aus als bloßes, immer wiederkehrendes Strukturphänomen, wie es in intersubjektiven Zusammenhängen regelmäßig und ganz allgemein im Sinne von Dreieckskonstellationen zu beobachten ist. Das Dreieck aber ist der Basisbaustein eines jeden Netzwerks (drei Knoten311 312 313

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Jürgen Grieser, Architektur des psychischen Raumes. Die Funktion des Dritten, a.a.O., S. 15. Ebd., S. 19. Arnold Retzer, Systematische Paartherapie. Konzepte – Methode – Praxis, Stuttgart 2004, S. 52, zitiert nach Jürgen Grieser; in: ders., Architektur des psychischen Raumes. Die Funktion des Dritten, a.a.O., S. 21. Vgl. dazu auch Vera King: »Aus der schrittweisen kindlichen Internalisierung triangulärer Erfahrungen ergeben sich innere Triaden, wobei die innere Triade weder zwangsläufig auf konkreten Vater-Mutter-Kind-Beziehungskonstellationen in der äußeren Realität beruhen muss noch automatisch aus solchen resultiert [Hervorhebungen durch King]. Eher ist sie an die Qualität von Beziehungserfahrungen [Hervorhebung durch King] gebunden: etwa an die elterliche Kompetenz, sich sowohl in die Bedürfnisse und Vorstellungen des Kindes einzufühlen als auch Dritte phantasmatisch und/oder interaktiv einzubeziehen, einen psychischen – in diesem Sinne triadischen – Raum [eig. Hervorhebung] aufrechtzuerhalten, der den Weg aus symbiotischen Erlebensebenen und damit potenziell verbundenen Spaltungen von Liebe und Hass […] offenhält.« In: dies., »Die äußere und innere Bedeutung der Triade. Eine Rekonzeptualisierung angesichts pluralisierter Lebensformen«; in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 15. Jg., 2/2018, S. 91.

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punkte und die zwischen ihnen pulsierenden symbolisch-zeichenhaften oder physischgestisch grundierten Kommunikations- und Interaktionslinien formen dabei den dreidimensionalen intersubjektiven Raum, den das Netzwerk grundsätzlich aufspannt). Jedes weitere Wachstum des Netzwerks wiederholt diese ursprüngliche Triadisierung nur permanent. Jedes Netzwerk lässt sich daher in eine große Zahl von mehrdimensionalen Dreieckskonstellationen unterteilen.315 Der ›Dritte‹ ist somit geradezu der Garant der Erschaffung der intersubjektiven Welt; eine bloß zweipolige Achse zwischen Subjekten könnte nie vollgültig aus der entdifferenzierten Situation in eine differenzierte wechseln. Es fehlte der äußere Bezugspunkt, den das oder der ›Dritte‹ markiert – die Position des vermeintlichen oder faktischen Außen, des gänzlich Anderen, der Alterität. Nun sind diese Feststellungen aber noch nicht ausreichend, um einen Wechsel von dem so zentralen Analyse-Instrument des Ödipus-Komplexes zu dem des eben vorgeschlagenen relationalen Komplexes schlüssig zu propagieren. Weiter führt hier allerdings der Verweis auf eine bereits sehr lang zurück liegende wissenschaftliche Debatte, in der die allgemeine Gültigkeit des Theorems vom Ödipus-Komplex hitzig verteidigt bzw. angezweifelt wurde. Unter dem Schlagwort der ›Jones-Malinowski-Kontroverse‹ wurde über die Universalität des Ödipus-Komplexes schon in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts erbittert zwischen Ethnologie und Psychoanalyse gestritten.316 Bronislaw Malinowski stand dabei aufseiten der Ethnologie und zweifelte die universelle Gültigkeit des Ödipus-Komplexes an,317 während Ernest Jones entschieden die Position der noch jungen Psychoanalyse einnahm. Anne Parsons erläutert Malinowskis Standpunkt: »Aufgrund seiner Feldforschungen auf den matrilinearen Trobriand-Inseln kam Malinowski zu dem Schluß, daß der Ödipuskomplex in der von Freud formulierten Form lediglich ein Komplex innerhalb einer Reihe von möglichen ›Kernkomplexen‹ ist. Diese Kernkomplexe sind entsprechend der primären Familienaffekte strukturiert, die wiederum für die Kultur charakteristisch sind, in der man sie findet. In diesem Sinne erscheint Freuds Formulierung des Ödipuskomplexes, der auf der Dreier-Beziehung Vater, Mutter, Sohn beruht, als jener besondere Kernkomplex, der eine vaterrechtliche Gesellschaft charakterisiert, in der die tragende Familieneinheit aus Mutter, Vater und Kind besteht. Der alternative Kernkomplex, den es für die Trobriand-Inseln in Anspruch nimmt, besteht aus der Dreier-Beziehung Bruder, Schwester, Schwesternsohn. Das liegt in der Natur matrilinearer Sozialstrukturen, in der ein Junge Mitglied der mütterlichen Familie wird und als solches sehr viel stärker unter die Autorität des Bruders der Mutter als unter die seines biologischen Vaters gerät. Malinowski machte in diesem Zusammenhang die wichtige Beobachtung, daß die von Freud beschriebenen

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317

Vgl. dazu z.B.: Harrison C. White, Identity & Control. How Social Formations Emerge, Princeton 2008, Kap. »MAN Triads and other Subnetworks«, S. 39f. Siehe dazu die spätere Rekapitulation und Bewertung jener Debatte, in: Anne Parsons, »Besitzt der Ödipus-Komplex universale Gültigkeit? Eine kritische Stellungnahme zur Jones-MalinowskiKontroverse sowie die Darstellung eines süditalienischen Kernkomplexes«; in: Werner Muensterber (Hg.), Der Mensch und seine Kultur. Psychoanalytische Ethnologie nach ›Totem und Tabu‹, München 1969, S. 206-211. Siehe dazu: Bronislaw Malinowski, »Mutterrechtliche Familie und Ödipuskomplex«; in: ders., Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur. Und andere Aufsätze, Frankfurt a.M. 1975, S. 211-266.

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ambivalenten Gefühle in ähnlicher Weise wie zwischen Vater und Sohn unter diesen sozialen Bedingungen zwischen dem Bruder der Mutter (Onkel) und dem Sohn der Schwester (Neffe) auftreten. Zugleich gestaltet sich dadurch die die Vater-SohnBeziehung sehr viel enger und herzlicher. Nach Malinowskis Ansicht konnte der Vater als eine Figur der Verwandtschaftsstruktur außer Acht gelassen werden, da die Trobriander die Tatsache biologischer Vaterschaft nicht kennen. Sie glauben, daß das Kind durch einen Geist entsteht, der in den Leib der Mutter eindringt. Der Vater ist also für das Kind dann nur der nicht verwandte Gatte der Mutter. Außerdem machte Malinowski die Beobachtung, daß die Trobriander der Beziehung zwischen Bruder und Schwester eine ganz besondere Bedeutung zuschreiben. […] Nach Malinowskis Überzeugung sind die beobachtbaren Abweichungen von den europäischen Verhaltensweisen so gravierend, daß es nicht angeht, die Hypothese von der universellen Gültigkeit des Ödipuskomplexes weiterhin aufrechtzuerhalten.«318 Malinowski, so ließe sich verkürzt sagen, kommt also aufgrund seiner Beobachtungen in einem matrilinear geprägten kulturellen Umfeld zu der Schlussfolgerung, dass die Konstellation des klassischen ödipalen Dreiecks (Mutter, Vater, Kind) wie es die patriarchale Familienstruktur kennzeichnet, nur eine Form, und zwar eine: kulturspezifische, der Triadisierung bzw. Triangularisierung darstellt. In dem von ihm beobachteten kulturellen Feld sticht das Beziehungsdreieck Bruder, Schwester, Schwesternsohn hervor; die Relation Vater-Sohn findet hier ihr Äquivalent im Verhältnis Onkel-Neffe. Der Onkel beschneidet und begrenzt hier aber weniger das frühkindliche Verhältnis seines Neffen zu dessen Mutter, sondern vor allem das spätere, jugendliche, zu dessen Schwester, »die Repräsentantin für die ganze Klasse von Frauen«319 des Clans ist. Die Bindung zur Mutter löse sich daher in der matrilinearen Gemeinschaft langsamer, beinahe von selbst, ohne jene mehr schockhaft erlebte Trennung, wie sie die patriarchale Gesellschaft in der ödipalen Situation aufzwingt.320 Im Ergebnis bleibt in der matrilinearen Gemeinschaft das maßlose und undifferenzierte ›Ozeanische‹ deutlicher und langwirkender in der psychischen Repräsentation erhalten. Zum Beispiel »gibt es dort kein Verdammen der Sexualität oder Sinnlichkeit als solcher«321 . Die psychischen Folgewirkungen und die Divergenz im sozialen Handeln sind enorm und unterscheiden sich deutlich von den in der patriarchalen Welt zu beobachtenden Verhaltens- und Gesellschaftsmustern. Dennoch bleibt sich eines gleich: Die Repression des Eros in einer entscheidenden Phase, in der er sich dezidiert auf ein Objekt bezieht. Ebenso gleich bleibt das Merkmal der sozialen Triadisierung und psychischen Triangulation; eine sich andeutende ZweierBeziehung wird empfindlich gestört durch das Hinzutreten eines Dritten – das Beziehungsdreieck, welches auch den klassischen Ödipus-Konflikt prägt, begegnet also auch hier. Kurz: Die strukturellen Merkmale des Ödipus-Komplexes als Differenzierendem bleiben unverändert, wobei im vorliegenden Fall lediglich eine andere Person als der Vater

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Anne Parsons, »Besitzt der Ödipus-Komplex universale Gültigkeit? Eine kritische Stellungnahme zur Jones-Malinowski-Kontroverse sowie die Darstellung eines süditalienischen Kernkomplexes«, a.a.O., S. 206f. 319 Bronislaw Malinowski, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur. Und andere Aufsätze, a.a.O., S. 262. 320 Vgl. ebd. 321 Ebd., S. 260.

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und zu einem späteren Zeitpunkt die Rolle des triangularisierenden Organisators übernimmt. Es geht also, folgt man Malinowski, weniger um die besondere Rolle des Vaters, sondern viel allgemeiner, um eine strukturell triebrepressive Komponente, welche im inter-individuellen Raum die differenzierende Erweiterung einer Dyade zur Triade forciert, genauso wie sie im kollektiven Raum vermittels der Tabus libidinöse verwandtschaftliche Nahbeziehungen beschränkt, um so ein differenzierteres gesellschaftliches Beziehungsfeld zu eröffnen. Die Beschränkung einer exklusiven, zweipoligen intersubjektiven Achse und ihre damit einhergehende tri- und letztlich pluripolare Erweiterung ist das entscheidende Moment; gerade die Repression des Eros durch eine dritte, äußere Instanz, verhindert den selbstreferenziellen narzisstischen Zirkelschluss von Zweien und eröffnet dem Eros Anknüpfungspunkte auch außerhalb. Bildlich gesprochen: Die partielle Zertrennung der Bindung zwingt den Eros in ein nunmehr eröffnetes, größeres Beziehungsfeld zu strömen. Dabei gilt es festzuhalten, dass jene Kanalisierung des Eros, die ja aus der partiellen Beschränkung hervorgeht, unweigerlich auch destruktive Impulse auf Seiten des betreffenden Subjekts wecken muss – denn nichts kann dem einen Trieb abgerungen werden, ohne dabei den anderen als seinen Gegenspieler zu stärken; die typische ambivalente Gefühlseinstellung aus Hassen und Lieben, Thanatos und Eros, gegenüber dem begrenzenden Dritten ist die auch von Freud so ausführlich beschriebene Folge dieses Vorgangs. Daher markiert die äußerlich erfahrene Trennung jenen Wendepunkt, an dem auch die Komplexitätssteigerung und zunehmende Differenzierung der inneren Repräsentanzen und Instanzen sich vollzieht. Es handelt sich um Strukturierung; ob diese nun wie in patriarchalisch geprägten Gesellschaften überwiegend vom Vater eingeleitet wird, oder etwa in matrilinearen von anderen Personen, so die Auffassung Malinowskis, ist zweitrangig; entscheidend ist der differenzierende Prozess, weniger die biologische Funktion des auslösenden ›Dritten‹. So gesehen ist Malinowskis Annahme, kulturspezifische ›Kernkomplexe‹ verbürgten ganz grundsätzlich die individuelle wie die kollektive Triebrepression und damit die Formung des psychischen wie sozialen Raums, eine, die nicht nur von einer zu sehr auf den Vater verengten Sichtweise befreit, sondern auch dem Umstand kulturell divergierender Familienund Sozialstrukturen Rechnung trägt. Sie schließt, da sie strukturell der freudschen Hypothese gleicht, diese mit in sich ein, geht aber insofern über sie hinaus, als sie den Ödipus-Komplex lediglich als Spezialfall eines ›Kernkomplexes‹ in patriarchalisch geprägten Kulturen sieht. Damit eröffnet Malinowski ausgerechnet der Psychoanalyse der Gegenwart ungeahnte Perspektiven: Gerade die beobachtbaren Auflösungserscheinungen des Ödipus-Komplexes in der zunehmend entdifferenzierten, spätmodernen Gesellschaft (die ja in wachsendem Maße auch von anderen familiären Konstellationen als allein der typisch patriarchalen Vater-Mutter-Kind-Familie geprägt ist, wie z.B. Alleinerziehende, Patchworkfamilien, gleichgeschlechtliche Eltern, soziale statt biologische Eltern usw.) verleihen nämlich Malinowskis These vom kulturell divergierenden Kernkomplex – statt des universalen Ödipus-Komplexes – neue Relevanz. Dabei korreliert selbstverständlich abermals die Strukturierung der Psyche mit der Struktur des Sozialen. Neue psychische Muster entstehen mit und aus neuen gesellschaftlichen Formen. Wie sich noch zeigen wird, ist es daher von der Annahme kulturspezifischer ›Kernkomplexe‹ zu einer Betrachtung gesellschaftlicher Praxis unter dem Gesichtspunkt des

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relationalen Komplexes nicht allein semantisch, sondern auch inhaltlich, nur noch ein kleiner Schritt. Zunächst aber soll noch die Entgegnung des die Psychoanalyse in Schutz nehmenden Jones auf die Beobachtungen und Schlussfolgerungen des Ethnologen Malinowski geschildert werden. Jones, der »mit großer Vehemenz den klassischen psychoanalytischen Standpunkt von der Universalität des Ödipuskomplexes« verteidigte, sprach Malinowskis Beobachtungen große Bedeutung zu, meinte aber, »dass sie keineswegs eine Revision der theoretischen Grundlagen der Psychoanalyse erfordern würden«.322 Vielmehr betonte er, dass die von Malinowski gemachte Beobachtung jener ambivalenten Onkel-Neffe-Beziehung sich doch vor allem bezog auf das Leben des Heranwachsenden oder schon Erwachsenen, so dass es zumindest möglich schien, dass dieses Verhältnis auch als ›Sekundärverschiebung‹ gewertet werden könnte, also als Übertragung der ambivalenten Gefühlseinstellung gegenüber dem Vater (wie sie in einem früheren Lebensabschnitt typisch gewesen sein mag) auf eine nun aktuelle Beziehungskonstellation.323 »Jones wies darauf hin, daß ähnliche Verhaltensmuster auch in Europa anzutreffen sind. So läßt sich beobachten, daß die feindliche Vaterfigur später ein Vorgesetzter oder ein Rivale sein kann, während der wirkliche Vater eine positive Figur bleibt.«324 Diese Argumentation weitete er dahingehend aus, »daß er die mutterrechtlichen Gesellschaftsstrukturen selbst als Abwehr gegenüber der aus der ödipalen Situation stammenden ambivalenten Vater-Sohn-Beziehung bezeichnete, wodurch er wiederum die Universalität des Ödipuskomplexes bewiesen glaubte«325 . Sicher gilt es – will man sich des Gewichts dieser Argumentation versichern – zu bedenken, dass die von Jones unternommenen enormen Anstrengungen an der universellen Gültigkeit des Ödipus-Komplexes festzuhalten, auch gewertet werden müssen als Versuch einer damals noch sehr jungen Wissenschaft (der Psychoanalyse) sich gegen Kritik, zumal gegen Fundamentalkritik, zu wappnen. Letztlich aber, und das zeigt Anne Parsons sehr deutlich auf, zielt Malinowskis Kritik eben nicht notwendigerweise auf eine fundamentale Revision der freudschen Theorie: »Einer der Grundsätze der Triebtheorie sagt aus, daß Quelle, Objekt, und Ziel von Trieben verschiebbar seien. Verwenden wir nun den Terminus ›Objekt‹ im sozialen Sinne, wobei wir entweder eine äußere Person, auf die sich der Trieb konzentriert, oder die verinnerlichte Repräsentanz einer Person meinen, dann ließe sich sagen, daß bereits die frühesten Formulierungen Freuds die Möglichkeit variabler Familienstrukturen miteinbezogen.«326 Parsons fügt noch hinzu, dass eine solche Auffassung die Bedeutung sozialer Strukturen für die Persönlichkeitsentwicklung stärker gewichten würde als jene, die vor allem 322 Anne Parsons, »Besitzt der Ödipus-Komplex universale Gültigkeit? Eine kritische Stellungnahme zur Jones-Malinowski-Kontroverse sowie die Darstellung eines süditalienischen Kernkomplexes«, a.a.O., S. 207. 323 Vgl. ebd. 324 Ebd., S. 208. 325 Ebd., S. 207. 326 Vgl. ebd., S. 209f.

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auf das Faktum der biologischen Vaterschaft abzielt: »Jeder Psychiater kann heute auf eine ganze Reihe von Fällen verweisen, in denen das Objekt der ödipalen Affekte nicht die leiblichen Eltern sind. Häufig werden Adoptiveltern, entfernte Verwandte oder, wie es in letzter Zeit immer häufiger vorkommt, ein Kindertherapeut Objekt ödipaler Wünsche oder Aggressionen.«327 Selbstverständlich ließe sich auch hier mit Jones im Sinne einer ›Sekundärverschiebung‹ argumentieren. Diesbezüglich zur Kenntnis zu nehmen gilt es aber auch Folgendes: »Freud selbst beschäftigte sich in diesem Zusammenhang mit der Bedeutung von Angestellten und Bediensteten des viktorianischen Oberklassehaushalts für die sexuelle Entwicklung des Kindes.«328 Freud widmet sich damit also ebenfalls einer kultur- und (eigentlich) schichtspezifischen Variante der ödipalen Situation. Anne Parsons kommt so zu einem Schluss, der die Annahme kulturspezifischer ›Kernkomplexe‹ als angelegt und eingebettet versteht in Freuds theoretischer Konzeption des Ödipus-Komplexes: »Das Problem des Ödipuskomplexes muß also unter zwei Aspekten angegangen werden, einmal von der Seite der Triebe und Phantasien her, zum anderen unter der Perspektive der Identifizierung und Objektwahl. Dabei läßt sich kaum vorstellen, daß die zuletzt genannten Prozesse nicht in direktem Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Strukturen und Normen stehen; schließlich finden sich in diesem Bereich die entsprechenden Möglichkeiten der Objektwahl und Repräsentanz. In dieser Perspektive ist es durchaus möglich, für jede Gesellschaft einen spezifischen Kernkomplex anzunehmen, ohne zugleich auf die psychoanalytische Vorstellung einer in festgelegten Einzelphasen ablaufenden Entwicklung, die in der Triebstruktur verwurzelt ist, verzichten zu müssen. Der soziale Faktor braucht nur den Einfluß auf die Objektseite.«329 Der ›spezifische Kernkomplex‹ jeder Kultur ist somit, intersubjektiv gesehen, nichts anderes als der relationale Komplex – und in seiner psychischen Funktion ist er identisch mit dem Ödipus-Komplex, der (als spezifisch patriarchalische Variante des Kernkomplexes oder des relationalen Komplexes) Thanatos und Eros im Individuum definiert, Hassen und Lieben in ein Verhältnis setzt, und so die komplizierte Mechanik der Psyche aus diesem basalen Dualismus im Einklang mit der diffizilen Struktur der Gesellschaft entstehen lässt. Der relationale Komplex, in seiner gesellschaftlichen Dimension, erweist sich als das Ensemble sozialer Kommunikations- und Interaktionserfahrungen, welches, über handlungsleitende Normen bzw. Tabus, diejenigen Internalisierungen auf Subjektseite bewirkt, die Psyche differenzieren. Anne Parsons benutzt sogar selbst die Formulierung ›Verinnerlichung‹, wie sie doch Loewalds und Lorenzers Konzeption der Prägung des Subjekts über äußerlich erlebte Kommunikation und Interaktion kennzeichnet: »Die Normen und Werte [sprich auch: Tabus] der Gesellschaft werden dabei auf sozialer Ebene von einer Generation auf die nächste vermittelt und vom Individuum verinnerlicht, um so die Relation von sich zu den Objekten der Umwelt zu definieren. [Eig. Hervorhe-

327 Ebd., S. 210. 328 Ebd. 329 Ebd.

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bung]«330 Über die Verinnerlichung äußerer Kommunikations- und Interaktionsmuster (in diesem speziellen Fall: über Triangulation triadischer Konstellationen) lässt sich so vermittels des Terminus und Gegenstands des relationalen Komplexes problemlos anknüpfen an die intersubjektive Psychoanalyse, wie sie bei Loewald und Lorenzer begegnet. Die gesamte klinische Pathologienlehre findet damit ihren Eingang auch in die das Soziale einbeziehende Thematik des relationalen Komplexes. Zudem lässt sich über die subjektprägende Wirkung des relationalen Komplexes vermittels soziohistorischer und soziokultureller Normentransportation im intersubjektiven Prozess auch die von Freud aufgeworfene Problematik der ›Massenpsyche‹ differenziert beantworten; Freud hatte sich ja gefragt, »wie viel man der psychischen Kontinuität innerhalb der Generationsreihen zutrauen kann und welcher Mittel und Wege sich die eine Generation bedient, um ihre psychischen Zustände auf die nächste zu übertragen.«331 Die Tabus, und später Normen, Werte und Gesetze sind die ›Mittel‹ (und eigentlich ›Mittler‹) welche psychische Kontinuität innerhalb der Generationenreihen wahren; sie sind die zum Subjekt transportablen Elemente aus dem Gesamt an kulturspezifisch legitimierten Praxisfiguren. In den biomorphen und thanatomorphen Phänomenen rund um die in soziokulturellen Kontexten verortete Opfer-Feier vollziehen sich differenzierende und entdifferenzierende Mechanismen im Beziehungsgeflecht des sozialen Raums auf ähnliche Weise, wie beim individualgeschichtlich erlebten Beziehungsumfeld des relationalen Komplexes: Die Tabus, in Kommunikations- und Interaktionsweisen fortwährend transportiert, geraten zu Differenzierung und Entdifferenzierung steuernden Implementen im Subjekt. Das bedeutet hinsichtlich der historischen Perspektive: So wie der Totem die Tabus verbürgte, und später der Gott die Gebote, so verkörpern sich in den Einrichtungen und Institutionen der modernen Gesellschaft Ordnung und Gesetz; um alle kreist fortwährend das reale oder virtuelle tödliche Opfer (welches das Realitätsprinzip zu erbringen einfordert) wie die Feier des Lebens (zu der das Lustprinzip verleitet); somit wird fortwährend die spezifische Ausgestaltung, die das Verhältnis von Differenzierung und Entdifferenzierung angenommen hat, geformt, und zwar dergestalt, wie Mensch und Gesellschaft sich in ein Verhältnis setzen, zu sich, den Anderen und zur Welt. Noch in den Familienstrukturen und familiären Affekten, zentral für die eben schon frühe Prägung des Individuums, spiegelt sich jenes Verhältnis. Der relationale Komplex erweist sich damit als scheinbar organisch gewachsener, und daher in der Alltagswelt selten hinterfragter, tatsächlich aber soziohistorisch und soziokulturell rekonstruierbarer, Gesamtzusammenhang derjenigen Art und Weise, wie in gesellschaftlicher Praxis dieses Sich-In-EinVerhältnis-Zu-Anderen-Wie-Der-Welt-Setzen sich ausnimmt. Er reicht aufseiten des Individuums bis tief hinein in die Physis und Psyche, strukturiert und organisiert dort – genauso wie er aufseiten des Sozialen Gesellschaft strukturiert und organisiert, nämlich über die jeweiligen Herrschafts- und Produktionsverhältnisse, welche verwurzelt sind in konkreter Bewältigung und Bearbeitung von Natur. Den Bogen spannt der relationale Komplex (als in Interaktion formgewordenes wie formendes Verhältnis zur Welt)

330 Ebd., S. 239. 331 Sigmund Freud [1912-1913], »Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker«, a.a.O., S. 213.

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dabei von den psycho-physischen Bedürfnissen des Individuums bis zu den ideell-materiellen Bedürfnissen der Gesellschaft; beide finden sich vereint in Freuds Begriff der ›Ananke‹, der Lebensnot, also der Knappheit von Ressourcen ganz allgemein. Der relationale Komplex bildet dabei weniger eine den allgemeinen Umständen entsprechende kollektive »Massenpsyche«332 wie Freud impliziert, sondern eine Vielzahl (kulturspezifisch) psychischer Dispositionen, singulärer Charaktere, die aber »disponibel sind im Dienst einer bestehenden Ordnung«333 , wie Lorenzer ungleich treffender formuliert. In der patriarchalen Welt wird dieses Sich-In-Ein-Verhältnis-Zur-Umwelt-Setzen primär bestimmt durch den Ödipus-Komplex, der, als innerlicher wie äußerlicher gedacht, immer schon eben ein Gesamtzusammenhang war; ein aufeinander abgestimmtes Ineinandergreifen psychischer wie sozialer Prozesse. In anderen kulturellen Kontexten aber scheint Malinowskis Begriff des Kernkomplexes, um welchen alles kreist, weit angebrachter, und welcher sich ja – intersubjektiv gewendet und abgewandelt – eben ausnimmt als: relationaler Komplex. Damit wird es nun aber möglich, die Funktion des Dritten (wie sie als elementarer Bestandteil in der Wandlung des Ödipus-Komplexes hin zum relationalen Komplex skizziert wurde) nicht allein in eine Theorie der Intersubjektivität einzubringen, sondern sie darüber hinaus in den Kontext einer an der Strukturgenese interessierten Netzwerktheorie einzuflechten. So heißt es bei Laux: »Ohne die nachahmende Kraft und das objektivierende Gewicht des Dritten bleibt die dyadische Interaktion demzufolge ohne Strukturwert, die erzielten Gleichgewichtspunkte blieben eine flüchtige Privatsache zwischen alter und ego. Dyadische Konzepte sind demzufolge nicht dazu in der Lage, die Genese von Strukturen nachzuvollziehen. [Kursivsetzungen durch Laux]«334 Alter und ego gilt es somit zu ergänzen um tertius.335 Wenngleich Laux in seinen Ausführungen nun aber relativ schnell von der Triade zur Polyade übergeht,336 gilt es festzuhalten, dass eben nicht die Polyade den wesentlichen Quantensprung in der sozialen Strukturierung ausmacht, sondern es die Triade ist, mit der eine neue Qualität des Beziehungsgefüges eingeleitet wird. Dabei muss der ›Dritte‹ nicht einmal personal sein, sondern kann auch als symbolische Repräsentanz, im Sinne von das ›Dritte‹ die Dyade irritieren bzw. erweitern. Der ›Dritte‹ muss nicht wie im klassischen Ödipus-Komplex der Rivale zur dyadischen Mutter-Kind-Beziehung sein, sondern avanciert dann vielmehr in seiner Rolle als strukturierendes Faktum zum »Organisator der Position des Subjekts in der Welt«337 . Er wird schlicht zum Wegweiser, zum Symbol, jenseits seiner Qualitäten als Person. Damit ist diese Funktion losgelöst von der männlichen Eigenschaft des Vaters – wenngleich selbstverständlich auch der biologische Vater, wie

332 Ebd. 333 Alfred Lorenzer, »Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie«, a.a.O., S. 143. 334 Henning Laux, Soziologie im Zeitalter der Komposition. Koordinaten einer integrativen Netzwerktheorie, a,a,O., S. 148. 335 Vgl. ebd., S. 149. 336 Vgl. ebd., S. 150. 337 Jürgen Grieser, Architektur des psychischen Raumes. Die Funktion des Dritten, Gießen 2011, S. 36.

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im klassischen Ödipus-Komplex, Träger jener Rolle sein kann.338 Die symbolische Ordnung der Kultur etwa, die weitgehend dem Realitätsprinzip und dessen konkreter soziohistorischer Ausprägung entspricht, wird dann nicht (wie bei Freud) paternalistisch durch den Vater oder die Vaterfigur dem Kind eingeprägt, sondern eben allein durch die strukturelle Funktion eines ›begrenzend‹ wirkenden ›Dritten‹. So geht aus dem relationalen Komplex nicht nur die Positionierung des Subjekts in der Welt hervor, sondern auch die grundlegende Gestaltung des Symbolsystems der Kultur selbst, in die das Subjekt hineinwächst. Der relationale Komplex formt die individuell-psychischen wie die kollektiv-sozialen Relationen und Verhältnisse. Jene ›Selbst- und Weltverhältnisse‹ aber sollen, wie hier in vorgängigen Kapiteln bereits ausgiebig dargelegt, analytisch zugänglich gemacht werden innerhalb der dialektisch verwobenen und vermittelten Trias ›Subjekt – intersubjektiver Prozess – relationale Formation‹. Der individuell wie kollektiv wirksame relationale Komplex definiert nun gewissermaßen an den Schnittstellen dieser dreier Phänomen-›Kettenglieder‹ deren Verhältnis zueinander; er reguliert und bestimmt also die Beziehungen zwischen: Maßlosem Selbst/bemessenem Ich – verbindender wie trennender Kommunikation und Interaktion – biomorphen wie thanatomorphen relationalen Formationen. Anders ausgedrückt: Die Subjekte als ›Netzwerkknoten‹, welche über Linien von Kommunikation und Interaktion miteinander verbunden bzw. voneinander getrennt (und in den größeren Zusammenhang biomorpher wie thanatomorpher relationaler Formationen eingebettet) sind, werden durch formende Mechanismen (seitens des individuell und kollektiv wirkenden, strukturgebenden relationalen Komplexes) dynamisierten psychosozialen Bewegungen von großer plastischer Wirkung ausgesetzt; ein Bündel an strukturbildenden Dynamiken webt fortlaufend (und mehr oder weniger blind) an der Definition und Organisation des Ganzen. Lauxʼ Netzwerkbegriff bietet durchaus eine Vielzahl von Komponenten, die ihn dienlich machen, um die Verbindungen und Trennungen, wie sie sich zwischen Subjekten im Modus von Kommunikation und Interaktion bilden (und in der biomorphen bzw. thanatomorphen relationalen Formation kumulieren), zu untermauern. Ersichtlich wird dies z.B. wenn Laux mit Simmel konstatiert: »[F]ortwährend knüpft sich und löst sich und knüpft sich von neuem die Vergesellschaftung unter den Menschen, ein ewiges Fließen und Pulsieren, das die Individuen verkettet, auch wo es nicht zu eigentlichen Organisationen aufsteigt.«339 Unter dem Eindruck dieses Zitates gewinnt das Theorem von 338 Im gleichen Umfang wie vermittels der Konzeption des relationalen Komplexes das biologische Geschlecht (des Vaters wie der Mutter) relativiert wird durch den Fokus auf lediglich (intersubjektive) dyadische oder triadische Beziehungskonstellationen an sich, tritt der aus der Subjekt-ObjektDenktradition stammende, überdeterminierende Zuschreibungsmechanismus von aktiv (männlich) und passiv (weiblich) in den Hintergrund – wodurch die geschlechtlichen Identifikationsvorgänge seitens des Kindes in dieser Phase zwar weiterhin relevant und augenscheinlich bleiben, gleichzeitig aber stärker über soziale als biologische Rollenmuster vor sich gehend gedacht werden können. Damit wird einer Forderung auch von Jessica Benjamin Rechnung getragen, den klassischen Ödipus-Komplex hinsichtlich seiner auch implizit geschlechtsdeterministischen Vorabfestlegungen zu überdenken. Vgl. dazu insb.: Jessica Benjamin, Shadow of the Other. Intersubjectivity and Gender in Psychoanalysis, a.a.O., Kap. »›Constructions of Uncertain Content‹. Gender and Subjecivity beyond Oedipal Complementarities«, S. 35-78. 339 Georg Simmel [1908], »Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung«; in: Georg Simmel Gesamtausgabe (hg. von Otthein Rammstedt), Bd. II, Frankfurt a.M. 1992, S. 33, zitiert nach

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zwischenmenschlich verbindender wie trennender Kommunikation und Interaktion, welche gipfeln in sozialer Inklusion bzw. Exklusion von Subjekten und so intersubjektive Netzwerkzusammenhänge (also: relationale Formationen) gestalten, noch einmal zusätzlich an Plausibilität. Laux sieht darüber hinaus »die soziale Welt als ein Meer relationaler Aktivitäten«340 . Hinzuzufügen wäre dem (wenn man biomorphe relationale Formationen in ihrer dem Eros geschuldeten Fluidität betrachtet): Der Thanatos erschafft umgekehrt in seiner verfestigenden Qualität ›Felsinseln‹ geronnener und gebrochener Aktivitäten in jenem Meer – thanatomorphe relationale Formationen. Wie die innerpsychischen Strukturen liquide Anteile des maßlosen Selbst (welche letztlich ihren Ursprung haben im ›ozeanischen Gefühl‹) die Klippen des rauen, harten, bemessenen Ichs (des ›enger umgrenzten Ich-Gefühls‹) umspülen lassen, so fluten, außerpsychisch, im sozialen Raum, die biomorphen relationalen Formationen an die zerklüfteten, unerbittlichen Felsen der thanatomorphen relationalen Formation. Verhärtete Formationen wechseln sich so im intersubjektiven Netzwerkgeflecht ab mit verflüssigten. Das intersubjektive Netzwerk konstituiert daher nicht allein, wie Manuell Castells es so prägnant ausdrückte, einen vitalen »Raum der Ströme [eig. Hervorhebung]«341 ; elementarer Bestandteil jeden Netzwerks sind eben auch die quasi-letalen, ›versteinerten Orte‹: Biomorphe und thanatomorphe relationale Formationen finden sich so gleichermaßen im intersubjektiven Netzwerk, welches das Soziale durchzieht – und mit ihnen aufs engste verknüpft sind die Erfahrungsqualitäten und Praxisphänomene des maßlos Gemeinsamen wie des bemessen Einsamen. Entdifferenzierung und Differenzierung gestalten psychische wie soziale Struktur.

2.2.

Orte des Einsamen, Welten des Gemeinsamen – relationale Landschaften im sozialen Raum

Prolog: Einöden und Oasen ■ Der soziale Raum zeigt sich als relationale Landschaft; Erhebungen und Vertiefungen zeichnen sich ab; Höhepunkte, Tiefpunkte; Gestaltungen des individuellen wie kollektiven Beziehungsnetzes durchdringen sich, unter- und überlagern sich, werfen sich auf zu thanatomorphen Formationen, die nichts sind als Einöden: einsam, starr, leblos und dunkel. Aber auch biomorphe, von Vielfalt und Gemeinsamkeit geprägte, dynamisch-vitale, sonnendurchflutete und wassergesättigte Oasen tun sich auf; dringen vor in die thanatomorphen Orte, oder werden gleichsam von den thanatomorphen Wüsten wieder verschlungen. Tod und Leben, Schaffen und Zerstören, wechseln sich ab und bedingen sich.342 Henning Laux; in: ders., Soziologie im Zeitalter der Komposition. Koordinaten einer integrativen Netzwerktheorie, a.a.O., S. 152. 340 Ebd., S. 155. 341 Siehe dazu: Manuel Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Teil I der Trilogie Das Informationszeitalter, Opladen 2001, Kap. 6 »Der Raum der Ströme«, S. 431-484. 342 Der so treffende Begriff der ›Oasen‹ und ›Wüsten‹ zur Schilderung divergenter Qualitäten von Relationen bzw. Beziehungen zur Welt, geht zurück auf: Hartmut Rosa, »Wüste und Oase als Gründungsmetaphern des Sozialen: Charles Taylors Beitrag zur Soziologie (der Moderne)«; in: Sina Farzin/Henning Laux (Hg.), Gründungsszenen soziologischer Theorie, Wiesbaden 2014, S. 189-201 und findet sich schließlich auch in: Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, a.a.O. Er soll hier unter Kap. 2.2 im Abschnitt »›Wüsten und Oasen‹ als Metaphern ›misslingender und gelin-

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Lieben und Hassen, Verbinden und Trennen, Knüpfen und Verknüpfen geschieht und vollzieht sich unablässig. So webt sich das Netz der Einzelnen und Vielen zu einem Geflecht, das kaum zu durch- und überschauen ist, dessen Außen das Nichts, und dessen Innen alles ist. Subjekte stürzen – und werden gestürzt – ins Leere, ins Nichts der Beziehungslosigkeit, des ewigen Draußen, werden unter stiller oder lauter Gewalt exkludiert, ausgeschlossen, weggesperrt; oder versperren sich selbst oder Anderen jeden Zugang zum Ganzen. Einbezogen, eingeschlossen, inkludiert werden wieder andere und öffnen sich so sich selbst, den Anderen und der Welt; und beides geschieht allzu oft auch in Teilen – Teile des Ichs, des bemessenen, sind und bleiben ausgegrenzt, hart umrissen, deutlich abgesondert – und Anteile des maßlosen Selbst verschmelzen und werden verbunden, überwinden die Differenz. Genauso erscheinen im sozialen Raum Gegenden von organischem oder organisiertem Wachstum, fruchtbare und befruchtende Landschaften, und sind immer bedroht von Wüsten und Einöden, die alle auf ihre Weise wüst und öd sind. Es gibt Wüsten, in denen der Tod nur symbolisch waltet; die Wüsten der Nichtachtung, der Verachtung; und Einöden, so trostlos und real, dass es keine Worte gibt, sie zu schildern: nicht exkludierend, sondern eliminierend; nicht ausgrenzend, sondern auslöschend. Schwarze Flecken des Nichts, gerissen in den bunt-schillernden Webteppich des Lebens; schwarze Löcher im Netz des Beziehungsgeflechts. Keine Antwort, auf die Fragen; keine Resonanz, auf eine Schwingung; keine Bewegung mehr, und kein Bewegt-Werden: nur Stille, Starrheit, Ende, absolut. Die Oasen aber, vollgesogen von Leben, Wasser, grün, licht – sind es, die virtuell als bloße Möglichkeit, als eine Option sich auftun: gleich einer Fata Morgana, fern und am Horizont. Sie sind es aber auch, die real existieren, nicht nur als Hoffnung oder Wunsch, sondern – künstlich geschaffen, oder natürlich entstanden – zum Eintreten einladen, zum Eintauchen, zum Aufgehen, zum Verschwimmen, zum Leben und Erleben: Freiräume im Unfreien, Wachstum aus Nichts, Quellen im Sand.   Marcuses Blick auf »Totem und Tabu« in »Triebstruktur und Gesellschaft« – Über individuelle wie kollektive Reservoire des Lustprinzips, oder: Die ›Wiederkehr des Verdrängten‹ und die ›große Weigerung‹ ■ Eine der Grundthesen in Herbert Marcuses Werk Triebstruktur und Gesellschaft (vormals veröffentlicht ja auch unter dem Titel Eros und Kultur 343 ) lautet, ein im kulturellen Prozess zu immer rigideren und sublimeren Formen sich entwickelndes Realitätsprinzip, werde untergründig von einer Wiederkehr des verdrängten Lustprinzips permanent in Frage gestellt. Ganz Dialektiker, geht Marcuse nun davon aus, dass (angesichts dieses Widerstreits divergierender Prinzipien) eine Transformation des Realitätsprinzips unter Integration von Elementen des Lustprinzips nicht ausgeschlossen werden könne. Ein mehr ›versöhnlich‹ geartetes Realitätsprinzip sei nicht nur möglich, sondern zeichne sich vielfach bereits ab und wäre die Lösung des Dilemmas der Kultur (welches nichts anderes ist, als das von Freud beschriebene ›Unbehagen in der Kultur‹). Marcuse widmet sich zur Untermauerung dieser These ausführlich Freuds Totem und Tabu und der darin geschilderten, psychosozialen Dimension des Ödipus-Komplexes. Auch Marcuse erblickt also im Ödipus-Komplex die zentrale Instanz zur Triebmodifikation des Einzelnen über Normentransportation seitens gender Weltbeziehungen‹: Varianten des maßlos Gemeinsamen wie des bemessen Einsamen in Rosas soziologischer Resonanztheorie?« eingehend erörtert werden. 343 Herbert Marcuse, Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Stuttgart 1957.

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des individuell-biopografischen wie kollektiv-soziokulturellen Umfelds. Folglich sieht Marcuse im Ödipus-Komplex nicht nur die Schnittstelle bedeutender psychischer wie sozialer Dynamiken, sondern eben auch ganz simpel diejenige zwischen Individuum und Gesellschaft. Denn im Ödipus-Komplex (intersubjektiv gewendet: im relationalen Komplex) verdichten sich psychische, soziale, kulturelle und historische Implikationen zu einem Konglomerat regulierender Funktionen. Der Ödipus-Komplex ist sozusagen die ›Stellschraube‹ zwischen Natur und Kultur in Ontogenese wie Phylogenese; er justiert – in welcher konkreten Ausprägung auch immer – generell alle Relationen und Verhältnisse. Marcuse nimmt so deutlich Bezug auf Freud, doch denkt ihn behutsam und eigensinnig weiter; und zwar in einer Form, die sich ohne weiteres in die hier bisher dargelegten (auch: intersubjektivitätstheoretischen) Überlegungen einflechten lässt: »Im Netzwerk [eig. Hervorhebung] menschlicher und institutioneller Entitäten, die die Gesellschaft ausmachen, kommt das Endergebnis langer historischer Prozesse zum Niederschlag, und diese Prozesse bestimmen die Persönlichkeit und ihre Beziehungen [eig. Hervorhebung]. Infolgedessen muß die Psychologie diese Prozesse, um sie wirklich ihrem Wesen nach zu verstehen, wieder in Lösung [Hervorhebung durch Marcuse] bringen, indem sie ihre verborgenen Ursprünge aufspürt. Sie entdeckt dabei, daß die ausschlaggebenden Kindheitserlebnisse mit den Erfahrungen der Spezies in Zusammenhang stehen – daß der Einzelne das allgemeine Schicksal der Spezies lebt. Die Vergangenheit bestimmt die Gegenwart, weil die Menschheit noch immer ihre eigene Geschichte nicht gemeistert hat. Für Freud liegt das allgemeine Schicksal in den instinkthaften Trieben, aber diese unterliegen selbst historischen ›Modifikationen‹. An ihrem Beginn steht die Erfahrung der Herrschaft, durch den Urvater symbolisiert – die extreme Ödipussituation. Niemals wurde sie ganz überwunden; das reife Ich der kultivierten Persönlichkeit bewahrt noch die archaische Erbschaft des Menschen.«344 Schießlich distanziert sich Marcuse im Anschluss allerdings wiederum von Freuds These vom ›Urvater-Mord‹ (ganz wie hier bereits vorgängig – allerdings unter der Einbeziehung der Reflexionen René Girards – geschehen), nur um aber erneut vehement darauf zu verweisen, dass Freuds These, symbolisch gelesen, einen Anspruch sowohl auf Beachtung als auch auf Gültigkeit behaupten dürfe. Argumentativ stützt er diese zunächst paradox anmutende Sichtweise folgendermaßen: »Kein Teil der Freudschen Theorie wurde heftiger bekämpft als der Gedanke vom Fortleben der archaischen Erbschaft – seine Rekonstruktion der menschlichen Vorgeschichte von der Urhorde über den Vatermord bis zur Kultur. Die Schwierigkeiten der wissenschaftlichen Verifizierung sind nicht zu übersehen und vielleicht nicht zu bewältigen. Sie werden außerdem noch durch die Tabus verstärkt, die die Freudsche Hypothese so erfolgreich verletzte: sie führt nicht zu dem Urbild eines Paradieses zurück, das der Mensch durch seine Sünde gegen Gott verwirkt hat, sondern zu der Herrschaft des Menschen über den Menschen, errichtet von einem höchst irdischen Vater-Despoten und verewigt durch die erfolglose oder unvollständige Auflehnung gegen ihn. Die ›ursprüngliche Sünde‹ war eine Sünde gegen den Menschen – und es

344 Ebd., S. 62.

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war keine Sünde, denn sie wurde einem Menschen gegenüber begangen, der selbst schuldig war. Diese phylogenetische Hypothese lässt erkennen, daß die ausgereifte Kultur noch durch archaische seelische Unreife geprägt ist. Die Erinnerungen an prähistorische Impulse und Taten geistern noch immer in der Kultur: das verdrängte Material kehrt wieder, und immer noch wird der Einzelne für Impulse bestraft, die längst beherrscht, für Taten, die längst wiedergutgemacht sind. Wenn Freuds Hypothese nicht durch irgendwelche anthropologischen Zeugnisse belegt wird, müßte sie völlig preisgegeben werden, wäre nicht die Tatsache, daß sie die historische Dialektik der Herrschaft in einer Reihenfolge von katastrophalen Ereignissen zusammenfassend überblickt und dadurch bisher ungeklärte Aspekte der Kultur erhellt. Wir verwenden Freuds anthropologische Spekulation nur in diesem Sinn: um ihres symbolischen Wertes willen. Die archaischen Ereignisse, die die Hypothese voraussetzt, mögen für immer jenseits des Bereichs anthropologischer Beweisbarkeit liegen, die aufgeführten Konsequenzen dieser Ereignisse aber sind historische Tatsachen und ihre Ausdeutung im Licht der Freudschen Hypothese verleiht ihnen eine bisher vernachlässigte Bedeutung, die in die geschichtliche Zukunft weist.«345 Was Marcuse hier mit einer bislang vernachlässigten Relevanz der freudschen Hypothese für die geschichtliche Zukunft meint, kommt deutlich zum Ausdruck in eben dem von Marcuse eigens unternommenen Versuch, die Indizien der Praxis im Hier und Jetzt, die auf eine Bewusstmachung der unbewussten soziohistorischen Dynamiken abzielen (und damit auf eine mögliche, zukünftig gezielte Gestaltung des geschichtlichen Schicksals der Menschheit durch den Menschen selbst) zu identifizieren und theoretisch zu ergründen. Denn die Bemeisterung des eigenen Schicksals hängt ab von dessen Erkenntnis. Dass dabei der scheinbar ewige Kreislauf von Herrschaft und Widerstand, von Institution und Revolution, der die menschliche Geschichte bestimmt, durchbrochen werden muss zugunsten einer in sich ruhenden und sachte sich weiter entwickelten Form der Kultur oder Gesellschaft, ist die logische Konsequenz dieser – ja: politischen – Position. Das Verhältnis von Realitätsprinzip und Lustprinzip, wie es um den so zentralen Ödipus-Komplex sich entspinnt, ist dabei für Marcuse der Schlüssel zum Verständnis (wie auch zur Umsetzung) von Bestrebungen, die in diese Richtung zielen. Und so gliedert er nicht umsonst sein Werk Eros und Kultur in die zwei Teile: »Unter der Herrschaft des Realitätsprinzips«, und »Jenseits des Realitätsprinzips«; der erste Teil widmet sich der Erkundung psychosozialer Implikationen der Herrschaft und des Beherrscht-Werdens, der zweite Teil widmet sich dem Ausloten der geschichtlichen, gegenwärtigen und zukünftigen Optionen, jenes Verhängnis zu überkommen. Dabei aber kommt auch der transhistorischen Funktion des Lustprinzips eine tragende Rolle zu, weshalb Marcuse dieses auch verstärkt in den Blick nimmt. Folglich macht er individuelle wie kollektive Reservoire des Lustprinzips in einer von einem mehr oder minder rigid ausgeprägten Realitätsprinzip beherrschten Welt aus, und untersucht deren psychosoziale Funktion und formgebende Kraft. Der entscheidende Schritt, den Marcuse nun aber macht, ist, das Lustprinzip und dessen Geltung im Hinblick auf die Herrschaftsverhältnisse zu untersuchen. Marcuse

345 Ebd., S. 64f.

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gelangt zu der Auffassung, dass angesichts eines ›Veraltens der Lebensnot‹ (die Freud bekanntlich als ›Ananke‹ bezeichnete) in der produktiven und konsumistischen Moderne auch die Herrschaft (als direkter Zwang) objektiv an Notwendigkeit eingebüßt habe; Herrschaft an sich, so Marcuse, werde tendenziell obsolet. Es stelle sich dann die Frage, ob das Leistungsprinzip (als derzeit historisch vorherrschende Form der Ausprägung des Realitätsprinzips) im Sinne einer fortdauernden Hegemonie nun weiter bestehen werde, oder ob es vielleicht nicht eher die Vorbedingungen geschaffen habe, ein qualitativ anderes, weniger repressives und mehr versöhnendes Realitätsprinzip überhaupt erst zu ermöglichen.346 In Grundzügen entwirft Marcuse so die These einer Spät-, oder: Nachmoderne, welche potenziell gänzlich neue und andere Formen der individuellen wie kollektiven Freiheit bereit zu stellen vermag. Marcuse löst sich dabei ein Stück weit von Freud, denn laut Marcuse habe Freud »das geltende Realitätsprinzip (d.h. das Leistungsprinzip) mit dem Realitätsprinzip als solchem gleichgesetzt«347 . Und hier kommt Marcuse auf den springenden Punkt seiner Argumentation: Genauso wie Freud »den historischen Charakter der Triebe mit ihrer ›Natur‹ gleichsetzt, würde die Relativität des Leistungsprinzips sogar seine grundlegende Auffassung der Triebdynamik zwischen Eros und Thanatos berühren: ihre Beziehung und deren Entwicklung müßte unter einem anderen Realitätsprinzip auch anders sein.«348 Das heißt, vereinfacht gesagt, nichts anderes, als dass eine gewandelte Form gesellschaftlicher Praxis (v.a. auch der Produktionsverhältnisse) auch veränderte Gestaltungen von Subjektivität etablieren müsse (bis hinein in das Verhältnis der beiden Triebe zueinander); eine Sichtweise, die mit Lorenzers späterer Revision der klassischen Psychoanalyse zutiefst korrespondiert. Marcuse sieht aber die Wiederkehr des verdrängten Lustprinzips nicht allein in sozialen Praktiken (wie etwa der Feier oder der Ausschweifung) vonstatten gehen, sondern vor allem auch in der Phantasie, und, damit verbunden, der Kunst. Denn die Phantasie und die Kunst bilden seit jeher bedeutsame Reservoire des Lustprinzips. Dabei stützt sich Marcuse in hohem Maße auf Freud, der ja vermittels der Psychoanalyse die Phantasie schon immer in den Mittelpunkt auch des wissenschaftlichen Interesses gerückt hatte: »Als Freud die fundamental wichtige Feststellung machte, daß die Phantasie (die Vorstellungskraft) eine Wahrheit enthält, die nicht mit der Vernunft vereinbar ist, folgte er einer langen historischen Tradition. Die Phantasie hat insofern erkennende Funktion, als sie die Wahrheit der ›Großen Weigerung‹ aufrecht erhält oder, positiv ausgedrückt, insofern sie die Ansprüche des Menschen und der Natur auf vollständige Erfüllung gegen alle unterdrückende Vernunft bewahrt und schützt.«349 Die ›Wiederkehr des Verdrängten‹ (Lustprinzips) geht also einher mit der ›Großen Weigerung‹ (zur Anerkennung des Realitätsprinzips). Das Realitätsprinzip (nun als Vertreter der jeweils herrschenden Vernunft) steht so nur einmal mehr im Widerspruch zum

346 347 348 349

Vgl. ebd., S. 129. Ebd., S. 130. Ebd. Ebd., S. 156f.

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Lustprinzip (diesmal im Reservoir der Phantasie). Nichtsdestotrotz deutet Marcuse an, »daß die Phantasie Maßstäbe [eig. Hervorhebung] für existenzielle Haltungen, für die Praxis des Daseins und für historische Möglichkeiten liefern könne«350 . Das maßlose Lustprinzip, man muss dies noch einmal rekapitulieren, würde so zum Maßstab werden; und zwar selbstverständlicherweise in Bezug auf ein dann weniger rigide geartetes Realitätsprinzip. Dem würde, abstrakt ausgedrückt, eine Gestaltung der Vernunft entsprechen, die weniger repressiv, sondern mehr deliberativ gelagert wäre; die es (weit stärker als bislang gewohnt) gestatten würde, nachzuvollziehen, einzufühlen, zu verstehen – und nicht nur zu analysieren, zu definieren und zu bestimmen. Eine solche stärker von den Quellen des Lustprinzips gespeiste Vernunft wäre das Gegenstück zu einer Vernunft als Herrschaftsinstrument (des Menschen über seine innere wie äußere Natur) wie Adorno und Horkheimer sie in der Dialektik der Aufklärung als unumgängliches Verhängnis des Zivilisationsprozesses benennen. Die Existenz oder Etablierung einer solchen, von Marcuse beschriebenen, stärker libidinös geprägten Vernunft, würde allerdings die von Adorno und Horkheimer vertretene These einer unaufhaltsamen, kulturhistorischen Regression der einstmals aufklärerischen Vernunft zurück in vormalige Irratio, radikal in Frage stellen – nicht umsonst gilt ja Marcuse Vielen auch als Vertreter eines ›utopistischen‹ Strangs Kritischer Theorie, welcher dem etwas prominenteren, kulturpessimistischen Ansatz scheinbar diametral gegenübersteht. Und so formuliert – ganz im Einklang mit dieser Zuschreibung – auch Marcuse selbst, die ›Große Weigerung‹ (zur Anerkennung des herrschenden Realitätsprinzips) sei »der Protest gegen unnötige Unterdrückung, der Kampf um die höchste Form der Freiheit […]. Aber nur in der Sprache der Kunst konnte diese Idee ungestraft geäußert werden. Im wirklichkeitsnäheren Zusammenhang der politischen Theorie und selbst Philosophie galt sie fast allgemein als Utopie.«351 Phantasie und Kunst werden Marcuse so zu lediglich den sublimsten Formen, in denen die ›Wiederkehr des Verdrängten‹ begegnet. Ihr ursprünglichster und vielleicht unverfälschtester Ausdruck war die tabubrechende Feier im Totemismus; in gelebter subversiver Praxis dahingegen, bis hin zur Rebellion und Revolution, begegnet die ›Wiederkehr des Verdrängten‹ und die damit verbundene ›Große Weigerung‹ dann schließlich als offener Kampf gegen das Bestehende. Dabei kann es jedoch nie um einen gänzlichen ›Sieg‹ des Lustprinzips gehen. Das Lustprinzip ist hier lediglich die Quelle, aus der sich der Drang nach Veränderung des herrschenden Realitätsprinzips hin zu einem stärker versöhnlichen speist. Marcuse skizziert die breit gefächerten kulturhistorischen Implikationen dieses permanenten Kampfes um ein versöhnlicheres Realitätsprinzip auf eindrückliche Weise: »Die Versöhnung zwischen Lust- und Realitätsprinzip hängt nicht vom ›Überfluß für alle‹ ab. Die einzig richtige Fragestellung ist die, ob vernünftigerweise ein Kulturstand vorstellbar ist, in dem menschliche Bedürfnisse in einer Weise und in einem Maße befriedigt werden, die die Abschaffung der zusätzlichen Unterdrückung erlauben. Dieser hypothetische Zustand ließe sich in zwei Punkten vorstellen, die an

350 Ebd., S. 157. 351 Ebd., S. 148.

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den beiden äußersten Polen der Triebschicksale lägen: einmal am primitiven Beginn der Geschichte, das andere Mal im Stadium ihrer höchsten Reife. Der erste würde in einer nicht-bedrückenden Teilung der Lebensgüter, einer gleichmäßigen Verteilung der Not bestehen (wie dies z.B. in der matriarchalen Phase der Frühgesellschaft der Fall gewesen sein könnte). Der zweite wäre Teil einer rationellen Organisation einer voll entwickelten, industrialisierten Kultur nach der Überwindung der Lebensnot. Die Triebschicksale wären natürlich unter diesen beiden Bedingungen sehr verschieden, aber ein entscheidender Faktor müßte ihnen gemeinsam sein: die Triebentwicklung wäre nicht-repressiv, nicht-verdrängend in dem Sinne, daß zumindest die durch das Interesse der Herrschaft verhängte, zusätzliche Unterdrückung der Triebe fortfiele. Diese gemeinsame Qualität würde die jeweils überwiegende Befriedigungsform sowohl der sexuellen als der sozialen menschlichen Grundbedürfnisse (Nahrung, Wohnung, Kleidung, Muße) widerspiegeln – im Frühstadium höchst primitiv, im zweiten Stadium sehr erweitert und verfeinert. Diese Befriedigung wäre (und das ist der wichtige Punkt) mühelos – das heißt ohne das Herrschaftsgesetz entfremdeter Arbeit über dem menschlichen Dasein. Unter primitiven Bedingungen ist die Entfremdung noch nicht entstanden, wie die Bedürfnisse selbst noch primitiv sind, die Arbeitsteilung noch rudimentär und eine institutionalisierte hierarchische Spezialisierung der Funktion fehlt. Unter den ›Ideal‹-Bedingungen der reifen Industrie-Kultur würde die Entfremdung durch umfassende Automatisierung der Arbeit, äußerste Einschränkung der Arbeitszeit und Austauschbarkeit der Funktionen vollständig sein. […] Unter optimalen Bedingungen müsste in einer reifen Kultur der materielle und intellektuelle Wohlstand derart sein, daß er eine schmerzlose Bedürfnisbefriedigung zuließe, während die Herrschaft nicht mehr systematisch diese Befriedigung behinderte. In diesem Fall wäre das Maß an Triebenergie, das noch auf die unvermeidliche mühevolle (aber dann völlig mechanisierte und rationalisierte) Arbeit verwandt werden müßte, so gering, daß ein weites Gebiet repressiver Zwänge und Modifikationen, die nicht mehr durch äußere Kraft aufrechterhalten würde, zusammenbrechen müßte. Infolgedessen würde sich die antagonistische Beziehung zwischen Lust- und Realitätsprinzip zugunsten des ersteren verschieben. Eros, die Lebenstriebe, würden in einem nie dagewesenen Maße freigesetzt werden. [Hervorhebung durch Marcuse]«352 Marcuse gibt also einen Ausblick, mit welchen soziokulturellen und politökonomischen Konsequenzen eine Wiederkehr des Lustprinzips bzw. die Etablierung eines auch nur versöhnlicheren Realitätsprinzips verbunden wäre. Ein epochaler Wandel der Kultur ginge damit einher, der sich jedoch nicht zwangsläufig als abrupter Bruch mit dem Herkömmlichen ausnehmen müsste, sondern vielleicht sich viel wahrscheinlicher langsam und über permanente Transformationen anbahnen würde. Ob aber mit der Zunahme kultureller Freiheiten und dem Entstehen neuer Lebensweisen in der Spätmoderne soziokulturell sich eine solch schleichende Transformation schon abzuzeichnen begonnen hat, und ob die Tendenzen einer in groben Zügen schon auszumachenden Postwachstumsgesellschaft bereits politökonomisch auf ein solches Szenario hindeuten, sind die Fragen, die sich dann stellen.

352 Ebd., S. 149-152.

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  Maßloses und Bemessung als Schlüsselelemente zu einer intersubjektiven Perspektive auf Marcuse, oder: Dialektische Verschlingungen – Augenblick versus Zeitlichkeit, Lust versus Enthaltung, Spiel versus Arbeit, Austausch versus Produktivität, Freiheit versus Unterdrückung ■ Verbleibt man bei Marcuses Darstellung der dialektischen Verschlingung von Lust- und Realitätsprinzip, so wird deutlich, dass deren psychosoziale Dimension noch viel tiefgründiger und weitreichender ist, als der eingangs des letzten Kapitels aufgefächerte Gegensatz von Phantasie und Vernunft in all seinen Facetten vermuten lässt. Marcuse selbst wird nicht müde zu betonen, dass der Widerstreit von Phänomenen, die dem Lustprinzip verbunden sind, mit solchen, die dem Realitätsprinzip zuzurechnen sind, einer ist, der alle Bereiche des Individuums wie der Gesellschaft durchzieht. Das Maßlose, Grenzenlose, Entdifferenzierende des Lustprinzips trifft in vielfältiger Weise auf das Bemessende, Begrenzende, Differenzierende des Realitätsprinzips; es handelt sich beiderseits um Struktureffekte, die mit den strukturierenden psychosozialen Dynamiken einhergehen. Als solche sind sie allen Phänomenen individueller wie gesellschaftlicher Praxis inhärent. Zur Veranschaulichung soll dem Maßlosen des Lustprinzips wie dem Bemessenden des Realitätsprinzips in diesem Kapitel daher auch nachgespürt werden in den Phänomenkreisen: Augenblick/Zeitlichkeit, Lust/Enthaltung, Spiel/Arbeit, Austausch/Produktivität, Freiheit/Unterdrückung. Es wird so möglich werden, Marcuses Thesen noch einmal stärker in den bisher erarbeiteten intersubjektiven Theoriekontext einzuflechten. Führt man sich das Bild größerer relationaler Formationen, also von intersubjektiven Netzwerkzusammenhängen, vor Augen, die sowohl den Raum des Sozialen (als Beziehungsgefüge zwischen den Anderen und der Welt) konstituieren, wie den der Psyche (als innerliche Repräsentation jenes äußeren Beziehungsgefüges) gestalten, so tauchen vor dem inneren Auge jene genannten Phänomenkreise neben vielen innerhalb dieser biomorphen oder thanatomorphen relationalen Formationen auf und verweisen – als Effekte von geschehener oder sich vollziehender Strukturierung – auf ihren Ursprung im Lust- oder Realitätsprinzip. So wie die Triebdynamik von Eros und Thanatos im Inneren des Individuums nicht ohne den Effekt der Befriedigung oder NichtBefriedigung (also der Verwirklichung entweder des Lust- oder des Realitätsprinzips) gedacht werden kann, so ist es nicht möglich, die äußeren biomorphen oder thanatomorphen Dynamiken in der Gesellschaft zu beschreiben, ohne in deren Manifestationen auch Abkömmlinge des Bedürfnisse befriedigenden bzw. aufschiebenden Lustoder Realitätsprinzips zu erblicken. Gerade in der Dimension der Zeit, die selbstverständlich omnipräsent (und doch relativ) ist, und daher individuelle wie soziale Strukturen gleichermaßen – wenn auch vielleicht nicht gleichzeitig – umgibt, drücken sich die divergierenden Aspekte von Lustund Realitätsprinzip sehr deutlich aus. So ist es bekanntlich seit jeher der Augenblick, der mit der Lust und der Erfüllung in Verbindung gebracht wurde, während hingegen die Dauer, die Zeitlichkeit als solches, dem Realitätsprinzip und seiner auf- und verschiebenden Wirkung von Befriedigung zugeschrieben wurde. Das Spannungsverhältnis von Augenblick und Zeitlichkeit steht damit selbstverständlich auch im Mittelpunkt der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Marcuse schreibt: »Im Austausch gegen

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die Bequemlichkeiten, die sein Leben bereichern, verkauft er [der Einzelne, eig. Anm.] nicht nur seine Arbeitskraft, sondern auch seine freie Zeit.«353 Und weiter: »Die Ideologie unserer Zeit besteht darin, daß Produktion und Konsum die Beherrschung des Menschen durch den Menschen rechtfertigen und ihr Dauer verleihen. Ihr ideologischer Charakter ändert aber nichts an der Tatsache, daß ihre Vorteile reale sind. Daß das Ganze zu einer immer stärkeren Unterdrückung führt, liegt in erster Linie an seinem guten Funktionieren, seiner tatsächlichen Wirksamkeit; es erweitert den Rahmen der materiellen Kultur, erleichtert die Beschaffung der Lebensnotwendigkeiten, verbilligt Bequemlichkeit und Luxus, bezieht weite Gebiete in den Einflußbereich der Industrie ein – und unterstützt zu gleicher Zeit das System mühseliger Arbeit und Zerstörung. Der Einzelne zahlt dafür mit dem Opfer seiner Zeit [eig. Anm: seit jeher fordert das Realitätsprinzip ja das Opfer], seines eigenen Bewußtseins, seiner Träume; die Kultur zahlt dafür mit der Preisgabe ihrer eigenen Versprechungen von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden für alle. [Eig. Hervorhebung]«354 Respektive ihrer Eigenschaft als Dauer ist die Zeit damit auch Ausdruck des bemessen(d)en Realitätsprinzips. Der Augenblick dahingegen ist maßlos, er ist das Kennzeichen des Lustprinzips, er ist von sofortiger Wirkung: Er kennt keinen Aufschub, keine Dauer. Marcuse setzt dieses Faktum abermals in einen soziokulturellen Kontext: »Die Idee einer vollständigen menschlichen Befreiung schließt daher notwendigerweise die Vision eines Kampfes gegen die Zeit in sich. Wir sahen daß die orphischen und narzißtischen Urbilder die Auflehnung gegen die Vergänglichkeit symbolisierten, das verzweifelte Bemühen den Fluß der Zeit aufzuhalten – das konservative Wesen des Lustprinzips. Soll der […] Staat wirklich der Staat der Freiheit sein, dann muß er letzten Endes den zerstörerischen Ablauf der Zeit überwinden können. Nur das wäre das Wahrzeichen einer nicht-repressiven Kultur.«355 Marxʼ Diktum vom ›Ende der Vorgeschichte des Menschen‹ würde so in der nicht-repressiven Kultur in gewisser Weise tatsächlich zu einem ›Ende der Geschichte‹. Zumindest das atemlose, lineare Foranschreiten der Zeit würde sich gefühlt verwandeln in ein ruhendes ›Kreisen‹. Linien können verlängert werden; ein Kreis kann erweitert werden – der Kreis ist damit nicht Sinnbild des Stillstands, sondern Sinnbild allseitigen Wachstums; er ist kein blinder Punkt, sondern eröffnet einen plastischen Raum. Seine Zeitlichkeit wäre die Allgegenwart und Gleichzeitigkeit, während die Zeitlichkeit der Linie eine des Vorher, Jetzt und Nachher und damit eine der permanenten Endlichkeit ist. »Der Kreis war schon früher aufgetaucht: bei Aristoteles und bei Hegel als Symbol des Seins als Selbstzweck.«356 Leben, als Selbstzweck: Nichts beschriebe mehr die Wirkung und Wirkkraft des Lustprinzips. Und so ist die »Vision des geschlossenen Kreises – nicht Fortschritt, sondern ewige Wiederkehr«357 . Marcuse schreibt: »Die ewige Wiederkehr ist der Wille und die Vision einer erotischen Einstellung zum Sein, für 353 354 355 356 357

Ebd., S. 102. Ebd. Ebd., S. 186. Ebd., S. 123. Ebd.

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die Notwendigkeit und Erfüllung zusammenfallen«358 . Der Augenblick triumphiert in der Erfüllung des Triebziels des Eros nicht nur über dessen aus Versagung geborenen Widersacher, sondern auch über das an Versagung und Aufschub geknüpfte Realitätsprinzip. Der Kreis als symbolische Zeitform des Lustprinzips trifft so auf die Linie als symbolische Zeitform des Realitätsprinzips. Kreis und Linie werden im Netzwerk zum Raum: Das Netzwerk ist eine potenziell unendliche, gekrümmte Gerade die sich an unzähligen Knotenpunkten selbst schneidet; die räumliche Dimension entsteht, virtuell wie real. Allein das Netzwerk eignet sich so zur Beschreibung psychischer wie sozialer Räumlichkeit. Es erschafft so mit dem Raum seine Zeit. Das biomorphe Netzwerk ist das maßlose, das unendliche; das thanatomorphe ist eigentlich keines; es ist ein zerfallendes, ein in Auflösung befindliches, ein endliches, ein bemessenes. Es ist vielleicht mehr System als Netz: Nicht umsonst stand die Systemtheorie daher Pate bei der Beschreibung der modernen (in Marcuses Worten auch: ›eindimensionalen‹359 ) Gesellschaft; und nicht umsonst verkörpert nichts wie die Netzwerktheorie so sehr die Funktionsweise der mehrdimensionalen, vielschichtigen Gesellschaftsform der Spätmoderne. Das Versprechen auf augenblickliche Befriedigung, welches allein das Lustprinzip zum Preis von Unsicherheit zu erfüllen in der Lage scheint, widerstreitet dem Realitätsprinzip und seinem Versprechen von Sicherheit und Dauerhaftigkeit, welche durch Aufschub garantiert werden sollen. Hierbei tritt das Janusgesicht des Realitätsprinzips deutlich zutage: Jede Sicherheit und Dauerhaftigkeit bleibt scheinbar geknüpft an die Existenz von Herrschaft. Denn: »Der ›Kampf ums Dasein‹ ist ursprünglich ein Kampf um Lust: die Kultur beginnt mit der kollektiven Bemühung um dieses Zieles. Später allerdings wird dieser Kampf ums Dasein im Interesse der Herrschaft organisiert: die erotischen Grundlagen der Kultur werden umgebildet.«360 Sollen nun aber diese erotischen Grundlagen, die am Beginn von Kultur standen, freigelegt und auf der Höhe der Kultur reaktiviert werden, so stellt sich die Frage, wie tragfähig denn eine Kultur des Augenblicks überhaupt sein könnte, und darüber hinaus, ob diese nicht zwangsläufig einen Rückfall in vorkulturelle ›Barbarei‹ (also: das Recht des Stärkeren) bedeuten müsse – oder, wie Marcuse formuliert: »[W]ürde die Heraufkunft eines nicht-repressiven Realitätsprinzips, das Triebbefreiung mit sich brächte, eine Regression unter die erreichte Stufe zivilisierter Rationalität bedeuten«361 ? Marcuse versucht diese entscheidende Frage zu beantworten. Die »Vorstellung einer nicht-repressiven Triebordnung« prüft er dabei an dem »›ordnungslosesten‹ aller Triebe – der Sexualität nämlich«, und überlegt, ob die Libido »kraft ihrer eigenen Dynamik und unter veränderten sozialen und Daseins-Bedingungen« dazu in der Lage wäre »dauerhafte erotische Beziehungen unter reifen Individuen zu stiften«.362 Er unterscheidet also zwischen Libido (der Sexualenergie) und Eros (dem Lebens- und Liebestrieb), wenngleich er die Verknüpfung beider miteinander zur Kenntnis nimmt. Dennoch ist es ihm wichtig, gerade bezüglich 358 Ebd. 359 Siehe dazu: Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied/Berlin 1970. 360 Herbert Marcuse, Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, a.a.O., S. 126. 361 Ebd., S. 191. 362 Ebd., S. 192.

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der ›ordnungslosen‹ Libido ein möglicherweise sehr gefährliches Wegfallen von Tabus auf Triebkräfte in Augenschein zu nehmen: »Wir haben mehrfach Freuds Überzeugung erwähnt, daß jede echte Abnahme der gesellschaftlichen Kontrolle über die Sexualtriebe, selbst unter optimalen Bedingungen, die Organisation der Sexualität auf ›vorkulturelle‹ Stadien zurückwerfen würde. Diese Regression müßte die zentralen Befestigungen des Leistungsprinzips durchbrechen: sie würde die Ableitung der Sexualität in die Kanäle der monogamen Fortpflanzung zerstören und das Tabu auf die Perversionen aufheben. […] Es würde Libido freiwerden, die die institutionalisierten Grenzen, in denen sie durch das Realitätsprinzip gehalten wird, überfluten müßte. […] Diese Aussichten scheinen die Erwartung zu rechtfertigen, daß eine Triebbefriedigung nur zu einer Gesellschaft von Triebbesessenen führen könne – d.h. zu keiner Gesellschaft.«363 Marcuse verweist in diesem Zusammenhang auch auf die verheerende Wirkung plötzlich unkontrolliert freigesetzter Libido, sobald die Umstände es scheinbar erlauben, oder die Schranken des Realitätsprinzips bspw. in Kriegs- und Krisenzeiten ins Wanken geraten: »[Das] manifestiert sich in den scheußlichen Formen, die in der Kulturgeschichte so wohlbekannt sind: in den sadistischen und masochistischen Orgien verzweifelter Massen, ›gesellschaftlicher Eliten‹, verhungerter Söldnerbanden, der Aufseherhorden in Gefängnissen und Konzentrationslagern.«364 Nun führt Marcuse aber einen entscheidenden Einwand an:365 An diesen verabscheuungswürdigen Phänomenen zeige sich gerade die fatale, ›explosionsartige‹ Freisetzung lange unterdrückter Libido innerhalb einer unter dem Eindruck eines repressiven Realitätsprinzips stehenden Kultur. Ein von vorneherein weniger repressiv geartetes Realitätsprinzip würde überhaupt nicht erst einen so massiven Druck auf die Libido ausüben, der sie in solch unmenschliche Formen zwingt und zu derart abrupten Ausbrüchen drängt. Denn ein weniger repressiv geartetes Realitätsprinzip würde nicht auf eine unkontrollierte und plötzliche Freisetzung von Libido hinauslaufen, sondern auf eine schleichende Transformation. Libido würde unter einem versöhnlicheren Realitätsprinzip umgewandelt; und zwar »von der unter das genitale Supremat gezwungenen Sexualität zu einer Erotisierung der Gesamtpersönlichkeit.«366 Eine Umwandlung und Einbettung der Libido in den Eros wäre also die Folge; die Sexualität werde erotisiert. Selbst eine Verwandlung der Perversionen in gesellschaftsverträgliche Formen von Beziehungen zum Anderen und der Welt würde dadurch angestoßen. Marcuse erörtert dies wie folgt: »[D]ie Funktion des Sadismus ist eine andere in einer freien libidinösen Beziehung als etwa bei den Unternehmungen von SS-Truppen. Die unmenschlichen, zwangshaften, erzwingenden und zerstörerischen Formen dieser Perversionen scheinen mit der allgemeinen Perversion des menschlichen Dasein in einer unterdrückenden Kultur zusammenzuhängen, aber die Perversionen selbst haben einen triebhaften Gehalt, der 363 364 365 366

Ebd., S. 193ff. Ebd., S. 196. Vgl. ebd., S. 195f. Ebd., S. 195.

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anders ist als diese Formen; und dieser Gehalt könnte durchaus in anderen Formen zum Ausdruck gelangen, die mit normalen Verhaltensweisen in einer hohen Kultur wohl vereinbar wären.«367 Ein weniger repressives Realitätsprinzip würde gerade die destruktiven und schädlichen Formen von Sexualität aufheben, indem es die Libido gründlich erotisiere und damit als transformierte verbreite, und zwar in »bisher tabuisierte Zonen, Zeiten und Beziehungen«; die »Manifestation bloßer Sexualität [Hervorhebung durch Marcuse]« würde vermindert »indem sie […] in eine viel größere Ordnung« eingebunden werde.368 Die Beziehungen zu den Anderen und zur Welt sowie alle daraus sich ergebenden Verhältnisse, einschließlich der Produktionsverhältnisse, würden erotisiert,369 d.h. von Liebe und Leben durchdrungen, und sie würden eben nicht sexualisiert, also durch den Geschlechtstrieb besetzt. Marcuse ist der Ansicht, dass auch eine Verwandlung entfremdeter und erzwungener Arbeit hin zur freiwilligen und schöpferischen Tätigkeit verbunden sei. Das ›Werk‹ trete dann anstelle der Arbeit; denn das Werk (mag es auch aus Notwendigkeit entstehen, so doch nie aus Zwang) wird gerne vollbracht und vom Ausübenden als Tätigkeit, die seiner Person entspricht, geliebt – so versteht Marcuse die Erotisierung selbst der Produktionsverhältnisse und damit der gesamten Gesellschaftsordnung. So könnte die Befreiung des Eros also neben den gewandelten zwischenmenschlichen und allgemeinen Relationen auch »neue, dauerhafte Werkbeziehungen schaffen [Eig. Hervorhebung]«370 . Es müsse also im Fall eines versöhnlicheren Realitätsprinzips von einer »Selbstsublimierung der Sexualität« ausgegangen werden, die alle Bereiche der Gesellschaft ergreift und »höchst kultivierte menschliche Beziehungen [eig. Hervorhebung] begründen kann, ohne der repressiven Organisation unterworfen zu sein«.371 Marcuses theoretischer Ansatz erweist sich hier einmal mehr (auch ungeachtet der inhaltlichen Ausrichtung) methodisch als kompatibel zu einer intersubjektiven Gesellschaftstheorie, da er vor allem Beziehungen zwischen Subjekten und von Subjekten zur Welt der Objekte in den Mittelpunkt rückt. Natürlich berührt Marcuses These vom neuen Verhältnis des Menschen zur Arbeit (das unter dem Einfluss des Eros eines zum Werk werde) die Frage der gesellschaftlichen Produktivität. Produktivität, als »Ausmaß der Naturbeherrschung« bemisst den Wert des Menschen anhand seiner Fähigkeiten »gesellschaftlich nützliche Dinge hervorzubringen, zu vermehren und zu verbessern«; doch »je mehr die Arbeitsteilung auf den Nutzen für den bestehenden Produktionsapparat zugeschnitten wurde, statt auf den Nutzen des Einzelnen – mit anderen Worten: je mehr das Bedürfnis der Gesellschaft vom Bedürfnis des Individuums abwich – desto mehr neigte die Produktivität dahin, dem Lustprinzip zu widersprechen und Selbstzweck zu werden«.372 Dabei war doch Arbeit eigentlich immer schon dem Zweck verbunden; allein das Spiel bildete einen Bereich des absoluten Selbstzwecks. »In einer wahrhaft menschlichen Kultur wird

367 368 369 370 371 372

Ebd., S. 196f. Ebd., S. 196. Ebd. Ebd., S. 153. Ebd., S. 198. Ebd., S. 153.

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das Dasein viel mehr Spiel als Mühe sein und der Mensch wird in der spielerischen Entfaltung statt im Mangel leben.«373 Die »Befreiung des Menschen von unmenschlichen Daseinsbedingungen«374 kann nur unter einem anders gearteten Realitätsprinzip, das dem Lustprinzip sein Recht einräumt, vonstatten gehen: »Der Spieltrieb ist das Vehikel dieser Befreiung. Es ist das nicht ein Impuls, der auf das Spiel ›mit‹ irgendwas gerichtet ist; vielmehr ist es das Spiel des Lebens selbst, jenseits von Bedürfnis und äußerem Zwang – die Manifestation eines Daseins ohne Furcht und Angst, und somit die Manifestation der Freiheit.«375 Produktivität würde so den Charakter eines spielerischen Austauschs mit Natur gewinnen, und sich nicht mehr als Beherrschung der Natur ausnehmen: »Der Spieltrieb könnte, würde er tatsächlich als Kulturprinzip Geltung gewinnen, die Realität im wahrsten Sinne des Wortes umgestalten. Die Natur, die objektivierte Welt, würde dann nicht mehr in erster Linie als den Menschen beherrschend erfahren (wie in der primitiven Gesellschaft) noch als etwas, das vom Menschen beherrscht wird (wie in unserer Welt), sondern vielmehr als ein Gegenstand der ›Betrachtung, der Reflexion‹376 . Mit dieser Veränderung der grundlegenden, formativen Erlebnisform (Erfahrung) verändert sich das Objekt der Erfahrung selbst: befreit von gewaltsamer Herrschaft und Ausbeutung, geformt stattdessen vom Spieltrieb, wäre die Natur auch ihrer eigenen Rohheit ledig und frei, die Fülle ihrer zwecklosen Formen spielerisch darzustellen, die das ›innere Leben‹ ihres Gegenstands ausdrücken. Auch in der subjektiven Welt würde sich ein entsprechender Wandel vollziehen. Auch hier würde das ästhetische Erlebnis die gewalttätige und ausbeuterische Produktivität beenden, die den Menschen zum Arbeitsinstrument erniedrigt.«377 Es drängt sich aber für Marcuse die Frage nach den Ursachen des Scheiterns bisheriger revolutionärer Befreiungsversuche auf. Dabei unterscheidet er abermals zwei Ebenen; die individuelle, und die gesellschaftliche: »Auf der individuellen Ebene ist die Urauflehnung in der Struktur des normalen Ödipuskonflikts mit enthalten. Auf der Ebene der Gesellschaft wurden immer wiederkehrende Revolten und Revolutionen von Gegenrevolutionen und Restaurationen gefolgt.«378 So ist Marcuse der Ansicht »von den Sklavenaufständen der alten Welt bis zur sozialistischen Revolution endete der Kampf der Unterdrückten in der Errichtung eines neuen, ›besseren‹ Herrschaftssystems; der Fortschritt fand durch eine wachsende Kette der Kontrollen statt.«379 Es sei jede Revolution die bewusste Bemühung gewesen, eine Gruppe von Herrschenden durch eine andere zu ersetzen; es habe aber auch jede Impulse freigesetzt, die das Ende von Herrschaft und Ausbeutung per se anstrebten.380 Jedoch: »Die Leichtigkeit mit der sie nie-

373 374 375 376

Ebd., S. 183. Ebd., S. 182. Ebd. Friedrich Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: Sämtl. Werke, XVIII, Stuttgart und Tübingen 1826, S. 135, zitiert nach Herbert Marcuse; ebd., S. 184. 377 Ebd. 378 Ebd., S. 92. 379 Ebd. 380 Vgl. ebd., S. 92f.

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dergerungen wurden, verlangt nach einer Erklärung.«381 Und mit der Suche nach dieser Erklärung für das Scheitern vorangegangener Versuche von Befreiung ist auch die Frage, warum gerade die industrielle und moderne Zivilisation, die erstmals wirklich die Grundbedürfnisse aller zu befriedigen imstande wäre, abermals das Versprechen auf Freiheit von Herrschaft nicht wirklich einlösen konnte. Marcuse sucht die Antwort auf diese Fragestellung analytisch in dem Komplex an psychosozialen Implikationen, der eben beide Ebenen – die individuelle wie die gesellschaftliche – so entscheidend prägt: dem Ödipus-Komplex. Er diente ja schon Freud als Blaupause zum Verständnis von Herrschaft, Auflehnung und Wiedererrichtung der Herrschaft. Ganz vom tieferen Wahrheitsgehalt der Darstellung Freuds überzeugt, folgert nun Marcuse, dass so wie nach Zerschlagung der Herrschaft des väterlichen Despoten in der ›Urhorde‹ zunächst einmal die Herrschaft der Brüder an dessen Stelle getreten war (nicht mehr aber als eine direkte, vermittels despotischer Gewalt, sondern als eine indirekte, vermittels erster Normen, den Tabus nämlich, welche weiterhin die scheinbar überwundenen ›Ge- und Verbote‹ des ›Vaters‹ zum Inhalt hatten), es auch in den Revolutionen auf vermeintlich höheren Kulturstufen ebenfalls nur zu einer Ablösung der alten Herrschaftsstrukturen mit anschließend sublimerer Neuaufrichtung derselben gekommen sein musste. Denn schon die den individuellen Ödipus-Komplex bestimmende Vaterfigur werde als Über-Ich-Prägende und damit triebkontrollierende Instanz ein Leben lang reimaginiert, und zwar in Gestalt von ›Autoritäten‹ wie »vom Meister, vom Chef, vom Prinzipal«382 . »Sie repräsentierten in ihrer greifbaren Persönlichkeit das Realitätsprinzip: barsch und wohlwollend, grausam und belohnend, provozierten und bestraften sie den Wunsch nach Auflehnung; die Erzwingung des vorgeschriebenen Verhaltens, der Anpassung, war ihre persönliche Aufgabe und Verantwortung.«383 Nun sei aber in der Moderne eben jenes alte Autoritätsprinzip im Schwinden begriffen; die kapitalistische Ökonomie legte selbst den Grundstein dazu: »Der Meister übt keine individuelle Funktion mehr aus. Der sadistische Prinzipal, der kapitalistische Ausbeuter sind zu gehaltbeziehenden Mitgliedern einer Bürokratie geworden, und ihre Untergebenen begegnen ihnen als Mitglieder einer anderen Bürokratie. Der Schmerz, die Versagung, die Machtlosigkeit des Einzelnen stammen jetzt von einem höchst produktiven System her, in dem dieser Einzelne einen besseren Lebensunterhalt verdient als je zuvor. Die Verantwortung für die Organisierung des Lebens liegt beim Ganzen, beim ›System‹, bei der Gesamtsumme der Institutionen, die seine Bedürfnisse bestimmen, befriedigen und lenken.«384 Jenseits der vormalig persönlichen Vater-Imagines, gibt es nun vielmehr den anonymen gesellschaftlichen Vater; den Vater, dessen vormals ungeschriebene Gesetze nun geschriebene sind. Dieser Vater werde in der modernen Gesellschaft »in der Verwaltung wiederaufgerichtet« und »in den Gesetzen, die die Verwaltung schützen«.385 Und so beschreibt Marcuse die Probleme, die bei der Ablösung dieser Form von Herrschaft 381 382 383 384 385

Ebd., S. 93. Ebd., S. 99. Ebd., S. 99f. Ebd., S. 100. Ebd., S. 94.

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auftauchen, als psychosoziale Problemstellungen, und eben nicht allein als politökonomische; denn sie seien verbunden mit dem kulturhistorisch begründeten Gefühl von schwerer Schuld. Die Auflehnung selbst ist mit dem äußersten Tabu belegt: »Diese letzte und sublimste Inkarnation des Vaters kann nicht ›symbolisch‹ durch Emanzipation überwunden werden; es gibt keine Freiheit vor der Verwaltung und ihren Gesetzen, denn sie erscheinen als die höchsten Garanten der Freiheit selbst. Die Auflehnung gegen sie wäre wiederum das äußerste Verbrechen – diesmal nicht gegen das Despot-Tier, das die Befriedigung verbietet, sondern gegen die weise Ordnung, die die Güter und Dienste für die fortschreitende Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse sicherstellt. Jetzt erscheint die Auflehnung als das Verbrechen gegen die gesamte menschliche Gesellschaft und daher jenseits jeder Sühne und Erlösung.«386 Der Wunsch nach Abschaffung von Herrschaft wird folglich in der (spät-)modernen Gesellschaft (in welcher Herrschaft sich bereits vielerorts in abstrakte, symbolische Formen verwandelt hat, und nicht mehr nur eine direkte oder despotische ist) immer noch – oder erst recht – so verstanden, als ziele er darauf ab, den die Ordnung verkörpernden ›Vater‹ leibhaftig zu töten. Der Wunsch nach Befreiung erscheint als Kapitalverbrechen. Und so kommt es zu der paradoxen Situation, dass »je näher die reale Möglichkeit rückt, den Einzelnen von den ehemals durch Mangel und Unreife gerechtfertigten Einschränkungen zu befreien«, die allgemeinen Bestrebungen zunehmen, »diese Einschränkungen aufrecht zu erhalten und immer funktionstüchtiger zu gestalten«; denn die »Zivilisation muß sich gegen das Traumbild einer Welt verteidigen, die frei sein könnte«; und so breiten sich gerade mit Anbruch der modernen Epoche, die die größten Möglichkeiten zur realen Befreiung böte »totalitäre Herrschaftsformen aus«, »die Menschen müssen in einem Zustand dauernder innerer und äußerer Mobilisierung gehalten werden [eig. Hervorhebung]«: »Diesmal darf es keinen Mord am Vater geben – nicht einmal einen symbolischen – weil er unter Umständen keinen Nachfolger finden würde«.387 Es scheint, als gäbe es aus dieser Dialektik keinen Ausweg – es sei denn der ÖdipusKomplex selbst transformiere sich, bevor die Form der modernen Gesellschaft transformiert werden könnte; und in der Tat ist es genau dies, was in der Spätmoderne beobachtet werden kann. Der hier eingeführte Begriff des relationalen Komplexes trägt diesem Umstand Rechnung. Er ist nicht nur eine terminologische Neuerung, sondern spiegelt auch inhaltlich die Tatsache wider, dass – in einer Gesellschaft, deren Familienstrukturen bereits nicht mehr dem bürgerlichen Ideal entsprechen (und deren Autoritäten bereits weniger personale, sondern abstrakte oder gar in Auflösung befindliche sind) – die ehemals klassische ödipale Situation individuell wie kollektiv an Bedeutung verliert. Der relationale Komplex tritt anstelle des Ödipus-Komplexes. Die Rolle des Vaters, wie sie in der bürgerlichen Gesellschaft definiert war, ist im Schwinden begriffen, und folglich kann die Auflehnung gegen die Autorität, der Wunsch nach Befreiung, nicht mehr symbolisch als ›Mord am Vater‹ begriffen und entsprechend geahndet werden. Die Spätmoderne hat sich dem Griff der ödipalen Situation weitgehend entwunden.

386 Ebd. 387 Ebd., S. 95f.

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Der relationale Komplex (als Verkörperung der Strukturlogik triadischer intersubjektiver Muster) fungiert und funktioniert anstelle des Ödipus-Komplexes, ist aber anders geartet. Die individuellen wie kollektiven Möglichkeiten der Befreiung sind daher im selben Maße andere geworden, wie sich die vormals patriarchal geprägte Herrschaft zu transformieren begonnen hat. Die Dialektik von maßlosem Lustprinzip und bemessenden Realitätsprinzip trägt bereits Züge einer Synthese hin zu einem versöhnlicheren Realitätsprinzip.   ›Wüsten und Oasen‹ als Metaphern ›misslingender und gelingender Weltbeziehungen‹: Varianten des maßlos Gemeinsamen und des bemessen Einsamen in Rosas soziologischer Resonanztheorie? ■ Hartmut Rosa versteht sein Werk Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung388 als Schilderung von Moderne wie Spätmoderne unter den Gesichtspunkten einer »Resonanzkatastrophe«389 bzw. »Resonanzsensibilität«390 . Damit ist eine Beziehung des Subjekts zur Welt gemeint, die entweder ›misslingt‹ oder ›gelingt‹,391 d.h. eine Beziehung, in der die Welt entweder »(passiv) erfahren […] [oder] (aktiv) angeeignet oder anverwandelt wird oder werden kann«392 ; eine Beziehung, die ›stumm‹ bleibt oder sozusagen ›resonant‹ zu klingen anhebt.393 Hier gilt es festzuhalten: Nicht nur, dass Rosa somit eine intersubjektive Perspektive einnimmt, indem er auf Beziehungen fokussiert, nein, er erweist sich damit, selbst wenn er sich in keiner Weise auf Lorenzer bezieht, auch in hohem Maße als anschlussfähig an dessen grundlegendes Theorem vom Zustande-Kommen der relationalen Einigungssituation bzw. dem Scheitern eben jener; und: Alfred Lorenzers ›zustande-kommende‹ Einigungssituation bzw. ›scheiternde‹ Einigungssituation wurde hier in Kap. 1.2 dieser Arbeit ja auch mehrfach als ›gelingende‹ bzw. ›misslingende‹ Einigungssituation bezeichnet. Bemerkenswert ist nun aber, dass Rosa insofern über Lorenzer hinausweist, dass er nicht nur die Relation zwischen Subjekt und Subjekt, sondern vor allem (auch in einem objektbeziehungstheoretischen Sinn)394 die der Subjekte zur Welt in den Blick nimmt. Die intersubjektive Formel von den Beziehungen zu ›sich selbst, den Anderen und der Welt‹395 erfährt mit Rosas Schwerpunktsetzung auf die ›Weltbeziehungen‹ eine deutlich gesellschaftstheoretisch gelagerte Vertiefung (wenn nicht sogar eine metaphysische Dimension). Rosa charakterisiert die Beziehung des Subjekts zur Welt unter dem Gesichtspunkt der Resonanz folgendermaßen:

Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, a.a.O. Ebd., S. 517. Ebd., S. 599. Vgl. ebd., S. 633. Ebd., S. 53. Vgl. ebd., S. 55 f und S. 453ff. Siehe dazu insb.: Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, a.a.O., Unterkap. »Objektbeziehungen: ›Die Dinge singen hör ich so gern‹«, S. 381-393. 395 Vgl. dazu auch die (an Metaphysik grenzenden) Schilderungen von Heideggers ›In-Der-Welt-Sein‹, wie sie im Kontext jenes intersubjektiven Diktums reflektiert werden, in: Dan Zahavi, Husserl und die transzendentale Intersubjektvität. Eine Antwort auf die sprachpragmatische Kritik, Dordrecht/Boston/London 1996, S. 107f.

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»Resonanzen sind Ergebnis und Ausdruck einer spezifischen Form der Beziehung zwischen zwei Entitäten, insbesondere zwischen einem erfahrenden Subjekt und begegnenden Weltausschnitten. Ob die sich in jeweiligen Interaktionskontexten herausbildenden Beziehungen resonanter oder stummer Art sind, hängt mithin von beidem, vom Zustand des Subjekts wie der begegnenden Welt, und darüber hinaus von ihrem Passungsverhältnis ab. Das gilt unbeschadet des Umstandes, dass weder Subjekt noch Welt einfach gegeben sind, sondern ihrerseits bereits als das Resultat von (Resonanz)Beziehungen verstanden werden müssen. [Eig. Hervorhebung]«396 Dabei betont Rosa, dass für ihn die grundsätzliche Unterscheidung in der zwischen »stummen und resonanten Weltbeziehungen [Hervorhebungen durch Rosa]« liegt.397 Die ›stumme‹ Beziehung des Subjekts zur Welt unterlegt Rosa immer wieder mit Assoziationen wie z.B. »starr« oder »kalt«; die ›resonante‹ dahingegen mit »elastisch« oder »fluide«.398 Auch schreibt er: »Wenn wir sie lieben, entsteht so etwas wie ein vibrierender Draht zwischen uns und der Welt [Hervorhebung durch Rosa]«; oder an anderer Stelle, im Umkehrschluss: Man »erlebt die Widerfahrnisse des Lebens als eine Serie von unwägbaren Gefahren und ärgerlichen Störungen.«399,400 Der Eros, welcher ja interaktiv und kommunikativ als verbindende Dynamik begegnet, wird also von Rosa beinahe akustisch imaginiert, nämlich als schwingend resonante Beziehung; während dahingegen der Thanatos, wie er sich als Trennender in den diversen Formen von Relationen ausdrückt, bei Rosa als stummes, schweigendes Verhältnis gedacht sein dürfte. So wird von Rosa das Subjekt selbst, wie auch die Welt der Objekte andererseits, als Ausgangs- bzw. Ansatzpunkt einer Vielzahl von Selbstoder Weltbeziehungen konzipiert. Der psychische (Innen-)Raum, gewoben aus dem Netz von Repräsentanten ehemals äußerlich erfahrener Kommunikation und Interaktion, begegnet also auch hier; und der (Welt-)Außenraum, der soziale Raum, darf damit wohl ebenso intersubjektiv und netzwerkartig geprägt verstanden werden. Und sicherlich schwebt die Vorstellung vom Maßlosen des Lustprinzips im ›Klingen‹, ›Singen‹ und ›Schwingen‹ resonanter Beziehungen genauso mit, wie das Bemessende des Realitätsprinzips zum Ausdruck kommt im Bild von ›stummen‹, nicht ›antwortenden‹, »beziehungslosen Beziehungen«401 (wie Rosa mit einer Formulierung von Rahel Jaeggi veranschaulicht). Dass das resonante ›Klingen‹, ›Singen‹ und ›Schwingen‹ bei Rosa

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Ebd., S. 633. Ebd., S. 56. Ebd., S. 25. Ebd., S. 24f. In einem Rückgriff auf Fritz Riemann wie Émile Durkheim gibt Hartmut Rosa außerdem ebd., S. 195, eine Darstellung divergierender Beziehungen zum eigenen Selbst wie zur Welt und unterteilt in: »Starres Selbst« vs. »Konturloses Selbst« »Starre Welt« vs. »Konturlose Welt«; in: ders., Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, a.a.O., S. 195. Vor dem Hintergrund des Theorems des maßlosen Selbst/bemessenen Ich bzw. des maßlos Gemeinsamen/bemessen Einsamen gesehen, erweist sich diese Auffassung als ergiebig und theoretisch multipel ausbaufähig. Eine Brücke zur Resonanztheorie ist den hier gegebenen Konzepten damit ermöglicht. 401 Ebd., S. 54. (Hartmut Rosa verweist an dieser Stelle bzgl. der Formulierung von den ›beziehungslosen Beziehungen‹ auf: Rahel Jaeggi, Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt a.M./New York 2005.)

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eigentlich aber ein Gemeinsames versinnbildlicht, so wie das ›Stumme‹, ›Abweisende‹, ›Starre‹ das Einsame in sich birgt, dürfte selbsterklärend sein (wenngleich Rosa diesen Gedankengang nicht explizit verfolgt).402 Das raumhaft-topografische in seinem Verständnis von den Beziehungen des Subjekts zur Welt bringt Rosa überdies vielfach zum Ausdruck, wenn er ›entgegenkommende‹, resonante Weltbeziehungen etwa beschreibt als »sanft gewellte, liebliche Hügellandschaft« und abweisende, stumme, mit der Metapher »schroffe Felsschluchten« belegt; weiter spinnt er diese Veranschaulichung mit den entgegengesetzten Adjektivpaaren »heiter und sonnig oder düster und trüb [Hervorhebungen durch Hartmut Rosa]«.403 Dabei benutzt er die so treffende Bezeichnung der »Stimmung«404 um den grundsätzlichen Charakter der Verbindung zwischen psychischem und sozialem Raum, zwischen Subjekt und Welt – als, so ließe sich diese Diktion fortführen: aufeinander eingestimmt, unbestimmt oder gar unstimmig – zu veranschaulichen. Diese weitgespannten Reflexionen Rosas können hier nur kurz umrissen werden. Dennoch darf darauf verwiesen werden, dass eine stärker in der Psychoanalyse verankerte Intersubjektivitätstheorie sicherlich noch deutlich zur weiteren Klärung und Schärfung dieser Metaphern beizutragen vermag. Die großartigen Bilder (letztlich: psychosoziale ›Oasen‹ oder ›Wüsten‹)405 welche Rosa offeriert, lohnt es sich daher aufzu402 Hartmut Rosa neigt allerdings dazu, die Thematik der Einsamkeit immer wieder im Sinne von Entfremdungserfahrungen bzw. -theoremen aufzugreifen. So schreibt er in Bezug auf eine von ihm zitierte Adorno-Passage, in der jener die Auffassung vertritt, die modernen Beziehungen könnten immer weniger wie schon von Aristoteles als gedacht als zwischen Menschen ›anziehend‹ wirkende verstanden werden, sondern müssten nunmehr unter dem Gesichtspunkt der Verfolgung von Einzelinteressen gegen die Anderen gedacht werden: »Adorno bedient sich hier fast schon resonanztheoretischen Vokabulars, um die Weltbeziehungen als stumme zu identifizieren: Sie beruhten nicht auf Anziehung und Attraktion, die ich oben als Grundelemente der Resonanz identifiziert habe, sondern auf Indifferenz und Repulsion (›Gegnerschaft‹) – den konstitutiven Merkmalen der Entfremdung.« In: ebd., S. 581 (siehe ebd. auch die wörtl. Zitation Adornos durch Rosa). Setzt man hier aber anstelle von ›Attraktion‹ und ›Repulsion‹ auch einfach ›verbindende‹ bzw. ›trennende Kommunikation und Interaktion‹ – so gelangt man abermals zu einem mit der Resonanztheorie kompatiblen, aber eben stärker psychoanalytisch-sozialpsychologisch grundierten Ansatz. 403 Ebd., S. 639. 404 Ebd. 405 Hartmut Rosa erörtert schon in einem vor Erscheinen seiner Resonanztheorie veröffentlichten Text, dass Charles Taylor zwei basale Modi menschlicher Existenz darlegt; diese wiederum schlägt Rosa schließlich vor, mit den Metaphern ›Oase‹ und ›Wüste‹ zu belegen. Erstaunlicherweise nimmt sich die eine dieser Grunderfahrungen (welche Taylor beschreibt und Rosa interpretiert) ganz ähnlich zum von Freud geschilderten ›ozeanischen Gefühl‹ bzw. dem hier vertretenen Ansatz des maßlosen Selbst bzw. maßlos Gemeinsamen aus. Hartmut Rosa schreibt: »Auf der einen Seite stehen Momente des ›Einklangs‹ mit dem Strom des Lebens, die Taylor stets (auch schon in früheren Arbeiten) als Momente der Fülle und der Er-füllung beschreibt, die nicht durch kognitive Einsichten, sondern eher durch eine emotional oder existentiell berührende ›Ahnung‹ eines großen und tiefen Zusammenhangs alles Seienden charakterisiert sind. [Eig. Hervorhebungen]« In: ders., »Wüste und Oase als Gründungsmetaphern des Sozialen: Charles Taylors Beitrag zur Soziologie (der Moderne)«; in: Sina Farzin/Henning Laux (Hg.), Gründungsszenen soziologischer Theorie, Wiesbaden 2014, S. 189. Und weiter: »Diesen (seltenen) Momenten des Einklangs zwischen Subjekt, physischer Welt und metaphysischem Horizont stellt Taylor nun diametral eine Welterfahrung der Geworfenheit [Hervorhebung durch Rosa] gegenüber, in der sich das Subjekt als ausgesetzt in einer kalten, har-

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greifen, zumal sie auch geeignet sind, die grundsätzliche Dynamik von Eros und Thanatos in psychosozialen Kontexten adäquat zum Ausdruck bringen. In diesem Sinne gilt es folglich abermals festzuhalten: Die Triebe aber bilden die Basis jeglicher Beziehungen zu sich selbst, den Anderen und der Welt und sie etablieren dadurch ›Beziehungsräume‹406 ; diese Beziehungsräume, verstanden als Kommunikations- und Interaktionsgefüge, eben: als relationale Formationen, aber sind es, die schließlich das Gepräge der sie begründenden Triebe selbst annehmen, und folglich entweder als biomorph oder thanatomorph strukturierte verstanden werden dürfen. Wenn nun Rosa aber seine Art der Schilderung von Beziehungen zur Welt spannt hin zur Beschreibung von divergierenden Weltbeziehungen in der Moderne bzw. der Spätmoderne, so offeriert er ein methodisches und begriffliches Instrumentarium, das zutiefst gesellschaftstheoretisch orientiert ist. Hartmut Rosa beschreibt in diesem Kontext sein Verständnis von Weltbeziehungen noch einmal differenzierter: »Weltbeziehungen sind keine individuellen Leistungen, sondern in hohem, vielleicht entscheidendem Maße kulturell und strukturell institutionalisiert. Die Beziehungsformen [eig. Anm.: Man denke allein terminologisch schon an deren psychisches Äquivalent, nämlich Lorenzers ›Interaktionsformen‹], aus denen Subjekte und begegnende Objekte hervorgehen, sind in ihren Möglichkeiten, Varianzen und Grenzen präfiguriert durch die jeweils historisch realisierte soziokulturelle Formation [eig. Hervorhebungen] – durch ihre Leitideen und Weltbilder ebenso wie durch ihre institutionalisierten Praktiken, durch ihre Sprache und Kunst, durch ihre Gestaltung von Raum und Zeit und durch ihre leiblichen Ausdrucksformen. Weltbeziehungen sind, wie gesagt, zugleich eine Voraussetzung und Basis für die Etablierung und Realisierung einer soziokulturellen Formation wie auch deren durch Reifizierung und Naturalisierung gesichertes Ergebnis.«407 Rosa verknüpft alsdann im weiteren Fortgang seiner Untersuchung seine Theorie der Resonanz mit seiner bekannten Theorie der Beschleunigung408 . Das heißt, er analysiert die Weltbeziehungen des Subjekts in Moderne wie Spätmoderne auch unter der Prämisse (sozialer) Beschleunigung sowie dynamischer Stabilisierung.409 Die von ihm an-

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ten, gleichgültigen oder feindlichen Welt [eig. Hervorhebung] […] erfährt. Auch solche Momente […] finden sich eindrucksvoll in den poetischen Weltverhältnissen der deutschen Romantik – etwa in den Herbstgedichten Nietzsches oder Rilkes. Bei beiden steht der gefrorenen, abweisenden, Welt ein bleiches, blasses, beziehungsloses Subjekt gegenüber […] [eig. Hervorhebung].« In: ebd., S. 191. Diese Passage Rosas lässt Taylors zweite Form der Grunderfahrung menschlichen Seins gewiss auch ganz deutlich in den Termini des bemessenen Ich wie des bemessen Einsamen denken. Rosa bezieht sich bei diesen Analysen zu Taylors Soziologie u.a. auf: Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a.M. 2009. Als »komplexer Beziehungsraum« wird ja, wie hier bereits im letzten Abschnitt von 2.1 erwähnt, »die soziale Welt« von Henning Laux bezeichnet; in: ders., Soziologie im Zeitalter der Komposition. Koordinaten einer integrativen Netzwerktheorie, Weilerswist 2014, S. 74. Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, a.a.O., S. 671. Siehe dazu auch: Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005. Siehe dazu: Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, a.a.O., S. 671-737.

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gesprochene ›soziokulturelle Formation‹410 aber erlaubt sicher zumindest eine gedankliche Assoziation an den hier vorgeschlagenen und ausgearbeiteten Begriff der relationale Formation. Bezugspunkte zu Rosa dürften sich auch auftun von Marcuses Verständnis des (modernen) Realitätsprinzips als dem eines ›Leistungsprinzips‹, gesetzt den Fall, man vermag auch dieses unter den von Rosa gegebenen Diagnosen der ›Steigerungslogik‹ wie der ›Beschleunigung‹ moderner Gesellschaften zu betrachten. Umgekehrt wäre aber zu prüfen, inwieweit auf eine Spätmoderne, in der sich gewiss bereits Tendenzen zu einer mit dieser Steigerungslogik möglicherweise brechenden Postwachstumsgesellschaft abzuzeichnen beginnen, dann auch Marcuses Hypothese einer ›Versöhnung von Realitäts- und Lustprinzip‹ in einer (für ihn noch zukünftigen) weniger repressiven Gesellschaftsform vielleicht schon zutreffen könnte.   ›Kolonialisierung oder Befreiung‹, ›Niedergang oder Fortschritt‹, ›Zwang oder Lust‹, Entdeckung oder Erfindung‹: Implikationen des bemessen Einsamen und des maßlos Gemeinsamen in Altmeyers psychoanalytischer Resonanztheorie? ■ Als Fürsprecher einer relationalen (und damit: intersubjektiv orientierten) Psychoanalyse hat Martin Altmeyer das Topos der Resonanz aus einer mehr psychoanalytischen als soziologischen Perspektive angegangen und bringt dadurch weitere aufschlussreiche Überlegungen in die Resonanztheorie ein.411 So versteht er etwa ›soziale Resonanz‹ als ein »seelisches Bindemittel der ersten Stunde« [eig. Hervorhebung]:412 »Soziale Resonanz zu erhalten, bedeutet nichts anderes als bei anderen Menschen Anklang zu finden, eine Rückmeldung aus der Umwelt zu bekommen, ein Echo zu erhalten, eine Spiegelerfahrung zu machen. Es wird etwas davon zurückgeworfen, was man selbst zum Ausdruck bringt oder als ganze Person darstellt. Insofern zielt das Resonanzverlangen nicht auf Lust oder Entspannung, sondern auf einen Widerhall aus der Welt ›da draußen‹. Wer Resonanz erhält, hat einen Beweis dafür, dass er sozial überhaupt vorhanden und von Bedeutung ist. Resonanzbeziehungen sind deshalb lebens- und überlebensnotwendig. Ohne Antworten des Anderen beginnt das Selbst an der eigenen Existenz zu zweifeln. Ohne Spiegelung und Echo aus der Umwelt fühlen wir uns verlassen und verloren. Resonanzerfahrungen prägen in entscheidender Weise die früheste Kindheit. Sie werden zunächst leiblich vermittelt: über das Halten, Wiegen und Füttern, über Blickkontakt und mimischen Austausch, über Affektspiegelung und Körpersprache. Später kommen Worte und sprachlicher Austausch hinzu. Frühkindliche Resonanzerfahrungen bilden die Grundlage für das nötige Körper- und Beziehungswissen, für eine sichere Bindung, für die Entwicklung und Weiterentwick-

410 Jan Fuhse und Sophie Mützel sprechen in ihren Ausführungen zu einer ›relationalen Soziologie‹ im Übrigen ganz ähnlich von »Netzwerken als sozio-kulturellen Formationen [eig. Hervorhebung]«. In: Jan Fuhse/Sophie Mützel, »Einleitung: Zur relationalen Soziologie. Grundgedanken, Entwicklungslinien und transatlantische Brückenschläge«; in: dies. (Hg.), Relationale Soziologie. Zur kulturellen Wende der Netzwerkforschung, Wiesbaden 2010, S. 7. 411 Siehe dazu: Martin Altmeyer, Auf der Suche nach Resonanz. Wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert, Göppingen 2016. 412 Ebd., S. 193.

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lung von Beziehungskompetenzen, für das Vertrauen in die Welt wie für das eigene Selbstvertrauen.«413 Zweifellos steht auch hinter der hier postulierten Resonanzerfahrung von »Spiegelung und Echo aus der Umwelt« die Erfahrung eines Gemeinsamen, mit den Anderen und der Welt, so wie im Gegensatz dazu, beim Erleben einer Umwelt, die nicht ›antwortet‹, d.h. nicht in Resonanz tritt, das Selbst »verlassen und verloren«, also: einsam, erscheint.414 Selbstverständlich bestätigt auch die von Altmeyer betonte enorme Bedeutung von ›mimischem‹ bzw. ›sprachlichem Austausch‹ zwischen Selbst und Anderen (wie unschwer zu erkennen ist) die Annahme von verbindender bzw. trennender Kommunikation und Interaktion, welche ja im Sprachgebrauch Altmeyers lediglich als resonante bzw. nicht-resonante intersubjektive Erfahrung bezeichnet werden dürfte. Wie schon die hier vorgängig vollzogene Untersuchung der Schriften von intersubjektiven Theoretikern (wie Loewald, Stern, Lorenzer, Rosa usw.) aufzeigte, lassen sich also auch bei Altmeyer wesentlich relationale ›Theoriebausteine‹ ausmachen, die sich einfügen in das hier zur tieferen Analyse des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft vorgeschlagene terminologisch-methodologische Theorie-Desiderat: maßloses Selbst/bemessenes Ich – verbindende/trennende Kommunikation und Interaktion (maßlos Gemeinsames/bemessen Einsames) – biomorphe/thanatomorphe relationale Formation. Darüber hinaus lässt sich gerade auch mit Altmeyer der psychische Raum als ebenso intersubjektiv und netzwerkartig strukturiert begreifen wie der soziale (siehe dazu etwa sein Kapitel »Verbindungen zur Welt knüpfen – Die zeitgenössische Psyche als soziale Netzwerkerin [Eig. Hervorhebungen]«)415 Altmeyer verweist dort auch auf den von ihm mit herausgegebenen und hier bereits mehrfach in Kap. 1.1 zitierten Sammelband Die vernetzte Seele416 .417 So fügt sich auch dieses Element seines Denkens durchaus in die hier propagierte Verschränkung von netzwerk- und raumtheoretischen Grundannahmen. Jenseits dieser mehr theoretisch-methodischen Betrachtungen gilt es allerdings einen Blick zu werfen auch auf die inhaltlichen Thesen Altmeyers bei seiner Diagnose der Spätmoderne (die ihm eher eine »digitale Moderne« bzw. ein »Informationskapitalismus« zu sein scheint)418 . Dabei setzt er grundsätzlich an einem Punkt an, den ehedem schon Habermas ins Zentrum seines Interesses gerückt hatte, nämlich dem »Strukturwandel der Öffentlichkeit«419 – nur dass Altmeyer den durch die Informatisierung und ›Medialisierung‹ angestoßenen Strukturwandel der gegenwärtigen Öffentlichkeit nun gewissermaßen beschreibt als Transformation des »zeitgenössische[n] Sozial-

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Ebd. Ebd. Ebd., S. 185-202. Siehe dazu: Martin Altmeyer/Helmut Thomä (Hg.), Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse, a.a.O. 417 Vgl. Martin Altmeyer, Auf der Suche nach Resonanz. Wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert, a.a.O., S. 216. 418 Ebd., S. 203f. 419 Vgl. ebd., S. 216; siehe dazu auch: Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990.

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und Seelenleben[s] [eig. Hervorhebung]«.420 Drei Formen des mit der Digitalisierung verbundenen Wandels identifiziert Altmeyer: »1. Ein technischer Wandel [Hervorhebung durch Altmeyer] der durch den Einzug der elektronischen Medien in die persönliche Lebenswelt des Einzelnen einschließlich seiner Sozialbeziehungen charakterisiert ist. Dadurch sind die Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten ins Grenzenlose [eig. Hervorhebung]« gewachsen, sodass wir an (fast) jedem Ort und zu (fast) jeder Zeit mit der übrigen Welt in Verbindung und in Austausch mit anderen Menschen [eig. Hervorhebung] treten können. […] 2. Ein sozialer Wandel [Hervorhebung durch Altmeyer] der die kulturelle Liberalisierung und gesellschaftliche Individualisierung umfasst. Diese Entwicklungen, die bereits in den 1970er Jahren mit der sexuellen Revolution und der antiautoritären Jugendbewegung ihren Anfang nahmen, haben dazu beigetragen, dass sich unser gesamtes Wertesystem entspannt hat. Im Verbund mit partnerschaftlichen Erziehungsmethoden sind neue Freiheitsräume entstanden, sodass Kinder heute in weniger zwanghaft und weniger reglementierten, stattdessen stärker an Selbstbestimmung orientierten und kommunikativ anspruchsvollen Milieus aufwachsen als in der Vergangenheit. […] 3. Ein Wandel im Verhältnis von privat und öffentlich [Hervorhebung durch Altmeyer], der sich vor allem darin zeigt, dass unser natürliches Bedürfnis nach sozialer Sichtbarkeit und Resonanz, das zur Conditio humana gehört, durch den freien Zugang zu den neuen Medien einen enormen Aufschwung erhalten hat. Die zunehmende Medialisierung der Lebenswelt hat dafür gesorgt, dass im panoptischen Sog der Alltagskultur jeder und jede das Recht hat, sich zu zeigen, um gesehen zu werden und sich auf dieser Weise seiner sozialen Existenz zu versichern. […]«421 Diese diagnostizierten Formen des Wandels in der Öffentlichkeit gingen einher mit einem Wandel der Psychostruktur (wobei Altmeyer die Frage aufwirft, ob deren neuartige Modellierungen immer schon in ihr angelegt waren, oder erst jetzt geschaffen wurden); jedenfalls, so konstatiert er, handle es sich um eine komplementäre Entwicklung:422 »Einerseits trifft ein seelisches Grundbedürfnis nach Selbstdarstellung auf eine neue Medienwelt, die diesem Grundbedürfnis entgegenkommt, andererseits bieten die neuen Medien Schaubühnen zur Selbstdarstellung, derer sich die Individuen bedienen. Während in der psychischen Innenwelt eine Zeigelust wächst, die nach sozialem Ausdruck sucht, wachsen in der sozialen Außenwelt die Ausdrucksmöglichkeiten, die der Psyche zur Verfügung stehen. Die interaktiven Medien nehmen dieses [eig. Anm.: sicher auch in (primär-)narzisstischen Psychostrukturen verankerte] Streben nicht nur auf, sie bringen es auch zum Vorschein. Sie befriedigen es nicht nur, sie fördern es auch. […] Es scheint […], als ob die mit dem Strukturwandel der Öffentlichkeit, den die allseits vernetzte Kommunikationsgesellschaft423 hervorgebracht hat, ein Struk-

420 Martin Altmeyer, Auf der Suche nach Resonanz. Wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert, a.a.O., S. 204. 421 Ebd., S. 204f. 422 Vgl. ebd., S. 215. 423 Martin Altmeyer führt dies an anderer Stelle näher aus: »Spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist unübersehbar geworden, dass die globalisierte Kommunikationsgesellschaft weit mehr

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turwandel der Psyche einhergeht […]. Denn verändert hat sich nicht nur die Außenwelt, sondern auch die Innenwelt – und das Verhältnis zwischen beiden. [Eig. Hervorhebungen]«424 So stellt sich für Altmeyer, abermals unter Orientierung an den habermasschen Theoremen, die bedeutsame Frage, ob die These einer Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Imperative des ›Systems‹ noch zutreffe, oder ob nicht vielleicht vielmehr eine Befreiung des Menschen aus bislang systemisch dominierten Gesellschaftsbereichen zu beobachten sei.425 Denn im »vordigitalen Zeitalter fehlte den meisten Menschen der seelische oder gesellschaftliche Raum, den sie zur Entfaltung ihrer Kommunikations-, verändert hat, als unser gewöhnliches Alltagsleben. Mit dem Cyberspace ist ein universelles Resonanzsystem entstanden, in dem sich wirkliche und virtuelle Realität nicht mehr voneinander trennen lassen, sondern ineinander schieben und einander wechselseitig beeinflussen. Das verändert die mentalen Muster, in denen sich Menschen auf andere Menschen, auf die Umwelt und auf sich selbst beziehen. [Eig. Hervorhebung]«. In: ebd., S. 205. Von Altmeyers Darstellung der ›Kommunikationsgesellschaft‹ bieten sich im Übrigen nicht nur terminologisch, sondern auch inhaltlich (nämlich in Bezug auf den Stellenwert, den er den neuen Medien beimisst) gedankliche Querbezüge an zu der von Hubert Knoblauch gegebenen Definition der ›Kommunikationsgesellschaft‹, in: ders., Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit, a.a.O., insb. Kap. »Diagnose: Kommunikationsgesellschaft«, S. 329-376. Zudem findet sich bei Knoblauch ebenfalls der intersubjektive Fokus auf: »Das Subjekt, das andere Subjekt und das, was er (Hans-Georg Soeffner, eig. Anm.) ›Welt‹ nennt« (ebd., S. 114). Einen kompakten Überblick zu seiner Diagnose der ›Kommunikationsgesellschaft‹ gibt Knoblauch ebd., S. 330 f: »Von einer Kommunikationsgesellschaft reden wir, weil die gesellschaftlichen Veränderungen ohne das, was wir als Mediatisierung des kommunikativen Handelns beschrieben haben, nicht zu verstehen sind. Die jüngeren Formen der Mediatisierung […] machen deutlich, dass Kommunikation zur materiellen Produktion beiträgt und gesellschaftliche Strukturen schafft. Sie führen zur Verschiebung von der Kommunikationskultur in Richtung auf die Kommunikationsgesellschaft, die wir […] in einem Vorgriff umreißen werden (a). Da Mediatisierung ein historisch übergreifendes Phänomen ist, sollen dann die jüngeren Formen der Mediatisierung bestimmt werden, die wir als Kommunikativierung bezeichnen. Sie sind besonders durch die Digitalisierung, die Interaktivierung und Ausbreitung der Kommunikationsarbeit gekennzeichnet (b). Ihre gesellschaftsweite Ausbreitung verdankt sie dem globalen Auf- und Ausbau einer informationellen Infrastruktur über die herkömmlichen national organisierten Gesellschaften hinaus, die wir als einen aktiven Prozess – als Infrastrukturierung – vestehen. (c) Als materialisierte Form der Sozialstruktur ist die Infrastruktur vom Netzwerk geprägt, wobei zwei gegenläufige Tendenzen (zur machtvollen Strukturierung und zur flachen Entstrukturierung) zu beobachten sind. Als Folge der Ausweitung dieser Mediatisierung kommt es zu grundlegenden Veränderungen des kommunikativen Handelns, die sich beispielsweise in der dramatischen Umordnung des Raumes zeigen, welche wir als ›Translokalisierung‹ bezeichnen (d). Auch die zeitliche Ordnung der kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit ändert sich und kommt etwa in der Ent- und Restrukturierung des institutionellen Wissens zum Ausdruck (e) Wie jede Form der Mediatisierung des kommunikativen Handelns hat die Kommunikativierung auch Konsequenzen für die Art der Subjektivierung, die wir als doppelte Subjektivierung beschreiben (f). Die hier genannten Aspekte sollen dazu dienen, das Konzept der Kommunikationsgesellschaft zu plausibilisieren.« Ausgehend von diesen Überlegungen wird Knoblauch schließlich zur These einer »Refiguration« (ebd., S. 331) der Moderne (nicht im Sinne einer progressiven Überwindung, sondern einer Neuordnung) kommen. 424 Martin Altmeyer, Auf der Suche nach Resonanz. Wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert, a.a.O., S. 216. 425 Vgl. dazu ebd., Kap. »Kolonialisierung oder Befreiung – die Modernisierung der Lebenswelt«, S. 203-208.

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Selbstdarstellungs-, und Resonanzbedürfnisse benötigt hätten. [Eig. Hervorhebung]«426 Altmeyer spricht von einer »objektive[n] Knappheit des Raumangebots«427 (man könnte auch sagen: der Raum zur Entfaltung war zu knapp bemessen, eig. Anm.). Mediale Performanz stand in der vordigitalen Zeit nur Wenigen zu, und es existierten hohe und »subjektive Zugangsbeschränkungen [eig. Hervorhebung]«428 zur medialen Öffentlichkeit. Zudem waren auch potenzielle psychische Freiräume stärker durch soziale Schranken »begrenzt [eig. Hervorhebung]« gewesen (bspw. durch autoritäre Erziehung, rigidere Verhaltensnormen etc.).429 In der digitalen Moderne dahingegen seien jene psychosozialen Begrenzungen weitgehend aufgehoben worden. Die Befriedigung des Kommunikationsbedürfnisses und die Ermöglichung von Resonanzerfahrung »in den Netzwerken der globalen Mediengesellschaft«430 bestehe grundsätzlich für alle.431 So würden, wenn man Altmeyers Gedankengang auf den Punkt bringen will, sicherlich lebensweltliche Momente mehr psychischen und auch sozialen Raum selbst in vormals systemisch dominierten Bereichen der medialen Öffentlichkeit einnehmen können. Die Kritiker der »moderne[n] Medienwelt« allerdings, so Altmeyer, würden allein eine Zunahme der »narzisstischen Tendenz zu Selbstdarstellung und Selbstspiegelung« erkennen können; und »soziale Kontrolle, politische Ausspähung, ökonomische Ausbeutung« gingen für sie Hand in Hand mit dieser Entwicklung.432 Altmeyer selbst, so ließe sich seine Position verkürzt darstellen, scheint demnach die freiheitliche und lebensweltliche Dimension, die gerade mit den neuen Medien einhergeht, für weit bedeutsamer zu halten, als das mit ihnen auch verbundene repressive und systemische Moment.433 Zwar macht auch er, etwa wenn er die zunehmende Vermarktung von »Denk- Gefühls- und Beziehungswelten [eig. Hervorhebung]«434 in der ›digitalen Moderne‹ anspricht, bewusst, dass elementare psychosoziale Facetten des Menschen sowie der Lebenswelt nun Gefahr laufen mehr und mehr von den ökonomisch orientierten Sphären des gesellschaftlichen Systems vereinnahmt zu werden; allein, er plädiert sehr eindeutig für eine Sichtweise, die dezidiert nicht, wie er es ausdrückt, ›kulturpessimistisch‹ ist.435 Diese Sichtweise veranschaulicht er in seinem Kapitel »Niedergang oder Fortschritt – wie das neue verkannt wird«436 . Die scheinbar kulturpessimistische Position schildert er wie folgt: »›Big Data ist der neue Feind. Objektiv drohe eine totale Überwachungsgesellschaft, der sich die bedauernswerten Subjekte freiwillig auslieferten. Im informationskapitalistischen Würgegriff der ›Datenkraken‹ ersticke die Demokratie. Die wahren Machthaber seien die unkontrollierbaren Internetkonzerne und die ebenso unkontrollierba-

426 427 428 429 430 431 432 433 434 435 436

Ebd., S. 206. Ebd. Ebd. Ebd., S. 206. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd., 207. Ebd., S. 204. Vgl. ebd., S. 207. Ebd., S. 208-215.

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ren Geheimdienste. Die gängige Zeitkritik zieht alle Register, um die digitale Moderne ins moralische Zwielicht zu rücken und damit auch jene, die sich ihr freiwillig oder zumindest widerstandslos ergeben.«437 Was Altmeyer hier aber übersehen dürfte, ist, dass es im zeitgenössischen kritischen Diskurs nicht allein um einen (reaktionären) Widerstand gegen die ›digitale Moderne‹ geht, sondern auch wesentlich um einen (progressiven) Kampf fortschrittlicher gegen rückschrittliche soziopolitische Strömungen innerhalb der ›digitalen Moderne‹ bzw. eben der Spätmoderne. Er attestiert der öffentlichen Debatte eine antimoderne Kulturkritik, wo vielmehr eine Kritik der kulturellen Moderne zu beobachten ist: »Für die digitale Moderne im 21. Jahrhundert soll immer noch gelten, was einst Adorno und Horkheimer unter den Erfahrungen des US-amerikanischen Exils dem kapitalistischen Kulturbetrieb schon vorhielten: Kultur als Massenbetrug. Hier findet eine von Fortschrittszweifeln durchdrungene Modernekritik zu sich selbst, wenn sie in den Kapriolen des Informationskapitalismus (wieder einmal) den Untergang des Abendlandes nahen sieht. Aber sind die Bewohner der digitalen Moderne tatsächlich bloß Opfer eines neuen Massenbetrugs? […] Oder übersehen die Teilnehmer am zeitdiagnostischen Katastrophendiskurs, dass ihre Positionen womöglich den Projektionen einer älteren Generation entstammen, der die Zeit davonläuft? […] Wäre es denkbar, dass sie in ihrem antikapitalistisch fixierten Weltbild um Deutungshoheit kämpfen, die sie bedroht sehen?«438 Leider bedient sich Altmeyer hier der Polemik, wenn es darum geht, zu eruieren, welche progressiven Facetten die ›digitale Moderne‹ nun aufweist oder nicht. Die Frage nach einer möglicherweise neuen emanzipatorischen Qualität der Spätmoderne muss jedoch völlig anders gestellt werden. Es gilt zu analysieren, welche in der Spätmoderne angelegten Strukturen das Potenzial haben, die überkommenen zu erweitern, zu ersetzen oder zu verwandeln. Dann gilt es zu bestimmen, auf welche Art und Weise diese Strukturen angemessen beschrieben werden können. Im Anschluss daran kann diskutiert werden, inwieweit diese Beschreibung legitim ist, und ob dieses Potenzial als progressiv oder reaktionär zu bewertende Impulse in sich birgt. Die von Altmeyer vorgebrachte diffuse Kritik an (nicht konkret benannten) vermeintlichen ›Kulturpessimisten‹ im öffentlichen Diskussionsraum aber wird solchen sozial- und gesellschaftstheoretischen Kriterien nicht gerecht. Kritisieren ließe sich überdies der bei Altmeyer wohl oftmals zu optimistische Blick auf die bloßen Errungenschaften etwa des Cyberspace – denn dieser bietet ja nicht nur einen virtuell erweiterten Resonanzraum, sondern eben auch die reale Bedrohung zwischenmenschlicher Resonanz durch neue Entfremdungs- und Verdinglichungsphä-

437 Ebd., S. 208. 438 Ebd., S. 215.

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nomene.439,440 Es sind eben mit den technischen Neuerungen in der Spätmoderne, die Altmeyer ja als digitale Moderne begreift, nicht nur die Beziehungs- und Bezugsräume entstanden und gewachsen, die ein neues und maßlos Gemeinsames ermöglichen, die verbinden und erschaffen (z.B. neue Formen der Solidarität im sozioökonomischen Bereich, wie Crowd Funding; oder neue Formen der Kooperation im politkulturellen Bereich, wie Netzaktivismus o.ä.) – sondern mit ihnen etablierten sich eben auch gleichzeitig neue Formen der Trennung und Zerstörung, andere Arten der Begrenzung und Bemessung, weitere Varianten des Einsamen (wie z.B. psychosoziale Ausgrenzung in Form von Cybermobbing; oder etwa Gewaltphänomene, wie Cybercrime, Cyberterrorismus, Cyberkrieg usw.). Im Kapitel »Zwang oder Lust – das Bedürfnis nach Selbstdarstellung«441 wiederum vertritt Altmeyer die sicherlich sehr relevante These, das Bedürfnis nach Resonanz, wie es auch in der (im Allgemeinen etwas abfällig sogenannten) ›Selbstdarstellung‹ zum Ausdruck komme, dürfe nicht allein in einem pathologischen Sinne als narzisstisch gewertet werden. Es sei genauso ein natürliches und gesundes, denn »Spiegel- und Echoerfahrungen dienen der Sozialisation des Einzelnen ebenso, wie sie seiner Individuali-

439 Robert Heim bspw. schildert die mit dem Cyberspace verbundene Transformation der Psyche nicht vorwiegend als Ermöglichung zusätzlichen psychischen Freiraums, sondern befürchtet interessanterweise ein mögliches Vordringen der systemischen Sphäre nun nicht mehr nur in die Lebenswelt, sondern verstärkt und direkt in die Seelenwelt: »Je mehr eine primäre, analogisch verfasste Räumlichkeit des Menschen in den Glasfaserkabeln des digitalen Raumes prothetisiert wird, desto unumgänglicher ist die Psychoanalyse angesichts ihres angeblichen objektiven Veraltens. Wird es aber, so gegenläufig das Menetekel an der Frontwand der Freudschen Tradition, Cyberspace und virtueller Realität gelingen, den psychischen Raum zu kolonisieren […], ihn zu hegemonisieren? [Eig. Hervorhebung]« In: ders., »Odyssee im Seelenraum: Mutationen des psychischen Raumes im Cyberspace«; in: psychosozial, 25. Jg., 3/2002, S. 75. 440 Wie komplex der mit dem Internet (das ja eine Synthese aus Netz und Raum par excellence darstellt) einhergehende Wandel des Raumverständnisses ist, veranschaulicht zudem Markus Schroer (interessanterweise auch unter dem Gesichtspunkt von Ent- und Begrenzung, sowie unter Verwendung der Landschafts- wie Flüssigkeitsmetaphorik) in einer besonders prägnanten Passage sehr deutlich: »So haben wir es letztlich mit einer permanenten Bewegung von Entgrenzung und Begrenzung, von Grenzaufbau und Grenzabbau, von Enträumlichung und Verräumlichung zu tun. Entscheidend und typisch für unsere ›Epoche des Raums‹ [Michel Foucault, »Andere Räume«; in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34 zitiert nach Markus Schroer] ist dabei gerade, dass sich fest und flüssig, Land und Meer, real und virtuell, Internet und Intranet nicht mehr länger als einander ablösende Zustände denken lassen, sondern gleichzeitig und nebeneinander existieren. Und es existieren eben nicht nur reale und virtuelle Räume nebeneinander, sondern auch innerhalb dieser Räume existieren jeweils zahlreiche andere nebeneinander, die die Grenze von virtuell und real in vielfältiger Weise überlagern. Wir haben es mit hybriden Räumen zu tun, mit solchen, die sich immer weniger eindeutig auseinander halten lassen, weil sie zunehmend ineinander übergehen, die zwar über Grenzen verfügen, welche sich aber permanent auflösen, um an anderer Stelle neu errichtet zu werden – vagabundierende Grenzen, die nicht mehr an einem Ort unverrückbar vorzufinden sind. [Hervorhebung durch Schroer]« In: ders., Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, a.a.O., S. 274. 441 Martin Altmeyer, Auf der Suche nach Resonanz. Wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert, a.a.O., S. 215-218.

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sierung dienen«442 . Altmeyer spricht hier auch ausdrücklich von einer »sozialen Natur des Menschen«443 , der gerade die neuen (Kommunikations-)Medien des Informationszeitalters gerecht werden würden. Ganz in diesem Sinne sind auch Altmeyers Verweise auf die gewissermaßen anthropologischen Grundlagen der »Sharing-Economy«444 , zu verstehen (welche Assoziationen an das hier entwickelt Theorem vom maßlos Gemeinsamen hervorrufen). Altmeyer spricht von »mentalen Triebkräften« als Grundlage der ›Sharing-Economy‹, und nicht allein »ökonomischen, ökologischen oder alltagspraktischen«:445 »Unser Bedürfnis zu teilen hat seinen Ursprung nicht zuletzt in der vorindividuellen Frühgeschichte des Individuums (des Unteilbaren oder Ungeteilten, wenn man den lateinischen Begriff wörtlich nimmt). Es ist ein ontogenetisches Erbe unserer primären Intersubjektivität.«446 Jene primäre Intersubjektivität des vorindividuellen Zustands aber wurde ja hier im Eingangskapitel ausgiebig als essenzielle Quelle der Empfindung eines maßlosen Gemeinsamen beschrieben; nämlich, in Freuds Worten, in der Empfindung schon des ›ozeanischen Gefühls‹, einem Gefühl der innigsten Verbundenheit mit der Mutter (oder: Bezugsperson) sowie mit der gesamten Außenwelt; schrankenlos, grenzenlos. Altmeyer verortet in der Erfahrung der primären Intersubjektivität das »elementare Bedürfnis nach Resonanz«447 . Dieses Bedürfnis »bildet den Treibstoff, den die Ökonomie der Aufmerksamkeit sich zunutze macht und verwertet, ohne ihn teuer und aufwändig herstellen zu müssen – sie bekommt ihn kostenlos geliefert.«448 Es versteht sich allerdings von selbst, so muss hier ergänzend eingefügt werden, dass Modelle der Sharing-Economy, wie sie innerhalb des Informationskapitalismus entstanden sind, noch weit entfernt von einer wirklich auf dem ›Teilen‹ basierenden Ökonomie sind – sie sind nicht per se angesiedelt jenseits kapitalistischer Ausbeutung und Entfremdung; und doch, so rudimentär sie das Prinzip des Teilens erst ausgebildet bzw. zur Grundlage von Geschäftsmodellen erhoben haben, so wegweisend dürften die mit ihnen sich herauskristallisierenden Möglichkeiten hinsichtlich zukünftiger, vielleicht gänzlich auf Teilen (und: Teilhabe) beruhenden Ökonomien sein. Gemessen an dem, was möglich sein könnte, wenn zum Teilen die Teilhabe – und damit das wirklich maßlos Gemeinsame – auch bezüglich der Eigentumsverhältnisse hinzukommt, wirken die Elemente der Sharing-Economy, die Altmeyer exemplarisch anführt, noch recht überschaubar. Denn die von Altmeyer aufgezählten Protoversionen der Sharing-Economy beruhen zwar in gewisser Weise auf Formen des Teilens und verweisen vielleicht in dieser Hinsicht schon auf Zukünftiges – bleiben aber (bis auf ihre avantgardistisch-digitale Komponente) noch völlig innerhalb der gängigen Privatwirtschaft und dem vorherrschenden Konkurrenzkapitalismus verortet: »Die Belege dafür, dass Menschen im digitalen Zeitalter mehr miteinander kommunizieren als früher, sind unübersehbar. Man teilt aber nicht bloß persönliche Informationen und private Erfahrungen miteinander wie zum Beispiel Back- und Kochrezepte, 442 443 444 445 446 447 448

Ebd., S. 216. Ebd. Ebd., S. 219. Ebd. Ebd., S. 220. Ebd. Ebd.

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Konstruktionspläne für den Carport und Bewässerungstipps für den Garten oder Weltanschauungen bis hin zu Bastelanleitungen für Molotow-Cocktails und Sprengsätzen. Menschen teilen miteinander auch: - ein breites Spektrum von Waren und Dienstleistungen: per E-Bay und über elektronische Seiten zur Bewertung von Reinigungsfirmen, Gärtnern, Handwerkern, Ärzten oder Psychotherapeuten. - ein großes Angebot an Wohnungen: vom Penthouse mit Flussblick bis zum Mitwohnen auf der fremden Couch, und an Hotels, vom Fünf-Sterne-Etablissement bis zur billigen Absteige über digitale Vermittler wie Airbnb, Wimdu oder Booking.com. - eine Auswahl an Autos jeder Klasse: von der Luxuslimousine bis zum Smart über Car-Sharing-Gesellschaften wie Car2go oder privat vernetzte Taxiunternehmen wie Uber. [Hervorhebungen durch Altmeyer].«449 Grundsätzlich dürfte die Sharing-Economy als solches – begreift man das Teilen als angelegt im menschlichen Wesen – daher mehr eine Entdeckung (nämlich eines uralten Prinzips des Wirtschaftens) sein, als eine Erfindung (eines neuartigen Konzepts der Ökonomie). Eine Wirtschaft des Teilens (als spezifischer Form des maßlos Gemeinsamen) könnte, so verstanden, eine Wirtschaftsweise, die auf dem bemessen Einsamen (und in der das Primat des Privateigentums gilt) geradezu selbstverständlich ablösen. Eine inklusive Ökonomie träte anstelle einer exklusiven; Kooperation vermittels verbindender Kommunikation und Interaktion wäre das immer schon gegebene, anthropologische Grundmuster, das dies ermöglichte. Die Ansätze der Sharing-Economy müssten dann allerdings aufgehen in einer nicht mehr auf Privat- und Kapitalinteressen gründenden Form der Ökonomie.   Das maßlos Gemeinsame und das bemessen Einsame als relationale und non-relationale Segmente des sozialen Raums – Über Formen und Transformationen von Beziehungsgeflechten ■ Stellt man sich den sozialen Raum als völlig von Beziehungen durchdrungen vor,450 als konstituiert aus einem Netz an Relationen, einem Gefüge intersubjektiver Prozesse, welche nichts als verbindende bzw. trennende Kommunikation oder Interaktion in all ihren Facetten sind, und unterteilt dieses ineinander verwobene Beziehungsgefüge zwischen den vielen Subjekten und der Welt wiederum idealtypisch in stärker dem Eros und stärker dem Thanatos entsprechende – kurz: vergegenwärtigt man sich den sozialen Raum als von biomorphen wie thanatomorphen relationalen Formationen durchzogen – so drängt sich das Bild eines Raumes auf, der gleichsam von unterschiedlichen relationalen Landschaften geprägt ist, Landschaften, die aufeinander folgen und ineinander übergehen. Diese Beziehungs-Landschaften bergen Orte – und sind Seg-

449 Ebd., S. 219. 450 Gemeint sind damit selbstverständlich vor allem dynamische menschliche Beziehungen zueinander, aber auch zur Welt – »Beziehungswelten«, wie Martin Altmeyer formuliert (in: ders., Auf der Suche nach Resonanz. Wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert, a.a.O., S. 204). Martina Löws Diktion umfasst eine solche Anschauungsweise in gewisser Weise bereits, so wenn sie bspw. formuliert: »Raum als Beziehungsform«; in: sozialraum.de, 7, Ausgabe 1/2015, URL: https://www. sozialraum.de/space-oddity-raumtheorie-nach-dem-spatial-turn.php; letzter Zugriff: 25.02.2019.

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mente des sozialen Raums.451,452 Celia Lury (et al.) schreiben: »In social and cultural theory, topology has been used to articulate changes in structures and spaces of power.

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Markus Schroer verweist auf das neue Verhältnis von Raum und Netz im Internet und den damit einhergehenden Wandel auch des allgemeinen Raumverständnisses: »Die entscheidende Erfahrung, die jeder Nutzer im Netz machen kann, ist die, dass Räume durch seine Aktivitäten entstehen und durch mangelnde Aktivität auch wieder verschwinden können. Damit etabliert das Internet zwar kein völlig neues Raumverständnis, aber es hilft einem schon vorbereiteten Raumbegriff zur Plausibilität. Die Entwicklung des Internet trägt dazu bei, Raum nicht länger als gegebene Konstante zu verstehen, als Behälter oder Rahmen, in dem sich Soziales abspielt, sondern als durch soziale Praktiken erst Erzeugtes aufzufassen, und damit von Räumen auszugehen, die es nicht immer schon gibt, sondern die erst durch Handlungen und Kommunikation hervorgebracht werden [Eig. Anm.: Siehe im weiteren Sinn zu letzterer Thematik auch: Gabriele Christmann (Hg.), Zur kommunikativen Konstruktion von Räumen. Theoretische Konzepte und empirische Analysen, Wiesbaden 2016; vgl. dazu bspw. auch Susanne Rau, die (am Beispiel von Handelsbeziehungen) »Interaktionsbeziehungen, die Räume hervorbringen [eig. Hervorhebung]« schildert, in: dies., Räume, Frankfurt a.M. 2013, S. 157 bzw. S. 157-164]. Ein solches Raumverständnis dürfte erhebliche Konsequenzen auf allen gesellschaftlichen Ebenen haben, denn es erlaubt zumindest die Vorstellung, dass sich an ein- und demselben Ort die verschiedensten Räume befinden können. Die Veränderungen, die mit einem solchen Raumverständnis einhergehen, erlauben es m.E. von einer Raumrevolution im Schmittʼschen Sinne zu sprechen. Denn eine Raumrevolution ergibt sich nicht allein aus der Entdeckung von Neuland, sondern auch daraus, dass es aufgrund dieser Entdeckung zu einem umfassenden Wandel des Raumverständnisses einer Epoche kommt [unter Verweis durch Schroer auf Carl Schmitt, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, Köln-Levenich (zuerst Leipzig 1924), S. 68]. Und mit einem solchen Wandel des Raumverständnisses haben wir es derzeit offensichtlich zu tun. [Eig. Hervorhebungen]« In: ders., Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, a.a.O., 274f. Eig. Anm.: Frei übertragen auf die hier identifizierten ›BeziehungsLandschaften‹ im sozialen Raum hieße das, es müsste von völlig virtuellen Beziehungsqualitäten (biomorph, thanatomorph) ausgegangen werden, die sich lediglich über raumbildende Netzwerke auch materiell-örtlich realisierten, gleich ob nun mehr permanent oder bloß temporär, und gleich ob nun mehr personen- oder objektorientiert. Es ginge also darum, sich entdifferenzierende oder differenzierende Struktureffekte zu vergegenwärtigen, die über die Formung intersubjektiver Netzwerkzusammenhänge gewissermaßen ›landschaftsprägend‹ für Teile des sozialen Raums werden. 452 Martina Löw schreibt: »Orte haben also für die Konstitution von Raum allgemein […] eine fundamentale Bedeutung. Diese ist weniger darin begründet, dass einzelne namentlich bekannte Orte […] einbezogen werden, als vielmehr darin, dass alle Raumkonstruktionen mittelbar oder unmittelbar auf Lokalisierungen basieren, durch die Orte entstehen. Lässt sich keine Lokalisierung bestimmen, dann wird der Raumbegriff nur metaphorisch benutzt. [Hervorhebung durch Löw]« In: dies., Raumsoziologie, a.a.O., S. 201. Eig. Anm.: Es gilt also, soll das hier verfolgte Konzept der (biomorphen bzw. thanatomorphen) relationalen Formationen (welche als intersubjektive Beziehungs-Netzwerke Räume aufspannen) von einem metaphorischen zu einem theoretischen Ansatz gelangen können, reale Verortungen zu identifizieren, und seien sie auch nur vermittelte. Im Anschluss an dieses Kapitel soll daher im nächsten unter dem Titel »Lebendige Welten, tote Orte« die Suche nach konkreten Lokalisierungen angegangen werden. Dass die realen Verortungen des Geflechts der Relationen jedoch durchaus auch im Kontext politischer Verhältnisse und Kämpfe zu finden sein dürften, verdeutlicht bspw. Raul Zelik, wenn er im Gespräch mit Elmar Altvater sagt: »Das Politische und der Kampf um Demokratie sind Orte, an denen soziale Akteure entstehen. [Eig. Hervorhebung]«; in dies., Vermessung der Utopie. Ein Gespräch über Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft, Berlin 2015, S. 200.

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[…] [W]e argue that culture itself is becoming topological«453 ; und an anderer Stelle: »In other words, the space in itself that is constituted in network topology is the space that increasingly defines the cultural dynamics of hyper connected societies. In this regard, networks may perhaps be considered as a special case in the becoming topological of culture.«454 Auch hier werden also Netzwerke nicht in erster Linie technisch-infrastrukturell, sondern soziokulturell begriffen; und auch hier wird darauf hingewiesen, welch große Rolle Netzwerken gerade bei der dynamischen Lokalisierung von Räumlichkeit in informatisierten Gesellschaften zukommt. Denn es sind doch eigentlich die ineinander vernetzten Beziehungsgefüge, die Räumlichkeit überhaupt erst herstellen und innerhalb ihrer eine Topologie verschieden gearteter psychosozialer Orte aufscheinen lassen. Die relationalen Landschaften im Sozialen korrespondieren dabei – bruchlos oder gebrochen – mit den Seelenräumen der Vielen, welche ihrerseits unzählige und unterschiedliche Kommunikations- und Interaktionserfahrungen widerspiegeln. Ein Netz aus Sprache und Handlung also erwirkt die Etablierung psychischer wie sozialer Räume. Gemäß seines eher thanatomorphen oder biomorphen Charakters inkludiert oder exkludiert es, erschafft das maßlos Gemeinsame, wie das bemessen Einsame. Permanent wirken so formende wie transformierende Kräfte auf Psyche wie Soziales. Landschaften – Orte, Räume – werden konstituiert und konturiert. Oasen des maßlos Gemeinsamen lassen sich ausmachen, und Einöden des bemessen Einsamen; psychosoziale Orte lebendiger, fruchtbarer Beziehungsgefüge, genauso wie die Topoi toter, fruchtloser Beziehungslosigkeit, die dem Nichts der Destruktion anheim gefallen sind; Bereiche, die dominiert sind von einem als in seiner formenden Wirkung als fluide zu begreifenden Lustprinzip, und Bereiche, die geprägt sind von einem rigidere Struktureffekte verkörpernden Realitätsprinzip; ja, vielleicht auch Bereiche, in denen sich beides – auf widersprüchliche oder versöhnliche Weise – vermischt, begegnen so in den relationalen inneren wie äußeren ›Landschaften‹. Das Bild einer alles durchdringenden Beziehungs-Welt taucht vor dem inneren Auge auf: Mit Leben erfüllte, blühende, grüne, sanfte Wiesen und Wälder, durchzogen von Bächen, Flüssen und Seen, wechseln mit lebensfeindlichen, dürren oder verdorrten Fels- oder Wüstenregionen. Der Zugang zu einem besseren Verständnis dieses metaphorischen Bildes aber erschließt sich zuallererst über eine nähere Betrachtung des maßlos Gemeinsamen, wie des bemessen Einsamen. Die Genese des maßlos Gemeinsamen wie des bemessen Einsamen (als divergierende Phänomenkreise des Sich-In-Ein-Verhältnis-Zum-Anderen-Wie-Der-Welt-Setzens) geschieht aus den beiden Trieben und deren Manifestationen in den Phänomenen des sozialen Raums. Denn der Eros ist – intersubjektiv – die alleinige Quelle der Liebe, der Sympathie, der Freundschaft, der Zuneigung; er manifestiert sich – in gesellschaftlicher Praxis – als Solidarität, Kooperation und Kreation. Der Thanatos dahingegen – zwischenmenschlich der Ursprung von Abneigung, Feindschaft und Hass – erscheint auf gesamtgesellschaftlicher Ebene in den vielfältigen Gestaltungen von Konkurrenz, Kampf und Destruktion. Die Unterstützung und Förderung des Lebens der Anderen ist 453 Celia Lury/Luciana Parisi/Tiziana Terranova: »Introduction: The Becoming Topological of Culture«; in: Theory, Culture & Society, 29, 4/5, July-September 2012, S. 3. 454 Ebd., S. 17.

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dem Eros zuzurechnen, gleichwie die Unterdrückung und Vernichtung des Lebens der Anderen dem Thanatos entstammt. Das Bild des Sozialen als Beziehungswelt also, die von Landschaften unterschiedlich ansprechender oder abweisender Anmutung, versehen mit Orten voller Lebendigkeit oder aber völlig toten Charakters durchzogen ist, wird so Schritt für Schritt zugänglicher. Denn in der Tat sind die Einöden in diesen relationalen Landschaften nichts als die ›toten‹ Winkel der Beziehungslosigkeit: die Bereiche, in denen das Alle und Alles verbindende Netz an Relationen zerreißt oder aufgetrennt wurde. Derartige Exklusion455 von Subjekten, Subjektgruppen oder Weltausschnitten beginnt überall dort, wo die Manifestationen des Thanatos über reale, virtuelle, oder symbolische Gewalt in Sprache wie Handlung (also: in trennender Kommunikation und Interaktion) die wechselseitigen Bindungen zwischen Individuen, Gegenständen und der Welt auflösen. Vormals lebendige, fluide Netzwerkzusammenhänge werden so vermittels Exklusion begrenzt und bemessen, zunächst definiert und konturiert, nur um im potenziell weiteren Fortgang dieses Geschehens zu erstarrten, toten Bereichen umgewandelt zu werden. Es sind die toten Bereiche der kulturellen und politischen Ausgrenzung oder Vernichtung von ›Anderen‹ (seien diese ›Anderen‹ nun über Schicht, Religion, Ethnie, Geschlecht usw. definiert); es sind die toten Bereiche der Ausbeutung, Unterdrückung und Zerstörung von Menschen durch Kriminalität und Verbrechen; die toten Bereiche von Sklaverei, Folter, Kriegen und Vernichtung; die toten Bereiche von struktureller und systemischer Gewalt, von Benachteiligung, Missachtung; die toten Bereiche der Zerstörung von Menschen, Lebewesen, Umwelt und Welt. Thanatomorphe Einöden unbeschreiblichen Ausmaßes entstehen an den Rändern lebendiger, biomorpher relationaler Formationen; Löcher werden in die Netzwerk-Teppiche des Lebens gerissen; das Nichts tut sich im Leben auf. Und dieses Nichts ist das Einsame – denn es ist beziehungslos und ohne jeglichen Bezugspunkt. Dieses Nichts ist die Lücke zwischen den Subjekten und/oder zwischen den Subjekten und der Welt. Es ist die Zertrennung jeglicher Bindung, das

455 Martin Kronauer stellt drei Thesen zum Charakter der Exklusion in gegenwärtigen Gesellschaften in den Raum: «- Die Kategorie Exklusion verweist vom Rand ins Zentrum der Gesellschaft, auf die Konstitutionsbedingungen und den Wandel von sozialer und politischer Ungleichheit. […]. – Ausgrenzung kann heute weniger denn je als Ausgrenzung aus der Gesellschaft verstanden, sondern muss vielmehr als Ausgrenzung in der Gesellschaft begriffen werden. […]. – Im Phänomen der Exklusion steht die Demokratie auf dem Spiel. Das Ziel des Kampfes gegen Exklusion ist die Beseitigung ausgrenzender sozialer Verhältnisse. […] [Hervorhebungen durch Kronauer]« In: ders., »›Exklusion‹ als Kategorie einer kritischen Gesellschaftsanalyse. Vorschläge für eine anstehende Debatte«; in: Heinz Bude/Andreas Willisch (Hg.), Das Problem der Exklusion, Hamburg 2006, S. 29. Bezüglich der Aufgabe einer (kritischen) Soziologie angesichts des drastisch an Bedeutung gewinnenden Phänomens schreibt er ebd., S. 38: »Eine gesellschaftspolitisch entscheidende Frage wird sein, ob denjenigen, die gegenwärtig von den Schockwellen der Veränderung erfasst werden, bei aller Unterschiedlichkeit der Erfahrung die Gemeinsamkeit der Ursachen bewusst werden; ob somit solidarisches Handeln möglich bleibt oder das Heil in der Rettung durch Ab- und Ausgrenzungen gesucht wird. Im Unterschied zur Vielfalt von Erfahrungen hängt die Feststellung von Gemeinsamkeiten von Erkenntnis ab. Diese zu fördern wäre Aufgabe einer kritischen, den Exklusionsbegriff aufnehmenden Soziologie. [Hervorhebungen durch Kronauer]« Siehe dazu aber auch: Kronauer, Martin (2010), Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus, 2. aktual. u. erw. Aufl., Frankfurt/New York 2010.

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Ende alles Gemeinsamen. Subjekte werden zu bloßen Knotenpunkten im Netzwerk, ihre Bindungen gekappt, und im Extrem sie selbst auch noch virtuell oder real eliminiert. Die Logik des Opfers und des Opferns dominiert derartige Netzwerkbereiche. Der Zweck heiligt die Mittel. Wie anders dahingegen die Oasen des Gemeinsamen – eines Gemeinsamen, das sich aus verbindender Sprache und Handlung von selber ergibt. Keine imaginierte oder aufgezwungene Gemeinschaft ist gemeint – sondern ein quasi-organisch Verbindendes zwischen den Vielen sowie zwischen den Vielen und ihrer Umwelt oder Welt. Dieses selbstständig und natürlich erwachsende Gemeinsame – wo immer Bindung hergestellt und Verbindungen geknüpft werden – ermöglicht eine unendliche Vielfalt möglicher Bezüge, erschafft permanent Welten, Bezugs- und Beziehungswelten, und quillt maßlos über an Fülle und Vielgestalt von Möglichkeiten. Wo das Einsame die radikale Reduktion ist, ist das Gemeinsame Überfluss und Überschwang. Die Mittel vervielfältigen sich, wo der bloße Zweck in den Hintergrund tritt. Die Feier des Lebens tritt anstelle des Opfers. Biomorphe Beziehungslandschaften erwachsen aus thanatomorphen oder verdrängen sie; Leben sprießt in der Wüste. Es sind die Oasen der Inklusion: Orte, an denen eine Kultur des Lebens, statt des Todes, herrscht; Orte, die einbeziehen, seien sie nun kulturell, politisch oder ökonomisch geprägt; Orte, die befreien und ermöglichen, an denen Erschaffung stattfindet; Orte der Synergie der Vielen, und Orte der Freiheit aller, maßlos, gemeinsam.   Tote Orte, belebte Welten – Expeditionen in die gesellschaftliche Praxis ■ Mit der im soziokulturellen und kulturhistorischen Prozess zu beobachtenden zunehmenden Differenzierung vormals stärker entdifferenzierter Gemeinschaften hin zu komplexeren Gesellschaften ist eine permanente Transformation des maßlos Gemeinsamen wie des bemessen Einsamen verbunden. Es findet nicht eine schlichte Verdrängung des maßlos Gemeinsamen durch das bemessen Einsame (in den Phänomenen der gesellschaftlichen Praxis) statt, sondern eine ständige, dialektische Verwandlung und Neukonstitution. In der weniger linearen, als vielmehr gebrochenen Entwicklung von nomadisierenden Stammesgemeinschaften über erste sesshafte Kulturetappen hin zu den Gesellschaften der Neuzeit (die grob parallel geht mit dem Epochenwechsel von einem primitiven Kommunismus über den Feudalismus hin zum Kapitalismus und zudem verschränkt ist mit stärker matriarchalisch oder patriarchalisch geprägten Kulturformationen) finden sich Praktiken und Institutionen, die dem maßlos Gemeinsamen einerseits, oder dem bemessen einsamen Phänomenkreis andererseits, zuzurechnen sind, in stetem Widerstreit, kurzzeitigem Gleichgewicht oder verschiedensten Mischformen – und zwar immer und überall. Die Bandbreite der spezifischen Formen, in denen das maßlos Gemeinsame wie bemessene Einsame begegnet, reicht (abgesehen von den ständigen Manifestationen im zwischenmenschlichen Bereich) auf gesamtgesellschaftlicher Ebene von sozialen und kulturellen bis hin zu ökonomischen, rechtlichen und politischen Bereichen. Peter Kropotkin hat die Solidarität und die Kooperation, mit denen das maßlos Gemeinsame in gesellschaftlicher Praxis immer einhergeht, subsumiert unter dem Ter-

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minus der ›gegenseitigen Hilfe‹.456 Den Kampf und die Konkurrenz, die das bemessen Einsame hervorbringen, begreift auch er als Verkörperungen eines entgegengesetzten Prinzips. Beide stellen sich damit dar als dynamische Konstanten in der Entwicklung des einzelnen Menschen wie in der Entwicklung der menschlichen Gattung, prägen somit Ontogenese wie Phylogenese. Denn nicht nur in der Ontogenese des Individuums wird ja schon von Geburt an durch die helfende Hand anderer Subjekte, in der Regel der Eltern, Entwicklung überhaupt erst ermöglicht – sondern eben auch in der Phylogenese der Gattung geschieht Evolution vermittels verschiedenster kultureller Handlungsweisen und Einrichtungen, die, zu allen Zeiten und an allen Orten, diese Hilfe verankern und auf Dauer stellen. Die bloße Anzahl und Diversität der Praktiken und Institutionen, die geschaffen wurden allein um das Prinzip der gegenseitigen Hilfe (von Stammesgemeinschaften über feudalistische Gesellschaften bis hin zur Neuzeit) unter den Menschen zu fördern oder wenigstens zu bewahren – und welche Kropotkin detailliert aufzulisten bemüht ist – ist bestechend und geradezu überwältigend.457 Das Prinzip der gegenseitigen Hilfe, und das ist das Ziel der akribischen Arbeit Kropotkins, erscheint so, ganz im Gegensatz auch zum gängigen Geschichtsverständnis, ganz deutlich als ein, wenn nicht das, bewegende Momentum in der menschlichen Historie. Die gegenseitige Hilfe, so der Schluss, den Kropotkin nahe legt, ist die Regel, die (bürgerliche) Konkurrenz wie auch der Kampf ›aller gegen alle‹ (den Hobbes beschreibt) oder eben

456 Siehe dazu: Peter Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Leipzig 1923. 457 Peter Kropotkin schreibt diesbzgl. in einem Resümee seines Werkes: »Wir gingen dann zum Menschen über und fanden, daß er im allerersten Anfang der Steinzeit in Clans und Stämmen lebte; wir sahen, wie sich eine umfassende Einrichtung bereits auf den niederen Stufen des Lebens der Wilden ausbildete, im Clan und im Stamm, und wir fanden, daß die frühesten Stammesbräuche und Sitten der Menschheit den Embryo aller Institutionen gaben, die späterhin die Hauptformen weiteren Fortschritts waren. Aus dem Stamm der Wilden erwuchs die barbarische Dorfmark, und ein neuer, noch weitergreifender Kreis sozialer Bräuche, Sitten und Einrichtungen, von denen eine Menge noch heute unter uns leben, bildeten sich unter der Geltung der Prinzipien des Gemeinbesitzes eines bestimmten Gebietes und seiner gemeinsamen Verteidigung, unter der Gerichtsbarkeit der dörflichen Volksversammlung, und in dem Bunde der Dörfer, die – wie man wenigstens glaubte – derselben Völkerschaft angehörten. Und als neue Erfordernisse die Menschen dazu brachten, einen neuen Weg zu suchen, fanden sie ihn in der Stadt, die ein doppeltesNetzwerk [eig. Hervorhebung] vorstellten: Gebietseinheiten (Dorfmarkgenossenschaften) in Verbindung mit Gilden; diese letzteren entstanden aus der gemeinsamen Betätigung in einem bestimmten Handwerk oder einer bestimmten Kunst, oder zu gegenseitiger Unterstützung und Verteidigung. Und schließlich haben wir […] Tatsachen vorgeführt, die zeigten, daß trotz dem Heraufkommen des nach dem kaiserlichen Rom gebildeten Staates, der allen mittelalterlichen Einrichtungen zu gegenseitiger Unterstützung ein gewalttätiges Ende machte, diese neue Form der Zivilisation nicht von Dauer sein konnte. Der Staat, der sich auf unverbundene Summen von Individuen, deren einzige Verbindung er sein wollte, gründete, entsprach nicht seinem Zweck. Die Tendenz gegenseitige Hilfe zu üben, zwang schließlich seine eisernen Gesetze nieder; sie erschien von neuem und behauptete sich in einer unendlichen Zahl von Vereinigungen [Anm.: Gemeint sind Gewerkschaften, Genossenschaften, Arbeiterverbände und darüber hinaus auch das reiche Vereinsleben in den damals gerade aufdämmernden, modernen Gesellschaften], die jetzt darauf hinzielen, alle Erscheinungsformen des Lebens zu umfassen und von allem Besitz zu ergreifen, was der Mensch zum Leben und zur Wiedererzeugung dessen, was das Leben verzehrt, braucht.« In: ebd., S. 272f.

2. Tote Orte, belebte Welten – Thanatomorphe Wüsten und biomorphe Oasen

der Krieg an sich, muten geradezu an als Ausnahmen, die erst die Regel bestätigen.458 Konkurrenz, Kampf und Krieg erscheinen als ein bloßer Mangel an Gemeinsamen, eigentlich als Pathologie des Sozialen. Damit formuliert Kropotkin auch eine deutliche Absage an den zu seiner Zeit aufkeimenden, in seinen Wirkungen so verheerenden Sozialdarwinismus (der die von Darwin beobachtete, zwischenartliche Konkurrenz auf die inneren, gesellschaftlichen Verhältnisse der menschlichen Gattung übertragen wollte und fatalerweise noch heute Grundlage vieler wirtschaftsliberaler Denkgebäude ist). Der Sozialdarwinismus – als ideologisches und politökonomisches Programm – erhob die Deformation und Perversion des Sozialen zur Norm, um sie auf Dauer zu stellen. Nicht umsonst ist der Faschismus – als historischer Höhepunkt des Sozialdarwinismus – geradezu zum Synonym gesellschaftlicher Pathologie geworden. Die Okkupation und Verzerrung des eigentlich inklusiven, maßlos Gemeinsamen zur nunmehrig exklusiven ›Volksgemeinschaft‹ ist dabei eine der abstrusesten dialektischen Wendungen, die der permanente Widerstreit des bemessen Einsamen mit dem maßlos Gemeinsamen im sozialen Raum hervorgebracht hat. Das Universale und Unbegrenzte des Gemeinsamen wurde beschränkt auf ein Nationales und Begrenztes. Die Ausgrenzung und Eliminierung der vermeintlich ›Anderen‹ war die perfide Konsequenz. Das, was ein Mord in der Biographie eines Einzelnen darstellt, verkörpert der Holocaust in der Geschichte der Menschheit. Er ist der gesamtgesellschaftliche Thanatos in Reinform und er ging mit einer thanatopolitischen Ordnung einher. Die spezifische thanatomorphe relationale Formation, die den Holocaust ermöglichte, nämlich die zum faschistischen Staat geronnene, vormalige faschistische ›Bewegung‹, ist so verständlicherweise zum Gegenstand vieler, auch wissenschaftlicher, Bemühungen sie zu beschreiben und zu erklären, geworden.459 Gleichwohl lässt sich die im Holocaust verwirklichte, radikale Bemessung der zu ›Anderen‹ gemachten Vielen, ihr gewaltsamer Sturz ins absolut Einsame und in den Tod, kaum angemessen beschreiben. Wie bei jeder Gewalttat bleibt angesichts des Schreckens zunächst nur die Sprachlosigkeit, die ihrerseits doch schon der deutliche Abkömmling des Einsamen ist – wenn man bedenkt, dass Sprache, also: Kommunikation, ja schon terminologisch, das Kommune, das Gemeinsame, in sich birgt. Wenngleich auch andere Formen thanatopolitischer Ordnungen Sklaverei, Folter, Vernichtung und Krieg hervorgebracht haben und zu verewigen suchten, ist mit dem Holocaust, der tote Ort schlechthin, mitten im Leben, geschaffen worden. Das Trauma ist der Schrecken, den die thanatomorphe relationale Formation unablässig gebiert. Es ist das einsamste, nicht kommunizierbare, nicht mitteilbare

458 »Indessen waren zu keiner Zeit der Existenz von Menschen Kriege der normale Zustand des Lebens. Während die Krieger sich gegenseitig ausrotteten und die Priester ihre Gemetzel segneten und feierten, während dessen setzten die Massen ihr tägliches Leben fort, gingen ihrer täglichen Arbeit nach. Und es gehört zu den interessantesten Aufgaben des Studiums, diesem Leben der Massen nachzugehen; die Mittel zu erforschen, durch die sie ihre eigene soziale Organisation aufrecht erhielten, die sich auf ihre Vorstellungen von Gleichheit und gegenseitiger Hilfe gründete – mit einem Wort, auf das gemeine Recht, selbst wenn sie der wildesten Theokratie oder Autokratie im Staat unterworfen wären. [Hervorhebung durch Kropotkin]« In: ebd., S. 119. 459 Eine der sicher interessantesten Untersuchungen zur psychosozialen Genese des faschistischen Staates hat Wilhelm Reich vorgelegt. Siehe dazu: ders., Die Massenpsychologie des Faschismus, Köln 1971.

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Erlebnis, das denkbar ist. Es ist eine Reaktion auf den Versuch der Vernichtung alles Gemeinsamen. Der Faschismus aber ist in diesem Sinne das Unterfangen, das bemessen Einsame des Opfers zu vervielfältigen und zum Kern aller sozialen Einrichtungen und Praktiken zu machen. Nicht zuletzt tritt er deshalb im Gewand der scheinbar heiligen Feier auf: Er feiert den Tod, die Bluttat; als perverser und unbewusster Atavismus will er die einstmals historisch reale, verhängnisvolle Opfer-Feier, die am Urgrund von Kultur wie im Kern jeder Kultur steht (und nunmehr bereits in sublimere kulturelle Traditionen transformiert ist) reaktivieren, um sie stumpf und unablässig zu wiederholen.460,461 Gleichwohl müssen thanatopolitische Ordnungen nicht per se faschistische heißen. Die totalitären Staatssysteme jeglicher Couleur sind in wechselndem Ausmaß immer auch thanatopolitische: Denn die Exklusion, und damit die Erwirkung des bemessen Einsamen, in welcher Gestalt auch immer, ist ihnen immanent. Herrschaft (und damit Unterdrückung), Kontrolle (und damit Überwachung), Versklavung (und damit Ausbeutung), Folter (und damit Misshandlung), Ausgrenzung (und damit Missachtung), Krieg (und damit: Vernichtung) sind die scheinbar unumstößlichen Pfeiler und Stützen ihrer Macht, die sie unübersehbar aufgerichtet haben, und die zur Mahnung aller gerammt sind in den lebendigen Urgrund des Gemeinsamen. Da sie aber nichts als den Tod symbolisieren, sind sie, entgegen ihrer scheinbaren Fülle an Macht, doch nichts als Löcher im Netz des Lebens: Ihre Ordnung besteht aus Trennung, und ihre Produktivität aus Vernichtung. Divide et impera! Thanatopolitische Produktion ist niemals Erschaffung und Verteilung, sondern immer Aneignung und Beschränkung: Aneignung der Ideen,

460 Den Holocaust gilt es daher auch zu begreifen als vermessenes, ins nahezu Unendliche gesteigerte, Menschenopfer. Und schließlich müssen aus dieser Perspektive die faschistischen Symbol- und Bildwelten, von den Totenkopf-Emblemen der SS über die Trommel- und Fackelmärsche der ›Bewegung‹ bis hin zum gehetzten Stakkato der faschistischen Reden gesehen werden als eine dieses Verbrechen begleitende und ›untermalende‹ Perversion der Feier. Letzteres bringt auch Saul Friedländer treffend zum Ausdruck, wenn er beispielsweise die Eigenart der faschistischen Sprache beschreibt: »Das ist nicht die lineare Sprache der Verkettung von Argumenten und der Schritt für Schritt vorgehenden Beweisführung; das ist, weniger unmittelbar vielleicht, aber nicht weniger systematisch und wirksam, die zirkuläre Sprache der Invokation, der beschwörenden Anrufung, die immer wieder auf sich selbst zurückkommt und durch ständige Wiederholung eine Art Hypnose erzeugt – wie der psalmodierende Singsang in manchen Gebeten, der immer den gleichen Rhythmus folgende Tanz bis zur Ekstase, das Tamtam der Buschtrommeln oder auch, weniger fern, die getragenen Blasmusik bei unseren Paraden, der dumpfe Gleichschritt marschierender Bataillone.« In: ders., Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, München 1984, S. 56f. 461 Auch angesichts aktueller faschistoider Tendenzen stellt Daniel Keil eine bemerkenswerte These auf, die die hier gegebene allgemeine Definition thanatopolitischer Ordnungen im Speziellen zu veranschaulichen und zu stützen vermag: »Völkische Bewegungen beklagen den Bruch mit einem natürlich-organischen Ganzen. Alles was diesen Bruch hervorgerufen hat, wird daher angegriffen. Es ist eine konformistische Rebellion, die sich selbst identisch mit dem Ganzen setzen möchte. Diese Identität mit Herrschaft ist aber nur durch Ausmerzung des Nicht-Identischen zu haben. Daher streben völkische Bewegungen danach, sich zum mordenden Staat zusammenzuschließen. [Eig. Hervorhebung]«; in: ders., »Botschaften aus der Vorhölle. Pegida und die Wiederbelebung des Völkischen«; in: Freie Assoziation. Zeitschrift für psychoanalytische Sozialpsychologie, 18. Jg., 2/2015, S. 69.

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die dem Gemeinsamen entstammen; Aneignung der Arbeitskraft, die den Vielen zu eigen ist; Aneignung der Zeit, die allgemein ist; Aneignung des Raumes, der allen gehört; Aneignung des Lebens der Anderen, das nicht das eigene ist; sowie: Beschränkung des Geistes, der frei ist, Beschränkung des Willens, der keine Grenzen kennt; Beschränkung der Sprache und des Wissens, die schrankenlos sind; Beschränkung der Güter, von denen es mehr als genug gäbe; Beschränkung der Freiheit aller, außer der eigenen.462 Das Primat des bemessen Einsamen, das Herrschaft so seit je über das maßlos Gemeinsame aufzurichten trachtet, trägt daher das Signum des Todes – und, zynischerweise, im besten Falle, nur des Todes aller Möglichkeiten der Beherrschten. Aus einer postkolonialen Perspektive stellt Achille Mbembe in seinem Essay Nekropolitik die These auf, die Souveränität der Macht sei letzten Endes immer die Macht über Leben und Tod (und weniger, oder erst in nachgeordneter Weise wie bspw. von Carl Schmitt formuliert, die Macht über den Ausnahmezustand):463 »Töten oder Leben lassen stellen daher die Grenzen der Souveränität dar und sind ihre grundlegenden Kennzeichen. Souveränität ausüben heißt, die Sterblichkeit zu kontrollieren und das Leben als eine Entfaltung der Macht begreifen.«464 Schon der Krieg als staatlich monopolisierter bzw. auch als Mittel »zur Erlangung von Souveränität« sei ja nichts anderes als »eine Weise der Ausübung des Rechts zu töten.«465 Im nationalsozialistischen Staat, so auch Mbembe, sei diese Form der Souveränität auf ihre Spitze getrieben worden, indem »Merkmale des rassistischen Staates, des mörderischen Staates und des selbstmörderischen Staates« zum »Archetypus einer Machtformation« verschmolzen wurden:466 »Es wurde behauptet, dass die lückenlose Verschaltung von Krieg und Politik (aber auch von Rassismus, Mord und Selbstmord) bis zu deren vollkommener Ununterscheidbarkeit einzigartig für den Nazi-Staat sei. Die Wahrnehmung der Existenz des Anderen als Angriff auf mein eigenes Leben, als tödliche Bedrohung oder unbedingte 462 Armin Nassehi spricht im Hinblick auf Georg Simmels Überlegungen zum Tod (siehe dazu insb.: Georg Simmel, »Zur Metaphysik des Todes«; in: ders., Das Individuum und die Freiheit. Essais, Berlin 1984, S. 29-35) von der »formgebenden Begrenztheit des Todes«; in: ders., Differenzierungsfolgen. Beiträge zur Soziologie der Moderne, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 87, und bezeichnet ebd., S. 88, den Tod angesichts seiner Strukturfunktion auch als »Knappheitsgenerator«. Des Weiteren schreibt er (was auch die hier vorgebrachten Thesen zur Bemessungs- und Differenzierungslogik thanatomorpher relationaler Formationen stützt): »Der Tod setzt […] Differenzen und beugt damit der Indifferenz einer formlosen Welt vor.« Vgl. dazu auch: Georg Simmel [1910], »Zur Metaphysik des Todes«, Auszug aus ›Logos‹ I; in: ders. [1901-1922], Das Individuum und die Freiheit. Essais, Berlin 1984, S. 31: »Dies […] macht die formgebende Bedeutung des Todes klar. Er begrenzt, d.h. er formt unser Leben nicht erst in der Todesstunde, sondern er ist ein formales Moment unserer Lebens, das alle seine Inhalte färbt: die Begrenztheit des Lebensganzen durch den Tod wirkt auf jeden seiner Inhalte und Augenblicke vor; die Qualität und Form eines jeden wäre eine andere, wenn er sich über diese immanente Grenze hinaus erstrecken könnte. [Eig. Hervorhebungen]« Der Tod ist also, wie Simmel hervorhebt, strukturell anwesend in der Welt. Im Bündnis mit der Herrschaft allerdings wird diese Anwesenheit überdeterminiert und der Tod gibt nicht mehr allein Struktur, sondern strukturiert zu Zwecken der Politik, eines politischen Systems oder einer politischen Klasse. 463 Siehe dazu: Achille Mbembe, »Nekropolitik«; in: Marianne Pieper/Thomas Atzert/Serhat Karakaly/Vassilis Tsianos (Hg.), Biopolitik – in der Debatte, Wiesbaden 2011, S. 63-96. 464 Ebd., S. 63. 465 Ebd. 466 Ebd., S. 69.

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Gefahr, deren biophysische Ausschaltung eine Stärkung meiner eigenen Potenziale an Leben und Sicherheit bedeuten würde – dies ist meiner Ansicht nach eines der zahlreichen Imaginarien der Souveränität, die für die Moderne selbst charakteristisch ist, für die frühe ebenso wie für die späte. […] Einige Forscher und Forscherinnen haben aus einer historischen Perspektive aufgezeigt, dass sich die materiellen Voraussetzungen der nazistischen Vernichtung zum einen im kolonialen Imperialismus finden und zum zweiten in der Serialisierung der mechanischen Techniken zur Tötung von Menschen – Vorrichtungen, die in der Zeit zwischen der industriellen Revolution und dem Ersten Weltkrieg entwickelt wurden. Nach Enzo Traverso stellten die Gaskammern und die Öfen den Kulminationspunkt eines langen Prozesses der Entmenschlichung und Industrialisierung des Todes dar, und eine der originären Besonderheiten dieses Prozesses bestand in der Zusammenführung der instrumentellen Rationalität mit der produktiven und administrativen Rationalität der modernen westlichen Welt (Fabrik, Bürokratie, Gefängnis, Armee). Mechanisiert und serialisiert wurde die Exekution zu einem rein technischen, unpersönlichen, lautlosen und schnellen Vorgang. Diese Entwicklung wurde teilweise durch rassistische Stereotype gestützt sowie durch einen aufblühenden klassenbasierten Rassismus, der die sozialen Konflikte der industriellen Welt in rassistische übersetzte, um schließlich die arbeitenden Klassen und die ›Staatenlosen‹ der industriellen Welt mit den ›Wilden‹ der kolonialen Welt zu vergleichen.467 «468 Jede historische Auseinandersetzung mit dem modernen (Staats-)Terror aber müsse vor dem Hintergrund des Aufkommens der Sklaverei geführt werden, so Mbembe weiter.469 Das Plantagensystem als (eig. Hinzufügung: thanatomorphe und thanatopolitische) Produktionsweise manifestiere sich selbst schon als spezifische Ausprägung des ›Ausnahmezustands‹ auf den sich die Souveränität einerseits ja berufe; andererseits ist es für den Versklavten durch den mehrfachen Verlust charakterisiert, der seine soziale oder auch physische Auslöschung bedeutet: den »Verlust eines ›Zuhauses‹«, den »Verlust von Rechten über seinen oder ihren Körper« und den »Verlust eines politischen Status«.470 So werde das Sklave-Sein zu einer Form vom »Tod im Leben«471 . Damit ist die Grundgestalt der totalitären Ordnung schon vorgezeichnet. »Dass die Technologien, die in die Entwicklung des Nazismus mündeten, der Plantage oder Kolonie entsprungen sind oder dass im Gegenteil – nach Foucaults These – der Nazismus und der Stalinismus nur eine Reihe von Mechanismen erweitert haben, die in den westeuropäischen Staaten sozialen und politischen Formationen bereits vorhanden waren (Unterwerfung des Körpers, Gesundheitsregulierung, Sozialdarwinismus, Eugenik, medizinisch-rechtliche Theorien über Vererbung, Degeneration und ›Rasse/race‹) ist letztlich irrelevant. Eine Tatsache bleibt allerdings bestehen: Im modernen philosophischen Denken wie auch in den europäischen politischen Praktiken 467 Mit Verweis auf: Enzo Traverso, Moderne und Gewalt. Eine europäische Genealogie des Nazi-Terrors, Köln 2003, durch Achille Mbembe; ebd. S. 69f. 468 Ebd. 469 Vgl. ebd., S. 72. 470 Ebd. 471 Ebd.

2. Tote Orte, belebte Welten – Thanatomorphe Wüsten und biomorphe Oasen

und Imaginarien repräsentiert die Kolonie den Ort, wo die Souveränität im Wesentlichen in der Ausübung einer Macht außerhalb des Gesetzes (ab legibus solutus) besteht, und wo der ›Friede‹ dazu tendiert, das Antlitz eines ›Krieges ohne Ende‹ zu tragen.«472 Die Kolonien der Moderne wurden daher zu Orten außerhalb der klassischen Grenzen des Staates, außerhalb seiner selbst gegebenen Gesetze und außerhalb der ›Zivilisation‹: Sie waren von ›Wilden‹ bewohnt, deren Tötung aus Perspektive der Kolonisatoren kaum der Definition eines Mordes gleichkam. Denn diese waren in der Wahrnehmung der Eroberer ein Teil der Natur, und nicht der Kultur.473 Ihre Bezwingung, Beherrschung und Vernichtung fiel sozusagen in eins mit dem Phantasma der Kultivierung und Bemeisterung der Welt. Die Geschichte des Kolonialismus aber setzt sich fort von der Moderne in die Spätmoderne. Es sind nun die globalistischen Kriege und Besatzungsregimes, die im vormals ›Äußeren‹ geführt werden, das nun lediglich zu einem ›Außen‹ im ›Innen‹ geworden ist.474 Die traditionelle Asymmetrie schon des konventionellen Kolonialismus bleibt diesen weiterhin eingeschrieben. Die global gewordene Macht zunehmend ineinander verflochtener Nationalstaaten ist dabei lediglich eine translokale geworden: Sie ist überall und nirgends zu verorten, und sie kann immer und überall zuschlagen. »In diesem Sinne erinnern gegenwärtige Kriege eher an die Kriegsführungsstrategien von Nomaden als an die von sesshaften Nationen oder an die modernen Territorialkriege nach der Maxime ›Eroberung und Annexion‹.«475 Mbembe zitiert Zygmunt Bauman bzgl. der Kriegsführung staatlicher Akteure in der Gegenwart: »Ihre Überlegenheit über sedentäre Bevölkerungen beruht auf der Geschwindigkeit ihrer Bewegung; ihrer Befähigung, ohne Ankündigung aus dem Nirgendwo aufzutauchen und ohne Vorwarnung wieder zu verschwinden, ihrer Fertigkeit, sich leichtfüßig fortzubewegen, ohne die hemmende Last von Zugehörigkeiten, welche die Mobilität und die Wendigkeit von Sesshaften einschränken.«476 Ganze Bevölkerungen, so Mbembe, würden Lebensumständen unterworfen, »die sie in den Status lebendiger Toter versetzen [Hervorhebung durch Mbembe]«477 . »Todeswelten [Hervorhebung durch Mbembe]«478 werden erschaffen, »Topographien der Grausamkeit«479 durchziehen die globale Ordnung. Dabei hat dieser staatlicherseits entfesselte Kriegszustand seine Entsprechung in dem ebenso entgrenzten Terrorkrieg nichtstaatlicher Akteure, die gleichermaßen deterritorial und ubiquitär agieren. In anderen Worten: Die Destruktivität hat in ihrer geographischen Gestalt neue Maßstäbe errichtet

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Ebd., S. 73f. Vgl. ebd., S. 74f. Vgl. ebd., S. 81. Ebd., S. 81. Zygmunt Bauman, »Wars of the Globalization Era«; in: European Journal of Social Theory, Vol. 4, 1/2001, S. 15, zitiert nach Achille Mbembe; ebd. 477 Ebd., S. 89. 478 Ebd. 479 Ebd.

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und angenommen. Die Begrenzungen, die aus thanatomorphen relationalen Formationen im planetarischen Ausmaß hervorgehen, haben eine ganze Landkarte des Maßes im Maßlosen geschaffen; von Grenzziehungen im Grenzenlosen; von Zersplitterungen des Ganzen, vom Tod im Leben. Ganz anders dahingegen nehmen sich die biomorphen relationalen Formationen aus, die neben den thanatomorphen ebenso den Globus durchziehen. Sie etablieren konstruktiv Welten des Gemeinsamen, statt destruktiv tote Orte, und zwar überall dort, wo Formen des Miteinanders entstehen. »Commons existieren in Welten«480 , schreibt Arturo Escobar, und meint damit, dass Formen des Gemeinsamen – lange bevor das Kapital oder der Feudalismus das Herrschaftszepter übernahm – die Art und Weise bestimmten, wie Menschen miteinander und mit ihren (Um-)Welten verbunden waren. Er spricht dezidiert von Welt(en) im Plural – und unterstreicht so die Vielfalt, die immer aus dem Gemeinsamen erwächst. Nicht um eine romantisierende Idee aber geht es ihm, sondern darum, zu schildern, wie das Gemeinsame – die ›Commons‹ – eine reale »Strategie, diese Welten zu gestalten«481 darstellte. Er gibt scheinbar alltägliche Beispiele, an denen sich ganz plastisch erkennen lässt, wie die mit dem Privatbesitz verbundene Ökonomie das Gemeinsame kollektiver Lebensweisen geradezu ausdorrt und zerschneidet: »Der kolumbianische Soziologe Orlando Fals Borda (1984) beschreibt am Beispiel der karibischen Küstenregion Kolumbiens, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Einführung des Stacheldrahts in der Viehzucht die Bewegungsradien von Menschen und Tieren beschnitt, Landschaften vereinheitlichte, und in manchen Gegenden sogar Feuchtgebiete und Lagunen austrocknen ließ.« [Eig. Hervorhebungen]482 Das Maßlose, ja Überfließende des Gemeinsamen, wird hier ganz anschaulich bemessen, vereinheitlicht, beschnitten, ausgetrocknet – und zwar von einer Ökonomie und Lebensweise, die nur im Sinne des bemessen Einsamen funktionieren kann. Diese Reduktion der Commons geschah oder geschieht nun natürlich nicht singulär an der kolumbianischen Karibikküste, sondern sie geschieht seit langen Zeiträumen, an vielen Orten, weltweit – und eben nicht allein in einer spezifischen Form der Viehzucht, wie im gegebenen Beispiel, sondern in beinahe allen Mikro- und Makroökonomien, politökonomischen Zusammenhängen und psychosozialen Kontexten in der ganzen uns umgebenden, menschengemachten Welt; die strukturellen Effekte allerdings sind dieselben wie im Beispiel. Die Ökonomie des Privatbesitzes ist nicht nur eine Wirtschaftsweise, sondern konstituiert einen allumspannenden Gesamtzusammenhang des Einsamen und Bemessenen. Dennoch existieren konstant weiterhin (oftmals auch verdeckt und unerkannt) Refugien des Gemeinsamen: »Dieses dichte Netzwerk von Verflechtungen könnte man als ›relationale Ontologie‹ bezeichnen«483 , so Escobar. In Ihnen »enthüllt sich eine gänzlich andere Art des Seins und Werdens«; »sie sind nur sehr schwierig, wenn über480 Arturo Escobar, »Commons im Pluriversum«, in: Silke Helfrich/David Bollier und Heinrich BöllStiftung (Hg.), Die Welt der Commons. Muster gemeinsamen Handelns, Bielefeld 2015, S. 334. 481 Ebd. 482 Ebd. 483 Ebd., S. 336.

2. Tote Orte, belebte Welten – Thanatomorphe Wüsten und biomorphe Oasen

haupt, kartier- und vermessbar« [eig. Hervorhebung].484 Escobar spricht von »relationalen Welten«485 . Sie machen ein »Pluriversum«486 aus, das entgegen der »Ontologie der Eine-Welt-Welt der Individuen und Märkte«487 steht. Diese lebendigen Welten des Gemeinsamen tun sich auf, wo Menschen sich frei aber gleichzeitig verknüpft wissen untereinander, aber auch mit den anderen (tierischen oder pflanzlichen) Wesen sowie mit der gesamten sie umgebenden Welt. Escobar verweist diesbezüglich zuallererst auf die Stammesgemeinschaften der noch verbliebenen, in der westlichen Diktion sogenannten, ›Natur‹-Völker, die heute oftmals einen zermürbenden Kampf um die Reste ihrer Existenzweise führen. Aber auch die zapatistische Bewegung im Süden Mexikos, die letztlich auch aus indigenen Gemeinschaften entstand und nun einen politischen Kampf um ihre Rechte führt, der auf nichts weniger als die Änderung der (globalen) Gesamtgesellschaft zielt, vergisst er nicht zu erwähnen. Gerade deren Wahlspruch »eine Welt, in die viele Welten passen«488 (zu schaffen) umreißt ihre auf einer Wiederbelebung des Gemeinsamen basierende politische Zielsetzung ja so treffend.489 Doch viel weiter greift Escobar aus, und schreibt (auf den auch weltweiten Charakter solcher – immer auch ein anderes Verhältnis zur Natur etablieren wollenden – Bewegungen anspielend): »Die Auseinandersetzungen zur Verteidigung von Bergen, Landschaften und Wäldern, die von einer relationalen (nicht dualistischen) sowie pluriversalen Auffassung des Lebens ausgehen, werden sichtbar«490,491 Die mehr lokalen Proteste etwa gegen die Rodung des Hambacher Forsts dürften genauso diesen Bestrebungen zuzurechnen sein, wie die jüngsten globalen Klimaproteste. Escobar fasst seine Ausführungen folgendermaßen zusammen: »Über Commons nachzudenken erinnert auch diejenigen, die in den dichtesten urbanen und liberalen Welten leben, dass wir in einer lebendigen Welt zu Hause sind. Es situiert die Menschen wieder im unaufhörlichen Fluss des Lebens, der unweigerlich alles mitzieht; so wird uns ermöglicht, uns selbst wieder als Teil des Lebensstroms zu betrachten. [Eig. Hervorhebungen]«492

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Ebd., S. 336f. Ebd., S. 338. Ebd., S. 334. Ebd., S. 338. Ebd., S. 339. Siehe dazu etwa auch: Ulrich Brand/Ana Esther Cecena (Hg.), Reflexionen einer Rebellion: ›Chiapas‹ und ein anderes Politikverständnis, Münster 1999. 490 Arturo Escobar, »Commons im Pluriversum«, a.a.O., S. 340. 491 Erhellend bezüglich einer neuen Beziehung des Menschen zur natürlichen Umwelt sind in diesem Zusammenhang auch die Fragen, die Hans-Joachim Busch aufwirft: »Gibt es überhaupt ein Motiv, das ›Objekt‹ Umwelt (Pflanzen, Tiere, Gewässer, Landschaften) mehr als nur narzisstisch zu lieben, wirklich um es zu trauern? Ist nicht das kapitalistische Herz unserer Gesellschaft ihnen gegenüber erstarrt, erkaltet? Oder sagen uns diese Wesen und Gestaltungen eigentlich doch weniger als die selbst geschaffenen Prothesen unserer Kultur (Automobile, Geräte, mediale Welten…)? Lieben wir diese vielleicht mehr? Die Umweltkrise ist doch ganz zweifellos eine Beziehungskrise [eig. Hervorhebung] von außerordentlicher Brisanz.« In: (ders.), »Die Bäume wachsen nicht in den Himmel – das Herz des spätmodernen Subjekts lässt dies kalt. Eine Beziehungskrise«; in: Freie Assoziation. Zeitschrift für psychoanalytische Sozialpsychologie, 22. Jg., 1/2019, S. 69f. 492 Arturo Escobar, »Commons im Pluriversum«, a.a.O., S. 342.

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Dabei ist das maßlos Gemeinsame biomorpher Seinsweisen gerade heute längst nicht mehr nur an den vermeintlichen Rändern und in diversen Nischen der Gesellschaft angesiedelt, sondern nimmt innerhalb ihrer einen immer größeren Raum ein, wie auch Silke Helfrich und David Bollier in ihrer bemerkenswerten Studie zu den Commons darlegen.493 Gleich zu Beginn machen sie mit ihrer Anschauungsweise der Commons vertraut: »Ja, doch, es gibt Alternativen zum Kapitalismus und zum untergegangenen Staatssozialismus, zum übermächtigen Markt und Staat. Sie sind menschen- und naturfreundlich. Sie befriedigen Bedürfnisse und produzieren Verbundenheit. Sie sind so alt wie die Menschheit und gleichzeitig modern wie neueste Computertechnologien. Sie sind überall auf dem Globus präsent, und doch kennen sie nur wenige. Es handelt sich um die Commons. Manche sagen dazu ›Gemeingüter‹, doch das ist unzulässig verkürzt. Woran liegt die seltsame Unsichtbarkeit der Commons? Viele Wirtschaftswissenschaftler stecken noch in der überholten Vorstellung von der ›Tragödie der Gemeingüter‹ fest. Sie haben für Communing keine Begriffe – und kein Verständnis dafür, dass es beim gemeinsamen Produzieren, Nutzen und Teilen nicht auf Geld- und Machtverteilung ankommen könnte. Commons machen im Wortsinne sprachlos, weil sie mit den gängigen ökonomischen und juristischen Begriffen nicht zu fassen sind. [Eig. Hervorhebungen].«494 Schließlich verdeutlichen Helfrich und Bollier, wie die Commons in wachsendem Ausmaß den gesamten sozio-polit-ökonomischen Komplex der Gegenwartsgesellschaft zu umspannen und durchdringen beginnen: nämlich »im alltäglichen Miteinander (soziale Sphäre), in der bewussten Selbstorganisation der Gleichrangigen (politische Sphäre) und in der gemeinsamen Befriedigung von Bedürfnissen (wirtschaftliche Sphäre)«495 . Die Grundlage der Commons aber, und das gilt es zu betonen, bilden eben die biomorphen relationalen Formationen, in denen biopolitische Produktion (wie Hardt und Negri sie verstehen) sich vollzieht, und die neben den thanatomorphen den globalen Raum gestalten.496 Sie etablieren konstruktiv Welten des Gemeinsamen, statt destruktiv tote

493 494 495 496

Silke Helfrich/David Bollier, Frei, fair und lebendig. Die Macht der Commons, Bielefeld 2019. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Der Begriff der Biopolitik, der bei Hardt und Negri ein zentraler ist, findet sich bei Michel Foucault erstmals in einem Vortrag aus dem Jahre 1974 (siehe dazu: Michel Foucault, Schriften, Bd. 3, 1976-1979, Frankfurt a.M. 2003, S. 275; Verweis durch Marianne Pieper et al.; in: dies., »Biopolitik in der Debatte – Konturen einer Analytik der Gegenwart mit und nach der biopolitischen Wende. Eine Einleitung«; in: dies. (Hg.), Biopolitik – in der Debatte, Wiesbaden 2011, S. 8.) Ihm setzt Michel Foucault in Sexualität und Wahrheit den Begriff der »Bio-Macht« (ders., Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1983, S. 136) als einer Macht über das Lebendige, entgegen, die er versteht als Willen zur »Verstaatlichung des Biologischen« (Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975—1976), Frankfurt a.M., S. 169, zitiert nach Marianne Pieper et al., in: dies., a.a.O., S. 8.) Biomacht so gesehen, nimmt sich durchaus aus als Bestreben systemischer Kräfte, sich die Lebenswelt unterzuordnen. Hardt und Negri allerdings interpretieren die foucaultschen Begriffe ›Biopolitik‹ und ›Biomacht‹ angesichts der von ihnen zwar ähnlich postulierten, aber doch in einer Reihe von Punkten anders gelagerten Dialektik von ›Empire‹ und ›Multitude‹ neu und auf eigene Art und Weise. Dabei betonen sie u.a. stärker als Foucault

2. Tote Orte, belebte Welten – Thanatomorphe Wüsten und biomorphe Oasen

Orte, und zwar überall dort, wo Formen des Miteinanders entstehen. Und gerade biopolitische Produktion beruht auf der selbsttätigen Erschaffung, Erzeugung, Verteilung und Verwertung materieller wie immaterieller gemeinsamer Güter. Biopolitische Produktion erwächst scheinbar natürlich aus Kooperation und Solidarität, wie diese sich aus dem bloßen Leben der Vielen ergeben. Das Miteinander-Sprechen und ZusammenHandeln wird zum Wert an sich und erzeugt Reichtum; es ist der Überfluss, der aus dem maßlos Gemeinsamen ständig strömt. Biopolitische Produktion ereignet sich z.B. in den vielen landwirtschaftlichen Kooperativen überall auf der Welt, aber auch in zahlreichen selbstverwalteten Betrieben und Fabriken (wie etwa der Fliesenfabrik Zanon in Argentinien oder der Seifenfabrik VioMe in Griechenland), oder eben in basisdemokratisch orientierten oder organisierten ökonomischen Initiativen verschiedenster Art (beispielsweise auch der Mapuche-Genossenschaftsbank »Gutes Leben«), die nicht selten gleichzeitig auch regionale Alternativen zum herrschenden Finanz- und Währungssystem (wie Tauschringe oder Regio-Währungen) offerieren. Es entstehen sozusagen solidarische Inselökonomien, die sich (oftmals äußerst erfolgreich und nachhaltig) der herrschenden Wirtschafts- und Lebensweise weitgehend entziehen.497 All diesen Formen alternativen Wirtschaftens und Lebens gemein ist der Kampf um das Gemeinsame und seine Bewahrung, oft genug in einer wirtschaftlichen und politischen Ordnung, die eben jene Verwirklichung des Gemeinsamen zu unterbinden sucht. Diese Mikroökonomien, die ja gewissermaßen Exterioritäten in einem anders organisierten wirtschaftlichen Ganzen darstellen, finden nun aber mehr und mehr ihre Entsprechung ausgerechnet in den breitenwirksamen, biopolitischen Transformationsprozessen, die sich nun innerhalb der Ökonomien der spätmodernen Gesellschaften abzuzeichnen beginnen. Denn die klassische Industrieproduktion, mit ihren vielen unter einem Aufsichts- und Kontrollregime stehenden Produktions(stand)orten, beginnt zusehends einer in Gänze produktiv werdenden Informationsgesellschaft zu weichen (die zu ihrem Gedeihen weniger Aufsicht und Kontrolle benötigt, sondern vielmehr Freiheit; die weniger einer gegebenen Ordnung bedarf, sondern vielmehr selbstregulierend ist; und: die sich kaum noch auf definierte Orte der Produktion begrenzen lässt, sondern aus sich selbst heraus produziert und damit translokal ist).498 Hardt und Negri führen dies wie folgt aus: das emanzipatorische Potenzial von ›Biopolitik‹. (Vgl. dazu auch die differenzierte Auseinandersetzung beider mit dem Konzept der Biopolitik, in: Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, a.a.O., S. 37-55.) 497 Eine umfangreiche Auflistung, Darstellung und Besprechung solcher Refugien des Gemeinsamen findet sich in: Sven Giegold/Dagmar Embshoff (Hg.), Solidarische Ökonomie im globalisierten Kapitalismus, Hamburg 2008. 498 Vgl. dazu Michael Hardt und Antonio Negri: »Das Industrieunternehmen ist nicht mehr wie früher – zumindest in den dominanten Ländern – in der Lage, die Produktivkräfte zu zentralisieren und die Arbeitskraft ins Kapital zu integrieren. Wie wir jedoch gesehen haben, bedeutet diese Erschöpfung der hegemonialen und integrativen Fähigkeiten des unternehmensbasierten Kapitals keineswegs das Ende kapitalistischer Entwicklung. An die Stelle dieses Kapitals ist nun ein gesamtgesellschaftliches Kapital getreten, bei dem die Gesellschaft als Ganze nunmehr der Hauptschauplatz produktiver Tätigkeit geworden und damit entsprechend auch der zentrale Ort von Arbeitskonflikten und Revolten gegen das Kapital ist.« In: dies., Common Wealth. Das Ende des Eigentums, Frankfurt a.M./New York 2009, S. 302.

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»Der Schlüsselbegriff für das Verständnis heutiger Wirtschaftsproduktion ist das Gemeinsame, als Produktivkraft ebenso wie als Form, in der Reichtum produziert wird. Aber das Privateigentum hat uns, wie Marx sagt, dumm gemacht, so dumm, dass wir blind sind für das Gemeinsame! Es hat den Anschein, als könnten Ökonomen und Politiker die Welt nur als in öffentlich und privat aufgeteilt betrachten, entweder im Besitz von Kapitalisten oder unter der Kontrolle des Staates, als gäbe es das Gemeinsame nicht. Tatsächlich erkennen die Ökonomen das Gemeinsame, aber sie siedeln es im Allgemeinen außerhalb der spezifisch ökonomischen Verhältnisse an und sprechen von ›externen Ökonomien‹ oder einfach ›Externalitäten‹. Um die biopolitische Produktion zu verstehen, müssen wir diese Sichtweise jedoch umkehren und die produktiven Externalitäten internalisieren, also das Gemeinsame ins Zentrum des Wirtschaftslebens rücken. [Hervorhebung durch Hardt und Negri]«499 Aus diesem Blickwinkel nimmt sich die Entwicklung in der Spätmoderne geradezu diametral gegenübergesetzt aus zu dem, was Habermas als Verhängnis der Moderne diagnostiziert hatte: Wo Habermas die Auffassung vertrat, die Moderne neige ständig dazu, mit systemischen Imperativen aus der politischen und ökonomischen Sphäre die von Kommunikation und Interaktion dominierte Sphäre der gemeinsam geteilten ›Lebenswelt‹ zu kolonialisieren, legt der von Hardt und Negri vorgetragene Gedankengang den Schluss nahe, dass gerade in der Spätmoderne eine Umkehrbewegung stattfindet; nämlich, dass die auf Kommunikation und Interaktion beruhende lebensweltliche Sphäre die systemische sich insofern aneigne, dass Produktion wie Verwertung nun aus dem Gemeinsamen heraus geschehe, und damit in Gestalt biopolitischer Produktion in die vormals exklusiven Bereiche der Ökonomie und der Politik vordringe.500 So verstanden wäre in der zunehmenden Bedeutung biopolitischer Produktion ein, wenn

499 Ebd., S. 291. 500 Dieser Gedanke findet sich in etwas abgemilderter Form (weil mehr auf die WiederVerlebensweltlichung systemisch kolonialisierter Bereiche innerhalb der Lebenswelt, und weniger auf die Verlebensweltlichung des Systems bezogen) auch in Hans-Joachim Buschs Perspektive auf die Spätmoderne: »Lebenspolitik führt zur Zurückweisung der Kolonialisierung der Lebenswelt durch kapitalistische Systemimperative, zur Rückeroberung, ›Repolitisierung‹ der Alltagswelt, durch die Subjekte.« In: ders., Subjektivität in der Spätmoderne. Konzeptionelle Schwierigkeiten und Möglichkeiten psychoanalytischer Zeitdiagnose, a.a.O., S. 274. Busch verwendet dabei zudem den auf Anthony Giddens zurückgehenden Begriff der ›Lebenspolitik‹, der durchaus Anklänge aufweist an ein Verständnis von ›Biopolitik‹ wie es sich findet bei Hardt/Negri. Busch betont auch, wie notwendig es sei, den Terminus der ›Lebenswelt‹ inhaltlich wie methodisch in aktuelle theoriebildende Unternehmungen einzuflechten: »Lebenspolitik ist somit genau jenes Set von Handlungen, dessen Hervorbringung sich in meinen Augen eine kritische Theorie des Subjekts, eine psychoanalytisch politische Psychologie zur Aufgabe zu machen hätte.« In: ebd., S. 275. Der Begriff der ›Lebenspolitik‹ wie Busch ihn versteht, hat eine deutlich emanzipatorische Komponente, unterscheidet sich aber insofern von klassisch polit-emanzipatorischen Haltungen, dass er ein reflexives Subjekt beschreibt, das in der Lage ist, sich bewusst mit sich selbst und seinen Lebensumständen auseinander zu setzen und dies auch kommunikativ an Andere und seine Umwelt zu transportieren vermag. Das bloße Eintreten, so ließe sich auch sagen, für jene Bedürfnisse, die mit ihm und seiner Lebensart bzw. seinem Lebensumfeld verquickt sind, ist dann schon politisch.

2. Tote Orte, belebte Welten – Thanatomorphe Wüsten und biomorphe Oasen

nicht das, emanzipatorische Moment der Spätmoderne zu identifizieren.501 Die von Habermas so prominent konstatierte Scheidung von Lebenswelt und System als Kennzeichen der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften würde damit obsolet. Analog zur sich wandelnden Gesellschaft in der Spätmoderne würde so eben auch eine neue Form der Gesellschaftstheorie erforderlich, die gerade das Un- und Entdifferenzierte – und damit: das Maßlose – verstärkt in den Blick nimmt. Denn die biopolitische Dynamik unterläuft Grenzen oder überwindet sie. Beispielsweise ist ja allein schon das Gemeinsame, als Grundlage jeglicher biopolitischer Produktion, wie Hardt und Negri auch immer wieder betonen, gänzlich jenseits des Gegensatzes von ›öffentlich‹ und ›privat‹ angesiedelt: »Es ist deshalb verführerisch sich ein Dreiecksverhältnis zwischen dem privaten, dem Öffentlichen und dem Gemeinsamen vorzustellen, aber das erweckt allzu leicht den Eindruck, die drei könnten ein geschlossenes System bilden, in dem das Gemeinsame zwischen den beiden anderen steht. Stattdessen existiert das Gemeinsame auf einer anderen Ebene als das Private und Öffentliche und ist völlig autonom gegenüber beiden.«502 Das Spannungsfeld öffentlich-privat liegt also vollständig innerhalb der bestehenden Ordnung von Staat und Kapital – biopolitische Produktion aber, und damit eben das Gemeinsame, unterläuft diese Ordnung. Das Gemeinsame ist das ›alte Neue‹ welches vor der Differenzierung des Sozialen in Staat und Kapital seit jeher existierte, und welches nun, nachdem es von der kapitalistischen Moderne in diverse soziokulturell und politökonomisch randständige Refugien der Gesellschaft verdrängt schien, im Zuge der zunehmenden Bedeutung biopolitischer Produktion in der Spätmoderne diese im historischen Prozess vollzogene Differenzierung maßlos aufzuheben und zu unterminieren beginnt. Hardt und Negri erweisen sich im Hinblick darauf abermals als besonders ergiebige Theoretiker: »Nimmt man die Perspektive des Gemeinsamen ein, müssen zahlreiche Kernbegriffe der politischen Ökonomie überdacht werden. So nehmen beispielsweise die Verwertung und die Akkumulation in diesem Kontext zwangsweise sozialen statt individuellen Charakter an. Das Gemeinsame existiert in breiten, offenen sozialen Netzwerken und wird von ihnen genutzt. Die Wertschöpfung und die Akkumulation des Gemeinsamen beziehen sich somit beide auf eine Ausweitung der gesellschaftlichen Produktivkräfte. In diesem Zusammenhang von ›gesellschaftlichem Wachstum‹ zu sprechen ist aber wohl zu vage und abstrakt. Wir können diese Vorstellung von Akkumulation philosophisch präzisieren – auch wenn wir uns natürlich bewusst sind, dass das die Ökonomen nicht wirklich zufrieden stellen wird –, indem wir sie im Hinblick auf das soziale Sensorium betrachten. Akkumulation des Gemeinsamen bedeutet nicht so sehr, dass wir über ein Mehr an Ideen, Bildern, Affekten und so weiter verfügen, 501 Christian Felber belegt von ihm beschriebene emanzipatorische Momente in der Ökonomie der Spätmoderne (die teilweise durchaus im Sinne einer biopolitischen Produktion zu deuten sind) mit dem Begriff der ›Gemeinwohl-Ökonomie‹; in: ders., Gemeinwohl-Ökonomie. Das Wirtschaftsmodell der Zukunft, Wien 2010. 502 Michael Hardt/Antonio Negri,Common Wealth. Das Ende des Eigentums, a.a.O., S. 293.

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sondern dass unsere Fähigkeiten und unsere Sinne zunehmen: unsere Fähigkeit, zu denken, zu fühlen, zu sehen, in Beziehung zueinander zu treten, zu lieben. Stärker ökonomisch gewendet heißt das: Dieses Wachstum beinhaltet sowohl einen größeren Bestand an Gemeinsamem, das in der Gesellschaft verfügbar ist, als auch eine gesteigerte produktive Kapazität, die auf dem Gemeinsamen basiert. Einer der Gründe, warum wir bestimmte Zentralbegriffe der politischen Ökonomie gleichsam sozial überdenken müssen, ist der, dass die biopolitische Produktion nicht durch die Logik der Knappheit eingeschränkt ist [eig. Anm.: sie ist nämlich maßlos, nicht bemessen]. Sie verfügt über die einzigartige Eigenschaft, dass sie die Rohmaterialien, aus denen sie Reichtum produziert, nicht zerstört oder verringert. Die biopolitische Produktion lässt den bios arbeiten, ohne ihn aufzubrauchen [Hervorhebung durch Hardt und Negri].«503 Wenn aber Hardt und Negri hier vom ›bios‹ und damit dem Lebendigen sprechen, und andererseits die Fähigkeit zueinander in Beziehung treten und zu lieben als wesentliche Elemente des Gemeinsamen wie der biopolitischen Produktion herausstreichen, so kommt man nicht umhin, abermals zu betonen, dass aus der hier dargelegten psychoanalytisch-sozialpsychologischen Perspektive es eben, ganz ähnlich, aber doch wohl viel präziser gefasst, der Eros ist, der als Triebkraft intersubjektiv verbindender Prozesse biomorphe relationale Formation überhaupt erst erschafft und so die Fähigkeit zur gemeinsamen Netzwerkproduktion vermittels Kooperation ermöglicht. Dabei ist das maßlos Gemeinsame in der biomorphen relationalen Formation nicht allein an zwischenmenschlich intersubjektiven Relationen angesiedelt, sondern auch an den Beziehungen der Subjekte zu ihrer Umwelt und Welt. Denn es schließt »der biopolitische Begriff des Gemeinsamen gleichermaßen alle Bereiche des Lebens ein, bezieht sich nicht nur auf Erde, Luft, und andere Elemente oder auch auf Pflanzen und tierisches Leben […].«504 Ein allumfassendes, alles verbindendes, untrennbares und grenzenloses Gemeinsames tut sich überall dort auf, wo der Eros über verbindende Kommunikation und Interaktion die Vielen und das Viele zu einer biomorphen relationalen Formation zusammenschließt. Die maßlose Fülle, die aus derartigen Welten des Gemeinsamen strömt und einer permanenten Feier des Lebendigen und des Lebens gleicht, entspricht einem permanenten Akt der Erschaffung und Schöpfung, oder wie Hardt und Negri formulieren, einem »Sein, das nicht fixiert oder statisch ist, sondern in einem ständigen Schaffensprozess transformiert, bereichert, konstituiert wird.«505 In vielen der zahlreichen Protestwellen, die seit geraumer Zeit über den Globus rollen, gelangte das maßlos Gemeinsame bereits (temporär) zur Verwirklichung. Ferdinand Sutterlüty bezeichnet die Occupy-Wallstreet-Bewegung als vielleicht »avancierteste Protestform«506 der jüngeren Zeit, und zwar auch im Hinblick auf das von ihr zum Ausdruck gebrachte Potenzial, mögliche neue, andere Realitäten aufzuzeigen: »Den Aktivistinnen schien jeder Glaube daran entschwunden zu sein, mit konkreten Forderungen in den etablierten politischen Institutionen auf Responsivität zählen zu 503 504 505 506

Ebd., S. 293f. Michael Hardt/Antonio Negri, Common Wealth. Das Ende des Eigentums, a.a.O., S. 185. Ebd., S. 187. Ferdinand Sutterlüty, »Stichwort: Aufruhr und Protest«; in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 10. Jg., 2/2013, S. 59.

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können. Die Einrichtungen der repräsentativen Demokratie schienen ihnen zu korrumpiert und zu sehr mit den Sonderinteressen einer entrückten Schar von Privilegierten verquickt, als dass an sie Proteste sich noch wirkungsvoll hätten adressieren lassen. Daher machte sich die Occupy-Bewegung daran, in ihrem Inneren eine exemplarische Gegengesellschaft zu bilden. Diese sollte die Konturen einer Realutopie vorausahnen lassen, in der eine umfassende Solidarität gepflegt wird und bis zum Obdachlosen oder gestrandeten Migranten alle in den Genuss von Gemeingütern kommen. Alle Entscheidungen sollten basisdemokratisch gefällt werden, und zwar auf der Grundlage einer streng horizontalen Deliberation, die ernsthafte Auseinandersetzung garantiert und auch Minderheitenpositionen ein Forum gewährt. Um eine solche Existenzweise in ihren Camps alltagstauglich zu machen, entwickelten die Occupy-Aktivistinnen eine erstaunliche institutionelle Phantasie. [Eig. Hervorhebungen]«507 Sutterlüty spricht von einer geradezu »liebesethisch fundierten Sozialität«, die die Occupy-Bewegung praktiziert habe.508 Die Anklänge an eine biomorphe, vom Eros durchzogene und das maßlos Gemeinsame verwirklichende relationale Formation sind nicht zu überhören. Im Raum der politischen Öffentlichkeit konnte – mangels jeglicher ›Andockstellen‹ – eine derart politisierte Lebensweise keinerlei Anknüpfungspunkte finden. Der Überschwang und das Überfließen lebensweltlicher Vitalität und Kreativität trafen auf ein verknöchertes Polit-System aus eingespielten Rollenverteilungen. »Occupy-Wallstreet: Harvesting the Salt of the Earth«509 , überschreibt Manuel Castells seine Ausführungen zu dieser Bewegung. Das Salz der Erde ›ernten‹ – was für eine starke Metapher für Ziel und Charakter einer Protestbewegung. Das Experimentieren mit neuen Organisationsformen, mit Institutionalisierungen weit jenseits des herkömmlichen Verständnisses von Institutionen, genauso wie ein stetiges Foranschreiten per ›learning by doing‹, die völlige Absenz von Instrumentalisierung, und stattdessen: das Leben von Authentizität, setzte die Occupy-Wallstreet-Bewegung anstelle eines traditionellen Politikverständnisses; basisdemokratische Generalversammlungen, begleitet von digitalen Diskussions- und Entscheidungsstrukturen, ersetzten die gewohnten Mechanismen des Politischen – und das Fehlen von (An-)Führern war dabei nur ein weiteres emanzipatorisches Moment (das im Übrigen nicht nur die Occupy-Bewegung auszeichnete, sondern beinahe alle progressiven Protestbewegungen der spätmodernen Ära).510 Sozusagen ein Organigramm, das die Komplexität des Entscheidungsprozesses in der Occupy-Bewegung illustriert (und das in keinen Zusammenhang mit tradierten Mustern politischer Entscheidungsfindung gebracht werden kann) veröffentlicht Castells mit Genehmigung von Occupy Atlanta.511 Deutlich wird geradezu, welche Klippen und Windungen ein ›Konsensfluss‹ (»consensus flow«512 ) zu nehmen hat, um zur Entscheidung zu reifen. Kein simples ›Ja‹ oder ›Nein‹ besiegelt seine Gültigkeit im Abstim-

507 Ebd., S. 60. 508 Ebd. 509 Siehe dazu: Manuel Castells, Networks of Outrage and Hope. Social Movements in the Internet Age, Cambridge/Malden 2012, Kap. »Occupy-Wallstreet: Harvesting the Salt of the Earth«, S. 156-215. 510 Vgl. ebd., S. 178f. 511 Siehe dazu: ebd., S. 181. 512 Ebd.

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mungsprozess, sondern er wird geradezu flankiert und kanalisiert von einer Vielzahl möglicher Interventionen, die kategorisiert sind als: ›Block‹, ›Point of Process‹, ›Direct Response‹, ›Place me on stack/Stand aside‹, ›Disagreement‹, ›Agreement‹.513 Diesen Interventionen entsprechen jeweils standardisierte Handzeichen, die sich (ganz wie Emojis) für digitale Verfahren eignen. Das turnusgemäße, bloße Ankreuzen von Wahlvorschlägen auf einer Liste, das im Zentrum der politischen Entscheidungsfindung gegenwärtiger repräsentativer Demokratien steht, nimmt sich demgegenüber geradezu als politisches Analphabetentum aus. Indem die Occupy-Bewegung zudem das immaterielle ›Herz‹ des Kapitalismus, nämlich »virtual money«514 ins Visier nahm, erwies sie sich als von einem grundlegend revolutionären Impetus getragen. Das virtuelle Geld, »[t]he value that does not exist materially and yet permeates everything«515 , der transzendente Maßstab, der nicht materiell existiert, aber immateriell alles Existierende durchdringt und nach sich auszurichten trachtet: Das ist die reinste, höchste und vielleicht letzte Emanation des Kapitals. Manuel Castells schreibt zusammenfassend: »By challenging the inviolability of absolute financial power on the shores of the ocean of global capital, they materialized resistance, giving a face to the source of oppression that was asphyxiating peopleʼs lives and establishing its rule over the rulers. They set up a convival community in the sites where before there were only headquarters of power and greed. They created experience out of defiance. They self-mediated their connection to the world and the connections among themselves. They opposed the threat of violence with peaceful assertiveness. They believed in their right to believe. They connected to each other and reached out to the others. They found meaning in being together. They did not collect money, nor did they pay their debts. They harvested themselves. They harvested the salt of the earth. And they became free. [Eig. Hervorhebungen].«516 Wenn nun aber Castells sinngemäß formuliert, dass sie lebendige Gemeinschaften errichteten, sowie ihre Verbindung zu sich selbst und zur Welt eigenständig gestalteten, und dazu noch sich untereinander verbanden und nach den Anderen ausgriffen, um Sinn übers Zusammensein zu erfahren – so beschreibt er nichts anderes als eine biomorphe relationale Formation, deren intersubjektive Prozesse von verbindender Kommunikation und Interaktion geprägt sind, und die auf dem Eros beruht. Sie ›ernteten‹ sich selbst, und sie selbst sind das ›Salz der Erde‹ – ist dann nichts anderes als ein Synonym für eine biopolitische Seinsweise, die nur Selbst- und keine Fremdverwertung kennt, und so den Weg zur Freiheit weist. Über die Allgegenwart ebenfalls nichtstaatlicher, aber thanatomorpher relationaler Formationen in der Spätmoderne kann diese temporär gelebte Realutopie jedoch nicht hinwegtäuschen. Kriminelle und terroristische Netzwerke von bislang kaum gekannter destruktiver Qualität durchziehen den Cyberspace wie den sozialen Raum. Ihre transnationale Dimension entspricht der Transnationalität der globalen Ordnung. Die organisierte Kriminalität etwa hat sich längst ihrer traditionell pyramidalen Hierarchiestruk-

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Ebd., siehe Abbildung. Ebd., S. 198. Ebd. Ebd.

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tur entledigt. Sie begegnet international als mit gegebenen politischen und ökonomischen Strukturen verflochten, bildet lose und temporäre Allianzen zu verschiedensten Gruppen, verbündet sich mit einzelnen unternehmerischen oder politischen Schlüsselfiguren und strebt die Kontrolle über ganze geographische Gebiete an, wie Phil Williams anschaulich schildert.517 Diese kriminellen Netzwerke variieren (im Gegensatz zu klassischen Organisationsformen) stärker in Größe, Ausdehnung, Zusammensetzung und Dauerhaftigkeit und weisen Sub- und Metastrukturen von jeweils höherem oder niedrigerem Organisationsgrad auf.518 Gleich unter welcher Bezeichnung die jeweiligen Ausprägungen der organisierten Kriminalität nun fungieren, und ungeachtet ihres spezifischen ›Geschäftsfeldes‹, ist ihnen doch eines gemein: die Instrumentalisierung von Menschen zu Zwecken, unter Einschluss von Gewaltandrohung und Anwendung von Gewalt. Die Destruktivität, die diese Formationen durchzieht, richtet sich nach innen wie nach außen: Nach innen, weil es in letzter Konsequenz immer die Drohung oder Umsetzung teilweiser oder ganzer sozialer, psychischer oder physischer Vernichtung ist, die den Gesamtzusammenhang oder seine Teile stabilisiert; nach außen, weil Menschen gewaltsam aus anderen Zusammenhängen gerissen, oder innerhalb derer manipuliert werden. Immer aber ist es der Mechanismus der Exklusion – und damit des ›Opfers‹ – welcher schlussendlich das Funktionieren gewährt. Obwohl auch im Bereich der kriminellen Netzwerke immer wieder von fluiden Netzwerken gesprochen wird (»there is a growing recognition that organized crime is increasingly operating through fluid network structures«519 ) muss dem aus dieser Perspektive daher entschieden widersprochen werden: Kriminelle Netzwerke sind nicht fluide, sondern eher rigide Deformationen an fluiden Netzwerken. Selbst wenn sie anpassungs- und wandelfähig sind, selbst wenn sie sich ausdehnen und wachsen – sie heften sich an bestehende Netze an, begleiten diese, korrumpieren oder unterminieren sie. Sie sind nicht wirklich eigenständig: Als eigentlich tote und den Tod verbreitende Struktur (virtuell oder real) profitieren sie vom Leben der Anderen. Thanatomorphe relationale Formationen sind auf biomorphe angewiesen; sie sind im Grunde nichts als ›Schatten‹ des Lebendigen. Ihr Netzwerkcharakter ist daher nichts als die schlechte Spiegelung des Netzwerkcharakters, den die Gesellschaft als produktive mittlerweile angenommen hat: Sie sind ein Zerrbild. Destruktiv verzerrte Kommunikation und Interaktion setzen sie anstelle verbindender – und den Thanatos anstelle des Eros. Kriminelle Netzwerke müssten daher gänzlich anders analysiert werden als bisher: nämlich als bloß reaktive, aber gefährliche Mechanismen, die sich einstellen und überhand nehmen dann, wenn die Dynamik biomorpher relationaler Formationen schon schwer beschädigt ist. Insofern terroristische Netzwerke kriminell sind, müssen sie ebenso begriffen werden; insofern sie sich allerdings als politische generieren, verlassen sie diesen Rahmen. Ihr Anspruch auf das Gewaltmonopol ist dann dem staatlichen strukturell vergleichbar. Auch als nichtstaatlicher Akteur beanspruchen sie dann quasi-staatliche Hoheits-

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Vgl. Phil Williams, »Transnational Criminal Networks«, in: John Arquilla/David Ronfeldt (Hg.), Networks and Netwars. The Future of Terror, Crime and Militancy, Santa Monica/Arlington/Pittsburgh 2001, S. 61f. Vgl. ebd., S. 69f. Ebd., S. 62.

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ansprüche für sich. Sie bewegen sich somit in einer Grauzone, auf welche die konterterroristischen Aktivitäten staatlicherseits dann in der Regel ebenfalls innerhalb einer Grauzone aus Polizei- und Militäraktion antworten. Mit der politischen Dimension terroristischer Netzwerke steigt ihre Eigenständigkeit gegenüber der von ›bloß‹ kriminellen stark an; sie nehmen damit durchaus den Charakter einer Kriegspartei an. ›Netwar‹ ist der Terminus, den John Arquilla und David Ronfeldt in Anlehnung an den des ›Cyberwar‹ verwenden, wenn sie sich eben nicht auf Auseinandersetzungen allein im Cyberspace des Internet beziehen, sondern auf Opponenten, die spezifisch von Netzwerkstrukturen verschiedenster Art geprägt sind.520 Gemeint sind damit ganz allgemein Konfliktlevel, die knapp unterhalb der Ebene militärischer Auseinandersetzungen angesiedelt sind, und in denen die Protagonisten Vernetzungsstrategien anwenden, die sich überdies auf Doktrinen, Technologien und Taktiken beziehen, die auf die (neuen) Realitäten des Informationszeitalters abgestimmt sind.521 Im Speziellen trifft dies auf die terroristischen Netzwerke der Gegenwart weitgehend zu. Sie sind dann einem totalitären Staat in Miniaturform vergleichbar. »Der Feind hat eine neue Form«522 , beschreiben Hardt und Negri dieses Faktum auch aus der Perspektive des staatlichen Hegemons. Verteilte terroristische Netzwerke einerseits und klassische souveräne Staaten andererseits sind in einen asymmetrischen Konflikt verwickelt. Diese neue Form stelle ein frustrierendes Ziel für Militärstrategien dar, und führe dadurch zu geradezu paranoiden Reaktionen der Staatenwelt.523 Ein globaler Kriegszustand sei die Folge, der sich dadurch auszeichne, »dass er alle Nationen, selbst die demokratischsten, dazu zwingt, einen autoritären und totalitären Kurs einzuschlagen«524 . So scheint die permanente terroristische Bedrohung gleichzeitig einem anderen Ziel in die Hände zu spielen, nämlich: »imperiale Gewalt zu legitimieren«525 . Weil der Feind nicht mehr wirklich sicht-, greif-, und lokalisierbar ist, sondern völlig abstrakt aber dauerpräsent, kann er zur Rechtfertigung beinahe jeden politischen Handelns dienen.526 Die gravierenden Legitimationskrisen des politökonomischen Systems werden dadurch verschleiert. Und je mehr der Krieg (gegen den Terror) zur Grundlage jeglicher Politik wird, desto mehr wird der Krieg vom Ausnahmezustand zum Normalzustand. Dieser Krieg darf dann kein destabilisierender mehr sein, sondern »im Gegenteil eher ein aktiver Mechanismus, der die bestehende Weltordnung permanent erschafft und abstützt«527 . Damit gerät der Krieg gegen den Terror zur zweiten Säule der militärischen Absicherung des Status Quo. Die erste, im 20 Jahrhundert so schrecklich aufgerichtete, ist die »reale Möglichkeit zum Genozid und zur nuklearen Vernichtung«528 . Hardt und Negri präzisieren dies: »Krieg stand schon immer für die Vernichtung von Leben, 520 Vgl. John Arquilla/David Ronfeldt, »The Advent of Netwar (Revisited)«; in: dies. (Hg.), Networks and Netwars. The Future of Terror, Crime and Militancy, a.a.O., S. 2f. 521 Ebd., S. 6. 522 Michael Hardt/Antonio Negri, Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a.M./New York 2004, S. 72. 523 Vgl. ebd., S. 73. 524 Ebd., S. 33. 525 Ebd., S. 47. 526 Vgl. ebd. 527 Ebd., S. 37. 528 Ebd., S. 34.

2. Tote Orte, belebte Welten – Thanatomorphe Wüsten und biomorphe Oasen

doch im 20. Jahrhundert erreichte die Vernichtungsmacht die Grenzen reiner Todesproduktion, versinnbildlicht durch Auschwitz und Hiroshima. [Eig. Hervorhebung]«529 Der Krieg als Option zur völligen Vernichtung menschlichen Lebens hat dadurch im Verlauf der Moderne seine reinste und zugleich absurdeste thanatopolitische Form angenommen. War der Krieg immer schon die militärische Fortsetzung politischer Ziele, ist er so zum potenziellen Ende nicht nur aller Politik, sondern jeglichen menschlichen Lebens mutiert. Er wurde in seiner Konsequenz zum Tod schlechthin. Der Krieg wurde ontologisch und absolut, wie Hardt und Negri formulieren.530 Selbst getarnt als beschränkte Polizeiaktion kann jeder Kriegseinsatz der großen Mächte daher heute nur unter dem Gesichtspunkt der realen Option zur totalen Auslöschung menschlichen Lebens betrachtet werden. »Die souveräne politische Macht wird allerdings niemals wirklich reine Todesproduktion werden, einfach weil sie es sich nicht leisten kann, das Leben ihrer Untertanen auszulöschen«531 . Gleichwohl ist die thanatomorphe Gestalt der Staatlichkeit durch die alleinige Option dazu schon eingeschrieben. Die Möglichkeit zur Eliminierung des Bios hat das Verhältnis von Bürgern und Staat unumkehrbar verändert. Eine biomorphe und lebensweltliche Durchdringung der thanatomorphen Strukturen des Systems ist seither Ausgangs- und Endpunkt jeglichen emanzipatorischen Bestrebens.

2.3.

Intermezzo: Intertheoretische Überlegungen

Bezieht man die abstrakte Dialektik aus Maßlosem und Maß in ihren verschiedensten Entsprechungen nicht allein auf die konkreten Phänomene, sondern zudem auf ihren Widerhall auch in den zu diesen Phänomenen der Praxis entwickelten Theorien, so wird deutlich, dass sie geeignet ist, auch diese als zueinander kompatible und ineinander verschränkte denkbar zu machen. Elemente der psychoanalytischen Theorie(n) können konvertiert werden in die sozialwissenschaftliche(n), die Kritische Theorie des Subjekts kann bezogen werden auf die Kritische Theorie der Gesellschaft – und umgekehrt. Nicht aber um die Konstruktion eines quasi-holistischen Theoriekonzepts als solches ginge es, sondern vielmehr um die Dechiffrierung eines (auch inhomogen ineinander verwobenen) praktischen Gesamtzusammenhangs über die intertheoretische Betrachtung der Relation seiner Teile. Der zu beobachtenden Zersplitterung der Theorielandschaft muss eine intertheoretische Synthese entgegengesetzt werden; nicht allein schon um den Austausch zwischen den Theorien zu ermöglichen, und so ein Zusammenhanglos-Werden ihres Wissens zu vermeiden, sondern eben auch, um ein Ganzes im Ganzen erklären – und kritisieren – zu können. Denn wo das Ganze nicht gedacht werden kann, kann es als solches auch nicht verändert werden. Dabei tritt das Denken in der Theorie dem Wirken der Phänomene in der Praxis nicht als unverbundenes gegenüber auf: Es ist verwurzelt in Ihnen, und gleicht daher mehr einem selbstreflexiv und bewusst werden. So ist es immer schon dem psychoanalytischen 529 Ebd. 530 Vgl. ebd. 531 Ebd., S. 36.

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Das Maßlose der Spätmoderne

Verstehen ähnlich: Unbewusste Praxis in all ihrer Gegenständlichkeit wird bewusst erst zum Gegenstand, aber nicht im Sinne einer bloßen Objektivierung, sondern ganz in der relationalen Hinsicht, den Verhältnissen zwischen den Gegebenheiten nachspüren zu können, um so letzten Endes deren Essenz deutend gewahr zu werden. Die Verweise auf Tendenzen und Optionen, gerade wenn es um die Deutung sozial emanzipatorischen Potenzials geht, ersetzen dabei völlig das utopische Denken. Denn die Utopie kann nicht verwirklicht werden – die theoretische Identifikation praktisch-emanzipatorischer Tendenzen und Optionen in der gegenwärtigen Wirklichkeit aber erlaubt es, deren mögliche Evolution in der nahen und fernen Zukunft zu erahnen. Deswegen kann beispielsweise mit Sicherheit bestimmt werden, dass sich das maßlos Gemeinsame wie das bemessen Einsame politisch derzeit äußert in den Tendenzen zur Gemeinwohlökonomie, so man sie denn so nennen mag, oder entgegengesetzt, in denen zur Kontroll- oder Sicherheitsgesellschaft, was vielleicht schon einen Euphemismus darstellt. Alle in die Zukunft verweisenden gegenwärtigen Politiken neigen mehr der einen, oder der anderen Tendenz und Option zu. Diese gilt es daher politkategorial einzuflechten in den bislang aufgemachten intertheoretischen Zusammenhang, und zwar als einzig mögliche, existierende Konzeptionen der weiteren politischen Entfaltungsmöglichkeiten der Spätmoderne. Nur diese beiden politischen Projekte sind verankert in der Gestalt der Spätmoderne: Alle denkbar anderen existieren außerhalb ihrer, und nicht innerhalb. Das heißt nicht, dass letztere nicht auf die Spätmoderne einwirken könnten; ja, sie sogar zum Entgleisen bringen könnten aus ihrer gegenwärtigen Bahn; aber: Sie sind keine Projekte der Spätmoderne, und sie sind daher allenfalls Reaktionen auf diese, aber nicht begründet in und durch diese. Emanzipatorisch wäre dann allein jenes Projekt, das zunehmende Kontrolle nicht abschaffen – sondern: obsolet machen würde. Einzig eine Ökonomie des Gemeinsamen wäre der Nachfolger des modernen Universalismus. Nur in ihr könnte sich die Entfaltung des aufklärerischen Ziels der Befreiung des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit (als eine auch von selbstentfesselten ökonomischen Sachzwängen) entfalten. Das aber würde die Emanzipation der gemeinsamen Lebenswelt vom alles beherrschenden System bedeuten. Hier – und hier allein – läge das emanzipatorische Potenzial der Spätmoderne. Ein weiteres Mal aber bleibt zu konstatieren, dass auch dieses sich derzeit noch allzu oft als mit seinem Gegenteil vermengtes abzeichnet; sich noch nicht entwunden hat aus dem thanatomorphen und systemischen Griff.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

3.1.

Sozialer Raum und polymorphe relationale Formationen

Prolog: Verschmelzende Welten ■ Wo sich Maßstäbe nicht nur wandeln, sondern verwandeln, integrieren und adaptieren sie potenziell Elemente des Maßlosen – und das Maßlose wird selbst zum Maßstab. So begrenzen und entgrenzen, differenzieren und entdifferenzieren, verhärten und verflüssigen sie zugleich – und verschmelzen bio- und thanatomorphe Formationen zu polymorphen. Welten des Gemeinsamen und Orte des Einsamen wechseln nicht nur, sondern überlagern und vermengen sich. Konturen verblassen, Grenzen lösen sich auf: Vermischungen entstehen, vergehen und entstehen neu. Fragile Gleichgewichte etablieren sich: Altes und Neues, Gegensätze werden eins – nur um sich wieder zu separieren und neu zu justieren. Alles ist im Fluss, und alles verschwimmt: Feste, flüssige und flüchtige Aggregatszustände sind bloße Varianten desselben; verschiedene Formen gleichen Gehalts. Allein die Ordnung oder das Chaos der Teile nimmt neue Gestaltungen an: wird mehr rigide, oder mehr fluide; ist aber immer das nimmer endende Spiel aus Abstoßung und Anziehung, aus Auftauchen und Eintauchen in den Strom, der alles durchzieht und der alles ist. Dauerhaftes stellt sich erst ein, wenn die Reibung der Gegensätze sich auflöst; wenn der Wechsel aus Hitze und Kälte verschwindet; wenn Aggregatszustände sich aufheben, sich einpendeln in einem Zustand aus Aggregation und Disaggregation. Das Ende der (Vor-)Geschichte des Menschen war immer gedacht als eines, in dem Bewegung zum Stillstand gelangt, als Mündung des Flusses ins Meer. Bewegt sind dann allein die Wellen: Der reißende Lauf geht auf in bewegter Ruhe, aber nicht in unbewegter Starre. Im Ozean wird die mitreißende Bewegung des Flusses zum ewigen Bewegtsein. Bewegung und Ruhe sind eins. Über ihm: allein der unendliche Horizont. Die Wolken, das Blau, über den Tag, und die Gestirne des Nachts. Biomorphes wie Thanatomorphes, Helles wie Dunkles, reflektiert sich im Meer, das allein seine Färbung wandelt – und nicht mehr die Gestalt. Und in der Ferne verschmelzen sie beide: das endlose Meer und der entgrenzte Horizont; werden eins; und die Grenze verschwimmt. Wo fängt das eine an, wo hört das andere auf? Es ist kaum mehr zu bestimmen. Und wo vorher ständiger Wandel und Wechsel war, bewegt nur noch der Wind, Wasser wie Luft, beide im selben Rhythmus. Die Welle, materialisiert oder immateriell, ist das Prinzip des Lebens; Wasser und Licht sind ihre Entsprechungen.

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Das Maßlose der Spätmoderne

  Marcuses Hypothese einer Versöhnung von Lust- und Realitätsprinzip in einer ›nichtrepressiven‹ gesellschaftlichen Praxis: ›Die Abschaffung der Herrschaft‹, ›Das Auftauchen nicht-repressiver sozialer Beziehungen‹, ›Arbeit als freies Spiel menschlicher Fähigkeiten‹, ›Versöhnung von Mensch und Natur in der sinnlichen Kultur‹, ›Wandel in der Beziehung zwischen Eros und Todestrieb‹ ■ Es ist nicht die Herrschaft, und es ist auch nicht der Staat, welche in erster Linie die menschlichen Beziehungen gestalten; sondern die Herrschaft, wie auch der Staat, sind ein kulturhistorisches Produkt der menschlichen Beziehungen. Der intersubjektive Prozess strukturiert (über Repräsentanzenbildungen) den psychischen Raum und prägt (über Institutionen- und Praxisgestaltung) den sozialen Raum. In diesem Sinne heißt es auch bei Marcuse: »Der Prozeß, der das Ich und das Über-Ich schafft, formt auch spezifische gesellschaftsbildende Institutionen und verleiht ihnen Dauer. Psychoanalytische Begriffe wie Sublimierung, Identifizierung, Introjektion und ähnliche, haben nicht nur einen psychologischen Inhalt, sondern auch einen sozialen: sie enden in einem System von Einrichtungen, Gesetzen, Institutionen, Dingen und Bräuchen, die dem Individuum als objektive Einheiten entgegentreten. Innerhalb dieses antagonistischen Systems ist der seelische Konflikt zwischen Ich und Über-Ich, zwischen Es und Ich, gleichzeitig auch ein Konflikt zwischen dem Individuum und seiner Gesellschaft.«1 Die Auflehnung gegen die Herrschaft also, die immer auch eine Herrschaft des historisch gerade geltenden Realitätsprinzips ist (und welches sich niederschlägt nicht nur im sozialen ›Außenraum‹ als Gesamt an normativen Einrichtungen, sondern auch im psychischen ›Innenraum‹ als Forderungen, die das Über-Ich an die Gesamtpersönlichkeit richtet) ist immer eine zweifache: eine innere wie eine äußere, und sie begleitet das im kulturellen System sich bewegende Individuum permanent, sei es nun bewusst oder unbewusst. Denn das Individuum stößt immerzu an die innerlichen wie äußerlichen Schranken, die seiner Triebstruktur gesetzt sind. So scheint es auf den ersten Blick geradezu als Regression in vorkulturelle Lebenswelten, sollten die kulturellen und institutionellen Schranken, die mit der Verankerung des Realitätsprinzips gesetzt wurden, fallen. Ein weniger rigides oder nicht-repressives Realitätsprinzip müsste daher auch frühe und nun unterdrückte, gelenkte oder sublimierte Stadien der Libido wieder reaktivieren und so mit den sozialen Institutionen auch das psychische Über-Ich auflösen. Eine solche Freisetzung von Triebenergie wäre in ihren Folgen in der Tat ›barbarisch‹ zu nennen.2 Herrschaft, gleich welcher Weise, scheint so unentbehrlich. Eine Befreiung von Repression würde das Chaos entfesseln – dies ist das vielgehörte Argument zur Rechtfertigung von Unterdrückung. Marcuse jedoch bringt eine andere Perspektive ins Spiel: »Aber wenn diese Befreiung nun auf der Höhe der Zivilisation vonstatten ginge, als Folge eines Sieges und keineswegs einer Niederlage im Kampf ums Dasein, mit der

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Herbert Marcuse, Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, a.a.O., S. 191. Vgl. ebd., S. 191f.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

Unterstützung einer freien Gesellschaft, dann könnte sie sehr andere Resultate erbringen. Es wäre noch immer eine Umkehrung des Zivilisationsprozesses, ein Umsturz der Kultur –, aber nachdem diese ihr Werk verrichtet und eine Menschheit und Welt hervorgebracht hat, die frei sein könnte. Es wäre noch immer ›Regression‹ – aber im Licht des reifen Bewusstseins und geleitet von einer neuen Vernunft. Unter diesen Bedingungen ist die Möglichkeit einer repressionslosen Kultur nicht auf dem Stillstand des Fortschritts gegründet, sondern auf seiner Befreiung –, so daß der Mensch sein Leben im Einklang mit seinem voll entwickelten Wissen ordnen würde, so daß er wieder fragen würde, was gut und was böse ist. [Hervorhebung durch Marcuse]«3 Marcuse offeriert zum Verständnis, wie eine repressionslose Kultur aus den Beziehungen der Individuen heraus eine selbsttragende Ordnung entwickeln könnte, einen Schlüsselbegriff: Er verweist auf die Möglichkeit einer Selbstsublimierung der Triebe. Freud habe bereits zwischen zugelassenen, zielgehemmten und sublimierten Sexualstrebungen unterschieden. Die Erreichung des Triebziels eines Individuums werde, wo sie nicht verwirklicht wird, von inneren oder äußeren Widerständen aufgehalten, könne dann aber durchaus (im Sinne einer bloßen Annäherung an das ursprüngliche Triebziel) als befriedigend erlebt werden. Sexualtriebe würden so regelmäßig in ›soziale Triebe‹ transformiert. Gefühle der Freundschaft beispielsweise könnten so aus eigentlich sexueller Zuneigung hervorgehen.4 Dazu aber sei eben nicht zwangsläufig eine von außen gesetzte Beschränkung vonnöten: Die Libido selbst habe die Tendenz, sobald sich eine vormals aufgebaute, enorme Spannung schleichend löse, vom Objekt des Triebzieles (selbst nach nur annähernder Verwirklichung des Triebwunsches) abzulassen, und zum Individuum zurück zu fließen, um dort ein Gefühl des Glücks als Lohn für die bereits geleistete Anstrengung zu erwirken; im Anschluss daran wende sie sich nicht notwendig zur vollkommenen Befriedigung wieder dem gleichen Objekt zu, sondern reagiere auf neue Reize mit neuer Tätigkeit an anderen Objekten.5 Marcuse attestiert damit »der Libido ein selbst inhärentes Streben nach ›kulturellem‹ Ausdruck ohne äußere repressive Modifikation [Hervorhebung durch Marcuse]«6 . Statt der libidinösen Verwirklichung von Triebzielen sei das Resultat dann die »Erotisierung des Gesamtorganismus«7 – und somit auch der Bezugs- und Beziehungswelt, in der dieser sich bewegt. »Soziale Beziehungen [eig. Hervorhebung]« in ihrer Gänze, so Marcuse mit Verweis auf Freud, würden folglich »sowohl auf unsublimierten als auf sublimierten libidinösen Bindungen beruhen«.8 Freuds psychoanalytische Theorie berge daher »die Idee einer Kultur, die aus freien libidinösen Beziehungen erwächst und von ihnen getragen wird. [Eig. Hervorhebung]«9 Diesen Weg der Selbstsublimierung könne die Libido aber nicht unter den Bedingungen einer repressiven Kultur einschlagen (denn eine solche Lösung des Dilemmas der Triebunterdrückung wäre rein individuell und damit neurotisch gefärbt); den Weg der Selbstsublimierung könne die Libido nur in einer freien Kultur (und zwar als »soziales 3 4 5 6 7 8 9

Ebd., S. 192. Vgl. ebd., S. 200. Vgl. ebd., S. 201. Ebd. Ebd. Ebd., S. 200. Ebd., S. 200f.

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Das Maßlose der Spätmoderne

Phänomen [Hervorhebung durch Marcuse]«10 ) gehen: »als ununterdrückte Kraft kann sie die Kulturbildung nur unter Bedingungen fördern, die zusammengehörige Individuen in der Kultivierung der Umwelt aneinander bindet, um wachsenden Bedürfnissen und Fähigkeiten gerecht zu werden.«11 Kurz: Die Libido (als sexuelle Triebkomponente) würde aufgehen im Eros (dem umfassenderen Lebens- und Liebestrieb). Schon Diotima, so Marcuse, spricht in Platons Symposium davon, dass »[…] Eros die Begierde eines schönen Körpers nach einem anderen und schließlich nach allen schönen Körpern antreibt; denn die Schönheit des einen Körpers ist der Schönheit eines anderen verwandt, und es wäre töricht, nicht zu erkennen, daß die Schönheit in jedem Körper ein und dieselbe ist. Aus dieser wahrhaft polymorphen Sexualität erwächst die Begierde nach dem, was den begehrten Körper beseelt: nach der Seele und ihren verschiedenen Manifestationen. Eine ungebrochene Linie erotischer Erfüllung führt von der körperlichen Liebe für den Einen zu der für die Anderen, zu der Liebe zum schönen Werk und Spiel […] und schließlich zur Liebe zu schönem Wissen […].«12 Durch ihr Aufgehen im Eros offenbart die Libido ein kulturschöpfendes Vermögen, das aus der Selbstsublimierung erwächst: »die Sexualität wird weder abgelenkt, noch in ihren Zielen gehemmt; vielmehr transzendiert sie, indem sie ihr Ziel erreicht, auf der Suche nach vollerer Befriedigung zu weiteren Zielen«13 . Und Marcuse fährt fort: »Im Lichte der Idee einer nicht-repressiven Sublimierung gewinnt Freuds Definition des Eros als Streben ›lebende Substanz in immer größere Einheiten zu binden, so daß das Leben verlängert und zu höherer Entwicklung gebracht wird‹, erhöhte Bedeutung. Der biologische Trieb wird zum kulturellen Antrieb [eig. Hervorhebung].«14 Der Eros ist so ganz offensichtlich auch für Marcuse ein psychischer Trieb, dem eine soziale Dynamik entspricht. Diese soziale Dynamik des Eros verbindet die Vielen zu einer Vielzahl von Gruppen innerhalb größerer Entitäten. Und in seinem Drängen auf Verwirklichung des Lustprinzips wird der Eros zum einzigen Garant der Sinnlichkeit und Sensivität der Einzelperson, genauso wie er innerhalb der von ihm begründeten sozialen Einheiten und Zusammenschlüsse die Aufrechterhaltung des Lustprinzips befördert. »Libidinöse Moral tritt an die Stelle einer asketischen Leistungs- bzw. Arbeitsmoral«15 , schreibt Hans-Joachim Busch im Hinblick auf Marcuses Ausführungen. Und dementsprechend bezeichnen für Marcuse die »Abschaffung der Mühsal, Verbesserung der Umgebung, Überwindung von Krankheit und Verfall, Beschaffung von Luxus«16 nur einige der augenscheinlichsten moralischen Bemühungen im sozioökonomischen und soziopolitischen Bereich, die sich aus den Forderungen des Lustprinzips und dem Wesen des

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Ebd., S. 202. Ebd., S. 202f. Herbert Marcuse, Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, a.a.O., S. 204. Ebd. Ebd. Hans-Joachim Busch, Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Konzeptuelle Schwierigkeiten und Möglichkeiten psychoanalytisch-sozialpsychologischer Zeitdiagnose, a.a.O., S. 282. Herbert Marcuse, Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, a.a.O., S. 204.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

Eros ergeben. In diesem Wirken des Eros im sozialen Raum aber erkennt Marcuse ein »System dauerhafter und sich ausweitender libidinöser Beziehungen […], die in sich selbst Werkbeziehungen sind. [Eig. Hervorhebung]«17 Marcuses sozialphilosophische Reflexionen zur freudschen Psychoanalyse erweisen sich so als in Teilen auch intersubjektiv gelagert. Und da Marcuse nicht allein von zwischenmenschlichen, sondern auch von ›Werkbeziehungen‹ spricht, wird sein Bemühen um so deutlicher, dieses intersubjektive, relationale Netz, das dem Eros entspringt, nicht nur im Sozialen zu erblicken, sondern eben auch in der Arbeit und damit der Ökonomie. Freud selbst habe in das Unbehagen in der Kultur darauf hingewiesen, so Marcuse, dass die Arbeit eine Möglichkeit biete, libidinöse, narzisstische, aggressive und auch erotische Triebqualitäten zu entladen.18 Dabei betont Marcuse, wie essenziell es sei, zwischen entfremdeter und nicht-entfremdeter Arbeit zu unterscheiden; also: zwischen Arbeit, die menschliche Möglichkeiten unterdrückt, und solcher, die Menschen Möglichkeiten eröffnet.19 Letztere fasst er unter dem Begriff des ›Werks‹ zusammen. Denn das Werk entspringt der freien und freiwilligen Tätigkeit eines oder mehrerer (wenngleich es nicht zwangsläufig ohne äußere Notwendigkeit geschaffen werden muss). »Das Problem des Werkes, der sozial nützlichen Betätigung ohne (repressive) Sublimierung kann nun neu formuliert werden. Es erscheint jetzt als das Problem eines Wandels im Charakter der Arbeit, kraft dessen die letztere dem Spiel ähnlich werden könnte – dem freien Spiel menschlicher Fähigkeiten.«20 Das Spiel aber ereignet sich immer innerhalb des Lustprinzips; es hat keinen anderen Zweck als den, der unmittelbaren Triebbefriedigung. Arbeit dahingegen dient dem Zweck der Selbstoder Fremderhaltung, sie bewegt sich innerhalb des Realitätsprinzips.21 Jenseits der Ananke aber, also jenseits der drängendsten ›Lebensnot‹, d.h. in einer von Ausbeutung und Herrschaft freien Kultur, in welcher gleichzeitig die materiellen wie immateriellen Bedürfnisse aller weitgehend befriedigt würden, verlöre Arbeit ihren mittelbaren Zweck und näherte sich dem unmittelbaren, schöpferischen Spiel an – sie würde zum Werk: »Die veränderten sozialen Bedingungen würden […] eine Triebgrundlage für die Umwandlung der Arbeit in Spiel liefern. Um mit Freud zu sprechen; je weniger die Anstrengungen, Befriedigungen zu erlangen, von den Interessen der Herrschaft behindert und gelenkt werden, desto freier könnte sich Libido an die Befriedigung der großen vitalen Bedürfnisse anlehnen. Sublimierung und Befriedigung hängen zusammen. Die Auflösung der ersteren würde mit der Wandlung der Triebstruktur auch die grundlegende Haltung gegenüber Mensch und Natur, wie sie die westliche Kultur charakterisiert hat, verwandeln können.«22

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Ebd., S. 205. Vgl. ebd., S. 205. Ebd., S. 205. Ebd. Vgl. ebd., S. 207. Ebd., S. 208.

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Das Maßlose der Spätmoderne

Eine nicht-repressive Kultur würde daher in Bezug auf die natürliche Umwelt zu einem gänzlich anderen »Welterlebnis«23 führen. Und um dies zu veranschaulichen, verwendet Marcuse ein einprägsames Bild: »die Natur wird nicht als Objekt der Herrschaft und Ausbeutung, sondern als ›Garten‹ erfahren, der wachsen kann, während er menschliche Wesen wachsen lässt.«24 Unübersehbar sind die assoziativen Querverbindungen, die sich auftun von dieser Metapher der Natur als ›Garten‹: einerseits zum ›Garten Eden‹, dem imaginierten Paradies also, und damit zu einem transzendent Virtuellen; andererseits aber auch zur hier verwendeten Metaphorik der ›Oasen‹ des maßlos Gemeinsamen in der konkreten Immanenz der sozialen Umwelt. Ein maßlos Gemeinsames des Menschen mit der Natur ist es, was Marcuse eigentlich umschreibt. Eine solche »Welterfahrung negiert die Erfahrungsform, die die Welt des Leistungsprinzips aufrecht erhält. Der Gegensatz zwischen Mensch und Natur, Subjekt und Objekt, ist überwunden«25 . Geradezu wie eine Reaktivierung des ›ozeanischen Gefühls‹ der Ontogenese mutet eine solche Beziehung zur Welt an, einzig dass sie nun ›auf der Höhe der Kultur‹, in der Phylogenese, sich zutragen würde. »Das Sein wird als Befriedigung erfahren, die Mensch und Natur eint, so daß die Erfüllung des Menschen gleichzeitig die Erfüllung der Natur ist.«26,27 Die Sphäre der Natur ist der Sphäre des Menschlichen völlig verwandt, denn der Mensch ist ein Teil von ihr; und damit ist auch der Thanatos, wie er sich auf allen Ebenen des Menschseins zeigt, auf allen Ebenen der Natur auszumachen. Auch die »Welt der Natur ist eine Welt der Bedrückung, der Grausamkeit und der Schmerzen, wie es die menschliche ist: und wie diese wartet sie auf Befreiung. Diese Befreiung ist das Werk des Eros.«28 Statt mit der Natur nach Belieben zu verfahren, würde der Mensch in der nicht-repressiven Kultur die Natur bewahren. Sein Selbstverständnis wäre mehr das eines Gärtners, statt das eines Räubers; die Hege und Pflege der Natur entspräche dem Eros, ihre Ausbeutung und Beherrschung ist ein Abkömmling des Thanatos. Ihr Überfluss würde abgeschöpft, und nicht ihre Ressourcen geplündert. »Der Eros«, so Marcuse, »strebt danach sich in einer währenden Ordnung zu verewigen«.29 In einer nicht-repressiven Kultur würde die Sexualität so im Sinne einer Selbstsublimierung und Transformation in den Eros »dauerhafte und erweiterte Beziehungen (einschließlich von Arbeitsbeziehungen)«30 etablieren, welche Bedürfnisbefriedigung in einem immer größeren Umfang zum Ziel hätten. Die Ausweitung der Trieb-

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Ebd. Ebd., S. 208f. Ebd., S. 162. Ebd. Hans-Joachim Busch erläutert den Theorie-Kontext, in welchem auch diese von Marcuse dargestellte Beziehung des Menschen zur Natur gedacht werden müsste: »Subjektivität ist eingespannt in ein sowohl inneres als auch äußeres Naturverhältnis. Beide im Zusammenhang zu sehen, ist gewissermaßen ein ›Credo‹ Kritischer Theorie. Das heißt, Aussöhnung mit äußerer ist unausweichlich verknüpft mit Aussöhnung mit innerer Natur.« In: ders., Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Konzeptuelle Schwierigkeiten und Möglichkeiten psychoanalytisch-sozialpsychologischer Zeitdiagnose, a.a.O., S. 62. Herbert Marcuse, Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, a.a.O., S. 162f. Ebd., S. 214. Ebd.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

tätigkeit, die Erotisierung des Menschen und seiner Kultur, würden »neue Formen der Realisierung und Weltentdeckung hervorbringen, die ihrerseits das Bereich der Notwendigkeit, den Existenzkampf, umformen werden«31 . Das Lustprinzip, als Reich der Freiheit, dringt damit vor in die Domäne des Realitätsprinzips, den Bereich der Notwendigkeit. Jenseits der Herrschaft, die dem Realitätsprinzip entspringt, träte so eine »qualitative Wandlung«32 ein im Bereich der Notwendigkeit, im Bereich des Kampfes ums Dasein: Der »Zwang, mechanisch zu arbeiten, lustlos, in einer Art, die keine individuelle Selbstverwirklichung darstellt«33 ginge zurück, zugunsten einer Organisation der Arbeit als Werk, das dem Einzelnen wie den Vielen Tätigkeiten ermöglicht, die Freude bereiten und erfüllend sind. Doch nicht nur in der gesamtgesellschaftlichen Organisation würde so das Lustprinzip sich zunehmend ausbreiten: »Das Lustprinzip greift auf das Bewusstsein über; der Eros definiert die Vernunft in seinem eigenen Sinne. Vernünftig ist nun, was die Ordnung der Befriedigung unterstützt.«34 Marcuse fährt fort: »In dem Maße, in dem der Kampf ums Dasein der freien Entwicklung und Erfüllung individueller Bedürfnisse zu dienen beginnt, weicht die repressive Vernunft einer neuen Vernünftigkeit der Befriedigung, in der Vernunft und Glück zusammentreffen. Sie schafft ihre eigene Arbeitsteilung, ihre Hierarchie und ihre eigenen Prioritäten. [Hervorhebungen durch Marcuse]«35 Der Thanatos aber müsste in solch einer vom Eros durchtränkten, freien Kultur notwendig eine andere Gestalt und Rolle annehmen. Wo er vorher, im Einklang mit der Herrschaft, die Versagung der Bedürfnisse diktierte, würde er, nach deren Wegfall, nur noch wahrgenommen als das Ende allen Strebens nach Befriedigung: als Stillstand, der Dynamik aufhebt, als das Nichts, das der Fülle entgegensteht. »Der Tod ist die endgültige Negativität«36 , heißt es bei Marcuse; und weiter: »Die bloße Voraussicht des unvermeidlichen Endes, die in jedem Augenblick gegenwärtig ist, muß in alle libidinösen Beziehungen ein repressives Element bringen und selbst die Lust leidvoll machen. Diese von allem Anfang an bestehende Versagung in der Triebstruktur des Menschen wird zur unerschöpflichen Quelle aller anderen Versagungen – und ihrer sozialen Wirksamkeit. Der Mensch lernt, ›daß es ja doch nicht dauern kann‹, daß alle Lust kurz ist, daß für alle endlichen Dinge die Stunde ihrer Geburt schon die Stunde ihres Todes ist – daß es gar nicht anders sein kann.«37 Und dennoch, der Todestrieb selbst, der nach Wegfall der Herrschaft überwiegend nur noch als das Ende aller lebendiger Strebungen begegnet und als solches im Bewusstsein verankert ist, nähert sich so der eigentlich immer schon gültigen, tiefsten Gesetzmäßigkeit von Trieb und Befriedigung an: dem Nirwanaprinzip, dem Verschwinden jeglicher Spannung.38 Ein solcher spannungsloser Zustand, ohne Verlangen, ohne Mangel aber

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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 214f. Ebd., S. 215. Ebd., S. 222. Ebd., S. 222f. Ebd., S. 226.

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Das Maßlose der Spätmoderne

ist, laut Freud, das Ziel beider Triebe, des Eros, wie des Thanatos. Eros wie Thanatos zielen beide auf das Ende des Leides, das aus dem Mangel rührt: aus dem Mangel an Fülle, aus dem Mangel an Freude, aus dem Mangel an Möglichkeiten, aus dem Mangel an Gesundheit, aus dem Mangel an Glück. Eros und Thanatos berühren sich daher und verschränken sich dort, wo Lust und Leid sich trifft; und beide münden, ihrer Tendenz nach, in der Aufhebung des Leides: »Ist das Ziel des Todestriebes nicht die Beendigung des Lebens, sondern das Ende des Leides – das Fehlen von Spannung – dann ist, paradoxerweise, im Sinne des Triebs der Konflikt zwischen Leben und Tod um so geringer, je mehr sich das Leben dem Zustand der Befriedigung nähert. Gleichzeitig würde Eros, befreit von der zusätzlichen Unterdrückung, erstarken, und als solcher die Ziele des Todestriebes absorbieren. Der Triebwert des Todes wäre ein anderer geworden: können die Triebe ihre Erfüllung in einer unterdrückungsfreien Ordnung verfolgen und erreichen, so verliert der Wiederholungszwang viel von seiner biologischen Begründung. Wenn Leid und Mangel abnehmen, könnte sich das Nirwanaprinzip mit dem Realitätsprinzip versöhnen. Wäre der erreichte Lebenszustand erfreulich und wünschenswert, so würde das der unbewußten Anziehung, die die Triebe auf einen ›früheren Zustand‹ zurückzieht, erfolgreich entgegenwirken. Die ›konservative Natur‹ der Triebe käme in einer erfüllten Gegenwart zur Ruhe. Der Tod hörte auf, ein Triebziel zu sein. Er bleibt eine Tatsache, vielleicht sogar eine letzte Notwendigkeit – aber eine Notwendigkeit, gegen die die unterdrückte Energie der Menschheit protestieren wird, gegen die sie den entschiedensten Kampf aufnehmen wird.«39 In einer freien Kultur der Fülle würde der Tod als bloßes, biologisches Faktum des Nichts (entkleidet seiner vormaligen Funktion in der repressiven Kultur als auch soziales Strukturprinzip) alle Gegenkräfte des Wissens, des Schaffens, des Handelns auf sich ziehen – das meint Marcuse, wenn er in dieser Hinsicht vom ›entschiedensten Kampf‹ der Menschheit spricht.40 In diesem Kampf könnten Vernunft und Eros zusammenwirken.41 »Unter wirklich menschlichen Daseinsbedingungen könnte der Unterschied zwischen einem Tod durch Krankheit mit zehn, dreißig, fünfzig, oder siebzig Jahren oder einem ›natürlichen‹ Ende nach einem erfüllten Leben wirklich ein Unterschied sein, der einen Kampf mit aller Triebenergie lohnte.«42 Und weiter: »Nicht die, die sterben, stellen die große Anklage gegen die Kultur dar, aber die, die sterben, ehe sie müssen und wollen, die, die in Todesqual und Schmerzen sterben.«43 In einer befreiten, vom Eros geprägten und damit ein- und mitfühlenden Kultur, wäre die schiere Wahrscheinlichkeit eines solchen Endes eine unerträgliche, der es mit allen Mächten der Wissenschaft und der Menschlichkeit, allerorten und immerwährend, entgegenzutreten hieße. 39 40

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Ebd., S. 226f. Im besten Fall geben die weltweiten Anstrengungen zur Bekämpfung der global um sich greifenden Pandemie bereits ein Beispiel dafür, wie die kollektiven Bemühungen der Menschheit, dem Tod, als bloßem Faktum, unter Aufbietung aller Kräfte gemeinsam entgegenzutreten, auch in einer nicht allzu fernen Zukunft aussehen könnten. Vgl. Herbert Marcuse, Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, a.a.O., S. 227. Ebd., S. 227. Ebd.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte   Vorzeichen einer ›nicht-repressiven‹ Praxis in der Spätmoderne: Eine neue Qualität im Verhältnis von gesellschaftlicher Differenzierung und Entdifferenzierung, oder: Das Maßlose als Maßstab ■ Marcuse hat betont, dass das Streben der Libido selbst, und insbesondere vermittels seiner Transformation in den Eros, kein ordnungsloses ist, sondern aus sich heraus eine ihm gemäße Ordnung zu etablieren in der Lage ist.44 Dieses Streben bedarf nicht der repressiven Grenzsetzung von außen, sondern vermag es, eine ihm eigene Gesetzmäßigkeit der Formbildung von zwischenmenschlichen Beziehungen wie gesamtgesellschaftlichen Strukturen zu erwirken. Die ihm innewohnende grenzenlose Dynamik, die dem entdifferenzierenden Charakter des Lustprinzips entspricht, erzeugt in ihrem Drang, alles zu verbinden, die biomorphe relationale Formation – und erschafft so unablässig das maßlos Gemeinsame (das dann auch in andere, nicht vom Eros durchdrungene Bereiche überzufließen beginnt, wenn ihm nicht gewaltsam seitens der Natur [Stichwort: Ananke] oder der Kultur [Stichwort: Repression] Schranken gesetzt werden). Dabei setzt dieses Maßlose paradoxerweise eigene Maßstäbe: Gut ist, was Leben und Liebe fördert, gut ist was Befriedigung und Freude verschafft, gut ist der Überfluss für alle. Busch hatte, wie an anderer Stelle bereits erwähnt, den Begriff der »libidinösen Moral«45 aufgegriffen, um diese Eigenart des Wirkens der Libido über den Eros zu benennen. An dessen Ende steht eine Gesamtpersönlichkeit wie auch eine Gesamtgesellschaft, die vom Eros, und damit dem Lebens- und Liebestrieb, durchdrungen ist. In diesem Sinne spricht Busch in Anlehnung an Giddens auch von ›Lebenspolitik‹46 , um die Ordnungslogik einer derartigen Gesellschaft – wie sie sich (trotz aller auch vorhandener, reaktionärer Gegenentwürfe) in der Spätmoderne ansatzweise abzuzeichnen beginnt – zu charakterisieren. Giddens nimmt diesbezüglich, wie Busch hervorkehrt, ein »System nach der Knappheit«47 in den Blick – und liegt mit dieser Formulierung und Hypothese nicht allzu weit entfernt von Marcuses (oftmals als ›utopistisch‹ kritisierter) theoretischer Position. Konkret zeichneten sich die spätmodernen lebenspolitischen Ordnungsentwürfe, die in Richtung eines solchen »Nachknappheitssystem[s]« weisen, aus durch: »vielschichtige demokratische Beteiligung«, »koordinierte Globalisierung«, »Entmilitarisierung«, »dauerhafter Frieden«, »Humanisierung der Technik« und, letzten Endes, ein »System planetarischer

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Siehe dazu: Herbert Marcuse, Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, a.a.O., S. 204. Hans-Joachim Busch, Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Konzeptuelle Schwierigkeiten und Möglichkeiten psychoanalytisch-sozialpsychologischer Zeitdiagnose, a.a.O., S. 282. »To give a formal definition: life politics concerns political issues which flow from processes of selfactualisation in post-traditional contexts, where globalising influences intrude deeply into the reflexive project of the self, and conversely where processes of self-realisation influence global strategies. [Eig. Hervorhebung]« Anthony Giddens, Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Stanford 1991, S. 214, zitiert nach Hans-Joachim Busch; in: ders., Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Konzeptuelle Schwierigkeiten und Möglichkeiten sozialpsychologischer Zeitdiagnose, a.a.O., S. 267. Anthony Giddens, Kritische Theorie der Spätmoderne, Wien 1992, S. 52, zitiert nach Hans-Joachim Busch; in: ebd., S. 268.

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Das Maßlose der Spätmoderne

Obhut«.48 Diese Faktoren würden soziopolitisch an die Stelle der Ordnungsstrukturen der klassisch modernen Gesellschaften treten, als da wären: »Nationalstaatliche Überwachung«, »totalitaristische Entwicklungen«, »Militarismus/atomarer oder konventioneller Krieg«, »Industrialismus/Verfall oder Katastrophen im ökologischen Bereich«, »Kapitalismus/Zusammenbruch wirtschaftlicher Wachstumsmechanismen«.49 Biopolitische bzw. thanatopolitische Strukturphänomene des maßlos Gemeinsamen und des bemessen Einsamen scheinen in den genannten spätmodernen wie modernen Ordnungslogiken nur allzu deutlich auf. Es bleibt alsdann nur die Frage, inwieweit die angedeuteten Verschiebungstendenzen hin zum maßlos Gemeinsamen – und damit: einer biopolitischen Ordnung – in der Spätmoderne bloßen politischen Zielsetzungen für die Gegenwart oder eine nahe Zukunft entstammen, oder ob sie sich nicht vielleicht schon real, und unter Umständen auch mehr unbewusst als bewusst, bereits vollziehen; ferner: worin dann die Gründe und Ursachen für diesen ordnungspolitischen Paradigmenwechsel zu suchen wären, und, zuletzt: welch sozial emanzipatorisches Potenzial mit diesem Wandel verbunden wäre oder in ihm zum Ausdruck gelangte. Vertritt man die These, dass die Spätmoderne von fluiden Entdifferenzierungsphänomenen epochalen Ausmaßes durchzogen ist, die die rigiden Differenzierungslogiken der Moderne unterminieren,50 versteht man des Weiteren diese sich abzeichnenden spätmodernen Veränderungen (die die modernen Dichotomien von z.B. öffentlich und privat, Arbeit und Freizeit, global und lokal etc. schrittweise aufheben und so eine Angleichung der scheinbaren Gegensätze forcieren) als Struktureffekte eines Wandels, der sich in der Produktion selbst zugetragen hat (nämlich weil diese sich mehr und mehr von einer Kommando- zu einer Kooperationswirtschaft transformiert, und weil die vormaligen Orte der Produktion innerhalb einer modernen Gesellschaft nun translokale werden in dem Sinne, dass die ganze Gesellschaft als solches produktiv zu werden beginnt, mithin also die Mächte der Sprache und des Wissens zu dominierenden Produktivkräften werden)51 – so kommt man nicht umhin, diese Transformation von der Moderne zur Spätmoderne auf theoretischer Ebene zu begreifen als Tendenz zur: a) Verschmelzung von Basis und Überbau (bewegt man sich im marxschen Denkgebäude); oder b) Kolonialisierung des Systems durch die Lebenswelt (entsprechend der habermasschen Logik); oder c) Versöhnung von Realitätsprinzip (dem Bereich der Notwendigkeit zugeordnet) und Lustprinzip (das Reich der Freiheit verkörpernd), wie sich mit Marcuse formulieren ließe.52 Die Umkehrung der Differenzierungslogik der Mo48

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Siehe dazu die von Hans-Joachim Busch gegebene schematische Darstellung (2), in: ebd., S. 269. (Hans-Joachim Busch weist daraufhin, sich dabei auf Anthony Giddensʼ Schaubild 5 ›Konturen einer postmodernen Ordnung‹ zu stützen; in: ders., Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a.M. 1995, S. 202.) Siehe dazu die ebenfalls von Giddens bezog. schematische Darstellung (1), in: ebd., S. 268. Rainer Forst und Klaus Günther sprechen bspw. ebenfalls von zu beobachtenden »dramatischen Entdifferenzierungsprozessen«, die mit den Ausdifferenzierungslogiken etwa der Systemtheorie bereits nicht mehr adäquat gefasst werden könnten, in: dies., »Die Herausbildung normativer Ordnungen. Zur Idee eines interdisziplinären Forschungsprogramms«; in: dies. (Hg.), Die Herausbildung normativer Ordnungen. Interdisziplinäre Perspektiven, Frankfurt a.M./New York 2011, S. 15. Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, a.a.O., S. 300-309. Auch Axel Honneth und Ferdinand Sutterlüty verweisen darauf, dass sich in den »neuen Transformationen der kapitalistischen Gesellschaften […] die Grenzen zwischen Kultur und Ökonomie,

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

derne zur Entdifferenzierungslogik der Spätmoderne bringt aber eben keinen Rückfall hinter die einmal erreichte Stufe des kulturellen Fortschritts mit sich, sondern scheint vielmehr, ganz im Einklang mit Marcuses Hypothese, sich nunmehr auf der ›Höhe der Kultur‹ zu vollziehen. Sie läutet keine Umkehr des ökonomischen wie kulturellen Fortschritts ein, sie ist kein Verfallsphänomen, sondern, im Gegenteil, Bedingung für den Fortschritt im Informations- und Netzwerkkapitalismus: Sie setzt die Kräfte verbindender Kommunikation und Interaktion frei und lässt sie produktiv werden. Sie ist damit Ausdruck einer paradoxen und ambivalenten Versöhnung von Lust- und Realitätsprinzip in einer, wenn nicht repressionslosen, so doch bereits weniger repressiven Kultur.53 Selbstverständlich sind es dann die normativen Regelungen des spezifischen Realitätsprinzips der Moderne (welches Marcuse als ›Leistungsprinzip‹ titulierte), die nun mehr und mehr diese spätmodernen Paradoxien und Ambivalenzen aufzuweisen beginnen. Sie büßen an Rigidität ein, und integrieren Merkmale von Fluidität: Die Maßstäbe wandeln sich, indem sie Elemente des Maßlosen adaptieren.54,55 Eine Ausgabe von WestEnd.

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zwischen Lebenswelt und System, kaum mehr eindeutig bestimmen [lassen].« In: dies., »Normative Paradoxien der Gegenwart – eine Forschungsperspektive«; in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 8. Jg., 1/2011, S. 67. Axel Honneth und Ferdinand Sutterlüty spüren diesbzgl. bspw. der Frage nach, inwieweit »es häufig ein und dieselben Normen sind, mit denen heute sowohl emanzipatorische wie autoritätsund kontrollsteigernde Vorgänge gerechtfertigt werden können«. (In: dies., »Normative Paradoxien der Gegenwart – eine Forschungsperspektive«, a.a.O., S. 68f.) Sie gehen dabei von einer in der Spätmoderne zu beobachtenden ›paradoxalen Verkehrung institutionalisierter Normen‹ aus und stützen diese These u.a. auch auf die Ausführungen Luc Boltanskis und Ève Chiapellos (siehe dazu: Luc Boltanski/Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003): »In der Welt des netzwerkbasierten Kapitalismus hängt der berufliche Erfolg ihrer Protagonisten, die sich von einem Projekt in das nächste hinüberbewegen, in erster Linie von ihrer Fähigkeit ab, eine Vielzahl unterschiedlicher Kontakte zu unterhalten und sich stets sozialräumlich wie auch mental als hochmobil zu erweisen. Diese Entwicklung hat, wie Boltanski und Chiapello zeigen, vielfältige und zum Teil widersprüchliche Folgen. Gleichwohl verschweigen sie nicht, dass der Netzwerkkapitalismus eine zumindest partielle Emanzipation der Subjekte von der Fremdbestimmung im Erwerbsleben vorangetrieben hat und damit der sogenannten, besonders in den 70er Jahren laut gewordenen ›Künstlerkritik‹ nachgekommen ist, deren Forderungen sich am Maßstab der authentischen Selbstverwirklichung und der autonomen Lebensführung orientierten. In dem Maße, in dem die flexible Identität des versierten Netzwerkakteurs ein spätes Produkt dieser Aspirationen darstellt, lässt sie sich normativ als Gewinn verbuchen. [Eig. Hervorhebungen]« In: Axel Honneth/Ferdinand Sutterlüty, »Normative Paradoxien der Gegenwart – eine Forschungsperspektive«, a.a.O., S. 75. Andreas Reckwitz thematisiert das Verhältnis von Maß und Maßlosem unter dem Gesichtspunkt einer moralischen (und damit eigentlich normativen) Dimension in: ders., Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, unv. Nachdruck d. Erstausgabe 2006, Weilerswist 2012, Kap. »Die Arbeit an der Moral und die Distinktion gegen das Maßlose«, S. 124-128, sowie »Die Wiederkehr des Maßlosen«, S. 128-136. Dabei bringt er die paradoxe Vermengung beider zum Ausdruck: »Wenn die bürgerliche Berufskultur damit eine strikte moralische Distinktion betreibt, die zugleich eine Differenzmarkierung vom Exzessiven und fluiden Unberechenbaren [eig. Hervorhebung] bedeutet, dann basiert [Hervorhebung durch Reckwitz] sie zugleich auf Elementen einer solchen ordnungssprengenden Grenzüberschreitung, die jedes moralische Maß zu transzendieren droht. [Eig. Hervorhebung]« In: ebd., S. 128. Die bloße Feststellung eines Maßlosen als Maßstabs allerdings soll keineswegs dazu führen, dass »einer normativ vollkommen unstrukturierten Gesellschaft das Wort geredet« wird – eine gefährli-

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Das Maßlose der Spätmoderne

Neue Zeitschrift für Sozialforschung befasst sich dezidiert mit dieser Problematik, und zwar unter dem Themenkomplex ›Normative Paradoxien der Gegenwart‹.56 Axel Honneth und Ferdinand Sutterlüty verweisen dort in einem Beitrag auf Honneths Schrift Organisierte Selbstverwirklichung57 . Honneth führe darin »[…] zunächst einmal vor, wie sich in den westlichen Ländern der 1960er und 1970er Jahre im Gefolge von sozialen Bewegungen und mit neuen Lebensformen experimentierende Gruppen ein sozialkultureller Wandel vollzogen hat, der vielfältig erhobenen Ansprüchen auf individuelle Selbstverwirklichung und autonome Identitätsfindung entgegenkam. Während diese Ansprüche sich stetig auf weitere Bevölkerungsgruppen ausdehnten und die Auflösung traditioneller Rollenmuster konventionalistischer Moralvorstellungen voranschritt, öffneten sich neue Freiräume für die individuelle Selbstfindung und Lebensgestaltung. Solche Autonomiegewinne schlagen aber, so Honneths These, in dem Augenblick in ihr Gegenteil um, in dem Ansprüche auf Selbstverwirklichung von außen an die Subjekte herangetragen werden. Just eine solche Entwicklung lasse sich in der jüngeren Vergangenheit beobachten: Der Anspruch auf individuelle Selbstverwirklichung sei vielfach zu einem ›institutionalisierten Erwartungsmuster‹58 geworden, das die Autonomie der Subjekte gefährde. Diese sehen sich nun, wie Honneth darlegt, in verschiedenen gesellschaftlichen Sphären dazu aufgefordert, sich als flexibel und veränderungsbereit zu präsentieren und ihre lebensgeschichtliche Originalität unter Beweis zu stellen. Was als Steigerung der individuellen Freiheit begann, wird unter der Ideologie der Deregulierung zu einer ›Produktivkraft der Wirtschaft‹59 .«60 Am Beispiel der normativen Forderung des Subjekts nach Autonomie und Selbstverwirklichung innerhalb des Arbeitsprozesses wird so deutlich, wie sich dieser emanzipatorische Anspruch in einen reaktionären zu verkehren droht, sobald er als normative Anforderung von außen dem Subjekt auferlegt wird; genau diese Anforderung aber markiert

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che »Tendenz zur Verflüssigung der moralischen Struktur des Sozialen«, die Axel Honneth nämlich in einer Studie Boltanskis und Thévenots auszumachen glaubt, in: ders., »Verflüssigungen des Sozialen. Zur Gesellschaftstheorie von Luc Boltanski und Laurent Thévenot«; in: ders. (Hg.), Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Berlin 2010, S. 157. Im Gegenteil: Was hier als Adaption des Maßlosen von den sich wandelnden normativen Maßstäben gewertet wird, wird sich im Folgenden bei näherer Betrachtung, ganz in Übereinstimmung mit Honneths These, als ›normative Paradoxie‹ bewerten lassen können. Siehe dazu: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 8. Jg., 1/2011. Axel Honneth, »Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung«; in: ders. (Hg.), Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt a.M./New York 2002, S. 141-158. Axel Honneth, »Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung«, a.a.O., S. 145 f, zitiert nach Axel Honneth/Ferdinand Sutterlüty, »Normative Paradoxien der Gegenwart – eine Forschungsperspektive«, a.a.O., 8. Jg., 1/2011, S. 77. Axel Honneth, »Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung«, a.a.O., S. 145 f, zitiert nach Axel Honneth/Ferdinand Sutterlüty, »Normative Paradoxien der Gegenwart – eine Forschungsperspektive«, a.a.O., S. 154. Axel Honneth/Ferdinand Sutterlüty, »Normative Paradoxien der Gegenwart – eine Forschungsperspektive«, a.a.O., 8. Jg., 1/2011, S. 77.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

die Paradoxien des spätmodernen Arbeitslebens in herausragender Weise.61 Stephan Voswinkel präzisiert in derselben Ausgabe von WestEnd jene Paradoxien noch einmal und spricht von »Paradoxien entgrenzter Arbeit«62,63 : »Damit ist gemeint, dass im Vergleich zur Referenzfolie des Fordismus die Grenzziehungen von Arbeit und Familie oder Arbeit und Person flüssig werden. Die familiären und außerbetrieblichen Anforderungen, Verpflichtungen und Lebenswünsche einer großen Zahl von Beschäftigten müssen heute mehr als früher in der profitorientierten Gestaltung von Personalpolitik berücksichtigt werden. Auf der anderen Seite werden die flexibilisierten Arbeitsverpflichtungen und Karriereanforderungen zu einem wesentlichen Bestandteil innerfamiliärer Aushandlungsprozesse, und die Möglichkeiten des Familienlebens und der Freizeitgestaltung werden zunehmend von den Anforderungen der Arbeitswelt bestimmt. Im veränderten Verhältnis von Arbeit und Person gewinnt der Arbeitsbegriff im Übrigen eine erweiterte Bedeutung. Handeln nimmt in immer mehr Bereichen die Form der Arbeit an. Arbeit und Familie, Arbeit und Freizeit abzustimmen wird zur Arbeit des Organisierens. Karriere und Aufträge basieren auf der Erarbeitung von Kontakten. [Eig. Hervorhebung]«64 Nicht nur also, dass Voswinkel so ein Charakteristikum spätmoderner Arbeitsrealität in einer maßlosen Entgrenzung derselben sieht, sondern er hebt auch hervor, dass diese Entgrenzung als ›flüssig‹ verstanden werden dürfe. Bemessen aber bleibt sie dennoch insofern, dass sie unter dem Regiment einer kapitalistischen Aneignung des von ihr geschaffenen Wertes sich vollzieht. ›Starre‹ normative Strukturen umschränken sie weiterhin, wenngleich entgrenzte Arbeit doch bereits das Signum der Bioproduktion trägt: bloßes ›Handeln‹ werde zur Arbeit; bloße Kontakte werden zur Grundlage von Karriere und Aufträgen, wie Voswinkel schreibt. Paradox, im Sinne eines Maßlosen, das zum Maßstab wird, ist dieses spätmoderne Arrangement von Arbeit, weil es abermals die ›Lebenswünsche‹ der Beschäftigten integriert, freilich aber unter der Prämisse, diese gewissermaßen den Subjekten zu entäußern und der Organisation von Arbeit als solcher anzueignen. Der Wunsch zu handeln etwa wird absorbiert von einem ökonomischen System, das aus diesen Handlungen Mehrwert schöpft; der Wunsch nach Sozialkontakten wird zur Bedingung beruflichen Vorwärtskommens umfunktioniert. Was Voswinkel mit dem Begriff der ›entgrenzten Arbeit‹ in der Spätmoderne belegt, sehen Hardt und Negri unter dem Gesichtspunkt der Arbeit »außerhalb« bzw. »jenseits des Maßes«.65 Bei dem Übergang zur Spätmoderne nämlich liege

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Siehe dazu auch: Sophie-Thérese Krempl, Paradoxien der Arbeit oder: Sinn und Zweck des Subjekts im Kapitalismus, Bielefeld 2011. Stephan Voswinkel, »Paradoxien entgrenzter Arbeit«; in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 8. Jg., 1/2011, Frankfurt a.M., S. 93-102. Nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Transformation von Arbeit, sondern auch unter dem des Gestaltwandels des Kapitalismus generell, werden Paradoxien und Ambivalenzen aus vielfältigen Perspektiven in den Blick genommen, in: Gabriele Wagner/Philipp Hessinger (Hg.), Ein neuer Geist des Kapitalismus? Paradoxien und Ambivalenzen in der Netzwerkökonomie, Wiesbaden 2008. Stephan Voswinkel, »Paradoxien entgrenzter Arbeit, a.a.O., S. 94. Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, a.a.O., S. 362 und S. 364.

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Das Maßlose der Spätmoderne

»[…] eine der primären Bedingungen von Arbeit darin, dass sie außerhalb des Maßes funktioniert. Das Zeitregiment und all die anderen ökonomischen und/oder politischen Maße, die der Arbeit auferlegt wurden, werden hinweggefegt. Heute ist Arbeit ganz unmittelbar eine gesellschaftliche Kraft, die von den Mächten des Wissens, des Affekts, der Wissenschaft und Sprache beseelt ist. Und in der Tat ist Arbeit die Produktionstätigkeit des ›General Intellect‹ und des allgemeinen Körpers außerhalb des Maßes. Arbeit erscheint schlicht und einfach als die Macht zu handeln, die zugleich singulär und universell ist: singulär, insofern Arbeit zur anschaulichen Domäne von Körper und Geist der Menge geworden ist; und universell, insofern das Begehren, das die Menge in ihrer Bewegung vom Virtuellen zum Möglichen zum Ausdruck bringt, beständig als gemeinsame Sache entsteht. [Hervorhebungen durch Hardt und Negri]«66 Wenn nun aber Hardt und Negri der Auffassung sind, Arbeit vollziehe sich zunehmend außerhalb bzw. jenseits des Maßes, so rekurrieren sie dabei nicht nur auf die bekannten und bereits geschilderten Phänomene entgrenzter Arbeit und der damit verbundenen Integration lebensweltlicher Impulse in den systemischen Arbeitsprozess selbst; sondern sie spielen vielmehr auch darauf an, dass die marxsche Werttheorie, in der sie primär eine »Theorie des Wertmaßes [eig. Hervorhebung]«67 erblicken, zunehmend auf Unschärfen stößt. Hardt und Negri benennen die Ursache dieser Unschärfen: »An einem bestimmten Punkt der kapitalistischen Entwicklung (den Marx erst für die Zukunft voraussah) wird die Arbeitskraft von den Mächten der Wissenschaft, Kommunikation und Sprache bestimmt.«68 Mit Anbruch der Spät- bzw. Postmoderne aber nähere sich dieser Punkt (der von Marcuse wohl mit der Formulierung ›auf der Höhe der Kultur‹ umrissen wurde)69 . Dabei, so Hardt und Negri, spiele der sog. ›General Intellect‹ eine entscheidende Rolle. Unter ›General Intellect‹ verstehen beide »eine kollektive, soziale Intelligenz, die durch Akkumulation von Wissen, Techniken und Know-How entsteht.«70,71 Anders ausgedrückt: Die allgemeine Kultur hat eine Höhe erreicht, in der nicht allein Wissens- und Technikexperten im Sinne einer differenzierten Arbeitsteilung die Richtung des Fortschritts in der Produktion weisen – sondern das vormals systemische ›Expertentum‹ ist seinerseits bereits tief in die stärker entdifferenzierte lebensweltliche Dimension des Alltags eingelassen: »Das Verhältnis zwischen Produktion und Leben hat sich somit dahingehend verändert, dass es sich im Verständnis der politischen Ökonomie vollständig umgekehrt hat. 66 67 68 69

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Ebd., S. 365f. Ebd., S. 362. Ebd., S. 372. Eine ausführliche Konfrontation und Zusammenschau der Theorien von Hardt und Negri mit denen Marcuses gibt Christian Fuchs, in: ders., Emanzipation! Technik und Politik bei Herbert Marcuse, Aachen 2005, S. 11-117. Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, a.a.O., S. 372. Nicholas Thoburn, zum gedanklichen Ursprung des Theorems vom ›general intellect‹ schon bei Marx, sowie dessen politischer Bedeutung: »Just as Marx proposed that the new content of productive activity (general intellect) would emerge outside work, and hence tends towards communism and the abolition of work, Negri similarily sees this increasingly autonomous plane of immaterial, communicative, and affective labour […] as a communist essence.« In: ders., »Autonomous production? On Negriʼs ›New Synthesis‹«; in: Theory, Culture & Society, 18, 5/2001, S. 86.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

Leben wird nicht mehr in Reproduktionszyklen produziert, die dem Arbeitstag untergeordnet sind; nun ist es im Gegenteil das Leben, das jegliche Produktion bestimmt. In der Tat liegt die Bestimmung des Werts von Arbeit und Produktion tief im Inneren des Lebens. Die Industrie produziert nur das an Mehrwert, was durch gesellschaftliche Tätigkeit erzeugt wird – und aus genau diesem Grund liegt der Wert, begraben unter einer Unmenge von Leben, jenseits allen Maßes. Es gäbe keinen Mehrwert, wäre die Produktion nicht allerorts von gesellschaftlicher Intelligenz, vom ›General Intellect‹ und zugleich von den affektiven Ausdrucksformen, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen, und die Artikulation des sozialen Wesens regeln, beseelt. Der Wertüberschuss liegt heute in den kreuz und quer von Wissen durchzogenen Körpern, in der geistigen Intelligenz sowie in der bloßen Macht zu handeln. [Eig. Hervorhebung]«72 Jene Macht aber lässt sich nicht mehr angemessen bewerten. Allein die aufgebrachte Arbeitszeit, die den Wert eines Produktes ja maßgeblich mitbestimmt, lässt sich kaum mehr definieren, wenn die allgemeine Kooperation, die dem lebensweltlichen Wissen, der Sprache und dem Handeln ja immer schon innewohnt, zur dominierenden Produktivkraft in der Sphäre des Systemischen zu werden beginnt. Diese Thesen zum tiefgreifenden Wandel der spätmodernen Arbeitswelt (der sich mit den Verschiebungen vom industriellen zum informationellen Kapitalismus abzuzeichnen beginnt), lassen sich empirisch belegen, und zwar anhand der Transformation des industriellen Produktionsmodells zu einem a) »Modell der Dienstleistungsökonomie«73 und b) »info-industriellen Modell«74 .75 Ungeachtet der Tatsache, dass beide Überschneidungen aufweisen, finde sich ersteres idealtypisch stärker ausgeprägt im angelsächsischen Raum, namentlich in den USA, Großbritannien und Kanada; zweiteres begegne v.a. in Japan und Deutschland. Die Dienstleistungsökonomie zeichne sich aus durch einen Verlust an Jobs im industriellen Sektor (durch Auslagerung der Fertigung in innerhalb der kapitalistischen Hierarchie benachteiligte Länder), welcher einhergehe mit einer Zunahme von Beschäftigungsverhältnissen in Service-Tätigkeiten; dabei nähmen Finanzdienstleistungen eine herausragende Rolle ein.76 Das info-industrielle Modell dahingegen weise einen geringeren und langsameren Niedergang industrieller Tätigkeit auf, da diese weniger ausgegliedert, sondern vielmehr innerhalb von Automatisierungsprozessen informatisiert werde. Auf die nun solchermaßen informatisierte Industrieproduktion ausgerichtete Dienstleistungen dominierten dann diese info-industriellen Ökonomien. »Beide Modelle«, so Hardt und Negri, »stehen für unterschiedliche Strategien, um den ökonomischen Übergangsprozess in den Griff zu bekommen und darin Vorteile zu erlangen, doch ist ihnen gemeinsam, dass sie entschlossen in Richtung der Informatisierung der Ökonomie gehen und das Gewicht produktiver Ströme und Netzwerke hervorheben.«77 72 73 74 75

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Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, a.a.O., S. 373. Ebd., S. 297. Ebd. Hardt und Negri beziehen sich hier auf die Analyse von Manuel Castells und Yuko Aoyama, in: dies., »Paths towards the Informational Society: Employment Structure in G-7 Countries«; in: International Labour Review, 133, 1/1994, S. 5-33. Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, a.a.O., S. 297. Ebd., S. 298f.

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Das Maßlose der Spätmoderne

›Immaterielle‹ Arbeitsprozesse nähmen innerhalb dieser kommunikativen und interaktiven Netzwerkstrukturen einen immer höheren Stellenwert ein. Darunter zu rechnen seien neben Tätigkeiten, die sich in der routinierten Handhabung informatisierter Systeme erschöpften, auch die höher dotierten, symbolisch-analytischen Dienstleistungen, welche strategische Problemlösungen offerierten.78 Zudem seien bestimmte Tätigkeitssegmente immer stärker von der Wertschöpfung aus bloßen anthropologischen Grundkonstanten geprägt, wie z.B. eben dem scheinbar zweckfreien zwischenmenschlichen Austausch, der aber in seiner instrumentellen Verwertung gezielt immaterielle Produkte wie »ein Gefühl des Behagens, Wohlergehen, Befriedigung Erregung und Leidenschaft«79 erschaffe (vgl. etwa virtuelle oder konkrete Arbeiten am mentalen oder physischen Befinden, oder aber bestimmte kulturindustrielle Tätigkeiten).80 Dabei begegnen immer wieder zwei Arten immaterieller Arbeit, die auch miteinander verschränkt sein können: Die eine ließe sich als auf menschlichen Affekten basierende immaterielle Arbeit beschreiben (und erfordert v.a. soziale Kompetenzen und ›soft skills‹ im Umgang mit Anderen); die andere ließe sich intellektuelle immaterielle Arbeit nennen (und erfordert neben analytischem Denken zum Lösen verschiedenster Probleme insbesondere symbolisches und sprachliches Ausdrucksvermögen).81 Die letztgenannte Version immaterieller Arbeit »bringt Ideen, Symbole, Codes, Texte, sprachliche Figuren, Bilder und ähnliches hervor«82 . »In jedem dieser Typen der immateriellen Arbeit steckt die Kooperation bereits vollständig in der Arbeit selbst. […] Der kooperative Aspekt der immateriellen Arbeit wird mit anderen Worten nicht von außen aufgezwungen oder organisiert, wie es in früheren Formen der Arbeit der Fall war, sondern die Kooperation ist der Arbeitstätigkeit vollkommen immanent. [Hervorhebungen durch Hardt und Negri]«83 Allein die Tatsache der systemischen Fremd- und nicht lebensweltlichen Eigenverwertung der erzeugten ›Produkte‹ weist diese Formen der Arbeit noch als entfremdete aus; der Arbeitsprozess selbst aber nähert sich immer mehr den bloßen Facetten des MenschSeins an: dem Fühlen, Handeln, Sprechen, Wissen. Mit der Informatisierung industrieller Arbeitsprozesse würde diesen bloßen Seinsweisen des Menschen aber auch bei der Herstellung materieller Güter immer größere Bedeutung zukommen, und es beginne »das Netzwerk als Organisationsmodell der Produktion das Montageband«84 zu ersetzen. Kooperation finde nun in wachsendem Ausmaß jenseits zeitlicher und räumlicher Beschränkungen statt: »Die Fabrik mit industrieller Massenproduktion bestimmte die Kooperation im Arbeitsablauf in erster Linie durch den physischen Einsatz von Arbeitern in der Fabrikhalle. Einzelne Arbeiter kommunizierten mit ihren Nachbarn, die Kommunikation war im Allgemeinen auf physische Nähe begrenzt. Auch die Kooperation zwischen Produktionsstätten bedurfte physischer Nähe, um sowohl den Fertigungsablauf zu 78 79 80 81 82 83 84

Vgl. ebd., S. 303. Ebd., S. 304. Ebd., S. 304f. Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri, Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a.M./New York 2004, S. 126. Ebd. Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, a.a.O., S. 305. Ebd., S. 306.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

koordinieren als auch die Transportkosten und die Herstellungszeit der Waren zu minimieren. Die Entfernung etwa zwischen Kohlenmine und Stahlhütte und die Leistungsfähigkeit der sie verbindenden Transport- und Kommunikationswege sind entscheidende Faktoren für die Wirtschaftlichkeit der Stahlproduktion. Und ähnlich ist es in der Automobilproduktion die Effizienz der Kommunikation und des Transports zwischen einer Anzahl von Zulieferern, die entscheidend für die Gesamtfunktion des Systems ist. Durch den Übergang zur informatisierten Produktion und Netzwerkstruktur hingegen sind die Kooperation in der Produktion und die Effizienz nicht mehr länger im gleichen Maß von Nähe und Zentralisierung abhängig. Informationstechnologien machen Entfernungen immer weniger entscheidend. Arbeiter in ein und demselben Produktionsprozess können von isolierten Orten aus wirkungsvoll kommunizieren und kooperieren, ohne Rücksicht auf die Entfernung. Die Kooperation der Arbeiten im Netzwerk bedarf keines territorialen oder physischen Zentrums.«85 Genau diese sich andeutende Deterritorialisierung und Dezentralisierung, die mit dem Netzwerk einhergeht, aber bringt neue emanzipatorische Möglichkeiten mit sich. Mit dem Übergang vom industriellen zum informationellen Produktionsparadigma zeichnet sich so ein potenzieller Übergang von der Kommando- zur Kooperationsökonomie im Allgemeinen ab; abermals würden also gewissermaßen Gesetzmäßigkeiten der Lebenswelt vormals systemische Maßstäbe zur Transformation zwingen. Denn so wie die Kommandowirtschaft zwangsweise Hierarchien und Befehle mit sich brachte, ergeben sich aus der Kooperationswirtschaft notwendig Enthierarchisierung und eine Zunahme von kommunikativem wie interaktivem Austausch. Die Möglichkeiten emanzipatorisch verstandener Arbeitsorganisation erweitern sich damit geradezu unermesslich: »Die lebendige Arbeit bildet dabei die Brücke zwischen dem Virtuellen und dem Realen; sie ist das Vehikel der Möglichkeit.«86 Gemeint ist damit die Möglichkeit, den systemischen Bereich der Gesellschaft mit seinen Zwängen und Verwertungslogiken lebensweltlich zu transformieren in einen der Chancen und Spielräume. Wo dies aber geschieht, so Hardt und Negri, gilt: »Arbeit, welche die Käfige ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Disziplin geöffnet und jede regulative Dimension des modernen Kapitalismus […] überwunden hat, erscheint nun als allgemeine gesellschaftliche Tätigkeit.«87 In dieser nun gesamtgesellschaftlichen Tätigkeit liege, »verglichen mit der bestehenden Ordnung und ihren Reproduktionsregeln« ein »produktiver Exzess [d.h. eine maßlose Dimension, eig. Anm.]«.88 »Dieser Exzess ist zum einen Folge eines kollektiven Emanzipationsprozesses, zugleich aber auch Substanz einer neuen gesellschaftlichen Virtualität der befreienden und produktiven Möglichkeiten von Arbeit.«89 Eine maßlose Welt kündigt sich an. Und »im Gegensatz zu denjenigen, die lange Zeit behauptet haben, ein Wert könne sich nur in Gestalt von Maß und Ordnung beweisen«, meinen Hardt und Negri »dass Wert und Gerechtigkeit auch in einer unermesslichen Welt bestehen und fortbestehen können […] – […] kein transzendentes Maß wird die Werte unserer Welt 85 86 87 88 89

Ebd., 306f. Ebd., S. 365. Ebd. Ebd. Ebd.

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bestimmen, sondern einzig die fortwährende Erneuerung und schöpferische Kraft des Menschen selbst.«90 Das ›transzendente Maß‹ aber steht bei Hardt und Negri für die Norm als Zwang – wohingegen ja innerhalb der relationalen Dynamiken, die die Netzwerke der Vielen konstituieren, bereits real die maßlosen Bewegungen sich vollziehen, die den ihren Bedürfnissen gemäßen Maßstab ontologisch und zwanglos, Tag für Tag, immer aufs Neue aus sich selbst heraus erzeugen.91 Die von Marcuse angedachte ›Versöhnung von Realitätsprinzip und Lustprinzip‹ in einer nicht-repressiven Kultur durchzieht so untergründig auch alle Passagen des Werkes von Hardt und Negri. Im freudschen Gedankengebäude, auf das Marcuse ja rekurriert, reguliert und transformiert die Norm in ihrer repressiven Funktion die Triebdynamiken. Die ›normative Paradoxie‹, die sich in der von Freud untersuchten, klassischbürgerlichen Gesellschaft zutrug, begegnete dort in erster Linie an der Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft; und zwar in der Form, dass das Individuum unbewusst am Lustprinzip festhielt und sich so der gänzlichen Anpassung ans gesellschaftlich verwirklichte Realitätsprinzip verweigerte: Normen wurden offen akzeptiert, aber unterschwellig negiert. Die Neurose bot dem Individuum einen Ausweg aus diesem Dilemma, nämlich indem sie das Festhalten am Lustprinzip auf völlig irrationale Weise in einer ansonsten realen Umgebung ermöglichte. Diese Flucht in die individuelle Pathologie einerseits, genauso wie die Flucht ins kollektiv Imaginäre andererseits (wie sie z.B. im Falle der Sublimierung u.a. die Kunst ermöglichte), kennzeichneten die ›große Weigerung‹ jener Ära. Die nachbürgerlich-spätmoderne Ära aber verlangt nun, wo ›normative Paradoxien‹ nicht allein mehr als transzendente Werteordnungen, sondern als ontologische Seinsweisen begegnen (und damit weniger an der Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft angesiedelt sind, sondern vielmehr an der Schnittstelle von Wirklichem und Möglichem) nicht die individuelle Lösung des Widerspruchs, sondern die kollektive Auf lösung der Paradoxie und Ambivalenz. Diese gemeinsame Aufgabe stellt sich, wenn nicht bloß die Anforderungen einer Gesellschaftsform individuell irgendwie bewerkstelligt werden sollen, sondern wenn die vormals kollektiven Forderungen nach einer neuen Seins- und Lebensweise nunmehr überall schon Wirklichkeit zu werden beginnen.   Die ›Alter-Moderne‹ bei Hardt und Negri – Kollektivierungstendenzen in der Spätmoderne, oder: Über das neue Gemeinsame ■ Der Begriff der Spätmoderne hat viel von dem, was Hardt und Negri als ›Alter-Moderne‹ (also: alternative, oder andere Moderne) bezeichnen. Hardt und Negri sehen nämlich in der historischen Dialektik die Epoche der Moderne permanent von einer dichotomisch entgegengesetzten ›Gegenmoderne‹ in Frage gestellt; die ›Alter-Moderne‹ jedoch weist bereits auf ein Ende dieser Dialektik hin, sie ist die späte Aufhebung der divergierenden Entwürfe der Moderne, sie verschmilzt die dialektischen Widersprüche zu einer neuen, allzu oft noch: ambivalenten und paradoxen, Form. Die Dialektik von Moderne und Gegenmoderne war gekennzeichnet durch den Widerstreit der Kräfte des Kapitals und der Arbeit, von Bürgertum und Proletariat, von Imperialismus und Antiimperialismus, von Sexismus und 90 91

Ebd., S. 364. Vgl. ebd., S. 362-367.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

Antisexismus, von Herrschenden und Unterdrückten. Nicht dass diese Gegensätze verschwunden wären – aber die Alter-Moderne unterläuft diese binären Codierungen: »Altermodernität setzt so nicht nur einen Sinn für die lange Geschichte antimoderner Kämpfe voraus, sondern impliziert zugleich einen Bruch mit jeder Form vorgegebener Dialektik zwischen moderner Souveränität und antimodernem Widerstand.«92 Die Alter-Moderne nimmt den Sieg des Widerstands vorweg. Widerstand in der AlterModerne hat sich verändert und eine neue Qualität angenommen – er verwandelt die vormals virtuelle Negation zur realen Positivität; er ist von der Verneinung des Bestehenden zur Etablierung des Potenziellen gelangt. Neue Widersprüche entstehen damit einmal mehr zuallererst an der Bruchlinie von Wirklichem und Möglichem: »Die Linie der anderen Moderne – oder Altermodernität – verläuft quer zur Moderne. Ganz wie die Gegenmoderne steht sie für den Konflikt mit den Hierarchien der Moderne, doch lenkt sie die Kräfte des Widerstands deutlicher auf autonomes Terrain. Zunächst allerdings ist festzuhalten, dass die Rede von einer ›anderen Moderne‹ zu Missverständnissen führen kann. So mag sich für manche in dem Ausdruck ein reformistischer Prozess andeuten, eine Anpassung der Moderne an die neuen, globalen Gegebenheiten, bei der sie gleichwohl ihre wesentlichen Merkmale bewahren würde. Andere werden womöglich an alternative Formen der Moderne denken, die sich insbesondere durch geografische oder kulturelle Unterschiede definieren, so dass beispielsweise von einer chinesischen, einer europäischen, einer iranischen Moderne etc. zu sprechen wäre. Demgegenüber werden wir den Ausdruck ›Altermodernität‹ verwenden, um auf einen entscheidenden Bruch mit der Moderne und mit der sie definierenden Machtbeziehung hinweisen. Die Altermodernität entwickelt sich nach unserem Verständnis aus den Traditionen der Gegenmoderne – und gleichzeitig setzt sie sich von dieser Gegenmoderne ab, insofern sie über Opposition und Widerstand hinausgeht. […] Nicht Opposition, sondern Bruch und Transformation definieren den Übergang von der Gegenmoderne zur Altermodernität. [Hervorhebungen durch Hardt/Negri]«93 Hierbei realisieren sich altermoderne Entwürfe nicht allein im ideellen und kulturellen Überbau der Gesellschaft, sondern gleichzeitig in ihrer materiellen Basis, nämlich der Arbeit und der Produktion.94 Die emanzipatorische Aufgabe aber, die sich bei der Verwirklichung dieser neuen Lebens- und Arbeitsformen stellt, liege darin, so Hardt und Negri, »eine direkte Beziehung zum Gemeinsamen herzustellen, um die Pfade der Altermodernität zu finden. [Eig. Hervorhebung]«95 Hardt und Negri vertreten so eigentlich einen Mehrebenen-Ansatz, um die Kollektivierungsphänomene der Alter-Moderne fassen zu können. Im Zentrum dieses Ansatzes steht das Gemeinsame; es erwirkt im gesellschaftlichen Überbau neue (inter-)kulturelle und (trans-)staatliche Organisationsstrukturen, in der ökonomischen Basis zeigt es sich in neuen Produktions- und Arbeitsprozessen, und bei der Vielzahl, der in der 92 93 94 95

Michael Hardt/Antonio Negri, Common Wealth. Das Ende des Eigentums, Frankfurt a.M./New York 2010, S. 118. Ebd., S. 114ff. Ebd., S. 119. Ebd., S. 119.

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Das Maßlose der Spätmoderne

Gesellschaft lebenden und tätigen Subjekte gelangt es zum Ausdruck in neuen sozialen Entitäten und Lebensweisen. Das Organisationsmuster des Netzwerks durchzieht zunehmend alle diese Bereiche gleichermaßen und ist in gewisser Weise der Deus ex Machina, der die Potenzialität des virtuell wie real Gemeinsamen aus den vielfältigsten Kommunikations- und Interaktionszusammenhängen beständig erwachsen lässt. Entstanden ist diese neue Epoche der Alter-Moderne aus den vielfältigen Kämpfen und Widerständen der Gegenmoderne, die ihre Spuren hinterlassen haben, selbst da, wo sie nicht siegten. Denn die systemische Sphäre als eigentlich totes, bloß reaktives Moment, war genötigt, diese lebensweltlich-aktiven Impulse zu tolerieren bzw. zu integrieren, um unter deren Druck nicht zu kollabieren. Dadurch entstanden allenthalben die exemplarisch vorgängig bereits aufgeführten, paradoxen und ambivalenten (also: hybriden) systemisch-lebensweltlichen Misch- und Verschmelzungsphänomene. Als eine im Entstehen begriffene »gemischte Verfassung«96 , die in eine »hybride Konstitution«97 münde, bewerten Hardt und Negri demzufolge auch die transnationale und geradezu poststaatliche Gestalt, die der politökonomische Komplex in der Gegenwart anzunehmen beginnt. Ein globaler »Nicht-Ort«98,99 der Macht bilde sich heraus, weltumspannend, und dabei deterritorial. Er ist bereits Resultat einer Transformation, die eigentlich auf seine Abschaffung zielt; er war gezwungen eine neue Form anzunehmen, um weiterhin die Kontrolle über die sich auftuenden, grenzenlosen Möglichkeiten der Selbstverwertung sowie über die ›ausufernden‹ Möglichkeiten basisdemokratischer Selbstbestimmung aufrecht erhalten zu können. So gleicht die ihn konstituierende Herrschaftslogik immer weniger einer bewussten Strategie, sondern vielmehr einem unbewussten Automatismus: Überall wo die sozioökonomischen Bewegungen der Vielen neue lebensweltliche Freiräume im Systemischen erschließen, sieht sich die kapitalistische Vermarktungs- und Verwertungslogik sowie der politische Macht- und Gestaltungsanspruch infrage gestellt und herausgefordert – mit dem Resultat, sich selbst ändern zu müssen, um weiterhin auf die sich wandelnden Bedingungen Einfluss nehmen zu können. In der Konsequenz entsteht so ein zwar noch in diverse kapitalistische Fraktionen und Territorien gespaltener, aber zusehends sich vereinigender und fraktionenübergreifend wie deterritorial werdender Herrschaftsapparat, der trotz aller in ihm sich vereinigenden, unglaublichen staatlichen, ökonomischen und militärischen Machtfülle, weniger regiert als reagiert. Hardt und Negri schwebt dabei ein eigentlich fragiles, permanent von Bedeutungsverlust bis hin zur Auflösung bedrohtes Gebilde vor Augen, das sich im planetarischen Maßstab, gleich einer immer dünner werdenden Hülle, pseudo-organisch um alle Bewegungen der sich in ihm zur potenziellen Befreiung entpuppenden Menschheit legt. 96 97 98 99

Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, a.a.O., S. 315. Ebd., S. 327. Ebd., S. 329. Der von Hardt und Negri verwendete Terminus ›Nicht-Ort‹ dürfte zurückgehen auf eine Definition Marc Augés: »So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen läßt, einen Nicht-Ort. Unsere Hypothese lautet nun, dass die ›Übermoderne‹ Nicht-Orte hervorbringt, also Räume, die selbst keine anthropologischen Räume sind […].« In: ders., Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a.M. 1994.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

Hardt und Negris Begriff vom ›Empire‹ ist daher untrennbar mit dem von der ›Biomacht‹ verwoben.100 ›Biomacht‹ definiert sich dabei über das ›imperiale‹ Vermögen, die wertvollen Bewegungen der Menge, wenn schon nicht mehr orchestrieren, so doch wenigstens noch kontrollieren zu können – um sie zu verwerten. Alle neuen Techniken der Herrschaft im ›Empire‹ sind daher in erster Linie Kontrolltechniken.101 Das so entstehende Kontrollregime schiebt sich allerorten anstelle der vormalig bürgerlichen Demokratie der Moderne: »Wir sollten nicht vergessen, dass es hier um die imperiale Überdehnung der Demokratie geht, die die Menge in flexiblen und modulierenden Kontrollapparaten erfasst. […] Herrschaft zielt direkt auf die Bewegungen produktiver und kooperativer Subjektivitäten; Institutionen werden kontinuierlich den Regeln dieser Bewegungen entsprechend formiert und reformiert; und die Topographie der Macht hängt in erster Linie nicht länger an räumlichen Verhältnissen, sondern sie ist den zeitlichen Verschiebungen der Subjektivitäten eingeschrieben. Hier begegnen wir dem Nicht-Ort der Macht wieder, auf den wir bereits hingewiesen haben. Das hybride Kontrollregime des Empire bildet sich an einem Nicht-Ort aus.«102,103 Die vormalige Dialektik von Staat und Kapital innerhalb der systemischen Sphäre verschmilzt damit im Empire zu einer neuen Art der Organisation von Herrschaft. Denn wenngleich der Staat stets auch die Kapitalinteressen bediente, stand er diesen (infolge seines Bemühens um gesamtgesellschaftlichen Interessenausgleich) auch immer ein Stück weit entgegen.104 Im Empire aber sind Staat(en) und Kapital(ströme) unter dem Deckmantel des Kontrollregimes bis ins Unkenntliche ineinander verschmolzen. Die Verschmelzung von Staat und Kapital zu einer Instanz umfassender Herrschaft aber trägt seit jeher das Signum des Totalitären. So schwach das Empire in seiner weitgehend auf das Reaktive reduzierten Handlungs-Optionen auch scheinen mag, so eminent ist gleichzeitig seine Tendenz, demokratische Impulse um der Aufrechterhaltung

100 Für ein vertieftes Verständnis hierfür, siehe insb.: Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, a.a.O., S. 24-55. 101 »Besondere Bedeutung für diese Kontrolltechniken haben die vielfältigen Möglichkeiten moderner Datenverarbeitung. Sie werden einerseits zur Verhaltenskontrolle eingesetzt, indem sie dazu anleiten, sich möglichst konform zu verhalten. Andererseits ist gerade auch zur Risikobeherrschung und -vermeidung der Einsatz von Datenverarbeitungstechnologien erforderlich. Mit ihnen soll die Erhebung möglichst umfassender Datenbilder von möglichst vielen Personen und Sachverhalten ermöglicht werden, die dann die Datenbasis für die Prognose darstellen, ob ein präventives Eingreifen notwendig ist oder nicht. Die Erhebung, Verarbeitung und Speicherung von Daten über jede Form von Lebensäußerung und die zunehmende Vernetzung der zu diesem Zweck eingerichteten Datenbanken besitzen das Potenzial zur Totalausforschung.« In: Tobias Singelnstein/Peer Stolle, Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert, 3. vollst. überarb. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 77. 102 Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, a.a.O., S. 329. 103 Auch hier erweist sich eine gedankliche Rückkopplung an Marc Augé abermals als sehr aufschlussreich: »Der Nicht-Ort ist das Gegenteil der Utopie; er existiert und er beherbergt keine organische Gesellschaft.« In: ders., Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, a.a.O., S. 130f. 104 Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, a.a.O., S. 316ff.

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des Status Quo willen im Zweifelsfall zu unterbinden. Diese totalitäre Option schwebt beständig und drohend über allen Konstitutionsetappen des Empire: »Schließlich wird der Niedergang der traditionellen Sphäre der Politik und des Widerstands durch Veränderungen des demokratischen Staats selbst vollendet. Seine Funktionen sind in die Kommandomechanismen transnationaler Konzerne auf globaler Ebene integriert. Das nationalstaatliche demokratische Ausbeutungsmodell funktionierte in den herrschenden kapitalistischen Ländern, solange es in der Lage war, wachsende Konflikte in eine Entwicklungsdynamik zu übersetzen – mit anderen Worten: solange es die Entwicklungsmöglichkeiten und die Utopie staatlicher Planbarkeit am Leben erhalten konnte, vor allem aber solange der Klassenkampf in den einzelnen Ländern eine Art Machtdualismus konstituierte, über dem sich die einigende staatliche Macht situieren konnte. In dem Maß, wie diese Bedingungen verschwunden sind, sowohl real als auch ideologisch, durchlief der nationale demokratische Staat eine Selbstzerstörung. Die Einheit der einzelnen Regierung wurde desartikuliert, und die Aufgaben wurden einer Reihe separater Körperschaften übertragen (Banken, internationale Planungsorganisationen etc., und zusätzlich bereits bestehenden Körperschaften), die alle in zunehmendem Maß ihre Legitimität auf der transnationalen Ebene der Macht suchten. […] Wenn wir daher das Verschwinden des traditionellen Systems nationalstaatlicher Konstitution feststellen, so muss untersucht werden, wie die Macht auf supranationaler Ebene sich konstituiert – mit anderen Worten, welche Form die Konstitution des Empire annimmt.«105 Nimmt man aber die von Hardt und Negri beschriebene ›hybride‹ Konstitution des Empire in den Blick, fällt sofort auf, dass dessen Macht vor allem aus einem komplexen Netz systemischer Machtbeziehungen besteht. Es erweist sich damit in dieser Hinsicht nicht nur als komplementär zum lebensweltlich relationalen Netz, sondern es ist in dieses eingelassen und geht aus diesem auch hervor. Die Menge der Individuen produziert und reproduziert aus ihren vollzogenen, aber auch: unterlassenen, Handlungen tagein tagaus das Empire, genauso wie sie anderseits die Möglichkeiten zur Befreiung aus ihm permanent entstehen lässt. Das Empire ist weniger das anvisierte Projekt einer Herrschaftselite, sondern vielmehr der zu einem bloß stärker systemischen statt lebensweltlichen Aspekt geronnene Ausfluss einer Unsumme kommunikativer und interaktiver Verstrickungen. Es ist das dinghaft gewordene Gewebe unzähliger entfremdeter und verzerrter Kommunikations- und Interaktionskontexte; der auf Herrschafts- und Verwertungslogiken basierende Kokon, in den sich die Menschheit bei all ihren auch auf Befreiung und Selbstverwertung zielenden Bewegungen paradoxerweise eingesponnen hat. Das Empire ist Biomacht, die sich an den bios schmiegt. Der Bios aber verkörpert sich für Hardt und Negri in der Menge, die für sie eine Vielzahl von Einzelnen ist, welche sie als Ensemble ›Multitude‹ nennen. Dabei umschließt der Begriff der ›Multitude‹ »all jene, die unter der Herrschaft des Kapitals arbeiten und produzieren.«106 Der Begriff der Multitude erweitert und ersetzt damit den

105 Ebd., S. 320. 106 Michael Hardt/Antonio Negri, Multitude. Krieg und Frieden im Empire, Frankfurt a.M. 2004, S. 125.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

Begriff vom Proletariat. Diese terminologisch-theoretische Operation hat ihre Entsprechung in den realen soziökonomischen Veränderungen der Praxis, die mit Anbruch der Alter-Moderne zu beobachten sind. Der Begriff des Proletariats schloss alle die aus, die zwar mit Lohnarbeit ihr Geld verdienten, aber nicht zur Arbeiterklasse (und im engsten Sinn: zur Industriearbeiterklasse) zählten. Der Begriff der Multitude dahingegen trägt dem Umstand Rechnung, dass die hegemoniale Form der Produktion im informatisierten Kapitalismus die biopolitische, und die der Arbeit, die immaterielle zu werden beginnt. So stehen heute folglich auch alle, die solcherart gemeinsam arbeiten und produzieren in der Tradition des Widerstands gegen das Kapital, selbst wenn dieser Widerstand in der Alter-Moderne weniger antagonistisch auftritt, sondern mehr von der Logik des Bruchs und der Transformation gezeichnet ist.107 Der Begriff der ›Multitude‹ markiert daher in der Theorie im selben Umfang eine Erweiterung dessen des ›Proletariats‹, wie in der Praxis sich der Kreis der produktiven Tätigkeit auf die lebensweltlichen Strukturen der Gesellschaft selbst ausgedehnt hat. Aus diesem Grund aber darf die Multitude auch nicht im Sinne eines klassischen Kollektivs verstanden werden. Denn während der traditionelle Begriff vom Kollektiv mehr darin besteht, dass das Individuelle in einer Art anonymer Masse vereinzelt wird oder aber sich in einer ihr alles unterordnenden Gemeinschaft auflöst, betonen Hardt und Negri, dass die Multitude, als neu sich formierende soziale Entität in sich »plural und vielfältig«108 ist: »Die Multitude ist, auch wenn sie eine Vielfalt bleibt, nicht fragmentiert, anarchisch und zusammenhanglos. Der Begriff der Multitude sollte daher weiterhin von einer Reihe anderer Konzepte unterschieden werden, die plurale Kollektive bezeichnen, wie die Masse, die Menschenmenge oder der Mob. Die verschiedenen Individuen und Gruppen, die eine Menschenmenge bilden, sind zusammenhanglos und weisen keine gemeinsamen, von allen geteilten Elemente auf, daher bleiben ihre Unterschiede insgesamt passiv und die Menschenmenge erscheint leicht als unterschiedsloser Haufen. Die Masse, der Mob und die Menschenmenge bestehen nicht aus Singularitäten – das wird durch die Tatsache offensichtlich, dass ihre Verschiedenheiten so mühelos in der Indifferenz des Ganzen untergehen können. […] Die Multitude hingegen ist ein aktives gesellschaftliches Subjekt, das auf der Grundlage dessen handelt, was den Singularitäten gemeinsam ist und von allen geteilt wird. Die Multitude ist ein Unterschiede aufweisendes, vielfältiges soziales Subjekt, dessen Konstitution und Handeln nicht auf Identität oder Einheit (und noch weniger auf Indifferenz) beruht, sondern darauf, was ihm gemeinsam ist. [Eig. Hervorhebung]«109 Die Individualitäten, aus denen die Multitude sich zusammensetzt, mögen schichtund milieuspezifisch, ethnisch, geschlechtsspezifisch und sexuell divergierende sein; aber gerade dieses Miteinander von Differenzen verweist bereits auf jene Welt der Gleichheit in Vielfalt, die emanzipatorische Bewegungen (seien sie nun libertär-sozialistisch, feministisch, antirassistisch, anti-imperialistisch oder antisexistisch geprägt)

107 Vgl. ebd., S. 124f. 108 Ebd., S. 117. 109 Ebd., S. 117f.

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immer schon anstrebten.110 Allein vom konstitutiven Vermögen der Multitude souverän zu werden, hängt die Möglichkeit der Verwirklichung jener Welt ab. Dazu muss es der Multitude gelingen, aus dem sie umgebenden Geflecht des Empire auszubrechen. Der Drang hierfür ist ihr immanent, zum einen weil sie als kooperatives Netzwerk verstanden werden muss, mit der Tendenz »sich unendlich zu erweitern«111 , zum anderen, weil die mit ihr untrennbar verwobene biopolitische Produktion ganz wesentlich ›exzessiv‹ ist und alle Grenzziehungen sprengt.112 Das Kapital aber, wie auch die Herrschaft, können ohne Grenzziehungen nicht existieren. So wie die Multitude maßlos ist, sind sie bemessen und wirken bemessend: »Das Kapital möchte die Multitude in eine organische Einheit verwandeln, ebenso wie der Staat sie in ein Volk verwandeln will. Hier, nämlich in den Kämpfen der lebendigen Arbeit, beginnt sich die wahrhaft produktive Gestalt der Multitude zu zeigen. Wenn […] [die] Multitude gefangen gehalten und in den Körper des globalen Kapitals verwandelt wird, so findet dies innerhalb des Prozesses der kapitalistischen Globalisierung und gegen ihn statt. Die biopolitische Produktion der Multitude hingegen wird tendenziell das, was ihr gemeinsam ist und was sie gemeinsam produziert, gegen die imperiale Macht des Kapitals mobilisieren. Mit der Zeit wird die Multitude, hat sie erst einmal ihre produktive, auf dem Gemeinsamen beruhende Gestalt entwickelt, in der Lage sein, durch das Empire hindurchzugehen und auf der anderen Seite herauszukommen, sich selbstständig auszudrücken und zu regieren.«113 Wenn nun aber Hardt und Negri an anderer Stelle darauf hinweisen, dass das kohäsive Moment der Multitude, welches sie im Inneren zusammenhält und so ihren »Exodus aus den Verhältnissen der Kapitalherrschaft«114 erst ermöglicht, die ›Liebe‹ ist,115 so muss mit dem Wissen etwa um Marcuses sozialphilosophische Reflexionen zu Freud sofort erwidert werden: Nicht die Liebe – sondern der Eros hält die ›Multitude‹ zusammen (die dann im Übrigen selbstverständlich als sozioökonomisch und kulturhistorisch besonderer Fall einer biomorphen relationalen Formation zu denken wäre). Diese triebtheoretische, psychoanalytische Komponente ist es, die bei Hardt und Negri nur angedacht, aber kaum ausgearbeitet ist, selbst wenn sich beide an mehreren Stellen auch auf das ›Begehren‹ (das ja wesentlich der französischen psychoanalytischen Tradition entlehnt ist) beziehen, um die Antriebskraft der Menge schildern zu können. Das Begehren wiederum aber als spezieller theoretischer Zugang zur Triebtheorie verunmöglicht es, den Thanatos angemessen zu denken. Ansätze, die allein das Begehren (oder im Falle von Hardt und Negri sogar ausdrücklich dessen sublimste Form, nämlich die Liebe) in den Mittelpunkt ihres Verständnisses sozialer Dynamiken rücken, müssen daher sozusagen auf einem Auge blind bleiben. Wo der Thanatos nicht reflektiert werden

110 111 112 113 114 115

Vgl. ebd., S. 119. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 119. Michael Hardt/Antonio Negri, Common Wealth. Das Ende des Eigentums, Frankfurt a.M./New York 2010, S. 192. Siehe dazu: ebd., S. 192-201.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

kann, besteht die Gefahr eines reduzierten und einseitigen Zugangs zu den zu untersuchenden psychosozialen Phänomenen. Eine Darstellung der inneren Widersprüche der ›Multitude‹, und darauf wird noch einzugehen sein, bleibt daher bei Hardt und Negri rudimentär.   Bauman, und die ›Liquid Modernity‹ – Über das neue Einsame, oder: Individualisierungstendenzen in der Spätmoderne ■ Wo es Hardt und Negri geradezu unmöglich ist, die Fähigkeit der ›Multitude‹ zu denken, neben dem maßlos Gemeinsamen gleichzeitig auch das bemessen Einsame im sozialen Raum zu etablieren, ist es wiederum Zygmunt Bauman, der kaum imstande dazu ist, das maßlos Gemeinsame als emanzipatorisches Moment neben dem bemessen Einsamen in der Spätmoderne zu identifizieren. Im Gegensatz zu der von Hardt und Negri dargelegten Kollektivierungsthese verfolgt er daher eine Individualisierungsthese. Beiden Theorien ist somit eine Einseitigkeit immanent, die sofort ins Auge springt; und beide Theorien erweisen sich dennoch als gültige Zugänge zur Wirklichkeit, unter der Bedingung, dass man erkennt, dass sie ihren Blick auf einen Aspekt der spätmodernen Realität richten. Dabei weist der supratheoretische Standpunkt von dem aus Bauman seine Schilderungen unternimmt durchaus strukturelle Parallelen zu dem von Hardt und Negri eingenommen auf. Hardt und Negri hatten ja die dialektische Dichotomie von Moderne und Gegenmoderne beschrieben, die in die Synthese der ›Alter-Moderne‹ münde; Zygmunt Bauman wiederum versteht die Postmoderne als reflexive Form der Moderne, und sieht in der Gegenwart den Dualismus beider abgelöst von einer sich abzeichnenden ›Flüchtigen Moderne‹ (im engl. Original ›Liquid Modernity‹). Bauman nähert sich der Zeitdiagnose von der ›Liquid Modernity‹ in einer zunächst tastenden, assoziativen Gedankenbewegung: »Flüssigkeiten bewegen sich mit Leichtigkeit. Sie ›fließen‹, werden ›verschüttet‹, sie ›laufen‹ aus, sie ›spritzen‹ und ›fließen über‹, sie ›tropfen‹ und ›überfluten‹, sie ›versickern‹ und ›rinnen‹. Sie sind im Gegensatz zu Festkörpern nicht leicht aufzuhalten – manche Widerstände umfließen sie, andere lösen sie auf oder werden von ihnen aufgesogen oder sickern durch sie hindurch. Das Zusammentreffen mit Festkörpern kann ihnen nichts anhaben, diese jedoch verändern sich, werden feucht oder durchnässt. Die außerordentliche Mobilität von Flüssigkeiten legt die Assoziation der ›Leichtigkeit‹ nahe. […] Aus diesen Gründen bieten sich ›Flüchtigkeit‹ und ›Flüssigkeit‹ als passende Metaphern an, wenn man das Spezifische unserer Gegenwart, jener in vieler Hinsicht neuartigen Phase in der Geschichte der Moderne, erfassen will. [Hervorhebung durch Bauman]«116 Welch eindrucksvolles Bild für den (eigentlich: entdifferenzierenden und maßlosen) Charakter der die Gegenwart prägenden Strukturphänomene, das Bauman hier der ›Flüchtigen‹ bzw. ›Flüssigen Moderne‹ zugrunde legt; und Bauman gelangt von diesem Bild auch zu den Metaphern vom ›schweren Kapitalismus‹ der Moderne, welcher vom ›leichten Kapitalismus‹ der Flüchtigen Moderne abgelöst werde. Was also Hardt

116

Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt a.M. 2003, S. 8.

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und Negri als Übergang vom ›industriellen‹ zum ›informatisierten Kapitalismus‹ beschreiben, begegnet nun, allein in andere Worte gekleidet, auch bei Bauman. Die von Bauman zur Verfügung gestellten Metaphern offerieren ihre ganz eigenen, wertvollen Zugänge zum Verständnis dieses Übergangs: »Der Fordismus prägte das Selbstbewußtsein der modernen Gesellschaft in ihrer ›schweren‹, ›kompakten‹, ›immobilen‹, ›verwurzelten‹ und ›soliden‹ Phase. Auf dieser Stufe ihrer gemeinsamen Geschichte schien es, als wären Kapital, Management und Arbeiter, ob sie wollten oder nicht, für eine lange Zeit, vielleicht sogar für immer aneinandergekettet – verbunden durch riesige Fabriken, große Maschinen und massiven Einsatz von Arbeitskräften. Um zu überleben und effektiv zu sein, galt es, sich in den eingenommenen Stellungen einzugraben, Grenzen zu ziehen, sie mit Stacheldraht zu sichern und dabei gleichzeitig darauf zu achten, daß das eingezäunte Territorium Platz bot für all das, was man benötigte, um einen langen und möglicherweise aussichtslosen Belagerungszustand zu überstehen. Der schwere Kapitalismus war besessen von Größe und Masse und daher auch von der Idee der undurchdringlichen Ab- und Eingrenzung. […] Die unsichtbare Kette, mit der die Arbeiter an ihre Arbeitsplätze gekettet waren und die ihre Mobilität beschränkte, war in den Worten von Cohen ›das Herzstück des Fordismus‹117 . Das Sprengen dieser Ketten war dementsprechend der entscheidende Punkt, die Wasserscheide, an der sich das Leben änderte und ab dem der Abstieg und das beschleunigte Ende des fordistischen Modells begann. […] Der schwere Kapitalismus hielt das Kapital und die von ihm beschäftigten Arbeiter fest auf dem Boden. Heute reist das Kapital mit leichtem Marschgepäck – mit Handgepäck, bestehend aus Aktenkoffer, Laptop und Handy. Der Faktor Arbeit hingegen ist immobil geblieben – aber der Ort, an dem sich die Arbeit einst für ewig angekettet fühlte, hat seine Solidität verloren; im Treibsand sucht man vergebens nach Haken und Ösen, die Halt bieten könnten. Einige Bewohner dieser Welt sind in ständiger Bewegung, für den Rest ist es die Welt selbst, die keinen Stillstand kennt. [Eig. Hervorhebungen]«118 Während also die Kräfte des Kapitals im ›leichten Kapitalismus‹ die (wie sich etwas salopp formulieren ließe) ›Welle reiten‹, fühlen sich für die Arbeiter in der total mobil und flexibel gewordenen Welt die Moleküle des vermeintlich Flüssigen eher wie ›Treibsand‹ an, in dem sie versinken. Für sie ist es der Boden, auf dem sie stehen, der sich verflüssigt – eine horrende Vorstellung von Entgrenzung – wohingegen die Profiteure der neuen Ökonomie die Entgrenzung lustvoll, nämlich als Erweiterung ihrer Möglichkeiten, erfahren. Gleichzeitig aber unterschlägt Bauman ein zweites Moment, das sich in dem von ihm selbst gegebenen Bild findet: Bedingung für diese gesamte Entwicklung war ja, dass sich die fest gefügten Ketten der Arbeiter erst einmal lösten. Das Moment der Befreiung des Arbeiters aus seinen ›unsichtbaren Ketten‹ aber ist es, was dann erst die Gefahr des Untergangs in der ›Flüssigen Moderne‹ für ihn mit sich bringt. Emanzipatorisches wie reaktionäres Potenzial der Epoche der ›Liquid Modernity‹ liegen also 117 118

Daniel Cohen, Richesse du monde, pauvreté des nations, Paris 1997, S. 87 f, zitiert nach Zygmunt Bauman; ebd., S. 73. Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, a.a.O., S. 72f.

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nahe – wenn nicht: paradox und ambivalent vermischt – beieinander. Es ist nun aber eine Eigenart Baumans, das bedrohliche Potenzial der neuen Epoche feinfühlig wahrzunehmen, genauso wie es wohl ein Spezifikum der Theorie von Hardt und Negri ist, gerade das befreiende Potenzial überdeutlich erkenntlich zu machen. Wo beispielsweise Hardt und Negri in den Paradoxien und Ambivalenzen der ›AlterModerne‹ die schleichende Überwindung der Moderne durch die emanzipatorischen Kräfte der Gegenmoderne ausmachen zu können glaubten, sieht Bauman in der ›Liquid Modernity‹ eine problematische Fluidität und Flexibilität zugange, die die staatliche, ökonomische und soziale Ordnung nicht nur beweglich gestaltet, sondern auch eine gefährliche Instabilität aller vormaligen ›Stützen‹ der Gesellschaft herbeiführt. Matthias Junge veranschaulicht diese Implikationen von Baumans Soziologie der ›Flüchtigen Moderne‹ detailliert.119 Die vormals stabile Ordnung der Moderne gerate zur nunmehr bloß flüchtigen »Praxis des Ordnens«120 . Ordnung, gleich welcher Art, ist seitens der global und neoliberal entfesselten Kräfte des Kapitals und der ihnen entsprechenden, fluiden Gesellschaftsform gezwungen, sich ständig neu zu arrangieren. Ordnung kann so, »wenn überhaupt, nur noch in der Relation von Teilen und ihrer wechselseitigen Beweglichkeit aufgefunden werden«121 . In der Flüchtigen Moderne tritt damit Fragilität an die Stelle von Stabilität: »In short: liquid life is a precarious life, lived under conditions of constant uncertainity.«122 Der Untergang des modernen Ordnungsschemas bringt also für Bauman zuallererst nicht die Befreiung mit sich, sondern die Unsicherheit. Von Unsicherheit betroffen sind in der Flüchtigen Moderne alle Lebensbereiche, von der Liebesbeziehung123 über den persönlichen Lebensentwurf bis hin zur eigenen Identität. Identität z.B. erschien in der Moderne als ein charakterlich-biopografischer Gesamtzusammenhang, der ein Individuum lebenslang definierte.124 Identität in der Flüchtigen Moderne begegnet aber nur noch als entgrenzter Entwurf; statt einer vorgefundenen Identität, geht es nun um die willentliche »Identifikation«125 , es stellt sich

Siehe dazu: Matthias Junge, Zygmunt Bauman. Soziologie zwischen Moderne und Flüchtiger Moderne. Eine Einführung, Wiesbaden 2006, S. 109-121. 120 Ebd., S. 110. 121 Ebd., S. 109. 122 Zygmunt Bauman, Liquid Life, Cambridge 2005, S. 2, zitiert nach Matthias Junge; ebd., S. 117. 123 Matthias Junge charakterisiert Baumans Diagnose der Paarbeziehung in der Flüchtigen Moderne wie folgt: »Bindungslosigkeit ist das wichtigste Merkmal von Bindungen in der Flüchtigen Moderne. Die Individuen werden unfähig, ebenso aber auch unwillig, Bindungen einzugehen. Denn eine Bindung bedeutet Verpflichtung, Restriktion, Einschränkung. Das ist unter Bedingungen einer sich beschleunigenden Vergesellschaftung und der Auflösung des Sozialen unerwünscht. Lebensbeziehungen werden flüchtiger, kurzfristiger, instabiler. Sie werden begonnen mit der Option, sie jederzeit beenden zu können. Aus der Vorstellung einer lebenslangen Beziehung wird in der Flüchtigen Moderne die Lebensform des ›Lebensabschnittsgefährten‹. […] Lebenspartner werden konsumiert wie die Objekte der Identifikation, die die Konsumgesellschaft als Ersatz für die Identität zur Verfügung stellt. Wenn Lebenspartner in dieser Weise begriffen werden, erscheinen sie als kurzer Knoten in einem Netzwerk möglicher Beziehungen. Es ist möglich, jederzeit den Knotenpunkt zu entfernen. [Eig. Hervorhebungen]« In: ebd., S. 116f. 124 Vgl. ebd., S. 114. 125 Ebd. 119

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so für das Individuum beständig die Frage nach der »Zusammensetzung des Selbst«126 . Die permanente »Selbsterfindung«, gekoppelt mit bohrenden Zweifeln an der gewählten »Selbstfestlegung«, tritt in der Flüchtigen Moderne an die Stelle des vormaligen Bemühens um »Sich-Selbst-Gleichheit« in der Moderne.127 Diese dauerhafte (Neu-)Erfindung der Identifikation erweist sich als nicht einfach: allgemein anerkannte, kollektive Deutungsmuster haben ihre Gültigkeit verloren; Klassen- und Herkunftsidentitäten weichen in der Flüchtigen Moderne mehr und mehr auf.128 Stattdessen sieht sich das Individuum vor die Aufgabe gestellt, dass Identifikationen »beständig neu in einer privaten Kraftanstrengung entwickelt werden [müssen].«129 Die Umstellung von stabiler Identität auf fluide oder flexible Identifikation stellt große Anforderungen an das Individuum.130 In der Folge sucht es geradezu verzweifelt Verankerung in mehr imaginierten, als realen, temporären Ersatz-Gemeinschaften: »Once identity loses the social anchors that made it look ›natural‹, predetermined and non-negotiable, ›identification‹ becomes ever more important for the individuals desperately seeking a ›we‹ to which they may bid for access.«131 Solche flüchtigen Gemeinschaften sind keine organischverwurzelten, sondern gleichen, so Bauman, eher frei gewählten »Bezugsgruppen«132 . Sie bieten eine »vorübergehende Entlastung von der Agonie des einsamen [eig. Hervorhebung] täglichen Kampfes, sie sind eine vorübergehende Abwechslung im Leben der Individuen de iure [Kursivsetzung durch Bauman], die sich genötigt sehen, sich mit ihren Problemen am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen«133 . Solche ErsatzGemeinschaften können Abendgesellschaften, Clubs, Szenen, kommunitaristische Projekte, oder aber auch die virtuellen ›Communities‹ des Internets oder der Massenmedien sein. Den Schein- und Suggestiv-Charakter letzterer beschreibt Bauman folgendermaßen: »Jeden Tag liefern uns die Aufmacher der Zeitungen und die ersten fünf Minuten der Fernsehnachrichten ein neues wehendes Banner, hinter dem wir uns (virtuell) versammeln und Schulter an (virtueller) Schulter marschieren können. Hier werden uns virtuelle ›gemeinsame Zwecke‹ geboten, um die herum sich virtuelle Gemeinschaften bilden können, die abwechselnd von synchronisierten Gefühlen der Panik (gelegentlich solcher moralischer Art, meist jedoch von un- oder amoralischer Beschaffenheit) oder Ekstase gebeutelt warden. Diese herausgeputzten Karnevalsgemeinschaften haben ferner den Effekt, die Entstehung ›wirklicher‹ (d.h. umfassender und dauerhafter) Gemeinschaften zu verhindern; sie imitieren solche Formen nur und versprechen (in grober Irreführung), sie könnten derartige wirkliche Gemeinschaften aus dem Nichts

Zygmunt Bauman, Ansichten der Postmoderne, Hamburg/Berlin 1995, S. 226, zitiert nach Matthias Junge; ebd. 127 Ebd. 128 Vgl. ebd. 129 Ebd. 130 Die Parallelen zu Richard Senetts Thesen zum Subjekt der Gegenwart sind offensichtlich. Siehe dazu: ders., Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998. 131 Zygmunt Bauman, Identity, Cambridge 2004, S. 24, zitiert nach Matthias Junge; in: ders., Zygmunt Bauman. Soziologie zwischen Moderne und Flüchtiger Moderne. Eine Einführung, a.a.O., S. 115. 132 Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, a.a.O., S. 202. 133 Ebd., S. 234f. 126

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

hervorzaubern. Statt die freischwebenden sozialen Impulse zu kondensieren, versprühen sie die soziale Energie wahllos und tragen damit zu jener allgegenwärtigen Einsamkeit bei, in der jeder verzweifelt und hoffnungslos an seltenen und dünn gesäten gemeinsamen Unternehmungen Halt sucht. [Eig. Hervorhebungen]«134 Diese von Bauman beschriebenen, flüchtigen Gemeinschaften (mit sozusagen das Individuum tröstendem Bezugsgruppencharakter) sind auch eine Antwort auf die in der Flüchtigen Moderne stets drohende soziale Exklusion.135 Matthias Junge weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Vergesellschaftungsprozess der Flüchtigen Moderne vermehrt Ausgeschlossene und ›Überflüssige‹ produziere.136,137 Gemeint sind damit »die Langzeitarbeitslosen, die auf Sozialhilfe 134 135

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Ebd., S. 235. Michel Maffesoli (ders., The Time of the Tribes: The Decline of Individualism in Mass Societies, London 1995) geht in seiner Diagnose der Postmoderne übrigens zwar ähnlich, aber doch ganz anders wie Bauman, von einer beobachtbaren Zunahme solcher Gemeinschaften in, sozusagen, Miniaturform aus. Im Gegensatz zu Bauman aber sieht er sie nicht als bloßes Symptom einer zeitweiligen Flucht aus der neuen Einsamkeit der Individuen, sondern vielmehr als Formen einer organischen Sozialität, die sich gewissermaßen innerhalb der Gesamtgesellschaft herausbildet. Er belegte das Phänomen mit dem Begriff des ›Neotribalismus‹. Damit bezog er das Wesen dieser postmodernen Gemeinschaften auf den Charakter von (auch frühen) Stammeskulturen und stellte dabei nicht nur eine Reihe von Analogien (wie etwa starke emotionale Bindungen ans ›Kollektiv‹) fest, sondern kam umgekehrt auch zu dem Schluss, dass der postmoderne Neotribalismus sich wiederum v.a. darin vom frühkulturellen Tribalismus unterscheide, dass die Mitgliedschaft und Zugehörigkeit zu den ›Stämmen‹ nun eben eher temporär und mehr oder minder frei wählbar sei. (Vgl. dazu: Reiner Keller, »Welcome to the Pleasuredome? Konstanzen und Flüchtigkeiten der gefühlten Vergemeinschaftung«; in: Ronald Hitzler/Anne Honer/Michaela Pfadenhauer (Hg.), Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen, Wiesbaden 2008, S. 89-111.) Keller veranschaulicht dies (ebd., S. 91f) folgendermaßen: »Der Zusammenhalt innerhalb dieser Stämme wird durch einen gemeinsamen ›hedonistischen Kult‹, dessen Rituale und normative Prinzipien sowie die dabei geteilten Empfindungen und Erfahrungen konstituiert. […] Beispiele für solche ›postmodernen Stammesbildungen‹ sind in der Diagnose Maffesolis beispielsweise die Gangs der Pariser Vorstädte, insbesondere jedoch die verschiedenen subkulturellen Szenen (Musik, Kunst u.a.), aber auch Anhängerschaften, die sich um charismatische Intellektuelle sammeln.« Keller selbst hatte Maffesolis Ausführungen zum Neotribalismus, wie er (vgl. ebd., S. 92) schreibt, schon in einer frühen Arbeit über einen deutsch-französischen Theorievergleich denen Ulrich Becks gegenübergestellt und kam zu dem Schluss, dass sich strukturell kein allzu großer Widerspruch ausmachen lasse. Denn auch Beck habe trotz seines Fokus auf Individualisierung auf das vermehrte Entstehen neuer Gruppen und freiwilliger, temporärer Gemeinschaften (wie etwa auch Bürgerinitiativen etc.) verwiesen. Des Weiteren schreibt Keller ebd., S. 93: »Die Idee des Neotribalismus ist, ebenso wie Becks Individualisierungsthese, in das Konzept der ›posttraditionalen Vergemeinschaftung‹ eingeflossen, das Ronald Hitzler (Keller verweist auf: Ronald Hitzler, »Posttraditionale Vergemeinschaftung. Über neue Formen der Sozialbindung; in: Berliner Debatte Initial, Jg. 9, 1, S. 8189) entwickelt hat.« Es gebe aber, vgl. Keller ebd., den Unterschied, dass Hitzler dabei verstärkt die Thematik von Sinn-Angeboten posttraditionaler Gemeinschaften an Individuen in den Blick nehme, während sich Maffesoli selbst überwiegend auf die irrationalen Grundlagen kollektiver Erlebnisweisen konzentriere. Zygmunt Bauman hat sich mit dem Phänomen der Exklusion auseinander gesetzt, in: ders., Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburg 2005. Vgl. Matthias Junge, Zygmunt Bauman. Soziologie zwischen Moderne und Flüchtiger Moderne. Eine Einführung, a.a.O., S. 117.

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angewiesenen, die aus welchen Gründen auch immer im sozialen Prozess Gescheiterten«138 . Menschen, »die der Flüchtigen Moderne nicht mehr genügen können. Sei es weil sie die falsche Wahl trafen. Sei es, weil sie vom Wählen ausgeschlossen und in die Mechanismen einer strafenden Staatsfürsorge überführt wurden.«139 Diese ›Unterschicht‹ der Flüchtigen Moderne sei ständig bemüht, die gesellschaftlich dargebotenen Identifikationsmöglichkeiten überhaupt zu erreichen bzw. bei deren Erreichung darauf zu achten, dass diese nicht in den destruktiven Tendenzen des Sozialisationsprozesses gleich wieder zerrieben werden.140 Für die ›Oberschicht‹ in der Flüchtigen Moderne dahingegen existiere dieses Exklusionsproblem nicht: Vergesellschaftung spielt sich für sie im Rahmen der Frage nach der Wahl des besten verfügbaren Identifikationsangebots oder -musters ab. Diese Eliten sind es, die beste Chancen vorfinden. Sie verfügen über »the ›confidence to dwell in disorder‹ and the ability to ›flourish in the midst of dislocation‹«.141 Sie profitieren von der Flüchtigkeit, während eine große Zahl Exkludierter jeden Halt zu verlieren droht. Die Erosion des Sozialen in der ›Liquid Modernity‹ lässt sie nicht untergehen, sondern spült sie nach oben. Diese Auflösung des Sozialen ist ein Resultat von politischen und ökonomischen Kräften, die vereint die neoliberale Umgestaltung erzwangen. Hand in Hand mit diesem Umbruch der Gesellschaft geht die verstärkte staatliche Repression. Die zunehmende Zahl von Gefängnissen und Gefangenen sei auch ein Phänomen der Flüchtigen Moderne, so Matthias Junge.142 Sie ist Ausdruck eines sich abzeichnenden Kontrollregimes, das sich »aus der Regulation sozialer Zusammenhänge«143 zurückgezogen hat und nunmehr bloß den Schutz der von ihm an deren Stelle installierten privaten Instanzen zu gewährleisten trachtet.144 Eine Gesellschaft ohne Soziales steht für Bauman am Ende dieser Entwicklung, eine Gesellschaft, so darf er verstanden werden, in der das Einsame im Sinne der allmächtigen privaten Interessen des Kapitals einerseits und der gesellschaftlich bis zur Atomisierung vereinzelten ohnmächtigen Individuen andererseits, nur zum Schein von ›falschen‹ (weil: entfremdeten) und belanglosen (weil eigentlich: beziehungslosen) Gemeinschaften kurzfristig aufgefangen wird. Zygmunt Bauman beschließt sein Werk Flüchtige Moderne mit den Worten: »Diese Gemeinschaften sind keineswegs die Lösung für das Leiden, das aus den unüberwindlichen Abgründen zwischen dem Schicksal der Individuen de iure und ihrer Bestimmung als Individuen de facto [Kursivsetzung durch Bauman] erwächst, vielmehr sind sie zugleich Symptom und Ursache jener für die flüchtigen Moderne so typischen sozialen Unordnung.«145 Die Einsamkeit der Individuen in der Flüchtigen Moderne sieht Bauman als so fundamental an, dass selbst die allerorten sich etablierenden, seinem Verständnis nach flüchtigen (Schein-)Gemeinschaften sie allenfalls kaschieren, aber keineswegs auffangen können. Ebd., S. 119; unter Verweis auf Matthias Junge/Götz Lechner (Hg.), Scheitern. Aspekte eines sozialen Phänomens, Wiesbaden 2004. 139 Ebd., S. 117. 140 Vgl. ebd., S. 117ff. 141 Zygmunt Bauman, The Individualized Society, Cambridge 2001, S. 38, zitiert nach Matthias Junge; ebd., S. 111. 142 Vgl. ebd., S. 119f. 143 Ebd., S. 121. 144 Ebd. 145 Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, a.a.O., S. 236. 138

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  Konvergenzen und Divergenzen zwischen den Gesellschaftsdiagnosen von Hardt/Negri und Bauman; sowie: Eine Kritik – Über gegenläufige Tendenzen in der Spätmoderne ■ Es stellt sich die Frage, ob die scheinbar so verschiedenen Gegenwartsdiagnosen der Individualisierung (Bauman) wie der Kollektivierung (Hardt/Negri) überhaupt miteinander vereinbar sind. Dazu müssten ›Punkte‹ lokalisiert werden, von denen beide möglicherweise einen gemeinsamen Ausgang nehmen oder an denen sie sich wiederum kreuzen. Diese Punkte aber lassen sich identifizieren; und zwar handelt es sich zum einen um einen beinahe identischen, praktisch-empirischen Ausgangspunkt, und zum anderen, um sich daraus ableitende, stärker divergierende (aber durchaus gedankliche Querbezüge erlaubende) inhaltlich-begriffliche Standpunkte. Der gemeinsame praktisch-empirische Ausgangspunkt beider Theorien liegt ganz zweifellos in der Diagnose eines Übergangs vom ›schweren‹ zum ›leichten‹ Kapitalismus (Bauman) bzw. vom ›industriellen‹ zum ›informationellen‹ Kapitalismus (Hardt/Negri). Dieser ›common ground‹ beider Theorieansätze strahlt nun gewissermaßen vom politökonomischen Bereich aus in den sozialkulturellen: Die atomisierten, vereinzelten Individuen, die sich lediglich in flüchtigen Gemeinschaften temporär zusammenfinden (Bauman) gleichen dabei allerdings erneut strukturell dem Theorem von den individuellen Singularitäten, die sich gemeinsam in einer Entität der Vielzahl, sprich: der Multitude (Hardt/Negri), wiederfinden.146 Ungeachtet der Tatsache, dass der Multitude von Hardt und Negri eigentlich ein Klassenkonzept zugrunde liegt, während Baumans flüchtige Gemeinschaften von Individuen dahingegen eher auf Basis eines ›Massenkonzepts‹ gedacht sein dürften, ist hier abermals eine gemeinsame Grundannahme hinter beiden Theorien überdeutlich zu erkennen: Neue Formen des Einsamen verschmelzen auf paradoxe und ambivalente (oder: hybride) Weise mit neuen Formen des Gemeinsamen. Der Widerspruch zwischen beiden Theorien ereignet sich also insbesondere auf der Ebene der inhaltlichen Deutung und begrifflichen Beschreibung dieses Sachverhaltes, wohingegen die strukturellen Grundannahmen durchaus vergleichbare sind. Das inhaltlich-begriffliche Konzept einer anonymen, vereinzelnden Masse, das Bauman zum Verständnis der ›neuen‹ Lebensrealität im ›leichten Kapitalismus‹ anbietet, fußt dabei genauso wie das Konzept der Multitude als einer neuen Klasse in der ›informatisierten Ökonomie‹, welches Hardt und Negri offerieren, auf einer ähnlich gelagerten Analyse der empirisch zu beobachtenden Praxis. Denn beide Theorien konstatieren hier eigentlich nur den Bedeutungsverlust des Proletariats, der sich aus dem schleichenden Wandel des vormals ›schweren‹, ›industriellen‹ Kapitalismus hin zum ›leichten‹, ›informatisierten‹ ergibt. Nur konzentrieren sich Hardt und Negri darauf, zu eruieren, welche Tendenzen auf die Manifestation einer neuen, und noch umfassenderen, ›Klasse‹, nämlich: der Multitude, verweisen, während Bauman den sozialen wie politischen Zerfall des Proletariats bloß in die Etablierung einer nunmehr vermeintlich anonymen Masse münden sieht. Den Niedergang der Arbeiterklasse in der ›Flüchtigen

146 Rainer Funk diagnostiziert ganz generell, dass sich »Grenzenlose Individualisierung und entgrenztes Verbundensein« in der Gegenwart gleichzeitig ereigneten. Siehe dazu v.a. das gleichnamige Kap., in: ders., Der entgrenzte Mensch. Warum ein Leben ohne Grenzen nicht frei, sondern abhängig macht, a.a.O., S. 71-75.

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Moderne‹ setzt Bauman allzu schnell gleich mit einem ›Sieg‹ des Kapitals; die Auflösung des Sozialen und des Öffentlichen vermag er nur unter dem Gesichtspunkt einer Hegemonie des Privaten zu betrachten. Hardt und Negri dahingegen erblicken im Niedergang des Proletariats die Transformation zur Multitude, und in der Auflösung des Sozialen wie des Öffentlichen die Geburt des Gemeinsamen. Doch noch auf einem weiteren Gebiet sind Parallelen zwischen beiden Theoriegebäuden in der Analyse zu erkennen, die sich bald zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen in der Deutung auswachsen. Die Analyse beider zentriert sich zunächst einmal um die so augenscheinlichen, entdifferenzierenden bzw. entgrenzenden Strukturlogiken der Spätmoderne. Bei Bauman erfüllt die Metapher des ›Flüssigen‹ und ›Flüchtigen‹ den Zweck, dieses Charakteristikum der ›Liquid Modernity‹ zu umschreiben; bei Hardt und Negri werden die Begriffe ›jenseits des Maßes‹ und ›außerhalb des Maßes‹ ins theoretische Feld geführt, um diese spezifischen Phänomene der ›Alter-Moderne‹ diskutieren zu können. Ganz offensichtlich handelt es sich hier also, wenn nicht um identische, so doch um kongruente Ausgangs-Diagnosen. Und gleichwohl ist es erneut die weiterführende Interpretation dieser Diagnosen, die eine Divergenz zwischen beiden Theorien konstituiert. Denn wo für Bauman die Effekte des Verflüssigens und Verflüchtigens eine Auflösung aller Halt und Stütze gewährenden sozialen Instanzen mit sich bringen, und die Individuen so in die ›soziale Unordnung‹ stürzen, vermeinen Hardt und Negri zu erkennen, wie vormals begrenzende und einengende soziokulturelle wie politökonomische Verhältnisse gesprengt werden, um einesteils zwar dem Kapital (globalen) Raum zu geben, andernteils jedoch auch der Multitude, als (universaler) Klasse, den Weg überhaupt erst frei zu machen. Was für Bauman der Untergang der Gesellschaft wie wir sie kennen ist, ist für Hardt und Negri der Beginn einer Welt, wie wir sie erst erahnen. Wenn man aber mit Marcuse begreift, dass es das Realitätsprinzip ist, das jegliches Maß psychosozial überhaupt erst setzt, und dass das Lustprinzip die Verkörperung alles Maßlosen bewirkt, wird offensichtlich, wie sehr es eben das herausragende Charakteristikum der Spätmoderne ist, ein neues, versöhnlicheres Realitätsprinzip zu etablieren, wenn nicht sogar den Sieg des Lustprinzips vorzubereiten. Gesamtgesellschaftliche Beziehungsgeflechte oder Verweisungszusammenhänge, die als thanatomorph zu bezeichnen sind, hybridisieren sich mit solchen, die als biomorphe beschrieben werden können, zu polymorphen. Scheinbar gegenläufige Tendenzen gehen Synthesen ein. Am Ende steht das von Marcuse angedeutete, neue Verhältnis von Eros und Thanatos, und zwar eben nicht nur im Raum der Psyche der Subjekte, sondern eben auch im Raum der sozialen Dynamiken. Es ist Hans-Joachim Busch, der in Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft unter Rekurs auf Freud eine solche Überlegung nahelegt: »Ich halte es für durchaus angemessen, die spätmoderne Risikogesellschaft als den Schauplatz zu charakterisieren, auf dem sich Eros und Todestrieb genau jene von Freud schon vorausgesehene Entscheidungsschlacht liefern, von deren Ausgang abhängt, ob die destruktiven Antriebskräfte mit Hilfe des unvorstellbaren Vernichtungspotentials menschliches Leben auf unserem Planeten auslöschen oder doch jedenfalls bis zur Unkenntlichkeit verzerren (etwa über Reproduktionstechnologie, künstliche Intelligenz usw.) oder ob Eros die Oberhand behält und den Prozeß technolo-

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gischer Entwicklung und Innovation sozialökologisch verträglich nach Maßgabe eines gemeinsam geteilten Begriffs der Unversehrbarkeit menschlichen Lebens und menschlicher Würde zu steuern vermag.«147 Dabei argumentiert Busch (auch im Einklang mit Marcuse) mit einer neuen, gesamtgesellschaftlichen, wohl: mehr sinnlichen, Vernunft, die sich immer dann herausbildet wenn Eros zur dominierenden Dynamik wird. Eine solche universale Vernunft würde dann die einseitig instrumentelle und zweckrationale Ratio der Moderne überwinden. Im Gegensatz also zu Bauman, der das Ende jeglicher sozialen Emanzipation befürchtet, sowie zu Hardt und Negri, die soziale Befreiung als implizites Projekt einer neuen, universalen Klasse, der Multitude, verstehen, werden von Busch libertäre Impulse so als angelegt gedacht, auch in einer mit menschlichen und natürlichen Bedürfnissen im Einklang stehenden ›Lebenspolitik‹ in alltäglicher Praxis.148 Eine »pragmatisch-integrative (das heißt mehrheitsfähige) Politik des Friedens, der Solidarität, Demokratisierung und ökologischen Vernunft«149 böte die Grundlage, den persistierenden Konflikt zwischen Triebstruktur und Kultur wenn schon nicht gleich zu überwinden, so doch wenigstens erst einmal ins politische Bewusstsein zu rücken.150 Es ginge also grundsätzlich darum, im Sinne einer dezidierten ›Lebenspolitik‹ gezielt und bewusst diejenigen gesellschaftlichen Kräfte und Mechanismen zu fördern, die in Gegenwart wie Zukunft auf eine Überwindung des Antagonismus von Triebstruktur und Kultur einerseits, sowie Eros und Thanatos andererseits, hinwirken. Vor diesem Hintergrund aber muss dann an Bauman wie an Hardt und Negri kritisiert werden, dass sie sich durchaus als Protagonisten des gesellschaftlich ›Unbewussten‹ erweisen, wenngleich auch auf unterschiedliche Art und Weise. So verschwindet etwa für Bauman mit der Bedeutung des Proletariats ja jegliches Klassenbewusstsein und damit auch aller Kampf um eine Verbesserung des Bestehenden; die nunmehr in der Masse vereinzelten Individuen fallen als politische Kategorie völlig aus – der Kampf um soziale Emanzipation scheint verloren. Für Hardt und Negri wiederum besitzt die Multitude ebenfalls kein Bewusstsein, das auch nur in die Nähe eines Begriffs von Klassenbewusstsein gerückt werden kann; geradezu unbewusst (wenngleich von Wissen durchzogen) schickt sie sich – allein ihren inneren Impulsen gehorchend – an, sich aus der sie einengenden, politökonomischen Struktur des Empire zu entwinden. Die Zwangsläufigkeit dieses Prozesses aber scheint, so muss Hardt und Negri entgegengehalten werden, objektiv nicht garantiert; und die Gefahr des Umkippens in destruktive Impulse und damit thanatomorphe relationale Formationen innerhalb der Multitude wird von Hardt und Negri nur unzureichend reflektiert.151 Hier zeigt sich ganz deutlich das mangelhafte Triebverständnis von Hardt Hans-Joachim Busch, Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Konzeptionelle Schwierigkeiten und Möglichkeiten psychoanalytisch-sozialpsychologischer Zeitdiagnose, a.a.O., S. 275f. 148 Vgl. ebd., S. 276. 149 Ebd., S. 277. 150 Vgl., ebd., S. 276. 151 So implizieren Hardt und Negri beispielsweise wenn sie die Multitude als »von Liebe besessen [eig. Hervorhebung]« charakterisieren, dass die Bewusstmachung dieses vermeintlichen und durchaus auch problematischen Faktums der Multitude selbst kaum möglich ist. Allein die Theoretiker Hardt und Negri untersuchen auf bewusste Weise wie ›Liebe‹ sich in der Praxis der Multitude ausdrückt: Und zwar als ebenso zwiespältig wie Liebe sich auch im Individuum manifestiert; 147

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und Negri, genauso wie ihr unzureichender Zugang zum Unbewussten. Die Bewusstmachung der Widersprüche aber, die Busch gerade mit dem Verweis auf das Konzept von ›Lebenspolitik‹ ins Zentrum seiner theoretischen Ausführungen stellt, ist, ganz im Sinne der psychoanalytischen Tradition, auch sozial das Mittel der Wahl, um emanzipatorische Politik – und damit die Gestaltung von Gesellschaft – realisieren zu können.   Spätmoderne Paradoxien und polymorphe relationale Formationen – Zur Emergenz neuer Gesellschaftsformen ■ Die spätmodernen Paradoxien und Widersprüche treten allein schon in den Konvergenzen und Divergenzen zwischen der Gesellschaftstheorie Hardts und Negris einerseits, und der Baumans andererseits, offen zutage. Löst man sich aber ein Stück weit von Hardts und Negris Vorstellungen von einem netzwerkartig organisierten ›Empire‹ (dem eine netzwerkartig strukturierte, kollektive ›Multitude‹ aus irreduziblen Singularitäten gegenüber steht), genauso wie von Baumans Diagnose einer neoliberal verflüchtigten und postgesellschaftlichen Welt-Ordnung (der eine in bloßen Scheingemeinschaften temporär zusammenkommende Schar eigentlich atomisierter Individuen entspricht) ist es – unter Berücksichtigung der bisher hier dargelegten Ausführungen – möglich, zu einem etwas anderen Bild zu gelangen. Imaginiert man den globalen Raum – in seinen diversen politökonomischen wie soziokulturellen Ausmaßen – als durchsetzt von unzähligen sich überschneidenden Polit-, Produktions- und Sozialräumen, die konstituiert sind durch multiple intersubjektive Netzwerkstrukturen mit objektbeziehungstheoretischen Implikationen; kurz: Lässt man das Bild eines derart aufgespannten Beziehungs-Universums verschiedenster relationaler Formationen vor seinem inneren Auge erstehen – so durchziehen Welten des Gemeinsamen, wie Orte des Einsamen, gleich relationalen Galaxien, den Raum. Deren Zentren bilden gravitative Instanzen: nämlich relationale Komplexe. Um diese wirbeln die Bezugssysteme: die von Mensch zu Mensch und die von Mensch zu Ding.

nämlich als entweder das Wohlergehen des Anderen fördernd, oder aber, im Gegensatz dazu, in einer für die Eigenständigkeit des Anderen auch blinden und vereinnahmenden Liebe. Letzteren Fall erachten sie auch für die ›Liebe‹ der Multitude als möglich. Diese Form der Liebe beschreiben sie zutreffend als ›korrumpierte‹. Solange aber der Multitude diese unbewussten psychischen Dynamiken, die ihrem sozialen Charakter zugrunde liegen nicht begreiflich werden, ist sie folglich gezwungen, ihnen zu gehorchen. Eine bewusste Steuerung dieser Triebimpulse aber wäre der Schritt, der die Multitude als kollektive Entität erst wirklich ›souverän‹ machte. Unterbleibt dies, ist sie gegen die schädlichen Wirkungen von identifikatorischer oder aber manipulativer ›Liebe‹ – und damit von verzerrten sozialen Objektivationen von Emotion – nicht gefeit. Die Möglichkeiten für die Multitude, dieses Bewusstsein ihrer selbst zu erlangen, ist aber von Hardt und Negri kaum theoretisiert. Die theoretische Blindheit gegenüber der Psychoanalyse rächt sie hier dergestalt, dass die Bedingungen zur sozialen Emanzipation nur unzureichend beschrieben werden können. Das theoretische ›Kreisen‹ um Begehren und Liebe, wie von Hardt und Negri immer wieder vollzogen, ergibt sich aus der Tatsache, dass sie weder über einen adäquaten psychosozialen Zugang zur Triebstruktur noch zum Unbewussten oder Bewussten verfügen. Notwendig verbleiben in ihrem Theoriegebäude so ›blinde Flecken‹ und Unschärfen. Einer dieser ›blinden Flecken‹ und Unschärfen wäre zudem die Frage, ob nicht die Multitude wenn sie schon von ›Liebe besessen‹ ist, nicht auch von Hass besessen sein kann, oder ob sie dann per definitionem lediglich nicht mehr die Multitude wäre. Eine befriedigende Antwort darauf bleiben Michael Hardt und Antonio Negri schuldig. Siehe dazu: dies., Common Wealth. Das Ende des Eigentums, a.a.O., S. 192-201.

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Clusterbildungen, Verdichtungen, bilden sich da, wo Eros anzieht; Auflösungen und versprengte Haufen, dort, wo Thanatos die Elemente voneinander abstößt. Integrative, inklusive Kräfte wirken, und solche der Desintegration und Exklusion. Diese Bewegungen komprimieren und dekomprimieren den Raum, schaffen Mehrebenensysteme aus pluridimensionalen Netzwerken. Diese dynamisieren sich, oder erstarren. Ganze Netzwerke befinden sich auf Verschmelzungs- oder Kollisionskurs zueinander oder streben immer weiter voneinander weg ins Einsame, bersten auseinander oder fallen auch in eins. Strudel bilden sich im Raum, Netzwerke verlieren sich darin oder ihre Subjekte, und formieren sich aufs Neue. Aus diesen Bewegungen gehen auch Hybride hervor: Polymorphe relationale Formationen, die Logiken von biomorphen wie thanatomorphen in sich neu vereinen. Widersprüche, die nicht auseinanderreißen, führen zum Verschmelzen: Paradoxe Gebilde tun sich auf; Ordnung und Chaos liegen nahe beieinander. Denn Ordnung entsteht als Struktur aus dem Amorphen: (Trieb-)Energien kristallisieren sich zu relationalen Gebilden, im psychischen Mikro-, wie im global-sozialen Makro-Raum. Kurz: Der ›Urknall‹ (um an die Diktion von Henning Laux zu erinnern) zu einem neuen, spätmodernen Sozialkosmos fand bereits statt. Wie und in bzw. zu welcher Form sich die einmal entfesselten Kräfte alsdann stabilisieren, wird sich erst zeigen. Für Henning Laux markieren Netzwerke als Übergangsphänomene den Beginn einer neu sich abzeichnenden Epoche, welche sich nicht mehr über den Begriff der ›Gemeinschaft‹, und auch nicht mehr über den der ›Gesellschaft‹, adäquat beschreiben lassen wird. Aus dieser Perspektive schreibt er: »Mein sozialtheoretisch fundierter Gegenvorschlag [zu rein infrastrukturell verstandenen Netzwerken, eig. Anm.]152 lautet, Netzwerke als transhistorische Fundamente von Sozialität zu begreifen, die hervortreten, wenn es an institutionellen Festlegungen mangelt. Wenn Kollektive in einen Prozess der radikalen Neuvermessung [eig. Hervorhebung] eintreten, dann werden eingeschliffene Routinen, Deutungsmuster und Erwartungen irritiert. Die vertrauten Codes und Skripte verblassen und das Soziale wird zu einer Frage. Nur in derartigen Ausnahmesituationen werden die feinen Netze, also die Elemente aus denen das Soziale besteht, entblößt. Die Tatsache, dass es in der Spätmoderne überall von Netzwerkstrukturen wimmelt, erklärt sich dann aus dem Umstand, dass es nicht gelingt, institutionelle Gleichgewichtspunkte zu finden. Die Multiplizierung der Optionen, die überbordende Steigerung von Komplexität und die Ausbreitung von Unschärfen und Kontingenzen, deuten darauf hin, dass sich die postgesellschaftliche Ordnung noch im Kommen befindet, sie ist unabgeschlossen, 152

Henning Laux kritisiert damit Castells stark medial-infrastrukturell orientierte Theorie der ›Netzwerkgesellschaft‹: »Castells sieht sich durch die Omnipräsenz der Netzwerke nicht zu einer kritischen Inventarisierung der gesellschaftstheoretischen Grundbegriffe veranlasst. Er begnügt sich über weite Strecken mit der detaillreichen Beschreibung einer Gesellschaft, die online geht und deren Macht-Wissen-Komplexe dadurch in Bewegung geraten. […] Wenn man so definiert wie Castells, dann verwandelt sich jede Form von Sozialität an der Internettechnologie in irgendeiner Weise beteiligt ist, in ein Netzwerk. Damit verkümmert nicht nur die phänomenologische Reichhaltigkeit des Begriffs, der Ausdruck verliert darüber hinaus den Kontakt zum gesellschaftstheoretischen Wissensbestand. Kurzum: Ich glaube nicht, dass Castellsʼ Begriffstrategie besonders weit trägt. [Hervorhebung durch Henning Laux]« In: ders., Soziologie im Zeitalter der Komposition. Koordinaten einer integrativen Netzwerktheorie, a.a.O., S. 235f.

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umkämpft, prekär und reversibel. Eine dauerhafte Schließung und Stabilisierung von Situationen durch Strukturbildung will in vielen Bereichen einfach nicht gelingen. Weil gesellschaftlich strukturierte Beziehungen allmählich zerfallen, muss Sozialität nun per networking [Hervorhebung durch Laux] gestiftet werden. Nur deshalb überschwemmen [eig. Hervorhebung] die Netzwerke gerade den Globus.153 In der von Laux so treffend konstatierten ›Neuvermessung‹ des Sozialen aber deutet sich bereits ein neuer Maßstab an, der sich an das soziale Leben richtet, und der wohl in seiner ganzen Tragweite am deutlichsten ersichtlich wird, wenn man ihm die These vom Aufkommen eines neu gearteten, versöhnlicheren Realitätsprinzip in der Spätmoderne zugrunde legt. Paradoxe Hybridisierungen zwischen einem maßlosen Lustprinzip und einem bemessen(d)en Realitätsprinzip ereignen sich in der Spätmoderne im selben Umfang, wie sich in der Ökonomie oder im Sozialen Hybridisierungen jeglicher Art in immer höheren Grad etablieren. Das ganze Normensystem der Spätmoderne kann, wie bereits geschildert, mehr oder minder als paradox bezeichnet werden. Davon betroffen sind selbstverständlich gerade auch implizite Normierungen, wie sie sich aus legitimatorischen Deutungskämpfen in der Lebenswelt ergeben. Neben den »Paradoxien der Arbeit«154 gilt es daher auch und gerade die spätmodernen ›Paradoxien von Sexualität‹ in den Blick zu nehmen. Die spätmoderne Transformation der Ökonomie vollzieht sich nämlich parallel zu einem zu beobachtenden »kulturellen Wandel der Sexualität«155 . Den Anstoß zu diesem kulturellen Wandel der Sexualität gab bekanntlich die sexuelle Revolution der 60er und 70er Jahre; genauso wie den Anstoß zum Wandel der kapitalistischen Ökonomie in vielerlei Hinsicht die ebenfalls zu dieser Zeit laut werdenden, non-konformen Rufe nach mehr Freiheit und Selbstverwirklichung gaben.156 Anders gesprochen: So wie die konventionelle und kontraktistische bürgerliche Ehe als Lebensform und normatives Ideal zunehmend ins Wanken geriet, indem mehr und mehr unkonventionelle Formen der zwischenmenschlich ausgehandelten ›reinen Beziehung‹ an ihre Stelle traten, so vollzog sich in den Arbeitsformen ein Wandel von rigiden Zeitund Disziplinarregimen hin zu Produktionsweisen, die den kreativen, ›lebensweltlichen‹ Forderungen nach Autonomie und Mit- oder Selbstbestimmung (real oder wenigstens symbolisch) nachzukommen hatten. Lebensweltliche und systemische Transformationsprozesse vollzogen sich parallel und leiteten die Konstitution der spätmodernen Epoche als paradoxales (Übergangs-)Phänomen überhaupt erst ein. Nicht aber als ›Sieg‹ des Lustprinzips im lebensweltlichen wie systemischen Bereich vollzog sich diese Transformation, sondern eben als paradoxe Verwandlung des herrschenden Realitätsprinzips. Und so gestaltete sich dieser umfängliche kulturelle Wandel – wie vielleicht 153 154 155 156

Ebd., a.a.O., S. 236. Siehe dazu: Sophie-Thérese Krempl, Paradoxien der Arbeit oder: Sinn und Zweck des Subjektes im Kapitalismus, a.a.O. Siehe dazu: Gunter Schmidt/Bernhard Strauß (Hg.), Sexualität und Spätmoderne. Über den kulturellen Wandel der Sexualität, Gießen 2002. Gemeinhin wird die von Forderungen nach mehr Autonomie und Selbstbestimmung getragene Kritik an der kapitalistischen Arbeitsrealität auch unter dem Schlagwort der ›Künstlerkritik‹ thematisiert. Siehe dazu bspw. auch die Ausführungen zur ›Künstlerkritik‹, in: Sophie-Thérese Krempl, Paradoxien der Arbeit oder: Sinn und Zweck des Subjektes im Kapitalismus, a.a.O., S. 180-185.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

bei allen Revolutionen – als dialektischer Prozess aus Brüchen, Ungleichzeitigkeiten, Unvollständigkeiten, Widersprüchen, Amalgamierungen, Hybridisierungen, und eben: paradoxen und ambivalenten Antithesen und Synthesen aus ›Altem‹ und ›Neuem‹.157 Rückschritte wie Fortschritte wechselten sich ab; Reaktionäres und Emanzipatorisches begegneten als oftmals ineinander vermengt. Volkmar Sigusch begreift bezeichnenderweise in dieser Hinsicht die sexuelle Revolution der 60er und 70er Jahre gewissermaßen als Gründungsszenario, auf das dann in den 80er und 90er Jahren, als eine weitere Etappe, die von ihm sog. ›neosexuelle Revolution‹ folgte.158 Dabei ist die neosexuelle Revolution (ganz im Sinne der obigen Schilderung) nicht bloß eine Ausdehnung der Reichweite und Intensität des Ursprungsereignisses, sondern eben dessen komplexe Überspitzung als Vermengung reaktionärer wie progressiver Elemente zu etwas ›Neuem‹: »Die neosexuelle Revolution zerlegt die alte Sexualität und setzt sie neu zusammen. Dadurch treten Dimensionen, Intimbeziehungen, Präferenzen und Sexualfragmente hervor, die bisher verschüttet waren, keinen Namen hatten oder gar nicht existierten. Insgesamt verlor die Kulturform Sexualität an symbolischer Bedeutung. Heute ist Sexualität nicht mehr die große Metapher der Lust und des Glücks, wird nicht mehr so stark überschätzt wie zur Zeit der sexuellen Revolution, ist eher eine allgemeine Selbstverständlichkeit wie Egoismus oder Motilität. Während die alte Sexualität positiv mystifiziert wurde als Rausch, Ekstase und Transgression wird die neue negativ mystifiziert als Ungleichheit der Geschlechter, als Gewalt, Mißbrauch und tödliche Infektion. Während die alte Sexualität vor allem aus Trieb, Orgasmus und dem heterosexuellen Paar bestand, bestehen die Neosexualitäten vor allem aus gender difference, Selbstliebe, Thrills und Prothetisierungen.«159 Sigusch hat aus »der Unzahl der miteinander vernetzten Prozesse, die Neosexualitäten hervorbringen« insbesondere »drei herausgegriffen«:160 »Erstens die Dissoziation der sexuellen Sphäre, das heißt vor allem die diskursive Abtrennung und Überhöhung der geschlechtlichen Sphäre, so daß das punctum saliens nicht mehr das Triebschicksal ist, sondern die Geschlechterdifferenz, verbunden mit einer Dissoziation der geschlechtlichen Sphäre selbst i. S. von sex, gender role, gender identity, gender blending, transgenderism usw.; ferner die Dissoziation der Sphäre des sexuellen Erlebens von der des Sexualkörpers, insbesondere durch Simulationsund Virtualisierungsprozesse und den Vormarsch der medizinischen Somatherapien, 157

Der Frage, inwieweit die (Gesellschafts-)Theorie der zu beobachtenden Zunahme von (ggf. konfliktuösen) Unschärfen und Vermischungen in Praxis-Phänomen jeder Art über eine Revision ihrer Termini Rechnung zu tragen hat, geht Martin Hartmann nach, in: ders., »Widersprüche, Ambivalenzen, Paradoxien. Begriffliche Wandlungen in der neueren Gesellschaftstheorie »; in: Axel Honneth (Hg.), Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt a.M. 2002, S. 221-251. 158 Vgl. Volkmar Sigusch, »Kritische Sexualwissenschaft und die große Erzählung vom Wandel«; in: Gunter Schmidt/Bernhard Strauß (Hg.), Sexualität und Spätmoderne. Über den kulturellen Wandel der Sexualität, a.a.O., S. 12. 159 Ebd., S. 12f. 160 Ebd., S. 13.

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und schließlich die diskursive Trennung der libidinösen und destruktiven Sphäre […]. Zweitens habe ich als Prozeß herausgegriffen die Dispersion der sexuellen Partikel, Fragmente, Segmente und Lebensweisen, die vor allem durch Kommerzialisierung und Mediatisierung erfolgt. Die Stichworte lauten Sex in der Werbung, warenästhetische Indienstnahme des Erotischen – und Sexindustrie […]. In der Dispersion sehe ich einen Ausgangsmechanismus jenes Prozesses, den ich seit Jahren Ver- und Entstofflichung nenne. Er zwingt die einzelnen Allgemeinen ins System, indem er sie aus allem, was als Ganzes gedacht werden könnte herausreißt. Dispersion entwurzelt, fragmentiert, und anonymisiert die Individuen; zugleich werden sie durch diesen Mechanismus diversifiziert, vernetzt und unterhaltsam zerstreut […]. Drittens habe ich herausgegriffen die Diversifikationen und Deregulierung der Intimbeziehungen […]. Die Stichworte lauten: Entwertung der Herkunftsfamilie, Schrumpfen der Kleinfamilie zur Kleinstfamilie, in der ein Individuum seine eigene Familie ist, Vervielfältigung der Beziehungs- und Lebensformen, Idealisierung disperser Lifestyles, Differenzierung der alten Hetero- und Homosexualität, Selbstdefinition und Pluralisierung ehemaliger Perversionen als gesunde Neosexualitäten, Auftritt alter Potentialitäten als neuartige Sexual- und Geschlechtsweisen […], Zwang zur Vielfalt und Intimisierung, Exklusivierung von Eltern-Kind- und Mann-Frau-Beziehungen i. S. von Beziehungsbeziehungen, neue Scham-, Ekel-, Desensibilisierungs- und Zurückweisungsstandards usw. usf. [Hervorhebungen durch Sigusch]«161 Sigusch führt also ein eindrückliches Panorama der Emergenz von Neosexualität(en) vor Augen, deren bestechende Paradoxien und Hybridisierungen zwischen ›Altem‹ und ›Neuem‹, zwischen reaktionären und progressiven Tendenzen, kaum weiter erläutert zu werden brauchen. Dieser Rundumblick auf die Konstitutionsbedingungen spätmoderner Sexualität(en) ist dazu angetan, gerade den Charakter des Vorläufigen, Unabgeschlossenen, Suchenden, Sich-Entwickelnden, wie er die spätmoderne Sexualmoral ausmacht, klar herauszustellen. Selbst bis tief hinein in Siguschs Formulierungen (wie etwa der des ›einzelnen Allgemeinen‹) ist diese Hybridität und Paradoxie erkennbar: Denn was wäre eine treffendere Formulierung der paradoxalen Verschmelzung des Gemeinsamen mit dem Einsamen, als die des ›einzelnen Allgemeinen‹? Gleichfalls benennt er auch den Effekt der Verschiebung der Scham- und Ekelgrenzen, der mit der Enttabuisierung polymorph-perverser Ausprägungen von Sexualität einhergeht, und macht ersichtlich, dass diesbezüglich eine Neu-Normierung libidinöser Ausprägungen sich abzeichnet, die nicht zwangsläufig als emanzipatorisch gewertet werden kann. Der bunte Reigen an spätmodernen Sexualitäten hat eben auch seine (neuen oder alten) Abgründe. Die Spätmoderne zeigt sich einmal mehr als unvollendete Epoche, deren finale Gestalt keineswegs gewiss ist. Dabei deuten sich allerdings auch Tendenzen an, wie Marcuse sie vorausgesagt hatte, die eine Einbettung als polymorph-pervers erachteter, auch destruktiver Bestrebungen, in eine gelungene Lebensführung ohne Schädigung seiner selbst oder anderer, erlauben, und so zu einer neuen, geradezu spielerischen ›Normalität‹ werden:

161

Ebd., S. 13-15.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

»Die neuen Selbstpraktiken, beispielsweise fetischistische und sadomasochistische, die mit großer Selbstverständlichkeit inszeniert werden, sind insofern typische Neosexualitäten, als das triebhafte Sexuelle im alten Sinn nicht mehr im Vordergrund steht. Sie sind zugleich sexuell und nonsexuell, weil Selbstwertgefühl, Homöostase und Befriedigung nicht nur aus der Mystifikation der Triebliebe und dem Phantasma der orgastischen Verschmelzung beim Geschlechtsverkehr gezogen werden, sondern ebenso aus dem Thrill, der mit der nonsexuellen Selbstpreisgabe und der narzißtischen Selbsterfindung einhergeht. Und schließlich oszillieren sie zwischen fest und flüssig, identisch und unidentisch und sind oft sehr viel passagerer als ihre fixierten Vorgänger. [Eig. Hervorhebungen]«162 Nicht nur also, dass Sigusch die auch präödipalen und (primär-)narzisstischen Quellen von Sexualität hervorhebt, die ja gemeinhin das Stigma des Polymorph-Perversen tragen, nein, er benennt auch noch das Oszillieren zwischen (ans maßlose Selbst wie bemessene Ich erinnernden) festen und flüssigen Persönlichkeits- oder Interaktionsmodi und die damit verbundene Selbstpreisgabe und Selbsterfindung als Quellen einer erotischen – aber nicht zwangsweise allein auf die Befriedigung des Geschlechtstriebs gerichteten – Lust. Die Dimension der schrittweisen Verwirklichung eines neuen Realitätsprinzips unter immer größerer Einbeziehung der ›anderen Realität‹ des Lustprinzips wird hier ganz offensichtlich. Das Polymorphe als Begriff ist aber selbstverständlich inhaltlich nicht auf die psychosexuelle Voreindeutigkeit der prägenitalen Sexualität begrenzt (auch wenn es in diesem Zusammenhang gemeinhin verwendet wird). Als Begriff beschreibt es zuersteinmal einfach eine Vielgestaltigkeit. Es ist damit abgegrenzt vom Amorphen (dem Ungestalteten) und etwa dem bio- oder thanatomorphen (als spezifisch triebtheoretisch grundierten Gestaltgebungen); das Polymorphe beschreibt, so wie es hier verwendet werden soll, einfach die pluriformalen und paradoxalen Ausprägungen von (bio-thanatomorphen) Hybridisierungen. Diese werden nicht allein in den mehr avantgardistischen (Neo-)Sexualitäten überdeutlich, sondern zeichnen sich auch in den progressiven Umwandlungen schon der (nur scheinbar) noch etwas konventionelleren PaarBeziehungen ab. Denn selbst in der vielleicht kleinsten intersubjektiven, vom Eros geprägten Einheit, dem ›Liebespaar‹, zeigt sich wie das Maßlose eigene und neue Maßstäbe zu setzen in der Lage ist; und zwar kooperative, wenngleich nicht widerspruchsfreie. Die Paarbeziehung wird heute oftmals als ›Abklatsch‹ der bürgerlichen Ehe gesehen; dabei wird vergessen, dass doch die Paarbeziehung, auch in ihrer romantisierten Form, die stärker sachlich orientierte bürgerliche Ehe seit jeher auch radikal infrage stellte. Kai-Olaf Maiwald verweist in diesem Zusammenhang auf »Paradoxien heutiger Paarbeziehungen«163 . Als Folge von Prozessen der Enttraditionalisierung habe das bürgerliche Modell der Arbeitsteilung in der Paarbeziehung seine Verbindlichkeit (zumindest im gesamtgesellschaftlichen Konsens) größtenteils eingebüßt. Männern werde nicht mehr zwangsläufig exklusiv die Berufstätigkeit zugeordnet, Frauen würde nicht mehr 162 163

Ebd., S. 15f. Kai-Olaf Maiwald, »Modern und doch traditional? Paradoxien heutiger Paarbeziehungen«; in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 8. Jg., 1/2011, S. 86-92.

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automatisch die Zuständigkeit im Bereich der Hausarbeit und Kindererziehung zugeschrieben. Daher müsse nun die Arbeitsteilung ausgehandelt werden.164 Angesichts dieser Tatsache aber werde die dennoch zu beobachtende Fortdauer »geschlechtstypischer Ungleichheitsstrukturen zu einem paradoxen Befund«165 : »Wie ist es möglich, dass die Auflösung traditioneller Geschlechternormen im Namen insbesondere der Gleichheit der Geschlechter mit einer Reproduktion alter Ungleichheitsstrukturen einhergeht? […] Die Identifikation von Paradoxien dieser Art verlangt Erklärungen eines besonderen Typs. Wir haben es hier mit Entwicklungen zu tun, die deshalb ›paradox‹ genannt werden können, weil in ihnen der Gehalt normativer Errungenschaften durch etwas konterkariert wird, das im Handeln der Akteure selbst begründet ist, das ihren bewussten Orientierungen aber gegenübersteht. Gesucht werden also jene latenten Strukturen, die im vorliegenden Zusammenhang unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der Akteure wirksam sind.«166 Es müssten also unbewusste Momente auch seitens der gesellschaftlichen Praxis produziert werden, die deren bewusste Normsetzung unterlaufen, und jene daher ›paradox‹ macht. Das Maßlose, das sich bezüglich der Geschlechterordnung im bewussten Wunsch nach Gleichheit ausdrückt, geht hierbei nur allzu oft Synthesen mit dem Maß des traditionellen und hierarchischen Geschlechtverständnisses ein. Dabei erweist sich die Paarbeziehung in der Spätmoderne doch schon als intersubjektives Moment, das die bürgerliche, vertraglich geregelte Institution der Ehe nicht nur ergänzt, sondern auch unterminiert: »Im Prozess der Paarbildung muss heutzutage vielmehr ein Mindestmaß an Gemeinsamkeiten hergestellt werden. […] Dieser gemeinsam geteilte Modus der Kooperation mit seinen gemeinsam entwickelten Standards kennzeichnet ganz wesentlich die Besonderheit der einzelnen Paarbeziehung. [Eig. Hervorhebungen]«167 Wenn nun aber Maiwald das heutige Paar sogar als »Kollektiv«168 (im Kleinen) begreift, wird vollends offensichtlich, dass die spätmoderne Paarbeziehung nicht nur die Institution der Ehe entgrenzt hat, sondern einen weit größeren Radius der Entgrenzung bereits verkörpert. Denn das maßlos Gemeinsame des Paares verweist bereits auf das maßlos Gemeinsame in der gesamtgesellschaftlichen Praxis: Es ist geprägt vom »gemeinsam geteilten Modus der Kooperation«169 und es ist durchtränkt vom Wunsch nach Überschreitung der eigenen Grenzen zum Anderen hin, vom Verlangen nach Entgrenzung des bemessen Individuellen im maßlos Gemeinsamen. Lebensweltliche Dynamiken, so ließe sich diese Bewegung in habermasschen Begriffen umschreiben, drängten in systemische. Umgekehrt nähmen sich Paradoxien von Paarbeziehungen dann aus als widersprüchliche Verschmelzungen systemisch normativer Begrenzungen mit zwischenmenschlich vom entgrenzenden Eros geprägten, lebensweltlichen Beziehungen; und zwar indem

164 165 166 167 168 169

Vgl. ebd., S. 87. Ebd. Ebd. Ebd., S. 90. Ebd., S. 89. Ebd., 90.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

»die Beziehungen Kategorien unterworfen werden, die eigentlich anderen gesellschaftlichen Sphären zugehören: den Sphären der Marktbeziehung und der politischen Öffentlichkeit.«170 Die bereits vorgebrachte These von der Verschmelzung von Lebenswelt und System in der Spätmoderne bringt also die Zunahme normativer Paradoxien in allen Lebensbereichen mit sich. Das Maßlose begegnet, wenn es sich unter dem noch bestehenden Regiment des Maßes auszubreiten beginnt, in grundsätzlich hybriden (und damit: polymorphen) Lebenszusammenhängen, welche Elemente des Lust- wie des Realitätsprinzips gleichermaßen in sich bergen. Entdifferenzierung und Differenzierung gehen temporäre, ambivalente und paradoxe Vermischungen ein. (Nicht zuletzt deswegen haben in der Spätmoderne auch Forschungsansätze, die auf Hybridität fokussieren, Konjunktur.)171 Deshalb ist es in diesem Zusammenhang notwendig, sich mit dem Phänomen der Hybridisierung noch einmal ganz grundsätzlich auseinanderzusetzen. Christoph Lau beispielsweise wirft die interessante Frage auf, »wie viel Hybridisierung moderne Gesellschaften ertragen können, ohne die Charakteristika der Moderne zu verlieren und tatsächlich zu postmodernen Gesellschaften zu werden«172 . Die Beantwortung jener Frage aber setzt er dezidiert in den Kontext auch von Inklusionsund Exklusionsproblematiken. Damit aber lässt sich die hier entwickelte These vom inklusiven bzw. exklusiven Charakter biomorpher wie thanatomorpher relationaler Formationen noch einmal detaillierter (und gerade auch unter Berücksichtigung der Rolle polymorpher relationaler Formationen) erläutern.173 Die mit sozialer Inklusion bzw. Exklusion einhergehenden Mechanismen von Entgrenzung und Begrenzung nämlich sind für Lau eng mit dem Phänomen der Hybridisierung verknüpft: »Jede Entgrenzung, jede Verschiebung von Grenzen bedeutet im Grunde eine kleine strukturelle Revolution […]«174 . Dabei steht, so lässt sich sagen, der maßlose Charakter von Entgrenzungsvorgängen auch für Lau im Kontrast zu dem bemessenden der Grenzziehung: »Entgrenzung 170 Ebd., S. 91. 171 Siehe dazu etwa: Thomas Kron (Hg.), Hybride Sozialität – soziale Hybridität, Weilerswist 2015. Christoph Lau beispielsweise befasst sich darin u.a. mit ›Typen der Hybridisierung‹, Normative[r] Hybridisierung‹ und ›Neue[n] Formen des Politischen‹; in: ders., »Die Politisierung der Hybride«; in: ebd., S. 109-127. Frank Hillebrandt z.B. wiederum plädiert für die ›Erforschung von hybriden Praxisformationen‹; in: ders., »Die hybride Praxis«, in: ebd., S. 151-169; und Andreas Reckwitz unterscheidet verschiedene Dimensionen an Hybridität, in: ders., »Drei Versionen des Hybriden: Ethnische, kulturelle und soziale Hybriditäten«; in: ebd., S. 187-199. Andreas Reckwitz präsentiert überdies ja eine elaborierte Theorie des ›hybriden Subjekts‹ in: ders., Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, a.a.O. Er untersucht darin rationale und irrationale kulturelle Muster von der bürgerlich-modernen bis nachbürgerlich-postmodernen Ära, die sich in ›Subjektkulturen‹ hybrid und widersprüchlich überlagern. Aus einer postkolonialen Perspektive wiederum wird das Phänomen der Hybridität bspw. beleuchtet in: Christof Hamann/Cornelia Sieber (unter Mitarbeit von Petra Günther) (Hg.): Räume der Hybridität. Postkoloniale Konzepte in Theorie und Literatur, Bd. 2, Hildesheim/Zürich/New York 2002. 172 Christoph Lau, »Die Politisierung der Hybride«; in: Thomas Kron (Hg.): Hybride Sozialität – soziale Hybridität, Weilerswist 2015, S. 121. 173 Stephan Lessenich setzt übrigens auf bestechende Weise Inklusion bzw. Exklusion (in seiner Diktion: »Öffnen und Schließen«) ganz konkret in einen Zusammenhang mit (demokratischer) Teilhabe und (ökonomischer) Verteilung. Siehe dazu insb.: Stephan Lessenich, Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem, Stuttgart 2019, Kap. »Öffnen und Schließen«, S. 19-38. 174 Christoph Lau, »Die Politisierung der Hybride«, a.a.O., S. 118.

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beeinträchtigt nicht zuletzt die Grundlagen der Berechenbarkeit [eig. Hervorhebung]«175 , heißt es bei Lau. Und weiter: »An dieser Stelle wird deutlich, dass die Auflösung von Grenzen als Bedrohung empfunden werden kann. Das Eindringen von Unsicherheit in die festgefügte institutionelle Welt der Moderne beunruhigt und erzeugt u.U. eine Angstrethorik, die die Entstehung reaktiver nationalistischer, fundamentalistischer oder rechtsradikaler Strömungen begünstigt.«176 Die paradoxe Koppelung von maßlosen Entdifferenzierungs- und Entgrenzungslogiken einerseits, mit solchen der bemessenden Differenzierung und Begrenzung andererseits, zu auch hybriden soziopolitischen Gesamtformationen im sozialen Raum der spätmodernen Gesellschaft(en) wird hier ganz deutlich. Zwei Pole des politischen Diskurses sind dann laut Lau in der Regel zu eruieren, die wiederum nur allzu oft eben auch als ineinander hybridisierte begegnen: Aus Perspektive des einen Pols »lässt sich Entgrenzung rhetorisch als Identitätsbedrohung rahmen. Hier wird davon ausgegangen, dass Identität nur durch Abgrenzung aufrechterhalten werden kann und dass Hybridisierung eben zur Auflösung von Identitäten führt«.177 Diese Annahme gelte dann, so Lau, aber nicht allein für persönliche Identitäten, sondern eben auch für soziale, kulturelle, ethnische etc. »Dabei wird übersehen, dass Identität immer schon im Plural gegeben ist und nicht allein durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kategorie, sondern durch die Schnittmenge der Zugehörigkeiten definiert war.«178 Dessen ungeachtet setze sich das »Deutungsmuster der Identitätsbedrohung«179 dann aber auch in vermutete Bedrohungsszenarien »durch Technologie, insbesondere die neuen Medien, social networks«180 und dergleichen fort. Die umfangreiche Hybridisierung von Mensch und Maschine über neue (Informations)Technologien wird folglich als Gefahr der Fremdbestimmung und als Freiheitsverlust erlebt:181 »Das erschöpfte, technisch beschleunigte und kontrollierte Selbst wird damit zum dystopischen Gegenbild aller Cyborg-Utopien.«182 Ganz anders dahingegen der zweite Pol der politischen Öffentlichkeit: »Auf der Gegenseite […] stehen die rhetorischen Strategien, die absolute Transparenz einfordern und damit letztlich die Aufhebung zwischen privat und öffentlich. Die Freiheitsgewinne, die man sich davon erhofft, stehen dabei in einem merkwürdigen Kontrast zu den Kontrollhoffnungen der Sicherheitsdienste, Medienkonzerne und Marketingunternehmen. Der Apell an die Utopie einer entgrenzten, völlig durchsichtigen Welt geht hier interessanterweise konform mit den verborgenen Interessen vollständiger Informationskontrolle.«183 Nicht nur die Polarisierung der politischen Öffentlichkeit, sondern eben auch die Hybridisierung der jeweiligen, scheinbar entgegengesetzten Pole untereinander wird hier von Lau deutlich hervorgehoben. Gravierende Paradoxien zeichnen sich so allein schon 175 176 177 178 179 180 181 182 183

Ebd., S. 117. Ebd., S. 119. Ebd., S. 119f. Ebd., S. 120. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ebd.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

im politischen Diskurs der Spätmoderne ab. Progressive wie reaktionäre politische Positionen weisen zunehmend (durchaus gefährliche) Hybridierungstendenzen auf. Die vermeintlichen Gegenpole Freiheit und Kontrolle hybridisieren sich, nicht nur in der politischen Rhetorik, sondern auch in der Realpolitik zunehmend zu einer kontrollierten Freiheit bzw. einer freien Kontrolle. Dieselben problematischen Hybridisierungstendenzen betreffen dann die Dichotomien von Inklusion und Exklusion, wie sie ja hier in dieser Arbeit bereits als kennzeichnend für die Strukturlogiken biomorpher bzw. thanatomorpher relationaler Formationen dargestellt wurden. Zunehmend begegnen in der Spätmoderne nämlich paradoxale Verschmelzungen, die sich als inkludierende Exklusion oder exkludierende Inklusion184 in polymorphen relationalen Formationen bezeichnen ließen. Christoph Lau verweist diesbezüglich auch auf eine Zunahme von ›Inklusionskonflikten‹: »Inklusionskonflikte weisen deshalb eine spezifische Logik auf, weil hier in der Regel nur die Inkludierten über den weiteren Zugang zu ihrem Kollektiv entscheiden. Die Grenzziehung erfolgt nach den jeweiligen, meist formalen Regeln und Bedingungen der Mitgliedschaft, die damit gleichzeitig die Identität des Kollektivs bestimmen und die Möglichkeiten der Exklusion von Mitgliedern. Konflikte entzünden sich an der Legitimität dieser Regeln, am Wunsch von Exkludierten, aufgenommen zu werden, bzw. von Inkludierten, die Gemeinschaft verlassen zu dürfen. Inklusionskonflikte sind durch ein großes Maß an Asymmetrie gekennzeichnet, da die Ausgeschlossenen in der Regel kaum die Möglichkeit haben, ihre Aufnahme zu erstreiten. Dies gelingt häufig nur durch den Appell an allgemeine Rechtsnormen, wie die Menschenrechte, bzw. den Einsatz unabhängiger Dritter.«185 Die Instanz des Dritten generell aber ist ja durchaus eng mit dem Realitätsprinzip verwoben. Der Dritte, vormals der strukturierende Vater im Ödipus-Komplex, spiegelte sich in der konventionellen Moderne in patriarchalischen Steuerungsmodi der Gesellschaft. Gewiss könnte der generalisierte Dritte im spätmodernen relationalen Komplex weiterhin sein Abbild in einer sozial postpatriarchalischen Ausprägung des Realitätsprinzips (und damit auch des expliziten Regelsystems der Gesellschaft) finden; allein, die Paradoxien auch impliziter spätmoderner Normierungen im Allgemeinen lassen auf eine schwindende Strukturierungspotenz des Dritten schließen, die sicherlich eng mit der Diagnose der »vaterlosen Gesellschaft«186 verbunden ist. Wo der ›Vater‹ als normative Autorität fehlt, entscheiden die ›Geschwister‹ zunehmend allein über Ausschluss

184 Armin Nassehi schreibt: »Die gesamte Geschichte der semantischen Figuren von Freiheit/Entfremdung, Gleichheit/Ungleichheit, Öffentlichkeit/Privatheit, Gemeinnutz/Eigennutz, die die auf die Individualität des Individuums setzende Form der exkludierenden Inklusion […] begleiten, ist als Reaktion dieses neuen Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft zu verstehen [Eig. Anm.: Gemeint ist mit Blick auf Überlegungen Niklas Luhmanns ein neugeartetes Verhältnis von psychischer und sozialer Selbstreferenz, das sich aus einer neuen Form der Reziprozität ergibt] [Eig. Hervorhebungen]«; in: ders.: Differenzierungsfolgen. Beiträge zu einer Soziologie der Moderne, a.a.O., S. 117. 185 Christoph Lau, »Die Politisierung der Hybride«; in: Thomas Kron (Hg.): Hybride Sozialität – soziale Hybridität, a.a.O., ebd., S. 122. 186 Siehe dazu: Alexander Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, a.a.O.

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und Einschluss von Anderen. Die Konflikte, die sich vormals gegen die autoritäre Position des (eben auch gesellschaftlichen) ›(Über-)Vaters‹ richteten, entzünden sie sich nun innerhalb und an den Rändern der Kollektive des (nunmehr oder noch) strukturschwachen Gemeinsamen – und münden unter Umständen in ein folgenreiches Gegeneinander. Das Gemeinsame als eigentlich grenzenloses ist nun über ›Inklusionskonflikte‹ eng verwoben mit dem Einsamen als begrenztem. Inkludierende Exklusion oder exkludierende Inklusion sind die hybridisierten Modi, die dieser paradoxalen Logik entstammen. Lau schreibt: »Daneben [eig. Anm.: neben den stärker exklusiven, formalrechtlichen ›Kollektiven‹] gibt es allerdings immer schon andere Formen des Kollektiven, die keine dichotomischen Grenzen haben, wie z.B. Verwandschafts- und Freundschaftsnetzwerke. Bei letzteren handelt es sich in der Tat um hybride Strukturen, bei denen die Unterscheidung zwischen Mitgliedschaft und Nichtmitgliedschaft unscharf ist. Es ist schwierig, die Ränder und Grenzen vieler sozialer Netzwerke zu bestimmen. Dass sich Netzwerke mit unscharfen Grenzbereichen gegenüber formal geschlossenen Kollektiven behaupten und in vielen Fällen durchzusetzen scheinen, zeigt, dass Hybridität hier eher als Chance zu begreifen ist. Exklusion durch formalen, an dichotomischen Kriterien orientierten Ausschluss scheint […] auf dem Rückzug zu sein. Dass die informelle, nicht geregelte Exklusion u.U. das größere Problem darstellt, gehört zu den Schattenseiten dieser Form der Hybridisierung, die als Diskriminierung dann auch ungeregelte Formen der Konfliktaustragung und des Protests nach sich zieht.«187 Inklusion und Exklusion (bzw. ihre Hybridformen) als Regulationsmechanismen intersubjektiver Zusammenhänge (d.h. von Netzwerken) gewinnen also auch deshalb in der Spätmoderne immer mehr an Bedeutung, da gerade die spätmoderne Gesellschaft in immer höheren Maße aus solchen, sich weitgehend selbst regulierenden, informellen – und eben nicht zwangsläufig formalrechtlich legitimierten – Sozialformationen besteht. Die eher systemisch-institutionellen Sozialstrukturen der Moderne sind und waren viel stärker normativ definiert, der Ein- und Ausschluss von Individuen war klarer geregelt. Die relationalen Formationen, die den sozialen Raum gerade der Spätmoderne durchziehen dahingegen sind weit stärker von ›unscharfen Grenzbereichen‹, wie Lau formuliert, gekennzeichnet. Oder, wie es Roger Häußling noch deutlicher ausdrückt: »Netzwerke besitzen keine klaren Grenzen, sondern sie sind stets eingebettet in umfassendere Netzwerke; und dies auch in einem ganz umfassenden Sinn: So ist das Soziale eingebettet ins Nicht-Soziale«188 . Informelle Normsetzungen in informellen Netzwerken kontrastieren in der Spätmoderne deutlich mit formalrechtlicher Normierung in ›offiziellen‹, staatlich gelenkten Netzwerkzusammenhängen oder Gesellschaftsbereichen, die im Kern weiterhin von Machtambitionen und Kontrollwünschen geprägt sind.

Christoph Lau, »Die Politisierung der Hybride«; in: Thomas Kron (Hg.): Hybride Sozialität – soziale Hybridität, Weilerswist 2015, S. 122. 188 Roger Häußling, »Design statt Hybrid – Ein Plädoyer für eine dreiwertige relationale Prozesssoziologie«; in: Thomas Kron (Hg.): Hybride Sozialität – soziale Hybridität, a.a.O., S. 75f.

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Diese (polymorphe) Hybridstruktur aus informellen und formalrechtlichen Netzwerken tritt in einer Gesellschaftsform, die wie kaum eine andere sämtliche Gegenwartsgesellschaften zu überlagern und zu durchdringen beginnt, ganz offen zutage: in der »Sicherheitsgesellschaft«189 . Christoph Lau hatte ja mit dem bezeichnenden Ausdruck der ›Politisierung der Hybride‹ diese zunehmend politische Dimension der spätmodernen Paradoxien belegt. Das Bestreben nach umfassender (politökonomischer) Kontrolle, welches mit einer vorgeblichen Gewähr von Autonomie und Freiheit paradoxal gerechtfertigt wird, ist das hervortretende Merkmal der global sich abzeichnenden Tendenz zur ›Sicherheitsgesellschaft‹. Der freiheitliche und bunte Reigen an spätmodernen (individuellen wie kollektiven) Identitäten und Autonomien wird ›im Zaum gehalten‹ von einem im Aufbau befindlichen, rigiden staatlichen Kontroll- und Sicherheitskorsett. Tobias Singelnstein und Peer Stolle bringen diesen zunehmenden Doppelcharakter (oder auch: dieses Janusgesicht) der Spätmoderne auf den Punkt: »Formelle soziale Normen werden in einem förmlichen Verfahren festgelegt und niedergeschrieben, beispielsweise in Gesetzen, während informelle Normen auf Brauch, Sitte, Tradition und Moral zurückgehen. [Hervorhebungen durch Singelnstein/Stolle]«190 Dabei bezeichnen sie die formelle Normsetzung im politökonomischen Bereich auch als »professionelle Sozialkontrolle«, während sie die informelle (etwa in der Familie oder im Freundeskreis) mit der Bezeichnung »[p]rivate Sozialkontrolle« belegen.191 So gelangen sie zur Einschätzung, dass angesichts der pluralen und vielgestaltigen Lebensweisen und -bedingungen in der Spätmoderne »ein umfassendes, durchgehendes und allgemeingültiges Normenkonzept an Bedeutung verliert. In den Vordergrund rückt ein rumpfartiges Gerüst aus zentralen Normen, während eine Vielzahl von Verhaltensanforderungen nur noch situations- oder kontextabhängig Geltung beanspruchen.«192 Das heißt, anders formuliert, auch: ›Systemische‹ Lenkungsansprüche in normativen Verfahren und ›lebensweltlich‹ autonomes und intersubjektiv-reziprokes ›Aushandeln‹ von Normen bilden die Konstitutionsbedingungen für ein Spannungsfeld divergierender Normengenese in der Spätmoderne. Die Sicherheitsgesellschaft trägt diesen Antinomien Rechnung, indem sie das politökonomische Primat über die Lebenswelt weiterhin aufrecht zu halten trachtet. Die Lebenswelt dahingegen ist mehr und mehr charakterisiert durch bewusste und unbewusste Ausbruch-, Ausweich- und Fluchtversuche vor diesem Anspruch. Es ließe sich auch sagen, der politökonomische Komplex, als vielleicht letztes Refugium eines ›(über-)väterlichen Realitätsprinzips‹, befindet sich in einem dialektischen Ringen mit einem zunehmend eigenständiger auftretenden, in der Lebenswelt verankerten, Lustprinzip, was letztendlich in die genannten polymorphen Hybridisierungen beider mündet. Exklusion und Inklusion begegnen auch hier wieder in paradoxaler Vermischung: »Die Desintegration eines größer werdenden Bevölkerungsanteils darf [aus ›systemischer‹ Sicht, eig. Anm.] nicht dazu führen, dass die Exkludierten zu einem unbeherrschbaren Risiko werden.«193 In der Spätmoderne 189 Siehe dazu: Tobias Singelnstein/Peer Stolle: Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert, a.a.O. 190 Ebd., S. 12. 191 Ebd. 192 Ebd. 193 Ebd., S. 59.

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sind es dann die technologischen Innovationen, die zur Verminderung oder Bemeisterung dieses ›Risikos‹ neue Möglichkeiten zur Überwachung und Kontrolle bereitstellen, und eben gerade die ›Sicherheitsgesellschaft‹ als Lösung des Dilemmas erscheinen lassen.194,195 Dahinter aber verbergen sich keine funktionalen Automatismen – sondern existenzielle Bedürfnisse realer Personen, Schichten oder Klassen, wie auch Singelnstein und Stolle hervorheben: »Aus der Sicht der Konflikttheorie stellt das Recht keine Kodifizierung universaler Normen dar, sondern ein Produkt gesellschaftlicher Konflikte. Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist die Annahme, dass die Menschen stets darum bemüht sind, ihre Lebenschancen und –aussichten zu verbessern. Da gesellschaftliche Güter und Ressourcen nur begrenzt vorhanden sind [eig. Anm.: oder durch ein ökonomisches Knappheitssystem nur begrenzt zur Verfügung gestellt werden], entsteht danach ein ständiger Konflikt um den Zugang zu Ressourcen, die entsprechend gesellschaftlicher Machtund Einflussstrukturen ungleich verteilt sind.196 Die davon profitierenden Gruppen und Klassen versuchen, das Resultat des Konflikts durch Normen abzusichern. Soziale Kontrolle im Allgemeinen und Kriminalisierung im Besonderen können als Instrumente innerhalb dieser Auseinandersetzung angesehen werden, mit denen gesellschaftlich mächtige Gruppen aufgrund ihrer höheren Einflussmöglichkeiten und Definitionsmacht ihre Position festigen. [Eig. Hervorhebungen]«197 Der Überwachungscharakter der Sicherheitsgesellschaft ist damit weniger den Bemühungen um Gewährung der Freiheit in einer zugegebenermaßen unübersichtlich gewordenen Spätmoderne zuzuschreiben, sondern vielmehr Einzelinteressen, die sich ihres (Vor-)Rechts am ›gemeinsam‹ erwirtschafteten Reichtum und Lebensstandard vergewissern wollen.198 Gerade die scheinbar ›chaotischen‹ Züge der Spätmoderne – unberechenbares Aufflammen von Gewalt und Revolten, aber auch Massenmigration und selbst Terrorismus (welche die Rufe nach Totalkontrolle und grenzenloser Überwachung immer wieder befeuern) – sind nicht losgelöst von diesem Kontext zu denken. Oder, wie Singelnstein und Stolle schreiben: »In diesem Zusammenhang sei auch daran erinnert, dass die herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen eine wesentliche Grundlage sozialer Probleme und Kon194 Vgl. ebd. 195 In welchem Umfang übrigens gerade auch die vermeintlich ›soften‹ Kontroll- und Sicherheitstechniken der Spätmoderne immer auch (bemessende) Biotechniken sind, die sich an das (maßlos) Lebendige geradezu anschmiegen, wenn sie es schon nicht direkt ins Visier nehmen, verdeutlichen selbstverständlich die unzähligen politischen Vorstöße zur Einführung immer neuer biometrischer Kontroll-, Überwachungs-, und Sicherheitsprozeduren. Die Vermessung des maßlosen Bios steht im Zentrum aller neuen repressiven Politiken. 196 Unter Verweis auf Ulrich Eisenberg/Tobias Singelnstein, »Zur Unzulässigkeit der heimlichen Ortung per ›stiller SMS‹«; in: Neue Zeitschrift für Strafrecht, 2005, § 6, Rn. 9 ff, sowie: Patrick Hebberecht, »Kapitalismus, Staat, Zivilgesellschaft und Strafgesetzgebung in der Spätmoderne«, in: Strafverteidiger-Forum, 2005, S. 131 f, sowie: Siegfried Lamnek, Neue Theorien abweichenden Verhaltens, München 2008, S. 35f., durch Tobias Singelnstein und Peer Stolle; ebd. S. 126. 197 Unter Verweis auf Siegfried Lamnek, Neue Theorien abweichenden Verhaltens, a.a.O., durch Tobias Singelnstein und Peer Stolle; ebd. 198 Vgl. ebd., S. 126f.

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flikte darstellen. Eine Gesellschaft, die auf Konkurrenz, Wettbewerb und soziale Ungleichverteilung aufbaut, bedingt, dass sich ihre Mitglieder über die geltenden Grenzen hinwegsetzen, um sich eine Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum zu sichern oder um bereits vorhandenes Kapital zu vermehren. Gerade die aktuell als besonders drängend empfundenen Probleme – soziale Ungleichheit, Umweltverschmutzung, ›internationaler Terrorismus‹, Migration – sind auch Folge der gesellschaftlichen Transformationsprozesse [in der Spätmoderne, eig. Anm.].«199 Nicht aber allein die (mehr repressive) ›Sicherheitsgesellschaft‹ kristallisiert sich global in der spätmodernen Ära immer deutlicher als politökonomische Zukunfts-Option heraus, sondern auch diverse (eher emanzipatorische) Postwachstumsmodelle beginnen sich abzuzeichnen. Beiden gemein ist dabei ihr polymorpher Hybrid- und Übergangscharakter. Die Postwachstumsmodelle nehmen sich dabei aus als Reaktion auf die Krisenhaftigkeit und Ausbeutungslogik der kapitalistischen Ökonomie. Christian Felber beispielsweise skizziert die »Gemeinwohlökonomie« als ein solches Postwachstumsmodell.200,201 Er verweist auf eben die sozial-ökologischen Zerwürfnisse, die mit der wachstumsorientierten, kapitalistischen Wirtschaftsweise untrennbar verbunden sind, wie z.B. »Finanzblasen, Arbeitslosigkeit, Verteilungskrise, Klimakrise, Energiekrise, Hungerkrise, Konsumkrise, Sinnkrise, Demokratiekrise…«202 – und erläutert: »Alle diese Krisen hängen miteinander zusammen, sie sind auf eine gemeinsame Wurzel zurückzuführen: die fundamentale Anreizstruktur unseres gegenwärtigen Wirtschaftssystems: Gewinnstreben und Konkurrenz. Diese Kernmotivation fördert egoistisches und rücksichtsloses Verhalten, lässt zwischenmenschliche Beziehungen scheitern und gefährdet den seelischen, sozialen und ökologischen Frieden. Dabei ginge es so viel menschlicher und zudem effizienter! Die Gemeinwohlökonomie fördert und belohnt dieselben Verhaltensqualitäten und Werte, die unsere menschlichen und ökologischen Beziehungen gelingen lassen. Vertrauensbildung, Wertschätzung, Kooperation, Solidarität und Teilen. [Eig. Hervorhebung]«203 Das verhängnisvolle Relikt der Moderne, die geradezu schizoide Spaltung des Normensystems in systemische einerseits, die Konkurrenz (und damit auch: Neid, Gier, Ausbeutung usw. – also das bemessen Einsame in all seinen Facetten) belohnen, und lebensweltliche andererseits, die Kooperation (und folglich: Solidarität, Teilen usw. – d.h. das maßlos Gemeinsame in all seinen Variationen) fördern, würde mit einer Verlebensweltlichung des ›Systems‹ in gemeinwohlbasierten Ökonomien endlich überkommen werden können. Bemerkenswert ist auch der Fokus, den Felber dabei auf misslingende bzw. gelingende Beziehungen setzt; noch bemerkenswerter das Faktum, dass er (zwischen)menschliche Beziehungen, also solche vom Selbst zu den Anderen, und ökologische 199 Ebd., S. 128. 200 Siehe dazu: Christian Felber, Gemeinwohlökonomie. Das Wirtschaftsmodell der Zukunft, Wien 2010. 201 Aus einem mehr normativen denn ökonomischen Interesse heraus wird die Frage des Gemeinwohls auch – unter politikwissenschaftlichen Gesichtspunkten – breit diskutiert, in: Herfried Münkler/Karsten Fischer (Hg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn. Rhetoriken und Perspektiven sozial-moralischer Orientierung, Berlin 2002. 202 Christian Felber, Gemeinwohlökonomie. Das Wirtschaftsmodell der Zukunft, a.a.O., S. 7. 203 Ebd.

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Beziehungen, also solche zur (Um-)Welt, analytisch als Kern dieser Problematik identifiziert. Diese Sichtweise rührt schlicht und einfach daher, dass Felber dabei auch »anthropologische Annahmen«204 in den Blick nimmt. Die Annahmen eines Adam Smith etwa, der Markt als ›unsichtbare Hand‹ würde die Egoismen der Einzelnen einem übergeordneten Gemeinwohl automatisch zuführen, hält er für eine fatale und idealisierende Fehleinschätzung; Konkurrenz, Neid und Gier sind eben nicht die Grundlage für das Gemeinsame; sie vergiften das Gemeinsame, oder drängen es in Refugien, und befördern es keinesfalls.205 Felber ist darum bemüht, eben solche Irrationalismen und ›Mythen‹ hinter dem ideologischen Rechtfertigungsgebäude der ›freien‹ Marktwirtschaft zu entlarven, die ja Freiheit vor allem demjenigen bietet, der Kapital besitzt.206 Dabei zeigen sich in Felbers Plädoyer für die ›Gemeinwohlökonomie‹ durchaus deutliche Hybridisierungen zum bestehenden Realitätsprinzip, d.h. zum Leistungsprinzip. So z.B. in seinem Vorschlag, »Gemeinwohl [zu] messen [eig. Hervorhebung]«207 . Im Gegensatz zum bestehenden Wohlstands-Indikator des Bruttoinlandsproduktes (BIP), befürwortet er die Etablierung eines (geeigneteren) Indikators »zur Messung von gesamtgesellschaftlichen Wohlstand [eig. Hervorhebung]«208 . Denn selbstverständlich sage das BIP nichts aus über Umweltqualität, Verteilung, Mitbestimmung oder das Geschlechterverhältnis; im Gegenteil: Krankheiten, Autounfälle, Naturkatastrophen und vor allem Krieg könnten das BIP sogar erhöhen; es bedürfe also anderer ›Messindikatoren‹.209 Ob ein solcher Indikator (eines dann auch anders gearteten Realitätsprinzips) nun aber wie von Felber angedacht, weiterhin dem Messen verschrieben sein sollte, ist eine Frage, die es zu stellen gilt. Sicher haben beispielsweise Hardt und Negri mit ihrer These vom Maßlos-Werden der Lebensrealität in einer auf dem Gemeinsamen basierenden Ordnung diesbezüglich eine gedankliche Richtung eingeschlagen, die über einen solchen Vorschlag des Messens – von, sozusagen, Glücklichkeit und Zufriedenheit – weit hinaus geht. Denn das Messen ist immer ein instrumenteller, und damit auch: herrschaftlicher, Vorgang; das Maßlose verweigert sich einem solchen Zugriff. Eine tatsächliche (nicht mit dem Bestehenden hybridisierte und daher paradoxale) Gemeinwohlökonomie wie sie Hardt und Negri in ihrem beinahe gleichlautenden Analyse-Ansatz »Common Wealth«210 beschreiben, ließe sich nicht mehr in Maßstäbe pressen. Hybridisiert mit der bestehenden Wirtschaftsweise sind auch die Fallbeispiele von Gemeinwohl-Modellen, die Felber aufführt. Eine ganze Reihe von Unternehmen und Initiativen werden präsentiert, die sich dezidiert dem Projekt Gemeinwohl-Ökonomie verschrieben und angeschlossen haben.211 Diese Tendenzen innerhalb der bestehenden

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Ebd. Vgl. ebd., S. 12. Vgl. dazu auch: ebd., S. 16-19. Ebd., S. 27. Ebd. Vgl. ebd., S. 27. Siehe dazu: Michael Hardt/Antonio Negri, Common Wealth. Das Ende des Eigentums, Frankfurt a.M./New York 2010. Vgl. Christian Felber, Gemeinwohlökonomie. Das Wirtschaftsmodell der Zukunft, Wien 2010, S. 110-126 sowie: S. 150ff.

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Ökonomie sind bemerkenswert, und sicher weisen sie auch ein Stück weit über diese hinaus; allein: es sind Hybrid- und damit: Übergangsformen zwischen ›Altem‹ und ›Neuem‹ – und sicher nicht das ›Neue‹. Die Spuren dieses ›Neuen‹ lassen sich viel deutlicher dort finden, wo der Kollaps oder das Unvermögen der bestehenden Ökonomie dessen Etablierung geradezu erzwang und existenziell nötig machte. Dabei handelt es sich auch um eine Neudefinition von Grenzen, bzw. deren Überschreitung. Wenn im ›Inneren‹ der bestehenden Grenzen des Realitätsprinzips Möglichkeiten eines zukünftigen und daher (noch) ›Äußeren‹ geschaffen werden, ist dies ein weit radikalerer Vorgang des Wandels, als wenn das Bestehende lediglich Momente eines ›Kommenden‹ adaptiert. Die permanente Krise des Bestehenden aber ermöglicht genau diesen Vorgang des radikalen Wandels, in welchem die lineare Zeitfolge gewissermaßen in ein Nebeneinander verschiedener Gleichzeitigkeiten transformiert wird. Carlo Vercellone veranschaulicht wie die Transgression der Krise(n) zur Emergenz zukünftiger Produktionsweisen und Gesellschaftsformen schon in der Gegenwart führt.212 Er vertritt die These, dass gewissermaßen in den bereits bestehenden Verschmelzungen des Kapitalismus mit dem Sozialismus (d.h. in den jeweiligen Ausformungen des Sozialstaats) der Kern zu einer die Hybridisierung überwindenden, ›neuen‹ Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung bereits angelegt sei. Diese ›neue‹ Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung würde sich auszeichnen (ganz im Einklang mit der Diagnose von Hardt und Negri) durch einen Wechsel vom ›Öffentlichen und Privaten‹ zum ›Gemeinsamen‹.213 Das Sozialstaatssystem nämlich ist seinem Wesen nach im Kapitalismus bereits ein systemfremdes, ein ›Außen‹ in einem ›Innen‹.214 Und obwohl es durch die neoliberalen Umgestaltungen und Angriffe der letzten dreißig Jahre bereits geschwächt ist, bewahren seine kollektiven Strukturlogiken das Gemeinsame in einer Reihe von Ausprägungen, als da z.B. wären: ein allgemeines Gesundheitssystem, ein Rentensystem, Bildungs- und auch Forschungsfinanzierungen sowie diverse soziale Absicherungen gegen kapitalistische Unwägbarkeiten und Risiken.215 Vercelone schreibt, »the welfare system also contains, in embryo [eig. Hervorhebung], the possibility of evolving in an alternative mode of development founded on the logic of the common […] [Hervorhebung durch Vercellone].«216 Gesundheit, Forschung, Bildung und Ausbildung, aber auch Förderungsmaßnahmen für das kulturelle Leben formen nicht nur den gesamten Lebensstil aller Gesellschaftsmitglieder, sondern stellen auch Mechanismen zur Produktion und Vermittlung von Wissen bereit. Im Informationskapitalismus aber, und der mit ihm verbundenen Wissensgesellschaft, werden sie zu unerlässlichen Stützen der Ökonomie. Ohne diese permanente Ermöglichung des Gemeinsamen über sozialstaatliche Fördermaßnahmen auch im weitesten Sinn, könnte die kapitalistische Ökonomie der Gegenwart so nicht mehr existieren. Sie braucht das Gemeinsame, und baut auf ihm auf. Gerade die ökonomischen Innovationen und Transformationen der westlichen Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten verdanken 212

Siehe dazu: Carlo Vercellone, »From the Crisis to the ›Welfare of the Common‹ as a new Mode of Production«; in: Theory, Society and Culture, Bd. 32, 7-8, 12/2015, S. 85-99. 213 Vgl. ebd., S. 85f. 214 Vgl. ebd., S. 87. 215 Vgl. ebd. 216 Ebd.

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daher einen Großteil ihrer Dynamik letztlich der Integration ›systemfremder‹ sozialstaatlicher Mechanismen in den Kapitalismus. Sie wurden zur Quelle einer neuen Realität, und beherbergen noch immer den Schlüssel zur Zukunft.217,218 Sollte der Neoliberalismus in seinem Bestreben, diese Quelle auszutrocknen (und somit den beständigen Zufluss des Gemeinsamen zum Erliegen zu bringen), siegen, müsste das von ihm protegierte System unweigerlich absterben. So ist es paradoxerweise nicht nur um der sozialen Gerechtigkeit willen unerlässlich geworden, die sozialstaatlichen Elemente zu bewahren, sondern auch um der Effizienz und Funktionsfähigkeit des Kapitalismus selbst. Dazu muss die ›Produktion‹ des Gemeinsamen auf Freiheit und freiem Zugang fußen, und der politische ›Preis‹ dafür ist nun einmal derzeit das Steuersystem, die sozialen Zuwendungen und andere Formen kollektiver Resourcenförderung.219 Um das Gemeinsame aber wirklich zur Basis einer neuen Produktionsweise und Gesellschaftsform zu machen (»A Model of Commonfare«220 ), müsste, so Vercellone, eine demokratische (Wieder-)Aneignung sozialstaatlicher Mechanismen sowie eine demokratische (Re-)Sozialisierung des Finanz- und Kreditsystems erfolgen. Diese Impulse aber erwachsen gerade aus den massiven Schulden- und Finanzkrisen, die das kapitalistische System herbeigeführt hat (wobei die in jüngster Zeit durch die Pandemie an die globale Ökonomie von › außen ‹ herangetragenen Herausforderungen von Vercellone selbstverständlich noch nicht einmal mitbedacht sind) und stellen sich mehr und mehr als deren einzig mögliche, vernünftige Lösungen heraus.221 Die auf Herrschaftsstrukturen beruhende Irrationalität des bestehenden Systems aber tritt offen hervor genau dann, wenn es sich dieser rationalen Problemlösungen mit aller Macht zu verweigern beginnt. Es zeichnet sich das Bild einer Gesellschaft ab, die mit dem ›Neuen‹ bereits schwanger geht (nämlich mit den in ihr noch im Embryonalstadium befindlichen Strukturen des Gemeinsamen), welches umgeben und eingebettet ist einen gesellschaftlichen Gesamtkörper. Beide, die embryonal gegebene und heranwachsende gemeinwohlbasierte Formation, wie auch die bestehende, sich tendenziell zur Sicherheitsgesellschaft wandelnde Umfassungsstruktur, bergen so Elemente der jeweils anderen Strukturlogik bereits in sich, sind also hybridisiert auf allen Ebenen. Die Geburt der gemeinwohlbasierten Gesellschaft ist dann vielleicht nicht ein einziges, plötzliches Ereignis, sondern ein lang andauernder (vielleicht auch schmerzhafter, im Sinne von: konflikt- und krisenträchtiger) Prozess und geschieht etappenförmig. Vielleicht aber ist diese Geburt auch schon 217 218

Vgl. ebd., S. 85-89. Eine Umgestaltung des existierenden Sozialstaats, die sich als tragfähige Grundlage einer zukünftigen, gemeinwohlbasierten Ökonomie herauszustellen hätte, wäre im Übrigen vielleicht nur über die Realisierung der jetzt schon vielfach diskutierten Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen möglich. Siehe dazu etwa: Hans Ruh: Bedingungsloses Grundeinkommen: Anstiftung zu einer neuen Lebensform – Utopie oder Chance in einer Zeit des Umbruchs?, Zürich 2016, oder aber auch (historisch bemerkenswert früh verfasst): Erich Fromm, »The Psychological Aspects of the Guaranteed Income«; in: Robert Theobald (Hg.), The Guaranteed Income. Next Step in Economic Evolution?, New York 1966, S. 175-184. 219 Vgl. Carlo Vercellone, »From the Crisis to the ›Welfare of the Common‹ as a new Mode of Production«; in: Theory, Society and Culture, a.a.O., S. 90. 220 Ebd., S. 92f. 221 Vgl. ebd., S. 93-97.

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vollzogen, und es geht nur noch darum, die Frage der Eigenständigkeit der auf dem Gemeinsamen beruhenden Gesellschaft zu klären, der jetzt nur noch die Sicherheitsgesellschaft mit ihrem Kontroll- und Überwachungsbedürfnis im Wege steht. Letztlich jedoch wird jene diesen Prozess der Selbstständigkeit nicht aufzuhalten vermögen, ohne sich selbst Schaden zuzufügen. Die Autonomie und das Freiheitsstreben, welche der gemeinwohlbasierten Gesellschaftsform immanent sind, werden sich nicht unterdrücken lassen können, zumal die Seinsweise auch der ja schon existenten Sicherheitsgesellschaft abhängig von ihrer Verjüngung durch die gemeinwohlbasierte Formation geworden ist. Die Janus- oder Doppelgesichtigkeit der spätmodernen Ära ergibt sich also zu großen Teilen aus dem Faktum, dass sie tatsächlich zwei Gesichter aufweist, die miteinander verwandt sind: Eingedenk ihres polymorph hybridisierten Aussehens weisen diese, trotz aller Unterschiede, große Ähnlichkeiten auf. In ihrer Reinfor gehen sie zurück auf biomorphe wie thanatomorphe relationale Formationen, die vielleicht aber (so sie nicht idealtypisch gedacht sind) immer in diversen wechselseitigen Amalgamierungen und Legierungen vorkommen. In ihrer gegenwärtig sich abzeichnenden Gestalt jedenfalls aber sind in den polymorphen relationalen Formationen der spätmodernen Gesellschaften stärker biomorphe wie stärker thanatomorphe Tendenzen gleichermaßen eingelassen. Diese sind gerade im politischen Bereich deutlich auszumachen; nämlich eben in der Tendenz zur nicht-repressiven Gemeinwohlgesellschaft, wie in der zur repressiven Sicherheitsgesellschaft. Ob und wie der Ablösungs- und Emanzipationsprozess der gemeinwohlbasierten Gesellschaftsform nun gelingt, wird dann allein der geschichtliche und kulturelle Prozess zeigen können. Dabei zeichnet sich gewiss gerade die im Jahr 2020 so plötzlich aufgetretene Pandemie (mit ihren neben den gesundheitlichen noch nicht absehbaren auch soziokulturellen und politökonomischen Folgewirkungen) jetzt schon als Katalysator für Tendenzen ab, die in den spätmodernen Gesellschaften sowohl in Richtung einer Emergenz neuer Gemeinwohlstrukturen weisen dürften (z.B. ein absehbares Ende der neoliberalen Privatisierungspolitik, eine notwendige, baldige Verbesserung der allgemeinen medizinischen Versorgungsituation, die mögliche Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens zur Abmilderung der so offensichtlichen Schwächen des klassischen Sozialstaats, die überall zu beobachtende Zunahme zwischenmenschlicher Solidarität, Kooperation und wechselseitiger Hilfe, die Etablierung neuer virtueller und realer Work- und Meeting-Spaces usw.) als auch für solche, die fatalerweise das Entstehen einer neuen Art von Kontroll- und Sicherheitsgesellschaft begünstigen könnten (wie z.B. ein forcierter Ausbau biometrischer und (tele-)kommunikativer Überwachungskapazitäten, eine Ausweitung staatlicher Befugnisse auf Kosten bürgerlicher Freiheitsrechte, eine den geänderten Umständen entsprechende Um- und Neugestaltung des polizeilichen wie militärischen Apparates, eine stärkere staatliche Lenkung v.a. der Industrie und damit eine zunehmende Verschmelzung des Staates mit der Ökonomie etc.). Parallel zu diesen zu beobachtenden Amalgamierungen von Gemeinwohlpolitiken mit solchen der Kontroll- und Sicherheitsgesellschaft begegnen überall neue Hybridisierungen des Maßlosen mit dem Maß: Denn die durch die Pandemie erforderlichen neuen Grenzsetzungen für die Bewegungsfreiheit auf nationaler und supranationaler Makro-Ebene finden ihre Entsprechung auch in den neuen Social-Distancing Regeln der sozialen Mikro-Ebene. Dabei dient paradoxerweise die Beschränkung des maßlos

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Gemeinsamen bis hin zur (temporären) Isolation im Einsamen gerade dem kollektiven Schutz des Bios. So scheint nun selbst die bloße zwischenmenschliche Kommunikation und Interaktion auf als deutlich hybridisierte, und zwar zu nunmehr gleichermaßen trennenden wie verbindenden Formen, die sich mehr und mehr parallel zu vollziehen beginnen. Die weitere Entwicklung all dieser Tendenzen bleibt offen.

3.2.

Polymorphe Subjektkonstitutionen und psychischer Raum

Prolog: Verschwimmende Konturen ■ Im polymorphen Subjekt sind Maßloses und Bemessenes, Entdifferenziertes und Differenziertes, mithin: Eros und Thanatos, auf vielgestaltige Weise verwoben. Eine ambivalente Gleichzeitigkeit, ein Nebeneinander und Ineinander psychischer Strukturen und Prozesse deutet sich an, statt eines Gegeneinanders und Nacheinanders. Die Gestaltungen der Psyche nehmen sich so als Reaktionen auf soziale Formen, genauer: polymorphe relationale Formationen, aus, die ebenso zunehmend auf vielgestaltigen Verschmelzungen von Maßlosem und Maß, Entdifferenzierung und Differenzierung, Inklusion und Exklusion, dem Gemeinsamen wie dem Einsamen beruhen. Maßloses Selbst und bemessenes Ich sind in Gleichzeitigkeit gegebene – das klassische Instanzenmodell durchziehende bzw. auch unterlaufende oder überdeckende – Strukturierungen, die sich nicht geschieden voneinander aus- und abbilden, sondern in unzähligen Variationen überlappen oder zu einzigartigen Mustern verschmelzen. Der psychische Raum, als Netz aus Instanzen und Repräsentanzen, zu denen internalisierte, vormals äußerlich erfahrene, verbindende wie trennende Kommunikations- und Interaktionsszenarien geronnen sind oder verflüssigt wurden, erscheint dann als individuell mehr oder minder gebrochene und konfliktuöse Adaption eines Spezifischen oder Allgemeinen im sozialen Raum. Die Verschränkung beider ist so offensichtlich wie untrennbar. Es sind Räume, Netze, die verschmolzen sind, und sich real kaum (außer idealtypisch, nämlich bspw. zu psycho-analytischen oder sozial-diagnostischen Zwecken) separieren lassen. Die Grenze von Innenwelt und Außenwelt ist fließend. Inneres entstammt dem Äußeren, und Äußeres dem Inneren; wenngleich beide nicht identisch sind. Hinter dieser Nicht-Identität steht auch die irreduzible Essenz des Subjekts, als eines Lebendigen, als aus der Materie hervorgetretener Geist. Diese Doppelstruktur des Lebens aus Materialität und Immaterialität, die selbst schon enigmatisch ineinander verschmolzen ist, findet dann ihren Ausdruck in der Verwobenheit von ideellen, symbol- und zeichenhaften Ebenen des sozialen Raums mit dessen letztlich auf die Befriedigung psycho-physisch-sozialer Bedürfnisse rekurrierenden Ausprägungen in der materiellen Basis. Die komplementär – und vielleicht auch quer – dazu sich permanent ereignenden, komplexen Austauschprozesse, nicht nur von Individuum zu Individuum, sondern auch von Individuen zu Kollektiven oder von Individuen und Kollektiven zur umgebenden Welt, geben dann dem psychischen wie sozialen Raum seine Plastizität und wandelbare Gestalt. Im Falle ihrer Regelhaftigkeit nehmen sie vorhersehbare Formen an, im Falle ihrer Ungeregeltheit entstehen neue, unvorhersehbare Um- und Ausformungen der Psyche wie auch des Sozialen. So be- und entstehen psychische und soziale Welten permanent und erzeugen unablässig den Kosmos menschlichen Seins, der mit dem nichtmenschlichen Leben genauso über Austauschprozesse verbunden ist, wie mit der nicht-organischen Welt als solcher. Von Abgrenzungen und Begrenzungen zu reden hieße daher, geradezu gewaltsam ein Maß zu errichten, ein Ganzes in seine Teile zu sezieren, und die unauflösliche Verflochtenheit allen Seins zu negieren. Nur ein Nachspüren der

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feinen Verästelungen des Seins, ein Einfühlen in seine Zusammenhänge kann seiner Entität gerecht werden. Eine sinnlich-selbstreflexive Vernunft, nicht eine instrumentelle Ratio, kann daher ausschließlich das Signum der sich abzeichnenden, neuen Epoche werden. Gerade auch die Wissenschaften müssten in Methode wie Theorie eine derartige Orientierung reflexiv ins Zentrum ihrer selbst stellen. Die Welt der Objekte, die die Moderne zu betrachten oder erforschen behauptete, ist zur Welt der Relationen zwischen den belebten wie unbelebten Entsprechungen eines Ganzen geworden. Doch nicht nur die Wissenschaften haben diesen Transformationsprozess zu unterlaufen; die neuen Selbst- und Weltverhältnisse dürften die kulturelle, soziale, politische und ökonomische Sphäre zu verwandeln in der Lage sein. Eine mehr und mehr vom Eros sowie einem versöhnlicheren Lustprinzip geprägte gesellschaftliche Ordnung würde anstelle einer vormals mehr destruktiven und unversöhnlicheren entstehen. Das polymorphe Subjekt, selbst in seinem emanzipatorischen Potenzial, nimmt sich daher aus als ein Vorübergehendes; als Wegbereiter, vielleicht, eines mehr biomorphen, vom Eros als Lebens- und Liebestrieb durchtränkten Subjekts.   Prototypische Subjektkonstitutionen in einer ›nicht-repressiven‹ Gesellschaft, oder: Marcuses Metapher von Orpheus und Narziss ■ Marcuse führt zwei Gestalten aus der griechischen Mythologie an, die er als Prototypen der Subjektkonstitution in der nichtrepressiven Gesellschaft begreift: Orpheus und Narziss. Ihnen gegenüber stellt er Prometheus, in welchem er das prototypische Subjekt der repressiven Gesellschaft zu erblicken meint. Prometheus symbolisiert für Marcuse »die Produktivität, die rastlose Anstrengung das Leben zu meistern«; mit ihm verbunden sind untrennbar »Segen und Fluch, Fortschritt und Mühsal«.222 Er ist der Kulturheld »des Fortschritts durch Unterdrückung«223 ; er steht für die kulturelle Beherrschung und Bezwingung der innermenschlichen wie außermenschlichen Natur. Orpheus und Narziss dahingegen »[…] stehen für eine sehr andere Wirklichkeit (wie Dionysos, dem sie verwandt sind: der Antagonist des Gottes, der die Logik der Herrschaft, das Reich der Vernunft sanktioniert). Sie wurden niemals die Kulturheroen der westlichen Welt: ihre Imago ist die der Freude und der Erfüllung, ist die Stimme, die nicht befiehlt, sondern singt; die Geste, die gibt und empfängt; die Tat, die Friede ist, und das Ende der Mühsal der Eroberung, ist die Befreiung von der Zeit, die den Menschen mit Gott, den Menschen mit der Natur eint.«224 Orpheus und Narziss gemahnen an die Möglichkeit der Verwirklichung des Lustprinzips, während Prometheus kämpferisch, und auch mit List (d.h. instrumenteller Ratio), das Realitätsprinzip durchzusetzen trachtet. Während Prometheus, der Feuerbringer, den Menschen die Fackel der zivilisatorischen Vernunft reicht und ihnen damit – scheinbar frevelhaft – ›gottgleiche Macht‹ überbringt, »rufen« Orpheus und Narziss »die Erinnerung an eine Welt wach, die nicht bemeistert und beherrscht, sondern befreit werden sollte – eine Freiheit, die die Kräfte des Eros entbinden würde, die jetzt noch in den unterdrückten und versteinerten Formen des Menschen und der Natur gefes-

222 Herbert Marcuse, Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, a.a.O., S. 158. 223 Ebd. 224 Ebd.

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selt sind. [Eig. Hervorhebung]«225 Sie »versöhnen Eros mit Thanatos«; sie propagieren »die Erlösung der Lust«, den »Stillstand der Zeit, das Ende des Todes, Stille, Schlaf, Nacht, Paradies – das Nirwanaprinzip nicht als Tod, sondern als Leben«.226 (Welch Hohn, dass dann in der Mythologie die göttliche Strafe für Prometheusʼ ›Frevel‹ der kulturellen Selbstermächtigung des Menschen über die Natur ausgerechnet darin bestand, ewig an einen Felsen, und damit: an die Natur, gefesselt zu werden, so dass ein Adler ihm nicht endende Qualen zufügen konnte.) Die unerbittliche Härte des Realitätsprinzips, die Prometheus zuvor seiner inneren wie der äußeren Natur gegenüber zeigte, trifft ihn damit letzten Endes selbst. Das nachgiebigere Lustprinzip aber scheint auf im Charakter des Orpheus, wenn er mit Gesang die Welt zu Tränen rührt, sowie in dem des Narziss, wenn er sich im Wasser selbst bespiegelt; in beiden Fällen sind ihre charakterlichen Dispositionen eng mit dem Element des Flüssigen verbunden. Das mythologische Schicksal von Orpheus wie Narziss verweist jedoch auch auf die Gefahren des Lustprinzips. Orpheus, der bei seinem Versuch, die geliebte Eurydike der Unterwelt (und damit dem Tod) zu entreißen, einem plötzlichen Impuls gehorchend (regressiv) nach Eurydice zurück blickte, musste hilflos ihrem endgültigen Verschwinden zusehen, Und nicht ohne tiefere Bedeutung scheint auch zu sein, dass später sein eigener Tod durch die berauschten Mänaden des Dionysos, also den Personifikationen eines zügellosen Lustprinzips schlechthin, herbeigeführt wurde: Orpheus wurde von ihnen zerrissen und sein Kopf und seine Lyra seien in einen Fluss geworfen worden, der ins Meer floss. Der in diesem Fall unerbittliche und regressive Sog des Lustprinzips, das Orpheus ja ehedem auf eine sanfte und ›sozial verträgliche‹ Weise geradezu verkörpert hatte, ereilte so auch ihn selbst. Narziss wiederum wurde in einer Version des Mythos in reine Schönheit, in diesem Fall: eine Narzisse, verwandelt; in einer anderen Version aber ertrank er in einem See – und damit geradezu buchstäblich in Selbstliebe. Die auch negativen Aspekte dessen, was Freud als ›ozeanisches Gefühl‹ beschrieb, treten so im Schicksal des Orpheus wie des Narziss deutlich zutage. Denn das ›ozeanische Gefühl‹ verbindet nicht nur maßlos, entgrenzt, entdifferenziert; sondern es verbindet auch bis zum Verschmelzen und damit bis zur Ich-Auflösung. Es entgrenzt bis hin zu einer auch gefährlichen Grenzenlosigkeit, es entdifferenziert bis ins Amorphe. Wo also Orpheus auch für die gefährlichen Folgen nach außen gerichteter libidinöser Bestrebungen steht (also für einen Eros, der das Selbst mit den Anderen und der Welt bis hin zur selbstlosen Ich-Auflösung vereint), steht Narziss stärker für die schadhaften Konsequenzen nach innen gerichteter Libido (einer Selbstliebe, die das Selbst von den Anderen und der Welt ablöst und damit letztlich ebenfalls aufhebt). Das fluide Selbst des Orpheus wie des Narziss ist somit beständig von Verflüchtigung bedroht. Das harte, prometheische Ich dahingegen erinnert an Freuds ›eng umgrenztes Ich-Gefühl‹, und ist so dem ›ozeanischen Gefühl‹ gegenübergestellt. Es erwächst aus gewaltsamer Differenzierung und Begrenzung. Immer ist es bedroht von völliger Versteinerung. Es entspringt dem Thanatos, der beständig und als einziges dem Eros Grenzen setzt. Der dialektische Gegensatz von maßlosem Selbst wie bemessenem Ich ist es somit, den Marcuse proto- und

225 Ebd., S. 160. 226 Ebd., S. 160f.

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idealtypisch am Beispiel des Orpheus und Narziss einerseits, und des Prometheus andererseits, schildert. Eigentlich aber ereignet sich diese Dialektik nicht im soziohistorischen Raum, etwa zwischen kulturell unterschiedlich ausgeprägten Subjekttypen, sondern vor allem im psychischen, und zwar bei der Konstitution eines jeglichen Subjektes: Das stärker dem Lustprinzip und dem Eros verhaftete maßlose Selbst ist antagonistisch verwoben mit einem mehr dem Realitätsprinzip und dem Thanatos verschriebenen, bemessenen Ich. Aus dieser Perspektive nehmen sich die Urbilder von Orpheus und Narziss sowie Prometheus weniger aus als unterschiedliche Charaktertypen, sondern vielmehr als divergierende Persönlichkeitsbereiche innerhalb von Individuen generell. Unter der Bezeichnung des ›Narzissmus‹ wird ja die mit Narziss assoziierte Selbstund Eigenliebe in der Psychoanalyse ausgiebig thematisiert. Und gerade der ›primäre Narzissmus‹ ist eng verbunden mit dem, was Freud als ›ozeanisches Gefühl‹ umschrieb. Denn mit ›primärem Narzissmus‹ ist (laut Marcuse) gemeint, die »Vorstellung einer undifferenzierten einheitlichen Libido […], die vor der Teilung in Ich und äußere Objekte bestand«227 . »Der primäre Narzißmus […] zieht die Umgebung in sich hinein, indem er das […] Ich mit der objektiven Welt integriert«:228 Das Selbst, die Anderen und die Welt verschmelzen auf dieser Stufe der (frühkindlichen) Wahrnehmung miteinander oder scheinen zumindest aufs Engste verbunden. Dieser primäre Narzissmus des Kleinkinds kann dann bekanntlich als Narzissmus beim Erwachsenen regressiv wiedererlebt werden. Doch das bedeutet nicht, so Marcuse, dass dieser Narzissmus unweigerlich pathologisch, nur als »neurotisches Symptom weiterlebt, sondern auch als konstitutives Element der Wirklichkeit, das mit dem reifen Realitäts-Ich zusammenbesteht«229 . Auch hier also deutet sich schon bei Marcuse die Vorstellung an, maßloses Selbst und bemessenes Ich würden gemeinsam, nebeneinander im psychischen Raum bestehen. Und Freud selbst hatte ja darauf hingewiesen, dass das ›ozeanische Gefühl‹ auch auf nicht-pathologische Weise neben dem alltäglichen Erwachsenen-Ich reaktiviert werden könne, beispielsweise in der Mystik, der Trance, der Ekstase oder der Meditation. Hinzuzufügen wäre dem: Nicht nur in diesen Phänomenen (hinter denen eigentlich der sublimierte Eros und ein transzendiertes Lustprinzip stehen) kann das ›ozeanische Gefühl‹ reaktiviert werden – sondern sicherlich auch in den unsublimierteren Formen des Eros und immanenten Facetten des Lustprinzips, d.h. also: in verbindender Kommunikation und Interaktion und der diese ermöglichenden biomorph geprägten relationalen Formation. Diese These findet ihre Bestätigung bei Marcuse, wenn er betont, dass der Narzissmus eben nicht nur als »egoistischer Rückzug vor der Wirklichkeit« verstanden werden darf, sondern eben auch »mit der ›Verbundenheit mit dem All‹ in Zusammenhang gebracht« werden muss, die Freuds ›ozeanisches Gefühl‹ kennzeichnet«.230 In dieser Eigenschaft »bezeichnet der Narzißmus eine fundamentale Bezogenheit zur Realität, die eine umfassende existenzielle Ordnung [eig. Hervorhebung] schaffen könnte«231 . Marcuse vertritt also die bemerkenswerte Auffassung, »der Narzißmus könnte den Keim eines andersartigen Realitätsprinzips enthalten: die libidinöse Kathexis des Ich (des eigenen Körpers) 227 228 229 230 231

Ebd., S. 164. Ebd. Ebd. Ebd., S. 165. Ebd., S. 164f.

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könnte zur Quelle und zum Reservoir einer neuen libidinösen Kathexis der Dingwelt werden – die Welt in eine neue Daseinsform überführen [eig. Hervorhebung]«.232 Marcuse verweist im Anschluss auf Freud, der der narzisstischen Libido eine entscheidende Rolle bei der Sublimierung zugeschrieben habe: In Das Ich und das Es habe er nämlich die Frage aufgeworfen, ob Sublimierung nicht grundsätzlich durch die Vermittlung des Ich vor sich gehe, und zwar indem sich die Libido der Objektbesetzungen bemächtigt, sie zum einzigen Liebesobjekt erhebt, und alsdann neue Triebziele sucht.233 »Ist dies der Fall«, so Marcuse, »dann begönne alle Sublimierung mit der Reaktivierung narzißtischer Libido, die irgendwie überfließt und auf andere Objekte übergreift [eig. Hervorhebung]«234 . Dies aber würde »eine Revolutionierung der Idee der Sublimierung« bedeuten; es existierte dann eine »nicht-verdrängende Form der Sublimierung […], eine Sublimierung, die aus einer [maßlosen, eig. Anm.] Erweiterung der Libido resultiert, statt aus einer einschränkenden [begrenzenden, bemessenden, eig. Anm.] Ablenkung«.235 Dies heißt nichts anderes, als dass nicht allein das Realitätsprinzip in seiner begrenzenden und bemessenden Qualität Sublimierung bewirkte, sondern dass auch das Lustprinzip qua seiner Eigenschaft als entgrenzendes und maßloses, das Phänomen der Triebsublimierung erzeugen könnte. Kultur wäre dann auch unter dem Primat des Lustprinzips denkbar, eine nicht-repressive gesellschaftliche Ordnung schiene realisierbar. In diesem Sinne müssten Orpheus und Narziss dann als potenzielle Kulturheroen verstanden werden, neben dem faktischen Kulturheroen Prometheus; allein sie verwiesen dann auf die erst noch zu realisierende Möglichkeit einer anderen Kultur: einer Kultur wirklicher Freiheit. Denn die »orphische und narzißtische Welterfahrung negiert die Erfahrungsform, die die Welt des Leistungsprinzips [als derzeit herrschender Form des Realitätsprinzips, eig. Anm.] aufrecht erhält.«236 Die Ordnung des Prometheus, die vom Realitätsprinzip gestiftete nämlich, wäre dann aber ihrerseits nurmehr eine bloß mögliche – und nicht mehr eine notwendige (wie es innerhalb der repressiven Kultur allzu oft scheint): »Der orphische und narzißtische Eros ist bis zum Ende die Verneinung dieser Ordnung – die ›Große Weigerung‹. In der vom Kulturhelden Prometheus symbolisierten Welt ist es die Verneinung aller Ordnung; aber Orpheus und Narziß lassen in dieser Weigerung eine neue Wirklichkeit ahnen, mit eigener Ordnung, geleitet von anderen Prinzipien. Der orphische Eros verwandelt das Dasein: er überwindet Grausamkeit und Tod durch Befreiung. Seine Sprache ist Gesang, sein Werk ist Spiel. Das Leben des Narziß ist das der Schönheit und sein Dasein ist Kontemplation. [Hervorhebungen durch Marcuse]«237 Ohne nun aber inhaltlich an dieser Stelle weiter auf Marcuse einzugehen, gilt es erst einmal dessen Argumentationslinie hinsichtlich der Subjektkonstitution in einer nichtrepressiven Kultur noch einmal vor dem inneren Auge Revue passieren zu lassen. Dabei 232 233 234 235 236 237

Ebd., S. 165. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 165f. Ebd., S. 162. Ebd., S. 167.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

fallen einige wenige gedankliche Fixpunkte auf, theoretische Markierungen sozusagen, die Marcuse errichtet, um die Plausibilität seiner proto- und idealtypisch vorgetragenen These zu untermauern: 1. Der Verweis auf generell stärker dem Lustprinzip oder stärker dem Realitätsprinzip zuzurechnende Persönlichkeitsmerkmale bzw. psychische Struktur-Elemente; 2. Die (explizite) Betonung des auch ›gesunden‹, nicht nur neurotischen, Potenzials des kindlich primären Narzissmus für die psychische Struktur des reifen Individuums; 3. Die damit (implizit) verbundene Infragestellung einer alleinig, oder wenigstens: zentralen, charakterprägenden Rolle des Ödipus-Komplexes; 4. Die Darstellung einer engen, wechselseitigen Verschränkung psychosozial divergierender Subjektkonstitutionen mit einer nicht-repressiven bzw. repressiven kulturhistorischen Ordnung (allegorisch-metaphorisch vorgetragen am Beispiel des mythologischen Gegensatzes von Orpheus und Narziss vs. Prometheus). Basierend auf diesen argumentativen Fixpunkten, die dem theoretischen Gedankengang Marcuses inhärent sind, müsste sich nun aber ausfindig machen lassen, inwieweit Marcuse (auch und gerade) in der Gegenwart für die Verbindung einer Kritischen Theorie des Subjekts mit der Gesellschaftstheorie relevant bleibt.   Marcuses Subjektskizzen und ihre Relevanz für eine mögliche Verknüpfung von Kritischer Theorie des Subjekts und Kritischer Theorie der Gesellschaft ■ Die Kritische Theorie des Subjekts ist mit – und neben – der Kritischen Theorie der Gesellschaft eine der großen, umfassenden und übergeordneten Theorieströmungen innerhalb der Frankfurter Schule. Beide haben sich zum Ziel gesetzt, die jeweils gegenwärtig vorherrschenden Bedingungen psychischer wie sozialer Emanzipation auszuloten; beide sind daher beständig ›im Fluss‹ und transformieren sich als Theorie analog zu der sich wandelnden Praxis. Hans-Joachim Busch gibt einen Überblick zur Kritischen Theorie des Subjekts in dem von ihm herausgegebenen Sammelband Spuren des Subjekts238 . Dort schreibt er, dass wenngleich die Wurzeln der Kritischen Theorie des Subjekts weiter zurückreichen, sie erstmals in den späten 60er Jahren als dezidiert psychoanalytisch-sozialpsychologisch orientierte Theorieströmung die wissenschaftliche Bühne betrat. So »erlebte mit ihr die Ehe von Psychoanalyse und kritischer Gesellschaftstheorie eine neue Renaissance«.239 Den damaligen Vertretern der Kritischen Theorie des Subjekts ging es darum, »eine umfassende Konzeption von Subjektivität zu entfalten, die auch die Entwicklung auf dem Gebiet der Sprach-, Interaktions- und Sozialisationstheorie berücksichtigen sollte. Auf diese Weise wurde ein Schritt unternommen, der über den platten Mechanismus der [eig. Anm.: marxistischen] Formel ›Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein‹ sozialisationstheoretisch hinausführte.«240 Somit war gewährleistet, dass die stärker soziologischen und bloß typisierenden Persönlichkeits-Theoreme der frühen Frankfurter Schule (wie jenes vom ›autoritären Charakter‹) in ihrer mechanischen Simplifizierung der gesellschaftlichen 238 Hans-Joachim Busch (Hg.), Spuren des Subjekts. Positionen psychoanalytischer Sozialpsychologie, Göttingen 2007. 239 Hans-Joachim Busch, »Psychoanalytische Sozialpsychologie in Frankfurt – eine Tradition und ihre Zukunft«; in: ders. (Hg.), Spuren des Subjekts. Positionen psychoanalytischer Sozialpsychologie, a.a.O., S. 19. 240 Ebd., S. 20.

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Subjektprägung durchschaubar wurden, um sie mit der »Diffizilität und Unvorhersehbarkeit der psychoanalytischen Persönlichkeitsauffassung« zu konfrontieren.241 Diese Intention aber musste auch im Sinne der Kritischen Theorie der Gesellschaft liegen, so sie doch stets um eine differenzierte, aber ganzheitliche, Psyche wie Soziales einbeziehende Deutung menschlicher Lebensbedingungen bemüht war. Alfred Lorenzer und Klaus Horn waren die Wegbereiter jener Kritischen Theorie des Subjekts. Klaus Horn befasste sich überwiegend mit der Frage, wie »kann Subjektivität gesellschaftlich angemessen zur Geltung gebracht werden, und wie und wodurch wird sie daran gehindert« und suchte deren Beantwortung in so verschiedenen Themenfeldern wie »Erziehung, Gesundheit, Technik, Krieg und Frieden, Gewalt und Terrorismus, Massenmedien Werbung, politische Apathie, und andere«.242 Methodisch bereitete er damit bekanntlich der Disziplin der ›Politischen Psychologie‹ den Boden.243 Alfred Lorenzer wiederum hatte ja mit seinem Konzept der Interaktionsformen einer sozialisationstheoretischen Vermittlung von Psychoanalyse und Sozialtheorie den Weg geebnet, welche die Disziplin der ›psychoanalytischen Sozialpsychologie‹ nachhaltig prägen sollte. Vermittels der Methode der ›tiefenhermeneutischen Kulturanalyse‹ sollten dabei im Gegensatz zur (mehr auf die Interpretation persönlicher Narrative konzentrierten) Psychoanalyse auch soziale Phänomene über »die Rezeption von filmischen, literarischen und künstlerischen Werken und Hervorbringungen der Architektur«244 einer Deutung zugänglich gemacht werden. Im Anschluss an Horn und Lorenzer habe sich die Kritische Theorie des Subjekts, wie Busch schreibt, dann im Wesentlichen in drei Lager aufgefächert. Zum einen Lager zählten die »intersubjektiven Skeptiker, beziehungsweise skeptischen Intersubjektivisten«, die den psychoanalytisch-sozialpsychologischen Anspruch vorwiegend an »mikrologischen Fallanalysen« (Reiche) prüften, oder auf »entwicklungspsychologische und empirisch-säuglingspsychologische« Gesichtspunkte hin untersuchten (Honneth, Dornes, Altmeyer) – »um ihn dann zu bestreiten und fallen zu lassen«.245 Obwohl von ihnen darüber hinaus aber auch soziale Phänomene generell einer psychoanalytischen Deutung zugeführt werden, sei es ihnen dennoch nicht gelungen, eine »tragfähige Grundlage einer interdisziplinären Kooperation von Psychoanalyse und Sozialwissenschaft« zu erarbeiten.246 Ein weiterer Kreis an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wiederum (wie bspw. Brede, Krovoza, Schneider und Heim) führte »psychoanalytische Sozialpsychologie und Sozialforschung auf dem Boden kritischer Theorie« fort, »ohne offensichtlich die Bedenken Reiches und die Beschränkung auf die Linie eines reinen Intersubjektivismus zu teilen«, weise dabei aber deutlich mehr »Gemeinsamkeiten mit der von Horn und Lorenzer geprägten Richtung«247 auf als 241 Ebd., S. 21. 242 Ebd. 243 Ein Überblick zu gegenwärtigen Forschungsfeldern der Politischen Psychologie findet sich bspw. in: Markus Brunner et al. (Hg.), Politische Psychologie heute? Themen, Theorien und Perspektiven der psychoanalytischen Sozialforschung, Gießen 2012. 244 Hans-Joachim Busch, »Psychoanalytische Sozialpsychologie in Frankfurt – eine Tradition und ihre Zukunft«; in: ders. (Hg.), Spuren des Subjekts. Positionen psychoanalytischer Sozialpsychologie, a.a.O., S. 25. 245 Ebd., S. 35. 246 Ebd., S. 35f. 247 Ebd., S. 36.

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Reiche, Honneth, Dornes oder Altmeyer. Insbesondere den letztgenannten gegenüber stehe schließlich noch ein drittes Lager, zu dem Busch neben sich selbst u.a. König, Görlich, Schmid Noerr und Prokop rechnet. Dieser Personenkreis halte an der klassischen freudschen Trieb- und Kulturtheorie fest, wie sie eben auch in der von Horn und Lorenzer geprägten »kritischen Sozialisationstheorie des Subjekts und einer darauf gründenden psychoanalytisch-tiefenhermeneutischen Sozialforschung« weiterhin zum Ausdruck komme. Vor genau diesem Hintergrund bemühte Busch selbst sich »um eine sozialwissenschaftliche Erweiterung und Festigung der von Horn und Lorenzer ins Leben gerufenen Subjekttheorie, indem er sie mit Konzepten der Sozialisation, der Intersubjektivität, der Individualisierung und der spätmodernen Gesellschaft abglich.«248 Grundsätzlich war er dabei stets von der Hoffnung getragen, »es könnten jedenfalls die Konturen eines Dachs entstehen, unter dem sich die Positionen Frankfurter psychoanalytischer Sozialpsychologie zusammenführen lassen«, so dass für eine »Fortführung der Tradition der Frankfurter Schule insbesondere im Hinblick auf die Verknüpfung von Psychoanalyse und kritischer Gesellschaftstheorie […] die Frage des Intersubjektivismus nicht zur unüberwindbaren Hürde eines solchen Einigungsversuchs werden muss«.249 Als potenziell tragfähige Grundlage eines solchen theoretischen Unterfangens plädiert Busch für eine ›Adorno/Marcuse-Habermas-Allianz‹ (aufseiten der Kritischen Theorie der Gesellschaft) in Kombination mit einer deutlich an Lorenzer orientierten Kritischen Theorie des Subjekts.250 Bereits in seinem Werk Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft hatte er diesen Vorschlag unterbreitet.251 Denn das »brennende Problem von Subjektivität«, so Busch, »sich mit innerer und äußerer Natur zu versöhnen, wird von der älteren kritischen Theorie bis hin zu Marcuse subjektivistischgeschichtsphilosophisch, von der Habermas-Schule soziologistisch-sprachtheoretisch halbiert in Angriff genommen. Es liegt also nahe, beide Hälften wieder zu einer Einheit zusammenzufügen […]. [Hervorhebung durch Busch]«252 . Auf ein derartiges Projekt aber sei gerade die Kritische Theorie des Subjekts immer angelegt gewesen: »Einerseits in den Traditionen einer sinnlichen Vernunft (Marcuse) und eines widerstandsfähigen Subjekts (Adorno) wurzelnd und diese systematisch weiterführend, erweiterte sie doch andererseits den Begriff dieses Subjekts um den Aspekt sprachlich-interaktionistischer Bildungsprozesse und fasste Psychoanalyse als hermeneutisches Verfahren der Rekonstruktion gestörter Sprach- und Interaktionsmuster. Die gegenseitige Befruchtung zwischen Habermas und Lorenzer, was die Eröffnung letzterer Perspektive auf Psychoanalyse betraf, kann ja auch gar nicht bestritten werden […]. Dass der Dialog zwischen den beiden Protagonisten abnahm, war zu einem Teil wissenschaftsnarzisstischen Eitelkeiten (Freuds ›Narzissmus der kleinen Differenz‹) 248 249 250 251

Ebd., S. 34. Ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 39. Vgl. Hans- Joachim Busch, Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Konzeptionelle Schwierigkeiten und Möglichkeiten psychoanalytisch-sozialpsychologischer Zeitdiagnose, a.a.O., S. 273. 252 Hans-Joachim Busch, »Psychoanalytische Sozialpsychologie in Frankfurt – eine Tradition und ihre Zukunft«; in: ders. (Hg.), Spuren des Subjekts. Positionen psychoanalytischer Sozialpsychologie, a.a.O., S. 40.

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geschuldet; hinzu kam die Verlagerung der habermasschen Erkenntnisinteressen im Rahmen seines weit gespannten kommunikationstheoretischen Projekts. »253 Die intersubjektiven Schwächen aufseiten Adornos und Marcuses, gepaart mit ihren Stärken, die u.a. auch im Rekurs auf die Triebtheorie liegen, würden eine theoretische Synthese mit hoher Deutungskraft ergeben, wenn sie einmal mit dem habermasschen Gedankensystem zusammengeführt werden könnten, dessen Stärke ja gerade in der kommunikations- und handlungstheoretischen (und damit: intersubjektiven) Ausrichtung besteht, wobei dessen offensichtliche Schwäche wiederum ausgerechnet in der »Blutarmut des libididofrei sich vollziehenden Sprachpragmatismus habermasscher Provenienz [eig. Hervorhebung]«254 liege. Es stellt sich also durchaus die Frage, inwieweit speziell Marcuses proto- und idealtypische Darstellung einer mehr vom Eros geprägten Subjektkonstitution einen Beitrag leisten könnte, zu solch einer generell angestrebten Verbindung der Kritischen Theorie des Subjekts mit einer Kritischen Theorie der Gesellschaft – und zwar unter besonderer Berücksichtigung der Intersubjektivität. Zweifellos könnte dies nur vonstatten gehen in einer intersubjektiven Neuausrichtung gerade der Marcuses Subjektkonstitution prägenden theoretischen Grundannahmen (wie im vorangegangen Kapitel herausgearbeitet). Dies würde also bedeuten: 1. Die generell stärker dem Lustprinzip oder stärker dem Realitätsprinzip zuzurechnenden Persönlichkeitsmerkmale bzw. psychischen StrukturElemente intersubjektiv neu zu formulieren; 2. Den primären Narzissmus (in seinen produktiven wie destruktiven Auswirkungen auch aufs reife Individuum) intersubjektiv zu explizieren; 3. Das Verständnis vom Ödipus-Komplex intersubjektiv zu wenden; 4. Die wechselseitige Verflechtung psychosozial divergierender Subjektkonstitutionen mit einer nicht-repressiven bzw. repressiven kulturhistorischen und gesellschaftlichen Ordnung intersubjektiv darzustellen. Diese Etappen der theoretischen Konstruktion allerdings wurden in Grundzügen (begrifflich wie inhaltlich) hier bereits genommen: Punkt 1 wird ermöglicht durch den Rekurs auf maßloses Selbst wie bemessenes Ich; Punkt 2 durch die Orientierung an verbindender wie trennender Kommunikation und Interaktion (sowie dem aus ihr entspringenden maßlos Gemeinsamen bzw. bemessen Einsamen); Punkt 3 durch die These vom relationalen Komplex; und Punkt 4 durch die Identifizierung intersubjektiver Gesamtzusammenhänge innerhalb des gesellschaftlichen Raums, als da wären: biomorphe, thanatomorphe und polymorphe relationale Formationen. Indem bezüglich einer Kritischen Theorie des Subjekts zudem der psychische Raum auch vermittels eines netzwerkartig verstandenen Konzepts der Interaktionsformen auf den sozialen hin ausgerichtet werden konnte, wird darüber hinaus das lorenzersche Gedangengut absorbiert – genauso wie ein Verständnis des sozialen Raums als Netzwerk aus kommunikativen und interaktiven Verbindungen theoretisch dazu in die Lage versetzt, die Implikationen der habermasschen Kritischen Theorie der Gesellschaft zu einem guten Teil zu integrieren und (in Abgleich zu aktuellen praktischen wie theoretischen Entwicklungen) in Richtung einer Theorie der Spätmoderne weiter zu entwickeln. Gerade

253 Ebd., S. 39. 254 Vgl. ebd.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

aber die subjekttheoretische Komponente dieses Unterfangens wird sich im Folgenden noch deutlicher herausarbeiten lassen.   »Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft«: Busch über die ›Notwendigkeit und Möglichkeiten eines Gegenentwurfs von Subjektivität‹ ■ In Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft 255 verfolgt Hans-Joachim Busch das breit angelegte Unternehmen, im Abgleich zu psychoanalytisch-sozialpsychologisch subjekttheoretischen Positionen der Moderne, die Chancen und Problematiken einer spezifisch spätmodern ausgerichteten Kritischen Theorie des Subjekts zu diskutieren. Dabei spannt sich der Bogen seiner Argumentation ausgehend von einer allgemeinen Erörterung der Situation von Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft (unter besonderer Berücksichtigung auch der gesellschaftstheoretischen Entwürfe von Ulrich Beck und Anthony Giddens) über einen Abriss der mehr sozialpsychologischen Charakter- und Persönlichkeitstypologien der mittlerweile klassischen Kritischen Theoretiker (Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Erich Fromm, Herbert Marcuse) sowie über Untersuchungen speziell der stärker psychoanalytisch orientierten subjekttheoretischen Konzepte (u.a. von Alexander Mitscherlich, Thomas Ziehe, Wilfried Gottschalch, Jessica Benjamin und vor allem von Klaus Horn und Alfred Lorenzer) bis hin zur Eröffnung des Vorschlags einer integrativen und supratheoretischen »Adorno/Marcuse-Habermasschen-Allianz«256 . Vermittels letzterer sollten sich klassische Theoreme der ›älteren Kritischen Theorie‹ im Verein mit intersubjektiven Theoremen der ›neueren Kritischen Theorie‹ gezielt auf die Implikationen einer spätmodernen Subjekt- und Gesellschaftstheorie hin ausrichten lassen. Die angedachte Adorno/Marcuse-Habermas-Allianz veranschaulicht, dass es grundsätzlich auch Busch darum geht, den Gedankenschatz der klassisch im Subjekt-Objekt-Paradigma verhafteten, älteren Kritischen Theorie ›hinüberzuretten‹ in die neuere, von der intersubjektiven Perspektive geprägte, Kritische Theorie. Bezüglich der Konzeption einer spätmodernen Subjekttheorie schlägt er dazu vor, »eine Verknüpfung der Idee eines Eingedenkens von – äußerer wie innerer – Natur im Subjekt mit der der Intersubjektivität, [also] der Konstitution von Subjektivität durch wechselseitige (interaktive und) kommunikative Anerkennung«257,258 Diesen Ansatz aufzugreifen und weiter zu denken, lohnt sich in hohem 255 Hans-Joachim Busch, Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Konzeptionelle Schwierigkeiten und Möglichkeiten psychoanalytisch-sozialpsychologischer Zeitdiagnose, a.a.O. 256 Ebd., S. 273. 257 Ebd. 258 Bemerkenswert an der von Busch verwendeten Formulierung von der »Konstitution von Subjektivität durch wechselseitige (interaktive und) kommunikative Anerkennung [eig. Hervorhebung]« ist, dass sie letztlich auf eine denkbare Inklusion auch von Honneths Theorie des Kampfes um Anerkennung in die zuvor propagierte Adorno/Marcuse-Habermas-Allianz hinausläuft. Eine wahrhaft integrative Theorieperspektive bzgl. der Frankfurter Schule zeichnet sich so ab, die nicht nur die Kritische Theorie des Subjekts mit der Kritischen Theorie der Gesellschaft vereinen möchte, sondern auch auf die Tatsache eines gewissen Korrespondierens der intersubjektiven kritischen Gesellschaftstheorien neueren Typs untereinander anspielt. (Nicht zuletzt arbeitet ja auch Hartmut Rosa Differenzen wie Kongruenzen seiner Resonanztheorie mit der honnethschen Anerkennungstheorie heraus [Vgl. Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, a.a.O., S. 332339], so wie zuvor seinerseits Axel Honneth die intersubjektiven Grundlagen der habermasschen Theorie des kommunikativen Handelns detailliert überdachte, bevor er im Anschluss seine Aner-

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Maße. Allein, es müsste ein Grundsatz sein, dieses Vorhaben so anzugehen, dass der propagierte Schulterschluss von Adorno und Marcuse gerade bezüglich einer zu konzipierenden Subjekttheorie sich so ausnehmen müsste, dass deren zur Diskussion gestellten, divergierende Charakter- und Persönlichkeitstypen (autoritärer Charakter vs. libidinöse Persönlichkeit) nicht als Grundlage spezifisch kulturhistorisch verschieden geformter Individualcharaktere begriffen würden, sondern als überhistorische, innerhalb des psychischen Raums angelegte Struktur-Optionen des (maßlosen) Selbst bzw. des (bemessenen) Ich – welche über die Internalisierung von Kommunikations- und Interaktionserfahrungen (bruchlos oder gebrochen) korrespondieren mit den relationalen Strukturen im sozialen Raum. Dass Buschs Neukonzeption von Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft diese gedankliche Ausrichtung erlaubt, wird deutlich, wenn er beispielsweise schreibt: »Zentrum dieser Neuordnung ist ein Selbst, welches sich reflexiv zum Gegenstand einer bedürfnisorientierten und zukunftsweisenden [eig. Anm.: vielleicht auch biomorph zu nennenden] Lebenspolitik macht. Dieses Selbst steht in einer sinnlichkeitsbewußten Beziehung zur eigenen Sexualität und bewegt sich im Rahmen einer reinen, das heißt: reziproken Beziehung der Geschlechter. Auch […] kann man infolge der unmißverständlichen Akzentuierung von Lebenspolitik auf Sexualität und Körperlichkeit hier doch von einer klaren Thematisierung des Verhältnisses des Subjekts zur inneren Natur sprechen. Demzufolge halte ich es für angemessen, Lebenspolitik im Einklang zu sehen mit der von der Frankfurter Schule hergeleiteten Forderung des Eingedenkens von innerer Natur im Subjekt. [Eig. Hervorhebungen]«259 Das von Busch über Giddens bezogene Verständnis von ›Lebenspolitik‹ geht somit konform auch mit einer realpolitisch gezielten Verwirklichung biomorpher relationaler Formationen anstelle thanatomorpher. In einer Stärkung des maßlosen Selbst anstelle des bemessenen Ich fänden diese (gewandelten) sozialen Bedingungen dann ihre psychische Entsprechung. Triebhaftigkeit, im Sinne einer Würdigung innerer Natur, fände so (über die auch bewusste Beeinflussung der psychischen wie sozialen Komponenten der Dialektik von Eros und Thanatos) Eingang in eine an Praxistransformationen orientierte, theoretische Neukonzeption von Subjektivität und Gesellschaft. Der Zusammenhang von älterer Kritischer Theorie mit neuerer bliebe gewahrt; die Verknüpfung von Subjekt-

kennungstheorie formulierte [Vgl. Axel Honneth, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, a.a.O., S. 307-334.] Und Habermas selbst wiederum hatte ja stark Bezug auf Adorno und Horkheimer genommen, bevor er zu seiner folgenreichen kommunikationstheoretischen Reformulierung ansetzte. Kritische Theorie erweist sich so – bei all ihren theoriegeschichtlich und individuell verschiedenen Ausformulierungen – einmal mehr als dialogisch und kollektiv geprägter Theorie-Komplex, der sich einerseits auf eine gemeinsame Denktradition stützen kann und andererseits durch deren beständige und vielfältige Fort- und Weiterentwicklung auszeichnet. Eine gewisse Bündelung und Zusammenführung ihrer verschiedenen Stränge (wie von Busch vorgeschlagen) steigert daher nicht nur die latent immer gegebene Kohärenz innerhalb der Kritischen Theorie, sondern verspricht zudem enorme Synergieeffekte für die wissenschaftliche Erkenntnis. 259 Ebd., S. 273f.

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und Gesellschaftstheorie ist ermöglicht. Dem Ansinnen Kritischer Theorie, die Bedingungen psychischer wie sozialer Emanzipation angesichts einer Untersuchung der Tendenzen innerhalb der Praxis denkbar zu machen, werden neue Möglichkeiten eröffnet. Dies umso mehr, als Busch im Konzept von ›Lebenspolitik‹ generell auch ein Analyseinstrumentarium erblickt, welches emanzipatorisches Potenzial identifizieren lasse als »Zurückweisung der Kolonialisierung der Lebenswelt durch kapitalistische Systemimperative, zur Rückeroberung, ›Repolitisierung‹ der Alltagswelt durch die Subjekte«260 . Die so zentrale These von der Umkehrung der habermasschen Diagnose einer beständig drohenden Kolonialisierung der Lebenswelt durch das System in der Moderne, hin zu einer möglichen Verlebensweltlichung des Systems in der Spätmoderne, wird so auch von Busch (bedingt) geteilt. Bedingt, weil Busch mehr die Zurückweisung der Systemimperative bzw. die Zurückverwandlung der kolonialisierten Bereiche im Blick hat als die letztendlich lebensweltliche Durchdringung des Systems. Dies aber wäre der tatsächlich revolutionäre Akt. Eine solche – auch bewusst realpolitisch vorangetriebene – lebensweltliche ›Wieder-Verflüssigung‹ des entkoppelten und in seiner kapitalistischen und technokratischen Eigenlogik ›erstarrten‹ politökonomischen Systems im sozialen Raum, würde dann zwangsläufig korrelierende Effekte aufseiten des psychischen Raums der Subjekte bewirken. Das spätmoderne Subjekt generell untersucht Busch unter triebstrukturellen, persönlichkeits- und sozialisationstheoretischen Gesichtspunkten. Was die Triebstruktur betrifft, so wurde ja bereits daraufhin gewiesen, dass Busch die von Freud aufgemachte These teilt, dass der kulturhistorische Prozess auf eine ›Entscheidungsschlacht‹ zwischen Eros und Thanatos (also: den zivilisatorisch gesteigerten konstruktiven wie destruktiven menschlichen Kräften) zusteuere.261 (Diese These hatte ja auch ihren Eingang gefunden in Marcuses Auffassung, auf der ›Höhe der Kultur‹ sei eine wahrhaft nicht-repressive Gesellschaft unter der Ägide des Eros erstmals denkbar). Busch hält dezidiert die spätmoderne Gesellschaft aufgrund ihrer besonderen Rahmenbedingungen für den möglichen Schauplatz dieses antagonistischen Höhepunkts in der psychosozialen Dialektik beider Triebkräfte.262 Dabei setzt er allerdings auf eine nüchterne, wenngleich nicht weniger konsequente, pragmatische Sichtweise: »Statt – wie Marcuse – die Möglichkeit einer prinzipiell nicht triebunterdrückenden Kultur zu behaupten, kann es – wie ich meine – nur darum gehen, einerseits die triebunterdrückenden Wirkungen der Zivilisation Schrittchen für Schrittchen zu mildern, andererseits den grundlegenden Konflikt zwischen Trieben und Kultur nicht etwa aus der Welt schaffen zu wollen, sondern besser mit ihm umgehen zu lernen, ihn soziopsychodynamisch zu bearbeiten. Der Akzent hätte zunächst einmal weniger auf einer Aussöhnung der Triebe mit Kultur als auf einer Aussöhnung der Individuen mit der Tatsache dieses Konflikts zu liegen. Das Wirken einer psychoanalytischen politischen Psychologie besteht demnach in der Förderung eines breiten gesellschaftlichen Prozesses solcher reflexiver Triebsozialisation. Von ihrer Warte aus würde nicht so sehr 260 Ebd., S. 274. 261 Vgl. dazu auch: ebd., S. 274. 262 Vgl. ebd.

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lauter Protest (der selbstredend weiterhin seinen beträchtlichen Wert behielte) als vielmehr die leise, aber unnachgiebige Stimme des Intellekts politisch den Takt angeben, welche sich auf eine pragmatisch-integrative (das heißt mehrheitsfähige) Politik des Friedens, der Solidarität, Demokratisierung und ökologischen Vernunft konzentriert. Die vor ihr liegende Aufgabe besteht in der Zerlegung und Entschärfung der destruktiven Strukturanteile einerseits und in der gleichzeitigen Freilegung, Unterstützung und Kräftigung der libidinösen Strebungen spätmoderner Subjektivität andererseits.«263 Lebenspolitik würde in ihrer Umsetzung also bedeuten, »daß wir einer tödlichen Spirale von wachsendem Unbehagen [in der Kultur, eig. Anm.] und dadurch steigender Aggressivität nicht einfach ausgeliefert sind, sondern daß sich aussichtsreich Gegenkräfte bilden«264 . Busch versteht diese ›Gegenkräfte‹ in dem Sinn, wie Freud von einer »konstitutionellen Intoleranz«265 (»also einer anlagenmäßige[n] Intoleranz«266 ) gegenüber dem Krieg spricht, wenn er die psychoanalytische Dimension einer politisch pazifistischen Haltung beleuchtet. Selbstredend kann diese Konstitution nur als vom Eros dominierte Persönlichkeitsstruktur verstanden werden. Busch verweist auch in dieser Hinsicht auf Marcuse, der jene von Freud vorgebrachte These in sein Denken integriert habe: »So kehrt dieses Motiv nicht zufällig in Marcuses Auffassung wieder, die Weigerung, sich den Prinzipien der herrschenden Gesellschaftsform weiterhin zu unterwerfen, und die Bereitschaft, ein neues Realitätsprinzip zu etablieren, erwachse aus einer organisch, nämlich: triebpsychologisch begründeten libidinösen Moral267 . Diese Moral basiere auf einer tiefgreifenden ›Veränderung der heute dominierenden psychosomatischen Struktur, die das Einverständnis mit der Destruktion, die Gewohnheit an das entfremdete Leben […] trägt‹268 . […]. Und schließlich paraphrasiert Marcuse geradezu Freuds Hinweis mit der Formulierung, der erhoffte gesellschaftsweite Protest sei ›motiviert von einer tiefen, körperlichen und geistigen Unfähigkeit mitzumachen‹269 [Eig. Hervorhebung]. Mithin kann das Theorem der ›konstitutionellen Intoleranz‹ als ein erster Schritt in die von Marcuse eingeschlagene Richtung verstanden und als Bestandteil des Konzepts einer ›libidinösen Moral‹ angesehen werden. […] Libidinöse Moral tritt anstelle einer asketischen Leistungs- bzw. Arbeitsmoral. Der zuvor ein Schattendasein fristende psychosomatische Komplex rückt in die Mitte einer neuen Ausrichtung von Kultur, und die Sexualität zurichtende, das weibliche Geschlecht

263 264 265 266 267

Ebd., S. 276f. Ebd., S. 278. Sigmund Freud, Warum Krieg?; in: SA, Bd. IX, S. 286; zitiert nach Hans-Joachim Busch; ebd., S. 279. Ebd. Mit Verweis auf Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung, Frankfurt a.M. 1969, S. 24-26, durch Hans-Joachim Busch; ebd., S. 281. 268 Herbert Marcuse, »Kinder des Prometheus. 25 Thesen zur Technik und Gesellschaft«; in: Zur Aktualität von Herbert Marcuse. Politik und Ästhetik am Ende der Industriegesellschaft (Sonderheft des Magazins Tüte), Tübingen 1979, S. 25, zitiert nach Hans-Joachim Busch; ebd. 269 Herbert Marcuse, »Kinder des Prometheus. 25 Thesen zur Technik und Gesellschaft«, a.a.O., zitiert nach Hans-Joachim Busch; ebd.

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unterdrückt haltende prometheische Kultur des Leistungsprinzips (als des ›väterlichen Realitätsprinzips‹270 ) wandelt sich zu einer erotisch dominierten Kultur, die aus den leiblich-sinnlichen Quellen der frühen Mutter-Kind-Dyade schöpft und das Polymorphe, Prägenitale betont. Als Urbild einer solchen Haltung bestimmt Marcuse Orpheus und Narziß.271 Sie stehen für eine lustbetonte Praxis, die der Entfaltung der Sinnlichkeit und ästhetischen Phantasie Raum gibt und den Einklang mit der Natur anstrebt.«272 Der argumentative Brückenschlag von der Behauptung einer möglicherweise reifen, und dennoch dem Eros und Lustprinzip verhafteten Subjektkonstitution aus überwiegend primär-narzisstischen, dyadischen Beziehungserfahrungen (d.h. aus Erfahrungsqualitäten, die Freud dem ›ozeanischen Gefühl‹ zugerechnet hatte), welche einher ginge mit einem individual- und kulturgeschichtlichen Bedeutungsschwund des klassisch ›väterlichen Realitätsprinzips‹ (also auch des Ödipus-Komplexes) für die psychosoziale Entwicklung, bis hin zur These einer damit verbundenen, potenziellen Etablierung einer libidinösen Moral in einer vom Eros in all seinen Facetten durchzogenen Gesellschaft, wird so auch von Busch vollzogen. Wenn Busch nun spezifisch »persönlichkeitsstrukturelle und massenpsychologische Aspekte«273 in seine weitere Analyse des Verhältnisses von (emanzipatorischer) Lebenspolitik und spätmoderner Subjektivität einfließen lässt, geschieht dies folglich in eben der Weise, dass er hinweist auf die sozialpsychologischen Konsequenzen der (individual-biographischen und gesamtgesellschaftlichen) »Vaterlosigkeit, die die spätmoderne Gesellschaft hervorgebracht hat«274,275 . Die spätmoderne Gesellschaft und die ihr eigene Kultur ist nämlich weniger eine prä- oder postödipale, sondern in weiten Teilen auch eine: non-ödipale. Damit verbunden ist unweigerlich ein Dahinschwinden der paternalistisch-hierarchischen Organisationsmuster auf allen Gebieten; an ihre Stelle treten mehr und mehr maternitär-horizontale Ordnungsformen.276 Die wachsende Bedeutung des Netzwerks als grundsätzlich egalitäres Organisationsprinzip (gegenüber pyramidal strukturierten Herrschaftsformen) ist eines der deutlichsten Zeichen eines solchen gesellschaftlichen Übergangs. Statt Freuds postödipaler ›Brüder-Ordnung‹ (die ihm zufolge auf die Rebellion gegen den vorhistorischen Über-Vater folgte) kristallisiert

270 Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1955, S. 227, zitiert nach HansJoachim Busch; ebd., S. 282. 271 Mit Verweis auf Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1955, S. 160ff, durch Hans-Joachim Busch; ebd. 272 Hans-Joachim Busch, Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Konzeptionelle Schwierigkeiten und Möglichkeiten psychoanalytisch-sozialpsychologischer Zeitdiagnose, a.a.O., S. 281f. 273 Ebd., S. 283. 274 Ebd., S. 284. 275 Wie politisiert Vorstellungen von der Vaterrolle im Spannungsfeld spätmoderner Kulturkämpfe daher inzwischen auch sind, verdeutlicht Sebastian Winter, in: ders., »›Sie wollen Vater sein und Mann bleiben‹«. Sozialpsychologische Überlegungen zu aktuellen Vaterideologien zwischen Liberalisierung und Rechtspopulismus«; in: Freie Assoziation. Zeitschrift für psychoanalytische Sozialpsychologie, 21. Jg., 1/2018, S. 30-51. 276 Vgl. Hans-Joachim Busch, Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Konzeptionelle Schwierigkeiten und Möglichkeiten psychoanalytisch-sozialpsychologischer Zeitdiagnose, a.a.O., S. 286.

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sich sozusagen in Grundzügen eine non-ödipale, egalitäre, »Geschwisterordnung«277 in der spätmodernen Kultur heraus. Diese »demokratische Geschwisterordnung« würde sich in einer ihr gemäßen, sittlich-symbolischen Ordnung ausdrücken (wie Busch in Anlehnung an Mitscherlich formuliert) und dürfte sich dabei stützen »auf eine gleichermaßen libidinöse wie kommunikative Moral […], in der Vernunft Sinnlichkeit nicht ausschließt, sondern sich mit ihr versöhnt«278 . Eine derart libidinös-kommunikative Moral (sowie der hinter ihr stehende demokratische »Unionsgedanke«279 ) läge aber auf einer Linie mit der habermasschen Theorie des kommunikativen Handelns, gesetzt den Fall, man vergegenwärtigt sich eine in zunehmenden Maße von den Gesetzmäßigkeiten der Lebenswelt, und nicht von Systemimperativen, durchzogene Gesellschaft. Einer solcherart verlebendigten Gesellschaft entspräche eine neue Form von Subjektivität, die sich »flexibel und beweglich einzurichten weiß«, ein vielschichtiges und vielheitliches Subjekt der Fülle (und nicht des Mangels), das »fortwährend mit dem Umbau, der Auflösung, Erneuerung und Rekombination der Elemente seines Identitätsentwurfs beschäftigt ist«.280 Die Bezüge, die sich hier zu einer auf dem maßlosen Selbst basierenden Psychostruktur ergeben, sind offensichtlich. Busch fährt fort: »Dieses Subjekt hätte über die Fähigkeit der Infragestellung eigener Projektionen, eine Art dissoziative Kompetenz, zu verfügen, wie sie Lifton und Markusen beschreiben.281 Dissoziation bleibt dann der Kritik zugänglich und somit korrigierbar, ›wenn daneben Teile des Selbst fortwirken, in denen die Symbolisierung und das emotionale Erleben intakt bleiben. Ist die dissozierende Situation zeitlich begrenzt und behebbar, weicht die Dissoziation rasch wieder dem ganzheitlichen Selbst und hat nur eine begrenzte Schutzfunktion übernommen. Sind aber die äußeren Bedingungen […] dauerhaft, dann verfestigen sich auch die dissoziativen internen Strukturen des Selbst und stören das stets bedrohte menschliche Streben nach Ganzheit‹. [Eig. Hervorhebung]«282 Nicht weniger als die psychostrukturellen und charakterologischen Folgewirkungen der dialektischen Verschlingung von maßlosem Selbst und bemessenem Ich wird in dieser Passage (anhand spaltender und ganzheitlicher psychischer Mechanismen) beschrieben. Die eingangs hier in dieser Arbeit in Kap. 1.1 aufgestellte These einer permanenten Verflüssigung vormals verfestigter Ich-Anteile zum maßlosen Selbst, einschließlich ihrer möglichen, ebenso stetig sich vollziehenden Wiederverhärtung zu neuen Konfigurationen des bemessenen Ich, findet hier eine psychoanalytische Veranschaulichung. So

277 Alexander Mitscherlich, »Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft«; in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. III, Sozialpsychologie 1, Frankfurt a.M. 1983, S. 356 und 359, zitiert nach Hans-Joachim Busch; ebd., S. 286. 278 Ebd., S. 286f. 279 Ebd., S. 286. 280 Ebd., S. 284. 281 Mit Verweis auf Robert J. Lifton/Eric Marcusen, Die Psychologie des Völkermordes. Atomkrieg und Holocaust, Stuttgart 1992, S. 243, durch Hans-Joachim Busch; ebd., S. 285. 282 Hans-Joachim Busch, Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Konzeptionelle Schwierigkeiten und Möglichkeiten psychoanalytisch-sozialpsychologischer Zeitdiagnose, ebd.

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läge die (neue) Ich-Stärke einer derartigen Psychostruktur weder in einem für die Anforderungen der äußeren Realität gepanzerten und verhärteten bemessenen Ich noch in einem mit dieser bis zur Konturlosigkeit mimetisch verschwimmenden maßlosen Selbst, sondern vielmehr im Grad der Fähigkeit zu einer (auch bewusst reflexiven) transformatorischen Wechselbeziehung zwischen beiden. Eine Facette einer solchen dann charakterlichen Kompetenz wäre beispielsweise: »Man gibt sich der Begeisterung zwar hin, bleibt aber fähig zur selbstständigen Einschätzung der Lage und Ziele.«283 (D.h. mimetische und reflexive, oder: entdifferenzierende und differenzierende psychostrukturelle Komponenten halten sich die Waage.) Bezogen auf die Massenpsychologie bedeutete dies, dass innerhalb von »politisch alarmierten Massen […] nicht eine reflexionslose […] in der Anbetung eines Führers«284 sich verausgabende ich-schwache Persönlichkeit die politische Bühne betreten würde, sondern ein »mit einer neuartigen Ichstärke ausgestattetes Subjekt« das »sich in progressiven Massen konstruktiv zusammenschließt und die Chance der vaterlosen Gesellschaft im Sinne substantieller Demokratisierung selbstbewußt zu nutzen weiß«285 , um »das Ziel einer postmodernen Neuordnung anzuvisieren«286 . Das emanzipatorische Subjekt der Spätmoderne ist für Busch gerade auch deshalb immer ein ›Subjekt von Lebenspolitik‹.287 Die in der Spätmoderne gewandelten Sozialisationsbedingungen ermöglichen die Konstitution dieses Subjektes. Busch spricht von einer »gelungenen, befriedigenden, nichtdestruktiven Subjekt-Welt-Beziehung« die sich im besten Fall schon in der frühen Sozialisation ausbilde, und welche eben »nicht monologisch-solipsistisch organisiert« sei:288 »Die Art, wie der Einzelne seiner Welt später auch gegenüber steht, konstituiert sich im Rahmen dieser prinzipiell unausweichlichen, wiewohl je spezifisch ausgeprägten basalen Sozialisationskonstellation. Die bevorzugte Leistung dieses frühen Sozialisationsabschnitts besteht in der Ausbildung der sinnlichen Erlebnisstruktur des sich entwickelnden Subjekts. In den Interaktionen mit der Mutter und den ersten Bezugspersonen, in der Art wie die Regulation der Körperbedürfnisse vorgenommen und der Spielraum kindlicher Phantasie gestaltet wird, gewinnen die sinnlichen Lebensentwürfe des Kindes langsam Kontur. Es kommt dabei darauf an, wie die unbewußten Strebungen jeweils mit den sinnlich-symbolischen Interaktionsentwürfen in Verbindung gebracht werden; ob sie überwiegend eine befriedigende Allianz eingehen, die die Eigenständigkeit des werdenden Subjekts gegenüber der Welt, in die es hineinwächst, zu wahren vermag, oder ob sie vorwiegend inkonsistente, instabile, sprunghaft widersprüchliche Züge annehmen. Die Weise wie dieser Prozeß vor sich geht, entscheidet über die individuelle Ausformung und Tönung der persönlichen Handlungsentwürfe, legt das Fundament der Erlebnisstruktur des einzelnen im Hinblick 283 Alexander Mitscherlich, »Massenpsychologie und Ich-Analyse – Ein Lebensalter später«; in: Psyche, 31, Heft 6, 1977, S. 520, zitiert nach Hans-Joachim Busch; ebd. 284 Alexander Mitscherlich,»Massenpsychologie und Ich-Analyse – Ein Lebensalter später«, a.a.O., zitiert nach Hans-Joachim Busch; ebd. 285 Ebd. 286 Ebd., S. 285. 287 Vgl. ebd., S. 287. 288 Ebd., S. 288.

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auf die Welt der sozialen Objekte (der Menschen und ihrer soziokulturellen Objektivationen), mithin seine soziale Wirklichkeit, und auf die natürliche Umwelt. Die Aufgabe einer zur Ausbildung autonomer, lebenspolitisch engagierter Subjektivität führenden Sozialisation ist also, daß das Kind ausreichend Interaktionen von hoher emotionaler Intensität mit Mutter wie Vater erlebt, die aber auch die Fähigkeit vermitteln, Ambivalenzen auszuhalten (das heißt auf nicht miteinander kompatiblen Bedürfnissen beruhende Konflikte zwischen Kind und Erwachsenem und unter Erwachsenen müssen ausgetragen und als austragbar dargestellt werden.) […] Ist diese Voraussetzung erfolgt, erhält das Kind eine erste Grundlage für reichhaltiges und konstruktives Erleben und Gestalten in seiner künftigen Beziehung zur sozialen und dinglichen Welt. [Eig. Hervorhebungen]«289 Diese Überlegungen Buschs zur Bedeutung der primären Sozialisation erweisen sich als absolut kompatibel zu den hier bereits an früherer Stelle gegebenen Ausführungen zur Bedeutung der Dyade wie der Triade für die kindliche Entwicklung – allein, sie betonen stärker den Aspekt psychosozialer Emanzipation (nämlich wenn von der ›Ausbildung autonomer, lebenspolitisch engagierter Subjektivität‹ die Rede ist). Nicht mehr nur das ›reife (also: konflikt- und lebensfähige) Individuum‹, wie von der klassischen Psychoanalyse propagiert, rückt ins Zentrum wissenschaftlichen Interesses, sondern das ›reife Individuum‹ wird hier selbstverständlich (auch) als emanzipatorisches Subjekt verstanden. Diese von Busch beinahe unscheinbar vollzogene Erweiterung des Blickwinkels bringt, denkt man sie zu Ende, weitreichende Konsequenzen mit sich. Denn eine Psychoanalyse, die diese Deutung verinnerlicht, kann unmöglich eine a-politische sein; genauso wie eine Gesellschaftstheorie in deren Zentrum ein solches Subjektverständnis steht, unmöglich unpolitisch sein kann. Versteht man eine derartige Politisierung des Denkens aber (mit Busch) im Sinne einer Realisierung von ›Lebenspolitik‹, so kann unter ›emanzipatorisch‹ immer nur eine angestrebte Stärkung der Autonomie der Lebenswelt gegenüber den Imperativen des systemischen Komplexes gemeint sein. Dessen Herrschaftslogiken freilich sind nicht immer allein politökonomische, sondern brechen beispielsweise auch über die Geschlechterordnung in die Lebenswelt ein. Der emanzipatorische Aspekt des Subjekts von Lebenspolitik betrifft daher natürlich auch das Geschlechterverhältnis und damit schon die geschlechtsspezifische Sozialisation. Diese aber war (ungeachtet des teilweisen Fortbestehens traditioneller Geschlechterrollen) mit dem Übergang der Moderne zur Spätmoderne einem drastischen Wandel ausgesetzt. Denn es erlebt schon das Kind, wie Busch mit Verweis auf Jessica Benjamin ausführt, in der spätmodernen Gesellschaft potenziell »früh am Vorbild seiner Eltern weniger geschlechtlich differenzierte als vielmehr größtenteils gegenseitig durchlässige Entwürfe von Mann- und Frau-Sein«290 . In spätmodernen Erziehungskontexten schaffe »die Anerkennungspraxis« zwischen den Eltern, »die Reziprozität ihrer Lebensmuster«, »einen Raum, in dem das Kind an beiden Elternteilen Identifikationen bilden, von beiden lernen, und einen nachtraditionalen, reichen Entwurf eigener geschlechtlicher Identität ausprägen kann«.291 Nicht eine auf Hierarchien beruhende Geschlechterordnung sondern eben ein 289 Ebd., S. 289. 290 Ebd., S. 290. 291 Ebd.

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reziprokes elterliches Geschlechterverhältnis böte die Grundlage dazu. Busch weist daraufhin, dass eine so verstandene, »geschlechterreziproke Intersubjektivität« im Zentrum von Jessica Benjamins feministischer Perspektive steht.292 Die binäre Polarisierungslogik einer traditionellen Geschlechterordnung bringe laut Benjamin nämlich gerade nicht nur verschiedene Geschlechterrollen und -zuschreibungen hervor, sondern erzeuge mit dem Dualismus männlich-weiblich vielmehr einen auch binär codierten Erwartungs- und Denkhorizont.293 Die Vielfalt menschlicher Sprach- und Handlungsweisen wird mit geschlechterbezogenen Zuschreibungen jeweils einseitig verengt. Die potenziell maßlose Fülle anthropomorpher Seinsweisen wird geschlechtsspezifisch bemessen: Eine Codierung ursprünglich geschlechtsneutraler Haltungen oder Verhaltensweisen auf entweder männliche oder weibliche durchdringt dann die gesamte kulturelle Sphäre.294 Emanzipation zielt vor diesem Hintergrund folglich nicht allein auf die Gleichstellung der Geschlechter, sondern vielmehr auf eine neue Beziehung der Subjekte nicht nur zueinander, sondern auch miteinander zur Welt. Da sich aber auch die geschlechtsspezifische Sozialisation in der Spätmoderne weiterhin größtenteils in familiären oder quasi-familiären Beziehungsfeldern ereignet, drängt sich natürlich die Frage auf, wie die Tendenz zum Wandel klassisch familiärer Strukturen in der Spätmoderne für den Vorgang der Sozialisation generell zu bewerten ist; oder, wie Busch präzisiert: »Nimmt diese Tendenz Ausmaße an, durch die die Grundlagen primärer Sozialisation in Frage gestellt werden, oder ist die familiale Lebensform zukunftsfähig?«295 Busch bezieht dazu folgendermaßen Stellung: »Zunächst einmal denke ich, daß die heute in westlichen Gesellschaften zu verzeichnende Vielfalt an Realisierungsformen der Vater-Mutter-Kind-Struktur, welche auch partialisierte Entwürfe (Ein-Eltern-Familie) einschließt, als solche keine Bedrohung der Zukunft der Familie darstellt. Die spätmoderne Gesellschaft bildet […] einen Pluralismus der Lebensformen aus, der auch und gerade Elternschaft, Kindheit und Familie ergreift. Dabei erscheint es mir vor allem wichtig, daß weiterhin eine Weise des Zusammenlebens aufrechterhalten werden kann, die sowohl den Ansprüchen an die Beziehung der Geschlechter wie auch an die Erziehung von Kindern am meisten gerecht wird. Das kann, muß aber nicht die Familie, zumal alten Typs, sein. Jedenfalls ist es keineswegs ausgemacht, daß Familie als Rahmen einer solchen Sozialisationsform von vorneherein nicht mehr in Frage kommt. Für die Entwicklung der Kinder muß eine gewisse Überschaubarkeit, Eindeutigkeit, Konstanz und Stabilität der Bezugspersonen, die an die Seite der Mutter bzw. an ihre Stelle treten, garantiert sein. Die Familie als Kernstruktur Mutter-Vater-Kind gibt dafür immer noch einen juristischökonomisch-sozial vernünftigen Rahmen ab. Darüber hinaus brauchen wir Familie oder familienanaloge Zusammenlebensformen ganz ausdrücklich als soziale Orte, an denen Intimität und emotionale Zuwendung einigermaßen geschützt von den An-

292 293 294 295

Ebd., S. 193. Vgl. ebd., S. 195f. Vgl. ebd., S. 195. Ebd., S. 291.

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sprüchen und Risiken des an instrumenteller Vernunft ausgerichteten gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses am Leben erhalten und gepflegt werden können.«296 Gerade Buschs Hinweis, soziale Orte, welche Familie (oder eben: ›familienanaloge Zusammenlebensformen‹) ermöglichen, seien unabdingbar, um Subjektivität auch vor systemischen Zugriffen zu schützen, scheint – obgleich zurückhaltend formuliert – nicht ohne eine gewisse politische Sprengkraft zu sein. Weniger die Zurichtung auf die Anforderungen der Gesellschaft wäre demnach Erziehungs- und Bildungsziel, sondern eben gerade der Schutz vor ihrem Anspruch auf ungehinderten Zugriff aufs Subjekt. Und auch die Verwendung des Terminus ›Zusammenlebensformen‹ appelliert an einen Begriff vom Zwischenmenschlich-Gemeinsamen, der vom Gesellschaftlich-Sozialen nicht abgedeckt werden kann. Staatliche, privatwirtschaftliche oder religiöse Sozialisationsagenturen wie Schulen, Universitäten, Betriebe oder Kirchen sind nämlich auch in der Spätmoderne kaum dazu in der Lage, solche Formen des Gemeinsamen zu tolerieren, geschweige denn zu etablieren, sondern trachten nach wie vor danach, sie zu unterbinden oder zu ihren Zwecken zu kanalisieren. Solange es diesen Sozialisationsagenturen nämlich gelingt, einen »staatsbürgerlichen und familial-beruflichen Privatismus zu erhalten«, bleibt die »entpolitisierte, konsumistische, karriereorientierte motivationale Beschränktheit […] des herrschenden Systems« gewahrt – wo aber spätmoderne »Enttraditionalisierung, Universalisierung, […] einen solchen Überschuss an soziokultureller Orientierungskapazität der einzelnen gegenüber den geltenden Legitimationsangebot […] erzeugen,« dass die systemischen Bereiche in »Legitimationsnot« geraten, deutet sich eine mögliche Ausdehnung der lebensweltlichen Sphäre an.297 Busch spielt dabei auch auf die Bedeutung der Adoleszenzkrise nicht nur für das Individuum, sondern auch für die Transformation gesellschaftlicher Ordnung über lebenspolitische Impulse an. Denn durch die »Ausdehnung [der Adoleszenz, eig. Anm.] infolge verlängerter Ausbildungszeiten und die beschriebene Ungewissheit gesellschaftlicher Legitimationsangebote wird der Adoleszenzverlauf298 mehr und mehr konflikthaft und das Ergebnis einer gut integrierten Modalpersönlichkeit eher unwahrscheinlich«299 . Busch fährt fort: »In der Adoleszenzkrise und der sie bewegenden Suche nach einem tragfähigen Entwurf von Ich-Identität bricht ja das Problem der Offenheit und Freiheit, der Traditionsentbundenheit des Systems von Weltdeutungen in der Moderne – welche dem einzelnen die Chance gibt, aber auch die ganze Last auferlegt, sein Welt- und Selbstbild eigenständig zu formen – besonders prägnant hervor. Die soziologisch und sozialbzw. politpsychologisch hervorragende Bedeutung der Adoleszenz besteht darin, daß sich an diese Sozialisationsphase die Frage knüpft, zu welchem Ausgang die notwendig mit ihr verbundene Motivations- und Sinnkrise biographisch für das die Gesell296 Ebd., S. 291f. 297 Ebd., S. 294. 298 Vera King beleuchtet im Übrigen das Phänomen der Adoleszenz aus einer Vielzahl von Perspektiven; in: dies., Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften, Opladen 2002. 299 Hans-Joachim Busch, Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Konzeptionelle Schwierigkeiten und Möglichkeiten psychoanalytisch-sozialpsychologischer Zeitdiagnose, a.a.O., S. 294.

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schaft künftig verantwortlich mittragende Individuum führt. Die zweite Chance, die die Adoleszenz entwicklungspsychologisch verschafft, die ›doppelte Geburt‹300 , welche sie ermöglicht, sorgt in gleichem Maß für ihr schwer einschätzbares gesellschaftliches Konfliktpotential.«301 Die »Ausschöpfung dieses Konfliktpotentials der Adoleszenz« aber hält Busch hinsichtlich der Konstitution emanzipatorischer Subjektivität, mithin des »Subjekts von Lebenspolitik«, für zentral.302 Denn aus einer derart an Krisen gereiften Sozialisation kann im besten Fall ein Subjekt hervorgehen, das nicht auf die Übernahme gesellschaftlich angebotener Rollen- und Identifikationsangebote eingespielt ist, sondern die vorgefundenen elterlichen wie gesellschaftlichen Lebensentwürfe auch in Frage zu stellen vermag, um sie gemäß der eigenen Persönlichkeitsstruktur zu modellieren.303 Eine solche charakterliche Kompetenz aber drückt sich im sozialen Raum immer als (lebens)politische Haltung aus. Demzufolge weist Busch auch mit Rekurs auf Ergebnisse der empirischen Jugendforschung darauf hin, dass der weit verbreitete Anschein einer unpolitischen, spätmodern sozialisierten Jugend nicht zutreffend sei: »Jugendliche zeigen ein besonders empfindsames, intensives Verhältnis zu den Wandlungen der spätmodernen Gesellschaft. Ihr politisches Interesse ist von hoher emotionaler Beteiligung begleitet; die politischen Probleme werden nicht nur unter reinen Interessenserwägungen wahrgenommen, sondern gerade auch seelisch registriert. Klaus Hurrelmann hält sie daher auch für die ›politisch sensibelste, wenn auch in ihren Empfindungen fragilste Bevölkerungsgruppe‹.304 Ihr Verständnis von Demokratie findet sich nicht in einer Staatsform wieder, in der sich die Bürger bis auf die periodische Wahl ihrer politischen Eliten von der Gestaltung ihres Gemeinwesens weitgehend zurückziehen. Gerade die Bedürfnisse der Jugendlichen richten sich unübersehbar auf das Modell von Lebenspolitik, von ›Demokratie als Lebensform‹305 .«306 Da Lebenspolitik (gerade in ihrer Bedeutung als Verwirklichung lebensweltlicher Aspekte in systemischen Bereichen) allzu oft nur als spezifisch charakterliche Haltung oder bestimmtes kulturelles Verhalten Einzelner oder Mehrerer verkannt wird, und eben oftmals nicht als (partei-)politische Positionierung im herkömmlichen Sinn auftritt, liegt

300 Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a.M. 1973, S. 127, zitiert nach Hans-Joachim Busch; ebd., S. 295. 301 Ebd., S. 295. 302 Ebd. 303 Vgl. ebd., S. 296f. 304 Klaus Hurrelmann, »Gewandeltes Politikverständnis fordert Politik und Politikunterricht. Jugendliche sind nicht unpolitisch«; in: Dialog, 06/1996, S. 11, zitiert nach Hans-Joachim Busch; ebd., S. 297. (Anm.: Allein schon das weltweite Ausmaß, das die Klimaproteste etwa der ›Fridays for Future‹Bewegung angenommen haben, zeigt ja ganz deutlich, wie sehr Jugendliche in der Spätmoderne lebenspolitisch sensibilisiert sind.) 305 Klaus Hurrelmann, »Gewandeltes Politikverständnis fordert Politik und Politikunterricht. Jugendliche sind nicht unpolitisch«, a.a.O., zitiert nach Hans-Joachim Busch; ebd. 306 Ebd.

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der Trugschluss einer scheinbar zu beobachtenden politischen Apathie in der Spätmoderne nur allzu nahe. Die regelmäßige Überraschung, ja Überrumpelung gesellschaftlicher oder politischer Eliten angesichts der dann in der Spätmoderne doch immer wieder periodisch ausbrechenden, meist spontanen und führerlosen, politischen (Massen)Proteste ist dann meist keine gespielte, sondern erklärt sich tatsächlich aus deren völligem Unverständnis für die Bedeutung von Lebenspolitik in der Spätmoderne. Denn aus der Perspektive einer Lebenswelt, die sich mehr und mehr anschickt autonom gegenüber dem System zu werden, bzw. Schritt für Schritt an seine Stelle zu treten, wird beinah jeglicher Versuch staatlicher oder ökonomischer Steuerung als Gängelung oder Manipulation erfahren, derer es sich zu erwehren gilt. Das klassisch politökonomische System weiß daher fatalerweise spätmodernen, lebenspolitischen Impulsen kaum anders zu antworten, als in Gestalt von Kontrolle und Repression.   Whitebooks Auseinandersetzung mit Marcuse und Loewald, oder: Über narzisstische und präödipale Elemente spätmoderner Subjektivität ■ Der US-amerikanische Philosoph und Psychoanalytiker Joel Whitebook setzt sich in Der gefesselte Odysseus. Studien zur Kritischen Theorie und Psychoanalyse307 u.a. auch intensiv mit Herbert Marcuse und Hans W. Loewald auseinander. Bezüglich Marcuse nimmt er einige wichtige Klarifikationen vor. So hebt er beispielsweise hervor, dass im Kern von Marcuses Theorie die These stehe, die von Marx als ›Reich der Notwendigkeit‹ beschriebene Sphäre der Gesellschaft (in welcher vermittels der Produktion die Ananke, die Lebensnot, gemildert werde) falle in ihrer historischen Form in eins mit den Geltungsansprüchen des Realitätsprinzips – wohingegen das marxsche ›Reich der Freiheit‹, historisch gedacht, deckungsgleich sei mit dem Bereich der Realisierung des Lustprinzips.308 Die Verwirklichung des ›Reichs der Freiheit‹ aber kann – laut Marx – nur analog zur höchsten Entfaltung der Produktivkräfte vor sich gehen. Spekulationen über das Wesen jenes künftigen ›Reiches der Freiheit‹ versagte sich Marx. Marcuse wiederum glaubte, dass die Tendenzen zum ›Reich der Freiheit‹ bereits im ›Reich der Notwendigkeit‹ auszumachen wären, und meinte, anders als Marx, diese Prozesse müssten sich nicht unbedingt in einer politisch sozialistischen Ordnung vollziehen, sondern könnten sich genauso gut in einem sozialstaatlichen Kapitalismus anbahnen. Aus diesem Blickwinkel sah Marcuse, wie Whitebook darstellt, nicht allein die reale oder drohende Verarmung weiter Bevölkerungsschichten (und damit auch weniger den Kampf zwischen Arbeit und Kapital) als letztlich ausschlaggebenden Impulsgeber für die Realisierung des ›Reichs der Freiheit‹ – sondern eben vor allem gerade den Überdruss aus Überfluss, welcher in einer wirtschaftlich voll entfalteten Gesellschaft die Auflehnung gegen jegliche (über die notwendige Produktion hinausgehende) zusätzliche Unterdrückung motiviere.309 »Das heißt, Überfluss [eig. Hervorhebung] wäre eher als Verarmung die treibende Kraft politischer Aktion«310 , folgert Whitebook. Ob nun aber die Spätmoderne bereits jene Epoche der weitreichenden

307 Joel Whitebook, Der gefesselte Odysseus. Studien zur Kritischen Theorie und Psychoanalyse, Frankfurt a.M./New York, 2009. 308 Vgl. ebd., S. 45. 309 Vgl. ebd., S. 44. 310 Ebd.

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Entfaltung der Produktivkräfte darstellt, die einen derartigen zur Transformation drängenden Überfluss ermöglicht, ist daher die Frage, die es zu analysieren gilt. Marcuse jedenfalls, so Whitebook, scheint der Auffassung gewesen zu sein, dass diese Prozesse sich in der späten Moderne bereits abzeichneten: »Während Marcuse diese Argumente in Triebstruktur und Gesellschaft 311 lediglich als Gedankenexperiment durchspielte, neigte er in den sechziger Jahren mehr und mehr zu der Annahme, dass sich diese Entwicklungen in den radikalen Bewegungen der Zeit tatsächlich zu entfalten begonnen hatten […].«312 Whitebook allerdings betrachtet diese Auffassung mit großer Skepsis, zumal er auch Marcuses Folgerung, gerade im primären Narzissmus sei eine psychosoziale Strukturkomponente auszumachen, die auf eine andere Seinsweise verweise, anzweifelt. Whitebook sieht vielmehr (auf ganz traditionelle psychoanalytische Art und Weise) im primären Narzissmus und dem mit ihm verknüpften Lustprinzip zuallererst eine potenzielle Quelle gefährlicher Allmachtsphantasien von vollständiger Befriedigung.313 Ein Stück weit aber widerspricht sich hier Whitebook doch selbst, vor allem nämlich dann, wenn er (wie im Folgenden ersichtlich werden wird) ganz im Einklang mit Loewald der Analyse der Bedeutung dyadischer Erfahrungsqualitäten (in welchen der primäre Narzissmus ja wurzelt) in gegenwärtigen Versionen der Psychoanalyse einen höheren Stellenwert einräumen möchte. Whitebook attestiert Loewalds theoretischen Arbeiten »einen hohen Grad an Systematisierung und synthetischer Stoßkraft« und bescheinigt dessen Denken das Vermögen »die Aufspaltungen in theoretische Lager –, die die psychoanalytischen Kontroversen immer wieder erstarren lassen, methodisch zu transzendieren«.314 Folglich nähmen »ihn zum Beispiel nicht nur die Vertreter der relationalen Psychoanalyse, sondern auch die Strukturtheoretiker für sich in Anspruch«315 . Loewald sei nämlich davon überzeugt gewesen, »dass Interaktion und Strukturbildung die beiden Seiten ein und desselben Prozesses darstellen«316 . Eine kommunikations- und handlungstheoretisch verstandene Intersubjektivität sowie eine Theorie psychosozialer Strukturgenese sind bei ihm aufs Engste verwoben. Mit Whitebooks Einschätzung lässt sich daher auch grundsätzlich die hier unter Kap. 1.1 und 1.2 bereits gegebene Loewald-›Auslegung‹ stützen. Whitebook weist zudem darauf hin, dass Loewald zu einem gewissen Grad als präödipaler Denker verstanden werden müsse.317 (Damit aber läge Loewald auf einer Linie auch mit der von Hans-Joachim Busch verfolgten Intention, die real und empirisch zu beobachtenden prä- und non-ödipalen Implikationen psychischer Strukturgenese in der spätmodernen, ›vaterlosen‹ Gesellschaft auch theoretisch stärker zu berücksichtigen.) »Loewalds Projekt« jedenfalls, so hebt Whitebook hervor, »ist im Kern ein Versuch die Bedeutung der präodipalen Wende – und ihre Begleiterscheinung, den sich erweiternden

311 312 313 314 315 316 317

Wie eingangs bereits erwähnt: Marcuses hier vielfach zitiertes Werk Eros und Kultur wurde später unter dem Titel Triebstruktur und Gesellschaft herausgegeben. Joel Whitebook, Der gefesselte Odysseus. Studien zur Kritischen Theorie und Psychoanalyse, a.a.O., S. 44. Vgl. ebd., S. 49. Ebd., S. 105. Ebd., S. 105f. Ebd., S. 106. Vgl. ebd., S. 108.

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Anwendungsbereich der Psychoanalyse – für die klassische Theorie zu ermessen«.318 Denn insbesondere bei ›postklassischen‹ – also: spätmodern sozialisierten – Patienten konnte Loewald beobachten, dass sie geradezu ›gelähmt‹ seien von Problemkomplexen, welche die Herausbildung der Subjekt-Objekt-Trennung (und damit von Differenzierung generell) betreffen. Die Ursprünge menschlichen Lebens, und dessen Wesen an sich, stehen somit oftmals im Mittelpunkt ihrer eigentlichen psychischen Thematik.319 Die damit in der Analyse verbundene »Exploration der archaischeren Schichten der Psyche […] decke einen ›psychotischen Kern‹ [Ein Ausdruck Loewalds, eig. Anm.] auf, ein Bestreben der Psyche Getrenntheit ungeschehen zu machen und einen Zustand der Nichtdifferenzierung zurückzuerlangen. [Eig. Hervorhebungen].«320 Mit dieser Auffassung aber stelle Loewald »die herrschende psychoanalytische Orthodoxie seiner Zeit […] – die Lehrmeinung, dass einzig und allein der Ödipuskomplex den ›Kernkonflikt‹ aller Psychopathologie bilde – unablässig in Frage«.321 Spätestes seit dem Erscheinen seiner Schrift Das Dahinschwinden des Ödipuskomplexes322 wurde Loewald dann auch allgemein als prä- oder non-ödipaler Denker gesehen; was jedoch nicht in vollem Umfang zutrifft. Denn Loewald verwirft oder negiert die um den Ödipus-Komplex sich zentrierenden Problematiken nicht einfach, sondern betont lediglich die wachsende Bedeutung präödipaler psychischer Implikationen in einer postkonventionell geprägten, sozialen Umwelt. Diese Implikationen ergäben sich insbesondere aus »miteinander verknüpften Entwicklungen in Familienleben, in Kindererziehung und Charakterbildung […], die die sozialen und psychischen Strukturen auflockerten«.323 Die Begegnung mit postklassischen Patienten in der Analyse und die damit verbundene Auseinandersetzung mit präödipal-archaischen Schichten der Psyche stellten sich für Loewald so dar, dass beständig die Objektivität des Objekts wie die Subjektivität des Subjekts in Frage gestellt wurde; anders gesprochen: Sie verwiesen auf verflüssigte, entdifferenzierte Bezugs- und Beziehungswelten.324 Angesichts dieser Erfahrungen aber schlussfolgerte Loewald, dass gerade die modernen Ich-Psychologen (in völliger Verkennung spätmoderner Lebensformen und -realitäten) sich ausgerechnet die Erfahrungsqualitäten und Wirklichkeitsbezüge des Zwangsneurotikers zu eigen gemacht hätten, nämlich indem sie »einen rigiden und zu eng gefassten Begriff des Selbst in den Rang einer Norm erhoben. [Eig. Hervorhebungen]«325 Die fluiden und entgrenzten Aspekte des Selbst fanden in den psychoanalytischen Ansätzen und Konzepten der damals vorherrschenden Ich-Psychologie dahingegen keine entsprechende Würdigung. Loewald aber schlug eine »alternative Konzeption vor, in der die Autonomie [der reifen Persönlichkeit, eig. Anm.] durch Integration eben dieses Materials ins Ich entsteht – durch einen Prozess,

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Ebd. Vgl. ebd., S. 108f. Ebd., S. 109. Ebd. Hans W. Loewald, »Das Dahinschwinden des Ödipus-Komplexes«; in: ders., Psychoanalyse: Aufsätze aus den Jahren 1951-1979, Stuttgart 1986, S. 377-400. 323 Joel Whitebook, Der gefesselte Odysseus. Studien zur Kritischen Theorie und Psychoanalyse, a.a.O., S. 111. 324 Vgl. ebd., S. 111f. 325 Ebd., S. 112.

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der dazu beiträgt, dass sich ein zunehmend differenziertes Ganzes stetig weiter ausdehnt«.326 Mit dieser Ausdehnungsbewegung aber rückt selbstverständlich der Eros auch bei Loewald ins Zentrum der psychoanalytischen Theorie.327 Denn gerade den Eros begreift auch Loewald als qualitativ verbindend, nämlich »unter dem Aspekt des synthetischen oder integrativen Prozesses in der Psyche«.328 Während also die klassische Psychoanalyse, namentlich Freud, dazu neigte, »die synthetische Funktion mit der Ich-Funktion zu assoziieren«, verortete Loewald »ihren Ursprung in Einklang mit seinem umfassend angelegten Projekt in den frühesten präödipalen Entwicklungsstadien«.329 Diese stellten sich dar als »undifferenzierte Matrix«, in welcher »Innen und Außen, Selbst und Objekt, Ich und Triebe, Lust- und Realitätsprinzip, Primär- und Sekundärprozess etc. erst noch voneinander unterschieden werden müssen«.330 Vom Erleben dieser uranfänglichen Dichte (›primal density‹, wie Loewald formuliert) gehe dann eine Sogwirkung »auf alle späteren Entwicklungsstadien« aus.331 Freuds ›ozeanisches Gefühl‹ unterscheidet sich von dieser ›uranfänglichen Dichte‹ nur insofern, als Freud dessen Wiedererleben in späteren Stadien ausschließlich regressiv zu denken vermochte, wohingegen mit Loewald der ›Sog‹, der von jenem Erleben ausgeht, als eine allzeit existente, progressive Konstituente des Seelenlebens verstanden werden muss. Diese der Dyade entstammende, präödipale Konstituente der Psyche steht für einen spezifischen Realitätsbezug, der, im Einklang mit Whitebooks Ausführungen, auch als ›mütterlich‹ bezeichnet werden mag. Diese Form der Realitätsbeziehung steht im Fall ihres Gelingens unter dem Primat von »Versöhnung, Bezogenheit und Einheit«; ihr Misslingen aber birgt die Gefahr einer völligen »Entdifferenzierung und des Ich-Verlustes – welcher zugleich ein Objektverlust ist«.332 Die mit dem Ödipus-Komplex verbundene ›väterliche‹ (also: auf die sekundäre Bezugsperson rekurrierende) triadische Seelenkonstituente dahingegen kann als ›gelungen‹ gewertet werden, dann, wenn sie »Individuation und Autonomie« fördert; sie misslingt jedoch, wenn sie in übermäßige »Feindseligkeit« und eine damit einhergehende, übergroße »Distanz vom Objekt« mündet.333 Generell aber dürfte bezüglich einer ausgeglichenen und ausbalancierten Psyche ein »Nebeneinander« und eine »Gleichzeitigkeit« beider Anteile denkbar und erstrebenswert scheinen.334 Whitebook kommt daher in seiner Loewald-Interpretation sehr nahe an eine Vorstellung vom maßlosen Selbst wie vom bemessenen Ich heran. So spricht er z.B. von einer Psychostruktur, die von »Flexibilität, Elastizität und Spontanität« gekennzeichnet und sehr lebendig sei.335 Ihr gegenüber stehe ein vermeintlich ›starkes Ich‹, dessen Stärke allerdings durch eine »Einengung des Herrschaftsbereichs des Ich« (also durch Ausgrenzung) zustande komme, und welche dieses »inhaltlich verarmen und seine Beziehung zur inneren wie äuße326 327 328 329 330 331 332 333 334 335

Ebd. Vgl. ebd., S. 113. Ebd. Ebd. Ebd., S. 114. Ebd. Ebd., S. 116. Ebd. Ebd., S. 118. Ebd.

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ren Realität starr werden [lässt] [eig. Hervorhebung]«.336 Dieses ›starke Ich‹ bezeichnet Whitebook daher auch als das »ausschließende Ich [eig. Hervorhebung]«337 . Loewald, so Whitebook, erachte als Ziel der postklassischen Analyse daher eine verbesserte Kommunikation zwischen den verschiedenen psychostrukturellen Bereichen untereinander wie auch mit den infantilen und archaischen Stufen des psychischen Apparates als solchem. Eine derartige Verlebendigung der psychischen Struktur aber, so gebe Loewald zu bedenken, bedeute nicht zwangsläufig ein Mehr an psychischer Stabilität.338 Hier aber gilt es zum Zwecke der Klarstellung abschließend noch einmal zu intervenieren, will man im Anschluss an Whitebooks Darstellung Loewalds Überlegungen endgültig fruchtbar machen für eine psychoanalytisch-sozialpsychologisch orientierte theoretische Neukonzeption spätmoderner Subjektivität. Denn gerade ein postkonventionelles Verständnis von psychischer Stabilität könnte sich völlig anders ausnehmen als ein konventionelles. Und zwar insofern, dass eben Stabilität nicht allein als einseitige Verhärtung und Zurichtung gegenüber den Anforderungen der Realität begriffen wird, sondern vielmehr als virtuos gehandhabter Wechsel von Grenzziehungsund Entgrenzungsszenarien (bzw. Differenzierungen und Entdifferenzierungen), welche als formende Mechanismen mit psychischer Strukturbildung immer einhergehen und das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst, den Anderen und der Welt nicht nur festschreiben, sondern beständig neu regulieren. Eine derart sich austarierende und immer wieder aufs Neue einpendelnde Balance von Wechsel- und Durchdringungsbeziehungen verflüssigter Bereiche mit verfestigten innerhalb der Psyche einerseits, sowie mit solchen im Sozialen andererseits, würde dann die Subjektstruktur des spätmodernen Individuums und sein Verhältnis zu anderen Subjekten wie zur sozialen (Um-)Welt kennzeichnen. Die Konstellation von Es, Ich und Über-Ich, wie sie die klassische Psychoanalyse propagiert, würde in einer derartigen Konzeption des psychischen Raumes nicht obsolet – ihre pyramidale Ordnungshierarchie allerdings dürfte sich in eine netzwerkartig verknüpfte, horizontale transformieren, und eingebettet sein in den Kontext kommunikativ verflüssigter und verfestigter Strukturbereiche der Psyche, die zudem in ständiger Korrespondenz mit ebensolchen des sozialen Raums stünden.   Busch und Whitebook im Hinblick auf eine Theorie spätmoderner Subjektivität; oder: Über die Verwobenheit von maßlosem Selbst und bemessenem Ich im polymorphen Subjekt ■ Whitebook hatte ja von zwei Wirklichkeitszugängen gesprochen (einem stärker ›väterlich‹ konnotierten, und einem mehr ›mütterlich‹ geprägten). Damit gemeint ist ganz offensichtlich zum einen eine stärker ödipale Konstitution der psychischen Struktur (wie in der konventionellen, noch deutlich patriarchal geprägten Moderne zu beobachten) und zum anderen eine mehr präödipale (wie sie den postkonventionellen Sozialisationsbedingungen der Spätmoderne entspricht). Ersterer hatte Whitebook ein vermeintlich ›starkes Ich‹ als Resultat in der Persönlichkeitsentwicklung zugerechnet, letzterer ein eher flexibles. Diese Annahmen decken sich zu einem großen Teil mit denen Buschs, der in Subjektivität in der Spätmoderne interessanterweise die Charaktertypo-

336 Ebd. 337 Ebd. 338 Vgl. ebd., S. 128.

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logien, wie sie von Kritischen Theoretikern der Moderne entworfen wurden, kontrastieren lässt mit den in der anbrechenden Spätmoderne entworfenen. Busch hebt hierbei das Modell des ›autoritären (oder: autoritätsgebundenen) Charakters‹ hervor, wie es früh schon von Erich Fromm angedacht und bald auch von Horkheimer und Adorno aufgegriffen wurde, und stellt es dem des (narzisstischen) ›neuen Sozialisationstyps‹ (NST) gegenüber, welchen Thomas Ziehe skizzierte.339 Ungeachtet der Tatsache, dass es sich in beiden Fällen eher um sozialpsychologische Charaktertypologien und eben weniger um psychoanalytische Persönlichkeitstheorien handelt, ist die historische Abfolge beider Konzepte allein schon von hoher Aussagekraft, insofern sie sich eignet, die allgemeine Diagnose einer in der breiten Gesellschaft zu beobachtenden Verschiebung von stärker ödipal geprägten Subjektformen hin zu mehr präödipalen zu stützen. »Ausgehend von den entwicklungspsychologischen Annahmen der Narzissmuskonzeption« konstruiere Ziehe, so Busch, »ein typisches frühkindliches Sozialisationsschicksal innerhalb spätkapitalistischer Gesellschaften, dessen Zentrum jetzt nicht mehr die ödipale Triade, sondern die präödipale Entwicklungsphase ist«340 . Busch zitiert Ziehe: »Erst der hohe Entwicklungsgrad einer kapitalistischen Vergesellschaftung vermag es, vermittelt über eine Veränderung der Mutter- und der Vater-Situation, den lebensgeschichtlich frühen Erlebnisphasen des Kindes in Korrespondenz hierzu so viel Gewicht zu geben, daß sie eine späte Strukturdominanz erlangen können. Die Vergesellschaftung entkleidet auch die frühe Eltern-Kind-Beziehung ihrer ›natürlichen‹, ihrer traditionalen Form – vermittelt über die gesellschaftliche Überformung und neue Widersprüchlichkeit der Elternmotivationen wird auch frühe Kindheit historisiert, inhaltlich in den historischen Veränderungsprozess mit hineingezogen. [Hervorhebungen durch Ziehe]«341 Busch veranschaulicht im Anschluss die von Ziehe gemeinten soziokulturellen Veränderungen, die in der Spätmoderne zur Schwerpunktverlagerung auf eine Dominanz präödialer Strukturmuster führten. Im spätmodernen bzw. spätkapitalistischen Vergesellschaftungsprozess werde das traditionelle, ausschließlich familiär orientierte Rollenverständnis der Mutter infrage gestellt, da diese über neue Möglichkeiten schon in der (Aus-)Bildung, aber auch im Berufsleben verfüge. Individuell wie gesellschaftlich werde das herkömmliche Mutterbild nun einem Rollenkonflikt ausgesetzt:342 »Die weiterhin bestehenden Anforderungen der Mutterrolle und die damit mehr oder weniger im Widerstreit liegenden Aufgaben im Beruf führen zu Ambivalenzen. Hiermit hält die Struktur gesellschaftlicher Widersprüche im Kapitalismus erstmals Einzug ins vordem noch behütete, vor dem schlechten Draußen geschützte gegenstrukturelle

339 Vgl. Hans-Joachim Busch, Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Konzeptuelle Schwierigkeiten und Möglichkeiten psychoanalytisch-sozialpsychologischer Zeitdiagnose, a.a.O., S. 117. 340 Ebd., S. 118. 341 Thomas Ziehe, »Gegen eine soziologische Verkürzung der Diskussion um den neuen Sozialisationstyp. Nachgetragene Gesichtspunkte zur Narzißmus-Problematik«; in: Helga Häsing/Herbert Stubenrauch/Thomas Ziehe (Hg.), Narziß – Ein neuer Sozialisationstyp?, Bensheim 1979, S. 126, zitiert nach Hans-Joachim Busch; ebd. 342 Vgl. ebd.

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Idyll der frühen Mutter-Kind-Beziehung, dessen von Horkheimer noch hervorgehobene, zumindest erhoffte Funktion als ein vor der um sich greifenden instrumentellen Vernunft geschützter Hort untergraben zu werden beginnt. Denn – so Ziehe: Die genannten Ambivalenzen lagern sich so tief in der weiblichen Persönlichkeit ab, daß sie auch deren Muttersein bestimmen. Das mütterliche Handeln gegenüber Säugling und Kleinkind ist nunmehr zutiefst gekennzeichnet von einer gesellschaftlicher Widersprüchlichkeit sich verdankender ›ambivalenten Motivation‹343 . Die gesellschaftliche Schwächung der Mutterrolle infolge zunehmender Integration der Frauen in außerfamiliale Sozialbereiche wird von den Müttern, wie Ziehe folgert, vielfach mit einem überstarken gefühlsmäßigen Klammern an die Mutterpflichten, an die symbiotische Verbindung mit dem kleinen Kind beantwortet. ›Mutterschwäche‹ verwandelt sich so unter der Hand in ›Mutterdominanz‹344 und zeitigt ihrerseits im sich bildenden Strukturgefüge des Kindes traumatische Wirkungen. Grob gesagt, entfaltet sich das folgende archaische Störungsbild: In der vorpersonalen, vorsprachlichen Erlebniswelt des Säuglings bildet sich nicht eine Mutterimago umfassender hingebungsvoller Befriedigung und Versorgung. Die Gebrochenheit der Mutter-Kind-Symbiose lässt ein – mit Erikson formuliert – Entstehen von ›Urvertrauen‹ nicht zu. Das Kind hält innerlich fest an dem, was ihm nicht ausreichend zuteil wurde, an den Gefühlen primärnarzißtischer Ungetrenntheit, Geborgenheit und auch Allmacht. [Eig. Hervorhebungen]«345 In der Konsequenz werde, so Ziehe, die primärnarzisstische Erfahrung (und die über diese ans Lustprinzip gekoppelte) Erinnerung an real oder halluzinatorisch erlebte vollkommene Bedürfnisbefriedigung abgesondert und aufbewahrt, um sie abrufen zu können auch im späteren Leben, gegenüber einem beinahe als traumatisch erlebten Realitätsprinzip; archaische Allmachtsvorstellungen bis hin zu subtilen oder deutlichen Formen von Größenwahn seien die problematischen Folgen.346 Dieser in seiner gefährlichen Maßlosigkeit narzisstische Zug der Persönlichkeit erwächst dann sozusagen als Antidot zu frühkindlichen Versagungserfahrungen, die dem Einbruch des Realitätsprinzips geschuldet sind, und von Ziehe treffenderweise ausgerechnet als »interaktionell verfestigte [eig. Hervorhebung]«347 bezeichnet werden. Der Emergenz einer derart narzisstisch veranlagten Persönlichkeitsstruktur im Spätkapitalismus kann Ziehe allerdings keine emanzipatorischen Aspekte abgewinnen; so es um die psychosoziale Funktion des Narzissmus geht – dessen Entstehen er ja richtig diagnostiziert – bleibt er der klassisch-psychoanalytischen Tradition verhaftet und erkennt allein dessen potenziell pathologische Dimension. Die ›moderne‹ Angst vor einer sozusagen ›furchtbaren‹ Realisierung des Lustprinzips mag sich dahinter verbergen. Im Sinne aber der von 343 Thomas Ziehe,»Gegen eine soziologische Verkürzung der Diskussion um den neuen Sozialisationstyp. Nachgetragene Gesichtspunkte zur Narzißmus-Problematik«, a.a.O., S. 126, zitiert nach Hans-Joachim Busch; ebd. 344 Thomas Ziehe, Pubertät und Narzissmus. Sind Jugendliche entpolitisiert?, Frankfurt a.M. 1975, S. 118ff, zitiert nach Hans-Joachim Busch; ebd., S. 119. 345 Ebd., S. 118f. 346 Vgl. ebd., S. 119. 347 Thomas Ziehe,»Gegen eine soziologische Verkürzung der Diskussion um den neuen Sozialisationstyp. Nachgetragene Gesichtspunkte zur Narzißmus-Problematik«, a.a.O., S. 126, zitiert nach Hans-Joachim Busch; ebd., S. 120.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

Marcuse angedachten möglichen ›fruchtbaren‹ und geradezu ›befreienden‹ zivilisatorischen Verwirklichung des Lustprinzips kann Ziehe den Narzissmus nicht verstehen. Sein Narzissmus-Verständnis ist einzig das einer Pathologie, einer Deformation – gegenüber der (mit einem sozialverträglich ausgebildeten narzisstischen Charakterzug möglicherweise auch verbundenen) emanzipatorischen Option bleibt er blind. Freilich dürfte sich ein sozialverträglicher, ja: emanzipatorischer, Narzissmus nicht in der Selbstliebe (und damit einer ausschließlich auf die eigene Person bezogene Realisierung des Lustprinzips) erschöpfen, sondern müsste – wie von Marcuse vor Augen geführt – die auch uneigennützige Liebe zu den Anderen und der Welt (und folglich eine altruistische Verwirklichung des Lustprinzips) wie sie sich allein vermittels einer Integration des orphischen Charakterzugs in den narzisstischen erfolgen kann, zur Grundlage haben. Denn Marcuse spricht stets von Orpheus und Narziss, wenn er den emanzipatorischen Persönlichkeitstyp metaphorisch umschreibt. Und in der Tat ist es wohl das Orphische, das mit dem Narzisstischen verbunden sein kann, dessen Rolle bei der nicht-repressiven Persönlichkeitsprägung gerade Ziehe entgeht: nämlich, eine vollumfänglich vom Eros durchzogene, libidinöse Psychostruktur, die im Sinne einer entgrenzenden Ausdehnung eine tiefe Verbindung zur sozialen Umwelt anstrebt. Im Grunde ist es eine solche Subjektkonstitution, die Busch schildert, wenn er vom emanzipatorischen Subjekt in der Spätmoderne spricht. Er blendet dabei die Deformationen, die der Psyche in der gegenwärtigen Gesellschaft widerfahren nicht aus, weiß dafür aber auch sehr wohl die Chancen zu benennen, die sich gerade aus der Konfrontation des Individuums mit inneren und äußeren Widersprüchen ergeben. Dezidiert spricht er von gesellschaftlichen »Beschädigungen« der Subjekte, aber setzt im selben Satz noch »auf die vorhandenen oder zu entwickelnden innersubjektiven Kräfte und Fähigkeiten, die nötig sind, um den gesellschaftlichen Zumutungen zu trotzen und deren insbesondere in der spätmodernen Ära hervortretenden Risiken erfolgreich und zukunftsstiftend entgegenzutreten«.348 So entsteht für Busch »ein zweigeteiltes Bild spätmoderner Subjektivität«.349 Die eine Hälfte nimmt sich aus als von der (weiterhin in hohem Umfang vorhandenen) gesellschaftlichen Destruktivität in eine passive, deprimierte Rolle gedrängte Subjekte (oder auch nur: Subjektanteile). Diese nähmen »unter dem Aspekt des Verlusts traditioneller sozialer Orientierungen und dadurch erzeugter Unsicherheiten und sozialer Angst […] depressive Züge an«, welche wiederum fatalerweise kompensiert werden durch ein nur vordergründig »›glückliche[s] Bewusstsein‹, gekoppelt mit einer im Konsum hektisch nach Zerstreuung suchenden Haltung«, dem eine »gleichermaßen allmachtsversessen wie allmachtsvergessen daherkommende Orientierung [eig. Hervorhebung]« entspreche.350 (Der Bezug auf eine schadhafte Verhaftung in primärnarzisstischen Omnipotenzphantasien wird hier überdeutlich). Solch einer Subjektivität entspricht die Flucht vor der Realität in den (mehr oder minder schönen) Schein anstelle einer kritisch-reflexiven Auseinandersetzung mit ihr. Sie habe ihre Wurzel in der »ungebrochene[n] Gewohnheit, in der Wahrnehmung innerer wie sozialer und ökologischer Realität dissoziativen Bewußtseinsmechanismen verhaftet zu

348 Ebd., S. 298. 349 Ebd. 350 Ebd., S. 298f.

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bleiben«.351 (Das auch mit Bewusstseinsabspaltungen einhergehende Verweigern der Realität zugunsten eines neurotischen Rückzugs in ein phantasmagorisches Lustprinzip dürfte damit gemeint sein). Die andere »Bildhälfte […] spätmoderner Subjektivität« auf welche Busch veweist, habe »von den gewachsenen Formen zwischengeschlechtlicher Anerkennung und kommunikativer Verständigung sozialisatorisch zu profitieren vermocht und versteht es, an ihnen selbst in der Folge konstruktiv zu partizipieren«352 . Auf gewisse Weise verkörpert diese Form von Subjektivität einen anderen als nur regressiven Umgang mit dem Lustprinzip, denn es hat dieses reflexiv und progressiv in seine Persönlichkeitsstruktur zu integrieren vermocht: »Dieses Subjekt gehorcht sowohl der leisen Stimme des Intellekts als auch der einer libidinösen Moral. Vernunft und sinnlich-ästhetische Wahrnehmungsweisen sind nicht voneinander abgetrennt, sondern wirken in ihm zusammen. Persönlichkeitswie triebstrukturell erfüllt dieses spätmoderne Selbst die Voraussetzungen, um die von Freud in den Mittelpunkt des zukünftigen Schicksals der Menschenart gerückte Entscheidungsschlacht zwischen Eros und Todestrieb zu bestehen und zu einem guten Ausgang zu bringen. Es verfügt über die Ausstattung, um für eine erotische Einbindung von Aggression zu sorgen, und deren destruktiver Entgleisung vorzubeugen.«353 Das maßlose Selbst zeigt sich in solch einer Konzeption als vom produktiven Eros durchdrungene und den Regulatorien des Lustprinzips geschuldete Psychostruktur, die in der Lage ist, sich die destruktiven Impulse des Thanatos, die sich zum bemessenen Ich manifestieren, anzuverwandeln, und dadurch diese und sich selbst so zu transformieren, dass eine gewissermaßen weder bio- noch thanatomorphe Subjektstruktur entsteht, sondern eine polymorphe, die letztlich an die primärnarzisstischen Quellen von Psyche anknüpft und diese ins reife Individuum hinüberführt. Aus dem amorphen Zustand anfänglicher Undifferenziertheit erwächst so eine – entdifferenzierte wie differenzierte psychische Qualitäten auf komplexe und auch widersprüchliche Weise ambivalent vereinigende – polymorphe Subjektstruktur. Das Unbewusste bleibt hier als nicht-versprachlichte und vorsymbolische Reminiszenz an Reflexion verunmöglichende Kommunikations- und Interaktionserfahrungen untergründig bestehen, und wirkt von dort aus auf bewusste Seelenanteile. Es beinhaltet gestaltlos gewordene produktive wie destruktive Impulse gleichermaßen, deren unsichtbare und ungreifbare Wirkmächtigkeit sich nun darin zeigt, in die auch kommunizierten Symbol- und Zeichenwelten der Psyche weiterhin nicht-dechiffrierbare Botschaften beizumischen – und erzeugt so die mehr oder minder große Ambivalenz allen menschlichen Ausdrucksvermögens. Je mehr nun aber der soziale Raum bereits von solchen Widersprüchen durchzogen ist (und das ist gerade der Fall in den paradoxalen Praxisgestaltungen der Spätmoderne), desto ambivalenter zeigen sich auch die psychischen Modellierungen. Dabei bleibt die Gestaltung von Psyche nicht unmittelbar an gesellschaftliche Einprägungen gebunden, sondern eben vermittelt – und zwar über das

351 Ebd. 352 Ebd., S. 300. 353 Ebd.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

soziale Umfeld des Individuums, wie es in dyadischen, triadischen und polyadischen intersubjektiven Prozessen innerhalb spezifisch ausgerichteter relationaler Formationen zum Ausdruck gelangt. Die stärker präödipal konnotierten Struktursegmente des maßlosen Selbst wie des bemessenen Ich erweisen sich daher als psychische Reflexe auf spezifische Praxisgegebenheiten. Sie dürfen innerhalb der Theorie aber auch verstanden werden als (spätmoderne) kommunikations- und handlungsgeleitete Kompendien zum bedürfnisgeleiteten (klassisch modernen) System von Es, Ich und Über-Ich. Sie tragen den in gesellschaftlicher Praxis zu beobachtenden Verschiebungen als Modifikations-Theoreme intrapsychischer Formaspekte Rechnung. Sie ersetzen nicht das klassisch gedachte Psychosystem, sondern überlagern und inkorporieren es – ganz so, wie schon Lorenzers Neukonzeptualisierung »das Erbe der Freudschen Trieb- und Sexualtheorie, der Auffassung des Es als der Grundstruktur, aus der sich ontogenetisch die Persönlichkeitsstruktur herausentfaltet hat«354 antrat, wie Busch bereits in seiner Arbeit Interaktion und innere Natur bemerkte. Der gesamte psychische Instanzen- und Repräsentanzenraum stellt sich dann dar als dynamisches Netzwerk, das mit den Netzwerken des sozialen Raums komplex korrespondiert.355 Psychische Mikroformationen an Netzwerken sind somit verschränkt mit den relationalen Makroformationen im außerpsychischen Raum. Unter dem beständigen Eindruck kommunikativer und interaktiver Austauschund Durchdringungsszenarien (sowohl auf der immateriellen, symbol- und zeichenhaft gehaltenen Ebene des psychischen wie sozialen Überbaus, als auch auf der basisanalogen, materiellen Ebene von Trieb im Individuum oder Produktion in der Gesellschaft) zeichnen sich so quasiorganische psychosoziale Verflechtungen ab, die ein kulturelles Ganzes ausmachen, das dann von den entsprechenden Partialwissenschaften wie Soziologie oder Psychoanalyse wiederum in seinen Teilen beschrieben werden kann. Erkenntnistheoretische Fragen zu Mikro- und Makrokosmos und deren Verschränkung werfen sich auf; transdisziplinäre metatheoretische Konzeptionalisierungen wären die Konsequenz einer solchen Betrachtungsweise.   Spätmoderne Ambivalenzen und polymorphe Subjekte – Zum Auftauchen neuer Subjektformen ■ Die nun folgende subjekttheoretische Conclusio ist getragen von der These, dass sowohl als emanzipatorisch wie als anti-emanzipatorisch zu bezeichnende Elemente spätmoderner Subjektkonstitution sich aus denselben, überwiegend primärnarzisstischen und prä-, wenn nicht sogar: non-ödipalen, Quellen speisen, die für die Formierung des polymorphen Subjekts so ausschlaggebend sind. Denn im polymorphen Subjekt sind maßloses Selbst und bemessenes Ich als Strukturvarianten des psychischen Raums vielgestaltig ineinander verwoben und generieren fortwährend aus ihrem Gegensatz

354 Hans-Joachim Busch, Interaktion und innere Natur. Sozialisationstheoretische Reflexionen, Frankfurt a.M./New York 1985, S. 243. 355 Vgl. dazu auch Robert Heim, der intersubjektiven Zugängen zur Psychoanalyse sogar eine Tendenz dazu bescheinigt, die Expansion der Psyche ins Soziale besonders anschaulich darstellen zu können: »Der psychische Raum liegt hier immer schon zwischen interagierenden, kommunizierenden und sprechenden Menschen, und in genau diesem Sinne gewinnt seine intersubjektive Konstitution eine gleichsam immaterielle Qualität der Ausdehnung.« In: ders., »Odyssee im Seelenraum: Mutationen des psychischen Raumes im Cyberspace«; in: psychosozial, 25. Jg., 3/2002, S. 75.

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neue und ambivalente Synthesen von Psychostruktur. Dabei ist das polymorphe Subjekt als solches eben gerade nicht zwangsläufig gänzlich dem Lustprinzip oder gar dem Eros verhaftet. Schon in der Dyade manifestiert sich ja im Sinne von ersten Erfahrungen von Bedürfnisversagungen in gewissem Umfang ein präödipales Realitätsprinzip. Das maßlose Selbst wie das bemessene Ich verweisen daher in ihrem unterschiedlichen Gehalt an Triebimpulsen und Wirklichkeitszugängen an diese formgebende Dualität schon des dyadischen Stadiums, die sich aus dem frühen Wechsel von Lustprinzip und Realitätsprinzip bereits ergibt. Das maßlose Selbst ist dann als eben jene psychische Struktkurkomponente zu verstehen, die den dyadischen Implikationen des Lustprinzips geschuldet ist, und das bemessene Ich als jene, die den frühen Manifestationen des Realitätsprinzips entspricht. In späteren Entwicklungsphasen erfahren sie dann durch den relationalen Komplex (der ja, wie schon hier in Kap. 2.1 dargestellt, nicht identisch ist, oder sein muss, mit dem klassischen Ödipus-Komplex) ihre weitere Überformung. Autoritäres Verhalten oder gewalttätige Persönlichkeitszüge sind nun in der Spätmoderne (als potenzielles Übergangsstadium zu einer möglicherweise freieren oder befreiten Epoche) selbstverständlich nicht verschwunden, sondern haben nur ihre Wurzeln oftmals weniger im ödipalen Spektrum, sondern stärker im präödipalen Bereich. Damit einher gehen auf dem Gebiet der Psychopathologien auch Verschiebungen vom klassisch-neurotischen Leidenskomplex hin zum mehr psychotischen Formenkreis. Erstere sind ja eng verbunden mit inneren und äußeren Grenzziehungen (wie sie in ihrem höchsten Grad fast immer einhergehen mit väterlichen oder gesellschaftlich-paternalistischen Normvorgaben und Grenzsetzungen), während letztere stärker geprägt sind von Entgrenzungsproblematiken und daher meist schon in komplizierten dyadischen Beziehungsmodalitäten erstbegründet sind. Das polymorphe Subjekt (als Gesamtsystem aus dem maßlosen Selbst wie dem bemessenen Ich und deren Synthesen zuzuordnenden Instanzen- und Repräsentanzennetzwerken) kann dann als solches schließlich nur über eben die genannten primärnarzisstischen und präödipalen Implikationen adäquat verstanden werden. Das heißt nun aber auch, um auf die eingangs dieses Abschnitts geäußerte These zurückzukommen, dass emanzipatorische wie anti-emanzipatorische Subjektkonstitutionen in der Spätmoderne anders als bisher begriffen werden müssen.356 Mithin nehmen auch Gewalt- und Destruktionsphänomene in der Spätmoderne eine andere Gestalt an als in der klassischen Moderne, genauso wie sich spätmoderne emanzipatorische Bewegungen in einer ganzen Reihe von Merkmalen fundamental von modernen unterscheiden. Ferdinand Sutterlütys Untersuchungen und Schlussfolgerungen zur Gewalt ermöglichen einen neuen Blick auf das Phänomen auch und gerade vor dem Hintergrund einer solchen Psycho- und Sozialdiagnose der Spätmoderne. So z.B. schreibt er, dass gerade herkömmliche »Theorien, die Gewalt ausschließlich in Kategorien von Mittel und Zweck analysieren«357 , eine Reihe von Unschärfen aufwiesen: »Rationalistisch verengte

356 Tom D. Uhlig bspw. befasst sich mit den geradezu psychotischen Zügen reaktionärer Bewegungen der Gegenwart; in: ders., »Wahnmachen. Eine Adoleszenzkrise des völkischen Protests«; in: Freie Assoziation. Zeitschrift für psychoanalytische Sozialpsychologie«, 18. Jg. 2/2015, S. 33-50. 357 Ferdinand Sutterlüty, Gewaltkarrieren. Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung, Frankfurt a.M. 2002, S. 348.

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Handlungstheorien sind nicht in der Lage, den gesamten Bereich der bei Gewalthandlungen mitwirkenden Motivlagen und Handlungstypen zu erfassen.«358 Es komme vielmehr darauf an, auch irrationale Motivationen zur Kenntnis zu nehmen, und den Fokus zu richten auf ein »situatives Geschehen«, das »dynamisch und prozessual verstanden werden muss«.359 Daher seien etwa die fremdenfeindlichen Gewaltexzesse im Deutschland der 90er Jahre nicht allein (unterkomplex) aus dem Motiv einer latent vorhandenen Ausländerfeindlichkeit und ihrer fatalen Umsetzung mittels zweckgerichtetem Handeln zu verstehen, sondern nur innerhalb »komplexer Interaktionsprozesse im Kontext des Streits um die Immigration [eig. Hervorhebung]« zu verstehen, welche dann unter »prozessualen Veränderungen des gesamten situativen Kontextes [eig. Hervorhebung]« in eine »wellenförmige Ausbreitung fremdenfeindlicher Gewalt« mündeten.360 Der metaphorische Bezug aufs Flüssige, nämlich in Form einer ›Welle‹, im Zusammenhang mit Hass und Gewalt (und damit dem Thanatos geschuldeten Kommunikations- und Handlungsweisen) lässt hier bereits die auch außerpsychischen, situativen Zusammenhänge, in denen diese sich ausbreitet (aus denen sie aber gerade auch erst erwächst) deutlich erahnen. Letztlich handelt es sich hierbei sozusagen um extrem reaktionäre bzw. destruktive soziale Strukturen, oder eben: Situationen, die unter Vorgabe (pseudo-)politischer Motive in psychische Bereiche führen, die auch mit dem Genuss am »Schmerz des anderen«361 verbunden sind. Diesen perfiden Genuss sieht Sutterlüty auch in vielen Gewalttaten aus anders gelagerten Motivlagen zugange, wo die Befriedigung eines »berauschten Täters«362 in der (eigentlich maßlosen) »Überschreitung des Alltäglichen«363 liegt. Das wiederum, so ließe sich hinzufügen, bewirkt über den physisch oder sozial bemessenden Akt, der mit der brutalen Viktimisierung verbunden ist, nicht allein eine gewaltsame Verschärfung des Realitätsprinzips aufseiten des Opfers, sondern vielmehr gerade auch eine (sadistische) Verwirklichung des Lustprinzips auf Seiten des Täters, welche in Allmachtsphantasien gipfelt und sich gerade an den »Ohnmachtserfahrungen […] anderer«364 gütlich tut. Die so mit phantasmagorischer Omnipotenz auf Täterseite einhergehende Gewaltausübung war zwar schon immer als an (primär-)narzisstische Erlebnisqualitäten gebunden verstanden worden, nimmt sich aber vor dem Hintergrund der Diagnose eines dominant werden Einflusses primärnarzisstischer Impulse in der spätmodernen Architektur der Psyche noch einmal bedenklicher aus. Die mit diesen spätmodernen Tendenzen verbundenen Folgen auch gerade hinsichtlich der potenziellen Entstehung neuartiger, destruktiver Persönlichkeitsanteile kann und darf nicht unterschätzt werden. Sutterlüty spricht ja auch von »Gewalttaten, bei denen euphorisierende im Handlungsvollzug auf den Plan tretende Erlebnisse situativ handlungs-

358 Ebd. 359 Ebd., S. 350. 360 Unter Verweis auf: Helmut Willems (zusammen mit Roland Eckert/Stefanie Würtz/Linda Steinmetz), Fremdenfeindliche Gewalt. Einstellungen, Täter, Konflikteskalationen, Opladen 1993, durch Ferdinand Sutterlüty; in: ders., Gewaltkarrieren. Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung, a.a.O., S. 350f. 361 Ebd., S. 356. 362 Ebd. 363 Ebd. 364 Ebd., S. 353.

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leitend werden«. [Eig. Hervorhebung]365 Das dem Momentum, dem Spontanen und damit der Situation verschriebene Lustprinzip scheint in der beschriebenen ›Euphorisierung‹ des Täters deutlich auf und gemahnt an die verheerenden Wirkungen seiner ja potenziell auch dem Thanatos verpflichteten Qualität. Auch von »enthusiasmierenden Dimensionen von Gewalterfahrungen« sowie einem »Gewaltrausch« spricht Sutterlüty mit Blick auf die Täter.366 Die (auch spätmodernen) Atavismen im ›Gewalt-Rausch‹ zu den ursprünglich situativen (und erst später ritualisierten) Dynamiken der von Freud dargestellten ›Opfer-Feier‹ lassen sich so nicht nur in soziokulturellen Phänomenen erblicken, sondern eben auch in gewalttätigen Alltagszusammenhängen psychosozialer Relationen. Mit Blick auf normative und ›intrinsische‹ Aspekte von destruktiven Handlungsmotiven schreibt Sutterlüty: »Aus Gewalterfahrungen und ihrer Verarbeitung können neue Wertmuster und Ideale hervorgehen, die wiederum den mit Gewalttaten verbundenen Genuss rationalisieren und zu einem Bestandteil des Selbstbildes der Täter werden lassen. Intrinsische Gewaltmotive sind ein wesentlicher Faktor der normativen Aufwertung von Gewalt und stellen die Täter vor die Aufgabe, das unheimliche Bewusstsein, von solchen Antrieben geleitet zu sein, in ihr Selbstbild zu integrieren. Wenn den Tätern letzteres – auf welch prekäre Weise auch immer – gelingt, führt dies zur Beseitigung fast aller Schranken [also zu einer Entgrenzung, eig. Anm.] und zu einer Verselbstständigung intrinsischer Gewaltmotive, die nicht nur die Zahl der Gewalttaten, sondern auch ihre Grausamkeit in ungeheuerliche Dimensionen [d.h. auch ins Maßlose, eig. Anm.] treibt. [Eig. Hervorhebungen]«367 Gerade die äußerlich erfahrenen Dynamiken destruktiver Kommunikations- und Handlungsweisen bzw. –szenarien, wenn Ferdinand Sutterlütys Verweis auf die Intrinsik so gedeutet werden darf, führt also über deren Aneignung und Verinnerlichung ins Selbst(bild) zu einem geradezu ›unheimlichen‹ Bewusstsein des (Gewalt-)Täters von sich. (Ein geradezu lorenzerscher Gedankengang zeichnet sich hier ab – gesetzt den Fall, man betrachtet ihn unter dem Gesichtspunkt der Verinnerlichung sozialer Interaktions- und Praxisfiguren zu psychischen Interaktionsformen). In der Konsequenz spiegelt ein dermaßen gestaltetes (Täter-)Bewusstsein sicher, falls Sutterlütys Ansatz hier so interpretiert werden darf, die grandiose Anmaßung wieder, die aus einer dermaßen (vermeintlich) eigenständig Normen setzenden Psychodynamik erwächst. Letztlich, und das ist es ja eigentlich, was Sutterlüty mit dem Verweis auf die daraus sich ergebenden, alle Schranken sprengenden Gewaltdimensionen schildert, verbirgt sich dahinter dann immer auch der maliziös-narzisstische Wunsch sozusagen alleine zu herrschen, indem die vorgestellten oder realen Anderen sowie die Welt des Gemeinsamen und Allgemeinen, ja: der Kosmos, zu vernichten versucht wird. Als Antrieb hinter derartigen Vernichtungsphantasien steckt aber immer ein Thanatos, der mit dem entgrenzenden Lustprinzip auf beinahe diabolische Weise verknüpft ist.

365 Ebd., S. 356. 366 Ebd., S. 357. 367 Ebd., S. 361f.

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Eine ganz ähnliche Motivlage findet sich vielleicht auch bei anderen, in der Spätmoderne sich ›wellenförmig‹ ausbreitenden Gewaltphänomenen: ›Schoolshootings‹ (und damit auch ähnliche Formen verwandter Amokläufe) durchziehen viele spätmoderne Gesellschaften in einem bislang nicht gekannten Ausmaß. Markus Brunner und Jan Lohl erinnern daran, dass »bereits von Freud darauf hingewiesen worden [ist], dass Pathologie und Normalität keine Gegensätze sind, es vielmehr ›Normalpathologien‹ gibt.«368 Die damit auch diagnostizierte lebensweltliche Verortung solcher ›Normalpathologien‹ berührt dann aber eben das habermassche Theorem, die Lebenswelt zeichne sich durch verständigungsorientierte Kommunikation aus. Denn, wenn derartige Gewaltakte weder allein als Pathologie, noch ausschließlich als Einbruch systemischer Imperative in die Lebenswelt gedeutet werden können, muss geradezu von thanatomorphen oder polymorphen Psychosozialstrukturen neben biomorphen in der Lebenswelt ausgegangen werden.369 So wie eine repressionslose Gesellschaft als in weiten Zügen vom Eros durchzogen gedacht werden muss, sollten Gesellschaften analog zu ihrem Destruktionspotenzial im systemischen oder lebensweltlichen Bereich ja eben auch als vom Thanatos geprägt begriffen werden. Brunner und Lohl weisen diesbezüglich darauf hin, dass für Freud der Hass als Bezugsform aufs Objekt »der uranfänglichen Ablehnung der reizspendenden Außenwelt von Seiten des narzisstischen Ichs« entstamme.370 Die Schattenseiten des ›Narziss‹ werden somit auch hier offenbar. Nadja Meisterhans bringt mit ihrer Schrift Der Amoklauf als entfremdeter und androzentrischer Anerkennungswunsch etwas Licht in dieses (narzisstische) Dunkel.371 So vertritt sie die These, »dass der Amoklauf als ein Symptom von gesellschaftlichen Verdrängungsprozessen verstanden werden kann«372 . Gerade im Bezug auf die auch von Busch wiederholt zur Diskussion gestellte These einer Zuspitzung des Antagonismus produktiver wie destruktiver Motivationen (also: des ›Kampfes‹ zwischen dem gesellschaftlichen Eros und Thanatos) in der Spätmoderne, scheint dann die von Nadja Meisterhans 368 Markus Brunner/Jan Lohl, »›Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod‹ – Normalität und School Shooting‹« (Einleitung); in: dies. (Hg.), Normalungetüme. School Shootings aus psychoanalytisch-sozialpsychologischer Perspektive, Gießen 2013, S. 9. 369 Martin Altmeyer veranschaulicht diese Vorstellung von der (intersubjektiven) Lebenswelt als Ort auch der Gewalt: »Auf Vernichtung zielende Gewalt entsteht demnach in einem Raum, in dem Individuen, Gruppen, oder ganze Kulturen sich aufeinander beziehen, etwas miteinander austragen, aneinander gebunden sind – und gerade deshalb umso empfindlicher für Kränkungen. Menschliche Aggression wurzelt demnach in der Intersubjektivität von Lebenswelt, Kultur und Sprache. Genauer formuliert: Aggressive Phantasien, Gefühle, Gedanken ebenso wie aggressive Handlungen stammen aus Entgleisungen zwischenmenschlicher Beziehungen. [Hervorhebungen durch Altmeyer]« In: ders., Auf der Suche nach Resonanz. Wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert, a.a.O., S. 155. 370 Sigmund Freud, Triebe und Triebschicksale, GW, Bd. X, S. 231, zitiert nach Markus Brunner/Jan Lohl; in: dies., »›Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod‹ – Normalität und School Shooting‹ (Einleitung)«; in: dies. (Hg.), Normalungetüme. School Shootings aus psychoanalytisch-sozialpsychologischer Perspektive, a.a.O., S. 10. 371 Siehe dazu: Nadja Meisterhans, »Der Amoklauf als entfremdeter und androzentrischer Anerkennungswunsch. Überlegungen zu dem Verhältnis von neoliberaler Ideologie und verstümmelter Subjektivität«; in: Markus Brunner/Jan Lohl (Hg.), Normalungetüme. School Shootings aus psychoanalytisch-sozialpsychologischer Perspektive, a.a.O., S. 35-57. 372 Ebd., S. 35.

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vorgenommene Bezugnahme auf die Dialektik des Zivilisationsprozesses von weitreichender Tragweite. Sie schreibt: »Die gesellschaftstheoretische und ideologiekritische Perspektive, die hier im Folgenden profiliert werden soll, ist, dass der Amoklauf als ein Symptom von gesellschaftlichen Verdrängungsprozessen verstanden werden kann. Geht man in einer psychoanalytischen Betrachtung gar von einer Ubiquität der im Verlauf des Zivilisationsprozesses unterdrückten Gewaltfantasien aus, scheint es naheliegend, den Amoklauf als eine individuelle Abfuhr zu deuten, in der sich diese entladen. Amokläufe sind historisch betrachtet kein neues Phänomen, trotzdem wäre zu fragen, welche spezifischen gesellschaftlichen Voraussetzungen dazu beitragen, dass sich das Verdrängte entlädt.«373 Sie versteht also den Amoklauf im Sinne einer »sozial vermittelten, pathogenen Reaktionsweise«374 . Unter Einbeziehung der feministischen Perspektive Jessica Benjamins deutet sie den Amoklauf als Phänomen, welches aus einer »androzentrisch verzerrten Anerkennungsbegierde [Hervorhebung durch Meisterhans]« herrühre, die ihrerseits in einem gesellschaftlichen »Anerkennungsversprechen [Hervorhebung durch Meisterhans]« wurzelt.375 Mit dieser anerkennungstheoretischen Perspektive bringt sie folglich eine intersubjektive Deutungsoption ins Spiel: »Meine zeitdiagnostische These lautet, dass die für die neoliberale Konstellation spezifischen Anerkennungsversprechen enttäuschungsanfällige Anerkennungsbegierden verstärken und die Deformation von Subjektivierungsprozessen fördern. Eingedenk dessen korrespondieren die Subjektdeformationen mit einem ideologischen Individualismus376 , der das sozial isolierte, insbesondere maskulin potenzierte ungebundene Selbst als Leitbild prämiert (bzw. anerkennt). [Hervorhebung durch Meisterhans]«377 Bemerkenswert an dieser Einschätzung ist sicher, dass als Produkt der neoliberalen Ideologie, die sich weiter Teile des gesellschaftlichen Lebens der Spätmoderne bemächtigt hat, ein eigentlich bemessen Einsames, weil ›sozial isoliertes‹ und ›ungebundenes‹ (also frei von Bindungen und Beziehungen seiendes) männliches Selbst identifiziert wird. Eben dieses einsame Ich aber, so ließe sich sagen, giert nach gesellschaftlicher Anerkennung, möchte den Preis, den es für sein Durchringen zu unabhängiger Einsamkeit verdiene, einfordern: nämlich die Wertschätzung der Anderen. Wo ihm diese aber verwehrt bleibt, flüchtet es sich in Vernichtungswünsche den Anderen gegenüber wie der von ihnen repräsentierten gesellschaftlichen Welt. Der gekränkte Narzissmus eines absolut Einsamen ist es dieser Definition zufolge eigentlich, der dann die gleichfalls von der neoliberalen Ideologie bereitgestellte Option der Gewalt für sich beansprucht, um 373 374 375 376

377

Ebd. Ebd. Ebd., S. 36. Unter Verweis auf: Christine Resche, »Über die Strukturähnlichkeit von instrumenteller Vernunft und astrologischem Denken«; in: Rainer Winter/Peter Zima (Hg.), Kritische Theorie heute, Bielefeld 2007, S. 240, durch Nadja Meisterhans; ebd., S. 36. Ebd.

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sein Recht zu erlangen, und sei es um den Preis der narzisstischen Auflösung des eigenen Ich – nicht aus Liebe, wie beim mythologischen Narziss – sondern aus Hass. Diese Interpretation liegt ganz im Einklang mit Meisterhansʼ Einschätzung, von der neoliberalen »Suggestion unbegrenzter Selbstverwirklichung […] fühl[t]en sich andererseits gerade Subjekte magisch angezogen, die durch latente Ohnmachtsängste konfiguriert werden und diese durch androzentrisch konnotierte Allmachtsfantasien zu kompensieren suchen. [Eig. Hervorhebung]«378,379 Eine vielleicht in der Spätmoderne sowieso schon angelegte, primärnarzisstisch geprägte Persönlichkeitsstruktur wird so durch die neoliberalen Anrufungen verstärkt, aber von der Realität des gesellschaftlichen Umfelds wiederum enttäuscht. In der Folge koppeln sich destruktive Rachephantasien mit einer im spätmodernen Subjekt besonders intensiv ausgeprägten psychostrukturellen Verankerung in präödipalen Stadien sowie einer damit in der Regel einhergehenden spezifischen Verhaftung im Lustprinzip. Die Realisierung dieser ›Wünsche‹ bleibt dann nur eine Frage der Zeit, und hängt nur noch ab vom berühmten Tropfen (um ein weiteres Mal die Metaphorik des Flüssigen zu bemühen), der dann das volle Fass zum Überfließen bringt. Meisterhans spricht davon, dass eben gerade »[…] männliche Subjekte in Krisensituationen dazu neigen, sich mit ungebundener Omnipotenz suggerierenden Anerkennungsversprechen zu identifizieren. Einhergehend damit entwickeln sie im Rahmen dieser insbesondere Ohnmachtsängste kompensierenden Identifikation absolutistische Anerkennungswünsche380 , deren (notwendige) Nichterfüllung besonders destruktive Formen der narzisstischen Kränkung hervorrufen kann. [Hervorhebungen durch Meisterhans]«381 Kommt dann noch eine tiefgreifende Verunsicherung betreffs der Männlichkeit382 des Subjekts an sich hinzu, wie sie ja für die postkonventionelle Spätmoderne charakteristisch ist, entsteht ein gefährliches Konglomerat aus Unsicherheiten, Verunsicherungen, und eben Ohnmächtigkeiten, die vermittels absoluter Macht über Andere einer (Wieder-)Bemächtigung des eigenen Selbst den Weg ebnen sollen. Die eigene Existenz wird vom Amokläufer in die Waagschale geworfen, indem er die Existenz der Anderen negiert und zerstört. Kaum eine narzisstischere Form der Gewalt ist denkbar. Die

378 Ebd. 379 Mario Erdheim diagnostiziert ganz ähnlich eine allgemeine Zunahme von Omnipotenzphantasien in den konsumistischen und individualisierten Gesellschaften der Gegenwart: »Die Omnipotenzfantasien wurden während Jahrtausenden mit Hilfe der Religion geformt und eingedämmt; erst in der Konsumgesellschaft des 20. Jahrhunderts kam es aufgrund von Indvidualisierungsprozessen zu ihrer ungeheuren Expansion.« In: ders., »Omnipotenz, Rausch und Lust«; in: Stephan Uhlig/Monika Thiele (Hg.), Rausch – Sucht – Lust. Kulturwissenschaftliche Studien an den Grenzen von Kunst und Wissenschaft, Gießen 2002, S. 123. 380 Unter Verweis auf: Jessica Benjamin, Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht, Frankfurt a.M./Basel 2009, durch Nadja Meisterhans; in: dies., »Der Amoklauf als entfremdeter und androzentrischer Anerkennungswunsch. Überlegungen zu dem Verhältnis von neoliberaler Ideologie und verstümmelter Subjektivität«, a.a.O., S. 37. 381 Ebd. 382 Speziell mit der Krisenanfälligkeit von Männlichkeits-Entwürfen in der Spätmoderne setzt sich Hans-Joachim Busch auseinander, in: ders., »Männlichkeit in der spätmodernen Gesellschaft«; in: psychosozial, 28, 100, 2005, S. 93-103.

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Bezüge auch zum religiös und/oder politisch motivierten Selbstmordattentat (was ja nichts anderes als ein Spezialfall des Amoklaufes ist) werden dann vollends offensichtlich, wenn Meisterhans schreibt, »dass Subjekte mit schwach ausgeprägtem Selbstwert und der Überzeugung gedemütigt zu werden, sich von der androzentrisch konnotierten Märtyreridentität angezogen fühlen«383,384 . Des Weiteren schreibt sie: »Die Märtyreridentität symbolisiert einen selbst- und fremdzerstörerischen Willen zur absoluten Macht. […] Das Subjekt sinnt nicht nur auf Rache, sondern imaginiert, mit dem Racheakt sich und die Welt zu befreien. Die Lüge des großen Anderen ›legitimiert‹ die Rache indem er sein Anerkennungsversprechen nicht erfüllt. Die Lüge zu demaskieren ist Inhalt der Rachefantasie, die zugleich als Befreiungsschlag empfunden wird.«385 Der vermeintliche ›Verrat‹ durch die Anderen (und die Welt, welche sie repräsentieren) soll entlarvt werden, ein für alle mal. Das Subjekt wähnt sich im Kampf gegen eine fremd gewordene, verzerrte Realität, wobei doch es selbst entfremdet und deformiert ist. Psychotische Erlebnisweisen, wie sie ganz klar primärnarzisstisch maßlos entgrenzten Entwicklungsstadien entstammten, tauchen hier auf, werden an die (psychische) Oberfläche gespült und brechen sich reißend Bahn in ein überraschtes und schockiertes (soziales) Umfeld. Robert Heim spricht ganz allgemein auch von einem »pathologischen Narzißmus, der von der Psychoanalyse zu den Zeichen unserer Zeit gezählt wird«386 . Narzisstische Persönlichkeitsstörungen seien in der ›vaterlosen Gesellschaft‹ (der Spätmoderne) »zu einer diagnostischen Kategorie ersten Ranges geworden«387 . Kennzeichen sei die Unfähigkeit »mit Affekten wie Scham, Wut, seelischen Verletzungen und Kränkungen hinreichend gereift umzugehen«388 . Eine beständige »innere Pendelbewegung«389

383 Nadja Meisterhans, »Der Amoklauf als entfremdeter und androzentrischer Anerkennungswunsch. Überlegungen zu dem Verhältnis von neoliberaler Ideologie und verstümmelter Subjektivität«, a.a.O., S. 53. 384 Martin Altmeyer schildert die Psychotypologie der Märtyreridentität vermittels der Figur des ›radikalen Verlierers‹, die Hans-Magnus Enzensberger in seiner Schrift Schreckens Männer. Versuch über den radikalen Verlierer, Frankfurt a.M. 2006, vorgezeichnet habe. Altmeyer identifiziert als Motive ebenfalls narzisstische Kränkungen, die hier allerdings nicht nur in den persönlichen, sondern auch kulturhistorischen – und damit: politischen – Bereich hineinragen. Empfundene oder reale historische wie kulturelle ›Niederlagen‹ in der Kolonialzeit oder im Globalismus führten, verkürzt gesagt, zu folgendem Affekt-Muster: »Man ignoriert die Realität, verklärt die Vergangenheit und hält an seiner Kränkung fest.« In: Martin Altmeyer, Auf der Suche nach Resonanz. Wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert, a.a.O., S. 180. Während der politreligiöse Terrorist seine »maßlose Wut [eig. Hervorhebung]« (ebd., S. 171) »mit seiner Kränkung begründet, hält er zugleich an dieser Kränkung fest, um mit dem Morden weiter machen zu können.« (Ebd., S. 179). Die narzisstische Fixierung wird auch hier überdeutlich. 385 Nadja Meisterhans, »Der Amoklauf als entfremdeter und androzentrischer Anerkennungswunsch. Überlegungen zu dem Verhältnis von neoliberaler Ideologie und verstümmelter Subjektivität«, a.a.O., S. 53f. 386 Robert Heim, Utopie und Melancholie der vaterlosen Gesellschaft, Gießen 1999, S. 400. 387 Ebd. 388 Ebd. 389 Ebd.

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zwischen diesen von der Person nicht zu bewältigenden Erfahrungsmodalitäten finde statt, die zu einer großen inneren Zerrissenheit führe.390 Diese Zerrissenheit verunmögliche es der Person dann in der Folge, »ihre libidinösen Ressourcen in eine äußere Welt von Menschen und Objekten zu investieren. Weil dies nicht gelingt, gebricht es der narzißtischen Persönlichkeit, aus jener utopischen Sehnsucht zu schöpfen, die wir bislang im Triebleben und seiner Dynamik sondieren konnten«.391 Heim beschreibt hier also, wie eine aus primärnarzisstischen Verhaftungen entwachsene Psychostruktur im Falle einer pathologischen Ausprägung gerade jene als emanzipatorisch zu bezeichnenden Qualitäten ermangele, die mit einer im Lustprinzip verankerten ›utopischen Sehnsucht‹ normalerweise einhergehen. Eine solche, der Verwirklichung des Eros verschriebene utopische Sehnsucht begegne im Falle der Pathologie dann fatalerweise unter umgekehrten Vorzeichen als »der unstillbare Rachedurst des narzißtisch gekränkten Menschen, der nicht ruhen kann, bis er die Beleidigung ausgemerzt hat«392 . Der pathologische Narzisst393 ist damit die reaktionäre Umkehrung von Marcuses utopischem Narziss. Er verwirklicht die Dystopie, nicht die Utopie. Er liefert das paradigmatische Beispiel eines prototypisch anti-emanzipatorischen und reaktionären, statt emanzipatorisch-progressiven Subjekts. Heim rückt gerade auch die politische Dimension, die mit einem solchen Narzissmus einhergeht, ins Bewusstsein: Die Ordnung, die der pathologische Narzissmus errichten möchte, ende stets in »Tod, Vernichtung, und Verwüstung«394 . Und gerade heute erleben wir in den ökonomischen Krisen und politischen Spannungen der Spätmoderne, wie die »verachtete Friedfertigkeit« eines spätmodernen Menschen, »der sich mit den Warenpaketen und Sinnstiftungen einer nachgeschichtlichen Kultur zufrieden stellen läßt« umzuschlagen droht in eine aus den Quellen eines schädlichen Narzissmus gespeiste »megalomane Hybris und aufgeblähte Selbstgerechtigkeit«.395 Heim sieht das drohende Menetekel einer narzisstischen, von unsäglichem Zorn und unstillbarer Wut (und eben nicht: vom Eros) durchtränkten Gesellschaft heraufziehen. Unter Rekurs auf Francis Fukuyama396 erblickt er eine mögliche »monströse Überdehnung des Thymos [eig. Anm.: sozusagen eines zornigen Geltungsund nicht gutwilligen Anerkennungsbedürfnisses] zu einer Megalothymia, die jede Utopie, die das Versprechen von Gleichheit und Würde zwischen den Menschen als weiterhin uneingelöst sieht, in ihr Gegenteil verkehrt. [Hervorhebung durch Heim]«397 Die Gefahr des ›Kippens‹ der Spätmoderne in eine (neo-)faschistoide Ordnung des Hasses, ist es, die er beschreibt. Dann wäre in der Tat die spätmoderne ›Entscheidungsschlacht‹ zwischen Eros und Thanatos zugunsten des letzteren ausgefallen.

390 Vgl. ebd. 391 Ebd. 392 Wilfried Gottschalch, Narziß und Ödipus. Anwendungen der Narzißmustheorie auf soziale Konflikte, Heidelberg 1988, S. 55f, zitiert nach Robert Heim; ebd., S. 401. 393 Robert Heim spricht bspw. auch dezidiert von einer möglichen auch »pathogenen Verflüssigung [eig. Hervorhebung]« von psychischen Strukturen, in: ebd., S. 420. 394 Ebd., S. 401. 395 Ebd. 396 Siehe dazu: Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992. 397 Robert Heim, Utopie und Melancholie der vaterlosen Gesellschaft, a.a.O., S. 401.

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Gleichwohl, und das macht Heims Ausführungen so bedeutsam, verweist er auf die reale Existenz eines auch anders gearteten, »gesunden, unentbehrlichen Narzißmus«398 : »Dieser steht für eine Selbstachtung, die zugleich auf intersubjektiver Anerkennung ruht; sie verträgt sich ebenso mit dem Einsatz für ein nicht selbstbezogenes Leben wie mit Einfühlungsbereitschaft für andere, Humor, schöpferischer Produktivität, den Fähigkeiten zur Liebe, sexuellem und kulturellem Genuss, schließlich der Arbeitsfähigkeit. Thymos befindet sich hier gleichsam im Lot.«399 Der ebenso präödipale, aber ans entgrenzende ›ozeanische Gefühl‹ gebundene und vom Eros durchtränkte Narziss (wie Marcuse ihn schilderte) könnte Pate stehen für diese Beschreibung Heims. Denn wie auch Martin Altmeyer mit Verweis auf Winnicott ausführt, sei es unzulässig, den »Narzissmus psychoanalytisch [nur] in die Nähe des Solipsismus zu rücken – zur ›Einerbeziehung‹400 zu machen […]«401 : »Schon der Zustand den Freud als primären Narzissmus bezeichnet, ist nicht bloß selbstbezogen, denn er verbindet [eig. Hervorhebung] den hilflosen Säugling mit einer ›haltenden Umwelt‹ zu der eine verlässliche, ›hinreichende gute‹ Mutter gehört«.402 So richte sich bereits jener kindliche Narzissmus an »Bezugspersonen, die zuschauen und zuhören und begeistert sein sollen«403 , genauso wie später dann der Narzissmus von Jugendlichen darin bestehe, auf Exzentrik und Provokation Rückmeldungen aus dem sozialen Umfeld zu erwarten.404 So bleibe ein (gesunder) Narzissmus schlussendlich auch beim Erwachsenen »ein mentales Bindeglied zur Umwelt, indem er dazu beiträgt, Erfahrungen von Erfolg und Misserfolg zu verarbeiten, Nähe und Distanz [also Verbindendes und Trennendes, eig. Anm.] zu anderen Menschen zu regulieren«405 . Den von Marcuse in seiner auch kulturstiftenden Funktion als soziale Seinsweise beschriebenen Narzissmus zu verstehen, erlaubt zudem die folgende Beschreibung Altmeyers: »Im [gesunden, eig. Anm.] Narzissmus versuchen wir, die eigene Subjektivität mit der Intersubjektivität von Sprache und Lebenswelt auf jeweils besondere, einzigartige und unverwechselbare Weise in Einklang zu bringen. Aus diesem Grund fühlt sich der Narzissmus auch in den Sphären der Kultur wie zu Hause. Er ist an der literarischen und musikalischen Produktion beteiligt. Er ist in der bildenden und darstellenden Kunst anzutreffen. Man findet ihn in den Tanzstudios, an den Opernhäusern

398 Ebd., S. 399. 399 Ebd., S. 400. 400 Donald W. Winnicott, Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, München 1974, S. 37, zitiert nach Martin Altmeyer; in: ders., Auf der Suche nach Resonanz. Wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert, a.a.O., S. 127. 401 Ebd. 402 Unter Verweis auf: Donald W. Winnicott, Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, München 1974, allgemein und S. 37 im Besonderen, durch Martin Altmeyer; ebd. 403 Ebd. 404 Vgl. ebd. 405 Ebd.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

und in den Werkstätten der Theater- und Filmwelt. Als schöpferische Kraft erzeugt er ungewöhnliche Bezüge zwischen Selbst und Welt. [Eig. Hervorhebung]«406 Mit John E. Gedo lasse sich, so Altmeyer, der (primäre) Narzissmus daher auch »als Modalität seelischen Funktionierens begreifen, die auch für den Erwachsenen in bestimmten Situationen verfügbar ist: in Zuständen herabgesetzten Bewusstseins, in der Intimität einer Liebesbeziehung, in Phasen schöpferischer Kreativität«407 . Gedos Konzeption »des Narzissmus als eine besondere Erlebnisqualität und Interaktionsform« gestatte es, »auf die pathologische Konnotation zu verzichten und und ihn als eigene Modalität zu definieren, die – früh erworben – neben anderen Modalitäten auch dem gesunden Erwachsenen zur Verfügung steht: als Form einer entgrenzten Umweltbezogenheit [eig. Hervorhebung]«.408 »In den westlichen Gesellschaften« aber habe, wie auch Altmeyer hervorhebt, »sexuelle Revolution, antiautoritäre Bewegung und kulturelle Liberalisierung« die vormals rigidere kulturelle Ordnung so aufgeweicht, dass es zu einem auch nachhaltigen »mentalen Wandel« kommen musste:409 »Mit dem Verlust an struktureller Rigidität hat das Seelenleben zugleich an Variabilität, Flüssigkeit und Zugänglichkeit gewonnen, so dass es flexibler, lebendiger und kommunikativer wird und sich viel stärker, als das früher der Fall war, mit der sozialen Lebenswelt verbindet. [Eig. Hervorhebungen]«410 Deutlicher könnten die Anklänge ans Maßlose Selbst wie bemessene Ich kaum sein. Zudem liegt laut Altmeyer im »[z]wischen Selbst und Welt [V]ermitteln [eig. Hervorhebung]« auch gerade »die schöpferische Funktion des Narzissmus«411 ; die Anderen fungierten dann ausgerechnet als narzisstischer Spiegel, der Selbsterkenntnis und Selbstverwandlung erst ermögliche.412 Das bedeutet auch: Die oder der kommunikativ ver406 Ebd., S. 127f. 407 Unter Verweis auf die Narzissmus-Konzeption von John E. Gedo, in: ders., Beyond interpretation, Hillsdale (N.J.) 1979; durch Martin Altmeyer; in ders., Narzissmus und Objekt. Ein intersubjektives Verständnis der Selbstbezogenheit, a.a.O., S. 167. 408 Ebd., S. 172. 409 Martin Altmeyer, Auf der Suche nach Resonanz. Wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert, a.a.O., S. 185. 410 Ebd. 411 Ebd., S. 126. 412 Vgl. dazu auch Kai Rugenstein: »Der Narziss Ovids ist nicht in erster Linie der Sich-Liebende (auch nicht der sein Bild Liebende), sondern der Sich-Spiegelnde, der Sich-Verdoppelnde. Er ist derjenige, dem sein Spiegelbild als das Bild eines unbekannten Fremden begegnet und der, sich zu diesem Bild verhaltend, es langsam als sein eigenes erkennt und sich so erst mit ihm identifiziert. Diese Identifizierung löst das aus, was als titelgebendes Leitmotiv der Ovidʼschen Dichtung gelten kann: eine Metamorphose, eine Reihe von Veränderungen, als deren Ergebnis im Mythos eine geheimnisvolle Blume erscheint. [Hervorhebungen durch Rugenstein]« In: ders., Humor. Die Verflüssigung des Subjekts bei Hippokrates, Jean Paul, Kierkegaard und Freud, a.a.O., S. 264f. Narziss wird also durch die liebende Betrachtung des Bildes eines vermeintlich Anderen, das tatsächlich aber ihm selbst-gleich ist, zur Selbsterkenntnis und schließlich zur Selbstverwandlung gedrängt. Es treten hier eine ganze Reihe von (hier leider unmöglich ausschöpfend zu erörternden) möglichen Bezügen selbst zur Bedeutung der Spiegelneuronen auf (die die empirisch grundierte Interaktionsforschung in den letzten Jahren verstärkt in den Blick genommen hat), genauso wie zu deren mehr theoretischem Äquivalent, den Analysen zur sog. Affektspiegelung. Siehe insb. zu letzterem: Friederike Werschkull, Vorgreifende Anerkennung. Zur Subjektbildung in interaktiven Prozessen, Bielefeld

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flüssigte Andere als Spiegel meiner selbst, wie ich, als deren oder dessen Spiegelerfahrung, führt so zur Einsicht unser beider ins Unendliche und Maßlose des Seins, bzw. im Falle kommunikativer Verhärtung, auch zur Erkenntnis meiner wie anderer Begrenzung und Bemessung. Gerade die schöpferischen Qualitäten, die sich aus dermaßen narzisstisch prädestinierten, spätmodernen Subjektkonstitutionen ergeben, und bereits auf neue Möglichkeiten der Selbst- wie Welterfahrung verweisen, welche, komplementär dazu, auch mit einem neuen Verhältnis von Lust- und Realitätsprinzip einhergehen, werden deutlich, wenn Altmeyer die Dimension der Kunst (die sich im Übrigen auch überschneidet mit der des Werkes) hervorhebt: »Vor allem die darstellende Kunst kommt ohne diesen narzisstischen Bildner [den Künstler, eig. Anm.] und seine zwischenmenschliche Spiegelfunktion nicht aus.«413 Und es ist das schaffende und erschaffende Moment (das bislang vielleicht am Deutlichsten im Künstler zum Ausdruck kommt) welches in einer weniger oder nicht-repressiven Kultur und Gesellschaft zum Wesenszug aller werden könnte. Im Künstler hat der gesunde Narzissmus bisher sein bekanntestes Refugium gefunden; dabei schickt sich der Narzissmus nun wohl schon an zum prägenden Momentum einer Vielzahl von Charakterdispositionen und Gesellschaftsformationen zu werden, also ganz im Sinne Marcuses, zum Kulturmerkmal einer neuen, freieren Epoche. Altmeyer schildert die künstlerisch gefärbte und narzisstisch grundierte Grundhaltung zu sich selbst, den Anderen und der Welt exemplarisch: »Das Selbstbewusstsein des Malerfürsten, der in einem genialischen Schaffensakt noch sich selbst zu genügen scheint, ist nicht unabhängig von seiner Geltung im Kunstbetrieb und vom Marktwert seiner Bilder. Aber auch den sensiblen Schriftsteller, der sich dem kulturellen Betriebsrummel – sagen wir: durch die Flucht aufs Land oder in die Innerlichkeit – entzieht, hindert seine demonstrative Weltabgewandtheit keineswegs daran, sich insgeheim im literarischen Ruhm zu sonnen oder mit Gott und der Welt zu hadern, wenn der Erfolg einmal ausbleibt. Auch die wahre Kunst ist nicht einsam, sondern existenziell angewiesen auf einen Anderen, der hoffentlich irgendwann einmal real auftreten wird, um hinzuschauen, zuzuhören, oder in anderer Weise Interesse zu zeigen. Genau darauf spekuliert auch der Narzissmus in seinen bunten und höchst widersprüchlichen Erscheinungsformen. Er enthält eine Fülle suggestiver Botschaften des Selbst an die Welt, die sich unschwer entziffern lassen: Schau mich an! Höre mir zu! Beachte mich! Widme mir deine Aufmerksamkeit! Zolle mir deine Anerkennung! Zeige mir deine Bewunderung! Liebe mich! Halte mich fest! Bleibe bei mir! Mit dir zusammen fühle ich mich großartig! Ich könnte die ganze Welt umarmen! Oder aber: Ich ziehe mich von dir zurück, falls du nicht…! Du bist mir gleichgültig, weil du nicht…! Ich greife dich an, wenn du nicht…! Mit Leuten, die mich ignorieren, will ich

413

2007, Kap. »Affektspiegelung als An/Erkennen des konstitutionellen Zustandes«, S. 142-154, sowie Kap. »Folgen verfehlter Spiegelungen«, S. 154-159. Siehe aber zu Spiegelungsvorgängen allgemein (und im Hinblick auf den Narzissmus speziell) auch: Rolf Haubl, »Spiegelmetaphorik: Reflexion zwischen Narzissmus und Reflexion«; in: Manfred Faßler (Hg.), Ohne Spiegel leben. Sichtbarkeiten und posthumane Menschenbilder, München 2000, S. 159-180. Martin Altmeyer, Auf der Suche nach Resonanz. Wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert, a.a.O., S., 129.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

nichts zu tun haben! Bei aller Verschiedenheit enthalten diese Botschaften im Grunde eine einzige Forderung, die sich stets an einen virtuellen Adressaten richtet: Du sollst mich wahrnehmen! Und das Unbewusste ergänzt: … damit ich in deinen Augen jemand bin oder werde.«414 Als Prototyp des in (primär-)narzisstischen Mustern verhafteten Künstlers scheint allerdings in der Spätmoderne weniger der Malerfürst oder der sensible Literat (beides typisch moderne Klassifikationen) gelten zu können, sondern vielmehr in ihrem malerischen oder literarischen Spieltrieb und der radikalen Hingabe an ein auch spielerisches Lustprinzip völlig entfesselte Künstler-Charaktere wie Jonathan Meese oder auch David Foster Wallace. Deren spätmoderne Collagen und Assemblagen aus scheinbar hermetischen Bedeutungsverweisen, die zu einem Universum werk-immanenter Relationen führen und mit der ›äußeren‹ Welt zwar korrespondieren, aber deren ›beinhartes‹ Realitätsprinzip im Maßlosen ihres unbeschränkten Spiel- und Stiltriebs völlig aufweichen, werden zu paradigmatischen und enigmatischen Ausgangspunkten einer vielleicht auch gefährlichen, aber immer schöpferischen Verflüssigung des verhärteten Lebens. Der eigenwillige und trashige ›Sprach-Sound‹ im irrationalen Kunstmanifest eines Jonathan Meese (vgl. ders., Ausgewählte Schriften zur Diktatur der Kunst, hg. von Robert Eikmeyer, 2. Aufl., Berlin 2015) und der überbordende, irrwitzige Erzählstil bei der Beschreibung einer postdemokratischen und hyperkapitalistischen Gesellschaft eines David Foster Wallace (vgl. ders., Infinite Jest. A Novel, Boston 1996) gleichen Fanalen des Maßlosen in der Kunst der Gegenwart. Dabei scheinen sie auch immer Anrufungen des Anderen aus der Welt eines Einsamen zu sein. Ein (frühkindlich-)narzisstischer Modus ist ihnen eingraviert. Ihr bisweilen auch verzweifelter Humor und ihre offenkundige Selbstironie geraten zu Kennzeichen eines unverkrampften Narzissmus, der sich fundamental vom verkrampften, auf phantasmatische Größen- und Omnipotenzphantasien abhebenden, unterscheidet. Und in der Tat kann ja in einer Epoche, die zunehmend von (intersubjektiven) Netzwerkstrukturen global und auf allen Gesellschaftsebenen durchzogen wird,415 die Bedeutung des Narzissmus, als entwicklungspsychologisch vielleicht ältestes (weil in der primären, frühkindlichen Sozialisation schon in der Dyade eingespieltes) und damit wohl auch grundlegendstes Beziehungsmodell, nur zunehmen. Es ist ein großer Vorzug der resonanztheoretischen Ausführungen Altmeyers, den Narzissmus nicht mehr allein als regressives System der Selbstbezogenheit zu definieren, sondern eben auch in seinen progressiven Qualitäten als basales, relationales Muster hinter allen Beziehungen zu den Anderen und der Welt begreifbar zu machen.416 In eine ähnliche Richtung weisen auch Hans-Joachim Buschs differenzierte Auseinandersetzungen mit den narzisstischen Quellen spätmoderner Subjektprägungen und Wirklichkeitszugänge.417 In seinem Vortrag Das Veralten der Psychoanalyse und das 414 Ebd. 415 Siehe dazu auch: Manuel Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Teil I der Trilogie Das Informationszeitalter, a.a.O. 416 Siehe dazu: Martin Altmeyer, Auf der Suche nach Resonanz. Wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert, a.a.O., S. 121-134. 417 Hans-Joachim Busch: »Emilio Modena […] setzt sich unter dem Titel Narzißmus und Gesellschaft mit der Frage, ob ein narzißmustheoretischer Paradigmenwechsel geboten sei, auseinander und greift dabei auf Erfahrungen aus seiner eigenen Praxis zurück. […] Der Befund eines Zeitalters des Narziß-

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Subjekt der Gegenwart 418,419 weist Busch außerdem abermals auf die ›vaterlos‹ gewordene spätmoderne Gesellschaft hin – was durchaus auch als Hinweis auf im Schwinden oder in Transformation befindliche ödipale Muster im individuellen wie gesellschaftlichen Raum verstanden werden darf. Dieser Bedeutungsverlust des Ödipalen aber kann eigentlich nur vor einem Bedeutungsanstieg des Präödipalen – und damit auch: Primärnarzisstischen – gesehen werden.

mus für unsere Gegenwart wird nun von Modena aus diesen Einsichten heraus keineswegs bestritten; er wird nur – ähnlich wie bei Horn – nicht so sehr am Individuum als vielmehr an der heutigen spätmodernen, enttraditionalisierten Gesellschaft erhoben. Narzißtische Probleme resultieren – so Modena – weniger aus der frühen Lebensgeschichte; vielmehr lassen sie sich als akute Folge von ›Anpassungskrisen in der tertiären Sozialisation‹ [Emilio Modena, »Narzißmus und Gesellschaft. Zur Kritik der neuen Nostalgiebewegung in der Psychoanalyse«; in: Psychoanalyse, 4, S. 305, zitiert nach Hans-Joachim Busch] begreifen. Und in der adoleszenten und postadoleszenten Suche nach Sinn, nach Rollen, nach Identität, eigener Biographie und dazu passenden gesellschaftlichen Strukturen ist – viel mehr an gesunder narzißtischer Substanz enthalten, als es ein durch die vorgefaßte Meinung der pathologischen Wirkung primärer Sozialisation getrübter klinischer bzw. sozialpsychologischer Blick zu sehen erlaubt. [Eig. Hervorhebungen]« In: ders., Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Konzeptuelle Schwierigkeiten und Möglichkeiten psychoanalytisch-sozialpsychologischer Zeitdiagnose, a.a.O., S. 158ff. 418 Hans-Joachim Busch, Das Veralten der Psychoanalyse und die Gegenwart des Subjekts, Vortrag, gehalten auf der ÄPK-Tagung (im Buchrücker-Haus der Inneren Mission) in München, am 25.1.2019 [Zitation und Einblick ins Manuskript durch Hans-Joachim Busch gewährt]. 419 Einen interessanten Gedanken bringt Busch in die Narzissmus-Problematik außerdem ein, wenn er das Subjekt der Gegenwart parallelisiert mit dem freudschen Theorem des »Prothesengotts«; also des »Kulturmenschen«, der sich (im wahrsten Sinne des Wortes) gestützt auf seine technischen Errungenschaften, »gottgleich«, allmächtig wähnt. (In: Hans-Joachim Busch, »Das Unbehagen des Prothesengotts in der Umweltkrise. Perspektiven einer Kritischen Theorie des Subjekts«, Vortrag, gehalten im Rahmen der Vorlesungsreihe Was nun? Hannoversche Beiträge zur Rettung der Welt, an der Universität Hannover, 16.1.2020 [Zitation und Einblick ins Manuskript wurde durch Busch gewährt]). Die trügerische Sicherheit und omnipotente Selbstgewissheit, die der zum ›Prothesengott‹ gewordene Mensch aus der technischen Bemeisterung seiner (Um-)Welt bezieht, geschieht aber um den Preis eines Unbehagens angesichts der damit noch längst nicht zivilisierten aggressiven Triebneigungen; gerade deren potenzielle Destruktivität steigt ja mit den technischen Möglichkeiten geradezu ins Unermessliche. Aggressionen und (die aus dem Wissen um diese bzw. aus dem Verdrängen dieses Wissens ins Unbewusste geborenen) Ängste werden so zu ständigen, unheimlichen Begleitern des vermeintlich kultivierten Subjekts. Das müssen aber nicht nur die Ängste vor den destruktiven Möglichkeiten neuer Kriegsführungstechniken oder Umweltrisiken sein, sondern auch die scheinbar alltägliche Angst in den Sozialagenturen, wie im Betrieb, in der Schule usw. (vgl. ebd.) Die zwischenmenschliche Aggression, die in der (schon bzw. noch hybriden) Spätmoderne (offen oder unterdrückt) allgegenwärtig ist, beschränkt und begrenzt die gefühlten oder gewollten Möglichkeitsspielräume der Subjekte. Sie beständig ausblenden oder unterdrücken zu müssen, gibt das schlagendste Beispiel für den Doppelcharakter des spätmodernen Subjekts: »Zerrissen« von den »Dissoziationen« (ebd.) pendelt es oftmals – weniger aus der Option zur kreativen Flexibilität, sondern mehr aus dem Zwang zur Kaschierung unverbundener innerer Psycho-Anteile – von einem Extrem ins Andere. Maßloses Selbst und bemessenes Ich, so ließe sich an dieser Stelle über Busch hinausgehend formulieren, begegnen dann nicht als ausbalancierte, sondern als unversöhnliche – genauso wie die polymorphen relationalen Formationen im sozialen Raum nur allzu oft keine möglichen Versöhnungen vorwegnehmen, sondern bloß die real noch vorhandenen Widersprüche widerspiegeln.

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

Daran lässt sich folgender Gedankengang anschließen: Die simple primärnarzisstische Dualität aus Lieben und Hassen, also: Verbinden und Trennen, die für dieses entwicklungspsychologisch frühe Stadium so charakteristisch ist, müsste dann aber in der ›reifen‹ Persönlichkeit zwar weiterhin stark ausgeprägt sein, allerdings weniger im Sinne unvereinbarer Dichotomien, sondern mehr als reflektierbare komplementäre Persönlichkeitsmodi. Kurz: Ein auf destruktiven Trennungen beruhender, dem Thanatos verschriebener pathogener Hang zum Narzissmus, müsste nicht nur als einem auf Verbindungen beruhenden, konstruktiven, ›guten‹ gegenübergestellt gedacht werden, sondern (so denn überhaupt auch Vernunft und Distinktion in einer solch primärnarzisstisch grundierten Psychostruktur weiterhin möglich sein sollte) unbedingt innerhalb einer nicht nur unbewussten, sondern auch reflexiven Wechselbeziehung zwischen beiden Seelenanteilen. Der Grad an Virtuosität der so auch eigenmächtig gestalteten Psychotransformationen erzeugte dann die große Zahl von Entwicklungsoptionen, deren gezielte Wahrnehmung eine dermaßen spätmodern geprägte Persönlichkeit dann schließlich erst zu einer nunmehr ›reifen‹ machten. Anders gesagt, und wie eingangs dieser Arbeit ja schon vorskizziert: Die Fähigkeit auch zur eigenen, kontrollierten Handhabung des Wechsels von maßlosem Selbst und bemessenem Ich (oder metaphorisch gesprochen: des ›Eintauchens‹ und ›Auftauchens‹ aus dem maßlos Gemeinsamen) in Einklang oder Widerstand zu Formationen und Formierungen des Maßlosen wie Bemessenen im sozialen Raum, ergäbe dann das seiner selbst gewisse, bewusst handelnde und gestaltende, schöpferische Subjekt. Diese Fähigkeit aber kann allein die Institution des ›Dritten‹ als einer zur Reflexion und Gestaltung befähigenden Instanz garantieren; dieses Dritte aber erwächst nach wie vor einzig aus den Überformungen der Dyade zur Triade im sozialen Raum. Die dementsprechende Ausgestaltung und Ausdehnung des primärprozesshaft, dyadisch-eindimensional verflachten psychischen Raumes zum sekundärprozesshaft, mehrdimensional-triadisch aufgespannten Raum kann sich dann aber in der strukturell oder individuell ›vaterlosen‹ Gesellschaft nur durch das relationale Supplement – bzw. auch: die intersubjektive Essenz – des Ödipus-Komplexes vollziehen: nämlich vermittels des relationalen Komplexes. Die konkreten Ausprägungen der selbstverständlich individuell wie kollektiv durchaus divergierenden relationalen Komplexe würden dann (vergleichbar zum klassischen, an die Autorität des Vaters gekoppelten Ödipus-Komplex) über grundlegende psychosoziale Strukturmechanismen weiterhin die Beziehungen zu sich, den Anderen und das Verhältnis zur Welt formen – aber: in einer wohl anderen und neuen Art und Weise. Die Bedingungen auch für diverse, mögliche Versöhnungen (sprich: paradoxe Hybridisierungen) von Lust- und Realitätsprinzip wären so geschaffen. Diese dann wohl stärker fluide denn rigide (Neu-)Ordnung dürfte dann zum schon von Marcuse angedachten neuen Verhältnis von Eros und Thanatos führen. So könnte das dermaßen (noch) polymorphe Subjekt der Gegenwart zum Wegbereiter werden für die Etablierung einer im Sinne Marcuses verstandenen, libidinösen Moral in einer nicht-repressiven, vom Eros durchtränkten, kulturellen Ordnung. Die spätmoderne Gesellschaft, als eben vielleicht der von Freud schon ins Feld geführte Schauplatz des Ringens von Eros und Thanatos am Höhepunkt des zivilisatorischen Prozesses, könnte dann vielleicht endlich zugunsten des ersteren gewendet werden – oder wenigstens in eine Ära münden, der ein neues Verhältnis beider Dyna-

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Das Maßlose der Spätmoderne

miken zueinander zugrunde liegt. »Aber« – so ließe sich mit Freud fragen – »wer kann den Erfolg und Ausgang voraussehen?«420

3.3.

Intermezzo: Metatheoretische (An-)Deutungen

Eine Metatheorie, so sie denn als eine kritische bezeichnet werden sollte, hätte angesichts des sich abzeichnenden Übergangs der spätmodernen Epoche in eine andere nicht nur eine Negation der herrschenden Praxis zu geben, sondern auch eine Ontologie ihrer (jetzt schon) progressiven Elemente. Dass diese als Emergenzen neuer Subjekt- und Gesellschaftsformen zu verstehen sein müssten, und nicht bloß im Sinne politischer Programmatiken oder sozialer Bewegungen, dürfte deutlich geworden sein. Eine solche Ontologie des Übergangs oder der Transformation des Bestehenden in ein Zukünftiges würde Züge tragen einer Ontologie des Werdens, und weniger des Seins. Umgekehrt gilt es die Negation der herrschenden Praxis dann bis zu einem gewissen Grad zu verstehen, als eine des Gewordenen und vielleicht schon Gewesenen. In der polymorphen Verstrickung von beidem, Gewordenem und Werdendem, wie es in subjektiver wie gesellschaftlicher Praxis sich ausdrückt, läge so der Ansatzpunkt für eine metatheoretische Sichtung und Synthetisierung auch der gegenwärtig geläufigen Kritischen Theorieansätze. Vor diesem Hintergrund gilt es noch einmal zu betonen, welche Aufgabe einer solcherart zu verstehenden Kritischen Metatheorie zukommen dürfte: Ihre Sprache müsste zunächst einmal eine eigene sein, und zwar nicht um die anderen Theoriesprachen auszuschließen, sondern um diese vielmehr zu umschließen. Darüber hinaus hätte sie den Boden zu bereiten für eine tiefgründige Verwurzelung der Theorien immaterieller Austauschprozesse zwischen Subjekt, anderen Subjekten und der sozialen wie natürlichen (Um-)Welt(en) in den materialistisch orientierten Theoriekomplexen. Die Verschränkung der verschiedenen theoretischen Strömungen könnte nun, wie bereits vielfach ausgeführt, nur denkbar sein über eine Analyse der Relationen, der von ihnen untersuchten subjektiven wie objektiven Gegebenheiten untereinander. Nicht die Untersuchung von Entitäten sollte so geleistet werden, sondern die der Verhältnisse zwischen den Entitäten untereinander, um auf ihre vergangenen wie künftigen Entwicklungstendenzen schließen zu können. Gleichzeitig dürfte eine Kritische Metatheorie dieser Ausrichtung das Potenzial der von ihr umfassten Theorien, auch in die Empirie (und damit in die Methodik) hineinzuwirken, nicht einschränken – sie hätte vielmehr ebenfalls den Auftrag, dieses zu bündeln und gezielt zu lenken. Es versteht sich dann von selbst, dass die quantitativen, messenden und bemessenden Methodiken kaum einer Theorie gerecht werden könnten, die von einem emanzipatorischen Primat des Maßlosen in der Spätmoderne ausgeht. Denn selbst wenn in den biomorphen wie thanatomorphen Techno-Praktiken der Spätmoderne zunehmend alle auch lebensweltlichen Relationen von Algorithmen durchzogen scheinen mögen, sind es immer weniger diese, die das Leben bestimmen, sondern sie schmiegen sich vielmehr als to-

420 Sigmund Freud [1929-1930], »Das Unbehagen in der Kultur«, a.a.O., S. 108. [Der Schlusssatz wurde 1931 hinzugefügt, Anm. d. Hg., ebd.]

3. Maßlose Perspektiven – Entgrenzte Horizonte

tes Maß dem maßlos Lebendigen (wenn auch auf mitunter durchaus bedrohliche Weise) an. So stellt sich die Frage, ob nicht die lebendigen Relationen – letzten Endes – viel stärker die Techno-Strukturen transformieren und infiltrieren, als umgekehrt letztere die lebensweltlichen einer auch technokratischen Herrschaft zuführen. Die schleichende Mimesis des Maßes ans Maßlose beförderte es dann nur umso mehr, das Maßlose in den Rang eines Maßstabs zu versetzen. Die Tendenz zur Versöhnung der Gegensätze, die in der Spätmoderne trotz aller anderweitigen Überlagerungen bereits besteht, deutet sich dabei abermals an. Gestützt auch auf diese Überlegungen dürfte vielleicht nicht zwangsläufig von einer Methodenäquivalenz oder -parität zwischen quantitativen und qualitativen Ansätzen ausgegangen werden; denn eine solche würde implizit die Gleichwertigkeit des Maßes mit dem Maßlosen behaupten. Eine Kritische Wissenschaft aber könnte diese Gleichwertigkeit noch weniger als bisher fraglos hinnehmen – es sei denn sie würde den maßlosen Phänomenen ihre real-emanzipatorische Potenz und damit ihre virtuell-erkenntnistheoretische Relevanz absprechen. Sie hätte vielmehr mit Nachdruck auf die Beantwortung der Frage zu drängen, wie denn auch die quantitativen Methoden des Messens nunmehr den Entsprechungen des Maßlosen gerecht werden könnten. Kaum eine Methodik aber ist interpretatorisch und qualitativ so diffizil gestaltet, wie die der Psychoanalyse. Gerade die lange bekämpfte, verbannte oder aus dem Wissenschaftskanon verdrängte Psychoanalyse müsste sich nicht mehr allein ihrer neuen, auch metatheoretischen Funktion selbst bewusst werden, sondern selbstbewusst müsste sie dazu willens sein, ihr elaboriertes (tiefen-)hermeneutisches Instrumentarium (im Sinne eines Theorie- und Methodentransfers) in die anderen Disziplinen einzubringen. Die Wissenschaft von den Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Psyche sollte selbstverständlich in alle Wissenschaften vom menschlichen Denken, Sprechen und Handeln einfließen. Nicht nur ihr klinisch-praktisches oder auch psycho- und sozialtheoretisches (Deutungs)Potenzial, sondern eben gerade auch die damit verbundenen erkenntnistheoretischen Implikationen müssten dazu allerdings noch weit besser identifiziert und analytisch vertieft werden, als dies bislang der Fall war. Psychoanalytische Anschauungsweisen gehen immer vom enigmatischen Menschen aus. Ihn in den Mittelpunkt aller Relationen zu stellen – und nicht an die Spitze eines Systems von Hierarchien – könnte einzig das Signum einer menschlicheren Epoche sein. Dabei wäre eine dermaßen menschlichere Epoche zugleich eine auch des menschlicheren Umgangs mit den anderen Geschöpfen, der Umwelt und Welt. Versöhnung könnte nur Gleichberechtigung sein.

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Ausblick

Exkursion an den Rand der Empirie und darüber hinaus Nicht viel mehr als ein kurzer Ausflug in die Randbereiche der Empirie kann hier gegeben werden, ein Verweisen und Deuten vielleicht, ein Aufzeigen von Anknüpfungsmöglichkeiten bestenfalls. Die im methodischen Feld von Lorenzers psycho- wie kulturanalytischer Tiefenhermeneutik beheimateten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verfügen dort, um im gewählten Bild zu bleiben, sozusagen um so profunde Ortskenntnisse, dass jede hier gegebene Wegweisung eine Anmaßung wäre. Dennoch darf vielleicht angemerkt werden, dass mit der hier vorliegenden Arbeit versucht wurde auch dort wenigstens neue Perspektiven zu ermöglichen. Gerade was die Einbettung in eine nunmehr entsprechend modellierte gesellschaftstheoretische Umgebung betrifft, dürften sich vielversprechende Ausblicke auftun. Vielleicht könnte sogar die Methodik so orientiert werden, dass sie nicht nur den psycho- und kulturanalytischen – sondern auch: gesellschaftsdiagnostischen – Zugriff noch besser erlaubt. Die Interdisziplinarität jedenfalls, die der ›tiefenhermeneutischen Methode‹1 Alfred Lorenzers ja immer schon innewohnt, dürfte ein solches Unterfangen begünstigen. Und auch das Moment der Auslegung und Deutung, das ihr mit dem Herkommen aus der Psychoanalyse bereits eingeschrieben ist, hat Lorenzer mit der Methodik des ›szenischen Verstehens‹2

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Ein Einblick in die aktuelle an Lorenzer anschließende tiefenhermeneutische Forschung wird gegeben in: Julia König et al. (Hg.), Dichte Interpretation. Tiefenhermeneutik als Methode qualitativer Sozialforschung, Wiesbaden 2019. Eine Einführung in die lorenzersche Tiefenhermeneutik an sich begegnet im selben Band zudem bei: Hans-Dieter König, »Dichte Interpretation. Zur Methodologie und Methode der Tiefenhermeneutik«; in: Julia König et al. (Hg.), Dichte Interpretation. Tiefenhermeneutik als Methode qualitativer Sozialforschung, a.a.O., S. 13-86. Eine kompakte Darstellung (auch für ein anglophones Publikum) von Lorenzers tiefenhermeneutischer Methode wiederum findet sich in: Mechthild Bereswill/Christine Morgenroth/Peter Redman, »Alfred Lorenzer and the depth-hermeneutic method«; in: Psychoanalysis, Culture & Society, 15, 3/2010, S. 221-250. Siehe dazu bspw.: Alfred Lorenzer, »Sprache, Lebenspraxis und szenisches Verstehen in der psychoanalytischen Therapie«; in: Ulrike Prokop/Bernard Görlich (Hg.), Szenisches Verstehen. Zur Erkenntnis des Unbewußten/von Alfred Lorenzer, Marburg 2006, S. 13-37.

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Das Maßlose der Spätmoderne

nicht nur auf die psychoanalytische Praxis bezogen, sondern mit derjenigen der ›tiefenhermeneutischen Kulturanalyse‹3 schon auf die Interpretation soziokultureller (und damit letztlich auch gesellschaftlicher) Zusammenhänge hin orientiert. Seine Analytik könnte damit sowohl den Ansprüchen und Forderungen der Kritischen Theorie des Subjekts wie jenen einer Kritischen Theorie der Gesellschaft gerecht werden. Denn Lorenzer bietet ein Grenzen überschreitendes methodisches Programm an, das in diesem Sinne durchaus gerade auch den maßlosen Dynamiken der Gegenwart eine reflektierte Entsprechung bieten kann.4 Die von ihm angestoßene Methodik ist gegenwärtig aktueller denn je: »Dieses Konzept einer ›hermeneutischen Erfahrungswissenschaft‹ klingt heute keineswegs mehr so befremdlich wie es einigen Autoren zu der Zeit erschien, als es von Lorenzer formuliert wurde. In den heutigen Sozialwissenschaften zeigt sich die Entwicklung von einer überwiegend quantitativen und quantifizierenden Forschung hin zu qualitativen Methoden.«5 Eine allgemeine Entwicklung in den Wissenschaften also wird hier angesprochen, die sicher die gesamtgesellschaftlich sich andeutenden Verschiebungen vom Bemessenen zum Maßlosen in sich aufgenommen und sich anverwandelt hat. Was aber wäre besser geeignet zur Analytik solcher Verschiebungen im Sozialen, wie die schon so lange bestehende Analytik der Psyche, deren integraler Bestandteil es ist, ein- und abzutauchen in Seelentiefen, ins Unbewusste, um stärker konturierte, wie mehr unumgrenzte psychische Elemente und Fragmente zu heben und ans Licht zu bringen? Ihre Fähigkeit zum Schwimmen und Tauchen, in Abgründe, Winkel und Höhlungen der menschlichen Seele, zur Bewegung im psychischen Raum, prädestiniert die Psychoanalyse wie keine andere Wissenschaft zur Erkundung einer sich mehr und mehr verflüssigenden und entgrenzenden auch sozialen Welt. Die ihr selbstverständlich gewordene Beschäftigung mit den Botschaften aus den Untiefen oder Tiefen der Seele, den Symbolen und Zeichen, erlaubt es ihr jetzt schon, die kulturellen Zeichen- und Symbolsysteme auf gänzlich andere Weise zu erforschen als andere Disziplinen. Ihr Potenzial zu einer Analytik auch des sozialen Raums aber scheint noch lange nicht ausgeschöpft. Lorenzer gibt mit seiner tiefenhermeneutischen Kulturanalyse die Richtung vor, in die eine qualitative psychoanalytische Methodik der Deutung von Gegebenheiten (und deren Relationsgefügen) im sozialen Raum zu weisen hat. Eine solche muss nicht nur Ideologiekritik, Kunstkritik, Architekturkritik und Literaturkritik gleichermaßen zum Gegenstand haben,6 sondern eben auch interdisziplinär (und unter Modifikationen der ihr zugrunde liegenden psychoanalytischen Methodik selbst) hineinwirken in die betreffenden Nachbarwissenschaften, um diese letztlich ebenfalls zu Anpassungsleistun-

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Siehe dazu bspw.: Alfred Lorenzer, »Tiefenhermeneutische Kulturanalyse«; in: ders. (Hg.), KulturAnalysen, Frankurt am Main 1986, S. 11-98. Vgl. in diesem Kontext: Ulrike Prokop/Bernard Görlich, »Einleitung. Alfred Lorenzer und die Perspektiven einer grenzüberschreitenden Psychoanalyse«; in: dies. (Hg.), Szenisches Verstehen. Zur Erkenntnis des Unbewußten/von Alfred Lorenzer, a.a.O., S. 7-12. Gottfried Fischer/Monika Becker-Fischer, »Zwischen Erlebnis und Geschehnis. Zum Traumabegriff bei Alfred Lorenzer«; in: Ellen Reinke (Hg.), Alfred Lorenzer. Zur Aktualität seines interdisziplinären Ansatzes, erw. u. überarb. Buchausgabe von psychosozial, 128, 2/2012, Gießen 2013, S. 29. Vgl. Alfred Lorenzer, »Vorwort des Herausgebers«; in: ders. (Hg.), Kultur-Analysen, Frankfurt a.M., 1986, S. 8.

Ausblick

gen zu nötigen. Lorenzer verweist auf Freud, der bereits früh ein derartiges »Bild einer interdisziplinären Auseinandersetzung«7 gegeben habe: »Als ›Tiefenpsychologie‹, Lehre vom seelisch Unbewußten, kann sie [eig. Anm.: die Psychoanalyse] all den Wissenschaften unentbehrlich werden, die sich mit der Entstehungsgeschichte der menschlichen Kultur und ihrer großen Institutionen wie Kunst, Religion, und Gesellschaftsordnung beschäftigen. Ich meine, sie hat diesen Wissenschaften schon bis jetzt ansehnliche Hilfe zur Lösung ihrer Probleme geleistet, aber dies sind nur kleine Beiträge im Vergleich zu dem, was sich erreichen ließe, wenn Kulturhistoriker, Religionspsychologen, Sprachforscher usw. sich dazu verstehen werden, das ihnen zur Verfügung gestellte neue Forschungsmittel selbst zu handhaben.«8 Lorenzer betont, wie sehr Freud mit dieser programmatischen Orientierung eine Form der Interdisziplinarität skizziert, die sich eben nicht erschöpfen sollte in der Übernahme der »Forschungsergebnisse« der Psychoanalyse, sondern vielmehr auf einen Transfer der »Forschungsmittel«, also der Methoden, abzielt.9 Es ist nun Lorenzer, der, basierend auf diesem Vorschlag Freuds, sich seinerseits daran macht, das psychoanalytische Methoden-Instrumentarium neu zu justieren, und zwar so, dass es der Aufgabe des Dialogs mit den anderen Wissenschaften gewachsen ist: »Diese Sachverhalte allein verlangen gebieterisch die Anerkennung einer grundlegenden Umbauarbeit in der Anwendung der Psychoanalyse. Zunächst eine gründliche Veränderung der psychoanalytischen Methode in der Adaption an das neue, eben nicht therapeutische Aufgabengebiet. Umstandslose Theorieübernahme verbietet sich ohnehin; sie würde die fraglichen Erkenntnisgebiete pathologisieren bzw. medizinalisieren. ›Angewandte Psychoanalyse‹ muß mit der Einführung der Methode beginnen – mit der Veränderung der Methode –, um Theorie dann aus der Eigenlogik des neuen Erkenntnisfeldes heraus jeweils neu zu entwickeln, mit dem Ziel, die andersartigen Praxisfelder modo psychoanalytico auf den Begriff zu bringen.«10 Jede Veränderung der Methodik müsste aber an der psychoanalytischen Hermeneutik selbst ansetzen, so Lorenzer, und diese ist ja gekennzeichnet durch die Dechiffrierung der unbewussten Botschaften von Äußerungen, Texten und Sozio- oder Artefakten:11 »Die Enträtselung der unbewussten Bedeutungen ist das Leitmerkmal der psychoanalytischen Kulturanalyse. Deshalb nennen wir sie Tiefenhermeneutik.«12 Nun aber hebt Lorenzer sogleich die kritische – und potenziell emanzipatorische – Dimension eines solchen Unterfangens hervor: »Das Unbewußte, auf das diese Hermeneutik zielt, sind die vom gesellschaftlichen Konsens ausgeschlossenen Lebensentwürfe. Die Wendung gegen den tabuisierenden Konsens ist mithin die Vorbedingung der psychoanalytischen Hermeneutik«13 . Und weiter: 7 8 9 10 11 12 13

Alfred Lorenzer, »Tiefenhermeneutische Kulturanalyse«, a.a.O., S. 16. Sigmund Freud, zitiert nach Alfred Lorenzer; ebd. Ebd., S. 17. Ebd. Vgl. ebd., S. 26. Ebd., S. 27. Ebd.

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Das Maßlose der Spätmoderne

»Weshalb bevorzugen wir als Leitetikett zur Kennzeichnung dieser ganzen Arbeitseinheit dennoch den Begriff der Tiefenhermeneutik? Die Antwort lautet: Weil dies die auszeichnende Besonderheit psychoanalytischer Interpretation ist. Alle anderen Merkmale teilt sie mit Nachbardisziplinen. Die hermeneutische Vorgehensweise ist von alters her in Theologie, Jurisprudenz und Geisteswissenschaften beheimatet; ein lebenspraktisches Interesse treibt auch die Sozialwissenschaften; das kritisch-hermeneutische Moment findet sich auch in der Ideologiekritik. Nur die tiefenhermeneutische Ausrichtung ist Eigenbesitz der Psychoanalyse und verweist auf den zentralen Erkenntnisgegenstand psychoanalytischer Untersuchung: das Unbewußte.«14 In einem ganz wesentlichen Schritt geht Lorenzer dann dazu über, die verborgenen unbewussten Botschaften untersuchter Gegebenheiten oder Gegenstände deutlich zu scheiden von den bewussten. Denn ein Autor eines Textes bspw. adressiert ja bewusst diverse Inhalte an den Leser, kleidet diese aber etwa unbewusst in eigentümliche Begrifflichkeiten oder Nuancen. Auch wären allein schon die Gründe, warum er gerade jenen Text verfasst oder zu verfassen für relevant hält, zu einem großen Teil unbewusste, also nicht zwangsläufig einer Selbstreflexion zugängliche. Und so unterscheidet Lorenzer nun in einer weiteren Auffächerung seiner theoretischen Zugriffsmöglichkeiten auf die von ihm vorgeschlagene Methodengestaltung in bewusste, manifeste, und unbewusste, latente, Inhalte:15 »Alle Assoziationskomplexe […] müssen in den Text so eingelassen sein, dass ihr Mitteilungsinhalt im Text enthalten ist. Nur das, was am Text festgemacht ist, zählt, wobei die Unterscheidung von ›manifest‹ und ›latent‹ nur dann sinnvoll wird, wenn im selben Bild, d.h. am selben Text, zwei Bedeutungen auszumachen sind. Der Textinhalt muß doppeldeutig sein. Unterhalb der manifesten Bedeutung muß im Text ein anderer, konkurrierender ›Sinn‹ enthalten sein – vergleichbar der verborgenen Figur eines Vexierbildes. Die Gegensätzlichkeit und Eigensinnigkeit ist entscheidend; der latente Sinn eines Textes ist ja nicht der ›Tiefsinn‹ des manifesten. [Hervorhebung durch Lorenzer]«16 Lorenzer bringt alsdann die Komplexität seines Ansatzes auf den Punkt: »Der Text lebt von der Doppeldeutigkeit des Textsinnes. Manifest-latent, das sind die beiden nicht voneinander abtrennbaren Seiten eines Symbolzusammenhangs.«17 Vor diesem abstrakten Hintergrund kann Lorenzer nun weiterführende Hinweise zur konkreten Deutung geben: »Der Text ist als Symbolgefüge zu respektieren; er ist als Vermittlung einander widerstrebender Impulse aus zwei eigenständigen Ordnungssystemen zu lesen.«18 Der Text sei eine Synthese aus beiden; beide Bedeutungs- bzw. Sinnebenen sind ineinander verklammert im Text – die manifeste, wie die latente – und gehen auf in den Symboltexturen, deren Charakter dementsprechend doppel-sinnig sei.19 Persön-

14 15 16 17 18 19

Ebd., S. 29. Ebd. Ebd., S. 32. Ebd., S. 57. Ebd. Vgl. ebd., S. 57f.

Ausblick

lich-biographische Interaktions-Szenerien wie allgemeine (zeit-)geschichtliche Kulturpanoramen fließen in die Symbolgehalte mit ein und drücken sich in ihnen doppeldeutig aus.20 »Subjektive Lebenspraxis« erweist sich so auch im untersuchten Gegenstand »als Moment eines objektiven Kulturzusammenhangs«.21 Um nun aber abschließend das gegebene Beispiel des Textes und seines Autors hier noch einmal ein wenig zu relativieren, sei abermals angemerkt, dass selbstverständlich die tiefenhermeneutische Kulturanalyse sich nicht auf die Interpretation von Texten beschränkt, sondern die gesamte Vielzahl soziokultureller Phänomene in den Blick nimmt.22 Sie erweist sich also als geradezu prädestiniert dafür, eine auch theoretische Kritik der Praxis zu übertragen in die ganze Bandbreite empirisch orientierter Forschung. Lorenzers tiefenhermeneutische Kulturanalyse als Methodik ist dabei Ausdruck der interpretatorischen Möglichkeiten einer Psychoanalyse, die sich aufmacht, auch jenseits der therapeutischen Situation Betätigungsfelder zu finden, um ihre zukünftige Reichweite prüfend abzustecken. Mit Blick auf die eben gegebene kurze Darstellung der lorenzerschen Methodik, stellt sich vielleicht auch ganz allgemein die Frage, ob die Psychoanalyse nicht etwa nur einen Dialog führen sollte mit den anderen Disziplinen, sondern ob sie sich nicht vielmehr darauf zu besinnen hätte, diesen sogar anführen zu müssen. Denn so wie im Zeitalter der beginnenden Aufklärung die Philosophie (und damit die Wissenschaft von der ›reinen Vernunft‹) sich ganz selbstverständlich anschickte, die Konturen der neuen Ordnung zu bestimmen und den Wissenschaften den Weg zu weisen, so könnte der Psychoanalyse in einer Epoche der sich bestenfalls vollendenden Aufklärung die Aufgabe zufallen (als Wissenschaft einer auch ›sinnlichen Vernunft‹) nicht nur den anderen Disziplinen Impulse zu geben, sondern ihnen auch die neuen Dekonturierungen der bestehenden Ordnung verständlich zu machen im Sinne einer sich letztlich anbahnenden Befreiung des Menschen aus selbst auferlegten Zwängen; einem Weg, der in eine weniger repressive, wenn nicht sogar nicht-repressive Kultur münden könnte.

20 21 22

Vgl. ebd., S. 69. Ebd. An dieser Stelle scheint es geboten, auch auf die unlängst gegründete Forschungswerkstatt Tiefenhermeneutik zu verweisen, ein offenes, überregionales Netzwerk interdisziplinär interessierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die gestützt auf Lorenzers Methodik aktuelle Forschung betreiben.

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Soziologie Naika Foroutan

Die postmigrantische Gesellschaft Ein Versprechen der pluralen Demokratie 2019, 280 S., kart., 18 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4263-6 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4263-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4263-6

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